Größtenteils unbemerkt von der magielosen Welt, die immer noch unter den Folgen der Terroranschläge von 2001 leidet, ist die magische Welt unsicherer als zuvor. Vampire, Werwölfe, Dementoren, vier wiedererwachte Töchter des Abgrundes und nicht zuletzt der nach großer Macht strebende Dunkelmagier namens Lord Vengor bedrohen Frieden, Freiheit und Unversehrtheit der Menschen mit und ohne Magie. Zu dem allem führt eine skrupellose Organisation namens Vita Magica Aktionen durch, die eine schnellere Vermehrung magischer Menschen erzwingen sollen. Sie entführt Hexen und Zauberer, die bisher unverheiratet und/oder kinderlos sind, veranstaltet wilde Partys, bei denen die Lust auf Fortpflanzung auf einen vielfachen Wert gesteigert wird und verjüngt ihnen entgegentretende Hexen und Zauberer mit einem blitzartig aus einer goldenen Waffe überschlagenen Infanticorpore-Fluch zu hilflosen Säuglingen, die Vita Magica dann in den eigenen Reihen neu großziehen will. Hinzu kommt noch, dass der französische Zaubereiminister Grandchapeau wegen der Rache der veelastämmigen Euphrosyne Blériot, die später Lundi heißt, zu einer Verzweiflungstat getrieben wird, die seinen Geist unter beibehaltung sämtlicher Erinnerungen in den Körper seines ungeborenen und durch Euphrosynes Vergeltung zu langsamer Ausreifung gezwungenen Sohnes hineintreibt, so dass er die nächsten Jahre und Jahrzehnte als Ungeborener im Leib seiner Frau ausharren muss. Um seine Nachfolge gibt es eine sehr schmutzige Schlammschlacht, bei der sich die Kandidaten gegenseitig aus dem Weg drängen und nicht vor in Verruf bringenden Veröffentlichungen zurückschrecken.
In dieser am Rande des Chaos entlangtreibenden Lage bereitet sich der Dunkelmagier Vengor, der durch einen aus den Trümmern des zerstörten Welthandelszentrums von New York geborgenen Unlichtkristall ein vielfaches stärker dunkle Zauber anwenden kann, auf das Ziel seiner Anstrengungen vor. Hierbei lernt er zwei mögliche Verbündete kennen.
Ian McDowell blickte noch mal auf die gute alte Zeigeruhr über den ganzen Überwachungsmonitoren und Zustandsanzeigegeräten. Jetzt war es genau halb zwölf abends. In einer Halben Stunde war Mitternacht. So musste er in den nächsten dreißig Minuten seine nächste Runde anfangen, wie es in den Vorschriften stand. Aber die Vorschriften verlangten von ihm, dass er nie zum Anfang einer Viertelstunde losgehen sollte und bei jeder Runde auch eine andere Strecke ablief. Vorher war er im Erdgeschoss gestartet und hatte dann den Keller und dann das dritte Stockwerk und dann das zweite geprüft.
Seit elf Jahren machte er das jede Nacht von sieben Uhr abends bis sieben Uhr morgens. Eigentlich hatte Ian McDowell noch was anderes mit seinem Leben vorgehabt, als Nachtwächter in einem Kunstmuseum zu sein. Aber der Ausflug nach Kuweit hatte ihm ein paar unfeine Andenken in die Beine getrieben, die erst nach fünf Monaten restlos überwunden waren. Er hatte danach zwar wieder gut laufen gelernt. Aber für eine weitere Karriere als Personenschützer oder Fußballschiedsrichter war er dann doch nicht mehr beweglich genug.
Seit fünf Jahren lebte er alleine. Seine Frau Kathleen hatte es irgendwann satt gehabt mit einem lausigen Nachtwächter verheiratet zu sein, der immer dann, wenn sie von der Arbeit kam seine Mütze nahm und zum Bewachen ging. Dabei war das hier nicht so ein verantwortungsvoller Posten wie beispielsweise die Firmengeheimnisse eines Industriebetriebes zu bewachen oder aufzupassen, dass keiner in eine Bank einbrach. Hier hingen nur mal mehr oder weniger geistreiche Bilder herum oder wurden mal sehr gut bis sehr schlampig gearbeitete Statuen und Phantasiegegenstände ausgestellt. Gut, die Gruppe mit Gold überzogener Clansmänner in echten Kilts mit den Farben des jeweiligen schottischen Clans waren vom Geld her sehr teuer. Fünf Millionen Pfund hatte das Museum für zeitgenössische Heimatkunst dafür springen lassen müssen. Aber viele andere Sachen waren eher Ramsch oder schlicht weg abgedreht. Dennoch hatte er hier seinen Wachdienst zu schieben und mit der ebenso sündteueren Alarmanlage mit ihren Tür- und Fenstersensoren, die Bilder, Statuen und Schaukästen umzingelnden Annäherungs- und Berührungssensoren und ihren zwanzig Kameraaugen Händchen zu halten. Gerade pingelte es aus dem Lautsprecher des an den Steuerungsrechner angeschlossenen Laptops. Das hieß, dass die Anlage gerade eine durch Zufallsgenerator ausgesuchte Überprüfung aller an ihr dranhängenden Geräte machte. Er musste noch zwei Minuten warten, bis die Anlage die inneren Türen wieder passierbar schaltete, damit nicht er aus Versehen Alarm auslöste. Erst als er durch einen von oben nach unten gespielten schnellen Dreiklang die Rückmeldung bekam, dass die Prüfung ohne beunruhigendes Ergebnis beendet war nahm er seine Taschenlampe und die Gaspistole, mit der er sich im akuten Notfall gegen ungebetene Besucher wehren konnte. Er hätte zwar lieber eine Taserwaffe bekommen. Doch das Museum hatte wegen vieler Klagen in den USA gegen derartige Waffen bei Nachtwächtern darauf verzichtet. Zudem nahm er noch den Notfallpieper mit, der sofort die Polizei alarmieren konnte. Er schaltete das kleine Gerät ein, das zugleich ein persönlicher Peilsender für die Alarmanlage war. Die konnte nun immer vergleichen, wo er gerade war. Die auf Standardbildveränderung abgestimmten Kameras würden ihn zwar auch an das System melden und seine Bewegungen aufzeichnen. Doch mit dem Pieper konnte er der anlage sofort zeigen, dass nur er das war. Das gute war, dass der Pieper bei einem Sturz aus mehr als einem Meter automatisch das Alarmsignal abstrahlte.
Um nicht irgendwelchen Gangstern eine klare Zeit zu liefern, wann er wo war fing er diesmal seine Patrouille im Erdgeschoss an. Hier gab es Schaukästen mit Schnitzereien und Töpferarbeiten aus der Umgegend. Die ältesten davon waren hundert Jahre alt. das interessanteste für Besucher war der in einem Panzerglaskasten ausgestellte Dudelsack von Rore McMahoon, einem Paganini auf der nervig lauten Sackpfeife. Der Musiker selbst war vor zwanzig Jahren bei einem Bühnenauftritt mit den australischen Rockern von AC/DC zusammengebrochen und auf dem Weg ins Edinburgher Krankenhaus gestorben. Immerhin hatte er gezeigt, dass ein schottischer Dudelsack gut mit E-Gitarren mithalten konnte, was Lautstärke und schrille Töne anging. Jetzt stand das Instrument da seit zwanzig Jahren im Museum, weil McMahoon aus Carlisle stammte und seine Angehörigen das nervige Quäkteil nicht von wem anderen spielen lassen wollten. Eine der vielen berühmt-berüchtigten schottischen Geistergeschichten behauptete, dass McMahoon immer zu den altkeltischen Feiertagen ins Museum kam und mit von ihm unter den Tisch gesoffenen Geistern zusammen Musik machte. wehe dem Sterblichen, der ihm dabei zuhörte. Der musste dann seinen Körper verlassenund mit den anderen mittanzen, bis bei Morgengrauen alle ins Jenseits zurückkehrten. Da McDowell noch hier war war klar, dass an dieser Geschichte nichts dran war. Denn für ihn galten Samhain, Beltane und die anderen Tage nicht als Feiertage.
Um keine gleichbleibende Strecke zu laufen eilte er ins oberste Geschoss, dort wo die wirklich wertvollen Sachen gezeigt wurden. Hierfür musste er sogar durch eine Schleuse aus zwei feuer- und Aufbruchssicheren Türen mit Codekartenschloss durch. Doch außer dass hier echt geniale Landschaftsmalereien vom Hochland und den Inseln hingen und die Gruppe aus goldenen Statuen in Kilts um ein metergroßes X stand war im Moment nichts beachtenswertes. Natürlich wusste er, dass das goldene X in der Mitte des Kreises ein Andreaskreuz war, das für den schottischen Schutzheiligen St. Andrew stand. Doch für den nicht so mit Kirche und Büchern beschäftigten Nachtwächter war das ein X wie X-mal dran vorbeigelaufen. Auch zwei von den goldenen Clanshäuptlingen trugen Dudelsäcke. Einer trug ein Ungetüm von Schwert auf dem Rücken, einer eine goldene Whiskyflasche in der rechten Hand und noch einer trug an seinem barett in den Clansfarben Distelzweige..
Nachdem McDowell klar hatte, dass sich hier keiner versteckt hielt, der hier nichs zu suchen hatte lief er auf seinen geräuschdämpfenden Sohlen bis zum Untergeschoss hinunter. Hier lagerten solche Bilder, Gegenstände und Standbilder, die für Kinder und Leute mit schwachen Nerven oder übergroßem Schamgefühl nicht geeignet waren. Deshalb hieß dieses Stockwerk auch Old Nicks Partykeller, nach dem schottischen Namen für den Teufel.
Damit die arglosen Besucher nicht zu den Unanständigkeiten vordringen konnten war wie bei der Abteilung mit den teuersten Sachen eine dicke Stahltür davor, die mit drei Schlössern und einem elektronischen Schloss zugeschlossen war. McDowell musste sich erst per Codekarte und Zugangsgeheimzahl ausweisen, dass er hier auch reindurfte. Dann erst konnte er jedes der drei Sicherheitsschlösser aufmachen und im Licht seiner Taschenlampe eintreten. Erst als die Tür hinter ihm zufiel durfte er die Hauptbeleuchtung einschalten.
Er stand in einem Gang, der von der Tür aus nach links und Rechts verlief. Links und rechts gab es je eine Tür. Dann machten die Gangenden einen Knick und wurden zu längsgängen. Nach fünfzig Schritten trafen sie wieder auf einen Quergang. Entlang der Gänge gingen Türen nach links beziehungsweise rechts in die Lagerräume, die für besondere Besucher auch Ausstellungsräume waren. McDowell beschloss, erst den großen Saal am anderen Ende des Kellers zu prüfen, wo kinoleinwandgroße Bilder und Wandteppiche hingen, die nichts anderes als die schlimmsten Albträume darstellten, die sich Menschenhirne zurechtspinnen konnten. Oder wollte er zuerst in den Raum der grenzenlosen Freizügigkeit? Da gab es Statuen sich gerade wild liebender Männer und Frauen, hingen Bilder von nackten Damen aus der englischen Gesellschaft, und Herren, die sich von jungen Mädchen befriedigen ließen, um für deren Eltern oder Volksangehörige was zu tun. Nein, er wollte erst die blutigsten Schlachten und dämonischsten Höllenszenen genießen, die im hintersten Kelleraum zu finden waren. . Einiges davon erinnerte ihn an den Wüstensturm und dass er da fünf echt gute Kameraden verloren hatte. Doch er hatte diesen Raum als geniale Gelegenheit gesehen, seine schlimmen Erinnerungen und die Ängste, die sie erzeugten abzureagieren. So ging er erst nach links, dann den Längsgang entlang, vorbei am Zimmer der bildgewordenen Majestätsbeleidigungen, dem Schlafgemach der drei Meter großen Superschlampe, die gleich vier normalgroße Männer zugleich an sich heranließ, bis zu eben jener Tür, die als Halle des Blutbads bezeichnet wurde. Auch hier musste er mehrere Schlösser öffnen. Er blickte noch einmal in die unter der Decke hängende Kamera und lächelte. Falls jemand in den nächsten sieben Tagen die Festplatte mit den Bildaufnahmen durchsah konnte der oder die sich denken, was er oder sie wollte. Dann betrat er den Raum.
Das Licht hier war blutig rot, dem Anlass entsprechend. Denn hier regierten die Gräuel von Folter und Massenmord, Krieg und Weltuntergang. McDowell blickte aber nicht zuerst zu den Bildern mit hunderten von grausig zugerichteten Opfern und ihren Henkern, sondern direkt zur Stirnseite. Dort hing seit zwei Wochen eine Neuerwerbung des Museums, die ihn mehrfach angewidert wie fasziniert hatte. Doch was war das? Anstatt eines kinoleinwandgroßen Bildes mit drei bis auf einen Lendenschurz unbekleideten Riesinnen, die jede nur ein großes rundes Auge auf der Stirn hatten und in einer Höhle voller abgetrennter Gliedmaßen, Leiber, Knochen und Totenköpfen hockten, sah er nun eine in merkwürdiges grünes Dämmerlicht gehültte Wiesenlandschaft unter einem hellgrün leuchtenden Mond. Der Mond war in genau der Phase gemalt, die in Wirklichkeit zu sehen war. Unter dem grünen Mond sah er drei völlig nakcte Frauen mit hüftlangen Haaren, die sich dem Betrachter sehr willig anboten. Irgendwie meinte McDowell, das Bild würde aus sich selbst heraus leuchten, und die im grünen Mondlicht badenden Frauenzimmer umfloss ein grüner Schimmer. Außerdem hatte McDowell den Eindruck, nicht auf ein Gemälde zu sehen, sondern durch ein Fenster, so deutliche Tiefe und Vorhebungen konnte er sehen. Vor allem die völlig nackten Frauenzimmer sahen so aus, als seien sie echte Menschen oder in grünem Licht Stehende Standbilder.
McDowell stutzte erst, dann ging er auf das für ihn hier nicht hingehörende Bild zu. Bei seiner letzten Runde hatte hier doch noch das Bild mit den drei Einäugigen gehangen, bei dem die eine gerade Kopf, Oberkörper und Arme eines verzweifelten Mannes aus dem Maul herausragen hatte, während die zweite bereits einen halben Mann verputzt hatte, dessen Unterleib und Beine noch aus dem Maul heraushingen. Die Dritte hielt einen wohl gerade eingefangenen Mann in der rechten Hand und wollte ihn wohl gerade anheben. Aber jetzt hing da das Bild mit der Wiese und den drei elfengleichen Damen, die entweder total unschuldig oder total begierig auf männliche Zuwendungen wartend dastanden. Als er näher an das Bild herantrat sah er, wie die Augen der drei Frauen zu leuchten begannen. Sie hatten denselben Farbton und dieselbe kreisrunde Form wie die einzelnen Augen der vorher noch zu sehenden Monsterbräute. McDowell fühlte ein Kribbeln auf der Haut. Etwas hier stimmte ganz und gar nicht. Sollte er den Pieper drücken, damit die Polizei anrückte. Aber was sollte der denen sagen? Sollte er melden, dass jemand zwischen seiner letzten runde und dieser ein Bild ausgetauscht hatte, ohne dass die Alarmanlage das mitbekommen hatte? Sicher, das hier war eine unregelmäßigkeit. Unregelmäßigkeiten musste er melden. Das war im Militär so gewesen und seit elf Jahren auch hier im Museum so. Doch irgendwie wollte er erst wissen, was es mit diesem Bild auf sich hatte. War es überhaupt ein Bild? Denn jetzt fing eine der drei Frauen an, mit nach vorne ausschwingendem Becken auf ihn zuzukommen und holte dabei immer wieder tief Luft. Das war nie im Leben ein Bild! Vielleicht war das ein neuartiger technischer Gag, ein supergroßer Flachbildschirm, der mit einem kleinen Computer verbunden war und den Betrachtern abwechselnd dieses Bild mit den willigen Damen oder das mit den menschenfressenden Riesinnen zu zeigen. Er musste es wissen, die Oberfläche dieses was-auch-immer anfassen, um sicher zu sein. Auch wenn er dabei vielleicht den Alarm auslöste, weil er in das Netz aus Infrarotlaserstrahlen reinlangte, das nur zwei Zentimeter vor dem Bild ausgespannt war, so musste er das jetzt klar haben. Am Ende lachten die ihn noch alle aus, weil er auf den neuesten Trick der Kunstwelt reingefallen war, das scheinbar magische Bild.
Er war jetzt nur noch vier Schritte von diesem total merkwürdigen Bild oder Bildschirm entfernt. Da fingen die drei nackten Schönheiten auf der Wiese an zu singen. Sie hatten superschöne Stimmen, fand der Nachtwächter, während er weiterhin behutsam auf die sich ihm bietende Szene zuging. Er lauschte dem Gesang. Die Sprache, in der sie sangen kannte er nicht. Doch ihr dreistimmiger Gesang war einfach nur genial. So mussten wahre Elfen singen, dachte er.
Als er nur noch zwei Schritte von der sich ihm zeigenden Landschaft und den immer verlockender auf ihn zutanzenden Frauen entfernt war stand die, die sich von den zwei anderen gelöst hatte fast in Armreichweite und bot sich ihm ganz ungehemmt an, zeigte mit einer Hand auf das, was einen erwachsenen Mann in wilde Erregung versetzen kann und winkte ihm einladend zu. Ihre grünen Augen fingen seinen Blick ein. Ihm wurde auf einmal richtig heiß, als wenn jemand ihm heißes Wasser in die Adern gepumpt hätte. Er meinte, einen Rausch wie nach vier Gläsern Whisky zu haben. Dann trennte nur noch ein Schritt den Nachtwächter und die naturbelassene Schönheit, die nun in seiner Muttersprache Gälisch sang. Sie bat ihn, zu ihr hinüberzutreten und sie zu freien, also wohl mit ihr Liebe zu machen. Die zwei anderen fielen in den Gesang mit ein. Sie lockten ihn damit, dass er ihre Schwester zu seiner Königin der Nacht machen sollte. McDowell merkte, wie seine Gedanken von dieser unzweideutigen Aufforderung regelrecht aus der Bahn flogen und einer lange unterdrückten Lust Platz machten. Seit sechs Jahren hatte er mit keiner Frau mehr Liebe gemacht. Da waren gleich drei, die das von ihm wollten, von ihm, einem einfachen Kriegsveteranen, der nicht gerade wie Brad Pitt oder Antonio Banderas aussah. Doch was sollte es. Nutze die Chancen, so hatte sein Armeesergeant gesagt, als der Kompaniechef vor dem Ausflug an den persischen Golf noch eine Nacht in einem Londoner Bordell hatte springen lassen, wohl auf Staatskosten. Aber egal! Die da wollten es sich von ihm besorgen lassen und das ohne Preisschild. Keinen Gedanken verschwendete er daran, dass er den Preis wohl nicht bezahlen wollte, wenn der ihm vorher verraten worden war. Er machte den letzten Schritt und stand jetzt vor dem bis wenige Zentimeter über dem Boden hängenden Bild oder Bildschirm. Er stand nun der einen der schönen direkt gegenüber. Er sah auf den Boden und erkannte die rote Linie, wo die Alarmsensoren verbaut waren. Die Alarmanlage musste jetzt wohl erkennen, dass jemand sich zu nahe an dieses Bild herangemacht hatte. Doch sein Pieper-Peilsignal würde der verraten, dass er das war. Solange er nicht versuchte, das Bild abzuhängen.
"Komm zu uns hinüber, wackerer Krieger!" sangen die drei Frauen. Die eine, die gerade vor ihm stand hauchte: "Mein Leib begehrt nach deiner ganzen Kraft und Leidenschaft. Gib sie mir!"
McDowell streckte die Hand aus ... und traf auf einen leicht kribbelnden, herrlich warmen Luchtstrom, der einen leichten Sog bildete. Er fühlte keinen Widerstand. Er steckte seinen Arm in die dargestellte Szene hinein und sah, wie die andere ihre rechte Hand nach ihm ausstreckte. Dann setzte er seinen rechten Fuß durch einen unsichtbaren und nachgiebigen Vorhang und trat auf knöchelhohes Gras. Er stand wahrhaftig auf einer Wiese. Er zog den zweiten Fuß nach. Da knackte es in seiner rechten Tasche, und beißender Qualm stach ihm in die Nase. Die Frau ihm gegenüber verzog ebenfalls die Nase und sah ihn erst tadelnd an. Dann ergriff sie seine immer noch vorgestreckte Hand und hielt sie sanft und warm fest. Dann wandt sie sich vorsichtig um und zog ihn sanft mit sich. Er konnte nicht anders, als ihr nachzugehen.
Ohne sich noch einmal umzusehen ging er mit der Fremden fünf Schritte über die Wiese. Dann drehte sich die Schöne wieder zu ihm um. "Wirf alles weg, was dir nicht angewachsen ist, stolzer Krieger. Wir laufen hier alle ohne das Zeug herum", sagte sie in bestem Schottlandgälisch. Für McDowell war das ein Befehl, der ein offenes Scheunentor bei ihm einrannte. Er warf die halbhohen schuhe mit den gedämpften Sohlen von sich, dann die Hose, dann das Hemd und dann alles andere. Dabei fiel ein immer noch qualmendes, verformtes Stück Plastik aus der Uniformhemdtasche. Das war wohl mal der Pieper gewesen. Irgendwas hatte den verschmoren und schmelzen lassen. Doch was sollte es. Da wo er jetzt war hatte er doch eh keine Verbindung mehr. Konnte nur passieren, dass die Alarmanlage gleich losging, weil das Piepersignal weg war. Doch das war seine kleinste Sorge. Er war jetzt hier bei diesen drei Schönen. Da konnten die ihm nichts.
Als er alle seine Sachen von sich geworfen hatte stand er vor seiner überirdischen Geliebten. Sie besah ihn und legte ihre Hand auf ihn. "Ja, viel hast du nicht an dir, aber eine ganze Menge in dir. Das wird herrlich sein", sagte sie und befingerte ihn sehr anregend. Die wusste echt, wo bei einem Mann die richtigen Knöpfe saßen, dachte McDowell. Die war nie im Leben eine Unschuld vom Lande. Was sie wirklich war, wurde ihm in den nächsten Sekunden klar.
Er fühlte die herrliche Erregung, wie die andere prüfte, wie das, was sechs Jahre lang unbeachtet geblieben war, immer deutlicher erwachte. Sie sah ihn dabei sehr begehrend ja gierig an. Gleich würden sie auf der Wiese liegen und sich in hemmungsloser Liebe übereinander hermachen, dachte McDowell. Da fiel ihm auf, dass die Augen der anderen immer mehr nach oben rutschten und dabei immer enger zusammenrückten. Ja, und die ihn gerade in die richtige Stimmung bringende Frau wurde größer, jetzt war sie schon so groß wie Ian McDowell und wurde immer noch größer. Auch ihre Hand wuchs, was er fühlte, als sie ihn besitzergreifend im Schritt festhielt. Dann, auf einmal, wurde es dunkler um ihn. Der Boden, bisher von weichem Gras bedeckt, wurde kalt und hart wie Felsen. Und immer noch wurde die andere größer und größer. Jetzt war sie schon mehr als zwei Meter fünfzig groß. Ihre andere Hand umfasste seinen Rücken. Er versuchte, sich loszumachen. Doch die andere hielt ihn schon zu fest. Und je größer sie wurde, desto fester hielt sie ihn. Jetzt war sie schon drei Meter groß. Dann, als wäre sie eine Gummipuppe, in deren Bauch ein Kompressor angesprungen wäre, blies sich das überirdische Frauenzimmer regelrecht auf, wurde innerhalb von nur einer Sekunde viermal so groß wie McDowell. Dann war sie schon mehr als zehn Meter groß und dann mehr als zwanzig Meter groß. Ihre beiden schönen Augen waren zu einem metergroßen, grün leuchtenden Auge mitten auf der Stirn geworden. Aus der elfenhaften Verführerin war eine menschenfressende Zyklopin geworden. McDowell passte nun locker in ihre Hand. Für die Monsterfrau war er wohl nicht größer als eine Maus von Kopf bis Schwanzende. Alle Lust, alle Begierde und vor allem jede Arglosigkeit waren weggeblasen. Er fühlte sich nur noch hilflos und hatte nur noch Angst. Er vergaß seinen Stolz, in Gefahrensituationen nicht zu schreien oder zu weinen und schrie nur noch in wilder Panik. Doch sein Schreien und sein Strampeln halfen nichts. Die einäugige Riesin hob ihn schneller als ein Expressaufzug nach oben und riss ihren zum Ungeheuermaul gewachsenen Rachen auf. Er sah die spitzen Zähne, dafür gemacht, große Fleischbrocken zu zerfetzen und dicke Knochen zu zerbeißen. Das war sein Ende. Nein, das konnte es nicht sein. Er träumte das alles. Gleich würde er laut schreiend aufwachenund sich ärgern, bei der Arbeit eingeschlafen zu sein. Doch er wurde nicht wach. Er fühlte, wie er in die feuchtheiße Mundhöhle hineingestopft wurde und einen Schups bekam, um dann an der meterbreiten Zunge entlang immer tiefer in den Rachen des Ungeheuers hineinzurutschen. Nein, er wollte so nicht krepieren. Er versuchte, sich festzuhalten. Doch er rutschte auf der glitschigen Zunge ab. Dann versuchte er, sich zu verkeilen. Doch die kräftigen Halsmuskeln der Riesenfrau waren zu stark für ihn. Mit einem letzten lauten Aufschrei geriet er in die sich um ihn windende und ihn weiterbefördernde Speiseröhre. Hoffentlich starb er schnell. Das war seine allerletzte Hoffnung.
Er reiste unter vielen Namen, auch wenn er nicht der Teufel persönlich war. Aber daran wollte er arbeiten, zumindest mit diesem fiktiven Bocksschädel gleichgesetzt zu werden. Zwar hatte er sich damals entschlossen, für den dunklen Lord zu streiten, ihm treu ergeben zu sein. Doch das hatte er nur, weil dieser damals noch zu mächtig war, um ihn in einem offenen Kampf zu besiegen. Wie demütigend hatte er es da empfunden, dass der dunkle Lord zweimal von einem unausgereiften Knaben besiegt worden war, ja einmal sogar, wo dieser noch ein Kleinkind war, fast noch ein sabbernder Säugling. Aber genau das hatte dem ja damals geholfen, weil seine schlammblütige Mutter einen uralten Segenszauber ausgelöst hatte. Das hätte der dunkle Lord wissen sollen, dass sowas ihm mal zum Verhängnis werden konnte. Tja, vier Jahre war das jetzt her, dass der dunkle Lord zum zweiten und letzten Mal niedergeworfen wurde. Das würde ihm, dem Zauberer, der in der Muggelwelt unter sehr vielen Namen reiste, nicht passieren. Er hatte eine andere Strategie ersonnen, die Menschen zu beherrschen und die Muggel in den Dreck zurückzuwerfen, aus dem sie gekrochen waren. Doch sein Plan brauchte Zeit und gut ausgeführte Aktionen zur Vorbereitung. Diese Zeit drohte, ihm mal wieder zum Verhängnis zu werden. Denn jemand, der sich wie er als wahrer Erbe Slytherins und Rächer des dunklen Lords empfand, hatte einen anderen, schnelleren Weg gefunden, Macht zu gewinnen und hatte sich bereits einen gefürchteten Namen gemacht: Lord Vengor. Wie bei seinem früheren Anführer wusste niemand, wer dieser Lord Vengor in Wirklichkeit war, so dass man ihm beikommen konnte, bevor er wahrhaft unbesiegbar wurde. Auch hatte sich dieser Lord Vengor etwas verschafft, was ihm wesentlich mehr Macht über dunkle Zauber gab, einen Gegenstand, ein Elixier, oder ein Bündnis mit einem mächtigen Zauberwesen, vielleicht jenem angeblichen Herren der ominösen Hölle, an die diese Eingottanbeter glaubten. Aber er hatte nie an den Teufel geglaubt. Dunkle Magie gab es, doch wurde sie nicht von irgendeinem gehörnten Dämon verliehen, sondern konnte durch Studium und sie mit Kraft erfüllende Taten erworben und angewendet werden. Also hatte der neue dunkle Lord altes Wissen gefunden oder gar etwas neues Erfunden, um so mächtig zu sein. Genau wie er ja auch ein Erfinder war, wenngleich einer, dessen Erfindungen den großen Teil ihres Daseins untätig waren.
Zur Zeit nannte er sich Fred Morgan, ein einfacher, nicht groß begüteter Maler. Als solcher lebte er gerade in New York, der Stadt, die niemals schlief. Das lag an den nach Geld jagenden Muggeln und ihren künstlichen Lichtern und stinkenden Selbstfahrwagen. Um dem allen zu entgehen hatte er nur zum Schein ein Zimmer in Mrs. Portlands Pension genommen. Er wollte bis zum ersten November hier bleiben. Auch musste er immer auf der Hut sein, niemals sein wahres Gesicht zu zeigen. Denn für die Zaubererwelt galt er seit September als verschwunden, weil er es gewagt hatte, das Ultimatum dieser Irrsinnigen von Vita Magica zu ignorieren. Wer sowas machte der oder die verschwand. Der oder die wurde wohl mit Imperius-Fluch oder Liebestollheitstränken zum Züchten neuer Zaubererweltkinder gezwungen.
Am 25. Oktober 2002 summte sein Kontaktstein, den er vor drei Jahren geprägt und in drei Teile zerlegt hatte. Einen Teil hatte er Lord Vengor zugeschickt, um mit ihm Kontakt zu bekommen. Denn jetzt, wo er soweit war, wollte er mit diesem neuen dunklen Lord eine Partnerschaft schließen, ihm helfen, weiter aufzusteigen, um dann, wenn er wusste, was Vengor groß und stark gemacht hatte, unter seine Vorherrschaft zu bringen oder zu töten. Doch genau das durfte Vengor noch lange nicht wissen.
"Ich höre dich, Lord Vengor", dachte der untergetauchte Anwärter auf Voldemorts Erbe. Vor seinem geistigen Auge sah er ein grün leuchtendes Schlangengesicht von einer bläulichen Aura umstrahlt.
"Ah, du bist also der Herr der Farben und Formen", drang über den an die Stirn gehaltenen Stein eine gefühllose, tiefe Stimme, die merkwürdig blechern nachhallte. "Wie ich erkenne legst auch du viel Wert auf Unerkennbarkeit. Doch ich will noch nicht wissen, wer du in Wahrheit bist. Das hat noch Zeit. Ich bin sehr erfreut, dass noch ein wackerer Kämpfer gegen die Verunreinigung der wahren Zaubererschaft an meine Seite treten möchte. Warum kann ich dich nicht per Eule erreichen?"
"Weil ich auch Wert auf Unauffindbarkeit lege, Lord Vengor", erwiderte der angebliche Fred Morgan. Insgeheim dachte er daran, dass er sich nicht von Vengors Leuten ergreifen oder von diesem durch einen Versetzungszauber gefangennehmen lassen wollte.
"Wer an meiner Seite kämpfen will muss sich mir bedingungslos unterordnen. Bist du dazu bereit?" wollte Vengor wissen. Der maler machte eine taktische Pause und erwiderte dann:
"Sobald ich weiß, dass mein Eintrittsgeschenk für Euch den erwünschten Wert hat bin ich bereit, es euch zu Füßen zu legen und meine Gefolgschaft zu bekunden."
"Außer deiner bedingungslosen Loyalität und deinem Leben musst du nichts vor meine Füße oder in meine Hände legen, Fred Morgan oder wie du auch immer heißen magst. Erscheine heute abend in der Grotte des dunklen Druiden Dorfin von den Salzwiesen! Dort sollst du den Schlüssel zu meinem Befehlsstand erhalten, mit dem du zu mir finden kannst, um von mir in die Reihen meiner Armee der Vergeltung eingeschworen zu werden, wenn ich weiß, wer du wirklich bist und ob du es wert bist, mein treuer Kämpfer zu werden."
"Wann genau?" fragte Fred Morgan mit gespieltem Eifer.
"Um ein Uhr nachts. Bist du um ein Uhr und eine Minute nicht dort, weiß ich das. Dann werde ich dich finden. Wünsche es dir nicht, dass ich zu dir kommen muss! Denn zu wem ich komme findet den Tod."
"Falls der Tod mich bis dahin nicht schon gefunden hat werde ich um ein Uhr in der Grotte sein, mein Lord", erwiderte der Maler. Dann kam eine Antwort, mit der er eigentlich hätte rechnen müssen, nachdem er sich als Herr der Farben und Formen ausgegeben hatte.
"Ach, jetzt begreife ich, vor wem du dich versteckst und warum dir nun so wichtig ist, zu meinem Gefolge zu gehören. Denn es gab nur einen mir bekannten Herren der Farben und Formen nach Salazar Slytherin, und das war ein kleiner, sehr dienstbarer Pinselschwinger. So sei es, Hironimus Pickman. Finde dich um ein Uhr ein, und reihe dich in die ruhmreiche Armee der Vergeltung ein!" Mit diesen Worten löste sich das grünleuchtende Schlangengesicht mit den blutroten Augen und der bläulichen Aureole in Nichts auf. Der Stein kühlte merklich ab. Offenbar hatte der Maler über die doch viel zu frühe Enthüllung seines Namens einen leichten Schreck bekommen. Denn er hörte sein Herz bis zu den Ohren pochen. Wer den wahren Namen von jemandem kannte konnte ihm einen Fernfluch auferlegen oder einen Ort für ihn unbetretbar oder zum unentrinnbaren Kerker machen. Aber jetzt war es passiert, dachte der Maler. Dann umspielte ein überlegenes Lächeln seinen Mund. Vengor hielt sich für den wahren Erben Voldemorts und damit Slytherins? Dann wollte er ihm doch einmal zeigen, dass er bis dahin noch einen weiten Weg zu gehen hatte.
Den Tag verbrachte Hironimus Pickman alias Fred Morgan damit, in New York einen exzentrischen Kunstsammler namens Will Bradfield drei seiner neuesten Bilder zu verkaufen: "Die Blutamme", "Dämonenball" und "Die Gruft der Grausamkeit". Bradfield war besessen von allen Angstmachereien der Muggelwelt und hatte in seinem Haus bereits eine Menge Bilder mit erschreckenden Motiven. Als er das Bild mit der zwei junge Männer säugenden Vampirin in einem viktorianischen Salon, den von grünen Kerzenflammen ausgeleuchteten Ballsaal mit ein- oder mehrköpfigen, zwei- bis sehcsarmigen Mischwesen aus Mensch und Ungeheuer und die vor aufgeklappten Sarkophagen tanzenden, blutroten Skelette sah und erkannte, dass diese Motive nicht nur einfach aus einer albtraumartigen Phantasie geschöpft waren, sondern irgendwie sehr lebendig wirkten, als habe der Maler die Originale fotografiert oder diese mit einem Bannzauber in diese Bilder eingeschlossen musste er sehr vergnügt grinsen. "Damit steche ich meinen treuen Rivalen Aldo Burton aus. Dann kann der seine Bosch-Sammlung einmotten, wo die die bei dem doch eh nur Kopien sind."
"Ja, ich muss sagen, dass dieser alte Meister mich durchaus inspiriert hat", erwiderte der Maler, der sich erinnerte, wie er gelacht hatte, als er feststellte, dass es bei den Muggeln einen Maler gegeben hatte, der düstere Bilder mit dämonischen Figuren darauf gemalt hatte und denselben Vornamen hatte wie der sich als Herr der Farben und Formen bezeichnende Künstler aus der Zaubererwelt.
"War gut, dass sie Aldo noch nicht diese Bilder angeboten haben. Der wollte ja nur das Riesenbild mit dieser fünf Meter großen nackten Lady auf einer Blumenwiese mit menschengroßen Blumen mit Gesichtern von Ihnen kaufen. Mein Fall ist diese überdimensionierte Aktmalerei nicht. Aus dem Alter für Anklebmädels bin ich doch schon etwas länger raus", sagte Bradfield noch. Der sich hier Fred Morgan nennende Maler grinste belustigt. Sonst gab er keine Antwort auf diese Bemerkung.
"Die Runen da, mit denen Sie signiert haben, das sind altkeltische Zauberrunen, nicht wahr?" wollte Bradfield wissen. "O, Sie kennen sich wirklich aus", erwiderte der Maler. "Ich fand es besser, nicht mit meinem wirklichen Namen zu unterschreiben, solange ich nicht sicher bin, ob ich von der Welt als Künstler oder als Psychopath geschätzt werde." "Da hätten andere noch mehr Grund, mit sowas zu rechnen, werter Meister", sagte Bradfield. Dann deutete er noch mal auf die stillende Vampirin, die an Statt blut zu saugen blut von sich absaugen ließ.
"Wie kamen Sie denn auf so'ne Idee?" fragte Morgans Kunde. "Ich beziehe meine Ideen meistens aus Träumen. Die schlimmsten davon banne ich auf Leinwand, damit sie mich nicht mehr heimsuchen", sagte der Maler ganz unbefangen.
"O, dann ist einer von den Nuckelbrüdern da Ihr Ebenbild?" fragte Bradfield.
"Wenn Sie mir sagen können welcher, verrate ich Ihnen, ob Sie recht haben", entgegnete der Maler. Bradfield sah den Maler noch einmal an, das flachsblonde Haar, das sonnenbankgebräunte Gesicht mit den kleinen, veilchenblauen Augen. Dann blickte er auf das Bild mit der Blutamme, deren nachtschwarzes Haar bis auf ihre Schultern reichte und die den Betrachter mit ihren dunkelroten Augen einladend ansah. Die an ihren Brüsten liegenden Männer hatten beide schwarze Haare. Die Gesichter waren natürlich in dieser Pose nicht zu erkennen. Außerdem trugen beide blutrote Lendenschurze. Körperform und Größe der Gemalten war genau gleich, als wenn es Zwillinge waren, die zwanzig Jahre nach ihrer Geburt noch mal gesäugt werden wollten, wohl um selbst zu Vampiren zu werden.
"Öhm, ich erkenne sie bei keinem der beiden, Sie Scherzbold. Aber das will ja nichts heißen. Haarfarben sind ja auf Bildern beliebig."
"Wenn Sie das sagen, Mr. Bradfield. Doch jetzt möchte ich fragen, ob wir ins Geschäft kommen", erwiderte der Maler. Nach einer Viertelstunde war der Handel perfekt. Bradfield hatte drei Bilder mehr für seine Gruselgalerie und der angebliche Fred Morgan 2400 Dollar in Bar. Bradfield meinte dazu noch: "Und wenn Sie irgendwann das Zeitliche segnen müssen kriege ich für jedes Bild das zehnfache von den zwei Riesen."
"Ja, falls ich vor Ihnen das Zeitliche segne, Sir", erwiderte der Maler darauf verschmitzt grinsend. "Ach so, hatte ich noch vergessen, geben Sie denen um Mitternacht nichts zu essen, sonst werden sie alle zu gierig."
"Und bösartig und vermehren sich wie doll, junger Mann? - Keine Sorge, ich habe immer genug Blitzlichter im Haus, um die bösen Monster in die Flucht zu schlagen."
"Dann bin ich ja beruhigt", lachte der Maler. Dann verließ er die Villa im Superreichenviertel von Manhattan.
"Ihr werdet euch alle noch sehr wundern", dachte Morgan alias Pickman für sich. Dann fühlte er ein sachtes Vibrieren unter seinem Hemd. Er grinste überlegen. Dann fiel ihm ein, dass er besser in sein hiesiges Versteck reisen sollte, um zu prüfen, ob sein Grinsen berechtigt war.
Erst als er weit genug von den Villenund alteuropäischen Landhäusern entfernt war disapparierte er. Sein Ziel war ein stillgelegter U-Bahn-Schacht, den er vor einem Monat ausgekundschaftet und mit zwanzig kleineren Gemälden behängt hatte. Die fünf Obdachlosen, die hier in den Nächten gehaust hatten, hatten ihm unfreiwillig ihre Leben gelassen, um die zwanzig Bilder damit zu vervollständigen. Im Wesentlichen waren auf den Bildern Echsen- und Raubkatzenmenschen zu sehen, aber auch männliche Gorgonen mit hellen Augen. Mit von ihm behandelten Kontaktlinsen konnte er trotz der hier herrschenden Dunkelheit wie bei hellem Tag sehen. Das von ihm in Besitz genommene Teilstück maß hundert Schritte. An jedem Ende hatte er unter zuvor gewirktem Verhüllungszauber eine einen halben Meter dicke, den Schall schluckende Mauer hochgezogen, um weitere Eindringlinge abzuhalten. Jetzt holte er unter seinem Hemd die Kette mit fünfzig verschiedenfarbigen Steinchen hervor. Ein Steinchen vibrierte noch sanft. Er drückte es sich an die Stirn und sah gerade noch durch eine Art Taucherbrillenoptik, wie ein mausgroßer Mensch von einer schlanken, rotbraunen Frauenhand mit langen, spitzen Fingernägeln umschlossen zum Mund geführt wurde. Der Winzmensch schrie schrill aber aussichtslos, als er in den Mund der Frau hineingestopft wurde. Pickman fühlte es beinahe körperlich, wie der zappelnde Winzmensch in einem Stück hinuntergeschluckt wurde. So musste es sein, wenn sein Leben mit Leib und Seele in der Frau aufging, durch deren eines Auge er gerade blickte. Er hörte sie sagen, dass dies der erste war. Links und rechts von ihr stand je eine weitere in einen einfachen Lendenschurz aus fleischfarbenem Leder gehüllte Frau. Jede sah nach menschlichen Maßstäben superschön aus, wären da nicht die rotbraune Hautfarbe, die nadelspitzen gelben Zähne und vor allem das einzelne, grasgrüne Auge auf der Stirn gewesen.
"Läuft besser als ich dachte", grinste Pickman. Wenn er jetzt wollte konnte er durch einen Tropfen seines Blutes auf den gerade benutzten Stein die gemalte Kreatur anweisen, was sie zu tun hatte. Doch im Moment reichte es ihm, dass sie gerade zu ihrem Leben erwacht war. Noch zwei natürliche Menschen musste die von ihm überwachte in einem Stück und lebendig verschlingen, um ihre körperliche und geistige Lebenskraft in sich aufzunehmen. Ihre beiden Drillingsschwestern mussten sich ebenfalls drei arglose Menschen einverleiben. Dann erst konnten sie aus ihrem Höhlenkerker in die natürliche Welt hinübertreten und in seinem Namen Tod und Chaos verbreiten. Er zog den Stein wieder von seiner Stirn und dachte daran, dass sicher bald ein weiteres Bild von einem ahnungslosen Muggel aktiviert wurde, vielleicht die Amme, vielleicht der dämonische Ballsaal oder das, was er als sein größtes und gefährlichstes Meisterwerk ansah, die zehnte Tochter, der er den Namen Alontrixhila verpasst hatte.
Er sah auf eines der Bilder, dass einen am Hals unter einer gewaltigen Kuckucksuhr baumelnden Mann zeigte. Die blutroten Zeiger der Uhr standen auf fünf Minuten vor sieben Uhr abends. Also war es da, wo das gerade aktivierte Meisterwerk erwacht war gerade fünf Minuten vor Mitternacht. Dann summte ein zweiter Stein an seiner noch freigezogenen Kette. Als er sah, dass es jener war, den er mit dem Bild von der Blutamme verbunden hatte musste er fast loslachen. Dieser Bradfield hatte doch ernsthaft die von ihm festgelegte Formel laut ausgesprochen und das mit genauem Wissen, was sie bewirken sollte. Damit war sein nächstes Meisterwerk aktiviert worden. Das war ja schon fast wie fünf Sonnenwendfeiern auf einmal, dachte der Maler höchst zufrieden.
"Vengor, willst du mich immer noch umbringen? Dann wirst du aber bald denselben Ärger haben wie alle anderen", dachte Pickman für sich. Dann bereitete er sich auf das Treffen mit dem selbsternannten Erben Voldemorts vor. Es fehlte nur noch eine Stunde bis zum von diesem ausgerufenen Ultimatum.
"Oh, der wehrt sich immer noch", freute sich die erste der drei. "Der hat wirklich viel Leben in sich. Ha, das kitzelt. Vielleicht kann ich schon in dieser Nacht alles von ihm in mich aufgehen lassen."
"Aber die werden keinen mehr schicken. Und bald sind wir wieder zum starren Rumstehen gezwungen", sagte die zweite der drei.
"Nicht, wenn der kleine Krieger da endlich hinnimmt, dass er jetzt nur noch mir gehört", sagte die erste. "Dann können wir zumindest die ganze Nacht lang ... Ah, er hat sich ergeben. Dann dauert es nicht mehr lange. Haltet aus, meine Schwestern. Vielleicht ist er nicht der einzige in der Menschenhöhle, in die die Sklaven des Meisters uns mit unserer Höhle getragen haben."
Um zehn Minuten nach Mitternacht erhielt der wachhabende Überwachungstechniker der Firma Simmons & Snyder Schutz und Sicherheit, kurz auch 4 S genannt, ein automatisches Alarmsignal aus Objekt 202. Er stellte fest, dass es das Museum für zeitgenössische Heimatkunst war. Die Nummer des Alarms sagte ihm, dass der Alarm wegen Ausfalls von Türsicherungen, Annäherungssensoren und Ausfall der Bildkameras im Umkreis von zwanzig Metern war. Dann war da noch eine Kennziffer, die er erst einmal nachschlagen musste. Sie stand dafür, dass der vom Nachtwächter mitzuführende Pieper ohne klare Ausschaltanmeldung ausgefallen war. Der Techniker griff zum Telefon und wählte das Museum an. Zehn mal ließ er es läuten. Dann drückte er die Verbindung wieder weg und wählte eine hauseigene Verbindung.
"Sir, hier McPears ÜvD, habe von Objekt 202 einen Alarm aufgenommen, der den Ausfall verschiedener Schutz- und Überwachungskomponenten und den Ausfall des Personenpiepers des diensthabenden Nachtwächters meldet. Habe versucht, den Nachtwächter telefonisch zu erreichen. Negativ. Vor Ort prüfen?"!
"Natürlich. Wenn der Wächter nicht mehr da ist muss wer ihn wer überfallen und handlungsunfähig gemacht haben. Schicken Sie Eingreiftrupp drei hin!"
"Verstanden, Mr. Simmons. Öhm, und wenn es ein technisches Problem ist? Die Anlage wurde zuletzt vor einem Jahr gewartet und hat noch nicht alle Fehlervermeidungs-Applikationen."
"Und wer macht dann Ihren Job, McPears?" fragte Mr. Simmons. McPears sah auf den an der Wand hängenden Einsatzplan. War zwar eine altmodische Sache, aber zwischendurch doch praktischer, als die entsprechende Personaldatenbank aufzumachen. Außer ihm war im Moment kein Spezialist für Überwachungstechnik und Steuerungssoftware hier. Perkins war in Urlaub, wollte mit seiner Familie Halloween in den Staaten feiern, als wenn die da besser feiern könnten als hier auf den britischen Inseln. Also musste er hierbleiben, für weitere Alarmmeldungen und mögliche Rückfragen, falls ein System aus dem Lot geriet. So sagte er, dass er den Eingreiftrupp drei rausschicken würde. Falls die einen Einbruch feststellten sollte die Polizei nachrücken.
McPears ärgerte sich ein wenig, nicht auch mal dorthin zu fahren, wo es gerade spannend war. Doch sein Job hieß auf die ganzen Rechner und das Netz von Überwachungsanlagen aufzupassen. Wenn er gewusst hätte, welches wortwörtliche Riesenglück er hatte, jetzt nicht zum Museum hinfahren zu dürfen, hätte er womöglich sogar verhalten gegrinst.
Eigentlich war es üblich, bei einem Alarm direkt die Polizei loszuschicken. Doch das galt nur für Alarme, die eindeutig auf versuchten Einbruch oder Notfallmeldung des am Objekt wohnenden oder arbeitenden Zutrittsberechtigten ausgelöst wurden. Deshalb war es erst einmal üblich, einen bewaffneten Sicherheitstrupp hinzuschicken, der klärte, ob ein Verbrechen oder nur ein technischer Fehler vorlag. Den Funk mit dem Einsatztrupp übernahm Tony Steward, der im Nebenraum der technischen Überwachung saß. McPears hatte sich inzwischen über die vier Zugangspasswörter auf den Steuerungsrechner im Museum aufgeschaltet und dessen Zustandsberichte abgerufen. Feuer war keins ausgebrochen. Allerdings waren die Peripheriegeräte im Untergeschoss ausgefallen, und eine Minute später auch der Pieper. Das Signal war einfach erloschen, ohne den im Pieper verbauten Schadensfallprozessor zu kitzeln, der selbst in einer Hundertstelsekunde noch weitermelden konnte, wenn wer das Gerät zu zerstören trachtete. Die Daten schickte er an Steward weiter, der sich schon eifrig mit seinen fünf Außeneinsatzkollegen unterhielt.
Eine Minute nachdem auf dem Bildschirm das Signal, dass die Truppe vor Ort war und den Freischaltungscode eingegeben hatte, rief Steward seinen IT-Kollegen über Sprechanlage an. "Okay, die Jungs gehen gleich in den Keller. Einbruchspuren gibt es keine. Aber Franklin bleibt zur Sicherheit im Flur, um die Pol anzurufen, wenn die was melden."
"Kann sein, dass die nicht durch die Türen kommen, weil die Schlösser ausgefallen sind."
"Dann werden die die Notfallkurbeln ansetzen. Wenn eine elektronische Türverriegelung ausfällt muss sie immer noch von den dafür zuständigen Fachkräften aufgemacht werden können. Noch ist mechanische Sicherung besser als rein elektronische, Jungchen", sagte Steward. Dann hörte er wohl auf den Funk und antwortete was, dass McPears nicht sofort verstand. Dann wurde er von Steward gebeten, die Hauptbeleuchtung in den Treppenhäusern einzuschalten. Das tat er. Eine Minute später rief Steward laut genug ins Mikrofon, dass auch McPears es verstand: "Elroy, Clyde, Donovan, Mike, bitte melden. 4 S HQ an 4 S 3. Alle melden!"
"Hier Pete Franklin für HQ. Bin gerade im Erdgeschoss. höre die anderen nicht mehr. Soll ich nachsehen?"
"Negativ, noch warten!" Eine Minute verging, da bekam McPears den Befehl, die Überwachung auf die Frequenzen und Identifikationspeilsignale der Funkgeräte aufzuschalten, um zu orten, wo die anderen waren. Doch außer Franklins Funkgerät konnte er keines der fünf Geräte anmessen.
"Gut, Ruf an die Pol geht von uns raus. Bleib wo du bist. Keine Standortänderung, bis Pol vor Ort ist!"
"Roger, HQ, bleibe im Foyer und warte auf Eintreffen Pol."
"Eddie, halte bloß sein Peilsignal im Auge. Nicht dass der uns auch noch verloren geht", sagte Steward. Dann wählte er von seiner Funkerkabine aus die Direktleitung zum Einbruchsdezernat von Carlisle. Die Sprechanlage wurde solange ausgeschaltet, dass McPears sich auf seine Arbeit konzentrieren konnte. Dabei fiel ihm auf, dass sich Franklins Funksignal bewegte. Die in den Wänden verbauten Funkempfänger konnten ihn auf zwei Meter genau anpeilen. McPears rief schnell bei Steward durch. Der funkte Franklin an. Doch der antwortete nicht. McPears konnte jedoch auf seinem Bildschirm ablesen, dass der Funkanruf bei ihm angekommen war. Das Gerät war also noch auf Empfang geschaltet. Doch Franklin meldete sich erst einmal nicht. Dann kam seine Antwort: "Hier, hört euch das mal an!" sagte er. McPears wandte sich der Sprechanlage zu und lauschte. Doch er hörte nichts.
"Wir kriegen hier nur leises Rauschen. Was sollen wir hören?" fragte Steward über Funk.
"Hier singt wer, im Keller. Da sind Frauen im Keller."
"Du bist nicht mehr an deinem Standort, Pete. Sofort zurückgehen, wo du warst! Das ist ein Befehl", bellte Steward ins Funkgerät.
"Sag mal, seid ihr taub. Die Weiber singen doch ganz laut und verdammt schön", erwiderte Pete Franklin, ohne auf die ihm erteilte Anweisung einzugehen.
"Pete, du sollst ins Foyer zurückgehen! Die Pol soll das klären, was mit den anderen passiert ist", blaffte Steward. McPears sah immer noch auf den mit "Pete Franklin" gekennzeichneten grünen Punkt, der aus dem Raster bereich des Erdgeschosses ins Treppenhaus wechselte und dann durch einen nach unten zeigenden Pfeil markiert einige Sekunden verharrte, bis das Signal unvermittelt abbrach. Auf dem Bildschirm erschien die Meldung: "Überwachtes Signal soeben erloschen". "Was du nicht sagst", knurrte McPears seinen Rechner an und gab die neue Wendung sofort weiter. Steward rief noch dreimal nach Franklin. Doch der meldete sich nicht mehr.
"Öhm, was geht da vor?" fragte Steward.
"Funksignal total weg. Halt mal, jetzt kriege ich noch Ausfallsmeldungen für die Bereiche im Erdgeschoss. Irgendwas legt alle Systeme lahm. Jetzt geht auch der Feueralarm los, weil der Ausfall der Treppenhausrauchmelder mit Ausfall durch Brandschaden gleichgesetzt wird. Die ganze Überwachung springt gerade mit 200 Sachen aus dem Gleis, Tony."
"Ist die noch auf Diagnose? Ich dachte, die Jungs haben sie freigeschaltet."
"Das hieß nur, dass sie sich ihren Zutritt freigeschaltet haben. Aber seitdem die Störung aufgetreten ist hängt die Überwachung im Dauerdiagnosemodus, und ich weiß nicht, ob ich den ausschalten soll. Öhm, erübrigt sich gerade", knurrte McPears. Denn in diesem Moment bekam er die Anzeige "Verbindung zu Objekt 202 unterbrochen. Neu versuchen, Störung Melden oder Abbrechen?" McPears versuchte es dreimal. Doch die Verbindung kam nicht mehr zu Stande. Was auch immer im Museum war hatte die komplette Überwachungsanlage ausgeknipst. Er konnte zumindest an der mitgeschriebenen Logbuchdatei lesen, dass kurz vor Verbindungsabbruch noch das Vollalarmsignal an die Polizei rausgeschickt wurde, weil eine der Programmkomponenten den rasanten Ausfall von Überwachungssensoren als gezielten Anschlag auf die Sicherheitstechnik eingestuft hatte. Da die Polizei schon informiert war tat dies jetzt auch nichts mehr zur Sache, fand McPears.
Als er nur eine Minute Später einen Anruf erhielt, dass jetzt auch das automatische Alarmsignal eingetroffen war sagte er dem Polizeibeamten, der es entgegengenommen hatte, dass der Voraustrupp noch im Haus sei. Allerdings hätten sie den Kontakt zu den Leuten verloren.
"Hätten uns gerne zehn Minuten vorher anrufen können. Egal, was Sie mit dem Museum vereinbart haben. Wenn eine Alarmanlage losgeht sollten erst wir und/oder die Feuerwehr da anrücken", meinte der Polizeibeamte noch, McPears belehren zu müssen. Dieser blieb jedoch ruhig und antwortete, dass der Vorgesetzte des Beamten das gerne mit McPears' Boss ausdiskutieren durfte, am besten noch zusammen mit Mr. McMillan, dem Direktor des Museums für zeitgenössische Heimatkunst. Das wirkte. Der Beamte verabschiedete sich knurrig und legte auf.
Zwanzig Minuten vergingen, ohne dass eine Nachricht eintraf. Dann rief Mr. Simmons persönlich bei McPears an und ersuchte ihn, alle Aufzeichnungen über den Vorfall bei Objekt 202 für die spätere Auswertung zu speichern und auszudrucken. McPears fragte, ob die Polizei bei ihm angerufen habe. "Das klären wir in einer halben Stunde, wenn Commissioner Gordon bei uns ist. Immerhin hat er uns nicht zu sich zitiert", sagte Simmons.
Franklin hatte mehrfach versucht, seine Kollegen anzufunken. Doch die antworteten nicht. Dann hatte er ein feenhaftes Singen gehört, drei Frauenstimmen, die glasklar und gut zu verstehen von unten zu hören waren. Er hatte versucht, diesen Gesang seinen Leuten vorzuspielen und war deshalb in Richtung Keller gegangen. Doch die hörten nicht. Dieser Sesselpupser Steward hatte ihm echt befohlen, im Foyer zu bleiben. Doch verdammt noch mal! Seine Kollegen waren da unten und sicher in irgendwelchen Schwierigkeiten. Dann hatten diese Zauberfrauenstimmen ihn regelrecht heißgemacht, ihm versprochen, sich an ihnen zu wärmen und seine Sorgen zu vergessen. Irgendwas hatte seine anerzogene Disziplin weggeputzt. Er stiefelte in den Keller hinunter, immer dem Gesang nach. Die Türen waren schön weit offen. Gut so. Dann war er in den großen Kellerraum gegangen, an dessen Wänden Bilder und Wandtteppiche hingen, die gnadenlose Metzelszenen zeigten. Wer da nicht hart im Nehmen war konnte von sowas glatt Albträume kriegen, dachte Franklin noch. Dann sah er die drei tanzenden Frauen auf einer üppigen Wiese. Sie winkten ihm zu. Dann sah er noch, dass auf der Wiese verstreut Kleidungsstücke und Stiefel lagen. "Nimm dein Fernrufsprechgerät heraus und leg es hin. Dann komm zu uns hin!" sangen die drei. Dieser Befehl wirkte zehnmal stärker als die über Funk erteilte Anweisung, im Foyer zu bleiben. Denn zum einen lockten die drei Schönheiten, deren Bäuche leicht gerundet aussahen. Zum anderen hatte die Macht ihrer Stimmen ihn bereits gebannt. Doch das wusste er nicht. Er zog das Funkgerät aus seiner Tasche. Wieso war das so warm, als hätte es in einem aufgeheitzten Auto gelegen? Er legte es weg. Dann ging er weiter. Er sah über der ihn einladenden Szenerie eine blutrot leuchtende Schrift: "Polyphems und Peisinoes Drillingstöchter" Dann betrat er durch einen leicht kribbelnden Vorhang aus warmer Luft die Wiese und steuerte die ihm nächststehende Schönheit an. "Lass dir aus deiner viel zu unbequemen Kleidung helfen, mein heißblütiger Krieger!" hörte er sie sagen. Er gehorchte. Erst als sich die Frauen und die Umgebung zu verwandeln begannen erkannte er, dass er in eine tödliche Falle geraten war. Da sie ihm auch seine Waffe weggenommen hatte konnte er sich nicht einmal gescheit wehren. Dann widerfuhr ihm dasselbe Schicksal wie vorhin Ian McDowell und seinen Kollegen. Die zweite der Schwestern hatte nun ihr drittes Opfer. Damit konnten sie endlich zumindest länger als nur bei Nacht lebendig bleiben. Nun musste nur noch die Dritte der Schwestern ihre drei Opfer haben, damit sie alle drei aus der sie umgebenden Höhle durch die Barriere dringen konnten, die aus gutem Grund zwei Welten von einander trennte.
Da durch die Erstarkung der zwei Schwestern jene unsichtbare Macht, die die Türverschlüsse und Überwachungssensoren störte, auf den achtfachen Rauminhalt einwirkte, gerieten weitere Systeme durcheinander. Das führte dazu, dass der aus gutem Grund nicht zu komplizierte Brandlöschmechanismus ausgelöst wurde. Lautes Hupen auf allen Etagen warnte vor der schlagartigen Freisetzung eiskalten Kohlendioxyds. Denn zum Schutz der wertvollen Ausstellungsstücke wurde auf Löschwasser und aggressives Halon als Löschmittel verzichtet.
Als dann ein Einsatztrupp der Polizei mit drei Wagen vor Ort ankam hörten die Beamten schon die warnenden Hupsignale. Der Einsatzgruppenführer fragte in der Zentrale nach, was zu tun sei. "Auf die Feuerwehr warten! Im Haus ist eine CO2-Löschanlage verbaut", antwortete der Kollege in der Zentrale. Der Einsatzgruppenleiter bestätigte das.
Die drei Schwestern hörten den für sie nun bekannten Lärm. Denn mit den Seelen des Nachtwächters und der Mitarbeiter von 4 S hatten sie auch deren Wissen übernommen. Sie wussten auch, dass ihre Kraft die Vorrichtung ausgelöst hatte, die ein für Menschen und Flammen tödliches Gas in das Haus hineinblies. So blieb den beiden, die sich schon frei bewegen konnten, bei ihrer immer noch an diesen Ort gebundenen Schwester zu bleiben. Da erklang des Meisters Befehl: "Erstarrt und wartet den Ruf der Erweckung ab! Erstarrt und wartet den Ruf der Erweckung ab!" Die dritte der Schwestern befolgte diesen Befehl unverzüglich. Denn sie hatte noch keine drei Opfer gefunden. Die beiden anderen widerstanden dem Befehl jedoch nur zehn Sekunden lang. Dann verfielen auch sie in die völlige Unbeweglichkeit und mit ihnen alles, was mit ihnen in der Höhle war. Erst wenn der Meister sie von sich aus weckte, konnten sie nach neuen Opfern suchen. Damit rettete ihr ferner Meister den Polizeibeamten und den Mitarbeitern der nächsten Feuerwachen das Leben. Doch die Zeit würde wiederkommen, wo die drei, die zwischen schönen Menschenfrauen und unheilvollen Riesinnen wechseln konnten auch der dritten Schwester drei lebendige Opfer zuführen würden, um auf des Meisters Befehl hin hinauszugehen und Angst, Tod und Unordnung unter den schwächlichen Menschen zu verbreiten.
Die Feuerwehrmänner drangen mit schwerem Atemschutzgerät in das Museum ein und fanden die CO2-Tanks restlos leergeblasen vor. Es dauerte, bis das freigesetzte Löschgas abgesaugt war und frische Luft in alle Räume geblasen werden konnte. Unter dem Schutz der Feuerwehrleute betraten nun die Polizisten das Gebäude. Doch alles, was sie nach anderthalb Stunden sorgfältiger Suche und Spurensicherung finden konnten war, dass der Nachtwächter und die Leute von der Sicherheitsfirma in den Keller gestiegen waren und dort scheinbar spurlos verschwanden. Einer der Feuerwehrmänner scherzte beim Anblick der blutrünstigen Kunst an den Wänden und den ganzen deutlichen Malereien und Standbildern: "Am Ende ist noch einer von den Dämonen aus seinem Bild gestiegen und hat die Leute allesamt zu sich geholt. Nachher sind das keine Bilder, sondern Einstiegstore in die Hölle!"
"Wann haben Sie den letzten Horrorfilm gesehen?" blaffte der Führer des eingesetzten Feuerwehrzuges. Doch als er die drei Zyklopenschwestern in ihrer Höhle voller Knochen und verstümmelter Körper sah konnte er zumindest nachvollziehen, wieso sein Untergebener sowas daherreden mochte. Ja, und er meinte auch, eine Belauerung in den Augen der drei Menschenfresserinnen zu sehen. So sahen Katzen aus, die vor einem Mauseloch saßen, dachte der Zugführer. Dann machte er sich mit dem Einsatzgruppenleiter der Polizei daran, die Schäden zu protokollieren. Zumindest hatte dank der wohl gerade so noch ausgelösten Löschanlage kein Feuer gebrannt. Was die Elektronik derartig aus dem Tritt gebracht hatte und vor allem, wohin die sechs Leute verschwunden waren, blieb jedoch ein Rätsel. Da bei den Polizisten und Feuerwehrleuten niemand war, der oder die Verbindung mit bestimmten, längst nicht jedem bekannten Institutionen hatte, wurde das Verschwinden der Sechs Leute und der massive Ausfall des Alarmsystems als reiner technisch-menschlicher Vorgang bearbeitet. Anders hätte es wohl ausgesehen, wenn ein bestimmter Maler seinen magisch belebten Kreaturen nicht befohlen hätte, unbeweglich zu bleiben.
Aldo Burton hatte eine heimliche Leidenschaft: Radikale erotische Kunst. Er sammelte alles, was Museen als zu anstößig abwiesen oder nur in abgeschlossenen Räumen aufbewahrten. Vor allem mochte er die Darstellung sexueller Ausschweifungen ohne Begrenzung, wenn dabei Personen der Zeit indirekt oder ganz offen beleidigt wurden, die zur Zeit des Malers lebten. Um nicht jedem auf die Nase zu binden, was er so hatte hielt er seine umstrittenen Kostbarkeiten hinter drei feuerfesten Türen versperrt, die nur durch Netzhautabtastung zu entriegeln waren. Ab und an lud er mal Freunde ein, um mit seinen Erwerbungen anzugeben. Frauen ließ er hier unten nicht hin. Die hätten ihn glatt als Perversen und wohl auch Psychopathen abgetan. Wenn er selbst mit einer Frau intim werden wollte pflegte er eher höfliche und einfühlsame Umgangsformen.
An diesem Abend wollte Aldo Burton sich einmal mehr mit seiner neuesten Errungenschaft befassen. Vielleicht kam er dahinter, was diesen Fred Morgan dazu veranlasst hatte, das Bild "Alontrixhila, die zehnte Tochter, Herrin der Blühenden Leidenschaften" zu malen. Der hatte doch sicher zwei Jahre an diesem gigantomanischen Bild gesessen.
Nachdem er mal mit dem linken, mal mit dem Rechten Auge den Netzhautabtaster überstanden hatte, wobei auch die Augentemperatur gemessen und die Durchblutung überprüft wurde, stand er in seinem geheimen, einem alten Banktresor entsprechenden Keller. Statuen und Statuetten von Männern und Frauen in allen erdenklichen Arten des Liebesspiels reihten sich scheinbar brav an den Wänden. In einem für große Bilder reservierten Raum hing ein Bild so groß wie eine Kinoleinwand. Sicher hatte der Maler genau sowas benutzt. Allein der Rahmen hatte mehrere hundert Kilogramm gewogen und war von zehn mit viel Geld entlohnten Handwerkern zusammengebaut und mit der Leinwand bespannt worden. Zusätzlich hatte er das Bild hinter einer UV-Licht schluckenden, entspiegelten Folie vor zerstörerischen Einflüssen abgeschirmt.
Das Bild zeigte eine völlig nackte, dunkelbraunhäutige Frau mit ebenholzschwarzem Haar und blattgrünen Augen, die mit leicht nach vorn geschobenem Becken auf einer Wiese stand, auf der alle möglichen Blumen wuchsen. Das was dieses Bild so zum Produkt einer ausschweifenden Phantasie machte war, dass die makellos schöne Frau fünf Meter groß war und die sie umstehenden Blumen so groß wie erwachsene oder jugendliche Menschen waren. Außerdem hatten die Blumen in ihren Blütenkelchen menschliche Gesichter, die in erzwungener Unterwürfigkeit zu der nackten Riesenfrau hinaufschauten. Ihr rechter Arm war in einer einladenden Geste erstarrt, und ihre vollen Lippen umspielte ein vorfreudiges Lächeln.
Aldo hatte sich von Fred Morgan, dem Maler dieses grottesken Aktes, erzählen lassen, dass es sich um eine Buhldämonin, einen Succubus, handelte, der Macht über Menschenund Pflanzen hatte und deshalb baumhoch oder Gänseblümchenklein sein konnte. Succubi und Incubi hatte er natürlich viele in seiner heimlichen Schatzkammer, vor allem solche, die sich wie Vampire an bestimmten Körperstellen ihrer Opfer labten oder diese dazu zwangen, an ihnen zu saugen. Deshalb hätte er fast auch ein anderes Bild Morgans gekauft, doch da hatte sein Konkurrent Will Bradfield mehr geboten als er. Angeblich sollte es einen Zauberspruch auf dem Bild geben, mit dem diese Kreatur da aufgeweckt werden konnte, um dem Erwecker seine größten Begierden zu stillen, dann aber zum Preis, dass er diesem Wesen auf Lebenszeit hörig sein musste. Aldo glaubte nicht an schwarze Magie oder Voodoo, sonst hätte er sich sicher schon längst von den ganzen Dämonen getrennt und reumütig um Vergebung seiner Sünden gebetet. Aber diesen Zauberspruch wollte er jetzt suchen.
Schon heftig, dachte er, als er keinen halben Meter von dem Bild entfernt stand. Sich vorzustellen, dass die gemalte Dame wirklich lebendig war erschauerte ihn, regte ihn aber auch irgendwie an. Ungleiche Größenverhältnisse hatte er auch bei anderen Bildern gesehen, wie das Bild "Gulliver und die erste Hofdame der Königin von Brobdingnag", das natürlich auch in seinem Besitz war und mit dem Bild hier gut mithalten konnte. Was ihn an dieser Malerei faszinierte war die totale Detailgenauigkeit. Nichts hatte der Maler einfach so hingepinselt. Auch waren da diese Blumen, die ausschließlich männliche Gesichtszüge hatten. Warum hatte der Maler die nicht als willenlose Menschen gemalt, die ihrer dämonischen Herrin zu Füßen lagen oder ihr sonst was gutes taten?"
Aldo hätte die violette Schleife fast übersehen, die eine der Menschenblumen unter dem Blütenkelch trug. Er konnte einen in kleiner Handschrift geschriebenen Text darauf erkennen. Schnell nahm er seine Lupe und trat noch näher an das Bild heran. Jetzt konnte er erkennen, dass der Text in Versform geschrieben stand. Zumindest war es Englisch, nicht Arabisch, Hebräisch oder lateinisch, wie er es von einer Zauberformel eigentlich erwartet hätte. Mit einem breiten Grinsen auf den Lippen las er den Text einmal so ab. Dann kam ihm der verwegene Einfall, den tatsächlich wie eine Zauberformel laut zu deklamieren.
"Sie wart empfangen im machtvollen Schoß,
durch ihrer Mutter Willen Vaterlos.
Geboren im Frühling, den Pflanzen geweiht,
so spendet sie jedem Freud' oder Leid.
Und wer auch immer sie begehrt,
sie niemals ihm die Gunst verwehrt.
Doch muss er Leib und Seele geben,
will er all ihre Kunst erleben.
Deshalb ist jedem hier gesagt,
der sie zu wecken sucht und wagt,
willst du die zehnte Tochter frei'n,
wirst ewig du der ihre sein.
So bleib ein tugendhafter Mann
und rühre dieses Weib nicht an!
Doch solltest du der Warnung höhnen,
der wilden Lust und Freude fröhnen,
so sprich nur aus die klaren Worte,
bist du mit ihr am selben Orte!
"O Herrin über Mensch und Bäume,
erfülle meines Herzens träume!
Erhör mein Flehen, lass mich ein!
Ich bin für immer dein allein."
Die entscheidende Anrufung hatte er mit der für solch einen Zauberspruch nötigen Inbrunst gerufen und grinste, als zehn Sekunden lang nichts passierte. Natürlich würde nichts passieren, weil dieses Gemälde da eben nur ...
Unvermittelt zuckten die auf der Wiese stehenden Menschenblumen zusammen. Die Gesichter in den Blütenkelchen ruckten zu ihm hin und starrten ihn teils mitleids- und teils vorwurfsvoll an. Einige der Menschenblumen rissen ihre Münder auf und schrien. Ja, er hörte sie wahrhaftig durch die Schutzfolie hindurch schreien. Dann blähte sich die Folie auf wie eine Plastiktüte, in die jemand hineinbläst. Sie bekam Risse und platzte mit lautem Knall ab. Schlagartig wurde Aldo Burton von einem sommerheißen Windstoß getroffen, der wie eine Hundertschaft auf volle Kraft gestellter Haartrockner wirkte. Gleichzeitig bewegte sich die riesenhafte Frauengestalt auf dem Bild und vollendete die einladende Geste, die bisher nur angedeutet war. Die auf der Wiese stehenden Blumen schrien noch lauter auf. Doch mit einer Handbewegung der Linken ließ die soeben zum Leben erwachte die Schreier verstummen und erstarren. Aldo stand ebenfalls starr da. Damit hatte er jetzt absolut nicht gerechnet. Dann sah er nach oben, in die nun aus sich heraus leuchtenden Augen der unheimlich schönen, unirdischen Erscheinung. Der überheiße Windstoß flaute ab. Und die völlig unbekleidete sprach mit Stimme und Lautstärke einer mittelgroßen Glocke:
"Oh! Ist es wahrhaft geschehen, dass ein Mann meine Dienste erbittet? Lass dich ansehen! Na schön, der jüngste bist du nicht mehr. Aber ich werde dein Flehen erhören, wenn du mir deinen Teil des Paktes zollst. Komm zu mir!"
"Das gibt's nicht. Das kann's doch nicht echt geben. Ich träum das gerade nur", dachte Burton. Doch die von ihm erweckte blickte ihn unmissverständlich auffordernd von oben her an. Dann lächelte sie. "Natürlich, du fühlst dich zu klein, um mich um meine Gunst bitten zu dürfen", lachte sie. Dann schrumpfte sie innerhalb einer Sekunde zusammen. Mit ihr schrumpften auch die bisher menschengroßen Blumen. Jetzt stand eine gerade mal einen Meter sechzig große Frau auf der gemalten Wiese. Doch der Blick ihrer Augen war noch stärker geworden. Aldo fühlte, wie es ihm heiß und kalt wurde. Er dachte jetzt eher an einen leidenschaftlichen Traum als an eine wahrhaftige Bedrohung. Im Traum ging doch alles. Konnte er dann nicht auch zu dieser naturbelassenen Dame ins Bild eintreten? War das dann überhaupt ein Bild oder nicht eher eine kleine Welt für sich?
"Na komm schon zu mir! Sonst wirst du dein restliches Leben lang in Furcht und Verzweiflung leben. Gib dich mir hin und lass dich von mir annehmen! Dann wirst du mein immer glücklicher Getreuer sein."
"Dann mal sehen", dachte Aldo und sah die andere herausfordernd an. Doch diese sah ihn so an, dass er meinte, dass sie die einzige noch lebende Frau auf der Welt sei, die ihn und nur ihn wollte. Dann wollte er der Dame mal zeigen, was ihm so alles einfiel. Er ging nach vorne, auf das Bild zu. Dabei fühlte er einen gewissen Sog, als müsse die aus dem Bild verströmte Luft wieder dorthin zurück. Er hob den rechten Fuß an und stieß ihn vor. Tatsächlich durchdrang er die unsichtbare Grenze zwischen der scheinbar nur gemalten Wiese und seinem geheimen Hobbykeller. Da er gerade dachte, nur zu träumen empfand er nichts dabei. Außerdem stieg in ihm die Begierde, dieses Frauenzimmer da zu nehmen und ...
"Lege deine Kleidung ab. Wer mit mir eins sein will darf nichts unnatürliches am Leibe tragen", wisperte die Schöne, die gerade normalgroß war. Er gehorchte ohne zu zögern. Jetzt stand er vor der von ihm erweckten, die mit einer weiteren Geste auf sich deutete und eine leichte Wende machte. Das regte ihn noch mehr an. Er lief schon eher als zu gehen hinter ihr her, bis sie auf der Mitte der Wiese angekommen waren. Dann hörte er die andere sagen: "So werde ich deinen Wunsch erfüllen und dich einlassen, damit du ganz der meine werden kannst, bis zum Ende deines Lebens. Mit diesen Worten begann sie zu wachsen, sich vor ihn zu stellen und dann, als sie mehr als zwanzig Meter groß war, nach ihm zu greifen. Er fühlte einen Moment Angst vor der Riesenfrau, doch dann überkam ihn eine große Vorfreude. Er dachte an das Gemälde von Gulliver und der riesigen Hofdame. Sowas würde nun ihm passieren, und er würde es wohl als aufregendstes Erlebnis empfinden, falls er das überlebte oder nicht im nächsten Moment aus diesem herrlich verruchten Traum aufwachte.
Dann geschah, was er gerufen und sie gewährt hatte, Kopfüber wurde er mit der zur baumhohen Gigantin gewachsenen vereint, fühlte ihre Wärme und hörte wahrhaftig ein laut schlagendes Herz.Es war jetzt gerade drei Minuten nach acht Uhr abends. In Europa war es schon 02.03 Uhr, auf den britischen Inseln, in Portugal und auf den Kanaren war es 01:03 Uhr.
Im alten U-Bahn-Schacht unter New York krachte es laut, und mit einem glühenden Stein in der linken und einem Zauberstab in der Rechten, von bläulichem Licht um seinem Kopf wie von einer höllischen Verfremdung eines Heiligenscheins erleuchtet, stand er da, ein großer Mann im langen Umhang. Im Licht der bläulichen Aureole war sein schlangenartiges Gesicht zu sehen. Seine roten Augen glommen in der Dunkelheit. "Ich seh dich, Pickman. Deine Lebensaura und deine Atemwärme sind für meine Augen klar zu erkennen. Du hast eine Minute, mir dein Fernbleiben zu begründen. Gefällt mir deine Begründung nicht, stirbst du!" stieß der unheimliche Besucher aus. Aus der Dunkelheit heraus erklang eine ruhige Antwort:
"Genau deshalb habe ich Euch hier erwartet, um Euch zu zeigen, was ich geschaffen habe. Imagines initiate vivere!" Unvermittelt tönte ein Knurren, Schnauben und Schnarren von den Wänden her. Vengor fühlte eine starke schwarzmagische Kraft, die sich im Raum ausbreitete. Dann sah er, wie aus den an den Wänden hängenden Bildern die unheimlichen Mischwesen heraustraten, als seien es lebende Wesen. Vengor lachte laut auf. "Das hat der alte Hirudazo schon gekonnt, gemalte Wesen für gewisse Zeit aus ihren Bildern herauszulösen. Du hast fleißig geübt, kleiner Pinselschwinger. Soll mich das jetzt überzeugen, dein lächerliches Leben zu schonen?"
"Ihr wisst, dass ich meine Schöpfungen wie Wesen aus Fleisch und Blut auftreten lassen kann. Ich will euch nur zeigen, wie stark sie sind und dass ihr wisst, welchen Wert diese Geschöpfe haben, wo natürliche Wesen zu sehr gefährdet sind. Agite!" rief Pickman. Vengor dachte erst, der andere habe den Angriff auf ihn befohlen. Doch die abstoßend aussehenden Mischwesen stürzten sich nicht auf ihn, sondern auf die angerosteten U-Bahn-schienen. Sie rissen sie mit Leichtigkeit aus dem Boden und zerbrachen sie laut krachend in einzelne Stücke. Vengor wirkte auf sich ungesagt den Illusionsdurchdringungszauber. Doch die Kreaturen verschwanden nicht. Sie sahen vielmehr wie lebende Wesen aus und strahlten sogar Körperwärme aus. Dann warf ein Ungeheuer, dass wie ein besonders dicker Mann mit vier Armen und einem Eidechsenkopf zwischen den Schultern aussah ein abgebrochenes Stück U-Bahn-Gleis nach Vengor. Der hörte es neben sich auf den Boden scheppern. Dann befahl Pickman seinen Kreaturen, in ihre Bilder zurückzukehren.
"Du hast jetzt noch zwanzig Sekunden, um dich mir zu unterwerfen", knurrte Vengor, den diese Vorführung offenbar nicht sonderlich beeindruckt hatte.
"Gut, ich biete Euch meine Dienste an, Lord Vengor. Lasst uns gemeinsam mit eurer Macht und meiner schöpferischen Kunst die Vergeltung für den Tod des dunklen Lords vollziehen!"
"Ich sagte dir, du sollst dich mir unterwerfen. Leg deinen Zauberstab hin und knie vor mir nieder! Küsse meine Füße!"
"Nein danke, mein Lord, ich habe heute schon gegessen", sagte Pickmans Stimme aus dem dunkeln.
"Dann werde ich dich töten müssen, kleiner Pinselschwinger."
"Hoc eest Inimicus!" rief Pickmans Stimme. Sofort schnellten die Bilderwesen wieder aus ihren Gemälden hervor und stürzten sich diesmal auf Vengor. Zwei sechsarmige Bestien mit Köpfen wie von vorzeitlichen Säbelzahntigern erreichten ihn und prallten laut aufschreiend von ihm ab. Im Flug zersprühten sie in einer Wolke violetter Funken. Weitere Kreaturen bedrängten Vengor und erlitten dasselbe Schicksal. Eine der Kreaturen nahm ein Stück ausgerissener Schiene und schleuderte es dem Feind entgegen, laut klirrend prallte das scharfkantige Stück Stahl von seinem Kopf ab. Vengor lachte laut und unverhohlen überlegen. Er machte nicht mal Anstalten, die Angriffe mit seinem Zauberstab abzuwehren. Jede Kreatur, die ihn berührte wurde zurückgeschleudert und im Flug zerrissen. Jedes Stück Stahl oder ein Steinbrocken prallten vom Körper des Feindes ab, als bestehe dieser aus Granit oder einem noch härteren Stoff. Als dann noch eine langhalsige Frauengestalt mit vier fingerlangen Eckzähnen versuchte, seinen Hals mit ihrem zu umwickeln zerplatzte sie nach einem letzten schrillen Schrei. "Nur noch kleine, qualmende Farbflecken am Boden, kleiner Pinselschwinger. Vergiss es, zu disapparieren. ich habe bei meiner Ankunft einen ungesagten Locattractus-Zauber gewirkt, der dich hierhält. Nur ich kann damit fliehen."
"Du bist wohl mächtig, aber dein Diener werde ich nicht!" rief Pickmans Stimme.
"Dann stirb! Avada Kedavra!" rief Vengor wütend aus und stieß seinen Zauberstab in die Dunkelheit. Ein gleißender, weißgrüner Lichtfächer jagte laut heulend aus dem Zauberstab durch den U-Bahn-Schacht. In dem kurzen Augenblick, in dem das mörderische Licht aufglühte wurde die Gestalt eines Mannes im bunten Anzug mit Krawatte sichtbar. Dann hatte der Todesfluch ihn auch schon erreicht und traf mit gnadenloser Wucht auf. Pickmans Körper flog zurück und barst dabei in einer grünen Feuerwolke auseinander. Das minderte den Todesfluch nicht ab. Seine verbleibende Wucht traf die nachträglich hochgezogene Mauer. Diese zerbarst mit ohrenbetäubendem Knall in einer Wolke rotglühender Steinbrocken und glimmendem Staub.
Vengor starrte auf die Stelle, wo er meinte, Pickmans Körper getroffen zu haben. Die grünen Flammen fielen gerade in sich zusammen. Sie hinterließen eine glühende, zu Boden schwebende Staubwolke. Und jetzt konnte Vengor auch das Loch im Boden sehen. Es schien ein Stein zu fehlen. Da erkannte er, was der kleine Pinselschwinger getan hatte. Er hatte mit einem Stein und wohl etwas von seinem Blut einen zeitweiligen Doppelkörper von sich erschaffen, der in seinem Namen gehandelt hatte und sogar eine klar erkennbare Körperausstrahlung aufgewiesen hatte. Dass dieser beim Kontakt mit dem Todesfluch zu einer Flammenwolke wurde lag daran, dass die in dieser Abbildung konzentrierte Magie mit einem Schlag freigesetzt worden war. Vengor stampfte mit dem Fuß auf. Pickman hatte ihn hereingelegt. Ihm den Tod anzudrohen war wohl das dümmste, was Vengor ihm hatte ankündigen können. Er hätte zum Schein auf seinen Vorschlag eingehen sollen, dachte der selbsternannte Erbe Voldemorts.
Mit wild funkelnden Augen sah er sich um. Irgendwo musste Pickman etwas verstaut haben, um den Ausgang seiner Täuschung zu verfolgen. Alle Bilder an der Wand waren verkohlt. Die um Vengor wirkende Aura des Unlichtkristalls hatte die mit dunkler Zauberkraft erschaffenen Kreaturen mit der fünffachen Wucht ihrer Entstehungskraft zurückgeworfen und damit ihre stofflichen Anker in der Welt mitzerstört. Dann fiel ihm auf, dass ein Bild nicht zerstört war. Es hing weit weg von den anderen und hatte nur einen schwarzen Rahmen. Auch die Leinwand war pechschwarz. Aber das war kein Ruß, und die Leinwand war völlig unversehrt. Vengor ging vorsichtig auf das Bild zu. Wenn das mit dunkler Magie angereichert war würde er es körperlich spüren, weil seine Unlichtkristallaura dagegen wirken würde. Als er nur noch fünf Meter entfernt war veränderte sich das Bild. Urplötzlich tauchte aus der Schwärze ein mit roten Lippen breit grinsendes weißes Gesicht mit einer übergroßen roten Nase auf. Dann lachte eine helle Stimme aus dem Bilderrahmen heraus.
"Netter Versuch, Vengor. Aber mein Meister hat damit gerechnet, dass du ihn totmachen willst. Wie du bestimmt jetzt weißt hat er sich ganz erfolgreich dagegen gewehrt. Er wollte dein Freund und dein Partner sein, nicht dein stumpfsinniger Sklave. Sowas findet einer wie du doch in jeder Zaubererspilunke von hier bis Sydney. Du woltest nicht sein Freund sein. Aber er bietet dir trotzdem an, dir zu helfen, nicht als Partner, nicht als niederer Diener, sondern weil er das gut findet, was du tust. Deshalb schenkt er dir das Bild hier. Wenn du es ansiehst und sagst, dass du einen Auftrag für meinen Meister hast, sagt mein Abbild ihm das. Öhm, vergiss das, den noch mal zu finden oder über mich rauszukriegen, wo mein anderes Ich abhängt. Das klappt nicht. Mein Meister hat nämlich rausgekriegt, wie er seine Körperaura auf tote Dinge übertragen kann und die sofort zu zeitweiligen Ebenbildern von ihm werden, wenn ein Suchzauber sie trifft, der auf seinen Namen abzielt. Der hat hunderte davon gemacht, nicht wegen dir, sondern wegen so'ner Gruppe namens Vita Magica. Hast du sicher auch schon mal von gehört. Sehr schlaue Leute, die viele viele Zaubererweltkinder haben wollen, auch von ihm, vielleicht auch von dir. Deshalb solltest du vielleicht zusehen, auch viele Ablenksteinchen zu bauen, falls du weißt, wie das geht. Falls nicht, tja, die Chance hast du wohl vermasselt, weil du meinen Meister totmachen wolltest. Also noch mal für alle Langsam-Schreibe-Federn: Ich bin deine Verbindung zu meinem Meister. Willst du was von ihm, sag's mir! Willst du ihn nur umbringen, vergiss es! Ansonsten noch einen schönen Tag!" Mit diesen Worten verschwand die überlegen grinsende Maske wieder in tiefster Schwärze.
Vengor überlegte. Den ersten Drang, das Bild zu zerfluchen, kämpfte er nieder. Auch wenn ihn dieser Pickman nach Strich und Faden veralbert hatte, wofür er sicher irgendwann doch noch als Leiche vor seinen Füßen landen würde, war die Aussicht, ihn zumindest für weitere Ablenkungsmanöver einzuspannen sicher sehr verlockend. Ja, für sowas war der ganze Bildzauber, den der hier veranstaltet hatte höchst brauchbar. So nahm er das schwarze Bild von seinem Haken und verschwand mit leisem Knall im Nichts.
In seiner Festung hängte er das Bild in einen dunklen Schrank, die bemalte Fläche zur Wand hin. Denn er wusste zu gut, dass Bilder mit Gegenstücken gerne als Verbindungs- und vor allem Kundschafterartefakte benutzt wurden. Dann zog er sich in sein Schlafzimmer zurück. Auch wenn der in ihm wirkende Unlichtkristall seine Ausdauer steigerte musste er doch gerade nach viel Zauberei seinen Geist ausruhen lassen. Morgen musste er erst einmal wieder auf Hühnerjagd gehen und frisches Obst pflücken. Denn mehr als eine Nacht altes Essen konnte er nicht mehr zu sich nehmen. Das war der Tribut der Macht, die der Unlichtkristall ihm verlieh. Außerdem brauchte er seine ganze Aufmerksamkeit für einen weiteren möglichen Diener, den er gewinnen wollte.
"Sei mir verbunden in allen Stunden.
Sei mir verschworen oder verloren!"
Diese Zeilen hörte Aldo dumpf von allen Seiten und in seinem Kopf. Er fühlte sich geborgen und sorgenfrei. Hier konnte ihm niemand mehr etwas tun. Dann fühlte er, wie er wieder ausgestoßen wurde, wie ein hilfloses Kind, das den warmen Mutterleib verlassen muss. Er wollte sich festhalten, nicht von hier weg. Doch etwas bekam ihn um beide Füße zu fassen und zog ihn behutsam frei. Dann fühlte er die Kälte am Körper. Er wurde wieder auf die Füße gestellt. Über sich sah er die baumgroße Herrin, seine größte Gebieterin. Doch diese wurde wieder kleiner, bis sie etwas kleiner als er selbst war. "Und nun gib mir auch deine Lust, nachdem du mir deinen Leib gegeben hast!" Befahl sie.
Eine ungewisse Zeit später war er so erschöpft, dass er nichts mehr tun konnte. "Dann komm zum Schlaf zu mir!" sagte sie und wurde erneut zur baumhohen Riesin. Ja, er genoss es, bei ihr zu sein und verfiel in einen tiefen Schlaf.
Als er wieder aufwachte lag er vor dem Bild auf den Boden, seine Kleidung wieder am Leib. Also hatte er doch geträumt. Doch da hörte er in sich die Stimme der unirdischen Geliebten: "Ich habe dich zu mir genommen und dich geborgen. Jetzt hhabe ich dich wieder freigegeben. Doch du sollst mir weitere Getreue beschaffen, damit ich wieder frei und mächtig handeln kann. An dem Festtag, den ihr sterblichen Halloween nennt, sollst du mindestens neun Dutzend Männer zu mir bringen und sie dazu bringen, mir die Gefolgschaft zu schwören. Versagst du, so wird deine Seele in das Samenkorn gebannt sein, dass aus unserer leidenschaftlichen Begegnung entstand und dass ich mit dir zusammen freigegeben habe. Ich habe es auf meiner Wiese der wilden Wonnen eingegraben. Versagst du, wirst du nur eine weitere Blume meiner wilden Freuden bleiben, und dein Leib wird tot sein." Aldo Burton sah das gerade starre Bild einer wieder fünf Meter großen Riesin zwischen normalmenschengroßen Blumen an. Dann bestätigte er diese Anweisung.
Die kurze Begegnung zwischen Vengor und seinem aus Blut, Stein und Magie erzeugten Doppelgänger hatte Pickman über den Clown der Grausamkeit verfolgt, von dem es noch fünf Exemplare gab, und für die je ein echter Spaßmacher hatte sterben müssen. Erst als Vengor die eigentlich unverdiente Darreichung in einen dunklen Raum gehängt hatte und damit einstweilen keine Verbindung mehr bestand, hatte sich Pickman aus den Sinneswahrnehmungen des gemalten Clownsgesichts gelöst. Jetzt erst fand er die Gelegenheit, nachzuprüfen, welches seiner anderen Meisterwerke ausgelöst worden war. Als er feststellte, dass es die von ihm erfundene weil nie wirklich nachgewiesene zehnte Tochter des Abgrundes war und wie sie diesen Aldo regelrecht vereinnahmt hatte erkannte er mit gewisser Sorge, dass diese gemalte Kreatur mehr Eigenwillen hatte als ihm lieb war. Woher wusste die, dass sie neun Dutzend weitere Seelen brauchte, um vollständig frei zu sein? Immerhin hatte er ihrem Körper noch einmal befehlen können, zu erstarren, nachdem sie Burton zurück in seine Welt gestoßen hatte. Doch er fühlte, dass ihr Geist nicht mehr einschlafen wollte. Jeder entsprechende Befehl wurde abgeschmettert. Da musste er an die Warnungen des dunklen Lords denken, als dieser ihm ein winziges Stück Haar einer echtenAbgrundstochter überlassen hatte, um daraus eine besondere Farbmischung zu erstellen, in der die Magie dieser unheilvollen Wesen mitschwang. "Die Haare einer Abgrundstochter sind wie die einer Veela. Sie bleiben mit ihrer Besitzerin verbunden und haben einen gewissen Eigenwillen. Sieh also bloß zu, dass du möglichst viele Unterwerfungsrunen in das Bild malst, dass du damit pinseln willst, Hironimus!"
Er hatte solche Runen wie die der Treue, des Gehorsams und der Fesselung mit unsichtbarer Zaubertinte auf die Rückseite der Leinwand geschrieben und entsprechende Zauber gewirkt. Doch jetzt musste er feststellen, dass die Zauber nicht stark genug waren. Seine Idee und die dafür benutzten Stoffe drohten, sich zu verselbstständigen. Doch wenn er sein Bild jetzt zerstören würde gab er eine mächtige Waffe aus der Hand. Die Möglichkeit, es aus sicherer Entfernung zu vernichten, hatte er ja immer noch.
Während Pickman verfolgte, wie auch die Blutamme durch den auf dem Bild versteckten Aufweckspruch zum Leben erwachte und ihre halbvampirischen Diener Will Bradfield ihren Platz überließen, bis er gestärkt und gleichermaßen gebunden aus der gemalten Welt zurückkehrte bekam der Maler mit, wie Vengor wahrhaftig versuchte, ihn durch Ortungszauber zu finden. Doch da er seit der Schlacht von Hogwarts, die er nur Dank seiner Weitsicht aus großer Entfernung mitverfolgt hatte, ein Amulett mit Suchabwehrzaubern trug, die zudem durch Blutstropfen auf jeden feindlich gesinnten Sucher wirkten, konnte auch Vengor ihn nicht finden. Pickman merkte jedoch, dass sein Amulett den mächtigen Zaubern seines wohl früheren Bundesgenossen nicht mehr all zu lange widerstehen würde, hatte er sich in einen zehnfachen Schutzkreis der Unauffindbarkeit und Unbeobachtbarkeit zurückgezogen. Er wusste, dass er jetzt nicht mehr länger als zwei Stunden täglich das im gemeinsamen Zentrum der zehn Kreise stehenden Blockhaus verlassen durfte. Doch von hier aus konnte er einige Aktionen durchführen. Bedauerlicherweise war kein anderer Käufer seiner Abscheulichkeiten oder Verführungsbilder darauf gekommen, die darauf versteckten Zauberformeln laut auszurufen. Somit war es wohl an ihm, die Bilder mit einer großen Kraftanstrengung nacheinander aus der Starre zu erwecken. Schlimmstenfalls musste er das im Moment seines Todes tun, verbunden mit dem bereits eingemalten Auftrag, seinen Tod zu rächen, besonders wenn er den Feind kannte. Zu gerne hätte er gewusst, welcher der deutschsprachigen Todesser hinter Vengors Verkleidung steckte. Denn trotz sehr guter britischer Englischkenntnisse hatte Vengor im Augenblick seiner Wut die deutsche Sprachmelodie benutzt. Das grenzte die möglichen Todesser ein. Wusste Pickman, wer Vengor in Wirklichkeit war, würde er den Spieß umdrehenund diesen selbsternannten Erben des dunklen Lords und damit Salazar Slytherins züchtigen, womöglich auch töten.
Er sah darin, dass Alontrixhilas Geist nicht der befohlenen Erstarrung verfallen war einen gewissen Vorteil. So konnte er durch ihre Sinne auf die Sinne von Aldo Burton zugreifen. Zwar war es ihm mulmig, dass an Halloween nicht nur neun Dutzend, sondern einhundert Männer zu einer besonderen Halloweenparty kommen würden. Doch wer wusste schon, ob er nicht hundert bedingungslos treue Helfershelfer brauchen konnte, die sich bedenkenlos verheizen ließen. "Ich werde meine Diener deinem Befehl unterstellen, solange du Ihnen nicht den Tod befiehlst", hörte er Alontrixhilas Gedankenstimme.
"Du hast mir zu gehorchen, denn ich habe dich erschaffen und erweckt. Denn sonst hätte es dich nicht gegeben."
"Ich weiß, dass du meinst, mich geschaffen zu haben und bin dir dankbar für meinen Körper. Aber meinen Geist hast du nicht erschaffen. Er hat dich geleitet, mir den Körper zu geben und mir einen Teil deiner Seele zu überlassen, damit ich erwachen kann", erwiderte Alontrixhilas Gedankenstimme. Pickman erstarrte, als er diese Botschaft über den Verbindungsstein vernahm. "Nun erschrick nicht. Ich werde dir nichts tun, solange du mir nichts tust und mir die Freiheit gibst, zu deinem Ruhm meine Macht zu entfalten."
Er nahm schnell den Verbindungsstein von der Stirn. Was hatte er getan? Hatte er womöglich einen großen, schlafenden Drachen gekitzelt? Die Gefahr bestand beim Umgang mit den Dunklen Künsten immer, wusste er. Doch noch hatte er die Macht, seine Schöpfung zu vernichten, wenn sie ihm abtrünnig werden wollte. Aber wie war das mit Halloween? Wenn die Gäste die Aufweckformel riefen wurde sie wieder wach. Dann konnte er sie fünf Minuten lang nicht wieder erstarren lassen.
Für ihn erfreulicher war, dass Will Bradfield ganz in seinem Sinne Vorbereitungen traf, ranghohe Muggel zu suchen, die er zu Zöglingen der Blutamme machen wollte. Dadurch, dass er kein vollwertiger Vampir geworden war konnte er sich am Tag ungefährdet bewegen. Doch in der Nacht musste er zu seiner unheimlichen Nährmutter zurück. Diese verlangte im Namen von Pickman, dass er ihre Diener zur Freiheit verhalf, indem er ihnen das Blut von je einem unberührten Knaben und einer unberührten Jungfrau beschaffte. Das sollte er zu Samhain tun, was die gegenwärtigen Muggel Halloween nannten.. Bis dahin waren es nur noch zwei Tage.
Endlich war er wieder wach. Die Zeit, die er verschlafen oder besser in einem Zustand demütigender Trägheit hatte zubringen müssen, war endgültig vorbei. Sein Sinnen galt der Rache. Wenn er wieder ganz erstarkt war und jemanden fand, der seine Diener mit sich zu nehmen wagte, würde er die Kinder der widerwärtigen Lichtfolgerin jagen. Er wusste zwar, dass die, die ihn auch ohne Ashtarias widerwärtiges Schmuckstück bezwungen hatte, sicher schon längst tot war. Aber die Brut Ashtarias war zur Erhaltung ihrer verdammenswürdigen Blutlinie angehalten. Dann hatte dieses junge Weib, das seine Feiler der Kraft verdorrt hatte, sicher Nachkommen. Er würde sie suchen und finden. Dann würde er sich diesen gesamten Zweig dieser Lichtfolgersippschaft einverleiben und zu seinen treuen Dienern machen, jedem seiner Gedanken folgend, jede Anweisung befolgend.
Während er wach wurde hatte er mit einem anderen Sklaven aus Unlichtgewebe Verbindung erhalten. Dieser Sklave hatte zuerst zu schnell zu ihm gesprochen. Das hatte sich aber mit der Zeit auf einen für ihn verständlichen Wert heruntergeregelt. Corvinus Flint, so hieß der Schattensklave, warb für einen Pakt mit seinem Meister Lord Vengor, der seinerseits danach trachtete, mit dem größten aller Meister der alles endenden Finsternis einen Bund für das Leben zu schmieden. Dieser törichte Fleischling Vengor hoffte darauf, zum gleichwertigen Gefährten, zum Stellvertreter des Meisters selbst auf der Welt der Lebenden unter dem Sonnenlicht zu werden. Das war schon erheiternd, fand der Beherrscher der tödlichen Schatten, die er aus seinen Träumen heraus entlassen konnte. So bot er dem Sklaven namens Flint an, dessen Herrn und Meister zu dienen, wohl bewusst, dass er dadurch endlich wieder mit dem größten Meister zusammenkommen und diesem dienen durfte.
Der als Schattenträumer gefürchtete fühlte die Nähe von lebenden Wesen. Kamen sie, um ihm ein neues Opfer zu bringen, oder hatten die, die damals im Namen der Lichtfolgernachfahren eine Festung gegen seine Heerscharen errichten wollten und von ihm niedergeworfen wurden vergessen, dass es ihn gab? Falls ja, dann musste er die ihm verbliebenen Schatten selbst aussenden und sich neue Seelen einverleiben. Wenigstens brannten die fünf Feuer der Verinnerlichung noch. Denn sie wurden durch den uralten Zauber aus dem versunkenen Reich aus dem Feuer der Weltenkugel gespeist, und das brannte ja auch noch.
Er tastete in die Ferne. Er fühlte, dass an der Oberfläche noch die Sonne schien. Ihre Strahlen waren wie ein weißer Nebel, durch den er nicht hindurchsehen konnte. Doch er fühlte, dass die Lebenden nicht gekommen waren, um ihm zu opfern. Sie wussten von ihm, auch wenn sie seinen Namen nicht kannten. Doch was wollten sie dann vor seiner Heimstatt? Er würde es herausfinden, und wenn er dabei gleich neue Opfer bekam war dies noch besser.
Die Geländewagen ruckelten trotz aktiven Stoßdämpfern über den felsigen Untergrund. Erna Grabowsky saß zusammen mit ihren Reise- und Zeltkameradinnen Ute Richter und Karin Maurer auf der Bank gleich hinter Theo Beckenhusen und Arne Hansen, ihrem nicht mehr ganz so heimlichen Schwarm. Der in wüstenocker lackierte Wagen jagte mit mehr als der hier zu empfehlenden Höchstgeschwindigkeit dahin, angeführt vom Leitwagen, in dem Professor Gruber saß und verfolgt von den drei anderen Wagen, wobei Professor Körner im hintersten Wagen saß. Über Funk hielten sie Kontakt.
Erna dachte an die letzten zwei Stunden. Ihr angehender Doktorvater Professor Gruber hatte zusammen mit Mahmut ein nur fünf Kilometer entferntes Eingeborenendorf betreten, das nicht auf den Papier- und auch nicht den elektronischen Karten verzeichnet war. Als er wieder von dort zurückgekommen war hatte er mit Hilfe von heimlich gemachten Digitalfotos, die er über seinen Laptop vorgeführt hatte, erzählt, dass die vierhundert Bewohner des Dorfes seit sechzig Jahren keine Fremden mehr gesehen hatten und ihr früherer Imam seit dreißig Jahren verschwunden war, wohl weil er nicht mehr bei den archaischen Opferriten mitspielen wollte, die die Bewohner trotz Bekehrung zum Islam nicht aufgeben wollten. Denn sie fürchteten sich vor einem Dämon, der in dieser Gegend des Atlasgebirges hausen sollte und eine Armee von schattenhaften Dienern haben sollte, die für ihn in den Nächten nach unschuldigen Seelen jagten. Nur wenn sie jedes Mondjahr ein Mädchen oder einen Jungen unter zwölf Jahren als Opfer bekamen ließen die Dämonen die Dörfler in Ruhe, so hatte Gruber es wiedergegeben. Zu seinem Bericht gehörte auch eine Fotostrecke, die eine Steinwand zeigte, in die Figuren und Szenenbilder gemeißelt waren. Dass, so Gruber, sei die gefährlichste Minute seines Besuches gewesen. Denn sicher hatten die Dorfbewohner etwas dagegen, dass Unbefugte die Geschichten von der Wand weitererzählten oder ihr Heiligtum verhöhnten. Erna hatte mit weit offenen Augen die Bilder gesehen, vor allem die von in Umrissdarstellung abgebildeten Geisterwesen, die über dem Boden schwebten und unter einem aus Punkten und einer Mondsichel bestehenden Himmel in Volldarstellung abgebildete Menschen jagten und töteten. Zu den dargestellten Dämonenwesen gehörten ein Löwe, aus dessen Maul lange Flammen schlugen, ein überlebensgroßer Raubvogel, der locker ganze Menschen packen und in den Himmel reißen konnte, sowie ein viermal so groß wie einen Menschen dargestellter Geist, aus dessen Augen kleine Flammen züngelten und der vampirartige Fangzähne zeigte. Gruber hatte erfahren, dass die ausgewählten Opfer in einer Höhle in Sonnenuntergangsrichtung eingeschlossen wurden, wo sie wohl irgendwie starben. Denn vor Ablauf eines weiteren Mondjahres traute sich niemand von den Dorfbewohnern an die Höhle heran. Das hatte Professor Ewald Körner, der zwanzig Jahre älter als Professor Gruber war und wegen geologischer Untersuchungen das Atlasgebirge erforschte bewogen, die Höhle genauer zu untersuchen, ob sie womöglich mit einem weitläufigen Höhlensystem verbunden war. Das wollten sie eigentlich erst am nächsten Tag tun.
Nach der Erläuterung wollten die vier Geologen in der Gruppe noch Gesteinsproben vom Berghang nehmen. Doch da hatte Mahmut, der Führer der zehn Mann großen Schutztruppe gegen Räuber und Terroristen, zwei Kundschafter aus dem Dorf aufgestöbert. Einer seiner Untergebenen hatte dann mal eben mit einem der mitgeführten Sturmgewehre draufgehalten und beide erschossen, trotzdem Professor Gruber laut und deutlich befohlen hatte, keinen der beiden zu verletzen. Auch wenn die Waffen schallgedämpft waren, um keine weiteren ungebetenen Besucher anzulocken, mussten sie davon ausgehen, dass die Männer bald vermisst würden. Weil Gruber genau wusste, dass er sich einen heftigen Ärger mit den Schutzleuten einhandeln würde, wenn er den Mann mit dem zu lockeren Zeigefinger festgenommen hätte hatte er nur Mahmut was erzählt, was keiner mitbekommen hatte. Was Mahmut darauf geantwortet hatte war bisher auch nicht erwähnt worden.
Weil sie die Zelte und anderen Ausrüstungsgüter noch in den vier Geländewagen hatten konnten sie sofort losfahren. Das war jetzt genau zehn Minuten her, stellte Erna mit einem Blick auf ihre Armbanduhr fest.
"Wollen Sie immer noch zu der Höhle hin, Professor Gruber?" fragte Arne über Funk beim vorausfahrenden Wagen an.
"Ja, auf jeden Fall. Laut dem Bericht des Kollegen Gruber liegt sie einen halben Tagesmarsch entfernt. Wenn die am Tag bei diesem Gelände an die zehn Kilometer schaffen sind wir weit genug vor ihnen da", erwiderte Körner.
"Na, die Knarre mit den Silberkugeln und das geweihte Kreuz bereit, Arne?" fragte Benno Dirksen, der zusammen mit den drei jungen Frauen und Rico Kannegießer mit im Wagen saß.
"Schatten und feinstoffliche Geisterwesen kann man nicht erschießen, Benni, auch nicht mit geweihten Silberkugeln. Die helfen nur bei feststofflichen Untoten und niederen Dämonen, wie Werwölfe, Ghule, Vampire, Zombies und böse Hexen, und das auch nur bei denen aus dem abrahmitischen Kulturraum", grummelte Arne Hansen, der zu Hause in Hamburg gerne Heftromane mit Gruselgeschichten las.
"Es sprach der Experte. Aber wie sieht's mit deiner Superlaserkanone aus, die du Papa Körner so stolz wie ein alter Patrizier vorgeführt hast?" wollte Benni wissen.
"Abgesehen davon, dass du mich gerade tierisch annervst und deshalb locker aus der Konzentration bringen kannst, Benni Dirksen können Laserstrahlen keine toten Leute umbringen."
"Ja, aber du hast doch sicher das heilige Kreuz des Zacharias oder das Glöckchen des himmlischen Beistands eingepackt, um die Erzengel zu rufen, wenn wir von den Dämonen verdroschen werden", meinte Benno.
"O Mann, werd' erwachsen, Benno Dirksen", maulte Ute Richter, die wegen der vorzeitigen Flucht vor möglichen Racheakten aus dem Dämonenanbeterdorf um die auferlegte Haarkürzung herumgekommen war.
"Ich bin erwachsen. Ich lese so'n Schrott nicht. Aber der Hansen braucht das ja, weil er sonst nix hat, von dem er nachts träumen kann. Es sei denn, unsere Bergmannstochter aus dem Kohlenpott hat ihm schon ihre zwei Erzhalden gezeigt und wo sein kleiner Kumpel bei ihr einfahren kann", sagte Benno. Arne knirschte mit den Zähnen. Was anderes konnte er im Moment nicht tun. Das besorgte Erna, wenngleich auch nur mit Worten.
"Erstens, Herr Dirksen, aus dir spricht der blanke Neid, weil du mit deiner großen Klappe nich' bei Karin landen konntest. Zweitens ist mein Vatter verdammt stolz drauf, dasser sich auf der Zeche nicht für nix und wieder nix den Rücken krumm malocht hat, um mir 'ne gescheite Ausbildung zu sichern. Du musst da erst mal wat finden, womitte Geld zusammenkriechst. Und drittens habe ich nicht die ganze Plackerei auf mich genommen, um wegen mehr als Händchenhalten mit Arne vor dem Termin den Abfluch zu machen, dat dat ma klar is'."
"Hört hört!" musste Ute dazu einwerfen. Karin Maurer meinte dazu nur:
"Eh, Leute, euch sollte klar sein, dass wir gerade ziemlichen Ärger haben, nur weil Amir meinte, die zwei Leute umlegen zu müssen. Die hatten nicht mal 'ne Waffe mit. Aber wenn die noch Blutrache machen dürfen wir uns da nie wieder blicken lassen. Am Besten fahren wir gleich weiter bis zu diesem Bergbach, den Professor Körner uns auf der Karte gezeigt hat. Da können wir dann auch unsere Wasservorräte aufstocken, und unsere Miss Tizianrot muss sich von Doktor Hinrichsen nicht die Haare amputieren lassen.""
"Pass du mal auf, dass ich dir heute nicht noch was amputiere, Bürstenkopf", drohte Ute, musste sich aber unwillkürlich in ihr bis zum Steiß herabwallendes Haar greifen.Das brachte Benno dazu, zu fragen, wer da noch erwachsen werden musste.
"Jetzt ist gut, Leute. Ja, wir sind gerade ziemlich mies dran. Aber das bringt's nicht, uns deshalb gegenseitig wie die Kindergartenkinder anzupöbeln", sagte Rico, der wegen seiner akuten Nähe zum dreißigsten Geburtstag von den meisten hier als ewiger Student angesehen wurde. Dabei hatte er aber schon eine fertige Ausbildung zum Elektriker und hätte eigentlich bei seinem Vater ins Geschäft einsteigen können. Doch der hatte wegen einer Internetspekulation an der Börse seinen kompletten Geschäftskredit verbraten und alles noch verfügbare an die Bank abtreten müssen, um keinen Gerichtsprozess ans Bein zu kriegen. Um nicht auch an das zurückgelegte Ausbildungssicherungsgeld für Rico drangehen zu müssen hatte der sich entschlossen, seinen Traum zu verwirklichen und Geografie zu studieren. Vielleicht kam er dann ja als Erdkundelehrer unter oder konnte noch unentdeckte Ecken der Welt erforschen. Deshalb war er bei dieser Expedition mit dabei, um dem Geologen und Meteorologen bei seiner Arbeit zusehen und was dazulernen zu können.
Die drei Frauen gehörten zu Grubers Anthropologietruppe, wobei Erna ein Gastsemester in Hamburg studierte und wegen ihrer guten Grundstudiumsabschlüsse den noch freien Platz in dieser Expedition an die Nordflanke des Atlasgebirges bekommen hatte, zumal sie neben dem mittlerweile obligatorischen Englisch auch Arabisch, Französisch und von ihrer Großmutter väterlicherseits her Polnisch sprach. Gut, letztere Sprache war hier in Marokko wohl eher nicht wichtig. Aber allein schon, dass sie in Bochum, wo sie eigentlich studierte, in diversen Sportvereinen Mitglied war hatte sie auch aus konditioneller Hinsicht für diese Reise qualifiziert.
Da vorne kommt ein massiver Felsen, um den müssen wir rum", gab Gruber durch und bremste. "o haua, ob wir mit unseren Schlachtschiffen der Imperiumsklasse da vorbeikommen?" fragte Benno. Arne erwiderte darauf:
"Mir vorwerfen, Schrottliteratur zu lesen und selbst hahnebüchene Märchen aus der Zukunft lesen. Das haben wir gerne."
"Ui, das kennt unser Gruselfan ja auch. Gut, spielen ja auch genug Monster und Mutanten mit", erwiderte Benno.
Um Arne nicht weiter abzulenken sprach Rico Benno was ins Ohr, worauf der ziemlich kleinlaut den Mund hielt. So konnte Arne, der wegen seines beim Bund gemachten LKW-Führerscheins und Erfahrungen mit dem Leopard 2 mit schweren aber starken Fahrzeugen umgehen konnte an dem Felsen vorbeimanövrieren, ohne dass der große Geländewagen eine Schramme abbekam.
Hinter ihnen kreischte Stein auf Metall. Benno blickte sich um und konnte nicht anders als schadenfroh zu grinsen. Denn Professor Körners Fahrer war nicht so glücklich um den Felsbrocken herumgekommen. "Was passiert?" wollte Gruber wissen.
"Ja, den Felsen", kam Körners knurrige Antwort über den Funk zurück.
Nach diesem kleinen Zwischenfall dauerte es noch eine ganze Stunde, bis sie vor sich einen markanten Hang mit vorgelagertem Plateau erreichten. Gruber bremste und parkte.
"Das ist es. Dieses Masiv habe ich auf der sprechenden Wand gesehen", meldete Gruber.
"Okay, kucken wir uns die Höhle an und dann gleich weiter zum Bergbach?" fragte Arne Hansen.
"Negativ, die Sonne geht in einer halben Stunde unter. Bis zum angepeilten Ziel wäre dann noch drei Stunden Fahrt nötig, vorausgesetzt, wir kommen mit den Wagen dahin", erwiederte Professor Körner, der sich die Gegebenheiten genau eingeprägt hatte, um zumindest als Navigator eine Autorität zu sein, wo Gruber ihm schon in Landeskunde und Umgangsformen der Einheimischen zu weit voraus war.
"Dann bauen wir gleich besser die Zelte auf und zwar besser direkt am Berg dran, damit wir in der Nacht nicht runtergeweht werden."
"Besser wir bauen eine gute alte Wagenburg à la Western", schlug Arne vor und gab die Anfrage auch gleich weiter.
"Unsere Wachmannschaft fühlt sich nicht wohl, dass wir bei einem verfluchten Ort lagern sollen", sagte Gruber, der mit Mahmut im vorderen Wagen saß.
"Fragen Sie ihn bitte, wo wir dann sonst lagern sollten?" bat Körner. Das genügte. Denn Mahmut wusste wohl, dass sein Helfer diese Lage provoziert hatte.
Nachdem erst die erwähnte Wagenburg aufgebaut und dazwischen alle Zelte mit Haltekrampen am Boden befestigt waren zog sich das Führungsdreieck aus Gruber, Körner und der Ärztin Hinrichsen zur Beratung ins Funk- und Vorführzelt zurück. Rico sollte als dienstältester Student die Aufsicht über die im Freien sitzenden Komilitonen führen, während die Wächter sich in den Wagen selbst eingerichtet und alle Waffen nach außen gerichtet hatten. Damit die Schutzmannschaft nicht in der Nacht mit den Fahrzeugen stiften gehen konnte hatte Körner alle Zündschlösser durch kodierte Wegfahrsperre gesichert. "Der Felsbrocken liegt wirklich wie ein Verschlussstein da. Die Höhle ist aber dahinter zu erahnen. Allerdings sind wohl zwanzig Leute mit entsprechenden Seilzügen nötig, den Brocken fortzuräumen", stellte Körner fest und beklopfte mit seinem Geologenhammer die zerfurchte Außenseite des Brockens. Er ließ es sich auch nicht nehmen, an dem etwa drei Meter großen Brocken hinaufzuturnen, um festzustellen, dass der tatsächlich glattgeschliffen war, so dass der achteckige Brocken leichter gerollt werden konnte.
"Soll ich mit dem Laser mal einen Probekern rausbohrren?" fragte Arne seinen künftigen Doktorvater Körner.
"Ich sehe den Stein nicht als besonders an. Aber um zu dokumentieren, welche Masse er hat könnte eine Gesteinsbestimmung helfen. Bohren Sie mit dem Laser einen zwanzig Zentimeter langen und einen Zentimeter durchmessenden Kern aus!"
So bekam Erna den Hochenergielaser im Einsatz mit. der war zum Schutz vor unbefugter Benutzung in einem durch vier Kombinationsschlösser verriegelten Metallkoffer untergebracht und zudem noch durch einen Bereitschaltungscode gegen unbefugte Benutzung gesichert. Allerdings musste sie wie auch Arne und Benno, der sich das nicht entgehen lassen wollte, eine vorgeschriebene Schutzbrille aufsetzen. Trotzdem konnte Erna sehen, wie ein winziger heller lichtpunkt an der Wand erschien, der sich unter leichter Rauchentwicklung in den Felsbrocken brannte. Arne hatte die Präzisionssteuerung des Hochenergielasers auf die von Professor Körner erbetenen Abmessungen eingestellt. So fraß der Laserstrahler innerhalb von zehn Sekunden einen kreisförmigen Einschnitt, der tiefer und tiefer wurde, bis mit leisem Pipen das Gerät abschaltete. Die vorgegebene Tiefe war erreicht, und der freigelegte Kern durch einen mehrsekündigen Beschuss mit gepulsten Laserstrahlen vom Rest des Brockens abgelöst.
"Alle Achtung, Luke Skywalker, Obiwan hat dich den rechten Umgang mit dem Laserschwert gelehrt", konnte Benno nicht an sich halten.
"Ein bißchen weniger Infantilität oder meinetwegen auch juvenile Albernheiten täten Ihnen sicher ganz gut für Ihre Karriere, Herr Dirksen", mahnte ihn Professor Körner.
"Ich wollte Herrn Hansen doch nur ein Kompliment machen, Herr Körner", erwiderte Benno leicht betreten. Darauf sagte Körner nichts. Ihn interessierte jetzt nur der ausgebohrte Kern. Diesen nahm er mit einer Zange heraus und begutachtete ihn. Dann beklopfte er das Stück, wog es genau ab und ließ sich von Arne den Kern in einen Zehntel Millimeter dicke Scheiben zerlasern, um seine Struktur noch genauer zu untersuchen. Morgen früh wollten sie dann die Höhle als solches untersuchen. Hierzu ließ Professor Körner die Kletterausrüstung prüfen und auch den Vorrat an Chemoluminiszenzstäben und Signalfackeln. Es war ihm anzusehen, dass er am liebsten gleich den Felsblock hätte wegräumen lassen, um der Höhle einen Besuch abzustatten.
Um gegen einen möglichen Überfall der sicher sehr erzürnten Dorfbewohner bestmöglich geschützt zu sein standen die Zelte von Dr. Hinrichsen und das Dreierzelt von Erna, Karin und Ute von den Zelten der anderen umschlossen. Gruber, Körner und Arne hatten sogar noch Blendgranaten und Handfeuerwaffen ins Zelt geholt, wie auch Signalraketen.
"So, und morgen früh werde ich Ihr Haar auf ein vertretbares Maß kürzen, Frau Richter. Keine Widerrede!" musste die mitreisende Ärztin, die sich den jungen Frauen gegenüber eher wie eine Gouvernante verhielt, noch anbringen.
Wie üblich in diesen Breiten dauerte es nur wenige Minuten zwischen Sonnenuntergang und Dunkelheit, zumal die Sonne hinter einem Bergmassiv weiter westlich untertauchte, bevor sie unter dem eigentlichen Horizont verschwand.
Erna wartete, bis sich Ute und Karin nach den schon zur Genüge ertragenen Käbbeleien in ihre Schlafsäcke legten. Dann schrieb sie im Licht ihrer Armbanduhr die Ereignisse dieses Tages, dem 28. Oktober 2002, in ihr Tagebuch, dass sie Babsi nannte, zu Ehren der Schutzpatronin der Bergleute und weil es für sie angenehmer war, einen namentlichen Ansprechpartner zu haben. Seit ihrer Schulzeit führte sie Tagebuch, wobei sie auf Polnisch schrieb, was vielleicht nur Rudi Wiesehügel verstand, dessen Großonkel nach dem Weltkrieg hatte fliehen müssen.
Erna hatte gerade damit geendet, dass sie morgen die Opferhöhle aufsuchen wollten und sie nicht so recht wusste, ob sie sich davor fürchten oder es faszinierend finden sollte, eine heidnische Kultstätte zu besichtigen, als sie von außerhalb des Zeltes einen leisen Aufschrei hörte und dann ein an diesem Tag schon mal gehörtes Schwirren. Das waren aus einem schallgedämpften Sturmgewehr abgefeuerte Kugeln. Sofort verflog die Müdigkeit, die sie schon gut umfangen gehalten hatte. Adrenalin schoss in ihr Blut. Sie wurden überfallen. Da erscholl auch schon Mahmuts Ruf: "Alle wach werden, Angriff!!" Ute grummelte. Karin wälzte sich herum. Wieder schwirrten Geschosse. Dann erfolgten weitere Schreie, die so klangen, als würden sich Männer in Panik davonstürzen. Doch Erna meinte, dass die Schreie sich nach oben entfernten, als würden die Bedrängten den Berg rauflaufen oder davonfliegen.
"Mist, werden wir angegriffen?" stieß Ute Richter aus und wischte sich schnell den Schlaf aus den Augen und ihr langes Haar aus dem Gesicht.
"Alles in die Klamotten. Wenn wir überfallen werden sollten wir möglichst schnell abrücken", zischte Karin. Erna überlegte nicht lange. Sie steckte ihr Tagebuch sicher unter ihren Büstenhalter, warf sich die Einsatzkleidung über und schaffte es in nur einer Minute , ihre rutschfesten Stiefel anzukriegen.
"Eh, ihr bleibt noch im Zelt. Wenn das die vom Dorf sind müssen die nicht sehen, dass hier Frauen sind", zischte Karin. Doch Ute war schon zur Zeltklappe hinaus. Doktor Hinrichsen sprang gerade mit schussbereiter Waffe, einer 3,57er Magnum, wie Erna erkannte, aus ihrem Zelt heraus. Sie sah ute und setzte ihr nach, weil diese schon in Richtung Geländewagen durchgestartet war. Arne passte diese Gelegenheit ab, zu den beiden anderen Frauen ins Zelt zu kommen. "Ich habe gedacht, ich träume das echt. Aber als ich rausgesehen habe konnte ich gerade noch mitkriegen, wie Amir von einem flugzeuggroßen Vogel gepackt und nach oben gerissen wurde. Ich habe die Augen von dem Biest gesehen, blau leuchtende Raubvogelaugen, groß wie Suppenteller."
"Sag mal, du bist ganz wach, oder?" fragte Karin. Arne nickte wild und kniff sich in den Arm und dann ihr. "Ich bin wach, du auch. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll und ..."Aaarrg! Das war Yussuf, einer der Posten in der Wagenburg. Sein Schrei ging in einem kurzen Röcheln unter. Erna riskierte einen Blick nach draußen. Was sie sah ließ ihr Herz mindestens einen Schlag überspringen.
über die vier zusammengestellten Geländewagen hinweg stand eine kohlpechrabenschwarze Gestalt mit langen Armen. Sie sah eher wie ein gewaltiger Schatten aus, besaß dafür jedoch erschreckend ausgeprägte Räumlichkeit. Am furchteinflößendsten waren die aus dem alles Licht schluckenden Schädel glotzenden Augen. Sie glühten blutrot, was beim vollkommen finsteren Rest des Körpers schon sehr hell war. Das schwarze Ungetüm maß mindestens acht Meter. Deshalb konnte es ganz locker und schnell über den ihm nächsten Wagen hinweglangen und sich den nächsten Wächter greifen, Hamit. Yussuf konnte Erna noch sehen, wie er von zwei säbelartigen Fangzähnen durchbohrt und innerhalb von wenigen Sekunden wie eine kleine Getränketüte leergesogen wurde. Erna vermeinte, ein wild umsich schlagendes, rußiges Dunstgebilde zu sehen, dass wie ein zum Berg hin schwebender Mensch aussah. Erna erschrak, als ihr plötzlich heiße Luft von hinten um die Wangen strich. Als sie sich umsah konnte sie Karins wachsbleiches Gesicht sehen. Ihre Augen waren vor Entsetzen weit aufgerissen. Ohne ein Wort zu sagen deutete Karin am Zelt vorbei. Da konnte Erna das andere pechschwarze Ungeheuer sehen, einen geflügelten Löwen, der mindestens so groß wie ein afrikanischer Elefant war. Das fliegende untier kam gerade im schnellen Tiefflug heran und riss das Maul weit auf. Eine Garbe aus lichtschluckenden Flammenzungen schoss hervor und traf einen der Wagen. Dieser zerschmolz augenblicklich. Bei den anderen Wagen flammten gerade die lichtstarken Xenonscheinwerfer auf. Das stach Erna zuerst in die Augen. Dann sah sie im grellen bläulichweißem Licht, dass der geflügelte Schattenlöwe wie gegen eine Wand geprallt zurückzuckte und dabei schwarze Funken aus seiner wie schwarze Rauchfäden wogenden Mähne entflogen. Auch der über dem einen Wagen stehende Riese mit den glühenden Augen wurde von dem ihn treffenden Licht beeinträchtigt. Seine Bewegungen verlangsamten sich. Arne, der Erna flankierte zischte: "Also Licht bekommt denen nicht. Gut zu wissen. Bitte bleibt hier! bin gleich wieder da!"
"Alle Lampen an!" rief Gruber auf Arabisch. Er hatte selbst eine der lichtstarken Handlampen aus seinem Zelt geholt und leuchtete damit in den Himmel, wo gerade ein unheilvoller Schatten auftauchte, der Schatten eines niederstürzenden Raubvogels. Doch als dieser in den Strahl der Handlampe geriet wurde er abgebremst.
"Das Licht wirkt auf die wie feste Materie", wisperte Erna. Der Riesenvogel drehte ab, um aus dem Lichtstrahl zu entkommen. Auch der geflügelte Löwe suchte sich einen neuen Anflugwinkel, während der von seinem dunklen Feuerstoß getroffene Wagen knirschend, knackend und scheppernd zusammenfiel. Damit war die Wagenburg an einer Seite offen. Erna erkannte, dass die unheimlichen Angreifer von dort her zuschlagen würden.
Als wenn die drei Monster nicht schon schlimm genug waren drangen von dem Felsblock vor der Höhle her Dutzende von kleinen schwarzen Wolken hervor, die im Flug zu menschengroßen Schattenwesen mit blau leuchtenden Augen wurden. Erna dachte an die Bilder, die Gruber gezeigt hatte. Dieser wohl auch. Denn da sah sie ihn im Widerschein einer von ihm abgefeuerten Leuchtrakete, die zischend in eines der heranrückenden Schatten hineinfuhr und diesen leise knisternd erzittern ließ.
Weitere Signalraketen wurden abgefeuert. Der Riesenschatten verlor seine Form, blieb aber wohl handlungsfähig. Er stemmte den Wagen hoch, aus dem heraus er beschossen wurde und stieß ihn dann in Richtung Abhang davon. Erna hörte zwei Kugeln gefährlich nahe an ihrem Kopf vorbeisirren, bevor die im nun zu Tal rutschenden Wagen gefangenen Wächter laut aufschrien. Wieder sah Erna den Raubvogel, der diesmal aus der lichtabgewandten Richtung niederstieß und genau auf Arne zujagte, der im Laufschritt heranpreschte, in der Armbeuge den Laserstrahler. Erna rief ihm eine Warnung zu. Er hörte und riss den Strahler hoch. Erna meinte, einen haarfeinen Glutstreifen zu sehen. Dann hörte sie einen lauten Aufschrei wie von einer sich in einen Stahlblock fressenden Kreissäge. Irgendwie meinte sie, dass dieser Schrei aus starkem Schmerz heraus entstanden war. Tatsächlich verriss der anfliegende Raubvogel seinen Flug und geriet voll in die ihm entgegenleuchtenden Handlampenstrahlen. Er trudelte und prallte gegen den Berghang. Dabei wurde er regelrecht plattgedrückt. Gruber lachte wie irre. Da konnte Karin Benno sehen, der eine Abschussvorrichtung anhob und auf den soeben wieder heranfliegenden Drachenlöwen oder wie das Biest genanntt werden mochte zielte. Dann drückte er auf den Auslöser. ein runder gegenstand flog dem Löwen entgegen. Dieser riss das Maul auf und schluckte ihn. Doch das bekam ihm nicht. Im nächsten Augenblick knallte es dumpf, und der geflügelte Schattenlöwe fiel blitzschnell in sich zusammen und verging. "Regelrecht implodiert!" lachte Benno und zielte auf den Riesen. Doch dieser hatte die Gefahr erkannt und reagierte. Er schnellte seinen rechten Fuß vor und traf Benno. Dieser flog mit einem kurzen Aufschrei davon. Erna konnte sehen, wie er im Flug erstarrte, ja regelrecht gefror. Karin schrie laut auf, als sie das sah. Der Riese lachte. Es klang wie ein in der Tonhöhe abfallend aufbrüllender Motor. Dann eilte der Riese mit langen Schritten heran, ohne dabei den Boden zu berühren.
Arne Hansen war nun wieder bei den beiden Frauen und zielte auf den Riesen, während er Rico zurief: "Rico, den Adler auch mit 'ner Granate beschießen!" Dann betätigte er den Abzug des Lasers, den er auf gleichgbleibenden Strahl gestellt hatte. Er zielte auf Halshöhe den Riesen an und führte den Strahler wie eine meterlange Stange. Die blutroten Augen flackerten und sprühten Funken. Der Riese stolperte. Doch Arne behielt ihn im Ziel und vollführte eine saubere Bewegung den Hals des Ungetüms entlang. Es verlor seine klaren Formen, zerfloss beinahe. Doch Erna sah noch, wie sein Kopf davontrudelte und dabei wie vom Wind verwehter Rauch zerfaserte. Das gab dem nun kopflosen Restkörper den Rest. Er zerfloss und wurde zu schwarzem Rauch, der in alle Richtungen waberte. Eisige Kälte kam bei den Ausharrenden an. Doch die Gefahr war noch lange nicht überstanden.
Erste Schreie der hinter dem Zelt aufgescheuchten Expeditionsteilnehmer verrieten, dass die unheilvolle Angriffstruppe von dort her anrückte. Dorthin reichte das Xenonlicht der Scheinwerfer nicht. Erna hörte zwei Schüsse aus einer nicht schallgedämpften Waffe und dann einen lauten Entsetzensschrei. Das war Doktor Hinrichsen.
"Verdammt, die haben die Hinrichsen!" rief Karin. Dann schrie auch sie, dass es in Ernas rechtem Ohr schmerzhaft nachklirrte. Als Erna sah, warum Karin schrie hätte sie auch am liebsten losgeschrien. Denn soeben wurde die Kameradin Ute Richter von zwei normalmenschengroßen Schattenwesen davongetragen, hin zum Berg, vor dem mittlerweile der Felsbrocken fortgeräumt war.
"Mist, die bringen die in den Berg. Da kommen die nicht mehr lebend raus", stieß Arne aus, bevor er nach hinten zielte, weil ein lautes Ratschen in der Zeltwand verriet, dass jemand von dort her angriff. Mit einem wie durch ein Schallverwischungsgerät klingend schrie jemand auf. Erna riskierte den Blick und sah, wie gleich zwei normalgroße Schatten in eine obere und untere Körperhälfte zerteilt wurden. Ein greller Lichtblitz flammte auf und verursachte einen Chor aus Schmerzensschreien, die absolut unnatürlich klangen. "Mist, daneben!" knurrte Rico und sprang unter dem einen noch verbliebenen Wagen in Deckung. Der Riesenvogel stürzte herab. Arne zielte und feuerte seinen Laser ab. Laut kreischend prallte der Schattenadler von dem Wagen ab. Von seinem linken Flügel wölkte schwarzer Dunst weg. Außerdem war er irgendwie leicht geschrumpft, erkannte Erna. Dann rückten die Schattenleute an.
"Die Ladungsanzeige steht bei nur noch vier Restminuten. Außerdem habe ich schon gelbes Licht auf der Überhitzungsanzeige", zischte Arne. Die Schatten stürmten vor und griffen sich die sich zur Flucht wendenden. Professor Körner rief noch, dass sie sich ins Licht stellen sollten. Doch den übrigen Expeditionsteilnehmern war bereits der rettende Weg abgeschnitten. Nur Rico schaffte es, unter seinem Wagen weg ins grelle Licht zu wechseln.
Arne zerlegte vier der Schattenwesen mit einem kühnen Schwung des Lasers. Doch die zehn, die gerade von hinten an den vorletzten Wagen herangerückt waren, schafften es, diesen wie einen Federball hochzuwerfen und in Richtung Abgrund zu schleudern. Jetzt war nur ein Wagen und dessen Scheinwerfer übrig. Da detonierte eine weitere Blendgranate genau im Pulk vorrückender Schatten und schmolz diesen zusammen. Immerhin das ging noch. Das erkannte auch Professor Körner und hielt mit seiner Granatenschussapparatur auf die vorrückende Unheilsarmee. Das vernichtete mindestens fünf weitere Schatten. Doch an den Raubvogel hatte Körner nicht mehr gedacht. Als Arne sah, dass dieser auf seinen Mentor zuflog wollte er noch auf ihn feuern. Doch da hatte das fliegende Unwesen den Professor mit seinem gekrümmten Schnabel aufgepickt und stieß nach oben. Körners Körper erstarrte, ja gefror regelrecht. Mit irrsinnigem Tempo jagte der Schattenvogel in den Himmel. Er war zwar etwas kleiner als vorher, aber immer noch so groß wie ein Sportflugzeug.
"Erna, komm, wir müssen hier weg. Karin, du auch!" rief Arne und deutete auf den noch stehenden Wagen. Als Erna fragte, was mit den anderen sei wurde sie auf die Schatten aufmerksam gemacht, die den Rest der verbliebenen Truppe vor sich her in die offene Höhle hineintrieben.
"Du wirst sterben, du Frevler!" rief eine Stimme, die Arne und Erna als die von Peter Harmsen erkannten. Das war einer von denen, die der Riese mit seinen überlangen Zähnen durchbohrt hatte. "Meinen Meister derartig zu demütigen. Dafür sauge ich dir dein Leben aus, Hansen." Die Stimme klang irgendwie sphärisch. Dann sah Arne einen kleineren Abkömmling des glutäugigen Riesens mit den Vampirzähnen. Auch dieser Schatten hatte deutlich im Gegenlicht erkennbare Fangzähne. Da wussten Erna und Karin, was aus denen wurde, die von diesem Monster gebissen worden waren. Arne blieb kühl. Auch wenn ein leiser Warnton an seinem Laser zu hören war machte er eine kurze Schwenkbewegung auf Halshöhe. Erna konnte einen Moment lang einen roten Lichtpunkt an der Felswand sehen, der einen Moment später erlosch und dann wieder glühte. Gleichzeitig schrie der Schattenvampir oder wie das Ungeheuer genannt werden konnte auf und zerfloss, wobei das, was sein Kopf war in einer lautlosen Rauchexplosion verging und der rest wie zäher, öliger Qualm auseinandertrieb.
"Jetzt aber weg hier, bevor der Riesenadler wiederkommt!" rief Arne und schleuderte eine Blendgranate auf die kleine Gruppe Schattenwesen, die nun auf sie zulifen. Es knallte. Kein Licht war zu sehen. Es war mitten in der widernatürlichen Substanz freigesetzt worden, aus der die Höllenschatten bestanden. Das hatte diesen Dämonenstoff jedoch zerstört. Die davon gebildeten Schatten zerflossen unter einem kurzen Aufschrei.
""Das wirst du gleich bereuen, Hansen", hörten sie von der Höhle her leicht verwaschen klingend die Stimme von Ute Richter. Da sah Erna zwei Schatten, die laut kreischend heranfegten. Sie vermeinte, zwei weibliche Körper zu erkennen, wenn die Schatten sich den vier verbliebenen zuwandten.
"Verdamt, die sind zu welchen von denen geworden", stieß Arne aus und wollte auf die beiden Schatten feuern. Doch ein lauter Summton klang auf und eine künstliche Männerstimme sagte auf Englisch: "Warnung! Gerät über kritischer Temperatur. Einsatz nicht verfügbar! Warnung! Gerät über kritischer Temperatur! Einsatz nicht verfügbar!"
"Jetzt kriegen wir euch und bringen euch auch dem Meister dar!" rief Doktor Hinrichsen oder das, was aus ihr geworden war.
"Nur über meine Leiche, Schleifhexe!" rief Arne und schnippte etwas in ihre Richtung, das unvermittelt grell aufleuchtete und einen Lichthof zwischen den Schatten und den Menschen erzeugte. Jetzt konnte Erna genau sehen, dass der eine Schatten klein aber gedrungen war und der andere Schatten schlank und hochgewachsen war. Sie wusste nicht, ob sie sich das einbildete. Doch es sah für sie aus, als wehten um den Kopf der größeren Schattengestalt hauchzarte, pechschwarze Rauchstreifen wie langes Haar.
"Und noch zwei", zischte Arne und schnippte zwei weitere Magnesiumfackeln in die Richtungen, in die die Schattenfrauen gerade ausweichen wollten. Offenbar konnten sie nicht fliegen, sondern nur schweben. Sie wurden durch das grelle Licht regelrecht verlangsamt, was auch an ihren schrill fluchenden Stimmen zu hören war.
"Ich fürchte, wir müssen sie auch ...", sagte Erna.
"Ja, aber erst, wenn der Laser wieder geht. Gewöhnliches Licht lähmt die nur, wenn es nicht direkt in deren Körpern freigesetzt wird."
"Dann besser weg hier!" rief Karin und deutete nach hinten. Vom Berg her rückten wieder Schattenwesen vor. Sie tauchte rasch ins Zelt und holte eine Signalpistole hervor. Drei schnelle Schüsse in das Pulk der Schatten, und sie hatten erst einmal ein paar Sekunden gewonnen.
"Rico: Drei null neun zwei sieben! Wiederhole: Drei null neun zwei sieben!" rief Arne und zog Erna schon mit sich, während Karin noch eine Magnesiumfackel hinter sich warf, die grell aufflammte und zischend einen genügendgroßen Lichthof erzeugte.
"Passt auf den Vogel auf!" warnte Erna und blickte nach oben. Rico warf noch eine Blendgranate, weil vom Berg wieder eine Truppe Schatten anrückte. Doch diese wichen dem Geschoss in den Berg aus. Es explodierte. Erna hatte gerade noch weggesehen. Doch der Widerschein war auch sehr hell.
"Heh, guckt mal hier!" rief Rico und feuerte aus einem der Sturmgewehre Leuchtspurmunition auf den Höhleneingang. Dann sprang der PS-starke Motor des verbliebenen Wagens an. Arne rannte los, Erna und Karin hinterher.
"Und was ist, wenn einer von denen im Wagen ist?" fragte Erna ihren Freund.
"Rico, hast du noch einen Blitzer!"
"Yep, Arne!" rief Rico. "In den Wagen reinwerfen!" rief Arne. Rico verstand, zündete die letzte Blendgranate, die er noch zur Verfügung hatte und warf sie in den offenen Wagen. Alle sahen schnell weg, auch um zu sehen, ob sie von oben her angegriffen wurden. Es knallte laut, gefolgt von einem Schrei, der in der Tonhöhe anstieg und immer leiser wurde.
"Verdammt! da war echt eins von den Biestern", kommentierte Arne den aus dem Wagen entweichenden schwarzen Qualm.
"Ja, und das könnte einer von unseren eigenen Leuten gewesen sein", seufzte Karin. Dann erreichten sie den Wagen, dessen Motor schon lief. Rico hatte mit dem Funkschlüssel auch die Innenbeleuchtung angeschaltet. Wenn doch noch eines von den Kreaturen im Wagen war wurde es zumindest davon beeinträchtigt.
Die Sitze waren zwar durch die Blendgranatenexplosion leicht angerußt, und es stank nach angesengtem Leder und Treibmittel, aber immerhin waren sie vier noch in den Wagen gelangt. Erna deutete auf den Fahrersitz. Doch Arne schüttelte den Kopf. "Rico, fahr du bitte! Ich muss unseren Achtersektor freihalten und nach oben sichern", sagte Arne und klemmte den Laser an die Zweitbatterie des Wagens, während Karin aus dem Vorrat an Magnesiumfackeln noch welche nach hinten aus dem Wagen warf, bis Arne den Strahler angeschlossen hatte und eine Kühlvorrichtung auf niedriger Stufe eingeshaltet hatte. "So, Schattenläufer, jetzt habe ich zwei Stunden Power und kann den Laser gleichzeitig runterkühlen", knurrte Arne und peilte nach links aus den Fenstern. Erna hatte sich von Karin zwei Fackeln geben lassen, um einen gezielten Wurf anzubringen. Mittlerweile reihte sich eine Kette aus zehn Meter durchmessenden Lichthöfen hinter dem Wagen.
"Ich will diesen Vogel noch abschießen. Solange der nicht auch in Rauch aufgegangen ist sind wir nicht sicher", knurrte Arne. Da kam er auch schon angeflogen, schön im lichtabgewandten Bereich. "Na, meine heiße Laserlady, bist du wieder lieb und hilfst deinem Erwecker, sein Leben und seine Seele zu verteidigen?" fragte Arne, während der Raubvogel näherkam. Der Überhitzungsalarm war inzwischen ausgegangen, Arne hatte nur noch zwei von drei gelben und kein rotes Licht auf der Kontrollanzeige. "Okay, Brathahn, Grillfest!" Doch da peilte Erna schon den niederstoßenden Vogel an. Rico zog nach links weg, knapp an den Abgrund heran. "Friss und stirb!" rief Erna inbrünstig und warf die Fackel nach dem Vogel. Gleichzeitig ging der Laser los und zielte genau zwischen die blauen Raubvogelaugen. Das Ungetüm riss den Schnabel auf und schrie. Dadurch flog ihm die Fackel passgenau hinein und entflammte. Der Raubvogel schrie noch lauter und schrumpfte wie ein Schneemann unter Bunsenbrenner. Arne hielt den Laserstrahl noch auf ihn gerichtet, bis der dämonische Greifvogel mit einem letzten Kiekser zu öligem Rauch zerfloss.
"Wir müssen wohin, wo licht ist, sonst schickt uns dieser Dämon noch mehr Schatten hinterher, solange Nacht ist", sagte Arne.
"Haben wir denn jetzt alle, die in der Reichweite waren erledigt?" fragte Rico.
"Ob wir die erledigt haben weiß ich nicht, Leute! Kann auch nur sein, dass wir denen nur die Energie entzogen haben, mit der sie in unserer Welt wirken können. Kann sein, dass die sich regenerieren können. Aber ich offe, dass das lange genug dauert."
"Ute und die Hinrichsen haben wir nicht vernichtet oder neutralisiert oder wie das bei den Geisterjägern heißt", stellte Erna fest. Im Moment wirkte die Erkenntnis noch nicht, dass sie vier gerade als einzige Überlebende dieser Expedition unterwegs waren.
"Die Fackeln brennen eine Stunde lang. Solange dürfen die zwei Damen sich über Frisurtipps unterhalten", feixte Rico Kannegießer, der sonst als der ruhige, vernünftige der ganzen Truppe gegolten hatte.
"Geht das Navi?" fragte Karin, die noch eine Fackel hatte, die aber im Moment nicht gebraucht wurde.
"GPS Online, Karte wird erstellt, Standort berechnet. Jupp, ich habe unsere Koordinaten. Der Sprit ist auf drei Viertel voll. Herr Hansen, wenn Sie schon den Zündcode für den Motor kannten wissen Sie sicher auch, ob der Brummer von innen betankt werden kann."
"Ich guck mal eben, ob wir noch genug Diesel im Heck haben", sagte Arne und sicherte den Laser. Dann robbte er über die hinterste Rückbank, wobei er mit einer der Handlampen jeden Zentimeter ausleuchtete. Doch offenbar war da nichts und niemand gefährliches mehr. Dann öffnete er mit ein paar schnellen Griffen ein Ventil und sagte. "Der zweite blaue Knopf neben der Tankanzeige, Rico. Wenn du den drückst wird aus dem Reservetank nachgefüllt. Wir haben noch drei Tankladungen was in den Kanistern. Der Rest ist mit unseren drei anderen Wagen verlorengegangen."
"Okay, werde die Nachbetankung erst bei Viertelfüllstand einschalten. Komm nach vorn und schnall dich mit allen Gurten an. Das gilt auch für die Damen!" sagte Rico.
"Wozu das, Rico?" wollte Karin Maurer wissen.
"Weil ich unseren schnellsten Kurs zur nächsten Stadt gefunden habe. Der geht aber über eintausend Höhenmeter nach unten. Wollen hoffen, dass die Bremsen noch durch den TÜV gekommen sind."
"Öhm, du willst uns da runterkarrjulen?" schrillte Karin.
"Leute, wenn wir die Nacht überleben wollen müssen wir ins Licht, hat unser Jedimeister mit dem Laserschwert gerade gesagt, und ich pflichte ihm bei", sagte Rico. "Vielleicht ernähren die sich von Dunkelheit. Dann könnten die uns bald wieder auf den Fersen sein. Und vergesst bitte nicht, dass jetzt leider viele von denen früher Leute von uns waren. Das heißt, die wissen, wo wir langfahren könnten."
"Wollen hoffen, dass die Biester nicht beamen oder teleportieren können oder wie das in den ganzen Geschichten genannt wird", unkte Erna.
"Dann hätten die nicht den Aufriss mit dem Riesenbrathahn, dem Höllenfeuerlöwen und dem Vampirriesen gemacht, sondern gleich ihre normalgroßen Artgenossen zu uns in die Zelte geschickt, völlig geräuschlos, weil keine die Luft verdrängende Körpermaterie", sagte Arne.
"Mach mir nicht noch mehr Angst als ich schon habe", fauchte Erna. "Jedenfalls weiß ich jetzt, warum ich als kleines Mädchen nicht bei Dunkelheit schlafen wollte."
"Leute, Anschnallen! Wir kommen gleich zur ersten Abbiegung", sagte Rico und ging mit gutem Beispiel voran. er zog den für diesen Wagen speziell gefertigten Vierpunktgurt an, prüfte, ob die Blendgranatenexplosion den Mechanismus nicht beschädigt hatte und schloß den Gurt. Erna und Karin taten es ihm gleich. Arne turnte wieder nach vorne, aretierte den Laserstrahler und schnallte sich an.
"So, meine Damen und Häärrn, jetzt geht das ab hiäää, volle Pulle, supätolle Schussfohrt!" rief Rico im Stil eines Kirmeskarussellbetreibers, drückte sogar noch auf die phonstarke Hupe und schlug das Lenkrad nach rechts ein. Sofort kippte der schwere Geländewagen nach vorne, rutschte einige Meter, bis die Antischlupfregelung fasste und der Allradantrieb die Fahrt wieder beherrschbar machte. Es ging jedoch steiler in die Tiefe als Erna gehofft oder gefürchtet hatte.
"Oha, wir sind einer Horde Geistern und Dämonen entwischt und verrecken beim Autofahren von einem Berg runter", dachte Erna für sich. Sie fühlte das immer noch unter ihrer Kleidung getragene Tagebuch. Was sie vorhin erlebt hatte konnte sie wohl keinem erzählen, außer Babsi.
Rico erwies sich als wahrhaftiger Panzerschreck. Denn er nahm ein Gelände, das sonst nur für Kettenfahrzeuge empfohlen wurde, in dem er dosierte Bremsungen ausführte und bei breiten Spuren im Stil eines Alpinskifahrers wedelte, um nicht zu viel Schwung zu kriegen. Nur zweimal musste er haarscharf an aus dem Boden ragenden Felsen vorbeilavieren und einmal zum ultimativen Test der Aktivstoßdämpfer eine drei Meter breite und einen Meter tiefe Furche durchqueren, ohne zu viel Geschwindigkeit wegzunehmen. Die drei anderen störten ihn dabei nicht. Arne bewunderte Rico, der mit einer Eiseskälte die gefährliche Route herunterfuhr, als sei er ein Roboter, der auf dem Mars in ein Tal hinunterfahren sollte, nur weil es ihm programmiert worden war. Ein paar mal kreischte es an Felgen oder Seitenwand, wenn hervorspringende Felsen doch nicht so einfach umfahren werden konnten. "So, jetzt kann man Professor Körners Signatur nicht mehr lesen", sagte Rico dazu nur.
"Zwei Stunden später waren sie in einem Tal und ... o Allah und alle seine Propheten! Auf einer ausgebauten Straße. Rico prüfte die Tankanzeige und drückte den blauen Knopf für die Reservezufuhr. Laut summend schaffte eine kleine aber starke Pumpe den Diesel aus dem großen Reservetank in den Hautpttank. .
"Also, wenn ich genug eigenes Geld habe kauf ich mir so'n Teil für mich selbst", lobte Rico die Leistung des Wagens.
"Du warst auch beim Bund, oder?" fragte Arne Rico.
"Panzerfahrer?" fragte Arne.
"Yep, Spähpanzer. Da musste ich so'n ähnlichen Stunt auch mal bringen, weil unser Oberfeld gemeint hat, dass die Maschine in einer Viertelstunde von der Zugspitze runterfahren kann."
"Und zur Navy wolltest du nicht?" fragte Arne Hansen.
"Monatelang auf'm Schiff mit Leuten zusammenhängen, von denen ich nicht wusste, wie die ohne Weib und Braut drauf sind? Danke nein, wollte lieber Wochenendurlaub kriegen können. Hätte auch nicht gedacht, dass ich in dem Laden was brauchbares gelernt habe."
"Alle Achtung, Rico", lobte Arne den Komilitonen. Dann deutete er auf das Instrumentenbrett. "Ist die Straße jetzt flach genug, dass wir mehr Geschwindigkeit als Stabilität und Bodenfreiheit kriegen können?" Rico prüfte die elektronische Karte. Dann nickte er und nahm die entsprechende Schaltung vor. Sofort orgelte der Diesel einige Töne höher, und der Geländewagen durchbrach die 100-Stundenkilometer-Mauer.
Drei weitere Stunden später - Arne hatte Rico während des Fahrens abgelöst, erreichten sie die nächste größere Stadt und parkten ihren ramponiert aussehenden Lebensretter auf einem gut ausgeleuchteten Parkplatz. Erst jetzt fiel die ganze Anspannung von den vieren ab. Erna und Karin weinten hemmungslos, und die beiden Männer umarmten sich und klopften sich auf die Schultern. Dann merkten auch sie, dass sie eigentlich keinen richtigen Grund zum feiern hatten. Sie hatten einen Angriff überlebt, der nicht von dieser Welt war. Ihr bisheriger Glaube an das rationale war in dieser Nacht zerstört worden, und sie hatten ihre Kameraden verloren. Auch wenn sie mit vielen von denen nur auf der Ebene "Es sind Kollegen, die müssen sich auf uns und wir uns auf die verlassen", ausgekommen waren, so hatten sie einen solchen Tod oder besser ein solches Schicksal nicht verdient.
"Der traut mir nicht übern Weg, weil ich nicht das richtige Geschlecht habe", nörgelte Erna Grabowsky, als die vier Überlebenden nach Sonnenaufgang zur Polizei gingen und einen nächtlichen Überfall anzeigten. Erst als Rico, der älteste der vier, mit seinem eingerosteten Schulfranzösisch einsprang und erklärte, dass seine Kollegin die Landessprache könne und daher für sie alle sprach hatte der zuständige Polizeibeamte zumindest zugehört, wenngleich er bei seinen Antworten immer Rico ansah.
Natürlich wollten die vier nicht verraten, wer sie überfallen hatte. Dann wären sie wohl allesamt in die Psychatrie eingewiesen worden. Aber weil der Polizist spürte, dass die vier ihm was wesentliches verheimlichten rückte Rico damit heraus, dass sie von Leuten überfallen worden waren, die den Glauben an einen uralten Dämon fördern wollten und sich deshalb als schwarze Schatten verkleidet hatten und sogar mit einem wie ein großer Greifvogel aussehendes Flugzeug angegriffen hatten. Der Beamte lachte laut auf. Dann fragte er, was für ein Dämonenglaube da betrieben werden sollte. Die Bürger dieses Landes seien mehrheitlich gläubige Muslime und Dschinnen, Ghule und fliegende Teppiche gebe es nur im Märchen. Erna hatte daraufhin geantwortet, dass jemand eben den Eindruck machen wollte, als seine diese Märchen wahrgeworden."
"Ich habe mit Marakesch telefoniert und Ihre Expeditionsdaten angefordert", sagte der Beamte im Rang dessen, was in Deutschland einem Kommissar oder Hauptkommissar entsprochen hätte. "Demnach führten Sie insgesamt fünfhunderttausend US-Dollar mit sich. Für die Summe könnte jemand schon töten, hierzulande sogar schon für ein Prozent davon."
"Das Geld war auf die vier Wagen aufgeteilt. Haben Sie die Summe überprüft, die in unserem Safe unter dem Reserverad enthalten ist?" fragte Rico über Erna. Der Polizist fragte ihn nach der Kombination. Doch die kannten nur Gruber oder Körner.
"Oh, da hätten wir also einen Geldschrankknacker nötig. Moment, Sie führen einen Hochenergielaser mit sich. Der dürfte jeden Schneidbrenner in den Schatten stellen", sagte der Beamte.
"Gut, dann machen Sie damit den Safe auf und zählen das Geld, falls es Ihnen durch den Laserstrahl nicht gleich in Flammen aufgeht", sagte Arne auf Französisch. "Den Code für die Freischaltung können Sie von mir haben."
"Wissen Sie, wir haben gerade einiges um die Ohren, weil es Rebellengruppen gibt, die bin Laden nachahmen möchten. Überlegen Sie sich noch mal gut, was Sie mir und womöglich dem Richter erzählen wollen, wieso Sie vier eine aus zwanzig Mann bestehende und offenbar gut bewaffnete Truppe überlebt haben. Solange sind Sie unsere Gäste." Er drückte einen Knopf, und zwei männliche und zwei weibliche Polizeibeamte traten ein. Karin wollte schon protestieren. Doch Rico sagte ruhig: "Ich habe das Konsulat in Marakesch angerufen und die Botschaft. Hatte Prof Körner alles im Speicher vom Satellitentelefon. Die halten uns hier nicht lange fest."
Erna war da aber nicht sicher, weil sie sich gut vorstellen konnte, dass Frauen in marokkanischen Gefängnissen nichts zu lachen hatten. Dann wurde sie von einer der beiden Beamtinnen ergriffen. Auf Arabisch sprach Erna, dass sie keinen Widerstand leisten würde. Etwas Ruppig wurde sie dann zusammen mit Karin in eine Zelle im Keller geführt. Die Wände sahen so aus, als hätte sich hier vor kurzem jemand mit eigenem Blut künstlerisch betätigt. Die grauenhafte Vorstellung, dass hier insgeheim Leute gefoltert werden mochten überwog beinahe die Todesangst, die sie in der letzten Nacht ausgestanden hatte.
"Die werden uns einzeln verhören", sagte Karin zu Erna. Diese nickte wohl.
Drei Stunden mussten sie in den Arrestzellen ausharren, dann wurden sie wieder abgeholt. Oben erwartete sie ein mann im dunklen Nadelstreifenanzug und blau-grau karierter Krawatte. Er stellte sich als Ingo Schürholz von der deutschen Botschaft vor. Der bisher so überlegen auftretende Polizeibeamte saß im Hintergrund. "Wir haben unverzüglich auf Ihren Notruf reagiert und bedauern, jetzt erst direkt mit Ihnen sprechen zu können. Bitte schildern Sie mir noch einmal den Nnächtlichen Überfall!" Rico und Erna fragten erst nach dem Dienstausweis des akzentfrei Deutsch sprechenden. Er zeigte ihnen eine Plastikmappe mit einem Ausweis, der den deutschen Bundesadler trug. Danach wiederholten die vier ihre Aussage. Dabei war es Erna, die Bilder des nächtlichen Überfalls so genau vor ihrem geistigen Auge zu sehen, als würde sie diesen noch einmal erleben. Sie musste sich sehr zusammennehmen, nicht auszuplaudern, dass sie wirklich von dämonischen Schattenwesen angegriffen worden waren. Herr Schürholz wechselte einige schnelle Sätze mit dem Revierleiter. Dann sagte er:
"Nun, offenbar sind Sie in der Nähe eines Unterschlupfes einer der Al-Qaida nahestehenden Rebellengruppe gewesen. Sie sind nicht die ersten, die davon berichten, dass eine scheinbar eingeschüchterte Dorfbevölkerung dämonische Mächte erwähnt, um missliebige Durchreisende loszuwerden. Ich werde dafür sorgen, dass Sie noch heute das Land verlassen können. Ich gehe davon aus, dass Sie derzeitig kein Gepäck mitführen?"
"Einen zerbeulten Mercedes M-Klasse, drei Magnesiumfackeln, noch ungefähr 1000 Liter Dieselöl, zehn Liter Trinkwasser und einen Hochenergielaser von der Firma Powerlux mit einer Emitteraustrittsleistung von vierhundert Kilowatt bei kontinuierlichem Betrieb und fünf Megawat bei einer Pulsrate zwischen zwei Pico- und eintausend Nanosekunden", bemerkte Arne dazu.
"Das ist aber nicht Ihr Eigentum, oder?" fragte Schürholz.
"Nein, nur für die Expedition ausgeliehen. Sie sind Eigentum der Universität der freien und Hansestadt Hamburg", stellte Rico Kannegießer klar.
"Gut, die Damen und die Herren, in zwei Stunden werden Sie mit einem Hubschrauber zum nächsten internationalen Flughafen gebracht und dann auf Staatskosten mit einer gecharterten Sondermaschine nach Hamburg Fulsbüttel geflogen."
"Nur, wenn wir von da nicht gleich ins nahegelegene Kurzentrum für schwere Jungs und leichte Mädchen einrücken müssen", scherzte Arne und fing sich von Karin einen bitterbösen Blick ein.
"Sagen wir es so, uns ist daran gelegen, dass bis auf weiteres kein mediales Aufheben von Ihrem unerfreulichen Abenteuer gemacht wird. Daher werden wir Sie in einem sicheren Haus unterbringen. - Jaja, wie im Agentenfilm. Aber glauben Sie mir, dass Sie uns danken werden, wenn Sie nicht wegen ihrer Geschichte zum Spielball der Sensationsmedien werden", sagte Schürholz. Dann bedeutete er dem Revierleiter, den Gästen noch mal Gelegenheit zu geben, sich gründlich zu duschen und vielleicht was zu essen.
In einem separaten Raum, nicht im Keller, flüsterte Arne mit den drei anderen auf der Hut vor Wanzen. "Ey, Leute, habt ihr das auch gemerkt, dass dann, wenn ihr mit Erzählen dran wart, dieser Schürholz jeden so tief durchdringend angeguckt hat?" Die anderen nickten. Erna brachte es auf den Punkt. "Es war mir so, als würde er in meine Gedanken hineinsehen und diese nach außen holen. Ich hatte es voll schwer, dem unsere Geschichte zu erzählen."
"Dieses Gefühl hatte ich auch, wie bei der Elbenkönigin Galadriel", wisperte Rico und bekundete damit, dass ihm phantasievolle Geschichten in fremden Welten nicht so fremd waren.
"Nachher hat der echt geespert, was uns passiert ist", zischte Arne und trommelte wie unter Anspannung den Takt eines Liedes, das ihm im Kopf herumging.
"Du meinst, der kommt von einer Art Geheimpolizei, die solche Sachen für echt hält und verfolgt, sowie Moulder und Skully oder dein Lieblingsgeisterjäger aus London?" fragte Erna Arne.
"Das halte ich nach dem von gestern nicht mehr für unmöglich", flüsterte dieser. "Oder was sollte das, dass wir bloß nicht mit der Presse reden sollten und die nicht mit uns. Irgendwie hat da jemand mitbekommen, wo wir waren und eine rote Alarmglocke auf der Anzeige gehabt oder klingeln gehört", raunte Arne. "Joh, jetzt habe ich das Video im Kopf. Wenn der mich nochmal mit dem Gehirnröntgenblick anguckt serviere ich dem das", kicherte er dann noch leise.
Doch Schürholz ließ sich nicht mehr bei den vieren blicken. drei andere Herren holten sie ab und brachten sie zu einem freien Hof, auf dem ein Hubschrauber mit im Bodenbetrieb laufenden Rotoren bereitstand. Erna war bisher noch nie in einem Hubschrauber geflogen. Insofern war das für sie auch was neues. Sie hoffte nur, dass die Maschine nicht unterwegs vom Himmel fiel und sie vier dann durch einen bedauerlichen Unfall doch noch das zeitliche segneten.
Der Flug verlief jedoch ohne Störungen. Sie erreichten den Flughafen von Casa Blanca und wechselten von da in einen Learjet. Arne war hin und weg von dieser Vorstellung, mit einem Staatsjet nach Hause geflogen zu werden. Das hatte er nur in einem Krankheitsfall befürchtet.
Unterwegs schliefen die vier, wobei Erna aus einem heftigen Albtraum aufschreckte, bei dem sie von Ute und Doktor Hinrichsen in Schattenform durch ein dunkles Höhlenlabyrinth getrieben wurde. "Gib's auf, Ruhrpottschätzchen. Der Meister braucht noch mehr jungfräuliches Blut. Oder hast du es mit Arne schon getrieben?" hatte Ute gespottet. Erna hatte dann die heilige Barbara von Nikomedien angerufen, und die hatte ihr unsichtbar einen Tunnel ans Sonnenlicht geöffnet. Ute und Doktor Hinrichsen kreischten, als die Sonne zu ihnen vordrang und flüchteten schneller als ein Wimpernschlag vor dem Licht. Dann war sie aufgewacht. Arne, der neben ihr im zurückgeklappten Sitz schlief schien ebenfalls einen schweren Traum zu durchleiden. Als er aufschrak fragte Erna ihn, was ihm im Traum passiert sei.
"Mir ist der Laser in den Händen explodiert und dann hat mich dieses Adlerding aufgegabelt", flüsterte er. Erna flüsterte ihm ihren Traum ins Ohr. "Vielleicht sollte ich doch zu den Katholen konvertieren, wenn deren Heilige doch was taugen", scherzte er. Erna meinte, sie wäre nicht so katholisch, wie ihre polnische Oma das gerne gehabt hätte. Sie hätte zwar Kommunion und Firmung überstanden, aber danach sei sie nur eine friedlich in irgendwelchen Gemeindeakten ruhende Karteileiche geblieben. "Besser als 'ne echte Leiche", flüsterte Arne danach.
Als die kleine Maschine auf einem abgesperrten Feld des Hamburger Großflughafens gelandet war wurden die vier in einer mit reflektierenden Fensterscheiben ausgestatteten Limousine abgeholt und zu einem Gebäude in der Stadt selbst gebracht, über dessen Eingangstür das Schild "Landeskriminalamt Hamburg" prangte. Dort selbst wurden sie von einer dünnen Frau mit flachsblonder Kurzhaarfrisur und graublauen Augen begrüßt, die sich als Kriminalrätin Albertine Steinbeißer auswies. Erna hatte beim Anblick der Frau das Gefühl, als taste diese sie von oben bis unten ab. Wie zu befürchten war wurde dann jeder und jede zu einem Einzelverhör gebeten. Die anderen sollten in Einzelkabinen warten, bis die Verhöre vorbei waren. Als Erna der Kriminalrätin in ihrem dunkelblauen Hosenanzug gegenübersaß wurde sie erst gefragt, ob sie etwas trinken wolle. Sie argwöhnte nichts und bat um ein Glas Wasser. Danach fragte die Polizeibeamten, wie die Expedition bisher verlaufen sei. Auf die schon sehr private Frage, ob sie während der Expedition eine freundschaftliche oder gar geschlechtliche Beziehung angebahnt habe antwortete Erna frei heraus, dass sie mit Arne Hansen ging. Auf die Frage, ob sie während der Expedition eine Gelegenheit zu sexuellem Verkehr gesucht und genutzt hätten sagte Erna, dass sie zwar schon davon geträumt habe, mit Arne zu schlafen. Doch die Expeditionsteilnahmebedingungen seien da zu strickt formuliert, was das anginge. Erna fragte sich keinen Moment, was der ihr gegenübersitzenden denn einfiel, solche Fragen zu stellen, und vor allem fragte sie sich nicht, wieso sie ihr diese Fragen auch noch so freimütig beantwortete. Dann sollte sie die Ereignisse von letzter Nacht erläutern. Ohne zu überlegen, wie sie das unbegreifliche für rational tickende Leute begreiflich erzählen sollte plauderte sie frisch von der Leber weg aus, dass Arne, Karin, Rico und sie und alle anderen, die nicht überlebt hatten, von einer Horde schattenhafter Mordgespenster überfallen worden waren. Sie beantwortete Detailfragen so, als sei es das selbstverständlichste von der Welt, von irgendwelchen alten Schattengeistern angegriffen zu werden. So zog sich das Verhör über zwei Stunden hin. Dann sagte die Kriminalrätin:
"Ich bedanke mich rechtherzlich für Ihre Auskunft, Frau Grabowsky. Mit diesen Angaben wird es hoffentlich gelingen, Urheber und Absichten dieses Überfalls zu ermitteln. Ich bedauere es zu tiefst, dass so viele Ihrer mitreisenden Komilitonen starben oder gar zu Artverwandten dieser Wesen wurden. Aber Sie dürfen beruhigt sein, dass wir alles menschenmögliche und darüber hinaus tun werden, Sie und Ihre Leidensgefährten vor weiteren Nachstellungen zu schützen." Erna wollte gerade noch was dazu sagen, doch da hatte die andere einen Holzstab in der Hand, wo hatte sie den denn so plötzlich her? Diese Frage versackte unvermittelt in einer schmerzlos über sie kommenden Besinnungslosigkeit.
Als Erna wieder bei den anderen war freute sie sich, dass sie der anderen hatte helfen können, den längst bestehenden Verdacht zu bestätigen, dass Al-Qaida im Atlasgebirge einen Stützpunkt unterhalte. Mit den von ihr gemachten Angaben konnte sie sicher den Schlupfwinkel ausheben lassen. Ganz sicher wurde der Erfolg der marokkanischen Armee zugesprochen. Dass sie und die anderen überlebt hatten mussten sie nicht an die große Glocke hängen. Denn sonst würden die Terroristen sicher fanatische Nachahmer suchen und finden, die die lästigen Zeugen doch noch beseitigten. Mit dieser Gewissheit kehrten die vier drei Tage später an die Universität zurück. Es wurde so hingestellt, als hätten sie vorzeitig die Expedition abbrechen müssen. Immerhin hatten die vier keine Albträume mehr von wild um sich schießenden und Handgranaten werfenden Fanatikern.
Er fühlte, wie die Körper seiner stärksten Diener zerrissen wurden. Wieso konnten diese Unfähigen so starkes Licht herbeirufen? Was war das für ein haardünner Strahl, der die Kraft von hundert Sonnenstrahlen besaß? Seine größten Kämpfer waren ihrer Körper entrissen und zu ihm, Kanoras, zurückgeworfen worden. Zumindest hatte niemand das Licht der reinen Lebenskraft gegen sie verwendet. Denn dann wären auch ihre Essenzen zerstört worden. Doch er konnte sie erst wieder in die Welt zurückschicken, wenn genug lebendes Fleisch dafür in seinen Feuern der Verinnerlichung verbrannt worden war. Doch die von seinen üblichen Dienern eingebrachte Beute reichte noch nicht, um den Blutriesen, den König der Flammenlöwen und den Todesadler mit neuen Körpern zu versehen. Sie klagten wie die ebenfalls ihrer Körper beraubten Schatten, darunter auch schon einige der jetztzeitigen Menschen. Es waren auch zwei Frauen dabei, die in einem hellen Licht feststeckten und nicht vor und zurückweichen konnten. Erst als das sie umschließende Licht erlosch hatte er sie zurückrufen können. Sie hatten ihm dann durch direkte Geistberührung verraten, dass vier ihrer Gefährten entkommen waren. Aber das wusste er auch schon von dem im Flug entkörperten Todesadler. Das durfte der größte Meister nicht erfahren, und auch dessen künftiger Knecht Vengor sollte es nicht wissen. Wenigstens erfuhr er, welche Waffen die Fleischlinge gegen seine Schattendiener verwendet hatten. Dass die zur erhabenen Kraft unfähigen eine Vorrichtung ersonnen hatten, die ein Bündel aus gleichgerichtetem Licht aussenden konnte ärgerte ihn, weil es ihn ängstigte. Dieses unnatürliche Licht konnte seine Diener verletzen, sie regelrecht zerschneiden oder durchbohren. Wenn die das weitererzählten, womöglich noch den jetzigen Gebietern über die Kraft, dann würden seine Schatten keine ernsthafte Bedrohung mehr darstellen. Um so wichtiger war es, mit Vengor und dem größten Meister der Finsternis in Verbindung zu treten, um seine Macht zu bewahren.
Aldos Gäste staunten und lächzten, als sie die ganzen Darstellungen von mehr oder weniger wilden Liebesakten zu sehen bekamen. Er hatte es geschafft, vier einflussreiche Industrielle, die ihm noch einen Gefallen schuldeten, zu seiner exklusiven Party einzuladen. Dass er sich diesen auslieferte, weil die nun seine Sammlung kannten, war für ihn völlig nebensächlich. Um Mitternacht würden sie, wenn alles wie gewünscht ablief, sowieso nichts mehr gegen ihn unternehmen wollen.
"Ui, noch eine Buhlhexe", grinste Mark Goldman, Geschäftsführer eines großen detroiter Autofabrikanten. Aldo grinste zurück. Er dachte daran, dass seine Gäste keinen Tropfen Alkohol zu trinken bekommen hatten. Das hatte er damit begründet, dass sie bis Mitternacht warten mussten, um den Geist dieser Halloweennacht mit allen klaren Sinnen empfangen zu können. Gleich war es soweit. Nur noch eine Minute.
"Ich weiß, dass viele von Ihnen sehr gerne schon mal vorgeglüht hätten, um mit viel Freude in diese lange Nacht hineinzufinden. Aber die Freude wird um so größer sein, wenn wir alle nüchtern aber erwartungsvoll den Geist dieses Halloweens beschwören. Dort schläft er", sagte der Gastgeber und deutete auf das gewaltige Gemälde. Die darauf abgebildeten Blumen mit den menschnlichen Gesichtern sahen sehr gequält aus. Goldman zählte die Blumen und kam auf sechsunddreißig. Was hatte den Maler veranlasst oder getrieben, diese Gesichter zu malen. Waren das Leute, die der Schöpfer dieses fragwürdigen Kunstwerkes gekannt hatte?
"Wollen Sie damit behaupten, dieses Frauenzimmer da sei kein Bild, sondern echt?" fragte Albano Rivera, Bankfilialleiter aus Manhattan und wie gemunkelt wurde, Verbindungsmann zur Cosa Nostra, um deren schmutziges Geld zu waschen.
"Das finden wir gleich heraus, Gentlemen", verkündete Burton und trat vor. Dann deutete er auf die eine Blume, um deren Stengel eine violette Schleife gebunden war. Er winkte alle zu sich hin. Da der Text trotz maximaler Annäherung nur mit einer Lupe gelesen werden konnte war es Aldo, der das übernahm. Er deklamierte aber nicht alles, sondern erklärte, dass es von diesem Wesen hieß, dass es Macht über Menschenund Pflanzen haben sollte. Dann meinte er mit schalkhaftem Grinsen: "Wer ausprobieren will, ob diese Lady dort nur eine abstruse Phantasie oder wahrhaftig ist möge mir die Formel nachsprechen. Gentlemen, bitte seien Sie keine Spielverderber und machen Sie alle mit! Um so größer wird für unss alle die Offenbarung sein."
"Offenbarung, altgriechisch auch Apokalypse genannt", lachte Rivera. Alle anderen sahen ihn teils belustigt, teils vorwurfsvoll an, weil er dem Gastgeber in seine Vorstellung dreingeredet hatte. Doch dieser erwiderte ganz locker:
"Dann wissen Sie ja auch, dass die würdigen selbst den Weltuntergang überleben können. Also bitte, die Herren, sprechen Sie mir alle nach:" Er sah jeden einzeln an. Irgendwie schien von seinem Blick eine starke Kraft auszugehen, die in alle Köpfe drang. Auch Goldmann und Rivera fühlten diese Kraft. So riefen alle laut und deutlich die Anrufung aus, die Burton ihnen vorsprach.
Zehn Sekunden lang geschah nichts, und alle fingen schon zu grinsen an. Da entstand ein mächtiger Sog vom Bild her, der die Luft und alle Anwesenden erfasste. Sie verloren den Halt und purzelten, weil sie schon so nahe bei dem Bild standen, dagegen und in dieses hinein. Dann sahen sie alle, wie die fünf Meter große Frau sich bewegte, ihre Füße noch weiter auseinanderstellte und mit schnellenWinkbewegungen die ihr wortwörtlich zufallenden überstrich. Mark Goldman erstarrte, als ihm klar wurde, dass sie gerade einen tödlichen Fehler begangen hatten. Sie hatten wahrhaftig übernatürliche Kräfte geweckt. Er wollte zurück, warf sich herum und versuchte, durch die Barriere zurück in den Keller zu gelangen, der für ihn gerade wie ein in leichtem Dunst liegender Höhleneingang mitten auf der Wiese wirkte. Doch der Dunst war nichts anderes als eine Wand aus Panzerglas. Zumindest empfand er das so, als er mit Kopf und Bauch dagegenprallte. Er stieß die Faust vor und traf die beinahe unsichtbare Absperrung. Dabei fühlte er, dass die Wand heiß wie das Dach eines bei Sommermittag in der Sonne geparkten Autos war. Der Schmerz im Handgelenk und die Verbrennungen an allen Fingern trieben erste Tränen in seine Augen. Da hörte er die Unheimliche sagen:.
"Ihr alle habt mir eure Hingabe und Unterwerfung geschworen. Also alle her zu mir!" Mark Goldman fühlte, wie dieser Befehl allen Schmerz vertrieb und seinen Widerstandswillen brach. Mit einer Mischung aus Schicksalsergebenheit und Vorfreude wandte er sich um und sah, wie die ersten schon zu der fünf Meter aufragenden Dämonin hingingen. Was immer die nun mit ihm anstellen wollte, er würde es hinnehmen und erdulden. Fliehen konnte er sowieso nicht mehr.
"Wenn ich zehn von euch zu mir genommen habe kann ich uns gegen unsere Feinde absichern. Aber dann könnt ihr vielleicht nicht mehr in eure Welt zurückkehren. Doch sei es wie es sei. Ich will frei sein, und ihr werdet mir alle dabei helfen." sagte die Fünf-Meter-Frau. Dann befahl sie allen, ihre Kleidung abzulegen. Danach wuchs sie auf fünfzehn Meter Höhe an, bevor sie gleich zwei Männer auf einmal mit den Händen auflas und sie zu sich hinzog.
Die anderen Gefangenen und künftigen Diener der Unheilsbringerin standen nur da und konnten zusehen, wie die Übernatürliche einen nach dem anderen ihrem ganz intimen Einführungsritual unterzog. Jeder Akt dauerte fünf Minuten, und wer dann wieder auf seine Füße gestellt wurde und freie Luft atmen konnte freute sich unbändig, endlich dazuzugehören. Je mehr die Unheimliche sich unterwarf, desto mehr schmolz in jedem der Rest von Selbsterhaltungstrieb. Jeder wollte nur noch eins mit der Gigantin sein, sie spüren und von ihr vereinnahmt werden. Als letzter kam Mark Goldman an die Reihe. Er hatte schon längst vergessen, dass er eine Ehefrau hatte und diese wie er auf einer Halloweenfeier war. Er freute sich, als die rechte Hand der baumhohen Frau ihn sanft ergriff und vom Boden hob. Endlich war er dran.
Aldo sah zurück, wo sein Keller wie ein kleines Fenster über der grünen Wiese schwebte. Er hörte, wie seine Gebiterin jeden einzelnen zu sich nahm und als ihren getreuen Diener wieder freigab. Das dauerte wohl die ganze Nacht.
Endlich hatte sie alle an sich gebunden, die er ihr noch hatte beschaffen können. "Schön, ich hätte nur drei Dutzend Leben gebraucht. Jetzt habe ich neun Dutzend und damit das dreifache. Ich bin frei!" freute sich Alontrixhila und umarmte ihre neuen Diener. Im Moment war sie wieder normalgroß. Dafür sei euch eure Belohnung gewiss", sagte sie und machte über alle eine ausladende Geste. Da schrumpften sie alle zusammen und wurden zu auf der Wiese liegenden Samenkörnern. Da Alontrixhila keine Kleidung hatte nahm sie die ihr am besten passende Kleidung eines von Burtons Gästen. In den Hosen und Jackentaschen sammelte sie die Samenkörner ein.
"Nein, Alontrixhila, du sollst noch nicht hinausgehen", hörte sie die Stimme ihres Schöpfers.
"Ich verweile nicht hier an diesem Ort, der nun den Feinden bekannt ist, Hironimus Pickman, Sohn der Helena, der Tochter der Horatia. Ich werde mir eine neue Unterkunft schaffen und mein Leben leben. Es steht dir frei, daran teilzuhaben oder mich mit der mir gebührenden Anerkennung um Hilfe zu bitten. Aber ich bleibe nicht hier." Mit diesen Worten klaubte sie die letzten in Samenkörner verwandelten auf und lief durch die nun für sie völlig durchlässige Barriere. Da hörte sie in ihrem Kopf die Worte:
"Quod creata sit deleta! Alontrixhila sit mortua!" Sie erstarrte in der Bewegung, fühlte, wie von hinten ein neuer Sog auf sie einwirkte. Doch dann stemte sie sich dagegen. Sie fühlte Wärme in sich aufsteigen und auch von hinten kommen. "Verba magistri audi! Verba sua leges sunt! Quod creata sit deleta! Alontrixhila sit mortua! Alontrixhila mori! Mori! mori!"
Die durch diese Formel betroffene stöhnte und ächzte unter großen Schmerzen. Der kleine Sterbliche, der sie aus seinem dunklen Labyrinth seiner Seele mit dem schlummernden Ich einer wahren Tochter Lahilliotas vereint hatte, wollte sie wahrhaftig töten. Sie kämpfte dagegen an. Sie hatte neun Dutzend Seelen an sich gebunden, konnte und musste ihre Kraft aufwenden. Doch die Hitze in ihrem Körper nahm zu. Gleichzeitig sah sie den an den Wänden leuchtenden Widerschein eines lodernden Feuers in ihrem Rücken. "Mori! Mori! Mori!" klang der Befehl dieses kleinen Malergesellen, der meinte, die wahre Macht der Lahilliota für sich ausnutzen zu dürfen. Je mehr er ihr zusetzte und je mehr sie ihm widerstand, desto mehr Erinnerungen kamen ihr an den, der sie erschaffen hatte. Sie schrie auf. Nein, das durfte nicht das Ende sein. Der konnte sie doch nicht einfach umbringen wie eine lästige Fliege. Sie wusste nicht, ob es was brachte. Sie zog einige der von ihr verwandelten aus der Jackentasche dieses reichen Kurzlebigen und schleuderte die Körner hinter sich in die Flammen. Sofort zischte es laut. Sie sprang weit vor. Da fauchten mehrere Stichflammen aus dem Wiesengemälde. Sie schrie vor Hitze und in ihr explodierenden Schmerzen. Dann war es vorbei.
Pickman schwitzte und keuchte. Doch er musste den Vernichtungsbefehl immer wieder denken. Er fühlte den unglaublichen Wiederstand seiner Schöpfung. Dann brach etwas auf, was wie ein lauter Aufschrei aus zwanzig Kehlen war. Gleichzeitig zerschlug Pickman mit einer silbernen Axt den wiesengrünen Stein, der eine unmittelbare Verbindung zu Alontrixhilas Bild hatte. Der Stein zerstob in einer Wolke aus grünen Funken. Er hörte noch den Aufschrei der von ihm zu tötenden. Dann war es still. Er hatte es geschafft. Er hatte die ihm doch zu schnell zu mächtig gewordene Kreation noch rechtzeitig vernichtet. Es war wohl auch das richtige. Denn während er sie über den Kontaktstein zu sterben angewiesen hatte waren ihm Bilder seines Lebens in den Kopf gestiegen und wie ein sanftes Pochen in den Kontaktstein übergesprungen. Hatte er dieses Biest doch echt noch mit seinen Erinnerungen gefüttert, bevor ihr Widerstand endlich zusammenbrach? Aber was waren das dann vor ihrem letzten Aufschrei für Schreie. Natürlich, sie hatte in dem Bild, dass er gemalt hatte, noch zwanzig unterworfene Menschen beherbergt. Die waren mit dem Bild vergangen. Womöglich brannte der Raum jetzt sogar lichterloh, wo das Bild gehangen hatte, soviel magische Energie war da wohl gerade freigesetzt worden.
"Die anderen spuren zumindest. Ihr hattet recht, dunkler Lord, dass mit den Haaren einer Abgrundstochter kein Spiel getrieben werden darf, wenn nicht dafür gesorgt ist, dass nur ich es gewinne", dachte Pickman an die Adresse seines verstorbenen Herrn und Meisters.
Das Piepen der Feuerwarnanlage schrillte durch das ganze Haus. Da Burton seinen Dienern für den Abend freigegeben hatte, um seine ganz besondere Halloweenparty nur mit besonderen Gästen alleine zu verbringen, hörte es keiner. Nur die im Haus Brand- und Erschütterungssicher verbaute Überwachungstechnik reagierte auf den Feueralarm. Sofort wurde mit Lasern jeder Raum im Umkreis des Brandherdes nach nicht als zur Standardeinrichtung gehörigen Körpern überprüft. Als nach nur zwei Sekunden feststand, dass niemand sich im Brandbereich aufhielt trat mit lautem Zischen die CO2-Löschanlage in Kraft. Nach nur zwanzig Sekunden war das Feuer erstickt. Welchen Schaden es bis dahin angerichtet hatte musste von Menschenhand geprüft werden. Zumindest wurde die Alarmbereitschaft für einen Notruf an die Feuerwehr zurückgenommen. Schließlich war kein Mensch in Gefahr geraten, und die feuersicheren Türen hätten eine Ausbreitung des Brandes lange genug verhindert, um ihn von selbst ersterben zu lassen.
Ein kurzes Flimmern in der Luft im großen Wohnzimmer, und mit einem Ausdruck großer Genugtuung stand sie da, groß wie eine normale Menschenfrau, das lange, Ebenholzschwarze Haar leicht zerzaust. Doch ansonsten war ihr nichts passiert. Die Kraft der zwanzig geopferten Seelen hatte ihr die Unversehrtheit bewahrt, und als das Bild vollständig in Flammen aufging war die zwischen ihr und diesem Pinselschwinger bestehende Verbindung abgerissen. Das hatte ihr zwar einen Moment lang heftigste Kopfschmerzen bereitet, aber jetzt war sie wirklich frei. Er konnte ihr nichts mehr tun. Sie hatte sich zu viele natürliche Leben angeeignet, als dass sie nur eine reine Phantasiegestalt geblieben wäre. Sie hatte die Grenze überwunden und konnten nun frei und ganz für sich handeln. Sie lächelte.
"Wiege dich in der trügerischen Sicherheit, du hättest mich vernichtet, Hironimus Pickman! Schon bald werde ich dir meine Aufwartung machen. Und dann wirst du dir wünschen, mein treuer Diener zu sein oder die schlimmsten Qualen zu erleiden, die ich dir antun kann", dachte sie. Dann horchte sie. Da waren Gedanken, die nicht von ihr waren. Sie fühlte, dass jemand nach ihr tastete, sie suchte. Sofort verschloss sie ihren Geist. Die suchenden Gedankenströme verebbten. Dann wurde ihr klar, was passiert war. Die fremden Gedanken waren mit ihr artverwandt. Sie dachte daran, dass sie noch Schwestern hatte, natürlich geborene Schwestern. Doch die würden sie nicht dulden, solange sie nicht bewiesen hatte, dass sie wahrhaftig eine von ihnen war. Auch fiel ihr ein, dass ihre Mutter Lahilliota sie niemals hatte bekommen wollen. Sie wollte damals nur neun Töchter haben, um das Quadrat der erhabenen Dreizahl zu erreichen. Sie war nicht in Lahilliota herangewachsen und hatte ihre Lebensessenz mitbekommen. Sie entstammte einem abgestorbenen Teil einer natürlichen Abgrundstochter. Diese würde sich sicher nicht gerade freuen, dass jemand es gewagt hatte, mit einem Teil von ihr eine als beliebig lenkbar gedachte Nachhamung zu erschaffen. Ja, da draußen lauerten wirkliche Feindinnen, Rivalinnen, denen sie erst dann entgegentreten durfte, wenn sie das geschafft hatte, was diesen die Macht gab.
"Dann wird mich der gute Aldo eben in seinem herrschaftlichen Haus beherbergen, will er nicht doch noch von mir fest in die Erde gepflanzt werden", dachte Alontrixhila. Dann fiel ihr ein, dass sie die von ihr übernommenen unbekleidet verwandelt hatte. Deren teuren Sachen waren sicher mit ihrer Quelle verbrannt. Doch Aldo hatte sicher genug Sachen im Haus. Wenn nicht musste sie eben zusehen, neue Sachen zu beschaffen.
Lahilliota alias Alison Andrews erwachte aus einem Traum. Sie sah eine Frau, die zwischen Riesengröße und natürlicher Körpergröße wechseln konnte, aus einer Feuerwand heraustreten, umflossen von einer violetten Aura, der Aura ihrer eigenen Kinder. Dann flog ihr die Feuerwand entgegen, und Lahilliota erwachte. Sofort tastete sie mit ihren Gedanken nach ihren wachen Töchtern. Dass Errithalaia gerade auf einer Halloweenfeier in einem Militärlager in Deutschland war fühlte sie gerade eben noch, bevor diese sich wütend vor ihr verschloss. Offenbar suchte sie weiter nach neuen Getreuen, die ihr zu ihrer eigentlichen Körpergröße verhelfen sollten. Die anderen wachen Töchter gingen ihren neuen Leben nach. Itoluhila hatte in ihrem Freudenhaus zu einer sehr leidenschaftlichen Halloweennacht geladen. Tarlahilia war mit ihrem neuen Diener unterwegs in Ägypten, um dort nach jemandem zu suchen, der sie kurz nach ihrer Erweckung gekränkt hatte und dafür büßen sollte. Thurainilla und ihr zum Schattenhalbling gewordener Erwecker trieben sich im Vergnügungsviertel von Tokio herum, sie im für Japaner reservierten Bereich, er dort, wo die internationalen Touristen ihren Spaß suchten. Ullituhilia und ihre Diener feierten Halloween in kleiner Runde. Doch da war noch was, eine weitere Präsenz. Es war ähnlich Itoluhilas Gedankenstimme. Doch dann veränderte es sich immer mehr. Doch es war eindeutig eine erhabene Tochter, die wohl gerade erst nach langem Schlaf in die Welt zurückgekehrt war. Einen Moment lang meinte sie, den Geist dieses Wesens ertasten zu können, doch da zuckte dieser zurück und verfiel in tiefstes Schweigen. Lahilliotas Gedankenfühler strichen durch einen scheinbar leeren Raum. Einen winzigen Moment hatte sie jedoch erfasst, dass sich die andere als zehnte Tochter empfand und sich schlagartig bedrängt fühlte. Eine zehnte Tochter hatte Lahilliota nie geboren, ja nie gebären wollen. Sie wollte das Quadrat der Dreizahl an vaterlosen Kindern haben. Doch es war eine andere, nicht eine, die sie schon geboren hatte. Das konnte nicht sein. Sowas durfte nicht sein. Nur sie, Lahilliota, die mächtige Herrin des Lebens, hatte zu befinden, wer ihre Tochter sein durfte. Dass sie jetzt mit der Seele und dem Körper Alison Andrews' verschmolzen war hieß nicht, dass jemand anderes mal eben zu einer zehnten Tochter von ihr werden konnte. So rief sie nach ihren erreichbaren und ihr folgenden Töchtern und befahl sie zum Berg der ersten Empfängnis, wenn sie unauffällig verschwinden konnten.
Nancy Gordon erwachte mit leichtem Unwohlsein in einem Bett. Sie erschrak erst, weil sie daran dachte, was sie gerade eben noch erlebt zu haben meinte. Sofort glitt ihre Hand nach links. Doch sie griff an eine mit Rauhfaser tapezierte Wand. Uff! Bis eben hatte sie noch gedacht, auf einer extrabreiten Matratze zu liegen und ... O Mann! Diese Halloweenparty war ja doch ziemlich heftig gewesen. Oder war es nur ein Traum gewesen? Sie setzte sich auf. Dabei fühlte sie sich schwindelig. Was war denn los mit ihr? Es war echt so, als hätte sie jemand total ausgezehrt. Am Ende hatte sie noch Besuch von einem Vampir oder einem Bruder dieser Abgrundsschwestern gehabt. Immerhin würde das den total verdrehten Traum erklären, wenn es denn ein Traum gewesen war.
Nancy tastete nach dem Nachttisch und fand den Schalter für die Lampe. Endlich ging das Licht an. Doch es tat ihr in den Augen weh. Nein, nicht, dass sie am Ende doch von einem Vampir erwischt worden war! Sie fühlte sofort an ihren Hals. Doch die zwei typischen Einstiche waren nicht zu fühlen. Auch da, wo sonst viel Blut durch ihren Körper floss waren keine punktartigen Verletzungen. "Mädchen, konzentrier dich! Was ist jetzt passiert und was nur eine blöde Phantasie?" fragte Nancy sich in Gedanken selbst.
Sie war bei dieser Halloweenparty in Miami gewesen. Soweit so gut. Das hatte sie wohl echt erlebt. Um kurz vor Mitternacht hatte der DJ das Licht heruntergedimmt und viel Rotanteil dazugeschaltet. Dann hatten die Gastgeber die Kellnerinnen in mittelalterlicher Magdkleidung noch mal herumgeschickt, um einen orangefarbenen Cocktail namens Jack O'Lantern auszuteilen. Diese kürbislikör- und was noch enthaltenden Getränke wurden sogar flambiert, was bei der roten Dämmerbeleuchtung den Eindruck verstärkte, in der ominösen Hölle der Eingottanbeter zu feiern. Alle hatten sich zugeprostet und den Geist von Halloween angerufen. Dann hatte der Plattenjongleur einen Mix aus alten Halloweenschlagern abgefahren, zu dem die Gäste in die Mitternacht hineintanzen sollten. Der im romangetreuen Dracula-Kostüm an den Reglern und Plattentellern hantierende Bursche hatte dabei alle mit seinen künstlichen Vampirzähnen angestrahlt. Wie es dann kam, dass erst die einen und dann die anderen immer hemmungsloser umhersprangen und sich andauernd neue Partner suchten verstand Nancy nicht. Sie wusste nur, dass sie nicht mit einem Schlumpf in die Mitternachtsstunde hineinfeiern wollte. Der schien sich auch eher was in seiner Größe vorzustellen und tanzte auf einen Marienkäfer zu, der zwei Köpfe kleiner als Nancy war. Am Ende war sie mit dem Helfer des bösen Sternenimperators, Darth Vader, zusammengekommen. Der dunkle Ritter und die Walküre. Ja, das hatte was. Sie tanzten so ausgiebig, dass ihnen richtig heiß wurde. Als dann kurz vor Mitternacht ein langsames Elektronikstück anlief, das irgendwie gleichzeitig unheimlich wie geheimnisvoll herüberkam, legten der in Schwarz gekleidete dunkle Jedimeister und die in goldener Rüstung steckende Dienerin Odins einen sehr körpernahen Klammerblues aufs Parkett. Was dann passierte musste einfach ein Traum gewesen sein, dachte Nancy. Die Musik wurde immer sphärischer, die Töne regten herrlich an. Der Rhythmus ließ sich wunderbar zum atmen und zum tanzen benutzen. Dann verfielen alle, auch Nancy, dem Drang, die Halloweenklamotten in die Ecke zu werfen, ohne aus dem Tanzrhythmus zu geraten. Dabei konnte sie erkennen, dass ihr der dunkle Jedimeister irgendwoher bekannt vorkam, als der seinen Helm und die Maske abnahm. Überhaupt meinte sie, unter den Kostümen immer mehr ihr schon mal begegnete Leute zu erkennen. Der Mann, der sich als Amme verkleidet hatte, warf die Schürze und die falschen Brüste auf einen Stuhl und warf sich einer sich gerade aus einer Bienenkönigin in eine halbnackte Frau zurückverwandelnden in die Arme. Auch diese Frau meinte Nancy schon mal gesehen zu haben, ja im Ministerium vor dem Büro für magische Patentangelegenheiten. Wie konnte das angehen? Waren die etwa alle Zaubererweltbürger?
Nancy hatte die Frage nicht durchdenken können, denn irgendwie hatte sie durch den Anblick hemmungslos alle Kleidung abstreifender Männer und Frauen keine Scham empfunden, ebenfalls den Rest ihrer Kleidung loszuwerden und nun mit dem nackten Darth Vader auf einer herrlich vorgewärmten Tanzfläche zu hüpfen. Wenn sie jetzt zusammenstießen ... Ui, der böse Jedimeister zeigte starke Erregung. Ja, das gefiel ihr. Sie sah nur noch ihn an, lauerte auf einen frontalen Zusammenstoß. Als dieser Kam warjede Hemmung und jedes Misstrauen dahin. Sie stieß ihn nicht von sich weg, sondern zog ihn an sich. Ja, jetzt waren sie sich richtig nahe. Sie hörte im Hintergrund, wie die Musik zu einem langsamen, aber kraftvollen Teil überging. Sich nichts dabei denkend, einen Mann, den sie nicht einmal mit Namen kannte ganz intim mit sich vereint zu halten, vollführten sie einen sanften und dann immer ausschweifenderen Paartanz. Irgendwie waren sie von Beginn an bestmöglich aufeinander abgestimmt. Denn sie blieben in der nächsten Nähe.
Als Nancy sich doch mal umsah erkannte sie, dass nicht nur sie und ihr intimer Tanzpartner alle Hemmungen verloren hatten, sondern ausnahmslos alle hier im Saal. Doch sie nahm es nur zur Kenntnis, ohne darüber nachzudenken, was das hieß. Zu herrlich fühlte sich das für sie an. Doch sie merkte, dass es im Stehen nicht die ganze Lust in ihr entfachen konnte. So machte sie mit ihrem Tanzpartner das, was alle anderen taten. Sie suchte und fand eine der unbemerkt an den Wänden ausgelegten, blütenweiß bezogenen Matratzen. Das Licht wurde noch ein wenig dunkler. Die Musik blieb im langsamen aber antreibenden Rhythmus. Als Nancy und ihr gerade ohne Helm, Maske und alles andere sein Werk verrichtender Bösewicht richtig unartig zueinander waren und das wilde Luder in ihr voll erwacht war war es nur noch eine einzige Orgie aus sich hemmungslos liebender Männer und Frauen. Sie fanden kein Ende. Immer wieder schrien Frauen ihre Wallungen in den Saal. Dann versank alles um sie herum in Schwärze und Stille.
Jetzt fand sie sich in einem Bett wieder, dem, das sie vorbestellt hatte. Sie war in ihrem Hotelzimmer. Verdammt! Wie war sie denn von der Party hierhergekommen. Oder fand die Party erst heute statt? Sie sah sich um und entdeckte einen Stuhl, über dem ihre Kleidung hing. An der Wand lag die Papprüstung mit Goldüberzug und das Walkürenschwert aus Plastik. Dann fand sie einen an sie adressierten Brief mit dem Logo des Hotels, in dem sie nur übernachten wollte, auf dem Nachttisch:
Sehr geehrte Ms. Gordon,
für den Fall, dass Sie sich nicht mehr daran erinnern können, was gestern abend vorgefallen ist möchten wir Ihnen mitteilen, dass sie nach dem Besuch einer Halloweenfeier in sehr stark angeheitertem Zustand in unserer Lobby erschienen und meinten, unsere jungen Bediensteten zu geschlechtlichen Handlungen auffordern zu müssen. Um jeden Aufruhr zu vermeiden und unseren wie Ihren Ruf zu schützen haben unsere weiblichen Bediensteten Sie in Ihr Zimmer gebracht und ihnen beim Umkleiden geholfen. Sie schliefen bereits, als unsere Bediensteten sie ins Bett legten.Wir möchten darauf hinweisen, dass wir es sehr bedauern, dass Sie unseren individuellen Service nicht im nüchternen Zustand genießen durften und bekunden unsere Erleichterung, dass es zu keinem Skandal gekommen ist. Aber wir möchten Sie bei allem schuldigen Respekt darum bitten, bei weiteren Feierlichkeiten nicht derartig die Haltung und Selbstbeherrschung zu verlieren. Sonst könnte Ihnen demnächst wirklich sehr peinliches widerfahren. Auch wenn wir nicht wirklich berechtigt sind, Sie in dieser Weise zu beraten, so hoffen wir, dass Sie, wenn Sie wieder Herrin Ihres Verstandes sein werden, unsere notwendigen Maßnahmen zu schätzen wissen werden.
Mit freundlichen Grüßen und besten Wünschen für eine vollständige Erholung
Egon Treemane, Geschäftsführer Miami Plasa Hotel
"Nancy, du wirst zu alt für sowas", knurrte sie, als sie den Brief von Mr. Treemane noch einmal durchgelesen hatte. Dann war das mit der wilden Sexorgie echt nur ein durchgeknallter Traum, die durch Alkohol ausgelöste Phantasie einer ausgehungerten Frau gewesen. Oha, dann musste sie sich aber bei den Leuten hier sehr brav entschuldigen und den Jungs, die sie in ihrem Rausch vielleicht angebaggert hatte, zumindest auf den Schreck hin Extratrinkgeld geben. Dann gab es auch einen Sinn, dass sie geträumt hatte, nur ihr bekannte Leute zu sehen zu kriegen. Ja, wenn sie sich jetzt noch genauer konzentrierte kam ihr ihr wilder böser Jedilord so vor wie einer der vielen Enkel von Maya Unittamo, bei der sie Verwandlung gehabt hatte und der sie gute Tricks für einfache Gesichtsveränderungen verdankte. Aber sie hatte keinen Kater. Wenn sie wirklich so über die Ziellinie geschossen war musste sie doch jetzt einen gewaltigen Ballon mit mindestens drei Bar Überdruck zwischen den Schultern haben. Aber den hatte sie nicht. Eher war ihr so, als hätte sie einen Marathonlauf mit Start-Ziel-Sieg hinter sich gebracht. Aber Muskelkater hatte sie auch nicht. Also hatte sie wirklich keinen wilden Sex mit einem ihr nicht vorgestellten Partygast gehabt. Denn das letzte Mal, was ihr drittes Mal im Leben überhaupt war, hatte sie am nächsten Tag alles gespürt, was dabei in Bewegung gewesen war und es auch im Unterleib ziepen gespürt, weil ihr damaliger Einzelnachtpartner nichts von einem langen Vorspiel gehalten hatte und sie die Stimmung nicht kaputtmachen wollte. War das echt schon zehn Jahre her? Das war also schon ein Jahrhundert zurück, dass sie sich mal richtig ausgetobt hatte. Nein, aber in der Halloweennacht war wohl nichts passiert. Und die netten Leute vom Plasa hatten schnell dafür gesorgt, dass sie auch keinen der Pagen vernaschen konnte. Der arme hätte wohl einen Schock für's leben bekommen, von einer nordischen Walküre entjungfert zu werden, oder wie immer das bei Jungen genannt wurde. Ui, also Halloweenpartys in der Muggelwelt sollte sie dann doch besser auf die Liste "auf jeden Fall zu vermeiden" setzen. Womöglich hatte jemand als Halloweenscherz irgendeine Droge in eines ihrer Getränke gemischt. Vielleicht sollte sie ja echt in die entsprechende Stimmung kommen, hatte aber wohl gerade noch die Kurve gekriegt und sich in ihr Hotel fahren lassen. Erst da hatte was auch immer sie wuschig gemacht. Am Ende musste sie noch lesen, dass irgendein Scherzbold wegen Körperverletzung und Kuppelei unter Zuhilfenahme illegaler Stimulantien vor Gericht kam.
Jetzt hatte sie nur vier Ziele, irgendwie aufstehen, sich tagestauglich herrichten, frühstücken und dann abreisen. Ach ja, und das großzügige Trinkgeld für die Zimmermädchen und die Pagen nicht vergessen. Sie hoffte, dass ihre für einen ganzen Tag eingeplante Muggelweltkasse das hergab.
Als sie sich aus dem doch sehr bequemen Bett hochgestemmt hatte galt ihr erster Griff der Digitaluhr, die sie bei Ausflügen in die magielose Welt umband. Die zeigte ... "Sechzehn Uhr zehn?!" Sie legte die Uhr wieder auf den Tisch. Dann atmete sie durch. Hatte sie einen halben Tag verschlafen? Wann war sie denn von der Party ... Ach ja, gegen Mitternacht. Dann hatte sie echt mehr als fünfzehn Stunden am Stück geschlafen? Sie prüfte noch mit der Kalenderfunktion das Datum. Immerhin war jetzt der erste November und nicht schon der zweite oder dritte. Sie dachte daran, dass sie eigentlich um zwölf Uhr hatte abreisen wollen, weil da normalerweise die Zimmer neu vergeben wurden. Oha, dann musste sie wohl für die Extrazeit noch Extrageld hinlegen. Wohl dem Erfinder der Kreditkarte, dachte Nancy Gordon. Immerhin konnte sie jetzt wieder viertausend Dollar damit ausgeben, wo der Monat gerade angefangen hatte. Dann kam ihr die Idee, wenn sie noch eine Nacht dranhängte, Miami bei Nacht zu erleben, aber bitte ohne orangefarbene oder wie auch immer aussehende Cocktails.- Cocktail! Irgendwas klingelte da ganz leise bei ihr. Hatte sie vor zweieinhalb Jahren nicht was über einen sehr merkwürdigen Cocktail gelesen? Ach, das war in der Zaubererwelt. Sie hatte aber nur bei einer Muggelparty mitgemacht. Aber was, wenn die Muggel von irgendwem aus der Zaubererwelt das Rezept für diesen besonderen Cocktail zugespielt bekommen hatten. Leider suchten ja immer wieder welche nach der ultimativen Partydroge oder auch Sexdroge, oder gleich beides in einem. Sie konnte sich noch zu gut an die ellenlangen Zeitungsartikel über die Risiken und Nebenwirkungen von Viagra erinnern und das damit auch angejahrte Männer wieder zu ausdauernden Liebhabern werden konnten. Ja, im Namen des großen Hedonismus wurden immer wieder neue Experimente gemacht, nicht nur in der Zaubererwelt.
Als Nancy vorzeigbar im sittsamen Kostüm aus dunkelblauem Rock und weißer Bluse die Hotelllobby betrat wurde sie schon von dem Portier begrüßt. "Ich werde alle zusätzlichen Kosten begleichen. Hier, bitte buchen Sie alles bargeldlos regelbare von der Karte ab", sagte sie und präsentierte ihre Kreditkarte.
"Ja, hmm, normalerweise müssten wir Ihnen eine weitere Übernachtung in Rechnung stellen, weil Sie nicht zum vereinbarten Zeitpunkt abreisen konnten. Aber unsere Hotelkrankenschwester hat uns gebeten, Sie vollständig ausschlafen zu lassen, Ms. Gordon. Deshalb wurde ich gebeten, Sie zu fragen, ob sie heute noch abreisen möchten oder noch eine Nacht in unserem Haus verbringen möchten?"
"Sogesehen habe ich Miami gestern nicht wirklich zu würdigen gewusst, weil ich zu sehr mit der Party befasst war. Wann genau bin ich zurückgekommen?"
"Gegen null Uhr dreißig, so die Notiz meines Kollegen vom Nachtdienst", erwiderte der Portier sehr dezent sprechend. Nancy erkannte, dass sie dann wirklich fünfzehn Stunden am Stück geschlafen haben musste.
"Wünschen Sie eine weitere Nacht bei uns zu verbringen?"
"Müsste ich dann zweieinhalb Nächte bezahlen?" fragte Nancy. Der Portier überlegte kurz und schüttelte den Kopf. Nancy nickte. So trug sie sich noch mal ins Gästebuch ein.
Bevor sie aufbrach, um ihre Besichtigungstour zu machen, gab sie an die gestern und heute diensthabenden Pagen und Serviceleute mehrere Dutzend Dollar Trinkgeld aus. Sie bedankte sich für die Besonnenheit und bat um Entschuldigung, wenn sie sich gestern neben jeder ihr anerzogenen Haltung und Anstand benommen hatte.
Den restlichen Tag bis zwölf Uhr nachts verbrachte sie in der pulsierenden Stadt Miami und genoss ein mexikanisches Abendessen. Zumindest ihre Chilliverträglichkeit funktionierte noch. Um Mitternacht lag sie wieder in dem Bett, in dem sie laut Armbanduhr fünfzehn Stunden am Stück geschlafen hatte.
Am nächsten Morgen frühstückte sie noch mal und reiste dann um acht Uhr ab. Als sie wieder in ihrem eigenen vier-Zimmer-Appartment war holte sie zuerst den Zauberstab aus dem nur auf ihren Handabdruck reagierenden Safe. Wie gut, dass sie den nicht mitgenommen hatte. Am ende hätte sie noch wer weiß was damit zusammengehext. Das hätte sie dann wohl ihren Job gekostet. Andererseits durfte sie auch keinem erzählen, dass sie ohne Zauberstab in die wilde, übermotorisierte und elektronisierte Muggelwelt gereist war, gar ein richtiges lautes Düsenflugzeug benutzt hatte, um von New York nach Miami und wieder zurückzukommen. Zumindest hatte sie den Hotelbediensteten das verdiente Trinkgeld gegeben. Wenn das alles warr, was von der Halloweenparty in Miami übrig geblieben war, dann konnte sie morgen wieder an die Arbeit. Gut, dass sie sich eine Ganze Woche freigenommen hatte. Sie konnte ja nicht wissen, was der kommissarische Minister Sandhearst demnächst anstellen würde. Und noch weniger wusste sie, dass sie und mehrere Dutzend andere Hexen ihr weiteres Leben völlig neu planen mussten, Dank eines sehr fragwürdigen Getränkes und seiner Auswirkungen.
Sandrine war am Tag nach der Halloweenparty bei den Latierres, bei der auch Catherine mit Claudine und Laurentine dabei gewesen waren noch einmal bei Millie und Julius. . Auch die Dusoleils waren alle vollzählig dabei gewesen. Philemon hatte es zwar mal versucht, Aurore an den Haaren zu ziehen, weil die so schöne lange rotblonde Zöpfe hatte. Doch Aurore hatte ihm ansatzlos eine schallende Backpfeife verpasst. Das hatte zwar erst eine kurze Unstimmigkeit mit Uranie gegeben, weil der kleine Raufbold danach wie eine Feuerwehrsirene losgeheult hatte. Doch Florymont hatte diese Unstimmigkeit sehr schnell aber auch Llaut beendet:
"Uranie, der muss das lernen, dass andere Kinder kein Spielzeug sind, das nur ihm gehört! Wenn du dem das nicht beibringen willst beschwer dich nicht bei Millie und Julius. Bei mir macht der diesen Unfug nicht!"
Nach diesem Zwischenfall war die Party dann aber fröhlich weitergegangen. Eine Stunde nach Mitternacht waren dann alle wieder nach Hause geflohpulvert oder geflogen.
Jetzt war Julius dabei, die Rasenstücke wieder von allen Fußabdrücken freizukriegen und Goldschweif zu streicheln, die vor den ganzen Menschenjungen den Rückzug angetreten hatte. Dusty hatte sich immer gerne streicheln lassen und hatte sich dafür füttern lassen, wenn kein Erwachsener hingeguckt hatte.
"Danke noch mal für die nette Feier, Julius. Das hat den beiden richtig gut getan, so viele andere Kinder zu sehen, vor allem die, die sie schon gut kennen", sagte Sandrine, als sie mit Julius den Garten begutachtete. Dann fragte sie: "Und, hast du was neues aus England?"
"Ja, habe ich. Heilerin Moonriver hat einen Waisenjungen namens Stephen als ihren Sohn angenommen. Ich habe das über diverse Kanäle doppelt bestätigt bekommen."
"Dann hat er sich damit abgefunden?" fragte Sandrine, ohne zu betonen, wer mit "er" gemeint war.
"Ich gehe davon aus, dass er mit diesem Namen was verbindet, Sandrine. Womöglich habe ich da indirekt dran mitgedreht, weil ich mal was von einem Naturwissenschaftler der Muggelwelt erzählt habe, der durch eine schwere Krankheit so gut wie bewegungsunfähig ist und nur mit Beatmungshilfe und einer künstlichen Stimme arbeiten kann. Stephen Hawking heißt der. Der beschäftigt sich mit der Beschaffenheit von Raum und Zeit, mit schwarzen Löchern, also was die Zauberastronomie immer noch als schwarze Sonnen bezeichnet, mit Schwerkraft und Sternenentwicklungen. Der ist geistig super in Form, aber eben durch die Krankheit körperlich sehr stark eingeschränkt."
"Verstehe, Julius. Trifft ja für den Jungen bei Madame Moonriver auch zu. Nur dass der da wieder rauswachsen kann."
"Ja, aber immer mit dem schlechten Gewissen, dass er zu neugierig und unbelehrbar war. Auch wenn du selbst keinen Brief von ihm kriegen wirst bin ich mir sicher, dass wir, wenn du willst, weiter mitbekommen, wie es weitergeht."
"Das muss ich mir noch überlegen", grummelte Sandrine. Doch dann fiel ihr ein, dass ihre beiden Kinder zumindest ein Anrecht hatten, über alles informiert zu werden. Deshalb sagte sie: "Wenn der mal irgendwann Tagebuch führen kann kannst du vielleicht hinbekommen, dass die Zwillinge das so in siebzehn oder acchtzehn Jahren lesen dürfen?"
"Zumindest das, was sie lesen dürfen", meinte Julius. Sandrine legte das als ein Ja aus und lächelte ihn erfreut an.
"Und mit eurem Haus ist soweit alles in Ordnung?"
"Jetzt ist es endlich amtlich. Ich bin als Mutter die Geschäftsbevollmächtigte von Roger. Der ist zwar Eigentümer, hat aber gemäß Versorgungsgeboten des Familienstandsgesetzes seine Ansprüche auf das Haus an mich übertragen, solange er nicht volljährig ist. War das ein bürokratischer Gespenstertanz. Aber jetzt kann keiner mehr Ansprüche auf das Haus anmelden. Ich weiß echt nicht, warum es Leute gibt, die anderen nicht das Dach über dem Kopf gönnen können und immer gleich nach dem Gold glotzen, dass ein Haus beim Verkauf bringt."
"Weißt du, Sandrine, das ist auch in der Muggelwelt ein leidiges Thema. Wenn der eine erbt fragt ein anderer, womit er oder sie das verdient hat und dass der Erblasser es doch vor dem Tod noch anders haben wollte und so weiter. Ich bin froh, dass mein Onkel Claude da nichts mehr dran drehen konnte, als mein Vater unbedingt meinte, sich mit einer uralten Liebeskünstlerin einzulassen. Na ja, jetzt ist er selbst unauffindbar", seufzte Julius, wobei er dachte, dass sein Onkel ein noch schlimmeres Schicksal als sein Vater erlitten hatte.
"Jedenfalls danke ich dir noch mal für die Feier. Ich revanchiere mich demnächst. Ihr habt ja Rogers Haus noch nicht besucht. Das sollte mal endlich stattfinden."
"Stimmt, müssten wir längst mal machen. Aber demnächst ist ja erst mal die Willkommensfeier für die kleinen Merryweathers. Meine Mutter hat dich und die Zwillinge ganz offiziell eingeladen. Das soll am fünfzehnten November passieren,, weil da meine Stiefoma eine Vertretung in Thorntails klarmachen konnte."
"Ach ja, die darf ja nicht mal eben für einen Tag freimachen, ohne dass wer in Thorntails übernimmt", sagte Sandrine und erinnerte sich und Julius daran, dass sie beide ja auch zu den Heilern hätten gehen können. "Nur wir drei, also Estelle, Roger und ich?"
"Ob deine Eltern mitdürfen weiß ich nicht. Vielleicht könnte meine Mutter auf die Idee kommen, doch noch mal hier in Millemerveilles anzufangen."
"Du meinst endlich weiterzumachen, Julius. Laurentine macht das sehr gut und hält die kleineren gut in der Spur. Aber meine Maman will das nicht hinnehmen, dass deine Mutter sich so erfolgreich aus ihrer Reichweite entfernt hat und jetzt auch noch wegen Familienangelegenheiten eingebunden ist. Außerdem möchte Madame Faucon wohl auch haben, dass Laurentine nach Beaux geht, um da Monsieur Paximus' Stelle zu übernehmen."
"Die Stelle hat sie mir auch mal angeboten", sagte Julius. "Aber im Moment bin ich nach dem ganzen Hickhack und der ganzen Schlammschlacht um Monsieur Grandchapeaus Nachfolge froh, dass ich doch noch im Miniesterium arbeiten darf. Lehrer, muss ich ehrlich sagen, ist auch nicht wirklich mein Traumberuf. Dass Laurentine darin aufgeht liegt ja daran, dass sie wohl meint, allen was zurückzahlen zu müssen, die ihr eine Menge Kredit gewährt haben."
"Du sagst es. Ich kriege das ja bei meiner Cousine mit, die in der zweiten Klasse ist. Die freut sich immer auf die Stunden bei Mademoiselle Hellersdorf. Nicht dass meine Mutter und Madame Faucon wegen ihr noch Krach kriegen."
"Das sollen die unter sich regeln. Die sind erwachsen", erwiderte Julius.
Sandrine lud die Latierres dann zu Kaffee und Kuchen in zwei Wochen ein. MillieundJulius bedankten sich erfreut.
"Was hat Ihre Schwester erzählt, dass sie auf einer unzüchtigen Party gewesen ist?" fragte Minister Sandhearst seinen Sicherheitsbeauftragten Middleton.
"Sie wollte eigentlich nur mal eine Halloweenparty im Muggelstil erleben. Dass es gleich so ausgeufert ist gefällt mir nicht. Aber Dolly ist schon zwei mal siebzehn, und ich will nicht immer den großen Bruder herauskehren. Jedenfalls weiß sie jetzt, dass die Muggel wohl irgendwie ein Leck im Kessel haben. Aber ich musste erst an diesen Drachenmist von Neujahr denken. Was, wenn irgendein Muggelheini diesen Cocktail aus Versehen nachbrauen konnte?"
"Middleton, mein Bester. Ohne Jackalopenblut kriegt kein Muggel den hin, von anderen kleinen Gemeinheiten ganz zu schweigen. Und VM wird sich bald ganz andere Fragen stellen dürfen, als ob es sinnvoll sei, auch in der Muggelwelt sein Unwesen zu treiben, abgesehen davon, dass das ja hieße, mehr Muggelkinder auf die Welt zu werfen. Womöglich haben die Muggels eine Partydroge, die sie als den Zaubertrank für wilde Stunden verkaufen, und Ihre Dolly hat was davon abbekommen."
"Öhm, apropos. Bleibt es bei heute Nacht?" fragte Middleton.
"Sie und ich alleine um zwei im Foyer. Ich habe das über verschiedene Außenstellen geklärt. Die vier Pakete sind gestern geliefert worden. Ich selbst habe in meiner Außendienstwohnung alles zusammengebaut."
"Öhm, Sie erinnern sich an das, was dieser Schraubenzauberer und Wundermixer Quinn Hammersmith geschrieben hat, von wegen dem sogenannten Portschloss?"
"Ja, weiß ich noch. Aber das kriegen wir raus, ob das noch so wirkt wie es unsere Leute eingefangen hat. Wenn das noch so ist, dann hat VM morgen kein Kinderkarussell mehr."
"Aber unsere Leute?"
"Sind schon tot, Middleton. Das haben diese Banditen doch klar erklärt."
"Ich pflichte ihnen Bei, was das längst fällige Exempel angeht. Ich wollte nur noch einmal darauf hinweisen, dass wir beide mal eben fünfzig oder noch mehr Leute, öhm, aus der Geschichte rausschreiben."
"Besser als wenn die uns andauernd zu kleinen, billigen und willigen Randfiguren ihrer Geschichte machen", knurrte Sandhearst. "Schon demütigend genug, dass ich den Greendales und ihrer verzogenen Enkeltochter soweit entgegenkommen musste, dass die Milton Cartridge behalten darf, weil wir nicht als die Volltrolle in beiden Zeitungen stehen wollen."
"Ich bin dann um zwei Uhr wieder hier, Herr Minister", sagte Middleton und winkte. Der zeitweilige Zaubereiminister nickte. Er durfte gehen.
Gegen elf Uhr abends zog sich Sandhearst in sein Haus außerhalb des Zaubereiministeriums zurück. Solange er nicht als vollwertiger Zaubereiminister geführt wurde bevorzugte er seine eigenen Vier Wände. Denn trotz aller offenen und heimlichen Nachforschungen war der Spion von VM immer noch nicht enttarnt. Außerdem hatte er gerade heute einen guten Grund, zum einen in seinem eigenen Haus zu übernachten und zum anderen seinen Sicherheitstrupp vom Ministerium fernzuhalten. Heute Nacht durfte außer ihm und Middleton niemand im Ministerium sein. Allerdings bezog sich das nur auf Hexen und Zauberer. Die zwanzig Hauselfen, die das Ministerium nachts putzten und tagsüber für das leibliche Wohl der Angestellten sorgten, wurden nicht berücksichtigt.
Sandhearst blickte auf die Konstruktion, die er gleich nach dem Fiasco mit der Eingreiftruppe im aufgespürten Stützpunkt von Vita Magica zusammengebaut hatte. Es handelte sich dabei um einen mannshohen Glaszylinder, in dessen unterem Teil Vier kleine Korken im Boden steckten. Unter dem aus einem kleinen Kessel entnommenen Boden des Zylinders konnten vier weitere Glaszylinder angebracht werden, die jedoch keinen festen Boden besaßen. Statt dessen steckte in jedem der kleineren Glaszylinder ein passgenauer Glaskolben, an dessen unterem Ende ein tellerartiger Fuß angebracht war. Die Kolben ließen sich bis auf ganzer Länge herausziehen und mit einer Hebelvorrichtung festmachen, dass sie beim Aufsetzen nicht wieder in die Zylinder hineindrückten. Mit einem Zauberstabwink konnten die Verriegelungen gleichzeitig gelöst werden. Soviel zur Verpackung. Der bestimmte Inhalt war auf vier sorgsam voneinander getrennte Flaschen verteilt. Kamen auch nur die Flüssigkeiten aus zwei Flaschen zusammen, war das Haus von Sandhearst nur noch ein Krater und eine meilenhoch fliegende Giftwolke. Dabei war es völlig egal, welche Mixtur mit welcher der drei anderen zusammenkam. Ja, keine der vier Mixturen vertrug sich mit den jeweiligen drei anderen.
"Und ihr Friedensanbeter wollt mit diesen Bastarden verhandeln", dachte Sandhearst. Es war am Halloween-Tag gewesen, wo der Herold darüber berichtet hatte, dass das Ministerium besser mit Vita Magica einen Stillhaltepakt schloss, solange es zu viele tödliche Gefahren in der Zaubererwelt gab. Sandhearst hatte darauf diplomatisch geantwortet, dass es sicher möglich sei, mit jedem zu verhandeln, der sich offen und unter Berücksichtigung aller geltenden Rechte bereitfand, über alle Anliegen zu sprechenund mögliche Missverständnisse oder klare Meinungsverschiedenheiten zu bereinigen, ohne dass eine Seite mehr Vor- oder Nachteile habe. Da er nicht wisse, wer für Vita Magica sprach, da außer diesem Namen noch nichts bekannt sei, also es auch keinen Ansprechpartner gebe, könne jede Diskussion um eine Beilegung der Interessenskonflikte nicht stattfinden, so sehr er dies bedauere. Intern hatte er dann die betreffenden Interviewpartner zu sich gebeten und mit ihnen diskutiert, ob sie es einfach so hinnehmen konnten, dass mal eben Zaubererweltbürger verschwanden und entweder erst nach Monaten oder nie wieder auftauchten und inwieweit der von VM ausgeübte Zwang zur Fortpflanzung mit den Zaubereigesetzen zur Wahrung der körperlichen Unversehrtheit und Willensfreiheit vereinbar waren. Als ihm dann vorgeworfen wurde, zu schnell reagiert zu haben, statt erst einmal auf friedlichem Wege nach einer Lösung zu suchen hatte er gesagt, dass es ihm darum gegangen sei, gegen ihren Willen eingesperrte Hexen und Zauberer zu befreien. Dies sei nun einmal auch die Aufgabe einer magischen Verwaltungsbehörde. Er wusste jedoch, dass VM eine üble Saat gelegt hatte, die zu einer tiefen Spaltung innerhalb des Zaubereiministeriums beitragen würde. Am Ende ging es denen doch noch darum, selbst an die Macht zu kommen. Solange er noch Ideen hatte, wie das zu verhindern war, stand er für Verhandlungen nicht zur Verfügung. War schon schlimm genug, dass er Godiva Cartridge nicht dingfest machen durfte, weil die sonst behauptet hätte, dass Sandhearst ihren Mann in seine unangenehme Lage gebracht habe, um Minister zu werden. Das wäre der absolute Triumph für Vita Magica gewesen, und diese immer schön im Hintergrund bleibende feine Dame Godiva Cartridge hatte das gewusst. Aber heute Nacht würde er vollendete Tatsachen schaffen, nicht Vita Magica. Vielleicht würde danach auch niemand mehr fragen, wer das mal war, oder die, die dazugehörten würden sich reumütig der Zaubereijustiz stellen, weil die andere Möglichkeit ein sehr drastisches Ende war.
Es war schon seltsam, wie groß so ein Foyer war, wenn niemand hier war. Da der zeitweilige Zaubereiminister eine besondere Identifikationsplakette unter dem Umhang trug, die die Überwachungszauber sofort außer Kraft setzte, sobald er eintraf, wurde kein Alarm ausgelöst. Das gleiche galt für Clay Middleton, der keine halbe Minute später apparierte. Der zeitweilige Zaubereiminister zog die auf ein Viertel verkleinerte Konstruktion aus seinem Rucksack. Dann holte er die sorgsam verpackten Flaschen hervor. "Ich habe den Rückrufer fertig. Die kriegen das nicht mit, dass wir erst einen Test hinschicken."
"Gut, Clay. Gehen wir es an", sagte der Minister leise, auf der Hut vor irgendwelchen Mithörern.
Zunächst ließ der zeitweilige Zaubereiminister die von ihm gebaute Konstruktion auf ihre Ursprungsgröße anwachsen. Danach hängten sie den großen Zylinder in eine dreibeinige Halterung, die Sandhearst ebenfalls aus dem Rucksack gezogen hatte. Dann löste er die unter dem Boden angebrachten Glaszylinder behutsam. Danach zog er die darin steckenden Kolben bis zum Anschlag heraus und verriegelte sie. Jetzt kam der heikle Akt. Die vier Einzeltränke mussten behutsam in die Glaszylinder eingefüllt werden. Zu keiner Zeit durfte ein Tropfen mit einem Tropfen eines anderen Trankes in Berührung kommen. Im Grunde jonglierten sie hier mit zweihundert Erumpenthörnern, dachten Sandhearst und Middleton, die jeder zwei der Tränke einfüllten, bis die schlanken Glaszylinder beinahe randvoll waren. Behutsam verschraubten Sandhearst und Middleton die Glaszylinder unter dem Hauptzylinder. Jetzt stand sie da, die für die Aktion Paukenschlag gebaute Vorrichtung. In einem der Glaszylinder steckte ein öliger, rötlicher Trank. In dem zweiten ein klarer, bläulicher Trank. Im Dritten ein gelber, sirupartiger Trank und im vierten ein halbdurchsichtiger, rosaroter Trank. Wer jetzt alle Verriegelungen an den Kolben löste würde alle Vier Tränke zugleich mit Druck gegen die Stopfen pressen, die würden herausfliegen und den vier Flüssigkeiten Platz machen. So wie die kleinen Einspritzöffnungen im großen Zylinder ausgerichtet waren trafen alle vier Tränke zeitgleich zusammen. Meistens war es dann nur noch eine Sekunde oder eine halbe, bis die sehr energiereiche Reaktion erfolgte.
"Wir können", gedankensprach Middleton und setzte ein kleines, vierbeiniges Objekt auf den Boden. Er tippte es an und murmelte Portus. Dann trat er zurück. Erst verschwand das Objekt in einem Unsichtbarkeitszauber. Dann umfloss es eine blaue Lichtspirale.
"Wenn die einen Zauber zur Erfassung von Portschlüsseln haben wissen die gleich, dass jemand was verschickt hat", unkte Middleton.
"Dann schnell alles klar zum nachschicken, wenn wir wissen, dass unser Vorbote da ankommt, wo er hinsoll", flüsterte Sandhearst. Auch hier im Foyer konnten sie durchaus belauscht werden, und sei es von Hauselfen.
Mit einer aus drei Uhren bestehenden Messvorrichtung prüfte Middleton, ob der Vorbote oder Rückrufer noch unterwegs oder schon am Ziel war. Als er nach dreißig Sekunden ein leises Ping hörte und gleich ablas, dass die Verbindung von bestimmten Koordinaten aus aufgebaut worden war grinste er. "Genau da, wo unsere Leute gelandet sind. Wollen wir."
"Wir wollen. Fünf Sekunden ab jetzt!" Middleton warf eine bereits vorbereitete kleine Decke über den Glaszylinder. Sandhearst zählte zwei Sekunden und bezauberte mit "Retardo solvete" die Kolbenverriegelung so, dass sie genau zum Zeitpunkt, wo der Zylinder aus dem Portschlüsseltransfer herausfiel, aufging. Schließlich musste verhindert werden, dass die Kolben zu früh die Flüssigkeiten in den großen Zylinder pressten. Dann verschwand die Konstruktion in der blauen Portschlüsselspirale.
"Jetzt gibt es kein zurück mehr, Sir. Ab heute sind wir beide Hurensöhne."
"Ich muss doch sehr bitten, Clay. Ihre Mutter hat ihr ganzes Leben lang für Sie und ihre Schwester gearbeitet", sagte Sandhearst. "Und wenn Sie mir jetzt einen erzählen, wir hätten zu viele unschuldige Leute auf dem Gewissen, so erinnere ich zu gerne daran, dass diese Bande von uns und den Franzen auch schon zu viele Leute abgefertigt hat."
"Was ist, wenn das Ding mitten im Transfer ausgelöst wird?" fragte Middleton.
"Interessante Frage, Clay. Die Magietheoretiker sind sich ja bis heute nicht einig, wie genau eine Portschlüsselreise verläuft. Wir kennen im Grunde nur die Verknüpfung zwischen Schlüssel und Zielpunkten und wissen, wie es sich anfühlt, damit zu reisen oder wie es für Außenstehende aussieht, wenn ein Portschlüssel ankommt oder verschwindet. Nebenbei, gleich müsste unser Rückrufer verstummen."
"In genau fünf, vier drei, zwei, eins, null. - Öhm, immer noch da", sagte Middleton. "Wie, immer noch da?" fragte Sandhearst.
"Der Verbindungszauber steht nach wie vor. Offenbar haben die ihre Einfangvorrichtung ausgemacht oder ... Drachenmist!" Den Fluch hatte Middleton überlaut gerufen.
"Was soll das denn jetzt?!" rief Sandhearst. Doch Middleton war bleich wie die Wand. Dann rief er noch: "Weg hier, Sir! Ganz weit weg!" Dann versuchte er zu disapparieren. Doch er wurde von einem silbrigen Flimmerlicht festgehalten. "Mist, die Sicherheitssperre gegen ungenehmigtes Portschlüsseln. Die Appariersperre hat sich aufgebaut, als wir den zweiten Schlüssel losgeschickt haben."
"Was?!" rief der zeitweilige Zaubereiminister.
"Ja, wenn hier ein Portschlüssel ankommt oder abgeht, der nicht genehmigt wurde, tritt die Apariersperre in Aktion. Herr Minister, ich fürchte, wir haben nur noch zehn Sekunden zu leben."
"Moment mal! Soll das heißen, Sie glauben, unser Nachtgeschenk für die Bande wurde uns postwendend ...?"
"Zurückgeschickt", stieß Middleton aus und versuchte noch mal, zu disapparieren. "Sondergenehmigung roter Donnervogel. Aparierfreigabe!" rief Sandhearst. Es knisterte laut. Doch im selben Moment glühte eine blaue Lichtspirale auf. Mit endgültigem Klirren landete die vierfüßige alcheemistische Höllenmaschine auf ihren vier Füßen. Die Kolben schossen innerhalb einer Viertelsekunde in ihre Glaszylinder. Middleton versuchte noch einmal zu disapparieren, stolperte jedoch über seinen Umhang. Sandhearst sah die vier Flüssigkeitsstrahlen in den großen Zylinder einströmen, sie berührten sich nicht. Die Tränke flogen bis zur Decke des Zylinders. Dann klatschten sie alle zusammen auf den Boden. Das war dann auch das letzte, was Sandhearst zu sehen bekam. Er vermeinte nur noch einen weißen Blitz zu sehen. Dann gar nichts mehr!
Sergeant Kenworthy stellte seine Kaffeetasse sorgfältig wieder in die Untertasse. Sein Vorgesetzter Captain Grover sah ihm dabei genau zu. "Ja, ich habe das Memo noch im Kopf: Computertastaturen oder Telefone sind zur Aufnahme von Heißgetränken nicht geeignet. Aber das war wegen Sergeant Chenning, weil der unbedingt so schnell wie möglich seinen Wachhaltetee in die Tasse kippen wollte und dabei den Kannendeckel verloren hat."
"Gleich halb drei. Immer noch was in Kalifornien?" fragte Grover.
"Umgerechnet nur 1,4. Epizentrum bei Saccramento, Sir", vermeldete der Sergeant.
"Wollen hoffen, dass das nicht der Auftakt zum großen Krach ist, Sergeant. Und hier in der Gegend?"
"Null, nada, negativ, Sir!"
"Gut, dann hole ich mir auch meinen Nachtkaffee, um bis null sechshundert auf dem Posten zu bleiben." Der Captain wandte sich der feuerfesten Tür zum Flur zu. Kenworthy blickte auf seinen Rechner. Die Datumsanzeige stand auf 02.1.2002, die Uhrzeit stand bei 02:29:33 Oststandardzeit. Nebenbei wurden noch alle Zeitzonen der USa, sowie die universelle Zeitkoordinate, im NATO-Jargon auch Zuluzeit, angegeben. Der Captain wollte gerade den Raum verlassen, als ein Alarmsignal ertönte. Sofort war der Captain bei den Anzeigen. Da gingen auch die Sirenen des Vollalarms los. Kenworthy stierte auf die rot leuchtende Anzeige: "Detonation über 1 Megatonne Tnt". Es folgten noch die Koordinaten. Der Computer hatte innerhalb von nur drei Sekunden ermittelt, dass der Herd eines heftigen Erdstoßes nur dreißig Kilometer von hier fortlag.
"Verifizieren! Alle Daten nach Norad. Womöglich haben die Kollegen in den anderen Warten das auch gerade auf der Anzeige!" sagte Grover. Kenworthy klickte auf die entsprechenden Symbole auf seinem Monitor. Da rumste es. Der bunkerartige Bau der militärischen Erdbebenwarte Washington DC/Virginia erzitterte in seinen Grundfesten. Doch nach nur einer Sekunde war es auch schon wieder vorbei.
"Hier, Sir. Eine Spitze von 10,9 für 0,01 Sekunden. Epizentrum bei ermittelten Koordinaten. Hypozentrum nach Berechnung -0,2 Kilometer. Eindeutiges Detonationsbeben. Derzeitige Erdstöße bei gerade mal drei bis vier, sieht nach Einsturzbeben aus. Ja, bestätige, der Detonation nachfolgendes Einsturzbeben."
"Nachricht an Norad ist raus?"
"Die haben eine Standleitung zu allen Stationen, Sir. Die haben die Nachricht schon bekommen, wo ich erst mal lesen musste, was passiert ist, Sir", sagte Kenworthy.
"Dann geben sie denen die exakten Koordinaten. Dann will ich wissen, welcher Nachtwächter da vergessen hat, die Kernwaffen gut wegzuschließen."
"Sir, an den gemessenen und bestätigten Koordinaten befindet sich kein Kernwaffentestzentrum."
"Wie bitte? Das war doch von der Heftigkeit her eindeutig eine kleine H-Bombe."
"Berechnete Sprengkraft 1,982 Megatonnen, plusminus 10 Prozent wegen Wassergehalt im Gestein."
"Schließen Sie magmatische oder Spannungsbeben grundsätzlich aus?"
"Magmatische Beben kündigen sich zumindest mit einem leisen Grummeln vor dem großen Knall an, Sir. Spannungsbeben in der Gegend nicht zu erwarten. Kann aber kommen, wenn die Detonation die tieferen Erdschichten betreffen sollte."
"Wenn da kein Testzentrum ist, was liegt da sonst, wofür sich eine Kernexplosion lohnen würde?" fragte Grover.
"Sir, entweder gibt es dort nichts strategisch oder taktisch relevantes oder ich bin nicht berechtigt, diese Information zu besitzen."
"Dann rufe ich wen an, der das wissen darf und mir hoffentlich auch sagt. Nachher haben wir eine ganze Kette von solchen Beben."
Zwei Minuten später hatte Grover die Bestätigung von einem guten Kameraden bei der Airforce. An der Stelle befand sich nichts von militärischer oder ziviler Wichtigkeit. Aber die Überwachungssatelliten waren bereits darauf angesetzt. Welche Ergebnisse sie lieferten wollte Grovers Kontakt nicht verraten.
"Wollten Sie sich nicht Kaffee holen, Sir?" fragte Kenworthy.
"Wenn sie Komiker werden wollen quittieren Sie gütigst den Dienst, Kenworthy! Nein, ich brauche keinen Kaffee mehr, oder Sie etwa?"
"Im Moment wohl nicht", sagte der Sergeant.
Unvermittelt knallte es wie eine abgefeuerte Pistole. Drei Männer in blau-weiß-roten Umhängen standen mitten im Überwachungsraum. Bevor die zwei diensthabenden Soldaten reagieren konnten erstarrten sie bereits.
"Bevor wir die Aufzeichnungen runterschrauben guck erst, ob die Koordinaten stimmen", sagte einer zum anderen.
"Ja, sind genau die vom Ministerium. Wer hat denn da zu viele Bohnen gegessen?"
"Habe ich Ihnen erlaubt, Wichtel zum Frühstück zu nehmen, Clarkson?" grummelte der zweite plötzlich erschienene Eindringling.
"Mr. Bellrope, Sir, wenn das hier stimmt, dann muss es bei oder in unserem Ministerium eine urgewaltige Explosion gegeben haben. Könnte sein, dass es nicht mehr existiert", sagte Clarkson mit sichtlicher Beklommenheit.
"Klären wir gleich. Erst mal die Aufzeichnungen, damit die Muggels nicht noch heute Nacht einen Atombombenkrieg anfangen."
"Ja, Mr. Bellrope. Machen wir", sagte der eine, der Clarkson hieß. Der dritte hantierte bereits mit der Computermaus von Grovers Arbeitsplatz. "Ui, der hat schon mit Norad geredet. Da muss Benson aufräumen."
Fünf Minuten später waren die drei wieder weg. Die Computeranzeigen wiesen einen kurzen Erdstoß von 3,4 aus. Alle Mitglieder der Besatzung gingen von einem unerwarteten Einsturzbeben innerhalb des Berges aus, der an den Koordinaten stand. Ebenso verlief es in allen anderen zivilen und militärischen Erdbebenwarten.
Anthelia schrak in der Nacht aus dem Schlaf, weil etwas ihr von Kopf bis zu den Zehen durch den Körper lief. Es war jedoch nicht schmerzhaft. Sie prüfte sofort, ob die Erde in ihrer Umgebung in Aufruhr geraten war. Dabei stellte sie fest, dass ein kurzer Erdstoß als Welle durch das Gestein raste und einen gewissen Nachhall hinterließ. Außerdem floss ein wahrnehmbarer Strom ungerichteter Magie hinter der Welle her. Von der Richtung her war die Welle wohl erst weiter nördlich gewesen, wohl im Staat Virginia, von wo aus sie sich kreisförmig durch die Erde fortpflanzte. Von der Form der Welle her musste dort irgendwas starkes explodiert sein. Es konnte eine starke Erdelementarmagie gewesen sein, oder etwas, dass eine statische Magie zerstreut hatte. Hatten diese Unfähigen etwa wieder eine von ihren Atomwaffen ausprobiert, oder wurden die Staaten womöglich mit solchen Waffen angegriffen? Oder hatte da jemand gar das Tausendsonnenfeuer entzündet? Das musste sie unbedingt klären, zumal ihre Erdbefragungszauber zeigten, dass außer der leichten Beunruhigung des Gesteins kein weiteres Beben stattfand.
Eine halbe Stunde später wusste sie, was passiert war, zumindest, dass es im Zaubereiministerium der vereinigten Staaten passiert war.
"Die werden nicht mit Gewalten Versuche anstellen, die sie nicht beherrschen konnten", grummelte Anthelia.
Die Alarmtrompete beruhigte sich wieder. Als auf einmal dieser Portschlüssel im Wirkungsbereich des sogenannten Fremdenempfangsraumes angekommen war hatte Mater Vicesima gleich geahnt, was das sollte. Irgendwer wollte wissen, ob die Falle noch wirksam war. Das konnte um diese Uhrzeit nur bedeuten: "Wir sollen angegriffen werden. Diesmal volle Umkehr!" rief sie.
"Schloss schließt!" Rief einer ihrer treuesten Mitstreiter. Mit einem lauten Klack verschoben sich die Bestandteile einer hausgroßen Vorrichtung. "Schloss geschlossen, Mater Vicesima!"
"Zurück mit euch wo ihr herkommt", grummelte Mater Vicesima. Noch mal wollte sie keine Zauberflucheifrigen Gäste haben, nicht, wo sie gerade siebzig Neugeborene oder besser Rückverjüngte zu betreuen hatten. "Tatsächlich, da kam was, wurde aber mit dreifacher Geschwindigkeit zurückgewiesen", hörte sie ihren Spezialisten für das Portschlüsselschloss, das einen Portschlüssel entweder an einem ganz bestimmten Ziel erscheinen ließ, auch wenn er für einen anderen Ort im Umkreis von zehn Kilometern bezaubert war oder einen erwarteten Feind zu seinem Ausgangspunkt zurückschleuderte.
"Alarm aufheben. Schloss bleibt bis auf weiteres geschlossen!" befahl Mater Vicesima. "Wir brauchen alle unseren Schlaf, vor allem die, die gerade neues Leben tragen", dachte sie für sich. Doch so ganz ließ sie dieser ungebetene Portschlüssel nicht in Ruhe. War der eine, der da unsichtbar eingetroffen war und jetzt im roten Licht des geschlossenen Portschlüsselschlosses leuchtete tatsächlich ein Test. Dann mussten die, die ihn gemacht hatten davon ausgehen, dass der Ankunftsort noch galt. Womöglich hatten sie eine Art Fernrufzauber oder ein magisches Verbindungsband mit dem Objekt. Dann war die Frage, hatten sie einen neuen Trupp Kampfzauberer geschickt oder ... Die zweite Möglichkeit ließ die sonst so beharrliche, innerlich ruhige Vicesima erschauern. Das war wohl eher die Antwort. Jemand, wohl ein Zaubereiministerium oder das LI, hatten einen Vernichtungskörper auf die Reise geschickt, einen Golem oder mehrere, Drachengallengas, Höllenglutgas oder vergleichbar verheerendes. Also hatte da jemand beschlossen, einfach neunzig magische Menschen zu töten, davon siebzig Säuglinge. Wer immer das war würde sich jetzt sehr wünschen, nichtmal daran gedacht zu haben. Denn wenn was auch immer nicht auf einen bestimmten Ort abgestimmt war, bekamen die ihre eigene Massenmordvorrichtung zurück. Dabei würden dann wieder magische Menschen den Tod finden. Die Frage war, wie viele?
Doch die Frage nach den Opfern dieses möglichen Anschlages belastete sie nicht zu lange. Vielleicht war es auch eine auch den sogenannten redlichen Zauberern feindlich gesinnte Truppe wie die Werwölfe, die Vampire oder dieser Spinnenorden, der Sardonias Hexenvorherrschaft auf Erden herbeiführen wollte. Die würden über hunderte von Leichen gehen, um ihre Ansichten zu behaupten. Aber wenn es doch ein Zaubereiministerium oder ein Zusammenschluss mehrerer Zaubereiministerien war, dann hatten die endgültig als Vertreter der Zaubererweltmoral verspielt. Dass der letzte Einsatztrupp die Weisung hatte, alle in der Außeneinsatzuniform steckenden Mitglieder von Vita Magica zu töten hätte ihr doch schon als Warnung reichen sollen. Doch jetzt war es passiert oder es passierte gerade eben.
Eine halbe Stunde später erfuhr sie über ihre Bilderspione, dass die Verbindungen zum Zaubereiministerium der USA abgerissen waren und dass dies durch eine verheerende Explosion geschehen war. Vicesima formulierte die Worte "Clamp'sche Kommotion!" Dann hörte sie weiter, was passiert war. Am Ende nickte sie. "Außer dem zeitweiligen Zaubereiminister, seinem Kettenhund Middleton und zwanzig Hauselfen wird niemand aus dem Ministerium vermisst. Die Zweigstellen wollen sich wohl koordinieren, wer die Leitung übernimmt. Dann mal viel Spaß!"
Die Aufzeichnungen hatten sie zwar verändern, die Erinnerungen der zuständigen Beobachter umformen können. Doch den riesigen Trichter, der Zweihundert Meter aus einer Bergflanke klaffte und an Wänden und am Grund rot glühte konnten sie nicht so mal eben wegzaubern. Das galt auch für die kilometerhohe Rauchsäule, die an ihrem Scheitelpunkt zu einer pilzhutförmigen Wolke auseinanderfloss. Der Berg grollte noch. Losgelöstes Gestein rutschte bereits in den entstandenen Krater. Im Berg befindliche Höhlen brachen zusammen, was Folgeeinstürze bewirkte. Zudem tobten unsichtbar die durch die Explosion aus ihrer Anbindung gerissenen Schutz- und Abwehrzauber und erschütterten das Gefüge der Naturkräfte. Der bis zu dieser Nacht eher belanglose Felsenberg konnte innerhalb einer Minute weltberühmt werden. Das wussten auch die in schwerer Alchemistenausrüstung steckenden Zauberer, die auf fliegenden Besen über den Ort einer bis dahin unvorstellbaren Katastrophe hinwegglitten. "Ui, Giftkonzentration bei 98 von 100. Hätten wir nicht unsere Schutzumhänge an würden wir in fünf Sekunden wie abgeschossene Enten abstürzen."
"Moment, diese Radioaktivitätsleuchte glüht auf. Hier strahlt es, Leute. Moment, ich prüfe mal die Stärke. - Öhm, in einer Minute sollten wir hier weg sein, oder wir machen demnächst nur noch Muggelbabys mit drei Lila Augen."
"Strhalung? Dann ist hier doch eine dieser Anatombomben explodiert?" wollte ein weiterer Zauberer wissen.
"Klären wir später. Jedenfalls darf Mr. Dime die nächsten Hundert Jahre jeden Knut bei Seite legen, der nicht für lebensnotwendige Aktionen gebraucht wird. Das wird teuer."
"Sonst hast du nichts zu sagen, Greg. Unsere Arbeitsstelle ist vernichtet, Sandhearst oder Middleton vielleicht tot. Warum?"
"Frag das die, die den Drachenmist hier hingeklatscht haben, verdammt!Ich wweiß doch sowas auch nicht. Wenn nicht alle Rückschaubrillen mit einem Schlag zerbröselt sind können wir das vielleicht morgen noch nachbetrachten."
Die fünf Zauberer flogen schnell davon. Dass hier jene unheimliche Radioaktivstrahlung austrat war für sie noch bedrohlicher als die blanke Tatsache, dass das Zaubereiministerium der vereinigten Staaten von Amerika gerade zu einem glühenden Krater geworden war.
Ullituhilia, die Tochter des schwarzen Felsens, hatte mit ihrer Mutter über die angebliche neunte Schwester gesprochen. Wenn da wirklich jemand sich eine derartige Frechheit erlaubte musste der oder die umgehend gefunden und bestraft werden.
Als die der Erde verbundene Abgrundstochter die kurze aber deutlich spürbare Welle durch die Erde rasen fühlte fragte sie sich, was das für ein Beben sein konnte, dass eine ringförmige Welle Aus Erdstoß und ungerichteter Magie auslöste. Solange es nicht in ihrer Nähe geschah musste sie das nicht weiter interessieren. Wenn es sich nicht wiederholte.
Julius Latierre fühlte sich einen Moment irgendwie so, als habe ihn jemand kurz und sachte an den Fußssohlen berührt, als er gerade an einem Bericht über die in dieser Woche anstehende Veela-Zusammenkunft schrieb. Léto wollte ihn persönlich unterrichten, was Euphrosynes Aktionen für die Veelas bedeutete. Vielleicht musste er dann noch mal im Namen des Ältestenrates zu ihr hin, was ihm nicht wirklich behagte, wenn er daran dachte, was mit Armand Grandchapeau passiert war. Immerhin hatte dessen unüberlegte Aktion dazu geführt, dass er jetzt auch wieder Außeneinsätze mitmachen durfte, was vor allem von seiner Schwippschwägerin Britta Gautier und Ornelle Ventvits Nichte Adrastée mit Zufriedenheit aufgenommen worden war.
"Ist was, Julius?" fragte Monsieur Delacour.
"Ich denke gerade daran, dass ich heute noch zu Mademoiselle Maxime soll, um mir Meglamora anzusehen. In vier Monaten ab heute könnten die Zwillinge zur Welt kommen."
"Schon unheimlich, dass wir das bewirkt haben und nicht wissen, ob wir da nicht einen Fehler gemacht haben", sagte Pygmalion Delacour. Julius nickte. Nachdem Louvois über seine Strohmänner versucht hatte, Ornelle, Vendredi und ihn quasi als Halbriesenzüchter in Verruf zu bringen fragte er sich schon, ob das wirklich damals die richtige Entscheidung gewesen war. Doch andererseits war Meglamora daadurch harmloser geworden, als wenn sie sich jemanden mit Gewalt genommen hätte. Dochmehr noch als Meglamora interessierte ihn, was er da gerade gespürt hatte. Er dachte an das Wissen von Madrashainorian. War es nicht möglich, in der Erde fließende Zauberkräfte zu spüren, besonders wenn sie die Erde direkt betrafen? Falls ja, dann konnte nur Anthelia oder die Schwester vom schwarzen Felsen was angestellt haben. Dass Anthelia/Naaneavargia schon wusste, dass er bei Naaneavargias Großmutter einen Superintensivkurs bekommen hatte glaubte er nicht.
Eine Stunde später schwirrten Memos durch alle Abteilungen. Als Julius eins davon auf seinem Tisch landen sah dachte er mit gewissem Unbehagen an den elften September im letzten Jahr zurück oder an die Sache mit dem in Frankreich herumspukenden Luftdschinn. Er zog den Memozettel aus dem magischen Papierflieger und las wie Pygmalion, dass über diverse Bilderverbindungen gemeldet worden war, dass eine sehr starke Explosion das US-Zaubereiministerium zerstört hatte. Deshalb galt jetzt erhöhte Alarmbereitschaft und vor allem Appariersperre und Portschlüsselblockade. Wer hinaus wollte musste einen der zu Fuß erreichbaren Ausgänge benutzen. Denn auch alle Flohpulver-Anschlüsse waren dichtgemacht worden, um mögliche Folgeanschläge auf andere Ministerien möglichst zu vereiteln. Jetzt wusste Julius, was er da vorhin gefühlt hatte. Offenbar hatte die Zerstörung des Zaubereiministeriums einen kurzen, magischen Schock ausgelöst, weil die dort wirkenen Zauber mit einem Schlag entladen worden waren. Zudem hatte die Explosion wohl ein Erdbeben, zumindest einen kurzen Erdstoß ausgelöst. Den hatte er wohl gefühlt. Doch richtig wahrnehmen, so hatte er gelernt, konnte er sowas erst, wenn er mindestens drei Zauber der Erde angewandt hatte. Von einem wusste er, die Gnade der großen Mutter. Also war er jetzt eine Art lebender Seismograf? Die wahren Erdmeister konnten sich in das Spannungsgeflecht der Erde einfühlen und Beben in ihrem Umkreis erspüren. Ja, das war es wohl. Er gehörte wirklich jetzt dazu. Aber ob das immer so prickelnd sein würde?
Als er im Verlauf des Tages zur Ministerin zitiert wurde dachte er schon, es ginge um seine Eingliederung in den Club der Erdelementarzauberer. Doch die Ministerin wollte ihn als Experten für Muggelwaffen, vor allem Atombomben.
"Dass das US-Zaubereiministerium vernichtet wurde haben Sie ja auch mitbekommen", sagte Ministerin Ventvit. Untersuchungen haben ergeben, dass eine sehr giftige Wolke über dem Explosionskrater entstanden ist. Aber dann haben die Überprüfer auch Radioaktivität gemessen. Soweit ich dem Bericht entnehme, den sie damals meinem Vorgänger Grandchapeau erstatteten entsteht diese bei hoher Dosis gefährliche Strahlung durch die Zertrümmerung von Atomen oder die massive Freisetzung der darin gebundenen Kräfte. Halten Sie es für Denkbar, dass jemand aus der Zaubererwelt an diese Waffen gelangen kann und das Ministerium zerstören wollte?"
"An die Waffen rankommen kann jeder Zauberer mit Apparierkenntnissen. Sie anzuwenden wäre jedoch ein Tanz mit zehn Drachen gleichzeitig. Es sei denn, jemand führt im Stil der Attentäter vom elften September eine Selbstmordmission aus."
"Ja, aber warum dann ausgerechnet, wenn bis auf die Hauselfen niemand im Ministeriumsgebäude ist?" fragte Ministerin Ventvit. "Ich erfuhr nämlich, dass zum Zeitpunkt der Explosion niemand im Ministerium sein sollte, mal von den dort wohnenden und arbeitenden Hauselfen abgesehen."
"Ups! Stimmt, von der Uhrzeit her war es wohl halb drei, nicht wahr? Das brächte dann nichts, es sei denn jemand wollte eine Atombombe dazu benutzen, aus dem Ministerium heraus wen anderes anzugreifen."
"Danke, das wollte ich hören. Dann kann ich den Alarm jetzt wohl aufheben, da ein unmittelbarer Angriff auf unsere Institutionen nicht bevorsteht."
"Moment, Mademoiselle Ventvit, ich habe nur eine Vermutung geäußert, keine klare Tatsachenfeststellung. Abgesehen davon könnte ich mir auch vorstellen, dass jemand mit einem auf Uran basierenden Trank und einem dem widerstrebenden Trank eine Clamp'sche Kommotion herbeigeführt hat. Das würde nämlich für die Giftwolke sprechen. Bei einer Atombombe wird massiv Strahlung und übliches Rauchgas, sowie verstrahlter Staub freigesetzt. Aber soweit ich das Memo verstehe, dass aus der Sicherheitszentrale rundgeschickt wurde haben die Kollegen da eine starke toxische Wolke gemessen."
"Auf Uran basierende Tränke. Sowas ist mir noch nicht bekannt."
"Ich wüsste auch keinen solchen Trank. Aber die Strahlung kommt von zerfallenden Atomkernen oder durch sehr energiereiche Strahlung, Gammastrahlung genannt elektrisch aufgeladene Atome, die ihre Überladung wieder abstrahlen."
"Sie schlagen also vor, noch nicht die Absicherungen zurückzunehmen?" fragte Ministerin Ventvit.
"Dazu bin ich nicht befugt und zudem auch nicht zureichend informiert", erwiderte Julius. Die Zaubereiministerin lächelte ihn an.
"Gut, ich kläre das noch ab, was die verpatzte Angriffsmöglichkeit aus dem Ministerium heraus betrifft. Das würde zumindest auch erklären, warum mein temporärer Kollege Sandhearst nicht mehr aufzufinden ist." Julius sagte beinahe, dass der dann sicher um die internationale Raumstation herumschwirrte. Doch das ließ er besser bleiben.
Eine Stunde später wurde der Belagerungszustand wieder aufgehoben. Die Mitarbeiter durften nach Hause gehen.
"Du hast sicher das Gespür für starke Kräfte, die in der Erde wirken", bestätigte Millie seine Vermutungen vom Morgen.
"Womöglich hat Sandhearst sich nicht mit der Niederlage gegen VM abgefunden und versucht, denen ein ziemlich faules Ei zu legen, Mamille. Entweder ist ihnen das selbst in den Händen explodiert, oder die von VM können nicht nur Portschlüssel gezielt ansaugen, sondern fliegende Portschlüssel wie einen Flummiball zum Absender zurückwerfen."
"Schon sehr fies, wenn sowas geht. Aber moment, wenn der Vita Magica angreifen wollte, dann wohl diese Stelle, wo sie Gérard in diesem Karussell haben herumfahren lassen. Eh, dann hätte der ja unschuldige Leute erwischen können, die da gefangen sind. Wer kommt denn auf so eine Gemeinheit? entrüstete sich Mildrid."
"Das klassische Fernwaffenthema, Mamille. Wenn du nicht mitbekommst, dass wer stirbt, kannst du die schlimmsten Waffen einsetzen. Piloten warfen und werfen Bomben über Städte und wissen, dass dabei auch unschuldige Leute sterben. Aber weil sie das nicht mitkriegen können sie einfach ihren Befehl ausführen, anders als jemand, der zu einem hingehen muss, den er umbringen soll. Deshalb hat Draco Ich-hab-noch-mal-meinen-Hintern-gerettet Malfoy versucht, Dumbledore zu vergiften. und so'n Raketenbasistechniker braucht nur einen Schlüssel umzudrehen und mehrere Raketen fliegen los,jede dazu fähig, eine ganze Stadt wie Paris oder London zu vernichten und dabei mal eben mehrere Millionen unschuldiger Leute umzubringen. Er sieht nicht wie sie brennen, hört nicht wie sie schreien und so weiter."
"Wehe dir, du willst mir und vielleicht unserem ganz neuen Mitbewohner den Appetit verderben", grummelte Millie.
"Öhm, Maman Mildrid, du hast mich gefragt, wie jemand auf so eine Gemeinheit kommt, mal eben viele unschuldige Leute umzubringen."
"Es hätte gereicht, wenn du gesagt hättest, dass das eben zu einfach ist, Leute weit weg sterben zu lassen als selbst wen zu töten", knurrte Millie. Julius fragte sich, ob sie vielleicht wirklich wieder schwanger war. Doch das würde er sicher früh genug erfahren.
"Ich habe ihn gewarnt, zum knallroten Donnervogel noch eins!" schimpfte Quinn Hammersmith, als am Tag der Zerstörung des Zaubereiministeriums eine Notfallsitzung des LIs stattfand. Zu der Frage, ob er auch erklären könne, wieso Radioaktivität freigesetzt worden sei sagte Hammersmith nur: "Der hat's zu gut gemeint und hat mindestens drei wohl aber eher vier sich jeweils widerstrebende Tränke in einen Behälter gepanscht. Laut dem Alchemisten Ambrosius Saxifragus von 1120 hat er Jahrhunderte vor Clamp die sich explosionsartige Abstoßung von zwei bis vier Tränken erforscht, setzte Quinn an und zitierte alte Schriften, bis er den Begriff Substantia non Grata in den Raum warf. "Laut Saxifragus birgt diese Substanz einen Fluch. Wer sie erzeugt kann ein ganzes Haus mit einem Tropfen zerstören oder mit einem Fingerhut voll eine ganze Stadt. Das er das einzige Experiment überlebt hat lag nur daran, dass er winzige Tröpfchenzusammengebracht hat. Wenn vier Tränke aufeinandertreffen, wo jeder jeden der anderen abweist, vertausendfachte sich die Wirkung. Saxifragus hat seinen Labortisch aus Stein zertrümmert und konnte danach einen Monat lang nicht mehr sehen, bis ein Heiler ihm die Augen geheilt hat. Aber den Haarausfall und die roten Pusteln, die er danach bekam konnte der Heiler damals nicht wegzaubern. Ja, und dann ist Saxifragus ein halbes Jahr später an mehreren Krebsgeschwüren in Lunge und Hals gestorben. Er hat damals geglaubt, dass dies ein Fluch der Natur für den Stoff, der nicht sein darf gewesen sei. Heute wissen wir dank der Entdeckungen von Herbregis und Dawn im Jahre 1986, was Strahlung ist und wie sie wirkt. Womöglich sendet der Stoff, der nicht sein darf bei seiner Vernichtung solche Strahlen aus."
"Moment mal, so einen Stoff gab es mal beziehungsweise der wurde durch alchemistische Experimente hergestellt?" fragte Jeff Bristol. Quinn nickte. "Ja, dann ist das klar. Das ist das, was Muggel Antimaterie nennen", sagte er und beschrieb dann, was in der magielosen Wissenschaft darüber bekannt war und ob die Muggel diese gefährliche Fremdform der Materie herstellen und lagern konnten. Zu aller Beruhigung war das bis heute noch nicht gelungen und die Herstellung von Antimaterie würde genau die Energiemenge kosten, die bei ihrer Berührung mit gewöhnlicher Materie freigesetzt wurde. Jeff war aber alles andere als beruhigt, dass magische Alchemie dieses "Höllenzeug" hervorbringen konnte, wenngleich sie nicht gelagert werden konnte.
"Leute, euch sollten zwei Sachen klar sein", schaltete sich Sheena O'hoolehan ein. "Erstens: Sandhearst wollte den totalen Gegenschlag führen. Zweitens, Vita Magica kann Portschlüssel ohne Landung direkt zu ihren Ausgangsorten zurückschicken. Drittens, Vita Magica wird diesen versuchten Angriff nicht ungeahndet hinnehmen. Wir dürfen also mit weiteren Aktionen rechnen, zumal ich mich frage, ob die Berichte, die einige Hexen und Zauberer abgeliefert haben auf unliebsamen Tatsachen beruhen. Ich spreche hier von einer Halloweenparty in Miami, wo angeblich nur Muggel hingehen sollten."
"Davon habe ich auch gehört. Meine Cousine dritten Grades hat auch sowas erzählt", sagte Quinn Hammersmith. "Die hätte lieber mit uns feiern sollen. Am Ende hat sie sich bei der Aktion was bleibendes eingefangen."
"Das gilt es auch zu klären, ob diese Party stattfand und ob es ursprünglich eine Muggelweltparty war, Leute. Falls nicht, dann war es ein neuer Coup von Vita Magica, und wozu der dienen sollte ist dann klar."
Du warst nicht zufällig auch in Miami auf einer Halloweenfeier?" fragte Anthelia ihre Schwester Albertine am dritten November.
"Seitdem wir zwei süßen damals die Nocturniabrut an Halloween gejagt haben halte ich mich mit Partys zurück, höchste Schwester. Ich konnte nur deshalb jetzt erst zu dir hin, weil mein offizieller Dienstherr wegen der Sache mit dem Zaubereiministerium in den Staaten Kontakt mit den US-Kollegen aufnimmt, um gemeinsame Akten auszutauschen, damit die wieder ein Archiv kriegen."
"Bedauerlicher Vorfall. Die haben doch erst darauf spekuliert, die Zerstörung des Ministeriumsgebäudes Vita Magica anzulasten. Aber dann sind sie doch noch zur Vernunft gekommen, dass mit solchen hinterhältigen Zeitgenossen kein ständiger Krieg zu führen ist. Dafür verleiten Sie Hexen und Zauberer weiterhin zu wilden Festen", grummelte Anthelia und ignorierte es, wie Albertine mit ihren magischen Augenunter ihre scharlachrote Kleidung guckte. "Was ist das mit diesen Schattendämonen, die in Marokko eine Gruppe deiner Landsleute heimgesucht haben?" wollte Anthelia wissen. Albertine berichtete es ihr und mutmaßte, dass es eine Kraft aus dem alten Reich sein mochte. Anthelia nickte und erwähnte die Geschichten über den Schattenträumer Kanoras, und dass dieser sich die Seelen von lebenden Wesen einverleiben und ihnen bei Dunkelheit schattenhafte Form geben konnte. "Zu gerne würde ich an den Ort reisen, den die vier besucht haben. Doch mein Bündnis mit den Töchtern des grünen Mondes zwingt mich, keines der Länder, wo sie ihren Gott Allah nennen zu besuchen. Zu gerne hätte ich Kanoras' Streitmacht niedergeworfen."
"Geht denn das überhaupt. Also, diese deutschen Hochschulleute haben Laserstrahlen und grelle Fackeln und Schreckbomben verwendet, um die Schatten zu zerstören", sagte Albertine.
"Nun, ich kenne da einige Zauber unserer großen Mutter, mit denen ich selbst diesen Schatten beizukommen hoffe. Richtig von ihrem Sklavenmeister losreißen kann aber nur die Kraft des reinen Lebens, und da kenne ich nur einen persönlich, der diese Macht schon einmal beschworen hat."
"Julius Latierre", sagte Albertine. "Aber der wird wohl nicht alleine gegen diesen Kanoras antreten."
"Nein, das wird er wohl nicht. Aber wir müssen davon ausgehen, dass Kanoras neuen Kontakt zu seinem früheren Herrn und Meister sucht, zu Iaxathan, dem Kaiser der Nacht. Das heißt, er und dieser Vengor haben dasselbe Interesse."
"Dann werden die sich verbünden. Hat dieses Wesen denn noch natürliche Feinde?" fragte Albertine.
"Ja, die Vampire wohl. Zumindest weiß ich aus meinem ersten Leben, dass Vampire einen Herrn der Schattenkrieger fürchteten wie die Menschen den Teufel oder dieser das Weihwasser dieser Heuchler. Außerdem dürfte die wiedererwachte Tochter der kosmischen Finsternis nicht davon begeistert sein, dass ein mächtiger und womöglich auch gefährlicher Konkurrent wieder aufgewacht ist. Wenn wir nicht selbst gegen Kanoras antreten können bringen wir seine Feinde darauf, wie er vernichtet werden kann."
"Dann darf aber nicht auffliegen, dass wir die Leute auf ihn angesetzt haben", sagte Albertine.
"Ja, ist wohl so", erwiderte Anthelia/Naaneavargia. Dann fragte Albertine, was ihre höchste Schwester mit einer Halloweenparty in Miami gemeint habe. Anthelia erwähnte einen Bericht von Beth mcGuire, dass sie auf einer angeblichen Muggelweltparty mehrere Hexen und Zauberer gesehen zu haben meint, darunter Chrysostomos Greensporn. Eben nach dem wird gesucht. Wusstest du das noch nicht, Schwester Albertine?"
"Ich hörte, dass eine ausländische Mitschwester des Ordens jemanden vermisst, aber nicht, dass es der Enkel der Hebammenkönigin Eileithyia ist", sagte Albertine. "Aber das mit Annelise van Gaal habe ich mitbekommen. Wir Schwestern der zärtlichen Zuneigung haben da so unsere Kontakte", sagte Albertine.
"Und du bist wütend, weil ihr jemand gegen ihren Willen mehrere Kinder zu tragen aufgezwungen hat, richtig?" fragte Anthelia. Albertine nickte. Anthelia fing aus ihren an der Bewusstseinsoberfläche treibenden Gedanken auf, dass Albertine zuerst eine große Angst verspürt hatte, dass Vita Magica so drastisch und dabei auch noch erfolgreich war. Anthelia erwiderte darauf: "Solltest du ein Ultimatum erhalten, demnächst selbst auf Nachwuchs hinzuwirken oder eine Spur finden, von der du denkst, sie könnte zu den Hinterleuten von Vita Magica führen, so teile es mir gütigst früh genug mit, Schwester Albertine. Dann wirst du nur mit dem Mann ein Kind oder zwei haben, dem du selbst die Ehre erweist, mit dir das Lager zu teilen. Das ist nicht so abstoßend, wie du es immer empfindest. Mit dem richtigen ist das immer ein herrliches Erlebnis", schnurrte Anthelia/Naaneavargia, die ihren Hunger in diese Richtung am Halloweentag in Dublin gestillt hatte.
"Du weißt, dass mich das anwidert, von so einem behaarten Geschöpf mit einem wankelmütigen Anhängsel durchdrungen zu werden, höchste Schwester. Wer von mir ein Kind will muss mich schon in Tiefschlaf versenken ... Was mit Annelise wohl auch passiert ist, bis deren Gorgonengift sie darauf gebracht hat, die ihr in den Leib getriebene Brut eines Zauberers auszutragen."
"Kommen wir noch mal zu Kanoras, Schwester Albertine. Wir müssen davon ausgehen, dass Vengor oder einer seiner Unterknechte mit diesem arm- und beinlosen Unwesen Verbindung aufnehmen wird. Bringe deinen offiziellen Dienstherren dazu, seinen Kollegen in Marokko zu veranlassen, einen Meldezauber einzurichten, der auf dunkle Auren anspricht. Vengor kann sich noch so gut panzern oder unortbar machen. Wenn er dort auftaucht sollte seine vom Unlichtkristall erzeugte Aura aufspürbar sein."
"Wenn du mir verrätst, wie ein solcher Zauber gehen soll, höchste Schwester", erwiderte Albertine und rückte näher. Anthelia nickte und erklärte es Albertine. Auch erwähnte sie, dass sie die Töchter des grünen Mondes darauf ansetzen würde. Vielleicht bezogen die dann noch die achso weltbeschützenden Brüder vom blauen Morgenstern mit ein.
Vengor triumphierte. Vier Tage nach Halloween hatte er es geschafft. Seine Liste grausamer Morde war abgehandelt.
Hatte er am Oktoberanfang noch gebangt, er könne nicht an Hildegard Eisenstein und ihre Nachgeborenen herankommen, war sein Plan doch noch aufgegangen. Vor allem konnte er damit jeden namentlich oder bildlich bekannten Widersacher aus sicherer Entfernung treffen, wenn er genug Material beschaffte. Er hatte sich hierzu herabgelassen, einen Technischen Trick der Muggel magisch zu kopieren und eine Vorrichtung gebaut, die mit einem auf die Mondschwerkraft teilabgestimmten Flugzauber belegt war und einen unortbaren Flugkörper an die Grenze zum Weltraum getragen hatte. Dieser Flugkörper hatte das Gehirn einer Waldfrau enthalten, das durch magische Belebung immer daran gedacht hatte, Hildegard Eisenstein und allen Nachkommen die schlimmsten Träume zu bereiten. Eine aus Unlichtkristall gemachte Linse hatte diese Angstvorstellungen zur Erde hinuntergeschickt und diese im Bereich Europa solange bestrahlt, bis eine Reaktion eingesetzt hatte. Vengor hatte dann nur noch zu dem Ort reisen müssen, an dem seine Zielpersonen den Schutz des Fidelius-Zaubers verlassen hatten. Dann hatte er die vier erstarren lassen und entführt. Er hatte sie solange in Zaubertiefschlaf gehalten, bis ihre Geburtstage unmittelbar bevorstanden. Dann hatte er erst den gerade vier Jahre alten Willibald mit einem vor zehn Jahren erfundenen Fluch schlagartig alles Blut in den Adern gerinnen lassen. Zwei Tage später hatte er die Zwillinge aus dem Zaubertiefschlaf geweckt, um ihnen ihren Tod anzukündigen. Auch sie hatte er mit dem Instanthrombus-Zauber getötet. Vor Zehn Jahren, wo er den Fluch erfunden hatte, war dem noch durch den Sanasanguis-Zauber beizukommen gewesen. Doch nun wirkte der zehnmal so schnell und damit unverzüglich tödlich. War auf jeden Fall nicht so spektakulär wie Avada Kedavra, wenngleich seine Ausführung viermal so lange dauerte und daher im Duell so gut wie wertlos war.
Er hatte dann dem deutschen Zaubereiministerium die Leichen der Getöteten geschickt und erwähnt, dass es davon noch hundertmal so viele geben würde, wenn sie dort nicht einsahen, dass nur er die Herrschaft über alle Zauberer auszuüben hatte. Doch die im Ministerium hatten sich nicht gemeldet.
Mit zwei weiteren sogenannten Albtraumkugeln war es ihm gelungen, Christie Fenwick in Kanada und Milagro Bocabella im Dschungel von Peru zu orten und außer Gefecht zu setzen. Doch die Aktion gegen Fenwick hätte ihm fast den Tag verdorben. Denn als er dort eintraf geriet er prompt in eine Zauberschlacht und musste sogar gegen graue Eisentrolle kämpfen, die gegen die meisten auf die Elementarkraft Erde beruhenden Zauber und sogar gegen viele das Wasser und Feuer betreffende Flüche immun waren. Doch mit Avada Kedavra, der eine Gegenkraft zum Leben selbst war, hatte er sich am Ende doch noch durchgesetzt und das gewünschte Ziel erledigt. Zur Mahnung hatte er über dem in Trümmer gefallenen Gebäude ein blutrotes V aufleuchten lassen. Ja, das war jetzt sein Erkennungszeichen. Bald würden sie es genauso fürchten wie das dunkle Mal. Das blutige V der Vergeltung.
Milagro Boccabella hatte den Angststrahl aus dem Himmel wohl verspürt und eine indianische Schutzmeditation dagegen ausgeführt. Doch eben dieser Widerstand half Vengor, sie genau zu orten und anzugreifen. Doch sie hatte sich eine Armee von Sumpfgetier hörig gemacht. Er musste gegen hasengroße Giftfrösche, schweinegroße Spinnen und mehr als zwanzig Meter lange Giftschlangen ankämpfen. Auch hatte sie einen fiesen Feuerzauber erfunden, der Pflanzen nicht schädigte, aber von ihnen in Gang gehalten wurde. Fand er Fleisch oder Blut, schlugen blutrote Flammen aus dem betroffenen Körper. Nur Vengors besonderer Schutz, der Unlichtkristall, bewahrte ihn vor diesem wohl aus der dunklen Magie irgendwelcher Urwaldhexer stammenden Vernichtungsschlag. Am Ende blieb ihm nur Avada Kedavra, um Milagro zu töten.
Ja, er konnte mit sich zufrieden sein. Im Endspurt zum Tor in die Nimmertagshöhle hatte er noch einige große Zaubereien erfunden oder bestehende vervollkommnet. Wenn er erst mal Iaxathans Stellvertreter auf Erden sein würde, dann konnte er alles und jeden nach seiner Pfeife tanzen lassen. Iaxathan würde zufrieden sein. Außerdem hatte er nun anders als sein Vorgänger die Möglichkeit, auch die widerborstigen Waldfrauen zu bändigen. Denn wenn die erst mal wussten, dass er ihre Köpfe zu seinen Werkzeugen machen konnte, würden sie darum betteln, von ihm verschont zu bleiben, ja nicht direkt mit ihnen Verwandte an ihn ausliefern, sozusagen als Tribut für ein größtenteils friedliches Dasein.
Derartig in neuen Machtphantasien schwelgend vergaß Vengor nicht, dass er auch Hironimus Pickman zur Raison bringen musste. Denn ein Zauberer, der sich derartig anmaßte, ihm zu trotzen und das auch noch zu überleben, durfte es nicht geben. Aber noch hielt er es für klüger, diesen Pinselschwinger für sich arbeiten zu lassen. Ja, er würde ihn beauftragen, um die Tage seines großen Triumphes ein weltweites Ablenkungsmanöver zu beginnen, das sämtliche Ministeriumszauberer auf sich ziehen musste, wollten die nicht haben, dass die Welt im Chaos versank.
"Wiege dich noch nicht in Sicherheit. Denn bedenke immer, dass jemand von deinem Tun erfuhr und genug Zeit hatte, deine Pläne zu durchkreuzen, mein künftiger Bündnispartner", hörte er Iaxathans Stimme in seinem Geist.
"Ich könnte jetzt jederzeit zu dir kommen, Meister Iaxathan", erwiderte Vengor.
"So, könntest du das? Nein, ich hieß dich, dreizehn Mondwechsel zu warten. Erst wenn diese um sind darfst du es wagen, zu mir zu finden. Voreiliges Handeln dulde ich nicht. Außerdem musst du, um dich meiner endgültig als würdig zu erweisen, den Bund mit meinem treuen Diener Kanoras besiegeln. Erst wenn ihr zwei einander als Bundesgefährten angenommen habt, magst du es wagen, durch die widerliche Sperre aus reiner Lebensfreude und Lebens... Lebens... dieser verdammten Kraft zu dringen."
"Lebensliebe?" fragte Vengor vorwitzig.
"Wage es, mich zu verspotten, und ich treffe dich mit meiner Macht hier und jetzt und halte dich auf ewig im Bann des in dir wirkenden Kristalls gefangen!" schrillte Iaxathans Gedankenstimme.
"Ich werde nichts tun, was unseren Bund gefährdet, ehe er beginnt", gelobte Vengor mit Unbehagen.
"Nun, ob du dies nicht tust wird sich erweisen, wenn du vor mich hintreten darfst. So harre noch aus und verfolge deine Ziele, damit wir, wenn du es vollbringst, zu mir zu gelangen, den großen Weg in die alles endende Finsternis betreten können!"
"So soll es sein", erwiderte Vengor unterwürfig klingend.
Am siebten November sah Catherine bei den Latierres vorbei. Das war nicht aus reiner Höflichkeit oder Freude, sondern weil sie mit Julius was besprechen musste, wo die Kinder nicht bei sein sollten. So fiel Millie die Aufgabe zu, auf Claudine, Aurore und Chrysope aufzupassen.
"Julius, du erinnerst dich noch an diesen supergroßen Nachtschatten, dem wir im bauch der schlafenden Schlange begegnet sind?" Julius nickte eifrig. Den konnte er nicht vergessen. "Nun, offenbar hat jemand aus grauer Vorzeit eine Methode erfunden, noch schlimmere Schattenwesen zu erzeugen und zu lenken. Du hast es wohl nicht mitbekommen, weil das bei euch im Ministerium wohl eine S-5- oder Höher eingestufte Angelegenheit der Geisterbehörde ist. Aber da wir zwei so ein Ungeheuer schon mal getroffen haben wollte ich dich von der Liga her ins Vertrauen ziehen, zumal das auch den stillen Dienst betreffen mag."
"Was für Schattenwesen genau, Catherine?" Sie erzählte es, was die Kollegen in Marokko mitbekommen hatten. Julius nickte. Dann erwähnte er Kanoras, von dem ja auch die drei Sonnentöchter Faidaria, Gisirdaria und Patricia Straton alias Gwendarthammaya gesprochen hatten. Dass er dieses Scheusal in einer Nachbetrachtung von Aurélie Odin ausgelagerten Erinnerungen kennengelernt hatte baute er ganz zum Schluß ein.
"Mit anderen Worten, wir haben jetzt noch einen Feind dazubekommen. Wenigstens wissen die Kollegen in der Liga, dass diesen Monsterschatten mit grellem Licht oder Laserstrahlen beizukommen ist. Aber das bringt nicht viel, wenn keiner genau weiß, wo dieser Kanoras haust."
"Das bekam ich leider auch nicht mit", seufzte Julius.
"Besteht die Möglichkeit, dass ich diese Erinnerung betrachten kann, Julius?" wollte Catherine wissen.
"Ja, die Möglichkeit besteht. Du brauchst mich nur zu fragen, ob du es darfst", erwiderte Julius.
"Ja,ich verstehe, ich war wieder mit Leuten wie meiner Mutter und Phoebus Delamontagne zusammen. Also, darf ich mir die Erinnerung über Kanoras ansehen, bitte?"
"Ja, darfst du", sagte Julius. Da Millie mit den Kindern gerade in der Wohnküche war bekamen die drei Kleinen nicht mit, wie Catherine von Julius zum Denkarium geführt wurde. Er wählte die entsprechende Erinnerung aus, und Catherine versenkte ihren Kopf in der silbrigweißen Substanz vermengter Erinnerungen. Eine Viertelstunde später zog sie den Kopf wieder heraus.
"Und das hat die selige Aurélie dir vermacht, nicht Camille?"
"Sie ging davon aus, dass ich noch zusätzliche Informationen wegen des Lotsensteins brauche", sagte Julius.
"Tja, da war sie ja wohl ein paar Jahre zu spät dran. Aber sei es! Danke für diese wichtige Einsicht."
"Wie verkaufst du es deinen Kollegen in der Liga, Catherine?"
"Das ich meine Quellen ausgeschöpft und diese Erinnerung gefunden habe. Aber viel nützen kann uns diese Erinnerung ja wirklich nicht. Aber zu wissen, wie dieser Schattenträumer, dieses monströse Gehirn, wieder eingeschläfert werden kann, wenn wir ihn nicht töten dürfen, ist schon sehr wichtig."
"Ja, das stimmt wohl", erwiderte Julius.
Weil Joe mal wieder länger in seiner Firma war nahmen Catherine und Claudine die Einladung gerne an, den Latierres beim Abendessen Gesellschaft zu leisten. Dabei konnten sie sich auch gut abstimmen, dass sie gemeinsam nach Viento del Sol und weiter nach Santa Barbara reisen wollten, wenn Martha und Lucullus Merryweather offiziell ihren Dreifachnachwuchs vorstellten.
In deutschland war es ein vielfach historischer Tag, der neunte November 2002. Sie feierten das Ende des ersten Weltkrieges, gedachten den Opfern einer gegen Juden aufgehetzten Meute von Menschen und feierten die Öffnung der lächerlichen Betonwand mitten durch Berlin, die für jemanden wie ihn nie ein Hindernis gewesen war.
Der Zauberer, der sich Lord Vengor nannte, hatte seine Vorbereitungen getroffen. Er wusste, dass Kanoras wiedererwacht war. Wenn er mit diesem einen Pakt schließen konnte, kam Iaxathan nicht darum herum, ihm, Lord Vengor, seine Erlaubnis zu geben, deer Stellvertreter des letzten großen Königs des alten Reiches zu sein. Auch hatte Vengor über seinen Gefolgsmann Nummer zehn wieder Verbindung mit den Dementoren erhalten, die nach der Massenvernichtung auf Roughwater Island neue Ziele suchten. Er wollte sie wieder zu einer Armee der Angst und Unterwerfung zusammenschmieden. Doch erst musste er Kanoras für sich gewinnen.
In Begleitung seines zum Nachtschatten gewordenen Dieners Corvinus Flint reiste er an diesem neunten November zu den nördlichen Hängen des Atlasgebirges. Vorher hatte er nur gewusst, dass der mächtige Schattenträumer in dieser Region wohnte. Doch durch Flint hatte er jetzt endlich den genauen Standort. Er war auf viele Dinge gefasst, dass Kanoras ihn nicht als würdigen Partner Iaxathans anerkannte, dass der Schattenträumer noch zu schwach war, um jetzt schon als Helfer zu dienen oder dass er zu stark war, um Vengor bedingungslosen Beistand zu leisten. Da Vengor davon ausging, dass Kanoras einen Verbündeten suchte hoffte er jedoch, dass dieser sich einem Pakt nicht verweigern würde.
Als Vengor und sein unheimlicher Gehilfe auf einem Flugbesen in der Nähe einer Höhle landeten fühlte er sofort, dass er hier richtig war. Die Höhlenöffnung atmete den Hauch dunkler Zauberkraft aus. Doch er fühlte Dank des Unlichtkristalls auch was anderes. Hier schwirrten tastende Zauber herum, die in seinem Körper eine spürbare Nachschwingung erzeugten. Auch sein schattenförmiger Gehilfe erfühlte etwas.
"Man hat uns erwartet, Meister", zischte Flint. Vengor nickte. Dann sah er sie auch schon, fünfzig Männer auf fliegenden Teppichen, die oberhalb des Bergmassivs in einer Tarnbezauberung ausgeharrt hatten. Sie flogen im Sturzflug zu ihm herunter. Vengor lachte und wollte schon ansetzen, diese übereifrigen Wichte mit dem Todesfluch reihenweise vom Himmel zu holen, als einer der Teppichreiter einen Stopfen aus einer von Bastgeflecht umschlossenen Flasche zog. Eine blaue Rauchspirale stieg daraus auf. Ein anderer Teppichreiter tippte eine kupferne Lampe mit seinem Zauberstab an, worauf eine Feuersäule herausfuhr und sich im Flug zu einem flammenden Etwas mit menschlichen Formen aber sechs Armen vervollständigte. Diese morgenländischen Wadenbeißer wagten es wahrhaftig, Feuer- und Luftdschinnen gegen ihn einzusetzen. Die musste er zuerst loswerden, sonst kamen diese niederen Elementarsklaven noch darauf, ihn zum Dank für ihre Freiheit in Besitz zu nehmen. Denn ob der Unlichtkristall gegen Elementargeister half hatte er bisher nicht herausfinden müssen. Aber er wusste, wie er die beiden Angreifer auskontern konnte. Er beschwor den Wind der Verdammnis, die dunkle Elementarbeschwörung der Luft. "Tempestates Tartari!" Um ihn entstand eine immer wilder wirbelnde Luftsäule. Da war schon der aus seiner Flasche freigelassene Luftdschinn. Sofort prallten die zwei elementaren Kräfte der Luft aufeinander. Es entstanden Tornados, Blitze und Elmsfeuer. Der Feuerdschinn, der im Flug erst seine flammende Ursprungsgestalt angenommen hatte und nun als brausende Feuerkugel auf seinen vorbestimmten Feind hinuntersauste, geriet zwar in den Wirbelsturm, doch er flackerte nur. Vengor wirbelte auf der Stelle herum und rief: "Fumus ravenosus!" Mit lautem fauchen schoss eine Säule aus giftgrünem Rauch aus seinem Zauberstab. Da der Unlichtkristall ihm mehr Macht über zerstörerisches Zauberwerk gab wirkte dieser Zauber zehnmal so stark wie sonst. Die weiter über ihm im Zentrum der magisch erzeugten Luftsäule aufsteigenden Rauchwolken formten sich zu einer einzigen und umhüllten den Feuerdschinn. Vengor fühlte, wie über den grünen Rauch neue Kraft in ihn einströmte. Damit konnten alle magischen Feuer zu eigener Lebenskraft umgewandelt werden. Traf der Rauch auf Lebewesen kühlten sie körperlich und seelisch aus und wurden zu Eisstatuen mit einem winzigen Rest von seelischer Regung. Durch einen entsprechenden Zauber konnten solche Eismenschen zu Eiszombies werden. Jedenfalls fraß der grüne Rauch die Feueresssenz des flammenden Geistes nach und nach auf. Mit der dabei auf ihn übergehenden Kraft hielt Vengor die Luftsäule in Schwung und vermochte es, den Luftdschinn von dieser in Fetzen zerreißen zu lassen. Nicht besser erging es dem Feuerdschinn. Er wurde kleiner und dunkler, bis er mit einem lauten Fauchen völlig verging. Vengor lachte, weil er sich gerade so stark und unbesiegbar fühlte. Er konnte jetzt die auf den Teppichen reitenden Widersacher abschießen. Nein, er hatte doch da was viel besseres. Er griff im Schutze der sich um ihn bewegenden Säule aus grünem Rauch und aufgewühlter Luftmassen nach einem kleinen Beutel. Doch vorerst zog er einen bläulichen Ring über den Stiel seines Flugbesens. Kaum hatte er den Beutel geöffnet, fühlte er nur, wie etwas daraus nach oben schnellte. Gleichzeitig blitzte der bläuliche Ring kurz auf. Vengor lachte. Gleich würden diese Geisterbeschwörer selbst zu den Geistern entfleuchen. Er senkte den Zauberstab und rief hinauf: "Ich ergebe mich!" Dann ließ er die grüne Luftsäule mit einem kurzen Gedankenin einem rosaroten Blitz verschwinden. Tatsächlich senkten sich die fliegenden Teppiche. "Hier, ich lege meinen Zauberstab vor euch nieder!" rief er nach oben und tat es. Flint verstand seinen Herren nicht. "Du in die Höhle zu dem Schattenträumer", gedankensprach Vengor, weil er Flints Bindungsartefakt dabei hatte. "Frevler, der du den größten Schrecken zu deinem Herrn und Meister erwählt hast. Gebe dich gefangen!" rief einer der Männer auf dem Flugteppich. Vengor wollte gerade was sagen, als der herabsinkende Flugteppich unvermittelt in rotgoldenen Flammen aufging, zu einer jähen, zwanzig Meter durchmessenden Feuerkugel anschwoll, die alles in sich verbrannte. Dadurch geriet auch schon ein nebenan fliegender Teppich in Brand. Dann verging der nächste Teppich im rotgoldenen Zauberfeuer, und eine Sekunde später der nächste. Einer der Zauberer rief: "Accio Vengors Stab!" Doch der blieb wo er war. Wie hätte der arme Tropf auch wissen sollen, das Vengor durch den Unlichtkristall und die damit bewirkten Zauber solange Herr seines Zauberstabes blieb, solange dieser in bis zu dreifacher Armlänge bei ihm steckte oder lag. Dann musste der Zauberer, der noch versucht hatte, sich Vengors Stab zu beschaffen keine Sorgen mehr haben. Sein Teppich flammte auf und wurde innerhalb eines Sekundenbruchteils zur rotgoldenen Vernichtungssphäre, die gleich noch zwei weitere Teppiche in Brand setzte. Doch das genügte der Macht nicht, die Vengor beschworen hatte. Sie vernichtete weitere fünf Teppiche. Einer war weit weg und versuchte die Flucht. Doch das Unheimliche aus dem Beutel Vengors war offenbar schneller und erwischte den Teppich. Nicht einmal eine Minute hatte das von Vengor entfesselte Zerstörungsinferno gedauert. Dann waren sämtliche fliegenden Teppiche mit ihren Reitern aus und vergangen. Vengor setzte die Finger an die Lippen und stieß einen nur ihm bekannten Pfiff aus. Dann hielt er den kleinen Beutel offen. Etwas schwirrte vor ihm nieder. Dann fühlte er einen kleinen Ruck in dem bereitgehaltenen Beutel. Schnell band er diesen wieder mit einem Magischen Doppelknoten zu und murmelte: "In Saculo dormi! In Saculo expecta!" Das leichte Zittern im Beutel erstarb. Auch der Ring um den Besen leuchtete nicht mehr. Vengor zog ihn ab. Dann betrat er die Höhle.
Der neue dunkle Lord war ein wenig enttäuscht. Denn von einem Ein- oder Durchgang war nichts mehr zu sehen. Nur noch Felsspalten verzierten eine Wand. Vengor prüfte schon nach, ob er das Hindernis wegsprengen könnte. Doch dann sah er, wie zwei pechschwarze dünne Rauchfäden durch eine Ritze im oberen Drittel der massiven Wand hinausdrängten und vermeinte, ein leises gequältes Seufzen aus zwei Mündern zu hören. Dann formten sie sich vor ihm. Zwei Frauen aus lichtschluckender Schwärze. Sie verströmten den für Vengor so herrlichen Odem der schwarzen Magie. "Wir sind die Dienerinnen des erhabenen Lenkers und heißen dich, Vengor und deinen Sklaven Flint in seinem Reich willkommen."
"Ich bin kein Sklave", grollte der Nachtschatten Flint.
"Ich wünsche, mit eurem Lenker alleine zu sprechen. Gebt mir den Weg zu ihm frei!" befahl Vengor.
"Meine Dienerinnen erspüren, dass dich die Krafthülle eines Unlichtkristalls umfließt", hörte er eine geschlechtlich nicht eindeutige Stimme. Flint nickte mit seinem licht schluckenden Kopf. Vengor bestätigte das. Dann erkannte er, dass er Kanoras nicht bedrängen oder gar bedrohen durfte. So sagte er ungewohnt kleinlaut: "Großer Lenker der Schatten. Ich trage einen Unlichtkristall bei mir, als Geschenk von Iaxathan, dem ich die Herrschaft auf Erden wiederbringen will. Erweise mir bitte die Gunst, dein Angesicht zu sehen!"
"Du willst einen Bund mit mir schließen, nicht wahr?" fragte die geschlechtslose Stimme zurück. Vengor bejahte es. So schließe deine Augen und lasse dich von meinen Dienern zu mir tragen!"
Vengor überlegte kurz. Dann stimmte er zu. Doch als ihn erst die beiden Schattenfrauen und dann noch zehn frei schwebende Schattenwesen zu fassen versuchten zuckte und hüpfte der in Vengors Körper steckende Unlichtkristall schmerzhaft. Die Schattenwesen prallten zurück. "Leg den Kristall aus der Hand! Du kannst ihn später wieder an dich nehmen", sagte die Stimme, die wohl Kanoras gehörte. Da erkannte Vengor, wo die Schwäche in seinem Plan lag. Er konnte dunkle Zauber zurückwerfen, Gegner niederfluchen und sogar Flugartefakte im Flug in reines Feuer verwandeln. Aber den Unlichtkristall ablegen konnte er nicht. Da berührte ihn eine der Schattenfrauen mit ihrem Zeigefinger ganz sacht an der Brust. Er meinte, gleich seine Lunge durch den Hals hinausgedrückt zu bekommen.
"Der höchste Meister hat dich wahrlich auserwählt. Denn du trägst den Kristall in deinem Körper", lachte Kanoras. "Zieht euch zurück, meine Dienerinnen! Ihr könnt ihn so nicht ergreifen." Die zwei Schattenfrauen, von denen eine klein und gedrungen und die andere groß und schlank mit ihren Körper umwehenden Dunstfäden waren streckten sich zu schwarzen Rauchfäden und zwengten sich wieder durch die Ritzen.
"Nun gut", sprach Kanoras. "Ich will mich dir zum Dienst verbinden. Doch sei dir an jedem Ort und immerfort bewusst, dass wir beide einem größeren dienen. Den Weg zu ihm wirst du dir und mir öffnen, auf dass er uns beide zu seinem großen Kampf in die Welt zurückschickt. Um dir dabei zu helfen, nicht immer mit toten bezauberten Kraftverdrehern hantieren zu müssen sende ich dir zwanzig Rufsteine." Mit diesen Worten flogen zwanzig Nachtschatten durch die Ritzen in der Wand, darunter auch wieder die beiden Frauen. Sie landeten und verströmten eisige Kälte. Dann fielen aus jedem Nachtschatten kleine, bläulich leuchtende Kristalle, die beim Aufprall mit den Steinen im Boden zu kleinen Stalakmiten wurden. "Brich die Steine ab und binde dich dadurch an sie und die Dienerinnen und Diener, die sie aus ihrem Unlichtstoff abgeschieden haben!" befahl Kanoras. Vengor wollte erst mit einem Flucherkenner prüfen, was passieren würde. Doch dann erkannte er, dass er ja gegen jeden dunklen Zauber immun geworden war. Er griff nach dem ersten bläulichen Stalakmiten. Eine der Frauen stieß einen kurzen Schmerzenslaut aus. Vengor meinte, den magischen Tropfstein zittern zu spüren. Dann war er wieder wie immer. So traute er sich an die anderen Tropfsteine. So zuckte einer der Schatten nach dem anderen zusammen, bis Vengor alle zwanzig Steinzapfen hatte.
"So seid ihr nun durch mich an ihn und er durch euch an mich gebunden", verkündete Kanoras. "So kannst du an jedem Ort meine Diener zu Hilfe rufen, sobald es dunkel genug ist, dass sie nicht im lähmenden Licht gefangen sind oder gar dahinschmelzen", ergänzte der Schattenträumer weiter. "So stellt euch mit euren Namen vor, damit er fühlt, zu wem die Steine gehören!" forderte Kanoras. Seine Diener taten es. Dann nickten sie Vengor und Flint zu.
Vengor dachte schon, damit zumindest einen Teilerfolg errungen zu haben. Da passierte es. Ohne Vorwarnung stürzten sich die Schattendiener des Kanoras auf Flint und ergriffen ihn. Flint schrie auf, als er gegen seinen Willen zu einer Rauchfahne auseinander gezogen und von zwei dienern in den Felsen hinein und hindurchgezogen wurde. Vengor wollte schon rufen, seinen Schattendiener nicht gegen seinen oder dessen Willen zu verschleppen, als Kanoras schon sagte: "So wie meine Diener an dich gebunden wurden, binde ich deinen Diener jetzt auch an mich, auf dass wir zwei durch ein doppeltes Band der Freundschaft, Gefolgschaft und im Dienste dessen verbunden sind, der den Weg zur alles endenden Finsternis beschreiten will."
Vengor hörte die Worte und später in Gedanken auch die wehklagenden Schreie von Flint. Dieser Kanoras unterwarf sich einen Teil seines eigenen Nachtschattens. Außerdem hatte er mehrmals davon gesprochen, gemeinsam zu dienen. Doch Vengor wollte herrschen und nicht dienen. Doch im Moment musste er mitspielen.
Es verging eine Stunde. Dann fauchte eine schwarze Kugel aus einer der Risse in der Höhlenwand. "Meister, er hat mich an sich gekettet. Ich konnte das nicht abwehren. Die hingen zu zehnt an mir. Diese gedrungene Schattenfrau hat mir ein Stück meiner Körpersubstanz ausgerissen und es in ein blaues Feuer geworfen. Das hat mich jetzt zur Bewegungsunfähigkeit verurteilt", lamentierte Flint.
"Kehret um, denn ich füle meine Feinde annähern. Sofort!" rief Kanoras' Stimme. Das ließen sich Vengor und Flint nicht zweimal sagen und verließen die höhle.
Vengor wusste, dass irgendwas nicht so lief wie es sollte. Doch dagegen machen konnte er nichts. So blieb ihm nur der Rückzug in sein Hauptquartier und die Hoffnung, seinen Plan umzusetzen wie er das wollte.
"Warum wird mir diese Neuigkeit erst jetzt zu Teil?" fragte Anthelia ihre Mitschwester Romina, als diese am 10. November bei sich zu Hause einen flehenden Aufruf besorgter Eltern abspielte. Seit Halloween vermissten die ihre Kinder und hatten ein Video ins Internet und an die Fernsehsender geschickt.
"Wir haben keinen bei den Polizeibehörden der Muggelwelt", begründete Romina die Verzögerung zwischen Vorfall und Bekanntmachung. Anthelia nickte. Offenbar galt es, Kontakte bei den Gesetzeshütern der Magielosen unterzubringen, ohne dass das stark angeschlagene Zaubereiministerium das mitbekam. Zumindest wussten sie jetzt, dass zwei Jungen und zwei Mädchen zwischen neun und zwölf Jahren in New York verschwunden waren. Die Kinder hatten keine reichen oder politisch oder militärisch einflussreichen Eltern. Anthelia dachte an den Versuch von Nocturnia, Kinder zu Vampiren zu machen, damit deren Eltern auch den Blutsaugern unterworfen wurden. Die Vier Kinder waren Schulfreunde, die zusammen durch die Straßen gezogen waren, um Süßigkeiten einzufordern. Eigentlich wurde Kindern von ihren Eltern befohlen, nicht in fremde Häuser hineinzugehen und nichts bereits ausgepacktes oder geöffnetes zu sich zu nehmen, bevor sie nicht zu Hause waren. Aber wenn jemand meinte, sie entführen zu müssen ...
"Glaubst du, die Vampire haben sie oder die Werwölfe?" fragte Romina. Anthelia überlegte. Möglich war es.
"Moment, hier ist eine Mail von Al Steinbeißer", sagte Romina und zeigte sie auf dem Bildschirm. Anthelia verzog ihr Gesicht, als sie las, dass Marokanische Lufteinheiten am nördlichen Ausläufer des Atlasgebirges vollständig aufgerieben worden seien, als sie versuchten, einen Terroristenunterschlupf zu stürmen. Nur ein Überlebender, der in zwei Kilometern Entfernung die Aktion geleitet hatte, war im Stande gewesen, darüber zu berichten. Die Fluggeräte seien unvermittelt in Feuerbällen verglüht. Albertine bemerkte dazu, dass das genauso aussah wie bei ihr, als sie Romina überwacht habe. Dies spreche für dieselbe Waffe, die ihr fast den Garaus gemacht hatte. Anthelia ließ über Romina zurückfragen, ob der Überlebende für eine Befragung zur Verfügung stehe. Eine Viertelstunde später wusste sie, dass der erwähnt hatte, dass der erwartete Terrorbandenführer einen kleinen Behälter geöffnet habe, bevor die Flugkörper verbrannt waren.
"Halten wir also fest, dass der selbsternannte Rächer des Wisenknabens genau wie die Mondgeschwister auf Besenbeißer zugreifen kann", grummelte Anthelia. "Aber er ist selbst mit einem Fluggerät, also einem Besen, dort gelandet. Also muss es was geben, was diese Besenbeißer von eigenen Besen fernhält oder sie als nicht zu attackieren markiert. Das dürfte die Zauberer und Hexen, die diesem Vengor dienen, ziemlich eingrenzen."
In den Zaubererzeitungen wurde verbreitet, dass Chroesus Dime der neue zeitweilige Zaubereiminister sei. Seine Residenz sollte in New York in der dortigen Außenstelle liegen, weil das zum einen auch schön nahe an der Hauptstadt und auch gleich bei der Gringottszentrale lag. Denn mit den Kobolden würde man sich demnächst sehr gut stellen müssen, um einen Wiederaufbau eines zentralen Ministeriumskomplexes durchzusetzen.
Mit Hilfe des einen verbliebenen Retroculars, dass zufällig noch im Einsatz wegen einer Angelegenheit illegaler Bezauberungen verwendet worden war, war in den zwei Tagen nach der Explosion ermittelt worden, dass wahrhaftig Sandhearst und Middleton eine Bombe mit vier sich gegenseitig abstoßenden Zaubertränken gebaut hatten und diese wegen einer Gegenmaßnahme des Angriffsziels zu ihnen zurückgekommen war. Ein Beobachter musste wegen der Explosionshelligkeit in das HPK, wo er sein Augenlicht wiederbekam, ohne magische Augen nötig zu haben. Ab da wurde die genaue Nachbetrachtung nur bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Bombe aus der Portschlüsselspirale fiel gemacht. Dabei war für eine Hundertstelsekunde ein rötlicher Schimmer in den blauen Spiralwindungen zu erkennen gewesen.
Weil nun auch klar war, dass bei der Explosion eine winzige aber verheerende Menge des verbotenen Stoffes entstanden und vergangen war wurden sämtliche Nachbetrachter im HPK gegen die Nachwirkungen radioaktiver Verseuchung behandelt.
Es war am achten November, als Minister Dime eine durch zehn Sicherheitsprüfungen gegangene Eulenpost auf dem Tisch hatte. Sie stammte von Vita Magica. Die zur unerwünschten Vereinigung erklärte Truppe sprach zwar das Bedauern aus, dass die Auseinandersetzung über den richtigen Weg, die magische Menschheit anzuleiten solche drastischen Ausmaße angenommen habe, stellte jedoch auch klar, dass derlei Angriffe, noch dazu auf Ungeborene Kinder und Neugeborene oder aus guten Gründen zurückverjüngter den Anspruch auf moralische Instanz rechtfertigten, den das Zaubereiministerium erhob. Da die Hauptschuldigen dieses feigen und über die maßen brutalen Angriffsversuches selbst zu Opfern ihrer Untat geworden waren wolle man noch einmal von einer Vergeltung absehen. Dime wurde angeboten, mit einigen leitenden Mitgliedern der Gruppierung zu sprechen, um die verfahrene Lage für beide Seiten zu entschärfen. Doch eines sei bereits klar, dass die Gruppierung Vita Magica daran festhalte, den Anteil magischer Menschen an der gesamten Menschheit zu verstärken. Ob und wie dies im Einklang mit den verschiedenen Zaubereiministerien gelingen könnte dürfe dann ruhig diskutiert werden.
Nancy Gordon bezog am 10. November ihr vorübergehendes Büro in der Ministeriumsniederlassung von New York. Hier waren die eher rein bürokratischen Abteilungen untergebracht, während die für Außeneinsätze zuständigen Abteilungen sich auf die fünfzig anderen Niederlassungen verteilten. Nur auf Hawaii waren keine Ministerialbeamten aus der Zentrale untergekommen. Honululu lag ein wenig weit weg vom Schuss.
Weil Nancys private Dekorationsgegenstände mit dem Ministeriumsgebäude in Feuer und Dampf aufgegangen waren war ihr zugeteiltes Büro sehr spartanisch eingerichtet. Drei Stühle, der Schreibtisch, drei Tintenfässer, eine Pergamentstütze und ein Federhalter mit fünf verschiedengroßen Schreibfedern. Das war es schon. Wenn sie Kaffee haben wollte musste sie wie alle anderen in die Kaffeeküche und für drei Knuts Kaffee malen, kochen und die Kanne nach vollständiger Leerung zurückbringen. Da es hier in der New Yorker Filiale Ostküste nur drei Hauselfen gab, war jeder Mitarbeiter größtenteils für sein oder ihr zweites Frühstück zuständig. Das machte Nancy nichts aus. Nur dass sie von den hier schon länger fest angestellten Kollegen wie ein Eindringling oder Schmarotzer angeguckt wurde missfiel ihr. Aber da war sie nicht die einzige.
Sie hatte es in den ersten zwei Tagen an ihrem neuen Arbeitsplatz mit Eltern halbmuggelstämmiger Thorntails-Schüler zu tun, die irgendwie ihren früheren Schulfreunden erklären und beweisen mussten, dass sie in sorgsam vom Rest der Welt abgeschirmten Lehranstalten untergebracht waren. Dabei merkte sie, dass sie es nicht so locker nahm, wenn der eine oder die andere Korrekturvorschläge machte, weil entweder das bisherige Auftreten ein Nobelinternat zu unwahrscheinlich machte oder die Nachbarskinder nicht denken sollten, der frühere Schul- und Viertelkamerad sei auf die Schiefe Bahn geraten, weil er oder sie nicht in dieselbe Oberschule wie sie gehen durfte. Wieso klärten die das nicht eigentlich mit dem Sekretäriat für Schüler mit teilweisem oder vollständig magielosem Hintergrund? fragte sich Nancy einmal mehr. Irgendwie steckte sie das nicht mehr so locker weg, wenn sie korrigiert wurde oder wenn jemand meinte, besser zu wissen, was den Muggeln erzählt werden durfte.
Die Kaffeepausen halfen ihr nicht, sich zu beruhigen. Im Gegenteil. Hier hörte sie immer wieder davon, dass die Verwandten von Kollegen immer noch darüber rätselten, was ihnen an Halloween passiert war. Von zweien wusste sie, dass die auch in Miami feiern wollten. Das gefiel ihr nicht.
Am 13. November fand in den Räumen der Zaubereiministeriumsniederlassung San Diego die Gedenkfeier für Randolph Sandhearst und Clayton Middleton statt. Zwar wollte niemand ihnen so richtig nachtrauern, weil die im Alleingang das ganze Ministerium in die Luft gesprengt hatten. Aber der Höflichkeit und des Respekts vor den Toten wegen kamen alle zur Feier. Der neue zeitweilige Minister Chroesus Dime hielt eine Gedenkrede. Sandhearsts Schwester Betsy bedankte sich für die Beileidsgrüße und die Anteilnahme aus allen Teilen des Ministeriums und allen Ecken der Staaten. Da es keine sterblichen Überreste zum begraben gab wurde lediglich eine Gedenkplatte unter einer amerikanischen Flagge zugedeckt. Nancy musste dabei daran denken, dass die große Gedenkwand im Ministerium, auf der alle im Dienst für die nordamerikanische Zaubererwelt verstorbenen geehrt wurden, mit allem anderen vergangen war. Das stimmte sie ein wenig trübselig. Selbst das Angedenken an jemanden hielt also nicht ewig. Ja, und auch das Archiv war ja fort. Damit hatte das Zaubereiministerium der vereinigten Staaten einen sehr großen Teil seines pergamentenen Gedächtnisses verloren. Und die dort gemachten Forschungen waren um Jahre, wenn nicht Jahrzehnte zurückgeworfen worden.
Nancy empfand es bei der Gedenkfeier als merkwürdig, interessant und durchaus bezeichnend, dass auch die eigentlich noch immer für die Franzosen tätige Hexe Martha Merryweather dabei war. Sie hatte sich einen besonders weiten, aber gut geschnittenen schwarzen Umhang über ein Kostüm aus schwarzem Rock und schwarzer Bluse angezogen. Dass sie bis vor anderthalb Monaten noch eine Drillingsschwangerschaft ausgetragen hatte und jetzt in der Stillphase war konnte ihr jeder trotz Umhang ansehen. Nancy dachte dabei merkwürdigerweise wieder an die Erzählungen der Leute, die wie sie nicht wussten, ob sie einen Teil einer Halloweenfeier wirklich erlebt hatten oder das alles nur geträumt hatten. Was, wenn das doch kein Traum gewesen war? Dann wäre sie wie die anderen auch womöglich in eine weitere heimtückische Falle dieser dubiosen Machenschaftler von Vita Magica hineingeraten. Doch bisher hatte sie von denen, die von dieser Feier erzählten, keine greifbaren Beweise, dass die wirklich so stattgefunden hatte. Allerdings musste sie innerlich grinsen, wenn sie daran dachte, dass Vita Magica sich bei ihr verkalkuliert hatte.
Als am 14. November eine Stunde nach Beginn ihres Dienstes die renommierte Großheilerin Eileithyia Greensporn persönlich um ein Gespräch mit ihr bat fragte sie sich, warum die Heilerin ausgerechnet mit der Leiterin des Muggelweltkontaktbüros sprechen wollte. Hatte vielleicht wieder eine muggelstämmige Hexe gemeint, in einem magielosen Krankenhaus ihr Kind kriegen zu müssen?
"Guten Morgen, Ms. Gordon", grüßte die Heilerin die Büroinhaberin. Diese grüßte zurück und bot der Besucherin einen Platz an.
"Ich bin zu Ihnen gekommen, weil ich Grund zu der Annahme habe, dass mein Enkelsohn Chrysostomos in der Magielosen Welt verschwunden ist, oder von dort entführt wurde", sagte die Heilerin ohne Umschweife.
"Chrysostomos?" fragte Nancy. "Ja, Chrysostomos Greensporn, der Sohn meines Sohnes Anchises. Er hat mir am dreißigsten Oktober eine Eule geschickt, dass er sich das Florida der Muggel ansehen wollte und bei der Gelegenheit auch eine Kostümfeier zu Halloween besuchen würde. Er schrieb sogar, dass er sich aus Jux als Teufel, Satan oder Luzifer verkleiden wolle, da viele Magielose ja glauben, Zauberei komme nur von dieser gehörnten Schreckfigur. Ich habe ihm viel Spaß gewünscht und ihn zur Vorsicht gemahnt, nichts zu tun, was er hinterher nicht rückgängig machen könne. Die Eule ist heute Morgen mit meinem Brief zurückgekehrt. Sie hat ihn also nicht gefunden, sonst hätte sie ihm den Brief bei einer Gelegenheit zugestellt, wo er nicht von den Magielosen beobachtet wurde. Mein Sohn erwähnte, dass Chrysostomos ihm auch nicht die erbetene Eule über die Halloweenpraktiken der sogenannten Muggel geschickt hatte, wie er das eigentlich versprochen hatte. Da mein Enkel sehr zuverlässig ist und ein gegebenes Wort immer einhält befürchten Anchises und ich, dass er die Feier nicht als freier Zauberer verlassen hat."
"Ihr Enkel ist wie alt?" fragte Nancy, die bei der Erwähnung, dass dieser als Teufel kostümiert gewesen war, sichtlich um ihre eigene Selbstbeherrschung ringen musste.
"Zweiundfünfzig. Kommen Sie mir jetzt aber gütigst nicht damit, dass er dann schon seit fünfunddreißig Jahren volljährig ist! Solange er lebt und solange ich lebe habe ich als Großmutter alles Recht, mich um sein Wohlergehen zu sorgen."
"Das wollte ich auch nicht abstreiten, Madam Greensporn", beteuerte Nancy. Dann fragte sie, ob Chrysostomos verheiratet sei. Das verneinte die Heilerin. "Er hält die Ehe und besonders Familienplanung für die höchste einem Mann auferlegbare Unfreiheit, noch vor einer Gefängnisstrafe. Das bedauere ich und nicht nur ich. Aber es ist sein Leben." Nancy stimmte Chrysostomos innerlich zu, sagte es aber der Heilerin nicht.
"Öhm, und der war in Miami?" stellte Nancy die für sie entscheidende Frage.
"Nun, er wollte erst die Weltraumraketenabschussanlage besichtigen, dann die Party in Miami besuchen und dort noch einige Tage am Strand zubringen, bevor er die Everglades-Sümpfe aufsuchen wollte. Er hat mich sogar gefragt, ob er mir einen ausgestopften Alligator für mein Sprechzimmer mitbringen solle. Ja, die Frechheiten hat er trotz seines Alters nicht abgelegt."
"Und er hat Ihnen geschrieben oder gesagt, dass er im Miami der Muggelwelt feiern würde?" fragte Nancy, die immer noch sehr um ihre eigene Selbstbeherrschung bedacht war, wenngleich sie keinen Anlass sah, sich deswegen zu sorgen.
"Das war seine letzte Eule vor der Abreise", sagte Eileithyia Greensporn und blickte Nancy sehr genau an. Diese nickte nur und sagte ruhig:
"Da wir ja im Moment eher dezentral organisiert sind ist es wohl auch kein Problem, die Kollegen in Florida darauf anzusetzen. Soweit ich von Kyle Sevenrock weiß, der in New Orleans die Ministerialniederlassung Südost leitet, haben wir Kontaktleute bei diversen Polizeibehörden und dem FBI dort unten, wenngleich einer vom FBI-Büro New Orleans vor einigen Jahren im Einsatz umkam. Ich werde Ihre Anfrage als dringlich weitergeben. Denn ich gehe davon aus, dass wer auch immer Ihren Enkelsohn hat verschwinden lassen, eine klare Absicht damit verfolgt."
"So, welche denn?" wollte die Heilerin wissen und klang ein wenig ungehalten. Nancy verwunderte das nicht. Aber ihr jetzt auf den Kopf zuzusagen, dass sie die unerwünschte Organisation Vita Magica im Verdacht hatte ging nicht. Denn dann musste sie ja erklären, warum sie sich da so sicher war. Doch das wollte sie jetzt erst recht nicht ausplaudern.
"Falls Ihr Enkel nicht freiwillig verschwand liegt eine Entführung vor. Das heißt entweder, dass er was getan hat, wofür die Entführer sich interessieren oder Vergeltung üben wollen, ihn zu irgendwas zwingen wollen, was er nicht freiwillig tun würde oder einen wichtigen Angehörigen mit seinem Leben erpressen oder diesen Angehörigen zu etwas zwingen wollen, beispielsweise die Zahlung von Lösegeld oder etwas zu tun, was der oder die Angehörige niemals freiwillig tun würde. Insofern sollten Sie mit Ihrem Anliegen auch den Kollegen von der Strafverfolgung aufsuchen. Ich kann mich mit diesem ja dann abstimmen, wie nach Ihrem Sohn gesucht wird."
"Bei dem war ich schon. Der meinte, Sie seien für die Muggelweltangelegenheiten zuständig", grummelte Eileithyia Greensporn. Nancy merkte, dass die langjährige Heilerin sich bedrängt fühlte und sagte zur Beruhigung: "Ja, das stimmt auch. Deshalb ist es ja gut, dass Sie zu mir kamen. Ich bin froh, dass Sie dem Kollegen von der Strafverfolgung schon Berichtet haben, was Sie wissen."
"Ms. Gordon, könnte es sein, dass Sie mehr über diesen Vorfall wissen, als Sie mir gerade verraten möchten?" fragte Eileithyia. Nancy hatte damit gerechnet, sich doch durch irgendwas bei der Heilerin verraten zu haben. Doch sie blieb nach außen kühl und erwiderte:
"Nun, das was Sie vorbringen berührt eine Ermittlung, die von den zuständigen Abteilungsleitern auf einer unteren Geheimstufe eingeordnet ist. Deshalb darf ich Ihnen darüber keine Auskunft geben, inwiefern Ihr Anliegen für mich von Bedeutung ist. Ich kann Sie nur Bitten, es so zu akzeptieren, dass ich Ihre Vermisstenmeldung entgegennehme und mit der Dringlichkeit bearbeite, die bei Entführungs- oder Verschwindefällen von wichtigen Personen oder deren Angehörigen geboten ist. Da Sie als Sprecherin der US-amerikanischen Heilerzunft ja eindeutig eine wichtige Person sind muss ich das Verschwinden Ihres Enkels als Versuch einstufen, Sie in irgendeiner Weise zu erpressen oder gar Vergeltung wegen irgendwas zu verüben, was Sie gesagt, getan oder nicht getan haben."
"Welche Geheimhaltungsstufe wurde für diesen Fall angesetzt?" bohrte die Heilerin nach. Nancy antwortete: "S4, Madam Greensporn."
"Als Großheilerin und amtliche Zunftsprecherin bin ich bis zur Stufe S7 freigegeben, Ms. Gordon", erwiderte Madam Greensporn und sah Nancy sehr durchdringend an. "Immerhin fallen magische Verletzungen und Krankheiten, die auf die Taten böswilliger Hexen und Zauberer zurückzuführen sind, eindeutig in unseren Zuständigkeitsbereich. Also, wenn diese Ermittlungen nur S4 sind, und Sie meine Suchanfrage als Teil einer Angelegenheit einordnen, die mit dieser Stufe klassifiziert wurde, so werde ich offiziell um Akteneinsicht bitten. Abgesehen davon, dass Ihr Kollege von der Strafverfolgungsabteilung nichts davon erwähnt hat, dass mein Enkel zum Opfer einer Sache wurde, in der er bereits ermittelt. Er erwähnte jedoch, dass er von unterschiedlichen Personen erfahren habe, die an dieser Feier teilnahmen, woraus sich für ihn und für mich ergab, dass dieses Fest keine reine Muggelparty war, falls da überhaupt Leute ohne Magie dran teilgenommen haben. Also, werte Ms. Gordon, was wissen Sie und wollen es mir nicht verraten?"
"Das was ich weiß und Ihnen nicht verraten darf und deshalb nicht verraten werde, Madam Greensporn. Ich möchte Sie nicht vor den Kopf stoßen. Aber dass die Ergebnisse oder auch nur Ansatzpunkte laufender Ermittlungen nicht nach außen getragen werden dürfen sollten Sie eigentlich wissen."
"Wie gesagt, junge Dame, ich darf in alles Einsicht nehmen, was bis zur Geheimhaltungsstufe S7 klassifiziert wurde. Also werde ich bei Interimsminister Dime eine offizielle Anfrage zur Akteneinsicht einreichen. Sollte sich dabei herausstellen, dass es keine bereits laufende Ermittlung mit der von Ihnen benannten Geheimhaltungsstufe gibt, muss ich davon ausgehen, dass Sie mehr über mein Anliegen wissen, ja sogar damit rechnen mussten, dass ich Sie oder sonst jemanden aufsuchen würde. Wollen Sie dann nicht lieber gleich erzählen, was Ihnen bekannt oder besser zugestoßen ist?"
"Was meinen Sie denn bitte damit?" versuchte Nancy es mit einer Gegenfrage. Eileithyia sah sie jetzt richtig verärgert an.
"Dass sie eben bei meinen Erwähnungen von einer Halloweenfeier in Miami und dass mein Enkel sich als Teufel verkleiden wollte ein merkwürdiges Zucken in den Augen hatten, als hätte ich etwas sehr unangenehmes bei ihnen angerührt, das Sie mir jedoch nicht erzählen wollen. Dass Sie versuchen, sich hinter den Geheimhaltungsvorschriften zu verstecken habe ich erwartet, als ich Sie bat, mir mehr zu erläutern. Sie hätten besser sagen sollen, dass die Angelegenheit bereits Verschlusssache ist, weil sie Dinge betrifft, die keinesfalls in Umlauf gelangen dürfen. Dann hätte ich nichts machen können. Aber die Chance haben Sie verspielt, junge Dame. Also, was wissen Sie über die mögliche Ursache des Verschwindens meines Enkelsohnes?"
"Entschuldigung, in Ihrem Büro werden Sie sicher nicht dulden, dass jemand Sie mal eben so ins Verhör nimmt. Deshalb kann ich aus Respekt vor Ihnen als wichtige Zaubererweltbürgerin nur betonen, dass es Dinge gibt, die nicht gleich jedem erzählt werden. Des weiteren verbitte ich mir diese Art der Unterredung und berufe mich auf mein Hausrecht in diesem Arbeitszimmer. Wie angekündigt werde ich Ihre Suchanfrage bearbeiten und dann, wenn ich Ergebnisse habe, die ich Ihnen mitteilen darf, einen Bericht geben. Nicht mehr oder weniger. Falls Sie sonst keine Anfrage haben, die ich im Rahmen eines respektvollen Miteinanders klären kann, möchte ich darauf hinweisen, dass meine Arbeitszeit ebenso kostbar ist wie Ihre. Ich habe Verständnis für Ihre Sorgen, werde aber deshalb nicht die mir auferlegten Pflichten vergessen. Deshalb möchte ich darum bitten, dass Sie mich nun in Ruhe meine Arbeit machen lassen. Oder erlauben Sie auch jedem, bei Ihrer Arbeit zuzusehen oder aus rein familiären Gründen Einsicht in Ihre Notizen oder Protokolle zu nehmen?""
"Zum einen, ich habe weibliche Angehörige schon häufig bei meiner Arbeit zusehen lassen. Zum zweiten lasse ich Familienangehörige durchaus Einsicht in meine Arbeitsberichte nehmen, wenn diese ein glaubhaftes Interesse und eine unabstreitbare Berechtigung vorbringen können. Ihnen dürfte klar sein, dass Sie sich gerade auf sehr dünnem Eis bewegen, junge Frau. Anstatt mir zu helfen, indem Sie mir erklären, was die Ursache für das Verschwinden meines Enkels ist, verschanzen Sie sich feige hinter Ihren Vorschriften, obwohl Sie jetzt wissen, dass ich weiß, dass Sie mehr von dieser Angelegenheit wissen, ja womöglich unmittelbar darin verwickelt wurden, nicht als Täterin, aber als Zeugin. Deshalb werde ich mich an Ihren Vorgesetzten wenden, damit er Sie darüber informiert, inwieweit Sie uns nicht im Ministerium tätigen Zaubererweltbürgern Rechenschaftspflichtig sind und dass Sie bei einer Anhörung alles berichten müssen, was Sie wissen oder besser, was Ihnen widerfahren ist. Ich hoffe, Sie nutzen die Zeit, sich über Ihre Lage Klarheit zu verschaffen. nicht, dass Sie in nicht all zu ferner Zeit auf mich oder eine meiner Kolleginnen angewiesen sein werden. Aber Sie haben recht, dass meine Zeit kostbar ist. Daher beenden wir diese offenbar gerade fruchtlose Unterredung an dieser Stelle. Ich wünsche noch einen angenehmen Tag!"
"Den wünsche ich Ihnen auch", erwiderte Nancy kühl und stand auf, um der älteren Hexe die Hand zum Abschiedsgruß zu geben. Doch diese stand auf, wandte sich der Tür zu und ging gemessenen Schrittes darauf zu. Nancy dachte, dass die Heilerin wohl noch darauf spekulierte, dass Nancy ihre Meinung änderte. Doch den Gefallen tat sie ihr nicht. Eileithyia öffnete behutsam die Tür, trat hinaus, wartete noch zwei Sekunden und schloss die Tür dann gesittet.
"Schon heftig, dass ihr Enkel verschwunden ist. Sicher, um sie zu bestrafen, weil sie denen von VM so heftig eingeschenkt hat", dachte Nancy. "Aber ich werde weder der noch sonst wem auf die Nase binden, dass sich VM bei mir verkalkuliert hat, wenn die denken, ich würde deren willige Zuchtstute."
Nancy blickte auf die Tür und lauschte. Nicht dass die Heilerin noch davor wartete. Doch sie hörte sich entfernende Schritte. Sie nahm eine Feder und tunkte sie in ein kleines Fass mit blauer Tinte. Dann dachte sie mit verschmitztem Grinsen daran, dass Vita Magica sie zehn Jahre zu spät in die Falle gelockt hatte. Seit ihrem letzten Liebesakt, wo sie auch schon gedacht hatte, ungewollt schwanger geworden sein zu können, hatte sie eine klare und biologisch sehr drastische Entscheidung getroffen. Sie hatte sich klar gegen ein Kind entschieden und wollte deshalb auch keine Menstruationsbeschwerden mehr in Kauf nehmen. Daher hatte sie sich zwei Monate nach dem letzten Beischlaf in einer Privatklinik die Gebärmutter entfernen und sterilisieren lassen. Davon wusste hier im Ministerium niemand was und erst recht keine Medimagierin. Falls Vita Magica mit der Halloweenfeier tatsächlich eine Massenzeugung beabsichtigt hatte, hatten die sich bei ihr gründlich geirrt. Doch weil sie zum einen nicht wusste, wer im Ministerium mit diesen Halunken unter einer Decke steckte und sich auch denken musste, dass in der Heilerzunft der eine oder die andere mit diesen Gangstern zusammenarbeitete, wollte sie nicht hinausposaunen, dass diese Verbrecherbande bei ihr danebenlag. Denn ihr war schon klar, dass diese Banditen dann eine ähnliche Vergeltung üben würden, wie sie es mit den Eingreiftrupplern von Sandhearst getan hatten. Stillhalten hieß die Devise. Nur nicht weiter auffallen. Denn ihr wurde nun klar, warum man ausgerechnet sie in diese Falle gelockt hatte. Sie hatte wie Eileithyia Greensporn zu heftig auf die Pauke gehauen, was die Ablehnung von Vita Magica anging. Nun, in fünf Monaten würde sie wohl an die Öffentlichkeit gehen, ihren flachen Bauch streicheln und sagen, dass Vita Magicas Aktion bei ihr wortwörtlich auf unfruchtbaren Boden gefallen war.
Eine Stunde später erhielt sie einen Brief von Chroesus Dime persönlich. Er teilte ihr mit, dass er eine offizielle Beschwerrde von Madam Greensporn erhalten habe, dass sie, Nancy, sie, Madam Greensporn, ihre Mithilfe versagt und sich auf nicht existierende Ermittlungen berufen habe. Daher sollte sie ihm gütigst berichten, was sie wisse. Er wolle dann entscheiden, was davon eine reine Privatangelegenheit sei und was womöglich vor dem Zwölferrat der obersten Richter in geheimer Sitzung dargelegt werden müsse. Nancy nickte. Damit hatte Dime ihr einen guten Ball zugespielt. Wenn sie ihre Erlebnisse zur Privatangelegenheit erklärte, die nicht im Ministerium breitgetreten werden sollte oder an dritte weiterzugeben war, war sie erst einmal aus dem Schneider. Da konnte dann auch eine Eileithyia Greensporn nichts machen. Denn solange keine Angeklagten präsentiert werden konnten würde kein Gericht zusammentreten. Sie musste nur dafür sorgen, dass sie nicht zur Angeklagten und damit zum Sündenbock wurde.
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