SCHATTENREITER UND SONNENLÄUFER

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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P R O L O G

Weil Itoluhila, die Tochter des schwarzen Wassers, nach dem Bann über ihre zwei Schwestern Hallitti und Ilithula erfuhr, dass ihre jüngste Schwester aus jahrhundertelangem Bannschlaf aufwachen wird, arrangierte sie die Erweckung dreier schlafender Schwestern. Eigentlich wollte sie mindestens vier von ihnen aufwecken. Doch der ungewollte Sohn des von Ilithula entseelten Anwalts Claude Andrews wurde von Thurainilla, der Tochter der kosmischen Dunkelheit, ganz und gar in Besitz genommen. Itoluhila hofft jedoch, dass die jüngste ihrer Schwestern so weiterhin in Schlaf gehalten werden kann. Denn diese ist mächtig genug, alle anderen Schwestern zu töten und sich deren Kräfte anzueignen. Außerdem gibt es genug Feinde in der Welt. Um diese wirksam bekämpfen zu können wollen die zuletzt erweckten Schwestern Tarlahilia und Thurainilla ihre neuen Abhängigen mit besonderen Gaben versehen. Alle vier hoffen, damit so unauffällig wie möglich gegen ihre erklärten Feinde zu bestehen.

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Im zweiten Mond nach der großen Flut im zwölften Jahre des finsteren Pharaos

Sie hatte es vor nun zwei Monden erreicht, als voll erblühte Frau ihren Platz in der Reihe der Neun einzunehmen. Von ihrer Mutter Lahilliota bei Vollendung einer vollständigen Sonnenfinsternis ohne männlichen Samen im Leib empfangen und ein jahr Später unter einer anderen gerade vom Mond verdunkelten Sonne geboren hatte sie ihr Leben auf die übernatürlichen Kräfte der Sonne und vor allem deren aus Tod Leben gewinnenden Verkehrungen aufgebaut. Jetzt, wo sie dazugehörte, wollte sie endlich ihren eigenen Wohn- und Ruheort begründen.

Weil zu ihrer Entstehung ein dunkelhäutiges Mädchen getötet wurde, dessen Kraft ihre Mutter für die ungeschlechtliche Empfängnis verwandte, besaß sie dieselbe Hautfarbe und Haartracht einer Bewohnerin der südlicheren Länder dieser großen Landmasse.

Sie hatte von ihm, dem Schlangenreiter, dem Pharao der gefangenen Sonne gehört, der wie sie selbst seine Entstehung auf die Zeit einer vollkommenen Sonnenfinsternis zurückführte, aber ein kurzlebiger Mensch geblieben war. Das hatte den Herrscher immer verärgert, seine Lebenszeit verrinnen zu fühlen. Als er dann an die Macht im Reich am großen Strom gelangt war hatte er sich alles Wissen über die übernatürlichen Kräfte angeeignet und dank seiner eigenen Befähigung dazu erlernt und vervollkommnet. Dem Beispiel seines Vorfahren Djoser folgend ließ er ein großes Stufengrab errichten, in dem er einmal bestattet werden wollte. Doch statt es der Sonne entgegenbauen zu lassen hatte er von seinen ihm untergebenen Helfern eine gewaltige Grube aushebenlassen und in diese gleichseitig viereckige Grube erst die Kammer für seine eigene Grabstätte einbauen und darum und darüber mehrere Ebenen mit Räumen und Gängen errichten lassen. Er ging davon aus, dass er sein Leben schneller wiedergewönne, wenn er sich tief in den Schoß der Erde zurückbetten ließe, in dem der Sonnengott Ra jede Nacht zurückkehrte, um bis zum nächsten Morgen von seiner großen Mutter Erde neu herangetragen zu werden. So wollte auch er, der wie seine Vorgänger als Abkömmling des Ra galt, ins Leben zurückkehren.

Tarlahilia, die Tochter der schwarzen Mittagssonne, hatte über mehrere ahnungslose Kundschafter erfahren, dass der finstere Pharao aus allen Teilen des Reiches Knaben vom Säugling bis kurz vor der Mannesreife zusammentreiben ließ. Sie hatte auch erfahren, dass es genau so viele waren, wie der Herrscher an Monden alt war. Diese Knaben sollten alle in das auf dem Kopf stehende Stufengrab gebracht werden. Dort sollten sie einen gleichzeitigen Opfertod erleiden. Wozu das gut sein sollte hatte Tarlahilia nicht erfahren. Trotz ihrer Gabe, in die Seelen und Gedanken der Kurzlebigen hineinzusehen und zu horchen war dieses Geheimnis ihr verborgen geblieben. Sie ging davon aus, dass sie in der Nähe dieser in die Erde hineingebauten Grabstätte die meiste übernatürliche Kraft ernten konnte, um selbst mächtig und unerschöpflich zu sein. Sie wartete also ab, bis der Pharao, der sich selbst Reiter der großen Schlange nannte, jene grausame Zeremonie vollstrecken und vierhundert Knaben vom Säugling bis zum Halbwüchsigen, von seinen folgsamen Henkern in den Räumen der Grabstätte hatte umbringen lassen, wobei der König in der untersten Kammer selbst einen gewaltsam dem Mutterschoß entrissenen Knaben, der wohl nicht lange hätte leben können, ausbluten ließ und dabei Mächte beschwor, die ihm durch dieses vor der Zeit ans Licht gebrachte Blut die Rückkehr in die Welt der Lebenden gewähren sollte. Danach hatte er seine folgsamen Helfer mit einer Vorrichtung, die er selbst in seine Grabstätte eingebaut hatte, von betäubendem Rauch in Ohnmacht fallen lassen und sie dann mit Sprüchen der Einschließung und Vergänglichkeit in seinem Stufengrab eingesperrt. Erst wenn er selbst starb sollte sich das Grabmal wieder öffnen lassen, um seinen einbalsamierten Körper und seine darin schlafende Seele aufzunehmen und ihn gleich einem ungeborenen Kind im Schoß der Erde seinem neuen Leben entgegenharren zu lassen.

Tarlahilia hatte das alles aus sicherer Entfernung beobachtet und die geistigen Schreie der sterbenden gehört. Mitleid empfand sie keines. Womöglich wäre der eine oder andere Knabe zu einem willkommenen Kraftspender für sie selbst geworden. Sie fühlte aber, dass die Seelen der getöteten wirklich in den Mauern dieses in die Erde getriebenen Bauwerks eingekerkert wurden. An die vierhundert unschuldige Seelen, zu denen nach dem Auslösen der Einschlafrauchvorrichtung wohl noch ihre Henker dazukommen würden, boten einen unerschöpflichen Kraftquell, den sie begierig anzapfen würde. So konnte sie unauffällig in diesem Land leben und sich jeden Mond den einen oder anderen Geliebten nehmen, ohne dahindarben zu müssen. Sie brauchte nur den mit den ersten erbeuteten Leben in Kraft gesetzten Lebenskrug in eine von der Kraft errichtete Höhle nicht zu nahe aber auch nicht zu weit von dem Bauwerk entfernt zu errichten.

Eine ganze Mondphase nach dem Tod der unberührten Knaben und wohl auch dem ihrer Henker begann Tarlahilia mit ihren Vorbereitungen. Wie ihre eigenen Kräfte mit der umgedrehten Grabstätte wechselwirkten fühlte sie nicht. Doch als aus Mitternachtsrichtung eine geflügelte Barke mit davorgespannten geflügelten Löwen mit feuerrotem Fell heranraste wusste sie, dass sie irgendwie die hier wirkende Kraft verändert hatte, obwohl ihr Lebenskrug noch nicht an diesem Ort war. Den wollte sie doch erst zur Mittagszeit vom Berge der ersten Empfängnis, dem Ort ihrer Erzeugung, herüberholen. Doch da kam bereits der finstere Pharao heran. Die vor seine Barke gebundenen Löwen brüllten auf, als sie die junge, unbekleidete Frau sahen. Sie fühlte deren Hunger und Tötungstrieb und wusste, dass es hier und jetzt zum Kampf kommen würde. Überlebte sie diesen nicht, so würde sie wohl erfahren, ob an den Berichten ihrer Mutter etwas dran war und sie bei Hallitti, Itoluhila oder Ilithula im Leib landen und dort neu heranwachsen würde, falls sie nicht das Unglück ereilte, im Schoß der allerjüngsten und zugleich mächtigsten ihrer Schwestern eingekerkert zu werden undd, weil diese die Zeit beherrschte, ungeboren zu bleiben, um ihr den Teil der Macht zu geben, den sie von ihrer Mutter bekommen hatte.

"Wer bist du, Schwarzhäutige? Was wagst du, die Stätte meiner langen Ruhe zu stören, in dem du ihre Kräfte anrührst?" rief ihr der finstere König mit durch die Kraft verstärkter Stimme zu. "Dies will ich von dir wissen, bevor meine getreuen Helfer dich in ihrem Atem verbrennen oder zerreißen."

"Deine Ruhestatt wird dich nicht neu erstehen lassen, Schlangenbändiger. Aber ihre Kraft nährt mich und hält mich am Leben", antwortete Tarlahilia. Dann blickte sie den ersten der geflügelten Löwen an. "Erstarre im Namen der Sonne", dachte sie ihm zu. Denn sie hatte gelernt, Lebewesen das innere Feuer des Lebens, das eine Gabe der Sonne war, auf ein Tausendstel zu verringern oder um ein hundertfaches zu verstärken, so dass das Wesen, das davon zehrte aus sich selbst heraus verbrannte. Doch der geflügelte Löwe schien selbst dem heißen Element verbunden zu sein. Er setzte ihrem Bann eine unerträgliche Kraft entgegen. Dann rissen seine Artgenossen die Mäuler auf und bliesen ihr laut fauchend lange Lohen entgegen. Nur ihre eigene Kraft, jedem hellen Feuer zu widerstehen, bewahrte sie vor der sofortigen Vernichtung. Zum Glück schien gerade die Sonne. Denn Tarlahilia merkte, dass in dem Feueratem der Löwen eine zerstörerische Kraft mitschwang, die ihren Atem fünfmal so zerstörerisch machte, wie gewöhnliches Feuer zu wüten vermochte.

"Du widerliche Ausgeburt der Unterwelt. Auch wenn du eine Tochter Seths bist werden meine Helfer dich töten, falls ich dich nicht töte. Du hast hier nichts verloren, Weib!"

"Doch, meine Geduld, Schlangenreiter!" rief sie zurück. Sie wollte eigentlich nicht gegen den König kämpfen. Sicher würde dessen Einlagerung in den Grabbau dessen Kraft verstärken, wenn er noch ein paar Jahrzehnte länger lebte. Doch der wollte den Kampf. Er löste nun die Halterungen für die geflügelten Löwen. Diese griffen sofort an.

Tarlahilia fühlte Angst und Wut zugleich. Diese Gefühle brachten ihren Körper dazu, sich zu verändern. Er wuchs im Licht der Sonne schlagartig auf das dreifache an. Ihre dunkle Haut begann zu glänzen, spiegelte das Sonnenlicht golden wider. Aus ihrem Kopf sprossen menschenarmlange, haarige Fühler. Ihre bernsteinfarbenen Augen teilten sich in hunderte dunkle Facetten. Zwischen ihren Armen und Beinen wuchsen zwei weitere Gliedmaßen, und aus dem Rücken schoben sich zwei hauchdünn erscheinende, golden schimmernde Flügelpaare. Aus der bis dahin ansehnlichen Frau aus südlichen Landen war eine überlebensgroße flugfähige Ameisenkönigin geworden.

Ihr Glanz, ihr neuer Geruch und wohl auch das laute, schwirrende Surren ihrer neuen Flügel verwirrten die geflügelten Löwen. So kam sie unangefochten an einen von ihnen heran und schnappte mit ihren mörderischen Beißzangen nach seiner Kehle. Ein kurzes, schmerzvolles aufbrüllen, und die geflügelte Großkatze war tot. Tarlahilia fühlte dabei, wie der übernatürliche Anteil ihrer Lebensessenz in die Luft entwich und sog ihn mit einem langen, lauten Atemzug in sich ein. Unvermittelt bekam sie mehr Kraft und wandte sich dem zweiten Löwen zu. Dieser blies ihr noch einmal Feuer entgegen, das jedoch auf ihrem golden glänzenden Panzer keinen Halt fand und zu wild wirbelnden Funken zerstob. Dann konzentrierte sie sich auf die Umkehrung ihres eben noch versuchten Banns. Ja, so herum ging es. Unvermittelt erhitzte sich der Körper des Gegners, glühte auf und zerbarst mit einem lauten Knall in einem blau leuchtenden Feuerball, der Tarlahilia vollständig einhüllte, aber auch auf die zwei noch verbliebenen Löwen übergriff. Offenbar war selbst den dem Feuer verbundenen Flügeltieren dieses Feuer zu heiß. Denn ihre Mähnen entflammten sofort.

"Und ihr zwei auch", dachte die zur tödlich gefährlichen Riesenameise gewordene Tarlahilia und sandte den zwei verbliebenen ihren Bann der plötzlichen Verstärkung des inneren Feuers. Beide zerplatzten keine drei Atemzüge später in gleichen blauen Feuerkugeln, die mit der, die Tarlahilia noch umhüllte verschmolzen. Die goldene Ameisenkönigin sog die in den Flammen steckende Hitze in sich auf und wandelte sie damit zu neuer Ausdauer um. Denn alles Leben entstammte der Sonne. Wurde es durch Feuer beendet, konnte sie es wie reine Luft einatmen, was ihr noch mehr Macht gab als Hallitti, die nicht dem Feuer der Sonne, sondern dem aus den Tiefen der Erde verbunden worden war und dieses nur in seiner kalten, dunklen Umkehrung rufen konnte.

"Du bist eine Sendbotin der Unterwelt, eine Tochter der dunklen Mutter, die die Menschen jagd, um ihre Seelen zu trinken", rief der finstere König der Ameisenkönigin zu. Sie verstand ihn nur, weil sie die dabei gedachten Gedanken mit ihren haarigen Antennen einfing."Doch die Worte des Todes werden dich treffen." Er hob einen Stab aus dunklem Holz, an dessen vorderem Ende eine kleine Kristallkugel saß, in der eine dunkle Flüssigkeit eingeschlossen war, das Blut einer geflügelten Feuerechse. Er rief ein Wort, bei dem Tarlahilia fühlte, dass es jedem Kurzlebigen die Kraft rauben würde. Das zweite Wort verstärkte die Macht des ersten. Doch bevor er das dritte Wort rief, mit dem alles in Ausrichtung stehende Leben dem Körper entrissen wurde war Tarlahilia über ihm. Zu gerne hätte sie ihm ihre Leidenschaft aufgezwungen, ihn mit sich in tödlicher Liebe vereint, um ihn genussvoll zu entseelen. Doch der König war mit der Kraft begabt und er hatte gerade angesetzt, sie zu töten. Deshalb machte sie ihm ein schnelles Ende und biss ihm den Kopf ab. Der Zauberstab glühte auf und entfiel dem blitzartig getöteten. Tarlahilia fühlte, wie dessen Seele der leblosen Hülle entwich und mit Urgewalt in Richtung der Grabstätte gezogen wurde, die er für sich hatte errichten lassen. Sie hörte noch seinen geistigen Aufschrei. "Nein, nicht auf diesem Weg! Nein, Ra, großer Meister, sei mir gnädig!" Doch der Sonnengott erbarmte sich seines dunklen Dieners nicht. Tarlahilia erspürte mit ihren geschärften Geistessinnen, wie die dem Leib entrissene Seele unaufhaltsam zu der in die Erde gebauten Grabstätte gezogen und in diese hineingezwungen wurde. Als dies passierte verstärkte sich die starke Ausstrahlung der Grabstätte auf das siebenfache. Tarlahilia wurde davon so überrascht, dass sie in einem Rausch von neuer Lebenskraft und Glückseligkeit dahingerissen wurde. Dieser Rausch ebbte erst ab, als sie mehr als zwei Tausendschritte von ihrem letzten Standort entfernt war. Dann erst wurde ihr klar, dass der finstere König gänzlich unbeabsichtigt etwas ähnliches veranstaltet hatte, was dem dunklen König aus dem versunkenen Reich gelungen war. Nur dass der Reiter der großen Schlange keine ausreichenden Vorkehrungen getroffen hatte, aus seinem neuen Aufbewahrungsort heraus zu wirken, wie es dem mächtigsten König der Dunkelheit nachgesagt wurde. Er war nun Gefangener in seinem eigenen Bauwerk der Finsternis, und dieses strahlte nun auf Grund der in ihm begangenen Tötungen noch mehr dunkle Kraft aus, weil der Urheber dieser ganzen Lebensopfer mit ihm vereint worden war. Tarlahilia, immer noch in der Form der übergroßen Ameisenkönigin, empfand eine Erheiterung, die beinahe so groß war wie die Woge der Glückseligkeit, die sie vorhin überwältigt hatte.

"Schön, dein Erbe wird Dank deiner großzügigen Gabe mein Dasein bewahren und mich stärken", dachte sie und kehrte in die Nähe der Grabstätte zurück.

Dort angekommen konzentrierte sie sich wieder auf ihre menschliche, weniger angsteinflößend aussehende Erscheinungsform. Sie schrumpfte. Die zwei zusätzlichen Beine verschwanden in ihrem Körper, ebenso die hauchzart wirkenden Flügel und die langen Fühler. Ihr Panzer wurde wieder zur ebenholzfarbenen Menschenhaut, und ihr Kerbtiergesicht nahm wieder jene wunderschönen Züge einer gerade erst erblühten Frau mit bernsteinfarbenen Augen an.

Mit hilfe der nun verstärkten Kraftströme aus dem umgekehrten Stufengrab wirkte sie die nötigen Erdzauber, um eine mehr als zwölf ihrer eigenen Körperlängen tiefe Höhle auszuheben. Dort hinein stellte sie dann ihren Lebenskrug, in dem zehn von ihr erbeutete Leben als orangerote Essenz eingelagert waren. Mit vieren von diesen Leben schuf sie die Schutz- und Verbergekraft, die ihre Höhle für fremde unbetretbar machte. Jetzt hatte sie ihr eigenes Rückzugsgebiet. Von hier aus konnte und würde sie behutsam neue Lebenskraft erbeuten, um ewig zu leben, im Namen ihrer mächtigen Mutter Lahilliota.

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6. Mai 2002 christlicher Zeitrechnung, 11:00 Uhr Ortszeit

Sie waren den Jägern entwischt. Die Brüder des blauen Morgensterns hatten doch tatsächlich gewagt, ihre frühere Heimstatt anzugreifen. Eindringen hatten sie nicht können. Doch sie hatten es gewagt, eine Glocke der Unentrinnbarkeit darüber auszuspannen. Tarlahilia und ihr neuer Abhängiger waren diesem Zauberbann nur dadurch entronnen, dass sie ihn mit sich in ihren Lebenskrug genommen hatte und ihn sicher festhielt, während sie die zwischen ihrer Wohnhöhle und der umgedrehten Pyramide errichtete Verbindung benutzte, um den Lebenskrug unter der Erde in die Pyramide hinüberzubringen. Als sie dort angekommen waren fühlte sie sofort, dass eine geistige Macht nach ihr tastete, die größer schien als die ihrer eigenen Mutter.

"Gib mir seinen Körper. Ich will wieder leben!" hörte sie. Obwohl ihr Lebenskrug verschlossen war drang diese Geistesstimme in sie ein. "!Ich habe es lange genug erduldet, dass du meine Ruhestatt angenagt und dich wie eine giftige Natter daran gelabt hast. Ich will wieder leben. Gib mir seinen Körper, auf das ich in ihm leben kann, Auswurf des Anubis!"

"Nein, sein Leib und seine Seele gehören mir. Oder willst du dich mir unterwerfen, mir von der Lebenskraft dieses Körpers geben, wenn ich danach verlange?"

"Ich werde dich töten, Tochter des Unrates. Und ich werde mir seinen Körper nehmen. Meine Worte öffnen die Pforte, dein Fleisch sei mein, so lass mich ein!" hörte sie die geistige Stimme des finsteren Pharaos noch rufen. Da blieb ihr nur, ihren Abhängigen mit dem Bann des schwachen Lebensfeuers zu belegen, damit er dieser Stimme nicht folgte. Für Uneingeweihte sah es nun aus, als habe sie ihren Abhängigen getötet.

"Weck ihn wieder auf, damit er mich einlassen kann! Oder nimm du mich in dich auf und lass mich zu eurem gemeinsamen Kind werden!" hörte sie die geistige Stimme des in dauerhaftem Kerker gefangenen Pharaos.

"Das hättest du so gerne, mich immer dicker werden lassen und mir dann nochSchmerzen bereiten, weil ich dich sonst nicht loswerde. Nein, du bleibst hier."

"Lass mich in deinen Körper ein und bewahre mich!" hörte sie die Stimme des finsteren Pharaos. Da wusste sie, in welche gefährliche Falle sie sich selbst hineingesteuert hatte. Sie durfte nicht in der umgedrehten Pyramide bleiben. Der Lebenskrug würde sie nicht davor beschützen, von dem eingekerkerten Geist des Magiers und Pharaos durchdrungen und vielleicht übernommen zu werden, wenn sie es nicht schaffte, ihn zu unterwerfen und in sich selbst einzukerkern.

Sie sog zehn der von ihr erbeuteten Leben in sich ein. "Das nützt dir nichts. Du bist in meiner Grabstatt. Gib mir deinen oder seinen Körper oder fühle, wie ich ihn mir nehme, widerwärtiges Weib!"

"Nichts da. Du bist entkörpert und bleibst es. Du hättest mich in Ruhe lassen sollen", schnaubte Tarlahilia. Dann sprach sie mehrere Worte, die von überlegenem Lachen übertönt zu werden drohten. "Du hast dich in meine Gewalt begeben und dich über lange Zeit an mich gebunden. Du wirst mir neue Mutter oder Sklavin sein", lachte der eingekerkerte Geist. Doch da wirkte Tarlahilias Spruch, und der eingekerkerte Geist schrie vor Wut, Schmerz und Enttäuschung.

Wie von einer riesenhaften Faust gepackt wurde der Krug hochgerissen und mit Urgewalt durch die Wände und Gänge der Pyramide geschleudert, als wenn die Wände alle Luft wären. Schneller und schneller wurde der Lebenskrug, entfernte sich nun mit der im Boden geltenden Schallgeschwindigkeit weiter und weiter von der umgedrehten Pyramide. Nur durch ihre Gedanken konnte Tarlahilia steuern, wohin die rasante Reise ging. Dann waren sie am Ziel.

Trotzdem der Lebenskrug verschlossen war fühlte Tarlahilia die kräftigenden Strahlen der Sonne, die ihren an den Rand der Erschöpfung gedrängten Geist neu belebten. Sie sog noch weitere gelagerte Lebensessenzen in sich ein. Dann öffnete sie den Deckel des Kruges und ließ die Sonnenstrahlen ungefiltert ein.

Sie wusste, dass sie hier noch nicht in Sicherheit war. Sie musste eine neue Lebenshöhle errichten. Doch dass sie nun in einer Wüste östlich von Basra angekommen war erfasste sie an der Einstrahlung der Sonne und dem Sinn für den Ort auf der Erdkugel.

"Darbe weiter in deinem selbsterwählten Kerker, Schlangenreiter", verwünschte sie den nun viele tausend Tausendschritte entfernten Widersacher. Noch schien die Sonne. Mit ihrer Hilfe musste sie die neue Lebenshöhle graben, schnell genug, um nicht von den Brüdern des blauen Morgensterns aufgespürt zu werden.

Sie blickte hoch in die Sonne und sog deren Strahlung in sich ein. Mehr und mehr glühten ihre Hände auf. Dann machte sie damit Gesten, worauf der Boden unter dem Krug scheinbar flüchtig wurde. Mit einem Arm um den immer noch erstarrten Abhängigen und eine Hand auf dem Rand des offenen Kruges versanken sie mindestens zwanzig Längen tief im Boden.

Tarlahilia schlug um sich eine sonnengelbe Lichtkugel, die sich immer weiter ausdehnte, wobei sie die überlieferten Worte von der sicheren Heimstatt sprach. Als sie so eine kuppelförmige Höhle erschaffen hatte entstieg sie mit ihrem erstarrten Abhängigen dem Krug und legte den wie tot wirkenden Mann daneben ab. Jetzt konnte sie ihn ganz loslassen, ohne dass er in ihrem Lebenskrug zerrann. Das war nötig, um die letzten wichtigen Vorkehrungen zu treffen, dass sie hier nicht so leicht gefunden werden konnte und damit außer ihr auch niemand, den sie nicht hier haben wollte, in die Höhle eindringen konnte. Die Zeit, die sie dafür brauchte war bedeutungslos. Wichtig war nur, dass sie ungestört alle nötigen Vorkehrungen treffen konnte.

Als sie noch einmal zehn erbeutete Leben aus ihrem Krug in sich aufgesogen hatte und nur noch zwei in orangerote Essenz aufgelöste Leben verblieben weckte sie ihren Abhängigen, indem sie das in ihm wirkende Feuer des Stoffwechsels wieder auf sein gewohntes Maß verstärkte. Zwei Sachen waren ihr nun bewusst. Sie musste, um weiterbestehen zu können wie ihre anderen Schwestern regelmäßig neue Lebenskraft erbeuten, und das so bald wie möglich. Aber ebenso musste sie ihren neuen Abhängigen auf die Jagd nach frischen Leben schicken. Doch den Fehler, den Hallitti mit ihrem Erwecker gemacht hatte, wollte sie nicht wiederholen. Deshalb musste sie ihren Abhängigen für den Rest der Kurzlebigen unüberwindlich und unverwüstlich machen. Zweihundert Sonnenkreise vor dem ihr aufgezwungenen Schlaf hatte sie einen solchen Abhängigen gehabt. Sicher war der nach ihrer Niederlage gestorben, weil die regelmäßige Berührung von ihr ausgeblieben war. Aber den hier wollte sie behalten. Die ganzen dunklen Taten, die er begangen hatte, machten ihn vollkommen geeignet, die Essenz geraubter Leben in sich aufzunehmen. Sie würde solche Leben erbeuten.

"Wo sind wir jetzt?" wolte ihr Abhängiger wissen, der sich nur noch an die dröhnende, fordernde Geisterstimme erinnerte.

"Im Zweistromland, wohl an die hundert Tausendschritte von den Ruinen Babylons entfernt. Hier werden sie uns nicht mehr finden. Denn der Unaufspürbarkeitsbann, den ich auf diese Höhle legte wird sie ihren Aufspürzaubern verwehren."

"Wieso haben die uns dann vorher gefunden?" wollte Dunston wissen.

"Weil sie wohl davon ausgingen, dass auch ich aufgeweckt werden sollte, nachdem Ullituhilia sich wieder zurückgemeldet hat. Aber wir sind ihnen entwischt. Sollen sie doch warten, bis ihre Glocke der Unentrinnbarkeit von selbst zusammenbricht!"

"Und wie geht es weiter?" wollte Dunston wissen.

"Ich werde dir von meinen Gaben etwas abgeben, damit du und ich weiterbestehen können. Verweile hier!" befahl Tarlahilia und belegte ihren Abhängigen erneut mit dem Bann des geringen Lebensfeuers. Danach verschwand sie von einem auf den anderen Moment. Das goldene Licht ihres Kruges ebbte zu einem roten Glosen ab.

Zweimal kehrte sie zurück. Jedesmal trug sie fünf vor Angst und Verzweiflung schreiende Säuglinge herbei. Als sie insgesamt zehn unschuldige Kinder zwischen gerade erst geboren und wenigen Tagen alt zusammen hatte beförderte sie eines nach dem anderen in ihren Lebenskrug. Sie wartete, bis auch das letzte Kind in jener verhängnisvollen orangeroten Substanz verschwunden war. Dann sog sie diese ganz in sich hinein, bis auf einen kleinen Rest, eine einzige Lebensessenz, die zu einem leichten Flimmern auf dem Boden des Kruges wurde.

Jetzt löste sie den Erstarrungszauber wieder auf und sah ihrem Abhängigen im Licht des Lebenskruges tief in die Augen. Er war ihr völlig unterworfen. So brauchte sie ihm nicht mit hörbarer Stimme zu befehlen, sich auf den Rücken zu legen und seinen Mund weit aufzumachen. Als sie sich dann über ihn hockte und unter leisem Keuchen erst wenige Funken und dann ein gleichbleibender orangeroter Gluthauch aus ihrem Unterleib entströmte, fühlte sie, wie ihre gabe begierig aufgenommen wurde. Sie hatte diese Art von Übergabe schon früher vollzogen. Doch heute lief es dreimal so schnell ab. Sie kam nur zweimal dazu, eine dazugehörende Formel zu denken:

"Sollst dich an jungem Leben laben,
einen Gutteil meiner Gaben
in dir selbst zu Diensten haben!"

Als sie fühlte, dass der Strom ihrer bereitwilligen Übertragung nicht mit einem einzigen Gedanken von ihr abebben wollte blieb ihr nur, aufzuspringen. Dunston zuckte am Boden, eingehüllt in das goldene Licht aus dem Lebenskrug. "Gib mir mehr. Das ist herrlich!" hörte sie seine Gedankenstimme. Dann glühte sein Körper in jenem orangeroten Leuchten, wie die Essenz, die sie ihm eingeflößt hatte.

"Ja, ist das herrlich. o Ja, ich fühl's, wau ist das heftig!"

"Ich habe beschlossen, dass du einen Teil meiner Fähigkeiten bekommst und dir deshalb meine Lebensessenz zusammen mit der von unschuldigen jungen Menschenwesen zugeführt", sagte Tarlahilia, die sich damit abfand, dass die auf Dunstons Seele lastenden Gewalttaten die gewaltsam geraubten und in ätherische Form gezwungenen Menschenleben noch leichter und vor allem aus eigenem Antrieb aufgesogen hatte, dass sein Körper nun davon erstrahlte.

"Ich habe mich voll jung gefühlt, als wenn ich gerade erst geboren worden wäre. Oh, ist das herrlich heiß. Bitte gib mir noch mehr von dem, was du unten drin hast. Ich will auch ganz lieb sein", bettelte Dunston, der immer noch in jenem orangeroten Licht erglühte. Tarlahilia stellte fest, dass er wohl auch um mindestens zwanzig Jahre jünger geworden war. Sollte ihr recht sein. Doch das Leuchten würde verraten, dass etwas magisches mit ihm angestellt worden war. Doch als sie dies dachte wurde es auch schon schwächer. Dann fühlte sie, wie in ihrem Abhängigen etwas freigesetzt wurde, dass wie ein berstender Feuerball war und doch keine Schmerzen, sondern Glückseligkeit auslöste. Dann fiel Dunston übergangslos in Ohnmacht. Die Aufladung mit so vielen gerade erst begonnenen Leben hatte seinen Körper sichtlich angestrengt. Doch wenn er wieder aufwachte würde er Sachen können, die sonst kein ohne eigene Magie begabter Abhängiger tun konnte.

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"Sie hat sich in die Pyramide geflüchtet! Weg hier!" rief Mustafa bin Ibrahim iben Davud al-kahiri, der Anführer eines aus zwanzig Mann bestehenden Einsatztrupps. Er hatte angeregt, den Schlafplatz der Tochter der schwarzen Mittagssonne aufzusuchen, um zu prüfen, ob diese noch schlief oder wieder erwacht war. Dabei war herausgekommen, dass sie offenbar tatsächlich wieder aufgewacht war, weil es eine aufspürbare Streustrahlung gab, die zeigte, dass jemand voller dunkler Magie diesen Ort besucht oder verlassen hatte. Sie hatten versucht, den Eingang zur Höhle zu öffnen. Dabei hatte Al-Kahiri mit einem Stein der dunklen Wege mitbekommen, wie eine starke, dunkelmagische Kraft in Richtung der Pyramide des finsteren Pharaos, dessen wahren Namen keiner mehr kannte, davongeeilt war. Die Morgensternbrüder wussten, dass sie in diese Pyramide nicht eindringen konnten. Denn wer es versuchte verfiel dem Geist des finsteren Pharaos und ließ seine Seele für dessen Fortbestehen oder schlimmer, konnte dessen Wirtskörper werden. Außer den beiden Trägern von Ashtarias Heilsstern hatte es bisher keiner Überlebt, in diese verfluchte Pyramide einzudringen.

"Meinst du, dass sie dem Geist des finsteren Pharaos widerstehen kann, Mustafa?" fragte Ali bin Karim Al-Omani, ein Experte für dunkle Geisterwesen.

"Falls nicht könnte er sich in ihr einnisten und damit zu einem noch gefährlicheren Gegner werden oder sie töten und ihren Geist in seiner Pyramide gefangensetzen, egal was Lahilliota verfügt hat."

"Was sollen wir dann tun, Mustafa?" wollte ein weiterer noch relativ junger Ordensbruder wissen.

"Uns bleibt nur, zu warten, ob jemand mit ihren Kräften wieder irgendwo zuschlägt. Bedenket Brüder, wir haben sie schon einmal besiegt."

"Ja, aber töten dürfen wir sie nicht", sagte ein weiterer Ordensbruder.

"Wollen wir hoffen, dass der finstere Pharao nicht selbst dank ihr einen neuen Körper erhält. Vielleicht fühlt er sich als berückend schönes Frauenzimmer sogar wohl."

"Seitdem unsere Vorbrüder meinen Vorfahren töten mussten, weil er im Bann des finsteren Pharaos versuchte, ihm einen neuen Körper zu geben sind fünfhundert Jahre vergangen."

"Ja, und es dürfen gerne noch zehn mal so viele Jahre vergehen, ohne dass er sich aus dieser verfluchten Pyramide befreien kann", knurrte Mustafa. Dem wollten die anderen nicht widersprechen.

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20. Mai 2002

Die Sonne stand im Zenit über einer weiten, schier unendlich wirkenden Sandfläche. Die von ihr erhitzte Luft flirrte über dem heißen Sand. Was immer in dieser Wüste lebte hatte sich unter die Erde oder an einen der wenigen schattigen Orte zurückgezogen, um die glutheißen Mittagsstunden zu überstehen. So wirkte es sehr verwirrend, dass ein nur mit einer blauen Badehose bekleideter Europäer mit dunkelblondem Haar über den sengenden Sand lief, als sei es gerade mal körperwarmer Teppichboden. Noch verwirrender war, wie schnell der Mann lief. Mit jedem seiner fünf Schritte pro Sekunde überwand er an die zwanzig Meter. Er flog eher als zu laufen, und eine mächtige Staubwolke wallte hinter ihm her, zeigte allen deutlich, dass hier jemand der grimmigen Mittagsglut trotzte.

""Wau, als hätte ich atomgetriebene Bionikbeine oder so was", freute sich der Läufer in Gedanken. Er wusste, dass sie ihm zuhörte. Sie flog weit über ihm, unsichtbar, doch für ihn deutlich anwesend.

"Was immer das soll, menschliche Glieder mit winzigen unteilbaren Teilchen antreiben zu wollen, du zehrst von der mächtigsten Kraftquelle des Himmels. Solange die Sonne scheint kannst du alles zehnmal schneller tun oder bist zehnmal stärker und ausdauernder als früher."

"Und noch mehr, Supersinne oder sowas?" fragte der Läufer.

"Du kannst wie ich durch deinen Blick in die Gedanken unmagischer Menschen hineinschauen und jene deinem Willen unterwerfen, mit denen du dich geschlechtlich vereinen willst."

"Sowie Dracula, der König der Vampire oder was?" fragte der Läufer. Darauf bekam er einen so heftig in seinem Kopf nachhallenden Gedankentadel, dass er aus dem Laufrhythmus geriet und mehr als fünfzig Meter weit über den Sand schlidderte, bis der Schwung aufgezehrt war.

"Wir sind keine langzähnigen Blutschlürfer, merke dir das, Arnold. Ich habe dich zu mir genommen und dich von meinen Gaben kosten lassen, damit wir diese Brut niederschlagen, wenn wir wissen, wo sie sich verkrochen hat."

Der Mann, der gerade voll auf dem heißen Sand ausgeglitten und darüber hinweggerutscht war keuchte. Dann rappelte er sich auf und prüfte, ob der Sand ihm was angetan hatte. Doch zu seiner Verwunderung hatte der unter seinem Rücken schmirgelnde Sand nicht den kleinsten Kratzer verursacht. "Solange die Sonne darauf fällt ist deine Haut unverletzlich. Außerdem weist sie in Reichweite deines Atems alles ab, was dem Feuer entnommen wurde, also auch alles geschmiedete oder gegossene Metall und jede Flamme.

"Wenn die vom MI6 das wüssten", amüsierte sich der Läufer und rannte wieder los. Er wollte es jetzt wissen, wie schnell er war und wie lange er laufen konnte. Sein Herz schlug schnell, aber nicht zu schnell, und es hämmerte nicht gegen seinen Brustkorb. Er konnte gleichmäßig ein- und ausatmen, ohne zu keuchen. Als er eine Düne vor sich hatte legte er noch einmal an Tempo zu, dann konzentrierte er sich auf den idealen Punkt, erreichte ihn und sprang wuchtig nach vorne los. Sein Körper flog wie von einem Schleuderbrett geschnellt an die zwölf Meter nach oben, überquerte die etwa sechs Meter hohe Sanddüne und beschrieb dabei einen Bogen von mehr als vierzig Metern Spannweite, bevor der Läufer wieder auf die Füße kam und aus dem Restschwung heraus wieder Tempo machte. Für ihn war ein Kindheitstraum wahrgeworden. Er hatte Superkräfte bekommen.

"Ja, aber die halten nur vor, solange die Sonne scheint und du nicht mehr als drei deiner Körperlängen festes Gestein zwischen ihr und dir hast, sofern du in einem dunklen Raum bist. Aber wo du es von diesen Langzähnen hattest: fließendes Wasser und unmagisches Eis können dir Kraft entziehen, und in der Dunkelheit ermüdest du innerhalb einer Stunde so stark, dass du dort zum Schlafen hinfällst, wo du gerade bist. Es sei denn, du beschläfst eine kraftvolle Frau, möglichst eine Jungfrau und ziehst ihr damit Lebenskraft ab, die dir zufließt."

"Sind das auch deine Schwächen?" wollte der Läufer wissen.

"Das fließende Wasser kann mir nichts anhaben, weil ich zehnmal mehr von dieser Kraft in mir habe als du. Ach ja, du kannst unmagisches Eis, dass nicht schwerer als du selbst bist mit deinem Blick auftauen. Ebenso kannst du flammenloses Feuer auf andere überspringen lassen, wenn du die Kraft dafür aus der Sonne gesammelt hast. Du brauchst nur lange genug in sie hineinzublicken. Sie wird dich nicht blenden, weil die dazu nötige Kraft sofort in deinem Leib verteilt wird."

"Das will ich wissen", gedankenantwortete der Läufer und bremste behutsam ab. Dann warf er den Kopf in den Nacken und blickte voll in die glühende Sonne hinein. Tatsächlich meinte er nur eine 25-Watt-Birne anzusehen. Doch was ihn faszinierte war das Prickeln und Pulsieren in seinem Körper, als er den Zentralstern des Sonnensystems ansah. Er bekam nicht mit, dass um seinen Körper eine orangerote Aura erstrahlte, die die sowieso schon aufgeheizte Luft noch mehr in Wallung brachte. "Du gibst überschüssige Kraft wieder ab, Arnold. Hör jetzt auf, in die Sonne zu sehen!" drang Tarlahilias Gedankenstimme in ihn ein. Er senkte den Kopf wieder. Die orangerote Aura umhüllte ihn noch vier Atemzüge lang. Dann verschwand sie, wurde förmlich von seiner Haut und seinem Mund eingesogen.

"Gut, dann versuche jetzt den brennenden Blick!" befahl ihm Tarlahilia. Er grinste erst. Doch als er dann einen kleinen Felsen ansah und sich sehnlichst wünschte, er möge verglühen kribbelte es in seinen Augen. Dann meinte er, der kleine Brocken würde auf ihn zufliegen und dabei blau flirrend leuchten. Dann krachte es, und rotglühende Splitter spritzten in alle Richtungen davon. Doch der Läufer fühlte auch, wie diese Aktion ihm Kraft entzogen hatte. Deshalb warf er seinen Kopf gleich wieder in den Nackenund blickte in die gleißende Sonne. Sofort fühlte er, wie sein Körper sich erholte, die aufgebrauchte Kraft zurückbekam. Erst als Tarlahilia ihn wieder darauf hinwies, dass er überschüssige Kraft von sich abstrahlte hörte er damit auf.

"Und das alles kannst du auch?" fragte der Läufer.

"Das kann ich auch. Meine Mutter hat es bei meiner Empfängnis so festgelegt und bei meiner Geburt bekräftigt, dass ich die Kräfte der Sonnenstrahlen in mich einsaugen und verwenden kann. Einen Teil davon kannst du jetzt auch, weil etwas von mir in dir weiterströmt. "Ach ja, du kannst dort, wo dich noch keiner gesehen hat, den Hauch der Nichtbeachtung um dich legen, dass dich niemand bewusst wahrnimmt, solange du genug Kraft aus der Sonne in dir hast."

"Unsichtbarkeit. Das hätte ich mal vor drei Jahren gebraucht, wo ich diesen Waffenschieber für die Drogenmafia liquidieren sollte. War nicht so leicht, an den ranzukommen. Zu viele Kameras und Wachleute. Musste ein Modellflugzeug benutzen, das im Kamikaze-Stil auf ihn draufgeknallt ist."

"Ich kenne alle deine Taten", bemerkte Tarlahilia. "Deshalb werde ich dich, wenn du deine neuen Gaben gut genug geübt hast, zu deinen Leuten schicken, um alle Spuren zu tilgen, die auf dich deuten können, wenn ich dich weiterhin für mich verwenden will. Außerdem wird es Zeit, dass du und ich neue Leben an uns bringen. So kannst du nämlich ewig weiterleben so wie ich."

"Du sagtest, die modernen Magier können aufspüren, wenn wir was anstellen. Dann werden die uns auf die Bude rücken."

"Nicht, wenn wir behutsam vorgehen, nichts großes, aufwühlendes, sondern kleine, gezielte Aufträge. Aber bedenke, dass du im Vergleich zu mir immer noch verwundbarer bist! Wir haben nur Feinde in der Welt. Selbst meine Schwestern würden es nicht wollen, dass du und ich zu mächtig werden."

"Ich verstehe. Bleibe ich besser noch einen Monat länger verschwunden."

"Nein, das bleibst du nicht. Ich brauche neue Lebensessenz, damit nicht einer von diesen Weltbehütungssüchtigen Zauberern oder keine dieser ebenso gegen mich und meine Schwestern aufbegehrende Hexe mich entkörpern können. Denn wenn ich meinen Körper verliere verlierst du alle meine Gaben und würdest hilflos da hinfallen, wo du in dem Moment stehst, wenn meine Gabe nicht zu gut bei dir wirkt und du mein Schicksal teilen musst."

"Was würde denn dann mit dir und vielleicht mir passieren?" fragte der Läufer herausfordernd.

"Willst du nicht wirklich wissen, Arnold. Also sieh zu, dass wir beide unsere Vorzeigekörper behalten dürfen!" erwiderte Tarlahilia. Damit musste sich der Läufer wohl zufriedengeben.

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zwischen Ende April und Anfang Juni 2002 Christlicher Zeitrechnung

Die eisige Kälte, die er gerade noch um und in sich verspürt hatte, ließ nach. Wohlige Wärme durchflutete ihn, ja auch Bilder, die er bisher nicht gesehen hatte, Bilder aus der Geschichte Thurainillas, Erinnerungen von ihr, die sich mit Erinnerungen von ihm mischten. Er wusste nun, dass Thurainilla die zweitjüngste Tochter Lahilliotas war, die später mal Lilith genannt worden war. Ihre Mutter hatte mit den Kräften experimentiert, die nicht von Himmelskörpern ausgingen, sondern aus der Leere zwischen diesen stammten. Deshalb konnte Thurainilla künstliche Dunkelheit erzeugen, die Lebenskraft und Lebensfreude aufsaugen konnte, beherrschte aber auch alle schattenhaften Geisterwesen und die sich von Blut und Dunkelheit ernährenden Kinder der Nacht, die die Menschen unter dem Begriff Vampire kannten. Ein großer Feind, der nicht zu vernichten gewesen war, hieß Kanoras, der als Schattenträumer aus Lebewesen für ihn arbeitende Schattengeister machen und sie für sich arbeiten lassen konnte. Gleichzeitig mit diesem Wissen erfuhr er, dass er es niemandem verraten durfte, wenn er nicht sofort in den dunklen Leib der Schattenform zurückversetzt und dort zersetzt werden wollte. Nun aber hörte er auch Gedanken anderer Wesen und sah ihre Gesichter. Es waren die Gesichter von Frauen, die jede für sich sehr schön war. "Soso, hat sie dich in ihren von dir großgefütterten Schattenzwilling hineingetrieben", keuchte eine dunkelhäutige Frau mit goldbraunen Augen und einer rubinroten Kräuselmähne, die gerade wohl dabei war, sich ihre Abendnahrung zu beschaffen. "Aber dafür habe ich wen, der mehr dunkle Taten auf sein Gewissen geladen hat als du kleiner Wechselbalg. Außerdem wärest du bei mir besser aufgehoben gewesen. Aber jetzt gehörst du ganz meiner Schwester. Was immer sie will wirst du tun oder sofort in ihrem Schattenzwilling verlöschen. Der letzte, der diese Ehre hatte wollte zum Herren der Nachtkinder werden und wollte gerade zur Willkommensfeier das Blut eines mächtigen Fanzhanträgers einsaugen, als er sich in durchsichtige Glibbermasse aufgelöst hat und er nur noch das Zerspringen seiner Seele fühlen konnte. Ich bewahre mir lästig gefallene Seelen lieber auf, wie meine anderen Schwestern."

"Ja, liebe wiedererwachte Schwester, dann erzähl unserem Halbneffen bitte auch, dass du einmal einen Abhängigen hattest, der versucht hat, mich zu entkörpern, weil er wollte, dass du meine Mutter wirst", schnarrte die Stimme einer Frau mit milchkaffeebrauner Haut, schwarzblauen Haaren und wasserblauen Augen.

"Dann habe ich dir die Schmach mit den zwölf Sternenbrüdern zu verdanken, Itoluhila?" schnaubte die dunkelhäutige Frau, die wohl immer noch einen wilden Liebesakt erlebte.

"Den hast du deiner Raffgier zu verdanken, weil du ein ganzes Dorf unter deine Herrschaft zwingen wolltest und fünfzehn Säuglinge hintereinander in dich einverleibt hast. Überhaupt würde ich bald mal mit deiner Aufwachfeier fertig sein. Die Sternenbrüder gibt es immer noch, und die Kinder der verfluchten Tante leben immer noch", erwiderte die, die gerade Itoluhila genannt worden war.

"Er ist nicht so leicht zu binden. Aber dafür sehr stark. Muss aufpassen, dass ich ihn nicht doch vollends in mir verschwinden lasse", ächzte die, die Aldous vorhin noch gerne für sich haben wollte.

"Gut, Schwestern, es gibt wichtiges, dass nur uns betreffen sollte. Wenn unser Halbneffe wiedergeboren ist treffen wir uns am Platz der Beratung", sagte eine Frau mit bronzefarbener Haut und tiefschwarzen Augen, die sich Ullituhilia nannte und über die Kräfte und Materialien der Erde gebot. Da verschwanden die Gesichter allesamt.

Statt der Gesichter der wachen Schwestern sah und hörte Aldous nun Ereignisse aus dem jahrtausendelangen Leben Thurainillas, erfuhr dabei, wie es gelang, die Dunkelheit einer Nacht oder eines vom Tageslicht unerreichbaren Raumes wie Nahrung in sich aufzunehmen oder sie für andere zu einem tödlichen Gift werden zu lassen, dass körperliche und seelische Schäden anrichten konnte. Er bekam mit, dass er durch diese direkte Vereinigung mit Thurainillas düsterer Schattenzwillingsschwester in der Nacht selbst zu einem stofflosen Schatten werden konnte, allerdings in Abhängigkeit von der ihn umgebenden Dunkelheit. Wenn er in Schattenform sein würde kostete jeder Funken Licht ihm Ausdauer. Sonnenlicht gar konnte ihm in Schattenform unerträgliche Schmerzen bereiten und ihn innerhalb von zehn Sekunden bis einer Minute zur Wiederverstofflichung zwingen. In stofflicher Form laugte ihn das Sonnenlicht zehnmal so schnell aus wie jede übliche Tagesbetätigung. Dafür konnte er bei völliger Dunkelheit in stofflicher wie schattengleicher Form zehnmal so schnell, stark und ausdauernd sein, eben solange nicht zu viel Licht auf ihn viel. Im Schattenzustand konnte er sich an jeden ihm vertrauten Ort wünschen und innerhalb von einem Augenblick dort anwesend sein, solange dort kein Sonnenlicht hinfiel. Er konnte in dieser Form überall dort entlang, wo auch Licht entlang konnte, allerdings nicht durch undurchsichtige Hindernisse, wie ein Gespenst durch feste Wände. Dafür war er dann aber gewichtslos. Auch erfuhr er, dass er in den Stunden, wo die Sonne nicht über dem Horizont stand, bis an die Grenzen der atembaren Lufthülle aufsteigen und mit bis zu fünffacher Dauerlaufgeschwindigkeit fliegen konnte, solange keine natürliche oder nicht-magische Lichtquelle in Sicht war. Somit konnte er bei einer klaren Vollmondnacht gerade noch bis auf das doppelte seiner Körperlänge aufsteigen und auch nur mit einfacher Dauerlaufgeschwindigkeit fliegen, weil der Mond ja das Sonnenlicht widerspiegelte. Thurainilla konnte in der Nacht magische und unmagische Lichtquellen im Umkreis bis zu hundert Metern schwächen oder ganz erlöschen lassen. Er, so erfuhr er, würde es auch können, weil er bereits mit Thurainillas Schattenzwilling magische Energien ausgetauscht hatte und jetzt räumlich mit diesem vereint war. Allerdings musste er wohl, wenn er das wollte, bewusst pro Nacht einen Artgenossen töten, um den Auslöser für diese Kraft zu erhalten. Sie brauchte nicht zu töten, weil sie durch Sex die Lebenskraft anderer Menschen in sich einsaugen und speichern oder an einem Ort auslagern konnte, den er nun als großen goldenen Krug erkannte. Er fühlte, wie starke Kräfte in ihn einströmtenund hörte sein Herz gleichmäßig schlagen, immer lauter, bis er meinte, er sei selbst ein Blutstropfen in seinem Herzen. Er fühlte sich so geborgen und beschützt wie wohl nur einmal im Leben. Als er dies dachte sah er Johnson, wie er mit einem Endoskop und einem stabartigen Operationsinstrument in den Unterleib einer blonden Frau hineinfuhrwerkte und behutsam einen kleinen rötlichen Klumpen herauszog und diesen in einem Behälter mit einer durchsichtigen Lösung barg. Die blonde Frau trug eine Atemmaske. Rhythmisch zischte eine Maschine, während sie still dalag. Dann sah er, wie Johnson die ihrem Körper entnommene Leibesfrucht durch eine Verbindungstür in einen anderen Operationssaal trug, wo eine andere Frau in Narkose auf einem Tisch lag. Er bekam mit, wie Johnson ohne Unterstützung durch eine OP-Schwester oder einen Assistenzarzt den Bauch der anderen öffnete und den rötlichen Winzklumpen darin einbettete und die Wunde wieder sorgfältig vernähte. Dann wurde der anderen Frau die Maske abgenommen. Sie stand auf und freute sich unbändig. Danach erlebte Aldous das Wachstum des umgepflanzten Embryos von innerhalb des neuen Mutterleibes mit und wusste, dass er das war, der da heranwuchs. Als sich der Fötus mit dem Kopf nach unten drehte fühlte Aldous, wie auch er sich langsam drehte und nun kopfüber hing. Er wollte aber nicht so hängen, nicht in eine Welt hinaus, die ihm bisher nur Lug, Trug, Neid und Raffgier zu bieten gehabt hatte. Sicher, einige schöne Erlebnisse hatte er auch gehabt. Doch das waren auch nur Überdeckungen. Ihn hätte es doch nie geben dürfen. Seine wirkliche Mutter hatte ihn entfernen lassen wie einen Tumor. Er dachte daran, dass er besser mit Thurainillas Schattenform verschmolz, ganz darin aufging. Doch dann dachte er daran, was ihm alles versagt blieb, wenn er sich so einfach aufgab.

"Zurück mit dir in die stoffliche Welt. Du bist nun ausgereift", hörte er die Stimme des Schattenzwillings. Dann wurde es um ihn immer enger. Er fühlte, wie etwas ihn von den Füßen her irgendwo hindrängte. Dann fühlte er lodernde Hitze am Kopf, sie umfing seinen Oberkopf, dann die Ohren, die Wangen, Kinn, Nacken und Schultern und dann den Bauch. Er meinte, pures Feuer einzuatmen, als er den Mund aufriss und seine Schmerzen hinausschrie. "Mist, verdammt, ich verbrenne. Verdammt, ist das heiß! Aarrrrg!" Dann fiel er nach unten, wwurde von angenehm kühlen Händen aufgefangen und dann nach oben gehoben. Die unerträgliche Hitze schien seine Haut zu verbrennen, sein Fleisch und sein Blut zum kochen zu bringen. Er atmete schnell und keuchend. Er glaubte, gleich keine Lungen mehr zu haben. Sein Herz sprang mit lautem Pochen von Schlag zu Schlag. Dann lag er für einen Moment in denArmen der Schattenform, die angenehm kühl war, nicht so wie das ihn umgebende unsichtbare Feuer. Gierig nuckelte er an der linken Brust, die für ihn gerade aus greifbarer Substanz zu bestehen schien. Da verging die Hitze. Das Feuer, in dem er gerade noch zu verbrennen geglaubt hatte, wurde nur noch zu einem unerträglich heißen Sommerwind, während er was kaltes, prickelndes in sich einsaugte, das sein Blut durchsetzte. Dann setzte ihn die unheimliche Schattenfrau wieder auf seine Füße.

Er sah an sich herunter. Er erschrak. Sein Körper war kohlschwarz. Also war seine Haut doch verbrannt worden. Dann sah er, wie die Schwärze sich gleichmäßig aufhellte und schließlich zu seinem gewohnten Hautton wurde. Doch um ihn herum war gleißend grelles Licht. Er wollte nach oben sehen, als Thurainilla ihm die Augen zuhielt. "Für dich ist jedes Licht zwanzig mal so hell wie früher. Und die Sonne wird dich schwächen, je stärker sie dich trifft. Aber dafür kannst du dich von der Dunkelheit ernähren", sagte Thurainilla. Dann winkte sie nach oben. Es knallte laut, das Licht war weg.

"Hast du mich jetzt zu einemVampir werden lassen? Ich dachte, die seien eure Todfeinde", stieß Aldous Crowne erschüttert aus.

"Nein, du bist kein Vampir. Du bist ein schattenkind, das in fester Form oder in Schattenform existieren kann und als einer der wenigen Abhängigen meiner Schwestern und mir mit jeder von uns in Gedanken sprechen kann, sobald du deine Schattenform geübt hast, wie ein Menschenkind das Laufen und gezielte Greifen erlernen muss. Deine zweite Mutter, Riutillia, wird es dir beibringen. Des weiteren bist du ab heute unverwundbar für stoffliche Waffen, Gifte und zersetzende Flüssigkeiten. Nur Licht, vor allem das der Sonne können dir was anhaben."

"Und was ist zwischen uns. Ich bin doch sozusagen dein Neffe."

"Halber Neffe, weil du eben nur eine Mutter hast und dein Vater ein leiblicher Mensch war. Außerdem wärest du ganz genau gesehen mein Sohn, weil Riutillia mein feinstoffliches Ich ist. Die meisten meiner Schwestern beneiden mich darum, dass ich in gewisser Weise Kinder bekommen kann, wo sie das nicht können", lächelte Thurainilla. "Ach ja, wo wir gerade so schön im dunklen sind. Im Dunkeln kannst du fliegen. Aber auch das wird Riutillia dir Beibringen. Am besten fangt ihr in meiner Schlafhöhle damit an, ich muss zum Beratungsplatz. - Nein, Al, du wirst nicht erfahren, wo der ist oder gleich wieder und dann für immer in Riutillias immerdunklem Leib vergehen. Auch wenn du mich geweckt hast und ihr damit mehr Kraft und Macht verliehen hast hat meine Dankbarkeit auch ihre Grenzen. Du weißt eh schon mehr über uns als dieser Wicht, der der Abhängige meiner sonnenanbetenden Schwester geworden ist. Gib mir deine Hand!"

Alle drei verschwanden, als hätte es sie nie gegeben. Nur der zu großen Teilen niedergebrannte und sich erst langsam zu erholen beginnende Dschungel blieben zurück.

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4. Juni 2002

"Solange wir keine Leiche von ihm haben müssen wir davon ausgehen, dass er noch lebt", stellte der Leiter der Abteilung für heikle Aufträge klar, als der Direktor des MI6 ihn zum Raport zitierte.

"Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass er die Seiten gewechselt hat oder besser schon immer auf zwei Gehaltslisten gestanden hat?" wollte der Direktor wissen.

"Bei gerade fünf Prozent, Sir. Läufer war bis zu seiner Mission in der Operation Kronschatz einhundertprozentig Loyal. Wenn er sich geschlechtlich ausleben musste hat er unseren Club Himmelswiese besucht. Und was Geld angeht hatte er immer genug auf dem Konto und auch nicht zu viel. Wir haben das schon geprüft, keine unklaren Einkünfte oder Ausgaben."

"Sex und Geld fallen also aus. Wie wäre es mit Gesinnungswandel?" wollte der Direktor wissen.

"Das sind die fünf Prozent, die unser schlauer Rechner ermittelt hat, Sir. Nur wenn ihm irgendwas über den Weg läuft, dass seine Einstellung zur Arbeit oder zu seinem Land gravierend verändern kann, würde er durchaus die Fronten wechseln oder gar ganz aus allen Geschäften aussteigen. Da er weiß, dass wir das nicht zulassen werden muss er dann natürlich untertauchen oder seinen Tod vortäuschen. In dem Fall hätten wir dann aber zumindest Zeugen seines Todes."

"Sagen Sie das besser mal nicht. Die sonst so selbstbewussten Kollegen in den Staaten wissen immer noch nicht, ob einer ihrer Experten für heikle Auslandsreisen wirklich in den dauerhaften Ruhestand gegangen ist oder noch irgendwo in der Welt seine Dienste anbietet."

"Ich kann Ihnen nur sagen, dass wir das Problem analysieren und zuversichtlich sind, es zeitnah zu lösen", beteuerte der Leiter des Büros für heikle Aufträge.

"Mit anderen Worten, Sie fürchten selbst, dass einer Ihrer Problemlöser selbst zum Problem geworden ist?" hakte der Direktor nach.

"Eben das muss noch geklärt werden, Sir. Vorher erlaube ich mir keine Aussage in die eine oder andere Richtung."

"Wissen Sie, wenn Leute, ich meine wichtige Leute, in Gefahr sind, weil einer Ihrer Männer aus der vorgegebenen Spur geflogen ist ... Aber das wissen Sie ja selbst."

"Natürlich", knurrte der frühere Einsatzoffizier von Läufer. Dann durfte er gehen, um Alarmplan h8 einzuleiten, eine Verlegung der Abteilung in eine andere sichere Unterkunft, von der Läufer nichts wusste. Gleichzeitig sollten alle Daten aus den ihm früher zugänglichen Rechnern auf andere Rechner umkopiert und die Originalrechner dann durch Säure zerstört werden.

Als der Leiter des Büros für heikle Aufträge das Arbeitszimmer des MI6-Direktors verließ traf er einen Mann Anfang vierzig mit dunkelbraunem Haar in einem schnieken, mitternachtsblauen Anzug mit schwarzer Samtkrawatte. Der andere grüßte wortlos und klopfte dann an die Tür, um auf die Eintrittserlaubnis zu warten.

"Ah, Mr. Stockley", grüßte der Direktor den nächsten Besucher. "Wie laufen die Verhandlungen mit den Israelis?"

"Ich habe mit der Sektionsleiterin für die Golfregion gesprochen, sir. Die werden uns alles geben, was sie über die abgetauchten Taliban kriegen. Am Ende kriegen wir noch bin Laden vor unseren amerikanischen Freunden."

"Wenn die den überhaupt haben wollen", erwiderte der Direktor. Stockley sah seinen Gastgeber an und überlegte, ob er das fragen sollte. Doch dann beschloss er, besser nicht nachzubohren. Statt dessen fragte er, wie sich das Büro zur Koordination befreundeter Dienste in der Angelegenheit USS Constitution verhalten sollte.

"So wie bisher. Wir warten und nehmen nur die uns betreffenden Nachrichten entgegen. Wenn wir unseren Kollegen aus Langley zu sehr auf die Pelle rücken handeln wir uns womöglich deren Misstrauen ein. Wollen Sie nicht wirklich."

"Natürlich nicht", sagte Stockley und achtete darauf, seine Erleichterung nicht nach außen dringen zu lassen. Dann legte er dem Direktor die Mappe mit den Verhandlungsprotokollen auf den Tisch und ging wieder.

Wieder in seinem Büro wandte sich Stockley dem Bild einer rothaarigen Dame in einem eleganten grünen Kleid zu, . "Gally, Sag deiner Zweitausgabe bitte, dass wir mit der Constitution nichts zu tun bekommen werden und dass der Büroleiter der Killerbrigade immer noch seinen weißen Läufer vermisst und der nicht weiß, ob der nicht schon längst vom Brett ist oder in eine andere Partie eingebaut wurde."

"Gebe ich weiter", ertönte es von dem scheinbar ganz starr abgemalten Motiv auf dem Bild. Dann bewegte sich die Frau im grünen Kleid nach links und verschwand durch den Bilderrahmen.

Das Telefon läutete. Stockley war sich sicher, dass sein Zimmer unabhörbar war. Dennoch kam ihm dieser Anruf jetzt doch ein wenig zu zielsicher nach der weitergegebenen Botschaft. Er nahm den Hörer ab und meldete sich.

"Mr. Stockley, die haben Clara verhaftet. Sie behaupten, sie sei eine potenzielle Verräterin, weil ich vergessen habe sie nach dem Test erst mal auszulassen", hörte Stockley die Stimme von Gordon Stanley, einem Kollegen aus der Sektion Westatlantik.

"Ach du liebe Güte. Kommt davon, wenn du dieses Püppchen auch unbedingt mit zur Arbeit nehmen musstest, Gordon. Na ja, brisante Geheimnisse hat sie wohl nicht aufgeschnappt oder?"

"Abgesehen davon, dass die Constitution durch eine kleine Atombombe zerstört wurde und unsere Navy deshalb den betreffenden Bereich erst mal nicht befahren soll und dass die Grant wieder mit ihrem kompletten Trägerverband ins Arabische Meer verlegt wurde nichts", sagte Stanley.

"Öhm, weiß Cindy, dass du ihr diese Brabbelpuppe mitbringen wolltest?"

"Neh, die hat erst übermorgen Geburtstag. Aber wenn die Clara das Hirn rausnehmen und durch den Industriewaschgang jagen ist die vielleicht kaputt."

"Vielleicht heißt sie dann nicht mehr Clara, wenn du sie zurückkriegst, sondern Geri oder Mel C", erwiderte Stockley belustigt.

"Komm hör auf", knurrte Stanley. "Wollte dir das nur sagen, weil du dich nicht wundern sollst, wenn ein paar Langley-Bauernburschen bei dir anrufen sollten, was uns einfiele, sie mit kleinen Puppen abzuhören."

"Danke für die Warnung, Gordon. Falls du deine kleine Spionin heute nicht mehr wiedersiehst wünsche ich dir doch noch einen schönen Feierabend."

"Komiker, muss 'ne Nachtschicht dranhängen, weil Theresa schon zwei Tage vorher in den Babyurlaub gegangen ist."

"Ui, und da machen die sich keine Gedanken, das ungeborene Kinder nicht doch ganz brisante Staatsgeheimnisse mithören?" spottete Stockley.

"Mithören schon, aber weitermelden ist schwierig", erwiderte Stanley. Beide lachten. Dann legte Stockley auf. Damit war der Dauerklangkerker wieder in Betrieb, der nur dann unterbrochen werden konnte, wenn das Telefon klingelte.

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5. Juni, nachmittags

Nur Touristen durften sie besuchen und ihre Dienste beanspruchen. Von den Einnahmen mussten sie ein Fünftel der Regierung zukommen lassen. Dafür durften sie auch alle sündigen Ausschweifungen anbieten, Alena, Barankya, Cedona, Duvani, Ekora, Fadschaha, bishin zu Parduna. Ihre Namen waren alle Fantasienamen. Doch was sie boten war echter als erlaubt war. Deshalb eben nur Touristen und deshalb die an jeder der drei Zugänge des wie eine Sanddüne gebauten Freudenhauses stehenden Wachposten, die so taten, als seien sie wegen undisziplinierten Verhaltens an diesen toten Ort Ägyptens verbannt worden. Ihr Auftrag lautete, sicherzustellen, dass nur telefonisch angemeldete Besucher eingelassen wurden, die in einem verschwiegenen Reisebüro die Treffen mit den sechzehn Sünderinnen buchten.

Achmed, einer der Wächter am südseitigen Zugang, zog einmal mehr gelangweilt an seiner großen Wasserpfeife, während Omar, sein Patrouillienpartner, hochmoderne Knochenleitkopfhörer vor die Ohren geklemmt hatte. Nach dem gespenstischen Quietschen und Wimmern war Omar wohl wieder im Geigenland des 18. Jahrhunderts zu Gast, dachte Achmet und nahm den nächsten Zug. Da trällerte sein Satellitentelefon. Er nahm es hervor und sah an der Anzeige, dass Ibrahim Al-Chefren anrief, der Leiter des verschwiegenen Reisebüros.

"Ihr zwei, ich habe gerade wieder einen Bus losgeschickt. Der ist in einer Stunde bei euch, alles reiche amerikanische Fleischklopse mitte vierzig, wohl ein Verein gelangweilter Ehemänner", hörte Achmet die Stimme seines Auftraggebers.

"Haben die alle Besucherkarten gekriegt?" fragte Achmet.

"Aber sicher, nachdem die mir ihre Ausweise vorgezeigt haben, damit ich auch ja weiß, dass die keine von uns sind."

"Gut, ich sag's unserem Vivaldi-Fan", sagte Achmet.

"Die kommen bei euch am Tor an. Gib den Weibsleuten bescheid, dass die sich hübsch machen sollen."

"Verstanden, Ibrahim", erwiderte Achmet mit beinahe unbezähmbarem Verlangen in der Stimme. Ibrahim verstand und erwiderte: "Und dass du dich zurückhältst. Du bist erst am Samstag dran."

"Natürlich, Ibrahim", grummelte Achmet. Dann trennte er die Verbindung. Er wandte sich an seinen Kameraden und rief: "Die sechzehn kriegen wieder zu tun, Omar!"

"Hab ich doch mitgekriegt, Achmet. Dafür hab ich doch die Dinger angeschafft, damit meine Ohren frei bleiben und die Umgebung mitkriegen", grummelte Omar mit einer Handbewegung zu seinen Kopfhörern. Dann stutzte er. "Öhm, wann soll die Ladung hier ankommen?" fragte er und wies nach nordosten. Achmet blickte in die angezeigte Richtung und sah mehrere hundert Meter abseits der planierten und mit Kopfsteinen befestigten Piste eine Staubwolke im Licht der Nachmittagssonne.

"Das ist kein Bus und auch kein Auto", sagte Achmet und griff nach seinem Fernglas. Auf der Hut, es nicht in die gleißende Sonne hineinzuhalten, blickte er in die von Omar angezeigte Richtung. Auch sein Kamerad hatte sein Fernglas gehoben und es auf die Staubwolke gerichtet. Sie blickten lange in die sich nähernde Masse aus aufgewirbeltem Staub, die scheinbar mit über hundert Stundenkilometern auf sie zujagte. Normalerweise hätten sie längst sehen müssen, wer oder was diesen Staub aufwirbelte. Doch durch ihre Ferngläser sahen sie nichts, nur fliegenden Sand und wabernden Staub. Achmet verwünschte die Hitze. Er hätte jetzt zu gerne noch die Infrarotoptik benutzt, um zu sehen, ob eine Wärmequelle in der Staubwolke war. Aber der die Sonnenstrahlen zurückwerfende Sand überhitzte die Luft.

"Es gibt doch keine unsichtbaren Autos, Omar, oder?"

"Sollen wir Ibrahim anrufen, dass wir was haben, was man nicht sehen kann?" fragte Omar.

"Ich will erst wissen, wohin die Wolke zieht. Sieht auf jeden Fall nicht wie ein Sandsturm aus."

"Neh, dafür ist die Wolke zu schmal und zu lang. Aber irgendwas ... Die kommt voll auf uns zu, Achmet. Sag den schwestern, die solln in die Kammern rein und dicht machen, bis wir Entwarnung geben!"

"Du meinst, wir kriegen Ärger?" wollte Achmet wissen. Omar bejahte das energisch. Achmet wollte sofort los, durch die Tür zu den verruchten Suiten der sechzehn sündigen Schwestern, während Omar zu seinem KurzstreckenFunkgerät griff, um die anderen Kameraden zu alarmieren.

"Kamelscheiße! Das Funkgerät ist tot", knurrte Omar, als er nach zweimaligem Drücken der Ruftaste keine Bestätigung bekommen hatte. Und die Staubwolke kam immer noch näher. Achmet brach seinen Lauf zur Tür ab und rannte zu ihm zurück. "Ich kann die nicht anfunken. Versuch du mal, mich anzufunken!" zischte Omar hektisch. Achmet zog nun sein Kurzstreckenfunkgerät aus der leichten, weißen Uniformjacke und schaltete es ein. Dann drückte er die Ruftaste. Eigentlich hätte sein Viertonzeichen jetzt in Omars Lautsprecher zirpen und sein Namenscode in der kleinen Anzeige aufleuchten müssen. Doch nichts passierte. Dann sahen sie, wie die Staubwolke mehrere Meter breit vor ihnen auftauchte. Jetzt konnte Achmet sehen, was den Staub aufwirbelte. In schnellem Rhythmus flogen kleine Sand- und Staubhäufchen auf. Ihr mittlerer Abstand betrug zwanzig Meter. Und er sah, dass da, wo eines dieser Staubhäufchen hochwirbelte ein flacher aber erkennbarer Abdruck in den Sand gesetzt wurde. In der Wolke lief ein Mensch, ein Mensch, der nicht zu sehen war!

Achmet wollte gerade seinem Kollegen zurufen, dass sie Angegriffen wurden, als aus der Wolke zwei glitzernde Schemen hervorschnellten. Eine Hundertstelsekunde vor dem Treffer konnte Achmet erkennen, was es war: Zwei Wurfpfeile, je einer für ihn und für Omar. Da bohrte sich der ihm zugedachte Wurfpfeil schon bis zum Schaft in die Brust. Er fühlte den Schmerz und wollte aufschreien. Doch schlagartig versagten ihm Stimme und Atmung, und von seiner Brust her breitete sich eine eiskalte Taubheit über seinen restlichen Körper aus. Achmet sah bereits rote Ringe vor den Augen. Deshalb dachte er an eine Einbildung. Vor ihm entstand aus orangerotem Licht eine erst geisterhaft, dann klar erkennbar menschliche Gestalt, die mit einer wahnwitzigen Geschwindigkeit auf ihn zulief. Dann übermannte ihn jene durch den in ihm steckenden Pfeil verbreitete Betäubung. Vor seinen Augen sauste ein undurchdringlich schwarzer Vorhang nieder. Er merkte nicht mehr, dass er umfiel. Als sein Körper die planierte Stelle vor dem Zugang traf, setzte Achmets Herzschlag aus und würde auch nie wieder in Gang kommen. Gleiches widerfuhr Omar. Er hatte nicht die Kraft gehabt, den Mörderpfeil aus dem Hals zu reißen, so plötzlich war die Lähmung über ihn hereingebrochen.

Der aus der Staubwolke gekommene Mann trug einen khakifarbenen Konfektionsanzug ohne Krawatte, dafür aber ein blütenweißes Hemd. Es war Jack Dunston, der wiederauferstandene Sonderagent vom MI6. Er grinste, als er die beiden erstarrt auf dem Boden liegenden Männer und die aus ihren weißen Hemden herauslugenden Dartschäfte sah. Die zwanzigfache Todesdosis des Kegelschneckengiftes hatte den beiden den Garaus gemacht. Doch er fühlte auch, dass da noch mehr Männer waren, nicht in der angeblichen Sanddüne, sondern davor, im Osten und im Westen. Er zog zwei weitere Darts hervor, zog mit bloßen Händen die Schutzkappen von den nadelfeinen Spitzen und lief im 100-Stundenkilometer-Tempo um die Düne herum. Als er die zwei muskulösen Typen mit den weißen Mützen sah zielte er aus dem Lauf heraus. Die zwei Männer griffen gerade zu zwei Dunston wohlvertrauten Gerätschaften, Taserschocker. Doch da schwirrten die beiden mit Meeresschneckengift bestrichenen Wurfpfeile wie aus der Luftdruckkanone gefeuert los. Jeder Dart mochte bis zu 400 Stundenkilometer schnell sein, schätzte Dunston, der die Reichweite seiner neuen Wurfkraft noch nicht gut genug ausgetestet hatte. Jedenfalls waren die innerhalb von nur zwei Sekunden im Ziel. Wieder fielen zwei Männer tot um. Blieben noch zwei.

"Jetzt brauchst du die Störkraft gegen unsichtbare Elektrowellen nicht mehr zu machen, Sonnenläufer", empfing er die Gedankenstimme seiner Herrin. Diese überwachte ihn aus mehr als Zweihundert Kilometern entfernung, um notfalls einzugreifen. Offenbar hatte sie von ihren Schwestern gehört, dass sowas besser war. "Die zwei anderen gehören mir, wenn die auch so gut geübt sind wie die vier da. Geh du rein und ernte, was die armseligen Frauenzimmer dir feilbieten!"

Knapp eine Stunde später fuhr ein vollklimatisierter Doppeldecker mit dem Arabischen Schriftzug für "Wunderwelt Wüste" vor der wie eine langgezogene Sanddüne aussehenden Lasterstätte vor. Im Bus saßen fünfzig beleibte Männer in heller Konfektionskleidung. Gemäß der Absprache, dass niemand mit dem anderen über das bevorstehende Abenteuer in der Wüste sprechen durfte, hatte jeder von ihnen einen Doppelsitz für sich allein gehabt. Die meisten hatten die Fahrt dazu benutzt, auf Vorrat zu schlafen oder sich Mut anzutrinken. Denn die meisten von denen waren verheiratet und brauchten alkoholische Aufmunterung, um ihre Ehefrauen für eine Nacht zu vergessen.

Muhammad, der Fahrer, dachte nur daran, dass er diese ungläubigen Fresser nur hier abliefern durfte, um sie mit den sechzehn Schwestern herummachen zu lassen. Zwölf Stunden hatte Ibrahim dafür angesetzt. Aber wie fünfzig Mann mit nur sechzehn Frauen klarkommen sollten verstand Muhammad nicht. Umgekehrt, ja das hätte er schon verstehen können.

"Die Gentlemen bitte nach Aussteigen Karten bei Wachen zeigen. Sonst gleich wieder nach Hause fahren!" sagte Muhammad über Lautsprecher durch. Er hasste es, den sprachamputierten Touristenkutscher zu geben, wo er selbst in Oxford und London studiert hatte und besser englisch sprechen konnte als diese fünfzig angeblich so wichtigen Yankees. Aber er hatte bei Ibrahim gelernt, dass zu viel Fremdsprachenkenntnisse die Besucher eher misstrauisch machte. So nahmen die seine Durchsage als sehr lange eingeübt hin und zwengten sich durch die drei geöffneten Falttüren nach draußen, wo sie sofort losstöhnten, weil da mehr als 40 ° Celsius herrschten. Als alle Besucher aus dem Bus waren ließ Muhammad die Türen wieder zufahren, um die kostbare Kühle nicht in die Wüste abzulassen. Er klappte seinen Fahrersitz zurück und nahm das kleine Satellitentelefon mit eingebautem Verschlüsselungschip. Er versuchte zu wählen. Doch das Gerät konnte keinen geeigneten Funksatelliten erreichen. Das erschien ihm ziemlich verdächtig, wo er während der Fahrt mehrere SMS von seinem Kollegen bekommen hatte, der gerade mit einer anderen Touristengruppe nach Luxor fuhr, um die Insassen die geheimen Seiten der alten Könige erforschen zu lassen. Noch einmal versuchte er, seinen Chef anzurufen, damit der wusste, dass seine Ladung am Ziel war. Doch wieder versagte das sonst so unabhängige Gerät seinen Dienst. Dabei hätte er mit dem Ding von fast jedem Ort der Welt, ausgenommen Nord- und Südpol, telefonieren können. Dann blieb das absolute Notgerät, der mit Verschlüsselungschip gespickte Kurzwellensender. Er wollte gerade die Rückenlehne wieder in die Senkrechte bringen, um ohne große Verrenkungen an das versteckte Mikrofon zu kommen, als er die Schritte über sich hörte. Doch auf dem Oberdeck war doch keiner mehr. Er lauschte und blickte sich um. Hatte echt einer von den dicken Yankees die Ankunft verpennt? Das musste er klären. Die Schritte klangen so, als wäre da jemand unterwegs von hinten nach vorne. Er griff zum sichtbar gelagerten Durchsagenmikrofon und drückte die Sprechtaste: "Hallo, noch einer oben. Bitte runterkommen. Alle schon raus!" klang es aus den Lautsprechern. Da hörten die Schrittgeräusche auf. Vier Sekunden war außer der leise säuselnden Klimaanlage nichts zu hören. Dann klangen die Schritte wieder. Wenn Muhammad sich nicht verhörte, ging jemand wieder nach hinten, von den Treppen weg zum Heck. Was sollte das denn jetzt? fragte sich Muhammad. Er griff noch einmal zum Mikrofon und wiederholte seine Durchsage auf Arabisch und gebrochenem Französisch. Dann lauschte er wieder.

Eine Halbe Minute lang säuselte nur die Klimaanlage. Dann hörte er einen wie aus weiter Ferne klingenden Gesang, der sich in seine Ohren hineintastete, immer tiefer in seinen Kopf eindrang und ihm immer besser gefiel. Muhammad verstand die Worte, die gesungen wurden:

"Liebster mein im Sonnenschein,
höre mein Verlangen!
Klopfe an mein Kämmerlein!
es soll dich nicht bangen."

Die Melodie und die in diesem immer wieder wiederholten Vierzeiler klingende Forderung verdrängten Muhammads Misstrauen immer mehr. Er gab sich dieser ihn betörenden Melodie hin. Die Stimme, das hörte er, war die einer hochbegabten Sängerin mit mittelhoher Stimme, glockenrein und ein akzentfreies Arabisch singend. Er meinte nun, das Lied nicht nur mit den Ohren, sondern auch im Kopf selbst klingen zu hören. Da war es ganz um ihn geschehen. Er stand auf und ging wie halb in Trance zur vorderen der drei sich in rechten Winkeln nach oben windenden Treppen.

Als er das Oberdeck erreichte und auf die Quelle dieses wunderschönen Liedes zuging sah er die Sängerin. Es war eine dunkelhäutige Frau mit rubinrotem Kraushaar, die vor der durchgehenden Sitzbank am Heck einen Tanz aufführte, bei dem sie alle Körperteile geschmeidig bewegte, in den Atempausen sehr tief Luft holte und dann weitersang. Muhammad konnte nicht anders, als auf diese unbeschreiblich schöne Frau zu sehen. Er dachte sofort an Nioma, eine der sechzehn Schwestern, mit der er es an Stelle einer Entlohnung mal eine Nacht so wunderherrlich getrieben hatte. Doch die da vor ihm übertraf die aus Kenia stammende Sündenschwester noch um einige Rangstufen. Das konnte er klar beurteilen, auch wenn ihm sonst kein Urteilsvermögen mehr verblieb. Die andere trug keinen Faden Kleidung am Körper. Und immer noch hörte er ihre gesungene Aufforderung:

"Liebster mein im Sonnenschein
höre mein Verlangen!
Klopfe an mein Kämmerlein,
es soll dich nicht bangen." Anblick und Stimme der Unbekannten fegten den allerletzten Rest von Verstand fort, den Muhammad noch aufgeboten hatte. Denn er fragte sich nicht, wer die Schöne war, wie und wann sie in den Bus gekommen war und warum sie hier war. Die letztere Frage wurde ihm aber beantwortet. Denn sie tanzte auf ihn zu, während er wie an unsichtbaren Fäden gezogen auf sie zuging. Weil sie nichts anhatte knöpfte Muhammad einen Hemdknopf nach dem anderen auf, bis er das ihm gerade lästige Stück Oberkleidung mit einer schnellen Bewegung abwarf. Und so ging es mit dem Unterhemd, den Schuhen, Hose und Unterhose. Dann war er auch schon bei der anderen, deren Duft er nun auch noch in die Nase bekam. Sie ergriff ohne mit ihrem Gesang aufzuhören seine Hände und führte ihn sanft zur hinteren Sitzbank. Was sie da von ihm wollte war Muhammad klar. Und sie sollte es auch von ihm kriegen.

Gerald Falkner, ein mehrfacher Millionär, der gerade so noch den Absprung vom Internetfirmenmarkt geschafft hatte, bevor dieser ins Trudeln geraten war, sah auf die große Sanddüne, in der, so dieser halbseidene Reiseagenturmann Ibrahim, die Freuden von Himmel und Hölle verborgen waren. Das war sein einzziger Grund gewesen, nach Ägypten zu kommen. Andere flogen nach Thailand oder suchten sich noch woanders ihr scheinbar gefahrloses Vergnügen. Er hatte von einem guten Freund und Geschäftspartner den Tipp mit den sechzehn Schwestern erhalten, von denen sich eine echt Isis nannte, wie die altägyptische Fruchtbarkeitsgöttin. Wenn das ging wollte er dieses Luder kennenlernen. Er ärgerte sich nur, dass da noch neunundvierzig andere Kerle waren, die sich amüsieren wollten. Doch zuerst mussten sie da in diese Düne rein.

"Wo sollen denn die Türsteher sein, Gents?" hörte er einen Mann mit Oregon-Akzent fragen. Er selbst peilte gerade zur westlichen Seite der Düne. Da sah er die vier Männer, alle in hellen Uniformen. Sie lagen stocksteif und mit weit offenen Augen auf dem Rücken. Auf den Uniformhemden waren kleine aber unmissverständliche rote Flecken zu sehen. Falkner, der bei der Army Sanitäter war, erkannte sofort, dass die vier durch Gewalteinwirkung umgekommen sein mussten. Wie lange war das her?

"Gentlemen, zurück zum Bus!" rief er den anderen zu. Da rief jemand anderes: "Verdammt, hier liegen zwei Tote. Sieht aus, als hätte die wer abgestochen!" Das wirkte mehr als Falkners ruf. Die anderen wuselten erst zu der Düne hin, sahen die insgesamt sechs toten Männer und jagten dann keuchend zum Bus zurück, der knapp fünfzig Meter entfernt geparkt war. Als sie ihn erreichten sahen sie, dass sich der Bus rhythmisch bewegte, und dass vor den hinteren vier Fenstern im Oberdeck die dünnen Vorhänge vorgezogen worden waren. Falkner rannte auf die hinterste der drei Türen zu und streckte die Hand aus. Er wollte laut gegen die Tür bollern. Doch als seine Faust das rechte Glas der zugefalteten Tür traf meinte er, voll auf eine heiße Herdplatte zu treffen. Der Schmerz ließ seinen Arm so heftig zurückschnellen, dass er sich fast selbst die Faust ins Gesicht drosch. Er starrte auf seine rechte Hand und dann auf die Tür und wieder auf seine Hand. Die Fingerknöchel waren stark verbrannt und pochten wie wild. Er wusste, dass er sich mal eben Verbrennungen zweiten Grades eingehandelt hatte. Aber selbst in der Wüstensonne konnte der Bus sich nicht so schnell so heftig aufgeheizt haben, dass man darauf Spiegeleier braten konnte. Mittlerweile war der Mitreisende aus Oregon an der vorderen Tür und wollte wohl sehen, ob er die aufbekam, als er auch schon laut aufschrie.

Gerald Falkner streckte vorsichtig die unverletzte Hand aus, bis sie nur noch einen halben Zentimeter vom Türglas entfernt war. Glas, das wusste er, durfte sich in der Sonne auch nicht so erhitzen wie Metall, weil es eben viel von der Strahlung durchließ. Tatsächlich fühlte er auch keine Wärmeabstrahlung. So wagte er den Versuch und stupste das Glas mit dem kleinenFinger an. Der jähe Schmerz einer überheißen Herdplatte jagte ihm ansatzlos vom Finger bis in den Kopf hinauf und ließ ihn aufschreien. Er hielt die linke Hand vor sein Gesicht und erkannte, dass die Kuppe des kleinen Fingers genauso stark verbrannt war wie die Fingerknöchel seiner rechten Hand.

"Mist, der Bus ist voll heiß", jammerte der Oregon-Mann, der sich wohl nicht so gut beherrschen konnte wie Falkner. Der ärgerte sich nur, dass er sich überhaupt auf diesen Versuch eingelassen hatte.

"Jammerlappen, und du wolltest die heißesten Schnitten am Nil vernaschen", lachte ein anderer Mann, dem Akzent nach Texaner. Falkner überlegte nur, wie er seine immer noch wild schmerzenden Wunden steril verbinden konnte. An einen Ausflug in einen Sündenpfuhl war mit den verbrannten Griffeln zumindest nicht mehr zu denken. Dann machte noch auch der Texaner Bekanntschaft mit der überhitzten Bordwand. Sein gellender Schrei schrillte ohne hörbaren Widerhall durch die Wüste. Als Falkner den gepeinigten ansah erkannte er auch, dass der sich durch eine kurze Berührung die komplette rechte Handfläche kohlschwarz verbrannt hatte. Also war das Metall des Busses noch heißer als das Glas. Doch es strahlte keine Hitze aus, wie es bei Feuer oder heißen Öfen typisch war. Nur die direkte Berührung verpasste einem die Verbrennungen. Sowas konnte es nicht geben.

"Eh, was kreischst du hier rum? Auf 'nen Skorpion getreten. Ich dachte, dagegen seid ihr aus Texas immun", feixte ein weiterer Mitreisender, der demAkzent nach aus Pennsylvania stammen musste. Dann sahen sie alle die heftige Verbrennung an der Hand des Mitreisenden, der sich seiner hemmungslos fließenden Tränen nicht schämte.

"Das hier ist eine verfluchte Falle", polterte ein Typ aus New York und zog sein T-Shirt über den Kopf. Darunter trug er nichts als blondes Brusthaar und über Jahre angefutterte Speckrollen. Der Texaner wimmerte immer noch, während Falkner immer wieder tief Luft holte, um den ihn piesackenden Schmerz zu veratmen. Dabei saugte er unfreiwillig feinen Sand ein. Das merkte er erst, als er einen heftigen Hustenanfall bekam und schon meinte, gleich keine Luft mehr zu kriegen. Währenddessen trat der New Yorker mit freiem Oberkörper an den Bus heran und streckte die mehrfach umwickelte Faust aus. Er traf damit auf das Glas in der Tür und grinste. Das Grinsen verging ihm aber, als er den Qualm sah, der aus seinem zweckentfremdeten T-Shirt stieg. Er konnte es gerade noch von seiner Hand abreißen und fallen lassen, bevor es in Flammen aufging. Weil es größtenteils aus Kunstfaser bestand brannte es wie eine Fackel. Der Typ hatte Geld zum Essen aber keins für schwer entflammbare Klamotten, dachte Falkner.

"Wir müssen hier weg, bevor wer auch immer uns hier auf offenem Gelände wegputzt!" rief er im Stil eines Armeeunteroffiziers, der seinen Zug in Deckung treiben muss, weil der Feind angreift.

"Gut gebrüllt, Löwe! Und wohin", schnaubte der New Yorker, der bis dahin wie gebannt auf sein verbrennendes T-Shirt geglotzt hatte.

"In die Düne rein, auch wenn die das genau so wollen", erwiderte Falkner und wies mit der rechten Hand auf die Düne. Sie konnten alle sehen, dass er auch was abbekommen hatte und schwiegen. Er lief also los, um einen der Toten nach einem Schlüssel oder einer Schlüsselkarte zu durchsuchen. Doch er fand nur kleine Fernbedienungen mit Zahlenblöcken und Bestätigungstasten. So konnte man auch eine Tür aufkriegen, dachte Falkner und probierte eines der kleinen Geräte aus. Doch keines von denen bewegte irgendwas. Vielleicht waren das auch keine Fernbedienungen, sondern Funkgeräte. Nein, Funkgeräte und sogar Satellitentelefone hatten die Toten auch bei sich. Aber die taugten offenbar auch nichts. Falkner fand aber etwas, was er gebrauchen konnte, steriles Verbandsmaterial, zu dem auch Mittel gegen Verbrennungen gehörten. Sofort behandelte er erst seine Verletzungen, bevor er sich dem Texaner zuwandte. Dem musste er allerdings erst ordentlich eine zimmern, damit der stillhielt. Erst dann konnte er ihm die schwer verbrannte Hand verbinden. Ob der damit jemals wieder was fühlen konnte war zwar fraglich. Doch wenn nichts gemacht wurde würde sich der Sand und was sonst noch in der Luft war im verbrannten Fleisch festsetzen.

"Wo haben Sie gedient, Mister?" wollte der Oregon-Mann wissen, als Falkner alle hier ersthelferisch betreut hatte. Er verriet ihm den Armeestützpunkt. "Da ist mein Neffe gerade, hat mir geschrieben, dass die ihn für Westpoint empfehlen wollen. Kriegt mein Bruder, der Vietnamkriegsverweigerer, einen echten Offizier in die Familie."

"Wenn die den Jungen deshalb nicht abweisen", meinte Falkner.

"Könnte ihm schlimmeres passieren, wie wir gerade an dem Texascowboy da mitbekommen haben", sagte der Mann aus Oregon, der sich nun, wo sie offenbar nicht das gebuchte Reisespektakel bekommen würden, die Absprache vergaß und zumindest seinen Vornamen nannte: George.

"Als noch zwei gemeint hatten, den Bus anfassen zu müssen, um zu prüfen, ob der an allen Teilen so heiß war und Falkner den Rest des Erstehilfematerials für deren Verletzungen verbraucht hatte deutete er auf den Bus, der gerade wieder in gleichmäßige Schwingungen geraten war. "Dieser einfältig tuende Kutscher vögelt sich da drinnen die Lunge aus dem Hals und was sonst noch weg. Aber wie der das hingekriegt hat, seine Bettgenossin herzuschmuggeln weiß ich nicht."

"Echt, der treibt's da drinnen?" wollte der Mann aus Pennsylvania wissen, der sich Bert nannte.

"Ey, da liegen große Steine. Wir schmeißen die Scheiben von dem Bus ein", schlug Jim, der New Yorker, vor. Er merkte nämlich, dass ein freier Oberkörper unter der Wüstensonne nicht so gut war, wenn er keine Sonnencreme dabei hatte. Er nahm einen Stein und lief los. Falkner überlegte, ihn aufzuhalten, dachte dann aber, dass es schon interessant sein würde, ob der Bus damit zu knacken war. Da rief der gerade wieder zu sich kommende Texaner: "Das kannse voll vergessen, Ostküstenbubi. Die haben uns gesagt, dass der Bus gepanzert ist, wegen der Freischärler oder wegen bin Ladens Bande, falls die hier auch is'." Dann stand er auf und sah sich um. Als er Falkner sah verengten sich seine Augen. "Du Arschloch hast mich umgehauen. Was meinse, wer du bis'? Jetzt kriegst du in die Fresse."

"Mit der Hand?" fragte Falkner herausfordernd auf die bandagierte Hand deutend. "Sein Sie froh, Mann, dass ich hier in der Wüste was gescheites zum Verbinden gefunden habe. Wenn Sie mir jetzt eine reinhauen geht Ihre Hand komplett kaputt. Also vergessen Sie das besser!" Er war auf der Hut, ob der Texaner sich davon beeindrucken ließ oder nicht. Zu seiner Erleichterung sah der Typ es ein, dass er im Moment keine echte Chance hatte. "Okay, Mister, wenn das hier um ist und meine Hand wieder klar ist wird zurückgezahlt", drohte er. Doch Falkner ließ das kalt. Denn er fragte sich, ob sie alle hier überhaupt noch lange leben würden.

Jim warf den Stein. Er wollte es nicht glauben, dass das Glas kugel- und bruchsicher war. Der Stein prallte laut klatschend von einer der Scheiben ab und fiel zu Boden. Mehr passierte nicht damit. Jim nahm noch einen Stein und warf ihn mit noch mehr Schwung. Wieder prallte der Stein ab und fiel in den Sand. "Mist, das kann nicht sein, dass ich so'n Stein nicht durch diese Glasscheibe kriege, wo ich sonst jeden Schlagmann aus dem Spiel kriege."

"Baseball?" fragte George Jim. Dieser nickte und behauptete, zwei Saisons für seinen Verein aus Brewster gespielt zu haben und dabei fast den Aufstieg in die Oberliga klargemacht zu haben. Ob das nur Angeberei im Angesicht einer Gefahrenlage war konnte Falkner nicht sagen. Doch was er sagen konnte war, dass sie hier alle wie auf dem Präsentierteller saßen. In das angebliche Haus unter der Düne kamen sie wohl nicht rein. Da kamen drei andere auf die Idee, zu prüfen, ob das tatsächlich eine Sanddüne war. So gruben die, die keine bandagierten Hände hatten, bis sie auf ein Material trafen, das nur rein äußerlich wie Sand aussah. Dass sie sich dabei alle einen gehörigen Sonnenbrand an den Köpfen und den freien Hautpartien einfingen merkten sie erst, als es sie alle brannte und piesackte. Dass ihr Busfahrer in einem irgendwie glühend heißen Bus seiner Liebeslust freien Lauf ließ und dass hier sechs Tote lagen hatten sie bei der Arbeit verdrängt. Jetzt hatten sie drei Türen freigelegt, die sich in zwei Hälften teilten, wenn jemand den richtigen Schlüssel hatte. Doch die Fernbedienungen taugten dafür nichts. Als George versuchte, die Tür mit Gewalt zu öffnen bekam er einen heftigen Schlag ab, wie von mehreren tausend Volt. Er flog förmlich zurück und fiel auf den Boden. Da blieb er liegen. Falkner rannte zu ihm und untersuchte ihn. Er atmete nicht mehr, und der Puls an der Halsschlagader war auch nicht mehr zu ertasten. Überhaupt fühlte sich Georges Haut so kalt an, als hätte jemand ihn eingefroren. Er erkannte jetzt, dass es hier nicht mit rechten Dingen zuging. Die Gesetze von Biologie und Physik galten hier offenbar nicht mehr. So schnell konnte sich kein Körper derartig abkühlen, schon gar nicht in einer Wüste. Zum ersten mal kam ihm in den Sinn, es mit bösartiger Zauberei, schwarzer Magie, zu tun zu haben. Bei seinem Armeedienst hatte er drei Anhänger des Voodoo-Kultes kennengelernt, die ihm einzureden versucht hatten, dass die Kraft ihrer afrikanischen Götter echt war und sie es sich niemals mit einem Bokor oder einer auf dunklen Wegen wandelnden Mambo verscherzen sollten.

"Wir müssen da rein, Leute. So heftig kann die Tür nicht gepanzert sein, und gegen Stromschläge kann man sich was anziehen", sagte der Texaner. Da sprangen gleich vier von den Anderen mit über ihren Armen gewickelten Oberhemden gegen die Tür. Doch allen widerfuhr dasselbe Schicksal, wenn auch nicht so spektakulär wie bei George. Sie prallten gegen die Tür, zuckten zusammen und fielen in der dadurch eingenommenen Haltung auf den Boden. Falkner untersuchte sie sofort und stellte auch bei ihnen eine unnatürlich starke Abkühlung fest. "Der Bus jagt einem Hitze in den Körper, und die Türen entreißen einem die ganze Körperwärme und noch mehr", stellte er fest und lauschte. Von drinnen war nichts zu hören. Das mochte aber nichts heißen, wenn die Räume schalldicht waren.

"Irgendwer will uns alle hier abmurksen. Wir müssen ganz schnell weg hier!" rief einer, dessen Name Falkner trotz der nun bald zwei Stunden hier in der Wüste nicht mitbekommen hatte. Er lief sofort los. Wie eine Herde aufgescheuchter Pferde stoben ihm zwölf andere hinterher. Die anderen zögerten noch. Dann meinten auch sie, besser zu verschwinden und folgten ihren Mitreisenden. Falkner rief ihnen noch nach, dass das doch völlig sinnlos sei. Doch gegen einen der Urtriebe des Menschen, bei einer unbekämpfbaren Gefahr lieber zu flüchten, hatte der achso hochgepriesene Verstand am Ende doch keine Chance. Sollte er jetzt hinter den anderen her oder bei denen bleiben, die sich nicht zur Flucht hatten treiben lassen? Die Entscheidung wurde ihm abgenommen. Denn unvermittelt dröhnte der Klang einer kraftvollen Hupe durch die unheilvolle Stille. Falkner sah sich um und erkannte, dass das Hupsignal vom Bus her gekommen war. Die Fenster im Oberdeck waren nun alle wieder unverhüllt. Dann ging die vordere Tür auf, und der ägyptische Busfahrer steckte den freien oberkörper heraus, hob die Hand und winkte einladend. Sein Gesicht war eine einzige Maske der Glückseligkeit. Falkner dachte an Drogen, die der Fahrer während seines Liebesspiels eingenommen haben musste, um besser durchzuhalten. Dann sah er die Frau und bekam sofort einen trockenen Hals. Die Dame war ein Sinnbild der Verführung, dunkel und drall wie eine afrikanische Schönheitskönigin. Sie trat aus dem Bus und sah die noch verbleibenen Männer an. Diese rannten auf sie zu, besser auf die nun wieder offene Tür des Busses. Falkner hielt sich zurück. Ein inneres Gefühl warnte ihn, dieser Frau zu nahe zu kommen. Am Ende war das die Quelle dieser ganzen widernatürlichen Sachen, die passiert waren, eine afrikanische Hexe oder Voodoo-Priesterin. So konnte er sehen, was den anderen zustieß, die versuchten, den Bus im Sturm zu entern. Einer nach dem anderen erstarrte mitten in der Bewegung und schlug der Länge nach hin. Am Ende gab es keinen mehr, der auf eigenen Beinen laufen konnte. Waren die jetzt alle tot?

"Wo bleibst du? Wolltest du nicht mitfahren?" hörte er die Unbekannte in astreinem britischen Englisch fragen. Falkner stutzte. Dann überlegte er, ob weglaufen nicht doch noch die bessere Idee war. Da verschwand die Unbekannte, um im selben Augenblick genau neben ihm aufzutauchen und das ganz geräuschlos. "Du bist stark, du hast Mut und Entschlossenheit und du bist wichtig", säuselte sie, während er versuchte, ihrem Blick auszuweichen. Doch es gelang nicht. Da verschwand sein geistiger Widerstand vollends. "Ohohoho, dich schicke ich wieder zu den kurzlebigen zurück, wenn ich genug von dir in mich aufgenommen habe. Du hast große Intuition und Durchsetzungskraft. Ja, ich merke das, dass du versuchst, mir zu widerstehen. Das gefällt mir. Ja, dich behalte ich erst einmal ein paar Tage und Nächte bei mir, bevor ich dich zu den deinen zurückbringe. Die anderen da und die, die meinten, vor mir weglaufen zu können, werden mein Vorrat. Los, rein in dieses Vehikel, diesen Omnibus!" Falkner fühlte die Macht dieses Befehls. Er konnte sich nicht mehr dagegen stemmen. Er ging auf den Bus zu und stieg ohne weiteres Wort ein. Er hörte, wie die Unheimliche mit dem Fahrer sprach, der daraufhin zu den schockgefrorenen hinging und sie einen nach dem andren zum Bus schleppte. Falkner, der in einer der ersten Reihen saß erwachte aus dem Bann, den ihm die andere aufgezwungen hatte. Er erkannte, dass er und die anderen einer wahrhaftigen Dämonin in die Fänge geraten waren, eine Dämonin, die den Geist brechen konnte und über die Gesetze von Hitze und Kälte Macht hatte. Er musste hier weg.

Er hoffte, dass sie sich zu sehr auf die ganzen Körper konzentrieren musste, die der Fahrer hereintrug. So passte er den Moment ab, als der Fahrer wieder vom Bus wegging und eilte nach vorne. Der einfältige Ägypter hatte den Zündschlüssel stecken lassen. Außerdem fand Falkner den Schalter für die Türen und betätigte ihn. Als die Tür zischend zuging drehte er bereits am Schlüssel. Mit einem energischen Rummmm! sprang der Motor an.

"Nein, wir fahren noch nicht los, erst wenn wir alle im Bus haben", säuselte die dämonische Shönheit, die einmal mehr auf unnatürliche Weise aus dem Nichts neben ihm aufgetaucht war. "Aber ich merke, wenn ich dich nicht ständig im Auge habe, musst du eben auch kaltgestellt werden, bis ich dich richtig zu mir nehmen und ganz doll lieb haben kann", schnurrte sie. Falkner wollte schon den Arm zum Zuschlagen heben, da erstarrte er. Das Motorengeräusch schnellte von einem tiefen, ratternden Dröhnen zu einem kurzen, schrillen Sirrlaut. Dann hörte und sah er nichts mehr. Schwärze und Stille umgaben ihn.

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"Muhammad, melde du dich wenigstens", knurrte Ibrahim, als er zum zehnten Mal versuchte, seinen dritten Fahrer zu erreichen, nachdem er die Wächter vor dem Haus der sechzehn sündigen Schwestern und keine der vielleicht gerade freien Freudenmädchen erreichen konnte. Muhammad hatte versäumt, den Anruf zu machen, dass er angekommen war. Als nach zwanzig Minuten immer noch keine Antwort kam löste Muhammad den Notfallpeilsender am Bus aus. Das war eine Vorsichtsmaßnahme gegen Entführungen. Hier in Ägypten musste man ja doch leider mit so was rechnen, wenn man geldprotzende Touristen durch die Wüste fuhr. Doch auch der Notsender schwieg.

"Mist, das ist der Fall rote Sonne", knurrte er und griff zu einem roten Telefonhörer, den er seit drei Monaten nicht mehr benutzt hatte, seitdem er mit seinem persönlichen Regierungsbevollmächtigten klargemacht hatte, wie sein Geschäft mit der käuflichen Fleischeslust weitergehen konnte, ohne dass die Bevölkerung davon was mitbekam. "Ali, hier Ibrahim. Ich habe den Zubringer zur Düne verloren. Keine Antwort von da. Ich möchte den Fall rote Sonne ausrufen", sagte er kurz und knapp in die Sprechmuschel, als die Verbindung hergestellt war.

"Der Notsender?" wurde er gefragt.

"Ist genauso tot wie die Telefonverbindungen zu den Wachen und nach drinnen, Ali. Am Ende haben irgendwelche Möchtegernrevolutionäre die Düne gekapert und den Bus mal eben so in die Luft gejagt."

"Hast du echt alles versucht, Ibrahim?"

"Außer den Zaubern aus alter Zeit, die ich nie gelernt habe, fällt mir nichts ein, was ich noch machen kann, um die zu erreichen."

"Wir suchen morgen früh die Stelle ab."

"Morgen früh?!" stieß Ibrahim aus.

"Nichts für ungut, aber deine sechzehn Dirnen sind im Moment sowas von drittrangig. Wir haben die Muslimbruderschaft, die versucht, Stimmung gegen die Regierung zu machen, wissen nicht, ob nicht von Al-Qaida welche bei uns untergetaucht sind und außerdem, aber das behältst du besser für dich, wird in zwei Stunden Georgie W. aus den Staaten zu uns kommen, um mit unserem Präsidenten ein Geheimgespräch zu führen. Dem darf nichts passieren. Deshalb sind erst mal alle Hubschrauber auf Dauerpatrouille und die Jets auch, damit nicht aus Versehen eine Egypt-Air-Maschine auf ihn drauffällt."

"Ist ja schön, dass du mir das zumindest erzählst."

"Weil wir zwei die besten Freunde sind, Ibrahim. Also nimm es bitte hin, dass wir im Moment nichts machen können. Falls du meinst, dass deine Mädchen und deren Kundschaft gekapert worden sind zapf deine anderen Quellen an. Sollte es laut werden kann ich dir zumindest helfen, dass das nicht jeder hört."

"Super, dafür habe ich mir ein rotes Telefon ins Büro legen lassen", knurrte Ibrahim. Doch dann verstand er, dass sein Gesprächspartner nicht mächtig genug war, mal eben zwei oder drei Hubschrauber oder Aufklärungsjets anzufordern, nur um nachzusehen, was aus einem schön weit außerhalb von Kairo versteckten Freudenhaus geworden war. Wenn da jetzt erwähnter Besuch aus den Staaten übernachten wollte, dann ... Ja, der würde garantiert in einem von Mubaraks Palästen übernachten. Wenn Ibrahim wissen wollte, was bei den sündigen Schwestern passierte oder passiert war, musste er andere Kontakte bemühen, welche, die sich das aber üppig bezahlen lassen würden. Davor grauste es ihn. Doch die Gegenrechnung sagte ihm, dass er die so heftig sprudelnden Einnahmen von den Freudendamen aus der Wüste nicht aufgeben sollte. Also rief er über ein schwarzes Telefon mehrere Männer an, die eigene Hubschrauber und sogar kampfkräftige Privatarmeen hatten. Letztere wollte er aber nicht anfordern, weil das sein Budget sprengen und ihn über Jahre in tiefe Schulden stürzen würde.

Nach zwei Stunden hörte er, dass zwei schnelle Hubschrauber aus dem westen Kairos gestartet waren, die angeblich nur Nachrichtenhubschrauber waren. Er bekam sogar einen Mithörkanal über eine hochverschlüsselte Internetverbindung. So konnte er die Funksprüche zwischen der Bodenstelle und den Piloten abhören, wenn auch nicht mitreden.

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Der Bus fuhr an, als die Sonne knapp über dem Horizont stand. Gerade war Jack Dunston, der Sonnenläufer, überglücklich und gut erschöpft eingestiegen. "Musstest du die alle einfrieren?" fragte er seine neue Herrin.

"Hast du sie alle geschafft?" kam die Gegenfrage. Er grinste und deutete an sich herunter.

"Damit habe ich James Bond und alle anderen fiktiven Kollegen komplett in die unterste Liga verwiesen", grinste er.

"Gut, du weißt, dass du mir davon etwas zurückgeben musst, willst du weiterhin so stark bleiben", erwiderte Tarlahilia, die zusah, wie der von ihr nicht völlig ausgezehrte Busfahrer über die Piste fuhr, bis sie ihm Zeichen machte, nach rechts abzufahren. Er gehorchte. "Es sind noch ungefähr dreißig von denen auf der Rechnung", sagte Tarlahilia. "Ich will die alle haben, bevor die Sonne untergeht."

"Wenn die sich getrennt haben ..."erwiderte Dunston, unterbrach sich dann aber, als er in der Ferne die Staubwolke sah. Der Busfahrer sah sie ebenfalls und beschleunigte. Die mit Wüstenbereifung versehenen Räder frästen knirschend durch den Sand und wirbelten ihrerseits winzige Teile auf. Doch der Fahrer ließ sich davon nicht beirren. Er jagte der vor ihm ziehenden Staubwolke nach, holte sie ein und erreichte dabei die keuchend und rröchelnd dahinlaufenden Männer. "Ui, die sind aber sehr ausdauernd. Das ist sehr gut", freute sich Tarlahilia. Der Fahrer überholte die Flüchtenden, die noch einmal versuchten, nach rechts in die freie Wüste zu entkommen. "Wie blöd müssen die sein, dass die meinen, durch eine Wüste zu Fuß flüchten zu können?" fragte Dunston verächtlich. Tarlahilia sagte dazu nichts. Sie befahl dem Fahrer, anzuhalten. Er tat es. Dann sollte er die Türen öffnen. Er tat auch dies ohne zu zögern. Tarlahilia verließ den Bus in ihrer natürlichsten menschlichen Erscheinungsform. Sie lief den anderen entgegen, dabei immer wieder kurz in die Sonne blickend, die nur noch wenige Strahlen zur Erde schickte. Einer nach dem anderen verfiel ihrem Blick und ihrer Stimme. Als auch ein Mann mit einer bandagierten Hand ihrem Blick unterworfen war befahl sie allen, in den Bus einzusteigen. Da vernahm Dunston ein bekanntes Schrappen am Himmel. Tarlahilia wusste von ihm, was Hubschrauber waren, zumal sie ja mitbekommen hatte, dass sowas diesen Jungen Aldous Crowne von ihr weggeholt hatte. Entsprechend sauer mochte sie auf diese modernen Flugapparate sein, dachte Jack Dunston.

"Die suchen uns wahrhaftig. Der Herr der Liebesmägde, deren Leben du für dich und mich erbeutet hast, will wissen, was ihnen widerfahren ist", vernahm er Tarlahilias Gedankenstimme. Dunston wusste in dem Moment, dass die Hubschrauberbesatzung keine fünf Minuten mehr zu leben hatte.

Tatsächlich dauerte es nicht einmal eine Minute, bis ein wildes Heulen erklang und eine lichterloh brennende Drehflügelmaschine aus gut hundert Metern Höhe abstürzte.

"Dafür zahlt mir der Herr dieser fliegenden Späher mit seinem Leben", knurrte Tarlahilia, als die Maschine mit lautem Knall und kreischendem Metall in den Sand einschlug und noch etliche Meter weit rutschte. Dann zündete der Treibstoffvorrat durch. Mit einer dröhnenden Detonation endete die Existenz des Hubschraubers und seiner Besatzung.

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"Horus drei an Horus Basis, haben Zielgebiet überflogen. Ah, haben gesuchten Bus gesichtet, fährt abseits der Piste. Videoaufnahmen laufen", hörte Ibrahim den Piloten eines der Hubschrauber, die sein Freund Hamir losgeschickt hatte.

"Das gibt's nicht. Der Bus verfolgt an die dreißig zu Fuß flüchtende Männer. Schicke Nahaufnahmen zur Identifikation."

"Horus drei, Vorsicht vor Beschuss!" hörte Ibrahim die Warnung des Funkers am Boden.

"Antiraketensystem eingeschaltet. Gegen andere Sachen sind wir passiv gepanzert", beruhigte ihn der Pilot.

"Wer ist die Frau, die aus dem Bus aussteigt. Kriegt ihr von der kein klares Bild?" wollte der Einsatzleiter wissen.

"Jau, sehe die gerade. richtig heiß sieht die aus. Ui, und die läuft komplett nackt herum. Schokoladenfarben, wie aus dem Senegal. Das ist ja heftig, die macht was, dass die alle auf sie zugehen und .. Ah, jetzt sieht sie uns. Wir nehmen ein wenig mehr höhe und ... Aarg!" Die letzte Viertelsekunde des Funkspruches war ein einziger lauter Aufschrei. Dann rauschte es nur noch im Kanal.

"Horus drei von Horus Basis. Kompletter Verbindungsabbruch. sofort melden!" Doch Horus 3 meldete sich nicht mehr, obwohl er noch zehnmal angerufen wurde. Dann erfolgte ein sehr rüder Kraftausdruck und die Meldung: "Für die Aufzeichnung, haben zwanzighundertzwanzig Totalverlustsignal von Horus drei aufgefangen. Horus zwei, unmittelbare Beschussgefahr!"

"Horus zwei hier. Sind sicher gelandet, nachdem Infrarotsuche keine verdächtigen Subjekte ergab. Haben fünf Mann mit Sturmbewaffnung zur Prüfung vor Ort abgesetzt." meldete sich der Pilot von Horus 2, der das Haus der sechzehn sündigen Schwestern überprüfen sollte."

"Überprüfung fortsetzen, äußerste Vorsicht! Bei verdächtiger Bewegung sofort schießen!" kam die Anweisung der Bodenstelle. Ibrahim fühlte den Schweiß von der Stirn in seine Augen rinnen. Er musste noch vier bange Minuten warten, bis der Pilot sich wieder meldete. "Einsatzkommando im Haus. Keine Fallen, keine Gegenwehr. Einsatzkommando meldet sechzehn weibliche Leichen, unbekleidet auf Betten, keine äußerlichen Verletzungen erkennbar."

"Bitte wiederholen!" sprach der Einsatzleiter aus, was Ibrahim gerade dachte. Doch die Wiederholung gefiel ihm immer noch nicht. "Spuren von Giftgas?" kam die nächste Frage. Darauf kam die Antwort: "Negativ. Gasspürgerät zeigt nur ätherische Öle und Alkoholderivate von starkem Parfüm."

"Gut, Besatzung zurückrufen! gemachte Aufnahmen unverzüglich an Basis übermitteln!" befahl der Einsatzleiter.

"Die haben alle sechzehn umgebracht. Söhne von Hyänen! Das zahlt ihr mir alle zurück. Für jede Schwester zwanzig von euren Brüdern", schwor sich ibrahim. Allerdings war ihm klar, dass Hamir erst mal seinen verunglückten Heli zurückerstattet bekommen wollte, plus der Ausbildungskosten für die Besatzung. Das würde teuer. Ausgerechnet jetzt, wo ihm die beste Einnahmequelle weggebrochen war.

"Besatzung wiederaufgenommen. Leiten Start ein. Erbitte Zielanweisung!" meldete Horus 2 einige Minuten später.

"Erst die Bilder übermitteln. dann zu den Koordinaten von Horus 3 fliegen! Meiden Sie Annäherung an flüchtigen Bus!"

"Verstanden, bitte die Koordinaten!" Ein kurzes Zirpen eertönte. "Koordinaten erhalten, führen neuen Auftrag aus!" bestätigte Horus 2.

Einige Minuten später hatten sie die Gewissheit, dass der andere Hubschrauber explodiert war. Die Bilder waren inzwischen übertragen worden. Ibrahim bekam per Textnachricht die Adresse der geschützten Seite, auf die er sich mit seinem Passwort einwählen musste, um die Bilder zu sehen. "Die sehen alle so aus, als wären die nur total erschöpft aber glücklich", textete er Hamir an, während er im Hintergrund den Sprechfunkkanal von Horus Basis und dem nur noch einen Suchhubschrauber weiterverfolgte. Horus 2 hatte die Order, den flüchtigen Bus aus großer Höhe zu überwachen, um festzustellen, wo er hinfuhr.

Nach einer halben Stunde fahrt hielt der Bus an und stellte den Motor aus. Horus 2 überwachte ihn mit passiver Infrarotortung. "Ich orte zweiunddreißig Personen im Bus. Häh, nur noch dreißig. Jetzt einunddreißig. Das System muss defekt sein."

"Direktübertragung einschalten!" kam die Antwort. Ibrahim klinkte sich selbst auf den mit "Direkt IR" gekennzeichneten Zugang ein. Sein Passwort war noch gültig, so dass er ohne Verzögerung auf die Seite kam, wo die Videoübertragung ablief. Tatsächlich waren es gerade neunundzwanzig Personen im Bus. Dann siebenundzwanzig, dann wieder achtundzwanzig. Die gestochen scharfen Aufnahmen zeigten jedoch keine menschliche Wärmequelle, die sich vom Bus entfernte.

"Werden die alle einzeln weggebeamt oder was?" fragte Ibrahim per Textnachricht.

"Sieht eher so aus, als wenn jeder von einer Person auf magische oder außerirdische Weise weggebracht wird. Wieder ein Sprung um zwei. Liegt dir was an deinen Fahrgästen?" wollte Hamir wissen.

"Wenn die morgen nicht in ihren Luxushotels auftauchen viel zu viel, Hamir", textete Ibrahim zurück. Wieder verschwanden zwei klar bezeichnete Wärmequellen, und der Einheitenzähler sprang auf 19, um eine halbe Minute später wieder auf 20 zu springen. Dann erfolgte gleich ein Dreiersprung auf 17.

"Horus 2, Wenn weniger als drei Einheiten sofort abdrehen und auf größter zugelassener Höhe und Geschwindigkeit zurück zur Basis!" befahl die Leitstelle von Horus 2.

"Meine Besatzung brennt darauf, das am Boden zu prüfen. Sie haben zwei Mann ausgewürfelt, die mit Fallschirmen aussteigen wollen."

"Negativ, Horus zwei. Fallschirmabsprung und Bodenerkundung verweigert. Solange wir nicht wissen, wie die sechzehn Frauen umkamen und wieso Ihr Infrarotabtaster sprunghafte Veränderungen der Einheitenzahl ausweist kein weiterer Bodeneinsatz."

"Öhm, die zwei sind schon raus. Kann die nicht mehr zurückrufen", meldete der Pilot von Horus 2 mit viel Lärm im Hintergrund.

"Wenn die nicht getötet, sondern einkassiert werden sollten wir blitzartig den Standort wechseln, Hamir! Schalte die Seiten für Ali frei. Ich rufe den an und geb ihm mein Passwort."

"Wenn du das machst bist du morgen tot, Ibrahim. Außerdem kostest du mich schon einen Hubschrauber und zehn Elitesöldner. Du tauchst garantiert nicht ab, ohne mir vorher gesagt zu haben, wo ich das Geld abholen kann", textete Hamir zurück.

"Mann, begreifst du das nicht? Die Frauen und die ganzen Yankees sind von irgendwem erwischt worden, der oder die übernatürliche fähigkeiten anwenden kann. Ob aus der Hölle oder vom Mars ist hierbei total egal", schickte Ibrahim zurück. "Aber damit du beruhigt bist. Hier eine schöne lange Nummer mit grüßen nach Zürich. Was drauf ist gehört dir. Sieh zu, dass du noch genug Zeit hast, um das auszugeben!" textete Ibrahim und tippte mit großem Unbehagen die Nummer eines seiner vier schweizer Bankkonten ein. Da waren gerade sieben Millionen Dollar drauf. Sollte Hamir zusehen, was er noch damit machen konnte. Ihm war klar, dass er gerade auf einer sehr kurzen Abschussliste gelandet war. Er hatte zwar Feinde in Ägypten, Marokko und Tunesien, ja auch beim israelischen Mossad. Doch die alle stanken gegen diese Macht ab, die den Bus und seine Insassen gekapert und seine Huren einfach so umgebracht hatte. Er ging keiner direkten Auseinandersetzung aus dem Weg. Doch gegen Leute, die mit nach Magie aussehenden Methoden hantierten hatte er doch keine Chance.

"Ali, muss abtauchen. Ich habe mir wohl einen sehr üblen Gegner zugezogen. Hier die Links für die Seiten, wo die Hubschrauberbilder drauf sind", sprach er in den roten Telefonhörer, noch bevor Horus 2 "Jetzt nur noch unsere Leute und zwei Einheiten im Bus. Heh, Moment! Das gibt's nicht!! Einer von meinen Leuten ist in der Luft gerade komplett in einem Feuerball verschwunden, ohne dass ich Geschossspuren auf der Anzeige hatte. Der andere landet gerade. Achtung, eine Wärmeeinheit unvermittelt ohne Bewegungsmuster neben ihm erschienen. Jetzt beide Einheiten von der Anzeige verschwunden!"

"Sie haben Ihre Anweisung! Abdrehen und zurück zur Basis", hörte Ibrahim die Stimme der Bodenleitstelle.

"Befehl verstanden. Ausführung erfolgt!" meldete Horus 2.

"Die haben einen von denen kassiert, Ali. Die werden den verhören. Je nachdem, wie schnell die ihn zum reden kriegen sind die in dem Moment bei mir, wenn die meinen Standort haben. Ich rufe den Fall Tränen des Ra aus, Ali. Danke für deine Hilfe!"

"Moment, was meinst du -?" hörte Ibrahim Ali noch fragen. Doch da legte er schon den Hörer auf. Er ging noch einmal an den Computer und wählte eine vorsorglich installierte Funktion an, die den Rechner in fünf Minuten restlos zerstören sollte. Dann schnappte er sich einen feuerfesten Koffer unter seinem Schreibtisch und eilte nach draußen.

"Musa, den Ferrari vorfahren! Ziel Flughafen!" rief er im Hinausgehen über ein kleines Armbandsprechgerät. Sein Chauffeur bestätigte.

Keine zwei Minuten später jagte ein F-340 mit voller Beschleunigung aus der dreifach gesicherten Garage, in der noch ein Mercedes, ein Cadillac aus den 1950ern und ein verbeulter, mit Rostflecken übersäter VW Passat aus den 1970ern bereitstanden, je danach, wo Ibrahim hinzufahren wünschte.

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"Ibrahim, bist du noch da?" textete Hamir. Er hatte eine Stinkwut auf den und auf die Leute, die seinen Hubschrauber abgeschossen und einen seiner Bodentruppler im Sprung abgefackelt hatten. Es hatte echt so ausgesehen, als sei der Feuerball aus dem Fallschirmspringer heraus entstanden. Das war nie und nimmer eine Rakete oder Leuchtspurgeschosse. "Ich sag's dir im guten, Ibrahim: Meld' dich oder sag' deiner Sterbeversicherung, dass sie bald zahlen darf!" schrieb er und wählte vor betätigung der Eingabetaste noch die provisorische Textfarbe Rot aus. Doch Ibrahim antwortete nicht. Statt dessen meldete die Überwachung der von ihm gepflegten Internetplattform, dass jemand mit einer anderen IP-Adresse sich auf das für Ibrahim freigeschaltete Konto eingewählt hatte. "Okay, du willst also heute noch zu deinen Vorvätern, du Hurenbock", knurrte Hamir. Er griff nach einem schnurlosen Telefon, wählte eine Nummer und gab einen Code für den eingebauten Zerhacker ein. Dann sagte er: "Fahrt zu Ibrahim und buddelt ihn ein, dass den keiner mehr findet!"

"Honorar?" kam die Gegenfrage.

"fünfhundert, weil der Typ bewacht wird. Und wenn ihr den nicht findet, dann fahrt zum Flughafen. Der hat da einen Jet stehen. Wenn der damit weg ist will ich wissen, wohin. Weiteres dann, wenn ich das weiß."

"Geht klar, Sidi", erwiderte die Stimme am anderen Ende der Leitung.

Hamir prüfte noch die Kontonummer. Sie stimmte. Sofort buchte er alles darauf geparkte Geld auf eines seiner Konten in Genf um, wobei er es über zwanzig Zwischenkonten fließen ließ. Als er diesen Schritt getan hatte befahl er seinen Wachleuten, besonders gut aufzupassen und vor allem sämtliche Bewegungsmelder, auch die mit Infrarotlichtschranken, sowie die Selbstschussvorrichtungen an der Begrenzungsmauer und der Außenfassade scharf zu schalten. "Wir könnten Besuch kriegen", begründete er diese Maßnahme. Dann hörte er noch in den Funkverkehr von Horus 2 hinein. Die Maschine war auf der halben Strecke zurück zur Basis, als diese sich nicht mehr meldete. Horus 2 rief immer wieder die Basis an. Doch es erfolgte keine Antwort. Da schaltete sich Hamir in den Funk ein und teilte dem Piloten mit, dass er schleunigst eine Ausweichbasis anzufliegen habe. Deren Koordinaten schickte er per akustischen Datencode ab und bekam die Bestätigung. Ein Anrufversuch bei der Basis schlug fehl. Da war Hamir klar, dass die Basis von Horus 2 und 3 wohl auch erledigt worden war. Am Ende hatte Ibrahim doch noch recht behalten. Wer immer seinen Hubschrauber zerstört hatte hatte von dem Fallschirmspringer erfahren, wo die Heimatbasis lag. Und die feindliche Macht hatte blitzschnell reagiert. Zwischen Horus und der Basis lagen zweihundert Kilometer. Wer in so kurzer Zeit einen so gründlichen Vernichtungsschlag landen konnte musste wirklich albtraumhafte Kräfte oder Technologien haben. Aus seiner Wut wurde unvermittelte Todesangst. Alle aus dem Hubschrauber wussten, wo er wohnte. Am Ende hatte er nur noch eine Minute zu leben. Was tut ein Mensch, der sein Leben nur noch in Minuten zählt? Hamir wusste es nicht. Was er tun konnte hatte er schon veranlasst. Er hatte nur noch eine sichere Zuflucht, in die er sich zurückziehen konnte, seinen Panikraum, eine Mischung aus eigenständig belüftetem Luxuszimmer und Hochsicherheitstresor. Er verriet seinen Wachen nie, wie er diesen Raum öffnen oder wo er ihn finden konnte. Am Ende hatte er noch einen Maulwurf unter seinen Leuten. So sagte er nur, dass er sich jetzt in seine Privatgemächer zurückziehen würde. Danach verschwand er durch einen nur durch seine Handabdrücke bei Körpertemperatur zu öffnende Türen, bis er in einem zehn mal zehn mal drei Meter großen Raum war, in dem ein Bett, ein Plasmafernseher mit angeschlossenem DVD-Spieler, eine Stereoanlage mit vier optimal im Raum verteilten Großboxen, sowie ein für drei Wochen benutzbares Chemieklosett und eine Dusche mit Anschluss an einen unter dem Raum verbauten Wassertank mit zwanzig Kubikmetern Wasser verbunden war. Außerdem war da noch eine randvolle Tiefkühltruhe und eine Mikrowelle. Strom und Frischluft kamen von sicher unter dem Raum versteckten Generatoren und Aufbereitungsanlagen. Doch der Clu war, dass der Raum, kaum dass er ihn von innen verschlossen hatte, wie ein großer Lastenaufzug langsam und beinahe lautlos in die Tiefe glitt. War er mehr als zehn Meter tiefer, würden sich über ihm fünf Meter dicke Stahlbacken zusammenschieben und den Zuweg absperren. Damit der Raum für ihn selbst nicht dadurch zum Gefängnis wurde konnte er durch eine Notschleuse hinter dem Kleiderschrank in einen weiteren Geheimgang tief unter dem Haus entwischen. Wer so mächtig und angefeindet war wie Hamir musste sich viele Fluchtwege offenhalten.

Nachdem er sich zur Beruhigung seiner Seele noch eine DVD über New York vor dem elften September angesehen hatte nahm er eine kurze Dusche und legte sich schlafen.

Er träumte. Er träumte, dass er wieder ein gerade sechzehn Jahre alter Junge war, der mit seinem Vater in einen verschwiegenen Club bei Marakesch einkehrte, der den sprechenden Namen "Einlass ins Glück" trug. Hier, so hatte sein Vater ihm erzählt, sei auch er von seinem Vater in die Freuden und Künste der Männlichkeit eingewiesen worden. Tatsächlich lebte jene Frau noch, die Hamirs Großvater schon bedient hatte. Nur besondere Leute aus hochangesehenen Familien der Magrebstaaten bekamen Zutritt zu diesem Club. Und Hamir erlebte seine allererste körperliche, sinnliche Erfahrung mit einer Frau, einer dunkelhäutigen Schönheit mit langen Beinen, Augen, goldenbraun wie Bernstein und Haaren so rund wie Ringe aus puren Rubinen. Er hatte sie getroffen, als er von einem runden Raum mit nur einer Tür in eine bestimmte Wartestellung gedreht worden war. Als die Tür dann aufgegangen war hatte sie in sündhaft leichter Bekleidung auf einem großen Himmelbett mit hohem, goldbrokatverziertem rubinroten Baldachin gethront, um sich herum mehrere Kissen und keine Bettdecke.

"Willkommen, schöner Jüngling. Ich bin Ilarahati, die nubische Nachtfee, Königin der tausend Freuden und Mutter der Leidenschaft", stellte sie sich mit einer glockenreinen, mittelhohen Stimme vor. Ihre makellos weißen, ebenmäßigen Zähne und ihre beim Sprechen sanft im Mund spielende Zunge betonten die purpurnen Lippen und bildeten einen starken, aber ebenso gekonnten Gegensatz zu ihrer tiefschwarzen Haut. Ihr rosenrotes, schulterfreies, beinloses Seidenkostüm zeigte ihm alles, was ihr Körper aufbot. Sie hätte auch völlig nackt vor ihm sitzen können. Sie lächelte ihn warm an, lockte mit eindeutigen Handbewegungen und Blicken und wiegte sich in den Hüften, ohne aufstehen zu müssen. Sie legte ihre rechte schmale Hand auf den freien Platz neben sich und lud ihn damit ein, sich neben ihr niederzulassen. Ab da begann für Hamir das große Feuerwerk der allerersten Liebesnacht.

Er wusste nicht, ob er das träumte oder wahrhaftig erlebte, was erst mit sanften Berührungen und Liebkosungen begann und in einer nicht bemessenen Zeit zur ungehemmten Leidenschaft entflammte. Doch am Ende war er so erschöpft aber glücklich wie noch nie. Alle Furcht vor dem Körper einer Geliebten, die den Knaben noch umgetrieben haben mochten, war verflogen und einem schier unstillbaren Verlangen gewichen. Die Innigkeit, mit der er mit ihr eins wurde und mit ihr vereint blieb, bis die wonnigen Wallungen der höchsten Lust ihn erschütterten, die vielfalt der möglichen Zusammenkünfte, alles, was er mit seinen Sinnen von ihr wahrnahm berauschte ihn. Als dann, nach nicht gezählten Liebesakten doch die große Erschöpfung über ihn kam hörte er sie noch ein Lied singen, dessen Melodie ihm tief in die Seele drang und dessen Kehrreim sich fest in sein Gedächtnis eingrub:

"Ich bin die eine,
sonst gibt es keine.
Bist ewig mein.
Gib mir dein Leben,
dein ganzes Streben,
nur mir allein!"

Die gewaltige Anstrengung, die Flut von leidenschaftlichen Gefühlen, all das war zu viel für ihn gewesen. Er verlor die Besinnung. Das letzte was er hörte, war das Verklingen jenes zauberhaften Liedes.

Sein voreingestellter Wecker trötete eine digitalisierte Marschmusik herunter, doch Hamir erwachte nicht. Erst als sein Terminplaner auf dem Nachttisch neben ihm mit künstlicher Männerstimme rief: "Es ist elf Uhr, Hamir, du hast in zehn Minuten einen Termin mit Al-Mahadi", erwachte Hamir. Doch irgendwie drehte sich alles um ihn. Sein ganzer Körper fühlte sich bleischwer an, als habe er am Vortag zehn Stunden lang Hochleistungssport getrieben, und in seinem Kopf krochen die Gedanken wie in halbfestem Honig dahin. Nur mühsam bekam er die Augen auf. Dann sah er sich um. Sein Blick war leicht verschwommen. Doch er erkannte, dass er im Panikraum war. Wieso im Panikraum? War er angegriffen worden? Er kämpfte sich mühsam in eine aufrechte Sitzhaltung hoch. Es war, als habe jemand über Nacht die Schwerkraft auf fünffachen Wert angehoben. Er kannte dieses Gefühl der Schwere von Kampfflugzeugen. Immerhin war er als junger Mann Pilot der nicht ganz so ruhmreichen ägyptischen Luftwaffe gewesen und hatte bei jener vermeintlich genialen Handstreichoffensive gegen Israel mitgemischt, die als Yomkipur-Krieg in den Geschichtsbüchern erwähnt wurde. Aber wieso war er jetzt hier? Dann erinnerte er sich an diesen superheftigen Traum und erkannte, dass er trotz all der gekauften und erzwungenen Liebesakte nie so heftig in Wallung geraten war. Er prüfte mit schwerfälligen Handbewegungen, ob neue Bettwäsche fällig war und wunderte sich. Sonst hatte er nach solchen Träumen immer neues Nachtzeug nötig gehabt und auch bei echten Liebesabenteuern immer danach neues Bettzeug aufziehen lassen, meistens von der Frau, mit der er sich so lustvoll ausgetobt hatte. Aber wieso war er in den Panikraum geflüchtet?

"Du hast in neun Minuten einen Termin mit Al-Mahadi!" erinnerte ihn die künstliche Stimme des hochmodernen Terminplaners. Hamir versuchte, aufzustehen. Doch er kam nicht richtig aus dem Bett heraus. Schließlich musste er wie ein Baby über den sündteuren Teppich krabbeln, sich wie ein Kleinkind am Schreibtisch hochziehen und bekam erst nach einer halben Minute schwerfälligen Tastens das Telefon zu fassen. "Sag Mahadi ab! Ich habe gestern wohl zu viel getrunken", sprach er in das Sprechteil, als sein Sicherheitschef sich meldete.

"Al-Mahadi ist schon hier, und der wirkt höchst missgestimmt. Er hat bereits angekündigt, dass er die geschäftliche Beziehung mit dir auf ihre weitere Tragfähigkeit prüfen möchte, wenn du ihm nicht ausreichend begründest, warum du die Lieferungen in den Sudan einstellen willst."

"So darf der mich jedenfalls nicht sehen. Ich muss ja total erledigt aussehen, wie ich mich fühle. Oh, mein Schädel brummt wie ein Bienenstock. Sag ihm, ich hätte angerufen, weil ich gerade in seiner Sache unterwegs sei. Es gäbe da was mit den Zulieferern zu regeln, was ihm und mir wichtig genug sei, dass ich den Termin mit ihm nicht wahrnehmen könne!"

"Verstanden, Hamir", erwiderte Yussuf, Hamirs oberster Sicherheitschef. Dann trennte er die Verbindung.

"Was ist gestern passiert?" fragte Hamir und quälte sich zum Waschbecken in der drei mal drei meter großen Nasszelle hin. Als er in den Spiegel sah erschrak er. Ein kreidebleiches Gesicht mit tiefliegenden, glasigen Augen starrte ihm entgegen. Er sah aus wie sein eigener Geist, wie ein wandelnder Toter. Da wusste er, dass er wohl an diesem Tag nicht mehr aus dem Panikraum heraustreten würde.

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6. Juni 2002 Christlicher Zeitrechnung, später Vormittag

"Mit dem Aufgang der Sonne war die zwischen ihr und dem Söldnerführer und Waffenschieber Hamir geknüpfte Verbindung vollends erwacht. So konnte sie durch seine Augen sehen, mit seinen Ohren hören und seine Gedanken vernehmen. Sie grinste, als sie feststellte, wie er vor sich selbst erschrak und wie sehr er geschwächt war. Die Schwäche würde nur vergehen, wenn er es schaffte, ins Sonnenlicht zu treten. Aber dann würde er nicht mehr er selbst sein. Sie würde ihn steuern wie an einem langen, unsichtbaren Strick und ihn Dinge tun und sagen lassen, die ihm Angst und Abscheu vor sich selbst bereiten würden. Und wenn es abend wurde, würde er vor lauter Sehnsucht nach ihr verzweifeln, wilde Ängste durchleben, bis ihn der Schlaf übermannte. Dann würde sie ihn wieder besuchen, jede Nacht, um ihm am Tag Leid und Widerwillen zu bereiten, ja ihn immer mehr an Körper und Geist zu schwächen, bis er in der letzten von sieben langen Liebesnächten von ihr in einem wahrhaftigen Gnadenakt endgültig einverleibt werden würde. Tja, und wenn es Tag war konnte ihn keiner mit einer auf Feuer und Metall gründenden Waffe töten. Er gehörte ihr.

Sie ärgerte sich allerdings darüber, dass sie sich zu sehr auf Hamir festgelegt hatte. Die erste lange Nacht mit ihm hatte ihr alles enthüllt, was er gegen sie unternommen hatte. Sie hatte ihm dieses Wissen entrissen, so gierig war sie danach. Deshalb wusste er nicht mehr, wieso er in diesen versenkbaren Zufluchtsraum geeilt war. Gerne hätte sie sich diesen Ibrahim auch noch geholt und ihn ebenfalls zu ihrem lohnenden Lebenskraftspender gemacht. Doch der hatte sich sofort nach dem Sehen der in die Ferne übermittelten Bilder von ihren Taten davongemacht. Keiner wusste, wohin. Der einzige, der es wusste mochte der Lenker jenes mit Feuerstrahlen fliegenden Fluggerätes sein, das er besaß. Aber sie hatte Hamir. Und Ibrahim würde sie auch noch finden. Wichtig war ihr, dass er für seine Untaten bezahlen musste, und dass sie bald herausfand, wo ihre wirklich gefährlichen Feinde sich verbargen, die langzähnigen, Blut trinkenden Kinder der Nacht. Sie galt es zu finden und über ihre neuen Pläne auszuforschen.

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7. Juni 2002 gregorianischer Zeitrechnung

Sie war immer noch schön, Eleni Papadakis, die erkaufte Vaterfreude des Fluglinienbesitzers Andronicos Papadakis. Nichts in ihrem makellosen Gesicht mit den mitternachtsblauen Augen verriet, dass in ihren Adern ein anderes Blut floss, das ihren Körper veränderte und sie selbst nach Blut lebender Wesen hungern machte. Dafür sorgte eine dünne, hautfarbene Folie, die Elenis Gesicht und Hände bedeckte. Gerade war John Kellerman, der früher für die Lonestar Airways gearbeitet hatte, aus den Staaten nach Athen gekommen, um ihr zu berichten, wie die Unterhandlungen mit der südamerikanischen Fluglinie Aguila de Sierra Vicente verlaufen waren. Sie fühlte, wie sehr Kellerman sie verachtete. Einer Frau zu unterstehen lag dem Nachfahren einer Pionierfamilie nicht. Aber den würde sie hier und heute noch zu einem sehr fügsamen Erfüllungsgehilfen "umerziehen".

"Die von ASDV Aerovias lehnen Ihr Angebot ab, Ms. Papadakis. Die wollen nichts mit uns Gringos aus dem Norden zu schaffen haben. Außerdem wusste der Vertreter von denen, dass Lone Star von Ihrer Firma geschluckt worden ist. Die lesen in Peru auch das Wallstraßen-Journal. Die meinten, wenn sie ihre Flugzeuge und -plätze veräußern sollen, dann nur direkt an sie. Und Don Diego Marques Vicario, der oberste Geschäftsführer, will das auf oberster Ebene besprechen, also er und Sie, Ma'am."

"Soso, will er das? Ist der nette Señor Marques Vicario sich so sicher, dass ich nicht schon einiges von seinen Flugzeugen habe?" erwiderte Eleni mit ihrer warmen Stimme. Sie lächelte nicht. Seitdem sie Lone Star Airways übernommen hatte war ihr in Gegenwart von Kellerman kein Lächeln mehr entschlüpft. Das verstärkte Kellermans Eindruck, es mit einer eiskalt berechnenden und skrupellosen, ja intriganten Frau zu tun zu haben, die dem auf ihr lastenden Druck offenbar damit locker standhielt.

"Die Linie gehört seiner Familie, und solange die nicht zustimmen darf der keine Verkaufsangebote machen. Abgesehen davon habe ich den Verdacht, dass der seine Firma als Geldwaschmaschine für kriminelle Organisationen nutzt, narcotrafico, entiende?"

"Drogenhandel, John, natürlich. Aber das ist ein Verdacht, besser eine Unterstellung", erwiderte Eleni. Dann schien sie in sich hineinzulauschen. Erst drei Sekunden später sprach sie weiter: "Aber das erklärt, warum die kleine Firma in den letzten zehn Jahren so viele Niederlassungen in Südamerika begründet hat und eine Flotte moderner Frachtjets erwerben konnte. Aber wie gesagt heißt das nur, dass viel Geld hinter denen steht. Wo es herkommt können Sie genausowenig sagen wie ich."

"Jedenfalls lehnen die von ASDV Aerovias jede weitere Verhandlung mit Lone Star ab. Ich habe es schriftlich. Da Sie ja Spanisch können brauchen Sie wohl keine Übersetzung, sofern Ihre umfangreiche Ausbildung Ihnen auch die südamerikanischen Besonderheiten dieser Sprache erschlossen haben", erwiderte Kellerman sehr hart an der Grenze zur Aufsässigkeit.

"Davon dürfen Sie sehr beruhigt ausgehen, John", erwiderte Eleni und nahm die ihr angebotenen Papiere entgegen. Dabei sah sie John tief in die Augen. Dem wurde auf einmal schwindelig. Er meinte, von einem Gefühl totaler Hingezogenheit überflutet zu werden. Dann hörte er ihre Stimme mit den Ohren und irgendwie auch direkt in seinem Kopf:

"Weil du so schön und folgsam meine Anweisungen ausgeführt hast darfst du heute Nacht in meinen Privaträumen schlafen. Vielleicht stimmt es, und die von ASDV hängen am Geldtropf eines Syndikates. Dann könnten sie dir nachstellen. Deshalb bleibst du heute Nacht bei mir."

John verstand nicht, was los war. Er konnte nicht mehr klar denken. Dieses Verlangen, mit dieser eiskalt berechnenden und dabei so sündhaft schön aussehenden Frau eine Nacht in ihren Privatgemächern zu sein regte ihn sehr wohlig an. Eigentlich verabscheute er dieses Frauenzimmer und hätte es lieber auf seine Kündigung angelegt, als sich zu einem herbeibefohlenen Lustknaben von ihr degradieren zu lassen. Doch dieses Wesen da vor ihm wollte er haben und es wollte ihn. Denn jetzt lächelte sie sehr zufrieden, und er konnte sehen, warum sie vorher nicht gelächelt hatte. Doch er konnte sich nicht mehr damit befassen. Sein Verstand zerschmolz im Blick der mitternachtsblauen Augen der Papadakis wie Wachs in der Kerzenflamme. Wie aus seinem Körper herausgehoben hörte er sich selbst antworten:

"Es wird mir eine große Ehre sein, Ms. Papadakis. Ich hoffe, Sie nicht noch einmal zu enttäuschen."

"Das wirst du nicht", sagte sie zuckersüß lächelnd, wobei John die zwei nadelspitzen weißen Eckzähne im Oberkifer nicht störten. "Am Besten gehst du schon mal mit meiner Sicherheitsassistentin Melina nach oben und schläfst auf Vorrat!" säuselte sie leise. Doch in seinem Kopf dröhnte dieser Befehl lange nach wie das Läuten einer großen Glocke innerhalb einer Kathedrale. Er stand auf und sah jetzt erst die in rotes Leder gekleidete Frau mit den gut austrainierten Arm- und Beinmuskeln. Diese war aus einer von ihm offenbar nicht erkannten Geheimtür gekommen und winkte ihm. "Bring ihn gut unter. Wir wollen nicht, dass er zu müde ist", hörte er Eleni zu der anderen sagen.

Wie in Trance folgte er der rotgekleideten Frau durch mehrere gut gesicherte türen in einen verdunkelten Raum mit einem großen Bett. Ohne weitere Anweisung zog er alles aus, was er am Körper trug und nahm den kurzen Schlafanzug, der unter dem Kissen zusammengefaltet lag. Der hatte tatsächlich seine Größe, erkannte Kellerman. Dann sah ihn die Sicherheitsassistentin von Eleni Papadakis an und sagte ihm: "Schlafen Sie gut und ausgiebig, Mr. Kellerman!"

So legte er sich in das große Bett, in dem drei erwachsene Leute Platz und Ruhe finden mochten und fiel sofort in tiefen Schlaf. Als er wieder aufwachte war es vollkommen dunkel. Er fühlte, wie sich neben ihm jemand regte und erschrak. Sein Wille war wieder frei. Er dachte daran, was ihm passiert war und wusste, was noch passieren sollte.

"Du wurdest mir als Normalmensch ein wenig zu ungebärdig, Johnny Baby", hörte er Elenis Stimme neben sich und schoss in aufrechte Haltung. "Aber ich brauche dich noch, weil du die Leute ganz oben bei Lone Star kennst und in meinem Sinne umstimmen sollst, bevor diese Lumpen aus Langley sie mir doch noch abspenstig machen können."

"Vergiss es, Vampirnutte", knurrte John Kellerman aufsässig. Da wischte ihn ein schlanker, nackter arm gegen den Brustkorb und warf ihn so ungestüm auf die Matratze zurück, dass die Federung leise quietschend nachwippte.

"Ich habe beschlossen, dass du ab heute mein Sohn bist, John Kellerman und wie ich unter ihrem Schutz stehen sollst." Er wollte das nicht hören und versuchte noch einmal, sich aufzusetzen, um vom Bett herunterzuspringen. Doch da warf sich dieses unheilvolle Geschöpf, dass er bis zu diesem Tag nur für eine durchtriebene, macht- und Gewinnsüchtige Frau ohne Herz und Gewissen gehalten hatte, mit allem Gewicht auf ihn. Er roch ein dezentes Körperpflegemittel und fühlte, dass sie wohl nichts an hatte. Wollte die ihn erst beschlafen und dann aussaugen? Er kämpfte mit all der Kraft, die er als Freizeitfootballer aufbieten konnte. Doch sie war schneller und stärker als er. Auf einmal hatte er ihre linke Brustwarze im Mund. Reflexartig biss er so kräftig zu, dass es der anderen sicher höllisch weh tun musste. Erst als ihm etwas lauwarmes pulsierend in den Mund spritzte erkannte er die Falle, die sie ihm gestellt hatte. Doch er schaffte es nicht mehr, das Zeug auszuspucken, das ähnlich wie Blut und auch Milch schmeckte. Ein merkwürdiger Rausch, es zu trinken, nmehr davon zu haben, überwältigte ihn gründlicher als die reine Körperkraft der anderen es zuvor geschafft hatte. Er sog gierig ein, was er sich erschlossen hatte. Gleichzeitig fühlte er, wie sie seinen linken Arm nnahm, die teure Armbanduhr davon löste und dann, aus einer seiner rhythmischen Saugbewegungen heraus, kurz und ansatzlos in das Handgelenk biss. Er fühlte, wie nun sie an seiner Hand zu saugen begann. Doch er konnte sich nicht mehr davon freimachen, von ihr zu trinken. Er fühlte, wie sein Blut ihres wurde und ihr aus ihrer Brust quillendes Blut in ihm verschwand. Der Vorgang der Vampirzeugung lief nun unaufhaltsam ab.

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9. Juni 2002

"Sie wissen, dass Lone Star auf Dauer nicht so weitermachen kann, ohne dass wir was machen müssen, Mr. Cummings, sagte der dunkelhaarige Mann im tadellosen Geschäftsleuteanzug. Cummings, pro Forma noch leitender Geschäftsführer von Lone Star Airways, nickte dem Besucher, der ihm keine zwei Minuten vorher einen Ausweis unter die Nase gehalten hatte, der ihn als ranghohen Mitarbeiter einer gewissen Firma aus Langley in Virginia bestätigte.

"Ich will auch wieder zum ursprünglichen Geschäft zurück, Mr. Sandecker. Denken Sie, mir und meinen Parteifreunden gefällt das, dass diese griechische Eisbarbie uns derartig dreist gekapert hat und jetzt nach ihrer Pfeife tanzen lässt?"

"Tja, die gesetze der freien Wirtschaft", feixte der mit Sandecker angesprochene Mann. "Ein Gut, dass wir eigentlich schützen müssen, so mein Amtseid. Aber es gibt leider Situationen, wo heere Ziele durch sich selbst in größte Gefahr geraten können, wenn jemand wie wir nicht korrigierend einschreiten. Nach außen Hin müssen Sie weiterhin für diese Person arbeiten. Allerdings möchten wir, dass Mitarbeiter von uns in Ihre Firma aufgenommen werden und auch in die Gruppe Ihrer Langstreckenpiloten eingegliedert werden, ohne dass Papadakis davon erfährt. Wir müssen wissen, was sie in Afghanistan treibt und inwieweit das unserer Außen- und Sicherheitspolitik gefährden kann."

"Und warum sind Sie jetzt erst gekommen?" knurrte Cummings.

"Weil gute Freunde unseres Präsidenten ihm geraten haben, keinen Unfrieden mit griechischen Staatsbürgern von hohem Rang zu riskieren. Sicher hätte die Regierung die übergewechselten Anteile zurückkaufen können. Doch im Moment ... Aber lassen wir das! Es geht nur darum, dass wir einen lückenlosen Plan erarbeiten, was diese Dame in Afghanistan treibt, wenn sie nicht nur für uns Fracht verlegt."

"Das versteht sich", erwiderte Cummings. Da summte es auf seinem Schreibtisch. Er bediente die über drei Tasten einschaltbare Sprechanlage und rief zurück, dass er gerade wichtigen Besuch habe. Seine Sekretärin, Sarah Goldberg, von den Mitarbeitern liebevoll Goldy genannt, antwortete über die große Boxen der Sprechanlage: "Ihre Anweisungen sind bekannt, Sir. Aber John Kellerman hat gerade angerufen und erwähnt, dass Ms. Papadakis offenbar einen Umbau der Führungsebene plant. Sie hat ihm wohl den Auftrag erteilt, Sie auf mögliche Veränderungen vorzubereiten."

"Ist er noch in Europa?" wollte Cummings wissen.

"Nein, der ist vor einer Minute in den Empfangsraum gekommen."

"Wie bitte?! der hat einfach den Rückflug gemacht, ohne das anzukündigen? Seit wann läuft denn sowas bei uns?" entrüstete sich Cummings. Dann fügte er schnell hinzu: "Ich würde ihn sehr gerne reinlassen. Aber mein Besucher besteht auf diskretion. Sagen Sie Kellerman, der soll im Silbersalon warten, bis ich ihn aufrufen lasse!"

"Nein, das will er nicht. Er besteht auf ein sofortiges Gespräch mit Ihnen, Sir", erwiderte die Sekretärin, deren Arbeitszimmer drei gut verschließbare Türen weiter weg lag. Nur sie und er hatten Zugriff auf die elektronische Sicherheitsschaltung, die die Türen für alle erwünschten Besucher freigab.

"Hat die Frau ihn gef..., ähm, ihm ihre ganz große Gunst erwiesen, dass der auf einmal nicht mehr auf mich hört?" fragte Cummings überaus erbost. "Mein Besucher hat noch nicht alle Punkte seines Anliegens dargelegt und wünscht keine weitere Unterbrechung oder gar Zuhörer. Den kann ich nicht mal eben rausschicken, nur weil einer meiner Mitarbeiter auf einmal ..." Er wollte wohl noch sagen, dass John sich offenbar eine Menge herausnahm, als er das grüne Licht über der Bürotür aufleuchten sah. Das hieß, dass er oder Sarah die Freigabe eingeschaltet hatte. Da der Raum schalldicht und mit modernsten Anti-Abhörvorrichtungen ausgestattet war, konnte Cummings nicht hören, was hinter der Tür vorging. So sagte er noch: "Sarah, ich habe keine Erlaubnis erteilt, ihn zu mir vorzulassen." Er griff schnell unter den Schreibtisch, um die Türfreigabe zu widerrufen. Das gelang ihm auch. Das Licht über der Tür war nun rot. Er stellte es so ein, dass nur noch er die Tür freigeben konnte. Doch dafür war es schon zu spät.

Mit einem Ruckeln an der Tür fing es an. Dann vergingen nur drei Sekunden, bis die Türfüllung mit überlautem Knall herausbrach, und zwei Arme den Rest des Türfutters herausbrachen. Dann sah er seinen Mitarbeiter John Kellerman, der seinen schwarzen Anzug trug, nur ohne den Schlips.

"Howdy, Mr. Cummings!" rief der sich soeben durch die kaputte Tür hereinschwingende in den Raum und sah sofort den Besucher, der Anstalten machte, in seine übergroße rechte Jackettasche zu greifen. "Was Immer Sie da rausziehen wollen sollten Sie besser stecken lassen, Sir. Sonst bringt genau das Sie um."

"John, was erlauben Sie sich und ...?"

"Alles zu seiner Zeit, Mr. Cummings", sagte der Eindringling und sah den Besucher an, der gerade eine kleine schwarze Pistole aus der Tasche freizog, die auf den ersten Blick wie eine harmlose Wasserpistole aussah.

"Wie haben Sie die Tür aufbrechen können. Die kann nur von einem Bulldozer aufgebrochen werden", sagte Cummings. Dann sah er die kleine Plastikpistole in Sandeckers rechter Hand.

"Am besten bleiben Sie da, wo sie Sind und rühren sich keinen Millimeter mehr, Mister!" blaffte Sandecker.

"Sonst passiert was?" hörte er eine Frauenstimme antworten. Jetzt sahen beide, dass eine übertrainierte Frau in roter Lederkleidung hinter John in den Raum drängte. "Aus dem Weg, kleiner Bruder", meinte Cummings sie zischen zu hören. Da erfolgte ein ganz leises Tschiumm, gefolgt von einem dicht an Cummings rechtem Ohr vorbeijagendem Schwirren. Fast im selben Moment tackerte es laut in der Holztäfelung. Holzspäne spritzten in den Raum hinein.

"Netter Versuch", grinste die Frau den Besucher an und öffnete ihren Mund weit genug, dass Sandecker und Cummings die beiden überlangen Eckzähne sehen konnten. Sandecker feuerte noch einmal, versuchte, den offenen Mund zu treffen. Doch die Fremde schlug die Kugel weg wie eine Fliege. Das Geschoss schwirrte wimmernd wie ein besonders schnell geworfener Schraubball beim Baseball und stanzte ein weiteres Loch in die Täfelung. Cummings wollte aufspringen. Da sah er, wie Kellerman, der sich neben ihm postiert hatte, zwei Kontaktlinsen aus den Augen pflückte und ihn unvermittelt anblickte. Cummings verwünschte jetzt den Umstand, dass sein Büro wegen der Sicherheitstechnik kein Fenster hatte, durch das Sonnenlicht hätte dringen können. Doch eine Sekunde später versagte sein Freier Wille. Wie auf seinen Stuhl festgenagelt blickte er Kellerman an, während die Fremde den CIA-Agenten Sandecker mit ihren dunkelgrünen Augen anvisierte. Dieser feuerte noch eine Kugel ab, die diesmal in der Deckenbeleuchtung landete und mit lautem Knall den Deckenfluter erlöschen ließ. Nun war es dunkel, die für diese Wesen bevorzugte Umgebung.

"Da hat uns die Göttin aber wohl gerade noch rechtzeitig hergebeamt, dass wir wohl einen netten Gentleman aus Virginia kennenlernen dürfen, Milena", hörte Cummings Kellerman ganz leise flüstern. Ob die Frau gemeint war und ob sie darauf antwortete bekam er nicht mit. Er saß gebannt auf seinem Stuhl.

"Rick, die Chefin hat beschlossen, dass Sie entweder ganz auf ihre Seite kommen oder in den Ruhestand eintreten. Jedenfalls will sie nicht riskieren, dass von hier aus irgendwelche Schlapphüte ihr die Tour versauen", sagte Kellerman. Deshalb bin ich mit meiner neuen Schwester hergekommen, um das abzusichern." Cummings fühlte, wie seine Bewegungsfreiheit zurückkehrte. Er konnte jetzt auch wieder frei denken. So sagte er trotzig:

"Netter Trick, den Sie und dieses unerwünschte Mannweib da abziehen, John. Aber Ihnen ist klar, dass ich Sie deshalb fristlos feuern werde und Ihnen zudem noch das FBI auf die Bude schicke."

"Soso, das FBI", erwiderte Kellerman mit unüberhörbarer Verachtung in der Stimme. "Wäre eigentlich keine schlechte Idee, wo sie da schon mal wen hatte und gerne wieder welche hätte."

"Wenn hier geschossen wird oder was von der Elektrik ausfällt sind die Sicherheitsleute gleich da", sagte Cummings. Kellerman erwiderte, dass er das wisse. Doch die müssten durch die zweite Tür, die ja aus Panzerstahl war, und die wäre jetzt zu.

"Mr. Sandecker, sind Sie noch da?" fragte er."

"Der antwortet erst, wenn Milena ihm das erlaubt, damit er nicht auf dumme ideen kommt und vielleicht mit einem Geheimsender nach Hilfe ruft", erwiderte Kellerman. "Öhm, und Ihre Browning lassen Sie besser in der Schublade. Ich sehe jede Ihrer Bewegungen, Rick. Es geht meiner Schutzherrin darum, ob Sie auch zu Ihren Gesandten gehören möchten oder lieber sterben. Wenn Sie die Waffe rausnehmen gilt zweites."

"Damit werden Sie nicht durchkommen", knurrte Cummings und lauschte. Eigentlich müsste doch schon längst Gepolter von der stählernen Zwischentür zu hören sein. Außerdem konnte er die Türfreigabe wieder einschalten. So ließ er behutsam seine Hand unter den Schreibtisch gleiten und sah im nächsten Moment eine ganze Galaxie in schmerzhaften Supernovae explodierender Sterne.

Als er wieder zu sich kam pochte es an seiner Schläfe wild und unerträglich. Er lag auf dem Rücken und war mit Kabelbindern an Hand- und Fußgelenken gefesselt.

"Wo bin ich hier, verdammt noch mal!" rief er, als ihm klar wurde, dass er nicht mehr in seinem Büro war.

"Mr. Sandecker und Milena, meine Schwester im Blute haben sie nach Freischaltung der Tür und an den Sicherheitstypen vorbei in den Keller runtergebracht, Rick", sagte Kellerman. Ich habe die ganze Sicherheitsbagage mit meinem Hypnoblick auf Abstand gehalten. Milena ist bei Sandecker und tauscht mit ihm gerade Blut aus, damit er groß und stark und vor allem unserer großen Schutzherrin gewogen wird."

"Sie sind wahnsinnig", schnaubte Cummings.

"Es ist Wahnsinn, einem, den man für wahnsinnig Hält, das ins gesicht zu sagen", erwiderte Kellerman eiskalt. Dann schwieg er einige Sekunden. Dann sagte er sehr überlegen klingend: "Die Pläne sind geändert worden. Nicht ich soll Sie einberufen. Meine neue Mutter macht das selbst. Ein so unbändiger Geist wie Ihrer, Rick, muss von einer sicheren Stelle unterworfen und geführt werden."

"Ich bleibe dabei, dass Sie offenbar dem Wahnsinn verfallen sind, John. Was soll die Nummer mit den Vampirzähnen. Wollen Sie behaupten, Aiolos sei in Wirklichkeit eine Firma von Graf Dracula oder so?"

"Den Grafen gibt es schon seit Jahrhunderten nicht mehr", erwiderte Kellerman. "Unsere Herrin ist die große Mutter der Nachtkinder, die schlafende Göttin. Ich hätte nie gedacht, wie erregend und befriedigend das sein kann, die Blutzeugung zu erleben. Eigentlich sollte ich Sie zu meinem Diener machen, damit Sie und ich für unsere höchste Gesandte weiterarbeiten können. Aber die Gesandte selbst will Sie zu ihrem Sohn der Nacht machen."

"Was immer das für eine Droge ist, die Ihnen dieses Flittchen verabreicht hat, um Sie derart schnell umzupolen ..."

"Das Flittchen überhöre ich jetzt mal, Rick, weil ich wert darauf lege, dass du und ich weiterhin gut miteinander auskommen", sagte unvermittelt eine warme Frauenstimme, die Cummings bisher nur dreimal gehört hatte, erst bei einer Videokonferenz, dann bei der Fusionsversammlung und dann noch mal am Telefon, als es um den Ankauf weiterer Flugzeuge gegangen war. Das war Eleni Papadakis.

"Ach neh, sind Sie mit den anderen rübergeflogen, um mich vom Brett zu nehmen?" fragte er.

"Etwas platt für den obersten Geschäftsführer einer nicht ganz unbedeutenden Frachtflugfirma, aber zutreffend. Ich will haben, dass Sie der schlafenden Göttin und mir als ihrer Stellvertreterin in der Menschenwelt dienen. Weigern Sie sich, wird John Kellerman Ihr Nachfolger. Ich habe beide Szenarien medienwirksam vorbereitet."

"Sie können mich nicht so einfach verschwinden lassen. Nicht im 21. Jahrhundert, nicht nach dem elften September. Und den Herren von der Firma erst recht nicht."

"Der Herr von der Firma wird gerade mein erster Enkel der Nacht, nachdem Milena genug von seinem Blut und er von ihrem Blut zu sich nahm. Ich biete Ihnen an, mein dritter Sohn zu werden und mit mir zusammen das Reich der schlafenden Göttin aufzubauen. Falls nicht werden Sie mir eben nur eine willkommene Stärkung sein."

"Damit ist bestätigt, dass die Kinder von siebzig jahre alten Samenzellen offenbar doch einen Schaden abbekommen, egal wie jung die Mutter ist", erwiderte Cummings darauf. Ein leises Lachen war die Antwort. Dann erhaschte er einen Luftzug. Er versuchte sich loszureißen. Doch dieses verdammte Zeug hielt ihn fest. Dann fühlte er das auf ihn niederdrückende Gewicht und fühlte etwas weiches, rundes an seinem Mund. Er presste Zähne und Lippen fest aufeinander, um es nicht hineingeraten zu lassen. Gleichzeitig kämpfte er gegen seine Fesseln an. Da löste sich die rechte Fessel. Doch kaum war das passiert, hatte ein eisenharter Griff sie umschlossen und riss den Arm nach hinten, hinter Cummings Kopf.

"Die letzte Wahl, Süßer. Genieße mich und dein neues Leben oder verende mit deinem Sturschädel", hörte er Eleni fauchen, bevor er fühlte, wie es wie mit zwei Dolchen zugleich in seine Pulsadern stieß. Doch er weigerte sich. Er stöhnte vor Schmerzen. Doch er blieb standhaft. Er hörte das Saugen und Schmatzen der anderen, die sich wortwörtlich in sein rechtes Handgelenk verbissen hatte. Er fühlte Schmerzen, die ihn aufschreien lassen wollten. Gleichzeitig überkam ihn ein immer stärkeres Schwindelgefühl.

"Wir sehen uns, wenn du zur Hölle fährst", dachte er an die Adresse der anderen. Doch als der Schmerz in seinem Arm zu groß wurde riss er den Mund zum Schrei auf und bekam ihn sofort von der unerbittlich auf ihm lastenden verstopft. Er schnappte zu und fühlte es weich zwischen seinen Zähnen und dann eine lauwarme Flüssigkeit, die ihm in die Kehle rann. Reflexartig schluckte er. Doch das Zeug floss weiter in seinen Mund. Er schluckte mehr und bekam auf einmal regelrechtes verlangen, es in sich einzusaugen, mehr und mehr davon zu trinken. Sein Kampf gegen das ihm von einer eingekerkerten Machthaberin vorbestimmte Schicksal war verloren.

"Fast zu spät", keuchte Eleni, als sie Minuten später von ihrem Opfer und zukünftigem Zögling abließ. "Zwanzig Herzschläge länger und er wäre gestorben. So dauert es jetzt ein wenig länger als bei dir, bis mein Blutanteil in ihm genug Kraft hat, um ihn aufzuwecken."

"Und die sehen keine Bisswunden bei uns?" fragte John. Zur Antwort griff Eleni Papadakis in ihre durch besondere Vorkehrungen gesicherte Handtasche und zog einen schlanken Holzstab heraus. Diesen hielt sie erst an ihre rechte Brust und dann an das noch leicht nachblutende Handgelenk von Rick Cummings. "Die schlafende Göttin hat mir verraten, wie ich einen für Nachtkinder verträglichen Zauber verwenden kann, um Wundmale zu schließen, dass niemand mehr sehen kann, dass wir uns gelabt oder mit anderen die Blutsvereinigung vollzogen haben. Na, denk nicht einmal daran, mir den Stab wegzunehmen. In mir fließt dein Blut und in dir meins. Du würdest jeden Versuch, mich zu bestehlen mit grausamen Körper- und Seelenschmerzen bezahlen. Abgesehen davon, dass die schlafende Göttin dich dann zu sich ruft und in sich einverleibt, auf dass du in ihr zerfließt."

"Dann brauchen wir die Geschichte mit dem plötzlichen Herztod nicht rumzureichen", sagte Kellerman etwas betrübt, wohl weil er nicht der Nachfolger von Cummings werden würde. Das erkannte Eleni und grinste ihn an: "Du wirst der Filialleiter von unserer Firma in Virginia. Ich habe beschlossen, den Herren in Langley entgegenzukommen und denen zu liebe noch eine Niederlassung von Lone Star dort gründen zu lassen. Jetzt, wo Cummings doch noch erkannt hat, dass er unter meiner Führung besser lebt als als blutleere Leiche zu vergammeln, wird er natürlich mit diesem Mr. Sandecker sehr gute Konditionen aushandeln." Die beiden lachten darüber, während in Rick Cummings Körper der Vampirkeim die letzte und unumkehrbare Verwandlung vollzog.

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12. Juni 2002, 16:24 Uhr Ortszeit

Hamir stierte entgeistert auf den Körper des kleinen Jungen, der vor ihm auf dem Boden lag. Wieder hatte er es getan. Seitdem er herausgefunden hatte, dass er durch Sonnenstrahlung diese totale Erschöpfung überwinden und wieder normal aussehen konnte, hatte er als rastloser Mensch an hellichtem Tag die Straßen von Kairo unsicher gemacht. Wie unter einem unhörbarem Befehl war er durch die Hurenviertel gezogen und hatte die dort anschaffenden Frauenzimmer vergewaltigt und anschließend regelrecht ausgeweidet. Er hatte nichts dagegen tun können, ja sogar das Blut von der Klinge seines Stiletts abgeleckt, als wäre er ein verdammter Vampir oder sowas. Und dann hatte er angefangen, kleinen Jungen nachzustellen, sie niederzuschlagen und mit seinem Wagen in die Wüste zu verschleppen, wo er sich an ihnen verging, um sie dann mit Draht zu erwürgen, wobei es ihm noch einmal geschlechtliche Befriedigung verschafft hatte, ihre hervortretenden Augen anzusehen und ihre kleinen Zungen immer blauer anlaufen zu sehen. Jetzt hatte er den vierten Jungen umgebracht und sich an seinem grausamen Ende berauscht und befriedigt. Doch dieser Junge war der Sohn reicher Leute gewesen, und die hatten ihm die halbe Polizei von Kairo auf den Hals gehetzt.

Gerade als Hamir sich erhob, um von diesem geisteskranken Zwang befreit in sein Haus zurückzukehren hielten vier silberne Sportwagen neben seinem dunkelblauen Mercedes. Aus jedem sprangen drei Männer mit gezogenen Waffen.

"Wo ist Ismael, du Schweinefresser?" wollte einer der dunkelgekleideten Männer wissen.

"Der Kleine ist tot", stieß Hamir aus, der nun wieder diesen unerträglichen Reueanfall hatte. Jedesmal, wenn er erkannte, welches Verbrechen er wieder begangen hatte, hatte er reuevoll geweint und geschluchzt. Er hatte sogar versucht, sich das Leben zu nehmen. Doch kein Messer, kein Gift und selbst kein elektrischer Schlag hatte ihm etwas anhaben können. Als er versucht hatte, sich zu erhängen war die Schlinge um seinen Hals rauchend durchgebrannt und gerissen.

"Bringen wir ihn nach Hause. Soll der Herr sagen, wie dieses Ungeheuer sterben soll."

"Fahr du selbst zur Hölle, damit wir uns da wiedersehen", heulte Hamir und ärgerte sich, derartig aufzutreten. Er sprang vor. Da eröffneten die Fremden das Feuer aus ihren Pistolen. Doch die Kugeln klatschten wirkungslos von ihm ab und trafen ihre Absender selbst in Kopf oder Schultern. Hamir lachte und schlug einem, der noch stehen konnte, mit solcher Wucht auf den Kopf, dass er liegen blieb. Dann ging er zu den Autos, öffnete die Tanks und riss sich von seinem Hemd lange Streifen ab, die er in das Benzin tunkte. Als die Streifen vollkommen getränkt waren ließ er sie weit genug aus den Tanks herausbaumeln und zündete sie an. Dann sprang er in sein Auto und fuhr los. Dreißig Sekunden später explodierten die Wagen der Angreifer.

Am Abend dieses 11. Juni lag er wieder in seinem Panikraum. Er fühlte, dass er heute wohl seinen letzten Tag erlebt hatte. Der Sheitan selbst musste ihn verflucht haben. Doch er konnte ihm nicht widerstehen. Seine Tochter war zu schön und zu kundig, um nicht beachtet zu werden. Er verzehrte sich nach ihrer Liebe, nach wahrer, inniger Leidenschaft, die der Tod von unzähligen Huren und kleinen Jungen nie wirklich entfachen konnte. Dann kam der Schlaf und mit ihm seine Traumgeliebte, die ihn jede Nacht besuchte, jene dunkelhäutige Schönheit mit den rubinroten Haaren. Doch diesmal blieb es nicht bei einer leidenschaftlichen Liebesnacht. Diesmal wuchs sie über ihm immer mehr an. Er fühlte, wie er in einem unsichtbaren Feuer aus Schmerzen verbrannte, schrie seine Pein hinaus und fühlte, wie ein Sog seinen dem Körper entrissenen Geist auf den hausgroßen Unterleib der bisher so willigen und kundigen Nachtgespielin zutrieb. Er versuchte noch zu strampeln, rief um Gnade. Doch da war er schon in den schier unergründlichen Tiefen ihres Schoßes verschwunden.

Tarlahilia fühlte, wie die von dunklen Taten durchsetzte und nur durch losen Zusammenhalt bestehende Seele Hamirs in ihr aufging, regelrecht ihre inneren Organe durchflutete. Sie sah auf den auf dem Bett liegenden Körper, der gerade sein Leben ausgehaucht hatte und schrie die sie überkommende Lust hinaus in den zehn mal zehn meter großen Raum.

Als sie sich wieder beruhigte vernahm sie mit ihren besondren Sinnen, wie weit über ihr das Haus gestürmt wurde. Man hatte doch herausgefunden, wo der Schlächter von Kairo, wie die Zeitungen ihn genannt hatten, wohnte. Die Männer da oben und die Schutzvorrichtungen wehrten zwar den ersten kleinen Ansturm ab. Doch dann kamen gleich drei Hundertschaften. "Hast du gut hingekriegt, Hamir. Aber jetzt hast du deine Ruhe. Danke für deine herrliche Lebenskraft", grinste Tarlahilia und strich sich über ihren Bauch und ihr Geschlecht. Dann verschwand sie übergangs- und lautlos. Derweil tobte über ihr die letzte große Schlacht um Hamirs Haus.

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20. Juni 2002

Aldous genoss die wohltuende Dunkelheit. Seine unheimliche Schattenmutter war mit ihm in dieses unterirdische Höhlensystem irgendwo auf der Welt eingetaucht, um ihm zu zeigen, wie er die in ihrem Leib erhaltenen Fähigkeiten anwenden konnte. "Fühle die Dunkelheit, wie sie dich durchdringt. Atme sie ein und schmecke sie. Dann kannst du dich in die stofflose Form verwandeln", hörte er die Stimme der Schattenfrau, die doppelt so groß wie er selbst war. Da er auch bei vollkommener Dunkelheit alles wie am Tage sehen konnte nahm er jede Einzelheit von ihr wahr. Er konzentrierte sich, fühlte wahrhaftig die Kraft, die nur bei abwesendem Licht wirken konnte, sog mit der Luft auch die Lichtlosigkeit dieses Ortes in sich ein, meinte, einen süß-sauren Geschmack auf der Zunge zu haben wie bei chinesischem Essen und empfand eine unglaubliche Sättigung. Dann fühlte er, wie etwas in ihm prickelte. Dann ruckelte es. Er meinte, sein eigener Herzschlag würde ihn auf- und wieder abpumpen. Diese Empfindung wurde zur Qual. Die in ihn einströmende Dunkelheit blähte ihn regelrecht auf. Er meinte, seine Eingeweide durch die Bauchdecke drücken zu fühlen. Dann waren die Schmerzen zu groß. Er schrie nur noch. Da huschte die Schattenfrau auf ihn zu, umschlang ihn und drückte ihn mit dem Mund gegen ihre rechte Brust. "So musst du auch davon noch trinken, um ganz gerüstet zu sein", seufzte sie, während er begierig die kühlende, prickelnde Essenz aus ihrem feinstofflichen Körper in sich einsaugte. Die qualvollen Blähungen ebbten ab. Er fühlte sich nun wieder stark und unbeschwert. Als er absetzen wollte hielt sie ihn jedoch fest. "Alles. Ich lasse nicht zu, dass du nur halb gestärkt bist", schnarrte die übergroße Schattenfrau.

Eine unbestimmte Zeit später kam von ihr nichts mehr, das er in sich aufnehmen konnte. Er kam frei und fühlte sofort die wohltuende Kraft der Dunkelheit. Er dachte daran, leicht und flüchtig zu werden, leise und ohne Spuren zu hinterlassen durch die Gegend zu laufen, zu fliegen. Da durchfuhr ihn ein kurzer, warmer Schauer, und er fühlte sein Gewicht nicht mehr. "Gut, deine Körperwärme ist weg und ich fühle, du bist wieder in meiner Form", freute sich die Schattenfrau. "Gewöhne dich daran und lerne, dich in dieser Form zu bewegen. Keine Furcht! Hier herein fällt kein Licht."

"Ui, ist ja voll krass, als wäre ich auf einem Drogentrip oder sowas. Muss ich jetzt immer an dir nuckeln, um das zu haben?" fragte Aldous Crowne und wunderte sich kein Stück, dass seine Stimme sphärisch wie aus weiter Ferne widerhallend klang.

"Nein, die zwei Gaben von mir sind das, was du nötig hattest. Ich vergaß, dass es mit der Anpassung an die widerliche Welt der Lichter und Wärme nicht getan ist. Jetzt bist du ganz und gar als mein Kind und von mir entwöhnt und lebensfähig. Nur wenn du dich einmal im Licht oder im Kampf gegen Wesen, die wie wir sind verausgabst darf ich dich nähren, um dich wieder zu erstarken. Doch so wie du bist bist du schon stark. Ich merke zwar, dass unser Erzfeind gerade nicht wirklich wach ist. Aber er ringt darum, wieder zu erwachen. Jemand muss ihm sehr stark zugesetzt und seine Gedanken verlangsamt und seine Nahrung verdorben haben. Doch er wacht langsam wieder auf."

"Kanoras?" fragte Aldous. Zur Bestätigung wiederholte seine Schattenmutter diesen Namen. Dann fuhr sie mit den Unterweisungen fort, die mehrere Erdumdrehungen andauern sollten, bis er fähig genug war, in die Menschenwelt zurückgelassen zu werden.

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21. Juni 2002

"Flugkapitän Karl Meister erhob sich aus dem linken Sessel im Cockpit. Sein Kollege Arnulf Dessauer hatte gerade die für den Stimmenrekorder nötige Ablöseformel gesprochen. Der Copilot Keno Hansen überwachte den Funk und die Arbeit des Autopiloten, jederzeit bereit, auf Anweisungen der Fluglotsen den Kurs zu ändern. "Ablösung vollzogen um zwölfhundertdreiundzwanzig Bordzeit", sagte Dessauer. Meister bestätigte es und nahm im Reservesessel Platz.

"Schlaf gut, Karl. Ich weck dich, wenn wir tanken müssen", sagte Dessauer.

Also erst in Mumbai", erwiderte Meister und grinste seinen ranggleichen Kollegen an. Dann lehnte er sich zurück und blickte noch einmal durch eines der Cockpitfenster. Da meinte er, seine ermüdeten Augen spielten ihm einen Streich. Denn er glaubte, eine Frau in einem hautengen, himmelblauen Anzug auf einem fliegenden Besen zu sehen, wie eine Hexe aus dem Märchenbuch, nur nicht mit Kopftuch, sondern einer silbernen Kapuze. Dessauer machte wohl gerade die Instrumentenprüfung, um Fluglage, Höhe, Geschwindigkeit und Treibstoff zu ermitteln. Meister fragte sich, ob er seine Beobachtung weitergeben sollte, damit sie auf dem Stimmenrekorder festgehalten wurde. Da verschwand die Erscheinung von einem zum anderen Augenblick. Er atmete durch. Dann war das wohl doch eine Einbildung. Sowas durfte ihm als erfahrenen Flugkapitän nicht passieren. Deshalb sollte er es auch besser keinem auf die Nase binden, solange die zwei Kollegen nicht auch diese in großer Höhe fliegende Hexe gesehen hatten. Doch das hatten sie offenbar nicht. Denn sie sahen nur auf die Anzeigen der Instrumente und tauschten die für den Flugbetrieb nötigen Mitteilungen aus. So zog Karl Meister sich die Schlafmaske über die Augen und klappte die dick gepolsterten Ohrenschützer nach unten, um einen Großteil der Geräusche auszusperren. Jetzt konnte er in Ruhe bis zum Schichtwechsel schlafen.

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Sie hatte das laute Fauchen schon gehört, als sie gerade im Sinkflug aus zwanzig Kilometer Höhe begriffen war. Ein schneller Blick nach hinten hatte ihr den heranjagenden Großraumflugapparat offenbart, dessen Flugbahn sie gerade zu kreuzen drohte. Sie packte das vordere Ende des Besens und dachte konzentriert "Spring zwanzig!" Der Besen ruckte nach vorne. Unvermittelt änderte sich die Umgebung. Der gerade noch mit immer lauter heulenden Triebwerken heranjagende Flugapparat war weg, und die Berghänge, die sie gerade ansteuern wollte, lagen weit rechts hinter ihr gerade noch über dem Horizont. Anthelia/Naaneavargia verfluchte diese magielosen Flugmaschinen einmal mehr. Nicht nur, dass die Magieunfähigen meinten, damit unumschränkte Herrscher der Luft zu sein und einfach so hinfliegen zu können wo sie hin wollten, sondern auch weil diese stählernen Riesenvögel eine Menge Brennstoff verheizten, dessen giftige Rückstände die Luft verpesteten. Immerhin hatte sie sich von der Maschine abgesetzt. Hoffentlich kam der Lenker dieses Ungetüms nicht darauf, seinem Heimathafen von dieser beinahen Kollision zu berichten. Es musste keiner wissen, dass sie gerade in Mesopotamien unterwegs war. Fehlte noch, dass die arabischen Zauberer oder die abendländischen Zaubereiministerien auf die Idee kamen, dass eine Hexe im mittleren Osten unterwegs war. Die würden sofort an sie denken.

Außer ihren unmittelbaren Vertrauten Izanami Kanisaga, Louisette Richelieu und Romina Hamton wusste niemand, dass sie heute auf einem Berg im Nordirak jene legendären Hexen treffen würde, die wie damals Sardonias treue Schwestern auf eine Überwindung der Vorherrschaft der Zauberer hinarbeiteten. Anders als rigorose Eroberung und Lenkung nutzten die Töchter des grünen Mondes eher die Mittel der Heimlichkeit und ihre körperlichen Fähigkeiten, um sich langsam aber sicher an dieses Ziel heranzutasten.

Anthelia wendete den Besen und stieg im Rosselini-Raketenaufstieg nach oben. Sie musste zu den Bergen zurück. Dabei überflog sie jenen Flugapparat, der ihr fast in den Besenschweif hineingefaucht wäre, in mehr als vier Kilometern höhe. Dann näherte sie sich dem angezielten Berg. Anstatt im flachen Sinkflug darauf zuzugleiten stieß sie greifvogelartig nach unten, dabei mit der Besenstielspitze auf einen bestimmten Berg zielend. Sie wusste, dass sie den für die Töchter des grünen Mondes heiligen Versammlungsberg nicht direkt betreten durfte. Doch als Landeausrichtungshilfe diente er sehr gut.

Als Anthelia nur noch eintausend Meter über dem kargen Boden flog brach sie den halsbrecherischen Sturzflug ab und umflog den Berg in weitem Bogen. Dann sah sie die Stelle, an der sie landen und warten sollte. auf dem Boden lag ein kreisrunder Felsbrocken mit fünf höckerartigen Erhebungen, die beinahe die Würfelzahl Fünf darstellten. Das war das mit Dschamila verabredete Landezeichen.

In einer engen Schleife bremste Anthelia den restlichen Flug des Besens und landete östlich des runden Felsens. Leise knirschend bekamen ihre profilstarken Reisestiefel Bodenkontakt. Anthelia klappte die Kapuze für die Kopfblasenbezauberung zurück und atmete die nicht so heiße aber staubtrockene Luft dieser Gegend ein. Sie fühlte die Verbundenheit mit der Erde wieder, deren Anvertraute Naaneavargia war. Mittlerweile, vor allem, weil sie viele der alten Zauber wieder ausgeführt hatte, konnte sie auch in ihrem neuen Körper die unterschwelligen Kräfte schlummern fühlen, die in der Erde wirkten oder harrten. Ebenso konnte sie mit dem den Erd- und Luftmagiern ermöglichten Richtungssinnzauber erfassen, wo jener Aufstieg liegen musste, den nur die geladenen Gäste der grünen Mutter betreten durften. Zauberer oder unerwünschte Hexen wurden zu Stein, wenn sie es wagten, ohne diese Erlaubnis den Berg zu betreten. Magielose empfanden große Verunsicherung, die sie zurücktrieb. Jetzt hieß es abwarten, bis der Mond aufging, das Gestirn der Töchter des grünen Mondes.

Anthelia/naaneavargia nutzte die Zeit bis dahin mit Essen und Trinken. Zwar fühlte sie auch wieder jenes fordernde Verlangen ihres Unterleibes nach geschlechtlicher Befriedigung. Doch sie würde dieses Bedürfnis verdrängen, bis sie wusste, ob sie rein formell in die Reihen der grünen Mondtöchter aufgenommen würde oder nicht. Allerdings musste sie dabei einmal mehr an ihren Retter und Befreier denken, der ihr in doppelter Hinsicht das Weiterleben und die Freiheit ermöglicht hatte. hatte Naaneavargias im Reigen der Altmeister bewahrten Vater dem Jungen gesagt, welchen Preis er für das Wissen um die Kräfte der großen Mutter würde zahlen müssen? Sicher würden Agolar und seine ebenfalls zum gläsernen Konzil von Khalakatan gehörende Mutter darauf bestehen, dass er sich ihrem Orden der Erde anschloss. Einfach so mächtige Zauber aller Elemente zu erlernen und anzuwenden gehörte sich im alten Reich nicht. Anders als in der heutigen Zaubererwelt wurde dort spätestens mit Erlangen der Fortpflanzungsreife festgelegt, in welche Richtung sich jemand weiterbilden und auszeichnen sollte. Vielleicht dachte ihr Retter ahnungslos daran, sich von jeder Richtung starke Zauber beibringen zu lassen. Sicher, wenn die auf Frieden um jeden Preis und Zuneigung ohne Vorbehalte ausgehenden Lichtanbeter um Darxandria ihn schon für ihre Richtung gesichert hatten würde es schwer sein, ihm beizubringen, dass er sich für die Kräfte der Erde entscheiden musste. Aber wer das Lied der Gnade lernte und vielleicht noch einige Sachen mehr, die der junge Zauberer ihr noch nicht vorgeführt hatte, dann würde er sich entscheiden müssen, ob er nur den Lichtfolgern oder nur den Erdvertrauten zugehören wollte. Das hieß nicht, dass er dann alles andere erlernte vergessen oder unterlassen musste. Sie dachte wieder daran, dass damals, wo noch nicht bekannt war, dass sie worthafte Gedanken wie laut ausgesprochene Worte hören konnte überlegt hatten, ob ihre Unersättlichkeit von ihrer Vatermutter ererbt war. Falls er sich wirklich darauf einlassen musste, den eingliederungsakt für die Erdvertrauten zu durchlaufen, dann kam er vielleicht nicht darum herum, sie, die einzig noch lebende Vertraute der Erde und damit Einberufungsberechtigte zu bitten, ihn zu prüfen und in die Reihen der Erdvertrauten einzuschwören. Dies würde sie dann mit dem allergrößten Vergnügen tun und ihm damit zeigen, wie richtig es war, Naaneavargia aus ihrem Kerker zu befreien und Anthelia vor der schmachvollen Wiedergeburt als Daianiras Tochter oder dem grausamen Tod der Strahlenverseuchung zu erretten.

Um die noch fehlenden vier Stunden bis zum Mondaufgang nicht gelangweilt herumsitzen zu müssen benutzte Anthelia/Naaneavargia den Zauber der befristeten Verlangsamung und verzögerte ihre Wahrnehmungs- und Körperfunktionsgeschwindigkeit auf ein Hundertstel. So konnte sie die Sonne in einem irrwitzigen Tempo hinter den Bergen hinuntersacken sehen und wie das Tagesgestirn wie eine erlöschende Kerzenflamme hinter dem westlichsten Bergrücken verschwand. Für sie nur eine halbe Minute lang glomm noch die Abenddämmerung. Dann war es dunkel. Hier im trockenen und von aller Menschensiedlung weit entfernten Gegend offenbarte sich nun ein grandioser Sternenhimmel. Der Eigenzeitverzögerungszauber verflog, Anthelia kehrte in die natürliche Wahrnehmung zurück. Sie sah nun, wie ein silbriger Schimmer über die östlichen Bergspitzen strich, der immer heller wurde, bis der obere rand des Mondes über den Gipfel lugte. Langsam schob sich der Erdbegleiter höher hinauf, bis er wie auf dem Berg thronend auf dem Gipfel stand. Dies war die Stunde der Verabredung.

Anthelia vernahm die frei schwebenden Gedanken einer Frau in großer Höhe. Sie erkannte die Schwingungen als die Dschamilas. Sie saß auf einem fliegenden Teppich und war leicht angespannt, weil sie die Bittstellerin der grünen Mutter abholen sollte und nicht wusste, wie die beiden miteinander zurechtkommen würden. Anthelia/Naaneavargia verzog erst das Gesicht, weil sie eindeutig als Bittstellerin bezeichnet worden war. Doch wenn sie es sich recht überlegte war sie das schlussendlich auch. Sie selbst würde ja jede andere Hexe, die in ihren Orden eintreten wollte, als Bittstellerin ansehen.

Dschamila landete behutsam. Anthelia erfuhr dabei auch, dass ihr Vorhaben geklappt hatte, von Kadir ein Kind empfangen zu haben. Deshalb würde sie bis ein halbes Jahr nach dessen Geburt wohl nicht mehr in Katzengestalt herumlaufen.

"Friede und Freundschaft, Schwester im Geiste der Freiheit!" begrüßte Dschamila Anthelia auf Arabisch. Diese verneigte sich kurz und bekundete ihren Dank, dass Dschamila gekommen war. Nachdem alle Freundlichkeiten und Respektsbekundungen ausgetauscht waren wurde Anthelia gebeten, sich zu Dschamila auf den Flugteppich zu setzen. Den besen sollte sie hier zurücklassen. Anthelia belegte die Schnur, mit der der Besenschweif zusammengebunden wurde, mit dem Diebstahlschutzzauber und ließ den Besen dann ordentlich verschnürt zurück.

Mit dem fliegenden Teppich ging es zum Fuße des Berges, auf dessen Gipfel gerade das Mondlicht fiel. Anthelia erinnerte sich daran, dass fünfzig Kilometer weiter westlich jener Berg lag, auf dem die Schwestern des grünen Mondes ihre Hochzeiten abhielten, wenn sie nicht in den Schlafzimmern der von ihnen erwählten Jünglinge die Ehe vollzogen. Sie fühlte bei der Annäherung die starke Aura einer im Berg ruhenden Magie. So ähnlich war auch der rote Berg Uluru in Australien beschaffen, aus dessen Höhlen Naaneavargia befreit worden war. Sicher hatten die Töchter des grünen Mondes hier auch mächtige Erdzauber verwendet. Das imponierte ihr. Am Ende lag unter dem Berg eine Stadt oder Festung, unerreichbar für unerwünschte.

Der Teppich landete vor einer sich in Haarnadelkurven nach oben schlängelnden Treppe. An deren Fuß holte Dschamila einen Ring aus Silber aus ihrem Gewand. Der Ring trug eine Halbkugel aus Mondstein, der im Licht seines Namensgebers bläulich-weiß funkelte. "Streife diesen Ring über, der mit Blut und Wort der grünen Mutter gesegnet wurde, damit er jene hinaufgeleite, die ihr willkommen ist! Schreite alle hundert mal hundert Stufen auf menschlichen Füßen und ohne Zuhilfenahme bezauberter Fluggeräte hinauf! Erreichst du den obersten Absatz, ohne ermüdet zu sein, so hast du dem Berg deine Anerkennung bekundet, und du darfst vor den Rat der Zwölf, dem die grüne Mutter vorsteht. Nur diese darf und wird sich dir mit Namen vorstellen. Ich darf nicht näher als zwanzig Schritte von dir entfernt sein. Da ich jedoch wegen meiner Leibesfrucht nicht mehr große Belastungen ertragen darf werde ich zwanzig Schritte über dir auf dem Teppich fliegen. Ich wünsche dir einen erfolgreichen Aufstieg, Schwester!"

"Ich danke dir, dass du mich mit dieser Anrede bereits als eine der Deinen erkennst. Doch ob ich auch ganz ordentlich eurem erhabenen Bund beitreten darf liegt im Ermessen der grünen Mutter", sagte Anthelia/Naaneavargia. Dann trat sie von dem Teppich herunter und betrat die erste von hundert mal hundert Treppenstufen. Wie lange würde der Aufstieg dauern?

Als Anthelia die Stufe betrat, erwärmte sich der Ring an ihrer rechten Hand. Sie hoffte, dass er nicht heiß werden und ihr die Hand oder gar den ganzen Körper verbrennen mochte. Als sie die ersten zehn Stufen geschafft hatte sah sie links von sich den ersten versteinerten Körper eines Zauberers, eines kleinen dicken Mannes, der in der letzten Hoffnung seinem Schicksal entgehen zu können den Zauberstab nach unten hielt und mitten in der Ausführung einer magischen Geste erstarrt war. Fünf Stufen weiter konnte Anthelia eine spindeldürre Hexe mit weit ausladenden Brüsten erkennen, die offenbar ohne jede Kleidung am Leib diese magische Treppe hinaufsteigen wollte. Warum sie abgelehnt und zum Dasein als Statue verdammt worden war wusste Anthelia nicht. Doch etwas fiel ihr auf, wohl weil sie eine geborene Gedankenhörerin war: In den erstarrten Körpern regten sich immer noch gedanken, zwar um ein vielfaches verlangsamt, aber deutlich als Geistesregungen verspürbar. Anthelia/Naaneavargia war sich nun sicher, mit einem ähnlichen Zauber zu tun zu haben, wie er im Leib der schlafenden Schlange gewirkt hatte. Es würde ihr also nicht schwerrfallen, die Gebannten freizuzaubern, falls dazu die Notwendigkeit bestand. Vorerst nahm sie es hin, dass die Versteinerten ihr Schicksal selbst so gewählt hatten.

Anthelia fühlte sich trotz nun über eintausend erstiegener Stufen immer noch munter. Das lag auch daran, dass sie sich in weiser Voraussicht mit dem reinen Geisteszauber zur Erneuerung der Kräfte aus der Erde in unerschöpflicher Ausdauer hielt. Auch die den Berg umkleidende Magie wurde davon nicht beeindrächtigt. Der Ring, der sozusagen die Zutrittserlaubnis war, pulsierte warm und ruhig, lag aber etwas enger an ihrem rechten Ringfinger als beim Überstreifen. Anthelia war sich klar, dass sie den Ring nicht mehr aus eigener Kraft vom Finger lösen konnte. Womöglich blockierte er auch jede Form der Selbstverwandlung. Versteinerte hatte sie seit Stufe fünfhundert keine mehr gesehen. offenbar lag es auch an der eigenen Verwandlungswiderstandskraft der Gebannten, wann sie der Bestrafung anheim fielen. Anthelia wandte sich nach rechts, um parallel zu den gerade erklommenen fünfhundert Stufen die nächsten Stufen hinaufzusteigen. Es fehlten ja noch neuntausend bis zum Ziel.

Anthelia dachte nicht über die Zeit nach, sondern stieg die Serpentinentreppen immer weiter nach oben. Der von ihr getragene Ring lag immer noch eng und eigene Wärme abstrahlend an ihrem Finger. Sie erreichte gerade die sechstausendste Stufe, als vor ihr eine weitere Statue auftauchte, ein geflügeltes Pferd mit einem in Plattenrüstung steckenden Reiter darauf. Auch von diesem Standbild wehten ihr stark verzögerte Gedankenbruchstücke entgegen. Offenbar hatte da jemand ganz schlau sein wollen und gemeint, auf den Berg hinauffliegen zu können. Doch was immer es war, das Pferd hatte landen müssen und stand nun starr da, dazu verdammt, seinen Vorwitzigen Reiter für den Rest der Ewigkeit tragen zu müssen.

"Das war ein Krieger des Perserkönigs Xerxes, aussgestattet mit fliegendem Ross und einer Rüstung, die scheinbar alles Zauberwerk zurückprellen sollte", hörte Anthelia Dschamilas Stimme von weiter über sich rufen. Anthelia nickte dem versteinerten Reiter zu und setzte ihren Weg fort.

Als sie die letzten Tausend Stufen vor sich hatte sah sie bereits das Plateau, auf dem ein großer steinerner Tisch stand, um den herum hochlehnige Stühle aufgestellt waren. Anthelia beschleunigte ihren Aufstieg, ohne Ermüdung zu fühlen. Gleichzeitig fühlte sie, wie etwas nach ihrem Geist zu tasten versuchte. Sie wollte gerade den Zauber der inneren Festung in ihrem Geist aussprechen, als ihr durch den Ring ein schmerzhafter Energiestoß durch den Arm in den Kopf jagte und dieses Vorhaben vereitelte. Jedesmal, wenn sie versuchte, sich gegen die nach ihr tastenden Geistesforschungszauber auszusperren erhielt sie eine derartige schmerzhafte Abmahnung.

"Versuche nicht, den Wunsch nach Enthüllung des inneren zu verwehren, Schwester. Wenn du das zwölfte Mal versuchst, dich dagegen zu stemmen wird der Ring von deiner Hand rutschen und du wirst als Unerwünschte bestimmt und wirst dann mit dem Berg vereint bleiben, solange Sonne und Mond ihre Bahnen um die Erde ziehen."

"Warnung verstanden", erwiderte Anthelia leicht missgestimmt. Doch dann dachte sie daran, dass sie sich gegen jede Art Versteinerungszauber abschirmen konnte. Doch sie wollte es nicht darauf anlegen, sich vollends den Unmut der grünen Mondschwestern zuzuziehen, nicht wo sie so nahe davor war, mit ihnen zu sprechen.

Als sie das Plateau erreichte kühlte sich der Ring an ihrer rechten Hand ab. Doch er saß nun noch enger an ihrem Finger, dass er eine regelrechte Vertiefung hineindrückte. Anthelia fühlte die nach ihr tastenden Geisteszauber und wich ihnen durch eigene Gedankenlenkungen aus, ohne sie restlos abzublocken. Dann sah sie als erste abendländische Hexe den Rat der zwölf vom grünen Mond.

Im Licht des Mondes schälten sich aus einem Tarnzauber zwölf Frauengestalten heraus, die alle in körperbetonenden, kurzärmeligen und bis zu den Oberschenkeln reichenden Gewändern gekleidet waren. In den langen, bis weit auf den Rücken fallenden Haaren steckten Diademe, die in einem feenhaften Licht wie erleuchtete Smaragde grün glühten. Damit wurden die zwölf Frauen in eine überirdisch anmutende grüne Aura gehüllt. Anthelia wusste auch sofort, wer die Anführerin war, eine große, beleibte Frau, die aus ihrer Körperfülle kein Drama machte und wie die anderen in kurzer, ihre Formen hervorhebender Kleidung dasaß. Dass sie die Sprecherin war erkannte Anthelia daran, dass sie ihren Geist weitgehend verhüllte, dass sie statt eines smaragdgrünen Diadems einen halbmondförmigen Kopfschmuck aus einem wohl einzigen Smaragd trug, der in einem magisch aufgeprägten Licht erstrahlte, und dass sie um den Hals eine Kette aus Silber, Smaragden und Mondsteinen trug. . Anthelia blieb vor den zwölf Hexen stehen, bereit, auf jede Ansprache zu antworten. "Grüne Mutter und Botin der nächtlichen Schwester, die das Leben der magischen Frauen lenkt und hütet, hier bringe ich dir die aus dem fernen Abendland stammende erbin alten und neuen Wissens, Naaneavargia, die die Seele der Nichte der Schlächterin aus dem Frankenland in sich aufnahm und mit ihr verschmolz", stellte Dschamila die Besucherin offiziell vor. Die Angesprochene nickte Anthelia zu und winkte sie näher heran. "Tritt bitte zu uns hin, Naaneavargia, was die Unersättliche heißt. Auch wenn du danach getrachtet hast, deine innneren Regungen vor mir und den hohen Töchtern zu verbergen, obwohl dies eine klare Missachtung unserer Regeln ist, so weiß ich, dass du nicht zu uns gekommen bist, um uns in deine Reihen hineinzuholen. Dir geht es darum, mit gleichgesinnten friedlichen Umgang zu pflegen, Kunde darüber zu erhalten, was in unseren Landen vor sich geht und auf unseren Beistand zu hoffen, wenn du oder deine Mitschwestern in unseren Landen nach Wissen suchst oder Feinde zu bekämpfen ausgehst, die auch unsere Feinde sind." Anthelia nickte. "Doch das ist nur, was du uns großzügig zu lesen gestattet hast. Doch um zu wissen, wie aufrichtig und vertraulich du bist müssen wir alles innere aus dir herauslesen, um zu befinden, ob wir dich in unsere Reihen eingliedern dürfen oder nicht."

"Du verstehst, Grüne Mutter, dass ich nicht nur meine Geheimnisse in mir trage, sondern auch die aller mir verbundenen Mitschwestern. Sie zu hüten ist meine Pflicht. Sie vertrauen darauf, dass ich sie mit ganzer Macht erfülle", erwiderte Anthelia. "Daher kann und werde ich eine völlige Bloßlegung meines inneren Selbst nicht erlauben, auch wenn dies deinen Unmut erregt und damit meine Aussichten, zumindest der Form Halber Mitglied eurer Schwesternschaft zu werden in den Wind schlägt."

"Wenn eine Trägerin der erhabenen Kräfte zu unserem erhabenen Orden dazugehören will muss sie sich mit Leib und Seele einfügen. Jede hier, von mir bis herunter zur Mondgerufenen muss und musste sich dieser Prüfung unterwerfen. Du hast keine Möglichkeit, dem zu widerstehen. Solange du meinen Ring der Einladung trägst kannst du dich nicht dagegen wehren."

"An mein inneres Selbst lasse ich niemanden heran. Oder gestattest du mir, dein inneres Selbst zu erforschen, grüne Mutter? Nein, das tust du nicht. Denn ich fühle, wer sich mir offen zeigt oder wer sich mir verschließt. Du trägst die Geheimnisse deiner Schwesternschaft in dir, ich die der meinen. Aus gegenseitiger Achtung sollten wir nicht danach trachten, der jeweils anderen ihre Geheimnisse zu entreißen."

Die elf anderen Hexen sogen pfeifend Luft zwischen den zusammengebissenen Zähnen ein und bekundeten lautlos ihren Unmut. Anthelia nahm dies ruhig hin. Doch als die grüne Mutter einen geistigen Aufruf an die elf anderen schickte "Durchforscht ihren Geist", musste Anthelia lächeln. Sie dachte nur vier altaxarroische Zauberwörter, wobei der Ring an ihrer rechten Hand schlagartig wieder wärmer wurde und anfing, ihr Schmerzstöße durch den Körper zu jagen. Doch dann war sie gegen alle körperliche Pein abgeschirmt. Die Worte der felsenhaften Unempfindlichkeit taten ihre Wirkung, ja sie verstärkten sich sogar noch durch die hier wirkende Magie des Berges. Der Ring glühte nun rot auf und zuckte an ihrer Hand. Doch sie fühlte es nicht. Alle von ihm ausgehende Pein wurde in ihn zurückgespiegelt. Im nächstenSchritt verschloss Anthelia ihren Geist durch das Lied der inneren Festung, mit dem sie auch gegen die mächtige Zauberformel der Lichtkönigin Darxandria bestanden hatte. Da sie hier und jetzt Kontakt zur Erde hatte wirkte dieser Zauber sogar viermal so stark wie damals in der Leibeshöhle der schlafenden Schlange. Sie fühlte noch den Anprall in ihre Gedanken hineinstoßender Geistesströme. Diese wurden nun wie Wellen an der Steilküste zurückgeworfen. Anthelia/Naaneavargia sah, wie die zwölf Mondschwestern zusammenfuhren wie vom Blitz getroffen. Dann versuchten sie es noch mal. Anthelia/Naaneavargia bekam in diesem Zustand vollkommener Abgeschlossenheit ihres Geistes nicht mehr mit, was sie dachten. Doch was sie taten dafür um so besser. Wieder glomm der Ring an ihrem Finger auf. Dann fühlte sie die leichte Erschütterung unter ihrer Schädeldecke und sah um sich herum eine Wolke aus silberweißen Funken. Wieder zuckten die elf Schwestern des grünen Mondes zusammen. Zwei von ihnen hatte es offenbar so heftig getroffen, dass sie schlaff zur Seite kippten und von ihren Stühlen fielen.

"Gib uns freien Zutritt zu deinem inneren Sein!" forderte die grüne Mutter. Dschamila, die in gewissem Abstand dastand erzitterte, weil sie nicht wusste, wie diese Machtprobe auf sie zurückfallen würde.

"Dann gebt ihr mir erst einmal kund, wer ihr seid und welchen Rang ihr in der erhabenen Schwesternschaft habt!" erwiderte Anthelia.

"Nur einer einberufenen dürfen wir dies offenbaren", erwiderte eine der elf anderen, eine kleine, dünne Hexe.

"Das gleiche gilt für meine Schwesternschaft. Nur wer dazugehört darf die anderen kennenlernen", erwiderte Anthelia und wetterte die nächste Woge geistiger Zugriffsversuche ab. Wieder wurde eine der Hexen ohnmächtig. Die grüne Mutter hob die Hand und gebot Einhalt.

"Wenn du dich nicht unterwirfst, Naaneavargia, Seelenträgerin der frankenländischen Schlächterin, so können wir dich nicht länger hier dulden", schnarrte die grüne Mutter. Anthelia lächelte und begann unvermittelt, eine altarabische Textstelle zu zitieren:

"Leib und Seele einer Trägerin der erhabenen Kräfte, die von unserer Mutter der Nächte kommen gehören nur ihr und den in ihrem Leibe ruhenden Kindern. Sie darf ihren Körper und ihre Seele nicht preisgeben, alle in ihr wohnenden Geheimnisse entweichen lassen oder diese unter Androhung von Gewalt an Geist und Gestalt verraten. Keine Magierin darf Sklavin sein, doch ist sie es dann, wenn sie sich aus freien Stücken unterwirft oder durch äußeren Zwang unterworfen wird. Wir wollen keine Sklavinnen sein und keine Sklavinnen halten. So spreche ich, Kalila von Assuan, Mutter des ehrwürdigen Ordens des grünen Mondes."

Dieses Zitat traf die noch nicht ohnmächtig gewordenen Hexen härter als die Rückpreller ihrer Geisteszauber. Die grüne Mutter starrte Anthelia aus ihren im smaragdenen Licht ihres Kopfschmuckes grün widerscheinenden Augen an. Sie schien damit zu ringen, wie sie mit dieser Entgegenhaltung umgehen sollte. Eine ganze Minute verstrich. Dann sagte sie mit hörbarer Stimme: "Meine Töchter, sie hat leider recht. In den letzten Jahrhunderten haben wir uns so vielen Anfeindungen und Unterwanderungen ausgesetzt gesehen, dass wir dieses fundamentale Gebot meiner ehrenwerten Vormutter vergaßen und missachteten. Woher kennst du, eine nicht-Mondgerufene, dieses Gebot?"

Anthelia erwähnte, dass sie vor mehreren Jahrhunderten in einer Bibliothek, die nur von erwachsenen Hexen betreten werden konnte, die Verfasserin selbst getroffen hatte. Diese hatte ihr gesagt, dass sie durchaus bei den Töchtern des grünen Mondes mitmachen dürfe, wenn sie Sardonia, der Tyrannin, entsage und nicht länger ihre Sklavin sein würde. Denn wer zu den Töchtern des grünen Mondes gehören wollte musste frei und Herrin ihres Leibes und ihrer Seele sein. Damals, so Antehlia, habe sie diese Aufforderung als plumpen Versuch verachtet, sie ihrer mächtigen Tante abspenstig zu machen. Doch nun, wo sie selbst die Verantwortung einer Anführerin habe und wisse, wie schnell jemand versuchen mochte, andere unter seinen oder ihren Einfluss zu zwingen, sei ihr bewusst geworden, was Kalila von Assuan damit sagen wollte. Denn wenn sie genau darüber nachdenke, so erkenne sie, dass Sardonia immer mit Drohung und Maßregelung geführt habe, etwas, dass sie vor der Vereinigung mit Naaneavargia auch noch für in gewissen Mengen richtig erachtet hatte. Doch die größte Verbundenheit, so wisse sie nun, sei die durch freie Überzeugung und Anerkennung der Fähigkeiten des Anführers, ohne von diesem durch Angst oder Gewalt dazu gezwungen zu werden. So führe sie ihre Schwestern, seitdem sie erkannt hatte, dass Sardonias Weg nicht der ihre sein durfte. Doch dann erwähnte sie, dass die Töchter des grünen Mondes sich die Väter ihrer Kinder aussuchten und gegen deren Willen nahmen, was auch eine Form von Zwang und Gewalt war. Darauf antwortete eine der elf anderen Hexen:

"Ja, diese Begründung wurde immer gerne auch in unseren Reihen angeführt, wenn es darum ging, wie wir unseren Orden und unsere Ziele erhalten und voranbringen. Und wir sind immer wieder zu dem Schluss gekommen, dass wir keine Läuse sind, die aus sich selbst heraus Nachwuchs erbrüten können und daher gewisse natürliche Pflichten einfordern müssen. Und in den allermeisten Fällen sind uns die Erwählten auch gewogen, wenn sie erfahren, dass sie nicht bei uns wohnen müssen und nicht für die von Ihnen eingeforderten Kinder zu sorgen haben, wenn sie dies nicht wollen. Viele unserer Schwestern, ich eingeschlossen, sind glücklich verheiratet. Die von uns erwählten haben es ihren Familien gegenüber so hingebogen, dass sie uns und nicht wir sie erwählt haben und wir durch deren Überredungskunst unseren Leib und unsere Unschuld preisgegeben haben. Viele achso auf ihre Ehre bedachten Väter haben ihre Söhne dann förmlich mit der Peitsche dazu getrieben, uns zu heiraten, um die von uns empfangenen Kinder nicht ehrlos zur Welt kommen zu lassen. Du hast Dschaamila getroffen und miterlebt, wie es bei ihr verlief. Das ist eine der ganz ganz seltenen Ausnahmen. Aber wie erwähnt sind die meisten Männer, die wir uns erwählen glücklich, mit uns das Lager geteilt zu haben und möchten dann auch die dabei gezeugten Kinder aufwachsen sehen. Wie steht es mit dir, Naaneavargia, Beherbergerin der Seele Anthelias? Wessen Kinder möchtest du bekommen?"

Anthelia musste erst schlucken. Mit der Frage hatte sie jetzt nicht gerechnet. Dann erwähnte sie, dass das, was ihr die Natur der schwarzen Spinne in den Körper getrieben hatte, sie vielleicht unfruchtbar gemacht habe, aber nun, da sie diese Natur zu einem Gutteil zurückgedrängt hatte, sei es doch wieder möglich. Sie kenne aber nur einen, dessen Nachwuchs sie empfangen und gebären wolle. Als sie den Namen aussprach und sich damit bewusst auslieferte erntete sie einen anerkennenden Blick. Dann sagte sie schnell: "Doch der Zauberer ist ehelich gebunden und bereits Vater zweier Töchter. Die Gebote eurer Schwesternschaft besagen, dass keiner Tochter ihr Vater und keiner Ehefrau ihr Gemal entwunden werden darf. Deshalb haltet ihr euch ja auch an unberührte Jünglinge."

"Das trift zu", bekräftigte die grüne Mutter mit einer diese Worte unterstreichenden Geste. Aber dir ist es gestattet, einen Sohn oder unberührten Bruder dessen zu erwählen, dessen Saat dir verwährt ist, es sei denn, seine Angetraute gibt ihn frei oder borgt ihn dir aus, damit Frieden zwischen ihm, ihr und dir herrschen. Das erlauben unsere Gesetze. So konnte der Streit zweier leiblicher Schwestern um einen gemeinsam begehrten geschlichtet werden, dass der Mann mit beiden schlief und beide zu Müttern seiner Kinder machte. Ich selbst trug einst den Sohn eines Mannes, dessen Erwählerin meine Tante war, weil sie fürchtete, ihm keine Kinder mehr schenken zu können", sagte die grüne Mutter, womit sie sich zum Teil auch selbst auslieferte. Uns ist bekannt, dass dein Erwählter große Gaben ererbt und aus diesen heraus Zugang zu noch größerem Wissen erhalten hat, das gutes und böses freisetzen kann. Ihn in einen Widerstreit mit seiner Ehre und seinen Gefühlen zu bringen wäre daher gefährlich. Nur wenn er und seine Angetraute dir erlauben, ein Kind von ihm zu bekommen, dann darfst du seine Saat in deinen Schoß aufnehmen. Allerdings darfst du dich nicht für ihn alleine aufbewahren. Allein damit wir Trägerinnen der Magie nicht an unseren rein geistigen Lasten zusammenbrechen müssen wir auch unserem Körper sein Recht einräumen, aus sich heraus neues Leben zu erbringen. Wenn du dem zustimmst, so bin ich bereit, dich als Tochter des grünen Mondes einzuberufen."

"Ehrwürdige grüne Mutter, ich bitte um die Erlaubnis, noch eine letzte Prüfung an ihr vorzunehmen, um zu ermessen, wie viel sie von uns weiß, wo wir unser Wissen doch eigentlich vor jedem Außenstehenden zu verbergen suchen", sprach eine der anderen noch wachen Hexen. Die grüne Mutter bestätigte es.

Anthelia musste nun auf ihr zugerufene Satzanfänge die korrekten Satzenden widergeben, wurde nach weiteren Grundregeln der grünen Mondtöchter befragt und musste auch die babylonischen Monatsnamen hersagen, in welche die grünen Mondtöchter ihr Jahr einteilten. Weil sie das alles ohne lange überlegen zu müssen hinbekam stimmten die nun wieder alle wachen Hexen zu, sie aufzunehmen.

Anthelia wurde nun in einem feierlichen Akt in die Mitte eines kreises geführt, dessen Rand Mondsymbole zierten. Die zwölf Schwestern umtanzten sie. Dabei wurde sie vom immer stärkeren Licht der magischen Kopfbedeckungen in eine immer dichtere grüne Aura eingeschlossen, die so pulsierte wie beim Zauber Vitalis Revelio. Anthelia ließ es geschehen, dass ihr Körper dabei völlig entblößt wurde und tanzte sogar während der Zeremonie mit der einen und anderen. Am Schluss stand die nun ebenfalls völlig unbekleidete grüne Mutter vor ihr, nur mit ihrem Kopfschmuck und der Halskette behängt.

Sie berührte Anthelia an den Füßen: "Deine Füße seien gesegnet, weil sie dich durch diese Welt tragen." Dann berührte sie ihr Geschlecht mit dem Halbmondsymbol an der Kette und sagte: "Dein Schoß sei gesegnet, weil er die Quelle allen Menschenlebens ist, das du in unsere Welt bringen mögest." Dann berührte sie Anthelias Hände und sagte: "Deine Hände seien gesegnet, weil sie unsere Welt gestalten und alles alte und neue Wissen niederschreiben und vermehren können." Dann berührte sie Anthelias Brüste, erst die rechte, dann die linke, wobei sie sagte: "Mögen diese Hügel nährender Weiblichkeit nie versiegende Quellen von Freude und Erquickung sein." Anschließend berührte sie Anthelias Mund mit dem leicht grün glimmenden Halbmondsymbol: "Gesegnet sei dein Mund, damit ihm immer die rechten Worte entschlüpfen, um dich und unsere Gemeinschaft zu ehren und denen Wissen zu bringen, die es hören dürfen. Dann sagte sie: "An acht Stellen deines Körpers hielt ich nun das Zeichen unserer ewigen Gemeinschaft. Somit bist du nun eine Tochter des fruchtbaren Mondes. Sei begrüßt, meine Tochter! Deine Mutter Alia schenkt dir ihre Gnade und ihren Schutz."

Anthelia nahm dieses körperbetonte Zeremoniell mit der Ruhe einer altgedienten Ritualkennerin hin. Jedesmal, wenn sie an einer Körperstelle berührt worden war hatte sie einen leichten Wärmestoß verspürt. Dann war es vorbei. Der Ring, der bis dahin an ihrem Finger gesteckt hatte, glitt ihr nun locker vom Finger herunter und fiel in Alias rechte Hand. "So gebe ich, deine Mutter, dich in diese Welt hinein, damit du unsere Gebote und Errungenschaften wahrst und ehrst."

Alia nickte Dschamila zu, die während des Zeremoniells außerhalb des Kreises gestanden hatte. Die junge Mondtochter griff unter den Tisch und fingerte an einer Stelle, bis ihr eine dünne Kette in die Hand fiel. An der Kette hing ein smaragdener Halbmond, halb so groß wie Anthelias Hand. Sie überreichte die Kette der grünen Mutter, die immer noch ohne Kleidung am Körper dastand. Die grüne Mutter berührte mit ihrem eigenen Halbmondsymbol den Smaragd und gleichzeitig mit dem von Anthelia zurückerhaltenen Ring. Der Smaragd sprühte grüne Funken. Dann leuchtete er auf wie die Schmuckstücke der anderen Hexen. "Wende dich dem Mond zu. Zeige ihm deine Erscheinung!" befahl Alia. Anthelia tat es. Da fühlte sie, wie ihr die Kette umgehängt wurde. Das noch immer leuchtende Mondsymbol geriet dabei einige Sekunden in die Strahlen des Erdbegleiters und glomm dadurch silbrigweiß. Dann hing die Kette um Anthelias schlanken Hals. Das Halbmondsymbol fiel unter ihre Brüste. Unvermittelt fühlte Anthelia, wie sie von Wärmestößen durchpulst wurde. Um sich herum sah sie eine smaragdgrüne Aura, die im Takt ihres eigenen Herzens pulsierte.

"Der Stoff der Hoffnung und der Mond haben dich als eine von uns anerkannt und bekundet", sagte Alia. "So darfst du dich nun wieder bekleiden."

Die nächsten zwei Stunden lang besprachen Anthelia und ihre neuen Mitschwestern, was Anthelia dazu gebracht hatte, sich ihnen anzuschließen. Als sie erwähnte, dass womöglich weitere Abgrundstöchter erweckt wurden oder noch erweckt würden sagte Alia: "So steht zu befürchten, dass der große Kampf zwischen den ewig gierigen Töchtern ohne Vater und den Hinterlassenschaften des dunkelsten Meisters aller Zeiten, der von den Anhängern des Korans Sheitan genannt wird, in nicht zu ferner Zeit anbrechen könnte. Denn welchen Grund sollte die einzig wachgebliebene Tochter der Selbstvermehrerin haben, ihre schlafenden Schwestern jetzt wecken zu lassen?"

"Weil sie es jetzt erst kann, ohne ihre Boten durch eigene Magie zu besudeln, grüne Mutter", sagte Akila, eine der elf anderen Hexen und laut Alia Kennerin der magielosen Welt. Anthelia nickte. Erst die technischen Errungenschaften der Gegenwart hatten es möglich gemacht, Aufträge über tausende von Meilen zu versenden oder die Auserwählten über große Strecken hinwegfliegen zu lassen, ohne dass dabei die Magie der Abgrundstöchter an ihnen rühren musste. Dann erfuhr Anthelia noch den Wortlaut einer Prophezeiung, die angeblich nur den Brüdern des blauen Morgensterns vorbehalten war und erkannte, in welche heikle Lage Julius Latierre die achso anständigen Zauberer damals gebracht haben musste, weil er die in der Vorhersage erwähnten Bedingungen erfüllte. Sie fragte, wie die grünen Mondtöchter an den Wortlaut gelangt waren. Darauf erwiderte Alia: "Der Hüter der Schriften wurde als Knabe von mir erwählt. Um seinen Sohn beim Aufwachsen zu sehen bot er mir ganz von sich aus Kenntnisse aus dem sonst für uns Zauberinnen verschlossenen Orden an. Ich schlug sie nicht aus. Der erstgeborene Sohn aus meinem Schoß ist heute selbst ein junger Morgensternbruder. So und nicht anders vollziehen wir Töchter des grünen Mondes unsere Mitregentschaft in der Welt." Anthelia lächelte wie Alia. Ja, so konnte es gehen. Und sie kannte sogar aus der magielosen Geschichte eine Ära, wo Kurtisanen ihre Liebhaber unter Einfluss hielten, auch wenn diese Liebhaber ranghohe Kirchenvertreter waren.

"Was beweist, das jeder Glaube, der die Fähigkeiten und Bedürfnisse des eigenen Körpers verachtet oder als böse verdammt auf sehr tönenern Füßen steht", bemerkte Akila dazu. Dem konnte Anthelia/Naaneavargia nicht widersprechen.

"So, und nachdem wir dich und du uns kennenlernen durftest kommt die Zeit der ersten großen Prüfung", sagte Alia unvermittelt ernst. "Nun, wo du dich uns angeschlossen hast und mich trotz deiner ersten Gegenwehr doch noch als dir zumindest gleichrangig anerkannt hast beweise uns deine unverbrüchliche Gefolgschaft!"! Anthelia sah sie erwartungsvoll an. Sicher würde sie gleich davon anfangen, wie viele Kinder Anthelia in den nächsten Jahren kriegen sollte. Doch es war etwas anderes: "Kehre in deine erwählte Heimat zurück. Danach darfst du drei mal zwölf Mondwechsel lang nicht mehr in ein Land reisen, in dem unsere Sprache oder die der Perser den Kindern in die Wiege gelegt wird. Missachtest du aus welchem heeren Grund auch immer dieses Gebot, so wirst du zur Mahnung aller Frevlerinnen auf diesem Berg gebannt sein und wie alle wachen, die wagten, ohne Erlaubnis zu uns hinaufzusteigen. Dir sei die Zeit von einer Stunde gewährt, das offene Meer zu erreichen oder in deine Heimat zurückzukehren. Dschamila wird dich zum Fuße der Treppen hinunterbringen, da sie es war, die dich zu uns führte."

Anthelia erstarrte erst. Damit hatte sie jetzt nicht mehr gerechnet. Doch andererseits war ihr sofort klar, warum Alia diesen Befehl erteilt hatte. Sie wollte Anthelias Respekt ihr gegenüber prüfen und vor allem die ihr doch zu mächtige Mitschwester zumindest eine Zeit lang aus ihrer Einflusssphäre heraushalten. Vielleicht hätte sie das mit einer ihr zu ungestümen oder machtgierigen Mitschwester genauso gemacht. Deshalb akzeptierte sie diese Anweisung ohne Widerrede. Nur eine Frage hatte sie noch: "Habt oder kennt ihr einen Zweig eures Ordens nördlich des afrikanischen Meeres?"

"Kennen ja. Doch dieser Orden entstammt einer anderen Strömung der übernatürlichen Kraft und geht auch nicht darauf aus, in der gesamten Welt zu wirken. Er dient nur der Selbsterhaltung und der Hilfe für die von dunklen Mondkräften betroffenen oder als Anvertrauer unschlüssiger, die nicht wissen, ob sie füreinander bestimmt sind. Auch deshalb, weil wir wissen, wie dein heimlich auserkorener zu seiner Gefährtin fand, darfst du ihn nur zu dir nehmen, wenn er und sie es dir erlauben." Damit war für Anthelia alles geklärt.

Dschamila brachte sie auf ihrem Flugteppich innerhalb von einer Minute wieder hinunter. Dann verabschiedete sie sich mit Wangenküssen von der neuen Mitschwester. "Wenn du unseren Rat brauchst berühre deinen Smaragdmond und denke meinen Namen. Dann kann ich einen Teil meines Geistes zu dir übermitteln. Halte dich bitte an die Gebote unseres Ordens, Schwester! Wenn dein Schoß empfangen kann, gewähre ihm das Recht auf neues Leben! Aber ich kann und darf dich nicht drängen, dir einen anderen zu erwählen als den, den du uns offenbart hast. Aber gut, dass du seinen Namen erwähnt hast. So wird er auch von uns beschützt, wenn er einmal mehr in unseren Landen unterwegs sein sollte."

"Ich danke dir, Schwester, dass du das gesagt hast", erwiderte Anthelia aufrichtig. Denn ihr war beim Sinkflug an den Fuß des Berges eingefallen, dass sie nicht wieder als Erretterin aus höchster Not einspringen konnte, wenn ihr Auserwählter ausgerechnet in einem arabisch- oder persischsprachigen Land auf einen seiner und ihrer Feinde traf.

Anthelia saß auf ihrem Besen auf und winkte Dschamila. Dann wünschte sie ihr noch viel Glück mit Kadirs Kind, auf das es eine Tochter sein möge. "Ich werde auch seinen Sohn lieben", lachte Dschamila. Dann bestieg sie ihren Flugteppich. Die zwei Hexen flogen auf ihren unterschiedlichen Flugartefakten in unterschiedliche Richtungen davon. Unterwegs dachte Anthelia daran, ob sie die befristete Exilierung nicht umgehen konnte. Denn im Grunde hatte die grüne Mutter sie aus einem großen Teil der Welt ausgesperrt, noch dazu aus einem mit einer weit zurückreichenden Geschichtsschreibung und uralten Kenntnissen der Magie. Doch das würde sie garantiert nicht hier und jetzt ausprobieren.

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26. Juni 2002

Die Fabrik stand südwestlich von Kairo, weit genug weg vom verhassten Strom, der ihnen trotz der schützenden Ganzkörperfolie die Lebenskraft entziehen konnte. Nottadoro, ein zweihundert Jahre alter Dunkelmondvampir, war mit seinen beiden Blutsöhnen Kyproselenios und Cazasombras von der schlafenden Göttin durch ihren dunklen Ortsversetzungsstrudel in die nähe des unscheinbaren toten Seitenarmes des achso verhassten Nils befördert worden. Sie fürchteten zwar die Sonne, die gerade auf halber Mittagshöhe am Himmel stand. Doch ihre den Körper vom Scheitl bis zu den Fußsohlen bedeckende Schutzhaut hielt die vernichtenden Strahlen von ihnen fern. Um ihre lichtempfindlichen Augen zu schützen trugen sie dunkle Kontaktlinsen, durch die ein normaler Mensch nur dann etwas sah, wenn er direkt in die Sonne blickte. Sie verständigten sich über die Bande des getauschten Blutes, wie Vampire die Kunst des Gedankensprechens nannten. Zudem hatte die schlafende Göttin, an der sie auf ihrem Weg durch den magischen Tunnel vorbeigerast waren, ihre Verbindung mit ihnen errichtet und damit auch ihre Bindung untereinander bestärkt.

"Hier muss er liegen, der von dem Schlangenreiter gebannt worden ist. Nur das Blut dreier Gleichartiger, die aus drei Himmelsrichtungen stammen, kann den Bann des finsteren Pharaos wieder lösen", teilte Nottadoro seinen Zöglingen mit. Der kleine griechische Vampir Kyproselenios, der nur halb so alt wie sein Erzeuger war, blickte sich um, sofern die schützenden Linsen dies ermöglichten. Cazasombras, ein drahtiges Wesen, das sich so schnell bewegen konnte, dass Menschenaugen keine einzelnen Bewegungen mehr wahrnahmen, sog prüfend die Umgebungsluft in die Nase. Doch er roch nur den von der vermaledeiten Sonne erhitzten Staub. Dann fühlte er etwas. Cazasombras war vor hundertfünfzig Jahren noch ein Zauberer gewesen und hatte viel mit Wichtelblut experimentiert. Daher sah er unter der Folie nicht bleich, sondern blassblau aus. Das hatte seine besondere Schnelligkeit und Magieempfindlichkeit bewirkt.

"Da ist wirklich was, das nicht tot ist aber auch nicht lebt", teilte der drahtige Vampir mit. "Dahinten in der alten Fabrik. Was haben die da eigentlich gebaut?"

"Panzer", gedankenknurrte Nottadoro und winkte Kyproselenios, der Anstalten machte, im Boden zu graben. "Da ist er nicht. die Göttin konnte uns nicht auf den Meter genau an ihn heranbringen, weil sie da selbst noch nicht existiert hat, als er frei gelebt hat. Ich spüre aber eine verlangsamte Schwingung. Er muss wirklich mächtig gewesen sein."

"Bis zur Fabrik sind's nur tausend Meter. Ich sprinte mal eben hin und fühle nach, ob wir richtig sind", schlug Cazasombras vor.

"Den Renner kribbelt es wieder in den Beinen, wie, kann nicht eine Minute lang stillhalten", feixte Kyproselenios. "Und was, wenn die Rotblüter uns da erwarten. Denk dran, es ist hell und die Sonne scheint."

"Deshalb rechnen die garantiert nicht damit, dass wir da jetzt auftauchen. Außerdem hätten die den Schläfer sicher schon längst ganz erledigt oder anderswo hingelegt, wenn die wüssten, dass der da liegt. Sollen ja immerhin ein paar tausend Jahre her sein."

"Ja, und nur in unserer heiligen Bibliothek steht die Chronik der mächtigen Nachtkinder und wo sie gewirkt haben", knurrte Nottadoro. Da sprintete Cazasombras bereits los. Wie ein Schemen jagte er über den Sand, dass dieser nur so flog.

"Hinterher, bevor der Irrwisch noch unter die halbe Ruine gerät, weil der so heftig den Sand aufwirft", gedankenblaffte Nottadoro und lief los. Doch ohne sich in eine Fledermaus verwandeln zu können war er maximal viermal so schnell wie ein Normalsterblicher, und das auch nur bei angenehmer Nachtdunkelheit. Im Sonnenlicht war er gerade einmal so stark wie ein austrainierter Sterblicher in jungen Jahren.

Cazasombras sauste schneller als ein Windhund um die von Flugsand abgeschmirgelte Südwand der aufgegebenen Kriegswaffenfabrik herum. Er liebte es, wenn er richtig gut laufen konnte. Nottadoro, der ihn zu seinemBlutsohn gemacht hatte, war eine ganze Woche lang nur im 30-Stundenkilometer-Tempo herumgelaufen und hatte mit vierfacher Geschwindigkeit gesprochen, dass es schon eher wie Vogelgezwitscher klang. Das hatte der seinem neuen Zögling bis heute nicht verziehen, dass der sich vor der Weihe Wichtelblut in die Adern gespritzt hatte. Jetzt fühlte er die Quelle der langsamen Schwingungen. Wenn dieser altägyptische Artgenosse wirklich so mächtig war, dann würde die Hohepriesterin Konkurrenz kriegen. Ah, da war die Stelle, auf die sich Gooriaimiria, die schlafende Göttin der Nachtkinder, ausgerichtet hatte. Zumindest fühlte Cazasombras es nun deutlich genug. "Heh, ihr Schnecken, wo seid ihr?" gedankenfragte er seine beiden Begleiter.

"Wenn du ihn hast bleib bloß da und fass nichts an! Der Schlangenreiter war ein zu mächtiger Zauberer, heißt es in der heiligen Bibliothek. Der hat sicher einige gegen unsereins wirkende Flüche in Kraft gesetzt", hörte Cazasombras die Stimme seines Blutvaters.

"Das kriegte ich mit, Blutvater. Ich habe eine Nase für böse Zauber und auch für Fallen. Sonst hätten mich die Typen vom spanischen Zaubereiministerium schon vor neunzig Jahren zerlegt und ... Mmm, da schwingt echt was wie ganz langsamer Herzschlag. Am Ende hat der alte König dem noch das Herz rausgerissen und einzeln verhext. Habe von solchen Flüchen gehört, bei den Voodoos und den Indios."

"Erst recht ein Grund, dass du Wirbelwind nichts anrührst", hörte er die Gedankenstimme seines Blutvaters. "Moment, da ist noch was, so'n Ding das diese Elektrowellen aussendet, die die Magielosen Funk nennen. Brr, kribbelt das in den Ohren."

"Vergesse immer wieder, dass du ein wandelndes Abhörgerät bist", gedankenschnarrte Nottadoro. "Dann lass Kyproselenios das suchen. Der kann Metall und Elektrizität riechen."

"Das letzte kann ich auch. Brauch nur dem wilden Kribbeln in den Lauschern nachzugehen und ... ah, da ist das Ding, ein klobiges Gerät, wie ich das vor vierzig Jahren zuletzt in einer Festung von Franco im Süden gesehen und abgeklopft habe. Ist echt 'n Funker, der aber wohl gerade nur ein Bereitschaftssignal sendet. Vom Kribbeln her Kurzwellen. Was der sendet kann ich natürlich nicht genau sagen, weil das wohl Frequenzmodulierte Verschlüsselungen sind."

"Jetzt quatsch nicht diesen Technikunfug der Magielosen nach, sondern sag mir, wo wir genau hingehen müssen!"

"Öhm, noch so dreihundert Schritte, wenn ihr an der Südfassade seit. Bei eurem Tempo seid ihr früh genug vor Sonnenuntergang da. Bis dahin müssen wir doch warten, oder?"

"Die Frage war doch jetzt ein Witz. Oder willst du Unruhegeist behaupten, dass du langsamer denkst als du laufen kannst? Natürlich mmüssen wir bis Sonnenuntergang hier warten, um unser eigenes Blut zu geben und die Wiedererweckungsformeln zu sprechen. Der ist immerhin ein Dunkelmondler wie wir und hätte garantiert schlechte Laune, wenn auch nur ein Sonnenstrahl auf ihn träfe. Also lass deine Unverschämtheiten! Wir sind gleich bei dir."

"Ich guck mir das Funkerding noch mal genauer an. Frage mich nämlich, warum die magielosen Rotblütler das hier hingesetzt haben", erwiderte Cazasombras und näherte sich dem Funkgerät, dass an einem langen Kabel hing. Als der Vampir dem Kabel folgte fand er heraus, dass das Gerät mit mehreren großflächigen Sachen verbunden war, die irgendwie den Strom machten, ohne dass sich in denen Magnete drehten, wie das sonst üblich war. Dem Vampir erschien es gruselig, sich vorzustellen, dass dieses Funkgerät seine Kraft von der Sonne direkt bekam. Waren diese magielosen Rotblütler etwa auf den Dreh gekommen, ihre Magieersatz-Artefakte von der Sonne selbst antreiben zu lassen? Das wäre ja echt widerlich. Dann fiel ihm ein, dass das aber sicher noch nicht so lange her war und dass wer immer dieses Bereitschaftsding da hingepflanzt hatte noch nicht so lange weg sein konnte.

"Der Grieche soll nach menschlichen Spuren suchen. Dieses Sendedings wird von einem Gerät angetrieben, das irgendwie aus Sonnenlicht Strom macht. Wenn sowas echt gebaut werden kann ..."

"Das ist nicht nur ein Funkgerät", gedankensprach Kyproselenios. "Das Ding ist sicher ein Bewegungsmelder, und du Hochgeschwindigkeitsesel hast ihn ausgelöst. Deshalb funkt der jetzt."

"Den Esel nimmst du Buddelratte zurück, oder ich fordere ein Drittel deines Blutes auf dem Feld der Genugtuung", schnaubte Cazasombras. Dann konzentrierte er sich wieder auf das Grabmal, wie er den Ort nannte, wo der gebannte Artgenosse lag. Das war nicht bei dem Funkgerät, sondern außerhalb der Südfassade unter dem Sand. Cazasombras zückte seine Schaufel aus dem Rucksack und begann schon mal zu buddeln. Als dann auch die zwei anderen bei ihm waren unterstützten sie ihn. "Wenn wir auf eine schwarze Marmorplatte mit altägyptischen Zeichen stoßen erst mal aufhören. Unter der muss unser Artgenosse liegen", befahl Nottadoro. Dann gruben sie weiter.

Es dauerte eine halbe Stunde, bis sie die vermutete Marmorplatte mit den Schaufeln berührten. Cazasombras wollte gerade den letzten Sand von der Platte kratzen, als er stutzte. "Moment, irgendwas ist da, das mir nicht gefällt. Ich meine nicht, dass die Platte wohl mit einem Bannzauber belegt ist, sondern was anderes. Irgendwas winziges darauf strahlt was aus, das mir nicht gefällt."

"Was soll denn das sein?" wollte Nottadoro wissen. Kyproselenios, der altägyptische Schriften konnte, las bereits die Inschrift auf der Platte, um später die genaue Gegenbeschwörung sprechen zu können. Dabei fand er es, ein kleines stück zusammengerolltes, rubinrotes Haar, das mitten in einem runden Schriftzeichen lag. "Huch, wer hat denn das hier ... Aauutschsch!" Kyproselenios hatte das Haar gerade mit der von der Schutzfolie bedeckten Hand aufgelesen, als es ihn wie einen heftigen Schlag durchzuckte. "Haauu, und ich dachte, wir wären mit den Folien gegen elektrische Schläge immun", wimmerte Kyproselenios. Nottadoro sah das rubinrote Haarstück, dass seinem Artgenossen aus der Hand gerutscht war. Cazasombras stierte darauf wie das Kaninchen auf die Schlange. "Zur Sommermittagssonne, das ist das, was mich gestört hat. Das Haar ist magisch aufgeladen, Leute. Wem es gehört hat muss sehr mächtig sein und es mit einem Abschreck- oder Weitermeldezauber versehen haben."

"Und ich weiß auch wer, Jungs. Das war die Sonnenschlampe, eine der neun verhassten Auswürfe aus dem unbesamten Schoß dieser Erzfeindin Lahilliota. Aber vor der brauchen wir keine Angst zu haben. Die liegt von diesen Idioten von der Morgensternbruderschaft gebannt in ihrem Nachttopf, wie es sich für Scheiße gehört."

"Bist du dir da absolut sicher, Blutvater?" wollte Cazasombras wissen, der immer noch auf das Haar stierte. Nottadoro nickte. Doch zwei Sekunden später musste er seine Behauptung zumindest über die schlafende Feindin verwerfen.

Unvermittelt schoss da, wo das gefundene Haar auf den Boden gefallen war, ein kurzer, gleißender Lichtstrahl aus dem Boden, und dann stand er da, ein Mann mittleren Alters, dunkelblond, in einem hautengen gelben Taucheranzug. Die Vampire fühlten unmittelbar, dass die Sonne ihn mit Kraft auflud.

"Tach Jungs, sprecht ihr Englisch?" fragte der Neuankömmling. Die Vampire stierten ihn an. Dann winkte Nottadoro Cazasombras, den Fremden zu überwältigen. Aus dem Stand sprang Cazasombras vorwärts. Kein Mensch hätte den Sprung abfangen oder ihm ausweichen können. Doch der Fremde ließ sich blitzartig auf den Rücken fallen, riss beide Beine hoch und katapultierte den auf ihn zufliegenden Cazasombras mit Urgewalt über sich hinweg, dass der mit lautem Knall gegen die vier Meter hohe Decke prallte und ganze zwanzig Meter von seinem Absprungpunkt entfernt auf den Boden schlug. Nottadoro erfasste sofort, dass der bisher so unschlagbare Meister der Schnelligkeit gerade seinen Meister gefunden hatte.

"Achso, wo waren wir? Ihr seid sicher wegen dem alten Fanzahnträger da unter der Platte hier. Meine heiße Freundin hat mir sowas gesagt, dass wer deshalb noch mal hier bbuddeln käme", sagte der gerade aus dem Liegen in den Stand zurückgesprungene so lässig, als wäre der Angriff des superschnellen Vampirs nicht passiert.

"Mann, das kann nicht sein. Mein Schädel. So heftig hat der nicht mehr gebrummt, als ich die alte Hexe leergesaugt habe, die sich mit Feuerwhisky abgefüllt hat", stöhnte Cazasombras. Dann sah er den Feind wieder an und kam augenblicklich auf die Beine. "Ich krieg dich trotzdem, du Sausack", zeterte er in bestem Castellano.

"Kypro, leg den um, schnell! Der steht mit ihr in Verbindung!" gedankenrief Nottadoro seinem zweiten Artgenossen zu. Der fackelte auch nicht lange und riss eine geladene Maschinenpistole hervor, ein Relikt aus seiner Zeit bei den griechischen Partisanen, bevor er Nottadoros Blutsohn geworden war.

"Och nöh, komm, gib das Ding dem Museum wieder, aus dem du es geklaut hast, Burschi", lachte der Fremde. Da tackerten ihm die ersten Kugeln entgegen, prallten aber knapp einen Zentimeter vor ihm ab und fielen wie bleierne Regentropfen zu boden. Sie waren komplett abgebremst worden. Da rannte Cazasombras wieder auf den Feind zu. Doch der musste den Angriff gewittert haben. Er steppte schneller als ein Lidschlag zur Seite, fuhr dabei aber den rechten Arm kerzengerade zur Seite aus und ließ den Angreifer voll dagegenlaufen. Cazasombras krachte mit dem Hals gegen den stahlhart ausgestreckten Arm und fiel röchelnd um. Da er als Vampir so gut wie keine Atemluft brauchte konnte er den Treffer gut wegstecken. Einem Menschen hätte dieser Schlag garantiert die Luftzufuhr genommen, wenn nicht sogar den Kehlkopf zertrümmert.

"So schnell kann kein verdammter Rotblütler sein."

"Rotblütler, Iberer? Dann gehörst du der Fangzahnfamilie an?" fragte der Fremde. "Und ich habe mich schon gefragt, was hier so nach vertrocknetem alten Blut stinkt."

"Du gleich", knurrte Nottadoro. "Pakct ihn euch und saugt ihn leer."

"Würde ich besser lassen, bin voll mit Solarmagie aufgepumpt, die brutzelt euch die Gedärme raus, wenn ihr mir Blut aussaugt!" rief der andere. Nottadoro wunderte sich. Er hatte doch nur in Gedanken mit seinen zwei Verbündeten gesprochen. Die sprangen auch schon wieder vor. Doch Kyproselenios bekam einen Handkantenschlag, dessen Bahn kein Auge hatte nachverfolgen können, und Cazasombras bekam den rechten Ellenbogen des Fremden in den Bauch. Nottadoro versuchte, dem Anderen seine Hände um den Hals zu legen. Doch der tanzte den Vorstoß gelassen aus und bekam den Vampir seinerseits unter den Achseln zu fassen. Eine kurze, wellenförmige Bewegung von den Knien über Bauch und Armmuskeln, und Nottadoro segelte über den Feind hinweg.

"So, du da, Irrwisch. Wenn du mich noch mal anspringen willst zerlege ich dich in deine Einzelteile!" warnte er den sonst zu schnellen. Dieser wollte es jetzt wissen und stürmte auf seinen Widersacher los. Dieser entging dem gezielten Schlag, dann einem Tritt und noch einem schlag. Dann landete er einen so heftigen Handkantenschlag an den Hals des Angreifers, dass es unmissverständlich endgültig knackte. Nicht nur das, Cazasombras Kopf verlor den Halt auf seinem Hals und knickte ab wie ein dürrer Zweig von einem Ast bei Sturmwind. Der einstmals unschlagbare Meister der Schnelligkeit fiel in sich zusammen und lag nur noch auf dem Boden. Sein Kopf hing nur noch an seiner Haut am Hals und war in einer höchst ungesunden Schieflage nach hinten umgeklappt.

"Er wollte es so", knurrte der Fremde und sah sich um. Da konnte er gerade noch erkennen, wie die zwei anderen in Spiralen aus schwarzen Schlieren eingehüllt wurden und verschwanden. Er fühlte beinahe körperlich die unheimliche Kraft, die von diesen Spiralen ausging. Instinktiv fixierte er die sich ddrehenden Schattenstrudel mit seinen Augen und konzentrierte sich. Zwei gleißende, blaue Lichtstrahlen bohrten sich noch in die Spiralen hinein. Doch sie fanden kein festes Ziel mehr. Die Schattenstrudel fielen immer noch wild rotierend in sich zusammen, bis sie zu zwei winzigen schwarzen Punkten in der Luft wurden, die leise piffend verschwanden.

"Sie holt sie also zu sich oder versetzt sie anderswo hin, wenn sie nicht mehr gewinnen können", hörte er die Gedankenstimme seiner Schutzherrin. "Sei darauf gefasst, dass sie gleich jene mit dem Unlichtkristall verdorbenen schickt, um dich zu töten!"

"Ich spüre immer noch diese fiese Kraft, ist was sehr gnadenloses", schickte Sonnenläufer seiner Herrin zurück. Dann fühlte er einen Gegenstoß aus dem Nichts. Etwas drängte an diesen Ort. Und dann sah er den umgekehrten Vorgang von eben. Aus plötzlich in der Luft schwebenden dunklen Punkten explodierten gleich drei wild wirbelnde Schattenspiralen, die menschliche Gestalten umngaben. Als diese völlig konturscharf zu sehen waren zerflossen die Schlieren zu reiner flimmernder Luft. Dann standen drei Männer mit mattgrauer Hautfarbe in tiefschwarzen Kampfanzügen vor Sonnenläufer und bleckten silbergraue Vampirzähne.

"Nicht auf einen Nahkampf anlegen. Sofort den Todesblick, Sonnenläufer!" befahl Tarlahilia. Doch ihr Bote und Vollstrecker hatte das auch schon so kapiert. Er sah zwei der drei gleichzeitig an und konzentrierte sich. Für je zwei Sekunden konnte er noch Sonnenlichtstrahlen verschießen. Zwei blaue Lichtbündel flirrten aus seinen Augen und trafen auf die Unheimlichen. Doch diese saugten die volle Kraft der Energiestöße wie Schwämme in sich auf. Sie zitterten nur kurz. Der dritte stürmte bereits auf Sonnenläufer zu. Der konnte nur dank seiner bei Tageslicht zehnfachen Schnelligkeit dem Ansprung entgehen und suchte nun, obwohl er sich eben noch überlegen gefühlt hatte, lieber das Heil in der Flucht. Er musste auf jeden Fall aus der Fabrik hinaus. Draußen bei Sonnenlicht war er auch diesen überzüchteten Blutsaugern wohl überlegen. Die drei anderen folgten ihm. Dabei zeigte sich, dass die zwei, die er gerade noch mit blauen Lichtbündeln getroffen hatte, etwas langsamer vorankamen. Offenbar hatte der Angriff ihnen doch zugesetzt. Der dritte aber rannte genauso schnell hinter Sonnenläufer her wie dieser selbst lief.

Als Dunston alias Sonnenläufer im Freien war fühlte er den Strom der Sonnenenergie. Er lief nun noch schneller. Dabei merkte er, wie der Verfolger zwar zurückblieb, aber wohl noch einen Trumpf ausspielen wollte. Vierhundert Meter von der Mauer entfernt verhielt der Sonnenläufer seine Flucht und wandte sich um. Da sah er, wie die drei Verfolger sich trotz der sie treffenden Sonnenstrahlen in menschengroße Fledermäuse verwandelten, so ähnlich, wie er es aus Vampirfilmen kannte. Wenn er es nicht darauf anlegte, sich von seiner Beschützerin in ihre sichere Zuflucht zurückteleportieren zu lassen musste er zusehen, die drei abzuschießen, bevor die sich vollständig verwandelt hatten. Er blickte in die Sonne, lang genug, um genug Kraft aufzunehmen, kurz genug, um zu sehen, dass die drei schon abgehoben hatten. Er feuerte seine blauen Strahlen auf sie ab und brachte zwei von ihnen zum Taumeln. Der Dritte kippte gerade vorne über, um im Sturzflug auf ihn niederzustoßen. Dann fühlte er, dass noch vier weitere feindliche Ausstrahlungsquellen erschienen waren. Er konnte dank seiner beschleunigten Wahrnehmung erkennen, dass vier weitere graue Kämpfer in schwarzen Anzügen aus der Ruine stürmten und auf dem Boden auf ihn zuliefen. Da er nur zwei Augen besaß und nicht noch zusätzlich aus den Fingern schießen konnte waren das jetzt eindeutig fünf zu viele, die ihn beharken wollten. Sollte er um Hilfe rufen? Da warf einer der vier Neuankömmlinge etwas in seine Richtung, keine Handgranate, sondern einen Eiszapfen, der mit irrwitziger Geschwindigkeit auf ihn zuschwirrte. Er konnte dem Geschoss gerade noch aus dem Weg springen. Doch drei weitere Eisspeere machten sich auf den Weg zu ihm. Konnte er alle abwehren? Zwei schaffte er mit einem kurzen Energiestoß aus seinen Augen aus der Flugbahn. Den dritten Speer bekam er fast in die rechte Schulter. Nur seine Kampfreflexe und die zehnfache Handlungsgeschwindigkeit bewahrten ihn vor einem Treffer. Er federte einfach in den Knien durch und ließ den Speer damit ins leere zischen. Die Burschen hatten aber auf jeden Fall schnell herausbekommen, womit sie ihm vielleicht beikommen konnten. Ja, und da warf der erste der vier einer der Fledermausvampire einen Behälter zu, den dieser in bester Kopfballungeheuermanier mit der Stirn zu Sonnenläufer verlängerte. Der Behälter platzte in der Luft auf und versprühte eine durchsichtige Flüssigkeit, an der selbst in dieser staubtrockenen Luft Wasserpartikel schlagartig zu Eis gefroren. Einige der freigelassenen Tropfen trafen Sonnenläufer, der trotz seiner Gewandtheit nicht der kompletten Ladung ausweichen konnte. Er fühlte es schmerzhaft auf Kopf und Schultern brennen und bemerkte eine höchst unangenehme Taubheit in den getroffenen Stellen. Da waren zwei der drei zu Riesenfledermäusen gewordene Supervampire heran. Sie stürzten sich laut kreischend auf ihn.

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Anthelia hatte sehr behutsam mit dem Smaragdmond experimentiert. Dabei hatte sie drei sehr wichtige Dinge herausgefunden: Das Mondsymbol war mit ihrem Herzschlag verbunden worden. Legte sie es ab, und entfernte sich weiter als zwölf ihrer Schritte, würde ein nicht von den Tränen der Ewigkeit getränkter Organismus sterben. So bestand eher die Gefahr, dass das Symbol zerstört wurde.

Die zweite Erkenntnis war die, dass das Mondsymbol einen Abdruck seiner eigenen Aura auf jedes fühlende, teilweise denk- und handlungsfähige Wesen übertrug, das länger als eine Minute in Anthelias unmittelbarer Nähe stand. Damit wusste Anthelia auch, dass sie nicht einmal jemanden in ihrem Auftrag in den Orient schicken konnte, ohne dass die Töchter des grünen Mondes dies bemerken mochten. Am Ende traf die Strafe für Missachtung der Fernbleibeanweisung jede, die in Anthelias mündlich erteiltem Auftrag dorthin reiste. Allerdings übertrug sich dieses Quantum der vom Smaragdmond ausstrahlenden Aura nicht auf tote Gegenstände. Sicher, Eulen konnte sie so nicht verschicken, weil die ja in gewissen Grenzen lern- und handlungsfähig waren. Aber sie konnte Objektteleportationen ausführen. So verschickte sie an diesem Tag an alle Schwestern, die arabische Dialekte oder Farsi sprechen konnten, dass diese bis in drei Jahren nur noch auf dem Weg der Zweiwegespiegelverbindungen von Anthelia etwas hören oder sehen durften. Denn sie wollte sich die Hintertür offenhalten, einige ihrer Schwestern in den Orient zu schicken, wenn sie der Meinung war, dass unmittelbare Informationsbeschaffung oder Aufträge anstanden.

Die dritte Erkenntnis, die sie aus den behutsamen Versuchen mit dem Mondsymbol gewonnen hatte war, dass sie sich trotz seines Vorhandenseins am Körper immer noch in ihre Spinnenform verwandeln konnte. Das lag wohl daran, dass das Symbol dazu bestimmt war, auch von Animagae getragen zu werden. Doch in der Zweitgestalt war ihre eigene Lebensaura auf den vierfachen Wert erhöht. Damit konnte und musste sie leben, dass sie bei einem Vivideozauber heller als zehn Kerzen erstrahlen mochte. Der Zauber zur Verdunkelung der eigenen Lebensaura gelang nur in ihrer menschlichen Gestalt. Zumindest konnte sie noch den Freiflugzauber und die Unsichtbarkeit anwenden. Das gab ihr doch eine gewisse Beruhigung. Auch die Erdzauber gelangen ihr noch. Aber vor allem die mit dem Element Silber verbundenen Zauber oder überhaupt die den Mond einbeziehenden Zauber und Rituale wurden durch das neue Schmuckstück der Hexenlady auf den vierfachen Wert erhöht.

"Dschamila, höre mich und sprich zu mir!" dachte Anthelia am Abend, während sie das Mondsymbol in ihrer rechten Hand gegen ihren Brustkorb drückte. Eine halbe Minute später flimmerte es vor ihr grünlich. Dann erschien, von einer smaragdgrünen Aura umgeben, Dschamilas räumliches Abbild. Das war ja schon fast wie bei den Pflegehelferschlüsseln, dachte Anthelia. Dann hörte sie Dschamilas Stimme in ihrem Kopf.

"Ich fühle, dass du dich gut von deiner Reise erholt hast, Schwester Naaneavargia. Wie kann ich dir helfen?"

"Du hast mir gesagt, ihr würdet den beschützen, den ich gerne erwählen würde. Wie könnt ihr erfassen, wo er ist?"

"Suche eine Gelegenheit, bei der du ihn fünf mal zwölf Herzschläge lang in Armesreichweite vor dir hast und denke dabei daran, dass du ihm Schutz und Hilfe geben möchtest. Nur daran denken! So wird dein Zeichen unserer Verbundenheit ihm seine Grundschwingungen aufprägen, die ein ganzes Jahr lang vorhalten."

"Er trägt bereits eine starke magische Prägung. Wird die diesen Vorgang unterbinden oder begünstigen?"

"Hmm, da muss ich fragen. Welcher Art ist diese Prägung?"

"Er gehört zu den Kindern Ashtarias", rückte Anthelia mit dem heraus, was sie nicht jedem verraten wollte. Dschamilas geisterhaft vor ihr schwebender Körper erstarrte einen Moment. Dann hörte sie Dschamilas Antwort im Kopf:

"Wenn er zu den Trägern ihres Heilssterns gehört wehrt dieser eine heimliche Prägung ab. Aber die Zeichenträger leben ja alle noch. Aber wenn er an eines gelangen oder in seine Nähe kommen könnte, würde die Prägung wieder aufgehoben. Aber du musst nicht besorgt sein, Schwester. Wie du weißt ist einer der Söhne der grünen Mutter bei den Morgensterngbrüdern. Bei denen sind ja zwei von denen. außerdem haben wir ja auch unsere Kundschafterinnen in den nichtmagischen Behörden und jener Stelle, die reisende Hexen und Zauberer erfasst. Wenn er wieder zu uns kommt werden wir früh genug erfahren, wo er ist und ihn unter Beobachtung halten, ohne dass er davon etwas bemerkt."

"Danke dir, Schwester Dschamila!" erwiderte Anthelia/Naaneavargia. Dann beendete sie die neue Fernverständigungsverbindung. Danach merkte sie, wie müde sie auf einmal war. Offenbar saugte der Smaragdmond für diese besondere Verbindung eine Menge Ausdauer aus Geist und Körper. Das durfte sie also nicht ständig machen, erkannte sie und hatte damit Erkenntnis Nummer vier über die Eigenschaften ihres neuen Schmuckstückes.

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"Aktivitäten in Objekt Echnaton zweiundzwanzig, Sir", meldete Hendrick Svensson, der wachhabende Überwachungstechniker in der Abteilung sieben, die geheime Überwachungssatelliten betreute. Der vor fünf Monaten mit der heimlichen Raumfähre "Liberty Bell" in den Orbit über Nordafrika gehievte Satellit Mata Hari hatte alle verdächtigen Funk- und Infrarotspuren aufgenommen und konnte daraus Bewegungsmuster erstellen. Eine alte Panzerfabrik südwestlich von Kairo hatte sich als eine Art toter Briefkasten für Freischärler erwisen. Wer immer keinen entsprechenden Kennsender mitführte wurde von einem Funkmelder an irgendwen weitergemeldet, von dem die Agenten noch nicht wussten, wo und wer es genau war. Sie hofften, eine ägyptische Zelle von Al-Qaida oder einer dieser Organisation nahestehenden Gruppe ausheben zu können, daher der Mata-Hari-Satellit.

"Sir, das müssen Sie selbst sehen", sagte Svensson über die Direktsprechverbindung zum Abteilungsleiter ELINT Mittlerer Osten. Auf die natürlich folgende Frage, was er sehen müsse antwortete der Techniker: "Die Infrarotsignale zeigen Spuren wie von superheißen Leuchtspurgeschossen oder hochenergetischen Laserstrahlen. Jetzt kriege ich sogar die Signatur einer menschengroßen Wärmequelle. Bedauerlicherweise überlagert die Bodenhitze die klare Mustererkennung ein wenig. Kann aber kein Mensch sein, weil sich die Quelle mit mehr als hundert Stundenkilometern vom Objekt entfernt."

"Bild auf meinen Monitor, aber subito presto!" befahl der Abteilungsleiter. Da hatte sein Techniker längst die Bildschaltung eingerichtet. "Schon seit Gestern auf dem Schirm, Sir", meldete der dann auch ganz lässig. "Moment, versuche Vollbilderfassung Mit UHR-Kamera."

"Lassen Sie sehen, was unsere Mitbürger mit ihren fünfhundert Millionen gekauft haben!" befahl der Abteilungsleiter. Da wechselte auch schon die Ansicht. Ein an den Rändern mit Breitengrad- und Höhenangaben signierter Landschaftsausschnitt von oben war zu sehen. Die Fabrikgebäude, die sprichwörtlich vom Sand der Zeit angenagt worden waren, sowie acht sich schnell bewegende Objekte. Mit der Computermaus spielte Svensson die Nahaufnahmefunktionen der ultrahochauflösenden Kamera von Mata Hari aus. Jetzt konnten sie sehen, was es war, drei gigantische Fledermäuse und fünf Männer, davon vier in lichtschluckenden Anzügen und einer in einem hellen Anzug, der wohl ein Taucheranzug war. Gerade konnten sie vier längliche Wurfgeschosse erkennen, die auf den Mann im Taucheranzug zuflogen. Der stand da. Plötzlich schlugen glühende Lichtbahnen aus seinen Augen zu den ihn anfliegenden Geschossen hinüber. Diese verdampften. Dem dritten entging der andere mit überragender Geschwindigkeit. Doch die nun auf ihn zustürzenden Fledermauswesen konnte er nicht mehr rechtzeitig abwehren. Die hatten noch einen Behälter geöffnet und über den anderen ausgeschüttet.

"Sie haben nur eine Wärmequelle?" fragte der Abteilungsleiter.

"Positiv, nur der Mann im Taucheranzug emittiert Wärmestrahlung. Die anderen sind infrarottot."

"Wohl eher untot, wie die Fledermäuse aussehen. Wehe Sie spielen mir hier gerade ein Horrorfilm-Szenario ein, um mich vom Glauben an unseren Satelliten abzubringen."

"Sie können herüberkommen und es eigenhändig nachprüfen, Sir", sagte Svensson ruhig.

"Das muss ich wohl. Ich bin in einer Minute da."

Die eine Minute reichte aus, um den Abteilungsdirektor den Höhepunkt des Dramas und eine erschütternde Enthüllung verpassen zu lassen.

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Brenda Brightgate hatte mal wieder nichts anderes als bereits ausgewertete Nachrichten einzuordnen. Sie wäre gerne mal wieder in einen Feldeinsatz gegangen. Aber ihr offizieller und auch ihr inoffizieller Vorgesetzter hatten unabhängig voneinander befunden, dass sie besser nur beobachtete, solange sie nicht aktiv in ein laufendes Geschehen eingreifen sollte. Es galt, die Aktivitäten dieses Lord Vengors, sowie der wohl noch nicht ausgerotteten Mondbruderschaft, sowie der vor wenigen Tagen als wieder zur Bedrohung gewordenen Dementoren zu überwachen und die Muggel vergessen zu lassen, mit solchen Wesen und Ereignissen in Berührung geraten zu sein. Gerade eben hatte sie den letzten Bericht über die Paradiso di Mare vor sich. Sie hatte von Mr. Davidson den Auftrag erhalten, alle Hinweise auf dämonische Eindringlinge aus den elektronischen Akten zu entfernen und von gut getarnten Piraten zu sprechen. Den Bericht hatte sie zwar schon seit dem zwanzigsten ablagereif umgeschrieben und die Daten entsprechend umfrisiert. Doch noch einmal drüberlesen schadete nichts. Da läutete ihr Telefon. Brenda nahm den Hörer ab:

"Brenda, auch wenn ich Ihnen wegen einiger Eigenmächtigkeiten noch immer grolle zwingt mein Amtseid mich dazu, alle mir bekannten Hilfskräfte hinzuzubitten", hörte sie Ira Waterfords ungehaltene Stimme. Sie grinste nur und fragte ganz ruhig, was anlag. "Einer dieser künstlichen Späher, den unsere Kollegen über dem Orient in eine Erdumlaufbahn geparkt haben zeichnet gerade eine Reihe verdächtiger Ereignisse auf. Kommen sie schnellstmöglich zu mir, egal, wo Sie gerade dran sind."

"Sie haben Glück, dass ich gerade allein in meinem Büro bin", sagte Brenda und bestätigte die Aufforderung. Sie legte den Hörer auf, zog aus ihrer gegen Fremdzugriff gesicherten Handtasche ihren Zauberstab, eilte mit drei kurzen Schritten in die Mitte ihres Büros und disapparierte so leise sie konnte.

Bei Ira, der zu allen Fernbeobachtungsstellen heimliche Verbindungen hatte legen lassen, konnte sie auf einem die halbe Wand füllenden Plasmabildschirm beobachten, wie vor einer Fabrikruine irgendwo in Ägypten ein Mann im hellen Taucheranzug gegen drei Riesenfledermäuse und vier überschnell auf ihn zulaufende Männer stand.

"Der Mann kann Hitzestrahlen mit den Augen verschießen. Sowas hatte ich bisher nur in diesen albernen Comicgeschichten für möglich gehalten, Bren", sagte Waterford sichtlich angespannt. "Die fliegenden Fledermäuse müssen Kristallstaubvampire sein. Dann mutmaße ich, dass die vier anderen ebensolche Kreaturen sind. Moment, ich kann noch die Einzelbildvergrößerung mit meinem Endgerät ausnutzen, ohne den Kollegen auf die Nase zu binden, dass wir ihre Sondersendung mitverfolgen." Er klickte auf einen der auf den einzelnen Mann zulaufenden Männer und holte sein Bild wie aus vielen hundert rechteckigen Puzzelsteinen bestehend heran. Dessen Hautfarbe war eindeutig mattgrau, die Haare dunkel mit leichtem Silberstich. Dann klickte er auf den einzelnen Mann, der sich gerade drei auf ihn niederstoßender Fledermäuse gegenübersah. Er blickte nach oben und damit direkt in Mata Haris ultrahochauflösende Stereokamera. "Wenn die das Bild auch haben können die Mit der neuen Passfotodatenbanksuchmaschine drübergehen und das klären. Mache ich auch gleich. Aber erst will ich wissen, wie das ausgeht." sagte Ira. Brenda dachte dasselbe wie er. Dann sahen sie, wie es ausging, und ihr Erstaunen war entsprechend groß. Als es vorbei war eilten beide los, um die Beobachter mit entsprechenden Gedächtniszaubern von einem anderen Ablauf zu überzeugen.

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Die Fledermäuse waren nur noch einen Meter über ihm, als er fühlte, dass sie in seiner Nähe aufgetaucht war. Er kam aber nicht mehr dazu, sie zu begrüßen. Denn unvermittelt explodierte um ihn herum ein grelles Licht, das er nur ertrug, weil er auf die Kräfte der Sonne abgestimmt war. Doch für die anfliegenden Vampire und die auf dem Boden laufenden war diese Lichtexplosion verheerend.

Die Fledermäuse prallten förmlich auf die sich ausdehnende Lichtflut und erzitterten. Funken stoben aus ihren Körpern. Die auf dem Boden laufenden brüllten laut auf. Aus ihren Mündern drang schwarzer Qualm und hüllte sie für einen Augenblick ein. Doch das freigesetzte Licht fraß den schwarzen Brodem auf, bohrte sich in alle Körperöffnungen der Angreifer hinein und verrichtete in deren Körpern ein grauenvolles Vernichtungswerk. Unvermittelt schossen schwarze Dampfstrahlen aus den Köpfen und dem Gesäß der Angreifer. Die Fledermäuse wurden so heftig erschüttert, dass sie unter dieser Erschütterung regelrecht zerrissen wurden. Als wenn jemand ein hauchdünnes Glas zerdrückte barsten die Körper der fliegenden Ungeheuer. Schwarzer Rauch wölkte auf und verblich im grellen Licht. Dann erlosch dieses. Fünf ganze Sekunden hatte Tarlahilia die geballte Kraft von einhundert Sonnenstunden wirken lassen. Das war auch für die vielfach stärkeren Vampire zu viel gewesen. Gewöhnliche Blutsauger und auch Menschen verbrannten in dieser gewaltigen Energiefreisetzung. Auch tote Gegenstände wurden in Mitleidenschaft gezogen. Das erkannte der Sonnenläufer, als er die rotglühenden Wände der Fabrikhalle sah. Dann schossen armdicke Flammen aus dem Gebäude. Was darin noch brennbar gewesen war ging nun unaufhaltsam in Flammen auf. Die Schockerhitzung tat ihr übriges, um die sowieso schon angegriffene Fassade endgültig zusammenbrechen zu lassen. Laut polternd und klatschend stürzten die Fabrikgebäude in sich zusammen.

"Das will ich nicht immer machen. Hundert Sonnenstunden zu sammeln kostet eben diese Zeit und muss dabei mit den entsprechenden Ritualen begleitet werden. Komm, wir ziehen uns zurück! Wir werden keinen dieser Blutschlürfer zu fassen bekommen, solange wir nicht gerade neugeborene Kinder bei uns haben", sagte Tarlahilia und blickte noch einmal in die Sonne. Dunston folgte ihrem Beispiel. "Hast du keine Angst, dass dein Zauber unsere anderen Feinde anlockt?" fragte er seine Herrin.

"Mag sein, dass sie eine Freisetzung von Magie mitbekommen. Aber von wem, werden sie nicht erfahren. Wo ich bin wird aller Aufspürzauber zu Schanden, genau wie bei meinen Schwestern. Her mit deiner Hand, wir müssen zurück!" Dunston nahm Tarlahilias warme Hand und fand sich gleich im nächsten Moment in ihrer Schlafhöhle wieder.

"Gut, die Kampfreihen sind nun erkannt und werden wohl entsprechend überdacht", grummelte Tarlahilia. "Diese schlafende Göttin weiß nun, dass eine starke der Sonne verbundene Kraft aufgetaucht ist und vielleicht auch, wer das ist. Wir wissen jetzt, dass sie ihre Diener bei drohender Niederlage in einem Schattenstrudel einfängt und damit fortbringen kann oder ihre Kämpfer auf selbe Weise in die Schlacht werfen kann. Der einzige Trost daran ist, dass die Zauberstabschwinger das wohl auch schon wissen. Aber es ärgert mich, dass diese Blutschlürfer auch im Sonnenlicht ihren Unfug veranstalten können."

"Woher warst du dir sicher, dass diese Fanzahnbande ausgerechnet an diesem Ort auftauchen wird?"

"Weil dort der Abtrünnige liegt, ein ehemaliger Hofzauberer des Schlangenreiters, einem der Pharaonen, die die Geschichtsschreibung sehr schnell vergessen hat, schneller als Echnaton, dem ich helfen wollte, seine Sonnenanbetung über das Land auszubreiten, damit ich als Gesandte des Sonnengottes freien Zugang zu den Menschen bekommen konnte. Der Schlangenreiter, der sich selbst so nannte, weil er behauptete, dass selbst Apep ihm unterworfen sei und er auf ihr um die Welt reiten könne, beherrschte eine Menge dunkler Zauber, vielleicht auch aus der Zeit vor der großen Flut."

"Stammte der aus Atlantis?" fragte Dunston.

"So haben die Griechen und Ägypter dieses Reich genannt und es wohl im Laufe meines viel zu langen Schlafes zum völligen Märchen erklärt, einem Mythos von einer Idealwelt, die an der Überheblichkeit ihrer Bewohner zu Grunde ging", erwiderte Tarlahilia. "Aber zu uns. Die kennen nun dich und deine besonderen Kräfte und wissen, dass ich wieder aufgewacht bin. Damit sind wir ab heute legitime Angriffsziele dieser Brut. Aber das soll und wird uns nicht abhalten, sie weiterzubekämpfen. Ich werde es nur meinen Schwestern mitteilen, dass wir schon Feindberührung hatten, wie du es nennen würdest." Dunston nickte. Er hatte die Begegnung nicht so gut verdaut, wie er gehofft hatte. Die Kristallvampire hatten ihm unmissverständlich gezeigt, dass seine so euphorisch gefeierten Superkräfte bei ausreichend vielen Gegnern locker ausgehebelt werden konnten. Zwei Vampire waren entkommen und hatten der großen Hinterfrau sicher sein Gesicht beschrieben. Wo immer er ab heute auf einen von ihnen treffen würde konnte dieses Geisterweib ihm sofort zehn oder zwanzig ihrer Superfangzähne auf den Hals schicken. Keine guten Aussichten. Aber sein früherer Job war nicht minder gefährlich gewesen. Und jetzt hatte er sogar noch eine Rechtfertigung für seine Taten: Die Welt der Menschen war bedroht, und er durfte mithelfen, diese Bedrohung zu beseitigen, wie und wann dies auch immer vor sich gehen sollte.

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"Jack Dunston. Mist! Der Identifikationsrechner hat bei positiver Meldung von dieser Priorität gleich alle verbündeten Dienste angefunkt", knurrte Waterford. "Dann müssen wir die Bilder wohl doch so stehen lassen und behaupten, die Vampire seien ferngesteuerte Vollstreckerdrohnen gewesen und Dunston habe von seinen neuen Befehlshabern sowas wie augenbewegungsgesteuerte Hochenergielaser zur Verfügung bekommen. Das ist die vermaledeite Seite dieser Muggelerfindungen, dass die mittlerweile innerhalb einer Sekunde hunderte von Kopien in aller Welt haben können", schnaubte Waterford.

"Sie meinen, Dunston ist von jemandem verändert worden, von den Sonnenkindern vielleicht?"

"Ja, die ominösen Sonnenkinder. Seit dem Ende Nocturnias haben wir von denen nichts mehr gehört. Vielleicht gibt es die auch nicht mehr, weil sie ihren Zweck erfüllt haben", meinte Waterford. Brenda hätte ihm da was anderes erzählen können. Doch zum einen wollte sie es nicht, weil sie Geheimnisse des Laveau-Institutes nicht ins Zaubereiministerium gelangen lassen wollte, zum anderen war genau das ihr verboten. Außerdem hherrschte zwischen Cartridges Ministerium und Davidsons Laveau-Institut immer noch Eiszeit wegen der verweigerten Unterwerfung des LIs unter die Kontrolle des Ministeriums.

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In der Zentrale des MI6 trafen sich noch in der Stunde nach Bekanntgabe der Position des gesuchten Agenten Läufer alle Abteilungsschefs mit dem leitenden Direktor und berieten sich, wie sie mit dieser Enthüllung umgehen sollten. Das Läufer einer fremden, wohl auch feindlichen Macht beigetreten war war nun allen bekannt. Wie damit umzugehen war würde etwas länger dauern.

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"Oh, Loli, du bist und bleibst die allergrößte Liebesgöttin", lobte Ricardo Navara Sánchez seine Gespielin, mit der er gerade wieder vier sehr sinnliche und herrlich ermüdende Stunden erlebt hatte. Die neben ihm liegende milchkaffeebraune Schönheit mit den schwarzblauen Haaren und den wasserblauen Augen streichelte ihren Liebhaber und Abhängigen und säuselte:

"Und du bist immer noch sehr ergiebig, ähm ausdauernd. Deine Frau versäumt wirklich eine Menge."

"Nein, danke, nach Blag Nummer vier ist die mir eindeutig zu schwabbelig geworden. Außerdem fühlt sie unten herum nichts mehr, weil unser letzter sohn meinte, sich quer aus ihr rauszwengen zu wollen. Hoffentlich kommst du nicht mal auf die Idee, dich von wem schwängern zu lassen."

"Nicht von mir aus, Ricky", erwiderte Itoluhila alias Teresa Dolores Herrero. Dann sah sie ihrem Freier und Unterworfenen noch einmal sehr tief in die Augen und erhaschte dabei alles, was diesem in den letzten drei Stunden vor seinem Besuch widerfahren war. Es ging da vor allem um Bilder eines künstlichen Beobachtungsgerätes im Weltraum. Als sie auf ihre tiefblickende Weise erfuhr, dass der Satellit Tarlahilias Aufwachgeschenk und neuen Streiter erkannt und entsprechend weitergemeldet hatte musste sie grinsen. Sie war froh, dass es von den neun Schwestern keine Fotos gab. Am Ende kamen noch die Zauberer darauf, dass Tarlahilia in der ägyptischen Wüste unterwegs gewesen war. Das fehlte gerade noch.

Als Ricardo nach den vier herrlichen Stunden, bei denen er die Ausdauer von eines vollen Tages in sie abgegeben hatte, tief und fest schlief, befasste sich itoluhila mit dem Jungen Maxwell, der vor drei Wochen aus dem Krankenhaus in London entlassen worden war. Die Ärzte hatten sich gewundert, wie gut der Junge die vielfachen Verletzungen überstanden und dabei nicht einmal einen Gehirnschaden erlitten hatte. Nur ein Arzt wusste, woran das lag. Doch dder gehörte ihr. Und Maxwell würde auch ihr gehören. Sie würde ihn behutsam mit sich zusammenbringen und dann als weiteren ihrer spendablen Abhängigen kultivieren, so wie sie es in den letzten Jahrhunderten immer und immer wieder getan hatte. Doch was nun weiter mit den Vampiren der so genannten schlafenden Göttin wurde musste noch geklärt werden.

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27. Juni 2002

Jetzt hatte Aldous, das Halbschattenkind, es heraus, wie er sich in feste oder reine Schattenform verwandeln konnte. Außerdem hatte er noch gelernt, dass wenn er etwas mit seinem Blut und bestimmten damit gezeichneten geometrischen Figuren markierte, er es auch in die Schattenform übernehmen konnte, ja es in gewissen Grenzen auch verändern konnte. Auf jeden Fall konnte es dann auch zehnmal so schnell und stark werden wie er selbst, wenn er im Dunkeln unterwegs war.

Er fühlte, wie die Ströme der ewigen Dunkelheit aus dem Weltraum, die das Licht und die Wärme der Sterne überwog, ihn innerhalb einer Sekunde dahin trugen, wo er hinwollte. Als er wie ein sich aus dem Nichts aufblähender Fleck aus Dunkelheit in einer alten Lagerhalle erschien und sich stabilisierte sah er trotz der fehlenden Beleuchtung, dass sein Motorrad tatsächlich noch da stand, wo er es vor seinem Besuch bei Juanita hingestellt hatte. Ja, es war schon gut gewesen, nicht damit bei dem Haus vorzufahren, , in dem er eigentlich nur ein paar Tage bleiben wollte. Außerdem hatte der Maschine hier weder Regen noch knallende Sonne was anhaben können. "Hatten die das Motorrad echt nicht im Keller dieses Hauses gefunden", dachte Aldous. Sein Plan stand fest. Wenn das Motorrad noch fuhr, dann wollte er es mitnehmen, um zu sehen, ob stimmte, was seine Schattenmutter ihm erklärt hatte. Mit einer Yamaha, die schneller als der Schall fahren konnte war er schon sowas wie ein Comicheld. Oder wollte er eher einem Superschurken gleichkommen, der tödliche Schatten oder sowas? Er wusste, dass seine neue Herrin Thurainilla, in deren gierigem Unterleib er einen Teil seiner Seele und seiner fleischlichen Lebenszeit verloren hatte, irgendwelche Aufträge für ihn hatte. Seine Schattenmutter hatte sowas angedeutet, dass er kein gewöhnlicher Gefährte der Wiedererwachten sein sollte.

Er ging ohne Spuren und Geräusche zu verursachen auf die aufgebockte Yamaha zu. Er musste grinsen, weil sie pechschwarz war, so wie er gerade. Dann stand er einen Meter von ihr fort und streckte seine Hand aus. Diese prallte auf den Tank, obwohl sie feinstofflich war wie die eines Gespenstes. Doch weil der Tank lichtundurchlässig war bot er ihm einen klaren Widerstand, eben nur, dass er sich immer heißer anfühlte. Das lag aber nicht daran, dass er sich selbst erhitzte, sondern die in seiner Schattenhand steckende Kälte in sich aufnahm. Wenn Aldous den Tank noch einige Sekunden länger hielt würde der glatt einfrieren. So zog er die nachtschwarze Hand zurück und konzentrierte sich darauf, wieder fleischlich zu sein. Das gelang nicht sofort, weil er in Schattenform meinte, immer so sein zu müssen. Erst als er es schaffte, die wilde Leidenschaft des ersten Sex mit Thurainilla durch seine Gedanken fluten zu lassen wurde die Fleischeslust zu fleischlichem Dasein. Schlagartig fühlte er wieder sein Gewicht und sah an sich herunter. Natürlich war er nackt. Denn so hatten sie ihn ja Thurainilla angeboten. Doch daran konnte er was ändern.

In einer Ecke stand ein wasserabweisender Koffer mit Kombinationsschlössern. In diesem steckten mehrere Sachen, darunter die komplette Motorradkombination. Er zog nur die lederne Kluft und die Stiefel an. Die Unterwäsche brauchte er nicht mehr. Denn wo es dunkel war war ihm nicht kalt. Bevor er sich noch die dicken Lederhandschuhe überstreifte nahm er das Schweizer Taschenmesser, das zu seiner hier versteckten Ausrüstung gehörte und schnitt sich in mehrere Finger, dass das Blut nur so tropfte. Mit den Wunden auf Tank, Hinterrad und an den Schutzblechen schrieb er von außen nach innen verlaufende Spiralen und andere Figuren, die er durch leichtes besprenkeln miteinander verband. Er murmelte dabei Wörter, die er nie zuvor gekannt hatte, aber die jedes für sich die Dunkelheit des Weltraums und diese als den Erdball umschließende und in ihm ruhende Kraft bezeichneten. Die Maschine erzitterte und sprühte pechschwarze Funken, die sich um ihn herum sammelten und ihn in eine tiefschwarze Aura einhüllten. Mehr und mehr fühlte er, wie die von außen kommende Dunkelheit sich mit dem Motorrad verband, durch ihn mit diesem vereint wurde. Beim vierzehnten Durchgang seiner Beschwörungen erbebte die Yamaha kurz. Dann stand sie still. Die Funkenwolke flog von Aldous fort und traf auf das Motorrad, das sie wie ein Schwamm in sich aufsog. Die Verbindung und die Wandlung waren vollzogen.

"Versuche es, wenn du im freien bist!" hörte er Thurainillas Gedanken in sich. Er antwortete ihr, dass er sich schon freue.

Da die Tore des Lagerhauses lichtundurchlässig waren musste er sie in seiner fleischlichen Form öffnen. Er verfluchte es, dass er kein vollwertiger Nachtschatten war. Denn die konnten wie die perlweißen Geister in der Welt verbliebener Seelen auch durch feste Wände dringen, solange dahinter kein helles Licht auf sie lauerte. Dafür konnten ihn aber in der Schattenform keine Geschosse verletzen. Die durchschlugen ihn einfach. Nur wenn es Brandgeschosse waren konnten sie ihm beim Durchschlagen ein wenig Kraft entziehen.

Und los geht's!" rief Aldus Crowne vorfreudig und saß auf seiner Maschine auf. Der Motor stotterte erst einige Sekunden. Doch dann lief er wie eine gut geölte Nähmaschine. Mit einem druck auf den Gashebel brüllte der Motor richtig auf und warf die Yamaha nach vorne. Sofort fühlte er die Verbindung zu der mit seinem Blut und den Zaubern der Dunkelheit veränderten Maschine. Er hatte erst gefürchtet, dass die elektronischen Elemente der Motorsteuerung gelitten haben mochten. Doch offenbar hatte sein Zauber jeden technischen Prozess ersetzt. Hieß das, dass er auch keinen Sprit mehr brauchte?

"In fester Form ist dein Zweiradpferd von seiner üblichen Nahrung abhängig", hörte er Thurainillas Gedanken, die ihn offenbar aus der Ferne belauschte. "Aber wenn es stimmt, dass du von dir mit deiner neuen Kraft behandelte Dinge in die Schattenform zwingen kannst kann es auch von reiner Dunkelheit zehren und wie du zehnfach so schnell und ausdauernd sein wie sonst. Versuch es!

"Geht klar!" erwiderte Aldous Crowne und schloss das Helmvisier. Dann fuhr er die Maschine hinaus auf die einsame Straße etwas weiter außerhalb von Granada. Dass er damit einen Alarm auslöste bekam er nicht mit.

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Die beiden Guardia-Civil-Leute vor den Überwachungsgeräten staunten nicht schlecht, als der Monitor abdunkelte und ein wildes Schlierenmuster darauf herumgeisterte. Gerade eben hatten sie den vor einem Monat installierten Alarmsender abgefragt. Der hatte die Nähe eines Menschen erfasst. Als dieser Mensch dann noch eine weitere Wärmequelle in Gang setzte war den Beamten klar, dass ihr langes Warten sich gelohnt hatte. Jemand hatte das Motorrad, das einem verschwundenen Burschen aus der Hauptstadt gehörte, wiedergeholt. Vielleicht war es der Bursche selbst.

"Wenn der mit dem schwarzen Engel kungelt sollten wir den schnellstens nach Madrid überstellen, bevor dessen Leute was davon mitkriegen, Salvador", sagte der ranghöhere der zwei Beamten.

"Dann hätte wer von denen das Motorrad sicher schon längst geholt", warf der andere ein, gelangweilt von einer Diskussion, die sie schon kurz nach dem Verschwinden des angeblichen Hauptstadttouristen geführt hatten.

"Gut, Leute, Überwachungsdrohne abheben lassen, wir beobachten nur", sprach der rranghöhere Beamte in sein Mikrofon. Als die Überwachungsdrohne in mehr als fünfhundert Metern Höhe das Motorrad erfasste trauten die Beamten ihren Augen nicht. Denn was sie sahen konnte unmöglich sein.

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Die Maschine lief wie früher. Sie glitt auf der Straße. In den Häusern flammten Lichter auf. Aldous sah es gleißendhell wie Sonnenlicht. Doch sein getöntes Helmvisier filterte genug aus, dass er nicht davon geblendet wurde. Das war die Kehrseite seines neuen Daseins, wie ein Vampir vor dem Licht in Deckung gehen zu müssen.

"Ich muss doch sehr bitten, mein Erwecker", hörte er Thurainillas kleinmädchenhaft klingende Gedankenstimme tadelnd in seinem Geist. Dann war es soweit.

"Eins mit der Nacht, eins mit der alles umgebenden, immer währenden Nacht", murmelte er in Gedanken und konzentrierte sich, während sein Motorrad mit 30 Stundenkilometern über die nicht ganz ebene Straße brummte. Dann fühlte er jenen kurzen Hitzeschauer, der ihm zeigte, dass er seine Zustandsform änderte. Er fühlte sich plötzlich leicht wie eine Feder. Doch das heftigste war, dass sein Motorad mit einem mal völlig geräuschlos fuhr und bei Übergang in den anderen Zustand einen gewaltigen Satz nach vorne tat, der Aldous, hätte er noch einen den Gesetzen der Physik unterworfenen Körper besessen, sicher nach hinten abgeworfen hätte. So bekam er nur mit, wie seine Maschine mehr als fünfzig Meter nach vorne und dabei zehn Meter hoch in die Luft stieß. Dann bekam er es hin, die Maschine durch einen konzentrierten Gedanken wieder zu landen. Jede mechanische Einwirkung war unnötig und obendrein nutzlos. Als die Maschine wieder festen Boden unter ihren nun phantomhaft dunkel rotierenden Rädern hatte wirbelte sie weder Staub noch andere Kleinstteilchen auf. Aldous sah nach hinten und erkannte, dass er keine Spur hinterließ, nicht mal eine Qualmspur seiner Auspouffrohre.

"Ups, dachte, der Tacho läuft nicht mehr", dachte er, als er den rein mechanischen Geschwindigkeitsmesser ablas. Der zeigte gerade eine Geschwindigkeit von über dreihundert Stundenkilometern an. Aldous wollte es wissen. Er drehte am Gashebel, wobei er sich wünschte, schneller zu werden. Das wie er zum dunklen Geist gewordene Motorrad gehorchte unverzüglich. Es raste schneller und schneller dahin. Aldous sah die Bäume wie strohhalmdünne, vorbeihuschende Schemen und fragte sich, ob er sich an einem solchen Baum totfahren konnte. Doch dann erkannte er, dass sein Motorrad irgendwie genau so fuhr, dass es keinen Zusammenstoß bauen konnte. Es war beinahe so, als sei es durch die Umwandlung selbst lebendig geworden und trüge seinen Schöpfer nun wie ein schnelles Pferd über Land, die eigene Reaktionsgeschwindigkeit ausnutzend. Aldous probierte, das Licht einzuschalten. Tatsächlich gab es eine Reaktion. Doch statt eines hellen Lichtbalkens baute der Scheinwerfer in Fahrtrichtung eine Zone tiefer Dunkelheit auf, die schon wie ein ihm entgegengähnendes schwarzes Loch auf der Fahrbahn blieb. Als habe er dem Motorrad damit erst recht die Macht gegeben, seinen eigenen Weg zu finden wurde die Maschine noch schneller. Sie hob sogar einmal ab, weil Aldous sich nicht dauernd konzentrierte, sie auf Bodenhöhe zu halten. Sie wurde noch schneller. Die Geräusche, die Aldous dank seiner neuen Natur fünfmal so gut hören konnte, wenn er von Dunkelheit umhüllt war, wurden zu einem sich immer mehr verwaschenden Teppich, als jage er sie vor sich her. Da wurde ihm klar, dass er es geschafft hatte. Sein Motorrad war gerade mit Schallgeschwindigkeit unterwegs und wurde noch schneller. Der Tacho stand zwar auf der von Aldous bewusst geplanten Höchstmarke von 350 Stundenkilometern. Doch die an der Maschine vorbeihuschenden Häuserzeilen und die sich ineinander verknäulenden Geräusche sagten ihm, dasss er gerade mit einem der schnellsten Landfahrzeuge der Menschheitsgeschichte unterwegs war. Und er wurde noch schneller. Um nicht doch noch mit etwas zusammenzustoßen ließ er der teilweise lebendig wirkenden Maschine den Willen, aufzusteigen und über die Dächer der Häuser hinaus zu steigen. Nun wie ein durch die Nacht rasender Schatten eines schweren Geschosses auf dem Weg ins Ziel jagte die Yamaha mit ihrem unheimlichen Besitzer dahin. Er fühlte das Prickeln der über ihm stehenden Sterne und auch das leichte Ziepen der Mondstrahlen, die ihn trafen. Doch er war im Geschwindigkeitsrausch. Er hatte die Schallmauer durchbrochen und ritt auf einer einzigartigen Maschine durch die Nacht. Was hatte ihm seine Schattenmutter Riutillia in ihrem lichtlosen Leib und danach mit ihrer eiskalten, feinstofflichen Milch eingeflößt? Er konnte bei völliger Dunkelheit an den Rand der Erdatmosphäre fliegen. Hieß das, dass die Yamaha gerade wie eine Rakete bis an den Rand des Weltraums hinaufjagen konnte? Doch das Sternen- und vor allem das Mondlicht boten seinem wortwörtlichen Höhenflug eine unüberschreitbare Grenze. Er konnte gerade drei Kilometer über den Grund steigen. Doch das reichte ihm für's erste aus, um die Geschwindigkeitsgrenze seiner Maschine auszureizen. Als er unter sich die für ihn wie grelle Lichtpunkte und sonnenhelles Flutlicht widerspiegelnden Lichter von Mond und Sterne sah wusste er, dass er gerade das Festland verlassen hatte und über dem Mittelmeer dahinflog. Er raste mit wohl einem Kilometer pro Sekunde dahin und konnte, wenn er nicht doch noch einen Tankstop einlegen musste, bei diesem Tempo in weniger als zwei Stunden nach Amerika hinüberfliegen. Er dachte daran, dass an der Ostküste gerade auch Abend war und stimmte sich darauf ein, sich mit der Maschine in die Ströme der ewigen Dunkelheit zwischen den Sternen einzufädeln. Tatsächlich fühlte er bei dieser hohen Geschwindigkeit einen noch einfacheren Einstieg in jene allgegenwärtigen Energieflüsse. Keine Sekunde später war er aus der stofflichen Welt verschwunden, um keine weitere Sekunde später östlich einer Küste aufzutauchen. Doch er hätte damit rechnen müssen, dass die Städte Nordamerikas sehr starke Lichtquellen waren. Als er genau auf einen noch weiten Lichtfleck zuraste fühlte er, wie ihm und dem Motorrad Kraft verlorenging. Die Maschine begann zu schlingern und zu bocken und fiel immer schneller in die Tiefe, als sei die Schwerkraft für sie wieder gültig. Da begriff Aldous, dass er nicht als unheimlicher Schattenreiter durch das nächtliche New York fegen konnte wie Batman, der dunkle Ritter. Je näher er der Lichtansammlung kam desto langsamer glitt sein Motorrad vorwärts. Selbst der davon erzeugte Fleck aus Schwärze erzitterte immer mehr. Konnte genug Licht ihn gänzlich überstrahlen? Er drehte die Maschine gerade so noch um und versuchte, sie zu beschleunigen. Doch das gelang nicht so wie er das vorhatte. Zu allem Überfluss fuhr unter ihm nun auch noch ein großes, hellbeleuchtetes Schiff durch die Nacht. Die nach oben gelangenden Strahlen waren wie feine Nadeln, die ihm ins gerade umgewandelte Fleisch stachen und daran saugten wie ein Riesenschwarm Moskitos. Er fühlte sich schwindelig und sah silberne Kreise vor seinen Augen tanzen und zu silbernen Funken zerfallen. Das künstliche Licht war genauso sein Feind wie die Sonne. Er fühlte, dass er sich maßlos überschätzt hatte. Seine Euphorie, seine Überlegenheit verschwanden in einem Strudel aus Angst, Verzweiflung und Selbstvorwürfen, weil er nicht auf seine nachtschwarze Schattenmutter gehört hatte. "Du kannst noch genug Dunkelheit nutzen, um aus diesem gemeinen Kunstgeleuchte herauszufinden", hörte er Riutillias Stimme leise aber fordernd in seinem Geist. Er zwang sich dazu, die Ströme der ewigen Dunkelheit zu fühlen, sich in sie hineinzufinden und schaffte es tatsächlich, sich und das Motorrad aus dem Streulicht herauszuversetzen.

Er landete wieder über dem Mittelmeer, was er daran erkannte, dass hier die Sterne und der Mond anders am Himmel standen. Sofort kehrte ein Teil der alten Kraft zurück. Das Motorrad gewann wieder Höhe und Geschwindigkeit. "Bring es zu einem Ort, von dem aus du immer losziehen kannst, ohne beobachtet werden zu können!" hörte er Riutillias Stimme in seinen Gedanken.

Nach zehn weiteren Flugminuten bei beinahe doppelter Schallgeschwindigkeit landete er in den Pyräneen, wo er und seine damals noch für einzig wahr gehaltenen Eltern mit ihm in einer Höhle campiert hatten, um echtes Steinzeitgefühl aufkommen zu lassen. Da war er gerade zwölf geworden und hatte gefragt, wie die alten Neandertaler überhaupt so lange hatten leben können, was seine nur zum Teil leiblichen Eltern veranlasst hatte, das doch einfach mal auszuprobieren, ob in zwei Ferienwochen nicht doch zu viel Bedarf nach Technik und Annehmlichkeiten wie Supermärkten, Restaurants und Kino aufkam. An diese lang zurück liegenden Abenteuer erinnerte sich Aldous, als er lautlos und keinen Funken Licht verbreitend in der Nähe der Höhle herabsank und den Eingang durch ein massives Gitter versperrt vorfand. Doch das Gitter war zum Teil für Licht passierbar, damit auch für ihn. "Denke dir die Form, die dein neues Hilfsmittel haben muss, um zwischen den Stäben hindurchzuschlüpfen!" wies ihn Riutillia an. Aldous gehorchte und wünschte sich sein Motorrad immer länger und dünner werdend, bis es wie ein Zwischending aus Aal und Geländemotorrad in gerader Linie mit ihm zwischen den Gittern hindurchschlüpfte.

Tief in der Höhle fühlte er sich völlig wach und gestärkt. Hier regierte ewige Dunkelheit und damit seine Hauptnahrungsquelle. Hier experimentierte er noch ein wenig mit der Kraft seiner Vorstellung. Dabei empfand er es als die gelungendste Erscheinungsform, dass aus den Seiten des Tanks tentakelartige Auswüchse sprossen und zu langen Gebilden mit nadelspitzen Enden wurden, wie ausfahrbare Lanzen.

"Das Unlicht aus dem früheren Lichtauge des Zweiradpferdes kann alle nichtmagischen Lichter in seiner Wirkung schwächen, solange es nicht die Sonne selbst ist", sagte Riutillia mit von Ohren vernehmbarer Stimme, als Aldous auf seiner alten wie neuen Maschine herumflog, um die Höhlen zu erkunden. Hatte sich Riutillia doch wahrhaftig zu ihm hinteleportiert, oder wie immer das zu nennen war.

"Heftig!" war Aldous einziges Wort auf das alles. Dann wollte er von seiner Maschine absitzen. Doch irgendwie ging das nicht. Er war wie im Sattel und den Fußrasten festgeschweißt. "Erst wieder in deine fleischliche Form zurück, weil du mit ihm vereint warst, als ihr in meine Form eintratet", gemahnte ihn Riutillia.

Wieder half ihm die Woge der Leidenschaftlichen Gedanken an den ersten Sex mit der scheinbar kindlich harmlos aussehenden Thurainilla, seine fleischliche daseinsform wiederzubekommen. Tatsächlich wurde damit auch sein Motorrad wieder zu einem Ding aus Metall, Glas, Gummi und Kunststoffen. Jetzt konnte er problemlos absitzen.

"In dem Moment, wo du mit ihm in meine Zustandsform wechselst ist es ein Bestandteil deines Wesens und Denkens, wie alles, was von deiner Ausstrahlung deiner inneren Beschaffenheit durchdrungen wird", belehrte Riutillia den ehemaligen Flugzeugtechnikstudenten.

"Stimmt, in der Schattenform hätte ich es auch wohl nicht parken können. Also muss ich es erst immer als fleischlicher Bursche nehmen und dann erst umwandeln."

"Ja, und damit zu einer Erweiterung deiner inneren Antriebskräfte werden lassen, so dass es dich sicher trägt und jeder Gefahr ausweichen oder entfliehen kann, wie vorher mit den Lichtern dieser neuen Siedlungen. Weil du nur ein halbes Schattenwesen bist zwingt immer stärkeres Licht dich dazu, wieder fleischlich zu werden. Mir tut das Licht zwar weh, kann mich aber nur zu einem kleinen Teil schwächen."

"Dann habe ich heute meinen ersten Ausritt als Schattenreiter geschafft", sagte Aldous. Seine unheimliche, feinstoffliche zweite oder besser dritte Mutter nickte ihm zu. Also war er jetzt der Schattenreiter, mächtiger Gehilfe oder Partner einer mächtigen Kreatur. Was würde er von nun an, wo er seine Stärken und Schwächen hautnah erlebt hatte tun?

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"Das konnte es nicht geben", zeterte der Vorgesetzte der beiden Überwachungstechniker der Guardia Civil, als er das Infrarotvideo sah, dass die Drohne aufgenommen hatte. Darauf war zu sehen, wie zunächst ein Mann auf einem Motorrad aus dem niedrigen Zugang des Hauses herausfuhr, das seit April leerstand und bewusst leer gehalten wurde. Bis dahin war noch alles im Rahmen des erfassbaren. Doch dann begann die Maschine und ihr Fahrer zu flimmern und schienen unsichtbar zu werden. Doch statt dessen zeigte sich den Beamten ein völlig abstraktes Bild. Die Umgebung erschien immer in einem die Weltraumkälte widerspiegelnden Blau. Doch da, wo das Motorrad war war es total schwarz. Außerdem sprang das dunkle Objekt förmlich wie von Raketen oder jenem legendären Turbobooster des Knight-Rider-Autos getrieben nach vorne weg und hob ab. Dann beschleunigte das absolut kalte, jede Restwärme schluckende dunkle Etwas. Es wurde schneller und schneller und geriet nach nur zwanzig weiteren Sekunden an den Rand des von der Drohne erfassten Sichtbereiches.

"Sie wollen mir allen Ernstes vormachen, dass ein ordinäres japanisches Geländemotorrad mal eben eine Art Infrarotschluckende Abschirmung aufbaut und dann vom Boden abhebt, ohne erkennbare Antriebsgase, dabei mal eben innerhalb von dreißig Sekunden einen Erfassungsradius von fünfzehn Kilometern durchquert und verlässt?" schnaubte Guardia-Civil-Kommandant Ramón Cesar Rodriguez Vicario. Seine Untergebenen sahen ihn hilflos an.

"ErzählenSie mir das besser gleich, bevor die Techniker aus Madrid es rausfinden. Wie hat Ihr Kollege Suárez Manero die Bildverarbeitungssoftware verändert, dass wir so eine Verquickung von Geisterstunde und Science Fiction geboten kriegen?"

"Wir haben erst an eine von außen vorgenommene Bildverfälschung geglaubt. Jemand, der sich auf die Signale der Drohne aufgeschaltet und sie überlagert hat, um uns diesen Spuk vorzuführen. Aber die Festplatte der Drohne hat diese Bilder genauso gespeichert, und wir haben natürlich größte Sorgfalt walten lassen, dass nur wir die Drohne zu fassen bekommen."

"Dann bleiben nur zwei Lösungen, Señores: Entweder das Video war schon auf der Platte und wurde durch eine Programmmanipulation mit falschen Zeitstempeln versehen und dabei als scheinbare Echtzeitabfolge übertragen", sagte der Kommandant. "Oder?" fragte der rangniedere der zwei Beobachter. "Da hat jemand mit echter Zauberei herumgehokuspokust, sich und das Motorrad in eine Art Geisterreiter am Himmel verwandelt. Das war vielleicht ein böser Dämon, der das Motorrad gemopst und mit seiner Teufelsmagie verwandelt hat", schnarrte der Kommandant und musste über die so plötzlich erstarrten Gesichter der beiden Kollegen lachen. "Mann, Sie glauben echt noch an den schwarzen Mann und den Klapperstorch, oder wie?" lachte er. Doch seinen Kollegen war nicht nach Lachen zu Mute. "Wir kriegen raus, wer uns diese Gruselschau aus dem zweiundzwanzigsten Jahrhundert verehrt hat. Dann rollt aber mindestens ein Kopf, zumindest bildlich gesprochen."

"Dann sollten wir alle Hemden mit eisernen Kragen tragen", schaffte es einer der beiden Beamten, doch noch eine gewisse Form von Humor zu äußern.

"Das Video wird als streng geheimes Material Verschlusssache der Zentrale in Madrid, damit das nicht morgen schon durch die Medien geht, dass ein Außerirdischer oder ein Diener Satans eine seit April versteckte Yamaha entwendet hat. Apropos, was war eigentlich mit dem Peilsender, der auf das erste Alarmsignal hin aktiviert werden sollte?"

"Hat gerade mal eine Minute lang gesendet", bekam der Kommandant zur Antwort. Das ließ sich aber ganz locker mit einer gründlichen Untersuchung der Maschine und das Auffinden und Stilllegen des Senders abtun. Für das geisterhafte Video war das jedoch keine Erklärung.

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Anthelia erhielt per Expresseule aus Frankreich einen Zweiwegspiegel von Louisette Richelieu. Diese durfte sie ja wegen ihrer Arabischkenntnisse in den nächsten drei Jahren nicht an sich heranlassen, wenn sie sie auf Reisen in den orient schicken wollte oder wenn diese höchst offiziell dorthin zu verreisen hatte. Als allererstes erfuhr sie eine Neuigkeit, die sie vollkommen überraschte. Die Nachricht war selbst für ihre Verhältnisse so unerwartet und erschütternd, dass sie den Spiegel eine ganze Minute lang schweigend vor sich hielt. Dann erst fand sie ihre Sprache wieder und sagte:

"Und ich dachte schon, ich würde die Welt erschüttern oder dieser Vengor. Oder hat der sich etwa dazu bekannt?"

"Nein, der hat sich nicht dazu bekannt. Zumindest wird es nicht dir angelastet, höchste Schwester", erwiderte Louisette. Aber es wird zumindest gerne spekuliert, dass es mal wieder ein Schlag von diesem Vengor ist oder von den Mondbrüdern, die ein Zeichen setzen wollten, dass sie noch nicht erledigt sind."

"Verstehe, die Mondgeschwister", lächelte Anthelia und dachte daran, dass Lunera und ihre Mondheuler sicher andere Sorgen hatten, zumal bei Lunera und ihrer Ziehtochter Nina sicher der angekündigte Nachwuchs eingetroffen war. Dann fragte sie noch, was sie von Patricia und den Sonnenkindern gehört hatte, seitdem die diese neue Computerverbindung bekommen hatten.

"Seit der Sache mit der Paradiso di Mare herrscht Schweigen im Walde, höchste Schwester. Wahrscheinlich haben die Sonnenkinder beschlossen, erst einmal ihre ganzen angesetzten Babys zu kriegen, bevor sie sich um den Rest der Welt kümmern. Zumindest habe ich nichts mehr von Patricia gehört."

"Dann bleibt mir nur, dir zu wünschen, dass du das, was jetzt alles bei euch ansteht gut überstehst und weiterhin deinen und unseren Weg gehen darfst."

"Hängt davon ab, wessen Ideen sich durchsetzen, höchste Schwester. Ich informiere dich auf jeden Fall über alle Entwicklungen."

"Das möchte ich mir ausbitten. Sonst muss ich doch zu dir hin, und dann könntest du Probleme kriegen, wenn du demnächst zu den ehemaligen Kolonien Algerien oder Tunesien hinreisen musst."

"Dann hätte ich aber nicht nur alleine Probleme, höchste Schwester", zischte Louisette. Dann verabschiedeten sich die beiden Hexen voneinander. Anthelia dachte noch einmal daran, was die Neuigkeiten aus ihrer ersten Heimat für sie bedeuten würden. Vorbereiten musste sie sich auf jeden Fall. Aber sie konnte das vielleicht auch ausnutzen, um Boden zu gewinnen, vor allem im Kampf gegen Iaxathans angehende Marionette Vengor.

Nachdem sie die Spiegelverbindung getestet hatten schloss Anthelia ihren neuen Zweiwegspiegel in einer Schall- und lichtdichten Schatulle ein. Nur sie wollte bestimmen, wann sie mit Louisette Verbindung aufnahm.

Am Abend apparierte Albertine Steinbeißer noch in der großen Empfangshalle der Daggers-Villa. Anthelia wollte gerade zu Bett gehen, um sich einmal gründlich auszuschlafen.

"Hast du das aus Frankreich schon gehört, höchste Schwester? Kam heute bei uns in der Abteilung und ganz oben bei Güldenberg zur Sprache", begann Albertine. Anthelia erwähnte, dass sie darüber informiert worden sei. Albertine lächelte. Anthelia erfasste ihre worthaften Gedanken und unterdrückte ein Lächeln ihrerseits. Außerdem war Albertine wegen etwas herübergekommen, dass absolut kein Grund zur Freude war.

"Bin ich jetzt erst drangekommen. Geheimsache s9, ist schon im Mai passiert, höchste Schwester", keuchte die deutsche Mitschwester. "Ich bin sofort wieder weg. Rückfragen bitte erst in einem Tag, weil morgen Außeneinsatz wegen einer möglichen Niederlassung der Mondbruderschaft oder Resten dieses Königreiches Lykotopia. Näheres dann, wenn Tatsachen vorliegen!"

"Bist du sehr gut eingespannt, Schwester", feixte Anthelia, die wusste, wie sehr Albertine ihre Anführerin geschlechtlich begehrte.

"Ja, leider, weil nach der dicken Bombe aus Paris unsere ganze Muggelkontaktbürovernetzung entsprechend umgearbeitet wird, dass wir wissen, mit wem von denen in Paris wir wie zusammenarbeiten können. Hier sind die Kopien, Höchste Schwester. Bis dann!"

"Bis dann, Schwester Albertine", sagte Anthelia und entließ ihre deutsche Mitschwester damit. Diese disapparierte unverzüglich.

Anthelia unterzog den Stapel Pergamente, den Albertine ihr auf den Tisch gelegt hatte, einer Flucherkennung und fand nichts verdächtiges vor. Nach der Sache mit Lorne Vanes feurigem Brief wollte sie nichts aus dem Ministerium irgendeines Landes mehr anfassen, bevor sie es nicht gründlich geprüft hatte. Dann las sie die auf zweithöchster Geheimstufe eingeordneten Unterlagen. Sie verzog wütend das Gesicht. Das hätte sie wirklich schon früher wissen können. Andererseits kam Albertine nicht an alles zeitnah dran. Womöglich hatte sie eine heimliche Geliebte im Archiv des Zaubereiministeriums, die an solche Akten rankam und jetzt erst damit herausrücken konnte. Sicherheit galt immer vor Dringlichkeit, hatte sie selbst ihren Mitschwestern eingeschärft. Denn mit einer Falle auf Grund einer scheinbar brisanten Information mussten sie immer rechnen. So las sie, dass es am 19. Mai zu einem versuchten Einbruch in die Burg Greifennest gekommen war. Drei mit weißen Schlangenkopfmasken vermummte Zauberer hatten versucht, in die mehrfach gesicherte Burg einzudringen, wohl mit dem Ziel, die Kinder wichtiger Zaubererfamilien zu entführen. Sie hatten es auch einmal geschafft, einen arglosen Jungen aus der zweiten Klasse durch Schrumpfzauber transportfertig zu machen. Doch die älteren Schüler und die Lehrer hatten die Eindringlinge in Gemeinschaftsaktionen überwältigt und den Lichtwachen übergeben. Allerdings waren die Gefangenen nur eine Stunde lang vernehmungsfähig. Dann verdorrten sie. Das kannte Anthelia schon aus Berichten Izanamis. Dann fragte sie mit Blick auf die Akten: "Was wollte euer neuer Herr und Meister damit erreichen? Wollte er herausfinden, ob ein Sturm auf die Schule erfolgreich ist? Wollte er nur Terror ausüben, um zu zeigen, dass die Schüler nicht sicher sind? Oder war das mal wieder ein Ablenkungsmanöver wie mit der Dämonsfeuersbrunst? Natürlich, im Mai hat Lebrecht Ziegelbrand Geburtstag. Wolltest du ihn umbringen? Dann hättest du selbst dort auftauchen ... Also doch ein Ablenkungsmanöver!" blaffte Anthelia. Doch den Kindern war nichts passiert, auch Lebrecht Ziegelbrand, der am vierundzwanzigsten Mai geburtstag feierte, hatte diesen Tag auch feiern können, wenn auch unter verschärften Sicherheitsvorkehrungen. Demnach hätte Vengor seine übliche Mordserie nicht weiterführen können. Doch irgendwas sagte Anthelia, dass das wirklich ein Ablenkungsmanöver war, und zwar eines, bei dem sogar noch vertuscht wurde, ob jemand entführt und/oder ermordet wurde. Sollte sie Albertine darauf ansetzen oder die Sache selbst überprüfen? Wenn sie enthüllte, dass Vengor es vielleicht geschafft hatte, einen Schüler der Burg Greifennest zu entführen oder zu ermorden würde die gesamte Zaubererwelt ins Chaos stürzen, vor allem nach der Sache in Frankreich, die auf Grund dieser Geheimdokumente auch wieder in einem anderen Licht erscheinen mochte. . Jeder würde jeden verdächtigen und vor jedem Angst haben. Bestenfalls würde ihr niemand glauben, weil es ja von ihr, der bösen Spinnenhexe, kam, die mal eben Zaubereiminister ermordete oder gestandene Ministeriumszauberer in süße kleine Wickelhexlein verwandelte. Nein, so ging es nicht, erkannte Anthelia verbittert. Dann musste sie wider die aufgekommene Stimmung grinsen: Sie war doch nicht die einzige, die darauf gekommen war, dass Vengor hinter bestimmten Familienangehörigen herjagte. Sie hoffte, dass die anderen auf eine mögliche Aktion dieser Art vorbereitet waren. Mit dieser vagen Hoffnung verstaute sie die Kopie der beinahe streng geheimen Akte in ihrem eigenen Schließfach.

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28. Juni 2002

Er hatte Thurainillas andere Schwestern schon einmal gesehen, hinter Riutillias dunkler Bauchdecke sozusagen. Daher brauchte seine feststoffliche Herrin und Beschützerin sie nicht vorstellen, als Itoluhila, die Tochter des schwarzen Wassers, nach einer telepathischen Ankündigung mitten im indischen Dschungel erschien, keine drei Kilometer von Thurainillas neuer Wohnhöhle entfernt.

"Du siehst immer noch so süß und kindlich aus, Schwester Thurainilla. Hast du dir außer deinem Erwecker schon wen anderen gesucht?"

"Das werde ich, wenn ich ihn auf seine neue Rolle vorbereitet habe, Schwester Itoluhila. Aber auf jeden Fall noch einmal vielen Dank, dass du ihn mir geschickt hast. Es wurde höchste Zeit, wieder aufzuwachen. Wenn wirklich Diener des dunklen Kaisers aufgestanden sind oder er selbst wieder einen Körper haben will braucht ihr mich", erwiderte Thurainilla.

"Ja, leider ging es nicht früher. Aber das will Tarlahilia immer noch nicht einsehen", sagte Itoluhila. "Aber ich bin wegen was anderem hier, Schwester." Thurainilla deutete auf Aldous, der sich an der rank und schlank gewachsenen, nur an Becken und Oberweite gut gerundeten Erscheinung in Milchkaffeefarbener Haut regelrecht festguckte. "Du bis nur für mich. Die da kann jeden anderen haben", hörte er Thurainillas Kleinmädchenstimme in seinem Kopf. "Das habe ich gehört, Schwesterchen", lachte Itoluhila. Dann erzählte sie, was sie über mehrere tausend Kilometer Weg geführt hatte.

"Dass irgendwie eine Vampirin es geschafft hat, die Seelen ihrer Zöglinge in sich zu vereinen und mit dem Mitternachtsdiamanten eins zu werden wisst ihr. Dass diese Vampirin offenbar starke Kräfte entwickelt hat, die ihre Diener über mehrere Tausendschritte versetzen kann wisst ihr auch. Aber sie hat auch diese mit Unlichtkristall angefüllten Diener, die stärker als gewöhnliche Blutschlürfer sind. Mit denen müssen wir fertig werden. Ich habe einen nur besiegen können, weil ich es gewagt habe, in seinen Mund und seine Lungen einzudringen und darin meine ganze Kraft freizusetzen. Das geht aber auf die gelagerten Leben. Die einzig sichere Möglichkeit ist, so einen Blutschlürfer in die Nähe eines gerade geborenen oder nur wenige Tage alten Menschenkindes zu bringen. Dessen Schreie schwächen und töten ihn wie der Hahnenschrei das Schlangenungeheuer, dass Herpo erstmalig gezüchtet hat und dabei einen Han dazu gebracht hat, ein Ei zu legen. Können wir aber auch nicht immer sicher sein. Abgesehen davon sind Menschen sehr verwundbare Hilfsmittel, schon gar ihre Jungen."

"Und was soll ich jetzt tun? Vielleicht hilft mein Mantel der alles schwächenden Dunkelheit, sie zu lähmen oder zu unterwerfen, wie es bei allen anderen Bluttrinkern geht."

"Das könnte gehen. Aber dazu müsstest du immer in der Nähe von diesem Ungeziefer sein. Aber was ebenso bedrohlich ist sind die Seelensauger und Dunkelheitverbreiter. Gegen die kannst wohl nur du was ausrichten."

"Ich dachte, die seien alle vernichtet worden", wunderte sich Thurainilla.

"Viele von denen, aber wohl nicht alle", schnaubte Itoluhila. "Einer meiner Abhängigen fährt auf einem großen Fischfangschiff. Die haben vor einigen Tagen mehrere total willenlose Menschen aus einem Rettungsboot geholt. Über sein Medaillon bekam ich Wind, dass dabei wohl etwas mit auf das Schiff geschleppt wurde, dass dunkle Kraft verströmt. Weil mein Abhängiger durch mich magische Wesen sehen kann habe ich ihn gebeten, sich umzusehen. Er hat tatsächlich ein etwa zwei Meter großes Wesen in einem Kapuzenumhang gesehen. Unglück nur, dass es ihn auch erkannt und als Bedrohung eingeordnet hat. Ich musste meinen Abhängigen zu mir in die Schlafhöhle zurückholen, bevor dieses Ungeheuer ihn schwächen und ihm dann womöglich die Seele aussaugen konnte. Seine Seele gehört nur mir, nicht diesen Ausgeburten der Dunkelheit."

"Hört hört!" erwiderte Thurainilla und deutete auf ihren Schattenzwilling Riutillia und Aldous Crowne, den Schattenreiter. "Natürlich!" zischte Itoluhila. "Die und die Blutschlürfer mit Unlichtkristall im Körper sind unsere vordringlichen Widersacher. Auf jeden Fall möchte ich dich darum bitten, deinen Zögling und Erwecker loszuschicken, unsere Feinde und die uns bedrohenden Kräfte zu erforschen und was die Bluttrinker und Seelensauger angeht zu bekämpfen."

"Das hatte ich sowieso vor, dass er loszieht, um für mich neues Wissen und neue Leben zu finden", sagte Thurainilla. "Aber was ist mit Tarlahilias Abhängigen? Er kann besser gegen die das Sonnenlicht fürchtenden Kinder der Nacht kämpfen."

"Tja, offenbar will deine sonnige Schwester Tarlahilia das dir nicht erzählen, weil es ihr peinlich ist. Aber ihr Abhängiger hätte beinahe eine Suchtruppe dieser modernen Zauberstabschwinger am Hals gehabt", erwiderte Itoluhila mit spöttischem Grinsen. Dann erzählte sie, was zwei Tage zuvor passiert war. "Verstehe, diese Himmelsaugen, die Satelliten genannt werden", grinste Thurainilla. "Gut, das heißt also, dass nur wer in Dunkelheit am stärksten ist auch gegen die Feinde in der Dunkelheit kämpfen soll. Noch was, Itoluhila?"

"Ja, hör weiter in dich hinein. Sie ist nicht wieder ganz eingeschlafen. Vielleicht haben wir sie jetzt zumindest gelähmt, dass sie nicht vollständig aufwachen kann. Aber ich höre immer noch ihre verzögerten Gedanken."

"Ja, die höre ich auch und fühle auch, dass die Dunkelheit von ersten Versuchen meines ganz eigenen Feindes Kanoras erschüttert wird. Der Träumer wacht offenbar auch wieder auf."

"Vielleicht solltest du für uns vermitteln, dass wir mit ihm zusammen gegen die neue Blutschlürfersekte und ihre Anführerin kämpfen."

"Erst wenn du dich von einem Sohn unserer Mutterschwester freiwillig schwängern lässt, Itoluhila", schnarrte Thurainilla. "Kanoras' Knecht aus dem Volk der Übergroßen hätte Riutillia fast verschlungen, womit er auch einen Teil meiner eigenen Seele in sich behalten hätte. Ich will nicht von wem auch immer an einem geistigen Führstrick gelenkt und getrieben werden, genausowenig wie du, Ullituhillia oder Tarlahilia und wer vielleicht noch alles wieder aufwacht."

"Also kein Zweckbündnis", sagte Itoluhila. "Aber was deine spöttisch gemeinte Anregung angeht, Schwester, so könnte ich mir vorstellen, dass ich jenen für mich gewinnen könnte, der Hallitti und Ilithula in den ewigen Schlaf gestürzt hat. Soweit ich weiß ist er kein fleisch und Blut der Mutterschwester, sondern bekam ihre Präsenz aufgeprägt. Aber das kriege ich noch heraus."

"Wie denn, Wasserspielerin? Dazu müsstest du einen der neuen Magier in deiner Gewalt haben und gegen seine Leute als Kundschafter einsetzen." Itoluhila nickte verdrossen. Dann sagte sie:

"Wir wissen beide, dass Ullituhilia eine Dienerin in den Reihen der neuen Zauberstabschwinger hat. Wenn sie behutsam genug vorgeht werden wir erfahren, was genau mit dem jungen Zauberer ist, den Ilithula sich aneignen wollte und dabei den Zorn unserer verwünschten Mutterschwester erweckt hat."

"Und wenn der Jüngling wahrhaftig ein vergessener Sohn der verächtlichen ist, Schwester?" wollte Thurainilla wissen.

"Werden wir es hoffentlich früh genug erfahren, bevor wir denselben Fehler wie Ilithula begehen", knurrte Itoluhila. Dann verabschiedete sie sich von Thurainilla und ihrem kleinen Gefolge.

Nachdem Itoluhila sich fortteleportiert hatte bekam Aldous den Auftrag, das Fischereischiff zu finden, auf dem mindestens einer der Dunkelheit verbreitenden Geschöpfe sein mochte.

Als es über dem Dschungel tiefe Nacht war versetzte sich Aldous per Scotoportation, wie er es nannte, wenn er in Schattenform größere räume übersprang, in die Höhle, in der sein Motorrad stand. Er brauchte es nicht noch einmal zu bezaubern, solange der Mondumlauf noch nicht vorbei war, hatte seine Schattenmutter Riutillia ihm gesagt.

Als er fühlte, wie das Tageslicht von der kosmischen Dunkelheit abgelöst wurde saß er auf seiner Maschine auf und wechselte in die Schattenform über. Er ließ die für schlagkräftig gehaltenen Tentakellanzen ausfahren und schlängelte sich durch das Absperrgitter hinaus in die Nacht. Im Moment war der Himmel bedeckt, so dass unter den Wolken totale Dunkelheit herrschte. Das war genug Energie für den Schattenreiter, der sofort mit überschallgeschwindigkeit davonbrauste, um die nötige Absprunggeschwindigkeit für die Reise zu dem Fischereischiff zu haben. Er hoffte nur, dass dessen Beleuchtung ihm nicht zu sehr zu schaffen machte.

Fast wäre er mit seinem fliegenden Motorrad abgestürzt. Denn über dem westlichen Horizont strichen noch einige Sonnenstrahlen, die wie glühende Klingen in ihn eindrangen und auch seine Yamaha beutelten wie auftreffende Geschosse. "Unlicht an", knurrte er und knipste den Antilichtscheinwerfer an. Dieser brannte ein etwa zwanzig Meter großes Loch aus Dunkelheit in die Abenddämmerung. Die Yamaha erholte sich ein wenig und fing den rasanten Absturz wieder ab. Dann konnte Aldous Crowne das Schiff erkennen. Es fuhr scheinbar unbekümmert und unbehelligt auf dem Meer dahin, ein Trawler, ein Fabrikschiff, wo der Fang gleich verkaufsfertig gemacht und tiefgekühlt wurde, um nach Monaten auf See in den Handel gebracht zu werden.

Aldous fühlte sie schon, bevor er irgendwas dergleichen sah. Es war sowas wie eine pulsierende Kraft, ein Ein- und Ausatmen, dass ihm wohlige Wärme bereitete, aber zugleich auch klarmachte, es mit einem feindlichen, beinahe nur instinkthaft handelnden Wesen zu tun zu haben. Dann fühlte er noch so eine Präsenz und noch eine. Drei Wesen der Dunkelheit, die ihm guttat, aber für Menschen und dem Licht verbundene Geschöpfe schmerzhaft bis tödlich war. Er wünschte sich, dass sein Motorrad in den Sinkflug ging. So glitt er aus dem Osten auf das Schiff zu, wobei er noch schneller als der Schall flog. Erst knapp zwei Kilometer vor dem Schiff fing er die Geschwindigkeit komplett ab. Da die Massenträgheit für seine Zustandsform nicht galt konnte er von Mach eins auf total null in einer Zehntelsekunde abbremsen.

Erst einmal wollte er die Fremden beobachten, ob sie das Schiff bereits unter ihrer Kontrolle hatten. Der Sohn einer Dämonin wollte wissen, was drei andersartige Dämonen so anstellten. Dabei war er sich im klaren, dass sie ihn wohl auch schon spürten. Ja, richtig, und da kam auch schon eines dieser Wesen auf ihn zugeflogen, langsam zwar, wohl auch von den letzten Sonnenstrahlen gebremst. Doch es kam eindeutig auf ihn zu.

Als er das etwa drei Meter große Geschöpf in einem klammen Umhang mit Kapuze sah, dass von einem dünnen Schleier aus Dunkelheit umhüllt war musste er fast lachen. Das sah echt wie eine Gruselfigur aus irgendeinem Horrorfilm aus den 1930ern aus, wie irgendwelche Teufelsmönche das Leben unschuldiger Leute bedrohten, um ihrem gehörnten Meister frische Seelen zu verschaffen. Seelen verschaffen! War es das, was Monster wie das da in Gang hielt?

"Was bist du. Du bist kein Geist und kein Mensch", hörte er eine hohl klingende Stimme. Dann beschleunigte das unheimliche Wesen, wobei es schlagartig tiefe Dunkelheit ausbreitete. Die Yamaha wiegte sich jedoch in dieser plötzlichen Schwärze. "Du nimmst mir Kraft weg, lass das!" schnaubte das unbekannte Wesen. Doch Aldous ließ es nicht.

"Ich bin hier um zu wissen, was ihr seid und was ihr wollt", sagte er mit seiner in Schattenform sphärisch klingenden Stimme.

"Du bist ein Dunkelgeist, und doch füle ich was lebendiges in dir. Her damit!" blaffte die Kreatur, die nun nur noch drei Meter entfernt war. "Du willst mir nicht verraten, was du bist und was du auf dem Schiff machst?" fragte Aldous.

"Ich bin ein Krieger der letzten Stunden, von den Heutemenschen auch Dementor genannt, weil ich und meine Artgenossen den Geist der Menschen vergiften und entreißen können."

"Hast du einen Namen?" fragte Aldous.

"Zweiter von siebzig", knurrte der ihm immer noch entgegenfliegende. Dann reagierte das Schattenmotorrad. Es bäumte sich wie ein scheuendes Pferd auf und sprang mit unglaublicher Geschwindigkeit vor, gerade als das Wesen im Umhang seine Kapuze zurückwarf und Aldous in ein zahnloses,breit aufklaffendes Maul blickte, in dem er die zerfasernden und sich wieder zusammensetzenden Gliedmaßen von Menschen schimmern sehen konnte. Da trafen die Tentakellanzen der Schattenyamaha auf den Feind und glitten tief in ihn hinein. Der Angreifer wurde regelrecht aufgespießt. Aldous wünschte sich, dass das Geschöpf restlos vernichtet wurde. Dieses wehrte sich mit Dunkelheit. Doch die Dunkelheit war die Nahrung des Schattenreiters und seines Phantom-Motorrades. Tiefer und tiefer drangen die hohlen Spitzen der bigsamen Lanzen in den Körper des Feindes ein und saugten ihm seine Stofflichkeit aus. Er wurde immer kleiner und brüllte um Hilfe und um Gnade. Vom Schiff her flogen weitere Geschöpfe los. Da ruckelte die Yamaha und blähte sich auf. Aldous fürchtete schon, sein besonderes Zweirad würde unter ihm wegplatzen, als aus den Auspuffrohren leuchtende Schemen herausflogen, die entfernt an Menschen erinnerten. Dabei war auch die schauerlich anzusehende Erscheinung eines der Länge nach halbierten Mannes, die mit unglaublicher Geschwindigkeit zum Schiff zurückflog. Laut spotzend und fauchend entluden sich weitere dieser geisterhaften Abbilder, die sofort im Flug in Nichts verschwanden oder besser, für alle Augen unsichtbr wurden. Dann waren die zwei weiteren Wesen heran. Aldous fühlte, wie seine Maschine ein unheilvolles Eigenleben entwickelte. "Behalte die Oberhand!" befahl Riutillia. "Wenn du zu viel von ihnen einsaugst entgleitet dir dein Zweiradpferd noch!" fügte sie hinzu. Aldous versuchte, den nun losbrechenden Sturmangriff seines Motorrades zu bremsen. Doch wie ein über Wochen ausgehungertes, von der Kette losgelassenes Raubtier stürzte sich die Yamaha mit um sich peitschenden Tentakelllanzen auf die Feinde, die versuchten, dem unheimlichen Etwas auszuweichen. Nur der Umstand, dass Aldous in Schattenform war schützte ihn vor dem zupackenden Griff eines Dementors. Doch dafür drohte ihm der dritte mit seinem weit aufgerissenen Maul den Kopf von den Schultern zu saugen. Nur eine statt seiner in den gierigen Schlund hineinstoßende Tentakellanze bewahrte ihn davor, doch jetzt schon seine zweite Daseinsform zu verlieren.

Wie bei dem ersten wurden auch die beiden anderen Dementoren regelrecht ausgesaugt, wobei wieder laut rülpsend, scheppernd und fauchend geisterhafte Abbilder von Menschen aus den Auspuffrohren brachen. Dann war keiner von ihnen mehr da.

Die Yamaha schwirrte wie eine aufgescheuchte Hornisse mit mehr als Schallgeschwindigkeit herum, nicht aus Angst vor weiteren Feinden, sondern aus Hunger nach mehr von denen, wie Aldous spürte. Sein Motorrad hatte nun ganz und gar ein Eigenleben entwickelt. Wenn er das nicht unter Kontrolle bekam würde es nur noch nach diesen dämonischen Wesen suchen, die offenbar Seelen von Menschen in sich aufsaugen konnten, die die Yamaha als eine Form von Stuhlgang oder Leibwind wieder ausstieß, sofern, wie Aldous nun fühlte, es nicht die Seelen von schweren Untaten belasteter Leute waren. So hatte die Yamaha die Seele eines Mannes in sich aufgesaugt, der vor sieben Jahren hundert Menschen in Ex-Jugoslawien ermordet und mindestens genauso viele junge Frauen vergewaltigt hatte.

"Da ist keiner mehr, Sharon", knurrte Aldous und zog an den Lenkern. Doch das Motorrad wollte ihm nicht gehorchen. Wie war er auf den Namen Sharon gekommen, wegen des Films mit Sharon Stone, wo sie eine durchtriebene, ihre Reize voll ausspielende Männermörderin gespielt hatte?

"Is' gut jetzt, Sharon. Kein neues Futter da!" knurrte Aldous und versuchte, die Maschine herumzureißen, die wohl keine Maschine mehr war.

"Du führst mich zu den anderen. Habe noch mehr Hunger!" erklang eine blecherne, eindeutig weiblich ausgeprägte Stimme.

"Wir fliegen nach Hause, Süße!" knurrte Aldous.

"Nein, du bringst mich zu den anderen. Ich fühle das, dass es noch mehr gibt. Die drei waren noch zu wenige. Sie haben aber lecker geschmeckt. Will mehr von denen!"

"Nix gibt's!" Knurrte Aldous, der zum ersten mal in seinem zweiten Leben richtige Furcht empfand, und da war er nicht der einzige.

"Sie hat aus einem von denen die Seele einer triebhaften Frau herausgesaugt, die genauso hungrig nach geschlechtlicher Vereinigung ist wie meine fleischliche Schwestern. Du kannst sie nur bezwingen, wenn du auf dem Schiff landest und fleischlich wirst. Dann ist sie in dem Zweiradpferd eingesperrt, bis ich oder Thurainilla sie in uns einsaugen."

"Ich habe Hunger. Wo sind noch mehr von denen?" schnaubte die blecherne Gedankenstimme des unheilvoll belebten Motorrades. Aldous erwähnte, auf dem Schiff. Sofort jagte das Gefährt auf das Schiff zu und sauste wie ein Geschoss durch eine offene Ladeluke. Doch dahinter flutete gerade helles Licht. Aldous schrie auf. Es war, als würde er im Höllenfeuer selbst verbrennen. Dann schepperte es laut. Er fühlte, wie er aus dem Sattel geworfen wurde und auf dem Boden aufschlug. Er hatte wieder feste Form. Das Licht blendete ihn fast. Er saß in der Falle.

"Okay, Geisterreiter, wer oder was du immer bist, jetzt ganz langsam aufstehen und die Hände hoch", blaffte eine verärgerte Männerstimme. Aldous konnte nicht sehen, ob der Mann groß oder klein, bewaffnet oder unbewaffnet war. Er wusste nur, dass er sich im Moment nicht wieder in eine Schattenform verwandeln konnte.

"Okay, Leute, ich will keinen Ärger. Macht erst mal dieses grelle Licht aus. Dann kriegt ihr von mir die Infos, was los ist", sagte er auf Zeit spielend. Da wurde es schlagartig dunkel, und er fühlte, wie ihm wieder neue Kraftzufloss. "Nicht verwandeln, damit ich dich mitnehmen kann", flüsterte ihm Thurainillas Gedankenstimme zu.

"Mistkerl!" brüllte der Fremde und wollte wohl mit etwas schießen. Doch es klickte nur.

"Auch wenn ihr so drauf schwört, wo mein Hauch der Dunkelheit wirkt erlischt das kleinste Feuer oder brennt erst gar nicht an", lachte Thurainilla. Für Aldous klang ihre Stimme schön, hoch und überlegen. Für den Fremden schien gerade die Hölle auf Erden ausgebrochen zu sein. Er schrie laut und winselte, als würde er gefoltert. "Buuh!" machte Thurainilla. Der andere schrie noch lauter, dass seine Stimme von den Wänden mehrfach widerhallte. Dann fühlte Aldous eine warme Hand in seinem Nacken und dann einen kurzen Anfall von Schwerelosigkeit. Als dieser vorbei war stand er in Thurainillas Schlafhöhle. Hinter ihm glühte der Lebenskrug auf. Er musste sich die Hände vor die Augen halten, weil für seine Daseinsform das Licht zu hell war. Dann polterte es, und Thurainilla war mit der verhexten Yamaha zurück. Keine Sekunde später erschien aus dem Nichts heraus ein metergroßer Nachtfalter. Aldous wusste, dass das die Zweitgestalt von Riutillia war, wie es in lebendiger Form auch die Zweitgestalt Thurainillas sein konnte.

"Sie ist im Tank gefangen. Saug sie da raus", befahl Thurainilla. Der schattenhafte Riesenfalter legte sich über das Motorrad und schob den Saugrüssel durch eines der Auspuffrohre. Wenige Sekunden später begann der Rüssel zu pulsieren, während das Motorrad halb durchsichtig wurde, als habe jemand es in Milchglas verwandelt. Aldous konnte eine sechs Zentimeter große Kugel mit um sich peitschenden Tentakeln erkennen, die in den pulsierenden Rüssel geriet und verschwand. Unvermittelt war das Motorrad wieder undurchsichtig.

"Sie hat ihre eigenen ungeborenen Kinder gegessen, wenn sie sie gewaltsam aus sich hinausgetrieben hat", bemerkte Riutillia. "Der Lenker des großen Schiffes hat sie deshalb in einer Zelle eingesperrt, damit seine Leute eine Triebabfuhr haben, sie aber nicht an die Sachen kam, um neue Kinder von sich vor der Geburt umzubringen."

"Und diese Psychopatin haben die Dementoren erwischt?" fragte Aldous. Thurainilla sah ihn zwar vorwurfsvoll an. Doch dann nickte sie. "Und meine Mutter und uns nennt ihr Ungeheuer, Dämonen, Ausgeburten irgendeiner Hölle, von der ihr euch nicht mal einig seid, wo sie ist und wie es dort zugeht."

"Hast du sie jetzt zumindest ganz einverleibt, Mutter?" fragte Aldous.

"Ja, habe ich. Sie wird keinem anderen Menschen mehr gefährlich", bestätigte Riutillia. "Aber jetzt wissen wir, dass dein Zweiradpferd diese Seelensauger selbst in sich einsaugt. Da müssen wir also aufpassen, wen die vorher in sich einverleibt haben."

"Das Schiff ist auf jeden Fall frei. Ich habe keinen weiteren dieser alten Seelentrinker mehr gespürt", sagte Thurainilla.

"Und was ist mit der Besatzung?" wollte Aldous wissen.

"Die wird es sich nicht erklären können. Kann sein, dass sie alle wahnsinnig werden. Kann aber auch sein, dass sie so tun, als wenn das alles nur ein schlechter Traum war, sowie das bei Riutillia und mir immer gerne behauptet wurde, wenn wir unsere Nahrung gesucht haben."

"Kann ich das Motorrad wieder benutzen?" fragte Aldous.

"Jetzt, wo die verdorbenste Seele nicht mehr darin gefangen ist ja", sagte Thurainilla. Dann meinte sie: "In den nächsten Tagen wirst du einen der Blutsauger fangen und zum Verhör bringen. Riutillia wird ihn in sich aufnehmen und restlos auszehren. Dann wissen wir alles über die im Stein der ewigen Mitternacht hausende Anführerin."

"In Ordnung", sagte Aldous. Immerhin hatte er heute, obwohl von dunkler Magie durchsetzt, mitgeholfen, ein anderes dunkles Übel zurückzudrängen.

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29. Juni 2002

Comandante Federico Gonzales Rojas blickte auf den Plasmabildschirm, auf dem nun in Einzelbildfolge das Video des geflüchteten Motorrades abgespielt wurde. Jedes Einzelbild blieb für drei Sekunden. Somit dauerte eine mit 30 Bildern pro Sekunde aufgenommene Realminute mehr als eine Stunde. Um nicht wirklich ein Fünf-Minuten-Video in Einzelbildern ansehen zu müssen hatten sie beschlossen, nur die entscheidende halbe Minute zwischen dem normalen Fahren und dem unvermittelten Abheben und infrarotdunkel werden des Motorrades abzuspielen. Sie mussten wissen, ob hier ein technischer Trick angewendet wurde. Federico musste alles ausschließen, was irgendwie rein technisch erklärbar war. So wurde es eine schon abendfüllende Diaschau, die er sich und seinen Untergebenen zumutete.

"Jetzt muss es passieren", sagte Pedro Valdez Manero, der Fachmann für Videobearbeitung. Da passierte es auch. Die Infrarotaufnahme, die wegen der wärmeabschirmenden Wirkung der Motorradkluft nur eine gespenstergleiche Erscheinung ermöglichte, flackerte. Es sah aus, als würde das Bild an unterschiedlichen Stellen von schwarzen und weißen Flecken durchsetzt, die aber immer an unterschiedlichen Stellen waren. Dann sah es aus, als würde das gesamte Bild von Rissen und Löchern durchsetzt, um dann zehn Bilder später jene Darstellung zu zeigen, dass ein scheinbar tiefgekühltes Motorrad mit seinem Fahrer abhob. Allerdings wirkte das Motorrad im Vergleich zu vorhin doppelt so groß, wobei die Ränder von Dellen und Ausbuchtungen verzerrt wurden. Mit einem Knopfdruck schaltete Valdez die Bildwiedergabe auf Farbumkehr. Was schwarz war wurde weiß. Alle dunklen Stellen wurden zu hellen Flächen. Jetzt sahen sie das Bild eines in einer wellenförmigen und Wolken verbreitenden Aura dahingleitenden Motorrades und seinen Fahrer, der nicht mehr als dreidimensionale Erscheinungsform zu erkennen war. Dann folgten drei Einzelbilder, wo das Motorrad in einem Steigungswinkel nach oben strebte, dass das hinter dem Helmvisier liegende Gesicht zu erkennen war.

"Sofort ID-Abggleich. Das darf es nicht geben", knurrte Gonzales Rojas. Sein Assistent verstand und setzte das benötigte Programm in Gang. Dieses verglich die Aufnahme mit der aktualisierten Datenbank der Guardia Civil, Interpol und FBI. Dabei kam heraus, dass der heimliche Entwender des Motorrades zu über 90 % mit Aldous Crowne identisch sein musste. Die verbliebene Ungenauigkeit rührte davon her, dass der Motorradanzug und der Helm eben sehr gute Wärmespeicher waren.

"Dann ist zu klären, was ihm widerfahren ist, dass er sich derartig verändert hat", sagte Gonzales Rojas. Er hatte schon die Hand am Hörer, um eine Kollegin in der Abteilung für Straftaten im Bereich von Esoterik und Okkultismus anzurufen. Estrella Monica Lorca Romero musste diese Bilder sehen, um zu bestätigen, ob es hier wahrhaftig mit übernatürlichen Kräften zuging. Falls ja, so war nun amtlich, dass Crowne mit unheilvollen Mächten in Verbindung gekommen war. Welche mächte das waren durften dann Lorca Romeros Kollegen prüfen.

Keine Abgase, auch nicht im Inversionsmodus", sagte der Techniker am Rechner. "Das sieht ganz so aus, als benötige die Maschine keinen Verbrennungsmotor, sobald sie in diesen Zustand eingetreten ist."

"Fährt wohl mit Mondenergie, wie?" fragte der Comandante, um nicht zu verdeutlichen, wie tief ihn dieses Video berührte.

"Diese drei Bilder ausdrucken! Die Kopien in den Hochsicherheitstresor, sobald mit Verschlüsselung C-19 verborgen!" befahl Gonzales Rojas seinem Assistenten.

"Wenn der das wirklich ist, Comandante, dann ist der echt von Aliens manipuliert worden, und das Motorrad nutzt eine uns noch völlig unbekannte Energiequelle. Vielleicht erscheint es deshalb auch so schwarz also kalt, weil es ähnlich wie ein schwarzes Loch Strahlung schluckt.

"Malen Sie mal bloß nicht den Teufel an die Wand!" erwiderte der Comandante. Wer es schaffte, eine der größten und zerstörerischsten Kräfte im Universum auf kleinstem Raum nachzuvollziehen konnte die Erde in ein Chaos stürzen. Jetzt hoffte er, dass seine Kontakte ihm so diskret wie möglich halfen.

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30. Juni 2002

Er war gerade seit einem Tag aus Afghanistan zurück, Selenophilos, ein ehemaliger Vollmondvampir, der jedoch durch die in Afghanistan gezüchteten Unlichtkristalle groß und aschgrau geworden war, dafür aber mehr aushalten konnte als seine unbehandelten Artgenossen. Jetzt stand Selenophilos vor dem mittleren Gebäude Wache, in dem ganz klammheimlich wieder an Solexfolien gearbeitet wurde.

Es wurde Abend. Die zunehmende Dunkelheit tat dem Kristallstaubvampir gut. Sie regte aber auch seinen Blutdurst an. Zwar gab es hier in der Gegend nur normale Rotblütler. Aber die würden es auch tun. Gleich würde sein Kollege und Artgenosse Wolkenspringer aus seinem dunklen Kellerraum hervorkommen. Wolkenspringer war noch kein Kristallstaubvampir und sollte wohl auch keiner werden.

Die Sirene für den Schichtwechsel heulte los. Selenophilos zuckte zusammen. Obwohl er sich vorsorglich Ohrenstöpsel in die Gehörgänge geschoben hatte war das Geräusch der Sirene für ihn fast unerträglich laut. Doch da war noch was. Er meinte, aus dem Osten etwas schnelles, mächtiges und gefährliches heranfliegen zu fühlen. Der Kristallstaubvampir hatte durch seine Veränderung ein Gespür für dunkle Magie bekommen. Wer mochte da was von ihm wollen?

Die unbekannte Kraft kam von oben herunter und flog dabei so schnell wie eine abgefeuerte Kanonenkugel. War das womöglich sowas wie ein mit Magie geladenes Geschoss?

Selenophilos ging sofort in Abwehrstellung. Er wetzte unhörbar um den Gebäudekomplex herum, den er bewachte und der größtenteils automatisiert und ferngesteuert war. Dann wurde aus dem aschgrauen Vampir eine menschengroße Fledermaus mit stachelartigem Fell. keine üblichen Waffen konnten ihm jetzt noch was anhaben. So stieß er sich vom Boden ab und jagte der frei beweglichen Quelle dunkler Magie entgegen.

Der Vampir, der im Dunkeln so gut sehen konnte wie Menschen im Licht der Mittagssonne machte den Schatten aus, der auf die Fabrik zuflog, völlig geräuschlos, nicht mal die Luft um sich herum verwirbelnd. Selenophilos hatte die Ohrenstöpsel vor seiner Verwandlung entfernt, um frei hören zu können. Dennoch hörte er keinen gegen das Etwas anstürmenden Wind. Dann wusste er, was es war: ein fliegendes Motoorad mit einem einzigen Fahrer darauf. Der Fahrer hatte wohl den Vampir auch bemerkt und bremste, dann brach die wie ein dunkler Schatten beschaffene Maschine nach links weg, um sofort danach einen gewaltigen Satz zu machen um dann vom Süden her anzufliegen. Selenophilos erkannte, dass dieses fliegende Phantom zu schnell für ihn war. Er wollte der nun gezieltauf ihn zufliegenden Maschine ausweichen. Doch sie passte sich seiner Flugbahn an. Jetzt trennten ihn und das dunkle Magie verströmende Etwas nur noch fünfzig Meter. Der Kristallstaubvampir ärgerte sich, nur die Flucht als Mittel zu haben. Er stürzte sich in die Tiefe, kurz bevor das Schattenmotorrad mit seinem ebenso dunklen Reiter ihn erreichte. Das unheilvolle Fahrzeug verfehlte ihn um knapp einen Meter. Doch dann passte das gespenstische Gespann aus Zweirad und Fahrer die Flugbahn an und jagte dem Vampir nach.

Selenophilos versuchte noch einmal, dem Gegner zu entwischen. Doch diesmal spielte das verwünschte Vehikel einen neuen Trick aus. Aus den Rädern wuchsen auf einmal meterlange Klingen, die nur der Vampir als solche erkannte, weil er bei völliger Dunkelheit klar sehen konnte. Selenophilos schrie mit Stimme und Geist laut auf, als die wirbelnden Klingen ihn trafen, und von ihm abprallten. Die Geistermaschine mit ihrem gespenstischen Lenker wurde vom Abprall aus der Flugbahn geschleudert und rollte zweimal um die Längsachse, bevor sie sich wieder fing. Der Kristallstaubvampir lachte. Offenbar waren die Klingen aus dunkler Magie, und die konnte ihm doch nichts anhaben. Dann hatte er doch eine Möglichkeit, dieses Phantom zu besiegen.

Selenophilos warf sich herum, um genau in den Strahl aus Unlicht zu blicken, den das große Runde Ding zwischen Vorderrad und Lenkung verschickte. Der Strahl prallte auf den Vampir und wurde zu einer völlig lichtundurchlässigen Sphäre, die ihn umschloss. Er hörte einen lauten Fluch in englischer Sprache und fühlte, wie das unheilvolle Ding wohl einige Dutzend Längen von ihn zurückgeschleudert wurde.

"Damit kannst du mir nichts!" frohlockte Selenophilos. Da er jedoch gerade in Fledermausform war klangen seine Worte für Menschenohren wie ein schrilles, knapp unter der oberen Hörbarkeitsschwelle klingendes Zwitschern. Dennoch schien der Gegner ihn verstanden zu haben oder zur selben Einsicht gekommen zu sein wie er. Der schwarze Unlichtstrahl erlosch und damit die den Kristallstaubvampir umschließende Kugelschale. Er kam wieder frei und ging nun selbst zum Angriff auf den Lenker über.

Das fliegende Motorrad bäumte sich auf wie ein scheuendes oder zum Frontalangriff ansetzendes Pferd. Selenophilos lachte innerlich. Da schrillte eine warnende Frauenstimme in seinem Geist: "Pass auf!" Doch es war schon zu spät. Er prallte mit Wucht auf das Vorderrad und fühlte im selben Moment, wie vier dünne Auswüchse daraus zielgenau in Seine Ohren, die Nasenlöcher und den Mund hineinstießen. Er fühlte die Fremdkörper wie zehnfach beschleunigte Schlangen oder Würmer in ihn eindringen, jeden Hohlraum nutzend. Zwar bot sein Körper gegen direkte Treffer Widerstand. Doch als etwas aus den in ihn hineingefahrenen Auswüchsen in Kopf und Bauch hineingedrückt wurde und anfing wie wild zu vibrieren erkannte er, dass er voll in eine tödliche Falle geraten war. "Ich hol dich zurück!" hörte er noch seine Herrin und Göttin. Doch das immer schriller und schmerzvoller wütende Etwas in ihm übertönte diese Ankündigung fast.

"Nix da, du gehörst meinem Lenker!" hörte er aus dem in ihm immer lauter und höher klingenden Schrillen eine metallisch nachhallende, geschlechtlich weiblich klingende Stimme.

Um Selenophilos wirbelten auf einmal jene schwarzen Schlieren, mit denen seine Göttin ihre Diener holen und an einen ort versetzen konnte. Doch da sezte wieder jene Strahlung aus dem runden, augenartigen Etwas unter dem Lenkgestänge ein und umhüllte ihn. Wieder wurde er in eine dunkle Sphäre eingeschlossen. Die verheißungsvolle Kraft, die ihn fast in Sicherheit gezogen hatte, verebbte. Im gleichen Maße gewann die in seinem Bauchraum wütende und in seinem Kopf schrillende Kraft noch mehr stärke. Er fühlte, wie sein Bauch und seine Eingeweide aufgebläht wurden und sah silberne Kreise vor seinen Augen tanzen. Er sah noch in die ihm entgegenblickenden blau leuchtenden Augen des Lenkers, bevor sein ganzer Körper wie wild zu vibrieren begann. Die Schwingungen verstärkten sich innerhalb eines Augenblicks zur Unerträglichkeit. Dann fühlte Selenophilos, wie es ihn regelrecht in Millionen Stücke zerriss. Er schrie im Geiste auf, als sein Körper zerbarst und die winzigen Bruchstücke gegen die ihn umschließende Kugelschale prallten, um davon eingesaugt zu werden. Er fühlte, wie er auf ein grelles Licht zustürzte. und hörte noch zwei Frauenstimmen, die eine war die seiner Herrin, die andere war jene metallisch nachhallende Stimme:

"Nein, seine Seele gehört mir!" brüllte Gooriaimiria, die schlafende Göttin. Die andere Stimme dröhnte: "Nein, die hab ich jetzt. Mjamm!" Dann fühlte er einen mörderischen Sog, der ihn in ein immer engeres Etwas hineinzerrte und verging in einem Wirbel aus freigesetzten Erinnerungen und Gefühlen.

Aldous Crowne, der Schattenreiter, sah mit einer Mischung aus Staunen und Beklommenheit, wie das Unlicht, das vorhin ihn und Sharon von dem überzüchteten Vampir zurückgeworfen hatte, ihn und diesen umschloss, als seine Wunschvorstellung, ihm strohhalmdünne Schläuche in Kopf und Magen zu treiben von Sharon umgesetzt wurde. Er wusste jetzt, dass dunkle Magie von diesem Monster abgewehrt wurde, wenn sie von außen auftraf. Aber wie war es damit, wenn sie in ihm freigemacht wurde? So dachte er daran, dass eine immer schneller und stärker schwingende Ladung seiner Schattenmagie in das Unwesen hineingepumpt werden sollte. Das gelang auch, und sein Kalkül ging auf. Das Geschöpf begann ab einer bestimmten Rate mitzuschwingen, bis es von der Eigenschwingung regelrecht in Stücke gesprengt wurde. Er sah noch eine blutrote Leuchterscheinung eines Mannes, die jedoch regelrecht vom dunklen Strahl des Antischeinwerfers eingesaugt wurde und darin verschwand. Da hörte er jene blecherne Gedankenstimme, die seit der Taufe seines Motorrades weiblich klang. "Mehr von denen. Die sind lecker!" War er sich vorher nicht ganz sicher gewesen, so wusste er nun, dass sein Motorrad, wenn es mit ihm in der Schattenform war, ein Eigenleben bekommen hatte.

"Da unten sind noch Normalos von denen, Süße. Guten Hunger!" dachte Aldous, der fühlte, dass dort unten noch mindestens drei Vampire waren, die nicht mit diesem Kristallzeug vollgepumpt worden waren. Sharon stürzte sich mit ihm in die Tiefe und jagte auf das Gebäude der Fabrik zu. Dabei sandte sie ihren Strahl aus völliger Dunkelheit aus. Wer davon getroffen wurde erstarrte in Lähmung und Hilflosigkeit.

Weil er nicht wie ein vollständiger Nachtschatten oder Geist durch feste Wände konnte, wenn diese kein Licht durchließen, suchte und fand er eine große Fensterscheibe, vor die im Moment keine Jalousie herabgelassen war. Das dahinter leuchtende Licht wurde von Sharons Unlichtkegel vollkommen verschluckt, allerdings zum Preis, dass die magische Wirkung auf Lebewesen damit aufgehoben wurde, die in dem Raum waren. Doch so hatte Aldous nun freie Bahn, um ohne sie zu zerschmettern die Sicherheitsglasscheibe zu durchfliegen und in die große Halle zu kommen, wo zehn Männer an laufenden Maschinen arbeiteten, die durch das magische Unlicht abgewürgt wurden, weil der sie antreibende Strom wie das Licht verschluckt wurde. Bei den Zehn Männern waren drei, die keine Menschen waren. Sie hatten sich nur als Menschen verkleidet, indem sie unter ihrer Arbeitskleidung eine Lichtundurchlässige, fleischfarbene Schutzhaut trugen.

Als sie das auf sie zujagende Gespann aus Schattenzweirad und Schattenfahrer sahen wollten sie flüchten. Einem gelang es, zu einer Tür zu kommen. Die zwei anderen gerieten unvermittelt in die Reichweite hervorschießender Stechrüssel, die sich, weil hier keine alle dunkle Zauberkraft zurückprellende Magie wirkte, in die Opfer eindrangen wie ein heißes Messer in Butter. Augenblicklich fühlte Aldous, wie Sharon den Getroffenen die Lebensenergie und damit auch die Seele aussaugte, wie sie es bei den Dementoren getan hatte. Die Vampire schmolzen regelrecht zusammen, wobei die ihnen verlorengehende Körpersubstanz in die pulsierenden Saugrüssel hineingezogen wurde. Der dritte Vampir, der an der Tür war, verschwand in einem dunklen Strudel, der sofort, nachdem er den fliehenden eingefangen hatte in sich zusammenfiel und zu einem winzigen schwarzen Punkt wurde, der leise piffend im Nichts verschwand.

"Genialer Trick", dachte Aldous anerkennend, während Sharon die zwei von ihr angebohrten Vampire restlos vertilgte. Die Zeugen dieses dämonischen Vernichtungsaktes rannten laut schreiend in alle Richtungen, stießen gegeneinander oder gegen die gerade lahmliegenden Maschinen. Aldous beachtete sie nicht weiter. Sie wollten und konnten ihm nichts. Die wollten nur ihre Haut retten und ihre Seelen.

Es knallte irgendwo, was nur der mit hochempfindlichem Gehör begüterte Aldous hörte. Dann fühlte er, wie der Druck, den das in die Halle geschickte Licht bis eben noch ausgeübt hatte verschwand. Nun gewann Sharons Unlicht die völlige Oberhand und damit auch wieder jene Menschenkörper und -seelen lähmende Magie. Für Ohren hörbar trat völlige Stille ein. Aldous vernahm nur rein geistig das gequälte Wimmern und Stöhnen der Erstarrten.

"Wo sind noch mehr. Ich will die alle in mich einsaugen und genießen!" hörte er Sharons blecherne Gedankenstimme in sich. Er fürchtete schon, dass sie wieder so ausrasten würde wie beim Vertilgen der Dementoren und der von diesen einverleibten Seelen. Doch sie fing nicht an, wie wild herumzurasen, um nach neuer Beute zu suchen. Sie blieb ruhig stehen und wartete. Aldous fühlte jedoch keine weitere Vampirausstrahlung in der Nähe. "Keiner mehr da, Süße! Wieder nach Hause!"

"Bring mich zum zweiten Platz. Habe noch Hunger!" bekam er zur Antwort. Er überlegte, ob er dieser Aufforderung nachkommen sollte. Vielleicht wartete er auch auf eine entsprechende Bemerkung seiner Schattenmutter Riutillia. Diese Sekunden reichten aus, um ihn in Bedrängnis zu bringen.

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Albertine Steinbeißer, Mitglied der Außeneinsatztruppe der Unterbehörde zur Regelung des Nebeneinanderbestehens von Menschen mit und ohne Zauberkräfte, umgangssprachlich Muggelkontaktbüro genannt, sprach gerade mit ihrem Vorgesetzten Armin Weizengold über die weiteren Schritte zur Verheimlichung der Auseinandersetzung mit den Vampiren und Werwölfen, als die weiße Kerze im silbernen Kerzenleuchter mit roter Flamme aufleuchtete. Die Flamme wuchs und schrumpfte im Sekundentakt zwischen halb so groß und doppelt so groß.

"Bei den Lichtwachen wurde Alarm ausgelöst, weil ein Spürstein in der Muggelwelt mit einer Menge Magie ausgelöst wurde", sagte Weizengold und griff nach einem Ding, das aussah wie ein vom restlichen Apparat abgetrennter Hörer eines klassischen Fernsprechers der Magielosen. Er sprach in das untere Ende des Objektes und lauschte. "Gut, ich schicke Fräulein Steinbeißer mit deinen Leuten raus, Keno. Wo genau ist das? JWD, wie die in Berlin sagen. - Ja, ich weiß, keine Muggelabkürzungen ohne vorweg vermittelte schriftliche Erläuterung, Keno. Gut, meine Mitarbeiterin ist gerade bei mir und in einer Minute bei deinen Leuten da oben am Wattenmeer. - Sicher vertraue ich dir, dass du mir die Notizen zu dem Vorfall zuschickst. Meine Mitarbeiterin geht auch nur mit, um die dabei betrofffenen Muggel zu versorgen. - Nein, sie wird euch nicht vor den Zauberstäben herumtanzen. - Öhm, das verbitte ich mir, zumal es weder dich noch mich etwas angeht, wie meine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ihr Leben führen und ... - Ist so, Keno. Und jetzt machen wir besser schluss, damit was auch immer nicht in der Zeit alle betroffenen Muggel umbringt, die wir sonst verschwenden müssten. - Bis dann!"

"Keno Grasbrook?" fragte Albertine, die sich schon dachte, was das Ende des Gespräches sollte. Immerhin hatte sie eine kurze Affäre mit Kenos Tochter Meta gehabt, bis die erkannt hatte, dass sie, um Mutti zu werden, wohl doch besser auf einen Mann ausgehen sollte und sich Heiko Tiefensand geangelt hatte, dessen Nachnamen und ersten Sohn sie bekommen hatte. Grasbrook hatte das damals mitbekommen, wohl weil er, ohne Meta drauf hinzuweisen, einen Zauber an ihr ausgeführt hatte, der ihr den Namen der ersten Person verriet, mit der sie die erste Liebeswonne erlebte. Dass Albertine deshalb keinen Ärger bekommen hatte lag einfach daran, dass Meta da schon über siebzehn und mit Greifennest fertig war.

"Er ist selbst nicht mit dabei. Sein Einsatztrupp wird von Klaus Mattisen geleitet. Näheres in der Einsatzleitstelle Friesland. Viel Erfolg!"

Albertine bestätigte den Einsatzbefehl und verließ das Büro ihres Chefs. Im für freies Apparieren freigehaltenen Hauptfoyer des Zaubereiministeriums disapparierte sie, um keine Sekunde später in der Lichtwacht Friesland einen Kilometer von der Nordseeküste entfernt aufzutauchen. Mattisen war ein kleiner, kugelrunder Zauberer mit hellblondem Haar und bis zum Stehkragen seines blütenweißen Umhangs wallenden Vollbart. Er begrüßte Albertine kühl und sachlich wie ein Vollblutbürokrat.

"Dunkle Magie, ähnlich wie bei Nachtschatten oder dem Tenebrae Totalum, außerdem sowas wie eine Art Saugwirkung. Könnte sein, dass das die Dementoren sind, die Shacklebolt für wieder auferstanden erklärt hat", sagte Mattisen. Könnten aber auch die Vampire sein, die ein neues Nocturnia aufbauen wollen. Also besser Sonnensegenschmuckstücke mitnehmen und vorher Selbstbezauberung anwenden!"

Albertine behandelte sich selbst mit dem Zauber Segen der Sonne, bevor sie durch Gabe eines Blutstropfens auf eine goldene Nadel einen goldenen Armreif auf sich prägte, der mit sieben Sonnensegen aufgeladen war. Als sie ihn anlegte meinte sie, die Sommersonne vom Vortag sei jetzt, obwohl es schon elf Uhr abends war, mit voller Stärke zurückgekehrt.

Die Portschlüsselmacher der Lichtwache hatten nach Bestätigung der genauen Bezugspunkte einen rot-weißen Rettungsring mit der Aufschrift "Seebrise" zum Portschlüssel für zehn Personen gemacht. Der Einsatzleiter schlüpfte in den Ring hinein, während die acht Mitarbeiter und die Kollegin vom Muggelkontaktbüro sich am Ring und den Halteschlaufen festhielten. "Und drei - zwei eins -Looos!" rief Mattisen. Da wirkte die Portschlüsselmagie auch schon auf sie ein.

Als der Flug durch den wilden Farbenwirbel beendet war landeten alle ziemlich sicher auf ihren Füßen. Die Benutzung von Reifen oder Ringen als Portschlüssel hatte sich seit Jahren bewährt, um gleich nach der Landung in den Einsatz zu gehen, ohne erst einmal aufstehen oder sich aus dem Knäuel der Mitgereisten befreien zu müssen. Albertine fühlte sofort, wie der von ihr umgelegte Armreif vibrierte und weitere Wärmeschauer in ihren Körper hineinjagte. In der Nähe musste eine starke, der Sonne oder dem Licht entgegenwirkende Zauberkraft wirken.

"Wir sind in einer Fabrik, Leute. Was wird hier hergestellt?" fragte Albertine, während sie mit Hein Weidenstock zusammen durch einen von diesen hellen Leuchtstoffröhrenlampen erhellten Gang eilte, um die Quelle der dunklen Magie zu erreichen.

"Soweit ich weiß werden hier besondere Spielsachen für Erwachsene hergestellt, die sich ganz doll liebhaben wollen oder die dazu keinen Partner haben oder so", erwiderte Weidenstock mit einem unverkennbar norddeutschen Zungenschlag.

"Also was mit elastischen Stoffen, die Hautfreundlich sein sollen", bemerkte Albertine, die das kurze Zwinkern des Begleiters übersah. Er nickte. Dann bog er nach links ab, immer dem Ausschlag eines Dunkelkraftkompasses folgend, der zur Standardausrüstung der Lichtwächter gehörte.

sie gerieten in dunkle Gänge. Doch die Dunkelheit hier war natürlich. Mit der Magie, die sie alarmiert hatte kamen sie erst fünfzig Meter weiter in Berührung. Albertine meinte erst, gegen einen Vorhang aus mit Eiswasser durchtränkter Seide zu prallen, bevor sie um sich herum nichts und niemanden mehr sehen konnte. Doch eine halbe Sekunde nach der Berührung mit der verdunkelnden Kraft hatte der in ihr entfaltete und vom Armreif gespeicherte Sonnensegen sie schon gegen diesen Einfluss abgeschirmt. Allerdings meinte Albertine, in einen Bereich verzerrter Geräusche zu dringen. Ihre Schritte klangen wie in Einzellaute zerhacktes Kratzen am Boden, und der Widerhall fehlte völlig. So konnte sie nicht sagen, wie groß der Raum war, in den sie eingetreten waren. Sie bezauberte sich mit dem Strigoculus-Zauber für Nachtsicht. Doch der half ihr nicht weiter.

"Sonnenstrand!" hörte sie eine unheimliche, wie das entfernte Brüllen eines sein Revier marrkierenden Raubtieres klingende Anweisung. Darauf erfüllte erst dunkelrotes, und dann ins Orange übergehendes Licht den Raum. Albertine erkannte nun, dass sie in einer Werkshalle stand, wo mehrere große Maschinen und Förderbänder wie schlafende Metallungeheuer aufgereiht waren. Dann sah sie die sieben frei schwebenden Sonnenlampen, die für einen vollen Tag genauso hell strahlen konnten wie das natürliche Tagesgestirn. Mit dem Nachtsichtzauber war es für Albertine so, als sei es bereits Mittag und sieben gleißende Sonnen stünden am Himmel.

"Was ist denn das da?" fragte einer der nun orange aussehenden Lichtwächter links von Albertine. Seine Stimme klang irgendwie verschwimmend und in der Tonhöhe zwischen gleich drei Oktaven hin und herschwingend. Diesen Zauber kannte Albertine noch nicht. Doch was der Kollege meinte sah sie sofort.

Mitten in der Halle, auf Höhe einer der großen Fertigungsmaschinen, stand ein total schwarzes Etwas, das sie sofort an ein geparktes Kraftzweirad der Muggelwelt denken ließ. Auf dem Zweirad saß jemand, der wie ein Schatten aussah, aber nicht als zweidimensionaler Schattenwurf an der Wand oder auf dem Boden, sondern als räumlich erkennbares Etwas mit glimmenden Augen. Sie dachte sofort an einen Nachtschatten und riss den Zauberstab hoch, während die anderen wohl erst mal mit dieser Erscheinung zurechtkommen mussten. "Expecto Patronum!" rief sie, wobei sie sich den letzten wilden Liebesakt mit der französischen Geliebten Louise Richelieu vorstellte. Aus ihrem Zauberstab brach ein silberweißes Leuchten, dass innerhalb eines Atemzuges zu einem majestätischen Steinadler aus silbernem Licht wurde.

Der Patronus flog los und jagte auf sein Ziel zu. Dieses riss den Lenker des Motorrades herum und versuchte, loszufahren. Doch irgendwie war es nicht so leicht. Der Patronus stürzte sich von oben auf den Schattenmann herunter und erwischte ihn mit Schnabel und Fängen. Der Unheimliche zog den Gashebel seines wie er schattenhaften Fahrzeugs. Dieses ruckte stotternd an, gewann nur langsam Geschwindigkeit. Albertine wusste, dass das Licht der sieben Kunstsonnen dem Wesen und seinem Vehikel wohl zusetzten. Der Patronus hackte derweil auf den Kopf des anderen ein. Das klang wie aus der Ferne heranwehende Hammerschläge. Das war völlig untypisch bei Nachtschatten, die ja keinen feststofflichen Körper hatten.

"Verdammtes Zaubererpack!" klang es hohl und dröhnend aus der Richtung des anderen. Albertine erschauerte unter dieser mächtigen und gnadenlosen Stimme. Doch dann war ihr klar, dass dieser Höreindruck eine Nebenwirkung des noch nicht ganz verdrängten Zaubers war, der diese Halle bis zu ihrem Eintritt ausgefüllt hatte. Jetzt sah sie auch, woher die alles erfüllende Dunkelheit kam. Da wo ein normales Motorrad seinen Frontscheinwerfer hatte gähnte ein völlig dunkler kopfgroßer Kreis, der leicht zitterte. Albertine musste an schwarze Sonnen denken, jene lichtlosen Leichname überschwerer Sterne, die als Bedrohung für brennende Sterne und ihre Planeten durch den Weltraum trieben und wegen ihrer gierigen Schwerkraft, die selbst Licht verschlang, von den Muggeln auch als schwarze Löcher bezeichnet wurden. Aber ihr Kampfgeist war erwacht. Sie zielte auf die gähnende Finsternis und rief: "Heliotelum Maxima!" Eine Wolke aus gleißenden Funken flog heraus und verschwand in der lichtlosen Leere zwischen Lenker und Vorderrad. Dann war das Vehikel fast auf ihrer Höhe. Sie sprang zur Seite, um nicht getroffen zu werden und zielte dabei auf den schattengleichen Fahrer.

"Sonnenkuss!" rief noch irgendwo einer der Kollegen. Weitere Lichtquellen flammten auf. Albertine war es, als ramme ihr jemand weißglühende Lanzen in die Augen. Sie schrie laut auf. Doch sie war nicht die einzige, die schrie.

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Er hatte sie kommen fühlen können, Menschen, die von irgendwas gegen ihn abgeschirmt wurden, irgendwas, dass er wie ein leichtes Jucken auf der Haut fühlte. Dann waren sie in die Halle gestürmt und hatten sich erst einmal mit der sie empfangenden Dunkelheit zurechtfinden müssen. Als sie dann aber gleich sieben starke Zauberlichter aufleuchten ließen war Aldous, als würde er von mehreren hundert Dolchen gleichzeitig getroffen. Sharon erzitterte unter der sie treffenden Lichtmagie, die selbst ihren Dunkelstrahl überlagerte. Dann war noch dieses silberweiße Adlervieh über ihn heruntergestoßen, dass die dünne Frau da aus ihrem Zauberstab gerufen hatte. Aldous sah nur die um die Gegner flirrenden Lichtkränze, die ihn hinderten, ihre Gefühle oder Gedanken zu hören. Das Adlergeschöpf hackte auf seinen Kopf ein. Doch offenbar schützte ihn der Helm, den er als Mensch aus Fleisch und Blut trug auch in der Schattenform vor Verletzungen. Das magische Biest konnte ihm nichts tun. Er wollte auf die anderen los, sie mit den ausfahrbaren Stechrüsseln angreifen. Doch Sharon kam nicht recht vom Fleck, und das auf sie und ihn einprasselnde Licht machte ihm mehr Kopfschmerzen als das silberweiße Adlergeschöpf, das versuchte, ihm in Kopf und Gesicht zu hacken.

Als die Frau, die den Adler aus Licht gerufen hatte eine Wolke aus Funken in den Frontscheinwerfer feuerte hörte Aldous Sharon schmerzhaft aufstöhnen, als sei es keine magisch belebte Maschine, sondern ein wirklich lebendes Wesen, das Schmerzen fühlen konnte. Da war ihm klar, dass er sehr große Probleme hatte.

Als dann noch sieben weitere dieser Zauberlichter aufleuchteten brach die Zone der Dunkelheit endgültig zusammen. Sharon schrie laut und kreissägenartig auf, und auch Aldous meinte, in Flammen zu stehen. Er schrie, zusammen mit der Frau, die ihm den Adler auf den Hals gehetzt hatte. Dann war das Gefühl des Verbrennens auch schon wieder vorbei. Jetzt fühlte er, wie sein Herz von der Brust bis hoch in seine Ohren hämmerte und keuchte. Er musste wieder atmen, er war wieder ein Mensch aus Fleisch und Blut. Noch immer saß er auf dem Motorrad, das wohl auch von der erzwungenen Rückverwandlung betroffen war. Doch dafür röhrte es laut auf und preschte voran. Immerhin hatte er es vor seinem Ausflug noch einmal richtig vollgetankt. Der Treibstoff war wohl nicht eingefroren. So hatte er jetzt doch eine Chance, zu entwischen. Dank des mit verspiegelter Schutzfolie vor dem Visier gegen zu hohen Lichteinfall geschützten Helmes wurde er von dem plötzlichen Licht nicht mehr geblendet, sondern sah durch das Visier wie durch leichten Morgennebel bei Sonnenaufgang. Er riss die Maschine herum und gab noch mehr Gas. Dabei merkte er, dass die Adlerkreatur über ihm verschwand, wie ausgeschaltetes Licht. Offenbar war sie nur dafür gut, einen lebenden Schatten oder bösen Geist anzugreifen, aber keinen Menschen aus Fleisch und Blut. Zumindest das gab Aldous Hoffnung, sich doch noch vor den Zauberern und Hexen retten zu können.

Durch die Freisetzung zusetzlichen Lichtes waren die gebannten Menschen aus ihrer magischen Fesselung freigekommen und rannten nun laut brüllend durcheinander. Dieses Durcheinander nutzte Aldous nun aus, um auf die offene Hallentür zuzufahren. Ein Lichtblitz von rechts traf ihn am Arm und verursachte ein kurzes Brennen. Doch dann hatte er Freie Bahn. Er jagte in den dunklen Gang hinein, beschleunigte auf mehr als sechzig Stundenkilometer und schaffte es, in ein Treppenhaus zu fahren. Das war zwar beleuchtet, aber nur mit gewöhnlichem elektrischem Neonlicht. Aldous hatte den Stunt schon mal gemacht, als er nach dem Fahrsicherheitstraining für Motorradfahrer die Geländegängigkeit seiner Yamaha ausprobiert und sich einen steilen Abhang mit Unebenheiten hinuntergestürzt hatte. So waren die Treppenstufen für ihn kein wirkliches Problem. Das waren wohl die verdammten Hexen und Zauberer, die hinter ihm herjagten. Wenn die sich vor ihn hinteleportierten konnten die ihm vielleicht noch übel zusetzen.

Das Motorrad war laut und weithin hörbar. Doch in den langen Gängen und den Hallen wurde sein Lärm so sehr gestreut, dass es den anderen schwerfallen musste, ihn zu orten. Darauf setzte Aldous Crowne, während er seine Maschine zum Erdgeschoss hinuntersteuerte. Er wunderte sich, dass Thurainilla oder Riutillia noch nicht mit ihm in Verbindung getreten waren. Sollte er sie um Hilfe bitten? Nein, er wollte das alleine hinkriegen. Er musste das alleine hinkriegen. Sonst würden ihn die beiden nicht mehr als vollwertigen Mann anerkennen. Wenn er jetzt draufging dann mit Ehre und Stil.

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Mattisen erschrak, als er die gellenden Schreie hörte. Da war zum einen der Schrhrei eines gepeinigten Mannes, zum anderen der Schrei wie von einer Frau, die gerade von einer Kreissäge in Stücke geschnitten wurde. Doch was ihm besonders in der Seele weh tat war der laute Schmerzensschrei seiner Kollegin Albertine. Er blickte sich um. Durch die Gläser seiner Gleitlichtbrille, die er sich beim Betreten der verdunkelten Halle schnell aufgesetzt hatte, konnte er nun alle sehen wie bei hellem Sonnentag, obwohl vierzehn Kunstsonnen nun ungeschwächt von der Hallendecke glühten. Es wurde auch merklich wärmer hier. Er sah, dass Albertine mit vor den Augen geschlagenen Händen am Boden lag und immer noch schrie. Dann hörte er das Dröhnen eines Brennstoffmotors und sah den in schwarzer Kleidung mit schwarzem Helm geschützten Mann auf dem das Licht widerspiegelnden Zweirad auf sich zukommen. Er konnte gerade noch ausweichen. Um sich herum hörte er die anderen Menschen, die in dieser Halle waren. Sie schrien auch vor Schmerzen, weil das Licht so hell war.

"Stupor!" rief Mattisens Kollege über Albertines Schmerzensschreie hinweg. Die Schreie verstummten. Dann erfolgte ein weiterer Schockzauber, der den Motorradfahrer am Arm erwischte, ihm aber offenbar nichts anhaben konnte. Der fuhr mit aufgedrehtem Motor aus der Halle und verschwand. Nur der Lärm der Maschine hallte noch durch das Gebäude.

"Los, die anderen Muggel lichtdicht verpacken. Obscura!" rief Mattisen und zauberte dem ihm nächsten eine bei Normallicht pechschwarze Augenbinde an. Das gleiche taten seine Kollegen und schockten die Muggel dann nochh, um sie für die Vergissmichs sicherzustellen. Erst danach ließ Mattisen seine Leute ausschwärmen. Vier sollten zur Eingangshalle apparieren, um den Motorradfahrer dort zu erwarten. "Bei Sichtung einkapseln, nicht töten!" befahl er. Den Kollegen Grünwurz, der heilmagisch ausgebildet war, schickte er mit dem jungen Lichtwachenanwärter Siggi Wolkenturm los, die offenbar durch die heftige Lichtfreisetzung an den Augen verletzte Kollegin in die Wurzelmannklinik zu bringen. "Der Rest mir nach! Wir kriegen diesen Schattenspieler!" rief er noch.

Sie apparierten in Sprüngen von zwanzig Metern, um zu hören, wo das Motorrad denn steckte. Doch das Gebäude mit seinen Hallen und langen Gängen streute den Schall zu sehr. Aber die Dunkelkraftkompasse halfen, den Flüchtenden zu erfassen und sich ihm entgegenzustellen. "Gleich ist er hier am Eingang. Dann haben wir den. Netz aufspannen!" zischte Mattisen seinen Leuten zu. Sofort wurde ein doppeltes Netz aus heraufbeschworenen Stränen vor das Eingangstor aufgespannt und verknotet. Als sie dann jedoch mitbekamen, dass der Gesuchte nicht mehr zur Eingangshalle, sondern von ihnen aus nach links abbog erkannten sie, dass er wohl damit gerechnet hatte, dass sie ihn hier erwarteten.

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Aldous war sich sicher, dass die Hexenmeister ihm am Eingang auflauern mussten. Die Logik gebot das. Also musste er so tun, als handele er ganz widersinnig. Er fuhr nicht beim Erdgeschoss aus dem Treppenhaus heraus, sondern hinunter in den dreistöckigen Kellerbereich, wo die gesamte Haustechnik und das Rohmateriallager untergebracht waren. Er musste nur die Generatoren lahmlegen, die die Beleuchtung versorgten. Dann war er hoffentlich wieder Herr der Lage.

Als er die erste Unterebene erreichte flog ihm von rechts ein silberner Lichtfächer entgegen und hüllte ihn ein. Sharon wurde davon aus der Idealbahn gedrängt. Doch ihm selbst passierte nichts. Offenbar ein Fang- oder Lähmzauber, dachte er und gab wieder Gas, um die nächste Treppe hinunterzurasen. Beinahe hätte er sich dabei überschlagen. Doch sein Fahrtraining bewahrte ihn vor dem Unglück.

Er hörte jemanden hinter sich herrufen, verstand aber nicht, was er sagte. Es klang aber wie ein Befehl. Den wollte er sowieso nicht ausführen.

Auf dem vorletzten Absatz vor dem untersten Geschoss stand plötzlich ein Typ im weißen Umhang vor ihm. Aldous hatte zu viel Schwung, um abzubremsen. Er hätte noch ausweichen können. Doch das missfiel ihm. Er gab noch mal Gas und sprang mit seiner Maschine gegen den vor ihm materialisierten Mann, der sein Heil in der schnellen Selbstauflösung suchte. "Hast du nicht mit gerechnet", dachte Aldous und raste nun auf die Tür zu. Da fiel ihm ein, dass die ganz sicher verschlossen war. Jetzt war er doch noch geliefert. Es sei denn, er schaffte es, irgendwem den Schlüssel abzunehmen.

Er stoppte den Motor und ließ Sharon die letzten Meter bis zur Tür ausrollen. Nur in Schattenform konnte er teleportieren oder besser scotoportieren. Als Mensch war er nur dann überlegen, wenn es dunkel genug um ihn war und immun gegen Gifte, Zauberangriffe und Feuerwaffen. Doch wie sollte er in diesen von Neonlicht überflutetem Raum totale Dunkelheit hinkriegen? Er hatte kein Werkzeug dabei.

"Accio Helm!" hörte er und verstand in dem Moment, was das hieß, als ihm der Motorradhelm vom Kopf weggerissen und davongeschleudert wurde. Das Neonlicht traf nun ungefiltert seine Augen und blendete ihn wie zehn Sonnen zugleich. Doch anders als in der Schattenform hielt der Schmerz nur einen Sekundenbruchteil an. Dann konnte er seine Augen ein wenig öffnen und sich umsehen.

Vor ihm stand ein Mann im hellen Umhang. Das grelle Licht machte es Aldous fast unmöglich, einzelheiten von ihm zu sehen. Er konnte nur sehen, dass der andere seinen Helm in der Hand hatte. Dann sprach der andere in Aldous' Muttersprache:

"Ende der Reise, Burschi. Du bist das also, Aldous Crowne. Ergib dich besser gleich, bevor ich gezwungen bin, dich auf der Flucht totzufluchen!"

"Vorher rammel ich noch deine Frau, deine Tochter und deine kleine Schwester", knurrte Aldous, der davon ausging, jetzt nichts mehr zu verlieren außer seinem zweiten Leben. Da fiel auf einmal die Beleuchtung aus. Tootale Dunkelheit fiel in den Raum.

Aldous wusste nicht, wie das möglich war. Doch er erkannte seine Chancen sofort. Im Dunkeln konnte er den anderen nun schmerzlos ansehen und erkannte einen dicken Mann mit Rauschebart. Er sprang auf ihn los, von der plötzlich über ihn gekommenen Dunkelheit regelrecht aufgeladen und zehnmal so schnell und so stark wie ein gewöhnlicher Mensch. Der andere rief noch: "Avada ..." da war Aldous bei ihm und hieb ihm mit der rechten Handkante so gewaltig gegen die Schläfe, dass er mit der Hand in den Kopf des anderen einbrach. Er sah und hörte, wie gewaltig sein Treffer war. Der Zauberer da würde nie wieder Hokuspokus sagen.

"Grüß meine echte Mutter, wenn du sie triffst!" knurrte Aldous Crowne und ließ den erschlagenen Zauberer ganz auf den Boden fallen. Dann griff er mit der blutigen Hand seinen Helm und setzte ihn wieder auf. Die Macht der Dunkelheit lud ihn noch mehr auf. Er spurtete zurück zu Sharon und saß auf. "So, süße, gehen wir wieder auf Schattenmodus", dachte er und leitete die gedankliche Umwandlungsprozedur ein. Diesmal geschah der Zustandswechsel innerhalb von nur einer Sekunde.

"Gut, komm zurück, Aldous. Du hast bewiesen, dass du nicht aufgibst!" hörte er Riutillias Stimme in seinem Geist. Aldous nickte seiner Schattenmutter zu, obwohl sie nicht im Raum war. "Habe Hunger. Will mehr Nachtseelen trinken!" quängelte die nun wiedererwachte Halbseele von Sharon, seinem Schattenrad.

"Kriegen wir demnächst wieder hin", dachte Aldous ihr zu. Dann fädelte er sich in die Ströme der ewigen Dunkelheit ein, die ihn in Gedankenschnelle zurück in die sichere Höhle brachten, wo er sein Motorrad verstaute, solange er nur mit Thurainilla zusammen war.

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2. Juli 2002

Albertine Steinbeißer erwachte mit leichten Kopfschmerzen. Um sie herum war es offenbar dunkel. Und doch war es keine Dunkelheit, wie sie sie kannte, wo sie irgendwie noch erkennen konnte, das etwas um sie herum war. Sie fühlte, dass sie unter einer weichen Decke auf einer weichen Matratze lag und dachte einen Moment, sie sei aus einem Traum aufgewacht. Doch als sie versuchte, die Augen aufzuschlagen fühlte sie nichts davon. Ja sie fühlte nicht, dass sie ihre Lider hob. Sie erinnerte sich daran, was passiert war, vor allem an das gleißende Licht, das ihre Augen zerkocht hatte. Ihre Augen? Sie riss die rechte Hand unter ihrer Decke hervor und führte sie an ihr Gesicht. Da wo ihre Augen sein sollten fand sie nur ein dickes, glattes Stück Tuch, das genau mit ihrer Nasenwurzel abschloss und Löcher für die Ohren hatte. Sie versuchte, durch das Tuch hindurch zu ertasten, was darunter war. Doch es bot ihren Fingern einen zu großen Widerstand. Sie öffnete den Mund zum Schrei, als eine Frauenstimme leise flüsterte: "Bitte nicht schreien. Ist nicht nötig, alles wird wieder gut, Fräulein Steinbeißer."

"Verdammt, was ist mit meinen Augen", wimmerte Albertine vor Wut und düsterer Vorahnung.

"Wechselwirkung zweier einander entgegenwirkender Zauber und zwar in Überdosierung", sagte die Frauenstimme aus der unendlichen lichtlosen Leere, die sie umgab. "'tschuldigung, ich bin Heilerin Cäcilie Maiglock, Leiterin der Kunibert-Gleißenblitz-Station für magische Körperschädigungen in der Wurzelmannklinik. Bitte bleiben Sie liegen und hören Sie mir zu. Keine Panik, wir werden Ihnen helfen. In einer Woche haben Sie alles nötige überstanden."

"Was ist meinen Augen passiert", schluchzte Albertine. Weinen konnte sie und wusste, dass sie es wohl nie wieder können würde.

"Ihre Einsatzkollegen hatten wohl versäumt, Sie darauf hinzuweisen, dass sie zwei Einsatzpakete Sonnenlichtlampen mitführten und sich dafür mit Gleitlichtbrillen ausgestattet haben. Sie gingen wohl davon aus, dass Sie ebenfalls eine solche Sehhilfe mitführten, um in magisch erzeugter Dunkelheit den Überblick zu behalten. Die Lichtwachenzentrale vom obersten General bis runter zum Anwärter im ersten Jahr sind zu tiefst bestürzt über dieses Versäumnis. Natürlich mussten Sie davon ausgehen, nur mit dem Strigoculus-Zauber den Überblick wieder herzustellen. Daran hätte Herr Mattisen denken sollen."

"Ich bring den Bastard um", stieß Albertine aus. "Ich reiß dem die Eingeweide raus."

"Öhm, natürlich werden wir Ihnen das Sehvermögen wiedergeben, zumal die Ministeriumsdirektive Nummer zehn greift, wonach ein im Einsatz verunfallter Anspruch auf mehr als gleichwertigen Ersatz hat", sagte Heilerin Maiglock.

"Und dann bring ich den Arsch um. Dann reiße ich ihm die Klöten, den ..." Ein ungesagter Schweigezauber würgte Albertines Wutausbruch ab. "Bevor Sie sich in Ihrer verständlichen, aber dennoch nicht frei ausuferungsberechtigten Wut in allen Tönen vergreifen hören Sie mir bitte weiter zu!" zischte die Heilerin. Dann verriet sie Albertine, dass diese nicht nur ihre Augen, sondern die Sehnerven verloren hatte, aber sie deshalb keine Sorgen haben musste, von nun an blind zu bleiben. Sie würde zwei künstliche, frei drehbare, aber in einer staubfreien und selbstreinigenden Halterungen geborgene Kunstaugen bekommen, die über künstliche Sehnerven aus Silberdraht und Seeschlangenhaut mit ihrem Gehirn verbunden würden. Dadurch musste sie die neuen Augen nicht ständig herausnehmen und reinigen, sondern konnte damit hundert und mehr Jahre alt werden und sogar die wildesten Besenflüge machen, ohne eines zu verlieren.

"Wie bei diesem Moody", sagte Albertine, als die Heilerin ihr die Sprache zurückgegeben hatte. "Ja, nur um zwei Jahrzehnte weiterentwickelt. Aber ich würde Ihre Lage Eher mit Rheia Hammersmith vergleichen, die bekannte Astronomin aus den Staaten, die vor achtzig Jahren in der dortigen Schule Thorntails unterrichtete."

"Der Fall ist mir tatsächlich bekannt", schnaubte Albertine. Die Hilflosigkeit, die sie immer noch gepackt hielt, machte ein entspanntes und unbelastetes Denken fast unmöglich.

"Gut, das wird Ihnen helfen, sich mit Ihrer neuen Lage vertraut zu machen. Ihr Vorgesetzter ist übrigens draußen vor der Tür. Falls Sie es wünschen bitte ich ihn herein."

"Nur noch so viel, wird irgendwer mir das ansehen können?" wollte Albertine wissen.

"Sie meinen, ob wir Ihre natürliche Augenfarbe nachempfinden können? das ist genau das, was noch abgestimmt wird, bevor wir Ihnen die neuen Augen einpflanzen und anpassen, damit es keine körperliche Gegenwehr gibt und Sie das Sehen damit erlernen. Glauben Sie mir, das muss geübt werden wie bei einem Menschen nach der Geburt, allein schon wegen der vielen zusätzlichen Möglichkeiten."

"Eine Woche sagten Sie?" fragte Albertine nun doch sichtlich entspannter.

"Vielleicht auch zwei, je nach Übungsfortschritten. Da der Einsatz als Geheimsache gilt wurde bisher auch niemand darüber informiert, dass Sie und Herr Mattisen zu Schaden kamen."

"Herr Mattisen?! Was ist dem passiert?" wollte Albertine mit gewisser Genugtuung in der Stimme wissen.

"Das darf Ihnen wohl Ihr Vorgesetzter oder der General der Lichtwachen erzählen. Ich bin dazu nicht befugt."

"Hat ihn dieser Nachtschatten erwischt?" fragte Albertine nun sehr gehässig klingend.

"Wie erwähnt steht mir hierzu keine weitere Aussage zu. Aber wenn Sie möchten kann ich Ihren Vorgesetzten nun hereinbitten. Aber bitte fangen Sie nicht an zu schreien. Nebenan sind Patienten, die Ruhe brauchen und wir keine Klangkerker in den Krankenzimmern errichten dürfen."

"Ich werde mich beherrschen, werte Heilerin .. Maiglock? - Öhm, sind sie mit der Heilerin in Greifennest verwandt?"

"Ihre Großnichte", sagte die Heilerin. "Aber ich darf jetzt Herrn Weizengold hereinbitten?" Albertine bejahte es.

Nachdem Herr Weizengold erst sein unendliches Bedauern über den Vorfall bekundet hatte erzählte er, was passiert war und dass der Eindringling wohl die plötzlich auftretende Dunkelheit genutzt hatte, um sich auf magischem Wege zu entfernen. Zumindest sei keine dunkle Präsenz mehr festgestellt worden. Nur die Generatoren waren zerstört, einschließlich der Notstromaggregate. Außerdem erzählte Weizengold ihr, dass eine Rückschau mit dem Retrocular ergeben hatte, dass der zwischen Schattenform und feststofflichem Dasein wandlungsfähige der seit Mitte März von den Engländern gesuchte junge Mann Aldous Crowne war. Das konnte nur bedeuten, dass er an ein mächtiges Zauberwesen geraten war, das ihm diese neuen Fähigkeiten verliehen hatte, wohl zu einem ganz bestimmten Preis. Albertine sagte darauf nur, dass es dann wohl amtlich sei, das Aldous Crowne mit Richard oder Claude Andrews verwandt sein musste, Trägern unerweckter Zauberkraft und er damit wohl eine der schlafenden Abgrundstöchter aufgeweckt hatte. Darauf folgte erst eine halbe Minute Schweigen. Danach sagte Armin Weizengold: "Dann kann das durchaus die irgendwo in Asien versteckte Tochter der kosmischen Dunkelheit sein, die ihre Zaubermacht angeblich oder nachweislich von der Dunkelheit zwischen den Sternen selbst bezieht, sozusagen eine inverse Form der Astralmagie." Dem stimmte Albertine zu.

Schließlich erfuhr Albertine noch, dass die Durchsuchung der Fabrik ergeben hatte, dass dort wohl Solexfolien hergestellt wurden.

"Dann ist das Kapitel Nocturnia doch noch nicht erledigt", seufzte Albertine.

"War ja schon zu befürchten", erwiderte Weizengolds Stimme. Dann sagte er: "Ich habe den Kollegen Keno übrigens heftig ausgeschimpft und seine Degradierung verlangt. Das mit den Gleitlichtbrillen hätte Mattisen Ihnen gleich beim Einsatztreffen sagen sollen. Mattisen selbst ist ja tot und wohl auch nicht als Geist in der Welt geblieben. Bei dem Zustand, den sein Kopf hatte wäre das auch ein sehr gruseliges Gespenst geworden."

"Dann soll der in der Nachwelt darauf warten, bis ich auch dahinkomme und ihm doch noch alles rausreiße, was ihm lieb und wichtig war", schnaubte Albertine.

"Sie unterziehen sich auf jeden Fall der Behandlung und Wiedereingliederungsübungen. Ich habe sie für die nächsten vier Wochen krankheitsbedingt freistellen lassen. Besser ist es, wenn Sie neben dem sensorischen Teil Ihrer Behandlung auch mit einem Psychomorphologen sprechen, um mögliche Auswirkungen ihres Einsatzes zu erkennen und zu bewältigen."

"Soll das ein Befehl sein?" fragte Albertine schnippisch.

"Muss ich das als Befehl einordnen?" fragte Weizengold mit bedrohlichem Unterton.

"Ich mach das, verdammt noch mal", knurrte Albertine. Weizengold sagte dann, dass ihn das beruhige. "Das wird niemand Ihnen ansehen, wenn Sie Ihre neuen Augen nicht andauernd kreiseln lassen, Al. Und weil es geheim ist muss davon auch keiner was wissen. Sie wurden einfach für eine Sondermaßnahme freigestellt, eine Fortbildung. Die Muggelwelt gibt ja leider immer wieder was neues zum Lernen, was für uns wichtig ist."

"Leider? Das ist genau der Grund, warum ich bei Ihnen angefangen habe", erwiderte Albertine. Doch dann dachte sie daran, ob ihre neuen Augen wirklich ihr Lachen so gut rüberbringen konnten wie die natürlichen. Weinen würde sie damit auf keinen Fall können. Ob das ihrem Liebesleben nicht doch schaden konnte wusste sie noch nicht. Sie wusste nur, dass sie ihrer höchsten Schwester mentiloquieren musste, dass sie demnächst wohl eine hervorragende Späherin sein würde und wohl auch, dass sie irgendwie gegen den legilimentischen Zugriff der Psychomorphologen abgeschirmt werden musste, ohne denen zu verraten, was sie für sich behalten musste. Das war nicht so leicht, zumal die Wurzelmannklinik gegen Mentiloquismus abgeschirmt war. Wenn die höchste Schwester sie vermisste konnte ihr mehr Ungemach drohen als durch diesen Nachtschatten auf dem Motorrad, der in Wirklichkeit ein Wechselwesen war, das bei zu hohem Lichteinfall zu einem Wesen aus Fleisch und Blut wurde.

__________

"Geh davon aus, dass sie wissen, dass du es bist, Aldous. Ich werde dich nur noch dann in die Nähe von magischen Aufspürvorrichtungen lassen, wenn es unbedingt sein muss", sagte Thurainilla. Aldous hatte wissen wollen, wie es nun weiterging. "Da wo du nicht auf Riutillias Gaben zurückgreifen musst werde ich dich hinschicken, damit du mir die Leben verdorbener Menschlinge besorgst. Was die Blutsauger angeht, so wissen wir jetzt, dass dein Zweirad sie als Nahrung zu sich nimmt. Die wissen das jetzt auch, weil einer von denen wohl entwischt ist. Hätte ich nicht die Lichtmaschinen zerstört, die dich behindert haben wärest du sicher von diesem Vollbart getötet worden. Leider ist dieser Zauber stärker als die von mir und Riutillia eingeprägte Widerstandskraft. Ich musste also eingreifen. Dafür schuldest du mir was, Aldous, Gehorsam und Hingabe." Aldous sah das ein. Hätte Thurainilla nicht in eigener Person die Generatoren unbrauchbar gemacht, wäre er wohl gestorben und vielleicht in Riutillias Schattenkörper zurückgestürzt, um dort restlos zu zerfließen.

ENDE

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