Die endgültige Niederlage des dunklen Magiers Voldemort ist bereits vier Jahre her. Die Hoffnungen auf eine friedlichere Welt haben sich jedoch nicht erfüllt. Im Unumdrehbaren Jahr 2002 bedrohen mehrere macht- und zerstörungssüchtige Gruppen und Wesen die Menschheit. Die von fanatischen Verbrechern verübten Anschläge auf die Handelstürme von New York haben einen Vergeltungskrieg ausgelöst, von dem niemand weiß, wie er ausgeht und was danach kommen soll. Voldemorts einstmals gefürchteten Helfer, die Dementoren, werden scheinbar restlos ausgerottet. Doch einigen gelingt es, sich auf großen Schiffen festzusetzen und wieder zu vermehren. Der Versuch der gegen Vampire so machtvollen Sonnenkinder, die Dementorenbrut einzudämmen, treibt die Sonnenkinder selbst an den Rand der endgültigen Machtlosigkeit. Die durch das Selbstopfer eines Sonnenkindes zu einer aus hunderten von Seelen bestehende Daseinsform Lamia ist mit dem ihr früher so viel Macht gebenden Mitternachtsstein verbunden und wirkt aus diesem heraus als schlafende Göttin Gooriaimiria auf die körperlich bestehenden Vampire, um ein neues Reich der Nachtkinder zu begründen. Dabei hilft ihr die zur Vampirin gewordene griechische Geschäftsfrau Eleni Papadakis, die durch das Blut einer geborenen Feuerhexe und ihres halbvampirischen Sohnes zur sonnenunempfindlichen Vampirin und weit nach der Geburt magisch begabten Hexe. Außerdem erschafft Gooriaimiria auf Grundlage des von ihr erbeuteten Wissens aus dem Mitternachtsdiamanten scheinbar unbezwingbare Vampire, die ihre Streitmacht bilden sollen. Mit ihrer Zurückweisung unzufriedene Werwölfe bilden kriminelle Gruppen, die damit drohen, ihre Daseinsart auf andere Menschen zu übertragen. Weil sie vor dem Erwachen ihrer jüngsten Schwester Angst hat spinnt die Abgrundstochter Itoluhila geschickt ihre Fäden, um drei weitere Schwestern aus tiefem Schlaf zu wecken. Und dann ist da noch jener, der sich Lord Vengor nennt und sich als rechtmäßigen Erben Voldemorts versteht. Er macht sich den aus hundertfachem Tod entstehenden Unlichtkristall zu nutze und will durch die Ermordung seiner Blutsverwandten eine magische Barriere durchbrechen, die ihn von seinem größten Ziel trennt, mit dem in seinem dunklen Artefakt eingekerkerten Iaxathan zusammenzutreffen. Dass er dabei dessen Marionette werden soll erkennt Vengor nicht.
In diesen wahrlich unsicheren Zeiten finden drei räumlich weit voneinander ablaufende Ereignisse statt, die nicht nur die unmittelbar von ihnen betroffenen, sondern auch die gesamte magische und nichtmagische Menschheit betreffen.
"Und, wie war es bei den Latierres?" fragte Armand Grandchapeau seine Tochter, als ihr Kopf um halb sieben Abends im Salonkamin des Zaubereiministeriums erschienen war.
"Viele kleine Kinder und Leute, die sich all zu gerne wieder in kleine Kinder zurückverwandelt haben, Papa. Ich fand es auf jeden Fall schön, die zwei kleinen mal vier Stunden außerhalb der Arbeitszeit nicht beaufsichtigen zu müssen. Ich muss nur aufpassen, weil Adrian mir fremdgehen könnte."
"Bitte was?" erstaunte Belle Grandchapeaus Vater.
"Der hat sich bis über beide Ohren in dieses Fußballspielen verliebt, hat mit Julius' männlicher Schwiegerverwandtschaft und ihm zwanzig Minuten lang dieses Spiel gespielt. Er meinte dann glatt, dass es dafür, dass es ohne Besen und nur mit einem Ball gespielt würde, eine sehr große Herausforderung und Mannschaftsübung sei und dass er sich die Spiele der Berufsmannschaften gerne in voller Länge ansehen würde, sofern sein Dienstherr, der mein Schwiegervater ist, ihm an den Tagen nicht Überstunden auferlegt", erwiderte Belle mit überlegenem Lächeln. Daraus las der Minister für Zauberei in Frankreich ab, dass er wohl sehr erschrocken oder verstört dreingeschaut haben musste, als Belle angedeutet hatte, ihr Mann könne ihr fremdgehen.
"Da ist dann wohl der Spruch "Erfolg zieht an" anwendbar", erwiderte Armand Grandchapeau verhalten lächelnd. Dann sagte er noch, dass er gerne mit Belles Maman und dem noch in ihr verwahrten Demetrius Vettius zur Geburtstagsfeier Adrians hinkommen würde.
"Wie geht's Maman. Im Dienst wage ich nicht, Sie nach ihrer seelischen Verfassung zu fragen", erwiderte Belle nun sichtlich ernster klingend und aussehend.
"Sie geht immer noch davon aus, dass dein kleiner Bruder um den zehnten bis zwanzigsten Juni herum geboren wird, auch wenn die werte Alouette mittlerweile überzeugt ist, dass dein Brüderchen erst dann zur Welt kommen wird, wenn Laetitia und/oder Midas Lothaire ihrerseits Nachwuchs begrüßt haben werden. Im Moment will sie nichts davon hören, dass sie vierzig Jahre lang schwangergehen soll."
"Und wie geht's dir, Papa?" fragte Belle. Der Zaubereiminister Frankreichs verzog kurz das Gesicht. Mit dieser Frage hatte er zwar rechnen müssen. Doch sie zu beantworten fiel ihm schwer. Lieber hätte er eine politische Grundsatzentscheidung verkündet und begründet. Er benötigte zehn Atemzüge, um sich eine Antwort zurechtzulegen.
"Da dieses rachsüchtige Viertelveela-Frauenzimmer mich nicht mit diesem angeblichen Segen belegt hat empfinde ich die Vorstellung, dass ich ein Mann im fortgeschrittenen Alter sein werde, wenn mein Sohn zur Welt kommen soll, schon als Demütigung. Mir vorzustellen, dass er mit deinen Enkelkindern aufwachsen soll und mich deshalb eher als seinen Urgroßvater betrachten könnte behagt mir nicht. Ich werde deiner Mutter aber beistehen, und sei es, dass ich auf das Amt verzichte, um mit ihr an einen geheimen Ort zu ziehen, damit um sie und ihre ausgedehnte Schwangerschaft kein Gerede entsteht, sollte es wirklich kein arglistiges Täuschungsmanöver dieser Léto sein, um uns Angst zu machen."
"Du glaubst Léto nicht, Papa?" kam die nächste zu erwartende Frage. Der Minister sah in die Augen seiner gerade nur als Kopf anwesenden Tochter und erwiderte verdrossen:
"In drei Wochen werden wir wissen, ob sich dein Bruder einen ganzen Monat weiterentwickelt haben wird, meine Tochter. Falls ja, dann war es ein Täuschungsmanöver, und Monsieur Latierre darf in meinem Namen eine entsprechende Warnung an Madame Léto übermitteln, dass ich derlei Behauptungen als versuchten Angriff auf meine seelische Unversehrtheit werten werde, sollte sie dergleichen noch einmal planen. Sollte es keine Falschmeldung sein, und dein Bruder die nächsten vier Jahrzehnte im Uterus deiner Mutter verbleiben müssen, werde ich überlegen, wie ich mit dieser Übeltäterin Euphrosyne Lundi verfahren werde. Im Moment möchte ich sie noch im Ungewissen halten, wie wir auf ihre so genannten Segenszauber antworten werden. Monsieur Colbert ist auch noch nicht ganz von seiner Idee einer Teilrassenabgabe abgekommen. Sollte sich erweisen, dass Euphrosynes Angriffe auf dich, deine Mutter und Mademoiselle Ventvit tatsächlich langfristige Auswirkungen haben, so bin ich geneigt, zumindest eine Unterstützungsabgabe für deine Mutter von den Lundis oder ihren Eltern einzuklagen, um dieses Exempel als Warnung an alle humanoiden Mitgeschöpfe zu verkünden, sich tunlichst an die Gesetze für menschenähnliche Zauberwesen zu halten. Aber ich warte da die nächste Untersuchung Alouettes am 20. Mai ab." Belles Kopf nickte kurz. Dann verabschiedete sie sich von ihrem Vater. Als dieser den Abschiedsgruß erwiedert und mit Grüßen an Adrian und die zwei Kleinen ergänzt hatte ploppte es, und Belles Kopf war verschwunden. An der marmornen Kaminbegrenzung haftete nur noch eines ihrer dunkelblonden Haare.
"Was machst du, wenn feststeht, dass dein Sohn wirklich erst in vierzig oder fünfzig Jahren zur Welt kommt?" fragte sich der Zaubereiminister in Gedanken. Irgendwie lag ihm diese Vorstellung wirklich schwer auf der Seele. Ja, er ertappte sich dabei, dass mit der Beantwortung dieser Frage sein ganzes Leben aus der vorausgeplanten Bahn geraten würde, ob er sein Amt aufgab oder ob er versuchte, Euphrosyne eigenhändig niederzukämpfen, ohne sie zu töten. Angeblich trug diese gerade selbst ein Kind von diesem mit nicht von sich aus einsetzbaren übernatürlichen Gaben geborenen Balltreter. Allein dass Belle erwähnt hatte, dass ihr Mann sich für diesen unspannenden Sport begeisterte wirkte in ihm schon wie eine Verhöhnung. Doch das hatte er sich nicht anmerken lassen. Als Berufspolitiker musste er seine Miene immer im Zaum halten. Dass er nach dem magischen Anschlag auf seine Frau und seine Tochter derartig in Wut geraten war verzieh er sich selbst am wenigsten. Zum Glück war der Angriff als billiger Streich einer angeblich vom Ministerium benachteiligten verbucht worden und nicht einmal in die Zeitung geraten. Die Reporter hätten sonst schon alle Schreibe-Federn und alle Druckertinte der Welt verschlissen.
Als Nathalie, die ihre Schwägerin besucht hatte, wieder in die Privaträume des Zaubereiministers zurückkehrte fragte sie, ob Adrian oder Belle sich wegen der anstehenden Geburtstagsfeier von Adrian gemeldet hätten. Armand Grandchapeau bestätigte das, verschwieg seiner Frau jedoch, dass Belle auch gefragt hatte, wie sie sich gerade fühle. Sollten sich die beiden, die ja in gewisser Weise Leidensgenossinnen waren, darüber unterhalten, wennBelle sich traute, sie direkt danach zu fragen.
"Durch Paris mit diesen Motorwagen zu fahren ist eine Zumutung", grummelte Nathalie Grandchapeau. "Wenn ich bedenke, wieviel giftiger Dunst von den magielosen Kraftwagen ausgestoßen wird. Da mache ich mir wahrhaftige Sorgen um den Kleinen." Dabei deutete sie auf ihren gut vorgetriebenen Umstandsbauch.
"Wieso, wenn Léto recht hat seid ihr zwei doch gegen alle gifte widerstandsfähiger als wir Normalmenschen", feixte Armand.
"Da sprechen wir drüber, wenn Juli ist und Demetrius Vettius immer noch in meinem Schoß ruhen sollte, Armand", fauchte Nathalie. Der Minister erkannte, dass er dieses Thema besser nicht angeschnitten hätte. Er entschuldigte sich für seine Unbedachtsamkeit. Seine Frau nahm die Entschuldigung an. Danach schlug sie vor, jetzt das Abendessen einzunehmen.
AUSTRALISCHE VORZEIGEBESENMANUFAKTUR VOR DEM ABSTURZ?
Vorgestern musste ich über die Lieferengpässe bei den vorbestellten Besen der Marke Willy-Willy 10 berichten. Cuthbert Babbington, Ausrüstungswart der Darwin Dingos, beschwerte sich über die Saumseligkeit der Fabrik.
Heute müssen wir leider mitteilen, dass es sich bei den Lieferengpässen nicht um Vernachlässigungen der Firma, sondern um Produktionsrückgang wegen unzureichenden Personals handelt. Durch den Siegeszug der altenglischen Feuerblitze und der aus Japan zu uns hinübergewehten Kazeyama-Besen droht der Willy-Willy-Fabrik nach hundert Jahren Familientradition das Aus.
Mr. C. F. Redrobe, Eigentümer und Hauptgeschäftsführer von Willy-Willy, lehnte die Beantwortung jeder die wirtschaftliche Lage seiner Firma betreffenden Frage ab. Daher konnte ich auch keine bestätigung oder Abrede zu umlaufenden Behauptungen erhalten, ein Darlehen der Gringotts-Kobolde sei gescheitert und es drohe die Zahlungsunfähigkeit des Unternehmens. Mein Kollege Telly Wood konnte bei seinem Interview mit dem Leiter von Gringotts Sydney herausbekommen, dass Redrobes Verlies dort demnächst dauerhaft verschlossen wird, wenn er nicht bald die geforderte Summe von 500.000 Galleonen einlagert. Dies dürfte bei der jetzigen Situation auf dem Rennbesenmarkt sehr unwahrscheinlich sein. Trotzdem die Darwin Dingos unter Geschäftsführer Orville Crossbow der Devise "Aussis schaffen alles alleine" auf die flinken Feuerblitze und die windschnellen Kazeyama-Besen verzichten und auf Produkte aus der Heimat schwören wird mit dem Willy-Willy 11 wohl der letzte australische Flugbesen auf den Markt gelangt sein. Angeblich seien die wackeren Besendrechsler dabei, den Willy-Willy 12 mit dem Namen "Der unermüdliche" für den Markt vorzubereiten. Doch ob dieser als "Die schlagkräftige Antwort auf den Yankee-Besen Parsec" ausgerufene Besen die Traditionsfabrik vor dem Schuldenbann der Kobolde schützen kann ist unwahrscheinlich, zumal die ersten Versuche mit der dafür entwickelten Technik drei der vier tödlichen Unfälle der letzten Monate verursacht haben.
Für alle, die bei Willy-Willy beschäftigt sind oder von deren Mitarbeitern leben hält Redrobes Chefsekretär A. E. Diggerson den Ratschlagg bereit, sich nicht unterkriegen zu lassen, und dass die Kobolde auch nicht daran dächten, diese Fabrik unter australischem Wüstensand verschwinden zu lassen. Er hält die Drohungen von Chefkobold Grudnack für einen billigen Bluff, um die Mitarbeiter gegen die Geschäftsführung aufzubringen, um so erst das gewünschte Ungleichgewicht in der Firma herbeizuführen. Ziel sei es laut Diggerson, die alleinige Kontrolle über die Willy-Willy-Manufaktur zu erlangen, um neben Gringotts und den Silberbergwerken bei Tundalara ein weiteres wichtiges Unternehmen Australiens zu besitzen. "Wir werden uns von dieser dreisten Drohung nicht ins lodernde drachenmaul treiben lassen", so Diggerson weiter. "Sagen Sie Ihren Lesern gütigst, dass Willy-Willy bisher jeden Ansturm und jede Anfeindung überstanden hat. Wir werden auch in hundert Jahren noch Besen bauen. Spätestens wenn der Zwölfer seine Tauglichkeit bewiesen hat, werden gerade viele Landsleute dem Feuerblitz oder dem japanischen Windei keine Träne mehr nachweinen. Sollen die doch da verkauft werden, wo sie herkommen."
Auch wenn mir klar ist, dass Redrobe diesen Artikel mit Wut und Verachtung lesen wird, so muss ich doch aus Gründen des Informationsgleichgewichts feststellen, dass Diggersons Worte wie das Herumgehopse eines kurz vor dem Verdursten stehenden Kängurus in offener Wüste ist. Somit muss sich Generus Copperspoon schon die Frage stellen (lassen), ob er im Zuge der Arbeitsplatz- und Einkommenssicherung nötigen Aushilfen an Willy-Willy bezahlt, notfalls auch mit einer Eigentumsübertragung an das Zaubereiministerium. Davon will auf der Chefetage von Willy-Willy keiner was wissen, und Mr. Redrobe selbst verweigert wie erwähnt jede Antwort.
Für die Mitarbeiter der Willy-Willy-Werkstatt mag es aber noch Hoffnung geben, weil die Feuerblitz-Manufaktur mit dem Gedanken an eine australische Filiale spielt. Aus nicht gesicherten Quellen verlautbart, dass die britischen Kobolde sogar schon mit den australischen Kollegen unterhandeln, ob ein solcher Handel von den britischen Gringotts-Mitarbeitern vorfinanziert wird. Die Besendrechsler Redrobes könnten dann ihre Jobs behalten und sogar noch vom weltweiten Markterfolg der Feuerblitze profitieren.
D. Fender
Besensport
WILLY-WILLY BALD NUR NOCH WIMMERNDES WINDGEHEUL
Selbst die Dingos, die sich als eine von nur noch drei Ligamannschaften darauf festgelegt haben, ausschließlich unsere früheren Vorzeigebesen vom Typ Willy-Willy zu benutzen, sind sehr angenervt von der langsamen Auslieferung neuer Besen, wobei die Besen auch noch um zehn Prozent teurer geworden sind. Jetzt wollen noch einige Unterhändler der drei Ligamannschaften Darwin Dingos, Wagga Wagga Vultures und sogar die Hausmannschaft von Willy-Willy, die Melbourne Merciless die bestehenden Liferverträge überdenken. Merciless-Manager Donny Crackstone, bekannt für seine dem Mannschaftsnamen Ehre machenden Ungnade gegenüber schlechten Spielern, hat es klar auf den Punkt gebracht:
"Der frühere Wüstensturm ist nur noch wimmerndes Windgeheul in kaputten Holzwänden ohne wirklichen Biss. Wenn das echt stimmt, was einer meiner Spieler, dessen Bruder bei denen von Willy-Willy Besen drechselt so erzählt hat, steht die Firma vom jungen Redrobe kurz vor der Totalpleite oder wird von den Gringotts-Kobolden eingesackt. Die Spieler haben mir schon klar angesagt, dass die ihre Verträge kündigen, wenn Willy-Willy von Kobolden geleitet wird. Ich hatte eigentlich vor, mit unserem Gewinn aus der letzten Saison die Finanzhoheit über unsere Mannschaft von Willy-Willy freizukaufen. Aber Redrobe will davon nichts wissen. Der schwört voll auf den neuen Langstreckenbesen, mit dem angeblich der fliegende Holländer überflüssig werden soll. Dann hörte ich um drei vier Ecken noch was von fünfhundert Goldriesen, die die Kobolde von Willy-Willy ausstehen haben. Wir haben in der letzten Saison nur hundert Goldriesen Gewinn eingefahren, von denen Redrobe zwanzig abgeschöpft hat. Das mit dem Freikaufen geht also nicht. Das macht mich total wütend. Und hören Sie mir bloß damit auf, dass wir ja auf Feuerblitze umsteigen können. Wenn sie da draußen am Frühstückstisch oder auf der Arbeit sich so'n überzüchteten Billywich kaufen können machen Sie das! Wir können das nicht. Die Zulassungsgebühren an die Spile- und Sportabteilung fressen noch mal fünfzig Goldriesen, was uns nur noch dreißig für Ausbau des Stadions, Spielerhonorare und Ausrüstung lässt. Und ich sehe nicht ein, auf Ryan McCloud zu verzichten, von dem großschnäbelige Spottdrosseln gezwitschert haben, dass der alleine schon zwanzig Feuerblitze im Jahr wert sei. Eben, er ist das. Und deshalb behalten wir den auch, basta! Kann nur sein, dass der dann wortwörtlich den Abflug macht, wenn demnächst ein Gringotts-Kobold auf meinem Stuhl sitzen sollte, weil Willy-Willy komplett verkoboldet wurde. Dann aber gute Nacht, Australien! Denn wenn die von Sydney mit denen aus London alles an Besenfabriken im Lande verschachern können wir gleich wieder zur britischen Kronkolonie werden. Ich weiß, es gibt bei Ihren Lesern viele, die das toll finden, dass deren immer älter werdende Königin unsere oberste Staatsherrin sein soll. Aber wir haben uns nicht von denen losgesagt, um dann, wenn's mal im Geldbeutel gähnt, reumütig zurückzukommen.
Was Redrobe mit dem ganzen Gold anstellt, dass wir dem erspielt haben weiß ich nicht. Seine Frau sieht nicht so aus, als bräuchte die das alles. Aber vielleicht hat der einen Ehevertrag geschlossen, der mindestens zehn Quaffel unter den Umhang zu spielen und für jeden eine Lebensgrundlage von hundert Goldriesen zu hinterlegen. Pech nur, wenn die Kobolde an das Gold drangehen können. Dann hätten dem seine zehn Kinder nichts von der Rücklage.
So, und bevor ich gleich wohl hundert Heuler von den Fans und aus der Willy-Willy-Zentrale kriege nur noch so viel: Redrobe, zahlen Sie Ihre Schulden gütigst selbst und lassen Sie die, die für Sie ackern nicht dafür bluten!"
Craackstone hat bei der Gelegenheit noch die Mannschaftsaufstellung für das Spiel gegen die Sparks bekanntgegeben und erklärt, dass die Merciless auch mit den alten Willy-Willys gegen die auf Feuerblitzen spielenden Sparks gewinnen werden. Mehr dazu finden sie im Artikel zum nächsten Spieltag.
Was Redrobes Familienplanung angeht, das können Sie gerne in den Haushexenzeitschriften nachlesen, die in allen Kosmetikläden, beim Besenknecht in Sydney, Melbourne und Alice Springs herumliegen oder von Tantchen Aggy im Rieselradio für gelangweilte Haushexen erzählt bekommen. Wir vom australischen Quidditchkurier möchten nur die Besorgnis äußern, dass wir gerade das Ende einer langen Ära erleben und wir womöglich noch vor Saisonende erfahren könnten, dass die Melbourne Merciless aus der Liga ausscheiden müssen. Denn wenn wirklich keiner mehr da spielen möchte, wenn die Vereinsfinanzen von Kobolden geregelt werden, müssen wir wohl eine andere Mannschaft aus den Unterligen West, Nord, Ost oder Süd überprüfen, wer da in die Hauptliga eingegliedert werden darf.
C. Dundee
12. Mai 2002
Hallo Wendy!
Heute war Heather wieder bei mir. Ihr und dem Kind geht es körperlich gut und ich konnte ihr mitteilen, dass sie eine kleine Tochter erwartet. Sie meinte dann zu mir, dass es Cygnus nicht wirklich freuen würde, weil im Testament seines Vaters steht, dass nur ein männlicher Erbe die Firma übernehmen solle. Sie meinte dann was von einem alten Familienfluch, der auf den Redrobes läge, dass die kein Glück im Leben oder mit der Familie haben dürften, weil einer der Vorfahren wohl den Unmut eines Stammeszauberers heraufbeschworen hat. Wie dieser Unmut sich äußere wollte oder konnte mir Heather nicht sagen. Sie meinte nur, dass die Erbfolge nach den ganzen Zeitungsmeldungen und offenen Gerüchten unwichtig geworden sei. Dann meinte sie sowas wie, dass noch Tests mit dem neuen Zwölfer anstehen würden, um den im Juni auf den Markt zu bringen. Damit würden die ganzen Unkenrufer endgültig gestoppt. Als sie angedeutet hat, sie würde gerne bei solchen Versuchen mitmachen habe ich ihr noch einmal ganz klar mitgeteilt, dass sie in ihrem eigentlich erfreulichen Zustand auf keinen schnell fliegenden Besen mehr steigen darf und erst recht keine Versuche mit noch nicht durchentwickelten Besen machen sollte. Sie meinte dann doch glatt, wenn ihr Mann das Geld für die Kobolde nicht beschaffen könne, könne sie sich keine Hebamme mehr leisten. Ich habe ihr erzählt, was ihr Onkel Vitus ihr eigentlich auch schon hätte sagen können, dass wir Heiler nicht direkt von den Patienten bezahlt werden und vor allem dann, wenn es sich um werdende Mütter handele, allein schon des Kindeswohls wegen behandeln, ob die Mutter eine Bettlerin oder Erbin von zehn Millionen Galleonen ist. Ich wundere mich wirklich, dass Heather so denkt. Kann aber die gefühlsmäßige Umstellung der Schwangerschaft sein und die damit natürlicherweise einhergehenden Ängste um die Zukunft des erwarteten Kindes.
So, ich habe von Laura Morehead freigekriegt und kann nach Altengland zur Hochzeit von Roys und Dinas Sohn und Olivia Watermelon. Sicher treffe ich da alte Kameraden und kann mitbekommen, wer sich wie weit entwickelt hat. Das wird mich von den ganzen Sorgen um Heather Redrobe ablenken. Ich muss echt wieder rausfinden, genug Abstand zu den Gefühlen der Patienten zu kriegen, sonst mache ich mich am Ende selbst noch zum Fall für Ireen und ihre Kollegen von der Psymo.
Gute Nacht und bis Morgen, Wendy!
Damit dürfte es amtlich sein", grummelte Belle Grandchapeau, als sie mit ihrer Mutter alleine im Salon des Zaubereiministeriums saß. "Ich bin schon drei Wochen über die Zeit und Heilerin Laporte hat weder eine Empfängnis noch eine bald einsetzende Regelblutung festgestellt. Sieh es also bitte ein, dass meine und damit auch deine Körpervorgänge stagnieren und deshalb wohl auch der Kleine nicht so schnell in dir weiterwächst wie natürlich."
"Das werde ich mir von Heilerin Laporte eindeutig bestätigen lassen, Belle. Vor allem, ob es eine Weiterentwicklung gibt oder dein ungeborener Bruder dazu verurteilt wurde, bis zu meinem Tod in meinem Leib eingeschlossen zu bleiben, ohne sich weiterzuentwickeln."
"Dann müsstest du in der Öffentlichkeit immer in deine Körperformen tarnender Kleidung herumlaufen", seufzte Belle. "Abgesehen davon dürften Laetitia und Midas Lothaire dann die einzigen Kinder sein, die Adrian und ich bekommen konnten. Das missfällt mir, derartig fremdbestimmt zu sein."
"Öhm, Belle, auch wenn es deine ganz eigene Angelegenheit ist", setzte Belles Mutter an, "Empfindest du noch Lust auf geschlechtliches Beisammensein?"
"Ja, es ist meine eigene Angelegenheit. Aber ja, Maman, ich empfinde noch entsprechende Gelüste, sogar intensiver, weil ich offenbar mitten in meiner fruchtbaren Phase betroffen wurde und damit empfänglicher für derartige Bedürfnisse bin", erwiderte Belle mit leicht rot anlaufenden Ohren. Ihre Mutter nickte. Dann wiederholte sie, dass sie eine eindeutige Bestätigung von Heilerin Laporte haben wolle, um weitere Schritte zu planen.
Sie sah fast noch aus wie ein Kind von gerade einmal fünfzehn Jahren. Doch das weiße Kleid mit der drei Meter langen Schleppe und der durch das strohblonde Haar gewirkte Kranz aus Frühlingsblumen sagten, dass sie schon im heiratsfähigen Alter war. Die wasserblauen Augen strahlten vor Glück, als die junge Braut neben ihrem in einem mitternachtsblauen Samtumhang mit ebenso gefärbtem Zylinder bekleideten Bräutigam von dem Podest herunterstieg. Gerade war Miss Olivia Watermelon zu Mrs. Olivia Fielding geworden. Ihr vor wenigen Minuten angetrauter blickte in die hufeisenförmige Aufstellung goldener Stühle. Mehrere Dutzend Gäste applaudiertem dem jungen Paar.
Julius Latierre, der mit seiner Frau Mildrid und den zwei Töchtern Aurore und Chrysope in der zweiten Reihe saß, sah sich nach seiner Hogwarts-Schulfreundin Pina Watermelon um, die mit ihrer Mutter und den Bräutigameltern nahe beim mit goldenen Läufern ausgelegten Gang saßen. Olivia winkte glücklich in die Runde. Dabei sah Julius die Ohrringe, die einmal Pina getragen hatte, als sie beim trimagischen Weihnachtsball von Beauxbatons mitgetanzt hatte.
"Pina scheint sich damit angefreundet zu haben, dass ihre kleine Schwester vor ihr heiratet", flüsterte Julius seiner Frau zu, während Aurore ganz gespannt auf die zwei Leute guckte, die vorhin in einem goldenen Glitzerfunkenregen gebadet worden waren. Ihre gerade drei Monate alte Schwester quängelte leise. Millie prüfte, was ihre Zweitgeborene wollte und ließ sie unter ihrem himmelblauen Stillumhang verschwinden. Julius sah zu, wie die Freunde des Bräutigams die Braut auf jede Wange küssten. Er besann sich nicht lange und beglückwünschte Olivia auf dieselbe Weise, auch wenn er sich nicht sicher war, ob Pina und Millie das vielleicht nicht nett fanden.
"Ich wünsche euch ein langes Leben und mit allem was ihr gemeinsam hinkriegt all das schönste und beste, was es bringen kann", sprach Julius zu Olivia und schüttelte ihrem Angetrauten Tom die Hand.
"Danke, Julius", sagte Olivia mit strahlendem Gesicht und knuddelte ihn kurz. Dann schritt sie weiter, die Reihe der Gratulanten entlang. Die Frauen schinen ihr irgendwelche Ratschläge zu geben, während die Jungen dem jungen Ehemann teils belustigt, teils neidvoll, teils mitleidsvoll die Hand schüttelten oder ihm auf die Schultern klopften. Julius blickte dem jungen Paar hinterher, bis er den unverkennbaren Duft von Pinas Wildkräuterparfüm in die Nase bekam. Behutsam drehte er sich um und sah das Gesicht seiner früheren Klassenkameradin nur zehn Zentimeter von seinem Gesicht entfernt. Sie sah ihrer Schwester fast so ähnlich wie ein zwei Jahre älterer Zwilling, nur dass ihr strohblondes Haar offen über ihre Schultern bis zum unteren Rücken wallte und nur auf Höhe von Stirn und Hinterkopf durch eine himmelblaue Schnur zusammengehalten wurde.
"Ich hoffe, sie wird mit dem glücklich. Lange genug hat sie Mum und mir in den Ohren gelegen, dass sie ihren Tom endlich vor den Zeremonienmagier haben will."
"Ich hoffe das für euch alle, dass ihr mit dem glücklich werdet, was ihr anfangt, Pina", sagte Julius. Da warf sie sich ihm entgegen. Um zu verhindern, dass sie ihm regelrecht zu Füßen fiel umschlang er ihren schlanken Körper mit seinen starken Armen und balancierte sie aus. Sie legte ihre Arme um ihn und drückte ihn fest an sich. So blieben die beiden, bis eine amüsierte Frauenstimme sagte: "Wenn ihr euch so fotografieren lasst weiß keiner mehr, wer das Brautpaar ist und wer die Gäste."
"Jaja, Schicksalsgenossin, klar dass du noch was dazu loswerden musstest", schnarrte Pina, die ihr Gesicht an Julius Brustkorb schmiegte. Ihre Cousine Melissa, früher Melanie sah die beiden ehemaligen Hogwarts-Schulkameraden belustigt an.
"Ich will nur sagen, dass da hinten freischwebende Kameras lauern. Wenn ihr nicht wisst, wer die Fotos kriegt könnte wer immer meinen, ihr zwei hättet geheiratet."
"Das wüsste ich aber", grinste Millie, die nun ebenfalls dazugekommen war. Unter ihrem unbeschmutzbaren Umhang gluckste und schmatzte es.
"Du hast immer noch einen Schlag bei den unverbandelten Hexen, Monju", bemerkte sie belustigt. "Aber Melissa hat recht, diese fliegenden Fotoapparate gehören der Millamant-Gesellschaft. Die sollen die Bilder für die Hochzeitszeitung machen."
"Und deshalb schirmt ihr zwei Süßen uns zwei Hübschen ab", scherzte Julius, während Pina überhaupt keine Anstalten machte, ihre Umarmung zu lösen. Millie grinste und deutete zu Melissa und deren Schwägerin Prudence, die auch gerade dazugestoßen war. Dass sie Melissa bald zum zweiten Mal zur Tante machte konnte und durfte jeder sehen.
"Ja, wir passen alle gut auf dich auf", bemerkte Julius' ehemalige Hauskameradin und Mitüberlebende der Schreckensparty bei den Sterlings.
"Ui, sind es doch zwei?" fragte Millie Prudence, die sie seit dem Urlaub im März nicht mehr gesehen hatte.
"Es ist einer. Aber der hat die Luxussuite in meiner Ein-Zimmer-Pension mit extragroßer Fruchtblase angemietet. Meine Großmutter meinte, dass das ein Erbe sei, dass die Whitesand-Hexen bei der zweiten Tragzeit alle doppelt so große Umstandsbäuche bekämen wie von den darin steckenden Winzlingen benötigt wird. Aber es ist eben nur einer."
"Ein "Er" also", stellte Julius fest. Prudence nickte. "Mike weiß das auch schon und freut sich wie ein junger Sommerwichtel auf den zweiten Sohn."
"Vielleicht heiratet der mal Chrysie", scherzte Millie.
"Ja, oder Olivias erste Tochter", grinste Prudence. Das brachte Pina dazu, Julius loszulassen und sich Prudence entgegenzustellen. "So wie die guckt und strahlt hat die vielleicht schon wen drin. Toms Eltern haben ja auch nicht so lange mit ihm gewartet."
"Oh, dann können wir den bunten Reis wieder mit nach Hause nehmen, Mamille", amüsierte sich Julius. Millie grinste. "Stimmt, nachher werden aus dem kleinen Kirschkernkindchen drei stramme Wonneproppen, wenn wir seinen Eltern den Reis überstreuen."
"Lustig, Mildrid", knurrte Pina leicht vergrätzt. Julius beschloss, seine frühere Klassenkameradin zu trösten und sagte:
"Ich glaube nicht, dass Olivia schon in Umständen ist. Dann hätte ihr der Zeremonienmagier keine goldenen, sondern kirschrote Funken übergebraten und sie hätte einen Strohkranz auf dem Kopf getragen. Soweit ich weiß ist das die gängige Tracht für bis dahin unverheiratete, unehelich schwanger gewordene Hexen, nach dem Motto: "Nicht Hochzeit, sondern höchste Zeit."
"Ihr seid fies", quängelte Pina, während ihre Anverwandten und die Latierres grinsten. Dann erkannte sie, dass sie tatsächlich gerade ihrer Schwester den großen Auftritt zu vermasseln drohten, weil sie sich den blaugeflügelten Kameras gerade zu zum Abschuss anboten.
"Ich bin dann bei Mum, bevor die alle Taschentücher aus dem Besenknecht vollgeweint hat", sagte sie und peilte ihre Mutter an, die zusammen mit Roy und Dina Fielding, sowie Roys großer Schwester Erica zusammengestellt hatte, um ein Gruppenbild der zusammengetrauten Verwandten hinzukriegen.
"Wie soll der kleine denn heißen, wenn er deine Luxuspension verlassen hat?" fragte Julius.
"Pythagoras", erwiderte Melissa. Julius grinste. "Ich weiß, mit dem Namen wäre er bei den Muggeln in der Schule gestraft. Aber so hieß Uroma Sophias Vater väterlicherseits."
"Zumindest ein Name mit P am Anfang. Und wenn es doch eine Sie geworden Wäre?"
"Philippina Sophia", erwiderte Prudence im Flüsterton, während sie links von Julius den goldenen Teppich abschritt.
"Die kleine hat sich gesättigt. Dann kann sie wieder ans Licht", bemerkte Millie und brachte Chrysope unter ihrem Umhang zum Vorschein. Mit einem unbeschmutzbaren Reinigungstuch wischte sie ihr den Mund sauber, bevor sie sie in das Tragetuch wickelte.
"Rorie, komm zu uns!" rief Millie nach ihrer Erstgeborenen, die auf Aurora Dawns Schoß saß und sich gemütlich an ihren Bauch lehnte. Aurora Dawn winkte den beiden Eltern ihrer Fastnamensvetterin zu und nahm sie bei der kleinen Hand, um mit ihr herüberzukommen. Julius sah nun auch Petula und weitere ehemalige Klassenkameraden von Aurora und Roy.
"Chrysie mag das Sonnenlicht. Sie ist froh, dass sie jetzt alles um sich herum sehen kann", sagte Millie zu Prudence. "Nicht dass dein Kleiner Untermieter eifersüchtig wird, weil er noch nicht rausgucken kann."
"Sag das mal nicht, Millie. Ich habe vor einer Woche mal ausprobiert, ob ich in dieser Form noch den totalen Unsichtbarkeitszauber bringen kann. Der ging so gut, dass mir der Kleine Gory mindestens zwanzigmal in den Magen, gegen die Blase und eins meiner Ovarien getreten hat, wohl weil der zum ersten Mal ungefiltertes Tageslicht mitbekommen hat. Da musste ich ganz schnell wieder undurchsichtig werden. Habe schon gedacht, den kleinen vor der Zeit in diese große Welt hinauszulassen. Aber er hat sich dann beruhigt."
"Oh, dann hat deine Hebamme dir nicht verraten, dass Unsichtbarkeitszauber ein Ungeborenes genauso zusetzen können wie das Licht nach der Geburt?" fragte Millie. "Also meine Hebamme hat mir den Zauber und auch jeden Tarnumhang verboten, weil meine Mutter mit Miriam unter dem Umhang mal auf diesem amerikanischen Harvey-Besen geflogen ist, der sich und seine Reiter unsichtbar macht. Hat sich nicht zur Wiederholung empfohlen."
"Habe ich auch gemerkt. Aber sei es. Der kleine liegt noch sicher verstaut in Prudences warmem Kämmerchen und bleibt da, bis der groß genug ist, um die Schrei- und Nuckelerlaubnis zu kriegen."
Julius hatte sich Millies und Prudences Frauengespräch angehört. Dabei musste er an Ashtarggayan, den Altmeister von Altaxarroi denken. Der hatte ihm erzählt, dass seine Mutter einen Zauber benutzt hatte, damit er, der dreihundert Jahre lang durch einen bösen Fluch im Leib seiner Mutter eingeschlossen blieb, die Außenwelt mitbekommen konnte. So ging es also auch. Wenn es dann noch möglich war, die Außengeräusche ungefiltert in den Mutterleib eindringen zu lassen konnte so ein Kind schon weit vor der Geburt gesprochene Sprache ganz klar verstehen, nicht wie durch dicke Wände, wie Julius das aus Exosenso-Versuchen mit diversen Ungeborenen wusste. Das wollte er sich gut einprägen, weil er wusste, dass da jemand war, die das sicher gerne einmal ausprobieren wollte.
Im Festzelt durften die Latierres sich zu den Klassenkameraden und Freunden der Bräutigameltern Setzen, zu denen neben Aurora Dawn auch Miriam Swann und Petula Woodlane gehörten, die er mal bei Dumbledores Beerdigung gesehen hatte.
"Und wie geht's Heather und ihrem Mann?" wollte Julius von Aurora wissen.
"Möchte ich mich jetzt nicht drüber verbreiten, Julius. Der Stern des Südens hat vor einigen Tagen Normgröße-Null-Kessel voller Schmutz über die und die Willy-Willy-Manufaktur ausgeschüttet, von wegen Berühmte Besendrechselei vor dem Absturz oder "Willy-Willys nur noch trauriges Windgeheul" und so weiter. Falls Heather dir das erzählen möchte kann sie dir ja eine Eule schicken. Sie ist auf jeden Fall nicht so begeistert, wo sie ... na ja, du weißt schon." Julius nickte bestätigend. Offenbar war die Lage für die Besenwerkstatt von Heathers Mann sehr schlecht, und dass, wo Heather das erste Kind von ihm erwartete, dem sie wohl eine sorgenfreie Zukunft hatte geben wollen. Deshalb wollte er auch nicht weiter darüber reden und Aurora nicht den schönen Tag vermiesen, wo sie wohl nicht so leicht frei bekommen hatte.
Die Feier verlief, wie Julius schon verschiedene Feiern mitbekommen hatte. Aurora erzählte ihm noch, wie sie damals Toms Eltern bei ihrer Hochzeit zugesehen hatte. "Kann man mal sehen, wie schnell die Zeit vergeht", meinte sie mit einem leicht wehmütigen Unterton. Julius pflichtete ihr im stillen bei. Wenn er sah, wie groß Chrysope schon geworden war und Aurore schon frei und flink herumlaufen konnte merkte er auch, dass da mal eben mehrere Jahre vergangen waren.
Da die glückliche Braut ihren Vater bei der von Todessern gestürmten Party verloren hatte übernahm es ihr Onkel Ryan, die Festrede zu halten. Darin pries er das Leben und die Liebe, die die Welt auch in tiefster Dunkelheit und Kälte zusammenhielten. Anschließend wurde das Buffet eröffnet.
Nach dem Festschmaus kam der Brautstraußwurf. Pina versuchte zwar, das bunte Blumengewinde zu fangen, musste aber verdutzt zusehen, wie Olivias neue Schwiegertante Erica den Strauß erwischte oder besser vom Strauß erwischt wurde. Tom, der einen kleineren Strauß in die Luft warf, grinste, als er sah, dass sein Schwiegeronkel Ryan den Strauß erwischte.
"Dann trägt deine Gerty aber zur Hochzeit einen Strohhut und ein rosafarbenes oder himmelblaues Umstandskleid", lachte Pinas und Olivias Mutter ihren Bruder an. Darauf lief Ryan rot an, was vor allem von den halbwüchsigen Mädchen mit ungehemmtem Kichern bedacht wurde. Julius wusste, dass Pinas zum Witwer gewordener Onkel, der wegen seiner nicht vorhandenen Zauberkräfte ein ganz gewöhnlicher Eton-Schüler und Student gewesen war, mit Melissas und Mikes leiblicher Mutter zusammengefunden hatte. Pina hatte ihm das einmal haarklein erzählt, dass die beiden nicht so leise und behutsam waren wie Mike und Prudence.
"Eigentlich hätte ich für Gory den Strauß fangen können", meinte Prudence zu ihrem noch sehr jungen Ehemann. Der grinste verhalten. "Hätte Tante Hortensia nicht breittreten müssen, dass Tante Gerty von Onkel Ryan wen kleines im Unterbau hat", grummelte er. "Ich dachte eigentlich, Tante Hortensia wäre da feinfühliger als ihr Bruder."
"Die musste das jetzt loswerden, weil es sie selbst nervt", zischte Melissa. "Und dich nervt's auch wie mich", fügte sie ihrem Bruder zugewandt hinzu. Millie und Julius schwiegen dazu.
Wie schon bei so vielen Feierlichkeiten konnte der geübte Tänzer Julius Latierre den tanzwilligen Damen nicht nein sagen, was vor allem Pina und Millie freute. Julius konnte aber auch mit der Brautmutter und deren neuer Verwandten Mrs. Dina Fielding tanzen. Der Tanz vor Mitternacht gehörte Aurora Dawn.
"Da Heather mich immer wieder fragt, was du so machst und wie du vorankommst mit Familie und Beruf frage ich sie, ob sie dir mehr von dem erzählen möchte, was ihr gerade Sorgen macht. Du bist ja als Zauberwesenbeamter aus Frankreich unbefangen, was australische Flugbesen angeht."
"Na ja, meine Schwiegermutter ist die Leiterin der Spiele- und Sportabteilung", räumte Julius ein. Aurora nickte. Deshalb schickte er schnell nach, dass er seiner Schwiegermutter aber nichts erzählen wollte, von dem Heather nicht wollte, dass es andere mitbekamen. Das nahm Aurora mit einem beruhigten Nicken zur Kenntnis.
Um Mitternacht verabschiedete sich das junge Paar in die erste gemeinsame Nacht. Das war auch für die Gäste aus dem Ausland das Signal, die immer noch feierwillige Gesellschaft zu verlassen. Mit Flohpulver reisten die Latierres zurück ins Apfelhaus. Julius hatte es bei seinen beiden derzeitigen Chefinnen hinbekommen, am nächsten Tag zwei Stunden später zum Dienst zu erscheinen. Die dafür nötigen Überstunden hatte er ja schon herausgearbeitet.
15. Mai 2002
Hallo Wendy!
Heute war ich bei der Hochzeit von Tom Fielding und Olivia Watermelon. Dabei habe ich auch meine alten Schulkameraden wiedergesehen und mit Julius Latierre und seiner Frau gesprochen. Es ist für mich unheimlich, wie schnell die Jahre vergangen sind. Ich kann mich noch dran erinnern, wie Tom ein kugelrunder Bauch Dinas war, als wir im letzten Jahr waren. Außerdem haben sich Julius' Erstgeborene und seine zweite Tochter auch schon wieder um einiges weiterentwickelt. Du kennst ja meine Sorge, dass ich vielleicht nie ein eigenes Kind haben werde, weil mich der Beruf so einspannt. Deshalb verstehst du sicher, wie sehr es auf meiner Seele lag, zuzusehen, wie einer, den ich noch sozusagen vor der Geburt kennenlernte, demnächst eigene Kinder haben kann. Natürlich freue ich mich für Roy, der nach dem brutalen Mord an seinen Eltern was dauerhaftes hinbekommen hat.
Julius hat mich natürlich nach Heather gefragt. Ich hätte ihm zu gerne alles erzählt, was im Stern des Südens stand und was Heather mir unter dem Siegel der Vertraulichkeit zwischen Heilerin und Patientin anvertraut hat. Aber ich weiß natürlich, dass das nicht richtig ist. Ich werde Heather morgen anschreiben, um ihr Grüße von Julius auszurichten. Vielleicht richtet sie das etwas auf. Dann hätte ich als Heilerin was richtiges gemacht.
Die Reise und die Zeitverschiebung haben mich doch gut müde gemacht. Bin eben nicht mehr das junge Mädchen, dass du vor so um die zwanzig Jahre kennengelernt hast.
Bis morgen!
"Er müsste bereits größer sein", sagte die Hebammenhexe Alouette Laporte, als sie mit dem Finger auf den kopfgroßen, flachen Gegenstand deutete, der wie eine Sichtluke in Nathalies Unterleib den gerade wohl schlafenden Fötus zeigte. "Damit bestätigt sich wohl, dass die Behauptung Létos der Wahrheit entspricht und das Wachstum Ihres Kindes sehr stark verlangsamt wurde, sofern es nicht gänzlich angehalten wurde."
"Will sagen, ich soll mich damit abfinden, über vierzig Jahre lang schwanger zu bleiben, wenn nicht sogar den Rest meines Lebens?"
"Ich sehe es Ihnen an, Nathalie, dass Sie es nicht glauben möchten. Doch wenn Sie sich daran erinnern, wie weit sich Ihre Tochter im achten Monat schon entwickelt hat und wie weit Ihr ungeborener Sohn gewachsen ist, so bleibt mir nur diese Annahme.
"Könnte es sein, dass er nur deshalb langsamer wächst, weil ich von diesem so genannten Segen betroffen bin und er in der Obhut einer anderen Hexe mit natürlicher Geschwindigkeit heranreifen würde?"
"Sie meinen, ob ich oder meine junge Kollegin Ihr Kind übernehmen und zu Ende tragen können, damit es in zwei Monaten geboren werden kann? Da müsste ich mich umhören, ob eine meiner Kolleginnen dazu bereit ist. Sie wissen ja, dass dieser Zauber sehr kritisch ist und ja nicht nur mit dem Wohl der Kindesmutter, sondern mit dem der ihr aushelfenden Heilerin und dem des Kindes selbst spielt. Immerhin müsste meine Kollegin den Jungen zur Welt bringen, und ob sie ihn dann pro Forma zur Adoption freigibt, damit Sie ihn als Ihren Sohn annehmen dürfen hängt auch davon ab, wie sehr sich die Kollegin mit dem von ihr getragenen Kind anfreundet. Außerdem dürfen wir Heilerinnen diesen Zauber nur benutzen, wenn für Mutter und/oder Kind eine unmittelbare Gefahr besteht. Und so wie Ihr Körper nun konditioniert ist besteht keine solche Gefahr."
"Nur dass er den Fötus im Wachstum beschränkt", schnarrte Nathalie. Alouette erwiderte, dass dies nicht sicher sei, ob es nur ihres Körpers wegen so sei oder der Ungeborene nicht ebenfalls durch die goldene Sphäre verändert worden sei. Dann, so die Heilerin, könne eine zeitweilige Umsiedlung in den Leib einer anderen Hexe womöglich jene Gefahr heraufbeschwören, deretwegen ein solcher Zauber angewendet werden dürfe. Sie begründete es damit, dass die reinen Lebenserhaltungsvorgänge Nathalies und ihres Kindes gerade gleichförmig abliefen. Nathalie überlegte kurz. Dann sagte sie: "Gut, Anfang Juni untersuchen Sie mich noch einmal. Hat sich unser Sohn bis dahin nicht sichtbar weiterentwickelt, so werde ich Ihnen mitteilen, wie ich mich entscheide." Alouette nickte.
"Die Fremdzaubertoleranztests haben gezeigt, dass Madame Grandchapeau die selbe Zauberresistenz wenn nicht sogar höher als ein reinrassiger Riese hat. Da wäre kein Transgestatio-Zauber durchgedrungen", sagte Anne Laporte, als sie sich mit ihrer dienstälteren Kollegin und Anverwandten über den Fall Grandchapeau unterhielt. "Und selbst wenn, dann könnte es möglich sein, dass die Behelfsmutter auf die verzögerte Lebensvorgangsrate gebremst würde und nicht nur was den Alterungsvorgang angeht, sondern in allen sensorischen und motorischen Bereichen. Wir könnten dann so eine lebende Statue bekommen, in deren für uns bretthartem Bauch ein Fötus herumstrampelt, der den Herzschlag und Atem seiner Mutter vermisst und keine Nahrung bekommt. Insofern war es gut, dass Sie diese Idee erst einmal verworfen haben."
"Danke, dass Sie mir beipflichten, Frau Kollegin", erwiderte die dienstältere Hebammenhexe.
Diese verdammte Silberuhr, die ihm so ein übereifriger Kobold ins Büro gestellt hatte, tickte gnadenlos jede Sekunde weg. Jede volle Minute klang ein lauterer Tack-Laut dazu, und jede volle Stunde klang ein unheilvolles Glockenspiel. Unter dem Zifferblatt, über dem feuerrote Zeiger auf schwarze Zahlen wiesen, liefen zwei Walzen, auf denen blutrote Zahlen aufgemalt waren. Im Moment zeigten die zwei Zahlenwalzen null und sechs an. Das war eindeutig, wusste Cygnus Redrobe. Bis zum ersten Juni hatte er noch Zeit, die Galleonen zu beschaffen, um das von den Kobolden erhaltene Darlehen zu stunden. Diese spitzohrigen Spitzbuben hatten sogar noch fünfzig Prozent Verzugszinsen aufgeschlagen, so dass er siebenhundertfünfzigtausend Galleonen Gesamt zu zahlen hatte. Die wollten ihn wirklich fertigmachen!
Die silberne Uhr vermeldete gerade mit ihrem Gänsehaut erzeugenden Glockenspiel, dass wieder eine volle Stunde um war, zwölf Uhr Mittags. Zu gerne hätte er die Uhr genommen und vom fliegenden Besen mitten in die australische Wüste geschleudert. Doch dieses vertückte Zeitanzeigeding war von einem Unberührbarkeitszauber umgeben. Er konnte nicht mal auf fünf Zentimeter an das Teil herankommen, ohne auf stahlharten Widerstand zu treffen. Die Eingebung, dass er die Uhr so vielleicht vom Tisch pflücken konnte hatte sich als verfehlte Hoffnung erwiesen. Ebenso widerstand dieses Gerät allen Fernbewegungszaubern und ließ sich auch nicht mit einem Impedimenta-, Mechanetus oder Reducto-Zauber aus dem Takt bringen. Selbst ein Feuerstrahl wirkte nicht auf sie ein. Diese langfingrigen Goldhorter hatten echt alles bedacht, was jemand mit einem Zauberstab anstellen konnte, obwohl sie selbst keinen benutzen durften.
"Onkel Vitus ist bereit, uns hundert Goldriesen als Anzahlung für eine sichere Zukunft unseres Kindes zu geben", sagte Heather, die mit einem Tablett voller leckerer Speisen hereinkam.
"Wir brauchen siebeneinhalb mal so viel, meine Heideblume", grummelte Cygnus Redrobe. Wieder einmal mehr fragte er sich, ob an den Geschichten um seinen Großvater mütterlicherseits was dran war. Der war angeblich verflucht worden, nirgendwo in Australien sicher zu sein, wenn er eine weiße Frau zur Mutter seines ersten Sohnes machte. Dieser Fluch sollte angeblich solange wirken, bis seine Blutlinie restlos erloschen war. Das war, weil er die Tochter des Stammeszauberers Malagujana beschlafen und geschwängert hatte, ohne sie den Riten gemäß zu heiraten. Vielleicht stimmte das auch. Er wusste, dass die Ureinwohner mächtige Ritualzauber konnten.
"Wir haben noch nicht alle gefragt. Deine Verwandten in den Staaten zum Beispiel. Außerdem kannst du durch mich auch Hilfe für von Armut bedrohte Verwandte von Heilern erbitten. Laura Morehead soll in der Hinsicht sehr großzügig sein."
"Weiß ich, hat sie mir selbst geschrieben, als es der Südstern und der Quidditchkurier in die Welt trompetet haben. Bis dahin hatte ich nur fünfhundert Goldriesen zurückzuzahlen, einschließlich der Zinsen. Nach diesen Zeitungsmeldungen haben diese Gringotts-Ganowen noch diese Winzklausel hervorgekramt, dernach bei möglicher Erschließung von Einnahmen fünfzig Prozent Verzugszinsen erhoben werden dürfen. Wie nannte dein ehrenwerter Onkel das? Chrysophagie."
"Mein Onkel und du könnt die alten Sprachen, aus denen viele unserer Zauberformeln kommen. Ich nicht. Was heißt das Wort bitte?"
"Goldfresserei, also ein anderes Wort für ungezügelte Habgier", erwiderte Cygnus Redrobe. "Ja, und Laura Morehead hat auch erwähnt, dass der Heiler, mit dem wir verwandt sind, sicherstellen möge, dass jedes unserer Kinder darauf hinerzogen wird, nach Redrock in die Heilerzunft einzutreten, wodurch das Darlehen zurückerstattet werden könne. Dann kann ich die Werkstatt gleich verkaufen, wenn kein Erbe sie übernimmt."
"Warum verkaufst du sie nicht gleich?" fragte Heather einmal mehr und wusste, welche Antwort sie kriegen würde.
"Willy-Willy ist ein Erbe meines Urgroßvaters väterlicherseits und wurde mir von meinem Vater hinterlassen, als er vor zehn Jahren unbedingt meinte, einen Unterwasserausflug machen zu müssen und dabei von einem Hai attackiert wurde. Ich werde dieses Unternehmen nicht kampflos aufgeben, schon gar nicht, wo wir den Zwölfer jetzt so weit haben."
"Ja, aber alle Testflieger wollen einen Gefahrenvorschuss von je zweitausend Galleonen haben", wusste Heather. Wie viel haben wir noch:"
"Um dich, das Kleine und mich die nächsten Sechs Tage satt zu halten reicht es gerade noch. Aber mehr als eintausend Galleonen kann ich nicht mehr aus dem Geheimversteck abrufen, weil ich mindestens noch dreitausendzweihundert brauche, um die vier Witwen über die nächsten zwei Monate zu bringen."
"Und du brauchst drei Testflüge mit zwei Personen über zehntausend Kilometer, richtig?"
"Um sicher zu sein, was Etappenlänge, Reisehöhe und Reisegeschwindigkeit angeht ja, Heather", erwiderte Cygnus Redrobe.
"Und wenn du die Witwen nicht auszahlst fällst du tot um, richtig?" fragte Heather.
"Ja, und wenn ich diese verdammten Galleonen für die Goldfresser von Gringotts nicht beibringe wollen die mich lebendig im Keller meines eigenen Hauses einmauern, appariersicher, bis jemand mich mit der geforderten Summe auslöst oder ich sterbe, was in dem Moment passieren wird, wenn eine der vier Witwen ihre vereinbarte Vergütung nicht kriegt.
"Wie viele Testbesen sind verfügbar?" wollte Heather wissen, in deren Gesicht eine wilde Entschlossenheit glühte.
"Die drei für die sechs ursprünglichen Testflieger. Aber die sechs haben alle gesagt, dass sie erst die vertragliche Gefahrenfallvorauszahlung für ihre Angehörigen haben wollen. Wieso? - Nein, Heather, das meinst du nicht echt."
"Doch, verdammt echt, Cygnus. Ich will, dass unser Kind mit seinem Vater groß wird, dass es nicht betteln muss oder sich von Geburt an auf etwas festlegen lassen muss. Wenn wir den Besen testen und die Versuche durchziehen. Du weißt, dass ich immer noch das Testflugzertifikat habe und du ja als Besenzureiter bei deinem Vater angefangen hast. Rechtlich können wir zwei den Besen auch testen."
"Da vergisst du was, dass deine britische Freundin Aurora Dawn dir verboten hat, mit unserem Kind im Bauch auf einen Testbesen zu klettern. Und ich verbiete dir das auch. Schon schlimm genug, dass wir an der Totalpleite langlaufen und ich dabei draufgehen werde. Ich riskiere bestimmt nicht dein und mein Kind."
"Du meinst, wenn ich nicht schwanger wäre würdest du mit mir sofort fliegen?"
"Ja, würde ich. Aber ich will nicht, dass du das Kleine deshalb abtreibst. Das ist auch mein Kind."
"Deine und meine Tochter, Cygnus", enthüllte Heather. "Wollte ich dir eigentlich nicht vor der Geburt sagen. Aber jetzt ist es auch egal. Nein, ich werde die Kleine nicht umbringen. Die kann nichts für deine Probleme mit den Kobolden. Aber ich kann dafür sorgen, dass sie gut unterkommt, so dass wir fliegen können."
"Wie witzig, Heather. Willst du die Kleine etwa aus dir heraus in einen Conservatempus-Schrank packen und nach der Versuchsreihe wieder in deinen Bauch zurückstecken?"
"Nicht ganz, aber ungefähr", grinste Heather zuversichtlich. Dann verriet sie ihrem Mann, was ihr eingefallen war. Er stutzte erst, blickte sie verdutzt an, wollte noch einmal wissen, ob er sich verhört hatte. Doch Heather wiederholte, was sie gesagt hatte. Cygnus sah sie und vor allem ihren nun leicht sichtbaren Bauch. Konnte das wirklich gehen?
"Ich hätte doch noch warten sollen", stöhnte die noch sehr junge Frau, die gerade das erste Kind zur Welt brachte. Die schwarzhaarige Heilerin Aurora Dawn hockte vor ihr und beobachtete den Geburtsverlauf.
"Gleich ist das schlimmste geschafft, Jessica. Du machst das alles richtig", ermunterte Aurora Dawn die junge Hexe. Dann war der Kopf des Kindes frei. Der restliche kleine Körper schob sich innerhalb von fünf Minuten ans Licht der Welt, auch deshalb, weil Aurora den Schoß der jungen Hexe sorgfältig mit Gleit- und Dehnungslotion eingerieben hatte. Mit einem letzten Schrei trieb Jessica Beine und Füße ihres Kindes aus. Aurora band die Nabelschnur ab und sagte:
"Da ist deine kleine Tochter, Jessica. Harvey wird sich sicher freuen."
"Jetzt weiß ich, warum meine Mum damals so geschrien hat. Ich hätte es doch wissen sollen. Aber das war zu herrlich, wen neues hinzukriegen."
"Sage deinem Mann, dass ihr jetzt zu dritt seid und er sich nicht mehr mit Bundabundos anlegen soll!" sagte Aurora, während sie das kleine Mädchen behutsam in die Arme seiner Mutter legte. Dann fragte sie noch: "Bleibt es bei dem Namen?"
"Ja, bei dem Namen bleibt's: Melissa Amalia Beals. Schön, dass du jetzt da bist!" Die soeben mit ihrem Namen bedachte kleine Hexe schrie noch einmal auf, bevor sie fand, dass sie besser neue Kraft tanken sollte, weil die Direktversorgung nicht mehr da war.
Zwei Stunden später sprach sie mit Jessicas Mutter Amalia Portland und sagte ihr, dass sie jetzt Oma sei.
"Es ist für mich noch so, als bekäme ich sie erst oder hätte sie gerade noch in den Windeln", seufzte Amalia. "Aber ich hatte keinen Moment Bedenken, dass Sie ihr helfen können. Werde ich Elwood schreiben, dass die, die ihn auf die Welt geholt hat, jetzt auch seine kleine Nichte ans Licht geholt hat. Zwar versteht er sich nicht so mit seinem Schwager, aber ich hoffe, die Kleine wird schon helfen, dass er sich mit ihm verträgt.
"Amalia, Sie wissen, dass Sie und Ihre Kinder jederzeit zu mir kommen können, wenn was ist."
"Ich weiß das, Randolph weiß das und Elwood und Jessica wissen das, Aurora. Wenn ich überlege, wie verängstigt ich war, dass da so eine junge Hexe zu mir kam, wo ich schon Angst hatte, ich würde verbluten und der Kleine würde noch vor der Geburt ersticken ... Wie schnell die Zeit vergeht."
"Ich schreibe Elwood auch noch mal an. Er hat sich ja schon bedankt, dass ich ihm bei den ZAG-Vorbereitungen geholfen habe."
"Sie sind für so viele da, Aurora", seufzte Amalia Portland. Die Heilerin winkte ab und erwähnte, dass das ihr Leben sei, nicht nur ein Job. Für sich selbst dachte sie, dass sie, wo sie keine eigene Familie hatte, zumindest anderen helfen konnte, gesund und glücklich zu leben.
Aurora Dawn holte ihr Tagebuch aus dem Schreibtisch. In einer halben Stunde war es Mitternacht und damit ihr sechsunddreißigster Geburtstag. Sie überlegte, was sie ihrer persönlichen Chronik anvertrauen wollte. Die Gefühle über den heutigen Tag waren so vielfältig. Da hatte sich ein Kreis geschlossen, von ihrem ersten Noteinsatz bei den Heilern bis heute. Wenn sie auch noch irgendwann Elwoods erstes Kind auf die Welt holen durfte. Aber dafür musste Elwood Portland im Einsatzbereich der Heilerin wohnen bleiben. Dass Jessica mit dem ein Jahr jüngeren Harvey Beals zusammengekommen war, dessen Eltern erst seit zehn Jahren hier in Sydney wohnten, lag wohl daran, dass Harvey Jessicas Begeisterung für Kräuterkunde und Zauberwesen teilte, Sachen, die Elwood nicht so lagen. Er war eher der Zauberkunsttyp. Aber dass Aurora ihm zusätzlich zu ihren Fachbüchern noch praktische Tipps bei Kräuterkunde und Zaubertränken gegeben hatte hatte er sehr dankbar angenommen. Welches der fünf ihn wegen seines Quidditchtalents umschwärmenden Mädchen er später mal zur Mutter seiner Kinder machen würde wusste er noch nicht.
Aurora wollte gerade die Schreibfeder in das Tintenfass eintauchen, um Wendy, ihrem Tagebuch, den heutigen Tag zu erzählen, als es an der Tür läutete. Wenn jemand um die Zeit noch was wollte war es dringend. So ließ sie die Feder im Fass, klappte ihr Tagebuch zu, dass nur von ihrer Hand geöffnet werden konnte und eilte mit vier langen Schritten aus ihrem Schreibzimmer zur Haustür. Mit einem schnellen Zauberstabwink ließ sie alle Schlösser aufspringen. Sie argwöhnte keinen Moment, dass ein Feind vor der Tür stehen konnte. Dafür hatte sie zu viele Schutzzauber um ihr Haus gespannt. Wäre dort ein Feind, so hätte sich die Tür auch nicht öffnen lassen.
"Heather, was hast du?!" stieß Aurora aus, als sie eine schwer atmende, schweißgebadete Heather Redrobe vor der Tür sah. Diese legte sich die Hände auf den Bauch, als plagten sie Magenschmerzen. Doch Aurora deutete es als unvorhergesehene Umstandsbeschwerden und materialisierte sogleich eine Trage, um Heather liegend ins Haus zu bringen.
"Ich hätte es dir schon damals sagen sollen", quängelte Heather und keuchte. Aurora brachte Heather in ihr Behandlungszimmer. Dort untersuchte sie sie. Dem gerade zum Fötus entwickelten kleinen Mädchen ging es zwar gut. Doch die sie umschließende Gebärmutter bebte und zuckte wie unter elektrischen Schlägen. Das Herz der Mutter pochte unregelmäßig und alle drei Schläge mit so lautem Ton, dass Aurora beim Abhören fast Ohrenschmerzen bekommen hätte. Mit dem Lebensaurenprüfzauber stellte sie fest, dass irgendwas wie kleine feurige Schlangen die grüne Lebensaura Heathers durchwanderte und immer wieder in ihren Brustkorb und ihren Bauch hineinbiss.
"Ich hätte es nicht tun sollen. Aber ich war zu neugierig", jammerte Heather. Aurora prüfte nun auch die Körpertemperatur. Diese lag zehn Celsius unter dem gesunden Wert. Irgendwas kühlte heather von innen her ab.
Aurora handelte schnell und routiniert. Sie winkte mit ihrem Zauberstab und dachte ein Codewort. Unvermittelt materialisierte sich ihre Heilerausrüstung neben ihr. Gleichzeitig erschien auf dem Mitschreibepult ein unbeschriebenes Pergament, auf das Aurora eine Flotte-Schreibe-Feder setzte. Sie diktierte der Feder schnell das Datum, die Uhrzeit und die Patientin, gab auch erste Befunde an. Dann fragte sie Heather, was sie getan hatte. Diese keuchte und stöhnte:
"Ich wollte einen alten Zauber der Anangu verwenden, um das Glück durch das von Cygnus in mir wachsende Fleisch und Blut auf ihn und uns zu übertragen. ich habe davon gehört, dass Ananguhexen und Gunai dafür einen mächtigen Erdgeist beschwören können. doch irgendwas habe ich dabei verkehrt gemacht. Meine Lebenskraft fließt ab in die Erde, meine Wärme, und diese Nargun frisst meine Lebenskraft auf. Warum sie die Kleine nicht anrührt weiß ich nicht. Aber wenn sie mich umbringt ist die Kleine auch tot."
"Bist du noch zu retten, Heather?" stieß Aurora verärgert aus, bevor ihr wieder einfiel, als Heilerin keine Gefühlsausbrüche zuzulassen. So fragte sie ihre Freundin, warum sie ein ihr wohl völlig unbekanntes Ritual verwendete.
"Die Kobolde haben meinem Mann ein Ultimatum gesetzt. Wenn sie nicht am ersten Juni ihr Geld wiederhaben wollen sie ihn in seinem eigenen Keller einmauern, ohne dass er verhungern kann. Erst wenn jemand in seinem Namen die geforderte Summe bezahlt darf er wieder frei sein. Aber er hat diese vermaledeiten Verträge. Erfüllt er einen nicht, bleibt sein Herz stehen. Deshalb wollte ich mit dem Glücksritual der Nargun ... Brrr, es wird immer kälter, Aurora. Mach doch bitte was!" stieß Heather aus und zitterte. Aurora berührte ihre Stirn. Sie meinte, in Eiswasser zu greifen, so kalt fühlten sich Heathers Schweißtropfen an. Wenn sie nicht sofort was machte starb die kleine Rosey, wie Heather ihre Tochter nennen wollte.
"Dem Kind geht es gut. Es ist wohl nicht betroffen, stellte sie auch an die Schreibe-Feder gewandt fest. Dann sagte sie: "Da der Fluch nur dich betrifft, Heather, hoffe ich, dir helfen zu können. Aber ich muss erst deiner Tochter helfen. Wenn deine Temperatur noch weiter fällt hat sie zu wenig Wärme und stirbt an Sauerstoffunterversorgung. Ich berufe mich auf die erste globale Heilerdirektive, wonach jedes unschuldige Menschenleben umgehend zu schützen ist und erkenne auf Notfallartikel zehn der vorgeburtlichen Maßregeln. Heather, um dein Kind zu retten muss ich es zeitweilig in meinen Leib übernehmen. Keine Sorge, wir zwei und das Baby haben passende Blutwerte. Darf ich dein Kind in meine Obhut nehmen?"
"Was fragst du da so lange? Wenn ich gleich keine Luft mehr kriege ist die kleine auch tot", stieß Heather verängstigt klingend aus. Aurora sah ihr in die Augen. Sie flatterten hektisch. So konnte Aurora keine ansatzweise legilimentische Verbindung herstellen um mehr über den Zauber zu erfahren. Dann sagte sie:
"Da ich soeben die Erlaubnis von Mrs. Heather Redrobe geborene Springs erhalten habe, ihre Leibesfrucht bis zur Ermittlung einer erfolgreichen Heilung zu übernehmen vollziehe ich nun den Transgestatio-Zauber gemäß Artikel zehn der vorgeburtlichen Maßnahmen. Danach werde ich die Patientin, sofern dies geht, in verlangsamten Zustand versetzen, um die Auswirkung des sie belastenden Zaubers zu verzögern."
"Mann, Aurora, lass die blöde Feder. Mein Baby!" stieß Heather aus und bebte förmlich vor Kälte und Angst. Weiterer Schweiß schoss ihr aus den Poren. Aurora nickte ihr zu.
"Vita Praenata ex Utero Heatherae in Uterum Aurorae transcede pro crescentia naturaque!" wiederholte Aurora die so schicksalhafte Zauberformel dreimal, wobei sie den Zauberstab von Heathers Unterbauch zu ihrem pendelte. Als sie die vierte Wiederholung sprach spannte sich lautlos ein blutroter Lichtbogen von Heather zu ihr. Einen Moment lang konnten beide eine rötliche Kugel erkennen, die dem Bogen folgte und in Auroras Unterleib eindrang, der im nächsten Augenblick anwuchs, während Heathers Leib ein wenig abschwoll. Aurora keuchte unter einer plötzlichen Kraftanstrengung. Sie schnaufte ein paar mal. Dann prüfte sie nach, ob sie wahrhaftig Heathers Leibesfrucht in sich aufgenommen hatte.
"Mir wird immer kälter", stöhnte Heather. "Hast du sie in dich aufgenommen?" fragte sie dann noch. Aurora vollführte gerade einen kurzen Prüfzauber und nickte. "Sie ist bei mir, Heather. Ich mache zur Sicherheit den Blutanpassungszauber, auch wenn wir eigentlich passende Blutgruppen haben." Sie zielte auf ihren nun etwas vorgewölbten Unterbauch und von da auf ihren Brustkorb und murmelte: "Sanguis Fructi ventris adaptato cum materno!" Es war, als durchzucke sie ein Wärmestoß. Dann richtete sich Aurora Dawn auf und wandte sich der Schreibe-Feder zu:
"Gemäß Artikel Zehn der Vorgeburtsmaßnahmen übernahm ich um dreiundzwanzig Uhr dreiunddreißig die sechzehn Wochen alte Leibesfrucht von Heather Redrobe. Ui, das ist heftig. Anpassung an den instantanen Umstandswechsel gerade verkraftbar. Werde mich gleich um die Patientin kümmern."
"Falls mir was passiert, Aurora", setzte Heather mit angestrengter Stimme zu sprechen an und sagte dann mit unerwartet kraftvoller und lauter Stimme: "Pass gut auf Rosey auf!" Aurora wollte gerade den Lentavita-Zauber wirken, um alle Körperfunktionen erst auf ein Zehntel und womöglich noch auf ein Tausendstel zu verzögern, als Heather unvermittelt von einer blauen Lichtspirale umschlossen wurde. Aurora wusste zwar sofort, was geschah, konnte es aber nicht mehr verhindern. Heather verschwand mit der magischen Trage in der leuchtenden Spirale. Aurora blickte überrumpelt auf die Stelle, wo Heather gerade noch gelegen hatte. Ihr wurde schwindelig. Ihr Herz wummerte lauter, und sie fühlte, wie ihr die Beine wegzuknicken drohten. Sie schaffte es noch, zu ihrem Behandlungstisch zu gehen und sich darauf hinzulegen. Schwerfällig atmete sie ein und aus. Es dauerte eine Minute, bis sie wieder soweit klar war, dass sie aufstehen konnte. Ihr Körper hatte es jetzt begriffen, dass er neues Leben trug. Mal eben von null auf sechzehn Wochen zu wechseln war schon heftig, aber erträglich, wusste Aurora aus der Erfahrung beim Erlernen des Zaubers mit dem Kind von Daisy Fenwick geborene Nettles. Als sie ihren Unterbauch streichelte fühlte sie dessen Ausprägung. Eine Bewegung würde sie im Moment nicht verspüren, weil das Ungeborene noch zu klein war. Aber sie würde seine Anwesenheit spüren, bis es entweder in den Leib seiner natürlichen Empfängerin zurückversetzt wurde oder Aurora auf magielose, schmerzhafte Weise verließ.
"Notiz zur späteren Verwendung für die Heilerzunft. Unvermittelt nach Übernahme der Leibesfrucht von Mrs. Redrobe aktivierte sie einen von mir nicht erkannten weil nicht explizit gesuchten Portschlüssel und verschwand aus meiner Obhut. Vermutung, Heather Redrobe vollzog mir nicht ersichtlichen Körperbeeinträchtigungszauber, um mich dazu zu veranlassen, ihr Kind durch Transgestatio-Zauber zu übernehmen. Nachdem ich dies tat war meine von ihr zugedachte Aufgabe erledigt. Damit tritt für mich die zweite globale Heilerdirektive in Kraft, dernach ich nun für das in mir lebende Ungeborene leben muss und somit keine uneingeschränkten Rechte am eigenen Körper mehr habe. Deshalb werde ich unverzüglich Zunftsprecherin Morehead und Amalthea Honeydew von der Sana-Novodies-Klinik über diesen Vorfall unterrichten und überlegen, ob ich gegen Mrs. Redrobe Strafanzeige wegen mutwilliger Gefährdung eines ungeborenen Kindes in Tatmehrheit mit Missbrauch heilmagischer Verfahren erstatte oder nicht. Mir wäre es lieb, wenn ich weiß, was Mrs. Redrobe unternommen hat, um derartige Symptome zu erzeugen und ob diese wieder umgekehrt werden können. Ende der Notiz."
Eine halbe Stunde später war es aktenkundig für die Heiler, dass Aurora das Kind einer anderen Hexe trug. Von einer Strafanzeige riet ihr Laura Morehead ab, da sie befürchten musste, dass Heather Redrobe nicht mehr in ihre Nähe gelassen würde, um ihr eigenes Kind zurückerstattet zu bekommen. "Was immer sie vorhat, sie wollte das Kind nicht gefährden, Aurora. Womöglich wäre der Zauber wieder abgeklungen, wenn du sie lange genug hättest warten lassen. Aber da ich diesen Zauber auch nicht kenne, der ihre Lebensaura so verändert hat, hätte ich genauso gehandelt wie du. Das kommt in meinen Bericht hinein."
"Ich hätte das auch so gemacht", sagte Amalthea Honeydew. "Am besten behalte ich dich diese Nacht hier in der Klinik, um zu beobachten, ob der von dir erwirkte Schwangerschaftseintritt dich wirklich nicht überfordert hat. Vielleicht wissen wir bis dahin, wo Heather hin ist. Portschlüssel kann man nicht so einfach unortbar machen, schon gar keine WARPs."
"Ja, und wenn wir sie haben bringen wir sie her", sagte Laura. "Dann soll sie uns Rede und Antwort stehen, deine alte Freundin. Vitus Springs darf erst einmal nicht erfahren, dass seine Nichte deine Einsatzbereitschaft und Fachkenntnis missbraucht hat. Vielleicht lässt sich das ganze noch außergerichtlich klären."
"Solange bleibt ihr Kind in ... bei mir?" fragte Aurora verdrossen.
"So gemein es klingt, Aurora, da ist die Kleine im Moment am sichersten aufgehoben. Denn ich vermute, dass Heather irgendwas wesentlich gefährlicheres vorhat als dich mit einem scheinbaren Ureinwohnerfluch zu täuschen."
"Ich könnte ihr androhen, die Kleine zu behalten und unter meinem Namen großzuziehen, weil sie sich als unreif für eine Mutterschaft erwiesen hat", sagte Aurora nun voller Trotz. Amalthea nickte ihr zustimmend zu und Laura Morehead zwinkerte ihr zu.
"Schlaf dich besser aus und überstehe die Untersuchung! Vielleicht wissen wir dann, was Heather eigentlich vorhatte."
"Sie hat gesagt, dass ich auf Rosey aufpassen soll, wenn ihr was passiert", fiel Aurora ein. Laura und Amalthea nickten. Sie hatten die mitgeschriebenen Worte auch gelesen. Dann sagte Aurora: "Ich habe ihr strickt verboten, mit dem Kind im Leib an Besentests teilzunehmen. Womöglich wollte sie mich damit abstrafen und gleichzeitig unbelastet von einer Schwangerschaft diesen Willy-Willy-Besen testen, weil es sonst keiner machen wollte. Dieses Biest!"
"Na, ein bisschen mehr Distanz zu einer Patientin", ermahnte sie Laura. Doch ihr zustimmendes Nicken signalisierte, dass sie Aurora rechtgab.
"Und, hat sie die Kleine bei sich einziehen lassen?" fragte Cygnus Redrobe ohne schlechtes Gewissen, als seine Frau auf einer magischen Trage im gegen Portschlüsselortung abgeschirmten Labor von Willy-Willy angekommen war. Die Trage löste sich unverzüglich auf, weil die Portschlüsselversetzung ihren magischen Zusammenhalt ausgelöscht hatte.
"Lass mich erst mal zu dieser Steinfigur zurück und mich von diesem Zauber freikommen, bevor ich wirklich noch zu kaltem Stein werde", sagte Heather bibbernd. Dann nahm sie einen halbfertigen Besenschweif aus einem Regal und sagte "Zur Felsenfrau!"
Cygnus Redrobe blickte auf seine Armbanduhr. Bis Mitternacht fehlte noch eine Viertelstunde. Sicher mochten sie seine Frau suchen, weil sie eine Heilerin ausgetrickst und das Leben des ungeborenen Kindes gefährdet hatte. Das würde noch was geben, wenn sie am 31. Mai die frohe Botschaft verkündeten, dass der Willy-Willy 12 doch noch verkaufsfertig war und die ersten Vorbestellungen eintrafen. Womöglich konnte er dann die Kobolde um eine weitere Aufschiebung bitten, diesen Goldfressern eine Million Galleonen anbiten, weil er sicher das vierfache mit den neuen Besen verdienen konnte. Diese dummen Yankees mit ihrer 20-Jahre-Sperrfrist für Exporte. Die Muggel bei denen machten das richtig. Alles was sich gut verkaufen ließ wurde überall hin verkauft. Wieso die Zaubererwelt dort so beschränkt war verstand er bis heute nicht. Doch das war nun egal, weil er diesen Yankees eine sehr lange Nase drehen würde, indem er als erster wahrhafte Weltreisebesen in alle Welt verkaufen konnte. Dass ihm sein Bruder die Unterlagen über den Bronco Parsec 2 zugespielt hatte wussten die Idioten nicht und sollten es auch nicht erfahren. Jetzt wollte er erst einmal mit seiner gerade entschwängerten Frau die letzten Tests durchführen. Diese verdammte Silberuhr würde gleich auf nur noch vier Tage umspringen. Wenn er es hinbekam, bis zum 30. Mai alle nötigen Unterlagen vorzulegen, konnten diese Langfinger das verteufelte Ding am nächsten Tag mitnehmen.
Als Heather eine halbe Stunde nach Mitternacht zurückkam schnaufte sie. Doch das wilde Bibbern war verschwunden.
"Hoffentlich hast du nichts angestellt, was wir zwei bitter bereuen müssen", sagte Cygnus zu seiner Frau.
"Nein, habe ich nicht. Im Gegenteil. Wenn wir es schaffen, alles zu testen und ich Rosey wieder in mich übernehmen kann werden wir vor dem Familienfluch deiner Vorfahren sicher sein. Vielleicht haben wir dann auch wieder mehr Glück im Geschäft."
"Ich kenne mich mit Narguns nicht aus. Ich hörte nur, dass sie mächtige Erdgeister sind, angeblich mit der Erde verwachsene Geister alter Magierinnen der Ureinwohner, die besonders das Leben von Frauen beschützen. Du bist aber keine Ureinwohnerin."
"Ja, das stimmt. Aber in der kleinen Rosey stecken Erbanteile deines Großvaters mütterlicherseits. Aber mehr möchte ich dir nicht sagen. Denn die Narguns mögen es nicht, wenn Frauen, die sich ihnen Anvertrauen darüber zu viel sagen."
"Gut, hauptsache, wir kriegen den Besenflug hin. Wir starten gleich um sieben Uhr. Hau dich hier aufs Gästebett! Vielleicht braucht dein Körper noch Erholung, weil du Rosey mal soeben aus ihm hinausgezaubert bekommen hast."
"Denkst du, mir hat das Spaß gemacht, Aurora zu betrügen?! Denkst du, mir hat das Spaß gemacht zu fühlen, wie plötzlich etwas von mir aus mir verschwunden ist. Ich konnte gerade noch den Portschlüssel auslösen, ohne dem schlechten Gewissen zu verfallen. Lass uns die drei Flüge abschließen. Dann werde ich mich den Heilern stellen und hoffentlich die Kleine in mich zurücknehmen dürfen."
"Will ich hoffen. Denn wenn deine britische Freundin die Kleine behalten will und zur Welt bringt ist sie die Mutter und nicht du, und ich müsste die Adoption meines eigenen Kindes beantragen. Das ist dir hoffentlich klar."
"Woher weißt du das?" erschrak Heather.
"Während du dich absichtlich hast verfluchen lassen habe ich die betreffenden Regeln gelesen. Wenn uns die Drachenpisse nicht schon bis zum Kinn stehen würde hätte ich dich sofort zurückgepfiffen. Und jetzt leg dich schlafen!"
"Mach ich", grummelte Heather.
28. Mai 2002
Hallo Wendy!
Entschuldige, dass ich dir nicht gestern noch was erzählt habe. Doch ich konnte es nicht.
Wenn ich heute morgen nicht aufgewacht wäre und es am eigenen Leibe gespürt hätte würde ich das für einen Traum halten. Aber es ist keiner. Wendy, ich habe Heathers Baby im Bauch. Die war gestern abend noch spät bei mir und hat unter einem Wärmeabsaugzauber und einer mir völlig unbekannten Verdrehung ihrer Lebensaura gelitten. Weil ich die Kleine von ihr nicht sterben lassen durfte habe ich die schnell mit dem TG-Zauber übernommen. Das hat mich so stark betroffen, dass ich nicht schnell genug reagiert habe, als Heather sich mit einem Portschlüssel abgesetzt hat. Ich war danach bei Laura und Amalthea, wo ich auch übernachten musste. So ein Umstandswechsel von null auf sechzehn Wochen ist selbst für eine relativ junge Hexe nicht so leicht, wenn ich vorher keinen FMT einnehme.Die Nacht war unangenehm. Lag ständig wach und fühlte das Gewicht in meinem Unterkörper. Schon heftig, wie sehr ein ungeborenes Kind den Körper seiner Trägerin verändert. Wenn es ganz still war und ich nicht geatmet habe meinte ich, ihr kleines Herz in mir schlagen zu hören. Laura hat mir übrigens abgeraten, Heather anzuzeigen, solange wir nicht wissen, warum sie mich dazu getrieben hat, ihr Kind zu übernehmen. Außerdem will ich es ihr wiedergeben, bevor ich mich zu sehr an die kleine Rosey gewöhne. Ich kann Millie Latierre und Camille verstehen, dass die trotz der Anstrengungen eine gewisse Erhabenheit gefühlt haben, als sie ihre Kinder trugen. Aber so wollte ich nicht zur Mutter werden und hoffe sehr, dass Heather die Kleine an die Luft bringt.
Wendy, ich vermute, die will gegen meine klare Anweisungen diesen noch nicht verkaufsreifen Besen testen. Jetzt, wo sie mir die Kleine überlassen hat kann ich es ihr nicht mehr untersagen, wenn ich sie nicht strafrechtlich belangen will. Aber dann könnte ihr passieren, dass sie in Fort Ballibong landet und ich die kleine Rosey doch ganz austragen und gebären muss. Ich habe keine Angst davor. Aber ich will auch nicht anderer Leute Kinder austreiben. Also soll die Heilerzunft sie suchen, ohne die Ordnungshüter. Wenn das klappt, die Sache innerhalb der Heilerzunft zu halten, ist die kleine Rosey vielleicht morgen schon wieder bei ihrer richtigen Mum.
Achso, wegen gestern noch nachzutragen ist, dass ich Jessica Beals geborene Portland Tochter auf die Welt geholt habe. Seltsames Schicksal, erst einem Kind auf die Welt zu helfen und wenige Stunden später mal eben mit einem schwanger zu sein, und das noch an meinem 36. Geburtstag. Hätte mir das wer vor einem Jahr gesagt: "Aurora, deinen sechsunddreißigsten feierst du zu zweit", hätte ich sicher laut gelacht. Immerhin durfte die Kleine mitkriegen, wie ich Laura Moreheads extra für mich gebackene Torte verputzt habe. Ich hoffe, das was bei ihr unten ankam hat ihr auch geschmeckt.
Weil ich die letzte Nacht wegen der veränderten Umstände nicht richtig geschlafen habe möchte ich das jetzt nachholen.
Bis morgen, Wendy!
Cygnus Redrobe war hellauf begeistert. Das war jetzt der zweite Tag, an dem sie den Prototypen des neuen Langstreckenbesens testeten. Um nicht von den Heilern oder Strafverfolgern gefunden zu werden trugen sie unortbar bezauberte Kleidung.
"So, Geschwindigkeiten und Etappenreichweite haben wir jetzt, Heather. Diese Yankees hatten schon geniale Einfälle, den Flugzauber nicht gegen die Erdschwere, sondern an die Sonnenschwerkraft und das Sonnenlicht zu koppeln. Wie geht's dir?"
"Irgendwie fühle ich mich todtraurig und leer, Cygnus. Offenbar nimmt einem der Körper das doch übel, mal eben ein zu einem Drittel ausgetragenes Kind abzunehmen. Aber wir kriegen das hin. Wir haben jetzt alle Werte für Fernreisen und Höchstgeschwindigkeit. Was willst du noch testen?"
"Jetzt kommen noch optimale Reiseflughöhe und der Test des Transitionszaubers. Den wollte ich erst bei klarer Verifikation der üblichen Flugreichweite ausprobieren."
"Gut, wohin fliegen wir, Amerika, Indien oder Europa?"
"Wie wär's, wenn wir nach England reisen, mal um das Haus herumfliegen, wo Aurora gewohnt hat. Da kommen die nie drauf", scherzte Cygnus Redrobe. Heather konnte darüber zwar nicht lachen, schlug dafür aber vor, zweimal über den Pazifik zu fliegen, um zu testen, ob der Besen wirklich um die ganze Welt fliegen konnte, wenn der neue Transitionszauber wirklich durch die unermüdliche Sonnenstrahlung unerschöpflich arbeitete.
"Okay, wir landen noch mal und ziehen uns die Kälte- und Unterdruckabweisenden Anzüge an", bestimmte Cygnus. Der Golden lackierte, mit Sonnenquarz verstärkte Besen glitt lautlos zu Boden. Als Cygnus Redrobe und seine Frau die Füße auf den Boden bringen wollten hüpfte der Besen unvermittelt um einige Meter nach oben. Cygnus kannte das schon aus den Berichten der überlebenden Testflieger, dass der Besen nach langem Flug bockte, wenn er Bodenkontakt bekam, warum das auch immer so war. So achtete er nicht darauf und zwang den Besen zu einem neuen Landeversuch.
"Cygnus, wieso haben die Yankees den zweier nicht auf ihren Markt gebracht?" wollte Heather wissen.
"Angeblich, weil es zu gravierenden Fehltransitionen kam und der Besen bei abnehmendem Sonnenlicht schlagartig an Kraft verlor. Aber das haben wir durch den Einsatz von Mondstein und einem auf den Mond ausgerichteten Ausgleichszauber hingebogen, dass der Besen auch bei Nacht noch fliegt", sagte Cygnus und versuchte den Besen noch einmal zu landen. Wieder hüpfte er nach oben, hätte die beiden Reiter sicher abgeworfen, wenn die nicht durch Haltegurte fest angebunden gewesen wären.
"Du bist mein zweihundertster Testbesen. Deine Vorgänger konnten mich nicht unterkriegen und du auch nicht", stieß Cygnus aus und setzte die dritte Landung an. Diesmal zielte er mit der Spitze steil nach unten. Wenn der Besen nun wieder hüpfen wollte musste der sich erst einmal wieder in die Waagerechte aufrichten.
"Willst du ein Loch in denSand bohren, Cygnus?" fragte Heather argwöhnisch.
"Wenn es sein muss ja", stieß Cygnus aus. Der Besen sauste aus nun zwanzig Metern Höhe nach unten. Jetzt fehlte nur noch ein halber Meter. Da rollte der Besen nach rechts herum. Heather und Cygnus hielten sich fest, als sie in Rückenlage gerieten. Doch das schlimmste kam jetzt erst. Denn nun, wo die Besenspitze nicht mehr im steilen Winkel zur Erde, sondern direkt in die am Himmel glühende Sonne wies, beschleunigte das mit so vielen Zusatzzaubern beladene Fluggerät wie aus einer Kanone abgefeuert und jagte nach oben. Gleichzeitig fühlten Heather und Cygnus, wie die eigentlich nur für Windablenkung und Flüge in großen Höhen eingewirkten Zauber griffen und sie wie dicke Decken umschlossen. Heather starrte in den Himmel, der aus ihrer Lage heraus unter ihr erstrahlte. Im Moment waren keine Wolken zu sehen. Dann half sie Cygnus den Besen wieder in die richtige Lage zu drehen. Zumindest saßen sie nun wieder aufrecht. Doch der Besen kippte nach hinten und zielte wieder in die Sonne. Cygnus versuchte, den Besen nun wieder in die Waagerechte zu drücken. Doch es gelang ihm nicht. Schneller und schneller stieg der Besen nach oben. Jetzt waren sie schon mehr als tausend Meter über dem Erdboden.
"Brich den Flug ab, Cygnus. Der Besen fliegt genau auf die Sonne zu. Der wird von ihr angezogen!" rief Heather.
"Nix da", knurrte Cygnus trotzig und versuchte wieder, den Besen in eine von ihm gewünschte Lage zu zwingen. Doch all die Kraft, die er aufbot reichte nicht aus. Und es kam noch schlimmer. Arme und Beine der beiden Reiter wurden mit jeder weiteren Flugsekunde immer mehr von etwas eingebacken, dass wie ein immer härterer Brotteig war. Heather erkannte, dass der Test gerade außer Kontrolle geriet. Sie erkkannte, dass es ein schwerer Fehler gewesen war, die Flugbezauberung auf die Sonne abzustimmen. Offenbar war nach Erreichen der Maximalreichweite eine Kraftverlagerung passiert, die den Besen nun auf die Quelle seiner Flugkraft zusteuerte, mit jedem hundertsten Meter noch schneller, unaufhaltsam.
"Ich mache den Notabbruch", keuchte Cygnus. Er schickte Gedankenbefehle an den Besen, dass er unverzüglich anhalten sollte. Doch seine Befehle wurden nicht befolgt. So versuchte er, seine Hände vom Stiel zu lösen, um an seinen Zauberstab zu kommen. Doch seine Hände klebten wie angewachsen am Stiel, und seine Arme ließen sich keinen Millimeter mehr drehen oder beugen. Und immer noch jagte der Besen in Richtung Sonne. Heather und Cygnus mussten die Augen schließen, um nicht vom Blick in den gleißenden Glutball geblendet zu werden. Hitze und das nun hörbare Heulen des Flugwindes waren die einprägsamsten Empfindungen der Hexe, die um diesen Flug zu machen eine gute Freundin getäuscht und ihr ihr ungeborenes Kind aufgedrängt hatte.
"Geht der WARP noch?" fragte Heather, die fühlte, wie auch ihr Brustkorb immer mehr eingeschnürt wurde.
"Gute Idee, wir müssen aus der Sonne raus", stieß Cygnus aus. Er rief das Wort "Notsprung!" Doch der Portschlüssel löste nicht aus. Warum nicht?! Heather wartete auf die erlösende Wirbelei. Doch die blieb aus. Dann hörte sie nur noch einen unbändig lauten Fluch ihres Mannes und den höchst alarmierten Aufschrei: "Der WARP ist mir bei der Rolle wohl vom Kragen gerissen worden. Ich sehe den Knopf nicht mehr!"
"Das ist nicht dein Ernst, Cygnus! Das kann nicht dein Ernst sein!!" schrillte Heather. Denn ihr wurde nun klar, dass dieser Flug ihr letzter war. Wenn sie den Besen nicht anhalten konnten würde der sie immer höher und höher hinauftragen, auf die Sonne zu. Ohne die eigentlich erst für die Langstreckenreisen benötigten Schutzanzüge würden sie in wenigen Minuten unterkühlen und keinen Sauerstoff mehr bekommen. Um eine Kopfblase zu zaubern hätte sie ihren Zauberstab greifen müssen. Doch auch ihre Hände klebten förmlich am Besenstiel fest. Jetzt verstand sie auch wieso: Der Besen sog Kraft aus allem, was mit der Sonne zu tun hatte, nicht mit dem festen Erdboden. Der menschliche Stoffwechsel zehrte ebenfalls von der Sonne, über die gegessenen Pflanzen oder das Fleisch pflanzenfressender Tiere. Also zog der Besen ihre Körperteile nun ebenfalls an, je näher er der Sonne kam. Er hielt sie nun fest umklammert wie ein überstarker Magnet einen Eisenspan. Doch was nützte ihr diese Erkenntnis? Sie gewährte ihr nur die grausame Gewissheit, dass es kein Entrinnen mehr gab.
Der Besen jagte immer schneller nach oben. Er stürzte in den Himmel hinein, seine Spitze weiter auf die Sonne ausgerichtet. Die Luft um sie herum wurde dünner und kälter. Das hinderte den Besen nicht an der weiteren Beschleunigung. Im Gegenteil, je ungefilterter die Sonnenstrahlen auf ihn einwirkten, desto mehr zog ihn das Tagesgestirn an. Heather atmete schnell und hektisch die immer kältere Luft ein. Schon fühlte sie die Ermattung durch den Sauerstoffmangel. "Uranophilie", schoss es Heather durch den Kopf. Die gefürchtete Fehlfunktion früherer Besen, bei denen die Flugbezauberung dermaßen anstieg, dass der Besen weit über die höchsten Wolkenschichten hinaufgeschossen war, bevor seine Flugbezauberung unmittelbar erlosch und er in die Tiefe stürzte.
"Cygnus, ich hoffe, Aurora passt gut auf die kleine auf", stieß Heather aus. "Ich hätte sie gerne für dich zur Welt gebracht."
"Heather, es tut mir leid, dass ich dich in diese Drachenscheiße reingezogen habe. Ich hätte es wissen sollen, dass ich nicht auf sowas eingehen soll", erwiderte Cygnus verbittert. Dann blieb ihm die Luft ganz weg. Sie hatten die kritische Höhe überstiegen. Beißende Kälte und immer dünnere Luft raubten den beiden übermutigen Besenerprobern die Besinnung. So bekamen sie nicht mehr mit, wie der Besen immer weiter in den Himmel hinaufjagte, bis ihre Körper keine Wärme mehr enthielten und alle Stoffwechseltätigkeit beendet war. Als wäre dieser die Antriebskraft des Besens gewesen, hörte sein Sturz in den Himmel auf. Der Restschwung trug ihn noch mehr als dreitausend Meter nach oben. Die auf ihm sitzenden rutschten ab. Denn die Anhaftkraft war wie der Flugzauber erloschen. Sie fielen vom Besen, der nun wild trudelnd den umgekehrten Weg nahm, ausgebrannt, ausgedient, unbrauchbar.
Heathers Bewustsein stürzte in eine tiefe, lautlose Dunkelheit. In der Ferne sah sie ein Licht auf sich zukommen. Sie vermeinte nun, Stimmen aus dem Licht zu vernehmen, die ihren Namen riefen. Sie fühlte keine Angst mehr. Sie fühlte sich auf einmal ganz leicht und unbeschwert, freute sich sogar, auf die Stimmen aus dem Licht zuzutreiben, Stimmen, die sie kannte. Doch dann hörte sie ein urwelthaftes Gebrüll um sich herum und dann eine höchst zornig kreischende Frauenstimme:
"Nein, du betrügst mich nicht, weiße Frau. Du hast mir geschworen, beim Leben deines Kindes, mir zu dienen, wenn ich dir helfe, deinem Angetrauten zu helfen. Du wirst deine Pflicht erfüllen. Dein Kind lebt, dann sei es dein Leben!"
Heathers Bewusstsein nahm einen plötzlichen Sog wahr, der sie aus der gerade noch beschriebenen Bahn herausriss und von dem Licht fortzerrte, schneller und schneller, bis sie einen starken Stoß durch ihren Körper gehen fühlte, durch ihren Körper? Dann wurde es wieder dunkel um sie, aber nicht ganz still. Sie fühlte etwas in sich, das schnell aber schwach wummerte und vermeinte auch undeutliches rhythmisches Rumpeln zu hören. Dann umfing sie wieder Stille.
29. mai 2002
Hallo Wendy!
Jetzt trage ich Heathers Baby schon zwei Tage in mir herum. Ich ging davon aus, dass der Umstandswechsel nun keine Nachwirkungen mehr hat. Aber heute mittag jagte ein starker Hitzestoß durch meinen Körper, dass ich erst dachte, mein Unterleib kocht und jagt mir heißes Wasser durch alle Glieder. Dann, wo ich fast vor Schmerzen losgeschrien hätte, war das wieder vorbei. Einen Moment habe ich Heathers Stimme gehört, weit weg, laut aufschreiend. Dann war Ruhe. Ich habe Laura Morehead gefragt, was da passiert ist. Sie erwähnte was von einer Verbindung zwischen Heather und der kleinen Rosey, die wohl jetzt erst abgerissen sei. Uns beiden war klar, wodurch das passiert sein muss. Aber ich wollte die Hoffnung nicht aufgeben. Nach Heather und ihrem Mann wird gesucht. Die beiden haben sich seit dem 28. Mai nicht mehr sehen lassen. Das bestärkt unseren Verdacht, dass sie den Besentest machen wollten. Wenn sie dabei verunglückt ist ...
Laura bot mir an, die kleine Rosey zu übernehmen, damit ich weiter apparieren, flohpulvern und auf einem schnellen Besen fliegen könnte. Sie habe kein Problem damit, noch einmal Mutter zu werden, sollte Heather tatsächlich nicht mehr auftauchen oder nicht mehr im Stande sein, ihr Kind zurückzuerhalten. Doch Heather hat mir ihr Kind anvertraut. Ich soll darauf aufpassen, falls ihr was passiert. Das ist schriftlich festgehalten. Außerdem ist der Gedanke, was von Heather zu bewahren und weitergedeihen zu lassen so groß, dass ich nach wenigen Sekunden klargestellt habe, dass Heathers Baby Rosey bei mir zu bleiben habe, bis sie und nur sie es zurückerhält oder ich es zur Welt bringe. Danach stellte sich aber die Frage, wie ich damit umgehen soll, wo ich ja quasi eine Person der Öffentlichkeit bin. Außerdem wäre Rosey, wenn Heather sie nicht mehr zurückbekommen kann, Erbin von Cygnus Redrobe oder jedem anderen Blutsverwandten? Laura sagte klar, dass nur die leibliche Mutter oder eine von der zeitweiligen Trägerin erwählte Heilerin ein ungeborenes Kind weitertragen dürfe. Also kann ich die Kleine nicht Heathers Mutter und auch nicht ihrer Schwiegermutter überlassen.
Sollte Heather wirklich tot sein war die Frage, ob ich mich öffentlich hinstellen und verkünden sollte, dass ich Heathers Baby in mir trüge. Nach einer langen Abwägung aller dafür und dagegensprechenden Gründe, die ich dir hier nicht aufzählen möchte, weil das zu lange dauert, sind Laura und ich darüber eingekommen, dass keiner außerhalb der australischen Heilerzunft was davon wissen soll, dass ich Heathers Kind austrage. Denn sonst würde die kleine Rosey ihr Leben lang von den Forderungen irgendwelcher Kobolde überschüttet und immer als wie abgeworfener Ballast abgetan. Da ich mit dem Fötus im Uterus keine wilden magischen Reisen mehr machen darf ist meine Beweglichkeit als Heilerin eingeschränkt. Deshalb habe ich mich darauf eingelassen, eine Stellvertreterin für meine Niederlassung einzuarbeiten, bis ich Rosey zur Welt gebracht habe. Der Gedanke daran ängstigt mich, weil ich weiß, wie weh das einer Hexe tun kann, fasziniert mich auch, weil ich endlich einmal nachempfinden darf, was viele meiner Patientinnen schon erlebt haben, stimmt mich hoffnungsvoll, dass es nicht so schlimm werden wird, weil allein in meinem Bekanntenkreis so viele Hexen leben, die schon mehr als zwei Kinder bekommen haben und dies immer noch gerne auf sich nehmen und stimmt mich doch auch traurig, weil ich nicht das Kind eines mich liebenden Mannes oder Zauberers trage, sondern die mir aufgeladene Leibesfrucht eines anderen Ehepaares. Heather, ich hoffe, das heute Mittag war nur ein verspäteter Nachhall des Transgestatio-Zaubers. Komm bitte wieder und nimm dein kleines Mädchen wieder zu dir!
Offenbar macht mir der neue Zustand schon Formulierungsprobleme. Ich wollte ja eigentlich nur erwähnen, dass ich für den Fall, Rosey zu ende tragen zu sollen bei Laura Morehead in einer Einligerwohnung ihres Hauses unterkommen soll. Offiziell bin ich dann mal wieder auf Weltreise, diesmal nicht bei den Zauberern und Hexen, sondern durch die so genannten Heilstätten der Muggelwelt, um meiner berühmten Tante June Priestley Erkenntnisse aus dem Fortschritt der magielosen Heilkunst zukommen zu lassen und für die Heilerzunft Erkenntnisse zu erwerben, welche Krankheiten und Verletzungen auch ohne Magie therapiert werden können. Aber näheres dann, falls Heather wirklich nicht mehr wiederkommen sollte.
Bis morgen, Wendy!
Er fühlte wieder diese Wut, jene unbändige Wut, die ihn am 21. April gepackt hatte. Seine Frau war noch einmal von ihrer Hebamme untersucht worden. Dadurch hatten sie beide erfahren, dass sich der gemeinsame Sohn wahrhaftig nicht ein winziges Stück weiterentwickelt hatte, als habe er beschlossen, in Nathalies behaglichem Bauch dauerhaft wohnen zu wollen. Damit hatte der französische Zaubereiminister es nun buchstäblich amtlich, dass der von Euphrosyne ausgesandte Zauber so wirkte, wie ihre Großmutter es erklärt hatte. Er sah sich als bereits leicht gebrechlichen Zauberer mit silbernem Haarkranz an einer Wiege stehen, wo ein vielleicht mehr als zwanzig Jahre säuglingsklein bleibender Demetrius Vettius lag, der vielleicht wegen der zu langen Zeit im Mutterschoß keinen Verstand mehr würde ausbilden können. Andererseits wollte er mitbekommen, wie der Kleine geboren wurde. Da kam ihm eine Idee, die aus seiner Wut ein gewisses Gefühl der Überlegenheit machte. Er dachte kurz nach, wie er es formulieren sollte, um nicht als um etwas bettelnder Wicht herüberzukommen und auch nicht als von oben herab befehlender Zaubereiminister. Formulierungen waren sein tägliches Brot. Deshalb brauchte er nur fünf Minuten, um sich zu überlegen, was er in einen Brief schreiben wollte. Dabei wollte er auch sicherstellen, dass die Empfängerin des Briefes auf seine berechtigte Bitte eingehen würde. Das war heikel, weil Veelastämmige einen Spürsinn für Bezauberungen besaßen. Doch was die konnte konnte er schon lange, zumal er es auch noch offen ankündigen würde. Ja, so ging es. Wenn es klappte, dann konnten seine Frau, er und das erst in Jahrzehnten zur Welt kommende Kind eine sehr lange, glückliche Zukunft haben. Er würde dann wohl noch zwei oder drei Amtsperioden Minister bleiben, sofern ihn die magischen Mitbürger im Amt bestätigten. Dann würde er das Amt einem jüngeren, in seinem Windschatten groß gewordenen Mitarbeiter übergeben. Allerdings, das wusste Grandchapeau, würde er sicherstellen müssen, dass sie immer wieder unter anderer Identität lebten, weil die Vorstellung von ewigem Leben bei den magischen Mitbürgern große Begehrlichkeiten wecken mochte. Außerdem, das fiel ihm ein, musste er jetzt schon sicherstellen, dass der von ihm ins Leben gerufene stille Dienst, jene ganz geheime Sondertruppe, die sich mit Zaubern und Gegenständen aus dem alten Reich befasste, außerhalb ministerieller Kontrolle weitermachen konnte. Deshalb schrieb er zunächst Catherine Brickston an, weil diese ein wertvoller Verbindungsknoten zwischen den Welten war.
Sehr geehrte Mme. Brickston,
sicherlich wundern Sie sich, dass ich mich mit diesem Ersuchen an Sie wende, wo ich ebenso Ihre Frau Mutter oder Madame Matine damit hätte betrauen können. Doch zum einen bin ich über die engen Terminpläne der beiden genannten unterrichtet und möchte mich zum zweiten vergewissern, dass unser heimlicher Aufspür- und Einsatztrupp zu den Gegenständen des alten Reiches auch nach meiner Amtszeit weiterbestehen kann, ohne ministerielle Leitung und damit einhergehende Forderungen.
"Wie Sie wissen besitze ich mehrere Aktenschränke über bisherige Hinweise auf das alte Reich, sowie den Zugang zu den bisher davon auffindbaren Gegenständen. Um sicherzustellen, keinerlei unangenehme Fragen bei meinem Nachfolger herauszufordern möchte ich dieses in Pergamentform gebannte Wissen an eine oder einen des stillen Dienstes weitergeben, der/die es sorgfältig und vor unberufenen Augen verborgen halten kann. Denn es sind Zauber dabei, die von einfältigen, all zu machtgierigen Zeitgenossen missbraucht werden könnten. Daher möchte ich Sie bitten, diese Grundlagen in Ihre Obhut zu nehmen, um sie an die ihnen bekannten Mitglieder weitergeben zu können.
Ich hoffe, Sie können meine Sorge nachvollziehen und hoffe ebenso auf ihr bedingungsloses Einverständnis, die Sachen bei sich in jenem Keller zu verstauen, den Monsieur Delamontagne, Phoebus, erwähnt hat. Ebenso denke ich, dass Sie dieses Wissen mit allen anderen Vertrauten dieser Geheimtruppe teilen und mehren werden.
Sollten Sie zu sehr besorgt sein, derartig wertvolles bei sich zu verstecken, so habe ich vollstes Verständnis dafür, wenn Sie mein Ersuchen zurückweisen.
Mit freundlichen Grüßen,
Armand Grandchapeau
Als er diesen Brief fertig hatte und ihn von einer mittelschnellen Eule abtransportieren ließ griff er erneut zu Pergament, Tintenfass und Feder. Doch bevor er die Feder in die königsblaue Tinte tunkte stach er sich damit kräftig in den linken Daumen. Mit etwas von seinem Blut getränkt schrieb er magische Zeichen auf den Brief, wobei er immer wieder ganz geheimnisvolle Wörter brummelte. Zum Schluss wiederholte er drei Wörter:
"Sanguis meus contractus esto!
Scriptum veritas fiat!
Vita meam per sanguinem veritatem formato in scripto!"
Als er das ganze aus seiner Fingerwunde getropfte Blut über das Pergament verteilt hatte berührte er den noch ungeschriebenen Brief mit dem verletzten Finger und seinem Zauberstab, wobei er die beim Schreiben gemurmelte Formel noch einmal halblaut aussprach. . Hitze peitschte ihm durch den Arm, in den Körper und wieder daraus hinaus. Die von seinem Blut geschriebenen Zeichen verblassten. Der Pergamentbogen färbte sich für einen winzigen Moment hellrot, um dann wieder so zu sein, wie er ihn vor sich hingelegt hatte. Mit sowas hatte Armand gerechnet. Wenn Professeur Tourrecandide gewusst hätte, wie er, einer ihrer Musterschüler in der Abwehr dunkler Mächte, einen Heilzauber zu einem Erzwingungszauber umformuliert hatte ... Doch sie würde es nicht mehr erfahren, dachte der Minister an die Adresse seines Gewissens. Dann tunkte er die nun mit verkrustetem Blut besudelte Feder in das Tintenfass. Danach schrieb er:
Werte Mme. Lundi,
nach langer, reiflicher Überlegung und eingehender Beratung mit meinen Mitarbeitern komme ich nicht mehr darum herum, einzugestehen, dass Ihre Handlungsweise gegenüber meiner Frau und meiner Tochter, sowie Melle. Ventvit mich sehr stark beeindruckt hat. Vielleicht wussten Sie zum Zeitpunkt, wo Sie meine Gattin zu längerem Leben verhalfen nicht, dass sie zu diesem Zeitpunkt ihr und mein zweites Kind trug, dessen Geburt eigentlich Mitte bis Ende Juni erwartet wurde. Nun erfuhr ich, dass ihre sehr beeindruckende Kostprobe Ihrer Macht nicht nur meiner Gattin zu längerem Leben verholfen hat, sondern auch das in ihrem Leib ruhende Kind langsamer altern lässt.
War ich zunächst maßlos entsetzt und entrüstet, wie heftig Sie damit meine Frau und mich getroffen haben, so kann ich auf Grund meiner langjährigen Erfahrung in der Zaubereiadministration nicht mehr bestreiten, dass diese Lage nicht mehr zu ändern ist. Doch betrübt mich dieses Wissen. Denn ich muss fürchten, dass ich, der Kindsvater, zum Zeitpunkt der irgendwann stattfindenden Geburt meines Kindes nicht mehr jung genug sein werde, um ihm ein kraftvoller, unermüdlich treusorgender Vater sein zu können.
Mir ist bewusst, dass Sie sich in Ihrer Ehre verletzt fühlen mussten, als zu Ihrer und auch der restlichen Welt Sicherheit und Schutz ausgeführt werden musste, dass Sie und Ihr auserwählter nicht zu Zielen unerwünschter Nachstellungen seitens der nichtmagischen und magischen Zeitgenossen werden durften. Natürlich grollen Sie meiner Gattin, meiner Tochter und Melle. Ventvit, dass die deshalb durchgeführte Maßnahme Ihren innigen Wunsch nach einem abwechslungsreichen Leben verachtet und unerfüllbar gemacht hat. Dabei gehe ich davon aus, dass es genug Möglichkeiten gibt, ein abwechslungsreiches, ja auch in finanzieller und gesellschaftlicher Hinsicht bereicherndes Leben zu führen. Deshalb biete ich Ihnen folgenden Handel an:
Mit diesem Brief und meinem darin eingelagerten und durch Beeidigungszauber angereichertem Blut, bekunde ich, Armand Grandchapeau, dass ich dafür Sorge tragen werde, dass Sie, Euphrosyne Eugine Lundi geborene Blériot, in Frieden und räumlicher und gesellschaftlicher Unbeschränktheit innerhalb der französischen Zauberergemeinschaft leben und arbeiten dürfen, sobald Sie mir geholfen haben, dass ich die Geburt und das Aufwachsen meines Sohnes jung genug miterleben kann. Ich erbitte Ihren kraftvollen Segen und hoffe, dass dieser mir hilft. Sobald er mir gestattet wurde sollen alle Anfeindungen und Ablehnungen Ihnen und Ihrem Auserwählten sowie allen von Ihnen beiden abstammenden Kindern ferngehalten werden. Dafür werde ich mich verwenden, so wahr mein Blut mit diesem Pergament verbunden ist und damit auch mein Leben.
So werden wir einander helfen können, dass Sie die Ihren und ich die meinen in Liebe und Treue begleiten können, innerhalb der Landesgrenzen unseres großartigen Geburtslandes, in Frieden und Anerkennung.
Hoc scribi, hoc verificeatur!
Armand Grandchapeau
Als er die Tinte getrocknet hatte brachte er sich mit einer spitzen Feder noch einmal eine blutende Wunde bei, tränkte die Feder mit seinem Lebenssaft und umzeichnete damit seine eigene Unterschrift. Als der Kreis geschlossen war glühte er hellrot auf und verblasste sofort wieder. Der Zwang zur Verwirklichung des geschriebenen war nun in Kraft. Unabhängig davon, wie gut Euphrosyne Zauber erspüren konnte würde er auf sie wirken, sobald sie den Brief aus dem Umschlag nahm. Wenn sie ihn las würde sie nicht mehr umhinkommen, die darin geäußerte Bitte als direkten Befehl auszuführen. Sicher, wenn sie es schaffte, einen vollen Monat dem Zwang zu widerstehen, würde er, der Zaubereiminister, jeden weiteren Tag immer schwächer und ausgelaugter sein, bis er vor Entkräftung starb. Doch ebenso wie er geschwächt würde würde sich der von ihm auf Pergament gebannte Erzwingungszauber verstärken, selbst gegen die eigene Magie einer Teilveela. Bisher hatte er nur dreimal einen schriftlich eingeprägten Zauber benutzt, immer zum Guten des Empfängers. Das letzte mal war die Einprägung des von ihm und zwei weiteren aus einem geheimen Buch erlernte Zeitpaktzauber, dessen Ursprung auf das alte Reich zurückgehen mochte. Doch jetzt benutzte er eine dunkle Verkehrung des Blutschutzzaubers, der auf Boden oder an Wände geschrieben vor namentlich erwähnten Feinden beschützen sollte. Falls Euphrosyne diesem Zauber widerstand hatte er sich damit gerade selbst zu einem langsamen und sicher auch qualvollen Tod verurteilt. Doch dieses Risiko war es ihm wert. Denn wenn sie die zum Befehl mutierende Bitte nicht erfüllte, so würde sie niemals friedlich in Frankreich leben können, welche Macht sie auch beherrschen mochte.
Eine volle Stunde lang ließ er den Brief unberührt in seinem Sekretär liegen, so dass sich der darin eingewirkte Zauber stabilisieren und entfalten konnte. Dann steckte er den Bogen in einen Umschlag, verschloss und siegelte diesen und sandte eine schnelle Posteule mit genug Reisegeld für mehrere Flohnetzpassagen los, Euphrosyne zu finden. Er würde es fühlen, wenn sie den Brief berührte. Es würde ihm einen kurzen Hitzestoß durch seine Schreibhand schicken.
Als der Brief unterwegs war musste der Minister grinsen. Sicher, er hätte seine Frau in die Sache einweihen können oder sich mit Colbert und Montpelier abstimmen sollen. Doch wie er geschrieben hatte würde er es schaffen, einen unbehelligten Aufenthalt der Familie Lundi zu erwirken, wenn sie seine Bitte erfüllt und auch ihn mit dem verbotenen Segen des Sonnenatems bedacht hatte.
4. Juni 2002
Hallo Wendy!
Flora Boddington wohnt ab heute bei mir. Denn gestern haben sie zwei übel zerschmetterte Körper in der Nähe eines Bauernhofes bei Adelaide und einige Besenreste gefunden. Den Muggeln, die die Leichen Gefunden haben wurde was von Fallschirmspringern eingewirkt, die aus sehr großer Höhe abgesprungen waren und es nicht schafften, ihre Fallschirme zu öffnen. Meine Kollegen aus der Leichenerkennung haben die Toten eindeutig als Cygnus und Heather Redrobe identifiziert. Damit ist es jetzt amtlich, dass die kleine Rosey bei mir bleibt, bis ich sie auf natürliche Weise aus mir hinausbefördern muss. Wie schon erwähnt ist das zum einen beängstigend, weil ich nicht weiß, ob ich das aushalte, stimmt mich aber auch hoffnungsfroh, weil das schon so viele Hexen vor mir hinbekommen haben und davon nicht abgeschreckt wurden, sogar vier Kinder auf einmal auszutragen und im Moment auch viele unfreiwillig auf eine Mutterschaft hinwachsende Hexen in der Welt herumlaufen. Die Erhabenheit, für jemanden neues zu leben, diesem Wesen zu helfen, zu wachsen und zu leben, ja, dass ich Heathers lebendes Erbe trage, überwiegt die Sorgen und die Angst vor dem, wie das ablaufen wird.
Wie mit Laura vereinbart zeige ich Flora, einer gerade ein Jahr vollaprobierten Heilerin mit rotblonder Lockenpracht und hellblauen Augen, wie sie mit meinen Patienten klarkommen kann. Jessica Portland bedauert, dass ich wegen des angeblichen Reiseprojektes nicht mitbekommen werde, wie die kleine Melissa Amalia sich entwickelt. Ich sagte ihr darauf hin, das ich bestimmt früh genug wieder da sein würde, um ihrer Schwägerin bei einer Geburt zu helfen, sofern Jessica nicht meinte, irgendwann noch ein Kind zu bekommen.
Mehr morgen, Wendy!
5. Juni 2002
Hallo Wendy!
Irgendwie komme ich mir echt alt vor, wenn ich mitkriege, wie aufgeweckt, neugierig und energievoll Flora Boddington ist. Jedenfalls habe ich ihr heute weitere Patienten von mir vorgestellt.
Die Gringotts-Kobolde haben einen schrillen Lärm veranstaltet, weil sie keinen mehr belangen können. Das Ministerium hat Willy-Willy mangels offizieller Erben zum Ministeriumseigentum erklärt und den Kobolden einen "gerechtfertigten" Anteil von 300.000 Galleonen ausbezahlt. Das hat denen gar nicht gefallen. Ich sehe nun endgültig ein, dass ich das mit Rosey still und heimlich durchziehen muss. Habe ich sie erst mal an der frischen Luft kann ich ja immer noch behaupten, sie von jemandem zugestellt bekommen zu haben, um sie als Ziehmutter und Amme zu versorgen, womit ich sie genauso unter meinem Namen großwerden lassen kann wie durch die Geburt bereits legitimiert.
Was meine Wahl für eine Hebamme angeht, die dann wohl im November benötigt wird, so weiß ich nicht, ob ich Laura selbst, meine Mentorin Bethesda Herbregis oder Wilhelmina Whitecastle nehmen soll.
Heute wurde ich von Charice Featherfield, einer Reporterin der australischen Hexenwoche dazu befragt, wieso ich Heather nicht untersagt hatte, in ihrem Zustand auf einen Besen zu steigen. Ich erwähnte diese Einschränkung und konnte ohne Namen zu nennen Fälle aufzählen, wo Hexen im achten Monat noch Quidditch gespielt hätten oder eine Hexe meinte, im siebten Monat noch wilde Liebesspiele mit ihrem Mann treiben zu müssen und er dabei nicht von ihr loskam, bis die zuständige Hebamme eintraf und die delikate Angelegenheit beheben konnte. Insofern könne ich eine Hexe nur wirklich davon abhalten, mit ihrem ungeborenen Kind in gefährliche Situationen zu geraten, indem ich die betreffende durch magische Fesseln auf einen bestimmten Raum beschränke. Mann, hat mich diese vorwurfsvolle Fragerei aufgeregt. dass ich da noch einigermaßen beherrscht geantwortet habe verdanke ich diesem mentalen Mantra von Julius Latierre, das ich dir schon beschrieben habe. Zumindest ist jetzt auch das Kapitel erledigt. Die Verwandten Heathers und Cygnus' werden keine Anzeige gegen mich erstatten.
Du willst sicher auch wissen, wie ich körperlich mit Rosey klarkomme. Heute morgen musste ich mich erbrechen. Wird zeit, dass ich zu Laura umziehe, bevor Flora noch meint, sie solle meine Hebamme werden. Bei Amalthea in der Mutter-Kind-Station hat sie tatsächlich schon zwölf Kinder auf die Welt geholt, von denen sie bei Mehrlingsgeburten vier als Amme betreut hat, bis deren Mütter meinten, dass nur sie ihre Kinder füttern dürften. Sowas eigensinniges habe ich auch schon von den Latierre-Hexen gehört. Mein Kind, meine Milch.
Flora hat noch gesagt, dass sie gerne den Transgestatio-Zauber erlernen wolle und ob ich ihn ihr nicht beibringen könne. Da hat ihre eigentliche Dienstherrin ihr gesagt, dass das nur zwischen zwei Heilerinnen ginge, von denen eine die natürliche Mutter des Ungeborenen sei und ich ja eben nicht die natürliche Mutter sei. Aber so wie ich Flora einschätze wird sie, wenn sie wieder zu Amalthea zurückkehrt, eine Kollegin finden, die mit ihr den Zauber übt.
So, und jetzt packe ich dich gut weg, um dich morgen nicht zu vergessen. Außer dir nehme ich noch alle Gemälde und das von Camille und Julius übergebene Armband mit. Ich bin zumindest froh, dass Flora ihr Bett im Gästezimmer genommen hat. Sie stimmt mir zu, dass es schon ein komisches Gefühl sei, in einem Bett zu schlafen, in dem sonst wer anderes übernachtet. Sicher, pingelig darf ich nicht sein, was fremde Betten angeht. Aber irgendwie ist es beruhigend, dass ich bei meiner Rückkehr mein ganz eigenes Bett weiternutzen kann.
meinen Eltern habe ich heute einen Brief geschrieben, was mir passiert ist und dass ich in guten Händen bin.
So, und jetzt erhol dich gut von meinen ganzen Geschichten! Morgen kommt die nächste.
Armand Grandchapeau saß mit seiner Frau beim Frühstück und musste einmal mehr staunen, wie viel sie in sich hineinschlang, wohl auch um das in ihr ruhende neue Leben zu ernähren. Er wollte gerade nach der druckfrischen Ausgabe des Miroir Magique greifen, als seine rechte Hand unvermittelt heiß wurde, als habe er sie in beinahe kochendes Wasser getunkt. Dieser sehr deutliche Hitzeschauer hielt zwei Sekunden lang vor. Dann fühlte sich seine rechte Hand wieder ganz normal an. Zu seiner Erleichterung hatte Nathalie davon nichts mitbekommen. Sie verleibte sich gerade eine Portion Rührei mit Schinken und Orangenmarmelade ein.
"Hoffentlich wird unser Sohn nicht von deinem Magen zur Flunder zusammengedrückt, Nathalie", scherzte Armand schnell, um keinen Verdacht aufkommen zu lassen, dass mit ihm gerade was geschehen war, das ihm Zuversicht und Überlegenheit einflößte.
"Du befindest dich nicht in meinem Schoß, Armand, also musst du auch keine Platzangst empfinden, dass ich genug Nahrung für mich und ihn zu mir nehme", erwiderte Nathalie ungehalten. Weil sie beim Schlucken Luft mitgeschluckt hatte musste sie aufstoßen und schaffte es gerade noch, dabei den Mund geschlossen zu halten. Jemand nicht offen sichtbares beulte dabei ihre untere Bauchdecke aus.
"Wenn ich mir überlege, dass dieser Zauber wirklich so wirkt, dass Demetrius an die fünfzig Jahre da drinnen eingeschlossen bleiben soll, ich meine, du würdest ihm doch auch gerne in die augen sehen, oder?"
"Das hängt davon ab, ob er sich auch geistig langsamer weiterentwickelt. Falls nicht empfindet er mich als einzig wahren Lebensraum, bis ich ihn endlich gebären kann", grummelte Nathalie. "Aber sollte er sich irgendwie weiterentwickeln, weil er sich ja auch mit normaler Geschwindigkeit bewegt, müssen wir wohl was finden, damit er mich nicht eines Tages als lebenden Kerker empfindet und versucht, mich gewaltsam zu verlassen, was dann wohl sein und mein Ende sein würde. Das ist ja das perfide an diesem hinterhältigen Zauber dieser Viertelveela, dass sie mich und das Kind zu ihren Geiseln gemacht hat und dich als Oberverantwortlichen noch demütigt, dass du nicht wie Belle und ich einer fragwürdigen Alterungsverzögerung unterworfen wurdest. Sie hätte dich sicher genauso überraschen können wie Ornelle, Belle und mich. Warum sie Vendredi ausgespart hat weiß ich nicht. Vielleicht sollte er nicht mehr als dreihundert Jahre alt werden. Dass sie dich ausgespart hat mag Teil ihres Racheaktes sein, um dir die Möglichkeit zu verwähren, deinem Sohn beim Aufwachsen zusehen zu können. Aber wir werden was finden, damit Demetrius seinen Vater zu sehen bekommt, und sei es, dass wir das Land verlassen müssen und ich dich mit dem Perithanasia-Zauber belegen muss, damit du die nächsten Jahrzehnte überdauern kannst, ohne sichtbar zu altern."
"Das ginge?" fragte Armand unvermittelt verstört. Nathalie sah ihn an und fragte ihn, ob er sie nun verulken wolle. Denn gerade dafür, jemanden über Jahre ohne Nahrung und Luftzufuhr am Leben zu erhalten sei dieser Scheintodzauber erfunden worden, der ja nebenbei auch als dauerhafte Freiheitsentziehung benutzt werden könne, wie bei Janus Didier angewandt. Armand nickte leicht beklommen dreinschauend. Seine Frau deutete es so, dass er nicht daran gedacht habe, was ihm für Möglichkeiten offenstanden, die Geburt seines Sohnes noch mitzuerleben.
"Wie erwähnt klären wir das in Ruhe, wenn wir sicher wissen, ob Demetrius wahrhaftig mehrere Jahrzehnte in meiner innersten Obhut verweilen muss. Bei der Gelegenheit werde ich auch herausbekommen, ob er sich geistig weiterentwickelt und ob ich ihm trotz seiner eingeschränkten Bewegungsfreiheit Mittel zugänglich machen kann, seinen Aufenthalt nicht als Gefangenschaft zu empfinden. Glaub's mir, Armand, dass ich dieser Viertelveela keine Sekunde der Überlegenheit zugestehe, indem ich um mich oder das Kind bange."
"Du hast es eben erwähnt, meine Holde: Ich befinde mich nicht in deinem warmem Schoß. Doch könnte ich mir im Moment für Demetrius keinen sichereren Ort und keine liebevollere Versorgung vorstellen."
"Das weiß ich doch, mein Zuckerschnütchen. Deshalb will ich ihn ja auch solange tragen, bis er endlich ans Licht darf. Ich hoffe zumindest, dass er dann normalschnell weiterwächst, wenn er aus dem Bereich meiner unmittelbaren Lebensvorgänge heraus ist. Zumindest in der Hinsicht hat mir Alouette eine gewisse Hoffnung gemacht, dass ich ihn nicht über hundert Jahre säugen und windeln muss. Aber so ein Fall, sagt sie, sei noch nicht dokumentiert und somit immer für erfreuliche wie höchst unerfreuliche Wendungen gut."
"Das ist wohl leider wahr", sagte Armand. Dann nahm er sich noch ein Croissant, um seine Angespanntheit und Ertapptheit zu verbergen. Denn jetzt, wo er es gesagt bekommen hatte, fühlte er sich irgendwie doch wie ein mutloser Schwächling, der nicht erst die verfügbaren Mittel ausgeschöpft hatte, sondern gleich die Widersacherin um Gnade angefleht hatte. Doch jetzt war der Pakt geschlossen. Die Erhitzung seiner Schreibhand war überdeutlich gewesen. Die namentlich niedergeschriebene Zielperson hatte das bezauberte Schriftstück berührt und gelesen. Jetzt galt es für sie und für ihn.
Euphrosyne freute sich über jeden Tritt und Knuff, der ihr von innen zugefügt wurde. Arons Kind wuchs in ihr. Sein Fleisch und Blut, sicher mit ähnlichen Kräften begütert wie er, reifte in ihrem Körper heran. Mittlerweile wusste sie, dass sie eine Tochter trug und dass sie ihr, wenn sie geboren würde, den Namen Laure Lunette geben wollte, Laure wegen des Siegerlorbeers, der ihrem Mann für den Rest des Lebens versagt bleiben würde, und Lunette, weil er vor drei Wochen, als sie sich in natürlichster Form den kühlen Strahlen des Mondes dargebracht hatte, ihren leicht gerundeten Bauch mit einem kleinen Mond verglichen hatte. Das war für sie ein sehr schönes Kompliment.
Eine Eule segelte heran. Loulou, ihre magisch unterworfene Gehilfin, starrte den Vogel finbster an.
"Ah, hat man sich endlich bequemt, mir zu schreiben", grinste sie spöttisch, als sie den blauen Briefumschlag sah. Dann nahm sie ihn auch schon vom Bein der Eule, die schnurstracks zum Fenster hinausflog, um durch eine Dachluke im Haus der Lundis wieder einzufliegen, wo sie wohl warten sollte.
Als Euphrosyne den Umschlag betastete fühlte sie eine starke Wärmeausstrahlung, die irgendwie pulsierte, wie ein schwach und ruhig schlagendes Herz. Der Brief war also irgendwie behext worden, mit einem Fluch?
"Loulou, nimm du den Brief aus dem Umschlag und halte ihn kurz ins Licht!" befahl Euphrosyne ihrer Dienerin. Diese gehorchte. Sie nahm den Brief aus dem Umschlag heraus. Doch es geschah ihr nichts. Auch als sie den Brief ins Licht hielt konnte Euphrosyne nichts erkennen, was ihr Ungemach bedeutet hätte. Loulou wollte den Brief schon laut vorlesen. Doch Euphrosyne verbot ihr das. "Was immer in demBrief steht ist erst einmal nur für mich. Her damit!" Eine Sekunde später bereute sie diese herrische Aufforderung. Denn kaum dass sie den Brief in der Hand hielt empfand sie einen Hitzestoß durch den ganzen Arm. Gleichzeitig hielt sie ihn ganz unabsichtlich vor ihre Augen und las den mit blauer Tinte verfassten Text von Zaubereiminister Grandchapeau. Als sie las, wie sie ihm helfen sollte, um zu bekommen, was sie haben wollte, fühlte sie vier eigene Herzschläge lang ein Pulsieren durch ihren Arm in den Körper gehen. Ihre Hare richteten sich auf, standen zur Seite ab, und das in ihr wachsende Kind stieß ihr in die Eingeweide, wohl weil es auch von dem Zauber betroffen war. Dann hörte die Wirkung auf. Euphrosyne keuchte und schnaufte. Dann sah sie wütend auf den Brief, dann auf Loulou und dann kurz auf ihren leicht vorgewölbten Umstandsbauch.
"Hat er mich doch mit einem fiesen Zauber erwischt. Gut, wie er meint", knurrte Euphrosyne. "Wie er meint", wiederholte sie, wobei sie jede einzelne Silbe ausstieß.
"Öhm, hat dich wer jetzt verhext, Euphrosyne?" wollte Loulou wissen.
"Ja, in gewisser Weise ja, Loulou. Aber ich werde ihm die gewünschte Antwort geben", sagte sie erst verdrossen und dann überlegen dreinschauend.
Auch wenn dem Zaubereiminister eigentlich nicht zum lachen war musste er zumindest grinsen. Gerade hatte er den neuesten Artikel von Gilbert Latierre beziehungsweise seiner jungen Mitarbeiterin Mildrid Latierre, die sich MUL abkürzte, gelesen.
"Herrlich, Nathalie. Die junge Madame Latierre fordert von meinem britischen Kollegen: "Räumen Sie Ihr Zimmer auf, bevor sie es wem anderen geben!" Ich bin aber nicht wirklich erleichtert. Diese Dementoren sind doch nicht alle vernichtet worden. Hätte ich auch ein wenig früher erfahren dürfen", grummelte er und tippte auf das Foto der Reporterhexe Linda Knowles. "Der Kollege Cartridge hätte mir das ruhig schon mal mitteilen können, bevor Shacklebolt das Büßergewand angezogen hat und "Mea Culpa!" ausgerufen hat.
"Die Dementoren sind nicht alle vernichtet?" fragte Nathalie. Zur Antwort verlas der Minister den Artikel. Dann sagte er:
"Ja, und jetzt will Shacklebolt die Flagge streichen und meint, damit sei alles erledigt, weil er das Amt nicht beschädigen wolle. Aber diese Monstren werden sich nicht darum scheren, wer wo Zaubereiminister ist. Ich schreibe den werten Herren an, dass er nur dann entlastet wird, wenn er uns allels erzählt, nicht nur dass, was die Presse wissen darf. Wo du hier bist, Nathalie, schicke deinen Aushilfsaußendienstmitarbeiter Julius Latierre bitte zu Schacklebolt und lass ihn diesem eine Einladung überbringen! Nimmt er sie an, kann Monsieur Latierre sofort wiederkommen. Lehnt er sie ab soll er ihm mitteilen, wie und wo die noch nicht wiedererwachten Dementoren zu finden sein mögen. Langsam reicht's mir mit dieser Inselmentalität, bloß nichts mit Außenstehenden absprechen oder gar durchführen zu sollen."
"Ich gebe das weiter. Öhm, übermorgen werde ich mit unserer Tochter die offizielle Büroübergabe zelebrieren, damit wir zwei in Ruhe verreisen können."
"Hätten wir das vor einem halben Jahr gewusst, hätten wir wohl schon solche Kleidung angeschafft, wie Martine Latierre sie trägt, um ihre Schwangerschaft für Außenstehende zu verhüllen", grummelte der Minister.
"Ich weiß auch nicht, warum ich das überhaupt bekanntgegeben habe und nicht gleich von vorne herein auf derartige Bekleidung zugegriffen habe", schnarrte Nathalie zurück.
"Weil du, meine Holde, aus unserem späten Elternglück nie einen Hehl machen wolltest, während Martine es wohl nur denen sagen möchte, die es auch etwas angeht", schnaubte Armand verärgert zurück. Er ärgerte sich, weil er dieses Thema nicht schon vor vierzehn Tagen besprochen hatte. So hätte er sich diesen verflixten Brief vielleicht ersparen können. Dann läge er aber ab morgen im todesnahen Zauberschlaf, wohl nur jedes Jahr einmal geweckt, bis Demetrius zur Welt kam.
"Gut, dann werde ich mir nach unserem geplanten Rückzug einen Satz solcher Kleidung verschaffen und hoffen, dass mir niemand mehr eine fortbestehende Schwangerschaft ansehen kann. Vielleicht bekommen wir es auch hin, ein vorzeigbares Kind im Säuglingsalter zu präsentieren, das wir danach natürlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit aufwachsen lassen müssen, weil wir Hinweise erhalten haben, dass sein Leben bedroht ist, um uns zu unerwünschten politischen Zugeständnissen zu zwingen", sagte Nathalie. Ihr Mann verzog erst das Gesicht. Natürlich war geplant, erst einmal unterzutauchen. Das mit einem scheinbar von ihnen stammenden Säugling war ihm so nicht eingefallen. Aber logisch war es. Wenn seine Frau nicht mehr schwanger war musste sie das Baby bekommen haben. Es sei denn, sie verbreiteten eine sehr betrübliche Nachricht, dass das Kind unter der Geburt verstorben sei. Doch das, so wusste Armand, würde ihm sehr üble Schimpftiraden von Alouette und ihrer Kollegin Anne einbringen, weil er damit direkt unterstellte, dass die Heilerinnen ihre Arbeit nicht richtig erledigt hätten. Das durfte er sich auch nicht erlauben. Also ging eben nur ein geliehenes Kind, vielleicht sogar ein adoptiertes Kind, dass wirklich als Sohn der Grandchapeaus groß wurde. Er ärgerte sich schon wieder, dass ihm dergleichen erst heute einfiel, über zwei Wochen nach Versenden des verfluchten Briefes. Doch dann fiel ihm wieder ein, dass er den Brief doch benötigte, besser den damit übermittelten Erzwingungszauber. Denn wenn er die Geburt seines leibhaftigen Sohnes als relativ junger Mann miterleben wollte, so gab es nur zwei Möglichkeiten, den Schlaf der Todesnähe oder den verbotenen Veela-Segen des Sonnenatems.
Julius hatte es auch sehr amüsiert, Millies Artikel zu lesen. "Ich habe das so nicht gesagt, wie Gilbert das reingeschrieben hat, Monju. Aber ich will auch nicht behaupten, dass ich das nicht so hätte sagen wollen", erwähnte Millie beim Frühstück. Julius wollte gerade was sagen, als es im Kamin der Wohnküche ploppte und Madame Nathalie Grandchapeaus Kopf darin auftauchte.
"Ich wünsche einen angenehmen guten Morgen, Madame und Monsieur Latierre und natürlich die jungen Mesdemoiselles", begrüßte Nathalie die Familie im Apfelhaus, nachdem sie sich von der schwindelerregenden Kopfwirbelei erholt hatte. Immerhin musste sie mit ihrer lebenden Last nicht ganz durch das Netz.
"Guten Morgen, Madame", sagte Julius. "Geht es Ihnen und Ihrem Kind gut? Ich hoffe, sie werden beide gut betreut."
"Danke der Nachfrage, Monsieur Latierre. Mir und dem Ungeborenen geht es soweit gut. Ich bmöchte Sie nur darauf vorbereiten, dass Sie für Minister Grandchapeau nach England reisen mögen, um von seinem Kollegen Shacklebolt zu erfragen, wo und wie man die noch nicht wieder aufgewachten Dementoren suchen und vernichten kann. Er hat ja eingeräumt, dass es noch welche gibt, die auf See treiben."
"Will sagen, ich soll ihm helfen, sein Zimmer aufzuräumen", scherzte Julius. Millie grinste auch. Madame Grandchapeau verzog erst das Gesicht, nickte dann aber.
"Sie werden gebeten, ihm unsere Unterstützung anzuempfehlen, weil das Meer zum einen keine Landesgrenzen beachtet und zum anderen sehr groß ist. Und bevor noch ein Schiff von so einem Ungeheuer heimgesucht wird ... Den Rest können Sie sich ja vorstellen."
"Viel zu gut", seufzte Julius. Er wollte Nathalie nicht erzählen, was er gerade vor seinem geistigen Auge sah, Die Muttersubstanz, aus der alle Dementoren entstammt waren, jenes schwarze, gallertartige Unwesen im Zentrum der versteckten und mittlerweile wohl vernichteten Stadt Garumitan. Als er den Horror dort überstanden hatte war er der Erleichterung aufgesessen gewesen, keine im freien herumspukenden Dementoren mehr antreffen zu müssen.
"Bringen Sie Minister Shacklebolt so behutsam wie entschlossen bei, dass weitere Alleingänge nicht zum Erfolg führen. Wenn Sie in mein Büro kommen erhalten Sie alle Dokumente, die Sie zur Erfüllung dieses Auftrages bevollmächtigen", sagte die Leiterin des Büros für die friedliche Koexistenz von Menschen mit und ohne Magie. Julius bestätigte das. Dann verschwand Nathalies Kopf aus dem Kamin.
"Dann muss ich wohl los, dem großen Schwarzen mit der Sparfrisur beim Aufräumen helfen", scherzte Julius.
"Bin mal gespannt, wie die Grandchapeaus es hinbiegen, dass keiner mitbekommt, dass der kleine Armand oder die kleine Nathalie noch keinen Geburtstag feiern kann", gedankensprach Millie. Julius erwiderte ohne sichtbare Regung:
"Sie werden wohl untertauchen, ein paar Tage wegbleiben. Dann kommt Nathalie wieder und trägt wohl die gleichen Verhüllungssachen, die Tine sich auf Prudences Tipp zugelegt hat, wenn sie Außendienst schiebt und ihr nicht jeder wegen ihres Bauches dreinzureden hat."
"Wobei Tine eigentlich kein Problem damit hat, dass jeder sieht, wo die kleine Hémera wohnt. Aber es stimmt schon, dass eine schwangere Apparierüberwacherin nicht gerade durchsetzungsstark aussieht. Auf jeden Fall viel Spaß in deiner alten Heimat!"
"Wünsch mir besser Glück, eine ausreichende Portion Durchsetzungsvermögen und Geduld", seufzte Julius.
"Kriegst du alles von Temmie", grinste Millie. Darauf empfing Julius die celloartig klingende Gedankenstimme der großen, geflügelten Gefährtin: "Ja, ich halte dich in geistigem Ausgleich, wie ich es während der Schwangerschaft deiner Anvertrauten hinbekommen habe."
"Schön, ich hänge an der geistigen Nabelschnur einer großen, weißen, trächtigen Kuh mit Flügeln", gedankenantwortete Julius.
"Das bist du seit deiner hautnahen Begegnung mit Madrashmironda doch gewöhnt und hast es ja auch als sehr behaglich erlebt", bekam er glatt zur Antwort. Dagegen konnte er nichts mehr erwidern.
Keine zwanzig Minuten später landete Julius im Besucherkamin des britischen Zaubereiministeriums. Shacklebolt hatte ihm keinen Direktzugang von der Grenzstation aus gewährt.
Die Hexe im Vorzimmer kannte Julius noch nicht, erkannte aber, dass sie mit dem Whitesand-Clan verwandt sein musste. Er begrüßte sie freundlich aber mit gewisser Distanz. Denn von den Whitesands wusste er, dass die meisten mit einer gewissen Hexenschwesternschaft zu tun hatten.
"Der Zaubereiminister befindet sich noch in einem Krisengespräch mit den Leitern der Abteilungen, die für die Aufspürung der Dementoren zuständig sind, Monsieur Latierre. Ich werde ihm Ihre Ankunft mitteilen. Wenn Sie hinzustoßen sollen wird er dies mitteilen", sagte die Hexe hinter dem Schreibtisch. Dann bot Sie Julius noch frisch aufgebrühten Tee an. Julius nahm dankbar an. Zwar war er durch seine zweite Heimat zum Morgenkaffeetrinker geworden, hatte aber immer noch viel für guten englischen Tee übrig.
"Haben Sie eine Nichte oder Cousine namens Prudence Whitesand?" fragte Julius.
"Ja, eine Nichte ist das von mir. Ich bin Temperence Whitesand, der braune Vorzimmerdrachen."
"Ich habe noch eine Verity Whitesand kennengelernt, die in London arbeitet."
"Das ist meine kleine Schwester", gab Temperence bereitwillig Auskunft. "Hält mich immer auf dem laufenden, was für schönen Schabernack es auf dem Markt gibt. Der neueste Schrei, sogar im übertragenen Sinne, sind Wieherwindeln, die wie ein wütendes Pferd krakehlen, wenn sie randvoll sind."
"Und die Radaurasseln", erwiderte Julius. "Meine Frau hat sich bei unserem letzten Ferienausflug gleich den Katalog für genervte Verwandte junger Eltern besorgt", grinste Julius. "Das gemeinste, was die auf dem Sektor haben sind diese Schluckauf-Schnuller. Dafür, so meine Frau, gehörten die Erfinder selbst noch mal in Strampelanzüge rein und mindestens drei Wochen lang nur mit Zwerginnenmilch gefüttert."
"Oha, Zwerginnenmilch erhöht das Haarwachstum und verzögert das Längenwachstum, wenn man kein geborener Vollzwerg oder Teilzwerg ist", wusste Temperence. Julius fragte sie dann, ob sie selbst Mutter sei.
"Neh, bisher noch nicht. Möchten Sie mir ein Angebot machen?" fragte sie keck zurück. Da wusste er, dass dieser Vorzimmerdrachen mindestens einen Wichtel pro Tag frühstückte.
"Das verbieten die mir mitgegebenen Vollmachten. Den Minister sprechen, ihn im Namen des französischen Zaubereiministeriums bitten, die genauen Suchkriterien für die Suche nach schlafenden Dementoren erwähnen. Aber ich darf keine Ministerialbeamtinnen in andere Umstände versetzen. Reicht schon, dass bei uns im Ministerium gerade vier herumlaufen."
"Ich glaube auch nicht, dass ich mich mit der Familie Ihrer Frau herumprügeln will oder sie mich irgendwie daran hindert, ein solches Kind zur Welt zu bringen. Es soll da ganz üble Zauber geben, die sowas machen", raunte sie geheimnisvoll. Julius hätte fast gefragt, wie sie darauf kam. Doch gerade rechtzeitig fiel ihm ein, dass er offiziell nichts von Nathalies Schicksal wusste. Aber damit hatte sie indirekt verraten, dass die schweigsamen Schwestern Wind bekommen hatten. Dann wusste es vielleicht auch Anthelia/Naaneavargia.
Bis Julius endlich ins Allerheiligste des britischen Zaubereiministeriums hineindurfte vergingen noch drei Stunden, in denen er eine halbe Kanne Tee trank, davon die Hälfte in der Besuchertoilette wieder abließ und sich mit Temperence über die nicht geheimen Ereignisse in der britischen Zaubererwelt unterhielt. Als er dann endlich dem dunkelhäutigen Ex-Auoren Shacklebolt gegenübersaß waren auch Arthur Weasley, Tim Abrahams und Amos Diggory anwesend. Julius legte die Vollmachten vor und erklärte, dass das französische Zaubereiministerium ein wenig verunsichert sei, dass nach der Sache auf dem Kreuzfahrtschiff Paradiso di Mare keine internationale Suchtruppe zusammengestellt worden war, um die verbliebenen Dementoren zu finden.
"Für welche Ihrer Abteilungen sprechen Sie nun, Monsieur Latierre?" fragte Shacklebolt. Julius erwähnte Nathalie Grandchapeaus Abteilung, da die Dementoren ja Muggelweltberührung gehabt hätten. Aber er sei natürlich auch im Auftrag der Zauberwesenbehörde unterwegs.
"Nun gut, damit die in hoffnungsvoller Erwartung befindliche Madame Grandchapeau uns nicht für einen Haufen engstirniger und eigensinniger Inselaffen hält gebe ich Ihnen die Protokolle unserer heutigen Sitzung mit. Mir war sofort klar, das sie nur deshalb hergereist sind, um zu klären, wo die letzten Dementoren sein müssen. Ich habe bereits ähnliche Anfragen von den Kollegen aus Deutschland, Österreich, Spanien, Italien und den vereinigten Staaten. Aber Sie sind der einzige, der zum persönlichen Vorsprechen kam", grummelte Shacklebolt und verhieß damit, dass es ihm unangenehm bis lästig war, andere Zaubereiministerien einzubeziehen. Doch Julius blieb ruhig. Vielleicht flossen gerade alle die Mimik verändernden Gefühle in Temmies großen Schädel über, vielleicht auch nicht.
Eine Viertelstunde später verließ Julius das Büro des Ministers mit einer versiegelten Aktenmappe, bedankte sich bei Temperence Whitesand und fuhr ins Foyer zurück, von wo aus er zur Grenze und von da nach Frankreich und ins dortige Zaubereiministerium überwechselte.
"Eiskugeln?" fragte Ornelle Ventvit, die von Nathalie zu der Erörterung hinzugebeten worden war. Julius erläuterte es, dass Dementoren nicht vollständig unter Wasser geraten durften, weil ihre Gefrieraura dann alles Wasser um sie herum zu Eis erstarren ließ. Das wiederum schläferte sie ein. Allerdings seien die Eiskugeln magisch aufgeladen, so dass sie gegen technische Fernortungsverfahren abgeschirmt waren. Mit Radar war da also nichts zu machen.
"Sie haben dem britischen Kollegen Diggory hoffentlich mitgeteilt, dass diese fundamentalen Informationen durchaus schon bei der ersten bekannt gewordenen Sichtung dieser Ungeheuer an die internationale Zaubererkonföderation und an den Weltrat für magische Geschöpfe hätte weitergeleitet werden müssen?" fragte Ornelle Ventvit. Julius verneinte das, weil er diesbezüglich keine Anweisungen hatte.
"Abgesehen davon hätten die uns das mit den Dementoren nie erzählt, wenn die sich nicht auf einem Lasterschiff ausgebreitet hätten", erwiderte Nathalie. Dann sagte sie: "Aber jetzt liegt das Kind im brodelnden Kessel und .. Nicht du! ..." Sie klopfte sich gerade noch sanft genug auf den Bauch, um den kleinen Fuß, der von innen anstieß zurückzudrücken und streichelte darüber.
"Julius, ich darf sie leider nicht in einen Außeneinsatz schicken, weil Monsieur Vendredi uns beiden das untersagt. Aber sagen wir mal so, es wäre sehr von Vorteil, wenn jemand bei Monsieur Dusoleil vorbeiginge, ihm eine schriftliche Bestellung für mindestens hundert weitere Detektionsdrachen übergibt und mit der Auftragsbestätigung und dem geschätzten Liefertermin zu Monsieur Colbert zurückkehren würde", sagte Ornelle Ventvit.
"Monsieur Latierre, zum Zwecke der Verhinderung weiterer Muggelweltberührungen dieser gefährlichen Geschöpfe erteile ich Ihnen hiermit den Eilauftrag, bei dem in Millemerveilles ansässigen Thaumaturgen Florymont Dusoleil um die schnellstmögliche Anfertigung von einhundert Detektionsdrachen zu ersuchen", nahm Nathalie Ornelles Idee auf. Julius bestätigte den Auftrag und wechselte direkt aus Nathalies Büro zum Chapeau du Magicien, der Dorfschenke von Millemerveilles über, wo er beim Herausspringen fast gegen ein von Caro Renard durch die Luft gesteuertes Tablett prallte.
"Hallo, Julius, hat Millie dich vor die Tür gesetzt, dass du bei uns hereinfauchst?" fragte Caro schnippisch.
"Ich bin in Befolgung eines Eilauftrages unterwegs und darf dafür nur öffentliche Zielpunkte benutzen", erwiderte Julius. Caroline glubschte ihn an, bis eine grauhaarige Hexe an einem Tisch bei einem der drei nach osten weisenden Fenster sie rief: "Mädchen, nicht mit Durchreisenden rumturteln. Ich warte auf den Kaffee."
"Kommt schon geflogen", grummelte Caro und steuerte das fliegende Tablett in Richtung der Besucherin. Diese hielt ihren Zauberstab in die Richtung und stoppte mit einer sachten Handbewegung das Tablett. "Mach's gütigst mit den Händen, Mädchen, ich verabscheue das Herumtelekinieren."
"Du deinen Auftrag, ich meinen", grinste Julius die verdrossen dreinschauende Caroline an.
"Nett von dir", schnaubte Caro leise genug, dass die Kundin am Fenster es nicht verstehen konnte.
Als Julius mit einem federleicht bezauberten Sack mit bereits vierzig ordentlich zusammengelegten Detektionsdrachen auf dem Rücken in die Schenke zurückkehrte war die graugelockte Hexe in eine sehr gestenreiche Unterhaltung mit der residenten Heilerin und Hebamme Hera Matine verwickelt. Zu hören war jedoch nichts, was wohl an einer neuen Erfindung Florymonts lag, den Muffliatus-zylinder, der in Verbindung mit einem darauf abgestimmten Kreis aus silberner Zaubertinte das magische und eigenohrige Mithören von Gesprächen vereitelte. Wer es dennoch versuchte bekam nur unerträglich lautes, tiefes Rauschen zu hören.
"Na, deinen Auftrag erledigt?" fragte Caroline, die gerade nichts zu tun zu haben schien.
"Yep, habe ich. Muss schnell weiter. Schönen Tag noch, Caro!""Dir auch, Julius", erwiderte Caroline mit etwas vergrätztem Gesichtsausdruck. Denn gerade rief ihr Vater nach ihr.
Julius lieferte die bereits erhältlichen Drachen bei seiner direkten Vorgesetzten ab und ließ sich die Lieferbestätigung für Midas Colbert unterschreiben. Davon bekam auch sie eine Kopie, wie auch Belle Grandchapeau und Monsieur Montpelier aus der Strafverfolgung. Als Julius der für benötigte Güter zuständigen Buchhaltungsgehilfin Colberts die Lieferbestätigung und die Auftragsbestätigung für die insgesamt 100 Detektionsdrachen übergab fragte er sich, was Hera und diese graugelockte Hexe, die irgendwie älter als die Hebammenhexe wirkte, so geheimnisvolles zu beraten hatten, dafür aber nicht in einen verschwiegenen Raum gingen. Immerhin besaß das Chapeau du Magicien nicht nur ein Hinterzimmer für kleine Privatgesellschaften, sondern an die zwanzig Übernachtungszimmer. Warum also so sichtbar ein Geheimgespräch führen? Doch das ging ihn eigentlich nichts an, stellte er für sich selbst fest.
Den restlichen Arbeitstag verbrachte er damit, mit Belle die Pläne für die neuen Rechner und wie sie vernetzt werden sollten durchzugehen. Als nachmittags eine Blitzeule mit einem Brief von Martha Merryweather eintraf sorgte sich Julius um seine Mutter. Belle las ihm vor, dass Martha von ihrer Hebamme verboten bekommen hatte, Auslandsreisen zu unternehmen, da sie als "Mutter in mittleren Jahren" und "Drillingsträgerin" immer in Reichweite ihrer erwählten Heilerin und Hebamme zu bleiben habe.
"Die Heilervorschriften, dernach eine werdende Mutter keine eigenständig handlungsberechtigte Hexe mehr ist, solange sie ihr Kind austrägt oder stillt", seufzte Belle. Sie wusste ja, wovon sie sprach. "Das beeinträchtigt jedoch massiv unsere Absicht, noch vor dem vierundzwanzigsten Juni die neuen Rechner und Internetzugangsgeräte betriebsfertig einzurichten. Ihr Fachwissen ist dringend von Nöten, auch wenn sie mir und damit auch Ihnen alle wichtigen Unterlagen überlassen hat."
"Wenn wir Bicranius' Mixtur nehmen, können wir das alles auswendig lernen", erwähnte Julius.
"Wir ist gut. Durch den Racheakt dieser Viertelveela kann ich keine magisch wirksamen Mixturen mehr zu mir nehmen. Entweder zeitigen sie keine Wirkung oder werden von meinem Organismus direkt wieder ausgestoßen. Sie wissen sicher auch, dass die PTR von mir und der beiden anderen Betroffenen über unsere eigene Verwandlungszauberkraft gestiegen ist. Im Grunde weisen wir drei die PTR eines reinrassigen Riesens in der Blüte seines Lebens auf", grummelte Belle. "Und außer Ihnen verfügt niemand anderes über die praktischen Kenntnisse, das rein theoretische Wissen umzusetzen."
"Gut, Dann muss ich wohl mal eben alles lernen, was meine M..., öhm Madame Merryweather an Dokumentationen, Vernetzungsplänen und Quellcodes hiergelassen hat, nachdem sie wusste, dass sie einer Drillingsmutterschaft entgegensieht", seufzte Julius. Belle sah ihn sehr ernst an.
"Ihnen ist natürlich bekannt, dass Aufbau und Einrichtung des neuen Rechnerzentrums gänzlich ohne Anwendung von Magie zu erfolgen hat. Will sagen, Sie müssten ganz alleine und ohne einen Funken hilfreicher Zauberkraft vorgehen." Julius bestätigte es. "Dann werde ich meine Haupt- und Ihre zeitweilige Vorgesetzte bitten, Ihnen den Auftrag zu erteilen, unter Nutzung des erwähnten Gedächtnisvervielfältigungstrankes die benötigten Kenntnisse zu erwerben und praktisch umzusetzen", erwiderte Belle. Julius nickte.
Drei Minuten später hatte er von Madame Nathalie Grandchapeau eine Anforderungsvollmacht für den benötigten Trank, mit der er zu Colbert und der residenten Heilerin und dann in das Labor für ministeriumseigene Zaubertrankerstellung überwechseln sollte, um die Dosis für die benötigte Zeit zu erhalten. "Da ich morgen wegen des Anscheins, bereits starke Vorwehen verspürt zu haben in den Mutterschaftsurlaub gehe möchte ich diese Angelegenheit mit den neuen Rechnergeräten als erledigt verbuchen", sagte die zur jahrzehntelangen Schwangerschaft im letzten Trimenon verhexte Leiterin des Büros für friedliche Koexistenz von Menschen mit und ohne Magie. Julius fragte sie im Schutze eines provisorischen Klangkerkers, ob sie offiziell zurückkehren würde, wenn sie wusste, wie sie ihren andauernden körperlichen Zustand verhüllen konnte.
"Nicht vor einem Jahr, Julius. Der Plan, den mein Gatte und ich erarbeitet haben sieht vor, dass ich das Kind im Schutze eines gesicherten Hauses gebären und über die Stillzeit hinaus versorgen werde, um es dem Zugriff feindlicher Kräfte zu entziehen. So muss ich mindestens ein halbes bis Dreivierteljahr verborgen bleiben. Bis dahin werden wir wissen, wie ich die von anderen Umständen zum langfristig andauernden Zustand gewandelte Schwangerschaft äußerlich verhüllen kann, ohne ständig in selber Oberbekleidung herumzulaufen." Julius nickte. Die eine fortgeschrittene Schwangerschaft verbergende Kleidung kostete fünfmal so viel wie unbezauberte Bekleidung aus demselben Stoff, hatte er von Prudence Whitesand erfahren.
"Ich hoffe, Ihnen spätestens eine halbe Stunde vor Arbeitstagende Vollzug melden zu dürfen", sagte Julius Latierre zuversichtlich. Madame Grandchapeau lächelte wohlwollend.
"Für welche Wirkungsdauer wünschen Sie den Trank zu nehmen, Monsieur Latierre?" wollte Anne Laporte von Julius wissen. Er erwiderte, dass er mindestens 1000 Papierseiten lernen musste, weil er die Rechner eben korrekt in das von seiner Mutter geknüpfte Arkanet einbinden musste. Dann sagte er: "Zum lesen und lernen brauche ich dann wohl zwanzig Minuten und dann noch mal das fünffache, um die Rechner entsprechend zu programmieren, ohne mich von irgendwelchen Gefühlen oder Irrtümern ablenken zu lassen, also ungefähr zwei Stunden."
"Da Sie das Ersthelferzertifikat haben und langjähriger Pflegehelfer in Beauxbatons mit besonderem Erfolg waren brauche ich Ihnen dann nicht zu sagen, wie viele Stunden sie nach Wirkungsende ausruhen müssen, und zwar richtig." Julius nickte. "Auch sollten Sie sich davor hüten, sich unter Einwirkung des Trankes zu sehr auf lange zurückreichende Erinnerungen einzulassen. Bicranius warnt ja vor dem rücksprung in den Mutterschoß oder die Verwicklung mit der ersten Windel. Vielleicht sollte ich Sie bei diesem Einsatz begleiten oder Madame Belle Grandchapeau." Julius überlegte kurz. Doch dann schüttelte er den Kopf. Belle Grandchapeau würde genug mit der Amtsübernahme zu tun haben, auch wenn sie seit Monaten darauf vorbereitet wurde.
"Ich genehmige Ihnen die Dosis für zwei Stunden wirkung. Da sie danach die zehnfache Zeit ausruhen müssen sollten Sie sich den kommenden Tag nichts vornehmen." Julius nickte. Dann bekam er die schriftliche Genehmigung, aus dem Zaubertranklabor die nötige Menge abzuholen.
Der Arbeitstag begann mit der offiziellen Amtsübergabe Nathalie Grandchapeaus an ihre zeitweilige Nachfolgerin Belle Grandchapeau. Julius sollte, weil er gleich von hier aus zum renovierten und neu ausgestatteten Rechnerraum hin wollte die Übergabe mitverfolgen. Er konnte es gerade den dienstälteren Kollegen ansehen, dass sie mit dieser Personalentscheidung zwar gerechnet hatten, sie aber doch für nicht richtig hielten. Julius halbzwergische Schwiegertante Primula Arno sprach dann auch aus, was wohl viele ihrer älteren Kollegen dachten:
"Bitte begründen Sie uns, warum Sie Madame Belle Grandchapeau als zeitweilige Vertreterin ausgewählt haben und keinen von uns!" Alle anderen nickten erleichtert, dass sich doch wer vorgewagt hatte, der ihre Meinung vertrat. Nathalie Grandchapeau blickte erst verdrossen auf die kleinwüchsige Hexe. Doch dann nickte sie verhalten und sagte:
"Sicher haben Sie die Vermutung, hier im Ministerium würde Vetternwirtschaft oder Erbfolgearistokratie angewandt. Doch ich habe Madame Grandchapeau nicht zu meiner zeitweiligen Nachfolgerin erwählt, weil sie meine Tochter ist, sondern weil sich in den letzten Jahren erwiesen hat, wie wichtig es ist, die Verständigungs- und Wissensverbreitungswege der magielosen Menschen zu kennen und damit zu arbeiten. Ich darf Sie alle, wie Sie jetzt auf meine Antwort warten daran erinnern, dass ich vor drei Jahren jedem hier angeboten habe, einen vom Ministerium bezahlten Kurs in magieloser Informationsverarbeitungstechnologie zu belegen. Dr. June Priestley, die auf diesem Gebiet eine Expertin ist, bietet jedem Zaubereiministerium und jedem zivil mit dieser Technik in Berührung kommenden Zaubererweltbürger an, die nötigen Kenntnisse zu erwerben, in einem Eulenpostcurriculum oder in mehreren Seminaren bei sich in Großbritannien. Das Ministerium hätte jedem hier, der oder die diesen Kurs belegen wollte zu einhundert Prozent bezuschusst, weil der Minister und Monsieur Colbert davon überzeugt sind, dass unsere gesetzlich verankerte Geheimhaltung durch die neuen Gerätschaften in größter Gefahr ist und deshalb eigentlich nicht genug Ministeriumsleute diese Geräte kennen und gegebenenfalls bedienen können sollten. Ich stand auch schon kurz davor, diese Weiterbildung als amtliche Verfügung zu klassifizieren. Dass ich dies nicht tat liegt daran, dass ich aus meiner Schulzeit und meinem bisherigen Berufsleben so wie als Mutter weiß, dass erzwungenes Lernen nur solange vorhält, wie der Zwang zum Lernen aufrecht erhalten bleibt. Daher setzte und setze ich auf die Überzeugung, mit dem erworbenen Wissen etwas wichtiges und richtiges zur Verfügung zu erhalten. Natürlich haben Sie alle, die Sie hier sitzen unterschiedliche Gründe, warum Sie die bisherigen Angebote zurückwiesen. Diese möchte ich auch nicht hinterfragen, sondern nur klarstellen, dass meine Entscheidung nicht darauf fußt, dass ich meiner leiblichen Tochter mehr zutraue als jedem ihr an Dienstjahren voraus seiendem Kollegen. Aber sie hat damals die Möglichkeit genutzt, sich umfassend zu informieren, ebenso wie ich. Der zeitweilige Kollege Monsieur Latierre hier ist ja schon von seiner Herkunft her auf die Vor- und Nachteile dieser magielosen Technik hingewiesen worden. Aber er und Madame Grandchapeau sind derzeitig die einzigen, die das für diese Arbeit nötige praktische Wissen besitzen, da die Kollegin Merryweather aus Ihnen allen hinlänglich bekannten Gründen derzeit nicht von ihrem erwählten Wohnsitz fortkann, um diese Arbeit zu erledigen. Daher musste ich jemanden finden, der oder besser die sowohl das Wissen hat, aber auch das Wissen über die Abläufe in unserem Ministerium und somit als Vermittlerin agieren kann." Madame Grandchapeau ließ ihre Worte einige Sekunden wirken. Dann fügte sie noch hinzu: "Außerdem bin ich ja in einem Jahr wieder da und somit nicht aus der Welt. Und jenen, die sich jetzt ungerecht übergangen fühlen steht es immer noch frei, sich umfassend über alles kundig zu machen, was die moderne Welt der nichtmagischen Menschen hervorgebracht hat."
"Niemand kann so schnell die ganze Welt über uns informieren, als eine Truppe von Vergissmichs bei ihm oder ihr eintrifft", bemerkte der überdurchschnittlich gut genährte Monsieur Lepont. Julius war versucht, ihm da zu widersprechen, musste dies aber nicht, weil Belle ihm zuvorkam:
"Der jenige braucht nur eine Laufbildaufnahme von einem magischen Vorgang zu machen und mit wenigen Knopfdrücken an seine Freunde oder eine Zeitung zu verschicken, und schon kann die Laufbildaufnahme in das Internet gestreut werden. Ich darf Sie alle an den Besuch von Monsieur Abrahams aus London erinnern, der uns davor gewarnt hat, dass in einem Computer oder Funkfernsprechgerät mit Lauf- oder Einzelbildaufnahmevorrichtung gespeicherte Sachen einen bereits verwendeten Gedächtniszauber durchdringen und sogar aufheben können, wenn die betroffene Person davon überzeugt ist, dass die Aufzeichnung glaubhafter ist als die bisher für wahrhaftig gehaltenen Erinnerungen. Aber davon wollten Sie damals nichts hören, Raymond und wollen es wohl heute noch nicht erkennen. Dabei wissen Sie alle, dass die Elektrofunkapparaturen jede Posteule und jeden Apparator in den Schatten stellen, und durch das Internet besteht nun die Möglichkeit, hunderte oder tausende von Kopien einer Aufzeichnung in alle Welt zu streuen, eine Auswirkung, mit der auch die Muggel ihre Probleme haben, wie ich Ihnen verbindlich versichern kann. Außerdem hat der Fall Lykotopia sehr unmissverständlich aufgezeigt, dass unsere Widersacher mehr Zugang zum Internet haben als einige Zaubereiministerien. Deshalb benötigen wir im Moment wen, der oder die alle diese Möglichkeiten kennt und zu unseren Gunsten verwenden kann. Monsieur Latierre hier", wobei sie Julius genau ansah, "hielt es ja nicht für geboten, sich von vorne herein in unserer Abteilung zu bewerben, weil er in der Zauberwesenbehörde mehr Möglichkeiten zum Einsatz seiner erworbenen Kenntnisse sieht. Das ist jetzt kein Vorwurf, Monsieur Latierre, sondern eine reine Feststellung." Julius nickte bestätigend. "Aber außer ihm, der nur als Außeneinsatzunterstützung bei uns arbeiten darf, bin nach Madame Merryweather und Madame Grandchapeau nur ich weit genug mit dem weiten Feld des Internets vertraut, und ich möchte einräumen, immer noch nicht alles darüber zu wissen. Doch falls Sie finden, ich sei als vorübergehende Bürovorsteherin nicht geeignet, so bin ich durchaus bereit, den mir angebotenen Platz jemandem zuzuerkennen, der oder die mit allen gegenwärtigen Problemen unserer kleinen aber wichtigen Behörde zurechtzukommen versteht."
"Ich sehe wohl ein, dass ich diesen Kurs machen muss, zumal einer meiner Verwandten mir in den Ohren liegt, dass wir bald von den Magielosen nachrichtenübermittlungsmäßig weit abgehängt werden können", grummelte Primula Arno und sah dann Julius an. "Besteht, solange ich nicht dieses von June Priestley ausgestellte Zertifikat habe die Möglichkeit, im praktischen Lernverfahren etwas darüber zu erlernen?" Sie sah erst die Damen Grandchapeau und dann Julius an. Da meinte Mademoiselle Rose Devereaux:
"Das sieht Ihnen Ähnlich, Primula, offenbar darauf ausgehend, mit dem jungen Mann hier unbeaufsichtigt und von keiner Magie zu überwachen in einem Raum zu verweilen."
"Rose, ich bin keine von Ihrer Sippschaft", zischte die Halbzwergin. Nathalie öffnete den Mund zu einem Einwand, nickte dann aber Belle zu, als sei diese schon hauptverantwortlich tätig.
"Die Damen, der Kurs beginnt wie ein neues Schuljahr im September. Wenn Sie beide ihn belegen wollen erhalten Sie gleich noch die nötigen Formulare." Die beiden erwähnten nickten. Lepont schnaubte verächtlich. Offenbar hielt er nichts davon, seine wertvolle Zeit mit dem Lernen von ihm nicht wichtigen Sachen zu vertun.
Als nun keiner mehr gegen Belles vorübergehende Aufstufung Einspruch erhob erhielt diese von ihrer Mutter und Dienstvorgesetzten den goldenen Büroschlüssel, was nicht nur eine symbolische Geste war, sondern ihr den Zugang zu den Akten der obersten zwei Geheimstufen erlaubte. Danach verabschiedete sich Nathalie von ihren Mitarbeitern. Alle wünschten ihr eine beschwernisarme Niederkunft und einen erholsamen Mutterschaftsurlaub. Bis auf Belle und Julius, die zu gut wussten, dass Nathalie noch lange nicht gebären würde hielten die Anderen Euphrosynes Zauber für einen reinen Streich, um zu zeigen, dass sie an den Sicherheitsvorkehrungen vorbeihandeln konnte.
Nachdem die anderen Außendienstmitarbeiter wieder an ihre eigenen Aufgaben gegangen waren ordnete Belle an, dass Julius nun die neuen Rechner einrichten und in das Arkanet einbinden sollte.
Die nächsten zwei Stunden brachte Julius damit zu, im Rechnerraum die Handbücher zu studieren, die fünf neuen Rechner miteinander zu verknüpfen, aber auch mit den drei redundanten Internetroutern an das große weite Weltnetz anzuschließen, die auf CD-ROMs gespeicherten Sicherheitskopien der Arkanetkomponenten in ihrer logischen Reihenfolge in das Standardbetriebssystem einzubinden und wegen der neueren Auffrischungen desselben die nötigen Nachbesserungen einzugeben, um das Arkanet vom restlichen Internet so gut es ging abzuschirmen. Als er dann eine kurze Mail an seine Mutter schickte, dass Belle, sie und er die Administratorrechte hatten, solange Nathalie nicht arbeitete, prüfte er kurz nach, ob seit dem Totalausfall am 21. April viele Arkanetbewegungen stattgefunden hatten.
Julius hätte sich sicher erschreckt, als er las, dass am 26. April jemand mit den Kenndaten von Nathalie Grandchapeau, die er jetzt als seine Kenndaten verwendete, auf das Arkanet zugreifen wollte, wo die französischen Rechner total zerstört und die Konten von seiner Mutter gelöscht worden waren, bis sie oder eben ihr Sohn sie wieder einrichten und freischalten würde, war das Sicherheitsmodul des Arkanets aufmerksam geworden, hatte den Zugriffsweg jedoch nicht zurückverfolgen können, weil ein ausgeklügeltes Rückzugabsicherungsprogramm in Mikrosekundenschnelle alle zwischengespeicherten Werte über die Übertragungswege gelöscht hatte, bevor es sich selbst aus den Speichern löschte. Aber dass jemand an allen zehn von seiner Mutter eingerichteten Bollwerksystemen vorbei bis fast über die Schwelle ins Netzwerk vorgedrungen war, weil er oder sie das Passwort hatten gab Julius zu denken. Er schickte seiner Mutter noch eine E-Mail und lieferte auch die nicht gelöschten Protokolldaten, die die Sicherheitsüberwachung gerade verschickt hatte. "Finde bitte raus, von wo das kam! Ich weiß jetzt zwar genug vom Arkanet, aber nicht, wie die Bollwerksysteme greifen, die du programmiert hast", schrieb er. Dann teilte er allen andren Mitgliedern des Arkanets mit, dass Frankreich wieder online war.
Julius fragte sich, wer die Daten von Madame Grandchapeau verwendet hatte. Soweit er wusste waren alle Mitglieder des Arkanets umgehend nach Euphrosynes Anschlag über den Totalausfall des französischen Zaubereiministeriums informiert worden. Nur Julius' Rechner konnte noch im Arkanet arbeiten. Also war es jemand, der nicht mitbekommen hatte, was passiert war, also niemand, der offiziell im Arkanet arbeiten durfte. Doch dann musste der oder die ja irgendwie an Nathalies Benutzerdaten gekommen sein, bevor die Rechner hier von Euphrosynes Sonnenmagie zerstört worden waren. Und es war kein Fehlversuch vorausgegangen, der auf eine Passwortsuchanwendung schließen ließ. Der Zugriffsversuch war unmittelbar mit den eigentlich gültigen Daten erfolgt, aber eben nur gescheitert, weil das Konto und die Arkanetverbindungen aufgehoben worden waren. Also hatte da jemand sich die korrekten Daten beschafft. Das konnte also nur wer sein, der wusste, wem sie gehörten und wozu sie taugten, also ein Zauberer - oder eine Hexe mit Computerkenntnissen. Da der Trank immer noch alle Gefühle unterdrückte empfand Julius bei dieser Erkenntnis weder Unbehagen noch Bedrohung. Vielmehr führte die Erkenntnis dazu, dass die Mixtur Bilder und Daten aus seinem Gedächtnis in sein Bewusstsein hochspülte, die er eigentlich schon längst hätte nachprüfen müssen. Ja, da war doch dieser junge Bursche auf der Insel an dem Laptop zusammen mit der schwanger aussehenden Zwillingsschwester oder nicht wirklich gestorbenen Patricia Straton. Die Koordinaten hatte er doch erfahren und aus den Bezugswerten des alten Reiches in die heute gebräuchlichen Längen- und Breitenangaben umgerechnet. Er musste wieder an Madrashmironda denken, die ihn mal eben in sich eingeschlossen hatte und um ihn herum als eine rotbraune Nachahmung Temmies vorhanden war, wodurch er Einblick in das Wissen der Altmeister bekommen hatte, was denen nicht gefallen hatte. Er musste schnell an was anderes denken, um sich nicht in der intensiven Erinnerungsrückbetrachtung in die Zeit vor seiner natürlichen Geburt zurückwerfen zu lassen. Gerade so schaffte er es mit den in Gedanken laut ausgesprochenen Koordinaten der Insel der Sonnenkinder. Ja, die hatten wie auch immer Nathalies Passwort ergattert. Deshalb änderte er schnell die Nutzerdaten und rief eine Wächteranwendung auf, die jeden Einwahlversuch unter den alten Daten sofort an seine Mutter weitermelden sollte, am besten mit allen Zwischenstationen. Dann erst konnte er die neue Rechnerzentrale verlassen.
Wie er schon vorhergewusst hatte fühlte er sich total ermüdet, als die Wirkung des Trankes abklang. Gerade so schaffte er es noch, in das Apfelhaus zurückzukehren. Den nächsten Tag würde er mehr schlafen als wach sein. Millie hatte dementsprechend vorgesorgt und Aurore im Sonnenblumenschloss untergebracht. Julius schlief in einem der Gästezimmer, um nicht von Chrysopes Schreien gestört zu werden. Bevor er in tiefen Schlaf fiel dachte er mit gewissem Argwohn aber auch Neugier daran, dass diese Patricia Straton wohl nicht tot war und Kontakte zum französischen Zaubereiministerium hatte, vielleicht sogar noch zu anderen Zaubereiministerien. Und wenn sie welche hatte dann sicher auch Anthelia. Mit dieser beklemmenden Erkenntnis schlief er ein.
19. Juni 2002
Hallo, Wendy!
Jetzt wohne ich schon fast vierzehn Tage bei Laura und helfe ihr im Garten oder bei Schreibarbeiten. Aber wenn ich weiter so von ihr gefüttert werde bin ich im sechsten Monat schon doppelt so breit wie Millie Latierres Großmutter Ursuline im neunten. Aber diese Hexe hat es drauf, mir immer noch was und noch was vorzulegen. "Denk dran, die kleine muss wachsen", sagt sie immer. Jetzt wird mir klar, warum sie wollte, dass ich bei ihr wohne. Sie braucht wen zum bekochen und zu bemuttern.
Flora hat jetzt eine Patientin, die Opfer der Vita-Magica-Bande wurde und deshalb mit zwillingen unterwegs ist. Da will ich mich besser nicht beschweren, auch wenn die anderen Umstände doch sehr anstrengend sein können. Heute musste ich einfach so weinen, weil ich daran dachte, dass ich Heather nicht mehr sagen kann, wie dankbar ich ihr bin, dass ich hier in Australien lebenund arbeiten darf. Laura meinte dazu, dass ich die schlimmste Phase von Gefühlsschwankungen ja übersprungen hätte. Wir zwei verstehen uns immer besser, auch wenn ich weiß, dass sie meine oberste Vorgesetzte ist.
Richtige Angstzustände bekam ich, als ich erfuhr, dass es doch noch Dementoren gibt und die zwei Muggelschiffe überfallen und besetzt haben. Dafür musste ich wieder lachen, weil Millie Latierre Shacklebolt aufgefordert hat, "sein Zimmer" aufzuräumen, bevor er das Haus, also das Ministeramt, verlässt. Gut, ich habe mein Haus aufgeräumt, Dank Oma Regans Haushaltszauberunterricht. Wenn die wüsste, dass ich doch noch was Kleines kriege. Andererseits war sie so auf natürliche Auswahl festgelegt, dass sie mir das nicht so einfach hätte durchgehen lassen, das Kind einer anderen Hexe zu kriegen. Dabei fällt mir ein, dass die andere nicht mehr lebt und das in mir wachsende Wesen mein Kind wird, so oder so, körperlich, seelisch und gesellschaftlich. Sicher, was genau die Redrobes für einen alten Zauber zu fürchten hatten weiß ich immer noch nicht. Aber soviel steht fest, dass dieser Zauber nur männliche Nachfolger betreffen soll, die in Australien wohnen.
Die Yankees wollen diesen Bluecastle, der seit März vermisst wird, jetzt für tot erklären. Das hat Ministerin Rockridge drauf gebracht, noch einmal nachzuhaken, wo er alles gewesen ist. Irgendwie kommt mir das auch so vor, als sei er noch am leben, könne sich aber nicht melden oder gar irgendwas machen.
Bis morgen!
Das bei Flugreisenden schon altvertraute Klingelzeichen und die Leuchtanzeige "Gurte Schließen" weckten Maria Valdez aus leichtem Schlaf. Eigentlich hatte sie gedacht, eine Reise in ihr Geburtsland würde sie so aufregen, dass sie nicht die nötige Ruhe für einen kurzen Schlaf finden würde. Doch kaum war die Maschine mit ihr und dreihundert anderen Passagieren von Denver aus abgeflogen hatte sie eine wohlige Müdigkeit umfangen und unter dem gleichförmigen Geräusch der Klimaanlage und Triebwerke einschlafen lassen. Doch jetzt, wo die Maschine wieder sank, war sie hellwach und aufmerksam.
Auf Englisch und Spanisch erfolgte die Durchsage der Kabinenchefin, dass sie nun im Anflug auf Mexiko-Stadt waren. Maria Valdez sah die in den Himmel aufragenden Gipfel der die Stadt umringenden Berge. Sofort erkannte sie die beiden schlummernden Vulkankegel Popocatépetl und Iztaccíhuatl. Sie sah den gelblichen Dunst, der über dem Tal hing, in dem die einstige Hauptstadt der Azteken lag. Sie erinnerte sich an ihren alten Erdkundelehrer Señor Murillo, wie er über die unterschätzte Gefahr der schlummernden Vulkane und über das Smogproblem von Mexiko-Stadt erzählt hatte. Wie recht er gehabt hatte mussten die Bewohner der Region im Jahre 2000 erkennen, als der Popocatépetl seinen größten Ausbruch seit 1802 hatte.
Das Flugzeug glitt immer tiefer ins Tal von Mexiko hinein. Maria sah mit gewisser Besorgnis die immer dichter zusammenfliegenden Maschinen, die in mehr oder weniger weiten Schleifen ihre Bahn über dem Flughafen zogen. Sie dachte daran, dass sie wohl auch eine Warteschleife überstehen musste. Doch der Pilot steuerte auf die scheinbar winzige graue Fläche mit den vielen bunten Lichtpunkten zu. Offenbar durfte die Maschine gleich landen.
Mit zwei spürbaren Hopsern berührte die Maschine den Beton der Landebahn, bevor die Räder vollständigen Bodenkontakt hatten und die Maschine ihre Geschwindigkeit bremste. Maria, die einen Fensterplatz auf der Steuerbordseite hatte, konnte zusehen, wie ihr Flugzeug hinter einem gelben Leitwagen herrollte und dann auf einer markierten Haltefläche stoppte. Die letzten üblichen Durchsagen waren gerade verklungen, als die Triebwerke ausliefen. Zahlreiche Busse, die ihre beste Zeit schon hinter sich hatten, ratterten in Bereitschaftsstellung. Vier rollbare Treppen wurden an die Maschine herangeschoben. Als diese sicher standen öffneten die Flugbegleiterinnen die Ausstiege.
Maria bereute es sofort, die klimatisierte und reine Luft der Passagiermaschine zu verlassen. Der Brodem einer Multimillionenstadt schlug ihr unverkennbar entgegen. Außerdem war die Luft sehr dünn, was an der Höhenlage von 2300 Metern über dem Meeresspiegel lag.
Zwanzig Jahre war es her, dass Maria Valdez, die damals noch Montes geheißen hatte, die Hauptstadt ihres Geburtslandes zum letzten Mal besucht hatte. Seit der Zeit war der Flughafen noch mehr gewachsen und wurde noch stärker angeflogen. Als Maria Valdez dem altertümlichen Zubringerbus entstieg drohte sie gleich in einer gewaltigen Woge von Menschen zu verschwinden, die alle in das Ankunftsgebäude hinein wollten.
Über eine Stunde dauerte es, bis sie ihren weinroten Hartschalenkoffer wiederhatte, den sie in Denver aufgegeben hatte. Nun folgte das leidige Spiel mit der Zollabfertigung. Da Maria äußerlich und sprachlich eindeutig als hier geborene erkannt wurde hoffte sie auf eine schnellere Abfertigung. Doch sie musste geschlagene zwanzig Minuten erzählen, was sie aus den Staaten in Mexiko einführte und ob dabei nicht etwas war, dass sie hier verkaufen wollte. Fast hätte sie gesagt, dass sie ein Kilo Kokain im Koffer habe, da hier in Mexiko Bedarf bestehe. Doch sie hütete sich vor einer derartigen Äußerung. Als sie von einer halbindianischen Zollbeamtin in einen durch Vorhang abgeschirmten Raum geführt wurde fürchtete Maria Valdez schon, sich gleich vollständig ausziehen zu müssen. Als die Zöllnerin sich ihr nun auf Armlänge näherte vibrierte Marias gganz persönlicher Talisman, das silberne Kreuz, ein uraltes Erbstück ihrer Großmutter und verströmte leichte Kälte. Die Zöllnerin starrte Maria an, als sei diese gerade in Flammen aufgegangen oder habe sich in ein abscheuliches Ungeheuer verwandelt. Aus einer Ecke des Raumes trabte ein hundeartiges Tier mit struweligem grauen Fell herbei und schnüffelte. Doch mit jedem kurzen Atemzug schien es etwas schmerzhaftes einzuatmen. Denn es zuckte zusammen und stieß kurze Winsellaute aus, bevor es ansatzlos mit eingeklemmter Rute im Rückwärtssprung in seine Ecke zurücksetzte. Das war für die Zöllnerin wohl das Signal, blitzartig eine Pistole freizuziehen und sie aus der Zugbewegung heraus auf Maria anzulegen. "Wer immer du bist, verrecke!" zischte die Zöllnerin. Da fühlte Maria, wie ihr Talisman sich kräftig gegen ihren Brustkorb drückte. Zeitgleich schossen vier scharlachrote Blitze von Maria Valdez fort. Einer hieb der bewaffneten Zöllnerin die Pistole aus der Hand. Die drei anderen trafen sie an Brustkorb und Beinen, so dass sie mit einem leisen Aufschrei an die Wand der gerade einmal drei Meter großen Kabine geworfen wurde. Der Hund oder was es war stieß ein verängstigtes Jaulen aus. Dann strahlte mondlichtfarbenes Licht von Maria aus und erleuchtete die Kabine. Die gerade ihren Mund zum Hilferuf aufreißende Frau erstarrte und verfiel in eine Haltung, als habe ihr jemand gerade ein starkes Narkosemittel verabreicht. Ebenso verfiel auch der in der Ecke liegende Hund in eine starre Haltung.
Maria hatte nicht hier und nicht jetzt damit gerechnet, diesen Vorgang zu erleben. Deshalb starrte sie verblüfft auf das graue Tier, das nun unter starken Krämpfen und Schmerzenswellen hächelnd verformt wurde. Sein Fell zog sich immer weiter in die Haut zurück. Die Schnauze schrumpfte immer mehr. Die Ohren wurden kleiner und verloren ihre spitze Form. Die Pfoten mit den scharfen Krallen bildeten sich zu Armen mit sehnigen Händen eines Mannes um, und die Hinterläufe wurden zu nackten Männerbeinen. Innerhalb von nur zwanzig Sekunden lag da, wo vorher das graue Tier gelegen hatte, ein sich unter letzten Schmerzen windender Mann mit nachtschwarzem Haar und samtbrauner Haut. Immer noch leuchtete von Marias Brustkorb aus ein Licht von gleicher farbe aber zehnmal so hell wie der Vollmond. Der silberweiße Lichtschein hielt die beiden Widersacher bewegungslos. Diese Reaktion ihres Talismans kannte Maria Valdez noch nicht. Sie wusste zwar, dass echte Werwölfe wegen ihres von dunklem Keim vergifteten Blutes nicht auf Armlänge an sie heranreichen konnten. Aber dass verwandelte Werwölfe zur Rückverwandlung gezwungen wurden kannte Maria noch nicht. Das würde sie wohl mit wem besprechen müssen, der oder die sich mit ihrem besonderen Schmuckstück auskannte.
"Ihr habt also auf mich gewartet", knurrte Maria Valdez, als sie die beiden Gegenspieler ansah. Die Frau, die immer noch in einer Art Trance an der Wand lag versuchte, etwas zu sagen. Doch sie schaffte es nicht. "Ich will wissen, wer ihr seid und was ihr hier am Flughafen zu tun habt!" sprach Maria mit unerbittlichem Ton, gerade leise genug, um keine unerwünschten Mithörer zu haben. Der mondlichtfarbene Lichtkegel verlor ein wenig an Leuchtkraft. Offenbar gab dies der ohne einzigen Handgriff überwundenen Widersacherin die Möglichkeit, sich irgendwie zu äußern. Sie keuchte wie unter einer schweren Last. Dann stieß sie halblaut aus:
"Das wird unser Land hier, wenn unsere Königin wiederkommt. Wir hörten, dass die Zauberstabschwinger aus den Staaten jemanden schicken wollten, der oder die gegen die neuen Blutschlürfer kämpfen soll. Wir hörten nur, dass sie in Muggelweltverkleidung reisen sollte. Aber dass du das bist und dass du was an dir hast, was uns so zusetzt wussten Miguel und ich nicht, sonst hätten wir dich gleich beim Eintritt in die Kabine erledigt."
"Natürlich", erwiderte Maria mit leicht verächtlichem Tonfall. Doch wie es in ihr zuging verriet sie mit keiner Regung. Ihr Auftrag war verraten worden. Irgendwer von Rabiosos Werwölfen oder dessen früherer Anführerin Lunera hatte Zugang zu einem der Zaubereiministerien, entweder dem in Washington oder dem in Mexiko-Stadt. Dabei war gar nicht geplant, dass sie mit den Zauberern und Hexen von hier Kontakt aufnahm. Sie war von ihrer Beschützerin Almadora Fuentes Celestes beauftragt worden, von Mexiko-Stadt aus in den Norden zu reisen, weil in einer verlassenen Aztekensiedlung einer der unheimlichen grauen Vampire aufgetaucht sein sollte, die schon in Chicago ihr Unwesen getrieben hatten. Dasss sie hier zwei Werwölfen der Mondbruderschaft oder dem zerschlagenen Königreich Lykotopia über den Weg lief war weder vorhergesehen noch geplant worden.
"Eure Königin? Ist das diese Lunera?" wollte Maria Valdez wissen.
"Du kennst sie? Dann musst du sterben. Was immer du an dir hast, es wird dich nicht vor allem schützen, was wir machen können", zischte der zur Rückverwandlung gezwungene Mann wütend. Da strahlte das mondlichtfarbene Licht wieder heller auf und raubte den beiden die Bewegungsfreiheit. Maria zog das silberne Kreuz unter ihrer Bluse hervor. Von ihm ging jenes Licht aus, das in dem Moment noch heller wurde, als das Kreuz frei zu sehen war. Maria fühlte eine starke Vibration und eine starke Erwärmung ihres Talismans. Ihre Aufmerksamkeit wurde jedoch von den zwei ertappten Werwölfen beansprucht, die wie unter einem heftigen Schlag zusammenzuckten und dann wie mehrere Stunden alte Leichen erstarrten. Maria erschrak über diese Wirkung. Denn bisher hatte sie immer gedacht, dass ihr Kreuz nur beschützende oder reinigende Zauberkräfte freisetzte. Dann strömte ihr der beruhigende Gedanke in den Kopf, dass ihr Kreuz die beiden nicht getötet, sondern vollständig kampfunfähig gemacht hatte, so dass Maria sich gefahrlos zurückziehen konnte. Für Maria war es, als habe sie den Gedanken selbst gedacht. Doch als sie genauer überlegte war sie sich nicht sicher, ob da nicht jemand anderes ihr diese Erkenntnis eingeflößt hatte. Dennoch ging sie davon aus, dass sie nun unbehelligt gehen konnte. Sie hielt den beiden gebannten Werwölfen noch einmal das Kreuz entgegen, was keine weitere Veränderung bewirkte. Dann steckte sie ihren Talisman wieder unter die Bluse, drehte sich um und zog den Vorhang der Kabine auf. Kaum fiel das Außenlicht wieder ungefiltert herein erlosch das magische Licht, das die Werwölfe außer Gefecht gesetzt hatte. Maria warf noch einen kurzen Blick in die Kabine hinein. Die beiden Gebannten lagen immer noch vollständig erstarrt am Boden. Sie zog den Vorhang von außen zu und ging auf den Zollbeamten zu, der sie an seine angebliche oder tatsächliche Kollegin übergeben hatte.
"Ich darf einreisen", sagte Maria Valdez. Der Zöllner sah sie erst verwundert an, nickte dann aber. Er deutete auf die Durchgangstür zur Ankunftshalle und gab ihr ihren Koffer an die Hand. Maria nickte und ging an dem Mann vorbei, ohne dass ihr Talisman auf irgendeine Art reagierte.
Mit einem klimatisierten Taxi ließ sich Maria in ihr Hotel in einem der wohlhabenden Viertel der Riesenstadt bringen. Sie bedauerte, dass sie wegen ihres magischen Schmuckstücks kein elektronisches Gerät am Körper tragen konnte. Das wäre bei jeder magischen Aktion unrettbar beschädigt worden. Deshalb zog sie aus ihrem Koffer ein kleines, silbern gerahmtes Bild einer Frau in wasserblauer Kleidung mit gelbem Hut hervor.
"Viviane, die Mission ist verraten worden", sagte sie, die gemalte Frau anblickend. Diese bewegte sich nun und sprach wie aus einem kleinen Lautsprecher klingend: "Was ist genau passiert, Maria!" Maria berichtete es und bat darum, Almadora und Madame Dusoleil zu informieren, dass womöglich ein Maulwurf oder besser ein Wolf im Schafspelz im US-amerikanischen oder mexikanischen Zaubereiministerium lauerte.
"Auch wenn du nichts böses auf deine Heimat kommen lassen möchtest, Maria, so muss ich fürchten, dass jener Verräter in den Reihen des mexikanischen Ministeriums für Zauberei sein Unwesen treibt", seufzte die gemalte, magisch belebte Frau.
"Was macht dich oder Almadora so sicher?" wollte Maria wissen, die nicht schon wieder was von Korruption und Unterwanderungen in mexikanischen Behörden hören wollte.
"Die in den Staaten haben Lykanthroskope, also Werwolfspürer. Mexiko hat sie, soweit ich von meinen Nachfahren aus den Staaten mitbekommen habe noch nicht, weil deine Landsleute sich weigern, gewisse Zugeständnisse zu machen."
"Die völlig berechtigt sind", knurrte Maria. Almadora hatte ihr erzählt, dass Cartridge mit einigen seiner Leute versuchte, die mittel- und südamerikanischen Länder zu einer panamerikanischen Zaubereiadministration zusammenzubringen, mit ihm als obersten Vorsitzenden. Woher die Eauvives das wussten wusste Maria nicht. Doch sie hatte in den Jahren, die sie mit Almadora und Vergilio zusammenarbeitete keinen Grund gehabt, an deren Worten zu zweifeln.
"Na ja, er sucht die Gunst der Stunde zu nutzen, wo so viele staatenübergreifende Mächte die Menschheit bedrängen", seufzte die gemalte Viviane Eauvive. "Aber ich werde es hinbekommen, dass doch daran gedacht wird, als Geste guten Willens ein oder zwei Lykanthroskope nach Mexiko zu schicken. Sofern der Unterwanderer ein Lykanthrop ist wird er dann schnell enttarnt."
"Und wenn es ein unbelasteter Mensch ist, der von den Werwölfen erpresst wird, für sie zu arbeiten? So was kenne ich aus meinem früheren Leben viel zu gut", wandte Maria ein. Viviane bewegte den Kopf wie zu einem Nicken.
"Pass gut auf dich auf, Maria!" gab Viviane der Reisenden noch mit auf den Weg, bevor sie ihren Kopf senkte und nach rechts unten aus ihrem Bild verschwand. Maria verstaute das Zaubererbild wieder in ihrem Koffer.
um den Schmutz und die Müdigkeit der Reise loszuwerden nahm sie eine kalte Dusche. Das silberne Kreuz blieb dabei umgehängt. Sie sah einmal mehr, wie die Wassertropfen aus der Brause davon abperlten, ohne es zu benetzen. Früher, wo sie es immer wieder zum Duschen oder Baden abgelegt hatte, war ihr das nie aufgefallen. Erst seitdem sie über seine besondere Abkunft und Fähigkeiten wusste hatte sie es nicht mehr abgelegt.
Als sie sich für das Abendessen im Hotelrestaurant anzog wählte sie den veilchenblauen Rock, den ihr Almadora zur letzten Jahresfeier ihres Namenswechsels geschenkt hatte. Wenn es sein musste, würde dieser Rock sie nach einem kurzen Wort in Sicherheit tragen. Doch durfte sie damit nicht zu nahe an Magieaufspürvorrichtungen vorbeikommen. Ihr Koffer war dagegen abgeschirmt worden, damit mögliche Ministeriumszauberer nicht mitbekamen, dass magische Dinge darin steckten.
Nach dem Abendessen zog sich Maria Valdez wieder in ihr Zimmer zurück. Auch wenn die vielen bunten Lichter der Stadt mit ihrem Glanz von Abwechslung und Vergnügen lockten lag ihr nichts daran, sich in diesen unübersehbaren Trubel zu stürzen, vor allem jetzt, wo sie wusste, dass sie auf irgendeiner Abschussliste stand, und das vielleicht wortwörtlich.
"Damit ist es amtlich, dass sie eine von ihnen ist, obwohl sie keine nach außen wirkende Zauberkraft hat", vernahm Mater Vicesima die mentiloquistische Botschaft ihres fünften Sohnes aus zweitem Leben.
"Gut, dann haltet sie unter Beobachtung, aber schön weit entfernt, damit ihr Erbstück euch nicht verpetzt oder gar genauso lahmlegt wie die beiden Lykos." schickte Mater Vicesima ihrem Sohn zurück, der mittlerweile selbst sechs Kinder gezeugt hatte, und das mit ein und derselben Hexe.
"Und was, wenn Nevados gelbe Hüte sich einmischen, Maman?"
"Reinitiieren!" war die kurze und doch so eindrucksvolle Antwort der ranghohen Hexe im Rate von Vita Magica.
"Öhm, dann fliegt vielleicht unser Agent auf, Maman", wagte ihr Gedankensprechpartner eine Widerrede.
"Die Frau ist zu wichtig. Außerdem wollen wir doch wissen, was passiert, wenn einer von denen aus der Linie mit diesen abnormen Vampiren zusammentrifft. Da würden uns Nevados Gelbhüte stören. Also befolge gütigst meine Anweisung!"
"Verstanden, Manan. Öhm, habe die beiden Lykos für eine Entsorgung präpariert. Warte nur auf deine Erlaubnis, ihnen die Todesboten zu schicken."
"Das darfst du. Werden sich schön erschrecken, dass ihre Prävention angeblich durchbrochen ist", schickte Mater Vicesima einen erheiterten Gedanken an ihren Sohn.
"Ja, wird die Mondanbeterin sicher sehr erschrecken", gedankenlachte ihr Sohn. Sie erwähnte dann noch, dass er sich einen Tag Zeit lassen sollte, damit die Auswirkung von Marias Bannzauber lange genug her sei um nicht als unfreiwilliger Helfer der beschlossenen Maßnahme zu wirken. Danach war Mater Vicesima wieder für sich alleine. Sie schmunzelte. Jetzt wusste sie zumindest, wer die früher als verschollen geglaubte Tochter Ashtarias war. Für ihren Orden war das sehr wichtig, mögliche Gegenspieler zu kennen, die aus weltfremder Humanität meinten, Vita Magica bekämpfen zu müssen.
"Und ihr bekommt mich nicht. Auch wenn du dein widerwärtiges Schmuckstück dabei hast, Hassan!" brüllte der schlanke Mann in blutroten Gewändern, als er die zehn Männer erkannte, die da vor seinem vierzig Ellen hohen Turm aufmarschierten, anngeführt von einem älteren Mann mit mehrfach um den Kopf gewickeltem Turban aus wasserblauem Stoff.
"Omar ben Faizal Al-Hamit, Lenker der unruhigen Geister, ergib dich. Wir wissen, dass du darauf ausgehst, dein Wissen in den Dienst des neuen Keimlegers dunkler Gewalten zu stellen, der im Land des Sonnenuntergangs emporsteigen will!" rief der Mann mit dem Turban und zog dabei etwas unter seinen Gewändern hervor. Der Mann auf dem Turm strengte sich an, den Anblick zu ertragen. Selbst aus dieser Entfernung hatte er den ihn peinigenden Hauch überstarker Magie verspürt, der den Widersacher umhüllte. Als der nun seinen mächtigen Talisman freizog strahlte dieser golden auf und umkleidete ihn mit ebenso goldenem Licht, das für den auf dem Turm stehenden heller als die Sonne strahlte. Er konnte nicht einen Atemzug lang hineinsehen, ohne dass es ihm in den Augen brannte und in seinem Kopf schmerzte.
"Du glaubst an den Sheitan und sein Reich. Dann geh darin ein, heuchlerischer Heilsprediger und Sohn einer zahnlosen Hündin!" brüllte der Mann auf dem Turm und hieb mit einem blau leuchtenden Kristallstab auf den Söller des Turmes ein, dort, wo in einem Kreis die Zeichen der Luft und der unbändigen Kraft des Sturmes eingeschrieben waren. Mit lautem Knall splitterte das vordere Ende des Kristallstabes ab. Gleichzeitig klafte dort, wo die Zeichen zu lesen waren, ein tiefes Loch, aus dem lautes Geheul hervordrang. Keine zwei Atemzüge später quoll blauer Dunst aus dem entstandenen Loch hervor, wuchs zu einer sich nach oben drehenden Spirale an. Dann kippte das dunstige Gebilde nach vorne und stürzte vom Turm nach unten. Dabei dehnte es sich weiter aus, wurde zu einer wolkenhaften, riesengroßen Erscheinung, die annähernd menschliche Formen aufwies. Zeitgleich drangen weitere Dunstwolken aus den Wänden des Turmes heraus und schnellten Säulen aus Sand aus dem Boden, genau zwischen den Männern, die den Turm bestürmen wollten.
"Habt ihr Hyänensöhne echt gedacht, ich würde mich euch kampf- und wehrlos überlassen?" schrillte der Mann auf dem Turm und warf den verbliebenen Rest des Kristallstabes dem Träger des sonnenhell leuchtenden Fünfzacksterns entgegen. Der Stab zerbarst im Flug zu blauen Funken. Doch aus diesen wuchsen urplötzlich fünf kleine, feurige Kreaturen, die unverzüglich auf die Belagerer losfauchten. Auch begannen die aus Luft und Sand geformten Beschützer des Turmes, auf die Feinde Al-Hamits loszugehen.
Al-Hamit schluckte jeden weiteren Triumph hinunter, als er sah, wie seine in Stein und Hohlräume gebannten Helfer von den anderen mit mächtigen Bann- und Vernichtungszaubern zurückgedrängt und ausgelöscht wurden. Vor allem das Licht des Fünfzacksterns brannte eine Bresche in die zum Angriff befohlenen niederen Dschinnen. Die aus dem geopferten Kristallstab freigesetzten Feuerdschinnen zerstoben unter blauen Blitzen, ehe sie ihren Feind erreichen konnten, um sich an seiner Lebenskraft zu mästen. Die Luftdschinnen wuchsen zwar an, gerieten jedoch in Zauber der reinigenden Winde hinein. Noch zu schwach, weil nur mit der Kraft einer dem Tode verweigerten Seele belebt, schrumpften die Luftgeister wieder zusammen, bevor sie mit durch Mark und Bein dringenden Schreien zerrissen wurden. Al-Hamit fühlte, wie der von ihm bezauberte Turm erbebte. Die in ihm gebannten Dschinnen und er waren aufeinander eingestimmt. Nun, wo die Geisterwesen aus der Welt gestoßen wurden, litt die Standfestigkeit des Gebäudes. Al-Hamit fluchte innerlich. Als er dann die ersten Risse sah, da wo das magische Leuchten des Fünfzacksterns die Turmwand traf, wusste er, dass er so gut wie verloren war. Er würde entweder mit dem Turm in die Tiefe stürzen oder im Licht des Fünfzacksternes wie im Feuer der Hölle brennen, Schmerzen an Körper und Seele leiden. Doch er wollte nicht sterben, und er würde sich auch nicht gefangengeben. Die da wussten doch gar nicht, was er wollte. Diese Narren dachten allen Ernstes, dass er sich diesem neuen Emporkömmling aus dem Land der Ungläubigen zu Füßen werfen wollte. Dabei wusste er zu gut, wessen Hauch den anderen trieb, sein dunkles Werk zu tun, und mit dem Vater aller Dämonen, ja dem Vater des Sheitans da selbst, wollte er, auch wenn er vom eigentlichen Pfad des Propheten abgewichen war und den Mächten der Vorreiche zugetan war, nichts zu tun haben.
"Ich gewähre dir die letzte Möglichkeit, dein Leben zu erhalten und deine unsterbliche Seele von allem Übel und Fehl zu reinigen, Omar Al-Hamit!" rief der Träger des Fünfzacksterns und hielt seinen Talisman bewusst dem Boden zugekehrt, so dass dessen magisches Licht nicht weiter an den Turmwänden fraß. "Steige herab von deinem Turm und begebe dich in unsere Obhut. Dein Weg ist der falsche."
"Du weißt doch gar nicht, wo ich überhaupt hingehen will, Sohn eines reudigen Schakals. Da kannst du doch gar nicht wissen, ob mein Weg falsch ist oder nicht", trotzte Al-Hamit der Aufforderung. "Und mich töten könnt ihr auch nicht. Zwar habt ihr meinen Turm entkräftet, aber mich und mein Werk habt ihr damit nicht erschüttert."
"So wählst du deine Vernichtung und die ewige Verdammnis?!" rief der Träger des Fünfzacksterns.
"Als wenn du an Allah, den Sheitan oder all die Kalifen glauben würdest, Hassan bin Ibrahim iben Davud Al-Burch kitab!" erwiderte der Mann auf dem immer stärker erbebenden Turm. "Ich bin der Nachfahre des großen Magiers und Königs Sulaiman und der großen wie wissenden Herrscherin von Sabah. Ihr Wissen und ihre Zauberkräfte sind auf mich übergegangen. In meinen Adern fließt das Blut zweier Königsfamilien. Da werde ich mich keinen Sklaven beugen, auch wenn sie göttergleiche Gaben mit sich führen."
"So sei es dein Kismet, dem Schöpfer alles lebendigen zu begegnen und von ihm deine Strafe zu empfangen", rief ein anderer Mann aus den Reihen der Belagerer. "Avada Kedavra!" Hamit hörte die Worte und musste trotz der damit verheißenen Macht grinsen. Er warf sich zu boden und drehte dabei einen goldenen Ring an seinem linken Mittelfinger. Aus dem blauen Stein des Rings wölkte grauer Dunst und schloss ihn ein. Als der grüne Blitz des jähen Todes zum Söller des Turmes hinaufschwirrte versank Al-Hamit im Boden des Turmes. Um ihn glühte für eine Sekunde ein blutroter Kreis aus magischen Symbolen. Dann berührte der grüne Blitz die Zinnen des Turmes. Diese barsten mit lautem Knall. Sogleich stand die Turmspitze in hellgrünen Flammen, die wie eine Feuerkrone den nun immer wilder erbebenden Turm zierten.
Al-Hamit stürzte derweil in einen schwarzen Schacht und rief dabei: "Ihr werdet wieder von mir hören, Morgensternanbeter!" Dann durchdrang er das liegende Zauberportal, dass er auf der ersten Ebene des Turmes errichtet hatte. Damit löste er auch die schlagartige Vernichtung seines Gebäudes aus.
Hassan ben Ibrahim iben Davud Al-Burch Kitab wollte seinem Mitstreiter noch zurufen, nicht die dunkle Macht des schnellen Todes zu wecken, als dessen Zauber auch schon seinem Ziel entgegenflog. Als er die grünen Flammen sah und wie aus einem tiefen Schacht oder uralten Grabmal Hamits letzte Botschaft hörte und fühlte, wie sein Fünfzackstern wild erzitterte, wusste er, dass sie alle gerade in tödlicher Gefahr waren. Yussufs Todesfluch hatte sicher einen Selbstvernichtungszauber erweckt. "Alle zurück zum Haus!" Rief er und sah zu, wie seine Leute sich blitzartig drehten, um den Tausendmeilenschritt zu tun, wie sie die zeitlose Reise zwischen zwei Orten nannten. Hassan sah gerade noch, wie der Turm mit Urgewalt in einer Wolke aus glühenden Trümmern auseinanderplatzte. Die Trümmer jagten wie vom Himmel niederstürzende Sterne auf ihn zu, umschwirrten ihn. Sie hätten ihn sicher auch getroffen, wenn sie nicht mit einem Rest der zerstörerischen Magie erfüllt gewesen wären, die den Turm zersprengt hatte. So prallten sie von der Umhüllung heilender und beschützender Zauberkraft ab, die Hassan weiterhin umgab. Er sah nur noch, wie der Turm restlos zu glühenden Gesteinsbrocken zerfiel. Einer seiner Leute hatte es nicht schnell genug geschafft, den Tausendmeilenschritt zu gehen. Eines der Trümmerstücke traf ihn voll an der Brust und ließ ihn glutrot aufleuchten. Er stürzte von der Wucht des Treffers zu Boden und blieb liegen. Hassan wusste, dass er dem Bruder nicht mehr helfen konnte. Doch die anderen waren entwischt, ja aber auch der Lenker der Dschinnen, der meinte, der rechtmäßige Erbe Sulaimans und seiner adeligen Gefährtin zu sein und daher Meister der Menschen und Geister zu werden. Ja, jetzt erkannte Hassan seinen Irrtum. Dieser Mann hätte sich niemals wie Alcara einem Zauberer aus dem Abendland unterworfen, selbst wenn dieser den Grundstoff der Lebensfeindlichkeit in seinen Adern trug und dadurch um ein vielfaches Stärker dunkle Künste ausführen konnte als andere. Hamit war entkommen, wohin wusste Hassan nicht. Er hätte befehlen sollen, nicht den Todesfluch zu wirken. Die Anrufung des Heilssterns hätte Hamit von aller dunklen Macht gereinigt, auch wenn er dadurch seinen Körper verloren hätte. Jetzt aber war der Feind fort und würde auf seine Vergeltung hinarbeiten. Ja, und der Feind kannte seinen vollen Namen. Es war schon schlimm genug, dass eine mächtige Feindin ihm seinen Sohn geraubt hatte, der einmal sein Erbe sein sollte. Doch nun musste er noch auf einen weiteren mächtigen Feind achten.
Als Hassan wusste, dass hier nichts mehr zu gewinnen war wechselte er selbst in das Haus des Sechserrates über, wo die von ihm erwählten Brüder und Kundigen der Dschinnen bereits eingetroffen waren.
"Brüder im Zeichen des blauen Morgensterns, wir haben die Schlacht verloren. Auch wenn wir die Wächter des Dschinnenmeisters niederkämpfen konnten, seiner selbst wurden wir nicht habhaft", stellte Hassan entgegen aller üblichen Regeln frei heraus fest. "Es ist zu fürchten, dass er irgendwann neue Pläne ins Werk setzt und damit uns und allen Menschen, die zu schützen wir gelobt haben, in Dunkelheit und Unheil stürzen wird."
"Warum hast du ihn auch mit dem Ruf des schnellen Todes bedrängt, Yussuf", knurrte einer der am gescheiterten Angriff beteiligten. "Du weißt genau, dass von bösem nur böses gezeugt werden kann."
"Ja, und wer einen Schakal besiegen will sendet einen Löwen aus", grummelte Yussuf. "Und wer den Löwen niederstrecken muss, weil dieser zu gierig wird, muss ihn mit Speer oder tödlichem Pfeil fällen."
"In seinem Geisterturm steckte eine zerstörerische Kraft, die dein Fluch geweckt hat, Yussuf", erwiderte Hassan. "Mein Heilsstern hat diese Kraft schon erspürt. Ihr hättet mich die überlieferten Worte von Liebe und Leben ausrufen lassen müssen, um alles in Rufweite von böser Kraft freizumachen."
"Ich hätte ihn getroffen, wenn er nicht im Boden versunken wäre. Der Sheitan hat ihm wohl den Weg geöffnet", sagte Yussuf.
"Selbstverständlich", grummelte Hassan. "Doch wie wir es drehen und bereden, so hilft es nichts, wenn wir nicht wissen, wohin uns Al-Hamit entkommen ist. Ich werde die anderen fünf des Rates zusammenrufen, auch um den jungen Jophiel auf das Erbe seines Vaters zu verpflichten.
Er wollte gerade in den Raum der fernen Rufe gehen, wo die gläsernen Gefäße hingen, deren Klang die fünf anderen erreichen konnte, da traf durch einen der fünf weiteren Zugänge ein kleiner, rundlicher Mann im wasserblauen Gewand ein. Er keuchte außer Atem und verneigte sich vor Al-Burch Kitab. Dann stieß er aus:
"Es ist wahr, die Schläferin bei der schwarzen Pyramide muss erwacht sein, großer Ratssprecher."
"Woher weißt du dies so genau?" wollte Hassan wissen.
"Ich bin den Gerüchten gefolgt, die über ihre Wiederkehr verbreitet wurden und konnte ergründen, dass sie leider wahr sind. Die unter verhüllter Sonne geborene ist wiedererwacht und das wohl schon vor einiger Zeit. Wehe uns, wenn sie ihre alte Macht wiedererlangt!"
"Dann sind es nun ihrer drei, die wieder umgehen", seufzte Hassan. "Hinzu kommt jener, der den Stoff aus gewaltsamem Tod an sich genommen hat, sowie die Bluttrinker, die in Schattenstrudeln verschwinden können, wenn sie nicht mehr siegen können. Ja, Yassins Befürchtung droht sich zu bewahrheiten. Die uralte Prophezeiung erfüllt sich immer weiter."
"Er hätte den Erben des alten Wissens damals nicht so in Furcht versetzen dürfen und mit seinen Getreuen deiner weit entfernten Schwester nach dem Leben trachten dürfen. So können wir ihn nicht mehr auf unsere Seite holen, ohne ihm Gewalt zuzufügen."
"Und das dürfen wir auch nicht, weil er durch Yassins Tat und dem Opfer Aurélies in den Leib meiner Vormutter eingeschlossen wurde wie ihr leibliches Kind, um als solches wieder daraus in die Welt geboren zu werden. Damit hat Yassin genau das getan, was die Prophezeiung vorhergesagt hat. Wenn die Angst und die Liebe den sechsten Sohn der alten Mutter des Lichtes zeugen, so wird die Zeit des dunklen Königs nahen. Yassin war ein Narr, auch wenn ich ihn selbst in den Rat berufen habe", stieß Hassan verärgert aus.
"Was tun wir nun wegen der Wiedererwachten Brut der dunklen Gebärerin?" wollte der eingetroffene Morgensternbruder wissen.
"Das was wir tun können und tun müssen. Wir jagen sie und jeden, den sie zu ihrem Sklaven machen wird", seufzte Hassan. Ihm war nicht wohl dabei. Vor vielen Jahrhunderten hatten seine Vorfahren Tarlahilia in ihre Wohnhöhle getriebenund in den langen Schlaf gezwungen. Zehn Morgensternbrüder waren dabei in einer unbändigen Hitzeentladung zu Asche verbrannt. Nur die Vorfahren Hassans und Jophiels hatten sich und vier andere mit der Macht ihrer Heilssterne geschützt und den scheinbar endgültigen Sieg errungen. Sollten also das Opfer der Zehn, deren Namen in der Halle der gefallenen Helden von den Wänden glühten, völlig umsonst gewesen sein? Daher musste Jophiel unbedingt die letzten Weihen erhalten, um das Erbe seines Vaters vollkommen anzutreten. Hassan ärgerte sich, dass er Jophiel nicht gleich nach dem Tod seines Vaters alles erzählt hatte. Doch die Gesetze der Bruderschaft verlangten, dass zwölf Monde gewechselt haben mussten, um den Erben zu bestätigen. Nur weil er den anderen Stern erhalten hatte hieß das nicht, dass er wirklich seiner würdig war. Als er an den Mond dachte fiel ihm noch was ein:
"Ich finde, wir sollten die verlorenen Töchter aufsuchen und sie bitten, ihrer engstirnigen Haltung zu entsagen und sich mit uns gegen alle Feinde der Menschen zusammenzuschließen."
"Die alte Fehde wird nicht vergessen, nur weil wir von der Bruderschaft unsere Feinde nicht mehr alleine zurückschlagen können, und genau das werden die grünen Hurentöchter von uns denken und sich niemals unserem Wort und Willen unterwerfen", knurrte Hassans Gesinnungsbruder.
"Wir haben Aurélie Odin, die aus dem Lande der Franken stammende Zauberin in unseren Reihen willkommen geheißen. So hege ich Hoffnung ..."
"Ja, und sie hat uns in die größte Gefahr überhaupt gestürzt", schnitt Hassans Gesinnungsbruder dem Meister ganz respektlos das Wort ab. "Kein anderer aus dem Rat wird dir folgen, wenn du darum bittest, die verlorenen Töchter um Frieden und Beistand zu bitten, vor allem wo nicht nur ich einen meiner Erben wegen dieser grünen Hurentöchter in Ungnade habe stürzen sehen müssen. Die magische Welt würde uns nicht mehr vertrauen."
"Ich verzeiehe dir deine Aufsässigkeit mir gegenüber, weil du gerade von schlimmen Dingen erfahren hast, Hussein. Doch noch einmal wirst du mich nicht in meinen Worten unterbrechen", schnaubte Hassan. Doch so ganz sicher, dass er überhaupt noch Macht und Anerkennung besaß war er nicht mehr. Nur der von ihm getragene silberne Stern Ashtarias hielt seinen Führungsanspruch am Leben, nicht mehr und nicht weniger. Jophiel mochte ihn alsbald ungewollt um seine Stellung bringen, wenn er bessere Ideen hatte als er. Also musste Hassan bessere Ideen haben als alle anderen. Die Töchter des grünen Mondes zu einem Friedensabkommen zu bewegen war, so erkannte er nun, keine gute Idee.
In einer stillgelegten Fabrik, knapp fünfzig Kilometer nördlich des Stadtzentrums, da sollte eine unheimliche Spukgestalt ihr Unwesen treiben, hatte Maria von der gemalten Viviane Eauvive gehört. Einer von Vivianes lebenden Nachfahren hatte das nicht nur dem mexikanischen Zaubereiministerium, sondern auch den Eauvives weitergemeldet. Maria Valdez war losgeschickt worden, um die Sache zu prüfen, nachdem mehrere mexikanische Ministeriumszauberer offenbar Probleme mit dem grauen Blutsauger gehabt hatten. Offiziell wusste das US-Zaubereiministerium nichts davon. Inoffiziell war es Cartridge jedoch wichtig, den Vorfall nicht ausufern zu lassen. Wie man gegen graue Vampire kämpfen musste war dem Ministerium zwar bekannt, aber leider auch nicht immer und überall umsetzbar. Zumindest hatte eine gewisse Nancy Gordon, die Maria in ihrem neuen Wohnort besucht hatte, das so gesagt.
Maria wusste, dass moderne Vampire nicht mehr grundsätzlich nachtaktiv waren. Vor allem die neu aufgetauchten Übervampire mochten auch mal in die Sonne gehen können, ohne daran zu Grunde zu gehen. Deshalb waren ihre Sinne aufs höchste angespannt, als sie mit dem gemieteten VW Golf das Fabrikgelände erreichte. Wenn dieser Vampir wirklich hier lauerte, der seit mehr als einer Woche die Umgebung heimsuchte, dann würde er sie sicher erspüren, sei es über ihre eigene Lebensaura oder über die wesentlich stärkere Ausstrahlung ihres silbernen Kreuzes.
Sie wollte gerade den Wagen auf einen freien Platz vor dem Hauptgebäude abstellen, als ein kurzer heftiger Wärmestoß unterhalb ihrer Brüste sie zusammenfahren ließ. Gleichzeitig meinte sie, dass von rechts Gefahr drohte und trat voll auf die Bremse. Keine Sekunde später preschten zwei schwarze Harleys mit genauso schwarz gekleideten Fahrern von rechts heran. Maria brauchte die auf sie zielenden MPs nicht zu sehen, um zu wissen, dass sie gleich angegriffen werden sollte. Gleichzeitig den Gurt lösend und die Tür aufstoßend überließ sie den Wagen sich selbst. Ein schneller Sprung nach draußen. Da tackerten die ersten Salven aus den MPs in Motorhaube und Fahrgastraum. Die Scheiben platzten laut und klirrend auseinander. Maria Valdez jedoch lag auf dem Bauch und zog sich so flach an den Boden gedrückt wie sie konnte nach vorne. Über ihr und um ihr herum pfiffen die ihr geltenden Geschosse. Dann fiel ihr ein. sich totzustellen, sich um keinen Millimeter mehr zu bewegen. Das MP-Feuer hörte auf. Noch ein paar vereinzelte Querschläger schwirrten herum. Doch die konnten ihr nicht mehr gefährlich werden.
Die Motorräder knatterten näher. Die zwei Banditen stoppten auf Höhe des Wagens. Die zwei Gangster saßen von ihren schweren Maschinen ab und traten an den Wagen heran. "Eh, die Schlampe ist rausgesprungen. Kein Blut und nix!" hörte Maria die durch den geschlossenen Helm gedämpfte Stimme von einem der zwei. Dabei stand der gerade mal zwanzig Meter von ihr entfernt. Doch er sah sie offenbar nicht.
"Die kann nicht weit kommen, Rojo. Die erwischen wir zu Fuß!"
"Geht klar, Blanco!" tönte der zweite Gangster. Dann hörte Maria die Schritte schwerer Stiefel näherkommen. Ihr Herz schlug ruhig weiter, als sei sie sich absolut sicher, dass ihr hier und jetzt nichts passieren konnte. Die zwei Gangster näherten sich ihr bis auf einen Meter. Dann hörte Maria die schweren Stiefel auf Höhe ihres Kopfes. Sie verharrten nicht. Die Schritte entfernten sich eilig. Die zwei hatten sie schlicht nicht gesehen. Da fiel Maria wieder ein, was sie vor dem Purpurhaus von Muddy Banks schon erahnt hatte: Ihr Kreuz verbarg sie vor feindlichen Augen. Allerdings durfte sie sich nicht bewegen, um diesen Schutz aufrechtzuhalten. So hörte sie nur zu, wie die zwei Gangster in Richtung des Gebäudes liefen, wo sie meinten, die flüchtende Beute zu stellen. Dann bekam Maria mit, wie aus den Jägern schlagartig Opfer wurden.
Ein eiskalter Schauer durchpulste sie vom Brustkorb her, und ein wildes Vibrieren unter ihren plattgedrückten Brüsten alarmierte sie, dass etwas fremdes, wohl gefährliches in der Nähe war. Dann hörte sie den einen Gangster laut aufschreien. Der zweite feuerte seine MP ab, was sie nur am Schwirren der Kugeln hören konnte, die von der Betonwand zurückprallten. Diese Banditen hatten echt Schalldämpfer aufgeschraubt. Doch die Schreie des ersten Gangsters waren für Maria viel bedrohlicher als die Salven seines Kumpanen. Dieser rief dann noch: "Hurenscheiße, der ist kugelsicher. Rojo, lass dich von dem nicht ..."
"Klappe!!" brüllte eine von keinem Helm gedämpfte Männerstimme dazwischen. "Weg mit der Bleischleuder!" blaffte der dritte. Maria befand, dass sie jetzt doch wieder lebendig sein sollte, wenn sie verhindern wollte, dass jemand starb, auch wenn derjenige zuerst auf sie geschossen hatte. Sie stieß sich mit Armen und Beinen gleichzeitig nach oben, kam innerhalb einer halben Sekunde auf die Füße und dankte einmal mehr ihren strengen Ausbildern beim FBI, die immer auf bestmögliche Körperertüchtigung bestanden hatten.
Ein Blick nach vorne genügte ihr, um die Lage zu erfassen. Da waren die zwei Motorradbanditen. Der eine wurde von einem hünenhaften, nackten Mann mit grauer Hautfarbe umklammert. Der zweite zielte auf den Kopf des grauen mit der zerzausten Mähne und feuerte aus nächster Nähe auf ihn. Das war sein letzter Fehler. Denn die abgefeuerten Geschosse prallten von dem grauen Angreifer ab und schlugen durch Helmvisier und Motorradjacke in Kopf und Körper des Banditen ein. Maria sah, wie die Geschosse von weit spritzenden Blutfontänen begleitet aus Hinterkopf und Rücken austraten. Der Anblick erschauerte sie. Doch da war noch der eine Bandit, der gerade von dem unheimlichen Grauen zu Boden gestoßen wurde. "Schade um das verschwendete Blut!" hörte Maria den Grauen ausstoßen. Dann sah sie die silbernen Fangzähne im weit aufgerissenen Mund des Angreifers. Doch der von ihm gefangene Gangster trug immer noch Helm und Lederkombi. So einfach konnte der abnorme Blutsauger sich also nicht an ihm zu schaffen machen. Maria lief los, zog dabei ihr Silberkreuz frei, das immer noch wild vibrierte und von einer blutroten, flirrenden Aura umhüllt wurde.
Der Vampir riss dem Gefangenen mit einem schnellen Handgriff den Reißverschluss auf und rupfte ihm förmlich die Jacke vom Körper. Dabei hielt er den Anderen mit der freien Hand am Boden. Der Bandit trat und hieb um sich. Doch genausogut hätte er gegen einen voll aufgepumpten LKW-Reifen mit Stahlgürtel hauen und treten können. Unbeeindruckt von der Gegenwehr des überlebenden Motorradfahrers packte der graue Vampir den Helm des Gangsters und versuchte, ihn vom Kopf zu reißen. Doch das gelang nicht so einfach. Maria stürmte auf ihn zu, bereit, ihm ihr machtvolles Erbstück entgegenzustrecken, dessen blutrotes Leuchten immer heller wurde und ihren Körper mehr und mehr einhüllte.
Offenbar sah, hörte oder spürte der graue Vampir die nahende Feindin. Er ließ einen Moment von dem Gefangenen ab und baute sich vor Maria auf, die Augen weit aufgerissen. Maria hatte gelernt, dass Vampire ungeschützte Menschen mit ihrem Blick bannen und unterwerfen konnten, soweit stimmte Bram Stokers Erwähnung über die Kräfte eines Vampirs. Als sein Blick ihren traf stemmte sie sich innerlich dagegen, gleich von einer hypnotischen Kraft überwältigt zu werden. Doch dazu bestand kein Anlass. Denn ihr Talisman strahlte noch heller auf, jetzt im Farbton einer aufgehenden Sonne gleich. Um Maria leuchtete eine ihre Körperformen nachzeichnende Aura, und sie fühlte wie das vor ihrem Brustkorb hängende Kreuz ruckte und zukcte. Eine magische Hypnose verspürte sie nicht. Im Gegenteil. Der Vampir wandte seinen Kopf ab, als habe er gerade in die gleißende Sonne geblickt. Er schrie vor Schmerz auf. Doch dann überwog seine Blutgier die magische Gegenwehr. Er ließ den noch lebenden Motorradgangster am Boden liegen und stürmte auf Maria zu. Diese wollte erst zurückweichen. Doch dann kam ihr der blitzartige Einfall, sich nicht zu bewegen. Der Vampir rannte weiter auf sie zu. Es fehlten nur noch zehn Meter. Dann waren es nur noch fünf.
"Was immer das ist, dein religiöses Spielzeug, das wird mich nicht aufhalten, Weibchen!" fauchte der Vampir und sprang aus dem Lauf heraus los. Maria zuckte keinen Millimeter zurück, als der Vampir aus drei Metern entfernung auf sie zuflog. Unvermittlt erlosch die sie umstrahlende rote Aura. Besser, sie wurde zu einem gebündelten, blutroten Lichtstrahl, der den Vampir im Sprung am Bauch traf. Maria hatte es einmal erlebt, dass ein echter Vampir von so einem Lichtstrahl zurückgeschleudert worden war. Doch was jetzt passierte war für sie völlig neu.
Der auf sie zufliegende Vampir wurde in der Luft abgestoppt. Der ihn treffende Strahl breitete sich blitzartig aus, wurde zu einer blutroten Wolke, die ihn umfing. Aus der Wolke wurde innerhalb eines Lidschlags eine rötliche, durchsichtige Sphäre. Der darin eingeschlossene Vampir schrie. Seine Stimme wurde jedoch von der magischen Blase gedämpft. Sie drückte seinen Oberkörper und seine Beine zusammen, so dass er unfreiwillig in eine Art Fötushaltung verfiel. Maria fühlte das Kreuz pulsieren und erkannte nun den daumendicken Lichtstrahl, der aus dem Zentrum ihres Talismans bis zu der Lichtkugel hinüberreichte und genau im Takt ihres Herzschlages pulsierte. Der Gefangene Vampir schrie weiter. Jetzt konnte Maria schwarze Dunstwolken sehen, die aus seinen Ohren, den Nasenlöchern und dem weit aufgerissenen Mund entströmten. Doch als diese die Innenfläche der rötlichen Lichtblase trafen, wurden sie zu goldenen Funken, die wie bei überschlagenden Entladungen in den Körper des Vampirs zurückflogen.
"Herrin, große Mutter der Nacht, hilf mir!" hörte Maria den Gefangenen flehen. Tatsächlich sah sie nun auch von außen schwarze Schlieren, die die Leuchtblase trafen. Doch wie der aus dem Vampir entweichende Dunst zerstoben die Schlieren zu goldenen Funken, die in alle Richtungen davonsprühten.
Der in seinem magischen Gefängnis steckende Vampir versuchte, die Blase durch Körperkraft zu zerreißen. Doch das verstärkte nur den Austritt schwarzen Qualms, der zu goldenen Funken wurde. Und jetzt konnte Maria auch sehen, dass die Haut des Gefangenen immer heller wurde. Mehr noch, der Vampir schrumpfte ein, je mehr Funken ihn trafen desto schneller. Im Moment dachte sie nicht daran, dass der eine Motorradgangster noch lebte und ihr gefährlich werden konnte. Im Moment gab es nur den grauen Vampir und sie. Doch der graue Vampir war nicht mehr grau, sondern bleich wie Kreide und maß statt der einen Meter neunzig nur noch knapp einen Meter dreißig. Er schrumpfte nicht nur einfach, sondern er wurde immer jjünger. Immer noch trat schwarzer Dunst aus Ohren, Nase und Mund aus. Doch auch aus dem Unterleib waberte der unheimliche Dunst, der bei Berührung der Leuchtblase zu goldenen Lichtfunken wurde. Je mehr von dem Dunst freigesetzt wurde, desto mehr Funken entstanden, desto schneller vollzog sich der unheimliche Verjüngungsvorgang. Innerhalb von nur einer einzigen Minute gewann der Vampir auf diese Weise mehr als dreißig oder vierzig Lebensjahre zurück. Seine Haut war längst wieder rosigrot, wie die eines vollständig weißen, unbelasteten Erdenbürgers. Mit vor angst weit aufgerissenen Kinderaugen blickte sie der gefangene Vampir von goldenen Funken umschwärmt an. Jetzt war der Gefangene nur noch ein zweijähriger Junge. Zehn Sekunden später war er nur noch ein halbes Jahr alt. Dann verflogen die letzten goldenen Funken. Kein weiterer Qualm trat aus ihm aus. In der Leuchtblase hing nur noch ein laut schreiendes, gerade wohl erst geborenes Baby. Völlig geräuschlos zog sich die Leuchtblase um den derartig zurückverjüngten zusammen, drang in ihn ein und erlosch. Wie eine Feder sank der Zurückverjüngte zu Boden. Als er wieder auf der Erde lag erlosch auch der bis dahin pulsierende Lichtstrahl aus Marias silbernem Kreuz. Jetzt lag da nur noch ein laut und flehend schreiender Säugling ohne einen einzigen Zahn. Maria fühlte das Verlangen, den von ihr unbeabsichtigt verjüngten an sich zu nehmen. Sie ging auf den von ihr überwundenen Vampir zu, wobei sie genau darauf achtete, wie ihr Talisman reagierte. Doch es kam keine neue Warnung oder gar Abwehrreaktion. Um ganz sicher zu sein legte sie dem wiederverjüngten Vampir das Kreuz auf den nackten Bauch. Dabei sah sie genau hin. Der Bauchnabel war bereits vollständig verheilt. Sie nahm den Säugling hoch und stand einen Moment lang unschlüssig da. Sie sah in Richtung ihres Autos. Die Einschüsse im Motorblock und die vier zerfetzten Reifen verrieten ihr, dass damit nichts mehr anzufangen war. Dann fiel ihr siedendheiß ein, dasss da ja noch der erste Motorradgangster sein musste. Der hätte sie doch glatt aus sicherer Entfernung erschießen können. Doch als sie sich umsah war der andere nicht mehr da. Er hatte seine Jacke und wohl auch die Waffe des toten Kumpanen an sich genommen und war verschwunden. Doch sein Motorrad hatte er zurückgelassen.
Maria dachte daran, das sie mit einem nackten Säugling sicher nicht auf einem Motorrad durch den chaotischen Stadtverkehr von Mexiko-Stadt fahren wollte. So blieb ihr doch nur der schnelle magische Rückzug. Sollten doch die Gedächtnisumpoler des Zaubereiministeriums ihre Sachen aus dem Hotel holen und gleich alle Zeugen vergessen lassen, dass sie in der Stadt gewesen war.
Der Gangster, der sich Rojo hatte nennen lassen starrte wie gebannt auf die sich ihm bietende Szene. Der überstarke Mistkerl, der wie eine bleigrau angemalte Ausgabe Draculas aussah, hing in einer roten Lichtblase und wurde immer jünger. Das war kein Trick irgendeines Zauberkünstlers à la David Copperfield oder Harry Houdini. Das war echte Magie, Teufelswerk oder göttliche Kraft, die den grauen Vampir regelrecht umformte. Er wollte gerade seine Waffe greifen, um die Frau mit dem Silberkreuz zu erschießen, wenn der Vampir oder was er war ganz und gar zum Ungeborenen oder zur Eizelle zurückgeschrumpft war. Da flutete eine unbändige Glückseligkeit sein Bewusstsein und schwemmte alle Gedanken fort.
"Nimm deine Waffe und die von deinem Kumpan und lauf nach Norden weg!" drang die Stimme einer Frau in seinen Kopf. Durch den Glücksrausch fand er keine Möglichkeit, sich gegen den Befehl zu wehren. Er führte ihn aus. So leise er konnte eilte er mit der Waffe seines toten Kumpels davon und überließ die Fremde und den zum Kind zurückschrumpfenden Vampir sich selbst.
Er lief und lief weiter und weiter fort. Dann erfolgte ein weiterer Befehl: "Jetzt stehenbleiben!" Er gehorchte. In dem Moment, wo er anhielt hörte er ein leises Schwirren hinter sich und warf den Kopf herum. Doch er sah nichts. Dann war ihm, als stieße ihm jemand einen Knüppel genau zwischen die Beine. Doch er sah nichts. Er wurde regelrecht aufgegabelt. Unheimlich daran war auch, dass er sich selbst nicht mehr sehen konnte, als er hochgerissen wurde. Er fühlte, wie er gegen etwas weiches gedrückt wurde und langte nach hinten. Er berührte grob den Oberkörper einer hinter ihm hockenden Frau, die gerade so noch einen Aufschrei unterdrückte. Statt dessen erstarrte Rojo wie eingefroren.
"Fehlt mir noch, dass du mich so angrabschst", schnaubte eine mittelalt klingende Frauenstimme. Das war die, die in Rojos Kopf die Befehle gesprochen hatte.
Rojo fühlte, wie es im schnellen Flug nach oben und von der Kampfstätte weg ging. Er konnte nichts dagegen tun. Er wurde so eine ganze Minute lang transportiert. Dann kippte die Stange oder was es war nach vorne. Er bekam einen Stoß in den Rücken und rutschte ab. Ohne noch einen Laut von sich geben zu können stürzte er unrettbar in die Tiefe. Dass er sich noch einmal sehen konnte war kein Trost für ihn. Die letzten Gedanken, die er dachte waren, dass eine unsichtbare Hexe ihn auf ihren Besen gegabelt und entführt hatte, um ihn schön weit weg von seiner Zielperson auf den Boden knallen zu lassen. Dann kam der alles auslöschende Aufprall.
"Lucille, du bist ja eine ganz brutale böse Hexe", hörte die unsichtbare Besenreiterin eine amüsiert klingende Gedankenstimme.
"Hätte ich den Muggel reinitiieren sollen, Vito? Dafür sind die Ladungen zu schwer herzustellen, als sie an Muggel-Ungezifer zu verschwenden."
"Der Vampir ist übrigens komplett zum Neugeborenen zurückverjüngt worden. Diese Kreuzträgerin hat ihn sich gerade geholt und ... Drachenscheiße! Sie hatte einen WARP bei sich. Sie ist weg!" empfing Lucille die Gedankenstimme ihres derzeitigen Gefährten, mit dem sie bisher sechs Kinder hinbekommen hatte.
"Wird deine Maman nicht gerade freuen, dass du sie hast entwischen lassen, Vitolino!" gedankenfeixte Lucille.
"Pass mal lieber auf, dass sie dich und mich nicht zu vier Runden auf dem Karussell verdonnert. Aber konnten wir ja nicht wissen, dass sie einen Portschlüssel mit hat."
Eine halbe Stunde später hatte Mater Vicesima einen genauen Bericht über den Ablauf der Beobachtungsmission.
"Sie ist keine Hexe, die disapparieren oder auf einemBesen flüchten kann. Natürlich haben ihre Beschützer ihr einen WARP überlassen", polterte Mater Vicesima. "Aber ich darf euch deshalb keine weiteren Vorhaltungen machen. Was hätte sie auch sonst tun sollen, mit dem von ihr reinitiierten Übervampir auf einem der Brennstoffmotorzweiräder wegfahren? Irgendwann wird sie wohl wieder auftauchen. Zumindest seid ihr zwei nicht aufgeflogen."
"Und was jetzt?" wollte Lucille wissen.
"Jetzt wissen wir zumindest, dass diese angeblich so überstarken Vampire von einem Gegenstand Ashtarias reinitiiert werden können. Da diese Gegenstände nur in den Händen ihrer rechtmäßigen Erben ihre Macht entfalten können wir Maria Valdez nicht aus der Welt schaffen. Sie ist zu wichtig im Kampf gegen diese neue Brut. Öhm, die zwei Lykos, die ihr am Flugmaschinenlandeplatz aufgelauert haben wurden mit dem Antilykanthropenmittel behandelt. Das sollte ihren Auftraggebern sehr zu denken geben."
"Und was sollen wir tun?" fragte Vito seine Mutter.
"Eure Pflicht dem Orden gegenüber erfüllen", antwortete Mater Vicesima und disapparierte ohne weiteres Abschiedswort.
Maria Valdez landete in ihrer Wohnung in Misty Mountain, wo sie Vergilio Fuentes Celestes sah, der zusammen mit Mrs. Springwater, einer hier lebenden Verwandten auf Marias Tochter Marisol aufpasste. Sie berichtete, was ihr passiert war. Dabei legte sie den wiederverjüngten Gegenspieler auf ihr Bett. Laverne Springwater half Maria dabei, ihn zu wickeln. Laverne hatte selbst vor vier Monaten eine Tochter bekommen und konnte deshalb schnell aushelfen.
"Und das war echt einer dieser grauen Vampire, die in Chicago aufgetaucht sind?" wollte Laverne Springwater wissen. Maria Valdez bestätigte das. Sie erwähnte noch einmal, dass sie nicht darauf gefasst gewesen war, dass ihr Silberkreuz diese Art von Zauber aufbauen konnte.
"Das wäre eine überprüfenswerte Sache, ob Ihr Schmuckstück jeden Vampir auf diese Weise "heilt"", meinte Laverne Springwater mit mütterlichem Lächeln.
"Dann hätte es dies schon mal tun müssen, als ich mehreren echten Vampiren begegnet bin", erwähnte Maria. Vergilio nahm die Anregung jedoch auf und meinte, dass es wirklich mal zu prüfen sei.
Um Mrs. Springwater nicht als Aushilfsamme für ein Kind mit fragwürdiger Entstehungsgeschichte anzustellen wurde der Wiederverjüngte in das Honestus-Powell-Krankenhaus gebracht, wo er von den dortigen Heilern und Verwandlungsexperten aus dem Ministerium untersucht werden sollte. Da Marias besondere Abstammung und Befähigungen das dritthöchste Geheimnis im Ministerium waren wurde sie in Anwesenheit der Fuentes Celestes-Geschwister von je einem ranghohen Beamten aus den Abteilungen für Kontakte in die magielose Welt, eigenständig denk- und handlungsfähige Zauberwesen und magischer Strafverfolgung verhört. In der Zwischenzeit beschafften zwei dienstbare Helfer Marias Sachen aus dem Hotel in Mexiko-Stadt und modifizierten die Erinnerungen aller Zeugen, die sie bei der Einreise gesehen hatten. Dabei kam auch heraus, dass die zwei Werwölfe, die Maria aufgelauert hatten, wohl dem bleichen Tod, den Erregern der Vita-Magica-Truppe, zum Opfer gefallen waren. Damit stand fest, dass jene höchst anrüchige Geheimgesellschaft, die die Vermehrung magischer Menschen vorantreiben wollte, Maria wohl schon länger beobachtet hatte.
"Ich denke mal, wir zwei gehen doch noch mal zu Antoinette und klären, ob du wirklich weiterhin mit diesen lauten, von vielen Leuten besetzten Düsenvögeln verreisen sollst, wenn du für uns und deine Tochter in den Einsatz gehst."
"Ich weiß, was du meinst, Almadora. Doch Antoinette hat es mir schon angeboten, als die Sache mit Itoluhilas Schwestern passiert ist. Meine Antwort war damals nein und ist es heute immer noch", erwiderte Maria sehr ungehalten klingend.
"Dann darfst du nicht mehr ohne magische Begleitung verreisen, Maria. Das sage nicht nur ich, sondern wohl auch Antoinette, der spanische und der amerikanische Zaubereiminister. Die schwarzen Schlieren, die du gesehen hast, also die, die die magische Umwandlungssphäre von außen durchdringen wollten, waren eindeutig jene Magie, mit der die neue Vampirbande mal eben von einem Ort an einen anderen versetzt werden kann. Nur die Kraft deines Kreuzes hat den Transport unterbunden."
"Moment mal. Warum hat wer auch immer dann nicht versucht, mich zu entführen?" fragte Maria.
"Weil diese Transportzauberei nur mit Vampiren funktioniert", antwortete Vergilio. "Wenn sowas mit unbelasteten Menschen oder anderen Zauberwesen ginge könnte sich diese Macht jeden Gegenspieler einfangen und verschwinden lassen. Dass sie das nicht kann beweisen die Umstände, bei denen diese Art von Transportzauber schon beobachtet wurde."
"Außerdem hat Maria das Kreuz, das eine magische Ortsversetzung gegen ihren Willen verhindert", sagte Almadora.
Aron Lundi hörte seine Frau wieder im Garten singen. Ihre Stimme klang jedoch nicht wie die einer erwachsenen Frau, sondern wie die eines kleinen Mädchens, das ein orientalisches Wiegenlied nachsang. Zumindest hatte der ehemalige Wunderspieler von Le Havre diesen Eindruck. Er hatte seit jenem aufregenden Tag im April, wo seine Frau und er einen magischen Tanz mit eingefügtem Liebesakt erlebt hatten nie gefragt, was sie überhaupt angestellt hatte. Sie meinte nur, dass demnächst wohl die Erlaubnis käme, dass sie beide und das im März nächsten Jahres ankommende Kind wieder in der alten Heimat leben dürften, unbehelligt von der Zaubererwelt. Doch bisher war nichts passiert, was das bestätigte. Sang sie jetzt deshalb, weil sie noch einen Hexenzauber ausführen wollte, der ihre Wünsche erfüllen sollte?
"Euphrosyne will nicht gestört werden", sagte Loulou, eine der von seiner Frau unterworfenen und mit einer magischen Unverwüstlichkeit aufgeladenen Leibdienerinnen. Aron fühlte, dass er trotz seiner immer noch vorhandenen Begabung, an gegnerischen Leuten vorbeilaufen zu können keine Chance haben würde, Loulou und die andere auszutricksen. Auch wenn er an einer vorbeikommen würde bekäme die zweite ihn zu fassen. Sicher durften sie ihm nichts tun. Aber sie konnten ihn festhalten. So blieb ihm nur der leise Rückzug. Jeder andere Mann, da war Aron sich sicher, hätte seine Frau längst verlassen. Doch ihm fiel das nicht ein. Mit Euphrosyne hatte er seine Traumfrau und seine Wegbegleiterin gefunden, auch wenn ihm dafür missliebige Leute die Profisportkarriere versaut hatten. So blieb ihm nur, dem merkwürdigen Lied zu lauschen, ohne zu wissen, was es bedeutete und was es sollte.
"Richten Sie Monsieur Dusoleil Monsieur Vendredis Anerkennung aus!" sagte Ornelle Ventvit, als Julius an diesem Morgen in das Büro für humanoide Zauberwesen über Zwergen- und Koboldgröße kam. "Die Idee, ein Unwärmeauge in die Detektionsdrachen einzubauen, dass nicht die unsichtbare Ausstrahlung warmer Körper sondern das Schlucken von Umgebungswärme sichtbar macht, war genial. Es ist unseren Suchdrachen gelungen, zwei der erwähnten Eiskugeln zu sichten. Eine davon konnte tausend Kilometer nordwestlich der Stelle gefunden werden, wo laut Minister Shacklebolt die Verbannungsstätte gelegen hat. Ein schnell dorthin geschickter Einsatztrupp hat sie mit einem Incantivacuum-Kristall neutralisiert."
"Ob ihn das freut, dass er mitgeholfen hat, lebende Wesen zu töten?" fragte Julius. Doch er fand sogleich eine Antwort: Florymont würde alles tun, um seine Familie vor neuen Dementorenangriffen zu schützen, so wie er ja auch Millemerveilles gegen Skyllians Schlangenmenschen verteidigt hatte. Dementoren waren keine Menschen, sondern des Menschen natürliche Feinde. Jetzt, wo feststand, dass sie doch noch nicht ausgerottet waren standen sie bei allen Zaubereiministerien und wohl auch bei Geheimbünden wie Vita Magica, der Mondbruderschaft, den Spinnenschwestern und den Sonnenkindern auf der Abschussliste. Womöglich mochten die beiden nun wachen Schwestern des Abgrunds sie nicht. Vengor wollte sie ganz sicher für sich einspannen. Deshalb war es wichtig, die wieder aufgetauchten und sich vermehrenden Dementoren zu finden und entweder sicher wegzusperren oder, wenn es nicht anders ging, im Kampf zu vernichten.
"Vielleicht kann ich mit dem Satellitenanzapfprogramm, das Misses Merryweather uns geschrieben hat die Meere gezielter nach Wärme schluckenden Objekten absuchen, selbst wenn die Bildortung wohl von der Eigenmagie dieser Kugeln überlagert wird."
"Hmm, geht das?" fragte Ornelle. Julius räumte ein, das nicht sicher sagen zu können. Aber er könne es wenigstens ausprobieren. So erhielt er die Anweisung, im Computerraum des Zaubereiministeriums die Idee auf ihre Umsetzbarkeit zu prüfen und falls es gelang, damit nach weiteren treibenden Kugeln zu suchen.
Im Computerraum schrieb er, weil er ja alle änderbaren Quellcodes kannte, das Satellitenanzapfprogramm so um, dass es nicht nur nach Wärmemustern und sichtbaren Objekten mit bestimmten Eigenschaften suchte, sondern eben auch Wärmelöcher, die stärker ausgeprägt waren als Treibeis und Eisberge. Er programmierte sogar, dass wenn keine klaren Formen zu erkennen waren, davon auszugehen sein mochte, es mit einer weiteren treibenden Eiskugel zu tun zu haben, in der ein Dementor eingefroren war. Als er das Programm soweit fertig hatte testete er es.
Es war schon merkwürdig, wie der sonst als blauer Planet bezeichnete Erdball in umgekehrter Wärmebildansicht auf den großen Bildschirmen abgebildet wurde. Da wo Hitzequellen waren schien er schwarz wider, da wo kalte Strömungen verliefen leuchtete es mittelblau. Wo ein Körper war, der kälter als treibendes Polareis war sollte die Darstellung weißleuchtend sein. Doch der erste Suchlauf erbrachte kein Ergebnis. Das lag wohl auch daran, dass das Satellitenbildanzapfprogramm längst nicht alle künstlichen Späher und Wetterbeobachter abfragen konnte, ohne unnötig aufzufallen. Also griff es nur die zivilen Beobachtungssatelliten ab. Julius schrieb deshalb eine Mitteilung in englischer Sprache, dass jene Zaubereiministerien, die Drähte zu Militärs und Geheimdiensten hätten, das Programm um die streng geheimen Beobachtungssatelliten ergänzen mögen, um eine schnellere und weiträumigere Suche nach Dementorenkugeln durchzuführen. Dabei kam ihm die Idee, einzustreuen, dass damit auch kleinere Inseln, vor allem im Privatbesitz, auf mögliche Auffälligkeiten geprüft werden könnten, zum Beispiel ob sie überhaupt noch zu orten waren oder unter einer Art Nebel verborgen lagen, der nichts mit dem natürlichen Wettergeschehen zu tun hatte. Dabei streute er als reine Beispiele Längen- und Breitenangaben von zwanzig Inseln ein, die er im Internet ermittelt hatte, die rein privat genutzt wurden. Als er den Artikel freigeschaltet hatte musste er doch grinsen. Wenn die Sonnenkinder tatsächlich im Arkanet herumspionieren konnten würden bei denen sofort alle roten Lampen blinken, wenn ihre Spähsoftware die eigenen Standortkoordinaten las. Dann fiel ihm ein, was er damit eigentlich anrichtete. Im Grunde regte er die Zauberergemeinschaft dazu an, die ganze Erde zu überwachen, etwas, das ihm früher nie in den Sinn gekommen war. Fing er jetzt auch schon an, so paranoid zu denken wie die Bush-Administration in den Staaten? Doch er beruhigte sich damit, dass Dementoren keine Probleme damit hatten, die ganze Menschheit auszulöschen. Die in Garumitan erbrüteten so genannten Krieger der letzten Stunden hätten mühelos die ganze Erde entvölkert, wenn der Wächter die Stadt nicht zerstört hätte.
"Es ist nicht verwerflich, sich gegen das eigene Leben bedrohende Wesen zu wehren, Julius. Es ist nur wichtig, wie dies geschieht", hörte er Temmies Gedankenstimme in sich. Offenbar hatte seine große, geflügelte Vertraute seine Gedanken mitgehört und damit auch seine Bedenken. "Ihr könnt die in Garumitan erschaffenen Krieger nicht mehr zu euren Dienern machen, seitdem der arme, von Dunkelheit überfüllte Meister der Kraft, der sich Voldemort genannt hat, sie für sich genutzt hat und sie deshalb in die Verbannung getrieben wurden."
"Ja, jetzt werden sie sich rächen wollen. Aber das können die auch, wenn sie Vengor dienen."
"Ihm, der meint, seine eigenen Ziele zu verfolgen, indem er nach Iaxathans Wissen giert, muss Einhalt geboten werden, bevor er es schafft, meinen großen Widersacher zu finden und von diesem unterworfen wird", drang Temmies Gedankenstimme noch einmal in Julius' Bewusstsein. Er konnte ihr nur beipflichten.
Als er von der Mittagspause zurückkehrte fand er eine Antwort auf seinen Aufruf. Tim Abrahams hatte geantwortet, dass an eine derartige Satellitenausnutzung gedacht werde und June Priestley die entsprechenden Programmroutinen umsetzen wolle. Was die Inseln anginge, so wollte er eine Liste aller privat genutzten Inseln erarbeiten lassen, um zu prüfen, welche von denen von wem überwacht werden konnten. Es sei aber dringend abzusichern, dass die Eigentümer und offiziellen Nutzer der Satelliten davon nichts mitbekämen. Am Ende kämen die glatt auf dieselbe Idee, um ihre Mitmenschen auszuspionieren. Julius konnte dem nur in Gedanken beipflichten.
Patricia Straton wusste nicht, wie sie sich am besten setzen sollte. Faidaria hatte von ihr und der in einer ihrer Töchter eingebetteten Seele Brandons erbeten, weiterhin den Laptop zu nutzen, um sich über das Geschehen in der Welt auf dem laufenden zu halten. Das Problem dabei war, dass ihre beiden ungeborenen Kinder einen Großteil des Tages verschliefen und zu den merkwürdigsten Zeiten wach waren. Außerdem durften sie ihren Zugang zum Arkanet nur nutzen, wenn es in Europa Nacht war.
"So geht's", vernahm sie die neue Gedankenstimme ihrer früheren Mutter. "Wir kuscheln uns jetzt so, dass du dieses Rechnerding bequem erreichen kannst."
"Das ist aber nett, kleines", schickte Patricia zurück. Dann klang auch die auf Kleinmädchenstimme umgeänderte Gedankenstimme ihres ehemaligen Kundschafters und Schwagers.
"Ich häng zwar mit dem Gesicht knapp unter deiner Magenunterseite, aber meine kleine Schwester hält mich bei der Hand, dass wir nicht zu heftig herumstrampeln."
"Das werden wir erleben, wer die kleine Schwester wird", erwiderte die zweite ungeborene Tochter, in der der doch noch in der Welt der Lebenden verbliebene Geist ihrer Mutter neuen Halt gefunden hatte.
"So, Phoenix, ich möchte jetzt die Zugangsbefehle und ... Nicht auf die Blase!" Patricia fühlte den Druck im Unterleib und wollte gerade aufspringen, als es ihr schon warm und nass zwischen den Beinen heruntertropfte. "Glaubt ihr aber, dass ich mir noch vor euch Windeln anziehen soll, oder", knurrte sie und behob das kleine Malheur mit Reinigungszaubern und einem Schnellumkleidezauber. Dann konnte sie endlich am Computer arbeiten. Sie konzentrierte sich beim Abrufen der Arkanetdaten auf jene, die sie nach der Geburt Phoenix nennen würde, unabhängig davon, ob sie zu erst oder als zweite zur Welt kommen würde.
"Kuck mal da, Julius Latierre ist auf dieselbe Idee gekommen wie Brandon", mentiloquierte Patricia. Doch als sie dann die rot blinkenden Koordinatenreihe sah und las, dass sie zu einer von mehreren Inseln gehörte, die privat genutzt wurde seufzte sie. Doch dann überflog ein leichtes Grinsen ihren von der Schwangerschaft voller gewordenes Gesicht. "Genau in der Mitte der Liste hat er unsere Koordinaten eingefügt, angeblich wegen der Ordnung. Aber er hat sie eingefügt."
"Meinst du, Mom Patricia, dass der Typ weiß, wo unsere Insel ist?"
"Der hatte Zugang zu Garumitan und damit sicher auch wen, der ihm vielleicht über unser Versteck was erzählt hat, Phoenix. Nur darf er das wohl keinem von den anderen auf die Nase binden."
"Zeig das Faidaria, damit sie bestimmt, ob nicht doch schon Zeit ist, zu ihm hinzugehen!" gedankenforderte die wiederzugebärende Pandora Straton.
"Eigentlich müsste ich jetzt antworten, dass die Tochter auf die Mutter zu hören hat. Aber ich höre jetzt einfach auf mein Bauchgefühl", erwiderte Patricia schnippisch. Dann prüfte sie noch weitere Aufzeichnungen, bevor sie den Rechner wieder ordentlich aus dem Arkanet zurückzog.
Faidaria erfuhr sofort, dass Julius einundzwanzig Inseln erwähnt hatte, von denen auch Ashtaraiondroi mit aufgeführt war.
"Wir warten mindestens zwei Mondwechsel ab. Er soll nicht den Eindruck haben, als wären wir im Stande, diese Nachrichten mitzulesen", sagte Faidaria entschlossen. "Erst müssen wir unsere Sicherheitsvorkehrungen verbessern, für den Fall, dass uns diese übereifrigen Träger der Kraft finden können." Patricia sah ein, dass es besser war, erst einmal alles zu sichern, nicht nur gegen die Dementoren, denen sie im Grunde zwei bereits geistig ausgereifte Kinder verdankte, bevor sie einen Atemzug getan hatten.
Das würdige Landhaus mit Bootsschuppen stand direkt an der französischen Atlantikküste. Durch besondere Bezauberungen war es für nichtmagische Menschen nur ein großer, von Sand und Wellen angenagter Felsbrocken. Für Ortungsmöglichkeiten war es unauffindbar. Seit dem Wiederaufstieg des britischen Tyrannen, der sich selbst Lord Voldemort genannt hatte, umgab das Haus zudem ein Geflecht aus unsichtbaren Schutzzaubern, die es für feindliche Wesen eigentlich unerreichbar machten. Doch der größte Schutz war, dass nur eine Hexe und drei Hauselfen den genauen Standort kannten, und ansonsten nur mit besonderen Beinringen versehene Posteulen zu Armand Grandchapeau hinfliegen konnten. Eigentlich hätte der Minister damals auch den Fideliuszauber über das Haus legen können, doch dieser hätte dann womöglich den Kontakt zu allen anderen gestört.
Nathalie Grandchapeau genoss die Sommersonne auf der Terrasse. Sie trug einen auf ihre anderen Umstände zugeschnittenen Badeanzug und las ein Buch. ihr Kind, dass in diesen Tagen eigentlich zur welt hätte kommen sollen, schlief wohl gerade friedlich. Die Ministergattin machte sich so ihre Gedanken, wie sie die selbstverordnete Klausur überstehen sollte. Vor allem wusste sie noch nicht, wie sie ohne ein vorzeigbares Kind die Rolle einer jungen Mutter spielen sollte. Ihr Mann würde in zwei Wochen wieder ins Ministerium zurückkehren und die Rolle eines glücklichen, stolzen Vaters spielen müssen. Nur jene, die wussten, wie es um sie bestellt war, würden wissen, dass der kleine Demetrius Vettius noch auf sich warten ließ, nicht freiwillig.
"Ob wir zwei das die nächsten Jahre miteinander aushalten, wo wir gedacht haben, dass ich dich heute schon im Arm habe und dir in die Augen sehen kann?" murmelte Nathalie und strich sich über den gerundeten Unterbauch. Ein leises Grummeln aus der Magengegend schien wie eine Antwort. Doch das war nur wieder Hunger. Seltsamerweise nahm sie nicht mehr so stark zu wie vor dem Zauber Euphrosynes. Zumindest aber funktionierte die Verdauung noch wie sie sollte. "Dann gebe ich uns beiden noch was zu essen, Demi", säuselte sie und stemmte sich ein wenig schwerfällig aus ihrem gemütlichen Umstandssessel hoch.
Barfuß ging sie über die von der Sonne erwärmten Bodenplatten zur Terassentür, die sich bei ihrer Annäherung von selbst öffnete. Sie betrat die weitläufige Küche, in der drei Herdstellen waren. Wer hier zu Besuch kam mochte an Prunksucht oder aristokratische Protzerei denken. Doch dieses Haus war für eine Zahl von zwanzig Bewohnern gebaut worden und hatte vor zweihundert Jahren auch noch so viele beherbergt.
"Incendio!" zischte Nathalie mit auf die mittlere Herdstelle zielendem Zauberstab. Sofort loderte unter den drei freihängenden töpfen ein munteres Feuer auf. Die nächste Zauberstabgeste ließ den mittleren Topf, in dem eine würzige Tomatensuppe war, um zwei Kerben weiter nach unten gleiten, damit der Inhalt möglichst schnell erwärmt wurde. Nathalie fühlte ihre Beine schwer werden. Das konnte noch was geben, wenn das nun mehr als vierzig Jahre so weiterging, dachte sie. Da vernahm sie ein lautes Poltern, gefolgt von einem angstvoll geschrienen "Nein, doch nicht das!" Das war Armands Stimme. Sonst war ja auch keiner da.
"Armand, Chérie, was ist?!" rief Nathalie. Sie hörte jedoch nur einen weiteren, aber nicht artikulierten Schrei und dann noch einen, kürzeren, als würde ein gerade erst geborenes Kind seine ganze Angst vor dieser viel zu großen, hellen Welt hinausschreien. Nathalie zielte auf das Feuer und zischte "Extingeo!" Leise Fauchend fielen die Flammen zusammen. Im Nächsten Augenblick war Nathalie schon auf dem Weg zum Sonnenzimmer, dem Arbeitszimmer ihres Mannes auf der Landeinwärts gelegenen Seite des Hauses.
Armand Grandchapeau hatte gerade den Rundbrief an seine Mitarbeiter fertig, in dem er, anders als den an seine Freunde und Verwandten, in nüchternen Worten die Geburt seines Sohnes Demetrius Vettius verkündete, als er ein lautes Klopfen am großen Fenster hörte. Er blickte das Fenster an und sagte: "Revoco Transparentiam!" Das wegen der Sonne halb undurchsichtig gezauberte Fenster wurde wieder völlig Lichtdurchlässig. Vor dem Fenster hockte eine kleine Eule und klopfte mit dem Schnabel an die Scheibe. Armand kannte den Vogel nicht. Er wusste nur, dass außer seinen beringten Eulen kein solcher Vogel zu ihm hinfinden konnte. So sah er die kleine Eule genauer an. Doch sie trug keinen Beinring, nur einen kleinen Lederbeutel am rechten Bein.
Der französische Zaubereiminister verdrängte seinen Argwohn. Kein feindseliges Wesen konnte die Schutzzauber durchdringen. Aber wie diese Eule ohne Ring durchgekommen war bedrückte ihn doch. Dann fiel ihm ein, wo der Vogel herkommen mochte, und mehrere Gefühle wallten in ihm auf.
Wenn die Eule von Euphrosyne kam, dann hatte sie seinen Brief wohl erhört und wollte auch ihm helfen, länger zu leben. Oder sie hatte ihm eine verächtliche Antwort geschickt, dass sie seinen Zauber losgeworden war und statt sie nun er dahinwelken würde, wenn er sie nicht unbehelligt in Frankreich leben lassen würde. Oder sie hatte ihm ein anderes Angebot gemacht. Es half nichts, er musste Klarheit haben.
Armand öffnete das Fenster und ließ die Eule herein. Diese hielt ihm den Lederbeutel hin. Er betrachtete die Schnur. Sie glitzerte im Sonnenlicht golden, als sei in den Bindfaden Gold eingewirkt worden. Er überlegte, ob er den Faden nicht besser mit Zauberkraft löste. Doch der Versuch wurde mit einer blitzartig zur Seite schnellenden Eule beantwortet. Der Diffindus-Zauber verpuffte mit leisem Plopp außerhalb des Hauses an einem Felsen. Armand zog eine Schublade auf. Darin lagen silbrige, mit Antifluchzaubern behandelte Handschuhe. Doch dann fiel ihm ein, dass wenn Euphrosyne ihm den Segen des Sonnenatems zugeschickt hatte, die Handschuhe diesen vielleicht verfälschen konnten. So überwand er seinen Argwohn und löste den merkwürdig warmen Bindfaden mit dem Lederbeutel. Die Eule blickte aus ihren großen, bernsteinfarbenen Augen noch einmal zu ihn hin. Dann wirbelte sie auf der Stelle herum und sauste mit Kanonenkugelartigem Tempo durch das Fenster und auf und davon.
"Wenn du mir eine Falle gestellt hast, Mädchen wirst du dein Kind erst kriegen, wenn mein Sohn sein erstes Kind gezeugt hat", knurrte der Minister. Denn wenn sie ihm wirklich eine Falle gestellt hatte galt die magisch besiegelte Zusage nicht mehr, dachte Grandchapeau.
Er zog einen zusammengerollten Pergamentbogen aus dem Lederbeutel und entfaltete diesen. Unvermittelt überkam ihn der Drang, diesen Brief ins Sonnenlicht zu halten und zu lesen.
Mein lieber Monsieur Armand Grandchapeau,
natürlich weiß ich, dass Sie jetzt eine unbändige Wut oder gar abgrundtiefen Hass gegen mich hegen, Monsieur Armand Grandchapeau. Dass Sie nicht wie Ihre Gattin und Ihre Tochter ebenfalls in den Genuss meines Geschenkes kamen liegt daran, dass ich dort, wo ich wohne, gerade drei Eulen zur Verfügung hatte, Monsieur Armand Grandchapeau. Sonst hätte ich selbstverständlich dafür gesorgt, dass Sie ebenfalls ein langes, glückliches Leben führen können, ja vielleicht zum Bewahrer der friedvollen Zaubererwelt auf dem ganzen Planeten Erde werden können, Monsieur Armand Grandchapeau. Leider kann ich den Segen des Sonnenatems nicht auf jemanden legen, der in der Nähe von einem bereits damit belegten Wesen ist, Monsieur Armand Grandchapeau. Ich kann diesen Segen auch nicht beliebig oft wiederholen, weil ich für jeden dieser Segen einen Monat Vorlaufzeit brauche, Monsieur Armand Grandchapeau.
Um Ihnen zu helfen, mit der von mir herbeigeführten Lage zu leben und um Ihnen die Möglichkeit zu geben, Ihre Zusage mir gegenüber einzulösen, gewähre ich jedoch etwas anderes, eigentlich sogar viel wertvolleres, Monsieur Armand Grandchapeau.
Sie wünschten die Geburt Ihres Sohnes jung genug zu erleben, Monsieur Armand Grandchapeau. Sie sagten dafür zu, mir, meinem Angetrauten und jedem unserer Kinder und Kindeskinder ein friedliches Leben in Frankreich zu gestatten, Monsieur Armand Grandchapeau. So erfülle ich meinen Teil dieses Abkommens, auf dass Sie den Ihren erfüllen lassen können, Monsieur Armand Grandchapeau.
Armand Grandchapeau, Sohn von Hécube und Anaxaphylos Grandchapeau:
Auf dass du mich nicht mehr hasst
sei befreit von Leibes Last!
Ich erhöre all dein streben
vereint mit deinem Sohn sollst leben.
Sei dein eigen Fleisch und Blut,
damit schweige deine Wut.
Doch sollst du kein Stück vergessen,
was im Geiste du besessen.
So sei erfüllt der Friedensschluss,
dass ich nicht mehr bangen muss.
Trage dich dein treues Weib
wohl in seinem warmen Leib!
Wenn einst mein Kind von meinem Kind
wie dies' sein Leben dort beginnt
wo du und ich ans Lichte drangen
sollst dann auch du zur Welt gelangen.
Das uns die Heimaterde nährt
sie dir und ihm das Sein gewährt.
So ruh dich aus von dieser Welt,
bis das mein Wunsch sich eingestellt!
Armand erkannte in dem Moment, wo er zum dritten Mal seinen Namen las, dass tatsächlich ein Zauber über ihn gesprochen werden sollte. Doch wie im Rausch las er den Brief bis zu dieser sein ganzes Leben umstoßenden Segensformel. Er wollte den Brief loslassen. Doch er klebte förmlich in seinen Händen. Zudem fühlte er von dem Lederbeutel, aus dem er das Pergament gezogen hatte, einen pulsierenden Wärmestrahl. Dann sah er den goldenen Lichtbogen, der von dem Beutel zu dem Brief und zu ihm erglühte. Da kehrte sein freies Denken zurück. Er erkannte, in welche hinterhältige Falle er getappt war. Er fühlte nur noch Angst. Sich vorzustellen, in wenigen Sekunden nicht mehr frei atmen, laufen und handeln zu können raubte ihm die Fassung. Wut, aber vor allem panische Angst trieben ihn dazu, laut aufzuschreien. Doch nachdem er die ersten Worte ausgestoßen hatte stieß er nur noch kurze, schrille Schreie aus. Er wollte seine Frau rufen, sie warnen, ihr noch sagen, was er getan hatte. Doch er konnte nur noch schreien.
Catherine Brickston hatte alle Mitglieder des so genannten stillen Dienstes in ihr Haus gerufen, weil sie heute einmal alleine war. Joe war für seine Firma unterwegs und würde erst morgen zurückkehren. Claudine war im Sonnenblumenschloss bei den jüngsten Kindern Ursulines und Ferdinands. Eigentlich war das die richtige Zeit, sich von dem Familienstress zu erholen. Doch Catherine hatte zwei wichtige Anliegen, die sie unauffällig abhandeln musste.
"Ich habe euch alle, die von Julius die vier alten hellen Zauber erlernt haben hergebeten, weil ich Post von Minister Grandchapeau erhalten habe. Offenbar fürchtet er, dass er die nächste oder übernächste Wahl nicht mehr überstehen wird und möchte daher, dass wir außerhalb des Ministeriums weitermachen. Womöglich argwöhnt er auch, dass seine Mitarbeiter danach trachten, die Geheimnisse des alten Reiches zu erfahren." Belle, die es hinbekommen hatte, mit Julius einen gemeinsamen Außeneinsatz vorzugaukeln, verzog erst das Gesicht. Doch dann nickte sie. Madame Faucon, die ebenfalls einen angeblich wichtigen Auswärtstermin vor dem Schuljahresende zu erledigen hatte, nickte ihrer Tochter zu, ebenso Madeleine L'eauvite.
Catherine verlas Armand Grandchapeaus Brief und erwähnte, dass sie alle von ihm verschickten Unterlagen und auch Darxandrias Kettenhaube erhalten und in ihrem eigenen, mit mehreren Schutzzaubern belegten Kellerschrank verstaut hatte. "Er will sicher, dass wir unabhängig weiterarbeiten, wohl nur ihm solange zur Berichterstattung verpflichtet sind, solange er Zaubereiminister ist oder uns dann, wenn er sein Amt nicht mehr ausübt, entscheiden, ob wir uns seinem Nachfolger oder seiner Nachfolgerin anvertrauen wollen." Alle nickten. Julius hob die Hand wie im Schulunterricht. Catherine nickte ihm lächelnd zu.
"Minister Grandchapeau hat das nicht vergessen, wie heftig Monsieur Vendredi und andere höhere Mitarbeiter hinter mir her sind, weil sie wissen wollen, wer Ashtarias Kinder sind und ob sie von denen auch starke Zauber erlernen können."
"Das ist wohl wahr", sagte Hera Matine. "Das wird ihm zu denken gegeben haben, ob er diese Sondereinsatzgruppe wirklich dauerhaft geheimhalten kann, wenn sie mit dem Ministerium verbunden ist."
"Wo ist er jetzt eigentlich genau?" wollte Madeleine L'eauvite von Belle Grandchapeau wissen. Diese verzog das Gesicht und erwiderte sehr harsch:
"Wenn er gewollt hätte, dass das jeder weiß wäre er gar nicht erst abgereist, Madame L'eauvite. Aber weil wir hier alle ja seinetwegen zusammen sind sage ich nur, dass er und meine Mutter in einem sicheren Haus sind, wo keine bösartigen Wesen eindringen können. Weil mein Bruder dort ungefährdet geboren werden sollte bleibt meine Mutter solange dort. Mein Vater wird in einer Woche zurückkehren und uns allen verkünden, dass Demetrius Vettius in dieser Welt angekommen ist. Bis dahin hat Monsieur Montpelier die Amtsgeschäfte ..." Sie zuckte unvermittelt zusammen und kniff wie um einen kräftigen Harndrang hinauszuzögern die Beine zusammen. Sie keuchte los, bekam dabei aber merkwürdigerweise einen seligen Gesichtsausdruck, bevor sie noch einmal zusammenfuhr und dann nur noch keuchend atmete. Natürlich wollten alle hier versammelten wissen, was ihr zugestoßen war.
"Ich habe meinen Vater laut schreien hören, aber irgendwie wurde seine Stimme immer schriller und dann dumpfer. Außerdem war mir, als würde etwas in meinen Unterleib hineinstoßen und dann in mir zu heißem Wasser werden. Dabei fühlte ich mich irgendwie erleichtert, als wenn mir eine schwere Last von Körper und Seele genommen worden wäre. Ja, und irgendwie empfinde ich jetzt so, als wäre mein Vater nicht mehr da, aber nicht tot. Dass hätte sich anders geäußert. Es ist so, als wenn er jetzt tief und fest schläft."
"Das ist nicht die Wirkung jenes Zaubers, den Ihre Eltern mit Ihnen ausführten", erwiderte Blanche Faucon darauf. Sie erläuterte, dass der Viviparentes-Zauber beim Tod des Vaters dessen letzten Schmerzensschrei und eine schlagartige Abkühlung des ganzen Körpers bis knapp auf Lebensminimum bewirke und beim Tode der Mutter das Gefühl des zusammengequetscht werdens zu verspüren war. Ihr Großvater Mütterlicherseits war auch mit diesem Zauber versehen worden.
"Ja, und ich hätte auch gespürt, dass mein Vater endgültig nicht mehr in der Welt ist, eine Form von Leere", ergänzte Belle. "Aber er ist noch da, aber eben nicht mehr so frei wie vorher, als wenn ihn etwas körperlich eingeschränkt hätte. Ich muss zu dem Haus hin, um mich zu vergewissern."
"Gut, Belle, finden Sie es heraus", sagte Catherine mit ganzer Anteilnahme. Belle nickte und verfiel einen Moment in starke Konzentration. Dann sah sie erst Catherine und dann Julius an. "Meine Mutter lebt, und sie trägt meinen Bruder auch noch unter dem Herzen. Aber mein Vater wurde das Opfer seiner eigenen Verzweiflung und einer absichtlichen Fehldeutung eines Wunsches. Madame Brickston, bitte begleiten erst sie mich. Dann hole ich Julius nach. In das Haus kann nur ich hineinapparieren und niemanden Seit an Seit mitnehmen. Aber das, was wir damals unternahmen, um Julius und Mildrid Latierre herzubekommen funktioniert in gewisser Weise, sofern Sie beide sich dazu bereitfinden."
"Transport in scheinbar toter Daseinsform", meinte Julius. Belle nickte bestätigend. Catherine nickte ebenfalls und hielt den Zauberstab gegen sich. Julius, der durch den Unterricht und durch gewisse Praxis im Ministerium seine Selbstverwandlungsfähigkeiten gesteigert hatte wandte die Technik an, die seiner inneren Gegenstandsform äußere Gestalt geben sollte. Warum er wirklich die Hingezogenheit zu einem Weidenkorb hatte war ihm bis zu diesem Tag nicht klar geworden. Doch als die Verwandlung mit einem violetten Blitz erfolgte konnte Millie den großen Weidenkorb mit Henkel sehen und meinte sogar, das Gesicht ihres Mannes für einen winzigen Augenblick durch das Flechtwerk schimmern zu sehen. Catherine wurde im selben Moment zu einem schneeweißen Federkissen. Millie fragte sich, ob das ihre bevorzugte Gegenstandsform war. Was sie selbst als so genannte innere Gegenstandsform besaß hatten sie damals ja nicht herausfinden dürfen, weil sie da ja im Wochenbett gelegen hatte.
Belle machte kein weiteres Aufheben um die gewählten Erscheinungsformen. Sie nahm das Kissen, stellte fest, dass es in den Korb passte, nahm den Korb am Henkel und verließ das Haus durch die Hintertür. Hundert Meter entfernt disapparierte sie mit ihrem besonderen Gepäck.
Nathalie konnte wegen ihres Kindes nicht so schnell zum Sonnenzimmer wie sie wollte. Sie hörte noch einen schrillen Schrei ihres Mannes, als sie gerade vor der Tür ankam. Sie ließ die Tür per Zauberkraft aufschwingen und sah eine im Raum schwebende goldene Kugel, die halb so groß wie ein erwachsener Mensch war. Sie konnte in der Kugel ihren Mann sehen, der immer kleiner und jünger aussah und dabei immer geisterhafter erschien. Dann war die Kugel kleiner als ein Quaffel und erstrahlte in einem hellen Goldton. Nathalie fühlte, wie ihr vorgewölbter Unterleib auf diese schwebende Kugel zugezogen wurde und stemmte sich mit ihren Füßen dagegen. Da sauste das Gebilde aus goldenem Licht auf sie zu und schlug ganz geräuschlos gegen ihren Bauch, drang darin ein und erfüllte sie mit einem kurzen Hitzeschauer. Keinen Moment später zuckten die Beine ihres ungeborenen Kindes schmerzhaft gegen ihre Bauchdecke. Dann sah sie, dass Armands Kleidung verstreut auf dem Boden lag und erkannte auch einen Lederbeutel mit einem verkohlten Bindfaden. Zwischen den Kleidungsstücken sah sie feine, graue Asche. Unnvermittelt hörte sie ihr eigenes Herz und das des Fötus' so laut, als habe sie sich den Lupaures-Zauber auferlegt, um ihr Gehör zu verstärken. Das winzige Herz ihres ungeborenen Sohnes wummerte doppelt so schnell wie ihr eigenes. Sie hörte jeden Atemzug, als betätige sie einen großen Blasebalg. Dann ebbten die Geräusche wieder ab. Das ungeborene Kind bewegte sich, tastete um sich, wie sie fühlte, stieß mal mit einem Fuß, mal mit einer Hand an und versuchte sich zu strecken. "Ha, nicht so doll!" schimpfte sie. Darauf erfolgte eine Antwort in ihrem Geist:
"Drachenmist, sie hat es wirklich so gemacht. 'tschuldigung, Nathalie."
"Armand, bist du jetzt -?" zur Antwort bekam sie einen Stupser von innen.
"Ich hätte sie nicht drauf bringen sollen", gedankenlamentierte Armand. Seine Stimme klang jünger und dumpfer als sonst, und obwohl es seine Gedankenstimme war, konnte sie sie deutlich von ihrem Unterkörper her vernehmen, als spräche er mit körperlicher Stimme. "Ich habe sie doch nur gebeten, dass ich Demetrius' Geburt nicht als alter Mann miterleben muss."
"Ich setz mich erst mal. Versuch ruhig zu bleiben. Wir kriegen das schon wieder in Ordnung", erwiderte Nathalie und strich sich zärtlich über den Bauch.
Als sie in ihrem Umstandssessel im Salon saß empfing sie erst Belles besorgte Gedankenfrage. "Bring Catherine und/oder Julius mit, Belle! Vielleicht hilft einer dieser Zauber Ashtarias", schickte sie zurück und erwähnte, was Armand zugestoßen war.
Als Belle dann mit einem großen Weidenkorb, in dem ein weißes Federkissen steckte im Salon apparierte atmete ihre Mutter hörbar auf. Als dann das Kissen zu Catherine Brickston und der Korb zu Julius Latierre wurde vertat sie keine Zeit mehr mit langer Begrüßung.
"Euphrosyne Lundi hat meinen Mann dazu verflucht, mit unserem Sohn eins zu werden und nun in meinem Leib zu stecken, bis er ausgetragen ist. Wie stehen die Chancen, diesen Zauber umzukehren?"
"Würde ich nicht empfehlen", sagte Catherine noch vor Julius. "Zum einen ist der Zauber, den Julius Belle und mir beibrachte ausdrücklich gegen schädigendes Zauberwerk gedacht und zum zweiten sehr eigenwillig, was seine Wirkung auf lebende Wesen angeht, vor allem, wenn es zwei Lebewesen zugleich sind. Am Ende könnte es zu einer dreifachen Verschmelzung oder eine totalen Verjüngung von Ihnen und ... Ihrem Mann kommen, und Belle müsste sie beide als ihre Kinder tragen, falls überhaupt."
Julius sollte noch was dazu sagen und ergänzte: "Wenn das wieder so ein Segen der Veela ist, der Leute verjüngen kann, würde der Zauber genau das verstärken, eine Verjüngung. Dann würden Sie wohl auf den Kehrwert Ihres gemeinsamen Alters verjüngt, in jeder Hinsicht unter Umständen könnten sie dann wegen der körperlichen und magischen Verbundenheit mit Belle in deren Körper überwechseln und dort vielleicht fünf Jahrzehnte lang eingeschlossen bleiben. Was dann mit Minister Grandchapeau wird weiß ich nicht. Vielleicht verschmelzen Sie beide dann zu einer androgynomorphen Verbindung."
"Ist das sicher, dass der Zauber nicht auf zwei Lebewesen zugleich wirken darf, Catherine?" fragte Nathalie sehr ungehaltenklingend. Catherine nickte und überlegte wohl, was sie sagen sollte. Dann sah sie Julius an, um dann zu seufzen.
"Einer der Gründe, warum Professeur Tourrecandide verschwunden ist, hat damit zu tun, dass sie versucht hat, jemanden von einem Fluch zu befreien, dabei aber nicht mitbekam, dass dieser jemand beziehungsweise diese Person gerade schwanger war. Ich durfte das an und für sich nicht erwähnen, aber Monsieur Latierre hat es offenbar aus jener Quelle, wo wir die alten Zauber herhaben, als er das letzte mal dort war." Julius nickte heftig. So erwähnte Catherine, was Professeur Tourrecandide zugestoßen war und dass sie nun als Tochter der Hexe wiedergeboren wurde, die sie damals für einige Minuten in sich aufgenommen hatte. Belle und ihre Mutter erbleichten, und Nathalies Bauchdecke beulte sich einen Moment aus. Dann übersetzte Nathalie, was ihr von Armand übermittelt wurde:
"Armand möchte das nicht riskieren, dass er und ich als ungebärbare Kinder Belles in ihr verbleiben oder ich mit ihm zu einem Körper und einer Seele zusammenwachsen und womöglich zu einer bedauernswerten, weil missgestalteten und dem Wahnsinn verfallenen Kreatur werden. Er fragt, ob es möglich ist, mit Hilfe des Dexter-Cogisons nach außen zu kommunizieren, solange ich nur mit Ihnen, Belle und den anderen von diesem SerSil-Geheimkommando zusammen bin. Er bereut seinen Alleingang und empfindet sein Los als gerechte Strafe für grobe Unbedachtsamkeit und mutwillige Provokation einer bereits als skrupellos aufgefallenen Person. Wird er eben die nächste Zeit in Dunkelheit zubringen müssen und sich daran gewöhnen, mit angezogenen Beinen und gekrümmtem Rücken unter Wasser zu sein. Immerhin kann er sich schon eigenständig genug bewegen, wohl weil die motorischen Fähigkeiten von ihm mit den schwachen Fähigkeiten von Demetrius vereint wurden."
"Sage ihm bitte, dass er sehen kann, wenn du dich unsichtbar machst. Das ist mir passiert, als ich mit Midas Lothaire im achten Monat war und aus purer Neugier ausprobiert habe, ob ich mich noch unsichtbar machen kann, Maman."
"Meinst du das echt, Belle?" fragte Nathalie. Ihre Tochter nickte heftig und führte mit ihrem Zauberstab die entsprechenden Bewegungen aus. Sie wurde erst durchscheinend, dann glasartig und dann vollkommen unsichtbar. Ihre Mutter fragte, ob sie noch da sei und hörte wie die beiden Besucher ihre Stimme aus der Richtung, wo sie vorhin noch zu sehen gewesen war. Dann Tauchte Belles Körper wieder auf, erst als bleicher Schemen und dann schlagartig wieder undurchsichtig.
"Der Zauber ist leichter geworden, wohl weil diese Veela-Magie in mir wirkt", sagte Belle. Julius fragte sich, ob das wirklich leichter war, denn er konnte sich innerhalb von nur zwei Sekunden unsichtbar machen.
"Ja, aber du wirst sicher feststellen, dass dein Körper einen Widerstand dagegen aufbietet. Ich brauchte nur die Andeutungen zu machen und fühlte, wie der Zauber in mir floss, ohne dass ich die letzten drei Wörter hätte denken müssen. Womöglich kann ich das sogar instantan machen", sagte Belle und probierte es noch einmal aus. Tatsächlich brauchte sie nun nur noch eine Sekunde, um zu verschwinden und kehrte innerhalb eines einzigen Augenblicks in die Sichtbarkeit zurück. "Also doch, eine Frage der Übung", grinste Belle unpassenderweise. Doch ihre Mutter grinste auch. Sie hob ihren Zauberstab.
"Moment, nicht zu viel Licht", warnte Catherine. "Immerhin sind die Augen Ihres ... Kindes ... nicht an diese Helligkeit gewöhnt." Nathalie begriff und dunkelte mit einem Zauberstabwink die Fenster ab. Dann entzündete sie drei Kerzen. Danach bezauberte sie sich. Tatsächlich flimmerte ihre Gestalt erst, wurde immer durchscheinender und war dann schlagartig nicht mehr zu sehen. "Stimmt, es ist wie ein Strom von warmem Wasser", sagte Nathalies Stimme wie aus dem Nichts. Einige Sekunden lang hörten die anderen nichts. Dann klangen Schritte auf dem Boden. Dann hob ein Buch vom Tisch ab und schwebte zugeklappt auf einer Höhe, wo Nathalies Unterleib sein mochte. Dann klappte sich das Buch auf. Dann wuchsen die Kerzenflammen unvermittelt auf vierfache Größe und Helligkeit an. Julius fürchtete schon, dass die Kerzen unter diesem Brandverstärkungszauber gleich zu brodelnden Pfützen zerlaufen und ganz in Flammen aufgehen würden. Doch die Kerzen schrumpften nur schneller zusammen als mit üblicher Flamme. Dann klappte sich das schwebende Buch wieder zu und legte sich scheinbar von selbst auf den Tisch zurück. Die Kerzenflammen schrumpften wieder auf natürliche Größe und Helligkeit zusammen. Dann stand Nathalie wie appariert wieder da.
"Das übliche, er kann alles erkennen, was gerade zwanzig Zentimeter vor den Augen ist. Alles andere verschwimmt. Aber er will, dass ich das ab jetzt jeden Tag mache, für den Fall, dass seine Augen sich weiterentwickeln und er doch noch aus mir heraus die Welt erleben kann, wenn er schon nicht leibhaftig darin tätig werden kann."
"Mutterleib mit Ausblick", scherzte Julius und fing sich von Catherine einen tadelnden und von Belle einen irritierten Blick ein. Doch Nathalie lachte befreit. Danach aber wurde sie wieder ernst.
"Mein nun zum ungeborenen Sohn zurückverwandelter Gatte hat was von einer Vorbestimmung erzählt, wann er wahrhaftig wiedergeboren werden kann. Dieses Viertelveela-Frauenzimmer hat in ihrer scheinheiligen Verjüngungsformel eingebracht, dass er erst dann auf die Welt zurückdarf, wenn ihr erstes Kindeskind in Frankreich geboren wird und dessen Elternteil selbst in Frankreich zur Welt kam", übersetzte sie etwas, was sie aus den Tiefen ihres Leibes zugeflüstert bekam. Julius und Belle verzogen ihre Gesichter. Catherine schüttelte missbilligend den Kopf. Dann meinte Belle:
"Dann hat sie sich aber die Möglichkeit verbaut, dass mein Vater ihr die Rückreise gestattet. Denn laut Zaubereigesetzen kann nur jemand Zaubereiminister sein, der mindestens körperliche vierunddreißig Jahre erlebt hat."
"Ja, aber Sie sind seine nächste Blutsverwandte, Madame Grandchapeau, Belle", sagte Julius Belle zugewandt. Dann erklärte er, worin die perfide Logik in Euphrosynes scheinbar unlogischem Tun lag.
"Wenn ich von Léto und ihren Kindern und Verwandten was gelernt habe, dann ist es die magische Bindung des Blutes und der Abkunft. Dadurch, dass Euphrosyne Ihren Vater zu Ihrem Bruder gemacht hat verstärkt sie diese Blutsbindung. Gleichzeitig Nimmt sie Sie und Ihre beiden Kinder in die Pflicht, seinen Teil der Abmachung einzuhalten. Tun Sie es nicht, fällt die von ihm festgelegte Sühne auf Sie zurück."
"Zum einen sind wir hier unter uns. Du kannst mich also duzen, Julius. Zum anderen glaube ich dir das unbesehen. Dumm ist Euphrosyne ja nicht gewesen, wenn ich meinen älteren Saalkameradinnen glauben darf. Diese Art von zielstrebiger Durchtriebenheit passt haargenau auf ihr Wesen. Mit anderen Worten, sie hat meinen Vater zur Einzelhaft im Schoß der Frau verurteilt, die seine Kinder trug beziehungsweise trägt. Durch diesen scheinheiligen Segen auf ihr und mir hat sie ja schon eine Menge Einfluss auf uns ausgeübt. Jetzt hat sie diesen Einfluss ausgedehnt. Will sagen, wenn Maman und ich nicht zusehen, dass das, was mein Vater vor seiner Verschmelzung mit meinem Bruder versprochen hat eingehalten wird, bleibt er bis zum Tode meiner Mutter in ihr gefangen, oder ich oder Laetitia und Midas Lothaire erleiden irgendeine Form von Bestrafung?"
"So mag es sein", seufzte Julius. Dann kam ihm eine Idee. Nathalie sah, wie er sich konzentrierte und einige Sekunden in dieser Haltung verharrte. Dann sagte er: "Léto ist entrüstet und beschämt, dass ihre Enkeltochter noch so einen gemeinen Schlag gelandet hat. Der Segen der zweiten Gelegenheit, wie sie das nennt, was Armand passiert ist, ist ein verbotener Segen der Erde und kann nur dort bewirkt werden, wo ein gerade erst geborenes Kind oder ein Fötus in Hörweite des zu segnenden lebt. Wenn sie den Segen dann noch mit Bedingungen verbindet, die mit der Erde zu tun haben, müssen diese Bedingungen erfüllt werden, oder die zweite Gelegenheit wird zum ewigen Leben im Körper eines Ungeborenen oder gerade erst geborenen Kindes. Das ist dreister als alles, was ich bisher bei dunkler Magie von Menschen erlebt habe. Aber Léto sagte mir auch, ich möge was versuchen, nicht den Fluchumkehrer. Der würde tatsächlich dazu führen, dass der Gesegnete, sofern ungeboren, in den Schoß der Mutter des oder der segnenden versetzt wird. Das hat nämlich schon mal wer versucht, teilt Léto mit.""
"Was willst du versuchen?" fragte Nathalie. Julius ging auf sie zu, ganz vorsichtig. Er streckte ihr die Hand entgegen. Ein warmes, orangerotes Leuchten hüllte seine Hand und ihren Körper ein. Er sah gezielt auf ihren gerundeten Bauch und senkte vorsichtig die Hand. Das orangerote Licht strahlte heller auf, und konzentrierte sich nun auf den vorgewölbten Bauch der Ministergattin. Jetzt konnten sie alle leicht verschwommen ein orangerotes Etwas sehen, als wenn das ungeborene Kind aus sich selbst heraus leuchtete. Er näherte seine Hand noch mehr."Julius, ist gut. Es ist ihm sehr heiß und bald schon zu hell. Was immer du gemacht hast, lass es jetzt bitte sein!" zischte Madame Grandchapeau. Julius nickte und zog schnell die Hand zurück. Das orangerote Licht erlosch.
"Weil ich wegen Diosan von Léto mit einem Zauber belegt wurde wechselwirkt ihre Magie mit meinem Körper und der Bezauberung von Euphrosyne", erklärte Julius. "Im Klartext heißt das aber, dass du, Nathalie, durch den in dir gelagerten Armand und den Sonnenatemsegen einen Teil von Euphrosynes Kraft ausstrahlst, die du durch Berührung übermitteln kannst." Zum beweis ging er auf Belle zu. Dabei leuchtete es aber nicht. Sie sagte dann aber: "Ja, ich spüre Wärme aus mir ausstrahlen. Da ist wirklich eine Wechselwirkung."
"Will sagen, Sie können Euphrosynes Kraft vermitteln, Nathalie. Dann verstehe ich, was Julius sagen will", bemerkte Catherine Brickston dazu.
"Sie kann alle die auf ihre Linie zwingen, die dafür sorgen können, dass sie hier unbehelligt wohnen und ihr erstes und wie viele Kinder kriegen will", seufzte Julius. Alle nickten betreten, vielleicht sogar Armand alias Demetrius.
"Dann haben wir trotzdem ein Problem: Wenn mein Vater nun ein Fötus ist, ist er kein Zaubereiminister mehr. Es hat noch keine Hexe gegeben, die ihren ungeborenen Sohn zum Zaubereiminister hat wählen lassen, womöglich genau deshalb, damit keine des ersten Lebens überdrüssigen Minister meinen, sich von wem auch immer noch mal zur Welt bringen lassen zu müssen", seufzte Belle Grandchapeau. Hatte sie bisher damit zu leben lernen müssen, einen verspäteten kleinen Bruder zu haben, der jünger war als ihr eigenes zweites Kind, so mochte es nun noch schwerer sein, dass ein hinterhältiger Zauber ihren Vater in den Körper dieses lange Zeit ungeboren bleibenden Jungen getrieben hatte und der jetzt auf Gedeih und Verderb von seiner eigenen Frau abhängig war. Julius dachte daran, welches politische und gesellschaftliche Erdbeben Euphrosyne ausgelöst hatte. Wenn jetzt, wo es eh so viele Schwierigkeiten gab, in Frankreich und England neue Zaubereiminister berufen werden mussten, dann hatten manche der erkannten und viele der noch nicht deutlich aufgetretenen Gegner leichteres Spiel.
"Ich werde nun folgende Dinge tun", setzte Nathalie Grandchapeau an. "Zum einen möchte ich von meiner Hebamme wissen, ob sich das Kind in meinem Leib wirklich nicht schneller weiterentwickelt oder durch den neuerlichen Zauber nicht vielleicht doch einen Entwicklungssprung vollführt hat, weshalb ich es bald zur Welt bringen kann. Stimmt erste Vermutung, so werde ich die Messieurs Montpelier, Vendredi und Colbert zu mir in das Haus meiner verstorbenen Großmutter bitten, um dort mit ihnen zu besprechen, dass sie Euphrosyne und ihre Familie in Frankreich leben lassen. Belle, danach werde ich mit deiner Hilfe ein Arrangement treffen, dass dein Vater durch einen neuerlichen Angriff jener, die uns schon mal nach Freiheit und Leben trachteten, diesmal wahrhaftig zu Tode kam. Ja, und zum guten Schluss werde ich mit Alouette Laporte verhandeln, ob ich eines jener sehr brauchbaren Hilfsmittel erhalte, mit denen die Gedanken von sprachverstehenden, aber nicht selbst sprachfähigen Wesen in hörbare Worte umgewandelt werden. Dieses Hilfsmittel werde ich aber nur dann und dort einsetzen, wo die neue Natur meines ehemaligen Gatten bekannt ist."
"Wirst du denn dann wieder im Ministerium anfangen, Maman?" wollte Belle wissen.
"Nach der Zeit, die ich für die Mutterschaftspause angesetzt habe. Immerhin besteht ja die Möglichkeit, dass Euphrosynes Magie nicht das bewirkt hat, was sie wollte und Demetrius doch schon in den nächsten Wochen auf die Welt kommt. Dann aber kann sie sich ihre Träume von einem unbehelligten Leben auf Frankreichs Heimaterde endgültig abschminken."
"Die schminkt sich nicht, Maman. Die ist so schon zu schön", fauchte Belle verächtlich.
"Du weißt, wie ich das meine", sagte Nathalie. "Belle, bringe Madame Brickston und Monsieur Latierre bitte zur Rue de Liberation zurück. Soweit ich weiß hat Madame Brickston ein Arbeitszimmer mit Dauerklangkerker-Funktion. Dort informierst du bitte die übrigen Mitglieder dieses stillen Dienstes und schwörst sie bitte darauf ein, vorerst keinem nicht zu diesem exklusiven Zirkel gehörenden Personen Auskunft über mein und Demetrius' Befinden zu erteilen. Öhm, aber verzichte bitte auf den unbrechbaren Eid!"
"Wie du meinst, maman", knurrte Belle verdrossen, weil sie wohl demnächst mit einer Menge unliebsamer neuerungen zurechtkommen musste.
Wieder in der scheinbar am besten erwähllbaren Gegenstandsform ließen sich Catherine und Julius aus dem geschützten Haus der Grandchapeaus zur Rue de Liberation zurückbringen.
"Ach, Mädchen, da hat es dich aber nun dreifach hart getroffen", seufzte Madeleine L'eauvite. Ihre Schwester und Belle sahen sie verwundert an. "Erst musst du dich drauf einrichten, dass du einen wesentlich jüngeren Bruder dazubekommst. Dann musst du damit zu leben lernen, dass du alle deine Freunde und bereits geborenen Kinder überleben wirst, und jetzt hat dieses freche Frauenzimmer deinen Vater auch noch im Bauch seiner eigenen Gattin eingesperrt, wo es sicher sehr dunkel und laut zugeht. Deshalb wirst du wohl demnächst alle Vorzugsbehandlungen verlieren, als Tochter eines amtierenden Zaubereiministers."
"Die hatte ich nie, Madame L'eauvite. Aber Sie haben sicher recht, dass ein neuer Zaubereiminister anders mit mir umgehen wird als der bisherige", erwiderte Belle. "Und was die anderen Punkte angeht, so muss ich damit zu leben lernen, dass ich eines Tages ohne Sie alle zurechtkommen muss und bis dahin keiner mehr weiß, was mit mir passiert ist. Unsterblichkeit oder auch ausgedehntes Leben sind eher ein Fluch als ein Segen."
"Es war auf jeden Fall richtig, auf den Fluchumkehrer zu verzichten", bemerkte Blanche Faucon dazu. "Am Ende wäre es vielleicht noch viel schlimmer gekommen."
"Dann sollen wir jetzt warten, was passiert?" fragte Millie ungewohnt kleinlaut. Belle und Julius nickten.
"Wir haben ja noch einen zweiten Grund, warum wir hier zusammen sind", sagte Catherine mit sichtlich ernster Stimme. "Der Liga gegen dunkle Künste ist bekannt geworden, dass es Mitte Mai zu einem Angriffsversuch auf die deutschsprachige Zaubereischule Burg Greifennest kam. Die Angreifer trugen Ganzkopfmasken, die wie der Kopf Tom Riddles aussahen. Sie haben versucht, mehrere Schüler zu entführen, darunter einen gewissen Lebrecht Zigelbrand, der in dieser Zeit Geburtstag feierte." Alle starrten Catherine nun verunsichert an. Immerhin wussten sie, dass Vengor Lebrechts Vater Eggebrecht getötet hatte und scheinbar Verwandte dieses Zauberers genau dann umbrachte, wenn ihre Geburtstage anstanden. Blanche Faucon, die wohl auch diese Information vorher schon bekommen hatte verzog ihr Gesicht und schnaubte:
"Wir gingen davon aus, die Sicherheitszauber würden die Bande weit genug von den bedrohten Kindern fernhalten. Aber fast hätte einer dieser Verbrecher den Jungen Lebrecht mit einem Schrumpf- und Erstarrungszauber erwischt, wenn mein Kollege Gleißenblitz nicht dazwischengegangen wäre und den Banditen mit einem an und für sich sehr gutartigen Heilzauber geschwächt hätte. Offenbar wurden die Angreifer mit jener unheilvollen Substanz versehen, die aus dem Tod vieler hundert Menschen entstehen kann. Immerhin gelang es, die Burg danach mit weiteren, noch stärkeren Schutzbannen zu umfrieden, die aber nur ein halbes Jahr vorhalten. Die betreffenden Schüler sollen in den Ferien mit ihren Angehörigen in geheimen Unterkünften verbleiben, bis die mögliche Gefahrenzeit vorbei ist, wenn die jüngste der Ziegelbrands im August Geburtstag feiert."
"Und die haben die Schule offen angegriffen?" fragte Julius.
"Fünf verkleidete Angreifer", erwiderte Catherine. "Sie alle waren um ein vielfaches mächtiger als gewöhnliche Zauberer. Nur der Zauber Cappa-Sanitatis hat sie wirkungsvoll zurückgetriben. Hera, Mildrid und Julius, ihr kennt den ja." Die erwähnten nickten bestätigend.
"Dieser Zauber fordert von seinem Anwender die halbe Tagesausdauer", stellte Hera Matine fest. Julius nickte wieder. Damit konnte ein schwerverletzter Mensch in einen unsichtbaren Schutzmantel eingehüllt werden, der nichtmagische Wunden schloss und einen Körper in einen heilsamen Schlafzustand versetzte. Der war für einfache Heilzauber zu stark, eben nur im Notfall empfohlen. Millie und Julius hatten ihn nicht erlernt, aber davon gehört.
"Wie hat er auf die Angreifer gewirkt, Blanche und Catherine?" fragte die Heilerin von Millemerveilles.
"Sie erstarrten zu schwarzen Skulpturen in blauer Aura, so dass meine Kollegen die zehn Eingeschrumpften, eben auch Lebrecht Ziegelbrand, mühelos befreien und entschrumpfen konnten. Die blaue Aura hat sich verstärkt und die Angreifer von einer zur anderen Sekunde in Nichts aufgelöst. Da der Zauber nicht tödlich ist, sondern im Extremfall den damit belegten in die von ihm für am sichersten empfundene Umgebung versetzt, wo er solange handlungs- und bedürfnislos bleibt, bis alle inneren und äußeren Verletzungen verheilt sind, können wir davon ausgehen, dass auch die Kristallvergifteten an solche Orte geworfen wurden, sofern sie nicht dem in sie eingewirkten Verrats- und Gefangenschaftsabwehrfluch unterworfen sind."
"Wer hat den Zauber gewirkt?" wollte Hera wissen. Blanche Faucon erwähnte, dass es die Schulheilerin Euphrasia Maiglock gewesen sei. Hera fragte dann Catherine, warum nur die Liga und nicht auch die internationale Heilerzunft davon erfahren hatten. Catherine konnte darauf keine Antwort geben.
"Offenbar galt es, diesen Anschlag tunlichst zu verschweigen, um keine Folgetaten durch Gleichgesinnte oder Nachahmer herauszufordern", vermutete Madame Faucon.
"Und Minister Güldenberg hat diesen Vorfall sicher auf S9 oder S0 eingestuft", vermutete Julius. Catherine räumte ein, dies nicht zu wissen.
"Und wie geht es den betreffenden Schülern jetzt?" wollte Hera Matine wissen.
"Wie erwähnt wurden bessere Schutzzauber um die Burg gelegt, darunter der Bann gegen unerwünschte Anwesende. Lebrecht konnte seinen siebzehnten Geburtstag im Schutze dieser Defensivzauber begehen und hat damit wohl schon die Bedingung verworfen, zu der dieser Vengor ihn töten musste", sagte Blanche Faucon.
"Der Grund, warum ich Sie und euch informiere ist der, dass diese kristalline Substanz wohl ein Vermächtnis der dunklen Magier des alten Reiches ist", sagte Catherine. "Es galt und gilt, diesen Vengor daran zu hindern, Kontakt mit jener Hinterlassenschaft zu bekommen, die als bösartiges Gegenstück zur Kettenhaube der alten Königin Darxandria gilt. Wenn diese Ritualmorde der Weg dahin sind, so hoffe ich, dass ihm dieser Weg nun versperrt ist. Aber mir kommt dieser Sieg über seine Leute zu einfach vor, wobei ich nicht sagen kann, warum nicht."
"Du meinst, weil er eigentlich selbst hätte auftauchen müssen, um sich das erwählte Opfer zu holen?" fragte Julius Catherine. Diese nickte heftig.
"Vielleicht war es wieder ein Ablenkungsmanöver für irgendwas, weil er natürlich davon ausgehen muss, dass wir mittlerweile davon ausgehen, dass er die Angehörigen einer bestimmten Blutlinie töten will", sagte Blanche Faucon. "Doch diese Tötungen könnten schon ein Ablenkungsmanöver sein. Meinst du das, Catherine?"
"Eben weil er es nicht angestellt hat, mit ganzer Macht zuzuschlagen, wenn ihm der tod des Jungen Ziegelbrand so ungeheuer wichtig gewesen wäre", erwiderte Catherine darauf.
"Und ihr seid euch ganz sicher, dass alle Schüler und Lehrer die sind, die sie sein sollen?" fragte Madeleine L'eauvite und deutete von sich auf Catherine. "Immerhin haben wir damals Didier und Pétain mit Selbstverwandlungen getäuscht und uns durch einen Translokalisationszauber aus dem Staub gemacht." Madame Faucon verzog das Gesicht und sah Catherine an, die ein wenig betroffen zurückblickte. Julius verstand, worauf Catherines Tante hinauswollte. So konnte es gehen. Um sicherzustellen, dass keiner mehr glaubte, dass den Schülern was zustieß, waren Doppelgänger von diesen in die Schule geschmuggelt worden. Erst dann war der bitterböse Überfall erfolgt. Das sprach er nun aus, dabei einräumend, sich irren zu können.
"Genau das habe ich auch gedacht. Blanche und Catherine, das hättet ihr ein parr Wochen früher rumgehen lassen dürfen", sagte Madeleine.
"Madeleine, wir zwei haben den Bann gegen unerwünschte Eindringlinge gelernt. Du weißt also, dass wenn er nachträglich gewirkt wird, nur mit den wahren Personen als erwünschte Anwesende in Kraft gesetzt werden kann. Doppelgänger wären dabei zwangsläufig aus dem zu sichernden Bereich versetzt worden oder der Bann hätte nicht funktioniert."
"Das wundert mich jetzt aber, werte Schwester, dass ich einer zertifizierten Verwandlungs- und Defensivzaubergroßmeisterin sagen muss, dass dieser Schutzbann erstens dadurch ausgetrickst werden kann, indem jemand, der bei der Wirkung als erwünschter Anwesender einbezogen wurde, sein eigenes Blut opfern kann, um ihn zu durchbrechen und vor allem können die Doppelgänger durch massive Gedächtniszauber dazu gebracht werden, vollkommen davon überzeugt zu sein, die zu sein, die erwünscht sind. Nur wer bewusst täuschen will wird abgewehrt oder nicht in den Schutzbereich eingelassen." Julius kannte es nicht, Madame Faucon erröten zu sehen. Daher war es für ihn genauso selten wie für die meisten anderen hier, von Madeleine vielleicht abgesehen. Tomatenrot stierte die Schulleiterin von Beauxbatons zu Boden und atmete schwer.
"Wir verlassen uns doch ein wenig zu häufig auf die Wirkung dessen, was wir für sicher halten", seufzte sie. "Gut, dann sollte ich meiner adeligen Kollegin einen sehr kollegialen Hinweis zukommen lassen, dass sie alle Anwesenden noch einmal überprüft, und zwar mit Bicranius' Vorlebenstrank."
"Ui, der ist heftig", meinte Madeleine, während Hera ihr zustimmend zunickte. Julius erinnerte sich, dass es von dem hochpotenten Gedächtnistrank auch eine nicht so gutartige Abwandlung gab, die Bicranius auf dem Weg zu seinem mächtigen Erinnerungsverstärker erschaffen hatte. Mit dem Trank konnte jemand wie unter Veritaserum zur Preisgabe der Wahrheit gezwungen werden, aber dabei noch all das verraten, was er oder sie je erlebt hatte. Selbst der beste Gedächtniszauber konnte nicht alle Erinnerungen austauschen, sondern eigentlich nur überlagern, durchdringen und verbergen. Ab irgendeinem Punkt in der Vergangenheit lag das Originalgedächtnis, dass nur nicht bewusst abgerufen werden konnte. Da der Trank jedoch bei solchen, die unter einem Gedächtniszauber standen schwere Geistesverwirrungen auslösen konnte gehörte er wie der Vielsafttrank zu den hochpotenten, nicht handelbaren Zaubertränken. Schlimmstenfalls vergass der damit behandelte alles bis zu dem Zeitpunkt, zu dem seine Erinnerung zurückverfolgt wurde.
"Dann können wir nur hoffen, dass ich mich geirrt habe, Blanche. Sonst hat dieser Halunke am Ende doch noch gekriegt, was er wollte", seufzte nun Madeleine, alles andere als die sonst zu Scherzen aufgelegte Hexe.
"Gut, so bleibt die Frage, was wir tun können und müssen, sollte sich erweisen, dass Vengors Vorhaben doch nicht gescheitert ist", raunte Catherine.
"Die noch lebenden Verwandten in Sicheres Gewahrsam nehmen, notfalls im Farbensee von Millemerveilles im magischen Tiefstschlaf überdauern lassen", meinte Hera. "Notfalls müssen sie von künstlich erschaffenen Doppelgängern vertreten werden."
"Die würden auffallen, Hera", sagte Blanche Faucon. "Irgendwann würden sie sich verraten und dann genau das Chaos heraufbeschwören, dass diesem Verbrecher in die Hände spielt. Es würde eine Massenparanoia geben, wo jeder jeden der Täuschung und Spionage verdächtigen würde. Nein, wir müssen das anders anstellen. Aber zumindest verstehenSie alle, die Sie hier sind, weshalb der Überfall auf Greifennest vorerst nur der Liga und uns vom stillen Dienst bekannt sein darf", sagte Madame Faucon. Alle nickten.
Nathalie Grandchapeau grummelte, als Alouette Laporte ihr versicherte, dass sich der ungeborene Junge nicht zum unabhängig lebensfähigen Kind entwickelt hatte. "Muss ich mich echt damit arrangieren, in deinem warmen Wanst herumzuhängen, Nathalie."
"Du hättest auch in ihrem Wanst oder dem ihrer Mutter landen können, um mit ihr blutsverwand zu werden", gedankenantwortete Nathalie auf den resignierenden Gedanken ihres ehemaligen Ehemannes.
"Dann mach bitte, dass dieses Flittchen und ihr Eingefangener in drei Gorgonen Namen bei uns wohnen, damit ich nicht noch mit dir im Sarg liegen muss!" gedankengrummelte der nun Demetrius heißende Ex-Zaubereiminister.
"So sei es", gedankenschnaubte Nathalie.
Als Belle zurückkehrte und erfuhr was Alouette befunden hatte meinte sie:
"Will sagen, mein Vater ist de facto verstorben, Maman. Wir sind im Moment also die einzigen, die mit ihm Kontakt halten können, und selbst wenn andere dies könnten wäre er körperlich viel zu jung, um weiterhin Zaubereiminister zu sein."
"Das trifft alles zu, Belle", seufzte Nathalie. Beide Damen Grandchapeau blickten sich einige Sekunden lang an, bis Belle das Schweigen brach:
"Wann sollen wir die drei Herren einladen?" fragte sie.
"Wenn ich die Bestätigung habe, dass das Dexter-Cogison von ihm verwendet werden kann", antwortete Nathalie und deutete auf ihren Bauch. Belle nickte.
Millie und Julius wollten und durften sich nicht anmerken lassen, was sie heute erschütterndes erlebt hatten, als sie zusammen mit Jeannes Familie bei den Lumières zu Gast waren, um den siebten Zwillingsgeburtstag von Été und Lunette sowie den sechsten Geburtstag ihres Neffen Charles zu feiern. Die Lumière-Zwillinge freuten sich über die vielen Geschenke, vor allem die ganzen neuen Kleidungsstücke und bunten Bücher. Auch dass sie von allen Verwandten bunte Geburtstagskarten bekommen hatten, die sie selbst lesen konnten, machte die zwei kleinen Mädchen stolz. Dazu kam noch, dass sie die ganze Rasselbande aus Jeannes und Brunos und Millies und Julius' Familie beaufsichtigen durften und sich wirklich schon wie große Mädchen fühlen durften.
Als Jeanne mit ihrer Freundin Barbara van Heldern, Roseanne Lumière und Millie Latierre ein Gespräch mehrfacher Mütter anfing nahm Bruno Julius bei Seite.
"Das Barbara wieder wen in Aussicht hat weißt du schon?" fragte er. Julius nickte. Jeanne hatte es gestern noch erwähnt. "Na ja, jetzt will Jeanne von mir noch wen neues unter den Umhang gestupst kriegen. Dabei reichen mir die drei völlig aus und ich liebe Jeanne nicht weniger, nur weil sie nur drei Kinder hat."
"Muss mich eh wundern, dass Barbara das immer noch gerne auf sich nimmt, wo die Geburt von Charles einen ganzen Tag gedauert hat", wisperte Julius.
"Ich weiß auf jeden Fall, dass ich wohl bei deiner Schwiegermutter anfangen muss, wenn das mit dem Profi-Quidditch nicht mehr geht", grummelte Bruno. "Ich könnte nur auf getrennte Schlafzimmer ausgehen. Aber dann hätte ich wohl die längste Zeit Ehefrieden gehabt", fügte er noch hinzu. Julius wagte nicht, zu fragen, wie oft Bruno und Jeanne sich körperlich liebten. Selbst wenn Bruno ihm das sicher erzählt hätte war es auch Jeannes Angelegenheit, und die ging ihn nur was an, wenn Jeanne ihm das erzählen wollte. So sagte er diplomatisch: "Da ich mit Jeanne nicht im selben Schlafzimmer übernachte kann ich dir leider nicht helfen, wie du das mit ihr hinkriegst, ob sie noch ein oder zwei Kinder kriegt oder nicht. Ich habe im Moment kein Problem damit, dass Millie immer noch kleine Windelpupser in sich schreien hört: "Maman, lass mich raus! Insofern bin ich froh, dass Jeanne nicht mit ihr konkurrieren möchte."
"Ja, oder mit Schwiegergroßtante Line", grummelte Bruno. "Ich wollte dich auch nicht mit Sachen zutexten, die du zum einen nicht ändern kannst und die dich nur sehr wenig betreffen. Ich meine nur, dass Jeanne bei dem ganzen Kleingemüse da auf der Wiese schon wieder an einen anschwellenden Bauch und melonengroße Dutteln denkt. Vielleicht sollte sie besser doch zu den Heilern, die räumen mehr Gold ab."
"Die von dir erwähnte Dame mit den sechzehn Kindern meinte, dass ihr das ganze Gold nicht so wichtig sei wie die Gesundheit ihrer ganzen Kinder", erinnerte Julius den verschwägerten Anverwandten an das, was Ursuline Latierre immer sagte.
"Ja, aber gesund leben heißt auch immer genug zu essen haben, warme und saubere Kleidung und ebenso warme und saubere Betten zu haben. Klamotten und Betten kann ich zwar zusammenzaubern, aber mit dem Essen wird's nix. Gut, danke, dass du zumindest weißt, wie es in mir gerade zugeht, wo ich Jeanne so strahlen sehe, wenn deine zwei kleinen und Barbaras Geschwister und Eigenerzeugnisse hier herumwuseln." Julius wünschte Bruno nur das nötige Durchhaltevermögen, um egal was er machen wolle, keine Probleme zu haben.
Abends meinte Millie dann noch zu ihm, dass Jeanne und Barbara wohl darauf ausseien, Oma Line zu überholen und Jeanne es Bruno irgendwie beibringen wollte, dass zwei Jungs und zwei Mädchen sicher ein schönes Gesamtwerk seien. Julius meinte dazu nur, dass das aber nur vier Kinder seien.
"Stimmt, wir zwei wollen ja noch ein paar mehr haben, hast du mir damals gesagt", griff Millie wie zu erwarten war den Scherz auf, den Julius damals unbedacht geäußert hatte. er hatte damals behauptet, eine ganze Quidditchmannschaft gemeinsamer Kinder in ihren Augen zu sehen. Heute wusste er, dass das schon wie ein Heiratsantrag bei ihr angekommen war und nur deshalb zurückgestellt worden war, weil er damals noch mit Claire zusammen war und wohl auch zusammen geblieben wäre, wenn diese Morgensternbrüder ihn nicht in dieser alten Festung beharkt hätten.
Es war Mittagszeit, Montpelier und seine Kollegen Vendredi und Colbert trafen sich vor einem zweistöckigen Fachwerkhaus in der Nähe von Bayonne. Als sie von Nathalie und Belle Grandchapeau dort hineingelassen wurden meinte Montpelier:
"Ich dachte, Ihr Gatte wäre auch hier, Nathalie."
"Keine Sorge, er ist hier", sagte Nathalie. Dann umarmte sie Montpelier schon eher wie eine Liebende als wie eine Kollegin. Belle tat gleiches mit ihrem Schwiegervater. Dann umarmte Nathalie auch Vendredi, der erst zurückweichen wollte und dann doch in ihren weichen, warmen Armen landete, dabei fühlte, wie sich in ihr das neue Leben regte. Er fühlte einen gewissen Schauer in sich, als sei er gerade dabei, eine ihm verbotene Tat zu begehen. Er hatte nicht gedacht, dass die Frau seines Dienstherren in ihrem Zustand so reizvoll war.
Als sie in einem Salon saßen baute Nathalie einen provisorischen Klangkerker auf. Dann öffnete sie das ihren Zustand besonders betonende grüne Kleid, unter dem sie nichts trug als ihre Haut und einen merkwürdigen Gürtel aus blauem Stoff mit einem purpurroten Blasebalg. "Wir, meine Tochter, mein Gatte und ich wünschen, dass Sie drei uns helfen, dass wir alle unsere Unversehrtheit bewahren können. Denn mein Mann hat sich entschlossen, Euphrosyne Lundi bei uns im Land wohnen zu lassen. Damit dieser Vertrag von seiner Seite her nicht mehr gekündigt werden kann hat sie ihn sozusagen in meine Obhut gegeben, da sie mich bereits mit ihrer Zauberei durchdrungen hat."
"Wie, was?" fragte Montpelier. Zur Antwort quäkte der purpurfarbene Blasebalg an dem Gürtel um Nathalies Umstandsbauch mit einer jugendlicher wirkenden Stimme Armand Grandchapeaus:
"Meine Gattin möchte Ihnen damit sagen, dass ich so dämlich war, Euphrosyne anzubieten, bei uns friedlich zu leben und mit ihrem Mann so viele Kinder und Enkel haben zu dürfen wie sie meint. Ich wollte nur nicht als alter Mann die Geburt meines Sohnes erleben. Ich hätte den Wunsch genauer überdenken müssen. Sie hat es so umgedeutet, dass ich die Geburt als mein eigener Sohn erleben soll, sofern ihre Kinder und Kindeskinder in Frankreich geboren werden. Erst wenn ihr erstes von einem in Frankreich zur Welt gebrachten Kind stammender Enkel geboren wird darf auch ich wieder auf die Welt zurück, aber erst dann. Sie schrieb in dem Brief, in dem sie diesen verflixten Zauber eingewirkt hat, dass sie das auch mit jedem anderen so machen könne, der ihr weiterhin Steine in den Weg legt. Sie verzichtet auf den Traum, Frau eines berühmten Mannes zu sein. Aber sie möchte nicht auf ihre Heimat verzichten und möchte auch ihre Kinder hier aufwachsen lassen, ohne dass diesen jemand was tut."
"Das ist ein netter Trick", lachte Vendredi. Doch irgendwas an Nathalies Erscheinung brachte ihn aus dem Tritt.
"Schön wäre es", quäkte der purpurrote Blasebalg einige Sekunden später."Armand, das kann nicht sein, dass du jetzt in Nathalies rundem Bauch steckst", sagte Midas Colbert.
"Dann frag mich was, was nur ich wissen kann. Aber frage es laut genug, damit ich dich verstehen kann. Im Mutterleib ist es nicht so ruhig, wie viele sich immer gerne einreden."
Midas trat näher an Nathalie heran und stellte an die fünfzig Fragen, die der Blasebalg, die künstliche Außenstimme Armand Grandchapeaus, beantwortete, auch solche, die sich um frühere Schulfreundinnen drehten, von denen Nathalie sicher nichts gewusst hatte. Auch Montpelier fragte was und bekam antworten.
"Glaubt ihr zwei es jetzt und auch du, Arion?" sprach nun das Cogison mit Armand Grandchapeaus Stimme. Montpelier erbleichte. Er hatte es nur wenigen Leuten erzählt, dass er Platzangst hatte. Sich vorzustellen, in einem winzigen, dunklen Raum komplett unter Wasser eingesperrt zu sein, um sich herum das Wummern eines großen Herzens und alle möglichen Geräusche, die ein menschlicher Körper so macht, wenn er verdaut, hatten ihn tief ins Mark getroffen. Arion Vendredi erkannte, dass Euphrosyne ihn wohl nur deshalb nicht mit einem so genannten Segen getroffen hatte, weil sie durchaus heftigere Sachen anstellen konnte, als jemandem ein jahrhundertelanges Leben zu schenken. Midas Colbert sah seine Schwiegertochter an, die ihn anblickte und dabei wie eine sich anbietende Wonnefee ihren Körper darbot.
"Und wenn dich ein Heiler da jetzt rausholt?" fragte Montpelier.
"Dann bin ich tot. Abgesehen davon, dass meine frühere Gattin und jetzige Beherbergerin hundertmal widerstandsfähiger gegen Gifte und Gewalt ist. Sie ist eigentlich der sicherste Ort, an dem ich mich je verstecken konnte. Aber ich will hier nicht ewig herumhängen. Also macht bitte, was sie und Belle von euch möchten, vor allem du, Midas. Denn wenn Nathalie und ich sterben bleibt der Vertrag an Belle hängen. Stirbt sie, bist du die längste Zeit Großvater gewesen."
"Das ist widerlich", stieß Montpelier aus. Da entblößten sich die beiden Gastgeberinnen vollständig. Schlagartig durchströmte die drei Zauberer eine starke Hitze und das Gefühl, diese zwei überirdischenWesen mit allem beschützen zu müssen, was sie aufbieten konnten. So drang Nathalies Stimme tief in die Bewusstseine der Gäste ein:
"Erhaltet uns am leben und helft meinem von seinem Übereifer aus der Welt geworfenen Mann, zumindest ein lebenswertes Leben als mein Sohn zu erhalten!"
Eine Viertelstunde später unterschrieben die drei Zauberer einen Brief mit magischer Tinte. Der Brief gestattete Euphrosyne Lundi geborene Blériot das bedingungslose Wohn- und Lebensrecht für sich, ihren Mann und alle Nachkommen in einem französischen Ort ihrer Wahl. Danach besprachen die zwei ungeniert unverhüllten Hexen mit ihren sichtlich entrückt aussehenden Gästen, wie das Verschwinden des Ministers inszeniert werden konnte. Montpelier sollte die kommissarische Leitung des Ministeriums bis zu einer vorgezogenen Wahl im September beibehalten und sich dann entweder dem Gegenkandidaten geschlagen geben oder das Amt offiziell weiterführen. Belle würde verkünden, dass ihr Vater durch einen hinterhältigen Anschlag bei einem Geheimtreffen getötet worden sei. Nathalie würde daraufhin mit dem scheinbar geborenen Sohn in ein sicheres und durch Fidelius geschütztes Versteck flüchten und dort solange bleiben, bis ihr Sohn groß genug für Beauxbatons war. Natürlich würde sie ihm die Gelegenheit geben, mit anderen Kindern zu spielen und mit ausgewählten Freunden und Verwandten der Familie zu sprechen. Zum Schluss quäkte das Cogison um Nathalies Bauch noch einmal:
"Und wenn alles so läuft kann ich in vierzig oder fünfzig Jahren an Nathalies ganz privater Milchbar einen Schluck auf unsere Freundschaft nehmen."
"Ich werde den Anwärter Latierre mit dem Brief zu dieser Euphrosyne hinschicken. Wenn er versagt hängst du eben bis zum Umfallen deiner Ex in dieser drin", sagte Midas Colbert.
"Pass du auf, dass dieses Frauenzimmer dich nicht in deiner Enkeltochter einlagert, wenn sie groß genug für ein eigenes Stück Fleisch und Blut ist", quäkte das Cogison zur Antwort.
Julius Latierre erhielt noch am Nachmittag den Auftrag, mit einem versiegelten Brief zu Églée Blériot zu gehen und dieser mitzuteilen, dass Euphrosyne in Frankreich leben durfte. Wie immer Nathalie und Belle das angestellt hatten, dachte Julius im Schutze des Liedes des inneren Friedens.
Eine Stunde später saß er bei Madame und monsieur Blériot. Euphrosynes Vater war nicht gerade gut auf seine Tochter zu sprechen. Doch er sah ein, dass endlich Frieden zwischen ihr und der Zaubererwelt geschlossen werden musste.
Euphrosyne reiste mit einem Portschlüssel an und lächelte Julius an. Dieser hatte sich gegen ihre Ausstrahlung abgeschottet. Dennoch fühlte er, dass dieses Wesen ihm überlegen war und ja, dass es mit ihm anstellen konnte, was es wollte, wenn er nicht aufpasste. Nachher wollte sie auch noch ein Kind von ihm. Genau das war es, was Julius so bestürmte. Euphrosyne strahlte eine so starke Lebenskraft aus, dass diese nicht über seinen Geist, sondern seinen Körper auf ihn wirkte. Das lag daran, dass sie wohl selbst gerade schwanger war. Einen moment dachte er daran, dass sie dieses in ihr wachsende Kind dazu missbraucht hatte, einem anderen Kind das Leben zu verwehren und noch dazu dessen Vater mit ihm zusammenzuzwingen. Jetzt lächelte sie ihn an.
Er übergab ihr den Brief, den nur sie als wahre Trägerin des darauf geschriebenen Namens öffnen konnte. Als sie ihn gelesen hatte meinte Julius, um ihren Körper eine hauchzarte, orangerote Aura aufleuchten und wieder erlöschen zu sehen. Dann sagte sie mit ihrer glockenreinen Stimme:
"Ich danke Ihnen, dass Sie mir diese frohe Botschaft überbracht haben, Monsieur Latierre. Ich darf doch darauf hoffen, dass Sie Monsieur Vendredi und mir dabei helfen, mich offiziell in meiner alten Heimat niederzulassen?" Julius sagte dazu nur:
"Ich habe Ihnen nichts getan und Sie mir auch nicht. Damit das so bleibt möchte ich gerne meinen Auftrag als Vermittler nutzen, Ihnen und Ihrer Familie eine friedliche Zukunft zu verschaffen."
"Das freut mich", säuselte Euphrosyne. Ihr Vater öffnete und schloss den Mund, bekam jedoch kein Wort heraus. Offenbar war der arme Mann von der Strahlkraft seiner Tochter derartig verzückt, dass er ihr nicht böse sein konnte.
Als Julius wieder im Apfelhaus bei seiner Frau war baute er einen Klangkerker auf. In dessen Schutz erzählte er ihr, was Euphrosyne gesagt hatte und dass er sich sehr unterlegen gefühlt hatte, als wisse er genau, dass er dieser Veelastämmigen nicht ein Haar krümmen durfte. "Mamille, ich dachte immer wieder, dass wenn die sagt, ich soll sie beschlafen, ich das schon deshalb gemacht hätte, damit sie nicht leiden muss. Trotz des alten Zaubers von Ashtarggayan habe ich echt gemeint, dass dieses Weib mich um den kleinen Finger wickeln, vernaschen und wieder ausspucken kann, wann und wo sie will. Ein voll beknacktes Gefühl."
"Wie, von einer Frau zu denken, dass sie dich jederzeit haben kann?" fragte Millie.
"Es kommt auf die Frau an", erwiderte Julius schnell darauf. "Das will ich ja wohl meinen. Keine Sorge, Maman Millie und Supermaman Temmie passen schon auf dich auf, dass du keine Achtelveelas machst, die du nicht haben willst. Aber wieso das so ist weißt du sicher."
"Weil Léto mich zu einem Quasi-Onkel von der gemacht hat. Es war ja nicht wirklich eine erotische Hingezogenheit, sondern eher sowas wie eine Verpflichtung, ihr nichts zu tun, was sie nicht will. Das kläre ich aber noch mal mit Léto."
"Ja, aber nicht heute, Monju. Du bist spät dran und hast jetzt sicher Hunger. Also essen wir was", legte Millie fest. Julius konnte nicht anders, als zuzustimmen.
Gegen elf Uhr lagen sie in ihrem großen Bett und sprachen im Schutz der Schnarchfängervorhänge über Nathalie und Armand Grandchapeau. Bei der Ersthelferausbildung hatte Hera ihn mit der Exosenso-Haube in die Sinneswelt ihrer ungeborenen Großnichte hineingeschickt. Ebenso kannte er Cytheras Eindrücke von ihrer werdenden Mutter und war auch mal eine ganze Weile Zaungast in der kleinen, schützenden Welt seiner Schwägerin Miriam gewesen, um auf diese Weise mitzuhören, was seine künftige Schwiegermutter mit seiner leiblichen Mutter besprach. Nur in die Sinneswelt seiner beiden ungeborenen Töchter hatte ihn niemand einblicken lassen, weil zu befürchten stand, dass durch die Herzanhängerverbindung genau das passierte, was Armand Grandchapeau jetzt zugestoßen war. "Das mehr als neun Monate zu erleben ist schon gruselig, wenn drei Stunden schon heftig sind", meinte Julius.
"Ja, ich stelle mir das für Nathalie auch sehr schlimm vor, ihren ehemaligen Ehemann immer dabei zu haben und ihn trotzdem nicht umarmen zu können. Das ist nicht die richtige Art, wie eine Ehefrau ihren Mann bei sich haben soll."
"Ach ja, und was ist die richtige Art?" fragte Julius überflüssigerweise. Statt einer gesprochenen Antwort zeigte es Millie ihm. Sie zeigte es ihm so ausgiebig, dass sie erst anderthalb Stunden später müde genug waren, um zu schlafen.
Am Morgen las Julius im Miroir Magique, dass Belle Grandchapeau am Vorabend Alarm geschlagen hatte, weil sie beinahe körperlich einen Angriff auf ihren Vater und eine Art geistigen Todesschrei wahrgenommen haben wollte. Sie sei sofort zu dem nur ihrer Familie zutrittsfähigen Haus hinappariert, habe da aber nur ihre Mutter und den erst am 24. Juni zur Welt gekommenen kleinen Bruder vorgefunden. Auf Belles Drängen hin hatten sie eine kleine Schatulle geöffnet, die der Minister für den Fall hinterlassen hatte, wenn er eines plötzlichen Todes sterben sollte. Sie hatte sich wohl geöffnet, weil ihr Besitzer tatsächlich tot war. In der Schatulle sei ein geheimes Tagebuch enthalten, in dass der Minister seine geheimsten Pläne und Handlungen eingetragen hatte. Dieses verriet, wo er sich am 25. Juni hinbegeben hatte, nachdem der Viviparentes-Zauber auch mit seinem Sohn vollendet war. Allerdings sei die letzte Eintragung nur für Monsieur Montpelier und Monsieur Colbert bestimmt. Belle und ihre Mutter hatten sie nur lesen können, weil ihre körperliche Verbindung zum Toten sie vor dem sonst wirksamen Abwehrzauber schützte, der denen, die es lesen wollten einen Teil der Erinnerungen auslöschte. Montpelier, so der Miroir Magique, habe unverzüglich nach Kenntnisnahme der letzten Eintragung Einsatztruppen losgeschickt. Diese hätten am bezeichneten Ort eine von blauen Feuerkreaturen bevölkerte Ruine eines alten Hauses gefunden und innerhalb des Hauses die halbverkohlte Leiche eines Mannes. Die Thanatomagier der Delourdesklinik hätten die Überreste zur Untersuchung erhalten, nachdem die Einsatztruppe erst eine Stunde lang gegen die blauen Feuerspukerscheinungen hatte kämpfen müssen, die nicht mit sonst wirksamen Mitteln gebannt werden konnten, so der kommissarische Zaubereiminister. Mit Hilfe von Madame Belle Grandchapeaus Blutprobe sei es gelungen, den Toten zu identifizieren. Es handelte sich dabei wahrhaftig um Armand Grandchapeau, der von einem zerstörerischen schwarzmagischen Feuer getötet worden war. In den Trümmern seien noch Asche und einige Knochensplitter gefunden worden, die von der Beschaffenheit einem Hauselfen oder Kobold entstammen mochten. Mehr könne und wolle Montpelier der Öffentlichkeit nicht mitteilen, eben nur, dass eine zwanzigjährige Ära beendet sei.
Die Temps de Liberté, für die auch Millie schrieb, machte mit der Schlagzeile auf:
TÖDLICHE INTRIGE BEENDET 20 JAHRE BESTÄNDIGKEIT UND BEHARRLICHKEIT IM KAMPF UM FRIEDLICHES MITEINANDER VON MAGISCHEN UND NICHTMAGISCHEN WESEN
Außerdem beschrieb Gilbert die Gründerzeit der Temps, die ja im dunklen Jahr des Didier-Pétain-Regimes lag. darauf aufbauend erwähnte Gilbert, wer damals überhaupt Didier an die Macht hatte kommen lassen und warf die Frage auf, ob nicht dieselben, die das Ministerehepaar damals entführt hatten, ihre späte Rache genommen hatten und nur nicht an Nathalie herankamen, weil sie im sicheren Versteck war. Auf die an Montpelier gestellte Frage, ob zu klären sei, wie genau der Minister dem Attentat zum Opfer fiel, hatte Gilbert noch in der Nacht die Antwort erhalten, dass dies geheime Verschlusssache sei. Daraus könne alles und auch nichts abgeleitet werden, hatte Gilbert dazu geschrieben.
"Dein Chef hat es immer noch drauf, Mamille", grinste Julius. "Er kann in ein gut laufendes Nachrichtengetriebe immer noch genug Sand streuen, dass es unüberhörbar knirscht", fügte er hinzu.
"Stimmt, der Miroir erwähnt keinen Verdächtigen und auch nichts über laufende Ermittlungen."
"Diese Thanatomagier, die bei den Muggeln wohl Pathologen heißen und Todesursachen und die Identität stark unkenntlich gewordener Leichen ermitteln, wie haben die die Echtheit bestätigen können, wo Nathalie erwähnt hat, dass ihr Mann sich quasi vor ihr aufgelöst hat", mentiloquierte Julius an Millie.
"Das kannst du sicher besser rausfinden als ich", gedankenantwortete Millie, während sie ihrer ersten Tochter zusah, wie sie die zu für ihre Händchen greifbaren Stücken geschnittenen Baguettstücke mit Honig in sich hineinfutterte.
"Gibt sicher heute noch eine Sondervollversammlung im Ministerium", prophezeite Julius mit hörbarer Stimme und fügte rein mentiloquistisch hinzu: "Vielleicht kriege ich bei der Gelegenheit raus, wie die eine identifizierbare Leiche da hingezaubert haben."
"Jedenfalls wird der Nachfolger des durch seinen eigenen Leichtsinn zur vollkommenen Abhängigkeit von seiner Gefährtin verurteilten nach Vergeltung rufen, Vergeltung gegen alle Feinde", vernahmen Millie und Julius Temmies Gedankenstimme. Julius war es wieder unheimlich, wie häufig Temmie ihm und seiner Frau zuhörte, als habe sie nichts besseres zu tun. Weil er das dachte bekam Temmie es wohl mit und erwiederte in seinem und Millies Geist:
"Ich stehe gerade auf meiner Wiese und gebe von meiner Milch ab, solange die letzten Tage vor meinem zweiten Kalb nicht angebrochen sind."
Ornelle Ventvits Kopf erschien im Kamin der Wohnküche und begrüßte die Bewohner des Apfelhauses. "Alle Innen- und Außendienstmitarbeiter sind aufgefordert, um acht Uhr im Saal der Geschichte zu erscheinen. Sicher haben Sie schon die erschütternden Nachrichten gelesen." Millie und Julius nickten. Aurore sah auf den Kopf der Ministeriumshexe und schnitt eine Grimasse. Für sie war es genauso normal, einen körperlosen Kopf im Kamin zu sehen wie für nichtmagische Kinder ihres Alters der aus dem Boden wachsende Telefonhörer der Teletubbys.
"Okay, Monju, wenn du rauskriegst, wie die das mit dem Leichnam gemacht haben möchte ich das wissen, auch wenn's S0 ist", mentiloquierte Millie, bevor Julius zu der angesetzten Vollversammlung flohpulverte.
Der Saal der Geschichte war ein Raum, der so groß wie das Hauptschiff einer Dorfkirche war. Ebenso war der Saal eingerichtet. Reihen von Holzbänken waren auf eine marmorne Kanzel ausgerichtet. Die Wände waren mit bunten Wandteppichen geschmückt, die je nach Himmelsrichtung eine besonders markante Landschaftsdarstellung Frankreichs zeigten, über der auf fliegenden Besen dahinsegelnde Hexen und Zauberer in altmodischen Gewändern zu sehen waren, alles ehemalige Zaubereiministerinnen und -minister, sowie Helden der langen französischen Zaubereigeschichte. Julius fiel sofort auf, dass dort, wo die Seine abgebildet war ein Zauberer in neumodischer Kleidung mit einem Zylinder auf dem Kopf beinahe still über der Landschaft stand. Das war Armand Grandchapeau. Julius gruselte und faszinierte es gleichermaßen, wie schnell der angeblich bei einem letzten Geheimtreffen verstorbene auf einen dieser Wandteppiche gelangt war. Die Decke des Raumes leuchtete aus sich selbst heraus im warmen Pastellton.
Monsieur Dexamenus Montpelier, der eigentlich nur zwei Wochen Minister bleiben wollte, bestieg die Kanzel. Er brauchte seine Stimme nicht magisch zu verstärken. Offenbar war dieser Zauber bereits in der Kanzel verankert und betraf jeden, der dort stand.
Montpelier trug einen nachtschwarzen Samtumhang über einem ebenso schwarzen Anzug mit bis zum Bauchnabel fallender Krawatte. Er begrüßte alle Anwesenden und berichtete das, was gestern geschehen war. Dann verkündete er, was Julius' große Weggefährtin Temmie schon befürchtet hatte: "Wer immer das getan hat, werte Kolleginnen und kollegen, hat unserer auf geordneten Fortbestand abzielenden Gemeinschaft den Krieg erklärt. Wer das auch getan hat wird erfahren, dass es ein Fehler war, Minister Grandchapeau in diese tödliche Falle gelockt zu haben. Wenn wir wissen wer das war werden wir die Schuldigen zur Verantwortung ziehen. Da ich leider nicht mit dem Finger auf jemanden zeigen und sagen kann, der oder di war es haben Sie sicher alle Verständnis dafür, dass wir in diesen Tagen, Wochen oder Monaten strengere Schutzmaßnahmen anwenden müssen als sonst. Außerdem werden meine Leute nicht darum herumkommen, auch innerhalb unseres erhabenen Gefüges nach möglichen Zuträgern dieser Mörder zu suchen, auch wenn es eindeutig die wohlgeratene Einheit einer Verwaltung gefährdet, Widersacher darin zu vermuten. Doch im Namen eines weiteren, für alle Menschen mit und ohne Magie dienenden Friedens müssen derartige Ermittlungen stattfinden, auch und vor allem um jene, die schuldlos sind von jedem Verdacht zu befreien. Ich hoffe da sehr auf Ihrer aller Verständnis."
"Und wenn Sie keinen Hinweis auf den oder die Täter finden?" wagte der Leiter der magischen Unfallumkehrtruppe, Monsieur Lesfeux, eine Zwischenfrage.
"Es gibt genug Hinweise, Monsieur Lesfeux. Wir müssen sie nur ordnen, auf ihre Echtheit prüfen und den echten Hinweisen folgen. Welche Hinweise das sind werde ich nicht verraten. Geheimhaltungsstufe S0, die Damen und Herren Kollegen", schmetterte Montpelier Lesfeux' Frage ab.
"Dann gebe ich dem Herren Interimszaubereiminister gerne zu bedenken, dass fünf meiner besten Elementarumkehrzauberer bei der Bergung der sterblichen Überreste des seligen Monsieur Grandchapeau zugegen waren. Insofern gehen zumindest mich die Ihnen bekannten Hinweise etwas an. Schließlich muss ich wissen, gegen wen meine Leute sich da gestellt haben und womöglich noch weiterhin werden stellen müssen."
"Wie erwähnt, Herr Kollege Lesfeux, die erhaltenen Hinweise sind von oberster Geheimhaltung und betreffen ausschließlich die Abteilung zur Einhaltung der magischen Gesetze. Erst dann und nur dann, wenn ich feststelle, weitere Experten aus anderen Abteilungen des Ministeriums hinzuziehen zu müssen, werde ich diese Experten in die Informationsberechtigung einbeziehen. Nehmen Sie dies alle bitte zur Kenntnis."
"Wenn es wirklich stimmt, dass Monsieur Grandchapeau tot ist, werden Sie dann das Ministerium bis zur ordentlich angesetzten Wahl weiterführen oder einen baldmöglichen Termin für eine Ministerwahl festlegen, Monsieur Montpelier?" fragte Arion Vendredi, Julius' zweithöchster Vorgesetzter.
"Dies werde ich in einem allgemeinen Memorandum allen Abteilungsleitern und den Nachrichtenverbreitungsstellen unseres Landes mitteilen", erwiderte Montpelier..
"Sie kennen das übliche Verfahren, Dexamenus. Stirbt ein Minister in Ausübung seines Amtes, muss innerhalb von drei Monaten sein Nachfolger bestätigt werden. Der Stellvertreter führt solange die Amtsgeschäfte weiter", erwiderte Lesfeux. "Abgesehen davon, warum sind Sie eigentlich von Monsieur Grandchapeau eingesetzt worden? Er hätte genausogut seinen Seniorsekretär Dulac vorschlagen können, der wäre nicht mit den Vorgängen einer anderen Abteilung überfordert."
"Damit haben Sie die Antwort, weshalb Sie nicht von ihm gebeten wurden, seine Amtsgeschäfte zu führen, Granatus", erwiderte Montpelier eiskalt. Einige Mitarbeiter mussten darüber schadenfroh grinsen. Julius und seine rechts neben ihm sitzende Büroleiterin Ornelle Ventvit fühlten sich nicht so erheitert.
"Bis zum Monatsende sollten Sie die Neuwahl festsetzen, Kollege Montpelier", erwiderte Lesfeux mit seiner angerauhten Stimme. Damit stand für Julius fest, wer da in den nächsten Wochen um die Nachfolge Grandchapeaus kämpfen wollte. Auch das war für ihn kein Grund zur Erheiterung. Montpelier mochte wohl wissen, was wirklich passiert war. Dennoch war Julius sich nach der Sache mit dem verbotenen Segen sicher, dass er mit ihm einen ebenso schweren Stand haben würde wie mit Vendredi, von Lesfeux ganz zu schweigen.
"Die neuen Anordnungen hängen in Ihren Abteilungen und allen Korridoren und den Fahrstuhlkabinen aus", sagte Montpelier und machte eine zur Tür weisende Armbewegung. "So darf ich alle bitten, die heute Bereitschaft haben, in ihre Büros zurückzukehren. Vielen Dank!"
"Madame Grandchapeau, Belle hat sich aus verständlichen Gründen beurlauben lassen, bis die traurigen Formalitäten für die Beisetzung ihres Vaters erfüllt sind", sagte Ornelle. daher bitte ich Sie, sich bis zu ihrer Rückkehr ausschließlich dem Büro für friedliche Koexistenz von Menschen mit und ohne Magie zur Verfügung zu stellen, Monsieur Latierre", sagte Ornelle, als sie mit Julius und Pygmalion Delacour im gemeinsamen Büro war und Julius sich gerade einen der lebendig gezauberten Stühle einfangen wollte. Julius nickte. Mit einer derartigen Anweisung hatte er gerechnet.
Eine Minute später meldete er sich bei Mademoiselle Devereaux, die für Belle die Amtsgeschäfte übernommen hatte. Primula Arno war im Moment im Außeneinsatz auf einem Kreuzfahrtschiff im indischen Ozean bei Réunion, wo sie die Künste eines Illusionisten namens Lunaticus Magnus überprüfen musste, ob dieser ein Zauberkünstler oder wahrer Magier war. Denn der Artist hatte auf seiner letzten Tournee Dinge vorgeführt, die schon sehr stark auf wahrhaft magische Vorgänge hindeuteten.
"Dann sind wir zwei heute alleine, weil die anderen nach der Rede unseres temporären Zaubereiministers wieder auf ihre Positionen zurückgekehrt sind", sagte die Schwester von Cimex und Valentine Devereaux und zwinkerte Julius dabei unpassend neckisch zu. Dieser war jedoch gewarnt und beherrschte sich so gut er konnte. Außerdem durfte er wieder in den Computerraum, wo er über eine Arkanettextschnittstelle mit seiner Mutter die letzten nötigen Einstellungen vornahm, um die neuen Rechner gänzlich auf die Überwachung des französischsprachigen Internets einzustellen.
"Und du bist sicher, dass der nach der Zerstörung erfolgte Zugriffsversuch von den Sonnenkindern kam?" textete seine Mutter ihm zu. Er bestätigte das.
"Kann dir passieren, dass Madame Grandchapeau oder Mademoiselle Devereaux dich noch einmal herzitieren, um dir die neuestenInstruktionen mitzuteilen, Mum."
"Dann sollen die das Chloe Palmer beibiegen. Die hat gedroht, mich mit einem dieser Walpurgisnachtringe an sich zu binden, um sicherzustellen, dass ich mit meinem übergroßen Bauchladen keine Überseereisen mache. Und ich dachte, Hera sei schon schlimm."
"Tante Trice ist genauso drauf, Mum", textete Julius zurück. Dann wünschte er seiner Mutter noch einen guten Resttag und bedankte sich, dass sie trotz der neun Stunden Rückstand zur mitteleuropäischen Zeit für ihn da gewesen war.
"ich weiß jetzt auch, auf wen Lucky, du und ich uns einstellen dürfen, Julius. Willst du es auch nicht wissen?"
"Wieso *auch nicht*?" fragte Julius zurück.
"Lucky will sich überraschen lassen. Er meint eh, dass Chloe mich gleich ganz durchsichtig hätte zaubern sollen, wenn sie immer wieder sehen will, wie es den drei Babys geht." Julius textete zurück, dass Prudence Whitesand das mal ausprobiert hatte, mit Umstandsbauch umsichtbar zu werden und der kleine Whitesand da wohl schon eine Art Lichtschock bekommen habe, weil er ja keine schützende Dunkelheit mehr um sich hatte. Seine Mutter textete einige Sekunden danach zurück, dass sie jetzt verstand, warum es schwangeren Ministeriumshexen in den Staaten verboten sei, auf Tarnbesen der Marke Harvey zu reiten. Julius überlegte dann, ob er jetzt schon wissen wollte, wer seine Halbgeschwister werden würden. Nach einer halben Minute tippte er in das Textaustauschprogramm:
"Ich möchte wissen, ob ich mich auf drei kleine Brüder, Schwestern oder von jedem mindestens eins einstellen darf, Mum."
"Nachdem Chloe alle drei mal von vorne hat sehen können werde ich Mum von je zwei Jungs und zwei Mädchen sein, wenn die drei Kleinen endlich ans Licht wollen." Julius atmete hörbar ein und aus, was seine Mutter natürlich nicht mitbekam. Zumindest die Frage war jetzt geklärt. Er fragte dann zurück, welche Namen seine Mutter den drei Neuen geben wolle. Sie textete zurück, dass sie da noch genauer drüber nachdenken wolle, weil es in den Staaten ja üblich sei, sich mit Initialen vorzustellen und Lucullus Enceladus Merryweather schon eine griffige Abkürzung sei. Er könne ihr ja helfen, passende Namenskombinationen zu finden.
"In der Zaubererwelt ist es auch üblich, dass die Vornamen der Großeltern eines Kindes mit in den Namen eingebaut werden", textete Julius zurück. Doch seine Mutter erwiderte:
"Ja, aber ich bin keine übliche Hexe, und die drei Neuen sind nicht wirklich auf übliche Weise in meinen immer umfangreicheren Unterleib eingezogen. Da kann ich dann von den Traditionen abweichen und werde dies auch tun. Lucky hat damit kein Problem, auch wenn er eben erst bei der Geburt wissen möchte, auf wen er und ich jetzt noch bis September oder Anfang Oktober warten müssen." Julius sah das ein und schrieb zurück, dass Millie und er ihre ganzen Namenssammlungen auf griffige Abkürzungsmöglichkeiten prüfen wollten, aber es am Ende ja ihr und Lucky überlassen sei, wie die drei Neuen hießen. Als er mit der Eingabetaste die Nachricht abgeschickt hatte fragte er sich, wieso er dabei mithelfen sollte, Namen für Kinder auszusuchen, die seine Mutter eigentlich nicht so haben wollte. Dann fiel es ihm ein, dass sie ja immer noch und bis zu ihrem Lebensende seine Mutter war. Wenn er ihr in dieser Lage helfen konnte, warum nicht?
Als er nach einem langen Tag voller Internetrecherchen zu angeblich magischen Vorfällen wieder zu Hause war bekam er die Aufforderung, sich bei Catherine Brickston zu melden. Als er bei ihr persönlich in der Rue de Liberation 13 eintraf winkte sie ihn in ihr Arbeitszimmer.
"Joe macht wieder Überstunden und Claudine ist bei Tante Madeleine. Bevor Babette in die Ferien kommt wollte ich dir erklären, wie das mit einer echten identifizierbaren Leiche angestellt wurde. Es gibt einen Zauber, dessen Einsatz höchst umstritten ist, weil er eigentlich einen Verstoß gegen mehrere Zaubereigesetze in Tateinheit bedeutet. Es gibt nur eine Sonderregel für Abteilungen für magische Strafverfolgung und auch das so volkstümlich Muggelkontaktbüro genannte Arbeitsfeld Nathalies. Hierbei können aus nicht durchbluteten Körperbestandteilen rein physisch nicht zu unterscheidende Ebenbilder der Originale erzeugt werden. Allerdings sind diese Ebenbilder tot. Similicorpus heißt der Zauber. Damit kann der Tot einer Person für Muggel unwiderlegbar vorgetäuscht werden. In der Zaubererwelt gibt es ein Verfahren, dass die Thanatomagier verwenden, um die Echtheit einer Leiche zu bestimmen. Dieser Zauber wirkt aber nur, wenn an den künstlich erschaffenen Leichnam keine zerstörerische Magie wie Sectum Sempra, Drachen- oder Dämonsfeuer gerührt hat. Merkwürdigerweise löschen derlei Zauber die verräterische Restmagie aus, die den künstlichen Toten erfüllt."
Julius wollte natürlich wissen, wie viele Körperfragmente nötig waren, um so einen scheinbar echten Toten vorweisen zu können und ob dieser Echtheitszauber auch bei in fremder Gestalt gestorbenen Vielsaft-Trank-Anwendern funktionierte.
Catherine bemerkte dazu, dass sie ihm diesen Zauber nicht beibringen würde, weil sie garantiert keinen Ärger mit ihrer Mutter haben wolle. Aber die zweite Frage beantwortete sie ihm: "Vielsaft-Trank-Anwender waren bis zu ihrem Tod lebendig. Der Zauber kann aber nur die Verwandlung von toten Dingen in scheinbare Leichen enthüllen, ähnlich wie Umbroriginis. Ein berühmter Thanatomagier namens Charon Mikragoras hat ihn vor fünfhundert Jahren in Athen erfunden und damit nachgewiesen, dass ein damals ähnlich wie Riddle und Sardonia gefürchteter Dunkelmagier namens Areophilos Chrysophagos seinen Tod vorgetäuscht hat, um seine Verfolger darüber im Unklaren zu lassen, dass er mit einer norwegischen Lykanthropin zusammengekommen war. Offenbar hat er Gefallen an der Natur der Werwölfe gefunden, weil er selbst einer wurde und mit seiner Gefährtin sieben weitere geborene Werwölfe in die Welt gesetzt hat. Ups, ich verliere mich in Belehrungen", stellte Catherine fest und lächelte. Julius sah sie jedoch nicht wie ein genervter Schüler an, sondern aufmerksam, jedes Wort von ihr begierig aufsaugend. Als sie jedoch nicht weiter über die Vergangenheit sprach sagte er:
"Daher musste Armands angebliche Leiche von Dämonsfeuer verbrannt werden, damit dieser Enthüllungszauber garantiert nicht funktioniert. Aber was ist mit der Rückschaubrille?"
"Tja, das wird den guten Florymont nicht begeistern, dass sein vorher so hochgelobtes Hilfsmittel zur Nachbetrachtung von Ereignissen für echte Straftäter keine Gefahr mehr bedeutet. Es muss nur ein Incantivacuum-Kristall in Kraft gesetzt werden, um eine Stunde um den Aktivierungszeitraum herum jede Rückschau zu vernebeln. Sicher werden Nathalie und Belle, die diesen Zauber durchgezogen haben, vor ihrem eigentlichen Täuschungsmanöver so einen Kristall in Kraft gesetzt haben. Alles in den Minuten nach der Entfesselung wurde zuverlässig verschleiert, inklusive der blauen Dämonsfeuerkreaturen, die Montpelier erwähnt hat. Vielleicht war es sogar Montpelier persönlich, der dieses Verhüllungsmanöver ausgeführt hat."
"Heftig!" fiel Julius dazu nur ein. Dann bedankte er sich bei Catherine für diese exklusive Theoriestunde in Täuschungszaubern.
"Auch auf die Gefahr hin, dass du ab jetzt jeden Todesfall in der Zaubererwelt kritisch hinterfragen magst, Julius. Aber ich halte es für richtig, deinen Wissensdurst in kontrollierbaren Dosen zu stillen."
"Ich werde es keinem erzählen, dem du nicht vertraust, Catherine", sagte Julius.
"Ich vertraue meiner Mutter sehr, auch wenn sie mich zwischendurch immer noch gerne als zu belehrende Schülerin behandelt. Aber ich bitte dich, dass du ihr gegenüber nicht erwähnst, dass ich dich in der Hinsicht aufgeklärt habe." Julius versprach es.
Die nächsten dreißig Minuten verbrachten Catherine und Julius damit, die Zeit nach Armand Grandchapeau zu erörtern. Catherine stimmte Julius zu, dass Montpelier und Lesfeux in einem kommenden Wahlkampf gegeneinander antreten würden. Julius verriet seine Besorgnis, dass er mit keiner der beiden Lösungen wirklich glücklich werden mochte. Catherine nickte beipflichtend und sagte:
"Armand ist am 20. April 1982 Nachfolger von Minister Pontanac geworden, also fünf Tage vor Millies Geburt. Pontanac hat damals fast einen Zaubererkrieg Frankreichs gegen Großbritannien vom Zaun gebrochen, um die Attentäter vom Sternenhaus zu bestrafen. Nur Riddles erste große Niederlage gegen Harry Potter hat ihn noch rechtzeitig gestoppt. Weil es aber nur wenige gab, die ihn lieber heute als morgen aus dem Amt verdrängt hätten, konnte er sich noch halten, hat sogar das Verschwinden Riddles als "seinen Sieg" ausgegeben. Nach seiner Wahlniederlage ist er mit seiner Familie nach Tunesien umgesiedelt, um einer möglichen Strafverfolgung wegen unzulässiger Gefährdung von Menschen unter Ausnutzung der Magie im Amt zu entgehen, etwas, was Didier ja auch mit vorgeworfen wurde."
"Das wusste ich nicht", erwiderte Julius darauf.
"Woher auch. Da warst du noch nicht geboren, und deine Mutter hätte nicht einmal im Traum daran gedacht, einen Zauberer unter dem Herzen zu tragen oder selbst einmal zur Hexe zu werden. Außerdem wohnten deine Eltern in England, ganze Welten Unterschied", entgegnete Catherine. Dann erwähnte sie, dass Pontanac der Großvater mütterlicherseits von Dexamenus Montpelier und damit der Urgroßvater von Callisto Montpelier sei, was Montpeliers Kandidatur in ein kritisches Licht rückte. Julius fragte sie, ob sie damit andeuten wollte, dass Montpelier einen Grund haben könnte, Armand Grandchapeau was heimzuzahlen.
"Das nicht, aber er könnte auf die Idee kommen, einiges, was sein Vorvorgänger eingeführt hat, wiederzubeleben, zum Beispiel den mit Eidesstein unterstützten Loyalitätstest und Schwur auf die Gefolgschaft des amtierenden Ministers", sagte Catherine.
"Das steht aber in den Verwaltungsstatuten drin, dass Anwärter so einen Schwur nur dann leisten müssen, wenn sie die fünf Jahre überstanden haben", sagte Julius.
"Ja, und dann auch nur, wenn ihre Beweggründe, für das Ministerium zu arbeiten, nicht ganz frei von Zweifeln sind", erwiderte Catherine. "Das war der letzte Rest, den Grandchapeau von seinem Vorgänger behalten musste, um nicht in den Verdacht zu geraten, Helfershelfer Riddles oder andere Widersacher ins Ministerium zu lassen."
"Ja, aber Pétain ist offenbar um die Einhaltung des Eides herumgekommen", vermutete Julius.
"Wieso, er hat sich immer an die Weisungen des bestätigten Ministers gehalten", antwortete Catherine verächtlich. Julius nickte.
Nachdem Catherine ihm das erzählt hatte, worauf er sich beim anstehenden Wahlkampf einrichten musste, fühlte er sich gerade selbst wie eine werdende Mutter kurz vor einer komplizierten Niederkunft. Das konnte er nicht für sich behalten, aber auch nicht so einfach rauslassen. Aber wozu hatte er das Denkarium? Catherine wusste sicher, das er eines hatte und konnte sich vielleicht auch denken, dass er es häufig genug gebrauchte, um ihm zu schwer auf Seele und Gewissen lastende Sachen darin abzulegen. So tat er dies auch mit den von Catherine erhaltenen Informationen. Das mit dem Leichentäuscherzauber, wie er Similicorpus nannte, verriet er Millie auf mentiloquistischem Weg, weil sie noch die kleine Chrysope stillte und Aurore mit einer Mischung aus Wehmut und Faszination dabei zusah. Millie deutete auf ihre nährenden Rundungen und meinte zu Aurore: "Honigbaguettes kommen da nicht raus, Kleines. Sei froh, dass du sowas schon essen kannst!"
Julius brachte die Erstgeborene in ihr Zimmer und spielte noch ein wenig mit den von Babette und Jacqueline gemalten Kalenderschweinchen, in dem er sie seinen Handbewegungen nachjagen ließ. Erst als Aurore in ihrem Kinderbett friedlich schlief verließ er das kunterbunte Kinderzimmer und legte sich neben seine Frau, die die Zweitgeborene gerade satt und müde in ihre Wiege zurückgebettet hatte.
Julius las die Nachricht einer gewissen Brenda Brightgate, die in den Staaten offiziell für die CIA-Datenanalyse arbeitete und eigentlich Mitarbeiterin des Marie-Laveau-Institutes zur Bekämpfung dunkler Magie aus allen Kulturkreisen war. Diese Brenda Brightgate hatte eine Bildübermittlung eines streng geheimen CIA-Satelliten abgefangen beziehungsweise deren Auswertung verfremdet. Die mit der Mitteilung übermittelten Bilder zeigten einen Mann bei einer alten Fabrik in einer Wüste, den mitgelieferten Koordinaten nach Ägypten. Deutlich war zu sehen, wie der Mann erst gegen drei und dann gegen fünf gefährliche Wesen mit Flügeln kämpfte, was in einer grellen Licht- und Hitzeexplosion endete. Julius hatte auch die dunkelhäutige Frau erkannt, die auf einem Einzelbild mit der Unterschrift "Darstellungswahrscheinlichkeit 90 %" einfach so aufgetaucht war, bevor die die Infrarotsensoren des Satelliten an den Rand des Totalausfalls treibende Explosion stattfand. Julius vergrößerte das Bild des Mannes und dann noch das der geflügelten Wesen, eindeutig in Fledermausform fliegende Vampire. Doch es war hell und die Sonne schien. Also konnten es nur jene ominösen Supervampire sein, die wohl durch den tückischen Unlichtkristall entstanden waren. Den Mann kannte er nicht. Die Frau dafür um so besser. Um es zu zertifizieren jagte er das einzige Bild, das die elektronische Kamera klar erfasst hatte durch die Personenkennungssoftware, die seine Mutter von Brenda "geborgt" und nach ihren Vorstellungen "verbessert" hatte. Er hatte bei der Einrichtung der Rechner alle ihm bekannten Feinde, darunter auch Anthelia und die Abgrundstöchter, in dieses Erkennungsprogramm eingepflegt. So wunderte er sich nicht, dass es nur eine halbe Minute später den festgelegten Alarmton gab und die rote Schrift: "Warnung, Tarlahilia" unter dem Bild aufblinkte. Also war neben der Tochter des schwarzen Felsens noch die Tochter der schwarzen Mittagssonne wiedererweckt worden. Doch der Typ, mit dem sie gegen die Vampire kämpfte war nicht Aldous Crowne. Als er durch Nachfrage bei Brenda Brightgate erfuhr, dass der Mann ein ehemaliger Sonderagent des MI6 war, Spezialgebiet endgültige Problemlösungen, lief es Julius den Rücken hinunter. Da war ein Geheimagent, der wohl die berühmt-berüchtigte Lizenz zum Töten hatte, zum Abhängigen dieser Sonnendämonin Tharlahilia geworden. Die Bilder hatten gezeigt, dass er innerhalb von Sekunden mehr als zweihundert Meter zurücklegen konnte, was wohl hieß, dass er entsprechend gestärkt worden war. So ein Mensch mit dem Wissen um Tötungsarten, sicher auch Meister aller waffenlosen Kampfkünste, war ein gefährlicher Gegner, Julius' Gegner?
Maria Valdez hatte nicht erfahren, wo die Reise hinging. Sie hatte nur gewusst, dass es darum ging, ihr Kreuz an so genannten Normalvampiren auszuprobieren. Dass diese nicht getötet und zu Asche verbrannt wurden wusste Maria ja schon längst, weil ihr Schutzartefakt keine Vernichtungswaffe war. Gerade die Wirkung auf den grauen Vampir hatte bewiesen, dass es seine Kraft nur zur Heilung und dem Schutz freisetzte. Der ehemalige graue Vampir hatte nach der Verjüngung das gesunde Blut eines gerade wenige Tage alten Menschenkindes aufgewiesen. Er war jedoch kein ehemaliger Zauberer. Feststand jedoch, dass er durch Marias Kreuz mit einer Art Sonnensegen aufgeladen worden war, jenem Zauber, der Gegenstände und Personen für Vampire unberührbar machte und bei direkter Bezauberung von Vampiren deren Kräfte raubte oder sie sogar töten konnte. Damit war der kleine Junge, den Heilerin Greensporn Felix Newman genannt hatte, auf absehbare Zeit vor anderen Vampiren sicher. Maria Valdez durfte eine geheime Unterhaltung zwischen der Sprecherin der US-amerikanischen Heilmagier und jener der Franzosen mithören, aber dabei nicht im selben Raum sein. Das Kannte sie schon von damals, wo es um Claude Andrews' Zusammentreffen mit Itoluhila gegangen war. Bei der Unterhaltung war die Vermutung erhoben worden, dass der dunkle Rauch, der sich in goldene Funken verwandelt hatte, von jener Substanz stammte, mit der aus einem gewöhnlichen ein scheinbar übermächtiger Vampir gemacht worden war. Da diese Substanz laut Antoinette materialisierter Tod war hatte sie sich wohl beim Ausdünsten in Lebensenergie umgewandelt. Womöglich hatte dabei auch eine seelische Reinigung stattgefunden, also eine vollständige Befreiung von allen dunklen Erinnerungen und Untaten, weshalb Felix Newman, wenn er als unbedenklich für die Menschheit eingestuft wurde, als eines von immer noch vielen Findelkindern in einer neuen Familie aufwachsen konnte, ohne sich daran zu erinnern, dass er mal zu den gefährlichsten Feinden der Menschen gehört hatte. Zusammengezuckt war Maria bei der Erwähnung Mrs. Greensporns, dass Antoinette sich bald entschließen müsse, ob die unter ihrem Schutz stehende Person, die diesen Vorgang herbeigeführt hatte, ein vollwertiges Mitglied der magischen Welt wurde. Denn, so diese Mrs. Greensporn, eine Person ohne eigene Zauberkräfte würde auf Dauer den Bestand der alten Ahnenreihe gefährden und obendrein ohne Schutz durch ein Zaubereiministerium leben müssen. Darauf hatte Antoinette geantwortet, dass es Anzeichen gäbe, dass einige Zaubereibehörden in Amerika wohl unterwandert seien. Das hatte Mrs. Greensporn zum verächtlichen Lachen getrieben.
"Erzählen Sie mir mal was neues, Antoinette. Wir müssen immer darauf gefasst sein, dass Vita Magica, die Mondbrüder oder der Spinnenorden schon irgendwelche Schläfer bei Ihnen und uns in Stellung gebracht haben. Ich als Heilerin und vor allem Hebamme kann dazu nur sagen, dass jeder Mensch von Geburt an unschuldig ist, bis er bewusst eine Untat begeht und diese ihm nachgewiesen werden kann. Sollen wir jetzt den Fehler Wishbones wiederholen und Leute wegen Abkunft oder Geschlecht verdächtigen?"
"Nein, natürlich nicht", hatte Antoinette darauf erwidert. Damit war die Sache zunächst erledigt.
Der Portschlüssel, eine von Almadoras alten Teekannen, hatte sie direkt vor einer alten Ruine irgendwo auf der Welt abgesetzt. Maria fühlte sofort das sanfte Vibrieren ihres silbernen Kreuzes. Irgendwas war hier.
"Er ist wohl schon hier", meinte Almadora im Flüsterton und hielt ein silbernes, gurkenförmiges Etwas in den Händen. Dann sagte sie: "Gehen wir hinein!" Maria Valdez nickte ihr zu.
Das Haus mochte aus dem 19. Jahrhundert stammen. Maria vergaß es, über die Architektur das Haus genauer einzuordnen. Was an dem Haus so auffällig war waren die lichtdicht vernagelten Fenster, und dass man durch drei Türen musste, um ganz in das Innere zu gelangen. Maria hatte ihr silbernes Kreuz nun offen vor der Brust baumeln. Irgendwo steckte der Vampir, den sie aufsuchen wollten, einer, der sich bereiterklärt hatte, gegen die neue Macht zu kämpfen, weil er fürchtete, dass diese ihn zur Marionette machen würde.
"Nicht die Treppen hoch, die sind morsch", zischte Almadora, nachdem sich Maria und sie an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Maria fragte, ob er nicht in einem der oberen Stockwerke sein konnte. Das verneinte Almadora, nachdem sie ihr besonderes Suchgerät genau befragte. Dann erklang eine halblaute, sonore Bassstimme von rechts vorne.
"Ich dachte, Sie wären allein gekommen, Señorita Fuentes. Die andre hat was an sich, was mir missfällt. Wollen Sie mich beleidigen?" Der Mann sprach Spanisch mit peruanischem Akzent, erkannte Maria.
"Sie haben uns angeboten, mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Erfahrungen mit anderen Ihrer Art haben uns leider gelehrt, keinen Vertrauensvorschuss zu gewähren. Sie wollten mit uns sprechen. Wir wissen nur, dass Sie vor hundert Jahren zu einem Sohn der Nacht wurden. Mehr wissen wir nicht."
"Ja, und dass ich nicht zu den Sklaven der schlafenden Göttin werden will", knurrte die Stimme des Fremden im Dunkeln.
"Wer sagt uns, dass dies keine Falle ist", sagte Almadora darauf. "Immerhin sind Sie hier nicht das einzige Nachtkind."
"Was Sie nicht sagen", schnaubte der Unbekannte. "Aber die andere da soll rausgehen. Was immer sie an sich hat stört mich sehr heftig. Wenn sie nicht geht wird das nichts mit der Zusammenarbeit."
"Meine Schutzbefohlene bleibt, um zu lernen, wie wir mit Angehörigen Ihrer Art verhandeln, um es richtig zu machen."
"Die soll verschwinden oder ich jage euch meine Brüder auf den Hals, und das ganz wörtlich!" schnaubte die Bassstimme. Maria machte sich darauf gefasst, gleich angegriffen zu werden.
"Wir können uns wehren", sagte Almadora. Das war wohl der Provokation genug. Maria fühlte einen Luftzug von links vorne. Unvermittelt umhüllte sie eine blutrote Aura, deren Licht gespenstisch von den Wänden widerschien wie die Glut von Kohle. Da sprang etwas aus der roten Dämmerung auf sie zu und voll hinein in einen blutroten Lichtstrahl, der ihn weit weit zurück in den raum warf. Almadora hatte sich selbst gerade mit dem Segen der Sonne belegt und stellte sich hinter Maria. Zwei weitere Gegner sprangen nun von rechts und von oben auf sie zu. Doch jeder geriet im Flug in einen roten Abwehrstrahl hinein, der ihn auf die fünffache Armlänge zurückwarf. Ein Einschließungs- und Verjüngungseffekt wie bei dem grauen Vampir trat jedoch nicht ein. Als dann ein dickbäuchiger Mann im schwarzen Samtanzug auf Maria zustürmte hielt sie ihm das Kreuz entgegen. Es strahlte noch einmal rot auf. Der Angreifer lachte erst. Doch als ihn auch der rote Energiestrahl erwischte und weit zurückwarf lachte er nicht mehr. Da fiel Maria ein, dass sie keine Rückendeckung hatten. Kaum hatte sie das gedacht glühte die sie umkleidende Aura hell auf. Gleichzeitig hörten sie einen Schmerzenslaut von einem hinter ihnen steckenden Angreifer.
"Bruder, die haben sich mit zwanzig oder mehr dieser verdammten Blutschutzzauber angereichert."
Diese Meldung trieb die Angreifer dazu, aus allen Richtungen zugleich vorzustoßen. Doch das führte dazu, dass aus einer reinen Leuchterscheinung ein massiver Dom aus rotem Licht wurde, gegen den alle prallten, um laut aufschreiend zu Boden zu stürzen. Offenbar hatte der Anprall den Vampiren das Bewusstsein geraubt. Das rote Licht verringerte sich zu einer schwachen Aura um Marias und Almadoras Körper. Die wilde Vibration des Silberkreuzes ließ bis auf ein leichtes Pulsieren nach.
"Offenbar wirkt das, was ich in Mexiko-Stadt erlebt habe nur bei dieser Ab art von Vampiren", sagte Maria und hielt einem der am Boden liegenden das Kreuz entgegen. Es glomm ein wenig heller, verschoss aber keinen Rückprellstrahl oder machte etwas anderes. Maria probierte es aus, was passierte, wenn sie einen der Vampire mit dem Kreuz berührte. Am Ende stimmten die Vampirmärchen der magielosen Welt doch noch.
Als sie das Kreuz an den dicken Vampir im Samtanzug heranführte prallte sie auf Widerstand. Es war, als seien der Blutsauger und das Kreuz zwei starke Magnete, die mit denselben Polen aufeinanderzeigten. Maria kam nicht einmal bis auf zehn Zentimeter an den Vampir heran. Dann meinte sie eine warme, aber gestreng klingende Frauenstimme im Kopf zu hören: "Bedränge nicht, jenen, der schon wehrlos ist!" Maria erkannte die Stimme. Das war dieselbe, die sie in jenem Traum gehört hatte, als Ashtaria sich ihr gezeigt und ihr verraten hatte, dass sie ihre Urmutter war. Sie fühlte, wie sie bis zum Hals errötete. Also konnte ihr Kreuz wohl doch einen dunkelmagischen Gegner töten, wenn sie es ihm aufdrückte. Um das zu vermeiden stieß es den anderen zurück oder bot Widerstand auf, um den anderen nicht zu berühren.
"Wir können hier nichts neues mehr lernen", sagte Maria zu Almadora. Diese nickte. Die Möglichkeit, eine wirksame Entvampirisierungsvorrichtung zu haben, war wohl nur eine Wunschvorstellung gewesen.
Mit dem Portschlüssel ging es wieder zurück nach Misty Mountain. Maria vermutete, dass Ashtaria diejenige war, die ihrem Silberkreuz eine gewisse Eigenständigkeit verlieh. Damit konnte Almadora leben, und Maria Valdez auch. Sie war nun sehr beruhigt, dass sie nicht völlig schutzlos in der Welt herumlief. Wozu sollte sie dann eigene Zauberkräfte erwerben, die sie doch nur irgendwann in große Versuchung führen mochten, mit guten Absichten die schlimmsten Taten zu verüben. Nein, so wie es war war es gut, Gottes Wille, wenn sie es auf ihre ursprüngliche Religion bezog.
Der von übergroßem Wohlstand schwer und beleibt gewordene Mann sprach in das Reinsprechende seines Fernsprechgerätes hinein. Hinter ihm stand, für seine Augen unsichtbar, den Zauberstab auf ihn haltend, Omar ben Faizal Al-Hamit.
"Djamal, ich schick dir das Geld gleich aufs Konto in Genf. Der Typ hat mir die Diamanten echt ins Schließfach gelegt. Alle echt und vom Wert her was er gesagt hat. Kriegt ihr das hin, was ich euch gesagt habe? - Ich habe mich abgesichert. Wenn der Kerl mich beschupst kriegt der Besuch von meinen anderen Partnern. - Neh, ihr kennt den besser nicht, sonst müsste ich euch glatt zu Allah und euren Vätern schicken ... is' klar! - Ja, ihr bekommt die Anzahlung. Aber ihr müsst was mitbringen, um zu zeigen, dass ihr den Auftrag auch erledigt habt. - So'n Silberstern an 'ner Kette, fünfzackig, wohl eine Art Erbstück. - Ja, mein Auftraggeber besteht darauf, weil er nur so weiß, dass die Sache gelaufen ist, wie sie sollte. - Nein, der will das Ding nicht verkaufen und auch nicht verschenken. So 'ne alte Tradition. Der darf es erst rausrücken, wenn er tot ist. Pech für ihn. - Seh ich auch so, wer nicht will der hat schon. - Gut, ihr zieht die Sache in den nächsten sieben Tagen durch. Wenn ihr das vermurkst seht zu, dass ihr nirgendwo auftaucht, wo ich Verwandtschaft habe, und meine Urgroßeltern waren wie die Wüstenmäuse und haben mir eine Menge Großtanten und Großonkels und die wieder eine Menge Tanten, Onkel und Vetter hinterlassen, von meinen eigenen Brüdern und Neffen ganz zu schweigen. - Also vermurkst es ja nicht! - Wusste ich, dass ihr das versteht. Bis dann!""
"So sei es", dachte Omar Al-Hamit. Er konnte sich wieder zurückziehen. Bis auf die Überredung des heimlichen Königs der Verbrecher von Beirut hatte er keinen Funken Magie benutzen müssen. Denn das war wichtig, dass sein Auftrag ohne Zauberkraft ausgeführt wurde.
27. Juni 2002
Hallo Wendy!
Letzte nacht habe ich geträumt, dass Heathers Geist so klein wie eine Fee in mich hineingeglitten sei um zu sehen, ob es ihrer ehemaligen Tochter auch wirklich gut geht. Ich hörte sie dann in mir zwitschern, dass Rosey wirklich gut untergebracht sei. Wenn ich überlege, dass ich sie jetzt schon einen vollen Monat trage, schon heftig, wie schnell die Tage vergangen sind.
Ich habe mit Laura ausgemacht, dass sie der kleinen Rosey den Weg aus meinem Unterleib zeigt. Ich finde, das ist doch ein schönes Ding, dass Heather über ihren Großonkel bei Laura angeklopft hat und Laura dafür Rosey auf die Welt helfen darf. Außerdem schließt sich auch hier ein Kreis, weil Heathers Mutter als Baby von Laura auf die Welt geholt wurde. Bei der Gelegenheit darf ich dir vermelden, dass Olivia es wahrhaftig hinbekommen hat, schon in der fünften Woche zu sein. Ihre große Schwester wird das zwar nicht so begeistern, aber ich freue mich für Roy und Dina. Wenn das kleine Fielding eine Hexe wird bekommt sie sicher ähnlich blonde Haare wie Olivia. Wenn es ein Junge werden soll kann ich mir einen kleinen Roy Fielding im blauen Strampelanzug vorstellen. Allein schon die Gedanken an süße kleine Babys machen mich richtig munter. Fehlt nur noch, dass in Lauras Nachbarschaft so ein kleines, lautes, quirliges Menschenbündel ankommt.
Sonst ist heute nicht viel gelaufen, außer ausgiebige Schwangerschaftsgymnastik und herbologische Korrespondenz mit Lauras Kollegen aus Belgien, weil der Sonnenkrauttinktur haben will. Um die Tarnung aufrecht zu halten, Muggelärzte zu erforschen, lese ich mich durch aus der Stadt hergeschaffte Zeitungen. Lauras kleiner Hauself Witty hat keine Probleme damit, durch die Straßen zu ziehen und Fachzeitschriften einzustecken, sofern die schon im Papiermüll gelandet sind.
Bis morgen, Wendy!
Jophiel Bensalom sah den weit entfernten Verwandten und anerkannten Meister des Sechserrates ehrfürchtig an, als sie sich im unterirdischen Tempel einer altsumerischen Kultgemeinschaft trafen. Obwohl Jophiel wie Hassan Al Burch Kitab den Silberstern aus Ashtarias Linie trug war er im Vergleich zu diesem noch sehr unerfahren. Doch er hatte was, was Hassan nicht hatte, einen gleichgeschlechtlichen Erben.
"Ist es also wahrhaftig, dass der Kampf und die Opfer unserer Vorfahren sinnlos war und die zwei in unserem Zuständigkeitsbereich bezwungenen Schwestern die Fesseln der Verbannung abgeschüttelt haben", seufzte Hassan. Jophiel nickte. Sein ägyptischer Schwiegerneffe hatte es bestätigt, dass in der Nähe der schwarzen Pyramide kein schlummernder Zauber mehr wirkte. Damit stand fest, dass Tarlahilia, die Tochter der schwarzen Mittagssonne, ebenfalls wiedererweckt war. Auch von einem ihr unterworfenen Menschen, der durch ihre Magie zu einer Art Halbdämon mit übergroßen Kräften geworden war hatte er erfahren und dass dieser Mensch im früheren Leben vom Töten gelebt hatte, also ein ungleich wertvoller Kämpfer für dieses Geschöpf war. Er berichtete von jenem Zusammenstoß zwischen diesem Unterworfenen und einer Gruppe jener durch finsteren Kristallstaub veränderten Blutsauger, bei dem ein großes Haus in einer überheftigen Hitzeentladung eingeäschert worden war.
"Und dann noch dieser Dschinnenmeister, von dem wir seit seiner Flucht nichts mehr vernahmen", seufzte Hassan. Jophiel nickte. Dass die in Asien hausende Abgrundstochter Thurainilla ebenfalls erwacht war hatten sie von ihrem Mitbruder aus Bengalen erfahren, der offiziell Priester des Gottes Hanuman war und dessen Vorfahre damals zu jenen gehört hatte, die die Schattenbändigerin, wie sie auch genannt wurde, in einem harten Kampf bezwungen und in den tiefen Schlaf gebannt hatten. Entsprechend besorgt hatte sich jener heute lebende Morgensternbruder geäußert, der Rache dieser überschönen wie harmlos kindhaft aussehenden Feindin verfallen zu sein.
"Die sprechenden Steine haben es vorausgesagt, hat mein zu den Vorvätern gerufener Vater mir erzählt. Wenn ein junger Träger der Magie in sechs Gestalten, eine Angeboren, vier freiwillig angenommen und eine für eine Weile aufgezwungen wandelte und unter dem Siegel der alten Königin des Lichtes Hand auf den Finder alter Pfade legen kann, so wird die alte Macht der Dunkelheit erstarken, und der Geist dessen, der alles in Finsternis stürzen will wird finden einen lebenden und einen toten Sklaven, zu wüten unter den lebenden. Dabei werden die in in ewigen Schlaf gebannten Töchter ohne Vater erwachen und ihren Hunger nach Leib und Seele von Männern stillen. Wenn die Türme des Goldes im fernen Abendlande von zwei von Zorn getriebenen ehernen Drachen zu Fall gebracht sind, so wird der Sklave des dunklen Königs erstarken und sich auf die große Schlacht um die Welt vorbereiten."
"Du hast die Worte wohl gelernt. Ich ärgere mich, dass Yassin den Jungen damals aus Angst mit Gewalt zurückhalten wollte. Er hätte ihm die Prophezeiung verkünden müssen und gewähren müssen, dass er mit der erwählten in einem von unserer Bruderschaft bewachtem Hause wohnt und gedeiht."
"Mein in Frieden ins Reich unserer Vorväter eingekehrter Vater hat mir nach dieser unrühmlichen Tat Yassins erzählt, dass dieser wohl deshalb so gehandelt hat, weil er eben so lange ohne Kontakt zur restlichen Menschheit in der alten Festung des Wissens gewohnt hat, nachdem ihm Leila derartig übel Herz und Seele verdarb, das ihm weibliche Nähe wie der Hauch allen Bösen vorkam."
"Das ist eine Erklärung, aber keine Rechtfertigung für sein überängstliches Handeln. Dann noch gegen unschuldige Menschen den Fluch der Blutrache zu wenden, wo wir alle gelobt haben, nur dann die vernichtenden Kräfte zu verwenden, wenn sie gegen klare und unbezwingbar erscheinende Feinde aller Menschen zu richten sind", schnaubte Hassan. "Doch was erbringt es, noch einmal über längst unumkehrbar gewordenes Leid und Ungemach zu jammern?" beendete er das Thema. "Wichtig ist, dass wir nun ergründen, wie wir unsere Kräfte auf die neuen Feinde und gegen das Bestreben des dunklen Königs richten, ohne von den wiedererwachten Töchtern ohne Vater geschwächt zu werden." Jophiel bestätigte dieses Ansinnen. "Wir beide tragen das Erbe unserer Urväter. Wir müssen uns für den Tag bereitmachen, gegen ihn selbst anzutreten. Die alten Feindinnen unserer gemeinsamen Urmutter dürfen uns davon nicht abbringen, auch wenn wir vordringlich auch gegen sie anfechten müssen."
"Mein Vater und ich sind damals, als ich noch ein ganz junger Knabe war, in das Abendland gereist, um die dunklen Kristalle der geballten Grausamkeit zu zerstören. Warum dürfen wir nicht auch gegen die nie in Schlaf gebannte ankämpfen? Wir hätten die Erweckung ihrer Schwestern dann sicher verhindert", warf Jophiel ein.
"Was dein Vater damals mit dir getan hat gelang nur, weil er wie ich Träger des alten Zeichens war. Doch um die vaterlos empfangenen Töchter der dunklen Erzmagierin zu bekämpfen reicht einer alleine nicht aus. Auch mit der ganzen Kraft unserer Heilssterne ist ihnen nicht vollständig beizukommen. Der Siegelträger und von Ashtarias Gnade zu ihrem Sohn erkorene musste mit unseren Verwandten aus dem Westen zusammenwirken, um sich aus der Gefangenschaft der Windhetzerin und der in ihrem Leib gefangenen Entfacherin des schwarzen Feuers zu befreien. Und wir wissen nicht, wo genau die nie gebannte Ruferin der dunklen Wasser ihre Behausung hat. Die anderen Erwachten haben ihre Behausungen bereits aufgegeben und verlegt. Solange wir nicht wissen, wohin, ist jeder Widerstreit sinnlos. So müssen und werden wir uns nun auf die rein menschlichen Feinde besinnen, allen voran den von der Versuchung vergifteten, die Macht der Dschinnen zu beherrschen und zu seinem Dienst zu rufen, wann und wo er will. Er könnte im Ernst dem von dunklem Kristall vergifteten Sklaven des dunklen Königs zuneigen und sich ihm unterwerfen."
"Bei allem Respekt vor deinem Wissen, Meister Hassan", setzte Jophiel an. "Doch Hamit wird sich hüten, seine Fähigkeiten in den Dienst dieses von dunkler Versuchung und unbändiger Zerstörungskraft geleiteten zu stellen, wo er da selbst meint, der stärkste Zauberer unter unserer erhabenen Sonne zu sein."
"Woher nimmst du diese Zuversicht, Jophiel?"
"Aus der Gewissheit, dass er sich für den Meister aller Dschinnen hält und sich darauf beruft, der heimliche Spross des weisen Magiers Sulaiman und der schönen, mächtigen und ebenfalls zauberkundigen Herrin der Sabäer zu sein, also von königlicher Abstammung zu sein. Ein Prinz unterwirft sich nicht einem Sklaven, selbst wenn der Herr des Sklaven ein wahrhaftiger Dämon ist."
"Und wenn er für sich und sein Werk keine andere Möglichkeit sieht?" wollte Hassan wissen.
"Wird er eher seinen Tod umarmen als sein Haupt unter die Hand des Sklaven des Unaussprechlichen zu beugen", sagte Jophiel zuversichtlich. Dann schlug er allen Ernstes vor, ein Friedensangebot an Omar ben Faizal Al-Hamit zu senden, um mit ihm zusammen gegen die aufkommende Bedrohung aus alter Zeit und die Abgrundstöchter anzukämpfen. Hassan lachte verächtlich. Jophiel wartete nicht erst, bis Hassan darauf antwortete und sagte schnell: "Meister der Dschinnenkunde haben wir doch selbst in unseren Reihen. Einer mehr wäre womöglich ein Gewinn."
"Er ist zu sehr dem dunklen Pfad verfallen, Jophiel. Und wie du selbst erwähnt hast, er hält sich für einen Prinzen, der irgendwann sein altes Reich wiedererlangen möchte. Nein, er wird nicht auf Frieden mit uns ausgehen."
"Das heißt, mit ihm Krieg zu führen, wenn er zur Schlacht ruft", seufzte Jophiel Bensalom. Sein Gesprächspartner bejahte es unwillig.
An diesem Tag erhielt Julius drei Nachrichten, die ihn sichtlich bewegten.
Da war zum einen die Zeitungsmeldung, dass die verbliebenen Überreste Armand Grandchapeaus vollständig zu Asche verbrannt worden waren, um sie in einer Urne im Familiengrab seiner Großeltern beizusetzen. Die feierliche Zeremonie sollte am 7. Juli stattfinden.
Die zweite Meldung war eine Bestätigung dessen, was Julius schon bei der Vollversammlung mitbekommen hatte. Granatus Lesfeux hatte in einem offenen Brief an den Miroir Magique seine Kandidatur um das Amt des Zaubereiministers verkündet. Damit stand für Julius fest, dass er in den nächsten Monaten wenig bis gar nichts zu lachen haben würde, und das alles wegen Euphrosynes Mädchentraum vom Leben als superschöne Spielerfrau.
Meldung Nummer drei erreichte ihn über das Arkanet. Offenbar hatte seine Mutter den Weizengolds geschrieben, dass Julius derzeit der alleinige Zugriffsberechtigte war. Daher bekam er eine Arkanet-E-mail mit einem Verschlüsselungscode, der aus dem Wort bestand, dass das Lied bezeichnete, zu dem er auf dem Weihnachtsball von Beauxbatons den ersten Tanz mit ihr getanzt hatte, wo Millie wegen der ersten Schwangerschaft nicht mittanzen durfte. Als er den Begriff in das Eingabefeld für den Schlüsselnamen getippt hatte las er, dass einen Tag zuvor ein Mann auf einem Motorrad in einer Fabrik in Norddeutschland amokgefahren war. Der Mann konte sich und sein Motorrad in eine Schattenform verwandeln und dabei ein Licht und Freude schluckendes Zauberfeld verbreiten, ähnlich wie die Dementoren, die ja auch wieder aufgetaucht waren. Warum Bärbel nur ihm und dann auch verschlüsselt diese Nachricht schickte ging daraus hervor, dass die Sache zum zweithöchsten Geheimnis erklärt worden war und dass der marodierende Motorradfahrer-Schatten-Hybrid als Aldous Crowne erkannt werden konnte, jenen, von dem Julius erwähnt hatte, dass er zum Aufwecken einer Abgrundstochter verwendet werden konnte. Wegen der verbreiteten Dunkelheit kam er auf Thurainilla, die Tochter der kosmischen Dunkelheit. Das rief schlimme Ahnungen in ihm wach und auch einen leisen Selbstvorwurf. Hätte er damals nicht Hallitti in Ilithula zum doch noch ewigen Schlaf befördert, wäre Itoluhila, die in Spanien als Schutzpatronin freischaffender Huren selbst immer wieder Freier empfing, wohl nicht auf die Idee gekommen, noch schlafende Schwestern aufzuwecken. Dann fiel ihm ein, dass sie spätestens beim Auftauchen Vengors oder der Supervampire versucht hätte, ihre schlafenden Schwestern wachzukitzeln. Unheimlich war es schon, dass diese superschönen Biester Jahrhunderte verschlafen hatten und ausgerechnet in seiner Lebenszeit wieder aufgeweckt wurden. Wer würde da noch alles wiederkommen?
Julius schickte Bärbel eine Antwort und erwähnte darin, wie gefährlich die betreffende Abgrundstochter sei, dass sie sicher sogar mit den Dementoren fertig werden konnte, obwohl er keine entsprechende Erwähnung darüber bekommen hatte. Jetzt war er aber in einer Zwickmühle. Eigentlich hätte er diesen Vorfall weitermelden müssen. Andererseits hatte Bärbel gegen die Sicherheitsbestimmungen ihres Ministeriums verstoßen. Würde er es weitermelden hängte er sie hin und machte sich wegen fortgesetzten Verstoßes gegen die internen Geheimhaltungsregeln schuldig. Auch das schrieb er ihr. Darauf kam die Antwort, dass sie bereits bei ihrem Dienstherren, "den ich von Geburt an kenne" entsprechend vorfühlen wollte, ob er diese Angelegenheit nicht zu einer Frage internationaler Bedeutung machte. Zudem schrieb sie noch, dass ja demnächst wohl eh ein Treffen der europäischen Zaubereiminister stattfinden würde, weil es ja einen neuen Zaubereiminister in Frankreich gebe. Julius schloss das nicht aus.
Millie hatte es sich abgewöhnt, Camille und Julius bei ihren Gartenrundgängen zu begleiten. Auch wenn sie an und für sich viel von ihrem großen Garten hielt, so hatte sie doch nie den richtigen Bezug zur Gartenarbeit gefunden. Ihr Mann ging darin auf, wenn er viele Tage hintereinander gearbeitet hatte. Und seit dem Chrysope schon vor zehn Uhr ihre letzte Milchmahlzeit in sich eingesaugt hatte und deshalb schon tief und fest schlief, konnte er sich dann auch wieder um ihren kleinen Garten, ihr kleines Rosenbeet, kümmern, es umpflügen und bewässern, auf dass es vielleicht irgendwann wieder eine neue Rose oder einen strammen Schößling hervorbringen würde. Doch jetzt im Moment waren ihr der große Garten um das Haus und der kleine Garten zwischen ihren Schenkeln egal. Sie wollte Klavier spielen, mal wieder Musik machen. Immerhin sah Rorie es ein, dass wenn ihre Ma auf den langen weißen und schwarzen Stäben in der großen schwarzen Kiste drückte ihre Musik schöner klang als das, was Rorie aus der Kiste heraushämmerte. Außerdem, seitdem Chrysie da war machte Aurore immer wieder gerne schönes Wetter bei Maman und stellte nichts an, was sie böse machte. Auch saß sie wie jetzt ganz gerne neben ihr auf der Klavierbank und kuschelte sich an.
Millie spielte ein langsames Werk von Johann-Sebastian Bach, das sie aus einem Buch ihrer Schwiegermutter abspielte. Eigentlich gehörten da noch ein Cello oder eine Altflöte zu. Sicher würde Julius mal wieder mit ihr zusammen Musik machen. Da fühlte sie auf einmal einen starken Hitzestoß durch den Herzanhänger. Im nächsten Moment hörte das magische Schmuckstück zu pulsieren auf. Millie erschrak. War Julius was passiert? Mitten unter der Schutzglocke von Millemerveilles, auch noch in der weißmagischen Aura Ashtarias und der fünf Apfelbäume? Sie riss die Hände von den Tasten. Aurore erwachte aus einem Halbschlaf.
"Was'n los?" brummelte sie.
"Muss nach Pa sehen", sagte Millie und stand auf. Da fühlte sie einen leichten Wärmestoß durch den Herzanhänger, der sich spürbar vergrößerte und dann, ganz bedächtig, wieder zusammenzog. Also war Julius nicht tot, und die Verbindung war auch nicht abgerissen.
Immer wenn er sein Elternhaus betrat musste er daran denken, dass er vor anderthalb Jahren noch gedacht hatte, hier sicher zu sein. Dann aber war der dunkle Sandsturm gekommen, ein Angriff der Abgrundstochter Ilithula. Zwar hatten die mächtigen Abwehrbannzauber um das Haus die Hauptwucht des Sturmes zurückgedrängt. Doch Sie hatten sich nach einer Stunde restlos erschöpft. Wie immer Ilithula das angestellt hatte, der Sturm hatte einen dichten Ring aus dunkler Magie um das Haus gelegt und alle Insassen darin betroffen. Weil Hassan zu dem Zeitpunkt in Marokko gewesen war, um gegen den in einem vierzehnjährigen Mädchen eingefahrenen Geist einer altägyptischen Hexengroßmeisterin zu kämpfen und das Mädchen nur dadurch erlösen konnte, dass er es mit dem Fluch der bewussten Wiederverjüngung zur Neugeborenen zurückverwandelt und den in ihr aufgekeimten Geist mit der Heilssternformel ausgetrieben hatte, war er zu spät gekommen. Seine Frau und seine drei Schwestern waren ohnmächtig im Haus liegend gefunden worden. Schlimmer aber war, dass seine acht Töchter, die mit seiner Frau ein Fest zu seinem achtzigsten Geburtstag vorbereiten wollten, alle von einem verheerenden Zauber betroffen waren, der ihnen und seiner Frau die Fruchtbarkeit geraubt hatte. Wie immer Ilithula dies angerichtet hatte, damit stand fest, dass er trotz aller Mühen und Hoffnungen, den ersehnten Sohn zu zeugen oder zumindest einen Enkelsohn zu haben, die Verpflichtung seines Urvaters nicht einhalten konnte. Ja, und sich eine neue Frau nehmen durfte er auf Grund eines mit seinem und ihrem Blut besiegelten Rituals erst, wenn ihr Herz nicht mehr schlug. So lange begegnete er jeder Frau mit Gleichgültigkeit bis Ablehnung, eigentlich ein guter Schutz gegen Wesen wie die Abgrundstöchter oder weibliche Blutsauger. Doch jetzt verbaute ihm genau dieser Schutz die Möglichkeit, den Weg seines mächtigen Erbstückes zu verlängern.
Seit der schweren Niederlage gegen Ilithula hatte er die Schutzzauber zwar erneuert und durch die Bezauberung von ihm gesäter Pflanzenkeime erheblich verstärkt. Doch das Unheil war vollendet. Das war Hassans schwerste Seelenlast.
Durch Ilithulas Fluch waren seine Frau und seine Töchter zu gleichgültigen, eher durch die Tage dämmernden Wesen geworden. Deshalb schlief seine Frau noch, während er es sich nicht nehmen ließ, die aufgehende Sonne zu begrüßen. Hierfür setzte er sich auf die von drei Seiten mit Büschen umsäumte Terrasse seines Hauses und blickte nach Osten. Rot und verheißungsvoll glitt das Tagesgestirn über dem Horizont nach oben. Bald würde die Sonne in ihrer ganzen, weißgelben Pracht erstrahlen. Ein Tag mehr in seinem nun schon über achtzig Jahre langem Leben, das dem Kampf gegen die dunklen Wesen und Kräfte gewidmet war. Doch irgendwie überkam ihn das Gefühl, als sei dies heute der letzte Sonnenaufgang, den er genießen durfte. Irgendwie nagte die Beklemmung an ihm, dass er an diesem Tag dem Tod anheimfallen würde. Anders als die meisten seiner Mitbrüder hatte er sich nicht auf Mohammed und den Koran eingelassen. Sein Erbe war älter als der Islam und auch älter als das Judentum. Außerdem hatte er es von seinem eigenen Vater mitbekommen, dass es das Himmelreich der Eingottanbeter in der von diesen gepredigten Form nicht gab. Sicher gab es Gefilde des Friedens oder der ewigen Bestrafung, in die eine Seele nach dem Tod eingehen mochte, wenngleich diese Bereiche nicht mit Menschenbegriffen von Raum und Zeit zu erklären waren. Im wesentlichen lief es darauf hinaus, dass jeder die Folgen seiner Taten mit sich trug, die einen als beflügelnde Freude, ein erfülltes, anderen dienliches Leben geführt zu haben, für die anderen eine schwere Bürde, weil sie vor lauter Streben nach Eigentum und Ruhm vergessen hatten, für sich und andere ein erfülltes Leben zu führen. Der Umstand, dass er niemanden hatte, dem er seinen Silberstern überlassen konnte, wenn er starb, wog bei ihm am schwersten. Sicher, seine älteste Tochter konnte den Stern an sich nehmen. Doch ohne dass sie einen männlichen Nachfolger gebären konnte würde er seine Macht nie wieder freisetzen.
Die kleinen Bäche plätscherten durch den üppigen Garten, der das Haus umgab und von zwölf breiten Plattenwegen wie die Speichen eines Rades durchzogen wurde. Am äußeren Ende jedes Weges war eine steinerne Abbildung eines der Tierkreiszeichen aufgebaut worden.
"Meister Hassan, Hamit will verhandeln. Er hat eine für ihn sehr unangenehme Begegnung mit jenem Zauberer hinter sich, der der Sklave des Unaussprechlichen ist", hörte Hassan die Geistesstimme von Mustafa, seinem Mitbruder aus dem Libanon.
"Ach nein, auf einmal. Hat er es wahrhaftig versucht, mit ihm zu unterhandeln?"
"Hat er und sich offenbar auch seinem Zugriff entzogen. Dabei muss er wohl was aufgeschnappt haben, was für uns sehr wichtig sein dürfte. Wir erfahren das aber nur, wenn wir bereit sind, die Feindschaft mit ihm zu begraben. Noch heute will er dich und mich in der Nähe der libanesisch-palästinensischen Grenze treffen. Wir dürfen ruhig alles mitbringen, was uns Schutz vor ihm bietet, hat er ausdrücklich betont."
"Wieso hast du ihn nicht gleich zu dir ins Haus geholt, Mustafa, wenn er dich schon aufsucht?"
"Er hat mich nicht selbst aufgesucht, sondern ein kleiner, brauner Erddschinn, den er wohl von irgendwoher beschworen hat. Der ist sofort wieder im Boden versunken, als er die Botschaft überbracht hat."
"Gut, erkundet das Gelände und trefft Sorgfalt, dass keine üblen Zauber uns erwarten, wenn wir dort eintreffen!" schickte Hassan zurück. Irgendwie gefiel ihm dieses plötzliche Friedensangebot nicht. Hatte er nicht vor kurzem mit Jophiel gesprochen, dass es mit diesem Dschinnenmeister keinen Frieden geben durfte? Andererseits durfte er auch keine Möglichkeit ausschlagen, einen Feind weniger zu haben, ohne dafür weiteres Blut opfern zu müssen. So ging er darauf ein, um die Mittagsstunde am übermittelten Treffpunkt zu sein.
Die Sonne stand bereits im Zenit, als Hassan Al-Burch Kitab sich mit seinem Mitbruder Mustafa vor einer dreitausend Jahre alten Festungsruine weit genug vom modernen Gewühl von Beirut entfernt traf. vier andere Morgensternbrüder hatten die betreffende Stelle mit Schutzbannen gegen bösartige Geisterwesen, Fernflüche und feindliche Zauber abgesichert. Hassan hätte am liebsten noch den Hauch der Friedfertigkeit ausgebreitet. Doch dieser Zauber, der feindselige Wesen friedfertig stimmte, mochte Al-Hamit vertreiben, wenn er eintraf.
"Hat er immer noch diesen zweihundert Jahre alten Flugteppich, oder wird er sich von einem seiner gezähmten Luftgeister hertragen lassen?" fragte Hassan, nachdem alle anderen Morgensternbrüder wie erwünscht disappariert waren.
"Vielleicht wird er auch den schnellen Weg gehen", sagte Mustafa.
"Was soll das darstellen, was die anhaben?" fragte ein schlachsiger Mann in sandfarbener Kleidung, der flach auf dem Boden lag. Sein Kamerad, der fünfzig Meter entfernt von ihm am Boden lauerte erwiderte über die Kurzstreckenfunkverbindung:
"Frag mal lieber, was die Lichterschau sollte und wie die fünf anderen Blaumänner so plötzlich verschwunden sind."
"Brauch ich nicht. Unser Auftraggeber hat doch erzählt, dass die Leute zu 'ner Märchenerzählertruppe gehören, die mit Zaubertricks arbeiten. Dann üben die hier wohl. Ah, da ist der Typ, dessen Erbstück der Chef haben will. Wenn der die Verschwindenummer auch so kann wie seine Kollegen haben wir nur einen Schuss."
"Geht klar. In wie viel Zeit?"
"Ab jetzt in dreißig", erwiderte der erste. "Jungs, die Unternehmung ist in einer Minute erledigt!" meldete er dann nach einem kurzen Knopfdruck über die weiter reichende Funkverbindung.
Maria Valdez unterhielt sich gerade mit Almadora Fuentes Celestes. Es ging um die Kristallstaubvampire und ob mit den bisher unauffälligen Vampiren eine Art Burgfrieden geschlossen werden konnte, als Marias silbernes Kreuz unmittelbar unter ihrer Bluse aufstrahlte und ihr einen solchen Hitzestoß durch den Körper jagte, dass sie zusammenfuhr. Goldenes Licht flutete um sie herum auf. Dann fühlte sie sich völlig schwerelos.
Hassan blickte sich suchend um. Ein unbestimmbares Gefühl ließ ihn nach versteckten Feinden suchen. Irgendwie wurde er den Verdacht nicht los, dass er gerade in einer Falle steckte. Er sah Mustafa an und sagte:
"Wir sollten besser in die Ruine gehen. Irgendwie komme ich mir hier draußen vor wie ein Vogel, über dem der Falke kreist."
"Hier ist kein Mensch in der Nähe. Alles was näher als hundert Meter bei uns ist würde sofort von den Steinen da gemeldet", sagte Mustafa und deutete auf einen scheinbar harmlosen kleinen Sandstein. Hassan wollte gerade was dazu erwidern, als ein kurzes, leises Schwirren erklang und aus Mustafas Hinterkopf eine Blutfontäne schoss. Hassan hatte den Schrecken darüber noch nicht ganz verdaut, als er etwas knapp an seinem rechten Ohr vorbeischwirren und dann krachend in der Wand der Ruine einschlagen hörte. Da wurde ihm klar, dass die Falle zuschnappte, die er vorhin noch erahnt hatte. Nicht Magie, sondern schlichte Mannsgewalt wurde gegen sie verwendet. Er wollte sich gerade in Deckung werfen, als zwei grelle Schmerzexplosionen in seinem Brustkorb und seinem Rücken seine gesamte Aufmerksamkeit beanspruchten. Er fühlte, wie die Wucht dessen, was ihn getroffen hatte zu Boden warf. Er hörte noch zwei über ihn wegschwirrende Geschosse, die wie das erste in der Wand landeten. Dann begann sich um ihn alles zu drehen. Sein Herz hämmerte mit unregelmäßigen Schlägen. Jeder Atemzug war wie eine Reihe Messerstiche. Zum Gedankensprechen fand er nicht mehr die richtige Selbstbeherrschung. Hamit hatte ihnen gedungene Mörder geschickt. Wieso hatten sie ....? Er erkannte, dass er keine Gelegenheit mehr haben würde, das zu klären. Doch eine Sache musste er tun. Er musste dafür sorgen, dass der Heilsstern nicht in falsche Hände geriet. Sein Vater hatte ihm gesagt, dass wenn er ihn nicht ordentlich übergeben konnte, durch die Anrufung der Machtformel dazu bringen konnte, sich anderswo hin zu versetzen, wo nur wer hinfand, der mit seinem Träger gut ausgekommen war. So riss er sich noch einmal zusammen, während aus der Ferne das Knattern dieser Motorzweiräder erklang, auf denen die Muggel wie auf Pferden reiten konnten.
"Alaishadui Siri,
Alaishaduan a sogaharan Iri.
U Alaishaduim Godiri,
san Arwoxaran Laishandan Miri!" keuchte er. Seine Lungen brannten wie Feuer, und der Schwindel machte, dass er wie auf einem verrückt gewordenen Flugteppich herumgewirbelt wurde. Doch er schaffte es, auch die letzte Silbe der mächtigen Anrufung auszurufen. Da erzitterte der Heilsstern, erhitzte sich und hüllte ihn in weißes Licht ein.
"Verzeiht mir, meine Vorväter", stieß er in Gedanken aus, bevor er wie aus großer Höhe mitten in ein Meer aus weißem Licht hineinstürzte.
Der Führer der fünf Mann starken Söldnertruppe fluchte in sich hinein. Ausgerechnet er hatte den wohlplatzierten Kopfschuss verfehlt. Immerhin hatten seine Kameraden noch schnell auf den stehenden Mann geschossen und ihn am Brustkorb erwischt. Doch was, wenn der noch genug Kraft fand, um Hilfe zu funken oder sowas? Weitere Schüsse aus den schallgedämpften Scharfschützengewehren bohrten neue Löcher in das sowieso schon brüchige Mauerwerk der Ruine. Doch die Zielpersonen lagen nun beide am Boden. So konnten die Kugeln sie nicht mehr treffen. Der Führer der Söldnertruppe sprang auf eine unter einem Tarnnetz liegende Geländemaschine zu und riss das Netz herunter. Sein Kamerad erkannte die Absicht und hetzte ebenfalls zu seiner Maschine. Er riss das Tarnnetz herunter und stemmte sie in aufrechte Lage. Keine fünf Sekunden später sprangen die PS-starken Motoren an. Die gegen Sandverschmutzung abgesicherten Motoren brüllten kurz auf. Dann trieben sie die Maschinen voran, die neunhundert Meter bis zur Ruine.
Auf dem Weg zum Ziel sahen die zwei Söldner, wie der aus tödlichen Wunden blutende noch mit aller Macht einen silbernen Gegenstand freizog und hoch in die Sonne reckte. Der Scharfschütze sah noch, wie sich die Lippen des Getroffenen bewegten. Dann glühte der silberne Gegenstand auf, badete den tödlich verwundeten in weißes Licht. Wenn der damit nun ein Notsignal absetzte würden die Kameraden von ihm gleich bescheid wissen. Doch der Auftrag war klar. Der eine, der nicht gleich beim ersten Schuss erledigt worden war, hatte diesen silbernen Stern, den der geheimnisvolle Auftraggeber unbedingt haben wollte.
Das weiße Licht blieb genau drei Sekunden. Dann erlosch es. Der Getroffene lag nun reglos auf dem Boden. Als die beiden Söldner am Ziel eintrafen fanden sie ihre beiden Opfer tot vor. Doch keiner der beiden trug einen silbernen Fünfzackstern an einer Kette bei sich. "Das kann nicht sein. Ich habe den eben noch bei dem hier gesehen. Kameldreck! Der hat irgendwie gemacht, dass sich das Ding selbstvernichtet hat."
"Das weiße Licht! Könnte hinkommen. Oder das Ding ist außerirdisch und hat sich selbst weggebeamt."
"Verdammt, wir waren zehn Sekunden zu spät", fluchte der erste Söldner.
"Weil du nicht richtig getroffen hast", begehrte der zweite Söldner auf.
"Wenn ich aus der kurzen Entfernung schieße treffe ich das Geschlechtsteil einer Mücke. Also bloß nicht frech werden!" erwiderte der Truppführer. Er untersuchte die Leiche noch einmal. Doch nichts daran außer den zwei Treffern nahe des Herzens deutete darauf hin, dass ihm hier etwas besonderes passiert war. Es gab auch keine Brandspuren, die gezeigt hätten, dass der gesuchte Silberstern sich selbst vernichtet hatte. Das war schon unheimlich.
Alle Söldner durchsuchten die Gegend um den Tatort. Doch da war kein silberner Stern. Mit gewissem Bangen, was ihnen passierte, wenn sie mit leeren Händen zurückkehrten, saßen sie auf ihren Motorädern auf. Der Truppführer hatte zumindest noch mehrere Fotos der beiden Leichen gemacht.
"Temmie, kriegst du noch was von Julius mit?" schickte Millie Latierre eine Gedankenbotschaft an Artemis vom grünen Rain alias Darxandria.
"Sie hat ihn wieder in sich hineingeholt, ihn und Camille und noch andere, die aus ihrer Linie stammen. Es ist eine sehr starke Erschütterung passiert. Die hat mich auch erwischt. Ich fühlte mich ganz traurig, als ob das kleine Mädchen, das in meinem Bauch wächst tot ist. Aber das ist noch da, sein Herz schlägt noch. Aber sie hat ihn und Camille und andere zu sich hineingeholt. Ich habe es nur mitbekommen, weil Julius einen Moment noch auf unserer Daseinsebene war. Doch jetzt ist er in ihrer Daseinswelt. Aber sein Körper lebt noch, ist aber wohl ganz langsam, wenn ich das verstehe, was euer gemeinsamer Schmuck der Verbundenheit tut."
"Das muss ich sehen", gedankengrummelte Millie, griff nach ihrem Zauberstab und disapparierte einfach aus dem Musikzimmer. Im nächsten Moment stand sie im Garten, und was sie da sah erschauerte sie.
Sie schwebte in einer großen Kugel aus goldenem Licht. Dann sah sie die anderen, die in Form verschiedenfarbiger Wesen mit ihr in der Mitte dieser gewaltigen Lichtblase schwebten.
Da war eine Frauengestalt, die aus sich heraus in hellgrünem Licht erstrahlte. Da war ein Mann, der in einem Himmelblau erstrahlte. Dann noch einer, der in einem goldgelben Licht leuchtete. Dann war da noch ein wohl gerade erst erwachsen gewordener Mann, der aus violettem Licht zu bestehen schien. Dann sah sie noch einen Mann, der aus sich heraus orangerot leuchtete und schließlich noch einen jungen Mann, der aus sich heraus in einem rotgoldenen Licht erstrahlte. Die grüne Frau und die zwei gerade erst erwachsen gewordenen Männer erkannte sie am Gesicht. Sie hatte sie alle im Mai vor einem Jahr in Frankreich im Schloss der Zaubererfamilie Eauvive getroffen. Als Maria an sich heruntersah stellte sie fest, dass sie zum einen unbekleidet war und zum anderen im satten Silberweiß erstrahlte. Sie wandte sich den anderen zu:
"Sind wir tot?" fragte sie. "Oder wo sind wir hier?"
"Ihr seid alle mit euren inneren Daseinsformen in meinem Leib eingekehrt, weil einer meiner Söhne starb, ohne sein Vermächtnis seinem Fleisch und Blut weiterzugeben", erklang um sie alle herum die Stimme einer älteren Frau mit sehr traurigem Unterton: Ashtaria.
"Das ist das heftigste, das mir in allen Jahren mit dem Stern passiert ist", grummelte der Heranwachsende im violetten Farbton. Dann sagte der blau leuchtende Mann, dass er sicher war, dass sein Mitbruder Hassan wohl der war, der vorzeitig abberufen worden war, da er ihn hier nicht erkennen könne. Die anderen nickten.
"Sehr richtig, Jophiel. Hassan übergab sich und mein Vermächtnis in meine Obhut, weil hinterhältige Mörder sein Leben auslöschten", bestätigte die von Trauer erfüllte, aus allen Richtungen zugleich dringende Stimme Ashtarias. "Er ist nun mit mir vereint, wie alle, die vor ihm ihre sterbliche Hülle hergeben musste", führte sie aus. Dann gewann die Stimme an Kraft und Entschlossenheit. Sie sagte: "Doch ihr lebt noch und sollt auch weiterleben. Ich rief euch nur zu mir, um in seinem Namen zu verkünden, dass seine Linie nun erloschen ist und somit nur noch sieben von euch leben."
"Moment, ich hörte von meinem Vater, es seien nur sieben von uns. Und wer sind die zwei Knaben. Die können unmöglich schon Träger des Sterns sein", lamentierte der Mann aus orangerotem Licht.
"Das hätte man dir aber sagen können, Don Domingo, dass ich doch noch nicht zu meinen Vorvätern entfleucht bin", grummelte der Heranwachsende in Violett. "Und er da hat auch mal hier drin gesteckt und sich wohl ganz freiwillig in diese chaotische, unbequeme Welt zurückgekämpft", sagte der Violette, den Maria als Adrian Moonriver erkannte und deutete auf den Jungen aus rotgoldenem Licht. Dieser nickte beschwerlich und sah dann die Frau aus grünem Licht an. Diese schenkte ihm ein zuversichtliches Lächeln.
"Hassan ben Ibrahim iben Davud Al-Burch-Kitab, einer meiner Söhne, ist erloschen, noch bevor er einen Sohn gezeugt hat. Leider können seine Töchter ihm keinen männlichen Enkel mehr gebären, da die Rache jener meiner Schwestertöchter, die den Wind lenken konnte, die Familie zur weiteren Kinderlosigkeit verdammte. Er wollte sich mit einem Meister der Geisterwesenkunde treffen, um mit diesem über Frieden zu verhandeln. Doch dieser entsandte magielose Mordbuben, die ihn und seinen Mitbruder niederschossen. Hassan ben Ibrahim iben Davud Al-Burch-Kitab entstammte der Linie meines Sohnes Sharvas. Diese ist damit nun erloschen, unwiederbringlich, da seine Töchter keine Nachkommen mehr bekommen können", seufzte Ashtaria. Dann wechselte ihre Tonlage zu einer erfreuter klingenden Klangfärbung: "Um so sehr erfreut es mich, dass trotz der Anstrengung, die es uns beide gekostet hat, Julius Latierre, Sohn der Linda und des Richard, als meinen sechsten lebenden Sohn bekommen zu haben und dass die verschollene Tochter ihr Erbe erkannt und erweckt hat. Ich holte euch noch einmal in meine Welt und damit in den Schoß, aus dem alle eure Vorfahren entsprossen, weil ich euch warnen muss. Der Handlanger des finsteren Königs des alten Reiches verfolgt weiterhin die Absicht, mit blutigen Taten den Weg zu seinem neuen Herrn und Meister zu öffnen und zu beschreiten. Er ist für den Aufruhr verantwortlich, der deinen drei Schwesterkindern widerfuhr, Heribert."
"Aber er konnte nicht an die drei ran, wo die Schule doch so stark gesichert ist. Außerdem leben die drei noch", sagte der golden leuchtende Mann, der sich wohl angesprochen fühlte. "Wenn der die drei tötet ist von Eggebrechts Erbe niemand mehr am Leben."
"Zur gegebenen Zeit wirst du die nötige Kunde erhalten, was geschehen ist. Für die anderen hier ist dieses Wissen nicht bedeutsam", erwiderte Ashtaria.
"Wenn dieser Vengor wirklich meint, mit diesem aus den eingestürzten Türmen des Welthandelszentrums entwendeten Kristallbrocken so mächtig werden zu können wie Riddle wird das für uns hier alle ein sehr langer, harter Winter", knurrte der violette Insasse dieser Zaubersphäre.
"Keine Sorge, mein Sohn", erwiderte Ashtaria. "Er ist bereits gestolpert. Allerdings hat dies nichts mit guten Taten zu tun, eher damit, dass jener, der für ihn den Weg bereiten sollte, einen Fehler beging und jemandem begegnete, die aus ihren ganz eigenen Beweggründen nichts von diesem zur Zeit noch in seiner selbstgewählten Einkerkerung verwahrten wissen will. Julius, du musst bestehen, da du der Mittler zwischen dem Wissen von vor meiner Lebenszeit und deiner Jetztzeit bist. Ich werde dir den Weg zu Hassans nun mehr ohne Erben verwahrten Stern weisen, sobald du einen Sohn gezeugt hast und dieser einen vollen Mond außerhalb des Mutterleibes überstanden hat. Solange vertraue auf deine bisher erworbenen Kenntnisse, sei aber auch bereit, dich auf neues einzulassen, auch wenn es dich Überwindung und Zeit kosten wird! Denn wisse, dass von den schlafenden Schwestern jener, die du, Camille und Adrian gemeinsam mit Marias Erbstück in den ewigen Schlaf geschickt habt, wieder drei erwacht sind, die der Erde, die der unendlichen Dunkelheit und die der verfinsterten Mittagssonne. Und ich fühle, dass deren jüngste Schwester bald erwacht, wohl auch, weil Hassans vorzeitige Entleibung ein Gefälle hinterlässt, über das sie in unsere Welt zurückkehren könnte. Also seid alle auf der Hut vor jener, die die Zeit als solches bewegen und in ihre Bahnen lenken will!"
"Drei sind wieder wach", entfuhr es Adrian aufgebracht. Die haben mich nicht eingeweiht, diese Jungspunde von der Liga."
"Weil eure Liga aus dem Abendland das noch nicht wissen konnte", erwiderte der blaue Mann, der sich nun als Jophiel Bensalom vorstellte und kundtat, ein Bruder des blauen Morgensterns zu sein, was bei Julius und Camille, der grünen Frau, unübersehbare Missgestimmtheit auslöste. Deshalb sagte der blaue Geistermann schnell noch:
"Die Taten Yassin Iben Sinas sind auch uns ein Graus gewesen, auch weil er damit genau das tat, was die Vorhersage zur Wahrheit werden lassen könnte. Immerhin musstest du, Julius, der Versuchung widerstehen, Ilithulas erster und wohl einziger Sohn zu werden."
"Was nie passiert wäre, wenn ich dieser Sabberhexe Bitterling damals schon auf die Füße getreten wäre, als ich das erst nur vermutet habe, dass sie sich einer von diesen Dirnen anvertraut hat", blaffte der junge Mann aus violettem Licht, Adrian Moonriver.
"Warum habt ihr meine Mutter damals getötet und warum ihn da gefangennehmen wollen?" entrüstete sich nun Camilles hellgrüne Erscheinungsform und deutete dabei von Jophiel zu Julius.
"Yassin fürchtete die alte Prophezeiung, die ein großer babylonischer Seher in einen sprechenden Stein hineingesprochen hat", erwiderte der blau leuchtende Mann abbittend dreinschauend. Julius sah ihn kritisch an und stieß aus:
"Wie lautet diese verflixte Prophezeiung, Monsieur Blaulicht?"
"Julius, nicht so verbittert", klang Ashtarias Stimme zur Antwort. Doch auch Camille nickte Julius zu und starrte Jophiel verdrossen an, bis dieser hörbar durchatmete und dann schwerfällig nickte. Eine Weile war es still in Ashtarias astralem Mutterleib. Dann hob Jophiel an:
Im Zeitalter, wo eherne Drachen durch Menschenhand zum Leben erwachen und pferdelose Wagen mit rauchenden Hinterleibern auf schwarzglänzenden Straßen fahren, die aus teilen uralten Lebens aus lange zurückliegender Zeit gemacht sind, wird ein Sohn aus zwei alten Blutlinien zur Welt kommen, in dessen Körper und Geist schlafende Kräfte aus beiden Linien neu erwachen und bestärkt walten werden. Seine Eltern selbst werden diese Kraft nicht fühlen und nicht wirken können. Doch er wird erstarken und denen offenbart, die da selbst die Kräfte der oberen Ordnung fühlen und nutzen können. Er wird dazu berufen, sie zu erlernen. Dabei wird er in sechs Gestalten wandeln, eine ihm angeboren, eine ihm aufgezwungen und vier aus Neugier und Tatendurst angenommen. Er wird eine der Töchter aus der Linie der Darmiria treffen und von ihrer Liebe umschmeichelt werden. Ein hunderte von Sonnenkreisen altes Erbe eines finsteren Lenkers der Kraft wird ihn in eine von Menschengeist und oberer Kraft erschaffene Welt rufen, wobei er die Krone der letzten großen Lichtkönigin tragen wird, die ihm Schild und Schutz sein soll. Um in die andere Welt zu treten wird er einen Schlüssel auf sein Bild gestimmt verwenden und das dunkle Erbe besiegen. Doch darum wird die in der Krone schlafende Macht der alten Lichtkönigin in ihm erwachen und ihn umgeben, so dass der Weg zur alten Festung offenstehen wird. Dort selbst hingerufen wird er den Stein zu alten Wegen ergreifen, bereits gebunden an seine Geliebte. Doch werden Angst und Abscheu ihm die erste Liebe rauben und Angst und Liebe den sechsten Sohn und eine nicht von Fleisch und Blut gemachte Tochter der machtvollen Nachfahrin der alten Lichtkönigin zeugen und gebären. Damit wird das Zeitalter des finsteren Königs erwachen, der da schläft in seiner eigenen Schöpfung, gebannt von einer der Fleischeslust zugetanen in zwei Gestalten.
Die Zeit der wachgebliebenen Seelen, die in neuen Körpern in die Welt eintreten wird anbrechen. Zwei Mütter werden mit den Töchtern tauschen. Ein Ausgesandter wird zur Kundigen. Eine Meisterin wird durch List einer verborgenen Feindin und Ablehnung ihres Schicksals selbst zu einer Schülerin. Die Trägerin einer Feindin wird durch deren List in die Lebenshöhle einer Kundigen verbannt und durch deren schwindenden Körper selbst zu ihrer Mutter. Ein von der Rache einer Feindin in den Schoß der geliebten getriebener wird als deren Sohn zurückkehren. Eine aus Verzweiflung von Himmel und Erde gestürzte wird Zuflucht finden in der warmen Höhle der zwei Morgenlichter. Ein Jäger des Verächters unverfälschten Lebens wird der Quelle seiner Kenntnis neu entsteigen. Ein Vater wird aus Verzweiflung und aus Vergeltungssucht einer überragenden Schönheit aus altem Blute zum eigenen Sohn und Bruder seiner Tochter. Ein aus alter Rachsucht dem Leibe entrissener erfährt die gnade der hoffnungslichternen Mutter. Mehr als zwölf der Zweifachgeborenen werden in den Schößen ihrer zweiten Mütter reifen oder bereits geboren sein, bevor die Dunkelheit aus alter Zeit nach neuen Opfern greift.
Der finstere König wird im Widerstreit mit der zur schlafenden Göttin werdenden Tochter der Nacht einen neuen Knecht suchen, nachdem sein erster Vorstoß misslang. Der zum sechsten Sohn gewordene Spross aus zwei alten Linien wird zwei der vaterlosen Schwestern treffen, die ihn zu ihrem Fleisch und Blut werden lassen wollen. Mit zwei anderen Kindern der mächtigen Sonnengeweihten und der mit ihm geborenen Tochter aus machtvoller Kraft wird er die zwei Schwestern in Schlaf zwingen. Doch für die zwei werden vier andere erweckt. Und wenn zwei von Zorn gelenkte eherne Drachen zwei Türme des Goldes im Sonnenuntergangsland niederwerfen wird der Knecht des finsteren Königs daraus seine Kraft schöpfen und antreten, sich seinen Weg zu suchen, um mit dem finsteren König zu verschmelzen, auf dass das endgültige Zeitalter der Finsternis über die Welt hereinbrechen möge. Wehe allen, die dies erleben!"
Wieder folgte eine Weile Stille. Jeder und jede in Ashtarias Leibeshöhle aus Licht ließ die gehörten Worte tief in das eigene Bewusstsein sacken. Dann fragte Julius: "Ach ja, und Yassin iben Sina hat die Warnung nicht gehört, dass Angst und Abscheu diesen Vorgang einleiten? Da hätte der doch genauer überlegen müssen, ob er nicht besser die Finger von mir und von Aurélie Odin lassen sollte.
"Ich kann es nicht sagen, was Yassin umtrieb, dass er glaubte, deine erste Liebe sei der Grund für das Erwachen der finsteren Macht. Er hat wohl schlechte Erfahrungen mit der Liebe einer Frau gemacht und meinte wohl, sie würde dich dazu verführen, diese Ereignisse einzuleiten", seufzte der blau leuchtende Jophiel Bensalom.
"Meine Mutter und meine zweite Tochter sind also deshalb vor der Zeit aus ihren Körpern gerissen worden, weil ein alter, in seiner Wissensburg dahingrübelnder Mann schlechte Erfahrungen mit Frauen gemacht hat?" entrüstete sich Camille. Jophiel musste dies bestätigen.
"Also war die das, deine Zwillingsschwester, die ich zweimal gesehen habe, Jungchen", knurrte der violett leuchtende Adrian Moonriver. Maria Valdez hörte nur weiter zu. Für sie war das alles hier wortwörtlich außerhalb ihrer gewohnten Welt.
"Yep", erwiderte Julius. Da meldete sich Ashtarias Stimme wieder:
"Wenn Yassin Julius mit dem Stein seines Weges hätte ziehen lassen und nicht Hand auf meine Nachgeborene Aurélie und ihre Töchter und Töchtertöchter gelegt hätte, so wärest du, Julius heute der erste Sohn Ilithulas und Zwillingsbruder ihrer Schwester und Tochter Hallitti. Denn ohne das alles hättest du weder die Hilfe meiner Zweiseelentochter noch die meiner anderen Kinder erhalten, ja niemand hätte bemerkt, dass du bei Ilithula gewesen wärest, weil das, was dich mit deiner zweiten Liebe und Mutter deiner beiden Töchter verbunden hat, vielleicht nicht so errichtet worden wäre."
"Denke ich aber schon", erwiderte Camille. "Claire hätte sicher auch eine Zuneigungsherzverbindung zu ihm errichtet, vor allem, wo diese nützlichen Schmuckstücke rot sind."
"Er wäre aber nicht fähig gewesen, seinen Aufenthaltsort zu verraten oder gar meine Kraft zu rufen, wenn ich ihn nicht durch das Opfer deiner Mutter in mich aufgenommen und getragen hätte", widersprach Ashtaria. Dem konnte Camille zu ihrem Verdruss nicht widersprechen.
"Jedenfalls will ich von euch allen höchste Wachsamkeit, wo ihr nur sechs Heilssterne besitzt. Lasst den Tod Hassan bin Ibrahim Al-Burch-Kitabs nicht zur wertlosen Sache verkümmern!" gemahnte Ashtarias von allenSeiten klingende Stimme.
"Das schwöre ich beim Gott Israels und aller seiner Engel", beteuerte der blaue Mann. Der orangerote lachte darüber: "Ein Eingottanbeter, als wenn du nicht längst wüsstest, dass die gesamten Religionen der Welt auf unsere gemeinsamen Urvorfahren zurückgingen."
"Ich vertraue auf die Macht und die Liebe des großen Gottes, der mein Volk aus der Sklaverei geführt hat und ihm das Land gab, in dem es friedlich leben kann."
"Da reden wir besser nicht drüber, wie friedlich die da leben", erwiderte darauf Julius Latierre. "Aber ich bedanke mich für Ihre Zusage, Mr. Bensalom." So gelobten auch die anderen, sich gegenseitig zu helfen und vor allem Julius beizustehen, der keinen schützenden Heilsstern bei sich trug. Vor allem Camille gelobte das, da sie ja am stärksten mit ihm verbunden war. Doch auch Maria machte eine stärkere Bindung zu ihm geltend, da er durch ihr Artefakt ja den Bann über die beiden dunklen Schwestern bewirkt hatte.
"So gebe ich euch nun alle in eure Leben und zu euren lieben. Julius, bevor du mit deiner Angetrauten daran gehst, meine Bitte zu erfüllen und deine männliche Ahnenreihe zu verlängern, bedenke das, was du noch zu erledigen hast, bevor du dich darauf einlässt! Triff die dir angetragene Entscheidung bald, vor allem, wenn du jener helfen möchtest, die von einem falschen Segen erfüllt wurde!"
"Für welchen Weg soll ich mich entscheiden", grummelte Julius.
"Das liegt nur bei dir. Ich kann, will und werde dir da nicht hineinreden. Jeder der beiden Wege birgt Last und Lohn. Doch weil du mit den Folgen leben musst kannst nur du entscheiden, auf welchem der beiden Wege Last und Lohn dir nicht zu schwer werden", erwiderte Ashtaria. "Ich kann dich mit deiner fleischlichen Mutter teilen. Ich werde dich auch mit jeder anderen teilen, die bereit ist, dich in ihre Obhut zu nehmen, solange bis du alles weißt, was zu wissen dir noch aufgetragen ist."
"Ich erkenne an, dass ich das selbst klären und durchführen muss, erhabene Ashtaria", grummelte Julius.
"So seid alle wieder in euren Leben und wach!" beschwor Ashtarias Stimme. Übergangslos fand sich Maria auf dem Boden liegend wieder, das pulsierende silberne Kreuz vor dem Brustkorb.
"Ich konnte dich nicht von der Stelle bewegen, Maria. Das war sehr unheimlich. Erzähl bitte, was passiert ist", sagte Almadora. Maria überlegte, ob sie der Hexe alles erzählen sollte. Dann beschloss sie, nur zu verraten, dass einer der Söhne Ashtarias gestorben war, ohne einen Nachfolger hinterlassen zu haben und dass sie alle noch lebenden Kinder Ashtarias getroffen hatte. Damit konnte Almadora gut leben, zumal die gemalte Ausgabe von Viviane Eauvive ihr zwei Minuten später verkündete, dass auch Camille und Julius wieder erwacht seien. Wo die anderen in den kurzen Schlaf oder was immer für ein Zustand verfallen waren bekamen Maria und Almadora nicht zu hören.
Vor Millie schwebte eine große, weißgoldene Lichtkugel. Und in ihr schwebten Camille Dusoleil und Julius Latierre nebeneinander. Camilles grüne Tasche, die sie seit ihrem Ausflug zum Elternhaus ihrer Mutter immer wieder dabei hatte, zitterte wie wild. Offenbar bekam ihr die auf sie wirkende Magie nicht, oder die Tasche war wie der Herzanhänger auf der Suche nach der verlorengegangenen Verbindung. Millie trat an die Lichtkugel heran. Sie wusste, das man in derartige Sphären besser nicht hineingreifen sollte. Da hörte sie Dusty: "Auuuaauuua, ganz liebe kraft, aber viel zu stark. Viel zu stark!"
Unter Camilles blattgrünem Arbeitsumhang glühte es golden. Ein Lichtstrahl führte zum oberen Scheitelpunkt der weißgoldenen Sphäre. Millie blickte mehrere Sekunden in die Kugel hinein. Wieso hatte Ashtaria Camille und ihn wieder zu sich geholt? - und andere! Sie apparierte ins Haus zurück und fragte Viviane, ob sie was davon wisse, dass andere Kinder Ashtarias wie Adrian Moonriver oder Maria Valdez noch frei herumliefen und wie es Camilles Kindern und Enkelkindern ging.
"Zwei Minuten vergingen, in denen Millies Herzanhänger alle zehn Sekunden einmal anschwoll und dann wieder abschwoll. Dann kehrte Vivianes gemalte Ausgabe in ihr Gemälde zurück.
"Von Adrian Moonrivers Aufenthaltsort weiß ich nichts. Camilles Töchtern und Enkeln geht es gut, ihnen ist nichts passiert. Maria Valdez wurde gerade von Almadora in ihrem Garten gefunden, auch in so eine goldene Kugel eingeschlossen, nur kleiner. Aber ihr silberkreuz strahlt hell wie die Sonne. Offenbar greift diese Ashtaria über die in den Artefakten verankerte Magie auf ihre lebenden und von ihr nachträglich angenommenen Kinder zu, warum auch immer."
"Dann hoffe ich, dass sie sie nicht über Jahrhunderte bei sich behält. Sonst sind Aurore und Chrysope schon Urgroßmütter oder tot", schnaubte Millie.
"Hol deine Tante Béatrice oder Hera her. Wenn die beiden doch in nächster Zeit wieder aufwachen benötigen Sie vielleicht einen Heiler", empfahl die gemalte Mitgründerin von Beauxbatons.
"Machen wir doch glatt", grummelte Millie und wandte sich dem aufgehängten Pappostillon zu, dem gemalten Schmetterling, der den Mitgliedern der Latierre-Familie Nachrichten überbringen konnte. Diesen schickte sie mit drei Zeilen zu ihrer Tante Béatrice. Da hörte sie "Wie leuchtet mir der Apfelbaum", das magische Türglockenspiel. Sie apparierte in die Eingangshalle und öffnete die Tür. Davor stand Jeanne und sah sehr bleich aus.
"Ich wollte mit meiner Mutter was meloen wegen morgen, wo meine Schwiegergroßeltern aus Bordeaux rüberkommen wollten. Aber die hat nicht geantwortet. Dann sehe ich diese Riesenkugel, in der sie und Julius eingeschlossen sind. Weißt du, was das soll?"
"Laut Dusty ist es was ganz lautes und dröhnendes, aber gutes. Viviane hat mir mitgeteilt, dass auch die Frau in so einer Kugel steckt, die deiner Ma und Julius damals geholfen hat. Hat also was mit Ashtarias Magie zu tun."
"Warum hat es mich dann nicht erwischt oder Vivie oder Jaja oder Lenie?"
"Weil ihr wohl zweite und dritte Generation seid", brachte Millie eine Vermutung an.
"Ich hol mal eben Mel rüber. Die hat das Armband um, das sagt uns sicher, ob das was gutes oder böses ist", sagte Jeanne und lief einige Dutzend Schritte, bevor sie disapparierte. Millie fragte sich, was es da noch zu untersuchen gab, wo Dusty es schon als superstarke aber gute Kraft erkannt hatte.
"Millie, bist du draußen?" hörte die Hausherrin von drinnen.
"Tante Triciiiie!" rief Aurore, die nicht wusste, was jetzt passierte. Béatrice Latierre fing ihre Großnichte ein und trug sie die Wendeltreppe herunter.
"Ui, schön dicht gebündelt. Sieht fast so aus wie diese Sphäre, von der Julius bei der Sache mit Madame Grandchapeau gesprochen hat."
"Nur dass keine Funken davon in sie reinfliegen", grummelte Millie. Da tauchte Jeanne mit ihrer Cousine Melanie auf, die eigentlich gerade eine Hausaufgabe für Professeur Dirkson machen wollte.
"Du musst nur das Armband in die Nähe der Kugel halten, Mel. Wir möchten nur wissen, ob das eine böse oder gute Kraft ist", sagte Jeanne.
"Und woher weiß ich sowas? Ich kann ja Madame Rossignol rufen."
"Brauchst du nicht, ich bin ja da, Melanie. Aber das Armband ist eine gute Idee, aber nicht in das Licht reinfassen. Nachher schrumpfst du noch zusammen und wirst Jeannes ganz kleine Schwester oder neue Tochter", warnte Béatrice.
"Echt, geht sowas?" fragte Melanie und sprang keck vor, stieß die hand mit dem Armband vor und traf auf die Sphäre, die darauf tief und leise nachhallte wie eine ganz sacht angeschlagene Glocke. Das silberne Armband strahlte nun in einem goldenen Licht. Melanie wurde davon einen Meter zurückgetrieben.
"Also echt, wozu warne ich die Leute, wenn sie dann doch machen, was sie wollen?" ereiferte sich Béatrice. Dann sagte sie: "Helles licht und wahrscheinlich richtig gute Erwärmung stehen für eine gutartige Zauberei, die auf das Armband wirkt. Aber mach das bitte nicht noch mal, wenn ich nicht mit deiner Schulheilerin Ärger kriegen soll!"
"Warst du echt drauf aus, noch mal neu zur Welt zu kommen?" fragte Jeanne amüsiert. "Da hätte aber Bruno wohl was dagegengehabt, wenn ich mal eben so ein Kind bekommen hätte, an dem er nicht beteiligt war. Und deine Tante Camille ist froh, dass du schon alleine essen und zum Klo kannst."
"Ja, oder sie wäre mein oder Tante Trices kleines Mädchen geworden", trieb Millie den Scherz weiter. "Aber neh, mit Camilles Bruder will ich mich nicht drum zanken, von wem sie dann mehr hat."
"Sie kommen wieder", erklang Temmies Gedankenstimme. Tatsächlich tat Millies Herzanhänger einen Hüpfer und pulsierte weiter. Zur selben Zeit schrumpfte die goldene Sphäre. sie wurde förmlich von Camilles verborgenem Schmuckstück eingesogen und verschwand. Dann fielen die beiden Eingeschlossenen den einen Meter zu Boden.
"Ups, fast alle da, denen wir wichtig sind", stellte Julius fest, als er sich wieder aufrichtete. Aurore rannte auf ihren Papa zu. Warum sie vorher nicht versucht hatte, in die goldene Kugel zu springen wusste Millie nicht.
Im Apfelhaus erstatteten Julius und Camille bericht. Sie erzählten, dass ein gewisser Hassan ben Ibrahim iben Davud Al-Burch Kitab, ein Sohn aus der Linie Ashtarias, ohne einen männlichen Nachkommen hinterlassen zu können gestorben war. Auch erwähnte Julius, wer alles mit ihm und Camille in Ashtarias Energiekörper gewesen war. Dann sagte er: "Jetzt kenne ich auch die ganze verflixte Prophezeiung, deretwegen Claire und Camilles Mutter nicht mehr da sind und weshalb ich ein Sohn Ashtarias bin. Wir leben am Rande der Dunkelheit, wo zwei Schwestern schlafen gehen und dafür vier wieder aufwachen und dass es mehr als zwölf Daisirian geben wird, von denen wir noch nicht alle kennen, Millie. Da Béatrice wusste, wer mit den Daisirian gemeint war nickte sie ihm zu und fragte dann, ob Melanie, Aurore und Chrysie das mithören mussten. Natürlich wollte Melanie jetzt wissen, was das sollte. Aber ihre Patentante sah sie an und sagte: "Mel, du lässt dich von Jeanne wieder nach Hause bringen. Wag dich bloß nicht zu widersprechen!" Melanie starrte ihre Tante an. So streng kannte sie sie selten. Jeanne brachte Melanie also hinaus. Béatrice gab Aurore nebenan was zu spielen und trug ihr wohl auf, es ganz fertig zu bekommen, sie bekäme dann auch was dafür.
Im Schutze eines Klangkerkers berichtete Julius nun alles, was er mitbekommen hatte. Als er die Prophezeiung komplett wiedergegeben hatte meinte Camille: "Mit der alten Herrin in neuem weißen Leibe der großen Ernährerin ist eindeutig Temmie gemeint, Julius. Aber wer der aus Furcht vor der Rache einer Feindin dem Schoße der Geliebten entsprang sein soll ist noch nicht klar. Ebenso wer mit den zwei Müttern gemeint ist, die ihrer Töchter Töchter werden sollen oder es schon sind und wer die eine aus Verweigerung der Strafe selbst getragen wurde wissen wir auch nicht. Und wer bitte soll die von Himmel und Erde in die warme Höhle zweier Morgenlichter gestürzte sein?"
"Werden wir vielleicht nie kennenlernen", sagte Julius. Doch Millie fühlte, dass er da was verheimlichte, zumal sie eine kannte, die von der Mutter zur Tochter der Tochter geworden war. Und bei Erwähnung von zwei Morgenlichtern klingelte es leise in Millie. Und offenbar klingelte da auch was bei Camille.
"Ich hätte das Armband mitnehmen sollen. Julius, kannst du bitte mal anfragen, wie es unserer australischen Bekannten geht?"
"Yep, wird erledigt", sagte Julius.
"Mit einer dieser Tochtertöchter ist sicher Larissa Swann gemeint", mentiloquierte Millie an ihren Mann. Der schickte ein "Eindeutig" zurück. "Und der Vater, der von Eitelkeit und Rachsucht seiner Tochter Bruder wurde habe ich Béatrice nichts sagen wollen, weil das eindeutig ist", schickte er zurück.
Eine Minute später war er wieder da. "Aurora Dawns Gemälde ist leer", sagte er. Dann präsentierte er sein Armband aus der Villa Binoche und rief nach Aurora. Es dauerte keine dreißig Sekunden, da stand ihr räumliches Abbild vor ihnen, und sie konnten alle sehen, warum Aurora Dawn wohl vorerst keine öffentlichen Auftritte haben wollte oder durfte.
Kaum dass Jophiel Bensalom aus der astralenergetischen Leibeshöhle Ashtarias zurückgekehrt war rief er sofort den Rat der Morgensternbrüder zusammen.
Dass Hassan und Mustafa von ganz gewöhnlichen Meuchelmördern getötet worden waren war eine sehr große Schmach, ungeachtet des schmerzhaften Verlustes, den Hassans Tod der Bruderschaft und wohl auch der magischen Menschheit bereitete. Jophiel wusste, dass er noch nicht so weit war, die gesamte Führung der Bruderschaft zu übernehmen. Doch er wollte zumindest berichten, was er erfahren hatte und dass der sechste Sohn von der Bruderschaft besonders beschützt werden musste, sobald dieser sich in jenen Ländern aufhielt, wo die Bruderschaft wirkte.
"Die jüngste der Schlafenden wird wohl auch erwachen, weil nun das Gefüge der hellen und dunklen Blutsverwandten verschoben wurde", unkte Jophiel. "Die Prophezeiung hat sich dank Yassin schon so gut wie erfüllt. Jetzt gilt es, ihre Auswirkungen niederzuhalten und vielleicht sogar zu überwinden. Es ist an uns, die Menschheit vor den Hinterlassenschaften des finsteren Königs und seiner gegenwärtigen Helfer und Sklaven zu beschützen. Nur wenn wir standhaft sind ist Hassans Tod nicht sinnlos gewesen."
"Diese Leute, die Hassan ermordet haben. Wissen wir, wer die sind?" wollte Yussuf wissen. Einer seiner Mitbrüder nickte. "Die Rufe der früheren Bilder haben uns die Männer gezeigt und die Farbe ihres Lebenslichtes offenbart. Töten dürfen wir sie nicht. Aber wir sollten dafür sorgen, dass sie von den Heschern ihrer Welt ergriffen und verurteilt werden können."
"Wie stellst du dir das vor, wo Hassan kein Bürger des Libanons ist?" wollte Achmed ben Ali iben Djamal al-Bagdadi wissen. Auf diese Frage wusste Yussuf noch keine Antwort. Dafür erwiderte Jophiel:
"Wir werden sie beobachten, mit unseren eigenen beschworenen Dschinnen. Da sie zum Töten gedungen wurden ist zu erwarten, dass sie auch weiterhin Aufträge annehmen. Außerdem können wir über sie vielleicht zu Hamit und ihn zur Verantwortung ziehen." Diese Idee gefiel den Mitbrüdern. Al-Bagdadi, der nach Hassan älteste des Rates, erklärte diese Idee zur vordringlichen Aufgabe, womit sie den Status eines direkten Einsatzbefehls erhielt.
"Dann wächst die jetzt in mir, als ihr eigenes Kind beziehungsweise Fleisch und Blut? Okay, Laura wollte nicht, dass außerhalb der australischen Heilerzunft jemand weiß, dass ich Heathers Baby trage. Dieses Biest hat mich ausgetrickst. Doch offenbar hat sie dabei die falsche Magie verwendet, um sich von dem Fluch freizumachen, den ich bei ihr diagnostiziert habe. Jetzt weiß ich auch, warum sie so plötzlich vor mir geflüchtet ist, wo ich gerade versuchen wollte, den alten Fluch zu bestimmen. Aber dann wisst ihr es also. Öhm, Béatrice, kein Wort zu Hera oder Antoinette, bitte. Vielleicht gebe ich sie ihrer Schwiegermutter, wenn ich sie hoffentlich gesund auf die Welt gebracht haben werde. Aber bis dahin bitte bitte bitte keinem außerhalb der australischen Heilerzunft ein Wort darüber! Offiziell bin ich für die nächsten fünf Monate unterwegs, um die technischen Möglichkeiten magieloser Heilkunst zu studieren. Deshalb wohne ich auch nicht in meinem Haus, sondern bei Laura Morehead in einer kleinen Einliegerwohnung. Die werte Sprecherin darf sich demnächst zanken, wer mir bei der Niederkunft helfen soll. - Moment, Tatsächlich, sie ist jetzt bei mir und bleibt da auch, bis sie wieder eigene Luft atmen kann, verdammt noch mal!"
"Nicht fluchen, das gehört sich nicht für Heilerinnen", feixte Béatrice Latierre.
"Du sei bitte ganz still. Immerhin hättest du fast eines deiner jüngsten Geschwister in deinen Uterus umgesiedelt. Denkst du mir gefällt das, als Jungfrau zum Kinde zu kommen. Ich habe immer davon geträumt, mal ein eigenes Kind zu haben, aber dann auch auf natürliche Weise und mit einem Mann, der es mit mir zusammen großzieht. Als Notausgang für verrückte Besenflieger wollte ich nicht herhalten. Und jetzt erzählt mir bitte, wie ihr im fernen Frankreich drauf gekommen seid!"
Julius und Camille berichteten von ihrem unfreiwilligen Ausflug ins Jenseits und was sie dort erfahren hatten. Dann seufzte Aurora Dawn:
"Gut, Dann hat mich vor über fünftausend Jahren schon wer gekannt. Soll halt so sein. Jedenfalls bleibt Heathers Baby bei mir, bis es lebensfähig ist. Ja, und wenn Heather wirklich darin eingebettet wurde muss sie eben dadurch ... ich weiß, ist eine mehrdeutige Behauptung und stimmt auch."
"Dann wünsche ich dir auf jeden Fall alles gute, Gesundheit, Durchhaltevermögen und eine wertvolle Erfahrung für die Zukunft", sagte Béatrice, in deren Augen es doch ein wenig neidvoll glitzerte. Aurora bedankte sich. Dann beendete sie die Armbandverbindung.
"Das ist also auch geklärt. Woher kann so ein Wahrsager so gute Trefferquoten kriegen?" fragte Julius.
"In einer dieser Science-Fiction-Geschichten, die du ja auch gerne liest oder in diesem Fernsehbilderkasten siehst gibt es auch Zeitreisen. Wenn jemand aus irgendeiner fernen Zukunft in die Vergangenheit reist wüsste der oder die doch alles von den nächsten Jahren oder Jahrtausenden. Der könnte damit ein Riesenvermögen machen, immer die richtige Vorhersage zu machen", sagte Millie. Julius nickte. So konnte es sein. Vielleicht würde irgendwann jemand, der erst noch geboren werden mochte, in die tiefe Vergangenheit zurückreisen und dort diese Prophezeiung machen. Da in der Magie Zeitreisen Rückwärts funktionierten, wenn auch mit sehr großem Risiko, war das nicht so fantastisch wie es sich anhörte.
"Am Ende ist es noch eines von unseren Kindern oder Enkeln", unkte Millie. "Aber das hieße ja, dass auch dieses Zeitalter der Finsternis stattfinden würde."
"Muss es für uns nicht heißen, weil allein schon durch das Aussprechen einer Prophezeiung ihr Eintreten erwirkt oder unmöglich gemacht werden kann", sagte Camille. "Ich wusste zum Beispiel damals noch nicht, dass meine Mutter und Claire aus demselben Grund sterben würden. Hätte ich die Prophezeiung vorher gekannt hätte ich das womöglich verhindert."
"Das ist eben der Punkt an der Zukunft. Wir entscheiden am Ende, wie sie für uns aussieht", sagte Julius.
"Dann sage deiner Angetrauten auch noch, was Ashtaria selbst für deine Zukunft beschlossen hat", erinnerte Camille ihren Quasi-Bruder daran, was sie noch erfahren hatten. Julius atmete kurz durch und erwähnte dann, dass er wohl den verlorengegangenen Stern erben sollte, aber erst dann, wenn sein erster Sohn einen Monat auf der Welt war. Millie musste laut lachen, ebenso Béatrice. "So kann man eine Frau auch fragen, ob sie mit einem das Lager teilen will", amüsierte sich Béatrice. Doch Millie lachte, weil sie sich in gewisserweise bestätigt fühlte. Da irgendwo tief in ihrem Leib schliefen noch mehrere Kinder von ihr und Julius. Davon war bestimmt einer ein Sohn, ein kleiner strammer Junge, hoffentlich kein halber Zwerg wie ihr Vater. Aber selbst den würde sie liebhaben. So sagte sie: "Dann überarbeite dich nicht. In deinen Lenden und meinem Bauch steckt Ashtarias Erbschaft. Die muss verdient werden."
"Oha, das hättet ihr besser nicht in Anwesenheit dieser grünen Tasche hier sagen dürfen", grummelte Camille. "Ihr wisst ja, was es mit der Tasche auf sich hat?" Béatrice schüttelte den Kopf. So erfuhr sie es. Was sollte es noch.
"Oh, dann möchtest du auch in unsere Reihen eintreten, Camille?" fragte Béatrice. Camille schüttelte den Kopf.
"Dann sage deiner Tasche, dass nur ausgebildete Heilerinnen oder weibliche Verwandte der Gebärenden beistehen dürfen. Öhm ..." Béatrice erkannte jetzt, was sie da gesagt hatte. Denn Camille war ja über Julius und Jeanne wegen Bruno mit Millie Verwandt, durfte also auch als Tante angesprochen werden. Deshalb zog sie ihre Bemerkung zurück.
Nachdem alles besprochen worden war ging es wieder an die Arbeit im großen Garten, wobei Millie sich schon wieder freute, dass auch in ihrem kleinen Garten bald wieder neues Leben erwachsen sollte. Denn es war klar, dass Julius durch Ashtarias Zauber regelrecht verpflichtet war, die verlorengegangene Linie zu ersetzen. Und sie wollte und würde ihm gerne dabei helfen.
3. Juli 2002
Hallo Wendy!
Mitten in der Nacht hat das Armband vibriert, mit dem ich Julius, Camille, Martha und Brittany Brocklehurst erreichen kann. Laura war gerade nicht zu Hause, weil sie einen wichtigen Verwandtenbesuch machen musste. Deshalb habe ich das Armband umgelegt und mich ungeniert mit über den doch schon gut ausgeprägten Bauch spannendem Nachthemd gezeigt. Aber Julius ahnte das wohl schon. Denn er erwähnte eine Prophezeiung, die er im astralenergetischen Schoß dieser mythischen Urmutter Ashtaria gehört haben soll, von wegen dass jemand aus Himmel und Erde abstürzt und in der Lebenshöhle zweier Morgenlichter einkehrt. Da habe ich es doch mal probiert, zu mentiloquieren, so unheimlich das war. Ja, ich bekam tatsächlich Antwort: "Aurora, hilfe, ich stecke in dir", war die erste Botschaft einer für tot gehaltenen Freundin. Ich habe sie beruhigt, dass sie auch bei Laura oder ihrer Schwiegermutter hätte gelandet sein können und ihr klargemacht, dass sie damit leben muss, mein süßes Baby zu werden. Julius hatte den Begriff Zwiegeborene oder Daisirin erwähnt und erklärt, dass so Leute heißen, die ihren Tod überstehen und sich ganz bewusst in ihre neuen Körper an alles vorherige erinnern könnten. Dann erwarte ich also eine Zwiegeborene.
"Danke, dass du mich bei dir behalten hast", kam Heathers Antwort einige Minuten später bei mir an. Sie klang da schon wie ein kleines Mädchen, wohl ein Effekt der anstehenden Wiedergeburt.
Ich hoffe, Julius, Millie und Béatrice behalten das wirklich für sich und auch Camille, die ich in der Armbandverbindung gesehen habe. Aber schon unheimlich, dass da irgendwer vor tausenden von Jahren eine Weißsagung gemacht hat, in der Heathers und mein Schicksal beschrieben wurde.
Jetzt wo ich weiß, dass Rosey Heathers Geist in sich trägt wundert es mich auch nicht, dass Heather ihren kleinen Lebensraum auskundschaftet. Das kitzelt ein wenig, weil sie echt sehr sacht vorgeht.
Jetzt wo ich weiß, dass ich nicht nur Heathers Tochter, sondern auch ihren Geist in meinem Unterleib beherberge stelle ich fest, welche Wege das Schicksal so für einen bereithält. Ohne Heather hätte ich nicht in Australien lernen dürfen, was für Heather bedeutete, irgendwie den tödlichen Besenunfall überlebt zu haben oder besser noch zu überleben. Das wird sicher noch sehr sehr spannend.
Bis morgen, Wendy!
Nicht nur in den Französischen Zaubererweltzeitungen stand es nun schwarz auf weiß, dass Granatus Lesfeux den kommissarischen Zaubereiminister Dexamenus Montpelier herausforderte. Der Leiter der Truppe zur Behebung verunglückter Magie erklärte, dass das bisherige Zaubereiministerium nicht mehr zeitgemäß geführt werde. Zu viele im Innendienst tätige Leute, qualifizierte Leute auf bloßen Schreibtischposten, wohingegen bei den Ausführenden und darstellenden Beamten viele auf Eigennutz oder Familienehre ausgerichtet seien. Er wolle, wenn er von den magischen Mitbürgern gewählt würde, eine Zusammenlegung aller gegen gefährliche Zaubertiere und verunglückte Magie vorgehenden Beamten zu einer schlagkräftigen Einsatzgruppe mit gerade drei Hierarchiestufen zusammenfassen und alle, die keine wichtigen Vermittler oder Entscheidungsträger seien, mit einer großzügigen Abfindung dazu ermuntern, ihr Glück an anderem Ort zu machen. Wer dann noch verbleiben dürfe, so Lesfeux, werde ein Gremium von Prüfern bestimmen, das jedes Schuljahresende die besten Kandidaten auf ihre Verwendbarkeit prüfe und den ihnen am nächsten kommenden Bereichen zuordne. Wer jetzt schon Anwärter oder Beamter sei müsse sich im Fall von Lesfeux Wahlsieg einer Effizienz- und Loyalitätsprüfung unterziehen, die darüber befinde, wer bleiben dürfe und wer nicht. "Fünfzig im Haus, nur hundert draußen!" Mit dieser Parole läutete Lesfeux den Wahlkampf ein.
Montpelier forderte in denselben Ausgaben der beiden Zeitungen, dass erst die Beisetzung Grandchapeaus stattfinden und der Trauermonat verstreichen und sich das Ministerium wieder sortieren solle. Er sei zwar auch für eine Verschlankung im Innendienst, wolle aber die bisherigen Außengruppen unangetastet lassen. Ihm sei wichtig, dass das Ministerium "in diesen Stürmischen Zeiten" handlungsfähig bleibe und auch andere Institutionen im Erhalt ihrer Handlungsfähigkeit unterstützen könne. Was die Familiären Verflechtungen innerhalb der Abteilungen anginge, so wies Montpelier darauf hin, dass Frankreich eine Republik sei, die Familienbande innerhalb des Ministeriums aber irgendwo aus der Zeit der Aristokratie stammen mochten. Sicher würden angesehene Familien auch gut vorgebildete Hexen und Zauberer hervorbringen. Doch eine wahre Eignung dürfe nicht vom Stammbaum abhängen, sondern von den erworbenen Fertigkeiten und den mitgebrachten Naturtalenten.
"Mit anderen Worten, egal wer gewinnt macht mir die Hölle heiß", sagte Julius zu Martine, die ihren stolzen Umstandsbauch unter einem mintgrünen Umhang verbarg. "Mit anderen Worten, Julius. während ich die kleine Hémera zur Welt bringe und über die ersten Monate bringe will hier ein Feind von guten Kontaktmöglichkeiten im Namen der gleichberechtigten Eignungsprüfungen durchkehren, während sein Gegenkandidat alle rauswerfen will, die seiner Meinung nach nur herumsitzen und klare Aufgaben ausführende Außengruppen zu einer Art Universaleinsatztruppe zusammenbacken. Da muss ich mich ja dann echt fragen, ob ich nach der Babypause wiederkommen darf, egal wer drankommt", grummelte Martine.
"Wenn ich Lesfeux lese höre ich dessen kratzige Stimme immer noch, wie der mir Unfähigkeit für seine Truppe wegen nicht erhaltenen Muggelkundeunterrichts um die Ohren haut. Bei dem darf ich dann überhaupt keinen Außendienst machen. Na ja, aber sich hier im Foyer zu beklagen ist riskant. Warten wir vielleicht mal, wer drankommt oder wer sich noch aufstellt."
"Stimmt, ist vielleicht besser. Sonst rege ich mich zu sehr auf, und ich will die Kleine an einem anständigen Ort kriegen."
"Weißt du es schon genau, wann ungefähr?" Fragte Julius.
"zwei Tage vor bis drei Tage nach deinem Geburtstag, Julius. Wenn ich bei deiner Feierdabei bin und sie da genug von ihrem dauernden Vollbad hat wird's noch spannend, ob Tante Trice, Oma Tetie oder eure dorfeigene Heilerin mir helfen darf."
"Wann auch immer es passiert, ich wünsche dir auf jeden Fall alles gute dafür", sagte Julius. Sie sah ihn sehr erfreut an.
"Dann sollten wir zusehen, dass wenn Tines Kleine endlich meint, nicht mehr mit dieser großen, mal ganz lieb und mal unausstehlich seienden Verpackung herumzulaufen, wir Ashtarias Auftrag auf den Weg gebracht haben können", säuselte Millie. Zwar brauchte Chrysope noch die vorgewärmte Milch ihrer Mutter. Doch Millies Körper hatte schon signalisiert, demnächst wieder empfängnisbereit zu sein. Dass Millie innerhalb von zwanzig Jahren sieben Kinder kriegen wollte wusste Julius. Warum auch immer sie diese Tortur durchhielt wusste er nicht. Vielleicht konnte ihm Martine das sagen oder Aurora Dawn oder Temmie, oder Meglamora. So viele Wesen, die neue Wesen mit sich herumtrugen, und Jeanne wollte auch wieder so eines sein. Aber es mochten harte Zeiten werden. Wenn jetzt auch in der Zaubereiverwaltung nur noch nach Eignung und Belastbarkeit sortiert wurde konnten sie die Zaubereiadministration gleich komplett privatisieren, dachte Julius. Er war sich sicher, dass er weder bei Montpelier noch bei Lesfeux nur einen Tag was zu lachen haben würde. Da hörte er Aurore lachen. Sie amüsierte sich mit den frei herumlaufenden Knieseljungen. Vielleicht sollte er, der Erwachsene, der Vater, von seiner kleinen, unschuldigen Tochter lernen, das Leben zu umarmen, ihm immer erst die guten Seiten abringen und so die schlechten leichter ertragen zu können.
Julius Latierre gehörte mit zu den Trauergästen, die bei der vorgetäuschten Beisetzung Armand Grandchapeaus dabei sein durften. Das lag daran, dass er ja gerade auch für Nathalies Abteilung arbeitete.
Julius sah NathalieGrandchapeau neben ihrer Tochter. Sie wirkte absolut nicht schwanger. Allerdings hatte sie unverkennbar mehr Oberweite als ihre Tochter. Außerdem wirkte sie sichtlich angespannt, vor allem, als sie Belles Großmutter mütterlicherseits über den Weg lief, die ihr einen Moment lang konzentriert in die Augen sah. Julius wusste von Belle, dass Désirée Beaurivage eine Großmeisterin der Legilimentie war und deshalb als Leiterin der psychomorphologischen Abteilung in der Delourdes-Klinik arbeitete.
Um die Täuschung aufrecht zu halten schaffte Julius es, eine dem Anlass entsprechende Miene zu machen. Als er in die Nähe von Armands Schwiegermutter kam ließ er die Worte des inneren Friedens durch sein Bewusstsein gleiten und im Takt seines Herzschlages klingen. Als er fühlte, dass er nun für einige Zeit gegen jede geistige Belauschung oder Beeinflussung abgeschottet war konnte er Belles Großmutter in die dunkelgrünen Augen sehen. Fast hätte er über ihr leicht verstörtes Gesicht gegrinst. Doch als sie ihn sehr konzentriert annsah und ihm dann entschlossen zuwinkte verstand er, dass sie schneller damit klarkam, ihn nicht im Vorbeigehen zu legilimentieren, als er vermutet hatte.
"Für wahr, Sie tragen wohl genug Geheimnisse in sich, die wohl beschützt werden müssen, um solch eine so machtvolle Technik zu beherrschen", flüsterte sie ihm anerkennend zu.
Die Trauerfeier für den verstorbenen Minister verlief so, wie es sich für diesen Anlass gehörte. Natürlich wurden Armands Tatenund sein Gesamtlebenswerk besonders gewürdigt. Nathalie wirkte dabei so, als könne es ihr nicht schnell genug gehen.
Als die große, goldene Urne in der Gruft von Armands Großeltern väterlicherseits in die dafür vorgesehene Nische mit mitternachtsblauen Vorhängen eingestellt und verhüllt worden war durften die exklusiven Gäste der Familie, zu denen auch Julius Latierre als Vertreter seiner Familie zählte, noch in der Schenke zum blauen Besen die Erinnerungen an Armand Grandchapeau vertiefen. Julius übte sich dabei weiterhin im Lied des inneren Friedens, um Belles Oma Désirée aus seinem Geist herauszuhalten.
Als er dann nach sechs Stunden wieder im Computerraum des Zaubereiministeriums saß meinte Belle zu ihm:
"Es hätte Gerede gegeben, wenn meine Mutter nicht zur Beerdigung gekommen wäre. Selbst die Begründung, auf meinen kleinen Bruder aufzupassen, hätten ihr viele übelgenommen. Deshalb hat eine Kollegin aus dem Innendienst ihre Rolle übernommen."
"Sie hätte doch in der Sonderkleidung zum Verbergen ihrer Schwangerschaft hingehen können", meinte Julius.
"Mit dem kleinen aber feinen Unterschied, dass durch diese Kleidung auch die für eine Mutterschaft nötige Oberweite auf übliches Maß verringert worden wäre. So musste es eben auch gehen."
"Öhm, dann war deine Mutter nicht dabei?" fragte Julius.
"Doch, war sie, aber weit genug weg, um nicht angerempelt zu werden", erwiderte Belle darauf. "Sie hat sich unsichtbar gemacht. Könnte Meinem ... öhm, Brüderchen interessante Ausblicke verschafft haben." Den letzten Satz sprach sie mit einer gewissen Belustigung aus.
Für ihn war es ein sehr befremdliches Gefühl. Um ihn war Dunkelheit. Er fühlte die nachgiebige, aber nicht zu durchdringende Begrenzung und hörte das laute, rhytmische Wummern über sich. Ihr Herz schlug für ihn, was für ein poetischer Gedanke es damals war, heute und für die nächsten Jahre stimmte es wortwörtlich. Der ehemalige Zaubereiminister verstand längst nicht alles, was außerhalb seiner durch leichtfertiges Wünschen entstandenen Einzelkabine mit Direktversorgung gesagt wurde. Wenn sie ihm nicht alles übersetzte, was sie für wichtig hielt, so hätte er nicht einmal gewusst, dass er quasi zu seiner eigenen Beerdigung getragen wurde. Dann auf einmal löste sich die Dunkelheit um ihn herum auf. Wie durch dichten Nebel sah er in einem für ihn gerade sehr grellen Licht, dass unter ihm ein breites Stück Straße hin und herschaukelte. Er kämpfte darum, die Augen zu schließen. Doch weil er gerade unsichtbar war brachte das nichts.
"Nathalie, öhm, Maman, mach dich bitte wieder undurchsichtig. Mir bekommt das Gewackel von der Straße nicht", quälte er sich eine rein gedankensprachliche Bitte ab.
"Dann guck nach vorne. Siehst ja gerade nur zwanzig Zentimeter weit", bekam er unter seine gerade unverknöcherte Schädeldecke gepflanzt. Er mühte sich ab, den noch nicht völlig ausgereiften Körper so zu drehen, dass er quasie über Nathalies Bauchnabel hinwegsehen konte. Wenn er zu hoch sah würde er vielleicht in die Sonne sehen und geblendet. Sanft wurde er hin und her geschaukelt, als die, die er eigentlich nur als Frau an seiner Seite hatte annehmen wollen, hinter einem nur als wabernde Schemen erkennbaren Zug herschritt, immer darauf bedacht, nicht mit jemanden zusammenzustoßen.
Da es eine Urnenbestattung war hielten sich die Trauergäste nicht mit einer langen Prozession an einem offenen Grab auf. Das kam ihm sehr gelegen. Sich vorzustellen, an seinem eigenen Grab vorbeigetragen zu werden, obwohl er noch nicht einmal geboren war, irritierte den sonst sehr unerschütterlichen, der wieder mal insgeheim seinen törichten Wunsch verfluchte, die Geburt seines Sohnes nicht als alter Mann mitzuerleben.
"Laroche erwähnt gerade die großen Errungenschaften des zu verabschiiedenden", übersetzte seine Trägerin, was nicht an seine Ohren durchdrang. Als die Trauergemeinde noch ein Lied sang klang es für ihn wie aus einer anderen Welt. Im Grunde war es ja auch genau das. Er kannte das Lied. Deshalb konnte er den Text verstehen, ohne ihn mit den Ohren zu hören. Danach wurde er in sanften, wiegenden Bewegungen wieder zurückgetragen.
"Wird zeit, dass wir wieder in das Haus kommen. Schon anstrengend, unsichtbar und schwanger zu sein", sandte ihm Nathalie, die ihn umgab, für ihn atmete, ging, aß und trank.
Unvermittelt wurde es wieder dunkel um ihn. Doch anders als vor zwölf Tagen noch machte ihm diese Dunkelheit keine Angst mehr. Offenbar hatte sich sein Geist an diesen Zustand gewöhnt, völlig geborgen, vollkommen abhängig zu sein. So schlief er ein, weil sein kleiner Kopf mehr Eindrücke hatte aufnehmen müssen, als für ein Wesen wie ihn üblicherweise zu Gebote standn.
Itoluhila erwachte. Wie lang hatte sie geschlafen? Hoffentlich waren es keine Jahrhunderte gewesen. Sie hatte sich nur noch an den plötzlich entweichenden Druck auf ihren Kopf erinnert, als wenn jemand eine bis dahin stahlharte Klammer vom Kopf gelöst hätte. Diese Empfindung war so heftig gewesen, dass sie gerade so noch in ihr Höhlenversteck hatte flüchten können. Jetzt war sie wieder wach und fühlte die Anwesenheit ihrer Schwestern Ullituhilia, Thurainilla und Tarlahilia. Sie alle wirkten verwirrt.
"Welchen Tag haben wir heute?" wollte Tarlahilia wissen, die befürchtet hatte, jemand habe sie wieder in tiefen Schlaf gestürzt. Itoluhila sah auf ihre rein mechanische Armbanduhr und erwähnte, dass es in ihrer Heimat gerade sieben Uhr morgens sei.
"Welchen Tag schreiben wir heute?" wollte Thurainilla wissen. Die Tochter des schwarzen Wassers versetzte sich in die Casa del Sol in das mehrfach verschlossene Büro und hatte mit einem Blick den Tag raus. "Wir haben sechs Tage am Stück geschlafen", schnarrte Ullituhilia. "Wer hat das gemacht?"
"Das kriegen wir raus, wenn wir wissen, wer das war. Ich weiß nur, dass ich mir gerade einen schönen strammen Mann aussuchen wollte, der mich so richtig satt macht, ohne dabei von mir zerlegt zu werden, als ich meinte, dass irgendwo in meinem Kopf etwas nachließe, ein Druck, den ich bisher nie gespürt habe. Aber diese vermaledeite Freisetzung war zu stark."
"Ich habe das genauso erlebt", berichtete Ullituhilia. Auch die beiden anderen Schwestern hatten genau diese heftige Druckfreisetzung in ihrem Kopf gespürt.
"Hört ihr sie noch?" fragte Thurainilla unvermittelt. Stille setzte im geistigen Gefüge der Töchter Lahilliotas ein. Itoluhila lauschte. Bis zu diesem Zwischenfall hatte sie immer das leise Brummen, Schnarren und zischen stark verlangsamter Gedanken erfasst. Doch da war jetzt nichts mehr. Die verzögerten Gedanken waren weg.
Minuten vergingen. Doch nicht das leiseste Raunen oder Schnarren war zu vernehmen. Itoluhila brach das angespannte Schweigen im geistigen Verbund:
"Schwestern, ich weiß nicht, ob sie wieder tief schläft oder nicht. Aber was uns erwischt hat hat sicher auch sie getroffen."
"Was war das überhaupt?" gedankenschnaubte Tarlahilia. "Mein Abhängiger liegt immer noch in meiner Schlafhöhle und rührt sich nicht."
"Meiner auch", gedankenfauchte Thurainilla. "Er ist einfach bei mir gewesen, obwohl der gerade in seinem Geburtsland sein sollte. Irgendwas hat den zu mir zurückgeworfen."
"Meinen Abhängigen geht es noch gut. Sie hatten nur Kopfschmerzen", stellte Ullituhilia fest. "Nur meine direkte Dienerin ist bei mir in der Höhle gelandet, als wenn ich sie dorthin gerufen hätte."
"Ich prüfe nach, wer von meinen Unterworfenen noch da ist", beschloss Itoluhila. Sie wollte gerade noch vorschlagen, dass sie sich in der Welt der Sterblichen umhören sollten, ob da was passiert war, dass die magische Grundkraft erschüttert haben mochte, als sie alle das laute, unverkennbar triumphale Lachen einer anderen Frau hörten, schrill, kraftvoll, unheilvoll. Es drang in jeden Winkel der Gedanken der vier wachen Töchter Lahilliotas und flößte denen, die sonst anderen Begierde oder Furcht einflößten, an Panik grenzende Angst ein. Denn sie kannten die Stimme, die da lachte, viel zu gut.
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