Als im März 2002 die auf Roughwater Island verbannten Dementoren Besuch von Lord Vengor erhalten löst dieser damit ungewollt eine Vernichtungsvorrichtung aus, die bis auf zehn Dementoren alle auslöscht. Von diesen können fünf im Mai durch Neugier oder Naturgewalten wieder unter Menschen kommen. Auf dem Forschungskreuzer Constitution übernehmen sie das Schiff und wollen die Besatzung in ihrem Sinne anleiten. Doch die Constitution wird von ihrem Kommandanten zerstört. Alle darauf befindlichen Dementoren verglühen im Feuer einer kleinen Kernbombe. Doch weiter nördlich erwachen drei weitere Dementoren aus der Erstarrung und können aus den Eiskugeln befreit werden, in denen sie über Wochen über das Meer getrieben sind. Von der Flut übermäßiger Lust und Freude angelockt entern sie heimlich das Luxusschiff Paradiso di Mare, auf dem superreiche Männer und Frauen ihren Gelüsten nachgehen. Unter den Passagieren ist auch der vor der Rache seiner chinesischen Feinde geflüchtete Mafioso Pontebianco mit drei Leibwächtern. Diese bekommen mit, dass sich offenbar etwas anbahnt, dass ihnen allen schwer zu schaffen machen wird. Doch die auf das Luxusschiff gekommenen Unheilsbringer sind schlau und arbeiten sich ganz behutsam vor. Dennoch ist der Tag nicht mehr fern, wo sie das Schiff komplett unterwerfen und ihren Vorhaben dienstbar machen wollen.
Auf dem Bett in der kleinen, spärlich eingerichteten Kammer im Bereich für Unterhaltungspersonal lag eine samtbraune, unbekleidete Frau. Ihre Augen waren geschlossen, ihr für ihre Herkunft untypisches goldblondes Haar lag nach hinten von ihrem Kopf weg ausgebreitet auf den weichen Kissen. Zwischen den weit gespreizten Beinen der Frau lag, zusammengerollt, den flachen Schädel auf ihrem linken Schenkel ruhend, eine ausgewachsene Königskobra, genauso erstarrt wie die Frau auf dem Bett. Wer sie so sah mochte meinen, sie sei tot, und die Schlange sei ein sehr fragwürdiges Beiwerk zu ihrer Aufbahrung. Doch beides stimmte nicht. Der Körper der Frau war nur in eine todesnahe Starre verfallen, weil ihr lebender, atmender Geist ihn verlassen hatte. Und die scheinbar erstarrte Schlange hatte den Auftrag, die deshalb wehrlose Frau zu bewachen, jeden zu beißen, der ihr zu nahe kam. Durch eine uralte Magie des indischen Subkontinentes war diese Schlange fünfmal so giftig wie ihre natürlichen Artgenossen.
Die aus ihrem Körper hinausgeschlüpfte, dadurch unbeeindruckt von jeder Form natürlicher Gewalt und Hindernisse Geistform der scheintoten Frau glitt gerade durch die Korridore des Schiffes, um das sie seit Tagen eine immer stärkere Umklammerung aus Gier und Trübsal gefühlt hatte. Seitdem sie vor einem Monat auf dem Schiff angekommen war und erst einmal mit der Flut von hemmungsloser Lust und Freude zurechtzukommen lernen musste, hatte sie nichts dergleichen verspürt. Doch ihr war sofort klar, was es sein musste: Dämonen waren von der wilden Vergnügungssucht der ahnungslosen Leute aus der angeblich so hoch zivilisierten westlichen Welt angezogen worden wie der Tiger vom Meckern der Waldziege. Erst hatte die gerade körperlos erkundende Frau gedacht, die Dämonen würden in das Schiff vordringen und dort die Quellen der ungehemmten Lust aussaugen. Doch dann hatte sie deren wahre Absicht erkannt. Sie belagerten die Vergnügungsstätten und tranken die daraus entströmende Lust und Glückseligkeit wie die Orchidee das Wasser aus der Luft. Weil diese unbekannten Unheilsboten immer stärker wurden ging die gerade als für Menschen unsichtbarer und unhörbarer Geist wandelnde Frau davon aus, dass die Menge an hemmungsloser Freude reichte, um Nachkommen zu erbrüten. Ihr war klar, dass die Dämonen bald so zahlreich werden mochten, dass sie näher auf die sich wild vergnügenden und körperlich liebenden vorrücken mussten, um sich weiterhin an ihnen zu laben. Deshalb musste sie es riskieren, sich diesen Unheilvollen zu nähern, auch auf die Gefahr hin, von diesen erspürt und angegriffen zu werden.
Die von Menschensinnen nicht wahrnehmbare Astralform der auf einem Bett im Personalbereich liegenden Frau durchdrang verschlossene Türen, durchstieß die Decks und glitt in Fahrstuhlschächten hinauf und hinab, um zu erfassen, wo sich die Unheimlichen herumtrieben. Als sie merkte, dass die Dämonen sich ausschließlich im Bereich für die Schiffsbesatzung aufhielten wagte sie es, durch die Türen einer der Personenschleusen hindurchzudringen, die zwischen den Mannschaftsquartieren und dem Passagierbereich errichtet worden waren. Sofort fühlte sie jenen bedrohlichen Sog, der die Flut aus Glück und Lustgefühlen abschwächte. In ihrem vom körperlichen Ballast befreiten Zustand war ihr angeborener Sinn zum erfassen fremder Gefühle bei Menschen und Tieren noch einmal so empfindlich wie sonst. So vernahm sie die gewisse Abweichung im unheilvollen Sog. Alle fünf Sekunden ebbte ein Teil der aus dem Schiff strahlenden Glücksgefühle ab, um dann in Form betrübender, hilflos machender Stimmung ins Schiff zurückzufließen. Doch die Dämonen waren schlau. Sie sogen nicht mit aller verfügbaren Macht auf, was ihnen angeboten wurde.
Ein sichtbares Zeichen für die Anwesenheit dunkler Geschöpfe war ein über das Verdeck bis rauf zur Brücke liegender Dunst, hellgrau und von keinem Wind und keinem Sonnenstrahl zu zerstreuen. Die Männer an Deck wirkten total niedergeschlagen, gingen ihrer Arbeit nach, ohne Freude oder Abscheu zu empfinden. Sie wirkten so wie Gefangene, denen gesagt worden war, niemals mehr das Sonnenlicht zu sehen. Dann sah die körperlose Erkunderin zwei der Unheimlichen.
Vor ihr, in der Nähe der Kommandobrücke, schwebten zwei unbekleidete, gerade einen Meter große Geschöpfe mit augenlosen Gesichtern und unnatürlich breiten Mündern, die schon eher an die Mäuler von Raubtieren erinnerten, wenn sie nicht vollkommen zahnlos gewesen wären. Die Körper der Unheimlichen wurden von einem dunklen Schleim überzogen, als hätten sie in Pech oder Erdöl gebadet. Die zahnlosen Mäuler klappten immer wieder auf und zu, wie bei Fischen, die Wasser einsaugten.
Die unsichtbare Kundschafterin schwebte einige Sekunden über derselben Stelle und beobachtete mit ihren feinstofflichen Augen, wie die Körper der beiden alle fünf Sekunden ein wenig breiter und länger wurden, sich dann wieder zusammenzogen, aber dabei doch ein winziges Stück größer erschienen. Zehn dieser Vorgänge beobachtete sie, bis sie die Gewissheit hatte, dass die beiden Unheimlichen wuchsen. Waren es also Sprösslinge, junge, noch heranreifende Geschöpfe? Wie groß würden sie werden, falls sie nicht ständig weiterwuchsen wie Urwaldbäume?
Die Antwort auf diese ungestellte Frage erhielt sie keine Minute später. Aus der Tür zur Kommandobrücke glitt eine in einen weiten, klammen Kapuzenumhang gehüllte Gestalt, die von einer dunstigen Wolke aus Dunkelheit umhüllt war. Sie war sicherlich doppelt so groß wie ein erwachsener Mann. Die als Geistform umherwandelnde fühlte, obwohl das bisher gar nicht möglich gewesen war, eine gewisse Kälte von diesem Wesen ausgehen und hörte auch die über tierhafte Instinkte hinausgehenden Gefühlsregungen. Ja, sie konnte nun, wo sie den Unheimlichen sehen konnte auch dessen Gedanken hören:
"In die Mannschaftsküche mit euch. Hier sind schon genug von uns!" Die gerade rein tierhaft nach Nahrung und Kraft gierenden Jungdämonen schwirrten wie aufgescheuchte Bienen davon. Jetzt war die als Geistform umherstreifende Frau mit dem bekleideten, ausgewachsenen Dämon alleine. Dieser drehte sich langsam hin und her, schien wohl die Umgebung zu erkunden. Dann fühlte sie einen von ihm ausgehenden Sog und auch den Eindruck, gleich nicht mehr leben zu können, nicht mehr leben zu wollen. Der Sog zog sie aus ihrer Wartestellung heraus und brachte sie immer schneller auf den Unheilsboten zu. Sie fühlte Angst und Verzweiflung in sich, wusste, dass sie zu viel gewagt hatte und dass dieses Wesen ihr auch in ihrer feinstofflichen Form gefährlich wurde. Sie fühlte, dass sie gleich sterben würde, ausgelöscht von einem Seelenverschlinger. Ja, dieses Ungeheuer konnte ganze Seelen in sich aufsaugen, erkannte sie nun. Denn die Gedanken des Dämons mischten sich zu ihrer Untergangsstimmung. Dann passierte es.
Wie ein Stoß aus Hitze jagte etwas durch die reine Geistform der gerade ihrem Tod entgegenfliegenden. Gleichzeitig meinte sie, einen silberweißen Blitz aufleuchten zu sehen. Dann durchfuhr sie ein schmerzhafter Stoß durch die Lungen. Ihr Herz pochte schnell und schmerzhaft in ihrem Brustkorb. Sie schlug die Augen auf. Sie steckte wieder in ihrem lebenden Körper. Doch die schlagartige Wiedervereinigung mit ihrer fleischlichen Hülle hatte sie so heftig aufgewühlt, dass sie meinte, gerade einen Lauf um ihr Leben bestritten zu haben. Die zwischen ihren Beinen zusammengerollte Schlange schnellte nach oben, fauchte aggressiv und pendelte einige Sekunden hin und her. "Siamala, alles wieder gut", stieß die gerade wiedererwachte Frau in zischenden Lauten aus. Die Schlange erbebte, wirkte so, als müsse sie gleich zustoßen. Doch dann entspannte sie sich und rollte sich wieder zusammen. Ihr flacher Kopf kam auf dem immer noch leicht bebenden Schuppenkörper zu liegen.
"Ich bin wieder wach, Siamala. Ich bin noch am Leben", zischte und fauchte die soeben wiedererwachte Frau und horchte mit ihrem Sinn für Gefühlsregungen hinaus, ob der Dämon, der sie eben noch angegriffen hatte, nach ihr suchte. Dabei fühlte sie auch das sanfte, warme Pulsieren an ihrem rechten Arm. Sie blickte darauf. Dort lag, für alle anderen Menschen unsichtbar, das magische Armband der Prithivi Mata an, ihrer großen Urmutter, von deren weiblichen Nachkommen sie abstammte und somit ein lebender Avatar dieser mächtigen Gottheit war. Das Armband hatte sie gerettet, ihren vom Körper gelösten Geist zurückgerufen, bevor dieser im Schlund eines Seelenfressers verschwinden und vergehen konnte. Dieses Armband schützte sie auch davor, von bösen Wesen aus der Ferne aufgespürt zu werden. Es sandte beruhigende, belebende Ströme durch ihren Arm in ihren Körper. Mit einem beruhigenden Mantra, das ihr ein Yogameister beigebracht hatte, brachte sie ihren Körper wieder zur Ruhe. Doch ihr war klar, dass sie bis auf weiteres nicht noch einmal aus ihm hinaustreten durfte.
Das Wesen, dass Captain Dornfelders halbe Seele in sich einverleibt hatte und heftig damit zu kämpfen hatte, sie nicht restlos aus dem angestammten Körper herauszusaugen oder an diesen zu verlieren, fühlte die nähe eines starken, weiblichen Wesens. Er fühlte auch, dass dieses Wesen nicht atmete, aber dennoch lebte. Es war eine freie, unverhüllte Seele, die auf eine ihm nicht bekannte Weise aus dem lebenden Gefäß entwichen war, um sich umzusehen. Der Wiedererwachte erkannte, dass das nur mit Magie gehen konnte. Die Seele einer Magierin in sich einzusaugen würde ihm sicher mehr Kraft geben, um den Führer des Schiffes weiterhin beherrschen zu können. Er sog tief die Umgebungsluft ein, fühlte wie die vor ihm schwebende Geistform auf ihn zuglitt. Er konnte sie an sich ziehen. Ja, er würde ...
Ein grässlicher Schmerz wie von zwanzig auf ihn zustürmender Hoffnungsbilder zugleich traf ihn voll und ließ ihn schreiend zurückprallen. Er fiel wie ein Stein auf das Deck und schlug auf. Der körperliche Schmerz war jedoch nichts im Vergleich zu der seine Grundsubstanz aufzehrenden Qual. Er Hächelte schnell und hilflos, während er sich unter den Nachwirkungen des ihn treffenden Schlages krümmte und wand. Dann endlich ließ die Pein nach. Er merkte, dass er am Boden lag. Welche Demütigung. Es hatte ihn nicht zurückgetrieben wie die verhassten Hoffnungsbilder, die mächtige Zauberer und Hexen beschwören konnten, sondern an ihm gefressen wie Feuer, wie das unlöschbare Feuer der Sonne oder das aus den Tiefen der Erde, dem er im Grunde sein Wiedererwachen verdankte. Er stellte fest, dass er Dornfelders halbe Seele noch in sich aufbewahrte. Zumindest das beruhigte ihn.
Wenige Minuten später trafen sich die drei ersten Besatzer dieses Schiffes, um zu besprechen, was passiert war. Die erste Regung war, in das Schiff vorzudringen und die Magierin zu suchen, die ihren Geist auf Reisen schicken konnte. Doch dann fiel dem zweiten Wiedererwachten ein, dass dadurch zu früh bekannt werden konnte, dass etwas mit dem Schiff nicht mehr stimmte. Die Quellen aus Glück und Lust am sprudeln zu halten war dann umso schwerer. Es galt, möglichst schnell genug ausgewachsene Artgenossen zu haben, um das Schiff vor allen Außenstehenden zu verbergen. Was sie jedoch gegen die unerwartete Gegnerin tun konnten war, die Glocke der zurückgehaltenen Gedanken über das Schiff zu stülpen, damit die Feindin keinen geistigen Hilferuf ausstoßen konnte. Dafür waren sie auf jeden Fall schon genug.
Der Mann, der sich hier an Bord Giovanni Bergamo nannte, war schlichtweg überwältigt. Als er an diesem Abend im Vergnügungsclub Dschungelfieber dem Auftritt eines indischen Frauenquintetts beiwohnte dachte er daran, dass es doch sowas wie Magie geben mochte. Anders konnte er sich den sowohl erotischen wie schaurig-schönen Tanz der goldblonden Vortänzerin mit einer lebenden Königskobra nicht erklären. Die Schlange hatte sich aus einer Kiste herausgewunden und war über den halbnackten Körper der von Haut- und Augenfarbe her eindeutig indischstämmigen Frau geglitten, hatte dabei mit dem Kopf ihre Scham, den Bauchnabel und die Brustwarzen berührt und sich dann im Takt ihrer anregenden Tanzbewegungen herumgewunden, bis sie den Körper der Tänzerin von oben bis unten mit ihrer gespaltenen Zunge überstrich, um dann in geschmeidigen Bewegungen von ihrer Trägerin herabzugleiten. Dass und der schon hypnotische Blick der dunkelbraunen Augen der Tänzerin, der als er Bergamo traf in ihm eine Flut von Glückseligkeit auslöste, hatten den unter falscher Identität reisenden Capo einer mächtigen Familie darauf gebracht, dass hier übersinnliche Kräfte im Spiel sein mochten.
Immer noch berauscht von dem Eindruck, den die Darbietung auf ihn gemacht hatte sprach er mit seinen drei Leibwächtern in der Suite, die er seit einigen Tagen bewohnte.
"Findet so diskret ihr könnt alles raus, was es über diese Frau zu wissen gibt! Ich will wissen, wo sie herkommt und was sie so alles gemacht hat!"
"Schade, dass die Bühnentänzer nicht zum Direktkontaktpersonal gehören", seufzte Toni Maranelli mit sehnsüchtigem Blick.
"Der Künstlername Gauri Nagarani passt auf jeden Fall", sagte Giorgio. "Wenn ich das bisschen Sanskrit, was ich bei meinen früheren Yogaeinheiten aufgeschnappt habe richtig behalten habe heißt Rani soviel wie Königin, und Nagas sind Schlangen oder Schlangendämonen. Die Dame hat's voll drauf."
"Ja, und sicher auch gut drunter", musste Carlo eine despektierliche Bemerkung anbringen.
"Die hat mich für ganze zehn Sekunden komplett benebelt, Ragazzi. Das muss ich als Bedrohung einstufen. In den zehn Sekunden hätte mich wer locker viermal abmurksen können. Kriegt also raus, wer die Schlangenkönigin ist!""Und wenn die echt 'ne Hexe ist, Capo?" fragte Giorgio. "Am Ende schickt die uns noch eine von ihren Schlangen in die Suite oder opfert uns Kali oder Yama, um ihre Macht zu stärken."
"Wenn sie eine echte Hexe ist dürft ihr sie abknallen, wenn sie mich noch mal so aus dem Tritt bringt", knurrte Bergamo. Seine drei Wächter nickten. Doch für sich selbst dachten sie, dass sie gegen eine echte Hexe nur dann eine Chance hatten, wenn diese tief schlief und nicht von irgendwelchen gehorsamen Dienern aus der Schattenwelt bewacht wurde. Doch das passte seltsamerweise zu der merkwürdigen Stimmung, die alle die erfasste, die sich aus dem Zentrum der Vergnügungsstätten herauswagten und nach oben oder außen gingen.
"Dann kriegt mal raus, mit wem wir es zu tun haben. Mit ein paar Dollars Extrageld werden euch die freundlichen Damen an Bord sicher einiges über diese Schlangenkönigin erzählen. Ich selbst werde morgen abend versuchen, ohne aufzufliegen wen anzuspitzen, bei Mètre Casillas anzufragen, wo er die indische Schlangentänzerin her hat", sagte Bergamo. Was er wirklich an dem Tag und in der Nacht vorhatte wollte er seinen Leibwächtern nicht verraten.
Dieter Steinhauer, der leitende Ingenieur der Paradiso di Mare, hantierte scheinbar völlig freiwillig an einigen Schaltungen für die Klimaüberwachung herum. Captain Dornfelder stand reglos daneben, die Augen auf die Anzeigen für den Zustand der Luftumwälzungs- und Temperaturkontrollvorrichtungen geheftet. Wer den beiden ranghohen Offizieren in die Augen sah erkannte jedoch sofort, dass irgendwas mit ihnen nicht stimmte. Entweder hätte jemand gedacht, sie stünden unter Drogen oder seien hypnotisiert worden oder irgendwie beides zugleich. Doch die Wahrheit war viel schlimmer.
"Programm Dornröschens Spindel läuft an", verkündete Steinhauer mit einer völlig gefühllosen Betonung und einer leicht schleppenden Aussprache, als müsse er jedes Wort, ja jede Silbe einzeln aus seinem Gehirn abrufen. Dornfelder tippte eine zwölfstellige Ziffernvfolge in eine Tastatur ein und drückte den grünen, runden Bestätigungsknopf. "Programm freigeschaltet! Ausführung!" sagte der Kommandant der schwimmenden Vergnügungsoase. Steinhauer drückte zur endgültigen freigabe dreimal einen blauen, dreieckigen Knopf. Auf den Statusanzeigen der Klimaüberwachung leuchteten nun violette Balken auf. Gleichzeitig wechselte die schematische Darstellung aller Schiffsabteilungen die Einstellung. War darauf vorher je eine Anzeige für die Temperatur, Luftfeuchtigkeit und Kohlendioxydfilterung zu sehen, blinkte in jeder Abteilung und jeder Kabine außerhalb der nur für die Mannschaft bestimmten Bereiche die Anzeige:
"Notfallplan Dornröschens Spindel!
Zeit bis Vollendung: 01:00"
Während die Zeitanzeige jede Sekunde weiter herunterzählte wurde zwischen Steinhauer und seinem Stellvertreter Humphrey eine reine Gedankenverbindung hergestellt, dass dieser gleich die vier Motoren auf Gefahrenstufe hochfuhr, sobald "Dornröschens Spindel" vollständig ausgeführt war. Dornfelder, besser die Macht, die ihn seit einigen Tagen vollkommen beherrschte, bedauerte, dass es in den ganzen Räumen dieses großen Schiffes keine elektronischen Augen gab, die beobachten konnten, was passierte. Doch die Erbauer des Schiffes hatten ganz bewusst auf solche Überwachungsmöglichkeiten verzichtet, um gerade denen, die ihnen alles Geld einbringen sollten, nicht abzuschrecken oder im Nachhinein darauf zu bringen, den Reisepreis zurückfordern zu können, weil deren Intimsphäre ausgespäht worden war.
Jene, die Dornfelder und seine wichtigsten Untergebenen unter ihren Einfluss gezwungen hatten merkten aber auch so, dass sich etwas im Schiff tat. Denn die bisher so ergiebige Quelle aus Glückseligkeit und Wollust verlor an Kraft. Sie versiegte innerhalb der Zeitspanne, die Menschen eine Minute nannten und ungefähr ein Dutzend Atemzüge dauerte. Dann waren alle Regungen, die nicht von Besatzungsmitgliedern stammten so gut wie erloschen. Die Unheimlichen, die als blinde Passagiere an Bord der Paradiso di Mare gelangten und jetzt deren wahre Herren waren fühlten keine Regungen mehr, weil alle Passagiere und das Personal, dass die ganzen Vergnügungsstätten in Gang hielt bewusstlos waren. Nun gingen sie daran, die zweite Stufe ihres Planes auszuführen. Hierzu wandten alle, die bereits entstanden waren, ihre volle Ausstrahlung an. An jedem Punkt des Schiffes stand mindestens ein ausgewachsenes Einzelwesen. Schlagartig hüllte ein beinahe nachtschwarzer Nebel das Schiff ein, drang sogar bis unter die Wasseroberfläche und umspannte den Kiel. Die Unheimlichen hatten jedoch genau darauf geachtet, nicht ihre ganze Ausstrahlungskraft aufzubieten, die alles magielose Licht verschluckt hätte. Denn um die Maschinen mit der äußersten Kraft betreiben zu können durften deren Kühlsysteme nicht vereisen.
Der Rudergänger auf der Brücke änderte den Kurs um zwanzig Grad nach Steuerbord und fuhr die Maschinen behutsam auf volle Kraft hoch. Um mehr Fahrt machen zu können musste jedoch einer der Ingenieure die Gefahrenstufe freischalten.
Steinhauers Stellvertreter wartete im Maschinenleitstand auf das Kommando, die vier hausgroßen Motoren auf Gefahrenstufe hochzufahren. Er hatte bereits die klare Order erhalten, dies nicht mit der im wirklichen Gefahrenfall möglichen Beschleunigung zu tun, um nichts und niemanden an Bord um- oder herunterfallen zu lassen. Er bekam mit, wie der Rudergänger vom Dienst die vier gewaltigen Antriebe behutsam auf volle Kraft hochregelte. Dann prüfte er noch einmal, ob alle Kühlsysteme zu einhundert Prozent arbeiteten und schob den Hebel zur Steuerung aller vier Motoren gleichzeitig auf äußerste Kraft. Die vier gewaltigen Antriebsmaschinen orgelten in hoher Tonlage und das Schiff zum erbeben bringender Vibration. Dann, als von der Brücke gemeldet wurde, dass das Schiff 30 Knoten Fahrt machte, legte Humphrey den roten Gefahrenhebel um. Die Antriebe wurden noch lauter und dröhnten in einer unheil verkündenden Tonlage. Eingehüllt in jenen dunklen Nebel, der die klare Sicht verwehrte und zugleich jene unsichtbaren Strahlen schluckte, mit denen die Menschen der Jetztzeit ferne Objekte erspüren und vermessen konnten, gewann der gigantische Catamaran noch mehr Fahrt. Als alle Maschinen mit der nur im Gefahrenfall erlaubten Höchstlast liefen machte die Paradiso di Mare satte 50 Knoten Fahrt. Diese hohe Geschwindigkeit konnte sie jedoch nur eine Stunde lang durchhalten. Dann würden die Kühlsysteme die hohe Betriebstemperatur nicht mehr bewältigen können und ausfallen. Doch eine Stunde war mehr als genug, um das Schiff weit genug vom vereinbarten Kurs abzubringen.
Commander Hobard hatte gerade seinen Exekutivoffizier Commander Michaels auf der Brücke abgelöst, als ein Anruf aus der Radarüberwachung einging. "Commander, wir haben soeben Kontakt mit Richard sieben zwei neun verloren, das Schiff, das ohne eigene Radarüberwachung und ohne Transponder fährt, Sir, den Tanker, Sir."
"Wie lautet die letzte sichere Position?" fragte der Kommandant der Korvette, die im Rahmen einer Routineübung vor den Bahamas kreuzte, aber schön weit in Internationalen Gewässern. Er erhielt die Positionsdatenund speiste sie in das Anzeigegerät für taktische Aufstellungen ein, dass die Position verdächtiger Überwasserfahrzeuge mit seiner eigenen verglich und darstellte. Als er dann noch die vom Radar angemessene Größe erhalten hatte gab er die Daten an die Informationszentrale weiter, um zu ermitteln, welches Schiff das überhaupt war. Sie hatten es erst gestern auf den Schirm bekommen, wie es langsam vor den Bahamas dahinglitt.
"Informationsberechtigung nur im Kriegsfall oder auf Genehmigung der Admiralität, Sir", meldete der IT-Spezialist für die Datenauswertung.
"Ach, so geheim ist das Schiff?" fragte der Commander. Dann konnte es womöglich eine neuartige Tarnung besitzen, die jetzt erst in Betrieb genommen worden war. Doch das musste er wissen. Er ließ sich über verschlüsselte Satellitenleitung mit dem für seinen Flottenstützpunkt zuständigen Admiral verbinden. Diesem schilderte er die Lage und bat um den Berechtigungscode.
"Den brauchen Sie nicht. Das ist die Paradiso di Mare, ein schwimmendes Las Vegas. Warum das Schiff geheim ist liegt daran, dass wir ein Abkommen mit den Eignern haben, es notfalls zum Truppentransport und als schwimmender Hubschrauberlandeplatz einsetzen zu dürfen. Nein, das Schiff hat keine Radarabschirmtechnologie an Bord. Daher erhalten Sie die Genehmigung, die letzte verzeichnete Position anzulaufen und nachzuprüfen. Ihnen ist auch gestattet, Funkverbindung mit der Paradiso aufzunehmen. Der Funker soll als Erkennungscode die Bezeichnung Seeseitenserenade" durchgeben", sagte Admiral Peterson. Dann schwieg er einige Sekunden. Dann sagte er: "Halt, Kommando zurück. Vermeiden Sie Funkkontakt. Laufen Sie die Position nur an und versuchen Sie, das Schiff zu sichten. Nehmen Sie dann direkten Kontakt mit uns auf!"
"Verstanden, Sir", erwiderte der Commander der Dover.
Um die Strecke zur letzten erkannten Position zurückzulegen brauchte das Kriegsschiff bei voller Fahrt voraus neun Stunden. Als es dort eintraf war kein weiteres Schiff in Sicht.
"Schiff verschwunden, keine Wrackteile, keine Boote im Wasser", meldete Hobard an die Admiralität weiter, was er entdeckt hatte.
"Wir haben auch keine Satellitenortung von dem Schiff. Es ist scheinbar verschwunden. Bleiben Sie an der gerade bezogenen Position und warten Sie auf weitere Instruktionen!" lautete der neue Befehl.
Die Dover ankerte, um Treibstoff zu sparen und hielt hielt auch den kleinen, mit leichten MGs bewaffneten Aufklärungshubschrauber bereit, um bei Sichtung oder Ortung eines Schiffes unverzüglich handeln zu können. Die Wachen wechselten in festgelegter Weise. Um 23:15 Uhr Bordzeit erhielt der gerade in seiner Kabine eingetroffene Kommandant einen Anruf von der Brücke:
"Sir, wir haben eine neue Ortung. Ich schlage vor, dass Sie das selbst mitverfolgen, Sir."
"Ich wollte mich gerade hinlegen", grummelte Hobard. Doch die Meldung machte ihn schlagartig wieder munter. Er fragte über die Bordsprechanlage, ob es sich um einen bereits verzeichneten Kontakt handelte."Negativ, Sir. Aber falls Sie sich das nicht selbst ansehen möchten kann ich das natürlich auch übernehmen", erwiderte Lieutenant Commander Fitzpatric. Commander Hobard verneinte das und kündigte seine Ankunft in zwei Minuten an.
Auf der Kommandobrücke vollzog Commander Hobard die vorübergehende Ablösung, befahl jedoch seinem ausführenden Offizier, dass er noch auf Station bleiben sollte. Dann rief er die Radarüberwachung an.
"Unbekanntes Objekt aus Richtung null zwei acht mit achtzig Knoten annähernd. Identifikationsprogramm kann nicht klar definieren, ob Überwasserfahrzeug oder tieffliegendes Luftfahrzeug", meldete der Radaroffizier vom Dienst. Hobard verlangte eine genauere Angabe über das sich annähernde Objekt und fordete eine Übertragung des Radarbildes auf seinen Kontrollbildschirm an. Als er das Ortungsbild selbst sah verstand er, warum das Objekterkennungsprogramm Probleme hatte. Denn mal erschien das geortete Objekt als Schnellboot, dann wieder als tieffliegendes Flugzeug oder Helikopter und dann wieder als Boot. Für handelsübliche Luftüberwachungsradare wäre das Objekt auf jeden Fall unortbar gewesen. Welchem Jahrhundertzufall verdankten sie es, dieses sich annähernde Etwas überhaupt entdeckt zu haben?
"Ausguck, in Richtung null zwei acht ausspähen und Meldung machen, wenn unbekanntes Objekt in Sicht ist!" befahl Hobard dem Beobachter im Mastkorb, der auch in Zeiten von Radar, Lidar und Satellitenüberwachung nicht ganz aus dem Einsatzbereich eines Marinesoldaten verschwunden war.
"Objekt dreht ab", meldete der Radaroffizier fast überflüssigerweise, weil der Commander ja noch immer die Kopie des Ortungsbildes auf dem Schirm hatte.
"Entfernt sich mit hundert Knoten und beschleunigt weiter. Das ist eindeutig kein Boot", erkannte der Kommandant der Dover. Er beauftragte den Funker, eine entsprechende Meldung an die Admiralität zu übermitteln und um Genehmigung zu bitten, das fremde Objekt mit dem an Bord stationierten Aufklärungshelikopter verfolgen zu dürfen, bevor es aus der Radarerfassung verschwinden konnte.
Offenbar war er zu Alt für sowas, erkannte der Mann, der sich hier an Bord Giovanni Bergamo nannte. Er war der Gegeneinladung Doña Margarita de Piedra Rojas' gefolgt und hatte sie in ihrer Suite besucht, ohne seine Leibwächter. Die sollten ja rauskriegen, wer diese Schlangentänzerin Gauri Nagarani war. Nach einem erlesenen Abendessen zu zweit bei Kerzenlicht hatten sie sich mit Hilfe eines Aufmunterungstrunks in die rechte Stimmung und Ausdauer versetzt, die Nacht in wilder, freier Liebe zu verbringen. Doch bei der dritten Runde war er schlicht und ergreifend von einem zum anderen Moment weggeschlummert, gerade, wo er mit der peruanischen Kokainkönigin in vollendeter Vereinigung lag. Genau in dieser Lage erwachte er nun wieder. Er fühlte jedoch, dass er offenbar noch erregt genug war, um die Verbindung aufrecht zu halten. Und auch seine illustre wie mächtige Gespielin schien einige Sekunden oder Minuten des leidenschaftlichen Beisammenseins verschlafen zu haben. Denn sie wand sich ein wenig, bis sie begriff, dass sie noch mit ihrem ausgewählten Liebhaber verbunden war.
"Immerhin bist du mir nicht entwischt, mein römischer Held", flachste sie und verstärkte die Umarmung wieder, um ihn an sich zu halten. Er dachte daran, dass er vielleicht doch besser ablassen sollte. Doch ihre unmissverständlichen Bewegungen und sein durch die Wunderdrogen aufgeputschtes Geschlecht verjagten alle Gedanken an vorzeitigen Abbruch des laufenden Liebesspiels. Erst als er fühlte, dass er einmal mehr den Höhepunkt erreicht hatte und auch sie ihre höchste Lust in den schalldichten Schlafraum der Suite hinausgeschrien hatte, durfte er für sich selbst sein. Er horchte auf sein wild wummerndes Herz. Vielleicht hatte die Gevatterin Tod bereits die Sense über ihm geschwungen, um ihn abzuberufen. In der Lage, in der er sich wiedergefunden hatte wäre das sicher ein sehr schöner Tod geworden.
"Wir waren beide für ein paar Sekunden ganz weg, wie?" meinte die Frau, die sich von ihm Gita nennen ließ. "Offenbar war in dem Wein der Aphrodite was drin, was uns einige Zeit verschlummern lassen hat. Und trotzdem bist du schön mit mir zusammengeblieben. Bist du verheiratet? Wenn nicht sollten wir mal beim Kapitän fragen, ob der uns traut."
"Ich gebe besser keine Antwort da drauf, Gita", erwiderte Bergamo. Ihr zu sagen, dass er in New York eine Frau wohnen hatte würde zu viel über ihn verraten. Und ob er weiterhin mit Margarita wilden Sex erleben durfte war auch fraglich. Nachher schaffte diese hemmungslos liebende Lebedame das, was ein Angriffskommando des weißen Lotos nicht geschafft hatte. Dann wäre die ganze dekadente Kreuzfahrt völlig wertlos gewesen. Außerdem wusste er zu gut, dass Margarita jede Konkurrentin um die ungeteilte Hingabe eines gerade gehaltenen Liebhabers aus der Welt schaffen ließ. Entweder ertranken die beim Baden, ließen Föns in volle Badewannen fallen oder fielen von Balkons oder Dächern herunter, weil sie angeblich nicht damit fertig wurden, dass ihre festen Freunde oder Ehegatten sich von ihnen abgewandt hatten. Im Mittelalter hätte man Margarita sicher als Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Außerdem wollte er es nicht darauf anlegen, irgendwann wie ihr erster Mann zu enden, wenn sie seiner überdrüssig war und lieber wen jüngeren zu sich holte.
"Am besten sollten wir zwei jetzt das Bett auf anständige Weise benutzen", sagte Bergamo. Zu seinner Beruhigung willigte Margarita ein. Denn offenbar war ihr auch nicht so wohl bei dem Gedanken, dass sie mitten im Liebesakt für einige Sekunden völlig weggewesen war.
Als Giovanni Bergamo und seine heiße Urlaubsbekanntschaft nach mehreren Stunden Schlaf wieder aufwachten ließen sie sich Frühstück in die Suite kommen. Bergamo verlangte sogar Kopfschmerztabletten, weil das Abklingen des Drogencocktails offenbar wie eine durchzechte Nacht wirkte. Als er, wie er an der stilvollen, goldenen Wanduhr im Salon ablesen konnte, um halb eins mittags Bordzeit die mit sündteueren Orchideen und anderen Blumenaarangements ausgeschmückte Suite der Doña de Piedra Roja verließ versuchte er über sein getarntes Funkgerät mit seinen Leibwächtern Kontakt aufzunehmen. Doch weder Giorgio, noch Carlo, noch Toni meldeten sich. Das ging so nicht, fand Bergamo und suchte die Suiten seiner drei Gefolgsmänner auf. Doch auch da waren sie nicht zu erreichen. Bergamo hatte ein unbestimmtes Gefühl, dass irgendwas hier nicht mit rechten Dingen zuging. Der Instinkt des über Jahrzehnte außerhalb der Gesetze gewandelten schlug alarm. Wenn seine Wachen verschwunden blieben war er allein und ausgeliefert. Das durfte nicht sein. Hoffentlich hatten die bei der Suche nach Gauris Herkunft nicht wirklich einen schlafenden Hund oder ein Nest schlafender Schlangen aufgeschreckt. Dann hatte er sie auf dem Gewissen und musste mit einer Gegenaktion der indischen Schlangenkönigin rechnen. Er dachte daran, dass an diesem Tag noch ein Zubringerhubschrauber landen und neue Passagiere für den schwimmenden Sündenpfuhl abladen würde. Am besten checkte er spontan aus und flog mit denen zurück, die das Lasterleben hier an Bord lange genug ausgekostet hatten. Nur durfte seine Urlaubsgespielin nichts davon erfahren.
Als er auf der Suche nach seinen Leibwächtern in die Zone der Vergnügungsstätten und Lustgärten eintrat fiel ihm die auch für ein Schiff wie dieses ungewöhnlich hohe Euphorie bei den Passagieren auf. Sie lachten, tanzten und grinsten schon sehr einfältig. Einige schinen sich gezielt zu suchen und wenn sie sich gefunden hatten sehr schnell zu den sattsam bekannten Stellen zurückzuziehen, wo sie es miteinander treiben konnten. Bergamo fühlte, wie auch ihn eine neuerliche Lust auf Spaß und Liebesvergnügen befiel. Auch wenn es gerade wenige Stunden her war, wo er mit der limanesischen Löwin wilden Sex erlebt hatte schien er noch nicht restlos ausgelaugt zu sein. Er fühlte, wie er die ihn lachend und kichernd umtanzenden Frauen und Mädchen begehrte, ja sogar eine der älteren Lebedamen, die große Wohlstandsbäuche zur Schau trugen, anschmachtete. Ein durchtrainierter Mann mit wasserstoffblonder Dauerwelle tänzelte auf ihn zu und machte einladende Gesten. Bergamo wartete, bis der andere auffordernd seine Arme ausbreitete. Dann verpasste er ihm einen ansatzlosen Kinnhaken und freute sich, dass er trotz der langen Liebesnacht noch genug Mumm in den Armen hatte, den ihn begehrenden Mann aus dem Weg zu hauen. "Du bist nicht mein Typ!" knurrte er den von seinem Schlag halbohnmächtig gewordenen Mann an, bevor er weiterging.
Je tiefer er in den Sündenpfuhl der Paradiso di Mare vordrang, desto stärker und schmerzhafter fühlte er sein Geschlecht nach neuer Betätigung verlangen. Sein Atem ging schnell und stoßweise. Seine Nase reagierte überempfindlich auf die Ausdünstungen von Parfüm, Körperlotionen, Rasierwasser und Schweiß. Eine drei Zentner wiegende Frau mit eindeutig gestraffter Oberweite überfiel ihn aus der Deckung eines bunten Tropenbusches heraus. Sie trug außer einer textilarmen Bikinihose nichts anderes am Leib. Bergamo fühlte, wie er dieses füllige Frauenzimmer begehrte. Doch sein Rest an Verstand protestierte dagegen, es mit der Dame hier und jetzt zu treiben. Bevor es zwischen Verstand und Begierde entschieden war hatte ihn die füllige Frau erreicht und riss ihn mit einer von ihm nicht erwarteten Kraft von den Beinen. Sie warf ihn sich über die linke Schulter wie einen Sack Federn und trug ihn davon. "Du gehörst jetzt mir und bleibst bei mir", sagte sie. Er versuchte, sich zu wehren, sich nicht in jeder Hinsicht abschleppen zu lassen. Doch der Geruch ihres Körpers und der Ausblick auf ihre unnatürlich perfekte Oberweite kämpfte gegen sein Ehrgefühl an, sich nicht mal soeben vereinnahmen zu lassen. Da zuckte die überproportionierte Mitreisende zusammen, stöhnte kurz auf und fiel um, zum Glück für Bergamo nicht auf den Rücken, sondern auf den Bauch.
"Das fehlte mir noch, dass dich diese Matrone einverleibt und mir dann nichts mehr übriglässt", schnaubte Margaritas Stimme, die merkwürdig hohl klang. Erst als Giovanni Bergamo begriff, dass er gerade noch einmal davongekommen war sah er die Frau in einem korallenroten Taucheranzug mit geschlossenem Helm und geschulterten Pressluftflaschen. In der rechten Hand hielt sie eine kleine, einer harmlosen Wasserpistole ähnelnde Waffe.
"Kriegst du es noch hin, nicht auf drei Beinen hinter mir her zu laufen, Süßer?" fragte sie auf Spanisch. Der gerade vor einer wie auch immer angeregten Mitreisenden errettete erkannte nun die Stimme und das hinter dem Helmvisier sichtbare Gesicht. Es war die Doña de Piedra Roja. Bergamo nickte, wobei er sich fragte, was Margarita in diesem Aufzug wollte.
Als sie es schafften, an weiteren liebeshungrigen Frauen und Männern vorbeizukommen, wobei Margarita zwischendurch haardünne Pfeile aus ihrer Waffe verschoss, um aufdringliche Leute von sich und ihm abzubringen, erkannte Bergamo, was hier los war. Das half ihm, seinen immer mehr fordernden Geschlechtstrieb niederzuhalten.
"Die haben eine gasförmige Droge in die Klimaversorgung geblasen", stellte er fest, als sie vor seiner Suite anhielten. Margarita prüfte mit einem kleinen Instrument die Luftzusammensetzung, nickte und öffnete den Helm. Ihr langes Haar fiel über ihre Schultern herab und versetzte Bergamo einen neuerlichen heißen Schauer.
"Ja, und ich weiß auch welche. Mit dem Zeug haben einige Leute aus den Staaten sich die ewige Feindschaft von Chinesen und Kolumbianern zugezogen. "Wind von Darkover" heißt dieses Zeug, nach der berauschenden Wirkung von Blütenpollen in bestimmten Winden eines fiktiven Planeten aus den Romanen von Marion Zimmer Bradley. Das Gerät hier ist auf die von meinen Mitarbeitern entschlüsselten Wirkstoffe kalibriert und hat mich gewarnt, als ich unterwegs zum Schwimmen war. Da bin ich schnell wieder in meine Suite und habe meinen Taucheranzug geholt, mit dem ich hier an Bord gerne mal in den Tieftauchbecken herumschwebe."
"Aber woher wusstest du, wo ich war, Gita?" fragte Bergamo argwöhnisch.
"Ich wusste es nicht. Ich hoffte, dich noch zu finden, bevor dich eine andere als ich für sich begeistern konnte. Also ehrlich, dass du dich von einer nordamerikanischen Ölmilliardärswitwe abschleppen lässt sollte mich aber jetzt sehr wütend machen."
"Ich werde mich zu gegebener Zeit erkenntlich zeigen", sagte Bergamo. "Aber im Moment merke ich, dass ich mich wohl doch sehr heftig überanstrengt habe."
"Ja, am besten schließt du dich ein und schläfst lange genug und isst nur das Zeug aus den Vorräten, die im Kühlschrank sind. Am Ende haben die auch alles andere essbare hier mit zusätzlichen Scharfmachern versetzt."
"Aber wozu das? Die Leute hier sind doch auch so schon so drauf", stöhnte Bergamo.
"Kriegen wir zwei hübschen noch raus", knurrte Margarita kampfeslustig. Dann deutete sie auf die Tür von Bergamos Suite. Er nickte und verabschiedete sich von ihr.
Wieder in seiner eigenen Suite atmete er durch. Hier war die Luft auf jeden Fall unbelastet. Er fühlte, wie seine Erregung endlich nachließ. Doch welchen Preis würde der Entzug von der Droge fordern? Vielleicht sollte er sich mit Beruhigungsmitteln aus seiner mitgebrachten Hausapotheke zudröhnen, damit er die Nachwirkungen nicht mitbekam. Ja, das war eine gute Idee, und eine winzige Dosis eines Herzberuhigungsmittels sollte er dann besser auch gleich nehmen, auch wenn die Gefahr, dabei wegen Herzaussetzer zu sterben möglich war. Doch besser, als sich noch einen Herzinfarkt zuzuziehen, weil er innerhalb von vierundzwanzig Stunden so heftige Anstrengungen und Gefühlswogen auszuhalten gehabt hatte.
Die Unheimlichen hatten die Zeit genutzt. Die noch jungen, die noch keine eigene kraftvolle Ausstrahlung besaßen, waren in das Schiff vorgedrungen und hatten in allen Räumlichkeiten die tragbaren Telefongeräte, Uhren und Rechner eingesammelt. Die von den Unheimlichen gesteuerten Techniker hatten die geräteeigenen Uhren dann um fünf Stunden zurückgestellt und die Programme so eingerichtet, dass sie nicht bei jedem Start die aktuelle Uhrzeit erfragten und nachstellten. Danach waren den Eigentümern ihre technischen Geräte wiedergegeben worden. Die an Bord befindlichen Uhren waren kurz vor dem Abklingen von "Dornröschchens Spindel" ebenfalls um fünf Stunden zurückgestellt worden. Das war für den ferngelenkten Steinhauer kein Akt, da er als Chefingenieur Zugang zu allen Bordeinrichtungen besaß.
Einer der ausgewachsenen versklavten Matrosen hatte auch die Kabine der indischen Schlangentänzerin Gauri Nagarani betreten. Als er die tief schlafende Frau auf dem Bett liegen sah fühlte er, wie etwas ihn abstieß, förmlich zurückdrängte. Er konnte nicht anders als aus dem Zimmer hinaustreten und die Tür von außen schließen. Jeder neue Versuch, in dieses Zimmer einzudringen misslang. Eine Kraft wie eine meterdicke Stahlwand hinderte jeden Unterworfenen der Unheimlichen daran, in diese Kabine einzudringen. Doch dies schien die unheilvollen Herren eher zu freuen als zu verärgern.
"Jetzt wissen wir endlich, wo sie ist. Wenn wir weit genug gefahren sind und genug Zeit haben werden wir sie uns holen", beschloss jener Wiedererwachte, der von der Geistform der Magierin schmerzhaft zurückgeschlagen worden war. Dann fiel ihm noch was ein. Die Inderin schlief, konnte also nicht von sich aus Magie hervorrufen. Aber wieso wehrte sie dann jeden ab, der von den Überlebenden der Insel der Verbannten berührt und unterworfen worden war?
"Wir holen Sie uns, wenn wir weit genug gefahren sind. Aber so, dass die anderen auf dem Schiff es nicht mitbekommen", legte der Erste der Wiedererwachten fest.
Als ein von den Unheimlichen versklavter Techniker verriet, dass es neben dem Betäubungsgas auch eine Vorrichtung gab, die sowieso schon vorhandenen Gelüste auf den vierfachen Wert zu steigern waren die neuen Herren der Paradiso di Mare hellauf begeistert gewesen. Denn so konnten sie das stundenlange Ausbleiben ihrer Hauptnahrung schnell und überreichlich ausgleichen. In der Zeit, in der das berauschende Gas wirkte erbrüteten die erwachsenen Exemplare zwanzig weitere Nachkommen. Die bereits zum Leben erwachten Sprösslinge wuchsen in dieser Zeit vollends aus und erzeugten ebenfalls schon die ersten Sprösslinge, so dass bereits eine dritte Generation der Unheilswesen an Bord herumglitt. Die drei Anführer, die den Keim zu dieser gruseligen Mannschaft gelegt hatten, wussten jedoch, dass Rauschmittel nicht andauernd verabreicht werden durften. Die Gefahr, Überdosen zu verabreichen war zu groß. Am Ende starben denen noch alle Passagiere weg. Dann war es mit der ergiebigen Nahrungszufuhr aus und vorbei.
So stellten sie die Zufuhr jenes verwerflichen Luftzusatzes nach zwei Stunden wieder ab. Die Wirkung würde noch vorhalten, wussten sie.
"So können wir in nur einem Mondumlauf hunderte von uns erbrüten", frohlockte der erste Wiedererwachte. Seine beiden Artgenossen widersprachen ihm nicht. Sie dachten nur daran, bald in Richtung der Inseln loszufahren, auf denen sie über Jahre hinweg gewohnt und ihre Nahrung bezogen hatten. Der, der sie in die Verbannung hatte schleppen lassen, würde bald erleben, dass er sie niemals würde loswerden können.
Um aufrechtzuhalten, dass die fünf Stunden Tiefschlaf nicht geschehen waren mussten die auf die hochauflösenden Bildschirme der Innenkabinen übermittelten Außenbilder entsprechend verändert werden, dass die Fahrgäste, die in ihren Wohnräumen oder den öffentlichen Räumen mit Außenansicht waren nicht mitbekamen, dass es viel früher dunkel wurde, als von der überall auf dem Schiff angezeigten Uhrzeit her zu erwarten war. Die drei aus der Vereisung wiedererwachten frohlockten, dass sie ausgerechnet auf einem Schiff gelandet waren, auf dem die Fahrgäste sich derartig ihren eigenen Maschinen auslieferten, dass sie den Lauf der Gestirne nicht mitbekamen und auch keinen Wert darauf legten. Dass das Sonnendeck für die Passagiere gesperrt war, weil dort ein großes Strandfest à la Karibik vorbereitet wurde, hatten die Passagiere hingenommen. Dass in der Nacht noch eine Flugmaschine mit neuen Passagieren landen sollte hatten die unheimlichen Herrscher der Paradiso di Mare zwar erfahren, aber nicht mehr für wichtig erachtet. Zwar hätten sie wohl auch gerne Nachschub an Seelen und Glücksgefühlen gehabt. Doch ihre Verborgenheit war im Moment viel viel wichtiger.
Lionel Grant war heute dran, sechs neue Passagiere auf die Paradiso di Mare zu bringen, darunter jemanden, von dem er nur wusste, dass er für die Reederei verdammt wichtig war. Doch als er den vereinbarten Treffpunkt anflog bekam er nicht das übliche Lasersignal, dass er den Vergnügungskreuzer fast erreicht hatte. Statt dessen warrnte ihn ein regelmäßiges Zweitonsignal in den Kopfhörern vor einfallenden Radarsignalen, die gemäß der zugeschalteten Frequenzmustersoftware als britisches Marineradar erkannt wurden.
"Gentlemen, ich fürchte, der Anflug auf die Paradiso di Mare wurde gerade abgesagt. Ich erhalte keine Bestätigung unseres Anfluges und auch keine Genehmigung zur Landung", verkündete der Pilot, während die Lautstärke des Fremdortungswarners immer größer wurde und die Pausen zwischen den Warntönen immer kürzer gerieten. Zwar bemühte sich der Pilot darum, die Maschine mit Hilfe eines Infrarotscheinwerfers und darauf abgestimmten Sichtgerät gerade ganz knapp über den Wellenkämmen zu halten, wusste aber auch, dass er militärischem Radar so nicht ganz entgehen konnte. Außerdem flog er mit 80 Knoten, also etwas mehr als 148 Stundenkilometern, was ihn eindeutig nicht als Boot oder gar Schiff durchgehen ließ. Als zu dem üblichen Warnsignal noch ein kurzes Plong-plong dazuklang wusste er, dass er genau auf das mit seinem Radar um sich strahlende Schiff zusteuerte.
"Gentlemen, ich fürchte, wir haben unerwünschte Zuschauer unseres Anfluges zu erwarten. Falls Sie es möchten, setze ich den Anflug fort. Wenn nicht drehe ich ab", übertrug der Pilot die Entscheidungsverantwortung auf seine Passagiere.
"Woher wissen Sie das mit dem unerwünschten Zuschauer?" fragte ein Mann mit eindeutig arabischem Akzent. Grant erwähnte die Fremdortungswarnvorrichtung. "Sofort abdrehen und zum Ersatzlandeplatz zurück!" rief ein vom Akzent her US-amerikanischer Passagier. Der Araber fragte, ob die Ortungswarnvorrichtung auch erzählte, mit welchen Radarfrequenzen der unerwünschte Beobachter arbeitete. Grant erwähnte es und informierte auch sofort, dass es sich um ein Schiff der Royal Navy handeln musste.
"Dann bleiben Sie bloß im Tiefflug, damit die nicht noch was auf uns abschießen!" forderte ein weiterer Passagier, dem Akzent nach britischer Staatsbürger. "Nachher glauben die noch, wir seien Al-Qaida-Terroristen."
"Ich drehe ab", bestätigte der Pilot und vollführte mit der Maschine einen sehr engen Bogen, wobei er fast in den Berg einer 15 Meter hohen Welle hineinstieß. Er zog den Helikopter deshalb lieber noch um zehn Meter nach oben, um dann zu beschleunigen. Dass er sich damit verdächtig machte war ihm klar. Doch andererseits galt für einen Fall wie diesen, dass sie nicht von irgendwelchen Schiffen von Zoll, Marine oder Küstenwache erkannt werden durften. Als der Hubschrauber mit nun 200 Stundenkilometern über das Meer dahinflog und wegen der geringen Flughöhe mit seinen Luftverwirbelungen Schaumwirbel auf der Wasseroberfläche erzeugte hoffte Grant, dass er wegen dieser Flucht vor einem fremden Schiff keinen Anpfiff kassieren würde. Denn Passagiere auf die Paradiso zu bringen und jene, die sich dort lang genug ausgetobt hatten abzuholen brachte der Reederei eine Viertelmillion pro Nase, also bei sechs abzuliefernden und sechs aufzugabelnden Passagieren ganze drei Millionen Dollar ein. Doch weil die Passagiere gute Gründe hatten, beim Einschiffen und bei der Abreise nicht von irgendwelchen Behörden behelligt zu werden galt die Vorschrift, lieber abzudrehen, wenn was nicht stimmte. Und bei dem Anflug stimmte nicht nur etwas nicht, sondern überhaupt nichts. Jetzt galt es auch, nicht den eigentlichen Anflugpunkt für die abgeholten Passagiere anzusteuern, sondern den Ersatzlandepunkt.
Das Fremdortungswarnsignal klang nun nicht mehr so häufig und laut wie vorhin noch. Sie entfernten sich also von dem Schiff. Doch wenn es ein Navy-Kreuzer war mochte es sein, dass der einen Hubschrauber an Bord hatte. Also waren sie nicht aus dem Schneider, erkannte Grant, während er seine Maschine fast in Surfermanier über die Wellen dahinbrausen ließ. Die angeschnallten Passagiere wurden durch die von den Wellen verdrängte Luft immer wieder in ihren bequemen Sesseln hin und hergeworfen. Der Passagier aus Großbritannien blickte besonders kritisch auf den Piloten.
"Wenn Sie so weiterheizen schicken die Jungs von der Navy uns noch Flugzeuge auf den Pelz. Gehen Sie mit der Geschwindigkeit runter, bevor wir voll in die See krachen!"
"Tut mir leid, Sir! Aber wenn ich Abdrehorder erhalten habe und noch dazu im Bereich von Radar herumfliege muss ich mit möglichst hoher Geschwindigkeit zurückfliegen", erwiderte der Pilot, dem noch einfiel, wie er das begründen musste, wenn er nicht sagen wollte, dass er keine weiteren Befehle entgegennehmen wollte. "Außerdem müssen wir aus dem Radarbereich raus, bevor die meinen, uns noch einen Heli hinterherschicken zu müssen. Je mehr Abstand ich zwischen denen und uns kriege je schwerer wird es für die, uns doch noch einzukassieren, Sir."
"Sehe ich ein", knurrte der Passagier.
So verlief der Flug holperig und in gefährlicher Nähe zur Wasseroberfläche. Erst als das Zweitonsignal der Fremdortungswarnung ganz verstummte nahm der Pilot die Fahrt zurück und änderte den Kurs so, dass er in dreißig Minuten Flugzeit den Ausweichlandepunkt erreichte. Seine Passagiere grummelten zwar, dass sie nicht auf die Paradiso gekommen waren, wagten aber nicht, dem Piloten dafür die Schuld in die Schuhe zu schieben. Dass sie froh sein konnten, nicht auf den Vergnügungskreuzer gelangt zu sein, fiel ihnen nicht ein.
Commander Hobard schüttelte den Kopf, als er von seinem obersten Vorgesetzten persönlich die Order erhielt, den flüchtenden Hubschrauber nicht mit dem bordeigenen Helikopter zu verfolgen. Was oder wer war da so wichtiges drin? "Wir haben ein Satellitenbild von der Maschine, Commander und verfolgen sie per Infrarot. Damit erübrigt sich jede direkte Verfolgung", begründete der Admiral den Befehl, obwohl das nicht nötig war.
"Verstanden, Sir. Wie lauten meine Befehle?" erwiderte Hobard.
"Position halten! Weitere Kontakte unverzüglich melden! Keinerlei Maßnahmen gegen annähernde Luft- und Überwasserfahrzeuge ergreifen, es sei denn, Sie werden mit Angriff bedroht oder unmittelbar angegriffen!"
"Verstanden, Sir", bestätigte Hobard die Befehle. Dann wandte er sich an Fitzpatric, seinen ersten Offizier.
"Sie haben die Befehle verstanden. Führen Sie sie aus, Commander!"
"Aye aye, Sir", bestätigte Michaels. "Ich gehe jetzt wieder in meine Kabine und schlafe. Ruhige Wache!"
"Guten Nacht, Sir", erwiderte Michaels respektvoll.
Bergamos Kopf dröhnte noch, und ein unverkennbarer Schmerz in seinem Brustkorb und allen Gliedern verriet ihm, dass er wirklich sehr sehr nahe am Totalzusammenbruch entlanggeschrammt war. Ohne sich an einen Traum erinnern zu können hatte er die ganze Nacht und den halben Morgen durchgeschlafen. Erst das elektronische Glockenspiel der Türklingel weckte ihn auf. Er brauchte eine halbe Minute, um sich zu orientieren. Dann rollte er sich aus dem übergroßen Bett heraus und pflückte den teuren Morgenrock von einem der Beistellstühle.
"Vor der Tür stand ein sichtlich geschafft aussehender Giorgio Moretti. Sein Gesicht war bleich, seine Augen eingefallen. Von der berufsmäßigen Fitness war gerade nichts zu erahnen. Sich mit der linken den irgendwie überschweren Kopf stützend deutete der Leibwächter Bergamos auf den Flur der Suite.
"Hat es dich erwischt, Giorgio", spottete Bergamo und winkte ihm zu.
"Miststoff!" fluchte Giorgio auf Italienisch, als er die schalldichte Tür von innen zugedrückt hatte. "Ich kann mich nur dran erinnern, dass ich neben einer von den Bordnutten aufgewacht bin und es noch hingekriegt habe, abzuhauen, bevor die aufgewacht ist. Mein ganzer Körper ist ein einziger Schmerz. Habe mir aus der Bordapotheke den heftigsten Hammer gegen Kopf- und Gliederschmerzen eingeworfen. Aber das Zeug benebelt mich. Muss heute wohl aussetzen, Capo. Besser ist's, wenn du in der Suite bleibst. Ich garantiere heute für nichts mehr. Die Sausäcke haben irgendein Dreckzeug in die Klimaanlage geblasen, was die alle hier heiß und scharf wie Laserstrahlen gemacht hat. Mir tat alles weh, als ich aufgewacht bin. Nur mein Training hat mich weit genug hingekriegt, zumindest noch zu meiner Suite hinzukommen. Am besten checken wir aus und machen den Abflug, bevor die uns alle noch mal mit sowas erwischen und dann der Lotos oder wer anderes uns alle wehrlos abzocken kann."
"Hast verdammt recht, knurrte Bergamo, dem jetzt erst aufging, in welcher Gefahr er schwebte. Er hatte sich zu sehr darauf verlassen, dass die Besatzung nichts unternahm, was die Selbstbestimmung aller Passagiere gefährdete. Doch jetzt musste er einsehen ..."
"Scheiße!" fluchte er, auch seine Muttersprache benutzend. "Wenn der Heli mit den Neuen im Plan bleibt ist der in der letzten Nacht gelandet und wieder gestartet. Verdammt! Deshalb haben die uns hier alle mit diesem Zeug benebelt, um wen heimlich an oder von Bord zu kriegen. Aber das soll mir Dornfelder büßen."
"Der Captain?" fragte Giorgio. Bergamo nickte. Dann fragte der Capo noch nach den beiden anderen.
"Liegen wohl noch irgendwo an Bord rum oder sind gerade erst aufgewacht, wenn die von diesem Miststoff nicht dazu getrieben wurden, über Bord zu springen, weil die dachten, sie könnten fliegen", knurrte Moretti. Da läutete wieder die Türglocke. Vor der Tür standen die zwei anderen Leibwächter. Sie boten dasselbe Jammerbild wie ihr Kollege Giorgio und hatten es noch nicht mal für nötig befunden, anständige Ausgehkleidung anzuziehen.
"Capo, wir haben ein Problem", keuchte Toni, bevor ihm Bergamo einen kräftigen Schluck Karibikrum aus dem Vorrat der Suite zu trinken gab. Nachdem der Leibwächter die Wirkung des hochprozentigen Getränkes überstanden hatte zeigte dieser dem Capo zwei Dinge, sein Medaillon, ein Geschenk seiner Eltern und einen kleinen GPS-Empfänger. Das Medaillon war in Wirklichkeit eine kleine Uhr, die schon Tonis Urgroßvater gehört hatte und ihm immer die genaue Zeit verraten sollte. Die mechanik war so präzise und störunanfällig, dass sie in zehn Jahren nur eine halbe Minute nachging und durch die raffinierten Winzgewichte nie aufgezogen werden musste, wenn sie einmal mit dem entsprechenden Schlüssel in Gang gesetzt worden war. Sie zog sich durch die Körperbewegungen ihres Trägers immer wieder selbst auf.
"Die geht in zwanzig Jahren gerade eine Minute nach, Capo. Aber wie du hier siehst scheint irgendwer die verstellt zu haben. Oder wieso geht die jetzt ganze fünf Stunden vor?" Er zeigte dem Capo das kleine, mattsilbern glänzende Zifferblatt mit den von kleinen Kreisen umschlossenen römischen Zahlen. Die Zeiger standen tatsächlich so, dass sie der von der stilvollen Standuhr im Salon gezeigten Uhrzeit um fünf Stunden vorauseilten. "Ja, und das GPS-Gerät geht nicht mehr, obwohl der Akku voll ist. Kein Empfang. Wollte noch versuchen, auf's Sonnendeck rauszugehen. Doch dabei ist mir irgendwie total trübselig geworden, als wenn da draußen gerade die zweite Sintflut tobe und ich die Arche nicht verlassen dürfe, wenn ich nicht ertrinken wolle", sagte Toni.
"Du hast deine Uhr nicht auf mitteleuropäische Zeit umgestellt, Toni?" wollte Bergamo wissen. Der Gefragte schüttelte den Kopf.
"Dann hat sich bei diesem Supersexflash jemand in Tonis Suite geschlichen und seine Uhr verstellt", feixte Carlo.
"Du sei mal ganz ruhig", knurrte Toni und deutete drohend auf Carlo. "Dich musste ich doch vor einer Stunde unter gleich Zwei Bordschlampen wegholen, und das bei meinem heftigen Muskelkater und der schweren Birne."
"Hmm, wer sollte deine Uhr verstellen?" fragte Giorgio. Der Capo winkte jedoch schnell ab.
"Öhm, dieses Medaillon ist nur als Uhr zu erkennen, wenn wer den Deckel über dem Zifferblatt aufkriegt, Toni, richtig?" Toni nickte und führte mit leicht zitternden Fingern vor, wie der silberne Deckel geschlossen und wieder geöffnet werden konnte. "Nur wer weiß, wie das geht und weiß, dass das Medaillon eine Taschenuhr ist kriegt den Deckel überhaupt auf."
"Dann hat niemand deine Uhr verstellt", sagte Bergamo unvermittelt ernst. "Denn wer nicht weiß, dass das eine Uhr ist hätte die ja dann auch nicht verstellen können. Dann geht die richtig, aber die anderen Uhren gehen fünf Stunden nach."
Die Heftigkeit dieser Aussage drang in die Gehirne der drei Leibwächter, die von irgendwelchen Schmerzmitteln noch sehr träge waren. Als sie aber vollends wirkte erbleichten die drei noch mehr. Carlo und Giorgio hoben ihre Armbanduhren und verglichen sie mit der Zeit auf der Standuhr. Toni betrachtete sein GPS-Gerät, das ja auch eine Uhrzeitfunktion besaß, um die gültige Ortszeit anzuzeigen. Auch diese stimmte bis auf eine halbe Sekunde mit der Anzeige seiner Digitalarmbanduhr überein, die mit der Zeigerstellung der Standuhr zusammenpasste.
"Mist verdammt und zugenäht", fluchte Bergamo, dem nun selbst klar wurde, was seine Bemerkung bedeutete. "Irgendeine Saubande hat das Schiff übernommen und mal eben alle erreichbaren Uhren um fünf Stunden zurückgedreht, damit wir nicht mitbekommen, dass wir fünf Stunden ... durchgepennt haben." Er errötete leicht an den Ohren. Denn wenn das stimmte, dann hieß das ... Schon heftig, diese Vorstellung. Aber es gab wichtigeres. "Irgendwer, der alle Suiten aufschließen kann, hat uns alle unter ein Betäubungsmittel gesetzt und in der Zeit, die das Zeug wirkte, alle Uhren umgestellt und wer weiß nicht noch was angestellt. Moment, ich erinnere mich, dass ich was von einer Antipanikvorrichtung gelesen habe, die im Schiff verbaut ist und ... Aber die soll doch nur da wirken, wo viele Leute zugleich sein können. Die Suiten sollen unbehelligt sein, weil die als Rückzugsräume gebraucht werden. Dornfelder, du bist ein toter Mann und alle, die dir geholfen haben."
"Capo, wir sollten zusehen, dass wir vom Schiff runterkommen, bevor uns wer endgültig abräumt", sprach Carlo den Gedanken aus, den der Mann, der sich Giovanni Bergamo nannte, schon längst hegte.
"Ccheckt erst mal die Suite auf Mithörgeräte!" zischte er. Die Vorstellung, dass seine Suite nun total verwanzt war machte ihm Angst. Und diese Angst schürte Wut in ihm, die trotz der immer noch wirkenden Beruhigungsmittel immer stärker an seiner eigenen Selbstbeherrschung nagte. Auch seinen Leibwächtern konnte er die Beunruhigung ansehen. Dennoch nahmen sie die mitgebrachten und nicht als solche erkennbaren Suchgeräte und prüften die Suite auf verdächtige Funk- oder Infrarotsignale. Doch sie fanden nichts. Am Ende steckten in den achso schalldichten Wänden noch verkabelte und gut isolierte Mikros, mit denen die Passagiere belauscht werden konnten, und in den runden Knöpfen der technischen Ausstattung waren vielleicht winzige Kameras verbaut, mit denen die Gäste auch beobachtet werden konnten. Der gewisse Verfolgungswahn, der den Capo seit der Ankunft hier an Bord größtenteils in Ruhe gelassen hatte, bahnte sich nun wieder seinen Weg in sein Bewusstsein. Niemand konnte nirgendwo auf der Erde wirklich sicher sein. Diese gnadenlose Erkenntnis traf den unter falschem Namen reisenden nun mit aller Deutlichkeit.
"Keine drahtlosen Wanzen", knurrte Toni, der wusste, dass diese Erkenntnis kein Grund zur vollen Entwarnung war. Immerhin hatten sie ja schon einmal die Suite wechseln müssen, weil irgendwas die Stimmung des Capo eingetrübt hatte, von dem sie nicht wussten, wo es hergekommen war.
Bergamo schaltete die Musikanlage des Salons ein und wählte aus der Liste der von ihm erstellten digitalisierten Titel eine Opernarie von Gioseppe Verdi aus, die er am Rande der Unerträglichkeit laut abspielte. Im Schutz des die Arie schmetternden Tenors und des pompösen Orchesters flüsterte er seinen Leibwächtern zu: "Wir rücken ab, wenn klar ist, dass die Luft frei ist. Das Gepäck bleibt hier. Wir nehmen ein Rettungsboot, das nur Leute wie ich benutzen dürfen."
"So wie wir jetzt angezogen sind?" flüsterte Carlo, während das Orchester weiter den Takt schmetterte.
"Geh davon aus, dass jeder hier an Bord unser Feind geworden ist und uns sofort abknallt, wenn wir das rüberbringen, dass wir das wissen. Hätte ich eigentlich schon früher dran denken sollen, ich Hohlkürbis", flüsterte Bergamo. Er war froh, dass er keinerlei Aufzeichnungen mitgebracht hatte, die verrieten, wer er war und mit wem er in Verbindung stand. Selbst sein Satellitentelefon, dass er trotz der ungeschriebenen Übereinkunft, keine Mobilgeräte mitzubringen an Bord geschmuggelt hatte, enthielt keine Kontaktdaten. Er hätte jede einzelne Nummer aus dem Gedächtnis wählen müssen und hatte deshalb nur drei Nummern als für seine Kontakte verbindlich festgelegt, die er problemlos im Kopf behalten konnte. Er ging davon aus, dass die, die fünf Stunden Zeit herausgeholt hatten, um jeden und jede hier wie auch immer abzuzocken nicht nur die Uhren verstellt hatten, sondern bei der Gelegenheit auch alle elektronischen oder schriftlichen Aufzeichnungen kopiert hatten. Da würde demnächst noch der eine und der andere Kopf rollen, dachte Bergamo. Doch zunächst musste er zusehen, dass er das nur ihm und fünf weiteren Miteigentümern des Schiffes bekannte Fluchtmittel fand und hoffentlich auch benutzen konnte. Der Eindruck, in einer riesengroßen, mit viel zu süßem Speck überladenen Mausefalle zu stecken peitschte ihn voran, diesem trügerischen Paradies zu entrinnen. Seltsamerweise musste er an seine Kindertage denken, wo er die Geschichte um die lebende Holzpuppe Pinocchio gehört, gelesen und als Film gesehen hatte. War er jetzt Pinnochio im Spielzeugland, der noch gerade rechtzeitig erfahren hatte, dass sie demnächst alle zu Eseln werden sollten? Ganz abwegig war das wohl nicht. Sein Entschluss, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen stand fest. Doch dafür musste er erst einmal vom Schiff herunter.
Der hochdekorierte Marineoffizier Wesley Leary stierte verdrossen auf das Funkgerät auf seinem Schreibtisch. Gerade eben hatte er noch einmal mit Commander Hobard von der Dover gesprochen, um sich den Ablauf der Ereignisse schildern zu lassen. Die Paradiso di Mare war also verschwunden. Das von sehr zweifelhaften Zeitgenossen erbaute und betriebene Luxusschiff war von einem auf den anderen Moment vom Radar verschwunden. Leary dachte daran, welche Befehle er hatte. Das Schiff durfte nicht angerührt werden, alle, die darauf waren oder landen wollten sollten unbehelligt bleiben. Er fragte sich, was an diesem wohl sehr fragwürdigen Dampfer so superwichtig war, dass der den Status einer ausländischen Botschaft für sich beanspruchen konnte? Er wusste nur, dass wohl auch der MI6 in diese geheime Sache einbezogen war, was ihm nicht wesentlich besser gefiel. Also rief er über die abhörsichere Leitung im Büro des Auslandsgeheimdienstes an und bat um ein Gespräch mit einem gewissen Commander Philipps, Verbindungsmann zur Navy. Es wurmte den Admiral zwar, mit einem rangmäßig untergeordneten Mann wie mit einem Vorgesetzten zu sprechen, war aber wohl im Moment leider nicht zu ändern. So bat er behutsam um die Informationen, die er über die Paradiso haben durfte, nachdem er erwähnt hatte, dass das Schiff von allen Radargeräten verschwunden war, ohne Notruf, ohne eindeutige Anzeichen von Seenot und was an diesem Hubschrauber so besonderes war, dass seine Leute den nicht verfolgen durften.
"Waren Sie schon mal in Las Vegas, Admiral?" fragte Philipps, nachdem er sich den Kurzbericht in Ruhe angehört hatte. Leary verneinte das. "Gut, dann stellen Sie sich einfach eine schwimmende Stadt vor, die hauptsächlich aus Bordellen, Spielbanken und Tanzlokalen besteht, und wo nur die Leute sein dürfen, die das Geld für diesen ganzen Sündenpfuhl haben. Und von denen sind einige dabei, die für Staatsregierungen sehr wichtig sind, auch für unsere Verbündeten in Afrika, Südamerika und Südostasien. Wir wissen zwar, dass das Schiff zum Teil von verschiedenen Mafiaorganisationen finanziert wurde und wohl auch noch betrieben wird. Aber wir wissen auch, dass es keine bessere Gelegenheit gibt, an verwertbare Informationen über dubiose Leute zu kommen, als sie sozusagen bei verbotenen Taten zu erwischen. Deshalb ist das Schiff tabu für Militär und Polizei, solange es nicht in den Hoheitsgewässern eines souveränen Staates fährt. Ich verrate keines unserer strengen Geheimnisse, wenn ich Ihnen sage, dass meine Behörde einige Leute auf dem Schiff hat, die genau solche Informationen sammeln, ohne dabei auf weithin aufspürbare Funkwanzen zurückgreifen zu können. Da die allermeisten Leute auf unserem Planeten keine Ahnung von diesem Schiff haben und es eben auch keine breitgestreute Werbung für sich macht können wir den derzeitigen Unberührbarkeitsstatus aufrechterhalten."
"Mit anderen Worten, Sie nutzen Huren und Kasinobetreiber dazu, um an die Sachen zu kommen, die Ihnen die wohl sehr reichen Passagiere nicht auf die Nase binden wollen, Philipps", schnaubte Leary. Dann sagte er ganz abgebrüht: "Tja, und offenbar hat jemand auf dem Schiff nun eine Art Tarngerät eingeschaltet und es verschwindibus gehen lassen. Ich hoffe mal, dass Ihre Leute an Bord noch wissen, wo sie sind. Sonst sind sie aber ganz schön am Allerwertesten gekniffen, Commander." Schweigen war die Antwort. Leary fürchtete erst, sein Gesprächspartner habe aufgelegt. Doch dann sagte dieser:
"Ihr Schiff soll die Umgebung weiterbeobachten, ob noch ein Hubschrauber dort hin will oder ob das Schiff wieder auftaucht. Um den Rest kümmern wir uns."
"Um welchen Rest, wenn Sie nicht wissen, wo das Schiff ist?" fragte der Admiral.
"Unsere Satelliten werden es schnell wiederfinden. Immerhin halten wir Peilkontakt über einen unserer Leute, der ein entsprechendes Programm in die Funkanlage des Schiffes eingeschleust hat, um uns alle zwei Stunden über Standort und Zustand des Schiffes zu unterrichten. Also überlassen Sie das bitte uns!"
"Immerhin haben Sie bitte gesagt", schnaubte Leary. Dann beendete er die Unterhaltung.
Es dauerte jedoch keine zehn Minuten, da rief Philipps ihn wieder an, um ihm eine sehr unangenehme Mitteilung zu machen:
"Wir finden das Schiff nicht mehr. Es kann auch mit Satelliten nicht mehr aufgefunden werden. Was immer dort vor sich geht, das muss geklärt werden. Die Angelegenheit unterliegt der strengsten Geheimhaltungsstufe. Keine Berichte darüber. Alle Logbucheinträge, die damit zu tun haben, müssen gelöscht oder geändert werden!"
"Wie stellen Sie sich das vor, Commander? Ich kann ja schlecht dem Kommandanten der Dover befehlen, das Logbuch zu fälschen. Nachher wissen wir auch nicht, was wahr und unwahr ist. Nein, Philipps. In dem Fall werde ich meinen Leuten befehlen, die fragliche Gegend weiterhin abzufahren und nach dem Schiff zu suchen."
"Ich verbiete Ihnen das", erwiderte Philipps. Das entlockte Leary nur ein verächtliches Lachen.
"Dass ich ein paar Ränge über Ihnen stehe ist Ihnen bewusst, Commander Philipps. Außerdem bin ich auch für die Sicherheit auf dem Meer zuständig. Wenn das Schiff in einer Art Tarnfeld unterwegs ist - von welchem Planeten oder aus welcher Zukunft die das auch immer haben sollten - muss der restliche Schiffsverkehr überwacht werden, um nicht damit zu kollidieren. Und wenn Sie den Rotlichtdampfer nicht einmal mit Satelliten erfassen können bleibt nur die direkte Beobachtung vor Ort. Nein, Mister, wir suchen das Schiff jetzt, alleine um zu wissen, wo es ist."
"Ich werde den Premierminister informieren", knurrte Philipps. Dann hörte er wohl eine andere Anweisung und widerrief seinen Befehl: "Der Premier soll nicht damit behelligt werden. Gut, in Gottes Namen, suchen Sie das Meer nach dem Schiff ab. Wenn Sie es finden nur melden, wo es ist und in welche Richtung es fährt! Mehr ist Ihnen nicht gestattet."
"Das will ich von Ihrem Vorgesetzten persönlich hören und lesen", erwiderte Leary. Da hörte er, wie das Telefon seines Gesprächspartners wohl weitergereicht wurde und vernahm die sonore Stimme eines anderen Mannes, den Leary von einer Konferenz ranghoher Militärs kannte. Von diesem erhielt er die Anweisung, weiterhin das Schiff zu suchen, aber keinen Versuch zu wagen, an Bord zu gehen. Widerwillig gab er diese Anweisung an den Kommandanten der Dover weiter. Er ärgerte sich, dass alle britischen Flugzeugträger gerade im Einsatz waren, um die NATO-Mission in Afghanistan durchzuführen. Ein paar Aufklärer hätten jetzt sicher eine Menge Licht in die sehr ungewisse Dunkelheit gebracht. Er konnte nicht wissen, dass Philipps Vorgesetzter vor einem Tag eine streng geheime Mitteilung aus Langley, Virginia erhalten hatte, die sich wiederum auf eine Mitteilung des US-amerikanischen Marinegeheimdienstes bezog, die das Schicksal eines Forschungskreuzers namens USS Constitution zum Inhalt gehabt hatte.
Toni Maranelli war und blieb ein genialer Mechatroniker vor dem Allerhöchsten, musste der Mann neidlos anerkennen, der sich hier an Bord Giovanni Bergamo nannte. Nachdem er es geschafft hatte, mit Hilfe seiner Kenntnisse die diskreten Zugänge innerhalb der Schiffsflure zu finden und kein Anzeichen einer Stimmungstrübung oder dergleichen zu verspüren war, hatten sie sich durch die für das diskrete Personal alleine gedachten Gänge in eine Ersatzzentrale für die Umweltüberwachung geschlichen. Giorgio und Carlo hatten die zwei Wachposten mit gezielten Karateschlägen außer Gefecht gesetzt und mit Kabelbindern an Händen und Füßen gefesselt und in einen der Werkzeugschränke verfrachtet. Toni hatte über den hochgefahrenen Sicherungsrechner Zugriff auf die Außenansichtkameras bekommen und dabei schon einmal bestätigt gefunden, was die vier angeblichen Italoamerikaner schon vermutet hatten. Alle Außenbilder kamen mit fünfstündiger Verzögerung auf die Bildschirme innerhalb der Kabinen. Wo es in Wirklichkeit schon bald Sonnenuntergangszeit war gaukelten die Bilder die Mittagsstunde vor. Ebenso war die Temperaturanzeige so eingestellt, dass sie den Passagieren in den Suiten und Vergnügungsstätten die Mittagstemperatur als gerade vorherrschende Temperatur vorgaben. Doch was wirklich außen vorging erschreckte Bergamo mehr als der Umstand, dass sie alle um fünf Stunden verzögerte Daten erhielten. Draußen herrschte ein dunkelgrauer Dunst vor, als habe sich eine dicke, fette Regenwolke auf dem Schiff niedergelassen, um dort von ihrer anstrengenden Reise am Himmel auszuruhen, bevor sie wieder nach oben stieg, um ihren Ballast abzuregnen. Von der Sonne war gerade nur ein gelblicher, verwaschener Fleck zu erkennen, der knapp über dem von Dunst überquellenden Horizont waberte. Innerhalb dieses trüben Brodems gingen Männer in den Uniformen der Besatzung herum. Sie wirkten dabei wie lebende Leichen, seelenlose Wesen, Zombies. Bergamo sah, wie einige von ihnen die Halterungen für die Rettungsboote prüften. Andere lungerten in der Nähe der verglasten Türen zum Sonnendeck herum. Andere gossen mit langen Schläuchen die vor der Reling eingepflanzten Palmen, die über fünfzehn Meter aufragten, und deren ausladende Blätter im Grau des Nebels verschwanden.
"Wir sind von Außerirdischen oder Dämonen gekapert worden", seufzte Giorgio, als er sah, wie einer von der Besatzung wie ferngesteuert auf die Jakobsleiter zur Kommandobrücke zustakste.
"Capo, wir müssen die Aktion in zwanzig Sekunden abbrechen, sonst erwischen uns die Überwachungsprogramme des Systems. Ich kann unseren Zugriff nicht mehr länger maskieren", sagte Toni.
"Dann lös einen Ausfall aus, Toni!" befahl Bergamo. Toni Maranelli nickte und hantierte sehr schnell mit Maus und Tastatur. Fünf Sekunden vor dem angegebenen Zeitpunkt löste er eine Reihe von Systemstörungen aus, die einen Totalausfall des laufenden Überwachungssystems herbeiführen mussten. Dann musste das Reservesystem hochfahren. Doch dem kam Toni mit einem schnellen Griff ans Hauptkabel zuvor. Mit seiner aus gehärtetem Metall bestehenden Klinge durchtrennte er das Kabel. Da brach das laufende System wegen zu vieler Störungen zusammen. Der Start des Notsystems wurde zwar noch angefordert, wegen der von der Anlage getrennten Festplatten jedoch nicht ausgeführt. Somit kolabierte das Netzwerk aus Überwachungs- und Versorgungsvorrichtungen komplett. Nur eine Reparatur der durchtrennten Verbindung und ein über mehrere Minuten lang laufender Komplettneustart konnten Überwachung, Klima und Nahrungsversorgung wiederherstellen.
"Und Tschüs, Hauptsystem!" grinste Toni. "Die Idioten hätten mit dreifachredundanz arbeiten sollen, wie beim Steuerungssystem."
"Okay, Leute, Licht und Servotüren sind gerade ausgefallen. Also durch die Dunkelheit nach unten. Das Fluchtboot kriegen wir ohne das primäre System zum laufen", flüsterte der Capo und winkte seinen Leuten, die nun nur noch von der Notbeleuchtung schwach erhellten Gänge entlangzulaufen, bis sie in einem der Nottreppenhäuser waren. Von da aus sollte es immer weiter nach unten gehen.
Der Ausfall der Beleuchtung und Belüftung traf die meisten Passagiere völlig unvorbereitet. Lediglich drei Menschen hatten mit einem derartigen Vorfall gerechnet.
Da war zunächst Margarita Isabel de Piedra Roja, die Unterweltkönign aus Peru. Als sie herausfand, dass ihre kostbare fünf Blütenkelche besitzende Zwergfarbstaude nicht im an die Sonne angeglichenen Rhythmus ihre Kelche öffnete und schloss argwöhnte sie schon, dass die Uhrzeit nicht mit der Tageszeit zusammenpasste. Als sie dann noch die in einem ihrer Ringe verborgene winzige Zeigeruhr betrachtete, stellte sie fest, dass die Uhrzeit um fünf Stunden der sonst an Bord angezeigten Uhrzeit vorauseilte. Das und die lustfördernde Droge in der Klimaversorgung hatten sie darauf gebracht, dass jemand sie alle überrumpelt hatte und wohl weiterhin unter Kontrolle halten wollte. Jemand hatte wohl vor, das Schiff zu entführen. Das würde erklären, warum die Uhren alle fünf Stunden nachgingen. Denn offenbar war das Mittel, um alle zugleich außer Gefecht zu setzen für diesen Zeitraum ausgelegt. Das brachte sie wiederum zum schmunzeln. Denn über diesen langen Zeitraum war sie mit Giovanni Bergamo verbunden gewesen. Jetzt verstand sie auch, wieso ihre Vorkehrung, immer zu wissen, wo er sich aufhielt, so erfolgreich verlaufen war.
"Tante Gita, der von mir genommene und gebundene ist in den Nottreppenhäusern unterwegs", vernahm sie in ihrem Kopf die Stimme einer jüngeren Frau, aber mit einer starken Verzerrung. Das sprach dafür, dass jemand übernatürliches die vor Jahren mit Monatsblut und eigener Milch errichtete Verbindung überlagerte, die sonst um die ganze Welt reichen konnte.
Die Senderin dieser Botschaft war jene bordeigene Dame für gewisse Stunden, die wegen ihrer smaragdgrünen Augen Esmeralda genannt wurde. Eigentlich wollten sie und ihre Tante an Bord nur die ihnen in die Wiege gelegte Wollust kontrolliert ausleben, ein Fluch der Mama Killa, der alle ihre Priesterinnen ereilt hatte, die sich um der Freiheit ihrer Männer und Söhne willen mit den ungläubigen Weißen aus dem Osten eingelassen hatten. Aus einer dieser Familien stammten sowohl Esmeralda wie auch ihre Großtante Margarita de Pidra Roja. Doch jetzt, wo sie davon ausgehen mussten, dass sie von einem Feind bedroht wurden, konnten sie wohl nicht mehr lange ihre geheimen Fähigkeiten zurückhalten.
"Mein Gebundener ist wohl auch unterwegs, um rauszufinden, was nicht stimmt", hörte Esmeralda die verzerrte Gedankenstimme ihrer Großtante.
"Sollen wir sie uns holen und mit ihnen disapparieren?" fragte Esmeralda.
"Das kannst du vergessen, solange wir nicht wissen, wo wir sind und wer uns bedroht", empfing sie die Antwort. Sie fühlte, dass etwas auf ihren Kopf drückte. Jemand oder etwas versuchte, jede Gedankenverbindung zu überlagern. "Aber zu dir kann ich hoffentlich noch hin, Tante Gita", schaffte Esmeralda es noch, zu übermitteln, bevor Klimasystem und Beleuchtung den Dienst versagten.
Auch Gauri Nagarani hatte damit gerechnet, dass jetzt der Hauptansturm der Dämonen erfolgen würde. Zum einen hatte sie nach ihrem Erwachen festgestellt, dass ihre drei Schlangen Siamala, Rhadanagi und Eli beinahe tot in ihren gläsernen Behausungen lagen. Darüber hinaus fühlte sie ihr für andere unsichtbares Armband wild pochen wie ein aufgeregt schlagendes Herz. Also hatte jemand unter dem Einfluss oder mit Hilfe von Magie sie anzugreifen oder zu töten versucht. Als sie dann noch ein Zaubermantra zur Befragung der Gestirne verwendet hatte, um festzustellen, dass die Bordzeit einen Vierteltag der Ortszeit hinterherhinkte war ihr klar, dass jetzt der Hauptsturm losbrechen musste.
Dann fiel das Licht aus, und auch die Belüftung versagte mit kurzem Rumpeln. Gauri öffnete schnell die gläsernen Käfige ihrer schaurig-schönen gefährtinnen und befahl diesen, sich um sie herum zu postieren und jeden Angreifer aus Fleisch und Blut unverzüglich zu beißen. Sie selbst verfiel in eine halbe meditation, um Kräfte für die Abwehr der Dämonen zu sammeln, die mit sicherheit die Dunkelheit herbeigeführt hatten, um Beute zu machen.
Esmeralda hatte aus ihrer kleinen Handtasche, die nur auf ihren Handabdruck reagierte, ihren Zedernholzzauberstab hervorgeholt, mit dem sie gestern noch einen arglosen, aber wohl alles andere als harmlosen Mann mit einem besonderen Zauber für sie auffindbar bezaubert hatte. Der Zauber war eine nur in Südamerika von vollständigen oder teilweisen Angehörigen der Inkastämme gelehrtes Stück Magie, mit dem eigentlich Eheleute einander finden sollten, sobald sie die Ehe vollzogen hatten. Doch das klappte auch bei zeitweiligen Liebhabern. So wusste Esmeralda, dass ihr auserwählter Wonnespender gerade in einem Raum steckte, der nicht zu den üblichen Vergnügungsstätten gehörte. Als sie dann nach einer Kurzstreckenapparition bei ihrer Tante in der Suite eintraf erfuhr sie, dass auch deren Auserwählter in diesem Raum war.
"Die wollen sich ohne uns absetzen, Esmi. Aber das treiben wir denen aus", knurrte Margarita. "Bergamo bleibt bei mir, und wenn ich ihn mir ganz und für lange zeit einverleiben muss, damit er es einsieht. in ihm fließt das Blut einer alten Zauberersippschaft, das nur zu sehr mit Unfähigenblut verdünnt ist."
"Lustig, Tante Gita. Ist genau das, was ich auch bei Giorgio gefühlt habe, als ich ihn zum ersten Mal hatte", grinste Esmeralda.
"Freuen wir uns später, wenn wir mit den beiden von diesem Kahn herunter sind. Öhm, vorausgesetzt, diese indische Schlangenbeschwörerin hat nicht auch noch Ansprüche an ihn."
"Stimmt, die gibt's ja auch noch", grummelte Esmeralda. "Sollen wir die aufsuchen?"
"Und der auf die Nase binden, dass wir zwei auch Hexen sind, nur aus einer anderen Weltgegend?" schnaubte Margarita. Dann horchte sie in sich hinein. "War schon gut, nach dem Ausfall der Beleuchtung Mama Killas Vorwarnung zu beschwören", grummelte sie. "Etwas gieriges, nicht menschliches dringt in das Schiff vor.
Ein leises Rumpeln erklang in der bisher stillgelegten Belüftungsanlage. Dann lief diese mit ihrem üblichen Säuseln wieder an. "Immerhin haben sie die wieder angekriegt", bemerkte Esmeralda dazu. Doch Margarita empfand die Wiederherstellung der Belüftung eher als Bedrohung als als Erleichterung.
"Ah, offenbar hat mal wieder wer den Regler für Darkovers Wind aufgedreht, um alle in Liebesstimmung zu bringen. Deshalb läuft die Klimaanlage wieder. Kopfblase. Nicht dass wir nachher noch vor lauter Bodentanz von wem auch immer erledigt werden! Oh nein, welche von denen stürzen sich in den Nottreppenhäusern ganz nach unten. Die könnten uns vom Kiel her bedrängen und ... Nein, sie wolen was anderes. Los, komm, wenn wir unsere beiden Wonneburschen noch einige nette Nächte für uns haben wollen!""
Gauri fühlte die Bedrohung. Die Dämonen kamen. Auch ihre drei Königskobras fühlten den Feind. Sie stellten sich auf und spannten ihren Nackenschild auf. Bedrohend zischend richteten sie sich auf die Tür aus. Gauri horchte hinaus und erkannte, dass es mindestens vier oder fünf der Unheilsbringer waren. Nein, es waren sieben auf einmal. Ihnen eilten Männer voraus, die nicht mehr ihren eigenen Willen hatten. Dann waren sie an der Tür. Gauri summte ein Mantra, um ihren Körper und Geist auf's äußerste bereit zu machen. Da flog die Tür auf. Die Versklavten stürmten im schwachen Licht von Gauris batteriegespeister Handlampe herein. Pfeilschnell stießen die drei Schlangen zu und gruben ihre Giftzähne in die Hände der Eindringlinge. Dann wurde es auf einmal stockdunkel. Einen Moment hatte Gauri das Gefühl, in eisiger Kälte festzustecken. Dann begann ihr Armband zu pochen und Schauer aus Wärme in sie hineinzujagen. Doch als gleich sechs Hände aus der Dunkelheit nach ihr griffen erzitterte das Armband und wand sich. Gauri hörte das laute Rasseln atmender Wesen. Sie erkannte, dass der Schutzbann ihres Armbandes sich erschöpft hatte. Doch das wollte sie nicht glauben. Mit der in sich gestauten Kraft rief sie laut: "Om Prithivi Mata shanti!"
Bergamo und seine drei Leibwächter liefen die Nottreppen hinunter. Dabei wurden sie das Gefühl nicht los, von jemandem erwartet zu werden. Düstere Stimmung überkam sie und brachte sie beinahe dazu, innezuhalten. Doch ihr Wille zur Flucht war noch zu stark. Da hatte Bergamo eine Idee.
"Toni, auf Ebene Sub sieben gibt es eine Ventilanlage, die rein mechanisch läuft. Betätige die und lasse alle Gänge über uns fluten. Wer immer uns nachsetzen will sollte dann besser im Taucheranzug unterwegs sein."
"Capo, wenn dabei andere Leute draufgehen?" fragte Toni.
"Wird das dem Totalausfall zugeschrieben werden, Toni. Also mach!"
Zur besagten Ebene fehlten nur zwei Etagen. Sie waren nun drei Decks über dem Kiel. Hier waren die Eingeweide des Schiffes, alles, was an Wasser- und Abwasser, Abfall und Abluft verdaut werden musste. Toni suchte und Fand mit Hilfe einer Nachtsichtbrille die mechanische Steuerung für die Ventile, mit denen die Ballasttanks geflutet werden konnten, aber bei unsachgemäßer Bedienung auch alle unteren Decks des Schiffes voll Meerwasser liefen.
Als sie jedoch an die entsprechenden Ventile kamen musste Toni feststellen, dass irgendwas diese total vereist hatte. Sie waren regelrecht tiefgefroren und ließen sich keinen Millimeter mehr bewegen. Überhaupt meinten die drei fliehenden Mafiosi, dass es hier unten immer kälter wurde, kälter und dunkler, trotz der Nachtsichtvorrichtungen.
"Ich glaube, wir laufen subito presto in eine Falle rein, Capo", zischte Giorgio. Doch der Anführer wollte davon nichts hören. Er setzte seine Hoffnung auf ein kleines, über einen Tag tauchfähiges Unterseeboot, eine Notmaßnahme für ganz besondre Gäste der Reederei. Da wollte er hin.
Als sie weiter nach unten stiegen fühlten sie die eisige Kälte immer beißender werden und der Widerschein der zu den Nachtsichtbrillen zugeschalteten Infrarotlampen trübte sich schlagartig ein.
"Die blasen ein Kältemittel ein, von dem ich bis heute nichts gehört habe", bibberte Bergamo, der schon fühlte, wie er fror. Dann kam noch was dazu, die Angst, nie wieder Freude zu empfinden, gleich sterben zu müssen. Doch mit sowas ähnlichem hatte er jetzt gerechnet.
"Fall Phobos, Leute. Gegenmaßnahme!" befahl Bergamo, der sich gerade noch gegen die in seinem Kopf auftauchenden Bilder durchsetzte, wie er in einer verschütteten Höhle hockte. Er schaffte es noch, die linke Hand mit einer kleinen Kapsel an den Mund zu bringen. Seine Männer versuchten dasselbe.
Toni hatte fast die ihm zugespielte Kapsel im Mund, als ihn zwei riesige, unsichtbare Hände packten und nach oben fortrissen. Er schrie und verlor die Kapsel.
Giorgio wollte dorthin schießen, wo Tonis Gegner stand. Doch es klickte nur. Das Geräusch einer abgefeuerten Patrone blieb aus.
"Merda, die haben unsere Knarren lahmgelegt", schrillte er. Da wirkte die von ihm geschluckte Kapsel. Seine Angst und Trübsal verflogen schlagartig. Eine experimentelle Droge aus den geheimen Giftschränken der US-Militärs verdrängte nun jede Form von Angst und Hilflosigkeit. Sie stimulierte und führte zu unbändigem Mut, flößte ihrem Anwender sogar eine unbegründete Überlegenheit ein. Jedenfalls verblies das Rauschmittel jede bisher empfundene Verzweiflung.
"Schnell weiter, bevor die merken, dass wir uns nicht mehr von denen kleinmachen lassen", zischte der Capo. Dann sah er, wie Toni von etwas, dass kein Wärmebild besaß davongeschleudert wurde, leblos, gerade noch einen Funken Resthitze ausstrahlend. Dann wurde es endgültig finster um sie.
Der Name der ersten heiligen Kuh, Gebärerin aller lebenden Wesen, war gerade erschollen. Gauri hatte sie um Frieden angefleht, Frieden für sich und alle die, die in Rufweite standen und keine bösen Absichten hatten. Schlagartig flutete silbernes Licht von Gauris Arm. Die sie haltenden Riesenhände ließen ab. Die Dämonen schrien laut auf. Dann fühlte sich Gauri von einer Kraft in die Höhe gehoben und fand sich wohlig warm umschlossen im Zentrum einer silbernen Kugelschale wieder. Ein lautes, weithin hallendes Muhen brachte die Luft zum erzittern. Dann fühlte Gauri, wie etwas sie immer schneller davontrug. Sie meinte, wieder in ihrer Geistform unterwegs zu sein. Denn sie fühlte keinen Stoß gegen ein Hindernis oder ähnliches. Es ging nach oben und dann hinaus ins Freie. Sie sah durch das sie umhüllende Silberlicht die Sonne, hörte das Platschen der Wellen gegen die Bordwand. Dann sah sie das Meer unter sich. Sie wollte rufen, dass sie nicht ins Meer wollte. Doch sie bekam keinen Ton heraus.
Einer der Besatzungsmitglieder, der unter dem Bann der Unheimlichen gerade eine der Palmen goss, sah vor sich etwas silbernes aus dem Boden herausbrechen und fühlte einen Moment lang Zuversicht und Hoffnung. Dann sah er genauer, dass das Licht den Kopf, Körper und Beine einer überlebensgroßen Kuh formte, mit Hörnern, Euter und Schwanzquaste. Das Riesenrind aus fremder Substanz galoppierte an ihm vorüber, wobei es einen Hauch von Wärme verströmte. Der Matrose sah noch, dass im inneren des Kuhkörpers eine nackte Frau schwebte wie ein Kind im Mutterbauch. Dann war die Riesenkuh durch die Reling hindurch und preschte über die Meereswellen davon. Die Reling war jedoch unversehrt geblieben. Der Matrose starrte der nach Nordwesten davonjagenden Erscheinung hinterher, bis diese nur noch ein winziger Punkt am Horizont war. Dann umklammerte ihn erneut jenes Gefühl totaler Hilflosigkeit und Schwermut, unter dem er wie seine Kameraden schon seit Tagen zu leiden hatte.
"Sie ist uns entkommen", schnaubte der erste der Wiedererwachten. Der zweite, der über der Brücke schwebte, bestätigte es. "Es ist die Macht von mehr als zwanzig Glücksgebilden. Sie hat sie gegen jede körperliche Behinderung abgeschlossen. Sollen wir ihr folgen?"
"Ja, verfolgt sie", rief der erste. Fünf seiner Artgenossen schwärmten aus, die fliehende Kuh aus silbernem Licht zu jagen. Doch diese magische Erscheinung lief so schnell, und die Kraft der Sonne lähmte die Verfolger, dass sie sie nicht mehr einholten.
"Bereiten wir uns darauf vor, dieses Schiff gegen einen Angriff zu verteidigen", schwor der erste seine Artgenossen auf einen unerwarteten, aber nun doch möglichen Gegenschlag ein.
"Dann machen wir noch mehr von uns", warf der zweite ein. Dem widersprach niemand. Genau deshalb wurde die Glücksdroge wieder ausgebracht, die machte, dass jeder nur noch daran dachte, sich einen Partner zu suchen und mit ihm oder ihr die wildesten Begierden auszuleben.
Trotz der wirkenden Droge fühlte Bergamo sich endgültig in der Falle. Es war schlicht die Gewissheit, dass wer auch immer ihn hier unten erwartet hatte, ihn oder jeden anderen, der oder die von dem kleinen U-Boot wusste. Dann fiel ihm sein Versäumnis ein. Wenn die Unbekannten das Schiff übernommen hatten, dann hatten die auch zumindest den Kapitän, einen seiner Offiziere oder den Chefingenieur erwischt. Wenn sie die gefoltert hatten ... Er fühlte, wie ihn riesige Hände packten. Da hörte er eine befehlsgewohnte Frauenstimme Rufen: "Expecto Patronum!" Keine Sekunde später rief eine zweite Frau dieselben Wörter. Silbernes Licht durchbrach die Dunkelheit. Bergamo, der gerade meinte, wieder in der Höhle festzustecken, in der er als Kind drei Tage lang verschüttet war, fiel aus einem Meter Höhe zu Boden. Dann traf ihn etwas anderes, jagte einen heißen Schauer durch ihn hindurch, um ihn dann in einem einzigen Augenblick fortzureißen. Gleichzeitig Merkte er, dass seine Arme und Beine regelrecht in seinen Körper hineingedrückt worden waren und er durch die Luft flog, die sich für ihn noch kälter anfühlte als gerade eben noch. Dann fühlte er eine seinen ganzen, zusammengekrümmten, aber nicht schmerzenden Körper umschließende, warme, weiche Hand, die ihn sicher hielt.
"Rückzug, Esmi!" hörte er überlaut die Stimme einer Frau, die er nun sehr sehr gut kannte.
"Capo, Giorgio, wo seid ... Aaarrrg!" hörte er Carlo noch rufen, bevor er meinte, frei zu fallen. Doch der freie Fall dauerte keine Sekunde an. Dann spürte er die große Hand wieder, die ihn umschlossen hielt.
"So, und damit du mir nicht doch noch verlorengehst bleibst du jetzt ganz nahe bei mir, Cariño", hörte er die Stimme der Frau zischen, die offenbar zu einer Riesin geworden war und ihn irgendwie zusammengefaltet oder wie einen Schneeball zusammengeknetet hatte und jetzt .. Er fühlte, wie es ihn erschauerte, als er mitbekam, was mit ihm passierte. Er fühlte jedoch keinen Herzschlag oder dass ihm die Luft wegblieb. Er hatte kein Herz mehr und musste auch nicht atmen. Doch er konnte sich auch nicht mehr bewegen, sich nicht dagegen wehren, was mit ihm passierte. Er dachte nur, dass er sich bei ihr nicht getäuscht hatte. Dieses Weib war wahrhaftig eine Hexe. Sie hatte ihn aus der eisigen Dunkelheit gerettet, nur um ihn im ganzen zu sich zu nehmen. Wieder musste er an die drei Tage denken, die er verschüttet war. Angst und Hilflosigkeit machten sich breit. Da wusste er, dass auch die von ihm geschluckte Droge nicht mehr wirkte, nicht in dem Zustand, in den ihn die Hexe versetzt hatte, damit sie ihn sicher aufbewahren konnte.
"Wie lange können wir die zwei so aufbewahren?" gedankenfragte Esmeralda, als sie die Handlungen ihrer Großtante mit ihrem Auserwählten nachvollzogen hatte.
"Nicht länger als zwei Wochen, weil die sonst nicht mehr anders sein wollen", sagte Margarita de Piedra Roja und genoss es, diesen gewissen Druck innerhalb ihres Körpers zu spüren und behutsam ihre Beckenmuskulatur zu bewegen, um sicherzustellen, dass ihr nichts und niemand entfiel.
"Schon eine abgedrehte Sache, wen so zu haben", gedankensprach Esmeralda. "Kriegen die alles mit?"
"Solange die nicht zerstört werden haben die ihre Seelen und können deshalb alles mitbekommen, Esmi. Ich schlage vor, dass wir, wenn wir dieses Dementorenbrutnest verlassen können, den beiden einen Gedächtniszauber auferlegen, damit die keine Angst davor kriegen, ganz nahe bei uns zu sein. Auf die Weise habe ich Gilberto aus Sao Paulo mal Tage lang bei mir gehabt, als dessen neidische Brüder ihm nachgestellt haben. Gut, dass ich seine Frau von einer Brücke habe springen lassen hat ihn erst ein wenig heruntergezogen. Aber wir sollten uns absichern. Die Dementoren werden ganz sicher irgendwann auch in die Passagierräume und die ganzen herrlichen Vergnügungsräume reingehen."
"So ganz habe ich das nicht kapiert, was die überhaupt da unten gesucht haben", erwiderte Esmeralda.
"Ein kleines Unterwasserboot. Ich weiß davon, weil ich mit einem der Eigner sehr guten Kontakt habe", schnurrte Margarita und tätschelte sich von oben bis unten. "Dass die vier Leute davon wussten heißt, dass die auch gute Drähte zu den Eignern haben oder selbst zu denen gehören. Dann müssen wir den zweien ein neues Gedächtnis verpassen. Die werden uns sonst noch zu gefährlich."
"Woher wussten die Dämonen von dem U-Boot?"
"Von Dornfelder oder einem seiner engsten Vertrauten natürlich. Die haben dessen Wissen erbeutet. Wundere mich, dass die nicht schon vor Tagen da unten Posten bezogen haben", erwiderte Margarita und gab sich dem herrlichen Gefühl hin, ihren neuen Geliebten sicher bei sich zu haben.
"Wohl wegen der Sabotage an der Beleuchtung und der Klimaversorgung", erwiderte Esmeralda.
"Das bringt mich drauf, dass wir meine Suite auch luftdicht machen und meine Lieblinge mit dem Fortifloris-Trank gießen sollten, damit die genug Luft für uns machen. Aber erst mal singen wir zwei hübschen Mama Killas Segen der sicheren Zuflucht. Genug Silber und Wasser haben wir hier und Blut können wir zwei genug hergeben", sagte Margarita.
Eine Halbe Stunde später überzogen rote Muster die Inenwände, die Innenseite der Zugangstür und die Decke. Silberne Kerzenleuchter und zum Inventar gehörende Besteckteile waren in einer genau vorgeschriebenen Weise angeordnet. Der Segen der alten Mondgöttin der Inkas, Schwester und Gemalin des Sonnengottes persönlich, beschützte nun jene, die von ihrem Blut waren vor denen, die ihren Körpern und Seelen nachstellten. Die Suite war hermetisch verschlossen. Alle Lüftungsschlitze mit einer glasartigen Masse verstopft. Die Pflanzen hatten Tropfen eines Trankes bekommen, durch den sie schneller wuchsen und blühten, aber auch mehr nötigen Sauerstoff ausdünsteten. Die Tageslichtlampen im Wohnsalon würden, wenn die Bordbeleuchtung wieder lief, die nötige Menge Licht liefern. Ansonsten waren die beiden Hexen auch im Stande, magisches Licht zu beschwören, um die Pflanzen und sich selbst am Leben zu halten.
Zwei der einfältigen Menschen hatten sie erwischt. Doch zwei andere waren ihnen aus den Händen gerissen worden. Zwei magisch begabte Frauen hatten jene aus geballter Freude gebildeten Hoffnungsboten entgegengeschickt und waren mit den beiden Männern geflohen. Zuerst wollten die unheimlichen Besatzer des Schiffes nach ihnen suchen. Doch ihre drei Elternteile hatten befohlen, sich in den Kielräumen festzusetzen, um weitere Fluchtversuche zu vereiteln. Die restlichen Passagiere sollten weiterhin Lust und Freude erleben. An die Hexen würden sie wohl rankommen, wenn sie erst in der Nähe ihres eigentlichen Zieles waren.
Die drei zuerst wiedererwachten fühlten, wie jemand im Schiff irgendwo etwas machte, dass wie ein Druck in alle Richtungen auf sie wirkte. Sie begriffen, dass die Hexen gerade eine Abwehr gegen ihre Feinde machten. Nun, wenn sie genug warenund von allen Seiten auf sie losgingen würde diese Abwehr nicht lange halten, dachte der zweite Wiedererwachte zuerst. Doch der dritte erinnerte ihn daran, dass Shacklebolts Einkerkerungsglocke jahrelang gehalten hatte, obwohl sie da wesentlich mehr gewesen waren. Dann sollten die zwei Hexen mit denen, die sie sich geholt hatten in ihrem selbst gebauten Kerker sitzen und verhungern oder ersticken, wenn man ihnen die Luft entzog.
"Was soll das heißen, ein großes Schiff ist plötzlich von allen Radargeräten verschwunden, Brandon?" wollte Patricia wissen.
"Dass es seit gestern abend komplett verschwunden ist, ohne dass irgendwas darauf hingewiesen hat. Auch mit Satelliten kriegt man es nicht mehr zu sehen, weder optisch noch mit Infrarot."
"Was für ein Schiff ist das denn?" wollte Patricia wissen.
"Moment, habe ich gleich", sagte Brandon und tippte eine Suchanfrage in seinen Rechner. "Aha, die Paradiso di Mare, Eigner Reederei Ozeanträume International. Das Schiff fährt unter philippinischer Flagge und hat gleich drei Heimathäfen: Catania auf Sizilien, Manila auf den Philippinen und Halaouala, eine Insel irgendwo zwischen Hawaii und Neuseeland, die wie unser schönes Eiland im Privatbesitz ist, und zwar von einer Firma namens Goldsand Solartechnik. Das mit den drei Heimathäfen kriegt auch nur wer raus, der in das Zentralregister aller philippinisch beflaggten Schiffe reinhacken kann wie unser netter Argos. Für alle anderen Register ist entweder Catania oder Manila der einzige Heimathafen."
"Was wohl nichts anderes heißt, dass auf diesem Schiff ungesetzliche Geschäfte gemacht werden", grummelte Patricia. Brandon nickte und lies den Bericht über das Schiff weiterlaufen. Patricia und er bekamen nun mit, dass es sich bei dem Kreuzfahrtschiff um einen aus zwei großen Öltankern zu einem gewaltigen, ja schon kleinstadtartig zusammengeschweißten Riesencatamaran handelte, auf dem nur zahlungskräftige Passagiere mitfahren konnten, die noch dazu keinem auf die Nase banden, dass sie dort mitfuhren.
"Ein schwimmender Sündenpfuhl", grinste Brandon verschmitzt. "Wenn von den Gerüchten nur ein Prozent stimmt hat da wer ein Kreuzfahrtschiff der besonderen Ansprüche zusammengeschraubt. Die einen behaupten, dass die Cosa Nostra, also die Mafia, an dem Pott mitverdient. Andere sagen, dass da die verbotensten Begierden befriedigt werden, von Männern und Frauen. Nur Mord und Kannibalismus seien da wohl noch nicht erlaubt, heißt es."
"So, und so eine schwimmende Oase ungehemmter Lustbarkeiten ist mal eben verschwunden, ohne zu sinken, ohne einen Notruf zu versenden?" wollte Patricia wissen. Brandon nickte und holte den Bericht aus den geheimen Akten verschiedener Küstenwachen zurück.
"Die Reederei will natürlich nichts drüber rausrücken, wo ihr Schiff gerade steckt, zumal die ganzen Passagiere von See aus per Hubschrauber drauf angelandet werden, als wenn das eine Erdölborinsel sei. Denen ist das deshalb auch nur aufgefallen, weil einer dieser Hubschrauber ins Meeresparadies keinen Annäherungsfunkkontakt bekommen hat und an der vorher wohl vereinbarten Position kein wartendes Schiff gefunden hat. So mussten die sechs Passagiere wieder zurück auf das andere Schiff geflogen werden, was der Reederei sicher eine Menge Ausfallsentschädigung kosten wird."
"Kriegst du irgendwie hin, dass rauszubekommen, wann und wo genau das Schiff verschwunden ist?" gedankenfragte Faidaria für Patricia und Brandon hörbar.
"Ja, ich kann das rauskriegen, beziehungsweise alte Protokolle der zivilen Seeverkehrsüberwachung abgleichen. Wie schnell ich das hinkriege kann ich aber nicht sagen."
"Wir müssen den Ort haben, bevor die anderen, die nicht die Kraft im Körper haben dort ankommen", erwiderte Faidaria.
"Was für eine Magie und von wem vermutet ihr?" wollte Brandon wissen.
"Vielleicht unsere Todfeinde, die Kinder der Nacht, die auf einem solchen Schiff natürlich viele Nachkommen erzeugen können", erwiderte Faidaria, die körperlich gerade in ihrem Blockhaus war. Brandon sah Patricia an, die mit ihrem bereits sichtbar vorgewölbten Umstandsbauch wie das Standbild einer Muttergöttin dastand.
"Setz dich doch, Patricia."
"Mache ich", sagte sie und holte sich einen bequemen Stuhl heran, auf dem häufig ihre Schwägerin Gisirdaria saß, um Brandon zuzusehen, wie er seiner Wissensmaschine Neuigkeiten entlockte.
Es dauerte eine halbe Stunde, weil Brandon sehr behutsam vorgehen musste. Dann hatte er die benötigten Angaben und ließ sie auf einer Karte darstellen. "Das Schiff hat alle zwei Stunden den Kurs geändert. Wenn es hier verschwunden ist und wir das erst jetzt, fünf Stunden nach der letzten Sichtung, erfahren, könnte es jetzt schon ganz woanders sein. Könnte jetzt also hier bei Kuba sein oder dreißig Seemeilen weiter südöstlich davon. Wenn es wie seit seiner Verlegung in den tropischen Atlantik immer drauf geachtet hat, nicht in die Hoheitsgewässer eines Staates reinzufahren können wir die Küsten und Strände von Südamerika und den vorgelagerten Inseln weglassen. Am Ende läuft der Kahn unter seiner Tarnung noch auf Gefahrengeschwindigkeit. Laut der technischen Daten macht der Pott auf Gefahrenstufe vierzig Knoten, also vierzig Seemeilen in der Stunde, was in Kilometer umgerechnet vierundsiebzig Stundenkilometer macht. Aber eben das nur für eine halbe Stunde. Dann müssen die Maschinen wieder auf normale Fahrtstufe runtergeregelt werden, wenn die nicht überhitzen und den Ingenieuren um die Ohren fliegen sollen. Für so'n Riesenpott ist das auch schon ziemlich schnell. Wenn der dann noch eine volle Wende hingelegt hat und erst dann mit Fluchtgeschwindigkeit losgebrettert ist kommt der schon siebenunddreißig Kilometer vom letzten Standort weg."
"Aber es muss doch mit Magie gelingen, dieses Schiff zu finden", meinte Faidaria, die gerade herüberkam, um mit ihren eigenen Augen und Ohren weiterzuverfolgen, was vor sich ging.
""Ganz sicher", sagte Patricia. Brandon hatte da eine Idee, die er, wo zwei der für ihn wichtigsten Sonnentöchter gerade bei ihm waren umsetzen wollte.
"Die kriegen das Schiff nicht über Infrarot und Radar oder Normalkameras. Aber Unsichtbarkeit auf der großen Fläche birgt die Gefahr, dass die Ränder der Unsichtbarkeitszone verschwimmen. Außerdem kann ich mir vorstellen, dass die Infrarotabschirmung einen gewissen Temperaturunterschied macht. Sicher, da könnten auch die Jungs und Mädels von den Geheimdiensten oder den Streitkräften drauf kommen. Aber die glauben ja nicht alle an Magie. Ich probier's einfach mal." Er wählte aus einem Menü von Argos den Unterpunkt "Himmelsaugen", womit alle für Argos 20XX abrufbaren Satelliten befragt wurden. Dann koppelte er eine Bildkontrastumkehrsoftware in die Darstellung ein und wählte eine hohe Empfindlichkeit bei Temperaturunterschieden. Dann wählte er die letzte Position des Schiffes auf einer Zielauswahlkarte an und ließ das Programm alle Satellitendaten der letzten fünf Stunden darüber laufen.
Unnbemerkt von den drei Sonnenkindern vollzog sich derweil etwas anderes, nicht weniger entscheidendes.
Sie sah die Welt um sich herum auf dreifache Größe angewachsen. Alle Geräusche klangen ebenfalls so laut. Dass sie gerade noch einen Schritt von Patricia Straton entfernt war wusste sie nur, weil sie ja mitbekam, wie lang die Schritte der zur dreifach so großen Riesin gewachsenen waren.
Sie verfolgte mit, wie Patricia, Brandon und Faidaria, deren ungeborenes Kind sie nun fast schon flüstern hören konnte, nach diesem verschwundenen Schiff suchten. Doch der Druck auf sie, der sie Atemzug für Atemzug Patricias an sie heranschob, lenkte sie für einige Momente ab. Dann fühlte die Körperlose einen leichten Sog aus Patricias Richtung. Sie sah, wie sie nach oben glitt. Da sie selbst kein Gewicht hatte bekam sie dies nur über ihre nichtstofflichen Sinnesorgane mit. Dann wurde der Sog auf einmal stärker. Sie sah den bereits leicht vorgetriebenen Unterbauch Patriciaa Stratons und wusste, dass die Jahre der körperlosen Unbemerkbarkeit und Untätigkeit in wenigen Augenblicken vorbei sein würden.
Sie hörte Patricia Atmen, lauter und lauter. Jeder Atemzug verstärkte den Sog. Dann passierte es. "Wehre dich nicht. Lass dich darauf ein!" hörte sie Chuqui Ruaruas Stimme in ihrem Geist klingen. Das war für sie wie ein letzter Schupser. Patricias nächster Atemzug wurde zu einem lauten Faucher. Schlagartig umfing Dunkelheit sie. Etwas zerrte an ihr, riss sie weiter, bis sie mit einem heftigen Wärmeschauer abgebremst wurde. Ein Zucken ging durch ihren Körper. Sie hatte wieder einen Körper! Sie fühlte, wie die Beine kräftig gegen einen weichen Widerstand stießen, fühlte ihre Arme, wie sie neben sich etwas anstießen, das sich bewegte und hörte das dumpfe Schnaufen und Pochen, Rauschen und schnelle Wummern. Dann hörte sie einen lauten Schrei, den Schrei eines gerade geborenen Babys, sah sich selbst, wie sie Patricia aus ihrem eigenen Leib hinausstieß und hörte Eileithyia Greensporn lachen. Dann flog ein weiteres Bild an ihrem inneren Auge vorbei, das Bild, wie sie mit ihrem eigenen Blut auf einen mit Knoten besetzten Teppich einen Schwur leistete, und dann mit einer Flut von Lichtern und Farben durch ihr ganzes bisheriges Leben zurückraste, bis sie ganz zum Schluß ihren eigenen ersten Schrei hörte. Ihr letzter Gedanke war, dass sie nun ihr Schicksal erfüllte und von der Mutter wieder zur Tochter wurde.
Patricia Straton fuhr auf einmal zusammen, gerade als Brandon laut jubelte, weil seine Computerspielerei was erbrachte, was mit bloßen Augen nicht zu erkennen war. Faidaria und er merkten es, dass Patricia irgendwas erschüttert hatte. Einen Moment lang meinte Brandon, den Schrei eines neugeborenen Kindes zu hören, der schlagartig abbrach.
"Ich weiß nicht, was das jetzt war", keuchte Patricia. "Aber es hat mich gut erhitzt. Und eines von den Kleinen hat zum ersten mal richtig kräftig ausgetreten, und das vier Monate vor dem berechneten Termin."
"Habt ihr auch den Schrei eines Neugeborenen gehört?" fragte Faidaria.
"Ja, haben wir", sagte Brandon. "Aber was der sollte ist mir ein Rätsel.
"Irgendwas hat meine Kinder berührt und erschreckt. Der Schrei kann eine von mir uminterpretierte Gefühlsregung der kleinen gewesen sein. Aber es war kein Angriff. Ich habe starke Vertrautheit und Wärme empfunden, und Intis Beistand hat wohlig warm pulsiert."
"Das prüfen wir später", sagte Faidaria, die nun auf das Bild eines am Rand verschwimmenden Kreises blickte, der vom Durchmesser her wohl an die zweihundert Meter groß war. "Temperaturgefälle in der Luft an die zwanzig Grad und sinkt. Mist! Jetzt rutscht das Objekt aus dem Erfassungsbereich. Außerdem warnt Argos vor einem Zugriffsversuch von anderer Seite her. Ich markiere die Position."
"Gut, mach das", sagte Patricia, die regelrecht auf ihren Bauch hörte, als ob dort jemand eingekehrt war, der ihr was wichtiges mitzuteilen hatte. Ihre Gedankensinne waren bis aufs äußerste geschärft. Doch sie vernahm nur die Nachwirkungen eines kurzen Schreckens, wobei eine der Ungeborenen seltsamerweise schon wieder ganz ruhig war, während die andere irritiert war. Leider konnte sie mit ihnen nicht wie mit sprachfähigen Wesen kommunizieren.
"Es ist ein Schattenwerk dunkler Wesen", raunte Faidaria. "Brandon, du fliegst mit den sieben stärksten Brüdern von uns dort hin. Legt eure Rüstungen an!" befahl Faidaria.
"Schattenwesen, die dunkelheit und Kälte verbreiten. Nachtschatten, Dementoren. Aber die Dementoren wurden doch weiter im Süden alle auf einen Schlag vernichtet", warf Patricia ein.
"Dann ist es vielleicht er, der Schattenträumer, ein mächtiger Verbündeter Iaxathans", vermutete Faidaria.
"Von dem habe ich nie gehört", erwiderte Brandon. Faidaria entgegnete, dass er darüber froh sein könne und sie sich eh wundere, dass dieses Wesen lange nichts von sich hatte sehen oder wirken lassen. Sie hatte vermutet, dass er in allen Jahrtausenden vernichtet worden war. Doch diese Verhüllung, die Kälte brachte, konnte von ihm sein.
"Können wir mit den Rüstungen gegen was auch immer ankommen?" fragte Brandon.
"Gegen substanzlose Schatten geht es und gegen die Nachtkinder", sagte Faidaria. Patricia fragte, ob die Sonnenkinder die Dementoren wirklich nie zu sehen bekommen hatten. Faidaria schüttelte den Kopf. Das hieß, dass diese Wesen erst nach Beginn des langen Schlafes der Sonnenkinder entstanden sein mussten. Somit war die Frage durchaus berechtigt, ob die Ausstrahlung der Sonnenkinder und ihrer Rüstungen mit ihnen fertig wurde.
Nach einem telepathischen Alarmruf versammelten sich alle männlichenund weiblichen Sonnenkinder um Faidaria und Brandon, der inzwischen seinen Rechner wieder ausgeschaltet hatte. Brandon übermittelte im Schnellverfahren seine bildhaften Erinnerungen an alle. Dann sagte Faidaria:
"Die sieben stärksten, die jeder für sich mindestens schon drei von uns zu Müttern gemacht haben, brechen auf. Die übrigen bleiben bei uns. Ihr zieht die Rüstungen an und nehmt Sonnenkeulen mit! Findet und vernichtet, was auf diesem Schiff ist."
"Es müssen Dementoren sein", erkannte Patricia. "Sie saugen Glück und Freude in sich auf und können sich dadurch sogar vermehren. Also achtet auf Dunkelheit und Kälte."
"Dann sind die doch nicht alle draufgegangen?" fragte Brandon, der sich noch an seine Reise zum Tor von Garumitan erinnerte und auch an seine bisher heftigste Begegnung mit diesen Wesen denken musste, als er von Anthelias Gnaden Cecil Wellington gewesen war.
"Wenn nur einer von denen entkommen ist kann der sich vielleicht aus sich selbst heraus vermehrt haben, parthenogenetisch oder durch Teilung wie ein Bakterium", knurrte Patricia, die ein unbestreitbares Unbehagen fühlte.
Ich begleite euch", sagte Patricias Angetrauter. Außer Patricia trugen noch Darguliana und Shaiashtaria Kinder von ihm, zum Leidwesen Patricias, die diesem Handel damals nur widerwillig zugestimmt hatte.
"Reist los und findet das Schiff!" sagte Faidaria. "Am Ende sind wir es, die es retten können", spornte sie ihre Verwandten noch an.
Brandon schlüpfte in die Sonnenrüstung, die wie Goldfolie über seine Haut glitt und sich passgenau an jede Stelle anschmiegte. Dann bestieg er mit Hesperos und zwei anderen Sonnensöhnen den einen der beiden auf der Insel abgestellten Windsegler, muschelförmigen Gefährten mit vier Flügeln und startete. Er dachte an einen Showdown, eine alles entscheidende Kraftprobe, die über Wohl oder Wehe entscheiden mochte. Einen Moment lang sah er noch seine Frau Dawn vor sich. Sie trug seinen Sohn. Auch Faidaria trug sein Kind, gleichfalls Miridaria, die er gemäß der Übereinkunft als dritte Wiedervermehrungspartnerin hatte und Shaiyana. Sollte die Rüstung bei den Dementoren genauso versagen wie bei dem Wächter, der mit Zeitzaubern Menschen und Dinge rasant altern lassen konnte, dann blieb zumindest etwas von ihm hier und kam auf die Welt zurück. Doch Faidaria, die werdende Mutter eines seiner Kinder, hatte den Befehl gegeben, die Paradiso die Mare anzufliegen und von was auch immer zu säubern. Und diesmal durfte er dabei sein, ganz vorne an der Front. Das hätte seinen beiden Vätern wohl gefallen, seinem leiblichen, der damals gerne zur Airforce gegangen wäre, um Saddam Hussein in den Hintern zu treten, aber wegen eines Problems mit dem Innenohr nicht genommen worden war. Auch Reginald Wellington, der irgendwo in Florida in einer Todeszelle saß und sich fragte, was seine alten Kontakte noch wert waren, hätte sich sicher gefreut, den, den er für seinen Sohn gehalten hatte, gegen einen bösen Feind der Vereinigten Staaten in den Krieg ziehen zu sehen. Er hoffte, dass dieser Krieg nur eine Schlacht lang dauern würde und natürlich, dass die Sonnenkinder die Schlacht gewannen.
Keinem der in den beiden geflügelten Windseglern sitzenden Sonnensöhne behagte es, vor dem Morgenrot am Zielort anzukommen. Doch weil Brandon alias Ilangardian ja nicht während des Fluges auf seinen Rechner zugreifen konnte mussten sie ein sehr weites Gebiet absuchen, bis ein im Windsegler Ashtarlohinia verbautes Gerät die Nähe Dunkelheit und Kälte erschaffender Kraft erfasste.
"Seid gewarnt vor starken Mitternachtskräften!" hörte Brandon die Gedankenstimme der halblebendigen Steuerung der Ashtarlohinia.
"Sollen wir noch warten, fragte Brandon alias Ilangardian seinen Schwager Gooaridarian, der unter gewöhnlichen Menschen als Hesperos Straton auftrat, wenn er musste.
"Nein, wir dürfen nicht warten. Ich fühle, dass wir hier und jetzt zuschlagen müssen, wollen wir noch siegen. Diese Kreaturen, die die Kraft der langen Eisnacht um sich verbreiten, laben sich an den inneren Kräften der Menschen auf dem Schiff."
"Möge Ashtari, der große Vater Himmelsfeuer, mit uns sein!" rief Guryan, der Fachkundige für bösartige Zauberwesen. Das nahmen alle anderen Sonnensöhne ausgenommen Brandon als direkten Angriffsbefehl hin.
"Moment, wollt ihr das Schiff mit den Sonnenlichtwerfern beschießen?" fragte er, als Guryans Windsegler in schnellem Flug auf die tiefschwarze Fläche hinabstieß, die auf dem Wasser lag wie ein Meeresungeheuer aus einer mythischen Unterwelt.
"Ja, diese Wesen sind zu gefährlich!" rief Guryan über das Gedankenaustauschnetzwerk der Sonnenkinder zurück. Seine geistige Stimme klang merklich verzerrt, empfand Brandon.
"Wir fühlen eine Schwächung unserer gemeinsamen Verbundenheit", hörte Brandon Gisirdarias Gedankenstimme noch in sich. Irgendwie klang sie dumpfer, verschwamm förmlich in seinen restlichen Gedankenflüssen. Das war bisher nie passiert, erkannte Brandon. Auch und vor allem dann, wenn sie ein Kind von ihm trug konnte er mit ihr von jedem Punkt der Welt aus in Verbindung treten. Er konnte auch Numidarias Gedankenstimme wahrnehmen, die jedoch keine richtig lauten Worte formte, sondern eher flüsterte, wohl auch, weil sie eher Guryan etwas mitteilen wollte.
Guryans Windsegler, der von Guryan auf den Namen Daryankorilia, Leuchtfeuer der Freiheit, getauft worden war, näherte sich der tiefschwarzen Zone bis auf drei ihrer Längen. Dann fuhren die beiden im Bauch des Windseglers verborgenen Spiralrohre aus, die Brandon nicht zu unrecht an futuristische Laserkanonen denken ließen. Keine Sekunde später stachen zwei fingerdicke, gleißende Glutbahnen von der Daryankoliria in die Schwärze hinein, suchten Ziele, die jedoch nicht zu erkennen waren. "Die Geschöpfe der Finsternis haben einen vollkommenen Mantel der Dunkelheit um sich gebreitet. Ich vermag nicht, einen von ihnen direkt zu erkennen, schnaubte Guryan, den Brandon alias Ilangardian bisher nie so kampfeslustig erlebt hatte. Womöglich war es jene Art von Ärger, der aus Angst entstand, argwöhnte Brandon, der seiner Ashtarlohinia ebenfalls den Befehl erteilte, die Sonnenrammen auszufahren und auf die Dunkelheit einzuschwenken.
"Ermittlung der Gefahr", meldete sich Ashtarlohinias künstliche Gedankenstimme. "Gegner zehren aus Kräften von Leben, Tod und der Finsternis zwischen den Gestirnen. Höchste Gefahr! Gegner nur aus der Entfernung bekämpfen!"
"Sonnenrammen auf Dunkelzone ausrichten und feuern!" befahl Brandon, dem klar wurde, dass sie hier tatsächlich einen Feind vor sich hatten, der die Kristallstaubvampire überstieg. Es waren nicht einfach nur Lebewesen, sondern auch gleichzeitig Geisterwesen, solche, die aus Leben Tod, aus Glück Unglück und aus Unglück ihre eigene Kraft machen konnten. .
Die Sonnenrammen spien fauchend ihre gesammelte Ladung Sonnenlicht auf engstem Raum gebündelt aus. Doch die gleißenden Glutbahnen verschwanden in der Dunkelheit wie Wasser in einem Schwamm. Kein Widerschein, keine Glut war zu erkennen. Brandon fühlte, dass sie offenbar schon zu spät kamen. Dieses Schiff war von einer ganzen Monsterarmee besetzt, von der jedes einzelne Exemplar eine ohne Magie ausgestattete menschliche Armee locker aufhalten konnte.
"Mach den Patronus, Brandon. Wenn reines Sonnenfeuer nicht hilft dann geistige Abwehrzauber." Brandon beobachtete noch, wie das Gebilde undurchdringlicher Schwärze sich aufblähte. Dann griff er zu seinem Kraftausrichter. Patricia hatte ihm jenen hilfreichen Zauber gegen Nachtschattenund Dementoren beigebracht. Auch hatte sie Gisirdaria diesen Zauber beigebracht. Ihr Mann hatte davon aber nichts wissen wollen und sich darauf berufen, Zauber gegen die Dunkelheit zu wirken.
"Bei der Mutter aller schwarzen Sonnen, sie schwärmen aus!" rief Gooaridarian, der mit Brandon in der Ashtarlohinia saß. Da fühlte Brandon auch schon eine bisher selten erlebte Trübsal, ein Gefühl, heute noch das größte Unglück aller Zeiten erleben zu müssen. Außerdem spürte er noch etwas: Etwas beschwerte seine Arme, Beine und seinen Körper. Die Rüstung, die er trug, wurde immer schwerer. War sie bisher seine zweite Haut und ein unerschöpflicher Kraftspender gewesen, wurde sie nun Atemzug für Atemzug zu einer immer schwereren Last, als müsse Brandon sich gegen eine immer stärkere Schwerkraft stemmen. Er versuchte, an die Liebesnächte mit Gisirdaria, Faidaria und Miridaria zu denken, die ihm die glücklichsten Erlebnisse beschert hatten. Doch statt dessen dachte er daran, dass seine erste Freundin Donna Cramer mit ihrem Mann und einem ungeborenen Kind umgekommen war. Er sah in der auf ihn zurasenden Finsternis ein loderndes Feuer und wusste, dass das seine Heimatstadt war, die gerade niederbrannte. Er versuchte noch einmal, Erfolge beim Radrennen und Basketball aus seiner Erinnerung abzurufen. Doch statt dessen dachte er an die gefährliche Lage in der Turnhalle von Seattle und daran, wie er auf einem unhaltbar durchgehenden Pferd hockte. Dazu kam nun dieses Gefühl, von einer immer größeren Last niedergedrückt zu werden. Seine Bewegungen erlahmten. Er fühlte einen immer größeren Druck auf seinen Lungen. Er bekam schon fast keine Luft mehr.
Er hörte sich keuchen, oder war es der in Panik in einen Wald hineinpreschende Hengst Silver Bullet? Er versuchte noch einmal, an Gisirdaria zu denken, das kleine, runde Mädchen mit den kupferfarbenen Haaren und den roséweinfarbenen Augen, die Mutter seiner Tochter und Trägerin seines ersten Sohnes.
"Sie sind zu viele! Zu viele!" hörte er noch im Geist die Stimme Guryans. "Sie entreißen unseren Rüstungen die Kraft und treiben unsere Geister in die Trübsal!"
"Warnung, Kraftverlust! Kraftverlust!" plärrte nun auch noch die künstliche Gedankenstimme Ashtarlohinias dazwischen.
"Expecto Patronum!" rief Brandon, als er von irgendwoher die Bilder von Gisirdaria, Faidaria und Miridaria vor sich sah, wie sie ihn glücklich und höchst befriedigt anlächelten. Ein Schauer von Wärme durchflutete sein von Trübsal gelähmtes Bewusstsein. Sein Zauberkraftausrichter glomm silbern auf. Doch er konnte ihn nicht mehr anheben, er konnte ihn nicht mehr festhalten. Er verlor ihn. Das silberne Licht, der letzte Funke Hoffnung, erlosch sofort wieder.
"Warnung, Kraftverlust! Feinde bedrängen mich und schwächen mich! Was soll ich tun?" hörte er Ashtarlohinias Geistesstimme. Die beiden Sonnenrammen feuerten immer noch in die Dunkelheit hinein, zu der jetzt auch noch eine immer stärkere Kälte kam. Brandon versuchte, sich zu konzentrieren. Er musste der Steuerung befehlen, sich zurückzuziehen. Doch Bilder aus vergangenen Jahren drängten jede Konzentration zurück.
"Mondschild nicht errichtbar! Feinde schlucken Mondkraft!" flüsterte Ashtarlohinia ihm zu. Dann fühlte er, wie der Windsegler schwankte und ins Trudeln geriet. Er selbst fühlte sich wie in einem festen Teig oder Ton eingebacken. Er konnte sich nicht mehr bewegen. Seine Luft wurde nun wirklich knapp. Die Lungen bekamen nicht mehr den nötigen Raum, sich auszudehnen. Sein Herz pochte laut und immer schneller werdend. Brandon sah sich wieder als Ben Calder von den Piranhas, der brutalen Schulbande, in die Enge gedrängt, wie er als Cecil Wellington mit seinem Pferd eine steile, unendlich erscheinende Böschung hinunterstürzte. Der Aufschrei seines Pferdes verdrängte den letzten Rest von Hoffnung und Mut. Er würde gleich sterben, gleich nicht mehr leben. Er war erledigt.
"Kann Flug nicht mehr steuern! Feind holt auf und ... Feind ergreift meine Flügel! Flug nicht mehr möglich! Leite Erbeutungsvereitelungsmaßnahme ein", wisperte Ashtarlohinias Gedankenstimme durch das Bild des Schreckens, wie Cecil Wellington in die Tiefe stürzte.
"Wir sind geschlagen! Lebt wohl, unsere Brüder und Schwestern!" hörte er noch einen Chor aus wehklagenden Männerstimmen im Kopf. Dann fühlte er, wie ihm endgültig die Luft wegblieb. Kälte und Atemnot verstärkten die Todesangst, die die Erinnerung an den beinahe tödlichen Absturz mit Silver Bullet bereits entfaltet hatte.
"Nichts geht verloren!" hörte er unvermittelt zwei Stimmen gleichzeitig sprechen, einen Mann und eine Frau. Dann fühlte er einen mächtigen Stoß, der durch seinen Körper raste und vermeinte, ein gleißendes Licht um sich herum zu sehen. Er fühlte sich auf einmal ganz leicht. Er dachte an Berichte im Fernsehen über Menschen, die für einige Minuten klinisch tot gewesen waren. Die hatten von so einem hellen Licht erzählt. Aber sie hatten behauptet, darauf zugeglitten zu sein, durch einen Tunnel oder ähnliches. Hier trieb er in einem Meer aus Licht dahin. Außerdem hatten die Menschen, die von Nahtoderfahrungen berichtet hatten, auch erzählt, dass bereits verstorbene Angehörige auf sie gewartet hätten. Doch er war allein in diesem Licht. Doch dann fühlte er, dass da noch jemand war, jemand, auf den er mit großer Geschwindigkeit zuraste, jemand, der oder die ihn rief, ohne dass er hörte, was gerufen wurde. Dann jagte ein kurzer Wärmestoß durch ihn. Das Licht erlosch so schlagartig, wie es ihn umhüllt hatte.
Die künstlichen Bewusstseine der beiden windsegler erkannten sofort, dass die Feinde in ihrer Gesamtzahl jeden Funken Sonnenlicht schluckten. Dann griffen sie auch direkt nach den beiden Flugbarken. Die Steuereinheiten der Windsegler erfassten, wie ihren Lenkern und deren Begleitern alle Lebenskraft schwand und führten ihren letzten Auftrag aus, nicht zur Beute des Feindes zu werden. Mit den letzten Funken Sonnenkraft setzten sie einen Ablauf in Gang, der winzige Teilchen von ihnen in den Zündstoff für Tausendsonnenfeuer umwandelte. Doch die verbliebene Sonnenkraft reichte nicht mehr, eine große, verheerende Menge des gefährlichsten Stoffes der Welt zu erzeugen. Was entstand reichte gerade aus, um die beiden Windsegler und ihre leblosen Lenker in einer blitzartigen, gerade einmal vier Längen jeder Flugbarke nach außen drängenden Glutwolke zerbrechen und als kleine Trümmer ins Wasser regnen zu lassen. Dabei wurden auch die gespeicherten Sonnenlichtmengen in den Rammen und den mitgeführten Sonnenkeulen freigesetzt. Die sich an den beiden Windseglern festhaltenden Unheimlichen verloren drei Viertel ihrer stofflichen Daseinsform. Zu winzigen Abbildern ihrer Selbst geschrumpft wurden sie von der Druckwelle der beiden Zerstörungsglutbälle davongeschleudert.
Die übrigen Unheimlichen fühlten zwar die ihre Kraft durchdringende Macht eines Feuers, dass stärker war als das der Sonne, jedoch auf zu kleinem Raum und für zu kurze Zeit loderte, um ihnen gefährlich zu werden. Sie ärgerten sich, dass die Feinde nicht gefangen genommen werden konnten. Denn die hatten sehr starke Kraftquellen bei sich gehabt, die nur mit einer Übermacht von fünfzehn zu eins zurückgedrängt werden konnte.
Als sich die Unheimlichen sicher waren, keiner weiteren Gefahr mehr entgegentreten zu müssen sammelten Sie sich wieder auf dem Schiff, dessen menschliche Insassen in total trübselige und durch Drogenrausch enthemmte Menschen aufgeteilt waren. Mit dem Wissen der Steueroffiziere und dem Gespür für Überlegenheit setzten sie mit dem unentdeckbaren Schiff die Reise fort.
Jubel brandete durch die Reihen der Besatzer. Zwar hatten sie die in sehr stark strahlenden Rüstungen steckenden nicht fangen und ihnen die Seelen aussaugen können, und schlimmer noch, ihre fliegenden Fuhrwerke waren in einem grellen, unlöschbaren Feuer verglüht, dass die Hälfte der Besatzer um drei Viertel eingeschrumpft hatte. Doch sie hatten die Feinde zurückgeschlagen, die mit fürchterlichen Feuerspeeren aus gesammeltem Sonnenlicht in sie hineingestoßen waren. Aus den über die Jahrtausende überlieferten Erzählungen wussten die Unheilsbringer, dass die Angreifer wohl Feuergeweihte der verwehten Schöpfer waren. Die Narren hatten den Fehler gemacht, bei Dunkelheit anzugreifen. Die hätten auf ihren großen Verbündeten, das verhasste Tagesgestirn, warten müssen, um von diesem stark gemacht zu werden. Sie dagegen wären von den Strahlen der Sonne geschwächt worden. Welcher Narr hatte denen den Angriff befohlen? Doch die Abkömmlinge der größten Kriegerrasse aller Zeiten wussten, dass dieser Angriff nur ein Auftakt gewesen war. Die Angreifer waren aus ihren Rüstungen hinausgesprengt worden, um den Seelensaugern nicht zur Beute zu fallen. Doch wo die herkamen gab es sicher noch mehrere. Sie mussten erneut den Kurs ändern und vor allem mussten sie ihre erbrüteten Abkömmlinge weiterverbreiten. Auf diesem schwimmenden Glückseligkeitseiland waren sie zu leicht angreifbar. Die Eltern der Unheimlichen vergnügten sich bei dem Gedanken, dass ihre gerade so noch abgewendete Niederlage ihren Endsieg bewirken würde.
Die um einen Großteil ihrer Substanz gebrachten quängelten und jammerten zwar. Doch es half nichts. Sie wurden zusammen mit den wertlos gewordenen Hüllen der noch atmenden Mannschaftsmitglieder in die Rettungsboote gesetzt und aufs Meer heruntergelassen. Dann nahm die Paradiso di Mare Fahrt auf. Jetzt kümmerte es sie nicht, dass die Passagiere fühlten, wie das Schiff auf Gefahrenstufe davoneilte, um einem neuen Angriff zu entgehen und genug Abstand zwischen sich und die ausgesetzten Sprösslinge zu bringen.
Jim Crauford war seit dreißig Jahren Fischer. Mit seinem kleinen Boot Audrey II war er wie üblich in der Nacht auf See gewesen und wollte gerade den spärlichen Fang in den Hafen von Little Sandpit bringen, als er seinen Augen nicht traute. In südsüdost glomm ein winziger silberner Punkt auf, der rasend schnell größer wurde. Der Punkt wurde zu einer Erscheinung, die den an Seemannsgarn und Geistergeschichten seiner Vorfahren gewöhnten Fischer doch noch neu war. Über das Meer preschte eine gewaltige, silbernweiße Kuh. Sie galoppierte über die graugrünen Wellen dahin, als währen diese aus festem Erdreich, jagte auf die Audrey II zu und lief, kleine Fontänen verspritzend, daran vorbei auf die Insel zu. Crauford fielen fast die Augen aus dem Kopf, als er das Riesenrind aus einer Art Leuchtstoff genauer musterte und die darin eingekugelte Frauengestalt sah. Dann war das Ungetüm auch schon weitergerannt und wurde scheinbar kleiner und kleiner, bis es an der sanft wogenden Kimm nur noch ein silberner Punkt war, der keine Sekunde später vollends erlosch.
"Ich hab' doch heut noch keinen Schluck getrunken", knurrte Crauford. "Wenn ich das rumfunke glaubt mir das keiner, und an Land kassieren mich die Seelenklempner ein." Er grummelte, weil er diese Sichtung eigentlich melden musste. Doch anders als die meisten Bewohner der Insel hielt er schwarze und weiße Magie für wahr. Von der über das Meer laufenden Kuh war ihm wohlige Wärme und Zuversicht entgegengeströmt. Gerochen hatte er dagegen nichts. Aber wer war die Frau im Bauch der Lichtkuh? Hatte die dieses Geisterrind erschaffen oder von irgendwo hergerufen, oder hatte ihr jemand, vielleicht eine höhere Macht, dieses Wesen geschickt, um sie in Sicherheit zu bringen? Der Fischer erkannte, dass er nur Ärger kriegen würde, wenn er die Sichtung weitermeldete, und wenn nicht mit Polizisten, Hafenbeamten und Psychiatern, dann vielleicht mit denen, die dieses Riesenrindvieh beschworen hatten. Mit Menschen konnte er kämpfen, mit Geistern ging das nicht. Mit dieser Erkenntnis setzte Jim Crauford seinen Heimweg fort.
Gauri war nach der Flucht vom Schiff eingeschlafen. Als sie wieder aufwachte fand sie sich von warmem Wind umweht und das Rauschen naher Brandungswellen in den Ohren auf einem sandigen Strandabschnitt wieder. Die Macht der Prithivi Mata, der sie ihre Unversehrtheit verdankte, hatte sie tatsächlich an Land getragen. Doch wie weit war das Land von dem Schiff entfernt? Wie lange hatte sie geschlafen? Jetzt stellte sie fest, dass sie immer noch völlig nackt war. Auch fehlten ihr die drei Schlangen, ihre persönliche Leibwache. Sie trug nur das für andere Menschen unsichtbare Schutzarmband. Doch würde es noch genug Kraft haben, sie noch einmal zu beschützen, oder hatte sich das Schutzarmband restlos erschöpft, regelrecht ausgebrannt?
"Ich muss mir Kleidung schaffen", dachte Gauri und stand auf. Sie strich sich behutsam den Sand von ihrer Haut, darauf achtend, ihn nicht an zu empfindliche Stellen zu bekommen. Dann ging sie los. Sie schämte sich ihres Körpers nicht, und es war auch nicht zu kalt. Doch sie wusste, dass es besser war, sich möglichst bald wieder zu bekleiden.
Sie folgte den erst schwachen und dann immer deutlicher wirkenden Gefühlsströmen, bis sie an den Rand eines kleinen Dorfes kam, das einen natürlichen Hafen besaß. Gerade landeten mehrere Fischerboote. Junge Männer halfen ihren Vätern oder Onkeln, die Boote zu vertäuen und den Fang an Land zu bringen. Gauri war eine Tochter der indischen Urwälder. Doch diese scheinbar so romantische Kulisse urwüchsiger Inselfischer gefiel ihr. Dann dachte sie wieder daran, was gerade anstand.
Vor ihr entgegenkommenden Menschen durch deren vorauswehende Gefühlsströme rechtzeitig gewarnt umschlich Gauri die kleinen Häuser mit den Ziegeldächern, bis sie in einem Garten an einer Leine hängende Wäschestücke sah. Sie erkannte zufrieden, dass dabei auch Unter- und Überkleider von westlichen Frauen waren, die ihr passen mochten. So schlich sie sich in den Garten hinein. Aus dem Haus erklang alarmiertes Hundegebell. Gauri pflückte ganz dreist die ihr wohl passenden Sachen von den Leinen herunter. Da kam ein Mann aus dem Haus. Vor ihm her wetzte ein kalbgroßer schwarz-brauner Hund mit aufgerissenem Maul. Gauri konnte zwar am besten mit Schlangen umgehen. Doch ihr feindliche Tiere konnte sie mit ihrem Blick besänftigen. So starrte sie den ihr entgegenspringenden Hund konzentriert an und dachte ihm zu, sein Freund zu sein. Als sie sah, dass es eine Hündin war dachte sie ihr zu, dass sie ihre beste Freundin war und ihr und ihrem Hernn nichts tun wollte. Die große Hündin bremste ab und klappte das eben noch zum Zubeißen offene Maul zu. Dann kam der Besitzer der Hündin und hob eine Pistole. Gauri wechselte mit ihrem betörenden Blick zu ihm und legte alle Sanftmut und Ruhe hinein.
"Ich bin Gauri", sprach sie mit einer samtweichen Stimme auf Englisch, weil sie hoffte, dass der Hausbesitzer die Sprache konnte. Er konnte. Denn er blieb stehen und sah sie immer weiter weltentrückt an. "Willst du nicht die Pistole wegstecken. Du brauchst sie hier nicht", säuselte Gauri weiter. Der Fremde nickte und erwiderte geistesabwesend:
"Ja, du hast recht." Er öffnete seine Hand und ließ die Armeepistole auf den Boden fallen. Dann sprach Gauri weiter:
"Ich bin nur wegen ein paar Kleidungsstücken hier. Ich will euch nichts tun, und ich werde auch ganz schnell weitergehen." Ihr Tonfall klang nun ganz sanft, ohne Argwohn und Überlegenheit zu vermitteln. Ihr magischer Blick hielt den Anderen unter Kontrolle. Dieser deutete halbmechanisch auf die Leine. Gauri nickte, deutete dann auf das Kleiderbündel unter ihrem linken Arm und bedankte sich bei dem anderen. Dieser stand nun mit seiner ruhig atmenden, auf dem Boden liegenden Hündin im Garten. Auch als vom Haus her eine besorgte Frauenstimme rief, was passiert sei, antwortete er nicht.
Gauri zog sich die grob verarbeitete Unterwäsche an und stieg in Kombination aus grauem Rock und hellblauer Bluse. Dass sie da gerade eine Schuluniform angezogen hatte erkannte sie erst, als sie die magisch ergaunerte Kleidung geschlossen hatte und nun barrfuß davonlief.
Als sie an einem Stall vorbeikam roch und hörte sie die darin stehenden Kühe. Die Tiere brüllten. Sie mussten gemolken werden. Das kam der geflüchteten Hexe aus Indien sehr gelegen. Denn sie fühlte hunger und Durst. Mit Dankesmantren an die erste heilige Kuh, wobei sie nur ihre vielen Ehrennamen nannte, füllte sie einen kleinen Blecheimer mit frischer Milch, bevor eine junge Frau in grober Schürze hereinstolperte und die Fremde sah. Gauri machte sofort eine Geste, die einen vorübergehenden Bewegungsbann auferlegte und besang das junge Mädchen mit Mantren der sanften Unterwerfung. Dann trank sie behutsam und mit der gebührenden Andacht die gemolkene Milch und fühlte davon neue Lebensgeister in sich erwachen. Dann horchte sie unter Verwendung ihres hypnotischen Blickes die Magd aus. So erfuhr sie, dass sie auf der Bahamas-Insel Morningrest gelandet war, einer kleinen, eher unbedeutenden Insel des Archipels Da sie mit den technischen Geräten der Magielosen bestens vertraut war und vor einem Jahr erfahren hatte, wen sie anrufen konnte, um Kontakt mit der Zaubererwelt zu bekommen, ließ sie sich von der Magd das kleine Mobiltelefon geben und wählte die ihr genehmste Nummer.
Am anderen Ende sprach einer mit nordamerikanischem Akzent. Doch als er hörte, wer dran war verfiel er sofort in lupenreines Bengali, Gauris Muttersprache.
"Goldtochter der großen Gebärerin, Schlangenmeisterin, was hat dich auf eine Insel der ehemaligen Kolonisten getrieben. Ich dachte, du wolltest von unserer Welt nichts mehr wissen, seitdem du die Asche deiner Mutter aus unserem Land abgeholt und nach Hause gebracht hast."
"Ich habe für die Magielosen getanzt und gesungen, Muhandas. Du verstehst das nicht, und jetzt ist nicht die Zeit dazu. Ich war bis vor zwei Tagen auf einem Schiff voller sündhaft hemmungsloser Leute. Doch die vielen Sünden haben gierige, Dunkelheit und Kälte verbreitende Dämonen angelockt, die das Schiff besetzt und übernommen haben. Die saugen den Menschen das Glück und auch die ganzen Seelen aus, Muhandas. Selbst als reiner Geistkörper war ich in Gefahr. Nur das Schutzband meiner Vormütter hat mich beschützt."
"Dämonen, die Dunkelheit und Kälte verbreiten und Glück und Seelen saugen? Wo war das und wo ist das Schiff jetzt?" hörte sie ihren Gesprächspartner sehr aufgeregt fragen. Sie berichtete ihm nun in kurzen Sätzen, was ihr in den letzten Wochen aufgefallen und passiert war. Als sie damit fertig war seufzte der Mann am anderen Ende der drahtlosen Verbindung. Dann sagte er:
"Gut, dann suchen wir die Brut. Wir hatten hier in den Staaten auch so einen Vorfall. Diese Dämonen stammen von einer Horde ab, die auf einer Felseninsel eingekerkert war und die angeblich alle bei einer großen Entladung von Magie auslöschender Kraft zerstört wurden. Also sind die auch bei euch aufgetaucht. Ich komme mit drei meiner Kolleginnen herüber. Sage mir bitte noch einmal, wo die Insel ist und wie der Ort heißt, in dem du Zuflucht genommen hast!" Gauri fragte die Magd, die immer noch wie in Trance neben ihr stand nach den genauen Bezugspunkten. Diese gab sie weiter.
Eine halbe Stunde später flirrte eine blaue Leuchtspirale vor dem Kuhstall, in dem Gauri und die Magd die fünf Kühe leergemolken hatten. Aus der Lichtspirale wurden drei Menschen, zwei Männer und eine Frau.
Einer der Männer hatte nachtschwarzes, glatt auf die Schultern wallendes Haar und genauso schwarze Augen. Seine Hautfarbe glich der Gauris bis auf einen leicht helleren Ton. Er trug einen dunkelgrün-hellblau gemusterten Umhang. Um seinen Hals hing eine Kette, die aus Tierkrallen zu bestehen schien und an deren unterem Ende ein Amulett aus Kristall hing, in dem ein bläulicher Rauch waberte.Der zweite Mann war ein Europäer und trug einen mitternachtsblauen Umhang mit silbernen Sternchen an den Säumen und einen marsroten Spitzhut mit goldenen Halbmondsymbolen am Rand. Die Frau war kleinwüchsig und besaß ebenholzfarbene Haut, dunkelbraune Rastalocken und hellwach umherblickende, hellblaue Augen im runden Gesicht.
"Gruß dir, goldene Tochter der großen Gebärerin allen Lebens. Dies sind meine Mitstreiter im Kampf gegen die Dämonen und bösen Magier aller Weltecken, Celista Moonstalk von der Insel Jamaika und Japitus Hertzsprung aus Broomsdale bei New York. Er ist ein Großmeister der Sternen- und Planetenzauber, während Celista sich mit afrikanischer Ritualmagie und Abwehrzaubern des babylonisch-westeuropäischen Kulturkreises auskennt. Wir möchten von dir noch einmal die Geschichte hören, was dir zugestoßen ist. Ich baue mal eben einen Mithörschutz auf." Muhandas Lakshmirhadana hob den mitgebrachten Zauberstab und vollführte einige Bewegungen damit. Sofort meinte Gauri, ein leises Summen in den Ohren zu hören. Dann hörte sie wieder ganz klar. Sie erzählte nun den dreien, was ihr passiert war. Celista nickte und holte einen Gegenstand aus ihrer Umhängetasche, einen zehn Zentimeter großen Kristallzylinder, in dem etwas silberweißes schimmerte, das entfernt an eine Koralle erinnerte, sich aber von selbst bewegte. "Unsere neueste Errungenschaft, der Flaschenpatronus. Wenn der das bewirkt, was unser Ausrüstungsgroßmeister und Celista hier behaupten, kann man damit selbst dort Dementoren aufspüren, wo sie meinen, mit ihhrer Dunkelheit und Eiseskälte alles verhüllt zu haben. Im Zusammenspiel mit deinem Schutzband kann er uns sicher verraten, wo du genau herkommst und den Weg zurückverfolgen", sagte Muhandas. Dann begannen die drei anderen, um Gauri herumzutanzen. Sie fühlte die starke Magie, die sich in ihrem Schutzarmband sammelte. Dann brach es silbern aus dem Armband heraus, reines Licht, das mit dem korallenartigen Etwas im Kristallzylinder verschmolz und dann zu jener silbernen Lichtkuh wurde, die Gauri hergetragen hatte. Nur nahm die gewaltige Erscheinung nun alle vier Magier in sich auf und eilte mit einer Geschwindigkeit aufs Meer hinaus, die zehnmal so hoch war wie die, mit der sie Gauri fortgetragen hatte.
Über eine Mithörmuschel hielt Hertzsprung, der ein Amulett aus Silber und Mondstein hervorgeholt hatte, Kontakt zu einer Einsatzgruppe, die auf neuen Parsec-Besen unterwegs war und nur noch die genauen Koordinaten brauchte.
Als die Kuh aus reinem Licht auf eine Wolke aus schwarzem Dunst zujagte bog sie abrupt wieder ab. Der Kristallzylinder summte unüberhörbar laut los. Was vorhin noch eine darin eingeschlossene Koralle aus silbernem Licht war wurde zu einer den Zylinder umschließenden Sphäre aus silbernem Licht, die so groß wie ein Männerkopf wurde. Das Summen wurde noch einmal lauter. Dann klang es wieder ab. Die Silbersphäre wurde wieder zum eingeschlossenen Korallengewächs.
"Das Ding reagiert wirklich auf Dementoren, will sie wohl auch zurücktreiben. Aber in der Obhut deiner Schutzherrin können uns die Verruchten nichts anhaben. Auch wenn sie schon in Scharen auf uns zujagen", erwiderte Lakshmirahdani zuversichtlich. Celista hielt den Kristallzylinder in die Richtung, aus der gerade ein Dunststrahl aus der nur für Zauberer und Hexen als schwarze Wolke erkennbaen Nebelbank schoss.
"Wir haben sie. Die große Urmutter aller Lebewesen hat uns erhört und geführt. Drängt die Dämonen in die Gefilde der Unwelt zurück, aus der sie zu uns gesandt wurden!" rief Muhandas in seine Mithörmuschel.
"Sage der Superpatrona, sie soll uns drei ausspucken, Mädchen. Mein Mondamulett wird uns schon genug Schutz geben."
"Gib meine Gefährten frei. Sie können sich wehren", sprach Gauri ihrem Armband zugewandt. Doch nur ein verdrossenes Brummen und Muhen war die Antwort. Dann meinte Gauri, eine tiefe Frauenstimme zu hören: "Wen ich berge den trage ich. Wen ich trage den bringe ich in Sicherheit. Wen ich in Sicherheit bringe gebe ich erst frei, wenn er oder sie in Sicherheit ist. Nimm es dankbar hin und lass dich von mir tragen, meine Tochter!"
"Sie will euch nicht freigeben, weil sie euch beschützen und in Sicherheit bringen muss. Sie will nichts hören, dass ihr euch wehren könnt."
"Blödes Rindvieh", knurrte Hertzsprung und machte anstalten, mit dem Amulett von innen gegen den feinstofflichen Bauch der Kuh zu stoßen. Das Resultat war, dass er einen gehörigen Schlag abbekam und halbohnmächtig in die Mitte des riesigen Hohlraums geschleudert wurde. "Der bleibt jetzt da, bis ich euch wieder an Land gebracht habe", hörte Gauri die Stimme des mächtigen Avatars.
"Bist du von Sinnen, Japitus. In diesem Wesen wirkt ..." Gauri blickte Muhandas warnend an. "Nicht ihren Namen nennen, auch wenn du ein Reiner bist, Muhandas", zischte sie.
"Ich freue mich auf heute Abend, wenn ich mit Hilfe der Sonne wieder ein paar große Steaks und Frikadellen grillen darf", knurrte Hertzsprung zornig. Doch Celista beruhigte ihn, dass fremde Magie eben ihre eigenen Gesetze und Vorlieben hatte.
Auf halbem Weg zurück an land wurden sie von mehr als fünfzig blitzschnell dahinjagenden Schemen überflogen, die wie abgefeuerte Raketen auf ein bestimmtes Ziel zuhielten.
Sie hatte gefühlt, wie ihre Erinnerungen vergingen. Das letzte, was sie noch von sich mitbekommen hatte war ihr allererster Schrei und der allgegenwärtige Herzschlag ihrer Mutter. Dann jedoch hörte sie einen kurzen Aufschrei, den eines Mannes und wusste auf einmal wieder alles. Sie wusste auch, dass sie gerade im Körper eines ungeborenen Mädchens steckte. Dann vernahm sie total verunsicherte Gedanken, die Gedanken eines jungen Mannes.
"Verdammt, was ist passiert? Wo bin ich hier denn?
Das grelle Licht, in dem er schwebte war erloschen. Dunkelheit umgab ihn. Dunkelheit und dumpfe rhythmische Geräusche. Und er fühlte, dass er nicht alleine war. Er meinte, zwei Wesen zu empfinden. Eines kannte er, das war Patricia Straton. Das andere schien gerade aus einem Traum zu erwachen. Er fragte sich in Gedanken, was passiert war. Dann fühlte er seinen Körper. Er konnte sich bewegen, wenn auch etwas schwerfälliger. Doch er schwebte. Rumm-bumm! Rumm-bumm! Dieses Geräusch klang am lautesten in seinen Ohren. Auch war da ein Wummern, das irgendwie aus ihm selbst zu kommen schien. Er versuchte, seine Arme zu bewegen, auszustrecken. Dabei stieß er jedoch auf einen bis zu einem bestimmten Punkt nachgiebigen Widerstand.
"Das habe ich nicht erwartet", hörte er auf einmal eine reine Gedankenstimme und fühlte, wie etwas ihn von links unten anstieß. Er kämpfte darum, seinen Arm kontrolliert zu bewegen. Doch das gelang offenbar nicht so recht. "Wer bist du?" fragte er in Gedanken zurück. Dass er keine Luft holen musste wunderte ihn nicht.
"Deine große Schwester", hörte er eine höchst erleichtert klingende Antwort. Dann hörte er mit seinen Ohren eine dumpfe, um ihn herum dröhnende Stimme:
"Sie haben alle ihre Körper eingebüßt, Faidaria. Aber ich bin mir sicher, dass ihre Seelen nicht verlorengegangen sind."
"Verdammt, das ist Patricia Straton auf Subwoovermodus", dachte er und erschrak, weil seine eigene Gedankenstimme irgendwie höher klang als sonst.
"Natürlich ist das Patricia, wenn ich auch nicht weiß, wieso du bei ihr und nicht anderswo ... Natürlich, das Ritual des Medaillons", erwiderte die andere Gedankenstimme, die er nun erkannte.
"Moment, du klingst wie Patricias selige Mutter."
"Glückselige Tochter beschreibt mich wohl gerade besser. Aber das dauert wohl noch einige Wochen oder Tage. Ich weiß nicht, seit wann ich hier bin wo du jetzt auch bist. Konnte mich erst wieder an mich erinnern, als du in meine Schwester eingefahren bist."
"In deine was?" fragte er und erschrak erneut, weil seine Stimme eher wie die eines kleinen Mädchens klang. Er machte schwerfällige Armbewegungen und bekam seine Hände an den Körper. Ganz träge tasteten seine Hände sich vor, bis er sie zwischen seinen Beinen liegen fühlte. Er suchte was und fand es nicht. Nur dieses pulsierende etwas, dass direkt aus seinem Bauch kam und immer wieder pumpend etwas in ihn hineindrückte oder herauszog war da. Aber das, was ihn früher sein Leben lang begleitet hatte fehlte.
"Was ist das für ein Albtraum! Das kann nicht echt passieren. Ich träume den Schwachsinn doch nur ... Aua!" stieß er in Gedanken aus und war völlig irritiert, dass er tatsächlich eine andere Gedankenstimme bekommen hatte.
"Doch, es ist passiert, Süße. Du und ich sind Zwillingsschwestern, meiner Tochter Patricias ungeborene Zwillingstöchter", enthüllte die weibliche Gedankenstimme aus unmittelbarer Nähe. Dann hörte er noch die Gedankenstimme Patricias:
"Du bist also irgendwie in mein kleines Unterzimmer eingezogen, Brandon. Aber wieso meine Mutter auch in einem meiner Babys eingezogen ist weiß ich nicht. Gut, dass ich schon erfahrungen mit ungeborenen Kindern habe, die schon richtig denken können."
"Ich werde dein Kind, Patricia. Das krönt alles, was wir zwei bisher erlebt haben. Aber wieso ist das so?" wollte Brandon alias Ben alias noch nicht benannt wissen.
"Weil nichts verlorengeht, was unsere Schöpfer in uns eingebracht haben", hörte er Gisirdarias Gedankenstimme, die Stimme seiner ehemaligen Gefährtin.
"Immerhin darf ich wohl wieder ein Mann werden, auch wenn ich nicht weiß, warum ich in dem Kind meiner eigenen Schwester neuen Halt gefunden habe", hörte der in einem ungeborenen Mädchen wiederverkörperte Geist Brandon Rivers' eine leicht verschwommen klingende Antwort eines kleinen Jungen.
"Das liegt an dem, was Patricia mit dir gemacht hat, Schwesterchen", lachte die Gedankenstimme der Anderen. "Sie hat deinen Körper und deine Seele an sich gebunden. Das ist durch eure Sonnenkindtaufe nicht zerstört worden, sondern wohl verstärkt worden. Warum ich jetzt hier bin weiß ich dagegen sehr gut. Öhm, werte Patricia, wie lange ist diese Sache mit dem verschwundenen Schiff her?"
"Meine kleine Untermieterin, das ist gerade einige Minuten her. Aber wenn ich das richtig mitbekommen habe steckst du schon seit gestern in einem der zwei Kleinen, richtig?"
"Wohl wahr", erwiderte die kristallklare Gedankenstimme von Brandons direkter Nachbarin. Dann begriff er die letzten Worte, die er vor dem gleißenden Licht gehört hatte: "Nichts geht verloren!" Er, ein den Sonnenkindern eingemeindeter, war auch ihren Schutzbezauberungen unterworfen worden. Als sein Körper wohl wegen Luftmangel starb war ein total phantastischer Vorgang ausgelöst worden, der seinen Geist in den Körper einer mit ihm körperlich wie geistig besonders verbundenen ungeborenen Kreatur überführt hatte. Auch den kleinen Jungen, den er eben noch gehört hatte, erkannte er jetzt. Das musste Gooraridarian sein, vor wenigen Minuten noch sein Schwager und jetzt ... sein Sohn? Der war jetzt dazu verurteilt, als Gisirdarias und Brandons Sohn wiedergeboren zu werden? Und er, Brandon oder Ben oder Cecil, sollte eine von Gooaridarians Töchtern werden, eine Schwester von Prunellus, eine Tochter von Patricia Straton, jener Hexe, die ihn damals, weil er das Wiederbelebungsritual für Anthelia belauscht hatte, zu Anthelias Hexenschwestern hingelockt hatte. Sie hatte ihn damals auch auf seiner Flucht in die Südstaaten abgefangen und so mitgeholfen, dass er über Jahre Cecil Wellington war. Jetzt sollte sie ihn in sich tragen? Das konnte unmöglich ... Wieder traf ihn ein schmerzvoller Stoß in die Seite. Er war also wach und kein "Er" mehr.
"Wir kriegen das alle hin", bemerkte die Gedankenstimme der anderen. Darauf hörten sie wie aus gewisser Ferne die Stimme eines zweiten kleinen Jungen antworten: "Ja, und ich bin wie Gooraridarian dazu bestimmt, der Sohn meiner eigenen Schwester zu werden. Aber wieso das so ist möchte ich gerne wissen."
"Weil nichts verloren geht", hörte das Wesen, das früher Ben Calder und Cecil Wellington war eine andere Jungenstimme antworten, die er nicht erkannte. Doch Gooaridarian alias Hesperos alias noch nicht benannt erkannte ihn wohl und fragte: "Oh, so hat es dich auch in eines der gerade auf ihr Leben hinwachsenden Sonnenkinder versetzt, Losinashtarian?"/p>
"Bedauerlicherweise ja. Noch dazu in das Kind meiner Mutterschwester", gedankengrummelte die andere Stimme. Das Bewusstsein, das früher Ben Calder und Cecil Wellington gehört hatte, erkannte nun, dass Losinashtarian, der Neffe Faidarias, deren neuer Sohn werden würde. Auch diesen hatte Brandon Rivers auf den Weg gebracht. Wie abgefahren war das denn, fragte sich das Ich in einer von Patricias künftigen Töchtern.
Als die erste Aufregung über die neue Lage verflogen war fühlte das Ich von Brandon Rivers eine zunehmende Müdigkeit. "Am besten schlafen wir genug, damit wir auch groß und stark für die Rückkehr in die Welt sind", scherzte die andere Zwillingstochter Patricias. "Denk dran, die eigene Tochter zur Mutter zu haben ist wesentlich abwegiger als den Körper eines Jungen gegen den eines drallen Mädels einzutauschen. Hab keine Angst vor deinem Körper. Du wirst damit klarkommen. Falls nicht wirst du dann ja eine fürsorgliche Mutter und eine dankbare große Schwester haben, die dir damit helfen."
"Dankbar, wieso?" wollte die neue "Sie" wissen.
"Weil du durch die Bereitschaft, mit Patricia das Ritual der Verbindung über das Medaillon zu vollziehen mein Gedächtnis bewahrt hast. Sonst wäre ich wohl auf beide Mädels aufgeteilt worden und hätte alles vergessen. Aber jetzt schlaf. Mom Patricia passt sicher auf uns auf."
"Nur, wenn du, kleine Pandora oder Pyrrha, deiner Mutter noch vor ihrer Niederkunft erzählst, wie du das hinbekommen hast, dass ich deine Mom Patricia werden darf."
"Pyrrha?" fragte Brandons Bauchgenossin.
"Nach deiner Urgroßmutter."
"Ich habe das mitbekommen, dass die von dir zuerst geborene Pandora heißen soll. Das kriege ich hin", erwiderte die sich mit ihrem Schicksal offenbar ganz leicht abfindende trotzig.
"Pyrrha, mit dem Namen rumzulaufen habe ich aber auch keine Lust. Dann will ichlieber Pandora heißen", versetzte Brandons Ich. "Oder Phoenix, wie die Kleine von den Beghams."
"Würde auch passen", stellte Patricias Gedankenstimme fest. "Durch Feuer gestorben und aus der Asche wiedergeboren." Das waren die vorerst letzten Worte, die Brandons früheres Ich mitbekam. Doch der von ihm neu beseelte Körper dämmerte immer schneller weg.
Die drei Elternteile der nun nun an die Hundert zählenden wussten, dass das verhasste Untier nur ein Kundschafter gewesen war. Die geflüchtete Magierin hatte ihn geschickt, um den neuen Standort des Schiffes zu erfahren. Alle erwachsenen Kriger von Leben und Tod waren versammelt, den eigentlichen Angriff zurückzuschlagen. Zwanzig halbwüchsige Sprösslinge waren in das Schiffsinnere geschickt worden, um sich an der Glückseligkeit der seit Tagen im Dauerrausch gefangenen Fahrgäste zu laben.
"Fünfzig fliegende entschlossene Seelen!" gedankenrief der erste Wiedererwachte von der Spitze des gerade nicht betriebenen Radarmastes herunter. Jener, der es gewohnt war, Glück abzusaugen und Furcht und Verzweiflung auszuströmen, fühlte nun doch eine gewisse Angst. Waren das die erwarteten Feuerkinder, die die Vernichtung ihrer Artgenossen rächen wollten?
"Hinaus und über sie her!" rief der zweite Wiedererwachte ganz kriegerisch und führte die erste Ausfallswelle an.
Als die feindlichen Gruppen nur noch einhundert Meter voneinander fort waren flog ihnen ein Schwarm aus silbernen Geschöpfen entgegen, die aussahen wie Fische, Vögel und Insekten, Wesen, deren natürliche Vorbilder in Luft oder Wasser in alle Richtungen vorstoßen konnten. Ein handtellergroßer Käfer aus silbernem Licht brummte auf den zweiten Wiedererwachten und Verfechter der schnellen Vermehrung seiner Artgenossen zu und rammte ihm seine hornartigen Fühler in das weit aufgerissene Maul hinein. Mit einem urwelthaften Brüllen schnellte der getroffene Dementor zurück. Dann waren vier der Unheilswesen in der Nähe von Maureen O'hoolihan, deren Patronus ein majestätischer Adler war. Alle vier Dementoren gerieten unter die kräftig niedersausenden Schwingen, den blitzartige Hiebe verteilenden Schnabel und die gnadenlos zuschlagenden Fänge. Sie spritzten in alle Richtungen auseinander wie ein Wassertropfen auf einer glutroten Herdplatte.
Auch wenn die Dementoren wild gegen die heranfliegenden Feinde anstürmten reichte meistens ein Patronus aus, gleich vier, fünf oder sieben von ihnen zurückzudrängen. Dann erreichten die Angreifer das besetzte Schiff und stießen selbst wie Greifvögel nieder. Das zuschnappende Maul eines Hai-Patronus, den ein hünenhafter Blondschopf im wasserblauen Umhang beschworen hatte, bahnte den Hexenund Zauberern eine von fünf Anflugschneisen. Die, die gelandet waren, beschworen nun ihrerseits weitere Patroni herauf, Bären, Wölfe, Pferde und sogar ein Flusspferd. Die nun allesamt erzeugten Patroni trieben die Dementoren, die versuchten, mit ihrer Dunkelheit und Kälte verströmenden Ausstrahlung die Feinde zu schwächen, in der Mitte der beiden Decks zusammen. Aus der Not eine Tugend schöpfend versuchten die so zusammengetriebenen Dementoren, durch einen letzten Trick ihre Angreifer zurückzuwerfen. Sie lösten sich zu unförmigen, halbflüssigen Gebilden auf, ihrer Durchschlüpfform, ihrer eigentlichen Geburtsform und bündelten so ihre Kräfte. Dann verschmolzen sie zu einer pechschwarzen, gallertartigen Masse, aus der urplötzlich lange Scheinglieder herausstießen und zielgenau in der Nähe stehende Kämpfer packten und in das Innere der amorphen Abscheulichkeit hineinrissen. Auf diese Weise verlor die Einsatzgruppe zwölf wertvolle Mitglieder. Sie starteten auf ihren Besen, um den wieder hervorpeitschenden Gallertsträngen zu entgehen. Zudem verströmte das Unding nun eine mörderische Welle aus Furcht und Verzweiflung, versuchte im Gegensog alles Glück und alle Zuversicht aus seinen Gegnern zu reißen. Doch diese hatten sich auf genau diesen Kampf vorbereitet. Kiloweise Ambrosianusschokolade, gewürzt mit Goldblütenhonig, sowie Kopfbedeckungen, die den indianischen Traumfängern ähnlich böse Gedanken und Ängste von außen schluckten hielten die Seelen der Krieger aus der Jetztzeit gegen die einer unbestimmten Vorzeit gewappnet. Wieder warf das Ungetüm, das vorhin noch aus mehr als hundert Dementoren bestanden hatte, schleimige, klebrige und unzerreißbare Fangarme aus. Selbst der Bärenpatronus von Codius Brownloe wurde von den glitschigen Scheinarmen erfasst und zerquetscht.
dann spielten die Angreifer auf den Besen ihren größten Trumpf aus. Von gleich acht Seiten her feuerten Kämpfer, die hinter ihren Patroni in Deckung standen kleine, rote Kristalle in die wabernde, amorphe Masse wie aus Pech und Sirup hinein. Dann zogen sich alle blitzschnell auf den auch rückwärts flugfähigen Besen zurück, innerhalb von nur drei Sekunden hundert Meter Abstand nehmend. Dann strahlte aus der getroffenen Masse silberweißes Licht auf, wurde zu einem weißen Feuer, das den Klumpen aus vereinten Dementoren verzehrte. Als der weiße, flammenlose Glutball wieder in sich zusammenfiel breitete sich eine pechschwarze Rauchwolke aus, die innerhalb weniger Sekunden das gesamte Deck überdeckte und durch die von den Hexen und Zauberern freigesprengten Einstiege in das Schiffsinnere quoll.
"Na also, das war's, Blob! Geht doch!" rief Jeff Bristol, der hinter seiner Frau Justine auf einem der neuen Parsec-Besen saß und mit einer ganz ordinären Zwille einen von acht Incantivacuum-Kristallen ins Ziel gebracht hatte.
"Das war schon unheimlich, dass die sich zu einer Kugel zusammenballen können, wenn sie einzeln nichts mehr schaffen", sagte Justine. "Am Ende hätten die so noch disapparieren können."
"Als Riesenamöbe haben die uns doch glatt fünfzehn Leute in einer Minute gekostet", stöhnte Jeff, nachdem seine erste Euphorie über den Sieg verweht war. Seine Frau nickte. Dann sahen sie zu, wie der schwarze Qualm immer tiefer ins Schiff eindrang.
"Wir wissen, dass der Rauch lebende Dementoren tötet und auch in diesen Rauch auflöst. Aber was der mit Menschen macht wissen wir noch nicht", merkte Jeff auf. So flogen sie im Schutze von Kopfblasen in die wabernde Wolke hinein und durch diese hinunter in den Bauch des Backbordrumpfes.
Jeff hatte sich schon ein Bild von dem gemacht, was in dem Schiff zu finden sein mochte, Bordelle, Bars, Spielhallen und andere anrüchige Vergnügungsstätten. Das erste, was er mitbekam war ein wildes, überschwengliches Johlen, durchsetzt mit vielfachem Liebesgestöhn und anderen aus Wollust geborenen Lauten. Dann landeten sie, vom schwarzen Dementrorenqualm halbblind, in einem Park. Hier herrschte diffuses Licht einer Notbeleuchtung. Offenbar war die Hauptbeleuchtung ausgefallen. Dann kamen sie, mindestens ein Dutzend Männer und Frauen ohne Kleidung. Weil die Dementorenvernichter durch den dichten Dunst nicht genug sahen bekamen sie zu spät mit, wie die anderen sich blitzartig auf sie stürzten und die in ihrer Reichweite stehenden niederrissen.
Jeff wollte gerade noch zur Seite springen, als eine große, breite Gestalt aus dem wabernden Schwarznebel auf ihn zusprang. Doch die Gestalt war zu schnell und hatte zu gut gezielt. Das Gewicht des Angreifers stieß ihn auf den mit weichem Echtgras bedeckten Boden. Nur seiner jahrelangen Kampfsportausbildung verdankte er, nicht in der ersten Sekunde bewegungsunfähig geworden zu sein. Doch das Gewicht, das auf ihm lastete hielt ihn nieder. Er versuchte, sich unter dem zentnerschweren Gegner herauszurollen, wurde aber von fangschreckenartig zupackenden Armen umschlungen. Dann fühlte er, wie etwas von außen gegen seine Kopfblase drückte. Jetzt konnte er sehen und auch fühlen, dass eine korpulente Frau ihn umgerissen hatte und nun versuchte, ihm ihr Gesicht auf seines zu pressen, was die elastische aber druckstabile Kopfblase jedoch nicht zuließ. Dann ließ das Gewicht einen Moment nach. Die Fremde war in Vierfüßlerstellung gegangen. Jeff wollte schon unter ihr wegrobben, als sie mit einem zielsicheren Griff seinen Umhang von oben bis unten auseinanderrissund Anstalten machte, ihm auch noch die Unterhose herunterzureißen. Er verstand. Dieses Frauenzimmer war nicht mehr bei Sinnen, aber dafür um ein vielfaches schneller und stärker und vor allem darauf aus, ihnhier und jetzt zu beschlafen. Diese Erkenntnis traf Jeff so heftig wie ein Schlag. Er versuchte noch einmal, die unbeherrschte Unbekannte von sich wegzustoßen, versuchte sogar einen Karateschlag anzubringen. Doch die andere wich dem Schlag aus, bekam den Arm zu fassen und rammte ihn mit ihrer linken Hand so fest auf den Boden, dass er eine Furche in die künstlich gezüchtete Wiese grub. Jeff wähnte sich gleich gegen seinen Willen mit dieser Furie verbunden, als aus dem Dunst ein roter Blitz aufstrahlte und die von sinnen über ihn herfallende traf. Die Unbekannte kippte zur Seite weg und landete auf dem Rücken, Arme und Beine schlapp von sich gestreckt. .
"Du bist vielleicht ein treuer Ehemann, gleich von der ersten überaphrodisierten Frau, der du begegnest vernascht zu werden", knurrte Justine Bristol. Dann teilte sie und wohl noch jemand rote Schockblitze aus. Doch nur fünf von der Kampftruppe konnten sich der über sie herfallenden Meute erwehren. Zwanzig von ihnen wurden am Boden gehalten. Weitere aufgeputschte Menschen stürmten aus dem dunklen Rauch heraus und sprangen zielgenau auf die Hexen und Zauberer zu, die nur ihr Heil in der Flucht durch Apparieren sahen. Jeff wurde von einer riesenhaften Hand ergriffen und auf die Füße gerissen. Im schwarzen Dunst nur schemenhaft sah er sich einem vier Meter großen Riesen gegenüber und dachte zuerst an einen Dementor, der wie durch ein Wunder am Leben geblieben war. Doch als die RiesenGestalt sprach erkannte er die durch die zusätzliche Größe tiefer und lauter gewordene Stimme seiner Frau.
"Am besten schleppe ich dich ab, bevor noch eine von diesen aufgescheuchten Muggelweibern dich doch noch kriegt", sagte sie und zog Jeff mal eben nach oben, um ihn sich auf die Schultern zu heben. Kaum saß er sicher wie ein kleiner Junge auf den Schultern des Vaters oder der Mutter teilte Justine Boxhiebe aus, die die nächsten anrückenden Passagiere zurücktrieben. Jeff hörte, wie Kollegen von ihm aufschrien, weil sie gegen ihren Willen genommen wurden. Er musste ihnen helfen. Doch sein Zauberstab lag auf dem Boden, irgendwo. Justine erriet wohl, was er vorhatte und hob ihren mitvergrößerten Zauberstab: "Accio Zauberstab!" dröhnte ihre Stimme durch den Sündenpark. Dann gab sie Jeff seinen Zauberstab in die Hand. Er teilte nun den Devoluptus-Zauber aus, um die überhitzten Gemüter herunterzukühlen. Doch weil er durch den Brodem nicht zielen konnte verpufften seine Zauber häufig in der qualmgeschwängerten Luft.
"Die werden wir so nicht los!" rief Justine. Wir müssen .." Was sie mussten sprach sie nicht mehr aus. Denn unvermittelt erstarb aller Lärm der übermäßig liebeshungrigen Männer und Frauen wie abgeschaltet. Eine unheilvolle Stille erfüllte den Park unter Deck. Jeff lauschte. Dann hörte er das gequälte Stöhnen und keuchen wie in einen Holzeimer hineinklingen.
"Verdammt, dieses Frauenzimmer ..." stieß Codius Brownloe aus. Dann hörten sie weitere Kollegen und Kolleginnen. "Nein, der kann doch nicht tot sein!" stieß Maureen O'Hoolihan aus. Jeff hörte deutlich Ekel und Entsetzen in ihrer Stimme.
"Okay, kleiner, darfst wieder auf die eigenen Füße. Aber nicht mit fremden Frauen rummachen!" säuselte Justine und half ihrem normalgroß gebliebenen Mann, wieder auf die eigenen Füße zu kommen. "Öhm, Reparo Umhang!" sagte er schnell mit auf sich selbst zielendem Zauberstab. Als er wieder anständig bekleidet war sah er durch den immer noch sehr dichten schwarzen Qualm seine Frau, die nun wieder ihre übliche Größe angenommen hatte.
"Zusammen mit Jeff und den Magiern Codius Brownloe und Herman Finnley errichteten sie einen Dom aus silbernem Zauberlicht. Dann wirkten sie einen Zauber, der den rußigen Qualm zu einem unförmigen Klumpen wie aus einer gallertartigen Masse schwarz wie Teer verdichtete, so dass sie im Inneren des Domes wieder frei sehen konnten. Kaum war der Rauch vollends zu einer teerartigen Masse verklumpt löste sie sich einfach in Nichts auf. Jetzt konnten sie das Ausmaß des Überfalls erkennen. Auf dem Boden lagen leblose Körper von Männern und Frauen. Mit dem Lebensfindezauber Vivideo prüften sie nach, ob sie noch lebten oder tot waren. Die Ausbeute war erschreckend. Von sechzig im Dom gefangenen waren zwanzig tot und dreißig bewusstlos. Offenbar hatte das, was sie zu sexhungrigen Berserkern und Furien gemacht hatte die letzten Kraftreserven verbraucht.
"Verdammt, die hat mich echt ... öhm, darf ich meiner Freundin nicht sagen", knurrte Brownloe, als er auf eine ohnmächtige, athletisch gebaute Frau mit kaffeebrauner Haut und schwarzem Kräuselhaar deutete. Jeff blickte indes mit weit aufgerissenen Augen auf die unbekleidete, drei zentner schwere Frau, die fast sein Ehegelübde auf dem Gewissen gehabt hätte. Sie umgab keine grüne Lichtaura, die zeigte, dass noch Leben in ihr war. Ob Justines Schockzauber ihr den Tod gebracht hatte oder die sie und alle anderen hier regelrecht verheizende Wirkung, die vielleicht von dem Qualm der vernichteten Dementoren hervorgerufen worden war wusste er nicht. Im Grunde konnte es auch egal sein.
"Okay, Leute, die haben dreißig von uns flachgelegt, bevor sie entweder in die Arme der Ohnmacht gestürzt oder vom grimmigen Schnitter abgeholt wurden", sagte Finnley, während Maureen mit hocherrötetem Gesicht an sich hinuntersah und dann auf die Leiche des Mannes blickte, der sie wohl auch ganz gegen seinen eigenen Willen geschändet hatte.
"Wir müssen prüfen, wer noch alles tot ist. Dann holen wir unsere heiler her und ..." setzte Finnley an, kam aber nicht weiter, weil aus der Ferne ein lauter, schriller, tierhafter Schrei erklang, der vielfach von den weit entfernten Wänden und der dreißig Meter hohen Decke widerhallte. Der Schrei klang wie der eines grausame Schmerzen erleidenden Kindes und schrillte trotz der noch wirkenden Kopfblasen schmerzhaft in den Ohren. Fünf Sekunden dauerte dieser Schrei, in den dann noch weitere solche schrillen Schreie einfielen. Jeff fühlte die Gänsehaut am ganzen Körper. Dann trat wieder Stille ein. Doch diesmal war es nicht nur eine unheilvolle, sondern gnadenlose Stille. Etwas oder jemand war wohl gerade qualvoll verendet.
"Ich weiß nicht, was es war. Aber es klang schrecklich", sprach Codius Brownloe nach einer halben Minute aus, was wohl alle dachten. Maureen, die immer noch damit haderte, von einem irgendwie aufgeheizten Mann vergewaltigt worden zu sein, weinte in ihre Kopfblase.
"Gut, Leute, wir sind hier, um das Böse und Unheilvolle zu bekämpfen, wo und wie es sich immer äußert", erinnerte Brownloe seine Mitstreiter an den Auftrag. "Vergrößert euch, die ihr das gut hinkriegt und nehmt die auf die Schultern, die darin nicht so fit sind! Wir suchen in Zweiergruppen das Schiff ab. Nicht apparieren! Im selbstvergrößerten Zustand ist die Gefahr einer Zersplinterung im Kubik zum Vergrößerungsfaktor größer als sonst schon. Verschlossene Türen, falls nicht mit Alohomora zu öffnen mit Mollificus und Excavatus beseitigen! Und los!"
Justine lud sich Jeff wieder auf die Schultern, weil sie als geborene Metamorphmaga eine wesentlich höhere Selbstverwandlungsfertigkeit besaß. Dann durchsuchten sie das Schiff.
Es war eine erschütternde, groteske Schau, die sich den Suchenden bot. Wo sie hinkamen lagen Paare aus Männern und Frauen, gemischt- oder gleichgeschlechtlich, zusammen. Mehrere von ihnen waren tot. Doch die Mehrheit der Gefundenen war nur bewusstlos, vielleicht im Koma. Die schweren Schotten des Schiffes standen offen und erlaubten so die durchquerung der Abteilungen. Der schwarze Qualm füllte immer noch die Gänge und Räume aus.
Als Jeff und Justine vor einer geschlossenen Panzertür standen fühlten sie beide jene Kraft, die sie vorhin noch zu spüren bekommen hatten. Hinter der Tür mussten Dementoren lauern, die noch nicht vom schwarzen Qualm erledigt worden waren. Justine und Jeff ließen den mehrere Zoll starken Stahl der hermetisch schließenden Tür durch den Mollificus-Zauber zu einer wachsweichen Substanz werden. Diese hielt den zwei darauf folgenden Reducto-Flüchen keine Zehntelsekunde stand. Sofort wurde es total dunkel und kalt um sie. Sie hörten das rasselnde Atmen von mindestens zehn oder zwanzig Dementoren. Doch nur zwei Sekunden später ging das bedrohliche Saugen und Rasseln in tierhaftes Brüllen über, das nach nur drei Sekunden zu gurgeln und Röcheln wurde, bevor es kurz fauchte. Die Finsternis wich bis auf den rußigen Brodem, der nach dem öffnen der Tür in den dahinterliegenden Raum gedrungen war.
"Waren doch noch welche übrig", seufzte Justine. Dann sahen sie im Licht ihres mit ihr mitvergrößerten Zauberstabes den zigarrenförmigen Körper, der in einer nach unten weisenden Halbröhre lag. Jeff erkannte das Objekt sofort als Miniatur-U-Boot und fühlte unmittelbar, dass dort noch weitere Dementoren sein mussten. Er wies seine Frau gerade auf diese Gefahrenquelle hin, als aus mehreren dicken Rohren Wasser von der Decke schoss. Auch das Halbrohr wurde geflutet, und vor dem Bug des etwa acht Meter langen U-Bootes teilte sich die Wand und gab weiteren Wassermassen den Weg frei.
"Mist, die wollen abhauen!" rief Jeff über das laute Rauschen und Sprudeln des hereinschießenden Wassers hinweg. Justine sprang vor, wollte auf das U-Boot zielen und geriet mit Kopf und Oberkörper voll in einen meterbreiten Wasserfall. Dank der auch in der Selbstvergrößerung wirkenden Kopfblase geriet sie nicht in Gefahr, Wasser zu schlucken. Die wirkliche Gefahr traf sie und Jeff jedoch, als das mit dem schwarzen Qualm vermischte Wasser ihre Kleidung durchdrang und ihre Haut benetzte.
Jeff fühlte es als erster, jene auflodernde Begierde, einen unbändigen Wunsch, das erste weibliche Wesen zu beschlafen, dass er finden konnte. Und welch eine Freude, er saß ja gerade auf den Schultern so eines verheißungsvollen Wesens. Und das Wesen, so riesenhaft es war, war seine eigene Frau. Die durfte er begehren, nehmen, besitzen und beglücken. Sie sah es wohl genauso, weil sie ihn unverzüglich von ihren Schultern herunterpflückte und vor sich hielt, um ihn zu betrachten. Dann setzte sie ihn vor sich ab. Danach zielte sie mit dem Zauberstab auf sich selbst und bewirkte ungesagt den Schnellentkleidezauber, der irgendwann als dreister Streich eines schelmischen Magiers ersonnen und ausgefeilt worden war. Dann fühlte Jeff, wie auch ihm die Kleidung vom Leib gezogen wurde, ohne dass er Hand daran gelegt hatte. Justine sah Jeff vor sich auf dem Boden stehen, der Anstalten machte, wie ein kleiner Hund an ihr hochzuspringen. Da begriff sie, dass der augenblickliche Größenunterschied ein wenig hinderlich sein mochte. Sie ließ sich hinten überfallen. Jeff nahm die Einladung an.
Während das Wasser stieg und stieg vollzogen die beiden in Las Vegas getrauten einmal mehr die Ehe miteinander, allerdings auf eine Weise, die ihnen bisher nie in den Sinn gekommen war. Das steigende Wasser hob sie dabei an, nahm sie in sich auf und trug sie höher und höher. Währenddessen glitt das kleine U-Boot unangefochten im Halbrohr nach draußen in die Freiheit. Die beiden in ungehemmter Liebeslust entbrannten Laveau-Mitarbeiter kümmerten sich nicht darum. Erst als Justine wohl merkte, dass sie bei dem Größenunterschied gerade nicht die vollkommene Befriedigung erfahren würde schrumpfte sie ohne Zauberstabgebrauch auf ihre Normalgröße zusammen, was Jeff nun wieder einige Zentimeter größer als sie werden ließ. Nun wie sonst auch liebten sich die beiden von einer ihnen unbekannten Wirkung entfacht weiter.
Am Rande der endgültigen Erschöpfung rumpelte es. Die Wand hatte sich wieder geschlossen, und das Wasser floss durch sich öffnende Abflüsse gurgelnd ab. Erst als sie wieder am Boden lagen hatten sie genug voneinander.
Am Rand der Ohnmacht taumelten sie zunächst durch die vom Rauch befreite Halle. Dann fand Justine ihren noch unverkleinerten Zauberstab und wollte noch einmal zur Riesin werden. Doch die nicht gezählten Liebesakte und die vorangegangenen Zauber hatten sie vollständig ausgezehrt. In diesem Zustand fanden Codius Brownloe und der für das Laveau-Institut arbeitende Medizinmann Matthew Hummingbear die beiden.
"Ihr seid echt ein tolles Paar. Habt nur einen Ort gesucht, um euch vom Qualm hier in Fahrt zu bringen, wie?" zischte Brownloe verdrossen. Doch der Indianer machte eine beschwichtigende Geste. "Der Rauch war alles entströmte Glück der Seelenfresser. Hier war wasser. Wenn der Rauch damit zusammenkam wurde er sicher zur flüssigen Leidenschaft. Ich habe eure Liebe und Begierde füreinander gespürt. Doch weil mein weißer Bruder hier unbedingt die Steuerzentrale des Schiffes gesucht hat konnte ich nicht zu euch hin", sagte Hummingbear."
"Wir brauchen jedenfalls neue Sachen. Außer meiner Vielzweckkuhr habe ich nichts am Leibe, und Justine kriegt ihre Sachen nicht mehr auf Normalgröße runter. Außerdem sind die alle nass und damit kontaminiert", sagte Jeff.
"Hast du gerade was von entströmtem Glück gesagt, Matthew?" fragte Justine. Hummingbear bejahte es. "Ungebundene Lebensfreude, die aus den toten Dementoren entweicht, wenn sie durch Incantivacuum-Kristalle zerstört werden. wirkt wohl wie eine Überdosis Sauerstoff auf andere Dementoren", vermutete Justine. Jeff nickte. Das erklärte, wieso die Dementoren sich bei Berührung mit dem Qualm in den gleichen Rauch auflösten und damit einen Domino-Effekt bewirkten.
"Unsere Reservesachen sind bei den Besen in diesem Park der ungebändigten Begierden", sagte der Medizinmann.
"Dann wieder hoch und die Sachen geholt", sagte Jeff. Justine bestand aber darauf, zumindest Badekleidung anzuziehen. Sie entlieh sich von Brownloe den Zauberstab. Mit diesem apportierte sie einen Bikini und eine Badehose sowie Badelatschen für sich und Jeff. Brownloe wies sie darauf hin, dass die Entnahme von muggelwaren aus Muggelgeschäften unter Ausnutzung der Magie als Diebstahl galt, sofern keine Rückgabe vor Bekanntwerden der Entnahme stattfand oder eine den Muggeln geläufige Bezahlung entrichtet wurde.
"Hättest bei ddeinen Büchern bleiben sollen, Codius, oder möchtest du zu Dime in die Goldsammeltruppe?"
"Ich seh's ein, Justine. Wenn Maries Ruf mich nicht ereilt hätte säße ich sicher heute immer noch als Krämerseele in einem verstaubten Büro bei Dime", brummte Brownloe.
"Ja, mein weißer Bruder im Zeichen des großen Bären, und dort wärest du völlig fehl am Platze.
Justine prüfte den Sitz des Bikinis, passte ihre Körperform sogar noch ohne Zauberstabgebrauch an, und ließ ihr tizianrotes Haar zu einer wasserstoffblonden Löwenmähne werden. Jetzt sah sie aus wie die Schauspielerin Pamela Anderson, fand Jeff Bristol.
"Sei es", knurrte Brownloe, als er einsah, dass er Justine nicht von ihrer Verspieltheit mit ihren Fähigkeiten abbringen konnte.
Wieder in der Parkanlage, wo die Laveau-Zauberer mehrere magische Lichtkugeln an die Decke gehängt hatten, um genug sehen zu können, trafen sie auf Maureen O'Hoolihan, die wohl immer noch mit ihrem Zauberstab und dem Ratzeputzzauber ihren Unterkörper bearbeitete. Brownloe trat zu ihr hin und legte ihr die Hand auf die Schultern. Sanft sprach der Mann, der seinem Patronus sehr ähnlich sah auf die vom Schock der blitzartigen Vergewaltigung beeinträchtigten ein. "Mädchen, wir sind alle übel erwischt worden. Aber komm jetzt bitte mit! Wir brauchen sicher noch deine Kenntnisse in Muggelkunde, wenn wir es hinbiegen müssen, wie das Schiff wieder auftauchen darf."
"Mann, du verstehst das nicht. Ihr alle kapiert das nicht!" keifte Maureen. "Ich bin verdorben für den Rest meines Lebens." Dann aber gab sie es auf, noch mehr vom in sie eingebrachten Unrat aus sich herauszuspülen und sich dabei selbst wegzuputzen.
Quinn Hammersmith hatte wohl den richtigen Riecher gehabt, als er empfohlen hatte, dass jeder aus der Einsatzgruppe einen Reservezauberstab ausgeborgt bekommen sollte. So kamen Jeff und Justine wieder zu eigenen Zauberstäben und konnten auch aus der am Besen mitgenommen kleinen Umhängetasche Ersatzumhänge überziehen.
Eine Stunde später meldeten die das Schiff durchforstenden, dass sie eine Tür gefunden hatten, die mit sehr starken Zaubern belegt worden war. Die dahinterliegende Suite war regelrecht in einen magischen Tresor verwandelt worden, der den Kobolden in Gringotts sicher gefallen hätte. Niemand meldete sich auf Anruf der Kämpfer. Selbst mit dem Sonorus-Zauber bekamen sie keine Antwort. Ein schlachsiger Zauberer, der zwei verschiedenfarbige Augen besaß, trat vor und starrte auf die Tür. Sein rechtes Auge wirbelte darauf immer wilder im Uhrzeigersinn herum. "Keiner drin. Aua, tut das weh!" Der Späher zog sich mit beiden Händen am Kopf zurück und atmete schwer.
Weil es den angerückten Kämpfern trotz verschiedener Zauber und Rituale nicht gelang, den magisch gepanzerten Wohnbereich zu öffnen, setzten sie noch einen Incantivacuum-Kristall ein. Das Ergebnis war, dass die Tür und alle dahinterliegenden Möbel und Teppiche in silbernem Feuer verglühten, die Wände Wellen Warfen und zerfielen und die Decke in großen Metalltropfen herunterregnete.
"Das müssen Kundige der Himmelsrituale der Inkas gewesen sein, die sich in der Suite vor den Dementoren versteckt haben", stellte Justine Bristol fest. "Selbst unser Medizinmann Hummingbear konnte die Tür nicht dazu bringen, sich zu öffnen."
"Ja, weil ich andauernd Mondlicht vor den Augen hatte", sagte einer von drei indianischen Zauberern, dessen Patronus dem Namen entsprechend ein Grizzlybär war.
"Mit anderen Worten, da waren Magier drin, die nach dem Auslöschen der Dementoren das Weite gesucht und gefunden haben", stellte Jeff Bristol fest.
"Und zwar mit Titus' Besen", blaffte Finnley. "Der Trottel hat den oben an Deck liegen gelassen und ist gleich runter zum Kiel appariert. Wird teuer, Burschi!"
"Halt die Luft an, Heringsbändiger!" knurrte der Zauberer, der sich seinen Fernflugbesen hatte abluchsen lassen.
"Und jetzt haben wir Vollpfosten auch noch mit Incantivacuum-Kristallen geaast und damit den ganzen Bereich für das Retrocular undurchschaubar gemacht", erkannte Jeff Bristol, der sich fragte, wer so eine mächtige Bollwerkmagie benutzen konnte und offenbar etwas auf dem Kerbholz hatte, weil er oder sie nicht abwarten oder herauskommen wollte.
"Kriegen wir so nicht mehr raus", grummelte Finnley. Dann blies der Truppführer zum Rückzug. "Lassen wir den Todesqualm raus und die Heiler rein. Die kriegen jetzt eine Menge zu tun."
Alle verfügbaren Heilerinnen und Heiler des Laveau-Institutes, sowie Heiler und Heilerinnen aus den Krankenhäusern der USA, Großbritanniens und Mexikos untersuchten die noch lebenden und die Toten. Dabei kam heraus, dass die Passagiere wohl schon vor der Dementorenvernichtung eine aphrodisierende Droge verabreicht bekommen hatten und der schwarze Rauch, der laut Hummingbear entströmte Leidenschaft und ungebundene Lebensfreude war, den Effekt noch einmal vervielfältigt hatte. Wer körperlich nicht mehr fit genug war war an Gehirnschlag, Kreislaufzusammenbruch oder Lungenverkrampfung gestorben. Bei einigen hatte die Droge und der Qualm wohl auch eine Überhitzung der Körper bewirkt, dass sie einen von innen ausgehenden Hitzschlag erlitten hatten. Da sämtliche elektronischen Geräte im zehnfachen Radius der Incantivacuum-Entladungen zerstört worden waren konnte über die Identität der Passagiere vorerst nichts gesagt werden. Da es auch keine Passagierlisten im eigentlichen Sinne gab, sondern nur Referenznummern, die wie Schlüssel und Schloss zusammengefügt werden mussten, würde nur die Befragung der Passagiere unter Verwendung von Legilimentik etwas bringen. Denn Veritaserum durfte nur dann verabreicht werden, wenn die Gefahr einer strafbaren Handlung bestand oder eine solche bereits vollzogen wurde und enthüllt werden musste. Bis dahin hielten die Zauberer und Hexen der beiden Ministerien USA und Mexiko sowie das aus Großbritannien den Aufenthaltsort der Paradiso di Mare weiterhin geheim. Nur in den führenden Zaubererweltzeitungen erschienen Artikel, weil die Heiler darauf bestanden, vor der weiterbestehenden Gefahr durch Dementoren zu warnen. Wer der Zauberer oder die Hexe war, welcher oder welche die eine Suite verbarrikadiert hatte konnte nicht mehr ermittelt werden, weil die Incantivacuum-Entladung nicht nur die magische Überprüfung des Raumes vereitelte, sondern auch alle organischen Proben restlos verglüht waren, wohl weil sie von der das Bollwerk errichtenden Zauberkraft durchtränkt worden waren. Zwar waren sich die Laveau-Mitarbeiter sicher, dass mindestens eine kundige Hexe der Himmelskörperzauber der Inkas oder Maya dort gewesen sein mochte. Wer das war musste nun wohl erst einmal auf althergebrachte und langwierige Weise ermittelt werden.
Weithin größere Bauch- und Kopfschmerzen bereitete den Sicherheitsbehörden aller Zaubereiministerien die Zahl der ausgesetzten Boote und das entflohene Mini-U-Boot. In dem U-Boot waren eindeutig Dementoren geflüchtet. Ob noch welche in den Booten ausgebracht worden waren musste ganz geheim untersucht werden. Hierfür wurden die Rechenzentren der Büros für die friedliche Koexistenz von Menschen mit und ohne magische Begabung eingeschaltet.
Die andere schlief gerade. Ben Calder alias Brandon Rivers war wach. Doch am liebsten wäre es ihm, wenn er weiterschlafen würde wie die andere, die offenbar keine Probleme damit hatte, in einem winzig kleinen Raum mit weichen Wänden zu stecken, andauernd das laute Wummern eines großen Herzens und das Rauschen und Gluckern und Schnaufen um sich zu haben.
"Ich hätte damals das Maul halten sollen", dachte der ehemalige Bewohner der Kleinstadt Dropout. "Ich hätte dieses Hexengesinge nicht an den Sheriff verpfeifen sollen." Ein lautes Grummeln und Gluckern war die Antwort. Dann fühlte er, wie der ihn einschließende Raum sich bewegte. Er zwang seinen rechten Arm dazu, sich auszustrecken. Da er ganz unter Wasser war gab es den gewissen Widerstand. Dann hörte er ein lautes Geräusch um sich herum, dumpf und tief. Er war nicht sicher, aber das klang echt wie ein Gähnen.
"Du bist auch wach?" empfing er die Gedankenstimme Patricia Stratons, in deren Leib er für die nächsten Wochen eingeschlossen war.
"Wenn ich das gewusst hätte, mal im Bauch einer Hexe zu landen und selbst eine zu werden hätte ich damals wohl die Schnauze gehalten", dachte er mit seiner ihm noch sehr ungewohnten Kleinmädchenstimme zurück. Seltsamerweise hatte er keinen Drang, nach Luft zu schnappen. Doch er öffnete den Mund und sog etwas von dem warmen Fruchtwasser in sich ein.
"Ja, verstehe ich, dass dir das jetzt zusetzt. Würde mich auch stören, wenn ich im Bauch irgendeiner Frau gelandet wäre, mit deren Lebensweise ich nicht klarkomme und das über große Teile voll bewusst mitkriegen müsste, was die so anstellt und was um sie herum so los ist. Aber jetzt ist das nicht mehr zu ändern. Denkst du mir gefällt das, dass ich jetzt weiß, dass ich auch mal von irgendeiner wiedergeboren werde, vielleicht von deiner Tochter Laura oder von Faidarias kleiner Tochter? Oder dass du mich irgendwann noch mal zur Welt bringen könntest?"
"Oh neh, das will ich gar nicht denken", gedankenseufzte Patricias unfreiwilliger Körperuntermieter.
"Mann, hätte mir Dawn nicht mal sagen können, dass die Sonnenkinder ihre Seelen mit irgendeiner Auffangvorrichtung verkabelt haben, die dann wie eine Lostrommel auswählt, von wem die wiedergeboren werden. Allein wie du und Dawn die Kleinen gekriegt haben macht mir schon Angst, weil das sicher höllisch weh tut."
"Du hast einige Sekunden im Geist deiner Tochter mitbekommen, weiß ich von dir und Gisirdaria. Laura ist aber gut auf die Welt gekommen", erwiderte Patricias Gedankenstimme.
"Will ich wohl meinen, weil sie wusste, dass sie von Anfang an gewollt war", hörte der Miterwecker der Sonnenkinder die Stimme der Frau, die er dabei zur Frau und Mutter seiner Tochter gemacht hatte. "Und wenn Gwendartammaya wirklich allen Dunklen Taten ihrer früheren Zeit entsagt hat, um sich, dich und mich freizubekommen, bist du bei ihr gut aufgehoben."
"Und von mir redet keiner?" gedankengrummelte ein kleiner Junge, der wohl vorher Gooaridarian geheißen hatte.
"Ich habe dich auch lieb, mein Sohn", erwiderte Gisirdaria darauf. Da erwachte auch die zweite ungeborene Tochter Patricias aus ihrem Schlaf.
"Du knabberst natürlich noch dran, dass du jetzt von meiner früheren Tochter getragen wirst und hast natürlich angst vor ihrem Leib und der Geburt und was du danach sein und tun wirst", hörte er sie mit einer schon eher jugendlich klingenden Mädchenstimme denken. Ihr Zwilling konnte das nicht verbergen. "Das was ich dir nach unserem Einzug in Patricias warmes Unterzimmerchen zugedacht habe ist bleibt so. Sieh es mal so, du erlebst was, von dem andere Menschen nur träumen können oder das sie vielleicht nur in einer tiefen Trance erinnern können, solange dein Körper dich das bewusst mitbekommen lässt."
"Träumen. Früher als halbe Hose habe ich geträumt, richtig lang mit einer Frau zusammen zu sein und so tief mit der verbunden zu sein wie's geht. Aber über Monate und dann komplett von Kopf bis Fuß?" Patricia und ihre ehemalige Mutter lachten. Dann fragte Ben alias Brandon alias Pandora oder Phoenix:
"Wie kam das denn, dass du überhaupt jetzt mit mir hier drinsteckst, wo du doch keine von den Sonnentöchtern geworden bist?"
"Zeige ich dir, wenn wir's hinbekommen, gemeinsam zu träumen", bekam er / sie zur Antwort.
"Dann schlaft noch ein wenig, denn es ist hier ja noch ziemlich früh", erwiderte Patricias Gedankenstimme. Die beiden ungeborenen fühlten, wie sich ihre Mutter wieder in eine für alle drei bequeme Lage drehte und immer ruhiger atmete.
"Gute Idee, versuchen wir das mal. Könnte klappen, weil ich ja einen halben Tag oder so auch in deinem neuen Körper irgendwie mitgewohnt habe", gedankenwisperte die künftige Schwester des mit seiner oder besser ihrer Lage doch langsam besser klarkommenden. Hier wirkte offenbar die bereits teilentwickelte eigene Persönlichkeit der Ungeborenen, die sich über die ersten vier bis fünf Monate entfaltet und mit der neuen Seele verbunden hatte. Deshalb empfand Ben alias Brandon alias vielleicht Pandora den anfänglichen Widerwillen gegen die Lage nicht mehr so stark.
Beide noch zu gebärenden Mädchen berührten sich, soweit die hauchdünne Schicht der beiden Eihäute es zuließ. Dann fühlten sie beide einen gedanklichen Gleichklang. Ihre Herzen wummerten immer einheitlicher, bis sie im selben Takt und Tempo schlugen. Sie schliefen ein.
Patridcia dachte erst, jetzt noch schlafen zu müssen. Doch dann besann sie sich eines besseren. Pandora, ihre Mutter und spätere Tochter, wollte ihrer künftigen Zwillingsschwester zeigen, warum sie jetzt Zwillingsschwestern wurden. Das interessierte Patricia Straton auch sehr stark.
So bekam Patricia zunächst mit, wie die beiden ungeborenen Mädchen tatsächlich in einen gemeinsamen Traum eintauchten, der damit begann, dass die beiden sich als haargleiche Frauen vor einem menschenhohen Spiegel betrachteten. In dieser Traumansicht besaßen sie eine blassgoldene Hautfarbe, rote Haarschöpfe, die wie der Mars bei allernächster Nähe zur Erde widerschien und dieselben dunkelgrünen Augen, wie Patricia sie besaß, nur ohne jenen leichten Graustich, den sie wohl damals von ihrem Großvater väterlicherseits mitbekommen hatte. Sie amüsierte sich, dass jene, in der Brandons Seele aufgegangen war, fürchtete, sich in sich selbst verlieben zu können.
Dann führte Pandora ihre künftige Zwillingsschwester in ihre Erinnerungen zurück, an den Zeitpunkt, wo Ross gerade ein Jahr auf der Welt war und wo sie Daianira begleitet hatte, als diese zu einer schwarzen Pyramide in den Anden aufbrach.
In der schwarzen Pyramide des dunklen Inkamagiers Colopamac mussten die beiden Hexen gegen Feuer- und Illusionsfallen kämpfen, aus den Wänden schießende Dolchklingen abwehren und unsichtbare Barrieren brechen, die sie sonst verbrannt oder versteinert hätten. Als sie dann mit über ihren Köpfen schwebenden Lichtkugeln in der mittleren Kammer der Pyramide ankamen wurden ihre Lichtkugeln von einem Auslöschungszauber zerstreut. So mussten die beiden den Strigoculus-Zauber benutzen, der sie im Dunkeln sehen lassen konnte. So entgingen sie einem tückischen Zauber, der die in bronzenen Wandreliefs eingravierte Schlangen zum Leben erweckte. Die Schlangen krochen lautlos auf die beiden Hexen zu. Daianira warf einen kleinen goldenen Zylinder und rief wohl was. Darauf wurden sie und Pandora Straton von schwarzem Nebel umschlossen, der wie eine auf festem Boden aufliegende Gewitterwolke wirkte. Die Schlangen aus den Reliefs stießen in den Nebel und wurden zu silbernen Blitzen, die durch die Kammer zuckten und wo sie andere gezauberte Schlangen trafen diese in silbernen Flammen wie Zunder verbrennen ließen. Als keine Schlange mehr vorhanden war dröhnte eine wütende Geisterstimme, die auf Quechua, der Hochsprache des Inkareiches Intis Schwert androhte. Damit war ein gleißender Blitz gemeint, der von der Decke der Kammer niederfuhr und den schwarzen Nebel zu einer orangeroten Funkenwolke machte. Als die Funken zerstoben waren standen Pandora und Daianira unversehrt da. Vor ihnen ragte ein drei Meter hohes Podest auf, auf dessen höchstem Punkt ein schwarzer Quader ruhte.
Nun drang ein gigantischer Schatten aus einer der Wände heraus, der blau leuchtende Augen groß wie Quods besaß. Dieser übergroße Nachtschatten wollte die beiden Eindringlinge mit seinen gewaltigen Händen ergreifen. Aber die zwei Hexen riefen zeitgleich den Patronus-Zauber auf. Pandora Straton hatte immer schon eine Katze als Patronus gehabt. Daianiras Patronus war wohl eine Löwin, wenn Patricia das in den auch ihr zufließenden Traumbildern richtig erkannte. die Patroni sprangen den Schatten an und bissen Stücke aus seiner Körperform heraus. Der Schatten wollte deshalb schnellstens wieder in einer der Wände verschwinden. Doch Pandora, die Expertin für Geisterwesen, zauberte einen silbernen Schimmer auf die Wände, wobei sie Colopamacs Namen mit in die Zauberformel einwirkte. So konnte der Schatten nicht in eine der Wände, die Decke oder den Boden entweichen.
Daianiras Patronus wuchs schlagartig auf vierfache Größe an und konnte den zu einer kompakten Kugel zusammengeballten Nachtschatten in einem Stück verschlingen. Die Stimme des geisterhaften Magiers verschob sich in der Tonhöhe nach oben. Offenbar verlor er beträchtlich an Substanz und damit an Kraft. Daianira, die den Patronus kontrollierte, verlor jedoch wohl auch Ausdauer. Sie begann zu zittern. Pandora zeichnete für sie einen Stuhl, auf den Daianira sich setzte. Dann wollte Pandora auf das Podest hinaufsteigen. Doch als sie das Bein für die erste von sieben kniehohen Stufen anhob wurde sie von einer unsichtbaren Macht zurückgeworfen. Nur ihrem guten Körpertraining verdankte sie, dass sie nicht unglücklich stürzte. Doch als sie erneut auf das Podest klettern wollte wurde sie noch heftiger zurückgeschleudert.
Daianira indes zielte mit dem in ihrer Hand flatternden Zauberstab auf sich und hüllte sich für zehn Sekunden in eine blutrote Wolke ein. Diese Leuchtwolke verschwand wie von ihrer Beschwörerin eingesaugt. Schlagartig war Daianira wieder völlig bei Kräften. Ihr Patronus, der mit dem Schatten mitgeschrumpft war, gewann seine ursprüngliche Größe zurück. Die Geisterstimme Colopamacs schrillte noch einen letzten Befehl: "Meine Garde, greift die Frevlerinnen an und zerfetzt ihre Körper!"
Das letzte Aufgebot des dunklen Magiers war eine Truppe aus hundert mit glühenden Schwertern bewaffneten Kriegermumien, die aus im Boden aufklaffenden Löchern hervorsprangen. Die Untoten schwärmten aus, die beiden Eindringlinge zu umzingeln. Die Schächte, aus denen sie hervorgedrungen waren schlossen sich krachend, um den Kriegern den Weg freizugeben.
Daianira rannte gerade an Pandora vorbei und erwischte eine der Mumien mit einer Flammengeißel. Das untote Geschöpf loderte wie eine Fackel auf. Daianira stürmte mit weit nach oben gerissenen füßen die Stufen des Podestes hinauf. Pandora konnte ihr nicht folgen.
Der Zauber, der alle Untoten in Hörweite zu gewöhnlichen Leichen werden ließ versagte jedoch. Nur blaue Blitze irrlichterten durch die Kammer. Dann griff Daianira todesmutig in eine Vertiefung des Quaders und zog die Kette mit dem Sonnenmedaillon heraus. "Intis Beistand, ich nehme dich an. Bewahre mich vor meinen Feinden!" rief sie auf Quechua.
Das Medaillon glühte grell auf. In seinemWiderschein erstarrten die Mumienkrieger. Pandora wirkte zeitgleich den Essentia Stellarum, den einen Raum von dunklen Kräften reinigenden Astralzauber. Funken wie bunte Sterne flogen durch die Mittelkammer. Wo sie die Mumien trafen brannten sie Löcher in die dunklen Binden. Dann wuchsen die Funken zu goldenen Feuerkugeln an, die von den Mumien wie Magnete angezogen wurden. Wo sie die untoten Krieger trafen gingen jene in goldenen Flammen auf und zerfielen innerhalb einer Sekunde zu schwarzer Asche, bis keine Mumie mehr da war.
Die Schwerter der Krieger fielen zu Boden und zerschellten. Das löste jedoch einen Vorgang aus, der die beiden Hexen noch einmal in tödliche Gefahr brachte. Der Boden begann zu beben. Die Wände erzitterten, und von der Decke regnete es erst Staub und dann immer größere Brocken. Daianira eilte von dem Podest herunter. Ihr Löwinnen-Patronus hatte inzwischen Colopamacs schattenhaftes Sein verdaut. Aus dem Maul der aus silbernem Licht bestehenden Großkatze entwich ein silberweißer Schemen, der verschwommen einem Menschen ähnelte. Doch das Gebilde trieb nur zwei Meter weit, bevor es wie ein verlöschendes Licht verging. Dies jedoch verstärkte den Aufruhr in der Pyramide. Immer größere Trümmer krachten von der Decke. Die Wände zersprangen und schleuderten Gesteinssplitter in die Kammer. Daianira rannte zu Pandora, die mit einem silbernen Schild über dem Kopf die größeren Trümmer abfing. Sie ergriff Pandora am rechten Arm und rief "Heimatgarten!" Daraufhin verschwand die in Chaos und Zerstörung vergehende Kammer in einem bunten Wirbel ohne Grenzen.
Am Ende der wilden Wirbelei landeten die zwei Hexen in einem leeren Gartenbeet zwischen sorgfältig gepflanzten Obstbäumen und -sträuchern. Patricia hörte den Kommentar ihrer nun zu ihrer Tochter werdenden Mutter an ihre Zwillingsschwester, dass Daianira sie damals wohl nur deshalb mitgenommen hatte, weil sie da schon einen Sohn geboren hatte und deshalb nicht mehr die Bedingung des Medaillons erfüllen konnte.
Es folgten kurze Bilderfolgen, wo Pandora alte Schriften und Knüpfwerke der Inkas suchte und studierte. Sie wollte mehr über Intis Beistand wissen und zwar ohne Daianira zu verraten, dass sie dieses Kleinod erforschte.
unvermittelt sahen Patricia und die, die früher mal ein "er" gewesen war, wie Pandora mit entblößtem Unterleib über einen Teppich aus Lamafell ging, in den in bestimmten Mustern Knoten eingewoben waren. Pandora vergoss ihr Monatsblut auf den Teppich, während sie in genau abgezirkelten Figuren über den Teppich schritt und dabei eine Formel auf Quechua sang. Als sie in der Mitte des Teppichs angekommen war entstieg diesem der von einer rotgoldenen Aura umflossene Geistt einer eindeutig indianischstämmigen Frau ohne Kleidung. Patricia erkannte sie sofort. Das war dochChuqui Ruarua, die Tochter des Sonnenpriesters aus der Stadt Paititi, die damals das Medaillon Intis an sich genommen und sich damit abgesetzt hatte. Sie hörte wie ihre beiden träumenden Zwillingstöchter, das Chuqui Ruarua erbost war, weil eine, die nicht mehr daran dachte, einen Sonnensohn zu suchen, um von diesem einen Erben zu empfangen, sie aber, weil andere Mächte das Medaillon am Leben hielten, nicht bestrafen konnte, solange sie nicht von einem anderen Mann einen Sohn bekommen hatte. Pandora erwähnte, dass sie gerne helfen würde, eine würdige Trägerin zu finden, wo sie selbst Intis Beistand nicht mehr tragen durfte. Chuqui Ruarua bot ihr einen Pakt an.
"Gib mir noch mehr von deinem Blut und schwöre mir Treue über deinen Tod hinaus. So werde ich dir solange du nicht an einem Kind trägst jeden Mond zu deiner Blutungszeit ein wenig meines Wissens künden. Wenn du dich stark genug fühlst, die andere zu besiegen, fordere sie heraus und nimm ihr Intis Beistand fort, wenn du sie besiegt hast. Folgst du deinem Gelübde und erringst das heilige Kleinod in zwei mal zwölf Sonnenkreisen, so gewähre ich dir eine Belohnung, die größer ist als was ein Sterblicher je erlangen kann."
"Welche Belohnung?" fragte Pandoras frühere Erscheinungsform.
"Dies künde ich dir nur, wenn du den Pakt annimmst. Deine Wahl!"
Pandora entblößte wieder ihren Unterleib und hockte sich hin, um weiteres Monatsblut auf den Teppich zu vergießen, Chuqui Ruarua schwebte auf sie zu und verharrte über der Stelle. Rote Nebel stiegen auf und drangen in die Geistererscheinung ein. "Bei Pacha Mama, meiner und deiner Mutter und unser aller Vater Inti", sprach Chuqui Ruarua vor. Pandora sprach es nach. "Mit dem Blut meiner stetigen Fruchtbarkeit gelobe ich dir Treue bis über meinen Tod hinaus, o Chuqui Ruarua", setzte die Geisterfrau fort. Auch diesen Teil des Schwurs sprach Pandora Straton nach. "So befehle ich meinen Leib und meine Seele deiner Macht und Gnade an und werde tun, was du befiehlst", fuhr Chuqui Ruarua fort. Pandora sprach es ohne zu zögern nach. Da glühte der Teppich auf und ließ die Hexe und die Geisterfrau in rotem Licht erstrahlen. Pandora keuchte und zuckte. Ein goldener Lichtstrahl fiel von Osten her auf sie und breitete sich aus, verband sie und Chuqui Ruarua zu einer golden leuchtenden Doppelgestalt. Pandora schrie laut auf. Dann erlosch das Glühen und das goldene Licht. Pandora fiel auf ihr Gesicht, die Geisterfrau schwang sich über sie wie auf ein Pferd und verkündete: "Damit bist du mir und Intis Beistand verbunden und verpflichtet. So erhebe dich und gehe deiner Pflicht nach. Und solltest du bei dem Versuch den Tod finden, wirst du jedoch nicht ganz entschwinden und dich als Tochter deines Fleisches und Blutes wiederfinden." Mit diesen Worten erstrahlte die Geistererscheinung vollends in rotgoldenem Licht und lachte überlegen. Dann erlosch ihre Erscheinung unvermittelt. Patricia und ihre zweite ungeborene tochter hörten Pandora sagen:
"Ich war damals zu selbstsicher und zu neugierig, weil mich die alte Magie der Ureinwohner immer schon fasziniert hatte. Deshalb war ich wohl auch darauf versessen, Intis Beistand zu kriegen."
"Und dieser Pakt wurde eingehalten", stöhnte Phoenix.
"Sei froh, weil du sonst wohl auf die beiden Föten verteilt worden wärest, die wir im Wachzustand sind", erwiderte Pandora erleichtert.
Zum Schluss dieser durchträumten Zeitreise ließ sie Phoenix noch Patricias Geburt aus der Warte unsichtbarer Zuschauer miterleben, damit sie wusste, wessen Leben sie ihr eigenes zu verdanken hatte. Mit dem ersten Schrei Patricias erlosch die Szenerie. Die erwachsene, zwei Kinder tragende Patricia nickte. Sich von außerhalb des Mutterschoßes auf die Welt kommen zu sehen hatte ihre Mutter ihr bisher nie vorgeführt.
Phoenix fand sich unvermittelt wieder als wohl geborgene Ungeborene neben ihrer Zwillingsschwester. Die Enge von Patricias Leib erschien ihr jetzt nicht mehr bedrückend, sondern beruhigend.
"Deshalb liegen wir jetzt in Patricias Bauch herum. Hoffentlich kriegt die uns zwei besser da wieder rausgedrückt als du sie damals rausgeschupst hast, Schwester."
"Das hängt auch davon ab, wie gut sie für uns zwei mitisst", gedankenwisperte Phoenix' Zwillingsschwester. "Aber wenn wir es hinkriegen, dass ich als erste bei ihr ausschlüpfen darf mache ich die kleine Vordertür weit genug für dich auf, dass du nur durchzurutschen brauchst, Schwesterchen", erwiderte die, die gerne wieder Pandora heißen würde. Ihre angehende Zwillingsschwester dachte nur zurück:
"Ob ich mit einer großen Schwester besser klarkomme weiß ich aber noch nicht." Darauf folgte ein leises Gedankenlachen.
"Ihr habt noch an die vier Monate Zeit, ihr zwei Süßen", gedankengrummelte Patricia. "Eure Quirligkeit macht mir tierischen Hunger. Also nicht meckern, wenn es bei euch da unten gleich richtig eng wird!"
Die beiden noch werdenden Töchter Patricias mucksten sich nicht. Sie kuschelten sich sacht aneinander und glitten wieder in einen tiefen Schlaf hinüber, während sich über ihnen zwei Teller Rührei mit Speck, fünf Muffins und ein Suppenteller voller in Milch und Orangensaft getränkter Getreideflocken sammelten und gluckerten.
"So, mein Süßer, du darfst wieder an die Luft und auf deinen starken Beinen herumlaufen", säuselte Margarita, während sie behutsam die walnussgroße Keramikkugel entfernte, die sie seit mehreren Tagen in ihrem Unterleib verborgen gehalten hatte. "Vielleicht muss ich dir ein neues Gedächtnis verpassen, damit du keine Angst vor Abuelita Gitas kleinem Häuschen der himmlischen Freuden mehr hast." Sie nahm ihren Zauberstab zur Hand und bewirkte ungesagt den Verwandlungsumkehrzauber. In einem violetten Blitz verschwand die Kugel, um einem Mann im zerknitterten Anzug Platz zu machen. Doch Gesicht, Haar und Augenfarbe waren nicht die von jenem Mann, den Margarita als Giovanni Bergamo kennengelernt hatte. Vor ihr auf dem Boden regte sich niemand anderes als der für tot und im Meer versunken geglaubte Capo der Pontebianco-Familie, Don Vittore Pontebianco. Dieser erkannte jetzt, dass er wieder ein Mensch mit Kopf und Beinen war und dass er frei war.
"Stregona Putanna! ti strangulo echo e adesso!" stieß er aus. Dann erkannte er wohl, dass seine Stimme sich verändert hatte. Diesen Moment nutzte Margarita aus, um den wieder in seine natürliche Form zurückverwandelten Mafioso magisch zu lähmen. "Gut, mein sizilianischer Wiedergänger. Dann lebst du noch. Schön, dein Weib lebt dann auch noch. Dann bleibst du jetzt auf jeden Fall bei mir, und deine Frau, die selbst eine Hure ist, dass sie dich geheiratet hat, wird glauben, du wärest tot oder selbst sterben. Du wirst sie auf jeden Fall vergessen. Obleviate!"
"Alle zwanzig großen Rettungsboote der Paradiso di Mare wurden gleichmäßig in einem Umkreis von achtzig Seemeilen von anderen Schiffen gesichtet. In jedem Boot waren nur Männer, die offenbar in einer Art Wachkomazustand sind", berichtete Tim Abrahams. "Es sind aber nur die niederen Mannschaftsgrade des Schiffes, laut letzter digitalisierter Musterrolle, an die ich, öhm, nur mit Unterstützung einer Kollegin aus den Staaten herangekommen bin."
"Was soll das heißen?" fragte Kingsley Shacklebolt und sah Tim Abrahams an, der vor ihm, Amos Diggory, Arthur Weasley und Shacklebolts Untersekretär berichtete.
"Das die wichtigsten Führungsleute entweder noch an Bord sind und ein Großteil der Passagiere und Dienstpersonal und das Schiff weiterhin verschollen ist. Ebenso kann ich mit Sicherheit davon ausgehen, dass die geborgenen Matrosen alle von irgendwem ihres Willens oder besser ihrer Seele beraubt wurden."
"Mutmaßungen führen zu nichts", blaffte Shacklebolt.
"Mutmaßungen, die auf handfesten Berichten des zweiten Vorfalls aufbauen, Sir", blieb Abrahams unerschütterlich. Er legte den Zuhörern Papierblätter vor, die mit dem Titel "Das geheime Logbuch der USS Constitution" überschrieben waren.
"Bitte lesen Sie alle diesen Bericht! Darin steht auch, auf welche Weise ich ihn erhalten habe. Die Quellen sind absolut vertrauenswürdig. Danke!" sagte Tim Abrahams. Die anwesenden Abteilungsleiter studierten den Bericht nun und stimmten sich ab, ob sie alle dasselbe zu lesen gehabt hatten. Dann sagte Abrahams:
"Das Marie-Laveau-Institut sucht bereits nach dem verschollenen Luxuskreuzer. Was mich an der Sache beunruhigt ist, dass alle großen Rettungsboote ausgesetzt wurden und die Schiffsführer der Küstenwachschiffe keine Vorkehrungen getroffen haben, die in den Booten ausgesetzten unter Quarantäne zu stellen. Und was den Marinekreuzer angeht, so ist er wohl deshalb in die Luft geflogen, weil der Kommandant gerade soeben noch die Selbstvernichtungsschaltung ausgelöst hat, sonst würde noch ein Schiff voller Dementoren unerkannt über das Meer schippern."
"Sie wollen uns hier also allen Ernstes einreden, dass Dementoren zwei Schiffe gekapert haben", schnaubte Shacklebolt. Abrahams nickte. Diggory bemerkte dazu:
"Wenn das wirklich Dementoren sind, Herr Minister, so müssen wir davon ausgehen, dass sie sich eine neue Heimat suchen. Wenn es dem Laveau-Institut nicht gelingt, das Luxuskreuzfahrtschiff zu stürmen und zu befreien ..."
"Sagen Sie Ihren Leuten, dass wir auch an der Jagd teilnehmen", brummte der Minister.
"Wird erledigt", sagte Diggory.
Als der Zaubereiminister alleine war fühlte er sich sehr elend. Die Dementoren waren nicht erledigt! Irgendwie hatten sie in Eiskugeln eingeschlossen das Meer überquert und waren nun unterwegs. Das würde ihm wohl das Amt kosten, trotz aller Verdienste. Doch bevor er seinen Rücktritt erklären würde musste er Gewissheit haben.
"Ist es nicht beschämend, wie leicht es die dreißig Leute von diesem Laveau-Institut hatten, mit diesen Unholden fertig zu werden?" fragte Faidaria. Patricia nickte.
"Deine Verwandten wussten damals eben noch nichts von Incantivacuum-Kristallen und auch nicht, dass die Kraft der Sonnenrüstungen von der Dementorenaura zurückgedrängt werden kann, wie Erde Luft verdrängt oder Wasser Feuer. Bisher sind wir einfach davon ausgegangen, dass die Ausstrahlung dunkle Kräfte neutralisiert oder gar komplett zerstört. Das ist wohl ein Irrtum gewesen. Aber das mit dieser Seelenhalle, wo die Seelen verstorbener Sonnenkinder eingelagert werden, bis sie als neue Kinder zur Welt gebracht werden können, hätten uns Dardaria und Yantulian mal früher erzählen dürfen. übrigens, hat sich bei Dardaria auch jemand von früher angemeldet?"
"Ja, ich stimme dir zu, das Geheimnis hätten sie uns verraten dürfen. Aber offenbar darf nur jemand in diese Halle hinein, der oder die gerade ein Kind auf die Reise in sein Leben geschickt hat. Und nein, bei Dardaria hat sich noch kein vor uns entkörperter Verwandter zurückgemeldet. Aber es steht zu erwarten, dass dies geschieht, sobald ihr Kind sein körperliches Geschlecht erhalten hat", sagte Faidaria.
"Heißt das auch, dass ich auch einmal als irgendwessen Tochter wiedergeboren werde?" fragte Patricia Faidaria.
"Ja, weil dein Name in der Halle der vorausschauenden Gnade verzeichnet ist und ein Ruhegefäß für deine Seele dort bereitsteht."
"Samsara, Mom", hörten Patricia und Faidaria die Stimme eines kleinen Mädchens dumpf aus Patricias Richtung.
"Ach, mal wieder wach da unten?" grummelte Patricia. "Schlaf weiter, wie es sich für Kinder gehört, wenn Erwachsene sich unterhalten."
"Das Rad der Wiedergeburt,von dem die Hindus glauben, dass das, was wer im Leben macht bestimmt, was er im nächsten Leben wird", klang eine zweite Mädchenstimme aus Patricias Richtung.
"Ja, schön hast du das gesagt, kleines. Aber jetzt schlummer schön weiter", erwiderte Patricia darauf und strich sich über den vorgewölbten Unterbauch.
"Ja, aber es werden auch neue Sonnenkinder geboren, mit völlig neuen Seelen", bemerkte Gisirdaria, die ebenfalls in der Runde saß. "Dein Prunellus und meine Laura sind ja keine Daisirin, also zweifachgeborenen."
"Ja, und meine ersten Kinder sind auch keine Daisirin", sagte Faidaria. eines von denen hat vor zwei Tagen erklärt, auch mit Kind zu sein."
"Liegt einfach daran, dass von uns damals noch niemand verstorben ist, frühere Schwester und künftige Mutter", gedankengrummelte die gedankliche Kleinjungenstimme von Gooaridarian aus Gisirdarias Richtung.
"Eher daran, dass die Erstgebärenden ganz neue Seelen in ihren Kindern zum Leben erwecken", erwiderte Faidaria. "Sonst hättest du eine unserer verstorbenen Gefährtinnen sicher schon in Ashtarglahinias Körper wiedergeboren, Gisirdaria."
"Ja, und weil jetzt so viele von uns gingen kommen von denen auch wieder welche zurück, wobei die Verwandtschaft oder körperlich-seelische Verbundenheit bestimmt, zu wem", fügte Gisirdaria hinzu und tätschelte ihren auch ohne Schwangerschaft runden Bauch.
"Die erste Schlacht haben wir verloren, und ich kann nun niemanden von uns mehr in eine neue Auseinandersetzung mit diesen Geschöpfen schicken", stellte Faidaria fest. "Die Frauen tragen entweder neues Leben in sich oder müssen sich bereithalten, neues Leben in sich aufzunehmen. Und die Männer kann ich nicht losschicken, bevor sie denen, die noch ohne neues Kind sind helfen, unsere Rasse zu erhalten. Gut, dass diese Unholde keinen Windsegler von uns erbeuten konnten."
"Da war was von wegen Erbeutungsvereitelungsmaßnahme, wenn ich es in Guryans Geist noch mitgehört habe, bevor ich meinen Geist gegen diese unseligen Bilder verschließen musste und mich dann im Leib meiner Schwester wiederfand", schickte Gooaridarian eine Botschaft an alle bereits geborenen und auf ihre Wiedergeburt hinwachsenden.
"Kleiner, wir klären das. Du hast genug damit zu tun, anständig groß zu werden, damit du nach deiner Geburt nicht gleich stirbst", tadelte Gisirdaria ihren ehemaligen Bruder.
"Ist mir durchaus bewusst, wie sehr du es genießt, mich als dein Kind zu bekommen", gedankenschnaubte Gooaridarian."Können diese Dementoren uns hier trotzdem heimsuchen?" wollte Gisirdaria wissen.
"Dementoren können bei Tag nur dreißig Kilometer weit reisen. Bei Nacht gerade neunhundert. Wasser ist ihr natürlicher Todfeind, weil es ihre Eiskraft in sich einschließt und sie damit selbst in sich einschließt", musste eine gerade nicht selbst atmende Expertin für dunkle Wesen dazu loswerden.
"Hallo, Mom an Baby, schlafen!" grummelte Patricia und stupste sich kurz den Finger knapp unter den Bauchnabel.
"Als wenn du vor deiner Geburt immer gemacht hättest, was mir gerade passte", bekam sie doch glatt zur Antwort. Ein anderes ungeborenes Mädchen kicherte darüber. Patricia grinste.
"Deine Schwester amüsiert das wohl, höre ich. Gut, den Kommentar nehme ich noch mit. Aber wenn ihr zwei beiden nicht langsam mal weiterschlaft muss ich mir die doppelte Ration in den Magen stopfen. Dann wird's bei euch da unten aber eng, die kleinen Ladies."
"Okay, träumen wir von der großen Karriere als immer wieder auferstehende Sonnenkinder", schickte jene zurück, die hoffte, als Pandora auf die Welt zurückzukommen.
"Das will ich aber noch erfahren, ob wir dann hier sicher sind", wandte Faidaria ein und sah dabei auf Patricias Unterleib.
"Die Windsegler haben sich im Tausendsonnenfeuer verbrannt, weil das in die so eingearbeitet ist, sobald deren Insassen sterben, Faidaria", antwortete jedoch Gooaridarian. Die Ungeborene, die hoffte, ihren früheren Namen wiederbekommen zu können fügte dem noch hinzu: "Und selbst wenn sie erführen, wo wir wohnen könnten sie nicht über diese große Entfernung ohne Hilfsmittel. Außerdem habt ihr doch diese Dunkelkraftaufspürer aufgestellt."
"Das ist wahr", meinte Gisirdarias künftiger Sohn dazu.
"Moment mal, dann hätten wir die Biester mit Wasser besiegen können, mit einem Gartenschlauch?" wollte Patricias zweite erwartete Tochter wissen.
"Hätten wir vorher gerne mal gewusst", gedankengrummelte Gooaridarian.
"Dann bauen wir uns eben Wasserkanonen hier hin", schlug Patricia Straton vor.
"So einfach ist's nicht, Mom Patricia. Regen und Wasserstrahlen können sie ausweichen. Aber sie können nicht in Wasser eintauchen, das mindestens ein Viertel so tief ist wie die Biester hoch sind."
"Dann tauchen wir alle unter, wenn die hier anschwirren. Für mich ist das ja im Moment kein Unterschied", gedankenfeixte Brandon Rivers neues Ich.
"Ja, so machen wir das", stimmte Faidaria zu. "Wir sind zwar eigentlich Kinder des Feuers. Aber wir entsteigen alle dem Wasser. Also können wir auch im Wasser überleben. Sollen die Männer uns eine Unterwasserfestung errichten, die tief genug liegt, dass die böse Ausstrahlung dieser Wesen uns nicht erreicht, wenn sie kommen!" Patricia und Gisirdaria nickten.
Sogleich gingen die noch lebenden Sonnensöhne daran, den Plan umzusetzen und knapp hundert Meter vom Strand entfernt große Steine im Meer zu versenken. Wie Kopfblasen gingen wussten die Sonnensöhne nicht erst von Patricia.
Während die schwangeren Sonnentöchter ihren männlichen Verwandten dabei zusahen, wie sie den Unterwasserbunker bauten, der bei Fertigstellung durch ein Teleportal betreten werden sollte wisperte Patricia mit körperlicher Stimme und verschlossenem Geist:
"Faidaria, so dezimiert und eingeschränkt wie wir jetzt sind werden wir ohne fremde Hilfe nicht mehr mit allem fertig, was uns und die Welt bedroht. Die Niederlage gegen die Dementoren hat zu deutlich gezeigt, dass wir auch mit der Superzauberei des alten Reiches ganz schön verloren dastehen. Die Dementoren sind nach Beginn eures langen Schlafes entstanden. Womöglich war das die letzte große "Errungenschaft" von Garumitan, dieser Stadt, wo Julius Latierre hingeschickt worden sein muss."
"Sage oder denke mir zu, worauf du hinaus willst, Gwendartammaya", schnarrte Faidaria mit körperlicher Stimme.
"Zudenken geht nicht, weil die zwei Hübschen in Pattys warmem Unterbau gerade so schön schlummern. Aber ich sag's dir gerne. Wir müssen unsere Alleingänge aufgeben, gerade was die Dementoren angeht. Wir müssen mit jemandem Kontakt aufnehmen, der oder die mit uns vertrauensvoll und ohne Begehrlichkeiten zusammenarbeiten mag."
"Kennst du welche aus deiner Zeit, die nicht gerne unser überragendes Wissen oder unsere Gerätschaften haben möchten?" fauchte Faidaria.
"Das schon. Aber an denjenigen heranzutreten, ohne dass wer anderes es mitbekommt, dürfte schwierig sein. Ich spreche von dem Erben des alten Wissens, dem Anthelia ihren unverwüstlichen Körper und wir die Vernichtung der Schlangenkrieger zu verdanken haben und dem zwei früher ach so über ihre Macht oder Rangstellung gewisse Hexen ihre Mutter-Kind-Beziehung verdanken."
"Vom Aussehen her bis du die einzige, die ohne Verkleidung mit diesem Träger der Kraft zusammentreffen kann. Warten wir noch ab, wen wir anderen werdenden Mütter wohl neu in uns herantragen. Numidaria und Miridaria wetteifern ja schon darum, wer von ihnen Guryan zum Sohn bekommen wird. Wissen wir, wessen Seelen aus der Halle der vorausschauenden Gnade in unseren Kindern neuen Halt finden darfst du dein Anliegen noch mal an mich richten, Gwendartammaya."
"Da du die älteste und damit ranghöchste hier bist akzeptiere ich deine Entscheidung", erwiderte Patricia etwas enttäuscht klingend.
Er wusste, dass er einen schweren Gang antreten musste. Dieser igelköpfige Franzose hatte doch verflixt noch mal recht behalten. Ihm blieb nach den ganzen Enthüllungen und Aktionen, vor allem des Marie-Laveau-Institutes nur noch ein Mittel: Die Flucht nach vorne.
Der amtierende Zaubereiminister Großbritanniens und Irlands, Kingsley Shacklebolt, jahrzehnte langer Jäger dunkler Magier und seit 1998 in seinem jetzigen Amt, war nicht an einem gefährlichen Dunkelmagier oder dessen Machenschaften gescheitert, sondern an seinen eigenen vollmundigen Worten. Gleich würde er vor die Vertreter der nationalen und internationalen Zaubererweltnachrichtenverbreiter treten und Ihnen eingestehen müssen, dass seine Ansprache vom 11. März unverzeihlich voreilig gewesen war. Gut, das wussten die nach dem Artikel einer Linda Knowles vom 16. Juni über die Aktion auf der Paradiso die Mare längst. Auch Gilbert Latierre, Herausgeber, Chefredakteur und Chefreporter der im Dunklen Jahr entstandenen Temps de Liberté, hatte sich bereits dazu verbreitet, in merkwürdigerweise sehr moderatem Tonfall.
Shacklebolt trug zu diesem Anlass jenen Umhang, den er damals in der Nacht vom 1. auf den 2. Mai 1998 getragen hatte, als er höchstpersönlich gegen Tom Riddle alias Lord Voldemort gefochten hatte. Zwischendurch hatte ihm dieser Umhang schon Glück gebracht, dachte er. Den goldenen Ring im linken Ohr, der sonst sein Markenzeichen war, ließ er jedoch heute mal fort.
Erwartungsvolles Schweigen empfing den Zaubereiminister. Flotte-Schreibe-Federn standen leicht zitternd auf schreibbereiten Pergamenten. Die Schallsammeltrichter von verschiedenen Radiosendern, darunter auch der von ihm damals mitbetriebene Sender Potter-Watch, wiesen in seine Richtung, bereit, die kleinste Lautäußerung von ihm zu schlucken, zu speichern oder gleich über das Gespinnst von magischen Kristallen zu den Hörern an den Zauberradios zu schicken. Wie machten diese Muggelpolitiker das, bei denen direkte Bild- und Tonübertragungen schon seit über sechzig Jahren zum Alltag gehörten?
"Ladies and Gentlemen, Mesdames et Messieurs, señoras y señores, meine Damen und Herren", begann der Minister. "Heute trete ich vor Sie alle hin, weil ich gelernt habe, dass es immer besser ist, begangene Fehler einzuräumen und damit ihre Wiederholung zu vermeiden, als die begangenen Irrtümer zu verschweigen oder gar zu vertuschen und damit Trugschlüssen und Katastrophen Vorschub zu leisten." Keiner sagte was. Alle sahen ihn nur mit unverminderter Erwartungshaltung an. "Ich erinnere mich - wohl zu gut - an eine Ausführung vom elften März dieses Jahres, in der ich Sie und die Empfängerinnen Ihrer Nachrichten und Berichte mit der wie ich fand sehr wichtigen wie erfreulichen Nachricht beehrte, dass es auf diesem Planeten keine Dementoren mehr gebe. Ich zog diesen Schluss aus der Tatsache, dass sämtliche von mir und meinen Leuten auf eine Insel im Atlantik verbrachten Dementoren restlos vernichtet waren. Allerdings kalkulierte ich dabei nicht ein, dass es den einen oder anderen Dementor gegeben hatte, der außerhalb der Vernichtungszone war und sich gegen die Natur dieser Geschöpfe lieber ins Wasser stürzte, um der Vernichtung zu entgehen. Dadurch in der für diese Wesen typischen Kältezone in eine Eiskugel eingefroren mussten diese Exemplare wohl über Wochen mit den Winden und Wellen getrieben sein, bis vertückte Zufälle es wollten, dass sie auf Hochseeschiffe trafen. Diese nahmen die Eiskugeln auf, um sie zu untersuchen oder schleppten sie mit sich, bis die darin in einer Art Winterschlaf ausharrenden Dementoren aufwachten und die Eishülle absprengen oder auch so auftauen konnten. Wie auch immer dies ablief begannen sie nach dem Erwachen, an Bord der betreffenden Schiffe ihre unheilvolle Wirkung auf die Menschen auszuüben. Vor allem bei einem Schiff, dessen Bestimmung der Transport und die Unterhaltung vieler Passagiere war, fand der einzelne Dementor oder die wenigen genug Freude und Glücksmomente in den Erinnerungen der Reisenden vor, um sich damit zu mästen und Nachwuchs zu erbrüten. Offenbar reichte das Angebot an Lust und Glück weit genug aus, um dem Nachwuchs genug Nahrung zu verschaffen, so dass die Fortpflanzung voranschreiten konnte. Am Ende hatten sie das ganze Schiff übernommen und wollten es wohl zu einer größeren Ansiedlung lenken, um dort an Land zu gehen. Das einzig erfreuliche an dieser Unheilsmeldung ist, dass Dementoren nicht über weite Strecken ohne Nahrung über Wasser reisen können und zudem durch die Sonnenstrahlung geschwächt werden. Mitarbeitern des US-amerikanischen Marie-Laveau-Instituts zur Erkundung und Eindämmung dunkler Magien aus allen Kulturkreisen gelang es am 15. Juni, das für gewöhnliche Aufspürgeräte unentdeckbare Schiff zu finden und zu stürmen. Mit durchschlagenden Mitteln schafften sie es, die Dementoren an Bord des Schiffes zu vernichten und die noch lebenden und im Besitz ihrer geistigen Fähigkeiten befindlichen Männer und Frauen zu versorgen. allerdings wurde festgestellt, dass die Rettungsboote des Schiffes weit vorher zu Wasser gelassen worden waren, um die von den Dementoren geküssten Mannschaftsmitglieder loszuwerden. Zumindest mag dies ein Grund gewesen sein, die Boote auszusetzen. Denn die Boote wurden gefunden und die willenlosen Insassen an Bord genommen. Nach der höchst erschreckenden Erkenntnis, dass es doch einigen Dementoren gelang, zu entkommen und in die Nähe von Menschen zu gelangen, kann, darf und will ich nicht mehr ausschließen, dass es den an Bord des Vergnügungsschiffes befindlichen Dementoren auch darum gegangen sein mag, handlungsfähige Nachkommen von sich zu verbreiten, auf dass diese neue Nahrungsquellen und Lebensräume erschließen. Um eine Frage, die Sie gewiss stellen möchten gleich jetzt zu beantworten: Ich enthülle Ihnen dies alles, auch wenn damit Begehrlichkeiten seitens dunkler Magier und Hexen geweckt werden können, weil es nötig ist, die Öffentlichkeit zu informieren, um neuerliche Übergriffe der Dementoren zu verhindern und dazu beizutragen, ihre Ausbreitung und Bewegungsfreiheit einzuschränken und weitere womöglich auf den Weltmeeren in Eiskugeln erstarrte Exemplare zu finden und unschädlich zu machen. Mir liegt nichts an einer Panik, dass jetzt überall auf der Welt Dementoren in riesigen Horden über arglose Menschen herfallen würden. Woran mir aber was liegt ist, die Aufmerksamkeit für diese Wesen nach meinem unverzeihlichen Fehler wieder auf diese zu richten. Was meine höchst voreilige und unentschuldbare Äußerung vom elften März angeht, so bin ich vor Sie alle hingetreten, um die für das Amt, das ich bekleide, als auch für meine eigene Ehre nötigen Schritt zu vollziehen. Hiermit biete ich der britisch-irischen Zauberrgemeinde meinen sofortigen Rücktritt an und schlage für meine Nachfolge den untadeligen und durch tatkräftige Hilfe beim Schutz unserer Mitbürger vor schwarzmagischen Machenschaften herausragenden Mr. Arthur Weasley vor. Diesem möchte ich es überlassen, ob er das Amt des Zaubereiministeriums annehmen möchte, es nur kommissarisch ausüben oder in allernächster Zeit eine ordentliche Neuwahl abhalten möchte. Eine schriftliche Rücktrittserklärung erfolgt in kurzer Zeit und kann für die Herausgeber von Zaubererzeitungen zum Abdruck erbeten werden.
Sollten sie noch weitere Fragen haben stehe ich Ihnen allen natürlich gerne noch zur Verfügung. Ansonsten bedanke ich mich für Ihre Aufmerksamkeit und hoffe trotz der Schwere meines Irrtums auf eine gewisse Nachsicht bei Ihren Lesern und Zuhörern. Vielen Dank!"
Der Minister sah jeden Zeitungs- und Radioreporter an. Außer den Flotte-Schreibe-Federn hatte sich nichts in den Reihen der Nachrichtenverbreiter bewegt. Jetzt erhob sich ein junger Zauberer im lindgrünen Nadelstreifenumhang, der wohl gerade ein oder zwei Jahre mit der Schule fertig sein mochte. Am Stehkragen seines Umhangs hing eine silberne Besucherplakette, die ihn als "Fredo Gillers, Reporter des Tagespropheten" auswies. Er sah den Minister an und fragte frei heraus:
"Herr Minister - so möchte ich Sie weiterhin nennen, bis sicher ist, ob Ihr Rücktritt rechtskräftig ist oder nicht -, Sie haben gegen meine Zeitung im allgemeinen und gegen mich wegen meines Kommentars vom zweiten Mai dieses Jahres rechtliche Schritte angekündigt. Wie steht es jetzt damit, wo ich ja offenbar mit meiner berechtigten Anfrage leider leider leider recht behalten habe?"
"Dann haben Sie offenbar noch nicht zu lesen erhalten, was mein Untersekretär und Pressereferent am 2. Juni an Ihre Redaktion geschickt hat, dass wir von weiteren Schritten wegen Ihres Kommentars absehen, weil wir ein freies Land sind und eine Anfrage kein Aufruf zum Umsturz darstellt. Aber um das dann auch für Ihre Kollegen klarzustellen: Das Zaubereiministerium sieht von rechtlichen Schritten wegen des im Tagespropheten vom zweiten Mai abgedruckten Kommentars von Mr. Fredo Gillers ab. Ja bitte, Miss Knowles?"
"Herr Minister, bevor Sie sich Asche auf Ihr Haupt streuen und fortan in Sack und Asche dahergehen noch eine Frage, die Sie uns sicher beantworten können: Wieso haben Sie damals, wo Sie annahmen, die Dementoren seien vernichtet, keine umfangreiche Untersuchung der Umgebung dieser ominösen Insel veranlasst?"
"Personalmangel und die damals geltende Auffassung nicht nur von mir, dass die praktizierte Methode, um Dementoren in Massen zu vernichten, keinen davon auslassen konnte. Gut, Madame Latierre?" Die hochgewachsene, rotblonde Hexe im apfelgrünen Umhang erhob sich und sah den Minister aus ihren rehbraunen Augen an.
"Minister Shacklebolt, dass Sie einen schweren Fehler eingestehen und Ihren Rücktritt anbieten ehrt Sie. Aber ich habe gelernt, dass wenn ich irgendwo hingehen wollte, sei es für zwei Stunden oder für ein Schulhalbjahr, ich erst mal mein Zimmer ordentlich aufräumen sollte. Das hat mir geholfen, alles in die Reihe zu bekommen und auch, dass ich nach meiner Rückkehr nicht erst lange nach etwas suchen musste, was ich brauchte. Das werde ich auch deshalb meinen Kindern beibringen. Wollen Sie Mr. Weasley oder wem auch immer ein unaufgeräumtes Zimmer überlassen? Ich denke nicht. Deshalb frage ich Sie, wie werden Sie den Schutz aller redlichen Zaubererweltfamilien und den der arg- und wehrlosen Menschen ohne Magie organisieren, bevor Sie Ihr amt an Ihren Nachfolger übergeben?"
"Nun, Madame Latierre, ich wunderte mich erst, dass Ihr Kollege Gilbert Latierre dieser Konferenz nicht beiwohnen wollte. Aber er hätte natürlich nicht diese Frage mit der Kompetenz eines betroffenen Elternteils stellen können", setzte der Minister anund hoffte, dass die damit gewonnene Zeit für eine intelligente Antwort ausreichte. Dann sagte er schnell: "Was an ministeriellen Maßnahmen nicht der Geheimhaltung unterlegt wird und / oder unter Mithilfe der magischen Bürgerinnen und Bürger ausgeführt werden kann und muss werde ich natürlich vor der endgültigen Amtsübergabe erarbeiten und den Bürgerinnen und Bürgern Großbritanniens bekanntmachen. Sollten meine Noch-Kollegen in anderen Ländern diese Maßnahmen gutheißen werden sie diese wohl auch in Ihren Heimatländern anwenden und entsprechend veröffentlichen. Ich hoffe daher, dass der Geist meiner seligen Mutter deshalb nicht gehalten sein wird, aus dem Totenreich zurückzukehren um mich zu maßregeln, weil ich das große Zimmer, in dem ich jahrelang gewohnt habe, unaufgeräumt zurückgelassen habe." Mildrid Latierre verzog kurz das Gesicht, musste dann aber wie alle anderen lächeln. Zu lachen wagte hier keiner, weil die Lage doch zu ernst war. Eine ältere, sehr auffällig geschminkte Hexe im vielfarbigen Kleid bat ums Wort. Der Besucherplakette nach war es Ida Hopkin von der Hexenwoche.
"Da Sie eingeräumt haben, dass sich die Dementoren nun wieder ungehemmt vermehren und meine Kollegin aus Paris bereits die Frage nach dem Schutz der Familien gestellt hat möchte ich noch fragen, was an den Gerüchten dran ist, dass Sie und andere alleinstehende Hexen und Zauberer per Eulenpost dazu aufgefordert wurden, innerhalb eines gewissen Zeitraums für eigenen Nachwuchs zu sorgen?" Alle anderen Anwesenden verzogen nun doch die Gesichter, bis auf wenige vor allem männliche Konferenzteilnehmer, die sich sehr anstrengen mussten, nicht zu grinsen.
"Wer soll diese Aufforderung erhoben haben, Madam Hopkin?" versuchte der Minister es mit einer Gegenfrage.
"Jene auf teilweise sehr dreiste und gesetzeswidrige Methoden zugreifende Geheimgruppierung, die sich Vita Magica nennt und für sich beansprucht, die Stagnation des magischen Nachwuchses zu beenden, um dem von dieser Gruppe als Wildwuchs bezeichneten Zuwachs der magielosen Menschen entgegenzuwirken."
"Nun, von wem Sie auch immer solche Aussagen erhalten haben, sollte mir eine derartige Aufforderung zugegangen sein oder noch zugehen, so sehe ich diese als reine Frechheit an, zudem bei Rechtswirksamkeit meines vorhin angekündigten Rücktrittes jedes Interesse an meinem Erbgut wohl erledigt sein dürfte. Ich hoffe doch sehr, mich diesmal nicht zu irren, wenn ich davon ausgehe, dass Ihre Frage kein indirekter Antrag Ihrerseits an mich ist, Mutter meiner Kinder zu werden." Die Schreiberin von der Hexenwoche schüttelte den Kopf. "Oh, dann habe ich mich doch wahrhaftig geirrt und Sie wollen von mir wissen, ob Sie die Mutter meiner Kinder sein dürfen?" hakte Shacklebolt nach. Ida Hopkin errötete heftig und stieß aus:
"Das habe ich weder so gesagt noch gemeint, Mr. Shacklebolt." Jetzt mussten doch einige der männlichen Konferenzteilnehmer und auch Mildrid Latierre grinsen.
"Gut, dann darf ich davon ausgehen, dass diese Frage ausreichend beantwortet ist. Weitere Fragen?" schloss der Minister dieses Thema ab. Es kamen dann nur noch Fragen, ob er bereits mit Arthur Weasley über die Amtsübergabe gesprochen habe oder es quasi im Alleingang beschlossen hatte. Darauf gab er nur zur Antwort, dass er sich mit seinen Mitarbeitern über jeden nachhaltigen Schritt des Ministeriums abstimmte. Dann war die Schuldbekenntniskonferenz, wie sie später in einigen ausländischen Zaubererzeitungen genannt wurde, erledigt.
Shacklebolt kehrte in seine Amtsräume zurück, darauf gefasst, sich gleich noch was von Arthur Weasley anhören zu müssen. Dieser kam dann auch wahrhaftig keine fünf Minuten später zu ihm ins Büro und sagte:
"Kingsley, die junge Dame aus Frankreich hat recht. Bevor ich deine Brocken sortieren muss räumst du bitte dein Zimmer auf. Außerdem muss ich erst mal mit meiner Frau drüber sprechen, ob ich mein Zimmer nicht auch noch vorher aufräumen muss, bevor ich hierher umziehe. Wir haben zwar alle Kinder jetzt aus dem Haus und auch alle in Lohn und Brot. Aber du kennst Molly ja, sie möchte nicht vom Land wegziehen."
"Das war mir klar, dass du das anführst, Arthur. Aber ein besserer als du es bist fällt mir nicht ein."
"Das ehrt mich, Kingsley, aber im Gegensatz zu dir habe ich Familie und kann daher nicht mal eben umziehen", erwiderte Arthur Weasley mit unmissverständlicher Betonung. "Ist auch sehr nett von dir, dass du denen verkauft hast, wir würden grundsätzlich alles vorher abklären. Deshalb kann ich natürlich jetzt nicht noch raus vor die Meute und denen sagen, dass mich deine Rede genauso überrascht hat wie die. Dann hätten wir hier bald ein größeres Ansehensproblem als bei Thicknesse. Das nur bis auf weiteres. Öhm, und was die Sache mit der Nachwuchserzwingung angeht, Kingsley, so muss ich dir wohl in meiner Eigenschaft als oberster Strafverfolgungsbeamter mitteilen, dass wir diese Leute auf gar keinen Fall unterschätzen dürfen. Die haben mal eben tausend unschuldige Menschen umgebracht, weil sie mit dem Lykanthropiekeim behaftet waren. Die treiben Männer und Frauen dazu, gegen ihren Willen Kinder zu zeugen. Die sind vielleicht gefährlicher als die Dementoren, Kingsley. Das nur von meiner Seite."
"Wie erwähnt, wenn ich kein Minister mehr sein werde verlieren die auch das Interesse an meinem Nachwuchs."
"Ich sage dazu nicht mehr, als bereits erwähnt wurde", erwiderte Arthur Weasley. Dann kehrte er in sein Büro zurück, wohl auch, um seiner Frau die "frohe Botschaft" zu übermitteln.
Commander Fitzroy Kennington las den über die verschlüsselte Ultralangwellenverbindung empfangene Nachricht noch einmal durch. Ja, er hatte wirklich den streng geheimen Befehl erhalten, ein kleines U-Boot in der Nähe der Bahama-Inseln zu finden und zu zerstören. Laut Funkspruch handelte es sich um eine experimentelle Unterwasserdrohne, die dazu diente, automatische Such- und Vernichtungsaktionen auszuführen. Laut Befehl des Kommandanten der britischen U-Boot-Flotte bestand der Verdacht, dass die zu Übungsfahrten ausgesetzte Drohne von Al-Qaida-Sympathisanten gekapert werden sollte, um damit ähnliche Anschläge wie auf das Welthandelszentrum zu verüben. Deshalb musste das Mini-U-Boot unbedingt gefunden und vernichtet werden.
Die Anweisung war auch an alle anderen im Atlantik stationierten U-Boote und U-Jagdeinheiten ergangen. Es war sogar eine Belohnung ausgelobt worden. Die Mannschaft, die die U-Drohne zuerst fand und endgültig versenkte bekam zwei Wochen Sonderurlaub. Daran konnte Kennington ablesen, wie verdammt Wichtig der Admiralität diese Operation war.
Als der Sonarüberwacher vom Dienst einen neuen Kontakt meldete, der eindeutig mit kleinen, aber Leistungsstarken Motoren fuhr ließ Kennington den Kurs ändern. Er hoffte, nicht zu spät zu kommen. Denn seine Frau Susie erwartete im August das erste gemeinsame Kind. Zwei Wochen Sonderurlaub in diesem Zeitraum waren da höchst willkommen.
"Kontakt beschleunigt auf geschätzte 25 Knoten, Sir. Kurs Überwasserkontakt zweiundachtzig, Frachter Queen of Virginia", meldete der Sonargast in die Zentrale.
"Frachtliste, COB!" forderte der Commander bei einem seiner Unteroffiziere die Beschreibung des Frachters an.
Oha, Nuklearabfall für US-Endlager Basement Bravo, sowie Computerausrüstung für den Marinestützpunkt Nassau."
"Gut, Rohr eins und zwei laden und bewässern. Ich will keine Verzögerung haben, wenn wir das Ding in Reichweite haben", knurrte der Commander.
Als das britische Kriegs-U-Boot mit zwei schussbereiten Torpedos an das kleine, schnell dahingleitende Unterwasserfahrzeug herankam tauchte dieses gerade auf. Es würde die Queen of Virginia in einer Viertelstunde erreichen und dann ... "Rohr eins Feuer!" befahl der Kommandant. Der Torpedoabschuss rüttelte an dem Boot.
"Aal im Wasser, Kurs wie berechnet, keine erkennbare Gegenmaßnahmen!" meldete der Sonaroffizier. Der Torpedo jagte auf das erfasste Ziel zu. Dieses versuchte, nach Steuerbord auszuweichen, doch zu spät. Offenbar war an Bord des U-Bootes keiner, der einen laufenden Torpedo im Wasser erkennen konnte. Das andere Boot stieg jedoch schnell auf. Es flog förmlich der Wasseroberfläche entgegen. "Wenn unser Aal den Stichling nicht in fünf Sekunden frisst kriegen die da oben gleich noch was zu sehen", sagte der Chief of the Boat. Der Sonaroffizier meldete: "Ziel erfasst. Treffer in vier Sekunden."
Die Besatzung der Zentrale zählte mit. Dann rumpelte es in der Ferne. "Treffer, Versenkt!" meldete der Sonaroffizier nach weiteren fünf Sekunden. "Sinkgeräusche Positiv!"
"Gentlemen, die Übung wurde erfolgreich beendet. Waffenlademannschaft, Rohr zwei entwässernund entladen! Wir müssen ja nicht aus Versehen noch einen Stichling oder gar den Atommüllfrachter da oben anbohren. Bei der Gelegenheit, Gratulation zu zwei Wochen Sonderurlaub!"
In dem Moment, wo sie die Feindseligkeit in knapp einem Kilometer entfernung spürten wussten sie, dass sie entdeckt worden waren. Doch sie hatten sich entschlossen, bis zum letzten Moment in diesem Unterwasserding zu bleiben. Dann hörten sie das Geräusch sich schnell drehender Schrauben. Sie wussten von der Besatzung der Paradiso di Mare, dass es lenkbare Bomben gab, die gegen Schiffe und Unterwasserfahrzeuge gerichtet werden konnten. Unverzüglich bliesen sie alle verfügbare Luft in die Ballasttanks und jagten mit größtmöglicher Steigung nach oben. Sie waren sicher, dass sie noch die Zeit hatten, die Luke aufzukriegen und aus dem Boot zu entweichen, bevor sie getroffen wurden. Doch das Schraubengeräusch kam näher und näher und holte sie ein. Es fehlten nur noch zehn Meter bis zur Wasseroberfläche. Das waren jedoch zehn Meter zu viel. Dann krachte es, und schlagartig flutete Wasser in die kleine Kabine des U-Bootes hinein. Die darin zusammengepferchten drei Krieger von Leben und Tod, die der Vernichtung ihrer Artgenossen entronnen waren, wurden sofort von Wasser umschlossen. Ihre eigene Ausstrahlung gefror das Salzwasser, dass selbst dieses zu Eis wurde. Nicht in einzelnen Kugeln, sondern zu einem kompakten Eisblock verbacken erstarrten die drei Geflüchteten. Da der Eisblock zu groß war, um durch den aufgerissenen Rumpf des Bootes nach außen zu gelangen, sank er mit dem zum Wrack geschossenen Boot tiefer und tiefer und tiefer, hinein in die ewige Dunkelheit.
Ihre Erzeuger und Artgenossen hatten sie ausgesetzt, einfach so in ein wackeliges Boot gesetzt, nur weil sie in diesem verfluchten Feuer aus der Sonne selbst an Größe verloren hatten, wie es hieß. Von den entseelten Matrosen im Boot hatten sie nichts. Sie durften sich nicht mehr an der ganzen Lebensfreude satt- und groß saugen. Das hatte sie zuerst wütend gemacht. Doch dann, als sie den vielstimmigen Todesschrei ihrer Artgenossen gehört hatten wussten sie, dass sie jetzt die Pflicht hatten, sie zu rächen.
Diese Heringssucher hatten sie dann ohne es zu wissen an Bord geholt, weil die sie nicht sehen konnten. Jetzt zeigte sich, dass ihre Verkleinerung auch Vorteile hatte. Denn sie konnten sich nach Betreten des Schiffes wunderbar zwischen den gefrorenen Kisten verstecken. Doch heute Nacht mussten sie jagen, Seelen jagen, um wieder groß zu werden. Denn als die Erben der Paradiso di Mare mussten sie stark sein, um eines Tages das erhoffte Ziel zu erreichen, die beiden britischen Inseln, zu denen ihre Eltern gewollt hatten.
Wie Katzen, die Mäuse erspüren fühlten sie die drei Wachen an Deck. Es war schön dunkel. Die ahnungslosen bekamen nicht mit, wie sich von hinten der Tod anschlich. Erst als sie von oben her angesprungen und in einen verschwommenen schwarzen Nebel eingehüllt wurden bemerkten die Matrosen, dass ihnen wer ans Leder wollte. Doch sie konnten sich nicht wehren. Kleine, schleimige Mäuler pressten sich auf ihre Münder. Sie sahen noch ihre schlimmsten Erinnerungen vor ihren geistigen Augen. Dann stürzten sie in ein grelles Licht des Vergessens hinein.
Die drei ausgesogenen Männer wurden von den Unheimlichen einfach über Bord geworfen. Dadurch erhielten ihre Mörder alles Wissen über sie und ihr Schiff, das sie brauchten, um sich weiterhin hier zu halten. Sicher würden die drei Wachen vermisst werden. Doch was wollten die anderen schon machen? Wichtig war nur, dass sie keine Hilfe rufen konnten. Deshalb drang ein nun auf drei Achtel seiner früheren Größe wiedervergrößerte in die Funkbude ein und entriss dem Funker die halbe Seele, um ihn zu lenken. Sein Artgenosse suchte die Kapitänskajüte auf und verleibte sich die halbe Seele des Schiffsführers ein. Damit war das Erbe der Paradiso di Mare erfüllt, hier auf diesem Schiff und sicher auch auf den anderen Schiffen, die Artgenossen von ihnen aufgefischt hatten.
"Mist, wieso geht das nicht?" quäkte das Cogison, dass um Juris Hals lag. Gerade eben hatten sie zum zweiten Mal versucht, ihn durch den Regerius-Zauber wieder erwachsen zu zaubern. Doch wie das Mal davor war die dafür hergestellte Mixtur, in der Speichel, Blut und Fingernägel enthalten gewesen waren auf ihm verzischt wie eine Handvoll Wasser im lodernden Feuer. Das hieß nun, dass er auf natürliche Weise neu aufwachsen musste. Zwar hatte er es mit gewisser Wehmut bedacht, kein süßes, zu behütendes Baby mehr sein zu dürfen, jeden Tag über mehrere Stunden an den warmen, prallen, ergiebigen Brüsten seiner zweiten Mutter, von ihr gebadet und gewickelt zu werden und mit Liedern aus seiner und ihrer allten Heimat eingesungen zu werden. Doch er hatte einen Auftrag. Die Zeit in Lady Tamaras Schoß war doch nur dazu gut gewesen, dasss er unbemerkt blieb und endlich auf die Suche nach dem Ort oder dem Träger von Bokanowskis dunklem Vermächtnis gehen konnte. Und jetzt musste er erst einmal groß genug werden, um wieder laufen zu können und dann wohl noch groß genug werden, um offen zaubern zu können. Jahre würde das dauern.
"Können wir nichts machen, Jurischa. Aber ich bleibe bei dir und bin für dich da. Komm, trinke erst mal was auf dein Leben, Jurischa. Dann ist gleich alles wieder besser!" säuselte Tamara Warren und hob den nun zur zweiten Kindheit verurteilten Juri behutsam auf, um ihn zu ihrem Lieblingssessel zu tragen, wo sie sich in eine bequeme Stillhaltung setzen konnte.
"Wie Ihr meint, Lady Tamara. Dann muss ich eben nuckeln und strullern und krabbeln und pullern", gab das Cogison von sich. Dann lag er sicher und bequem und sog gierig wie frustriert ein, was Lady Tamara für ihn bereithielt. "Du bist mein Sohn. Ich habe dich getragen und geboren. Ich lasse dich nicht alleine. Du wirst dich freuen, noch mal groß werden zu dürfen, Juri. Da mache ich mir keine Sorgen", säuselte sie. Und Juri fühlte, dass sie recht hatte. Er fühlte, dass sie ihn so liebte, wie er war, weil sie ihn bekommen hatte. Sie war seine Mutter und er ihr geliebter Sohn. Das die, deren Kind er geworden war innerlich sehr glücklich war, dass es gelungen war, ihn klein zu lassen, ohne seinen Argwohn zu erregen, bekam er nicht mit. Sie sprach weiterhin beruhigend auf ihn ein, und er nahm es hin, was sie sagte. Sie hatte wieder ein kleines Kind, nach über vierzig Jahren, wo sie das letzte bekommen hatte. Er würde sich in die Rolle hineinfinden und daran wachsen, im wahrsten Sinne des Wortes.
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