Die unbedachte Einzelaktion Armand Grandchapeaus erschüttert weiterhin das französische Zaubereiministerium. Julius Latierre sorgt sich darum, wer Grandchapeaus Nachfolger wird, aber auch, wie das Erlöschen der einen Blutlinie Ashtarias die Welt verändert. Ashtarias Worte, er müsse sich bald entscheiden, sind tief in seinen Erinnerungen eingebrannt. Er weiß genau, dass er sich für einen von zwei Wegen entscheiden muss, die Madrashmironda für ihn vorgegeben hat. Er weiß, dass er keine Wahl hat, wenn er je wieder zu den Altmeistern des alten Reiches gehen möchte. Doch zunächst hofft er auf friedliche Tage mit seinen Freunden und Verwandten.
NUR NOCH ZWEI MONATE!
WER TRITT IN GRANDCHAPEAUS FUßSTAPFEN?Gestern durften Sie bei uns und auch unserem rebellischen Konkurrenten nachlesen, dass der Rat der Ministeriumsleiter zusammenkam, um den Termin für die anstehende Wahl des neuen Zaubereiministers zu bestimmen. Gerade noch pünktlich zu Redaktionsschluss erhielten wir die klare Bestätigung, dass am 14. September der neue Minister erwählt werden soll. Somit haben die beiden bisher bestätigten Kandidaten Zeit, Ihre Pläne für die Zukunft unserer magischen Gemeinschaft in dieser großen Nation zu erläutern und überzeugend darzulegen. Es besteht aber auch die Möglichkeit, so der Pressereferent des Zaubereiministers, Diogenes Beaurivage, dass mindestens ein weiterer Kandidat oder eine Kandidatin zur Wahl antreten kann. Die Bewerbungsfrist ende jedoch am 31. Juli.
Der kommissarische Zaubereiminister Dexamenus Montpelier ließ seinen Sekretär Dulac verlautbaren, dass er durchaus bereit sei, jederzeit die von ihm schon erwähnten Vorhaben umzusetzen, sofern die magische Gemeinschaft ihm bestätige, dass sie ihm vertraue. Dulac ließ anklingen, dass eine kosten- und zeitaufwendige Ministerwahl eigentlich unnötig sei, sofern es genug unter die Administration des französischen Zaubereiministeriums fallende Bürgerinnen und Bürger gebe, die ihm per öffentlichem Brief ihr Vertrauen aussprächen und offen zur Fortsetzung seiner Amtstätigkeit aufrufen möchten. "Wir müssen ja nicht jeden Unfug aus der Muggelwelt eins zu eins nachmachen", so Dulacs Wiedergabe einer Äußerung, die Interimsminister Montpelier bereits vor einem Jahr im Zusammenhang mit Außenhandelsbeziehungen und magischer Gesetzgebung im Zeitalter grenzüberschreitender Beziehungen machte.
Um unsere unparteiische Stellung als führender Nachrichtenverbreiter der französischsprachigen Zaubererwelt zu wahren konfrontierte unser Ministeriumsberichterstatter den bisherigen Mitbewerber Granatus Lesfeux mit Montpeliers Vorschlag zur Vermeidung einer aufwändigen Neuwahl. Wie zu erwarten stand zeigte sich Monsieur Lesfeux von diesem Vorschlag ganz und gar nicht angetan. Er gab unserem Reporter den folgenden Kommentar zur Veröffentlichung:
"Dass Montpelier seine derzeitigen Befugnisse ausreizt und lieber gestern als heute seine Ansichten umsetzen will war mir klar. Aber wenn der denkt, dass wir, die magische Gemeinschaft Frankreichs, mit Hilfe von einer Flut von Briefen und Heulern besser verwaltet werden können, so sollte er langsam mal wach werden und sich fragen, wo von er sonst noch so alles träumt. Nachdem wir es hinbekommen haben, dass der Zaubereiminister nicht mehr nach Gutdünken der im Ministerium tätigen Mitarbeiter bestimmt wird, sondern in freien und geheimen Wahlen ermittelt wird, sind wir bis auf wenige Ausnahmen sehr gut damit zurechtgekommen. Abgesehen davon, dass Montpelier so kurzsichtig ist, sein Schicksal in die Hände leichtgläubiger und schnell von irgendwas zu überzeugender Zeitgenossen zu legen besteht meiner Ansicht nach auch die Gefahr, dass alle jenen, denen ich bereits signalisiert habe, dass sich unter meiner Führung etliches ändern wird, ihren nicht zu unterschätzenden Einfluss ausnutzen, um für Montpelier Stimmung zu machen, ohne genau zu wissen, was er eigentlich will. Allein schon, dass er vorschlägt, er könne ja jetzt schon alle von ihm angedeuteten Vorhaben umsetzen, wenn man ihn ließe, zeigt mir, dass er sich nicht so sicher ist, dass die wahlberechtigten Mitbürger ihm auch wirklich das Vertrauen und den Auftrag aussprechen, unser Zaubereiminister zu sein, wenn bekannt ist, was genau und wie genau seine Ziele sind. Gut, die Gefahr besteht für mich auch, wenn es mehr Leute gibt, die mit meiner bereits geäußerten Grundhaltung hadern. Doch setze ich Vernunft und Anpassungsfähigkeit über voreiliges und unbedachtes Handeln. Sicher könnte ich jetzt auch schon dazu aufrufen, die Wahl nicht an den Urnen, sondern in den Ausgaben Ihrer Zeitung und sofern den nicht endlich wer in die Bedeutungslosigkeit zurückschickt, in die sein Blatt gehört, auch bei Ihrem abtrünnigen Ex-Kollegen Latierre stattfinden zu lassen. Doch bei letzterem muss ich fürchten, dass er nicht im Sinne einer neutralen, auf Vernunft und allumfassendes Handeln ausgerichteten Zaubereiverwaltung eintreten, sondern die fragwürdigen Pfründe seiner Familie verteidigen wird. hinzukommt, dass öffentliche Briefe die Geheimhaltung der Ministerwahl aushebeln. Wer schreibt muss Farbe bekennen und kann sich je nach Entscheidung Anfeindungen von der jeweiligen Gegenseite gewiss sein. Auch deshalb ist das Vorhaben Montpeliers purer Drachendung. Nein, der soll sich gefälligst einer freien, aber geheimen Wahl stellen, bevor er seine Ansichten und Vorhaben in politische Entscheidungen umwandelt. Ich werde bis zum 20. Juli meine angedeuteten Vorhaben in klar strukturierte und unmissdeutbare Aussagen einbringen und Ihnen und anderen Nachrichtenverbreitern zur wortwörtlichen Weiterverbreitung übergeben. Falls Montpelier ein Ehrenmann ist - und bis zu seinem jüngsten Vorschlag hielt ich ihn noch für einen -, so wird er wohl solange stillhalten können. Unsere ersten direkten Aussagen sind ja bereits hinlänglich bekannt."
Auf die Frage an beide, ob sie damit rechneten, dass sich noch ein dritter Mitbewerber um das Ministeramt fände erwähnten beide Befragten in seltener Einigkeit, dass spätestens einen Monat vor einer beschlossenen Ministerwahl die Liste aller Kandidaten bekanntgemacht sein müsse. Wer bis dahin nicht den Mut und die Entschlossenheit aufbringen könne, sich der Wahl zu stellen, habe dann eben zu schweigen, bis die nächste Wahl anstehe oder eben für alle Zeit auf die Anwartschaft für das höchste Amt der französischen Zaubererwelt zu verzichten.
Monsieur Montpelier, der nach diesem Artikel sicher ein wenig missmutig sein dürfte, kann nun befinden, ob er dem von Monsieur Lesfeux erbetenen Stillhalteabkommen bis zum 20. Juli zustimmen möchte oder nicht.
NOCH ZWEI MONATE BIS ZUR WAHL
Liebe Leserinnen und Leser, gestern haben die Abteilungsleiter des Zaubereiministeriums unter Leitung des kommissarischen Zaubereiministers Dexamenus Montpelier beschlossen, dass wir alle am 14. September wählen sollen, wem wir unsere Angelegenheiten anvertrauen. Monsieur Montpelier schickte seinen Pressesprecher Beaurivage dann mit dem Kollegen vom Miroir in einen Nebenraum, angeblich, um den genauen Wortlaut der Entscheidung zu diktieren. Warum meine Kollegen vom Rundfunk und ich dieser wortwörtlichen Verlautbarung nicht zuhören durften bekamen wir erst mit, als sich Montpeliers Stellvertreter verplapperte und meinte, dass Montpelier am liebsten die Bürger in einer offenen Befragung abstimmen lassen und die ganzen Wahlvorbereitungen vergessen würde. Als mein Kollege vom Radio freie Zaubererwelt dann Beaurivage mit dieser Andeutung konfrontierte meinte der Pressesprecher, dass wir darüber nur dann was verbreiten dürften, wenn auch Lesfeux darüber informiert und unbeeinflusst von uns Nachrichtenleuten seine Meinung gefasst hätte. Da ich nach allen Jahren, die ich bereits für eine Zeitung gearbeitet habe davon ausgehen muss, dass die Kollegen vom Miroir diese exklusive Mitteilung nicht bis zu dieser Entscheidung zurückhalten werden möchte ich nur fragen, welchen Sinn eine offene Befragung haben soll? Wer ist bitte unbefangen genug, sowas durchzuführen und auszuwerten? Am Ende müssen alle, die für Montpelier offen abgestimmt haben von den Anhängern Lesfeux' zu hören kriegen, dass sie eine günstige Gelegenheit verdorben haben, das Ministerium zu verschlanken. Und wer für Lesfeux eintritt könnte sich anhören müssen, dass er oder sie keine Achtung vor gewachsenen Traditionen und sehr gut funktionierenden Gesellschaftsstrukturen mehr habe.
Selbst wenn ich nach den Stellungnahmen viler zu einflussreichen Familien gehörender Ministeriumsmitarbeiter davon ausgehen darf, wem sie das Amt gerne überlassen möchten, so halte ich als eigenständiger Nachrichten- und Hintergrundberichter es für richtig, dass jeder für sich allein eine Entscheidung suchen und finden soll. Ich bin damals nicht gegen Didiers paranoides Vorgehen aufgetreten und habe dafür meine Freiheit oder gar mein Leben riskiert, wenn ich nicht für eine freie und geheime Wahl eintreten kann. Daher kann ich zu diesem Vorschlag Montpeliers nur sagen, dass er gerne weiterträumen möchte. Am 14. September soll gewählt werden. Dabei soll es bleiben. Ob sich bis dahin nicht noch ein dritter Bewerber findet hängt auch davon ab, was die beiden bisherigen Kandidaten nun wirklich machen wollen.
Meine Mitarbeiter und ich bleiben auf jeden Fall dran und werden uns von niemandem ins lodernde Drachenmaul treiben lassen. Wer noch mal nachlesen will, was die beiden bisherigen Kandidaten kurz nach Minister Grandchapeaus Tod verlautbarrt haben, die ausführlichen Interviews mit Monsieur Montpelier und Monsieur Lesfeux finden Sie auf den Seiten 3 bis 9.
"Dann haben wir Zeit bis nach deinem Geburtstag, Monju, bis die zwei Neugestaltungswütigen ihre Umbaupläne vorliegen haben. Hoffentlich kriegt Gilbert das alleine hin, wenn wir echt wegen Chloe Palmer in die Staaten rübermüssen, damit Martha mit uns allen feiern kann", sagte Millie Latierre, als sie die neueste Ausgabe der Temps auf den Tisch zurückgelegt hatte. Ihr Mann Julius hatte gerade die Ausgabe des Miroir in den Händen und kam gerade zum Ende des Artikels über den festgesetzten Wahltag.
"Lesfeux bringt Montpelier schön in Bedrängnis. Aber der ist ja auch seltendämlich, eine offene Umfrage vorzuschlagen. Dass Lesfeux das ausschlachten wird ist doch so klar wie Morgentau."
"Hat er das echt vorgeschlagen, die Leute so abstimmen zu lassen?" wollte Millie wissen. Zur Antwort bekam sie die Zeitung zugeworfen. Aurore klimperte derweil mit ihrem kleinen Löffel auf den nur noch von klebrigen Krümeln bedeckten Teller herum, während ihre kleine Schwester selig in der in die Wohnküche gestellten Wiege schlief.
"Rorie, wenn du satt bist gib mir das", sagte Millie und streckte die Hand nach Aurores Teller und Löffel aus. Aurore wollte aber ihr Musikinstrument nicht so einfach hergeben und zog den Löffel weg. Millie sah ihre erstgeborene Tochter nur streng an und zog dann einfach den Teller weg. "Du kannst gleich mit mir zum Spielplatz", sagte Millie beschwichtigend. Aurore steckte sich den Löffel in den Mund, weil ihre Mutter danach griff. Millie zog am Stiel. Doch Aurore hielt den Löffel mit ihren winzigen Zähnen fest.
"Wird eine frostige Stimmung geben. Wer von den beiden antreten will wird gründlich aufräumen wollen", seufzte Julius, dem das Geplenkel zwischen seiner Frau und seiner ersten Tochter mehr Spaß machte, als er nach außen hin zugeben durfte.
"Es sei denn, jemand traut sich, gegen die zwei Kampfknarls anzutreten", grummelte Millie und zog energischer am Löffelstiel. Aurore hielt den Löffel aber weiter fest. "Was willst du mit dem Löffel, Rorie? Ist nichts mehr da", schnarrte Millie. Da meinte Julius:
"A, kuck mal, da draußen kommen Jeanne und Jaja." Aurore öffnete den Mund und rief: "Jaja!" Millie nutzte die Gelegenheit, den kleinen Löffel an sich zu bringen und mit einem gezielten Wurf im Spülbecken zu versenken.
"Sind die echt da?" gedankenfragte Millie ihren Mann. Dieser wies statt einer Antwort aus dem Fenster, wo gerade ein Besen mit zwei Personen um das Apfelhaus herumflog. Millie öffnete das Fenster und rief hinaus:
"Jeanne, du kannst Jaja zu uns reinbringen. Ich habe heute frei!"
"Jaja da!" quiekte Aurore laut und begeistert. Zur Antwort klang ein ebensowinziges Stimmchen "Rororoe!" zurück.
"Damit ist dein Tag wohl auch gesichert", meinte Julius mit gespieltem Sarkasmus.
"Ich frage mich gerade, wo Lenie ist. Jeanne lässt die zwei doch sonst nicht getrennt voneinander herumwuseln."
"Wird sie uns sicher gleich sagen", stellte Julius fest. Da klang auch schon das magische Türglockenspiel: "Wie leuchtet mir der Apfelbaum".
Julius begrüßte Jeanne, die sich freute, dass sie ihre zweite Tochter bei Millie lassen konnte. Auf die Frage, wo ihr kleiner Sohn Belenus war sagte sie, dass der mit seinem Vater und anderen stolzen Vätern auf der Kleinbesenwiese herumtobe. "Bruno will seinen Sohn unbedingt schon in die Mannschaft reinkriegen, bevor der lesen und schreiben gelernt hat", meinte Jeanne. "Jaja hält nicht viel vom Besenfliegen. Die will lieber den ganzen Tag Musik machen. Ich hoffe, ihr habt euer Klavier gut weggeschlossen."
"Allein schon wegen Aurore", flüsterte Julius. Dann verabschiedete er sich, um ins Ministerium zu flohpulvern.
Dort angekommen erfuhr er, dass die Meldungen in den beiden Zaubererzeitungen einen gewissen Unmut unter den Mitarbeitern ausgelöst hatten. Jene, die für Lesfeuxes Verschlankungspolitik waren warfen Montpelier vor, seine Macht zu missbrauchen und jeden Konkurrenten im Vorfeld handlungsunfähig zu machen. Die, die für Montpelier waren warfen Lesfeux vor, dass er das mit der öffentlichen Briefumfrage in Umlauf gebracht haben könnte, um Montpelier gleich als undemokratischen Machtmenschen abzustempeln und dass dadurch Montpeliers Wahlchancen gesunken seien, obwohl er durchaus bessere Vorschläge zur Verwaltung habe.
"Das werden noch lange zwei Monate", sagte Julius zu Ornelle Ventvit.
"Da habe ich eine gute Nachricht für sie", sagte seine direkte Vorgesetzte. "Ich konnte es bei Monsieur Vendredi durchdrücken, dass Ihnen der im März und April gewährte Urlaub als Sonderurlaub wegen der erfolgreichen Beseitigung der von dieser Nal ausgehenden Gefahr angerechnet wird. Er war zwar nicht sonderlich begeistert, das einzugestehen, dass Sie in letzter Konsequenz einen Amoklauf dieser grünen Hybridin verhindert haben und zudem auch eine Männerjagd Meglamoras verhindert haben. Wie er über Ihre Aktionen denkt ist Ihnen ja bekannt. Aber er meint, dass es sinnvoll sei, wenn Sie vor einer wie auch immer gearteten Neuorganisation aller Abteilungen und möglichen Neuausrichtung Ihrer Tätigkeit hier bei uns noch einmal Wochen der Muße zugesprochen bekommen sollen. Deshalb genehmigt er Ihnen einen Urlaub von vier Wochen, beginnend am 19. Juli, falls Ihnen und Ihrer Gattin dies recht ist."
"Monsieur Vendredi wird seine Gründe haben, warum er mir diesen Urlaub genehmigt", sagte Julius gerade noch beherrscht genug, um seine Freude nicht zu sehr offenbaren zu müssen. "Sicher würde meiner Frau das gefallen, zumal wir dann Bekannte von uns im Sommer besuchen können."
"Sagen wir es mal so, Julius, Monsieur Vendredi hätte Ihnen den Urlaub nicht genehmigt, wenn er das alleine hätte entscheiden können. Aber offenbar haben sie durch Ihre Aktionen in den letzten Monaten gewisse Gönner gewonnen, nicht nur mich, die der Meinung sind, dass Sie auch etwas von den Sommertagen haben sollten, wo das Ministerium wegen der Ferien eh schon mit halbem Personal arbeitet und Montpelier selbst bis zum ersten August in die Überseeprovinzen reisen möchte. Er fürchtet wohl, dass Sie in seiner Abwesenheit mit den Veelas oder sonst wem Übereinkünfte erzielen, die er nicht grundweg ablehnen kann, obwohl sie ihm missfallen könnten. Außerdem macht unsere Abteilung ebenfalls für zwei Wochen zu, nachdem wir die noch anstehenden Vorgänge abgearbeitet haben. Ich wollte dann nicht alleine mit Ihnen hier herumsitzen."
"Ich freue mich auf jeden Fall, dass ich noch ein paar Ferienwochen genehmigt bekomme. Was meinen Sie, sollte ich Monsieur Vendredi ein Dankesschreiben schicken?"
"Besser nicht schriftlich bedanken, Julius. Sonst müsste er davon ausgehen, sich demnächst vor wem auch immer rechtfertigen zu müssen, dass er Ihnen irgendwas aus freien Stücken genehmigt habe, wo er Sie ja eigentlich zum reinen Innendienst verpflichtet hat. Sie dürfen sich mündlich bei ihm bedanken. Falls er dann noch eine schriftliche Bestätigung haben möchte, dass Sie in seiner Schuld stehen sollten, wird er Ihnen das sicher mitteilen", erwiderte Ornelle. Diese Bemerkung gefiel Julius nicht sonderlich. Doch er beherrschte sich gut genug, um es sich nicht anmerken zu lassen. Am Ende wollte Vendredi ihn auf irgendwas verpflichten beziehungsweise sein Stillschweigen sicherstellen, vielleicht sogar eine gewisse Unterwürfigkeit erzwingen. Dann, so beschloss Julius, konnte sich Vendredi den spontanen Sonderurlaub an den Hut stecken.
Als Julius mit dem ausgefüllten und unterschriebenen Urlaubsantrag zu Monsieur Vendredi hinüberging saß Adrastée Ventvit bei ihm im Büro und diskutierte wohl gerade etwas aufwühlendes mit ihm aus. Als Julius eintreten durfte sagte Vendredi:
"Wenn es um freie Tage geht geht es Ihnen wohl auch nicht schnell genug, wie?" Julius erwiderte darauf, dass Mademoiselle Ventvit ihn gebeten habe, die Unterlagen noch vor dem 16. Juli abzugeben, da ja am 19. Juli die Abteilung in die Ferien gehen würde.
"Wenn wir das können. Madame Ventvit hier meint, dass gerade die mit Geistern zu tun habenden Fachkräfte mehr über die Spukbetrugstechniken der Muggelwelt informiert sein sollten, nachdem sie gestern wegen eines ekeltrohonisch begabten Scherzboldes ein ganzes Warenhaus hat durchsuchen müssen, um einen die Kunden anpöbelnden Geist zu fangen, den es nicht gab. Hat lange gedauert, bis sie und Monsieur Lunoire die Quelle dieser vermeintlichen Poltergeistaffäre auffinden konnte und das auch nur, weil sie sich selbst unsichtbar gemacht haben und dabei einen jungen Burschen ertappen konnten, der mit irgendwelchen Apparaturen und Lautwiedergabekisten diese Störungen verursacht hat."
"Ist nicht so toll, wenn wir wegen solchen Witzbolden in der Muggelwelt herumsuchen müssen, wo es anderswo echte Poltergeister und rachsüchtige Gespenster geben könnte", grummelte Adrastée Ventvit.
"Ui, ist das auch schon wieder zwanzig Jahre her", meinte Julius dazu. "Damals hat es in Deutschland eine solche Sache gegeben, wo in einer Zahnarztpraxis ein alle möglichen Leute anpöbelndes Phantom "gespukt" haben soll. Das habe ich aber erst gelesen, als ich "Vortäuschung von Magie und Spuk" von June Priestley lesen konnte, wo sie die modernen Hilfsmittel der magielosen Welt aufführt, um Magie und Geistererscheinungen zu simulieren. Sie merkt darin auch an, dass das für die Menschheit gefährlich werden könnte, wenn nicht mehr zwischen einem vorgetäuschten Geisterspuk und echten Gespenstern unterschieden werden könne, ohne dabei Magie anzuwenden."
"Öhm, haben Sie dieses Buch privat erworben oder hier im Ministerium vorgefunden?" wollte Adrastée wissen. Julius erwähnte, dass er im Zuge seiner Zweitbeschäftigung auch die Fachbibliothek für magieähnliche Erscheinungsformen besuchen durfte und erstaunt war, dieses Buch dort gefunden zu haben, zumal er die Verfasserin ja auch persönlich kenne.
"Warum haben wir dieses Buch dann noch nicht?" schnaubte Adrastée. Sie sah Vendredi an und meinte: "Ich bitte darum, eine Ausleih- beziehungsweise Bestellgenehmigung für alle mit vorgetäuschten Spukerscheinungen zusammenhängenden Büchern einbringen zu dürfen."
"Damit Sie Ruhe geben, Adrastée", schnaubte Vendredi. Dann nahm er Julius' Urlaubsantrag entgegen. Als er ihn unterschrieben und kopiert hatte konnte Adrastée nicht anders als zu bemerken:
"Wenn Sie Monsieur Latierre nicht zum Innendienst verpflichtet hätten, sofern er nicht mit dem Büro für friedliche Koexistenz zusammenarbeitet, hätten wir sicher zwei Stunden vergeblicher Suche einsparen können."
"Jetzt aber beide raus hier!" blaffte Vendredi verständlicherweise verärgert.
"Ich kann Ihnen sagen, warum unser gemeinsamer Vorgesetzter Ihnen den Urlaub genehmigt hat", wisperte Adrastée auf dem Weg zu ihrem Büro. Julius überlegte kurz, ob er das wissen wollte. Am Ende wollte er wissen, ob ihr Verdacht mit seinem zusammenpasste. Er nickte ihr zu. "Monsieur Vendredi fühlt sich wohler, wenn Sie nicht im Dienstlichen Auftrag unterwegs sind und ihn wieder in irgendwelche Erklärungs- oder Begründungsnöte bringen könnten wie mit der Gurgha oder mit dem Streich von Euphrosyne Blériot verheiratete Lundi."
"Achso", tat Julius diese Bemerkung als für ihn nicht besonders nennenswert ab. Aber im Grunde hatte er jetzt eine weitere Bestätigung, dass Vendredi sich unwohl fühlte, solange Julius mehr mit Belle Grandchapeau zu tun hatte, die sicher wusste, was er alles so konnte.
Wieder im Büro besprach er mit dem Kollegen Pygmalion Delacour noch einige Dinge, zum Beispiel die Anfrage aus Beauxbatons, ob auch im nächsten Jahr wieder ausländische, humanoide Zauberwesen eingeladen werden durften. Julius erklärte auf direkte Anfrage des dienstälteren Kollegen, wie er die praktische Vorführung solcher Wesen im Seminar für intelligente Zauberwesen gefunden hatte und dass es wirklich schon einen Unterschied machte, über Wesen wie Meigas, Huldren oder Meermenschen nur aus Büchern zu erfahren oder echte Wesen dieser Art sehen und vor allem befragen zu können. Er meinte dazu mit einem gewissen Unbehagen: "Nun, Madame Maxime hat damals Wert darauf gelegt, dass wir alle gut genug vor Übergriffen abgeschirmt waren. Da ging das auch mit Vampiren. Aber ob ich heute noch mal welche nach Beauxbatons schicken würde weiß ich nicht. Aber in England haben sie offenbar gute Erfahrungen mit Hellmondvampiren wie Sanguini oder Selenophilos."
"Ich habe allen Ernstes Briefe von Schülern bekommen, die wie sie aus magielosen Familien stammen, Julius. Die wollen die Veelastämmige sehen, die einen der bekanntesten Jungsportler "geangelt" hat und wie sie mit dem jetzt zurechtkommt. Ich habe denen nicht geschrieben, dass wir eigentlich ein Ansiedlungsverbot für Madame Lundi verhängen wollten und es auf Monsieur Vendredis Betreiben nicht verhängt haben. Woher wissen die das dann?"
"Also wenn das die Idee von Pierre Marceau war dann wohl deshalb, weil er bei so einer Befragung sicher damit trumpfen wollte, sowohl von Fußball als auch von Veelamädchen Ahnung zu haben. Ich hoffe, Ihnen damit jetzt nicht zu nahe zu treten, Pygmalion."
"Apropos Pierre. Meine Gattin und ich sind mit dessen Eltern übereingekommen, dass die nun doch nicht mehr zu vermeidende Hochzeit auf dem Land bei Aix-en-Provence gefeiert werden soll, nicht bei den Marceaus und nicht bei uns. Neutraler Boden, nicht von der einen oder anderen Welt allein vereinnahmt", erwiderte Pygmalion mit einem leicht verdrossenen Gesichtsausdruck. Julius nickte. Die Hochzeit würde ja sowieso erst in frühestens einem Jahr stattfinden, wenn beide die magischen siebzehn Jahre vollhatten.
Im weiteren Verlauf des Tages ging es noch um die bei Meglamora eingeleitete Schwangerschaft und wie weit die Tante der ehemaligen Schulleiterin von Beauxbatons gesonderte Überwachung nötig hatte, vor allem, wenn die Hybridin Nal vielleicht doch meinen könnte, dass alle Riesenabkömmlinge in ihrer Einflusssphäre zu sein hätten, wo sie Hagrids Bruder an sich gebunden hatte.
"Nal hat sich seit der gezielten Vernichtung von einigen Detektionsdrachen doch friedlich verhalten", sagte Julius. "Aber auszuschließen ist es nicht, dass sie ihre Meinung ändert." Den letzten Satz sprach er mit ehrlichem Unbehagen. Denn dass die grüne Gurgha ihn als Vater ihrer Kinder eingefordert hatte hatte er nicht vergessen. Und das alles nur, weil er Madame Maximes Blut im Körper gebraucht hatte, um kein Schlangenkrieger zu werden.
Als Julius wieder bei seiner Familie war musste er aufpassen, nicht über Chrysope zu stolpern. Die fing nun, wo sie sich beliebig in ihrer Wiege drehen konte wie sie wollte, mit dem Krabbeln an. Millie beobachtete sie dabei.
"Wenn die so weiter macht steht sie in zwei Monaten schon auf den Füßen", grinste Millie, während Chrysope glucksend und immer wieder auf für sie interessante Sachen deutend umherkrabbelte. Julius wollte sie hochheben. Doch Millie schüttelte den Kopf. "Neh, lass die besser auf dem Boden. Ich habe das gerade vorher probiert. Da ging die Schreierei los. Wenn sie Hunger oder volle Windeln hat wird sie schon Laut geben.""
"Wo ist unsere erste Tochter?" fragte Julius.
"Bei Jeannes Zwillingen. Die hatten sich heute morgen mit Philemon. Der hat gemeint, seinen jüngeren Cousins und Rorie Spielsachen wegnehmen zu müssen. Da hat unsere große Tochter ihm eins auf die Nase gehauen. Der hat dann versucht, ihr an den Haaren zu reißen und dafür noch einen Kniestoß in den Bauch abbekommen. Jeanne war da nicht so erfreut. Ich habe mit Tante Uranie drüber gesprochen, dass ich Aurore nicht zur Krawallhexe machen will. Da sagte die nur: "Der muss es jetzt lernen, dass er nicht überall der stärkste ist und kleine Mädchen sich auch wehren können, wenn sie müssen. Damit war der Knut gewechselt, obwohl Philemon geplärrt hat wie eine irische Todesfee."
"Hat meine Mutter sich gemeldet, ob sie jetzt rüberkommen darf oder von ihrer Hebamme an die Kette gelegt wird?" wollte Julius wissen.
"Ich war so übereifrig, diesen Tragesack zu erwähnen, mit dem ich damals mit Rorie im Bauch in die DK geflohpulvert wurde. Unsere gemalte Botin meinte dazu, dass das bei Chloe Palmer wohl auf sehr offene Ohren gestoßen sei."
"Im Zweifel packen wir die ganzen Gäste in eine der Überschallwürste und schwirren mal eben rüber an die Pazifikküste. Wird sicher ein Riesenabenteuer für die ganzen Kleinen, auch für Kevin und Patrices Shivaun."
"Ich klär das besser im Direktgespräch mit Mum. Öhm, Tine hat aber trotz deiner kleinen Nichte nicht abgesagt, weiß ich."
"Die würde auch mit in die Staaten rüberfliegen. Oma Lutetia ist da eh freier im Umgang mit Hochschwangeren, weil die Zwerginnen auch bis direkt zu den Senkwehen noch schuften mussten. Übel würde sie es Tine nur nehmen, wenn sie die kleine Héméra ausgerechnet da kriegen würde, wo Hera und Tante Trice in der Nähe sind und sie deshalb nicht gerufen würde."
"Und Tante Béatrice spekuliert heimlich drauf, auch Tines erstes Kind auf die Welt zu holen, wie?" fragte Julius und blieb stehen, weil Chrysope gerade sein rechtes Bein als Haltepunkt entdeckt hatte und versuchte, sich daran hochzuziehen. Millie sagte dann noch:
"Hängt auch davon ab, ob Pa will, dass Oma Tétie mit zu uns rüberkommt, nur um in der Nähe zu sein."
"Werden wir erleben", sagte Julius und widmete seine Aufmerksamkeit dann ganz seiner zweitgeborenen Tochter, die versuchte, sich an seinem Bein anzuklammern und nach oben zu schieben, was aber noch nicht so recht gelingen wollte. So ging er auf alle viere und hob die Kleine so auf seinen Rücken, dass er sie wie ein Pferd durch die Wohnküche tragen konnte. Das machte nicht nur Chrysope spaß, sondern auch Goldschweif, die durch eines der offenen Fenster hereingeklettert war und ebenfalls bei Julius auf dem Rücken landete.
Gegen abend holte Julius Aurore bei Jeanne ab. "Das mit meinem Vetter hat Millie dir erzählt, nehme ich an", grinste Jeanne. Julius nickte. "Irgendwie meint der immer noch, er müsste mit allen Krach suchen, die kleiner als er sind. Aber Rorie hat dem ja schon richtig eine platte Nase gezimmert. Aber mit der Ersthelferausbildung bekam ich die alleine wieder ausgerichtet. Aber ihr müsst aufpassen, dass er Rorie nicht mal von hinten schubst, um sich zu rächen."
"Meine Eltern haben mich soweit ich mich zurückerinnern kann nicht verprügelt. Deren Strafen waren rein psychologischer Art. Aber wenn Philemon meint, kleinere Mädchen beklauen und hauen zu müssen wird's zeit, dass der das lernt, dass die auch Eltern haben, die sowas nicht durchgehen lassen", sagte Julius. "Aber das wissen Camille, Florymont und Uranie ganz genau. Ich denke er, der ärgert sich, dass er nur eine Mutter hat und die anderen alle mit ihren Papas was unternehmen können. Aber den Frust muss der nicht an unseren Kindern abreagieren." Jeanne nickte heftig.
Als die erste und die zweite Latierreprinzessin endlich schliefen konnte Julius über das Armband mit seiner Mutter sprechen, die gerade beim Mittagessen war. Er musste sich wieder sehr beherrschen, nicht zu heftig über den mittlerweile beträchtlichen Leibesumfang seiner Mutter zu staunen. War sie damals, wo er in ihr gesteckt hatte, auch so heftig aufgequollen?
"Weil meine Schwiegermutter mitkommt darf ich zu euch hin, aber nur im innertralisatus-Umstandskleid. Meine Schwiegermutter hat schon bei Hera angefragt, ob sie die Nacht bei ihr schlafen darf. Bei der Gelegenheit kann sie ja auch ihre zweite Stiefurenkeltochter besuchen."
"Ich habe Urlaub bekommen bis Ende August", entgegnete Julius darauf und beschrieb seiner unübersehbar neues Leben tragenden Mutter den heutigen Tag.
"Ja, mit vorgetäuschten Spukstimmen habe ich auch so meine Erfahrungen. Aber das hast du hoffentlich nicht erwähnt", seufzte Martha Merryweather. Julius schüttelte den Kopf. "Dann wollt ihr auf der Rückfahrt mitkommen, um wie angedeutet ein paar Tage bei Britt und Linus zu wohnen?" Julius bejahte das. "Gut, aber wir haben auch noch genug Zimmer frei. Britt soll sich schließlich nicht übernehmen, wo sie auch ein Baby erwartet."
"Das zu entscheiden überlasse ich besser Britt, weil die leicht biestig werden kann, wenn jemand ihr vorschreiben will, was sie zu tun und zu lassen hat", erwiderte Julius.
"Erzähl mir was neues, mein Großer! Ich mache immerhin mit ihr und diversen Hoffnungsvollen zusammen Schwangerschaftsgymnastik." Julius nickte. "Ja, und die für mich geltenden Bedingungen gelten dann auch für sie, auch wenn sie nicht so überladen aussieht wie ich. Ist vielleicht doch was dran, dass veganes Essen die Zunahme verzögert."
"Du hast drei Babys zu tragen, sie nur eins. Da ist schon mal ein Unterschied", wagte Julius, seine Mutter zu belehren. Sie nickte eifrig und erwiderte dazu nur:
"Ja, und jede Minute tritt mir einer von denen irgendwo hin, wo es unangenehm ist. Aber ist auch eine höchst interessante Erfahrung, nicht nur eines im Schoß zu tragen." Julius wagte darauf keine Erwiderung.
Als er sich von seiner Mutter verabschiedet hatte wandte er sich an Millie.
"Komisch, ich habe sie seit der großen Ankündigung im Februar vier oder fünfmal über das Armband gesprochen oder direkt besucht. Aber heute ist mir erst richtig klargeworden, wie heftig das sein muss, drei auf einmal zu tragen. Die sieht ja schon aus wie Oma Line im achten Monat mit ihren vieren."
"Habe ich auch gedacht, als ihr Bild gerade zu sehen war. Aber die wird das hinkriegen, Julius. Und du wirst dich auch dran gewöhnen, auch wenn es nicht die aus reiner Liebe gemachten Geschwister sind, mit denen wir ja schon seit der Hochzeit gerechnet haben", bemerkte Millie einmal mehr. Julius nickte dazu nur noch. Was er dazu zu sagen hatte war schon oft genug gesagt worden.
Es waren noch zwei Tage bis zu seinem zwanzigsten Geburtstag. Julius war gleich nach Dienstantritt von Belle Grandchapeau einbestellt worden. Als er auf dem Weg zur Abteilung für friedliche Koexistenz zwischen Menschen mit und ohne magische Fähigkeiten war prallte er fast vor den sich öffnenden Gittern zurück. in einer der Fahrstuhlkabinen stand ein Zauberer in dunkelgrünem Samtumhang. Er war groß, füllig, mit langen, wulstigen Armen und Beinen, die eher an einen Teddybären erinnerten. Auf dem sehr kurzen, breiten Hals saß ein fast quadratischer Kopf mit einem flachen Gesicht, aus dem eine Knollenase herausragte. Trotz der Leibesfülle wirkte sein Kinn kantig. Seine kleinen, fast schwarzen Augen blickten Stechend. Der Kopf wurde von schulterlangem, mausgrauem Haar umflossen. das blasse Gesicht war bis auf einen grauen Schnurrbart glattrasiert. Auf dem Kopf trug der Fahrstuhlfahrer einen himmelblauen Spitzhut mit einer grünen Feder. Julius erkannte den Mann sofort wieder. Deshalb fragte er sich, was er gerade jetzt hier wollte.
"Die Kabine fährt aufwärts, Monsieur Latierre", schnarrte der Mann im Fahrstuhl. Julius nickte und stieg zu. Er hatte schließlich gelernt, sich egal wem auch immer gegenüber ruhig und höflich zu benehmen.
"Guten Morgen, Monsieur Louvois! Hatten Sie eine angenehme Anreise?" begrüßte Julius den anderen.
"Die Reisespähre ist von Wind und Wetter unabhängig. Nur die darin aufkommende Schwerelosigkeit ist ein Graus", grummelte der andere. Dann sagte er noch: "Aber ich hielt es für geboten, die unnötig langen Posteulenflüge einzusparen, wo hier in Paris wohl gerade alles im Umbruch liegt." Julius nickte. Am Ende hatte Montpelier alle Stellvertreter aus den französischen Überseegebieten einbestellt, um mit denen das weitere Vorgehen zu klären.
"Wie, Louvois ist hier in Paris?" fragte Belle, als Julius ihr eine Minute später von der Begegnung erzählte. Er meinte dazu, dass wohl alle Gouverneure zum Chef gebeten worden waren.
"Nein, Julius, im Gegenteil. Monsieur Montpelier hat allen Überseebeauftragten die Weisung erteilt, gerade jetzt und bis zur Wahl des nächsten Ministers an ihren Dienststandorten zu bleiben, es sei denn, einer von denen will klarstellen, dass er nicht unter einem anderen als Minister Grandchapeau dienen möchte. Sonst wäre der Herr sicher auch zur Beisetzungsfeier gekommen. Aber ich habe Sie nicht hergebeten, um die Politik der Überseegebiete zu diskutieren, weil wir zwei dazu auch keine dienstliche Berechtigung haben. Es geht schlicht darum, den Fahrplan für die Nutzung des Computerraums festzulegen, damit dieser immer besetzt ist. Gestern nacht hat ein Internetnutzer aus Neudheli die Sichtung einer silber-weißen Wertigerin ins Netz gemeldet. Der indische Kollege wollte wissen, wie er die Sichtung behandeln soll."
"Hat wirklich jemand eine Wertigerin gesehen?" fragte Julius.
"Das genau ist der Punkt. Die indischen Kollegen haben davon erst was mitbekommen, als die Meldung in das Internet geladen worden war. Jetzt suchen sie den angeblichen oder wahrhaftigen Zeugen. Wir und die Kollegen in London haben da eine gewisse Routine entwickelt, solche Meldungen zu reinen Phantastereien zu machen, ohne die Melder gleich für wahnsinnig zu erklären. Wollen wir hoffen, dass die Meldung für eine sensationsheischende Falschmeldung gehalten wird, wie die Sichtungen außerirdischer Sternenschiffe oder die Geschichten über das Bermudadreieck. Da meine Dienstvorgesetzte Sie ja deshalb auch als Außeneinsatzunterstützung angefordert hat, weil Sie mit solchen Sachen vertraut sind, erbitte ich Ihre Mithilfe bei der Organisation einer dauernden Wache."
"Ab morgen sind Ferien", sagte Julius.
"Ja, und wir beide haben Urlaub", erwiderte Belle. "Genau deshalb müssen wir das heute noch klären, wie solche Meldungen möglichst unauffällig überprüft und automatisch beantwortet werden können." Julius nickte. Ihm fielen sofort zusätzliche Routinen ein, die er beim Neuaufsetzen aller Betriebsrechner mit eingepflegt hatte. Neben Schlüsselwortsuchen konnten auch gezielte Fehlinformationen generiert werden, die als Antwort auf bestimmte Suchergebnisse ins Internet geschickt wurden.
Als er Belle so lang und ausführlich wie nötig alle von ihm schon vorabinstallierten Programme erklärt hatte war es Mittagessenszeit. Belle lud Julius ein, mit ihr in die Ministeriumskantine zu gehen.
Am Nachmittag half Julius Belle bei der praktischen Umsetzung seiner Erläuterungen vom Morgen. Dabei zeigte sich einmal mehr, wie schnell die Zeit bei der Arbeit mit komplexen Computeranwendungen verfliegen konnte. Denn als sie ein Bündel von Wächterprogrammen und einen alle zwei Tage abwechselnden Wachdienst eingerichtet hatten war es schon wieder fünf Uhr. Julius wollte erst zu Mademoiselle Ventvit, um sich offiziell abzumelden. Belle bat ihn aber noch für eine Minute auf ein Wort in einem an den Rechnerraum angeschlossenen Aufenthaltsraum, den sie mit ockergelbem Klangkerkerlicht auskleidete.
"Dir ist klar, dass Vendredi dich nur weit genug weg vom Ministerium haben möchte, damit du nicht mitbekommst, wieso er sich auf die Aufenthaltsgenehmigung für diese Viertelveela einlassen musste. Er geht davon aus, dass du wie üblich erst einmal in Millemerveilles bleibst und am Anfang August vielleicht noch mal zu deiner Mutter und den Brocklehursts hinüberreisen möchtest." Julius nickte. "Ihm gefällt das nicht, dass er sich darauf einlassen musste und vor allem nicht, dass er niemandem erzählen darf, was wirklich mit meinem Vater passiert ist."
"Und er fürchtet, ich könnte das rauskriegen, was mit deinem Vater passiert ist?" fragte Julius, ebenfalls die persönliche Anrede gebrauchend.
"Er fürchtet wohl, dass Euphrosyne Lundi es dir erzählen könnte, wenn sie meint, dich oder sonst wen bedrohen zu müssen. Deshalb will er haben, dass du erst einmal nicht für sie erreichbar bist."
"Für einen langjährigen Zauberwesenbeauftragten ist er aber leider ein wenig naiv. Dass Léto mit mir mentiloquieren kann sollte er doch zumindest für möglich halten. Abgesehen davon hat Euphrosyne keinen Grund mehr, etwas von mir zu wollen, wo sie jetzt alles hat, was sie will. - Wie geht es deinem Vater."
"Er hat sich damit abgefunden, dass die Zeit schneller rumgeht, wenn er mehr als zwanzig Stunden am Tag schläft. Er meint zwar, dass die Umgebungsgeräusche zwar sehr laut sind, aber wenn Maman nicht gerade selbst laut schnarcht oder unverdauliches an ihm vorbei nach außen befördern muss schon genug Entspannung möglich ist. Er hofft jetzt sogar darauf, dass er sich geistig wieder zum Ungeborenen zurückentwickelt, und nicht doch noch in eine art Platzangst zu verfallen."
"Bei der langen Zeit wäre das vielleicht eine Erlösung für ihn. Aber ich fürchte, dass dieser zweite Segen das nicht erlaubt, zumal der ja wohl von einer üblichen Wartezeit ausgeht."
"Meine Mutter wird schon was finden, um sich und ihm die Zeit so unbeschwert wie möglich zu gestalten", sagte Belle zuversichtlich. Das genügte Julius als Antwort.
"Es gibt noch einen dritten Mitbewerber, Julius", begrüßte Ornelle ihren Mitarbeiter. "Wir haben gerade ein Memorandum erhalten, dass Monsieur Égisthe Louvois sich ebenfalls um Minister Grandchapeaus Nachfolge bewirbt. Angeblich hat er bereits einen Nachfolger für sein eigenes Amt ausgewählt."
"Moment, darf er das denn so einfach?" fragte Julius etwas verunsichert.
"Jeder erwachsene Zauberer oder jede erwachsene Hexe ohne Vorstrafen kann sich nach Vollendung des fünfunddreißigsten Lebensjahres um das Amt des Zaubereiministers bewerben oder dazu vorgeschlagen werden", sagte Ornelle. "Das war ja auch der einzige Grund, der es Louvois erlaubt hat, seinen Dienststandort zu verlassen."
"Jetzt dürfte auch in Frankreich klar sein, warum Engländer das Rennen um Ränge und Ämter als Rattenrennen bezeichnen."
"Julius, das habe ich jetzt überhört. Bitte wiederholen Sie das nicht mehr!" schnarrte Mademoiselle Ventvit. "Abgesehen davon habe ich nach der Kenntnisnahme der dritten Bewerbung beschlossen, ebenfalls zu kandidieren. Bisher habe ich dieses Vorhaben immer damit zurückgestellt, dass ich in diesem Büro unabkömmlich bin. Aber wenn ein Eiferer wie Louvois auch noch um den freiwerdenden Stuhl kämpft sollte da noch jemand sein, die zum einen die Hexen vertritt und zweitens die nötige Ruhe und Geduld aufbringt, die zur Ausübung dieses Amtes unumgänglich ist. Na ja, und ich habe ja im Grunde eine ganze Menge Zeit." Julius konnte das nicht abstreiten. Ornelle war durch den verbotenen Sonnensegen Euphrosynes genauso zu einer extralangen Lebenszeit gekommen wie Belle und ihre Mutter. Im Grunde konnte Ornelle, wenn sie einmal gewählt war, über Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte amtieren, ähnlich wie der unsterblich gewordene Weltraumheld, den Laurentine Hellersdorf mal erwähnt hatte. Wollte er sowas? Auf jeden Fall wollte er keinen übereifrigen Karrieremenschen wie Louvois oder Lesfeux haben, schon gar nicht als obersten Chef. Deshalb sagte er, dass er froh sei, unter so vielen Kandidaten auswählen zu dürfen.
"Ich habe jetzt alle Zusagen", begrüßte Millie ihren Mann. "Kevin kommt mit seiner Familie zusammen mit den Porters und Watermelons in Callais zusammen. Pina hat noch mal bestätigt, dass es jetzt amtlich ist und sie im nächsten Februar wohl Tante wird. Ob ihr das gefällt wird sie zumindest dir sicher noch erzählen."
"Die haben wirklich keine Zeit verschenkt", meinte Julius im Zusammenhang mit Tom Fielding und seiner Frau Olivia. Dann dachte er daran, dass Aurora Dawn das erste mal seit vielen Jahren nicht zu seinem Geburtstag kommen würde. Doch wenn sie eben eine längere Fortbildung hatte war das allemal wichtiger. Er musste dabei jedoch daran denken, dass er nach seinem Geburtstag wohl die bis dahin aufgeschobene Entscheidung treffen musste, welchen der beiden Wege zum Vertrauten der alten Erdzauber er gehen wollte. Denn Ashtaria hatte es ihm überdeutlich aufgetragen, dass er sich da nicht vor drücken durfte. Nur wie sie das gemeint hatte, dass sie ihn ja schon mit seiner Mutter teilen würde und deshalb kein Problem hätte, ihn mit noch einer Mutter zu teilen, verstand er nicht. Da er nicht zu Naaneavargia/Anthelia gehen würde blieb ja nur eine von zwei Simulationen, die je nach Entscheidung zwölf bis zwanzig Tage andauern konnte. Hierbei konnten die Tage in wenigen Echtzeitstunden vergehen, wie er aus mehreren Besuchen in der geheimen Stadt unter der himmelblauen Kuppel wusste. Doch irgendwie musste er sich entscheiden. Es lag nur bei ihm.
Am Morgen seines zwanzigsten Geburtstages half Julius seiner Frau bei allen noch anstehenden Vorbereitungen. Sie hängten bunte Luftballons auf und spannten Banner zwischen den Bäumen, auf denen eine hellgrün blinkende Zwanzig aufgemalt war. Ebenso hängten sie frei schwebende Luftschlangen über die aus der Eingangshalle herausgetragenen Tische auf. Aurore sah mit ihren großen Augen auf das Geschehen. Wie Geburtstage gefeiert wurden kannte sie ja jetzt schon gut. Das aber heute ihr Papa diesen "'burtstag" feierte und deshalb mehr ganz große als kleine Leute kommen würden und sie wohl auch keine Geschenke kriegen würde hatte ihre Mutter ihr in aller Ruhe erklärt.
"Joe lässt sich entschuldigen und meint, dass wir ihn auch gut vertreten können", grüßte Catherine Brickston Julius am frühen Nachmittag, als sie zusammen mit Babette, Claudine und ihrer Wohnungsnachbarin Laurentine Hellersdorf herüberkam. "Und ehrlich, Julius, ihr möchtet ihn auch nicht hier haben, nicht wo wieder so viele hoffnungsvollen Hexenmütter hier zusammenkommen."
"Der hängt jetzt mehr in seiner neuen Firma ab als bei uns. Und wenn der bei uns ist dann ist der immer so geschafft, dass er am liebsten gleich ins Bett reinfallen möchte", sagte Babette dazu. "Aber dann kriegt er noch 'nen Anruf und hängt dann noch Stunden an seinem Heimarbeitsrechner dran. Klar dass der ohne Wachhaltetrank dann komplett kaputt ist."
"Häh? will Joe jetzt für zwei arbeiten oder was?" wollte Julius wissen, der das zu gut von seinem Vater kannte.
"Das habe ich ihn auch gefragt. Er meinte, dass meine Töchter eine Menge Geld kosten würden, Julius. Damit die nicht nackig in Beauxbatons oder anderswo herumlaufen müssen müsse ja jemand das Geld verdienen", erwiderte Catherine.
"Und du verdienst natürlich keinen Knut", erwiderte Julius bewusst bissig.
"Ist nicht nur Geld. Ich habe den Eindruck, dass er sich seinen Kollegen und Vorgesetzten gegenüber beweisen muss, dass er unentbehrlich ist oder sowas."
"ich weiß, du könntest das ja legilimentieren. Aber das habt ihr sicher komplett ausgeschlossen, weil das der totale Vertrauensbruch wäre", mentiloquierte Julius an Catherines Adresse.
"Eindeutig!" dröhnte ihre Gedankenstimme in seinem Kopf.
"Und hat Armgard noch den einen Jungen als Freund, um den sie sich angeblich mit Jacqueline gezankt hat?" fragte Julius Babette. Er hatte sie schließlich seit Ostern nicht mehr gesehen.
"Haben Mel und Dénise das noch nicht rumgereicht? Jacquie hat sich wohl auf einen von den Roten aus der vierten eingepeilt und versucht, an den ranzukommen. Deshalb kann Gardie ihren Endymion für sich alleine haben."
"Und bei dir ist noch nichts in der Richtung angesagt?" wagte Julius eine sehr private Frage. Babette stierte ihn an und meinte:
"Ich trage doch den Keuschheitsgürtel, wo "Enkeltochter der Schulleiterin! - Bloß die Pfoten weg!" draufsteht. Und wenn ich da wen hätte, dann erzähle ich das besser keinem, der mit Oma Blanche so gut klarkommt", grummelte Babette. Dann meinte sie aber ganz frei heraus: "Spätestens wenn ich auch mit so einem Kugelbauch unterm Umhang rumlaufe wie Millies große Schwester oder deine Maman wird's amtlich, von wem ich den habe."
"Du machst deinen Weg, Babette", entgegnete Julius zuversichtlich. Er dachte dabei daran, dass er in einer von Viviane Eauvive erzeugten Zukunftsvision mitbekommen hatte, dass Babette einen seiner Söhne geheiratet hatte und demzufolge seine Enkelkinder bekommen hatte. Doch das war eben nur eine künstliche Vision gewesen. Auf jeden Fall ähnelte Babette ihrer Mutter immer mehr, musste Julius anerkennen. Wenn sie das richtig anstellte konnte sie glatt schon für siebzehn durchgehen. So schnell war die Zeit vergangen, dachte er wieder einmal.
Als das Luftschiff aus Übersee gelandet war kamen auch die Redlief-Schwestern zusammen mit Brittany und Linus und Martha und Lucky Merryweather. Hinter ihnen flog noch Hygia Merryweather, amtierende Schulkrankenschwester von Thorntails und Schwiegermutter von Martha Merryweather.
"Ach du meine Güte", seufzte Kevin, als er Julius' Mutter sah. "Öhm, da war deine Schwiegeroma aber noch, öhm, weniger Raumfüllend", zischte er. Julius nickte. Die erwähnte Schwiegeroma, die zusammen mit ihren auch schon auf eigenen Beinchen herumwuselnden Vierlingen herübergekommen war, begrüßte Julius' Mutter mit den Worten, dass sie sehr hoffnungsvoll aussehe und in jedem Fall gut für ihre noch zu kriegenden Kinder mitesse. Lucky meinte dazu:
"Drei Malzeiten am Tag pro Mund, macht zwölf Essenspausen und sechs längere Sitzungen im gekachelten Gemach. Aber die haben noch genug Platz. Habe sie mal durch diesen Einblickspiegel gesehen. Schon ein interessantes Gefühl, dass ich an denen irgendwie mitgewirkt habe."
"Schön, dass du das so siehst, Lucullus", sagte Ursuline. Sie sprach astrreines britisches Englisch, wie Julius mal wieder anerkennend feststellte.
"Deine Rezepturen für gute Beweglichkeit und gesunde Ernährung haben verhindert, dass man mich auf einem zwei Meter breiten Leiterwagen herankarren musste, Ursuline", sagte Martha dazu. Julius musste bewundern, wie gut sie mit ihrer derzeitigen Lage zurecht kam. Aber er hatte ja auch irgendwie damit umzugehen gewusst, als er bei Millies erster Schwangerschaft genausoviel in sich hineingestopft hatte wie sie und entsprechend zugelegt hatte.
"Also sowohl für oben rein wie für unten wieder raus sind genug Gelegenheiten da", sagte Julius, der bei Luckys derben Humor mithalten wollte.
"Ich habe deiner Mom geraten, öfter bei mir zu essen, wo ich genug alternatives Zeug zu dem ganzen Fleisch- und Milchzeug anbieten kann", sagte Brittany, als Julius sie direkt begrüßte. Er kam nicht umhin, sie für drei volle Sekunden anzustarren. Brittanys Formen waren doppelt so üppig wie noch im Februar. Doch ihre Beine waren höchstens etwas muskulöser als früher schon.
"Weißt du schon, wer da bei euch dazukommen möchte?" fragte Julius.
"Yep, weiß ich. Aber Linus will's nicht wissen. Er will nicht drauf festgelegt werden. Dem Baby ist es egal. Das fühlt sich da ganz wohl. Am Ende hört das noch auf zu wachsen und melot mir, dass ich es gerne noch ein paar Jahrzehnte weitertragen kann, wo die ganze Welt da draußen immer chaotischer und überdrehter wird. Aber das bringe ich dem Kind noch bei, dass ich mir keinen Bronco-Besen unten reinschieben werde, nur damit es Quodpot spielen kann."
"Du strahlst regelrecht", stellte Julius fest. Brittany nickte. Einen Moment musste Julius an einen Traum denken, den Millie und er zusammen geträumt hatten. Ja, sich vorzustellen, Brittanys Baby zu werden hatte schon was, wenngleich er wirklich froh war, dass er Quidditch und Quodpot spielen konnte.
"Man könnte meinen, wir feiern Aurores Geburtstag noch mal mit allen Kindern und denen, die noch zur Welt kommen müssen", scherzte Millie, als Julius ihr beim Aufstellen der Gartenmöbel half. Denn natürlich wollten sie bei dem schönen wetter draußen feiern.
Eleonore Delamontagne kam mit ihrer erstgeborenen Tochter Virginie und deren beiden später geborenen Geschwistern Baudouin und Giselle, so wie Virginies Roger. Gloria und Pina, die sich bis dahin dezent im Hintergrund gehalten hatten, winkten Julius zu sich heran.
"Ist schon erhaben und gleichermaßen beklemmend, dass so viele Hexen schon Kinder haben oder noch kriegen. Ich wüsste nicht, ob mir das gefallen würde, von diesen VM-Verbrechern zur Empfängnis eines Kindes genötigt zu werden", meinte Gloria. "Am Ende würfeln die noch aus, welche bis dahin kinderlosen Hexen und Zauberer die zusammentreiben müssen, um möglichst zauberkräftige Nachkommen zu erzwingen. Ich hörte da sowas, dass Schaklebolt auch von diesen Verbrechern aufgefordert worden sein soll, bald mal mit einer Hexe neues Leben zu erzeugen."
"Hat nicht zufällig Rita Kimmkorn verzapft?" fragte Julius. Doch er wusste von Millie, dass Shacklebolt wirklich entsprechend behelligt worden sein sollte. Der hatte das zwar dementiert, aber nicht so klar widerlegen können, wie er es gerne gewollt hatte.
"Gloria, ich fürchte, wenn die dich dazu bekämen, auch Mutter zu werden, würdest du wie Sandrine oder eben meine Mutter sehr darauf aussein, dass dem Baby nichts zustößt und du es auf jeden Fall kriegen willst. Das ist ja das gemeine an deren Machenschaften."
"Vor allem dann, wenn das Baby von jemandem gezeugt wurde, zu dem ich freundschaftliche oder gar sehr innige Beziehung habe", meinte Gloria dazu. Julius bereitete das eine Gänsehaut. Sich vorzustellen, mit einer durch Trank oder Zauber höchst begehrenden Gloria zur Fortpflanzung getrieben zu werden war schon was gruseliges. Nicht dass er Gloria nicht mochte. Doch sowas wie Hingabe oder Begehren war zwischen ihnen nicht im Ansatz aufgekommen. Sie war und blieb wohl für ihn die große Schwester, die er nie gehabt hatte.
Weil Brittany trotz der von Chloe Palmer und ihren hier in Millemerveilles residierenden Kolleginnen verordneten Ernährungsrichtlinien auf ihre rein vegane Linie schwor bat sie darum, entsprechende Sachen in der küche vorbereiten zu können. Millie leistete ihr dabei gesellschaft, während Julius mit Linus über die Licht -und Schattenseiten der Vaterschaft sprach, wobei er natürlich mehr Licht als Schatten erwähnte, aber auch eben genug Schatten, damit das Licht auch wirklich genug Konturen hatte.
Nach der großen Kaffeetafel durfte Julius die Geschenke auspacken, die nur für ihn mitgebracht worden waren. Alles was zu seinem und Millies Hochzeitstag beschafft worden war durften Millie und Aurore auspacken. Chrysope saß dabei auf dem Schoß ihrer Urgroßmutter und ließ sich von ihr alte französische Hexenlieder vorsingen. Martine wirkte irgendwie angespannt, als müsse sie sich für was ganz bestimmtes bereithalten. Julius fragte sie, ob mit ihrem Kind alles in Ordnung sei.
"Vielleicht mehr als ich heute haben will, Julius. Ich hätte eigentlich nicht herkommen sollen. Heute morgen hatte ich leichte Unterleibsschmerzen. Aber dann ging's wieder. Vorwehen als solche waren noch nicht. Deshalb meint meine Hebamme ja, dass ich vielleicht auch erst Anfang August niederkomme. Aber irgendwie ist da was in mir, das mir sagt, dass das in den nächsten anderthalb Tagen passiert. Meine Mutter auch, als sie mich getragen hat. Aber sie war trotzdem da noch auf einer Party. Ich werde mich aber mit dem Essen zurückhalten. Schon bewundernswert, wie deine Mutter mit dreien auf einmal zurechtkommt."
"Sie hat die Rezepte und Bewegungsübungen von deiner Mutter und deiner Oma Line bekommen und setzt sie um", sagte Julius. Martine nickte.
"So freuen wir uns alle, dass du, mein lieber Mann und Lebensspender, heute zwanzig Jahre alt geworden bist und damit auch da, wo deine Eltern wohnen für erwachsen gehalten werden darfst, obwohl du das schon seit fünf Jahren bist", sprach Millie. Ihre Schwiegermutter fand, dazu auch noch was sagen zu müssen und erhob sich vorsichtig.
"Immerhin, so darf ich feststellen, liebe Schwiegertochter, empfinde ich, die ihn dir und allen anderen hier geboren hat, dass für eine Mutter das Kind nie wirklich zu groß werden kann, um sich nicht weiterhin darüber sorgen zu dürfen, was mit ihm passiert. Auch und gerade jetzt, wo ich im selben körperlichen Zustand bin, wie vor den erwähnten zwanzig Jahren, fällt mir das wieder ein, dass jeder Tag mit ihm förmlich davongeflogen ist, so viel hat er mir und auch meinem Mann an Freude und auch Herausforderungen bereitet. Und wenn ich mir die anderen Gäste hier ansehe, so weiß ich, dass sie mir da alle zustimmen, zumindest die über siebzehn Jahren. Ich freue mich auf jeden Fall, das die ganzen Anstrengungen, die ich vor zwanzig Jahren auf mich genommen habe, damit belohnt werden, dass du, mein Sohn, so viele Menschen um dich versammeln konntest, die alle froh sind, dass es dich gibt und die beiden, die froh sind, dass es dich gibt, weil es sie sonst nicht gegeben hätte. Möge das auch in den nächsten zwanzig mal zwanzig Jahren so bleiben!"" Die Gäste lachten und applaudierten. Dann trat auch Lucky Merryweather auf, der ebenso wie Madeleine L'eauvite in einem knallbunten Kostüm angereist war.
"Das einzige, was ich bedauern muss, Julius, ist, dass du nicht von mir bist. Ich habe da irgendwie den Eindruck, in den letzten zwanzig Jahren an einer bestimmten Wegkreuzung falsch abgebogen zu sein. Doch dann muss ich wieder feststellen, dass meine Frau Mutter das schon für mich getan hat, beziehungsweise meine altehrwürdige Frau Großmutter, weil die unbedingt in den großen vereinigten Staaten wohnen wollte und da ihre Tochter, meine Mutter, in diese helle, laute Welt hinausgeschubst hat. So muss ich es eben nehmen wie es ist und mich auf das freuen, was demnächst so alles passieren wird."
Nach der Rede trafen sich alle wieder zu den kleinen Gesprächsrunden. Julius machte als hauptsächlicher Gastgeber die Runden und sprach mit den Gästen aus England, Belgien, Frankreich und den Staaten. Mel Redlief wollte wissen, ob Aurora Dawn nicht auch kommen wollte. Er erwähnte die auf fünf Monate angesetzte Fortbildung.
"Deshalb wollte ich keine Heilerin werden, weil immer auf Abruf. Ein Laden, den ich mal einen Tag lang zuschließen kann ist da schon besser. Na ja, wenn sie dabei was wirklich wichtiges lernt und dabei auch noch Spaß hat."
"Das auf jeden Fall", erwiderte Julius schnell. Beinahe hätte er ausgeplaudert, dass Aurora diese Art von Erfahrung wohl nicht so und nicht so früh hatte machen wollen. Doch das musste keiner hier wissen.
Melissa Whitesand, die sich angeregt mit Barbara Latierre über die Latierre-Kühe unterhielt, fragte Julius, ob sie seine Kuh Temmie am nächsten Tag mal besuchen dürfe. Julius hatte nichts dagegen.
Als es abend wurde beschworen die Gastgeber und Gäste eine ganze Hundertschaft schwebender Kerzen herauf, die den Festplatz weithin erleuchteten. Millie musste nur einmal ins Haus, um Chrysope für die Nacht zu versorgen. Gegen elf Uhr verabschiedeten sich die ersten Gäste. Die aus Übersee angereisten würden in den noch freien Zimmern im Apfelhaus wohnen, wobei Martha und Brittany auf der ersten Etage untergebracht waren und die Redliefs und Gloria auf dem zweiten Stock schliefen. Hygia Merryweather war zu Hera Matine gegangen. Martine ging es auch wieder besser. So konnte sie mit ihren nicht im Ort wohnenden Verwandten zur Dorfgrenze fliegen, wo Albericus seinen veilchenblauen Zauberbus geparkt hatte. "Wir sehen uns dann beim Turnier wieder", grüßte Ursuline ihren Schwiegerenkel mit vorfreudigem lächeln. Julius bestätigte es.
Gegen Mitternacht lagen auch alle über zwei jahre alten Bewohner und Gäste des Apfelhauses in den bereitgestellten Betten. Brittany wollte am nächsten Tag mit Melissa Whitesand zum Latierre-Hof, um Temmie zu sehen.
"Ich habe schon gedacht, Tine bekommt ihre kleine hier bei uns", sagte Julius seiner Frau im Schutz der zugezogenen Schnarchfängervorhänge. Millie kicherte mädchenhaft und meinte:
"Das hätte aber ein lautes Gekreische gegeben, wenn Tine deshalb nicht zu Oma Tetie hätte hingebracht werden können oder die erst einmal hätte geholt werden müssen und Héméra da schon bei uns an die Luft gerutscht wäre. Aber gut für unsere Ohren und sicher auch für den Familienfrieden, dass unsere kleine Nichte es in meiner großen Schwester noch gut aushält. Vielleicht kommt die auch erst im August. Großtante Cynthia hat fast drei Wochen über die Zeit an Gilbert getragen."
"Ich mach mir eher Sorgen, dass meine Mutter drei Wochen zu früh niederkommt, so wie sie schon jetzt aussieht", gestand Julius ein.
"Glaub's mir, dass das von diesem Trank oder was auch immer ihr untergejubelt wurde verhindert wird, dass die damit angeschobenen Kinder zu früh geboren werden", grummelte Millie. Julius dachte nur für sich, dass er das auch hoffte. Doch laut aussprechen wollte er das nicht. Er wusste ja, wie seine Frau und alle anderen Latierre-Hexen über die unverhoffte Drillingsschwangerschaft seiner Mutter dachten. Sich jetzt vorzustellen, dass sie dann, wenn die drei Halbgeschwister doch auf die Welt wollten, hier im Apfelhaus sein könnte ... Nein, das würde diese Chloe Palmer aus VDS nicht mehr zulassen. Dass sie diese Reise noch machen konnte war wohl das letzte Zugeständnis.
IRGENDWIE IST MEINE ERSTE TOCHTER ALS ARTEMIS VOM GRÜNEN RAIN LEBHAFTER ALS IHR BRUDER ORION. SIE TRITT UND STÖßT IMMER HÄUFIGER. ICH DENKE DESHALB MANCHMAL, DASS ES ZWEI SIND. ABER BARBARA DIE JÜNGERE SAGT, DASS ES NUR DAS EINE KLEINE MÄDCHEN IST, DAS MAL SO GROß WIE ICH WERDEN SOLL.
JULIUS HAT GESTERN WIEDER DEN TAG SEINER GEBURT GEFEIERT. ICH FREUE MICH IMMER, DASS ER SO VIELE FREUNDE UND IHN LIEBENDE VERWANDTE HAT. EINMAL MUSSTE ICH FAST AMÜSIERT KEUCHEN, WEIL ICH DURCH SEINE AUGEN SAH, WIE VIEL SEINE MUTTER MIT DEN DREI KÜNFTIGEN KINDERN ZU TRAGEN HAT. ICH HABE MICH DA AN MEINE MUTTERMUTTER ERINNERT, DIE EINMAL VIER KINDER ZUR GLEICHEN ZEIT INS LEBEN TRUG.
AH, JULIUS KOMMT MIT SEINEN FREUNDEN ZU MIR. DABEI IST AUCH DIE, DIE FRÜHER MELANIE GEHEIßEN HAT, WAS IN MEINER MUTTERSPRACHE IAIANA, DIE NACHTDUNKLE, GEHEIßEN HABEN MAG. JETZT HEIßT SIE MELISSA, DIE SÜßGOLDGLEICHE, WAS AUCH BESSER ZU IHREM AUSSEHEN PASST. ICH FÜHLE GROßE WISSBEGIER IN IHR. DAS HAT IHR SICHER GEHOLFEN, MIT DEM SEGEN DER HOHEN KRAFT, DEN SIE VON EINER VIELFACHEN ALTEHRWÜRDIGEN MUTTER ERHALTEN HAT, ZU LEBEN. DOCH JETZT, WO SIE VOR MIR STEHT UND MEINE GRÖßE UND MEINEN PRALLEN BAUCH BESTAUNT MERKE ICH, DASS SIE IMMER NOCH MIT DER VERLETZUNG AN IHREM INNEREN SELBST BEHAFTET IST, DIE DIESE VON DUNKELHEIT ERFÜLLTEN IHR ZUGEFÜGT HABEN, DIE IHREN VATER GETÖTET HABEN, WENN ICH JULIUS RICHTIG VERSTANDEN HABE. DESHALB HOFFE ICH SEHR, DASS SIE NICHT DOCH EINES TAGES IHREM ERSTEN NAMEN GERECHT VON NACHTDUNKELHEIT ERFÜLLT WIRD. DENN HASS SÄHT HASS, UND GEWALT ERNTET GEWALT. DIES ZU WISSEN UND DEM VORZUBEUGEN IST IMMER SEHR SCHWER, ABER NICHT UNMÖGLICH. VIELLEICHT KANN ODER DARF ICH IHR IRGENDWIE DABEI HELFEN, DIE SAAT DER DUNKELHEIT ZU ÜBERWINDEN, DIE DER GEWALTSAME TOD IHRES VATERS IN IHREM INNEREN SELBST GELEGT HAT.
"Ui, in echt ist die immer noch um ein vielfaches imposanter", staunte Mel Whitesand, als sie einmal mehr vor Temmie stand und sich zur Zwergin degradiert fühlte. Denn jedes der säulenartigen Beine war höher als sie selbst, und der durch die Trächtigkeit gewölbte Unterbauch verriet der weit nach ihrer Geburt mit Zauberkraft erfüllten jungen Hexe, dass dieses Wesen da vor ihr auch mal Mutter sein würde, zum zweiten mal, wie sie von Julius wusste. Temmies erstes Kind, Orion, wuchs ja jetzt in einer anderen Herde weiter und würde wohl Stammvater einer weiteren Zuchtlinie werden, wusste Melissa von Barbara Latierre und Julius.
"Möchtest du mit ihr sprechen, Mel? Ich kann ihr das Cogison umhängen", sagte Julius. "Sie kann so sprechen wie ein kleines Mädchen und versteht eine Menge, was ihr gesagt wird."
"Ja, aber hört sie denn auf das alles. Soweit ich das aus ganz eigener Erfahrung weiß machen kleine Mädchen das ja längst nicht immer", erwiderte Melissa und erntete ein zustimmendes Nicken und Grinsen von Brittany Brocklehurst und Millie Latierre.
"Sagen wir so, da sie ja in ihrer eigenen Welt wohnt ist es schwer, ihre und unsere Bedürfnisse immer aufeinander abzustimmen", sagte Julius. "Als Tante Barbara fand, dass ich sie dauerhaft zur Verfügung haben soll wollte die ja andauernd in meiner Nähe sein, weil ich damals aus Panik einen unbewussten Zauber gemacht habe, um sie zu unterwerfen, nicht bösartig, aber wirksam. Das hat sie als Beweis meiner Stärke gewertet und mich deshalb als ihren persönlichen Leitbullen angesehen." Temmie schnaubte vernehmlich. Melissa nickte. Sie wusste schließlich, dass Julius sie quasi telepathisch anleiten konnte, ohne zaumzeug oder gar Antreibehilfen wie Peitschen oder Elektroschocker anwenden zu müssen. Sie wusste auch von afrikanischen und indischen Elefanten, dass diese mit Vorsicht aber Entschlossenheit trainiert werden mussten, niemals zu Gewalthandlungen gegen ihre Wärter provoziert werden durften, weil die Tiere dann nämlich merkten, wie schwach und zerbrechlich die sie herumkommandierenden Menschen waren. Das galt für diese Latierre-Kühe, denen eine primatenähnelnde Intelligenz nachgewiesen worden war, erst recht.
"Bin ich froh, dass ich das Kleine nicht zwei Jahre in mir herumtragen muss", bemerkte Brittany dazu. "Aber dafür kann ich nur mit einem Besen fliegen", fügte sie noch hinzu. Julius sah zu Temmie hinauf, als erwarte er eine Antwort von ihr. Irgendwie schien er auch eine zu bekommen, als Temmie mit ihren melonengroßen goldbraunen Augen zu ihm heruntersah. Denn er sagte:
"Sicher kriegt sie das mit, dass sie im Moment nicht die einzige werdende Mutter ist. Sie kennt das auch von Tante Barbara und Millie, wie eine schwangere Frau aussieht. Und Sie beneidet dich sicher auch darum, dass du trotz unserer Kleinheit mehr anstellen kannst als sie trotz ihrer Größe.
"Hast du deine empathische oder telepathische Verbindung zu ihr verstärkt?" wollte Melissa wissen.
"Ja, in gewisser Weise haben wir das. Aber wie darf ich dir nicht sagen, weil das ein Familiengeheimnis der Latierres ist", erwiderte Julius.
"Ist das so ähnlich wie mit den roten Herzen, über die Millie und du Verbindung halten könnt?" wollte Mel Whitesand wissen.
"Das darf ich eben nicht verraten, Mel. Sei froh, dass meine Schwiegertante gerade mit den anderen Kühen zu tun hat. Die hätte dir sonst Hausverbot wegen übergroßer Neugier verpasst."
"Ist ja gut, Julius, ich will nicht zu viel wissen, solange mir wer sagt, wo die Grenze liegt. Ich mache mir aber halt Gedanken, wie die Beziehung zu solchen Wesen wie Temmie friedlich und im gegenseitigen Einvernehmen funktioniert. Schließlich ist das nicht nur mein Job, sondern auch mein Hauptinteresse wie du weißt. Ohne die Party wäre ich ja sonst heute wohl an der Uni und würde da Biologie oder Veterinärmedizin studieren."
"Uni?" fragte Brittany verwundert. Dann nickte sie. Ihr Vater hatte ja selbst in so einer Schule für Erwachsene ohne Magie seine Ausbildung erweitert.
"Habt ihr noch mal Lust auf einen Rundflug. Ich kann den innerttralisierten Viereraufsatz holen", sagte Julius.
"Will sie das denn?" fragte Mel auf Temmies Kopf deutend. Julius nickte, und Temmie nickte auch. Das war Mel unheimlich. Doch dann fiel ihr ein, wie viele mit gewisser Intelligenz ausgestattete Tiere menschliche Gesten und Verhaltensweisen nachahmten, wenn sie dafür eine ihnen genehme Rückmeldung bekamen. Das beruhigte sie.
So flogen Julius, Mel, Brittany und Linus einige Runden über den Latierrehof. Temmie gönnte sich den Spaß, die vier Reiter in eine nicht all zu hoch am Himmel dahinziehende Wolke hinaufzutragen, was die vier und sie doch sichtlich durchnässte.
"Das ist deren Art zu duschen", scherzte Julius, als alle leicht bibbernd wieder auf dem Boden aufkamen. Mel meinte dazu: "Ich habe das mal ausprobiert, als ich nach meinem Erwachen als vollwertige Hexe auf einem Besen geflogen und in so eine graue Regenwolke reingeflogen bin. Brrr! Aber mit dem Fönzauber kriegen wir uns doch alle wieder trocken, oder?"
"Auf jeden Fall", sagte Julius und fing an, mit dem Trocknungszauber seine Haare und Kleider zu bearbeiten.
Als die vier Besucher sich mit Winken von Temmie verabschiedet hatten und Richtung Hauptgebäude davonflogen blickte Temmie ihnen lange nach. Dann übermittelte sie ihrem menschlichen Vertrauten Julius: "Gib auf sie acht, Julius. Der Tod ihres Vaters nagt immer noch an ihrem inneren Sein. Ich kann zwar ihre inneren Regungen nicht als Worte hören oder durch ihre Sinne ihre Welt erkennen. Aber ich fühle doch, dass in ihr noch der dunkle Keim von Rache ist. Wenn sie weiß, wer genau ihren Vater getötet hat könnte dieser Keim aufgehen und sich ausbreiten."
"!Danke für die Warnung. Ich glaube aber, dass Melissa genau deshalb mit sehr kundigen Leuten zusammenarbeitet, die das genau wissen und früh genug erkennen, wenn soetwas passiert", erhielt sie Julius Antwort. "Falls es ihr hilft, biete ich meine Milch in Verbindung mit dem verbindenden Gefäß der Kraft, die dir und mir geholfen hat, noch inniger miteinander verbunden zu sein."
"Dann müsste sie wissen, wer du in Wirklichkeit bist, Temmie. Das möchte ich ihr aber im Moment lieber nicht verraten. Es wissen sowieso schon mehr Leute, als eigentlich gut ist", erwiderte Julius auf rein gedanklichem Weg.
"Ja, Naaneavargia weiß es sicher. Doch das Geheimnis meines Seins wird noch zu gut verhüllt, als dass sie es von sich aus verkünden kann. Doch weiß ich, wie stark die Tränen der Ewigkeit andere Kräfte überwinden können?" Darauf kam nur ein besorgtes: "Will ich besser nicht wissen" zurück.
"Wenn deine Verpflichtungen deiner Heimatsiedlung gegenüber erfüllt sind, Julius, triff deine Entscheidung über deinen weiteren Weg! Denn wenn du das nächste mal zu den alten Meistern gehen musst wird Madrashmironda dich nicht mehr fortlassen, ehe du deine Entscheidung getroffen und in die Tat umgesetzt hast."
"Das ist genau das, was mir gerade so auf der Seele, also dem inneren Selbst liegt, Temmie. Ich muss dafür zwölf Tage meiner Frau untreu werden oder zwanzig Tage bis zum Hals eingebuddelt alles essen oder trinken, was mir diese überstarke Erdmutter einflößen will. Beides keine wirklich gute Lösung. Und wenn die Tage echte Tage sind, also genausolange dauern wie die wirklichen Tage, kriege ich Ärger mit denen vom Ministerium, warum ich so lange weg war und noch dazu unauffindbar."
"Dann bleibt dir wohl nur eine Wahl, die du treffen kannst", erwiderte Temmie auf rein geistigem Weg. Julius sandte ihr keine klaren Antwortgedanken zurück. Doch Temmie konnte durch die mit ihrer eigenen Milch und dem Pokal der Verbundenheit geknüpfte Verbindung und die anderen magischen Bindungen zwischen ihm und ihr auch die Gedanken hören, die er ihr nicht direkt zusandte. So wusste sie, dass er sie verstanden hatte und sah in seinem Geist Bilder, wie er mehr bekümmert als begehrend mit Madrashmironda zusammen war. Dieser Gedankenstrom brauchte eine gewisse Zeit, um zu einem klaren Ziel zu kommen. Dann dachte Julius ihr bewusst zu: "Ich fürchte, du hast leider recht. Ja, und ich kann wohl damit leben, dass es ja nicht in Wirklichkeit stattfinden wird, sondern auf rein traumhafter oder gedanklicher Ebene."
"Was aber nicht heißt, dass es dich nicht genauso berührt und bewegt wie die in der Wachwelt erlebten Dinge", wusste Temmie und verdeutlichte damit nur, was Julius für sich auch schon erkannt hatte. Genau deshalb konnte und wollte er da nicht so unbekümmert mit umgehen, als wenn es nur eine dieser Unterhaltungsstücke in diesem Fernsehergerät war. Dazu kam noch, dass Temmie alias Darxandria sehr gut wusste, dass Madrashmironda ihr ganzes Leben lang eine sehr begierige wie kundige Liebeskünstlerin gewesen war. Das hatte sie Julius bisher nicht verraten.
"Ich werde es so machen, Temmie. Ich hoffe auch, dass Millie mir das verzeiht."
"Sprich mit ihr darüber und erbitte ihre Zustimmung. Mehr kannst du nicht tun und mehr kann sie dir nicht geben, um dir zu helfen."
"Ja, du hast recht", erwiderte Julius. Dann musste er sich auf die Landung am Hauptgebäude konzentrieren, wo sie alle noch eine Stunde bei Barbara und ihrer Familie sein wollten, bevor es nach Millemerveilles zurückging.
An Claires zwanzigstem Geburtstag herrschte zunächst die übliche trübe Stimmung, weil die Wiegenjubilarin nicht mehr selbst feiern konnte. Doch nach dem bereits traditionsgemäß zu nennenden Ausflug zum Gemeindefriedhof war die Stimmung wieder besser geworden. Julius konnte mit seiner Familie und den Dusoleils mehr lustige als traurige Dinge besprechen.
Als gegen Abend Jeanne mit ihrer Familie nach Hause flog nahm Camille Julius noch einmal bei Seite und sagte mit von ihr ungewohntem Ernst:
"Julius, ich weiß, dass du gerade mit der Lage im Ministerium sehr schwer zu kämpfen hast. Wer immer Grandchapeaus Nachfolger wird ist kein Freund von dir. Die Zeit, wo jemand dich und das, was du beisteuern kannst gewürdigt hat geht zu ende. Selbst wenn Nathalie noch ihren Posten behalten kann wird's wohl sehr schwer für dich, da noch alles auszuschöpfen, was du beisteuern kannst, richtig?" Julius nickte ihr zustimmend zu.
"Ich weiß, dass du bei mir in der grünen Gasse hoffnungslos unausgelastet wärest. Aber solltest du mit dem Gedanken an einen Abbruch deiner Amtsanwartschaft spielen kannst du jederzeit bei mir anklopfen. Hera und Béatrice denken sicher auch noch dran, dich bei den Heilern reinzuholen. Aber warum du bei denen nicht eintreten möchtest ist mir vollkommen klar. Das sehen wir ja gerade an Aurora Dawn, was sie sich wortwörtlich aufgeladen hat. Gut, das was ihr passiert ist kann dir nicht passieren. Aber die Sache, die du aufgeladen bekommen hast ist genauso schwer zu tragen wie ein neues Kind und braucht genausoviel Umsicht und Verantwortung wie eine Vater- oder Mutterschaft. Deshalb biete ich dir ganz außerhalb jedes üblichen Bewerbungsablaufes an, bei mir in der grünen Gasse anzufangen, ganz offiziell, damit du für Millie und die beiden Prinzessinnen und den von Ashtaria geforderten Prinzen genug Essen und Kleidung kaufen kannst. Wenn was ansteht, was mit deiner eigentlichen Aufgabe zu tun hat kann ich dich leichter freistellen als jeder Ministerialbeamte."
Julius sah Camille lange an, nicht überrascht oder verwundert. Denn mit einer solchen Ankündigung hatte er irgendwie immer schon gerechnet, seitdem Laurentine aus Gewissensgründen ihre Anwartschaft abgebrochen hatte und jetzt lieber kleine, quirlige Hexen und Zauberer mit Grundwissen fütterte. Doch hier und vor allem heute so darauf angesprochen zu werden hatte er jetzt nicht erwartet. So sagte er:
"Ich halte das schon für sehr wichtig, was ich im Ministerium mache, vor allem das für Mademoiselle Ventvit und Nathalie Grandchapeau. Ich mache mir nur Gedanken was ist, wenn so Betonschädel wie Montpelier oder Lesfeux Minister werden. Ornelle Ventvit möchte jetzt auch kandidieren, wohl auch, um nach langer Zeit mal wieder eine Hexe ins höchste Amt der Zaubererwelt zu bringen und wohl auch weil sie weiß, dass die beiden anderen Kandidaten mit ihren Reformvorschlägen leicht böses Blut machen können. Insofern möchte ich schon abwarten, wer das Rennen macht, bevor ich mich entscheide, ob ich da weiter mitmische oder nicht. Abgesehen davon bin ich offizieller Veelabeauftragter und habe auch die amtliche Aufsicht über Mademoiselle Maximes Tante und ihren Nachwuchs. Da jemanden einzuarbeiten dauert sicher, weil ja auch das nötige Vertrauensverhältnis aufgebaut werden muss."
"Der Veelabeauftragte bist du, weil der Ältestenrat der Veelas das beschlossen hat, Julius. Aus dieser Nummer kommst du durch Amtsverzicht im Ministerium nicht mehr raus. Könnte dir höchstens passieren, dass ein für die Zauberwesen zuständiger Beamter dich als Verbindungszauberer zu denen einbestellen kann. Aber, jetzt kommt's, dafür dann auch Verdienstausfall und Sonderhonorar bezahlen müsste."
"Hinge davon ab, ob ich bei dir nur in der Umgrabetruppe arbeite oder in der Gartenbauplanungsgruppe mitwirke", erwiderte Julius.
"Das glaubst du aber, dass ich dich mit deinen Fremdsprachenkenntnissen in einer schlichten Umgrabe- und Gießtruppe schaffen lasse", schnarrte Camille. "Ich kann gerade mit deinen Sprachkenntnissen und allen bisher errungenen und dokumentierten Erfolgen begründen, dass du im Bereich Saatgutbeschaffung und Gestaltung mitwirken kannst, sozusagen eine oder zwei Stufen unter mir, von sieben klar geregelten Rangstufen. Abgesehen davon habe ich auch drei Mitarbeiter, die neben der Gartenbautätigkeit noch Heimarbeitsberufe haben und Bücher schreiben oder geschriebene Bücher auf Verwendbarkeit für die grüne Gasse prüfen. Du könntest also durchaus auch deine Arbeit für Mademoiselle Maxime und Létos Veelas weitermachen, wenn bei den Riesen nicht als Entscheidungsbevollmächtigter, sondern Berater.""
"Wie gesagt, ich überlege mir das, Camille. Aber auf jeden Fall schon mal vielen Dank für dein Angebot. Das beruhigt mich doch sehr, nicht ins bodenlose zu fallen, wenn das mit dem Ministerium keinen Sinn mehr macht."
"Niemand wird dich und deine Familie hier verhungern oder nackig rumlaufen lassen, Julius. Wenn ich jetzt nicht mit dir geredet hätte wäre Hera sowieso wieder auf dich zugekommen oder Eleonore hätte irgendeine Einkommensquelle für dich aus dem Boden gestampft, damit du nicht auf einen Lesfeux oder Montpelier angewiesen bist. Ja, und vielleicht hätte Millies Familie dir auch noch was zugeschustert, um an genug Geld ranzukommen."
"Werden die wohl schon bei Martine oder Hippolyte machen müssen, wenn wirklich jemand alle Stellen neu vergibt, die mit zu viel Leuten aus derselben Familie besetzt sind", grummelte Julius.
"Da wäre immer noch was möglich. Ich kenne die Latierres doch schon gut genug um zu wissen, dass sie keinen Verwandten mit eigenen Kindern verarmen lassen. Das widerspräche ja der Philosophie Ursulines, möglichst kinderreich zu sein statt nur Geld anzuhäufen."
"Das hat Millie auch schon gesagt. Die weiß ja, wie das in mir arbeitet.""Das denke ich auch", erwiderte Camille. Dann meinte sie, dass er nun wieder zu Millie und seinen Kindern zurückgehen sollte.
Zu Hause sprach er mit Millie über Camilles zu erwartendes Angebot. Millie meinte dazu:
"Sogesehen werde ich dich nicht weniger lieben als früher, wenn du aus dieser Karrieremühle raus bist, Julius. Ob Tine nach der Geburt von Héméra da noch bleiben will weiß ich auch nicht. Aber wenn du echt da weg willst kann dir Gilbert sicher auch was anbieten, vielleicht eine Korrespondentenstelle oder eine eigene Redaktion oder sowas. Sein Problem ist ja, dass seine früheren Kollegen vom Miroir klar angesagt haben, dass sie auf keinen Fall zu ihm rübergehen. Denen stinkt es noch bis hier, dass sie damals für Didiers Lügenfabrik schuften mussten und Gilbert als Stimme der freien Zaubererwelt ganz groß rausgekommen ist. Insofern gibt's da sicher noch die eine oder andere Sache, die er dir anbieten kann, vor allem, wo du so gut mit den Veelas kannst."
"Wenn ihm da das Ministerium dann nicht Knüppel zwischen die Beine wirft", erwiderte Julius.
"Das hat ihm bei Didier nichts ausgemacht und wird es wohl auch nicht bei einem Minister Montpelier oder Lesfeux", erwähnte Millie. Julius nickte bestätigend.
Als Julius dann erwähnte, dass er besser jetzt schlafen sollte, weil ab morgen das Schachturnier liefe, meinte Millie, dass er sicher noch nicht müde genug sei. Was sie damit wohl meinte? Jedenfalls waren beide froh, dass ihr großes Himmelbett mit diesen genialen Schallschutzvorhängen ausgestattet war. So konnten Chrysope in ihrer Wiege, Aurore in ihrem Kinderbett und alle noch im Haus wohnenden Gäste ganz ungestört dem nächsten Tag entgegenschlafen.
"Langsam wird's langweilig", knurrte Madame Pierre, als einmal mehr Ursuline Latierre, Julius und seine Mutter die drei zu gewinnenden kleinen Zauberhüte fotogerecht hochhielten. Ursuline hatte wieder den goldenen Hut erwischt. Martha Merryweather hatte trotz der ihre Drillingsschwangerschaft begleitenden Nebenwirkungen immer noch den silbernen Zaubererhut erspielt, während Julius und seine Schwiegertante Patricia die beiden Bronzehüte hielten. Madame Faucon und Eleonore Delamontagne, die von den vieren in den Viertelfinalspielen aus dem Turnier geworfen worden waren, sahen zwar leicht enttäuscht drein, nahmen es aber hin, dass Julius und seine Verwandtschaft offenbar das Finale aboniert hatten.
Monsieur Pierre, der seit etlichen Jahren die Veranstaltung moderierte, scherzte: "Im Grunde können wir das Turnier auf einen einzigen Tag verkürzen."
"Ja, oder wir ändern die Gastspielerregeln ab, dass Gäste nur jedes zweite Jahr am Turnier teilnehmen dürfen, sofern sie nicht den goldenen Zaubererhut gewonnen haben", knurrte Madame Pierre. Warum sie es so persönlich nahm, dass die Latierres und Martha die Trophäen gewannen wusste Julius nicht. Bei Blanche Faucon hätte er es erwartet, dass sie nicht begeistert war, dass Ursuline und ihre Tochter ständig die Trophäen abräumten. Doch Blanche Faucon war nach der Wiederkehr Voldemorts und der Horrorparty bei den Sterlings wesentlich umgänglicher geworden, was die einstige Rivalin um einen Mitschüler anging.
"Bringe das vor den Dorfrat, Estelle! Vielleicht sollten wir wirklich mal darüber reden", ging Eleonore auf Madame Pierres Vorhaltung ein.
"Die Dame langweilt sich", grinste Ursuline, als Julius mit ihr und Patricia in Richtung Apfelhaus flog. "Klar, sie ist ja im Grunde nur noch Haushexe, wo ihr Mann andauernd wegen der Sicherheitszauber in Millemerveilles unterwegs ist. Hätte sich bei zeiten von ihm noch ein paar süße Babys zustecken lassen sollen. Dann wäre ihr sicher nicht mehr langweilig", fügte sie mit unüberhörbarem Sarkasmus hinzu. Julius wollte und konnte nichts dazu sagen. So beließ er es nur bei einem Kopfnicken.
In der Nacht nach dem Turniersieg - Julius und Millie hatten noch einmal die Federung ihres Bettes ausgiebig getestet, träumte Julius davon, dass er auf jener Blumenwiese stand, die Claire ihm damals gezeigt hatte, als ihr Geist und sein Körper in Ashtarias astralem Unterleib geschwebt waren. Hier traf er Ammayamiria. Sie erstrahlte im warmen rotgold und erschien wie immer ohne Bekleidung. In ihren zum Rest des Körpers dunklem Haar tanzten goldene Funken wie fröhliche Sternchen, die noch keinen eigenen Platz am Himmel hatten.
"Ich werde nicht eifersüchtig sein, wenn du zu ihr hingehst. Millie ist es sicher auch nicht. Aber wenn du die Entscheidung nicht bald umsetzt, Juju, dann könnte es wirklich passieren, dass diese Altmeister dich nicht mehr zu sich hinlassen. Da hat Temmie völlig recht", sagte Ammayamiria, jetzt eher wie Claire klingend. Auch dass sie den Kosenamen benutzte, den Claire immer benutzt hatte wirkte auf Julius. Er fragte sie dann noch: "Wirst du was davon mitbekommen? oder Ashtaria?"
"Nein, wir werden davon nichts mitbekommen. Die Halle der Altmeister ist mit einem Zauber umschlossen, der alles was dort geschieht dort behält. Selbst Ashtaria oder diese grüne Frau, die du aus Versehen gezeugt hast kommen da nicht durch." Den letzten Satz sprach sie mit unverkennbarer Erheiterung. Julius wusste natürlich, dass mit der grünen Frau Pentaia gemeint war. So fragte er:
"Wo du schon von ihr sprichst, Ammayamiria, was macht sie jetzt eigentlich?"
"Das was sie angekündigt hat. Sie beobachtet die Bonhams und erwartet die Wiedergeburt von Galenus Bonhams Seele."
"Dann hat das geklappt?" fragte Julius.
"Ja, hat es", erwiderte Ammayamiria. "Wie erwähnt, was in der Halle der Altmeister passiert bleibt dort, wenn die Altmeister es nicht von sich aus nach außen lassen möchten."
"Ich wollte eigentlich mit Millie und den Kleinen nach dem Sommerball in die Staaten. Aber so sollte ich besser darauf verzichten, weil eben wegen der Ministerneuwahl einiges vorzubereiten ist, wo ich abrufbar sein sollte." Ammayamiria nickte zustimmend. Dann wünschte sie Julius eine erfüllte Zeit und dass er mehr Lust als Frust bei der Einberufung erfahren möge. Er wollte gerade noch was sagen, da wachte er auf. Neben ihm lag seine Frau und schlief tief und fest. Das schlechte Gewissen, dass ihn gepiesackt hatte, weil er sie in gewisser Weise betrügen würde, schwieg nun völlig. Millie hatte ihm auch nach dem Besuch bei Temmie erklärt, dass ihr Madrashmironda lieber sei als die Vorstellung, dass Julius mit Naaneavargia zwölf Tage und Nächte zusammen sein würde. Jetzt hatte er sozusagen von der dritten für ihn wichtigen Person die Freigabe, den Weg zu gehen, den Madrashmironda und Ashtaria von ihm forderten.
Julius winkte seiner Mutter und den anderen Gästen aus den vereinigten Staaten nach, als diese mit dem Luftschiff am 27. Juli von Millemerveilles aus starteten. Chloe Palmer hatte ihren beiden Schützlingen Martha und Brittany verboten, beim Sommerball mitzutanzen. Da Millie und Julius diesen auf jeden Fall noch mitmachen wollten mussten sie noch im Magierdorf in der Provence bleiben. Doch die Frage blieb, wie Julius es anstellen konnte, zwischen zwölf und zwanzig Tagen fortzubleiben, ohne dass jemand ihn suchte. Erst hatte er überlegt, Eleonore und Camille in alles einzuweihen. Bei Camille sah er auch kein Problem. Doch er wollte Eleonore nicht verraten, was die Altmeisterin Madrashmironda ihm abverlangte. Überhaupt wollte er es auch dem kleinen und exklusiven Kreis des SerSil nach Möglichkeit nicht auf die Nasen Binden, was er zu erledigen hatte. Dass Camille bei den Wassermagiern, Catherine wohl bei den Luftmagiern und Millie bei den Feuermagiern des alten Reiches in die Schule gingen wussten die anderen ja auch nicht.
Am Ende kam er jedoch darauf, dass er sich nicht klammheimlich für mehrere Tage absetzen konnte. Die Zaubererwelt war wie ein Dorf. Wenn da jemand mehr als einen Tag lang nicht zu sprechen war schossen Gerüchte schneller als jeder Pilz aus dem Boden. Also musste er wohl oder übel zumindest jemanden einweihen. Millie brachte ihn darauf, wen er damit beauftragen konnte:
"Camille weiß wohl, dass du demnächst was erledigen sollst, außer die erloschene Ahnenlinie wieder aufzubauen." sie schmunzelte, als sie das sagte. "Catherine ist ja auch eingeweiht. Wenn du ihr sagst, dass du wegen der Sache mit der schlafenden Schlange damals eine Schuld bei den Altmeistern einlösen musst und dafür noch mehr Wissen kriegst kann sie dich sicher auch bei anderen entschuldigen. Aber womöglich solltest du auch Oma Line und Tante Trice einweihen, dass du für mehrere Tage unsichtbar und unauffindbar sein möchtest. Das wäre nicht das erste mal, dass sowas passiert." Julius nickte. Natürlich. Wenn er von wem auch immer aus der Verwandtschaft einen Auftrag bekam, der ihn rein zufällig für mehrere Tage aus der zivilisierten Welt verschwinden ließ ... Er erklärte sich einverstanden.
Am Nachmittag landete er bei Catherine in der Rue de Liberation 13 in Paris. Babette war gerade mit Schulfreunden unterwegs in der Rue de Camouflage und Joe war in seinem offiziellen Büro, wo er auf die Großrechner zugreifen konnte. So waren Catherine und er alleine.
"Was genau will dieser Erdmeister Agolar oder seine Mutter von dir, Julius?" wollte Catherine wissen, nachdem sie Kaffee und Gebäck in ihrem Dauerklangkerker-Arbeitszimmer aufgetischt hatte. Julius erwähnte, dass Agolars Mutter, die auch zu den Altmeistern gehörte, darauf bestand, dass er offiziell zum Eingeweihten der alten Erdelementarzauber wurde. Da dies nur von einem verschiedengeschlechtlichen Meister-Schüler-Duo erledigt werden konnte müsse sie ihm die entsprechende Einführung geben. Als er das Wort "Einführung" sagte rieselte ein kalter Schauer seinen Rücken hinunter. Catherine merkte wohl, dass ihm diese Sache weder geheuer noch wirklich willkommen war. So fragte sie:
"Und sie besteht darauf, dass du dich bis zu deinem nächsten Besuch bei den Altmeistern entscheidest?"
"Ja, weil ich wohl sonst keine Informationen von denen mehr kriege. Und gerade die Sache mit Garumitan, von der ich euch beim stillen Dienst ja berichtet habe und das, was mir und allen Kindern Ashtarias vor einigen Tagen passiert ist sagt mir, dass ich auf diese Quelle angewiesen bin. Im Grunde will sie mich nur symbolisch zu ihrem Sohn oder Vertrauten erklären und mir wohl die ersten wichtigen Sachen beibringen. Aber sie hat was von zwölf oder zwanzig Tagen gesagt, je danach, ob ich sie als nährende Mutter oder in allen Dingen anvertraute Gefährtin annehmen möchte. Ich habe mich dazu durchgerungen, die Vorgehensweise zu nehmen, die zwölf Tage dauert."
"Moment mal, Julius. Heißt das, diese Meisterin verlangt von dir, dich entweder als ihren Sohn anzunehmen oder wie eine zweite Ehefrau von dir angenommen zu werden?" wollte Catherine wissen. Julius nickte zweimal kurz.
"Und dir ist beides nicht recht, weil du dich ihr so oder so ausliefern müsstest?" fragte Catherine Brickston. Julius bejahte das laut. "Ich verstehe dein Dilemma. Sicher, wir haben Jahrtausende ohne dieses uralte Konzil überlebt. Aber ich erkenne, dass wir nun, wo alte Hinterlassenschaften aufgetaucht sind, nicht mehr darauf verzichten dürfen. Ich verstehe auch, dass du dich nicht freiwillig darauf einlassen möchtest und diese Madrashmironda offenbar Spaß dabei empfindet, dich ihrem Willen zu unterwerfen, wo diese Altmeister eigentlich keinen Einfluss mehr auf lebende Wesen ausüben können.
"Achso, und Agolar war von seiner Mutter zurückgehalten worden, dir mehr zu erzählen und hat von dir verlangt, dass du ihrem Zweig der Magie beitrittst, so wie ich dazu angehalten wurde, mich den Luftmagiern des alten Reiches anzuvertrauen?" Julius bestätigte das. "Gut, ich merke, dass du keine weiteren Einzelheiten darüber erzählen möchtest. Ich möchte das womöglich auch nicht alles wissen. Wichtig ist nur, wie wir das anstellen, dass du mehrere Tage lang fort bist." Julius nickte. "Hmm, das mit den Dementoren sollte die Liga gegen dunkle Kräfte auch erfahren. Ich weiß jedoch, dass trotz aller Vertrauenswürdigkeit zu viele Mitwisser eine unberechenbare Gefahr bieten. Dann ist es wohl besser, dieses Wissen bleibt bei uns im stillen Dienst", raunte Catherine. Dann überlegte sie einige Sekunden. Anschließend sagte sie mit fester, entschlossen klingender Stimme: "Dann machen wir das so, dass wir zwei im Auftrag des stillen Dienstes die Quellen prüfen, die über eine Züchtung der Dementoren vor etlichen Jahrtausenden berichten und deren Wahrheitsgehalt prüfen. Du erzählst meiner Mutter und allen in Millemerveilles, dass wir zwei deshalb für zwanzig Tage verreisen. Das gibt mir auch die Gelegenheit, eigene Forschungen in der Welt anzustellen, die ich sonst ohne unangenehme Nachfragen nicht durchführen könnte."
"Welche Forschungen?" wollte Julius wissen.
"Was es mit einem magischen Medaillon auf sich hat, von dem es drei Exemplare geben sollte, eines in Südamerika, eines in Afrika und eines in Asien. Ich beziehe mich da auf die Berichte, denen nach Anthelia zusammen mit einer Helferin damals die Vampirin Nyx aus dem US-ZaubereiMinisterium verjagt hat. Das hat die Gerüchte genährt, dass an der Theorie der drei Sonnenamulette mehr dran sein soll, als ursprünglich zu erwarten war. Während du bei dieser Madrashmironda zu tun hast und dich ihrer befremdlichen Gnade ausliefern musst kann ich incognito durch die Welt reisen und die alten Spuren neu bewerten, die es zu den drei Amuletten geben soll. Offiziell nehme ich dich auf eine Lehrreise mit, um näheres über die Stärken und Schwächen der Dementoren zu erfahren, womit du bei deinem zukünftigen obersten Chef sicher eine Menge schönes Wetter machen kannst."
"Dann reisen wir zusammen ab. Öhm, was machen wir solange mit deiner Familie? Meine fliegt übermorgen nach Viento del Sol und bleibt da einige Tage, um das erste Saisonspiel zu sehen", erwähnte Julius. Catherine antwortete darauf:
"Claudine bringe ich zu meiner Mutter, und Babette geht sicher gerne zu ihrer Großtante Madeleine. Joe nimmt uns - sehr bedauerlicherweise - nur noch als Essenslieferant und notwendige Ablenkung von Dauerarbeit wahr. Sicher behagt mir das nicht, dass ich ihn für zwei oder vier Wochen ganz alleine lassen soll. Aber er ist erwachsen genug, genug zu essen, zu trinken und zu schlafen."
"Und was genau erzählst du ihm?" wollte Julius wissen.
"Dass wir beide meine Kontakte zu den Zauberwesenkundigen dieses Planeten abklopfen, um mehr über die Dementoren zu erfahren. Was das ist weiß er besser als ihm lieb ist. Wenn er mehr im Haus bleibt als anderswo kann ihm auch nichts böses passieren."
"Gut, dann muss ich nur zu deiner Mutter hin, um mich sozusagen auch von Millemerveilles aus abzusichern."
"Sie wird sich freuen, dass Claudine zu ihr darf. Das mit Joe kriege ich hin. Wir treffen uns dann übermorgen am besten bei dir im Apfelhaus."
"Gut. Sollte das nicht klappen müssen wir eben neu planen", sagte Julius sehr erleichtert. Catherine nickte bestätigend.
Fünf Minuten später hatte Catherine mit ihrer Mutter kontaktgefeuert, dass sie Claudine bis zum sechzehnten August bei ihr unterbringen wollte. Julius hatte Catherine gesagt, dass er die auf zwölf Tage angesetzte Vorgehensweise bevorzugte.
"Wenn Julius noch bei dir ist schicke ihn bitte gleich zu mir hin. Da ich an seinem Geburtstag nicht mitfeiern konnte würde ich gerne einige Sachen mit ihm besprechen, die seine und meine Arbeit betreffen, auch wenn er gerade Urlaub hat", hörte Julius Blanche Faucons Stimme wie aus einem langen Tunnel heraus klingen. Julius schwante, dass Madame Faucon sicher mehr über diesen "Ausflug" wissen wollte. Doch was half es?
"Das habe ich befürchtet, dass diese Altmeister ihr Wissen nicht ohne Gegenleistung preisgeben", sagte Blanche Faucon, nachdem sie Julius begrüßt und ihn aufgefordert hatte, sich mit ihr an den Tisch ihrer geräumigen Wohnküche zu setzen. Sie machte ihre Wohnküche zu einem zeitweiligen Klangkerker. Dann bot sie Julius Tee und Gebäck an. Er wollte schon sagen, dass er solches auch schon bei Catherine bekommen hatte. Doch er wusste zu gut, wie eigen die Hausherrin der Maison du Faucon war, was ihre Kochkünste anging. So konnte er unmöglich die Kekse in Form berühmter Denkmäler der Zaubererwelt zurückweisen.
"Wie genau soll dieses Ritual ablaufen. Musst du dabei rituell heiraten oder dich in einer körperlichen oder seelischen Form erniedrigen?" fragte Blanche Faucon. Anders als ihre Tochter wollte sie offenbar doch wissen, was er zu tun hatte, dachte Julius.
"Volltreffer", sagte er. "Also, entweder ich heirate sie und vollziehe in mehreren Abständen rituell die Ehe mit ihr oder lasse mich wie ein gerade erst geborenes Kind von ihr versorgen, wobei ich nicht körperlich zum Säugling zurückverwandelt werde, sondern nur bewegungsunfähig und gerade zur Atmung und Nahrungsaufnahme fähig irgendwo im Sand eingebuddelt werde und alles schlucken muss, was sie mir anbietet."
"Was durchaus eine Form von Erniedrigung ist", grummelte Blanche Faucon. Julius konnte ihr da absolut nicht widersprechen. "Wieso ich so zielsicher erraten konnte, was dir bevorsteht liegt daran, dass es überlieferte Rituale gibt, wo eine Meisterin den Schüler zum Sohn oder Erzeuger eines Kindes erwählt, damit er ihr Wissen erfahren darf oder eine Schülerin nur zur Eingeweihten werden darf, wenn sie die Frau des Meisters oder dessen Tochter wird. Insofern schon interessant, dass diese Vorgehensweise älter als die afrikanische oder indische Hochkultur ist. Und du hast dich entschlossen, diese nur noch in Geistform bestehende Meisterin zu deiner zweiten Frau zu nehmen?" fragte Blanche mit sichtlich angespannt klingender Stimme. Julius schluckte. Dann nickte er zaghaft. Er sagte jedoch sofort, dass seine richtige Frau dem zustimmte, nicht freudig, aber eben unter der Bedingung, dass er ja sonst wohl mit Anthelias neuer Existenzform dieses Ritual hätte vollziehen müssen, um weiterhin Zugang zum Wissen aus Altaxarroi zu haben.
"Weil Mildrid sich in der beruhigenden Vorstellung hält, dass diese Altmeister nur bei direktem Körperkontakt auf rein geistiger Ebene mit ihren Besuchern interagieren können und es keine wirklich körperlichen Folgen geben kann, außer denen, dass ihre Besucher vielleicht verhungern, weil sie zu lange bei ihnen sind. Ich weiß schon, warum ich Catherine geraten habe, ihre neuen Möglichkeiten nur dann zu nutzen, wenn unmittelbarer Bedarf besteht", grummelte Blanche Faucon.
"Catherine wollte nicht wissen, was ich genau zu tun habe", sagte Julius.
"Weil sie wie ich weiß, dass solche zweigeschlechtlichen Lehrer-Schüler-Beziehungen in grauer Vorzeit meistens auch körperliche Unterwerfung oder Hingabe beinhaltet haben. Deshalb wollte sie darüber nichts wissen", erklärte die Schulleiterin von Beauxbatons. Julius nickte heftig. Dann erlaubte er sich eine Frechheit:
"Gut, dass das in Beauxbatons nie verlangt wurde. Sonst hätten Orion und Messaline Lesauvage da nur noch unterrichtet, wenn sie alle Mädchen und Jungen für sich vereinnahmt hätten."
"Ich verstehe, was dich umtreibt, Jungchen. Dann wäre womöglich Ursuline Latierre heute Schulleiterin von Beauxbatons, und ich hätte mit Professeur Énas den ersten Liebesakt vollziehen müssen, um überhaupt was von ihm lernen zu dürfen, wie? Auch wenn mich das nicht gerade erheitert, worauf du anspielst sehe ich zumindest eine gewisse Beruhigung darin, dass du immer noch ungebärdig genug sein kannst, um nicht wie ein Golem zum reinen Befehlsempfänger zu werden. Abgesehen davon hätten wir zwei dann Catherines kleines Geschwisterkind auf den Weg bringen müssen, damit ich dir das beibringe, was du von mir gelernt hast." Julius erkannte, dass er sich mit seiner Bemerkung ein Eigentor geschossen hatte. Denn jetzt musste er sich vorstellen, dass Blanche Faucon ihn für sich einforderte, nur um ihm die Ding-zu-Tier-Verwandlung oder die Abwehr körperverunstaltender Zauber beizubringen. Sein Gesicht lief rot an. Blanche quittierte das mit einem überlegenen Blick. Dann sagte sie: "Mir geht es bei dem, was du mir erzählen musstest darum, dass du weißt, was du tust, warum du es tust und welche Auswirkungen es für dich und andere hat. Catherine fühlt sich in dieser Hinsicht nicht beauftragt. Aber ich bin nun einmal mit Leib und Seele eine Lehrerin und lege einen großen Wert darauf, dass die, denen ich etwas beibringe, nicht nur auswendig lernen, sondern verstehen, was ich ihnen beibringe und mit dem Wissen und Können auch vernünftig umgehen." Auf diese Antwort hätte er auch selbst kommen können, dachte Julius für sich. Dann sagte Blanche Faucon noch: "Da längst nicht jeder, auch nicht im stillen Dienst, wissen muss, welches Opfer du zu bringen genötigt wirst gestatte ich, Catherines Vorschlag umzusetzen. Dass Babette nicht mehr bei mir in die Ferien will, wo sie mich über weite Teile eines Jahres miterlebt werde ich deshalb auch eingestehen. Ich fürchte nur, dass meine Schwester ihr Dinge beibringen könnte, die ich ihr im Moment noch nicht beibringen möchte."
"Du bist dir sicher, dass Babette nicht schon mehr weiß und kann als dir oder Catherine lieb ist?" fragte Julius, um doch noch was anzubringen, auf das Madame Faucon nicht reagieren konnte. Doch sie lächelte nur und sagte: "Insofern vielleicht nicht schlecht, dass es an meiner Schwester ist, herauszufinden, was Babette meint, schon jetzt wissen oder gar können zu müssen. Ich käme an dieses Wissen wohl nur legilimentisch heran, und daran liegt mir nichts." Da konnte Julius nun nichts gegen sagen.
"Noch eine andere Sache, die eher mit deinem bisherigen Berufsweg und meiner derzeitigen Anstellung zu tun hat und die wir getrost auch als offiziellen und einzigen Grund benennen können, wenn dich oder mich wer nach dem Zweck unserer Zusammenkunft fragt", holte Blanche Faucon aus. Julius machte sich innerlich auf eine hammerharte Eröffnung gefasst.
"Mir ist sehr bewusst, dass die Zukunft des Zaubereiministeriums in Frankreich für dich mehr Hindernisse und Verdruss bereithalten wird, als es unter der Führung des leider sehr leichtfertigen Monsieur Grandchapeau geboten war. Deine Differenz mit Monsieur Vendredi, die verstekckten oder offenen Eifersüchteleien wegen deines besonderen Wissens und der Umstand, dasss die Kandidaten dich eben wegen deiner Kenntnisse und Fertigkeiten an einer kurzen Kette halten möchten haben sicher schon den Gedanken an eine berufliche Veränderung geweckt, richtig?" Julius musste diese ausschweifende Bemerkung erst einmal auf ihren Kern verdichten: "Ich weiß, dass du wohl mit dem künftigen Minister Stress hast und deshalb sicher schon dran denkst, auszusteigen." Dann sagte er:
"Ich wäre wirklich vernagelt, wenn ich mir da keine Gedanken drüber gemacht hätte, ob ich in diesem Ministerium noch willkommen bin. Andererseits habe ich mir ja genau diesen Beruf ausgesucht, weil ich da meine ganzen Kenntnisse einbringen kann und weil ich dafür nicht erst vier Jahre von meiner Familie getrennt weitergebildet werden muss." Er wollte schon sagen, dass Camille ihn auch schon deswegen angesprochen hatte. Doch er wollte wissen, was Blanche Faucon ihm vorschlagen wollte.
"Das du der Veela-Beauftragte bist wird sich nicht ändern, weil das von den Veelas beschlossen wurde. Die werden jetzt keinen anderen mehr akzeptieren. Doch bei anderen Dingen könntest du ausgeschlossen werden, die du mit angeschoben hast. Aber was ich eigentlich erwähnen möchte: Ich erhielt vor einer Woche einen Brief meiner geschätzten Kollegin Professor McGonagall, dass ihr derzeitiger Fachlehrer für Menschen und Dinge der magielosen Welt mit dem Gedanken spielt, in die Behörde von Timothy Abrahams zu wechseln, weil er, nun da er damit rechnen muss, bald Großvater zu werden, nicht bereit ist, seinen Enkelkindern Unterricht zu erteilen, weil er fürchtet, zu befangen zu sein. Er hört sich bereits nach einem kundigen Nachfolger oder einer Nachfolgerin um, bekam jedoch bisher nur Absagen. Selbst Dr. Priestley, die du ja auch gut kennst, möchte nicht auf ihre bisherige Arbeit verzichten, wenngleich sie eine unbestreitbare Kompetenz vorweisen kann. So läuft die Suche weiter. Das wäre eine Auswahlmöglichkeit für dich. Du müsstest dafür aber wohl wieder in dein Geburtsland zurückkehren. Die zweite Möglichkeit bietet sich hier bei uns. Das in Hogwarts eigentlich sehr gut bewährte Modell einer schuleigenen Kontaktstelle für die Beratung von magielos geborenen Eltern mit magisch begabten Kindern wurde hier in Frankreich nicht in Erwägung gezogen, weil die Abteilung für magische Ausbildung und Studien diese wichtige Aufgabe erfüllte. Allerdings kann und will ich nicht abstreiten, dass eine nur der Schule rechenschaftspflichtige Kontaktstelle für Beauxbatons und die dort aufgenommenen Schüler aus der so genannten Muggelwelt ein erheblicher Vertrauensgewinn wäre, gerade nach dem dunklen Jahr von Didiers paranoider Diktatur. Ich lote gerade aus, wer von den muggelgeborenen Schülerinnen und Schülern einer solchen Abteilung beitreten möchten, sobald mir Monsieur Lagrange die entsprechende Genehmigung erteilt. Hättest du Interesse, mir und damit allen Lehrern und Schülern von Beauxbatons dabei zu helfen, dass die Verständigung zwischen uns und den Eltern aus der magielosen Welt verbessert wird?"
"Bin ich der erste, den du fragst?" wolte Julius wissen.
"Ja, konkreterweise ja. Ich dachte zuerst auch an Laurentine, aber deren Anstellung und ihre subjektiv schlechten Erfahrungen mit dem Ministerium erschweren mir, sie direkt zu fragen, ob sie diese Anstellung annehmen würde. Aber ich habe noch zehn weitere Kandidaten auf meiner Liste. Es steht und fällt also nicht mit deiner Entscheidung, nur um unnötigen Druck von deinem Gewissen zu nehmen. Ich wäre aber sehr erfreut, wenn ich jemanden für diese Anstellung gewinnen könnte, der oder die aus eigenen Erfahrungen die Vorteile einer solchen Abteilung würdigen und vermitteln könnte und zudem auch mit den modernen Informations- und Kommunikationstechniken der magielosen Welt vertraut ist." Julius nickte. Mit sowas hätte er ja schon längst rechnen müssen.
"Blanche, dein Angebot ehrt mich sehr, weil ich weiß, dass du immer nur das beste für Beauxbatons suchst und wählst. Ich möchte mich aber zum jetzigen Zeitpunkt nicht dafür oder dagegen entscheiden, weil ich sehr gerne alle anderen mir möglichen Angebote prüfen und in Ruhe auswerten möchte. Wohl auch deshalb hat mir Monsieur Vendredi noch einmal Urlaub genehmigt. Sieh es bitte nicht als Ablehnung, wenn ich nicht sofort zustimme. Ich weiß, was Beauxbatons mir gegeben hat und empfinde sogar eine große Dankbarkeit, vor allem, weil ich dort die Möglichkeiten hatte, mich selbst zu finden und meine Möglichkeiten ausnutzen durfte, was in Hogwarts unter Umbridge oder den Todessern wohl nicht gegangen wäre. Aber ich möchte so einen wichtigen Schritt nicht tun, ohne genau zu überdenken, wohin er mich führt und was ich dafür alles tun muss", antwortete Julius umschweifig, um bloß kein unnötiges Missverständnis aufkommen zu lassen.
"Ja, mit dieser Antwort habe ich gerechnet", erwiderte Blanche ohne Spur von Enttäuschung oder Verärgerung in Stimme und Gesichtsausdruck. Dann sagte sie noch: "Nun, anders als meine britische Kollegin, die wohl in den nächsten Wochen schon eine klare Entscheidung haben möchte, kann ich noch warten, zumal Monsieur Descartes und Monsieur Lagrange genau wie Sie die Amtsnachfolge von Monsieur Grandchapeau erwarten wollen. Die Auswahl und Betreuung der neuen Erstklässler ist auch schon im Gange, diesmal zwanzig von fünfzig, eine Quote, die wir bisher nicht hatten."
"Heftig", konnte Julius dazu nur sagen.
"Das Wort trifft es wohl", gestand ihm Blanche Faucon zu. Julius erwähnte, dass er davon nichts mitbekommen hatte, weil die Abteilung für magische Ausbildung und Studien wohl nicht mit dem Büro für friedliche Koexistenz zusammengekommen wäre.
"Das wird wohl daran liegen, dass Monsieur Descartes und seine Mitarbeiter selbst mit dieser hohen Quote umzugehen lernen müssen. Aber zumindest weißt du jetzt, wieso mir daran liegt, eine schuleigene Abteilung zur Beratung und Betreuung solcher Schüler zu entwickeln."
"Hmm, nach meinen erwähnten Erfahrungen müssten dafür aber mindestens zwei oder drei Semester Sozialpädagogik und Psychologie studiert werden", grummelte Julius, der diesen Fächern meistens nicht viel nachhaltiges abgewinnen konnte.
"Die von dir erwähnten Fächer existieren in unserer Welt nicht in der bei den Muggeln üblichen Anwendung. Allerdings gibt es berufsvorbereitende Lehrgänge in der Ausbildungsabteilung, die mit den zu erwartenden Situationen und den angemessenen Reaktionen vertraut machen. So könnte es durchaus erforderlich sein, dass jeder, den ich für erwünscht halte, solche Lehrgänge besuchen und deren Abschlussprüfungen bestehen muss, um die Aprobation des Ministeriums zu erhalten. Sicher kann ich viele Dinge innerhalb der Schule eigenständig regeln. Aber bevor das Ministerium die Kontaktaufnahme zu den so genannten Muggelgeborenen aus den Händen gibt dürfte es unabhängig von seinem zukünftigen Oberhaupt auf die Einhaltung seiner bisherigen Ausbildungsgrade bestehen. Für die Lehrerlaubnis müsstest du nur die nötigen Fachkenntnisse vorweisen und dazu noch über das nötige Einfühlungs- und Durchsetzungsvermögen verfügen, wofür eine Tätigkeit als Saalsprecher schon ein großes Gewicht in die Waagschale bringt."
"Professeur Paximus möchte aber noch nicht in den Ruhestand gehen, oder?"
"Nein, das möchte er nicht", erwiderte Blanche Faucon.
"Um die von mir erwähnte Auslotung der mir möglichen Betätigungen durchzuführen, Blanche, was genau müsste ich oder sonst noch wer tun?" fragte Julius. Daraufhin sprachen die beiden über die bisherigen Erfahrungen mit so genannten Kontaktstellen und wie Julius die Arbeit von Lorna Oaktree und Cynthia Flowers miterlebt hatte. So vergingen fast zwei Stunden, in denen Julius seinen eigentlichen Besuchsgrund in den Hintergrund verdrängen konnte. Beim Abschied sagte Blanche Faucon noch:
"Womöglich wirst du deine Entscheidungen auch in Hinsicht auf das treffen, wie dieses Ritual mit dieser Madrashmironda dein wweiteres Denken und Handeln bestimmen mag. Aber erkenne an, dass das Risiko, unwissend weiteren Erblasten des alten Reiches ausgeliefert zu sein, größer ist als eine mögliche Vereinnahmung durch eine ehemalige Erzmagierin, die ihren Geist in einem Überdauerungsgefäß verankert hat."
"Ich hoffe auch, dass ich mich danach noch im Spiegel ansehen kann", seufzte Julius. Das brachte Blanche darauf, ihrer Tochter Catherine ihren Zweiwegespiegel zu übergeben, den er damals von Jane Porter bekommen hatte und den die Lehrerin in Beauxbatons an sich genommen hatte. "Damit du sie erreichen kannst, wo immer sie ist, bis alles erledigt ist, was du und/oder sie unternehmen wollt", sagte sie dazu. Julius verstand. Wenn er mit Catherine wirklich eine längere gemeinsame Reise vorgeben wollte, musste er sich mit ihr absprechen können, vor allem, wenn er wieder aus Khalakatan zurück war. Dann bedankte er sich für das Gespräch und die Kaffeetafel und flohpulverte ins Apfelhaus zurück.
"Kuck mal, die wollen dich alle gerne für sich arbeiten lassen, Monju", sagte Millie, als Julius ihr von seiner Unterredung mit Catherine und Blanche erzählt hatte und mit viel Mühe noch Millies Kochkünste genoss, weil er eigentlich schon zu satt war. Er meinte dann noch zu ihr:
"Ist wie vor zwei Jahren, Mamille. Die Neuordnung im Ministerium wirft mich im Grunde wieder zurück auf Anfang."
"Zurück auf Anfang würdest du nur geworfen, wenn du statt einem deiner Drillingsgeschwister in Marthas Bauch neu heranwachsen müsstest. So ist das nur eine Neuausrichtung wie beim Besenflug über unbekanntem Gelände", erwiderte Millie. Julius sah ein, dass er da vielleicht ein wenig übertrieben hatte. Dann wollte er noch den halben Teller leeressen, der vor ihm stand. "Julius, ich merke, dass du satt bist. Wenn Blanche dich schon so vollstopft, dass du schon fast herumrollst musst du meinetwegen nicht deinen Magen zerreißen. Du hast schon länger als nötig für jemanden mitgegessen, noch dazu, wo die Kleine damals nichts davon hatte. Ich packe das in die Conservatempusschale. Kannst du dann morgen mittag noch essen und dann noch das, was ich für uns vier fertiggemacht habe", sagte Millie und nahm Julius den halbvollen Teller weg. Er tätschelte seinen sichtlich angeschwollenen Bauch und war erleichtert. Dann hörte er noch ihre Gedankenstimme flüstern: "Ist ja schön, dass du ein gutes Vorbild für Rorie bist, das brav aufgegessen wird, was Maman auf den Tisch bringt. Aber sie hat nichts davon, wenn du deshalb platzt."
Den restlichen Abend verbrachte Julius mit leichten Sportübungen, um die Verdauung anzuregen und mit einer Kurzen Sitzung im Gerätepilz, um E-Mails abzuholen. Seine Mutter und Brittany schrieben, dass sie gut angekommen waren und Chloe Palmer sie schon besucht hatte.
Wie beim Schach so war es auch beim Sommerball. Die Gewinner der Tanzschuhe waren die selben drei Pare wie im letzten Jahr, nur dass Millie und Julius diesmal die goldenen Tanzschuhe ergatterten, während Jeanne und Bruno die silbernen ergatterten und Camille und Florymont die bronzenen. Bruno verstieg sich beim Heimflug zu der dreisten Bemerkung: "Kannst du mal sehen, Beau-Papa, wer mit seiner Partnerin in jeder Lage tanzt und immer in Übung bleibt räumt auch anderswo ab."
"Dann solltest du mehr trainieren", meinte Camille dazu und deutete auf Millie und Julius. Florymont grummelte verdrossen. Doch seine Frau, die den Rückflug auf dem Familienbesen steuerte, beruhigte ihn.
"Eigentlich eine sehr gute Idee", meinte Millie, nachdem Chrysope noch einmal ordentlich bei ihr getrunken hatte. "Wenn du morgen zu dieser Erdmutter hingehst und die echt meint, dir noch was beibringen zu wollen, dann sollte sie merken, wie gut du jetzt schon bist. Also, noch wach genug für den letzten Tanz des Abends?" Julius war noch wach genug.
Der Abschied fiel herzlich aber auch mit einer gewissen Wehmut aus. Millie wusste genau, dass Julius das nicht tun wollte, wozu er sich entschieden hatte. Doch sich vorzustellen, dass er zwölf Tage und Nächte mit einer anderen Frau die wildesten Formen der körperlichen Liebe ausleben musste, um von ihr für würdig befunden zu werden, piekste sie doch sichtlich an. Sie überspielte diesen Gedanken nur damit, dass Madrashmironda ja keine richtige Frau mehr war. Sie war im Grunde nur noch eine besondere Art von Gespenst, eines, das Träume schicken konnte, aber keine Frau, die wahrhaft körperliche Bedürfnisse mehr empfinden konnte. Sie konnte auch kein leibliches Kind von Julius empfangen, womit sie keine Konkurrentin für Millie war.
Julius dachte nur daran, dass diese zwölf Tage und Nächte nicht in Echtzeit verstreichen mochten. Denn trotz des mit Catherine ausgeheckten Reiseplans wusste man nie, wer nicht doch noch was von ihm wissen wollte. Und in zwölf Tagen konnte viel passieren, gutes wie böses. Martines Baby war immer noch nicht auf der Welt. Die Spinnenschwestern mochten genauso wieder was aushecken wie dieser neue Schwarzmagier Vengor oder die Fortpflanzungserzwinger von Vita Magica. Doch am Ende zählte nur, dass er den Weg weitergehen musste, auf den er sich gewagt hatte. Hinzu kam noch Ashtarias Bemerkung, was die Abgrundstöchter anging. Eine davon war die Tochter des schwarzen Felsens, eine der Erdmagie verbundene Kreatur. Wenn er mehr über Erdelementarzauber wusste konnte er vielleicht was gegen sie ausrichten. Vor allem aber ging es ihm darum, dass Anthelia/Naaneavargia ihn nicht für sich bekam. Vielleicht konnte Madraschmironda ihn ähnlich wie Darxandrias Haube prägen, dass die Spinnenhexe ihn nicht mehr anrühren konnte, weil er ja unter dem Schutz ihrer Großmutter stand. Großmutter? Er war im Begriff, eine Affäre mit einer Großmutter anzufangen! Das hätte man ihm vor sieben Jahren noch nicht erzählen dürfen. Er hätte nur verächtlich gelacht.
"Also, wenn Catherine und ich mit unserer Studienreise durch sind komme ich nach zu euch, Millie", sagte Julius laut genug, dass die wenigen Reisenden am Landepunkt des Überschall-Luftschiffes es bestimmt verstanden. Dann verabschiedete er sich noch von seiner erstgeborenen Tochter. "Sei schön lieb zu Brittany und Oma Martha. Du weißt, Oma Martha."
"Ja, Papa", quiekte Aurore. Dann ließ sie sich von ihrem Vater die Strickleiter nach oben tragen und von ihrer Mutter übernehmen, die die nun schon fünf Monate und drei Wochen alte Chrysope auf dem Rücken trug.
Julius winkte dem Luftschiff nach, das erst sanft wie ein Ballon aufstieg und dann schlagartig Fahrt aufnahm, als hätten unsichtbare und lautlose Raketentriebwerke gezündet. Er sah noch, wie das magische Überseeluftschiff innerhalb von vier Sekunden außer Sichtweite gelangte. Dann apparierte er ins Apfelhaus. Catherine würde ihn mit ihrem FamilienBesen vor der Tür abholen, nachdem sie Claudine bei ihrer Mutter abgeliefert hatte. So konnte Julius seine Reisetasche, die er für die Zeit nach Madrashmironda gepackt hatte, tragefertig machen. Er sperrte alle Flohnetzanschlüsse und drehte sogar die meisten für andere Bilder offenen Gemälde zur Wand hin. Nur das von Viviane Eauvive ließ er so, wie es war. Er steckte seinen eigenen Pappostillon zusammen mit dem Lotsenstein in seinen Prakticus-Brustbeutel.
Bevor er das Haus verließ zog er sich noch den himmelblauen Reiseumhang über, mit dem er sonst zu verreisen pflegte. Dann verließ er das Haus durch die Tür und verschloss diese fest.
Viel Zeit zum grübeln fand er nicht. Denn nur zwei Minuten nachdem er aus dem Haus getreten war schwirrte Catherine Brickston auf ihrem neuen Familienbesen Ganymed 12 Matrimonium heran und landete. Julius begrüßte die in einen magentafarbenen Reiseumhang gekleidete Hexe mit der landesüblichen Umarmung, wobei er sich anstrengen musste, nicht daran zu denken, dass er bald der reinen Illusion erliegen würde, eine andere Frau in den Armen zu halten, die nicht seine geliebte Ehefrau war.
Für alle interessierten deutlich sichtbar flog Catherine mit Julius und dem gemeinsamen Gepäck über Millemerveilles hinweg und nahm Kurs auf die Pyränäen.
"Es bleibt dabei, dass ich dich beim Ausgangstor absetze und dann nach Spanien weiterfliege, Julius", sprach Catherine, als sie hoch genug über Grund flogen. Die sinkende Sonne malte bereits die ersten Orangetöne an den Himmel. Julius bestätigte diesen Plan.
Mit Hilfe des Lotsensteines peilte Julius den genauen Standort des Eingangs zu den alten Straßen an, die nach Jahrtausenden immer noch ihren Dienst taten. Nach ungefähr vier Stunden landete Catherine direkt bei der versteckten Startplattform.
"Wie erwähnt, Julius, tu nur das, was du zu tun bereit bist!" sagte Catherine. Julius schwieg dazu.
Als Catherine bereits wieder auf dem Besen unterwegs war beschwor Julius die Magie der alten Straßen herauf und bestimmte Khalakatan, die verborgene Stadt des alten Wissens als Ziel. In einer golden leuchtenden Lichtsäule verschwand er beinahe übergangslos im Boden und verließ damit bis auf weiteres die moderne Welt.
"Oh mann, Oma Tetie, kannst du nichts machen, dass die Kleine endlich rauskommt?" stöhnte Martine Latierre.
"Dich aufschneiden, in dich reingreifen und die Kleine rauspflücken und dich dann wieder zunähen?" fragte Lutetia Arno vergnügt und tätschelte Martines bloßen Unterleib. "Der Kleinen gefällt deine kleine warme Stube noch zu sehr. Außerdem habe ich selbst schon drei Kinder gekriegt, die fast einen Monat länger als üblich in mir herumgekullert sind. Genieße es doch. Wenn die Kleine erst mal die Vordertür aufdrückt und sich rausgezwengt hat hast du sie das ganze Leben lang um dich herum. Dann doch besser noch umgekehrt."
"Mann, ich hätte Tante Trice ... Autsch!" Martine konnte den Aufschrei nicht unterdrücken, so heftig hatte ihre Großmutter und aus welcher geistigen Umnachtung heraus erwählte Hebamme ihr ins linke Bein gekniffen.
"Du hast mich ausgesucht, weil ich die größten Erfahrungen habe, nicht nur was das Kinderholen angeht, sondern auch das Kinderkriegen. Da kommt deine Tante Béatrice noch lange nicht an mich heran. Die hat ja noch nicht mal angefangen."
"Weiß ich. Gut, wenn du meinst, dass ich noch einen Monat dranhängen soll. Aber wenn es mich zerreißt oder die Kleine auf dem Weg erstickt möchte ich dein Gejammer nicht hören, Oma Tétie", versetzte Martine.
"Ich bleibe dabei, der Kleinen gefällt das in dir noch zu sehr, als das alles aufzugeben. Fühl dich geehrt, Mädchen."
"Mit wem sprichst du jetzt, Oma Tétie. Das Mädchen steckt in meinem Bauch. Da musst du schon lauter sprechen, wenn die dich verstehen soll."
"Ja, ist unübersehbar", konterte Lutetia, wobei sie mit ihrem Gesicht nur wenige Zentimeter von Martines Schoß entfernt war, so dass Tine den heißen Atem an einer hochempfindlichen Stelle spürte. "Gut, die Kleine liegt richtig herum. Also wenn die in einer oder zwei Wochen doch noch zu uns kommen möchte kommt sie mit dem Kopf zuerst."
"Wie beruhigend", meinte Martine dazu. Ihr Mann Alon versuchte derweil, die Tür zum Wohnzimmer zu öffnen. Doch Lutetia hatte mit einem besonderen Zwergenzauber dafür gesorgt, dass kein Mann diese Tür aufbekam, solange eine Frau mit bloßem Unterleib in diesem Raum war.
"Eh, du alte Erdkröte, wenn du nicht sofort diesen Türsperrzauber aufhebst buddel ich dich im Garten ein und pflanze einen Erdbeerstrauch drüber."
"Das würde ich besser nicht machen. Aus mir genährte Erdbeeren lassen Männer zu Frauen werden und machen Frauen jungfräulich zur Mutter."
"Wer es glaubt", knurrte Alon. Martine meinte dazu: "Alon, lass sie. Schon schlimm genug, dass unser Kind noch nicht weiß, wo der Ausgang ist. Ich zieh mich wieder an, dann kannst du rein."
"Moment, lass mich erst mal meine Hand wieder ans Licht holen", kicherte Lutetia. Martine starrte auf ihren Unterkörper. Doch ihre Oma hielt da schon beide kleinen Hände nach oben und grinste überlegen. "Das wäre es jetzt gewesen, wenn du das nicht gespürt hättest, ob ich nach deiner Fruchtblase getastet habe oder nicht", lachte Lutetia Arno.
Martine zog sich wieder an. Dadurch ließ sich die Tür wieder bewegen.
"Also, werte Schwiegeroma, wenn unsere Tochter in drei Tagen nicht geboren ist gehen Tine und ich zu Alouette in die Delourdesklinik oder lassen uns von Tante Trice helfen."
"Junge, zwei Sachen. Das Kind kommt, wenn es fertig ausgewachsen ist. Da gibt es keinen Standardablauf. Zweitens, wenn du mehr als die eine Tochter haben willst ärgere mich nicht. Ich bin gerade groß genug, um das zu klären, ob du noch so ein süßes Bündelchen in Martines warmem Wanst ablegen kannst."
"Eh, du drohst mir mit Gewalt, du kleines Hutzelweibchen und .... Aaarg!" Lutetia hatte Alon ansatzlos in den Schritt gepackt und zog mit der anderen Hand seinen Umhang straff.
"Komm, ist gut, ihr zwei!" rief Martine. Einen Moment hoffte sie, dass dadurch die längst ersehnten Wehen einsetzen würden. Doch die Ungeborene stupste sie nur an, als wolle sie sagen: "Schrei nicht so laut rum!" Doch es funktionierte. Lutetia ließ ihren Schwiegerenkel los und verließ wieselflink das Untersuchungszimmer.
"Die Kleine ist voll ein Fall für die Psychomorphologische Abteilung", knurrte Alon mit schmerzverzerrtem Gesicht. "Du hättest die Kleine doch besser bei deiner Schwester im Apfelhaus rauslassen sollen."
"Das hab ich gehört!" schrillte es wie aus weiter Ferne. Martine dachte einen winzigen Moment, es wäre ihr ungeborenes Kind gewesen. Doch das war es nun wirklich nicht.
Julius wunderte sich kein Stück, die vier Meter große Frau aus goldenem Metall in blutroter Kleidung unter dem turmhohen Torbogen Khalakatans zu treffen. Die mit Ashtardarmirias konservierter Seele ausgefüllte Dienerin aus Garumitan, die nun zum Bestand der künstlichen Diener Khalakatans gehörte, war sicher von den Altmeistern losgeschickt worden, um ihn abzuholen. Also hatten die Altmeister es eilig.
"Gut, dass du gekommen bist, Julius Erdengrund. Du wirst schon erwartet", hallte die Stimme der goldenen Dienerin wie eine große Bronzeglocke über den weitläufigen Torplatz.
"Ich dachte, sie hätte eine Menge Zeit", erwiderte Julius, sicher, dass die Altmeister ihn längst beobachteten und belauschten.
"Sie ja, du wohl eher nicht. Ich bring dich hin. Oben drauf oder unten drin?" antwortete die überlebensgroße Metallfrau. Julius erinnerte sich zu gut daran, wie diese Dienerin ihn in einem kleinen Stauraum aufbewahrt aus Garumitan hinausgetragen hatte. Doch danach stand ihm jetzt nicht der Sinn. So sagte er, dass er den Freiflugzauber nehmen würde. Doch das wollte Ashtardarmiria nicht. "Du brauchst deine Kräfte, glaub es mir", sagte sie mit einer Spur Verruchtheit in der Stimme. Julius verstand zu gut. So gestattete er der Dienerin, ihn auf ihren im Verhältnis zur Körpergröße schmalen Schultern zu tragen. Hierfür bückte sie sich zu ihm und hob ihn auf wie ein Baby, um ihn sich auf die Schulter zu laden. Keinen Moment später umgab sie beide eine orangerote Feuerkugel, die jedoch keine Hitze abstrahlte. Eine Sekunde später erlosch die magische Flammensphäre auch schon wieder. Julius staunte. Sie standen im Ankunftsbereich des kilometerhohen Turmes des alten Wissens, am Fuß der 144 Stufen, die von der üblichen Ankunftsplattform hinunterführten. Hier waren die übrigen Diener der Altmeister verborgen. Doch keiner und keine von denen verließ den zugewiesenen Warteraum.
"Dienst du jetzt Madrashmironda?" fragte Julius.
"Nicht eigentlich. Sie hat nur die Altmeisterin der Feuergeweihten, zu denen ich in meinem fleischlichen Leben mal gehört habe, darum gebeten, mich zu dir zu schicken, um dich schnellstmöglich zu ihnen hinzubringen. Leider kann ich gerade einmal zum Haltepunkt des Reisekorbes überwechseln. Die Halle der Altmeister ist gegen jede Form der bewegungslosen Anreise verschlossen. Aber ich bringe dich mit dem Korb nach oben."
Julius wollte schon darauf hinweisen, dass sie ihn besser wieder auf die eigenen Beine stellte, als sie schon mit mehr als fünf Meter ausgreifenden Schritten auf den großen gläsernen Transportkorb zuspurtete. Erst als sie unmittelbar davorstand pflückte sie ihn von ihrer Schulter und setzte ihn behutsam im Korb ab. Sie kündigte noch an: "Ich erwarte deine Rückkehr!" Dann hob der Korb auch schon ab, um mit seinem Passagier in das räumliche Labyrinth von Gängen und Schächten hineinzurasen, dass den Turm erfüllte. Julius hielt sich gut am Korbrand fest und hielt den Kopf ruhig, damit dieser durch die trotz wohl wirkender Dämpfungszauber nicht von der Fliehkraft herumgewirbelt wurde.
Auch wenn er nicht das erste mal durch diesen übermächtigen Turm flog staunte er immer wieder über die großen Hallen und freien Flächen, die mit ihm noch unbekannten Gerätschaften, aber auch mit tätigen oder in Konservierungsstarre verharrenden Lebewesen bevölkert waren. Wieder sah er die Halle der goldenen Drachen, die ein Geschwader uralter Kriegsmaschinen weit vor dem Grafen Zeppelin und dem roten Baron darstellten. Doch wie früher schon durchraste der fliegende Transportkorb diese Halle so schnell, dass Julius mal wieder nicht dazu kam, die Drachen durchzuzählen. Es ging hinauf, durch Quergänge und auch mal in einem Schacht hinunter. Dann wieder hinauf und dann von oben her in einer erst engen und dann weiter werdenden Spirale nach unten. Weiter unten verengte sich die Spiralbahn wieder. Das kannte Julius schon gut genug. Am Zugang zur kugelförmigen Halle der Altmeister, dem gläsernen Konzil von Khalakatan, hielt der fliegende Reisekorb endlich an. Julius stieg unverzüglich aus, noch ein wenig wackelig auf den Beinen.
Im Inneren der Kugelhalle begrüßte er den Torwächter Garoshan und erwähnte überflüssigerweise, dass er gekommen war, die Schuld einzulösen, die Madrashmironda und die Erdvertrauten von ihm einforderten.
"So suche und finde Madrashmirondas Überdauerungsgefäß und erfülle deine Verpflichtung!" sagte die Projektion des ehemaligen Erzmagiers, der die Besucher der Altmeister begrüßte und ihnen, sofern sie zum ersten Mal herkamen, den Freiflugzauber beibrachte, ohne den sie nicht zu den gesuchten Altmeistern gelangen konnten. Julius horchte noch einmal in sich hinein. Die Reise über die alten Straßen hatte länger gedauert als der Weg von Khalakatans Tor bis in die Kugelhalle. Doch jetzt erst fühlte er, dass die Herzanhängerverbindung erstarrt war. Damit war er auch schon mehr als vertraut. Es stimmte schon, dass was in dieser Halle geschah in dieser Halle blieb, wenn der Besucher nicht ausdrücklich dazu aufgefordert wurde, das hier erlangte Wissen und Können in der Außenwelt anzuwenden.
Der Freiflugzauber trug Julius erst nach oben in die Mitte der Halle. Von hier aus verschaffte sich der angehende Anwärter für die Eingliederung bei den Erdvertrauten einen ersten Überblick. Um ihn herum, von der oberen bis zur unteren Polwölbung der an die zweihundert Meter durchmessenden Kugelhalle ragten menschengroße Kristallzylinder, in denen ein silbern leuchtender Stoff aufbewahrt wurde. Nirgendwo konnte er sehen, ob sich einer der Altmeister in seiner früheren Gestalt zeigte. Wenn Madrashmironda ihn so schnell wie möglich bei sich haben wollte hätte sie sich sicher schon in ihrer körperlichen Erscheinung gezeigt, vermutete Julius. Doch von der Mitte der Halle aus erkannte er sie nicht. Er erinnerte sich daran, dass er viele der in blutroten Gewändern gekleideten Altmeister von seiner jetzigen Position aus in Blickrichtung auf zwei Uhr und im Äquatorbereich der Kugelhalle gefunden hatte. So flog er in diese Richtung und suchte.
Das gleichförmige Singen, als würde jemand die Glaszylinder sacht an ihren Rändern anstreichen, war das einzige Geräusch, dass er hier hörte. Dann kam er an dem Glaszylinder vorbei, in dem wesentlich weniger der silbern leuchtenden Substanz enthalten war. Hier wohnte der über eintausend Jahre nur säuglingsgroß gebliebene Altmeister Ashtarggayan, der dreihundert Jahre seines Lebens als ungeborenes Kind im Leib seiner Mutter hatte zubringen müssen. Doch der Meister, der ihm die wichtigen Schutzzauber gegen feindlichen Einfluss und Aufspüren beigebracht hatte erschien ihm nicht. Er suchte weiter.
Nach einer Zeit, die er nicht genau überwacht hatte fand Julius einen Zylinder, in dem eine in einem sehr textilarmen Gewand aus hauteng anliegendem blutrotem Stoff gekleidete Frauengestalt stand. Sie besaß fuchsrotes Haar und dunkelgrüne Augen. Außerdem sie ein wenig rundlich gebaut war strahlte sie auf Julius eine unverkennbare Anziehungskraft aus. Ja, das war die als Shainorammaya geborene Erdmagierin, die irgendwann vor langer Zeit zur Großmeisterin Madrashmironda geworden war und sich der eigenen Aussagen nach mit den grünen Kindern der Erde, also wohl den Pflanzen, besonders gut auskannte. Julius konnte sich gut vorstellen, dass diese Frau und Camille Dusoleil sicher sehr gut miteinander hätten plaudern können. Doch Camille hatte einen anderen Weg beschritten.
"Hast dir Zeit genommen, Julius Erdengrund", hörte er sie mit einer Mischung aus Belustigung und Vorwurf sagen. Der Zylinder, in dem sie steckte hallte beim Klang ihrer Stimme nach wie ein sanft vibrierendes Weinglas. Julius verzichtete auf eine Antwort. Er flog auf den Zylinder zu und berührte ihn. Wohlige Wärme sttrömte in ihn ein, erfüllte und umschloss ihn. Doch mehr geschah nicht. "Ich möchte erst eine ordentliche Begrüßung hören, bevor ich dich ganz zu mir hineinlasse, auf dass du beweist, wie sehr du dich mir anvertrauen und mir die größte Freude bereiten möchtest, die du mir geben kannst", hörte er Madrashmirondas Stimme und meinte, sie in seinen Eingeweiden vibrieren zu fühlen wie lautstarke Bässe aus großen Lautsprechern.
"Ich habe mich entschieden, dein Angebot anzunehmen, ehrwürdige Altmeisterin Madrashmironda. Ich bitte um deine Gunst, mich in die Kunst und Kunde der Vertrauten der großen Mutter Erde einzuweihen. Hierfür werde ich dir zwölf Tage und Nächte lang mit meinem Körper und meinem Geist zur Verfügung stehen", sagte Julius und dachte dabei daran, dass er das nur tat, weil Millie es ihm mehr zähneknirschend als hocherfreut erlaubt hatte. "Besser die fuchsrote Dame als die Spinnenschlampe. Die Altmeisterin ist ja keine echte Frau", hörte er Millies Stimme in seiner Erinnerung.
"Du bist bereit, mir deine Kraft und deine Leidenschaft darzubringen, um mir zu beweisen, dass du willens und fähig bist, einer dir anvertrauten deine Nachkommen in das innere Nest zu legen, die Freuden des Lebenstanzes mit mir zu feiern und dadurch dein Wissen um das Zusammensein von Söhnen und Töchtern der großen Mutter zu stärken?" fragte Madrashmironda. Julius antwortete mit einem schlichten, ehrlichen "Ja, ich bin bereit." "Dann komm zu mir und verweile an meiner Seite, bis du von mir für groß und würdig befunden wurdest, die Kenntnisse und Fertigkeiten unseres hohen Ordens zu erwerben. Doch wisse, bevor ich dich zu mir nehme, dass du danach keinem anderen Altmeister hier nach seinem besonderen Wissen befragen darfst. Du wirst das bisher erlernte nicht vergessen, weil es dein Leben erhält. Aber neues wirst du nur von mir oder meinen Ordensgeschwistern erfragen dürfen. Dann komm jetzt zu mir!"
Als habe sie mit ihrem letzten Befehl die durchgehende Wand des Zylinders verschwinden lassen fiel Julius direkt hinein. Doch im nächsten Moment stand er neben der nun scheinbar körperlich greifbaren Madrashmironda. Er fühlte die enorme Kraft, die von ihr ausstrahlte, eine beinahe mit Händen greifbare Aura, die auf seiner Haut wohlig warm wirkte und von ihm eingeatmet sanft in seinen Nervenbahnen vibrierte. Diese Art von Macht hatte er bisher bei keinem der Altmeister verspürt, nicht einmal bei Ianshira, der Lichtmeisterin oder Ashtarggayan, als er diesen besucht hatte. Er nahm auch einen erfrischenden Duft von ihr wahr, wie von frischen Frühlingskräutern. Womöglich hatte sie ein entsprechendes Parfüm aufgetragen. Doch das erklärte nicht diese fast stoffliche Aura dieser Frau.
"Du fühlst meine Kraft auf dir und in dir und fragst dich sicher, woher das kommt, Julius Erdengrund", sprach Madrashmironda mit leiser, tiefer Stimme. "Das liegt daran, dass wir zwei schon einmal ganz verbunden waren. Diese Kraft, die du fühlst, ist die durch den Segen der großen Mutter Erde gespeiste Verbundenheit zwischen einer Mutter und ihrem Sohn."
"Ja, oder das, was du mir gerade in den Kopf einspielst", dachte Julius. Er bedachte nicht, dass in dieser Halle alle Gedanken von allen Altmeistern frei zu lesen waren, vor allem dann, wenn ein direkter Kontakt mit einem der Altmeister oder einer Altmeisterin hergestellt war.
"Ich gehe eher davon aus, dass wir hier in deinem Reich Mann und Frau sein sollen und nicht Mutter und Sohn", äußerte Julius scheinbar mit körperlicher Stimme. Madrashmironda lächelte vieldeutig. "Das werden wir beide ergründen, was du für mich bist und ich für dich bin. Doch deine Reise war lang. Genießen wir zwei erst einmal ein erfrischendes Abendessen. Danach werden wir zwei unsere Klangkunstkenntnisse miteinander vergleichen. Stimmen wir gut miteinander überein, so beginnt unsere gemeinsame Zeit der freudigen Nähe", legte sie die Marschroute fest. Julius wagte keinen Widerspruch.
Mit einer kleinen Kristallpyramide, die smaragdgrün schimmerte, beschwor Madrashmironda einen kleinen, mit hellblauem Tuch gedeckten Tisch und auf diesen fein gearbeitetes Geschirr, das weder aus Ton noch aus Glas zu bestehen schien. Julius nahm ihr gegenüber auf einem der einbeinigen Stühle Platz und wunderte sich nicht, dass Sitzfläche und Rückenlehne sich seinen Körperformen anschmiegten. Mit silbernem Besteck, das schon an moderne Messer, Gabeln und Löffel erinnerte, konnten sie die in der Tischmitte erscheinenden Speisen zu sich nehmen. Julius sah etwas wie Getreide, das jedoch so groß wie kleine Flusskiesel war und sah sehr kunstvoll angerichtete Stücke Fleisch und Gemüse. Da er lieber nicht wissen wollte, von welchen Tieren oder Pflanzen das Essen stammte, beschränkte er sich beim Essen nur darauf, den vorzüglichen Geschmack und die Zubereitung zu loben. "Das habe ich von meiner Mutter erlernt, bevor ich die ersten Schritte auf dem Weg zur Vertrauten der großen Mutter Erde tat", erwähnte Madrashmironda. "Sie sagte, dass die Liebe eines Anvertrauten am besten über seinen Gaumen und seinen Magen zu gewinnen ist. Und ich habe keinen Anlass gefunden, ihr da zu widersprechen. Genieße und erstarke, mein erwählter Träger meines Erben!"
"Darxandria hat mich schon zum Träger ihres Erbes gemacht. Stört das nicht unser Zusammensein."
"Du wurdest von drei starken Frauen mit ihrem Lebenshauch erfüllt, von Martha Andrews, die als Tochter der Linda Holder auf die Welt kam, von Darxandria, deren Kraft du in einer alten Festung in dich aufnehmen durftest und durch das Verweilen im Leib ihrer Nachfahrin Ashtaria, wodurch du auch deren Sohn wurdest. Würde mich das alles stören hätte ich dich nicht so herrlich in meine Obhut nehmen können. Doch ich musste feststellen, dass ich in Gestalt eines großen Hausrindes nicht mehr so handlungsfähig sein würde, auch wenn mir das sehr gefiel, dich in mir zu tragen. Aber leider warst du ja so neugierig, dass du die von mir zufließenden Ströme ausgenutzt hast, mehr zu erfahren, als die anderen Altmeister dir gestatteten. Das hat mir schon sehr weh getan, wie sie dich mir entrissen haben. Ich hoffe sehr, dass du mir dieses Leid mit hundertfacher Freude vergelten wirst. Ich fühle, dass du nicht ganz so frei und willig zu mir gekommen bist wie ein unberührter Knabe, der sich mir oder einer anderen Wegführerin mit allem hingeben will. Doch ich habe bisher jeden davon überzeugen können, dass der Weg der gemeinsamen Freude der für ihn erfolgreichste Weg ist. Du wirst es genießen, bei mir zu sein, mich zu fühlen und mit mir deine Kraft und deine Gefühle zu teilen. Du wirst dafür eine Menge mehr zurückbekommen, als du es dir bisher ausdenken konntest. andere Altmeisterinnen wie Ianshira, Kailishaia und die finsteren zeitgleich in die Welt gelangten Schwestern werden uns beide um das beneiden, was wir zusammen vollbringen werden."
"Da wo ich lebe ist der Handel körperliche Liebe gegen einen Gegenwert nicht so hoch angesehen, vor allem, wenn es um einem anderen Menschen zugesprochene geht", gestand Julius ein.
"Ja, und dennoch bist du froh, dass du ein Sohn Ashtarias wurdest, obwohl diese ähnlich gedacht hat wie ich, dass körperliche Freude nicht gegen den erhabenen Gedanken steht, mehr Wissen zu erlangen. Da haben die Jetztzeitmenschen einen wertvollen Schatz verloren. Denn die nur für die körperlichen Freuden leben werfen alles Wissen achtlos weg, das ihnen angeboten wird, und die, die nur demütig einem höheren Willen folgen wollen oder Wissen erlangen möchten empfinden die körperlichen Freuden als Schwäche oder gar Unrat. Aber wir haben die Zeit, die du brauchst, um zu lernen, wie unser Leben geordnet ist und welchen großen Wert die Waage zwischen körperlichen Bedürfnissen und geistigem Streben besitzt, wenn sie gut ausgeglichen bleibt. Im Grunde hast du durch deine dir zugesprochene Gefährtin bereits erfahren, dass dieser Weg deinem Leben den rechten Sinn gibt. Du genießt ihre Nähe und die mit ihr geteilte Freude des Lebenstanzes ebenso wie den Erfolg, neues erlernt oder erschaffen zu haben. Deshalb habe ich dir überhaupt angeboten, bei mir zu sein. Ich hätte aber auch erlaubt, dass du mit meiner Sohnestochter diesen Weg gehst. Doch die Ablehnung, die du ihr gegenüber empfindest, ist sicher zu groß, um den gewünschten Erfolg zu erringen. Doch der Tag wird kommen, wo du und sie gemeinsam gegen die verheerenden Kräfte eurer Welt ankämpfen müsst. Deshalb bin ich froh, dass du deinen Weg mit mir beginnen und vollenden willst, um auf diesen Tag vorbereitet zu sein."
"Ich bin hier, weil ich gehört habe, dass eine ohne Vater empfangene Meisterin der Erde wieder aufgewacht ist. Sie ernährt sich von der Freude am Liebesspiel und unterwirft sich die Menschen, mit denen sie das Lager teilt", sagte Julius. "Auch aber nicht nur wegen ihr habe ich mich entschieden, dein Angebot anzunehmen, große Madraschmironda."
"Nenne mich nur Madrashmironda, oder gerne auch Mami!" erwiderte Madrashmironda. Julius stutzte. Dann fragte er, ob er sich verhört habe. Denn "Mami" nannten kleine Kinder ihre leibliche Mutter in vielen Ländern.
"Da ich die Verkörperung der großen Mutter Erde darstelle, aus deren fruchtbarem Schoß jedes Wesen geboren wird, ist diese Kurzform keine Respektlosigkeit deiner fleischlichen Mutter gegenüber. Aber da wir die nächste Zeit miteinander verbringen werden darfst du mich bei meinem Namen nennen oder mich auch mit dem Namen ansprechen, den ich nach meiner eigenen Geburt bekommen habe, Shainorammaya oder kurz Shai." Julius nickte. Darauf konnte er sich einlassen.
Nach dem Abendessen und dem Gespräch holte Madrashmironda mehrere Flöten und ein Instrument mit mehr als zwanzig Saiten aus dem Nichts. Ebenso beschwor sie eine kugelförmige Trommel, die mit einer durchsichtigen Haut bespannt war. Julius fröstelte ein wenig, sich vorzustellen, welches Wesen für diese Trommel seine Haut hatte lassen müssen. Früher hatte er solche Anwandlungen nicht gehabt. Doch hier war er sehr argwöhnisch. Madrashmironda merkte das sicher. Doch sie überspielte seine Verlegenheit mit einer schon an kindliche Unbedarftheit erinnernden Fröhlichkeit. Als er sie deshalb fragte meinte sie: "Das Spielen und die Bereitschaft, Dinge zu nehmen, ohne sie nach Nutzen oder Brauchbarkeit zu ordnen hält uns am leben, Julius. Deshalb sind die meisten Männer innerlich gerne die kleinen Jungen, die sich auf neue Sachen einlassen wollen und die meisten Frauen gestatten trotz ihrer Reife noch dem kleinen Mädchen, das sie mal waren, einige Zeit der unbekümmerten Freuden. Auch das werden wir beide sehr genussvoll erleben. Und jetzt lassen wir den Abend ausklingen, in dem wir die Lieder der Lebensfreude nachspielen, damit uns die große Mutter segnet, um ihre große Kraft zu feiern und uns daran zu erfreuen", fügte sie noch hinzu. Dann ergriff sie das Saiteninstrument und zupfte geschickt einige fremdartig klingende und dennoch schön und sphärisch schwingende Akkorde. Julius ergriff eine der Flöten. Er fand heraus, dass sie jener ähnelten, die Ailanorar erschaffen hatte. Als er nun zu einem der schwebenden Akkorde die Melodie vom Ruf nach der Himmelsburg spielte brach Madrashmironda ab.
"Nein nein, Julius. Die Kräfte des Windes und der Himmelshöhen sind hier und jetzt nicht erwünscht, auch wenn dein Klangkunstwerkzeug nicht mit jener Kraft erfüllt ist, diese Mächte zu lenken. Aber sie auch nur in Tönen zu ehren widerspricht unserer Aufgabe, uns den Segen der großen Mutter zu erbitten. Spiel mir einfach die Töne nach, die ich mit dem Tausendtöner spile!"
Julius gehorchte, weil er jetzt wusste, dass Madrashmironda dieses Spiel sozusagen als Vorspiel haben wollte. Wenn er nicht tat, was sie wollte war seine Reise hierher schon zu Ende. Doch ob er dann noch einmal zu den Altmeistern durfte war fraglich, wo er sich für Madrashmirondas Weg entschieden hatte. Da musste er jetzt durch. So suchte und fand er die Töne, die er nachspielen musste. Das gelang ihm von Mal zu mal besser, weil er sich die Grifftechnik und die damit spielbaren Töne aus den Lehrstunden für Ailanorars Stimme ins Bewusstsein zurückrief. Nach nur zehn Versuchen gelang es ihm, die vorgespielten Töne zu treffen. Nach drei weiteren Versuchen konnte er schon ganze Melodieteile nachspielen. Dann wurde es ein ganzes Lied mit mehreren Strophen, bei dem er sogar kleine Improvisationen einbaute, was Madrashmironda wohl sehr gefiel. Sie begleitete ihn auf dem harfenartigen Instrument und schaffte es, mit ihm immer besser zusammenzuspielen. Julius wechselte zwischendurch die Flöten von einer ganz kleinen bis zu einer, die so lang wie sein Arm war und aus drei im 60-Grad-Winkel zueinander verbundenen Röhren bestand, aber nur einen Schalltrichter und ein Mundstück besaß. So vergingen die ersten wahrgenommenen Stunden bei Madrashmironda.
Als sie an die zwanzig Lieder eingeübt und nachgespielt hatten sagte die Gastgeberin: "Nun ist es Zeit, unsere Körper zum erfüllenden Lebenstanz zu vereinen. Damit wirst du dich mir und unserem Orden verbinden und immer in lustfvoller Freude an diesen Beginn deines Weges zurückdenken und am Ende genug neues wissen, um auch jener gutes zu tun, die die Mutter deiner Kinder ist."
"Wenn sie das auch so sieht", dachte Julius scheinbar nur für sich und erinnerte sich an Millies gehässige Worte, dass Madrashmironda keine wirkliche Konkurrentin für sie war, weil sie eben keine echte Frau mehr war.
Im Licht frei in der Luft schwebender Lichtkugeln halfen sich Madrashmironda und Julius aus ihren Kleidern. Dabei sprachen sie kein Wort miteinander. Auf einer weichen Bettstatt, die wie ein übergroßer Blütenkelch geformt war, ließen sie sich niedersinken, erst nebeneinander, bis sie dann, nachdem Julius die allerletzten Hemmungen abgeschüttelt hatte, hemmungslos ihre Körper zusammenbrachten. Julius hatte sich entschlossen, dieser lebenshungrigen und zwischen hochkultiviert und kindlich verspielten Frau da zu zeigen, was er alles schon mit Millie erlebt hatte. Sie ließ ihn gewähren, forderte aber auch durch reine Kraft, dass er nicht von ihr abließ. Immer inniger wurde die Verbindung zwischen ihr und ihm. Er genoss es, mit ihr in wilden Bewegungen auf diesem rosaroten Blütenkelchbett herumzutoben. Sie trieben sich gegenseitig immer höher hinauf, bis kurz vor den Höhepunkt der körperlichen Wonne. Julius genoss die Wärme ihres Leibes, die Kraft, die sie in Armen, Beinen und Beckenmuskeln hatte, küsste sie und ließ sich von ihr küssen. Seine Bedenken waren nun wortwörtlich ausgetrieben. Im Moment gab es nur diese Frau mit den fuchsroten Haaren und den dunkelgrünen Augen, deren von der Anstrengung erhitzte Haut in einem sanften Goldton glänzte. Das sollte keine echte Frau sein? Im Moment war sie für ihn so echt, wie eine ihn begehrende Frau nur sein konnte. Er konte sie berühren, schmecken, riechen, ihre Wärme fühlen und ihren Atem auf seinem Gesicht fühlen, ihre Stimme hören und ihr tief in die Augen sehen. Einen Moment lang meinte er, sein eigenes Spiegelbild in ihren Augen zu sehen, doch das hatte keine blauen Augen wie er, sondern jene tiefgrünen Augen seiner leidenschaftlichen Liebesherrin. Da hörte er zwischen den heftigen Atemzügen ihrer Erregung ihre Stimme: "Singen wir nun das Lied des Lebens, der Mutterschaft und der innigsten Verbundenheit, Julius. Die Kraft dieses Liedes wirkt jedoch nur, wenn es in meiner Muttersprache gesungen wird. Sing mir auf der Höhe meiner Stimme nach,ohne deine Bewegungen zu unterbrechen!" Julius keuchte ein: "Sing mir bitte vor!" Dann setzte Madrashmironda so unvermittelt frei von Anstrengung zu singen an:
"Madrashakotai
Miri vanotai
katanumirisir godanai!"
Jede dieser Zeilen drang in Julius Verstand ein, so wie er gerade körperlich mit Madrashmironda verbunden war. Er holte Luft und schaffte es, jedes Wort dieses Liedes auf der hohen Tonhöhe nachzusingen. Irgendwie bekam er es hin, den Atem so einzuteilen, dass er trotz des anstrengenden Liebesaktes noch klare Töne singen konnte. Dabei fühlte er, wie er gleich den Höhepunkt erreichen würde. Immer wieder sang ihm Madrashmironda diese Zeilen vor und gab dabei den Takt mit ihrem Körper an. Julius keuchte die Töne nun schneller und schneller heraus. Dann überkam es ihn. Er fühlte, wie es sich aus ihm entlud, hinein in den erhitzten Körper seiner Gespielin und Herrin zugleich. Er bekam gerade noch mit, wie ihrer beider Stimmen die letzten drei Wörter sangen. Dann meinte er, die Welt umihn herum würde mit rasender Geschwindigkeit auseinanderstreben. Ebenso wuchs seine altaxarroische Geliebte rasend schnell an. Schon konnte er ihr Gesicht nicht mehr sehen. Ihr ganzer Körper dehnte sich unter ihm wie eine in die Welt hineinexplodierende Landschaft aus. Er fühlte einen Sog, der ihn voranzog und konnte gerade noch erkennen, wie es ihn geradewegs in den schlagartig vielhundertfach vergrößerten Schoß seiner Liebhaberin hineinriss wie in einen tiefen Schacht. Er hörte sie noch vor Verzückung aufschreien. Dann schwanden ihm die Sinne für Hören und Sehen.
"Ich kriege doch mit, dass dir was auf der Seele liegt, Millie", meinte Brittany, als Millie am zweiten Tag ihrer Reise nachdenklich am Frühstückstisch saß und in sich hineinhorchte.
"Julius hat den Anhänger abgenommen", sagte sie und deutete auf ihren steinhart gewordenen rubinroten Herzanhänger. "Wir zwei sind das nicht mehr gewöhnt, ohne diese Verbindung zu sein. Vielleicht hat Catherine ihm geraten, seinen Anhänger abzunehmen, warum auch immer", sagte sie. Dass der Anhänger bereits vier Stunden nach ihrem Abflug keine Regung mehr gezeigt hatte wollte sie Brittany nicht verraten.
"Öhm, traust du es ihm zu, dass er diese Lage ausnutzt, um mit Mrs. Brickston ...?" fragte Brittany frei heraus.
"Nur wenn Madame Faucon sich als Oma seiner Enkelkinder bezeichnen lassen darf. Abgesehen davon ist Catherine Brickston viel zu anständig, als ihren Mann und mich zu betrügen. Neh, die machen was ganz anderes, was ich nicht mitkriegen soll, um mich nicht davon reinzieen zu lassen", erwiderte Millie. "Aber genau das ist ja meine Sorge, dass er in was reingezogen wird, wo ich ihm nicht helfen kann."
"Ich las davon, dass diese Verbindung intensiver sein kann als die körperliche Verbindung zwischen einer Mutter und ihrem ungeborenen Kind", erwiderte Brittany. "Es gibt sogar Leute, die behaupten, dieser Schmuck hätte nie erfunden werden dürfen, weil er macht, dass Leute voneinander abhängig werden. Hast du den Anhänger nie weggelegt?"
"Doch natürlich dann, wenn ich für mich alleine sein musste, besonders bei den UTZ-Prüfungen", sagte Millie. "Aber die meiste Zeit, wo wir die Anhänger haben, tragen wir die, auch beim Liebemachen. Das geht dann noch heftiger ab", erwiderte Millie.
"Verstehe, und jetzt bist du sozusagen abgenabelt und Julius ist mit einer Hexe allein unterwegs", bemerkte Brittany. Millie grummelte, dass der Witz nun erledigt sei. Brittany meinte dann noch: "Wenn dich das zu sehr mitnimmt können wir Venus' Vater fragen, ob er dir helfen kann, damit klarzukommen. Nicht, dass das bei euch beiden echt sowas wie eine Abhängigkeit geworden ist."
"Kümmer dich um die Minibritt oder den Minilinus, dass der nicht verhungern muss", schnarrte Millie. Wie hätte sie auch Brittany erklären können, dass sie sich nicht wegen Catherine Brickston Sorgen machte?
Sie war zumindest froh, dass die kleine Chrysope noch ihre volle Aufmerksamkeit brauchte und dass Aurore wegen ihrer nicht vorhandenen Englischkenntnisse nur dann mit anderen Kindern spielte, wenn ihre Ma in Rufweite war. So konnte sie sich gut von ihren Sorgenund Selbstvorwürfen ablenken. War es wirklich so gut, Julius dieser offenbar liebestollen und dabei sehr wandelbaren Altmeisterin zu überlassen? Ihr fiel ein, dass die Altmeister auch Gedanken und Gefühle nacherleben konnten. Wenn Madrashmironda wusste, was sie und Julius über sie dachten konnte sich ihr Mann womöglich auf was gefasst machen. Sollte sie mit dem Kleid Kailishaias nach Khalakatan reisen, um ihn zurückzuholen? Da hörte sie die celloartige Stimme Temmies in ihrem Geist: "Du kannst ihn von da, wo er gerade ist nicht mehr zurückholen, solange sie ihn nicht zurückschicken will. Selbst wenn du seinen Körper findest wird er wie tot sein, solange sein Geist mit ihr in Verbindung steht. So schlimm es für dich auch gerade ist, Mildrid, du musst warten, bis sie ihn zurückkehren lassen will."
"Und wenn er nicht mehr zurückkehren will, Temmie?" gedankenfragte Millie.
"Dann werden wir das spätestens in einem Monat wissen. Aber dann kannst du ihn auch nicht zurückbringen. Außerdem kommst du selbst mit dem Kleid nicht in die Kugelhalle hinein. Wie erwähnt müssen wir beide warten."
"Verdammt, Temmie, wenn dieses Weib ihn nicht mehr hergeben will, was passiert dann mit seinem Körper?"
"Der wird erstarrt bleiben, nicht lebend, nicht tot, am von ihm berührten Daseinsgefäß anhaftend, bis Madrashmironda ihn in seinen Körper zurückschickt. Ab da wird er so weiterleben, als sei keine Sekunde vergangen."
"Wenn sie ihn zurückschickt. Julius hat mir die Erinnerung an seinen Ausflug damals gezeigt. Wenn die es toll fand, ihn als dein fuchsrotes Abbild in sich zu tragen wie ein ungeborenes Kalb könnte sie ..."
"Das würde sie irgendwann doch langweilen, Mildrid. Sie wird ihn dir zurückschicken, allein schon, weil sie sich daran ergötzen möchte, ihm mehr über die körperliche Liebe zwischen Mann und Frau beigebracht zu haben."
"Bist du dir da absolut sicher?" Fragte Millie. Temmie bejahte es.
"Falls nicht, haben wir ein Riesenproblem", gedankenknurrte sie. Temmie bestätigte das.
"Wieso will die Kleine noch nicht raus?!" stöhnte Martine. Der errechnete Geburtstermin am 25. Juli lag nun schon ganze neun Tage zurück. Zwar wusste sie, dass vierzehn Tage vor und nach dem vorausberechneten Termin noch natürlich sein konnten. Doch sie wurde immer ungeduldiger. Und dass ihr das Kind langsam zu schwer und zu tief im Becken lag ängstigte sie mehr, als sie eigentlich wollte. Ihre jüngere Schwester hatte das hinbekommen und dieses Jahr schon zum zweiten mal, genau zum berechneten Termin niederzukommen. Dann sagte Alon noch was, was sie noch mehr aufregte als gut für sie und das Baby sein mochte:
"Du bist die Enkeltochter einer reinrassigen Zwergin. Ist das bei den Ganzzwergen nicht üblich, dass sie nur in der Gruppe gebären können?"
"Das ist ja wohl jetzt nicht dein Ernst, Alon, mir so was um die Ohren zu hauen", schrillte Martine und konnte noch gerade so ihre rechte Hand davon abhalten, ihrem Mann voll ins gesicht zu klatschen. "Das ist auch dein Kind, dass da in mir festhängt, verdammt noch mal! Außerdem hat Oma Lutetia meinen Vater rechtzeitig gekriegt, hat sie zumindest erzählt. Und die hat nicht in einer Gruppe anderer Zwerginnen sein müssen."
""Ich wollte nur ausschließen, dass es daher kommt", versuchte Alon zu beschwichtigen. Dann lief er rot an. "Öhm, vielleicht liegt's auch an mir, beziehungsweise meiner Blutlinie", stöhnte er. "Sarah Soubirand, meine Urgroßmutter väterlicherseits, kam auch erst im elften Schwangerschaftsmonat zur Welt. Zumindest hat die Heilhexe, die ihrer Mutter geholfen hat, das ihr ganzes Leben lang behauptet. Angeblich stammte ihre Mutter, also meine Ururgroßmutter, von einer galizischen Meiga ab, die ihre Töchter zwei volle Jahre tragen, sofern es keine Zwillinge oder Mehrlinge sind. Ich habe das damals nicht geglaubt, und unsere Chronik reicht leider nur vier Generationen zurück. Aber vielleicht hängt es wirklich an mir."
"Toll, dann fehlt nur noch Veelablut in unserer Ahnenreihe", zischte Martine und erwähnte, dass nebenihrer reinzwergischen Großmutter väterlicherseits irgendwo in der mütterlichen Blutlinie auch eine reinrassige Riesin vorkam, die mit einem der Lesauvages Nachwuchs aufgelegt habe.
"Oha, Riesinnen tragen auch an die sechzehn Monate, weiß ich von meiner Schwägerin. Magische Geschöpfe habe ich damals in Beaux nicht genommen."
"Mit anderen Worten, ich kann vielleicht noch bis September oder Oktober für die Kleine mitessen und zum Klo laufen?" entrüstete sich Martine.
"Habe ich nicht gesagt, dass du das musst. Ich habe nur gesagt, dass meine Uroma Sarah so spät geboren wurde und das von ihrer Mutter so erzählt bekam. Wie das bei ihrem Sohn, Opa Maurice war weiß ich nicht. Mein Vater ist, so die Heilerin die meiner Oma Fantine geholfen hat, nur fünf Tage nach dem berechneten Termin angekommen. Ja, und mein Bruder und ich sind vier Tage nach dem Termin auf diese große Welt gekrabbelt." "
"Sarah Soubirand war die größte Jägerin der Lyonaiser Löwen und hat dreißig Jahre für die gespielt. Ma hat sie in der Heldengalerie der größten Quidditchspielerinnen in ihrer Abteilung", sagte Martine. "Dann nehmen wir ihren Vornamen als zweiten Namen für die Kleine, wenn die da drinnen endlich weiß, wann sie zu atmen anfangen will", knurrte Martine noch und fuhr mit ihrer rechten Hand über den weit ausladenden Bauch. "Am Ende steht die gleich nach der Geburt auf und läuft herum wie ein neugeborenes Kalb."
"Oder fängt an zu schweben, sobald sie aus deinem warmen Wanst heraus ist. Meigas können doch ohne Flügel fliegen", meinte Alon.
"Kannst du ohne Flügel und Besen fliegen?" fragte Martine verstimmt. Alon schüttelte den Kopf. Dann konterte er: "Ich bin ja auch keine Hexe. Die Meigasachen sind bei mir wahrscheinlich nicht mitvererbt worden."
"Sag das bloß nicht zu laut. Millie erwähnte, dass in ihrem Jahrgang einer war, der von einer grünen Waldfrau abstammte und das erst in der Pubertät bei ihm durchgekommen ist. Der kann ohne Flughilfen fliegen, weiß ich von Millie und Julius."
"Bedauerlich, dass Uroma Sarah fünf Jahre nach meiner Geburt gestorben ist. Na ja, hundertachtzig Jahre sind wohl auch für eine Hexe sehr alt."
"Stimmt, hat Ma mir erzählt, dass Sarah so alt wurde", erwiderte Martine. "Gut, dann werden wir wohl was machen müssen, was wir bisher unterschlagen haben, weil meine werte Oma Lutetia meinte, das alles nicht nötig zu haben. Ich lasse Tante Béatrice nachprüfen, wie weit die Kleine ausgereift ist. Wenn die einen anderen Termin als den sechsundzwanzigsten Juli feststellt nehme ich es hin und trage sie noch ein paar Tage länger. Wird Millie ärgern, dass jemand es so lange in ihrer großen Schwester aushalten kann."
"Das nimmst du ihr wohl übel, dass sie schon zwei Plärrhexen ausgebrütet hat, wie?" feixte Alon.
"Übel nicht, aber ein wenig traurig war ich schon, dass ich nicht die erste von uns beiden war. Aber sie ist mit den beiden glücklich, und sie hat auch den richtigen Mann für die zwei und noch welche."
"Und du nicht?" fragte Alon bewusst provokant.
"Wird sich zeigen, ob du ein guter Vater bist. Dazu muss Héméra Sarah ja erst einmal Maman Martines warme Stube verlassen", raunte Martine. Von ihrer aus Sorge erwachsenen Wut war jetzt nichts mehr übrig. Wenn ihre Tochter wirklich Meigablut in den Adern hatte, dann bekam sie davon ja auch einen winzigen Anteil ab. Meigas galten als sehr mächtige Nebenformen der magischen Menschen. Auf jeden fall, so dachte Martine für sich, würde die Kleine eine ganz besondere Hexe werden, nicht nur für sie und Alon, sondern auch für den Rest der großen Welt, auf den sich Héméra Sarah noch etwas vorbereiten wollte. Sie konnte nicht wissen, dass das Gespräch mit Alon, ihre Gedanken und die Empfindungen ihres Kindes von jemandem mitverfolgt wurden, von dem sie gerade noch gesprochen hatte.
"Bin ich jetzt Martines Kind", dachte er erschrocken, als er um sich herum das Gluckern und Grummeln, Schnaufen und Rumpeln hörte und vor allem das laute, dumpfe Pochen eines großen Herzens und das schnelle Wummern seines eigenen Herzens. er hing in einer sichtlich eingeengten Umhüllung, weich und doch fest genug, dass er sie nicht durchdringen konnte. Er hörte Martines Stimme dumpf und wie aus allen Richtungen in seine Ohren dringen und die schwer zu verstehende Stimme ihres Mannes.
"Wieso bin ich bei Tine im Bauch gelandet? Tine, hörst du mich?" Er dachte es nur, weil sprechen konnte er nicht. Doch er bekam keine Antwort. Er hörte nur die flüsternde Stimme ihrer Gedanken: "Ich hätte besser doch vorher die Ahnenlinie prüfen sollen. Jetzt muss ich die kleine vielleicht ein Jahr tragen. Aber dann holt Tante Trice sie auf die Welt."
"Hallo, Tine, hörst du mich!" stieß er einen weiteren Gedanken aus. Doch er bekam keine Antwort. Sie hörte ihn nicht. Dann fühlte er, wie er nach oben und vorne schwebte, hinein in eine Dunkelheit, die noch tiefer war als die, in der er sich gerade erst wiedergefunden hatte. Er hörte alle Geräusche um sich herum leiser werden und dann wieder lauter. Dann hörte er die Stimme eines kleinen Jungen, der wohl gerade schlecht gelaunt war und fand sich selbst über einem Menschenwesen schweben, das in einer ähnlich engen Umgebung ruhte wie Martines Kind.
"Ich weiß, ich sollte mich dran gewöhnen, nur noch Maman zu dir zu sagen, Nathalie. Aber wir haben ja noch über vierzig Jahre Zeit, falls dieses Luder überhaupt Enkelkinder bekommt. Aber ich ärgere mich, dass du und ich nicht ins Ministerium zurück können, um diesen Eiferern auf die Finger zu klopfen, die alles umwerfen wollen, was du und ich in den letzten zwanzig Jahren aufgebaut haben."
"Natürlich, Kleiner. Ich gehe ins Ministerium zurück, mit umgebundenen Cogison, erzähle allen, dass du nicht tot bist, sondern beschlossen hast, dass ich dich überall mit hinnehme und alles für dich erledigen soll. Abgesehen davon, dass das erst recht zum Chaos führt, willst du nicht wirklich als Opfer deiner eigenen Leichtfertigkeit in die Zeitung. Und ich will auch nicht, dass die Nachrichtenverbreiter unsere Lage für ihre Zwecke ausschlachten. Genieße es doch einfach. Schlafe. Das verkürzt die Wartezeit!"
"Ja, Maman. Ich werde mich nicht mehr aufregen. Nur was Lesfeux und Louvois vorhaben macht mich wütend."
"Ja, und mich damit auch. Am besten lese ich dir nichts mehr aus der Zeitung vor, bis die Wahlen gelaufen sind."
"Diese Verflixte Viertelveela", hörte er den kleinen Jungen noch schimpfen, bevor er wieder in einen total dunklen leeren Raum hineintrieb. Die Geräusche eines lebenden Körpers wurden erst wieder leiser und dann wieder lauter. Wo oder wer war er denn jetzt?
""Die haben sich arrangiert, Martha. Sie können beruhigt sein", klang ganz dumpf eine Frauenstimme wie durch dicke Wände. Er sah sich zwischen drei gleichgroßen Menschenwesen eingezwengt, die gerade so den nötigen Platz hatten, um sich zumindest ein wenig zu bewegen. "Hunger", hörte er die Stimme eines kleinen Mädchens. "Hunger!" klang die eines anderen Mädchens, gleich rechts neben ihm. Dann sah er trotz des beinahe vollkommen abgedunkelten Raumes den kleinen Jungen, der von den beiden anderen gegen die nachgiebige Decke gedrückt wurde. "Mann, eng hier!" hörte er nun die Stimme des Jungen. Er erkannte, dass das seine künftigen Halbgeschwister waren, also zwei Mädchen und ein Junge. Offenbar hatte der Sex mit Madrashmironda ihn aus seinem eigenen Körper herausgerissen und irgendwie auf die Daseinsebene ungeborener Menschenkinder befördert. So würde er wohl von Mutterbauch zu Mutterbauch treiben und da alle besuchen, die ihm irgendwie wichtig waren. Kaum hatte er es gedacht trieb er schon wieder aus dem mit drei Kindern belegten Mutterleib in diesen total dunklen Zwischenraum. Jetzt eher neugierig als verängstigt bekam er mit, wie er in einen gerade belegten Uterus hineingeriet, wo er ein Wesen fand, das nur ähnlich wie ein Mensch aussah, und doch eher einem vierbeinigen Tier glich. "Millie, wir können nichts machen. Er ist bei Madrashmironda und kommt da erst wieder weg, wenn sie das für richtig hält", hörte er die sanfte, tiefe Stimme, mit der Artemis vom grünen Rain in seinen Gedanken sprechen konnte.
"Ich weiß das doch, verdammt", hörte er die Stimme seiner Frau leise hallend wie aus einem verschlossenen Keller. Aber wenn er in neun Tagen nicht zurückkommt muss ich nachsehen gehen."
"Das kann ich dir nicht verbieten", hörte er Temmies Stimme. Dann rumorte es laut um ihn herum. Er sah noch einmal das ungeborene Kalb, dessen Mutter die Wiederverkörperung einer mächtigen Erzmagierin und Königin eines alten Volkes war. Dann trieb er wieder in diesen finsteren Zwischenraum hinüber.
Als er sich wieder in einem gerade hoffnungsvoll erfüllten Schoß befand dachte er erst, er sei bei Céline oder Brittany gelandet, als er zwei kleine Mädchen erkannte, die aus sich heraus orangerot schimmerten, so dass er jede Einzelheit der kleinen, noch nicht ganz herangewachsenen Körper erkennen konnte. Dann hörte er eine Stimme und erkannte, dass es eines der ungeborenen Mädchen war.
"Langsam merke ich, dass ungeboren zu sein doch nicht so paradiesisch ist, wie das immer gerne verkauft wird. Aber wohl nur, weil ich kein Baby werden wollte und noch dazu ein Mädchen."
"Ich merke das auch, dass es doch eher unangenehm ist, sich nicht frei von der Stelle bewegen zu können. Aber sei froh, dass wir zwei noch mal neu anfangen können, Phoenix!" antwortete die zweite mit ebenso eindeutig klaren Gedanken. Der heimliche Besucher erkannte die Stimme. Auch wenn sie jetzt viel jünger klang hatte sie sich doch in seine Erinnerungen eingebrannt. Das war eine der Hexen, die in Hallittis Höhle gewesen waren. Sie hatte ihn damals aufgefordert, abzuhauen.
"Wie geht's euch anderen?" hörte er die Stimme der ersten Zwillingsschwester irgendwen fragen:
"Du hast mich gut hinbekommen. Irgendwie ist das richtig erhaben, in unserer großen Anführerin zu sein", klang wie aus weiter Entfernung eine Stimme, die einem kleinen Jungen gehören mochte. Eine andere Jungenstimme, die ebenso aus allen Richtungen zugleich klang wie die erste antwortete:
"Ich werde es hinbekommen, Gisirdaria als Mutter und nicht mehr als kleine Schwester anzunehmen."
"Das ist aber sehr lieb von dir", erklang etwas weiter fort klingend die Stimme einer jungen Frau.
"Mann, seid jetzt mal wieder leise. Euer Babygeflüster stört mich beim Arbeiten", drang eine wesentlich lautere Frauenstimme sichtlich angenervt klingend in diesen kleinen, lebendigen Warteraum. "Ich komme damit klar, euch zwei bei mir zu haben und euch nicht vor eurer Geburt irgendwoanders hinzulegen, und die zwei anderen haben das gefälligst auch zu ertragen."
"Der Unterwasserschutzraum ist fertig. Gwendartammaya, begleite mich und sage mir, ob wir noch was einrichten müssen, dass wir alle dort vor dem Wasser und diesen Unheimlichen sicher sind!" erklang wieder etwas weiter weg eine befehlsgewohnte Frauenstimme.
"Ich komme, Faidaria. Den Kurzen Weg darf ich ja nicht mehr gehen. Wird also eine Minute dauern", antwortete die Stimme jener Frau, die wohl die Mutter der Zwillingsmädchen werden würde.
"Hallo, versteht mich jemand?" fragte nun der Besucher in Gedanken, weil ihm klar wurde, dass die Ungeborenen Daisirin waren und noch dazu welche, die in Gedanken miteinander und mit ihren Müttern sprechen konnten. Doch seine Gedankenanfrage wurde nicht beantwortet.
"Mist, ich kann mit denen nicht reden. Ich bin ein rastloses Gespenst im Reich der ungeborenen Kinder", dachte er sichtlich betrübt. "Madrashmironda, was hast du mit mir angestellt?" Als er diese Frage stellte fühlte er, wie es ihn förmlich aus dem Schoß mit den Zwillingstöchtern fortriss und er sich unvermittelt wieder in einem eigenen Körper fand, allerdings ebenfalls in dem eines Ungeborenen.
"Ah, du hast schlecht geträumt, mein kleiner", hörte er die sehr dumpfe Stimme einer Frau, die er vor einer ihm nicht mehr bewussten Zeit frei von jedem Schuldgefühl geliebt hatte. "Nicht so doll strampeln, ist alles wieder gut! Hast nur schlecht geträumt, Madrashainorian."
"Madrashainorian? Verdammt, du durchtriebenes Hexenweib hast mich ..."
"Na, nicht böses über die eigene Mutter denken, Kleiner, sonst darfst du nicht auf die Welt", hörte er ihre Stimme nun als glasklare Stimme in seinem Kopf. "Ich habe dich in leidenschaftlicher Liebe empfangen und trage dich jetzt schon sechs Monddwechsel in mir heran, Madrashainorian, Freude der großen Mutter. Sei froh, dass deine Seele in deinem und meinem Kind Halt finden konnte."
"Moment, ich bin Julius Latierre", protestierte er.
"Ja, als du noch in deinem anderen Körper gewohnt hast. Aber du hast mit mir das Lied der innigen Vereinigung und Mutterfreude gesungen, um dich und mich zur höchsten Lust und Bereitschaft für neues Leben zu bringen. Dadurch hast du dein inneres Selbst mit deiner Lebenssaat in mich hineingeschickt und bist dort neu aufgekeimt. Aber ein schönes Gefühl ist das, dich nun ganz und gar in meinem Leib zu beherbergen und für dich da zu sein. Hätte nicht mehr zu hoffen gewagt, diesen herrlichen Zustand noch einmal erleben zu dürfen."
"Ich habe mich selbst in dich ... Öhm, nein, ist wohl nicht wahr. Komm, mach dem Spiel ein Ende, Madrashmironda! Ich war bereit, zwölf Tage und Nächte dein Liebhaber zu sein und es überall da mit dir zu treiben, wo du und wie du es haben wolltest. Aber du kannst mich nicht als dein Kind behalten."
"Doch, geht ganz gut", erwiderte Madrashmironda. "Du wolltest doch wieder zu mir und in mir sein. Ich habe es doch gemerkt, wie du tief betrübt warst, dass die anderen dich nicht bei mir lassen wollten. Damals war ich eine Kuh und habe dich nicht so umgeben können, wie es richtig ist. Aber so ist es das beste, wie wir beide miteinander sein können."
"Und wenn ich jetzt denke, in meinen eigenen Körper zurückzuwollen?" dachte Julius.
"Du bist in deinem eigenen Körper, Madrashainorian", erwiederte Madrashmirondas Stimme.
"Ich meine Julius Latierre. Ich bin Julius Latierre."
"Nein, du bist Madrashainorian, zukünftiger Vertrauter der Erde, wie es unsere altehrwürdige Tradition gebietet. Fühl dich geehrt und geborgen, ganz im Mutterschoß ohne Sorgen!" hörte der, der Madrashainorian genannt worden war. Da fühlte er, wie sehr es ihn danach drängte, sich dieser Geborgenheit hinzugeben. Es war wie damals, wo er schon einmal so mit ihr verbunden gewesen war. Er wolte sich wehren, aber warum? Er hatte die Lage falsch eingeschätzt und sich offenbar selbst aus dem früheren Körper hinausgeschleudert. Lebte der eigentlich noch? Doch das war doch jetzt egal. Er war der Sohn von Madrashmironda, oder er würde das werden. Das war doch sehr schön. Alles hinter sich lassen, nicht mehr an früher denken, nicht mehr die Sorgen einer anderen Welt mit sich herumtragen. Einfach da sein und es genießen, von dieser mächtigen, liebenden Frau bekommen zu werden.
"Du wirst erkennen, dass auch ich eine echte Frau bin, die einen Mann lieben und dessen Kinder tragen und gebären kann. Genieße mich und sei ganz ohne Angst", hörte er Madrashmirondas Stimme zärtlich säuseln. Er fühlte, wie etwas von außen behutsam über seine kleine, ganz eigene Umgebung strich und zog die Beine wieder an, die er eben noch mit großer Kraft nach vorne zu strecken versucht hatte, um sich freizustrampeln. Doch dann wäre er gestorben, wäre dann einfach nicht mehr da, wusste er jetzt. Was mit dem Körper von Julius Latierre passiert war war ihm jetzt egal. Er wuchs als Sohn von Madrashmironda heran. Mit diesen Gedanken versank er in einen wohltuenden Schlaf.
Am fünften August 2002 eilten alle Fans der Viento del Sol Windriders in das große Stadion, wo sie den Saisonauftakt miterleben wollten. Ihre Mannschaft durfte gegen die Bayoo Bugbears antreten, die sich in der Pause drei neue Vorblocker gesichert hatten. Auf Brittanys ehemaliger Vorgeberposition spielte seit der letzten Saison Kelly Hillcrest, die mit ihren Eltern vor zwei Jahren nach Viento del Sol umgezogen war, nachdem ihnen New York zu groß und von Muggelwagen überfüllt vorkam.
Millie Latierre freute sich zwar auf diesen wichtigen Saisonauftakt und hoffte, dass Brittanys Mannschaft gewinnen würde. Doch in ihren Gedanken war sie in Khalakatan bei ihrem Mann. Hatte sie zuerst in stiller Verärgerung daran gedacht, dass diese Erdhexe Madrashmironda ihren Mann zu ihrem Liebesspielzeug gemacht hatte, so sorgte sie sich jetzt, dass diese daueraufbewahrte Erdmagierin ihn nicht mehr hergeben würde. Temmie hatte angedeutet, dass Madrashmironda Julius sicher sehr begehrte. Das hätten sie und Julius besser vorab bedenken sollen. Aber was wäre dann gewesen?
"Heh, Millie, träumst du?" fragte Brittany ihre Besucherin, als bereits das Spiel im Gang war. Millie erkannte, dass sie wohl ziemlich geistesabwesend ausgesehen hatte. Außerdem wollte sie doch gerade deshalb das Spiel sehen, um nicht dauernd an Julius und die altaxarroische Konkurrentin denken zu müssen.
"Hillcrest verlängert zu Partridge. Grandioses Ausweichmanöver von Thunderwell, dem neuen Vorblocker der Bugbears und ... uuuuuiiii! Partridge fast vom Besen gefallen. legt zurück. Bekommt den Quod wieder und ... topft ein zum ersten Pot für die Windriders!" rief Kestrel Jones, der seit Jahren bewährte Stadionsprecher von Viento del Sol. Millie klatschte mit den anderen Fans der Heimmannschaft und johlte. Aurore, die auf ihrem Schoß saß quiekte vor Vergnügen. Die kleine Chrysope trug Ohrenschützer und schlief in einem Babytragekorb auf dem Platz zwischen Millie und Brittany.
Das Spiel nahm nach der frühen Führung der Windriders gewaltig an Fahrt auf. Jetzt zeigten die Spieler auf beiden Seiten, wie gut sie ihre Bronco Millennium beherrschten. Millie stockte immer wieder der Atem, wenn sie sah, wie tollkühn die Spieler aufeinander zujagten und Zusammenstöße riskierten. Außerdem wechslten die Zahlen auf der Anzeigetafel fast schon im Minutentakt. Kein Quod zerplatzte. Jeder ins Spiel genommene Ball fand seinen Weg in einen der zwei freischwebenden Töpfe mit Abkühlflüssigkeit. So bekam keine der Mannschaften Probleme mit "herausgeknallten" spielern, die wegen der Quodexplosion vorzeitig oder bis zu einem schweren Foulspiel der Gegenmannschaft aus dem Spiel genommen wurden.
"Parsec 3, der König der Weltreisenden", schrieb ein neongrün leuchtender Flugbesen auf die schwarze Anzeigefläche, wo in den Pausen namhafte Firmen aus der Region und den ganzen vereinigten Staaten ihre Produkte anpriesen. Dann verschwand die Werbebotschaft, um drei unverkennbar schwangere Frauen mit haselnussbraunen Haaren und veilchenblauen Augen zu zeigen, die in regenbogenfarbenen Umstandskleidern auftraten. "Farbenfrohe Umstände bis zum freudigen Ereignis! Amarilla, Rhoda und Violetta Hollingsworth, die Schwestern des Regenbogens." stand in einer Schrift, wo jeder Buchstabe seine eigene Farbe hatte, unter dem Bild der drei werdenden Mütter.
"Die machen aus der Not eine Tugend, Millie. Die sind schon zwischen vierzig und fünfzig, die drei Hollingsworth-Schwestern, übrigens Großtanten väterlicherseits von Betty und Jenna", sagte Brittany. "Irgendwie haben die wohl auch bei einer Neujahresfeier wen abbekommen, der sie zu Modellen für ihre neueste Kollektion gemacht hat. Angeblich soll das ein und derselbe Typ gewesen sein, der in der einen Nacht mit jeder von den dreien zu Gange war", mentiloquierte Brittany noch, um zum einen den Lärm zu überwinden und zum zweiten keine unliebsamen Mithörer zu haben. Denn weiter links, in der Presseloge, saßen Linda Knowles vom Westwind und Livius Porter vom Kristallherold. Millie musste daran denken, dass sie lange nichts mehr von Jane Porter oder Araña Blanca gehört hatten. Lebte die etwa nun wirklich nicht mehr?
"Der neue Quod ist im Spiel und schon raufen sich die fabulösen Friday-Drillinge mit Dunston McFee um die blaue Murmel. Oha, das könnte den ersten Rausknaller bringen, liebe Freunde!" erging sich Jones in einer gefühlsgeladenen Beschreibung des wilden Abspiel- und Zuspielgefechtes direkt vor dem Pot der Windriders. McFee versuchte es nach drei Fehlversuchen, seine Mitspiler zu schicken oder den Direktwurf zu machen mit zwei Dawn'schen Doppelachsen. Doch da war er bei den Fridays komplett an der falschen Adresse. Denn zum einen konnten die dieses Manöver schon länger als McFee und waren so gut aufeinander eingespielt, dass es keinerlei zeitraubender Abstimmungsgesten oder Zurufe bedurfte, um zu wissen, welche der drei dunkelhäutigen Schwestern in der richtigen Bahn zu fliegen hatte, um McFees Angriffe zu blocken. Dem Eintopfer blieb nichts übrig, als den Quod unter sich durch weit ins Feld hineinzuschleudern, weil er dort seine Kameraden herumfliegen sah. Sofort verlagerte sich das Geplenkel um den Ball in die Spielfeldmitte. Venus Partridge, die langjährige Spitzeneintopferin der Windriders, fegte wie eine nordische Walküre auf der Jagd nach den Seelen gefallener Krieger heran und holte sich den Quod, bevor einer ihrer Vorgeberkollegen ihn ihr zuwerfen konnte. Natürlich war nun die halbe Bugbears-Mannschaft hinter ihr her. Es zeigte sich, dass nicht alle die Dawn'sche Doppelachse konnten. Denn Venus schüttelte drei ihr zu nahe gekommene Gegenspieler mit zwei schnellen Doppelachsen ab. Doch vor dem Pot der Bugbears warteten die Vorblocker. Venus wollte den Quod gerade um einen der Gegenspieler herumwerfen, als dieser ihr in den behandschuhten Händen explodierte. Die Druckwelle wirbelte sie auf dem Besen herum. Die Bugbears-Fans johlten und klatschten wie wild. Venus war rausgeknallt worden. Mit unverkennbarer Enttäuschung im Gesicht verließ Venus nach dem Signal für einen zerborstenen Quod das Spielfeld.
Nun hatten die Gäste mehr freie Mittel, um ihren Rückstand auszuwetzen. Fünf sicher eingetopfte Quods später hatten die Gäste elf Punkte Vorsprung. Mit dieser im Quodpot hauchdünnen Führung gingen die Mannschaften in die große Pause.
"Das kann noch dauern", meinte Millie zu Brittany. Diese widersprach ihr nicht. Dann deutete sie auf einen der höheren Ränge auf der ihrer Fan-Kurve gegenüberliegenden Seite. Millie erkannte eine der vorhin auf der Tafel gezeigten Schwestern mit den Umstandsumhängen. "Das ist Amarilla, die Erstgeborene. Angeblich hat sie ihren Namen daher, dass sie bei heller Mittagssonne in einem Ähren tragenden Kornfeld von Iowa gezeugt worden sein soll", übernahm Brittany die Rolle einer Klatschreporterin und Heroldin in einer Person. Um Millies sicher darauf folgende Fragen zu beantworten fuhr sie gleich fort: "Rhoda hat ihren Namen laut Lino und Willow von einem wilden Liebesabenteuer in einem Beet voller rosaroter Rosen. Hat der Besitzerin dieses Beetes nicht gepasst, dass die Eltern von Amarilla und Rhoda sich in ihrem Beet ausgetobt haben."
"Rosen haben Dornen", bemerkte Millie. Doch dann fiel ihr ein, dass es nicht nur die legendären Riesensonnenblumen der Latierres gab, sondern auch die fünf Meter hohen Rosen der Gartenbauhexe Soraya Greensporn, einer der weit über den amerikanischen Kontinent verteilten Töchter Eileithyia Greensporns. Das erwähnte sie nun Brittany gegenüber und genoss ihr Erstaunen, dass Millie diese Rosenzüchterin kannte. "Nicht persönlich", fügte Millie nach drei Sekunden hinzu. "Aber Julius und ich lesen uns immer schlau über magische Nutz- und Zierpflanzen, zumal meine Urahnen ja auch mit solchen Zauberblumen zu tun hatten."
"Stimmt, eure Sonnenblumen", erkannte Brittany.
Millie nutzte die Pause, um sich und ihren Kindern neue Nahrung zu verschaffen. Aurore und Chrysope trugen Reisewindeln und mussten daher nicht alle paar Stunden gebadet und gewickelt werden. Brittany schirmte Millie unnötigerweise gegen unerwünschte Blicke ab, als sie Chrysope unter ihrem blauen Stillumhang verschwinden ließ.
Nach der Pause holten sich die Windriders die vergebene Führung zurück. Als dann noch McFee mit einem ungehörigen Griff in Richtung Brustkorb von Hope Dawn versuchte, sich freie Bahn zu erspielen wurde er wegen groben Fouls und sittenwidrigen Verhaltens unwiderruflich des Platzes verwiesen. Ab da durfte Venus Partridge wieder mitspielen und holte dabei alles nach, was sie während ihrer Zwangspause nicht hinbekommen durfte.
Da die eingetopften Quods nach einer Stunde Abklingzeit wieder verwendbar waren dauerte das Spiel an. Nur drei weitere Quods explodierten. Dadurch wurde der Rückhalter der Bugbears aus dem Spiel geknallt. Nach McFees grobem Foul war das der letzte fehlende Pflasterstein zur Verliererstraße der Bugbears.
Als die Sonne schon untergegangen war und die Flächenlichtbezauberung das Stadion in ein gleichmäßiges, weißes Licht hüllte, verwandelte Venus den einhundertzwanzigsten gespielten Quod mit einem bogenförmigen Weitwurf zum 1500 zu 600 Endstand für die Windriders.
"Gut, dass ich Chloes Rat befolgt und den Schallschutzunterrock angezogen habe. Da wären dem Kleinen doch echt die Ohren von den Köpfen gerissen worden", meinte Brittany auf dem langsamen Besenflug zum Haus Buchecker, wo Millie und ihre Töchter untergebracht waren.
"Will Linus echt nicht wissen, ob du einen Jungen oder ein Mädchen trägst?" wollte Millie wissen.
"Er will es erst nach der Geburt wissen", sagte Brittany. "Aber die vier Namen für jedes Geschlecht stehen schon mal fest. Die Mädchennamen fangen mit Br an, die Jungennamen alle mit L. Also weiß ich schon wie das Kind heißen wird", sagte Brittany.
Sichtlich erschöpft vom langen und aufregenden Tag fielen Aurore und Chrysope sofort in tiefen Schlaf, als sie in ihren Bettchen lagen. Auch Millie konnte schnell einschlafen, wobei sie zum ersten mal nicht daran dachte, dass Julius vielleicht nicht mehr aus der geheimen Stadt zurückkommen würde.
"Wird auch Zeit. Dieser Uterus beengt mich nun doch erheblich", hörte er die Stimme eines älteren Mannes aus dem ihm bereits so vertrauten Rumpeln, Schnaufen, Gluckern und Gurgeln heraus. Er schlug die Augen auf und sah einen kleinen Jungen, wie er selbst einer war, der gerade mit dem Kopf nach oben in einen sich langsam weitenden Kanal hineingedrückt wurde. Um ihn herum zog sich alles zusammen. Laute, dumpf klingende Schreie erklangen. "Nein, noch zu eng. Dieses junge Ding ist noch nicht auf eine beschwernisarme Niederkunft ... Aarg, mein Kopf! Diese Knochensäger und Pillendreher ... Wieso können diese Muggelfrauen nicht anständig in Hockstellung ... Hilfe! Ich stecke fest. Nein, das überstehe ich nicht! Schneide der doch einer den Bauch auf und ziehe mich heraus, in drei Gorgoonennamen!" hörte er die Stimme des älteren Mannes, der offenbar im Körper des gerade zur Welt kommenden Kindes eingesperrt oder eingebettet war. Die Stimme wurde langsam immer höher. Dann drückte die nächste wie zusammenstürzende Wände wirkende Wehe den Kopf ganz durch den engen Kanal hinaus. Schultern und Arme glitten durch den Druck bereits hindurch. Dann hörte der Beobachter die Stimme einer Frau wie durch eine dicke Wand die letzten Anweisungen geben: "Pressen, Lydia! Noch mal! Gleich ist es geschafft!" Laut schreiend gab die Mutter des gerade erst ankommenden Jungen ihr letztes an Kraft und stieß damit den in ihr herangewachsenen ganz aus sich heraus, gegen die Schwerkraft. Der Beobachter sah nun noch den hellen Lichtschein, der von oben zu ihm hereinfiel. Da kam ihm die Idee, wie der gerade geborene Junge ans Licht zurückzukehren. Er konzentrierte sich darauf, hinauszuwollen. Doch er gelangte gerade an das obere Ende des blutroten Kanals. Dort prallte er auf ein undurchdringliches Hindernis. Davon sichtlich erschüttert fiel er zurück und fand sich selbst dort wieder, wo er in allergrößter Geborgenheit darauf wartete, selbst ans Licht zu dürfen. Er strampelte einmal kurz, bevor er merkte, dass er nicht gegen Mamis Bauchwand treten durfte, wenn er ihr nicht weh tun wollte.
"Na, Kleiner, wieder wach. Ich freue mich schon auf dich. In zwei Monden sehen wir uns in die Augen", hörte er Mamis Gedankenstimme in seinem Kopf. "Die Lebenshelferinnen von Madrashghedoxalan freuen sich schon."
"Na, ist dein kleiner Junge wieder mal wach?" hörte Madrashainorian die Stimme einer anderen Frau, die nicht bei ihm in Mamis warmem Bauch war. Er kannte die Stimme. Das war Kailishaia, die große Vertraute des Feuers und die Schwester eines ganz starken Feuermeisters namens Yanxothar.
"Natürlich, Feuergeweihte. Er ist munter und stark und jetzt schon sehr neugierig auf die Welt."
"Und will er das, dein Sohn sein?" fragte Kailishaia. Madrashainorian versuchte, der da draußen was zuzudenken. Doch das ging nicht. So hörte er seine eigene Mutter für ihn antworten. "Eigentlich nicht. Da wo er ist gefällt es ihm zu gut. Kein Wunder, wo er die liebste und stärkste Mutter hat, die ein Altaxarroian haben kann. Aber ich werde ihn hergeben, damit er wächst und zur Ehre unseres Ordens seinen eigenen Weg nimmt."
"Ianshira ist immer noch verärgert, dass du ihn empfangen hast. Sie meint, du hättest nicht das Recht, ihn so für dich zu behalten."
"Sie ist nur eifersüchtig, weil sie den Eid der kinderlosen Reise geschworen hat, anders als ihre Mutterschwestertochter Darxandria."
"Du hättest ihn auch gerne gehabt, weiß ich", hörte er Mami mit tiefer Stimme sagen.
"Ja, aber ich hätte ihn nicht so klein werden lassen. Groß und stark wäre er mir lieber gewesen. Aber ich weiß, warum du ihn bekommen willst. meine neue junge Ordensschwester hat dich beleidigt."
"Deshalb bekomme ich ihn nicht, auch wenn er ruhig merken soll, dass auch ich eine echte Frau bin, die in leidenschaftlicher Liebe erglüht, freudig die unangenehmen Sachen einer Tragzeit erträgt und ihn mit den nötigen Schmerzen in die Welt bringt, um ihn dann noch mehrere Mondwechsel meine Milch zu geben, bis er genug weiß, um unbeschwert und furchtlos aufzuwachsen."
"Und was machst du, wenn er nicht dein Sohn bleiben will?" wollte Kailishaia wissen.
"Er wird es bleiben wollen, Kailishaia", antwortete Mamis Stimme ganz beruhigt. Das beruhigte auch ihn, Madrashainorian, den Sohn der großen Erdvertrauten.
"Wie war der Saisonauftakt für Brittanys Truppe?" wollte Martine von ihrer fünf Jahre jüngeren Schwester wissen. Millie erzählte es ihr. Dann sah sie auf Martine und meinte: "Hätte nicht gedacht, dass sich ein Mädchen ganz bei dir so wichtelmäßig wohlfühlt, dass es nicht von dir weg will. Weißt du denn jetzt, ob du sie bald oder erst in vier Jahren kriegst, wie eine reinrassige Veela?"
"Komm, bloß keine komischen Ideen. Oma Lutetia hat gemeint, dass ich wohl nur dann echte Geburtswehen kriege, wenn ich was von ihrem Menstruationsblut aufgelöst in Quellwasser und ihren Tränen trinke. Aber das mache ich garantiert nicht, zumal die ja auch nur alle anderthalb Monate ihre Periode hat", grummelte Martine mit sichtlichem Ekel. Millie nickte. "Ich habe ihr gesagt, dass ich dann besser doch zu Tante Trice wechseln soll, wenn sie mir nur noch so abartige Vorschläge machen kann. Die meinte dann, dass das bei ihren Artgenossinnen, die über die Zeit trügen üblich sei, sowas von ihren gerade nicht schwangeren Schwestern, Basen oder der eigenen Mutter zu nehmen. Eigentlich hätte mir die Kleine nach diesem ekligen Angebot unten herausfallen müssen. Aber die liegt wo sie liegt, gerade mal einen Zentimeter tiefer als vor einem Monat noch."
"Was hat Alon behauptet, woher das kommt?" wollte Millie wissen und erfuhr nun, dass ihre große Schwester die Nachfahrin einer echten galizischen Waldhexe austrug. Millie meinte dazu, dass Martine dann ja auch einen winzigen Teil Meigablut in die Adern bekäme, wo sie ja mit der kleinen Héméra verbunden war.
"Hat meine Schwippschwägerin auch schon behauptet. Hémeras Patin meint sogar, ich wolle eigentlich kein Kind haben und hätte irgendwas gemacht, dass die Kleine nicht zu Ende wachsen kann oder die Fruchtblase unzerstörbar ist, dass sie bis zu meinem Lebensende darin eingeschlossen bleiben muss. Dabei hätte ich die kleine schon lieber vorgestern auf die Welt geworfen. Am Ende kommt die noch so groß wie ein zweijähriges Kind aus mir raus und steht sofort nach der Geburt auf, um hinter mir herzulaufen wie ein Kalb hinter der Mutterkuh."
"Da unterhältst du dich dann mit Demie oder ihren Töchtern drüber, wenn du mal wieder auf Tante Babs' Hof bist", bemerkte Millie dazu. Martine verzog nur das Gesicht. Mehr wollte sie dazu nicht sagen.
"Hach, ist das Haus schön. Schade, dass es so viel Kraft gekostet hat, es haben zu dürfen", hörte Madrashainorian die dumpf klingende Stimme einer Frau, in deren Unterleib er gerade wie ein körperloser Geist über einem kleinen Mädchen schwebte, das in einem goldenen Licht erstrahlte.
"Die wollten es nicht anders, Kind. Nicht diese eitlen Hennen Grandchapeau und auch nicht Armand. Soll er doch bis zu meinem ersten Urenkel von seiner Frau herumgetragen werden und ihr dauernd in den Bauch treten", hörte er eine sichtlich verächtlich klingende Antwort, die er wohl nur deshalb durch das laute Wummern, Schnaufen, Grummeln und Gluckern verstand, weil eine Spur davon in seinem eigenen Geist nachhallte. Auch die Stimme der Mutter des Kindes, das er gerade besuchte war für ihn gut zu verstehen als sie sagte: "Die hätten uns alle einfach nur in Frieden leben lassen sollen. Diese Besserwisserei ist ihnen nun um die eigenen Ohren gehauen worden."
"Mag sein. Aber dafür hat deine liebe Großmutter gesagt, dass du keine Hilfe mehr von ihr zu erwarten hast. Den letzten Schnitt wolle sie zwar noch nicht vollziehen, weil sie will, dass der von dir zum eigenen Sohn zurückverwandelte gesund auf die Welt zurückkommt. Aber du hast keinen Anspruch mehr auf Unterstützung durch den Ältestenrat. Nur ich darf dir noch helfen, weil das Recht der Mutter an ihrem Kind größer ist als die Verachtung einer Abtrünnigen."
"Maman, ich war nie abtrünnig. Weil dazu hätte ich ja erst einmal folgsam und unterwürfig diesen Bundesgeschwistern von Mémé Léto zugetan sein müssen. Die haben aber nie wirklich darauf hingearbeitet, dass ich mich eher als Veela als als Hexe fühle. Jetzt haben sie die Quittung. Ähm, hast du seit der Kapitulation von Armand Grandchapeaus Gehilfen wieder was von Julius Latierre gehört?"
"Der ist mit Catherine Brickston unterwegs, angeblich mehr über die Herkunft und Natur dieser Angstnachtverbreiter zu erfahren, die angeblich im März alle gestorben sein sollen."
"Was heißt angeblich? Nach den Erlebnissen mit uns will er sicher jetzt alles über Wesen wissen, die ihm gefährlich werden können."
"Ja, aber er ist auch unser Bruder, Kind. Du darfst ihn nicht verachten und nicht bekämpfen, sowenig wie er dich bekämpfen darf", wurde die, in deren Bauch Madrashainorian gerade zu Besuch war, zurechtgewiesen. "Hunger!" hörte er ein winziges Stimmchen von dem ungeborenen Kind her. Das brachte dessen Mutter auf den Gedanken, nun wieder was zu essen.
"Kind, du hast sicher noch ein Jahr Zeit, um genug für die Kleine mitzuessen", hörte er ihre eigene Mutter darauf sagen.
"Ich habe trotzdem Hunger", hörte er die Stimme um sich herum. Dann geriet er einmal mehr in jenen dunklen Raum ohne Geräusche, bevor er wieder eine dumpf klingende Stimme hörte.
"Es ist schade, dass Julius da nicht bei war. Ich dachte eigentlich, dass er sich das nicht entgehen lässt, Venus. Aber offenbar ist sein Diensteifer größer als seine Begeisterung für Quodpot."
"Jetzt, wo er Urlaub hat kann er die Sachen machen, die er in seiner Behörde nicht oder nur ganz beschränkt machen kann, Britt. Aber ich denke, Millie wird ihm das alles haarklein erzählen. Ich muss jetzt wieder nach Hause. Gegen meine Mutter bist du ja noch gertenschlank."
"Deine Mutter hat ja auch für einen mehr mitzuessen und isst zu allem Überdruss noch Fleisch- und Milcherzeugnisse", hörte Madrashainorian die Mutter jenes kleinen Jungen sagen, dem er gerade beim Heranwachsen zusehen konnte. Dann hörte er weit weg und dumpf eine Haustür zufallen.
"So, Leonidas. Bevor dein Dad wieder nach Hause kommt haue ich für dich und mich noch was von dem Möhren-Kartoffelauflauf mit Kokosmilch ein. Könnte dir ein wenig eng werden. Aber das musst du aushalten, wenn du Britts kleiner Liebling werden willst", hörte er die Gedanken der werdenden Mutter. Dann fiel er wieder zurück in seinen eigenen, ungeborenen Körper und hörte gerade zu, wie Mami, die auf ihn aufpasste und auf ihn wartete, mit seinem großen Halbbruder Agolar sprach, der auch nicht so glücklich war, dass er jetzt in seiner Mutter wohnte, bis er groß genug war, um wieder aus ihr rauszudürfen.
"Er darf nicht zu viel von der Außenwelt mitbekommen, Mami, sonst entreißen sie ihn dir wieder. Wie weh das tut habe ich ja selbst erlebt, als sie mich nach einem Mond aus dir herausgerissen haben, weil ich nicht mehr für mich sein wollte und es in diesem großen Körper von dir so schön friedlich war, wenn auch nicht leise."
"Die wollten nur, dass ich wieder eine richtige Frau bin, was dein kleiner Bruder und die Vertraute seines Vaters nicht geglaubt haben, bis sein Vater mit mir den Lebenstanz getanzt hat und er hier in mir aufgewacht ist", erwiderte Mami und streichelte ihren Unterleib, in dem Madrashainorian wohnte und sich deshalb auch ganz wohlfühlte.
"Gib es zu, du hättest dich sehr geärgert, wenn Julius mit meiner noch lebenden Tochter zusammengefunden hätte."
"Nicht so sehr wie alle die, die meinen, ihm auf den richtigen Weg helfen zu müssen", hörte er Mami belustigt antworten. "Aber wer sagt dir, dass er nicht, wenn er groß genug für sie ist, doch noch mit ihr Esstisch und Lager teilt, weil die anderen ihn nicht verstehen."
"Nicht so laut, Mami. Er könnte hören, was du sagst", hörte er Agolar.
"Der fühlt sich ganz wohl, da wo er ist. Aber in zwei Monddritteln muss ich ihn wohl herauslassen. Das freut mich zwar, weil es das ist, wofür ich ihn in mich aufgenommen habe, macht mich aber auch traurig, weil ich ihn dann nicht noch einmal in mich zurückbetten kann, wie ich das mit dir konnte."
"Du willst ihn in Madrashghedoxalan bekommen?"
"Da wo ich dich und deine anderen Geschwister bekommen habe. Da wo Aimartia deinen Sohn und deine Tochter bekommen hat. Die Stadt der großen schützenden Mutter ist die beste Stätte, um ihn in die Welt zu geben."
"Das weiß ich", sagte Agolars Stimme, die Madrashainorian nur deshalb so gut verstand, weil sie laut in Mami nachhallte.
Als Mami dann wieder was aß dachte er an jene Mami von Leonidas, die auch gerade was essen wollte. Er hielt das schon gut aus, wenn über ihm kein Platz mehr war und es noch lauter gluckerte und rumpelte. Das war, damit er auch was hatte, um groß genug zu werden. Aber irgendwie wollte er nicht mehr das, was geboren genannt wurde. Mami war doch so schön warm und friedlich. "Du wirst dich sehr freuen, mehr machen zu können als nur in meinem inneren Nest zu liegen und zu schlafen, Madrashainorian. Du wirst froh sein, auf deinen eigenen Beinen stehen zu dürfen und das meiste alleine machen zu können, wofür du mich im Moment um dich herum hast. Also freu dich darauf! Bald sehen wir uns in die Augen. Bald darfst du auch meine Milch trinken und dadurch Kraft und Wissen bekommen."
"Du wolltest mich doch in dir haben. Lass mich nicht mehr raus, wo immer das ist",dachte er.
"Willst du mein ganzes Leben lang nur eingeschlossen und ganz von mir abhängig leben? Dann wird es bald zeit", hörte er Mami antworten.
Ihm fiel ein, dass er dann, wenn er nicht gerade wieder anderen werdenden Kindern zugesehen hatte, seine Arme und Beine ausprobiert hatte und dass er immer ganz genau auf die schönen Töne gehört hatte, die Mami und andere ihm vorgespielt hatten. Ja, wenn das auch da war, wo draußen war und die anderen Stimmen wohnten, dann sollte das wohl so sein, dass er da hin musste. Aber was hatte diese Lebenshelferin Andaramiria gesagt: "Denke daran, dass es für deinen Sohn wie ein kalter Welkzeittag ist, wenn er dein inneres Nest verlässt! Du musst ihn in einem warmen Raum zu uns hinauslassen."
Catherine Brickston fühlte die Ausstrahlung schwarzer Magie. Trotz ihrer rotbraun gefärbten Haare und dunkelbraun gefärbten Augen schien jemand zu argwöhnen, dass sie nicht in freundlicher Absicht hergekommen war. Dann fiel ihr ein, was ihr Buster Galbraith erzählt hatte. Das Tor zur wissenden Trommel lag hinter dem Tor der tausend Wehklagen. Jetzt ahnte sie, was damit gemeint war.
Sie fühlte die aufkommende Woge dunkler Zauberkraft nur eine Sekunde vor der Freisetzung jener violetten Flammen, die nach ihr griffen. Wäre sie nicht durch einen vorsorglich errichteten Schutzbann gegen Elementarflüche gewappnet, hätte die violette Flammenwand sie sicher restlos aufgefressen. So fühlte sie nur einen wilden Ansturm und sah rot-grüne Blitze um sich tosen, wie in einer kalten Polarnacht mit wild glühenden Nordlichtern.
Da sie reinigende Zauber animistischer Kulturen erlernt hatte sang sie unverzüglich gegen den gegen sie brandenden Vernichtungszauber an. Sie hörte durch das Tosen der Flammen das Heulen und Wehklagen gepeinigter Menschen. Sie sprach dagegen an. Doch sie merkte, dass ihre Zauber schneller zerstoben als dass sie die bösartige Macht niederringen konten. Dann fiel ihr ein Zauber ein, den sie bei einem Altmeister des Windes gelernt hatte, den Atem der freien Bewegung, der alle giftigen Stoffe und Körper und Seele peinigenden Zauber von einem wegwehte wie ein kräftiger Brausewind. Diesen Zauber sang sie nun laut und lauter. Schon nach den ersten drei Wörtern hörte sie Wutgeheul und noch erbärmlichere Schreie der Gepeinigten. Nach dem ersten Durchgang fühlte sie, wie um sie herum die Luft in Aufruhr geriet. Vor ihr schlug krachend ein gleißendblauer Blitz in die Erde.
"Wage es nicht! Das Tor frisst dich und deine Seele!" dröhnte ein bedrohlich klingender Chor aus mindestens hundert Stimmen. Doch Catherine Brickston kannte es schon, dass dunkle Magie vor ihrer Auslöschung immer noch mit beängstigenden Eindrücken gegenhielt, um ihren Feind doch noch zu verwirren oder zu besiegen. So sprach Catherine Brickston weiter und schaffte es nach der nächsten Wiederholung, dass weitere blaue und weiße Blitze körperbreite Breschen in die sie bestürmende Flammenfront schlugen. Außerdem wehte nun ein sehr starker, kalter Wind um sie herum, der die Flammenzungen verbog, von ihr abhielt und zurückdrängte.
"Leide und vergehe!" brüllte der Chor der hundert Stimmen. Dann fühlte Catherine, wie ein wortwörtlicher Gegenwind aufkam, ihre reinigenden Luftmassen zerstreute und die ihr zugedachten Flammen von neuem auflodern machte. Da griff Catherine zum letzten ihr verbleibenden Mittel, sie rief den Fluchumkehrer des alten Reiches aus. Schlagartig flutete weißes Licht vor ihr auf und umschloss sie als wild rotierende Säule aus reiner Leuchtkraft. Catherine fühlte zwar, wie ihr die Kraft schwand. Doch das angstvolle und gepeinigte Wimmern und Heulen wurde zu einem Aufschrei der Erleichterung und Freude. Der Boden erzitterte unter der magischen Entladung. Dann sah Catherine im weißen Licht einen dunklen Durchgang aufklaffen. Sie prüfte mit einem Flucherkenner, ob dahinter neue Gefahr lauerte. Dann lief sie durch den Durchgang hindurch. Gerade noch rechtzeitig schaffte sie es, in eine weitläufige Höhle einzudringen, als hinter ihr alles zusammenbrach und neben den erfreut und erleichtert johlenden Stimmen noch der sie vorhin bedrohende Chor wutentbrannt aufschrie: "Du hast unser Werk verdorbe´n! Jetzt sind wir zweimal gestorben!" Dann verwehten alle Stimmen, während hinter Catherine große Steinbrocken auf den Boden krachten und ihr den Rückweg versperrten. Das Tor der tausend Wehklagen war zerstört.
sie stand nun in einer natürlich entstandenen Felsenhalle, in der vielleicht noch das eine oder andere lauern mochte. Sie zauberte sich ein Bündel hitzelos brennender Flammen auf die linke Handfläche, um genug Licht zu haben. Dann prüfte sie mit ihrem Zauberstab die Umgebung auf weitere Feinde. Doch außer, dass in der Höhle noch ein Rest Magie schwebte konnte sie keine Feinde oder feindliche Zauber erkennen. Da sie jedoch auch auf rein mechanische Fallen gefasst war beschloss sie, den in Khalakatan gelernten Freiflugzauber zu benutzen, mit dem sie auch Skyllians letztes großes Schlangenungeheuer durchflogen hatte.
Sie entging durch den Flugzauber einer unter ihr lauernden Fallgrube und schaffte es sogar, sich an einem quer über den Gang spannenden Spinnennetz vorbeizuschlängeln. Wo war die Spinne, die dieses Gewebe erzeugt hatte?
Endlich sah sie die große Höhle, in deren Boden große Spiralwindungen mit darin eingebetteten Zeichen zu sehen waren. Catherine fühlte beinahe körperlich, wie etwas von der Mitte der Spirale her ausstrahlte, etwas warmes und prickelndes. Dann sah sie sie.
Die wissende Trommel war kein Musikinstrument, mit dem die Kundigen uralter Zauber ihre Rituale ausgeführt hatten. Vielmehr war es der mit Gold überzogene und mit einer durchsichtigen Haut bespannte Totenschädel eines Elefanten, dessen Stoßzähne mit Silber überzogen worden waren. Die großen, leeren Augenhöhlen glotzten Catherine schwarz und abgrundtief an. Doch die Expertin für dunkle Zauber aus aller Welt erkannte an der in ihren Haarspitzen vibrierenden Aura und dem Gefühl, von immer heißeren Strahlen getroffen und gepiesackt zu werden, dass sie an der richtigen Stelle war. Sie versuchte, der Trommel ihren Zauberstab entgegenzustrecken. Da vibrierte das durchsichtige Fell der Riesentrommel. Unvermittelt meinte Catherine, von unsichtbaren Faustschlägen in schneller Abfolge in die Eingeweide geschlagen zu werden. Ihr Kopf begann zu dröhnen und sie fühlte, wie sich ihre Haut spannte. Zu allem Überfluss stiegen in ihr auch noch Gefühle von Angst und Hilflosigkeit auf. "Gosanaiailnorati Shuhaan!" rief Catherine gegen das ihr zusetzende unsichtbare und nicht hörbare Inferno an. Der Zauber legte eine Sphäre aus nicht von Schall bewegbarer Luft um sie. Das war es. Catherine schwebte nun in einer mindestens fünf Meter durchmessenden, völlig unsichtbaren Blase aus bezauberter Luft. Die Angstgefühle und das wilde Beben in ihrem Körper, die Kopfschmerzen und die Anspannung unter ihrer Haut verklangen unmittelbar. Catherine atmete auf, was sie jedoch nicht mit den Ohren hörte. Gut, dass Joe und Julius ihr genug über unhörbar tiefe Töne, den so genannten Infraschall, erzählt hatten, dass sie sofort erkannt hatte, womit sie angegriffen wurde.
Das Fell der riesigen Trommel vibrierte noch wilder, je näher Catherine kam. Sie konnte sehen, wie Staub von Decke und Wänden gelöst wurde und wie ein flirrender Dunst um sie herumflog. Die für Menschenohren unhörbar tiefen Töne rüttelten offenbar an den Höhlenwänden. Kunststück. Ihr Echo musste sich ja in dieser Höhle verstärken. Das hieß aber auch, dass die Gefahr noch nicht behoben war. Catherine wollte die Trommel gerade mit einem Stillhaltezauber belegen, als die von dieser ausgehenden Hitzestrahlen noch um einiges zunahmen. Jetzt meinte Catherine, die Hitze genau in ihrem Unterleib zu fühlen, ein Brennen und Sengen, das ihr spürbare Schmerzen bereitete. Catherine wusste, dass sie nicht von wirklicher Hitze getroffen wurde. Denn jede Verlagerung ihres frei fliegenden Körpers hätte die Auftrefffläche verändern müssen. Doch Catherine fühlte nur, wie ihr Unterleib brannte und sie meinte, er würde gleich kochen. Erst als sie sich einige Meter zurückzog hörten die Schmerzen auf. Catherine zielte auf die Trommel. Da leuchtete es in den bis dahin dunklen Augenhöhlen des goldenen Elefantenschädels auf. Catherine dachte an einen bevorstehenden Angriff mit Zauberblitzen oder Feuerstrahlen und zog blitzschnell nach oben weg, keine Sekunde zu früh. Gleißendhelle Glutbahnen schossen aus den Augenhöhlen und brachten den durch den Infraschall aufgewirbelten Staub zum glühen. Dann erstrahlte der ganze Schädel im goldenen Licht. Catherine fühlte körperlich, wie sie von diesem Gegenstand zurückgewiesen wurde. Sie sah im inneren der Trommel einen gleißendhellen, frei schwebenden Körper und wusste, dass dieser das Zentrum jener magischen Strahlen war. Dann veränderte das Fell der Trommel seine Erscheinungsform. Es wurde undurchsichtig. Dann sah Catherine ihre gerade gewählte Erscheinungsform stark vergrößert auf der Oberfläche der Riesentrommel. Sie glaubte nur daran, ein Spiegelbild von sich zu erblicken, als die Erscheinung den Mund auftat und irgendwas rief. Doch der sie umschließende Schallschutzzauber ließ kein Wort zu ihr durchdringen, nicht einmal von magischer Stimme hervorgerufene Laute. Dann sah Catherine mit gewissem Erstaunen, wie das Gesicht sich veränderte und nun Catherines wahres Aussehen bekam, saphirblaue Augen von schwarzem Haar umrahmt. Dann entstieg der Trommel eine geisterhaft durchscheinende, aber in Echtfarben nachgebildete Riesenversion Catherines. Es war, als habe Catherine Brickston ihren eigenen Geist aus der Trommel heraufbeschworen. Wieder sagte die Erscheinung etwas. Doch es blieb weiterhin unhörbar. Den Gesichtszügen nach war es jedoch nichts freundliches, was die Erscheinung von sich gab.
Als die Projektion Catherines wohl registrierte, dass ihre Adressatin nicht hören konnte, was gesagt wurde, geschah etwas, was die erfahrene Zaubereiexpertin für einen Augenblick verblüffte. Die geisterhafte Erscheinung Catherines spreitzte die Beine und schwoll innerhalb weniger Sekunden am Bauch und an den Brüsten an. Dann stieß sie ein geisterhaftes Etwas aus dem Unterleib. Catherine fühlte im selben Moment ein kräftiges Ziehen im Unterleib. Dann erkannte sie eine geisterhafte Darstellung von Babette. Als diese gänzlich aus dem Körper der Phantom-Catherine heraus war, löste sie sich auch schon wieder auf. Die Erscheinung schüttelte den Kopf. Dann schwoll sie an Bauch und Brüsten wieder an und stieß noch ein Geisterhaftes Etwas aus, als gebäre sie ein Gespenst. Catherine erkannte Claudine und nahm auch zur Kenntnis, dass ihr überlebensgroßes Ebenbild wieder den Kopf schüttelte. Dann zerfloss die Erscheinung Catherines in leerer Luft. Das Fell der Trommel erleuchtete von innen. Catherine wandte blitzschnell den Kopf ab und fühlte im nächsten Moment zwei sengendheiße Strahlen, die ihren Hinterkopf trafen. Gleichzeitig wurde sie von einer Kraft zurückgeworfen, die wie ein über zwei Meter großes Bügeleisen heiß und hart auf sie drückte. Catherine schrie auf. Doch sie hörte ihren Schrei nur in ihrem Kopf. Was außerhalb war blieb still. Dann ließen die Hitze und der Druck nach. Catherine roch den angesengten Stoff ihres Umhangs und erkannte, dass nicht viel gefehlt hatte, um sie in Flammen aufgehen zu lassen. Der gleißende Körper in der Trommel hatte sie nun unmissverständlich zurückgewiesen. Sie fühlte, dass sie nicht mehr lange in der Höhle bleiben durfte und jagte zum Eingang zurück, ohne zu landen.
Beim Trümmerhaufen, der vorher noch der Durchgang gewesen war, setzte Catherine den Reducto-Zauber ein, um die Trümmerstücke aus dem Weg zu fluchen. So schuf sie sich langsam aber sicher einen Fluchtweg und konnte die Höhle verlassen.
Als sie draußen war ließ Catherine die magische Luftblase um sich herum zerfließen. Danach wirkte sie einen Zauber, der in der Nähe lauernde Feinde auf Abstand zwang. Das war offenbar nötig. Denn hunderte von dunkelhäutigen Menschen flohen, als Catherines laute Stimme sie erreichte. Alle waren mit Blasrohren oder Speeren bewaffnet. Catherine Brickston ließ sich aber von dieser Flucht nicht täuschen. Sicher hatten die Magier, die dieses Tor eingerichtet hatten, noch andere Abwehrmaßnahmen getroffen, wenn jemand es schaffte, den Durchgang zu passieren. Da hörte sie auch das Brüllen aus der Ferne und erkannte es. Das war unzweifelhaft ein Drache. Ein einzelner Drache? Nein. Weiteres Brüllen erscholl aus drei weiteren Richtungen. Dann konnte Catherine die geflügelten Ungeheuer auch sehen, mehr als fünf Meter lange, schuppige Geschöpfe, deren Haut tiefschwarz war, die aber nicht wie ein ungarischer Hornschwanz aussahen. Catherine erfasste sofort, dass sie es nicht mit den allgemein bekannten Drachenarten zu tun hatte, sondern mit einer Sonderform, einer für dieses Gebiet hervorgebrachten Züchtung. Dann sah sie die Augen der sie anfliegenden Ungetüme und fühlte, wie etwas in ihrem Kopf nachgab. Die Augen glommen in einem tiefroten Licht. Die katzenartig senkrechten Pupillen schimmerten in diesem flammenlosen Feuer. Catherine merkte, wie in ihr der Wunsch erwachte, sich von einem dieser Drachen fangen zu lassen. Dann gewann ihr hochtrainierter Geist wieder die Oberhand. Sie schaffte es, ihren Blick von den roten Augen zu lösen. Dann war ihr klar, dass diese Züchtungen jeden Angreifer unschädlich machen konnten, der es nicht schaffte, sich aus dem Bann ihrer Augen zu lösen. Catherine verwendete das Lied des inneren Friedens, dass Julius Latierre ihr und seiner Frau beigebracht hatte. Ja, jetzt konnte sie die Drachen wieder ansehen. Doch nun waren die noch näher. Das schlimmste aber war, dass es nun nicht nur vier waren, sondern vierzig. Woher kamen diese Bestien? Egal! Sie musste weg! Hoffentlich hatte niemand ihr eine Locattractus-Falle gestellt.
Catherine disapparierte in dem Moment, wo zwanzig hellgrüne Feuerstrahlen gleichzeitig auf ihren Standort zufauchten. Als Catherine sich in ihrem derzeitigen Versteck in der Nähe von Johannesburg wiederfand wusste sie, dass sie keiner Locattractus-Falle zum Opfer gefallen war. Sie atmete erleichtert auf. Dann überlegte sie. Was immer in der Trommel gesteckt hatte oder noch dort steckte hatte sie abgewiesen. Es wolte oder durfte nicht von ihr berührt oder gar benutzt werden. Warum das so war konnte Catherine sich nun erklären. Sie war keine unberührte Jungfrau mehr. Sie hatte zwei Kinder bekommen und damit den Zugang zu diesem Gegenstand unmöglich gemacht. Hieß das, dass dieses Etwas nur unberührte Jungen und Mädchen zu sich ließ? Was sie aber nun auch wusste war, dass sie heute jenes legendäre Medaillon gesehen haben musste, von dem es hieß, dass es die Kraft der Sonne in sich bündeln und auf bestimmte Formeln oder in bestimmten Situationen freisetzen konnte. Ja, das passte zu der Beschreibung der Unbekannten, die mit Anthelia gegen Lady Nyx gekämpft hatte. Und dieses Medaillon wollte sie nicht. Es lehnte sie ab. Doch zumindest wusste sie jetzt, wo es aufbewahrt wurde. Wichtig war nun, dieses Geheimnis vor raffgierigen Zeitgenossen zu behüten, bis sie wusste, ob sie doch noch eine Möglichkeit bekommen sollte, das Medaillon an sich zu bringen. Mit dieser klaren Vorstellung der ihr bevorstehenden Zukunft wechselte Catherine erst einmal ihre angesengten Kleidungsstücke gegen unversehrte Wäsche. Dann machte sie sich auf den Weg, um weiter nördlich mehr über diese Hinterlassenschaft zu erfahren.
Madrashainorian war wohl wieder unterwegs. Denn um ihn herum war es ganz dunkel und still. Er bekam schon Angst, weil er nicht wusste, wo er war, als er wieder einmal im Mutterschoß einer anderen Frau zu Gast war. Diesmal sah er ein kleines Mädchen, dessen Gedanken er klar verstehen konnte:
"Mum Aurora, kannst du deiner Heimstattgeberin nicht bitte sagen, sie soll nicht so viele Zwiebeln in ihr Essen reintun. Diese Böllerei und Rumpelei ist ja lauter als alles andere."
"Rosey, ich mag aber die eingelegten Zwiebeln und die leckeren Zwiebel-Kokosmilch-Chips so gerne. Aber wenn dir das zu laut wird versuche ich, weniger davon einzuwerfen", hörte er die Gedankenstimme einer nicht so alten Frau, wohl die Mutter des kleinen Mädchens. Tatsächlich hörte Madrashainorian nun ein lautes Blubbern und Kullern, bevor zwei hier drinnen dumpfe Knälle erfolgten. Der Besucher fragte sich, woher er die Stimme kannte. Doch seitdem er in Mami auf das wartete, was Geburt hieß, hatte er wohl einiges nicht mehr so klar im Kopf.
"Aurora, wenn die Kleine wieder quängelt teile ihr bitte mit, dass sie froh sein soll, dass sie bei dir ist und keiner weiß, dass sie eigentlich Heathers und Cygnus' Kind ist", hörte er dumpf von außen die Stimme einer älteren Frau. "Du meinst wegen des Unrates, den dieser Yankee verbreitet hat, dass die Redrobes die Pläne für den Parsec 2 gestohlen und damit den eigenen Besen gebaut haben sollen?" dröhnte die Stimme der Kindsmutter von allen Seiten. Er verstand sie nur deshalb so klar, weil auch hier ihre Worte in seinen Gedanken nachhallten. Dann klang wieder die Stimme der älteren Frau, die die werdende Mutter wohl versorgte: "Genau das. Ja, und dass wir diesen Blucastle nicht wiedergefunden haben ist für die Yankees auch ein gefundenes Fressen."
"Rosey beklagt sich, dass ich wegen der ganzen Zwiebeln so viel Wind im Darm habe", hörte er die Mutter der noch nicht geborenen scherzen.
"Das haben meine Kinder mir auch später immer übelgenommen, dass ich so gerne Zwiebeln in mich hineingestopft habe", erwiderte die andere Frau.
"Das denen nicht die Ohren abgefallen sind", hörte er die Ungeborene denken, allerdings wohl nur für sich.
Madrashainorian versuchte, die beiden anzudenken, weil er sie so gut verstand. Doch es ging nicht. Sie verstanden ihn nicht. Dann erwachte er wieder, um sich in seiner eigenen kleinen Welt vor der Welt wiederzufinden. Jetzt wusste er auch, wer die beiden gewesen waren, die sich um die lautstark verdauten Zwiebeln gezankt hatten: Aurora Dawn und ihr kleines Mädchen Rosie. Dann fühlte er Hunger. Er teilte das seiner künftigen Mutter mit. Die machte nun dieses Schaukeln und dumpfe Klappern unter ihm. Sie ging sich was zu essen holen. Sie hatte verstanden, freute sich Madrashainorian.
Einmal wurde er von lautem Klangspiel aufgeweckt, das dumpf in den Leib seiner Mami eindrang. Er fühlte, wie es ihn immer wieder vor und zurückwarf und war froh, dass Mamis Innenraum so weich war, dass er nicht zerbrach. Dann hörte er sie immer wieder "Hoch den Ersten!" rufen, während von irgendwo da draußen, was die Welt sein sollte, fröhliches Gebrumm und lautes Rumpeln zu ihm durchdrang.
"Mami, mir ist nicht gut. Was machst du?" dachte er. Da beruhigte sich seine Mami wohl wieder. Er hörte das immer wieder im Takt pochende Etwas über sich und das Schnaufen. "Keine Angst, ist schon vorbei, Kleiner. Mami musste nur mit einem sehr lebenslustigen Mann tanzen, der nicht drauf aufpassen wollte, dass du in mir wohnst. Wäre ja schlimm, dich vor der Zeit aus mir rausfallen zu lassen. Habe also keine Angst mehr!"
"Habe ich nicht", dachte Madrashainorian und überlegte, ob er wirklich in diese Welt da geboren werden wollte, wo es so laut war, dass er das sogar durch die warmen, weichen Wände von Mamis Körper mitbekommen konnte.
"Wo ist der Junge?" fragte Gareth Sandhearst seine Tochter Lydia, als er diese alleine mit ihrem erst vor zwei Tagen geborenen Kind im Wohnzimmer fand. Die sehr früh zur Ehefrau und Mutter gewordene Lydia Wilson geborene Sandhearst deutete auf ihren Sohn, den sie aller Widrigkeiten zum Trotz bekommen und haben wollte. "Da ist er, Dad", sagte sie völlig unbeeindruckt von der schlechten Laune, die ihr Vater zur Schau trug.
"Ich meine nicht den Zwerg, sondern den Mann, der ihn dir angesetzt hat. Wo ist Jack?"
"Dad, weißt du doch, er klärt das mit Cambridge, wo wir drei da wohnen können. Hat er dir doch bei der Hochzeit erzählt."
"Hat der sein Mobiltelefon eingeschaltet?" wollte Gareth Sandhearst wissen.
"Wenn er da eine bezahlbare Wohnung sucht sicher", sagte Lydia.
"Ich will nur sicherstellen, dass der Kerl sich nicht doch noch absetzt, wo er erst einen Aufstand gemacht hat, dass du ihn heiraten sollst, weil er meinte, dich schon mit neunzehn schwängern zu müssen."
"Deine Großtante Philippa war schon mit siebzehn schwanger und hat es hinbekommen. Da kriege ich das erst recht hin."
"Weil du meinst, wir würden dich schön aushalten, bis der Braten für sich selbst sorgen kann."
"Eh, Dad, es reicht! In Orville steckt auch was von dir mit drin. Willst du ihn so kurz nach der Geburt schon zum unerwünschten Mitesser abstempeln. Ich habe den in mir getragen, obwohl ich genau wusste, dass ich deshalb Jack heiraten muss. Ich habe den in neun Stunden und zwanzig Minuten auf die Welt gebracht, was du niemals ausgehalten hättest. Also schimpf nicht auf das Kind, das kann absolut nichts für deine schlechte Laune! Und wenn ihr meint, mich enterben zu müssen, weil ich den Sohn eines Parlamentsabgeordneten an mich rangelassen habe, dann sei es so. Aber dann seht ihr mich in diesem Leben nicht mehr wieder."
"Wie redest du mit deinem Vater?" stieß Gareth Sandhearst aus.
"Wie mit einem verbitterten Mann, der der ganzen Welt die Schuld an seinem Elend gibt. Kann ich was dafür, dass Lord Worthington dir die Jagdrechte im Southbrook-Wald entzogen hat, oder du beim letzten Golfspiel mit Mr. Gladstone fünfzehn Schläge im Rückstand geblieben bist? Oder sind deine ganzen Internet-Aktien alle abgestürzt?"
"Wenn du das wissen willst, alles drei. Aber dass dieser Bursche, der dich aufgefüllt hat ..."
"Hämm-ömm, Dad, nicht vor dem Kind solche Ausdrücke", erwiderte Lydia unvermittelt damenhaft ecchaufiert.
"Wieso, der Kleine versteht mich noch nicht, der ist erst zwei Tage auf der Welt. Der kann nur zwischen Schreien, Nuckeln, pupsen und Windeln vollkacken unterscheiden, vielleicht noch zwischen schlafen und wach sein. Mehr geht bei dem kleinen Hirn doch noch nicht."
"Was willst du hier wirklich?" fragte Lydia sehr ernst dreinschauend, während ihr kleiner Sohn sich in ihren Armen wand und versuchte, mit seinen großen, blauen Augen den laut sprechenden Mann anzusehen. Der stand aber mehr als zwei Meter von ihm weg und war deshalb noch nicht klar zu erkennen.
"Zwei Sachen, Mädchen. Erstens ...", setzte Gareth Sandhearst an, wurde aber vom wilden Kopfschütteln seiner Tochter und einem sehr tadelnden Räuspern unterbrochen.
"Dad, wenn du ernsthaft, ich meine, mit voller Absicht, darauf bestehst, dass ich mich wie eine erwachsene Frau benehme, dann behandele mich gütigst auch wie eine. Ich bin eine verheiratete Wilson, also kein Mädchen. Ich habe ein Kind bekommen, bin also auch keine unberührte Jungfrau mehr, als die ihr altbacken denkenden Leute mich gerne in eine profitablere Ehe geschickt hättet. Also, noch mal im ruhigen, vernünftigen Ton und nicht im Proletenmodus, wenn ich bitten darf!"
"Wie du meinst. Du wirst den Tag noch früh genug verfluchen, wo du deine Beine für diesen Abenteuerer breit gemacht hast und ... Ich rede so, wie ich es in meinem Haus für richtig halte. Und solange ihr zwei kein eigenes Geld verdient und deine Mum und ich diese übergroße Wohnung abbezahlen müssen, ist das hier auch meine Wohnung. Und darum geht es auch. Das mit Cambridge soll sich der Bursche aus dem Kopf schlagen. Der kann bei Onkel Chester eine Lehre machen und da sein Geld verdienen, anstatt Jahre mit einem Studium zu verbringen, von dem er selbst nicht weiß, was es einbringt. Das ist der erste Punkt. Der zweite ist, dass du dich gütigst bei Tante Amalia für deine Ungehörigkeit entschuldigst und mit ihr klärst, wann der Kleine zumindest getauft wird, damit er nicht ganz so gottlos aufwächst, wie er gemacht wurde."
"Punkt eins, Dad: Jack wird nicht zum Bürogehilfen von Onkel Chester verkümmern, noch dazu, wenn er genug Geld für unseren Sohn zusammenbekommen möchte. Deshalb werden wir nach Cambridge ziehen, wo er und ich für unsere Wohnung selbst aufkommen werden. Sein Vater hat ihm das eigentlich erst für den Abschluss angelegte Sparbuch zur Hälfte auf sein Konto überwiesen. Ja, und ich habe mit Mum und Jennifer alles verkauft, was ich beim Umzug nicht mitnehmen will. Außerdem hat Jacks Vater einen Finanzierungsvertrag mit der Uni in Cambridge. Den kann er nicht auflösen, ohne Verluste zu machen. Also soll, will und wird Jack da studieren, ob es deiner Lordschaft nun passt oder nicht. So, und jetzt möchte ich dich bitten, zu gehen, da Orvilles Mittagessen ansteht."
"Ich bin dein Vater, ich habe dich schon nackt gesehen, da warst du erst zehn Minuten alt", grummelte Gareth Sandhearst.
"Ja, aber da sah ich noch nicht so aus wie mit dreizehn oder fünfzehn Jahren. Also bitte", schnarrte Lydia Sandhearst und deutete auf die Tür. Ihr Vater grummelte noch einmal, dass das seine Wohnung sei, doch sie war unerbittlich und erwähnte die Mietrecht- und Darlehensparagraphen des britischen Zivilrechts, denen nach ein Miter oder Darlehensnehmer ein Recht auf Privatsphäre besaß, solange das ihm überlassene Eigentum nicht unrettbar beschädigt wurde. Ihr Vater stampfte kurz mit dem rechten Fuß auf wie ein trotziges Kind. Doch dann nickte er und wiederholte, dass sie schon sehen würde, was sie davon habe. Dann ging er.
"Endlich ist dieser selbstherrliche Muggel raus aus dem Haus", dachte Orville Wilson. "O Mann, hätte ich gewusst, dass ich noch alles im Kopf behalte hätte ich diese grüne Geisterfrau gebeten, mir alle Erinnerung wegzunehmen. Hauptsache, ich wachse schnell genug aus diesen unpraktischen Windeln raus. Also dann, Mum!"
Während Orville seine Mittagsration trank dachte er daran, wie gemütlich es war, als er noch nicht ganz ausgetragen war und wie sich seine Mutter über die Hochzeit gefreut hatte. Ob sie ein Brautkleid getragen hatte wusste er nicht. Womöglich hatte er da schon genug Platz gebraucht, dass sie ein anderes, nicht so figurbetontes Kleid anziehen musste. Jedenfalls war er jetzt wieder auf der Welt und hoffte, dass er mit dem, was er noch wusste, ein neues, interessantes und würdiges Leben leben konnte. Er hoffte, dass seine Zauberkräfte nicht erloschen waren und er mit elf wieder nach Hogwarts konnte, wo er sich sicher sehr stark zurückhalten musste, um nicht als all zu weit vorgebildet aufzufallen.
Als Orville satt war hörte er dieses künstliche Geträller eines Fernsprechgerätes. Seine Mutter legte ihn in sein vergittertes Bett und sprach einige Minuten mit jemanden. Orville verglich die Leistung seiner Augen mit der seiner Ohren, wobei er immer wieder dachte, wie interessant das war, diese Eindrücke einmal voll bewusst nachzuerleben. Allein schon über die Zeit im Uterus könnte er irgendwann eine heilkundliche Veröffentlichung schreiben. Als er hörte, dass sein Erzeuger mit seiner Mutter sprach dachte Orville:
"Das kann noch was werden, wenn wegen mir die beiden ihre Familien aufgeben müssen. Was Olive wohl gerade macht. Die würde sich schwer umgucken, wenn sie hört, dass ich als Muggelkind wiedergeboren worden bin."
"Gratuliere, Jeanne, so wie es aussieht hast du ein weiteres Kind empfangen", hörte der Reisende durch die Leiber hoffnungsvoller Mütter eine wie üblich gedämpfte Frauenstimme. Er sah gerade in einer sehr kleinen Höhle eine gerade mit den Augen erkennbare, halbdurchsichtige Kugel, die am Boden tief eingegraben ruhte. "Wann willst du es Bruno sagen?" hörte er die Frauenstimme fragen. Dann erklang laut und dumpf die Stimme der werdenden Mutter, Jeanne Dusoleil:
"In vier Wochen. Wenn wir richtig gerechnet haben bin ich ja erst in der vierten Woche."
"Wie du meinst, Jeanne. Aber deinen Eltern willst du es ja schon sagen, oder?"
"Nur wenn ich meine Mutter davon abhalten kann, es Brunos Mutter auf die Nase zu binden."
"Verstehe", hörte der ganz heimliche Besucher die andere antworten. Dann fiel er selbst zurück dahin, wo er bis zu seiner Ankunft weiterwachsen sollte.
Er wollte doch nicht in seinem warmen Zuhause bleiben. Das war ihm viel zu eng geworden. Wenn er einen Arm oder ein Bein bewegte stieß er schon gegen die weiche, warme Wand seiner ganz eigenen kleinen Behausung. Dann hatte er sich wohl beim Schlafen irgendwie so gedreht, dass er mit seinem Kopf in etwas härterem hing und jetzt noch mehr hörte, wenn seine Mami das machte, was sie Aiai nannte, wenn sie da war, wo sie nur ganz alleine mit ihm war. "Mami, lass mich raus! Viel zu Eng hier!" dachte er bei so einem Erlebnis. Da fühlte er auch schon, wie sein Zuhause zitterte. Er hörte Mami dumpf und tief aufseufzen. Jetzt fing sein Zuhause noch an, noch kleiner zu werden. Er wusste, was das sollte. Denn er hatte das ja bei seinen ganzen Besuchen bei den Leuten, die alle noch nicht von ihren Mamis hinausgedrückt worden waren mitbekommen. "Nicht so doll, wird zu klein hier!" protestierte er, während seine Mami vor gewissen Schmerzen aufstöhnte.
"Muss sein, damit du ganz aus mir raus kannst, Kleiner", hörte er seine Mami in seinem Kopf. Sie klang glücklich aber auch so, als täte ihr was weh.
Bei der Lebensruferin Tseniadaria wurde es noch viel heftiger. Sein warmes Zuhause zog sich immer wieder zusammen und drückte ihn immer tiefer in das härtere, dann sah er es langsam Heller werden. Jetzt ratschte es auch, und das ganze warme Wasser, in dem er so gut gelegen hatte, lief um seinen Kopf herum weg. Er wurde jetzt immer schwerer, und sein Zuhause wurde wieder enger. Er fühlte, wie er in ein ganz enges Etwas hineingedrückt wurde und wusste, dass er jetzt wirklich hier weg konnte.
Kailishaia hörte die Schmerzenslaute Madrashmirondas. Sie stand zusammen mit Ianshira in der Halle der Bezeugung in Madrashghedoxalan . "Jetzt verlieren wir ihn endgültig an diese Mutterkuh", meinte Kailishaia zu Ianshira.
"Du hast ihn nie gehabt", knurrte Darxandrias Base. "Aber er musste diese Entscheidung treffen. Hätte ich gewusst, dass es auch so ging hätte ich ihn dazu bekommen, ihn neu zu gebären."
"Du? Dir wäre dein ganzes Enthaltungsgelübde doch bei jedem Atemzug und jedem Herzschlag zum inneren Folterer geworden. Wenn eine ihn so hätte kriegen können wäre ich da besser für geeignet gewesen. Vielleicht hätte ich ihn nach deinen Vorwürfen fragen sollen, ob er sich nicht von mir in unsere Gemeinde hineingebären lässt. Das hätte ihm sicher mehr gefallen, als so unverhofft zu Madrashmirondas kleinem Jungen zu werden."
"Du hättest ihn nur als Liebhaber haben wollen, nicht als Kind. Das unterscheidet dich von Madrashmironda", fauchte Ianshira. Sie dachte daran, dass sie ihm nun keine weiteren Lieder der Kraft mehr beibringen durfte. Doch so, wie Madrashmironda es nun schon seit einiger Zeit durchführte war es schlicht weg genial. Sie verstieß nicht gegen die Orichalkregel, wenn sie ihrem eigenen Kind ihre Geheimnisse und einiges mehr weitergab, und zwar nicht durch worte, wie sie von Kailishaia wusste. Die Rotgekleideten hatten da so eine Handlungsweise ausgearbeitet, selbst einem Säugling schon Grundlagen seiner späteren Stellung in der Altaxarroischen Gesellschaft zu vermitteln.
Sie genießt das, hörst du? Sie lacht zwischen den Austreibungsschmerzen", stellte Kailishaia fest.
"Sie genießt ihn schon, seitdem sie ihn in ihrem Leib empfangen hat", schnarrte Ianshira. "Sie wird ihn auch genießen, wenn er zu einem mannbaren Jüngling aufgewachsen sein wird. Vielleicht darfst du ihm dann die Wonnen der Liebe zeigen", sagte sie an Kailishaia gewandt.
"Ich weiß, dass er ein guter Liebhaber sein kann, wenn er die Frau wirklich von Herzen liebt. Aber ich denke, dass diese Felsenanbeter und Erdumwälzer da lieber unter sich sein wollen, wenn es darum geht, wann eines ihrer Kinder die körperliche Reife erreicht hat. Wir Feuervertrauten sind da freier in der Auswahl."
"Erzähl mir nichts neues", knurrte Ianshira und lauschte weiter auf die Geräusche aus dem Raum des eintreffenden Lebens, was in ihrer Muttersprache Makun Miri Novaril hieß.
Vielleicht wollte er doch nicht von ihr weg. Das war doch viel zu anstrengend. Dann erinnerte er sich, dass sein Vater sein eigenes Ankommen schon einmal irgendwie nacherlebt hatte und das auch überstanden hatte. Sein Vater, Julius Latierre hatte der geheißen. Etwas von seinem Wissen war in ihm dringeblieben. Doch jetzt war er Madrashainorian und wurde gerade von Madrashmironda geboren.
""Autsch, viel zu eng. Hilfe! Will nicht hier festhängen. Aaarg!" stieß er in Gedanken aus. Seine Mami stöhnte und schrie sogar. Ihr tat das wohl noch mehr weh als ihm. Dann endlich hörte das auf, eng um seinen Kopf zu sein. Jetzt wusste er, dass er gleich aus ihr raus war und ... Ein starker Stoß drückte seine Beine auch durch den engen Durchlass. Er sah das helle Licht und fühlte es irgendwie ganz unangenehm am Kopf. Er musste wegen der starken Kopfschmerzen erst überlegen, wie das hieß. Kalt, so hieß das, was er jetzt fühlte. Dann spürte er, wie er ganz aus ihr hinausgedrückt wurde. Ganz große warme weiche Hände stützten ihn ab und zogen ihn ganz frei. Brrr, jetzt war das aber ganz kalt. Dann fühlte er auch noch so einen Druck in seinem Oberkörper, einen Drang, was zu tun, das er vorhin nicht gemacht hatte. Der druck wurde größer. Er fühlte, wie ihm schwindelig wurde. Dann öffnete er den Mund. Etwas stach ihm in den Hals. Er fühlte, wie sein Hals und Bauch zusammenschraken und was aus seinem Mund herauslief. Dann sog er das ganz leichte Zeug, das so kalt war, ganz tief in sich rein und stieß es mit einem schrillen laut wieder aus sich heraus. Dann fiel er in ein flehendes, die ganze weite Welt verwünschendes Geschrei. Er fühlte noch, wie eine der großen Hände ihm an den Bauch langte und die pulsierende Schnur einfach so abmachte, die ihn bis jetzt an seine Mami gebunden hatte. Das machte ihm noch mehr Übelkeit. Denn jetzt musste er ganz für sich alleine sein. Das machte ihm Angst, und er schrie noch mehr und noch flehender.
Stimmen! Um ihn klangen hohe Stimmen. Die kannte er irgendwie, auch wenn sie jetzt ganz anders klangen als vorher, nicht mehr so tief und wenig heraushörbar. Dann fühlte er ein sanftes Tasten in seinem Kopf und merkte, dass es seine Mami war, die wissen wollte, wie es ihm ging. Da erkannte er, dass er doch jetzt ganz glücklich sein sollte. Er war endlich aus dem immer enger gewordenen Bauch von Madrashmironda heraus.
"Du hast einen gesunden, stimmgewaltigen Jungen bekommen, Madrashmironda. Gesegnet seien dein Schoß und auch der Schoß der großen Mutter, deren Kinder wir alle sind. Gesegnet sei sein Leben, solange es währt", hörte er die Stimme dieser Lebensruferin. Sie hatte ihn wohl mit ihren viel zu großen Händen genommen, nicht zu doll wie damals, wo sie ihn von außerhalb seines jetzt nicht mehr erreichbaren Zuhauses anzufassen versucht hatte.
"Er ist wohlgenährt, genau wie ich", hörte er Mami sagen und wusste, dass sie das lustig fand. Dann fühlte er, wie er zu ihr hingetragen wurde. Sehen konnte er nur helles Licht und irgendwas graues in grauem. Er erinnerte sich, dass sein Vater das auch mal als etwas größerer Junge ausprobiert hatte, mal für einige Zeit so klein zu sein. So war das auch damals für den gewesen.
"Na, mein Kleiner. Jetzt bist du endlich bei uns angekommen", hörte er Mami ganz sanft sagen, damit er keine Angst hatte. "Ich musste dir und mir sehr weh tun, damit du zu uns kommen konntest. Aber jetzt bist du bei uns und bleibst bei uns, bis du groß genug bist, in die äußere Welt zu gehen."
"Hier ist schön warm und weich", dachte Madrashainorian. Hörte seine Mami ihn noch so? Er sog das leichte Zeug, die Luft, immer wieder ein und drückte es mit dem Oberkörper wieder raus. Er wusste schon, dass er das ab jetzt solange machen musste, bis er irgendwann zu den Vorausgegangenen Voreltern gerufen wurde. Dann gab er sich der warmen Umarmung der ganz großen hin, die seine Mami war und die bis jetzt für ihn da gewesen war und weiter für ihn da sein würde.
Ohne Wasser in der Nase konnte er auch das riechen, was in der Luft war. Etwas davon gefiel ihm und machte, dass sich in seinem eigenen Bauch etwas regte. Er fühlte, dass er etwas dagegen machen musste.
"So, jetzt noch trocken machen, damit du nicht so frierst, kleiner Erdvertrauter. Dann darfst du mit deiner Mami alleine sein", hörte er die Stimme von Tseniadaria, der Lebensruferin und fühlte, wie etwas über seinen Körper ging und machte, dass ihm nicht mehr so kalt war. Dann durfte er wieder zu seiner Mami und fand bei ihr das, was er jetzt so dringend brauchte. Er wusste nicht, wo er anfangen sollte. Dann fand sein Mund die richtige, für ihn jetzt sehr große Nuckelkugel und saugte sich daran fest.
"So, hast du dir die Herzseite ausgesucht", bemerkte seine Mami dazu. Er störte sich nicht daran. Ihm fiel ein, dass das warme, wohltuende Zeug Milch genannt wurde und für ganz neue Kinder das wichtigste war, was sie kriegen konnten, außer dieser kalten, ganz leichten Luft. Deshalb sog er nun noch gieriger. Dabei war ihm, als höre er seine Mami leise ein Lied singen:
"Der großen Mutter wir entsteigen
uns bloß und rein im Lichte zeigen.
Des Vaters und der Mutter Band
mit großer Mutter Hand in Hand
soll mir, der großen Mutter Kind
erweisen, wo die meinen Sind."
Dieses sehr angenehm klingende, mit hohen Tönen gesungene Lied drang in ihn ein. Im Gleichen Maß, wie die von ihm getrunkene Milch seinen leeren Bauch vollmachte blieb auch das dabei gehörte Lied in ihm drin. Immer und immer wieder hörte er das Lied seiner Mutter und fühlte, dass er damit nie alleine sein würde, wenn er sie oder andere suchte, die die ganz lieb zu ihm waren.
Als er keinen leeren Bauch mehr hatte und es auch sehr anstrengte, noch mehr Milch zu saugen, merkte er, dass er müde war. Er ließ von seiner Mami ab und machte auch nichts dagegen, dass ihm die Lebensruferin was weiches zwischen die Beine steckte und ihn dann noch in was anders weiches und Warmes eindrehte. Dann hörte er noch Mamis ganz liebe Stimme sagen:
"Schlaf dich aus, mein Kleiner. Du hast einen ganz anstrengenden Tag erlebt. Und das war erst der allererste."
Die Zeit konnte er schon in Hell und Dunkelheit einteilen. Wenn es dunkel war schliefen seine Mami und er in der gemütlichen Behausung tief in der ganz großen Stadt, die er irgendwann genauer kennen lernen würde. Immer wenn er Hunger fühlte, durfte er bei Mami trinken. Dass er dabei immer von ihr leise gesungene Lieder hörte gefiel ihm. Immer wenn er da trank, wo die Gefühlsseite war, hörte er Lieder, die die Kraft der großen Mutter und was sie einen fühlen ließ besangen. Wenn er an der großen Brust auf der anderen Seite sog, die seine Mami "Handlungsseite" nannte, hörte er mal langsame und mal schnelle Lieder, die ihm sagten, wie er die Kraft der großen Mutter einsetzen konnte, um Behausungen uneinstürzbar zu machen, die große Mutter um Hilfe für neues Essen und Trinken bat und wie der Sänger des Liedes Steine und Sand dazu bringen konte, ihn ganz schnell von einem Platz zu einem anderen hinkommen zu lassen.
Immer wieder versuchte er, seine eigene Stimme dazu zu bringen, das gedachte laut zu sagen. Doch irgendwie schien da was zu sein, dass das nicht hinbekam. Dann weinte oder schrie er immer, weil er sich ärgerte, dass er noch nicht so konnte, wie er wollte. "Alles hat seine Zeit, mein Kleiner. Du hast die Zeit, alles zu erkunden und zu tun, was du wissen und können musst. Ich bleibe ja bei dir", hatte sie ihm einmal gesagt, als er mal wieder verzweifelt versuchte, richtige Sprechlaute zu machen.
Zumindest ging das mit dem Sehen immer besser. Zwar dauerte es die Zeit, die seine Mami einen Mond nannte, bis er endlich Sachen richtig sehen konnte, die weiter als ihr Arm weg waren. Doch so ging es noch schneller. Er kam jetzt darauf, auf das zu zeigen, was ihn interessierte. Dabei fühlte er jedoch, dass sein Arm dieser alles nach unten ziehenden Kraft der großen Mutter noch nicht richtig gegenhalten konnte. So musste er es sich gefallen lassen, wie vor einem Mond von ihr herumgetragen zu werden, aber nicht mehr in ihrem warmen, dunklen Nest im Bauch, sondern auf ihrem Rücken.
In dem, was seine Mami Madrashghedoxalan nannte wohnten noch ganz viele andere Mamis oder zumindest welche, die es sein konnten. Sie grüßten seine Mami und ihn immer mit wackelnden Armen und freuten sich. Er fühlte sich wohl da wo er war. Doch irgendwie merkte er, dass das nicht das war, was er früher schon mal gekonnt hatte.
"Siehst du? Hier auf diesem großen, runden Rad sehen wir, wann die große Himmelsschwester einmal um unser aller Mutter herumgelaufen ist. Als du aus meinem warmen Bauch herausgeschlüpft bist hatten wir den Knospenmond im der dritten Tausendersonne und zwei Hundertersonnen seit Begründung unseres großen Landes. Jetzt haben wir den Blütenmond in der Erweckungszeit", sagte Mami zu ihm, als sie ihm in der großen Halle der allgemeinen Kenntnisse das silberne runde Ding mit den vielen langen Stangen zwischen Mitte und Rand zeigte. Auf dem Rand waren kleine Einkerbungen, in die jeden Tag ein schmaler Stock hineinrutschte. Madrashainorian sah das mit seinen großen Augen genau an. In sich drin hörte er eine Stimme von einem großen, die die ganzen Stangen zählte. "achtundvierzig Speichen", fiel es ihm ein. Diese Stangen hießen Speichen, und von denen gab es achtundvierzig. Wie das so gezählt werden konnte fiel ihm erst ein, als er die Ausführungshand seiner Mami sah und die Finger von ihr abzählte, ohne es laut aussprechen zu können. "Gib dich deinem jungen Lebenhin und lerne alles neu, bis du es wieder alles können musst", hörte er Mamis Stimme im Kopf. Doch er wollte nicht einfach alles nicht mehr können und erst neu lernen. Er wollte auch schon groß sein.
"Du wirst schneller groß, als du selbst willst, mein Kleiner", hörte er Mamis Stimme im Kopf. Sie konnte immer noch hören, was er nicht sprechen konnte und er das, was sie nicht sprechen wollte.
"Ich hätte dich noch einen Sonnenlauf in mir tragen sollen, damit du ein richtiges neues Kind wirst", hörte er seine Mami leicht böse in seinem Kopf. "Aber noch einmal kann und darf ich dich nicht in mich zurücknehmen."
Wenn er Mamis Milch trank hörte er weitere sehr schöne aber auch sehr starke Lieder und fühlte, dass sie in ihm bleiben würden, bis er groß genug war, sie zu singen. An diesem besonderen Tag des ersten auf der Erde verbrachten Mondes hörte er das Lied von den schönen grünen Kindern der großen Mutter, wie sie groß wurden und die Luft mit frischem Atemdunst erfüllten. Er hörte diese grünen Kinder ganz langsam singen und lernte durch das Lied, sich auf die inneren Wahrnehmungen der grünen Kinder einzustimmen, zu hören, wie es ihnen ging und was sie gerade brauchten. Außerdem hörte er das Lied der veränderten Härte, womit ganz harte Sachen so weich gemacht wurden, dass sie mit den Händen verändert werden konnten oder ganz weiche Sachen wie nasse Erde oder dünne Blätter so hart gemacht werden konnten, dass kein Werkzeug sie mehr verändern oder zerstören konnte. Als er sich sattgetrunken hatte trug seine Mami ihn durch Madrashghedoxalan hindurch und durch das sich öffnende runde Tor hinaus. Er sah zum ersten mal das Licht des Vaters Himmelsfeuer, der der großen Mutter geholfen hatte, ihre Kinder zu bekommen und diese mit seinem Licht und der Wärme am Leben hielt, weshalb die große Mutter immer um ihn herumtanzte.
"Sei es dir gegönnt, schon eine kleine Probe deines künftigen Wissens zu genießen, das du mit meiner Milch zu dir genommen hast", hörte er Mami ohne Stimme sagen. Dann fühlte er, wie sie und er miteinander verbunden wurden. Das war fast so angenehm wie die pulsierende Schnur, über die sie ihm genug von ihrem Essen mitgegeben hatte, damit er auch wirklich groß genug wurde. Dann hörte er die Stimmen der hier wachsenden grünen Kinder, von denen ganz viele nur so hoch wie Mamis Beine wurden und ganz dünn waren, aber einige ganz viele braune Arme mit vielen Fingern daran hatten. Er sah zum ersten mal in seinem Leben das, was in den Liedern von der Schönheit der großen Mutter Bäume genannt wurde, ganz große grüne Kinder der großen Mutter, die noch viel viel höher waren als Mami und ganz weit oben richtig dicke Arme hatten, von denen dünnere Arme und ganz dünne Finger ausgingen. Und an denen hing all das grüne Zeug, was er als Blätter oder Laub kennengelernt hatte.
Die grünen Kinder flüsterten seiner Mami was zu. Die einen hatten Hunger. Die anderen wollten Licht. Wieder andere fühlten etwas an oder in sich, dass ihnen weh tat.
"Du kannst mit ihnen nicht so sprechen wie mit unseresgleichen, Madrashainorian. Du kannst nur hören und fühlen, wie es ihnen geht. Zu mehr sind die meisten grünen Kinder nicht fähig. Es gibt nur wenige, die sowas wie eigenes Tun und Wissen haben können. Und die sind meistens durch die erhabene Kraft entstanden. So, und damit du mir nicht meinst, dich größer zu fühlen als du bist, überlasse ich dich wieder dir und deinen Sinnen."
Madrashainorian mochte das nicht, dass er von Mami wieder losgelassen wurde. Auch wenn sie ihn gerade auf dem Rücken trug war das so, als hätte sie ihn alleine gelassen, wie dann, wenn sie irgendwo anders war und er ohne sie aufgewacht war.
"Na, Kleiner, die ersten Bäume und Gräser gesehen?" fragte ihn jemand, der ein wenig größer als Mami war, aber nicht wie eine andere Mami aussah, weil ihm die Milchkugeln fehlten. Die Stimme war auch anders. Aber er erkannte sie. Das war der, an den Mami auch mit ganzer Freude dachte, wenn sie ihn hörte.
"Der kann dir noch nicht antworten, Agolar, das weißt du doch", tadelte Mami den anderen. "Aber wo du schon einmal den Weg in unsere erhabene Stadt gefunden hast, was sagen die anderen?"
"Was sollen sie sagen. Sie bekommen mit, dass er schon größer sein will als er ist und deshalb vielleicht mehr mitbekommt, als du ihm zeigen willst. Einigen von den Mitternächtigen gefällt das nicht. Ashtarggayan meint, dass du ihm auch so, wie du ihn in dir getragen hast, alles hättest beibringen können, was du ihm beibringen willst. Er hat das ja auch so gelernt."
"So ist es einzig richtig, Agolar. Er soll nicht nur wissen, sondern auch erkennen und das gelernte auch anwenden. In meinem Bauch hätte er das nicht."
"Die Mitternachtsschwestern sind wütend, dass sie ihm so, wie du ihn bekommen hast, nichts mehr tun dürfen, weil er jetzt ein Teil von uns allen ist. War schon sehr trickreich, Mami."
"Die zwei haben ihm auch nichts zu tun. Wir leben hier alle in Frieden, und das ist auch gut so."
"Denk aber daran, dass meine Tochter das vielleicht nicht so sieht, dass er jetzt mein Bruder ist!"
"Darüber kann ich gerne mit ihr sprechen, sollte sie den zweiten Stein finden. Aber jetzt ist genug. Der Kleine kriegt ja noch Kopfweh von unserem ganzen Gerede."
"Und was machst du, wenn ich nicht mit diesem Gerede aufhöre?" wollte Agolar wissen.
"Dich darf ich jederzeit in mich zurücknehmen. Und wenn du nicht aufhörst, andauernd an mir rumzunörgeln bleibst du für den Rest unserer Zeit in meinem Bauch drin, wobei ich dann vielleicht in meiner natürlichen Form weiterlebe, um meine Aufgaben zu erfüllen."
"Ich habe hier auch Aufgaben", sagte Agolar sichtlich angespannt. "Du darfst mich nicht wieder wegsperren."
"Doch, darf ich, wie du ganz genau weißt. Du wolltest dem Vater meines Sohnes damals alles beibringen, was er wissen wollte, ohne ihn den nötigen Weg beschreiten zu lassen. Du siehst ihn immer noch als Gefährten deiner Tochter."
"Ich sehe meine Tochter jeden Tag und bekomme mit, wie sie mit dem, was Gegen die Sonne hieß, auskommen muss. Denkst du, dass dein Sohn damit leben kann, wenn er - ?""
"Ja, kann er!" fuhr ihn Mami ins Wort. "Und wenn du nicht damit aufhörst schläfst du solange in meinem inneren Nest, bis er hier groß genug ist, um alles zu verstehen, was ich ihm beibringen will und beibringen muss. Also geh jetzt bitte!"
"Dein Schoß ist für mich zu klein geworden, genau wie für ihn. Deshalb gehorche ich deinem Wort", knurrte Agolar und verließ die Wohnung Madrashmirondas.
"Nimm ihn nicht zu ernst. Er ist dein großer Bruder und meint, deinen Vater ersetzen zu müssen, weil der nicht hier ist", sagte Mami und schaukelte ihn ganz sanft, bis er die Augen schloss und einschlief.
Die Monde vergingen. Immer wieder bekam Madrashainorian über die Milch seiner Mami neue Lieder in den Kopf, die die von den Sinnen und Verständigung handelten und die, die von den gezielten An- und Eingriffen handelten.
Madrashainorian schaffte es immer mehr, sich der alles anziehenden Kraft der großen Urmutter Erde entgegenzustemmen. Erst schaffte er es, sich selbst in seiner Schlafschale herumzudrehen. Dann schaffte er es, seinen Kopf anzuheben und so besser zu sehen, was um ihn war, während er lag. Dann so im ersten Mond der Welkzeit, wo die großen grünen Kinder helle und raschelnde Blätter hatten und es draußen kälter und nasser war, schaffte er es, sich auf die Hände zu stützen und die Beine nachzuhziehen. Das war anstrengend. Aber mit den Tagen wurde es immer besser. Er fühlte sich nun stärker als vorher, dachte aber nicht mehr daran, wer Julius Latierre war. Er war nun ganz und gar Madrashainorian, die Freude der großen Mutter, eben nur, dass er schon weit vor seiner Ankunft auf der Erde vieles mitbekommen und gelernt hatte.
Neben ihrer Milch gab seine Mami ihm weiches Zeug zu schlucken, das auch ganz lecker war. Aber dabei hörte er keine schönen oder wichtigen Lieder. Er dachte daran, wieso das so war. Da sagte seine Mami:
"Du hast bald alles von mir in dir, was ich dir mit der Milch geben kann. Vieles davon wirst du später, wenn du größer bist, selbst nachsingen und das damit zu tuende machen. Selbst wenn du ganz viel Schmerz im Mund hast, weil deine Zähne kommen werde ich aber noch den einen oder anderen Schluck für dich haben. Aber genieße es, vom Essen der größeren Kinder mitzubekommen. Dann kannst du bald das essen, was wir großen Leute essen können."
In den dunklen Tageszeiten, wo in der Stadt tief im Leib der großen Mutter alle Lichter ausgingen oder nur sehr schwache kleine Lichter blieben, besuchte er in seinem Schlafleben Leute, an die er sich aus seiner Zeit im inneren Nest seiner Mami erinnerte. Nur sah er sie von außen, als geborenes Kind. Bei der, die Tine gerufen wurde und die Haare wie das anders gewordene Laub hatte konnte er sehen, dass sie einen ganz dicken Bauch hatte und fühlte, dass das von jemandem kam, der oder besser die darin wohnte. Er hörte sie sagen, dass sie langsam wissen wollte, wann das neue Kind aus ihr herauskommen sollte. Eine wie Mami nur kleiner aussehende sagte, dass sie das nicht mehr einschätzen könne. "Dann gehe ich ab morgen zu Tante Trice, Oma Lutetia. Es reicht mir langsam. Du hast alles getan, was du konntest. Danke dafür! Aber wenn da wirklich ein bisschen Waldhexenblut in meinem Baby ist weiß Tante Trice das vielleicht besser, wann die Kleine meine Vordertür aufmachen und "Tag, Maman" sagen möchte."
"Eure Gesetze sagen, dass du dir die aussuchen kannst, die deine Kinder auf die Welt holt", hörte er die kleine schnauben. Dann wachte er auf. Er war wieder in seiner Schlafschale auf der mit vielen kleinen weichen Teilen gefüllten Unterlage, die fast so weich waren, wie die Wände von Mamis innerem Nest, als es ihn noch nicht aus ihr hinausdrücken wollte.
Was ihm sehr zu schaffen machte waren diese ganz heftigen Schmerzen im Mund. Die ließen ihn nie richtig schlafen. Seine Mami sagte, dass er Zähnchen bekäme. Damit konnten große Kinder und ganz große Leute Sachen essen, die nicht so weich waren. Obwohl ihn das freute, jetzt auch das zu kriegen, was größere hatten, tat ihm das zu sehr weh, um sich zu freuen.
Weitere Monde vergingen. Diese gemeinen Schmerzen wurden weniger. Dafür hatte er jetzt schon mehr als zehn Zähne oben und unten. Dann war da etwas, was ihn sehr froh machte. Er schaffte es, sich auf seine Füße zu stellen. Erst musste er sich an Sitz- und Aufbewahrungssachen entlanghangeln. Doch als er die erste Wiederkehr seiner Ankunft feierte versuchte er, ohne sich festzuhalten zu laufen. Einen Schritt bekam er hin. Dann fiel er nach vorne auf die Nase, und das tat weh. Er wimmerte und weinte, bis seine Mami kam und ihn wieder aufhob. An den nächsten Tagen versuchte er es aber immer und immer wieder, bis er es schaffte, ganz schnell mehr als fünf Schritte zu laufen, um von einem Stuhl zu einem Tisch zu kommen, um sich da gerade noch rechtzeitig anzuklammern, um nicht wieder auf die Nase zu fallen. Wenn er das Hinfallen gar nicht abfangen konnte, ließ er sich auf seinen mit dicken Windeln gepolsterten Po plumpsen und giggelte, weil das ihm gar nicht weh tat.
Als er es endlich hinbekam, das Wort "Mami" auszusprechen und dann noch die Wörter "Da" und "Hei" und "Aiai", fühlte er sich richtig groß. Endlich konnte er das auch sagen, was er bisher nur im Kopf oder von anderen gehört hatte.
"Heute darfst du noch mal Mamis Milch haben. Aber dann musst du ihre prallen Kugeln in Ruhe lassen. Die haben dann genug hergegeben", flüsterte seine Mami am siebten Tag des ersten Heißzeitmondes, als sie beide alleine unter einem hohen Baum saßen, dessen Blätter kühlenden Schatten boten. Sie ließ ihn auf ihren Schoß krabbeln und ihn sich die Seite aussuchen, die ihm genehm war. Das war die Handlungsseite.
Während er immer noch so gierig wie am allerersten Tag trank, was seine Mami noch für ihn hergab hörte er ein Lied, dass die Reinigung von bösem Wirken hieß und mit der Kraft der großen Mutter alles verschwinden ließ, was ihren lebenden Kindern böses tat. Alles in Hörweite und Ausrichtung des Kraftglases, wie Mamis eckiges Ding hieß, mit dem sie Sachen einfach da sein oder weg sein lassen konnte, wurde von der großen Mutter verschluckt, wenn es anderen Wesen böses tun konnte. In seinem tiefsten inneren hörte er ein anderes Lied, das aber eher gesprochen wurde, und in dem aus Liebe geborenes und aus Liebe weitergegebenes Schutz und Leben bewahrte. Das war so ähnlich wie die Reinigung von bösem Wirken. Vor allem aber konnte er damit einen Angriff auf ihn oder von ihm beschützter Leute abwehren, auch wenn dazu die Kraft der großen Mutter angerufen wurde. Irgendwie sagte das ihm, dass er heute das wichtigste Lied in seinem Leben gehört hatte. So sog er noch lange an der rechten Brust seiner Mutter, bis er fast schon vor Milch überquoll.
"So hast du nun alles bekommen, was ich dir geben wolte und was du dir verdient hast", sagte Mami und klopfte ihm vorsichtig den Rücken ab, bis er hörbar aufstieß.
Damit er nicht nur in Madrashghedoxalan wohnte zogen Madrashmironda und ihr Sohn in die erhabene Hauptstadt des großen Landes um, als er gerade zwei Sonnenkreise auf der Erde zugebracht hatte. Er staunte über die ganzen fliegenden und auf Rädern herumrollenden Sachen, in denen andre große und kleine Leute saßen. Er bekam mit, wie große Leute aus dem Nichts heraus auftauchten und dabei einen Knall machten, wie ganz stark zusammenklatschende große Hände. Auch konnte er einmal sehen, wie eine große Frau - so hießen die, die wie Mami aussahen - mit so einem Knall weg war. Seine Mami erkannte, dass ihm das keine Angst machte. "Ja, das können wir großen auch. Das ist der kurze Weg", sagte sie.
"Kurzweg", brabbelte er. Dabei merkte er, dass das noch nicht richtig nachgesprochen war und sagte: "Kur-tscher Wejg." Seine Mami lachte und wiederholte die Wörter. Dann sagte er: "Kurzer Weg." Sie nickte und tätschelte ihm liebevoll die rechte Wange.
Besonders gefiel dem kleinen madrashainorian die dreitägige Feier der Landesgründung. Ausgelassen und bunt gekleidet liefen die Stadtbewohner herum, bestaunten die farbigen, mit Lichterschmuck behängten Flugbarken und die mit lautstarken Klangkunstwerkzeugen durch die Straßen ziehenden Männer und Frauen. Madrashainorian erlebte diese fröhlichen Tage auf den Schultern seiner Mutter, die mit einem großen Etwas, dass Regentropfen oder Sonnenglut vom Kopf fernhalten konnte, nach den aus den Flugbarken herabregnenden Süßwaren fischte. "Dabei werde ich auch immer zum kleinen Mädchen", hörte er ihre Gedankenstimme. Er sah die als Gründer des Reiches und als die damals noch für sich lebenden Tiere verkleideten Männer und Frauen, die an den Straßenrändern standen und laut mit eigenen Lärmtröten und -pfeifen die vorbeiziehenden Künstler grüßten.
"Das ist schöner als die Sonnenwenden", dachte Madrashainorian seiner Mutter zu. Das konnte er immer noch besser als das Sprechen mit dem Mund. Warum das so war wusste er nicht.
"Die Sonnenwendfeiern sind auch ganz schöne Tage. Je nach Gegend können sie noch ausgelassener sein als die Gründertage", dachte Mami ihm zurück. Dann rief sie: "Hoch den Ersten!" Madrashainorian versuchte, den Ruf nachzurufen. Doch noch ging das nicht. Aber, das wusste er, er würde sicher noch hunderte Gründungsfeiern mitmachen. Vor allem wusste er jetzt, warum seine Mami damals, wo er noch zwei Monde in ihr wachsen musste, so einen Lärm gemacht und ihn sehr häufig sehr stark in sich herumgekullert hatte.
Mit den Monden kam immer mehr Beweglichkeit und Neugier. Madrashainorian fand mit Garzayantoran, dem Sohn einer Feuervertrauten und eines Windvertrauten und Gwendarworakian, einem Sohn des Königsschreibers Dolarman die ersten Freunde in seinem Leben. mit Mädchen, die mal wie Mami sein würden, hatte er es noch nicht so. Aber mit den beiden konnte er schon einiges anstellen. So zerlegten sie einmal die lange Sitzbank auf dem grünen Grasplatz im Erholungspark, ohne dabei die hohe Kraft benutzen zu müssen. Madrashainorian hatte nämlich herausgefunden, dass kleine runde Metalldinger mit vier Schlitzen in der Oberseite einfach herausgedreht werden konnten, um die Bank in ihre Einzelteile zu zerlegen. Als der Wächter des Parkes das mitbekam schimpfte der natürlich. Die drei liefen sofort weg. Aber der Wächter lief ihnen nach, bis sie sich trennten. Er meinte wohl, Madrashainorian besser einfangen zu können. Doch der schlug Haken wie eines der Langohrtiere, die auf den gerade nicht für Essen gebrauchten Erdstücken herumliefen. Der Wächter wollte schon den Kraftausrichter nehmen und den Jungen anhalten, als Mami einfach so da war, ohne auf den Füßen gelaufen zu sein.
"Ist das dein Sohn, Meisterin Madrashmironda?" fragte der Wächter keuchend.
"Ja, das ist meiner", sagte Mami stolz. Madrashainorian rannte sofort zu ihr hin und klammerte sich an ihrem rechten Bein fest.
"Der hat mit seinen zwei Freunden unsere lange Sitzbank auseinandergekriegt, ohne die Kraft. Sowas ist verboten. Dann können sich die altehrwürdigen nicht mehr überall ausruhen", schimpfte der Wächter. Auch wenn du eine große Vertraute der Erde bist darf dein Nachkomme nicht alles machen, wonach ihm ist. Kein Wunder, wenn der ohne Vater groß werden muss, weil sein Vater aus einem barbarischen Land stammt und ..."
"Ganz ruhig, Grünwächter. Ja, es war nicht fein, dass mein Nori die Bank auseinandergebaut hat. Aber ihm dafür Schläge zu geben ist auch verboten, wenn er einmal mit seinem Wissenund seiner Auffassungsgabe wirken soll. Zur Strafe soll er die Bank alleine wieder zusammenbauen. Seine zwei Freunde kriegen dann was anderes zu tun. Ich berede das mit deren Eltern."
"Für versäumte Aufsichtspflicht in Tateinheit mit mutwilliger Sachbeschädigung entfällt eine Strafgebühr von vierzig Standardkiesel Sonnenmetall."
"Die bekommt die Parkaufsicht von uns", sagte Mami. Dann wandte sie sich an ihren Sohn.
"Los, komm, du großer Entdecker! Du musst die große Bank wieder ganz machen."
"Kann das nich'", widersprach Madrashainorian. "Mami machen mit Kraftglas."
"Nichts da, das machst du jetzt, weil du das angefangen hast. Die zwei anderen haben das nachgemacht. Aber die kriegen von mir was anderes zu tun, was genauso anstrengend ist. Also los, hopp! Alles wieder zusammenstecken und die Schrauben wieder reindrehen! Ganz schnell! Wir haben heute noch was anderes vor."
"Nnnk!" machte Madrashainorian und stampfte mit dem Fuß auf. Doch das half ihm nichts, nur dass seine Mami sagte: "Das Gras kann nichts dafür, dass du was kaputt gemacht hast. Also los!"
Es dauerte, weil Madrashainorian alle langen Stücke irgendwie tragen musste. Doch dann ging es. Dann schaffte er es mit seinen kleinen Fingern, die Drehstifte wieder in den richtigen Löchern reinzudrehen. Am Ende war die Bank wieder zusammengebaut und anderthalb Zwölfteltage vergangen.
"Bringe ihn bitte dazu, dass nicht alles, was er machen kann auch erlaubt ist", knurrte der Wächter. Dann ging er davon, um von seinem Aussichtspunkt alles besser sehen zu können.
"Hast du gehört, was der nette Onkel Grünwächter gesagt hat? Nichts anstellen, ohne dass du weißt, dass du das auch darfst oder wenn du das unbedingt machen musst, weil sonst schlimmeres passiert!"
"Ja, Mami, gut!"
"Gut, dann müssen wir jetzt auch weiter", sagte sie und nahm den Kleinen bei der Hand.
Die Freunde Madrashainorians bekamen von ihren Eltern und Madrashmironda die Strafarbeit, die großen Wasserkannen zu den öffentlichen Gemüsebeeten zu bringen und dort alle neuen Gemüsepflanzen nass zu machen. Weil die Kannen so groß waren, ging da viel rein. Dann wurden sie siebenmal so schwer wie ohne Wasser. Die beiden Jungen grummelten zwar, während Madrashainorian in sicherer Entfernung zusehen durfte.
"Mann, mit Kraftglas geht schnella!" beschwerte sich Garzayantoran über die Plackerei.
"Wohnen aber nicht nur Leute mit der Kraft in Golaritan. Die müssen sowas jeden Tag machen können", sagte Garzayantorans Vater. Darauf hielt der kleine rothaarige Junge seine faust über die volle Wasserkanne, und zwischen Kanne und Faust loderte eine kleine, orangefarbene Feuerkugel auf, die Garzayantoran in die Kanne fallen ließ, worauf das Wasser zu blubbern und zu dampfen anfing.
"So stark ist der schon?" wollte Gwendarworakians Mami wissen.
"Nur wenn er wütend ist oder vor lauter Freude nicht weiß, wohin mit der Selbstbeherrschung", sagte Garzayantorans Mutter. "Ist eben aus der Linie von Yanxothar und Kailishaia."
Das ließ Madrashainorian nicht in Ruhe, dass Garzayantoran eine Feuerkugel machen konnte, ohne einen Kraftausrichter zu haben. Er lief zwischen die Gemüsebeete und nahm sich eine der Kannen. "Ach, du auch schon!" knurrte Gwendarworakian, der gerade versuchte, zwei Wasserkannen zugleich zu tragen, um nicht andauernd laufen zu müssen. Da legte Madrashainorian seine rechte Hand auf die volle Kanne und ließ im Kopf das Lied von der schlafenden Anziehung erklingen. Er wollte es nicht laut singen, weil die anderen nicht wissen durften, dass er das schon kannte. Aber es ging auch so. Die Kanne wurde leichter, obwohl sie immer noch voll Wasser war. Das machte er dann auch mit der anderen Kanne.
"So, und jetzt das ganze wieder zurück, mein Sohn", hörte er Mamis Stimme in seinem Kopf. Er sah zu ihr hin. Sie sah zu ihm hin. Sie sah ihn ganz streng an. "Los, mach das wieder zurück. Die sollen die Kannen so schwer tragen, wie sie sind."
"Ja, ganz leicht!" quiekte Gwendarworakian. "Los, wieder die Kraft der großen Mutter aufwecken, Kleiner. Sonst schläfst du heute nacht ganz draußen!" hörte er seine Mami drohen. Aber nur er hörte das. Doch das war schon genug. Er ging zu Gwendarworakian hin und legte noch mal die Händchen auf die Kannen. Er dachte nun an das Lied der gehörigen Ordnung, das alles gegen die Natur der großen Mutter gemachte wieder zurücknahm. Unvermittelt rutschten Madrashainorians Freund die Kannengriffe aus den Händen, und die Wasserkannen schlugen dumpf auf den Boden. Zumindest zerbrachen sie nicht, weil sie aus festem Holz gemacht waren.
"Mann, war doof!" knurrte Gwendarworakian. Sein Freund deutete auf seine eigene Mami. Gwendarworakian verstand. "Achso, deine Mami böse deshalb!" Er nickte.
"So, bring ihm bitte die vollen Kannen, wo er steht!" rief Madrashmironda ihrem Sohn zu. Dieser gehorchte und trug die wieder randvollen Kannen zu seinem Freund, während Garzayantoran von seiner Mutter ermahnt wurde, nicht mit Feuer zu spielen, weil das auch böses tun konnte.
"Was habe ich dir vorhin gesagt? Nicht alles, was du machen kannst, darfst du auch einfach so machen. Dann wären wir nicht besser als diese Weltenendeanbeter in Mitternachtsblau", schimpfte Madrashmironda mit ihrem Sohn, als sie wieder zu Hause waren. "Die Erdvertrauten würden mich sehr böse ausschimpfen, wenn die mitkriegten, dass du schon das Lied von der schlafenden Anziehung unserer großen Mutter kannst. Solange du nicht im Haus der Erdvertrauten aufgenommen wurdest darfst du sowas nicht mehr machen. Hörst du?" Er nickte schuldbewusst.
Mit den weiteren Monden lernte Madrashainorian noch andere Sachen. So brachte ihm sein Halbbruder Agolar bei, wie ein Junge ohne Wickeltücher sein Wasser, Kindersprachlich Aiai, loswerden konnte oder wie er die großen, stinkenden Haufen aus seinem Po anständig loswerden konnte. Nach einigen unangenehmen Fehlschlägen ging das immer besser.
"Wenn ich dran denke, dass du das eigentlich schon längst können solltest", grummelte Agolar einmal, weil sein kleiner Bruder seinen Abwasserstrahl nicht in den großen Auffangtopf sondern daneben hielt. Doch ihre Mami rief ihn dann zur Ordnung. "Denk doch, dass er nach der ganzen Zeit in meinem Bauch und den Wickeltüchern lernen muss, wie das große machen. Du hast schließlich auch lange gebraucht, um das hinzunehmen, dass du nicht überall hinstrullern darfst."
"Damals hatte ich ja auch einen Vater, der mir das gezeigt hat", erwiderte Agolar darauf. Doch weil seine Mutter ihn dafür böse ansah sagte er besser nichts mehr.
Immer wieder probierte Madrashainorian aus, wie weit er nach oben klettern konnte, um mehr zu sehen als so schon. Außerdem dachte er immer wieder an die ganzen Lieder, die er beim Milchsaugen gehört hatte. Alle waren ganz wichtig. Doch bei vielen wusste er noch nicht genau, wie er sie richtig verwenden konnte. Die Wörter alleine reichten nicht immer, wie er mittlerweile wusste.
Zu seinem dritten Ankunftstag durften seine beiden besten Freunde und ihre Eltern, aber auch andere Kinder die so alt oder noch kleiner waren dazukommen. Sie spielten mit kleinen bunten Kugeln, die mal auf dem Boden rollten oder durch die Luft trudelten. Sie kletterten auf zusammengesteckten Stangen herum und versuchten, sich gegenseitig zu fangen. Madrashainorian hätte dafür gerne das Lied von der schlafenden Anziehung auf sich selbst angewendet. Doch er fühlte den ganz genauen Blick seiner Mami und ließ es doch bleiben.
Einmal, als er für einen Zwölftelzwölfteltag unter einem Baum stand und dessen kahle Äste sah überkam es ihn, das Lied der grünen Kinder in seinem Kopf nachklingen zu lassen. Er ließ es immer lauter in seinen Gedanken klingen. Dann fühlte er die fast totale Stille um sich herum. Da er ein Kind der vergehenden Kaltzeit war schliefen die großen grünen Kinder noch, während die kleinen gar nicht mehr da waren und nur deren Kinder darauf warteten, in der Aufwachzeit aus der Erde zu wachsen. Er hörte die ganz langsame Stimme des schlafenden Baumes ganz leise. Er stimmte sich darauf ein und hörte sie nun schneller und trotzdem tief und leise "Kalt - dunkel - warte - kalt - dunkel - warten" wispern. Da war ihm, als träfe ihn ein heftiger Schlag in den Nacken. Er fuhr herum und sah die anderen Gäste weiter weg wie ganz schnell vor Schleichtatzenjägern fliehende Kleinnager herumlaufen. Dann hörte er Mamis Stimme im Kopf. "Komm da wieder raus! Im Moment sagen die grünen Kinder nichts anderes zu uns." Sie sang ihm im Kopf die Tonfolge vor; er dachte die letzten Zeilen des Liedes, mit denen der Anwender sich wieder auf die Menschenwelt zurückstimmen konnte.
"Das lässt du besser sein, solange du nicht ganz alleine bist oder es zum tiefsten Erdspalt noch mal nötig ist, dass du eines der grünen Kinder verstehen und beruhigen kannst. Und jetzt komm bitte wieder zu uns anderen zurück. Du wurdest schon vermisst."
"Wer?" fragte er mit schuldbewusst geröteten Ohren.
"Tiroanatammaya wollte fragen, ob du mit ihr Schwebekugeln fangen spielst. Die Jungen sehen sie nicht mal mit ihrem Sitzfleisch an."
"Oh, ich komm", sagte er. Er wollte nicht, dass jemand bei seiner Ankunftstagsfeier traurig oder alleine war.
Gegen Abend gingen alle Freunde und ihre Eltern wieder zurück. Seine Mami freute sich, dass er einen so schönen Tag gehabt hatte.
Vier Sonnenkreise war er jetzt schon auf der Welt und hatte nichts vergessen, weder die Zeit in Mamis Bauch, noch die sehr anstrengende Geburt, noch alles danach. Er erinnerte sich auch daran, dass sein inneres Selbst von seinem Vater Julius Latierre mitgemacht worden war. Deshalb konnte er sich auch immer mal wieder an Sachen erinnern, die der gemacht hatte. Doch empfinden und fühlen konnte er nur als Madrashainorian, der jeden Tag mehr dazulernte, ohne weitere Lieder der Kraft zu lernen. Dass er welche schon anwenden konnte blieb ein Geheimnis zwischen Mami und ihm. Selbst seine Freunde wussten nicht, wieso er die Wasserkannen leicht gemacht hatte.
Im zweiten Mond der Heißzeit strolchte er mit Garzayantoran und Gwendarworakian, was schneller Feuerträger und der vom erhabenen Turm hieß, durch die Getreidefelder. Den Sohn der Madrashmironda juckte es in den Ohren, sich auf die Gefühlsäußerungen der Pflanzen einzustimmen, wie er es an seinem dritten Ankunftstag gemacht hatte. Doch seine Freunde waren dabei und sollten das nicht mitkriegen, weil er dann nichts anderes hören würde.
"Da drüben steht das verlassene Haus von Korakolan, dem Lanzenwerfer der Königsgarde. Da ist seit ganz vielen Jahren keiner mehr drin gewesen", sagte Garzayantoran. "Wer traut sich?" fragte er seine zwei Freunde. Madrashainorian hatte von seiner Mami gelernt, dass in alten Häusern die rastlosen Seelen unglücklich gestorbener Leute wohnen konnten. Aber er hatte auch gehört, dass in solchen Häusern gefräßige Tiere wie die kleinen und großen Allesnager wohnen konnten, die von den Schleichtatzenjägern gefangen und gefressen wurden. Deshalb zögerte er.
"Da der alte Korakolan ein großer Krieger war und ich auch mal einer werde geh ich da jetzt rein", sagte Gwendarworakian. "Ihr Hosenmacher könnt ja draußen warten oder mitkommen."
"Ich geh da nicht rein. Korakolan hat ein böses Lied gesungen, dass sein Haus jeden auffrisst, der reingeht, wenn er nicht drin is'", sagte Garzayantoran.
"Sag ja, Hosenmacher", knurrte Gwendarworakian und sah herausfordernd auf Madrashainorian. Der stand ruhig da und schien zu lauschen.
"Du, da ist was im Haus. Vielleicht große Nager oder Klebnetzweber oder andere Kleinviecher."
"Natürlich, Kellerkrabbler und Hundertfüßler und ja vielleicht auch ein dicker, fetter Nacktschwanznager mit seinen hundert Frauen und zweihundert Kindern", sagte Gwendarworakian. "Dann bleib du bei deinem Feuerspielfreund. Ich geh da jetzt rein und jage den alten Korakolan raus, wenn der ohne seinen alten Körper da noch wohnt."
"Könnten echt fiese Kleintiere drin wohnen", sagte Madrashainorian.
"Die kuschen doch vor dir, weil du der Sohn einer ganz großen Erdflüsterin bist", spottete Gwendarworakian. Dann ging er trotzig aufgerichtet los.
"Das Haus ist gefährlich. Mein Vater hat das gesagt, dass da nur noch Tiere drin wohnen können, weil Korakolan keine Menschen mochte", flüsterte Garzayantoran. sein Freund nickte zustimmend. Es gab so Lieder der bösen Kraft, von den anderen Leuten auch Flüche genannt, mit denen ein Haus oder ein Feld verdorben werden konnte. Aber er hatte auch gehört, dass die Waffenträger der Königsgarrden meistens nicht was mit der höheren Kraft machen konnten und sich die ganzen Lanzen, Schwirrpfeile und Schwerter von Schmieden der Kraft machen lassen mussten.
"Das Haus ist leer. Kein ganz böser Fressgeist da!" rief Gwendarworakiian von drinnen. Dann folgten einige Herzschläge reine Stille. Dann hörten sie ein wildes Brummen, Summen und Surren. "Langnasentrötermist! Stechsummer!" schrillte Gwendarworakians nun sehr ängstliche Stimme aus dem Haus.
"Stechsummer. So'n Tier hat mir letzte Heißzeit in die Nase gestochen, weil ich an einer Blüte schnuppern wollte", wimmerte Madrashainorian. Garzayantoran sah in dem Moment fünf sehr aufgeregte gelb-schwarz geringelte Kerbtiere aus dem alten Korakolan-Haus herausfliegen und zielte mit der Hand darauf. Mit lautem Knall sprangen drei Feuerkugeln aus dem Nichts heraus gegen die heransurrenden Kerbtiere an. Madrashainorian bekam vor Furcht ganz große Augen. Der eine kleine Stechsummer in der letzten Heißzeit war eigentlich ein Süßgoldsammler. Das hier waren richtige Stechsummer, die andere Fliegetierchen auffraßen, aber auch gerne Früchte oder eben Süßgold haben wollten. Und aus dem Haus kamen noch mehr.
Garzayantoran ließ die von ihm gerufenen Feuerkugeln wild herumspringen und die heransummenden Stecher darin zerplatzen. Doch dann gingen die Feuerkugeln einfach aus. Wo war Gwendarworakian?
"Gwen, wo bist du? Komm raus da!" rief Madrashainorian und sah die nun auf ihn zusurrenden Stechsummer. Sein Freund versuchte noch einmal Feuerkugeln zu machen. Doch das ging nicht. "Langnasentrötermist, bin müde. Kann keine Feuerkugeln mehr. Mami!" Er warf sich herum und lief einfach weg, ganz schnell. Madrashainorian blieb zitternd zurück. Wie gerne wäre er jetzt auch weggelaufen. Denn die ihn umfliegenden Kerbtiere machten ihm mehr Angst als der große Feuerspucker, den Garzayantorans Mutter einmal gezeigt hatte. Er wusste, gleich würden sie stechen und ihm ganz doll weh tun. Doch sein Freund war noch da drin. Wenn die den schon stachen kam der vielleicht nicht mehr raus. Der musste aber da wieder raus.
Eine scheinbar lange Zeit stand Madrashainorian da. Dann lief er los. Als ihn der erste Stechsummer direkt vor der Nase herumflog verhielt er einen Moment den Lauf. Doch dann rannte er weiter in das Haus, aus dem ihm noch mehr Stechsummer entgegensurrten. Sein kleines Herz hämmerte so schnell wie zu letzt vor seiner Geburt. Da hatte er auch Angst gehabt, nicht aus Mami herauszukommen und das hatte ihm auch ganz weh getan. Doch diese Stechsummer waren nicht wie seine Mami, die ihm nicht weh tun wollte und der er ja durch das Rauskommen auch ganz doll weh getan hatte.
Der erste Stich traf ihn an der linken Wange. Das tat schon ganz gut weh. Doch das würde noch schlimmer. Er ließ sich auf die Knie fallen und krabbelte eine lange Steintreppe runter. Die Stecher umschwirrten ihn und stachen ihn. Er zählte schon nicht mehr mit, wie oft er erwischt worden war. Dann sah er durch die ebenfalls schon gestochenen Finger seinen Freund. Der lag am Boden, umschwirrt von der großen Menge der Stechsummer. Wo waren die hergekommen. Madrashainorian zitterte und bebte. Kalter Schweiß brach aus seiner ganzen Haut, die schon mit vielen ganz doll weh tuenden Stichen überzogen war. Doch er kämpfte gegen die Angst und die Schmerzen und gegen die immer noch um ihn herumschwirrenden Stechsummer an. ER schaffte es gerade so, nicht in einen auf Gwendarworakians Arm sitzenden reinzufassen. Er bekam ihn zu fassen und dachte trotz der Schmerzen und der ganzen Angst an das Lied der schlafenden Anziehungskraft. Offenbar machte seine Angst, dass seine Kraft schlagartig machte, was sie sollte.
Auf einmal flogen er und sein Freund wie die Stechsummer über dem Boden und stiegen zur Decke. Die wilden Kerbtiere kamen mit der plötzlich umgekehrten Anziehungskraft der großen Mutter besser klar, weil sie das Fliegen ja kannten. Doch der Sinn für oben und Unten fehlte den kleinen, aufgebrachten Kerbtieren jetzt. Damit fehlte ihnen das Richtungsfühlen. Das machte sie zwar noch wütender. Als sich dann die Deckenbalken nach oben durchbogen und krachend nach oben wegbrachen und hochflogen wurden auch die vielen Summer nach oben durch die Decke gewirbelt.
Irgendwie wusste Madrashainorian noch, dass er selbst fliegen konnte, wenn er den Schlaf der Erdanziehung hinbekommen hatte. Doch hier schlief die alles nach unten zerrende Kraft nicht nur, sondern war völlig umgedreht worden. Sie stiegen weiter nach oben, durch die Decke durch. Die Stechsummer umwirbelten sie. Hier und da bekamen sie noch Stiche ab. Doch wegen der ganzen anderen fühlte Madrashainorian das nicht mehr. Dann waren sie aus dem Haus heraus. Madrashainorian wünschte sich, mit seinem freund noch zwanzig Männer- oder Frauenschritte weit von dem Haus weg. Summ! ein vereinzelter Stechsummer erwischte ihn voll an der linken Ohrmuschel. das brachte die Kraft, mit der er das Lied in Gang hielt, aus dem Gleichgewicht. Sofort schlug die Richtung der Anziehung wieder in die gehörige Richtung um. Die beiden Kinder aus Altaxarroi stürzten noch schneller als sie aufgestiegen waren nach unten. Doch Madrashainorian dachte an die Worte der Unversehrtheit, die er ebenfalls mit der Muttermilch aufgesogen hatte. So prallten sie zwar auf den Boden, federten aber davon ab und landeten sanft. Wegen der Stechsummerstiche merkten sie nicht, was ihnen alles weh tat.
Mit einem die Ohren betäubenden Krachen und Poltern fielen alle wieder in die Tiefe gerissenen Stücke des Hauses zurück. Das ganze Korakolan-Haus brach donnernd und dröhnend in sich zusammen. Dabei spie es eine gewaltige Staubwolke aus. Nur die Stechsummer, die ins Freie gelangt waren, entgingen dem Einsturz. Jetzt kam Madrashainorian darauf, in Gedanken um Hilfe zu rufen.
Wie lange er so am Boden gelegen hatte wusste er nicht. Jedenfalls waren auf einmal seine Mami und dreißig andere große Leute da, unter anderem auch Gwendarworakians Eltern. Diese riefen einen Sturm aus Luft und Feuer herbei, der die noch fliegenden Stechsummer totbrannte. Den Menschen passierte nichts.
"In die Heilfässer mit den beiden!" rief eine Trägerin der Kraft, die in einen blauen Umhang mit Kopfstück gekleidet war. Sofort traten vier ihrer Heilergenossen herbei und hoben die stark zerstochenen Kinder auf. Keinen Moment später fühlte Madrashainorian sich wieder wie in Mamis Geburtsweg. Denn um ihn war alles schwarz und es drückte ihn so stark zusammen, dass er schon meinte, jetzt auch noch zerdrückt zu werden. Dann war es auch schon wieder vorbei.
Madrashainorian biss die Zähne zusammen. Er wollte nicht schreien, obwohl ihm alles weh tat. Außerdem horchte er, ob noch ein Stechsummer herumflog. Doch er hörte keinen.
Mit der höheren Kraft wurden ihm alle Sachen ausgezogen, bevor er frei durch die Luft fliegend auf ein großes blaues Fass zutrieb. Wie aus dem Nichts hing ein Stück von einem Schlauch vor seinem Mund. Er brauchte nicht zu fragen, wozu das sein sollte. Er erwischte es mit dem Mund. Darin waren Gummizapfen, auf die er ganz fest draufbeißen konnte. Trotzdem konnte er noch Luft holen. Dann landete er bis über seine Haare in dem Fass. Um ihn herum gluckerte es. Dann hörten seine Schmerzen auf. Das Fass mit dem Heilbad machte alles wieder heile und zog zugleich auch das Gift aus seinem Körper, dass die Stechsummer beim Stechen in jemanden reinspritzten.
"Na, wie vor vier Jahren", hörte er Mamis Stimme in seinem Kopf. Ja, das Zeug, in dem er war war nass wie Wasser und warm. Aber das um ihn stehende Fass war nicht so weich und warm wie das innere Nest von seiner Mami. Außerdem musste er Luft holen und wieder rauslassen, was damals nicht nötig war. So dachte er zurück: "Nur ein bißchen, nicht ganz. Du warst schön weich und lieb."
"Das freut mein Mutterherz doch, dass es nicht umsonst so lange für dich mitgeschlagen hat."
"Was ist mit Gwen?" wollte er wissen.
"Der hat wohl einen Starrkrampf, vielleicht sogar einen Schock. Wenn der das Gift der Stechsummer nicht verträgt wird es schwer, ihn wieder ganz heile zu machen."
"Warum ist der auch da reingelaufen?" fragte Madrashainorian. Dann erkannte er, wie ihn das selbst fertiggemacht hatte. Er zitterte wieder am ganzen Körper. Doch dann fiel ihm ein, dass er trotzdem, dass er ganz viel Angst gehabt hatte, seinen Freund da rausgeholt hatte. Garzayantoran war ja weggelaufen, weil sein Feuerspielzeug die Stechsummer nicht alle totgebrutzelt hatte. Er war nicht vor diesen Summtieren weggerannt. Deshalb konnten sie Gwen sicher wieder heile machen. Sollte er jetzt noch Angst vor einzelnen dieser Tiere haben, wo er gegen ganz ganz viele gekämpft hatte? Er hatte doch nicht gekämpft. Er hatte sich nur nicht von denen wegjagen lassen.
"Um das Stechsummergift ganz aus euch rauszukriegen bleibt ihr noch einen halben Zwölfteltag im Heilbad", hörte er die Stimme der Heilerin durch die Fasswand. Was dann noch in euch drinsteckt kann mit dem Giftreinigungstrank aus euch herausgespült werden. Keine Angst mehr! Du warst so tapfer. Dann hältst du das da drinnen noch so lange aus. Wenn du musst lass unter dir. Das Heilbad löst das auch auf.""
"Der träumt noch häufig davon, wie er in meinem warmen Leib gewohnt hat", scherzte Madrashmironda. "Das ist für ihn eine Rückkehr zur völligen Geborgenheit."
Als Madrashainorian aus dem Heilfass herausgehoben wurde war von den Stichen nichts mehr zu sehen und zu spüren. Seine Haut war glatt und unversehrt. Gwen hatten sie in ein Schlafzimmer im Heilerhaus getragen. Lebte der noch? Das fragte er die Heilerin, die ihm geholfen hatte.
"Gerade so noch. Sein Herz hat ganz schwach geschlagen und dabei ganz schnell. Dass er nicht erstickt ist liegt an unserer Beimischung von frischem Atemdunst. Aber wir werden ihn noch für die Nacht hierbehalten."
"So, Junge, da dieser Feuerbengel ja seiner Veranlagung gefolgt und weggelaufen ist will ich jetzt von dir hören, was genau passiert ist", schnaubte Gwens Dada ihn an. Madrashainorian fühlte wieder Angst aufkommen. Gwens Vater konnte Sachen mit der Kraft machen. Doch dann sagte er ganz entschlossen:
"Gwen wollte ins Haus. Der fand das ganz mutig, weil da sonst keiner mehr wohnt. Wir haben dem gesagt, dass da böse Tiere wohnen können. Garz hat sogar gesagt, dass da der alte Korakolan noch wohnt. Aber Gwen wollte da rein."
"Wehe, ihr habt den angestiftet, da reinzugehen", schnaubte Gwens Dada. Madrashainorians Mami wandte sich an Gwens Dada.
"Sagolohan, wenn mein Sohn deinen Sohn zu diesem Leichtsinn angestachelt hätte wäre er doch bei den ersten Stechsummern weggerannt. Ist er aber nicht. Sei froh, dass er ihn da noch herausgeholt hat!"
"Ja, aber was ist mit dem Haus geschehen? Hat wer die Kraft benutzt, um es einstürzen zu lassen?"
"Sicher, mein Sohn. Er ist der Sohn einer Erdvertrauten. Sicher liegt es in seinem Blut, die Kraft der großen Mutter zu rufen, wenn er in ganz großer Angst ist, genau wie Garzayantoran mal eben frei fliegende Feuerkugeln machen kann, weil er das will."
"Dann krieg ihn bloß dazu, bei eurer Schule aufgenommen zu werden, damit der nicht ganz Golaritan zusammenbrechen lässt!" hörte Madrashainorian.
"Das ist er schon bei seiner Zeugung", lachte Madrashmironda. "Wer von einer Hochmeisterin der großen Mutter empfangen, getragen und aus ihrem Lebenskelch der Welt gegeben wird, zieht bei der siebten Wiederkehr seines Ankunftstages in das Haus der Töchter oder Söhne der großen Mutter ein.
Ein Viertelmond verging. Jetzt stand die große Himmelsschwester in ganzer runder Pracht am Himmel. Madrashainorian hatte sich von dem Ausflug zum alten Korakolan-Haus wieder erholt. Zwar schrak er immer wieder zusammen, wenn auch nur ein schwarzer Rüsselsummer um ihn herumflog. Doch das legte sich von mal zu mal. Gwen war nicht so gut weggekommen. Die Heiler hatten rausbekommen, dass sein Körper das Stechsummergift nicht so vertrug wie die meisten anderen Leute. Auch Gwens Vater hatte diese Unverträglichkeit, wie Madrashainorians Mami es nannte. Warum er bisher nicht so heftig erwischt worden war lag einfach daran, dass um sein Haus und seine Arbeitsstätte ein Wall aus Feindrücktreibekraft lag. Da die Stechsummer unbewusst zu seinen Feinden gehörten wurden sie ständig auf Abstand gehalten.
Endlich konnte Gwen aus dem Heilerhaus heraus. Er war erst wütend, als er Madrashainorian und Garzayantoran sah. Doch als sein Vater ihm befahl, sich bei Madrashainorian zu bedanken, erkannte er, dass das wohl gerade richtig war.
Weitere Heißzeiten kamen, und aus Madrashainorian war ein noch aufgeweckterer Junge geworden. Sein fuchsrotes Haar wurde ihm von seiner Mutter immer so geschnitten und gestriegelt, dass es bis in den Nacken reichte und glatt anlag. Seine Augen waren hellgrün, wie die von frischem Laub, und er hielt sich mit viel Laufen, Springen, Baden und Klettern stark.
Seine Mami zeigte ihm die Zeichen, mit denen gesagtes für andere zu sehen war. Sie erzählte ihm, dass es drei Arten davon gab, die Zeichen des Alltäglichen, mit dem die Sachen aufgemalt und bewahrt wurden, die zu den gewöhnlichen Sachen gehörten, wie woher jemand frische Früchte, Groß- oder Wollmilchermilch oder die ganzen Brotarten bekommen konnte und was dafür herzugeben war. Dann gab es die Zeichen der Bewahrung, womit all das für später aufgemalt oder in feste Sachen reingebrannt oder geritzt wurde, was die Könige und die Großmeister der erhabenen Kräfte so machten oder sagten. Die dritte Form war wichtig für die Verwendung der alten Lieder und für die die neue Lieder machen und anderen beibringen wollten, die Zeichen der höheren Kraft.
Als der siebte Tag seiner Ankunft auf der Welt gefeiert wurde las seine Mami ihm ganz fröhlich aussehend einen in steingrauer Farbe gehaltenen Brief aus blattgrünen Zeichen der Erhabenheit vor.
"Gegrüßet seist du, Freude der großen Mutter, Sohn der von der großen Mutter geliebten und begüterten Lebensquelle der großen Mutter! An dem Tage, an dem du dieses unser sprechendes Blatt lesen oder von deiner mächtigen Mutter vorgelesen bekommen kannst, wird dir große Ehre entboten. Ab diesem Tage wirst du mit den Söhnen großer Vertrauter der großen Mutter Erde im Hause der Erkenntnisse und Fertigkeiten wohnen und dort all die Dinge lernen, die dich selbst zum von der großen Mutter begüterten und in Stolz behüteten Kundigen machen. Als durch den Lebenskelch einer bereits hochverehrten Meisterin auf unsere Welt gelangt wird dir diese große Ehre gewährt, die sonst nur Jungen und Mädchen gewährt wird, die bereits groß und stark genug sind, selbst Vater oder Mutter werden zu können. So erfreue dich an diesem seltenen Vorrecht, bereits ab diesem Jubeltage all die Dinge zu erfahren und zu üben, die uns vom Wege der großen Mutter helfen, die Kräfte und das Wissen der großen Mutter Erde zu rufen und zu nutzen. Erfreue dich, dass du dereinst selbst zum Quell des erhabenen Wissens aus dem Schoße der großen Mutter werden wirst, denn in dir wohnt das Erbe starken Blutes und großer Weisheit!
Wir, die Hüter und Darbringer des großen Wissens, erwarten dich mit großer Vorfreude in der Halle der Begrüßung, bevor der große Vater Himmelsfeuer sein helles Gesicht in den Schoß unserer großen Mutter bettet, um dort bis zum neuen Tage auszuruhen. Doch sei auch bedacht, dass du ab diesem wichtigen Tage nicht nur für dich selbst da bist, lernst und handelst! Denn ab diesem Tage gehörst du zu einer großen Gemeinschaft, der Gemeinschaft des Weges der großen Mutter.
Die Lebensquelle der großen Mutter wird dich, bevor der Tag verlöschen soll, zu uns in die Halle der Begrüßung bringen und dich dort in unserer fürsorglichen und kundigen Obhut lassen. Sicher wirst du darüber auch traurig sein, weil deine liebende Mami dich dann nicht mehr jeden Tag sehen oder sprechen kann. Doch die Freude, großes und wichtiges zu lernen, wird den Schmerz der Trennung überwinden und dir Kraft und Zuversicht geben, ihr und dir große Ehre zu erweisen.
So freue dich und komm zu uns, deinen Brüdern und Schwestern!"
"Siehst du, was ich dir gesagt habe. Du darfst nun in das große Haus der Söhne der großen Mutter einziehen. Du erinnerst dich doch ganz sicher noch daran, wie wir beide oft genug daran vorbeigegangen sind, als du noch kein Jahr auf der Welt warst?" wandte Mami sich an Madrashainorian. Dieser hatte das achso wichtige graue Schreiben mit seinen großen, hellgrünen Augen angeglotzt, als würden da gleich Stechsummer herausfliegen und ihm ins Gesicht stechen. Doch irgendwas in ihm vertrieb seine Trübsal. Er konnte jetzt endlich die Sachen richtig lernen, die er schon seit seiner schmerzhaften Ankunft auf der Welt mit Mamis Milch in sich hineingetrunken und tief in sich festgehalten hatte. Jetzt endlich konnte er das lernen. Das freute ihn so sehr, dass er mit seiner Mami und dem großen glutheißen Vater Himmelsfeuer um die Wette strahlte.
"Ich bringe dich gleich nach dem Fest nach Madrashghedoxalan ins Haus der Söhne der großen Mutter. Das heißt, ich darf dich nur bis zur Halle der Begrüßung bringen. Denn außer den Lehrmeisterinnen der geschlechtlichen Freuden und Pflichten darf keine Frau weiter in das Haus hineingehen. Aber erst einmal feiern wir mit deinen Freunden den großen Tag, bevor du mich und sie lange nicht mehr sehen darfst."
"Wie, du darfst schon zu den Erdleuten ins Haus rein?" fragte Gwendarworakian verächtlich. "Mein Vaterbruder durfte da erst rein, als er zwanzig Tage lang bei einer anderen Erdmeisterin im Garten eingebuddelt gewesen war, bis die ihm gesagt hat, dass er endlich da einziehen darf."
"Die sprechenden Zeichen sagen, dass ich da jetzt schon rein darf, weil ich ja schon in einer Erdvertrauten drin gewesen und aus der rausgekommen bin", antwortete Madrashainorian stolz. "Wer in einer Erdvertrauten gewesen oder von einem Erdvertrauten in eine andre Frau reingeschickt und dessen Blut in den Körper bekommen hat darf schon mit sieben Sonnen da rein."
"Das ärgert mich. Meine Mutter ist eine Windsängerin und mein Vater ein Schreiber des Windkönigs. Aber trotzdem darf ich noch nicht lernen, wie die Lieder vom Wind gehen und was ich damit alles machen kann. Garz kann ja von den Feuerrufern lernen, wenn er vom großen Vater Himmelsfeuer hingeschickt wird. Aber ich?"
"Ich Weiß nicht, wie die Windsänger ihre neuen Mitsänger suchen und denen alles beibringen", sagte Madrashainorian. Aber Aimartia, die mit Agolar zusammenwohnt, die ist eine von denen. Wenn du willst, frage ich die. Die kommen ja auch noch."
"Neh, lass mal!" winkte Gwendarworakian ab. "Wenn die wollen, dass ich bei denen mitmache sagen die mir das, wie das geht. Aber das dauert wohl noch zehn Sonnen oder sowas."
"Na, Jungs!" rief Garzayantoran und ließ für den Gastgeber Madrashainorian seine neueste Erfindung, die blaue Tanzflamme über seinen nach oben offenen Händen aufsteigen, wippen, sich drehen und dann mit einem weiten Sprung in den Himmel verschwinden. "Ich hab's von meinen Eltern, dass du schon heute aus Golarritan weggebracht wirst. Deshalb werde ich heute mal alles vergessen, was mein Dada so über die Feuersachen sagt, dass ich die noch nicht so machen darf. Also, kuck mal!" Mit diesen Worten klatschte er in die Hände und zog sie wieder auseinander. Dabei flogen laut prasselnd rote und blaue Funken zwischen den Händen herum, die sich zu einer langen, flackernden Feuerschnur zusammensetzten. Diese Schnur drehte und zog sich in der Luft so, dass sie "Alles gute zum Ankunftstag!" in den Zeichen der Erhabenheit in die Luft brannte. Dann schnippte er mit den Fingern der linken Hand, und aus der Feuerschrift wurde ein grinsendes Männergesicht mit loderndem Schnauzbart. Dann hielt Garzayantoran seine Hände mit gespreitzten Fingern ruckartig nach oben, blieb so und riss dann die Arme ganz nach vorne ausgestreckt wieder nach unten. Mit einem lauten Knall schlug ein greller Blitz vor Madrashainorian in den Boden. Ein merkwürdiger Geruch von verbranntem Holz und etwas, dass er erst nicht erkannte, hing einen Moment in der Luft. Dann fiel ihm ein, wonach es roch: Ozon. Woher kannte er diesen Namen? Der war doch nicht aus seiner Muttersprache.
"Sag mal, Garz, haben dich böse Dunkelgeister gebissen, dass du so'n Knalllicht vom Himmel runterreißt?!" brüllte Gwendarworakian, der nur zehn seiner Schritte von der Stelle wegstand, wo der Blitz in den Boden gefahren war.
"Ui, zieht viel Kraft", stöhnte Garz. Da ploppte Madrashainorians Mami vom Kurzen Weg herunter genau neben Garzayantoran und sah ihn sehr verärgert an.
"Ich wollte es nicht glauben, als deine Mutter behauptet hat, du könntest schon Blitze rufen. Aber ich habe es nun gesehen und wie alle anderen auch gehört. Dir ist klar, dass du mächtig Ärger mit den Wächtern des Feuers kriegst, wenn du das vor vielen Leuten machst?"
"Meisterin Madrashmironda, ich wollte deinem Sohn nur zeigen, dass ich schon die hohe Kraft ganz genau machen lassen kann, was ich will."
"Nur dass jetzt irgendwo über unserer erhabenen großen Mutter irgendwo in einer Wolke ein Wolkenfeuerlicht fehlt und dadurch das ganze Wettergefüge durcheinanderkommt oder anderswo da, wo kein Wolkenfeuer sein darf eins auflodert und damit anderen sehr weh tun kann. Ich weiß das, dass auch ihr Feuerrufer nicht mal eben überall die mächtige Kraft des Feuers zum Spaß rufen dürft. Also lass sowas bleiben, solange du hier in meinem Haus bist!"
"Ach zum großen, roten Feuerbläser! Dein Sohn hat doch auch schon Sachen von euch Erdvertrauten gemacht, wo der noch in Auffangtüchern rumgelaufen ist, ey!" maulte Garz, der sich nicht so einfach von einer anderen als seiner Mami oder seinen Dada ausschimpfen lassen wollte.
"Schön, du hast gezeigt, dass du schon Wolkenfeuer rufen kannst. Nori hat es auch gesehen. Das reicht jetzt", sagte Madrashmironda.
"Das erhabene Blut kann sich nicht ruhig verhalten", lachte Garz' Vater und sah seinen Sohn eher aufmunternd als tadelnd an.
"Mach deinem Sohn jetzt auch noch mehr Mut, gegen eure Gesetze zu verstoßen!" sagte Madrashmironda. Dann ging sie, um ihren Sohn Agolar und seine Gefährtin zu begrüßen.
Nori bekam zum erfolgreichen Eintritt in die erhabene Gemeinschaft der großen Mutter eine graue Kopfbedeckung, die wie das obere, spitze Ende eines unbewohnten Vogeleis aussah. "Das ist die für Jungen übliche Bedeckung. Töchter der großen Mutter, die noch keine erblühten Frauen sind bekommen ein graues Haarband mit Bergglaskugeln darin", hörte er Mamis Stimme in seinem Kopf.
"Muss ich diese Mützen immer aufhaben, wenn ich bei denen bin?" fragte er in Gedanken. Dass er mit seiner Mami schon seit ihrem inneren Nest so Wörter austauschen konnte war das größte Geheimnis zwischen ihr und ihm.
"Nur, solange ihr nicht in den Gärten oder Hallen der körperlichen Übungen seid oder du von einer Meisterin der geschlechtlichen Freuden und Pflichten zu einer Einzelübung mit ihr aufgefordert wirst. Auch musst du sie nicht beim Schlafen tragen. Dann wird sie im Raum der Reinheit von Staub und Körperschmutz freigewaschen und getrocknet."
"Ich dachte schon, die werden böse, wenn ich die nicht immer auf dem Kopf habe", schickte Madrashainorian zurück. Bei dem Gedanken an die Meisterinnen der geschlechtlichen Freuden und Pflichten kamen ihm beinahe vergessene Erinnerungen an das, was von seinem Vater, dem goldhaarigen Fremden namens Julius Latierre, in seine Erinnerungen hinübergeflossen war. Wann würde er dieses erhabene Spiel, das die Großen den Lebenstanz nannten, spielen dürfen? Und was würde er dafür hergeben oder aushalten müssen?
Das Fest ging noch einen halben Tag. Dann rief Madrashainorians Mutter: "Ich freue mich, dass ihr alle meinem Sohn noch einmal einen großen und freudigen Tag beschert habt. Ihr wisst alle, dass er ab heute im Haus der Söhne der großen Mutter wohnen wird, um dort die Künste und Kenntnisse der großen Allgebärerin und Wiederbringerin zu erlernen und weise zu verwenden. Deshalb möchte ich euch alle nun bitten, uns beide für diesen erhabenen Weg alleine zu lassen. Sicher wird mein Sohn allen schreiben, wie es ihm geht, solange er keine nur den Vertrauten der großen Mutter gehörige Dinge erzählt. Sagt ihm also bitte jetzt euren Abschied und wünscht ihm Glück und Erfolg, wie es sich für Leute gehört, die zu einer langen Reise aufbrechen!"
Die Gäste kamen und verabschiedeten sich von Madrashainorian, der stolz und glücklich zurückgrüßte. Garzayantoran zwinkerte ihm zu: "Mein Dada sagt, dass deine Mami ab kommendem Tag wieder für andere Jungen da sein kann, die auch zu den Erdvertrauten hinwollen. Hoffentlich ärgert dich das nicht, wenn du einmal zurückkommst und sie von wem anderem ein Kind in ihrem Bauch hat."
"Ich weiß nicht, was du meinst, Garz. Aber danke, dass du mir Glück und Erfolg gewünscht hast. Das wünsche ich dir auch, wenn du zu den Feuerrufern gehst."
"Und ich kriege meine Eltern dazu, das schon klar zu machen, dass ich auch schnell bei den Windsängern reinkomme", grummelte Gwendarworakian. Dann flüsterte er: "Auch noch mal vielen Dank, dass du mich damals aus dem Stechsummerhaus von Korakolan rausgeholt hast!" Dann zog sich Gwendarworakian schnell wieder zurück, weil Agolar kam, der seinem Halbbruder noch ein paar Worte zum Abschied sagen wollte.
"Lass dich von den größeren Jungen in dem Haus nicht zur Wut oder Angst verleiten, nur weil du schon so früh dort wohnen darfst und sie erst eine Zeit der Unterwerfung und Hingabe an eine andere Meisterin unserer großartigen Gemeinde erdulden mussten, bevor sie die großen Kenntnisse bekommen durften. Es kann sein, dass nicht viele in die Gemeinschaft hineingeborene Söhne im Haus wohnen und du deshalb mit einberufenen zusammenwohnen wirst. Deshalb sei immer aufrecht und mutig, entschlossen aber auch rücksichtsvoll, ehrlich und unerschütterlich! Leider darf ich dich nicht selbst in das Haus bringen. Aber wie bei einer Geburt ist jeder, der als mit allem vertraut aus dem Haus hinausgeschickt wird unfähig, dort wieder hineinzugehen, sowie ein Kind nicht mehr in das innere Nest seiner Mutter zurückkriechen kann. Nur wenn ich einen eigenen Sohn habe, der dort lernen soll, darf ich in die Halle der Begrüßung, aber nicht weiter. So bleibt mir nur, auf diesen großen Tag hinzuarbeiten. Erweise dich der Mühen, Schmerzen und Hoffnungen deiner und meiner Mutter würdig!"
"Viel Spaß mit Aimartia", grinste Madrashainorian. Er wusste schon längst, dass Agolar die junge Kennerin der grünen Kinder bewunderte, die von einer Einberufenen zur Welt gebracht worden war. Zwar kam Aimartia nicht an das ran, was Madrashainorians Mutter über die Pflanzen und ihre Art der Verständigung wusste. Doch sie war auch eine halbe Windsängerin, was an ihrem Vater lag.
Bevor die Sonne den Himmelsrand im roten Licht erglühen ließ reisten Madrashmironda und ihr Sohn mit einem kugelrunden Stein mit glitzernden Längs- und Querlinien darauf über die alten Fernstraßen, die vor einigen Hundertsonnen gebaut und durch die Kraft so gut benutzbar gemacht werden konnten. Durch einen langen Lichtertunnel aus rotem, blauen und silbernem Leuchten ging es bis zum Tor von Madrashghedoxalan, der Stadt im Lebenskelch der großen Mutter. Beim Anblick des tief eingeschnittenen Tales, in dem der Eingang lag musste Madrashainorian daran denken, wie sein Vater sich mit seiner Mutter verbunden hatte und irgendwie etwas von sich in ihm zurückgelassen hatte, bevor er irgendwie aus der Welt verschwunden war. Das Zugangstor öffnete sich, und mehrere hundert Männer und Frauen jubelten den Ankömmlingen zu, als sei der König der Erdvertrauten selbst aus Golaritan zu Besuch gekommen.
Von heute an wirst du deinen Weg machen. Ich habe dich bis hierhin getragen und geführt, mein Sohn. Geh ihn nun aufrecht." Ihre Stimme hallte in den langen Gängen der tief im Schoß der Erde gelegenen Stadt wider. Dann hörte er noch ihre Gedankenstimme: "Sonst hätte sich die Zeit in und mit mir nicht gelohnt."
Das Haus der Erdvertrauten war eigentlich kein freies Gebäude, wie er es in der Hauptstadt kennengelernt hatte. Es war eigentlich eine Ansammlung von ausgebauten Höhlen, die hinter einem steinernen Tor verborgen lagen. Madrashmironda ritzte sich mit einem schwarzen Steinmesser an der rechten Hand und legte diese auf eine Stelle im Tor, die wie zwei ineinandergreifende Hände aussah. "Ich, Madrashmironda die zwanzigste, Tochter von Madrashmironda der neunzehnten und Gwendarthammayan dem zwölften, Hüterin und Darbringerin des erhabenen Wissens unserer großen Mutter, der allgebärenden und Wiederbringenden, Trägerin des Lebens und der Formen, erbitte für meinen Sohn Madrashainorian, bereits vor seiner Ankunft in der Welt mit seinem Namen bedachten, den Zugang zum Hause der Vertrauten!" Die zusammengefügten Hände glühten rot auf. Gleichzeitig schimmerte es um Madrashmironda und ihren Sohn in jenem Grün, in dem die grünen Tränen der Großen Mutter schimmerten, wenn sie dem Gesicht der Allgebärerin entrissen wurden. Das Licht wurde immer stärker. Dann erklang in ihren Köpfen eine laute, schmerzhafte Stimme: "Ihr seid erkannt und für recht befunden worden. Bringe dein Fleisch und Blut in die Halle der Begrüßung, Tochter unserer großen Mutter!"
"Was ist das für ein Licht?" fragte Madrashainorian und deutete auf seine Mutter. Alle Formen ihres Körpers wurden von diesem grünen Licht nachgezeichnet, genau wie bei ihm. Doch bei ihm war da noch was, ein Schimmer wie von Gold, den Tränen des großen Vaters Himmelsfeuer.
"Das ist das innere Licht, das jedem eigen ist und nur von denen nach Außen gerufen werden kann, die die Gabe der Lebenshauchsicht besitzen oder ein Lied der Lebenssuche singen. Warum das bei mir grün wie Grünstein ist weiß ich nicht. Aber du hast es auch geerbt, was zeigt, dass du eindeutig mein Fleisch und Blut und ein Teil meines inneren Selbst bist. Fühle dich geehrt, dass dein Vater den Mut hatte, sein und mein inneres Selbst miteinander zu verbinden und sein Fleisch und Blut mit meinem zu neuem Leben zu rufen! Das ist vorerst der letzte mütterliche Rat, den ich dir erteilen darf."
Das Steintor glitt tief grollend zur Seite. Dahinter lag eine zwanzig mal dreißig Männerschritte messende Halle. Die starke Kraft der Stadt der großen Mutter, die jeden ihr und ihren Bewohnern freundlich gesinnten Besucher oder Bewohner die Gabe verlieh, ohne vom Feuer kommendes Licht zu sehen ließ Madrashainorian die ganze erhabene Gestalt der Halle erkennen. An den Wänden hingen geknüpfte Bilder, auf denen die Kräfte der großen Mutter gezeigt wurden. Eine steingraue, rundliche Frau und ein sonnenaufgangsfarbener Mann mit irgendwie unüblich langem und breitem Lebensspender tanzten innerhalb eines durchsichtigen Berges den Lebenstanz, der die Kinder von Erde und Feuer, die Lodernden, flüssige Gluten ausstoßenden Berge zeigte. Auch wenn die Erdvertrauten es nicht gerne hörten wusste Madrashainorian, dass im Schoß der großen Mutter ein ewiges Feuer brannte, dass die Feuerrufer genauso verehrten wie das des großen, gleißenden Vaters am Himmel. Das waren dessen ungeborene Kinder, die dazu verdammt waren, bis zu den Tagen der Wut der Erde in ihrem großen Schoß eingesperrt zu bleiben und erst dann als brennende, glühendes Gestein auswerfende Berge aus ihr hinausgetrieben zu werden. Das alles hatte Madrashainorian schon gelernt, obwohl er erst heute eigentlich mit dem Lernen anfangen sollte. Er hatte es im Lied der Vereinigung von Feuer und Erde gehört, das er wie so viele andere mit der Muttermilch in sich aufgesogen hatte.
"Ich sehe wo du hinguckst, mein Sohn und erkenne, dass die Erinnerungen deines Vaters immer noch sehr wach in dir sind", hörte er ihre Gedankenstimme in sich. "Das ist gut so. Denn nur so kannst du später deine Aufgabe erfüllen, wenn du alle Weihen und Kenntnisse hast."
"Wie meinst du das, Mami?" wollte er wissen. Doch darauf bekam er keine Antwort.
"Tritt ein, Sohn der Madrashmironda, zwanzigste ihres Namens!" befahl eine kräftige Männerstimme. Sie gehörte einem hageren Mann in einem langen, steingrauen Gewand, der gerade hinter einem der geknüpften Wandbilder hervortrat, welches die Geburt eines hohen, von gefrorenem Wasserdampf bedeckten Berges zeigte. Der Mann besaß einen bis zum Bauch reichenden Bart von silbergrauer Farbe und ebensolches Haar. Madrashainorian fragte sich, ob alle Lehrmeister nur graue Männer oder Frauen sein würden.
"Ich bin Ghedarikonan, der Meister der ordnenden Worte", sagte er, als er Madrashainorian mit seiner grauen Mütze auf dem Kopf sah. Dessen Mutter stand ebenfalls in der Halle und erstrahlte weiterhin in jenem grünsteinfarbenen Licht. "Seit deinen ersten zaghaften Bewegungen im Leibe deiner Mutter wissen wir, dass dein Weg zu uns führt. Heute ist es endlich so weit. Sei uns willkommen und tritt ein in dein weiteres Leben!" sprach der graue Mann weiter. Er hob einen gläsernen Kraftausrichter und deutete vor den Neuankömmling auf den Boden. Unvermittelt war da ein tiefer, dunkler Riss. "Überwinde die letzte Hürde deiner Angst und Unsicherheit und komm zu mir!" rief Ghedarikonan. Der Riss vor Madrashainorian zog sich durch die ganze Halle und wurde auf einmal zwei Schritte breit. Wie tief er war konnte der Neuankömmling trotz der Sicht bei Lichtlosigkeit nicht erkennen. Immer mehr wuchs der Spalt im Boden an. Was war zu tun?
"Überwinde die letzte Hürde aus Angst und Unsicherheit und komm zu mir!" wiederholte Ghedarikonan seinen Befehl. Da verstand Madrashainorian. Er musste über den Riss hinwegspringen. Nur wenn er schnell machte und genug Mut hatte kam er hinüber. Wenn nicht, dann würde er entweder gleich in den Spalt hineinfallen oder wieder durch das noch offene Tor zurück vor die Halle gedrängt. Er nickte dem immer noch breiter werdenden Spalt zu und lief einige Schritte zurück. Dann rannte er genau auf den Abgrund zu, wobei er an das aus Mamis linker Brust getrunkene Wissen um das Lied der körperlichen und seelischen Entschlossenheit im Kopf hatte. Er stieß sich ab und flog wie ein Vogel über den Spalt hinweg. Leichtfüßig landete er auf der anderen Seite. Krachend schlug der Spalt zusammen wie ein zuschnappendes Maul aus Stein. Die Erde bebte einen Atemzug lang nach.
"Wohl wahr, du hast bereits eine Menge in dir, was dich groß machen wird", erkannte der graue Mann, als sein neuer Schüler neben ihm stand. "So danke ich dir, großmächtige Schwester im Bund der Erdvertrauten, dass du uns deinen Sohn gebracht hast. Bitte geh nun und sei gewiss, dass er bei uns alles erlernt, um dein Wirken und Wissen zu ehren!"
"So sei es", sagte Madrashmironda. Dann wandte sie sich wortlos um. Ihr Sohn sah noch einmal zu ihr hoch. Doch dann begriff er. Hier wollte keiner eine lange und gefühlsstarke Verabschiedung haben. So sah er zu, wie seine Mutter durch das offene Tor ging, das unverzüglich hinter ihr zuglitt.
"Wie es bei uns üblich ist sammeln wir die neuen Bewohner erst in Gruppen zu zwölf Jungen zusammen. Morgen und im nächsten Viertelmond werden noch neun Jungen dazukommen. Dann seid ihr zwölf. Ab da fängt euer wahres, nutzbringendes Leben an", verkündete Ghedarikonan. Seine Stimme klang unerbittlich, keinen Widerspruch duldend. So fuhr er auch fort:
"Es gelten in diesem Haus drei Gesetze: Das erste ist, dass ihr alle hier Brüder seid, egal, ob in unsere Gemeinschaft hineingeboren oder von den Einberufungsberechtigten Meisterinnen und Meistern zu uns geschickt. Das zweite Gesetz lautet: Die Weisungen der Lehrmeister sind zu befolgen, ohne zu hinterfragen, wozu sie dienen. Dieses Wissen wird dann vermittelt, wenn es dafür Zeit ist. Das dritte und wichtigste Gesetz lautet: Erfülle alle Pflichten und erweise dich der großen Ehre würdig, die Kenntnisse und Künste der großen Mutter zu erwerben. Wenn du dich an diese drei einfachen und doch so wichtigen Gesetze hältst, Madrashainorian, so wirst du groß und mächtig werden. Verstößt du innerhalb der zwölf Sonnenkreise, die du nun hier wohnen und lernen wirst, dreimal gegen jedes einzelne Gesetz, so wirst du ohne Ehre und ohne das hier erworbene Wissen in die Welt zurückgeschickt und als unerwünschter dein Dasein fristen. Denn dann wirst du nur die einfachen Dinge der Kraft anwenden dürfen, die ihr alle in den ersten drei Mondwechseln erlernen dürft. Befolge alles und wachse an allem, was wir dir hier auftragen!"
Madrashainorian dachte einen Moment daran, dass das hier mehr Ärger als Spaß werden würde. Da war es bei seiner Mutter einfacher gewesen. Die hatte ihm nur das beigebracht, was auch wirklich spannend war oder ihm zumindest noch erklärt, warum das eine oder andere echt so wichtig war. Hier würde er warten müssen, bis einer der Lehrmeister ihm das von sich und nur von sich aus verraten würde. Jede ungebetene Frage war wohl schon ein Verstoß gegen das zweite Gesetz.
Ghedarikonan führte den neuen Schüler durch weitere Gänge, deren Wände mit Landschaftsbildern bemalt waren oder die versteinerten Abbilder lebender Tiere tzeigten. Durch sich von selbst auftuende und hinter ihnen schließende Steintüren ging es an der Halle der körperlichen Stärkung, der Grotte der Reinlichkeit und der Halle des niedergeschriebenen Wissens vorbei zu den Schlafräumen. Da es den Regeln dieses Hauses entsprach, dass die Schüler keine eigenen Kleidungs- und Gebrauchsgüter mitbringen durften bis auf die Kleidung, die sie am Leib trugen, wurde hier jedem die für den Besuch der Unterweisungen nötige Kleidung in offenen Stauräumen bereitgestellt. Wer keine ganz eigenen Besitztümer hatte, so Ghedarikonan, der konnte auch keinen Neid erregen oder selbst Begehren entwickeln.
Hatte Madrashainorian erst gefürchtet, nur in steingrauen Sachen herumlaufen zu müssen stellte er fest, dass seine Kleidung, kaum, dass er in das für ihn bestimmte Staufach hineingriff, in jenem Grünsteinfarbton schimmerte, den bis zum Schließen des großen Eingangstores auch sein Körper ausgestrahlt hatte. Zu seiner grauen Mütze für Neulinge kamen noch ein grauer, hoher, nach oben hin schmaler werdender Hut mit runder Oberseite und ein graues Etwas, dass Hemd und Hose zugleich sein konnte, aber keine Unterkleidung war. Denn die bestand aus weißen und blauen Unterhosen mit kurzen und langen Beinen, je danach, welche Jahreszeit gerade war. Neben der grünen Alltagskleidung, die aus knielangen Gewändern bestand, gab es für feierliche Anlässe noch einen fast bis auf die Füße reichenden, erdbraunen Umhang aus jenem ganz zarten Stoff, der von vielen Vorformen der Fadenspinnerschuppenflügler abstammte. Jedenfalls fühlte sich der Umhang so leicht an, als sei er gar nicht da. Dafür hielt er aber sehr warm oder kühl, weil ihm die Kraft der gleichen Wärme eingewirkt worden war. Auch wies der Stoff jeden Wassertropfen mehr als eine Fingerdicke von sich, so dass damit auch bei strömendem Regen Zeremonien abgehalten werden konnten. Für die Füße gab es Riemenschuhe aus braunem Leder und dünnen, aber sehr beständigen Holzsohlen, die, so Ghedarikonan, selbst im glutflüssigen Auswurf von Feuerbergen nicht verglühen konnten. "Das ist das einzige, wo wir den Feuerrufern unsere Anerkenntnis zu zollen hatten, dass sie die Holzsohlen mit dieser Widerstandskraft erfüllt haben. Somit ist deine Kleidung allen hier bestehenden Bedürfnissen gerecht vorhanden." Er deutete noch einmal über die angeordnete Kleidung. Für jeden Viertelmond die Alttagskleidung, für jeden Tag frisches Unterzeug. Die grauen Leibchen mit eingenähtem Hosenteil waren bei den angesetzten Leibesübungen zu tragen, sofern es keine im Rahmen von geschlechtlicher Freuden und Pflichten abzuhaltende Übungen waren, wo entsprechend der Anweisungen der Lehrmeisterinnen die Alltags- oder Festbekleidung zu tragen war.
Der erst knallartig in den Raum drängende und dann lange nachhallende Klang einer großen Klangschale brachte Ghedarikonan und seinen neuen Schüler darauf, dass jetzt das Abendessen im Saal der körperlichen Stärkung eingenommen werden sollte. Wie es zu den Hausregeln gehörte sollte der Begrüßer den bereits hier wohnenden den oder die Neubewohner vorstellen. Er gemahnte den Neuen noch einmal, nicht zu sehr mit seiner Herkunft zu prahlen, weil hier alle Brüder waren, sowie die am anderen Ende der Stadt untergekommenen Mädchen und Frauen ihre Schwestern waren.
Im Saal brannte in einem achteckigen Steinbecken ein munteres Feuer und verströmte neben dem hellen Licht auch Wärme und angenehmen Duft. An dreißig langen Tischen nahmen die Bewohner auf steinernen Bänken platz. Um sich nicht das Sitzfleisch hart und wund zu sitzen lagen weiße Federkissen auf den Steinbänken. Das Essen wurde in tönenernen und gläsernen Gefäßen serviert. Gegessen wurde mit Löffeln aus gebranntem Ton. Was an Fleisch oder Gemüse zu schneiden war wurde mit langen Messern mit schwarzen Feuerbergkristallklingen zerteilt. Zu den warmen Speisen, die Madrashainorian sah gab es auch Brot aus verschiedenen Sorten. In kleinen Tonkrügen mit Henkeln wurden Wasser oder Fruchtsaft eingeschenkt.
"Brüder im Wissen der großen Mutter, unserer Allgebärerin und Wiederbringerin, hier ist Madrashainorian, der Sohn von Madrashmironda. Er wird ab heute bei uns wohnen und im Namen unserer großen Mutter ihre Kräfte und Weisheiten erlernen", sagte Ghedarikonan, als alle Mitbewohner saßen und auf seine Geste hin schwiegen. Alle nickten ihm zu. Dann führte der Begrüßer den Neuen zu einer Lücke zwischen zwei Steinbänken und legte seine Hand auf die von ihm aus linke, wo ein freies Kissen lag. "Von heute an bis zum Auszug sitzt du bei den Mahlzeiten hier", sagte er nur. Dann zog er sich ohne weiteres Wort zurück.
Madrashainorian setzte sich und wollte gerade seinen wohl zehn Sonnen alten Sitznachbarn links mit Worten grüßen, als dieser blitzartig seinen Finger an die Lippen legte. Das kannte Madrashainorian schon als Zeichen, nichts zu sagen. So verzog er kurz das Gesicht. Dann erkannte er, besser erst einmal nur mitzuverfolgen, was hier genau ablief und vor allem was er besser gleich richtig machen sollte, um nicht dumm aufzufallen.
Eine direkte Vorstellungsrunde war auch nicht nötig. Denn wie er auch trug jeder andere an seinem Alltagsgewand eine kleine Metallscheibe mit den Lautzeichen seines Rufnamens.
Eine kleinere Klangschale erklang. Da fingen alle anderen leise zu flüstern und zu reden an. Madrashainorians Sitznachbar, dem Schild nach Oradaghedan, wandte sich an den Neuen und sagte: "Man darf nicht sprechen, solange ein Meister im Saal ist. Denn der Meister will gehört werden, ob er flüstert oder ruft. Hat dir der Graubart das nicht gesagt?" Madrashainorian machte eine verneinende Geste. "Wäre mir auch neu gewesen. Der lässt die Neuen immer gerne in diese Verhaltensfalle reintreten oder geht einfach davon aus, dass wir älteren das noch rechtzeitig weitergeben, ohne was sagen zu müssen."
"Ist alles sehr erhaben aber auch irgendwie fremd für mich", sagte Madrashainorian.
"Für mich war das auch so. Du hast ganz sicher die drei Gesetze vorgesagt bekommen. Deshalb mach ich über meine Eltern nicht viele Worte. Aber wenn ich so mitkriege, wie Jungs erst mit zwanzig hier zu uns reinkommen, die mit einer der draußen lebenden Meisterinnen die Einberufungsprobe gemacht haben und dann zu so jungen Burschen wie dir mit in einen Schlafraum gesteckt werden frage ich mich auch immer wieder, wo wir da echt eine Familie sein sollen. Ich kenne das eher so, dass die Mutter erst 'nen dicken Bauch kriegt, dann zu den Heilerinnen hingeht und danach mit einem krähenden, großkopfigen und zahnlosen Sabberling wiederkommt, der dann als neues Familienmitglied begrüßt wird. Dass wer schon mit zwanzig Sonnen bei den neuen reinkommt ist nur hier so. Ich habe 'ne Schwester bei den Feuerruferinnen, die von Kailishaia selbst einberufen wurde. Die kam nur mit zwei gleichalterigen in den Hort des Feuers. Du kennst Kailishaia?"
"Nicht selbst. Aber ich hatte einen Freund, der über zwei oder drei Umwegen mit der verwandt ist", erwiderte Madrashainorian. Das durfte er zumindest erwähnen, ohne angeberisch rüberzukommen.
Mit Oradaghedan sprach Madrashainorian noch über die Unterweisungen, welcher Meister welche Kenntnisse vermittelte und wie der übliche Tagesablauf war, wenn die Gruppen erst einmal gebildet waren. Dann bekam er mit, wie drei junge Männer versuchten, sich mehr von dem Essen zu nehmen als jeder ausgeteilt bekam. Dabei wollten sie den jüngeren Mitbewohnern das Essen aus den flachen Schalen nehmen. Das klappte auch, bis ein anderer der bereits mehr als zwanzig Sonnen alten Mitbewohner aufsprang und zu den Gierigen hinging. "Jungs, immer dasselbe mit euch. Die Kleinen brauchen das Essen nötiger als ihr. Ihr setzt ja schon Bäuche an, wenn ihr mehr esst als nötig. Also lasst die Klauerei sein!"
"Ach, der ewig wartende hat mal wieder seinen väterlichen Tag, wo er gerade erst seit einem Jahr ein echter Mann ist, wie?" schnarrte einer der Jungen. "Wenn ich Hunger habe, Bruder, dann esse ich noch was. Auch wenn dir das nicht passt, wie ich drankomme, kriege ich, was ich will, und meine zwei Mutterschwestersöhne hier auch."
"Das hatten wir doch schon mal", seufzte der ältere, den Madrashainorian auf schon etwas mehr als dreißig oder vierzig Sonnen zählte. Mit einem schnellen Griff hielt er einen Kraftausrichter in seiner Hand. Die drei Jungen, die sich mehr Essen nehmen wollten als ihnen zustand erstarrten mitten in ihren Bewegungen, ebenfalls die Kraftausrichter zu ergreifen. "Immer dasselbe mit euch pustelgesichtigen Weichbärten. Ihr meint, weil ihr bei Meisterin Miraglaia oder Meisterin Tiamirala zum ersten mal gespürt habt, wo euer Lebensspender wohnt und was der so alles kann meint ihr schon, die ganze Welt verstanden zu haben und alles tun und lassen zu dürfen. Lernt erst mal noch ein paar Jahre das Leben selbst, Jungs! So, und wir essen jetzt in Ruhe zu ende. Dann dürft ihr euch wieder frei bewegen." Mit diesen Worten nahm der in hellroten Gewändern steckende Mitbewohner seinen Platz wieder ein und ließ die anderen erstarrt dastehen. Keiner wagte, gegen diese Entscheidung aufzubegehren.
"Ashtandumirian, wie er von seiner Einberuferin benannt wurde, der eine, der spät Vater wird, ist erst seit einem Jahr bei uns. Vorher war er in den Hallen der nützlichen Fertigkeiten, wo die einfachen Sachen mit der Kraft und die mit Händen zu machenden Arbeiten gelehrt werden. Der hat volle fünf Zehnersonnen gewartet, bis er von einer Einberufenden zu sich gefragt wurde, ob er nicht doch den Erdvertrauten beitreten will. Kennst du die üblichen zwei Wege der Einberufungsprobe?" wollte Oradaghedan von Madrashainorian wissen.
"Meine Mutter hat mir davon erzählt und dass sie wohl auch bald wieder jemanden danach fragen wird, welchen dieser Wege er bei ihr gehen will."
"Na ja, und Ashtandumirian hat sich für den Weg über zwölf Tage entschieden, der wesentlich anstrengender ist als der über zwanzig, aber dafür mehr Spaß machen soll. Seine Meisterin hat ihm das wohl gelohnt, dass sie ihn nicht nur zu uns geführt hat, sondern auch gleich zwei Kinder auf einen Ruf hin in ihr inneres Nest eingebettet bekam, und das mit anderthalb Hundertersonnen, also dreimal mehr als Ashtandumirian."
"Das ist viel", sagte Madrashainorian und dachte daran, dass seine eigene Mutter bereits hundert Sonnen alt war, als sie ihn in sich aufgenommen hatte.
Madrashainorian empfand überhaupt kein Heimweh. Hier war alles so neu. Auch wenn es strenger war als bei seiner Mami freute er sich doch schon darauf, mit den anderen Neuen zusammen eigene Kraftausrichter zu kriegen. Doch vorher, so sein Sitznachbar, würde er wohl in den ohne die Kraft ausführbaren Dingen und Kenntnissen unterrichtet, allein schon um sicherzustellen, dass er mit einem Kraftausrichter keine Dummheiten anstellte.
Nach dem Essen erklang noch einmal eine Klangschale. Sie kündigte einen dunkelhaarigen Lehrmeister an. Wie von Oradaghedan erwähnt schwiegen alle, als er an den Tischen vorbeiging. Dann hörten sie ihn sagen: "Die Lernenden des vierten Sonnenkreises haben vergessen, den Sonnenflügler in seine Behausung zurückzutreiben. Der wollte die Wollmilchtiere eines unbegüterten Bürgers von Kanoritan auffressen. Zwei schnelle Hilfstruppen der Feuerrufer haben den Sonnenflügler eingefangen und in ihr eigenes Sonnenflüglergehege mitgenommen. Wir haben nur fünf Sonnenflügler und weltweit gibt es nur noch hundert. Also war das ein sehr teures Versäumnis, die werten Herren aus dem vierten Sonnenkreis. Wenn ich bis zum zweiten Zwölfteltag nach Sonnenaufgang nicht diejenigen in meinem Sprechzimmer sehe, die die Haltekette nicht richtig festgemacht haben ergeht an alle aus dem vierten Sonnenkreis ein Feier- und Ausflugsverbot bis zum Ende ihres laufenden Sonnenkreises, damit das auch bei allen anderen ankommt, dass unsere Tiere Kostbarkeiten sind, die wir uns nicht ungeahndet abnehmen lassen. Mehr ist hier dazu nicht zu sagen. Ich erwarte die Lernenden aus dem zweiten Sonnenkreis dann morgen nach Sonnenaufgang bei mir, um über die Steinfresswürmer zu sprechen. Bis dahin erholt euch gut!" "
Als der Meister den Esssaal wieder verlassen hatte klang die Klangschale, dass alle wieder sprechen durften.
"Das war Meister Botaradogan, unser Lehrer für von der Kraft erzeugter Tiere. Den kriegt ihr wie du gehört hast im zweiten Sonnenkreis", sagte Oradaghedan. "Den kennt deine Muttermutter wohl noch."
"Leider kann ich die nicht mehr fragen, weil sie vor meiner Empfängnis schon zu den Vorausgegangenen ging. Die hat sich mit einem Feuerbergberuhigungslied vertan und statt den Berg zu besänftigen ihn so wütend gemacht, dass er mit einem Schlag auseinandergeplatzt ist. Der Knall und das Feuer haben sie überrascht und getötet", seufzte Madrashainorian.
"Sonnenflüglerkacke, habe vergessen, dass der Name Madrashmironda ja von der Mutter auf die Tochter übertragen wird, wenn die Mutter stirbt."
"Macht nichts, Oradaghedan. Ich bin aber gespannt, was wir alles so lernen können", erwiderte Madrashainorian.
"Bitte verlasst jetzt den Saal der Stärkung und begebt euch in die Schlafräume oder die Räume der freien Gestaltung", hörten sie eine aus dem Nichts kommende Männerstimme sagen. Gleichzeitig verschwanden alle Gefäße von den Tischen. Das Feuer fiel zischend in sich zusammen, weil ihm schlagartig alles Holz entzogen wurde. Es wurde dunkel. Jetzt half nur noch die in dieser Stadt gewährte Nacht- und Nebelsicht.
"Ich denke, die Schlafraumbegeher werden wollen, dass du noch im zweiten Zwölfteltag nach Sonnenuntergang in deinem Bett liegst. Wir treffen uns dann ganz sicher morgen wieder hier zum Erweckungsmahl", sagte Oradaghedan. Madrashainorian bestätigte das.
Die Schlafraumbegeher waren einfache Erdvertraute, die keinen Unterricht erteilten, aber für die Reinhaltung und Nutzungszeiten der Schlafräume verantwortlich waren. Sie trugen weiße Gewänder mit aufgemalten roten Gesichtern, die alle geschlossene Augen hatten. Ihre Namen kannte keiner. Ihre Gesichter waren hinter tiefschwarzen oder ashgrauen Bärten verborgen. Der für Madrashainorians Schlafraum zuständige Begeher läutete sein kleines Silberglöckchen, als er hereinkam. Madrashainorian war im Moment der einzige in einem Saal für zwölf. Als der Begeher sagte, dass alle, die noch keine neun Sonnen alt waren gleich nach dem Abendessen ins Bett zu gehen hatten gähnte Madrashainorian und machte sich Nachtfertig. Er bedauerte zwar, nicht noch mal in den Sternenhimmel sehen zu können, wie es in Golaritan möglich war. Doch er hatte auch schon lange genug in dieser Stadt gewohnt, um sich nicht zu beklagen.
Er träumte davon, dass er hinter einem Mädchen in rotem Gewand auf einem rundgeschnitzten Holzstab mit langen dünnen Zweigen am hinteren Ende saß. Das Mädchen hatte hellbraune Haut und nachtschwarzes, leicht gewelltes Haar. Es flog mit ihm zwischen anderen Paaren auf diesen fliegenden Ästen. Er kannte ihren Namen, Sonnenschein. Er erfuhr, dass er dieses Mädchen sehr gern hatte. Na klar, in dem Traum war er schon mehr als zwanzig Sonnen oder so alt. Doch der schöne Traum endete damit, dass er das Mädchen auf einem Tisch liegen sah und wusste, dass er Schuld gehabt hatte, dass es tot war. Von diesem Schmerz wachte er auf und fand sich in Dunkelheit und völliger Stille wieder. Erst als er wach genug war, dass die Nachtsichtkraft ihn berühren konnte erkannte er, dass er im Schlafsaal der Erdvertrauten lag. Es war nur ein Traum gewesen, ein einfacher, böser Traum. Doch wo er so nachdachte fiel ihm ein, dass er schon häufiger Träume hatte, wo er älter war als sieben sonnen und auch nach dem Besuch im Korakolan-Haus immer wieder davon geträumt hatte, zwischen mannshohen Honigsammlerhäusern entlangzugehen, auch mit jener, die Sonnenschein geheißen hatte, obwohl ihre Haare nachtschwarz gewesen waren. Das waren wohl alles die in ihm vergrabenen Erlebnisse seines Vaters. Er fühlte sich ein wenig traurig, dass er seinen Vater nicht selbst hatte begrüßen können, als Madrashmironda ihn aus sich hinausgestoßen hatte.
Die Monde vergingen. Als die erwähnten Neubewohner dazugekommen waren begann das eigentliche Lernen. Es ging mit Lesen und Schreiben los. Dann war da auch das einfache Rechnen und Übungen mit nassem, leicht knetbaren Ton, um zu ergründen, wie viel Geschicklichkeit und Vorstellungskraft die neuen hatten. Madrashainorian freute sich, allen seiner Sonnenkreiszugehörigkeit zeigen zu dürfen, wie weit er schon war.
Als es daran ging, die in den allgemeinen Bildungshorten erlernbaren Lieder und Künste der Kraft zu lernen, bekam Madrashainorian seinen ersten eigenen Kraftausrichter. Es war jedoch kein aus vier Dreiecken bestehender Körper wie bei vielen, sondern ein gläserner Stab, dessen Vorderende mit einer kleinen, mit weißem Rauch erfüllten Kugel verziert war. Kaum hatte Madrashainorian den Stab in die Hand genommen, wärrmte sich dieser auf. Die Kugel an der Spitze glühte im grünsteinfarbenen Licht, wobei goldene Schlieren durch das Licht glitten. Der Bewahrer der Kraftausrichter erbleichte erst, musste dann aber mit geheimnisvollem Lächeln anerkennen, dass ein neuer Kraftausrichter immer mit dem ihn benutzenden wechselwirkte. "Du hast eine sehr große Grundkraft, Madrashainorian. Und ich sehe es dem Ausrichter an, dass du sie schon bewusst eingesetzt hast. Es wurde aller höchste Zeit, dass du in unsere Obhut kamst."
Die Lernzeiten waren so verteilt, dass vom Beginn des Viertelmondes an drei Tage in den hellen Stunden gelernt und geübt wurde und die dunklen Stunden zu Schlaf und Erholung verwendet wurden. Die übrigen Tage des vorangleitenden Mondviertels wurden auch die hellen Tageszeiten zu erholsamen Tätigkeiten verwendet, bei den Angehörigen der höheren Sonnenkreise auch zur rein gedanklichen Wiederholung der gelernten Sachen. Madrashainorian lernte schon sehr früh, dass die Fülle des sichtbaren Mondes auch vorgab, mit welchen einfachen Sachen sie anfingen. War der Mond gerade neu, so galt es, die bei Dunkelheit und in der Tiefe der Erde wirksamen Kräfte und Künste zu üben. Zeigte sich der Nachtbegleiter der Menschen, der von Dichtern und Kundigen der Kraft als "große Himmelsschwester" angerufen wurde, zu einem Viertel bis zur hälfte, so wurden alle mit Erweckung und Erblühen zusammengehenden Lieder der Kraft und Gesten der Macht geübt. Ein voller Mond stand nicht nur für die größte Verbundenheit der Menschen mit der kleinen Himmelsschwester, sondern auch für das Silber, das Wasser und die Luft. Hier wurden alle die in der Erde gelagerten Wasser, Metalle und die das Leben am atmen haltenden Künste geübt. Wenn der Mond wieder abnahm wurden alle das Vergehen und verhüllen betreffenden Künste geübt.
So war es im zweiten zunehmenden Mond seiner Zeit hier im Haus der Erdvertrauten, dass Madrashainorian die ersten sinnlichen Erfahrungen mit den ersten drei Liedern der Kraft machte, die ihm seine Mutter mit ihrer Milch eingeflößt hatte.
"Sowohl wir von der Gnade und Kraft der großen Mutter begüterten, als auch die Windsänger und Wasserlenker können mit einem Lied erfahren, wo unsere liebsten sind oder wo von uns mit Namen und Gesicht bekannte Blutsverwandte sind. Das kann in einer Lage, wo wir einer drohenden Gefahr entrinnen müssen oder selbst wem beistehen möchten, der oder die in tödlicher Gefahr schwebt, sehr wichtig sein", sagte Meister Kenormodras, der Kundige der Verständigung und Erfragungen und sang genau jenes Lied vor, dass Madrashainorian als allererstes in seinem Leben außerhalb Madrashmirondas erlernt hatte. Das Lied, wie die eigenen Verwandten und Geliebten gefunden werden konnten. Jetzt erfuhr er auch, dass er den Kraftausrichter im leicht schrägen Winkel zur Erdoberfläche ausrichten musste und damit beim Singen einmal in Sonnenlaufrichtung einen Kreis um sich herum beschreiben musste. Beim zweiten Singen musste der Sänger genau in Sonnenaufgangsrichtung zielen und eine senkrechte Kreisbahn vom Himmelsrand unter der ganzen Himmelswölbung hindurch unter den am Sonnenuntergang liegenden Himmelsrand durch und über den tiefsten unter dem Sänger liegenden Punkt in der Erde hinweg bis zum Anfang der Kreisbewegung ausführen. Beim dritten Singen des Liedes musste noch einmal ein Kreis geschlagen werden, diesmal von Mittagssonnenseite des Himmelsrandes unter die Mitternachtsseite hindurch zurück zur Mittagssonnenseite. Waren diese drei miteinander verbindenden Kreise geschlagen konnte der Sänger durch konzentriertes Denken an Namen, das Gesicht oder beides des gesuchten Anverwandten erfahren, in welcher Richtung, wie weit fort und in welcher Gefühlslage sich der Gesuchte befand. Um die Ausrichtung auch bei schlechtem Wetter oder tief im Schoß der Erde anzuwenden lernten sie neben der richtigen Singweise und der Worte auch eine leichte Kunst, die eigenen Sinne auf die unsichtbare Wegweisung der großen Mutter einzurichten, die selbst seelenlosem Eisen zeigte, wo die Mitternachtsrichtung zu finden war, wenn es mit der Kraft der Eisenliebe erfüllt wurde. So lernte Madrashmirondas Sohn zusammen mit seinen neuen Mitbewohnern erst das innere Lied der Wegweisung, dass irgendwann so gut klappen sollte, dass es genauso schnell wirkte wie das Öffnen oder Schließen der Augen, bekräftigte Kenormodras. Doch Madrashainorian kannte das Lied auch schon. Er hatte es als zweites in seinem atmenden Körper gelernte Lied verinnerlicht. Nur hatte er bisher nicht gewusst, wie er es anwenden musste. Dass er dabei einfach mit dem Kraftausrichter eine senkrechte Linie zwischen seinem Kopf und dem Boden beschreiben musste hatte seine Mutter ihm nicht beigebracht. Doch auch so hatte er es nach dem zweiten mal schon heraus, zu fühlen, wo Mittagsrichtung und wo Abendrichtung war.
"Es gibt gestandene Meister und Meisterinnen der Erde, die dieses Lied irgendwann so gut auch ohne Kraftausrichter verwenden konnten, dass sie alle Richtungsangaben nur noch mit Begriffen wie "halbmittags" und "viertelabends" beschrieben. Das kann bei denen, die nicht lernen, sich auf die Wegweisung der großen Mutter einzustimmen, sehr verwirrend sein, die dafür immer den Stand der Sonne und ihrer fernen Verwandten in der dunklen Unendlichkeit nötig haben", erwähnte der Lehrmeister der Verständigung und des Erfragens. Er gehörte zu den weniger Strengen Lehrmeistern, die auch einmal einen Spaß zuließen, solange der keinem Schaden an Körper, Seele oder den benötigten Gegenständen machte. "Meine dritte Schwester wurde in Richtung der aufgehenden Sonne aus unserer Mutter hinausgedrückt, weshalb sie drei Monde nach ihrer Ankunft den Namen Ashtarkoremia, die Sonnengrüßerin, genannt wurde. Als sie selbst alt genug für einen der mächtigen Wege der Kraft war ging sie zu den Lichtfolgenden, weil sie von ihrer Vatermutter her die Verpflichtung sah, Friede, Wohltat und Bewahrung zu bewahren und bekam zu ihrem Geburtsnamen noch den Zusatz Goor dazu, also Goorashtarkoremia." Girriaimedas, ein nur drei Monde älterer Mitschüler Madrashainorians, fragte, ob der Lehrer also mit der derzeitigen Gefährtin des Lichtkönigs verwandt sei. Der Lehrmeister nickte nur bestätigend, ließ sich aber nicht weiter dazu aus.
Anders als Kenormodras ließen die übrigen Lehrer des ersten Sonnenkreises keinen Zweifel daran, dass sie immer und überall die Meister und Befehlsgeber waren. Da zu den Übungen mit der Kraft auch körperliche Übungen wie Laufen, Springen, Armkraftübungen und Gewandtheitsübungen gehörten, stöhnten viele der noch ganz jungen Schüler, wenn Elnairammayan, der Leibesübungsunterweiser, seine jeden Viertelmond angesetzten Tagesviertel mit ihnen verbrachte. Nur Madrashainorian schien die ständigen lauten und schnellen Befehle besser hinzunehmen. Nur einmal, im dritten Mond des ersten Sonnenkreises, sah sich Madrashainorian versucht, gegen die Art des Lehrers aufzubegehren.
Es war die Zeit der Pflanzenblüte. Die Kinder aus dem Haus der Erdvertrauten waren mit Elnairammayan aus der Stadt im Schoß der Erde hinausgezogen und erkundeten im schnellen Lauf die üppigen Wälder. Dabei kam Kirusirdarian, der Sohn der auf dem Erdteil in Morgenrichtung von Altaxarroi lebenden Erdmeisterin Madranodaiaimiria, vom Weg ab. Elnirammayan schien das nicht mitzubekommen und scheuchte seine Schützlinge mit lauten, von allen Bäumen widerhallenden Rufen weiter. "Los, schneller, immer aufpassen! Nicht über die Wurzeln fallen. Wer fällt kriegt heute kein Abendessen!"
Madrashainorian lief noch einige hundert Schritte mit. Doch dann dachte er an den vom körper her kleineren Kirusirdarian, der bis jetzt nicht zu den anderen zurückgefunden hatte. Madrashainorian wollte schon rufen, dass sie anhalten sollten. Doch ihm fiel ein, dass das ein klarer Verstoß gegen einen erteilten Befehl war. Doch den Mitschüler einfach im Wald zu lassen gefiel ihm auch nicht. So ließ er sich langsam immer weiter zurückfallen, bis seine Mitschüler alle an ihm vorbeigerannt waren, nicht ohne ihn schadenfroh anzuglotzen, weil sie dachten, er habe sich zu sehr angestrengt. Doch dann entfesselte er mit Hilfe des Liedes der aus dem Schoß der großen Mutter stammenden Körperkraft viermal so viel Kraft und Schnelligkeit als sonst und lief so sicher er bei dem von dicken Wurzeln durchzogenen Waldboden laufen konnte zu der Stelle zurück, wo Kirusirdarian im Wald verschwunden war. Noch immer hörte er die befehlende Stimme des Übungsleiters, doch nun eher als von allen Seiten zurückkommenden Widerhall. Dann sah er die niedergetretenen Zweige auf dem Boden und schlüpfte zwischen zwei Bäumen durch. Jetzt begriff er, was Kirusirdarian dazu gebracht hatte, einfach vom Weg herunterzulaufen. Vor dem Mitschüler musste ein großes Tier gelaufen sein, und der mit allen Tieren gerne redende Junge war hinterher, um das Tier, dass er wohl noch nicht kannte, anzusehen und vielleicht mit ihm zu sprechen. Dank des immer wieder gesungenen und durch den Kraftausrichter gebündelten Körperkraftverstärkungsliedes holte Madrashainorian seinen Mitschüler ein. Der war nun genau hinter dem großen Tier, einem beachtlichen, strahlendweißen Wesen, dass vom Körper her wie eines der einhufigen Reittiere aussah, auf denen die Unbegüterten schnell vorankamen. Doch es trug ein langes, silbernes Horn auf der Stirn, mit dem es die Bäume berührte. Madrashainorian, der durch seine Mutter gelernt hatte, die Gefühlslage von großen Pflanzen zu spüren, merkte, wie jeder Baum, den das Tier traf, wohlig erschauerte. Kirusirdarian folgte dem zunächst noch langsam dahinschreitenden Tier. Doch war es, dass das Tier die Nähe des Verfolgers mitbekommen hatte oder weil etwas anderes es erschreckte, es stieg laut wiehernd mit den Vorderbeinen hoch, machte eine blitzschnelle Drehung nach links und rannte dann schneller als der Wind in eine andere Gruppe von Bäumen hinein. Kirusirdarian wollte hinterher und übersah dabei eine Vertiefung im Boden. Er glitt aus und schlug der Länge nach auf den Waldboden. Dann krachte es in den niedrigen Büschen, und ein blattgrünes Tier mit schlangenartigen Schuppen stieß sein langes, vorne fast schnabelartig zugespitztes Maul in Kirusirdarians Richtung. Madrashainorian wusste sofort, was für ein Tier das war, obwohl er es nur aus Geschichten seiner Mutter kannte. Doch unvermittelt fielen ihm auch Erlebnisse seines Vaters mit diesen Tieren ein, die dieser noch größer als das hier in Erinnerung gehabt hatte. Das Tier hier war gerade zweimal so lang wie ein erwachsener Mensch und von der Schulterhöhe genauso hoch wie ein großer Mann. Die Augen waren goldgelb wie die Kornähren im Erntemond. Die Sehlöcher waren senkrecht, wie bei den Beinloskriechern und den Schleichtatzenjägern.
"Ein Waldlandfeuerbläser", dachte Madrashainorian und zog seinen Kraftausrichter aus der kleinen Umhängetasche für den Tagesvorrat Wasser und Trockenfrüchte. Kirusirdarian hatte das gefährliche Tier auch gesehen. Madrashainorian dachte schon, dass sein Mischüler fortlaufen wolte. Doch der stand da und sah das grüne Tier erwartungsvoll an. Da sperrte es schon das Maul auf. Gleich würde es Feuer ausblasen oder Kirusirdarian mit seinen gelbweißen Fangzähnen packen. Da stimmte Madrashainorian das Lied des gefesselten Feindes an, dass er im vierten Lebensmond bei einer sehr langen und leckeren Milchmalzeit in sich hineingesaugt hatte. Schlagartig erglühte die vordere Kugel seines Kraftausrichters in Blutrot. Der Waldlandfeuerbläser holte zischend Atem, um Feuer zu blasen. Da flog ihm schwirrend ein Bündel aus blutroten Lichtern entgegen und traf prasselnd das weit aufgesperrte Maul, um dann wie wild wirbelnde Ringe um den Körper des Waldlandfeuerbläsers zu kreisen und sich zusammenzuziehen. Das Maul klappte hörbar zu. Ein dumpfes Grollen, gefolgt von zwei weißen Dampfstrahlen aus den Nasenlöchern verrieten den beiden Jungen, dass Madrashainorian das Lied vom gefesselten Feind gerade noch rechtzeitig gesungen hatte. Wieder und wieder sang er es, bis der Waldlandfeuerbläser vollständig in rote Lichtringe eingeschnürt war, die fest im Erdboden vergraben waren. Selbst der lange, mit spitzen Dornen besetzte Schwanz des Waldlandfeuerbläsers, lag durch die ihn umschnürenden Lichtringe fest auf den Boden gedrückt. Madrashainorian wusste jedoch, dass die Feuerbläser Tiere der Kraft waren und eine Haut hatten, die viele Strahlen und Umhüllungen der Kraft abwies. Doch mit dem Lied des gefesselten Feindes konnte er ihn zumindest solange mit der Erde verbinden, bis sie beide wieder bei ihrem Lehrmeister waren.
"Los, zurück zu den anderen. Das weiße Horntier ist vor dem da weggelaufen", zischte Madrashainorian aufgebracht und ergriff den Mitschüler am Arm.
"Eh, tu dem Feuerbläser nicht weh. Der hat doch Angst."
"Der und Angst. Der wollte dich erst verbrennen und dann fressen und dann mich, weil an dir nicht so viel dran ist", knurrte Madrashainorian und zog den anderen hinter sich her. Sie hörten das urwelthafte Brummen und Zischen des gefesselten Waldlandfeuerbläsers.
"Der wollte mich nicht fressen. Der wollte mir nur zeigen, wie gut der Feuer blasen kann", piepste Kirusirdarian."
"Ja, an dir, du kleiner Tierfreund. Der wollte dich und mich verbrennen oder gleich so fressen, Mann. Geht das in deinen Kopf nicht rein?"
"Das ist ein Kind, ein kleines Feuerbläsermädchen. Das wollte nur spielen."
"Ja, klar, und der Großtatzenjäger, der dich vor drei Sonnen fast seiner Familie zum Abendessen gebracht hätte wollte auch nur spielen, wie?"
"Aber das war doch so, Mann. Ihr Stadtleute könnt das nicht verstehen, dass wir Waldländer mit allen Tieren gut Freund sind und uns keines was tut. Sonst wäre das Glückshorn auch ganz schnell vor mir weggelaufen, als ich dem hinterhergelaufen bin."
"Ist es doch auch", erwiderte Madrashainorian verächtlich. Dann fuhren beide zusammen, weil unvermittelt die höchst verärgerte Stimme Elnairammayans über sie hereinbrach.
"Was fällt euch beiden Narren und Faulenzern ein, einfach von den anderen wegzubleiben und nicht mehr auf mich zu hören! Ich habe keinem von euch befohlen, zurückzubleiben. Wegen euch musste ich die anderen anhalten lassen, was deren Übung verzögert und euch undankbare Brut suchen! Dafür macht ihr heute die dreifachen Übungen von allem, was ich sage und kriegt heute abend nichts zu essen. Und du, kleiner, überheblicher Sohn einer auf ihren Lebenskelch und ihre Milchkugeln festgelegten Erdfürstinnentochter, wirst zudem morgen vor allen Augen im Hause von mir dreißig Schläge mit der Schnur der Strafen erhalten, damit du lernst, dass Gesetzesbrüche wie dieser in alle Knochen gehen und dort bleiben."
"Kirusirdarian war in Gefahr. Ein kleiner Waldlandfeuerbläser hat ihn fast gebissen oder hätte dem seinen Feueratem auf den Körper geblasen", verteidigte sich Madrashainorian. Kirusirdarian widersprach, dass das Feuerbläsermädchen nur zeigen wollte, wie gut es schon Feuer blasen konnte.
"Unfug. In dem von mir betreuten Wald gibt es keine Feuerbläser. Das wäre ja noch schöner, wenn die Tierbändiger aus den Sonnenkreisen nach dem dritten ihre gefährlichen Untiere auch noch in meinen Übungswald mitbringen. Also jetzt bloß die Münder gehalten! Ach ja, weil du weggelaufen bist kriegst du morgen vierzig Schläge mit der Schnur der Bestrafung, Kirusirdarian!" rief Elnairammayan und packte gleichzeitig Kirusirdarian und Madrashainorian im Nacken, um sie vor sich her zu den anderen zurückzuschieben.
"Ich erbitte Gehör vor dem Rat der Lehrmeister und Hausältesten", sagte Madrashainorian. "Abgelehnt. Es gibt keinen Grund dazu, meine Anordnung zu prüfen. Wenn du nicht noch zwanzig Schläge mehr haben willst ..." Ein weithin röhrendes, mit leichtem Schnarren durchsetztes Brüllen dröhnte durch den Wald. Der Lehrer und seine beiden Zöglinge erstarrten vor Schreck. Da klang es wieder.
"Zu den anderen!" blaffte Elnairammayan und schob die beiden Schüler schneller vor sich her. Madrashainorian wusste, was das Tiergebrüll sollte. Kirusirdarian hatte verdammt noch einmal recht. Der kleine Feuerbläser war ein Kind, und seine Mami suchte nach ihm. Wenn sie es nicht fand würde sie böse. Dann würde sie alles jagen, das ihrem Kind was getan hatte. Außerdem, so beschloss er, würde er sich ganz sicher keinen einzigen Schlag von diesem brüllenden Waldländer da verpassen lassen. Er hatte gelernt, dass Schläge nur Schläger machten, weil böses nur böses erzeugen konnte. Strafen ja, wenn sie wem was beibrachten. Aber jemandem weh zu tun, um ihn klein zu machen, das war nicht richtig.
Ohne weitere Worte langten die drei beim Rest der Gruppe an. Der Lehrer wiederholte noch einmal die Verfehlungen und die angesetzten Körperstrafen. Dann trieb er alle zu weiteren Übungen. Dass Madrashainorian die ihm auferlegte Dreifachanstrengung deshalb so locker auf sich nahm, weil er das Lied der Körperkräftigung nun ohne Kraftausrichter im Kopf ausführte und es auch so ging bekam der Lehrer nicht mit. Dass Madrashainorian seinem Mitschüler Kirusirdarian einen Teil der zusätzlichen Kraft durch kurzes Handauflegen übergab bekam der Lehrer auch nicht mit. So genoss er die Bewunderung der anderen Jungen, wie gut die beiden mit ihrer Zusatzbelastung zurechtkamen. Doch das Brüllen des großen Feuerbläsers hatten sie auch gehört. Doch weil der Lehrer sagte, es gebe keine Feuerbläser in seinem Wald, wagte keiner einen Widerspruch.
Am Abend wurden die beiden Missetäter von Elnairammayan selbst aus dem Esssaal hinausgeführt, damit jeder dort wusste, dass die zwei heute nichts mehr essen durften. Madrashainorian bat noch einmal um Gehör vor dem Rat der Lehrer und ältesten Schüler. "Fünf Dutzend Hiebe!" war die Antwort des Lehrers auf diese Bitte.
In der Nacht träumte Madrashainorian von seinem Vater, dass der einmal gegen größere Jungen hatte kämpfen müssen und dabei eine Kunst erlernt hatte, die "die leere Hand" hieß. Sein Lehrer, ein kleiner Mann namens Hiro Tanaka hatte ihm diese Kunst beigebracht, damit er keine ungewollten Schläge mehr abbekam und auch nicht aus Angst, unter solchen Schlägen sterben zu müssen die innere Ruhe bewahrte. Davon bekam sonst niemand etwas mit.
Als Elnairammayan am nächsten Tag in der großen Halle der Versammlung vor allen Lehrern und Schülern die dünne, lange Schnur von einem langen Stiel abwickelte und dabei zwei ältere Schüler ansah besann sich Madrashainorian auf das Lied der körperlichen Stärke aus dem Schoß der Erde und auf die im Traum erhaltenen Übungen im waffenlosen Kampf. Als die beiden Schüler dann auf ihn zuliefen, um ihm die Oberbekleidung vom Körper zu ziehen sagte er: "Ich werde mir von keinem hier einen Schlag geben lassen und auch keinem erlauben, mich festzubinden." Da fühlte er, wie ihn unsichtbare Schnüre umwickelten und wie sein grünes Gewand von seinen Schultern herunterrutschte. "Er will es nicht anders!" schnaubte Elnairammayan und ließ die Lederschnur ganz ausschwingen. "Dann also fünf Dutzend Schläge, damit du es lernst, dass du hier nicht mehr am Rockschoß deiner lebenskelchbezogenen Mami hängst."
Madrashainorian fühlte, wie Wut und Angst vor Schmerzen in ihm hochkochten und nutzte genau diese Kraft aus, um mit den in der erhabenen Sprache der Begüterten gedachten Worten "Freiheit der Erde" unvermittelt alle ihn fest umschnürenden Fesseln abzuwerfen. Davon bekam zunächst niemand was mit. Als die Lederschnur auf ihn zupfiff stieß er sich ab und flog mit nach oben schnellenden knien weit über die unter ihm durchzischende Schnur hinweg. Aus allen Mündern klang ein Laut des Erstaunens. Elnairammayan, der seinen ersten Schlag vergeben hatte blickte ihn verärgert an und wollte ausholen. Da sprang Madrashainorian vor, packte mit beiden Händen die Lederschnur und riss sie zu sich hin. Die zwei Helfer des Lehrers versuchten noch einmal, den Missetäter zu fesseln. Doch noch wirkten die Worte und die Kraft der freien Erde. Da wollten sie ihn mit eigenen Händen festhalten. Das führte jedoch dazu, dass Madrashainorian die Schnur losließ und statt dessen beide Ellenbogen gleichzeitig nach links und rechts zwischen Brust- und Bauchraum der Angreifer stieß. Dabei stieß er einen den Aufprallschmerz verdrängenden Schrei aus. Die beiden Schüler wurden weit zurückgeworfen, weil in dem Jungen nun die gebündelte Kraft aus der Erde steckte. Kaum waren sie aus seiner Reichweite griff er wieder die nun erneut auf ihn zusausende Schnur an. Diesmal sprang er nicht darüber weg, sondern darunter hindurch, traf mit seiner rechten Handkante den langen Stiel der Bestrafungsschnur und prellte diesen aus Elnairammayans hand. Der Lehrmeister zitterte vor Wut und versuchte, den Aufsässigen mit der bloßen Faust zu treffen. Da erscholl eine große Klangschale, und eine hier von allen, auch den Lehrern zu achtende Männerstimme rief: "Genug! Kein Kampf vor den Mitbrüdern. Wir sind alle Brüder. Die Bestrafung hat im Rahmen einer Missetat mit der Schnur zu erfolgen. Kein älterer Bruder darf einen jüngeren mit bloßer Hand schlagen. Außerdem wird die Strafe widerrufen. Denn das Ansinnen des Schülers Madrashainorian, seinen schwächeren Mitschüler vor einer unbekannten Bedrohung zu retten war gerechtfertigt."
"Hochmeister Goormadranoras, es kann und darf nicht sein, dass ein der Untat überführter Schüler seine Strafe verweigern und Hand gegen seinen Lehrer erheben darf", erwiderte Elnairammayan, als der sehr große, beleibte Mann im langen, bleigrauen Gewand mit weißem Bart und zu einer Art Kopfwickel gewirktem Haarschopf auf die beiden zukam. Elnairammayan erstarrte.
"Ich weiß nicht, seit wann wir Knaben wie dir schon solch mächtige Zauber wie die Freiheit der Erde und die Kraft aus dem Schoß der großen Mutter beibringen, aber wir müssen wohl andere, nicht den Körper betreffende Bestrafungsformen ersinnen, wo sie nötig sind", sagte der Hochmeister und älteste Lehrer, der, so hatte es Madrashainorian von dem älteren Bruder seines Mitschülers Badragoduran, die mächtigsten Anrufungen der großen Mutter unterrichtete und auch das Verzeichnis der Blutlinien führte, das beinhaltete, wer mit wem Nachwuchs hervorbrachte. Einen winzigen Moment sah Madrashainorian den sehr beleibten Mann noch größer, aber hager, mit einem bis zu einem die Körpermitte umspannenden Gürtel wallenden silbernen Bart und zwei halbmondförmigen Glasstücken in goldenen Rahmen, die auf seiner adlerschnabelartigen Nase vor den stahlblauen Augen steckten. Dann verschwand das Bild wieder und er sah nur die erdbraunen Augen des Hochmeisters, wie sie auf ihn niederblickten. Der erste und älteste Lehrer lächelte freundlich, ja sogar ein wenig verwegen, wie ein Junge, der gerade einen lustigen Streich gespielt oder bei einem zugesehen hatte. "Im Wald der Körperübungen wohnt eine Feuerbläserin. Seit wann sie dort ist wissen wir noch nicht. Meister Botaradogan wird die Feuerbläserin erforschen und zusehen, ob sie diesen Wald wieder verlassen kann, ohne getötet werden zu müssen. Bis dahin fallen alle dort stattfindenden Übungen aus. Was die Bestrafung der Jungen angeht, so reicht es bei dem jungen Kirusirdarian völlig aus, dass er bis auf weiteres Waldlandverbot hat, damit er nicht jedem Tier dort hinterherrennt. Was Madrashainorian angeht, so fürchte ich, dass er sich mit der heutigen Vorstellung seiner bereits ausgebildeten Kenntnisse eine Verkürzung der Lehrzeit eingehandelt hat. Jemand, der so begabt und bereits bewandert ist kann unmöglich im ersten Sonnenkreis bleiben, das würde jeden anderen dort lernenden vor Neid oder Verzweiflung zusammenbrechen lassen. Eigentlich ist die Lehrzeit auf zwölf Sonnenkreise festgelegt. Doch werden wir wohl bei dir gleich den zweiten Sonnenkreis als deine Lehrstufe festlegen."
"Und die Strafe wegen Ungehorsam?" fragte Elnairammayan. Der Hochmeister sah ihn etwas verstimmt an. Dann fragte er laut und für alle Zuhörer verständlich: "Wieso hast du Kirusirdarian nicht sofort in deine Reihen zurückgerufen, Meister Elnairammayan?" Stille trat ein. Dann sagte der Lehrmeister:
"Es galt mir, die anderen in Schwung und Ordnung zu halten. Wer zurückfällt muss sich mehr anstrengen, wieder zu den anderen aufzuschließen. Da verschwende ich keine Stimme für Rückrufe."
"Das habe ich damals so nicht gelernt und du hast das auch nicht gelernt, als du Schüler unter diesem Dach warst", widersprach der Hochmeister. "Da wurde jeder Schüler, der bei den Übungen im Freiland zu langsam oder zu weit weg war sofort zurückgerufen."
"Das war mir zu aufwändig", verteidigte sich der Übungsleiter. "Dann liegt es an dir, dass Kirusirdarian sich von dir absetzen konnte. Und Madrashainorian ist ihm nach, weil sonst niemand bereit war, ihm zu folgen. Er hat damit vielleicht gegen das Gesetz des Gehorsams verstoßen, dafür aber das wesentlich schwerwiegendere Gesetz der Brüderlichkeit befolgt. Allerdings hat er gerade zwei seiner Mitschüler geschlagen. Die aber nur, weil sie deinen unrechtmäßigen Befehl ausführten, ihn unbeweglich zu halten. Ich muss das mit dem Rat der Lehrmeister besprechen, was der Junge dafür zu erdulden hat."
"Ich bleibe dabei, dass ich nichts unrechtes getan habe", sagte Elnairammayan verbittert. "Du wirst Gehör finden vor dem Rat deiner Amtsgenossen", sagte der Hochmeister. Dann zog er sich wieder zurück, nicht ohne die am Boden liegende Bestrafungsschnur aufzuheben und in sein Gewand zu stecken. Damit stand fest, dass hier und jetzt niemand damit bestraft werden sollte.
Einen halben Tag später verkündete der Hochmeister vor den Schülern und Lehrern, dass Elnairammayan wegen Unterlassung eines nötigen Befehls einen Mond lang im feuchtheißen Waldland im Mittagsland auf dem Erdteil in Abendrichtung von Altaxarroi neue arten mit der Kraft erfüllter Tiere und Pflanzen erkunden und aufschreiben sollte. Madrashainorian wurde dazu verurteilt, den beiden von ihm geschlagenen Mitschülern einen Mond lang einen Teil bei den zum Gemeinschaftsleben gehörenden Hausarbeitspflichten abzunehmen und zwar ohne Einsatz der oberen Kraft. Damit konnte Madrashainorian leben.
Drei weitere Monde verstrichen. Madrashainorian ging dem Leibesübungslehrer aus dem Weg, zumal der ja nur für die im ersten Sonnenkreis zuständig war und hielt sich auch mit herausfordernden Blickenund Gesten bei den älteren zurück. Da er nun im Schlafraum der zweiten Sonne schlafen musste war es ihm am Anfang etwas schwergefallen, sich daran zu gewöhnen, dass er hier der jüngste war. Doch mit Amdorisan, einem dreißig Sonnen alten Einberufenen, der jetzt erst das zweite Jahr machen konnte, verstand er sich gut, weil sie über die Reisen zu anderen Ländern sprechen konnten. Allerdings vermieden sie es, über ihre Herkunft zu sprechen.
Es hatte sich herumgesprochen, dass Madrashainorian offenbar schon weit vor dem Einzug in das Haus der Erdvertrauten einiges gelernt hatte. Das hatte ihm einen sehr verärgert geschriebenen Brief seiner Mutter eingetragen. Sie hatte ihm vorgeworfen, nicht umsichtig genug mit den ihm anvertrauten Kenntnissen umzugehen und ihm befohlen, nur noch dann, wenn er in ummittelbarer Gefahr für Leib und Leben war, von seinen Kenntnissen Gebrauch zu machen.
Es war im dritten Heißzeitmond, als es im Haus der Erdvertrauten herumging, dass Meister Elnairammayan vor den Augen seiner Schüler von einem vom Himmel herabfallenden grünen Feuerbläser gepackt und davongerissen worden war. Die Kinder und die zwei bereits erwachsenen Einberufenen waren daraufhin schnell zum Haus zurückgeeilt, um Hilfe zu holen. Doch von dem Lehrer fand man nichts mehr. Kirusirdarian, dem Madrashainorian am Tag danach begegnete sagte nur mit gewisser Schadenfreude: "Der hat versucht, die Feuerbläserin oder ihr kleines Mädchen totzumachen. Das hat die sich nicht gefallen lassen. Hmm, aber weil du das Mädchen am Boden festgemacht hast könnten die dich auch fressen wollen."
"Danke für die Warnung!" knurrte Madrashainorian. Doch da kam ihm die Idee, bei Waldausflügen immer die Bäume zu fragen, ob Feuerbläser in der Nähe waren. Denn große Pflanzen konnten die Nähe von Feinden weitergeben, wie es die Waldvögel mit ihren Feinden machten.
Einen Viertelmond später durften die Schüler aus dem zweiten Sonnenkreis mit denen aus dem ersten gemeinsame Waldlandübungen machen, wobei es auch darum ging, große Baumstämme zu befördern. Madrashainorian tauchte immer wieder in die stark verlangsamte Mitteilungswelt der Pflanzen ein und nahm es hin, wenn die anderen für ihn wie blitzschnelle Schatten um ihn herumwirbelten und ihre Stimmen für ihn unhörbar schnell und hoch wurden. Er fragte zwei altehrwürdige Bäume, ob ein böses Feuerblastier in der Nähe war. Die Frage wurde über die unsichtbaren und für Menschenohren unhörbaren Wege weitergegeben. Es dauerte einen gefühlten Tausendsteltag, bis die Antwort kam: "Feuertier kommt! Feuertier ganz nahe! Feuertier da!" Madrashainorian wurde auf Grund der Dringlichkeit dieser Nachrichten richtig aufgewühlt. Er riss sich aus der Verständigungsebene der Pflanzen heraus, gerade noch rechtzeitig. Denn da sah er über sich das kleine Feuerbläsermädchen. Es konnte schon fliegen. Dabei hieß es doch, dass Feuerbläser mehrere Zehnersonnen brauchten, um richtig groß zu werden. Doch damit nicht genug. Er sah einen winzigen Punkt in Mittagsrichtung und fühlte eher als er es begriff, dass dort die Mutter des kleinen Feuerbläsers herankam. Dann konnte er sie auch erkennen.
Die Mutter des kleinen Feuerbläsers war eine schlanke, mit dicken Schuppen gepanzerte Erscheinung mit weit ausgespannten Flughäuten, die in schneller Abfolge auf- und abschlugen. Dann sah er, dass sie wohl sechsmal so lang wie ein Mensch war. Ein ungeheuerliches Brüllen drang von ihr her in alle Ohren. Dann erblickte sie Madrashainorian. Dieser hörte noch den Übungsleiter, zu den anderen hinzulaufen, damit der Schutzwall der großen Mutter aufgebaut werden konnte. Doch da stürzte sich die Feuerbläserin schon in seine Richtung. Wenn er jetzt zu den anderen rannte wurden die genauso verbrannt oder gefressen wie er. Er riss seinen Kraftausrichter hoch, zielte auf das sich ihm gierig entgegenöffnende Maul und rief: "Weiche, Tod!" Dabei stellte er sich vor, wie das Ungeheuer von sich aus zurückprallte. Ein silberweißer Lichtstrahl entfuhr dem Kraftausrichter und fuhr geradewegs in das weit offene Maul hinein. Der Sturzflug brach ab. Laut keuchend und stöhnend fing sich der Feuerbläser. Dann klappte das Maul wieder zu. Das gewaltige Feuerbläserweib wendete und wippte im Flug mit ihrem schuppigen Hinterkörper, während das Feuerbläsermädchen im gebührenden Abstand um seine Mutter kreiste. Dann flog die große Feuerbläserin mit leicht schwankendem Körper davon.
"Ups, du hast die paarungstriebig gemacht, Madrashainorian. Jetzt will sie neue Feuerbläserkinder haben. Aber außer der wohnt keiner hier. Das Mädchen hat sie vergessen. Oh, da fliegt es hinter ihr her", sagte Kirusirdarian.
"Was erzählst du da für einen zum Himmel stinkenden Nasentrötermist", knurrte der Übungsleiter. "Ich kenne die Anrufung. Es ist ein Zauber der Friedensstifter von den Lichtfvolgern. Woher kannst du den, Madrashainorian?"
"Ich habe das nur probiert, weil ich sowas gehört habe, Meister", sagte Madrashainorian.
"Soso, nur probiert", sagte der Lehrer missmutig. Die anderen grinsten verwegen. Der älteste Schüler sagte dann: "Es ist nicht verboten, andere Lieder zu können, wenn sie dem eigenen Schutz oder dem der andren helfen. Sie werden halt nur nicht bei uns gelernt."
"Ja, doch es wirft ein seltsames Licht auf die ganzen Unterweisungen, wenn wir Lehrer erst dann von den Kenntnissen der einzelnen erfahren, wenn sie diese anwenden. Doch offenbar hat er damit die Feuerbläserin vertrieben. Wenn die wiederkommt müssen wir sie wohl töten."
"Die muss jetzt erst einen Feuerbläsermann finden, der ihre neuen Eier mit Leben auffüllt", sagte Kirusidarian."
"Alle zurück ins Haus", befahl der Lehrmeister und klatschte in seine Hände.
Der Vorfall mit dem großen Feuerbläser sprach sich sofort herum. Allerdings wusste keiner, wie Madrashainorian das mit der fremden Anrufung gemacht hatte. Der Betreffende merkte jedoch, dass diese Vorführung ihm unangenehme Aufmerksamkeit eingebrockt hatte. Auch den Lehrern fiel das auf. So rief ihn Hochmeister Goormadranoras in sein Sprechzimmer und befragte ihn. Er gab zu, dass er von seinem Vater gehört hatte, dass der von einer Lichtkönigin diesen Zauber selbst erlernt hatte und ihn seiner Mutter beigebracht hatte, während er in ihrem inneren Nest herangewachsen war.
"Neid und Missgunst sind die schlimmsten Gifte der Welt. Sie verderben Seelen und Körper, brennen Wälder und Städte schlimmer und schneller nieder als jeder wütende Feuerberg. Deshalb habe ich in dem Moment, wo du zu mir hereingekommen bist, allen Lehrern aufgetragen, Lieder des Vergessens zu singen. Hier können wir sie nicht hören. Aber wenn du in einem Viertel eines Zwölfteltages wieder hinausgehst werden alle denken, du hättest die Feuerbläserin mit dem Lied der scheinbaren Übermacht in die Fluchtgeschlagen. Kennst du das Lied vielleicht auch schon?" Madrashainorian witterte die Falle, die ihm der Hochmeister stellte. So sagte er schnell und ohne schlechtes Gewissen:
"Ich hörte davon, dass die im zehnten Sonnenkreis dieses Lied lernen. Ich habe es noch nicht gelernt, weil ich es sonst ja auch angewendet hätte." In Wirklichkeit kannte er das Lied. Er hatte es im dritten Lebensmonat aus der herzseitigen Mutterbrust in sich hineingesogen, und die es enthaltene Milch hatte wilde Winde in seinem Bauch ausgelöst.
"Das Lied wäre vielleicht auch zu mächtig gewesen. denn dafür musst du einen Geist haben, der mindestens doppelt so stark ist wie der deines Feindes. Aber Feuerbläser sind stark."
"Ich kann nur versprechen, nur die Sache zu machen, die ich hier lernen und machen soll", sagte Madrashainorian. Der Hochmeister nickte behutsam.
Tatsächlich wussten die anderen nur davon, dass der Übungsleiter den Feuerbläser mit dem Lied der scheinbaren Übermacht in die Flucht geschlagen hatte. So konnte Madrashainorian weiterhin unter dem Dach der Erdvertrauten bleiben.
Zu den Dingen, die Madrashainorian im zweiten Sonnenkreis erlernen durfte gehörten die ersten Tiere, die von der Kraft belebt und hervorgebracht worden waren. Im dritten Sonnenkreis kamen dann noch Pflanzen und Tränke dazu, etwas, womit sich Madrashainorian sehr schnell und sehr geschickt zurechtfand.
Ebenso fingen die Schüler im dritten Sonnenkreis mit jenen Übungen an, die die Form und Beschaffenheit von toten Gegenständen änderte.
Im vierten Sonnenkreis reisten die Schüler durch die bekannte Welt. Hierbei erfuhr der Sohn Madrashmirondas, wie viele Ausgänge es auf den schnellen Straßen gab und auch, dass die goldenen Beförderungslichter bis zu zwanzig Reisende einschließen und zum Zielort bringen konnten.
Was für ihn höchst interessant war war das Netz der großen Mutter, ein nur für eingeweihte Erdvertraute begehbares Verbindungsnetz zwischen Zentren der Macht der großen Mutter. Hierfür wurden kleine Scheiben aus dünnem Ton hergestellt und von den Lehrmeistern für Bewegung der Erde und die Verknüpfung zwischen leblosem Stein und lebenden Wesen bezaubert, dass sie die Ziele aufnahmen. Die Schüler lernten diese Techniken bereits, um sie dann, wenn sie kurz vor dem Ende der Ausbildung standen, als Bestandteil ihrer Prüfungen abzulegen. Zumindest konnten die Schüler vorbehandelte Zielbestimmungsplättchen auf den Zielbestimmungsstein legen und für einige Sekunden ein grünes Tor öffnen. Selbst verreisen würden sie erst können, wenn sie das Bekenntnisritual vollzogen haben würden, dass im sechsten Sonnenkreis ihrer Ausbildung pflicht war oder dann, wenn jemand von einem Erdgroßmeister oder einer Meisterin einberufen worden war.
Madrashainorian lernte auch die Sonnenflügler kennen, die den Feuerbläsern verwandten Tiere, allerdings keine aus Kriechtieren stammenden, sondern den Vögeln verwandte Tiere mit rotgoldenen Federn, die bis zu zehn Männerschritte ihre Flügel ausspannen konnten und eine über alle hörbaren Töne des Menschen hinwegreichende Klangbreite boten, so dass sie ganz tief oder unangenehm schrill hoch rufen konnten, aber auch, und das konnten längst nicht alle Vögel, mit einer Kehle mehrstimmig singen konnten. Am erstaunlichsten an diesen Vögeln war, dass sie nach zwanzig Lebenssonnen mittags in Flammen aufgingen, um am nächsten Morgen aus der eigenen Asche wieder neu herauszuschlüpfen. Ihr Lied konnte Angreifer besänftigen und die angenehmsten Gefühle in jemandem anrühren. Von ihren bei Sichtung von offenen Wunden vergossenen Tränen hieß es, sie könnten Wunden und Vergiftungen aller Art heilen. Und wenn sie nicht an ihren tausendschrittlangen goldenen Ketten hingen konnten sie schneller als der Wind fliegen und sogar von Flammen umschlossen innerhalb von einem Atemzug an weit entfernte Orte springen. Allerdings mussten diese Vögel gut gefüttert werden. Menschen rührten sie nicht an. Doch sie fraßen Rundnasengrunzer, Wolmilcherjungtiere und Bodenlaufvögel. Bekamen sie drei Viertelmonde nichs zu fressen verbrannten sie aus sich selbst heraus und schlüpften neu. Doch dann wollten sie von den Menschen, die sie hatten verhungern lassen, nichts mehr wissen. Dann stießen sie die Lieder der größten Angst aus, die jeden Menschen zur sofortigen Flucht trieb und entwanden sich mit ihrer übergroßen Kraft, die sie aus Feuer und Wind zu atmen schinen, aus den goldenen Ketten heraus, um auf Nimmerwiedersehen in einer weiteren Feuerwolke zu verschwinden. Madrashainorian musste in den Nächten, wenn er träumte, immer wieder daran denken, dass sein Vater kleinere Artgenossen der Sonnenflügler gesehen hatte. Doch wo lebten diese bloß?
Außer neuen Tieren lernten sie auch die Lieder der Verwandlung von Tieren und Pflanzen kennen. Später, in den drei letzten Sonnenkreisen, würden sie auch die Verwandlung des eigenen Körpers erlernen. Darauf wartete Madrashainorian schon, weil seine Mutter in diesem Bereich schier uneinholbar war. Nur eine Bundesschwester war ihr in dieser Kunst noch überlegen, und die unterrichtete im Fach geschlechtliche Freuden und Pflichten.
Zu beginn des sechsten Sonnenkreises trafen sich alle jungen Anwärter der Erdvertrauten zur Tageswende der ersten Neumondnacht nach Wintersonnenwende am großen grauen Stein, dem zentralen Heiligtum der Erdvertrauten, am tiefsten Punkt von Madrashghedoxalan. Wie sie es im Unterricht gelernt hatten stellten sie eine körperlich-geistige Verbindung zur großen Mutter Erde her und richteten sich so aus, dass sie alle mit den Gesichtern nach Mitternacht blickten. Dann sprach der Hochmeister der Lehrstatt, Goormadranoras, die mächtige Einweihungsformel vor, die nur die geschlechtsreif gewordenen Jungen und Mädchen sprechen durften:
"o Große Mutter Grund und Stein,
Seit meiner Zeugung bin ich dein.
Mit meinem Blut bekunde ich
mein Leib und Leben ist für dich.
Aus deinem Schoße ich entstieg,
für dich zum Ruhme, Stolz und Sieg
will dein sein bis mein leben flieht
und es mich wieder zu dir zieht,
auf dass ich wieder eins kann werden
mit dir o große MutterErden."
Nachdem diese Formel dreimal gesprochen war und alle dabei mit ihren Messern aus schwarzem Mineral einige Tropfen Blut in den grauen Stein abgegeben hatten, fühlten sie die feste Verbindung zwischen sich und den Kräften der Erde, denen sie nun alle bis nach dem Tod verbunden sein würden. Ab nun durften sie keine höheren Künste lernen, die nicht mit dieser Urkraft verwoben waren. Nur die allgemeinen Dinge wie Feuer machen, Wasser aus dem Nichts rufen oder den kurzen Weg durften sie noch dazulernen. Sonst nur die Dinge, die mit der Erde und den aus ihr geborenen Wesen zu tun hatten.
Im sechsten Sonnenkreis erwachte das, was vorher nur gelbes Aiai-Wasser vergießen konnte zu einem unheimlichen Eigenleben. es wurde von sich aus immer größer und versuchte, sich aus seinem Unterzeug herauszuwinden. Es war zugleich schmerzhaft aber auch anregend. Da wusste er, dass er nun mannbar war, dass sein Lebensspender nun bereit war, neues Leben in das innere Nest einer Erwählten zu schicken.
Als Madrashainorian an einem Morgen im zweiten Mond der Aufwachzeit der sechsten Sonne seiner Ausbildung träumte, von einer großen, rotgoldhaarigen Frau umschlungen und zum teil in ihren Leib hineingezwengt zu werden gab er sich der wohligen Erregung hin. Doch als er fühlte, wie es in seinem Unterleib regelrecht hervorbrach wachte er auf. "Oh nein! Ich habe mein Lebensgut vergossen", dachte er, als er erkannte, dass sein Körper nun wahrhaftig nicht mehr warten wollte.
Zu seinem und auch zum Wohl der anderen bekamen sie seit drei Monden Unterweisungen in geschlechtlichen Freuden und Pflichten. Deshalb machte er um dieses überdeutliche Lebenszeichen seines Lebensspenders kein Aufsehen mehr. Er wusste, dass andere Jungen in seinem Alter von Hand nachhalfen, um dieses Gefühl der körperlichen Wallungen zu erleben. Sollte er das seiner Mutter schreiben? Seit der Sache mit den Feuerbläsern hatte er nichts mehr getan, um aufzufallen. Also konnte er es seiner Mutter auch weiterhin verschweigen. Es reichte ihm schon, dass allein sie fvünf neue Einberufene in das Haus der Erdvertrauten geschickt hatte, von denen drei mit ihr den Weg der zwölf leidenschaftlichen Tage und Nächte beschritten hatten. Einmal hatte sie deshalb ein neues Kind bekommen, ein Mädchen namens Ilanammaya. Deshalb wollte er mit ihr erst einmal nichts mehr zu tun haben. Die anderen hatten recht, sie genoss es regelrecht, andere Jungen zu Männern zu machen, wie sie das mit seinem Vater auch getan hatte. Das Agolar mit seiner Aimartia einen Sohn bekommen hatte, der zunächst Andurammayan hieß, der noch suchende Sohn, wusste er auch.
"Wenn die Mitte des Blühtenmondes ist werden Meisterin Mirgondamadra, Meisterin Edoramiria, Meisterin Ketashainora, Meisterin Mylovamiria, Meisterin alaishaduitaria und ich, Meisterin Ruashanormiria nach den langen Gesprächen über die rechte Art, mit einer Frau zu sprechen und zu unterhandeln, die von den meisten von euch sicher schon sehnsüchtig erwarteten Übungen in leiblicher Liebeskunst beginnen, damit ihr, wenn ihr eure Unterweisungen erfolgreich beendet habt, sicher und bewusst mit allen den Frauen leben könnt, die euch die Ehre erweisen wollen, die Mütter eurer Söhne und Töchter zu sein", sagte die nicht wirklich dem Schönheitsbild der jungen, schlanken, aber wohlgeformten Geliebten entsprechende Meisterin und bedachte jeden der Schüler mit ihren braungoldenen Augen. Ihr von silbernen Strähnen durchzogenes, dunkelbraunes Haar und die langen Beine verrieten, dass die durch angeblich vierzig Geburten stark gerundete Lehrmeisterin einmal ein schönes Mädchen gewesen sein musste. Und irgendwie, so empfand es Madrashainorian, strahlte sie auf ihn immer noch eine gewisse Anziehung aus, etwas, dass ihn ohne Stimme rief, er aber nicht wirklich hören wollte. Die fünf anderen Lehrmeisterinnen zählten zwar auch schon mehr als hundert Sonnen und hatten die Eigenschaften ihres Geschlechtes in allen Formen erlebt, genossen oder einfach nur ertragen. Sie sahen aber gegen die älteste von ihnen immer noch so aus wie mit zwanzig oder fünfzig Sonnen, schlank, nicht zu üppig, aber viel versprechend, mit ganz dunklen Haaren. Ruashanormiria bewegte sich trotz ihrer großen Leibesfülle sehr gewandt und trat auch sehr leise auf. Sie trug das rot-goldene Gewand der Lehrmeisterinnen für geschlechtliche Freuden und Pflichten, unter dem sie noch ein hautenges, blutrotes Unterkleid trug, das sie bei Bedarf auch durchsichtig werden lassen konnte, wenn sie über ihre körperlichen Eigenschaften sprach. Zudem beeindruckte es gerade Madrashainorian, dass sich die Hochmeisterin der Liebeskunst ohne Kraftausrichtergebrauch verwandeln konnte. Angeblich hatte sie bei einem solchen Versuch in Gestalt einer schwarzen Eierlegerin einen gesuchten Flüchtigen der Feuerrufer, der meinte, sich in ein im Boden liegendes Getreidekorn verwandeln zu müssen hinuntergeschluckt und sich zu früh zurückverwandelt, weshalb aus dem Getreidekorn der Keim eines neuen Menschen geworden war und sie ohne die wonnige Berührung eines Mannes Mutter werden konnte und den geflüchteten, der mit seinem neuen Gefängnis alles andere als zufrieden war, als Zwiegeborenen zur Welt gebracht und als ihr eigenes Kind großgezogen hatte. Die Feuerrufer, die ihn eigentlich wegen Verstoßes gegen ihre Gesetze einem Feuerbläser zum Fraß vorwerfen wollten, erkannten, dass es eine größere Strafe für ihn gewesen sein musste, zehn Monde in einer Erdvertrauten gesteckt zu haben und dann noch von dieser groß und stark gefüttert zu werden. Das beeindruckte Madrashainorian mehr als die langen, schlanken Beine und das in weichen Wellen auf den Rücken fallende nachtschwarze Haar von Mylovamiria, deren hellbrauner Hautton verriet, dass sie die Tochter eines dunkelhäutigen Fremdländers war.
"Wir sind dreizehn Jungs. Wie wollt ihr da befinden, welche von euch mit welchen von uns die letzten großen Erforschungen macht", wollte Esadormoraian wissen, der vier anderthalb Sonnen älter als Madrashainorian war.
"Es wird gelost, wer in diesem Mond noch seine Jungenzeit von sich abstreifen kann und wer noch einen Mond warten muss. Denn wer eine von uns zugeteilt bekommt muss solange bei ihr zubringen, bis sie einmal den Kreis der Fruchtbarkeit durchlaufen hat, von dem Mylovamiria euch erzählt und auch vorgeführt hat, was fruchtbare Frauen in den unfruchtbaren Tagen so tun können. Erst dann darf eine neue Verlosung stattfinden. Da ihr dreizehn seid wird Lebensmeisterin Kolanamiridia aus dem obersten Sonnenkreis bei der zweiten Verlosung dabei sein. Dort sind es wie ihr wisst nur elf Schüler gewesen."
""Und was ist, wenn ich nicht will?" fragte Buradomorian, ein nur für's Lernen zu begeisternder Junge, der die Aussicht, verpflichtend mit einer Frau das Lager teilen zu sollen, sehr unangenehm empfand. "Kann ich dann meinen Platz an jemanden anderen abgeben? Ich möchte mir erst nach den zwölf Sonnen jemanden aussuchen, und zwar dann, wenn ich es für richtig halte."
"Das weiß ich doch", säuselte Ruashanormiria. "Aber dann könte es dir widerfahren, dass die Großmeister der Vertrauten der großen Mutter dich nicht in ihrer Mitte begrüßen möchten, weil du die große Mutter, die alles Leben hervorbringt, nicht ehren wolltest, indem du einer anderen Bundesschwester die Ehre erweist, dich in die Geheimnisse der Liebesfreuden eingewiesen zu haben. Aber du kommst noch drauf, dass du das besser in wahrhaftigen Übungen lernst, als nur aus Büchern. Die anderen hier, die brauche ich nur anzusehen, und ihre Lebensspender strecken sich mir entgegen, weil sie endlich ihre Aufgabe erfüllen wollen."
"Das ist widerlich", stieß Buradonorian angeekelt aus. "Ich enthalte mich der Verlosung. Ihr könnt mich nicht zwingen, mit einer Frau, die ich nicht liebe, Tisch und Bett zu teilen, und wenn es nur für einen Mond ist."
"Zwingen nicht, das wäre wahrhaftig eine Beleidigung der großen Mutter. Aber ich kann dir nur versichern, dass du dann der einzige in deinem Sonnenkreis sein wirst, der einen großen Wissensrückstand haben wird. Wie deine Mitschüler dich dann sehen kann ich auch nicht erzwingen. Ich weiß nur, als ich ein Mädchen war - was gibt es da so frech zu grinsen, Karolimadran? - da konnten wir es nicht erwarten, es zu fühlen, ob wir wirklich dazu taugen würden, einmal Mutter werden zu können. Wir haben damals wie heute den Trank der schlafenden Fruchtbarkeit getrunken, den ihr ja schon bei Meister Senotargorian gelernt habt. Ich durfte dann feststellen, dass das ganze verklärende Gerede davor nicht an die wahren Wonnen herankam, aber auch stark übertrieben war, was die aus einer solchen Verbindung möglichen Pflichten anging. Da hatten wir eine, die aus der Schwesternschaft der keuschen Töchter stammte, wie auch immer ihre Mutter sie auf die Welt gebracht hat. Die konnte nachher nicht mitreden, wenn wir in den Umkleiden oder unserem Schlafraum davon sprachen, wie es sich angefühlt hat. Aber ihr habt noch Zeit. Nächsten Viertelmond ist die Verlosung. Ähm, und das Schummeln mit Beweglichkeitsworten oder so misslingt, die Herrschaften. Das wollte ich bei der Gelegenheit nur gleich sagen."
"Ich werde an der Verlosung nicht teilnehmen", bestand Buradonorian auf seiner Ablehnung. Die Lehrmeisterin nickte nur.
"Mit fünfzehn Sonnen schon dieses widerliche Verfahren, wie lebensecht das auch immer sein soll", beklagte sich Buradonorian am Abend vor dem Einschlafen. Madrashainorian dachte für sich, mit wem er lieber dieses berühmte erste Mal erleben wollte, Mylovamiria, was Mutter der Wonne hieß oder Ruashanormiria, die Mutter der tausend Regungen. Vielleicht war es auch die ringelhaarige Lehrmeisterin alaishaduitaria, was Stern der Liebe hieß. Ihre graugrünen Augen hatten ihn auch schon sehr tief angesehen, wohl weil er selbst grüne Augen hatte. Am Ende planten die Meisterinnen schon mit ihm und den anderen weitere Kinder ein, sozusagen als Einstand für die Welt der ganz erwachsenen Erdvertrauten, gemäß dem Grundsatz: "Wer hier wieder raus will muss einer der Liebeslehrerinnen ein Kind in den Bauch gelegt haben." Dann wollte er eigentlich doch lieber einen Trübelsang singen, wie ihn die dunkelhäutigen Altaxarroin beherrschten, die vor zwei Tausendersonnen aus dem Erddteil zwischen Morgen und Mittag verschleppt und als Zwangsarbeiter eingesetzt worden waren, bis die Lichtfolger befunden hatten, dass wessen Blut rot ist auch ein freier Mensch sein muss. Aber den Trübelsang hatten die überragend gut drauf.
In der Nacht träumte er, er ginge mit den Meisterinnen Mylovamiria, alaishaduitaria und der zierlichen, nachtschwarzen, blausteinäugigen Lehrmeisterin Edoramiria zu einer langen, runden Steinbank. Darauf setzten sich die Lehrmeisterinnen und hoben ihre rot-goldenen Gewänder mit den Sonnenflüglerdaunen an Saum und Ärmeln. "So, Madrashainorian. Du legst jetzt dein rechtes Ohr an jeden unserer Bäuche. Wenn du darin das Lachen eines Kindes oder mehrerer Kinder hören kannst, dann ist die, wo du das hörst, die Mutter deiner Kinder, und du ziehst mit ihr zusammen. Also los geht's!" sagte Meisterin Edoramiria, was beharrliches Leben oder entschlossene Mutter hieß. Ihre Stimme klang jetzt wesentlich älter und strenger, als sei sie innerhalb eines Tages um hundert Sonnenkreise gealtert. Dennoch machte Madrashainorian die Probe. Doch außer das Wummern eines gesunden Herzens und das Fauchen der ein- und ausgeatmeten Luft hörte er nur das Gluckern, Grummeln oder Rumpeln von Magen und Gedärmen, kein lachendes Kind, das von ihm ins Leben getanzt werden wollte.
"Die nächste Runde", trieb alaishaduitaria ihn an. Er sah ihr noch einmal in die graugrünen Augen, Augen, die ihn an irgendwen erinnerten, aber er nicht wusste, an wen. Sicher, er hatte sie als Lehrerin für körperliche Gesunderhaltung und anregende Körperpflege. Aber da erinnerte er sich nicht an wen anderen. Als er jetzt sein Ohr an ihren flachen Bauch drückte und dabei das anregende Duftwasser und die Pflegesalbe roch, hörte er wie durch einen langen Schacht:
"Wenn Marie sich dir nicht zeigen will, dann nimm eben den freiwerdenden Posten von Mrs. Hermine Weasley. Mit deinen UTZs in Pflege magischer Geschöpfe und Muggelkunde bist du da auf jeden Fall nicht unterfordert."
"Ich weiß nicht, warum Marie sich mir nicht zeigt, Mum. Am Ende muss ich nur noch eine kleine Bedingung erfüllen, damit ich aufgenommen werden kann."
"Vielleicht musst du dazu erst einmal deine Unschuld hergeben und die Wonnen der Liebe kosten, Glo", scherzte ein anderes Mädchen, dass einen Dialekt sprach, den Madrashainorian nur im Westen der Erde gehört hatte.
"Klar, Mel. Aber das hat mir diese überbehütsame Heilerin von Beauxbatons schon vereitelt", schnaubte das erste junge Mädchen. Dieses verflixte Lauerbusch-Antidot."
"Behagt dir mein Leib und erlauschst du deinen ersten Nachkommen darin?" dröhnte unvermittelt alaishaduitarias Stimme. Er schrak zurück. Dann sagte er: "Ich habe versucht, zu ergründen, was du gegessen hast und wie lange es noch dauert, bis es dich wieder verlassen muss."
"Und ich dachte schon, mein Junghaltefett aus der Sonnenwendstaude hätte deine Sinne für mich gewonnen", lachte alaishaduitaria. Dann sagte sie, dass er nun bei einer anderen lauschen solle.
Als er nun sein Ohr an Edoramirias Bauch legte, die nach leckerem Honiggebäck duftete, hörte er eine Stimme ähnlich wie ihre aus tiefem Grunde sagen:
"Also ist dieses Medaillon für bereits Mutter gewordene Hexen nicht zu erreichen, und sein Aufbewahrungsort ist mit vernichtenden Abwehrzaubern gesichert. Gut, das gebe ich dann an die Liga weiter, Catherine. Julius ist nicht zurückgekommen, vielleicht sollten wir uns gedanken machen, wie wir sein Verschwinden erklären."
"Maman, das habe ich mit ihm ausgeheckt, dann werde ich das auch irgendwie vermelden", hörte er eine andere Frauenstimme, jünger als die erste und sichtlich verbittert. Da grummelte es, und mitten im Grummeln meinte er noch eine dritte Frauenstimme zu hören die sagte: "Babette, kleines. Ich bin nicht deine Mémé Blanche und auch nicht dein übernervöser, arbeitswütiger Papa. Wenn du ..." Da hörte das Grummeln auf und die andere Stimme verschwand mit ihm. Jetzt konnte er wieder die ersten beiden hören. "Ich lasse Claudine noch bei dir und besuche Madame Araña in Caracas. Sie hat mir über einen Boten zukommen lassen, dass sie Wind von Julius' Vorhaben bekommen hat, wahrscheinlich von Vivianes Bild. Ich muss klären, wer dann sonst noch davon was mitbekommen haben könnte."
"Gut, meine Tochter, mach das", hörte er die, die ähnlich wie Edoramiria klang, in deren Bauch er fast hineinzukriechen trachtete. So wunderte es ihn auch nicht, als sie sagte: "Wenn du darauf hoffst, ich könnte ein Lied anstimmen, dass dich im Ganzen bei mir einlässt, sei dir bewusst, dass du mit einer großen Schwester und einer sehr strengen Lehrerin als Mutter groß werden musst, abgesehen davon dass ich dich nicht meiner großen Schwester ausleihen darf, weil die sonst meint, deine Amme werden zu dürfen und dich mit ihrer Frechheits- und Verspieltheitsmilch verdirbt. Aber wenn du kein eigenes Kind von dir in mir hörst setz deinen Weg bitte fort!"
Bei Mylovamiria hörte er auch zwei Frauenstimmen und die von vier Kindern. Die eine Frauenstimme sagte: "Dann holst du mich doch noch ein, Jeanne. Wie die Zeit vergeht. Manchmal träume ich selbst noch davon, wie du in mir wohnst und darauf wartest, endlich an die Luft zu kommen."
"Bruno findet es nicht so prickelnd, weil er jetzt deshalb wohl doch in die Spiele und Sport zu Hippolyte muss, um da genug zu verdienen." Dann hörte er die Kinderstimmen lauter werden. Er erschrak und bekam rote Ohren. "Ah, ich bin die Auserwählte", frohlockte Mylovamiria. "Dann komm zu mir und teile mit der guten alten Mylovamiria das Geheimnis deiner Mutter!" Er fühlte, wie sie ihn behutsam umschlang, um ihm alles vom Körper herunterzulösen, was hinderlich war. Da wachte er auf und fand sich in seinem Bett im Haus der Erdvertrauten wieder. Er keuchte erst. Dann stellte er fest, dass diesmal keine Lebenssaat unnütz aus ihm herausgebrochen war. Wollte er wirklich Kinder mit Mylovamiria haben? Und was waren das für andere Bauchstimmen, die er gehört hatte? Irgendwie träumte so'n halbfertiger Jüngling sich schon echt verrücktes Zeug zusammen.
"Ruashanormiria lädt dich zum Mond der ersten Wonnen!" las er nur für sich, als er die in einem mit flirrender Dunkelheit gefüllte Schatulle hineingetastet und eine kleine Tonscheibe herausgezogen hatte. Neben ihm keuchte Buradonorian: "Nein, nicht die Edoramiria! Nein, ich lehne ab!" Er warf die Losscheibe zurück in die Dunkelheit. Da schoss diese laut pfeifend wieder heraus und schwirrte ihm mehrmals um die Ohren, um dann im Hui gegen die nächste Wand zu krachen und dabei funkenstiebend zu zerspringen. Dabei erschien in hellblauer Schrift die Einladung Edoramirias zum Mond der ersten Wonnen und sein Name, so dass alle es lesen konnten. Die auf diese Weise rüde zurückgewiesene Lehrmeisterin sah Buradonorian sehr ungehalten an und sagte dann: "Du hättest nicht in die Schatulle greifen müssen. Du hättest auch einfach warten können. Das üben wir aber noch mal, wie ein Mann die Angebote einer Frau höflich und bestimmt beantwortet, ob zustimmend oder ablehnend, junger Mann."
Wen die anderen elf zogen oder ob sie das Wartelos erwischt hatten bekamen Madrashainorian und Buradonorian nicht gleich mit. Erst als die Losschachtel keine Namensscheibe mehr auswerfen wollte verkündete die älteste, Ruashanormiria: "Die Wegführerinnen aus der Jungenzeit, die ihr jetzt gezogen habt trefft ihr heute abend im Raum der wandelnden Ziele. Ihr müsst dazu nur die Losscheiben mit der Schriftseite nach unten auf den Stein der Standortwahl legen und ruhig auf dem Podest der Beförderung bleiben. Dann wird jeder, der eine namentliche Einladung bekommen hat durch das kleine Netz der großen Mutter zu der Herrin seiner Auslosung befördert. Ihr müsst bis dahin nicht darüber schweigen, wer euch die ersten Wonnen darbringen möchte. Aber es ist höflicher den auserwählten Frauen gegenüber, nicht mit der bevorstehenden oder bereits vollzogenen Vereinigung zu prahlen. Ich weiß, junge Mädchen machen das immer mal gerne, wenn sie meinen, körperlich Frau zu sein hieße auch geistig schon Frau zu sein. Aber für die Erdvertrauten gilt die Regel: "Nur die große Mutter oder der Anvertrauer müssen es wissen." Also bis dann!" Sprach's und verließ mit den fünf anderen den Unterrichtssaal.
"Na, darfst du noch ein kleiner, unschuldiger Junge bleiben oder musst du schon bei einer deinen Lebensspender anbringen?" wollte Buradonorian von Madrashainorian wissen.
"Hast doch gehört: "Nur die große Mutter oder der Anvertrauer müssen es wissen. Bist du die große Mutter oder ein königlich erprobter Anvertrauer?" fragte Madrashainorian. "Zumindest solltest du dich in den nächsten Monden weit von Edoramiria fernhalten. Die kann nämlich auch ganz gute Verwandlungssachen."
"Steck's dir wohin, bevor es die kriegt, die du gezogen hast!" knurrte Buradonorian.
Abends betraten die fünf, die eine namentliche Einladung erwischt hatten den Raum hinter dem Esssaal. Die zu vollwertigen Erdvertrauten geweihten konnten von hier aus entweder zu Stützpunkten der Erdvertrauten hin, sofern sie nicht mit den dort lebenden körperlich verwandt waren, oder einen Startpunkt der Fernstraßen aus Kraftlicht erreichen.
"Ich bin gespannt, ob ich mit ihr auch über was anderes als Kleidung und Körperpflege sprechen kann", sagte der älteste Mitschüler, der eigentlich kein unschuldiger Jüngling mehr war, weil er kein Eingeborener, sondern Einberufener war. Er legte seine Losscheibe auf den Zielortstein. Dieser glühte grün auf. Dann schossen links und rechts zwei hellgrüne Lichtsäulen nach oben, formten sich über ihm zu einem runden Bogen, zwischen dem für einen Moment ein waberndes, schwarz-blaues Nebelgebilde entstand. In diesem verschwand der Mitschüler übergangslos. Der grüne Torbogen blieb noch zwei Atemzüge lang erhalten. Dann klaffte er oben wieder auseinander. Die zwei Säulen stürzten förmlich in den Boden zurück.
Da es nach Altersstufe ging dauerte es drei weitere Vorgänge dieser art, bis Madrashainorian an die Reihe kam. "Gut, Leute. Alle di noch einen Mond warten dürfen oder müssen nicht zu viele feuchte Träume bis dahin und immer schön senkrecht bleiben!" rief Madrashainorian. Dann klatschte er ohne großes Vorspiel seine Losscheibe mit dem Namen seiner Zuteilung auf den Zielstein. Unter seinen Füßen vibrierte die Erde. Dann sah er es links und rechts von sich grün emporschießen. Den über ihm stehenden Torbogen bekam er nicht mehr mit, weil er da bereits meinte, in ein völlig schwarzes und lautloses Nichts hineinzustürzen. Doch dieser Sturz dauerte keinen Viertelatemzug an. Da war ihm, als stieße etwas ihn nach oben. Er stand wieder auf einer Plattform und sah für einige Augenblicke einen blutroten Torbogen über sich. Dann teilte sich dieser schon wieder und versank lautlos im Boden.
"Schön, dass du wenigstens die Größe hast, dich zu deinem Los zu bekennen", hörte er die erfreute Stimme Ruashanormirias. Dann sah er die Meisterin und, so das Schicksal der großen Mutter es wollte, erste wahrhaftige Beilagergenossin seines jungen Lebens, das er vom Augenblick seiner Erzeugung bis hier her in allen Einzelheiten im Kopf behalten hatte.
"Ich möchte dir, meiner Göttin des Wonnemondes, ein Geschenk überreichen, dass ich selbst angefertigt habe", begann er mit der im Unterricht für höflich und traditionsbewusst einstudierten Begrüßung. Dann übergab er der fülligen Lehrmeisterin und mehrdutzendfachen Mutter eine kleine Schachtel. Diese lächelte und deutete dann auf eine Tür, die aus dem von einem gelben Leuchtkristall erhellten Raum hinausführte. "Ich bedanke mich für die Begrüßung und möchte dein Geschenk dadurch ehren, dass ich es vor deinen Augen in meinem Wohn- und Essraum enthülle, auf dass du weißt, wie es mich bewegt, bevor wir beide zu abend essen. Oder möchtest du zunächst deine Kleidung in den Schrank in unserem gemeinsamen Ruhe- und Wonneraum einstellen?" Madrashainorian kannte die Antwort, die er geben musste. Einfach seine Sachen bei einer eigentlich noch fremden Frau im Schrank zu verstauen war besitzergreifend. Ein Mann, der sowas tat konnte sich schnell den Unmut der Umworbenen einhandeln. So sagte er: "Wenn du es wünschst, Ruashanormiria, werde ich meine Habseligkeiten zunächst hier lassen, damit du befinden kannst, was davon in deinen Schrank darf und was nicht."
"Dann bleibt alles hier und wir beide machen das morgen klar, ob du in deiner Schülerkleidung in meinem Haus herumlaufen sollst oder für den kommenden Mond andere Kleidung bekommst. So folge mir bitte, auf dass ich dir mein Reich zeige!"
Nach diesem eher einstudierten Gespräch lockerte die Haltung der Hausbewohnerin spürbar auf. Sie führte ihren Schützling und dienstmäßig zugeteilten Liebhaber für einen Mond durch ihr Haus, das nicht in der Stadt der Erdvertrauten lag, sondern auf einem von Grasland und bunten Sträuchern bewachsenen Hügel. Vor dem Haus entsprang eine klare Wasserquelle, die in fünf armdicken Bächen durch das Grasland floss und es immer gut bewässerte. Das Haus war eine Kugel, deren untere Hälfte im Erdreich des Hügels eingebettet war. Madrashainorian gefiel das Haus. Es erinnerte ihn irgendwie an irgendwas, dass er mal gekannt hatte oder von dem er mal gehört hatte. Insgesamt hatte es sieben mal sieben Räume, verteilt auf sieben Stockwerke. Zu den Einrichtungen gehörten drei große Badezimmer mit Badebecken, in denen normalgroße Menschen vollkommen eintauchen konnten. Dann war da der Bücherraum, der neben auf Pergament und Papyrus geschriebenen Dingen auch Tontafeln und Orichalktafeln enthielt. Dann gab es noch auf jedem Stockwerk drei Schlafräume, allerdings eher für Gäste, was an den an die Wand geklappten Betten oder Schlafgestellen zu sehen war. Über je eine von drei steinernen Wendeltreppen ging es nach oben.
Als sie den Mittelpunkt des Kugelhauses erreichten standen sie vor einer kreisrunden Tür aus hellbraunem Holz. Dahinter lag der große Herrinnenschlafraum. Doch den, so die Hausherrin, würden sie erst ganz zum Schluss des Abends aufsuchen.
auf dem höchsten Stockwerk lagen ein weiteres Badezimmer, diesmal in Waldgrün mit entsprechenden Kacheln an den Wänden, ein Klangkunstzimmer mit mehr als zwanzig verschiedenen Klangkunstwerkzeugen und genau in der Achse, das große Wohnzimmer mit einem rundum laufenden, durch schmale Stützrahmen gehaltenen Fenster. Die Decke war durchsichtig und zeigte direkt den klaren Abendhimmel. Was für ein Haus, dachte Madrashainorian.Im Wohnraum ließen sie sich nicht am großen, kreisrunden Tisch in der Mitte nieder, sondern an einem kleinen, eiförmigen Tisch, bei dem sie sich einander gegenübersetzen konnten. Die Hausherrin zog ihren Kraftausrichter aus dem strauchbeerenroten Kleid, dass sie gerade trug und ließ dampfende Schüsseln und glatte, weiße Teller und Trinkgefäße erscheinen. "Ich habe mir erlaubt, dir meine Lieblingsspeise zuzubereiten, etwas, dass ich immer gerne esse, wenn ich einen einzelnen Gast bei mir habe, mit dem ich in eine sehr schöne Stimmung kommen möchte", sagte Ruashanormiria mit einer sehr warmen, weichen Stimme. Dann deutete sie auf den Stuhl ihr gegenüber. Ihr Gast nahm Platz.
Das Essen, dass aus fünf verschiedenen Gerichten bestand, war lecker und bediente fast alle Geschmacksrichtungen von würzig, anregend sauer bis fruchtigsüß. Während des Essens sprachen sie über den überstandenen Tag. Madrashainorian erwähnte, dass er keinem erzählt hatte, bei wem er untergekommen war. Er ließ auch ganz aus, dass er eigentlich auf Mylovamiria gehofft hatte. Dann sprachen sie über die Ereignisse in der bekannten Welt, dasss die Lichtfolger eine Prophezeiung erhalten hatten, dass die letzte große Königin die dunkelsten Tage des Reiches verdrängen aber damit auch die letzte sein mochte. Er erinnerte sich auch an einen Nachrichtenrundbrief, dass ein bereits eine Tausendersonne alter Lichtfolger namens Madrashtarggayan die große Ehre erhalten habe, dem Konzil der Altmeister beizutreten, dass in Khalakatan, der ewigen Stadt der Behütung, residierte. "Und der soll sein Leben lang ein Säugling geblieben sein, vom Körper her."
"Ja, keine angenehme Vorstellung", beantwortete die Gastgeberin diese Bemerkung.
Neben den Nachrichten ging es auch um die Interessen von ihr und ihm. Als klar war, dass er gerne Flöte und Schellentrommel spielte, aber auch die große Saitentruhe erlernt hatte, stand fest, dass sie vor dem gemeinsamen Lager ihre Klangkunstkenntnisse und -vorlieben vergleichen wollten.
Zwischen zwei Gängen öffnete Ruashanormiria das Geschenk ihres Gastes und freute sich. Er hatte ihr aus formbarer und dann verhärteter Erde eine Tafel mit der Hochzeit zwischen Sonne und Erde nachgeformt und anschließend mit verschiedengroßen Pinseln eingefärbt. "Sieh an, du bist nicht nur Erforscher und Lerneifriger, sondern auch Künstler. Solche Erbanlagen nimmt eine Frau sehr gerne in Kauf, wenn sie den Vater ihrer Kinder sucht", lobte sie seine einfache und doch sehr eigene Gabe.
Es wurde dunkel. Im Haus flammten warmes Licht verbreitende Leuchtkugeln an der Decke auf. Die beiden für den nächsten Mond verbundenen ergingen sich in erst zaghaftem und dann immer leidenschaftlicherem Spiel, bei dem mal sie und mal er die Führung übernahm. Manchmal trieb sie ihn mit einem Blick zu ungeheurer Geschwindigkeit an und forderte durch ihre eigenen Handhabungen, nicht aufzuhören. Ihm ging beinahe die Puste aus, und seine Finger drohten, sich zu verknoten, um immer punktgenau an den richtigen Stellen zu landen. Sie ließ ihre Hände und Füße in vollkommener Abstimmung arbeiten und nahm ihn immer wieder mit, wenn er zu erlahmen oder sich zu verirren drohte. Dann merkte sie, dass es wohl genug war. Sie wollte ihn ja nicht überanstrengen, wo er noch einen vollen Mond bei ihr zubringen durfte. So legte sie die große VielsaitenSpange aus den Händen, die mit Fingern und Zehen gespielt werden konnte. Er holte atem und prüfte, ob seine Lungen noch genug Luft bekamen. Dann legte er die große, Madrasaikotanische Flöte aus Wohlklangholz aus den Händen. Er wollte zuerst noch das Mundstück abwischen. Doch die Hausherrin sagte: "Nicht jetzt abwischen. Das würde heißen, dass du sie nicht mehr spielen möchtest. Und ich habe es sehr genossen, deine Kllangkunst zu hören. Vor allem die tiefen Töne haben mich trotz der angesammelten Speckschichten noch sehr schön in meinem warmen Unterbau gekitzelt. Ja, da ist immer noch Leben drin. Darf ich es dir zeigen?"
"Vielleicht sollte ich mich dazu erst am ganzen Körper reinigen. Es war ein langer Tag und das Klangspiel mit dir hat auch sehr viel Kraft gefordert. Aber schön war das. Als wenn wir zwei immer schon zusammen gespielt hätten."
"Das berechtigt zu großer Hoffnung, dass jedes unserer gemeinsamen Spiele so vollendet sein mag. Gut, dann beginnen wir unsere erste Nacht im hoffnungsgrünen Bad", antwortete Ruashanormiria.
Nachdem sie sich, das letzte gemeinsame Lied leise füreinander summend, aus der Kleidung geholfen hatten und das Becken voll mit duftendem, warmem Wasser war, ging die Gastgeberin zu einem kleinen Schrank und zog eine silberne Schachtel mit dem blauen Wellensymbol der Wasserbändiger heraus. Dieser entnahm sie zwei grüne Eiswürfel. "Wasseratemeis", sagte sie zu Madrashainorian. "Es hält einen Zwölfteltag vor. So können wir bedenkenlos im warmen Becken eintauchen, wie in das schützende Wasser im inneren Nest unserer Mütter." Sie schnippte ihm einen der Würfel zu. Er fing ihn geschickt aus der Luft. Beide ließen das Eis zur selben Zeit im Mund zerlaufen und schluckten das daraus freikommende Wasser. Die Hausherrin legte die Schatulle wieder in den kleinen Schrank und stellte sich neben ihren Gast. Er wagte es, ungefragt den rechten Arm um sie zu legen. Sie legte den Linken arm um ihn. Dann taten sie den großen Schritt nach vorne und ließen sich bäuchlings ins Wasser hineinplumpsen. Es war wahrhaftig körperwarm und umspielte sie weich und wohlig. Madrashainorian dachte erst, seine ohne Kleidung nicht so unansehnlich aussehende Gastgeberin müsse darum kämpfen nach unten zu tauchen, weil ihre Leibesfülle das Wasser verdrängte. Doch dessen Oberfläche war entspannt, und sie schaffte es mit ihm bis auf eine Manneshöhe tief gelegenen Grund zu tauchen.
Hier wurde sie unvermittelt zur wilden Unterwasserbeutemacherin. Doch er zeigte ihr, dass er sich nicht mal eben im Vorbeigehen verschlingen und gemütlich verdauen lassen wollte. Doch dann hatte sie ihn da, wo sie ihn haben wollte, und er fühlte die Wärme ihres Körpers, die durch den neckischen Nahkampf wärmer war als das ihn umspielende Wasser. halb zog sie ihn, halb drückte er sich an sie. Jetzt waren beide verbunden, Mann und Frau. Doch halt, um ein Mann zu sein musste er die Wonnen, die er bisher nur aus Büchern oder dem einen oder anderen wilden Traum kannte, wahrhaftig und wach erleben. Doch zu schnell durfte das auch nicht gehen. So hielten sich beide durch den Schutzbann gegen das Ertrinken frei unter Wasser atmend und keuchend in Bewegung, blieben sogar miteinander vereint. Madrashainorians Lebensspender erwachte vollends zu seiner ganzen Kraft und Ausdehnung und verschaffte seinem Träger und der, dessen Leib er besuchen durfte, immer mehr lustvolle Erregung.
"Dafür, dass du das bisher noch keiner Frau bereitet hast verstehst du dich aber auf schnellentschlossene und wohlgezielte Bewegungen. Bleib bei mir. Sei mein und lass mich dein sein", hörte er ihre Gedankenstimme. Wieso konnte sie das. "Weil alles, was mit meinem Leib verbunden ist oder war auch meine Gedanken vernehmen kann, wenn ich das will. Das ist meine besondere Kraft, wie deine besondere Kraft die ausrichterlose Beherrschung der Kraft ist", hörte er ihre Gedankenstimme, während ihre körperliche Stimme immer lauter ihre Lust in das wild wogende Wasser hinausschrie.
Er gelangte einmal zur höchsten Wonne. Dann noch einmal. Dabei erreichte auch sie diesen höchst willkommenen Rausch. Doch der Hunger aufeinander war noch nicht gestillt. Weil sie fühlte, was er brauchte, und er spürte, was sie wollte, wurde dieser erste Lebenstanz bereits ein voller Erfolg. Dann hatten sie genug vom Spiel im Wasser, zumal die Wirkung des Wasseratemeises bald verbraucht war. So entstiegen sie dem warmen Bad und fühlten die üblichwarme Luft auf ihrer Haut kalt wie eisigen Windhauch. Sie sahen sich an und grinsten. "So hat es sich für Yandokaran, den abtrünnigen Feuerrufer auch angefühlt, als er als Madrakenodan von mir wiedergeboren wurde."
"Du hast den wirklich als Getreidekorn verschluckt und erst bei deiner Zurückverwandlung gespürt, dass der ..."
"Erst vier Monde später, als ich seine Gedanken in mir hören konnte und merkte, dass ich ihn trug und er das nicht so nett fand, ausgerechnet in mir eingesperrt zu sein. Aber am Ende hat ihm mein inneres Nest den Tod durch einen Feuerbläser erspart, und ich habe ihn mit allem was dazugehört bekommen und großgezogen."
"Schon eine befremdliche Vorstellung, ganz bewusst in einer anderen Frau heranzuwachsen und nicht zu wissen, ob die einem das übelnimmt, dass wer in ihr immer größer und hungriger wird."
"Du kennst das doch auch. Ich weiß von deiner Mutter, gesegnet sei ihre Kraft, dass du so gut geraten bist, dass viele ihrer Kinder sich weit nach der Geburt noch an die Zeit in ihrem inneren Nest erinnern können und deshalb eine so enge Bindung zu ihr besitzen. Aber wenn der Trank der schlafenden Fruchtbarkeit wirkt, muss ich erst auf einen dafür zu erwählenden warten, um das noch einmal zu erleben."
"Klappt das mit dem Gedankensprechen auch an freier Luft?" wollte Madrashainorian wissen. "Das wirst du gleich erleben. Wir setzen unsere herrliche Reise zu den Sternen der Glückseligkeit in meinem Schlafraum fort."
Das taten sie dann auch, bis beide so erschöpft waren, dass sie in enger Umarmung nebeneinander einschliefen.
Wohl wegen der herrlichen Erschöpfung konnte sich Madrashainorian nicht mehr an einen Traum erinnern. Er fühlte beim Aufwachen nur, dass sein Lebensspender wieder nach dem warmen Ort tastete, an dem er zum ersten Mal zu seiner ganzen Kraft erwacht war. Dabei kitzelte er wohl Ruashanormiria. Die erwachte. "Schon wieder so munter. Im Moment ist mir eher nach nett nebeneinanderliegen", sagte sie und schob sich ein wenig von ihm fort. "Aber schön, dass du alles von dir bei mir gelassen hast. Auch wenn deine Lebenssaat im Augenblick kein fruchtbares Ei von mir finden kann gehört sie nur dorthin, wo neues Leben auch entstehen kann. Das hat Edoramiria euch ja hoffentlich erzählt."
"Nicht immer möglich", grummelte Madrashainorian. Dafür kniff sie ihm in den verlängerten Rücken. Dann lagen sie nebeneinander und hielten sich bei den Händen. Madrashainorian genoss diese entspannende, innige und beruhigende Lage so sehr, dass er gleich wieder einschlief.
Als die Sonne durch die kleine Deckenluke auf das blütenkelchförmige Bett fiel wachten beide auf. Seltsamerweise empfand der junge Mann keine Schmerzen in Armen und Beinen. Seine Leibesübungen hatten sich doch für was gelohnt.
Nach einem reichhaltigen Frühstück aus verschiedenen Sorten Brot, Käse und Honig lud die Hausbesitzerin ihren Gast ein, mit ihm den Hügel und das darum liegende Land zu besuchen.
Mittags aßen sie im Sonnenzimmer, einem nur nach Mittagsrichtung weisenden gelben Zimmer, wo es noch aufgewärmte Reste vom Vorabend gab. "Morgen machen wir zwei zusammen das Mittagessen. Das ist auch sehr wichtig, wenn du mal mit einer wirklichen Anvertrauten Tisch und Bett teilen möchtest", legte die Hausherrin fest.
Abends aßen sie nicht so viel. Doch dafür hielten sie sich gut ran, die halbe Nacht mit ihrem Lebenstanz durchzustehen.
Am nächsten morgen half er ihr beim Einkauf der Lebensmittel und ließ sich zeigen, wie er dieses oder jenes zubereiten konnte. Da seine Mutter ihm auch Küchenarbeiten gezeigt hatte konnte er jetzt davon schöpfen. Den Nachmittag verbrachten sie dann beide in der Hauptstadt, wobei sie Ruashanormirias Gürtelpaar der alleinigen Sichtbarkeit benutzten, das sie für alle anderen unsichtbar machte. So blieben sie unbehelligt von möglichen Bekannten oder Mitschülern Madrashainorians.
Abends spielte der Hausgast seiner Geliebten ein Stück auf einer mittelgroßen Flöte vor, das er nicht im Unterricht gelernt hatte und auch nicht von seiner Mutter beigebracht bekommen hatte. Seltsamerweise kannte er zu diesem Lied Zeilen und Kehrreim, es hieß "Zwei werden eins". Seine derzeitige Begleiterin durch das neue Leben als körperlich gereifter Mann erkannte die Begleitstimmen und spielte sie auf einer anderen, kleineren Flöte. Am Ende konnten sie die Reimzeilen und den Kehrreim in drei verschiedenen Fassungen spielen, was das Lied auf einen Zwölftelzwölfteltag dehnte. Als Madrashainorian seiner Gespielin erzählte, worum es in dem Lied ging musste sie erst grinsen und sich dann räuspern. "Was habe ich dir gestern über die Lebenssaat gesagt, mein wonniger Nachtgast? Sie muss dorthin, wo auch neues Leben aufkeimen kann, nicht in so einen Gummischlauch mit verschlossenem Ende."
"Mein Vater kannte das Lied wohl. Der lebte in einem Land, wo nicht jeder den Trank der schlafenden Fruchtbarkeit trinken konnte. Außerdem kann ich mich wortwörtlich dunkel erinnern, dass in seiner Heimat durch körperliche Liebe mit ständigen Beilagergenossenwechseln eine heimtückische Seuche verbreitet wurde, die die körpereigene Abwehr unterdrückt und für andere, eigentlich leichtere Krankheiten anfälliger macht."
"Was weißt du von deinem Vater noch alles. Es muss doch sehr beeindruckend und anregend sein, sich mit seiner Herkunft zu befassen", sagte Ruashanormiria. So erzählte er seiner Gespielin und Lehrmeisterin, was er noch von seinem Vater Julius Erdengrund im Gedächtnis behalten hatte, ja dass dessen Erinnerungen tief in ihm schlummerten, aber mit jedem Tag, den er gewachsen war, mehr wie erzählte Träume als wie erlebtes Leben vorkamen. Als seine Zuhörerin das alles in sich aufgenommen hatte sagte sie: "Ich verstehe, warum meine lebensfrohe Bundesschwester Madrashmironda ihn zu deinem Vater gemacht hat. Vielleicht ist sein Wissen uns beiden sogar schon hilfreich gewesen. Denn wer Vater werden will muss die körperliche Liebe erleben. Vielleicht ist ihm das aber nicht bekommen, weil deine Mutter ihn nicht so gut zu Atem hat kommen lassen wie ich dich." Darauf konnte Madrashainorian keine Antwort geben. Denn irgendwie fiel ihm ein, dass sein Leben damit angefangen hatte, dass er ja noch geglaubt hatte, Julius Erdengrund zu sein, sich also selbst in den Schoß Madrashmirondas gestoßen zu haben.
Sie versuchten in dieser Nacht noch einige neue Spielarten des Lebenstanzes, sogar mit der Unterstützung durch die Kraft. So wechselten sie einmal ihre Körpergrößen oder machten sich in völliger Schwerelosigkeit übereinander her oder vollführten jene Künste, die den einen durch die Sinne des anderen wahrnehmen ließen, wie der oder die sich fühlte.
Am nächsten Tag besorgte er zum Dank für die ersten herrlichen Tage dieses wohl am ende viel zu kurzen Mondes einen kleinen Sack voll Saatgut für viele kleine bunte Sträucher, die er im Laufe der Zeit auf dem Hügel anpflanzen wollte. Als sie jedoch mitbekam, dass er das schöne Grasland mit bunten Sträuchern durchsetzen wollte sagte sie: "Das schicken wir Mylovamiria, die ist so eine Pflanzenanbeterin. Ich liebe die Schöpfung unserer großen Mutter unberührt von menschlichem Fürwitz. Deshalb wohne ich ja hier oben. Wenn du mir eine andere Gabe überreichen möchtest, so erinnere dich an mehr die Liebe preisende Lieder deines Vaters und bringe sie meinen Ohren und meinem Geist dar."
"Da gibt es viele Lieder. Aber ob mir alle so einfallen, dass ich sie nachspielen kann weiß ich noch nicht. Aber ich werde es versuchen", versprach Madrashainorian.
Ein halber Mond verging und Madrashainorian wartete darauf, dass seine Wegführerin vermeldete, das ihr Leib den Preis der Fruchtbarkeit zu zahlen hatte, wie es umschrieben wurde. Doch bis kurz vor dem Ende des angesetzten Mondes geschah nichts dergleichen. Dann bemerkten beide, dass er ihre Gedanken auch dann noch hören konnte, wenn sie nicht in wonniger Vereinigung zusammen waren. Als es beiden offenbar war erkannte Madrashainorian, dass Ruashanormirias Leib den Preis der Fruchtbarkeit bezahlte, allerdings genau in der anderen, eigentlich erfreulichen Weise.
"Du kennst die Verfahren, eine Mutterschaft früh zu erkennen?" fragte sie ihn. Er nickte. Sowas hatten sie im Trankunterricht schon mal gemacht, auch wenn da natürlich keine Frau war, die ihren Körper auf Mutterschaft prüfen wollte. Dann fragte er: "Heißt das, wenn du jetzt ein Kind trägst, dass es von mir ist?"
"Von wem sonst. Du bist der erste, mit dem ich seit einem halben Sonnenkreis wieder den Lebenstanz getanzt habe."
"Verflixt, das wolte ich so nicht. Ich habe gedacht, wir könnten das nicht."
"Soll mich das jetzt kränken, dass du mich nicht mit deinem Kind ehren möchtest. Das darf ein Mann der Frau nicht sagen, die er zur Mutter gemacht hat. Aber wir klären das erst, ob ich wirklich neues Leben trage. Danach beschließen wir zwei, wie es mit uns beiden weitergeht."
"Laut der Sitte muss ein Mann, sofern er nicht durch ein Ritual, sondern durch Neugier oder Zielbewusstsein ein neues Kind gezeugt hat, mit der Frau zusammenleben, die es von ihm bekommt, bis sie von jedem Geschlecht so viele Kinder hat, wie sie bei ihrer ersten Schwangerschaft hervorgebracht hat", gab Madrashainorian das entsprechende Sittengesetz der Altaxarroin wieder. Ruashanormiria nickte bestätigend und fügte hinzu: "Und wenn sie bei der ersten Schwangerschaft mehr als ein Kind trägt und alle diese Kinder das gleiche Geschlecht haben muss der Vater dieser Kinder solange mit ihr Tisch und Bett teilen, bis sie genausoviele Kinder des anderen Geschlechtes geboren und entwöhnt hat. Erst dann darf er zu einer anderen gehen, um ihr seine Lebenssaat anzuvertrauen. Ach komm, bloß jetzt nicht weinen. Du hättest auch mit Edoramiria zusammengeraten können." Er musste wider seine Gefühlslage lachen. Dann half er ihr bei dem Prüfungstrank. Als dieser sich hellblau umfärbte stand es fest: sie war im ersten Mond schwanger. Offenbar hatte gleich der erste Lebenstanz das neue Leben aufkeimen lassen.
Als eine Heilerin die Untersuchung amtlich wiederholte und zum selben Ergebnis kam erwähnte Madrashainorian den Trank der schlafenden Fruchtbarkeit. "Und ihr habt keine anderen den Körper beeinflussenden Tränke oder Pulver eingenommen?" fragte die Heilerin sehr ernst. Da fiel beiden ein, dass sie ja die besonderen Eiswürfel gelutscht hatten, um unter Wasser atmen und sich der leiblichen Liebe hingeben zu können. "Da haben wir es. Dieses Eis stellt beim zerlaufen erst einmal den reinen Urzustand des Körpers wieder her, den es verändern soll. Dann erst wirkt es so wie es soll. Tja, ihr hättet besser den Wonnemond nur auf dem trockenen Lager feiern dürfen, Ruashanormiria. Ist der junge Mann ein Lehrling der Erdvertrauten?"
"Ja, ist er", sagte die unverhofft in Hoffnung geratene.
"Oha, dann müsst ihr das mit dem alten Hofmeister und den Eltern von ihm hier klären, dass er seine Ausbildung nicht mehr mit den anderen zu Ende bringen kann, weil ein Mann, der eine Lehrmeisterin während der Ausbildung zu einem Kind verholfen hat, auch unfreiwillig, verstößt gegen gleich zwei eurer Gesetze, das der Gleichartigkeit und das der Anerkennung des Meisterwortes. Nein, dein junger Gespiele muss dann wohl bei dir wohnen und mit dir das Kind großziehen, bis das zweite Kind von dir entwöhnt ist, sofern er nicht nur Kinder eines Geschlechtes zeugen kann. Dann hast du einen lebenslangen Gefährten."
"Das bekommen wir hin", sagte Ruashanormiria, als wäre das nicht an ihr, die Hauptlast dieser Beziehung zu tragen. Madrashainorian dachte nur daran, dass er vielleicht auch auf die Auslosung hätte verzichten sollen. "Das habe ich gehört und teile es dir noch mal mit, dass du nicht dein eigenes Kind verwünschen darfst, weil du die Frau nicht beleidigen darfst, in der es heranwächst", dachte sie ihm zu.
Die Nachricht, dass Madrashainorian seine Lehrmeisterin in andere Umstände versetzt hatte wirkte wie zu befürchten war. Die meisten Jungen im Haus der Erdvertrauten lachten oder bekundeten ihr Mitleid. Die männlichen Amtsgenossen tadelten den Jungen, der sich mehr herausgenommen hatte, als er durfte, mussten dann aber einsehen, dass am Ende auchihre Amtsgenossin nicht recht bedacht hatte, welche Tränke miteinander vereinbar waren und welche nicht. Buradonorian lästerte erst, weil er meinte, aus so einer Lage schön herausgelassen zu bleiben, bis Edoramiria auf ihn zuging und ihm sagte: "Morgen abend beginnt unser Wonnemond. Ich lasse mir die Beleidigung nicht bieten, mich zurückzuweisen. Und solltest du auch mich mit einem Kind erfüllen, so bleibst du auch bis zum Ende deines Lebens an meiner Seite, Jungchen, oder nur Milchvieh und Federvieh wird von dir Kinder haben wollen."
Nachdem wichtige Amtsvorgänge erledigt worden waren, dass die Ausbildung nicht im Haus der Erdvertrauten, sondern außerhalb fortgesetzt wurde, und Madrashmironda nicht ohne schalkhafte Freude ihr Einverständnis gegeben hatte, zog Madrashainorian, der nun vollkommen den Namen Freude der großen Mutter verdient hatte, zu seiner eigentlich für einen Mond erwählten Gefährtin, zwischen der und ihm zweihundertvierundzwanzig Sonnenkreise lagen. Doch das kümmerte das neue Leben nicht, dass sich Mondwechsel für Mondwechsel weiterentwickelte.
Als dann die Heilerin im vierten Mond nach der Zeugung zwei kleine Mädchen im warmen Schoß der Ruashanormiria erkennen konnte, da brach für Madrashainorian fast eine Welt zusammen. Er musste mindestens vier Kinder mit dieser Frau haben. Nicht dass sie nicht nett, gebildet und trotz ihrer Leibesfülle sehr gelenkig war. Doch derartig früh sein Leben vorgeplant zu bekommen hatte er eigentlich nicht vor.
Madrashmironda, die gerade selbst ein weiteres Kind im Lauflernalter hatte, kam zu dem Haus auf dem grünen Hügel herüber, um die Mutter ihrer Enkeltöchter zu begutachten, auch wenn sie sie schon kannte. "Hätte sich mein Muttervater nicht träumen lassen, dass jene, die die ihm in die Reihen der Erdvertrauten hinübergeholfen hat, nicht nur die Mutter seiner ersten Tochter und seines ersten Sohnes wurde, sondern auch die Mutter seiner Tochtertochtersohnestöchter und dann wohl auch -söhne. Mir gefällt das sehr gut. Da musst du also keine Angst haben oder dich schuldig fühlen. Die Wege der großen Mutter mögen für Menschen verworren sein, doch sie führen immer an das richtige Ziel."
"Dann hoffe ich, dass ich euch beiden alle Ehre machen kann, dir Mutter, dass ich ein würdiger Erbe deines Blutes bin und dir, Ruashanormiria, dass du niemals bereuen musst, meine Kinder empfangen zu haben."
"Darauf einen Prickelhonigsaft", sagte die Herrin vom Haus auf dem Hügel. Dann feierten sie mit nichtberauschenden Getränken ihre neue Blutsbindung.
Er durfte zusehen und helfen. Erst hatte er gedacht, die Heilerin und seine Anvertraute würden ihn veralbern. Doch als die Zeit der Niederkunft kam bestand sie darauf: "Wer sie in mich hineingestoßen hat darf sie gerne auch wwieder aus mir herausziehen, aber bitte nicht so grob. Die Kleinen kennen im Moment nichts anderes als Ruashanormiria von innen."
Es war gegen Morgen am fünften Tag im dritten mond der Aufwachzeit, als Ruashanormiria mit weit geöffneten Schoß in Sonnenaufgangsrichtung die erste ihrer beiden jüngsten Töchter in die Welt hinausstieß. Als die Kleine sich vom Schrecken des hellen Lichtes und der kalten Luft einen Moment lang erholt hatte schrie sie laut. Die Morgendämmerung glühte rotgolden am Morgenhimmel. "So heißt du Gisirrdaria, kleiner Morgen", keuchte die noch nicht ganz vollendete Zwillingsmutter. Doch die zweite Tochter drängte schon durch die noch weit geöffnete Verbindung zur großen weiten Welt und schrie den Unmut darüber, dass es dort draußen nicht so angenehm war wie im warmen Heim unter Mamis Herzen in die für sie fremde Welt hinaus. "Madrakalia, der Ruf der großen Mutter", ächzte Ruashanormiria. Dann strahlte sie über das ganze runde Gesicht, als ihr ihr blutjunger Anvertrauter die beiden gemeinsamen Kinder in die Arme legte. "Zweiundvierzig Kinder. Ich bin doch eine Sibensterntochter. Am Siebten zwölfteltag am siebten Tag des siebenten Mondes im siebten Jahr der Regentschaft Kosatoramians geboren bekam ich heute die beiden Kinder, die sechs mal sieben erfüllen. Danke für die beiden, Madrashainorian."
"Das war genauso anstrengend, sie zu holen", seufzte der Sohn Madrashmirondas. Die glückliche Großmutter war auch noch da und lächelte ihre beiden Enkeltöchter an, die bereits ihren ersten Hunger zu stillen versuchten.
"Es ist doch schön, zu sehen, wie mein Fleisch und Blut weiterbesteht", dachte Madrashmironda ihrem Sohn zu. Er antwortete nicht darauf. Denn ihm war wichtig, dass da gerade zwei kleine Wesen angekommen waren, die es ohne ihn wohl nicht gegeben hätte. Für diese wollte er leben und wenn es sein musste auch sterben. Als er diese Gedanken dachte hörte er seine Mami denken:
"Sie werden nie sterben, weil wir beide sie immer bei uns haben werden und wir beide damit etwas gemeinsames haben, dass uns verbindet."
"Und wenn wir eines Tages nicht mehr da sind werden sie uns in Erinnerung haben", dachte Madrashainorian zurück. Darauf erhielt er keine Antwort, noch nicht.
Es waren mal wieder die Gründungstage, die große Feier zur Wiederkehr des Tages, an dem damals die Urväter den Pakt mit Vater Himmelsfeuer und Mutter Erde geschlossen hatten, auf diesem erhabenen Erdteil, durch den die Ströme der Kraft flossen, zu siedeln und zu gedeihen.
Wieder hatten die Windsänger und Feuerrufer einiges aufgeboten, die bunt schillernden Flugbarken und geflügelten Reittiere zu schmücken und vielfältige Lichterspiele zu erzeugen. Klangkünstler aus allen Teilen des großen Landes, aber auch andersrassige Fremdländer aus den benachbarten Erdteilen liefen fröhlich spielend auf den breiten Straßen Golaritans entlang. Aus den Flugbarken regneten Süßgoldteigbällchen herunter. Madrashainorian stand neben seinen nun drei Sonnen alten Töchtern und fing die niederregnenden Süßigkeiten mit einem großen Sonnenschirm auf. Er war froh, dass die Erdvertrauten ihm für die drei Feiertage Freigegeben hatten, um die lauten, fröhlichen Tage mit seinen Töchtern verbringen zu können. Zwar wohnte er nicht mehr im Haus der Erdvertrauten. Doch er musste jeden Viertelmond sein Können zeigen. Vor alllem das Lied der Gnade der großen Mutter war schwer umzusetzen gewesen, weil er dafür mehrere Ewigkeitssteine brauchte, um von mächtigen Kräften der großen Mutter festgehaltene Wesen freizubitten.
"O guck, Dada, da oben!" rief die kleine Gisirdaria und zeigte mit dem Finger auf eine ganz große Kugel, die blau-weiß-grün am Himmel entlangrollte. Madrashainorian sah, dass aus dem unteren, ganz weiß gefärbten Bereich große Waffeln mit weicher Füllung herabfielen. "O, Eisgebäck", rief er und schaffte es, vier der sanft herunterschwebenden Backwaren mit seinem Schirm aufzufangen. Schnell gab er jeder seiner Tochter einen davon. Dann nahm er die beiden anderen Eisbackwaffeln und winkte seiner Anvertrauten zu, die gerade mit Goormadranoras sprach.
"Ah, das ist aber nett, dass du mir eine Siloratanische Eiswaffel gefangen hast", sagte Ruashanormiria und nahm lächelnd das besondere Backerzeugnis entgegen, während weitere Eiswaffeln federgleich aus der großen, schwebenden Kugel regneten, die der Gestalt der großen Mutter in der dunklen Unendlichkeit des Weltenraums nachempfunden war.
"Wo du schon mal in Hörweite bist, Madrashainorian", sagte Goormadranoras und machte eine wichtige Miene, "Deine Anvertraute ist der Meinung, dass du zur Sommersonnenwende bereits die Weihe der Vollendung erhalten sollst. Sie meint, wer so fleißig und verantwortungsvoll mit seiner Familie umgeht, sollte frei über seine Zeit verfügen dürfen. Nun, ich habe das mit dem Rat der Ältesten besprochen, und sie stimmen diesem Vorhaben zu, zumal du ja schon sehr früh nach deiner Ankunft in der Welt gezeigt hast, wie stark die erhabene Kraft in dir wirkt. Daher wirst du zur Sommersonnenwende die drei letzten Prüfungen ablegen, die sich ja nur im Vorführen und beschreiben der wichtigsten Anrufungen und Lieder der großen Mutter bewältigen lassen. Falls du jedoch findest, du seist noch nicht bereit, so kannst du natürlich die restlichen Sonnenkreise an den Dingen arbeiten, die deine Mitschüler erlernen. Buradonorian will auch die Prüfung ablegen, weil er nach der Zeit mit Edoramiria nur noch lernen und lernen wollte."
"Ich möchte meine Mutter fragen, ob sie mich für bereit hält. Ihre Meinung ist mir wichtig, Hochmeister Goormadranoras", sagte Madrashainorian. Der Älteste Lehrer im Hause der Erdvertrauten nickte.
"Warum solltest du nicht bereit sein? Im Grunde warst du schon seit deiner Geburt dafür bereit. Aber natürlich wollte ich dich in Ruhe aufwachsen lassen, um das, was ich dir mitgab, in dir mitwachsen zu lassen. Wenn du jetzt die Vollendung erlangen kannst, dann nur, weil du es verdient hast", sagte Madrashmironda." Madrashainorian stimmte dem zu. Denn er wusste, dass er alle wichtigen Lieder der großen Mutter kannte. die allermeisten von denen hatte er auch schon mit dem Kraftausrichter zur Entfaltung gebracht. So wollte er weit vor der üblichen Zeit von zwölf vollendeten Sonnenkreisen die Weihe der Vollendung erbitten und dafür arbeiten, sie auch zu erhalten.
Madrashainorian war froh, dass seine Anvertraute ihn immer wieder von den anstrengenden Übungen ablenkte, wenn sie fand, dass er lange genug an seinen drei Abschlussprüfungen gearbeitet hatte. Meistens spielten sie zusammen mit den zwei Töchtern im Klangkunstzimmer. Dass Ruashanormiria zur nächsten Wintersonnenwende das dritte Kind erwartete konnte ihr jeder ansehen, vor allem, weil sie aus dem tiefsten innersten strahlte wie eine kleine Tochter des großen Himmelsfeuers, die sich in einem menschlichen Körper versteckt hielt, um ihrem Vater nicht den Rang abzulaufen. Wenn es ein Sohn war, der da in ihrem inneren Nest heranwuchs, dann galt es, ihm noch einen Bruder hinzuzufügen. Wenn es noch eine Tochter sein würde, so stand fest, dass Madrashainorian und Ruashanormiria mindestens sechs Kinder haben würden, weil dann eben drei Söhne gezeugt werden sollten, so der uralte Brauch aus den Rollen des Zusammenseins.
"Es ist merkwürdig, wie viele Lieder ich von meinem Vater kenne, obwohl er mir nie was vorgespielt hat", sagte Madrashainorian. Gerade hatte er seiner Anvertrauten und den beiden Töchtern ein Lied vorgespielt, dass irgendwas mit einem sonnenfarbenen Unterseeschiff zu tun hatte, in dem lauter lustige Leute wohnten und das Meer durchfuhren. Das hatte zwar nichts mit den Liedern über Liebe und körperliche Nähe zu tun, die er ihr früher, wo sie die zwei Mädchen noch in sich getragen hatte, vorgespielt hatte. Doch irgendwie empfand er es als wichtig, auch einfache fröhliche Lieder zu können.
"Auch wenn die Tonabstimmung aus der Welt deines Vaters sehr eingeschränkt ist, dass nicht so viele Lieder daraus geschöpft werden können, so erfreut es mich doch immer wieder, wie erfrischend diese kurzen und einfachen Werke wirken", sagte Ruashanormiria. Dann bat sie darum, dem gemeinsamen Kind in ihrem Leib noch ein schönes, beruhigendes Lied zu spielen, damit es weiterschlafen konnte. Madrashainorian überlegte kurz und erinnerte sich an ein weiteres Lied jener einst fünf Sängerinnen, die das Lied "Zwei werden eins" gesungen hatten. "Lebe für immer!" Mit der mittelgroßen Flöte konnte er es sehr gut nachspielen. Danach spielte er mit seiner Anvertrauten noch das Lied vom neuen Leben, das seit der allerersten Niederkunft der großen Mutter immer weiter wuchs und immer wieder bunt und vielfältig erblühte.
"Du hast dir als dritte Prüfungsaufgabe das Lied von der reinigenden Kraft ausgesucht. du hast es uns vorgesungen und gezeigt, dass du damit auch wirklich gefahrvolle Kräfte abschwächen konntest", sagte Goormadranoras, der Hochmeister der Lehrstatt der Erdvertrauten. "Nach der Gnade der großen Mutter und dem Lied des dauerhaften Schlafes, dass du in Vollendung vorgetragen hast, ist dies ein weiteres Lied, das die befreiende und bewahrende Kraft unserer großen Mutter bezeugt. Darf ich daraus schließen, dass du nach der Vollendung zu den Weltenwächtern gehen möchtest?"
"Nachdem, was ich gehört habe, besteht die Gefahr, dass es einen neuen schweren Krieg mit den Mitternächtigen geben wird. Ich möchte verhindern, dass meine Familie bei diesem Krieg ausgelöscht wird", sagte Madrashainorian. Dass er gerade erst achtzehn Sonnenkreise auf der Welt war hörte ihm niemand mehr an. Nur seine jugendliche Erscheinung verriet, dass er rein rechtlich noch zu den zu behütenden Jungen gehört hätte, wenn er im mit Ruashanormiria verbrachten Wonnemond nicht Vater geworden wäre.
"Dir ist bewusst, dass das Amt des Weltenwächters mehr Gefahren birgt als die Errichtung und Bewahrung von Bauwerken oder das Hüten von Pflanzen und Tieren", sagte der Hochmeister. Madrashainorian nickte bestätigend. "Nun gut, so werde ich nun mit den ältesten und allen Lehrmeistern beraten, ob du am grauen stein die letzte Weihe erhalten darfst oder besser noch eine oder zwei Sonnen warten solltest. Denn wenn wir dich jetzt für vollendet erklären, so bist du für alles verantwortlich, was du mit deinem Wissen und Können vollbringst. Ist dir dies bewusst?" Madrashainorian bestätigte das laut und deutlich.
Nach einem Viertel eines Zwölfteltages traten drei grau gekleidete, mit blutroten Masken verhüllte Männer aus der Tür zum Beratungsraum heraus. Sie gingen langsam auf Madrashainorian zu. Dieser argwöhnte erst, dass er von diesen Männern fortgeschafft werden sollte, weil er noch nicht würdig war, die Weihe der Vollendung zu erhalten. Doch er blieb nach außen ruhig. Auch als die drei ihn ergriffen und ohne ein Wort zu sagen forttrugen blieb er ruhig. Er hatte gelernt, dass viele Dinge erst dann enthüllt wurden, wenn es gestattet war, sie zu verstehen.
Madrashainorian wurde von den drei Männern durch ein Tor des Netzes der großen Mutter in jene tiefe Grotte geschafft, in der der graue Stein, das Allerheiligste der Erdvertrauten, in einer Grube lag, um die herum mehrere Reihen steinerner Bänke verliefen. Hier hatte er seine Weihe zum Vertrauten der Erde erhalten, damit er nun hauptsächlich diese Kräfte zu nutzen lernte. Dass er jetzt hierher geschafft wurde lag offenbar daran, dass er die Vollendung erhalten durfte, also die mit der Kraft, seinem und dem Blut der vier ältesten männlichen und weiblichen Erdvertrauten besiegelte Bestätigung, dass er die großen Künste erlernt hatte und ihren Gebrauch zum Wohl der Gemeinschaft verwenden würde.
"Blut zu Stein, Stein zu Blut!
Geist und Körper Stein und Bein
sollen nun verbunden sein.
Und der Weg wird nun zum Ziel.
Was einst wenig ist nun viel.
Sei vollendet du im Streben
für dein ganzes, langes Leben!"
"So bist du nun erneut geboren, von der großen Mutter auserkoren!" rief Garonamadran, der Älteste im Rat der Erdvertrauten. Die anderen stimmten in diese Freudenbotschaft ein.
Als erster Glückwünscher zur Vollendung kamen Agolar und seine Gefährtin Aimartia, die gerade selbst auf das zweite Kind wartete.
"Dir ist klar, dass du nun, wo du die Vollendung erreicht hast, nicht mehr lange in unserer Geborgenheit leben darfst. Sicher, Ruashanormiria wird dich weiterhin behüten, allein um sicherzustellen, dass du ihr die beiden Söhne in den Schoß legst, die sie von dir bekommen soll. Aber da draußen wartet eine ganze Welt voller Gefahren und Missständen. Wage dich niemals, darüber zu klagen, dass jemand dich zu früh für vollendet erklärt haben könnte!" sagte Agolar. Doch seinen Mund umspielte ein Lächeln, weil er sich eigentlich freute, dass sein Halbbruder endlich zum Kreis der erwachsenen Männer gehörte.
"Ich möchte dir auch meinen Glückwunsch aussprechen, mein Sohn", sagte Madrashmironda, die ebenfalls der Weihe beigewohnt hatte. "Wie es üblich ist, erbitte ich als deine Mutter das Recht, dich selbst mit meinem Segen und meinem Rat in die große Welt hinauszuschicken. Gewährst du mir diese Ehre?" Natürlich gewährte Madrashainorian seiner Mutter diese Ehre. Alles andere wäre eine unverzeihliche Beleidigung gewesen. So folgte er ihr aus der Höhle des grauen Steines hinaus, von dem keiner wusste, wo er eigentlich hergekommen war. Einige behaupteten, er sei wie der Himmelsberg, in dem das mächtige Metall Orichalk enthalten war, vor mehreren hundert Muttersonnen aus dem Himmel gestürzt, als Lebenssaat des Himmelsfeuers, um die große Mutter mit Leben zu erfüllen. Jene, die die Dinge des stofflichen und lebendigen erkundeten behaupteten immer, dass viele solcher Himmelssteine bei der Zeugung oder der Geburt der großen Mutter aus dem Himmel niedergestürzt seien und das ein solcher Stein auch den Untergang der großen Urwelttiere bewirkt habe, deren Knochen versteinert im Schoß der Erde ruhten, aber niemals neues Leben hervorbringen würden. Doch wo der graue Stein genau herkam blieb ein Rätsel, das die Erdvertrauten nicht wirklich lösen wollten, um die Erhabenheit, ja die Heiligkeit dieses mächtigen Steines nicht zu zerstören.
"Nun, wo du die Weihe der Vollendung erhalten hast und wo du drei Kinder auf den Weg gebracht hast, mein Sohn, so ist die Zeit gekommen, dich deinen wahren Aufgaben anzuvertrauen. Doch dazu erst, wenn wir in meinem Haus sind", sagte Madrashmironda. Sie klang so ernst, als wolle sie ihren geliebten Sohn gleich in eine blutige Schlacht schicken und wisse, dass er von dort nicht mehr zurückkommen würde. Doch Madrashainorian wagte nicht, sie deshalb anzusprechen. Den Gesetzen nach durfte er erst dann wieder was sagen, wenn seine Mutter ihm das Wort erteilte. Denn durch seine Zustimmung, von ihr den Segen des weiteren Lebens zu erhalten, unterwarf er, der gerade für alt genug befunden worden war, sich noch einmal ihrem Wort und ihrer Entscheidung.
Sie reisten zusammen durch das Netz der großen Mutter über den grünen und roten Torbogen zu Madrashmirondas Haus in Golaritan, der erhabenen Hauptstadt. In der Ferne sahen sie die zehn Türme der Könige von ihren jeweiligen Schutzkräften umkleidet.
"Das hast du gut hinbekommen, mein Sohn. Vielleicht hätte ich dich auch als meine Tochter bekommen und dich mal eines meiner Enkelkinder zur Welt bringen lassen sollen. Aber so hat mir dein Leben bisher auch sehr viel Freude und Abwechslung bereitet, und ich hoffe, dass du dich bei mir und jetzt noch bei Ruashanormiria sehr wohl gefühlt hast. Ich finde, das ist das wichtigste, was ich dir von hier aus mitgeben konnte, wollte und durfte."
"Das klingt so, als wenn ich nicht mehr weiterleben würde, Mami. Du machst mir Angst, wie du das sagst. Ich habe zwei Mädchen kennengelernt, die einen Vater brauchen. Ich hatte keinen und ..."
"Du hattest ihn immer dabei, mein Sohn. Er war immer in dir, erst ganz stark, dass er mir fast durch die Bauchdecke entspringen wollte, doch dann immer ruhiger und ergebener, immer im Hintergrund, dein Leben begleitend. Du erinnerst dich an deine Zeit in meinem warmen Unterbau?" Er nickte. Hatte er da nicht immer gedacht, er sei Julius Erdengrund oder Latierre, wie er in seiner Welt geheißen hatte?
"Dein Leben als Madrashainorian ist nicht vorbei. Es wird immer weitergehen, egal an welcher Stelle davon du mit mir in Verbindung treten möchtest. Doch heute ist es Zeit, dass du mit dem hier erworbenen Wissen dorthin zurückkehrst, wo es gebraucht wird. Du bist jetzt voll ausgebildeter Erdvertrauter. Du hast alle Zauber erlernt, die du können musst und wirst sie in dir behalten, wie alles, was du von uns Altmeistern erlernt hast."
"Mami, was du sagst verwirrt mich. Ich bin doch erst achtzehn Sonnen alt. Ich muss doch noch fünf Sonnen lernen", sagte Madrashainorian. Da knöpfte seine Mutter ihr grün-goldenes Obergewand auf und legte ihre beiden Brüste frei. Die rechte war so geformt, wie er es seit seiner Entwöhnung an ihr gesehen hatte. Die linke war jedoch fast so groß wie sein Kopf, so wie er es empfunden hatte, als er selbst ihr säuglingskleiner Sohn war. "Mir war natürlich bewusst, dass ich dich nicht mit zwei Leben in einer Seele und einem Körper zurücksenden darf. Also komm her und genieße deinen Abschiedstrunk! Ja, oder kehre zurück zu Ruashanormiria, die ich zu meiner eigenen körperlichen Lebzeit zu gerne als Mutter eines meiner Enkelkinder gehabt hätte."
"Du willst mir ... ich soll noch einmal?" fragte er und deutete auf die ungleichgeformte Oberweite seiner Mutter. "Ja, ich will das. Denn ich will nicht, dass weder Julius Latierre noch Madrashainorian dem Wahnsinn verfallen. Und wenn du meinst, nur ein Säugling darf das, so lass dir von mir neue Windeln anlegen und sei ein Säugling, wenn du das leichter empfindest."
"Es wird auch so gehen", gab sich Madrashainorian einen Ruck. Dann kniete er sich nieder und beugte seinen Kopf vor. Wie damals vor achtzehn Sonnen, dachte er.
"Nicht beißen", hörte er die Stimme seiner Mutter noch im Kopf. Dann fühlte sie, dass er ihre Gabe annahm.
"Halo Madrashainorian, genieße noch einmal die Milch des Wissens. Bitte nicht absetzen, bevor der letzte Tropfen in deinem Leib versickert ist! Weil sonst musst du diesen Besuch hier vergessen und wirst bis zum körperlichen Ende aller derer, die Julius Latierre kannten hierbleiben.
Du trägst Julius Latierre in dir, seit deiner Zeugung. Er hat sich deiner dich liebenden Mutter Madrashmironda anvertraut, um von ihr die Weisheiten der Erdvertrauten zu erfahren. Das hat er auch, und zwar auf eine Weise, die ihm und Madrashmironda sehr behagte. Er musste nicht lange gegen seinen Treueschwur verstoßen und sie konnte ihm mehr geben als zwölf Tage voller Leidenschaft, nämlich ein neues Leben, angefüllt mit wichtigen und bewegenden Augenblicken. Dieses zweite Leben musste wachsen, damit du das nötige lernen konntest. Doch in dir steckte immer Julius Erdengrund und wird es auch bleiben. Da deine dritte Mutter aber weiß, dass sie keinen Träger von zwei inneren Seinsformen im selben Körper in deine angestammte Welt zurücksenden darf folgt hier jetzt das, was du brauchst, um wieder als Julius Latierre zurückzukehren ..."
Schluck für Schluck bekam der immer gieriger saugende junge Mann alles in den Kopf, was eigentlich schon immer dort gewesen war, dass er Julius Latierre hieß, Sohn einer englischen Mutter war, die spät nach der Geburt zur Hexe erwachte und jetzt drei Kinder erwartete und dass er eine liebende und ihn begehrende Frau zu Hause im Apfelhaus von Millemerveilles wohnen hatte, die bereits seine zweite Tochter bekommen hatte. Dann hörte er die warme Frauenstimme, die ihm immer die Weisheit der magischen Muttermilch verkündet hatte:
"Trage Madrashainorians Leben und Wesen in dir als großen, langen, bewegenden und beglückenden Traum. Denn das allein ist er, ein Traum voller Wissen, Wonne und Erlebnissen. Doch er muss nicht unwiederbringlich sein. Wenn du zu Madrashmironda zurückkehrst, kann Madrashainorian wiedererwachen. Doch nur solange du bei ihr bist. Du kannst in jedem Zustand seines Lebens mit ihm sein, als geborgen getragener Ungeborener, als neues Wissen und neue Kraft in sich aufsaugender Säugling, als lebensfroher Junge oder als liebender Ehemann und Vater an der Seite Ruashanormirias. Und wenn du genug durch ihn erlebt und erfahren hast kehre wieder zurück in deine Wirklichkeit und nutze sein Wissen und seine Kraft zum Wohle der lebenden Wesen deiner Zeit! Diese belebende Weisheit neigt sich dem Ende. Doch dort, wo sie bereitgehalten wurde, kann immer wieder neuer Quell von Leben und Wissen entspringen und geschöpft werden. Kehre nun in deine Welt zurück, Julius Latierre! Genieße dein eigenes Leben und behalte das zweite Leben in guter, friedvoller Erinnerung, so wie das, was ihr Jetztzeitmenschen einen spannenden oder interessanten Kinofilm nennt, aus dem sich immer was lernen lässt! So sauge den Rest auch noch ein, damit Madrashmironda wieder wohlgestaltet herumlaufen darf! Sei gegrüßt von allen Vormüttern Madrashmirondas und allen Nachtöchtern! Habe keine Angst vor Naaneavargia. Sie mag dunkle Gedanken und Ziele hegen. Doch am Ende wird sie immer das Wohl der Welt über das Wohl eines Erfolgsaugenblickes setzen!
Nachsatz: Wenn du alles in dich reingetrunken hast und endlich absetzen kannst stoße kräftig auf, wie es sich für einen satten Säugling gehört!"
Julius setzte ab. Madrashainorian ruhte nun friedlich in ihm, wie ein Baby im Mutterleib, aber immer spürbar, immer abrufbar. Er wollte gerade noch was sagen, als Madrashmironda ihm einen kurzen Klaps auf den Rücken gab und er laut unnd röhrend aufstoßen musste. Dabei quoll ein Wenig der informationsreichen Milch aus seinem Mund und er meinte, den letzten Satz rückwärts abgespielt zu hören.
"Verdammt, ich war lange weg. Wie lange genau?"
"Lange genug, um getragen, geboren, großgezogen und selbst zum Vater zu werden", lachte Madrashmironda. "Aber jetzt wird es wirklich Zeit, dass du zu deiner ersten und von ihr aus wohl einzigen Gefährtin zurückkehrst. Raus mit dir!" sagte Madrashmironda und stieß ihn ansatzlos von sich weg. Er fiel in die Tiefe und schrie fast auf. Dann besann er sich. Er konnte fliegen. Er flog mit Hilfe des für alle hier erlernbaren Zaubers. Dabei fiel ihm ein, dass er auch den Zauber des unversehrten Aufpralls gelernt hatte. Überhaupt hatte er eine Menge Zauber gelernt und ausprobiert. Außerdem hatte er mal so nebenbei die komplette Hochsprache von Altaxarroi lesen, schreiben und sprechen gelernt. Ja, das alles war ihm bewusst. Doch wenn er an die Gefühle von Madrashainorian dachte, dann waren diese wie ein bildreich erzählter Traum. Außerdem war Madrashainorian sein Sohn, also nicht er selbst. Das musste er sich ab heute immer wieder klarmachen, wenn er trotz der Rückprogrammierung per Mutterbrust nicht doch noch einen schweren Softwareschaden generieren wollte, weil zwei auf dieselben Ressourcen zugleich zugreifende Betriebssysteme in seinem Zentralprozessor herumfuhrwerkten. Nein, er war Julius Latierre, und Madrashainorian, der Erfreuer der großen Mutter, war eine Art Unterprogramm, besser eine rein virtuelle Maschine, wie sie von Virenprüfern und Programmarchitekten benutzt wurde, um ihre Verfahrenund Produkte zu prüfen.
Mittlerweile war er wieder vor dem Eingang zur Kugelhalle der Altmeister. Was die jetzt wohl über ihn austauschten? Kailishaia, Ianshira, Agolar, die er alle in Madrashmirondas Unterbau gehört hatte. Doch die bohrende Frage von eben drängte wieder an die Oberfläche: Wie lange war er jetzt wirklich weg gewesen? Wenn sein zweites Leben auch nur mit einem Hundertstel der Echtzeitgeschwindigkeit in sein Gehirn geladen worden war könnte er mehr als die vereinbarten zwölf Tage weg gewesen sein. Wiso dachte er eigentlich im Moment in so vielen technischen Begriffen? Madrashmirondas Milch hatte das sicher nicht gemacht.
Der gläserne Transportkorb trug ihn wie üblich in rasender Fahrt mal senkrecht und mal durch kurvige oder gerade Tunnel und Schächte zurück zu seinem Startpunkt. Unterwegs dachte Julius an alle Eindrücke, die er als Madrashainorian, sein mit Madrashmironda gezeugter Seelensohn, mitbekommen hatte. Das alles musste irgendwo hin. Er konnte und durfte es nicht nur in seinem Kopf behalten. Wenn er wieder zu Hause war wollte er es im Denkarium auslagern. Dann fiel ihm ein, wie viele Bilder die Erdvertraute aus seiner wahrhaftigen Erinnerung geschöpft hatte. Das haus mit den Stechsummern, die ungerechten Lehrer, der sanftmütige Schulleiter und vor allem die Meisterinnen der geschlechtlichen Freuden und Pflichten. Fast musste er lachen, als ihm einfiel, wem sie vom Aussehen wie vom Charakter ähnelten. Nur Ruashanormiria war eine ganz eigene Erscheinung, wohl wirklich aus Madrashmirondas Erinnerungen geschöpft.
Auf der untersten Etage des Turmes erwartete ihn die goldene Dienerin Ashtardarmiria. Sie lächelte ihn von oben her an. Dann sagte sie: "Willkommen zurück, Julius Erdengrund, du wirst bereits vermisst."
"Wie lange war ich weg?" fragte er beklommen.
"Diese Antwort sollen dir die geben, denen du wichtig bist", erwiderte Ashtardarmiria. Julius konnte deutlich die gewisse Biestigkeit in ihrer Stimme hören. War die goldene Dienerin etwa eifersüchtig auf jemanden?
"Mir wurde der Auftrag erteilt, dich in die Nähe von Reinheit zu tragen, jener, mit der du aus euren Ansiedlungen abgereist bist. Sie wird sich freuen, dass du wieder da bist."
"Wie lange war ich jetzt weg, bitte?" fragte Julius. Er wusste, dass die goldenen Diener eine Form von Zeitablaufwahrnehmung hatten.
"Das soll sie dir sagen, wenn du sie wiedersiehst. Ihr habt euch sicher eine Menge zu erzählen", sagte Ashtardarmiria. Daraufhin nahm sie aus ihrem roten Gewand eine längliche Tasche, in der es hölzern klapperte. "Ich darf dir aus der Halle der Klangkunst noch diese Dinge als Geschenk deiner dritten Mutter übergeben", sagte Ashtardarmiria. Julius nahm die Tasche entgegen, die mit zwanzig silbernen Knöpfen verschlossen war. Er brauchte aber nur die ersten sieben zu öffnen, um zu sehen, dass drei Flöten darin steckten, eine große, jene mittelgroße, die Madrashainorian immer wieder gerne gespielt hatte und eine kleine Flöte, auf der Madrashainorian als kleiner Junge gerne gespielt hatte. Natürlich war ihm klar, was diese Gabe zu bedeuten hatte. Er sollte das als Madrashainorian erlernte auch in seinem wahren Leben weiterpflegen, nicht nur die Zauber und Sprachkenntnisse.
"Ich hoffe, dass du diese Gabe würdigen wirst, im Namen Madrashmirondas", sagte Ashtardarmiria. Julius bejahte das. Dann klappte die gigantische goldene Dienerin ihre Bauchdecke auf und bückte sich. "Auf diese Weise kann ich dich immer noch am sichersten tragen", sagte sie und ergriff Julius zielsicher. Er machte keine Anstalten, sich zu wehren.
Eine Viertelminute später verschwand die goldene Dienerin mit ihm in einer orangeroten Flammenwolke.
Catherine Brickston war in Sorge. Zum einen wusste sie nicht, was mit Julius Latierre passiert war. Wenn er nicht mehr auftauchte hatte sie die Verantwortung, es seinen Angehörigen und seinem Arbeitgeber zu erklären, wie er ihr abhanden kommen konnte. Zum anderen hatte sie betrübliche Nachrichten aus Südafrika erhalten, dass ihre drei Informanten, die sie nur als Mrs. Applebloom kennengelernt hatten, von einer unsichtbaren Macht getötet worden waren. Etwas hatte sie ohne äußere Verletzungen innerlich regelrecht zerfleischt, als habe in ihrem inneren ein gnadenloser Fleischwolf gewütet. Catherine kannte diese Symptome. Das war das Werk Otschungus, des unsichtbaren Henkers. Nur wer keine Gnade mit seinen Feinden oder unliebsamen Mitwissern kannte wagte es, den vor Jahrhunderten erstmalig erwähnten Dämon zu erwecken und auf seine Opfer zu hetzen. Wen der unsichtbare Henker nicht auf so grausame Weise tötete konnte er sogar wie ein orientalischer Dibbuk in Besitz nehmen und zu wesentlich schlimmeren Taten gegen die Angehörigen und Freunde des Besessenen treiben. Also hatten die Trommelhüter Zugriff auf die Ruf- und Lenkformeln für Otschungu, die in ganz Afrika gesucht wurden. Catherine war sich sicher, dass die Trommelhüter sie und ihre Familie gnadenlos verfolgen würden, wenn diese erfuhren, dass sie das Geheimnis der Trommel des Wissens ausgekundschaftet und dabei auch das Tor der tausend Wehklagen zerstört hatte. Als dann unvermittelt die kleine Silberglocke für magische Annäherungen bimmelte meinte sie schon, dass jemand ihr sorgfältig getarntes Zelt doch irgendwie geortet hatte. Doch weder ihr Weitraumspickoskop noch das von ihrer Mutter ausgeborgte Feindglas reagierten.
Catherine setzte rasch ihre Rundumschaubrille auf, eine Erfindung Florymont Dusoleils, mit der sie sich einen Rundumsichtzauber ersparen und dabei sogar bis zwei Kilometer in die Ferne blicken konnte. Gegen einen unsichtbaren Gegner wie Otschungu mochte das zwar nicht helfen, aber gegen einen möglichen Feind aus Fleisch und Blut, der das Ziel auskundschaften musste. Als Catherine die Frau aus goldenem Metall sah, die größer als Mademoiselle Maxime in einem blutroten Gewand nur fünfzig Schritte vom Zelt entfernt stand, dachte sie erst, es sei ein Angreifer der Trommelschläger. Doch dann klappte dieses Metallgeschöpf den Bauch auf und pflückte einen jungen Mann im grünen Reiseumhang heraus. Sie erkannte den jungen Mann sofort und musste wider ihre Alarmstimmung loslachen. Zumindest die Sorge war sie nun los, dachte sie.
Als der junge Mann sicher auf den eigenen Füßen stand tätschelte die Goldene ihm noch einmal über den Kopf. Dann wandte sie sich ab, machte drei schnelle Schritte und verschwand in einer orangeroten Feuerwolke wie ein mal eben den Standort wechselnder Phönix.
"Mann, das war aber gerade so kurz vor Ladenschluss", begrüßte Catherine Julius, als er nahe genug an ihrem Zelt war, dass sie ihm schnell entgegengehen konnte, ohne zu lange ortbar zu sein. Julius fragte sie, wo er jetzt eigentlich war und welchen Tag sie schrieben.
"Heute ist der zwanzigste August zweitausendundzwei. Du warst länger weg als die zwanzig Tage, die wir vereinbart hatten. Ich wäre morgen zu deiner Vorgesetzten gegangen und hätte beichten müssen, dich unterwegs verloren zu haben", erwiderte Catherine. Julius nickte schuldbewusst. Dann sagte er: "Ich hatte schon befürchtet, deine ersten Enkelkinder zu treffen, Catherine. Für mich sind in den Tagen fast fünfzehn Jahre vergangen. Aber näheres möchte ich nur dir, Millie und deiner Mutter berichten, wenn wir alle zusammen sind."
"Dann sollten wir zusehen, in Sicherheit zu kommen. Meine Nachforschungen haben einiges an Unruhe ausgelöst", wisperte Catherine. Dann wollte sie noch wissen, was das für eine extragroße Ausgabe der goldenen Diener gewesen war. "Eine alte Freundin aus Garumitan, die extra für mich abgestellt wurde, um sicherzustellen, dass ich hin und wieder zurückkomme", erwiderte Julius.
Nachdem Catherine mit einigen starken Zaubern ihre Anwesenheit an diesem Ort unkenntnlich gemacht hatte reisten sie auf Catherines Familienbesen über das Mittelmehr direkt nach Millemerveilles zurück. Dort berichtete Julius ihr, Blanche und Millie im Schutze eines Klangkerkers, was ihm passiert war. Millie, die ursprünglich nicht hatte wissen wollen, was er mit Madrashmironda erlebt hatte, machte ein verdrossenes Gesicht, als sie erfuhr, wie Madrashmironda Julius für sich vereinnahmt hatte.
"Und Madrashainorian ist jetzt in deinen Erinnerungen lebendig?" wollte Blanche Faucon wissen, die zwischendurch sehr mit ihrer eigenen Selbstbeherrschung hatte ringen müssen, Julius' Bericht nicht zu unterbrechen. So heftig rührte es sie an, wie Madrashmironda ihren ehemaligen Musterschüler vereinnahmt hatte. Julius bestätigte, dass er alles, was Madrashainorian betraf in seinen Erinnerungen trug, als habe er es selbst erlebt, aber eben nur wie einen besonders langen und intensiven Traum.
"Die fühlte sich ans Bein gepullert, weil ich dir gesagt habe, dass die eh keine echte Frau ist, Julius", schnarrte Millie. Blanche räusperte sich zwar wegen der Ausdrucksweise, musste dann aber nicken.
"Halten wir noch einmal fest, auch und vor allem für dich, meine Tochter Catherine, dass diese Altmeister und Altmeisterinnen sehr eigenwillige und ihrer Macht sehr bewusste Entitäten sind, in deren Gewalt man sich nicht unbedarft begeben darf." Catherine nickte bestätigend.
"Öhm, Millie, ist unsere Nichte inzwischen angekommen?" fragte Julius Millie.
"Ja, am sechzehnten August um acht Uhr abends. Dafür, dass sie sich lange Zeit genommen hat, wollte sie dann ziemlich schnell auf die Welt. Tine hat von der ersten Senkwehe bis zur Nachgeburt nur anderthalb Stunden gebraucht. Aber die kleine ist vollständig und gut genug ernährt. Aber sie hat knallrote Haare. Alon meinte erst, dass das nicht sein Kind sein könnte, bis die Kleine ihre Augen weit genug aufmachen konnte. Da musste er es glauben, weil die seine Augen geerbt hat."
"Haben Sabine, Sandra, Callie und Pennie noch eine Mitfeierin an ihrem Geburtstag", scherzte Julius. Millie nickte.
"Öhm, nur noch einmal zu der Angelegenheit Madrashainorian", holte Blanche die beiden jungen Gäste zum eigentlichen Gesprächsthema zurück: "Heißt es nun, dass du, Julius, sobald du zu den Altmeistern gehst, wieder er sein musst, oder diente diese Vorgehensweise nur dazu, dich als Eingeweihten der Erdelementarzauberei aus dem alten Reich zu legitimieren?"
"So wie ich es verstanden habe bin ich in dem Moment wieder Madrashainorian, sobald ich bei Madrashmironda oder einem anderen Altmeister vorsprechen möchte. Gefällt mir zwar nicht wirklich. Aber wenn es nicht anders geht. Vorerst muss ich ja nicht mehr zu ihnen hingehen."
"Kannst du nicht wissen, wann es nötig ist", meinte Catherine dazu. Darauf konnten Blanche Faucon und Julius nicht antworten.
Catherine berichtete noch davon, was ihr passiert war und warnte vor den so genannten Trommelschlägern. Wenn diese Zugriff auf den dämonischen Auftragsmörder Otschungu hatten mochte es gefährlich sein, mehr über das zweite Medaillon zu erfahren. Doch dies, so Catherine, sei eher eine Angelegenheit der Liga gegen die dunklen Künste. Julius war sich da nicht so sicher. Doch laut sagte er dazu nichts.
Jedenfalls waren Millie und er froh, sich einander wieder zu haben. Er entschuldigte sich bei ihr dafür, dass er den ihm gewährten Urlaub nicht mit ihr hatte verbringen können.
"Einen Tag und eine Nacht haben wir noch, Monju", sagte sie ihm, als sie bereits auf dem Weg zum Badezimmer auf dem dritten Stockwerk des Apfelhauses war. Julius verstand. Millie würde es nicht in Ruhe lassen, ihn auch nur in einer Art Illusion einer anderen Frau überlassen zu haben. Außerdem stand da ja noch was an, die Aufforderung Ashtarias, die verlorene Blutlinie zu ersetzen.
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