DAS KLOSTER DER GÖTTIN

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

E-Mail: hpfan@thorsten-oberbossel.de
http://www.thorsten-oberbossel.de

Copyright © 2018 by Thorsten Oberbossel

__________

P R O L O G

Der Sturz des dunklen Erzmagiers Voldemort liegt zwar schon vier Jahre zurück. Doch die Welt ist danach noch lange nicht friedlich und sicher. Verschiedene Interessengruppen aus Vergangenheit und Gegenwart versuchen, ihre Macht auszubauen und ihre erklärten Feinde zu vernichten. Zu diesen Interessengruppen gehört der Orden der schlafenden Göttin, der von Lady Nyxes Willen beherrschten Ansammlung entkörperter Vampire, die im von Iaxathan erschaffenen Mitternachtsdiamanten gebündelt sind. Sie will mit den von ihnen beherrschten Vampiren eine neue Vormachtstellung der Nachtgeschöpfe auf der Erde errichten, sehr zum Unwillen von Iaxathans Geist, der ebenfalls in einem seiner Artefakte überdauert und darauf hofft, dass der von ihm auserwählte Dunkelmagier Lord Vengor bald sein bedingungslos gehorsamer Knecht sein wird. Ein Schritt, um das Ziel zu erreichen, ist die Eroberung alles Wissens, das in der geheimen Bibliothek der Kinder der Nacht aufbewahrt wird. Hierfür will Gooriaimiria einen nur von ihr treuen Dienern überwachten Stützpunkt errichten. Doch sie weiß, dass dies nur gelingt, wenn ihre Feinde nichts davon erfahren.

__________

8. November 2002

Philonyctes kniete vor ihr, der Hohepriesterin der schlafenden Göttin. Diese trug das blutrote Gewand mit Kapuze und wadenhohe, schwarze Schnürstiefel an den Füßen. In der rechten Hand hielt sie einen Zauberstab. In der linken Hand hielt sie ein in schwarzes Leder gebundenes Buch. "Erhebt euch wieder, meine Getreuen", sagte Nyctodora, die Hohepriesterin und richtete den bis dahin in den gestirnten Nachthimmel gereckten Zauberstab mit der Spitze zum Boden.

"Wir sind erfreut, dich in unserem bescheidenen Hause zu begrüßen, Nyctodora, Mittlerin zwischen uns und der Göttin", sagte Nyctodromos, ein drahtiger, dunkelhaariger Vertreter der hier hausenden Neumondnachtkinder. Philonyctes dachte grimmig daran, dass sie hier alle gerne ohne die sich als schlafende Göttin bezeichnende Macht weiterbestanden hätten. Doch weil die Bluteltern von Philonyctes, Nyctodromos, Hämatochiron und Melanopteros unter dem Einfluss des heiligen Mitternachtssteines zu Kindern der Nacht geworden waren, galt dies auch für alle deren Zöglinge. Deshalb konnten sie den geistigen Ruf der schlafenden Göttin vernehmen, deren Ziel es war, alle Kinder der Nacht zu den Beherrschern der Erde zu machen.

"Das Buch, ist es wahrhaftig der Schatz der tausend Erkenntnisse?" wollte Melanopteros, der kleine, rundliche Blutsbruder von Philonyctes wissen. Die Hohepriesterin lächelte und zeigte dabei ihre makellosen Blutzähne.

"Zumindest ist es der Einband und die richtige Anzahl von Zersetzungsbeständigen Seiten. Die tausend Erkenntnisse selbst müsst ihr wie früher die Kuttenträger von Hand hineinschreiben. Aber zumindest habe ich den stilechten Einband aus der Haut von habgierigen Schurken erstellen lassen. Wenn ihr alles von mir mit der altmodischen Geheimkamera abfotografierten Seiten aus dem Original abgeschrieben haben werdet, dann kann und werde ich das Buch mit Zaubern belegen, die es nur für uns und nur hier lesbar machen."

"Die tausend Erkenntnisse wurden in hundert Jahren zusammengetragen. Wie sollen wir sie da so schnell abschreiben, dass nur noch wir sie lesen können?" wollte Philonyctes wissen.

"Die mächtige Göttin wird euch zu diesem Zweck hundert schreibkundige Brüder und Schwestern schicken, wenn ich den Ankunftsstein hier in Kraft setze, mit meinem und eurem Blut", sagte die Hohepriesterin.

"Haben wir genug Räume für so viele?" fragte Nyctodromos ein wenig verstimmt. Denn hundert zusätzliche Mitbewohner nahmen Platz weg, machten Lärm und mochten trotz der abgelegenen und für auf ihre Beine angewiesenen Leute schwer erreichbaren Gebäude auffällig sein. Am Ende mochten die rotblütigen Zauberstabschwinger erfahren, dass hier oben, auf einem Berg mitten auf der Pelepones, ein geheimer Stützpunkt der schlafenden Göttin entstanden war und noch dazu das gesammelte Wissen der Bibliothek der Nachtkinder in sich aufnehmen sollte, damit nur die Diener der schlafenden Göttin dieses Wissen nutzen konnten.

"Die meisten von denen werden sich nur in den Zellen aufhalten. Die Nahrung bringt ihr Ihnen in Form von lebenden Rindern, Ziegen, Schafen und Schweinen. Bis die Bibliothek eingerichtet ist und der Stützpunkt in die letzten Zauber eingehüllt wird, die ihn für Unbefugte unauffindbar macht, dürfen keine lebenden Menschen angerührt werden, die näher als hundert Kilometer von hier entfernt leben."

"Dieser Ort ist für allerhöchstens zwölf Bewohner ausgelegt", wagte Melanopteros einen Einwand.

"Ja, für rotblütige Kurzlebige und ihre Vorräte. Aber wir Nachtkinder sind vom Platz her genügsam, können in den ehemaligen Wein- und Kräuterkellern schlafen und sogar in den Kammern des Turmes schlafen, wenn ihr endlich die Schalllöcher zugemauert habt, damit da kein Sonnenlicht mehr durchkommt", erwiderte die Hohepriesterin Nyctodora.

"Von uns kann keiner Mauern", sagte der so breit wie hoch gebaute Hämatochiron.

"Das weiß die Göttin. Sonst hätte Sie euch schon längst wegen vergeudeter Zeit bestraft. Dass ihr hier wohnen bleiben dürft liegt daran, dass ihr diesen Ort vor hundert Jahren in Besitz genommen habt und unser ehener Grundsatz bestehenbleibt, dass wer einen vollen Mond hindurch an einem Ort weilt und sich bis dahin nicht mit Menschen um das Bleiberecht hat schlagen müssen, Eigentümer des Ortes ist. Aber ihr bekommt morgen Nacht zehn mit Maurerarbeiten vertraute Gäste. Die machen die verflixten Schalllöcher und Turmfenster zu. Dann können die für Abschreibearbeiten eingeteilten Brüder und Schwestern bei euch einziehen. Am besten erarbeitet ihr einen Plan, wie ihr sie und euch mit frischem Blut versorgen könnt, ohne in der Umgegend aufzufallen!"

"Und du, Hohepriesterin?" fragte Philonyctes, der älteste der hier residierenden Nachtsöhne.

"Wir haben mehrere unserer starken Krieger verloren. Ich muss und werde weitere Krieger erschaffen und aufpassen, dass uns die Soldaten der Rotblütigen nicht doch noch auf die Schliche kommen. Sie sind uns nämlich trotz aller Vorkehrungen schon sehr nahe", schnarrte Nyctodora.

"War nicht ursprünglich geplant, in den von den Mohammedanerkriegern freigeräumten Höhlen in Asien den Haupttempel der schlafenden Göttin einzurichten?" wollte Philonyctes wissen.

"Ja, ursprünglich war das geplant. Doch die Kämpfer der sogenannten Allianz gegen den Terror benutzen künstliche Spione, die fahren oder fliegen können und ihren Erbauern und Benutzern alles weitermelden, was sie sehen oder mit ihren Spürvorrichtungen erfassen können. Auf kurz oder lang würde einer dieser Spione uns entweder entdecken oder wegen seiner elektronischen Beschaffenheit ausfallen, wenn wir die nötigen Schutzzauber errichten, um uns vor feindlichen Angriffen zu schützen. Deshalb will die schlafende Göttin ja dieses ehemalige Kloster hier zum eigentlichen Sammelort für das gesamte Wissen der nachtkinder machen. Womöglich wird dieses Kloster dann auch unser europäisches Hauptquartier, also der Befehlsstand. Wenn ich von der Göttin erlernt habe, wie moderne Geräte und starke Zauber am selben Ort zusammenwirken können können wir hier unsere Nachrichtensammelstelle einrichten. Dieser Ort ist sehr geeignet, weil er zu Fuß sehr schwer und mit Fahrzeugen überhaupt nicht zu erreichen ist. Nur aus der Luft kann jemand hier bequem hingelangen. Deshalb will ich hier ja auch Luftabwehrgeschütze aufstellen."

"Kanonen?" fragte melanopteros und hielt sich vor Schreck die Ohren zu.

"Kommen wir nicht dran vorbei, wenn wir uns wirksam gegen die Kampfflugzeuge der Rotblüter von heute wehren müssen", sagte Nyctodora.

"Meine armen Ohren", klagte Melanopteros, der mitten im zweiten Weltkrieg aufgewacht war, nachdem er ein halbes Jahrhundert lang Überdauerungsschlaf gehalten hatte. Philonyctes, der seinen Bruder aus einer mörderischen Schlacht mit auf umlaufenden Ketten dahinkriechenden Metallungeheuern hatte retten müssen nickte seinem jüngsten Bruder mitleidsvoll zu.

"Es bleibt dabei. Wir errichten hier den Stützpunkt des gesammelten Wissens. Wenn wir erst einmal alle Bücher aus der geheimen bibliothek der Nachtkinder abgeschrieben haben und die Originalbände für uns unschädlich zerstört haben werden, wird dieser Ort der wichtigste der Nachtkinder sein", erwiderte die Hohepriesterin der schlafenden Göttin.

"Es geschieht, was die Göttin befiehlt", beteuerte Philonyctes, der sich jedoch sehr anstrengen musste, seinen Widerwillen nicht zu zeigen. Er hätte es am liebsten gehabt, wenn diese geheimnisvolle mächtige Wesenheit ihn niemals gefunden hätte. Auch missfiel ihm die Hohepriesterin. Sie konnte einen Zauberstab gebrauchen wie die Rotblütler und verströmte einen Hauch von Macht, welcher sogar das gefürchtete Feuer und das Licht der verhassten Sonne trotzen konnte. Dieses Frauenzimmer war ihm zu sehr überlegen, um seine Zuneigung zu verdienen. Genau deshalb musste er sich anstrengen, ihr nicht zu verraten, wie sehr er ihre Pläne ablehnte. Doch er hatte lernen müssen, dass es lebensgefährlich war, sich mit der schlafenden Göttin anzulegen. Die konnte nämlich jeden, dessen Gedanken sie erreichen konnte, in einen Strudel aus nächtlicher Kraft einsaugen und an einen anderen Ort versetzen. Das hatte sie mit ihm gemacht, als er ihr nicht sofort bedingungslosen Gehorsam und Treue hatte schwören wollen. Sie hatte ihn über diesen Strudel der macht an den Strand eines Meeres versetzt, wo er kurz vor Sonnenaufgang von der Kraft der an- und abrollenden Wellen an den Rand der Ohnmacht geschwächt worden war. Hätte ihn der verhasste Feuerball dort mit seinen Strahlen berührt wäre er unwiederbringlich vergangen. Da hatte er begriffen, dass die Göttin keine reine Geisterstimme in seinem Kopf war, sondern eine gnadenlose Macht, die alles vertilgte, was ihr zu widerstreben wagte. Sie gebot über den in den Fluten des Atlantiks vergrabenen Mitternachtsstein, war wohl mit diesem selbst verschmolzen. Sie war daher nicht zu schwächen oder gar zu vernichten. So hatte Philonyctes auch im Namen seiner Brüder die bedingungslose Treue und bedingungslosen Gehorsam gelobt.

Nachdem die Hohepriesterin sich vergewissert hatte, dass alle ihre Anweisungen ausgeführt würden hatte sie das schwarze Buch mit leeren Seiten im ehemaligen Weinkeller des verlassenen Klosters zurückgelassen und war auf dem zeitlosen Weg verschwunden.

__________

9. November 2002

Wer sie zu sehen bekam - was bei dieser Dunkelheit und ihrer exzellenten Tarnkleidung an und für sich unmöglich war - mochte an Geschichten von japanischen Ninjas denken, jenen hervorragend in Kampf- und Kundschafterfertigkeiten ausgebildeten Helfern bei heiklen Missionen. Doch die drei Männer waren keine Japaner, sondern Chinesen, und ihr Ziel war ein als Llamakloster getarnter Stützpunkt einer Organisation aus dem fernen Indien. Mit modernen Horchgeräten und Nachtsichtvorrichtungen wollten die drei auskundschaften, ob an dem Gerücht was dran war, dass heute ein wichtiger Mensch aus Mumbai hier ankam, der sich davon überzeugen wollte, dass der Brückenkopf der indischen Konkurrenz im von China kontrollierten Tibet sicher und unverrückbar stand. Die drei getarnten Männer hatten den Auftrag, nach der Aufzeichnung aller Gespräche den wichtigen Gesandten zu ergreifen und in das Hauptquartier ihrer erhabenen Bruderschaft zu bringen, wo er verhört werden sollte. Denn der weiße Lotos war verärgert, weil eine indische Konkurrenzgruppe über Nepal und Tibet versuchte, in den klar abgesteckten Revieren der Triaden zu wildern, ja denen sogar die verbliebenen Vertriebswege abspenstig zu machen. Natürlich durfte sich der weiße Lotos eine derartige Frechheit nicht bieten lassen. Wenn klar war, wer genau aus Indien nach China vordringen wollte würde der hohe Rat sicher eine passende Antwort finden, wie es auch im Fall des sizilianischen Frechlings Pontebianco angedacht war, wenn der nicht zu früh von seiner Abberufung Wind bekommen hätte und bis heute unauffindbar war. Deshalb durften sich die drei Gesandten keinen Fehler erlauben. Ihre Familien würden über Generationen hinweg in Schande leben müssen.

Vom Tal her rumpelte und brummte ein Jeep den Berg hinauf. Die starken Frontscheinwerfer brannten breite Lichtbahnen auf den zu befahrenen Weg. Der Führer des kleinen Greifkommandos richtete die Kombination aus Richtmikrofon und Nachtsichtgerät auf den Wagen aus. Doch die Scheinwerfer überstrahlten alles zu sehr. Außerdem klang aus dem Wagen ein unangenehmer Summton. "Breitbandfunküberlagerung", knurrte der zweite vom Einsatztrupp und deutete auf ein kleines Gerät an seinem Handgelenk. Dann überwand der Jeep die letzten hundert Meter, bei denen er auch einen Höhenunterschied von zwanzig Metern bewältigen musste. Vom uralt aussehenden Klosterbau her blinkte ein Licht. Die Scheinwerfer gingen dreimal kurz hintereinander aus und wieder an. Dann tat sich das Tor auf, das trotz der uralten Bauweise von modernen Servomotoren bewegt wurde. Der Wagen rollte hindurch. Die drei Chinesen warteten, bis sicher war, dass sie nicht vom Streulicht der Scheinwerfer erfasst werden konnten und huschten hinter dem Wagen her in Richtung Kloster, jeden Felsen als Deckung nutzend. Ihre pechschwarze Tarnkleidung war mit einem Stoff gefüttert, der jede Körperwärmeausstrahlung zurückhielt, ohne die Träger schwitzen zu lassen. So waren sie für Bewegungsmelder auf Infrarotbasis unsichtbar. allerdings mochte es Laser geben, die unangemeldete Besucher erfassen konnten. Deshalb hielten die drei sich möglichst gebückt, als sie sich dem Kloster näherten.

"Breitbandfunküberlagerung weiterhin aktiv, sogar noch verstärkt", knurrte der Mann mit dem Funkwellenpeilgerät. Damit stand fest, dass sich die drei nicht weiter als Flüsterreichweite voneinander entfernen durften. Die da drinnen hatten an vieles gedacht. Das galt auch für die Lauschabschirmung innerhalb des Gebäudes. Denn wild vibrierende Fenster, die ein feines Sirren in den Kopfhörern der Richtmikrofone erzeugten, sowie schalldichte Räume machten jede direkte Belauschung unmöglich. Die Funkwellenüberlagerung sorgte dafür, dass keine heimlich versteckten Wanzen saubere Signale an ihre Empfänger schicken konnten. Damit war Punkt eins der Mission gescheitert, die Identität und das Vorhaben des Besuchers zu erlauschen. So blieb nur die gewaltsame Einladung an den Konkurrenten, zu einem ausgedehnten Interview nach Shanghai mitzureisen. Doch das war auch nicht einfach, wo aus dem Jeep neben dem Besucher noch drei athletische Schatten ausgestiegen waren, die verdächtige Beulen in den Anzugjacken aufwiesen. Doch auf den Fall waren die drei auch vorbereitet.

Genau darauf prüfend, ob sie durch Infrarotbarrieren oder Laserstrahllbahnen drangen, beschlichen sie das alte Llamakloster, aus dem sie über Kopfhörer den monotonen Gesang von buddhistischen Mönchen hören konnten, wohl auch ein Teil der Lauschabwehr. Als sie mit Hilfe von Nebelsprühern und Infrarotbildgeräten eine dreifache Staffelung von Annäherungsvorrichtungen unterlaufen hatten turnten sie im Ninjastil über die Mauern, wobei sie auch hier auf mögliche Sensoren achten mussten, die bei Berührung oder Erschütterung anschlugen. Erst als sie auf der Mauerkrone angekommen waren fühlten sie sich außer Gefahr, wobei sie im Grunde jetzt erst recht auf dem Präsentierteller hockten. Wer sie vom Klosterbau her sah konnte sie beschießen.

Die drei Vollstrecker lösten ganz vorsichtig kleine Kanister von ihren Rucksäcken und richteten deren Ventile auf den Innenhof aus. Von nun drei Seiten bliesen sie den Inhalt der kanister, ein geruch- und farbloses Betäubungsgas, in den Innenhof. Sie selbst waren durch besonders auf diese Chemikalie abgestimmte Gasmasken geschützt. Als dank der schwachen Windverhhältnisse eine immer dichtere Wolke des Betäubungsdunstes über dem Klosterhof hing wagten es die drei, ihre Stellung zu verlassen. Während das Gas weiter ausströmte kletterten sie die Mauer hinunter. Drinnen ertönte eine Alarmsirene. Doch das störte die drei nicht mehr. Im Laufschritt eilten sie zu der Tür des Hauptgebäudes, durch die der Gast verschwunden war. Mit einem kleinen Sprengsatz brachen sie die Tür auf und stürmten hinein. Automatische Schussvorrichtungen beharkten sie mit schnellen Salven. Doch ihre schusssichere Kleidung schützte sie vor Verletzungen. Dann erreichten sie endlich eine massive Eisentür. Der Anführer nahm noch einen Gaskanister aus dem Rucksack und gab durch Handzeichen Befehl, die Tür mit größeren Ladungen wegzusprengen. Als das passierte pfiffen ihnen von drinnen MP-Salven um die Ohren. Diesmal hatten die Verteidiger Sprenggeschosse benutzt. Denn zwei der chinesischen Greifertruppe fielen unter dem Beschuss nieder. Ihre kugelsichere Kleidung hatte sie nicht vor den Sprenggeschossen schützen können. Nur der Anführer war noch am leben und konnte das Gas freisetzen. Die Verteidiger hielten noch zehn Sekunden durch. Dann fand das Betäubungsmittel seine Opfer. Der Anführer erkannte den Besucher sofort, der zwischen seinen drei Leibwächtern am Boden lag. Die Wächter brauchte er nicht. Er zog ein Blasrohr hervor und praktizierte einen mit einem schnell wirksamen Todesgift imprägnierten Stahlpfeil hinein. Er zielte auf den ersten der Wächter und blies den tödlichen Pfeil aus. Der Wächter zuckte zusammen. Der würde nicht lange zu leiden haben. Dann verpasste er dem zweiten und dem dritten Wächter einen tödlichen Pfeil und auch den vier im Raum niedergesunkenen Männern, die trotz der Gasbetäubung noch wie unter unerträglichen Schmerzen zusammenzuckten, sich krümmten und dann reglos liegenblieben. Nur die drei Wächter des Besuchers im gelben Anzug hatten nicht so auf den Giftbeschuss reagiert. Das fiel dem verbliebenen Angreifer noch auf und erstaunte ihn. Doch seine Mission hieß, den Besucher zu ergreifen. Ohne seine beiden Leute war das sicher kein fröhlicher Frühlingstanz, den Gefangenen bis zum versteckten Einsatzwagen zu tragen. Doch er musste ihn mitnehmen.

Er näherte sich dem zu ergreifenden und scheinbar in tiefer Betäubung daliegenden Mann. Um sicherzustellen, dass der auch noch in fünf Stunden schlief wollte er ihm eine Langzeitnarkosespritze verabreichen. Er zog die kleine Injektionspistole mit der bereits eingesetzten Ampulle hervor, löste die Schutzkappe vom vorderende, aus dem die Nadel schnellen sollte und beugte sich über die in einen augenfälligen safrangelben Anzug gehüllte Gestalt. Da sauste die rechte Hand des am Boden liegenden durch die Luft und prellte dem Angreifer die Injektionspistole aus der Hand. Dieser reagierte jedoch sofort und warf sich nach vorne, um dem nun aus der Rückenlage hochschnellenden einen betäubenden Handkantenschlag zu versetzen. Doch der Mann in Gelb war verdammt wendig und entging dem Kung-Fu-Schlag. Dafür rammte er dem anderen seine rechte Faust mit Wucht gegen die schweinerüsselartige Ausstülpung der Gasmaske. Es knackte verdächtig. Dann erkannte der verbliebene Angreifer, dass die von ihm mit Giftpfeilen beschossenen Wächter ebenfalls aus der Rückenlage hochschnellten und aus dieser Bewegung auf ihn zuflogen. Keine halbe Sekunde später hingen zwei der drei an ihm. Er war zwar exzellent trainiert und konnte zur Not auch mit vier oder fünf Gegnern fertig werden. Doch die beiden versuchten nicht, ihn niederzuschlagen. Sie blockierten nur seine Arme, die schnell auszuteilen versuchten. Der dritte Wächter packte die Gasmaske und zerrte daran. Doch da sie fest mit der schwarzen Kapuze verbunden war gelang das nicht. Doch der Wächter besann sich nicht einmal eine Sekunde lang. Er deutete auf den Mann in Gelb, der scheinbar völlig unbekümmert einen großen Aschenbecher vom Konferenztisch herunternahm und dem Wächter zuwarf. Kaum hatte der noch freihändig handlungsfähige Wächter den Aschenbecher mit beiden Händen ergriffen, schlug er diesen mit Wucht gegen die Filtervorrichtung der Gasmaske. Mit hässlichem Knacken zerbrach diese. Das Filtermaterial rieselte aus dem nun gähnenden Loch und mischte sich mit Blut aus Mund und Nase des Angreifers. Dieser versuchte noch, die gerade eingeatmete Luft anzuhalten, um nicht von den immer noch im Raum ausströmenden Gasschwaden betäubt zu werden. Doch das Ringen mit den zwei an ihm hängenden Wächtern kostete Sauerstoff. Zwar schaffte er es, einen der zwei mit einem Handkantenschlag zurückzuwerfen und ihn damit doch noch irgendwie zu betäuben. Doch dann musste er einatmen. Keine zwei Sekunden später sauste ein schwarzer Vorhang vor seinen Augen nieder. Ein schlagartig lauter werdendes Rauschen in seinen Ohren, dass ebenso schlagartig verebbte, begleitete seinen Sturz in die völlige Besinnungslosigkeit.

"War nur eine Frage der Zeit, bis die Chinaleute uns auf die Bude rücken, Jungs", sagte der Man in Gelb auf Bengali. "Die zwei anderen sind durchsiebt. Unsere Freunde hatten es zu gut gemeint. Schade!" sagte der Wächter, der mit dem Aschenbecher die Gasmaske zertrümmert hatte.

"Habt ihr Hunger?" fragte der Mann in Gelb. Seine Diener machten eine bejahende Kopfbewegung. "Dann haltet euch ran. Ich kümmere mich um unseren Gast", sagte er noch, bevor er sich die gelben Handschuhe, Stiefel und die Kleidung vom Körper streifte. Denn er wollte nichts davon kaputtgehen lassen.

Auch die zwei nicht betäubten Wächter zogen ihre Kleidung aus. Dann vollzog sich bei den dreien eine grauenvolle Verwandlung. Sie wurden erst größer. Gleichzeitig sprossen immer mehr Haare aus allen Poren. Die Hände und Füße wurden zu Pranken und kräftigen Hinterläufen. Die Köpfe verformten sich und wurden zu überlebensgroßen Raubkatzenschädeln. Die aus der Haut wachsenden Haare wurden zu einem quergestreiften Fell. Aus den Steißknochen wuchsen lange Schwänze. Innerhalb von einer halben Minute standen dreiüber zwei Meter große Tiger im Saal. nur der von ihrem Gegner mit der Handkante betäubte Gefährte lag noch in menschlicher Gestalt am Boden.

Als der von seinem eigenen Gas betäubte Abgesandte des weißen Lotos wieder zu sich kam fand er sich im Kofferraum eines gerade über eine holperige Straße ruckelnden Geländewagens wieder. Sein rechter Arm schmerzte wie mit Säure übergossen. Er hörte die Stimmen von vier Leuten aus dem Wagen und nahm den Geruch von Diesel, Opium und Blut wahr. Der Blutgeruch kitzelte ihn in der Nase und regte seinen Appetit an. Dann fühlte er, wie es in schmerzhaften Wellen aus seinem Arm in seinen restlichen Körper einströmte, jenes Brennen, dass er bereits beim Erwachen verspürt hatte. "Ah, er ist wach und damit gleich einer von uns!" hörte er eine zufrieden klingende Stimme im besten Mandarinchinesisch sagen. Dann fühlte er, wie etwas seinen Körper veränderte. Es brannte und prickelte auf seiner Haut. In seinem Kopf, seinen Gliedern und seinem Körper schienen ungeheure Kräfte zu kneten und zu ziehen. Er stöhnte auf, obwohl er gelernt hatte, jeden Schmerz stumm zu ertragen. Doch als er fühlte, dass er nicht nur Schmerzen hatte, sondern ganz und gar von innen her verändert wurde kam zu den Schmerzen noch ein Gefühl von Angst. Was passierte da mit ihm? Während sein Körper eine schmerzvolle Umwandlung durchlitt dachte er an die Worte des Fremden. Gleich würde er einer von denen sein. Was meinte der damit?

Die Antwort auf diese Frage ließ nicht mehr lange auf sich warten. Als die Schmerzen der Verwandlung unerträglich zu werden drohten empfand er unvermittelt ein steigendes Glücksgefühl. Er fühlte sich so, als würde er jetzt richtig zu leben anfangen, als sei alles für ihn erreichbar. Dann war die Verwandlung vollendet. Er fühlte, dass der Kofferraum für ihn zu eng war. Er hieb mit seiner Rechten nach vorne und versenkte zentimeterlange Krallen in der Rückbank. Laut ratschend zog er fünf tiefe Einschnitte in das Material der Rückbank.

"Ey, lass unseren Wagen ganz, Lotosbote!" klang auf einmal eine Stimme in seinem Kopf. Wie ging denn das? Die Antwort darauf fiel ihm jedoch sofort ein. Durch die Verwandlung hatte er wohl die Fähigkeit bekommen, Gedanken zu hören. Er fühlte, wie der Wagen gebremst wurde. Zwei Männer öffneten den geräumigen Laderaum und sahen ihn an. Er nahm den Geruch von Menschenblut und Schweiß wahr, aber auch einen Geruch, der ihm sagte, dass die seine Artgenossen und Brüder waren. Dann kam noch der Mann im gelben Anzug dazu. Von ihm ging noch eine stärkere Ausstrahlung aus, eine der Überlegenheit und der unbedingten Beherrschung.

"Ich bin Kalidas, dein Bruder und dein Herr zugleich", sagte der Mann auf Mandarin. "Du bist jetzt einer von uns, Lotosmann. Bevor wir dich weiter mitnehmen wirst du mir erzählen, was deine Organisation vorhat und woher ihr wusstet, dass ich heute zu meinen Gesinnungsbrüdern in dieses Llamakloster kommen wollte."

Der verwandelte Gefangene konnte sich nicht gegen den erteilten Befehl zu Sprechen wehren. Doch in seiner anderen Gestalt konnte er nur denken. Doch das reichte seinem Herren und Schöpfer schon vollkommen aus. Nur eine Viertelstunde später waren die nun fünf Mann, von denen einer ein reinrassiger Chinese war, mit dem gepanzerten Jeep unterwegs richtung Süden. Wie und wo der in ihre Reihen gezwungene Vollstrecker des weißen Lotos seine früheren Verbündeten auf- oder besser heimsuchen sollte wollte der große Anführer Kalidas, der auch gerne mit einer safrangelben Totenkopfmaske herumlief, später entscheiden.

__________

10. November 2002

Sally Fields lebte seit zwei Jahren mit zwei gefährlichen Geheimnissen. Das eine war, dass sie nicht wirklich die frühere Chefsekretärin des Bankenmoguls Byron Carlisle gewesen war, sondern dies nur in Computerdateien und in Empfehlungsschreiben und Arbeitszeugnissen behauptet wurde. Doch anders hätte sie den strategisch wichtigen Posten in der Ostland-Transaktionsbank in Boston nicht so ohne weiteres bekommen, wo sie wie die Spinne im Netz nach Beweisen für die Existenz eines neuen Ostküstensyndikates suchte. Das zweite ihr womöglich mal gefährlich werdende Geheimnis war, dass sie kurzfristige Beziehungen zu Frauen pflegte, die selbst auf Grund ihrer Herkunft sehr viel Wert darauf legten, dass ihre gleichgeschlechtliche Ausrichtung nicht öffentlich bekannt oder zu erpresserischen Zwecken verwendet wurde. Zudem hatte sie über diese Beziehungen ein heimliches Netzwerk geknüpft, in dem homophile Frauen in wichtigen Anstellungen vertreten waren. Wenn die bei ihrer eigentlichen Firma, dem FBI, von dieser Neigung gewusst hätten, so wäre sie fraglos von allen verdeckten Ermittlungen ferngehalten oder gar vorzeitig entlassen worden.

Seit drei Wochen traf sich Sally heimlich mit einer wasserstoffblondierten Frau Mitte dreißig, die sich Maria Dolores Feliciana Ortega nannte, aber sich gerne Lola nennen ließ. Vom Aussehen her hätte sie locker eine ältere Schwester der Latinopopsängerin Shakira sein können, war es aber nicht. Jedenfalls hatte sie es drauf, Sally jeden Wunsch von den Augen abzulesen und zu erfüllen. Überhaupt war das mit ihr was ganz anderes, nicht nur körperliches. Zwar hatte sie manchmal morgens nur dagelegen und sich total ausgezehrt gefühlt. Doch das hatte sie nicht davon abgebracht, Lola immer wieder zu besuchen. Was die blondierte Latina so am Tag machte hatte Sally nur Dank halblegaler Computerprogramme herausgefunden, die auf Fotos oder Namen von auszuforschenden angesetzt werden konnten und alles was an elektronischen Spuren vorhanden war aufräufelten. So wusste Sally, dass Lola ein kleines Geschäft für Bekleidungen für jeden Anlass und jedes Alter betrieben hatte, bis ihr mit dreißig die Lust daran vergangen war, die Hälfte ihrer Einkünfte an Onkel Sam abzuführen und den Laden an eine amerikanische Modekette verkauft hatte. Von dem Geld lebte sie offensichtlich auch ohne Beruf ganz gut. Außerdem hieß es, dass Lola einflussreiche Freunde hatte, vielleicht sogar Freundinnen, also ähnlich vernetzt war wie Sally, die im Internet unter dem Decknamen Night Swallow, Nachtschwalbe unterwegs war und sehr sorgsam darauf bedacht war, kein echtes Foto von sich im Netz aller Netze herumgeistern zu lassen, eben auch um die von ihr benutzten Spionageprogramme nicht auf ihre Spur kommen zu lassen.

"Ms. Fields, die Sache mit Jonas Benson in Nassau soll noch mal überarbeitet werden. Benson wollte unbedingt nachverhandeln", hörte Sally die Stimme ihres derzeitigen Bosses durch die Sprechanlage. Sie erwiderte, dass sie sich das Abkommen mit Bensons Yachtausstattungsfirma auf den Bahamas noch mal durchlesen und Bensons Korrekturwünsche auf Erfüllbarkeit prüfen würde. Dann erinnerte sie ihren Boss an den Termin mit Solomon Stonecutter von der Intergold-Kompanie.

"Haben Sie das rote Kostüm an, Sally?" fragte ihr Boss, der seit sechs Uhr morgens in seinem Luxusbüro von 80 Quadratmetern saß und mit den ihm anvertrauten Milliarden jonglierte. Sally grinste und schlug vor, dass Mr. Delorca doch nachsehen kommen könne, was sie trug. Natürlich wusste sie, dass Mr. Stonecutter auf Frauen in Rot stand und hatte deshalb am Morgen ihr Kostüm aus weißer Bluse und kirschrotem Maxirock angezogen. Zur Antwort auf ihren Vorschlag öffnete Delorca die Tür zwischen seinem Büro und dem Vorzimmer. Ein kurzer Blick aus seinen dunkelbraunen Augen reichte, um ihn zufrieden zu stimmen. Dann zog er sich wieder zurück. Sally wusste um seine Paranoia, dass böswillige Leute ihn mal eben abschießen konnten, wenn er sich länger als nötig in einem ungeschützten Raum aufhielt. Deshalb war ja vor dem Vorzimmer eine echte Sicherheitsschleuse montiert, die von zwei Technikern betreut wurde.

Wie zu erwarten war gefiel dem aus New York angereisten Mr. Stonecutter die Aufmachung der Vorzimmerdame. Als er dann in das schalldichte und schusssichere Büro weiterging konnte Sally noch hören, dass er wohl wegen einer privaten Goldmine in Südafrika auf neue Einnahmequellen hoffte. Sally lächelte verwegen, als Stonecutter die Tür hinter sich geschlossen hatte. Die Intergold-Kompanie war ebenso wie die Ostland-Transaktionsbank eine reine Geldwaschanlage, wo an der Steuer vorbeigeschleuste Einkünfte ebenso in legale Wertanlagen umgewandelt wurden wie Beutegeld oder Einkünfte aus anderen Verbrechen, unter anderem Goldschmuggel und Handel mit Konfliktdiamanten. Am Ende des Arbeitstages würde sie die in Delorcas Rechner verbaute Wanze auslesen, die jedes Gespräch in Datenpakete umwandelte, die alle zehn Minuten an eine nur für sie allein zugängliche Adresse kopiert wurden.

Nur eine Stunde später verließ der ganz in weinrot gekleidete Mr. Stonecutter Delorcas Allerheiligstes wieder. Er bedachte die dunkelhaarige Chefsekretärin noch mit einem Kompliment und erwähnte einen neuen Termin in drei Tagen. Dieser wurde ihr von Delorca bestätigt.

Um zwölf Uhr Mittags lieferte der hauseigene Essensservice ein zwei-Gänge-Menü. Auch Delorca bekam sein Mittagessen. Daran hatte sich Sally nur schwer gewöhnen können, dass sie nicht mit den unteren Einkommensgruppen in der Luxuskantine speisen durfte. Aber Delorca hatte verfügt, dass alle Angestellten, die mit den Platinkunden sprechen durften, nicht mit dem einfachen Fußvolk an einer Ausgabetheke anzustehen haben durften, zumal die höheren Angestellten auch die teureren Bekleidungen trugen, die bei herumgetragenen Tabletts zu leicht in Gefahr geraten konnten, bekleckert zu werden.

Sally genoss die Tomatencremesuppe und den ausgezeichneten, sorgfältig entgräteten Heilbutt mit Herzoginnenkartoffeln und trank dazu Premiummineralwasser. Sie wollte gerade in das durch Handabdruckabtastung gesicherte Badezimmer schlüpfen, um sich für den restlichen Arbeitstagin Form zu bringen, als das Telefon läutete. Delorca hatte gleich zu Beginn ihrer Anstellung klargestellt, dass zwischen zwölf und eins niemand mit ihm zu telefonieren habe, es sei denn, er rief von seinem Büro aus wen an. Also musste sie erwähnen, dass er zu Tisch war, egal wer es war.

"Hallo meine kleine Nachtschwalbe, heute abend im Salsadrom?" meldete sich eine tiefe, ihr all zu vertraute Frauenstimme. Sally fühlte ihr Blut aus dem Gesicht schwinden. Woher hatte Lola ihre Firmentelefonnummer und wusste ihren Internet-Decknamen?

"Öhm, Öhm, Sie sprechen mit Sally Fields von der Ostland-Transaktionsbank. Sie haben sich womöglich verwählt", erwiderte sie, um ihre Selbstbeherrschung ringend.

"Achso, habe ich wohl", hörte sie die andere Stimme antworten. "Dann muss ich wohl eine Zahl verwechselt haben. Entschuldigung", sagte Lolas Stimme. Dann meinte sie noch: "Muss ich wohl noch mal anrufen, um zu fragen, ob mein Vorschlag Interesse findet."

"Ich denke, Sie werden Erfolg haben", sagte Sally und trennte die Verbindung. Hoffentlich hatte Lola nicht den Fehler gemacht, von ihrem Festnetztelefon aus zu wählen. Nachher musste sie noch das Anrufverzeichnis frisieren, dass jemand ihr unbekanntes sich schlicht verwählt hatte. Sie atmete mehrfach ein und aus. Lola hatte mit diesem kurzen Anruf ihre heimliche Furcht vor Enttarnung heftig entfacht. Denn sie war sich absolut sicher, dass sie ihrer derzeitigen Gespielin nicht verraten hatte, wo sie arbeitete und garantiert nicht die nur wenigen bekannte Nummer dieses Vorzimmers verraten, noch hatte sie erwähnt, dass sie im Internet als Nachtschwalbe herumflog. Am Ende war Lola eine Spionin, die auf sie, die FBI-Agentin in verdeckter Mission, angesetzt war. Deshalb musste sie am Abend ins Salsadrom, der Latino-Tanzbar in Boston und zusehen, unterwegs keinem von der Firma hier über den Weg zu laufen. Also ging das nur mit ihrem eigenen Auto, dem blauen Pontiac.

Der Schreck, den Lolas Anruf ihr bereitet hatte, konnte sie Dank ihrer psychologischen Schulung schnell wieder abschütteln. Das war auch nötig, weil keine Minute später Mr. Girandelli anrief, der angeblich für die Firma Transatlantik-Transport tätig war, in Wirklichkeit aber eine Verdienstausfallsversicherungsfirma für Unterweltgrößen betrieb, die die freigewordene Marktstellung des vor Jahren zerfallenen Parker-Konsortiums übernommen hatte. Sally war sicher, dass Girandelli dem vermuteten Neuengland-Syndikat angehörte, an dem Mafia-Familien ebenso beteiligt sein sollten wie irischstämmige Gangster, Angehöriger der Yakusa und chinesischer Triaden. Doch dafür fehlten noch endgültige Beweise. Denn Zeugen oder Unterlagen zu beschaffen war hochgradig lebensverkürzend, wie sie über ihre heimlichen Kanäle von ihrer Dienststelle erfahren hatte.

Weil Delorca eben noch zu Tisch war bat Sally Girandelli, erst in einer Stunde wieder anzurufen.

"Hören Sie gut zu, werte Dame, wenn ich anrufe ist das dringend. Aber Ihr Boss hat seinen Anschluss blockiert, sonst wäre ich nicht bei Ihnen im Vorzimmer gelandet. Also bitten Sie ihn gütigst, heute mal den Nachtisch wegzulassen und mit mir zu reden! Meine Zeit ist wertvoller als seine."

"Mr. Girandelli, zum einen möchte ich mir doch ausbitten, etwas mehr Respekt für mich und Mr. Delorca zu zeigen, wenn Sie mit ihm verhandeln möchten", setzte Sally an. "Des weiteren muss ich mich an die mir gegebene Anweisung halten, dass Mr. Delorca zwischen zwölf und dreizehn Uhr nicht bei seiner Mittagspause unterbrochen werden darf. Es steht sogar in meinem Arbeitsvertrag, dass ich bei Zuwiderhandlung seiner Generalanweisungen fristlos entlassen werde, und glauben Sie mir bitte, dass ich dies nicht wirklich möchte."

"Unfug, Ihr Boss kennt mich und weiß, dass ich ihn nie ohne Grund anrufe. Also gehen Sie zu ihm rein und sagen Sie ihm, dass Big G in der Leitung hängt und schon ziemlich verstimmt ist, weil er nicht gleich am richtigen Ende angekommen ist!"

"Tut mir leid, Mr. Girandelli, aber meine Anweisungen gelten, und er hat mir klar aufgetragen, wen auch immer auf spätere Anrufzeiten zu verweisen. In zwanzig Minuten ist es dreizehn Uhr, dann können Sie ihn womöglich auch über die Ihnen vertraute Durchwahl erreichen, ohne mich oder wen anderes in Ihre Angelegenheiten einbeziehen zu müssen."

"In zwanzig Minuten geht mein Flieger. Also los, schieben Sie ihren Hintern rüber zu ihm und sagen sie dem, dass er mit mir reden soll!" knurrte Girandelli. Dann schnaubte er: "Sagen Sie ihm, es ginge um neongrüne Nesseln. Dann vergisst der Ihre sofortige Kündigung."

"Mr. Delorca hat mir von einem solchen Dringlichkeitscodewort nichts erzählt, das eine Begründung für die Unterbrechung seiner Mittagspause sein kann. Wenn Sie wirklich ein so dringendes Anliegen haben hätten sie vor einer Stunde schon anrufen können", erwiderte Sally, die einerseits schon dachte, dass sie sich gerade auf sehr dünnes Eis wagte, weil das Codewort womöglich doch galt, aber auf der anderen Seite auch eine gewisse Befriedigung empfand, diesen Premiumkunden hinhalten zu können, ohne gegen erteilte Anweisungen zu verstoßen.

"Jetzt reicht's, Mädchen. Sagen Sie ihrem Boss gefälligst, dass ich weegen der neongrünen Nesseln anrufe, sonst können sie beide ab morgen mit den Pennern in der Armenküche für Suppe anstehen!"

"Entschuldigung, aber welchen Teil von Sie möchten bitte mehr Respekt für meinen Boss und mich zeigen haben Sie nicht verstanden?" fragte Sally.

"Okay, Tipse, ab morgen kannst du entweder mit den Tippelbrüdern um Armenfutter betteln oder darfst zusehen, wie du mit deinem Unterbau Mäuse machst. Ciao Bella!""

"Sie mich auch", dachte Sally, als Girandelli die Verbindung getrennt hatte. Hoffentlich hatte sie jetzt nicht den entscheidenden Fehler begangen, sowohl was ihre Anstellung anging als auch was eine Gelegenheit betraf, näheres über die Verwicklungen zwischen Girandelli und Delorca zu erfahren. Doch im Moment wähnte sie sich auf der sicheren Seite, weil sie die Generalanweisung, ihren Boss nicht bei der Mittagspause zu stören, befolgt hatte.

Um ein Uhr Mittags teilte Sally ihrem Boss per Sprechanlage mit, was passiert war. Delorca war sichtlich ungehalten. Sally dachte erst, dass sie den Anruf doch hätte weitergeben sollen. Doch dann sagte er: "Der kleine Pizzabäckersohn hat Ihnen echt ein nur zwischen dem und mir vereinbarttes Codewort mitgeteilt? Ja, ist der denn jetzt total bekloppt? Okay, Sally, Sie haben alles richtig gemacht und kriegen deshalb keinen Ärger", sagte Delorca und trennte die Sprechanlagenverbindung. Sally hoffte, dass sie wirklich aus dem Schneider war. Sie dachte an Lola. Deren Anruf hatte sie irgendwie mehr erschüttert als Girandellis erst nur ungestüme und dann offen rüpelhafte Ausdrucksweise. Ja, es stimmte, dass man die teuersten Kleider anziehen konnte, aber im inneren doch immer noch ein Straßenjunge oder eine Hinterhofdirne blieb, wenn jemand so angefangen hatte.

Eine halbe Stunde später kam Delorca aus dem Büro heraus und sagte leise: "Sagen Sie alle Termine für morgen ab, Sally! Und rufen Sie am Flughafen an und lassen Sie die Wolkentänzerin auftanken! Den Flugplan reiche ich vor Ort ein."

"Darf ich fragen, wann Sie wiederkommen, Mr. Delorca?" wollte Sally wissen.

"Hängt davon ab, wie meine Dienstreise verläuft. Aber Sie brauchen sich keinen Kopf zu machen, wenn ich keinen Erfolg habe kriegen Sie ein Empfehlungsschreiben für Mr. Stonecutter und können, falls Sie wollen, ins Herz des internationalen Finanzhandels umziehen, ohne eigene Kosten befürchten zu müssen."

"So ernst?" fragte Sally aus vielen Gründen interessiert.

"Kann ich derzeit nicht sagen, weil ich das eben nur vor Ort klären kann. Wo das ist möchte ich Ihnen nicht mitteilen. Sie haben bisher jedenfalls gute Arbeit geleistet, Sally."

"Danke, Sir", erwiderte Sally Fields. Dann sah sie zu, wie Delorca, der unter seinem teuren Wintermantel wohl die kugelsichere Unterkleidung trug, mit zwei Metallkoffern das Büro verließ. Zu gerne hätte sie gewusst, was in den Koffern war. Doch erst einmal musste sie die gesetzten Termine absagen, wobei sie da nicht wusste, wer von dem möglichen Syndikat noch mit ihrem Boss reden wollte. Doch die meisten von den für morgen und die nächsten Tage avisierten waren telefonisch nicht zu erreichen. Das gefiel ihr nicht. War sie etwa aufgeflogen, und jemand hatte das Syndikat und die daran hängenden Scheinfirmen gewarnt? Das musste sie klären, sobald sie unauffällig das Haus verlassen konnte. Doch mit ihrer Schlüsselkarte für die Tiefgarage durfte sie erst nach 16:00 Uhr hantieren, weil der Kartenleser zugleich wie eine Stechuhr funktionierte. Überstunden machen durfte sie so viel sie wollte oder musste. Aber früher als im Vertrag vereinbart von der Arbeit weg, ohne eine Freischaltung von ihrem Boss war ein fünf-Punkte-Verstoß. Wenn sie zwanzig Punkte voll hatte galt das laut Vertrag als Grund für eine fristlose Kündigung. Bisher hatte sie keinen einzigen Punkt auf dem Abmahnungskonto. Doch war das für sie noch von Bedeutung, wenn die Ostland-Transaktionsbank in den nächsten Tagen oder Stunden vom Markt verschwand?

Als es 16:01 Uhr war führte sie eine Datensicherung mit dreifacher Passwortabsicherung aus und fuhr ihren Arbeitsrechner herunter. Mit der Datensicherung hatte sie zugleich auch klargestellt, dass sie nun von ihrem mit entsprechenden Programmen ausgestatteten Laptop aus auf alle am Tag erstellten Daten zugreifen und auch die im Büro geführten Gespräche und Telefonate abfragen konnte. Womöglich erfuhr sie dabei auch den Grund für die plötzliche Reiselust ihres Vorgesetzten.

Gegen halb sechs Abends erreichte sie ihr 80-Quadratmeter-Appartment in einem der Nobelviertel von Boston. Dort fand sie eine Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter vor. "Heute abend im Salsadrom geht in Ordnung. neun Uhr. Nimm dir ein Taxi zwei Blocks von deiner Wohnung weg! Bis später, Lola!"

Die Zeit bis zum schon eher anbefohlenen Treffen nutzte Sally aus, um die ausgelagerten Daten ihrer Firma abzurufen, wobei sie sechs verschiedene Passwörter benutzen musste, bis sie auf dem Benutzerkonto war, von dem aus sie mit ihrer extra dafür geschriebenen Software die in Einzelpaketen verpackten Text-, Bild- und Klangdateien zusammenbauen und auswerten konnte. Dabei bekam sie wahrlich heraus, dass Stonecutter die neue Mine in Südafrika erschlossen hatte, um Schmelzgold, wohl geraubtes Gold, als geschürftes Gold auf den legalen Markt zu bringen. So ähnlich hatte er auch mal eine Diamantenmine in Südafrika erschlossen, die in Wirklichkeit liberianische Blutdiamanten zu frei verkäuflichen Steinen umwidmen konnte. Was Girandellis Anruf anging so handelte es sich tatsächlich um einen Alarmanruf, dass jemand es geschafft hatte, auf die Chefetage der Neuengland-Generalversicherung zu gelangen, der eine Leitung für feindlichen Informationsabfluss anschließen wollte, ein gewisser Daniel Cramer. Es sei zu vermuten, dass aber noch anderswo Lecks im Firmennetzwerk seien. Das sah Sally als klare Warnung an ihre Adresse an. Irgendwer hatte versucht, Girandellis Laden auszuspähen und war wohl aufgeflogen. Das musste sie noch klären, bevor sie nachher noch zum Salsadrom fuhr und da vielleicht in eine Falle geriet, weil jemand sie schon auf der Abschussliste hatte.

Ihr Verbindungsoffizier zur FBI-Zentrale nahm die Nachricht von der spontanen Geschäftsreise Delorcas mit gewisser Verstimmung auf. Dann erwähnte er, dass er erst heute erfahren habe, dass ein sich Daniel Cramer nennender Mitarbeiter einer anderen Behörde versucht habe, Girandellis Betrieb wegen Handels mit Waffen und Drogen an nicht besonders USA-freundliche Länder und Organisationen auszukundschaften. Der Spion sei getötet wordn, als er versucht habe, das Zugangspasswort für Girandellis Benutzerkonto zu knacken.

"War es wer von der Drogenüberwachungsbehörde?" wollte Sally wissen.

"Nein, einer vom Club idiotischer Amateure", knurrte ihr Verbindungsoffizier. "Die haben immer noch 'ne Hintertür auf unseren Datenserver, obwohl wir schon seit der Watkin-Sache versuchen, alle Schotten dichtzumachen. Aber wegen der Terroristen vom elften September gilt ja eine Datenaustauschfreundschaft zwischen allen Polizei- und Nachrichtendiensten."

"Hmm, wenn es wer von der Firma aus Langley war verstehe ich nicht, dass der so stümperhaft vorgegangen sein soll", sagte Sally Fields.

"Das dürfen die Schlapphüte gerne selbst rauskriegen, was genau ihr Mitarbeiter verbockt hat. Sie sollten auf jeden Fall immer einen Koffer und das Flugticket in der Nähe haben und die kugelsichere Unterwäsche tragen, die unser Bekleidungsdienst für sie geschneidert hat. Könnte sein, dass das aufgescheuchte Hornissenvolk jetzt wütend in alle Richtungen sticht. Wir standen auch Dank Ihrer Recherche kurz davor, das ganze Imperium aus den Angeln zu heben, verdammt noch mal!"

"Vielleicht landen die Hornissen auch wieder und beruhigen sich", erwiderte Sally.

"Ja, und schon morgen kommt der Weihnachtsmann", knurrte ihr Verbindungsoffizier. Sie konnte ihm das nicht verübeln.

Nach der ganzen Enthüllung wusste Sally nicht, ob sie wirklich noch Salsa tanzen sollte. Am Ende war Lola wirklich auf sie angesetzt. Doch irgendwas in ihr trieb sie an, Lola nicht zu versetzen, ja drängte sie förmlich, der Einladung zu folgen. Auch wollte sie gerne wissen, woher Lola die Durchwahl in ihr Büro kannte. So zog sie ihr für Tanzabende übliches Kleid und die Schuhe an. Darunter trug sie jedoch die neuartige, auf ihre Maße abgestimmte kugelsichere Unterwäsche, die sogar den Geschossen aus einer 3,57er Magnum standhalten und Maschinenpistolenmunition bis 9 Millimetern trotzen konnte. Weil auch ihre Übergangsjacke entsprechend kugelsicher war konnte sie sogar große Teile ihres Kopfes durch eine Kapuze schützen. So bekleidet fuhr sie mit einem Taxi zwei Häuserblocks weiter südlich von ihrem Wohnhaus ab und erreichte kurz vor neun das Salsadrom, die für gehobene Einkommensklassen angesagte Latino-Tanzbar.

Lola trug ein nachtschwarzes Kleid und hatte ihr Gesicht mit roter Schminke und höllenfeuerrotem Lippenstift aufgehübscht. Ihre dunkelbraunen Augen glitzerten vor Freude, als sie ihre Tanzpartnerin und heimliche Geliebte sah.

"Wir haben diese Nacht was zu feiern, meine kleine Nachtschwalbe, was dein und mein Leben von Grund auf verbessern wird."

"Öhm, wie immer, zwischendurch auch mit anderen Typen?" fragte Sally leise. Denn wenn ein reines Frauenpärchen andauernd zusammen tanzte fiel das selbst in dieser doch sehr toleranten Lokalität auf.

"Eine Stunde. Dann zu mir, damit wir auf den Anlass trinken können. Was die Nacht dann noch so hergibt wirst du dann sicher sehr schön finden", hauchte Lola.

So war es dann, dass die zwei Frauen eine Stunde lang zu den angesagten Titeln aus Lateinamerika tanzten, mal zusammen, mal mit alleine auf der Piste kreuzenden Herren, die aber wohl bald merkten, dass außer Tanzen nichts zu holen war. Dann verließen sie im Abstand von fünf Minuten die Tanzbar, trafen sich zwei Häuserblocks weiter nördlich und bestiegen Lolas mitternachtsfarbenen Jaguar. Sallys Instinkte für eine mögliche Bedrohung hatten sich bisher nicht geregt. Offenbar wurden sie durch die Vorfreude, eine leidenschaftliche Liebesnacht zu erleben, unterdrückt. Sally hegte überhaupt keinen Argwohn gegen Lola. Im Gegenteil, sie vertraute ihr voll und ganz, ja, sie erkannte, dass sie ihr sogar mit Ja antworten würde, wenn diese ihr heute einen Heiratsantrag machen würde. So heftig hatte sie sich bisher nicht in eine Frau verliebt und in einen Mann sowieso nicht.

Die Fahrt ging aus Boston hinaus in einen Vorort weiter im Landesinneren. Sally fiel mal wieder auf, dass sie dabei über keinen Fluss fuhren, auch wenn der Weg über die fünf oder sieben Brücken sicher kürzer gewesen wäre. Mochte es sein, dass Lola zu den Leuten gehörte, die Angst vor dem Überqueren von Brücken hatten.

Sie war schon viermal bei Lola gewesen, weil sie diese nicht in ihr eigenes Appartment hatte einladen dürfen, um kein Gerede zu verursachen. Lolas Bungalow kam mit ihrem Appartment jedoch locker mit, was die Ausstattung anging. Vor allem das runde Bett in ihrem großen Schlafzimmer sprach dafür, dass sie in diesem Haus die Freuden der Liebe feierte. Am Ende schaffte Lola noch an, um ihr Einkommen aufzubessern. Doch das hatte sich Sally bisher nicht zu fragen gewagt. Doch hier und jetzt wollte sie wissen, warum Lola sie als Nachtschwalbe bezeichnete.

"Der Name passt zu dir, daher habe ich dich heute so genannt. Ich denke mal, den Namen kannst du sehr gut tragen", säuselte sie und strich ihr schulterlanges Har glatt. dann kuschelte sie sich an Sally, die diese Annäherung sichtlich genoss. Doch noch musste was geklärt werden. "Wer hat dir verraten, wo ich arbeite und wie ich zu erreichen bin?"

"Das treibt dich wohl schon seit heute mittag um, wie, kleine Nachtschwalbe", schnurrte Lola. "Sagen wir es so, ich kenne einen, der früher mal in der Bank gearbeitet hat und wegen einiger nicht ganz so schönen Sachen vorzeitig aufhören musste. Aber der hat vorher noch diverse kleine Ausspähprogramme im Datenbankverwaltungsrechner installiert, für den Fall, dass er was finden kann, womit er Delorca hinhängen kann."

"Und das erzählst du mir, seiner Chefsekretärin?" wunderte sich Sally.

"Ich glaube nicht, dass Delorca wissen möchte, mit wem du so leidenschaftlich gerne Salsa und Samba tanzt", erwiderte Lola.

"Nein, muss er nicht", erwiderte Sally. Doch so ganz gefiel ihr das nicht, dass da jemand von außerhalb wusste, dass sie bei einer Firma arbeitete, die im Verdacht stand, illegale Geschäfte zu machen. Am Ende war der von Lola erwähnte Freund jener CIA-Agent, der Girandellis Geschäft auskundschaften sollte. Wenn Girandelli mitbekam ...

"Reden wir aber jetzt von dem großen Anlass, weshalb ich dich heute unbedingt treffen wollte, mein Geschenk der Nacht. Ich habe beschlossen, dass wir uns jetzt so gut kennen, dass wir auch das weitere Leben zusammen verbringen sollen, in guten wie in schlechten Zeiten. Aber erwarte jetzt nicht, dass ich vor dir auf die Knie gehe, um dich zu fragen. Ich möchte dir statt dessen eine andere Verehrung erweisen."

"Moment, Lola, du willst mich heiraten? Besser, du willst fragen, ob ich dich heiraten will? Wir sind hier in Boston in den Staaten. Da geht sowas nicht. Da müssten wir wohl in eines der Länder auswandern, wo sowas erlaubt ist."

"Wenn wir vor dem Staat und vor irgendeinem Gott unser Jawort geben wollen. Aber ich verehre eine Göttin, die eine wahre und wirklich existierende Göttin, die große Mutter der Nacht."

"Öhm, von der hast du mal was erzählt, dass sie über alle wacht, deren Leben in der Nacht abläuft", erwiderte Sally. Sie fühlte ihr Herz klopfen, wie auch jene herrliche Erregung im Unterleib, dass sie heute ihre Hochzeitsnacht begehen sollte.

"Würdest du dich ihr auch anvertrauen, wenn sie sich dir offenbart?" fragte Lola.

"Du meinst, wenn sie durch dich handelt, mit deiner Stimme spricht und deine Hände führt?" fragte Sally. Lola nickte. Sie lächelte sogar ein wenig, aber nicht so, dass Sally ihre Zähne sehen konnte.

"Ich nehme dich an, meine Göttin der Nacht", sagte Sally ohne groß darüber nachzudenken, was sie da machte. Sie kannte jedoch Rollenspiele, wo solche Sätze oder ähnliche durchaus gebräuchlich waren. Doch diesmal setzte eine Wirkung ein, die sie bisher nie bemerkt hatte. Ihr Körper erwärmte sich. Ihr Blut prickelte förmlich in den Adern. Sie fühlte, wie sie regelrecht im Feuer der Leidenschaft brannte. Kein Gedanke mehr an eine Falle oder an mögliche Verräter, die ihr gefährlich werden mochten. Jetzt gab es nur sie und diese blonde Latina, die bereits damit begann, ihr schwarzes Kleid abzustreifen. "Heiraten wir nicht in Weiß?" fragte Sally.

"Wir vertrauen uns der großen Mutter der Nacht so an, wie wir gewachsen sind, ohne künstliche Verhüllung", sagte Lola und fing Sallys Blick mit ihren Augen ein. Sally fühlte, wie sie auf einer Wolke aus alle Fasern durchdringendem Feuer dahinschwebte. Sie entledigte sich beinahe überhastig ihrer Kleidung und sank mit Lola auf das Runde Bett. "So frage ich dich im Namen der großen Mutter der Nacht, der Göttin aller Nachtkinder, willst du meine angetraute Gefährtin sein und mit mir alle Nächte deines Lebens teilen, mir und allen unseren Brüdern und Schwestern beistehen und der Göttin Dienst und Ehre erweisen?"

"Ja, ich will", sagte Sally grinsend. Lola wartete einige Sekunden. Sally erkannte, dass sie jetzt dieselbe Frage stellen musste und tat dies. Lolas Antwort war dieselbe wie Sallys. "So sei mir verbunden durch alle Stunden, wo wohltuende Dunkelheit uns umhüllt und unsere Lust und unseren Hunger stillt." sagte Lola. Dann lächelte sie, und Sally sah nun, warum sie bisher immer nur ansatzweise gelächelt hatte. Denn jetzt erst konnte sie die zwei spitzen weißen Fangzähne sehen, die aus Lolas Oberkiefer ragten. Doch es machte ihr weder Angst, noch empfand sie den Anblick als abstoßend oder lächerlich. Sie erkannte vielmehr, dass sie hier und jetzt die Erfüllung ihres Lebens erfahren würde. Sie gab sich der anderen hin, die behutsam ihren Kopf zur Seite drehte, um dann zuzubeißen. Der schmerzhafte Einstich in ihren Hals ließ sie zusammenzucken. Doch dann war sie wieder vollends eingehüllt in jener Glutwolke der Leidenschaft. Sie fühlte, wie Lola an ihrem Hals saugte, hörte ihr eigenes Herz pochen und fühlte Lolas Herzschlag. Jetzt gab es nur sie beide.

Sally fühlte, wie sie immer matter wurde. Da hielt ihr Lola ihren rechten Arm hin. "Du musst auch von mir trinken, nicht aus der Brust. Das dürfen nur Söhne oder Töchter", hörte sie Lolas leise Stimme. Sally wusste, dass sie nicht jene verhängnisvollen Fangzähne hatte, um sauber und durchdringend zuzubeißen. Doch sie schaffte es doch, Lola eine blutende Wunde beizubringen, ja noch genug Kraft aufzubringen, um ihr eine tiefe Wunde zuzufügen und das lauwarme Blut zu saugen, dass in ihrer Speiseröhre wie prickelnder Sekt wirkte und in ihrem Magen zu neuer Energie wurde, die sich in ihre immer blutleerer werdenden Adern ausbreitete und die Verbindung zwischen ihr und Lola schier untrennbar vollendete. Nur eine Macht der Welt würde dieses Band zerreißen können: Der Tod. Doch wie mächtig war der noch, wo sie gerade mit einer wahrhaft unsterblichen, einer Tochter der Nacht, Blut und Leben vereinte.

"Ich bin Gooriaimiria, die große Mutter der Nacht, deine Herrin und Göttin. Du bist meine Tochter, meine Dienerin, meine Botin im Reiche der Kurzlebigen", hörte sie eine fremde Frauenstimme über ihren gegen den Blutverlust anpochenden Herzschlag.

"Im Namen der Nacht,
der wahren Macht,
sei willkommen,
sei aufgenommen
als neue Tochter der Nacht!"

Diese Verse wiederholten sich mit jedem Herzschlag, während Lola Sallys und Sally Lolas Blut trank. Dann versank Sally in einer wohltuenden und alles ändernden Ohnmacht: dem tiefen Schlaf der Verwandlung.

"Wird sie früh genug aufwachen, um die Schutzhaut von dir bekommen zu können, große Mutter der Nacht?" fragte Lola in Gedanken ihre Herrin und Göttin, durch deren südamerikanische Dienerin Sangriana sie vor einem halben Jahr zu einer Tochter der Nacht geworden war.

"Da durch dich und sie nun meine Kraft fließt wird sie weit genug vor Morgenrot erwachen. Dann werde ich sie zu dem Versteck holen, wo die neuen Schutzhäute lagern. Ich denke, die wird sie wohl auch dringend brauchen, nicht nur der verfluchten Sonne wegen."

"Ja, ich habe es wohl mitbekommen, dass jemand ihren Arbeitgeber aufgescheucht hat und wohl demnächst jemand hinter ihr und anderen möglichen Verrätern her sein kann."

"Bewache ihren Schlaf und begrüße sie in ihrem neuen Leben, wenn sie wieder erwacht!" befahl die schlafende Göttin.

Lola befolgte diese Anweisung. In der Zwischenzeit beseitigte sie die Blutspritzer von ihrem Bett und teilte der Göttin mit, was auf Sallys Mobiltelefon so an Nachrichten gespeichert war. Dann, gegen drei Uhr Morgens, erwachte Sally. "Erwache und fliege, meine kleine Nachtschwalbe! Hast du gut geschlafen?"

"O Mann, ich fühle mich total ausgepumpt. Oha, jetzt bin ich eine von euch", stellte Sally fest und beleckte ihre neu gewachsenen Eckzähne. "Heißt das jetzt, ich muss andauernd irgendwem in den Hals beißen, darf nicht mehr in die Sonne und auch nichts mit Knoblauch essen?"

"Das mit dem allen möglichen Leuten muss nicht sein. Wir können auch von rohem, blutigen Fleisch leben, wenn wir nicht jeden anknabbern wollen. Aber das mit der Sonne, dem Knoblauch und dem Eichenholz stimmt leider", sagte Sally. Dann erklärte sie ihrer neuen Gefährtin, was die Göttin geschaffen hatte, um ihre Kinder und Diener vor der Sonne und anderen Gemeinheiten zu schützen. Als Sally darüber mehr wissen wollte hörte sie die Stimme ihrer neuen obersten Herrin im Geiste. Dann entstanden um sie pechschwarze Schlieren, die zu einem lichtschluckenden Wirbel wurden, in den sie hineingezogen und davongerissen wurde. Lola fühlte die Reise ihrer neuen Angetrauten beinahe körperlich mit. Durch die Macht der Göttin war das ohnehin schon starke Band zwischen zwei durch Blutaustausch verbundenen um ein vielfaches stärker. So bekam sie auch mit, wie Sally eine auf ihre Hautfarbe und Geschlechtsmerkmale abgestimmte Solexfolie erhielt, eine der neuen Generation, die innenseitig mit Unlichtkristallstaub imprägniert war und von der Hohepriesterin der Göttin mit Zaubern gegen Entreißen, Zerreißen, Feuer und alles vom Feuer berührte tote Material gefeit war. Damit war sie gegen jede Metallwaffe, jedes aus Metall bestehende Geschoss und jeden Blitzschlag oder Elektroschock immun, aber auch gegen Säuren und andere zersetzende Stoffe sicher. Auch das früher trotz der Folie noch gefährliche Eindringen eines alten Eichenholzpfahls oder -bolzens wurde durch die neue Folie verhindert, weil die Unlichtkristallimprägnierung beim Anlegen eine Verbindung mit dem Körper der Trägerin einging. Da alle Körperöffnungen freigehalten wurden konnte Sally problemlos ihre Notdurft verrichten als auch weiterhin Sex haben. Denn anders als es in den Geschichten der magielosen Welt erwähnt wurde konnten die Söhne und Töchter der Nacht weiterhin leidenschaftlich lieben. Sie konnten nur keine Kinder austragen, ohne andauernd frisches Säuglingsblut zu trinken. All das erfuhr Sally von ihrer neuen herrin, und auch, dass sie wie Lola und einige andere Schwestern der Nacht dazu ausersehen war, heimlich an den Schnittstellen der Macht in der magischen und magielosen Welt zu sitzen und zu beobachten und mit der Göttin Kraft auch einzuwirken, dass geschah, was die Göttin wollte. Sie erfuhr aber auch, dass die Nachtkinder Feinde hatten, allen voran den Knecht des einstigen Urschöpfers, der jedoch was gegen Frauen und weibliche Autorität hatte und die Menschheit vollständig vernichten wollte, weil er meinte, alles Leben sei unerwünscht und müsse in die Dunkelheit zurückgetrieben werden, aus der damals alles entstanden war. Ebenso mussten sie sich vor den vaterlosen Töchtern der Lahilliota in Acht nehmen und den Ausgeburten von Unrat und Verzweiflung, die wegen ihrer den Geist eintrübenden Kraft Dementoren genannt wurden. Doch genau diese würden bald zu wertvollen Kraftquellen der schlafenden Göttin.

Als Sally in ihrer zweiten, sie vor Sonne, Feuer und anderem schützenden Haut zu Lola zurückgeschickt wurde sagte sie: "Ich habe die Göttin gesehen, unterwegs. Schon eine erhabene Erscheinung."

"Ja, durch sie leben wir, und zu ihr kehren wir zurück, sollten wir doch sterben. Sei begrüßt als weitere Schwester im Orden der Mitternachtsspatzen!"

"Danke, meine Gefährtin, Luna Dorada!" Wie Lolas Nachttochtername lautete hatte die Göttin Sally verraten. Diese würde ihren Internet-Decknamen Night Swallow, die Nachtschwalbe, als ihren neuen Namen weitertragen.

__________

12. November 2002

"Silvy, wir müssen davon ausgehen, dass die Sekte der schlafenden Göttin darauf ausgeht, unsere heilige Bibliothek zu plündern", übermittelte die Schankwirtin der blutigen Fledermaus ihrer Bluttochter einen alarmierenden Gedanken, als sie den dafür nötigen Blickkontakt hergestellt hatte. Silver Gleam zuckte zusammen. Das konnte nicht angehen. Sie sah Erythrina Lunesku an und dachte ihr zu: "Aus der Bibliothek kann niemand ein Buch stehlen, Mutter meines Blutes. Wie soll das also gehen?"

"Offenbar benutzen die Anhänger dieser schlafenden Göttin ein Gerät, mit dem auch im Dunkeln Bilder aufgenommen werden können, um die Seiten aus den Büchern zu vervielfältigen. Barbie Sternenblut hat diese Hohepriesterin dabei beobachtet, wie sie im Buch der tausend Erkenntnisse las. dabei hat es immer wieder ganz leise geklickt, als wenn ein winziges Türschloss zuschnappt und ein ganz leises Ratschen gegeben, als wenn eine Schnur oder ein Draht länger- oder weitergezogen wurde. Da die Bibliothek genauso heiliger Boden ist wie meine Schenke durfte sie diese andere nicht fragen, was das sollte. Aber sie hat dann von ihrer Blutschwester Delia Sternenblut gehört, dass so ähnlich ganz alte Bildmachergeräte der Magielosen klingen, allerdings, so Delia, wären die richtig laut und müssten zu sehen sein, wenn sie von etwas ein Bild aufzeichnen sollen."

"Eine fotografische Kamera?" gedankenfragte Silver Gleam und erinnerte sich sofort an ihr Leben als rotblütige Hexe. Ein Schüler von Hogwarts hatte einmal ein großes Gerät dieser Art und dann ein Winzgerät vorgeführt, dass in einer Taschenuhr verbaut war und heimliche Bildaufnahmen möglich machte. "Die Muggels sind da echte Künstler im Bauen von so Geheimkameras", hatte der Bursche, selbst Muggelstämmig, dazu gesagt.

"Ich fürchte, Mutter meines Blutes, Barbie Sternenblut und du habt leider recht. Es soll winzig kleine Aufnahmegeräte geben, die zum heimlichen Aufnehmen von Dingen oder Gesichtern benutzt werden, um Spionage zu treiben."

"Das ist es, was Barbie meinte. Sie wollen alles geschriebene stehlen, um nicht mehr in die Bibliothek gehen zu müssen", gedankenseufzte Erythrina Lunesku. Dann lauschten beide. Jemand hatte draußen den Zugang geöffnet. Deshalb schrillte die kleine Bronzeglocke, die kaum größer als ein Stecknadelkopf war. Herein kam ein schrankbreiter Bursche mit schwarzem Vollbart, der sein bei Licht bleiches Gesicht gut genug verbarg, Robur Blutbart, ehemals Anführer einer aus Kindern der Nacht bestehenden Räuberbande in Dalmatien, bis transsylvanische und österreichische Jäger fünf der sechs rauhen und blutdürstigen Gesellen mit Feuer oder Eichenholzarmbrustbolzen erlegt hatten.

"Der Segen der Nacht sei mit euch, ihr hübschen. Ist wieder frisches Blut vorrätig?" fragte der bärtige Blutsauger.

"Wir haben fünfzig junge Schafe und dreißig Kälber erworben. Du hast noch die freie Auswahl", sagte Erythrina.

"Joh, schöne Frau, dann fahr mal auf das junge Rind geschwind!" lachte der wild aussehende Sohn der Nacht. Silver Gleam sah ihn prüfend an. Dann musste sie grinsen.

Während der einstige Schrecken der Landstraße sich das Blut eines lebenden Kalbes einverleibte gab Silver Gleam ihre Befürchtung weiter, dass die Diener der schlafenden Göttin die Bücher abfotografierten, um dann, wenn sie deren Inhalt abgeschrieben hatten, alle Bücher zu vernichten, damit nur noch sie das über Jahrtausende gesammelte Wissen der Nachtkinder nutzen konnten."

"Habt ihr zwei Blutperlen das auch schon gehört, dass der viele Feind, der nie zu fassen ist wirklich wieder an die Dunkelheit der Nacht gekommen ist? Wenn das stimmt, zur Sommermittagssonne, dann dürfen wir alle uns aber sehr klein und still machen, auch diese Fanatiker, die diesem Überweib am Rock hängen, dass sie als schlafende Göttin verehren", polterte Robur Blutbart.

"Kanoras?" fragte Silver Gleam. Robur zuckte wie von einem gleißenden Sonnenstrahl getroffen zusammen. "Sag mal, Mädchen, bist du in einen Bergbach gefallen, diesen Namen hier so laut auszusprechen?"

"Der ist nicht so mächtig, dass der kommt, wenn jemand seinen Namen sagt, oder ihren Namen", knurrte Silver Gleam.

"Ja, er oder die vielleicht nicht, aber der Blutriese. Schon mal von dem gehört?" schnarrte Robur.

"Ja, natürlich. Er war einst einer von drei Übergroßen, die zu Kindern der Nacht wurden. Der viele Feind, der nicht zu fassen ist hat seinen Körper einverleibt und seine Seele als seinen Schattensklaven an sich gebunden, steht im Buch über die Schrecken der Dunkelheit."

"Eben, und deshalb sollte man seinen oder ihren Namen nicht laut aussprechen, wenn man ein Kind der Nacht ist. Sollen doch die Rotblütler sich dessen Wut einhandeln, weil sie seinen Namen nennen!"

"Die wissen vielleicht schon, dass der Schattenträumer wieder erwacht ist", sagte Silver Gleam.

"Vielleicht unterliegt der Feind auch dem Urvater, dem Schöpfer unserer Art, dessen Geist an einem dunklen Ort verborgen wohnt", sagte Erythrina.

"Eine Geschichte, die keiner bestätigt hat", grummelte Robur. Erythrina warf verbittert ein, dass sowas auch mal von den Sonnenkindern erzählt wurde. Robur zuckte wieder zusammen, als hätte ihn ein Sonnenstrahl am Kopf getroffen. Silver Gleam fühlte sich zwar auch nicht behaglich bei dem Gedanken an die wiedererwachten Sonnenkinder. Doch von denen hieß es auch, dass sie nach dem Auslöschen von Nocturnia verschwunden seien. Doch war das so sicher?

"Habt ihr auch schon gehört, dass die Brüder Philonyctes und Melanopteros ihr Kloster ausbauen wollen. Angeblich wollen die da einen Anbetungsort für die Nachtkinder einrichten. Ich weiß das, weil meine Blutschwester ihr Angetrauter zu den Nachläufern dieser sogenannten Göttin geworden ist und damals auch am Haus der dunklen Tänze mitgebaut hat."

"Philonyctes und seine Brüder waren noch nie hier. Die interessiert die ganze große Welt der Nacht nicht", erwiderte Erythrina. "Dass die wohl in Griechenland in einem verlassenen Gebetshaus untergeschlüpft sind weiß ich nur von deren Blutmutter, die damals mit den Dserschinskis unterwegs war", erwiderte Erythrina. Dann fragte sie den Blutbart, wie es sein konnte,dass er einen der Anbeter der schlafenden Göttin kannte.

"Weil dessen Blutvater wohl auch durch die Kraft des Mitternachtssteines bestärkt wurde. Angeblich sind die ganzen Jünger dieser Göttin alle vom Hauch des heiligen Steines berührt. Da kann ich ja froh sein, dass meine Bluteltern mit diesem Klunker nichts zu tun hatten."

"Falls doch wärest du froh, zu dieser besonderen Gemeinschaft dazuzugehören", erwiderte Erythrina schnippisch. Silver Gleam überlegte inzwischen, was der Sinn eines von Nachtkindern ausgebauten Klosters sein sollte. Wollten die Anhänger der sogenannten schlafenden Göttin verlassene religiöse Stätten besetzen, um diese zu Stätten ihrer Religion zu machen. Jetzt würde sie gerne wissen, wo dieses Kloster denn liegen sollte. Da ging die Tür wieder auf, und zwei hagere Nachtkinder traten ein. Sie hielten Langschwerter mit leicht gebogenen Klingen in den Händen und trugen lange Umhänge über Lederrüstungen. Silber Gleam fühlte sofort den Hauch des Mitternachtsdiamanten von den beiden ausgehen.

"Robur Blutbart?" fragte einer der zwei. Bevor dieser antwortete sagte Erythrina. "Was immer ihr mit einem meiner Gäste auszuhandeln oder auszukämpfen habt bedenkt, dass hier heiliger Boden ist."

"Nur noch solange, wie es keinen Grund gibt, dies zu ändern", sagte der zweite Neuankömmling. "Bedenke du, Schankmaid, dass euer Clan nur noch solange freies Handeln und Schutzrecht ausüben dürft, solange die große Mutter der Nacht nicht befürchten muss, dass sie und ihre Diener in dieser Schenke nicht respektiert werden. Wir wollen nur wissen, ob das hier der Wegelagerer Robur Blutbart ist. Ist er es und ist er kein Feigling, so soll er sich unserer Befragung vor diesen geheiligten Räumlichkeiten stellen."

"Wer ist hier der Feigling, der eine unbewaffnete Gast, der in Ruhe sein Frühstück einnimmt oder die zwei Henkersknechte, die mit blank gezogenen Schwertern reinstürmen?" erwiderte Robur.

"Du wagst es, uns feige zu nennen? Wir sind die Schwerter und Schilde der schlafenden Göttin."

"Neh, ist schon recht, Burschen, wo jeder zwischen Abenddämmerung und Morgenröte weiß, dass diese Göttin sich Sklaven aus dem zu Pulver zerriebenen Leid verstorbener Seelen zusammenbackt, die ihre Schwerter und Schilde sind. Aber ich will hier keinen Streit anbeißen. Wir gehen raus vor die Tür. Dann dürft ihr mich befragen. Wenn es dabei bleibt zieht ihr eurer Wege und ich den Meinen. Bin hier eh gerade fertig."

"Dann macht, dass ihr drei rauskommt. Robur, ein Goldbarren für das ganze Schaf!" zischte Erythrina. Robur grinste und warf der Wirtin einen mit einer eingravierten Fledermaus geschmückten Goldbarren zu. Dann stand er auf und ließ die beiden schön vor sich her nach draußen laufen. Silver Gleam fragte sich, ob sie den zweihundert Jahre alten Räuberhauptmann gerade zum letzten Mal gesehen hatte. Erythrina seufzte. Denn offenbar ging ihr das gerade sehr nahe, dass die sogenannte große Mutter der Nacht den Frieden dieser Schenke nicht als ewiges Recht ansah, wie es damals bei der Errichtung der blutigen Fledermaus von allen lebenden Kindern der Nacht feierlich beschworen wurde. Silver Gleam dachte dabei daran, dass sie da noch nicht einmal als Menschenkind geboren war, also galt das wohl auch für jene, die sich als schlafende Göttin bezeichnete.

Von draußen war erregtes rufen und Wutschnauben zu hören. Aus dem Wutschnauben wurden unvermittelt Kampfgeräusche. "So lege ich dein von Verrat stinkendes Haupt meiner Göttin zu Füßen", schrillte einer der beiden Schwertträger von eben. "Silvy, du bleibst heute tagsüber hier", bestimmte Erythrina. Silver Gleam überlegte, ob sie nicht mehrere Tage hier überdauern sollte. Da hörten sie einen weiteren Wutschrei und ein leises Kullern. "Tja, so kommt ihr mir doch nicht bei, ihr blutloses Trockenfleisch!" lachte Blutbarts Stimme. Dann polterte es noch mal. Dann kullerte es wieder. Dem folgte ein überlegenes, schallendes Lachen von Robur Blutbart. Es entfernte sich schnell.

"Er hat beide getötet", seufzte Erythrina. "Ich hoffe, damit hat er nicht den ewigen Frieden zerstört."

"Er hat gegen beide gekämpft? Der hatte doch keine Waffe bei sich", sagte Silver Gleam.

"Der geht nie ohne seinen Dolch aus. Mit dem kann er auch Leute köpfen", seufzte Erythrina.

"Dann hat er das auf jeden Fall draußen getan, nicht in deinen heiligen Räumen, Mutter meines Blutes", beruhigte Silver Gleam die alte Wirtin.

"Hoffentlich sieht diese Abgöttin das auch so", erwiderte Erythrina. Dann fragte Silver Gleam, ob diese beiden den Räuberhauptmann deshalb gesucht hatten, weil er was mitbekommen hatte, was er nicht mitbekommen durfte. Dann jedoch seien alle in Gefahr, mit denen er noch hatte reden können, bevor sie ihn gefunden hatten. Erythrina nickte. Dann sagte sie: "Ich fürchte, es ist die Zeit des großen Treffens, wo wir alle Kinder der nacht hier versammeln müssen, um den ewigen Frieden dieser Schenke zu bekräftigen und auch den der Bibliothek."

"Solange die Bibliothek noch besteht. Womöglich sollen alle Bücher abgeschrieben werden und die Originale dann vernichtet werden", wiederholte Silver Gleam ihre Vermutung.

"Das darf sie nicht. Die Bibliothek gehört allen Kindern der Nacht", knurrte Erythrina. Doch der Auftritt der beiden Schwertträger hatte ihr verraten, dass der Göttin nicht mehr viel an geheiligten Traditionen lag. Am Ende würde jeder Sohn und jede Tochter der Nacht sich entscheiden müssen, entweder der Göttin zu dienen oder zu sterben. Hatten sie damals alle gedacht, dass die Jäger der magischen Welt ihre schlimmsten Feinde nach Sonnenlicht und Feuer waren, so wuchs ihre schlimmste Feindin nun im Schutze des im Meer versenkten Mitternachtssteines heran wie ein ungeborener Dämon, der bereits vor seinem Eintritt in die Welt Angst und Unheil verbreitete. Erythrina blickte ihre Blutstochter genau an, um bloß keinen ihrer Gedanken auf dem Weg zu ihr zu verlieren. "Wir müssen rausfinden, ob der alte Blutbart recht hat und dieses griechische Kloster zum neuen Stützpunkt dieser Frevlerin werden soll. Wenn wir das wissen, geh zu der jungfräulichen Hexe, die dich aufgeweckt hat und bestelle ihr und ihren Vertrauten, dass dieser Stützpunkt nicht im Sinne eines friedlichen Fortbestehens zwischen uns und den Sonnenabhängigen ist! Ich werde versuchen, den Rat der Ältesten hier in der Schenke zusammenzurufen. Ich weiß nicht, wer von denen schon dieser selbsternannten Göttin unterworfen ist. Aber mein Mann und ich müssen das wissen. Dann können wir entscheiden, ob wir uns mit den Rotblütlern verbünden oder besser doch die Sklaven dieser selbsternannten Göttin werden."

"Ich hoffe, wir beide leben lange genug, um die Entscheidung zu überdenken", schickte Silver Gleam zurück.

__________

"Was lernen die Leute in eurer Firma eigentlich in Sachen Unauffälligkeit und Vorsicht vor Fallen?" schnaubte der Generaldirektor des FBI, als er dem Direktor für verdeckte Operationen der CIA gegenübersaß. "Abgesehen davon seid ihr mit eurer Firma für das Ausland zuständig, während wir im Inland aufpassen und auskehren."

"Zum einen sollten wir beide wieder zu einer respektvollen also förmlichen Anrede zurückfinden. Zum anderen haben wir den Verdacht gehabt, dass Cramer seine neue Rangstellung zu verlockend findet und uns möglicherweise ohne offizielles Kündigungsschreiben verlassen möchte. Und was das Aufpassen angeht, so haben Sie vom Büro doch drei Jahre gebraucht, um zu erkennen, dass das Parker-Konsortium einen würdigen Nachfolger gefunden hat, während wir bereits wegen unserer Obliegenheiten außerhalb der Bundesgrenzen erkannt haben, dass sich an der Ostküste und auf den Bahamas ein neues Verbrechersyndikat formiert, das eine Art Fusion aus diversen Verbrecherorganisationen darstellt, wirtschaftstechnisch auch als Auffanggesellschaft bezeichnet. Ja, und weil zu den Geschäften dieser neuen Auffanggesellschaft der internationale Menschen-, Waffen- und Indormationshandel gehören geht uns von der Firma das schon eine Menge an, wer da mit wem paktiert und handelt. Deshalb haben wir den Agenten Cramer aus El Salvador zurückbeordert und vor einem Jahr auf die neue Organisation angesetzt. Sein Führungsoffizier hat jedoch erkannt, dass Cramer die ihm angewiesenen Aktionen nicht mehr nur zur Tarnung ausführt und seine Mission, auf die Chefetage vorzudringen, als eine Art berufliche Veränderung nutzen will. Am Ende hätte der noch die ganze Mission verraten."

"Ach so, und da haben Sie ihn mal eben in den vorzeitigen und unwiderruflichen Ruhestand versetzen lassen, wie?" fragte der FBI-Direktor. "Mann, wir haben selbst verdeckte Ermittler in dieser Truppe und deren Zuliefererfirmen. Die sind jetzt alle gefährdet, weil Ihr Mann angeblich beim Datendiebstahl einen tödlichen Stromschlag bekommen hat."

"Wir sind im Rahmen der neuen Heimatschutzgesetze bereit, die erhaltenen Daten mit Ihrer Behörde zu teilen", sagte der Direktor für verdeckte Operationen.

"Ja, jetzt wo alle Hauptverdächtigen aufgescheucht und ins Ausland entfleucht sind."

"Ja, und weil ihr Geldwäscher Nummer eins, dieser Delorca - übrigens ein ehemaliger Mitkämpfer von Colonel Watkin - auf seinem Flug nach Panama-Stadt mit seinem Privatjet verunglückt ist wird sich von denen keiner trauen, das Versteck vorzeitig zu verlassen. Wollen Sie die Ortsangaben haben?"

"Spreche ich Klingonisch oder was? Es geht nicht darum, was Sie uns zu bieten haben, sondern dass Sie mal wieder Ihre Zuständigkeiten missachtet haben. Die CIA darf nicht innerhalb der Staaten operieren, es sei denn, um ausländische Agenten oder Attentäter zu überwachen. Aber auch dafür sind wir mehr zuständig."

"Ichkann Klingonisch, weil ich nicht einsah, dass meine Enkel sich in einer Sprache unterhalten können, die ich nicht verstehe", erwiderte der Direktor für verdeckte Operationen. "Daher habe ich Sie schon sehr gut verstanden. Ich habe die ausdrückliche Genehmigung von Verteidigungsminister Rumsfeld und von Präsident Bush, alle auf Verstrickungen amerikanischer Bürger mit internationalen Terroristen hindeutende Spuren zu verfolgen und dabei jedes mir zu Gebote stehende Mittel einzusetzen, im elektronischen wie von Menschen ausführbaren Bereich. Es verwundert mich, dass Sie diese neue Direktive noch nicht kennen. Nach dem elften September sind Ihre Behörde und meine Firma noch engere Partner als vorher, wo wir noch auf die überempfindlichen Bürgerrechtsaktivisten Rücksicht nehmen mussten."

"Als wenn Sie und Ihre Kollegen das je getan oder auch nur erwogen hätten", fühlte sich der FBI-Chef zu einer spitzen Bemerkung veranlasst.

"Unabhängig davon wäre unser Agent nicht aufgeflogen, wenn wir eben nicht Hinweise erhalten hätten, dass er kurz davor stand, dem Neuengland-Syndikat, wie es sich selbst nennt, einen großzügigen Beweis seiner Treue und Zuverlässigkeit zu liefern."

"Ich werde gleich mit dem weißen Haus telefonieren, mit dem Justizminister und wenn er da ist, auch mit dem Präsidenten selbst. Stimmt das nicht, was Sie mir gerade erzählt haben, betrachten Sie Ihre neue Zuständigkeitsüberschreitung als Anlass für eine Anhörung vor dem Kongress!"

"Sie wollen öffentlich machen, dass wir, also Ihr Büro und meine Firma heimlich amerikanische Geschäftsleute auskundschaften?" fragte der Direktor für verdeckte Operationen. Der FBI-Chef nickte entschlossen und sagte leise: "Es sei denn, Sie liefern uns frei Haus und ohne Gegenleistung alle Informationen, die Sie gesammelt haben, damit wir unsere Ermittler geordnet abziehen lassen können."

"Dann bitten Sie mich darum und drohen Sie mir nicht was an, was Ihnen Selbst ziemlich übel aufstoßen würde!" entgegnete der CIA-Mann.

"Dann soll Präsident Bush das besorgen, falls er Ihnen wirklich diesen Spielraum gewährt hat. Am Ende dürfen Kiowa-Hubschrauber noch hinter Drogenhändlern herjagen oder Panzer gegen Bandenkriminalität in den Ghettos von New York oder Los Angeles eingesetzt werden, weil die ja alle irgendwas mit Bin Laden und seinen Leuten zu tun haben könnten."

"Das diskutieren wir, wenn der Präsident eine derartige Abänderung der Gesetze unterschreiben möchte", erwiderte der Direktor für verdeckte Operationen.

__________

13. November 2002

Sally Fields alias Night Swallow hatte an diesem Tag die Kurzmitteilung mit dem Bild einer roten Tür erhalten, bevor sie zu ihrem täglichen Einsatz in Delorcas Firma aufbrechen sollte. Das hieß, dass ihre Tarnung womöglich doch aufgeflogen war. Zumindest aber hieß es, dass sie sich nicht mehr bei Delorcas Firma blicken lassen durfte. Auch hieß es, dass sie sich mit einem Kollegen vom FBI treffen und in ein sicheres Haus fahren sollte, bevor die von ihr ausgekundschafteten anfingen, hinter ihr herzujagen. Das hatte wohl auch was damit zu tun, dass Delorcas Learjet auf dem Flug nach Mittelamerika wegen angeblichen Versagens der Treibstoffzufuhr abgestürzt war.

Sally Fields bedauerte es, nicht weiter gegen Delorca ermitteln zu dürfen. Mit ihren neuen Fähigkeiten hätte sie ihn zu einem willfährigen Werkzeug der Göttin machen können, ohne ihn selbst zu einem Sohn der Nacht zu machen. Doch um nicht aufzufallen musste sie den Befehl, den die rote Tür darstellte, befolgen.

Sie räumte schnell alle ihre Sachen in einen Koffer zusammen, ließ jedoch die sündteuren Luxuskleider im Schrank hängen, bis auf ein rubinrotes und ein nachtschwarzes Kleid, mit dem sie in den letzten Jahren immer wieder auf nächtliche Abenteuer ausgegangen war. Dann verließ sie das Haus durch den Hintereingang. Es war gerade sieben Uhr morgens. Zu dieser Jahreszeit dauerte es noch eine Weile, bis die Sonne aufging, zumal gerade eine tiefhängende Wolkendecke über Boston lag. Das mochte ihr nur recht sein, weil sie so nicht zu erschöpft sein würde. Selbst wenn die Sonnenstrahlen ihr nichts anhaben konnten würde das Tageslicht ihre Kraft auf Normalmenschenmaß beschränken. Wo sie nun wusste, wie stark und schnell sie sein konnte und mit Lola drei wilde Liebesakte hintereinander erlebt hatte verwünschte sie den Umstand, bei Tag so schwach zu sein.

Sie war gerade um die Ecke ihres Hauses gebogen, da hörte sie das schnelle Schwirren, fühlte einen kurzen, aber nicht schmerzhaften Druck am Kopf und hörte zeitgleich ein sich rasant entfernendes Pfeifen. Sie fühlte die unmittelbare Nähe eines Feindes, erspürte die Richtung des Angreifers und wirbelte herum. Doch sie sah niemanden auf der Straße. Wieder schwirrte etwas auf sie zu und prallte laut wimmernd von ihr ab. Mit einem hässlichen metallischen Knall schlug das Etwas in den nahebei stehenden Laternenpfahl ein. "Wo immer du bist, lass es sein!" rief Sally. Zur Antwort kamen gleich drei Geschosse aus einer schallgedämpften Waffe auf sie zugejagt und prallten ebenso wirkungslos ab wie die beiden davor. Sally konzentrierte sich. Solange die Sonne nicht über den Horizont gestiegen war konnte sie die Dunkelheit der Nacht als weitere Kraftquelle anzapfen. Sie fühlte, wie die langsam weichende Dunkelheit sie wie eine Hochleistungsbatterie auflud. Dann rannte sie los, froh darüber, keine hohen Absätze unter den Schuhen zu haben. Jetzt konnte sie eine Gestalt sehen, die hinter einem der Fenster des Nachbarhauses lauerte und wohl wieder auf sie feuern wollte. Sally durfte den Typen nicht entwischenlassen, wer immer das auch war. Der konnte seinem Auftraggeber stecken, dass sie neuerdings Kugelfest war. Doch wenn der im ersten Stockwerk wartete konnte er schnell noch das Weite suchen, bevor sie im Haus zu ihm hochgelaufen war. "Er soll dir sagen, wer ihn geschickt hat", hörte sie die Stimme ihrer neuen obersten Herrin. Sie dachte daran, dass sie nicht fliegen konnte. Das musste sie auch nicht. Unvermittelt umschlangen sie schwarze Spiralarme, hoben sie auf und rissen sie in einen Tunnel aus rotierender Schwärze hinein. Sie sah in der ferne einen blutroten Schein, auf den sie zuraste. Dann flog sie wie ein Pfeil an einer risenhaften nackten Frauengestalt vorbei, die aus sich selbst heraus leuchtete und wurde wie aus einer superlangen Kanone wieder ausgestoßen. Als sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte sah sie einen drahtigen Mann mit einem schallgedämpften Sturmgewehr, der gerade wegen des wohl beobachteten Verschwindezaubers losrennen wollte, um wem auch immer davon zu erzählen. Doch Sally erreichte ihn und bekam ihn bei den Armen zu fassen. Dann blickte sie ihn genau in die blauen Augen. Zwar trübten die von ihr eingesetzten Kontaktlinsen die direkte Sicht auf den Gegner ein. Doch die Kraft der schlafenden Göttin, an der sie gerade eben vorbeigeflogen war, verstärkte die eigenen Kräfte wie ein Nachbrenner oder ein Hochleistungsgenerator. So schaffte sie es, trotz der getönten Kontaktlinsen Zugriff auf den Willen des Angreifers zu erhalten. "Sag die Wahrheit! Wer hat dich auf mich angesetzt und warum?"

"Girandelli, Ricky Girandelli", hörte sie die Stimme des Angreifers, der wohl darum rang, die Antwort zu verweigern."Und warum sollst du mich töten?" fragte sie, ihren Menschen bezwingenden Blick noch immer auf ihn gerichtet. "Tod allen Verrätern!" rief er aus. Sally fragte noch, warum Girandelli glaubte, sie sei eine Verräterin.

""Weiß ich nicht. Er sagt, Fields abknallen, weil Spionin", sagte der von ihr überwältigte Gegner.

"Wo ist Girandelli?" wollte Sally wissen.

"Weiß ich nicht", stieß der Gefangene aus. Da fühlte Sally, wie ein weiterer Feind heranstürmte, hörte ein metallisches Klicken und dann, wie etwas durch die Luft sauste und hinter ihr auf den Boden schlug und die letzten Meter bis zu ihr hinkullerte. Blitzschnell wirbelte sie herum, tauchte nieder und riss den eiförmigen Metallgegenstand hoch. Eine aus der Aufwärtsbewegung erfolgende Wurfbewegung, und das ihr geltende Todesei flog weit weit in den Gang zurück, aus dem es ihr zugeworfen worden war. Da umfloss sie wieder jene Schwärze des Ortsversetzungstunnels. Als sie nach dem Vorbeiflug an der schlafenden Göttin wieder auf die natürliche Daseinsebene zurückgekehrt war fand sie sich dreihundert Meter von ihrem letzten Standort entfernt. An den geborstenen Fensterscheiben am Haus, aus dem sie verschwunden war und den aus weiter Ferne an ihre hochempfindlichen Ohren dringenden Echos eines scharfen Knalls merkte sie, dass die Handgranate bereits gezündet hatte. Offenbar hatte die Göttin befunden, sie noch vor der Explosion in Sicherheit bringen zu müssen. Warum sie das nicht gleich beim Wurf der Handgranate gemacht hatte wusste Sally nicht. "Weil du noch Zeit hattest, sie zu ihrem Absender zurückzuwerfen. Jetzt hol dir den, der dich beschießen sollte", hörte sie die Gedankenstimme ihrer Herrin. Da wurde sie schon wieder in den Tunnel aus kreisender Schwärze hineingerissen. Doch als sie wieder daraus hervorpurzelte fand sie den ersten Gegner nur noch tot am Boden und roch die Ausdünstungen von Bbitteren Mandeln. Der kerl hatte sich eine Blausäure- oder Zyankalikapsel verpasst. Sie roch auch den Rauch, das verbrannte Fleisch und das Blut und brauchte ihren zweiten Gegner nicht zu sehen. Sie hatte beide überlebt.

"Finde heraus, ob bei euch eine undichte Stelle ist! Falls ja, bringe ich dich wieder zu Luna Dorada, die du als Lola kennst!" erfuhr sie von ihrer Herrin. Dann wurde sie durch den schwarzen Fernreisetunnel wieder da abgesetzt, wo sie kurz vorher das Haus verlassen hatte. Sich umsehend, ob wer ihre magische Reise mitbekommen hatte wartete sie einen Moment. Dann ging sie ganz ruhig weiter, bis sie einen Chrysler Voyager sah, der am Straßenrand geparkt war. Ein Mann Mitte dreißig lehnte an der Fahrerseite. Er hob die rechte Hand und ließ sie einmal gegen den Uhrzeigersinn kreisen. Das war das abgestimmte Erkennungszeichen. Sally ließ ihre linke Hand im Uhrzeigersinn kreisen. Als der Mann am Chrysler nickte ging sie auf ihn zu. "Wir müssen schnell machen. Wir bekamen gerade bescheid, dass jemand alle Betroffenen verraten hat. Gut, dass sie noch rechtzeitig gewarnt wurden. Öhm, haben Sie auch die Explosion gehört, die fünfhundert Meter von hier entfernt war?"

"Ich habe erst gedacht, jemand hat es auf mich abgesehen. Aber das war nicht in meiner Nähe", log Sally. Dann stieg sie in den Fond des geräumigen Wagens. Kaum saß sie sicher angeschnallt fuhr der Chrysler auch schon los.

__________

14. November 2002

Beth McGuire unterdrückte den ersten Impuls, die Phiole mit der blau gewordenen Lösung an die Wand zu schleudern. Jetzt hatte sie es amtlich, dass auch sie zu denen gehörte, die bei der Halloweenfeier in Miami neues Leben empfangen hatten. Jetzt waren es offiziell schon neunzehn Hexen, die auf diese Weise ungewollt zu Kindersegen kommen würden. Beth keuchte. War da jetzt nur ein Kind in ihrem Leib oder waren es zwei oder mehr, wie bei vielen anderen, die diese fragwürdige Ehrung von Vita Magica erfahren hatten? Sicher, sie würde damit nicht allein bleiben. Aber ihr kam das jetzt ganz ungelegen, schwanger zu sein. Die schlafende Göttin suchte wohl immer noch nach einem Weg, ihre Macht auszubauen. Dann war da immer noch dieser Vengor, von dem sie alle in den letzten Monaten nichts mehr gehört hatten, was kein gutes Zeichen war. Die Werwölfe und Wertiger gab es auch noch, und die jüngste Abgrundstochter war aufgewacht. Als Sprecherin der entschlossenen Schwestern Nordamerikas wurde sie gebraucht. Ja, sie musste eigentlich immer bereit sein, irgendwo einzugreifen. Mit einem ständig wachsenden Umstandsbauch war das sehr anstrengend und auch gefährlich. Sie durfte das, was da in ihr wuchs nicht gefährden. Sie durfte nicht mehr an sich alleine denken. Na wunderbar, dachte sie. Das fing ja schon gut an. Jedenfalls musste sie es allen Mitschwestern mitteilen. Sollte sie ihren Rang aufgeben? Sicher würde das Roberta Sevenrock, der obersten Sprecherin aller schweigsamen Schwestern in den Staaten und Kanada gefallen, wenn Beth ihren Rang aufgab. Doch Anthelia würde das wohl nicht gefallen, eine wichtige Mitschwester in hoher Rangstellung zu verlieren. Sie konnte dann finden, sie und damit ihr Ungeborenes zu töten. Weil Anthelia selbst nicht mehr zu töten war würde das für Beth übel ausgehen. Sie musste das klären.

Am Nachmittag dieses Tages ließ sie sich noch mal von Eudora Goodwin, der residenten Hebamme von Sunrise Beach, einem Zaubererdorf an der Südwestküste Floridas, untersuchen. Als diese ebenfalls eine begonnene Schwangerschaft feststellte und fragte, von wem Beth in glückliche Umstände versetzt worden war erzählte sie, mit wem sie in Miami in den ersten November "hineingetanzt" hatte. Als Eudora das hörte wiegte sie den Kopf. "Dustin Hindley heißt der Bursche. Der wohnt in Rossfield und spielt da für die Ravens. Könnte seinen Eltern missfallen, zu erfahren, dass er diese Party besucht hat. Na ja, aber irgendwie muss das geregelt werden, wer inwieweit mit Ihrem Nachwuchs zu tun haben darf, Beth."

"Können Sie mir schon sagen, wie viele das sind, ich meine, immerhin hat das wohl was mit Vita Magica zu tun."

"Im Moment kann ich das nicht sagen. Warten wir noch bis Ende Dezember. Dann kann ich erkennen, ob Sie ein, zwei oder mehr Kinder tragen, Beth", erwiderte Eudora Goodwin. Da Sie offenkundig noch kein Kind bekommen haben gestatten Sie mir bitte, Ihnen wertvolle Ratschläge zu geben, wie Sie mit ihrer besonderen Lage umgehen möchten, um den empfangenen Nachwuchs auch gesund zur Welt zu bringen!" Beth hörte sich alles an und nickte. Damit war ihre Rolle als aktive Mitstreitterin zunächst einmal erledigt.

Nach dem Besuch bei der Hebammenhexe bat sie um eine Unterredung bei Lady Sevenrock und Eileithyia Greensporn. Diesen altehrwürdigen Mitschwestern erzählte sie, was ihr widerfahren war und dass sie wohl zusehen musste, eine reine Beobachterrolle und Beraterrolle zu übernehmen. Darauf sagte Roberta Sevenrock:

"Ob das gewissen anderen Schwestern recht ist? Jedenfalls solltest du, wenn du schon mithilfst, neue Zaubererweltkinder in die Welt zu setzen, auch darüber nachdenken, in was für eine Welt diese hineinwachsen sollen, eine Welt der Gewalt, der ständigen Bedrohung und Unterdrückung oder eine Welt des Miteinanders, des Vertrauens und der Freiheit. Das darfst du so auch gerne denen weitergeben, die dich als ihre Mitstreiterin sicher glauben."

"Lady Roberta, Sie wissen ganz genau, dass eine freie Welt nur dann besteht, wenn die Bedrohungen durch die naturzerstörende Technik der Muggel und die Machtansprüche dunkler Magier verschwinden. Das tun sie aber nicht von selbst. Wenn es nicht mit Gewalt gehen soll, dann zumindest mit klaren Vorgaben."

"Du weißt genau, wie Lady Roberta das meint, Beth. Wir können und werden dich nicht dazu zwingen, Anthelias Weg zu verlassen. Aber du solltest schon überlegen, wohin er dich und wen auch immer da in deinem Bauch hinführt. Wenn du einen Jungen kriegen solltest oder zwei oder drei Jungs auf einmal, willst du denen nur weil sie Jungen sind eine untergeordnete Rolle zugestehen? Und wenn es ein oder mehr Mädchen werden sollte, willst du damit leben, sie womöglich zum Tode zu verurteilen, weil du sie zu gefährlichen Kämpfen und Handlungen anstacheln musst, nur weil Anthelia dir das abverlangt?"

"Anthelia weiß doch längst, dass sie mit ständiger Gewalt nichts erreichen kann. Sie will auch eine friedliche Welt, allerdings eine, die die natürliche Ordnung einhält, und da sind wir Hexen nun mal in der Hauptverantwortung, weil wir das Leben auf die Welt bringen und es ernähren. Also sollten wir auch bestimmen, wie die Menschheit sich weiterentwickelt", sagte Beth. "Im übrigen denkt ihr zwei doch ähnlich, du, Schwester Eileithyia und du, Lady Roberta. Denn unsere Sororität steht doch genau dafür ein, eine von Hexen geführte Weltordnung zu errichten."

"Ja, nur dass wir auf Vernunft, Einsicht und Überzeugung setzen und deine Fraktion und vor allem Anthelias Spinnenschwestern auf Zwang, Gewalt und Furcht vor Angriffen auf Leib, Seele und Angehörige. Das haben wir Daianira schon beizubringen versucht, dass diese Auffassung in die Selbstvernichtung führt, und Anthelia hätte es fast gelernt, wenn sie ein wenig mehr Demut aufgeboten und sich mit der selbstverschuldeten Lage abgefunden hätte und Daianiras Tochter geworden wäre."

"Wenn sie das geworden wäre gäbe es aber noch Valery Saunders, den blauen Blutfürsten, die grünen Feuerskelette von Alexandra Pabblenut und was weiß ich noch alles, was euch beiden genauso zugesetzt hätte wie mir. Und was Vita Magica angeht, leben die etwa nach der Ordnung, jedem Menschen seine Freiheit und seine selbstbestimmte Lebensweise? Nein, das tun die nicht. Also muss jemand da sein, die denen zeigt, dass irgendwo die Grenze ist. Dass die mich zu dieser Party eingeladen und mich wie eine stierige Zuchtkuh mit einem angestachelten Zuchtbullen zusammengestellt haben ist für mich der Beweis, dass diese Banditen Angst haben, wir, also die entschlossenen Schwestern, könnten denen doch noch den Tag verderben. Deshalb, sollte ich da unten drin jetzt ein Mädchen ausbrüten oder gar zwei, sehe ich keinen Grund, der oder denen nicht beizubringen, dass wir einen Kampf führen, um die Menschheit zu erhalten, die mit und die ohne Zauberkraft. Und wenn's wirklich ein Junge oder zwei oder drei Brüder sind, welche da in mir untergebracht sind, dann werde ich denen beibringen, dass wir Hexen zu respektieren und anzuerkennen sind und unsere Verantwortung uns auferlegt, die Welt zu einem geordneten Ort zu machen."

"Gut gebrüllt, Löwin!" erwiderte Eileithyia mit gewissem Spott in der Stimme. "Ich habe mehrere Kinder und Enkel großgezogen und auch denen beigebracht, dass Zauberer nicht die Herren der Welt sind, sondern immer im Gleichklang mit den Hexen die magische Weltordnung bestimmen, ja aber auch in vielen Fragen Hexen mehr Verantwortung haben, sie sich aber nicht minderwertig oder gar untergeordnet fühlen sollen, es sei denn, sie wollen das so."

"Davon ist bei deinen Enkelsöhnen aber nicht viel zu merken, Schwester Eileithyia. Soweit ich weiß, meint dein Enkel Eurylochos, dass wer das Gold verdient auch bestimmen darf, was in seinem Haus passiert, und dein Enkel Anaxagoras hat auf jedem Kontinent eine Hexe zur Mutter gemacht, ohne sie zu heiraten. Ist das respektvolles Miteinander?" begehrte Beth McGuire auf.

"Offenbar zeitigt der Umstandswechsel bereits die ersten Anwandlungen", knurrte Roberta, während Eileithyia keinen Ton sagte. Beth fragte deshalb, ob sie noch irgendwas wissen oder tun solle. "Ja, sieh zu, dass Anthelia früh genug erfährt, dass du nicht mmehr für dich alleine entscheiden kannst. Vielleicht erweist sie dir die Gnade und entlässt dich aus ihren Diensten", sagte Roberta Sevenrock. Beth sah nicht ein, auf diese klar zu erwartende Bemerkung zu antworten. Sie nickte nur und verließ das Haus der Stuhlmeisterin der nordamerikanischen Schwestern.

"Wie viele sind noch betroffen, Schwester Eileithyia?" fragte Roberta Sevenrock.

"Die Schweigepflicht verbietet mir, das zu erwähnen. Lies hierfür bitte die Zeitungen, Lady Roberta", sagte Eileithyia Greensporn.

"Ja, und Chrysostomos ist weiterhin verschwunden? Möchtest du ihn genauso suchen lassen wie es mit den anderen gemacht wurde?"

"Sagen wir es so, Lady Roberta. Ihn zu suchen und zu erfahren, dass diese Verbrecher ihn aus purer Vergeltungssucht in dieses dubiose Karussell gesteckt haben brächte mir nicht mehr ein, als dass ich meinem Schwiegersohn und meiner Tochter erklären muss, was mit ihm passiert und dass er gegen seinen Willen Kinder zeugen muss, womöglich mit Hexen, denen er bei freier Entscheidung Meilen weit aus dem Weg gehen würde. Denkst du, mir gefällt das, dass jemand meint, meine Blutlinie durch alchemistischen oder schwarzmagischen Zwang künstlich zu verbreitern und zu verlängern? Doch die beiden Fehlschläge von Sandhearst sind Warnung genug, da nicht noch mal mit Brachialmagie dranzugehen. Ich hoffe aber immer noch, dass wir eines Tages die Drahtzieher dieser Untaten zur Verantwortung ziehen können."

"Ich sage dir was, was ich eigentlich erst bei der nächsten Vollversammlung sagen wollte, Schwester Eileithyia: Ich erhielt gestern eine Eule, in der ich ultimativ aufgefordert werde, bis zum ersten Februar des kommenden Jahres von einem Zauberer ein Kind zu empfangen, ob als Ehefrau oder ledige Hexe. Widrigenfalls wollen diese illustren Zeitgenossen mich mit wem zusammenbringen. Ich habe also wahrhaftig auch ein Ultimatum bekommen und denke nicht daran, mich davon einschüchtern zu lassen. Also sollten wir rauskriegen, wie wir diese Bande zu fassen kriegen. Leider komme ich deshalb nicht drüber weg, dass Schwester Beth in diesem einen Punkt recht hat und reine Vernunft da nicht ausreicht."

"Ja, aber Gewalt hat auch nichts bewirkt", wusste Eileithyia die Antwort. Roberta nickte zustimmend.

__________

Philonyctes mied die Nähe der drei Grauhäutigen mit den silbernen Fangzähnen. Von denen ging der Hauch von vielfachem Tod aus. Sie waren hier, um die Arbeiten zu schützen. Hundert Diener der Göttin saßen in den vielen Zellen, Kellerräumen und den sonnenundurchlässig gemauerten Turmzimmern, um mit Hilfe von Vergrößerungsgläsern von winzigen Bildern Texte auf Pergament zu bringen. Da sie dabei die schwarze Tinte mit eigenem Blut anreicherten war ihr Nahrungsbedarf mindestens dreimal so groß wie sonst. Immer wieder mussten Philonyctes' Leute in den Dörfern der Umgebung junge Rinder und Schweine zusammenstehlen. Das würde sicher bald auffallen, und dann hatten sie entweder die mit fauchenden und heulenden Flugmaschinen durch die Luft reitenden Rotblüter oder die Zauberstabschwinger am Hals. Was dachte sich die Göttin dabei, den Hort des gesammelten Wissens so früh zu gefährden?

"In zwei Wochen sind alle Seiten abgeschrieben. Dann kann das Original zerstört werden. Und dann kann die Hohepriesterin diesen Ort für unsere Feinde unangreifbar machen", antwortete die Göttin.

"Wenn wir bis dahin nicht enthüllt sind und von den Feinden bedrängt werden", erwiderte Philonyctes in Gedanken. "Das liegt bei dir, ob ihr entdeckt und bestürmt werdet. Also sieh zu, weniger aufzufallen!" erwiderte die Göttin. Philonyctes wagte keinen Widerspruch.

__________

Die schlafende Göttin, so nannte sie sich, weil sie nicht aus dem von ihr selbst erwählten Kerker entkommen und mit eigenen Händen und Sinnen handeln konnte. Doch sie schlief schon längst nicht mehr. Denn jede Nacht wurde ein rotblütiger Mensch zu einem Kind der Nacht, von ihrer Kraft durchdrungen und erfüllt. Sie hatte schon zwanzig ihrer neuesten Helferinnen in Stellung gebracht. Die Idee, in Regierungsbehörden, Verbrecherbanden und Unternehmen Töchter der Nacht einzuschleusen, die ihre Augen, Ohren, Hände und Münder sein sollten, war ihr gekommen, als sie aus den vielen in ihr vereinten Seelen die Gedanken eines russischen Nachtsohnes ausgefiltert hatte, der vor dreißig Jahren als Agent des KGB für die Ausbildung von jungen Agentinnen zuständig gewesen war, die als käufliche Damen auf westliche Unternehmer, Beamte und Geheimagenten angesetzt werden sollten. Diese Idee fand sie sehr interessant, zumal sie trotz all der in ihr konzentrierten Macht immer noch leichteren Zugang zu den Körpern ihrer Töchter als zu denen ihrer Söhne finden konnte. Während sie die männlichen Abkömmlinge zu Kriegern und Handwerkern ihrer hohen Mission ausbildete und umformte, wollte sie ihre alten und neuen Töchter zu Kundschafterinnen und Befehlsübermittlerinnen machen. Mit Eleni Papadakis alias Nyctodora hatte sie begonnen. Jetzt gehörten ihr auch schon eine Fernsehjournalistin aus Moskau, eine chienesische Geheimagentin, die eigentlich bei den Engländern spionieren sollte und eine FBI-Agentin, die ein windiges Finanzunternehmen überwachen sollte. Doch diese Mission war an einem Agenten aus Langley gescheitert, der davor stand, überzulaufen. Doch jetzt war Night Swallow in einem sicheren Haus vom FBI. Die Vorstellung, doch noch ein eigenes Kind in dieser Behörde zu haben erfreute sie, nachdem es ihr damals nicht gelang, den Zauberer Zachary Marchand zu ihrem Sohn zu machen. Aber womöglich wäre auch er bei dem Opfer dieses verfluchten Sonnensohnes aus seinem Körper gerissen worden und nun untrennbar mit ihr verbunden, ohne ihr in der Außenwelt weiter von Nutzen zu sein.

Was ihr ein wenig Sorgen bereitete war der Umstand, dass ein nicht ihrer Herrschaft unterworfener Hellmondler namens Robur über eine seiner Neffen mitbekommen hatte, dass in Griechenland ein altes Kloster von ihr, der Göttin, beansprucht wurde. Wo genau das Kloster lag wusste der als Räuber berüchtigte Nachtsohn nicht. Aber allein die Tatsache, dass jemand es wusste war unerfreulich. Sie wusste jedoch, dass erst, wenn die tausend Erkenntnisse der Söhne der Nacht vorschriftsmäßig kopiert worden waren, die Schutzzauber aufgebaut werden konnten. Denn die Erkenntnisse stellten zum Teil eigene Zauberformeln dar, die den Ort weihten, an dem Nachtkinder Zuflucht suchten. Nur wenn sie vollständig und in der richtigen Reihenfolge in das Buch eingefügt waren konnte Eleni das Kloster mit Zaubern von Feuer und Dunkelheit gegen feindliche Entdeckung und Erstürmung schützen. Es galt also, nicht zu verraten, wo es lag und jeden Versuch der Ermittlung zu unterbinden. Sie ärgerte sich, dass der Räuber Robur Blutbart ihre beiden ausgesandten Schergen überlistet und dann enthauptet hatte, bevor sie ihn dazu zwingen konnten, von ihrem Blut zu trinken, um ihr Zugang zu ihm zu verschaffen, ihn auch für den Ortsversetzungszauber erfassbar zu machen.

Ihr war ebenfalls bewusst, dass sie es sich mit den ihr noch nicht unterworfenen Nachtkindern verderben konnte, wenn diese wussten, was sie vorhatte. Die könnten sich dann dazu entschließen, im Namen von Frieden und Rücksichtnahme mit den Rotblütlern zu paktieren. Doch ihr fehlte im Moment noch ein Mittel, die ihr noch nicht unterworfenen durch Zwietracht zu entzweien, um jeden vereinten Widerstand gegen sie im Keim zu ersticken. Doch bald würde sie dieses Mittel haben, und dann würde sie alle Nachtkinder der Welt in zwei oder vier Gruppen spalten, die sich gegenseitig belauerten oder bekämpften.

Gerade fühlte sie, wie eine weitere Tochter der Nacht zum neuen Leben erwachte, Chiara Belligiorni, die Tochter eines einflussreichen Sizilianers. Für eine Tochter der Nacht war ihr Menschenname zu rein und hell. Die musste anders heißen. Sie überlegte kurz. Dann legte sie ihr den Namen Stellarossa zu. Sie dachte dabei an die Zeit, wo sie den Campestrano-Clan unter Kontrolle gehabt hatte. Bald würde sie wieder einen Clan des organisierten Verbrechens unterwandern und dann zu einem Teil ihres eigenen Volkes machen.

__________

15. November 2002

Soso, dann bist du also auch eine der unfreiwilligen Legehühnchen von Vita Magica", ergoss Anthelia ihren Spott über Beth McGuire, als diese ihr von ihrer ungeplanten Lebensumstellung berichtet hatte.

"Wir müssen rausfinden, wer diese Banditen sind und die dann selbst in Wickelkinder zurückverwandeln oder besser in Nachttöpfe, Schnuller oder Windeln, damit die die Folgen ihrer miesen Verkuppelungen auszustehen haben", schnaubte Beth. Anthelia grinste. Sie dachte daran, dass für derartige Bestrafungen früher Patricia Straton zuständig war. Doch die musste jetzt als eine brave Tochter der Sonne aufpassen, nur den Menschen nützliche Sachen zu machen, ja hatte vor kurzem erst für diese aus dem Dunkel der Legende ans Licht der Wirklichkeit gekommene Menschengruppe zwei neue Artgenossen geboren. Doch sie verstand, was Patricia daran gefunden hatte, Gegner nicht zu töten, sondern denen einen neuen Verwendungszweck zu geben.

"Da diese Bande sich auch gegen das Entscheidungsrecht der Hexen vergeht, von wem eine Hexe Kinder bekommt oder nicht, sollten diese Leute sich besser wünschen, dass die Vertreter der Zaubereiministerien sie zu fassen bekommen. Bei denen haben die dann ja noch gewisse Rechte." Sie ließ diese Worte erst mal sacken. Dann schnitt sie ein anderes Thema an:

"Wie ist das mit der Absicherung von magielosen Wissenschaftlern, die sich mit Krankheitserregern und Erbgutveränderungen beschäftigen? Hast du da von den anderen Schwestern mehr zu erfahren?"

"Das LI hat in allen amerikanischen Universitäten diese VBR-Kristalle versteckt. Da kommt keiner der normalen Vampire mehr in die Nähe eines möglichen Opfers. Mehr weiß auch ich nicht", sagte Beth McGuire.

"Ich habe beschlossen, die unangenehme Erfahrung im Duell mit Daianira zu nutzen, um eine Vermutung auf Verwendbarkeit zu prüfen, Schwester Beth. Mittlerweile weiß ich, wie sie es damals angestellt hat, mal eben einen schwarzen Spiegel zu beschwören. Wenn stimmt, dass diese mit Unlichtkristallen imprägnierten Blutsauger selbst wie schwarze Spiegel alle auf sie wirkenden Flüche vielfach verstärkt auf den Anwender zurückwerfen, so könnte es sein, dass die selbst wie materiell gebundene Flüche sind, die bei Berührung mit einem schwarzen Spiegel mit einem vielfachen der eigenen Kraft zurückgeworfen werden. Da der schwarze Spiegel nur von solchen Zauberkundigen erschaffen werden kann, die keine Angst vor dem Töten anderer haben kommen im Grunde nur alle die in Frage, die schon mal bewusst getötet haben und dies nicht bereut haben, also deine entschlossenen Schwestern und wir, der Spinnenorden."

"Es soll auch einen weißen Spiegel geben, höchste Schwester", sagte Beth. Anthelia nickte. Der konnte jedoch von noch weniger Leuten erzeugt werden, solchen, die zum einen nie gewollt und bewusst Leben genommen hatten und selbst mehrere Kinder und bestenfalls auch Enkelkinder hatten, die noch nicht bewusst und in voller Absicht getötet hatten. Sie vermutete, dass Ashtarias Kinder diese Macht aus ihren Erbstücken hervorrufen konnten. Dann meinte Beth:

"Was würde mit einem Fluch oder Fluchträger passieren, wenn der von einem Schwarzen Spiegel gegen einen anderen schwarzen Spiegel geschleudert wird und wieder zurückgeprellt wird?"

"Ja, diese Frage habe ich mir auch schon gestellt. Vielleicht würde er immer schneller und immer heftiger hin und hergeworfen, bis entweder die beiden Spiegel oder der Fluchträger zerstört wird. Da würden dann aber zwei Spigel nicht ausreichen, sondern mindestens vier nötig sein, für jede Himmelsrichtung einer, und möglicherweise acht dahinter, um bei Vernichtung eines der Spiegel den auftreffenden Fluchträger erneut zurückzuschleudern. So sei es. Da du ja jetzt offiziell mindestens für ein neues Leben verantwortlich bist werde ich dich bei diesen Erprobungen nicht einplanen, sondern dir die Endergebnisse mitteilen, die du dann auch gerne den anderen Schwestern verkünden darfst. Das sollte dieser besserwisserischen Roberta Sevenrock zeigen, dass es wichtig ist, mit mir gut auszukommen."

"Apropos gut auskommen, ein neuer Burgfriede mit dem Zaubereiministerium ist wohl nicht möglich, oder?"

"Mit Dime, der vorgestern noch in allen Zeitungen getönt hat, er würde jede Hexe bis auf den letzten Knut belangen, die dem Ministerium in den letzten zwanzig Jahren unnötige Kosten verursacht hat? Der soll froh sein, wenn er nicht das nächste Opfer von Vita Magica wird. Aber ich hege die dumpfe Vermutung, dass er es schon längst wurde, wenngleich auch auf eine andere Weise als bei den anderen üblich."

"Wie meinst du das, höchste Schwester?" wollte Beth wissen.

"Kann ich hier und jetzt noch nicht klar beschreiben. Doch ich werde den Eindruck nicht los, dass diese Bande genau darauf abgezielt hat, ihn zum Minister zu machen. Falls dies wirklich in ihrem Interesse war dann wohl nur, wenn sie etwas oder jemanden haben, mit dem sie ihn nach ihrem Willen lenken können, so wie wir es mit Minister Davenport geschafft haben."

"Verstehe. Aber das sollten wir dann echt nicht öffentlich diskutieren", erwiderte Beth. Dann sagte sie: "Wenn du sonst nichts für mich zu tun hast, höchste Schwester, möchte ich mich jetzt gerne zurückziehen. Ich muss mit meiner Familie reden, wie das mit dem Neuen sein soll. Meine Mutter meinte schon, dass ich den Vater des Kindes oder der Kinder vorher zu heiraten hätte, weil das für die Entwicklung besser sei als als ledige Mutter zwischen Arbeit und Aufzucht pendln zu müssen. Bis dann, höchste Schwester", sagte sie. Anthelia nickte und winkte ihr zum Abschied.

Als sie alleine war dachte Anthelia wieder daran, ob sie selbst einmal Mutter sein würde. sie liebte die Liebe, einvernehmlich und leidenschaftlich. Aber ob sie auch ein Kind bekommen konnte wusste sie nicht. Entweder hatten die Tränen der Ewigkeit sie unfruchtbar gemacht, weil sie alles körperfremde, was keine Nahrung war, unschädlich machten, oder der in Naaneavargia eingeflossene Anteil Anthelia hatte sie wieder empfängnisfähig gemacht. Sie wusste aber, dass sie dann nur von einem Zauberer Kinder bekommen wollte. Aber der war glücklich verheiratet und kam nicht zu kurz, was die körperliche Liebe anging. Ihn zu überzeugen, ohne ihm sein Gedächtnis verändern zu müssen und ohne die Hexe an seiner Seite zu töten erschien ihr schwierig. Aber sie hielt es nicht für unmöglich. Bis dahin würde sie tunlichst aufpassen, immer zu verhüten, auch wenn sie bisher gedacht hatte, dass ihre besondere Natur eine Empfängnis verhinderte.

__________

16. November 2002

Robur Blutbart war nach dem Überfall auf ihn nicht mehr in sein eigenes Jagdrevier bei Linz in Österreich zurückgekehrt. Jetzt wollte er wissen, wo genau diese selbsternannte Göttin der Nachtkinder ihr neues Quartier aufgemacht hatte. Wenn er das rausfand würde er alle freien Nachtsöhne zusammentrommeln und diesen Unterschlupf stürmen, notfalls auch mit Feuer, obwohl gerade dieses einer der gefährlichsten Feinde aller Nachtkinder war. Aber diese Banditen hatten ihn umbringen wollen. Das nahm er sehr persönlich. Jetzt hatten die einen gnadenlosen Feind mehr in der Welt. Selbst Schuld!

Der Weg von der britischen Insel rüber aufs Festland war der anstrengendste, weil er hier immer weit genug über den wogenden Wellen der Nordsee fliegen musste. Flog er zu tief, würde die Kraft fließenden Wassers seine Ausdauer anfressen. Zurück auf dem Kontinent benutzte er die Verkehrsmittel der Magielosen, wobei er mit seinem den Willen unterdrückenden Blick Autofahrer und Lokomotivführer dazu zwang, ihn mal hier und mal dorthin zu bringen. Er Suchte alte Weggefährten und Verwandte auf, von denen er wusste, dass sie nicht unter dem erhabenen Einflusss des heiligen Mitternachtssteines entstanden waren. Nur von solchen konnte und durfte er Hilfe erwarten. Als er bei einem der von ihm besuchten jedoch die Ausstrahlung des mächtigen Steines fühlte konnte er gerade noch durch Werfen eines Molotowcocktails entwischen. Denn sonst hätte ihn der übergelaufene sicher im Namen seiner Abgöttin umgebracht.

Jedenfalls schaffte er es, an die hundert Getreue zu versammeln, mit denen er dieses Kloster in den griechischen Bergen heimsuchen wollte, um im Namen aller freien Nachtkinder alle geklauten Texte aus dem Buch der tausend Erkenntnisse zurückzuholen oder zu vernichten.

"Leute, wir müssen ganz schnell sein. Die Burschen wissen schon, dass wir denen nachjagen. Die werden sich vorbereiten, wenn die nicht eh schon drauf gefasst sind, dass wer die findet und ausräuchern will. Aber das ist jetzt unsere Sache und nicht die von den Rotblütlern. Wir müssen denen zeigen, dass wir uns nicht zu Sklaven einer irrsinnigen machen lassen, die wohl irgendwie mit dem heiligen Stein verbacken wurde. Lieber den Tod als die Sklaverei. Sieg oder Tod!" rief Robur den um ihn versammelten Artgenossen zu. Diese riefen zurück:

"Siegen oder sterben!" Damit war der Angriffstrupp eingeschworen, der der schlafenden Göttin Einhalt gebieten wollte.

__________

Es gab Zeiten, wo sie sich ärgerte, ein körperlich drei Jahre altes Mädchen zu sein. Das war dann, wenn sie den Raum verlassen musste, wenn die "großen Hexen" mal wieder was weltbewegendes zu besprechen hatten. Das war dann, wenn sie merkte, wie klein sie war, um an alles notwendige heranzureichen, und das war so, wenn Leute meinten, ihr über den Kopf streichen zu müssen und ihr zuzusäuseln, wie niedlich und fein sie doch war.

Dann gab es Zeiten, da genoss sie dieses neue Leben, dass sie führte und gab sich der Geborgenheit und der von ihr ferngehaltenen Belastung mit den großen Dingen der Welt hin. Sie genoss es, wenn sie auf dem Schoß ihrer Mutter saß und ihren Kopf an ihren Körper lehnte. Sie lauschte dann gerne dem Herzschlag und dem Atem und dachte an die doch irgendwo auch schönen Phasen im warmen Mutterschoß zurück. Sie genoss es, unbekümmert und ohne Rücksicht auf Anstandsregeln zu toben und zu lachen, wenn sie mit anderen Kindern ihres körperlichen Alters zusammentraf. Sich einfach in die Kindheit hineinwerfen, so hatte es ihre offizielle Urgroßmutter Eileithyia genannt. "Diese Tage gehen so schnell vorbei, und irgendwann sind sie weg", hatte die schon oft gesagt. Ja, bei ihrer Urgroßmutter Thyia saß sie auch gerne auf dem Schoß oder ließ es sogar zu, dass diese sie auf den Schultern trug. In einem Anflug aus frühkindlicher Spielerei hatte sie ihr dabei mal das silberne Haar zu merkwürdigen dünnen Zöpfen gedreht. Oma Thyia hatte zwar kurz und laut geschimpft, dabei aber immer so verhalten gelächelt.

Heute war aber wieder einer der Tage, an denen sie ihre bewusst zu verlebende Kindheit verwünschte. Denn es waren wieder vier Hexen ins Haus gekommen, die mit ihrer Mom Theia reden wollten. Sie hatte mit ihren empfindlichen Ohren aufgeschnappt, dass es um die Vampire der selbsternannten schlafenden Göttin und um eine neue Möglichkeit, die Kristallstaubvampire zu erlegen gehen sollte. Dann hatte ihre Mom die Tür zugemacht und sie damit ausgeschlossen. Was sollte es? Sie hatte ja noch ein paar Ausgaben des Kristallherolds, die sie nicht komplett durchgelesen hatte.

In ihrem Zimmer zog sie die Ausgabe des Kristallherolds von gestern unter der Matratze ihres Kinderbettes hervor. Hoffentlich bekam sie zu Weihnachten schon ein Bett ohne Gitter! Dann setzte sie sich auf ihren bunten, hochlehnigen Kinderstuhl, auf dem sie bei Besuchen von auswärts immer brav und aufmerksam irgendwelcher Musik zuhörte. Dann las sie die Schlagzeilen der Zeitung. Die neue französische Zaubereiministerin Ventvit würde am 22. November herüberkommen, um Minister Dime zu begrüßen. Bluecastle war nach seinem Aufenthalt im HPK für Arbeits- und eigenständig lebensfähig befunden worden und kehrte nun in seinem Unternehmen wieder den großen Chef heraus. Ein hierzu befragter, namentlich unerwähnt bleiben wollender Mitarbeiter streute die Vermutung, dass Bluecastle wohl damit überspielen wollte, dass da gerade zehn oder mehr Kinder von ihm auf dem Weg waren und er wohl nicht erfahren würde, welche Frau von ihm Kinder bekam und welche Möglichkeiten er haben würde, an deren Erziehung mitzuwirken. Ein anderer ebenso ungenannt bleibender Mitarbeiter behauptete, dass Bluecastle nur die Zeit aufholen wollte, die er verloren hatte. Nach Arbolus Gildfork wurde noch gesucht. Hierzu hatte das australische Zaubereiministerium noch einmal klargestellt, dass dies keine Angelegenheit der USA alleine sei und dass jede Aktion, die das Auffinden des amerikanischen Staatsbürgers zum Ziel hatte, mit den Australiern abgestimmt werden sollte. Denn sollte sich herausstellen, dass die Entführer Gildforks australische Helfer oder Sympathisanten hätten müssten diese vor Gericht gestellt werden, unabhängig wie jemand zur Vermehrungsphilosophie von Vita Magica stehe. Natürlich wurde gefragt, ob sicher sei, dass Vita Magica hinter Gildforks Entführung stehe oder ob Gildfork nicht doch selbst den Portschlüssel hergestellt habe, um sich aus einem für ihn langweiligen oder zu anstrengenden Leben abzusetzen und ihm Vita Magica dabei als Sündenbock gerade recht kam. Phoebe Gildfork, die gerne wissen wollte, ob sie noch Ehefrau oder schon Witwe war oder erst in einem Jahr ihren Mann wiedersehen würde hatte der scharfohrigen Linda Knowles dazu gesagt, dass jeder Tag, an dem ihr Mann nicht in der Bronco-Fabrik sei, zehntausend Galleonen verlorengingen. Sollte herauskommen, dass Vita Magica oder die Spinnenschwestern ihn entführt hatten, würde sie diese Summe mal alle Tage plus fünfzigtausend Galleonen Schadensersatz einklagen. Das passte wieder zu Phoebe Gildfork, dachte Selene Hemlock. Als sie dann noch las, dass mittlerweile zwanzig von dreißig Hexen, die bei der bereits ausführlich diskutierten Halloweenfeier in Miami mitgemacht hatten im ersten Schwangerschaftsmonat waren verzog die körperlich gerade drei Jahre und vier Monate alte Selene das Gesicht. Demnächst würde niemand mehr irgendwo mit Leuten feiern wollen, die er oder sie nicht kannte. Was hatte das mit einer Besserstellung der magischen Menschen zu tun, wenn eine derartige Belauerungshaltung angefacht wurde?. Erfrischend fand sie dagegen das Interview mit Venus Partridge, die im Einvernehmen mit der Vereinsführung der Viento del Sol Windriders erklärte, für die nächste Quidditchweltmeisterschaft in Italien zu trainieren und hierfür alle zwei Wochen nach New Mexico reiste, wo das Trainingsfeld lag. Auf die Frage, ob sie deshalb das Angebot der Spiele- und Sportabteilung angenommen habe, um nicht ständig mit ihren kleinen Schwestern zu tun zu haben hatte sie geantwortet: "Ich habe nichts gegen meine Schwestern. Ich finde sie süß und quirlig. Außerdem können die nichts dafür, dass es sie gibt. Ich trainiere für Quidditch und die Weltmeisterschaft, weil ich wissen will, ob die USA mehr als nur zwei Spiele durchhalten können. Da ich gelernt habe, nichts von anderen zu fordern, was ich nicht auch selbst machen kann, stand fest, dass ich mithelfen will, dass wir zumindest vier Spiele durchhalten."

"Selene, hältst du es für möglich, die Unlichtkristallvampire auch mit einer Anordnung von schwarzen oder weißen Spiegeln zu bekämpfen?" empfing sie die Gedankenstimme ihrer Mutter Theia. Selene straffte sich. Schwarze Spiegel waren eine gemeine Waffe der schwarzen Magie. Darauf auftreffende Flüche prallten fünfmal so stark auf den Urheber zurück. So ähnlich war ja Anthelia in Daianiras Uterus geraten und in letzter Konsequenz sie selbst zu Selene Hemlock, Theia Hemlocks Tochter geworden. Schon sehr heftig, ihr diese Frage zu stellen. Doch andererseits verabscheute sie die Kristallvampire. Sie zu töten war nur möglich, wenn in ihrer Nähe mindestens ein wenige Minuten bis wenige Tage altes Menschenkind laut schrie, je mehr Kinder, desto schneller verging der Kristallvampir. Da Einsatztruppen schlecht mit Neugeborenen auf den Armen herumreisen konnten war diese Methode also sehr schwer anzuwenden. Doch wer einen schwarzen Spiegel erzeugen wollte musste völlig skrupellos sein und bereits einmal aus eigenem Willen Menschen gequält oder gar getötet haben. Solchen Zeitgenossen die Jagd auf die Kristallstaubvampire anzuvertrauen hieß einen Dementor auf Jagd nach Sabberhexen zu schicken. Schließlich fand sie eine Antwort, mit der sie leben konnte:

"Der zu bekämpfende Vampir muss entweder in ein Viereck aus schwarzen Spiegeln getrieben werden oder in einen Gang, der von schwarzen Spiegeln begrenzt wird. Dann geht es vielleicht."

Eine Minute später kam die Antwort zurück: "Wir wissen, wo einer von denen gerade ist. Wir probieren das aus. Danke dir!"

Als die Besucherinnen gegangen waren und Theia wieder mit Selene allein war meinte sie: "Ich hab's ausprobiert. Ich kann noch einen schwarzen Spiegel machen, trotz meiner Zeit als Lysithea."

"Soll mich das jetzt beruhigen, Mom?" fragte Selene verdrossen dreinschauend.

"Mädchen, in Kalifornien und Texas bekämpfen sie Buschbrände auch mal mit Feuer. Das wissen wir zwei ganz gut, dass längst nicht alles mit gut Zureden erledigt werden kann."

"Ja, weiß ich. Ich mag die Kristallvampire auch nicht leiden. Wer sowas wird legt's darauf an, dass wer ihn umbringen will", schnarrte Selene.

"Wenn er wirklich stirbt. Am Ende wird diese Unlichtkristallmagie nur von ihm abgelöst", sagte Theia.

"Na klar, und dass du mich bekommen hast hat der Regenbogenvogel beschlossen", grummelte Selene. Darauf bekam sie eine ihr sichtlich zusetzende Antwort:

"Nein, das hast du ganz allein beschlossen, als du auf der Insel warst und meintest, diesen uralten Fluchumkehrzauber zu machen, ohne zu wissen, womit du es zu tun hattest." Selenes Gesicht wurde lang und länger. Sie nickte schuldbewusst und schwieg. Ja, sogesehen hätte sie damals eigentlich nicht einfach so den Fluchumkehrer aufrufen dürfen, und wenn schon, dann hätte sie die daraus entstandenen Folgen wortwörtlich tragen und nicht gleich weil es sich so leicht anbot abschieben dürfen. Doch über einen umgestürzten Kessel lohnte kein Klagen mehr.

Selene lag schon in ihrem Bett, als es mal wieder an ihrem Fenster kratzte. Keine zwanzig Sekunden später war ihre Mutter bei ihr im Zimmer und öffnete das Fenster. Diesmal brachte Silver Gleams Fledermaus einen Brief, in dem stand, dass die Sekte der schlafenden Göttin in den griechischen Bergen eine Festung oder ein verlassenes Kloster zum neuen Stützpunkt machen wollte und dort wohl die Texte aus der Bibliothek der Kinder der Nacht abschreiben wollte, damit die Originalbände anschließend zerstört werden konnten. Wie üblich schrieb Silver Gleam an sie, Selene, ihre jungfräuliche Erweckerin.

"Hier, da ungefähr ist es wohl", sagte Theia und deutete auf die Zeichnung auf der Rückseite des Briefes. "Sagst du das dem neuen Zaubereiminister, Mom?" fragte Selene.

"Langsam solltest du mich aber kennen, dass ich sowas wie die Bekanntschaft mit einer Vampirin nicht dem Ministerium melde. Nein, das kriegen nur Oma Thyia und deren langjährige Freundinnen und Mitschwestern zu lesen, Selene. Oder willst du, dass Minister Dime fragt, wieso du eine Vampirin aus langem Schlaf aufgeweckt hast?" Selene schüttelte heftig den Kopf.

Theia nickte ihrer Tochter zu und lies sie einen kurzen Brief an Silver Gleam schreiben. Diesen schickte sie mit der Fledermaus zurück in die Nacht. Mit Hilfe des im dünnen Drachenhauthalsband der Fledermaus verbauten Sonderportschlüssels, der schon eher einem Transitionsturbo bei Landfahrzeugen gleichkam, konnte diese dann, wenn sie über dem offenen Meer flog, bis zum nächsten Erdteil in Flugrichtung versetzt werden. Das war eine geniale Erfindung der Selene noch nicht vorgestellten Schwester, die auch Silver Gleams silbernen Sarg geöffnet hatte.

__________

Anthelia wachte auf, als jemand in Gedankenihren Namen rief. Es war Beth McGuires Gedankenstimme. Anthelia setzte sich auf und lauschte. Dann antwortete sie. "Diese neue Nocturnia-Bewegung will wohl die Bibliothek der Vampire auslagern."

"Und, was sagen die Langzähne dazu?" fragte Anthelia ihre im nächsten Jahr Mutter werdende Mitschwester.

"Die sind natürlich sehr ungehalten. Deshalb wissen wir das ja überhaupt. Unser heimlicher Kontakt zu den Blutsaugern hat das gemeldet, sehr zuverlässig und wohl unbedingt nachzuprüfen."

"So, und wir sollen denen die kochenden Kürbisse aus dem lodernden Drachenmaul holen?" fragte Anthelia zurück. "Oder hat das LI auch schon diese Mitteilung erhalten?"

"Wir wissen nichts von Kontakten von denen zu irgendwelchen Vampiren, höchste Schwester. Also, was machen wir?"

"Was wohl, die Mitschwestern da informieren, wo diese Festung sein soll. Wo genau also?" Sie erfuhr es. "Na schön, jeden Berg vom Olymp abwärts überprüfen. Das wird dauern", gedankengrummelte Anthelia. Doch ihren Mund umspielte ein verwegenes Lächeln. Sie dachte daran, dass sie eh die Erprobung der schwarzen Spigel durchführen wollte. Sie hatte da was von einem Kristallvampir in Honduras gehört. Seitdem die schwarze Spinne den Totentänzer Stillwell gestoppt hatte war Anthelias Orden südlich des Rio Grande wieder wesentlich besser angesehen als nördlich davon. Allerdings hatte sie auch über zwanzig Zwischenstellen, von denen drei Strohleute waren, erfahren, dass bei Sichtung solcher Kristallstaubmonster eine gewisse Maria Valdez eingesetzt wurde, die als verschollene und wundersamerweise wieder aufgetauchte Tochter Ashtarias ohne eigene Zauberkräfte lebte. Aber ihr magischer Talisman half ihr wohl, ohne eigene Magie im Körper auszukommen. Wenn sie das mit den Spiegeln jetzt wissen wollte, dann musste sie schneller da unten sein als diese auf Gutmenschlichkeit versessene Magieunfähige. so erwiderte sie nur, dass sie das mit der Festung oder dem Kloster prüfen würde, wenn Beth die ungefähre Lage dieses Versteckes ermitteln konnte, ohne mehr aufzufallen als eh schon. "Die wissen, dass ich auch mit dir zusammenarbeite, höchste Schwester. Die haben mich trotzdem eingeweiht", bekam sie zur Antwort. Anthelia rang das ein überlegenes Grinsen ab.

Eine Stunde später flog sie auf einem neuen Harvey-Besen über ein Dorf namens San Fernando de los Rios, einem an sich unauffälligem Dorf in Honduras. Doch hier verschwand seit einer Woche jede nacht ein erwachsener Mann. Jetzt gab es hier nur noch fünfzig Männer, siebzig Frauen und dreißig Kinder. Bezeichnenderweise waren die Männer immer dann verschwunden, wenn sie auf den Feldern zu tun hatten, nie dann, wenn sie innerhalb der Dorfgrenzen waren. Woran das lag konnte Anthelia immer wieder hören. Denn von den dreißig gemeldeten Kindern waren zehn gerade erst wenige Wochen alt, und demnächst würden wohl noch zehn neue Kinder ankommen. Das sprach eindeutig für einen die Schreie von Neugeborenen fliehenden Unhold. Anthelia stellte fest, dass alle noch nicht verschwundenen Männer in ihren Häusern waren. Wo konnte sich der Unhold aufhalten? Sie wusste, dass sie ihn nicht unter freiem Himmel angreifen sollte. Denn dann konnte er wohl nach oben entwischen.

Die vom LI hatten ihre hochgepriesenen Vampyroskope und die sowohl als Aufspür- wie Abwehrvorrichtung brauchbaren Vampirblutresonanzkristalle. Letztere waren bei Kristallstaubvampiren jedoch wirkungslos, wusste sie mittlerweile von Beth, die es von den Greensporns und Hemlocks hatte. Doch Anthelia besaß etwas, was die anderen nicht hatten, einen eingewirkten Spürsinn für dunkle Wesen, vor allem Vampire. Dairons Seelenmedaillon hatte kurz vor seiner Selbstvernichtung einen winzigen Anteil in ihr zurückgelassen. Das nutzte sie jetzt aus.

Sie flog behutsam immer weitere Kreise über dem Dorf, bis ihr Körper von einer Art vibrierendem Strahl von schräg unten getroffen wurde. Sie korrigierte den Kurs entsprechend und folgte dem Strahl. Ja, da sah sie einen dunklen Schatten, der auf das Nachbardorf zuflog, das eigentlich eine reine Plantagenarbeitersiedlung ohne Familien und somit Neugeborene war. Offenbar wollte sich der Jäger der Nacht dort seine nächste Beute holen. Anthelia prüfte schnell ihre vier kleinen Phiolen, die sie mit eigenem Blut und Einhornblut zum Träger von dunklen Zaubern gemacht hatte. Auf die Mischung kam es an, wusste sie durch eigene Versuche, aber auch aus Erinnerungen, die ihre Tante Sardonia ihr hinterlassen hatte.

Ihr Spürsinn für dunkle Kräfte und Wesen schlug immer besser an und führte sie immer genauer. Jetzt hatte sie klare Sicht auf den Verfolgten. Der merkte natürlich, dass jemand hinter ihm her war und drehte um, um die Jägerin zu jagen. Genau das wollte Anthelia. Denn nun konnte sie sich den Ort aussuchen, an dem sie den Feind bekämpfen wollte. Sie durfte nicht zu schnell aber auch nicht zu langsam vor ihm fliegen. Diese Kristallstaubimprägnierten waren verdammt schnelle und wendige Flieger, wenn sie in Fledermausform unterwegs waren. Sie schätzte an den unter ihr wegsausenden Häusern und Feldern, dass sie hundert Stundenkilometer schnell flog. Der Besen war gerade sichtbar. Sie musste den Vampir an einen Ort locken, wo keine Neugeborenen schreien würden. Zum einen wusste der sicher, wo er nicht hinfliegen durfte. Zum anderen würde der Schrei eines Neugeborenen das Ergebnis verfälschen. In Lagen wie dieser konnte Anthelia/Naaneavargia nüchtern wie eine Forscherin denken.

Als sie auf ein großes Lagerhaus zuflog wirkte sie den Segen der Sonne auf Dach und Wände. Der Vampir holte auf. Sie zauberte das Tor auf und flog hinein. Mit der linken Hand zog sie die erste Phiole frei und ließ sie an der dem Tor gegenüberliegenden Wand niderfallen. Die zweite Phiole legte sie in die Nähe des Tores. Sie fühlte, wie der Kristallstaubvampir näherkam und schon zur Landung ansetzte. Sie legte die dritte Phiole an der westlichen und die vierte zwei Meter an der östlichen Wand hin. Daianira Hemlock hatte damals Körperkontakt zu ihrer vertrackten Phiole gehabt. Anthelia nutzte den Umstand, dass darin ihr eigenes Blut war. So postierte sie sich hinter der Phiole an der Ostwand des Lagerraumes und sah es um sich herum golden blitzen. Es rumste immer wieder. Der Kristallstaubvampir kämpfte gegen den Sonnensegen an. Dann prasselte es laut und vernehmlich. Schließlich krachte etwas schweres durch das Holztor, eine graue Riesenfledermaus mit angezogenen Flügeln. Anthelia fühlte die unmittelbare Nähe von mindestens fünf Vampiren, es konnten aber auch zehn oder zwanzig sein. Die dunkle Aura löste in ihr eine steigende Glückseligkeit aus. Doch die Führerin der Spinnenhexen kannte diese Wirkung und rang sie mit dem Schutzzauber gegen geistige Einflüsse nider. Dann sah sie die Fledermaus, die auf sie zuflog, sich ihrer Beute sicher. "Saunguis sanguinis Auslösen vocato!" dachte Anthelia, während sie bereits darauf gefasst war, dass der Blutsauger sie blitzartig anspringen würde. Doch offenbar musste der erst mal damit klarkommen, dass auch Anthelia von einer gewissen Aura umflossen wurde. Doch nun passierte was anderes.

Kaum das Anthelia mit auf ihr Herz deutendem Zauberstab die Formel einschließlich Auslösewort gedacht hatte, schnellte vor ihr eine raumbreite, bis zur Decke reichende, schwarze, von ihrer Seite her halbdurchsichtige Wand empor. Zur selben Zeit wuchsen auch drei weitere schwarze Wände auf, davon eine hinter dem Zugangstor. Der Kristallstaubvampir fing seinen Flug ab und landete. Er fühlte wohl die schwarzmagische Kraft, die in dem Wall steckte. Er schnüffelte. "Wenn du mich haben willst musst du da durch, Fledertier!" provozierte Anthelia den Gegner. Dieser stieß einen schrillen Laut aus, hob ab und flog gegen die schwarze Wand an. Jetzt galt es, dachte Anthelia, bereit sofort zu disapparieren, wenn der Blutsauger durchbrach. Doch er stieß mit mindestens zwanzig Stundenkilometern gegen die schwarze Wand und wurde mit Urgewalt zurückgeworfen. Anthelia schätzte am zurückgelegten Weg und der Zeit bis zur nächsten schwarzmagischen Spiegelwand, dass der Blutsauger mit der zehnfachen Angriffsgeschwindigkeit zurückgeworfen wurde. Dann schlug er gegen die andere Wand und raste mit lautem Knall in die Gegenrichtung. Seine Geschwindigkeit war schon wieder verzehnfacht, nicht verfünffacht worden. Er schlug gegen den dritten Spiegel und wechselte nun schneller als Anthelia folgen konnte mit überlautem Doppelknall zur nächsten Spigelwand. Anthelia disapparierte sofort, weil sie zurecht fürchtete, dass das Lagerhaus dieser Gewalt nicht standhalten würde. Etwa zwei Kilometer davon entfernt tauchte sie auf und hörte die nun immer kürzer aufeinanderfolgenden Knälle, die sich bereits überlagerten. Sie hob das mit Gleitlichtglaslinsen bestückte Zauberfernrohr vor die Augen und sah zu ihrem Ausgangspunkt hinüber.

Das Lagerhaus bebte. Das Dach hüpfte. Splitter flogen aus den Wänden, Dachziegel wurden nach oben geschleudert. . Dann krachte es zum letzten Mal. Wie ein Kanonenlauf aus Feuer brach eine rotierende Flammensäule aus dem Dach. Mit einem urgewaltigen Donnerschlag, der von weit her hallte, flog eine gleißendhelle Lichterscheinung aus dieser wirbelnden Feuerfontäne heraus in den Himmel, stieg höher und höher hinauf und zog eine blauglühende Spur hinter sich her. Der Lichtpunkt verlor sich nach nur zehn Sekunden zwischen den Sternen. Nur die blaue Leuchtspur blieb als rotierende Säule, die ein ständiges Grummeln und Grollen absonderte. Erst nach einer Minute begann das blaue Luftgebilde zu zerfasern. Mit dumpfem Schlägen brach gewöhnlich kalte Luft in die sich abschwächenden Bereiche der Säule ein. Sie zerfiel in mehrere Einzelwolken, die immer noch wild rotierten und dabei zerrissen. Dann war die blaue Säule restlos zerfallen. Immer noch krachte und donnerte es, weil die übliche Luft den leergebrannten Raum ausfüllte. Anthelia fühlte den Sog, den die zerfallende Luftsäule auslöste. Gleichzeitig barsten Flammengarben aus dem zertrümmerten Lagerhaus.

"Frage: kann eine Anordnung aus schwarzen Spiegeln einen Kristallvampir vernichten? Antwort: Ja, kann sie. Aber die Methode eignet sich nicht zur Nachahmnung, weil:
Erstens: Der von den Spiegeln zurückgeprellte Feind erzeugt Luftverdrängungsknälle, womöglich weil er nach dem zweiten Rückprall schneller als der Schall bewegt wird.
Zweitens: Die Lautstärke der Knälle übersteigt bereits nach zwei Sekunden das für Normalohren verträgliche Maß und wirkt sich auch auf Wände und Dach des Gebäudes zerstörerisch aus.
Drittens: Die Rückprallaufschaukelung erzeugt eine immense Hitze, die irgendwann durch Wände oder Decke bricht. Wird der Vampir dadurch aus dem Bereich der Spiegel geschleudert besitzt er eine so hohe Geschwindigkeit, dass er die ihn umfließende Luft zur Blauglut erhitzt und womöglich bis in den Weltenraum hinauffliegt."

Anthelia erkannte, dass sie unverzüglich von hier weg musste und disapparierte. Am Ende suchte diese schlafende Göttin noch nach der Quelle, die ihren Kristallkrieger so lautstark und grell aus der Welt geblasen hatte.

__________

In dem Moment, wo ihr Krieger von vier schwarzen Wänden umstellt war erfasste die schlafende Göttin, die ihn bis dahin nicht direkt beobachtet hatte, dass einer ihrer Krieger in unmittelbarer Gefahr schwebte. Denn der Druck wirkte aus allen Richtungen zugleich. Doch als sie versuchte, den Krieger genau zu beobachten, war es für sie nur wie ein schwarzer Nebel, durch den sie nicht hindurchsehen konnte. Dann fühlte sie die Stöße, die trotz der großen Entfernung bis zu ihr durchdrangen. Ihr Krieger wurde von mächtigen Zauberkräften getroffen. Das schlimmste daran war, dass er die nicht schluckte oder zurückprellte sondern verstärkte. Sie merkte, dass er nun von allen Seiten bestürmt wurde, immer schneller und härter. Sie hörte seinen Angstschrei, der wie von einer auf Metall treffenden Kreissäge überlagert wurde. Dann fühlte sie, wie eine unbändige Kraft ihn davonschleuderte. Sie konnte jetzt erkennen, wie es um ihn herum weißblau aufleuchtete und hörte seinen sich weiter und weiter entfernenden Angstschrei. Sie versuchte, ihn mit dem Schattenstrudel zu erfassen. Doch dafür wechselte ihr Krieger zu schnell den Standort. Sie bekam ihn nicht in den Fokus ihres besonderen Zaubers. Sie fühlte nur, wie sein Körper verglühte, innerhalb von nur zehn Sekunden restlos verging, als wäre er genau in einen Lavastrom eingetaucht, ohne den Kristallstaub im Körper. Sein entleibter Geist raste noch immer nach oben. Sie fühlte, wie er nun immer schneller wurde, bis er mit einem letzten Ruck aus ihrer Wahrnehmung gerissen wurde. Dieser Ruck bewirkte noch etwas für Gooriaimiria unbegreifliches wie erschreckendes. Sie fühlte, wie gleich zehn der mit ihr verschmolzenen Seelen entkörperter Nachtkinder aus ihr herausgerissen und in alle Richtungen davongeschleudert wurden. Die ihr entrissenen Seelen schrien erst vor Schmerz und dann vor Glückseligkeit auf, während Gooriaimiria nur vor unbändigem Schmerz aufschrie. Sekunden dauerte diese rein geistige Todesqual. Dann erst ebbte sie ab. Der in wilden Aufruhr geratene Bewusstseinsverbund Gooriaimiria kam langsam, viel zu langsam wieder zur Ruhe. Erst als die schlafende Göttin ihre Gedanken und Erinnerungen wieder klar unterscheiden und ordnen konnte begriff sie, dass jemand einen Weg gefunden hatte, einen Kristallstaubträger zu vernichten und ihr selbst eine Verletzung zuzufügen. Sie durchforschte die hunderte von Erinnerungsquellen in sich, bis sie wusste, dass ihr zehn eingelagerte Seelen für immer verlorengegangen waren, die zehn, die mit dem vernichteten Kristallstaubvampir verwandt gewesen waren. Er hatte sie alle mit sich in die Vernichtung gerissen, die Vernichtung oder die Erlösung. Die schlafende Göttin erbebte unter Wellen aus Angst und Wut. Wer hatte ihr das angetan? Wie hatte er oder sie das gemacht? Sie musste erkunden, was passiert war. So sammelte sie fünf in der Nähe des vernichteten Kristallkriegers auffindbare Getreue und schickte sie, nach dem sie jeden einzelnen zu einem Sammelpunkt geschafft hatte, auf einen Schlag in die Nähe des Lagerhauses. Als ihre Späher, zu denen kein Kristallstaubvampir gehörte, sehen und hören konnten, was um sie herum los war verstand die schlafende Göttin. Wer immer den Kristallkrieger vernichtet hatte, er oder sie war zusammen mit dem Gebäude, das jetzt nur noch ein einziger lichterloh brennender Trümmerhaufen war, vernichtet worden. Zumindest hoffte die schlafende Göttin das. Denn sich vorzustellen, dass jemand vielleicht diese durchschlagende Methode noch einmal benutzen und andere dazu anstiften konnte, sie zu benutzen, missfiel ihr nicht nur, sondern jagte ihr, der Herrin der Blutsauger, der mächtigsten Lenkerin aller Nachtkinder überhaupt, Panische Angst ein. Ja, der Frevler musste bei seinem Angriff gestorben sein, er musste einfach. Er? Vielleicht war es auch eine Sie, eine der Abgrundstöchter oder jene, die Lamia schon fürchten und hassen gelernt hatte, die Trägerin des Feuerschwertes, die schwarze Spinne.

"Na, ungeschlüpftes Nachtküken, hat dir jemand endlich mal kräftig auf den Kopf geschlagen?" lachte eine schadenfrohe Gedankenstimme. Gooriaimiria fühlte sofort die geistige Nähe Iaxathans.

"Ich werde eher schlüpfen als dein Knecht deine Füße zu küssen vermag, Flaschengeist. Und denke daran, ich bin viele, du bist nur einer. Was mir nur weh tut kann dich zu Staub zerblasen."

"Mein Knecht ist bald am Ziel. Bald wird er vor mich hintreten und mir seinen Leib und seine Seele überordnen. Dann finde ich meinen Stein und schaffe es, dich aus ihm hinauszuquetschen, auf dass deine Daseinsform in alle Richtungen von Raum und Zeit zerrinnt, Hure", gedankenknurrte Iaxathan.

"Selbst wenn es gelingt, dass dein angefütteter Knecht sich dir ganz und scheinbar unumkehrbar unterwirft wird er mich nicht mehr aus dem Stein herauslösen. Denn er gehört mir. Und denke daran, verschwinde ich daraus, nehme ich dein Bruchstück mit, dass du in ihm als Wächter hinterlassen hast. Was dann geschieht ist dir doch sicher bewusst, wo du den Stein geschaffen hast, oder?"

"Verwehe in Vergessenheit und ewiger Dunkelheit!!" brüllte Iaxathans Gedankenstimme.

"Das willst du doch für alle, dich eingeschlossen, Flaschenteufelchen", gedankenlachte Gooriaimiria. Trotzdem ihr zehn eingewobene Seelen entrissen worden waren fühlte sie sich jetzt nicht mehr angeschlagen oder unterlegen.

"Vielleicht bringe ich meinen Knecht auch dazu, den Stein mit meiner ewigen Heimstatt zusammenzubringen, damit wir zwei uns auch körperlich berühren können. Dann wirst du mir unterworfen sein."

"Träum schon mal davon, wie das sein wird, wenn ich deine kümmerliche Daseinsform in mich einsauge und dann genüsslich in mir einschließe, wie ich es mit deinem Bruchstück tat, als ich noch einen eigenen Körper hatte. Dann wirst du mir, einem Weib, auf ewig einverleibt sein und hoffen, dass ich irgendwann deiner überdrüssig werde und dich in mir aufgehen lasse, als eines von vielen sich zu sehr für wichtig haltenden Mannsbildern, von denen ich jetzt schon etliche in mir vereint habe."

"Ich habe den Stein und das Auge erschaffen. Ich werde dich in mir auflösen, deine weibischenSchwachheiten ins Nichts verstoßen und dann mit allen wackeren Jünglingen und Männern den obersten Torhüter der Dunkelheit bilden, der die Welt an ihren endgültigen und längst überfälligen Bestimmungsort bringen wird."

"Bla bla bla", konnte Gooriaimiria darauf nur erwidern. "Diesen Unfug hat mir dein winziges Wächterbruchstück schon einzureden versucht, als es mich dazu brachte, Nocturnia zu gründen. Aber jetzt, wo ich weiß, dass dann aller Spaß und alle Freude mit ausgelöscht werden lehne ich dieses ab. Ich werde die Menschen führen und ihnen ihre Rolle zuweisen: Bürger, Feinde oder Futter, wie in den guten alten Zeiten Nocturnias."

"Die Nacht ohne Morgen wird kommen. Du wirst sie nicht überleben."

"Gegen eine Nacht ohne Morgengrauen habe ich nichts. Aber so wie du den Stein gemacht hast und wie ich beschaffen bin lebe ich ewig, genau wie du, missmutiger kleiner Flaschenkobold. Nur dass ich durch viele hundert Augen sehen und viele hundert Hände benutzen kann, um die Welt da draußen nach meinem Bild zu formen, während dein Knecht und seine wenigen kümmerlichen Zauberlehrlinge gegen mehrere tausend Feinde stehen werden."

"Ich bekomme heraus, was dir so heftig zugesetzt hat, Straßendirne. Möglich, dass sich das wiederholen lässt, sooft, bis du auseinanderfällst und wie eine abgebrannte Kerze im Sturm erlischst."

"Dann viel Spaß beim Ausprobieren, Flaschengeist. Du hast ja nur den einen Knecht und seine zehn oder zwanzig Nachläufer, und noch ist er nicht dein willenloser Handlanger."

"Aber bald", drohte Iaxathan. Dann zog er sich zurück. Auch Gooriaimiria verschloss ihren Geist wieder sorgfältig. Ja, sie war heute schwer gedemütigt und verletzt worden. Doch sie war immer noch entschlossen, Iaxathans Rückkehr zu verhindern.

__________

18. November 2002

Philonyctes hatte es hundertmal versucht, Melanopteros klarzumachen, dass er nicht offen über die schlafende Göttin schimpfen oder sie verspotten sollte. Zwar war deren Hohepriesterin seit Nächten nicht mehr bei ihnen gewesen, weil sie angeblich woanders wichtigeres zu tun hatte. Doch Philonyctes wusste nicht, ob diese schlafende Göttin sie hier nicht irgendwie überwachte, durch die Schreiber und die zu ihnen geschickten Versorgungshelfer.

"Wieso nennt die sich die schlafende Göttin, wenn die doch alles und jeden hier beobachten oder Befehle geben kann?" fragte Melanopteros, der keinen Hehl daraus machte, dass das Herbeischaffen von Schafen und Kälbern weit unter seiner Würde lag.

"Weil sie eben nicht von da weggehen kann, wo sie ist und nur über uns, also ihre Diener, was anleiern kann. Sonst bräuchte sie keine Hohepriesterin Nyctodora, die das überwacht, was zu tun ist", sagte Philonyctes zum wiederholten Mal.

"Du hast damals gesagt, dass wir uns keiner anderen unterwerfen, weil wir freie Brüder der Nacht sind. Warum bist du jetzt so'n höriger Wicht, ja schon ein Sklave von der?" wollte Melanopteros wissen.

"Weil die mir gezeigt hat, wie stark sie ist und eines unserer Gesetze heißt, dass der Stärkere zu achten ist. Denkst du denn, mir macht das Spaß, dass wir gerade zweihundert Mitesser hier haben und jede Nacht drauf gefasst sein müssen, dass jemand uns hier angreift, weil wir den Bauern ihre Tiere wegschnappen? Nur weil die noch nicht wissen, wo wir sind, haben wir noch Ruhe. Das sagte auch Nyctodora."

"Könnte es sein, dass du dich in dieses flotte Mädel verliebt hast und nur eifersüchtig bist, dass du sie nicht als deine Gefährtin kriegen konntest?" fragte Melanopteros.

"Nein, die Göttin selbst hat mich von ihrer Kraft überzeugt. Und wenn du nicht langsam aufhörst, andauernd über sie zu schimpfen oder sie zu beleidigen zeigt sie dir das auch. Willst du nicht wirklich, Bruder."

"Die soll uns noch zwanzig Leute schicken, die die stinkenden Schafe und Kälber zusammenfangen. Ich will wieder auf Jagd gehen und anständiges Blut trinken, zur Sommermittagssonne noch mal!" sagte Melanopteros.

"Erst wenn das Buch der tausend Erkenntnisse abgeschrieben ist und die Hohepriesterin ihre Schutzzauber machen kann, damit uns hier niemand angreifen kann. Vorher ist das zu gefährlich", sagte Philonyctes.

"Gefährlich? Wir haben das doch früher nur so gemacht. Was soll da jetzt gefährlicher sein als vorher?" wollte Melanopteros wissen.

"Dass wir eben mit dem Verschwinden von Schafen und Kälbern zu tun haben. Wer nach den Tieren sucht könnte die Zauberstabschwinger rufen, wenn auch noch einer von uns wem Blut aussaugt", schnarrte Philonyctes. "Außerdem ist die Sache mit diesem angeblichen Wegelagerer Robur Blutbart noch nicht aus der Welt. Solange der rumerzählen kann, was er über unser Versteck weiß kann das immer noch wem in die Ohren geraten, den wir nicht hierhaben wollen. Mann, begreifst du das denn echt nicht?"

"Ich erkenne nur, dass wir uns zu niederen Sklaven haben machen lassen, wir, die mächtigen Brüder der Nacht", knurrte Melanopteros.

"Wir sollen mithelfen, unsere stolze Rasse wieder groß zu machen, größer als vorher sogar, zur die ganze Welt beherrschenden Rasse", erwiderte Philonyctes. Doch sein Bruder hörte genau, dass er selbst nicht wirklich daran glaubte, dass er zur Gruppe der Herrscher gehören würde. Deshalb grinste Melanopteros und antwortete:

"Na klar, wir machen die neue Herrscherklasse und dienen dieser dann genauso wie die Rotblütler. Wie tief sind wir schon gesunken?"

"Sei froh, dass die Göttin uns alle braucht, sonst wärest du sicher schon tot", zischte Philonyctes. Doch Melanopteros zuckte nur mit den Schultern und wandte sich ab. Philonyctes wusste, dass er jetzt erst einmal eine halbe Nacht lang nicht mehr mit seinem Bruder reden konnte. Er hatte Angst, dass die schlafende Göttin ihn und Melanopteros auslöschen würde. Denn ihm war klar, dass er nicht mehr nötig war, wenn die Abschreibearbeit erledigt war. Dann konnte er wohl ohne weitere Bedenken ausgelöscht werden, wenn er nicht etwas tat oder fand, um für die Göttin wertvoll zu bleiben.

__________

"Schon sehr erschütternd, in jeder Bedeutung des Wortes", seufzte Roberta Sevenrock, die gerade nachbetrachtet hatte, was Beth ihr in einer kleinen Flasche überreicht hatte. Es war die Erinnerung einer Feindin, und dennoch hatte diese ihr diese Erinnerung überlassen, um ihr zu zeigen, was vier schwarze Spiegel mit einem Kristallstaubvampir anstellten. Beth McGuire sah die Sprecherin der nordamerikanischen schweigsamen Schwestern an. "Gut, ich traue dieser Erinnerung. Ich erkenne keine Verfremdung. Auch das Fazit, was die Spinnenhexe zieht klingt plausibel. So können wir wohl davon Abstand nehmen, diese Technik zur Bekämpfung von Kristallstaubvampiren zu benutzen. Aber vielleicht finden wir doch noch einen Weg, der weniger selbstzerstörerisch ist."

__________

"Die honduranischen Vergissmichs mussten den Leuten was von einem illegalen Sprengstofflager auftischen", sagte Theia, die gerade Selene auf dem Schoß sitzen hatte. Diese lehnte sich gemütlich gegen den warm und weich gepolsterten Oberkörper ihrer zweiten Mutter und fragte mit ihrer körperlichen Stimme:

"Wolltet ihr haben, dass Anthelia sich auf diese Weise selbst aus der Welt schafft? Oder seid ihr jetzt froh, dass ihr diesen Versuch nicht gemacht habt?"

"Ob es so gut wäre, dass Anthelia stirbt, bevor wir nicht wissen, was sie noch alles für Kenntnisse erworben hat weiß ich nicht. Aber dass wir diesen Versuch mit dem bei Detroit herumspukenden Kristallvampir nicht wiederholen ist für Detroit wohl besser und auch für uns."

"Dann wollt ihr den wieder mit schreienden Babys angreifen?" fragte Selene.

"Nein, wir schicken Ashtarias Tochter hin, die Julius Latierre damals gegen die beiden Abgrundstöchter Hallitti und Ilithula geholfen hat. Oma Thyia sagt, deren Methode sei wesentlich schonender und bewahre den Betroffenen sogar vor der Vernichtung."

"Und ihr kriegt keinen Kontakt zu den Morgensternbrüdern, damit die das auch ausprobieren?" wollte Selene wissen.

"Die Morgensternbrüder verachten mächtige und wissbegierige Hexen, meine Tochter. Deshalb wissen wir nicht, ob die diese Möglichkeit kennen", seufzte Theia.

"Und was ist mit dieser Festung oder diesem Versteck in Griechenland, Mom?" wollte Selene wissen.

"Die entsprechenden Ministeriumsleute in Griechenland sind über die ganzen nötigen Umwege informiert worden, wohl auch die Helferinnen Anthelias vor Ort. Es bleibt abzuwarten, ob Silver Gleam einer Falschmeldung aufgesessen ist, die nur herausbringen soll, wer auf unserer Seite die neue Nocturnia-Bewegung ausspioniert, oder ob sie wirklich eine überlebenswichtige Information erhalten hat."

__________

Maria Valdez dachte wieder daran, dass sie nur einen Satz sagen musste, um die dauernde Abhängigkeit von Almadora Fuentes Celestes oder anderen Besenfliegern abzuschütteln. Doch sie hatte sich entschlossen, nicht weiter in Gottes Plan hineinzufuhrwerken, als es ihr Erbe bereits von ihr verlangte, von dem sie zumindest hoffte, dass dieses im Sinne ihres Herren war. Doch wenn sie gerufen wurde, weil mal wieder einer dieser durch hundertfachen Tod zu einem schier unbesiegbaren Monstrum verwandelter Vampir unschuldige Menschen bedrohte, dann musste sie eben hin, wo sie das einzige wahrhaftige Mittel besaß, diese Ungeheuer zu entmachten.

Diesmal war sie mal wieder mit einem sogenannten Portschlüssel an den Zielort versetzt worden. Hier in der Nähe sollte der Kristallvampir sein Unwesen treiben. Maria hatte erst komisch geguckt, als ihr Almadora vorgeschlagen hatte, wie sie sich kleiden sollte. Doch dann hatte sie zugestimmt.

Es war bereits nach Mitternacht, als Maria ein sanftes Vibrieren vor ihrem Brustkorb fühlte. Ihr silbernes Kreuz, das Erbe ihrer Großmutter väterlicherseits, reagierte auf eine dunkle Zauberkraft. Einmal mehr fragte sich Maria Valdez, warum sie erst nach Enthüllung des Geheimnisses, dass ihr Schmuckstück ein mächtiger Zaubergegenstand war, solche Reaktionen mitbekam. Doch wichtig war, dass sie hier richtig war. Sie zog das Kreuz Frei, das sofort blutrot aufglühte. Unvermittelt umschloss eine beinahe undurchsichtige Aura die ehemalige FBI-Agentin. Dann hörte sie das Wutschnauben zweier Männer, die auf sie zugerannt kamen. "Ah, da ist eine dieser Hexen. Schön mächtiger Schildzauber. Aber der nützt dir gegen uns nichts!" rief der eine.

"Ihr habt auf mich gewartet, ihr zwei Nachtgesellen?" fragte Maria unerwartet entspannt.

"Wir wussten, dass irgendeiner oder eine von euch kommt, wenn wir nur genug Menschenblut saugen. Unsere Herrin will noch mehr Krieger und Kundschafter in der Welt haben. Was soll die Pinguintracht? Aber egal! Du bist sicher sehr stark, wenn du einen Schild aus mehreren Körperschutzzaubern um dich gelegt hast, wie?"

"Ich vertraue mein Los dem Himmlischen Vater und seinem Sohn, Jesus Christus, meinem Herrn und Heiland an. Fürchtet die Macht des Himmels und bereut eure Sünden! Dann wird der Herr euch Gnade erweisen", erwiderte Maria Valdez bewusst ihren mexikanischen Akzent heraushängen lassend.

"Lustig, Mädchen. Aber weder dein scheinheiliges Frömmeln, noch die dazu passende Pinguintracht, noch dieses silberne Kreuzchen da werden dich vor unserer Taufe im namen unserer Göttin verschonen. Gib dich besser freiwillig hin, damit die große Mutter der Nacht an dir ihre Freude hat und du ihren Segen erfährst, falsche Ordensschwester."

"So befehle ich meinen Geist in die Hände des Herren, vertraue mich der Liebe unserer heiligen Jungfrau an und eure Seelen der Gnade des Allmächtigen", sagte Maria Valdez und kniete sich hin. Irgendwie fürchtete sie die zwei nicht, obwohl es wohl sicher die Kristallmonster waren. Sie begann das Vaterunser auf Spanisch zu beten. Die Vampire traten an sie heran und berührten die rote Aura. Einer schrak zurück und schrie beinahe wie ein Säugling auf. Der zweite fauchte wütend: "Was soll das. Hau diesen Schild doch einfach durch!" Der zweite Vampir sprang vor, genau von vorne. Schlagartig wurde die rote Aura rosarot. Sie erzitterte, und vom Kreuz sprangen goldene Funken zum anderen hinüber. "Autsch! Das glaube ich jetzt nicht", knurrte der zweite Blutsauger, während der erste einen Angriff von hinten versuchte. Doch der Schlag prallte mit einem merkwürdigen Geräusch wie ein auf und ab wippendes Gummiband zurück. Ein heller Funkenregen ging auf den Angreifer nieder und schien ihn sichtlich zu piesacken. Da sagte Maria gerade "Amen!" Die Zwei Vampire warteten, ob sie noch was sagte, weil sie glaubten, dass irgendwer die Schildzauberei auf das christliche Gebet abgestimmt hatte. Da rief Maria eine andere Litanei, die für sie auch wie ein Gebet war, die Zauberformel Ashtarias in ihrer Muttersprache. Unvermittelt blähte sich die rosarote Aura auf und traf die Vampire. Schlagartig stand die ehemalige FBI-Agentin frei. Die zwei Angreifer wurden gerade in rötliche Lichtblasen eingeschlossen und schwebten nach oben. Maria sah aus den Enden des Querbalkens ihres Kreuzes ddünne rote Lichtstrahlen. Dann vollzog sich der Prozess, den Maria schon bei einem Kristallvampir erlebt hatte. Sie atmete auf, dass er auch bei zwei dieser Monster ablief. Schwarzer Dunst traf aus den Körperöffnungen der beiden aus, die in der sie zusammendrückenden Leuchtblase um sich traten und schlugen und dabei doch nur einen stärkeren Schauer goldener Funken auslösten, der in ihre Körper drang. Von außen tauchten schwarze Schlieren auf. Doch diese zerstoben zu goldenen Funken, die für Maria unschädlich auf diese zuflogen oder in alle freien Richtungen davonschwirrten. Ihr Kreuz pulsierte wie ein schlagendes Herz. Die beiden Vampire hingen nun mit angezogenen Beinen, vor dem Bauch verschränkten Armen und gekrümmten Rücken in ihren Leuchtblasen. Die Haut jedes einzelnen wurde heller. Je mehr schwarzer Dunst aus ihnen entwich, desto mehr goldene Funken sprühten von der Innenseite der Leuchtblasen auf sie zurück. Maria erinnerte sich, dass es damals nur eine Minute gedauert hatte, bis der reinigende, wiederverjüngende Vorgang vollzogen war. Diesmal aber waren ja zwei Vampire zugleich betroffen. Dennoch stellte sie fest, dass der Vorgang genauso schnell ablief wie beim letzten Mal. Die goldenen Funken peinigten die Vampire. Doch sie wurden kleiner und damit auch jünger. Als dann nach einer Minute kein schwarzer Dunst mehr aus ihnen entwich flogen die letzten funken in ihre Körper, die Körper gerade erst geborener Kinder. Sie schrien vor Angst, Schmerz oder Hunger. Maria wusste es nicht. Die Leuchtblasen zzogen sich um jeden einzelnen zusammen, drangen ganz in die Körper ein und verschwanden somit. Leicht wie Federn schwebten die zurückverjüngten und vom Vampirdasein geheilten Menschenkinder zu Boden. Maria Valdez sah ihr Kreuz an, dessen zwei Lichtstrahlen gerade zu einem zusammenfuhren und dann erloschen. Dann hörte sie über sich ein wildes Flattern und sah nach oben. Fünf riesige Fledermäuse stürzten herab. Maria Valdez wusste, dass das auch Vampire waren, aber nicht, ob es Kristallvampire waren. Sie richtete das Kreuz nach oben. Unvermittelt wölbte sich über ihr eine blutrote Kuppel, die sie und die gerade durch den weißmagischen Zauber ihres Kreuzes wiederverjüngten Menschen einschloss. Federnd prallte einer der Angreifer von der roten Energiekuppel ab und glitt goldene Funken sprühend daran herunter. Die anderen stürzten sich von allen Seiten auf Marias Standort. Diese überlegte, den Portschlüssel auszulösen. Aber dann würden die gerade entstandenen Babys schutzlos diesen Monstern ausgeliefert sein. Das durfte sie nicht zulassen. Die Energieglocke flackerte, als vier Vampire zugleich mit Wucht daraufprallten. Wie lange würde der magische Schutz halten? Maria wägte ab. Zu den beiden Babys waren es zwanzig Meter. Wenn sie den Portschlüssel auslöste war sie in einer Sekunde weg. Dann durchbrauste sie ein Wärmestoß. Auf einmal fiel das schrille Geschrei der Babys um mindestens vier Oktaven ab, wurde zu einem knatternden, das Bauchfell erschütterndem Gebrüll. Gleichzeitig schienen die anfliegenden Vampire in der Luft zu hängen und ganz langsam herabzusinken. Maria dachte unpassenderweise an die Kinderbadeschaumflaschen, in denen, um die Kinder zum Baden zu kriegen, kleine Plastiktiere schwammen. Diese konnten, wenn die durchsichtige Flasche ruhig stand, auch ganz langsam nach unten sinken. Dochjetzt war keine Zeit für derartige Rückbesinnungen, erkannte Maria. Sie erfasste, dass sie von irgendwoher eine Chance bekommen hatte, die zwei Babys und sich zu retten. Sie lief vor, wobei sie meinte, das die sie umgebende Luft zusammengestaucht wurde. Sie fühlte auch nicht den üblichen Zug der Schwerkraft an den Füßen. So überwand sie die Strecke in nur zwei Sekunden. Sie beugte sich, wobei sie wieder meinte, die Luft vor sich zusammenzudrücken, hob die zwei Menschenkinder, die nun wie Urweltmonster schnarrend und basslastig schrien auf. Sie sah die kleinen Kehlköpfe zittern, nicht schnell, sondern im Viertelsekundentakt. Dann hielt sie die beiden Säuglinge in den Armen. Da drückten die vier Vampire mit ihrem Gewicht auf die rote Energieblase und dellten sie ein. Maria konnte nun erkennen, dass die Energiekuppel Risse bekam, die sich durch das ganze Gebilde zogen und wie pfeilschnell fliegende rote Funken aus ihrem Kreuz in diese Risse eindrangen, um sie auszufüllen. Sie überlegte, jetzt den Portschlüssel auszulösen. Doch irgendwas sagte ihr, dass es in diesem Zustand, wo scheinbar die Zeit um sie herum erheblich langsamer ablief, nicht gelingen würde. Da glitten die vier Vampire wieder von der Energiekuppel zurück. Die Risse schlossen sich innerhalb von drei subjektiven Sekunden vollständig. Kaum stand die rote Kuppel wieder unversehrt über ihr bekam sie einen neuen Energiestoß durch den Körper. Schlagartig hörte sie die beiden von ihr gehaltenen Säuglinge wieder wie total verängstigte Babys schreien. Sie sah, wie die eben noch zurückgeprellten Vampire einen neuen, schnellen Anlauf nahmen, um den nächsten, den entscheidenden Vorstoß zu machen. "Herbstgold!" rief Maria Valdez.

Die rote Kuppel zog sich blitzartig zusammen. Dann fühlte sie auch schon jenes Ziehen am Bauchnabel und stürzte in den bodenlosen Wirbel aus Farben und Rauschen hinein.

Als sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte wurde sie gleich von zwei paar Händen aufgefangen. Almadora und ihr Bruder Vergilio hatten sie erwartet.

"Zwei?" fragte Almadora. Maria wiederholte die Zahl als Antwort. Dann schöpfte sie erst mal Atem. Sie hatte mal wieder eine Menge Magie miterlebt. Doch die Energiekuppel und der Zeitlupeneffekt waren ihr bisher noch unbekannt gewesen.

"Ich muss doch noch mal mit Camille oder mit Adrian reden, ob sowas zur üblichen Ausstattung dieser Schutzartefakte gehört", grummelte Almadora, die Maria gegenüber ihre gemeinsame Muttersprache benutzte.

"Maria, nicht die Zeit wurde verlangsamt, sondern du wurdest beschleunigt. Es gibt einen Zauber, der einen Menschen für zwei Subjektivminuten auf die vierfache Geschwindigkeit beschleunigen kann. Velociactus heißt er. Aber Danach kann der Zauber erst in zwei Stunden wieder gewirkt werden und kostet die sechzehnfache Ausdauer. Fühlst du dich erschöpft oder unwohl?" sprach Vergilio sie an.

"Nein, ich fühle mich wohl, Vergilio. Aber nur viermal so schnell war ich nicht. Wenn das ein Beschleunigungszauber war, dann hat der mich mindestens zehn oder zwanzigmal so schnell gemacht. Ich konnte ja sehen, wie die Vampire ganz langsam abgeprallt sind. Außerdem hat sich die Luft vor mir gestaut. Das kenne ich vom Karate, wenn ein Schlag so schnell ausgeführt wird, dass die Luft um die Hand oder den Fuß herumzischt."

"Wie erwähnt, langsam sollte ich mal mit wem reden, der sich wirklich mit diesem Kreuz oder seinen sternförmigen Geschwistern auskennt", sagte Almadora.

"Nichts für ungut, kleine Schwester, aber ich fürchte, das gehört alles zu den Sachen, die nur Ashtarias Kinder wissen dürfen. Wenn überhaupt muss Maria mit Adrian oder Camille reden. Und die Chance hast du gerade verpasst, weil Camille vor drei Tagen wegen der kleinen Merryweathers in den Staaten war."

"Jedenfalls bin ich froh, mich und die zwei da gerettet zu haben. So, und jetzt will ich die Nonnentracht ablegen. Ich habe mich schon komisch gefühlt", stellte Maria klar.

"Wieso, du bist doch katholisch", sagte Vergilio lausbübisch grinsend.

"Eigentlich schon. Aber ich hielt nichts von Nonnen, deren Enthaltsamkeits- und Gehorsamspredigten haben mir in der Schule schon nicht gefallen", sagte Maria Valdez. Dann sah sie ihre Tochter Marisol durch die Tür trippeln. Die hatte die zwei Babys gehört und fragte, wer die waren und ob die gerade nass waren oder Hunger hatten. Das brachte Almadora darauf, das übliche Programm durchzuziehen und die zwei neuen Menschenkinder vor den Türen von Kinderkliniken abzulegen. Zwei weitere Findelkinder mehr, die hoffentlich ein besseres Leben führten als dass, welches die zwei Kristallvampire geführt hatten.

__________

Im unfreiwilligen Versteck der schlafenden Göttin herrschte erneut wildes Gedankengewühl. Diesmal waren es keine Schmerzen, sondern die totale Verunsicherung, die den aus vielen hundert ehemaligen Vampirseelen zusammengefügten Geist Gooriaimirias umtrieb. Sie hatte erst den Kontakt zu den beiden von ihr ausgeschickten Kristallvampiren verloren, gerade so noch mitbekommen, dass sie gegen einen unglaublich widerstandsfähigen Zauberschild anprallten. Dann hatte sie nur mitbekommen, wie deren Seelen ihr behutsam aber unumkehrbar entzogen wurden, sich förmlich in lautes Lachen und Freude auflösten, bevor die Verbindung mit ihnen völlig verebbte. Als sie dann zur Nachprüfung ein Pulk gewöhnlicher Nachtkinder über der Stelle aus dem Schattenstrudel hatte fallen lassen hatte sie beobachtet, wie die Frau in der Nonnentracht und dem mittelamerikanischen Hautton und zwei neugeborene Kinder von einer blutroten Lichtkuppel überdeckt wurden. Ihre Kundschafter versuchten, durch diese Lichtkuppel zu dringen. Doch es gelang nicht. Da hatte sie die Kraft ihrer Diener verstärkt. Doch sie prallten immer noch ab. Die Energiekuppel flackerte jedoch und wurde rissig. Ein Stoß noch, und die andere war ausgeliefert. Da sprang oder rannte die auf einmal nach vorne, dass sie in einer Zehntelsekunde zwanzig Meter zurücklegte. Dann hielt sie beinahe übergangslos die zwei schreienden Babys in den Armen und wartete dann den nächsten Anflug ab, der eigentlich der letzte war. Dann war die rote Kuppel zusammengebrochen und in einer blauen Lichtspirale verschwunden, die Gooriaimiria zu gut kannte. Ihre Vampire prallten nun auf harten Boden. Ihre Beute war entwischt.

"Wie kann ein silbernes Kreuz, dieses Symbol für Götzenanbeterei, diese mächtige Kraft aufbringen?" fragte sich Gooriaimiria. Dann erkannte sie, dass es sich bei dem Kreuz auch um etwas ähnliches wie die legendären Silbersterne der blauen Morgensternbrüder handelte. Also gab es auch im christlichen Abendland diese Auserwählten. Ja, das musste es sein. Und diese konnten aus ihren Schutzamuletten kraftvolle Schild- und Beschleunigungszauber beschwören. Mit dieser Gegnerin und allen, die waren wie sie konnten zwei Kristallstaubkrieger nicht fertig werden, und auch keine fünf üblichen Kinder der Nacht. Auch erkannte sie, dass ihre Kristallkrieger durch diese unheimliche Zaubermacht in harmlose und womöglich unschuldige Säuglinge zurückverwandelt wurden. Der in ihnen verdichtete Tod wurde in neues Leben umgewandelt und dabei auch ihre Seele von allen Untaten gereinigt. Gooriaimiria sah langsam ein, dass die Kristallstaubkrieger kein Gewinn waren, sondern vielmehr Energie-und Zeitvergeudung. Ja, sie würde noch mal zwanzig dieser Krieger erschaffen. Doch dann würde sie diese in Tiefschlaf versenken und nur dann erwecken, wenn es gegen den Knecht Iaxathans ging.

__________

19. November 2002

"Meine Brüder und ich werden keine neuen Blöker mehr ranschaffen", begehrte Melanopteros auf, als die hohe Priesterin ihn wegen zu langsamer Beschaffung von frischem Blut maßregelte. "Das Besorgen von Blutvieh ist nicht die Sache der Hausherren, sondern deren Dienern, zur Sommermittagssonne noch mal!" Nyctodora wollte gerade was darauf antworten, als die Tür zum fensterlosen Raum aufflog und eine äußerlich gerade zwanzig Jahre alte Nachttochter hereinstürmte. "Robur ist auf dem Kriegspfad. Der will uns suchen und ausräuchern, weil die Göttin zwei Henker hinter ihm hergeschickt hat."

"Robur, der Räuberhauptmann?" fragte Eleni Papadakis alias Nyctodora verhalten grinsend. "Er wird die Nacht bereuen, dass er die ihm hingehaltene Hand der Göttin nicht ergriffen sondern gebissen hat. Der will alleine gegen zweihundert von uns kämpfen?"

"Nein, erhabene Hohepriesterin. Der sammelt seine Getreuen ein und ist mit denen schon auf der Balkanhalbinsel. Wie viele das sind weiß ich noch nicht. Aber mein Neffe, der noch nicht von der schlafenden Göttin berührt wurde, wird mir das wohl bald mitteilen", sagte die Untergebene.

"Glaubst du, er macht gemeinsame Sache mit den Zauberstabschwingern?" wollte Nyctodora wissen.

"Das wohl nicht. Aber er hetzt alle auf, die nicht von der Göttin erwählt wurden oder auch nicht erreicht werden können."

"Jedes Kind der Nacht kann von der Göttin erreicht werden, wenn sie es will, Neaselenia", schnaubte Eleni Papadakis. "Das wird sie denen zeigen, die meinen, noch immer gegen sie aufbegehren zu dürfen." Die zurechtgewiesene Vampirin duckte sich unter der Kraft dieser Worte. Dann nickte sie und bat darum, sich zurückziehen zu dürfen, um die ungestörte Konzentration aufzubieten, um von ihrem Neffen über Zahl und Vorhaben der Angreifer unterrichtet zu werden. Nyctodora, die Hohepriesterin der schlafenden Göttin, erlaubte das.

"Ihr seht, dass wir immer noch mehr Feinde als Verbündete haben. Und wenn die Bauern, denen ihr die Schafe und Kälber weggenommen habt, doch noch mit irgendwem von den den rotblütigen Zauberstabschwingern reden können und die meinen, uns hier auf die Bude rücken zu dürfen, dann war die ganze Arbeit um sonst, auch deine Arbeit, Melanopteros."

"Die Rotblütler machen mir keine Angst. Sollen die doch herkommen. Wir haben noch einige Lagerräume frei. Da stecken wir die rein und haben dann endlich gescheites Blut vorrätig", tönte Melanopteros.

"Na klar, und die sagen natürlich keinem, wo sie hingereist sind oder können selbst nicht zaubern", sagte Nyctodora.

"Eh, bleib doch ruhig. Die Bergbauern hier haben sicher nichts mit den Zauberstabschwingern zu tun. Sonst wären die doch schon längst bei uns angerückt", versuchte Melanopteros, seine ihm vor die Nase gesetzte Herrin zu beschwichtigen. Doch das klappte nicht so wie er hoffte.

"Du wohnst wahrlich schon einige Nächte zu viel mit deinen Brüdern alleine", knurrte Nyctodora. Dann befahl sie, zumindest alle Abwehrstellungen zu besetzen. Dort sollten die Gehilfen mit den aus der magielosen Welt abgezweigten Maschinenpistolen aufpassen und auch die, die mit den auf Flugzeuge abschießbaren Raketen umgehen konnten bereitstehen.

Doch was war, wenn die Feinde am Tag angriffen. Dann konnten nur die mittlerweile fünf im Kloster eingezogenen Kristallstaubvampire und sie, Eleni Papadakis, die Abwehrschlacht schlagen. Keine wirklich frohe Kunde.

Eine Stunde vor Sonnenaufgang erfuhr sie von Neaselenia, dass Robur mit hundert Getreuen in einem Waldstück bei Athen den Tag überdauern wollte, um dann loszuschlagen. Angeblich habe er einige Sachen mitgenommen, mit denen er selbst eine Übermacht zurückschlagen könne. Eleni überlegte, ob ein Präventivschlag nicht die beste Lösung wäre. Doch Neaselenias Neffe hatte nicht genau erwähnen können, wo die Angreifer sich aufhielten. Waldstück bei Athen. Das konnte wo auch immer sein. Sie konnte schlecht die Gegend absuchen, bis sie den Rastplatz fand. So blieb eigentlich nur, auf die Ungläubigen zu warten, um sie entweder im offenen Kampf zu vernichten oder zu treuen Dienern der schlafenden Göttin zu machen.

__________

Anthelia war sich darüber im klaren, dass sie alleine gegen diese grauen Kristallvampire nicht viel ausrichten konnte. Außerdem konnte deren zur allgegenwärtigen Göttin erhobene Herrin jederzeit diesen schwarzen Versetzungswirbel aufbauen, in den hinein sie ihre Diener ziehen und fortschaffen oder aus dem heraus sie neue Angreifer an ihren Einsatzort schaffen konnte. Beides musste irgendwie unterbunden werden. Doch wie? Anthelia/Naaneavargia kannte viele alte Zauber der Erde, sowie die dunklen Beschwörungen und Bannzauber aus der Zeit Sardonias. Mit den Erdzaubern konnte ein Wesen an einem Ort festgehalten oder von einem Ort ferngehalten werden. Doch ihr fiel ein, dass sie ja mit mindestens einem ranghohen Vertreter dieser neuen Nocturnia-Bewegung reden wollte, um zu klären, was diese Sekte nun vorhatte, ja auch um vielleicht die Verbindung zu deren Göttin zu ergründen, um diese ... Ja, die Verbindung musste unterbrochen werden, erkannte sie. Denn durch diese angeblich schlafende Göttin bekamen auch gewöhnliche Blutsauger zusätzliche Kraft. Dann fiel ihr was ein, was vielleicht gelingen konnte.

Sie zog sich in den Weinkeller der Daggers-Villa zurück, den Ort, wo Anthelias Seele ihren zweiten Körper erhalten hatte. Dann nahm sie behutsam das mächtige Schwert Yanxothars aus der schwarzen Drachenhautscheide und hielt es mit beiden Händen. "Yanxothar, die Brut Iaxathans greift nach der Welt. Sie werden von einer mächtigen Wesenheit gestärkt und befördert, die durch sie handelt, als sei sie selbst vor Ort. Wenn du einen Weg weißt, wie diese Bindung beendet oder zumindest unterbrochen werden kann, so sage dies bitte. Denn dann besteht Hoffnung, Iaxathans Keim zu verdorren, mit Feuer, Erde und Orichalk."

Sie dachte diese Frage immer wieder. Seit dem Tag, wo sie Yanxothar im Seelenduell bezwungen hatte war es zu keiner direkten Verbindung mehr zwischen dessen im Schwert verankerten Seele und ihr, der vereinten Seele Anthelia/Naaneavargia gekommen. Minutenlang wiederholte Anthelia die Frage an die im Schwert wohnende Seele des Feuermagiers aus dem alten Reich. Sie wusste, dass er sie hörte. Doch ihr war auch bewusst, dass er sich nicht so leicht zu einer Antwort bringen lassen wollte. Im Grunde haderte er damit, dass sie, eine Unwürdige, sein Schwert für sich erobert hatte und er ihr ihren Willen damit lassen musste. Als sie aber während ihrer geistigen Bitten Gedankenbilder von den grauen Kristallvampiren und wie sie aus nachtschwarzen Strudeln auftauchten oder darin verschwanden übermittelte fühlte sie, wie sich der Schwertgriff sanft erwärmte. "Diese Macht hat Iaxathan nun zur Verfügung", fügte sie nach dem hundertsten Versuch hinzu.

"Schattenstrudel der Nacht, nährt sich von innerer und äußerer Dunkelheit", wisperte eine leicht verdrossen klingende Gedankenstimme. Anthelia öffnete ihre besondren Sinne, worthafte Gedanken zu empfangen und lauschte nun. Das Schwert in ihren Händen war nun so warm wie von der Sonne über stunden beschienenes Gestein. Es pulsierte sanft, als schlüge in ihm ein Herz. Dann hörte und sah Anthelia, dass es eine Anrufung gab, die "Lied des heilenden Feuers" genannt wurde und alle von Nachtdunkelheit lebende Wesen schwächte bis tötete, aber auch in einem Lied, das "Haus des Heilsfeuers" genannten Ritual davon abgehalten werden konnten, einen Ort zu betreten oder zu verlassen, solange das lebenswichtige Feuer der Sonne am Himmel glühte oder in der Nähe ein mindestens hundert Kerzen starkes Feuer brannte. Das Heilfeuer konnte auch Lebewesen berühren, je danach, ob sie dem Erzeuger freundlich oder feindlich gegenüberstanden. Außerdem unterschied es zwischen jenen, die ihre eigene Wärme erzeugten, also Säugetiere und Vögel oder immer von der sie umgebenden Außenwärme abhängig waren wie Fische, Kerb- und Kriechtiere. Um einen Ort unter freiem Himmel vor dem Betreten von Dunkelheit lebender Wesen zu sichern mussten jedoch in jeder der zwölf Richtungen kleine Feuer entzündet werden und das Ritual im genauen Zentrum dieses Kreises gewirkt werden. In einem geschlossenen Raum reichte es, mit dem zur vollen Kraft erweckten Schwert die Zeichen für Sonne, Leben, Heil und Wärme an die Wände, auf den Boden und die Decke zu zeichnen und dabei die Ritualformel zu wiederholen. Wollte sie sofort den Raum für Iaxathans Geschöpfe unbetretbar machen, so musste sie zum Schluss noch ein Wort denken oder sprechen, mit dem das heilende Feuer entstand, das direkt aus der Sonne geschöpft wurde. Wollte sie jedoch wen von Iaxathans Brut in dem bezauberten Raum festhalten durfte sie das entscheidende Wort erst sagen oder denken, wenn das entsprechende Wesen im vorbereiteten Raum stand. Allerdings hatte dieser machtvolle Zauber einen Haken, fand Anthelia. Wenn ein Kreis oder ein geschlossener Raum damit belegt waren durfte kein lebendes Wesen sterben, solange der Zauber in Kraft war. Denn passierte das, wurde dessen "Lebensfeuer" mit einem Schlag frei und vernichtete jedes Wesen in Hörweite. Das konnte eine Kettenreaktion auslösen, weil ja mit dem Tod weiterer Wesen weiteres Lebensfeuer entfesselt wurde und ein Flächenbrand sich blitzartig ausbreitete. Anthelia/Naaneavargia nahm diese wichtigen Ratschläge und Ausführungsanweisungen in sich auf. Dann hörte sie Yanxothars Stimme noch unmissverständlich ungehalten sagen:

"Diese Hilfe gewähre ich dir nur, weil du die einzige bist, die mein Erbe verwenden kann, nicht weil du mir freundlich oder gar unterwürfig gegenüberstehst, Naaneavargia. Dies sei die einzige Gunst, die ich dir nach dem Schwert noch gewähre. Denn Iaxathans Blut trinkende Brut darf nicht herrschen." Mit diesen Worten erkaltete der Schwertgriff wieder. Auch das sanfte Pulsieren hörte auf. Anthelia bedankte sich im Geiste bei Yanxotahr und steckte das Schwert wieder in seine Hülle zurück. Dann eilte sie zum Denkarium Sardonias und kopierte die erhaltenen Anweisungen dort hinein, damit sie ihr nicht verlorengehen konnten. Anschließend übte sie mit Kreide und Zaubertinte die gelernten Symbole und Wörter, damit sie dann, wenn sie davon Gebrauch machen wollte, keinen Fehler mehr begehen mochte. Ihre Schulung als Anthelia sowie Naaneavargia halfen ihr, das Heilfeuerlied ohne weitere Anleitungen zu üben.

Zwei Stunden lang übte sie das Ritual. Dann hörte sie die Gedanken einer Mitschwester, die gerade im Salon apparierte. "Höchste Schwester, bist du zu Hause? Ich habe den Ort erfahren, an dem die Sekte der Göttin ihren Stützpunkt errichtet hat."

Anthelia/Naaneavargia apparierte im Salon und traf dort Melonia. Diese übergab Anthelia eine Landkarte von Griechenland mit allen Inseln. Die Karte war so groß, dass sie auf dem ganzen rechteckigen Tisch des Salons ausgebreitet werden musste. Dann erfuhr Anthelia von dem verlassenen Kloster. "Unsere griechische Bundesschwester Doris Aristides hat mit einem von Robur Blutbarts Gehilfen Kontakt bekommen. Die Gegner dieser Göttin haben herausbekommen, wo das Versteck liegt. Ich hatte eigentlich vor, das mit Beth und den anderen Entschlossenen zu besprechen. Aber du hast ja gesagt, dass wir uns nicht als Aushilfstruppe irgendeines Zaubereiministeriums darstellen sollen, solange du keine neuen Vereinbarungen mit dem Zaubereiministerium hast."

"Du hast recht, Schwester Melonia. Aber wir dürfen auch nicht darauf hoffen, dass irgendein Zaubereiminister die Kenntnisse nutzt, um diese Brutstätte auszuheben. Aber wenn ich das richtig verstanden habe werden die Banditen um diesen Robur Blutbart nicht lange darauf warten, dieses Versteck zu bestürmen, richtig?"

"Vielleicht sind die schon dahin unterwegs, höchste Schwester", vermutete Melonia. Anthelia nickte und lächelte. "Dann sollte ich zusehen, zumindest vor Ort zu sein und zuzusehen, was passiert", sagte Anthelia.

"Du willst nicht direkt angreifen?" wollte Melonia wissen.

"Die wollen da das Wissen ihrer verdorbenen Daseinsform zusammentragen. Wäre sicher sehr interessant, was davon mitzunehmen. Deshalb will ich erst mal überblicken, was und wer da so alles zu finden ist, bevor ich euch anderen dazu antreibe, dieses Versteck zu bestürmen. Außerdem kann die sogenannte Göttin ihre Handlanger beliebig zwischen zwei Orten versetzen. Um einen erfolgreichen Schlag zu landen müssten wir so schnell und so gezielt zuschlagen, dass ihr dieser Vorteil nichts nützt. Und mit zuschlagen meine ich auch, alles zu erbeuten, was für diese Blutsaugersekte von erheblicher Bedeutung ist. Mich interessiert schon lange das, was in deren heimlicher Bibliothek so enthalten ist. Sollte die Sekte dieser angeblichen Göttin dieses Wissen für sich kopieren, dann täten sie mir damit einen sehr großen Gefallen", raunte Anthelia. Melonia verstand. "Also, ich begebe mich an den Ort und prüfe, ob es sich um das gesuchte Versteck handelt. Wehe allen, die meinen, mich oder andere mit dieser Bekanntmachung in eine Falle locken zu wollen! Weiß ich, dass es keine Falle ist und wie wir Schwestern einen größtmöglichen Erfolg im Kampf gegen diese Bande erzielen können, werde ich befinden, wer von euch mit mir zusammen diesen Schlag ausführt. Bis dahin grüße mir Beth McGuire!"

"Sie ist verbittert, weil sie nicht mehr beliebig apparieren kann", erwiderte Melonia. "Noch weiß sie nicht, ob sie nur ein Kind trägt oder mehrere."

"In einigen Wochen wird sie es wohl wissen. Öhm, was ist mit den Hexen, die auch bei diesem Fest gewesen sind?" wollte Anthelia wissen.

"Gestern ist bekannt geworden, dass noch zwei Hexen schwanger wurden. Fehlen nur noch von vier Hexen die Bestätigungen, darunter Nancy Gordon."

"Wird dieser sehr eifrigen Verfechterin der Rechte von Magielosen nicht behagen, sollte Vita Magica ihr ebenfalls zu einer unerwünschten Mutterschaft verholfen haben", feixte Anthelia.

"Mit verhelfen hat das wohl nichts zu tun", grummelte Melonia. Dann fragte sie, ob Anthelia die Karte behalten wollte.

"Ich habe mir den Ort gemerkt, Schwester Melonia. Danke für deine prompte Mitteilung!" Mit diesen Worten ließ sie auf telekinetischem Weg die Karte wieder zu einem großen Packen Pergament zusammenfalten und in der praktischen Tragetasche verschwinden. Melonia nahm die Tasche und verabschiedete sich von ihrer höchsten Schwester. Dann disapparierte sie.

__________

"Und, hast du deiner dieser Göttin zugefallenen Tante berichtet, wie viele wir sind und wo wir stecken?" fragte Robur Blutbart den äußerlich dreißig Menschenjahre alt aussehenden Bruder Castor Schattenflügel. Dieser sah seinen Anführer mit breitem Grinsen an und sagte: "Sie wollte es echt wissen, ob ich bei dir bin und wo wir sind. Da habe ich der das zugedacht, dass ich gerade bei Athen bin. Dass wir schon auf den Pelepones sind habe ich der nicht mitgeteilt."

"Dann werden die wohl versuchen, uns bei Athen zu kriegen. Wenn du der nicht doch unseren echten Standort weitergegeben hast", grummelte Robur. "Falls doch, bist du einer der ersten, die sterben, wenn's ernst wird."

"Ich lege da keinen Wert drauf, Robur. Tante Neaselenia meint wohl, mit ihren zweihundert Jahren dieser neuen Göttin nachlaufen zu müssen. Aber ich bin ein freier Sohn der Nacht und kein Sklave von irgendwem. Wenn wir dieses komische Kloster niedergebrannt haben bin ich auch wieder weg."

"So ist die Abmachung", sagte Robur. Dann zählte er die in einer Höhle zusammengekommenen Getreuen. Es waren hundertfünfzig Söhne und zehn Töchter der Nacht. Sie alle waren sich einig, dass es Zeit war, die schlafende Göttin in ihre Schranken zu weisen. Vielleicht erwischten sie die ja auch in diesem Kloster, wo wohl eines der geheimsten Bücher der Welt abgeschrieben wurde.

__________

Selene Hemlock hielt das mit Buchstaben aus Vampirblut beschriebene Pergamentstück in den Händen und las es erneut. Silver Gleam hatte geschrieben, dass es ziemlich sicher war, dass das Versteck der sogenannten schlafenden Göttin irgendwo in den Bergen der Pelepones zu suchen war und dass sie, wenn sie weiterhin behutsam weiterforschen konnte, bald den genauen Standort wissen würde. Selene sah zu ihrer Mutter Theia hoch, die gerade eine Landkarte des südöstlichen Mittelmeerraumes betrachtete. "Das Gebiet ist nicht gerade klein und zugänglich. Jeder suchende läuft gefahr, früher entdeckt zu werden, als er oder sie findet, was er oder sie sucht", sagte Theia verdrossen und deutete auf einen Kartenausschnitt. Selene musste sich strecken, um genau sehen zu können, was ihre Mutter meinte. Diese verfluchte Kleinheit ärgerte sie. Am liebsten wäre ihr, dass sie einen Alterungstrank nahm, der sie innerhalb von Sekunden um zwanzig Jahre älter und damit um mindestens siebzig Zentimeter größer machte. Doch wie sollte sie dann der Zaubereröffentlichkeit, die ihre Geburt so stark interessiert hatte, davon überzeugen, dass sie schon erwachsen war? Sie verzog ihr Gesicht und versuchte statt weiter mit ihrem Schicksal zu hadern, als erwachsene Hexe im Kinderkörper zu stecken, ihr aus dem ersten Leben bewahrtes Wissen anzubringen.

"Sie werden versuchen, Feindesabwehrzauber zu wirken. Vampire können mit ihrem Blut und durch bestimmte Opferrituale zu bestimmten Mondphasen einen Ort für Feinde unbetretbar oder unerträglich abweisend machen. Voixdelalune Sangazon hat Austère Tourrecandide davon erzählt, dass sich mächtige Blutsauger nicht von jedem dahergelaufenen Feind bestürmen lassen müssen."

"Will sagen, die haben so einen Zauber schon aufgerufen?" fragte Theia.

"Vor allem heißt das, dass die Suche erheblich beschleunigt werden kann, wenn ein Gegenstand hergestellt wird, der genau auf diese Feindesabweisezauber anspricht. Es sei denn, jemand hätte diesen Ort mit dem Fidelius-Zauber verborgen. Aber dagegen spricht, dass wir ja erfahren haben, in welcher Region Griechenlands das Versteck sein soll, immer unter dem Vorbehalt, keiner gezielten Fehlinformation aufgesessen zu sein", dozierte Selene mit einer ihrem körperlichen Alter weit vorauseilenden Sprechweise. Das missfiel Theia meistens, wenn ihre Tochter so redete. Aber in diesem Fall überhörte sie es entweder oder empfand es als unbedingt nötige Ausdrucksweise.

"Ich erinnere mich. War da nicht was mit dem "Hauch der Abweisung", der mit Vampirblut genauso gewirkt werden kann wie mit dem von Menschen?" Selene nickte. Doch sie ergänzte, dass dieser Zauber bei Vampiren von mindestens zehn die richtigen Worte kennenden und dieselben klar benannten Feinde habenden Blutsaugern gewirkt werden musste, weil die Vampire ja keinen Zauberstab benutzen konnten.

"Deren sogenannte Hohepriesterin soll eine weiterhin zauberkräftige Hexe sein, eine der wenigen Fälle, wo der Vampirismus die Ausführbarkeit von zauberstabbasierten Zaubern nicht unterdrückt. Denke dran, dass dieses Weib das Blut von Vesta Moran und ihrem halbvampirischen Sohn getrunken hat!"

"Stimmt, das würde die Lage vereinfachen. Aber Moment, wenn daran gedacht ist, die Bibliothek zu kopieren dürfen vorher womöglich keine Zauber ausgeführt werden. Silver Gleam erwähnte ja, dass in den Büchern selbst durch das verwendete Vampirblut bestimmte Zauber entfaltet werden. Am Ende dürfen die erst dann was anderes beschwören, wenn sie sicher sind, dass die eigentlichen Zauber in den Büchern dadurch nicht beeinträchtigt oder gar zerstört werden. Dann ist es aber wieder schwieriger, das Versteck zu finden."

"Es sei denn, wir schaffen das, was Anthelia mit der Brut von Valery Saunders geschafft hat, einzelne Mitglieder dieser Sekte zu markieren und dieser Spur zu folgen", erwiderte Theia Hemlock. Selene nickte. Dann sagte sie:

"Besteht von deinen Mitschwestern her die Möglichkeit, diese Vampirortungsgegenstände zu bekommen?"

"Das darfst du getrost vergessen, weil das LI nur dem Ministerium diese Artefakte gibt und neunzig davon bei Sandheasts unverzeihlichen Aktion mit den vier sich verheerend gegeneinander auswirkenden Tränken vernichtet wurden. Die haben also nur noch zehn von den Dingern, und das Laveau-Institut hat wegen der entstandenen Abkühlung in den Beziehungen wohl keine große Lust, neue Vampyroskope zu liefern, zumal ja auch nicht ausgeschlossen ist, dass jemand im Ministerium für Vita Magica arbeitet und solche Artefakte entwenden kann, wie es mit den Werwolfaufspürgeräten in Frankreich passiert ist."

"Das heißt auch, dass Anthelias Hexenbande nicht an diese Gerätschaften herankommt", stellte Selene fest. "Sollen wir dann zusehen, wie dieses Versteck zu einer uneinnehmbaren oder auch unauffindbaren Festung ausgebaut wird und die Bibliothek der Nachtkinder nach und nach zerstört wird, sobald die Anhänger der schlafenden Göttin alles daraus geschöpfte Wissen kopiert haben?" warf sie eine Frage in den Raum, bei der sie schon wusste, wie ihre Mutter antworten würde.

"Natürlich nicht", zischte Theia. "Aber wir können nicht von heute auf morgen damit rechnen, diese nützlichen Artefakte zu kriegen. Das muss ganz behutsam angegangen werden, meine Tochter."

"Das ist wieder einer dieser Momente, wo ich mich ärgere, dass ich auf der Insel der hölzernen Wächterinnen so voreilig diesen Fluchumkehrzauber benutzt habe", schnaubte Selene Hemlock.

"Ich träume auch noch manchmal davon, wie ich hilflos im Uterus von Austère Tourrecandide eingeschlossen war", knurrte Theia Hemlock. Damit war der Knut mal wieder gewechselt.

__________

Gooriaimiria fühlte die wachsende Kraft in ihrer neuen Niederlassung. Je mehr Seiten des geheimen Buches der tausenden Erkenntnisse mit Vampirblut auf Pergament geschrieben waren, desto stärker breitete sich die ohne Zauberstab und -formel geweckte Magie aus. Über die Hälfte des Buches war bereits kopiert. Waren die Seiten in der richtigen Reihenfolge zusammengebunden musste die Hohepriesterin die davon erzeugte Kraft nur noch aufwecken, mit einem Blutopfer und dann mit Zaubersprüchen, die die schlafende Göttin noch von Iaxathans Seelenfragment im Mitternachtsstein erlernt hatte, als sie noch Lady Nyx und eine einfache Tochter der Nacht gewesen war.

Sie wusste jedoch auch, dass das Zentrum der neuen und irgendwann mal einzigen Bibliothek der Nachtkinder bedroht wurde. Dieser Wegelagerer Blutbart war entkommen, und ohne Zugang zu anderen Nachtkindern wusste sie nicht, was er alles weitererzählt hatte und wer davon erfuhr. Sie nahm sich vor, diesen von ihr noch nicht beherrschten Sohn der Nacht zu suchen, ihn in ihre Reihen zu zwingen oder seine Seele, seine Lebensessenz, in sich einzusaugen. So übernahm sie ganz ohne deren Wissen Körper und Geist der Nachttochter Neaselenia, deren Eltern beide im Einfluss des Mitternachtsdiamanten entstanden waren. Nun sah sie durch ihre Augen, hörte durch ihre Ohren, bewegte Hände, Körper und Füße. Neaselenia fühlte zwar, wie die Göttin in ihr wirkte, wehrte sich jedoch nicht. Sie empfand die mächtige Kraft von außen als Labsal und Ansporn und gab sich hin. Jetzt war sie die Göttin, ihr Wille, ihre Kraft.

Neaselenia verließ kurz nach der Abenddämmerung das geheime Kloster und wurde Dank der in ihr wirkenden Macht der Göttin innerhalb von zwei Sekunden zu einer menschengroßen Fledermaus. Ebenso durch die in ihr wirkende Kraft Gooriaimirias konnte sie viermal so schnell fliegen als sonst. Sie stieg fünfhundert Meter über den Berggipfel hinaus und nahm Kurs auf die letzte verspürte Präsenz ihres Neffen. War der wirklich bei Athen? Irgendwie erschien es Gooriaimiria merkwürdig, wie leicht ihre Kundschafterin von den Plänen Robur Blutbarts erfahren hatte. War der wirklich so einfältig und unwissend? Die Göttin befahl ihr, noch mal mit ihrem Neffen in Kontakt zu treten. Die Verbindung kam sofort zu stande, weil dieser auch ein Blutpate Neaselenias war. "Zeige mir, wo du gerade bist und wer bei dir ist!" befahlen Neaselenia und die Göttin in einem vereinten Gedanken. Gooriaimiria fühlte jedoch, dass Castor Schattenflügel versuchte, sich diesem Befehl zu entziehen. Ja, sie erkannte sofort, dass er davon eher alarmiert war und Angst und Abscheu in ihm aufkamen. "Wo genau seid ihr jetzt! Verrate mir, wo du bist und wer alles bei dir ist!" drang Neaselenias Gedankenbefehl von der Kraft Gooriaimirias verstärkt in Schattenflügels Geist ein. Dieser stieß aus, dass sie gerade von ihrem Platz bei Athen aus losgeflogen seien und sie ihn nicht so bedrängen sollte. Dann bekam Neaselenia den von ihrer Herrin gewünschten Direkteinblick in die Sinneswelt Schattenflügels. Sie sah ihn neben Robur Blutbart, der sich mit mehreren Klingenwaffen mit Goldüberzug behängt hatte und merkwürdige metallische Kisten auf dem Rücken trug. Die Göttin erkannte die Kisten sofort, es waren Kanister, ob für Gas oder Brennstoff wusste sie nicht. Auf jeden Fall wollte der Kerl damit ihre neue Bibliothek, den Hort des Wissens der schlafenden Göttin, angreifen. Ja, und sie erkannte durch Neaselenias Direktverbindung zu ihrem Neffen und Blutpaten auch, dass sie nicht mehr weit vom Kloster entfernt waren, nicht bei Athen. Sie sah nun durch Schattenflügels Augen mehrere Dutzend fliegende Nachtkinder. Der Blick war zwar verschwommen, weil es eben keine von Gooriaimiria selbst errichtete Verbindung war. Doch was sie sah missfiel ihr auch so aufs höchste.

"Du hast mich belogen", stieß Neaselenia einen so kraftvollen Gedanken aus, dass er in Schattenflügels Geist widerhallte, aber auch direkt aus seinem Mund drang, als habe er genau diese Worte aussprechen wollen. Da erkannte die Göttin, dass sie einen Fehler begangen hatte. Neaselenias Wut war zu groß, hatte sich mit ihrer eigenen Wut verstärkt und damit beinahe Schattenflügels Persönlichkeit verdrängt und dessen Körper übernommen. Natürlich merkte so ein Spitzbube wie Robur Blutbart das sofort.

"Wer hat wen belogen, Castor?" hörte die Göttin ihn wie durch vom Wind verwirbelte Luft fragen. Da brach es aus dem Beobachteten heraus: "Die wollen mich unterwerfen, Robur. Die wollen mich zu einem von denen machen. Lieber tot als Sklave!"

"Echt, die wollen dich ..." knurrte Robur Blutbart. Die Göttin erkannte, dass sie ihren Fehler hier und jetzt berichtigen musste. Außerdem bot sich ihr gerade die Chance, den Anführer des feindlichen Trupps zu töten. Sie verstärkte ihre Kraft und drängte über ihre lebendige Dienerin Neaselenia gänzlich in den Geist von Castor Schattenflügel. Dieser rief noch einmal, dass er gerade von seiner Tante und wohl der Göttin angegriffen wurde. Sein Körper litt unter der auf den Geist einstürzenden Kraft. Das ließ sich nicht ändern. Aber jetzt hatte Gooriaimiria die vollständige Gewalt über den ihr entgegentretenden. Sie fühlte ihn jetzt beinahe wie einen Eigenen Körper. Sie trieb ihn, sich herumzuwerfen und auf Robur zuzuspringen. Doch dieser hatte blitzartig zwei Krummsäbel blankgezogen und vollführte mit einem davon einen wuchtigen Streich und mit dem zweiten einen den anstürmenden Körper erwartenden Stoß. Keine Sekunde später bohrte sich die eine Klinge in das Herz Schattenflügels, während die zweite Waffe den Kopf vom Rumpf trennte. Der Schmerz der tödlichen Treffer warf Gooriaimiria aus Schattenflügels Wahrnehmung zurück und ließ sie nun wieder Neaselenia fühlen. Sie befahl ihr, unverzüglich zum Kloster zurückzufliegen und die anderen zu warnen. Das dauerte jedoch zwanzig Minuten, trotz der erhöhten Fluggeschwindigkeit.

"Die sind schon in der Nähe! rief sie ihren Gesinnungsgenossen zu. Castor Schattenflügel hat uns zu täuschen versucht. Aber die sind schon in unserer Nähe. Macht euch auf den Angriff gefasst!"

Gooriaimiria fühlte, dass ihre Dienerin wegen der durch sie fließenden Kräfte körperlich litt. Sie fühlte Kopfschmerzen. Ihr Herz pochte schnell und heftig, und ihr Atem ging stoßweise. Um die wertvolle Kundschafterin nicht weiter zu gefährden zog sich Gooriaimiria aus der direkten Wahrnehmung und Körperbeherrschung zurück, befahl ihrer Dienerin jedoch, sie sofort zu rufen, wenn die widersetzlichen Nachtsöhne den Berg mit dem Kloster erreicht hatten. Sie musste jetzt Nyctodora benachrichtigen, sie sofort in das Kloster versetzen, damit sie dort mit ihrer nach außen wirksamen Zauberkraft half, die Angreifer zurückzuschlagen. Robur wollte sie aber jetzt nicht mehr töten. Jemand, der so blitzartig eine Gefahr erkannte und ausschalten konnte war zu wertvoll, um ihn einfach so auszulöschen. Ihn in sich einverleiben würde ihr zwar sein Wissen ausliefern, aber seine Kampffertigkeit vergeuden. Nein, sie musste ihn lebendig haben und irgendwie zwingen, sie anzunehmen, um von ihr durchdrungen und unterworfen zu werden. Sie wollte ihn als neuen Führer einer Kriegergruppe haben.

Während sie auf den nun sicher erfolgenden Angriff wartete überlegte sie, wer alles mit Robur Blutbart Blutspartnerschaft hielt, wer vielleicht ähnlich wie Neaselenia bei Castor Schattenflügel direkten Zugang zu ihm herstellen konnte. Doch selbst mit dem Wissen von tausend in ihr vereinten Leben anderer Nachtkinder fand sie keinen, den sie mal eben auf ihre Seite ziehen und auf Robur Blutbart ansetzen konnte. Dieser Räuberhauptmann war wie Zachary Marchand, ungebärdig, gefährlich, aber dennoch von ihr begehrt. Sie würde ihn kriegen und zu ihrem Diener machen. Im Moment verwünschte sie ihren Zustand. Was nützte die ganze geballte Macht, wenn sie dann, wenn es wichtig war, nicht direkt vor Ort eingreifen konnte. Sicher, sie hatte Neaselenia und sie konnte auch auf Philonyctes zugreifen. Doch das war nicht dasselbe wie damals, wo sie Lady Nyx oder Blutmondkönigin Lamia gewesen war. Dann kam noch etwas, was ihr noch mehr Unmut bereitete: Nyctodora war gerade dabei, in Hongkong eine junge Frau zu ihrer Blutstochter zu machen, die in ihrem früheren Leben die Tochter eines reichen Elektronikgroßhändlers gewesen war. Gerade vollzog Nyctodora mit dem gerade siebzehn Jahre alten Mädchen die feierliche Blutvereinigung. Gooriaimiria erkannte, dass sie diesen erhabenen und auch für ihre Sache wichtigen Vorgang nicht mal eben unterbrechen durfte. Doch ihr Vorhaben. Eleni Papadakis alias Nyctodora in das von Menschen verlassene Kloster zu versetzen, musste erst mal zurückgestellt werden, mindestens solange, bis die neue Tochter den Schlaf ihrer Umwandlung schlief. Dieser Schlaf musste bewacht werden. Dafür nahm sie Kontakt mit einer anderen, gerade nicht für wichtige Dinge eingeteilten Dienerin auf und versetzte sie durch den Schattenstrudel in Nyctodoras Nähe.

Zwanzig Minuten später konnte die ausgesandte Kundschafterin die Hohepriesterin ansprechen, ohne den erhabenen Akt der Blutsvereinigung zu stören. Natürlich war Eleni sofort bereit, in die neu zu errichtende Bibliothek zu reisen. Durch den Schattenstrudel war das trotz der riesigen Entfernung eine Sache von dreißig Sekunden. Denn anders als beim Apparieren benötigte der Transport von der Erfassung über die Versetzung bis zur Freigabe am Zielort seine Zeit, konnte dafür aber von jedem Ort an jeden Ort der Erdkugel ausgeführt werden, solange der oder die so versetzte bei Nacht oder im Schutz einer Solexfolie am Zielort eintraf.

__________

"Leute, wir wurden aufgespürt. Ich musste Castor töten, damit er nicht unfreiwillig zum Verräter wurde. Außerdem wollte er kein Sklave dieser irgendwie zur Abgöttin verwandelten Hure werden. Aber wir müssen uns beeilen. Die Brüder und vielleicht auch Schwestern dieser Sekte warten sicher jetzt auf uns oder schicken wen, um uns vorher vom Nachthimmel zu pflücken! Also, auf und voran! Sturm auf den Hort dieser Götzenanbeter!" rief Robur seinen nun hundertachtzig Gefährten zu. Sie hatten in den vergangenen zwei Tagen noch dreißig ehemalige Rotblütler zu ihren Artgenossen gemacht, Männer, die sich mit Sprengstoffen und Brandsätzen auskannten. Sie wollten nicht frontal gegen das als Ziel erkannte Gebäude vorstoßen, sondern aus acht Richtungen gleichzeitig anfliegen. Hierfür hatte Robur Unterführer eingeteilt, von denen er ganz sicher war, dass sie keinen in den Reihen dieser selbsternannten Göttin hatten. Er selbst würde mit hundert Mann den erwarteten Hauptangriff einleiten und damit die Verteidiger auf sich ziehen. Dann konnten die aus den anderen sieben Richtungen anfligenden Kommandos heimlich in das Kloster eindringen und dort ihre Spreng- und Brandsätze anbringen. Da zu vermuten war, dass die Kraft der dort wohnenden Nachtkinder jede überempfindliche Elektrosteuerung verdarb würden die Zerstörungsladungen rein alchemistisch oder auch chemisch gezündet. So brachen sie auf, menschengroße Fledermäuse, Söhne der Nacht, die sich nicht unter das Joch einer angeblichen oder tatsächlichen Göttin ihrer Daseinsart begeben wollten.

Sie flogen schnell dahin, mieden das Licht aus den Dörfern und Städten. Jede der übergroßen Fledermäuse trug mindestens einen Kanister mit jenem Stoff bei sich, der Napalm genannt wurde und bereits in verschiedenen Kriegen der magielosen Leute benutzt worden war. Außerdem trugen sie noch kleinere Vorräte an Plastiksprengstoff bei sich. Von dem verlassenen Kloster sollte nichts mehr übrigbleiben. Robur wollte als der Sohn der Nacht in die Geschichte eingehen, der die heilige Bibliothek und die Freiheit der Nachtkinder verteidigt und gerettet hatte.

__________

20. November 2002

Die Mitternachtsstunde stand unmittelbar bevor. Die Wächter an den Mauern blickten mit ihren die Dunkelheit durchdringenden Augen in die Ferne. Einige hatten sogar Fernrohre dabei, um auszuspähen. Auch wenn das Kloster von drei Seiten her nur schwer zu erreichen war legte die schlafende Göttin Wert darauf, dass diese Seiten besonders bewacht wurden. Denn bei Nacht waren sie für fliegende Nachtkinder kein Problem.

Neaselenia blickte besorgt in den Nachthimmel in Nordrichtung. Dieser Räuberhauptmann Robur Blutbart hatte viel zu schnell reagiert. Sicher war er nun früher als geplant aufgebrochen, um einem möglichen Präventivschlag zu entgehen. Das konnte zwar auch seinen eigentlichen Angriffsplan stören. Doch worin dieser bestand wusste hier keiner. Am Ende hatte der Bursche genau darauf gesetzt, dass sie von seinem Angriff erfuhren und sich darauf vorbereiteten. Auch sowas hatte es schon gegeben, um den Feind von einer anderen Sache abzulenken, die nicht weniger lebenswichtig war als das Angriffsziel. Sicher wollte der ein Zeichen setzen, sich als Todfeind der schlafenden Göttin darstellen. Aber was war, wenn der gleichzeitig noch anderswo etwas gegen die wahre Herrin aller Nachtkinder ausführte? Wie dem auch war, sie mussten ihr Versteck, ihre zukünftige Bibliothek in den Bergen verteidigen. Warum sandte die Göttin nicht weitere kampfstarke Helfer hierhin? Diese Frage richtete Neaselenia an ihre Herrin.

"Du meinst, ich soll alle noch lebenden Kristallstaubträger zu euch schicken?" fragte Gooriaimiria zurück. Neaselenia nickte.

"Ich brauche die gerade, um das Versteck von Iaxathans Knecht zu finden. Fällt er, so steht meiner Herrschaft niemand wirklich gefährliches mehr im Wege", antwortete die Göttin ungehalten.

Über den Knecht dessen, der die vollständige Vernichtung aller beseelten Wesen herbeiführen wollte hatte die schlafende Göttin ihren Dienern erzählt, weil diese für sie Ausschau halten sollten, wann einer von dessen Helfershelfern auftauchte. Deshalb konnte Neaselenia dieser Begründung ihrer Herrin nicht widersprechen. Zumindest waren fünf Kristallstaubträger da. Zwar fühlte sich kein auf übliche Weise lebendes Nachtkind wohl in der Nähe dieser grauhäutigen, silberzähnigen Wesen. Doch sie waren stärker als alle anderen. Sie würden die Angreifer sicher wirksam zurückschlagen.

Gerade tauchte Nyctodora auf. Ihre weitreichende Ausstrahlung gab Neaselenia neue Hoffnung. Die Hohepriesterin konnte auch mit Kampf- und Zerstörungszaubern hantieren. Allerdings war Nyctodora nicht wirklich erfreut, von ihren ebenso wichtigen Aufgaben abgezogen worden zu sein, weil jemand nicht aufgepasst und das geheime Versteck einem Feind verraten hatte.

Nyctodora befahl Neaselenia und Philonyctes zu sich hin und fragte sie über Robur und dessen Angriffstrupp aus. Doch außer dem was Neaselenia berichten konnte wusste hier niemand was. Dann hörte die Hohepriesterin der schlafenden Göttin die Stimme ihrer Herrin im Kopf:

"Ich will diesen Robur lebendig haben. Sieh zu, dass du ihn fängst und dazu drängen kannst, von deinem Blut zu trinken. Ich will ihn als Krieger haben."

"Wenn er wirklich mit Brennstoffen oder gar Bomben angreift kann ich nicht garantieren, ihn lebend zu erwischen, meine Göttin", wagte Eleni alias Nyctodora einen Widerspruch.

"Dann sieh zu, dass du ihn vor den Toren der Bibliothek erwischst! Am Besten nimmst du zwei der fünf Kristallstaubträger mit. Fang ihn und bring ihn dazu, von deinem Blut zu kosten. Dann fällt sein Angriff in sich zusammen. Alle anderen dürft ihr töten. Doch Robur Blutbart will ich lebendig haben."

"Wie du befiehlst, meine große Mutter der Nacht!" erwiderte Nyctodora.

Die Anspannung stieg. Sie rechneten jetzt jeden Moment mit dem Angriff. Vorausgeschickte Späher aus den Reihen der Schutzmannschaft sollten mit Hilfe der Göttin erfassen, wann die Angriffstruppe sich näherte.

Eine Stunde nach Mitternacht war es soweit. Der im Norden postierte Späher rief über seinen Blutsbruder die Annäherung der Feinde aus. Doch das war dann auch schon das letzte Lebenszeichen des Spähers. Denn irgendwas oder irgendwer machte seinem Leben als Kind der Nacht ein plötzliches Ende.

"Auf dann, Brüder und Schwestern im Namen der großen Mutter der Nacht, verteidigt den Hort ihres Wissens und Wirkens!" rief die Hohepriesterin. Sie dachte erst, dass sie dem Anführer in Fledermausform entgegenfliegen wollte. Doch dann verwarf sie die Idee. Denn als Fledermaus konnte sie keinen Zauberstab benutzen und keinen mit menschlichen Worten zu wirkenden Zauber ausführen. Dabei kam es wohl genau darauf an, dass sie nicht nur eine Tochter der Nacht, sondern auch eine Hexe war, eine Feuerhexe, in deren Blut die Lebenskraft von Vesta und Aidonius vereint worden war. Dann sah sie durch ihr Fernglas die in Diamantformation anfliegenden Feinde.

Hundert überlebensgroße Fledermäuse flogen mit wild flatternden Flughäuten auf den Steilhang zu, auf dem das verlassene und von den Brüdern um Philonyctes besetzte Kloster stand. "Lasst sie noch auf halbe Schussweite herankommen. Dann blast sie mit den Sprenggeschossen weg!" befahl Nyctodora. Sie zählte derweil noch mal durch, wie viele Feinde da anflogen. Hatte Neaselenia nicht von an die zweihundert Kriegern gesprochen? Sie blickte sich um und verzog ihr Gesicht. Natürlich griff dieser Bursche nicht nur aus einer Richtung an. Was da kam war vielleicht die Hauptmacht, aber nicht der ganze Trupp.

"Nicht alle auf diese Seite! Deckt den Luftraum und die anderen Mauern auch ab!" rief sie ihren Posten zu und eilte selbst zum Innenhof, wo die von ihr gegen magische Störungen bezauberten Raketenabschussvorrichtungen standen. Sicher würde sie nicht mit Raketen auf einzelne Feinde in Fledermausform feuern. Das war ja wie mit Kanonen auf Spatzen zu schießen. Doch sie musste diese Stellungen gesondert sichern, damit die Waffen nicht in Feindeshand fielen. Deshalb stach sie sich mit einer goldenen Nadel in das linke Handgelenk und ließ das dadurch herausquellende Blut auf den Boden tropfen. Sie zog einen Kreis um jeden Raketenwerfer und beschwor den Wall des Hassfeuers, der ausschließlich die traf, die sie zur Feindin erklärt hatten. Einen ähnlichen Zauber, das wahrhaftige Feindesfeuer, kannte sie noch nicht, weil dieses erst erfunden worden war, nachdem Griselda Hollingsworth zu Lady Nyx geworden war. Sie war gerade damit fertig und heilte ihre Wunde mit dem für Vampire passenden Zauber "Sanato per noctem!" Da hörte sie die ersten MP-Salven. Zwar hatte sie in weiser Voraussicht daran gedacht, jede Waffe mit einem Schalldämpfer zu versehen. Doch das wilde Schwirren der abgefeuerten Kugeln war trotzdem noch sehr Laut für das hochempfindliche Gehör einer Nachttochter. Die scharfen Explosionsgeräusche keine Sekunde nach dem Abfeuern überlagerten alle anderen Geräusche. Das Johlen der Verteidiger verriet ihr, dass die Feinde von diesem Angriff überrascht worden und wohl empfindlich getroffen worden waren. Doch Eleni Papadakis alias Nyctodora traute dem leichten Erfolg nicht. Sie apparierte auf der Nordmauer, gerade um mitzubekommen, wie zehn der MP-Schützen von grell lodernden Armbrustbolzen getroffen wurden und innerlich vergrlühten. Zwar stürzten gerade fünfzig grausam entstellte Fledermauskadaver zu Boden oder qualmten von einem in den Körpern schwelenden Feuer, doch auf einigen der noch fliegenden Gegner ritten Feinde in menschlicher Gestalt, die gerade wieder mit Armbrüsten auf die Bewacher auf der Mauer zielten. "Auf die Reiter feuern, schnell!" rief Nyctodora, die erkannte, wie weitsichtig dieser Robur doch gewesen war, mit Fernkampfwaffen zu rechnen und deshalb auch eine Gruppe von Leuten dabei zu haben, die die fliegenden Angreifer mit eigenen Fernkampfwaffen beschützten. Drei Bolzen flogen noch auf die Mauer zu. Zwei Verteidiger bekamen tödliche Treffer ab. Dann jedoch waren keine bewaffneten Fledermausreiter mehr zu erkennen. Doch die Feinde hatten sich beim aufflammen der MP-Mündungen in die Tiefe gestürzt, weshalb die Salven nur drei weitere der Fledermäuse selbst erwischten. Jetzt flogen sie weit unten heran. Um auf sie zu feuern mussten die Verteidiger sich über die Mauern lehnen und nach unten zielen. Doch genau darin bestand eine Falle, erkannte Nyctodora. "Nicht über die Mauer lehnen! Waffen nach oben!" Ihre Warnung kam für drei Verteidiger zu spät. Denn als diese sich über die Mauer lehnten klatschten ihnen Ladungen stechend riechender Flüssigkeiten auf den Rücken. Dann schlugen noch kleine Leuchtkugeln auf sie ein und setzten die Getroffenen in Brand. Nyctodora schwang ihren Zauberstab und rief: "Extingeo!" Ein eisblauer Lichtkegel brach aus ihrem Zauberstab und traf die lichterloh brennenden Gefährten. Die Flammen erstarben. In diesen Sekunden feuerten vier weitere Verteidiger ihre Waffen steil nach oben ab. Doch die abgefeuerten Sprenggeschosse gingen fehl, weil die aus großer Höhe heranfliegenden Angreifer mit einem Gegenschlag gerechnet hatten und abrupt die Flugrichtung änderten. Nyctodora löschte schnell die Feuer. Doch für ihre Gefährten war es zu spät. Die Flammen hatten sich schon zu tief in ihr Fleisch gebrannt. So zielte sie voller Wut auf eine besonders große Fledermaus, um ihr einen Feuerball zur Vergeltung entgegenzujagen. Doch die Stimme ihrer Herrin hielt sie zurück: "Halt, nicht töten, bevor du nicht weißt, wer Robur ist. Ich helfe dir, ihn aufzuspüren. Dann hol ihn dir! Aber sei auf der Hut! Der Südspäher hat gerade eine Feindesgruppe gesehen. Doch er hat es nicht überlebt."

"Feinde auch im Süden! Südmannschaft aufpassen!" rief Nyctodora. Dann sah sie zylinderförmige Gegenstände aus großer Höhe niedersausen. Jetzt begriff sie, dass der Feind wirklich sehr weit geplant hatte. Die Gegenstände trafen die Gebäude und barstenin die Ohren peinigenden Explosionen. Schlagartig standen zwei der vier Häuser in Flammen, darunter auch die Gebetskapelle mit dem Glockenturm. Nyctodora knurrte wütend. Warum hatte sie nicht längst Feuerschutzzauber auf die Gebäude gelegt? Die Frage war leicht zu beantworten: Weil sie die sich aufbauende Magie der kopierten Buchtexte nicht verderben durfte. Das Buch der tausend Erkenntnisse. Die bereits geschriebenen Seiten mussten unbedingt vor dem Feind gerettet werden. Er durfte sie weder vernichten noch in die Hände bekommen. Doch der Angriff mit den Brandbomben zeigte, dass Roburs Gefolge nicht vorhatte, das Kloster bestehen zu lassen oder es zu plündern, bevor er es niederbrannte.

Weitere Angriffstruppen flogen an, aus Nordost, Nordwest, Westen, Ostenund Südwesten. Es waren kleinere Gruppen, wohl eher als Bombenkommandos gedacht. Doch sie reichten aus, um die Verteidiger des Klosters auf sich zu ziehen. Nyctodora stand derweil auf der Nordmauer und wehrte die entfachten Brände ab, so schnell sie konnte. Dann krachte eine weitere Detonation und sprengte einen Teil der Südmauer weg. Um das Kloster zu unterminieren war es auf zu hartem Felsgestein errichtet. Zumindest aber waren die, welche die Bomben zündeten, keine Selbstmörder wie die Kamikazes oder die Attentäter vom elften September, erkannte Nyctodora. Denn sie konnte die von drei berittenen Fledermäusen beschützten Angreifer noch erkennen, wie sie sich zurückzogen. Doch nun griffen auch die Kristallstaubvampire an. Sie fegten in die Reihen der nicht im Hauptpulk mitfliegenden Feinde hinein. Gegen sie konnten die Angreifer nichts ausrichten, wusste Nyctodora. Sie freute sich darauf, Robur vor seiner Weihe zum Diener der Göttin noch das Ausmaß seiner Niederlage vorführen zu dürfen, wenn alle seine Helfer tot waren. Doch erst einmal musste sie ihn aufspüren.

Neaselenia eilte zu ihr auf die Mauer und deutete nach Nordwesten. "Einer von den vieren da ist es, vielleicht der schmächtigste. Nein, einer der stärkeren ist das wohl. Soll ich dir helfen?"

"Nein nein! Du bleibst in den geschützten Kellern, solange diese Bomber nicht durchkommen. Ich fliege mit zwei Kristallstaubträgern los", knurrte Eleni. Da kam auch schon einer der zu einer riesengroßen grauen Fledermäuse gewordene Kristallstaubträger heran. Er bot ihr auf gedankensprachlichem Weg an, sie zu tragen. Doch sie lehnte es ab, weil er so wendiger und Kampfkräftiger blieb. Um selbst zu fliegen vollführte sie mit Hilfe ihrer Herrin einen Apportationszauber und ließ einen schnittigen Besenstiel mit Reisigholzschweif neben sich auftauchen. Sie schwang sich auf den Besen und hob ab. Mit einem schnellen Aura-Sanignis-Zauber umschloss sie sich und den Besen mit einer Sphäre aus goldenen Feuerzungen, die jedes gewöhnliche Feuer und die meisten magischen Feuer und Feuerwesen wirksam abhielt. Sie hatte jetzt ein Jagdziel: Robur Blutbart.

__________

Anthelia hatte über zehn Kontakte aus Europa erfahren, dass Robur Blutbart mit mehr als hundertfünfzig Artgenossen nach Griechenland geflogen war und unterwegs wohl noch mehrere arglose Männer zu Ihresgleichen gemacht hatte. Damit stand für sie fest, dass der Sturm auf das Versteck der schlafenden Göttin unmittelbar bevorstand. Die Vampire würden das dort bereits angehäufte Wissen aus der nur für sie zugänglichen Bibliothek sicher nicht bestehen lassen, sondern alles niedergeschriebene vernichten. Das durfte Anthelia nicht zulassen. Die Chance, geheime Schriften der sich selbst Kinder der Nacht nennenden Brut Iaxathans zu erbeuten war zu verlockend. So war sie gleich nach Erhalt der Nachricht über den Flug der Banditen um Robur Blutbart über fünf Haltepunkte appariert und war mit ihrem neuen Besen losgeflogen. Sie hatte sich selbst mit einem Zauber belegt, von dem sie sicher war, dass er ähnlich wie die vom Marie-Laveau-Institut entwickelten Vampirblutresonanzkristalle wirkte. Hierbei verstärkte sie lediglich das in ihrem Körper verbliebene Fragment von Dairons Magie aus dem Seelenmedaillon, das auf dunkle Wesen und vor allem Vampire ansprach. Somit selbst zu einer Art Vampiraufspürvorrichtung geworden flog sie so schnell der gerade unsichtbare Besen in dieser Höhe konnte auf den annähernd beschriebenen Zielpunkt zu.

Es mochten noch an die drei Kilometer sein, als sie fühlte, wie ihr Körper erbebte und sie in eine glückselige Stimmung geriet. Ja, da war was, das ihr behagte, ihr neue Kraft verhieß und sie lustvoll erregte, als würde sie gerade von einem ihr allein zugetanen Mann beschlafen. Sie erkannte noch, dass sie sich nicht in diese glückselige Stimmung hineinfallen lassen durfte, wollte sie noch Herrin ihrer Sinne und Taten bleiben. Dann sah sie den Steilhang, auf dessen Plateau die Mauer eines aus mehreren Gebäuden bestehenden Anwesens emporragte. Sie hielt sich den Zauberstab gegen die Körpermitte und murmelte: "Reducio Stimulum obscurum!" Schlagartig hörte das wohlige Beben in ihrem Körper und die immer größer werdende Glücksstimmung auf. Jetzt konnte sich Anthelia wieder voll auf alles besinnen, was sie zu erledigen gedachte. Gerade war die Sonne hinter den Bergen versunken, und aus den einzelnen Gebäuden flogen zu fledermäusen gewordene Kinder der Nacht auf. Anthelia verdunkelte schnell ihre eigene Lebensaura und bezauberte sich mit dem Mondfriedenszauber, der Vampire auf Entfernung nicht erkennen ließ, dass ein Mensch in der Nähe war und Vampire, die bereits Sichtkontakt mit einem Menschen hatten davon abgehalten wurden, ihn sofort anzugreifen, ja mit ihrem Unterwerfungsblick nicht durch eine unsichtbare, aus Mondkraft bestehende Abschirmung drangen.

Derartig gesichert und durch den Besen selbst immer noch unsichtbar glitt sie noch näher an das Kloster heran. Sie musste es beobachten, ergründen, wo der beste Zuweg war und vor allem, ob sie etwas von den anderen erfuhr. Sie flog so langsam der Besen konnte ohne zu schlingern auf die Gebäude zu. Sie lauschte mit ihren Geistessinnen. Wie üblich klangen die Gedanken echter Vampire wie hinter Mauern erklingende Stimmen für sie. Doch da war eine geistige Quelle, die klar und deutlich zu verstehen war. Es war eine Frau, die Hohepriesterin der schlafenden Göttin. Anthelia erfuhr ihren Vampirnamen: Nyctodora. Wer sie früher mal gewesen war konnte sie auf diese Entfernung nicht ermitteln. Dafür musste sie der anderen doch in die Augen sehen. Was sie jedoch erfuhr, und was ihre sorgsam unterdrückte Euphorie wieder auflodern ließ war, dass sie alle ihre Mitschwestern in einen Keller hinunterschickte. Sie führten die vier Kisten mit den bereits abgeschriebenen Texten aus einem Werk namens "Buch der tausend Erkenntnisse" mit sich. Anthelia hatte von diesem Buch gehört. Es galt als Legende unter Zauberern und Vampiren. Denn darin stand die Geschichte ihrer Entstehung und alle Stärken und Schwächen dieser Zauberwesenart. Gelang es ihr, dieses Buch zu erbeuten, war das ein Sieg, der größer war als der zur Eroberung eines neuen Körpers, als die vernichtung von Hallittis Körper, als die Zerstörung von Bokanowskis Burg und als die Wiedergewinnung ihrer körperlichen Freiheit nach Monaten in Daianira Hemlocks Leib. Sie musste diese bereits beschriebenen Seiten haben.

Wie eine hungrige Katze vor einem Mauseloch lauerte sie darauf, dass die Mitschwestern dieser Hohepriesterin in das Kellergewölbe hinabstiegen und es mit schweren Steinen verbarrikadierten. Sie erfasste auch, dass Nyctodora wahrlich eine Hexe war. Sie baute einen Apparitionswall auf, der den zeitlosen Ortswechsel vereitelte. Nur der Schattenstrudel ihrer Herrin mochte noch jemamden in das Gewölbe befördern oder von dort fortholen. Doch Anthelia konnte über diese Vorkehrung nur hämisch grinsen. Sollte sie jetzt vorstoßen und sich holen, was sie wollte? Nein, denn es fehlte etwas, um sicherzustellen, dass die Blutsaugerinnen mit ihrem Schatz nicht mal eben weggeholt wurden: Offenes Feuer. Sie musste also erst einmal in das Kloster eindringen und dort mindestens einen großen Brand legen. Doch den konnte diese vermaledeite Hohepriesterin umgehend bekämpfen. Denn Anthelia wusste, dass diese Vampirhexe eine besondere Beziehung zum Element Feuer besaß. Also musste sie wohl oder übel ihre Mitschwestern herbeiholen und das Kloster offen angreifen, um dieses Weib zu beschäftigen.

Sie wollte gerade landen, um über die von ihr eingerichtete Kette von Mentiloquistinnen nach allen zu rufen, die ihr helfen konnten, als sie die Annäherung aggressiver Geistesregungen verspürte. Sie lauschte und hätte fast losgelacht. Da kamen Robur und seine Angriffstruppe. Besser konnte es jetzt nicht für sie laufen. Sie musste nur abwarten, bis die feindlichen Vampire die Besatzung des verlassenen Klosters so sehr beschäftigten, dass sie mit einem einfachen Incendius-Zauber an verschiedenen Stellen die benötigten Feuerquellen schaffen konnte, um im Kellerraum selbst das von Yanxothars Seele erlernte Ritual des Heilsfeuers zu wirken.

Als sie mitbekam, wie die anfliegenden Vampire aus verschiedenen Richtungen angriffen und unverzüglich Brandsätze und Sprengkörper zündeten erkannte sie, dass sie selbst kein Feuer mehr legen musste. Robur überwachte den Angriff. Doch diese Hohepriesterin war bereits auf ihn angesetzt worden. Gut, jetzt war sie abgelenkt. Anthelia zog das Feuerschwert und erweckte es mit dem Wort "Faiyanshaitargesh!" Dann konzentrierte sie sich auf den Wunsch, die Kraft des Schwertes möge sie in den Keller mit den Vampirinnen tragen. Keinen Moment später umloderte sie ein orangeroter Feuerball und verschwand mit ihr.

__________

Neaselenia hörte die Stimme ihrer Herrin und Göttin, als sie im sicheren Keller saß. Es handelte sich um ein Gewölbe aus purem Granit. Die Decke wurde von baumstammdicken Säulen getragen. Offenbar hatten die Mönche, die dieses Kloster erbaut hatten, nicht nur mit friedlichen Tagen gerechnet, dachte die Vampirin. Sie hatte alle im Kloster versammelten Schwestern versammelt. Das Kämpfen sollten sie den Männern überlassen, so Nyctodoras und der Göttin klare Anweisung. Als noch mal alle großen Felsblöcke geprüft worden waren, mit denen die eisernen Türen zusätzlich verbarrikadiert worden waren, stimmte sie sich auf die von außen eindringenden Kampfgeräusche ein. Die Sprengungen an den Mauern oder die Schmerzens- und Todesschreie von Gefährten taten ihr in Ohren und Seele weh. Einige der Mitschwestern stierten verängstigt an die Decke, von wegen, dass Nachtkinder keine Gefühle mehr hatten. Nur weinen konnten sie nicht, weil durch ihre Blutwandlung die Bildung von Tränen unmöglich geworden war.

Neaselenia blickte auf die vier Kostbarkeiten, die sie auf Befehl der Göttin in diesem Keller zusammengetragen hatten, vier Kisten, in denen die bereits abgeschriebenen Texte aus dem Buch der tausend Erkenntnisse steckten. Das Buch durfte nicht in falsche Hände fallen oder gar zerstört werden. Dafür war es schon zu weit vervollständigt worden. Es fehlten nur noch neunhundert von dreitausend Seiten. Bereits jetzt spürten sie alle die starke Zauberkraft, die von den mit Nachtkindblut geschriebenen Formeln und Versen ausging.

Wieder rumste es überlaut über ihnen. Decke und Boden erbebten. Staub rieselte herunter. Waren diese Kellerräume, in denen die Mönche früher ihre eigenen Schätze aufbewahrt hatten, wirklich gegen sowas sicher genug? Neaselenia sah ihre Mitschwestern an, die sich die Ohren rieben. Doch die sie alle umgebende Dunkelheit wirkte wie ein kräftiger Heilzauber und behob die möglichen Verletzungen rasch und ohne Nebenwirkungen.

"Schwestern, die wollen uns alle töten. Die wollen uns nicht gefangennehmen", verdeutlichte Neaselenia ihren Gefährtinnen. Eine von ihnen, Phillykoria, die selbst früher eine rotblütige Zauberkünstlerin gewesen war, sah sie an und sagte mit ihrer sanften, tiefen Stimme: "Es ist schon unheimlich, dass dieser Robur das Feuer als Waffe benutzt. Damit versündigt er sich gegen die Gebote unserer Art. Sicher hat er auch sowas wie Schießpulver oder noch stärkere Sprengstoffe bei sich."

"Unsere Hohepriesterin kann Zauber gegen Feuer ausführen", versuchte Neaselenia, ihre Mitschwestern zu beruhigen.

"Doch sie kann nicht überall gleichzeitig wirken", widersprach Phillykoria. Darauf erhielt sie einen warnenden Blick Neaselenias.

Der Kampfeslärm flaute erst ein wenig ab. Dann jedoch krachten weitere Explosionen, und schlagartig schwoll der grauenvolle Chor von Schmerzens- und Todesschreien an. Der Feind war doch näher als befürchtet.

"Am Ende sind wir die einzigen, die überleben", unkte Swiftshade, eine hundertvierzig Jahre alte Nachttochter, die davor eine Magd am Hof von Königin Victoria gewesen war.

"Falls es unser Schicksal ist, dann sei es so", erwiderte Neaselenia, die sich in ihrer Rolle als Stellvertreterin der Hohepriesterin gefiel, auch wenn sie den Angriff auf das Kloster nicht hatte verhindern können.

Wieder krachten Explosionen, wildes Geschrei ertönte. "Feuer Feuer!" riefen mehrere der über ihnen ausharrenden Nachtkinder. Dann dröhnte wieder eine laute Welle Todesschreie zu ihnen herunter. "Wir werden weniger, Schwestern. Spürt ihr das, wie unsere Brüder wegsterben?" fragte Phillykoria, die ein Gespür für Lebensausstrahlungen hatte.

"Unsere Verteidigung reicht nicht aus", erwiderte Swiftshade. Neaselenia nahm Kontakt mit der Göttin auf und fragte, was passierte.

"Die Hohepriesterin soll den Rädelsführer fangen. Deshalb kann sie nicht mit ihren Zaubern alle Brände bekämpfen. Harret dort aus, wo ihr seid. Dort seid ihr sicher vor Feuer und Feinden. Und wenn doch ein Feind zu euch vordringen sollte, so kann ich euch immer noch in Sicherheit bringen. Harret aus!" Diese Worte gab Neaselenia an ihre fünfzig Mitschwestern weiter, die eigentlich nur hierher gekommen waren, um das Buch der tausend Erkenntnisse zu kopieren, damit das Original vernichtet und so dem Zugriff der nicht bekehrten Nachtkinder entzogen werden konnte.

"Nein, dieser Kerl!" flutete die wütende Stimme der Göttin durch Neaselenias Geist. Das war Nyctodora, die Hohepriesterin. Sie rief in Gedanken nach der Stellvertreterin der schlafenden Göttin und erfuhr, was die Hohepriesterin so in Wut versetzt hatte.

Sie wollte gerade darauf etwas erwidern, als plötzlich ein orangeroter Feuerball mitten im Raum explodierte.

__________

Nyctodora hörte den Kampfeslärm, sah den Widerschein der entfachten Brände in Wolken und den nahen Berggipfeln. Doch ihr Auftrag war unaufschiebbar. Sie musste Robur Blutbart fangen. Die Göttin wollte ihn lebendig haben.

Der von ihr aus einem Laden für eine komische Sportart namens Quidditch entwwendete Besen vom Typ Nimbus 2002 jagte pfeilschnell durch die Nacht. Der in den Besen eingewirkte Windschutzzauber machte den Flugwind zu einem sanften Blasen gegen ihren Körper. Die zwei Kristallstaubträger flogen ebenfalls schneller als gewöhnlich dahin. Ihre Flügel schwangen schon bald so wild wie die von Hummeln oder Fliegen. Daher war an ein leises Anfliegen überhaupt nicht zu denken. So überraschte es Nyctodora nicht, dass die Vierergruppe auf sie aufmerksam wurde. "Robur Blutbart, meine Herrin, Mutter und Göttin erweist dir und den deinen eine letzte Gnade. Bekenne dich zu uns und trete ein in unseren mächtigen Orden. Dann darfst du weiterleben!" rief Nyctodora. Im Schein ihrer goldenen Flammensphäre und in ihrem blutroten Gewand wirkte sie wahrlich wie die Stellvertreterin einer mächtigen Wesenheit.

"Ah, die Hexe, die so stark ist, dass sie auch als Nachttochter zaubern kann", hörte sie das für Menschenohren zu hohe Quieken, das sie als Sprache der Nachtkinder verstand. "Wir haben schon entschieden, dass wir nicht zu Sklaven einer selbsternannten Herrscherin werden wollen. Sag deiner Abgöttin gefälligst, dass wir euch alle aus der Welt schaffen, wenn ihr noch mal versucht, unser aller Bibliothek auszuplündern!"

"Bist du Robur Blutbart?" fragte Nyctodora. "Wer sonst, du Dreckdose!" kam die in ultrahoher Quieksprache vermittelte Antwort. Damit hatte Nyctodora, was sie wollte. Sie deutete auf die drei anderen Fledermauswesen und dachte ihren Begleitern zu: "Die da zuerst erledigen. Dann den Anführer festnehmen!"

Die zwei Kristallstaubvampire stießen nach vorne, griffen die drei normalen Nachtkinder an. Robur Blutbart erkannte, dass er einen taktischen Fehler gemacht hatte, sich als Anführer zu offenbaren und erkannte auch, dass die beiden grauen Ungeheuer ihn nicht töten sollten, sondern einfangen. Er zog seine Flughäute ein und ließ sich in die Tiefe fallen. Nyctodora setzte ihm auf ihrem Besen nach. "Schließ ihn in die weiße Schale ein, die du von mir erlernt hast!" hörte sie die Stimme der Göttin in ihrem Geist. Ja, so ging es, dachte die Hohepriesterin und zielte auf den ihr durch Sturzflug zu entwischen trachtenden Feind. Da wurde sie unvermittelt von zwanzig weiteren Fledermäusen angeflogen, die wie ein in Flugrichtung offener Sack formiert waren. Nyctodora fauchte verächtlich. Musste sie das wirklich noch hinnehmen? "Bollidius Maxima!" stieß sie mit in das ihr entgegenstoßende Pulk Fledermäuse zielendem Zauberstab aus. Ein grünblauer Feuerball entstand an der Zauberstabspitze und raste leise fauchend davon, mitten hinein in die Formation. Die den geschlossenen Teil des fliegenden Sacks bildenden Geschöpfe wirbelten zur seite. Doch sie hatten nicht bedacht, dass Nyctodora eine besondere Beziehung zur Magie des Feuers besaß. "Berste", dachte sie dem Feuerball zu. Dieser platzte in einer weit ausgreifenden Wolke aus weißblauen Flammen auseinander. Der Durchmesser der Feuerwolke überstieg die Größe der feindlichen Formation. Jeder der Vampire wurde von gleißenden Ausläufern der explodierenden Feuerwolke getroffen und loderte auf wie eine frische Pechfackel. Innerhalb einer Sekunde stürzten die zwanzig ihr entgegenjagenden Fledermäuse lichterloh brennend dem Boden entgegen. Nyctodora fürchtete einen Moment, dass Robur in die Ausläufer des Flammenzaubers geraten sei. Doch der fiel und fiel immer noch dem Boden entgegen. Nyctodora drückte ihren Besen mit der Stielspitze nach unten, bis sie beinahe senkrecht in die Tiefe jagte. Sie musste an diesem Mistkerl vorbei, ihn im Flug in die weiße Einkapselung schließen. Doch der Bursche ahnte, dass er ohne weitere Flugbewegungen leicht von einem Zauber getroffen werden konnte. Er hielt mal den linken und mal den rechten Flügel nach außen. Dadurch geriet er in eine nach außen treibende Bewegung, sodass Nyctodora nicht mit dem Zauberstab zielen konnte. Zum harten Felsboden fehlten nur noch vierhundert Meter. Wollte dieser Dreckskerl sich gar in den Tod stürzen? Sie wollte es nicht auf einen Versuch ankommen lassen. Sie steckte ihren Zauberstab in ihren blutroten Umhang, um beide Hände an den Besenstiel zu kriegen. Ihre einzige Chance bestand darin, diesen Auswurf einer Straßenhündin aus dem Flug heraus aufzufangen. Zwar war sie keine wirklich geübte Besenreiterin, und dieser Besen hier war ein Rennbesen und damit viel zu stark und zu empfindlich auf Richtungsveränderungen. Doch sie musste es versuchen. Wenn sie den Banditen nicht einfing und ihrer Göttin zuführte mochte diese ihr sehr böse sein.

Robur merkte wohl, dass die andere ihn gerade nicht mit einem Zauberspruch angreifen konnte. So zog er beide lederartigen Flughäute an sich, um möglichst widerstandslos in die Tiefe zu stürzen. Doch der verflixte Hexenbesen mit seiner nicht minder verfluchten Reiterin holte ihn ein, weil der von seiner eigenen Flugbezauberung vorangetrieben wurde. Es fehlten noch zweihundert Meter, als der Besen vor Roburs Nase nach unten durchsauste.Wollte er hoffen, dass dieses Hexenweib den Sturzflug nicht mehr abfangen konnte. Doch da schlug dieses Biest einen halben Kreis und stieß nun senkrecht nach oben, um dann nur zwanzig Meter unter ihm in eine beherrschbare Fluglage zurückzufinden.

Nyctodora wusste nicht, wie sie das gemacht hatte, aus diesem wahnwitzigen Sturzflug innerhalb einer Sekunde in einen waagerechten Flug zurückzukehren. Sie hörte nur das Reisigwerk des Besenschweifes knarren und rascheln. Dann hatte sie den ihr entgegenstürzenden so, dass sie den Zauber wirken konnte. Sie zog mit der für ihre Art üblichen Schnelligkeit und Gewandtheit den Zauberstab, der auf Grund dieser Bewegung einen Schauer silberblauer Funken versprühte. Dann rief sie laut die Formel für den Einschließungszauber. Sie fühlte, dass ihr vom Kopf her zusätzliche Kraft zufloss. Deshalb wunderte sie sich nicht, dass der Zauber innerhalb eines Lidschlages wirkte. Robur fand sich übergangslos in eine unzerbrechliche weiße Schale eingeschlossen. Jetzt galt es noch, diese irgendwie zu bremsen, damit sie nicht auf dem harten Felsboden aufschlug. Sie hörte das ultrahohe Kreischen des darin eingeschlossenen. Sie hatte ihn. Sie flog noch einmal einige Dutzend Meter nach unten und brachte ihren Besen dann in eine Lage, in der sie den Eingekapselten auffangen konnte.

"Lieber tot als ein Sklave!" schrillte ihr trotz der dämpfenden Wirkung der magischen Schale die entschlossene Stimme Roburs entgegen. Nyctodora grinste erst. Doch dann fühlte sie, dass etwas passierte. Unvermittelt erbebte die ihr entgegenstürzende Schale, dann glühte sie rot auf, um im nächsten Moment in einem gelbweißen Feuerball zu verschwinden. Wie fünf Kanonen zugleich schlug ihr der Donnerschlag der schlagartig verdrängten Luft entgegen. Dann trafen die Flammen auf ihre Feuerschutzaura und verloschen daran. Die Feuerglut umwehte sie zwei Sekunden lang. Dann sah sie nur noch eine Wolke aus glimmender Asche, die von ihrer Feuerschutzsphäre abgeprellt und in alle Winde verstreut wurde. Robur hatte offenbar einen allerletzten Ausweg genommen, eine Art von Freitodkapsel, die im günstigsten Fall auch alle im unmittelbaren Umkreis lauernden Feinde mitvernichtet hätte. Woher hatte der sowas? Doch das war jetzt bedeutungslos. Sie hatte ihre Mission nicht erfüllt. Der Räuberhauptmann aus Österreich hatte sich selbst aus der Welt geschafft.

Nyctodora fühlte nicht, wie stark ihre Wut war, weil sie den Feind nicht gefangen hatte. Erst als Neaselenia sie per Gedankensprache fragte, was passiert war erkannte sie, wie stark ihre geistige Ausstrahlung gerade sein musste, dass die Helferin im Kloster ihren Wutschrei mitbekommen hatte. Sie erwähnte kurz, was passiert war. Dann erwähnte sie, dass sie nun wieder zum Kloster zurückkehren würde.

"Feuerball im ..." hörte sie Neaselenia unvermittelt aufschreien und fühlte dann, wie die Verbindung übergangslos abbrach. Nyctodora riss ihren Besen herum und flog in weniger als hundert Metern höhe auf die Steilwand zu, auf deren oberstem Plateau das gerade umkämpfte Kloster stand. Sie sah mit ihren lichtempfindlichen Augen die lodernden Flammen. Die Bande von Robur hatte ihre Abwesenheit gnadenlos gründlich genutzt, um die Häuser und die Kapelle anzuzünden und niderzubrennen. Wo waren die Kristallstaubkrieger? Wieso hatten die den Vormarsch nicht verhindert?

Beim Anflug sah sie drei der grauen Ungeheuer, wie sie gerade auf eine Gruppe von Fledermausreitern niederstießen. Doch die feuerten auf die grauen Krieger, und zwar wahrhaftige Panzerfäuste. Nyctodora hatte früher Filme aus der Zeit der griechischen Partisanen gesehen, die Gräueltaten der Nazis und den Fall des Deutschen Reiches. Doch jetzt zu sehen, wie die alten Kriegswaffen auf graue Kristallstaubträger wirkten war schon beeindruckend und auch verstörend. Zwar konnten die an den Körpern der Kristallstaubträger detonierenden Geschosse keinen Schaden anrichten. Doch es genügte, um sie aus ihrer Flugbahn zu schleudern, so dass die eigentlich von ihnen angegriffenen genug Zeit hatten, weitere Brandbomben in den Hof des Klosters zu werfen. Offenbar hatte Robur noch vor seinem feurigen Freitod einen letzten Befehl weitergegeben. Es ging denen nicht um die Eroberung, sondern nur um die Vernichtung des Stützpunktes. Wieviele von denen gab es noch? Zu viele, erkannte Nyctodora, als sie mitbekam, wie zwei Fledermausreiter große Kanister ausleerten. Deren Inhalt war superleicht entflammbar. Wo das Zeug auf das bereits brennende Feuer traf schossen meterbreite Feuerfontänen nach oben, rollten Feuerwalzen über den Hof oder barsten bläulich aufglühende Feuerbälle. Dieses ohne jede Magie entfesselte Inferno fraß die letzten noch in Menschengestalt ausharrenden Verteidiger. Nyctodora schäumte vor Wut, hätte beinahe ihre Herrin beschimpft, dass sie wegen dieses feigen Räubers ihre Untergebenen im Stich gelassen hatte. Doch dann besann sie sich. Sie musste die Schwestern im Keller retten, falls die Göttin das noch nicht getan hatte.

"Ich verspüre nichts von den versteckten Schwestern. Ich bekam auch nur einen orangeroten Feuerball mit, wie von einem Phönix", übermittelte die Göttin. Nyctodora erschauerte. Ein Phönix konnte durch bestehende Appariersperren dringen, weil er in einer Sphäre aus magischem Feuer reiste, das aus dem glutheißen Erdkern und der Sonne zugleich genährt wurde. Also war jemand in den Keller eingedrungen. Doch warum hatte die Göttin danach nichts mehr mitbekommen, wo sie durch alle Augen ihrer Dienerinnen hatte sehen können?

"Sei auf der Hut! Es könnte ein Feind oder eine Feindin in die Kellerräume eingedrungen sein", warnte Gooriaimiria ihre oberste Dienerin.

"Dann ist das Buch verloren, wenn da jemand eingedrungen ist. Ich muss das wissen", sagte Nyctodora. "Ich versuche, dich dort hinzubefördern. Aber sei auf einen magischen Zweikampf gefasst!" hörte sie die Stimme der Göttin. Da umfing sie auch schon der Schattenstrudel der mächtigen Göttin.

__________

Philonyctes traute sich nicht näher heran. Sein Zuhause brannte lichterloh wie tausend Pechfackeln auf einmal. Die davon ausgehende Hitze und Helligkeit schmerzten den sonst gegen körperliche Schmerzen gefeiten Sohn der Nacht. Er sah, wie die Gebäude abbrannten. Aus dem Glockenturm zuckten Feuerzungen heraus. Der Boden war ein durchgehender Flammenteppich.

Die Kristallstaubvampire hatten die Feinde zurückgeschlagen und größtenteils vernichtet. Doch zwanzig waren entkommen. War ihr Anführer auch dabei? Er hätte weinen müssen, wenn er gekonnt hätte. Seine Brüder waren bei den Verteidigern des Klosters gewesen. Er fühlte ihre Lebenspräsenz nicht mehr. Sein Zuhause gab es nicht mehr. Wo konnte er hin? Die Nacht würde nicht ewig dauern. Selbst in dieser Jahreszeit ließ sich die verhasste Sonne immer noch zu gerne sehen.

"Herrin und Göttin, dein Diener hat für dich gelitten und seine größten Opfer gebracht. Wo soll ich hin? Was erwartest du nun von mir?"

"Deinen Tod, das allerletzte Opfer", hörte er die Stimme seiner Herrin im Kopf. "Jemand, der derart unzureichende Verteidigungsmittel gegen eine einfache Räuberbande aufbietet, dass sie in Ruhe sein Zuhause, das nebenbei das neue Wissenszentrum meiner Gläubigen werden sollte brandschatzen konnten, ist für mich nicht mehr von Nutzen. Genieße die letzten Stunden der Nacht. Es werden deine allerletzten Stunden sein!"

"Ich will sühnen. Ich will dir helfen, deine Macht zu stärken. Ich will alle die strafen, die dich beleidigt haben, o Göttin!" erwiderte Philonyctes.

"Dann fang mit dir selbst an, Nichtsnutz!" gedankenknurrte die schlafende Göttin. Ihre unbändige Wut und der darin mitschwingende Hass waren unüberhörbar.

"Du wirst mich selbst töten müssen, wenn du meinen Tod willst, schlafende Göttin", begehrte Philonyctes nun auf. "Ich habe nicht über ein Jahrhundert gelebt, um mich jetzt wie ein völlig blutleer gesaugtes Stück Vieh den Würmern zum Fraß vor zu werfen. Also, wenn du meinen Tod willst, dann musst du dich schon selbst darum bemühen, ihn mir zu bereiten."

"Ach, du meinst, du könntest noch weit genug fliegen und in einer sicheren Zuflucht unterkriechen?" hörte er die erheiterte Stimme der Göttin. Philonyctes wusste, dass sie wohl seine Gedanken mitbekam. Doch da war was, was sie nicht wusste und was sie auch nicht erfassen konnte, weil er das von einem befreundeten Zauberer zu einem Geheimnis hatte machen lassen. Auch Gedankenleser konnten ihm dieses Geheimnis nicht entreißen. So schickte er noch zurück: "Erwarte meinen Tod, so wirst du nur deinen finden. Denn bald werde ich wissen, wo die Quelle deiner Macht ist."

"An die kommt kein Kind der Nacht heran, du kleiner Dunkelmonddummling. Dafür haben die Rotblütler gesorgt."

"Na, da warte mal, bis ich das rausfinde. Und dann fürchte deine eigene Vernichtung, Flittchen!"

"Ich weiß, du willst mich provozieren, mich dazu treiben, dich an mich zu reißen und zu vertilgen, damit du einen schnellen Tod hast. Ja, der Gedanke, mir dein ganzes Leben und alles erlebte von dir einzuverleiben ist verlockend. Aber mein Wort ist gesprochen und gilt. Sieh deinem Ende im Licht der Sonne entgegen!"

"Wie du meinst, du Möchtegerngöttin", knurrte Philonyctes. Er flog auf und ließ das lichterloh brennende Ruinenfeld hinter sich, das ein Jahrhundert lang sein Zuhause gewesen war.

__________

Anthelia wusste, dass sie nur zwei Sekunden Zeit hatte, die von ihrem plötzlichen Auftauchen überraschten Vampirinnen zu überwältigen, bevor die noch ihre Göttin um Hilfe rufen konnten. Sie hob ihren Zauberstab und rief "Per Solem Umbras fugato!" Sie kniff ihre Augen zu. Dennoch konnte sie den grellen Blitz aus weißblauem Licht sehen und den kurzen aber schrillen Ton hören, der ihr auch in die Ohren stach. Doch auf die Vampirinnen wirkte dieser Zauber durchschlagender. Sie schrien kurz auf und fielen dann ohnmächtig um. Anthelia wusste, dass die Abwandlung des Senso-Fugato-Zaubers, die Sardonia zum Kampf gegen Vampire erfunden hatte, nur eine Minute vorhielt. Doch die Minute reichte, um die betäubten Blutsaugerinnen mit dem Zauber Schatten der Untätigkeit" zu belegen, einem ebenfalls von Sardonia erfundenen Zauber, der Menschen in einer dämmerschlafartigen Untätigkeit gefangen hielt, in der sie zwar vieles mitbekamen, aber nichts dagegen tun konnten. Bei Vampiren wirkte dieser Zauber so, dass die sie mit neuer Kraft aufladende Dunkelheit wie mit Opium versetzt wurde und somit als Betäubung wirkte, solange sie diesen Zauber nicht widerrief oder für länger als die eine Minute außer Sicht- und Hörweite der Betäubten war. Da ihr Flammenschwert noch mit ganzer Kraft loderte konnte sie damit die von Yanxothar gelernten Zeichen in Wände, Boden und auch an die Decke einbrennen und mit den entsprechenden Zaubern belegen. Es fehlte nur das eine Wort, das den zauber in Kraft setzte. Dieses wollte sie aber erst benutzen, wenn jemand wie Nyctodora oder einer der Vampirbrüder in den Keller kam, um nachzusehen, was aus den in Sicherheit gebrachten Schwestern wurde. Jedenfalls wirkte sie noch durch einen mitgebrachten Stein, in den sie die entsprechenden Zauberzeichen eingeritzt hatte, einen Zauber, der einen Feind innerhalb des Raumes festhalten konnte, wenn er hinauszugelangen versuchte.

__________

Als Nyctodora über den Umweg vorbei an der schlafenden Göttin in den Kellerräumen des Klosters ankam war das erste was sie sah ihre entkleideten und gefesselten Schwestern. Doch hier herrschte ein helles, orangerot flackerndes Licht vor. Dann sah sie die ungebetene Besucherin.

Es war eine schlanke, an Becken und Oberkörper ausgeprägt gestaltete Frau mit langen Beinen. Ihre reizvollen Formen wurden von einem scharlachrotem, hautengen Kostüm eher hervorgehoben als versteckt. Ihre Haut schimmerte im orangeroten Licht blassgolden, und ihr dunkelblondes Haar umfloss seidenweich ihre Schultern. Doch mehr noch als die unbekannte Frau erregte sie der Gegenstand, den sie in der linken Hand hielt. Es war ein Schwert, dessen anderthalb Meter lange Klinge nicht aus Metall oder Obsidian oder ähnlichem, sondern aus ruhig aber hell züngelnden Flammen bestand. Nyctodora fühlte, wie die Flammenklinge an der goldenen Feuersphäre fraß, die sie um sich errichtet hatte.

Die ganze Betrachtung und Überlegung kosteten zwei wertvolle Sekunden. Das erkannte Nyctodora erst, als um sie herum, an den Wänden, dem Boden und der Decke bernsteinfarbene Flammensymbole aufleuchteten. Der Boden erzitterte eine Sekunde lang. Dann war er wieder ruhig. Nyctodora fühlte, wie die Flammenklinge weiter an ihrer goldenen Schutzsphäre saugte. Dieses vermaledeite Ding entzog Feuerzaubern die Energie, erkannte sie. Sie fühlte auch körperlich, wie das Schwert oder wie dieser Gegenstand immer auch zu nennen war Kraft absaugte.

"Ich freue mich, endlich die von ihren Jüngern als erhabene Hohepriesterin geehrte Stellvertreterin der schlafenden Göttin leibhaftig anzutreffen", sagte die Hexe in Scharlachrot und verneigte sich kurz. Dann richtete sie den silbergrauen Zauberstab wieder auf sie, den sie in der rechten Hand führte.

"Du bist Anthelia", schnaubte Nyctodora. Sie rief in Gedanken nach ihrer Göttin. Doch sie bekam keine Antwort.

"So ist es. Ich bin Anthelia, die Erbin Sardonias, Erbin der Schätze des alten Reiches, erklärte Feindin von Iaxathan und seiner Brut, zu der du auch gehörst, Hohepriesterin", erwiderte die fremde Hexe. Der Boden erbebte. Die Luft flimmerte. Die aus gelbem Feuer bestehenden Zeichen an Wänden, Decke und Boden färbten sich einen Moment dunkelgrün, um dann wieder in ihrem Bernsteingelb zu leuchten. Nyctodora sah, wie auf der Haut ihrer offenbar betäubten und gefesselten Schwestern Brandblasen aufquollen, erst klein und rot, doch jede Sekunde größer und dunkler anlaufend. Diese Feuerzeichen wirkten auch ähnlich wie das Sonnenlicht.

"Willst du deinem Tod ins Angesicht sehen? Das ist aber mutig", feixte Nyctodora. Anthelia lachte und erwiderte: "Lustig, genau das wollte ich gerade sagen. Dabei bin ich mir sicher, dass du meine Gedanken nicht erfassen kannst, weil ich keine von euch Langzähnen bin. Aber es stimmt wohl, dass du was besonderes bist. Vesta Morans Blut hat dich mit dem Feuer und seinen Quellen versöhnt. Aber deine Schwestern hier sind dagegen nicht immun. Deshalb ging das hier", sagte die Feindin. Dann hob sie ihren Zauberstab und ließ ihn einmal im Uhrzeigersinn kreisen. Ein greller, weißblauer Blitz und ein überlauter, scharfer Knall, gefolgt von einem lauten Piepton in Nyctodoras Ohren. Ihr Körper erstarrte. Doch eine heftige Hitzewallung löste die Starre sofort wieder auf. "Ah, also tatsächlich immun gegen den Sonnenblitz", stellte Anthelia fest. Nyctodora keuchte. Dann sah sie ihre Gegnerin angrifsslustig an.

"Du weißt nicht, mit wem du dich anlegst, Flittchen", zischte Nyctodora. "Die Macht der schlafenden Göttin wird mir helfen, dich zu erledigen und damit den Weg zur Vorherrschaft der schlafenden Göttin zu ebnen."

"Wie melodramatisch", spottete Anthelia und deutete mit dem Zauberstab auf den Boden. Nyctodora sah dies als unverzeihliche Blöße der anderen und riss ihren Zauberstab hoch. "Stupor!" rief sie. Denn sie wollte die Feindin lebendig haben. Der rote Schockblitz fegte auf Anthelia zu und traf leise klirrend das Flammenschwert. Mehr passierte nicht. Anthelia lachte lauthals und sagte:

"Ich habe ein mächtiges Schutzlied des großen Vaters Himmelsfeuer und der großen allgebärenden Mutter gesungen und das letzte Wort gedacht, als du von deiner Herrin und Meisterin mit ihrem ganz besonderen Reisezauber hier abgesetzt wurdest. Ich bin solange vor allen diesen Kräften entgegenwirkenden Handlungen und Zaubern sicher, wie ich an diesem von mir präparierten Ort stehe."

"Das werden wir erleben", fauchte Nyctodora und versuchte erneut, die schlafende Göttin zu rufen. Doch diese antwortete nicht. Ja, sie fühlte auch nicht, dass diese ihr neue Kraft einflößte. Sie fühlte nur den sanften aber andauernden Sog dieser verfluchten Feuerklinge. Dann versuchte sie den Todesfluch. "Avada Kedavra!" Sirrend schoss ein gleißendgrüner Blitz aus ihrem Zauberstab und prallte auf die lodernde Schwertklinge. Diese flackerte fauchend in einem mintfarbenen Ton auf. Dann züngelten die Flammen weiter wie zuvor. "Wenn du deine Göttin wiedersehen willst musst du mir entweder das Schwert wegnehmen, was selbst dir als Feuerversöhnte übel bekommen würde, mir geben, was ich will oder selbst den Tod hinnehmen."

"Und was soll das sein, was du willst?" zischte Nyctodora, die überlegte, welchen Zauber sie noch anbringen konnte. Jetzt fiel ihr auf, dass sie bis auf die Feuerzauber, das Apparieren und den Aufrufezauber nur den Schocker, den Todesfluch und die Kopfblase erlernt hatte. Diese Hexe da vor ihr konnte aber garantiert einige Dutzend oder hundert Zauber mehr. Außerdem schien dieses Feuerschwert ihr gerade Waffe und Schutzschild zugleich zu sein.

"Ich will alle Seiten aus dem Buch der tausend Erkenntnisse. Es war sehr nett von dir, sie abzufotografieren. Aber sie waren nicht in diesem Bauwerk. Und die anderen Langzähne, die euch gerade heimsuchen, haben sie bisher nicht gefunden. Ich weiß, dass der Mikrofilm noch irgendwo sein muss, weil ihr noch nicht alle Seiten abgeschrieben habt. Also, wo ist der Film?"

"Wohl verbrannt. Oben brennt alles lichterloh", fauchte Nyctodora und deutete auf die vier Kisten. "Du hast sicher schon erkannt, dass in den Kisten alle Niederschriften sind. Das reicht aber nicht, um dir alle Kenntnisse über unsere Art zu verschaffen." Dabei dachte sie daran, dass sie eine halbe Stunde vor dem Angriff die feuer- und säurefeste Kapsel an sich genommen und sorgfältig verborgen hatte. Dort würde kein Aufrufezauber sie wegholen können, wusste sie von ihrer Herrin.

"Ich weiß, wie ihr erschaffen wurdet, vor allem von wem. Ich habe doch vorhin gesagt, dass ich die Feindin von Iaxathan und seiner Brut bin. Da hättest du es doch erkennen müssen", säuselte Anthelia. Nyctodora sprang vor, wollte der Feindin mit bloßen Händen an die Kehle springen. Da zielte die Feuerklinge auf sie und traf ihre goldene Flammensphäre. Eigentlich prallte magisches Feuer davon ab. Doch dieses verdammenswürdige Ding zog die goldenen Flammen an wie ein Staubsauger den Staub. Die Sphäre flackerte, knisterte, zog sich mal in die Länge, dannin die Höhe, bevor sie mit einem lauten, von Prasseln begleitetem Plopp in goldene Funken zerfiel, die allesamt in der Feuerklinge verschwanden, die einen Moment lang golden leuchtete. Sie fühlte, wie die Spitze der flammenden Klinge keinen halben Zentimeter vor ihrem Brustkorb war. Schlagartig fühlte sie ihr Blut kochen. Ihr Herz beschleunigte.

"Du wolltest mich doch nicht angrabschen, kleine, für viel Geld erstandene Kaufmannstochter", feixte Anthelia und zog das Schwert eine halbe Armlänge weit zurück, bereit, es wieder vorschnellen zu lassen. Nyctodora versuchte einen Karatetritt gegen die Waffenhand. Doch Anthelia riss das Schwert im selben Moment nach oben. Der Tritt schlug nur ein Loch in die Luft. Bevor Nyctodora ihre Balance wiederfinden und einen neuen Angriff ausführen konnte bekam sie einen heftigen Stoß gegen Brust und Bauch, verlor den Boden unter den Füßen und wurde zurückgeworfen. Genau neben einem der gelb flammenden Zeichen klatschte sie gegen die Granitwand. Übergangslos war ihr, als sei sie in eine Art vibrierenden, unsichtbaren Beton eingebacken. Sie klebte mit zu den Seiten weggestreckten Gliedmaßen und mit Druck an die Wand gepresstem Kopf keine zwanzig Zentimeter über dem Boden fest. Anthelia sah sie an und machte mit dem Zauberstab eine kreiselnde Bewegung. Um Nyctodora blitzte für eine Sekunde eine sonnengelbe Aura auf. Dann war da nur diese unbändige Kraft, die sie wie eine Fliege am Fliegenfänger an der Wand hielt.

Als ihr klar war, dass sie dieser Feindin da wortwörtlich auf den Leim gegangen war fand sie Zeit, über die letzten Sekunden nachzudenken. Woher wusste Anthelia, dass ihr Vater ein Kaufmann gewesen war und dass er viel Geld ausgegeben hatte, um sie entstehen zu lassen? Die Antwort auf diese Frage wurde ihr gegeben, als ihr blutrotes Gewand wie von einer unsichtbaren Klinge zerschnitten auseinanderklaffte und zu beiden Seiten auseinanderflog. Sie sah, wie die andere ihren Zauberstab genau auf ihren Unterleib richtete. Dann fühlte sie, wie etwas von innen nach außen gezerrt wurde und wie mit einem leisen schmatzenden Geräusch die etwa vier Zentimeter lange Kapsel mit den versteckten Mikrofilmen von ihr fort und zu Anthelia hinflog. Diese senkte nun den Zauberstab, steckte ihn fort und ergriff die vor ihr schwebende Kapsel mit unübersehbarem Widerwillen. "Auch wenn ich mir gründlich die Hände waschen muss und die Kapsel erst mehreren Reinigungszaubern unterziehe, bevor ich sie aufdrehe danke ich dir doch, dass du mir die Ausbeute deines Ausfluges in eure geheiligte Bibliothek übergeben hast, Eleni Papadakis alias Hohepriesterin Nyctodora. Ja, Accio hätte dir nichts aus dem Körper zihen können, weil dieser schon magisch durchdrungen ist. Aber ich beherrsche die reine Gedankenkraft, Dinge zu bewegen und zu verformen und brauchte nur nach einem Toten Ding in deinem lauwarmen Schoß zu tasten, wo ich von dir wusste, dass dort die Filmkapsel steckt. Du hättest ein besseres Versteck für den Film suchen sollen, kleine Kaufmannstochter und Rucksackhexe. Ich könnte dich jetzt töten, ganz einfach. Aber das brächte mir das. Es reicht schon, dass du deiner Göttin berichten musst, dass ich das Buch der tausend Erkenntnisse erbeutet habe. Ach ja, die vier Kisten da", sagte Anthelia und vollführte mit dem Schwert gezielte Streiche. Jeder schlag schnitt durch die angeblich so feuerfesten Kisten wie ein Laserstrahl durch einen Eisblock. Wo die Flammenklinge auf die beschriebenen Seiten traf vergingen diese fauchend in Flammenwolken zu Asche.

"Jetzt ist euer geraubtes Wissen nur noch Asche, und ich habe alles, was du für euren Blutorden erbeutet hast. Ach ja, damit weder du noch sonst einer von deiner Sekte wieder in die Bibliothek der Nachtkinder eindringen und dort Wissen kopieren könnt ...", sagte Anthelia und zog aus ihrem scharlachroten Kostüm zwei Gegenstände, eine gläserne Spritze mit silberner Nadel und eine mit silbernem Schraubverschluss gesicherte Kristallphiole, so groß wie eine Frauenhand. Nyctodora erkannte, was Anthelia vorhatte und kämpfte gegen die sie an die Wand drückende Gewalt an. Doch all ihre Kraft reichte nicht aus. Was immer sie an die Wand heftete war stärker. Sie konnte nicht mal sprechen, gerade mal flach ein- und ausatmen. Dann war die andere Hexe bei ihr, setzte ohne großes Suchen die Spritze an der Halsschlagader an und zog sie behutsam auf, hellrotes Blut füllte den gläsernen Zylinder, EleniPapadakis' halbvampirisch-halbmenschliches Blut. "Tatsächlich eine Hybridin, ein Halbkind, eine Tochter des Zwielichts, ein Amphibium der Zauberwesen", dozierte Anthelia mit überlegenem Grinsen. Dann zog sie die Nadel aus Nyctodoras Haut. Sie hatte bei dieser unerwünschten Blutentnahme keinen Schmerz verspürt. Schnell öffnete Anthelia die kleine Phiole und drückte den Inhalt der Spritze hinein. Die Phiole füllte sich bis zur Hälfte. "Gerinnungsblockadezauber, sozusagen Blutkonservierung bei Raumtemperatur", beschrieb Anthelia die Eigenschaft der Phiole. Dann setzte sie erneut die Spritze an und zapfte Nyctodora auf diese Weise noch einmal mehrere Kubikzentimeter Blut ab. Danach verschloss sie die Phiole und pappte ein kleines Pflaster auf die Einstichstelle, da sie für Vampire keinen der üblichen Heilzauber verwenden konnte. Anschließend machte sie sich mit zwei weiteren Phiolen an zweien der gefesselten Vampirschwestern zu schaffen und entnahm diesen ebenfalls Blut. Nyctodora konnte nur bewegungslos zusehen.

Als sie alle mit Blut gefüllten Phiolen sorgfältig fortgesteckt hatte sagte Anthelia noch: "Grüße deine schlafende Göttin und richte ihr aus, sie möge weiterschlafen und von ihrem zweiten Nocturnia träumen. Errichten wird sie es nicht. Dafür habt ihr zu viele Feinde, allen voran Iaxathan, seinen Knecht, die Abgrundstöchter, von denen es jetzt auch wieder eine mehr als zu viel gibt und uns, die Hexen der erhabenen Schwesternschaft der schwarzen Spinne. Dass die ganzen Zaubereiministerien der Welt und alle zur Bekämpfung bösartiger Zauber und Zauberwesen angetretenen Gruppierungen euch auch nicht haben wollen wisst ihr ja schon längst. Gehabe dich wohl, Halbkind aus Feuer und Nachtgetier!" Mit diesen Worten hog sie feierlich das lodernde Schwert an, worauf aus diesem ein orangeroter Feuerball erglühte, sie einhüllte und dann mit einem lauten Wuff erlosch. Anthelia war weg. Nyctodora hätte ihr zu gerne noch was nachgerufen. Doch sie hing an die Wand geklebt da.

Die gelben Flammenzeichen an den Wänden glommen noch eine ganze Weile. Eleni alias Nyctodora konnte nicht sagen wie lange. Sie hörte nur, dass der Kampfeslärm, das Donnern von Explosionen und die Todesschreie immer weniger wurden, bis sie nur ein Tosen und Prasseln wie von einem gewaltigen Feuer hörte. Sie versuchte, sich wieder aus der magischen Anhaftkraft loszureißen. Doch sie bekam nicht die kleinste Arm- oder Beinbewegung hin. Ihr Herz hämmerte wild. Sie fühlte, wie ihr durch den Luftmangel die Sinne zu schwinden begannen. Von Vampiren hieß es, dass sie sich totstellen konnten und selbst bei grimmiger Kälte oder totalem Sauerstoffentzug über Monate oder Jahre wie erstarrt zubringen konnten, weshalb ja die Behauptung verbreitet wurde, es handele sich um unheilvoll den Tod überdauernde Gespenster, Wiedergänger, Untote. Erst als das Tosen und Krachen der wütenden Flammen über ihr leiser wurde fühlte sie, wie der Druck auf ihren Körper ein wenig nachließ. Die gelben Flammenzeichen an den Wänden flackerten erst sanft, dann immer wilder. Die brennenden Zeichen verloren an Helligkeit und Konturen. Sie verwandelten sich in erst orangerote und dann blutrote Lichtgebilde. Dann erloschen die magischen Feuerzeichen mit leisem Zischen. Es wurde beinahe ganz dunkel. Doch Nyctodora konnte an den glutroten Stellen noch sehen, wo sie gebrannt hatten. Schlagartig verging auch jene unheimliche Kraft, die sie wie einen Eisenspan an einen Supermagneten an der Wand gehalten hatte. Im nächsten Augenblick umschlang sie die schwarze Spirale des Schattenstrudels und riss sie fort und mit ihr alle betäubten und gefesselten Schwestern.

Nyctodora fürchtete schon, dass die schlafende Göttin sie diesmal nicht an sich vorbeifliegen lassen, sondern in sich einverleiben würde, weil sie zwei Sekunden lang vor der blutrot glühenden Riesenfrau in tiefster Dunkelheit schwebte. Dann wurde sie jedoch mit einer unbändigen Kraft an der riesenhaften Leuchterscheinung ihrer Göttin vorbeigeschleudert. Einen Moment lang meinte sie, einen in Dunkelheit liegenden Gang mit einer Wand zu erkennen. Doch dann blitzte es blutrot auf, und sie stürzte sich überschlagend zurück in den schwarzen Tunnel. Erst verlor sie Schwung. Dann setzte wieder jener Sog ein, der bei dieser magischen Versetzungsart üblich war. Nyctodora wurde in Zugrichtung gerissen und sah erneut die blutrot leuchtende Erscheinung der schlafenden Göttin. Diesmal rechnete sie damit, dass sie von der Göttin zur Strafe einverleibt und ausgelöscht wurde.

Eine halbe Armeslänge der Riesenfrau entfernt kam Nyctodora schlagartig zum Stillstand. Sie schwebte wieder vor ihrer in einer außerhalb von Leben und Materie bestehenden Form beschaffenen Gooriaimiria. Dann hörte sie die nun wie eine mächtige Glocke dröhnende Stimme ihrer Herrin: "Du hast versagt, Nyctodora. Du hast meinen Hort des Wissens von einer primitiven Räuberbande brandschatzen lassen. Du hast es nicht geschafft, den Anführer dieser Banditen zu fangen und ihn mir für weitere Maßnahmen zu überstellen. Du hast versäumt, eine klar erkannte Feindin sofort und ohne zu fragen zu töten, bevor sie diesen widerlichen Zauber aus Feuer und Erde wirken konnte. Solange ein Feuer größer als hundert Kerzen brannte hielt dieser vor. Dann hast du dir noch alles nur uns Nachtkindern zustehende Wissen entreißen lassen. Ja, und als ob das nicht schon schlimm genug war hast du es wegen der bereits erwähnten Verzögerung, die Feindin gleich beim Antreffen zu töten, hinnehmen müssen, dass sie dir genug Blut entzog, um damit dir und wohl auch allen in meinem Namen und mit meinem Segen lebenden Nachtkindern den Weg in die heilige Bibliothek der Nacht zu versperren. Denn anders kann es nicht sein, dass ich dich nicht vor dem Zugang zu der Bibliothek absetzen konnte. Für jede einzelne dieser Untaten oder unverzeihlichen Versäumnisse müsste ich dich töten. Doch ich werde dich nicht vertilgen. So billig kommst du mir nicht davon. Du bist meine Dienerin, mein Werkzeug. Ich werde dich gebrauchen, bis du um deinen Tod bettelst oder von einer wie Anthelia, die eine für mich erstaunliche Verwandlung durchlebt hat, aus dieser Welt gestoßen wirst. Dann, wenn deine Seele deinem schönen Körper entrissen wird, sauge ich sie in mich ein. Doch wird dir dann nicht vergönnt sein, eins mit meinem Sein zu werden wie alle anderen, die ihrer Körper entledigt wurden. Nein, ich werde dich dann als dauerhafte Gefangene in meinem Leib beherbergen, unfähig, daraus zu wirken und daraus wieder zu entgehen. Und jetzt zurück mit dir zu deinem eigenen Haus! Das Kloster ist verloren. Hinfort mit dir!" Mit diesen Worten bekam Nyctodora einen so wuchtigen Stoß, dass sie laut schreiend durch den schwarzen Tunnel wirbelte und zehn Meter über dem Boden herauskam. Sie schaffte es gerade noch, in eine beherrschbare Landestellung zu gehen und sich nach Fallschirmspringerart abzurollen. Dann erkannte sie, dass sie vor ihrem Athener Haus war, das sie schon durch eigenes Blut gegen Feindesblut geschützt hatte. Hier war sie erst einmal sicher. Doch die Strafpredigt und die damit zusammenfallende Drohung der Göttin wirkten nach. Sie hatte heute oder vielleicht schon vor Tagen gravierende Fehler gemacht und damit eine Niederlage für die schlafende Göttin verursacht. Vielleicht hätte sie sich von Anthelia töten lassen sollen. Denn diese Schmach und die damit verbundene Aussicht auf eine ganz eigene Form der ewigen Verdammnis würde sie nun ihr ganzes körperliches Leben lang in sich tragen.

"Erweise mir bitte die Gnade und verrate mir, wohin du unsere Schwestern gebracht hast, o große Mutter der Nacht", wandte sich Nyctodora an ihre übermächtige Herrin.

"Sie alle sind wieder dort, wo ich sie hergeholt habe. Neaselenia und die anderen müssen sich jedoch erst einmal erholen. Sie haben durch den vertückten Zauber Verletzungen erlitten, die erst einmal ausgeheilt werden müssen. Reise bald wieder nach Afghanistan und sorge dafür, dass wir neue Unlichtkristalle bekommen!"

"Ja, meine Herrin, Mutter und Göttin", erwiderte Eleni Papadakis demütig. Dann ging sie in ihr Badezimmer, wo sie jedoch keinen Wasserhahn aufdrehte, sondern den in der Wanne zusammengetragenen Katzensand benutzte, um sich gründlich abzuschrubben.

__________

Anthelia freute und ärgerte sich, als sie nach Erledigung ihres Einzelunternehmens, das andere Hexen sicher als Ritt auf brennendem Besen bezeichnet hätten, wieder in ihrer eigenen Niederlassung angekommen war. Was sie erreicht und erfahren hatte konnte sie schon als gewissen Sieg auffassen. Allerdings hatte sie auch einiges, was ihr missfiel.

Sie freute sich, dass sie den Menschen- und den Vampirnamen der Hohepriesterin erfahren hatte. Trotz Mondfriedenszauber, der das Legilimentieren von denkenden Wesen erschwerte, hatte sie zumindest diese beiden Dinge ergründen und auch die Abstammung Eleni Papadakis' herausbekommen können. Damit wusste sie schon mehr als jeder andere Zauberer und jede Hexe. Sie freute sich auch, dass sie von Eleni alias Nyctodora die auf Mikrofilm gebannten Seiten aus dem Buch der tausend Erkenntnisse erbeuten konnte und so die bereits abgeschriebenen Seiten mit dem Feuerschwert zerstören konnte. Ebenso sah sie es als Sieg, dass sie mit dem Blut der Hohepriesterin und einiger ihrer Mitschwestern den Zugang zur Bibliothek der Nachtkinder verbauen konnte. Selbst mit dem Schattenstrudel konnte nun weder Eleni noch sonst jemand, der oder die im Namen der schlafenden Göttin Einlass begehrte in den Bücherraum hinein, ohne gleich an den Ausgangsort zurückgeschleudert zu werden. Dafür würden ihr die auf friedliche Koexistenz bedachten Blutsauger sicher noch mal dankbar sein.

Allerdings ärgerte es sie sehr, dass sie die Hohepriesterin nicht hatte töten können, was unter sonstigen Umständen die einzig dauerhaft erfolgreiche Lösung gewesen wäre. Doch ihr Ritual des Heilfeuers, das zur Verhinderung des Schattenstrudelzaubers nötig war, vergalt jeden Tod eines lebenden und damit von innerem Feuer erfüllten Wesens. Ob Anthelia beim schlagartigen Ausbruch eines Zerstörungsfeuers gestorben wäre wusste sie nicht. Womöglich hätte das Schwert oder auch die Kraft der Tränen der Ewigkeit sie selbst beschützt. Aber weil auf jeden Fall alle anderen Dinerinnen der selbsternannten Göttin der Nachtkinder getötet worden wären hätte sich das Feuer zu einer auch ihren Körper betreffenden Zerstörungskraft aufgeschaukelt, ähnlich wie die überstarke Verheerung, die Sandhearst gegen Vita Magica benutzen wollte. Deshalb war Eleni jetzt gewarnt, und ihre große Herrin ebenso. Außerdem hatte sie wegen des Mondfridenszaubers nicht in Elenis tieferen Erinnerungen einblicken können, wo die wirklich wichtigen Einzelheiten ihres Tuns geborgen lagen. Sie wusste weder, wo dieses Frauenzimmer Stützpunkte unterhielt, wie viele Nachtkinder bereits der Göttin unterworfen waren und vor allem nicht, woher die Unlichtkristalle stammten, mit deren Staub die angeblich so schlagkräftigen Kristallvampire erschaffen wurden. Immerhin konnte sie sich rühmen, einer Vampirin ihren Menschennamen entlockt zu haben. Denn üblicherweise, ohne das Heilfeuerritual, verstärkte die Dunkelheit die eigene Willenskraft eines Vampirs so sehr, dass er zum einen jeden Versuch der geistigen Aussforschung zurückweisen und zum anderen von sich aus mit seinem Unterwerfungsblick Zugriff auf den Geist seines Gegners erzwingen konnte. Wirkte der Mondfriedenszauber entstand zwischen magischem Menschen und Vampir eine nebelhafte bis völlig undurchsichtig silberweiße Trennwand vor dem Geistigen Auge, je stärker die geistigen Kräfte der beiden Gegenspieler waren desto undurchsichtiger und damit undurchlässiger in beide Richtungen.

Was würde Anthelia nun mit ihrem Wissen anfangen? Sollte sie anderen als ihren treuen Mitschwestern verraten, dass sie dieses Geheimnis enthüllt hatte? Dann würde sie jedoch nicht nur von den Dienern dieser sogenannten großen Mutter der Nacht gejagt, sondern auch von den anderen Hexen und Zauberern, weil sie das Buch der tausend Erkenntnisse an sich gebracht hatte. Doch im Moment bestand dieses Buch nur aus winzigkleinen Lichtbildern auf einem sehr dünnen Film, die nur mit den entsprechenden Betrachtungsgeräten gesehen und per Hand kopiert werden konnten. Auch musste sie davon ausgehen, dass die Hohepriesterin in Ländern tätig war, die sie wegen des Gelübdes an die Töchter des grünen Mondes bis zum April 2005 nicht mehr betreten durfte. Ebenso musste sie davon ausgehen, dass die sogenannte Göttin ihre Hohepriesterin aus allen öffentlichen Angelegenheiten der Menschenwelt herausbefahl, falls sie sie nicht als nicht mehr verwendbares Sicherheitsrisiko auslöschte und sich einen neuen Stellvertreter auf Erden heranzog oder besser eine Stellvertreterin. Denn sie hatte kapiert, dass die wohl durch die Magie des Mitternachtsdiamanten weiterhin handlungsfähige Ex-Vampirkönigin Lamia eher mit weiblichen Artgenossen Kontakt aufnahm, wohl auch, um durch deren Körper auf Lebewesen und Dinge einzuwirken. Sicher, sie hatte mit ihrem Zauber verhindert, dass diese Brut in die Bibliothek der Nachtkinder gelangen konnte. wie es sonst weiterging wusste auch sie nicht.

Wenn sie schon nicht selbst in ein Land im Orient reisen durfte konnte sie aber mindestens den Töchtern des grünen Mondes mitteilen, was sie erfahren hatte. So benutzte sie das ihr mitgegebene Halbmondamulett aus Smaragd, um mit Dschamila, ihrer direkten Verbindung zu dieser morgenländischen Hexenvereinigung magische Zwiesprache zu halten.

Vor ihrem geistigen Auge entstand das Bild einer orientalischen Frau im letzten Schwangerschaftsdrittel. Anthelia fragte sie erst, wie es ihr ginge und ob sie schon wisse, ob sie einen Jungen oder ein Mädchen bekommen würde. Dschamilas in Anthelias Geist projiziertes Abbild lächelte. "Ich trage Kadirs erste und einzige Tochter in mir. Doch du hast mich nicht gerufen, um dich nach meinem Befinden zu erkundigen, richtig?" Anthelia bestätigte es und schilderte in wenigen Sätzen, was sie in den letzten Stunden getan und erfahren hatte. Als sie erwähnte, dass die von ihr gestellte Vampirin wohl auch für die Unlichtkristallbeschaffung zuständig war erwiderte Dschamila:

"Dann erhält sie diese von unschuldigen Toten in Afghanistan. Wenn es wirklich eine Besitzerin dieser Eisenvögel ist, dann hat sie dort sicher mit Erlaubnis der Kriegführenden Landefelder, auf denen ihre Flugmaschinen niedergehen oder wieder aufsteigen können. Danke für diese so wichtige Mitteilung, Schwester Anthelia!"

"Was könnt und wollt ihr tun, um das zu unterbinden, dass weitere dieser grauen Überblutsauger erzeugt werden?" fragte Anthelia.

"Das weerde ich mit Mutter Alia und denen im Rat der zwölf besprechen, die mit den magielosen Vorrichtungen der Menschen vertraut sind. Außerdem muss ich abwarten, was die grüne Mutter befiehlt, ob unsere Schwestern in Afghanistan diese Sache bewältigen sollen oder auch Mitschwestern aus anderen Ländern helfen sollen. Ich selbst darf bis zur Entwöhnung meines Kindes keinen gefahrvollen Auftrag mehr ausführen, hat die grüne Mutter gesagt. Denn weil Kadir tot ist ist mein Kind die einzige Trägerin seines Blutes und muss behütet und am Leben erhalten werden."

"Ich wünsche dir hierfür alles Glück und alle Freude, die uns die große Mutter Erde und die kleine Himmelsschwester Mond bereiten", sagte Anthelia mit gewissem Unbehagen. Denn sie konnte sich denken, dass die Töchter des grünen Mondes darauf warteten, ob sie, Anthelia, auch bald Nachwuchs haben würde. So wunderte es sie nicht, als Dshamila fragte: "Und, hast du den von dir erwählten schon umworben, dir deinen Leib mit seinem Kind zu segnen?"

"Die grüne Mutter hat erkannt, dass dies nur richtig und gefahrlos sein wird, wenn die ihm angetraute ihm das erlaubt, Schwester Dschamila. Dies ist jedoch wohl sehr unwahrscheinlich. Doch ich gebe die Hoffnung nicht auf. Sage das bitte der grünen Mutter!"

"Es kann sein, dass diese dich selbst zu sprechen wünscht und sich dafür meinen Smaragdmond erbittet, Schwester Anthelia. Sei bitte darauf gefasst, von ihr gerufen und befragt zu werden, ohne gegen das von ihr ausgesprochene Gebot zu verstoßen!"

"Ich erwarte den Ruf der grünen Mutter. Ich hoffe nur, dass ich zum Zeitpunkt seines Erklingens nicht gegen den Knecht dessen kämpfen muss, der den Morgensternbrüdern und den Töchtern Lahilliotas die größte Angst bereitet."

"Wo du diese Brut erwähnst, Schwester Anthelia, hast du über die dir zugänglichen Mittel und Verbündeten erfahren, dass einer der Söhne Ashtarias durch Mord zu Tode kam und dass dadurch wohl die jüngste der neun erwacht ist?"

"Das die jüngste der neun vaterlosen Töchter erwacht ist erfuhr ich. Dass dies wegen des gewaltsamen Todes eines Sohnes Ashtarias möglich wurde ist eine neue Erkenntnis für mich", übermittelte Anthelia.

"Nun sind es nur sechs lebende Nachfahren dieser Urkönigin des Lichtes. Ob sie alleine mit den neun Töchtern der Lahilliota kämpfen können bekümmert die grüne Mutter sehr."

"Die grüne Mutter hat mir doch verraten, dass jener, den ich als Vater meiner Kinder erhoffe von einer übernatürlichen Erscheinungsform ihres Körpers beschützt und getragen wurde. Damit wurde er ihr jüngster Sohn. So hege ich die Hoffnung, dass er an die Stelle des Ermordeten treten kann, wenn Ashtaria dies für geboten erachtet", erwiderte Anthelia. Dabei dachte sie nur für sich, dass sie dann aber erst recht Schwierigkeiten haben mochte, sich mit ihm zusammenzutun.

"Dies mag sein. Ja, sowas hat die grüne Mutter bereits angedeutet. Ich danke dir noch einmal für deine neuen Erkenntnisse und die Hilfe, diese vom Blut der Menschen lebenden Geschöpfe nicht weiter an Macht gewinnen zu lassen. Möge der Mond sein segnendes Licht auf alle deine Wege strahlen und die Erde unter deinen Füßen dich immer sicher ans Ziel deiner Wege tragen!"

"Der Frieden der kleinen Himmelsschwester umfange dich und dein Kind mit Licht und Kraft und die Gnade und Liebe der großen Mutter trage dich und dein Kind auf allen Wegen!" entbot Anthelia der anderen die vorgesehene Entgegnung auf ihre Wünsche. Dann sagte sie noch: "Falls wir uns vorher nicht mehr sprechen, Schwester Dschamila, so wünsche ich dir jetzt schon eine glückliche Niederkunft und dass deine Tochter zu einer großen, starken Trägerin der erhabenen Kraft heranwachsen mag!"

"Wir danken dir für diesen Wunsch, Schwester Anthelia", erwiderte Dschamila. Dann verklang die über mehrere tausend Kilometer errichtete Verbindung. Anthelia ließ den smaragdenen Halbmond wieder unter ihrer Kleidung verschwinden. Sie hoffte, dass die grüne Mutter sie nicht ausgerechnet dann rufen würde, wenn sie ihren Gelüsten nachging oder gerade gegen den Knecht Iaxathans kämpfen musste. Denn sie dachte daran, dass dieser wohl bald die Entscheidung suchen würde, die Entscheidung, die über Bestand oder Untergang der Welt bestimmen würde.

__________

21. November 2002

Nachtwind lies sich von ihrem Gefährten Neubeginner die neuesten Meldungen aus der Menschenwelt vorlesen. Es war gelungen, in den Reihen des weißen Lotos zwei Artgenossen unterzubringen, die zunächst als Schläfer, also einfach nur das übliche Leben führende Spione und Attentäter geführt wurden. Wenn der Tigerclan wusste, wie genau die Triaden zu ihren Zwecken eingesetzt werden sollten würde Kalidas, der Schöpfer dieser beiden neuen Spione, den entsprechenden Befehl erhalten und weitergeben.

"Hast du auch gehört, was unsere Feinde tun, mein Gefährte?" wollte Nachtwind, die Königin der Wertiger, von ihrem Gefährten wissen.

"Da wir nach Feuerkriegers Eigenmächtigkeit keinen Fuß mehr in Europa reinkriegen weiß ich natürlich nicht, was da gerade läuft, meine Königin und Mutter meiner Kinder", sagte Neubeginner. "Aber über Umwege, von Mondlicht zum Beispiel, die ja immer noch Zauberbilder aus der Verwandtschaft hat, haben wir es, dass es in Griechenland wohl zu einem Angriff auf einen Stützpunkt dieser neuen Vampirbruderschaft gekommen ist. Ob dabei wichtige Leute von denen gestorben sind weiß ich nicht. Aber damit rechnen sollten wir besser nicht."

"Ich weiß, dass Mondlicht, Sonnenglanz und du der Meinung seid, dass diese Nachtgeschöpfe auch für uns gefährlich werden können, weil sie wohl denken, dass sie im Sinne Nocturnias handeln. Was schlagt ihr also vor, wie wir mit dieser Bedrohung umgehen?"

"Wir müssen wieder Kontakt mit den Wolfsmenschen kriegen. Die waren lange nicht mehr im Internet, haben wohl Angst, von den Zauberstabschwingern aufgespürt zu werden. Wir müssen die suchen, ohne uns dabei erwischen zu lassen."

"Die Wolfsmenschen sind wegen einer Seuche geflüchtet, die Ihresgleichen innerhalb von hundert Atemzügen tötet, hat Sonnenglanz berichtet. Deshalb mussten wir uns ja auch zurückziehen, weil keiner weiß, ob wir gegen diese Krankheit gefeit sind."

"Dann ist klar, dass die nicht mehr an einen Computer gehen, wo der mit Strom betrieben werden muss", erkannte Neubeginner. "Aber ich bleibe dabei, dass wir wieder mit den Lykanthropen reden müssen."

"Du weißt, dass wir unser erhabenes Land nicht verlassen dürfen, ohne unser ganzes Volk zu gefährden. Auch wenn Sonnenglanz mit ihrem neuen Gefährten Schattenspringer weit genug vom Tempel entfernt wohnt droht auch ihr die Vernichtung, wenn der Tempel vernichtet wird. Wenn die Wolfsmenschen mit uns reden wollen sollen Sie zu uns kommen", sagte Nachtwind. Neubeginner überlegte, ob er etwas dagegen sagen durfte. Nein, er durfte nicht. Nachtwind war die Herrscherin. Ihr Wort war Gesetz. Seit Feuerkriegers gefährlichem Alleingang beharrte sie noch mehr darauf, dass ihre Anweisungen aufs genaueste befolgt wurden. Also blieb weiterhin nur das Abwarten, Abwarten und neue Kinder kriegen. Immerhin trug Nachtwind bereits das dritte Kind Neubeginners unter ihrem Herzen, und auch Sonnenglanz hatte den gewaltsamen Tod ihres ersten Gefährten Feuerkrieger sehr schnell überwunden und sich mit dem zum Wertiger gemachten Karatemeister Hiro Kawasaki, der nun Schattenspringer hieß, zusammengetan. Im nächsten Jahr, im April, würde das erste gemeinsame Kind der beiden zur Welt kommen, zwei Monate vor dem, das Nachtwind gerade trug. Deshalb verstand Neubeginner auch, dass Nachtwind in dieser Lage nicht auf gefährliche Aktionen scharf war, die ihre ganze Art in die Vernichtung führen konnte. So sagte er nur, dass er die Aktion mit den in Verbrechergruppen eingeschleusten Artgenossen weiterverfolgen würde und mit Mondlicht auch die weiteren Ereignisse in der Zaubererwelt beobachten wollte. Er dachte dabei an diesen Vengor, der sich als Erbe dessen verstand, der den magischen Schlangenstab geraubt und die alten Schlangenkrieger Nagabapus aufgeweckt hatte. Zwar hatten Garudas Kinder die Naga-Krieger getötet. Doch Vengor mochte an weitere alte Geheimnisse rühren, die auch den Tigermenschen gefährlich werden mochten. Vielleicht waren sie der Schlüssel zu seinem Niedergang, so dachte nicht nur Neubeginner, sondern auch seine neues Leben tragende Gefährtin und Königin Nachtwind.

__________

Philonyctes besaß ein Geheimnis. Ihm konnte die Sonne nichts anhaben, wenn er bei Sonnenaufgang im Meer schwamm. Die Strahlen der Sonne wirkten dann so auf ihn, dass er zu einem Meermenschen wurde. Das lag daran, dass er vor hundert Jahren das Blut eines unberührten Wassermenschenjünglings getrunken hatte, weil er die Beeinträchtigung durch fließendes Wasser loszuwerden hoffte. Wenn er im Wasser war blieb er ein Meermensch, bis er im Schein des Mondes drei Viertel seines Körpers wieder aus dem Wasser heraushob. Gelang ihm das wurde er wieder zum Vampir. Doch diese Verwandlung hatte ihren Preis. Je mehr Tage er im Schutz des Wassers blieb, desto mehr wurde er danach süchtig, ja würde sich vollständig in einen Meermenschen verwandeln und seine frühere Lebensweise verachten. Doch er erkannte, dass nur diese Art zu leben das Joch der schlafenden Göttin von ihm nehmen konnte. Ein mit ihm befreundeter Zauberer hatte dieses Geheimnis durch einen Zauber namens Fidelius geschützt.

Als er nun durch Nacht und Gebirge dem Meer zuflog dachte die schlafende Göttin wohl, dass er sich noch vor Sonnenaufgang den Tod geben wollte. Doch als er in die Wellen des Meeres eintauchte sogen diese ihm keine Kraft aus dem Leib. Die schlafende Göttin rief in seinen Geist: "Was! Du wirst nicht geschwächt? Wieso ist das so?"

"Meine Sache", dachte Philonyctes. Er tauchte tiefer, hielt die Luft an. Dann drangen die ersten Sonnenstrahlen durch das Wasser zu ihm hinunter. Er fühlte ein Vibrieren im Körper. Hitze durchflutete ihn, die sofort wieder zu Kälte wurde. Er öffnete den Mund und sog das salzige Wasser ein. Das im Zusammenspiel mit den immer zahlreicher werdenden Sonnenstrahlen beschleunigte die Umwandlung. Die Göttin mochte jetzt vielleicht mitbekommen, dass was mit ihm geschah, aber nicht warum. Philonyctes fühlte, wie die Natur der Nachtkinder zurückgedrängt wurde. Die Freude, im Wasser zu sein, es in sich einzuatmen und davon gestärkt zu werden, die immer schmerzvollere Verschmelzung seiner Beine zu einem silbergrauen Fischschwanz war für ihn wie die Schmerzen einer Wiedergeburt. Über neunzig Jahre war es her, dass er sich dieser berauschenden Pein das letzte mal ausgeliefert hatte. Minuten vergingen, bis er endlich vollständig umgewandelt war. Das letzte, was er von der schlafenden Göttin mitbekam, war ein immer leiser werdender, sich in schwirrende und verwaschener klingende Echos auflösender Wutschrei. Dann war er ganz für sich alleine. Nein, er empfing die urtümlichen Gefühlsregungen anderer Wesen: Fresslust, Fluchtverhalten, Fortpflanzung. Um ihn herum wimmelte es von Wesen, die diese drei Grundtriebe auslebten. Er verstand die Urinstinkte der Fische. Ein reinrassiger, natürlich geborener Meermensch konnte alle kaltblütigen Meerestiere mit seinem Willen lenken, von der Schnecke bis zum Kraken, vom Schwamm bis zum Barackuda. Das war herrlich und doch so viel mehr als dieses ständige Fliehen vor der Sonne und die Jagd nach frischem Blut. Doch wollte er so weiterleben wie jetzt? Er dachte, dass er in seiner sonstigen Form wieder zum Sklaven oder gar zum Fressen der schlafenden Göttin wurde. So, wie er jetzt war konnte sie ihn nicht mehr erreichenund auch nicht mehr ergreifen, und dort wo er war konnten die anderen nicht hin. Jetzt, wo er keinen festen Halt mehr auf dem Land hatte, war klar, dass er die einzige Möglichkeit zu überleben nutzen musste. Er würde ein Leben im Wasser führen. Doch niemand von den lebenden Wasserleuten sollte und durfte wissen, dass er eigentlich ein Sohn der Nacht war. Denn diese wurden von den Wassermenschen genauso verachtet wie von den sonnenabhängigen Rotblütlern. Philonyctes freute sich, der schlafenden Göttin eins ausgewischt zu haben. Sie hatte ihn nicht getötet. Das war ihr Fehler. Sie hatte gedacht, er müsse sterben. Das war ihre Unwissenheit. Wenn er hier und so blieb war er ihr sogar überlegen. Das würde er ihr beweisen. Denn sie hatte ihm in ihrem Überlegenheitsrausch verraten, dass der Mitternachtsdiamant für Nachtkinder unerreichbar war. Und von anderen wusste er, dass der Stein von Rotblütlern im Meer versenkt worden war, dort wo eine der stärksten Meeresströme der Welt seine Bahn Zog, der Golfstrom. Dieses mit dem Stein verbackene Weib würde sich wundern, wenn jemand den Stein fand und vielleicht unter seinen oder ihren Willen zwang.

Mit diesen Gedanken glitt Philonyctes in die Tiefe. Philonyctes? Wollte er hier unten weiterleben und mit den hier lebenden Meerleuten friedlich zusammenleben, ja vielleicht einen eigenen Clan gründen, so brauchte er einen neuen Namen, der nichts mit seiner früheren Natur zu tun hatte. Doch er hatte jetzt Zeit, sich einen neuen Namen auszudenken.

__________

Eleni Papadakis alias Nyctodora hatte nach ihrer Rückkehr in ihre Privaträume sofort wirksame Zauber aufgebaut, um jeden Feind zu vernichten, der versuchte, sie hier zu erwischen. Das ging aber nur, wo sie als Tochter der Nacht entstanden war und wo sie einen großteil ihres Lebens als Menschenfrau zugebracht hatte. Da sie ihre Geschäftsräume nicht mit umfangreichen Zaubern ausfüllen durfte, ohne gleich alle Computer und Telefone zu stören war ihr klar, dass sie bis auf weiteres nicht mehr in ihren offiziellen Geschäftsräumen sein ddurfte. Über die Göttin und ihre von ihr selbst erzeugten Zöglinge sicherte sie ab, dass sie bis auf weiteres auf einer ausgedehnten Auslandsreise war. Dann bestieg sie die Nikephora, die fliegende Kommandozentrale der schlafenden Göttin. Sie wusste, dass Hexenund Zauberer nicht in sich schnell bewegende Fahrzeuge hineinapparieren konnten. Unauffindbarkeit war jetzt ihre Hauptaufgabe. Auch wenn die Göttin sie jederzeit mit einem Schattenstrudel in Sicherheit bringen konnte hieß das nicht, dass es auch so ablief. Allein schon, dass weder Nyctodora, noch Neaselenia, noch sonst ein Diener der Göttin in den Bücherraum der heiligen Bibliothek der Nachtkinder vordringen konnte, weil davor ein Zauber der Erde unter Verwendung von Blut errichtet worden war, zeigte, dass diese Anthelia sehr schnell und gründlich reagiert hatte. Jetzt musste sie nicht nur damit leben, dass jemand ihr die Tür zum gesamten Wissen aller Nachtkinder vor der Nase zugeschlagen hatte, sondern auch, dass ein Teil dieses Wissens durch ihre Schuld in den Händen der Rotblütler gelandet war und dass sie in ihrer bisherigen Funktion als Fluglinienleiterin nicht mehr lange arbeiten konnte. Denn garantiert heckten die Hexen um diese Feuerschwertschwingerin schon was aus, um sie finanziell oder auch körperlich unschädlich zu machen. Weil die Göttin das wusste rechnete ihre Hohepriesterin jeden Tag damit, ihres Amtes enthoben zu werden. Doch noch brauchte Gooriaimiria ihre magisch handlungsfähige Dienerin, eben weil diese bei Tag und Nacht arbeiten und zudem die Kräfte des für Vampire feindlichen Feuers nutzen konnte. Doch wielange würde das sie schützen. Eleni fühlte das erste mal seit der Erkenntnis, dass es echte Vampire gab und seit dem Kampf mit Vesta Moran wieder echte Todesangst. Sie hatte versagt, und nur die schlafende Göttin würde bestimmen, wie und wann sie dafür zu büßen hatte.

__________

22. November 2002

Selene Hemlock saß auf Eileithyias Schoß und kuschelte sich an ihren Warmen Körper. Ihre Ururgroßmutter wippte sie behutsam und sang ihr sanft das lied "Fille des Fleurs Dorées", ein französisches Kinderlied über eine kleine Blumenelfe, die den Garten einer großen Hexe behütete. Selene genoss es, derartig betüddelt zu werden. Doch das war nur äußerlich. Innerlich stand sie in Gedankenkontakt mit der neuen Blutsverwandten. Diese ließ sich alle paar Minuten von Theia, Leda und anderen irgendwo in den Staaten zusammengekommenen Schwestern mentiloquieren, was besprochen wurde. Gerade hatten die schweigsamen Schwestern befunden, so gewaltlos wie möglich alle Möglichkeiten Eleni Papadakis' zu beschneiden. Sie umzubringen sollte nur bei einer unmittelbaren gewaltsamen Auseinandersetzung erlaubt sein. Es war jedoch schon bekannt, dass die als Hohepriesterin enttarnte Unternehmerin ihre Geschäftsräume seit dem 20. November nicht mehr aufsuchte und eine längere Auslandsreise als Grund dafür angab. In ihre privaten Räumlichkeiten kam niemand mit feindlichen Absichten hinein, so eine Überprüfung durch die griechische Mitschwester Melina Rhodopteros. Beinahe wäre die griechische Mitschwester, deren auffälligstes Merkmal feuerrotes Haar war, in eine Zauberfalle geraten, die sie wohl getötet hätte. Nur die weise Voraussicht, einen magischen Vorerkunder zu senden, ein mit Bild- und Tonübertragungszaubern belegtes kleines Artefakt, das beim Eindringen in den geschützten Bereich unvermittelt in Flammen aufging, hatte Melina gerettet. Während Eileithyia ihrer Ururenkelin so die neuesten Erkenntnisse übermittelte dachte Selene daran, dass es wohl bald zu einer Entscheidungsschlacht zwischen den Vampiren der sogenannten schlafenden Göttin, jenen, die ihre Eigenständigkeit bewahren wollten, sowie den Hexen und Zauberern und wohl auch den Gefolgsleuten dieses Lord Vengor kommen mochte. Sie fragte sich, ob sie ihren vierten Wiedergeburtstag erleben würde oder ob sie dieses zweite Leben weit vor Erreichen der offiziellen Volljährigkeit wieder verlieren würde. Lebte sie von geborgter Zeit, wie es dem jungen Zauberer Harry Potter immer wieder angedeutet worden war? Doch sie war entschlossen, im Zweifelsfall um dieses Leben, das sie führte, zu kämpfen, auch wenn dadurch alle Welt erfahren mochte, dass sie die vor Jahren verschwundene Austère Tourrecandide war. Dass es schon Leute gab, die das wussten hielt sie für gegeben. Wer das alles war wusste sie jedoch noch nicht.

ENDE

Nächste Story | Verzeichnis aller Stories | Zur Harry-Potter-Seite | Zu meinen Hobbies | Zurück zur Startseite

Seit ihrem Start am 1. Mai 2018 besuchten 1625 Internetnutzer  diese Seite.