Vier Jahre nach dem Ende von Voldemorts Terrorherrschaft in Großbritannien und deren Ausläufern weltweit ist die Zaubererwelt in größerer Gefahr als zuvor. Die Vampirkönigin Lamia, die mit ihren entkörperten Abkömmlingen zu einer Gemeinschaftsseele vereint wurde, ist im Mitternachtsdiamanten gefangen. Doch sie kann sich auf geistigem Weg mit allen Vampiren verständigen, deren Erzeuger einst Träger des Mitternachtsdiamanten waren. Sie lernt, diese Vampire durch einen schwarzen Strudel von einem Ort zum anderen zu befördern und unterwirft sich die schöne wie skrupellose Geschäftsfrau Eleni Papadakis, die als ihre Hohepriesterin Nyctodora das Blut der Feuerhexe Vesta Moran und ihres halbvampirischen Sohnes Aidonius trinkt und somit zu einer gegen Feuer und Sonnenlicht immunen, vollwertig zauberfähigen Hexe und Vampirin mutiert.
Ein den dunklen Künsten verbundener Zauberer, der sich Lord Vengor nennt und Voldemorts Erbe antreten will, erfährt von dunklen Kristallen, die dort entstehen, wo vielhundertfacher Tod an einem Tag die Menschen ängstigt. Er birgt aus den Trümmern des New Yorker Welthandelszentrums einen solchen Kristall und kann dadurch dunkle Zauber um ein vielfaches stärker ausführen. Er sucht Verbindung zum Geist des Erzdunkelmagiers Iaxathan und will dessen immenses Wissen empfangen. Doch eine von Adamas Silverbolt vor dem Eingang zu Iaxathans Aufbewahrungsartefakt errichtete Barriere aus weißer Magie hält ihn davon ab. Um die Barriere zu durchdringen soll er alle lebenden nahen und fernen Blutsverwandten töten, und zwar um ihre Geburtstage herum. Gelingt ihm dies, so verspricht ihm Iaxathan seine Macht.
Die Abgrundstochter Itoluhila erschrickt über den Umstand, als einzige Wache Tochter Lahilliotas den Bann über ihre jüngste Schwester nicht erhalten zu können und schafft es mit drei ahnungslosen Männern, drei ihrer schlafenden Schwestern zu wecken. Sie hofft darauf, dass ihre jüngste Schwester dann weiterschläft.
Hunderte von Dementoren werden auf einen Schlag vernichtet. Doch einige entkommen und kapern Schiffe, auf denen sie sich vermehren wollen. Einer der in direkter Blutlinie von Ashtaria abstammender Magier wird von unmagischen Söldnern aus dem Hinterhalt heraus getötet. Diese Erschütterungen des magischen Gefüges wecken Errithalaia, die jüngste und mächtigste der Abgrundsschwestern. Itoluhila schafft es mit der unfreiwilligen Hilfe von Julius' Latierre, die in der jüngsten Schwester gefangene Seele ihrer Mutter Lahilliota zu befreien und diese in den Körper von Alison Andrews zu verpflanzen. Diese verschafft sich durch die Tränen der Ewigkeit beinahe vollständige Unsterblichkeit und Unverwüstlichkeit.
Und als wenn diese dunklen Vermächtnisse aus alten Zeiten nicht schon schlimm genug wären, trachten Werwolfbruderschaften mit Gewalt nach gesellschaftlicher Gleichstellung, wobei sie mit den südasiatischen Wertigern paktieren. Außerdem macht eine geheime Gruppierung immer mehr von sich reden, deren Ziel die beschleunigte Vermehrung magisch begabter Menschen ist und sich dabei bewusst über alle Gebote von Freiheitlichkeit, Moral und Menschenwürde hinwegsetzt. Ein Opfer dieser sich Vita Magica nennenden Gruppe ist der junge Familienvater Gérard Dumas. Dieser will nicht hinnehmen, dass die ihm aufgezwungene vorzeitige Zeugung von gleich zwei Kindern ungeahndet bleibt. Trotz aller Warnungen sucht er nach jenen, die seiner Frau Sandrine und ihm damals den verhängnisvollen Cocktail zu trinken gaben.
Romina Hamton war froh, zumindest die zwanzig Kilo Speck, den eine besondere Maßnahme ihrer eigentlichen Herrin ihr aufgeladenhatte, relativ schnell wieder losgeworden zu sein. Was ihr jedoch noch sorgen machte war, ob ihre Eltern ihr restliches Leben von der Werwolfregistratur überwacht werden mussten oder nicht. Sie machte aus ihrem Hass gegenüber der Mondbruderschaft keinen Hehl. Wenn ihre Eltern für immer mit dem Lykanthropiekeim im Körper leben mussten würde sie mit oder ohne Anthelias Segen Jagd auf alle Werwölfe machen, die dieser Mondbruderschaft angehörten.
In dieser Nacht war wieder Vollmond. War dieser von keiner Wolke verhüllt würde es sich zeigen, ob Anthelia recht behielt oder wie Romina hilflos danebenstehen musste, wenn ihre Eltern unter dem Mondlicht zu beißwütigen Tieren wurden. Die untergehende Sonne bereitete ihr ein wenig Unbehagen. Heute sollte sich zeigen, ob der Fluch überwunden, ja ausgelöscht werden konnte oder nicht. Hierfür war sie gleich nach Feierabend über mehrere Zwischenpunkte zur Villa des ehemaligen Plantagenbesitzers Stanley Daggers appariert. Jetzt saß sie im Salon. Denn Anthelia hatte ihr untersagt, ihre Eltern direkt zu besuchen.
Jetzt war die Sonne restlos versunken. Über der durch Fidelius-Zauber verborgenen Villa erschienen die ersten Sterne am Himmel. Zwar gab es auch die eine oder andere dicke Wolke. Doch alles in allem sah es danach aus, dass der Vollmond die meiste Zeit ungehindert auf die Erde scheinen konnte. Romina fragte sich seit langer Zeit wieder, wieso ein Mensch zum Werwolf wurde. Selbst wenn der Betroffene viele Dutzend Meter unter der Erde war setzte die Verwandlung ein, sobald der Mond weit genug über dem Horizont stand, um sein silberweißes Licht auszusenden. Aber sobald eine Wolke ihn vollkommen verhüllte wirkte seine verhängnisvolle Kraft nicht mehr, und der Lykanthrop blieb in seiner menschlichen Form oder verwandelte sich zurück. In Rominas Fall lagen die beiden vom Lykanthropiekeim vergifteten in jenem fensterlosen Weinkeller, in dem Anthelia damals wiedererwacht war.
Romina blickte zu den breiten Fenstern hinaus. Die dicken, chartreusegrünen Vorhänge waren absichtlich nicht zugezogen worden, damit der Blick auf den Mond frei war. Gerade eben lugte der Erdbegleiter über den östlichen Horizont. Sein Licht war so hell, dass beinahe keine zusetzliche Lichtquelle nötig war. Im Moment wirkte er wie eine große, gelbe Halbkugel. Für erwiesene Werwölfe war das schon genug, die bevorstehende Verwandlung zu spüren. Es sollte sich wie ein Prickeln im Blut anfühlen. Die Haut war da schon sehr reizbar. Langsam und unaufhaltsam schob sich der natürliche Erdumkreiser immer weiter nach oben. Jetzt war er als große, gelbe Kugel genau auf dem Horizont. Sobald sein Licht den bekannten geheimnisvollen Silberglanz bekam trat die Wechselwirkung mit echten Werwölfen ein. In wenigen Minuten würde es soweit sein.
Romina lauschte. Ja, sie hörte ein Stöhnen aus dem Keller. "Bleib bitte erst mal oben und beobachte den Mond, Schwester Romina! Was immer jetzt geschieht, wir beide können es jetzt nicht mehr ändern", hörte sie die Gedankenstimme ihrer höchsten Schwester. Anthelia hatte natürlich ihre Gedanken mitbekommen. Ein Laut wie ein unterdrückter Schmerzensschrei klang aus dem Keller nach oben. Das war ihre Mutter. Hieß das, dass Anthelias Vorkehrungen nicht halfen? Immer noch stieg der Mond lautlos und langsam nach oben. Langsam änderte sich sein Licht. Der vorhin so kräftige Gelbton erbleichte mehr und mehr. Auch schien es, dass der Mond ein wenig kleiner wurde. Das lag aber an seiner Lichtstreuung, wusste Romina.
"Du verdammtes Hexenweib! Ich krepiere hier!" schimpfte Rominas Vater, den wohl heftige Schmerzen peinigten. Ihre Mutter schluchzte und stöhnte nur. "Wenn ihr in einer Viertelstunde noch bewusst schimpfen könnt solltet ihr mir auf den Knien danken, sofern ich euch zumindest die Ketten zwischen den Beständigkeitsfesseln lösen kann", erwiderte Anthelia mit ihrer verrucht tiefen, eine große Stärke und Entschlossenheit vermittelnden Stimme.
Als der Mond weit genug über dem Horizont stand, dass der letzte Rest von Gelb aus seinem hellen Licht verschwand, hörte Romina lautes Aufschreien von unten. Also funktionierte es nicht. Ihre Eltern würden sich jetzt verwandeln und dann als beißwütige Bestien ohne menschliche Vernunft die Nacht durchstehen müssen. "Verdammt, ich verbrenne. Ihr verfluchten Hexenschlampen!" brüllte Rominas Vater, während ihre Mutter wohl alle Atemluft brauchte, um die sie beutelnden Schmerzen zu ertragen. "Ist der Mond nun ganz und silberweiß sichtbar?" gedankenfragte Anthelia Romina. Diese sah dem großen Nachtgestirn zu, wie es noch weiter nach oben glitt, langsam, lautlos, leuchtstark. Sie bejahte die Frage. "Dann warten wir noch eine Viertelstunde. Sollte bis dahin keine Verwandlung eintreten löse ich die Fesseln und prüfe, wie viele Gestaltverharrungsschellen ich losmachen kann, ohne dass deine Eltern doch noch verwandelt werden."
"Die sind noch so, wie sie sind?" gedankenfragte Romina.
"Sie zittern und schwitzen ganz stark. Aber ihre Gestalt hat sich bisher nicht verändert. Auch ist keine Fellwucherung zu erkennen", schickte Anthelia zurück. Rominas Vater schrie laut auf. Doch dann hatte er wohl das schlimmste überstanden. Zumindest kam von ihm kein Laut mehr. "Sie sind beide ohnmächtig geworden, Romina. Die Schmerzen waren doch sehr groß. Auch ich musste mich gegen ihre Gedanken und Gefühle verschließen, um nichts von ihnen abzubekommen", gedankensprach Anthelia.
"Darf ich nicht doch -?" dachte Romina. "Nein, du bleibst und beobachtest den Mond. Ich löse bei deiner Mutter eine Fessel nach der anderen, um zu sehen, ob die Verwandlung doch noch eintritt", bekam Romina Anthelias prompte Antwort unter die Schädeldecke. So hieß es warten. Immer wieder blickte Romina zum Mond hinauf. Jetzt konnte sie die dunklen Stellen auf der silberweißen Leuchtscheibe erkennen, das angebliche Mondgesicht, das erst durch Gallileis Fernrohr als Ansammlung von kleinen und großen Kratern entzaubert worden war. Doch der magischen Wirkung der Mondstrahlen hatte auch Gallilei nichts nehmen können, ebensowenig wie Armstrong und Kollegen, die ihre Fußabdrücke im Mondstaub hinterlassen hatten. Jetzt fragte sich Romina, wie es für einen Astronauten mit Lykanthropie war, wenn er auf dem Mond war, sobald dieser vollständig im Sonnenlicht lag. Würde er sich da verwandeln, vielleicht sogar innerhalb einer Sekunde, weil die Kraftquelle direkt unter seinen Füßen lag. Oder brauchte es den nötigen Abstand zwischen Mond und Werwutbefallenen? Romina schalt sich eine dumme Gans, dass sie sich über solche Sachen Gedanken machte. Doch was sollte sie jetzt tun, wo Anthelia ihr untersagt hatte, jetzt schon in den Keller zu kommen?
"Zur dreigeschwänzten Gorgone, dieser Keim treibt die Körperwärme bei deinen Eltern nach oben. Ich habe schon zwei Fesseln gelöst. Aber das plötzliche Fieber steigt immer noch an."
"Fieber? Wohl eine Überreaktion auf die Unterdrückung der Verwandlung", erwiderte Romina voller Sorge. Anthelia bestätigte es. Einige Sekunden vergingen. Anthelia meldete sich nicht. Dann erklang ihre Gedankenstimme in Rominas Geist. "Ich habe auch je eine Fußfessel abgenommen. Sie bleiben zwar in der natürlichen Gestalt ..." Dann kam erst mal nichts mehr. Romina wandte nun selbst Mentiloquismus an, um zu fragen, was passiert war. Dann erfolgte Anthelias Antwort: "Es tut mir aufrichtig leid, Schwester Romina." Im selben Augenblick vernahm Romina aus dem Keller die Aufschreie von zwei Menschen, jedoch nicht wie üblich, sondern eher wie von starkem Wind aus großer Ferne herangeweht. Dann erkannte sie, was passiert war.
Aus dem Boden im Salon stiegen erst zwei perlweiße Köpfe, gefolgt von ebenso perlweißen, dunstartig durchsichtigen Körpern. Sie erkannte zwei Gesichter, die Gesichter ihrer Eltern. Das Mondlicht fiel von draußen durch die Fenster und drang durch die zwei sich aus dem festn Boden herauslösenden hindurch. Da wusste Romina, was mit ihren Eltern passiert war. Sie waren gestorben und zu Geistern geworden. Die zwei neuen Gespenster sahen die Hexe aus Fleisch und Blut vorwurfsvoll an, als sei diese und nur diese Schuld an ihrem Los. Romina konnte es auch nicht ganz verneinen. Da ploppte es, und Anthelia stand im Salon. Ihr Gesicht war eine Maske der Gefühllosigkeit. Als die zwei in dieser Welt zurückgehaltenen Seelen von Rominas Eltern sie erkannten bewegten sie ihre Arme schwerfällig wie gegen starken Wind ankämpfend. Sie deuteten auf Anthelia. Vera Hamton seufzte: "Du hast uns umgebracht, Oberhexe. Wegen dir konnte ich nicht zu meinen Eltern und kann es wohl niemals."
"Dafür bringen wir dich auch um, du Schlampe!" raunte Lenny Hamton mit einer verschwommen klingenden Stimme. Dann schwankte er wie betrunken auf Anthelia zu. Seine Füße blieben dabei einen halben Meter über dem Boden. Anthelia wirkte immer noch ganz unbeeindruckt, als müsse sie überhaupt nichts befürchten. "Doch als Lenny Hamton mit beiden Händen vorstieß, um sie um Anthelias Hals zu legen reagierte sie. Unvermittelt wurde sie von einer blauen Aura umhüllt. Als der Geist Lenny Hamtons zupacken wollte wurde sein feinstofflicher Körper zurückgeworfen und gegen das geschlossene Fenster geschleudert. Romina sah mit einer Mischung aus Grusel und Staunen, wie die Nachtodform ihres Vaters an der Fensterscheibe plattgedrückt und dadurch breiter und höher wurde. Er stöhnte laut auf. Doch seine Stimme klang immer weiter entfernt. Vera Hamton indes war von sich aus zurückgewichen. Sie wollte auf keinen Fall mit jener blauen Aura um Anthelias Körper in Berührung kommen.
"Du verfluchtes Weib", rang sich der Geist von Lenny Hamton eine weitere Verwünschung ab. Immer noch wirkte er wie ein annähernd menschenähnlicher Dunstschleier auf der Fensterscheibe. Romina dachte, ob er ins Freie konnte, wenn sie das Fenster öffnete. Doch Anthelia erwiderte: "Das Fenster ist die Grenze des Hauses. Ein ungebundener Geist wäre durch die Scheibe gedrungen und bis außer Sichtweite von mir davongetrieben worden. Aber die Magie des afrikanischen Magiers, der in diesem Haus als Sklave gehalten wurde, hält alle Seelen in diesem Haus fest, die nicht in einem lebenden Körper wohnen. Daran hätte ich denken müssen. Aber ich wusste keinen besseren Ort, um deine Eltern zu überwachen."
"Verreck, du Luder", ächzte Lenny Hamtons Geist, dessen Form nun immer ungenauer wurde. Romina fragte Anthelia, ob sie ihren Schutzzauber nicht etwas schwächer machen könne. Doch Anthelia verneinte es. "Der Mantel der Lebensbewahrung kann nur ganz oder gar nicht erschaffen werden", sagte sie. Dann meinte sie: "Komm, wir gehen in den Keller, damit deine Eltern sich erholen können."
"Fahr zur Hölle!" brüllte Vera Hamton und versuchte, nach der Glaskaraffe zu greifen, die auf dem Tisch stand. Doch ihre perlweiße Geisterhand glitt durch das Glas wie durch Luft, ja durchschlug sogar die massive Tischplatte, ohne einen Laut oder Schaden zu verursachen. Dann warf sie sich nach vorne und versuchte nun ihrerseits, Anthelia anzugreifen, wohl mit dem Mut jener, die nichts mehr verlieren kann. Wie vorhin ihr Mann prallte sie von der blauen Aura um Anthelias Körper ab und wurde gegen das Fenster geschleudert. So geschah es, dass ihre Gestalt ebenfalls zur ganzen Breite des Fensters ausgedünnt wurde. Dabei vermengte sie sich mit der feinstofflichen Beschaffenheit von Lenny Hamton. Was dann geschah hatten weder Anthelia noch Romina erwartet.
Die zwei ineinanderfließenden Ektoplasmakörper verschmolzen zu einer dunstigen, formlosen Erscheinung, die nun wie ein weißer, im Mondlicht flirrender Belag auf der Fensterscheibe lag. Die Fensterscheibe begann nun immer wilder zu flimmern. Dann glühte sie im selben Blau auf wie Anthelias Schutzaura. In diesem blauen Licht entstand ein vor Wut und Schmerz verzerrtes Gesicht, aber nicht das von einem der Hamtons, sondern das eines alten Afrikaners, der mit weiß glimmenden Augen auf Anthelia blickte. "Nein, das gelingt dir nicht. Meine Macht ist unbrechbar. Nein!" hörten sie die wütende Stimme eines Mannes. Dann zersprang die Fensterscheibe, und eine weiße Lichtkugel flog hinaus und erlosch keine zehn Meter vom Haus entfernt. Ein urwelthafter Schrei drang wie aus allen Richtungen. Glleichzeitig meinte Romina, die erfreuten Aufschreie ihrer Eltern zu hören. "Wir sind frei!" Die Jubelrufe wurden leiser und leiser. Dann verklangen sie. Das urwelthafte Wutgebrüll, das sie mit den Ohren hatten hören können, wurde zu einem gequälten Ächzen. Dann erstarb auch dieses. Anthelia fühlte ein leichtes Beben durch das Haus gehen. Gleichzeitig erlosch ihre Geisterückprell-Aura.
"Offenbar hat die Durchmischung ihrer ektoplasmatischen Körper den Rückhalt des afrikanischen Fluches durchdrungen und sie doch aus dessen Wirkungsbereich hinausgeschleudert", sagte Anthelia. Romina erwähnte, dass sie ihre Eltern hatte jubeln hören können. Anthelia nickte. "Sie konnten doch noch die Schwelle zur anderen Seite überqueren. Damit habe ich jetzt nicht gerechnet."
"Du hast mich verhöhnt, weiße Widersacherin, die du mein Haus in Besitz genommen hast", klang ein hasserfülltes Wispern aus den Wänden. "Doch wisse, dass deine Seele nicht entweichen wird, solltest du in diesen Mauern sterben. Ich werde warten, bis du meiner Macht unterworfen bist."
"Wünsch dir das besser nicht, alter urwalttrommler", erwiderte Anthelia. "Denn wenn ich sterbe werde ich so oder so zu einer Nachtodform. Doch dann wird dieses Haus nicht mehr lange stehen bleiben." Dann sah sie, wie Romina ihren Zauberstab in der Hand hielt. Doch was immer sie damit vorhatte, sie kam nicht dazu, es auch nur zu versuchen. Denn ihr Zauberstabarm wurde von einer unsichtbaren Kraft niedergestoßen, auf ihren Rücken gedreht und derartig gebogen, bis sie ihren Zauberstab freiwillig fallen ließ.
"Ich kann vollkommen verstehen, wie enttäuscht und wütend du bist, Schwester Romina. Aber mich deshalb von dir mit einem Zauber belegen zu lassen fällt mir nicht ein. Ich erweise dir Gnade, dich frei und unverletzt ziehen zu lassen, wenn du mich um Verzeihung bittest."
"Du hast meine Eltern umkommen lassen. Du hast sie im Keller getötet", stieß Romina aus.
"Deine Eltern sind in dem Moment gestorben, als sie von den Werwölfen gebissen wurden", schnaubte Anthelia, die deutlich den Rachewunsch der Mitschwester fühlte. Wenn sie keine lebenslange Feindschaft mit Romina haben wollte musste sie was tun. Sie riss ihren silbergrauen Zauberstab hoch und zischte: "Obleviate!" Romina erschlaffte und bekam einen weltentrückten Blick. Anthelia fühlte, wie ihre Erinnerungen unter der Wirkung des Zaubers frei beweglich wurden. Sie pflanzte ihr die Vorstellung in das Gedächtnis, dass ihre Eltern bereits vor fünf Jahren bei einem Bootsunfall in Florida ums Leben gekommen waren. Sie waren dann verbrannt worden. Ihre Asche war dann in einer Seebestattungszeremonie über dem Atlantik östlich von New York ausgestreut worden. Diese konkrete Vorstellung ließ sie in Rominas Gedächtnis zur Erinnerung verdichten, als habe sich das so und nicht anders zugetragen. Erst als Anthelia sicher war, alle Spuren der wahren begebenheiten gelöscht und die neue Erinnerung wie gewünscht eingepflanzt zu haben zog sie ihren Zauberstab fort und gab damit Denken und Erinnerung von Romina Hamton frei. Mit einem ungesagten Reparo-Zauber ließ sie die geborstene Fensterscheibe wieder zusammenwachsen und sich in den Holzrahmen einfügen.
Noch bevor Romina wieder klar genug erkennen konnte wo sie war apparierte Anthelia in den Keller, wo sie mit zwei schnellen Verwandlungszaubern die Leichen der Hamtons in Kieselsteine umformte. Diese steckte sie schnell in ihren Umhang und apparierte wider im Salon. Dort traf sie Romina, die fragte, was nun im Bezug auf die erkannten Feinde zu tun war.
"Wir werden einen Weg finden, Vengor, die Blutsauger und Werwölfe aus der Welt zu tilgen, Schwester Romina. Sie horchte auf Rominas Gedanken. Da war kein Drangg, sie anzugreifen.
"Ist mir doch glatt der Zauberstab runtergefallen, als ich damit licht machen wollte", sagte Romina und steckte ihren Zauberstab fort. "Offenbar bin ich trotz Vollmond zu müde."
Dann leg dich in eines der Gästezimmer zum schlafen!" erwiderte Anthelia überfreundlich. Diesen Vorschlag nahm Romina gerne an.
"Der Tag wird kommen, Lunera, wo ich dich für diese Sache zur Verantwortung ziehen werde", dachte Anthelia/Naaneavargia.
Milton Cartridge lag auf einer weichen Unterlage. Gleich würde Kendra Honeydew zum dritten mal versuchen, ihn mit dem Progerius-Zauber in einen erwachsenen Mann zurückzuverwandeln. Hoffentlich klappte es. Denn trotz der Fürsorge seiner Frau, die ihn auch als Amme umsorgte, obwohl sie das eigentlich nicht durfte, wollte er endlich aus dem Windelalter heraus, wieder Zähne im Mund habenund auf vollentwickelten Beinen herumlaufen. Immerhin konnte er schon wieder besser sehen als zu Beginn dieser Tortur. Dieser graue Nebel, in dem alles verschwand, was weiter als fünfundzwanzig Zentimeter war, hatte ihn mehr frustriert als der Umstand, sich nicht eigenständig aufrichten zu können oder in Windeln machen zu müssen.
"Hoffentlich haben wir jetzt die exakte Abstimmung", meinte Kendra Honeydew und näherte sich Milton Cartridge. Godiva Cartridge stand keine zwei Meter von ihr entfernt. "Fangen Sie bitte an! sagte sie.
Die Heilerin goss behutsam eine magische Mixtur über den völlig nackten Körper des verwandelten Zaubereiministers. Doch die Substanz dampfte und zischte, als würde sie in einen bereits rotglühenden Kessel fließen. Milton schrie laut auf. Für ihn fühlte sich jeder Tropfen wie glühende Lava an, die sich durch seine Haut und sein Fleisch brannte. Kendra Honeydew hielt inne. Diese Reaktion durfte nicht stattfinden, dachte sie. Dann schüttete sie schnell den Rest der angesetzten Rückverwandlungsmixtur über Milton Cartridge aus. Er schrie laut und zuckte auf seiner Unterlage. Eine weiße Dampfwolke hüllte ihn immer mehr ein. Dann war das Mittel restlos aufgebraucht. Milton Cartridge wimmerte. Auch wenn die unerträglichen Schmerzen mit dem letzten Tropfen der Lösung verebbt waren fühlte er sich immer noch elend. Das schlimmste war, dass sich an und um ihn nichts verändert hatte. Er lag immer noch nackt mit schwerem Kopf auf einer Unterlage. Er sah die für ihn riesenhaften Möbel und die beiden Hexen, die sich um ihn sorgten.
"Goddy, es hat nicht geklappt. Ich bin immer noch ein Wickelzwerg", schaffte es Milton, seiner Frau etwas zuzumentiloquieren.
"Das war die letzte Möglichkeit, ihn ohne natürliches Wiederwachstum auf seinen natürlichen Entwicklungsstand zurückzuführen", seufzte Kendra. "Dann bleibt mir nur, ihn gemäß der Fichtental-Regel in die Obhut einer Berufsamme zu übergeben, deren Nachnamen er zugeteilt bekommt und ..." Kendra Honeydew, konnte ihren Satz aber nicht zu ende Sprechen. Das unverkennbare Fauchen eines Schockzaubers schnitt ihr das Wort ab. Die Heilerin stürzte besinnungslos zu Boden. Dann sah er zwei Riesenhände herabgleiten. Doch er hatte keine Angst. Denn das waren die Hände seiner Frau Godiva, die ihn nun gekonnt um Kopf und Rücken fasste, aufhob und in ein Tragetuch wickelte. "Richtig wickeln werde ich dich gleich, wenn wir in Sicherheit sind", mentiloquierte Godiva. "Bubbly!" rief sie. Milton hörte ein leises Plopp. Dann fühlte er, wie etwas mit seiner für ihn gerade riesenhaften Frau zusammenstieß. Keinen Moment später war ihm, als schnappe ein gieriger, schwarzer Schlund nach ihm und versuche, ihm alle Körperstellen zusammenzudrücken. Weil sein Kopf gerade weich und unverknöchert war merkte er, wie seine Schädelpartien zusammengeschoben wurden. So musste sich das für ein Baby anfühlen, wenn es durch den engen Geburtskanal gedrückt wurde, dachte Cartridge. Da hatte das ihn zusammenquetschende Etwas auch schon wieder abgelassen.
"So, wir sind auf Roderics Ruhesitz, mein kleiner Pullerprinz", flötete Godiva.
"Die werden uns suchen, wenn sie die Heilerin finden", mentiloquierte Cartridge, nachdem die Kopfschmerzen verflogen waren.
"Bubbly, den Brief bei ihr hinlegen. Sie wird in einer Minute wieder aufwachen!" befahl Godiva Cartridge. Eine piepsige Stimme bestätigte den Befehl. Es ploppte wieder so leise, wie ein dezent aus der Flasche gelöster Sektkorken.
"Was hast du geschrieben, meine Holde?" wollte Milton wissen.
"Das ich nach dem dritten Fehlversuch beschlossen habe, dein Wiederaufwachsen zu sichern und dich hierfür in den geheimen und gesicherten Schutz meiner Familie gebracht habe, wo Vita Magica keinen Zugriff mehr auf dich hat. Ich habe auch geschrieben, dass du bei unangefochtener Anwendung der Anna-Fichtental-Regel keinen Tag sicher gewesen wärest. Auch wenn Sandhearst alle Wichtel der Staaten aufs Dach jagt kommt er nicht mehr an dich heran, aber auch diese Banditen nicht, die dich zu meinem vierten Kind gemacht haben. Ach so, ich müsste mich jetzt wohl für eine beschwernisfrei verlaufene Schwangerschaft und eine schmerzlose Niederkunft bedanken. Ich weiß nur nicht, bei wem."
"Bei diesen Verbrechern von VM vielleicht?" wollte Cartridge wissen.
"Wenn ich das wüsste, wer die sind vielleicht", grummelte Godiva. "Unsere drei Erben werden von mir das Gedächtnis erhalten, dass ich dich wie ihr viertes Geschwisterchen mit immer dickerem Bauch erwartet und dann mal eben in die Arme gelegt bekommen habe. Wenn du dich mit allem zurückhältst, was du schon kannst wird das für uns alle eine sicher sehr angenehme Zeit."
"Nur dass du keinen Mann mehr hast, mit dem du wilde Liebe machen kannst, meine Holde", gedankengrummelte Milton Cartridge.
"Ja, stimmt, das ist bedauerlich. Aber dafür darf ich dich alle zwei Stunden füttern", schnurrte Godiva.
"Wo du's erwähnst. Langsam kriege ich wieder Hunger. Schade, dass ich nichts von dem Alligatorsteak essen kann, was unser Hauskoch heute machen wollte."
"Dafür kommt das, was du zu dir nehmen kannst von Herzen", erwiderte Godiva Cartridge mit unverhohlener Erregung. Milton war klar, dass sie seine Fütterung als vertretbaren Ausgleich für die vorerst nicht mehr einzuhaltenden Ehepflichten ansah. Dann wollte er das auch tun, zumal er ja schon daran gewöhnt war, dass seine Frau ihn stillte wie ein echtes Neugeborenes.
"Das darf draußen keiner wissen, dass die Ministergattin ihren Mann entführt hat", knurrte Randolph Sandhearst, der kommissarische Zaubereiminister. "Aber wie drehen wir es hin, dass wir Milton Cartridge verloren haben?"
"Öhm, noch ein Entführungsversuch von VM?" fragte sein Sicherheitsberater Middleton.
"Wohl vom wilden Wichtel gebissen, wie? Dann können wir ja gleich ein Schild an jeden Zugang hängen: "Feinde des Zaubereiministeriums herzlich willkommen. Tun Sie, was immer Sie wollen!" Nein! Das müssen wir anders verkaufen. Am besten, dass Milton Cartridge nicht hier aus dem Ministerium verschwunden ist, sondern aus der Säuglingsstation des HPK, als dort keiner hinsah."
"Öhm, Sie wissen, dass Madam Greensporn diese Station leitet? Sie wollen keinen Ärger mit ihr haben, wo sie Ihrem Vater und Ihnen auf die Welt geholfen hat", sagte Middleton.
"Ja, will ich nicht wirklich. Gut, dann behaupten wir, dass wir Milton Cartridge nach dem dritten Fehlversuch an einem mit Fidelius-Zauber verborgenen Ort versteckt haben, damit er dort ungefährdet aufwachsen kann, so wie der alte Dumbledore das mit Harry Potter gemacht hat."
"Ja, und Godiva?" fragte Middleton.
"Wenn die in einem Fidelius-Versteck sitzt kommt keine Eule an sie ran, wenn die Eule den Geheimniswahrer nicht kennt, der es ihr verraten kann", sagte Sandhearst. Außerdem gibt es Zauber, mit denen Orte vor unerwünschten Lebewesen abgesperrt werden können, sowohl solche der hellen wie der dunklen Künste. Ich kann höchstens in Umlauf bringen, dass ich Godiva Cartridge verhaften lasse, wenn sie behauptet, ein viertes Kind bekommen zu haben. Denn dann könnte ich sie wegen Vereitelung einer Heilermaßnahme zum Zwecke der Wiederherstellung von Minister Cartridges ursprünglicher Verfassung, Entführung desselben und Verstoßes gegen die Anna-Fichtental-Regelung anklagen. Das sollte die Dame davon abhalten, ihn als schmerzlos geborenes Kind auszugeben. Außerdem haben wir noch was, dass auf das Blut von Milton Cartridge abgestimmt werden kann", sagte Sandhearst. "Wenn er also aus einem unortbaren Bereich heraus ist kann er gefunden werden. Aber das soll die werte Godiva Cartridge nicht erfahren."
"Und wenn sie das schon weiß?" fragte Middleton. "Da müssen wir wohl mit rechnen", seufzte der zeitweilige und womöglich längerfristige Zaubereiminister. Aber wir müssen es versuchen.
"Öhm, Herr Minister, wenn Sie den Sanguisonus-Zauber meinen, auch als Blutklangresonanz-Zauber bezeichnet, möchte ich Sie darauf hinweisen, dass der nur bei magischen Menschen geht, die nicht das Blut anderer magischer Menschen in die Adern gepumpt bekommen oder im Falle von Säuglingen von frischer Muttermilch leben. Falls Godiva meint, ihren eigenen Mann laktieren zu müssen ..."
"zu müssen?!" brach es aus Sandhearst, als er den Einwand seines Beraters voll verstanden hatte. "Gut, vergessen wir diesen Zauber. Dieses Weib ist raffiniert. Natürlich hat sie ihn solange mit eigener Milch ernährt, wie er schon bei ihr untergebracht ist. Sie muss wohl den Nutrilactus-Trank vorrätig haben oder gehört zu den natürlichen Ammenhexen, die nach kurzer Einfühlungsphase auch weit nach der Geburt eines Kindes wieder eigene Milch ausbilden können. Gut, dann bleibt mir nur eine Presseoffensive, dass Madam Cartridge nicht vor dem Ablauf von neun Monaten mit einem neugeborenen Kind auftreten darf, ohne wegen erwähnter Taten angeklagt und verurteilt zu werden."
"Ist vielleicht besser, Sir. Öhm, aber was gedenken Sie in der Angelegenheit Vita Magica zu unternehmen?" fragte Middleton.
"Was wohl? Wir suchen weiter nach denen, die dieser Bande zuarbeiten oder mit ihr sympathisieren. Haben wir die Ratte am Schwanz, können wir sie aus ihrem Loch herausziehen", knurrte Sandhearst.
"Und wenn es keine Ratte, sondern ein Drache oder eine Hydra ist, deren Schwanz wir zu fassen bekommen?" raunte Middleton.
"Sollten wir genug Klingen und Fackeln bereithalten, um alle Köpfe unwiederbringlich abtrennen zu können", schnaubte Sandhearst.
"Der Westwind und der Herold haben schon Wind bekommen, dass Minister Cartridge wohl so schnell nicht mehr zurückkehrt", warf Middleton ein.
"Von wem das?" schnaubte Sandhearst sehr ungehalten.
"Das entzieht sich meiner Kenntnis. Aber ich bin bereits dabei, die Quelle dieser nicht freigegebenen Information zu ermitteln", erwiderte Middleton.
"Haben wir es denn nur noch mit Maulwürfen und Funkensprühern im Ministerium zu tun, zum feuerroten Donnervogel noch mal?!" blaffte der zeitweilige Zaubereiminister. Da klopfte es an die Tür. Sandhearst deutete in die unsichtbare Ecke des Ministerbüros. Dort konnten bis zu fünf Leute stehen, ohne gesehen zu werden. Middleton nickte und ging in die bezauberte Ecke. Nun konnte auch der zeitweilige Minister ihn nicht sehen. Er rief: "Wer da bitte!"
"Herr kommissarischer Zaubereiminister Sandhearst, wir sind es, Adelaide und Anaximander Greendale aus Trywaters."
"Lassen Sie sich von meiner Vorzimmerdame einen Termin geben!" stieß Sandhearst aus, wohl wissend, dass dies wohl ein hilfloser Versuch war, den alten Greendale und seine Gattin abzuwimmeln.
"Wir haben schon einen Termin, weil wir heute eigentlich mit Minister Cartridge reden wollten. Da auf dem Pergament aber kein Name sondern nur "Termin mit dem Zaubereiminister" steht müssen wir eben zu Ihnen."
"Die sind schon ziemlich raffiniert", dachte Sandhearst. Dann erlaubte er den Zutritt.
Als die Tür aufging traten ein mittelgroßer Zauberer im lindgrünen Umhang und eine kleine, zierliche Hexe im rosafarbenen Rüschenkleid ein. Der ältere Zauberer trug sein silbernes Haar zu weitgeschwungenen Locken und führte einen auf Brusthöhe gehaltenen Vollbart aus. Er trug eine korallenrote Hornbrille auf der schmalen Nase und blickte mit dunkelbraunen Augen durch die dicken, runden Brillengläser. Die Hexe besaß dunkelblondes Haar, in dem schon einzelne graue Strähnen glänzten. Sie hatte es zu einem strengen Knoten hinter dem Nacken gebunden. Sie trug keine sichtbare Sehhilfe. Ihre Augen verrieten dem geschäftsführenden Zaubereiminister, dass sie eine Vorfahrin von Godiva Cartridge geborene Greendale war. Sandhearst wusste, dass die Greendales mächtig waren. Eigentlich hätte der alte Anaximander schon vor fünfzig Jahren Zaubereiminister werden können, wenn er da nicht auf andere Erfolge ausgegangen wäre. Seine Frau rühmte sich, Mutter von zehn Kindern, achtzehn Enkeln und dreißig Urenkeln zu sein. Nach den Southerlands und den Gladfields waren die Greendales die mit abstand weit verbreitetste Zaubererfamilie der Staaten. Mit ihnen wollte sich niemand mit gesundem Verstand anlegen. Das galt auch für Sandhearst. So erhob er sich vor der eintretenden Dame und vollführte eine angedeutete Verbeugung. Wenn die lebenden Oberhäupter des Greendale-Clans ihn beehrten war es offenbar sehr sehr wichtig.
Hallo, Mrs. Greendale. Hallo Mr. Greendale. Bitte nehmen Sie Platz!" eröffnete Sandhearst das Gespräch, von dem er schon jetzt dachte, dass es für ihn sehr unerfreulich verlaufen würde.
"Das ist aber nett, Randolph", erwiderte der altehrwürdige Zauberer und deutete von seiner Frau auf den bequemsten Sessel, in dem sonst nur ranghohe Besucher sitzen durften. Mrs. Greendale nickte und setzte sich. Anaximander Greendale nahm sich einen einfachen Besucherstuhl. Als er saß winkte seine Frau mit ihren rosarot lackierten Fingernägeln in die scheinbar leere Büroecke.
"Sagen Sie dem wackeren Clay Middleton bitte, aus der Ecke hervorzutreten und sich auch zu setzen. Wir möchten nicht sprechen, wenn jemand unsichtbar lauscht", sagte sie mit einer für ihr hohes Alter noch erstaunlich glatt und feenhaft klingenden Stimme. Sie sprach leise. Doch wie sie dabei in die Ecke blickte verriet überdeutlich, dass sie keinen Widerspruch hinnehmen würde. Sandhearst sah die Besucherin an und fragte, wie sie darauf komme, dass Middleton im Raum sei. "Weil wir vor unserem Anklopfen noch mitbekommen haben, dass er zu Ihnen wollte. Da wir ihn nicht herauskommen sahen, Sie uns aber trotzdem Einlass gewährten und wir nur Sie hier sehen gehe ich davon aus, dass er in der Ecke steht. Sie haben doch sicher nicht vergessen, dass mein seliger Großvater Rore McDuffy diese Vorkehrung im Zaubereiministerium einführte, als er da selbst zum zweiten Zaubereiminister in der Geschichte der vereinigten Staaten ernannt wurde."
"Ich hoffe meinerseits nicht, dass Sie unter Verfolgungswahn leiden, Mrs. Greendale", erwiderte Sandhearst. "Ich meine, in der jetzigen Lage ist das leider nicht so abwegig, dass wir alle überall unsichtbare Lauscher oder Feinde wähnen."
"Wenn meine Gattin sagt, dass Ihr Sicherheitsleiter in der Ecke steht soll er da rauskommen. Oder das Gespräch ist bereits beendet, und wir werden tun, was wir selbst für einzig geboten erachten", schnarrte Mr. Greendale halblaut. Doch er hätte es ebenso mit Drachenstärke brüllen können, erkannte Sandhearst. "Oder soll meine Gattin die Verhüllung unterbrechen und prüfen, ob jemand darin steht oder nicht?"
"Entschuldigung, aber das Recht kann und werde ich Ihnen nicht einräumen, auch wenn Sie beide sich nachweislich um die US-amerikanische Zaubererwelt verdient gemacht haben."
"Gut, dann werden wir wieder gehen und dem Herold und dem Westwind mitteilen, dass Sie vor Vita Magica kapituliert haben, indem Sie dieser Bande einen Erfolg zuerkennen, den Erfolg, einen amtierenden Zaubereiminister unwiederbringlich entmachtet zu haben, ohne ihn dafür gefangennehmen oder töten zu müssen. Dass diese Untäter dadurch die Idee entwickeln werden, dass sie so jeden ihren Interessen zu wider handelnden Zaubereiminister beseitigen können verstehen Sie sicherlich."
"Was soll das heißen, Mr. Greendale? Wollen Sie mir etwa drohen? Das verbitte ich mir entschieden", erwiderte Sandhearst.
"Erst möchte der wackere Mr. Middleton aus der Ecke hervortreten. Sonst ist unser Gespräch wirklich schon beendet", sagte Mrs. Greendale und erhielt ein zustimmendes Nicken ihres Mannes. Sandhearst spielte mit dem Gedanken, weiterhin vorzugeben, ganz allein mit den Besuchern zu sein. Doch dann erkannte er, dass er damit eine Dummheit begehen würde. Denn die Entschlossenheit der alteherwürdigen Eheleute warnte ihn, sie nicht zu verärgern und damit womöglich einen weiteren Schwarm wilder Wichtel auf die Dächer zu jagen.
Als Middleton auf Sandhearsts Winken aus der Ecke hervorkam und somit wieder für alle sichtbar wurde begrüßte dieser die beiden Besucher. Dann durfte er sich auch auf einen Besucherstuhl setzen. Daraufhin kam Anaximander Greendale gleich auf den Grund seines Besuches.
"Wir möchten, dass Sie Milton Cartridge trotz des nicht mehr umzukehrenden Infanticorpore-Fluches alle Vollmachten als Zaubereiminister zurückgeben und seiner Gattin Godiva schriftlich zusichern, sie nicht wegen möglicher oder klar erwiesener Gesetzesbrüche zu belangen."
"Ihnen ist klar, dass Milton Cartridge wegen erwähntem Fluch gerade nicht fähig ist, sich so zu bewegen und sprachlich zu verständigen wie vor der Verwandlung. Er kann also unmöglich alle Amtsgeschäfte tätigen. Wieso kommen Sie also darauf, dass ich ihm damit einen Gefallen erweise, wenn ich ihm alle Vollmachten zurückerstatte?" fragte Sandhearst.
"Weil er weiterhin im Vollbesitz seiner geistigen Fähigkeiten ist und sich mit Hilfe des grandiosen Dexter-Cogisons worthaft verständigen kann. Gemäß der von seinem Vorgänger Davenport mitbeschlossenen Ergänzung zum Befund magisch bedingter Arbeitsfähigkeit kann er somit weiterhin seiner Tätigkeit nachkommen. Deshalb legen wir Ihnen dringend nahe, ihn im vollen Umfang für Arbeitsfähig und in sein Amt wiedereinberufen zu erklären. Damit und nur so wird der von Vita Magica beanspruchte Erfolg nichtig, das Zaubereiministerium als von Anschlägen unbeeindruckt dargestellt und somit die Versuchung, durch ähnliche Taten weitere Erfolge zu erreichen auf eine geringe, durch erweiterte Sicherheitsmaßnahmen beherrschbare Wahrscheinlichkeit gemindert", führte Anaximander Greendale aus.
"Welche Nachfolgetaten?" wollte Sandhearst wissen. Sein Sicherheitsberater nickte beipflichtend.
"Die haben es einmal geschafft, einen amtierenden Zaubereiminister mit dem Infanticorpore-Fluch zu treffen. Sie könnten finden, jeden, der ihnen nicht ins Konzept passt, mit diesem Fluch zu belegen, weil ja dadurch seine oder ihre Entmachtung erreicht wird", erwiderte Mr. Greendale. "Verstehen Sie das gütigst nicht als eine von mir ausgesprochene Drohung, sondern als Hinweis darauf, dass Vita Magica diesen Weg fortsetzen wird, solange er dieser Bande erfolgreich erscheint. Milton Cartridge dient als statuiertes Exempel. Insofern sollten Sie als geschäftsführender Zaubereiminister den Spieß umdrehen und klarstellen, dass es das Exempel des Ministeriums ist, dass ein hoher Ministerialbeamter nicht entmachtet oder zur Ausübung seines oder ihren Berufes für unfähig erklärt wird, sobald er oder sie einem Infanticorpore-Anschlag anheimfällt oder davon auch nur bedroht wird."
"Diese Bande hat versucht, Minister Cartridge zu entführen und wohl unter Anwendung von Gedächtniszaubern um seine Erinnerung zu bringen und dann in ihrem Sinne neu aufwachsen zu lassen. Das konnte nur verhindert werden, weil zu diesem Zeitpunkt jemand vor Ort war, der diesen Angriff wirksam abwehren und die ausführende Täterin in die Flucht schlagen konnte", sagte Sandhearst. Alle ihm zuhörenden nickten bestätigend. Greendale sagte darauf sofort: "Ja, und genau weil dem Ministerium gelang, die Entführung und wahrscheinliche Gedächtnisauslöschung zu vereiteln muss nun mit einem klaren Signal an Vita Magica geantwortet werden: Wir lassen uns von euch nicht einschüchtern oder gar in unserer Arbeit behindern. Sie haben gerade alle Vollmachten. Sie können dieses Signal senden und sich gleichermaßen aus der Zauberstabausrichtung dieser Banditen entfernen, ohne sich vorwerfen lassen zu müssen, aus Angst vor Vita Magica auf Ihr Amt zu verzichten oder sich aus Furcht vor weiteren Anschlägen nur noch in einem sicheren Versteck aufhalten zu können und damit jeden Ihnen nachfolgenden Zaubereiminister zu einem Gefangenen im Namen der Sicherheit degradieren, sowie es Wishbone mit sich selbst tat, als die magische Öffentlichkeit ihm nicht mehr gewogen war. Es war schon schlimm genug, dass Minister Cartridge sich vor den Blutsaugern der Nocturnia-Bewegung verbergen musste. Hierfür brauchte er aber nur auf eine von genug fließendem Wasser umspülte Insel auszuweichen, zu der jeder redliche Zauberer und jede gesetzestreue Hexe Zutritt hatte. Wenn Sie jetzt gegenüber Vita Magica einknicken und diesen Schurken zugestehen, einen Erfolg erzielt zu haben, dürfen Sie sich nur noch in einem sicheren Haus oder besser einem ständig den Standort wechselnden magischen Fahrzeug aufhalten, ohne weiterhin von Zaubererweltbürgern erreicht werden zu können. Wenn Sie aber hingehen und Milton Cartridge wieder für amtsfähig erklären ist dies das Signal an Vita Magica, dass das US-Zaubereiministerium weiterhin keine Angst vor seinen Feinden zeigt und sich auch durch solche Anschläge nicht entmutigen oder zerstören lässt."
"Wieso, wenn ich fragen darf, bringen ausgerechnet Sie diesen Vorschlag vor?" wollte Sandhearst wissen.
"Aus drei Gründen. Ich will nicht, dass der Vater von drei unserer Urenkel alle seine im Leben erarbeiteten gesellschaftlichen und stofflichen Vermögenswerte aberkannt bekommt und als irgendein angebliches Findelkind bei einer berufsmäßigen Amme wieder aufwachsen muss, bis er noch mal in Thorntails um akademische Erfolge ringen muss und womöglich jede Verbindung zu seiner Familie abgesprochen bekommt. Zweitens möchten wir, dass er weiterhin mit seiner Gattin zusammenleben kann, ohne dass ihnen gesetzliche Verordnungen oder gar Strafverfahren drohen. Drittens legen wir von unserer Seite her großen Wert darauf, dass die Rangstellung unserer Familie nicht in Frage gestellt wird, was unweigerlich der Fall wäre, wenn jemand aus unserer Familie langfristig von allen Ämtern und Verdienstmöglichkeiten ausgeschlossen werden kann, nur weil so eine Gruppierung, die meint, die Zahl magischer Menschen künstlich nach oben zu treiben, dies für geboten erachtet. Dass wir damit auch den Ruf und die Vormachtstellung des Zaubereiministeriums bewahren können ist ein höchst willkommener Zugewinn und erfüllt uns obendrein mit der Gewissheit, unseren Beitrag als anständige Bürger der nordamerikanischen Zauberergemeinschaft geleistet zu haben, dass unsere Welt nicht von Verbrechern wie Vita Magica, den Sardonianerinnen oder anderen kruden Vereinigungen beherrscht wird. Denn, das habe ich nicht erwähnt, weil ich Ihre Intelligenz für hoch genug halte, dies von sich aus zu erkennen: In dem Moment, wo Sie einräumen, dass Minister Milton Cartridge nicht mehr existiert, wird Vita Magica dies als wichtigen Schritt auf dem Weg zur erst heimlichen und dann offenen Herrschaft über die Zaubererwelt auslegen und entsprechend danach handeln."
"Ich wertschätze Ihre Ehrlichkeit, einzuräumen, dass Sie vordringlich aus familiären Gründen bei mir vorsprechen, Mr. Greendale. Doch kann ich nicht einfach die bestehenden Gesetze außer Kraft setzen und bestehende, ja vernünftige Entscheidungen missachten, die die Arbeits- und damit auch Amtsfähigkeit eines magischen Menschen betreffen. Ich verweise hier gerne auf den Fall Silverbell, Jessica, die im Besenkontrollamt gearbeitet hat, bis sie im Zuge unerlaubter Selbstverwandlungsexperimente zu einer weißen Langhornkuh wurde, aber ihr menschliches Gedächtnis behielt. Die konnte ja auch nicht weiter in einem Büro arbeiten", brachte Sandhearst ein Gegenargument an.
"Weil es damals noch kein Cogison gab", erwiderte Adelaide Greendale mit einem merkwürdig amüsierten Lächeln. "So blieb ihr nur, das Leben einer gewöhnlichen Langhornkuh zu führen, konnte aber zumindest ihren Hütern das Versprechen abringen, außer ihrer Milch und der ihrer Töchter und Enkeltöchter sowie der anfallenden Fladen keine Erzeugnisse von ihr zu gewinnen. Wahrscheinlich haben Sie heute Morgen zum Frühstück ein Brot mit Silverbell-Butter genossen oder den Silverbell-Frischkäse."
"Öhm, Sie gehen also davon aus, dass Ihr Schwiegerenkel Milton Cartridge seine Amtsgeschäfte trotz der im Moment unbestreitbaren Beschränkungen ausüben kann. Dann verstehe ich Sie auch richtig, dass seine Frau ihn als offizielle Ernährerin und Fürsorgerin betreuen darf, was auch heißt, dass sie während der Arbeitsstunden mit ihm zusammen in diesem Büro sitzt, um ihm die für einen Säugling nötigen Zuwendungen geben zu können. Oder soll ich dafür eine der berufsmäßigen Ammen aus dem HPK anwerben und ihr die Kenntnisberechtigung bis zur Stufe S0 gewähren?" fragte der kommissarische Zaubereiminister.
"Sagen wir es so, es wäre für Sie und das Ministerium keine zeit- und personalaufwendige Umstellung, wenn Sie Mrs. Cartridge diese Vollmachten und Aufgaben zuweisen", erwiderte Anaximander Greendale. Seine Frau nickte zustimmend. Middleton sah die beiden kritisch an, bekam dafür aber einen tadelnden Blick der Hexe im Rüschenkleid zur Antwort.
"Und was werden Sie unternehmen, wenn ich Ihre Anregung oder besser Ihre Forderung nicht befolge, ja Sie beide sogar wegen versuchter unrechtmäßiger Einflussnahme zu belangen?" fragte Sandhearst.
"Wir werden meiner Enkeltochter nahelegen, in dem sicheren Versteck zu bleiben, in dem sie gerade mit Milton und unseren Urenkeln untergebracht ist und im Falle einer Gerichtsverhandlung gegen uns oder gegen unsere Enkeltochter vorbringen, dass Sie womöglich mit Vita Magica kolaborieren, um deren Ansprechpartner und Erfüllungsgehilfe im Zaubereiministerium zu sein. Welche Schlüsse daraus gezogen werden können Sie sich sicher ausmalen."
"Das ist aber jetzt eindeutig eine Drohung von Ihnen persönlich, Mister", knurrte Sandhearst. Middleton nickte heftig und formte lautlos das Wort "Erpressung" mit den Lippen. Dann sagte Adelaide Greendale:
"In jedem Fall würde Vita Magica als heimlicher Sieger aus diesem Verfahren hervorgehen, unabhängig davon, wie Sie oder wir es überstehen. Denn die Saat des Misstrauens und gegenseitiger Beschuldigungen dürfte dann ganz im Sinne dieser Bande aufgehen. Sie warten dann in Ruhe in ihrem geheimen Hauptquartier ab, welche Früchte diese Saat trägt und wann sie ernten dürfen. Ich erinnere Sie gerne daran, was in Frankreich passiert ist. Da hat auch eine heimliche Interessengruppe versucht, durch die Destabilisierung des dortigen Zaubereiministeriums und die Positionierung eines ihr zuarbeitenden Amtsträgers Einfluss auf die magische Gesellschaft zu gewinnen und wollte sich als Erretterin der geordneten Zaubererwelt darstellen, die als einzige die magische Welt von einem Irrweg herunterführen und gegen alle äußeren Anfeindungen erstarken könne."
"Wir sind hier nicht in Frankreich, nicht mal in Europa. Was die da drüben für hausgemachte Schwierigkeiten haben betrifft uns hier in den Staaten nur dann, wenn die mal wieder meinen, ihre ungelösten Probleme auf uns abwälzen zu müssen oder der immer noch grassierenden Fehleinschätzung folgen, sie hätten uns vorzuschreiben, wie wir in der magischen Weltordnung zu agieren haben. Somit war das jetzt kein gut gewähltes Beispiel, Mrs. Greendale", stieß Randolph Sandhearst aus.
"Ach, dann befürworten Sie die Ansicht von Ex-Zaubereiminister Wishbone, der meinte, dass wir Amerikaner uns aus dem Rest der Welt herauszuhalten haben?" fragte Mr. Greendale. "Was soll ich denn da sagen, wo meine Urururgroßmutter beinahe als eine der wenigen echten Hexen in den paranoiden Prozessen in und um Salem verfolgt wurde und im Zuge dieser Verfolgungen die Europäer meinten, alle Hexen und Zauberer aus Amerika zurückrufen zu müssen? Aber wir mussten alle lernen, dass Wishbones Ansichten zu kurz greifen und zudem genau das Gegenteil von dem erreicht haben, was er wollte, nämlich dass die Feinde der gesetzestreuen Zaubererwelt beinahe die Oberhand bekommen hätten, hier und in Europa. Aber wir verstricken uns in geschichtlichen Rückschauen. Wie werden Sie über unseren Vorschlag befinden, Herr geschäftsführender Zaubereiminister?"
"Dass ich alle Argumente dafür und dagegen prüfen werde, bevor ich eine endgültige und rechtskräftige Entscheidung treffe", sagte Sandhearst. "Solange sehe ich von einer Strafverfolgung gegen Mrs. Godiva Cartridge ab, allein schon, um die drei unschuldigen Kinder von Minister Cartridge nicht vorzeitig zu belasten."
"Sie haben bis zum 27. Oktober Zeit. Dann tagt der alljährliche Familienrat anlässlich des Geburtstages unseres Stammvaters Bercelius Greendale, um zu erörtern, wie wir als Privatpersonen mit dem Angriff auf einen unserer Verwandten umgehen werden", sagte Anaximander Greendale. "Sicher würden Sie dabei wesentlich besser wegkommen, wenn meine Enkeltochter Godiva diesem Rat als von jeder bestehenden Strafverfolgung freigesprochene Hexe teilnehmen darf. Haben Sie noch einen schönen Tag!"
"Moment, ich lasse mir garantiert kein Ultimatum auferlegen, Sir. Bei allem soeben noch verbleibenden Respekt vor Ihnen, so springt niemand mit mir um. Sie warten gütigst auf meine Entscheidung, wann und wie sie auch immer ausfallen wird! Ansonsten muss ich Ihnen vorhalten, dass Sie versuchen, mich durch Einschüchterung zu Ihnen genehmen Handlungen zu drängen, was gerade nach vielen Vorfällen der letzten Zeit nicht ungeahndet bleiben darf. Also verzichten Sie gefälligst auf das Ultimatum! Haben Sie auch einen schönen Tag, Madam und Sir!"
"Wir sind zuversichtlich, bald von Ihnen zu hören", sagte Anaximander Greendale und winkte seiner Frau, die sich unverzüglich aus dem bequemen Sessel erhob. Dann stand er auch auf und wandte sich der Tür zu. Clay Middleton blickte seinen Vorgesetzten fragend an und deutete auf seinen Umhang. Sandhearst wusste nicht, was sein Sicherheitsberater vorhatte. Erst als dieser mit vielfach geübtem Griff seinen Zauberstab freizog und auf den alten Greendale ausrichtete kapierte er, dass Middleton wohl einen Zauber auf den Patriarchen der Greendales legen wollte. Doch da wirbelte dessen Frau herum und schrillte mit Harpyiengleicher Stimme: "Wagen Sie es nicht! Weg mit dem Stab!" Da drehte sich Anaximander Greendale noch einmal um und sah Clay Middleton an, dessen Zauberstabhand merklich zitterte.
"Wollten Sie mir und meiner Gattin was übles aufhalsen, Clay? Das wäre Ihnen nicht gut bekommen. Ich habe schon genug hinterhältige Angriffe überstanden. Diejenigen, die sie ausführten überstanden meine Vergeltung nicht so glücklich. Fangen Sie ja keinen Streit mit mir an! Dann würden Sie sich wünschen, Sie seien an Stelle meines Schwiegerenkels zum Säugling zurückverwandelt worden. Noch mal einen schönen Tag Ihnen beiden!" Nachdem er das gesagt hatte öffnete er die Tür, Middleton immer noch genau betrachtend. Dann ließ er seine Frau an sich vorbei nach draußen und folgte ihr aus dem Büro.
"Wohl vom wilden Wichtel gebissen, was, Mr. Middleton?!" bellte Sandhearst wie eine wütende Dogge. "Was glauben Sie, was passiert wäre, wenn Sie was auch immer gezaubert hätten?"
"Im besten Fall, dass diese Erpresser sich nicht an ihre Idee erinnern konnnten. Schlimmstenfalls hätte ich behauptet, in begründeter Notwehr und mir auferlegten Beistandsverpflichtung Ihnen gegenüber gehandelt zu haben, da die beiden Sie direkt bedroht haben", zischte Middleton und schob seinen Zauberstab zurück in die schmale Außentasche seines Umhangs.
"Die beiden sind trotz oder vielleicht auch wegen ihres hohen Alters sehr begabte Zauberkundige. Sie hätten nur einen von ihnen treffen können. Je komplizierter der Zauber von Ihnen gewesen wäre, desto mehr Zeit hätte der andere bekommen, einen Gegenschlag auszuführen. Sie sind leider nicht von den Schutzzaubern gegen Angriffe auf den amtierenden Zaubereiminister abgesichert, und solange ich nur kommissarischer Zaubereiminister bin fürchte ich, dass auch ich nicht durch die Sicherheitszauber abgeschirmt bin", knurrte Sandhearst. Middleton nickte verdrossen. Dann schnitt er ein anderes Thema an.
""Woher wusste diese Rüschenlady, dass ich in der Ecke stand. Die hat ganz genau auf mich gezeigt, als hätte die mich gesehen", zischte Middleton.
"Sie haben die Begründung doch gehört. Die haben schon draußen gewartet, und Sie haben nun einmal den offiziellen Eingang benutzt statt die Hintertür."
"Vielleicht hätten Sie mich dann besser gleich durch die Hintertür wieder rausschicken sollen", grummelte Middleton.
"Nein, ganz und gar nicht. Ich wollte einen Zeugen bei der Unterredung haben. Das ist ja auch gelungen, auch wenn ich es lieber gehabt hätte, dass die zwei nicht gewusst hätten, dass ich nicht allein war", grummelte Sandhearst immer noch sehr verärgert. "Aber Sie sind wohl wirklich vom wilden Wichtel gebissen, sich mit den Oberhäuptern der Greendale-Sippe anzulegen. Sie wollten den Obleviatus-Zauber ausführen? Der dauert bei gründlicher Ausübung fünf Sekunden. In der Zeit hätte der gerade nicht betroffene Ehepartner zweimal "Avada Kedavra" oder fünfmal "Crucio" rufen können", zischte der Minister.
"Ist jetzt nicht mehr von Belang", fauchte Middleton. "Sein rosarot berüschtes Eheweib hat das ja erfolgreich vereitelt."
"Tja, woher die auch immer die Eingebung hatte, noch mal nach hinten zu gucken. Dabei hat die gar nicht mal den Kopf gedreht", feixte Middletons Vorgesetzter.
"Eben, genau das wollte ich ja ansprechen, wie die das mitbekommt, was nicht zu sehen ist", versuchte Middleton, sein Tun zu rechtfertigen. Darauf bekam er keine Antwort. Drei volle Sekunden blickten sich beide Zauberer verdrossen an.
"Wo Sie es sagen, Middleton", raunte Sandhearst. Dann sagte er laut und entschlossen: "Ich prüfe die Auswirkungen der verschiedenen Möglichkeiten nach, die meine Entscheidung haben werden."
"Sie wollen doch nicht etwa auf diese Erpressung eingehen, Herr Minister. Dann könnten die doch glatt herumreichen, dass Sie die eigentliche Kraft im Zaubereiministerium sind. Dann können Sie ja wirklich gleich den zum Windelwichtel zurückgefluchten Milton Cartridge wieder einsetzen. Dass der dann ganz offiziell im Sinne seiner Schwiegerverwandtschaft handelt muss dann nicht mehr betont werden", hielt Middleton seinem Vorgesetzten vor.
"Ich habe nur gesagt, ich prüfe alle dafür und dagegensprechenden Argumente für eine Wiedereinsetzung von Milton Cartridge trotz seiner nun nicht mehr umzukehrenden körperlichen Einschränkungen", fauchte Sandhearst wie ein gereizter Straßenkater. "Falls Sie finden, ich sollte diesem - Ansinnen - keinesfalls stattgeben, so haben Sie hiermit die Genehmigung, alle gegen dieses sprechenden Gründe und Tatsachen zusammenzutragen und in einer nötigenfalls vor Gericht ordentlich ausführbaren Ordnung bereitzustellen. Ich werde derweil alle Präzedenzfälle prüfen, wo einem im Dienst verletzten oder mit einem dauerhaften Fluch belegten Ministerialbeamten das Weiterarbeiten mit oder ohne Beschränkungen gestattet wurde. Bis zum siebenundzwanzigsten sind es noch vierzehn Tage."
"Vielleicht sollten wir unter der Begründung des Erpressungsversuches gegen Sie und mit der Begründung Gefahr im Verzug die Zusammenkunft der Greendale-Sippe nutzen, um alle Clanmitglieder festzunehmen. Ich finde sicher genug Hinweise auf eine Verschwörung gegen das Zaubereiministerium und gegebenenfalls eine Kolaboration mit Vita Magica. Dabei wird mir auch helfen, dass Milton Cartridge mit der Sardonianerin, die sich als Anthelias Wiedergeburt ausgegeben hat, paktiert hat und es wieder tun wollte. Am Ende hat er das nicht freiwillig getan, sondern auf direkten Druck oder Zuerkennung besonderer Zuwendungen seitens seiner Schwiegerverwandtschaft", sagte Middleton. Seinen Mund umspielte ein verwegenes Lächeln, als denke er an einen Trumpf, den er jederzeit ausspielen konnte. Sandhearst entging dieses verwegene Lächeln nicht. Deshalb fragte er:
"Haben Sie etwaa schon was in der Hand, um die Angelegenheit zu unseren Gunsten zu beenden, Clay?"
"Dazu möchte ich erst was sagen, wenn alle anderen Mittel erschöpft sind, Sir", sagte Middleton.
"Nichts für ungut, Middleton, dass Sie mein Sicherheitsberater sind verdanken Sie dem Umstand, dass ich Ihre beachtlichen Fähigkeiten in Zauberkunst, Zaubereigeschichte und Abwehr dunkler Künste wertschätze und ich neben einem guten Leibwächter auch einen mit zaubereigeschichtlichen Gegebenheiten vertrauten Berater an meiner Seite haben wollte. Sie sollten daran denken, nichts zu tun, was mein hohes Vertrauen in Ihre Zuverlässigkeit erschüttert. Wenn Sie was haben, was die neue Lage zu einem für uns erfreulichen Abschluss bringt, wäre es sehr von Vorteil, mich in Ihre Vorhaben einzuweihen. Falls es nötig sein sollte, kann ich Ihnen dann sogar Sondervollmachten oder personelle Unterstützung zuerkennen."
"Ich muss erst prüfen, ob das, was mir gerade durch den Kopf ging, nicht zu einem nach hinten losgehenden Zauberstab wird, Herr Minister", erwiderte Middleton, nun nicht mehr so überlegen dreinschauend wie einige Sekunden vorher.
"Dann schlage ich vor, Sie gehen jetzt die Aufgabe an, die ich Ihnen zugewiesen habe", entgegnete Sandhearst.
"Wie Sie wünschen, Herr Zaubereiminister", sagte Middleton entschlossen. Dann verließ er das Büro. Zurück blieb ein mit sich selbst ringender Randolph Sandhearst. Einerseits wollte er keine offene oder heimliche Fehde mit den Greendales vom Zaun brechen. Andererseits wollte er sich auch nicht erpressen lassen, weder von den Greendales, noch von den Southerlands, noch von den Sardonianer-Schwestern oder gar von Vita Magica. Falls er es schaffte, jeden Angriffs- und Beeinflussungsversuch zurückzuschlagen, so konnte er ebenfalls die Botschaft verbreiten, dass sich der amtierende Zaubereiminister nicht ins lodernde Drachenmaul treiben ließ und dass jeder magische Angriff auf Ministerialbeamte das Ministerium an sich nur stärker machte und somit sinnlos war. Aber reichten dafür die vierzehn Tage bis zum 27. Oktober aus?
Das hellgrüne Haus stand allein auf einem kleinen Hügel weit genug von St.-Denis weg. Als der junge Mann mit der samtbraunen Haut und mit einem luftigen hellen Tropenanzug bekleidet den Hügel hinaufkam blickte ein anderer kreolischstämmiger Mann aus einem Fenster. "Monsieur, wir krie'n Besuch", sprach der Kreole in ein kleines Becherglas. Aus diesem klang es leise und sphärenhaft singend zurück:
"Ein Europäer oder einer von deiner Rasse, Fornac?"
"Ein Halbkind, wohl 'n Altweltableger", grummelte der Kreole.
"Wenn er klingelt frag, was er will. Frag ihn in eurer Sprache!" klang es leise aus dem Sprechglas zurück. "Geht klar, Monsieur", bestätigte der Kreole.
Gérard Dumas, der sich endlich an einem wichtigen Etappenziel wähnte, hatte sich in der Nacht zum 12. Oktober in einer kleinen Stadt auf Mauritius in ein Haus geschlichen und einem halbkreolischen jungen Mann genug Haare abgepflückt, um damit einen vollen Tag lang in dessen Erscheinungsform herumzulaufen. Dass er einen Vorrat Vielsaft-Trank hatte wusste außer ihm keiner.
Durch einige in verschiedenen Gestalten angestellte Befragungen hatte er herausbekommen, dass ein wichtiger Bestandteil des Regenbogentänzercocktails aus dem Fleisch ausgereifter aber noch ungeschlüpfter Küken des tropischen Sternensängers Sidericantus argyropteros gewonnen wurde. Doch wo genau diese Eier gefunden wurden und wer sie sich aneignete wusste er nicht. Er hatte bei seinen drei letzten Befragungen auch den Gedächtniszauber verwendet, um die Befragten nicht mehr daran denken zu lassen, dass jemand sich nach diesem Vogel erkundigt hatte. Gérard wusste, dass er auf einer hauchdünnen Schnur über einem tiefen Abgrund balancierte. Wurde er bei einer solchen Aktion erwischt konnte das teuer werden. Und jetzt stand er vor dem hellgrünen Haus von einem gewissen Louis Troisfonts, der als Experte für den Sternensänger galt. Der wusste sicher, wo unbewachte Brutplätze dieses seltenen Vogels lagen.
Gérard zog an einer dünnen Glockenschnur rechts von der Haustür. Eine halbe Minute später klappte ein rundes Sichtfenster in der Tür auf, und ein Mann, der mehr Eingeborenenanteile in der Ahnenlinie hatte als der, dessen Erscheinung Gérard gerade benutzte, sah ihn an. Dann hörte er die Frage: "Was suchst du hier?" Er war froh, dass Vielsaft- und Wechselzungentrank sich nicht gegenseitig störten. Denn das war eindeutig eine Sprache, die Gérard nicht gelernt hatte. Doch mit dem praktischen Sprachlerntrank im Körper antwortete er: "Ich suche den Herrn Troisfonts wegen einer Geschichte für den Manteau Volant. Ich heiße Pierre Devalon."
"Ich sage meinem Herren, dass du da bist", erwiderte der reinrassige Kreole hinter der Tür. Das Guckfenster wurde wieder verschlossen. Gérard alias Pierre Devalon wartete eine Minute. Dann tauchte das Gesicht wieder im Fenster auf. "Du darfst reinkommen. Der Herr spricht aber nur die Sprache der Weißen", sagte der hinter der Tür. Gérard machte die hier übliche Bejahungsgeste und wartete, bis die Tür ganz geöffnet wurde.
Als er die Türschwelle überschritt war ihm, als flute ein Hitzeschauer von den Füßen durch den ganzen Körper bis rauf in den Kopf, wo er ein kurzes Pochen fühlte. Dann war diese Empfindung auch schon verklungen. Dafür sah er nun, dass er und der Kreole, der eine weiße Dienstbotenkleidung der Muggelwelt trug, in einer kathedralengroßen Empfangshalle standen, in der mächtige, aus sich selbst im warmen Gelb leuchtende Säulen wie steinerne Baumstämme eine mehr als zwanzig Meter hohe Gewölbedecke trugen. Der Boden schien aus blankem, weißen Marmor zu bestehen. Gérard dachte nun, in einen Rauminhaltsvergrößerungszauber hineingeraten zu sein, was vielleicht den Hitzeschauer erklärte. Am anderen Ende des breiten Hauptganges sah er ein zweiflügeliges Tor, dass aus meterlangen Bambusrohren bestand und in acht silbernen Angeln hing. Mit einer einfachen Handbewegung ohne Zauberstab machte der Diener, dass das Tor nach außen aufschwang und ihnen den Weg in einen schwach beleuchteten Flur freigab. Gérard warf kurz einen Blick zurück und sah, dass da, wo die Haustür sein sollte, ein ebensomächtiges Tor aus Ebenholz mit Silberbeschlägen aufragte. Also auch ein Illusionszauber, dachte der Besucher, der unter falscher Identität zum Fürsten der magischen Vogelkunde vordringen wollte.
-Als sie durch das offene Bambustor traten fühlte Gérard einen Kälteschauer von den Füßen bis in den Kopf, wo es schon schmerzhaft piekte, als wolle ihm wer eine Nadel vom Gehirn aus durch die Schädeldecke nach außen bohren. Doch wie die Empfindung anflog so verflog sie in dem Moment, als er mit beiden Füßen über die Schwelle getreten war. Hinter ihm fielen die Torflügel zu. Doch als das Passiert war konnte er nur noch eine schlichte Holztür mit Klinke und Schlüsselloch erkennen. Gérard fragte sich, wozu diese Schau gut sein sollte. Doch dann konzentrierte er sich auf den weiteren Weg.
Anders als die Halle war der Weg durch den Flur und eine sich rechtwinklig nach oben windende Treppe hinauf ins einzige Obergeschoss, wie es in vielen anderen kleinen Häusern war. Erst als sie im Salon eintrafen wurde es wieder magisch auftrumpfend. Denn der Salon war eine große, scheinbar mit echtem Gras bepflanzte Halle mit meterhohen Fenstern, durch die das Sonnenlicht ungehindert eindrang. Darüber hinaus standen in der Halle an die zwanzig Bäume, und in jedem davon zwitscherte, krächzte oder flötete es munter. Gérard konnte tatsächlich einen bunten Papagei sehen, der von einem Wipfel zum nächsten überwechselte. Dann hörte er doch wahrhaftig einen ausgewachsenen Kuckuck, der in einer anderen Ecke der Halle rief. In der Mitte der übergroßen Halle stand ein steinerner Tisch mit drei Seiten auf einem runden Fuß. An dem saß ein Zauberer mit nackenlangen schwarzen Haaren und deutlichen Geheimratsecken an den Schläfen. Er trug einen Sonnengelben Umhang, der seinen ausladenden Bauch gerade so gut umhüllte und blickte dem Besucher durch eine silberrandige Brille mit Halbmondgläsern an. Die augen des reinrassig europäischen Zauberers waren hellblau.
"Monsieur Troisfonts, das ist der Besucher Pierre Devalon vom fliegenden Mantel. Monsieur Devalon, dies ist Monsieur Troisfonts, mein Dienstherr", sagte der Kreole nun in bestem Französisch, wobei er jedoch die Sprachmelodie seiner Heimat durchhören ließ. Gérard nickte dem Hausherren zu. Der deutete auf seinen gemütlichen schwarzen Ohrensessel und befahl seinem Diener: "Fornac, beschaffe dem Gast auch einen Sessel!" Der Diener nickte und zog einen fünf Zoll langen Zauberstab aus seiner unbefleckten weißen Livrée hervor. Damit apportierte er einen weißen Ohrensessel. Zwar traute Gérard Möbelstücken in Zaubererhäusern nur dann, wenn er die Leute kannte. Doch er durfte den Gastgeber nicht verärgern. So setzte er sich in den weichen Sessel. Beinahe meinte er, darin zu versinken und vollkommen von diesem eingeschlossen zu werden. Doch dann merkte er, dass er nicht von dem Sessel einverleibt wurde.
"Ich kenne einige Leute vom Manteau, junger Monsieur. Aber das jetzt auch Bewohner dieser herrlichen Inseln dazugehören ist mir neu", sagte der Zauberer im gelben Umhang. Auf diese Bemerkung hatte sich Gérard bereits vorbereitet. Er erwähnte, dass die Redaktion französische Überseegebiete im Indischen Ozean Wert auf ortskundige und bei der Bevölkerung bekannte Leute legte. Er erwähnte in dem Zusammenhang die korrekten Namen der zuständigen Redakteure. Die kannte er aus Artikelsammlungen, die er vor seiner Reise gelesen hatte, um sich auf Land und Leute vorzubereiten. So wunderte es ihn auch nicht, dass Troisfonts noch weitere Namen hören wollte. Aber damit konnte Gérard auch dienen, weil er über Robert Dornier auch die Leute kannte, die nicht unter den Artikeln als verantwortliche Redakteure geschrieben wurden. Jetzt war Troisfonts offenbar beruhigt. So konnte Gérard seine Befragung angehen, wozu er auch einen großen Notizblock und eine Flotte-Schreibefeder hervorholte. Es ging um die einheimischen Zaubertiere und da vor allem den bis zum indischen Subkontinent vorkommenden Sternensänger, der wegen seiner Flugkünste auch Silberschnatzer genannt wurde. Er erwähnte, dass er erfahren hatte, dass die Bestände auf den Inseln zurückgingen und auf dem indischen Subkontinent bedenklich geschrumpft seien, zumindest dort, wo regelmäßige Zählungen vorgenommen wurden. Troisfonts seufzte und begann eine mehr als fünf Minuten andauernde Tirade über immer häufiger entdeckte Nestplünderungen. Jemand stehle offenbar den Vögeln, die handtellergroß waren und über ein wie reines Silber glänzendes Gefider hatten die Eier, die in den Nachtstunden vom Mondlicht bestrahlt wurden, während die Elternvögel für sich nach Futter suchten. "Wer immer das tut ist sehr gierig. Auch wenn Lunapica noctivolans fünf Gelege von ein bis sechs Eiern im Jahr haben kann ist das schon bedenklich, wie viele Eier unausgebrütet bleiben. Früher haben Wilderer erwachsene Tiere mit Silberfadennetzen eingefangen und lebendig gerupft, weil die beim Tod sofort zu graublauem Staub zerfallen. Aber offenbar reichen denen die Federn von denen nicht. Jetzt stehlen sie auch die unausgebrüteten Eier der wildlebenden Vögel."
"Lunapica noctivolans? Ich habe gelernt, dass der magizoologische Name des Sternensängers Sidericantor argyropteros sein soll", wandte Gérard ein. Troisfonts nickte und blickte ihn abbittend an. "Ups! Da habe ich doch glatt den indischen Mondspecht mit dem Sternensänger verwechselt. Ui ui ui, das darf einem altgedienten Zaubervogelkundler nicht unterkommen. Natürlich heißt der Sternensänger oder Silberschnatzer Sidericantor argyropteros, weil er in sternenklaren Nächten Lieder singt, bei denen jede Nachtigall vor Verzweiflung gegen den nächsten Baum fliegen und jeder brasilianische Uirapuru sich vor Wut die Federn ausrupfen würde, weil die beiden nonmagischen Vögel gesangstechnisch nicht mit dem Sternensänger mithalten können. Aber ich schweife ab. Ich wollte eigentlich sagen, dass gerade durch die hohen Fortpflanzungsraten ein drastischer Rückgang der Bestände auf den Inseln alarmierend und bezeichnend ist."
"Wieso haben die eine so hohe Fortpflanzungsrate?" fragte Gérard unbeeindruckt von den erwähnten Eierdiebstählen.
"Das liegt daran, dass sie eben nachtaktiv sind und am Tag unaufweckbar schlafen, was sie zur leichten Beute von Goldbauchschlangen, Rotmaulfröschen und nonmagischen Echsen werdenlässt. Nur wer außerhalb der Reichweite dieser Feinde schläft erlebt die nächste Nacht und die nächste und so weiter", erwähnte der Hausherr. Gérard wollte nun wissen, ob die Nester der Vögel nicht von den haupt- und ehrenamtlichen Wildhütern bewacht oder fernbeobachtet werden könnten.
"In den kleineren Reservaten ging das solange, bis jemand es angestellt hat, die Wildhüter mit Schlafzaubern oder Schlafgas aus sicherer Entfernung zu betäuben. Danach waren die Nester entweder völlig leergeräumt oder zumindest um die Hälfte der gezählten Eier beraubt. Wer immer das macht muss ein sehr fundamentales Interesse an zwei Wochen bebrüteten Sternensängereiern haben."
Gérard hörte die Worte und dachte, dass dies garantiert so war. Denn der Grund, warum er jetzt hier war lag daran, dasss er diese Behauptung im unabhörbaren Hinterzimmer des Palmenhauses gehört hatte, als er mit zwei abenteuerlustigen Zauberern aus den Staaten über den Regenbogentänzer gesprochen hatte. Die für Vögel hohe Fortpflanzungsrate wurde wohl von jemanden ausgenutzt, der Teile oder ganze ungeschlüpfte Küken dieser Vögel benutzte, um ebenfalls Tränke für höhere Fortpflanzungsraten zu mischen. Er hoffte, von Troisfonts eine Erlaubnis zu erhalten, in einem der Wildreservate in Lauerstellung gehen zu dürfen, um den Nesträubern auf die Schliche zu kommen, vielleicht einen von denen im Rahmen der eingeschrenkten Bürgermithilfestatuten der Strafgesetze festnehmen und dem Stellvertreter der neuen Zaubereiministerin vorführen zu können.
"Es gib Leute, die meinen, die Embryonen von Sidericantor A. seien Potenz oder Empfängnisfördernd, eben wegen der hohen Fortpflanzungsrate. In China glauben die Muggel das ja auch von Nashornpulver oder den Geschlechtsteilen männlicher Tiger. Kann sein, dass irgendwer aus China oder Japan deshalb zum Raub von Eiern geblasen hat. Aber wenn die so weitermachen gibt es bald keine Wildbestände mehr, und die Tierparks in Indien und hier bei uns müssen zusehen, den Sternensänger zumindest in Gefangenschaft nachzüchten zu können. Für ein Lebewesen, dass auf einen Freien Himmel und eine Naturfläche von fünf Quadratkilometern pro Einzelwesen angewiesen ist wäre das jedoch ein hoffnungslos anmutendes Vorhaben."
"Hmm, und wenn jemand die Vogeleier stiehlt, um sie anderswo fertig auszubrüten, um die Vögel dann mit Rückhalteringen oder sowas in versteckten Freifluggehegen zu halten?" fragte Gérard bewusst herausfordernd. Denn er konnte sich gut vorstellen, dass das Problem auch denen klar war, die die Eier klauten.
"Wo soll das sein. Die Vogeleier brauchen am Tag die Wärme ihrer schlafenden Elternund nachts das ungefiltert auftreffende Mondlicht. Die können nicht in Brutöfen ausgereift werden, es sei denn, jemand macht sich jede klare Mondnacht die Mühe, sämtliche Eier auszulegen wie Murmeln. Aber da klemmt es auch schon, denn dafür müsste es in neun Zehnteln eines Jahres klare Nächte geben. Nein, ich fürchte, jemand will von glühendem Drachenfeuer angetrieben alle angebrüteten Eier rauben, bis keine geschlechtsreifen Tiere mehr da sind. Wen soll es schon kümmern, dass ein magischer und damit für den Großteil der Welt unbekannter und unbeobachtbarer Vogel ausstirbt?"
"Nun, wenn es denen um Gold geht sollte die schon kümmern, ob die sich eine gute Goldquelle für immer verbauen", sagte Gérard auf diese letzte Frage Troisfonts. Dieser nickte nur halbherzig und warf ein, dass eben auch der Wert gestohlener Eier mit dem Rückgang der Bestände steige und die Eier dann mit dem vielfachen Gewicht in Gold aufgewogen werden könnten. Wenigstens seien die Eier seit zehn Jahren zu unverkäuflichen Gütern der Klasse A erklärt worden, versuchte er sich und den Gast zu trösten.
"Unsere Leser wollen wissen, ob es nicht vielleicht eine Krankheit ist, die den Vögeln zusetzt", sagte Gérard. "Es wäre sicher wertvoll für Sie und mich, wenn jemand es hinbekommt, die Eierdibe auf frischer Tat zu fotografieren."
"Bisher haben die alle mit Schlafzaubern erwischt, die ihnen zu nahe kamen."
"Gegen sowas gibt es doch Mittel, wenn damit zu rechnen ist", warf Gérard ein. Troisfonts überlegte kurz und erwiderte dann: "Offenbar nicht gegen das, was die machen. Wachhaltetränke und Kopfblasen und in Kleidung oder Halsketten eingewirkte Abwehrzauber gegen Körper- und Geistbezauberungen haben versagt. Womöglich nutzen die ein Mittel, das andere Wirkungen hat."
"Wie nahe waren die Wildhüter an den Nestern dran?" wollte Gérard alias Pierre Devalon wissen.
"Da in den Reservaten nicht appariert werden kann, gerade um Wilderei zu unterbinden, müssen sie schon so nahe dran sein, dass sie in zehn Besenflugsekunden am Tatort sind. Aber das geschah nicht."
"Dann wird das wohl nichts", seufzte Gérard. "Aber darf ich mir zumindest mal die Gelege bei Tag ansehen, um von Vögeln und Nestern Fotos zu machen?"
"Ich bin nicht der Revierleiter. Aber ich kann Ihnen sagen, dass Fotografen in den Reservaten hier bei Réunion und auf Mauritius unerwünscht sind. Wer die Tiere sehen will muss sie leibhaftig und nur mit eigenen Augen sehen. Deshalb wird das wohl auch nichts", sagte Troisfonts.
"Und wenn ich auf einem Besen fliege?" fragte Gérard.
""Dürften Sie nicht ohne Begleitung in das Reservat. Besenflugzauber werden durch Meldezauber, die bis fünftausend Meter nach oben reichen erfasst. Und wenn Sie zu Fuß in das Reservat gehen könnten sie in Fresswurzler-Fallgruben geraten."
"Dann wundert mich, dass die Diebe nicht durch die Besenflugerfassung aufgespürt wurden", warf Gérard ein.
"Die benutzen wohl Flugtiere. Die sind davon leider unbetroffen, wie wir mittlerweile wissen."
"Tja, sowas habe ich leider nicht. Dann wird das wohl nichts mit meiner Jagd auf die Eierdibe", seufzte Gérard. Troisfonts nickte heftig. So begnügte sich Gérard noch mit Fragen nach der Herkunft und bisherigen Verbreitung des Sternensängers und nach der Unterscheidung von Männchenund Weibchen. Troisfonts erwähnte dann noch, dass der Besucher ja vielleicht bei den Kollegen in Indien Erfolg haben konnte, was sein Vorhaben anging, die Sternensänger im freien Flug zu beobachten und deren Gesang zu hören. "Wäre ja echt schade, wenn Sie zu den vielen armen Leuten gehören müssten, die nie im Leben den Gesang eines den Vollmond ansingenden Silberschnatzers gehört haben. Der kommt nur noch dem Phönix gleich, auch wenn die beiden Vögel so verschieden sind."
"Hmm, weil der Phönix eher dem Feuer von Sonne und Erdkern verbunden ist?" fragte Gérard und vergaß dabei fast die kreolische Sprachmelodie zu benutzen.
"Ui, Sie kennen die Paläomagizoologische Theorie über die Entstehung des Phönix?" wollte Troisfonts wissen. Gérard tat so, als müsse er über den Fachbegriff nachdenken. Dann sagte er:
"Öhm, ich hörte von einem Kollegen aus Europa, dass es bei denen rumerzählt wird, dass Phönixe und Drachen von derselben Magie gemacht wurden. Mehr weiß ich da nich'."
"Wie dem auch sei, ich kann Ihnen ein Empfehlungsschreiben für meinen Kollegen Rhundi Kumari in Kalkutta ausstellen, falls Sie dort die Zaubertierreservate besuchenmöchten. Die Kollegen sind zwar in Alarmstimmung wegen der nun wieder in der Welt herumstreunenden Wertiger ... Aber das darf der Kollege Ihnen dann gerne selbst erklären." Gérard überlegte, ob er darauf eingehen sollte. Dann fiel ihm etwas ein. Er erwähnte einen in Indien forschenden Reporter, der für die amerikanische Zaubererzeitung Stimme des Westwinds arbeitete. Dass der in Indien auf Wildtiersuche war wusste er auch nur, weil diese Gemüsefee Brittany Brocklehurst es bei Julius' letztem Geburtstag Sandrine erzählt hatte. So erwähnte er den Kollegen, ohne ihn mit Namen zu nennen. Troisfonts nickte wieder.
Weil danach nichts mehr über den Sternensänger zu besprechen war und beide noch andere Dinge zu erledigen hatten verabschiedete sich Gérard. Fornac führte ihn wieder durch die überdimensionale Empfangshalle auf die Straße zurück. Er ging einige Schritte auf der Straße entlang bis zu einer nicht so leicht einsehbaren Ecke, bog ab und disapparierte.
Als die Wirkung des Vielsaft-Trankes nachließ war es für Gérard Dumas wie ein in ihm loderndes Feuer. Er fühlte jeden Knocheneinzeln schmerzen. So heftig hatte er das bisher nicht erlebt, wenn die Wirkung des Trankes aufhörte. Er war heilfroh, dass er in einem weit abgelegenen Waldstück war. Denn als es all zu arg wurde fiel er hin und krümmte sich vor Schmerzen. Er schrie seine Pein in den verlassenen Wald hinaus, hilflos und ohne Aufmerksamkeit für seine Umwelt. Nach einer schier endlosen Zeit klang die selbst verursachte Tortur endlich ab. Als Gérard aufstand sah er sich im Taschenspiegel an. Er war wieder er selbst. Er wusste jetzt, wie sich Werwölfe fühlen mochten, die sich erst bei vollem Bewusstsein verwandelten und dann in ihren unbeherrschbaren Jagdrausch verfielen. Hatte er sich den falschen Leihkörper ausgesucht? Der Kreole war kein Zauberer, gerade mal ein Jahr jünger als er und, wie er selbst hatte beobachten müssen, geschlechtlich sehr tätig. Es war nicht einfach gewesen, ihm in der Nacht die Haarbüschel abzutrennen, um den Auslöser für den Vielsaft-Trank zu bekommen. Sollte er sich das noch mal antun, wenn er in das Wildreservat flog, um aus zwei Kilometern Entfernung nach Sternensängernestern zu suchen und zu prüfen, welche Gelege schon alt genug waren, um ungeschlüpfte Küken darin zu finden?
"Ich kann nicht alle Nester überwachen. Am Ende bin ich genau bei dem, dass nicht beklaut wird", dachte er. Doch dafür hatte er ebenfalls Vorsorge getroffen, kleine aber feine Meldesteine, die er in seinem Überseekoffer in der kleinen Pension für durchreisende Hexen und Zauberer aufbewahrte und diebstahlsicher bezaubert hatte.
Er dankte im Geiste noch mal Professeur Faucon und Professeur Bellart für die Unterrichtseinheiten zu Melde- und Feinderkennungszaubern. Damit würde er wohl in der übernächsten Nacht den Eierdieben im Dienst von Vita Magica das Handwerk legen. Vorher wollte er sich am Tag das Wildreservat von Réunion ansehen, ohne dass das jemand mitbekam. Denn auch dafür hatte er etwas, für dass er seinem verstorbenen Großvater danken musste. Es würde ihm helfen.
Am 15. Oktober 2002 um halb neun morgens Ortszeit glitt in zwanzig Metern Höhe etwas auf ein großes, frei schwebendes Schild zu. Darauf stand in großn gelben Buchstaben: "Achtung, magisches Tropentier-und Pflanzenreservat Réunion. Zutritt nur in amtlicher Begleitung erlaubt. Betreten ohne Genehmigung wird mit einer Zahlung von 2000 Galleonen Bestraft."
"Dann wollen wir doch mal sehen, ob ihr mich kriegt", dachte jemand, der im Moment nicht zu sehen war. Gérard Dumas saß auf einem drei mal zwei meter großen Teppich und jagte mit mehr als zweihundert Stundenkilometern über den Grund dahin. Der Flugteppich war in einer geheimen Kammer im Haus seines Großvaters aufbewahrt worden. Gérard hatte diese Kammer erst finden und betreten können, als Sandrine und die Zwillinge nach Millemerveilles gereist waren, um die jedes halbe Jahr empfohlenen Untersuchungen vornehmen zu lassen. In der Kammer hatte er neben einem Regal mit seltenen Büchern auch ein Regal mit vollen Zaubertrankflaschen und einen glasartig erscheinenden Teppich gefunden. Ein dazu gehörendes Pergamentstück erwähnte, dass es der Teppich Windhauch war, ein von einem mächtigen persischen Zauberer handgeknüpfter und bezauberter Flugteppich, der durch Gabe eines Tropfens Blut unsichtbar wurde und den, von dem das Blut stammte, beim Flug ebenfalls unsichtbar machte. Dazu hatte er auch eine Liste mit Kommandos erhalten, die er nur zu flüstern oder bei Berührung zu denken brauchte. So einen Teppich hatte bisher wohl noch keiner. Angeblich war dieses magische Flugartefakt schon vierhundert Jahre alt. Ob der, der es gemacht hatte noch Nachkommen hatte hatte Gérard nicht überprüft, um keinen schlafenden Drachen zu kitzeln. Wichtig war nur für ihn, dass sein Großvater den Teppich in einem verlassenen Palast fünfzig Kilometer südlich von Teheran in einem fensterlosen Raum gefunden hatte.
Besen mochten wegen ihrer Flugbezauberung geortet werden. Doch er konnte mit dem unsichtbaren Teppich problemlos in das weitläufige Reservat einfliegen, ohne gleich hundert Zauberer auf Besen im Nacken zu haben, die dann alle erst mal hätten suchen müssen, wo er war. Gut, die Gefahr, dass er erst mal nur aus der Ferne überwacht wurde bestand vielleicht. Aber spätestens beim Verlassen des Reservates müssten sie ihn dann aufgreifen, um zu beweisen, dass er hier gewesen war. Doch er wollte jetzt nicht mehr zurückziehen. Zu oft hatten sie ihm in Beauxbatons vorgeknallt, er würde sich zu schnell unterkriegen lassen oder sich wegducken, wenn es schwierig wurde. Das wollte er hier und heute nicht auf sich sitzen lassen. Er wollte allen Warnungen zum Trotz rausfinden, wer sein ganzes Leben umgestoßen hatte, dass er so früh schon Vater von zwei Kindern werden musste, dass seine Frau diese Kinder so argwöhnisch behütete wie ein Occamyweibchen sein Gelege und überhaupt ihn dermaßen ausgetrickst hatte, ihn zum Zuchthengst gemacht hatte, nur weil Leute mit heftigen Hirnschäden fanden, möglichst viele kleine Hexen und Zauberer auf die Welt kommen lassen zu müssen.
"Er flog durch das Reservat, immer darauf achtend, dass er auch den Rückweg fand. Dabei konnte er sowohl die hier lebenden Zaubertiere beobachten, zu denen auch Rotmaulfrösche gehörten, die eigentlich Ochsenfrösche waren, aber feuerrote Körper besaßen und mit Krallen an den Füßen selbst auf hohe Bäume hinaufklettern konnten, solange ihre Haut feucht genug war. Bei Tag hielten sie sich aber in Wassernähe auf. Er konnte vor allem zwanzig Wildhüter zählen, ausnahmslos europäischstämmige Zauberer, keine Hexen. Vielleicht wäre das auch was für ihn gewesen, Wildhüter eines magischen Tierreservates, dachte Gérard. Doch im Moment hatte er wichtigeres zu erledigen.
Weil er das Buch über Astralmagie aus dem Bestand seines Großvaters durchgelesen und die heftigsten Zauber daraus heimlich ausprobiert hatte, wenn er weit fort von Heim und Kindern war kannte er den Lunavisus-Zauber, einen Sinnesverändernden Zauber, der zum einen unterirdische Wasserquellen sichtbar machte, zweitens selbst bei Viertelmondlicht wie an einem klaren Sommermittag sehen machte und drittens alle dem Mond verbundene Lebewesen, Pflanzen, Tiere oder Pilze, selbst in Verstecken sehen zu können. Der Nachteil war nur, dass dieser Zauber bei Sonnenlicht die Augen peinigte und den Anwender drei Nächte hintereinander nicht schlafen ließ. So würde er erst am Abend seinen Plan ausführen können. Aber schon mal zu wissen, wo die Sternensänger ihre Nester haben mochten war schon mal wichtig.
Fünf Stunden blieb er auf dem Flugteppich. Dann ließ er ihn einfach über der Mitte des Reservates nach oben steigen, behutsam. Dann, als er wusste, dass er nicht verfolgt wurde, beschleunigte er ihn und raste unsichtbar damit zurück nach St.-Denis. Am Abend würde er wiederkommen. Doch dann wollte er zumindest genug Vielsaft-Trank für einen halben Tag trinken, auch wenn der Teppich unsichtbar machte. Außerdem musste er einheimische Kleidung anziehen. Nichts an und bei ihm durfte auf Gérard Dumas hindeuten.
Die neue Verwandlung war diesmal fast schmerzlos. Er fühlte nur eine heftige Hitze im Körper, meinte, dass sein Blut in den Adern prickelte. Dann war er wieder jener halbkreolische Bursche, der nie erfahren würde, dass er zeitweilig einen Doppelgänger gehabt hatte. Gérard dachte kurz nach der Verwandlung, als er alle aus Europa stammenden Sachen vom Körper gestreift hatte, dass es schon gemein wäre, wenn er in diesem Körper mit dem heißblütigen Mädchen Liebe machen würde, mit dem er seinen Leihkörperspender beobachtet hatte. Doch dann siegte das Gewissen über die Versuchung. Er war nicht unterwegs, um in fremder Gestalt Muggelmädchen zu beschlafen. Womöglich sollte er Sandrine auch wieder ein paar leidenschaftliche Stunden mit ihm gönnen, auch wenn sie dabei wieder schwanger werden könnte. Aber dann wäre es ein Kind, das er gezielt auf den Weg gebracht hätte. Er zog sich die in St. Denis gekauften Muggelweltsachen an, die die Leute aus den weniger begüterten Volksgruppen so trugen, zählte seine vorbehandelten Meldesteine, die auf Menschenannäherung und Feindesnähe dazugehörige Steine eines Armbandes zu vibrieren brachten und dass der Teppich ihm noch hold war, was die Unsichtbarkeit anging. Dann apparierte er bis drei Kilometer an das magische Wildreservat heran. Näher traute er sich nicht, weil sicher ein Antiapparierzauber wirkte. Er bestieg den Teppich und flog langsam los. Als er nur noch zwei Kilometer von der Reservatsgrenze entfernt war legte er die Hand auf den Teppich und dachte das Auslösewort für unsichtbaren Flug, von dem er erfahren hatte, dass es das altpersische Wort für Windhauch war.
Es fehlte nur noch ein halber Kilometer zur Reservatsgrenze, als die Sonne vollständig unter dem Horizont verschwand. Jetzt konnte Gérard auch den Lunavisus-Zauber wirken. Dafür blickte er dort hin, wo der Mond aufgehen würde. "Per lunam viveto lux Lunae monstrato!" murmelte er, wobei er darauf achtete, den Zauberstab beim ersten Teil ans linke und beim zweiten ans rechte Auge zu halten. Das hatte er hundertmal im Dunkeln geübt, um das auch unsichtbar hinzubekommen. Beinahe hätte er sich dabei mal fast das linke Auge angestochen. Er atmete fünfmal ruhig ein und aus. Dann vollführte er den zweiten Abschnitt des Zaubers. Mit auf den Kopf gelegtem Zauberstab murmelte er: "Creaturas lunae videbo. Fortem Lunae detegebo!" Diese beiden Sätze wiederholte er so oft, bis seine Augen zu zittern begannen, um dann wie in kaltes Wasser getaucht zu blinzeln. Als er sie wieder öffnete sah er die Welt um sich herum in einem ganz anderen Licht. Es war für ihn viel Heller. Die im Westen schimmernde Dämmerung war wie ein in weißen Flammen stehender Abschnitt des Himmels. Doch dieses Feuer verlosch langsam am Horizont. Die Landschaft um ihn wirkte dunkler als sonst. Doch er konnte glitzernde Bänder darin erkennen, ja sogar etwas wie einen See, wo vorher keiner war. Er wusste, dass dies unterirdische Wasseradern und -ansammlungen waren, weil das Wasser vom Mond beeinflusst wurde. Vor sich sah er nachtschwarze Baumrisen aufragen. Er beschleunigte den Flugteppich. Mit einem sachten Aufsteigebefehl ließ er ihn in einem flachen Winkel ansteigen, damit er weit genug über den Bäumen bleiben konnte. Wenn die Flugbesenüberwachung wirkte, dann merkte er es nicht. Klar, weil ein Flugteppich anders bezaubert war und zu dem aus anderen Materialien bestand als ein Besen. Darauf baute er seinen Plan auf.
Im Licht des Mondes, das für ihn so hell wie die Sonne strahlte, sah er nun die Blätter der Bäume mit feinen, glitzernden Mustern bedeckt. Also konnte er auch das in Pflanzen fließende Wasser erkennen. Dann sah er eine bläulich pulsierende Kugel in einem Baum. Er näherte sich bis auf hundert Meter, bis er durch das Teleobjektiv seiner mitgenommenen Kamera erkannte, dass es ein halbkugelförmiges Nest war, in dem vier hell glänzende Eier lagen, jedes zwar winzig, aber wegen seiner Wiederspiegelung der Mondkraft deutlich zu erkennen. Dann hörte er auch in einigen hundert Metern Entfernung einen sehr schönen, flötenspielartigen Gesang, der sich sehr warm und beruhigend durch seine Ohren in sein Bewusstsein vortastete. Das war also das Lied eines Sternensängers, dachte er, bevor er sich dem Gesang ganz hingab. Erst als anderswo ein anderer Vogel antwortete fand er zu sich selbst zurück. Dann erkannte er, dass er jetzt die Meldesteine ausbringen musste. Er nahm den ersten aus der Hosentasche, wog ihn in der Hand und ließ ihn neben dem Baum mit dem ersten Nest fallen. Er fühlte den Aufschlag des Steinchens als schwachen Wärmestoß in dem mit hundert Winzsteinen besetzten Armband am linken Handgelenk. Durch den Kontakt mit dem Boden wirkten nun die beiden Meldezauber. Das ging also.
So flog er nun jedes erkannte Nest an, blieb jedoch weit genug über dem Boden, um nicht doch in einen Überwachungszauber zu geraten und ließ einen Stein nach dem anderen auf den Boden fallen. Wenn einer die Annäherung von Feinden erfasste würde er die Richtung der Meldung durch das Armband fühlen.
Als er alle Steine verteilt hatte ließ er den Teppich nach oben steigen, bis er knapp einen Kilometer über dem Boden flog. Er ging in eine fünfhundert Meter durchmessende Kreisbahn. Wenn er das richtig überprüft hatte konnte der Teppich noch zwei Tage lang mit schneller Reisegeschwindigkeit fliegen. Was bedeuteten da zehn oder zwanzig Stundenkilometer?
"Fast wie Karussellfahren", dachte Gérard, der von der Kreisfliegerei nur die unter ihm dahinhuschenden Wipfel bemerkte. Mit dem unbezauberten Fernrohr konnte er Dank seines Mondblickzaubers bis zum Grund und dem darunter verborgenen Wasser blicken. Aus dieser Höhe konnte er mindestens die Hälfte des Reservatsgebietes absuchen. Um sich nicht zu langweilen tat er dies auch. So konnte er auch die nun frei fliegenden Sternensänger entdecken. Dreimal hörte er ihre Lieder, jedesmal anders, aber jedesmal so beeindruckend, dass er beinahe seinen Posten aufgegeben hätte, um näher heranzufliegen. Ja, Troisfonts hatte recht. Diesen Gesang zu hören war eine echte Bereicherung. Schade, dass er Sandrine nicht hierher mitnehmen konnte, um auch ihr diesen überirdisch schönen Gesang zu gönnen.
Der Mond hatte gerade seine höchste Stelle am Himmel erreicht und beschien alles mit seinem geheimnisvollen Lichtt. Für Gérard war es eben wie ein Ausflug am Sommermittag. Da sah er sie selbst, fliegende Menschen, in einer Körperhaltung, als ritten sie auf unsichtbaren Tieren. Das mussten Thestrale sein, dachte Gérard. In den nächsten Sekunden erkannte er auch, dass sie wohl wie er die Sternensängernester sehen konnten. Denn sie flogen genau auf die Positionen zu, die Gérard ermittelt hatte. Er war froh, die magische Kamera mit starkem Teleobjektiv mitzuhaben. So konnte er genau beobachten, wer da an die Nester heran wollte. Als er die Köpfe der Verdächtigen sah zog sich sein Magen zusammen. Die hatten alle die großen runden, haarlosen Köpfe von wenige Wochen alten Babys. Das konnten unmöglich deren echte Köpfe sein. Dann fühlte er es durch seinen Körper gehen, ein Gefühl von Trägheit. Da erkannte er, dass dies wohl der Einschlafzauber war. Wie machten die das? Er griff in seine Jackentasche, um sein Trumpf-Ass herauszuholen, den Wachmacher nummer eins überhaupt, den er sich nach der Unterredung mit Troisfonts zusammengezaubert hatte, weit genug weg von allen Spürsteinen auf Réunion. Er hielt sich einen Lappen an die Stirn. Unvermittelt jagte ein Kälteschauer durch seinen Körper. Um ihn herum tanzten für drei Sekunden blaue und rote Funken. Er fürchtete schon, dass diese Lichtentladung von da unten gesehen wurde. Doch jetzt war es nicht mehr aufzuhalten. Der Lappen pulsierte im Takt seines Herzschlages, während er immer dünner wurde, bis er unvermittelt zwischen Gérards Fingern hindurchrutschte und mit einem letzten Pulsieren unter seiner Haut verschwand. Der ihn durchflutende Kältestrom wurde noch einmal stärker. Dann klang er unmittelbar ab. Doch nun fühlte sich Gérard wacher als jemals zuvor. Sein Herz pochte etwas stärker und mit wohl zwanzig Schlägen mehr in der Minute. Das einschläfernde Etwas von unten wirkte nicht mehr. Er grinste triumphierend. Was wohl Professeur Faucon und Professeur Delamontagne dazu sagen würden, dass er einen gemeinen Fluch zu seinem Schutzzauber gegen alle Formen der Schlafzauber umfunktioniert hatte? Der Fluch machte nämlich, dass jemand eine volle Woche nicht mehr schlafen konnte, egal was er trank oder tat. Er konnte jedoch dazu führen, dass der Betroffene an körperlicher oder geistiger Totalerschöpfung starb. Königin Blanche hatte damals in der vierten Klasse erzählt, dass nur der Schockzauber dem Betroffenen das Bewusstsein nehmen konnte, die Wirkung des Fluches dadurch aber nicht aufhob, sondern nur bis zur Wiedererweckung aussetzte. Massive Schlafzauber oder Schlafgase alleine konnten die Wirkungsdauer des Fluches abkürzen. Doch eine schlaflose Nacht musste wohl jeder Betroffene in Kauf nehmen, wenn er den Septinsomnia-Fluch abbekam. Sollten die ruhig dagegen anzaubern, erst einmal war er gegen alles immun, selbst gegen den Sanasomnius-Trank, den Madame Rossignol nach heftigen Anstrengungen gerne ausschenkte. Als er an sie dachte sah er sie vor seinem geistigen Auge auf dreifache Größe angewachsen und fühlte die ihn gnadenlos auf einer weichen Unterlage festhaltende Erdschwerkraft. Ja, und dann fühlte er wieder seine Lippen an ihren für ihn kopfgroßen ... Nein! Er wollte nicht jetzt wieder daran denken, wie heftig diese Heilkräuterpanscherin ihn damals gemaßregelt hatte. Er hätte es damals verweigern sollen, sich von ihr wortwörtlich hautnah umsorgen zu lassen. Dann hätte die den vollen Ärger gekriegt. Wieso dachte er jetzt überhaupt daran? das war schon mehr als zwei Jahre her.
Nicht ganz unerwartet fühlte er nun durch das Armband stärker werdende Vibrationen und meinte auch, ein wildes Pochen zu fühlen. Also waren nicht nur Menschen in den Wirkungsbereich der Meldesteine gekommen, sondern die von ihm als Feinde vorgemerkten Mitglieder von Vita Magica. Also waren diese Babykopfleute Angehörige dieser Bande, die mit zusammengepanschten Tränken Hexen und Zauberer dazu trieb, neue Zaubererweltkinder zu machen, am besten drei oder vier auf einmal. Somit war Phase zwei seiner ganz eigenen Geheimmission leider erfolgreich beendet.
Er ärgerte sich, wegen der übergroßen Babyköpfe keine unterschiedlichen Gesichter erkennen zu können. Das waren perfekte Masken. . So konnte er auch beruhigt unsichtbar bleiben und das verbotene Treiben dieser Leute beobachten.
Insgesamt dauerte die Aktion eine halbe Stunde. Er konnte noch dreißig Steine spüren, die Feinde meldeten. Die Nesträuber gingen schnell und Gründlich vor. Dann dachte er an das, was Troisfonts erwähnt hatte. Sidericantor argyropteros konnte nicht beim Apparieren verschleppt werden. Wenn die echt schon angebrütete Eier klauten galt das sicher auch für die ungeschlüpften Küken. Also hatte er eine echte Chance, die Räuberhöhle zu finden, in der die Eierdiebe ihren Raub brachten. Er wartete geduldig wie die Katze vor dem Mauseloch, auch wenn er gerade eher wie ein Adler über der erhofften Beute kreiste. Dann fingen die Nesträuber an, sich richtung Süden zu bewegen, wobei sie noch drei weitere Meldesteine wachkitzelten. Gérard hatte aber schon erkannt, dass jemand das Sammelkommando gegeben hatte. Dass er das nicht gehört hatte störte ihn nicht. Es gab so viele Verständigungszauber, die unerwünschte Ohren schlicht außen vor ließen. Als der Tross aus zwanzig maskierten Hexen und Zauberern auf ihren Thestralen in Richtung Süden losflogen und immer schneller wurden folgte er in mindestens einem Kilometer Abstand. Er war froh, dass die Nesträuber auf Thestralen ritten. Die Biester konnte er locker überholen, falls das nötig war. Bei schnellen Rennbesen wie dem Ganymed 10 oder dem neuen Zwölfer hätte er da sicher den Teppich zu Fetzen fliegen müssen, um denen auf den Fersen zu bleiben. So hielt er den Abstand, den er mit der Kamera vor den Augen noch überblicken konnte. Mal musste er aufrücken, weil zu befürchten war, dass die Bande sich in den Wolken verbergen würde. Doch offenbar scheuten die unsichtbaren Flügelpferde den Flug durch kalten Wasserdampf. Es ging denen wohl nur darum, weit genug über der Stadt St.-Denis zu bleiben, deren elektrische Lichter für Gérard gerade sehr trüb aussahen. Er hielt weiter den Kurs. Die Bande versuchte nicht einmal, mögliche Verfolger abzuhängen. Gérard hatte schon befürchtet, die vermeintlichen Riesenbabys würden sich an einer bestimmten Stelle trennen. Wem wäre er dann gefolgt? Außerdem konnte bei einem Ausschwärmen auch ein Gegenstoß gegen mögliche Verfolger ablaufen. Sicher, er war gerade unsichtbar. Aber was, wenn die mit gemeinen Fangzaubern um sich schossen oder etwas auf magische Kräftefelder wirkendes auf ihn losließen? Egal, jetzt war er denen auf den Fersen. Näher als jetzt kam er dieser Bande wohl nie wieder im Leben. Wenn er deren Schlupfwinkel fand würden keine fünf Minuten später Ministeriumstruppen reingehen und den Laden ausheben. Dabei galt es, die Bande am disapparieren zu hindern. Dafür gab es genug Zauber.
"Zu schade, dass ich keinen von euch ohne Maske abschießen kann", dachte Gérard, während er die Verfolgung aufrechthielt. Diese Gauner legten es darauf an, schnell ans Ziel zu kommen. Dass sie keine Besen benutzten verriet auch, dass mindestens einer von denen genau wusste, dass fliegende Besen geortet werden konnten. Dass die einen Maulwurf bei der Reservatsverwaltung hatten war Gérard schon klar geworden, als Troisfonts das mit den Flugtieren erwähnt hatte. Das war sicher auch wichtig für die Leute von Mademoiselle Ventvit, den Spion zu kriegen. Er dachte an Sandrine, die ihm strickt abgeraten hatte, diesen Verbrechern nachzujagen. Er dachte an Julius' Warnung, was die mit ihm anstellen konnten, wenn sie ihn erwischten. Töten würden die ihn nicht, weil er ein Zauberer war. Aber was sonst mit ihm passieren konnte war auch nicht angenehmer. Noch konnte er abbrechen und damit leben, dass er zumindest gesehen hatte, dass Vita Magica die Eier von Zaubervögeln klaute. Aber was half das schon. Die würden weitermachen und er würde sich Vorwürfe machen, die einzige ihm gebotene Gelegenheit abgeschlagen zu haben, dieses Treiben zu beenden. Hätte er die vielleicht doch fotografieren sollen, als sie die Eier stahlen? Dafür hätte er sich aber sichtbar machen müssen, weil unsichtbare Kameras keine Fotos aufnahmen. Denn die darin eingelegten Filme wurden auch unsichtbar und wurden so vom Licht durchdrungen, ohne dass der Lichteinfall den Film veränderte.
Die Jagd durch die Luft führte sie bis zur südlichen Küste von Réunion zu einem Hügel, auf dem vier Gebäude standen, die von einer zehn Meter hohen Mauer umfriedet waren. Gérard unterdrückte den Impuls, durch die Zähne zu pfeifen. Das Anwesen sah aus wie eine Burg, mit Türmen auf den Mauerecken, die gute dreißig Meter hoch sein mochten. Das würde dann doch nicht so leicht sein für Ministeriumstruppen. Gérard dachte an mögliche Schutzzauber. Doch dann hätten die wohl eher das ganze Anwesen unsichtbar für Feindesaugen gemacht. Das hieß aber nicht, dass es keine gab. Wie nahe konnte er heran, ohne abgewehrt oder eingefangen zu werden? Gérard Dumas verwarf diesen Gedanken zunächst einmal. Er musste jetzt einfach was riskieren, um sicherzustellen, dass er auch ja genug Beweise hatte. So folgte er den Thestralreitern mit ihrer Diebesbeute weiter. Als die geflügelten Pferde vor dem nordöstlichen der vier gebäude landeten verwarf Gérard alle Bedenken und Vorwarnungen. Wenn die jetzt da rein gingen und sich vielleicht die Masken abzogen konnte er doch noch ein paar von denen fotografieren. Er musste das machen wie ein zuschlagender Greifvogel, schnell niederstoßen, draufhalten, abdrücken und sofort danach wieder hoch und weg. Er machte die Kamera schon bereit, als er nur noch fünfhundert Meter von der Mauer entfernt war. Doch als die Gauner mit ihrer Beute in das Gebäude gingen stellte Gérard fest, dass das Haus keine von außen einsehbaren Fenster hatte. Fast hätte er laut geflucht. Doch noch wollte und musste er unhörbar und unsichtbar bleiben. Die einzige Chance war, dass er den einen oder die andere erwischte, wenn die Maske außerhalb des Gebäudes abgesetzt wurde. Er musste trotz der weitreichenden Kamera näher heran. Zweihundert Meter vor der Mauer bremste er den Teppich auf Schrittgeschwindigkeit herunter. Er lauerte darauf, dass die noch auf dem Hof stehenden Babykopfbanditen ihre Masken abnahmen. Doch die taten ihm nicht den Gefallen. Sie umstanden einen scheinbar leeren Platz. Womöglich mussten sie die Thestrale auf eine Koppel bringen. Ja, tatsächlich trieben die Feinde ihre unsichtbaren Flugtiere mit Armbewegungen und Rufen in eine bestimmte Richtung. Gérard beschloss, noch näher zu fliegen. Jetzt war er nur noch hundert Meter von der Mauer entfernt. Hundert meter waren meistens die Höchstreichweite für Abwehrdome, wenn mal von dem über Millemerveilles abgesehen wurde. Behutsam flog er weiter. Die Treiber hatten ihre Aufgabe erledigt und gingen nun mit ihren geschulterten Rucksäcken in das nordöstliche Gebäude. Jetzt war nur noch einer auf dem Hof. Es war eine Hexe, zumindest den Körperformen nach zu urteilen. Sie stand da, als wenn sie nicht wüsste, was sie tun sollte. Da trat ein Zauberer aus dem Haus heraus. Er trug keine Maske! Gérards Herz übersprang einen Schlag, so sehr erregte ihn das. Er wollte dieses Gesicht unbedingt fotografieren. Doch unsichtbar konnte die Kamera eben kein Foto machen. Das war jetzt ein gemeines Dilemma. Er konnte jetzt abrücken, ungesehen und unbemerkt. Dann hatte er aber nichts in der Hand. Drachenmist! Daran hätte er vorher mal denken können. Wollte er jetzt den unmaskierten Zauberer unfotografiert lassen und lieber die Truppen holen oder sich für zwei Sekunden sichtbar machenund den sicher überraschten Mistkerl da auf Film bannen? Dann löste auch die Hexe ihre rosige runde Maske und zeigte ein hübsches, dunkelhäutiges Gesicht unter einer pechschwarzen Naturkrause. Gérard blieb wieder das Herz für einen Schlag stehen. Die Kkannte er! Die hatte im Zaubereiministerium in den Staaten zu schaffen. Das mussten die Yankees unbedingt wissen. Er musste sie jetzt abschießen, wo sie den künstlichen Babykopf noch in der Hand hielt. Er hieb auf den Teppich und dachte das altpersische Wort für Windstille. Unvermittelt saß er auf einem silbern-grün-braunen Teppich. Er riss nun die Kamera hoch, während die von ihm angezielten Leute sich gerade lächelnd ansahen. Er holte sie mit der Vergrößerungslinse nahe genug für ein Porträt heran. Dann drückte er den Auslöser. Roter Rauch stieg aus der Kamera auf. Aus der Entfernung war das sicher nicht zu sehen. Doch nun bekamen die beiden mit, dass da jemand keine hundert Meter entfernt in der Luft schwebte und zum zweiten mal eine Kamera auslöste. Ja, jetzt hatte er beide Drachenpupsgesichter auf Film. Vor allem der verdutzte Blick des Zauberers gefiel ihm. Also nichts wie weg und die Truppen geholt. Er gab erst das Fluchtkommando. Unsichtbar werden konnte er dann immer noch. Der Teppich ruckte vor, wendete und flog dann in Gegenrichtung los. Doch er wurde nicht schneller. Nein, er wurde langsamer. Dann sackte er unvermittelt durch, kraftlos, schwunglos dem Boden entgegen. Gérard erkannte jetzt, dass er trotz aller Behutsamkeit in eine Falle getappt war. Womöglich war ein Fangzauber um das Anwesen gespannt, der Eindringlinge nicht draußen hielt, sondern sie an einer schnellen Flucht hindern sollte. Darauf war er echt nicht gekommen. Doch was jetzt? Er musste weg. Der Teppich flatterte im Wind. Ihm wurde wirklich alle Kraft abgezogen. Konnte er noch disapparieren? Die andere Möglichkeit war, sich gefangennehmen zu lassen und womöglich auf nimmer wiedersehen zu verschwinden. Nein! Er sprang auf die Füße, wobei er den Teppich eindellte. Er sprang vom Teppich, bekam ihn an einer Seite zu fassen. Hierlassen durfte er den nicht. Er konzentrierte sich. Noch war er hundert Meter über dem Boden. Er hatte noch zwei Sekunden. Da war ihm, als wäre er in einen Gummisack hineingeraten. Der Fall wurde gebremst. Allerdings wurden damit auch seine Arme und Beine an den Körper gedrückt. Er schaffte es nicht, sich zu drehen, so eng war das unsichtbare Etwas, dass ihn eingefangen hatte. An eine Flucht durch Disapparieren war nicht mehr zu denken. Die hatten ihn doch echt erwischt. Was blieb ihn noch? Mentiloquieren hatte er nicht gelernt. Außerdem waren die, die er damit rufen wollte zu weit weg, selbst für wen, der darin geübt war. Der unsichtbare Gummisack zog sich gerade mal so eng, dass er noch genug Luft holen konnte. Merkwürdigerweise war es keine durch einen Stoff gefilterte Luft, die er einatmete. Sollte er rufen? Nein! Diese Schwäche wollte er nicht zeigen. Außerdem war er ja noch verwandelt. Die wussten eben nur, dass jemand hinter ihnen her war. Doch wenn er sich wieder bewegen konnte würde er mit dem Zauberstab austeilen und zusehen, zu Fuß die Absperrgrenze zu durchbrechen.
Der ihn umschließende Zauber ließ ihn nicht auf den Boden aufkommen. Jetzt flog er mit doppelter Schrittgeschwindigkeit auf das nordöstliche Gebäude zu. Nun konnte er die beiden demaskierten Banditen sehen, wie sie ihm zuwinkten. "Sprechen Sie französisch?" fragte ihn der Zauberer, als er auf ihn zugetrieben wurde. Gérard beschloss, jetzt gar nichts mehr zu sagen. Für einen halben Tag hatte er noch die Gestalt des Kreolen. Doch was nützte es, wenn die ihn verschleppten und einsperrten? Doch er wollte nichts sagen, nicht zu früh einknicken.
Die Dunkelhäutige sagte was zu dem Zauberer. Der nickte ihr zu und deutete auf das nordwestliche Gebäude auf dem Grundstück. Sie nickte und setzte die Babykopfmaske wieder auf. Der Zauberer grinste Gérard überlegen an. "Für einen halben Kreolen haben Sie aber sehr nettes Spielzeug bekommen. Ich kann mich nicht erinnern, dass die von uns so mit starkenZaubergegenständen ausgerüstet werden", sagte der Zauberer. Gérard schwieg weiter. "Nun, wir kriegen raus, wer Sie sind. Dann wird entschieden, was weiter mit Ihnen passiert. Ach ja, Mentiloquismus und Introsenso-Zauber gehen innerhalb unseres Schutzzaubers nicht. Da wirken nur unsere abgestimmten Fernkontaktzauber. Hmm, dann waren Sie das mit den kleinen Meldesteinen. Wir konnten leider nicht ermitteln, an wen die ihre Botschaften schickten. Aber da Sie uns bis hierher verfolgt haben hat sich das erübrigt. Unsere Verbindungsleute im Reservat sammeln die Steinchen heute noch ein. Und nun darf ich Sie bitten, mir ins Haus zu folgen." Gérard alias Pierre Devalon verzog das Gesicht. Konnte der Kerl ihn überhaupt sehen? Dann trieb er in diesem Fang- und Transportzauber an dem maskenlosen VM-Banditen vorbei. Immerhin hatte Gérard noch genug Selbstbeherrschung aufgebracht, zu occlumentieren. Wenn diese Bande ihn aushorchen wollte sollte die es bloß nicht zu einfach haben.
Der unsichtbare, frei fliegende Gummisack trug Gérard durch die offene Haustür in das nordöstliche Gebäude. Der Zauberer ohne Maske lachte verhalten: "Ach, Sie kennen sich im Haus aus? Soll mir auch recht sein", spottete er und setzte sich doch glatt diese Babykopfattrappe wieder auf. Dann sprach er mit kindhafter Stimme: "Wahrscheinlich hat Mater Nona Mauritiana schon beschlossen, Sie ins Gästezimmer zu bringen." Gérard blieb das Gesicht stehen. Dieser Bandit hatte sich wieder maskiert, bevor er das Haus betrat. Warum das? Wohl, weil er sonst nicht reingelassen wurde. Es gab so Barrieren. Ja,und noch was stand fest, er und dieses dunkelhäutige Flittchen hätten sich gar nicht demaskieren müssen. Die hatten das nur gemacht, um ihn zu ködern. Das hieß aber, dass sie schon längst gewusst hatten, dass sie verfolgt wurden. Ja, der Bandit hatte es sogar offen ausgesprochen, dass sie mit einem Verfolger gerechnet hatten. Die hatten sich doch besser vorbereitet als ihm lieb war.
Die unfreiwillige Reise durch das Haus endete in einem runden, fensterlosen Raum, in dem gerade drei Babykopfbanditen durch ein weiß leuchtendes Tor traten, hinter dem er verschwommen eine weitere Halle erkennen konnte: Ein Teleportal. Seine schlimmsten Befürchtungen wurden also wahr. Sie würden ihn verschleppen. Selbst wenn jemand vom Ministerium seinen Weg nachprüfen konnte würde er selbst irgendwo weit weg von hier sein.
"Du kannst auf eigenen Beinen durch das Tor gehen. Nutz das aus, solange du noch auf zwei entwickelten Beinen laufen darfst", spöttelte einer dieser Babyköpfe von links. Dann klang eine Frauenstimme leise und leicht verwaschen aus allen Richtungen. "Der Spion Gérard Dumas kommt zu Mater Vicesima! Hat sie mir gerade aufgetragen."
"Oh, und wir wollten gerade das Tragetuch aufmachen, damit du durch das Tor gehen kannst, Gérard", sagte der Bandit von eben. Diese rosigenBabyköpfe ohne Haare und mit großen blauen Augen glichen sich wie ein Ei dem anderen. Nur die unten dranhängenden Körper waren unterschiedlich groß, dick, mit brettflachem oder verheißungsvoll hügeligem Brustkorb. Aber alle trugen diese Strampelanzüge, die Zauberer hellblaue, die Hexen rosarote, oder helle mit rundgesichtigen tierköpfen verzierte Strampelanzüge.
Gérard dachte, während der ihn umschnürende Transportzauber ihn zurück durch das Haus und zur Tür hinaus beförderte, dass sie ihn schon enttarnt hatten. Aber wodurch hatte er sich verraten? Er wusste nur, dass er jetzt endgültig geliefert war. Die würden abwarten, bis er wieder er selbst war und dann alles mit ihm anstellen, was denen einfiel. Wieder dachte er an die Warnungen seines Klassenkameraden und Freundes Julius Latierre. Er hätte wohl doch besser darauf hören sollen. Tja, späte Reue brachte ihm jetzt nichts mehr. Vielleicht konnte er sich durch passiven Widerstand Zeit verschaffen. Die Taktik hatte ihm auch Julius erklärt und dass damit schon mehrmals unerwünschte Gesetze oder Behandlungsweisen abgewehrt werden konnten, ohne Gewalt anzuwenden.
Es ging im schnellen Flug zum nordwestlichen Gebäude, in dem auch diese Amerikanerin verschwunden war. Wie hieß die denn? Die Tür ging wieder auf und ließ ihn durchfliegen. Auch hier war ein rundes Zimmer mit einem Teleportal. Zwei Zauberer und eine Hexe standen davor. Sie wollten das Portal wohl gerade zumachen, als die Hexe sich Gérard zuwandte und mit einer Kleinmädchenstimme sagte: "Okay, du darfst zu uns. Schön, dann lernen wir zwei uns demnächst wohl richtig kennen. Ruhe dich besser erst mal aus! Es wird sicher sehr anstrengend, aber auch schön."
Gérard hätte fast gefragt, was sie meinte. Doch weil er zum einen kein Wort sagen wollte und zum anderen erkannte, was sie meinte, schwieg er weiter. Also das lief ab. Das hatte Julius ihm verdammt noch mal auch vorausgesagt. Doch da hatten die sich in den Finger geschnitten. Er würde sich nicht für sowas hergeben. Zwei Kinder waren genug.
"Er muss ohne den Verbringungszauber durch das Tor, sonst wird er hier festgehalten", sagte einer der Zauberer mit einer schon plärrenden Kleinkindstimme. Kam das auch von diesen den ganzen Kopf verdeckenden Masken?
Gérard sagte nichts. Als er fühlte, dass der Zauber sich in Luft auflöste und er sich wieder frei bewegen konnte und auf die eigenen Füße kam spielte er mit dem Gedanken an seinen Zauberstab. Doch gleich vier Zauberstäbe richteten sich auf ihn. Wann hatte er jemals ein Duell gegen vier Gegner geführt? Dann kamen noch drei weitere Zauberer durch drei Türen herein. Gegen siebenzugleich half nur Sensofugato. Er griff zu seinem Zauberstab, wollte ihn blitzartig freiziehen, als schon zwei Schockzauber auf ihn zurasten. Er fühlte einen Hitzestoß durch den Körper gehen, sah für eine Sekunde alle im roten Licht stehen. Dann taten die beiden gleichzeitigen Zauber ihr Werk.
Chroesus Dime war schon seit neun Jahren der Leiter der Abteilung für magischen Handel und Finanzen im US-Zaubereiministerium. Im Grunde war er der wahre Lenker des Zaubereiministeriums. Denn er entschied, wer für was wie viel Gold erhielt oder wer wem wie viel Gold zu zahlen hatte. Die Wirrungen der letzten sieben Jahre hatten seiner Position zwar nicht geschadet, ihn aber immer wieder in große Entscheidungsengpässe gedrängt. Am schlimmsten war die Amtszeit von Lucas Wishbone für seine Abteilung verlaufen. Das wirkte noch bis heute, dass Wishbone versucht hatte, das Goldbewahrungs- und Wertermittlungsmonopol der Kobolde von Gringotts zu durchbrechen und muggelartiges Papiergeld einzuführen. Dann noch diese totale Abschottung des magischen Handels gegen Europa. Warum das Zaubereiministerium trotz der vielen Ministerwechsel immer noch an der Politik festhielt, amerikanische Erfindungen erst nach zwanzig Jahren für ausländische Kunden freizugeben verstand Dime nicht. Denn über seine Familie erhielt er inoffiziell genug Kenntnisse aus der Handels- und Finanzwelt der Muggel. Die machten mit ihren Computersachen innerhalb von einem Tag eine Menge ihres Geldes. Gut, bis jemand kam und bare Dollars ausbezahlt bekommen wollte bestand dieses Geld nur aus reinen Zahlen in einem Elektrorechnerspeicher und konnte mit wenigen Knopfdrücken oder Entzug des Elektrostroms einfach so in das Nichts zurückgeschickt werden, aus dem es geschöpft wurde. Doch die Vorstellung eines weltweiten Handels, an dem gerade die USA ein sehr vitales Interesse hatten, beeindruckte auch den Schatzmeister und Handelsüberwacher des Zaubereiministeriums. In anderen Ländern, vor allem Europas und Südamerikas, war das, was in der Muggelwelt Protektionismus genannt wurde, ein Unding. Wer was zu verkaufen hatte durfte es jedem in jedem Land der Erde anbieten und, sofern es keine eindeutig schädlichen Dinge waren, auch verschicken und verkaufen. Vielleicht, so dachte Dime, konnte er jetzt die Gunst der Stunde nutzen und den geschäftsführenden Zaubereiminister zu einer Beendigung der 20-Jahre-Rückhaltefrist für Erzeugnisse aus den vereinigten Staaten gewinnen. Allein schon die Parsec-Besen würden eine Menge Gold einbringen, von dem die Gildforks dann einen bescheidenen Anteil als Verkaufslizenz- und Beschäftigungsregistrierungsgebühren abführen mussten. Allein die von Cartridge zur Befriedung der aufgebrachten Kobolde zugesagte Abgabe von zwei Millionen Galleonen hatte ein gähnendes Loch in den Haushalt gerissen. Cartridge hatte das sogar noch damit begründet, dass ein offener Krieg mit den Kobolden und/oder deren Weigerung, die in ihren Verliesen gehüteten Vermögenswerte an deren Besitzer auszuhändigen das hundertfache gekostet und womöglich die Handlungsfähigkeit des Ministeriums dauerhaft beschränkt hätte.
Auf Dimes Schreibtisch standen sechs goldgerahmte Farbfotos. Sie zeigten seine Frau Argentea im himmelblauen Ballkleid, sowie seine drei erwachsenen Kinder Plutonius, Cole und die gerade erst fünfundzwanzig Jahre alte Eartha. Ihre großen Brüder waren dann mit ihren Ehefrauen und den Kindern zu sehen. Das jüngste Bild zeigte Plutonius' Frau Laureen mit prallen Umstandsbauch. Im November würde er zwei weitere Enkel bekommen. Ob da auch die obskure Organisation Vita Magica mit zu tun hatte wollte Dime nicht ganz ausschließen, weil Plutonius eigentlich für die nötige Betätigung keine Zeit gehabt hatte. Als Kronprinz der Dimes wollte er zusehen, möglichst schnell was zu erreichen, um seinem wichtigen Vater alle Ehre zu machen, aber auch gleichzeitig von diesem so unabhängig zu sein wie es ging. Aber irgendwie musste Laureen es geschafft haben, ein paar galleonenträchtige Minuten in der Terminplanung ihres Mannes zu bekommen, um mit ihm nach dem Regenbogenvogel zu rufen. Cole war genau wie sein Bruder in die freie Wirtschaft gegangen und hatte sich als Zaubertierhändler etabliert. Seinen Vater ärgerte es immer noch, dass Cole bei der Hochzeit mit Esther Silverbell seinen Familiennamen aufgegeben hatte.
Der über dem Schreibtisch hängende Kalender mit sich bewegenden Naturansichten der Staaten zeigte den berühmten Geysir Old Faithful, den alten Getreuen, im Yellow-Stone-Park. Anders als sein natürliches Vorbild spuckte die heiße Quelle jede Minute eine dampfende Wasserfontäne aus. Jede Viertelstunde war sie zweimal so hoch, bei jeder vollen Stunde viermal so hoch. Dieser Zeitpunkt war wieder erreicht, als die handtellergroße Tischuhr elf leise Glockenschläge von sich gab. Dime dachte daran, dass er in elf Minuten eine wohl sehr anstrengende Unterredung mit Nodneck, einem Kobold der Gringottsniederlassung Viento del Sol, haben würde, weil es die in Kalifornien eingewanderten Bergzwerge aus Deutschland wagten, das von ihnen geförderte Gold gegen magische Mixturen zu verkaufen, statt es, wie in einem sehr störanfälligen Vertrag vereinbart, erst den Kobolden zur Wertbestimmung und Aufbewahrung zu übergeben. Das konnte der Handels- und Finanzabteilungsleiter natürlich nicht untätig ablaufen lassen, zumal dieser direkte Goldhandel von dubiosen Zeitgenossen ausgenutzt werden konnte, um Gold an seiner Abteilung vorbei zu schmuggeln oder bedenkenlos dunkle Geschäfte zu machen, weil hierfür keine Goldanweisungen oder gar direkte Abholvorgänge in Gringotts nötig wurden. Doch als es klopfte und er "Herein, wenn's kein Drache ist!" rief betrat kein Kobold sein Büro, sondern seine Tochter Eartha. Er schluckte erst, weil Eartha ein für ihre Herkunft und Arbeit sehr textilarmes Kostüm mit sehr undamenhaft tiefem Ausschnitt trug. Doch sie erkannte das sofort und sagte: "Ich muss gleich nach Vegas in einen Laden, wo zwei Schwestern eine Illusionsschau präsentieren. Da ich nicht offiziell da reingehen und prüfen kann, ob die echte Magie oder die aufwendigen und kreativen Tricks der Muggel-Illusionisten benutzen habe ich mich als Tänzerin in dem Laden beworben. Ich komme gerade vom Vorstellungsgespräch. Also glotz nicht so tadelnd, werter Vater!"
"Warum bist du hier, Eartha?" fragte ihr Vater.
"Warum kommen Leute zu dir?" fragte Eartha frech zurück und gab ihm und sich auch gleich die Antwort. "Ich benötige eine Auszahlungserlaubnis für viertausend US-Dollar aus dem Papiergeldvorrat der Kobolde von Gringotts Kalifornien und eine Ausleihanweisung für eines der kleineren Automobile, damit ich in der Sündenstadt nicht andauernd mit deren Untergrundzügen fahren muss und ich mir kein unbezaubertes Automobil in der Muggelwelt zulegen möchte."
"Wofür brauchst du bitte viertausend Dollar, Eartha?" fragte Dime als Finanzabteilungsleiter wie als Vater.
"Steht alles hier in den Unterlagen. Du siehst, ich habe gut verinnerlicht, dass du für jede Buchung und Anweisung klare Belege und Begründungen brauchst."
"Dann gib mir das bitte, damit ich das noch vor Elf Uhr elf erledigen kann. Dann habe ich nämlich den nächsten Termin."
"Warum ausgerechnet um elf Uhr elf?" fragte Eartha.
"Weil der, mit dem ich den Termin habe, um zehn Uhr zehn nicht wollte und um ich um zwölf Uhr zwölf nicht will, weil ich da Mittag mache."
"Ach, ein Spitzohr von Gringotts. Ich dachte, die haben nur mit deinem Kollegen vom KVB zu schaffen."
"In dem Fall betrifft mich das direkt, weil es mal wieder um den Handel von Zwergen mit Zauberern und Hexen geht, Kleines."
"Dann lasse ich dich mal in Ruhe lesen", sagte Eartha. Dime las die Unterlagen so gründlich er eine einen Meter lange Pergamentrolle mit sehr kleiner Schrift in der Zeit lesen konnte. Zwischendurch musste er doch glatt das Vergrößerungsglas benutzen, um bloß keine Einzelheit zu übersehen. "Öhm, dass du für den Besitzer dieser Vergnügungsstätte sehr freizügig tanzen sollst ist dir bewusst, oder? Nicht, dass du für den als Wonnefee schaffen sollst."
"Der Laden heißt Sommerparadies. Da trete ich wahlweise als Nixe oder als am Strand herumhängende Bikini-Ballerina auf. Ich muss mich nicht ganz ausziehen und werde das auch nicht tun. Dafür hat der Boss von denen schon andere Mädels verpflichtet, die oben rum mehr Vorsprung haben als ich. Ach ja, und ich habe es hinbekommen, Aushilfsassistentin dieser beiden Schwestern zu sein, Beata und Benedetta Clarimonti, angeblich Zwillinge aus New York. Ich war schon bei der Familienabteilung und habe auch schon eine Blitzeule aus den Zauberschulen, ob die da vielleicht registriert sind. Null, negativ, nada."
"Clarimonti? Klingt italienisch. Hast du es schon bei der AIMZ versucht?"
"Anfrage wurde eingereicht und ist in Bearbeitung. Nur sind die in Gattiverdi im Moment nicht so gut auf uns Yankees zu sprechen, weil dderen Verwandlungslehrer nicht zum Kongress nach Misty Mountain reisen durfte, obwohl er eine offizielle Einladung von Professor Turner und Maya Unittamo bekommen hat. Könnte also bis nach Halloween dauern. Da habe ich das schon selbst raus, ob die zwei echte Hexen oder Trickserinnen sind."
"Und wenn es echte Hexen sind und rausfinden, dass du sie ausspionierst?" wollte Dime wissen.
"Habe ich mir einen WARP unten reingesetzt, ein Diafragma, wenn du weißt, was das ist."
"Eine Gummimembran, die zwischen Scheide und Gebärmuttermund aufgespannt wird um männliche Samenzellen am Eindringen zu hindern. Gehört wie Kondome zu den rein mechanischen Empfängnisverhütungsmethoden der Muggelwelt. - Ich bin nicht vom Mars, meine Tochter." Eartha nickte bestätigend. Dann deutete sie auf das Pergament. "Kriege ich das Auto und das Papiergeld?"
"Ich bin noch nicht bis unten durch", knurrte Dime. Eartha nickte lässig.
Der Geysir auf dem Kalenderblatt stieß gerade laut zischend und brodelnd eine weitere zehn Sekunden dauernde Fontäne aus, als es wieder an der Tür klopfte. Diesmal war es der avisierte Kobold. Als dieser Eartha im textilarmen Vorführkostüm sah schwollen seine schwarzen Knopfaugen zu halben Billardkugeln an und drohten, ihm aus dem Kopf zu springen. Eartha sagte deshalb: "Ich weiß, Ihre Frauen dürfen nur in grauen oder braunen Strampelanzügen herumlaufen. Hat aber alles seine Ordnung."
"Ms. Dime, vielleicht sollten Sie sich für Besuche unserer Abteilungen besser in etwas dezenterer Kleidung zeigen", sagte Mr. Dime. Er musste immer noch lesen, weil das Pergament auf der Rückseite auch noch zur Hälfte beschrieben war. "Heh, Mr. Dime, wir haben jetzt zu reden. Was immer das istt hat zu warten. Zeit ist Gold!" sagte der in einen rot-goldenen Anzug gekleidete Kobold und deutete mit seinen überlangen Fingern auf den Beamten und die Tischuhr.
"Setzen Sie sich schon mal hin, Nodneck! Ich bin gleich durch", sagte Dime und setzte wieder das Vergrößerungsglas an, um eine kleingeschriebene Passage zu lesen. Dann sagte er seiner Tochter zugewandt: "Für drei Monate kriegen Sie den sonnengelben VW 1300, Ms. Dime. Dieses Automobil hat aber seine Eigenheiten, hat Mr. Wrencher in einem Memo erwähnt. Die Zauberschmiede, die den hergerichtet haben haben da wohl gerade einen Sack voll Wichtel gefrühstückt. Ist aber im Moment der einzig verfügbare Kleinwagen, weil die anderen gerade Aufträge quer durch die Staaten haben. Da müssen Sie aber Mr. Wrencher wohl eine Einverständnis- und Kenntnisnahmeerklärung unterschreiben."
"Schön, ich darf den Käfer fahren. Den wollte ich eigentlich schon längst ausprobieren, ob der seinem Muggelvorbild echt in allem gerecht wird."
"Wie, so'n Ding haben die Muggel auch schon?" fragte Dime irritiert. "Öhm, der mag wohl keine Beleidigungen. Wrenchers Auszubildender hat den mal als "Blöde Muggelkarre" bezeichnet und ist dann erst eine halbe Stunde später mit geschwollenem Kinn und drei ausgeschlagenen Zähnen vom Unterkiefer wieder aufgewacht. Die Untersuchung ergab, dass das Vehikel ihm mit dem rechten Vorderlicht einen Kinnhaken versetzt hat. Seitdem wird die Garage mit Bildverpflanzungszaubern überwacht."
"Öhm, hallo, ich bin hier. Sie sprechen jetzt bitte mit mir", schnarrte der Kobold. Dime beachtete ihn nicht groß. Er unterschrieb Earthas Antrag und gab ihn ihr. Dabei blickte er leicht weltentrückt drein, als habe er gerade einen herrlichen Tagtraum, womöglich von einem Geysir, der ganz in Echt Fontänen aus reinem Gold spie. Eartha nahm das unterschriebene Dokument und bedankte sich förmlich bei ihrem Vater. Dem Kobold warf sie noch einen kocketten Blick zu, wobei sie tief Luft holte und das rechte Bein ein wenig abspreizte. Dann verließ sie das Büro.
"So, die Zwerge sollen das lassen, ihr geklautes Gold gegen Giftgepansche zu verkaufen", sagte der Kobold, als sei er hier der Chef. Dime sah ihn an. Jetzt klärte sich sein Blick und er erwiderte:
"Ah, Mr. Nodneck. Zunächst einmal bitte ich mir einen respektvolleren Ton aus, wenn Sie etwas von mir erbitten möchten! Zum zweiten habe ich mit Mr. Knowles vom Zwergenverbindungsbüro gesprochen. Sein Kontakt bestreitet den vertragswidrigen Handel mit Gold und den Ankauf hochpotenter Tränke. Die Prüfung auf die Wahrhaftigkeit der Anschuldigung läuft noch. Von Ihnen möchte ich nun eine Aufstellung, wie hoch Sie den bisherigen Verlust ansetzen, um im Fall, dass Ihre Anschuldigung gerechtfertigt ist, eine entsprechende Entschädigung einfordern zu können. Und schreiben Sie diesmal gütigst nur so viele Nullen an die Zahlen, wie auch wirklich nötig sind. Sonst müssen meine Leute und die von Mr. Cracklewood noch einmal mit dem Veritofon bei Ihnen vorstellig werden. Ihr Vorgänger kann Ihnen sicher berichten, wie unangenehm das war, das letzte mal bei einer wahrheitswidrigen Aussage erwischt zu werden. Ich gehe davon aus, dass Ihnen dessen Erlebnis bereits hinlänglich bekannt ist."
"Die Zwerge sollen sofort damit aufhören, kalifornisches Gold zu klauen und das gegen irgendwelche Blubberbrühen zu verscheuern, zum grauen Eisentroll noch mal!" zeterte der Kobold. Doch Dime blieb ganz ruhig. "Erst die Verlustaufstellung, und zwar wahrheitsgemäß, wenn ich bitten darf." Der Kobold stampfte mit dem Fuß auf und zuckte dann zusammen, als habe ihm wer den Cruciatus-Fluch aufgehalst. Als er sich von dieser Pein erholte keuchte er nur. "Sie haben immer noch dieses aus dem Hintern des grauen Eisentrolls gefallene Zeug im Boden? Großer Horlnuck! Das kostet ihr Gewicht in Gold Schmerzensgeld. Ich bin ein wichtiger Vertreter meines Volkes und darf nicht beleidigt, geschlagen oder mit fiesen Zaubern beballert werden. Außerdem gilt immer noch der Exklusivvertrag mit allen Artikeln, darunter auch Artikel dreizehn Abschnitt zwo, demnach wir Kobolde für jeden körperlichen Angriff auf uns die Herausgabe von Gold oder anderen Wertsachen für einen Monddurchlauf verweigern dürfen, damit das klar ist. Und wenn ich beleidigt werde kann ich sogar sagen, dass Gringotts in VDS zubleibt. Basta! Also sofort ein Verbotbrief an die stinkenden Langbärte schreiben und denen von den betreffenden Büros geben!"
"Vorsicht, im besagten Vertrag steht auch, dass beide Partner sich immer höflich ansprechen und einander zu respektieren haben", sagte Dime. "Wenn Sie nicht von Ihren eigenen Leuten wegen Gefährdung des Vertrages Ihres Postens enthoben werden möchten finden Sie gütigst eine angemessene Tonlage, wenn Sie etwas von mir erbitten!" bestand Dime darauf, dass er in diesem Büro der ranghöhere war. Der Kobold überlegte wohl. Dann nickte er verbissen dreinschauend und setzte sich hin. Die folgende Unterredung verlief dann kurz aber in der Sache förmlich korrekt. Dime erwähnte, dass er bereits mit dem Gouverneur der Zwerge - der sich von seinen Artgenossen lieber König nennen ließ - sprechen wollte, wenn klar sei, was genau die Kobolde den Zwergen vorwarfen. "Wir haben auch im Moment viel um die Ohren wegen Leuten, die meinen, durch unerlaubte Zauber und Zaubertränke mehr neue Zaubererkinder auf die Welt kommen zu lassen als vorher. Seien Sie also froh, dass Sie zu mir vorgelassen wurden", sagte Dime noch, nachdem er über die bisher veranschlagten Goldausfälle bei den Kobolden gesprochen hatte. Zwanzig Minuten später verließ ein immer noch sehr verdrossener Kobold das Büro. Dime lehnte sich zurück und dachte daran, dass er noch vier Termine an diesem Tag hatte, davon ein Auswärtstermin in der Besenmanufaktur Bronco.
Unter Dessen suchte Eartha Dime die unterirdische Abstellhalle für die vom Ministerium verwendeten Automobile auf. Mr. Wrencher, ein drahtiger Zauberer im mit Ölflecken verunzierten blauen Gebrauchsumhang und silbernem Schutzhelm und dito Brille ausgerüstet ließ sich die Ausleihgenehmigung zeigen, unterschrieb neben der Signatur von Chroesus Dime und führte Eartha in eine Nebenhalle, wo im Licht einer Kristallsphäre ein sonnengelber VW Käfer stand. "Bevor ich Ihnen die Schlüssel für unseren kleinen gelben Freund gebe möchte ich Sie noch in dessen besondere Beschaffenheit und Fähigkeiten einweihen. Vor allem merken Sie sich bitte, dass Sie ihn nicht beleidigen dürfen. Mein Vorgänger und seine Gehilfen haben dem eine Art Seele und Empfindsamkeit eingeflößt. Auf Beleidigungen reagiert er mit körperlichen Angriffen mittels Beleuchtungskörpern, Rädern oder Türen. Wer vergisst, ihn regelmäßig zu waschen, wird von ihm mit nie versiegendem Kühlerwasser und den sich selbst langstreckenden Scheibenwischern abgeschrubbt, bis er oder sie schwört, ihn zu säubern. Wer vergisst, ihn mit diesem Muggelkraftstoff Benzin zu füllen, damit sein Motor zumindest für Muggel vernehmliche Geräusche und Gerüche absondert und auch eine gewisse Antriebskraft auf die Räder bringt, kommt nicht mehr in seinen Fahrgastraum oder kann Sachen aus dem vorne liegenden Stauraum entnehmen. Dabei kann der Wagen auch ganz ohne dieses feuergefährliche und stinkende Zeug fahren, wenn er die Lage für geboten hält."
"Öhm, kann er auch schwimmen und fliegen?" fragte Eartha.
"Oh, Sie haben schon von ihm gehört?" wollte Wrencher wissen. Eartha grinste und erwähnte, dass sie aus Fernsehsendungen schon von einem ohne Magie zu Tricks fähigen Fahrzeug gehört hatte. Dann las sie sich noch die Bedienungsanleitung durch, in der darauf hingewiesen wurde, dass sie ihn keinesfalls mit abfälligen Begriffen von Automobilen oder lästigen Insekten bezeichnen durfte. Deshalb ließ sich der Wagen Sonnenschein nennen, nicht Käfer oder Krabbeltier, egal in welcher von hundert Sprachen. "Wenn Sie seinen Bautyp bezeichnen sagen Sie in seiner Hörweite immer VW 1300! So, und jetzt unterschreiben Sie mir bitte die Erklärung, bei mutwillig provozierten Unfällen mit dem Wagen auf Schmerzensgeld zu verzichten und die Kenntnisnahme, alle in der Bedienungsanleitung aufgeführten Punkte gelesen und verstanden zu haben!" Eartha nickte. Sie las sich alles gründlich durch, wobei sie immer wieder mit dem linken Ringfinger über das Pergament streichelte. Doch sie fühlte keine verdächtige Reaktion. So konnte sie alles unterschreiben. Anschließend ging sie behutsam auf den sonnengelben Wagen zu und begrüßte ihn höflich. "Hallo, Sonnenschein, ich bin Eartha. Ich möchte mit dir die nächsten Wochen zusammen fahren", sagte sie. Da ging die Tür von alleine auf, und eine magische Männerstimme mit schon bald quäkig hoher Tonlage sagte: "Bitte steigen Sie ein, Ms. Eartha. Ich bringe Sie schnell und sicher dahin, wo Sie hin wollen." Eartha grinste. Sie konnte selbst ein Auto fahren. Aber warum nicht mal einen unsichtbaren Chauffeur haben?
"Bin gespannt, wann das Ungeziefer der einen Tritt gibt oder in den Schmollmodus verfällt, weil sie den nicht mit Benzin abfüllt", grummelte Wrencher und machte sich daran, den großen schwarzen Lastkraftwagen mit der beinahe schon drachenmaulartigen Motorhaube auf letzte Feinheiten zu prüfen. Der sollte demnächst als fahrbarer Befehlsstand für die Inobskuratoren eingesetzt werden, Sicher gegen alle Formen von Muggelgewalt, mit Strahlenschutzüberzug, Innenraumluftreinigungszaubern und durch Gold- und Platinbleche größtenteils von Kampfzaubern undurchdringbar.
Eartha genoss derweil die Fahrt in dem gelben VW 1300. Gab ihr das doch die Möglichkeit, voll konzentriert mit verschiedenen Leuten zu mentiloquieren. Zwischendurch bat sie um das Einspielen von Muggelweltmusik. Auf der Autobahn beschleunigte der Käfer auf mehr als zweihundert Stundenkilometer. Las Vegas war das Ziel. Kein Radarstrahl konnte den Funkwellenschlucklack durchdringen. So brauste der Käfer wie ein gelber Kugelblitz an sämtlichen Überwachungsstationen und Radarfallen vorbei, bis eine Autobahnstreife doch mitbekam, dass jemand mal eben mit viel zu hoher Geschwindigkeit unterwegs war. Doch die sich entspinnende Verfolgungsjagd endete schnell, weil aus dem Heck des gelben Wunderwagens unsichtbare Bremspaste herausschoss und den verfolgenden Wagen abrupt von über 200 auf gerade mal 10 Stundenkilometer verzögerte. Gleichzeitig ertönte ein kindlich anmutendes, schadenfrohes Lachen aus dem Armaturenbrett. Mehr gab die in den Wagen verbaute Kunstpersönlichkeit aber nicht von sich. Danach sprang er einfach mit Transitionsturbo über eintausend Kilometer hinweg und setzte seine rasende Fahrt fort, bis er von selbst an einer Tankstelle anhielt. Eartha kaufte den Kraftstoff und bezahlte mit dem Bargeld, dass sie sich noch vor der Unterredung mit ihrem Vater beschafft hatte. Weiter ging es.
"Wenn das funktioniert, werte Mitkämpferin kann die Operation Monsterparty wie geplant durchgeführt werden", empfing Eartha eine Gedankenbotschaft. Sie lächelte. Dann gedankenfragte sie zurück: "Soll ich da auch bei sein?"
"Nein, du bleibst bei unseren Mitkämpferinnen in Vegas und suchst dir dort jemanden für die letzte Initiationsstufe aus!" Sie erwiderte darauf, dass sie verstandenhatte. Das alles bekam sonnenschein nicht mit. Das gelbe Automobil, dass fünf Spaßvögel nach Vorgaben aus verschiedenen Kinofilmen gebaut und in ihrem Sinne weiterentwickelt hatten wollte nach Vegas, um dort zwischen all den protzigen Autos herumzuschnurren. Zwischendurch wechselten die Zahlen und Buchstaben auf den Nummernschildern, so dass der Wagen einmal im Bundesstaat New York, dann Ohio und schließlich Kalifornien zugelassen war.
Sandrine Dumas war froh, nicht allein in diesem Haus zu sein, dass ihr Mann von seinem verstorbenen Großvater geerbt hatte. Estelle und Roger tobten durch die Flure und spielten lautstark in ihrem gemeinsamen Zimmer, das mit genug unschädlichen Spielsachen vollgestellt war. Dennoch wollte Sandrine gerne wissen, warum ihr Mann sich nicht meldete. Er war mal wieder auf einer Dienstreise. Diesmal hatte er sich in den indischen Ozean schicken lassen, um auf den Überseebesitzungen Réunion und Mauritius zu recherchieren. Doch nun war es schon eine Woche her, dass sie die letzte Eule von ihm bekommen hatte. in seinem Brief hatte gestanden, dass er ein Zaubertierreservat besuchen wollte, wo ein besonderer Vogel lebte, der wegen seines Gesanges dem Phönix Konkurrenz machte und wegen seines silbernen Gefieders und seiner hohen Wendigkeit auch als Silberschnatzer bezeichnet wurde. Davor hatte er alle zwei Tage eine Eule geschickt, um ihr mitzuteilen, dass es ihm gut ging. Also musste etwas passiert sein, fürchtete Sandrine. Am Ende hatte er sich mit jemandem angelegt und verloren.
Sandrine wusste, dass Gérard immer noch nicht verwundenhatte, was ihnen beiden auf Martinique passiert war. Deshalb hatte sie ihn immer wieder gebeten, nichts mehr zu machen, was die Leute verärgern konnte, die Schuld daran waren. Hoffentlich hielt er sich dran, dachte Sandrine. Doch sie fühlte immer größere Zweifel in sich aufkommen. Was, wenn Gérard doch mit wem aneinandergeraten war? Vielleicht sollte sie das Ministerium bitten, nach ihm zu suchen, eine offizielle Vermisstenanzeige aufgeben.
"Eh, Meins!" brüllte Roger gerade. "Neh, meins!" schrillte Estelle. Sandrine eilte in das Spielzimmer und sah, wie die zwei sich um einen großen, grünen Schlummerdrachen zankten und sich immer wieder anschubsten." Estelle, Roger, gut jetzt!" fuhr ihre Stimme in das Gezänk der Zwillinge. "Ganz lieb spielen. Ist genug für jeden da!" sagte sie und musste grinsen. So hatte sie vor zwei Jahren auch mal gescherzt, als sie beide zugleich fütterte und die sich einen Wettbewerb lieferten, wer schneller satt werden würde.
"Hoffentlich hat der keinen von denen aufgestöbert und wurde von denen entführt!" dachte Sandrine, während sie zusah, wie ihre zwei Kinder etwas friedlicher mit den anderen Spielsachen spielten.
Als die zwei nach dem langen Spiel und dem Abendbrot endlich müde genug waren, schlafen zu gehen schrieb Sandrine einen Brief an das Zaubereiministerium und erwähnte, dass sie seit einer Woche nichts mehr von ihrem Mann gehört habe und ob das schon ausreiche, ihn zu suchen. Sie begründete ihre Sorge damit, dass er vielleicht an skrupellose Verbrecher geraten sein könnte, ohne diese genauer zu benennen. Dann schickte sie ihre eigene Posteule nach Paris los.
"Der wird mich so nicht mehr auf den Ministerstuhl lassen", quäkte das Cogison, dass Milton Cartridge um den Hals trug. Das war schon lustig, dass er gleichzeitig saugen und sich worthaft mitteilen konnte. Erst als er beim Denken aus dem Rhythmus kam und deshalb was danebenzugehen drohte tadelte ihn Godiva. "Anständig schlucken und weitersaugen, Süßer. Ich muss ja immer wieder dafür trinkenund essen. Aber ich denke schon, dass du auch so wie du jetzt bist weiter Minister sein kannst. Ich bleibe dann bei dir als Direktpflegerin oder meinetwegen auch Amme."
"Hat Anna Fichtental auch gedacht", cogisonierte Milton Cartridge und bemühte sich jetzt, nichts danebenlaufen zu lassen. "Nur, dass die gute Anna Fichtental ihren Mann selbst infanticorporisiert hat, weil er zu häufig andere Frauen angesehen hat und seine Verwandten ihr das übelgenommen haben. Deine Eltern leben nicht mehr, und meine Verwandten wollen, dass wir zusammenbleiben. Öhm, hast du eigentlich noch vor deiner Rückkehr in Windeln und Wiege den Vertrag mit Louvois vernichtet? Ich meine, er ist verschwunden, wohl ein Opfer derer, denen er auf die Zehen getreten hat. Aber das Dokument sollte nicht Sandhearst in die Hände fallen."
"Keine Sorge, der Vertrag kann nicht gegen mich verwendet werden. Wer das versucht löst einen Selbstvernichtungszauber aus. Ich wollte nämlich nicht, dass mein Nachfolger von dem Handel erfährt."
"Dann ist ja gut", säuselte Godiva, die es genoss, ihn zu umsorgen.
Chroesus Dime fühlte sich wie durch zwanzig Mühlen gedreht. Sein Kopf hämmerte wie eine muggelmäßige Dampfmaschine. Als er auf seine Uhr sah konnte er gerade erkennen, dass es vier Uhr in der Frühe war. Er lag in einem Bett. Es war sein Bett. Er war alleine, weil seine Frau Argentea bis einen Tag vor Halloween in Rio de Janeiro war, wo sie mit ihren Kollegen vom Zauberkunstmuseum Fidelio Torrinha in einem heimlichen Nebenschacht der New Yorker U-Bahn präkolumbianische Zaubergegenstände prüfen sollte. Wahrscheinlich vermisste er sie jetzt besonders. Anders war das doch nicht zu erklären, dass er geträumt hatte, dass er nach seinem Treffen mit Arbolus und Phoebe Gildfork in deren Haus darüber gesprochen hatte, dass er die Handelsbeschränkungen aufheben wollte, weil er Phoebe Gildfork so begehrend angeglotzt hatte wie in der vierten Thorntails-Klasse Joanna Silverbell, die ganz ohne Beleidigungsklage befürchten zu müssen behaupten konnte, dass ihre Tante eine echte Kuh war und jeden Tag an die fünfzehn Liter Milch gab. Joanna war damals ein gertenschlankes Mädchen mit bereits gut ausgeprägter Oberweite und goldbrauner Löwenmähne gewesen. Wie sie heute aussah wusste er nicht. Aber warum hatte er die Gildfork so angeschmachtet, ja sich förmlich gewünscht, mit ihr zu schlafen, dass es dann auch wirklich passiert war, nachdem Arbolus Gildfork wegen der Spionageklage spontan nach Australien hatte verreisen müssen? Es konnte auch nur ein Traum gewesen sein, weil er sich beim besten Willen nicht mehr erinnerte, wie er nach Hause gekommen war. Er wusste nur, dass er diese Drei-Zentner-Walküre nach allen Regeln der Kunst beschlafen hatte und erst nach der vierten Runde müde genug gewesen war. Sie hatte ihn noch dazu bekommen, dass er dieses blaue Prickelzeug in ihren Unterleib eingeflößt hatte, das eine ungewünschte Zeugung vereitelte. Dabei hatte er doch glatt einen Moment gedacht, doch nicht sein Kind umbringen zu wollen und dass dieses Weibsbild ihn geehrt hatte, dass es ihn wollte, wo diese überprotzige, übergewichtige Hexe doch jeden Wonnewichtel zwischen Ost- und Westküste haben konnte. Ja, und dann war er in seinem eigenen Bett aufgewacht. Also konnte er dieses Weibsbild nicht begattet haben wie ein brünftiger Rammler ein Kaninchen. Doch wenn er darüber nachdachte fragte er sich immer wieder, wo die Wirklichkeit aufhörte und dieser obskure Traum angefangen hatte. Er hatte Phoebe Gildfork beschlafen. Das würden andere als schlimmsten Albtraum sehen. Er dachte aber komischerweise daran, wie sehr es ihn angeregt hatte, mit ihr eins zu sein. Öhm, und wenn das ein erotischer Traum war, wieso hatte er dann nicht sein Bettzeug besudelt? Am Ende war dieses affektierte Weib noch eine von diesen Abgrundstöchtern. Aber zum feuerroten Donnervogel, wie war er vom Treffen bei den Gildforks nach Hause gekommen? Hatte er sie überhaupt getroffen? Am Ende war er gleich vom Treffen mit dem altenCopperdale, der Dank Vita Magica noch einmal Vater wurde nach Hause gefahren und hatte sich hingelegt. O, wenn ein halber Arbeitstag ihn dermaßen müde machte sollte er sich aber bald nach einer anderen Anstellung umsehen. Er dachte wieder zurück an das Erlebnis mit Phoebe Gildfork. Er hatte echt geträumt, diese Drei-Zentner-Hexe zu lieben, und sie hatte ihn regelrecht genossen, weil er genau gewusst hatte, wo er sie anfassenund wie er sich bewegen musste, um sie auchja vollständig zu befriedigen. Chroesus Dime beschloss, noch am Morgen zu klären, ob das Treffen mit den Gildforks stattgefunden hatte oder nicht. Sonst ließ ihn das keine Ruhe. Am Ende hatte dieses Biest ihm noch einen Liebestrank oder ein entsprechendes Gas eingeflößt, damit er und sie die Gunst der Stunde nutzen konnten, wo Arbolus nicht im Haus war.
"Wenn ich wie die Gildforks Hauselfen hätte könnte ich fragen, wie ich nach Hause gekommen bin", dachte Dime. Dann sah er auf den Nachttisch, auf dem eine Uhr mit einem eiförmigen Zifferblatt und darunter angebrachten acht Walzen stand. Die Uhr leuchtete im Dunkeln, wenn jemand sie genau ansah. Die Walzen zeigten die Zahlen, die verrieten, dass heute der 16. Oktober 2002 war.
Als es sechs Uhr in der Frühe war stand er auf. Er fühlte sich so, als habe er mit seiner Argentea mal wieder einen lateinamerikanischen Tanzmarathon durchgetanzt. Darin waren die zwei vor dreißig Jahren noch richtig berühmt gewesen. Doch mit Plutonius' Entstehung hatte das nachgelassen. Dass seine Frau gerne noch ein Mädchen von ihm haben wollte, weil ihre große Schwester Sabrina zwei Jungs und zwei Mädchen gekriegt hatte, wusste er. Wo das mit Vita Magica so unerträglich heftig geworden war hatte er schon gedacht, sie lege es jetzt auch darauf an. Doch ihre Arbeit im Zauberkunstmuseum vereinnahmte sie mehr als jeder weitere Kinderwunsch. Abgesehen davon wollte sie nicht als schwangere Großmutter in die Zeitung wie diese postnatal zur Hexe gewordene Martha Merryweather. Aber wieso fühlte er sich jetzt ausgerechnet wieder so, als habe er die wildeste Liebesnacht aller Zeiten oder den härtesten Tanzmarathon mit zwanzig Sambas, dreißig Tangos und vierzig Merengues hinter sich gebracht?
Als er es vorzog, doch lieber mit dem Blauen Vogel nach Washington zu reisen statt zu apparieren blickten ihn mehrere mitreisende Hexen und Zauberer an. Um das Gestarre zu beenden verkündete er, dass er unbedingt noch mal testen musste, wie gut und zuverlässig der blaue Vogel war. Dabei fiel ihm ein, dass dessen Haupteigner Georg Lawrence Bluecastle vor einem Monat für tot erklärt worden war, weil seine Compagnons endlich wissen wollten, wie die Linie weiterzuführen war.
Im Büro selbst las er in seinem Notizheft, dass er das Treffen mit den Gildforks gestern Nachmittag storniert hatte, weil Arbolus Gildfork ihm per Blitzeule angekündigt hatte, einen Tag in Australien zu sein, um die Klage wegen Werksspionage und Diebstahl geistigen Eigentums auf den Weg zu bringen. Australiens Zaubereiministerin und wegen des Todes der Eheleute Redrobe Haupteignerin der Willy-Willy-Manufaktur hatte per Dekret festgelegt, dass jede gegen ein australisches Unternehmen zu führende Klage auf australischem Boden eingereicht zu werden hatte und dies auch erst, wenn genug vor Gamotsmitgliedern erbrachte Beweise vorgelegt wurden, um eine Verhandlung zu rechtfertigen. Gut, sowas hatten sie zum Schutz US-amerikanischer Unternehmen auch hier in den Staaten. Insofern war das legitim. Auch war er beruhigt, dass er dann wirklich nicht mit den Gildforks und vor allem Phoebe zusammengetroffen war. Er suchte nur die Nachricht, die Gildfork geschickt hatte. Als er sie nicht fand stutzte er wieder. Dann las er im Notizbuch, dass er die Botschaft gleich bei Dienstschluss in den Aktenschlucker werfen wollte. Denn das Treffen war informell beschlossen worden, weil es ja eben auch darum gehen sollte, wie das Handelsbeschränkungsverbot aufgehoben werden konnte. So hatte er eben nur einen wilden, ihn an Körper und Seele wild rüttelnden Traum gehabt, den er seltsamerweise nicht als Albtraum verbuchte, weil er in keiner Sekunde Furcht oder Angewidertheit empfunden hatte. So empfand er es nur als abwegig, Phoebe Gildfork als Traumgeliebte gehabt zu haben.
Gérard Dumas erwachte auf einer ganz weichen Unterlage, als habe jemand ihn auf mindestens drei Daunendecken gelegt. Um ihn herum glomm ein sanftes rotes Licht aus allen Wänden. In seinen Armen und Beinen kribbelte es wild, und er fühlte einen dumpfen Schmerz in den Eingeweiden und im Kopf. Doch sofort wusste er wieder, was ihm passiert war. Diese Drachenpopel von Vita Magica hatten ihn erwischt. Er war zu neugierig gewesen. Statt gleich nach Entdeckung des Schlupfwinkels die Ministeriumstruppe zu rufen wollte er die selbst auskundschaften. Tja, jetzt hatten sie ihn. Sicher hatten die ihn nach den zwei Schockern durch das Teleportal gebracht und ... ja, er hatte nichts mehr bei sich, nicht mal seine Unterwäsche. Die hatten ihm echt alles abgenommen. Trotzdem er völlig nackt war war ihm nicht kalt. Ihm war angenehm warm, nicht zu warm. Die Luft roch auch nicht abgestanden, sondern wie frische Frühlingsluft, würzig und anregend. Er sog sie tief in sich ein, nicht daran denkend, vielleicht vergiftet zu werden. Jeder Atemzug brachte mehr Leben in ihn zurück. Das Kribbeln seiner eingeschlafenen Arme und Beine klang schnell ab. Auch die dumpfen Schmerzen an den Stellen, wo ihn die zwei Schockzauber getroffen hatten verflogen mit jeden atemzug.
Er fühlte sich wohl, ja irgendwie in freudiger Erregung. Da erst fiel ihm ein, dass er womöglich gerade von einem Zauber oder einer gasförmigen Essenz beeinflusst wurde. Er versuchte wieder klar zu denken. Er war gefangengenommen worden. Die hatten bestimmt nichts gutes mit ihm vor. Er musste sich beherrschen, sich nicht von denen unterkriegen lassen. Doch die ihn umwehende Luft verdrängte jeden Versuch, sich ganz auf Widerstand und Abwehr zu besinnen. Dann dachte er zu allem Verdruss noch an die Hochzeitsnacht mit Sandrine. Mann, war dieses Mädchen hungrig nach ihm gewesen. Er hatte es genossen, mit ihr eins zu werden, die Wärme ihres Leibes zu fühlen und zu spüren, wie ihr Körper ihn leidenschaftlich aufnahm und erregte. Dann dachte er an Millie Latierre, seine erste Freundin, sein erstes großes Debakel. Wenn er die als Frau gekriegt hätte, ui, dann hätte er eine feurige rotblonde Rassehexe zur Frau machen dürfen. Er stellte sich vor, er und nicht Julius habe Millie zum ersten Mal geliebt. Dabei fühlte er, wie er auch leibhaftig angeregt wurde. Als er spürte, wie stark er bereits erregt war versuchte er noch einmal, frei zu denken. Die machten ihn mit irgendwas Scharf oder irgendwo war ein Mädel vom Aura-Veneris-Fluch umgeben oder eine Veela. Er dachte an Fleur, die er wie über zweihundert Jungen damals angeschmachtet hatte und da gemerkt hatte, dass er kein kleiner Junge mehr war. Ja, mit einer Veela war das sicher auch voll genial, zwischen den Laken zu tanzen. Er hörte Fleurs glockenhelle Stimme Laute der Lust ausstoßen, seinen Namen in begieriger Erregung lächzen. Nein, verdammt! Er wollte sich von denen nicht zum Zuchthengst machenlassen! Doch die Vorstellung, wie Sandrine nun über ihn kam und ihrerseits die nächste Nähe mit ihm fand und ihn dann wie eine wunderbar warme, weiche, pulsierende Decke auf ihm lag fegten die letzten Funken Widerstandsgeist erst einmal weg. Gérard Dumas fühlte, dass er gleich mit der ersten Frau, die zu ihm kam ganz doll Liebe machen musste, egal wie sie aussah, wie alt sie war. Und wenn es Eleonore Delamontagne oder Boragine Fixus war, völlig egal.
Die Vorstellung davon, gleich den herrlichsten Liebesakt seines Lebens erleben zu dürfen, verflog einige Sekunden, als der Raum erschüttert wurde und sich in Bewegung setzte. Gérard rollte auf die Seite. Er bemerkte einen leichten Zug nach rechts. Der Raum schien um etwas zu kreisen, immer schneller. Er fühlte die Fliehkraft. Er dachte an den Innertralisatus-Zauber, der Flieh- und Beschleunigungskräfte abmilderte. Dann erkannte er, dass der Raum in dem er lag bis auf halber Höhe von knapp zwei Metern mit diesem weichen Stoff ausgelegt war, der im roten Licht ohne erkennbare Lichtquellen schimmerte. Der Rausch der wilden Erregung ließ ein wenig nach. So konnte sich Gérard wieder besinnen, dass er nicht freiwillig hier war und auch nicht wirklich dazu bereit war, was die hier von ihm wollten. Aber wie konnte er das abwehren? Die hatten ein aphrodisierendes Zeug in die Luft gesprüht. Das konnte er wohl nur von sich abhalten, wenn er nicht mehr atmete. Ja, er würde solange die Luft anhalten, bis er ohnmächtig wurde und erstickte. Vielleicht reichte es auch, das Gesicht in dieses superweiche Zeug zu graben und sich damit zu ersticken. Zumindest ließ der Druck in seinem Geschlecht nach. Wenn sich der kleine Gérard wieder abgeregt hatte konnte sein Träger sich sicher ganz auf den Bauch legen und das umsetzen. Solange musste er eben die Luft anhalten.
Der Raum kreiste weiter um etwas. Zu hören war nichts. Eine gefühlte Minute lang hielt Gérard schon die Luft an. Gemeinerweise führte das gerade dazu, dass die geschlechtliche Erregung wieder zunahm. Doch als Gérard sich doch auf den Bauch legte versank das, was viele Männer als ihr bestes Stück bezeichneten, in dieser weichen Unterlage. Gérard meinte, jemand drücke ihm von außen auf die Blase und meinte, ungewollt Wasser abzulassen. Er versuchte, sich wieder aufzurichten. Aber diese verdammt nachgiebige, warme Unterlage bot nicht den nötigen Gegenhalt. Endlich ließ dieses Quetschen nach und er fühlte sich erleichtert. Jetzt lag er hilflos auf dem Bauch auf diesem Zeug und kämpfte darum, nicht einzuatmen. Als er merkte, dass er es nicht länger hinauszögern konnte drückte er seinen Kopf in das weiche Zeug hinein und öffnete den Mund. Der merkwürdige Stoff geriet wie gewünscht in seinen Mund hinein. Er sog ihn noch tiefer in den Mund, da war ihm, als pumpe ihm jemand Luft durch das Zeug in die Lungen. Es war warme, erfrischende Luft. Gérard stieß sie aber sofort wieder aus und wollte das eingesaugte Zeug aus dem Mund kriegen. Doch es saß wie darin eingebacken fest, hinderte ihn aber seltsamerweise nicht daran, Luft auszuatmen. Die verschwand wie durch einen dicken Filter in der Unterlage. "Netter Versuch, Gérard. Aber wer da ist, wo du bist, stirbt nicht, wann er oder sie das will. Dafür haben wir gesorgt", hörte er eine belustigt klingende Frauenstimme wie aus allen Richtungen zugleich an seine Ohren dringen. Irgendwie meinte er, dass er die Stimme kannte, obwohl er sie nicht erkannte. "Gleich sind die freien Runden um, dann darfst du zum ersten mal ran. Sei froh, das wir dir erlauben, mindestens noch zwanzig neue Zaubererkinder auf den Weg zu bringen. Wenn du ganz lieb bist dürfen es auch gerne zehnmal so viele sein."
Gérard wollte diesen verfluchten Stoff, der weicher als jede Windel war, wieder ausspucken. Doch es ging nicht. Er hätte zu gerne dieser Unbekannten zugerufen, dass er nicht der Zuchthahn von Vita Magica sei, der mit allen notsüchtigen Hennen rummachte, nur damit die neue Kinder abbekamen. "Ich weiß, du würdest uns jetzt gerne wild beschimpfen und uns alle Höllen der Weltreligionen androhen. Zum einen wärst du da nicht der erste. Zum zweiten hast du es ja darauf angelegt, dass du die Ommnisorbmatratze als Luftspender abbekommen hast und den Stoff erst aus dem Mund kriegst, wenn die Zufallsauswahl getroffen ist. Ach ja, wenn du weiterhin ganz lieb mit allen, die deine Kinder haben möchten das Lager teilst darfst du deinen einzigartigen Flugteppich wiederhaben. Wenn nicht bleiben der und du hier bei uns.""
"Ramm dir 'nen Eiszapfen unten rein, Sabberhexe", dachte Gérard, auch wenn er nicht wusste, ob das bei der Unsichtbaren ankam. Am Ende hatten die ihm nur eine magische Stimmaufzeichnung zugespielt.
Während er weiter durch den ihm völlig fremden Stoff Luft holte dachte er daran, was gesagt worden war. Er lag in etwas, dass ihm per Zufallsauswahl eine Frau zur Paarung andrehen würde. Lief das ähnlich wie bei dem Auswahlrad in Beauxbatons, wenn die Lehrerinnen und Lehrer zur Walpurgisnacht Besenpaare bildeten? Das war ja noch gemeiner als er dachte. Am Ende wusste er nicht mal, auf welche Zuchtstuten er gehetzt wurde, weil die alle diese Babykopfattrappen über ihren echten Köpfen trugen. Nein, er würde sich weigern. Im Zweifel würde er seine Erregung eigenhändig abreagieren, bevor was von ihm bei einer landete, die er nicht liebte, aber sein Kind haben wollte. Sandrine würde ihm das nie verzeihen. Aber würde er Sandrine je wieder zu sehen bekommen?
Der runde Raum, in dem er wie in einem Nest lag beschleunigte seine Kreisfahrt noch einmal. Dann wurde er langsamer und langsamer. Da löste sich der von ihm eingesogene Stoff aus dem Mund und verschwand in der Unterlage, die etwas härter wurde, aber noch so weich blieb wie eine Federkernmatratze. Gérard hielt die Luft an. Wenn die jetzt wieder dieses Scharfmachergas in seine Kabine sprühten wollte er lieber ersticken. Er spannte seinen Körper an und dachte an alles mögliche, um den Druck auf seinen Lungen zu verdrängen. Er wollte auch nicht Sekunden zählen. Er blieb bretthart auf dem Rücken liegen und hörte sein Herz, dass wegen der verkrampften Lungen immer stärker pochte. Wenn die was von ihm wollten, dann nur über seine Leiche. Da durchfuhr ihn etwas wie ein eisiger Schreck. Er konnte die Luft nicht mehr anhaltenund atmete schnell ein. Unvermittelt fühlte er sich so wie vor dem berühmten allerersten Mal, als Sandrine und er im Hochzeitszimmer zusammensaßen, wie er ihr glattes, fließendes Brautkleid durch die Finger gleiten ließ und sie sich anlehnte, bereit, endlich ganz und gar seine Frau zu werden. Er sah sie im Geiste schon vor sich, wie sie zwischen den vielen Kissen auf dem Brautbett lag, sich ihm zeigte, wie Mutter Natur sie gemacht hatte. Der Duft ihrer Haut und ihrer Anregung stieg ihm in die Nase und regte auch ihn herrlich an. Noch einmal versuchte er, sich gegen diese ihm eingeflößte Begierde zu wehren. Doch es ging nicht. Mit dem nächsten Atemzug verwehte der Rest seiner Ablehnung. Als dann in der von ihm aus linken Wandhälfte ein kreisrundes Loch entstand und eine zierliche Gestalt zu ihm hereinkroch sah er dieses Wesen nicht als Feindin, sondern als sehnsüchtig erwartete Erlösung seiner Wünsche. Die Andere trug keine Babykopfmaske. Er erkannte im roten Licht die asiatischen Gesichtszüge und das dunkle, glatt anliegende Haar. Dann hauchte sie ihm zu: "Hast du mich als die erste bekommen. Schön, dann ehre mich mit deinem Fleisch und Blut!" Dieser ihm mit starkem ostasiatischem Akzent hingehauchte Befehl war der entscheidende Zündfunken, der Gérard vergessen ließ, dass er Gefangener von Vita Magica und treuer Ehemann einer besorgt auf ihn wartenden Hexe war. Keine Minute verging, da hatten er und die Fremde aus Fernost bereits die allernächste Nähe gefunden. Jetzt war die Unterlage federnd wie ein Sprungtuch.
Sie gingen immer wilder zur Sache, blieben dabei aber immer miteinander verbunden. Der ganze Raum wurde von ihnen beansprucht. Gérard wunderte sich, dass eine so kleine Frau so stark und quirlig sein konnte und ihn so ungestüm zu nehmen und bei sich zu halten schaffte. Als er zum ersten Mal den Gipfel seiner Lust erreichte zog sie ihn noch enger an sich und umschlang ihn mit Armen und Beinen, als wolle sie alle Zeit mit ihm verbunden bleiben. Als die heftigen Wallungen verebbten lag er keuchend da und fühlte, dass er immer noch eins mit der Asiatin war. Wo kam die bloß her? Wollte er das wirklich wissen. Er hatte gerade seine Frau betrogen, mit einer ihm total fremden Frau verdammt wilde Liebe gemacht und ihr dabei bestimmt genug von seinem Samen verpasst, dass sie glatt zwei oder drei Kinder auf einmal von ihm kriegen konnte. Die andere fühlte wohl, dass sein Gewissen sich aus dem Sturm der aufgezwungenen Wonne hervorkämpfte und immer lauter protestierte. Da sagte sie in akzenthaftem Französisch: "Schäm dich nicht für das, was wir gerade erleben. Freue dich, weil du mir hilfst, unsere erhabene Welt zu bewahren." Dann küsste sie ihn auch noch leidenschaftlich. Er versuchte sich wieder von ihr loszumachen. Doch da überkam ihm wieder dieser gemeine Zusatz in der Luft. Diesmal dachte er daran, wie er diese fernöstliche Liebesgöttin noch besser rannehmen konnte. Zu seinem Glück war er immer noch mit ihr vereinigt. Herrlich! Sowas hatte er mit Sandrine beim ersten Mal nicht hingekriegt, weil er das noch nicht kannte, wann es ihn heftig überkam. Jetzt aber wusste er es. Als er fühlte, dass die scheinbar verpuffte Leidenschaft wieder aufloderte begann er ganz ohne Bedenken die zweite Runde. Sie dauerte ebenfalls etliche Minuten an, bis er am Rande der Erschöpfung den zweiten Höhepunkt erlebte. Seine ihm per Zufallsauswahl zugeschobene Gespielin genoss es regelrecht. Die in der Luft enthaltene Essenz wirkte immer noch, und so ging es nach einer kurzen Verschnaufpause in die dritte Runde. Erst als diese vorbei war konnte selbst die anregende Wirkung der Essenz in der Luft ihn nicht mehr antreiben, noch eine vierte Runde durchzustehen. Seine zufällig gewählte Partnerin streichelte seine beharrte Brust und säuselte: "Schön war das. Ich danke dir für dein Geschenk und werde es in Ehren halten, Gérard."
"Darf ich wissen wie du heißt?" fragte Gérard.
"Nenn mich erquickliche Morgenröte, die Himmel und Erde liebkost oder einfach nur Morgenglück!" keuchte die Asiatin und kroch von ihm weg. Als müsse sie genau darauf achten, nichts von dem zu verlieren, was Gérard ihr unfreiwillig überlassen hatte, bewegte sie sich zu der kreisförmigen Luke hin, die immer noch offen war. Als Gérard ihr folgen wollte stieß er gegen eine unsichtbare Wand, die warm und stahlhart war. Er musste zulassen, wie die Fremde durch das Loch in der Wand hindurchkroch und dieses sich von allen Seiten gleichzeitig schloss. Kaum war das passiert setzte sich die nestartige Kabine wieder in Bewegung. Gleichzeitig wurde die Unterlage wieder weicher. Gérard fühlte zwar eine starke Erschöpfung. Doch er wurde nicht richtig müde.
"So, du hast dir den Septinsomnia-Fluch auferlegt, wohl durch ein bezaubertes Ding. Gut, wie du meinst, dann ist dein nächster Einsatz eben in einer halben Stunde. Hoffentlich bist du dann auch noch stark genug, deine Pflicht zu erfüllen", hörte er wieder diese magische Frauenstimme, von der er meinte, sie zu kennen, aber nicht von wem. Gérard rief jetzt doch laut:
"Wenn du was von mir willst komm selbst zu mir!"
"Vielleicht tu ich das sogar. Aber womöglich ist das nicht mehr nötig, weil ich gleich kriege, was ich haben will. Am besten isst und trinkst du was. Was du unter dir lassen musst wird dir durch die Omnisorbmatratze aus dem Körper gezogen, ohne besudelt zu werden." Mit diesen Worten verstofflichten sich mit leisem Plopp ein Teller mit Obst, einer mit kleinen Käsehäppchen und eine mindestens zwei Liter fassende Wasserflasche. Gérard fühlte den Hunger und Durst und langte zu, ohne daran zu denken, damit weitere alchemistische Gemeinheiten zu schlucken. Ihm war nur wichtig, wieder zu Kräften zu kommen, solange der Septinsomnia-Fluch wirkte. Ja, durch den war er fähig, pausenlos mit einer Frau Liebe zu machen. Hätte er das mal vor drei Jahren gewusst, Sandrine wäre gar nicht mehr mit ihm aus dem Bett rausgekommen.
Als dann auf der anderen Seite der Wand ein kreisrundes Loch aufklaffte verschwanden die Teller und die Flasche im Nichts, und die Unterlage wurde wieder federnd wie ein Sprungtuch. Diesmal kam eine langharrige Frau zu ihm hinüber, die so gut genährt war wie Madame Delamontagne oder Millies Großmutter Ursuline. So sagte er dreist: "Oh, Eleonore. Gehörst du auch zu denen, die was von mir wollen?"
"Que has dicho cariño?"
"Öhm, du nicht sprechen Französisch?" fragte Gérard. Er ärgerte sich jetzt, dass er nicht wie Sandrine oder Millie oder Claire auch Englisch oder andere Sprachen gelernt hatte. Doch die Sprache der Lust war international und älter als alle Regeln der Menschheit, erkannte Gérard, als nach einer kurzen Phase behutsamen Kennenlernens mit Händen, Augen und Mund die füllige Dame, die sicher so alt wie seine eigene Mutter sein konnte da weitermachte, wo die Asiatin Morgenglück aufgehört hatte. So würde es weitergehen, erkannte Gérard. Dieses Auswahlkarussell würde sich immer wieder weiterdrehen, und jedesmal würde eine andere Hexe zu ihm kommen, um seinen Samen in sich aufzunehmen, um sein Kind oder seine Kinder zu empfangen. Die Reue und Scham, Sandrine zu betrügen, waren verflogen. Er war nun ein williger Mitfahrer in Mater Vicesimas Kinderkarussell.
Arbolus Gildfork ärgerte sich sichtlich darüber, wie lange man ihn hier jetzt schon zappeln ließ. Wenn er gesagt hätte, Willy-Willy aufzukaufen, dann hätten sie ihm garantiert den roten Zauberteppich ausgerollt, ihm den geflügelten Koala in Gold oder gar Platin verliehen und noch so einiges mehr. Aber er kam als Ankläger. Natürlich hatten die dann eine Menge Zeit. Auch der Besuch in Sydney, Melbourne und dem weitläufigen Zaubergarten Hidden Groves hatte seine Verärgerung nicht vertrieben. Als er dann am Morgen des 17. Oktobers endlich in die geheiligten Amtsräume des australischen Besenkontrollamtes vorgelassen wurde war er entsprechend erhitzt. Vorsteher dieses Amtes war eine Hexe, Savanna McElroy, eine von der südlichen Sonne gebräunte Dame zehn Jahre älter als er, mit schwarzem Haar, das selbst wie die Reisigspitzen eines Besenschweifes abstanden. Hinter der Hexe an der Wand waren Bilder von fliegenden Hexen und Zauberern, die dieses Vier-Ball-Spiel Quidditch spielten. Arbolus brachte seine Anträge vor und übergab der Hexe auch ein Schreiben von Handelsabteilungsleiter Dime, dass er noch kurz vor seiner Reise von ihm hatte unterschreiben lassen. "Mr. Dime äußert sich sehr besorgt, dass durch einen Akt dreister Spionage eine gute Zusammenarbeit zwischen meiner Firma und australischen Lizenznehmern so gut wie unmöglich geworden ist. Um dieses Missverhältnis zu bereinigen muss aufgeklärt werden, ob, wann, wie und mit wessen Hilfe die Redrobes und ihre Mitarbeiter die von meinen Besenentwicklern gefertigten Unterlagen erbeutet und für eigene Zwecke umgesetzt haben", sagte Gildfork. Ms. McElroy hörte erst zu. Dann sagte sie: "Sie kriegen meinen Stempel, dass wir den Fall geprüft haben, keine illegal beschafften Unterlagen gefunden wurden und die Anfrage an die Abteilung für magischen Handel weitergereicht wird."
"Was, und dafür habe ich jetzt eine Stunde meiner wertvollen Zeit hier warten müssen?! Ich erbitte von Ihnen mit Nachdruck, dass geklärt wird, wer Ihren Besenbauern meine Unterlagen zugespielt hat, zum feuerroten Donnervogel noch mal!"
"Sie sind Geschäftsmann, Mr. Gildfork. Dann sollten Sie wissen, dass Antragssteller oder Ankläger mit der vorgeschriebenen Höflichkeit auftreten müssen, wollen sie nicht gleich abgewiesen werden. Immerhin haben wir uns insgesamt eine Woche Zeit genommen, unsere Zuständigkeit und mögliche Anhaltspunkte für eine Anklageerhebung zu prüfen. Was bedeutet da eine halbe Stunde Wartezeit?"
"Dass ich in diesem Zeitraum hundert Galleonen machen kann, während Sie mit fünf Sickeln in dieser Zeit rechnen dürfen. Darin liegt der Unterschied."
"Nichts für ungut. Aber wenn Sie mir hier jetzt den streitbaren Yankee geben und dazu noch behaupten, dass Ihre Zeit wertvoller als unsere ist werden Sie wohl wirklich abgewiesen. Soweit ich es aus meinen Unterlagen habe hat das Ministerium nach dem tragischen Tod von Heather und Cygnus Redrobe beschlossen, alle Rechtsansprüche zu prüfen und Anklagen auf Zeitnähe zu prüfen, will sagen, ob Sie mit Ihrem Vorstoß nicht viel zu spät dran sind. Immerhin ist der Besenunfall der Redrobes schon im Mai geschehen, und die von Ihnen als gestohlen bezeichneten Baupläne für den Langstreckenbesen lagen uns hier schon im Januar vor, um zu prüfen, ob sie tatsächlich aus eigener Produktion stammen. Jetzt zu behaupten, die Pläne seien gestohlen worden legt den Verdacht nahe, dass Sie sich noch am Unglück der Redrobes bereichern möchten, da diese nicht mehr in eigener Person erläutern können, wo und wie genau die Pläne erstellt wurden."
"Soll das heißen, ich bin zu spät dran?" fragte Gildfork nun wieder richtig wütend.
"Vor allem soll das heißen, dass die Gesetze Ihrer Heimat den Austausch von zum Patent und zur Produktion angemeldeter Baupläne verhindern. Sonst hätten wir natürlich schon im Januar prüfen können, ob die Pläne gestohlen wurden oder original von den Willy-Willy-Besenentwicklern stammen. Wenn in der Zaubererwelt ein neuer Flugbesen gebaut wird und die Zulassung des nationalen Besenkontrollamtes und der Abteilungen für magischen Handel und Personenverkehr erhält dürfen Pläne an verbündete Zaubereiministerien und Patentämter weitergegeben werden. Da Ihr Land eine von uns aus sehr unzeitgemäß erachtete Ausfuhrbeschränkung pflegt dürfen Sie mir und meinen Kollegen nicht die Schuld geben, wenn eine Prüfung erst möglich wird, wenn das Produkt zwanzig Jahre alt ist." Gildfork vermied es gerade so, mit dem Fuß aufzustampfen. Dann sagte er: "Ich kläre das mit den anderen zuständigen Behörden. Sie hören von mir."
"Ich werde wohl eher von Ihnen lesen", erwiderte Ms. McElroy. Das tat Gildfork mit einem Schulterzucken ab und ging hinaus.
Nachdem er auch in den anderen für sein Anliegen zuständigen Ämtern etwas ähnliches gehört hatte traf er sich mit einem australischen Kollegen seines Geschäftsanwaltes, den er hier als Rechtsbeistand verpflichten wollte. Mr. Keno Weatherhill zeigte sich durchaus interessiert, den Fall trotz der erwähnten Verspätung noch vor Handelsausschuss und Gamot zu bringen. Doch er machte Gildfork nur wenig Hoffnung. "Für das Zaubereiministerium war es ein Glücksfall - und zwar im wahrsten Sinne des Wortes -, dass die Eheleute Redrobe unbedingt die letzten Testflüge selbst durchführen wollten und dabei abstürzten. So konnte das Ministerium den Ausverkauf der Willy-Willy-Werke verhindern und alle bestehenden Rechtsansprüche mit Pauschalzahlungen abgelten. Das hat vor allem die Kobolde geärgert, die meinten, noch fünfhunderttausend galleonen zu kriegen. Ich erinnere mich aber auch dran, dass ein Landsmann von Ihnen vor einem halben Jahr ebenfalls meinte, hier groß auftrumpfen zu können und sich in zähen Verhandlungen wiederfand, weil Sie in Ihrem Staatenbund nun einmal altbackenen Protektionismus betreiben. Deshalb hätte der betreffende Landsmann seine Reisebusse wohl mit hohem Einfuhrzoll verkaufen müssen."
"Bluecastle, ich weiß. Dann ist er verschwunden, und keiner weiß wohin oder wieso", sagte Gildfork.
"Ja, bedauerlich, weil das einen internationalenAufruhr ausgelöst hat. Aber das war ja genau das, was die Leute wohl wollten, die ihn haben verschwinden lassen."
"Moment mal, dann wissen Sie, wer das war und vor allem, was aus Bluecastle geworden ist?"
"Wenn ich das wüsste dürfte ich wahrscheinlich nicht mehr als Anwalt arbeiten, Mister. Ich weiß nur, dass ich zu einem Treffen bestellt wurde, an dem er teilnehmen sollte, wo er in Australien war. Er war jedoch nicht da. Mehr weiß ich nicht. Ich kann Ihnen nur insofern noch was über Ihren Fall erzählen, dass Willy-Willy demnächst verkauft werden soll,um nicht den Eindruck zu erwecken, das Ministerium fuhrwerke in die Privatwirtschaft hinein. Vielleicht können wir zwei mit dem Ministerium einen Handel schließen, dass Sie den Zuschlag erhalten und einen hier registrierten Besendrechselmeister als Geschäftsführer einsetzen. Dann hätten Sie sogar zwei Billywichs mit einem einzigen Netzwurf gefangen. Zum einen dürften Sie dann an den Gewinnen der noch verkehrsfähigen Besen beteiligt werden. Zum anderen können Sie Ihre eigenen Besen hier in Lizenz nachbauen lassen und verkaufen, womit Sie das in Ihrem Lande geltende Ausfuhrverzögerungsgesetz umgehen können. Und bevor Sie mich fragen, ob das legal ist, Sie sind nicht der erste US-Unternehmer, der hier bei uns unten drunter Lizenzfabriken aufgemacht und von hier aus in den Rest der Welt exportiert hat.""Ja, und ehrenwerte Herren aus Ostasien haben hier auchschon Fuß gefasst, erfuhr ich auf diversen Ausflügen."
"Das ist wohl richtig, sagte Mr. Weatherhill. Dann schlug er vor, dass sie das noch am selben Tag in seinen unabhörbaren Büroräumen verhandelten. Womöglich würden dann die gerade sehr langsam mahlenden Mühlen der Bürokratie mit zehnfacher Geschwindigkeit rotieren, ja einige Hindernisse wie mit dem Reducto-Fluch getroffen aus dem Weg verschwinden. Gildfork witterte Gold und vor allem, dass er seine Zeit hier auf dem australischen Kontinent nicht für nichts und wieder nichts verbracht hatte. So verabredete er sich für den Nachmittag mit dem Anwalt. Der gab ihm eine Stadtkarte von Canberra, wo sein Büro in der Grünwächterstraße lag. Gildfork nickte und verließ das gemütliche Hinterzimmer im Pub zum summenden Billywich in Sydney.
Er genoss bis zum Nachmittag noch das Sydney der Muggelwelt und stellte sich vor, seine raumfüllende Frau Phoebe in die berühmte Oper auszuführen und sich zu amüsieren, wie die Muggel über den echten Einhornpelz von ihr glotzten. Andererseits sollte er dafür nicht unbedingt in diesen Monaten herkommen. Hier unter dem Äquator war gerade Frühling, und die Sommertage hier sollten sengendheiß sein, hatte er erfahren.
Da es auch in Australien eine Überlandbuslinie gab, die Querfeldeinkänguruh hieß, wollte Gildfork damit nach Canberra hinüberfahren, um um 17:00 Uhr im Büro des Anwalts Weatherhill zu sein. Da die Ortszeit von Canberra dieselbe wie die von Sydney war hatte er noch eine Stunde. Was machte man als Tourist mit dieser Zeit? Vielleicht mal kurz zum Eyers Rock hin, raufapparieren und die Aussicht genießen, dachte er. So winkte er wie in den Staaten mit erleuchtetem Zauberstab, bis einer der dreistöckigen Reisebusse aus dem Nichts erschien und vor ihm hielt. Ein Halber Ureinwohner im purpurroter Schaffneruniform fragte ihn, wo er hin wollte. "Eyers Rock kennen wir nich'. Vielleicht meinen Sie den Uluru?"
"Achso ja, stimmt, der Brocken heißt ja nicht mehr Eyers Rock, wegen der Anerkennung der Stammesnamen für Orte. Dann möchte ich bitte da hin. Wie teuer ist das bitte?"
"Tut mir Leid, Sir. Aber wegen Stress mit den Zauberern der Anangu darf unser Querfeldeinkänguruh nicht mehr ganz an den Uluru ran, weil die fürchten, dass unsere Reisezauber den heiligen Berg und vor allem seine Magie stören. Wir kommen gerade noch drei Kilometer an den Berg heran. Wer dann hin will muss entweder mit einem Besen fliegen, was bei den vielen Muggels da ziemlich übel von der Verkehrsabteilung geahndet werden kann, oder er oder sie appariert. Apropos, wenn Sie da auf den Berg wollen verzichten Sie besser drauf. Da oben sitzt ein Anangu-Zauberer und passt auf, dass keiner mit Magie im Blut so frech ist, auf den heiligen Berg zu apparieren. Die haben vom Ministerium die Genehmigung, Hausrecht auszuüben. Und von einem Magier der Anangu verflucht werden wollenSie nicht wirklich."
"Dann möchte ich zu dem Fluss, wo die Nargunhöhle sein soll, von der mir eine Landsmännin von Ihnen berichtet hat."
"Ja, aber nur, wenn Sie keinen Bart, pralle Brüste und ein Pullerdöschen im Unterhöschen haben, Sir. Die Nargun mag keine Männer in ihrer Nähe. Wer sich dennoch da hin wagt wird mal eben zu einer hübschen Granitstatue und bleibt da für Zeit und Ewigkeit stehen."
"Eh, wann geht's weiter hier?!" blökte es von drinnen.
"'tschuldigung, Kumpel, muss 'nem Touristen aus Maryland sagen, wo wir'n hinkarrjulen dürf'n. Geht gleich weiter hier!"
"Eh, dann soll d'r Yank 'nen Kollegen von dir anwinken, ey! Hab was ganz dringendes un häng schon lang genuch hier in eurem Bus ab!" blökte die verärgerte Stimme von eben zur Antwort.
"Melbourne kann ich Ihnen empfehlen, den Golddünenstrand, exklusiv für unsereins, keine Muggels."
"Strandspaziergang? Ja, doch, bitte", sagte Gildfork, der nicht mit dem Gefühl zurückbleiben wollte, eine weitere Minute seiner wertvollen Lebenszeit vertan zu haben. Er zahlte die zwölf Sickel und erfuhr, dass er in Canberra umsteigen musste, weil die Busse nicht über den ganzen Kontinent hüpfen konnten. Gildfork grinste. Nach Canberra wollte er ja doch auch noch. Doch das sagte er nicht, weil es den Halbabo nichts anging. Er setzte sich gleich auf dem ersten Deck in einen Sessel und ertrug die Blicke der verärgert glotzenden Mitreisenden. Der Bus fuhr an und rumpelte eine schmale Gasse entlang, wobei Dutzende von Briefkästen und Müllbehältern wie angestochene Känguruhs zur Seite sprangen und hinter dem Bus wieder an ihren Ursprungsplatz zurückkehrten. "Ist das mit Bluespring Cottage dringend, oder können wir erst nach Barraconna rüber?" fragte der Schaffner laut. "Kannst erst da hin, Kumpel!" rief eine ältere Hexe. Gildfork musste mal wieder feststellen, dass dieselbe Sprache nicht dieselben Umgangsformen bedeuten musste. Abgesehen davon, dass das australische Englisch noch gewöhnungsbedürftiger war als das der Engländer oder Schotten.
Der Bus hielt an. Die Tür ging wieder auf, und vier verwegen aussehende Männer stiegen an einem großen Eukalyptusbaum aus. Einer von denen sah Gildfork sehr verärgert an. Der wollte gerade fragen, was er dem Gentleman getan hatte, als er unvermittelt einen Ruck am Bauchnabel fühlte und brutal in einen wilden, bunten Farbenwirbel hineingerissen wurde. Er wusste sofort, was das hieß. Er hatte einen Portschlüssel bei sich getragen, der entweder jetzt oder genau hier ausgelöst werden musste. Sofort erkannte er, dass ihn da jemand mal eben aus einem gut besetzten Bus heraus entführt hatte, ohne dass jemand dies hätte verhindern können. Ihm fielen während der Wirbelei alle Gesetze zum Umgang und Missbrauch mit Portschlüsseln ein, die er für seine Zulassung als freier Geschäftsmann vor der Handelsabteilung und der Abteilung für magischen Personenverkehr hatte wiedergeben müssen. Irgendwer hatte ihn glatt eingefangen und auf eine Reise geschickt, die irgendwo enden sollte, wo er garantiert nicht hin wollte. Schreien brachte nichts. Strampeln auch nichts. Apparieren ging aus einem Portschlüsseltransit schon gar nicht. Es sei denn, er wollte seinen unbekannten Entfführern das Donnervogelei des Jahres legen und sich selbst in Millionen Einzelteile zersplintern, die gleichmäßig über die Erde verteilt wurden. Doch dann kam in ihm Neugier und Kampfeswille auf. Er würde denen da am Ankunftsort gleich gründlich einschenken und lieber kämpfend untergehen, als sich auf nimmer auffindbar in seine Atome zu zerbröseln. Er schaffte es gerade, den Zauberstab freizuziehen und fest genug zu halten, dass der ihm nicht davonflog.
Der wilde Flug durch den farbigen, von unbestimmbaren Geräuschen erfüllten Zwischenraum zwischen zwei verschiedenen Standorten dauerte an. War er gerade erst zehn Sekunden unterwegs oder schon eine Minute, vielleicht sogar schon eine Viertelstunde? Am Ende hatten die ihm einen Portschlüssel verpasst, der ihn um die ganze Erde trug. Würde das länger dauern als mit dem Stratofeger-Luftschiff von Viento del Sol nach Millemerveilles? Immer noch wirbelte er dahin, jetzt ganz sicher, über die Weltmeere hinwegportiert zu werden. Was mochten die Aussis im Bus jetzt für verdutzte Gesichter ziehen, vor allem der Schaffner und der Blökstimmenzausel, der ihn kurz vor dieser Wahnsinnsreise so verärgert angestiert hatte? Irgendwie auch ein interessanter, ja auch amüsanter Gedanke, empfand Gildfork. Doch dann fiel ihm ein, dass er da, wo er hingeschafft werden sollte, garantiert nichts amüsantes erleben würde. Sicher waren das Leute, die ihn wegen seiner Klage ans Bein pinkeln wollten. Doch die würden ihn nicht mal eben um die halbe Erde schießen, wenn dann gleich bis rauf zum Mond, wenn sowas mit Portschlüsseln überhaupt ging. Doch wer konnte ein Interesse an ihm haben?
Wie lange es jetzt genau gedauert hatte wusste Gildfork nicht. Denn auf die glorreiche Idee, auf seine Uhr zu sehen, war er erst weit nach der unfreiwilligen Abreise gekommen. Jedenfalls fiel er plötzlich aus mehreren Metern Höhe und landete auf einem Stapel praller Daunenkissen. Er konnte sich nicht aufrecht halten und rollte zur Seite ab. Gerade so konnte er seinen Zauberstab noch halten, ohne ihn zu zerbrechen. Dann erkannte er, dass er in einem runden Raum mit hellen Wänden angekommen war. Über ihm glommen rote Leuchtkristalle in den Wänden. Als er sich wieder aufrichten wollte stellte er fest, dass seine Füße in die weichen Kissen einsanken. Auch die Arme, die er zum Aufrichten benutzen wollte sanken ein. So ging es nicht. "Deterrestris!" dachte er und deutete mit dem Zauberstab auf sich selbst. Tatsächlich schwebte er nun wie ein Gasballon nach oben und stieg den runden Schacht hinauf. Jawohl, da oben war eine breite Ebene und da standen Leute. Die Leute trugen - Strampelanzüge? Sah er richtig? Dann erkannte er auch, dass sie auf den Schultern große, runde, rosige Köpfe mit großen, blauen Augen, Stupsnasen und zahnlosen Mündern trugen. Jetzt war ihm klar, wer ihn erwischt hatte und auch, was die mit ihm vorhatten. Aber da sollten die sich schön getäuscht sehen. "Ah, die Vita-Magica-Brut! Vergesst es, ich stoß keiner von euch 'nen Quot in den Unterbau!" rief er. Darauf begannen die zwölf Riesenbabys albern und mit echt kleinkindhaften Stimmen zu lachen. "Unter zwanzig neuen Babys lassen wir dich hier nicht mehr weg", brabbelte ein Riesenbaby im rosaroten Strampelanzug. Gildfork grinste nun überlegen. "Schon mal was vom Kontraseminis-Zauber gehört? Natürlich kennt ihr den, wo ihr ja so unterleibsfixiert seid. Dann wisst ihr ja, dass ich keiner von euch Zuchtbienchen kleine Honigbienchen zustecken kann. Ätsch!" Er grinste nun noch breiter und genoss es, an den ihn anglotzenden Riesenbabyköpfen vorbei nach oben zu segeln, bis er an die Decke stieß. "So, und von hier aus putze ich euch jetzt alle weg!" dachte er für sich ganz allein. Da sah er eine der als Baby verkleideten Hexen vortreten. Sie war relativ klein und schritt trotz des rosaroten, mit grünen und weißen Blüten bedruckten Stramplers würdig einher, als sei sie hier die Chefin oder gar Präsidentin dieser Gaunerbande. "Das prüfen wir nach, ob du den Kontraseminis-Fluch auferlegt bekommen hast. Hoffe bloß, dass du nur bluffst, Süßer."
"Zeit für die Heia, Plärrpüppchen!" zischte Arbolus Gildfork und dachte: "Stupor Amplifico!" Der Zauberstab in seiner Hand ruckte. Ein roter Blitz fauchte heraus, flog zwei Meter weit auf die nach vorne getretene Vita-Magica-Hexe zu und schlug mit einem ohrenbetäubenden Knall zu ihm zurück. Der letzte Gedanke, bevor es um ihn dunkel und still wurde war, dass er diesen Biestern schon wieder in eine Falle getreten war.
Als er wieder aufwachte war er nackt und hatte auch sonst nichts mehr bei sich. Er fühlte, dass er mit unsichtbaren Hand- und Fußgelenksschellen an einer gepolsterten Unterlage festgemacht war. Seine Beine waren gespreizt. Über ihm stand eine Hexe im Strampelanzug, aber ohne den Babykopf. Sie sah ihn an und verzog ihren Mund zu einem verächtlichen Lächeln. "Unsere Ausrüstung wehrt Betäubungs- und Fangzauber sicher ab. Außerdem haben wir im Schacht eine stofflich durchdringbare Zauberumlenkbarriere errichtet. Aber damit du es fühlst, wie wir dich untersuchen, Arbolus Gildfork, mussten wir dich wieder wecken."
"Drachenmist! Du hast deine dusselige Maske abgenommen", stöhnte Arbolus Gildfork. Denn ihm war sofort klar, was das für ihn hieß. Hier kam er nicht mehr lebend raus. Bestenfalls nahmen Sie ihm das Gedächtnis, bevor sie ihn in die Freiheit zurückwarfen. Denn jetzt konnte er ja eine von denen beschreiben.
"Je danach, was ich herausfinde spielt das keine Rolle, ob du erst in unser Karussell gelegt wirst oder gleich wegen erwiesener Frechheit bei einer unserer Ammen bleibst. Stimulo Spermatozoides!" hörte er sie mit über seiner ganz privaten Körperstelle auspendelndem Zauberstab. Augenblicklich meinte er, jemand würde ihm seinen Familienschmuck unterkühlen und zum Zittern bringen. Diese Art von gemeiner Folter hielt zehn Sekunden lang an. Dann zog dieses VM-Hexenweib den Zauberstab wieder zurück. Das wilde Vibrieren und die Unterkühlung verklangen augenblicklich. "Wahrhaftig, jemand hat dir tatsächlich deine Zeugungsfähigkeit genommen. Wolltest du das so?" Gildfork überlegte, welche Antwort jetzt die einzig gescheite sein mochte. Wenn er ja sagte würden die ihn womöglich heftiger foltern, weil er sich in deren kruder Sichtweise gegen seine Natur und Mannespflichten vergangen hatte. Sagte er nein und konnte nicht angeben, warum er dann diesem Fluch ausgesetzt worden war, würden die ihn womöglich solange foltern, bis er eine für die genehme Antwort erwähnte. Dann fiel ihm was ein: "Ich wollte mal mit der Schwester meiner Frau ins Bett. Da ist meine Alte zu Früh nach Hause gekommen, hat sie und mich erwischt und mir dann die Klunker taub gehext. Tat ganz schön weh. "Von dir will ich keine Kinder mehr haben. Wer meine Schwester bespringt hat nicht das Recht, Vater meiner Kinder zu sein, hat sie mir erzählt." Er sprach so gelassen er konnte. Er fühlte jedoch, wie seine Fesseln wärmer wurden und nach Ende seiner Behauptung vibrierten.
"Noch eine nette Lügengeschichte?" fragte die Hexe, während sie wohl überlegte, wie sie den Unfruchtbarkeitsfluch wieder aufheben konnte.
"Ich lüge nicht. Meine Frau ist so besitzergreifend. Lakentanz ja, Babys nein", sagte er. Da fühlte er, wie seine Fesseln sengendheiß wurden. Und jetzt fingen diese Dinger auch noch an zu pochen, wie kleine Herzen, die aus ihren Körpern herausgetrennt worden waren.
"Wenn du noch mal lügst brennen dir die Fesseln Hände und Füße weg", sagte die ihn verhörende Hexe. Sie hatte tiefschwarzes Haar und meergrüne Augen. "Ich kann dich auch mit einem anderen Instrument ausforschen. Aber ich will deinem Verstand nicht schaden, und Veritaserum antagonisiert mit gewissen Essenzen, die wir in unseren Stimulationsinhalat verwenden. Also, zum letzten mal, warum wurdest du unfruchtbar gemacht, Arbolus Gildfork?"
"Arbolus Gildfork, Besenfabrikant, Vereinigte Staaten von Amerika", erwiderte Gildfork. Sofort ließ das Sengen der Fesseln nach, und auch das Pochen hörte auf. "Netter Versuch. Aber du wirst es mir sagen."
"Sage ich doch, Gildfork, Arbolus, Besenfabrikant, vereinigte Staaten von Amerika", erwiderte Gildfork. Jetzt hörten die Fesseln zu vibrieren auf. Also klang deren Wirkung bei jeder wahren Antwort ab. So konnte er die Sabberhexe hinhalten, dachte er. Doch die Hexe mit den meergrünen Augen blickte ihn an. Er okklumentierte sofort. Darin war er damals jahrgangsbester gewesen, selbst gegen Spezialisten wie Purplecloud und Bullhorn. Tatsächlich versuchte die andere ihn wohl zu legilimentieren. O Mann, die war stark. Er fühlte Kopfschmerzen und sah unvermittelt Mike Borrows, seinen Schulfreund, der mit auf seine Intimzone gerichtetem Zauberstab vor ihm kniete. Er musste das Bild sofort wieder verdrängen. Da durchbrauste ihn etwas wie ein Energiestoß von den Füßen bis zum Kopf. Er verlor die Konzentration. Doch die andere konnte ihn für einen Moment nicht genau mit dem Blick einfangen. Doch sie blieb über ihm hocken und wartete, bis er wieder klar sehen konnte. Er schloss schnell die Augen. Da durchzuckte ihn wieder der Energiestoß. Doch diesmal hielt er seine Augen geschlossen. "Wer war das, der dich unfruchtbar gemacht hat und warum. Die Wahrheit!"
Gildfork versuchte es jetzt mit schweigen. Doch jede Sekunde die er schwieg wurden die Fesseln wieder wärmer. Wollte er sich Hände und Füße wegbrennen lassen? Für Mike Borrows, der vor zehn Jahren mit einem seiner Besen eine illegale Spritztour gemacht hatte und dabei abgestürzt war? Was sollte es. Den konnten sie also nicht mehr drankriegen. So erzählte er, dass Mike Borrows, ein Kumpel aus Schulzeiten, auf seinen eigenen Wunsch hin den Fluch ausgestoßen hatte, den ein Zauberer nicht an sich selbst ausführen konnte, weil der körperliche Selbsterhaltungstrieb den Zauber unterband. Er hatte es getan, als er festgestellt hatte, dass seine Frau nicht nur mit ihm das Lager teilte. Wenn er viel unterwegs war lud sie sich andere Zauberer für gewisse Stunden ein. Weil sie schon damals fülliger war als für attraktive Junghexen üblich war hatte er außer der Hochzeitsnacht und an jedem ihrer Geburtstage auf den Beischlaf verzichtet. Er konnte sie nicht einfach rauswerfen. Aber wenn sie eines Tages angekommen wäre und ihm erzählt hätte, sie trüge sein Kind, so hätte er sie problemlos verstoßen können, ohne den von ihr in die Ehe eingebrachten Goldvorrat von drei Millionen Galleonen wieder hergeben zu müssen. Denn der Ehevertrag hatte eine Ausschließlichkeitsvereinbarung, dass nur er der Vater ihrer Kinder sein durfte. Darauf hatten seine Eltern bestanden, wohl weil die wussten, was für ein Flittchen seine Frau war. Mit dem Kontraseminis-Fluch war jede Zeugung, gewollt oder ungewollt, zu einhundert Prozent ausgeschlossen, weil alle entstehenden Samenfäden sofort wieder abstarben. Etwas ähnliches gab es auch bei Hexen, die auf keinen Fall Kinder haben oder dem Monatszyklus unterworfen sein wollten.
"So, und um deine Gattin davon abzubringen, sich von anderen Männern zur Mutter Machen zu lassen hast du deine eigene Zeugungsfähigkeit zerstören lassen? Das gehört sich nicht, nur um des Goldes willen die Aufgaben zurückzuweisen, die die Natur und die gesellschaftliche Pflicht einem auferlegen."
"Wie lustig, Riesenbaby. Du willst mir doch nicht etwa erzählen, dass du schon mal ein Kind von wem gekriegt hast."
"Eines? Zwanzig", lachte die andere. "Ja, und wenn dein Landsmann, der heute von uns nach den abzuleistenden hundert Befruchtungsakten wieder freigelassen wird, sofern er nicht lieber neu aufwachsen will, auch bei mir genug von sich hinterlassen hat trage ich wohl schon sein Kind und damit das einundzwanzigste überhaupt."
Tja, aber von mir kriegt keine von euch notgeilen Nymphomaninnen ein Baby in den Bauch", knurrte Gildfork.
"Da bist du auch noch stolz drauf, dass du dich hast sterilisieren lassen?!" entrüstete sich die Grünäugige. "Vielleicht sollten wir dich erst mal in ein praktisches Utensil für Säuglingspflege verwandeln und zehnmal benutzen lassen, wie es die Pflegehelfer in Beauxbatons angeblich zu befürchten hatten, wenn sie straffällig wurden. Ich könnte dich auch in einen Neugeborenen zurückverwandeln und überlegen, ob du dein Gedächtnis behalten sollst oder nicht. Aber wir wollen deine Blutlinie bewahren, weil sie kurz vor dem Erlöschen steht, nachdem deine Eltern keine weiteren Kinder bekommen haben. Da werden wir keine dreizehn Jahre warten, bis du wieder zeugungsfähig bist. Gut, dann sei das, wofür du uns gerade ansiehst! Denn Kontraseminis wirkt nur bei erwachsenen Männern."
"Heh, Moment mal, was soll das heißen?" erschrak Arbolus Gildfork. Zur Antwort apportierte die Hexe eine silberne Nadel und eine irdene Schale, in der Runen eingeritzt waren. Er erkannte sie als "Wandle", "Mann", "Frau", "Knabe", "Jungfrau" und "Umkehr". Da war ihm klar, was das heißen sollte. Er versuchte sich gegen die Fesseln zu stemmen. Dieses Weib sollte das nicht schaffen. Sollte er schreien. Nein, er musste so kämpfen. Er bäumte sich auf und versuchte, die Fesseln durchzureißen. Doch es gelang nicht. "Sinnlos, dich zu wehren. Außerdem ist es erhabener, neues Leben in sich zu fühlen als es wie belanglos in einer anderen zu erzeugen, mit der man nicht innig verbunden sein will", stieß die Hexe mit den grünen Augen aus. Arbolus Gildfork kämpfte weiter gegen die Fesseln. Es ging um seine Existenz, sein Ich, sein Leben. Dieses verdammte Hexenflittchen wollte ... Da traf ihn ein warmer Windstoß aus dem Zauberstab. Unvermittelt sank er in einen erholsamen Schlaf, den letzten in seinem Leben.
Die Portschlüsselauslösung mitten im Querfeldeinkänguruh wurde unverzüglich an das Zaubereiministerium weitergemeldet. Das Portschlüsselüberwachungsbüro versuchte, den Zielpunkt eines Portschlüssels zu bestimmen. Doch außer der Abreise konnten sie nichts in Australien finden. Das hieß, dass der Yankee entweder an einem mit Fidelius gesicherten Ort landete oder irgendwo sonst auf der weiten großen Weltkugel. Ministerin Rockridge rief unverzüglich zu einer Krisensitzung, an der außer ihr selbst ihr Stellvertreter Quentin Collins, sowie der Leiter für magische Strafverfolgung, die Leiterin der Abteilung für magischen Personenverkehr, sowie der Leiter der Abteilung für internationale magische Zusammenarbeit teilnahmen. Diesmal war kein Zweifel, dass jemand einen ausländischen Bürger entführt hatte, noch dazu einen sehr berühmten aus den Staaten, den Besitzer der Bronco-Besenmanufaktur. Sowas würde sich die gebeutelte Zaubereiadministration von Washington DC nicht gefallen lassen. Zudem war die Frage, welches Motiv die Entführer hatten. Ging es um die von Gildfork angestrebte Klage gegen Willy-Willy? Oder ging es um eine private Auseinandersetzung? War es womöglich denkbar, dass Gildfork sein Verschwinden höchst persönlich inszeniert hatte, um die Stimmung zwischen den beiden Kontinenten Nordamerika und Australien noch mehr zu vergiften? Oder war es wirklich eine Entführung, die von langer hand geplant war und egal wo auf der Welt zu einem bestimmten Zeitpunkt ablaufen sollte? Zu viele Fragen für jemanden, der gerne die eine richtige Antwort haben wollte. Im Verlauf der Krisensitzung stieß noch Laura Morehead, die Sprecherin der australischen Heilzunft hinzu, weil nicht auszuschließen war, dass der Verschwundene irgendwann wieder auftauchte und dann womöglich heilmagische Unterstützung brauchte. Denn vor einem Monat war in Belgien die seit einem halben Jahr verschwundene Zeitungshexe Annelise van Gaal wieder aufgetaucht, im siebten Monat mit Zwillingen schwanger und bis auf die Erinnerung, in einem weich ausgepolsterten Raum eine wilde Liebesorgie erlebt zu haben ohne weiterführende Erinnerungen, ja nur an die Zeit vor der Entführung konnte sie sich erinnern. Das hätten die Australier gerne vorher erfahren, denn so hatte auch das Verschwinden von Georg Bluecastle einen neuen Sinn ergeben und ergab vielleicht auch Gildforks Verschwinden einen Sinn.
"Die Verschwundenen und die eine wieder aufgetauchte zeichnen sich durch eine Gemeinsamkeit aus", holte Laura Morehead aus, nachdem sie erst einmal ruhig bei den Beamten zugehört hatte: "Sie alle sind die letzten lebenden Nachkommen lange zurückreichender Blutlinien, unverheiratet oder trotz langer Ehe kinderlos geblieben. Damit dürfte feststehen, wem Mr. Gildfork seine abrupte Abreise aus Australien zu verdanken hat, ebenso wie der junge Monsieur Dumas, Mr. Bluecastle und insgesamt dreißig andere Zauberer und fünf Hexen, die in den letzten sieben Monaten scheinbar auf Nimmerwiedersehen verschwanden. Bei Mademoiselle van Gaal, die in diesem Monat übrigens ihren vierzigsten Geburtstag feiert, handelt es sich um die letzte Nachfahrin eines einstmals mächtigen Clans in den Niederlanden, Belgiens und Luxemburg, in den damals sogar spanische Hexen eingeheiratet haben. Da sie reporterin ist und einer eigenen Verlautbarung vor zehn Jahren erwähnt hat, dass sie homophil ausgerichtet sei,also nach uralter Benennung den Sapphistinnen zugehörte, was heute Lesbierin genannt wird, stand zu vermuten, dass sie wohl kinderlos sterben und damit die magische Blutlinie der van Gaals beenden würde. Nichtmagier dieses Namens gibt es noch etliche und könnten irgendwann vielleicht Ruster-Simonowsky-Kinder bekommen. Was die Männer angeht, so gilt das mit dem letzten Träger einer alten Blutlinie genauso für Bluecastle und Gildfork, wobei Gildfork meiner Kenntnis aus den Staaten nach seit über zwanzig Jahren verheiratet ist. Sein Intimleben war niemals Thema bei den US-amerikanischen Kollegen. Womöglich haben sich beide Ehepartner darauf verständigt, kinderlos zu bleiben. Gildforks Ehefrau, Phoebe Gildfork geborene Pickman, entstammt insgesamt drei Blutlinien, die weiterhin Nachkommen erzeugt haben, den Uptons, Devereaux' und ... Moreheads. ja, ich bin mit Mrs. Gildfork über fünf Ecken verwandt. Ob dies mich stolz machen soll lasse ich hintanstehen. Jedenfalls besteht derzeit keine Gefahr, dass die Blutlinien erlöschen. Sonst hätte ich mal vermutet, dass beide Eheleute entführt worden wwären. Ja, ich spreche von Entführungen, und zwar eben zu dem Zweck, vom Aussterben bedrohte Blutlinien - keine Familiennamen - künstlich am Leben zu halten, in dem den betroffenen aufgezwungen wird, Nachkommen zu zeugen oder wie im Fall von Mademoiselle van Gaal, zu empfangen und zur Welt zu bringen. Dafür spricht auch, dass Mademoiselle van Gaal zu ihren unverhofft entstandenen Kindern immer wieder gesagt hat, dass sie die zwei in ihrem Leib auf jeden Fall kriegen und großziehen will. Ihre langjährige Lebensgefährtin, die einmal angedacht hat, eine Eizelle von ihrer Partnerin von einem Mann extrauterin befruchten zu lassen ... Ja, ist ja gut, Quentin, kein Heilersprech. Also, dass die Partnerin von Mademoiselle van Gaal die Idee hatte, eine fruchtbare Eizelle ihrer Freundin entnehmen zu lassen, sie im Stil einer nonmagischen künstlichen Befruchtung zum Embryo werden zu lassen und diesen dann in ihrem eigenen Schoß als gemeinsames Kind von sich und Annelise van Gaal zu bekommen. Da aber in unserer achso erhabenen Zaubererwelt immer noch die Zeugung nur zwischen Mann und Frau gestattet ist und die Erziehung des Kindes aus verschiedenen Gründen immer noch für eine Angelegenheit beiderlei Geschlechter erachtet wird musste die Dame auf dieses Vorhaben verzichten. Jetzt erhielten wir wohl die Quittung für diese wie auch immer gerechtfertigte Beharrlichkeit. Denn Ihnen allen dürfte nun klar sein, auf wessen Konto diese Verschwindefälle gehen." Eine Sekunde betroffenes Schweigen folgte Lauras Darlegung. Dann nickten ihre Zuhörer verdrossen. Dann nickte sie auch und sprach es aus: "Vita Magica."
"Moment, Madam Morehead, das heißt, dass diese Bande jetzt dazu übergegangen ist, kinderlos gebliebene Hexen und Zauberer einzufangen, an einen geheimen Ort zu portieren und dort mit Zaubern oder alchemistischen Mixturen Nachzuchten von wichtigen Blutlinienträgern zu betreiben?" fragte Quentin Collins. Der Leiter der Strafverfolgungsabteilung, Norman Blackthorn, grummelte. Dann fragte er, wer der Zauberer mit dem wohl französischen Namen sei, den Laura Morehead erwähnt habe. Sie berichtete von Gérard Dumas, der wie mehrere andere im Zuge eines Großversuches von Vita Magica auf Martinique früher als er wollte mit seiner Frau Sandrine Zwillinge gezeugt habe. Offenbar habe er dadurch den Entschluss gefasst, die Urheber dieser ihm aufgezwungenen Lebensplanung zu finden und wie auch immer zur Verantwortung zu ziehen. Sein letzter Aufenthalt sei die Insel Réunion im indischen Ozean gewesen. "Meine französischen Kollegen und die dort wohnhaften Experten für die Bekämpfung dunkler Künste, sowie meine US-amerikanischen Kollegen und dortige Experten zur Abwehr dunkler Künste haben sich miteinander in Verbindung gesetzt, um eine erfolgversprechende Suche nach den Verschwundenen zu beginnen. Näheres darf ich nur dann weitergeben, wenn seitens der bisher daran beteiligten die Einbeziehung unseres Ministeriums erwünscht und erbeten wird."
"Moment mal, Laura, Sie können kaum von mir und allen anderen hier erwarten, dass wir einfach so hinnehmen, dass beinahe auf offener Straße, ja aus eigentlich sicheren öffentlichen Transportmitteln heraus Hexen und Zauberer entführt werden. Irgendwer hier in Australien muss zumindest Bluecastles und Gildforks Verschwinden ermöglicht haben, und den oder die sollten wir suchen und finden, auch wenn sie in Fidelius-Bezauberungen Unterschlupf gefunden haben. Also bestellen Sie gütigst Ihren Kolleginnen und Kollegen von der Heilerzunft, dass diese ihre jeweiligen Ministerien höflich aber bestimmt darum bitten, uns mit in diese Suchaktion einzubinden. Und kommen Sie mir jetzt bloß nicht damit, dass man uns nicht traut, ja gar VM-AGentenin unseren Reihen vermutet. Erstens gilt das dann ja auch für alle anderen Länder, wo Hexen oder Zauberer unfreiwillig verschwunden sind - hier sei das Schicksal meines Amtskollegen Cartridge erwähnt - und zweitens kann kein Zaubereiministerium darauf ausgehen, dass Bürger aus seinem Zuständigkeitsbereich egal wo auf der Welt mal eben einen Portschlüssel zugespielt bekommen und dann wie Fische an einer transspatialen Angelschnur eingeholt werden. Ich persönlich sehe in solchen Aktionen eine terroristische Campagne, auch wenn hierbei nicht direkt Menschenleben beendet werden", sagte Latona Rockridge, die langjährige Zaubereiministerin Australiens. "Wir haben schon mit diesem selbsternannten Lord Vengor und den neu aufgetauchten Übervampiren genug zu tun, geschweige denn die immer noch irgendwo in der Welt ihr Unwesen treibende schwarze Spinne. Also geben Sie Ihren Kolleginnen bitte meinen Gruß weiter, dass wir in die Planung oder Durchführung der Suchaktion einbezogen werden möchten. Andernfalls gilt unser Hausrecht, was heißt, dass wir selbst Mittel und Wege finden, um diese Umtriebe zu beenden oder zumindest deren Ursprungsort zu finden."
"Großheilerin Morehead, bitte geben Sie uns eine persönliche Einschätzung. Besteht die Hoffnung für die Angehörigen, dass die Verschwundenen wieder auftauchen?" fragte Ian Shorewood, der Leiter der Abteilung für internationale magische Zusammenarbeit, der am morgen noch eine hitzige Diskussion mit Arbolus Gildfork geführt hatte.
"Jetzt könnte ich sarkastisch sein und sagen, dass die Angehörigen reicher Opfer eher darauf hoffen, dass ihre Angehörigen nie wieder auftauchen, damit sie sorglos erben können. Nur sind die Verschwundenen meistens kinderlos, mal abgesehen von Monsieur Dumas, der wohl den Leuten von VM zu dicht auf die Pelle gerückt ist und deshalb jetzt hundert Strafzeugungen oder mehr abzuleisten haben dürfte", sagte Laura verbittert. Dann fuhr sie fort: "Womöglich werden die Hexen, die unfreiwillig empfangen haben wieder freigelassen, um ihre Kinder in der freien Welt aufzuziehen. Was die Zauberer angeht so vermute ich vier unerfreuliche Möglichkeiten: Sie bleiben für alle Zeiten als menschliche Zuchtbullen in Gefangenschaft, sie werden körperlich und geistig zu Neugeborenen zurückverwandelt und vor Waisenhäusern oder Heilstätten ausgesetzt, werden durch intensive Gedächtnisveränderung zu willigen Mitstreitern von Vita Magica umgeformt oder verbleiben nach der erwähnten Verwandlung in Neugeborene in der obhut der VM-Aktivisten, um ganz natürlich in deren Werteordnung hineinzuwachsen, um dann irgendwann mit anderen getreuen Hexen weitere Kinder zu zeugen. In jedem Fall, Frau Zaubereiministerin, die Damen und Herren, fürchten wir Heilerinnen und Heiler eine isolierte, vom Rest der Zaubererwelt abgeschottete Parallelgesellschaft, wie wir sie im Grunde für den überwiegend magielos lebenden Teil der Menschheit darstellen und wie es die Bewohner diverser Inselvölker auch schon tun. Mit anderen Worten, unsere über Jahrhunderte aufgebaute Überwachung und Verwaltung magisch begabter Menschen und magischer Aktionen könnte auf lange Sicht ad absurdum geführt werden. Denn eins ist klar, dass Vita Magica - Gönnen wir dieser Terrorbande weiter diesen euphemistischen Titel - nur darauf ausgeht, magisch begabte Menschen zu erzeugen, aber nicht die bisherige magische Menschheit zu erhalten. Heilerisch gesprochen schicken sich diese Verbrecher an, gesellschaftliche Krebszellen zu werden, von denen wir nicht wissen, wo in unserer Mitte sie sich aufhalten. Solange wir niemanden von denen dingfest machen können, ohne dabei selbst von ihnen zu hilflosen Neugeborenen gemacht zu werden, besteht diese schleichende Gefahr für uns alle. Diese Gefahr ist in ihren Ausmaßen und ihrem Verlauf sogar größer als die Machtergreifungsfeldzüge dunkler Magier wie Slytherin, Montefiori, Sardonia, Anthelia, Grindelwald, Voldemort und eben Vengor." Beim Namen Voldemort hatten die meisten vor leichtem Schreck mit den Wimpern gezuckt. "Bei den ganzen Untäterinnen und Untätern wirkt dieser überhebliche Kampfname Riddles also immer noch stärker als die anderen? Hmm, das erstaunt mich immer noch", musste Laura noch eine zynische Bemerkung anbringen.
"Wie bekämpfen wir den Krebs, bevor er den Körper unrettbar zerfrisst?" wollte Blackthorn wissen.
"Indem wir den Herd oder die Herde der Wucherung finden. So geht es bei den Heilern, so müssen Sie es auch auf gesetzlich-gesellschaftlicher Ebene angehen."
"Ja, und deshalb muss ich es wiederholen, werte Laura, dass wir in alle erfolgverheißenden Aktionen unmittelbar einbezogen werden möchten", beharrte Ministerin Rockridge auf ihrer Forderung. Irgendwie, so konnte es Laura Morehead allen ansehen, war die Erkenntnis erschreckender als die bisherige Ungewissheit. Dann sagte Quentin was, wofür er von allen sehr bestürzt bis entrüstet angesehen wurde:
"Wenn diese Banditen darauf ausgehen, alleinstehende Hexen zu schwängern, damit die ihre angebliche Naturverpflichtung einhalten, dann ist diese Brut doch ganz sicher nicht im Sinne obskurer Hexenschwesternschaften. Vielleicht sollten wir ein altes australisches Mittel in Erwägung ziehen, ein Buschfeuer damit zu bekämpfen, anderswo Feuer zu legen, damit das große Feuer keine Nahrung mehr findet."
Laura Morehead hatte auch bestürzt dreingeschaut. Doch nach fünf Sekunden sagte sie nur trocken: "Ich denke, die brauchen und wollen dazu keine Einladung von uns. Die machen das, wenn sie sicher sind, dass sie wen erwischen können, selber. Davon dürfen Sie alle ausgehen. Aber ist es für den Patienten besser, die Pest mit der Cholera oder einen Tumor mit einem im Körper vorankriechenden Parasiten auszutreiben?" Darauf antwortete keiner. Das reichte Laura Morehead auch als Antwort.
Wo war sie? Wer war sie? O mann, was war das für ein verrückter Traum gewesen? Sie hatte doch echt geträumt, ein Zauberer namens Arbolus Gildfork zu sein und mit einer viel zu dicken Hexe namens Phoebe verheiratet gewesen zu sein. Ihr Kopf tat weh und in ihrem Unterleib war so ein komisches Gefühl, dass sie bisher noch nicht verspürt hatte, eine Art Hunger, aber nicht der vom Magen ausgehende. Sie tastete sich ab. Außer dass sie völlig nackt war war sie unverletzt. Ja, sie ertastete sogar, dass sie wohl noch nie mit einem Mann geschlafen hatte. Wie konnte das sein, wo sie schon über vierzig Jahre alt war? Aber wie hieß sie denn noch mal, zum feuerroten Donnervogel? Ah, Amanda. Hatte sie immer schon so geheißen, oder wurde sie auch mal Mandy oder Amy oder Ammy genannt? Sie erinnerte sich zurück, dass sie in Torntails gewesen war und da immer mit mehreren Jungs rumgezogen war. Offenbar hatte sie sich da immer wie ein Junge benommen. Aber zum Klo war sie immer bei den Mädchen gewesen, das aber dann alleine. Irgendwie war sie nicht normal, fand Amanda Gildfork. Andere Mädels waren immer in kleinen oder großen Gruppen herumgezogen oder hatten sich gegenseitig mit Schönheitssachen und Klamotten zu überbieten versucht. Sie hatte sich eher für Quodpot interessiert und wollte Besenbauerin werden. Hmm, irgendwie kam Amanda der Gedanke, dass sie erst Besenzureiterin und dann Entwicklerin geworden war. Sie hatte für Bronco gearbeitet. Da war sie ziemlich hoch aufgestiegen, obwohl der Laden doch eher eine Männervereinigung war. Hexen hatten da nur als Besentesterinnen oder Werbezauberentwicklerinnen oder Empfangsdamen geschafft. Beim Wort Empfangsdame fühlte sie eine gewisse Erregung im Schoß. Es war, als wollte da endlich was zu seinem oder ihrem Recht kommen. Auch fühlte sie ihre Brustwarzen hart werden, als stehe ihr ganzer Körper unter einer gewissen Anspannung, die aber nicht unheimlich, sondern sehr anregend war.
"Ah, du bist erwacht, meine teuere. Hast uns alle schön geärgert. Aber ich hoffe, du kannst das wieder gutmachen", hörte sie eine Stimme aus dem Nichts. Dass war doch die Stimme aus ihrem verdrehten Traum. War das am Ende kein Traum gewesen? Unfug, dann wäre sie ja wirklich vorher ein Mann gewesen. Hmm, irgendwie fragte sie sich, ob sowas nicht ginge, dass aus Hexen Zauberer und umgekehrt werden konnten. Irgendwas war da. Doch sie kam nicht darauf. "Ich lasse dir genug Essen und Trinken in deine Schlafkabine bringen. Wenn du satt bist lass ruhig unter dir. Der Boden ist wie eine Superwindel, die alles aufsaugt und nicht stinkt", hörte sie die Stimme der unsichtbaren Hexe. "Heh, wer bist du, bist du meine Mutter?" fragte sie. Doch dann fiel ihr ein, dass ihre Mutter Alexandra Gildfork schon seit fünfzehn Jahren tot war. Die hatte unbedingt wissen wollen, ob Grünstaudenwurz in einen bereits wild brodelnden Zaubertrank passt und war dann mit dem Kessel zusammen zum Kamin hinausgeflogen, weil sich Grünstaudenwurz und bereits im Trank verrührte Drachengalle nicht vertrugen. Seitdem wussten die Zaubertrankbrauer das. Aber für ihre Mutter kam diese explosive Erkenntnis genau eine Sekunde zu spät.
"Ich bin deine Ziehmutter, die dich damals, wo du noch ein Säugling warst, aufgenommen hat, weil deine leibliche Mutter dich nicht stillen konnte. Sie litt unter nachgeburtlicher Gemütstrübung oder dem Baby Blues. Deshalb kennst du meine Stimme wohl noch, weil ich dich bis zum sechsten Lebensjahr versorgt habe", erwiderte die Stimme. Jetzt erkannte Amanda Gildfork, dass das stimmte. Denn sie erinnerte sich nun an ihre leibliche Mutter und an eine mit grünen Augen und nachtschwarzem Haar. Und das war auch genau die, von der sie vorhin geträumt hatte. "Du hast versucht, jemanden von uns wegzubringen, von dem wir aber noch was dringendes brauchen. Leider ist er dabei gestorben. Aber du wirst uns helfen, den Verlust wieder auszugleichen, nicht wahr?"
"Wie das?" fragte Amanda.
"Indem du mindestens drei oder vier Kinder bekommst. Ich weiß, das widert dich im Moment noch an. Aber glaube mir, es ist das herrlichste, was eine Hexe wie du und wie ich erleben können, Leben aus unserem eigenen Leben hervorbringen, es ohne Hilfsmittel am Leben erhalten und zusehen, wie ein Teil von uns zu einem neuen großen Menschen wird. Iss jetzt und trink jetzt erst mal was!" Mit diesen Worten der unsichtbaren Sprecherin erschienen Teller mit dampfendem Inhalt, eine große Karaffe mit klarem Wasser und ein Kristallkelch. Amanda hörte ihren Magen grummeln. Ja, sie hatte auch richtigen Hunger.
Als sie später satt war und ein Drängen fühlte genierte sie sich erst. Doch dann ließ sie in einer Ecke des Raumes unter sich und staunte, dass alles restlos und ohne Geruchsspuren verschwand. Etwas festes musste sie noch nicht loswerden. Doch nun, wo sie gegessen und getrunken hatte, fühlte sie jenes merkwürdige Verlangen in sich, das seinen Ursprung in ihrem geschwungenen Unterleib hatte. Sie spreizte ihre Beine ab und bemerkte, wie es sie noch mehr anregte. Dann erinnerte sie sich an die Worte der Stimme. Sie hatte wen hier wegbringen wollen und der war dabei getötet worden. Um das auszugleichen sollte sie mindestens vier Kinder bekommen. Mindestens? Der Gedanke und die Schwärmerische Beschreibung dieses Vorrechtes einer Hexe steigerten jenes Verlangen. Dann fühlte sie, wie ihre Kabine sich in Bewegung setzte. Vicesimas Kinderkarussell hatte einen neuen Fahrgast.
Nach fünf Minuten ruhiger Fahrt wurde ihre Kabine angehalten. Ein Durchgang öffnete sich. Sie blickte hindurch und sah einen nackten, jungen Mann mit kastanienbrauner Lockenpracht, der gerade mal halb so alt war wie sie selbst, vielleicht sogar noch jünger. Sie fühlte eine erhabene Stimmung. War sie die erste, die er außer seiner Mutter oder irgendwelchen Schwestern nackt zu sehen bekam? Sie sah kurz noch mal an sich herunter. Ja,sie konnte sich sehen lassen, athletisch, straffer Bauch, dito Brüste und geschwungenes Becken. Wenn sie ihm gefiel würde sie ihn nehmen und ihn zumMann machen. Gleichzeitig würde sie von ihm endlich zur Frau gemacht und wenn alles klappte, die Mutter seines ersten Kindes. Sie krabbelte wie ein Kleinkind hinüber zu ihm. Er wirkte ausgelaugt, aber immer noch begierig, so wie er sie ansah. Sie fragte ihn was auf Englisch. Er verstand sie nicht. Er antwortete auf Französisch. Das konnte sie auch. So unterhielten sie sich. Sie erfuhr, dass der junge Zauberer Gérard hieß und erst gar nicht hier sein wollte, weil er nicht dafür herhalten wollte, fremde Hexen zu schwängern. Doch jetzt gefiel ihm das richtig gut. Sie fühlte sich ein wenig enttäuscht. Sie war nicht seine Erste. Aber er war ihr erster. Und den wollte sie jetzt haben. Ja,und auch er wollte sie. Trotzdem sie selbst bisher nie mit einem Mann geschlafen hatte wusste sie komischerweise genau, wo sie ihn anfassen musste, um ihn anzuregen und er wusste schon, wo er bei ihr anfassen musste, bis es mit einem vernehmlichen Schmerz in ihrem Unterleib zur vollendeten Vereinigung kam. Sie hatte ihn. Sie nahm ihn und hielt ihn an sich. Der sollte bloß nichts von sich danebengehen lassen. Das von ihm gehörte jetzt alles ihr, solange sie und er wach genug waren. Sie schrie ihre ersten wirklichen Liebeswonnen hinaus in den Raum und fühlte sich unendlich glücklich. Gérard tat ihr gut, und sie bedankte sich bei ihm, das sie ihm gut tat. Doch nach fünf wilden Wallungen war er zu müde. Auch fühlte sie, dass seine Saat tief genug in ihren Körper eingedrungen war. Hoffentlich war der Bursche nicht unfruchtbar. Aber dann, so erkannte Amanda Gildfork, hätten sie ihn sicher nicht hier hineingelassen, um auf willige und begierige Hexen wie sie zu warten.
Madame Faucon saß in ihrem Büro und schrieb gerade einen Brief an Prinzipalin Wright von der Thorntails-Akademie, das Schüleraustauschprogramm wiederzubeleben, auch wenn die Affäre Southerland-Lavalette erst eine Menge Staub aufgewirbelt hatte. Doch davon sollten sich zwei so renommierte Lehranstalten nicht abbringen lassen, ihre internationale Zusammenarbeit fortzuführen und weiterzuentwickeln.
Es klopfte. Als Madame Faucon "Herein!" rief betrat Professeur Quintilia Laplace das Sprechzimmer. "Ah, Quintilia, verzeihen Sie bitte, dass ich wegen Ihres Anliegens nicht gleich einen Termin gefunden habe", sagte Madame Faucon. Die Kollegin nickte und schloss die Tür von innen. "Ist jetzt sicher, dass Ihr Sohn auf einer der Inseln Réunion oder Mauritius verschwand?"
"Wir wissen jetzt vom Ministerium, dass er auf Réunion im Gasthaus zur singenden Brise ein Zimmer hatte. Eigentlich wollte er dort nur bis zum sechzehnten bleiben. Jetzt ist aber schon der dreiundzwanzigste, und keiner hat seine Habe abgeholt. Der Gastwirt hat bereits angekündigt, die Habe von Gérard kostenpflichtig mit dem fliegenden Holländer nach Frankreich zu schicken oder die überzähligen Tage gesondert abzurechnen. Ich werde welche Rechnung auch immer übernehmen. Das habe ich meiner Schwiegertochter schon erzählt."
"Was nicht die Frage beantwortet, wo Gérard abgeblieben ist", seufzte Madame Faucon. Ihre Kollegin nickte. Dann sagte sie was, das Madame Faucons getrübte Stimmung schlagartig in eine regelrechte Alarmstimmung umschlagen ließ.
"Sandrine deutete an, dass Gérard die Angelegenheit mit dem Cocktail, dem sie und er Estelle und Roger zu verdanken haben, immer noch nicht auf sich beruhen lassen wollte. Er hat da was angedeutet, dass er herausgefunden habe, wo die Zutaten für den Cocktail hergekommen waren und wohl demnächst da noch genaueres zu herausfinden würde."
"Das ist doch hoffentlich nur eine Hypothese, Quintilia. Es kann doch nicht sein, dass der Bursche immer noch meint, diesen Leuten selbstständig nachspüren zu müssen."
"Sandrine schließt das nicht ganz aus, obwohl sie bekundet, dass sie ihn immer wieder vor solchen Alleingängen gewarnt hat, ja auch Julius Latierre ihm da wohl was sehr eindringliches zu gesagt hat. Der junge Mann kennt sich ja mit Schreckensfiktionen der Muggelwelt aus, die an das heranreichen, wofür wir heute Magie benutzen können."
"Réunion sagten Sie. Ich nehme gleich Kontakt mit Madame Bleumont auf. Sie kann über die Einheimischen mehr in Erfahrung bringen als die Vertreter des Stellvertreters von Ministerin Ventvit."
"Ich danke Ihnen, Madame Faucon", sagte Professeur Laplace.
Danken Sie mir erst, wenn wir wissen, was Ihrem Sohn widerfahren ist und ob es für eine Umkehr nicht schon zu spät ist", seufzte Madame Faucon.
"Was soll ich Sandrine sagen?" fragte Quintilia Laplace.
"Dass die Liga gegen dunkle Künste sich der Sache annimmt. Denn wenn er wahrhaftig eine Spur zu Vita Magica aufgenommen hat könnte er denen zu nahe kommen. Was sie dann mit ihm anstellen ist mannigfaltig. Nur töten werden sie ihn nicht."
"Soll mich das jetzt beruhigen?" grummelte Professeur Laplace.
"Nein, das wohl nicht", seufzte Madame Faucon. "Es ist eher zu befürchten, dass wir alle Gérard Dumas geborener Laplace verlieren, nicht durch den Todesfluch, sondern durch eine totale Rückverjüngung."
"Blanche, falls Ihnen was einfällt, was wir tun können, um ihn zu finden bitte ich Sie, das so schnell wie möglich zu tun. Ich möchte mir nicht mein restliches Leben lang vorwerfen lassen müssen, etwas unterlassen zu haben, was meinen Sohn am Ende gerettet hätte."
"Ich mir auch nicht, Quintilia. Deshalb folgendes: Erfahre ich in den nächsten zwei Tagen nicht, was mit Gérard passiert ist, werden wir beide nach ihm suchen und ihn, sofern er noch sein Gedächtnis besitzt, finden." Professeur Laplace fragte, wie das gehen sollte. Madame Faucon erwähnte dazu nur: "So wie bei der Aufspürung der sogenannten Friedenslager, Quintilia."
"Und warum tun wir das nicht gleich?" fragte die Lehrerin, die ihre mütterlichen Gefühle nicht mehr verbergen wollte, wo Gérard kein Schüler unter Schülern mehr war.
"Aus dem einfachen Grund, dass ich diesen mächtigen Zauber nur dann anwende, wenn sicher ist, dass Gérard verschwunden ist und nichts hinterlassen hat, um ihn auf übliche Weise wiederzufinden. Bitte geben Sie mir noch drei Tage."
"Zwei Tage", grummelte Quintilia. "In drei Tagen will mein werter Schwiegercousin prüfen lassen, ob Gérard wirklich in das Haus eingezogen ist und dort wohnt. Wissen wir bis dahin nicht, ob dem so ist, könnte Sandrine dazu genötigt werden, mit den Kleinen auszuziehen."
"Wie bitte? Ich dachte, diese leidige Angelegenheit sei nun gänzlich vom Tisch", schnarrte Madame Faucon.
"Ja, das mit dem Besitz ja. Aber der Verwandte, den ich meine, hat damals von meinem Schwiegervater die Anweisung erhalten, sicherzustellen, dass Gérard auch wirklich über 300 Tage im Jahr in seinem Haus wohnt. Ansonsten müsste hinterfragt werden, ob er die Ehe nur aus dem Zweck geschlossen habe, das Haus zu erhalten."
"Ach, und dann ist ein verschwundener Gérard natürlich für solche Leute sehr passend. - Gut, Quintilia, ich bemühe meine Kontakte. Wissen wir in einem Tag nicht, wo Gérard sich aufhält, dann werden wir zwei ihn suchen. Hierzu müssen wir dann aber Beauxbatons verlassen. Ich kläre das mit dem Kollegen Delamontagne."
"Ich danke Ihnen, Madame Faucon", erwiderte Quintilia Laplace. Dann durfte sie gehen.
"Wo immer du bist, Gérard, ich hoffe, du musstest nicht bereuen, was du getan hast", dachte Madame Faucon.
Selene Hemlock tat so, als gäbe es nichts wichtigeres als den kunterbunten Springball, den sie mit ihren Füßen und Händen herumtanzen ließ. Denn im Moment unterhielt sich ihre Mutter Theia mit Linda Knowles von der Stimme des Westwindes. Es ging darum, ob Theia Angst hatte, wegen der Aufregung im Zaubereiministerium vielleicht das Land verlassen zu müssen. Theia fragte sie, woher Linda das denn habe, dass sie und ihre Tochter in einer solchen Gefahr seien. "Weil Sandhearst nachprüfen lassen will, wer vielleicht für diese Gruppierung namens Vita Magica oder einer anderen feindlichen Organisation arbeitet. Dass Minister Cartridge im geschützten Zaubereiministeriumsgebäude einem nachhaltigen Fluch zum Opfer fiel haben Sie sicher von uns oder den Kollegen von der Konkurrenz erfahren", erwiderte Linda Knowles.
"Ich arbeite weder im Ministerium noch für dasselbe. Wer immer Minister Cartridge mit diesem Fluch getroffen hat muss sich dort gut auskennen, damit er oder sie schnell zuschlagen und sofort wieder verschwinden konnte. Oder meinen Sie diese Durchhalterede von Sandhearst, dass das Zaubereiministerium nicht geschwächt ist und den oder die Schuldigen bald gefunden hat?"
"Öhm, ich meine, dass der zeitweilige Zaubereiminister darauf ausgeht, dass diese Gruppierung Leute in die Staaten gebracht hat, die hier für Unordnung und Unsicherheit sorgen sollen", erwiderte Linda Knowles.
"So, hat er das in einem offiziellen Interview oder gar einer öffentlichen Ansprache behauptet?" fragte Theia Hemlock und grinste, weil Selene den Springball gerade nur mit dem Kopf spielte und ihn immer an die decke prellte und wieder auffing.
"Im Moment gilt das Ministerium als Festung mit hochgezogener Zugbrücke, verschlossenen Toren und besetzten Schießscharten und Wehrgängen. Alles was meine Kollegen und ich kriegen sind Eulen mit offiziellen Stellungnahmen", sagte Linda Knowles mit ihrem weithin berühmten Zuckerlächeln.
"Solange ich keinen Brief bekomme, wo drin steht, dass ich hier unerwünscht bin oder eine Vorladung kriege, sehe ich meine bisherige Stellung unverändert. Ich bin die Mutter einer hier im Land geborenen amerikanischen Staatsbürgerin, namentlich Selene Hemlock. Da die Familienstandsregeln der Zaubereigesetze verbieten, Mutter und Kind räumlich voneinander zu trennen, solange die Mutter keine nachweisbare Straftat beging, bin ich de facto genauso nordamerikanische Staatsbürgerin wie meine Tochter. Und ich werde nicht den schlafenden Drachen kitzeln, mich irgendeiner Straftat schuldig zu machen, wo ich froh bin, dass Ihr Land mich nach der nötigen Prüfung meiner Angaben willkommen geheißen hat. Das dürfen Sie so zitieren, aber nur, wenn tatsächlich etwas öffentliches von Cartridges Stellvertreter behauptet oder gar veranlasst wird."
"Ja, danke für diese Stellungnahme", sagte Linda Knowles und schenkte Theia noch einmal ihr berühmtes zuckersüßes Lächeln. Dann verabschiedete sie sich und benutzte den Kamin, um das Haus von Theia Hemlock zu verlassen.
"Soso, ist Sandhearst derselben Paranoia verfallen wie der Muggelweltpräsident der Staaten, überall seien heimliche Unterstützer einer internationalen Verbrecherbande", sagte Theia und fing Selenes Ball aus der Luft. Selene blickte zu ihr hoch, etwas, woran sie sich nur schwer gewöhnt hatte, seitdem sie endlich eigenständig laufen konnte und ohne ständig Windeln tragen zu müssen herumlaufen konnte.
"Diese kulleräugige Reporterin mit den überempfindlichen Ohren hat sicher was gehört, dass dir und mir Bauchgrimmen bereiten könnte", sagte Selene mit ihrer hohen Stimme.
"Wie war das?" fragte Theia sichtlich ungehalten dreinschauend. Selene verzog ihr Gesicht und grummelte was unverständliches. Dann fragte sie ganz im Tonfall eines kleinen Mädchens: "Hat die Reportertante gesagt, dass wir weggehen müssen, Mom?"
"Nein, hat die nicht. Sie wollte nur wissen, ob ich Angst habe, dass die mich und dich hier nicht mehr wollen, Kleines", erwiderte Theia Hemlock. "Vielleicht hat einer der was gesagt, dass der Onkel Zaubereiminister ganz viel Angst hat, dass jemand ihm weh tun will oder alles kaputtmachen will, was der so hat. Es gibt halt viele böse Leute, Selene."
"Hast du Angst, die bösen Leute kommen zu uns hin?" fragte Selene.
"Genau wie alle anderen auch, die keine bösen Leute sind", sagte Theia Hemlock. "Aber deine Mom passt ganz doll auf dich auf, dass dir keiner was tut." Dann warf sie Selene den Springball wieder zu. Sie fing ihn auf und hielt ihn fest, obwohl der Ball weiterspringen wollte, wie es in ihn eingezaubert war. Sie drehte sich auf dem Absatz und lief in ihr Zimmer, um den Ball in seine Kiste zurückzulegen und lieber noch was Musik zu machen. Dabei ärgerte sich Selene Hemlock, dass sie auch in Abwesenheit von Leuten, die das Geheimnis von ihr und ihrer Mutter nicht kannten, dieses rückständige Kleinmädchenvokabular benutzen musste, obwohl sie durchaus das Recht hatte, sich mit ihrer Mutter über die Sorgen des Ministers zu unterhalten, wenn diese auch sie betrafen. Allein schon, dass der frühere Minister Cartridge durch den Infanticorpore-Fluch körperlich zum Baby zurückverwandelt worden war ging sie eine Menge an. Immerhin hatten diese Unholde von Vita Magica ihm nicht die Schmach angetan, dass er bei vollem Bewusstsein und im Vollbesitz aller bisherigen Erinnerungen an sein Leben im Leib einer ihm unangenehmen Hexe neu heranwachsen und von dieser geboren werden musste. Doch auch mit sowas konnte man sich abfinden, hatte Selene gelernt. Also konnte Cartridge womöglich sogar einen Vorteil daraus ziehen, noch einmal neu aufwachsen zu dürfen, auch wenn er im Moment mit seiner Gattin und neuen Ziehmutter in einem Exil zubrachte, weil Sandhearst ihn und sie voneinander trennen lassen wollte. Sollte Vita Magica noch einmal einen erfolgreichen Streich gegen die US-amerikanische Zaubererwelt landen wusste niemand, was Sandhearst noch einfiel. Der Magielose George W. Bush war da das Paradebeispiel, wie schnell sowas schlimme Folgen für den Rest der Welt haben konnte. Das waren ihre eigentlichenSorgen, nicht die, ob ihre Mutter und sie das Land zu verlassen hatten oder nicht. Doch sie musste davon ausgehen, dass Linda Knowles mit ihren Zauberohren was gehört hatte, dass Anlass zu dieser Vermutung gab. Also sollten sie und ihre Mutter das nicht als reines Getue abtun. Passierte wieder was im Namen von Vita Magica, konnte Sandhearst tatsächlich alle prüfen, die in den letzten Jahren in die Staaten eingewandert waren. Mit gewisser Verbitterung dachte Selene daran, dass sie nicht in dieses Land hatte einwandern wollen und dass Theia Hemlock, die damals noch Lysithea Greensporn und davor Daianira Hemlock geheißen hatte, für sie sowas war, wie die Warteinsel Alice Island für all die Leute, die mit dem Schiff in die Staaten gekommen waren, um dort zu leben. Schon eine absurrde Vorstellung, erkannte Selene Hemlock.
Während Selene sich ihre ganz eigenen Gedanken machte zog sich Theia Hemlock in ihr Arbeitszimmer zurück und las den Brief, den ihr Linda Knowles persönlich in die Hand gedrückt hatte.
Schwester Theia, ich habe gehört, dass Sandhearst zur Jagd auf mögliche VM-Agenten geblasen hat. Er macht das erst still und ohne es in die Zeitung zu bringen. Er hat Druck von den Greendales, die mit Milton Cartridge verwandt sind. Die wollen, dass Cartridge trotz Babykörper wieder Zaubereiminister sein soll. Sandhearst will das natürlich nicht und prüft, was er dagegen machen kann. Das könnte Ärger geben. Deshalb will er die Aufmerksamkeit auf alle die lenken, die in den letzten Jahren unter merkwürdigen Umständen in die Staaten gekommen sind. Passt also auf, dass euch nicht eines Nachts maskierte Vollstrecker angreifen und entführen oder dass Sandhearst irgendwas macht, um dir was ans Bein zu binden!
Ich habe mit meiner Fürsprecherin darüber gesprochen, dass ich versuchen soll, den Aufenthaltsort vonCartridge herauszufinden, bevor Sandhearst ihn ermittelt. Könnte sein, dass meine Ohren durch Barrieren hören, die nicht mit den Augen zu durchschauen sind. Aber ich weiß, dass es mittlerweile gute Zauber gibt, mich nicht alles mithören zu lassen, wo ich nicht direkt dabei sein kann.
Lady Roberta hat übrigens eine Einladung zu einem Treffen am Halloweentag ausgesprochen. Die soll nur über die Bilder oder durch persönliche Weitergabe übermittelt werden. Deshalb habe ich die dem Brief beigefügt. Deine Urgroßmutter Eileithyia hat die Einladung auch schon bekommen.
Semper Sorores!
Linda Knowles
"Wer will denn jetzt noch Zaubereiminister in Amerika sein, wo der Ministersessel mit zwanzig Schleuderflüchen verwünscht wurde?" fragte Anthony Summerhill seine Mutter Tracy. Er hatte grinsen müssen, als er im Kristallherold gelesen hatte, dass Milton Cartridge von seiner eigenen Frau entführt worden war, damit die Ministeriumsleute den nicht zu einer wildfremden Hexe steckten."
"Du hast recht", sagte Tracy Summerhill mit schadenfrohem Grinsen. "Der Job ist wirklich zum schreien." Beide lachten darüber, obwohl das eigentlich nicht angebracht war. Anthony Summerhill trauerte immer noch der Zeit nach, wo er als Lucas Wishbone der mächtigste Zauberer Amerikas gewesen war. Diese verdammte Sabberhexe Anthelia hatte ihn dazu gezwungen, als sein eigener Sohn von seiner damaligen Geliebten, die zugleich seine Tante mütterlicherseits war, neu ausgetragen, wiedergeboren und großgezogen zu werden. Jetzt hatte es halt seinen achso alles besser machen wollenden Nachfolger Cartridge erwischt, nur dass der nicht in einer anderen Hexe neu heranwachsen musste. Aber, so dachte Cartridge, diese nach außen so damenhafte Godiva Cartridge geborene Greendale hatte es faustdick hinter den Ohren. Die war doch sehr froh gewesen, die erste Dame der amerikanischenZaubererwelt zu sein. Das würde sie den Halunken dieser selbsternannten Gruppe zur Bewahrung und Mehrung magischen Lebens niemals verzeihen, dass sie jetzt wie eine flüchtige Verbrecherin in einem Versteck ausharren musste, ohne aus dem Hintergrund heraus was anregen zu dürfen, wie sie es als Ministergattin sicher gerne und ausgiebig gemacht hatte. Am Ende hatte die auch diesen verächtlichen Burgfrieden zwischen Cartridge und dieser reudigen Sabberhexe Anthelia angeleiert. Dann sollte die jetzt mit dem in Windeln steckenden Milton Cartridge glücklich werden, wie es Tracy Summerhill war, als sie die Gelegenheit bekommen hatte, ihn, Anthony, als eigenen Sohn zu kriegen. Die einzige Sorge, die sich der als sein eigener Sohn wiedergeborene machte war, dass Vita Magica mit seinen Aktionen nichts anderes vorhatte, als die Macht zu ergreifen. Wer dann nicht spurte konnte sich leicht wie Cartridge als Windelwichtel oder Wickelhexlein wiederfinden oder noch schlimmer, von einer Fanatikerin dieser Bande als eigenes Kind noch mal in die Welt zurückgeboren werden, nur ohne eigenes Gedächtnis, damit der oder die eben im Sinne dieser Gangster neu aufwachsen musste.
Der eine Tag, den Quintilia Laplace hatte warten sollen, war um. Das französische Zaubereiministerium hatte keine Spur von Gérard gefunden. Daher traf sie sich abends mit Madame Faucon am zur Beauxbatons-Akademie gehörenden Strand.
Jetzt, wo die Sonne untergegangen war und sich das Mondlicht in den schäumenden Wellen spiegelte und den tagsüber weißen Sand in einem hellenGrau schimmern ließ, wirkte diese Umgebung irgendwie seltsam auf die Arithmantiklehrerin von Beauxbatons. Es war unheimlich und zugleich erhaben. Die Ewigkeit von Himmel und Meer galt auch in der Nacht. Außerdem hatte Quintilia den Eindruck, ein Eindringling an diesem Ort zu sein, hier nicht erwünscht zu sein.
Madame Faucon, die sie zu dieser Zeit an diesen Ort gebeten hatte, um außerhalb der bestehenden Schutzzauber von Beauxbatons jenes Rufritual zu wirken, mit dem sie damals nach den Montferre-Zwillingen gesucht hatte, empfand die nächtliche Stimmung des einsamen Strandes wohl nicht so bedrückend. Sie sah die vom Mondlicht angeleuchteten Wellenkämme an, blickte weit auf das Meer hinaus, als suche sie dort nach einem Punkt, auf den sie ihre ganze Aufmerksamkeit richten musste. Dann sagte sie zu ihrer Mitarbeiterin: "Wir sind ungestört. Hier ist ein guter Ort, um nach Ihrem Sohn zu suchen, Quintilia."
Die beiden Hexen suchten sich eine windgeschützte Stelle, damit Quintilias Blut nicht gleich vom ersten Wind mit neuem Sand überdeckt werden konnte. Denn nur wenn eine Blutsverwandte des zu suchenden eine kleine Menge ihres Lebenssaftes opferte, um damit magische Zeichen in einem Kreis anzuordnen, konnte der Sanguivocatus-Zauber gelingen.
Blanche Faucon achtete genau darauf, dass die mit Quintilias Blut zu schreibenden Symbole genau in der richtigen Ausrichtung angebracht wurden. Jedes Zeichen stand für eine Himmelsrichtung oder deren Unterteilung und war, so hatte Blanche Faucon es von Jane Porter erlernt, auf die vier Elementarkräfte Erde, Feuer, Wind und Wasser bezogen, aber auch auf die Lebensabschnitte Geburt, Jugend, Elternschaft, alter und Tod. So stand das in genau östlicher Richtung anzubringende Symbol nicht nur für den frischen Wind des Morgens, sondern auch für Geburt und Kindheit. Im Süden musste das für Feuer und Stärke stehende Zeichen angebracht werden. Die dazwischen liegenden Symbole standen für den Übergang von Kindheit zur Reife und von der Luft, die zu Feuer wurde. So ging es weiter, bis im Norden das Zeichen für die Heimkehr zur Erde aufgeschrieben wurde. Zwischen Norden und Osten waren dann Symbole für das Werdende Leben im Schoß der Erde und den ersten Atemzug und Schrei des neuen Kindes anzubringen.
Als alle Zeichen mit Quintilias Blut geschrieben und mit alten Worten aus dem Voodoo-Kult magisch aufgeladen worden waren begann die im genauen Kreismittelpunkt stehende Quintilia, sich auf ihren Sohn zu konzentrieren, während Madame Faucon mit ihrem Zauberstab und beschwörenden Worten die Verbindung zwischen ihr und den Zeichen aus frischem Blut herstellte.
Mehrere Durchgänge des Rituals waren nötig, bis Quintilia zum ersten Mal eine Antwort von ihrem Sohn empfing. Es war ein lustvolles Stöhnen, als sei er mitten im Liebesspiel gerufen worden und wolle es nicht unterbrechen.
Rettungsschwimmer Carlo Rossini versah schon drei Jahre seinen Dienst in Malibu bei Los Angeles. Seine Berufsgruppe war in den 90er Jahren durch die Fernsehserie mit David Hasselhoff und Pamela Anderson weltberühmt geworden. Dadurch waren viel mehr Touristen an diesen herrlichen Strandabschnitt gekommen, von denen viele vorher nur in der Badewanne Wasser um sich herumgehabt hatten. Jetzt im Oktober gingen die Besucherzahlen naturgemäß zurück. Außerdem wollte um sechs Uhr morgens nicht jeder Tourist gleich ins Meer.
Die Brandung rauschte etwas lauter als gestern. Auf dem Pazifik herrschte wohl mehr Wind. Womöglich würde erst in einer Stunde was los sein. Aber er hatte diesen Vertrag unterschrieben, eine Stunde vor Sonnenaufgang auf seinem Beobachtungsposten zu stehen. Genau deshalb sah er was, das ihn, der schon vieles erschütternde gesehen hatte, ziemlich durcheinanderbrachte.
Gerade rollte eine zwei Meter hohe Welle gegen den feinen weißen Sandstrand an und brach mit lautem Rauschen. Als das aus der Welle freikommende Wasser ins Meer zurückflutete glühte ein blaues Licht auf, keine fünf Meter von der Brandungsgrenze entfernt. Rossini stierte durch seinen entspiegelten Feldstecher und traute seinen Sinnen nicht. Das blaue Licht wuchs zu einem strahlenden Wirbel, der eine Sekunde lang rotierte und dann übergangslos erlosch. Dabei gab er jedoch etwas frei, dass der erfahrene Rettungsschwimmer sofort als männlichen Körper erkannte. Es war ein Weißer, lange Zeit nicht in der Sonne gewesener Mann mit dunkelblondem, kurzen Haar. Von der Figur her war er sehr gut trainiert, kein Gramm fett zu viel, mehr geschmeidige Muskeln als Speck. Er trug nur eine blaue Badehose am Körper. Er lag da wie tot. Das konnte doch nicht angehen. Carlo blickte noch einmal durch den Feldstecher und betrachtete das Gesicht des Mannes. Es wirkte schlaff wie in tiefen Schlaf oder gerade friedlich entschlafen. Der Rettungsschwimmer senkte sein Fernglas und eilte von seinem Beobachtungsposten an den Strand. Gerade brandete die nächste Welle an und zerstob auf dem Strand. Gischt traf den auf so unnatürliche Weise dort angekommenen Menschen. Carlos holte alles aus seinen austrinierten Beinen heraus was ging und überwandt die hundert Meter Abstand in nur zehn Sekunden. Als er bei dem wie tot daliegenden Mann stand beugte er sich hinunter und hielt ihm einen Spiegel vor Mund und Nase. Das Glas beschlug. Der Mann atmete, flach aber sichtbar. Sofort fühlte er den Puls des Bewusstlosen und maß mit Hilfe seiner wasserdichten Uhr die Herzfrequenz. Diese lag bei vierzig Schlägen pro Minute. Carlo blickte sich hektisch um. Nicht, dass noch mehr blaue Lichtwirbel hier auftauchten. Er dachte an Außerirdische oder Menschen aus der Zukunft, die gelernt hatten, Körper in Energie aufzulösen und durch Raum und Zeit zu versenden. Bisher hatte er sowas nur im Fernsehen oder Kino gesehen. Dass es sowas echt gab hätte ihm keiner erzählen dürfen. Im Moment blieb der auf merkwürdige Weise an den Strand gebrachte Mann der einzige so aufgetauchte Fremde. War das überhaupt ein Mensch oder ein in menschlicher Gestalt auftretender Außerirdischer oder gar ein künstlicher Mensch, also Replikant oder Androide?Doch wer das auch immer war tat im Moment nichts. Carlo merkte, dass er hier alleine nichts ausrichten konnte. Er konnte den Mann nur von der Brandungszone wegschaffen. Aber zuerst musste er prüfen, ob er verletzt war. Nicht, dass der einen Genickbruch hatte. Schnell aber gründlich untersuchte der in erster Hilfe zertifizierte Rettungsschwimmer den Bewusstlosen, von dem er nicht wusste, wer das war. Als er sicher sein konnte, dass er keinen Genickbruch abbekommen hatte brachte er ihn in die stabile Seitenlage. Vielleicht konnte er ihn zu Bewusstsein bringen. Doch halt! bevor der Mann da aufwachte sollte besser noch Polizei oder FBI hier anrücken. Am Ende war der Bursche gefährlich und nur gerade in einer Art Starre.
Carlo hastete zurück zu seinem Posten und rief von dort über Satellitentelefon erst die Polizei von Malibu und dann die Zentrale seiner Rettungsschwimmerstaffel. Er vermied bei beiden Anrufen zu erwähnen, dass der Bewusstlose am Strand aus einer blauen Lichtspirale herausgekommen war. Nachher wurde er noch von Männern in schwarzen Anzügen und mit Sonnenbrillen heimgesucht, weil er was gesehen hatte, was er nicht sehen durfte. Er behauptete, dass der Fremde von einer Welle an den Strand gespült wurde und dass er, Carlo, erste Hilfe geleistet hatte.
Fünf Minuten später rauschten zwei Streifenwagen und ein Ambulanzwagen an Carlos Strandabschnitt. Der immer noch bewusstlose Mann in blauer Badehose wurde untersucht und auf die Trage gelegt und in den Krankenwagen verfrachtet. Dieser brauste mit eingeschalteter Sirene und Warnbeleuchtung Stadtwärts davon. Die Polizisten aus dem Streifenwagen vernahmen den Rettungsschwimmer zu der Entdeckung und den von ihm vorgenommenen Ersthelfermaßnahmen. Dann tauchte auch noch der klotzige schwarze Geländewagen des Verwaltungschefs der Rettungsschwimmerstaffeln auf. Mr. Bernardo Molinos ließ sich von Carlo noch einmal berichten, was er gesehen und gemacht hatte. "Und du hast den erst gesehen, als die Welle den herangetragen hat, nicht weiter draußen auf dem Meer schon?" fragte Molinos. Carlo erkannte, dass das die Schwachstelle seiner Erzählung war, dass er ja eigentlich schon viel früher hätte sehen müssen, wenn jemand auf dem Meer trieb. Genau das war ja sein Job. Er sagte dann, dass er da gerade einen anderen Strandabschnitt unter Beobachtung gehabt hätte, weil es ja vor zwei Wochen eine Haisichtung gegeben hatte und sie sicher sein wollten, dass sich kein Hai in diese Gegend verirrte. Das nahm Molinos nach kurzem Nachdenken zur Kenntnis, weil ja im Moment auch niemand sonst am Strand war. Da konnte man schon länger über das Meer sehen und dabei Sachen nicht mitbekommen, die außerhalb des Fernglasobjektivs lagen.
"Und der Mann war die ganze Zeit bewusstlos?" fragte Molinos und kassierte einen mürrischen Blick von Sergeant Willes, dem ermittelnden Streifenpolizisten.
"Soweit ich es mitbekam war der die ganze Zeit ohnmächtig, Bernrdo", erwiderte Carlo.
"Öhm, Sir, wenn Sie nicht mehr berichten können war es das für's erste. Ihre Adresse und Telefonnummer haben wir ja. Bitte halten Sie sich für eine neuerliche Befragung zur Verfügung. Kann sein, dass wir das FBI ins Boot holen müssen."
"Geht klar, Sergeant", erwiderte Carlo und hoffte, dass die Feds bloß nicht auf die Idee kamen, der Fremde könnte auf eine ganz andere Weise an den Strand gekommen sein.
Unterwegs im Krankenwagen. Die Ambulanz jagte mit wimmernder Sirene durch die Außenbezirke von Malibu. Ziel war das Strandunfallkrankenhaus. Die waren auf Tauch- und Schwimmunfälle spezialisiert. Sanitäter Jones beobachtete den Mann auf der Trage, der zur Sicherheit mit zwei breiten Riemen angeschnallt war. Ein EKG-Monitor überwachte die Herztätigkeit. An diesem konnte Jones auch erkennen, wie sich der Herzschlag von 44 auf erst 60 und dann auf 75 Schläge pro Minute beschleunigte und auch die Stärke der Herzschläge zunahm, aber in einem gesunden Sinusrhythmus stattfanden. Da schlug der Patient die Augen auf und sah sich um, als sei er gerade aus tiefem Schlaf aufgewacht. Jones blickte den mitfahrenden Notarzt Dr. Brown an. Da sprach der Erwachte:
"Zum feuerroten Donnervogel! Wo bin ich hier. Ey, was soll das mit den Riemen hier? Losmachen, ihr Clowns!"
"Entschuldigung, Sir, Sie sind ohnmächtig am Strand gefunden worden und befinden sich auf den Weg ins Malibu Unfallkrankenhaus zur weitergehenden Untersuchung."
"'n Muggelkrankenhaus? Nope, Mister. Das läuft mit mir nicht. Sofort losmachen!"
"Bitte was?" fragte Jones. Doch der Doktor machte nur "Schsch!"
"Zu Ihrer eigenen Sicherheit und Gesundheit sollten Sie uns erst mal klären lassen, was mit Ihnen geschehen ist."
"Neh, aber nicht von euch magielosen Kittelträgern", knurrte der aufgewachte und fingerte an seiner Badehose herum. "Die war das einzige, was Sie an hatten", sagte Jones. "Wir haben Ihnen nichts ausgezogen."
"Klar, wenn ich schwimmen gehe ... Moment mal, Malibu? Wie bin ich den von der Botanikerbucht über'n ganzen Pazifik ... Drachenscheiße!"
"Bitte was?" fragte Jones. Der Notarzt prüfte das EKG-Gerät und griff dann zu dem festgemachten Arztkoffer. "Neh, Weißkittel, die Nummer mit den Einspritzerdingern läuft mit mir nicht. Gleich habe ich meinen Zauberstab, dann ist Schluss im Bus."
"Ihren was?" fragte der Arzt, der gerade eine Ampulle und eine Injektionspistole aus dem Koffer herausholte. Da zog der Patient auf der Trage an seiner Badehose und zog einen schlanken Holzstab heraus, der immer länger und länger wurde, bis er an die dreißig Zentimeter lang war. Mit einer unerwarteten Bewegung aus dem Handgelenk zielte er auf den breiten Riemen um seine Waden. Der zerriss ratschend und rutschte links und rechts herunter. Dann bog der Patient seine Hand noch mehr zurück und murmelte was. Der zweite Riemen riss. Dr. Brown fummelte gerade die Ampulle in die Injektionspistole. "Nix da, hab' ich gesagt, Kurpfuscher!" schnaubte der nun frei auf der Trage sitzende und riss den Stab herum. Brown wollte gerade nach vorne, als er von einem roten Blitz aus dem Stab getroffen wurde. Jones sprang auf, wollte den unerwartet handlungsfähigen Mann überwältigen und entging nur knapp einem zweiten roten Blitz. Der schlug wuchtig in die Seitenwand der Ambulanz und sprengte Funkensprühend ein gezacktes Loch hinein. Der Fahrtwind blies laut heulend herein. Jones war fast bei dem Patienten, und krachte mit dem Kinn gegen dessen linke Faust. Ein Sternenregen explodierte vor den Augen des Sanitäters. Er taumelte zurück. Dann blitzte es wieder rot auf. Dann wurde es Nacht um Jones.
"Im Führerhaus der Ambulanz hatte Jim Kortney die unerwartete Wendung dieser wilden Fahrt im Rückspiegel beobachtet. Er griff gerade zum Mikrofon, um zu melden, dass der Patient gerade seine Gurte abgesprengt und den Sanitäter und den Notarzt mit roten Strahlen aus einem stabförmigen Gegenstand getroffen hatte. Da sah er noch, wie der Patient sich auf die nackten Füße stellte, sich umsah und dann aus einer schwungvollen Drehung heraus im Nichts verschwand. Kortney vermeinte noch einen pistolenartigen Knall zu hören. Er trat voll auf die Bremse und brachte die Ambulanz am rechten Straßenrand zum stehen. Er schaltete die Sirene aus, ließ jedoch die Rotlichter weiterleuchten. Dann rief er in der Zentrale durch und machte Meldung. Er bekam die Anweisung, die beiden Kollegen zu untersuchen. Als Fahrer war er auch in Erstversorgungsmaßnahmen grundausgebildet. Als er feststellte, dass die beiden Kollegen bewusstlos waren, aber keine sichtbaren Verletzungen hingenommen hatten gab er die Information weiter. Darauf bekam er die Anweisung, die beiden Kollegen ins Krankenhaus zu bringen. wie der eigentliche Patient die zwei bewusstlos gemacht hatte und vor allem, wie er aus einem mit mehr als 90 Stundenkilometern fahrenden Wagen spurlos verschwinden konnte sollten andere klären, dachte Kortney. Damit behielt er auch recht.
Als er im Krankenhaus ankam wurde er nicht von einem Notfalltrupp erwartet, sondern von zwei Männern in grünen Geschäftsleuteanzügen und einer Frau in einem violetten Umhang. "Ah, da sind Sie ja. Wir hatten schon befürchtet, man würde Sie unterwegs abfangen und uns entziehen", sagte der eine der zwei Männer in Grün. Der zweite zog einen Holzstab aus dem Hosenbund. Kortney wurde sofort klar, was lief. Die drei da gehörten auch zu denen, wie der Patient. Er wollte gerade laut rufen, da traf etwas seinen Kopf. Als er wieder klar war war er alleine. Der Krankenwagen war vollkommen unbeschädigt, und die beiden Kollegen stiegen gerade aus. "Okay, Übung beendet. Von hier bis zum Strand und zurück in zwanzig Minuten. Ist für die Uhrzeit noch zu langsam", sagte Doktor Brown. Alle anderen stimmten ihm zu. Dann erhielt Kortney den Auftrag, den Wagen für den nächsten echten Einsatz wieder vollzutanken.
Unterdessen trafen sich die beiden Männer in Grün und die Dame im violetten Umhang im Büro von Juan Castro, dem Leiter des magischen Unfallumkehrkommandos Westküste. "Ui, aber gerade soeben noch", setzte der eine Mann in Grün an und nickte der Frau in Violett zu. Diese sagte: "War schon die richtige Idee von den Franzosen, genug Hintertürprogramme mit den Polizei- und Unfallklinikrechnergeräten zu verbinden, dass jede auf Zauberei hindeutende Meldung sofort angezeigt wird. Sonst hätten wir die drei Krankenwagenfahrer nicht früh genug behandeln und das Automobil reparieren können. Die beiden Geschockten haben keine bleibenden Schäden hingenommen."
"Wissen wir schon, wer der Patient von denen war?" fragte der zweite Mann in Grün, Arnold Powers.
"Ich habe Jackson schon zum Strand hingeschickt. Der soll mit der Rückschaubrille nachsehen, was da passiert ist. Am Ende müssen wir den Zeugen noch behandeln, der den Zauberer gefunden hat. Der soll von Wellen angespült worden sein. Wer glaubt das noch?" Alle schüttelten die Köpfe. "Er hat wohl sehr schlau geschlossen, dass eine Sichtung irgendeines übernatürlichen Vorgangs unangenehme Folgen für ihn haben könnte und deshalb diese Geschichte erzählt, um aus der Zauberstabausrichtung zu bleiben", sagte die Frau in Violett, Heilerin Viola Seamore.
"Ja, aber wenn der sowas gesehen hat könnte der das doch irgendwem weitererzählen. Das muss unbedingt geklärt werden", stieß Powers aus. Alle nickten.
Zur selben Zeit flog Rick Jackson, ebenfalls Mitarbeiter der magischen Unfallumkehrtruppe, auf seinem Harvey-Besen unsichtbar für alle anderen den Strand entlang und prüfte mit dem aufgesetzten Retrocular, was in den letzten sechzig Minuten hier alles passiert war. Als er sah, wie jemand reglos aus einer Portschlüsselspirale heraus erschien und dass der diensthabende Rettungsschwimmer sofort zu ihm hinlief war klar, dass der Strandaufpasser das gesehen hatte, wie der andere angekommen war. Er hatte bereits erfahren, was Carlo Rossini ausgesagt hatte. Um die Polizei und die Funksprechaufnahmen kümmerten sich andere. Er behob das Problem, dass jemand einen auftauchenden Portschlüssel gesehen hatte, indem er Carlo die Erinnerung gab, hier und heute noch nichts auffälliges gesehen zu haben. Gleichermaßen verfuhr er mit allen Leuten, die er durch die Rückschaubrille hatte sehen und verfolgen können. Am Ende prüfte er noch nach, was genau im fahrenden Krankenwagen passiert war und meldete es weiter. Dadurch erfuhren die kalifornischen Mitarbeiter des Zaubereiministeriums, dass Georg Bluecastle wieder aufgetaucht war, und zwar erheblich besser in Form als vor seinem Verschwinden.
Bluecastle selbst hatte sich aus dem fahrenden Wagen abgesetzt und in das Zentrum des Magierdorfes Viento del Sol versetzt. Denn ihm war klar, dass er unbedingt mit Ministerialzauberern und -hexen reden musste, vor allem, weil er nicht wusste, wie er von Australien an den Strand von Malibu geraten war. Als er auch noch festgestellt hatte, dass er offenbar eine von ihm nicht bestellte Schlankheitskur nebst Haarwuchserneuerung abbekommen hatte fragte er sich, was ihm passiert war. Er erinnerte sich nur noch daran, dass er im März nach Australien gereist war, um da einige Blauer-Vogel-Busse zu verkaufen. Gut, die wären dann wohl mit Muggelblickablenklack zu Querfeldeinkänguruhs umgepinselt worden. Aber wichtig war nur, dass er kurz vor einem Megageschäft gestanden hatte. Er hätte hundert von den Bussen bauen und rüberschicken lassen können. Zumindest waren die Verkehrsaufsicht und die Handelsbehörde bei den Aussis entsprechend gut in Stimmung. Dann erinnerte er sich nur daran, dass er in der weltberühmten Botanikerbucht eine Runde schwimmen wollte. Und was war dann? Er musste eingeschlafen sein. Denn er hatte dann nur noch davon geträumt, auf bunt lackierten Hippogreifen, Drachen, die sogar hitzeloses Feuer spucken konnten, Minidonnervögeln und verkleinerten Ausgaben von Abraxaner-Pferden immer im Kreis um eine riesengroße Wiege gefahren zu sein, begleitet von einer klimpernden und tutenden Musik, zusammen mit erwachsenen Frauen, die alle große, rosarote, dunkelbraune oder bronzefarene Babyköpfe auf den Schultern getragen hatten. Er war der einzige Mann gewesen, der aber auch nichts am Leib gehabt hatte. Und in der riesengroßen Wiege, um die dieses in bunten Lichtern angeleuchtete Karussell gekreist war, lagen zwanzig echte Babys im wohligen Schlummer, und alle hatten sein Gesicht. Das fiel ihm jetzt ein, wo er in Viento del Sol auf dem Hauptplatz stand und den Heilernotruf in den Himmel schoss. Kaum war dieser als leuchtende Glutspirale immer weiter nach außen gewirbelt tauchten schon zwei Gestalten auf, eine Hexe und ein Zauberer.
Als er dann mit dem Zauberer, Silvester Partridge, in dessen Behandlungsraum war trafen noch der Unfallumkehrtruppenleiter Westküste, zwei weitere Zauberer in lindgrünen Umhängen und die silberhaarige, goldbebrillte Großheilerin und Königin der Hebammen, Eileithyia Greensporn ein. Ab da folgten vier teils anstrengende, teils unangenehme Stunden sehr ausführlicher Verhöre, bei denen er einmal sogar das Veritaserum schluckte, um von sich aus klarzustellen, dass er die Wahrheit sagte. Überhaupt, dass er schon seit Ostern weg war und jetzt schon der 22. Oktober war ging ihm ziemlich an die Nieren. Was zum dreigeschwänzten Vipernzahn war ihm in der Zwischenzeit passiert? Allein schon dieser intensive Traum von diesem Riesenkarussell mit den bunten Lichtern und der über der Drehachse aufgebauten, sich im Rhythmus der Musik bewegenden Wiege war doch ziemlich krank. Dann wurde er auch noch von einem der Straafverfolgungszauberer aus dem Ministerium legilimentiert und musste feststellen, dass in seinen Träumen auch Zweierfahrten auf diesem vertückten Karussell stattfanden und dann, was er jetzt erst richtig gewahr wurde, immer ein neues Baby in der sanft schaukelnden Wiege dazukam, als bräuche er eine der mit ihm fahrenden Frauen mit Babyköpfen nur anzufassen. Heilerin Greensporn bestand darauf, dass Bluecastle sich einer Körperuntersuchung unterziehen möge, ob Rückstände von Tränken oder gasförmigen Substanzen nachweisbar waren und ob er in den letzten Monaten ausgiebigen Geschlechtsverkehr gehabt hatte. Immerhin erkannten sie seine Identität an. Als er immer wieder in den mannshohen Spiegel hinter der Behandlungsliege blickte und da einen übertrainierten, bloß kein Fitzelchen Speck zu viel am Körper tragenden Mann sah, war ihm endgültig klar, dass er von jemandem einkassiert und zu irgendwas benutzt worden war. Wer immer das gemacht hatte sollte nichts zu lachen haben, wenn er das rausbekam. Doch im Moment hatte er nichts zu lachen. Denn als die Heilerin sagte, dass er womöglich gegen seinen Willen mehrere Kinder mit ihm unbekannten oder gar von ihm abgelehnten Hexen gezeugt haben mochte sah er wie ein Vampir aus, wachsbleich mit eingefallenen Wangen. Es fehlten nur die überlangen Eckzähne.
"Ja, und dieser lange Traum von einem bunten Karussell ist ganz sicher eine mnemoplastische Manipulation, also ein künstlich erstelltes Erinnerungsgut. Ich konnte zwar keine angewandten Gedächtniszauber erspüren, was aber nichts heißen will, wo die so viel Zeit hatten, Ihr Gedächtnis von grund auf umzuformen", sagte Juan Castro, der Leiter der kalifornischen Eingreiftruppe bei magischen Vorkommnissen in der Muggelwelt.
"Die haben mich als Zuchtbullen oder besser Zuchthahn missbraucht, um deren Hühner aufzufüllen?" stieß Bluecastle aus. "Das kriegen die wieder, wenn ich raushabe, wer die sind."
"Zum einen, Mr. Bluecastle, ist das nur unsere Sache, das rauszukriegen", sagte Castro. "Sie sind ja selbst ein Beispiel dafür, wie skrupellos die vorgehen und ..." Es klopfte. "Herein, wenn es keine kulleräugige Reporterin ist!" rief Castro. Es war aber keine Linda Knowles, sondern Sheena O'hoolihan.
"Musste ich erst von Linda Knowles gefragt werden, ob das LI an der Vernehmung des unverhofft wieder aufgetauchten Mr. Bluecastle beteiligt ist?" begrüßte sie die Anwesenden. Dann sah sie Bluecastle. "Ups, haben Sie endlich genug Geld für eine ausgiebige Körperertüchtigungskur zusammenkratzen können, Georg?" fragte sie völlig direkt.
"Was will die rothaarige Fidelspielerin denn hier?" schnarrte Bluecastle und sah Sheena O'Hoolihan kritisch an. Dann tauchte auch noch der geschäftsführende Zaubereiminister auf. Es musste wirklich eine Menge passiert sein, dachte Bluecastle.
Weil Madam O'Hoolihan nun einmal da war wurde sie auch über die Lage informiert, aber nur dahingehend, dass Bluecastle wohl längere Zeit in der Gewalt einer gewissen Vereinigung gewesen sei, die meinte, mehr magische Menschen auf der Welt haben zu müssen. Mehr wollte man ihr noch nicht sagen, wohl weil es ja auch Linda Knowles mitgehört hatte, wie Bluecastle auf dem Zentralplatz von Viento del Sol aufgetaucht war und gezaubert hatte.
Nach der langen Vernehmung willigte Bluecastle ein, sich im HPK für die nächsten Wochen gründlich untersuchen zu lassen. Vielleicht konnte sein natürliches Gedächtnis wiederhergestellt werden.
Als Sheena O'Hoolihan wieder im Laveau-Institut zurück war blickte sie gespannt auf ein in ihrem Büro hängendes Gemälde von drei Hexen um einen über blauem Feuer brodelnden Kessel. Endlich kam Giovanna Dimonti, eine immer in grün-weiß-roter Kleidung auftretende Hexe mit nachtschwarzen Zöpfen, die eine untersetzte Hexe im geblümten Kleid mit Strohhut auf den graublonden Locken ins Bild führte. Wenige Sekunden später baute sich aus der Leinwand heraus eine wirbelnde Lichtspirale auf, aus der die Hexe mit Strohhut leibhaftig in Sheenas Büro erschien.
"Und, alles mitbekommen?" fragte Sheena.
"Alles wichtige. Grazie, Giovanna!" sagte Jane Porter und nickte der immer noch nur bildhaften Giovanna zu. Diese winkte und setzte sich zu den Hexen um den brodelnden Kessel, die gerade ein magisches Lied sangen.
Jane erzählte nun, was sie alles mitbekommen hatte und dass sie bedauerte, nicht aus dem Bild von Pincus Hawkins heraustreten zu dürfen, um Bluecastle persönlich zu legilimentieren.
"Klar, dass die werte Madam Greensporn sofort drauf kam, dass die VM-Halunkinnen und -Halunken Georg Bluecastle in ein Zuchtprogramm eingespannt haben, wie dieses Karussell beschrieben wurde. Schon dreist, einem dann so ein Gedächtnis zu verpassen, auf einem magischen Kinderkarussell mitzufahren", sagte Sheena.
"Womöglich, weil genau so die Zuchtpaarungen ausgelost werden. In Beauxbatons bilden die Lehrerinnen und Lehrer auf eine ähnliche Weise die für die Walpurgisnachtfeier gültigen Paare", sagte Jane. "Gehen wir mal davon aus, dass bei Vita Magica auch französische Hexen und Zauberer mitmachen könnten die das aufgegriffen haben und so rein zufällige Paarungen zusammenbringen, um möglichst breitgefächerte Nachkommen zu schaffen."
"Wir sollen vom LI aus mithelfen, dass in den Staaten begangene Entführungen per Portschlüssel schneller entdeckt und womöglich rückverfolgt werden können. Du weißt ja, dass unser wackerer Quinn Hammersmith an einem Portspürer arbeitet, der irgendwann mal den Weg eines ausgelösten Portschlüssels nachverfolgen können soll. Hoffentlich bläst er dafür nicht das Institut aus der Welt."
"Da arbeitet er und nicht nur der schon seit der Erfindung der Portschlüssel dran. Das einzige, was bisher geht ist die Ortung von im freien auftauchender Portschlüssel", erwiderte Jane. "Aber eine andere Frage, haben wir jetzt endlich die Liste der weltweit möglichen Angriffsziele von Vita Magica? Da wollte Cartridge doch schon drauf hinwirken, das die Ministerien da zusammenarbeiten."
"Habe ich Sandhearst auch gefragt. Der meinte, das sollte ich mit einem hauptamtlich tätigen Zaubereiminister klären. Solange nicht feststehe, dass er das sei, müsse er erst die gröbsten Sachen in den Staaten bereinigen", erwiderte Sheena.
"Hmm, und wir lassen uns damit abspeisen? Wirst du alt, Sheena?"
"Gegenfrage, bist du in deinem Exil wieder zum frechen Schulmädchen geworden, dass du mir so kommst?" knurrte Sheena. Dann sagte sie: "Außerdem, liebe Jane, habe ich in der Sache mit der netten Eileithyia Greensporn einen Handel abgestimmt. Während die Jungs vom Unfallkommando Bluecastle befragt haben habe ich mit ihr mentiloquiert, dass ich und sie im Namen der Heilerzunft und des LIs eine Anfrage an die anderen Heiler Weltweit richten, so eine Gesamtliste zu kriegen. Abgesehen davon erinnerte sie mich daran, dass das Ministerium hier und anderswo mittlerweile diese Computersachen benutzt und dieses Internet-Verbindungsgeflecht zwischen denen. Wenn Sandhearst sich zu fein dafür ist, andere Minister zu fragen, lassen wir das eben von denen machen, die diese Dinger bedienen können. Du weißt sicher, dass Madam Greensporn Martha Merryweathers Hebamme und Nachgeburtsbegleiterin ist."
"Yep, weiß ich", erwiderte Jane schmunzelnd. "Wenn Martha wieder an ihre eigenen Arbeitsgeräte darf macht die uns diese Liste, auch schon aus ganz eigenem Interesse, dass die Machenschaften von VM endlich mal wirksam unterbunden werden."
"Yupp, gefällt mir!" erwiderte Jane Porter. Beide Hexen lachten. Dann meinte Jane Porter noch:
"Schon mit den anderen geredet, ob wir das mit Sanguivocatus machen sollen? Je mehr Angehörige der verschwundenen Zauberer einbezogen werden, desto genauer kriegen wir vielleicht deren Aufenthaltsort, wenn die nicht über die ganze Welt verteilt sind."
"Komm, hör auf! Was der Drache nicht verbrennen kann frisst er auch nicht, und ein schweifloser Besen ist nur ein Stück Brennholz. Sandhearst hat sich meinen Vorschlag angehört und gesagt, dass er das nicht genehmigen kann, weil diese Art von Zauber sich als sehr riskant erwiesen hat und auf die Suche nach Richard Andrews verwiesen."
"Frechheit!" schnarrte Jane Porter. "Moment, aber damit meint er doch, dass kein Ministeriumszauberer das machen darf, oder?"
"Öhm, hast recht, Jane. Das Ministerium darf und will kein Risiko eingehen."
"Gut, dann planen wir das eben als Aktion Kesselkind."
"Du meinst, weil das Kind schon in den Kessel gefallen ist?"
"Genau so, Sheena", erwiderte Jane Porter.
Nancy Gordon kam am Abend des 23. Oktobers von einem langen Arbeitstag in ihr Vier-Zimmer-Appartment im dreißigsten Stock eines Nobelhochhauses im nördlichen Manhattan nach Hause. Dafür nutzte sie den ihr dauerhaft zur Verfügung gestellten Buick mit Transitionsturbo und Einbruchsschutzbezauberungen. In ihrem Briefkasten fand sie eine Menge des üblichen bunten Werbezeugs. Das war der Preis dafür, eine offizielle Anschrift in der Muggelwelt zu haben, wusste Nancy. Bei den bunten Werbezetteln und Prospekten war aber auch ein ordentlich verschlossener Briefumschlag. Der kam von einer Firma "Wunderwelt & Zauberklang" aus Chicago und richtete sich an sie, weil sie in der magielosen Welt als Anthropologin mit Schwerpunkt Sagen aus Europa, Afrika und Asien registriert war. Weil der Brief auf buntem Papier geschrieben oder besser gedruckt war hielt sie ihn für eine ganz gewöhnliche Benachrichtigung aus der magielosen Welt. Im wesentlichen war es die Einladung zu einer Halloweenfeier in Miami, weil in diesem Jahr mit der von vorne wie von hinten lesbaren Zahl 2002, mal wieder dort gefeiert werden sollte, wo sich Voodoo, Hinduismus und Christentum an einem Ort antreffen ließen. Nancy hatte bisher nichts von dieser Firma gehört oder gelesen. In der Einladung stand, dass man sie deshalb anschrieb, weil sie vor einem Monat einen ausführlichen Artikel über die Entstehungsgeschichte des irischen Halloween-Charakters Jack O'Lantern veröffentlicht hatte. Der Inhalt war genau auf sie und zehn andere rein magielose Kollegen zugeschnitten. Dem Brief beigefügt war eine Antwortkarte und eine Einladungskarte mit einem besonderen Wasserzeichen, das unerlaubtes Kopieren vereiteln sollte. Wenn sie bis zum siebenundzwanzigsten die Antwortkarte mit Unterschrift zurückgesandt hatte, dass sie teilnahm, konnte sie am Halloweenabend die mitgeschickte Einladungskarte benutzen. Nancy prüfte mit ihrem eigenen Computer, ob es die Firma gab und stellte fest, dass sie schon seit zwanzig Jahren existierte und vor allem im Bereich Rollenspiel und Hörspiel-CDs tätig war. Sollte sie deshalb die Einladung auf versteckte Flüche prüfen? Wäre das bei ihr ins Büro geschickt worden hätte sie das sicher so gemacht. Aber Brief und Internetauftritt der Firma deuteten zu sehr auf Muggelwelt als auf mögliche Zaubererweltaktionen. So prüfte sie ihren Terminkalender. An Halloween passierte immer so viel. Doch sie erkannte, dass sie auch einmal einfach nur entspannen sollte. So füllte sie die Antwortkarte aus und stimmte auch zu, im Kostüm zu erscheinen und sich den anderen Gästen gegenüber bis Mitternacht nicht mit Namen oder echtem Aussehen zu erkennen zu geben, um den Spaß am Verkleiden zu genießen. Sie unterschrieb diese und alle anderen Bedingungen. Dann steckte sie die Antwortkarte in den beigefügten Rückumschlag, verschloss diesen mit einer neuen Lösung, die das Einspeicheln unnötig machte und legte den Umschlag auf den Wohnzimmertisch. Morgen früh wollte sie ihn in den Briefkasten an der Straßenecke einwerfen.
Wie viele Tage vergangen waren wusste Gérard nicht. Es war ihm auch egal. Zumindest war irgendwann der Wachhaltefluch erloschen, so dass er tatsächlich auch mal Stunden verschlief, in denen er jedoch nicht von heißblütigen Geliebten träumte, sondern von seinen Kindertagen, weit vor Beauxbatons und vor Mildrid Latierre. Wenn er musste pfropfte sich was von der magischen Unterlage in seinen Enddarm und zog ihm allen unverdaulichen Ballast aus dem Körper oder sog sein Glied auf, um ihm dann die Blase leerzuwringen. Er staunte schon lange nicht mehr, dass kein Schmutz und kein übler Geruch in seiner Kabine aufkam.
Manchmal bekam er mit, wie er während der freien Runden in einer Art warmer, watteweicher Duftwolke schwebte, die ausnahmslos jede Körperstelle von ihm überstricht und reinigte. Auch meinte er, dass unsichtbare Klingen sanft vibrierend über sein Gesicht und seinen Hals glitten, um jede Bartstoppel abzutrennen. So bekam er nicht mal durch seinen Bartwuchs mit, wie viele Tage er schon hier war.
Wenn er wach und stark genug war wurde ihm beim Anhalten des sich immer wieder drehenden Karussells eine andere Liebespartnerin zugeführt. Er empfand bei jeder dieselbe Begierde und Erregung, ob es junge Hexen waren, die vielleicht bei ihm ihre Mädchenzeit beendeten oder Hexen, die älter als seine eigene Großmutter waren, die von ihm Jungspund frisches Blut in sich heranreifen lassen wollten. Die meisten der ungezählten Gespielinnen konnten nur bruchstückweise Französisch. Die wenigen, die seine Muttersprache gut konnten bedankten sich immer sehr, dass er Ihnen half, neues Leben zu empfangen oder ihnen endlich den Sinn ihres Lebens zu geben. Als er nach erholsamem Schlaf und einer reichhaltigen Mahlzeit, zu der Kürbissaft angeboten wurde, den nächsten Zwischenhalt mitbekam fragte er sich nur, woher die nächste Hexe kam, mit der er was Kleines auf den Weg bringen sollte. Als die kreisrunde Öffnung in der Wand dann aufging krabbelte eine dunkelhäutige Hexe zu ihm hinein und lachte. "Oh, gleich auf Anhieb bei dir. Dann können wir endlich unser großes Kennenlernfest feiern", flötete sie und tastete sich zu ihm vor. Jetzt erkannte er ihr Gesicht. Das war die Hexe, die vor ihm ihre Babykopfmaske abgenommen hatte und ihn damit zur Sichtbarkeit verleitet hatte. Er fühlte verbitterung in sich aufsteigen. Wegen der hing er hier herum und musste eine Kinderwunschkandidatin nach der anderen beschlafen.
"Du bist doch beim US-Zaubereiminister unter Vertrag. Hast du keine Angst, dass ich das weitersage."
"Wenn ich die Angst hätte würden wir zwei nicht auf mein zweites Baby hinarbeiten, sondern ich dich als mein erstes Ziehkind großziehen. Aber unsere Vorkehrungen verhindern, dass jemand, der bei uns mitmachen darf verrät, mit wem er alles zusammengelegen hat. Deshalb war ich mir auch sicher, dass wir zwei uns treffen. Deshalb darfst du von mir auch wissen wie ich heiße, auch wenn Mater Vicesima das eigentlich nicht mag. Aber die ist gerade selbst mit wem zusammen und freut sich, eine fast schon ausgestorbene Blutlinie zu erhalten. Ich bin Charleen, die vierte von sechs Töchtern von Momma Joanna. Die hat mich auch bei der ehrenwerten Gesellschaft zur Bewahrung und Mehrung magischen Lebens eingeführt, wohl schon vor meiner Geburt. Meine anderen fünf Schwestern haben auch ohne Vita Magica ihre Blutlinien erhalten.""
"Woher kannst du so gut Französisch sprechen?" wollte Gérard wissen, während Charleen sich schon daran machte, ihn zu sich zu nehmen und er es nicht erwarten konnte, eins mit ihr zu werden.
"Lossentscheid. Meine Eltern wollten ... das ... wir ... jede ... zwei Fremdsprachen können. Ich ... habe ... Wau, du bist schon richtig gut in Form! - Öhm, ... Französisch und Bbrasilportugiesisch gelernt. Neh, bleib schön bei mir!" keuchte sie, während sie den ersten Durchgang eröffnete. Danach war beiden nicht nach Reden zu Mute. Charleen machte keinen Hehl daraus, dass sie wollte, was sie tat und genoss es, dass Gérard wohl schon genug Übung hatte, ihr das auch zu geben, was sie wollte.
Während sie in immer wilder lodernder Lust zusammen waren meinte Gérard, aus der Ferne eine Frauenstimme nach ihm rufen zu hören. Er verstand nicht, was sie sagte. Dafür war er auch zu beschäftigt. Doch die Stimme aus der Ferne wurde Lauter. Jetzt konnte er sie verstehen: "Gérard, mein Sohn, wo bist du?! Antworte mir!" Er erkannte die Stimme. Das war seine Mutter. Diese Erkenntnis brachte ihn aus dem gerade so anregenden Rhythmus. Charleen merkte das. Sie verharrte, ohne die intime Vereinigung zu unterbrechen. "Heh, was ist?!" rief sie. Da hörte er die Stimme seiner Mutter noch lauter werden. "Gérard, Mein Sohn, antworte mir bitte! Wo bist du?!" Wo bist du?!" Dann meinte er, sie wie eine Gestalt aus violettem Nebel vor sich schweben zu sehen. Er wollte gerade den Mund aufmachen, um ihr zu antworten, als Charleen ihm beide Hände an die Schläfen legte und dabei sagte: "Alle fremden Stimmen weg! Du bist mein und nur mein!" Gérard fühlte es wie einen Hitzestoß durch seinen Kopf jagen. Er schaffte es nicht, seiner Mutter zu antworten. Er keuchte und sog dabei wieder mehr von der aphrodisierenden Essenz in sich auf. Charleen hielt noch seinen Kopf in den Händen. Ihr Körper erbebte vor Erregung und Anstrengung. Dann fühlte Gérard nur noch das Verlangen, mit dieser afrikanischstämmigen Verheißung weiterzumachen. Dass seine Mutter ihn gerufen hatte war jetzt völlig unwichtig.
Als nach der zweiten Runde wieder die Stimme seiner Mutter in seinem Kopf erklang und er meinte, sie vor sich zu sehen griff ihm Charleen noch einmal an den Kopf und beschwor, dass er nur sie sehenund hören sollte und nur für sie da war. "Die anderen haben es dreimal mit dir getan. Ich will dich viermal, um sicher zu sein, dass ich auch von dir schwanger werde, Zuckerstängchen", knurrte sie unvermittelt verärgert. Dann meinte er noch zu hören: "Woher kennt die so einen Zauber?" Gérard war von dem Einfluss in dieser Liebeskarussellkabine schon derartig von allen früheren Bedenken und Sorgen leergespült, dass er sich selbst fragte, warum seine Mutter ausgerechnet jetzt in seinem Kopf und vor seinem inneren Auge herumspukte. Hatte die was mit ihm gemacht, dass sie ihn immer dann finden konnte, wenn sie das wollte? Das musste er loswerden. Nachher sah die noch, dass er gerade mit einer willigen Braut zusammenlag.
"Ich weiß nicht, was die macht. Vielleicht hat die mir so'n Suchzauber mit der Milch eingeflößt. Ich merk nur, dass ich das nicht lange aushalte, wenn die mich ruft."
"Ja, und dabei vergisst, warum du hier bist, Zuckerstängchen. Aber Tante Charleen ist da und passt auf, dass du das nicht vergisst."
"Das ist nett von dir. Ich habe keine Lust, dass meine Maman sieht, dass ich gerade mit dir oder wem anderen Liebe Mache, wenn die sowas sehen kann."
"Das wollen wir doch stark hoffen, dass die das nicht mitkriegt", sagte Charleen. Dann fand sie, dass sie beide wieder genug Luft für die dritte Runde hatten. Als in der Zeit wieder ein Ruf von Gérards Mutter zu hören war brauchte Charleen ihm nur die Hand auf die Schläfe zu legenund zu wispern: "Du bist mein allein!" So überstanden er und sie die dritte und auch die vierte Runde. Dann meinte Charleen: "Ui, jetzt ist von dir erst mal nichts mehr zu kriegen. Leider darf ich dann nicht mehr zu dir hin, wenn ich aus deinem Kuschelnest raus bin. Aber das mit dem gemeinen Zauber muss ich weitermelden. Sonst kriege ich Ärger mit der großen Matriarchin."
"Wer ist das, diese Mater Vicesima?" fragte Gérard.
"Das überlasse ich besser ihr, dir das zu sagen, wenn sie durch dich eine Namensänderung erfährt. Schlaf jetzt schön und tief!" sagte sie und berührte Gérard mit drei Fingern an Stirn, Brust und Bauch. Unvermittelt versank Gérard in tiefen Schlaf. So bekam er nicht mehr mit, wie Charleen sich aus seiner Kabine hinausschlängelte, erfreut, genug von ihm im Leib zu haben, um womöglich auch zwei oder drei kleine Enkel von Momma Joanna zu kriegen, aber auch verärgert weil verunsichert, weil jemand es geschafft hatte, ihn aus weiter Ferne zu rufen und das bestimmt irgendwann wiederholen würde.
Mater Vicesima hatte die Entwickler jener Vorrichtung, die sie in ironischer Weise als "Kinderkarussell" bezeichnete, zu sich gebeten und sie dafür gelobt, wie gut diese Vorrichtung war. Sie kündigte auch an, dass demnächst die ersten ihre Pflichten erfüllt habenden wieder freigelassen wurden und erwähnte, dass ihnen ein Scheingedächtnis eingeflößt werden sollte, das eine gewisse Anspielung beinhaltete, aber die wahren Ereignisse völlig verdrängte. Pater Decimus Quintus Australis, ein Mitglied des hohen Rates des Lebens, erwiderte darauf, dass die Zaubererwelt weiterhin Jagd auf die Organisation machen würde. Was in Frankreich hatte getan werden müssen hatten die dort nicht vergessen.
"Natürlich müssen wir davon ausgehen, dass wir alle zu Unerwünschten erklärt werden, wenn auch nur einer von uns enttarnt wird", bekräftigte Mater Vicesima. "Daher gilt ja weiterhin, möglichst unauffällig zu leben. Doch unsere Sache gebietet nun einmal auch Zwangsmaßnahmen."
"Ich wollte nur sagen, dass wir hier nur solange sicher sein können, solange die keinen von uns erwischen oder irgendeinen Suchzauber ausprobieren, gegen den wir vielleicht noch nicht abgesichert sind. Vielleicht wäre Fidelius für dieses Versteck doch ganz angeraten", wandte Pater Decimus Quintus Australis ein.
"Den hätte ich schon längst gemacht, wenn da nicht die Kleinigkeit wäre, dass ich oder ein sonstiger Geheimniswahrer dann zweihundert an Nachwuchs interessierten hätte weitergeben müssen, wo unser Karussell steht, damit sie es benutzen können", widersprach ihm die Oberaufseherin dieser Vorrichtung.
"Wolltest du diesen hartnäckigen Burschen auch dort besuchen, Mater Vicesima?" fragte eine junge Hexe mit nachtschwarzem Haar und dito Augen. Ihre samtbraune Haut wies sie als Mitglied eines Sinti- oder Romerstammes aus. Sie war eine von Mater Vicesimas jüngeren Töchtern, gerade zweiundzwanzig Jahre alt. Eigentlich galt, dass erst unverheiratete Hexen oder Zauberer über dreißig Lebensjahren das Karussell benutzen durften, um eigenen Nachwuchs zu zeugen. Doch Sarah Mirabeau, so hieß die junge Hexe, hatte darum gebeten, den hartnäckigen Verfolger Gérard Dumas zu beehren und sich mit dessen Saat befruchten zu lassen. Sie liebte hartnäckige Männer und ärgerte sich, dass sie nicht in Beauxbatons zur Schule gegangen war, sondern von privaten Lehrerinnen und Lehrern aus der ehrwürdigen Gruppe zur Wahrung und Mehrung des magischen Lebens ausgebildet worden war.
"Wenn Charleen noch genug von ihm übrig lässt kannst du morgen dein Glück versuchen, Sarah", sagte Mater Vicesima. Ich werde der krönende Abschluss von Bluecastles langem Aufenthalt sein.
"Und was ist, wenn ich den erwische?" wollte Sarah Mirabeau wissen.
"Wirst du Empfängerin eines Kindes aus einer erhabenen Blutlinie altenglischen Zaubererweltadels, fast so rein wie die Familie Black", erwiderte Mater Vicesima. "Ich könnte durchaus auch mit Gérard zusammentreffen. Aber ich weiß ja, wo ich halt machen muss, um zu kriegen, wen ich haben will", erwiderte Vicesima.
"Bluecastle ist hier richtig anziehend geworden, nachdem wir den durch Abspeck zwo und die vielen Auswahlen von seinem Übergewicht runtergekriegt haben", grinste Sarah. Ihre Mutter nickte und meinte, dass er sich in der Außenwelt wohl entscheiden würde, ob er wieder sein verfressenes Dasein fortsetzte oder mit dem neu errungenen Körper Frieden schloss. Vielleicht kam er auch auf den Geschmack, sich eine Ehefrau zu nehmen und ganz gutbürgerlich ehelichen Nachwuchs zu haben, ohne zu wissen, dass da hundert Hexen waren, die ebenfalls Kinder von ihm trugen.
"Mater Vicesima, ich habe von Gérard genug in mich aufgenommen", vermeldete Charleen Ashton, die in ihrem offiziellen Leben Mitarbeiterin in der US-amerikanischen Abteilung für internationale magische Zusammenarbeit war. "Aber ich fürchte, irgendwie hat seine Mutter einen Zauber aufgerufen, mit dem sie durch unsere Barrieren dringen kann. Sie hat ihn einmal dazu gebracht, ihr zu antworten. Ich konnte es aber verhindern, dass er ihr ganz genau zurufen konnte, wo er war."
"Moment, Charleen. Es gibt keinen Zauber, der die Absicherungen durchdringen kann", schnarrte Mater Vicesima. Doch Charleen beharrte darauf, einen solchen Zauber mitbekommen zu haben. "Von den Schwingungen her könnte das was afrikanisches gewesen sein, wie der Gesang des lebenden Blutes, der so ähnlich wirkt wie Mentiloquismus", erwiderte Charleen.
"Kesselbruch! Gegen archaische Zauber aus animistischen Kulturen haben wir nichts aufgebaut. Aber ich werde das überwachen, Charleen. ich will, dass der mindestens noch zehn von uns befruchtet, bevor der Rat entscheidet, was mit ihm passiert. Aber wer könnte so einenZauber machen?"
"Da fragst du mich zu viel. Interessant ist das schon. Aber ich bin jetzt rechtschaffend müde, Mater Vicesima", sagte Charleen.
"Die Geschichte, wie du an Nachwuchs geraten bist ist auch schon sicher. Demnach warst du bei einer privaten Feier und hast da ganz zufällig auch was vom Regenbogentänzer-Cocktail erwischt", sagte Vicesima. Charleen nickte. Dann fragte sie, ob der weitere Kontakt ins US-Zaubereiministerium sicher sei. "Der wird demnächst noch sicherer", grinste Mater Vicesima. "Chroesus Dime ist so gut wie in unserer Hand. Wenn Phoebe sich nicht verrtan hat, wird er bald erfahren, wie weit es noch mit seiner Macht gediehen ist."
Mater Vicesima musste es einsehen, dass sie bei allen Vorkehrungen nicht auf einen starken Suchzauber eingestellt gewesen waren, bei dem Blutsverwandtschaft die treibende Kraft war. Also hatte jemand Gérards Vater oder Mutter dazu gebracht, sich einem Ritual zu unterwerfen, mit dem Gérard gezielt gerufen und zu einer Antwort gezwungen werden konnte. Dann schlug sich die Hexe, die im Lebensrat von Vita Magica Mater Vicesima hieß, vor die Stirn. Natürlich hatte jemand Gérards Mutter dazu gebracht. Ja, und das konnte nur Blanche Faucon gewesen sein, die damals wohl auch mit Raphaelle Montferre ein solches Suchritual ausgeführt hatte, um deren zwei Töchter Sabine und Sandra in einem von Didiers sogenannten Friedenslagern zu finden. Einerseits ärgerte sie das, dass sie nicht an diese Möglichkeit gedacht und Gérard nicht gegen sowas abgeschirmt hatte. Andererseits wusste sie im Moment auch nicht, wie das gehen sollte, weil sie die genauen Vorgänge dieses Rituals nicht kannte. Doch wenn Charleen sagte, dass es wohl mit afrikanischer Magie oder deren Ablegern in Amerika zu tun hatte ... Natürlich, Voodoo. Das hieß, dass Blanche es von ihrer in einem Haus verbrannten Kampfgenossin Jane Porter gelernt haben musste. Die hatte ja, soviel wusste die hochrangige Hexe von Vita Magica, einen Zauber mit Julius damals noch Andrews durchgeführt, um dessen Vater zu finden. Und was durch die magische Barriere einer Abgrundstochter dringen konnte drang auch durch die rein hermetischen Zaubersperren um den Standort des Karussells, in dem Paare zur Zeugung neuer Zaubererweltkinder zusammengebracht wurden. Gérard würde also ganz unfreiwillig verraten, wo er war. Was dann? Klar, Blanche würde in ihrer übermoralischen Ausprägung ihr Zaubereiministerium informieren, womöglich alle Zaubereiministerien der Welt darauf ansetzen, den Ort anzugreifen, um die in Gewahrsam und die Pflicht genommenen Hvor allem Zauberer zurückzuholen. Das durfte sie Blanche nicht ungestraft durchgehen lassen, bei aller Liebe nicht. Dann fiel ihr noch ein, dass auch das US-Zaubereiministerium auf diesen Dreh verfallen und mit Hilfe des ebenso gegen das achso Böse in der magischen Welt ankämpfende Laveau-Institut nach den in ihrem Karussell mitfahrenden aus den Staaten suchen konnte. Doch zuerst musste sie das Exempel statuieren, Gérard und Blanche Faucon zugleich zu bestrafen, sollte sich erweisen, dass Gérard durch dieses Ritual doch noch sein Ziel erreichen und einen der wichtigsten Standorte ihrer Gruppierung weitermelden würde.
Wie lange Gérard im Tiefschlaf zugebracht hatte wusste er nicht. Er konnte sich auch an keinen Traum erinnern.
"Hallo, Chérie! Erwache, mein schlafender Prinz und erweise mir die Gunst deiner Leidenschaft!" drang eine sanfte Frauenstimme zu ihm durch. Dann fühlte er, wie warme, weiche Lippen sich auf seinen Mund drückten und genoss den leidenschaftlichen Kuss, während er gleichzeitig eine ebenso warme Hand im Schritt fühlte, die prüfte, ob da noch etwas erwachte.
"Mater Vicesima?" fragte Gérard. Da hörte er ein Lachen. "Nein, soweit bin ich noch lange nicht", hörte er aus dem Lachen heraus. Dann öffnete er die Augenund sah ein Gesicht, dass er kannte: "Mademoiselle Lerouge?" fragte er.
"Du hast mich nicht vergessen, junger Regenbogentänzer. Schade, dass dein junges Weibchen doch einen Tick energischer war und dich noch in euer Honigmondgemach gezerrt hat. Aber ich habe immer davon geträumt, dass du mir auch eine süße Last zu tragen gibst. Ja, und heute machen wir zwei das wahr."
"Das sie auch dazu gehören wusste ich nicht", sagte Gérard. "Aber warum wollen Sie ein Kind von mir. So wichtig bin ich echt nicht."
"Hast du das der lieblichen Lotosblume gesagt, die dich zuerst beglückt hat oder dieser feurigen schwarzen Honigbiene, die zuletzt bei dir war. Ach ja, bevor wir zwei das tun, was schon längst fällig war, solltest du erst mal ganz wach und sauber sein. Ich bleibe solange hier, damit du nicht aus Versehen einer anderen zugeteilt wirst."
"Nochmal die Frage, warum soll ich Ihnen ein Baby machen?" wollte Gérard wissen.
"Erstens heißt es du und zweitens, weil dein Blut das Erbe von mehreren großartigen Hexen und Zauberern ist, vor allem von einem Zauberer, der vor zweihundert Jahren meine Ururgroßmutter zurückgewiesen hat. Sie hat es nie vergessen, und ich wollte das Versprechen deines Vorfahren endlich einlösen. Aber diese kleine Dumas ist wilder als ich dachte, dafür, dass die im zitronengelben Saal gewohnt hat. Nun, dann musste die eben im letzten Jahr zwei Kinder durch das Schuljahr tragen. Selbst Schuld. Und jetzt denk ja nicht daran, ein schlechtes Gewissen zu haben, dass du mir das gibst, was du angeblich nur ihr geben darfst!"
"Madem...", er kam nicht weiter, weil sie ihm wieder ihren auf seinen Mund presste. "Mylène, Gérard", flüsterte sie, nachdem sie zwanzig herrliche Sekunden zusammen waren. "Die Mutter deines nächsten Kindes heißt Mylène", sagte Mademoiselle Lerouge. Gérard sah im Geist die samtbraune Hexe in mittleren Jahren in einem für ihr Alter eigentlich schon zu knappen Kleid mit Blumenmustern, wie sie auf der Weltmeisterschaftsparty 1999 mit verschiedenen Männern und auch ihm getanzt hatte. Ja, wenn sie nicht zwanzig Jahre älter als er gewesen wäre und er nicht mit seiner Frau in den Flitterwochen gewesen wäre ... Und jetzt war sie bei ihm, unbekleidet, im roten Licht wie glimmende Kohle glänzend, einige dezente Ringe um Hüften und Bauch, aber ansonsten doch noch sehr anziehend.
Wie er es hier schon mehrmals erlebt hatte wurde er von einem sanften Schwebezauber aufgehoben und in einer nach frischen Kräutern und Frühlingsbrise duftenden Dampfwolke, die so warm wie sein Körper war, von allen Spuren von Anstrengungen und lustvoller Betätigung befreit. Auch die Zähne wurden durch das Schlucken des Reinigungsdampfes gesäubert und der Mund ausgespült. Als diese Prozedur vorbei war sagte die ganz gezielt auf Gérard ausgehende Hexe mit einem afrikanischen Elternteil: "Dann ist es endlich so weit. Nimm mich und werde eins mit mir, auf dass wir zwei ein neues Leben in die Welt rufen!" Das ließ sich der nun wieder in den Einfluss des Lustanregungsnebels geratende Gérard nicht zweimal sagen.
Während sie beide bereits die dritte Runde erlebten hörte Gérard wieder die Stimme seiner Mutter im Kopf und sah sie wieder als violette Leuchterscheinung über der mit ihm vereinten Mademoiselle Lerouge. Diese merkte wohl, dass seine Konzentration nachließ und strengte sich noch mehr an, seine Sinne nur bei ihr zu halten. "Komm, Gérard! Wir wollen es doch unvergesslich machen!" spornte sie ihn an. Er hörte aber auch die Stimme seiner Mutter nach ihm rufen. Gerade als ihn die höchste Lust überkam rief er in Gedanken: "Maman, ich bin hier, und mir geht's gerade supergut!!!"
"Ui, das war ja noch heftiger als beim ersten Mal", lobte Mylène Lerouge ihren eher unfreiwilligen Liebhaber. "Aber ich sehe nicht ein, dass so eine halbverkohlte Bücherhexe aus Yankeeland mehr von dir bekommen hat als ich. trinken wir was. Dann geht's weiter", schnurrte sie lustvoll. Wie auf ein Zauberwort erschien eine dampfende Teekanne mit zwei Tassen. Gérard bekam davon nicht viel mit, weil wieder der Ruf seiner Mutter zu ihm drang. Jetzt sah er sie sogar als undurchsichtiges, violett leuchtendes Abbild vor sich. Ihr Gesicht wirkte sichtlich verdrossen. "Wo zu allen Gorgonen bist du, Gérard?! Antworte mir!"
in Mater Vicesimas Liebeskarussell", entfuhr es Gérard nur in Gedanken. Doch weil er dabei wohl seinen Mund bewegt hatte merkte Mademoiselle Lerouge wohl, dass er nicht an sie dachte."An wen denkst du, Gérard? Denkst du an Sandrine? Die kommt auch ohne dich zurecht und wird sicher wen finden, der ihr weitere Babys zum tragen gibt", stieß sie aus. "Du gehörst hier her und bleibst hier. Und sei es, dass ich dich zusammen mit unserem gemeinsamen Nachwuchs neu großziehe. Ich gebe dich nicht mehr her, auch wenn Mater Vicesima das anders sieht."
"Oh, ich habe nicht an Sandrine gedacht. Ich dachte an ... Mist! Ich glaube, meine Mutter hat wieder diesen Zauber gemacht, mit dem die mich suchenund finden kann. Und ich Volltroll habe sogar geantwortet!"
"Das kann nicht sein. Suchzauber, Mentiloquismusversuche und Exosenso-Zauber dringen nicht bis hier vor. Das kann nicht sein. Sieh mich an!" schnarrte Mylène Lerouge. Da drang eine andere Frauenstimme aus allen Richtungen an ihrer beiden Ohren. "Nein, Mylène, du forschst ihn nicht aus! Charleen hat mir schon gemeldet, dass jemand einen wohl rituellen Suchzauber benutzt hat. Dagegen sind wir offenbar nicht gut genug abgesichert. Du hast hoffentlich was du von ihm willst. Ab jetzt gehört er erst mal mir."
"Du hörst bei uns mit, Mater Vicesima?" entgegnete Mademoiselle Lerouge verärgert.
"Erst seitdem meine Alarmzauber anschlagen, dass jemand eine magische Wechselwirkung mit einem der Fahrgäste erzwungen hat. Ich denke, drei Ergüsse von ihm dürften reichen, dass du seinen Nachwuchs empfängst. Wir holen ihn gleich ab. Zieh dich zurück!"
"Überlasse ihn mir. Ich behalte ihn als meinen Ziehsohn. Ich kann ihn noch versorgen. Maribelle hat mich noch gut in Form gehalten."
"Sag mal, junges Ding, hörst du nicht, was ich sage?" schnarrte die körperlose Stimme, von der Gérard nicht wusste, woher er die kannte. "Jemand benutzt ihn, um uns zu finden. Das muss ich jetzt klären."
"Wie du meinst, du große Übermutter", knurrte Mylène Lerouge. Dann kroch sie durch die kreisrunde Verbindung zu einer anderen Kabine, in der die, die einen männlichen Partner suchten, darauf warteten, einen zugelost zu bekommen. Gérard erkannte, dass es nicht mehr so vergnüglich war. Die Liebesdroge wirkte auch nicht mehr. Gérard wollte hinter der gerade noch von ihm beschlafenen her. Doch wieder prallte er gegen jene unsichtbare Barriere, die ihn in der nestartigen Kabine gefangen hielt. der Durchgang verschloss sich. Kaum war das passiert umhüllte ihn eine durchsichtige Nebelwolke. Er wollte schon die Luft anhalten. Doch da verließen ihn bereits seine Sinne.
Als Gérard wieder aufwachte saß er, so nackt wie in der letzten Zeit, an Händenund Füßen angekettet auf einem weichen Stuhl. Auf dem Kopf fühlte er etwas wie einen Metallhelm oder eine Haube drücken. Vor sich sah er eine Hexe mit einem künstlichen Riesenbabykopf, die gerade an mehreren Schalthebeln hantierte. "Komm nicht auf die Idee, zu occlumentieren, Jungchen. Sonst verlierst du den Verstand!" schnarrte die Hexe mit dem Babykopf. Gérard wollte schon widersprechen, dass er lieber vergaß, was er alles erlebt hatte. Denn hier und jetzt erkannte er, dass er über Tage oder Wochen in einem rauschartigen Zustand gehalten worden war, um mehreren Hexen, die sich keinen Ehemann ans Bein binden lassen wollten, Kinder unter die Umhänge zu stoßen, damit die wenigstens mal Mutter werden konnten. Doch da drang durch das was auf seinem Kopf saß ein Vibrieren in seinen Schädel ein. Seine Gedanken wurden von einem leisen Summen überlagert. "Entspann dich und lass es ganz ruhig über dich ergehen. Dann wissen wir zwei, wie es weitergeht", sagte die ihm fremde, verkleidete Hexe. Gérard versuchte zwar, gegen die ihm zufließenden Kräfte anzukämpfen, merkte aber nach drei Sekunden, dass er dadurch nur unerträgliche Kopfschmerzen bekam. Als sein Widerstand zusammenbrach meinte er, in einen gleißenden Schacht zu stürzen. Dann glaubte er, sein ganzes bisheriges Leben in kurzen Szenen rückwärts zu durchleben. Dabei hörte er wieder den Ruf seiner Mutter. Doch als dieser so stark war, dass er ihr zurufen wollte, wo er war, meinte er, gerade in ihren warmen Unterleib zurückgezwengt zu werden. Während er ihre Schmerzensschreie nun dumpf und laut um sich herum hörte rief er: "Ich bin in dir. Du hast mich gerade in dich reingezogen!"
Dann war er wieder im hier und jetzt. "Das ist Blanches Werk!" schnarrte die Hexe mit einer künstlichen Kleinmädchenstimme. "Sie hat einen Blutrufzauber gefunden, ein verdammtes Urwaldritual oder sowas. Dann sollen sie dich eben finden, und du sollst genug Zeit haben, alle Versäumnisse deiner Kindheit und Jugend zu beheben." Die metallische Haube hob sich über Gérards Kopf. Er erkannte, dass er wohl eben einer Art Legilimentikmaschine ausgeliefert gewesen war. Dann wusste dieses Riesenbaby da jetzt alles über ihn. Dann dachte er an das, was die gerade gesagt hatte. Er erkannte, was damit gemeint war und rief laut: "Nein, ich will das nicht! Bitte schicken Sie mich wieder in ihr Zuchtbullenkarussell rein. Aber nicht das!""
"Ich habe es beschlossen. Ich weiß, es ist nicht deine Schuld. Darum soll es auch nicht nur dir als Strafe dienen, sondern allen, die meinen, uns das Handwerk legen zu müssen." Sie griff an ihren rosaroten Strampelanzug und zog etwas goldenes Hervor. Gérard war sicher, dass dies eine magische Waffe war. Da richtete sie dieses Ding auch schon auf ihn, hantierte an einem kleinen Hebel. Dann betätigte sie etwas wie einen Abzug. Gérard sah gerade noch, wie Mylène und Charleen in den Raum gestürzt kamen. Dann umflutete ihn goldenes Licht. Er fühlte sich völlig schwerelos. Dann meinte er, auf einer harten Unterlage zu liegen. Er merkte, dass er keinen einzigen Zahn mehr im Mund hatte. Vor seinen Augen war grauer Nebel, in dem sich risengroße Schatten bewegten. "Lass ihn bei mir, Mater Vicesima", hörte er überlaut die Stimme von Charleen. "Ich kann ihn gegen diese von meinen Vorfahren gestohlene Magie besser abschirmen als die Halb durchgebackene Kolonialfranzösin."
"Der wächst bei mir auf, zusammen mit Maribelle und seinem Kind oder seinen Kindern. Geh du lieber wieder zurück zu den Yankees und kläre das, warum du solange weg warst. Mit einem halbweißen Baby auf dem Arm machst du dich nur verdächtig", knurrte Mylène. Da glühte vor Gérard ein flirrendes Licht auf, traf ihn am Kopf und drang darin ein. Er meinte, hunderte von Bildern zu sehen und dann, mit einem Ruck, irgendwas direkt unter die Schädeldecke gestopft zu bekommen. Dann fühlte er nur, dass sein Kopf verdammt schwer war, dass er seine Arme und Beine nicht gegen diese überstarke Schwere bewegen konnte und dass er tatsächlich wieder zum Säugling, womöglich wenige Tage alt, zurückverwandelt worden war. "Soll die dich aufnehmen und großziehen, die dich zur Maßregelung schon einmal von ihrer Fürsorge und Milch hat kosten lassen!" fauchte die Stimme der verkleideten Hexe. "Und ihr zwei bleibt weg von ihm. Der würde euch nur verraten! Stupor!" Das Letzte Wort war das Auslösewort für den Schockzauber. Was danach passierte bekam Gérard nicht mehr mit.
Sandrine Dumas war an diesem Nachmittag bei den Latierres zu Gast. Sie wollte von Julius wissen, wie zuverlässig dieses Ritual war, mit dem er damals seinen Vater gesucht hatte. Ihre zwei Kinder spielten derweil mit Aurore in deren Zimmer, während die kleine Chrysope fröhlich im großen Eingangsraum des Apfelhauses herumkrabbelte und dabei mit vielen bunten und plüschigen Nachbildungen friedlicher Zaubertiere spielte, vom vanillefarbenen Knuddelmuff über einen Schmuseniffler mit goldbraunem Fell und Schlafaugen bishin zu einer alle viere ausstreckenden, mit warmer weißer Wolle überzogenen Nachbildung einer Latierre-Kuh, ein Geschenk von Barbara Latierre der älteren. Die Wolle stammte von Artemis vom grünen Rain, die offiziell Julius und seiner Frau gehörte, inoffiziell aber deren heimliche Mentorin und Beschützerin war.
"Also, das Ritual funktioniert, Sandrine. Aber, und das weiß die respektable Blanche Faucon auch, wenn jemand damit gerufen wird, kann der oder die den Gesuchten gefangenhält das mitkriegen und drauf reagieren. Das sage ich dir, damit du nicht total unvorbereitet bist. Falls es Vita Magica ist, die Gérard haben verschwinden lassen, werden die sicher ziemlich sauer sein, dass er am Ende doch sein Ziel erreicht hat, indem er den Standort von denen weitergeben kann. Dann müssen du und wir alle damit rechnen, dass diese Bande Gérard gegen Blanche und deine Schwiegermutter einsetzt. Mich hat damals dieses Abgrundsluder Hallitti fast in ihren Bann gezogen, wenn die selige Jane Porter mir nicht den Schockzauber übergebraten hätte, um mich dran zu hindern, mich dieser Abgrundstochter hinzugeben. Danach war der aber klar, dass jemand nach ihr suchte und hat dann meinen Vater losgeschickt, um mich einzukassieren. Am besten bleiben du und deine Schwiegereltern in einem gesicherten Haus, bestenfalls Beaux oder hier in Millemerveilles. Wenn VM das spitzkriegt, dass jemand Gérards Standort rauskriegen will oder das auch schafft werden die sehr schnell drauf antworten."
"Danke für deine Ehrlichkeit, Julius", sagte Sandrine beklommen dreinschauend. "Öhm, wie könnte die Antwort oder der Racheschlag von denen ablaufen? Sag mir da bitte auch alles, was dir einfällt!"
"Bestenfalls versenken die Gérard in magischen Tiefschlaf, Perithanasia-Zauber, damit er nicht mehr antworten kann. Schlimmstenfalls nutzen die die Verbindung, um ein Greifkommando loszuschicken, um deine Schwiegereltern auch noch einzusacken und Madame Faucon als gefährliche Gegnerin mit Infanticorpore-Zauber zu erledigen. Töten werden die keinen Zauberer und keine Hexe. Es gibt zu viele andere Möglichkeiten, ihre Feinde außer Gefecht zu setzen", erwiderte Julius Latierre, während Chrysope auf den Rücken der wolligen Spielzeug-Latierre-Kuh hinaufrobbte.
"Und ich?" fragte Sandrine.
"Du bist die Mutter von zwei Kindern, die dieses Gangstersyndikat angeschoben hat", sagte Julius. "Dir passiert nichts, wenn du nicht wie Gérard auf den Dreh kommst, denen auf die Bude zu rücken. Wohl gemerkt, falls Vita Magica ihn hat verschwinden lassen."
"Öhm, und Madame Faucon weiß das?" fragte Sandrine nur zur Sicherheit. Julius nickte. Millie, die bisher still dabeisaß und eher Augen für ihre zweite Tochter hatte antwortete:
"Suchzauber sind immer riskant, weil die auch leicht zur Falle für die Suchenden werden können. Wenn jemand den Gesuchten an einen Ort bringen, an dem Flüche auf bestimmte Leute warten, und die Leute fliegen oder apparieren da mal eben hin, kann denen alles mögliche passieren. Mein Vorfahre Simon Latierre ist auf die Weise zum unfreiwilligen Köder von Sardonia geworden, um seinen großen Bruder, einen kampferfahrenen Zauberer, in eine tödliche falle zu locken. Sardonia hat um Simon einen Ring aus springschnappern gepflanzt, gerade so, dass er davon nicht eingefangen werden konnte. Aber als sein Bruder Guillaume mit zehn Verbündeten da hinflog und lanndete hat es die alle erwischt, weil die kein Stück Metall bei sich hatten, diese Volltrolle. Seitdem gilt in der Familie Latierre die Losung: "Wer auch immer dich ruft, spring nicht zu nahe zu dem hin!"
"Uuaaa, wie grausam!" entgegnete Sandrine. "Aber wenn Blanche Faucon das auch weiß hoffe ich doch, dass Quintilia nichts passiert. Aber Danke für die Warnung, Julius! Ich werde dann mit den beiden Krawallgeschwistern bei meinen Eltern bleiben. Maman ist eh der Meinung, die zwei nie lange genug um sich zu haben."
"Nachdem unsere Nichte Héméra zwei Nächte bei meinen Eltern gewohnt hat denken die aber, wie schön es ist, Enkelkinder wieder an die Eltern zurückzugeben", sagte Millie.
"Ach ja, bei der Gelegenheit an deine große Schwester noch mal vielen Dank für die Bilder von der kleinen", sagte Sandrine. Damit wechselte sie das Thema von der Suche nach ihrem Mann zu den Kindern in der Latierre-Familie. Julius dachte nur daran, dass Sandrine wohl voll aus der Spur fliegen würde, wenn wirklich Vita Magica ihren Mann entführt hatte. Denn dann mochte dem genau das passieren, was Julius ihm damals schon in Aussicht gestellt hatte. Da Sandrine das sicher auch dachte wollte er sie nicht auch noch laut darauf ansprechen.
"Bis wir in die Gänge kommen haben die Franzosen schon längst alles abgeräumt", ereiferte sich Jane Porter, als sie am Morgen des 26 Oktobers aus dem Bild der Hexen um den Brodelkessel heraustrat. "Wo wir heute mit der großen Sanguivocatus-Orgie loslegen wollen hat mir die gute Bläänch doch erzählt, dass sie schon seit einigen Tagen mit ihrer Kollegin Quintilia Laplace nach deren Sohn Gérard sucht, der auf Réunion verschwunden ist. Das hätte die gute mir aber ruhig mal viel früher mitteilen dürfen."
"Moment mal, Jane, von wem hat Madame Faucon diesen Zauber denn?" fragte Sheena sehr argwöhnisch. Jane seufzte und gestand dann schuldbewusst ein, dass sie ihr den persönlich beigebracht hatte, um die Standorte der von Janus Didier und seinem Handlanger Pétain errichteten Friedenslager zu finden, was ja auch ein voller Erfolg gewesen war. Das war genau in dem Jahr, wo es zwischen Nordamerika und Europa so gut wie keine Eulenpost oder andere Nachrichtenübermittlungen gegeben hatte, weil Wishbone die Abschottung gegen Voldemort betrieben und Didier seinerseits alle internationalen Verbindungen vernachlässigt hatte.
"Wäre einerseits sehr schön gewesen, wenn du es mit denen, die du ins Vertrauen gezogen hast, abgeklärt hättest, dass Bläänch Faucon dden eigentlich nur von Voodoo-Leuten und uns ausführbaren Zauber kennt und auch schon benutzt hat. Andererseits ist dir klar, dass du damit gegen ein Statut verstoßen hast, dass nur Institutsmitarbeiter die Zauber verwenden dürfen, die ihnen von anderen Institutsmitarbeitern beigebracht wurden. Elysius hatte da leider recht, Jane, dass du da wohl etwas zu freigiebig bist, was starke Zauber angeht."
"Jetzt ist aber mal gut, Sheena", fauchte Jane zurück. "Ich wollte nicht tatenlos zusehen, wie unschuldige Hexen und Zauberer von einem überängstlichen Möchtegernminister drangsaliert wurden. Abgesehen davon ist dieser Zauber kein reines Institutseigentum, wie du sicher weißt, weil wir den damals von einem Zauberer aus Haiti gelernt haben, der sowohl Houngan als auch Zauberschmied nach europäischer Zauberkunstart war. Und bevor du mir mit dem Reinigungsfeuer kommst, dass meine Enkeltochter Gloria beim Trimagischen in Beaux verwendet hat, so habe ich ihr den beigebracht, weil ich Bläänches Idee sehr gut fand, begabten wie interessierten Schülern starke Abwehrzauber beizubringen und ich besser schlafen kann, weil ich weiß, dass alle meine Blutsverwandten sich gut zu wehren wissen. Aber wenn Bläänch jetzt schon nach Gérard sucht und womöglich Antwort von ihm erhält reicht das nicht aus, um den Standort auf den Meter genau zu bestimmen. Das hat der Fall Hallitti und Richard Andrews ja verdeutlicht."
"Will sagen, wenn die mitkriegen, dass wer nach ihm sucht werden sie Abwehrmaßnahmen treffen und/oder ihre Gefangenen anderswo hinbringen oder noch schlimmer", seufzte Sheena, die begriffen hatte, was ihre Kollegin so verärgerte. "Gut, dann führen wir die Operation Kesselkind gleich heute noch durch. Wenn wir den Standort dieser Bande früh genug finden können wir zusammen mit dem Zaubereiministerium die ganze Bagage ausheben und hoffentlich alle Gefangenen befreien, bevor die Fehlgeleiteten sich mit ihnen absetzen oder sie in wimmernde, erinnerungslose Säuglinge zurückverwandeln."
"Das hoffe ich auch", seufzte Jane Porter. Dass sie ein verdammt schlechtes Gewissen hatte, weil sie indirekt ihre Mitstreiterin gegen dunkle Künste Blanche Faucon zu einer Einzelaktion ermuntert hatte, ließ sie sich nicht anmerken. Doch sie ging davon aus, dass Sheena O'Hoolihan das zumindest vermuten mochte.
Um möglichst genau festzustellen, wo die Verschwundenen steckten, versammelten sich 35 Laveau-Mitarbeiter mit je einem Blutsverwandten eines oder einer der Gesuchten an 35 Stellen in den ganzen USA. Der zeitweilige Zaubereiminister Sandhearst hatte für einen amtierenden Politiker sehr unverblümt gesagt: "Wenn das LI die Gesuchten nicht findet oder unzureichende Angaben macht bestehe ich auf eine Unterweisung der Inobskuratoren in diesem Zauber."
Drei Stunden lang versuchten die 35 im Sanguivocatus-Zauber ausgebildeten, mit den jeweiligen Blutsverwandten zusammen, die Gesuchten zu rufen und Kontakt zu bekommen. Doch was auch immer versucht wurde, es gelang nicht. Keiner der sieben noch vermissten reagierte auf die Rufe. Sheena, die zusammen mit Sandhearst und dessen Sicherheitsberater Middleton die Versuche in Sandhearsts Büro mitverfolgte, musste sich sehr anstrengen, ihre Anspannung nicht zu zeigen. Immer wieder blickte sie auf die sieben großen Silberdosen, die mit den Namen der zu suchenden und den Koordinatoren der verteilten Suchaktionen gekennzeichnet waren.
"Bis morgen haben wir Klarheit, ob es mit diesem halben Voodoo-Zauber klappt, vermisste Leute zu finden. Falls nicht, können Sie wieder Zombies und Todesfeeen oder meinetwegen auch die neuen Nocturnia-Vampire jagen. Aber gehen Sie dann nicht davon aus, dass wir Sie dann noch mit Gold oder Verbindungen zu anderen Ministerien unterstützen", sagte Sandhearst.
"Wenn die Gesuchten nicht im Tiefkoma liegen oder in einem Zauberschlaf oder unter Einwirkung eines starken Schlaftrankes müssen sie reagieren", sagte Sheena O'Hoolihan entschlossen. "Der Fall Richard Andrews hat erwiesen, dass dieser Zauber auch durch magische Fernverständigungsbarrieren dringen kann, weil die magische Bindung zwischen Blutsverwandten künstliche Barrieren überwinden kann. Das ging sogar zwischen Zauberer und Muggel."
"Ja, und angeblich hat eine einzige Hexe, noch dazu eine, die nicht ursprünglich mit diesem alten Trommelschlägerzauber zu schaffen hat, Erfolg erzielt", grummelte Sandhearst. Da klackerte es auf seinem Schreibtisch. Er klappte die mit "Redgrove, Jonathan" beschriftete Silberdose auf, die da so geklappert hatte und sprach hinein: "Ja, was ist."
"Kontakt zu Redgrove, Jonathan von allen fünf Stellen aus, Sir. Er scheint gerade in sexuelle Wallung zu kommen und hat nur kurz auf die Anrufe reagiert", meldete der für den gesuchten Redgrove eingeteilte Koordinator des Ministeriums.
"Sind die Zeiten zwischen Anruf und Antwort präzise notiert?" wollte Sandhearst wissen. Die Antwort war ein klares "Ja" gefolgt von der genauen Himmelsrichtung jeder Antwort. Dann erfolgten auch zwei weitere Rückmeldungen, zu Tinkettle, Axel und Broadlief, Alwin. Als die Zeiten zwischen Ruf und Antwort und die genauen Richtungen, aus denen die Antworten kamen verglichen wurden stand fest, dass die drei am selben Ort sein mussten. Dieser lag in den chilenischen Anden, knapp hundert Kilometer vom südlichen Wendekreis entfernt.
"In den Anden also", schnaubte Sandhearst. Sheena wandte ein, dass die vier weiteren Gesuchten noch zu finden seien, bevor eindeutig sei, dass sie alle im gleichen Versteck waren. "Wir müssen davon ausgehen, dass die Bande mehrere Verstecke auf der Erde hat, wenn sie schon weltweit arbeitet. Vielleicht kriegen wir auch heraus, wo die australische Sektion von VM ist."
"Sie hatten wohl recht, dass diese Bande weitere Unfreiwillige für Menschenzucht gefangenhält. Wir müssen diesen Umtrieben so schnell es geht ein Ende machen. Sonst fangen die sich die nächsten ein und jagen die aufeinander."
"Auch wenn mich Ihre Wortwahl etwas verwundert, Herr Zaubereiminister, muss ich Ihnen in der Sache voll zustimmen", erwiderte Sheena.
"Hier Glendale. Wir haben jetzt eine Reaktion von Morrow, Orville. Übermitteln Zeit zwischen Erstruf und Erstantwort und Rückrufrichtung", kam aus der vierten Silberdose eine Meldung. Wenige Minuten Später hatten sie auch fünf von fünf Antworten von Orville Morrow, einem begabten Besenentwickler bei Bronco und als Vater des Parsec-Besens in den einschlägigen Magazinen bezeichnet. Jetzt ergab sein Verschwinden in Argentinien vor drei Monaten einen ganz anderen Sinn. Auch er war in den chilenischen Anden und schien gerade sehr lustvoll zu sein.
"Das sollte reichen, um da mal nachzusehen", sagte Sandhearst, als er die ihm zugegangenen Angaben notiert hatte. "Zumindest können wir da vier von unseren Leuten finden und endlich nach Hause holen."
"Hmm, dann müssen Sie das Chilenische Zaubereiministerium benachrichtigen", meinte Sheena O'Hoolihan.
"Nix da! Damit noch mehr mögliche Maulwürfe denen früh genug weitergeben, dass wir zumindest einen Schlupfwinkel von denen kennen? Schon schlimm genug, dass wir immer noch nicht wissen, wer bei uns im Ministerium Spion von denen ist. Falls die sogar schon wen bei Ihnen im LI haben sollten könnte die Gefahr noch größer sein, wenn das denen früh genug weitergegeben wird. Ich berufe mich auf Gefahr im Verzug und den internationalen Vertrag zur Wahrung der Sicherheit magischer Bürger im Ausland. Die in Chile haben doch gerade mal hundert Leute im ganzen Ministerium, davon zehn Indios, die mit den uralten Sachen der Inkas zu tun haben. Nein, ich schicke Leute von uns hin."
"Und von uns auch", erwiderte Sheena O'Hoolihan entschlossen. Doch der zeitweilige Minister schüttelte den Kopf und entgegnete: "Nichts für ungut, Madam O'Hoolihan. Aber die Angelegenheit wird höchst offiziell erledigt, will sagen, nur Ministerialbeamte mit Ministerialausrüstung. Nachher behaupten die noch, wir wären zu schwach gewesen."
"Moment, zum suchen waren wir gut genug. Aber wenn der Einsatz stattfindet sollen wir ausßen vor bleiben, obwohl Ihnen bekannt ist, dass wir zum einen sehr gut in Angriffs- und Abwehrzaubern geschulte Mitarbeiter haben und zweitens eine umfangreiche Palette von Spezialausrüstungsgütern?"
"Von der Sie beziehungsweise Ihr Institut dem Ministerium nur gnadenhalber etwas abgeben, wenn Sie mit einer Lage überfordert sind, siehe Nocturnia oder Lykotopia. Nein, das erledigen wir. Abgesehen davon haben wir auch umfangreiche Ausrüstungsgüter, zum Beispiel Harvey-Besen, Rückschaubrillen und Duotectus-Schutzanzüge. Von den kleinen Spielereien, die Ihr Ausrüstungsmacher so herstellt benötigen wir vielleicht nur das Barrierofon, oder wie dieses Ding heißt, dass Art und Ausrichtung einer unsichtbaren Barriere hörbar macht und eine Gegenschwingungskraft aufbauen kann. Aber von diesem Gerät haben wir noch vier Stück vorrätig."
"Sie benötigen also keine Schuhe zum geräuschlosen Laufen, Geruchloselixiere oder Lebensauraverhüller, geschweige denn unsere neuen Vielfachschutzbekleidungen, die die herkömmlichen Drachenhautpanzer vollkommen ersetzen können?" fragte Sheena.
"Wenn Sie uns diese Artefakte zur Verfügung stellen möchten sind wir gerne bereit, entsprechend viele Goldriesen rübermarschieren zu lassen. Oder Ihr Institut überlässt sie uns im Sinne patriotischer Unterstützung und weil amerikanische Bürger in Bedrängnis sind."
"Auch wenn ich wie Sie gerade nur pro tempore auf dem höchsten Stuhl sitze bin ich mir mit Mr. Davidson einig, dass unsre Spezialausrüstung nur von unseren Mitarbeitern benutzt werden darf, solange, wie Sie so voller Genugtuung erwähnt haben, keine weltweiten Gefahren erspürt werden müssen. Abgesehen davon haben Sie die Zombieinvasion von vor drei Jahren ausgelassen."
"Sie wollen mich also vor die Wahl stellen, entweder mit Ihren Leuten und deren Ausrüstung an die Sache ranzugehen oder ohne die Spezialausrüstung von Ihnen auszukommen. Dann kehren Sie mit denen, die bereits erfolgreich waren in Ihr Institut zurück und warten dort ab, was gelingt", erwiderte Sandhearst.
"Mr. Sandhearst, mir ist bei der Sache nicht wirklich wohl. Es mag sein, dass Vita Magica unsere Suchaktion nicht mitbekommen hat. Aber ich kann es nicht völlig ausschließen, wo wir drei Stunden lang schon gesucht haben und da keine Reaktion erfolgte. Ich lebe heute immer noch, weil ich eine gute Intuition für Situationen habe, besonders, wenn mir oder wem, den ich losschicken will eine Falle gestellt wurde. Dieses Gefühl habe ich jetzt gerade wieder."
"Ach, jetzt kommen Sie mir mit Intuition. Wir haben auch Wahrsager bei uns. Aber bis die ihre Sachen durchgezogen haben ... Nein, Madam O'Hoolihan, das ist jetzt Sache des Ministeriums. Am Ende stellen Sie das noch so hin, dass es ohne Sie nie gelungen wäre, das Schlangennest auszuheben. Aber Sie bringen mich da auf eine Idee." Der Zaubereiminister läutete eine kleine Glocke. Darauf erschien ein Hauself in einem blauen Kissenbezug mit weißen und roten Zaubererhüten darauf. Dieser wurde losgeschickt, den Vorrat von Felix Felicis zu erfragen. Eine Minute später stand fest, dass das Ministerium einen Vorrat für insgesamt drei Tage hatte. Wenn Sandhearst als fünfzig seiner Leute hinschicken wollte konnte jeder eine Zeitspanne von einer Stunde, 26 Minuten und 24 Sekunden Glück trinken. Das war die Zeit, in der alles erledigt sein musste. Da er nur dreißig Duotectus-Anzüge hatte, weil deren Erfinder raffinierte Mittel verwandt hatte, um ihren Nachbau zu erschweren, waren zwanzig ohne dauernden Schutz vor giftigen Gasen. Die mussten dann eben die Alchemistenumhänge mit Giftdunstabweisezaubern über Drachenhautpanzern anziehen.
"Wenn wir mitmachen dürfen bringen wir natürlich auch unseren Vorrat an Felix Felicis mit ein und dazu drei natürliche Intuitionstalente", versuchte es Sheena noch einmal.
"Ich habe entschieden, und dabei bleibt es jetzt auch", wetterte Sandhearst den neuen Versuch ab.
"Gut, dann bleibt mir wirklich nichts anderes übrig, als mich und meine Leute bereitzuhalten, falls Vita Magica einen Racheschlag in den USA landen möchte. Ich hoffe zumindest, dass Ihre Leute den Einsatz erfolgreich beenden."
"Ich werde nicht so blöd sein, alle an einem einzigen Portschlüssel hängen zu haben, der beim Landen geortet und angegriffen werden kann", sagte der zeitweilige Zaubereiminister. Da klopfte es. "Sie dürfen durch meinen Kamin, bevor ich wen auch immer hereinbitte. Wir sind dann so weit fertig. Ich schicke Ihnen Ihre Leute wieder zurück."
"Wie sie Meinen, Herr Minister", knurrte Sheena. Es klopfte erneut. Doch Sandhearst ließ den Besucher nicht eher eintreten, bevor Sheena durch den Kamin abgereist war.
Herein kamen dann Anaximander Greendale und seine Frau. "Wir möchten uns gerne nach Ihrer Entscheidung im Bezug auf Milton Cartridge und seine Gattin erkundigen", sagte Anaximander.
"Sie kriegen meine schriftliche Entscheidung morgen früh, noch vor dem Familienrat", knurrte Sandhearst."
"Ich ging davon aus, dass Sie die Entscheidung schon getroffen haben, Randolph", sagte Anaximander Greendale. "Aber wie Sie meinen. Noch einen schönen Tag, Sir!"
"Ihnen Auch", erwiderte der geschäftsführende Zaubereiminister.
Als die beiden wieder fort waren sperrte er erst den Kamin, dann schickte er Lenny los, die Inobskuratorenhauptleute aus allen Bundesstaaten zusammenzurufen. Dazu war auch sein Berater Middleton eingeladen.
"Vita Magica hat einen Krieg gegenuns angefangen. Wir werden ihn vielleicht heute noch nicht beenden, aber hoffentlich die entscheidende Schlacht schlagen", begann Sandhearst und gab den Truppführern die Daten. Er erwähnte auch den knappen Felix-Felicis-Vorrat und ordnete an, dass jeder Inobskuratorentrupp seinen besten Mitarbeiter stellen sollte. Von den Sektionsleitern sollten zehn zusammen mit fünf Ausgesuchten je einen Portschlüssel benutzen, der an einem Punkt hundert Meter vom erfassten Zielort entfernt war. Sie sollten aus zehn Richtungen vorrücken, dazu noch fünf auf Harvey-Besen von oben. Dann sprach er den entscheidenden Punkt an: "Ich ordne kraft meines Amtes an, dass jeder am Einsatz beteiligte Zauberer jeden mit einer Babykopfattrappe maskierten Gegner unverzüglich und ohne Vorwarnung mit dem Todesfluch zu belegen hat. Gefangene werden nur gemacht, wenn es sich um unmaskierte Gegner handelt. Diese sind mit dem Schockzauber oder Mondlichthammer kampfunfähig zu machen." Dann forderte er noch die Herausgabe aller verfügbaren Incantivacuum-Kristalle aus dem Arsenal für Spezialeinsätze, sowie alle Duotectus-Anzüge und den Felix-Felicis-Vorrat. Es verging nur eine Viertelstunde, da waren zehn Portschlüssel auf einen Umkreis um den erfassten Zielort abgestimmt. Sandhearst sprach noch mal zu den Einsatztrupplern und wiederholte die Kampfregeln. Er wollte eindeutig zeigen, dass VM zu weit gegangen war.
"Öhm, und wenn wir wen töten, der wichtige Kenntnisse über diese Gruppe hat?" fragte Hank Cockburn, ein texanischer Inobskurator.
"Dann haben die von VM wichtige Leute eingebüßt. Selbst Schuld, wenn die sich auf solche Schurkereien einlassen", erwiderte Sandhearst.
Randolph Sandhearst spilte mit dem Gedanken, den Einsatz höchstpersönlich zu leiten. Doch er wusste nicht, wie lange der dauern sollte. Gemäß der Devise, dass die Mäuse auf dem Tisch tanzten, sobald die Katze aus dem Haus war, verzichtete er doch darauf und kehrte in sein Büro zurück.
Sheena O'Hoolihan saß in ihrem Büro und fragte sich, ob sie nicht auch ohne Ministerielle Hilfsanforderung Leute in die Anden schicken sollte. Doch dann fiel ihr ein, dass ein Ministeriumstrupp eher Gnade vor den Augen des chilenischen Zaubereiministers finden würde als eine eigenständige Institution. Sandhearst tanzte eh schon auf einem haardünnen Seil über einem sehr breiten und tiefen Abgrund. Dennoch sagte ihr Bauchgefühl auch ohne Felix Felicis, dass VM einen Angriff auf den Zielort erwartete. Am Ende hatten die sogar ein stillschweigendes Übereinkommen mit dem chilenischen Zaubereiministerium und bekamen noch Hilfe von dessen Leuten, wenn da mal eben ein nicht angemeldeter Portschlüssel in dessen Zuständigkeitsgebiet ankam.
Unvermittelt, wenn auch nicht unerwartet stand Jane Porters scheinbar gemaltes Vollporträt wieder im Bild mit dem Brodelkessel. Sheena nickte ihr zu. Jane Porter entstieg der Magischen Bilderwelt. Dann deutete sie auf eine Tür zu einem gegen alle bekannten Mithör- und Ortungszauber abgeschotteten Raum. Als beide darin saßen sagte Jane:
"Also, unsichtbar in einem Bild zu agieren strengt mehr an als ein 10-Meilen-Dauerlauf. Aber zum wesentlichen: Sandhearst hat eine Tötungsanweisung gegen alle mit Babykopf-Vollmaskierung ausgegeben. Deshalb wollte Sandhearst unsere Leute nicht dabei haben, weil wir nur gefährliche Tiere oder belebte Leichen vernichten."
"Der hat den Avada-Kedavra-Fluch freigegeben? Ja, ist der denn von Sinnen?" entrüstete sich Sheena O'Hoolihan.
"Sagen wir so, er ist in sehr großer Bedrängnis. Heute hat er die Möglichkeit, dieser Bande einen heftigen Schlag zu versetzen, um sein Ansehen zu wahren. Außerdem haben Anaximander und Adelaide Greendale wohl eine Anfrage gestellt, Milton Cartridge und dessen Frau zu rehabilitieren. Er soll das bis morgen entscheiden."
"Wie du sagtest, Jane, er ist in sehr großer Bedrängnis. Mit einem Erfolg gegen VM kann er klarstellen, dass er die richtige Wahl ist und weiter Minister bleiben soll", sagte Sheena. Dann meinte sie: "Wann will Sandhearst seine Leute losschicken?"
"Ich konnte eerst weg, als er das Büro verlassen hat. Er sagte sowas zu Middleton, dass er die Leute jetzt auf die Reise schicken wolle", sagte Jane.
"Dann hoffen wir mal, dass sein Vorstoß kein Fiasco oder schlimmeres wird."
"Ja, dass er dir nicht unterstellt, seine Leute bewusst in eine gestellte Falle geschickt zu haben", seufzte Jane Porter.
"Warum haben wir uns nicht an die drangehängt?" fragte Timothy Woodworth, einer der 35 Experten für Sanguivocatus, die losgeschickt worden waren.
"Weil wir erst einmal die nötige Ausrüstung hätten austeilen müssen", sagte Sheena O'Hoolihan. Jane erwähnte dann noch, dass der Minister jedem der Einsatztruppler zehn Incantivacuum-Kristalle zugeteilt hatte und damit den Gesamtvorrat dieser im äußersten Notfall anwendbaren Gegenstände. Damit ließ sich im Umkreis von zwölf Metern jeder bestehende Zauber auslöschen. Magisch begabte Lebewesen erlitten eine totale Schwächung oder starben, wenn sie hauptsächlich von Magie am Leben erhalten wurden. Damit ließ sich ein Stützpunkt schon gut wegputzen. Da meinte Woodworth:
"Dann wollen wir ja hoffen, dass die davon auch möglichst viele mit zurückbringen. Am Ende werden die noch bei dringenderen Sachen gebraucht."
Es verging eine Stunde. Aus dieser wurden zwei. Damit war wohl die Zeit abgelaufen, die der Felix Felicis gewirkt hatte. Jane Porter war indes wieder in die Bilderwelt zurückgekehrt um sich umzuhören, was in Frankreich getan werden sollte. Da ploppte es im Kamin, und Sandhearsts Kopf hockte in Mitten der tanzenden Flammen.
"Sheena, kommen Sie unverzüglich mit fünf Ihrer grandiosen Sanguivocatus-Experten zu mir! Wie erwähnt, unverzüglich!" schnaubte der Kopf. Sheena sah an der Blässe um Sandhearsts Nase, dass er wohl eine höchst erschreckende, ja entsetzliche Mitteilung erhalten haben musste.
"Was ist passiert?" fragte sie.
"Nur im direkten Gespräch, Madam O'Hoolihan. In einer Minute bei mir. Die Zeit läuft!"
Sheena bestimmte zwei Hexen afrikanischer Abstammung und drei Zauberer aus den 35 Experten, sie zu begleiten. Als die sechs dann bei Minister Sandhearst im Büro ankamen fanden sie dort eine vier Meter große Wiege, sowie Kendra Honeydew, die ministeriumseigene Heilerin vor. In der weiß lackierten Riesenwiege lagen zehn in einfache Windeln gewickelte Säuglinge. Sheena verstand sofort.
"Das sind die einzigen zehn, die zurückkehren durften", knurrte Sandhearst. "Übrigens die einzigen, die mindestens ein Kind gezeugt haben. Heilerin Honeydew prüft gerade, ob sie alle noch ihr Gedächtnis besitzen."
"Ist gerade passiert. Sofern die zehn nicht mit Scheinerinnerungen versehen wurden haben alle noch ein bestehendes Erinnerungsvermögen", sagte Kendra ungefragt..
"Das kriegen wir diesmal heraus. Wenn die nicht zu gründlich gesucht haben trägt jeder von denen einen Gastrosensis-Globulus im Magen. Wenn dieser ausgeschieden wird kann er ausgewertet werden."
"Gastrosensis?" wollte Timothy Woodworth wissen. Sandhearst grinste. "Tja, wir haben auch unsere Bastelkünstler, Mr. ..."
"Woodworth", erwiderte Woodworth. Da meinte Sheena:
"Ach, haben Ihre Bastelkünstler die Anregung von unserem Experten doch beherzigt, ein gegen Gedächtniszauber immunes Erinnerungsaufnahmeartefakt zu erfinden. Gratulation!"
"Gratulieren Sie mir besser nicht. Je danach, was die Globuli aufgenommen haben könnte ich entscheiden, ob ich Ihr Institut nicht doch belangen soll", schnarrte der Minister. Kendra indes hantierte gerade mit einer Lotion und einer Zange an einer Kette, sowie mit einem Einblickspiegel. Damit fischte sie aus fünf von zehn der offenkundig infanticorporisierten kleine, silbern leuchtende Kristallkugeln. "Die Dinger können bis zu fünf Stunden Erinnerungen einlagern", sagte Sandhearst und bat um die Auslagerung der Erinnerungen. Das ging ganz einfach, in dem die kleinen Kugeln zunächst gesäubert und dann in eine Vorrichtung wie eine Laterna Magica eingelegt wurden. Als Ergebnis konnten sie nun wie durch ein metergroßes Fenster nachbetrachten, was den Trägern widerfahren war.
Es ging damit los, dass der Erinnerungsträger die letzten Anweisungen für den Einsatz vom Minister erhielt, darunter auch die Tötungsanweisung für alle Vollmaskierten. Die Erinnerungsbetrachter bekamen mit, wie alle Einsatztruppler sich selbst mit dem Auracalma-Zauber gegen Gefühlsbeeinflussungszauber wappneten. Dann kam der bunte Portschlüsselwirbel. Dieser dauerte einige Sekunden, bis er plötzlich in reinen Grüntönen erschien. Dann landeten die Portschlüssel, aber nicht wie geplant verteilt auf den Rand eines hundert Meter durchmessenden Kreises, sondern in einer Kuppelhalle, aus deren Scheitelpunkt ein smaragdgrüner Strahl fiel. Sofort nach der Landung begannen die Portschlüssel in genau diesem Grün zu leuchten. Als die fünfzig Einsatztruppler erkannten, dass sie wohl alle an einem Punkt angekommen waren wurden sie in rosarote Wolken dicht wie Watte eingehüllt. "Amatas Ruhestatt", seufzte Sheena und erhielt ein einhelliges Nicken von ihren Kollegen und Kendra. Doch die rosaroten Wolken wippten und tippten von den fünfzig Mann zurück und schafften es nicht, sie dauerhaft einzuschließen. Schließlich lösten sie sich in rosafarbene Funken auf, die an der rundum verlaufenden Kuppelwand zerstoben. Alle Mitglieder des Kommandos rannten in verschiedene Richtungen, um die Kuppelhalle zu verlassen. Dabei gerieten sie aber in drei Meter durchmessende Säulen aus blattgrünem Licht, auch jener, dessen Erinnerungen gerade wie durch ein Fenster betrachtet wurden. Die Säule erschien nicht durchgängig, sondern wirkte wie zusammenfließende Stränge und aufblühende Kreise, die wieder zu fließenden Strängen gezogen wurden. . Die, welche Barrierofone dabei hatten versuchten, die grünen Säulen durch Eigenschwingungsüberlagerung zu sprengen, weil wohl keiner Incantivacuum-Kristalle einsetzen wollte. Das gelang auch. Aber weil es nur vier solcher Artefakte gab dauerte es entsprechend, bis zehn weitere Kameraden befreit waren. Ein erst hauchzarter, dann immer dicker werdender Dunst erfüllte die Halle. Es war ein purpurroter Nebel. Gleichzeitig waren verzerrte Töne wie schlecht gestimmte Instrumente zu hören. Doch diese Töne verklangen nach nur drei Atemzügen wieder. Der Purpurnebel wurde immer dichter. Doch weil alle Kopfblasenzauber benutzten wirkte er nicht. Dann aber flammte unvermittelt grellrotes Licht auf und machte alle bewusstlos. Dies war daran zu erkennen, dass erst ein wilder Regen explodierender Sterne im Erinnerungsfenster aufglühte und das Bild total schwarz wurde. Ein lautes Rauschen klang auf und wurde zu einem tiefen, dumpfen Rauschen. Als sich das Bild wieder klärte sah der, dessen Erinnerung gerade nachbetrachtet wurde, vier erwachsene Leute mit rosaroten Babyköpfen auf den Schultern vor sich. Er wollte wohl seinen Zauberstab ziehen, musste dann aber feststellen, dass ihm während seiner Ohnmacht alles weggenommen und ausgezogen worden war. Dann hörten sie, wie eine klar als Hexe erkennbare ihn mit einer wohl künstlichen Kleinmädchenstimme sprechend verhörte. Er wollte die Aussage verweigern und sagte nur seinen Vor- und Nachnamen. Das genügte denen wohl als Aussage. Denn das nächste, was passierte war der Schockzauber. Wieder totale Schwärze und tiefes Rauschen. Dann grauer Nebel und riesenhafte Schatten, die mit dem Umgebungslicht verschwammen. Es quängelte und brabbelte wie in einem Schlafsaal voller hungriger Neugeborener. Dann erklang wieder eine Kleinmädchenstimme, sicher rein magisch erzeugt: "Sagt eurem Zaubereiminister Sandhearst, die anderen bleiben bei uns, um für diese Aktion zu sühnen. Will er morgen nicht wie ihr in Wiege und Windeln zurückgeschrumpft werden soll er uns nicht noch mal so bedrängen. Die vierzig, die wir in Gewahrsam nehmen mussten werden ein neues Leben bei unseren Fürsorgerinnen beginnen, wenn sie die angesetzten Runden in unserem Karussell hinter sich haben." Dann erstrahlte graues Licht und ein wildes Verwischen von Grautönen, begleitet von lautem Rauschen. Danach waren Geräusche aus dem Ministeriumsfoyer zu hören, vor allem erschreckte Aufschreie von Leuten, die wohl gerade so noch aus dem Weg gehen konnten. Es folgte noch der laute Wortwechsel von Wachzauberern, die den Erinnerungsträger und seine Kameraden zum Ministerbüro hinaufschafften.
"Ach, und diese Wiege ist ein Portschlüssel?" fragte Timothy Woodworth. "Ist aber sehr mutig, den hier im Büro hinzustellen."
"Hier können keine Portschlüssel mehr verschwinden. Deshalb habe ich dieses Möbel sofort hier hinbringen lassen, auch auf die Gefahr, dass es mit den Helfern wieder verschwindet", sagte Sandhearst. Sheena nickte. Also hatte man den Angriffstrupp erwartet und innerhalb weniger Minuten ohne Kampfhandlungen besiegt. Sheena fragte, ob alle Einsatztruppler diese kleinen Kugeln geschluckt hatten und ob das bei einer Befragung nicht rauskommen würde.
"Es ist zwar ein S5-Geheimnis, aber nachdem unsere Spezialausrüstungsabteilung von sogenannten Flugschreibern erfuhr, die in Muggelflugmaschinen Bewegungen, Lage und Funktionen aufzeichnen, haben wir für unsere Außeneinsatzkräfte auch sowas ähnliches gemacht. Jeder Inobskurator schluckt unmittelbar vor seinem Einsatz den Globulus. Dieser reagiert mit den Magensäftenund verändert die Erinnerungen so, dass der Inobskurator es nicht mehr weiß, bis er die Kugel wieder ausscheidet. Jetzt wissen Sie auch, warum ich Ihre Leute nicht dabei haben wollte. Denn Sie würden nur auf Gefangene ausgehen."
"Und Sie sind ein Trollhirn, Mr. Sandhearst", stieß Wayne Nodberry vom Laveau-Institut aus und erntete dafür verstörte Blicke, bis auf den von Sheena O'Hoolihan. Als Sandhearst den LI-Spezialisten fragte, was dem einfiele antwortete Nodberry:
"Wenn jeder von denen seine kleine Gedächtniskristallisierkugel geschluckt hat muss die irgendwann wieder aus dem raus. Die haben aber nur zehn von Ihren Leuten nach Hause gelassen. Mit anderen Worten, wenn denen beim Häufimachen die kleinen Kugeln rausfallen kriegen unsere Widersacher das spitz, so hell wie die leuchten. Ich unterstelle denen mal, dass die genauso mit Zauberkunst auf Draht sind wie Ihre und unsere Bastelkünstler. Dann kriegen die raus, wozu die netten Kügelchen da waren. Die brauchen dann nur zwei oder drei von denen auszuwerten und wissen dann, dass Sie, Mr. Sandhearst, den Einsatz des Todesfluches ausdrücklich befohlen haben. Könner, Spitzenkönner, Ihre Leute vom Inobskuratorentrupp!"
"Ich verbitte mir diesen Ton!!" stieß Sandhearst aus. Doch seine plötzliche Gesichtsverfärbung sagte alles, was es dazu noch zu sagen gab. Sheena nickte ihrem Mitarbeiter zu. Dann stocherte auch die wie eine kleine Ebenholzpuppe wirkende Thelma Brewbaker in der bereits geschlagenen Seelenwunde: "Ganz abgesehen von hundertfünfzig verlorenen Incantivacuum-Kristallen, dreißig Duotectus-Anzügen und vier Barrierofonen und fünf Harvey-Besen. Vielleicht fällt die Rache der Babymacher dann nicht so drastisch aus, wo sie so viel Sonderausrüstung auf einmal frei Haus geliefert bekamen."
"Jetzt reicht's aber! Seien Sie froh, wenn Sie alle nicht gleich von den noch im Hause befindlichen Sicherheitsleuten festgenommen werden!" brüllte der Minister. Doch die hatten ja zum feuerroten Donnervogel recht. Der Schlag gegen Vita Magica war nicht nur ein totaler Fehlschlag geworden, sondern hatte den Feinden auch wertvolle Materialien in die Hände gespielt. Vor allem weil die Portschlüssel offenbar unterwegs abgefangen werden und an ein anderes Ziel gebracht werden konnten, was hieß, dass die Leute von VM wahrhaftig sehr gut bis überragend in Zauberkunst bewandert waren.
"Falls Sie befinden, dass nicht wir Ihnen diesen sehr erschreckenden Schlamassel bereitet haben, Minister Sandhearst, bekommen Sie gleich noch einen schriftlichen Antrag auf Aushändigung einer der zehn kleinen Kugeln für unsere eigene Auswertung. Denn Ihnen sollte klar sein, dass Vita Magica nun weitere Aktionen ausführen wird, auf die wir dann reagieren müssen. Dann sollten wir wissen, wie wir uns dagegen wehren können", sagte Sheena.
"Abgelehnt", knurrte Sandhearst. Sheena hoffte, dass dies noch nicht das letzte Wort war. Doch wer wusste, ob Sandhearst nicht schon seine eigenen Stunden zählte, bis ihn persönlich der Racheschlag von Vita Magica ereilte.
Eine Stunde nach der erschreckenden Nachbetrachtung des auf ganzer Linie gescheiterten Vorstoßes erhielt Sheena O'Hoolihan eine Eulenpost. Es handelte sich um eine Schachtel mit der Aufschrift "Für die erwähnte Auswertung. Darin war eine der silbern leuchtenden Erinnerungskugeln. Dabei war ein kleiner Zettel, auf den eine Hexe mit entschlossener aber sehr runder Handschrift geschrieben hatte:
Auch wenn der Minister Ihnen keine Aufzeichnung zukommen lassen wollte sehe ich es als geboten, nicht nur uns, sondern auch Ihnen die Erinnerungsaufzeichnung des überstürzten und daher wohl leider zum Scheitern verurteilten Feldeinsatzes zu überlassen. In der Kugel ist die kondensierte Erinnerung von William McDuffy, den Vater von Patricia McDuffy, nur damit Sie wissen, mit wessen letzten Stunden vor dem unfreiwilligen Neuanfang sie es zu tun haben.
Mit kongenialen Grüßen
GH. DR. E. GreenspornP.S. Meine im Ministerium tätige Kollegin hat eine Kopie der Erinnerung angefertigt, so dass keine unerlaubte Entwendung nachgewiesen werden kann.
Wenige Minuten nach Erhalt dieser schon an der Grenze der Legalität entlangschrammenden Eulenpost traf Sheena O'Hoolihan sich mit Jane Porter, sowie den 35 Sanguivocatus-Experten und Quinn Hammersmith, um die ganze leidige Sache noch einmal zu besprechen.
"Die müssen Perdix' Diggles Portschloss nacherfunden haben", sagte Quinn mit einer gewissen Anerkennung. "Es ist ein halbes Geheimnis unter Thaumaturgen, dass der jüngere Bruder von Daedalus Diggle, der sich auf Grindelwalds Seite geschlagen hat, eine Art Locattractus-Zauber für Portschlüssel erfunden hat. In Gesprächen mit Kollegen hat er das als Portschloss bezeichnet und auch damit angegeben, dass dieses Portschloss auf damit abgestimmte Portschlüssel als Verstärker der Reichweite wirken könne. Perdix Diggle starb am 20. Juli 1944 zusammen mit zehn anderen, die sich von Grindelwald lossagen wollten. Die Aufzeichnungen über das Portschloss wurden nie gefunden. Die Forschungen daran wurden auf der internationalen Zaubererkonföderationskonferenz vom 1. Juni 1945 in Timbuktu verboten, weil Portschlüssel zu den weitreichendsten und beliebtesten Transportartefakten gehören. Aber dieses grüne Leuchten und dass die Portschlüssel im gleichen Licht geleuchtet haben spricht dafür, dass jemand Diggles Portschloss nacherfunden haben muss. Okay, dann muss ich das wohl auch rauskriegen, wie das geht. Bei den grünen Säulen, in denen die Einsatzgruppe eingeschlossen wurde, sieht es nach einer Mischung aus druidischem Pflanzenzauber und dem Astralzauber Columnae Caelestes aus, der sich aus der Kraft der Bewegung zwischen Erde und den Gestirnen speist. Daher waren die nicht so leicht zu knacken, selbst für mein Barrierofon nicht.""
"Und der Nebel und das rote Licht?" wollte Wayne Nodberry wissen.
"Der Nebel war sicher ein Schlafdunst mit besonders heftiger Betäubungswirkung. Der kam aber nicht durch die Kopfblasen", vermutete Hammersmith. "Das rote Licht kannte ich bisher noch nicht. Aber mir schwant, dass weil alle wohl zugleich bewusstlos wurden, dass der Zauber auf die Sinne gewirkt hat wie Sensofugato. Es könnte aber auch sein, dass da ein Zauber gewirkt hat, der mit dem Auracalma-Zauber wechselwirkte. Wer immer die Falle gestellt hat hat methodisch ausgetestet, welcher Flächenzauber oder alchemistische Wirkstoff die gewünschte Wirkung zeigt und wenn nicht, warum nicht."
"Sie meinen, die haben einen Weg gefunden, Auracalma in einen Betäubungsschlag für dessen Anwender zu verwandeln?" fragte Sheena O'Hoolihan erschrocken. Hammersmith wiegte den Kopf und betonte, dass dies nur eine Vermutung sei.
"Wir wissen jetzt von dem Stützpunkt in den Anden. Sollen wir da hinfliegen, ohne Portschlüssel?" fragte Woodworth. Hammersmith schüttelte den Kopf.
"Nur wenn du aus hundert Metern Höhe mit dem Besen abschmieren willst. Ich habe aus den Erinnerungen von William McDuffy klar ersehen können, dass keiner seinen Harvey-Besen vom Boden kriegen konnte, um zur Decke hochzufliegen, um vielleicht den grünen Strahl zu unterbrechen. Die Besen lagen blei Schwer am Boden. Ich vermute einen Antiflugzauber, der damit belegte Gegenstände entweder nur entkräftet oder um ein vielfaches so schwer macht wie üblich, ähnlich dem Dekagravitus-Zauber."
"Dann kapern wir einen dieser Muggelvögel mit einer dieser Atombomben und sprengen den Laden so in die Luft", stieß Woodworth aus.
"Ja, und bringst mal eben eine Unzahl von Unschuldigen um", erwiderte Jane Porter. "Das ist ganz gegen unsere Statuten", legte sie noch nach, was jeder hier wusste.
"Richtig, sonst könnte ich euch mal eben einen Knickzylinder bauen, in dem zwei sich total widerstrebende Zaubertränke eingefüllt sind und den als Portschlüssel zu denen hinschicken. Wenn deren Portschloss noch intakt ist knallt der Zylinder auf den Boden, knickt durch und mischt dabei die Tränke. Rums! Mit freundlichen Grüßen von Dr. Clamp", erwiderte Quinn Hammersmith.
"Oha, da rufst du aber einen großen Drachen", seufzte Jane. Denn sie konnte sich vorstellen, dass Sandhearst in seiner Schmach genau sowas angedacht haben mochte, um doch Genugtuung zu erhalten.
"Es sei denn, die haben ihr Portschloss jetzt geschlossen. Dann wirkt es nämlich wie Locorefusus und lenkt auf seinen Standort ausgerichtete Portschlüssel weit genug ab. Die Einsatzgruppe hatte eben Pech, dass das Schloss geöffnet war", meinte Quinn.
"Hätten wir mit unseren Fluchtsteinen entkommen können?" fragte Sheena O'Hoolihan. Quinn überlegte. "Die hätten vielleicht funktioniert. Na ja, aber man wollte uns ja nicht dabei haben." Alle nickten.
Wie Sheena befürchtete kam am späten Abend Ortszeit noch eine Eulenpost aus dem Ministerium. Darin drohte Sandhearst mit der Anklage aller an der Suche beteiligten, es sei denn, das LI übergebe dem Zaubereiministerium alle seine Aufzeichnungen und Ausrüstungsgegenstände aus seinem Bestand. Sandhearst gewährte hierfür eine Frist bis zum ersten November 2002.
"Dann können wir ja gleich für dich arbeiten, Prahlhans", knurrte Sheena den in der Hand gehaltenen Brief an. Zumindest war der kein Portschlüssel. Denn ins Institut kamen nur Eulen, die nicht selbst verflucht waren oder eindeutig verfluchte oder mit verzögert wirkenden Zaubern belegten Gegenstände trugen. Zumindest diese Vorkehrung, so Sheena, könnte man dem Ministerium anbieten, wo sich herausgestellt hatte, dass es diese selbst noch nicht eingerichtet hatte.
"Willst du wirklich den Jungen zu dieser Florence Rossignol schicken, die ihn wegen der typisch adoleszenten Ablehnung seiner Kinder gemaßregelt hat?" wollte Sarah Mirabeau von ihrer Mutter wissen, als sie den im Schockzauber daliegenden Gérard Dumas sah. Mater Vicesima überlegte kurz. Dann sagte sie: "Hast recht, Sarah. Da würde er ja ganz und gar unter der Fuchtel von Blanche Faucon stehen. Nein, der soll schön weit von zu Hause neu aufwachsen."
Sein Kopf war schwer. Er lag auf einer weichen Unterlage. Um ihn herum war es dunkel. Er dachte erst, einen bösen Traum gehabt zu haben, dass er die Bande von Vita Magica verfolgt hatte, dass die ihn in eine Falle gelockt und dann in eine hinterhältige Vorrichtung gesteckt hatten, die sich wie ein Karussell drehte und ab und an fremde Frauen zu ihm vorließ, die unbedingt Kinder von ihm haben wollten. Dann hatte seine Mutter nach ihm gerufen, und die hatten ihn deswegen mit dem Infanticorpore-Fluch belegt. Dann lag er jetzt sicher auf diesem harten Ding, dass die in St.-Denis als Bett bezeichneten und hatte wohl der Pensionswirtin zu erklären, wieso ein neues Laken fällig war oder wie. Doch dann fiel ihm auf, dass er sich nicht so bewegen konnte wie früher. Er war irgendwie zu schwer. Seine Arme und Beine ließen sich zwar bewegen, aber nicht so locker anheben. Vor allem sein Kopf war viel zu schwer. Er bewegte die schwerfällige Zunge und konnte keinen einzigen Zahn erfühlen. Nein, das konnte nicht wahr sein! Das war immer noch derselbe Albtraum. Er konnte doch unmöglich wieder ein Baby sein, wieder mal bei vollem Bewusstsein und mit allen bisherigen Erinnerungen. Das konnte doch nicht wahr sein!
Er versuchte, seinen linken Arm hochzustemmen. Das ging gerade so, aber sehr schwer. Der Arm zitterte. Offenbar musste alles in ihm wieder an seine Funktionsweise gewöhnt werden. dann erfühlte er was weiches, stoffartiges zwischen seinen Beinen. Die hatten ihn echt gewindelt. Doch so richtig glauben konnte er das erst, als er sich in den rechten Arm kniff und es tatsächlich weh tat. Er stieß einen kurzen kieksigen Aufschrei aus. Seine Unterlage wackelte kurz nach links und rechts und schaukelte dann sanft aus. Bei allen Drachen und Ogern, die hatten ihn echt zum Baby gemacht, aber ohne ihm das Gedächtnis zu nehmen. Eine schlimmere Strafe konnte er sich nicht vorstellen. Sofort dachte er wieder an die Tage, als Madame Rossignol ihn auf diese Weise klar gemacht hatte, wie hilflos seine beiden Kinder sich fühlen würden, wenn keiner um sie herum war, der oder die wusste, was zu machen war, wenn sie Hunger hatten oder frische Windeln brauchten. Da fiel ihm wieder ein, was diese Babykopfhexe geplärrt hatte, bevor sie ihn mit diesem Infanticorpore-Strahl getroffen hatte, dass die ihn wieder großziehen sollte, die ihn schon mal gemaßregelt hatte. O nein, nicht schon wieder! Nicht, dass er es am Ende nicht genossenhatte, dass Florence Rossignol ihn wie ihr eigenes Kind umsorgt hatte, damit er bloß nicht verhungern und verdursten musste. Er versuchte, was zu sagen, laut zu rufen. Doch er bekam keine klaren Silben über die Lippen. Sollte er echt nur noch schreien, bis seine Zunge wieder beweglich genug war und die ersten Zähne neu gewachsen waren. Bei Belenus, was hatten die Zwillinge manche Nacht durchgeschrien, als die ihre Zähne bekommen hatten. Und Sandrine hatte jeden Protest dagegen mit heftigen Tiraden zurückgewiesen, dass er froh war, wenn sein Chef ihm neue Dienstreisen zuschustern konnte. Aber jetzt? Wie lange war er bewusstlos gewesen? Verdammt, wenn die nicht rausfinden konnten, wie lange er schon verwandelt war bekamen sie ihn nicht mehr großgezaubert! Er schrie jetzt vor Wut und verzweiflung. Deshalb hörte er auch, dass er in einem kahlen, aber weitläufigen Raum lag, wohl einem Vorratskeller. Doch sein Schreien rief keinen zu ihm hin. Er fand nur heraus, dass sie ihm einen Strampelanzug übergezogen hatten, damit er nicht fror und ihn wohl in eine Wiege gelegt. Doch wo zu allen giftigen Gorgonen stand die Wiege? Er fühlte nur, dass er langsam wieder Hunger bekam. Doch diesmal würde wohl keine nährende Amme zu ihm kommen und ihn anlegen. Wollten die ihn hier verhungern lassen? Doch da hatte er das Ausmaß seiner Bestrafung gründlich unterschätzt.
Als er zum vierten mal seine Hilflosigkeit und Wut in den Raum hinausschrie hörte er eine Tür aufgehen.
Jemand sprach auf Englisch. Er verstand nur das Wort Baby, was dem Französischen Bébé als Vorbild gedient hatte. Es war ein älterer Mann. Der rief dann noch nach wem. Kurze Zeit später klapperten Schritte auf einer Holztreppe. Wie durch dichten Nebel flackerte Licht zu ihm. Er wimmerte und versuchte, Laute auszustoßen. Doch es war nur hilflos kehliges Zeug, bei dem er zu allem Überfluss noch zu viel Spucke aus dem Mund laufen ließ. Eine Frauenstimme sagte was auf Englisch zu dem Mann. Dann legte sich ein großer Schatten über die Wiege. Gérard fürchtete schon, dass er gleich von einer wildfremden Person aus der Wiege genommen wurde. Was würde dann passieren. Drachenmist! Er war jetzt noch hilfloser dran als damals, wo Madame Rossignol ... Seine Wiege wurde leicht angestoßen. Über ihm tauchte von verschwommenem Licht getroffen ein risiges, graues Frauengesicht auf, rund wie ein Vollmond und mit großen Augen. Zärtliche Worte wurden auf ihn eingesprochen. Doch er verstand es nicht. Dann hörte er den Mann was sagen. Danach raschelte es knapp neben seinem Kopf. Es klang wie ein großes Pergamentstück. Die Frau las wohl halblaut auf Englisch und dann auf Französisch. "Ich bin Gérard Dumas und wurde wieder zum Säugling, weil ich nicht dankbar und geduldig mit den mir bescherten Kindern sein und die, die mir geholfen hatten, sie zu haben, beleidigt habe. Bitte kümmert euch um mich, damit ich nicht verhungern muss und bringt mir bitte bei, dass ich nicht an Sachen rühren darf, die zu groß für mich sind!"
"Häh?!" machte der Mann. Das verstand Gérard. Dann sagte die Frau was und wandte sich dann wieder ihm zu. "Du bist Dschererd? 'tschuldigung, Gé-raard?" Wie sollte er zeigen, dass das so war. Er versuchte, den schweren Kopf anzuheben und zu nicken. Doch das ging noch nicht. Dann stemmte er die rechte Hand hoch und machte schwerfällige Winkbewegungen. Eine warme, weiche Riesenhand griff nach seiner Hand und hielt sie ruhig und nicht zu fest. "Zweimal drücken ja, dreimal drücken nein!" sagte die Frau sanft und schaffte es jetzt, so gut wie akzentfrei Französisch zu reden. Der Mann grummelte was, wovon Gérard nur das englische Wort für Froschfresser heraushörte, was Julius ihm mal beigebracht hatte, um den Heuler zu erklären, den Kevin wegen Patrice bekommen hatte.
"Nope", zischte die Frau. Dann sagte sie was auf Englisch, bevor sie Gérard noch mal fragte, ob er wirklich Gérard Dumas war. Er drückte zweimal die seine Hand haltenden Finger. "Sie kommen aus Frankreich?" wurde er gefragt. Er bejahte es wieder. Wie schnell diese Frau doch darauf gekommen war, wie sie mit ihm reden konnte. Das meinte wohl auch der Mann. "Sie sind im Honigtopf von Hogsmeade. Waren Sie hier in der Gegend?" wurde er gefragt. Er drückte diesmal dreimal die Finger der Hand, die seine hielt. "Wissen Sie, wie Sie hierher gekommen sind?" fragte die Hexe, die Französisch sprechen konnte. Wieder drückte er dreimal die ihn haltende Hand. "Haben Sie wen, den wir informieren können?" fragte sie. Er gab das Zeichen für Ja. So ging es echt, dachte er. Dann wurde er nach Eltern gefragt, was er bejahte, ebenso nach seiner Frau und nach Ministerialbeamten aus Frankreich. Dann sagte die Hexe mit dem Mondgesicht: "Gut, ich verständige dann die Strafverfolgungsbehörde und lasse bei der Gelegenheit auch die Abteilung für internationale Zusammenarbeit unterrichten. Haben Sie Hunger?" Er gab das Ja-Zeichen. Doch dann fiel ihm ein, dass die Hexe da ihn sicher nicht stillen würde und er das von der auch nicht haben wollte. Doch jetzt war es heraus. Sie ließ seine Hand los und sprach mit dem Zauberer auf Englisch. Gérard verfluchte mehr den Umstand, kein Englisch zu können als den, jetzt im Körper eines Neugeborenen gefangen zu sein. Der Zauberer verließ mit lauter polternden Schritten den Kellerraum. Ob die Hexe noch bei ihm blieb bekam er nicht direkt mit. Hier roch es nicht nach Parfüm, sondern nach Gebäck, Zuckerguss und Fruchtgelee. War er etwa in einem Süßwarenladen? Dann erinnerte er sich, was die Hogwarts-Schüler erzählt hatten, dass in dem Dorf bei ihrer Schule ein magischer Süßwarenladen war.
Einige Minuten später kam der Zauberer zurück und gab der Hexe was in die Hand. "Wir haben noch frische Milch und eine Nuckelflasche von unserer Nichte gefunden. Keine Angst, alles sauber und Frisch. Mund auf, bitte!" Kaum hatte er die Anweisung befolgt war ihm schon der praktische Sauger einer Babyflasche zwischen die zahnlosen Kiefer geschoben worden. Er sog gierig und schluckte die warme, wohltuende Milch in sich hinein. Doch das war Kuhmilch, wohl nicht so leicht bekömmlich für einen gerade auf Anfang zurückverhexten Magen. Doch besser als von einer Stegreifamme angelegt zu werden und zu hoffen, dass die ihm was geben konnte.
Während die Flasche immer leerer wurde hörte Gérard das leise Gespräch der beiden Leute, bei denen er wie auch immer angekommen war. Dann erklangen die Stimmen von Männern und zwei Frauen, davon eine noch ganz junge. Die kannte er. Das war Pina Watermelon. Dann standen mehrere Leute um die Wiege herum. Das Licht wurde etwas heller. Doch erkennen konnte er keinen. Da war so ein grauer Nebel vor seinen Augen. Das kannte er leider schon von der besonderen Unterrichtseinheit bei Madame Rossignol. Dann hörte er die Stimme von Pina: "Gérard, wenn du das wirklich bist hebe bitte mal den linken Arm so hoch es geht!" Gérard spannte die noch längst nicht trainierten Armmuskeln an und schaffte es, den linken Arm gegen die Schwerkraft anzuheben, schnell und ruckartig. Dreimal hob er den Arm. Dann sprach die andere Hexe:
"Okay, Gérard. Ich bin Patience Moonriver und übernehme dich gleich, wenn alle Aussagen gemacht sind. Ich kläre dann, ob du noch wiedervergrößert werden kannst oder nicht. Falls nicht, kläre ich das mit den Kolleginnen in Frankreich, bei wem du die nächsten siebzehn Jahre bleibst. Keine Angst, ich habe schon mal einen erwachsenen Burschen großbekommen, den ein launisches Schicksal in Windeln und Wiege zurückgeworfen hat. So, damit das mit der Ja- und Neinbefragung nicht den ganzen Tag dauert möchte ich dir ein Dexter-Cogison umlegen. Das kann deine worthaften Gedanken in hörbare Sprache umwandeln. Es ist schon auf Französisch abgestimmt. Darf ich das verwenden? Falls ja, bitte den linken Arm mindestens einmal anheben. Falls nein bitte den rechten Arm mindestens einmal anheben!" Gérard kannte das Cogison schon. Julius und Millie hatten davon geschwärmt, dass damit sogar halbintelligente Wesen wie Latierre-Kühe mit Menschen "Sprechen" konnten. So riss er den Linken Arm einige Zentimeter von der weichen Unterlage. Dann noch mal. Er ärgerte sich, dass er ihn noch nicht richtig nach oben strecken und oben halten konnte. Zur Antwort wurde ihm von der Hexe etwas um den Hals gebunden. Dann tippte etwas dagegen. Er hörte erst ein kurzes Blubbern und Krächzen. Dann klang: "Oha, ob das echt geht" quäkig aber eindeutig mit einer Jungenstimme unter seinem Kinn. "Und ob das geht", lachte die Hexe, die sich Patience Moonriver genannt hatte. Dann sagte sie wohl was zu wem. Pina bestätigte es auf Englisch und Französisch. Danach wurde er von Pina befragt, die die Fragen von den drei Zauberern vorgegeben bekam, von denen einer Arthur Weasley, der oberste Strafverfolgungszauberer und mögliche künftige Zaubereiminister war. Der zweite war der Sprecher der britischen Heilzunft. Der dritte gehörte zur Abteilung für internationale magische Zusammenarbeit. Dann kam noch eine Hexe die Treppe heruntergekeucht, stieß schnelle Worte aus und schwieg dann. "Die Dame ist Bathilda Hopfkirch vom Ausschuss gegen den Missbrauch der Magie, Gérard. Sie muss natürlich auch wissen, was dir passiert ist", sagte Pina leise. Gerard dachte: "Natürlich muss die das wissen", was vom Cogison wiedergegeben wurde. Dann ging die Befragung weiter, warum er ausgerechnet auf Réunion war und da eigentlich außerhalb seines beruflichen Auftrags nach Spuren von Vita Magica gesucht hatte, wie er das mit den Sternensängern rausbekommen hatte, wobei er verschwieg, wie er Leute befragt hatte. Offenbar war sein Babygesicht ein geniales Pokergesicht. Denn keiner kam darauf, dass er was unterschlug. Als er von seinem Flugteppich sprach, den er geerbt hatte und wie er damit und mit einer Kamera die Banditen überwacht und verfolgt hatte hörte er Mr. Weasley seufzen. Pina wollte übersetzen, doch jemand hielt ihr den Mund zu. Patience zischte auf Französisch: "Klären wir später mal, wenn der weitere Verbleib geklärt ist, Ms. Watermelon." Ein missgestimmtes Grummeln war die Antwort. Dann sagte Patience auf Französisch: "Dann hast du dich nur sichtbar gemacht, weil zwei von denen ihre Masken abgenommen haben. Hast du sie wenigstens erkannt?"
"Ja, habe ich. Da war eine Hexe bei die ... Brrlbrrbl!" Als habe jemand einen kleinen Hammer von innen gegen seine Schädeldecke gedroschen konnte er nicht verraten, wie Charleen aussah. Diese verdammte Bande hatte echt was gemacht, dass er die, mit denen er geschlafen hatte, nicht verpetzen konnte, wenn er sie erkannte oder ihnen vorgestellt worden war. "Mist, Erinnerungsblockierzauber. Ich kann das nicht erwähnen. Die haben da was gemacht, dass ich ... brrlbrrlb!"
"Kennen wir schon", knurrte Patience. Dann beugte sie sich zu ihm hinunter, dass er nun ihr Gesicht ohne Farben sehen konnte. Er öffnete die Augen so weit er konnte, während sie "Legilimens" murmelte. Dann meinte er, ein Feuerwerksböller mit grellem Blitz und lautem Knall sei in seinem Kopf losgegangen. Auch Patience musste was abbekommen haben. Denn sie schrak zurück. "Autsch! Mein Schädel!" quäkte das Cogison. Patience sagte was in einem Ton, als diktiere sie etwas für ein Protokoll. Dann sagte sie auf Französisch: "Man kann über diese Zeitgenossen sagen was man will, aber die haben sehr wirksame Abwehrmaßnahmen entwickelt. Dein Gedächtnis ist mit einer Art Wächterzauber durchsetzt worden, der verhindert, dass jemand dir von außen Erinnerungen entreißen kann, der nicht den entsprechenden Gegenzauber verwendet. Sowas können nur wenige. Halten wir also fest, dass du die Hexe nicht erwähnen kannst, wohl weil du dazu gezwungen wurdest, mit ihr intim zu werden, also körperliche Liebe zu machen?"
"Ja, die haben sie mal zu mir geschicktt", gab das Cogison wieder. Dann musste er seine Runden auf dem Karussell beschreiben, wobei er bei den körperlichen Handlungen nur erwähnen sollte, welche Sorte Hexe ihm zugeführt worden war. Doch jedesmal, wenn er das beschreiben wollte, bekam er diesen Hammerschlag gegen die Schädelinnenseite, und das Cogison gab ein unsinniges Brabbeln wieder. Dann hörte Patience erneut auf etwas. Pina und sie bestätigten etwas, dass Mr. Weasley sagte. Jetzt durfte Pina sogar sprechen: "Das ist auf jeden Fall mehr, als was Georg Bluecastle aussagen konnte, Gérard. Dem haben sie alle Erinnerungen an diese Zeit verändert."
"Hätten die besser auch mit mir gemacht", klang es aus dem Cogison.
"Nur noch zu der Verwandlung. Warum so und unter Beibehaltung deiner Erinnerungen?" wollte Patience Moonriver wissen. Gérard cogisonierte die Kontaktaufnahmeversuche seiner Mutter. Das hatte die Bande wohl sehr alarmiert. Dann hatte er sich eben hier wiedergefunden.
"In Ordnung, wir informieren die Kollegenin Frankreich. Die kommen dann zu mir. Wir zwei reisen jetzt in meine Residenz und Privatwohnung", sagte Patience kategorisch. Gérard erwiderte darauf, dass er lieber in seine Heimat zurückkehren wollte. "Wie erwähnt muss das geklärt werden. Laut der Fichtentalregel darfst du nicht mehr in die Nähe deiner direkten Verwandten, solange du nicht siebzehn Jahre körperlich aufgeholt hast. Aber wir sehen zu, dass du dich von deiner Frau und deinen Eltern noch verabschieden darfst."
"Heeh, Moment, ich bin geistig noch ganz bei Sinnen und damit berechtigt, über meinen Aufenthaltsort zu bestimmen", protestierte Gérard.
"Eingeschrenkt. Du darfst zum Beispiel nicht bei deiner Frau oder deiner Mutter, deren Schwestern oder Müttern aufwachsen, so die Fichtentalregel. Deshalb müssen wir klären, wo du bleibst. Außerdem besteht die Gefahr, dass Vita Magica es als Fehler ansieht, dich ohne Erinnerungsauslöschung weiterleben zu lassen. Die haben ... Ach, ist jetzt nicht so wichtig. Ich nehme dich solange bei mir auf und versorge dich, bis klar ist, ob das die nächsten siebzehn Jahre so weitergeht oder eine Kollegin aus Frankreich dich übernimmt."
"Diese Mater Brlbrlb soll ein großer roter Drache fressen", gab das Cogison von sich. Dann wurde er mal eben um Kopf und oberkörper gefasst und behutsam aber entschlossen aus der Wiege gehoben. "Ich vermute, die Wiege ist ein Portschlüssel. Vielleicht kriegen wir raus, wo er hergekommen ist", sagte Patience, bevor sie den mit Händen und Füßen gegen seinen Abtransport ankämpfenden Gérard sehr schnell in ein Tragetuch wickelte und sich gekonnt über die Schulter hängte. "Ich will dir nichts böses", knurrte sie auf Französisch. "Genieße es einfach. Das ist dann leichter für dich!"
"Hat mir schon mal eine Heilerin gesagt", gab das Cogison von sich. Doch Patience beachtete es nicht weiter. Sie trug ihn einfach weg, federleicht und ohne Rücksicht auf sein Empfinden.
Es ging durch einen großen Raum, in dem es nach allem möglichen Naschwerk roch, hinaus auf eine Straße. Es war Tag und es war feuchtkalt. Dann fühlte er, wie seine Trägerin wohl auf irgendwas kletterte oder hinaufstieg. Dann merkte er nur, dass es aufwärts und immer schneller voranging. Die Hexe ritt mit ihm im Tragetuch auf einem Besen. Das war schon gewagt. "Das Tuch hält dich sicher. Keine Angst. Ich brauche keinen Kindertragekorb am Besen. Versuch zu schlafen, es dauert ein wenig. Aber wenn wir da sind sind vielleicht schon deine Landsleute da."
"Nur eine Frage, was ist, wenn ich nicht nach Frankreich zurück darf? Füttern und wickeln Sie mich dann."
"Ich würde dann deine Amme und Ziehmutter. Du würdest einen neuen Namen kriegen, damit die Zaubereiverwaltung nicht durcheinanderkommt. Ja, und als Amme würde ich dich selbstverständlich säugen. Deshalb heißt ein gerade neu aufwachsender Mensch ja auch Säugling."
"Öhm, können Sie das nicht anders regeln, mit Abpumpen und Auslagern? Meine Frau konnte das bei den zweien, die ich mit ihr hinbekommen habe auch, wenn sie irgendwo hin musste, wo sie die nicht mitnehmen konnte, obwohl das ganz selten passiert ist."
"Solange ich für dich zuständig bin kann ich dich überall mit dabei haben. Ich bin dann von den anderen Heilerpflichten freigestellt", erwiderte Patience. "Keine Sorge, du verhungerst bei mir nicht."
"Öhm, weiß ich erst, wenn ich verhungert bin", erwiderte Gérard über das Cogison. Darauf antwortete Patience Moonriver nicht. So versuchte er zu schlafen. Es gelang ihm komischerweise. Vielleicht lag es an diesem Tragetuch oder weil er sich so lange auf worthafte Gedanken konzentriert hatte, dass sein eigentlich nicht dafür gemachter Babykopf schon rauchte.
Er wachte wieder auf, als er durch die Schultern der Heilerin die Landung spürte. Er gähnte laut. Dann blubberte das Cogison, bevor es wiedergab: "Ui, ich bin doch echt eingeschlafen. Aber geträumt habe ich nichts."
"Kann noch kommen, wenn du mehr Zeit zum schlafen hast", sagte Patience.
Das Haus, in das er hineingebracht wurde hatte große Zimmer. Er fühlte, dass er musste und gab sich schweren Herzens dem Gefühl hin, unter sich zu lassen. Doch o Wunder, er fühlte sich weder nass, noch dass etwas unangenehmes unter seinem Po war. Auf jeden Fall tat sein Magen leicht weh und drückte wohl noch mehr zur Hintertür hinaus. Erst als er endlich Erleichtert war dachte er konzentriert: "Oha, offenbar war mein erstes Frühstück zu schwer."
"Wie, wer hat dir schon was gegeben?" fragte Patience und erfuhr die Antwort. "Gut, dass die Besitzerin vom Honigtopf dich nicht gestillt hat ist nachvollziehbar. Ich messe jetzt erst mal alles an und von dir. Dann zieh ich dir neue Sachen an und wenn du dann wieder Hunger kriegst ... Das macht mir nichts, keine falsche Scham!"
So passierte es auch. Als Gérard gerade in eine neue Reisewindel gewickelt und in einen warmen Strampelanzug gesteckt worden war läutete eine melodische Türglocke. Patience hängte ihn sich wieder im Tragetuch um und brachte ihn zur Tür. Er hörte, dass Madame Faucon, der Strafverfolgungsleiter von Frankreich, Antoinette Eauvive und dann noch seine Mutter und Sandrine angekommen waren. Dann hörte er noch Professor McGonagall, die wohl von Hogwarts herübergekommen war. Alle kehrten sie ins Haus zurück. Dort beantwortete Gérard mit Hilfe des Cogisons noch mal Fragen. Er hörte, dass seine Mutter und Sandrine immer wieder grummelten. Dann kam die klare Ansage:
"Gemäß der Auffindregel von 1723 gemäß Paragraph 2 Familienstandsgesetz und Anhang B des Iterapartiogesetzes unter Berücksichtigung von unumkehrbaren Infanticorpore-Flüchen gilt, dass der Betroffene die als erwachsener erworbenen Ämter, Würden und Güter an seinen Verwandten wie bei einem Todesfall abzutreten hat und in dem Land neu aufwächst, in dem er nach seiner Verwandlung aufgefunden wurde. Außerdem muss der Name geändert werden, was in Ihrem Fall sogar eine gewisse Schutzfunktion birgt", sagte Antoinette Eauvive zu Gérard. Dieser wollte schon was erwidern. Dann sagte Madame Faucon mit schwer unterdrückter Wut und Besorgnis: "Sie haben noch mal Glück gehabt, dass Sie außerhalb der Einflussspähre dieser Verbrecher aufwachsen dürfen. über fünfzig Ministeriumsbeamte aus den Staaten und Frankreich haben dieses Glück nicht. Sie fielen in die Hände von ... dieser vom Wege abgekommenen. Da Sie hier in England aufgefunden wurden bleiben Sie in der Obhut der Heilerin Moonriver. Wenn Sie das elfte Lebensjahr vollendet haben besteht die Möglichkeit, in Hogwarts den Gebrauch von Zauberstab und Zaubertränken wieder einzuüben, wobei gilt, dass Sie nicht zu schnell zu viel Kenntnisse offenbaren dürfen. Ich habe mit der Kollegin Laplace und Ihrer Ehefrau vereinbart, dass sie Sie trotz der Fichtental-Beschrenkung heute noch mal sprechen dürfen, weil es ja Ihre Mutter war, die auf meinen Vorschlag hin den Zauber verwendete, mit dem wir Sie auffinden wollten und somit bedauerlicherweise eine nicht zu leugnende Mitschuld an Ihrer Lage tragen. Hätte ich gewusst, dass es diesen Leuten auffällt und möglich ist, die Art des Zaubers zu erkennen ... na ja, die Asche des vom Drachen verbrannten Baumes kann nicht wieder zu festem Holz werden, und ein aus dem Kessel gelaufener Trank kann nicht mehr in den Kessel zurückgeschöpft werden. Glauben Sie mir bitte, ich trage schwerer an dem, was Ihnen zustieß als Sie."
"Wieso, weil sie den Zauber vorgeschlagen haben?" fragte Gérard.
"Unter anderem. Aber was außerdem vorfiel soll Sie nicht belasten, wo ich schon mehr als genug damit zu tun habe. Die Kollegen in Großbritannien werdenIhnen helfen, Ihr Wiederaufwachsen unter anderer Identität so angenehm wie möglich zu gestalten. Bitte machen Sie es sich und ihnen leicht und kooperieren Sie soweit es ihre ohnehin schon stark angegriffene Würde nicht zusätzlich verletzt!" sagte Madame Faucon. Dann übergab sie das Wort an ihre Mitarbeiterin, seine Mutter. Diese entschuldigte sich noch mal dafür, dass sie nicht gewusst hatte, wie raffiniert und kundig die Vita-Magica-Gruppe war und dass sie bedauerte, ihn noch mal zum Säugling zurückverwandelt zu sehen. Aber sie pflichtete Madame Faucon bei, dass er sich zumindest glücklich schätzen durfte, nicht ohne eigenes Gedächtnis bei einer Amme dieser Verbrecherbande neu aufzuwachsen und dabei deren Denk- und Handlungsweise aufgezwungen zu bekommen. Er cogisonierte zurück: "Ich habe ja auch eine gewisse Schuld. Julius und Sandrine haben mich oft genug gewarnt, mich nicht mit denen anzulegen. Ich habe nicht gehörtund jetzt stecke ich eben wieder im Strampelanzug. So ist halt das Leben. Ich musste ja diesen großen Drachen kitzeln, anstatt es denen zu überlassen, die besser auf sowas vorbereitet sind als ich. Schade, dass ich deine Geburtstagsfete in zwei Monaten nicht mitfeiern darf und auch, dass ich Sandrines einundzwanzigsten Geburtstag nicht mitfeiern darf. Ich weiß, ich habe die zwei Plärrgeschwister oft genug nicht gesehen. Ich möchte nur rüberbringen, dass mir leid tut, dass ich dich, Sandrine, so oft dumm angemacht habe und das nicht in den Kopf kriegen wollte, dass du die zwei unbedingt haben und großkriegen willst. Hoffentlich hast du mit denen mehr Freude als Frust!"
"Ich habe deine Mutter gefragt, ob wir dich nicht mit Vielsaft-Trank wieder groß kriegen können. Aber da gibt es schon Versuche, wo jemand dann eben nur eine Stunde lang wieder groß blieb und eine zweite Dosis nicht vertragen hat. Auch der Trick, Körperbestandteile der Eltern des anzunehmenden Körpers zuerst in den Becher zu werfen und dann das verbindende etwas von dem, der du sein solltest, klappt bei Infanticorpore nicht. Die werden dann innerhalb von einer Woche wieder zu Babys. Und das ist dein verdammtes Glück, Gégé. Hätten die dich wieder auf natürliche Größe hochkriegen können, hätte ich dir mindestens hundert Ohrfeigen verpasst. Mann! Wir haben dir das mehr als zehn mal gesagt, dass du die Sache mit dem Cocktail auf sich beruhen lassen sollst. Jetzt muss ich die zwei ohne Vater großkriegen und denen was erzählen, wieso du nicht mehr wiederkommst. Glück für dich, dass diese Anna Fichtental das damals verdorben hat, dass Ehefrauen, Mütter oder große Schwestern einen infanticorporisierten Zauberer wieder großfüttern können. Du hättest bei mir nicht mehr viel zu lachen gekriegt. Vor allem darf ich demnächst damit rechnen, dass ich aus unserem Haus raus muss. So'n entfernter Verwandter von dir hat da was erwähnt, dass nur du oder dein erstgeborener Sohnin dem Haus wohnen darf. Gut, wenn ich das hinkriege, dass das Haus Roger gehört und ich bis zu seiner Volljährigkeit seine Handlungsbevollmächtigte bin kann ich da bleiben. Aber nett wird es da wohl nicht."
"Ich wollte uns nur mehr Gerechtigkeit verschaffen, Sasan. Ich wollte, dass du und die beiden genug Gold kriegt, wenn die schon meinen, uns zwei dazu zwingen zu dürfen, gleich zwei Kinder zu haben."
"Was ich dazu zu sagen hatte habe ich schon mehr als oft genug gesagt", grummelte Sandrine. "Ich lege deine Geschichte und was noch an Briefen von dir da ist in eine Truhe, die die beiden erst mit siebzehn aufmachen können. Florymont hat mir da schon sowas angeboten. Ich hoffe, du kommst gut in Hogwarts zurecht. Du wächst ja dann mit dem Neffen oder der Nichte von Pina auf. Schon ein komisches Gefühl, wie eine Witwe zu leben. Aber du hast mich ja früh genug dran gewöhnt. Aber erwarte jetzt bloß nicht, dass ich mich dafür noch bedanke!"
"Ich kapier's, Sasan, dass du sauer bist. Und du hast zum Drachenfeuer total recht damit", leistete Gérard Abbitte. "Aber trotzdem möchte ich mich noch mal für die Jahre bedanken, die wir hatten und mich für all das entschuldigen, was dich traurig oder wütend gemacht hat."
"Gut, das nehme ich an. Dann sind wir zwei erst mal fertig. Die Zwillinge kriegen es dann so erzählt, dass du verschwunden bist, aber nicht freiwillig. Wenn die zwei siebzehn sind dürfen die wissen, was genau passiert ist, so diese Fichtentalregel. Wenn du später mal mit denen reden willst kann ich denen das dann nicht verbieten. Ja, und ich geh mal davon aus, dass ich dich mit deinem neuen Namen nicht noch mal heiraten darf, oder geht das?"
"Ist schon mal passiert", sagte Patience Moonriver. Auch hat mal ein Infanticorporisierter die kleine Nichte seiner Frau geheiratet, weil die der so ähnlich gesehen hat. Das durfte er."
"Dann war's das jetzt wirklich", fauchte Sandrine und blieb für den Rest der Besprechung still. Als Gérard erfuhr, dass er nun siebzehn Jahre oder bis zum offiziellen Schulabschluss in Hogwarts bei Patience Moonriver bleiben würde hätte er fast mit der Faust zugeschlagen. Diese Banditen hatten sein Leben zerstört und ihn wortwörtlich klein gemacht. Das schlimme dabei, irgendwo trugen nun mindestens zwanzig Hexen vielleicht Kinder von ihm aus. Sandrine wusste das sicher auch schon, weil sie sonst sicher nicht so wütend gewesen wäre. Sie würde er sicher nicht wieder heiraten können. Am Ende verliebte er sich in Julius' zweite Tochter Chrysope oder sowas, wenn sein Körper zu sowas wieder fähig war. Doch weit davor stand das für ihn unangenehme, sich von einer Amme neu großfüttern zu lassen.
So nahm er es mit gemischten Gefühlen auf, dass die Unterredung vorbei war. Denn solange sie gedauert hatte, solange war das Thema Nahrungsaufnahme und Verdauungsreste loswerden nicht drängend geworden. Doch kaum waren die Besucher aus Frankreich weg hörte er Patience sagen: "So, dann wollen wir zwei uns endlich richtig kennenlernen. Links oder rechts?"
"Öhm, gut. Muss wohl", cogisonierte Gérard. Dann erfuhr er auch noch, dass er das Cogison nicht immer tragen konnte. Also würde er schreien müssen, wenn er was nötig hatte. Dann gab er sich den entscheidenden Ruck. Wenn er dieser Bande um diese Sabberhexe Vicesima doch noch irgendwann beikommen wollte, dann musste er wieder alles können, was dazu nötig war. Vor allem musste er wieder groß und stark werden. So nahm er das Angebot seiner neuen Fürsorgerin an. "Morgen finden wir zwei einen neuen Namen für dich", sagte sie, während er die letzte Scheu vor der Amme überwunden hatte.
"Ich habe Sie gewarnt, Quintilia, dass die Bande es bemerken könnte, je öfter wir das Ritual durchziehen", sagte Blanche Faucon, nachdem sie beide zusammen mit Sandrine Dumas in England gewesen waren, um Abschied von Gérard Dumas zu nehmen. Quintilia Laplace hatte sich in Selbstvorwürfen ergangen, auf die Suche nach ihrem Sohn bestanden zu haben, anstatt erst einmal sicherzustellen, ihn sofort bei erfolgreicher Ortung auch befreien zu können. Kaum dass sie nach Beauxbatons zurückgekehrt waren hatte sie um einen freien Tag gebeten. Blanche hatte ihn ihr sofort genehmigt und den Unterricht im Fach Arithmantik an die Kollegin Bellart delegiert.
Madame Blanche Faucon saß nun alleine in den Räumen der amtierenden Schulleiterin von Beauxbatons. Die strenge, alles überblickende und beherrschende Art, mit der sie Lehrer und Schüler dieser Zaubererschule führte, war im Moment weit fort. Auf dem bequemen Stuhl saß eine Hexe in der Mitte ihres Lebens, die sich fragte, wann sie endlich die nötige Besonnenheit und Klugheit erreichen würde, um Fehler wie diesen nicht zu machen. Sie hatte sehenden Auges und mit vollstem Bewusstsein, wie eine magische Suche dem zu suchenden übel bekommen würde zugestimmt, dass Quintilia Laplace ihren Sohn fand. Gut, gefunden hatten sie ihn, aber nur, um ihn für immer verlassen zu müssen. Diese Bande hatte es schon geschickt eingefädelt, dass Gérard nicht im Zuständigkeitsbereich von ihr, Blanche Faucon, neu aufwachsen sollte. Dann fiel ihr noch was ein, was er erwähnt hatte, dass er unter eine Vorrichtung gesetzt worden war, die seine Erinnerungen ausgesaugt hatte. Woher kannte sie solch ein magisches Gerät? Sie ließ sich die Beschreibung, die nur unvollständig gemacht worden war, durch den Kopf gehen. Dann schlug sie sich mit den Händen vor die Stirn.
Sie dachte weit zurück an ihre unbeschwerten Kindertage, an denen sie und ihre große Schwester Madeleine ein unzertrennliches Duo gebildet hatten, obwohl mehrere Jahre zwischen den beiden lagen. Sie dachte an ihre Großmutter väterlicherseits, Claudine Rocher. Eigentlich hatte die gehofft, ihre Enkeltöchter hätten ihre meergrünen Augen geerbt. Doch das Erbgut von Madeleines und Blanches Mutter hatte sich als stärker erwiesen. Dennoch hatte Claudine Rocher ihre Enkel mit aller Liebe aber auch gebotenen Strenge behütet. Für Blanche war es damals ein heftiger Schock gewesen, als sie hörte, dass ihre geliebte Oma Claudine bei einer Tropenreise von einem Lethifolden einverleibt worden war. Da diese unheimlichen, nachtaktiven Zaubertiere keine Spur von ihren Opfern hinterließen hatte die damals gerade zehn Jahre alte Blanche nur eine Leuchtblume auf eine Gedenkplatte legen können, die für ihre geliebte Großmutter angefertigt worden war.
Weshalb sie fast Streit mit ihrer Mentorin Tourrecandide bekommen hätte war, als sie deren Unterschrift auf einer Ausleihgenehmigung genutzt hatte, um das Buch "Verwerfliche Vorrichtungen - menschenverachtende magische Gerätschaften von der Antike bis zur Jetztzeit" zu entleihen und dabei erfahren hatte, dass ihre so liebevolle Großmutter und mächtige Hexe und versierte Musikerin und Schachgroßmeisterin, die weit vor Blanche den Titel Reine des Sorcières hatte führen dürfen, für die Erfindung eines Erinnerungsabsaug- und Umformungsartefaktes verantwortlich sein sollte, bei dem eine silberne Haube auf dem Kopf des Opfers gesetzt wurde. Eigentlich als Hilfsmittel zur psychomorphologischen Therapie gedacht hatte sich dieses Artefakt auch als geniales Ausforschungs- und Geisteskontrollartefakt erwiesen, und Claudine Rocher hatte schwören müssen, die Baupläne und Bezauberungen niemandem zu verraten oder Aufzeichnungen davon zu hinterlassen. Tourrecandide, die Blanche eigentlich das Buch "Dunkle Essenzen - Aus magischen Pflanzen und Zauberwesen gewinnbare Stoffe für dunkle Rituale und Tränke" ausleihen wollte, hatte ziemlich ungehalten reagiert und Blanche fünfhundert Strafpunkte zugesprochen, was sie für den Rest des Schuljahres beinahe auf einen der Ränge der zehn undiszipliniertesten Schüler der Akademie belassen hatte. Doch die Vorstellung, ihre geliebte Großmutter könnte ein Gerät zur geistigen Umformung von Menschen gebaut und benutzt haben war die eigentliche Strafe für ihren Trick gewesen. Später, als sie mit ihrer Schwester darüber gesprochen hatte, hatte die ihr doch glatt ins Gesicht gesagt, dass ihre gemeinsame Großmutter keine Heilige gewesen sei und einiges an Drachenmist am Besenschweif hängen gehabt hatte. Das hätte sie, Madeleine, nur dadurch rausbekommen, dass sie ähnlich wie Blanche an ihr verbotene Dokumente gelangt war. Dennoch hatte Blanche nie aufgehört, ihre Großmutter zu lieben. Nur die kindliche Vergötterung war verblasst und der Haltung gewichen, einer Toten nichts böses mehr anhängen zu wollen.
Jetzt, wo Gérard etwas von einer solchen Vorrichtung erwähnt hatte, wobei die ihm aufgepflanzten Ausspracheunterdrückungszauber das Cogison zwischendurch hatten blubbern und knirschen lassen, kamen die von ihr über Jahrzehnte unterdrückten Erinnerungen an die Beschreibung im Buch über verwerfliche Vorrichtungen wieder ins Bewusstsein. Konnte es sein, dass diese Vorrichtung wirklich existiert hatte, ja auch weit nach der Nachricht vom Tod ihrer Großmutter immer noch benutzt wurde?
Um sicherzugehen, nicht einem uralten Unbehagen aufzusitzen reiste Blanche Faucon per Flohpulver nach Millemerveilles, wo sie in ihrer privaten Bibliothek das betreffende Buch suchte und das Kapitel über die Haube und die daran hängende Vorrichtung zur Erinnerungsentnahme und -verpflanzung fand. Auch wenn Gérards Cogison einige Einzelheiten nicht hatte preisgeben können passten die auch im Buch nicht vollständigen Angaben dazu. Es stand da auch nicht, dass Claudine Rocher die Erfindung bedauerte oder selbst alles daran gesetzt habe, sie nicht in falsche Hände fallen zu lassen, wie es bei einer anderen Vorrichtung klar erwähnt wurde, von der nur geschrieben stand, dass es sie gegeben hatte und ihr Erfinder sofort gemerkt hatte, dass sie eher dem Bösen als dem Guten dienen würde. Doch nun ergab sich für Blanche die höchst unangenehme Frage, ob ihre Großmutter nicht doch vollständige Aufzeichnungen von diesem Instrument hinterlassen hatte? Am Ende hatte sie vor dem Eidesschwur mit jemandem zusammengearbeitet, der oder die zum Gründungskader von Vita Magica gehören mochte. Daraus ergab sich wiederum eine Frage, die Blanche einen heftigen Schrecken versetzte: War Claudine Rocher selbst eine Mitgründerin von Vita Magica?
Die Schulleiterin von Beauxbatons brauchte eine volle Minute, sich vom Ausmaß dieser Vorstellung zu beruhigen. Sie fragte sich, wie gut sie ihre Großmutter väterlicherseits gekannt hatte. Sie wusste nur, dass ihr Vater damals einen heftigen Krach mit ihr und Madeleine bekommen hatte, als die beiden ihm das erzählt hatten, dass seine Mutter Vorrichtungen zur Manipulation von Menschen gebaut haben sollte. Immerhin hatte er noch hingenommen, dass Madeleine und Blanche die Kleider, Bücher, Bilder und Geschirrteile von ihrer Großmutter bekommen durften, während er das Gold und das Landhaus in der Borgogne behalten hatte. Denn laut Testament durften Kleidung, Bibliothek und Geschirr nur an die Töchter oder Enkeltöchter weitergegeben werden, und außer den beiden Rochers, von denen eine später L'eauvite und eine Faucon heißen sollte, gab es nur fünf Enkel Claudines, hervorgegangen aus sechs Söhnen, von denen einer, Blanches Onkel Eugène, unverheiratet und kinderlos geblieben war, bis er vor zwanzig Jahren beim ungenehmigten Probeflug eines von ihm selbst bezauberten Flugbesens über dem Atlantik verschwunden war. Zumindest war der Besen selbst wie ein lediges Pferd oder ein frei laufender Hund zu seinem Ursprungsort zurückgeflogen, ohne Reiter. Die Suche nach Onkel Eugène hatte vier Wochen gedauert. Dann war ganz von alleine sein Testament im Zaubereiministerium aufgetaucht, und seine Brüder hatten alles geerbt, was das Ministerium nicht als fragwürdig angesehen hatte.
"Schon merkwürdig", dachte Blanche für sich. "Oma Claudine wird von einem Lethifolden getötet, Onkel Eugène, der sich nie verheiraten wollte, ist von einem flugfähigen Besen gefallen und nie aufgetaucht. Offenbar zahle ich nun den Tribut für meine unermütlichen Einsätze gegen die Anhänger dunkler Künste." Sie dachte an Alastor Moody, der wahrhaftig zum Paranoiker geworden war, aber auch an Albus Dumbledore, der trotz seiner Kämpfe gegen dunkle Hexen und Zauberer seine innere Ruhe und eine große Portion Humor behalten und am Ende seinen eigenen Tod willkommen geheißen hatte, um seinen schlimmsten Widersacher zu entmachten.
Seitdem sie Beauxbatons beendet hatte galt ihr Leben dem Kampf gegen die dunklen Künste und böswillige Hexen, Zauberer und Zauberwesen. Ihr Bestreben, unschuldige Menschen vor diesen Mächten zu beschützen, hatte sie stark und auch hart gemacht. Doch jetzt stellte sie fest, dass diese Stärke und Härte auch daher kamen, dass sie in ihrer Jugend damit konfrontiert worden war, wie heftig es sie angerührt hatte, dass ihre geliebte Großmutter Claudine selbst etwas für die Anhänger dunkler Künste wertvolles erschaffen haben mochte. Sie wusste, dass es sie nicht mehr in Ruhe lassen würde, dass da draußen jemand mit etwas herumfuhrwerkte, dass Erinnerungen wie beliebig austauschbare Bausteine fortnehmen oder hinzufügen konnte, von dem es hieß, ihre Großmutter habe dieses Artefakt erfunden. Der Umstand, dass Gérard nicht davon beeinflusst worden war, zumindest aber nicht komplett damit umgeformt worden war, bot ihrer Seele keine Erleichterung. Die hatten ihn bewusst mit allen Erinnerungen an seine Zeit in diesem Karussell zurückgeschickt, um ihn und auch jeden anderen zu bestrafen, der an der Suche nach ihm und Vita Magica beteiligt war. Mit einer schlimmen Erkenntnis weiterzuleben war oftmals schlimmer als der Tod, wusste Blanche Faucon. So hätte sie damit leben müssen, wenn Julius Andrews in der Galerie des Grauens gestorben wäre, wegen ihrer Erlaubnis, in die Staaten zu reisen, beinahe zum Opfer oder willigen Sklaven Hallittis geworden wäre oder bei seiner Suche nach der Himmelsburg Ailanorars beinahe gestorben wäre. Sie war Lehrerin geworden, um Schüler auf die Gnadenlosigkeit aber auch den Reichtum eines Zaubererweltlebens vorzubereiten, ihnen beizubringen, verantwortlich und selbstbeherrscht mit ihren Kräftenumzugehen. Jetzt hatte sie einen ihrer ehemaligen Schüler wahrhaftig verloren, nicht an die letzte Begleiterin, wie der Tod bei den romanischen Zauberern und Hexen genannt wurde, sondern an eine Bande skrupelloser Zeitgenossen, die bedenkenlos mit allen Möglichkeiten der Magie hantierten, weil sie der fixen Idee anhingen, dass die magische Menschheit sich schneller zu vermehren hatte als auf natürliche Weise.
Um sich auszusprechen und auch eine Rückmeldung zu bekommen bat sie ihre Tochter Catherine, sie in ihrem Haus in Millemerveilles zu besuchen. Catherine hatte wohl aus gemeinsamen heimlichen Quellen mitbekommen, was mit Gérard geschehen war. Deshalb sagte sie sofort zu und rauschte keine zwei Minuten später in einer grünen Funkenwolke in den gerade nicht brennenden Kamin Madame Faucons. Die beiden Hexen begrüßten sich und nahmen in der gemütlichen Wohnküche platz, an deren Wänden goldgerahmte und mit Glas gegen Verrußung und Verfettung geschützte Zaubererweltgemälde hingen. Catherine fiel auf, dass das große Bild ihrer Urgroßmutter Claudine nicht da war. Auf die Frage, wo es hing bekam sie die Antwort, dass ihre Mutter es in das Gästeschlafzimmer gehängt hatte. Dann erwähnte sie, was genau passiert war und worüber sie in den letzten Minuten gegrübelt hatte.
"Es ist mal wieder diese uralte Erkenntnis, dass Leute dann wahrhaft böses tun, wenn sie felsenfest davon überzeugt sind, geliebten Menschen oder der ganzen Welt nur gutes zu tun. Grindelwald wollte damals die Zauberer zu strengen aber gerechten Herrschern der achso chaotisch organisierten Muggel machen, Riddle wollte die Zaubererwwelt im Sinne Slytherins von der seiner Meinung nach seuchenhaften Vermehrung muggelstämmiger Hexen und Zauberer reinigen, und über Sardonia und Anthelia brauchen wir ja gar nicht zu reden", sagte Catherine. Blanche fühlte auch, dass ihre Tochter nicht nur Sorgen wegen Vita Magica umtrieben. So fragte sie sie, ob es Joseph und der kleinen Claudine gut gehe.
"Eigentlich haben wir damals Laurentine nur bei mir im Haus unterbringen wollen, damit sie nicht von den Anthelianerinnen bedrängt werden kann, Maman. Aber in den letzten Tagen kommt es mir so vor, als hätte ich damit auch für Claudine was sehr sehr wichtiges genehmigt. Einerseits muss ich mich als Mutter schon besorgt fragen, warum die Kleine mehr bei Laurentine in der Wohnung ist als bei Joe, ihrem Vater. Andererseits bin ich froh, dass sie zumindest einen Ausgleich hat. Joe ist in den letzten Tagen nur noch mit seiner Arbeit beschäftigt. Dass er was isst liegt nur daran, dass ich ihm einmal gedroht habe, ihn wie ein Baby zu füttern. Aber er isst nicht mehr mit Claudine und mir zusammen. Ja, und dann ist er auch immer woanders. Wenn Laurentine in Millemerveilles ist schickt er Claudine mit ihr rüber, wo sie bei Jeanne und ihren Kindern oder den Latierres ist. Das gefällt ihr zwar sehr. Aber sie merkt schon, dass ihr Papa sie nicht mehr um sich haben will. Ich habe ihn mal gefragt, was er denn so ungemein drängendes tun muss, dass er keine Zeit mehr für mich und seine Tochter hat. Da hat er glatt gesagt, dass wir doch froh sein sollten, wenn immer genug Geld im Haus sei, dass wir nicht verhungern oder auf Kleidung oder Spielsachen verzichten müssten. Als ich dann noch mal fragte, was er mache meinte er in seiner verbissenen Art, dass ich das sowieso nicht verstehen würde, es aber die meiste Energie von ihm fordere und er dieses Projekt bis Weihnachten zu Ende zu bringen habe, um seinen Verbleib in der Firma zu sichern. Darauf habe ich ihm geraten, einen gesunden Ausgleich zwischen Arbeit und Familienleben zu finden, wie wir es vorhin hatten. Er meinte da doch frech wie ein Schwatzfratz, dass ich mir ja einen magischen Vibrator zulegen könnte, wenn es mir um geschlechtliche Befriedigung gehe. Da wäre mir fast die Hand ausgerutscht. Aber wo er das gesagt hat ist mir aufgefallen, wie hektisch er sich bewegt, als habe ihm jemand eine Überdosis Wachhaltetrank verabreicht. Ich habe ihn deshalb gefragt, ob er Aufputschmittel einnehme. Darauf hat er genauso frech wie bei der anderen Sache geantwortet, dass ich das wohl gerne hätte, damit er die Nächte wachbleiben und mich beschlafen könnte. Ich habe ihm dann nur geraten, sich nicht weiter zu überarbeiten, da ich sonst gemäß der Familienstandsgesetze auch einen magischen Heiler rufen könnte, der sich um ihn kümmert, bestenfalls Hera Matine."
"Und, was hat er da gesagt?" wollte Blanche wissen.
""Zitat: "Die alte Kinderpflückerin soll sich um die ganzen künstlich auf den Weg gebrachten Bälger kümmern, die bei euch demnächst ankommen", Ende des Zitats", erwiderte Catherine.
"Kinderpflückerin? Das ist ein Zaubererwelt-Kraftausdruck. Wo hat er den denn her?" fragte Blanche Faucon.
"In diesem Fall ausnahmsweise mal von Babette, wo er sonst ihr immer alle Schimpfwörter beigebracht hat", erwiderte Catherine mit einem verdrossenen Lächeln. "Hmm, wo du schon mal in Millemerveilles bist und mit mir redest: Stimmt das, dass Babette sich mit Denise Dusoleil um einen ein Jahr älteren Jungen gezankt hat?"
"Gezankt hat?" erwiderte Blanche darauf verstimmt. "Der Kollege Delamontagne musste sich mit der amtierenden Saalsprecherin Pia Graminis darüber unterhalten, wieso Babette und Denise sich vor ihren Mitschülern wie futterneidische Straßenkatzen angefallen haben. Da habe ich die zwei Streithennen zu mir hinzitiert und sie verhört. Da waren die Heldinnen sehr kleinlaut. Ich habe ihnen dann verdeutlicht, dass anständige Hexen sich nicht wie Straßenmädchen aus der Muggelwelt um einen Jungen raufen dürften und ich das sehr genau beobachten würde, wie die beiden sich entwickelten. Da hat Denise Babette schadenfroh angegrinst und wohl was gesagt, dass die wohl wegen mir auf ganz kleiner Flamme ihren Kessel heizen müsse. Das veranlasste mich natürlich, ihr zu verdeutlichen, dass auch sie, Denise Dusoleil, meiner gestrengen Obhut anvertraut sei, um sich und ihren Eltern Ehre zu machen und ich nicht in ihrer Nähe sein wolle, wenn sie deshalb von ihrer Mutter einen Heuler bekommen wollte, wenn diese Angst haben müsste, dass Denise diese Fürsorge nicht verdient habe."
"Und, hast du Camille unterrichtet?" wollte Catherine wissen.
"Offiziell werde ich das Thema beim nächstenElternsprechtag zur Sprache bringen, da mir daran gelegen ist, die Reaktion von Mutter und Tochter zu beobachten, um meinerseits mit der für mein Amt nötigen Beharrlichkeit darauf zu reagieren. Ich fürchte nur, dass ihre Mutter es nicht wirklich tadeln wird, dass ihre jüngste Tochter das andere Geschlecht für sich entdecken möchte."
"Gut, dann habe ich es offiziell auch noch nicht von dir, was mit Babette ist. Den Jungen, um den sie sich prügelt, werde ich dann vielleicht beim Elternsprechtag sehen."
"Könnte schwierig sein, da dieser im violetten Saal wohnt", erwiderte Blanche Faucon. "Ja, und dass er sich bereits mit einem Mädchen aus dem blauen Saal angefreundet hat, die in seinem Alter ist. Der könnte es noch nicht mal mitbekommen haben, dass Babette und Denise sich seinetwegen zanken."
"Das kennen wir doch, Maman. Wir träumen von Jungs, die unerreichbar für uns sind", grinste Catherine nun selbst eher wie ein Schulmädchen.
"Ja, und sollten hoffen, dass diese Jungs auch unerreichbar bleiben und es nicht ausnutzen, dass eine von uns für sie schwärmt", grummelte Blanche Faucon. Dann bedankte sie sich bei ihrer Tochter, dass diese sich die Zeit genommen hatte, ihr zuzuhören. Diese erwiderte: "Du hast mir so oft zugehört, Maman, das war ich dir schuldig", sagte Catherine. Blanche traute ihren Ohren nicht recht. Wann hatte Catherine denn mit ihr eine klärende Aussprache gesucht? Es war doch früher eher umgekehrt gewesen, dass sie, ihre Mutter und spätere Lehrerin, sie zu einer klärenden Aussprache vorladen musste. Aber sie nahm es so hin, weil sie nicht in der Stimmung war, das genau zu klären. Dafür hatte sie zu viel um die Ohren.
"Aber was diese Vorrichtung angeht, Maman, so ergibt es leider einen Sinn, dass mich dieser Altmeister Kantoran damals nicht hat wissen lassen wollen, was mit Oma Claudine passiert ist. Womöglich wollte er nicht, dass ich erfahre, in welche Machenschaften sie verwickelt war, damit ich sie nicht als gewisses Vorbild verliere."
"Eher so, damit ich nicht mitbekomme, inwieweit Madeleine und ich unser Leben lang von ihr eingelullt worden sind und uns darauf gefreut haben, ihre ganzen Leistungen übertreffen zu können", grummelte Blanche Faucon.
"Bleibt es beim Treffen der Liga am ersten November? Mir wird es im Moment zu ruhig um diesen Vengor."
"Ja, es bleibt bei dem Treffen. Phoebus Delamontagne bekommt für diesen Tag frei, und Professeur Fixus übernimmt die Akademie."
"Gut, dann gehe ich jetzt nach Hause und prüfe, ob Joe sein Abendessen auch wirklich gegessen hat."
"Nicht, dass er es in der Toilette herunterspült", knurrte Blanche und umarmte ihre Tochter.
Wieder allein in ihrer Wohnküche kehrten die dunklenGedanken zurück, die sie umgetrieben hatten. War ihre Großmutter Claudine eine Mitgründerin von Vita Magica?
"Patience Moonriver ist doch die, die du damals nach der Party bei den Sterlings getroffen hast, die Adrian Moonriver alias Adamas Silverbolt großgezogen hat", sagte Millie zu ihrem Mann, nachdem Sandrine ihnen unter Tränen berichtet hatte, was passiert war. Julius nickte seiner Frau zu. Dann sagte er zu ihr, dass er deshalb beruhigt sei. "Wer diesen von einem vom langen, mit vielen Kämpfen beladenen Leben grummeligen Typen klarmachen kann, die angenehmen Seiten einer bewusst erlebten zweiten Kindheit zu genießen kriegt das auch mit Gérard hin."
"Schon ein ziemlich komisches Gefühl, dass Gérard als solcher nicht mehr da ist", seufzte Millie. Julius nickte. Immerhin war er damals Millies erster Freund gewesen. "Mir tut es jetzt echt für Sandrine leid, dass sie die zwei jetzt alleine groß kriegen muss und die vor ihrem siebzehnten Lebensjahr nicht wissen dürfen, was echt passiert ist."
"Ja, und dass dann, wenn die siebzehn sind, ihr Vater körperlich gerade erst vierzehn oder fünfzehn Jahre alt ist", sagte Julius.
"Wir müssen was machen, dass diese Halunken nicht so weitermachen können, Monju. Die fangen sich Leute mit Portschlüsseln ein und treiben die wie Zuchtvieh aufeinander. Das hat doch nichts mit Liebe zu tun. Und die Babys, die bei sowas entstehen werden von Fanatikerinnen oder um ihr Gedächtnis gebrachten Müttern aufgezogen. Was soll denn aus denen werden?"
"Du hast völlig recht, Mamille. Deshalb habe ich Catherine, Florymont und Blanche auch was angeboten, dass ich sofort umsetzen kann. Ich bringe denen einen Zauber bei, der "Verharrung der großen Mutter" heißt und jedem, der einen damit belegten Gegenstand aus reinem Metall oder Gestein bei sich trägt, gegen magische Ortsversetzungen schützt. Sowas wie ein umgekehrter Diebstahlschutzzauber, der verhindert, dass der darauf geprägte Mensch geklaut wird."
"Darfst du den überhaupt weitergeben?" fragte Millie.
"Meine Mutter in der anderen Wirklichkeit hat mir das nicht verboten, als ich den gelernt habe. Ich kann mich sogar daran erinnern, dass Madrashainorian gesagt bekommen hat, dass er den Zauber mit denen teilen soll, die ihm wichtig sind. Also darf ich ihn auch dir beibringen oder Aurore und Chrysope einen damit behandelten Gegenstand umhängen."
"Wie schnell kannst du solche Sachen machen?" fragte Millie ihren Mann. Er erwiderte, dass es auf die Gegenstände ankäme, wie schnell die verfügbar seien. "Kann dann nur dieser Zauber auf die Sachen geprägt werden?" fragte Millie. Julius erwiderte, dass es auf die Stoffmenge ankäme und ob die Gegenstände groß genug seien, dass betreffende Zauberzeichen darin eingeschrieben werden könnten. Aber für mindestens einen Zauber wie den Diebstahlschutz ginge das noch. "Gut, dann mach ich da noch den Zauber der erstarrenden Flamme drauf. Dieser Zauber schluckt alle Kraft, mit der jemand jemanden mit Körperkraft oder Magie gegen seinen Willen wegholen will. Offenbar hatten die vom alten Reich viel mit solchen Banditen zu tun, die andere Leute entführen wollten, dass sowohl die vom Feuer als auch die von der Erde solche Zauber erfunden haben."
"Hmm, sowas hat Madrashainorians Frau auch mal gesagt, als sie ... öhm, war und ist ein anderes Leben."
"Als sie mit Madrashainorian Liebe gemacht hat oder seine ersten Babys im Bauch hatte?" fragte Millie. Julius meinte, dass die das bei zweitem so erwähnt hatte, dass früher viele Kinder mächtiger Träger der Kraft mit Spielsachen geködert wurden, die sie dann mal eben anderswo abgeliefert hatten.
"Nachdem ich das mitbekommen habe, wie die Bande ihre Opfer einsammelt muss ich auch immer daran denken, dass es Geschichten gibt, wo Menschen von Außerirdischen entführt und für irgendwelche Experimente benutzt wurden. Bei einigen ging es auch um unfreiwillig gezeugte Kinder, Hybriden zwischen den Fremdwesen und Erdenmenschen. Irgendwie läuft die ganze VM-Nummer so ab wie die Geschichten aus der Zwielichtzone oder der Serie um die X-Akten", stellte Julius abschließend noch einen Vergleich an.
"Und die denken da voll, die tun was gutes", knurrte Millie. Julius wusste, dass seine Frau gerne körperliche Liebe erlebte und auch sehr gerne seine Kinder bekommen wollte. Aber von jemandem dazu gezwungen zu werden empfand sie wohl als Todsünde. Darin stimmte er ihr auch zu und stellte sich vor, was er diesen Leuten an die Köpfe knallen würde, wenn er denen wieder begegnen sollte. Auch wenn ihn das selbst in ein hilfloses Baby zurückverwandeln sollte ..."
"Komm bloß nicht drauf, dich mit diesen Leuten rumzuzanken, bevor wir nicht den ersten Jungen auf der Welt haben, Monju", knurrte Millie, als wenn sie Julius' Gedanken erfasst habe.
"Immerhin durfte ich als Madrashainorian schon diesen Zauber lernen, der eine unfreiwillige Fremdverwandlung blockiert", sagte Julius. Millie erwiderte grinsend: "Rat mal, wer noch!"
Am Morgen des 27. Oktobers klopfte eine Waldohreule aus dem Zaubereiministerium ans Fenster des Haupthauses von Greendale Cottage, dem Wohnsitz von Anaximander und Adelaide Greendale. Der Vogel trug einen goldenen Ring, was sagte, dass er direkt vom amtierenden Zaubereiminister abgeschickt worden war. Nachdem die Greendales die Eule und den von ihr getragenen Umschlag mit mehreren Aufspürzaubern und einer Drei-Stufen-Seriositätssonde überprüft hatten durfte er seine Post abliefern. Dass die Eule danach wieder davonflog deuteten die Greendales so, dass keine unmittelbare Antwort erwartet wurde.
Im gemütlichen Salon des herrschaftlichen Hauses las Adelaide ihrem Mann den Brief vor: "Sehr geehrte Mrs. und Mr. Greendale. Bezüglich ihrer an mich herangetragenen Bitte auf Einstellung oder Unterlassung eines Ermittlungsverfahrens gegen Mrs. Godiva Cartridge geborene Greendale teile ich Ihnen mit, dass die Überprüfung Ihres Antrages folgendes ergeben hat:
Erstens hat Mrs. Godiva Cartridge ihren Ehemann Milton nach Feststellung der Nachhaltigkeit der ihm auferlegten Verfluchung im Einklang mit dem Sonderrecht sieben für in Gefahr befindliche Ministerialbeamte unter besonderer Berücksichtigung des amtierenden Zaubereiministers in Sicherheit gebracht, weil nach dem dritten und somit letzten Fehlversuch zu befürchten steht, dass Minister Cartridge auf Grund seiner körperlichen Einschränkung in ständiger Gefahr schwebt, gänzlich in die Gewalt der erkannten Täter von Vita Magica zu geraten. Dass sie hierbei die geltende Anna-Fichtental-Regel missachtete, dernach nicht sie, sondern eine nicht blutsverwandte oder angeheiratete Anverwandte die körperliche Pflege und sonstige Fürsorge zu versehen hat, lässt sich mit dieser Sonderbestimmung in besonderer Berücksichtigung, es hier mit dem an Leib und Freiheit bedrohten Zaubereiminister zu tun zu haben, vollständig entschuldigen. Somit besteht kein rechtlicher Grund für weiterführende Ermittlungen oder Anklagen gegen Mrs. Godiva Cartridge.
Zweitens betreffend muss ich Ihrem Ansinnen jedoch eine klare Absage erteilen. Der durch nachhaltige Bezauberung betroffene Milton Cartridge kann nicht die Amtsgeschäfte eines Zaubereiministers versehen, , solange er unfähig ist, eigenständig zu lesen, zu schreiben, sowie ohne Hilfe und aus eigenem Willen seinen Standort zu wechseln. Daher kann ich ihm bei aller bisherigen Loyalität nicht wieder für amtsfähig erklären. Wie unter Punkt eins erwähnt besteht ja weiterhin die Gefahr, dass er wegen seiner körperlichen Einschränkungen leichter zum Opfer eines neuerlichen Angriffes seitens Vita Magica werden kann.
Drittens: Um weitere Konflikte mit der Anna-Fichtental-Regelung zu vermeiden biete ich Mrs. Godiva Cartridge an, die Ehe mit Minister Cartridge zu annullieren beziehungsweise, sie durch unter Punkt 2 erwähnten körperlichen Einschränkungen für nicht mehr fortführbar erklären zu lassen und Mrs. Cartridge den Status einer Witwe einzuräumen. Somit kann sie den von ihr in Sicherheit gebrachten weiterhin als Ziehmutter pflegen und umsorgen. Hierfür ist es jedoch dringend geboten, dass Milton Cartridge offiziell für tot erklärt wird und der nun als neu aufwachsende Zauberer gemäß Iterapartio-Regeln einen neuen Namen anzunehmen hat, unter dem er gemäß der Regeln für magisch zur Wiedergeburt gelangter Menschen mit magischen Kräften alle bisher errungenen Titel, Habe und Zahlungsmittelvorräte aberkannt bekommen muss. Was die stofflichen Vermögenswerte betrifft besteht jedoch die Möglichkeit, dass Mrs. Godiva Cartridge als seine dann de jure als Witwe geführte im Sinne des allgemeinen Erbrechtes Anspruch darauf bekunden kann, sofern ein bei einer offiziellen Todesmeldung möglicherweise freigegebener letzte Wille Milton Cartridges nichts anderes verfügt.
Viertens muss, um die Gefahren für Godiva und Milton Cartridge langfristig ausschließen zu können, folgendes klar festgestellt werden: Godiva Cartridge unterliegt ausnahmslos der Verpflichtung, das Aufwachsen des von ihr betreuten Zauberers bis zum Erreichen seiner körperlichen Reife und somit Anerkennung seiner Volljährigkeit zu gewährleisten. Dies bedeutet für sie, auf jede Bewerbung um ein Amt innerhalb des Zaubereiministeriums zu verzichten. Die Bewerbung um ein Ministeriumsamt ist erst dann rechtmäßig, wenn der von Mrs. Godiva Cartridge großzuziehende Zauberer nachweisbar siebzehn Jahre vollendet hat, beginnend mit dem Tag des dritten Fehlversuches, also dem 13. Oktober 2002. Außerdem muss ihr bis zu diesem Zeitpunkt jeder Besuch in den Räumen des Zaubereiministeriums untersagt werden, da immerhin die Gefahr besteht, dass ministeriumsfeindliche Elemente dies ausnutzen könnten, sie in ihrem Sinne zu beeinflussen und damit Macht über den ihrer Fürsorge anvertrauten zu gewinnen.
Sollte Mrs. Godiva Cartridge mit diesen Punkten einverstanden sein wird sie gebeten, bis zum ersten November dieses Jahres persönlich oder durch einen durch ihre Unterschrift bevollmächtigten Rechtsbeistand ihr Einverständnis zu bekunden. Anerkenntnis oder Ablehnung kann nur im Bezug auf die vollständige Ausführung der erwähnten Abschnitte bekundet werden. Einzelne Abschnitte dieser höchstamtlichen Verfügung können nicht verändert oder ausgelassen werden.
Falls sie mit dieser Regelung nicht einverstanden ist bleibt mir zu meinem größten Bedauern nur die Feststellung, dass sie den Angriff auf Minister Cartridge zu ihrem eigenen Vorteil ausnutzen wollte, um als Fürsorgerin eines durch nachhaltige Bezauberung körperlich eingeschränkten Zaubereiministers Einfluss auf die Führung des Zaubereiministeriums zu gewinnen und/oder sich rechtswidrig an Zahlungsmitteln oder Sachwerten zu bereichern. In diesem Falle verbleibt mir dann nur die Verhängung des Statusses "Unerwünscht" gegen Mrs. Godiva Cartridge.
Bitte teilen Sie ihr das schnellstmöglich mit, um in der von meinen Rechtsberatern und mir für zulässig erachteten Frist zu antworten!
Bis zu einer wie auch immer gearteten Entscheidung verbleibe ich hochachtungsvoll, Zaubereiminister pro Tempore Randolph Sandhearst."
"Dagegen ist ein Leuchtaal ein träges, steifes Stück Fleisch", grinste Anaximander. "Er bleibt Minister und lässt seinen Konkurrenten für tot erklären, weil das ja für alle Beteiligten als beste Lösung erscheint."
"Ja, und Goddy ist fein raus, wenn sie darauf verzichtet, dass Milton weiter Minister ist oder weiterhin Milton Cartridge heißt", sagte Adelaide. "Ja, und sie darf dann nicht mehr im Ministerium wohnen oder von den Privilegien einer Ministergattin profitieren. Als "Witwe" bekommt sie zwar die Vergütung von zweitausend Galleonen im Monat, aber sonst nichts mehr.
"Heftiger noch, sie darf in der Zeit, die sie Milton wie ihr viertes Kind großzieht kein Ministerialamt ausüben, was sie für Randy Sandhearst und seine Anhängerschaft ungefährlich macht. Damit sprüht er uns mal eben eine Ladung violetter Brennfunken um die Ohren, weil außer Goddy keiner von uns im Ministerium zu tun hat."
"Dir ist klar, dass Goddy das nicht mögen wird", sagte Adelaide zu ihrem Mann. Doch der zuckte nur mit den Schultern:
"Ob sie auf der Insel bleibt und keine Ministergattin oder was anderes sein darf oder als freie Hexe herumlaufen darf, ohne ein ninisterialamt ausüben zu dürfen ist im Grunde egal. Aber wenn sie diese Verfügung akzeptiert kann sie wenigstens an Miltons Verlies in Gringotts drangehen. Sie hätte ihm eh einen neuen Namen geben müssen, wenn sie ihn zusammen mit den anderen dreien großfüttert." Adelaide nickte schwerfällig. Damit war die großmächtige Greendale-Familie bis auf weiteres aus dem Zaubereiministerium verbannt. War es Godiva dann noch wichtig, Milton wieder großzukriegen? Das musste sie entscheiden, befanden Adelaide und Anaximander Greendale.
Der totale Fehlschlag, den Unterschlupf der Vita Magica zu stürmen, war am 28. Oktober Grund für eine Vollversammlung aller Zaubereiministeriumsbeamten in Frankreich. Ministerin Ventvit hatte es für nötig erachtet, ihre Untergebenen dringend daran zu erinnern, dass sie es mit einer Bande von skrupellosen Verbrechern zu tun hatten, die sehr begabte und fachkundige Hexen und Zauberer in ihren Reihen hatte. Die Sache mit dem sogenannten Reinitiator, gegen den der Abwehrspruch gegen Infanticorpore nur wirkte, falls er vor dem Einsatz dieses Artefaktes vollendet wurde, gebot zur äußersten Vorsicht. "Schlimm bei der ganzen Sache ist, dass mein US-amerikanischer Amtskollege seinen Leuten den Befehl erteilt hat, die als Riesenbabys verkleideten Gegner direkt und ohne Vorwarnung zu töten. Sobald die diese Information aus ihren Gefangenen herausgeholt haben werden - ich sage ausdrücklich nicht falls, sondern sobald -, werden sie dies als offene Kriegserklärung aller ministerialen Zauberer und Hexen auslegen und entsprechend zurückschlagen. Uns hier kann und muss es darum gehen, die Machenschaften dieser Leute mit gesetzmäßigen Mitteln einzudämmen, ohne die Achtung des Menschenlebens zu verdrängen, die auch gegenüber erwiesenen Straftätern gilt. Deshalb rufe ich Ihnen allen persönlich zu: "Lassen Sie sich nicht zu Grausamkeiten verleiten, nur weil es Leute gibt, die Ihnen Angst einjagen oder Ihnen oder Ihren Angehörigen zumindest nach dem Leib trachten! Wir wollen eine friedliche Zaubererwelt. Dies geht aber nur, wenn wir nicht von uns aus zu kaltblütigen Mördern werden. Und bevor Sie noch einwenden, dass die Kollegen in den Staaten ja nur Befehle ausgeführt hätten, so erteile ich Ihnen allen hier und heute ganz ohne jeden Dienstweg den unmissverständlichen Befehl: Erst Fragen, dann Gefangennehmen! Der Todesfluch ist gegen Menschen verboten, egal ob Muggel oder Zaubererweltbürger, unbescholtene Mitbürger oder Schwerstverbrecher. Wir sind nicht die Erben von Grindelwald und dessen Nachfolgern. So, und damit darf ich mich bei Ihnen allen für Ihre Aufmerksamkeitund weitere Mitarbeit bedanken. Bitte kehren Sie an Ihre Arbeitsplätze zurück!"
"Was machen Sie, wenn diese Leute uns zur Kapitulation auffordern oder sonst wie irgendwelche Bedingungen aufdrängen wollen?" wollte jemand aus der Strafverfolgungsabteilung wissen. Darauf antwortete Ministerin Ventvit:
"Verhandlungen ja, aber nur zum Zwecke, deren Machenschaften einzudämmen. Sie zu tolerieren oder gar unser Leben dahingehend ändern, den Ansichten dieser Leute gerecht zu werden ist unannehmbar. Das dürfen Sie auch noch als von mir erteilte Generalanweisung befolgen", sagte die französische Zaubereiministerin.
Wenige Minuten später rief sie Julius Latierre und Belle Grandchapeau zu sich in ihr Büro. "Ich erhielt heute morgen den Eulenbrief, dass Madame Faucon und Monsieur Dusoleil einen Zauber geprüft haben, der eine unerbetene Portschlüsselreise oder anderweitige Verschleppung unterbinden soll. Könnte es sein, dass Sie beide darüber schon vor mir unterrichtet wurden?" wollte die Ministerin wissen. Belle sah erst ihre oberste Dienstherrin und dann Julius an. Dieser straffte sich und erwiderte:
"Ja, ich habe es sowohl von Monsieur Dusoleil und auch von Madame Faucon erfahren, weil die beiden wissen wollten, ob die Kinder Ashtarias so einen Schutzzauber kennen würden und der vielleicht noch wirksamer sei. Ich habe ihnen darauf geantwortet, dass die Kinder Ashtarias durch das Erbe ihrer Urmutter einen besonderen Schutz hätten, der aber nicht auf andere übertragbar sei. Da hat Monsieur Dusoleil erwidert, dass ihm das schon irgendwie klar sei und er in seinen Unterlagen was gefunden habe, dass er bisher nicht beachtet hat, es aber gegen Portschlüssel und Apparierzauber schützen würde."
"Das wollte ich nur wissen", sagte Ministerin Ventvit mit einem schon bezeichnenden hintergründigen Lächeln.
Unter dem Vorwand, mit Julius noch über den Kampf gegen die neue Vampirvereinigung was besprechen zu müssen beorderte Belle Grandchapeau Julius in ihr Büro, wo sie einen Klangkerker aufbaute. "Kriegen wir vom stillen Dienst diesenZauber auch beigebracht, Julius?" fragte sie ohne übliche Umschweife. Julius nickte nur und erwähnte, dass die entsprechenden Unterlagen schon bei Monsieur Dusoleil und bei Madame Faucon bereitlagen.
"Jetzt muss ich aber fragen, warum das nicht schon vor einem Monat angeregt wurde?" erwiderte Belle darauf.
"Weil wohl keiner damit gerechnet hat, dass Vita Magica Portschlüssel an ihre Opfer ausgibt, ohne dass die das vorher wissen. Am Ende verschicken die die noch per Eule und lassen die unbedacht das Auslösewort ausrufen."
"Das hat jetzt meine Frage nicht wirklich beantwortet, Monsieur Latierre. Warum lernen wir, die wir doch eingeweihte sind, diesen Zauber nicht sofort, wenn er doch so hilfreich ist?"
"Aus dem einfachen Grund, dass ich erst mal prüfen musste, ob dieser Zauber weitergegeben werden darf. Erst als ich das wusste konnte ich mithelfen, dass Florymont Dusoleil und Madame Faucon diese Zauber benutzen können. Bitte lass es auch offiziell eine Erfindung von den beiden sein, weil die bereits genug Aufmerksamkeit von Vita Magica auf sich gezogen haben. Die Banditen und auch alle anderen noch unbescholtenen Leute sollen nicht wissen, dass da wer Zauber kann, die dieser selbsternannten Organisation zur Bewahrung des magischen Lebens in den Besenschweif krachen können."
"Akzeptiert", sagte Belle und knuddelte Julius, als sei er ihr Mann oder jüngerer Bruder. "So, und jetzt klären wir zwei das noch, wie wir eine computerunterstützte Auswertung aller potentiellen Opfer dieser Banditen erstellen können, ohne dass die Gauner das mitbekommen. Wir müssen nämlich davon ausgehen, dass die ihre Spione bei uns oder in anderen Ministerien haben. Wenn wir das machen, die mit Computern zu tun haben und alle auf einen Eidesstein schwören, es keinem Mitglied von Vita Magica zu verraten, können wir die Antiportschlüssel ganz still und leise verteilen, solange diese Kriminellen noch nicht weitere Opfer in ihre Verstecke entführt haben." Julius nickte und begann damit, die nötigen Suchkriterien auszuarbeiten.
Nancy Gordon hatte sich als nordische Walküre verkleidet, als sie am 31. Oktober um siebenUhr abends das Hotel betrat, in dem die Halloweenfeier von "Wunderwelt & Zauberklang" stattfinden sollte. Wie vereinbart war sie im Moment nur eine Nummer auf einer Eintrittskarte. Auf jeden Fall war sie froh, mal acht Stunden lang nicht über Vita Magica diskutieren zu müssen. Heute abend musste sie sich nicht mit dieser Gruppierung befassen. Heute wollte sie einfach mal Urlaub von ihrem Leben haben.
Sie tanzte und sprach mit anderen kostümierten Gästen. Einige hatten sich als Vampir, Drachenmensch oder Cowboy verkleidet. Auch traf sie Ballerinen in rosaroten Tutus, Prinzessinnen oder Filmschauspielerinnen, die wohl doch als Jungen zur Welt gekommen waren. Als sie mit einem Piraten mit struppigem Rotbart und Augenklappe zu einem amerikanischen Halloweenschlager tanzte hatte sie ihr wahres Dasein schon fast vergessen. In ihrer golden glänzenden, ihre Figur sehr genau nachgearbeiteten Rüstung aus Pappe und Goldfolie vollführte sie einen gekonnten Twist und war sogar froh, dass der mit ihr tanzende Seeräuber kein Holzbein hatte. Ihr über dem Rücken hängendes Plastikschwert und der daneben gut befestigte Schild stießen immer wieder mit dem Plastiksäbel des Piraten zusammen. Captain Rotbart, der Piratenprinz, unterhielt sich mit Waltraute, der Dienerin Odins, über Walhalla und ob rauhe Krieger wie er auch dort eingelassen wurden.
"Nur wenn sie im ehrlichen Kampf mit der Waffe in der Hand sterben. Wenn du von einer Kanonenkugel getroffen oder am Galgen aufgehängt wirst holt dich niemand von uns in Odins Ruhmeshalle", erwiderte die Walküre. Darauf tranken Sie einen Cocktail aus Met, Jamaikarum und Kürbissaft.
Als Nancy alias Walküre Waltraute mit einem noch sehr jung aussehenden Schlumpf einen Rock'n Roll tanzte fühlte sie, wie der Cocktail ihre Lebensgeister anregte und in eine von ihr selten gefühlte Stimmung versetzte.
Hinter der Bar standen drei Frauen, die in mittelalterlichen Magdkleidern servierten. "Die Gordon ist sehr gelenkig. Wen geben wir ihr, Foster Pears oder vielleicht doch Ronin McTawish?" sandte eine Magd der älteren zu. Dann musste sie grinsen, weil sie gerade den Schlumpf mit einer als mittelalterliche Amme verkleideten Mann tanzen sah, der eine Babypuppe im Tragetuch auf dem Rücken trug.
"Pears ist ein Muggelhasser. Der soll nicht mit einer Muggelstämmigen zusammenkommen. Um halb zwölf, wenn der erste Teil bereits gut verdaut ist, gibst du für sie und Murray Unnitamo die Paarbindungsmischung aus. Foster verbandelst du mit Dolly Middleton und die Amme namens Dustin Hindley verkuppelst du mit Beth McGuire. Das ist die Bienenkönigin, die gerade mit dem Teufel tanzt. Den übrigens schicken wir ins Karussell. Mater Vicesima will ein Exempel an Eileithyia Greensporn Statuieren, weil die uns als Verräter am magischen Leben tituliert hat. Wenn ihr Enkelsohn hundert neue Kinder gezeugt hat darf sie die vielleicht gerne alle auf die Weltholen", mentiloquierte die zweite Magd und sah den Tänzerinnen und Tänzern weiter zu.
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