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Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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P R O L O G

Die magische Welt ist auch vier Jahre nach dem Sturz des dunklen Erzmagiers Lord Voldemort kein sicherer Ort. Doch auch die Welt der magieunbegabten, Muggel genannten Menschen, ist in Aufruhr. Die Terroranschläge vom elften September 2001 treiben die westliche Welt zu einem Vergeltungskrieg. Eine Bruderschaft aus Werwölfen versucht durch Terror und Erpressung, die gesellschaftliche Anerkennung ihrer Zustandsgenossen radikal zu verbessern. Die bei Nocturnias Vernichtung entkörperten Vampirseelen verschmelzen mit der bereits im Mitternachtsdiamanten gefangenen Seele von Lady Nyx alias Lamia zur mächtigen Daseinsform Gooriaimiria, die sich alle mit dem Mitternachtsdiamanten verbundenen Vampire Untertan macht und als deren schlafende, weil nicht selbst zu handeln fähige Göttin etabliert. Sie lässt die Fluglinienbesitzerin Eleni Papadakis zu einer Vampirin machen, die durch den Genuss des Blutes einer hochbegabten Feuerhexe und ihres halbvampirischen Sohnes zu einer feuer- und sonnenlichtunempfindlichen Vampirhexe und Hohepriesterin der schlafenden Göttin wird. Sie nutzen den sogenannten Krieg gegen den Terror aus, um eigene Machtmittel zu erlangen. Ein selbsternannter Erbe Voldemorts, der sich Lord Vengor nennt, trachtet danach, alle magischen Angehörigen einer bestimmten Blutlinie auszulöschen, um selbst den durch eine weißmagische Barriere versperrten Weg zum Geist des altaxarroischen Großmeisters dunkler Zauberkräfte namens Iaxathan beschreiten zu können. Er verbündet sich mit dem aus jahrhunderte langem Schlaf aufgewachten Schattenlenker Kanoras. Eine Vereinigung namens Vita Magica betreibt mit illegalen Methoden die Vermehrung magischer Menschen. Dann sind da noch die Töchter des Abgrundes, von denen vier aus dauerhaftem Schlaf erwachen und nun ihre Macht ausbauen wollen. All das sind genug Gründe, die Catherine Brickston, die Expertin für Zaubereigeschichte und dunkle Hinterlassenschaften bekümmern. Doch Was ihr wirkliche Sorgen bereitet ist ein gnadenlos mordender Geist aus Südafrika, dessen Erwecker Vergeltung dafür üben wollen, dass sie versucht hat, ein hochpotentes Zauberartefakt an sich zu nehmen.

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10. November 2002christlicher Zeitrechnung

Er war mächtig. Doch er konnte jederzeit von diesen Fleischträgern wieder zurückgerufen und dazu gezwungen werden, in dieses widerliche Ding hineinzuschlüpfen, in dem er nur noch schlafen konnte, bis mal wieder wer seine Hilfe brauchte. Dabei war er mächtiger als diese lebenden, atmenden Wichte, deren im Fleisch und Blut feststeckende Seelen nicht so frei und kraftvoll umherfliegen konnten wie er, der aus einer mächtigen Beschwörung entstandene Geist, in dem die Seelen von vier gnadenlosen Kriegern und Zauberkräftigen aufgegangen waren, um ihn, den unsichtbaren Henker, den Boten der Rache, den letzten Besucher, zu erschaffen, dessen Namen er bei seiner Entstehung erhalten hatte und der seitdem immer mit Todesangst genannt wurde.

Otschungu, der mächtige Geist, hatte einen Auftrag bekommen. Er sollte eine Zauberin finden, die seine Erwecker beleidigt und erzürnt hatte. Er hatte in körperloser Form drei mit Zauberkraft getränkte Lebendige gefunden, in deren Gedanken das Aussehen dieser Fremden aus Mitternachtsrichtung eingeprägt war. Wie der Löwe über die schlafende Gazelle war er in jeden der drei eingedrungen, hatte sich deren Seelen einverleibt und damit alles Wissen erbeutet, dass sie gesammelt hatten. Doch als er dann mit der ihm verliehenen Kraft, einen Menschen mit einem bestimmten Aussehen anzufliegen nach der Zauberin gesucht hatte war er immer ohne Ziel und ohne Fährte umhergeirrt. Diese Frau hatte ihr Aussehen verborgen. Otschungu kannte die Kräfte, Menschen unwirkliche Dinge sehen zu lassen. Doch dass es ihm nicht gelang, den wahren Namen und das wahrhaftige Aussehen der Gesuchten zu erfahren machte den Rachegeist selbst schon wütend. Andererseits wusste der auch, dass seine Erwecker ihn sofort wieder in jenes Etwas zurückrufen würden, an das er seit seiner Entstehung gebunden war. Er hatte bis zu diesem Tag nicht herausbekommen, was für ein Ding das war. Denn je länger er wieder unterwegs war, desto mehr wünschte er sich, dieses Etwas zu ergreifen und es den Sterblichen wegzunehmen, damit er nie wieder darin eingeschlossen werden konnte. Zerstören konnte er das Ding wohl nicht, weil an dem ein Teil von ihm hing und er dann sofort erlöschen musste, wenn dieser Teil zerstört wurde. Das ärgerte ihn auch. Denn er kannte mittlerweile Geister, die nur ein Viertel so stark wie er waren, jedoch frei und ungebunden in der Welt der Sterblichen umherwandern konnten, auch wenn sie dort nicht so viel ausrichten konnten wie er.

"Otschungu, Getreuer der Vergeltung! höre unseren Ruf!" drangen Stimmen von mindestens zwanzig Männern in seine Gedanken ein. Otschungu, der gerade die offene und verborgene Gier von weißen Männern in dieser großen Stadt einsaugte verharrte. Sie riefen ihn wieder. Die sollten ihn suchen lassen. Wenn die ihn riefen würden sie ihn wohl wieder in das Etwas befehlen, dessen Bild und Beschaffenheit sie immer vor ihm hatten verbergen können. Sie riefen ihn. Also wollten sie, dass er wieder einschlief. Doch er wollte nicht schlafen. Er wollte frei sein.

"Otschungu, Getreuer der Vergeltung, höre unseren Ruf. Erscheine vor uns, deinen Herren!" drangen die vielen Männerstimmen in seine Gedanken und zogen an ihm. Er fühlte, wie die Kraft dieses Befehls ihn wie ein wilder Sturmwind in die Richtung blies, in der sie wohl auf ihn warteten. Er versuchte, dagegen anzukämpfen, sich freizumachen, ihnen zu widerstehen. Doch mit dem dritten Ruf brachen sie diesen Widerstand. Er geriet in den Sog der mächtigen Zauberei, die diese Sterblichen machten, um ihn zu sich hinzurufen. Er brüllte vor Wut. Doch das hörte niemand. Dann fühlte er, wie etwas ihn ergriff und über die große Entfernung zerrte. Dann hörte er in seinen Gedanken die dumpfen, schnellen Schläge wie von zwanzig Elefantenherzen. Diese verwünschten Zaubersänger benutzten mit Zauberkraft getränkte Trommeln, um ihre Kraft zu verstärken. Sie zwangen ihn zu sich hin. Er fühlte, wie er einen großen Teil des Weges wie durch eine Wand aus grellen Blitzen und unendlich schwarzer Nacht übersprang und dann mit einem lauten Schmerzensschrei Halt zu finden. Er schrie vor Schmerz und Wut, mit der Stimme eines lebenden Menschen, der im Zentrum eines aus Knochen und Blut gebildeten Kreises lag und nun unter wilden Schmerzen zuckte, bis Otschungu alle Fasern seines Körpers ausfüllte und nun auch Halt im Geist des anderen Fand.

Außerhalb des Kreises standen zwanzig Männer, die auf Trommeln schlugen, die aus Köpfen von großen Pflanzenfressern gemacht und mit von Zauberkraft und Opferblut getränkten Häuten bespannt waren. Sie sangen seinen wahren Namen: "Otschungu! Otschungu! Otschungu!" Diese Anrufung band ihn an den Körper dieses Sterblichen, der nun, wo der mächtige Geist ihn erfüllte, wie ein Stein unter glühender Sonne immer heißer wurde. Der Schweiß rann in immer größeren Strömen aus der Haut des ausgewählten. Dann trat Stille ein.

"Otschungu, Getreuer der Vergeltung, höre auf mein Wort und begib dich an den Ort, den ich dir weisen werde. Befrage das Herz des Feuervaters und erfahre das Aussehen jener, die es zu berühren trachtete! Merke dir das Aussehen dieser Frevlerin, um sie zu jagen und zu töten, auf das dein Name und unser Ansehen nicht in den Staub der Verachtung gestürzt werden können!"

"Sie hat denen, die mit ihr sprachen nicht ihr wahres Aussehen gezeigt", schnarrte Otschungu mit der Stimme des von ihm besessenen.

"ja, wissen wir jetzt. Deshalb wollen wir, dass du den Geist im Herzen des Feuervaters befragst. Nur du bist mächtig genug dazu und du hast keinen sterblichen Körper, den das Feuer der Sonne verbrennen kann."

"Ich werde den Geist fragen und ihm die Antwort entreißen. Doch ich will dafür wissen, wer ihr seid und wer euch erzählt hat, wie ich gerufen werden kann. Denn ihr seid nicht die, die mich beim letzten Mal geweckt haben", krächzte Otschungu. Er war wütend, weil der von ihm besessene Mensch an dicken Pfählen gefesselt war und dieser verfluchte Kreis aus Blut und Knochen seine Spürsinne für die Gedanken der Lebenden unterdrückte.

"Wir sind deine Herren, Otschungu. Das ist alles, was du wissen musst", sagte dieser Trommelschläger und bewegte sich dabei in einer Weise wie eine drohende Schlange, eine Verbindung zwischen Erde und Himmel. Otschungu knirschte mit den gerade besessenen Zähnen und versuchte, das Wissen des Mannes in sich aufzusaugen, dessen Leib er gerade ausfüllte. Doch der Mensch war kein Kundiger. Er war nur ein Krieger, der dafür lebte, die Befehle seines Häuptlings und des Stammeszauberers zu befolgen. Doch etwas darin erweckte Otschungus Aufmerksamkeit. Dieser Krieger war nicht einfach so eine ihm zugedachte Hülle, aus der heraus er mit seinen Beschwörern sprechen konnte. Er kannte wen, der wusste, wie Otschungu zu rufen und zu binden war. Doch er kannte nicht den Namen und auch nicht das Aussehen des betreffenden.

"So reite auf den Klängen unserer Trommeln und gelenkt von unseren Gedanken zum zerschlagenen Tor der tausend Wehklagen und erfülle deinen Auftrag!" befahl der Trommler. Otschungu bestätigte mit widerwilliger Zustimmung. Doch ein Funke von Hoffnung und Verwegenheit glomm im mächtigen Geist des unsichtbaren Rächers, der anderswo auch als letzter Besucher gefürchtet wurde. Er stieß unvermittelt zu und durchdrang alle Gedanken und Erinnerungen des von ihm besessenen. Er bekam dessen atmende Seele zu fassen und umschloss diese wie ein einziges riesiges Maul. Da durchfuhr ihn mit der Kraft von Feuer, Wind und Erde die Macht der Trommeln und der Stimmen ihrer Schläger. Er klammerte sich noch an das unter seinen Würgegriff erstickende Sein des Besessenen. Dann riss ihn die Kraft des neuen Zaubers aus der lebenden Hülle heraus. Aus dem Kreis aus Knochen und Blut loderte eine blassblaue Feuerwand auf, die sich im Takt der Trommeln zu drehen begann. Otschungu verleibte sich den widerstandsunfähigen Rest der gefangenen Seele ein und überließ sich dem Strom aus Zauberkraft und leitenden Gedanken, der ihn schneller als ein Pfeil davontrug. Einen winzigen Moment, bevor seine Sinne im Wirbel der Zauberkraft eingetrübt wurden, konnte er erkennen, dass der, der ihm den Befehl erteilt hatte, irgendwas unter seiner Trommel berührte. Doch da schleuderte es ihn wie ein dem Boden entfahrender Blitz davon. Er durchflog nun wieder körperlos das Wechselspiel aus grellem Licht und völliger Finsternis. Doch er wusste nun, dass das Ding, an das er gekettet war, mit der Trommel des Beschwörers verbunden sein musste. Würden sie ihn wieder rufen wollte er zusehen, es zu ergreifen.

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Aus dem Tagebuch Aurora Dawns

11. November 2002

Hallo Wendy! Ab heute bin ich eine Mum. Ich habe dir ja immer erzählt, wie das für mich war, vor allem, als ich mitbekommen habe, dass Heathers Geist in Roseys Körper übergewechselt ist. Heute morgen um sieben ging's los. Etwas zu wissen, jemandem dabei zuzusehen oder das ganz direkt zu erleben sind echt drei ganz verschiedene Sachen. Ich habe erst gedacht, gleich komplett in Ohnmacht zu fallen. Aber dann habe ich mich zusammengerissen. Laura war auch ungewöhnlich sanftmütig. Ich hätte gedacht, dass die mich besonders heftig rumkommandiert, als ich auf dem Gebärstuhl saß.

Rosey hat noch einmal mit mir mentiloquiert, bevor ihr Kopf durch mein Becken geglitten ist. Sie hat sich noch mal dafür bedankt, dass ich sie ausgehalten habe und hoffentlich noch lange aushalte. Dann haben wir beiden drei Stunden lang Himmel und Hölle aller Religionen durchlebt. Ich wusste gar nicht, dass ich mit meiner Stimme so hoch komme. Ich hätte mir fast selbst die Kommandos gegeben, wenn ich da nicht zu viel mit dem Luftholen zu tun gehabt hätte. Als Roseys Kopf dann ganz aus mir rausgeguckt hat dachte ich schon, die macht gleich den Mund auf und beschwert sich über diese Peinigung. Statt dessen hat sie sich voll mit ihren kleinen Füßen aus mir herausgestoßen, nach dem Motto: "Und fertig!" Dann hat sie schon losgeschrien, obgleich sie da noch mit mir verbunden war. Die wollte offenbar klarstellen, dass sie jetzt endlich ihre eigenen Sachen machen will.

Als Rosey und ich voneinander entbunden waren wollte Laura sie wiegen und messen. Da hat Rosey mir unter großer Anstrengung zumentiloquiert: "Danke, Mum Aurora. sage Laura, die soll schnell machen. Es ist verdammt Kalt auf der Welt." Das konnte ich ihr nicht verdenken.

Also: Rosey Regan Dawn, meine von mir geborene Tochter, wog eine Minute nach der Entbindung um 10:32 Uhr australische Ostküstenzeit 3456 Gramm und maß kurz nach ihrer Geburt 51,7 Zentimeter. Der Kopfdurchmesser lag bei 14 cm. Kein Wunder, dass mir das so weh getan hat. Laura hat mich dafür sogar gelobt, dass ich das trotzdem fast ohne Dehnbarkeitslösung ausgehalten habe.

Rosey hat dann eine halbe Stunde gut zugedeckt bei mir in den Armen gelegen und schon mal ihre Nahrungsgrundlage gesichert. Da ich das Stillen ja schon in der Ausbildung ausprobiert habe war das zumindest nichts neues für mich. Aber das erhabene Gefühl, dass ich jetzt das eigene Baby habe ist schon anders als das, wo ich für Amaltheas Kinderstation Aushilfsamme gewesen bin. Rosey hat erst brav genuckelt, bis sie satt war. Dann hat sie mir mentiloquiert, dass sie jetzt hofft, nicht doch noch aufzuwachen und alles nur geträumt zu haben. Da kann ich ihr auch nur recht geben. So schmerzhaft das war, so herrlich war das Gefühl danach, die Kleine jetzt in den Armen liegen zu haben. Ich habe während ihrer ersten Fütterung nicht mal gemerkt, wie Laura mir ganz diskret die Placenta aus dem Körper herausgeholt und meinen Leib keimfrei und wundfrei gesalbt hat. Das war wohl der Vorteil, dass Rosey so einen großen Kopf hat.

Als Rosey genug aus mir in sich rübergesaugt hat hat Laura sie gewickelt und in den von ihr gestrickten rosaroten Strampelanzug mit den roten Rosenmustern drauf gesteckt. Dann haben wir zwei erst mal fünf Stunden geschlafen.

Laura hat mir drei Wochen Bettruhe und Kreislauftraining verordnet. Rosey mentiloquierte dazu, dass ich dann wohl auch so flauschige Windeln umkriegen würde wie sie hat. Das habe ich Laura nicht übersetzt. Ich wollte die nicht auf diese Idee bringen.

Morgen werde ich Julius und Camille berichten, dass ich jetzt auch eine Mum bin. Julius hatte schon letzte Woche gefragt, ob ich noch vor der jungen Mrs. Brocklehurst Mummy werde. offenbar habe ich das geschafft. Denn sonst hätte mein Bild-Ich das sicher noch erwähnt.

Meine Eltern haben gleich nach meinem Erholungsschlaf die frohe Nachricht erhalten.

Also, Wendy: Ab heute fängt für mich ein ganz neues Leben an. Mal gespannt, wie gut sich Rosey mit ihrer bewusst erlebten Säuglings- und Kleinkindzeit abfindet.

Bis morgen!

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11. November 2002

"Schschsch, Claudine", flüsterte Catherine ihrer Tochter zu, als sie aufgeregt an die Haustür rannte. Catherine sah durch das unzerbrechlich bezauberte Fensterglas und lächelte. Draußen vor der Tür standen Constance Dornier zusammen mit ihrer Schwester Céline und ihrer Tochter Cythera, Belisama Lagrange, Sandrine Dumas, Camille Dusoleil mit ihrer Tochter Chloé und ihrer Enkelin Viviane und die Eheleute Mildrid und Julius Latierre mit ihren Töchtern Aurore und Chrysope. Catherine winkte Claudine noch mal zurück und flüsterte ihr direkt ins Ohr: "Nicht laut werden. Laurentine soll erst wach werden, wenn wir singen." Sie sah noch mal auf ihre kleine Armbanduhr. Es war jetzt sechs Uhr morgens. Dann öffnete sie die Tür und winkte die davorstehenden herein. Es wurde kein Wort gesprochen. Aurore und Claudine umarmten sich und schmatzten sich leise Küsse auf die kleinen rosigen Wangen. Cythera machte den Mund auf, um laut zu rufen. Doch ihre Mutter legte ihr nur kurz die Hand auf die Schultern und machte "Schsch". Das wirkte.

"Schläft Joe auch noch?" fragte Julius ganz leise, als er dicht vor Catherine stand. Sie zuckte nur mit den Schultern und machte ein verdrossenes Gesicht. Das war mehr, als mit tausend Worten gesagt werden konnte. Dann lächelte Catherine die ganz frühen Besucher an und deutete mit einer ganz langsam aufwärts weisenden Armbewegung zur Treppe.

Mit Claudine an der rechten Hand führte Catherine die frühen Besucher nach oben. Julius schloss als letzter die Tür. Er trug die friedlich schlummernde Chrysope im Tragetuch, während Aurore an der Hand ihrer Mutter die Stufen hinaufstieg, ganz ganz leise.

Oben vor der Wohnungstür von Laurentine Hellersdorf versammelten sich alle ohne unnötiges Wort. Dann sah Catherine Millie und Belisama an, die ihr zunickten. Dann hob sie die rechte Hand und krümmte einen Finger nach dem anderen, erst den Daumen, dann den Zeigefinger, dann den Mittelfinger. In dem Moment fingen sie alle an, ein fröhliches Geburtstagslied zu singen. Denn heute hatte Laurentine ihren einundzwanzigsten Geburtstag. Für Cythera, Claudine und Aurore war das ganz schön alt. Chrysope quängelte, weil ihr Papa auf Baritonstimmlage mitsang und sie deshalb nicht weiterschlafen konnte. Doch dann merkte sie wohl, dass das um sie herum was ganz schönes war und gluckste nur behaglich, während Aurore versuchte, Claudine zu übertönen und Cythera bei jedem Ton die Arme schwang, als müsse sie jeden Ton aus ihrem Bauch in den Mund hochpumpen. Zwei Strophen dieses vier Strophen langen Liedes dauerte es, bis die Tür aufgemacht wurde. Laurentine sah leicht schlaftrunken zu den Geburtstagsliedsängerinnen und -sängern auf den Flur. Dann fing sie zu lächeln an. Aus dem Lächeln wurde ein Grinsen, aus dem Grinsen ein sehr erfreutes Strahlen. Sie öffnete ihre Arme zur Begrüßung und ließ sich zuerst von Catherine umschlingen und mit einem Schmatzer auf jede Wange begrüßen. Dann durfte Claudine ihre nette, wenn auch immer so beschäftigte Aufpasserin begrüßen und ihr gratulieren. Dann kamen die anderen Mädchen, die schon selbst laufen konnten dran. Erst dann durften die Erwachsenen sie begrüßen. Auch hier waren es erst die Frauen. Zuletzt kam Julius dran.

"Jeanne wäre gerne auch mitgekommen", sagte Camille Dusoleil. "Aber Nummer vier hat ihr gestern den Kreislauf durcheinandergebracht und ihr so von Hera ein Flohnetzreiseverbot eingebrockt. Sie lässt dich aber schön grüßen." Deshalb umarmte Camille Laurentine noch mal.

"Kommt rein, bevor Joe unten aus dem Bett fällt", zischte Laurentine und winkte ihr Aufweckkommando herein.

"Der ist schon vor einer Stunde weg ins Büro. Dabei täte ihm echt mal eine Stunde Schlaf mehr gut. Sieht fast aus wie ein Vampir, nur dass er noch keine Fangzähne hat und noch meine ganzen Sachen mit Knoblauch verträgt", grummelte Catherine.

"Ich bin nicht seine Mutter", grummelte Laurentine. Mit dem Satz hatte sie es in letzter Zeit immer abgetan, dass sie eigentlich mit Joes Arbeitswut nicht zurechtkam und Claudine auch darunter zu leiden hatte. Aber davon wollte sie gerade heute nicht groß reden, und Catherine legte auch keinen Wert drauf.

Wie das so bei Hexen ist hatten die bereits großen Damen innerhalb von nur einer Minute ein fix und fertiges Geburtstagsfrühstück zusammengekochuspokust. Im durch Rauminhaltsvergrößerungszauber tanzsaalgroßen Wohnzimmer konnten alle sich hinsetzen. Laurentine hatte die Zeit, wo die Gäste die Küche besetzt hatten ihre Morgentoilette erledigt. Auch das ging bei Hexen, die es eilig hatten, innerhalb von nur wenigen Minuten. Sandrine erwähnte, dass ihre Mutter für Laurentine eine große Geburtstagstorte gebacken hatte, die sie ihr wohl nach dem Unterrichtstag überreichen würde. So bekam Laurentine erst einmal nur frische Croissants, Rührei mit Schinken und aus Deutschland eingekaufte Brötchen mit Butter und Madame L'ordouxes extrasüßem Honig. Dazu gab es Orangensaft, Kürbissaft, Kaffee und heiße Milch, die, so Millie, ein Geschenk ihrer Kuh Artemis für das Geburtstagskind sei. Laurentine fragte, ob die Butter auch von Temie komme. Julius grinste und nickte. Catherine dachte sich, dass Temmie darauf bestanden haben mochte, Laurentine auch was von ihrer Gabe zu überlassen. Doch darüber sprachen die Latierres nicht weiter.

Zu Musik aus der Stereoanlage unterhielten sich die Gäste über die geplanten Feierlichkeiten am Nachmittag. "Jeanne will dann auch zu uns rüberkommen", sagte Camille. Laurentine meinte dazu, dass sie ja auch hier hätte feiern können, wo Céline und alle anderen näher dran waren. "Flohpulverkamine reichen auch bis Millemerveilles", sagte Camille darauf nur.

"Und, was hast du beschlossen, ob du nächstes Jahr wieder nach Beaux gehst oder nicht?" fragte Céline ihre frühere Klassen- und Schlafsaalkameradin.

"Dazu lasse ich mich besser nicht aus, wo Sandrine dabei ist", erwiderte Laurentine. "Nichts gegen dich, Sandrine. Aber wo du jetzt wieder häufiger bei deiner Mutter, meiner Chefin bist könnte der einfallen, dich ganz heimlich oder ganz knallhart auszufragen, wie ich mich entschieden habe", sagte Laurentine und machte eine abbittende Geste, weil Sandrine ihr Gesicht verzog.

"So, und dass ich meiner Mutter, deiner vielleicht künftigen Chefin vorher was sagen könnte schließt du aus?" fragte Catherine das Geburtstagskind. Laurentine grinste und meinte, dass sie das nicht extra erwähnen musste. Catherine nickte verdrossen. Im Moment musste sie selbst aufpassen, nicht bei jeder ihr nicht passenden Bemerkung oder Geste in Wut zu geraten.

"All zu lange kann ich eh nicht in Millemerveilles bleiben. Ich geh davon aus, das Oma Monique mich heute nachmittag unserer Zeit anrufen möchte. Und vielleicht erinnert sich mein Vater auch noch dran, dass am elften November nicht nur der Karneval anfängt, sondern auch noch was anderes weltbewegendes passiert ist", sagte Laurentine, als Camille sie fragte, ob sie ihrem Mann bitten sollte, die magicomechanischen Musiker auszuleihen, um einen Tanzabend zu machen. "Spätestens um acht möchte ich wieder hier sein. Dann ist es in Kalifornien elf Uhr morgens und in Kourou drei Uhr nachmittags."

"Und deine Eltern rufen dich nicht am Vormittag unserer Zeit an?" wollte Julius wissen. Laurentine schüttelte den Kopf.

Damit die Kinder die schon laufen und sprechen konnten sich nicht langweilten durften die Laurentine erzählen, was sie so alles machten. So verging die Zeit bis sieben Uhr.

"Eigentlich könnten wir aus Millemerveilles alle mit der Reisespähre rüber", warf Julius ein. "Aber von uns hier kennt ja nur Catherine die Schlüsselwörter für die Direktverbindung."

"Bis wir am Geschichtsmuseum sind sind wir auch schon durch das Flohnetz", meinte Sandrine. Dem konnte keiner widersprechen.

Irgendwie bekam Catherine das üppige Frühstück nicht so gut. Doch sie riss sich zusammen, um die Stimmung nicht zu verderben. Denn es war nicht das erste mal in den vergangenen drei Wochen, dass ihr morgens schlecht wurde. Das sollte sie vielleicht doch bald mal genauer prüfen lassen, ob das was gutes oder schlechtes bedeutete. Allerdings wusste sie gerade nicht, ob das, was sie und ihre Schwiegereltern und ihre Mutter als gut empfinden mochten, bei Joe als gute Nachricht ankam. Daher wollte sie lieber noch bis Anfang Dezember warten, bis Joes achso drängendes Projekt endlich abgeschlossen sein würde.

Millie schien zwar viel Hunger zu haben, musste aber wohl auch mit einem Unwohlsein kämpfen. Doch wenn Catherine sie deshalb genauer ansah lächelte Millie in stiller Vorfreude. Die schien sich auch auf was neues vorzubereiten.

Weil Céline und Belisama schon um viertel vor acht an ihren Arbeitsplätzen sein wollten verabschiedeten sich die Gäste um halb acht. Catherine sagte, dass sie mit Claudine am Nachmittag zum Jardin du Soleil reisen würde, um da weiterzufeiern.

Als alle außer Claudine aus dem Haus waren suchte Catherine das Badezimmer in der eigenen Wohnung auf und ließ ihrem Unwohlsein freien lauf. Als Claudine sie fragte, ob sie Bauchweh habe meinte sie: "Kann das Wetter sein oder dass Papa dich und mich wegen seiner Computersachen immer wieder so anknurrt." Was Catherine wirklich dachte und fühlte wollte sie Claudine noch nicht erzählen. Die Kleine war sehr aufgeweckt und einfühlsam. Die hing voll zwischen ihrer Verdrossenheit, weil Joe sich in den letzten Monaten in seine Arbeit hineingestürzt und beinahe unauffindbar darin vergraben hatte, Joes kurz angebundenem Auftreten und dem Umstand, dass sie keine Freunde hatte, zu denen sie mal eben zum spielen rüberlaufen konnte. Wenn sie spielen gehen wollte musste ihre Maman sie durch den Kamin bringen und später auch wieder abholen. Das erinnerte Catherine zu sehr daran, wie viel sie aufgegeben hatte, um mit Joe größtenteils in seiner Welt zu leben. Dazu kamen noch die Aufträge an sie, Artefakte aus früheren Zeiten zu suchen, Berichten und Gerüchten über die Hinterlassenschaften echt dunkler Hexen und Zauberer nachzugehen.

Dann war da noch ein dumpf nagendes schlechtes Gewissen, weil sie im August in Afrika etwas angeregt hatte, das noch sehr üble auswirkungen haben konnte. Über die Liga gegen dunkle Künste erfuhr sie immer wieder, dass der ihr damals nachgeschickte Unheilsgeist Otschungu offenbar noch nicht wieder eingekerkert worden war. Dessen Erweckung hatte sie ganz indirekt und gänzlich unbeabsichtigt mitverschuldet, weil sie an ein uraltes Geheimnis gerührt hatte. Gut, das war ihr Beruf, uralte Geheimnisse zu enthüllen. Aber in dem Fall hatte sie es nicht zu einem für den Rest der Menschheit erfreulichen oder beruhigenden Abschluss gebracht. Sie hatte das hochpotente Sonnenartefakt nicht bergen können, das in einer aus einem Elefantenschädel gemachten Riesentrommel versteckt war. Das Artefakt selbst hatte sie als unerwünscht abgewiesen. Nachdem sie die Sonnentöchter Faidaria, Gisirdaria und die zu diesen übergetretene Patricia Straton alias Gwendartammaya getroffen hatte wusste sie nun, wem dieses Artefakt eigentlich zustand. Doch der Auftritt ihrer Mutter am 14. Oktober hatte ihr die Chance verbaut, mit den drei Sonnentöchtern darüber zu reden, wie diese sich das magische Sonnenmedaillon beschaffen konnten. Deshalb hoffte sie darauf, dass die Latierres den Kontakt mit dem uralten und lange für nicht bestehend angesehenen Volk hielten und sie über Julius oder Millie oder die in ihren gläsernen Überdauerungszylindern bestehenden Meister von Altaxarroi Kontakt zu den Sonnenkindern bekommen würde. Sie wusste aber ganz sicher, dass das Kapitel Otschungu so bald wie möglich abgeschlossen werden musste. Dieser wahrhaftige Dämon konnte selbst für seine Erwecker zur Gefahr werden, wenn sie ihn einen Moment lang nicht unter Kontrolle hatten. Sie hoffte deshalb darauf, dass jemand aus der Liga genug in den ehemaligen europäischen Kolonien in Afrika erfuhr und weitermelden konnte.

Heute hatte sie zumindest keinen Außeneinsatz und konnte längst ausstehende Berichte schreiben.

Gegen zehn Uhr gönnte sie sich eine einstündige Pause, die sie mit Claudine in der Rue de Camouflage verbrachte. Mittags gab es für sie und ihre jüngere Tochter ein Mittagessen, dessen Zubereitung sie von ihrer Mutter persönlich erlernt hatte. Claudine wollte zwischendurch auch an den Herd, um ihrer Maman zu helfen. Doch das war noch zu gefährlich für die gerade fünfeinhalb Jahre alte Junghexe.

Catherine schaffte es noch, ihre Schreibarbeiten bis drei Uhr fertigzukriegen. Der letzte Bericht drehte sich um ein Buch, das angeblich von der dunklen Hexe Ladonna Montefiori verfasst worden war, zehn Jahre vor ihrem Duell gegen Sardonia, bei dem sie spurlos verschwunden war. Von der Hexe hieß es, sie habe keinen Vater gehabt und ihre Mutter sei die Enkeltochter einer grünen Waldfrau gewesen. Aber die Zeitzeugen von damals hatten alle keine Zeit gehabt, das näher herauszufinden oder hatten unter Ladonnas Fuchtel gestanden und ihre magischen Kräfte wohl auf stärkere Zauberwesen zurückgeführt. Das erwähnte Buch enthielt keine lateinischen, griechischen oder arabischen Schriftzeichen, sondern die Zeichnungen von kleinen Blumen aller möglichen Formen in verschiedenen Stellungen. Hätten Martha und auch Joe nicht mal die Sherlock-Holmes-Geschichte von den tanzenden Männchen erwähnt hätte es wohl noch lange gedauert, diese Blumenbildchen als verschlüsselte Silbenschrift zu entziffern. Damit hatte aber festgestanden, dass dieses Buch wirklich von Ladonna Montefiori geschrieben worden war, und zwar in einem silbenverkehrten Latein. Bald ein Jahr hatten sie und ihre Ligakameradin Agatha Swetwater an der Übersetzung gesessen. Jetzt wollten vor allem das italienische Zaubereiministerium, aber auch die französische Ministerialabteilung für magische Hinterlassenschaften die Übersetzung für sich haben. Wenn es nach Catherine ging sollten alle was davon haben. Immerhin ging es hier um bis dahin unvollständige Berichte aus der präsardonianischen Zaubereigeschichte. Konnte sein, dass einige Textpassagen später mal in Beauxbatons drankamen. Das Buch an sich würde aber dann wohl in seiner übersetzten Form nur in der verbotenen Abteilung der Bibliothek aufbewahrt werden.

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Der wilde Flug durch Licht und Finsternis endete vor einem gewaltigen Trümmerhaufen. Otschungu, der nun wieder mit seinen rein geistigen Sinnen die Umgebung erfasste, erspürte noch den schwachen Nachhall der hier gebundenen Seelen, die bei der Zerschlagung des Tores befreit worden waren und wohl ins Reich der Ahnengeister entkommen waren. Auch roch er förmlich die von Fresslust und Wut gewürzte Ausstrahlung von mit starken Zaubern getränkten Tieren, die jedoch in einem lähmenden Schlaf gefangen waren. Vielleicht sollte er versuchen, einen dieser niederen Gehilfen zu übernehmen, ihn auszufüllen und als neuen Körper zu benutzen, um seine Erwecker zu zwingen, ihn freizugeben. Doch erst einmal wollte er selbst wissen, wer es geschafft hatte, das Tor der tausend Wehklagen zu überwinden.

Als der unsichtbare und körperlose Rächer durch das Trümmerfeld schwebte fühlte er die ihn unangenehm durchdringenden Funken einer unsichtbaren Kraft, die irgendwie wie die Entstehung von Leben auf ihn wirkte. Er hatte bei seinen letzten Aufträgen schon die Geburten von Menschen mitbekommen und kannte die dabei freiwerdende Ausstrahlung, wenn ein neues Leben in die Welt eintrat. Die hier nur wie ein ganz leiser Nachhall einer lauten Stimme spürbare Kraft wirkte wie hundert solcher Lebensanfänge auf einmal. Hatte die Unwürdige etwaa das Geheimnis des Lebens erlernt, wie es damals von den Urmächten erschaffen wurde? Dann war sie eine sehr gefährliche Feindin, die unbedingt sterben musste. Er erkannte, dass er diese Frau nicht mit seinem Geist durchdringen und in Besitz nehmen konnte, wenn diese vorgewarnt war und seine Kraft in reines Leben umwandeln konnte. Am Ende musste er dann wieder in die vier zerfallen, deren Kraft und Wissen in ihm aufgegangen waren. Für ihn wäre das so schlimm wie der Tod für die armseligen Kurzlebigen.

Je weiter er durch das Trümmerfeld glitt, desto deutlicher fühlte er jetzt auch eine andere Kraft, die er immer dann wahrnahm, wenn jemand mit Hilfe des Feuers mächtige Zauber wecken wollte. Auch ähnelte diese Kraft jener, die aus dem Sonnenlicht in Pflanzen freigesetzt wurde, damit sie die Kraft des Himmelsfeuers in ihre eigenen Bestandteile verwandelten. Diese Kraft wurde immer stärker, je weiter er kam. Dann erreichte er die Höhle. Er fühlte die schlafende Kraft, die in den Zeichen steckte, die in immer enger verlaufenden Windungen in den Boden geritzt waren. Er sah sofort den mächtigen Elefantenschädel, der mit einer hauchdünnen Goldschicht überzogen war. Die Stoßzähne waren in Silber eingeschlossen. Der obere Teil war offen und von einer durchsichtigen Haut überspannt, in der Otschungu ebenfalls mächtige Zauberkräfte schlummern fühlen konnte. Doch was ihm am meisten auffiel war die Ausstrahlung jener Feuerzauberei, die von der Sonne selbst geschöpft sein mochte. Sie war wie der langsame Atem eines schlafenden Tieres, mal stärker und mal schwächer. Otschungu fühlte jedoch in allen Bestandteilen seines Daseins, dass da noch ein lebendiger Geist war, der auf seine Umgebung horchte, so wie er es tat. Es war nur eine Frage der Zeit, wann sich beide körperlosen Wesenheiten berührten.

Otschungu schwebte unsichtbar und Unhörbar weiter auf den zu einer riesigen Trommel umgearbeiteten Elefantenschädel zu. Dabei fühlte er die von diesem ausgehende Kraft immer stärker. Jetzt beschleunigte sich ihr An- und Abschwellen. Ja, und jetzt fühlte er auch, wie er von etwas berührt wurde, das erst die äußeren Schichten seiner Daseinsform durchdrang und dann blitzartig bis ins Innerste von ihm vorstieß wie der einschlagende Pfeil eines Jägers in das Herz eines arglosen Wildes. Einen winzigen Moment lang konnte Otschungu nichts anderes als diese ihn durchdringende Kraft gewähren lassen. Doch dann bäumte er sich dagegen auf, wollte die fremde Daseinsform aus sich hinausstoßen. Dabei merkte der aus vier gnadenlosen Geistern zu einem unbesiegbaren Geist zusammengefügte Rächer, dass er einen ebenbürtigen, ja ihm womöglich sogar überlegenen Geist angetroffen hatte.

Zunächst blieb das Kräftemessen für Menschensinne unbemerkbar. Doch dann erstrahlte etwas aus dem inneren der Schädeltrommel heraus wie ein Stück Mittagssonne. Hitze kam auf, die Otschungu nur dadurch wahrnahm, dass die Luft zu flimmern anfing und er ein wildes Flirren von mit der reinen Kraft der Luft wechselwirkenden Macht vernahm. Dann schnellten zwei gleißende Strahlen aus den Augenhöhlen des Elefantenschädels und umschlossen Otschungu. Ein Mensch wäre bei dieser Berührung wohl zu Asche verbrannt. Er fühlte nur, dass eine gebündelte Feuerzauberei den Raum ausbrannte, den er einzunehmen trachtete. Er musste sich zusammenziehen und dabei seine weit ausgreifenden Geistesfühler einrollen. Dann hörte er eine mächtige, dröhnende Stimme sprechen. Er konnte nicht erkennen, ob sie einem Mann oder einer Frau gehörte. Erst war es eine Sprache, die Otschungu nicht konnte. Doch als die immer noch in ihn eindringende Kraft mit einem kurzen Zucken seine Gedanken durchwühlte verstand er die übermächtige Stimme, die wie aus dem Mund eines der Urgötter zu stammen schien:

"Du bist kein Würdiger. Du bist ein Todesträger, ein entkörperter Sklave. Du wirst mich nicht ergreifen und davontragen."

"Ich bin kein Sklave. Ich bin der Rächer, der Vollstrecker, der letzte Besucher!!" brüllte Otschungu mit seiner kräftigen Geistesstimme.

"Du bist kein freies Wesen. Du bist aus Tod und Hass erbrütet, dazu gemacht, für andere zu töten und Angst und Schrecken zu verbreiten, eine niedere Schöpfung des Nachtgebieters, dem Feind allen Lebens. Was wagst du von dunkler Kraft und Begierden geformtes Etwas dich zu mir? Nur weil das von deinen Schöpfern errichtete Tor aus dunklen Kräften zerstört wurde hast du kein Anrecht auf mich."

"Ich will wissen, wer du bist und wer dich für sich haben wollte", erwiderte Otschungu, der jedoch fühlte, wie die glühenden Strahlen, die ihn zwischen sich hielten immer enger zusammenrückten.

"Ich bin der Wächter von Ashtaris Beistand, dazu bestimmt, diesen einem Würdigen Nachfahren der alten Träger der Kraft von Feuer und Tageslicht zu dienen. Doch du bist unwürdig."

"Ich bin der Bote der Vergeltung. Jemand hat dich ergreifen wollen, die nicht würdig war, dich zu besitzen. Wer war das?"

"Das zu wissen ist nicht für dich und deine Herren bestimmt. Hinfort mit dir!" dröhnte die mächtige Geisterstimme aus dem Elefantenschädel. Otschungu fühlte die ihn zurückdrängende Kraft. Doch nun kämpfte der unsichtbare Rächer. Er ballte seine ganze Kraft zusammen und schaffte es, den ihn durchdringenden Geistesdorn aus sich hinauszutreiben. Er sprang aus den sich immer enger um ihn zusammenlegenden Strahlen heraus nach oben. Dann stieß er mit seiner Macht, Gedanken an sich zu reißen vor. Die Höhle wurde von gleißendem Licht erfüllt. Ein immer stärkeres Beben erfüllte sie. Die immer heißer werdende Luft wehte immer lauter fauchend und heulend durch den Eingang hinaus und riss immer mehr Staub von Decke und Wänden mit sich. Doch Otschungu kämpfte weiter. Er wollte in den Schädel eindringen, in die Quelle der feindlichen Kraft eindringen, sie ersticken oder zu einem Teil von sich selbst machen. Doch er schaffte es nicht ganz, an den gewaltigen Schädel heranzukommen. "Wer wollte dich gegen deinen Willen ergreifen. Sag's mir, Wächter von Ashtari!" brüllte Otschungu gegen Licht, Hitze, Wind und Erdbeben an.

"Gut, du sollst es wissen, bevor ich dich in alle Winde zerstreue", donnerte die Stimme des Wächtergeistes in Otschungus Gedanken. Es blitzte vor ihm auf, und er sah eine Frau mit nachtschwarzem Haar und himmelslichtfarbenen Augen. Ihr Bauch schwoll an, als wüchse ein neues Kind darin. So war es auch. Denn einen Atemzug später stieß sie ein nebelhaftes Gebilde, das einem neugeborenen Menschen ähnelte aus sich heraus. Ihr Bauch schwoll ab und dann wieder an, um noch ein Nebelkind hinauszustoßen. Otschungu hörte die wie ferner Widerhall tönenden Schreie der Neugeborenen, bevor sie sich zusammen mit der Gebärerin in grelles Licht auflösten. Er erkannte, dass es zwei Mädchen waren, die da geboren worden waren. Dann fühlte er, wie eine unbändige Kraft auf ihn eindrang, ihn von außen nach innen zu zerfressen trachtete. "Wehre dich nicht gegen dein Ende. Empfinde Erleichterung in deiner Erlösung von deinem dunklen Sein!" hörte er die Wächterstimme. Doch Otschungu wollte nicht enden. Er schrie dagegen an, fühlte, wie die ihn bedrängende Kraft versuchte, ihn von allen Seiten zu umschließen. Er hatte nur noch eine Richtung, durch das zerstörte Tor. Schneller als zehn Kriegspfeile sprang Otschungus Daseinsform zurück, getrieben von der ihm zusetzenden Kraft. "Erlösche, Unwürdiges Geschöpf!" brüllte ihm die Wächterstimme noch zu. Doch da jagte Otschungu bereits mit der äußersten Geschwindigkeit davon, die er beim Durchfliegen eines Raumes aufbieten konnte. Jetzt hatte er das Trümmerfeld verlassen. Doch die feindliche Kraft brannte und stach immer noch auf ihn ein. Sie versuchte, ihn regelrecht zu zerkochen. Deshalb jagte er weiterhin über das Land dahin, weg von den schlafenden Feuerbläsern, die er eigentlich in Besitz nehmen wollte. Doch erst als er mehr als fünftausend Männerschritte von der Höhle entfernt war erlosch die ihn peinigende Kraft. Er hörte noch einen schwachen Aufschrei der Wut und Enttäuschung. Dann war er endlich außer Gefahr.

Ein Mensch hätte nun erst einmal neuen Atem geschöpft. Doch Otschungu hatte keinen atmenden Körper. Ihm war nur wichtig, zu denen zurückzukehren, die ihn hierher geschickt hatten. Er wusste jetzt drei Dinge: Zum einen wusste er, dass das sogenannte Herz des Feuervaters einen starken, es ausfüllenden Geist beherbergte. Zum zweiten wusste er, dass es von einem Volk erschaffen worden war, das sichergestellt hatte, dass nur dessen Angehörige den mächtigen Gegenstand berühren konnten. Zum dritten hatte ihm der Wächtergeist in seiner Überlegenheitsanwandlung das Bild der letzten Unwürdigen gezeigt. Sie hatte zwei Kinder geboren. Offenbar war dem Geist das wichtig gewesen. Doch er hatte nicht ihren Namen verraten. Offenbar hatte sie sich dagegen geschützt, ihn preiszugeben. So hatte er nur ihren Körper und dessen bisherige Zustände erfassen können. Mit diesem Wissen ließ sich was anfangen, dachte der vertriebene Rächer. Dann beschloss er, dass er diese neue Kenntnis nur unter einer Bedingung verraten würde: Er wollte wissen, woran sein Geist gebunden war.

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Dardaria und ihr Gefährte Yantulian belauschten weiterhin die über große räumliche Entfernungen übermittelten Meldungen der Gehilfen des Wächters von Garumitan. Außerdem vertrieben sich die beiden Wachhabenden im Worakashtaril die Zeit damit, in den Aufzeichnungen ihrer Eltern und deren Vorfahren zu lesen. Dardaria besuchte auch immer mal wieder jene Halle, in der die aus ihren Körpern herausgelösten Seelen früherer Sonnenkinder in Überdauerungskugelschalen schliefen, bis sie in einen ihren früheren Körpern verwandten ungeborenen Körper überwechseln konnten. Das ging aber nur bei Kindern, die als Zweite Kinder ihrer Mütter getragen wurden. Deshalb würde Dardarias und Yantulians Kind ein völlig von einem früheren Leben unbelastetes inneres Selbst ausbilden. Immerhin wusste Dardaria jetzt, dass sie einen Sohn bekommen würde. Somit mochte ihre erste Tochter mit dem inneren Selbst einer verstorbenen Sonnentochter vereint werden. Außerdem wusste Dardaria jetzt, dass es neben dieser Halle der vorausschauenden Gnade noch einen Raum gab, der für den Fall, dass die Sonnenkinder durch einen Feind oder ein Unglück sehr stark vermindert worden waren, seine Aufgabe erfüllte. Davon hatten sie und Yantulian ihren Brüdern und Schwestern auf Ashtaraiondroi noch nichts erzählt, auch wenn bereits zwei Sonnentöchter geboren worden waren, in denen die Seelen einmal lebendig gewesener wiederverkörpert waren. Doch der Eid, den Dardaria und ihr Gefährte den hier wachenden Geistern ihrer Eltern schwören mussten, zwang sie zum Stillschweigen über diesen zweiten so wichtigen Raum.

"Dardaria, hoffnungsvolle Trägerin meines ersten Kindes, wo bist du?" fragte Yantulian durch Geistsprechen.

"Ich genieße die Bilder und Töne aus dem Raum der Weltenbilder", schickte Dardaria zurück.

"Ich bin in jener Kammer, in der ich auch das Schwingungsohr hingestellt habe. Ich habe gerade das Licht des zweiten Erbzeichens gesehen. Offenbar wurde dieses von einer sehr starken Kraft herausgefordert und musste sich wehren."

"Das zweite Erbzeichen? Wo mag es sein? Sagt dir das Licht das?" wollte Dardaria wissen.

"Deshalb habe ich dich angesprochen", gedankensprach Yantulian. Seine Gefährtin wollte selbst das Licht sehen, das mit dem zweiten von drei mächtigen Gegenständen der Kraft Ashtaris, des großen Vaters Himmelsfeuer erfüllt war.

Als Dardaria so schnell ihr körperlicher Zustand es zuließ in den Raum hinübereilte, in dem auch das Schwingungsohr stand, mit dem Yantulian zwischendurch die Meldungen der Diener des Wächters von Garumitan mithörte, konnte sie gleich die beiden Lichtkugeln erkennen. Die eine war bereits vertraut und stand in der Himmelsrichtung, in der Ashtaraiondroi zu finden war. Sie leuchtete in der Farbe des gerade über dem Rand von Himmel und Erde brennenden Himmelsfeuers und schwoll sanft an und ab, wobei sie in ihrem kleinsten Zustand halb so groß war wie im größten. Das zweite Licht flimmerte in einem tiefen Rot und war gerade anderthalb mal so groß wie die erste. Sie stand über dem Punkt einer vor etlichen Tausendersonnen gezeichneten darstellung der Weltkugel. Allerdings glitt es in schnellen Kreisbewegungen und sank immer mehr auf die aus Orichalk und blauen Edelsteinen gemachte Weltkugel hinunter. "Das Licht hört den Ruf des mit ihm verbundenen Zeichens, kann aber die Richtung noch nicht erfassen", sagte Yantulian. Wir sind wohl zu weit davon fort. Außerdem wirkt es wohl einem Versuch entgegen, es durch Geistesmacht zu unterwerfen."

"Also will jemand das Erbzeichen durch mit der Kraft angeregte Gedanken unterwerfen?" fragte Dardaria und deutete auf die sich wie ein ruhig schlagendes Herz ausdehnende und zusammenziehende Lichtkugel über dem Punkt, wo Ashtaraiondroi im Meer lag. Dieses An- und abschwellen stand dafür, dass das von diesem Licht gezeigte Erbzeichen mit dem Körper eines lebenden, es zu tragen berechtigten Wesens verbunden war. Das zweite Licht flackerte gerade, blähte sich noch einmal kurz auf die dreifache Größe des ersten Lichts auf, wobei seine Kreisbewegung einen winzigen Augenblick lang verhielt. Dann fiel das zweite Licht vollständig in sich zusammenund erlosch. Was immer es angeregt hatte war wohl auch gerade erloschen oder davongegangen.

"Wenn ich nicht gerade in diesem Moment hier gewesen wäre, um das Schwingungsohr für die nächste zu erwartende Zustandsmeldung eines Wächterdieners einzurichten, dann hätte ich es wohl nicht bemerkt", sagte Yantulian. Dardaria nickte ihm zu. "Dann müssen wir eine Ankündigungsvorrichtung bauen, die sofort an uns weitergibt, wenn das Licht des zweiten Zeichens wieder leuchtet", sagte Dardaria. Yantulian bejahte das. Denn es war überaus wichtig, zu erfahren, wo genau das zweite der drei Erbzeichen der Sonnenvertrauten verborgen war und durch wen oder was es so stark angeregt worden war. Wenn das schon mal geschehen war, ohne dass sie es mitbekommen hatten, dann war das im Nachhinein unverzeihlich.

Die beiden Wachhabenden des Sonnenturmes sprachen kurz mit den in Nachtoderscheinungsform hier weiterbestehenden Eltern, wie dieses Licht überhaupt zum leuchten gebracht wurde. Dadurch ergab sich auch, dass jeder der hier noch überdauernden Geister der Vorfahren für einen Tagesteil in der Kammer wachen konnte, um ein neues Aufleuchten des Lichtes zu bemerken. Dardaria ärgerte sich darüber, dass diese Vorkehrung schon längst hätte getroffen werden können. Doch wenn das zweite Erbzeichen schon einmal einen Ruf in das Raum-Zeit-Gefüge ausgestoßen hatte, so konnten sie jetzt nicht mehr nachverfolgen, wann genau. Also mussten sie hoffen, es erneut erfassen zu können.

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Ihr Bund war so alt, dass keiner von ihnen mehr sagen konnte, wie alt genau. Feststand, dass es die Trommler der Macht schon gegeben hatte, als das große Reich der Zulu entstand. Ebenfalls hatten die Trommler der Macht schon mit den Gläubigen und Priestern des Voodoo aus dem Küstenland im Westen zu tun bekommen und um den wahren Glauben gestritten. Für den Bund der Trommler stand fest, dass die Welt aus einem klaren Ton heraus erschaffen worden war und dass alles in der Welt nach dem Takt der großen Urtrommeln ablief, die von den Vätern und Müttern von Feuer, Wind, Wasser und Erde geschlagen wurden. Diese Urmächte hatten aber nicht nur die Wärme und das Licht erschaffen, sondern auch Kälte und Dunkelheit. Und wo die Mutter der Erde immer wieder neues Leben gebar, hatte deren Bruder und Gatte, der Vater des Feuers, den Tod erschaffen, um die Erde nicht vor Leben überquellen zu lassen. Die Seelen der verstorbenen wurden dann von der Mutter des Windes umarmt und in alle Richtungen davongetragen, bis sie alle die große, silberne Brücke erreichten, über die es in das unendliche Reich der Ahnen ging, deren Lagerfeuer man in wolkenlosen Nächten am Himmel leuchten sehen konnte. Wer dort einmal war wollte von seinem früheren Leben nichts mehr wissen.

Weil die Mutter des Feuers ihrer fruchtbaren Schwester, der Mutter der Erde nacheifern wollte und möglichst viele Kinder bekommen wollte, hatten die Väter von Feuer, Wind und Wasser beschlossen, die Dunkelheit zu erschaffen. Dadurch gewann die Welt Licht und Schatten, Aufbau und Vernichtung, Geburt und Tod. Das alles verlief im Takt der großen Urtrommeln, die von den vier Vätern geschlagen wurden und zu deren Takt die vier Urmütter tanzten und ihre Nachkommen in die Welt trugen oder jenen, die gingen den Weg zur silbernen Himmelsbrücke zeigten, die als glitzerndes Band am Himmel zu sehen war.

Doch weil es die Dunkelheit, die Vernichtung und den Tod gab, so gab es von den Kindern der Urmächte auch solche, die diese beendenden Kräfte verehrten und ihnen mehr Platz auf der Welt geben wollten. Sie zwangen die Geister der aus ihren Körpern geschiedenen Krieger dazu, ihnen zu dienen und ihre unsichtbaren Waffen zu sein. Ebenso wurden von den wenigen Tänzerinnen, die bei den Trommlern der Macht die irdischen Vertreterinnen der vier Urmütter waren, die Geister ihrer weiblichen Vorfahren durch Tanz und Gesang beschworen, nicht über die silberne Brücke zwischen den Welten zu wandeln und sich zu den Ahnen an die himmlischen Lagerfeuer zu setzen. Doch die Tänzerinnen verloren in den Jahrhunderten immer mehr Macht und wurden immer mehr zu Dienerinnen der Trommelschläger.

Eines Tages war es dann zum großen Streit der Trommler des Lichtes mit denen der Dunkelheit gekommen. Dabei waren mächtige Geister beschworen und durch die mächtigen Lieder zu kampfstarken Wesen verschmolzen worden. So waren die Boten von Leben, Licht, Dunkelheit und Tod entstanden. Die Tänzerinnen wollten den Ausgleich erhalten, weil ohne Leben der Tod keinen Daseinszweck mehr hatte und ohne Tod das Leben keinen Wert. Doch die Tänzerinnen wurden von den Trommlern immer weiter entmachtet, durften am Ende nur noch bei großen Gesängen mitwirken, um die Kraft der Fruchtbarkeit und das Jagdglück zu beschwören oder den Verstorbenen, die nicht als ewige Diener der Trommler von Kriegsmacht und Vergeltung weiterbestehen sollten, der großen Windmutter übergeben, damit diese sie zur silbernen Himmelsbrücke führen konnte.

In dieser Zeit war auch er erschaffen worden, Otschungu, der unsichtbare Rächer, Getreuer der Vergeltung, der jedoch nicht nur von den Trommlern der Macht beschworen werden konnte. Denn jeder, der den machtvollen Gegenstand erlangen konnte, an den Otschungus mächtiger Geist gebunden war und die alten Lieder kannte, ihn zu wecken und zu lenken, konnte diesen mächtigen Geist beschwören, der von den meisten anderen Menschen als Unheilsgeist und Bote des Bösen gesehen wurde.

Vor zweihundert Jahren war es den Trommlern von Kriegsmacht und Tod gelungen, Otschungus Heimstatt zu finden und sie, ohne ihn sofort aufzuwecken, an sich zu bringen. Seitdem hatte der unsichtbare Rächer nur noch für die Trommler der Macht gejagt, gekämpft und getötet. Auch hatten die Trommler des Feuers, die von direkten Kindern der Urmächte das Herz des Feuervaters bekommen hatten, um es sicher zu bewahren, mit den Kriegstrommlern einen Bund geschlossen, dass sie mithalfen, dieses Herz zu bewahren. Deshalb war es in einen zur großen Trommel umgebauten Schädel des damals mächtigsten Rüsselträgers eingelagert worden, damit es nicht schon aus der Ferne erspürt werden konnte. Denn andere Feuerzauberer, die nicht an die acht Ureltern glaubten und meinten, in allem sei eine Seele enthalten, hätten das Herz des Feuervaters zu gerne für sich erobert. Doch nur ein Nachfahre aus dem Stamm der Feuerkinder selbst durfte das Herz an sich nehmen, nur eine reine Jungfrau, die bereit war, Kinder des Feuers zu gebären, durfte das Herz des Feuervaters an sich nehmen, damit sie seine Nachfahren gebären konnte.

Und jetzt war diese bleichhäutige Zauberin aus dem Norden gekommen und hatte versucht, das Herz des Feuervaters an sich zu bringen, hatte dabei sogar das Tor der Wehklagen überwunden und zerstört. Doch das Herz des Feuervaters hatte sich ihr verweigert, wohl weil sie keine Jungfrau mehr war und deshalb nicht ein Kind der Feuereltern in ihrem unberührten Schoß empfangen konnte. Deshalb musste sie für diese Untat büßen. Aus diesem Grunde hatten die Trommler den unsichtbaren Rächer aus langem Schlaf geweckt und auf die Jagd nach ihr geschickt. Doch er hatte sie nicht gefunden. Jetzt sollte er das Herz des Feuervaters selbst befragen, um zu erfahren, wer die Unwürdige war.

Feuerrufer, der älteste und mächtigste der Trommler der Macht, blickte in das von ihm durch das Lied des neuen Feuers entfachte Lagerfeuer. Er hoffte, darin zu lesen, wie es weitergehen sollte. Blutsänger, ein mächtiger Trommler der Kriegsmacht, der Menschen Kampfeslust oder Todesangst einjagen konnte, Herzen schneller schlagen oder erstarren lassen konnte, sah seinen dritten Mitbruder an, Geisterlenker, der mit seiner Trommel und seiner Stimme die körperlosen Wesen rufen, lenken oder verjagen konnte. Sie drei waren die einzigen, die wussten, wie der unsichtbare Rächer gebunden werden konnte. Wussten sie von ihm, wie die Unwürdige aussah oder gar wie sie hieß, würden sie den Rächer mit ihren Liedern der Vergeltung zu ihr hinsenden und sie töten lassen. Danach sollte der Rächer wieder in seine Schlafstatt einfahren und dort ruhen, bis er irgendwann wieder gebraucht wurde.

"Hörst du ihn noch, Geisterlenker?" fragte Feuerrufer seinen Mitbruder, der so starr und still wie ein Stein in der Landschaft dasaß. Geisterlenker zog erst seine Augenbrauen hoch. Dann bebte sein Körper kurz. Dann regte er sich.

"Das Herz des Feuervaters hat den Rächer fast vernichtet. Ich konnte noch hören, dass die beiden zusammengetroffen sind. Der Wächter des Herzens ist mächtig."

"Und, hast du gehört, wie die Unwürdige heißt oder aussieht?" wollte Feuerrufer wissen.

"Nein, weil der Rächer beim Kampf mit dem Wächter des Herzens so laut gebrüllt hat, dass mein Ohr der fernen Geister nicht mehr hören konnte, was er sah. Jetzt verschweigt er, was er erfahren hat. Er hat den Kampf fast verloren", erwiderte Geisterlenker mit einer irgendwie weltentrückten Stimme. Dann griff er zu seiner Trommel, in deren Körper die Symbole für Geist, Tod, Macht und Stärke eingraviert waren. Mit hilfe von Dunkelhüter, Geisterlenkers Lehrmeisters und Bewahrer des Gegenstandes, mit dem Otschungu gebunden werden konnte, hatte er die Trommel zu einer schwächeren Abwandlung dieses Lenk- und Bindegegenstandes gemacht. Zusammen mit Feuerrufer und Blutsänger stimmte er nun das Lied des unsichtbaren Rächers an, eine Folge von Wortteilen, Tönen und bestimmten Bewegungen, die den zu rufenden erreichen und herbeitragen konnten. Doch sie wussten, dass er als reiner Geist mächtig genug war, ihre Fragen nicht zu beantworten. Also wollten sie ihn in einen lebenden, magieunfähigen Körper hineindrängen, damit er dort solange festsaß, bis er von sich aus alle gestellten Fragen beantwortet hatte. Hierzu hatte Blutsänger, der die nicht mit der großen Macht der Urmächte gesegneten Krieger befehligte, einen seiner jüngsten Krieger herbeibringen und mit Hilfe von Schlaftrank und Fesseln bewegungs- und Handlungsunfähig halten lassen. Die drei Trommler, die um ein brennendes Feuer herumschritten, aus dem Feuerrufer und Blutsänger zudem noch weitere Kraft bezogen, fühlten schon bald, dass ihr Rufen gehört wurde. Sicher war auch, dass der unsichtbare Rächer zu ihnen kommen wollte. Doch ein Geisterwesen wie er konnte einen Raum zwischen sich und anderen nur dann gedankenschnell überwinden, wenn jemand ganz fest an ihn dachte oder der betreffende Geist dort einmal als lebender Mensch längere Zeit gewesen war. Die dritte Möglichkeit war, dass sich der Rächer den Körper eines mit der hohen Kraft durchflossenen griff und über die Seele des in diesem Körper geborenen die Flügel starker Wünsche schwingen konnte, so hieß es bei den Trommlern, wenn ein mächtiger Zauberer mit seiner Kraft an einen anderen Ort hinübersprang, ganz gleich, wie weit dieser von seinem Ausgangsort fort war.

Jetzt ritt der Rächer auf der Woge der ihn rufenden Töne und Worte, Blutsänger blickte fest den von ihm herbeigeholten Krieger an. In diesen hinein sollte der Rächer gedrängt und gebunden werden.

"Ich bin da!" tönte eine laute, wie das Brüllen eines Löwen dröhnende Stimme in den Gedanken der drei Trommler. Zeitgleich verfärbten sich die Flammen des Lagerfeuers. Sie wurden dunkelrot. Auch strömte nicht mehr so viel Wärme aus den Flammen wie noch zuvor. Vor den drei Trommlern flimmerte die Luft. Die drei fühlten, dass der mächtige Geist sich dagegen wehrte, in einen lebenden Körper hineingedrängt zu werden. Doch Blutsänger und Geisterlenker stimmten ohne hörbare Absprache das Wort der Verbindung zwischen wanderndem Geist und lebendem Körper an. Da der zugedachte Körper gerade noch in der Betäubung schlummerte konnte dessen wahrhaftige Seele auch keinen tätigen Widerstand leisten. Sie konnte nur durch die eigene innere Kraft widerstehen. Doch weil der Krieger eben keine eigene Zauberkraft besaß und zudem noch sehr jung und ungeübt war war dessen innerer Widerstand überhaupt kein Hindernis. Nur der Rächer widerstrebte. Er kämpfte dagegen an, sich in einen schwächlichen Körper hineinstoßen und dort festsetzen zu lassen. Doch solange die drei sangen und trommelten konnte er nichts anderes gegen sie tun als sich gegen den Sog zu stemmen, den Blutsänger und Geisterlenker aus dem bereitgelegten Körper auf ihn ausübten. "Hört auf damit! Oder ich werde wieder gehen und jeden eurer Angehörigen grausam bestrafen, wenn ihr mich so unwürdig behandelt!" drohte der unsichtbare Rächer. Da brach sein letzter Widerstand. Die drei Trommler sahen es nicht mit den Augen, sondern fühlten es in ihren Gedanken, wie etwas aus der leeren Luft auf den ohnmächtigen Krieger übersprang wie ein Blitz aus der dunklen Wolke zur Erde. Der Ohnmächtige zuckte wie von einem glühenden Speer getroffen zusammen, riss den Mund auf. Dann bebte er wild. Die beiden Beschwörer trommelten und sangen ihr Lied der Verbindung solange, bis der ohnmächtige nicht mehr von wildem Beben erschüttert wurde. Sie fühlten noch, wie die Gedanken des Rächers schwächer wurden, weil sie nun in das Gefüge des ihm zugeteilten Körpers versickerten und dieser noch nicht aufgewacht war. Auch die Flammen des Feuers gewannen wieder ihre übliche Farbe und Wärmeausstrahlung.

"So müssen wir warten, dass er aufwacht", sagte Geisterlenker, als feststand, dass der unsichtbare Rächer in dem ihm zugeteilten Körper sicher eingeschlossen war. Nur wenn sie ihn dort wieder hinaussangen konnte er seine volle Macht zurückgewinnen. Doch dann sollten sie ihn gleich dorthin schicken, wo der ihn vollständig bindende Gegenstand war. Sie waren nicht so einfältig, nicht damit zu rechnen, dass Otschungu nicht aus Wut und Hass heraus seine Herren angriff, sobald sie ihn wieder freiließen, ohne ihm einen bindenden Auftrag zu erteilen. Sie hatten ihn eh schon viel länger als eigentlich gewünscht war umhersuchen lassen.

Die Nacht war schon halb um, als der gefangene Krieger aufwachte und merkte, dass er gefesselt war. Mit ihm erwachte auch Otschungus Geist wieder. Dieser griff sofort nach der jungen und zauberunkundigen Seele des Mannes und schlang sie in sich hinein. Der andere schrie mit hörbarer Stimme. Das war das letzte fehlende Zeichen für die drei Trommler, die in der Zeit ihre Kräfte durch Gesänge an die Mütter von Feuer und Erde erneuert hatten. Geisterlenker trommelte behutsam das Lied vom sprechenden Geist. Dabei sang er in kehligen Tönen die erste Frage an den Gebundenen:

"Otschungu, unser Diener, was verriet dir das Herz des Feuervaters?"

"Ihr Auswürfe einer Schakalin, das werdet ihr büßen!" schnaubte Otschungu durch den Mund des von ihm ausgefüllten. Geisterlenker fühlte wohl, dass der Gefangene durchaus nicht so widerstandsunfähig geworden war, wie er es gehofft hatte. Auch sah nicht nur er, wie das Gesicht des jungen Mannes sich langsam veränderte. War es zunächst noch von den Schmerzen der ihm zugefügten Verbindung gezeichnet gewesen, sah er nun mit zunehmender Wut auf die drei und rüttelte an seinen Fesseln. Um seinem Körper flimmerte die Luft. Das behagte dem Geisterbeschwörer überhaupt nicht. Da rief Blutsänger:

"Verrate uns, was der Geist des Herzens dir verraten hat, Windspeer, Sohn von Löwentöter und Quellenglanz!"

"Das werdet ihr bitter bereuen. Ich fresse eure Seelen und die eurer Weiber und Kinder!" brüllte Otschungu durch den Mund des gefangenen Kriegers. "Ihr werdet mir geben, was nur mein ist. Dann erst werdet ihr bekommen, was ich weiß.

"Du wirst nicht mehr schlafen, nicht mehr frei wandeln, nicht deinen Willen bekommen, wenn wir nicht unseren Willen bekommen und du uns sagst, was wir wissen wollen", erwiderte Geisterlenker, wobei er weiter das Lied trommelte, mit dem er Otschungu zu bändigen hoffte.

"Ich will wissen, wie ich von euch gerufen werden konnte. Wer war das zuerst und wie ging das", erwiderte Otschungu. Doch nun stimmten auch Feuerrufer und Blutsänger in den Taktschlag Geisterlenkers ein und sangen: "Gib die Antwort, die wir wollen!" Der gefangene Windspeer, in dessen Körper nun der unsichtbare Rächer eingeschlossen war, erbebte wieder. Die Gesichtszüge wurden wieder von Schmerzen und Widerwillen bestimmt. Geisterlenker sah in die weit aufgerissenen Augen des Gefangenen. Da kam ihm die Idee, die Worte des Einblicks zu singen, die ihm und wenigen anderen Trommlern erlaubten, in Gedanken und Erinnerungen eines Gefangenen einzudringen. Otschungus Widerstand wurde immer kleiner. Das musste Geisterlenker ausnutzen.

Als ihm durch die Augen des Gefangenen Bilder in den Kopf drangen, wie Windspeer die Nacht vor seiner Reise hierher verbracht hatte und dann auch wie Otschungu gegen das Herz des Feuervaters gekämpft hatte glaubte der Geistertrommler sich schon am Ziel seiner Wünsche. Da passierte es.

Wie eine aus dem Gras zustoßende Schlange schlug der in Windspeer gefangene Rächer gnadenlos zu und stieß mit seinen Gedanken in Geisterlenkers eigene Gedanken und Erinnerungen hinein, krallte sich dort fest und zerrte daran. Es kam zu einem rein geistigen Ringen um Wissen und Willensmacht. Geisterlenker erkannte zu spät, dass Otschungu mächtiger war als er sich hatte vorstellen können. Jetzt erbebte auch Geisterlenkers Körper. Die beiden anderen Trommler sahen es, konnten aber jetzt nichts mehr dagegen tun.

Das Flimmern um Windspeers Körper wurde zu einem Flirren dunkelroter Funken. Ebenso wurde das brennende Feuer wieder dunkler. Außerdem geschah noch was unheilvolles: Windspeers Körper schien schwächer zu werden. Seine kraftgestählten Arme und Beine wurden dünner. Auch seine breite Brust schien an Kraft zu verlieren. Es sah so aus, als atme der Gefangene seine eigene Körperkraft in den freien Wind aus.

"Was ist es, was mich in dieser Welt hält und jedem, der es hat hilft, mich zu seinem niederen Diener zu machen?" hörte Geisterlenker die durch das in ihm tobende Gewitter an früheren Erinnerungen dröhnende Stimme. Doch er wollte es nicht verraten. Er kämpfte weiter, bis er sich als kleinen Jungen bei seinem Lehrmeister sah. Als ihm durch die Tänzerin der Vorbestimmung offenbart worden war, dass er die körperlosen Seelen und die Gedanken lebender Wesen erspüren und lenken konnte, hatte Dunkelhüter ihn in allem unterwiesen, was dazu nötig und wichtig war. Als er an seinen Lehrmeister dachte fühlte er den gnadenlosen Ruck, mit dem Otschungu alles über diesen Lehrmeister aus seinen Erinnerungen herausriss wie eine gepanzerte Flussechse ein Stück Fleisch aus ihrer Beute. Er fühlte, wie alle an Dunkelhüters Bild und Namen hängenden Erlebnisse aus ihm herausgezerrt wurden, auch das Bild und die Beschreibung einer aus einem einzigen Rüsselträgerzahn geschnitzten Schlange, deren Augen aus gefrorenem Feuer bestanden, einem Stein, der wegen seiner Härte und Röte zusammen mit Blut und offenem Feuer die Mächte von Erde, Feuer und Tod miteinander vereinen konnte. Geisterlenker schrie auf. Denn genau das hatte er nicht preisgeben dürfen. Er wollte was rufen, seine Gefährten warnen. Doch Otschungu, der Löwe unter den körperlosen Seelen, kannte keine Gnade. Er riss alles über Dunkelhüter an sich. Geisterlenker fühlte, wie sein Kopf schmerzte. Dann war da noch was. Etwas blitzte vor ihm rot wie gefrorenes Feuer auf. Bevor Geisterlenker es verstehen konnte war es auch schon geschehen. Mit der unbändigen Begierde eines hungernden Raubtieres war der eigentlich sicher eingeschlossen geglaubte Geist des unsichtbaren Rächers seiner ihm aufgezwungenen Hülle entsprungen und mit der Wucht eines einschlagenden Blitzes in den Körper Geisterlenkers eingedrungen. Dieser kam nicht mehr dazu, den inneren Widerstand aufzubieten. Otschungu fraß sich in seine Gedanken, seine Gefühle, verschlang seine Erinnerungen und dann zum schluss all das zusammenhaltende, die Seele des Trommlers, durchdrang alle Fasern seines Körpers und riss dessen von den Urmächten verliehenen Kräfte an sich.

Feuerrufer erkannte zuerst, dass etwas schreckliches geschah, als Blutsängers Krieger mit einem Schlag ganz weißes Haar und eine tief eingefurchte, trockene Haut bekam und dann mit einem letzten Ruck alles Leben verlor. Gleichzeitig konnte er für einen Moment um Geisterlenker eine Art flammenloses Feuer sehen, das die Farbe von gefrorenem Feuer, dem seltenen, sehr harten, roten Stein aus der Erde, besaß. Dann hörte er Geisterlenkers aufschrei und sah, wie er zusammenzuckte. Da begriff er, dass Otschungu es irgendwie geschafft hatte, aus dem ihm zugeteilten Körper in den von Geisterlenker hinüberzuspringen. Wenn er Geisterlenker niederkämpfte würde der Rächer alles wissen, was den Trommlern die Macht über ihn gab. Das durfte nicht sein. Er spielte sofort das Lied des gemeinsamen Kampfes, das Kriegern neue Kraft gab und jede Angst aus ihnen vertrieb. Meister wie er konnten es sogar so spielen, dass die feindlichen Krieger dadurch geschwächt und in wilde Todesangst versetzt wurden und so ein sonst blutiger Kampf auf nur wenige Schläge verkürzt wurde.. Feuerrufer versuchte, den von Otschungu angegriffenen Gefährten durch das Lied des Feindfresserfeuers zu helfen und zog dabei Kraft aus dem brennenden Feuer, das nun wie in einem Sturm wild flackerte und immer wieder zusammenfiel. Doch all das half nichts gegen die Macht, die Otschungu aus Geisterlenkers Wissen schöpfte.

Trotzdem Geisterlenkers Körper von sonnenfarbenen Flammenzungen umtanzt wurde geriet der Körper nicht in Brand. Trotzdem Blutsänger versuchte, den Geist des Gefährten aus den Fesseln von Angst und Unterlegenheit herauszuziehen fühlte der Meister von Kampf, Blut und Tod, dass sein Mitverschwörer den Kampf gegen den übermächtigen Geist des unsichtbaren Rächers verlor, ja wohl schon im ersten Ansturm verloren hatte. Dann begann Geisterlenker wieder zu trommeln und ein Lied anzustimmen, das Blutsänger schon nach den ersten Schlägen und den ersten vier Wortteilen erkannte: Den Lockruf des Todes. Wer dieses Lied sang konnte damit alle in Hörweite töten, die nicht willens- und zauberstark genug waren, sich dagegen zu wehren. Blutsänger trommelte sofort dagegen an, wollte das Lied des schlafenden Todes singen, der Angriffslust und Todeszauber vertrieb. Doch die Macht Otschungus, die durch Geisterlenkers Mund und Hände ausgeübt wurde, überkam ihn wie eine Woge. Zwar half sein Lied ihm, die entscheidenden Stellen des Todesrufes zu überhöhren. Doch für Feuerrufer war es zu spät. Er erstarrte in einem heftigen Krampf, taumelte und stürzte nieder. Sogleich erloschen die Geisterlenkers Körper umspringenden Flammenzungen. Damit wurde dessen Macht nun völlig frei. So blieb Blutsänger nur ein Ausweg: Die Flügel starker Wünsche. Vier schnelle Trommelschläge und Gedanken an sein Heimatdorf genügten, um ihn in jenes tiefschwarze, alles und jeden umschließende und zusammendrückende Nichts zu werfen. Doch er fühlte, wie sein eigenes Herz bereits unter dem Ansturm der ihn angreifenden Zauberkraft aus dem Takt geraten war. Als der alles Licht verdrängende, alles zusammendrückende Schlund zwischen den Orten ihn wieder ausspuckte fühlte er bereits Schmerzen im linken Arm, merkte, wie seine Lungen immer mehr verkrampften. Wahrscheinlich würde er gleich sterben, dachte er. Doch da standen zwei in Leinengewänder gehüllte Frauen neben ihm und begannen zu tanzen und zu singen. Ihre Worte und der vollendete Fluss ihrer Bewegungen waren wie eine warme Brise, wie frischer Wind und vor allem, sie vertrieben die Schmerzen des nahen Todes aus Blutsängers Körper. Er gab sich diesem Lied hin, dem Gnadenlied der Erdmutter.

Dort, wo Blutsänger eben noch gewesen war zuckten rote Blitze auf, die Ausprägungen der ins Leere schlagenden Zauberkraft, die Otschungu auf die beiden Trommler gelenkt hatte. Er erkannte, dass er nur einen der zwei hatte töten können. der zweite war ihm entwischt, und er wusste nicht mal, wohin. Dann merkte er noch was. Über dem brennenden Holz regte sich ein körperloses Wesen, der Geist eines gerade verstorbenen. Das war der, der dieses verwünschenswerte Fressfeuer über ihn geworfen hatte und das er nur deshalb heil überstanden hatte, weil der Körper, den er in Besitz genommen hatte, eigentlich einem Freund dieses Feuerzauberers gehörte.

"Ich habe gesagt, ich fresse eure Seelen und die eurer Weiber und Kinder", schnarrte Geisterlenkers Stimme, als sich Otschungu dem nun weißblau gleißendem Feuer zuwandte. "Ich sauge dich ein und zersetze dich in mir, Feuerspieler!"

"meinen Geist und die Leiber und Seelen meiner Blutsverwandten kriegst du nicht, Unheilsbringer. Wenn du meinst, uns zu Feinden haben zu müssen, so sei es dein Geist, der bald gefressen wird. Denn ich werde dich gleich aus dem dir nicht gehörenden Körper hinausbrennen."

"Ach ja?!" rief Otschungu. Da loderten die Flammen noch stärker auf. Er fühlte, wie eine unbändige Hitze auf ihn einstach. Das Krachen zerberstender Holzstücke wurde lauter. Die Flammen griffen nach dem Körper Geisterlenkers. Otschungu dachte an die Unverwüstlichkeit seines Seins und wollte sich in den Schutzmantel einhüllen, der ihn gegen die vier Urkräfte schützte. Doch die ihm entgegenschlagenden Flammen drohten, diesen Schutz zu durchdringen. Wenn sein Körper verbrannte verlor er die Macht über die in seinem Blut fließenden hohen Kräfte. Otschungu versuchte es noch, den Hauch der Lichtlosigkeit auszubreiten. Es wurde um ihn herum finster und eisigkalt. Doch die von Feuerrufers Geist entfachten Flammen brannten sich als blaue Feuergarben tiefer und tiefer hinein. Das mit reiner Zauberkraft angereicherte Feuer überwand die von Otschungu ausgebreitete Dunkelheit. Gleich brach sie zusammen. Dann würde das Feuer ihn überwältigen und fressen. Doch vielleicht wollte er das. Vielleicht sollte er den schwächlichen Geist da in den Flammen in seiner mächtigen Grundform ergreifen und in sich einverleiben. Doch dann konnte er nicht mehr zu Dunkelhüters Wohnsitz, wo die verfluchte Schlange schlief, an die er gebunden war.

Mit lautem Fauchen schmolz der Rest von gezauberter Dunkelheit. Jetzt sprangen ihn die weißblauen Flammen an. Die in Otschungu aufkommende Vernichtungsangst gab ihm die Kraft, unverzüglich die Flügel starker Wünsche auszubreiten. Dabei stellte er sich gerade so noch den Wohnsitz Dunkelhüters vor. Als die gleißendhelle Flammenwand auf ihn niederstürzte geriet er in das völlig lichtlose, viel zu enge Zwischending zwischen Hiersein und Dortsein hinein. Otschungu hatte diese Art der Reise bisher nie als körperliches Wesen erlebt. Daher fühlte er einen Moment Unbehagen. Doch Geisterlenkers Wissen beruhigte ihn. Es war genau so, wie es sein sollte. Dann war er auch schon dort, wo er hin wollte.

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Um halb vier nachmittags trafen Catherine und Claudine per Flohpulver in Millemerveilles ein. Dort traf sie neben denen, die schon am Morgen in Paris gewesen waren auch auf Jeanne Dusoleil, deren dritte Schwangerschaft erste gerade sichtbare Ausprägungen zeigte. Auch Geneviève Dumas war zusammen mit einer Auswahl aller Schüler der Grundschule da und überreichte die bereits am Morgen angekündigte Geburtstagstorte mit den einundzwanzig Kerzen. Julius übergab Laurentine den Computerausdruck einer E-Mail seiner Mutter und fragte Geneviève, ob es noch sicher war, dass Laurentine mit zur Willkommensfeier für die drei kleinen Merryweathers käme. Sandrines Mutter und amtierende Direktrice der Grundschule von Millemerveilles sagte darauf:

"Nun, es wäre eine eher kindische Vergeltung, wenn ich Laurentine verbieten würde, zu dieser Feier hinzureisen, nur weil sich deine Mutter so erfolgreich allen weiteren Bemühungen entzogen hat, ihr großes Wissen und Können hier in Millemerveilles weiterzugeben. Auch wenn ich befürchten muss, dass mir meine Kollegin Blanche Faucon die junge Mademoiselle Hellersdorf abwerben könnte möchte ich doch meine Wertschätzung äußern, dass deine Mutter sich so erfolgreich in der Zaubererwelt eingelebt hat."

Während die Kinder auf der großen Tobewiese der Dusoleils herumtollten und Uranie die Aufsicht führte, um vor allem ihren rauflustigen Sohn Philemon im Auge zu behalten, unterhielten sich die Erwachsenen über die Zaubererweltnachrichten der letzten Wochen. Ministerin Ventvit hatte sich auch Dank Julius Latierres Mithilfe und Kontakten bei den meisten europäischen Kollegen vorgestellt und die bestehenden Übereinkünfte bekräftigt. Allerdings hatte sie in Deutschland nur mit Güldenbergs Stellvertreter Gleißenblitz gesprochen, der das Fernbleiben seines Vorgesetzten damit begründet hatte, dass Vengor ihm weiterhin nachstellte und dabei seinen Neffen Hagen Wallenkron ermordet hatte. Ob damit das von vielen hier vermutete Ritual des selbsternannten Erben Voldemorts erfüllt wurde oder schon längst gescheitert war wusste keiner. Camille und Julius tauschten bei diesem Thema Blicke und gewiss auch Gedankenbotschaften, sagten aber nichts dazu. Das erschien Catherine zumindest bedeutsam. Vielleicht wussten die zwei von Ashtaria oder ihren anderen noch lebenden Nachfahren etwas mehr, durften es aber keinen uneingeweihten auftischen.

Es ging auch um die neue Innenverkleidung der beiden Überseeluftschiffe, die zwischen Millemerveilles und Viento del Sol verkehrten. Trotz der bereits installierten Abwehr gegen die gefährliche Strahlung aus dem Weltraum waren noch zusätzlich Fortiplumbummatten in den Wänden der Reisekabinen eingebaut worden. Damit waren die Luftschiffe, die weit oben in der Stratosphäre dahinjagen konnten, zu einhundert Prozent gegen von außen kommende Strahlen geschützt, was vor allem für Hexen im ersten Schwangerschaftsdrittel sehr wichtig war. So musste keine werdende Mutter mehr in einer Metallkabine eingeschlossen sein, um die Reise zu überstehen. Millie und Jeanne empfanden diese Nachricht als sehr beruhigend. Auch Catherine war sehr beruhigt, dass sie während der Reise nach Amerika keine übergroße Dosis kosmischer Strahlen abbekommen würde. Julius scherzte mal, dass so der perfekte Atomschutzbunker sein musste, weit genug von allen möglichen Einschlagszielen weg und gegen jede Strahlung abgeschirmt. Darauf meinte Florymont, dass die Luftschiffe dann aber nicht mit Überschallgeschwindigkeit fliegen oder fahren durften, um nicht nach spätestens zwei Stunden ausgelaugt vom Himmel zu fallen. Laurentine sagte dazu:

"Leute, sollen wir froh sein, dass wir im Moment doch sehr weit von einem Atomkrieg entfernt sind. Gut, Bush und Rumsfeld könnten sowas auslösen, falls stimmt, dass der Irak heimlich solche Waffen baut. Aber ob das echt stimmt bezweifle ich."

"Außerdem haben wir doch schon den perfekten Atomschutzbunker. Millemerveilles ist doch gegen diese Bomben und gegen die von denen erzeugte Strahlenasche abgeschirmt", sagte Florymont dazu. Catherine empfand dieses Thema als nicht gerade angenehm und antwortete:

"Leute, wir feiern hier gerade einen Geburtstag. Auch sitzt hier eine offiziell schwangere Frau am Tisch, die ihr Kind gerne aufwachsen sehen möchte. Da müssen wir doch echt nicht von Weltuntergangskriegen oder dergleichen reden, oder?"

"Stimmt, hast recht, Catherine", pflichtete Millie Latierre ihr bei. "Wir feiern heute Laurentines einundzwanzigsten. Möge das gerade mal ein Zehntel deiner Lebenszeit sein, Laurentine!" Dem stimmten alle zu.

Camille meinte, dass es schade sei, dass Laurentine sich schon früh am Abend verabschieden müsse. Da holte Laurentine ihr Mobiltelefon hervor und sagte: "Ich hab's noch mal geprüft, Camille. Ich konnte meinen Festnetzanschluss so umprogrammieren, dass nach dreimaligem Klingeln ohne Abnehmen eine Weiterleitung auf mein Mobilfon läuft. Ich kann also noch ein bisschen hierbleiben, falls du das möchtest, Camille." Camille Dusoleil strahlte Laurentine an. Florymont meinte, dass er ja dann doch die Musiker hätte rüberholen können. Doch das war jetzt auch nicht mehr nötig, weil Julius mal eben das familieneigene Musikfass aus dem Apfelhaus der Latierres herüberholte.

So konnte vor dem Abendessen noch das große Geschenkeauspacken begangen werden. Laurentine bekam von den Anwesenden und ihren Verwandten vor allem Bücher und Kleidungsstücke, aber auch nützliches für die Hausapotheke und ihr Kosmetikregal, wofür vor allem der gute Draht zu Dione Porters Kosmetikfirma genutzt worden war. Da Laurentine ja mittlerweile auch in der Freizeit gerne auf einem Besen flog bekam sie von den Dorniers einen Aufsatz, der nicht nur einen Kompass, sondern eine Uhr und einen Höhenmesser beinhaltete. "Das gehört jetzt zum Lieferumfang aller Gannies über dem Neuner dazu", sagte Céline stolz, als habe sie diese technische Errungenschaft erfunden.

Von Florymont bekam Laurentine eine Nachtsichtbrille, mit der sie auch durch den dicksten Nebel oder eine vollständige Wolkendecke sehen konnte. Catherine hatte ihr den Hexenroman "Besen oder Brautkleid" geschenkt, der gerade bei den Hexen zwischen zwölf und dreißig Jahren sehr beliebt war. Darin ging es um das Leben der jungen, sehr lebenslustigen Hexe Gilda Moore, die vor die Entscheidung gestellt wurde, eine glänzende Quidditchkarriere zu machen oder ihr Glück mit einer Familie zu finden. Laurentine meinte zu Catherine, dass sie jetzt zumindest mitreden könnte, wenn sich ihre Kolleginnen über den Inhalt dieses Buches ausließen. "Da gibt es schon eine Fortsetzung, "Im Schein der goldenen Flammen", ist vor einer Woche erst in die Läden gekommen", sagte Céline. Aber ich wusste nicht, ob Laurentine auf sowas steht."

"Ich lese erst mal das erste Buch. Wenn mir das gefällt warte ich auf den Weihnachtsmann, Céline", sagte Laurentine dazu.

Nach dem Abendessen durften alle Tanzen, auch die kleinen Kinder. Catherine tanzte dabei einmal mit Julius. Er fragte sie leise:

"Ich hab's dir und Claudine heute morgen schon angesehen, dass ihr nicht ganz glücklich seid. Ist das mit Joes Arbeitswut noch schlimmer geworden?"

"Gut, weil deine Mutter und du ja doch irgendwie in unsere Familienangelegenheiten mit einbezogen wurdet darfst du darauf eine Antwort haben", holte Catherine aus. "Mein Mann Joseph hat offenbar kein Interesse mehr an uns, also Claudine und mir. Als ich ihn vor vier Wochen noch mal zur Rede gestellt habe, wie er sich das vorstelle, nur noch von mir verköstigt zu werden meinte der glatt, dass ich mir keine Sorgen zu machen hätte, ich würde geschlechtlich aushungern. Als ich ihm sagte, dass es nicht nur darum ginge meinte er, dass wir, also Babette, Claudine und ich froh sein sollten, dass wir überhaupt genug zu Essen und zum Anziehen hätten und gerade Babette nicht in dreimal gebrauchten Schulumhängen in Beauxbatons herumlaufen müsste. Dann hat er sich wieder in seinem Büro eingeschlossen. Weil wir vereinbart haben, dass ich die Tür nur aufzaubern darf, wenn er um Hilfe ruft oder ich einen ganz triftigen Grund habe, ihn zu stören und er nicht auf mein Klopfen reagiert komme ich nicht an ihn heran. Ich habe zumindest einen Abwehrzauber gegen Alohomora auf die Tür gelegt, den nur ich aufheben kann. Claudine kriegt nämlich schon verschlossene Schubladen und Schränke durch Handauflegen auf. Die muss ihrem Vater nicht auch noch die Laune verderben."

"Und, was sagen deine Schwiegereltern. Oder hast du mit denen nicht mehr gesprochen?"

"Das ist das erwähnenswerte, dass ich mit meiner Schwiegermutter in dem Punkt einig bin, dass Joe sich nicht überarbeiten oder gar ausbrennen soll. Die fragte mich doch einmal, ob ich ihm nicht was gebenkönnte, damit er nicht zusammenbräche. Da musste ich ihr erklären, dass sowas nicht beliebig oft an arbeitende Leute ausgegeben werden dürfe. Da meinte sie zu mir, dann sollte ich ihm öfter was geben, dass er zumindest nachts durchschlafen könne. Aber wenn der nach nur drei Stunden wieder aus dem Bett verschwindet und sich in seinem Computerzimmer einschließt kann ich das auch nicht machen. Abgesehen davon, dass er mir dann ganz zu recht vorhalten könnte, ich würde ihn gegen seinen Willen ruhig stellen. Und als selbstständig handlungsfähigen erwachsenen Menschen will und muss ich ihn respektieren", erwiderte Catherine. Julius nickte. Dann fragte er, ob Joe nicht aus anderen Quellen an Aufmunterungssachen drankäme, dass er so ausdauernd durcharbeiten könne.

"Ruf bloß keinen großen Drachen, Julius!" erwiderte Catherine darauf mit leicht verstörtem Blick. Denn sie musste daran denken, dass ihr Mann einmal sehr sehr lieb zu ihr gewesen und dabei überaus ausdauernd gewesen war. Sechs Wochen war das jetzt her. Aber das musste sie keinem auf die Nase binden. Aber sie hatte sich da schon gefragt, wie er einen vollen Tag konzentriert hatte arbeiten können und dann noch so ausdauernd sein konnte. Aber dann war auch diese kurze Debatte über seinen Alltag aufgeflammt, und seit dem lief auch im Ehebett nichts mehr.

"Ich frage das nicht aus Gehässigkeit, Catherine. Ich habe in den letzten Wochen in den Zeitungen Berichte über neue Modedrogen gelesen, die einen supergut durchhalten lassen können, bei kreativen sachen, bei anstrengenden Arbeiten und ja auch beim Sex. Ich habe das Millie mal zu lesen gegeben. Die meinte, ich hätte sowas nicht nötig und ich sollte bloß nicht mit sowas anfangen, weil sie keinen Sexgolem haben wollte. Wenn wir uns lieb haben soll das aus jedem von uns ohne irgendwelche Tränke oder Pulver ablaufen. Ich stimme ihr da zu", erwiderte Julius. Catherine musste sich beherrschen, nicht ertappt dreinzuschauen, als Julius den Begriff "Sexgolem" benutzte. Hatte Joe sich auf sowas eingelassen, weil er meinte, seine Frau in der Hinsicht bedienen zu müssen, aber wegen seiner Arbeit nicht mehr die nötige Ausdauer hatte? Gut, im Moment hatte er sich ganz für dieses ominöse Projekt entschieden, das unbedingt bis Anfang Dezember abgeschlossen sein musste. Vielleicht sollte sie ihm danach noch einmal die Frage stellen, wie er sich sein Familienleben vorstellte, vor allem dann, wenn ihre Vermutung doch bestätigt wurde.

"Also mal ganz ohne ihm zu unterstellen, sich künstlich auf Betriebstemperatur zu halten, Catherine. Wem sollte er sich dann anvertrauen, wenn er sich doch selbst verheizt, unsere Heiler oder ein Arzt aus der magielosen Welt?"

"Du meinst, ein Arzt aus der magielosen Welt könnte von ihm hören, dass Claudine und ich Hexen sind und dass er noch eine Hexentochter in einer versteckten Zauberschule hat? Ja, das muss ich dann wenn es echt nötig sein sollte klären, wer ihm da helfen kann. Deshalb bitte erst mal kein weiteres Wort zu deiner Tante Trice oder gar Hera Matine. Die hat mich in den letzten Wochen eh schon so kritisch angesehen, als wollte die mir nahelegen, mich klar zu entscheiden, ob das mit Joe, Claudine und mir so weitergehen kann. Du weißt ja aus ganz eigenen Erfahrungen, dass Hebammen meinen, sich in die Familienangelegenheiten derer einmischen zu dürfen, in denen von ihnen auf die Welt geholfene Kinder aufwachsen."

"Stimmt, Hera ist da so drauf", bestätigte Julius. "Aber wenn ich denke, dass meine Mutter gleich zwei drei Heilhexen um sich rumlaufen hat, seitdem die drei jungen Merryweathers auf der Welt sind ... Habe ich dir schon erzählt, dass Eileithyia Greensporn auch zur Willkommensfeier hinkommt?" Catherine schüttelte den Kopf. Julius erwähnte dann, dass seine Mutter sie extra eingeladen habe. Eileithyia habe sofort zugesagt, wohl auch, um zu sehen, wie sich seine Mutter in ihren neuen Alltag eingefunden habe.

Laurentine musste zwischendurch mal vor die Tür, weil sie wahrhaftig Anrufe bekommen hatte, von ihrer Mutter, ihrer Großmutter mütterlicherseits und deren in den Staaten lebenden Kindern. Ihr Vater sei gerade in der Ausführung eines bis zum Abschluss streng geheimen Projektes, hatte ihre Mutter erwähnt.

Gegen zehnUhr gähnten alle Hexen und Zauberer unter zehn Jahren. So wurde die Feier beendet. Laurentine bedankte sich bei allen Gästen und vor allem bei den Gastgebern Camille und Florymont Dusoleil.

Über die Reisesphäre ging es für Catherine, Claudine, Laurentine und die Dorniers zurück nach Paris. Dann ging es mit Flohpulver in die Rue de Liberation 13. Laurentine sollte noch Claudine mit ins Bett bringen, das hatte sich Claudine gewünscht, auch wenn sie heute nicht Geburtstag hatte. Laurentine erfüllte der kleinen Nachbarin diesen Wunsch ganz gerne, gab ihr das auch die Gelegenheit, die Rückkehr in ihre Wohnung einige Minuten hinauszuzögern. Denn offenbar rührte es sie schon sehr heftig an, dass ihr Vater nichts mehr von ihr wissen wollte.

Catherine nutzte die Gelegenheit, zu prüfen, ob Joe wieder zu Hause war. Wenn er zu Hause war hing an der Tür ein Pappschild "Nur bei Brand, Erdbeben, einem bevorstehenden Sturmangriff auf das Haus oder schweren Unfällen stören". Ja, das Schild hing an der Tür. Doch sie wollte Joe zumindest melden, dass sie und Claudine wieder da waren. So klopfte sie erst behutsam an. Keine Reaktion. "Joe, ich möchte nur, dass du weißt, dass Claudine und ich wieder zu Hause sind!" rief Catherine durch die geschlossene Tür. Wieder kam keine Reaktion. Bevor sie noch mal rufen oder klopfen wollte legte sie ihr rechtes Ohr an die Tür, darauf gefasst, dass diese jeden Moment aufgeschlossen werden mochte. Sie hörte nichts außer dem ganz leisen Säuseln der Computerbelüftung. Sie lauschte eine Minute. Zwei Minuten. Normalerweise hätte sie jetzt zumindest das leise Klicken der Maus oder der Tastatur hören müssen. Doch außer dem leisen Säuseln des Rechners kam nichts von drinnen. Sie klopfte noch mal.

"Joe, bitte sage nur, dass du mitbekommen hast, dass wir wieder da sind. Dann lasse ich dich auch ganz in Ruhe!" rief sie noch. Sie fühlte sich gerade sehr unwohl. Lag das an einem körperlichen Zustand oder war das eher eine unheimliche Vorahnung? Sie wartete zehn Sekunden und lauschte wieder. Doch außer dem arbeitenden Rechner hörte sie nichts. Dann kam ihr eine Idee, wie sie das Störverbot umgehen konnte und trotzdem wusste, wie es Joe ging. Sie stellte sich einen Meter von der Tür weg und deutete mit ihrem Zauberstab auf das Türblatt: "Imagines per Murum!" säuselte sie. Im nächsten Moment wurde die Tür für sie völlig unsichtbar. Das lag daran, dass alle sichtbaren Abläufe dahinter durch das Türblatt hindurchversetzt wurden. Für Joe selbst blieb die Tür so wie sie war.

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Es war wohl der Preis, den er zu zahlen hatte, dachte der mächtige Trommler von Dunkelheit und Tod. Als er vor vierhundert Sonnenkreisen ein gewöhnlicher Mensch gewesen war hatte er viele dienstbare Geister und die von ihren Körpern losgerissenen Schatten von Kriegern in seinen Dienst gezwungen und auch mitgeholfen, die Festung des dauerhaften Friedens für alle Familien der Trommler und Tänzerinnen der Macht zu errichten. Doch dann hatte er einen über das Meer und das Land aus der Mittagsrichtung herübergekommenen Fremden getroffen, einen Fremden, der anders war als die gewöhnlichen Menschen. Sein Blut war nicht warm und rot, und sein Körper wurde nur sehr sehr langsam älter. Dafür musste er jedoch den Anblick des Feuervaters vermeiden und durfte nicht in dahinfließendes Wasser hineingeraten. Nachtwanderer, so hatte sich dieses Wesen genannt, hatte nach einem kurzen Kampf um seinen Schatten mit Dunkelhüter, der damals noch Seelenfänger geheißen hatte Gefallen an dieser Art zu leben gefunden. So hatte er sich darauf eingelassen, Nachtwanderers Gefährte durch die Nächte zu sein und mit ihm den machtvollen Blutaustausch vollzogen, um wie er ein Kind der Nacht zu werden. Weil er seine Kräfte über die Kraft der bezauberten Trommeln und mächtigen Lieder wirkte hatte er seine ursprüngliche Macht nicht ganz verloren. Nur das Rauben von Schatten und einsperren von widerspenstigen Seelen in tote Körper konnte er nicht mehr. Alles andere gelang ihm noch.

So hatte er das Alter zurückgetrieben, war zu einem mächtigen unter den Trommlern geworden und hatte sich vier Gefährtinnen genommen. Doch innerlich war er immer davon überzeugt gewesen, dass diese Macht ihren Preis hatte. Denn ihm war im Laufe der Jahrhunderte klargeworden, dass Wesen wie Nachtwanderer und er nicht in den großen Plan der Urmächtigen hineingehörten und sie im Grunde fleischliche Brüder und Schwestern der von den Trommlern von Dunkelheit und Tod erschaffenen Dienergeister waren. Irgendwo mochte irgendwer lauern, die Kinder der Nacht nach seinem Wunsch zu führen oder nach Belieben zu töten, ohne ihnen selbst nahekommen zu müssen.

Als er dann vor einigen Mondwechseln ihre Stimme gehört hatte wusste er, dass er seine Urmeisterin vernahm. Zwar wollte er weiterhin frei sein und tun, was ihm gefiel und als dunkler König der Trommler weiterleben. Doch sie hatte ihm das nicht erlaubt. "Wenn du König sein willst, Dunkelhüter, Angehöriger einer längst verschütteten Glaubensrichtung, dann nur von deiner Göttin Gnade. Erkenne mich als deine Herrin und Mutter an, dann darfst du weiter als König deines Volkes Herrschen. Erkennst du mich und mein Wort nicht an, vertilge ich dich", hatte die in seinen Gedanken hallende Frauenstimme gedroht. Um zu beweisen, dass sie wirklich war hatte etwas finsteres ihn umschlungen und davongerissen, hin zu einer blutrot leuchtenden Frau von weit übermenschlicher Größe. Dann war er an einem anderen Ort angekommen und hatte die Nähe schnell fließenden Wassers gefühlt. "Ich hätte dich da auch gleich hineinwerfen können", hatte die Stimme in seinem Kopf erwähnt. Dann war er wieder in diesen nachtschwarzen Strudel gezogen worden. Als er wieder vor der blutrot leuchtenden Riesenfrau ifrei schwebte hörte er sie noch sagen: "Sei nun mein getreuer Diener oder vergehe für immer in meinem Dasein!" Er hatte ihr Treue und Gehorsam versprochen und war danach wieder in sein Höhlenversteck zurückgeworfen worden.

Die Göttin hatte sich nun seit vier Mondwechseln nicht mehr bei ihm gemeldet. Doch er wusste, dass sie ihn jederzeit ergreifen und an sich reißen konnte. Dagegen hatte er nichts gefunden. Er wusste wohl, dass sie ein Geisterwesen war, aber eines, das noch mächtiger als Otschungu, der unsichtbare Rächer war. Vielleicht hatte sie ihn erwählt, um über ihn Macht auf Otschungu auszuüben, der ja seit einigen Monden auf der Suche nach einer Frau war, die das Herz des Feuervaters stehlen wollte. Allein bei dem Gedanken an diesen mächtigen Zaubergegenstand fühlte Dunkelhüter Angst und Grauen. Denn die Macht des Feuervaters war nun sein tödlichster Feind. Wenn wer das Herz des Feuervaters nahm, der sein Feind war würde er wohl nicht mehr lange leben. Deshalb hatte er seinen ehemaligen Schüler Geisterlenker und dessen Gesinnungsbrüder Feuerrufer und Blutsänger angestachelt, Otschungu zu beschwören und dieser Frevlerin nachzuschicken.

Er war gerade unterwegs, um in einem Bergdorf in der Nähe frisches Blut zu erbeuten, als er Geisterlenkers Todesschrei und ein überlegenes, überlautes Lachen hörte. Das war Otschungus Stimme. Er hatte sie immer wieder gehört, wenn er es gewagt hatte, das Lied der Erweckung und Unterwerfung anzustimmen, um in Übung zu bleiben, seit seine der Kriegskunst verbundenen Brüder Otschungus Schlangenstab zurückerkämpft hatten.

"Geisterlenker, mein gelehriger Schüler! Bist du noch am Leben?" rief Dunkelhüter über das mächtige Band der verbundenen Gedanken, dass er damals mit Geisterlenker geknüpft hatte. Doch es kam keine Antwort. Doch wenn Geisterlenker von Otschungu getötet worden war, dann hieß das, dass die Kraft der auf ihn abgestimmten Trommel nicht ausgereicht hatte und vor allem ... Er wandte sich um und flog so schnell seine lederartigen Flughäute vermochten zu seiner Wohnhöhle zurück. Er würde dafür das Viertel einer Nacht brauchen. Doch er musste zurück, um den Schlangenstab zu beschützen.

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Feuerrufers Geist war mächtig geworden. Der gewaltsame Tod, gerade als er einen tödlichen Feuerzauber gewirkt hatte, hatte seine Seele mit dem brennenden Feuer vereint, es zu seinem neuen, noch stärkeren Körper werden lassen. Er wollte Otschungu fressen, seinen unrechtmäßig erlangten Körper töten, weil Geisterlenker nicht mehr darin lebte. Doch Otschungu hatte einen Mantel aus dem Unfeuer um sich gelegt, in dem alles Licht und alle wärme erstickt wurden. Aber Feuerrufer hatte dieses Unfeuer durchbrochen. Als er den Feind ergreifen und verschlingen wollte war dieser auf den Flügeln starker Wünsche entkommen. Feuerrufer stieß einen Wutschrei aus. Dann merkte er, dass sein neuer, mächtiger Körper schwächer wurde. Der Kampf hatte seine Nahrung restlos verbraucht. Wenn das Feuer zusammenfiel würde er wohl aus der Welt verschwinden und hoffentlich über die silberne Brücke zu jenem Lagerfeuer am Himmel hinaufsteigen, um das seine Vorfahren lagerten. Wo das war wussten nur die Urmächtigen.

Solange er noch einen Körper hatte wollte er versuchen, selbst mit der Kraft der Flügel starker Wünsche zu entkommen, an einen Ort, wo er neue Nahrung finden konnte. Doch er hatte was wichtiges zu tun, für das er durchaus sein Leben geben sollte, wenn die Urmächtigen das wollten. Er konzentrierte sich und fühlte, wie es ihn regelrecht zusammenzog. Dann fühlte er, wie er durch etwas wie eine sich rasend schnell um sich selbst drehende Höhle aus brennenden Wänden flog und dann mit kräftiger Erschütterung in etwas ähnliches wie seinen jetzigen Körper eindrang. Als beide Körper sich verbanden fühlte er, dass er wieder Kraft dazubekommen hatte. Auch wusste er, dass er dort war, wo er hingewollt hatte. Er war in der Mitte seines Heimatdorfes angekommen, wo die meisten Feuertrommler und die Tänzerinnen der Feuermutter wohnten. Dort wurde immer ein großes Feuer am Leben gehalten, um die Verbundenheit mit der Licht und Wärme, Leben wie Tod gebenden Kraft zu erhalten. In diesem großen Feuer war er nun angekommen und mit ihm vereint worden.

Als er wusste, dass ihm jetzt erst einmal kein Leid oder gar der Gang über die Silberbrücke bevorstand rief er seine Frau, Flammenspringerin, sowie seine zwei Söhne, die zugleich auch seine Schüler waren. Als seine Rufe gehört wurden verriet er seiner Gefährtin, was geschehen war. Sie war sehr ungehalten, dass er zusammen mit zwei anderen Trommlern ausgerechnet den unsichtbaren Rächer geweckt hatte, von dem es hieß, er würde liebend gerne jeden fressen, der es wagte, ihn zu rufen. Doch dann begriff sie, was anstand. Der Rächer war frei und entkommen. Wenn er das Ding zu fassen bekam, das ihn sonst beherrschen konnte war er völlig frei und würde jeden töten, der mit seinen letzten Herren zu tun hatte. Also blieb nur die Flucht in die Festung des ewigen Friedens, wo die in den Mauersteinen eingeschlossenen hundert Seelen starker Krieger jeden böswilligen Menschen, jedes gefräßige Tier und auch jeden feindlichen Geist zurückschlagen oder töten würden.

Flammenspringerin rief alle Dorfbewohner herbei, die mit und die ohne die mächtige Kraft der Ureltern. Feuerrufer sprach aus den ihn umzüngelnden Flammen heraus zu ihnen. Alle erkannten die Gefahr, in der sie schwebten. Deshalb bereiteten sie sich alle auf die Flucht vor.

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Irgendwie hatte Catherine wohl mit diesem Anblick gerechnet, nachdem sie auf ihr Klopfen und Rufen keine Antwort bekommen hatte. Doch es traf sie trotzdem noch ziemlich hart. Joe lag auf dem Boden, das Gesicht nach unten. Einen Meter neben seinem Po stand der verlassene, mit der Rückenlehne zu ihm zeigende Stuhl. Vom Tisch hing das Kabel der Computermaus herunter. Auf dem Bildschirm flogen viele bunte Bälle herum, die beim Auftreffen auf die Ecken die Farbe wechselten oder sich gegenseitig aus der Flugbahn stießen. Neben Joe lag noch ein winziges Stück buntes Papier, von dem Catherine nicht wusste, was es zu bedeuten hatte. So wie Joe dalag konnte er tot sein. Das erschreckte Catherine so sehr, dass sie fast ihren Zauberstab aus der Hand verloren hätte. Doch dann fing sie sich wieder. Sie musste da rein, ihm helfen, wenn ihm noch zu helfen war.

"Finis Incantato!" rief sie der Tür zugewandt. Sofort wurde diese wieder sichtbar. Im Nächsten Moment zuckte ein silberner Blitz vor der Tür auf. Das war der Abschirmzauber gegen den Türöffnungszauber. Diesen wirkte Catherine eine Sekunde später. Die Tür flog weit auf. Catherine war mit nur zwei langen Schritten im Büro und bei Joe. "Vivideo!" murmelte sie mit auf ihn deutendem Zauberstab. Zu Catherines Erleichterung glomm eine grüne Aura um Joes Körper auf. Doch sie wirkte dunstig, sehr leuchtschwach, nicht viermal größer als das von ihr umflossene Lebewesen. Joe war eindeutig bewusstlos. Catherine überlegte, ob sie die Ersthelferzauber anwenden sollte, die sie sich selbst beigebracht hatte, als feststand, dass sie heiraten würde. Oder sollte sie einen magielosen Arzt herrufen? Vorhin hatte sie mit Julius noch darüber gesprochen, was in so einem Fall entschieden werden sollte. Es war ihr unheimlich, dass Joe da schon hier gelegen haben mochte. Dann stach ihr noch der bittersäuerliche Geruch von Erbrochenem in die Nase. Das trieb sie fast selbst zum Brechreiz. Doch diese Wahrnehmung brachte sie auch darauf, magische Hilfe zu leisten. Sie löschte erst den Vivideozauber und wendete den Genickschutzzauber Spinastatus an, damit sie Joe auf die Seite drehen konnte, ohne aus Versehen sein Genick zu brechen. Sie wusste ja nicht, wie genau er umgefallen war. Erst als der unsichtbare Halswirbelfixierzauber wirkte drehte sie Joe auf die Seite und stellte fest, dass er sich wirklich erbrochen hatte. Der Auswurf war bereits angetrocknet. Sein Atem ging sehr flach. Hoffentlich hatte er nichts von seinem eigenen Auswurf in die Atemwege bekommen. An sowas konnte man ersticken, wusste Catherine. Deshalb wirkte sie vorsorglich den Anabneus-Zauber, um jede Form von Atemwegsblockade zu lösen, magisch oder nichtmagisch. Tatsächlich stieg ein wwenig weißer Dunst aus Joes halboffenem Mund und den Nasenlöchern. Dann prüfte Catherine mit dem Auscultatus-Zauber, den sie auch schon mehrmals auf sich angewendet hatte, wo sie mit Babette und Claudine schwanger gewesen war. Das Herz schlug leise und holperig und vor allem viel zu langsam für einen nur schlafenden Menschen. Sollte sie versuchen, den Herzschlag zu beschleunigen? Nein! Solange sie nicht wusste ...

"Maman, was ist mit Papa", piepste sie eine sehr verängstigte Kinderstimme von hinten an. Catherine schrak zusammen. Sie hatte nicht mitbekommen, dass Claudine sich in das Büro geschlichen hatte. hinter ihr stand Laurentine. Sie schaute ein wenig ratlos drein. Claudine hatte schon ihr buntes Herbstnachthemdchen mit aufgemalten pausbäckigen Äpfeln, Birnen und stacheligen Kastanien an.

"Weiß ich nicht, Claudine. Er schläft nicht wirklich. Aber er ist jetzt ganz krank. Da muss ihm jemand helfen", sagte Catherine. Dann sah sie Laurentine an: "Komm ruhig ganz rein! Das geht dich auch was an, finde ich." Laurentine nickte und betrat das Büro. Sie schmüffelte und sah den mit Erbrochenem besudelten Boden. "Oha, sieht nicht nach einfacher Überarbeitung aus", murmelte sie. Dann presste sie ihre Lippen so fest zusammen, als müsse sie weitere Worte fest im Mund zurückhalten.

"Papa, hast du Aua?" rief Claudine. Joe reagierte nicht. Dann sagte Catherine: "Okay, ich hole Hera. Die soll sich das ansehen. Ich überlasse ihn nicht der magielosen Medizin."

"O, Bonbons!" rief Claudine und grabschte sich das bunte Papierchen vom Boden. Dann wuselte sie zum Computertisch. Auf dem ausziehbaren Tastaturbrett lagen neben der weißen Tastatur vier viereckige Dinger in buntem Papier. Laurentine sprang unvermittelt vor und fing Claudines Hand ab, bevor sie eines von den eingepackten Dingern nehmen konnte. "Claudine, liegen lassen. Die sind wohl nichts für kleine Kinder", sagte Laurentine, weil Claudine wegen der abrupten Handreichung zu quängeln anfing. Dafür sah Catherine Laurentine vorwurfsvoll an. Dann erkannte auch Catherine die bunten Vierecke neben der Tastatur. Deshalb sah sie die Hausmitbewohnerin abbittend an. Danach sah sie genauer auf die bunten Bonbons.

"Träume ich das hier?" fragte sie sehr ungehalten. Doch Laurentine schüttelte den Kopf.

"Habt ihr auch dieses Breitbandantidot wie Millieund Julius?" fragte Laurentine.

"Ich träume das doch nur. Das passiert nicht echt", seufzte Catherine. Sie hatte schon viele schlimme Dinge erlebt, die Ermordung ihres Vaters, Kämpfe gegen dunkle Magier und bösartige Kreaturen, verfluchte Gegenstände oder Orte und die gigantische versteinerte Schlange, die selbst im Schlaf noch Unheil anrichten konnte. Aber ihren eigenen Mann in seinem Erbrochenen ohnmächtig auf dem Boden zu sehen war doch eine ganz andere Sache. Laurentine hob Claudine hoch, klemmte sie sich mal eben unter einen Arm und zog mit der so freigewordenen Hand Catherine so kräftig an den Haaren, dass sie vor Schmerz aufschrie. "Ich bin auch wach", zischte Laurentine. Claudine wimmerte. Erste Tränen kullerten aus ihren großen, saphirblauen Augen. Catherine fühlte auch Tränen in die Augen treten. Doch sie musste noch eine Minute lang stark bleiben. Sie lief aus dem Büro heraus in den Partyraum mit dem ans Flohnetz angeschlossenen Kamin. Sie winkte mit dem Zauberstab einer kleinen rosaroten Dose, die wie eine Puderdose aussah. Diese flog ihr in die freie Hand. Ein kurzer Zauberstabstupser klappte den Deckel auf. Sie schüttete ein wenig von dem Pulver auf den Kaminrost. Dann murmelte sie "Incendio!" Statt einer smaragdgrünen Feuerwand entstand eine rotgoldene Flammenwand. Catherine kniete sich vor die Flammen und rief hinein: "Hera, komm bitte. Joe ist bewusstlos, womöglich durch Gift!"

Das besondere Flohpulver gehörte zu den Dienstleistungen, die Hera Matine ihren Patientinnen bot, die nicht in ihrem unmittelbaren Wirkungsbereich wohnten und nicht mal eben den allgemeinen Notrufzauber ausführen konnten, wenn kein wirklich dringender Bedarf an Notfallheilern bestand. Catherine rief noch einmal in die Flammen. Wie beim ersten Mal meinte sie, dass ihre Worte regelrecht vom Zauberfeuer verschluckt wurden wie von dicken Wattepolstern. Dann hörte sie Heras Stimme antworten. "Mach Platz! Ich komme rüber!" Catherine sprang auf die Beine und tat zwei Schritte zurück. Da fauchte es auch schon im Kamin, und aus der rotgoldenen Flammenwand wirbelte Hera Matine in einem sonnengelben Morgenrock heraus. Ihre Heilertasche hatte sie jedoch umgehängt. Ein kurzer Zauberstabschwung Heras, und das Feuer erlosch.

Ohne weiteres Wort liefen sie in das Büro hinüber, wo sich Claudine, die mittlerweile wieder auf ihren Füßen stand, mit Laurentine unterhielt. "Papa geht nicht tot?" hörten sie Claudine noch fragen. Darauf sagte Hera:

"Nicht, solange ich das verhindern kann, Claudine. Bitte aus dem Weg!" Sie stürmte an Catherine vorbei, passierte Laurentine, die Claudine schnell noch aus der Laufbahn der Heilhexe zog und beugte sich über den auf der seite liegenden Joe. Laurentine deutete auf den Computer und fragte Catherine: "Öhm, willst du die Polizei rufen, sollte Joe was geschluckt haben, was nicht erlaubt ist?" Catherine sah sie entschlossen an. "Ich habe beschlossen, dass er nur in der magischen Welt versorgt wird, bis wir wissen, was er sich angetan hat. Also keine Polizei. Sollte sie doch nötig sein kläre ich das mit Madame Grandchapeau, weil die wen bei derSûrté haben, der oder die das regeln kann. Ich denke da auch an Joes Eltern."

"Oha!" machte Laurentine.

"Ich gebe ihm erst das Antidot, wenn ich genug Proben seiner Haare und Fingernägel habe, um zu klären, wielange das Gift schon in seinem Körper ist", sagte Hera. Dann vollführte sie mit einer kleinen Silberdose und ihrem Zauberstab etwas, das Catherine noch nicht kannte. Sie ließ das Erbrochene in die Silberdose hineinfliegen und sich dort sammeln. Danach befeuchtete sie den Boden mit einem abgeschwächten Aguamenti-Zauber, um das den so aufgelösten Auswurf auch noch in die Silberdose zu holen. Laurentine sah ihr dabei sehr aufmerksam zu. Claudine stierte erschüttert und mit tränenfeuchten Augen ihren bewusstlosen Vater an. Dann deutete Laurentine auf den Computer: "Vielleicht kann ich klären, wie lange Joe nicht mehr daran gearbeitet hat", sagte sie Hera zugewandt. Diese sah sie erst etwas verdrossen an, nickte dann aber zustimmend. Laurentine sah dies als Aufforderung, an den Rechner zu gehen, wobei sie aufpasste, nicht in Heras Aufwisch- und Einsaugzauber zu geraten. . Catherine, die im Moment nichts tun konnte, ging zu ihrer Tochter und schloss sie in die Arme. "Papa kommt wieder in Ordnung, Kleines", flüsterte sie ihr ins rechte Ohr. "Die Tante Hera kriegt den Papa wieder gesund. Ganz ruhig bleiben, Kleines!"

Hera sah Joe an. Dann beschwor sie mit der Geübtheit einer altgedienten Heilerin eine Schere und eine Pincette herauf. Außerdem ließ sie aus ihrer Heilertasche zwei weitere Probenbehälter mit Schraubverschlüssen herausspringen. Die Behälter landeten neben Joes Kopf. Die Verschlüsse schraubten sich blitzschnell ab. Dann zupfte die Pincette wie von unsichtbarer Hand geführt büschelweise Haare von Joes Kopf, so dass genug Proben mit Haarwurzeln genommen wurden. Die Büschel landeten in dem weißen Behälter. In den rosaroten Behälter sammelte Hera die von der Schere bis zu den Fingerkuppen abgetrennten Fingernägel ein.

"Ich bring ihn erst in die Delourdesklinik", sagte Hera. "Die trügerischen Naschereien da nehme ich auch mit. Accio Giftbonbons!" Sie zielte mit dem Zauberstab auf den Computertisch und ließ damit alle bunten Bonbons zu sich hinfliegen. Eines flog dabei knapp an Laurentine vorbei, die die rechte Hand vor der herunterhängenden Maus hatte.

"Du wartest bitte damit, bevor du mit dem Elektrorechner was anstellst, was mögliche Sachen auslöst, die vielleicht wichtige Auskünfte bringen, Laurentine!" befahl Hera. Laurentine sah sie verstört an. Doch Hera Matines Blick war unerbittlich. Deshalb nickte sie der Heilerin zu. Diese förderte aus ihrer Heilertasche ein dünnes, grasgrünes Bündel heraus, dass sich von selbst zu einer Art Schlafsack entfaltete. Mit fließenden Zauberstabbewegungen ließ sie dieses Ausrüstungsstück über Joe herabsinken und es sich um ihn herum schließen. Leise schloss sich ein Reißverschluss. Catherine und Claudine starrten auf diesen befremdlichen grünen Sack. Dann stieg der auch noch von selbst nach oben bis auf Hüfthöhe der Heilerin. Diese sagte: "Innerttralisatus-Sack mit eingewirkter Kopfblase, Catherine. Gedacht, um nicht heftigen Bewegungsänderungen auszusetzende Patienten zu transportieren, vordringlich für Gebärende, die besser doch schnell noch in die Mutter-Kind-Abteilung gebracht werden sollen." Bis gleich!"

Hera ließ den schwebenden Sack, in dem Joe vollständig eingeschlossen war hinter sich herfliegen. Catherine bat ihre Hausmitbewohnerin: "Pass bitte auf Claudine auf, Laurentine! Bin gleich wieder da. Keine Sorge, meine Kleine. Maman sieht nur zu, dass die Tante Heilerin den Papa sicher ins Krankenhaus bringt." Mit diesen Worten stellte sie Claudine wieder auf die Füße und wandte sich der Bürotür zu.

Allerdings dachten weder Laurentine noch Claudine daran, untätig und hilflos im Büro zu warten. Sie folgten Catherine. Gut, so würde Laurentine auch nicht auf die Idee kommen, mit Joes Computer herumzuexperimentieren. Wichtiger war jetzt, dass Joe behandelt wurde. Da sie nicht wussten, wielange er von diesen verdächtigen Bonbons genascht hatte sollte er wirklich wo sein, wo man ihn zur Not schnell in Zauberschlaf versenken oder schockbezaubern konnte.

Hera entzündete mit üblichem Flohpulver grünes Feuer. Dann bugsierte sie den grünen Transportsack in die Flammen hinein, brachte ihre Lippen ganz nahe an das Feuer und rief: "Notaufnahme Delourdesklinik!" Mit einem lauten Rauschen, als würde ein TGV durch das Zimmer brausen, verschwand der grüne Sack in den Flammen. Hera wartete zehn Sekunden. Dann sagte sie: "Ich bin in einer Minute wieder da und seh mir an, was Joseph an seinem Elektrorechner gemacht hat." Dann kletterte sie in den Kamin und rief "Notaufnahme Delourdesklinik!" Auch sie verschwand mit einem lauten Rauschen in den Flammen.

"Ich hätte nicht gedacht, dass Joe derartig leichtsinnig ist. Ich habe ihm schon mal gesagt, dass wir zwar Durchhalte- und Leistungssteigerungstränke haben, diese Tränke aber nicht andauernd genommen werden dürfen. Wenn das stimmt, dass er von irgendwoher unmagisch zusammengebrautes Rauschgift hatte darf der sich noch was von Hera und mir anhören."

"Papa jetzt bei Tante Hera?" fragte Claudine. Catherine nickte. Laurentine stand jetzt wieder so da, als wisse sie nicht, was sie machen sollte. "Ich habe mitbekommen, dass du ein leeres Papier aufgelesen hast. Steht da was drauf?" fragte Catherine. Laurentine zog das vom Boden geklaubte bunte Papierchen aus ihrer Rocktasche und zog es auseinander. "Kreativschokolade" steht da drauf", grummelte Laurentine. "Und noch ein fröhliches Gesicht und einen die Hände zum Feiern erhebendes blitzeblaues Männchen. Hmm, und hier ist noch eine durch Punkte getrennte Nummer. Sieht mir ganz verdächtig nach einer Internetprotokolladresse aus. Drunter steht noch ein n, ein M und ein Ausrufezeichen. Das kenne ich von dem Astrotechclub, in dem mein Vater drin ist. Es heißt "Nur Mitglieder! Will sagen, an das Zeug kommt nur dran, wer in einem bestimmten Club mitglied ist. Dann ist die lange Nummer mit den vielen Punkten echt eine IP-Adresse. So wird keiner mit der Nase drauf gestoßen, wer dahintersteckt."

"Du meinst, jemand hat Joe dieses Zeug angeboten und dabei in einen obskuren Club eingeführt?" fragte Catherine.

"Wissen kann ich das nicht. Ich vermute das nur, Catherine. Es sieht zumindest für mich so aus", sagte Laurentine. Claudine fragte Laurentine, was sie meinte. Laurentine erwiderte: "Deine Maman und ich fragen uns, woher dein Papa die Bonbons gekriegt hat, die ihn krank gemacht haben."

"Böse Bonbons?" fragte Claudine.

"Ja, einfach aber wohl wahr", seufzte Catherine.

"Widersinnig, wo Bonbon ja "Gut gut" heißt", erwiderte Laurentine gehässig. Catherine funkelte sie dafür saphirblau an. Dann merkte sie, dass die Aufregung der letzten Minuten ihr ziemlich zugesetzt hatten. Um nicht an Ort und Stelle umzufallen ging sie mit leicht wackeligen Schritten richtung Claudines Zimmer. Sie winkte Claudine hinter sich her. "Am besten legst du dich hin und schläfst. Wenn der neue Tag da ist sage ich dir, wie schnell Papa wiederkommt", sagte Catherine. Claudine quängelte. Doch Laurentine, die hinter ihr herging streichelte ihr zuversichtlich über die Wange. "Dein Papa wird bestimmt morgen wieder wach sein. Dann freut der sich ganz sicher, wenn du ihm einen guten Morgen wünschen kannst. Aber dafür musst du selbst ganz ausgeschlafen sein", sagte Laurentine. Catherine sah sie etwas ungehalten an. Doch dann nickte sie schwerfällig und winkte Claudine weiter hinter sich her.

Catherine deckte Claudine zu. Diese wollte von Laurentine noch eine Geschichte hören. Doch ihre Mutter sagte, dass sie ihr lieber ein Lied vorsingen wollte. Dann sah sie Laurentine an. "Geh bitte in den Partyraum und warte auf Hera!" sagte sie mit unüberhörbarer Entschlossenheit. Laurentine nickte und wünschte Claudine eine gute Nacht.

Catherine machte das nicht gern, aber in dem Fall war es wohl besser, wenn Claudine diesmal wirklich tief und traumlos schlief. So sang sie ihr Sardonias Hexenwiege vor, jenes Schlaflied, das Claudines Großmutter Blanche damals benutzt hatte, um Joe für eine Nacht in Schlaf zu versenken, um mit Julius unangefochten nach Millemerveilles zu reisen. Claudine quängelte erst. Doch dann ergab sie sich der mit den Tönen übermittelten Zauberkraft. Als Catherines kleine Tochter tief und friedlich schlief ging sie sichtlich um ihr Gleichgewicht ringend zurück in Joes Arbeitszimmer. Sie setzte sich auf den Besucherstuhl und stierte den immer noch laufenden Rechner und die herabbaumelnde Maus an, als hätten die ihren Mann ohnmächtig gemacht. Am Ende lag er im Koma und musste erst behutsam wieder daraus geweckt werden. Deshalb war es wohl auch nicht so günstig, dass gleich mit einem Breitbandgegengift hantiert wurde, zumal nicht feststand, ob das bei einer künstlichen Droge überhaupt wirkte.

"So, bin wieder da. Joe wurde auf Anweisung von Großheilerin Eauvive persönlich in das Isolierzimmer für Muggelweltpatienten mit Zaubererweltberührung verlegt. Sie wollen erst noch sein Blut, seinen Speichel und seinen Urin untersuchen und halten ihn solange im Lentavita-Zustand, um mögliche Folgeauswirkungen des Giftes lange genug aufzuschieben, um die richtige Therapie zu finden", sagte Hera, als sie mit Laurentine wieder im Zimmer war.

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Otschungu fühlte die Nähe dessen, was ihn an sich band. Nur weil er gerade in einem lebenden Körper steckte wurde er nicht in diesen Gegenstand hineingezogen. Doch genau der Sog zeigte ihm, wo das war, was ihn sonst wieder an sich reißen sollte. Die Augen seines Wirtskörpers konnten zwar nicht im Dunkeln sehen. Doch das Gespür für Zauberkraft ersetzte das fehlende Licht.

Die Höhle war eigentlich eine Zusammenfügung mehrerer unterirdischer Gänge und Räume. Ab und an fiel ein Wassertropfen von der hohen Decke herunter und zersprang auf dem Boden. Weil Otschungu den Sog seines Bindungsgegenstandes fühlte konnte er sicher den richtigen Gang finden, durch den er in eine kleinere Kammer eintrat. In ihr standen dünne Säulen. Von der Decke hingen einige spitze Steingebilde herunter, die wohl irgendwann den Boden erreichen und neue Säulen machen würden. In der Mitte der Kammer stand etwas, das früher mal zu einem lebenden Körper gehört haben mochte. Jedenfalls fühlte Otschungu den Rest einstigen Lebens darin nachschwingen. In diesem Etwas steckte diese aus einem Stoßzahn gemachte Schlange mit den Augen aus gefrorenem Feuer. Otschungu fühlte es ganz deutlich, wie dieses Ding ihn an sich heranzog. Jetzt wurde ihm klar, dass er es nicht in seiner Nähe halten durfte, wollte er frei sein und nicht in einem unbedachten Augenblick darin eingesaugt und festgesetzt werden. Doch er durfte es auch nicht hier lassen. Merkwürdig war ihm, dass Dunkelhüter nicht hier war. Dann fiel ihm aus Geisterlenkers in ihm aufgegangenen Wissen ein, dass Dunkelhüter kein gewöhnlicher Mensch war. Er hatte es geschafft, eins mit der Nacht zu werden, durfte dafür aber nicht mit der Sonne oder mit reinigendem Wasser zusammentreffen. Er hatte aus den Erinnerungen der von ihm niedergeworfenen Zauberer erfahren, dass diese Geschöpfe auch auf anderen Erdteilen lebten. Dort hießen sie Vampire und tranken das Blut anderer lebender Wesen. Also war Dunkelhüter gerade auf der Jagd nach frischem Blut. Das sollte ihm recht sein.

Der in Geisterlenkers Körper umgehende Otschungu lief auf den großen Behälter zu, den er nun in einer Art Widerschein der bezauberten Schnitzerei als Schädel eines Löwens erkannte. Er fühlte dabei auch, dass dieser Behälter mit einem Zauber belegt war und entlockte Geisterlenkers Erinnerungen, dass jemand, der die Schnitzerei nicht nehmen durfte, vom Maul dieses Löwenkopfes zerbissen wurde, zumindest aber die Hand verlor, wenn er oder sie in den Schädel hineingriff. Durfte er die Schnitzerei nehmen? Er trat vor das weit aufklaffende Maul und streckte behutsam die Hand aus. Doch dann fühlte er die Angriffslust, die in diesem Schädel eingeschlossen war. Das Maul erzitterte kurz. Er zog die Hand zurück. Da er Geisterlenkers Körper noch brauchte, um in Mittagsrichtung zu reisen, um dort nach den Stammesangehörigen dieser Frau zu suchen, die das Herz des Feuervaters nehmen wollte, durfte er keinen Finger verlieren. Doch wieso nicht ausnutzen, dass die Schnitzerei ihn an sich zu ziehen versuchte?

Er besann sich und bündelte alle Gedanken darauf, die Schnitzerei anzufassen. Er fühlte, wie der andere Sog stärker wurde. Dann sah er, wie sich die dreifach gewundene Schlange aus dem Schädel herausreckte. Die Augen leuchteten nun aus sich heraus. Dann flog ihm die Schlange entgegen und landete in seinen Händen. Sofort meinte er, seinen Körper verlassen zu müssen. Eine Stimme flüsterte ihm zu: "Sei wieder bei mir! Sei wieder bei mir!" Doch er kämpfte es nieder. "Ich bin jetzt frei!" rief er laut und lachte, während er die nun wieder dreifach gewundene Schlange in Geisterlenkers Trommel hineinsteckte. "Du wirst gut versteckt, dass dich keiner Findet außer mir", knurrte er. Dann lachte er wieder laut auf.

"So hole ich mir bald alle von euch, ohne dass ihr mich noch mal unterwerfen könnt!" rief Otschungu aus und genoss den lange nachklingenden Widerhall aus den Gängen und Räumen der Höhle. Er lachte noch eine Weile. Dann erkannte er, dass er eigentlich schon längst hätte verschwinden müssen. Am Ende hatte Dunkelhüter mitbekommen, dass jemand sein Reich betreten hatte. Ja, er erinnerte sich jetzt auch, dass Geisterlenker mit Dunkelhüter eine Gedankenverbindung geknüpft hatte. Dann hatte dieser Blutsauger wohl schon mitbekommen, dass er, Otschungu, dessen gelehrigen Schüler verschlungen und dafür seinen Körper ausgefüllt hatte. Er musste jetzt aber ganz schnell hier weg. Denn mit Dunkelhüter zu kämpfen, wo der von der Dunkelheit Kraft bekam, war nicht klug, solange er die ihn bindende Schlange nicht in Sicherheit gebracht hatte.

Er spielte schnell das Lied der Flügel starker Wünsche und stellte sich dabei einen Ort vor, der mehr als zehn Tagesmärsche von hier fort war. Dort, in der Nähe eines breiten Flusses, wollte er die Schnitzerei vergraben, damit Dunkelhüter sie nicht nehmen konnte, ohne sein Leben zu verlieren. Danach wollte er sein Versprechen wahrmachen und alle die töten, die ihn zum niederen Diener gemacht hatten.

Der Widerhall des scharfen Knalls klang noch mehrere Menschenherzschläge lang aus den Kammern, Gängenund Sälen des unterirdischen Reiches zurück. Geisterlenkers Körper war wieder fort und mit ihm die geschnitzte Schlange mit den Augen aus gefrorenem Feuer.

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Pierre Deville starrte auf das kleine Anzeigefenster, das mit "Arbeitsplatz 70729" beschriftet war. Dort lief gerade die Darstellung eines langsam mit von oben tropfendem Wasser volllaufenden Glaszylinders, an dessen Rand in Zwanzigerabständen Zahlen von 0 ganz unten bis 120 am obersten Rand standen. Der simulierte Glaszylinder war schon mehr als halb voll und füllte sich weiter. Deville hatte immer davor gebangt, diese Darstellung zu sehen zu bekommen. Doch sein Chef hatte darauf bestanden, dass sämtliche Heimarbeitsrechner der am Projekt Sonnensturm" beteiligten Programmierer eine derartige Vorkehrung installiert bekamen. Eigentlich sollte sie nur dazu dienen, verbummelte Minuten anzuzeigen, um diese bei der Gehaltsabrechnung abzuziehen. Doch sie hatte für Deville auch eine weitere, eher unangenehme Funktion. Wenn dieser Untätigkeitszeitmesser da lief hieß das, dass der betreffende Heimarbeiter entweder keine Idee mehr hatte, wie er weitermachen sollte oder dass ihm Körper und Hirn den Dienst versagten. Deville dachte wieder an die Instruktion: "Wer im Sonnensturmclub von Primus Superior mitglied wurde, hatte bis zum Abschluss Höchstleistung zu erbringen. Dafür lieferte die Firma Jours Douxes die passende Unterstützung. Der immer mehr volllaufende Zylinder stand für den Mitarbeiter Joseph Brickston, der bei früheren Projekten geniale Lösungen erarbeitet hatte. Es hatte seinem Chef einiges an Überredungskunst gekostet, ihn für das Sonnensturmprojekt zu gewinnen und ihn Devilles Gruppe von zwanzig Programmierern und Hardwarespezialisten zuzuteilen.

Eigentlich hätten sie gerne einen alleinstehenden Mitarbeiter gehabt, der sich nicht auf Familienpflichten herausreden konnte. Aber wegen Brickstons Vorleistungen hatte Devilles Chef Maribeau auf seine Mitarbeit beharrt. Deshalb hatte Deville Brickston ja auch in den Sonnensturmclub eingeführt und seine Mitgliedschaft ermöglicht, damit er von der Kreativschokolade was abbekommen konnte. Allerdings hatten sie ihm auch gewisse schlechte Auswirkungen von Fehlverhalten in Aussicht gestellt. Nicht immer das Tagespensum zu liefern war ein solches Fehlverhalten. Doch nun lief dieser Zeitzähler. Wenn der bei 120 Minuten ankam würde automatisch die Fürsorgemannschaft vom Sonnensturmclub informiert und losgeschickt. Die würden sich mit einer Kopie von Brickstons Haustürschlüssel Zugang zu seinem Haus verschaffen, ein geruchloses Betäubungsgas einblasen, warten bis es wohl in allen Räumen wirkte und Joseph Brickston dann abholen, egal ob er nur Arbeitsmüde, bewusstlos - oder gar tot war. Wie auch immer, das würde ihm, Pierre Deville, ans Bein gehängt. Eigentlich musste er nachprüfen, was anlag. Doch sein Telefon wurde überwacht. Wenn er Joseph Brickston jetzt anrief würde das im Zusammenspiel mit dem Untätigkeitszeitzähler ganz schnell ganz oben landen und ihm, Deville, den schnellen Abflug ohne Rückkehrmöglichkeit einbrocken. Also konnte er nur hoffen, dass Brickston sich wieder berappelte und ...

Ein wildes Zirpen kam aus den Lautsprechern des Rechners. Gleichzeitig versiegte das stetige Tropfen von verstrichener Zeit in den Zylinder. Dieser wurde knallrot. Über ihm blinkte die ebenso knallrote Meldung: "Verbindung zu 70729 unterbrochen! Ausfall des Routers!" Gleichzeitig tauchte am rechten unteren Bildschirmrand ein rotgerahmtes Fenster auf, in dem die Meldung stand: "Eingreiftrupp -3 Minuten. Meldung an Fürsorgezentrale ergangen!"

"Welcher Vollidiot hat die Internetverbindung getrennt?" grummelte Deville. Er fühlte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Er griff schnell zu seinem Telefonhörer und drückte die Kurzwahltaste zur Chefetage. Er sagte schnell, was sein Rechner anzeigte und hörte auf Maribeaus Antwort:

"Überlassen Sie das den Fürsorgern, wenn Sie morgen noch frei atmen möchten, Pierre. Was immer mit Brickston passiert ist, jemand hat ihn wohl gefunden und den Rechner ausgeschaltet. Das war ein Fehler."

"Öhm, der Rechner ist nicht ausgeschaltet worden, nur der Router ist ausgefallen."

"Kommt für mich und Monsieur S. auf's gleiche raus. Wenn wir das Projekt zum Erfolg für uns alle führen wollen muss jede Störung beseitigt werden. Bedenken Sie das bitte."

"Ja, ich bedenke das", seufzte Deville. Im Klartext hieß das, dass er sich ganz ruhig verhalten sollte, was immer jetzt geschah.

__________

Dunkelhüter dankte der Dunkelheit der Nacht, die ihn bei Kräften hielt. Zwar würde diese besser wirken, wenn er bald wieder frisches Blut trank. Doch im Augenblick musste er dieses Bedürfnis zurückstellen. Er jagte so schnell seine lederartigen Flughäute zuließen zu seinem Höhlenversteck zurück und horchte, ob dort jemand war. Er hörte und fühlte jedoch niemanden. Er landete und nahm seine menschliche Erscheinungsform an, die eines kraftstrotzenden Mannes, der vom Aussehen her gerade vierzig Sonnenkreise erlebt hatte.

Als er vor dem gut verborgenen Eingang zu seinem Höhlenversteck stand wusste er jedoch, dass etwas nicht so war wie sonst. Die feine, dunkle Schwingung, die langsam und sanft wie die Atemzüge eines schlafenden Menschen waren, war nicht mehr zu fühlen. Dunkelhüter hatte seit der Eroberung der Schlangenschnitzerei eine schon bald körperliche Verbindung dazu hergestellt. Wenn er in ihrer Nähe war spürte er die schlummernde Zauberkraft. Jetzt, wo Otschungus Geist aus der Stoßzahnschnitzerei herausgelöst worden war, hatte sich die Geschwindigkeit der sanften Schwingung verlangsamt. Aber sie war genau so stark geblieben wie vorher. Doch jetzt fehlte sie ganz. Das hieß wohl, dass jemand den Gegenstand entweder zerstört oder mit sich genommen hatte.

Dunkelhüter fletschte seine Fangzähne. Dann schnüffelte er wie ein jagendes Raubtier, wo die Beute sein mochte. Er konnte aber keine Gerüche anderer Menschenwesen oder Nachtkinder wahrnehmen. So bog er die vor seiner Höhle gepflanzten Sträucher zur Seite und schlüpfte durch den engen Spalt in den Zugang zu seinem Versteck.

Als er in die Halle der Belehrung trat, wo er Geisterlenker und viele andere vor ihm unterrichtet hatte, roch er den Hauch von Schweiß und Blut eines Mannes. Er erkannte diese Ausdünstung. Es war Geisterlenkers Geruch. Doch etwas war ein wenig anders, Angst und Wut hatten den Geruch verfremdet.

Er folgte der in der Luft schwebenden Spur und fand, was er befürchtet hatte. Geisterlenker hatte die kleine Kammer betreten, in der die Schlange aufbewahrt worden war. Der mit einem Feindesfangzauber belegte Löwenschädel stand mit weit aufgerissenem Maul da. Dunkelhüter schnupperte. Doch er konnte nicht mehr als den Hauch von Geisterlenkers Haut und darunter fließendem Blut wittern. Also hatte Geisterlenker keinen Finger im Löwenmaul verloren, nicht einen einzigen Tropfen Blut vergießen müssen. Aber niemand konnte mit unsichtbaren Händen, wie die von Gedanken geführten Geisterhände auch genannt wurden, in diesen Schädel hineingreifen. Wie hatte Geisterlenker oder Otschungu es dann geschafft? Dunkelhüter stampfte wütend auf, als er wusste, wie genau. Dieser Unheilsgeist hatte es ausgenutzt, dass die Schnitzerei mit seiner Seele verbunden war und zu ihm hinstrebte, wenn es nicht so war, dass er in die Schnitzerei zurückgezogen wurde.

"Glaub mir bei der ewigen Nacht, dass ich dich finde und auch die Schlange der Bindung, um dich für alle Zeiten in ihr einzuschließen, Otschungu", knurrte Dunkelhüter. Dann fiel ihm ein, dass der Rächer sicher nun darauf ausging, alle zu töten, die ihn niedergehalten hatten. Das hieß auch, dass Geisterlenkers Familie in Gefahr war. Er musste sie warnen, gleich jetzt, wo es noch lange genug dunkel war.

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"Öhm, ich habe ein mieses Gefühl, dass Joes Rechner komplett überwacht ist", sagte Laurentine. "Während wir auf Sie , Hera, gewartet haben ist mir durch den Kopf gegangen, was Julius mir über Hintertüren und sogenannte Trojaner erzählt hat, also Programme, die sich wie das trojanische Pferd aus der griechischen Sagenwelt verhalten. Deshalb war es gut, dass ich nicht sofort an dem Rechner herumgespielt habe."

"Ja, und jetzt?" fragte Catherine Laurentine.

"Vielleicht überwacht wer Joes Rechner und kriegt deshalb mit, dass da seit wie lange auch immer nichts mehr mit gemacht wurde. Wenn ich jetzt die Maus bewege könnte ich einen schlafenden Drachen kitzeln. Aber ich habe eine Idee. Ich trenne die Internetverbindung, ohne den Rechner anzufassen. Hmm, Joes Telefon ist ein schnurloses mit Basisstation. Da ziehe ich den Stromstecker raus. Dann sieht das für jeden, der Joe vielleicht mit solchen Spionageprogrammen überwacht aus wie ein Stromausfall."

""Und dann?" fragte Hera, die nicht viel von Computern verstand und auch nicht gerade viel von diesen Maschinen hielt.

"Dann kann ich hoffentlich alles mit Joes Rechner machen, um zu sehen, seit wann er nicht mehr damit gearbeitet hat", sagte Laurentine. Sie sah Catherine an. Diese wiegte erst den Kopf. Dann nickte sie entschlossen.

Laurentine tauchte unter den Schreibtisch und zog mit der einen Hand den Stromstecker vom Telefon aus der Steckdose und mit der anderen den Anschlussstecker des DSL-Kabels. Unverzüglich bimmelte eine elektronische Glocke aus den Computerlautsprechern, und ein mehrfaches Dong, der akustische Hinweis auf einen Fehler oder eine ungültige Eingabe erklang mehrmals. Die bunten Bälle, die bis dahin über den Bildschirm gerollt und gesprungen waren verschwanden im selben Moment und machten drei Fenstern platz, von denen eines ein Programmeditor, das andere ein Datenbankverwaltungsprogramm und das dritte ein Internetseitenanzeigeprogrammfenster war. Wieder klongte und dongte es. Das elektronische Gebimmel nahm an Tempo zu. Laurentine griff zur Maus. Da erschien am oberen linken Bildschirmrand die Meldung "Internetverbindung unterbrochen. Sitzung nicht fortsetzbar! Alle Dateien sichern und das System neu starten!"

"Vergiss es", knurrte Laurentine den Rechner an und vollführte mit der Maus sehr schnelle wie gezielte Bewegungen und Klicks. Dann sagte sie: "Joe hat mir gesagt, er speichert grundsätzlich alle abgeschlossenen Programmelemente zwischen. Demnach war die letzte änderung um einundzwanzig Uhr, zehn Minuten und zweiundzwanzig Sekunden. Da er laut Editorfenster gerade eine zwischen einzelfällen wechselnde Anweisungsreihe angefangen hat, die gerade mal vier Zeilen lang ist und mit einer sich öffnenden geschweiften Klammer endet ist er kurz nach dem letzten Zwischenspeichern ohnmächtig geworden."

"Also vor mehr als einer Stunde", erwiderte Hera über das Konzert der Fehlermeldetöne hinweg. Laurentine nickte. Dann deutete sie auf ein Symbol am unteren Bildschirmrand. "Eine auf der Seite liegende Sanduhr, die im rechten Kolben halb voll ist. Das Ding kenne ich nicht. Darf ich das mal anwählen?" fragte Laurentine Catherine. Diese deutete auf das erwähnte Symbol und nickte. Laurentine führte die Maus dort hin und klickte.

Ein neues Fenster ging auf, in dem in roten Zeichen stand: "Mitarbeiter 70729, Sie sind seit 1 h 19 min 16 s untätig. Nehmen Sie Kontakt mit Projektgruppenleiter auf und begründen Sie ihre Untätigkeit."

"Super, genau das, was ich schon befürchtet habe", grummelte Laurentine. "Die haben Joes Rechner mit allen möglichen Überwachungsprogrammen zugesch..., -schüttet. Das Progrämmchen hier reagiert wohl auf Tastatureingaben oder Mausbewegungen. Kommt nichts davon rüber, zählt es die ungenutzte Zeit, vielleicht auch erst ab einer voreingestellten Dauer. Womöglich kann man das Ding hier auf Pause einstellen, was Joe aber nicht gemacht hat."

"Wenn er es überhaupt kannte und konnte", sagte Catherine. "Die auf der Seite liegende Sanduhr ist doch erst aufgetaucht, als du nach dem letzten Speicherzeitpunkt gesucht und zweimal geklickt hast", sagte Catherine. Laurentine nickte.

"Ich hörte, dass man gerade gezeigte Angaben von diesem Elektrofenster da auf Papier kopieren kann", sagte Hera. "Wenn das hier auch geht mach das bitte, Laurentine!"

"Ja, mach ich", sagte Laurentine und speicherte die gerade gezeigten Darstellungen in der zwischenablage. Dann wählte sie aus dem allgemeinen Menü das Drucken-Symbol aus und warf den angeschlossenen Laserdrucker an, der nach einer Vorwärmphase von zehn Sekunden den Bildschirminhalt als gedrucktes Bild auf Papier aussspuckte. Laurentine hatte vorsorglich drei Kopien angefordert. Eine bekam Hera, die zweite sollte wohl Belle Grandchapeaus Abteilung kriegen, da offenbar hier eine Berührung zwischen Muggel- und Zaubererwelt stattfand. Die dritte behielt Laurentine erst mal für sich. Dann kam ihr die Idee, die laufenden Anwendungen zu erfragen und wählte hierzu den Aufgabenverwaltungsdienst des Betriebssystems. Da hier mehr als 40 laufende Prozesse und Anwendungen aufgeführt waren machte sie auch von dieser Anzeige mehrere Zustandsaufnahmen und druckte diese dreimal aus. "Activometer", grummelte Laurentine und versuchte, die so heißende Anwendung zu beenden. Dabei erfuhr sie nicht völlig unerwartet, dass sie die Anwendung nicht beenden durfte, weil sie, also Joe, nicht die nötigen Rechte hatte. "Dann fahren wir das Ding eben ganz runter!" Sagte Laurentine und wechselte in das Startmenü, um den Vorgang einzuleiten. Doch das Herunterfahren wurde verweigert, weil mehrere Anwendungen Zustandssicherungen verlangten. Laurentine streckte dem Bildschirm die Zunge raus und drückte die Ein-Aus-Taste solange, bis der Rechner mit einem letzten Klack der Festplatte ausging. "Gut, kann sein, dass ich gerade Joes Rechner bis auf weiteres unbrauchbar gemacht habe. Aber das ist jetzt sicher nebensächlich, oder Catherine."

"Also, wenn mein Mann wirklich wie mit drei Findmichs gleichzeitig und dann noch Exosenso-überwacht an diesem Gerät herumgewerkelt hat und sich dabei körperlich und geistig überanstrengt hat kann dieses Ding gerne kaputt sein", sagte Catherine. "Ich verstehe echt nicht, wie Joe sich auf sowas einlassen konnte. Und jetzt kommt mir bloß keine von euch damit, dass er ja nur unser Bestes gewollt hat und mehr Geld verdienen wollte. Wenn er das alles bewusst hingenommen hat grenzt das für mich schon an Prostitution."

"Hui, heftig deftig", bemerkte Laurentine dazu. Hera erwiderte:

"Nichts für ungut, Catherine, aber Joe ist soweit ich ihn selbst miterlebt habe ein wohl auf Selbstbestätigung bedachter Mensch. Kann sein, dass er sich nicht wegen des Geldes auf diese Sache eingelassen hat, sondern weil er beweisen wollte, dass er diese Aufgabe erfüllen kann. Hinzu kommt ja, dass er in der Zeit bei uns in Millemerveilles ständig gewissen Anfeindungen und Herabwürdigungen ausgesetzt war, bis er die Idee mit den Heißluftballons gegen die Schlangenmenschen einbrachte."

"Erzähl mir bitte mal was neues, Hera", schnaubte Catherine.

Draußen erklang das Geräusch eines haltenden Autos, eines kleinen Lastwagens oder anderen größeren Fahrzeuges. Catherine blickte sich um. Dann hörten sie alle durch die nach dem Rechnerauschalten eingetretene Stille das Klappen von Autotüren.

"Nachbarn von euch?" fragte Hera leise.

"kann sein. Aber die würden nicht gleich vor unserer Tür parken", wisperte Catherine. Dann nahm sie ihren Zauberstab und stand auf. Dabei wurde ihr ein wenig schwindelig. Hera merkte das und sah sie sehr genau an. Catherine zuckte mit den Schultern. Jetzt war das Schwindelgefühl auch schon vorbei. Sie verließ Joes Arbeitszimmer so leise sie konnte. Hera folgte ihr. Laurentine zögerte wohl noch, ging ihnen aber dann auch nach.

"Kein Licht. Wer immer das ist soll glauben, ein leeres Haus vorzufinden", zischte Hera, die kurz auf ein grünes Armband sah, dass sie am rechten Handgelenk trug. Catherine wisperte, dass keiner in das Haus eindringen konnte, der feindliche Absichten hatte. Doch Hera wusste das ja schon.

Leise schlichen die drei Hexen aus drei Generationen in den unbeleuchteten Flur ins Treppenhaus. Da hörten sie, wie jemand sich an der Haustür zu schaffen machte. Es klang so, als wolle jemand versuchen, einen unpassenden Schlüssel ins Schloss zu schieben. Diese Geräusche dauerten zwanzig Sekunden an. Catherine zielte auf die Tür und wisperte: "Imagines per Murum! Sonitos Per Murum!" Unvermittelt wurde die Tür scheinbar unsichtbar, und für alle hier klang es, als wäre sie auch gar nicht mehr da. So konnten sie im stark abgeschwächten Streulicht der Straßenlampen zwei Gestalten in heller Kleidung sehen, die gerade versuchten, mit einem Schlüssel die Tür aufzukriegen, der nicht ins Schloss passen wollte.

"Verdammt, das ist der richtige Schlüssel!" wisperte einer der Männer. "Das ist bestätigt, dass der von dem Clienten stammt. Also stell dich nicht so an!"

"Ich sag's dir, der geht nicht mal einen Millimeter ins Schloss rein, Jacques. Irgendwas stimmt hier nicht."

"Dann muss ich wohl mit großem Besteck hantieren. Sicher mich ab, dass mir keiner zusieht!" sagte der zweite Mann und holte etwas aus einer Tasche. Hinter den beiden standen nun noch zwei Männer mit einer Trage. "Wird das heute noch was. Wenn wir in zwei Minuten nicht weg sind können wir gleich in die Seine springen."

"Ist gleich. Halt schon mal den Kanister!" sagte der erste. Dann versuchte er, die Tür mit einer Art Brecheisen zu öffnen. Doch das glitt immer wieder ab. Außerdem zitterten die Arme des Mannes.

"Das gibt's nicht. Ich kriege das Eisen nicht angesetzt."

"Der Man, der alle Türen öffnet", spottete der erste, der es mit einem Schlüssel probiert hatte.

"Wenn wir in einer Minute nicht durch sind müssen wir abrücken", sagte einer der Männer mit der Trage.

"Ich will morgen noch leben. Also kriegen wir die Tür auf, auch wenn's laut wird", sagte der erste Mann. Der zweite zitterte nun, als er versuchte, einen kreisrunden Gegenstand an der Tür anzubringen. Der Gegenstand entfiel ihm. Alle sprangen zurück. Doch mehr passierte nicht. "Bist du denn total neben der Spur?!" rief der erste Mann dem zweiten entgegen.

"Das Ding wurde mir zu schwer. Ich weiß nicht wieso", zeterte der zweite nun ungeachtet, dass er eigentlich heimlich vorgehen sollte.

"Eh, das Haus hat doch 'ne Hintertür. Los hin und da versuchen!" sagte einer der beiden anderen Männer.

"Wie viel Zeit?"

"Scheiß drauf! Wenn wir diesen englischen Trottel da nicht rausholen und alles mitnehmen, mit der Firma zu tun hat dürfen kriegt uns Monsieur S. am Arsch. So wären es nur die Flics."

"Eine sehr unterentwickelte Ausdrucksweise pflegen diese Herren!", sagte Hera Matine.

"Die wollen Joe abholen. Also haben die wohl eine Anweisung erhalten, ihn hier zu finden. Ich will wissen welche und von wem", flüsterte Catherine. Sie ging in Richtung Hintertür. Laurentine trat neben sie und flüsterte ihr zu: "Die haben was von Kanistern gesagt, womöglich Benzin oder Gas."

"Danke für die Warnung", wisperte Catherine zurück und hantierte mit dem Zauberstab vor ihrem Kopf. Laurentine machte es auch. So erkannte auch Hera, was die beiden jüngeren Hexen befürchteten und umschloss ihren Kopf ebenfalls mit einer Kopfblase.

An der Hintertür waren aber gerade nur die beiden Männer, die versucht hatten, die Tür zu öffnen. Catherine tat ihnen den Gefallen, in dem sie erst den Abschirmzauber gegen Alohomora ungesagt abbaute und die Tür dann beim Versuch mit der Brechstange aufspringen ließ. Die zwei Männer waren von ihrem Erfolg so überrascht, dass sie nicht mehr reagieren konnten, als Hera und Catherine sie mit Erstarrungszaubern lähmten und dann ungesagt ins Haus hinein schweben ließen. Dann ging sie hinaus, um das Haus herum und sah die beiden anderen Männer, die schon auf dem Weg waren, ihre Trage und drei Kanister zur Hintertür zu schaffen. Sie kamen nicht mehr dazu, irgendwas zu unternehmen. Catherine versetzte sie durch den Wiederholzauber noch schneller in Starre als die zwei Männer vorher. Dann beendete sie den Kopfblasenzauber, um besser hören zu können.

"So, die Herrschaften, wir unterhalten uns jetzt erst mal darüber, was Sie bei uns wollten", sagte Catherine sehr ungehalten, während sie die beiden anderen Männer mit dem Mobilicorpus-Zauber hinter sich herbugsierte.

Hera prüfte im Schutze ihrer Kopfblase den Inhalt der Kanister und erkannte, dass sie ein farb- und geruchloses Gas enthielten, das zu einer tiefen Bewusstlosigkeit führen mochte, bei Überdosierung aber auch zu einer tödlichen Erschlaffung der Muskeln führen mochte.

Catherine ließ Laurentine beim Ministerium kontaktfeuern, dass einer der Außendienstmitarbeiter von Belle Grandchapeaus büro herüberkam. Als eine kleinwüchsige Hexe aus dem Kamin im Partyraum kam sah diese erst Catherine, dann Hera und dann noch Laurentine. "Primula Arno, derzeit wachhabende Außendienstmitarbeiterin vom Büro für friedliche Koexistenz zwischen Menschen mit und ohne Magie. Was liegt an?" Catherine erwähnte den Zusammenbruch ihres Mannes und dass dieser wohl im Zusammenhang mit unerlaubten Wachhaltedrogen und deren Vertreibern stand.

Vier Minuten später hatte die halbzwergische Hexe den vier gefangenen Veritaserum eingeflößt und verhörte sie nun. Dabei kam heraus, dass sie den Auftrag hatten, Joe Brickston tot oder lebendig aus dem Haus zu holen und alle Spuren zu beseitigen, die auf ihre Auftraggeber zurückzuführen waren. Auf die Frage, wer dieser Auftraggeber war bekamen sie den Namen Beaulieu. Für wen dieser arbeite wussten drei der vier nicht. Der vierte, der Anführer der Truppe, wusste aber, dass Beaulieu für Primus Superior arbeitete. Auf die Frage, ob dieser Superior wichtig sei sprudelte es aus dem vom Veritaserum in Redestimmung versetzten heraus, dass Superior eine Organisation von Überlebenskünstlern leite, die einmal die Erben der Menschheit sein würden, wenn sich die Zivilisation von heute selbstzerstört haben würde oder durch eine globale Naturkatastrophe zerfallen sei. Deshalb seien Superior alle geltenden Gesetze unwichtig, weil sie eh nur noch eine gewisse Zeit durchgesetzt werden würden. Allerdings konnte der zu Superior Kontakt habende Gefangene nicht sagen, wo genau der ominöse Herr zu finden war. Er erwähnte nur, dass der wohl in einem Schutzbunker wohne, wo er Keimzellen verschiedener Menschen einlagere, um später mal eine neue Menschheit heranzuzüchten. Auf Heras Frage nach der Durchhaltedroge erfuhren sie, dass dieses Mittel eine Form künstlichen Adrenalins sei, dass aber auch körpereigene Stoffe des Verbrauchers in Energie umsetzen könne. Ursprünglich als Mobilmachungsmittel im Kriegsfall entwickelt wurde es für die "geheime Gesellschaft zur Überdauerung der Menschheit" sehr nützlich, weil damit auch wichtige Fachleute im Dauerleistungsbetrieb gehalten werden konnten, um beispielsweise Geräte und Programme zu erschaffen, die bei einem heftigen Sonnensturm den weltweit zu befürchtenden Stromausfall überstehen und davon unbeeinträchtigt weiterarbeiten konnten.

"Wenn die nicht das VS im Körper hätten würde ich die ganze Geschichte als haarsträubendes Märchen zurückweisen", knurrte Hera. Primula Arno nickte zustimmend. Dann fragte Primula Arno: "Was passiert, wenn Sie ohne Joe Brickston zurückkommen?"

"Dann werden wir wohl umgenietet", sagte der Anführer der tTruppe. Primula nickte. "Und wenn Sie zu spät kamen, um ihn noch ohne aufzufallen zu übernehmen?"

"Dann liegt es bei Monsieur Superior, ob wir nur das Land verlassen sollen oder wegen Versagens hingerichtet werden sollen."

"Ich gehe davon aus, dass nur die in Ihrer Organisation überleben dürfen, die eine hohe physische und psychische Ausstattung haben?" fragte Primula.

"Bitte was?!" fragte der Befragte zurück.

"Bei Ihnen dürfen wohl nur die das Ende der bisherigen Welt überleben, die stark, klug und ausdauernd genug sind und diese Eigenschaften auch weitergeben können, richtig?"

"Er hat gesagt, er sammelt Eier und Samenzellen von starken und überragend klugen oder erfinderischen Leuten ein."

"Öhm, hat Superior auch was von übernatürlich begabten Menschen gesagt, Hellsehern, Gedankenlesern, magische Kräfte wirkenden?"

"Neh, davon haben wir nie was gehört - bis heute", erwiderte der Gefangene.

"Gut, dann war es das, meine Herren!" sagte Primula. Danach schockbezauberte sie die vier.

Während Laurentine mit Primula Arno und den Gefangenen sogenannten Fürsorgedienstleistern in deren Wagen davonfuhr wandte sich Hera Matine an Catherine.

"Ich weiß, dass Joe in eurem sicheren Haus diesen Zusammenbruch erlebt hat, ja offenbar ohne dein Wissen längere Zeit ein gefährliches, in seiner Langzeitwirkung nicht absehbares Mittel eingenommen hat, hat dich sehr erschüttert, Catherine. Aber das allein erklärt nicht die körperlichen Auffälligkeiten, die ich an dir beobachten konnte, Catherine. Wo wir gerade für uns sind und wir auch so schnell keinen weiteren Besuch erhalten werden, könnte es sein, dass Joseph und du in letzter Zeit zumindest einmal intim geworden seid?"

"Hera, wenn du mich damit indirekt fragst, ob ich wieder ein Kind erwarte frage das bitte frei heraus", knurrte Catherine, die sich in die Enge gedrängt fühlte. "Ich bin mir da nicht so sicher. Meine letzte Regelblutung hätte vor zwei Wochen einsetzen müssen, und ja, ich habe auch gewisse Schwierigkeiten mit meinem Kreislauf und meiner körperlichen Ausdauer. Aber ich wollte dieses von Joe so unbedingt zu vollendende Projekt abwarten, damit er wieder die Ruhe und Aufmerksamkeit dafür hat, falls ja. Aber ich möchte auch nicht Martha die Schau stehlen, in dem ich an dem Willkommenstag ihrer Kinder damit herausrücke, dass ich auch wieder in guter Hoffnung sein soll, wenn ich nach Joes Grenzüberschreitung überhaupt noch von guter Hoffnung reden kann", sagte Catherine vorauseilend.

"Aber ich darf dich doch sicher untersuchen, ob meine Beobachtungen mit deiner Vermutung zusammenpassen", sagte Hera Matine.

"Claudine schläft tief und fest, Joe ist jetzt bei euch, und Laurentine wird wohl mit der Tochter deiner Kollegin gerade die Ablenkung inszenieren, die uns aus dem Zielbereich dieses ominösen Monsieur Superior herausbringen mag. Wer hinter dem Namen steckt ist ja völlig unklar."

"Der Übergeordnete, der überlegene, eindeutig ein aus Selbstüberschätzung erwählter Deckname, ähnlich wie Voldemort oder Vengor", knurrte Hera. Dann nahm sie ihren Zauberstab. "Aber du lenkst ab. Darf ich dich auf eine mögliche Schwangerschaft untersuchen, ja oder nein?" Catherine gestattete es Hera, die ja sonst keine Ruhe geben würde.

Nach nur einer Minute hatte Catherine es amtlich: Sie befand sich zwischen der vierten und sechsten Woche. Somit mochte sie zwischen Ende Juni und Mitte Juli niederkommen. Als Hera dann noch mit einem Vergrößerungsglas auf dem Zweiwegespiegel prüfte, ob es nur ein Kind oder mehrere waren sagte sie: "Ich kann einen sicher eingenisteten Embryo erkennen. Herzlichen Glückwunsch!"

"Danke Hera. Dann habe ich zumindest in diesem Punkt Gewissheit", seufzte Catherine. Ihr gingen sofort unzählige Gedanken durch den Kopf, allen voran, wie das sein würde, wenn Joe erfuhr, dass er zum dritten Mal Vater wurde, nachdem seit Claudines Geburt mehr als fünf Jahre vergangen waren.

"Da du als werdende Mutter die Mitteilungshoheit hast, wer wann davon erfahren darf steht es nur dir zu, wann du wem davon berichtest. Als deine bisherige Mutterschaftsbetreuerin und sicher auch wieder in dein Vertrauen zu ziehende Hebamme möchte ich dich doch darauf hinweisen, dass du ab Zeitpunkt dieser Kenntnis alles unterlassen solltest, was das Leben deines ungeborenen Kindes gefährdet. Ich habe dir das zwar schon zweimal gesagt, aber ich bin verpflichtet, es jedesmal zu erwähnen, wenn ich bei einer Hexe baldigen Nachwuchs feststellen und verkünden kann."

"Als Claudine unterwegs war habe ich mich hauptsächlich auf alte Dokumente und Übersetzungen bereits verfügbarer Schriften ausgerichtet. Aber du weißt ja auch, dass ich durch die alten Zauber, die ich von Julius oder durch seine Vermittlung erlernen durfte zusätzliche Verpflichtungen habe, genau wie du oder meine Mutter."

"Genau das ist der Grund, warum ich diesen Hinweis immer wieder neu erteilen muss, weil einige werdenden Mütter meinen, ihren Beruf noch bis zum ersten Schrei ihres Kindes ausüben zu dürfen, obwohl sie wissen, wie gefahrvoll er ist. Dir ist bekannt, dass ich es durchgesetzt habe, dass Primavera Larochelle bei Angélique Liberté aufhören musste, weil ich ihr drohen musste, dass ich ihre Zwillingsschwangerschaft öffentlich mache, wenn sie nicht freiwillig aufhört?"

"Soviel zur Mitteilungshoheit", zähneknirschte Catherine.

"Nicht frech werden, Catherine. Ich meinte und meine es immer gut mit dir. Damit bist du mit Babette und Claudine unter deinem Herzen sehr sehr gut gereist."

"Vielleicht brüte ich diesmal den von meinem Schwiegervater so heiß ersehnten kleinen Brickston aus und habe schon dessen Frechheitsanwandlungen im Blut", konterte Catherine.

"Wissen wir ganz sicher in drei bis vier Monaten", erwiderte Hera.

"Hera und Catherine, Antoinette lässt ausrichten, dass Joe nicht auf einen Schlag entgiftet werden kann, weil die natürliche Schlaf-Wach-Steuerung durch dieses Stimulanz erheblich gestört ist. Die muss erst wieder hergestellt werden. Die Pharmakomagier in der Delourdesklinik arbeiten schon an einer Widerherstellungstherapie", hörten sie aus dem Wonzimmer die Stimme eines gemalten Zauberers, der mit einer Kopie in der Delourdesklinik verbunden war. Hera und Catherine öffneten die Tür, damit ihre Antwort gehört wurde. "Sage der guten Antoinette bitte, dass Madame Brickston und ich morgen im Laufe des Tages zu Besuch kommen, auch mit Claudine, damit sie sieht, dass ihrem Vater geholfen wird!"

"Mach ich, Mädel!" rief der gemalte Zauberer.

"Nur weil der zugesehen hat, wie ich selbst geboren wurde bin und bleibe ich für den ein kleines Mädchen", schnaubte Hera. Doch dann lächelte sie wieder. "Ich gehe davon aus, ihr schafft es, dieses unrühmliche Kapitel zu einem Ende zu bringen. Sei erfreut, Catherine, du kannst Joseph mit dem Kind sicher sehr über seinen tiefen Fall hinweghelfen."

"Aber nur wenn's ein Junge wird und der kein Zauberer wird", grummelte Catherine.

"Wird sich alles finden", erwiderte Hera.

Zwanzig Minuten später kamen Primula Arno und Laurentine durch die Haustür. "Wir haben die Schlüssel verglichen", sagte Laurentine. "Die Dreckskerle haben doch echt eine rein formmäßig hundertprozentige Kopie von unserem Haustürschlüssel", sagte Laurentine. "Es tat mir zwar ein wenig in der Seele weh, aber ich habe Primula geholfen, deren Gedächtnis so zu verändern, dass die glauben, dass ein Großaufgebot der Polizei und ein Krankenwagen vor der Tür waren, weil du Joe zwanzig Minuten früher als ursprünglich gefunden und alles nötige angeregt hast."

"ich habe Laurentine gesagt, dass sie ein wenig zu voreilig ihre große Berufung in den Wind geschossen hat, sowas wie das hier in Ordnung zu bringen", sagte Primula Arno. Dann meinte sie noch: "Tja, und ich habe den Localisatus-Inanimatus-Zauber auf den kopierten Schlüssel und auf den gefälschten Krankenwagen gelegt. Ich werde gleich noch die entsprechenden Vorkehrungen treffen, damit wir auf diese Weise herausfinden, ob wir diesen pseudonymen Monsieur Superior nicht auf diese Weise finden. Ich gehe davon aus, dass Josephs Computer von meinem Kollegen Julius Latierre untersucht wird, was da so alles drin schlummert."

"An sich schon wichtig, unsere von Strom und elektronischen Verständigungsmitteln abhängige Zivilisation auf einen weltweiten Stromausfall durch einen die Leitungen überladenden Sonnensturm oder dergleichen vorzubereiten. Aber dafür jemanden zum Drogenschlucken zwingen, noch dazu einen Familienvater, das macht mich wütend", sagte Laurentine. "Vor allem wenn ich dran denke, dass mein Vater selbst auf die Schnapsidee kommen könnte, dieses Zeug zu schlucken, um ständig auf hundert Prozent zu sein und dann irgendwann zusammenklappt, ohne dass eine Medimagierin in Rufweite ist macht mir heftige Angst", gab sie zu.

"Das kann ich verstehen, Laurentine", sagte Hera Matine. "Aber du solltest nicht die Hoffnung aufgeben, dass dein Vater immer noch ein vernünftiger Mensch ist, der seine natürlichen Grenzen respektiert, wenn er schon nicht die Existenz einer übernatürlich begabten und ausgebildeten Tochter akzeptieren möchte."

"Wir haben da schon ein paar mal drüber geredet, Madame Matine. Ich möchte das heute nicht noch mal durchkauen. Ich bin nämlich jetzt echt müde. Und dass Joe meine Geburtstagsparty auf diese Weise noch versaut hat macht mich nicht fitter für morgen."

"Dann schlaf gut, Laurentine", sagte Hera Matine. "Ich bin auch gleich wieder weg."

"Kannst du morgen bitte zum Frühstück herunterkommen, Laurentine? Claudine braucht jetzt wohl jeden, der mit ihr gut auskommt und dem sie vertraut, und ich möchte auch nicht den ganzen Morgen mit ihr alleine sein", sagte Catherine. Laurentine schwieg erst. Dann antwortete sie, dass sie diese Bitte erfüllen würde. Zehn Minuten später verließ Hera Matine das Haus der Brickstons.

Eine wirklich unangenehme Pflicht musste Catherine noch am Abend erfüllen. Sie schrieb zwei Briefe, einen an ihre Mutter Blanche Faucon in ihrer Funktion als Schulleiterin von Beauxbatons, mit Babette behutsam zu klären, wie sie mit der Erkrankung ihres Vaters umgehen konnte. Den zweiten schrieb sie an Babette selbst und berichtete ihr von Laurentines Geburtstagsfeier und wie sie danach ihren Vater gefunden und in Madame Eauvives Krankenhaus gebracht hatten. Sie bat ihre Tochter, genauso zu hoffen, dass ihr Vater bald wieder gesund war und sich nicht darüber aufzuregen. Sie erwähnte auch, dass sie ihr erst gar nicht davon schreiben wollte, aber dann eingesehen habe, dass Babette alt genug sei und zudem auch berechtigt sei, von ihr und so früh es ging alles zu erfahren und dass sie ihr auch weiterhin alles schreiben würde, was mit Joes Erkrankung zu tun hatte. Erst dann konnte sie sich zum schlafen hinlegen.

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Otschungu genoss eine Weile das Dahineilen des Flusses. Doch dann erkannte er, dass er nun, wo er die Schnitzerei unter einem großen Geröllhaufen gleich am Ufer vergraben hatte, wieder von hier weg musste. Denn die Schnitzerei versuchte wieder, seinen Geist aus dem gerade benutzten Körper herauszusaugen. Er musste weit genug weg. Aber wohin zuerst? Ihm fiel ein, dass einer dieser Trommler entkommen war. Der warnte sicher die anderen. Auch konnte er sich vorstellen, dass der mit Feuer verwachsene Geist des zweiten Trommlers irgendwen warrnte. Er musste also sehr schnell sein, wollte er seine Rache bekommen. Wo hatte dieser Geisterlenker gewohnt? Ja, da musste er zuerst hin.

Die Flügel starker Wünsche trugen ihn in einem Augenblick in ein von Wald umgebenes Lehmhüttendorf. Hier sollten Geisterlenkers Frau Ruhesängerin und seine zwei Söhne, die nur Mondaufgang und Wolkengrüßer hießen, weil sie noch nicht ausgewachsen waren, wohnen. Doch er fühlte und hörte niemanden in diesem Dorf. Ihm wurde klar, dass er für das Vergraben der Schnitzerei doch länger gebraucht hatte, weil er in einem lebenden Körper nicht so unbeschränkt seine unsichtbaren Gedankenhände mit den tödlichen Krallen daran benutzen konnte, die das zehnfache an Menschenkraft entfesseln konnten. Jetzt sah es so aus, als wenn der Zwang, lange genug in einem lebenden Körper zu bleiben, um nicht von dieser Schlange aufgesaugt und einverleibt zu werden, die Rache Otschungus vereitelt hatte. Nicht mal Nutzvieh war zu erfühlen. Wie konnten die so schnell alles in Sicherheit gebracht haben? Dann fiel es ihm wieder ein, was Geisterlenker schon zweimal erlebt hatte: Andere Zauberkundige, die die Trommler nicht mehr haben wollten, hatten die Heimatdörfer der großen Zauberer angegriffen. Sie hatten sich nur mit großer Mühe gegen die sie bestürmenden Zauber wehren und die von den Feinden geschickten Krieger zurücktreiben oder töten können. Weil dabei jedoch zehn Frauen und Kinder gestorben waren hatten diese Trommler einen Rettungszauber gewirkt, der dann, wenn sich genug Leute bedroht fühlten oder große Angst zu sterben hatten alle Lebewesen mit einem Schlag an einen Ort trug, der Festung des ewigen Friedens hieß. Also waren sie alle dort gelandet.

Otschungu wagte es, den von ihm gerade benutzten Körper zu verlassen. Da sonst keine Seele mehr darin wohnte würde der jedoch nur noch wenig Zeit überleben. Doch nur so konnte er alle seine Sinne und Kräfte entfalten.

Mit seinen unsichtbaren Geisterhänden öffnete er die Verschlusslederstücke vor den Häusern, durchdrang Wände und glitt in den Brunnenschacht in der Dorfmitte hinein. Dabei fühlte er die ihn abweisende Kraft, aber auch den schwachen Nachhall eines sehr starken Zaubers, der aus Erde, Feuer und Wind genährt worden war. Also hatten sich diese Fleischlinge wirklich vor ihm geflüchtet. Doch das würde denen nichts nützen. Er würde diese Festung des ewigen Friedens erstürmen und alle töten, die darin versteckt waren.

Mit gewisser Not und fühlbaren Schmerzen schaffte er es, in den von ihm erbeuteten Wirtskörper zurückzukehren. Er fühlte schon, dass dieser ihm bald verwelken würde. Doch noch brauchte er ihn, um in diese Festung einzudringen. Denn nach der Erinnerung Geisterlenkers wehrte sie vor allem feindliche Zauber und körperlose Feinde ab.

Er stellte sich den mittleren Hof dieser Festung vor. Dort wollte er hin. Dann spielte er erneut das Lied von den Flügeln starker Wünsche. Sie gehorchten ihm erneut. Doch er fühlte, wie dieser Zauber ihm wieder etwas Kraft entriss.

Als Otschungu im Körper Geisterlenkers auf dem Inneren Hof ankam und in der Mitte von sechs brennenden Feuern stand meinte er schon, gleich alle und jeden hier mit dem Lockruf des Todes töten zu können. Da geschah es.

Von allen Seiten schlugen unsichtbare Hände nach ihm. Er hörte wütendes Gebrüll von mehr als fünfzig Kriegern, die alle zugleich auf ihn zusprangen. Er fühlte, wie er in die Luft gerissen und herumgewirbelt wurde. Er hielt krampfhaft die Trommel Geisterlenkers fest, während er sah, wie die sechs Feuer silberblau aufleuchteten, bis auf eines, das unvermittelt zu einer weißblau gleißenden Flammensäule wurde. Otschungu fühlte, wie die unsichtbaren Angreifer ihm Arme und Beine auseinanderzogen. Die wollten ihn in der Luft zerreißen.

"Otschungu, du bist hier nicht willkommen. Vergehe in allen Winden!" hörte er aus dem weißblauen Feuer herausrufen. Das war doch wieder dieser Feuerrufer. Hatte der es geschafft, hierher zu flüchten.

"Ich kann und werde nicht vergehen!" rief Otschungu aus. Da drang etwas in seinen Mund ein, wollte sich in seinen Hals hineintasten. "Vergehe! Vergehe!" hörte er die über fünfzig Krieger zu irgendwie umgekehrt widerhallenden Trommeln singen. Doch er wollte nicht vergehen. Er kämpfte. Er stemmte sich mit unbändiger Kraft gegen die Gewalt, die ihm Arme, Beine und Kopf vom Körper reißen wollte. Doch er merkte, dass er unterliegen würde. So blieb ihm nur noch ein Mittel: Er erweckte die Kraft der Flügel starker Wünsche, die bei Todesangst auch ohne vorangehendes Trommeln freiwurde, wenn sie vor weniger Zeit schon einmal gerufen worden war. Otschungu meinte noch, gleich zu ersticken, als die alles zusammenquetschende Enge und Dunkelheit ihn verschlang und alle an ihm zerrenden Geisterhände von ihm wegriss. Er gab sich dieser sonst so unangenehmen Enge hin, die jedoch nur einen Augenblick lang vorhielt.

Als er wieder eine Welt um sich herum erkannte war er wieder in Geisterlenkers Heimatdorf. Doch hier durfte er nicht bleiben. Denn er fühlte, wie etwas durch den Gang zwischen den Orten hinter ihm hertastete. Fand es ihn, konnte er wohl wieder angegriffen werden. Er versetzte sich deshalb sofort an einen Ort, wo einer der drei von ihm ausgeforschten Zauberkundigen auf seiner Reise gerne gewesen war. Als er nach einiger Zeit erkannte, dass niemand ihn hierher verfolgte atmete er auf. Er hatte die Feinde abgeschüttelt. Doch eines wusste er jetzt: Wenn er sie besiegen wollte, musste er die Wächtergeister ihrer Festung überwinden. Sie waren wie die Wächter im Tor der tausend Wehklagen. Ja, und das hatte eine einzige Menschenfrau mit Zauberkräften zerschlagen und die Wächter verjagen oder über die Silberbrücke treiben können. Das war ein Grund mehr, diese Frau zu finden und ihr Wissen in sich aufzusaugen. Doch er durfte sich ihr nicht als Otschungu, der unsichtbare Rächer offenbaren. Er musste sie täuschen und dann, wenn sie hilflos war, in ihren Leib eindringen und von innen her ausforschen. Denn sonst konnte die ihn genauso niederwerfen und auslöschen wie die Wächter des Tores der tausend Wehklagen. Dann fiel ihm was ein. Hatte das Herz des Feuervaters ihm nicht gezeigt, dass diese Frau zwei Kinder ausgebrütet hatte? Wenn er eines davon finden und in Besitz nehmen konnte durfte sie ihm nichts tun, ja musste seine Anweisungen befolgen, wollte sie das Leben ihres Balgs retten. Ja, so ging es sicher, dachte Otschungu. Doch erst einmal wollte er ein paar Tage vergehen lassen. Dann wollte er in den Norden des Erdteils reisen und da nach einem anderen Zauberkräftigen suchen, der aus dem Land der Weißen kam. Wenn der wusste, wen er suchte, dann hatte er schon gewonnen.

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"Wie, die hat die Polizei schon gerufen? Und ihr konntet die nicht mit dem Tachyhypnolgas überwältigen und den Burschen abtransportieren?" fragte ein hagerer Mann, der in einem kleinen, runden Raum fast wie der Kommandostand eines Raumschiffes saß.

"Als wir in der Nähe waren haben wir schon die rotierenden Blaulichter gesehen. Die waren gerade dabei, den Typen in einen Krankenwagen zu verladen. Außerdem haben die wohl den neuesten Digitalfunk mit Verschlüsselung und Zufallsfrequenzwechsel. Wir bekamen kein Signal von denen rein", erwiderte ein ziemlich verunsichert klingender Sprecher durch den Telefonlautsprecher.

"Deville kriegt Ärger", knurrte der Mann im runden Raum. "Okay, auf Tauchstation mit euch. Soll Deville und seine Managerbande eben dafür über die Klinge springen!"

"Öhm, danke, Monsieur S.", sagte der am Telefon.

"Gut, dann muss die Firma innova France eben auf ihre Topmanager verzichten", knurrte der, der sich von seinen direkten Untergebenen Mister, Monsieur, , Señor, Signore oder Herr Superior ansprechen ließ. Er hoffte, dass die Arbeit von fünf Jahren nicht für nichts und wieder nichts war. Er rief eine Satellitentelefonnummer an, wartete, bis sich die Firma "Kommendes Morgenrot Überlebenshilfen und Wiederaufbauhilfe" in New York meldete. "Der französische Partner fällt aus. Reaktivieren Sie unsere Gruppe in Chicago!" sagte Superior in lupenreinem New Yorker Englisch.

"Die waren doch fast durch, die ionisattionskompensatoren und die internen EMP-Sicherungen für die Chips und die Störungsabwehrsoftware", sagte der angerufene.

"Ich habe eine Kopie von allen Hard- und Softwareentwicklungen und Programmen. Aber unser Durchhalteprogramm ist wohl kurz vor dem Absturz in Frankreich. Muss schnell umdisponieren, um im Plan zu bleiben, Jack."

"Okay, wenn ich die Unterlagen kriege kein Prob, Boss", sagte der Angerufene.

"Geht gleich noch als zwanzigteiliges Topfset über die Förderbänder, Jack. Ich seh mir nur gerade den letzten Stand an. Dann kriegst du alles."

"Yup, kein Ding", bestätigte der Angerufene. "Öhm, und die Sachen sind alle auf Englisch?"

"War eine Vertragsbedingung, alle Doks und Progs auf Englisch zu erstellen", sagte Superior. Jack bestätigte und verabschiedete sich.

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12. November 2018

Claudine hatte sich am Morgen von ihrer Maman und Laurentine erzählen lassen, was mit ihrem Papa passiert war und dass der jetzt erst mal von den Tanten und Onkeln in der Delourdesklinik behandelt werden musste.

Nachdem Laurentine nach Millemerveilles geflohpulvert war reisten Catherine und ihre Tochter in das Foyer der Delourdesklinik. Dort trafen sie auf eine junge Heilerin, die im Moment die Pförtnerloge betreute. Claudine sah einen Zauberer mit grünen Haaren, zwischen denen violette Blütenkelche herauslugten, eine Hexe mit vier Armen, von denen die unteren eher in Hummerscheren endeten und einen Zauberer, der einen Elefantenkopf mit Rüssel und Stoßzähnen auf dem Hals trug. Claudine sah die magisch verunstalteten Hexen und Zauberer an. Ihre Augen wurden immer größer. Dann machte sie ein bedauerndes Gesicht. Lustig sah das nicht aus, und die Leute hier sahen auch ganz traurig oder ängstlich aus.

"Hallo, Madame Brickston. Hallo Mademoiselle Claudine. Großheilerin Eauvive wartet schon auf euch", sagte die junge Heilerin. Ihr Gesicht verriet, dass die Unterredung womöglich unangenehm werden mochte.

"Ich möchte Papa einen guten Morgen wünschen", sagte Claudine.

"Ja, das kannst du machen", sagte die junge Heilerin und klingelte nach einem Kollegen, der mit Catherine und Claudine einen der nächsten Aufzüge nahm, um in die Troispontier-Station für nichtmagische Angehörige magischer Familien zu kommen.

Catherine hatte sich innerlich auf diese Begegnung vorbereitet. Doch als sie ihren kreidebleichen Mann in einer art übergroßem Strampelanzug aus weißem Stoff in einem Bett eines gerade nur von ihm bewohnten Zweibettzimmers sah musste sie doch erst mal schlucken. Claudine stierte ihren kranken Vater auch erst sehr verstört an. Dann warf sie sich ihm in die Arme. Seine Beine waren irgendwie mit dem Betttuch verbunden und somit gefesselt.

"Hallo Claudine. hat sie dich mitgebracht, weil sie denkt, ich würde dann nicht mit ihr schimpfen?" knurrte Joe. Dann knuddelte er Claudine kurz, um sie dann entschlossen von sich wegzudrücken. Claudine erkannte sofort, dass es ihrem Papa nicht wirklich gut ging. Sie lief zu ihrer Maman und klammerte sich an ihre Beine.

"Du mit mir schimpfen? Sei froh, dass ich unsere kleine mitgebracht habe, damit ich nicht drauf komme, mit dir zu schimpfen, Joseph Brickston", zischte Catherine. Du hast uns allen einen ganz gemeinen Schrecken eingejagt und das auch aus einem ganz unnötigen Grund. Aber ich habe Claudine mitgebracht, damit sie sieht, dass du nicht totgegangen bist. Also, wie geht es dir?"

"Wie es einem erwachsenen Mann geht, der wie ein Baby gewickelt wurde und nicht laufen kann, weil er an diesem Bett angeklebt wurde, verdammt. Außerdem erzählen die mir andauernd, heute sei der zwölfte November. Kann nicht sein. Gerade eben war ich noch bei Monsieur Deville, um mit dem die Fortschritte des Projektes zu klären, und peng liege ich auf diesem Bett in einer Riesenwindel und muss hoffen, dass nicht noch 'ne Riesenamme ankommt und ... Na ja, du weißt schon. Aber bei Deville war noch der fünfte November. Gib's zu, dass du mit deiner Mutter was gedreht hast, damit ihr mich auf Eis legen könnt! Welchen Tag haben wir heute?"

"Es ist der zwölfte", grummelte Catherine.

"Glaube ich erst, wenn ich draußen bin und öffentliche Uhren und Datumsanzeigen lesen kann. Ihr wollt mich hier auf Eis legen, lebendig begraben, was?!" brüllte Joe. Claudine starrte ihn erst genauso leichenblass an wie ihr Vater gerade aussah. Dann fing sie an zu weinen. "Gib das flennen dran, Claudine!" polterte er.

"Du bist böse, Papa. Du bist ..."

"Ruhig, Claudine, dein Papa ist nicht böse. Er hat nur sehr sehr viel Angst, weil ihm was passiert ist, was er nicht haben wollte", sagte Catherine laut genug, um das Weinen ihrer Tochter zu übertönen. Dann wandte sie sich an ihren Mann: "Wir haben deine sogenante Kreativschokolade gefunden. Sei froh, dass die Heiler hier rausfinden können, wie sie dich davon runterholen können und du dann wieder hier rausgehen darfst und nicht in einer psychiatrischen Klinik als Dauerpatient eingesperrt wirst. Am besten gehe ich mit Claudine. Du hast sie jetzt zum zweiten mal in kurzer Zeit erschreckt. Ein drittes mal lasse ich dir nicht durchgehen. Komm, Claudine, der Papa braucht guten Schlaf, um wieder ganz gesund zu werden."

"Das hättest du gerne, wie? Mich nur noch schlafen lassen. Wolltet ihr damals ja schon, als wir unbedingt in Millemerveilles vor diesem Didier untertauchen mussten. Aber die werden mich vermissen. Die werden mich suchen, meine Eltern, meine Kollegen. Ihr könnt einen nicht so einfach verschwinden lassen", brüllte Joe. Claudine weinte nun bitterlich. Catherine hob ihre Tochter hoch und drückte sie an sich. Noch konnte sie das tun, ohne Angst um wen noch kleineren haben zu müssen. Doch davon wollte sie Joe hier und jetzt garantiert nichts sagen. So verabschiedete sie sich von ihrem offenbar unter den Auswirkungen der von ihm geschluckten Überdosis leidenden Mann und verließ mit Claudine das Zimmer.

"Es tut mir für Claudine leid, dass sie ihren Vater in dieser Verfassung mitbekommen musste, Catherine. Aber wenn ich dir vorher gesagt hätte, wie die Entgiftung auf ihn wirkt hättest du es erst nicht geglaubt", sagte Antoinette Eauvive, die Leiterin der Delourdesklinik und auf eigenen Wunsch behandelnde Heilerin von Joe Brickston.

"Der ist regelrecht paranoid", wimmerte Catherine, während Claudine ganz still und teilnahmslos da saß.

"Das liegt daran, dass wir erst bei der behutsamen Entgiftung gemerkt haben, dass sein Gedächtnis unter der dauerhaften Einnahme dieses Wirkstoffes leidet. Im Klartext: Alles, was er unter Einfluss dieser sogenannten Kreativschokolade erlebt und erinnert hat könnte verlorengehen, wenn das Gift ganz aus seinem Körper heraus ist. Deshalb haben wir ihn gerade soweit entgiftet, dass er zwischendurch bei Bewusstsein ist", sagte Antoinette. "Das Antidot 999 hätte zwar die unmittelbaren Schäden der Vergiftung beseitigt, aber dann wohl zu einer Störung der Schlaf-Wach-Zustände und zu einer Gedächtnislücke ausgehend vom Beginn der Einnahme dieses Mittels."

"Ich hätte nicht geglaubt, dass es eine magielose Mixtur gibt, die mit magischen Mitteln nicht zu bekämpfen ist", grummelte Catherine.

"Ich auch nicht, Catherine. Aber was ich gestern und auf Anfrage über die gemalte Viviane von Julius erfahren habe macht mir auch Angst, dass immer ausgeklügeltere Rauschmittel künstlich erzeugt werden, deren Langzeitfolgen nach längerer Einnahme mit magischen Mitteln schwer oder gar nicht behandelt werden könnten. Zumindest besteht die Hoffnung, dass wir deinen Mann wieder heilen können und er nicht als körperliches und geistiges Wrack endet wie wohl viele, die meinen, solche Gifte schlucken oder in ihr Blut spritzen zu müssen."

Catherine nickte. Dann fragte sie, ob sie hier noch was tun konnte, weil sie jetzt wohl daran denken musste, Claudine wieder aufzurichten.

"Geh davon aus, dass Joe bis zum ersten Dezember hier bei uns bleibt. Wenn er Glück hat, und wir den Prozess umkehren können, der sein Gehirn verändert hat, habt ihr den zu Weihnachten wieder bei euch. Aber sieh zu, dass ihr diese Banditen von ihm fernhaltet, die ihm dieses Unheilszeug zugespielt haben!"

"Davon darfst du ausgehen, Antoinette", sagte Catherine. Dann bat sie Claudine, sich bei Tante Antoinette zu verabschieden. So kam Claudine aus ihrer Teilnahmslosigkeit heraus. Antoinette versprach, dass Claudine ihren Papa bald wieder haben und der dann auch nicht mehr so böse mit ihr reden würde. Claudine ließ sich umarmen. Dann wollte sie wieder nach Hause.

Um Claudine auf fröhlichere Gedanken zu bringen brachte ihre Maman sie per Flohpulver ins Sonnenblumenschloss der Latierres. Dort musste sie jedoch eines der vielen Badezimmer aufsuchen und ihr Frühstück in die edle Keramikschüssel ausspeien. Als sie ihr Spiegelbild ansah erschrak sie fast. Hohlwangig, bleich und mit dünnen Lippen stierte sie ihr eigenes Gesicht an. Catherine erkannte, dass das Drama um Joe ihr doch mehr zusetzte, als alle Kämpfe gegen die dunklen Mächte zusammen. Gut, sie wusste jetzt auch warum. Sie hoffte nur, dass der oder die kleine Brickston auch die nötige Zeit haben würde, um mit dem Leben anfangen zu können.

Mit ein wenig Schminke übermalte sie ihre Blässe und verpasste sich auch rötere Lippen. Ursuline und schon gar nicht Béatrice sollten merken, dass ihr gerade speiübel geworden war.

Mit Béatrice unterhielt sie sich über Joes Zustand. Béatrice scherzte, dass Joe es auf diese Weise geschafft hatte, eine Entschuldigung für die Abwesenheit bei Martha Merryweathers Kinderwillkommensfeier zu haben."

"Komm, hör auf, Trice. Ich will mir nicht vorstellen, dass ich mit Laurentine und Claudine am fünfzehnten hingeflogen wäre und erst am sechzehnten unserer Zeit wiedergekommen wäre, fast vierundzwanzig Stunden. Der wäre dann echt gestorben."

"ja, so ist der jetzt unter Antoinettes Fittichen und wird zusehen, schnell wieder gesund zu werden", sagte Béatrice.

"Mich macht es wütend, dass Claudine das Elend mitbekommen und ausbaden muss. Eigentlich wollte ich sie vor sowas doch beschützen."

"Niemand macht dir einen Vorwurf, Catherine. Also mach du dir bitte auch keinen!" erwiderte Béatrice, ganz eine Heilerin. Dann wechselten sie das Thema und sprachen über die Geschenke für die drei kleinen Merryweathers.

So verging der Tag. Am Abend bekam Catherine einen offiziellen Bericht aus dem Ministerium, dass Julius Latierre und Belle Grandchapeau Joes Computer untersucht hatten. Hierfür hatten sie die Festplatte ausgebaut und sie sozusagen als externes Laufwerk gestartet, nachdem das Betriebssystem schon gestartet war. Mit einer sogenannten Sandkiste, einem Gerät, das Vorgänge im Internet simulierte, war den Programmen auf der Platte vorgegaukelt worden, sie könnten ins Internet und dort tun, was ihnen eingeprägt war. Dabei war herausgekommen, dass Joes Rechner nicht nur dauernd überwacht wurde, sondern auch, dass die nicht firmenbezogenen Daten jederzeit von außerhalb hätten abgefragt werden können oder es bereits wurden. Catherine war nur froh, dass Joe keine Tagebucheinträge oder andere Berichte darüber gespeichert hatte, dass seine Frau und seine Töchter echte Hexen waren. Zumindest hatte Julius herausgefunden, wem die Internetprotokolladresse gehörte, die sowohl auf den Bonbonpapieren gestanden hatte, als auch von einigen der Überwachungs- und Weitermeldeprogramme benutzt wurde. Es handelte sich um einen sogenannten Proxy-Server, eine Art Stellvertreter oder wie Julius es nannte "Strohmann-Server", der die wahre Identität seiner Benutzer verbarg. Das dann aber nicht gründlich genug, so Julius in seinem Bericht. Denn über ein Nachspürprogramm seiner Mutter war es gelungen, durch den Stellvertreterserver auf den Ursprungsrechner zu gelangen. Der stand in der australischen Wüste, südlich von Alice Springs. Ob da auch jener dubiose Primus Superior zu finden war wollte Julius nicht beschwören. Zumindest aber könne dieser Rechner jetzt heimlich ausgekundschaftet werden, weil dessen Medienzugriffsadresse ermittelt werden konnte und seine zehn Ausweichrouter ermittelt worden waren.

"Wer immer Joe dieses Sauzeug verpasst hat wird sich wünschen, ihn besser nicht angequatscht zu haben", hatte Julius auf einen Zettel dem offiziellen Bericht beigefügt. Catherine hoffte das auch.

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13. November 2002

Südafrikas Zaubereiminister Will de Groot hatte die Berichte der letzten vermuteten Angriffe des berüchtigten Dämons Otschungu auf dem Tisch. In den letzten Monaten waren drei Zauberer in Südafrika und Kenia gestorben, zwei aus Liechtenstein und einer aus Portugal. Nur weil es in den Polizeibehörden Kontaktleute zu den Zaubereiministerien gab hatte verhindert werden können, dass die drei von Muggelmedizinern untersucht wurden. Die hätten dann wahrscheinlich auch den Schock ihres Lebens bekommen, dachte de Groot. Denn die Leichen waren innerlich vollständig zerfetzt. Kein Organ war in weniger als hundert Einzelstücken vorhandengeblieben. Doch äußerlich hatten sie keine Verletzungen hingenommen. De Groots Thanatologe Elia Mwenga hatte schwache Rückstände dunkler Magie festgestellt. "Insofern besser, dass es nicht ein hämoralgisches Fieber war, das die drei zu Tode gebracht hat", hatte Mwenga noch kommentiert. Zumindest konnte so geklärt werden, dass hier wirklich eine schwarzmagische Kraft in die drei Männer eingedrungen war und sie von innen zerfleischt hatte. Dafür kam nur der unsichtbare Henker in Frage, der auch als letzter Besucher gefürchtet wurde. Die Frage war, ob er vollkommen eigenständig wütete oder mal wieder zum körperlosen Erfüllungsgehilfen für skrupellose Zauberer gemacht worden war.

Die Uhr auf de Groots Schreibtisch schlug zehn Uhr, als sein Sekretär Hank van Buren über die magische Durchrufverbindung eine Besucherin meldete. "Eine Besucherin? Wer ist sie und was ist ihr Anliegen, Hank?"

"Es ist eine Frau von einem Stamm, der nicht im Ethnienverzeichnis südafrikanischer Bürger aufgeführt ist. Sie nennt sich Narlele Akutuanga. Sie spricht Zuludialekt. Ihr Anliegen ist, dass sie uns vor dem unsichtbaren Rächer warnen will", klang van Burens Stimme wie aus dem Nichts heraus.

"Der unsichtbare Rächer? Sind alle Sicherheitszauber in Kraft? Wenn ja, dann schicken Sie die Lady zu mir, Hank!"

"Yep, geht klar, Boss!" gab van Buren einen seiner berühmten lockeren Sprüche zum besten.

Eine halbe Minute später trat eine reinrassig afrikanische Frau ein. Sie trug einen sehr knappen Lendenschurz aus Leder, der ja nicht verrutschen durfte, dachte de Groot. Ihr Oberkörper war ein aus geflochtenem schwarzen Haar zusammengehaltenes Stück Leopardenfell, das gerade so noch ihre weiblichen Formen bedeckte. Arme und Beine waren frei. Sie war barfuß. Abgesehen von dieser scheinbar primitiven Aufmachung wirkte sie sehr jung. Doch irgendwie verrieten die Augen und die Bewegungen der Fremden, dass sie kein blutjunges Mädchen mehr war.

De groot bot der Frau einen Platz an und war darauf gefasst, dass ihr Lendenschurz vielleicht doch verrutschte. Um ihr und sich eine peinliche Lage zu ersparen beschwor er ein sonnengelbes, flauschiges Badetuch herauf und bot es der anderen an, damit Unterkörper und Beine zu bedecken. Die andere grinste jetzt doch eher mädchenhaft und sagte dann im bereits angekündigten Zuludialekt:

"Fürchtest du den Anblick des bloßen Schoßes einer Frau, Häuptling der Zauberstockschwinger? So will ich dein Angebot annehmen. Doch ich will auch nicht lange bleiben."

"Mein Berater und Besucherbegrüßer hat gesagt, du möchtest mir was von einem unsichtbaren Rächer erzählen. Ich habe diesen Namen schon gehört und bin deshalb sehr in Sorge, dass es keine schöne Geschichte ist. Also erzähle bitte", sagte der Minister.

Die nächsten vierzig Minuten erzählte die Besucherin davon, dass ihr Gefährte und Vater ihrer drei Töchter zu drei mit Trommeln und Gesang zaubernden gehörte, die ein großes Geheimnis hüten sollten. Welches das war durfte sie keinem erzählen, der nicht an die acht Ureltern und ihre Lieder glaubte. Warum sie aber die Verborgenheit ihres Volkes verlassen hatte um ausgerechnet mit Zauberstockschwingern zu sprechen lag daran, dass ihr Anvertrauter und seine zwei Gleichgesinnten den unsichtbaren Rächer aus langem Schlaf geweckt hatten, um ihn eine weiße Zauberstockschwingerin suchen zu lassen, die eben dieses Geheimnis an sich reißen wollte. Doch der Rächer war zu lange frei und ungebändigt umhergezogen. So war er trotz der vorsorglichen Einschließung in einen jungen, zauberkraftlosen Krieger stark genug geworden, die drei ihn rufenden und lenkenden zu besiegen. Ihr Angetrauter, der Meister der Kriegsgesänge, konnte noch entkommen und sie alle warnen. Sie war aber ohne Auftrag losgezogen, weil ihre Schwester und sie das Unheil aufhalten mussten, dass der nun völlig frei umherjagende Rächer anrichten würde.

"Und du hast keine Angst vor Bestrafung von deinem Mann, öhm, Anvertrauten?" wollte de Groot wissen. Dass eine Flotte-Schreibefeder in einer verborgenen Ecke alles mitschrieb bekam die Besucherin hoffentlich nicht mit.

"Er wird mich nicht strafen. Denn sein Leben gehört mir. Nimmt er mir meines, verliert er seines. Das weiß er. Nur weil ich den Zorn des Rächers von ihm gelöst und zusammen mit meiner Schwester in alle Winde vertrieben habe lebt er überhaupt noch. Er darf niemanden töten, der ihm das Leben gerettet hat. Auch darf er keine Frau schlagen, die ihm das Leben gerettet hat. Denn dadurch, dass nur meine Schwester und ich ihn gerettet haben wurden wir wie seine Mutter, die schon vor zehn Sonnen über die silberne Himmelsbrücke zu den fernen Lagerfeuern hinaufgestiegen ist."

"Aber verstoßen kann er euch wohl", warf der Minister ein, dem man nicht anhörte, dass er kein Zulu war.

"Ich habe es gesagt, dass meine Schwester und ich jetzt seine Mütter sind, weil wir ihm neues Leben gaben. Das ist unsere Bestimmung von den acht Ureltern. Er wird außerdem verstehen, dass sein Unglück von euch hervorgerufen wurde und ihr es von ihm und uns allen nehmen müsst."

"So, wir müssen", erwiderte der Minister mit einem leicht verdrossenen Gesicht. "Wenn ihr wirklich Otschungu ..." sie schrak heftig zusammen und hielt sich die Hand vor den Mund, während ihre Beine schnelle Bewegungen machten, als wollten sie im sitzen irgendwelche Tanzschritte ausführen. Der Minister musste jetzt doch überlegen lächeln. Hatte er die so selbstsicher auftretende Fremde doch aus der Fassung bringen können. Natürlich wusste er, dass die Eingeborenen, die diesen Otschungu kannten, ihn genausowenig beim Namen zu nennen wagten wie die Europäer, die immer noch Probleme mit dem Kriegsnamen Lord Voldemort hatten. "Also wir sollen diesen unsichtbaren Rächer, diesen Mordgeist, für euch einfangen, weil er sich von euch losgerissen hat?" fragte er nun ernst dreinschauend. "Ich kenne weder dein Volk noch den Glauben, nach dem es lebt. Aber was auch immer euch dazu getrieben hat, den unsichtbaren Henker zu wecken und jemandem hinterherzujagen, rechtfertigt nicht, diesen Unheilsbringer auf andere Menschen zu hetzen. Weil dieser Rächer schon seit Monden unterwegs ist sind drei Menschen gestorben, die eindeutig keine zauberkundigen Frauen aus dem Land meiner Vorfahren waren. Überhaupt ist es sehr verwegen, zu mir zu kommenund zu erzählen, dass dein Volk dieses unsichtbare Ungeheuer ausgeschickt hat. Gut, du hast nur von drei Männern gesprochen, also nicht euer ganzes Volk. Das muss jetzt nur genau wie wir Angst haben, dass der Dämon, öhm, der böse Geist, euch genauso umbringen will wie jeden, der ihm auf seiner Jagd in die Quere kommt. Aber sei beruhigt, dass wir diesen bösen Geist schon jagen, weil wir eben nicht von ihm umgebracht und mit Leib und Seele gefressen werden wollen. Aber um ihn jagen und einfangen oder ganz aus der Welt stoßen zu können muss ich mehr über dieses große Geheimnis wissen. Denn sicher ist, dass er das auch gerne für sich ausnutzen möchte. Und wenn da eine Frau aus der Heimat meiner Vorväter ist, die das auch kennt, dann kennen es auch andere von ihr. Also nützt es nichts mehr, dass ihr es für euch behaltet."

"Ich weiß, du bist der Häuptling der Zauberstockschwinger. Aber selbst du wirst mich nicht dazu bringen, unsere größten Geheimnisse zu verraten. Ich wollte dir nur sagen, dass der Rächer freigekommen ist und ihr nach einem Gegenstand suchen sollt, der wie eine weiße Schlange mit Augen aus gefrorenem Feuer aussieht. Das ist seine Verbindung mit der Welt. Mehr darf und werde ich dir nicht sagen."

"Sehr erheiternd", erwiderte der Minister. Doch dann wurde er ganz ernst: "Und der Rächer hat diese Schlange gestohlen? Dann hat er sie immer bei sich, oder?"

"Nein, das kann er nicht. Denn der darin wirkende Zauber will den Geist des Rächers in sich hineinziehen. Die Alten, die dieses Ding gemachtund den Rächer aus mehreren einzelnen Seelen zusammengesprochen haben wollten eigentlich, dass er diese Macht nicht erbeuten und anderen entziehen kann. Er sollte nur dienen, nicht herrschen."

"Böse Geister sind wie wilde Tiere. Sie trachten nach Freiheit und Überleben. Das lernen auch die Angehörigen meines Stammes von ihren Lehrmeistern", seufzte de Groot. Doch dann kam ihm eine Idee:

"Also ging es auch um einen Gegenstand, der einen starken Geist verbirgt und ihr habt damals geschworen, diesen Gegenstand nicht in andere Hände fallen zu lassen, also war es das Zeichen des Sonnengottes, nicht wahr? Dein Volk hat es gefunden und erkannt, wie mächtig es ist?"

"Sei froh, dass wir Schwestern der Wassermutter zur Heilung und Bewahrung des Lebens bestimmt sind. Einer der Trommler des Krieges und des Todes hätte dir für diese Dreistigkeit den Lockruf des Todes übersandt. Ich habe alles gesagt, was zu sagen war. So gehe ich jetzt."

"Aber du hast mir doch noch längst nicht alles gesagt", erwiderte der Minister. "Die Tür da bleibt solange zu, bis ich einen Besucher oder eine Besucherin verabschiede. Ach ja, und wenn du doch meinst, mich mit Zauberei oder Körpergewalt zu zwingen, die Tür aufzumachen werde ich in Sicherheit gebracht und du in ein Gefängnis gesperrt, nachdem du meinen Helfern alles verraten hast, was wir wissen wollen."

"Du kannst mich nicht gefangennehmen", zischte die Besucherin.

"Wollen wir wetten?" fragte de Groot, jetzt nicht mehr ruhig und gastfreundlich. Da zerfloss die Besucherin ohne Wort oder Geste zu einer weißen Nebelwolke. Im nächsten Moment drang wie aus weiter Ferne ein gequälter Aufschrei an de Groots Ohren.

"Oh, hätte ich auch erwähnen sollen, dass das Badetuch einen Rückhaltezauber hat, der auf die Person wirkt, die es länger als eine Minute am Körper trägt. Glaubst du, dass wir so einfältig und unwissend sind?"

"Willst du meinen Zorn, Will de Groot? So fürchte ihn!" Mit diesen Worten ballte sich die weiße Nebelwolke um das gelbe Badetuch zusammen. Dann erfolgte ein lautes Ratschen. Blaue Funken stoben. Das Badetuch ging in hundert Fetzen. Dann dehnte sich der Nebel schlagartig aus. De Groot argwöhnte einen direkten Angriff. Dadurch löste er unbewusst den Rettungszauber aus. Mit seinem Stuhl wurde er augenblicklich aus dem Büro in einen fensterlosen Raum versetzt, an dessen Wänden magische Zeichen blau aufzuleuchten begannen. De Groot sah sich um. Die zu Nebel gewordene Magierin war nicht mitgerissen worden. Die mochte jetzt noch im Büro sein. "Von de Groot an Sicherheitseingreiftrupp. Wurde von fremder Hexe mit Befähigung zur Verwandlung in Nebelform angegriffen. Undurchlässigkeitszauber prüfen und Rückverfestigungszauber auf jede weiße Nebelwolke, die an einem Fenster oder einer Tür festklebt!" befahl er.

Fünf Minuten später erloschen die blauen Zauberzeichen. Gleichzeitig wurde de Groot wieder in sein Büro zurückversetzt. Vor ihm standen zwei dunkel- und zwei hellhäutige Angehörige der Sicherheitseingreiftruppe.

"Die ist weg, Herr Minister. Die Frau hat mehr drauf als ihr Buschkostüm verraten wollte", meldete Anthony Madengo, einer der zwei reinrassig afrikanischen Bediensteten.

"Wie konnte die durch die Undurchlässigkeitszauber durch, Tony?"

"Kann ich dir sagen, Will, die ist unter dem Schreibtisch in Deckung gegangen, hat sich da so dicht zusammengeballt wie es ging und hat ganz kühl auf einen von uns gewartet. Zwar haben wir den Feindessuchzauber auf jeden Raum gelegt, den wir untersucht haben. Aber irgendwie hat die den abwehren können. Als dann unser neuer Katastrophenumkehrtruppenauszubildender Micky Dananga in das Büro gestürmt ist um zu sehen, ob sie am Fenster hängt, ist die glatt wie ein sich selbst werfender Wattebausch unter dem Tisch rausgeflogen und ihm voll in den Mund rein. Tja, und dann hat die sich wohl in seiner Speiseröhre und seinem Magen breitgemacht und hat ihn so dazu gezwungen, den Appariernotausgang aufzumachen. Sie hat ihn unter Androhung, sich in ihm wieder zu verfestigen genötigt, in das Tafelgebirge zu disapparieren. Da ist sie dann ganz flott aus ihm hinausgeweht und in der nächsten Bodenritze verschwunden. Als Dananga sich wieder zu uns hingetraut hat war die Dame sicher schon in den unterirdischen Höhlen verschwunden."

"Das kann doch nicht wahr sein!" polterte de Groot. "Hängt vor unserer Haustür ein Schild: "Zaubereiministerium! Alle Mitarbeiter lassen sich nach belieben verarschen"?"

"Noch nicht. Aber vielleicht sollten wir so'n Schild raushängen, allein schon aus versicherungstechnischen Gründen", erwiderte Madengo.

"Vorsicht, dass ich dir nicht gleich mal deine Nase langziehe, Frechdachs!" knurrte de Groot. Doch dann schaltete er schnell von Wut auf Ernstes Anliegen um.

"Wir dürfen und müssen davon ausgehen, dass Otschungu nun ohne Lenkung durch einen Zauberer oder eine Hexe agieren kann. Der hat wohl herausbekommen, was sein materieller Fokus ist, diesen in seine Gewalt gebracht und damit das Weite gesucht, wie unsere nebulöse Besucherin. Außerdem soll er nur wegen einer Frau aus Europa, einer Hexe, aufgeweckt worden sein. Die fremde Hexe suchte wohl nach etwas. Es könnte um das sagenumwobene Sonnenamulett gehen, von dem es heißt, dass es in Afrika versteckt sein soll. Falls das stimmt sollten wir selbst nach diesem Ding suchen und es finden, bevor Leute aus anderen Ländern es einheimsen. Ich bin nicht Zaubereiminister geworden, um mir von Leuten aus Europa oder uralten Dämonen und ihren Beschwörern beliebig auf der Nase herumtanzen zu lassen. Ich gehe davon aus, dass diese Haltung auch für Sie gilt."

"Will, ob es dieses Sonnendings gibt ist seit Jahrhunderten umstritten. Die einen sagen, dass sowas ein reiner Mythos ist, weil irgendwelche Stämme eine Rechtfertigung für ihre Macht oder ihren Wohlstand brauchen oder meinen, andere nach belieben herumkommandieren zu dürfen", entgegnete Madengo. "Außerdem ist nicht gesagt, dass dieses Sonnendings bei uns in Südafrika versteckt ist. Afrika ist ziemlich groß. Willst du dich mit allen anderen Zaubereiministern anlegen, bei denen das Sonnenamulett oder was es sein soll herumliegt? Die wollen sicher auch nicht, dass fremde Jäger in ihrem Revier wildern."

"Ich will das jetzt klären, ein für alle mal, ob es ein reiner Mythos von Ureinwohnern ist oder doch eine uralte, fast vergessene Tatsache, die nur wenigen Leuten bekannt ist, Tony. Außerdem müssen wir diesen Dämon jagen und nach Möglichkeit aus der Welt schaffen. Der ist eine Bedrohung für jeden südafrikanischen Bürger mit und ohne Zauberkräfte. Das ist sowas wie ein Dibbuk aus Arabien oder Persien. Der kann in andere Körper eindringen. Wir müssen klarstellen, dass wir nicht zu diesen Opfern gehören und was finden, um seine Opfer zu erkennen und nach Möglichkeit von ihm zu befreien, ohne sie umzubringen. Also leiert das schnellstmöglich an, dass die entsprechenden Experten aus allen damit zu tun habenden Magiebereichen was finden, um dieses unsichtbare Monster zu erwischen, bevor es uns erwischt! Das dürft ihr gerne als neuen Generalbefehl verstehen", erwiderte der Zaubereiminister und sah seine Leute an. Diese standen eine halbe Sekunde lang vor ihm stramm. Dann nickten sie. "Also los", schickte er seine Mitarbeiter zurück auf ihre Posten.

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14. November 2002

Otschungus erbeuteter Körper litt mehr unter der Unterwerfung als jeder andere, den er davor besessen hatte. Der unsichtbare Rächer wusste nicht genau wieso. Er ahnte nur, dass die ständigen Zauber, die er damit ausführte den Besessenen schneller älter werden ließen als sonst. Und zaubern musste er seit der Übernahme von Geisterlenkers Körper immer wieder. Nicht nur, dass ihm der versuchte Angriff auf die in ihrer Festung versteckten Trommler ziemlich zugesetzt hatte. Nein, diese Unholde wagten es, ihm die Geister in zauberischen Handlungen getöteter Raubkatzen nachzujagen. So hatte er fast jeden Augenblick mit dem aus seinem Körper gelösten Geist eines Löwens oder Leoparden zu kämpfen gehabt. Wäre Otschungu nur als Geist umhergezogen hätte er die ihn jagenden Tiergeister sicher schnell niedermachen und zerreißen können. Doch er brauchte Geisterlenkers Körper noch, um bis an das Mehr zu gelangen, wo die Sonne mittags dort am Himmel stand, wo in seinem Heimatland die Mitternachtsrichtung lag.

Wieder fühlte er die schnelle Annäherung eines aus dem eigenen Körper gerissenen Löwengeistes. Die nur für ihn und andere Geisterseher erkennbare Erscheinung eilte lautlos und ohne Spuren zu machen durch den großen Wald mit den mehr als fünfzig Männer hohen Bäumen. Tiere fühlten die beiden unheilvollen Geister und schwiegen. Otschungu nahm Geisterlenkers Trommel, um einmal mehr den Zauber gegen feindliche Geister zu wirken. Da flog das in einem blutroten Strahlenkranz gehüllte, durchscheinende Geistertier auf ihn zu, riss den Rachen auf, um ihn in Leib und Seele zu beißen.

Das Herz seines Wirtskörpers raste mit den schnellen Schlägen auf der Trommel dahin. Zwischen Geisterlenkers früherem Körper und dem Geist des ihm nachjagenden Löwens flimmerte die Luft wie bei einem wilden Feuer in der Steppe. Der Löwengeist brüllte los, ohne dass es wie bei lebenden Löwen üblich aus der Ferne widerhallte. Dann blitzte es grellblau auf, und an der Stelle des Löwengeistes glühte ein blutroter Feuerball, der noch einen halben Schritt weit trieb, bevor er unhörbar in Richtung der weit über ihnen ausgebreiteten Baumwipfel hinaufjagte und in einer hell lodernden Flammenwolke auseinanderflog. Die Feuerwolke setzte jedoch nichts in Brand. Sie flammte zwei Atemzüge lang und flackerte dann immer stärker, bis sie einfach weg war. Otschungu fühlte, dass diese Abwehr seinen Wirtskörper wieder um mindestens ein Jahr näher an den Tod herangetrieben hatte. Wenn das so weiterging würde er es nicht mehr schaffen, an das Meer zu gelangen, das zwischen seiner Heimaterde und dem anderen Land lag, von dem die hellhäutigen Eindringlinge stammten, von denen eine so mächtig war, dass sie das Tor der tausend Wehklagen zerstören konnte. Otschungu musste sich bald einen neuen Körper nehmen. Denn er vermutete, dass die ihn jagenden Tiergeister auf diesen Körper abgestimmt waren, vielleicht auch auf die von ihm immer noch mitgenommene Trommel. Aber erst wenn er einen anderen Zaubermächtigen in Besitz genommen hatte konnte er die Trommel vernichten.

Um nicht gleich vom nächsten Löwen- oder Leopardengeist angegriffen zu werden reiste Otschungu noch an diesem Tag auf den Flügeln starker Wünsche weiter und fand eine von dunkelhäutigen Menschen bewohnte Siedlung. Es waren aber einfache Jäger und Ackerbauern, die hier an diesem Fluss wohnten. Die konnten ihm nicht weiterhelfen. So schaffte er es noch, an den nördlichen Rand der von Riesenbäumen gebildeten Wälder zu reisen und erkannte, dass er nun eine neue Steppenlandschaft vor sich hatte. Hatte er nicht einmal einen Körper besessen, der aus einem Land kam, in dem nur Sand und Steine auf dem Boden waren? Dann war das wohl das Land, das er noch durchqueren musste.

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Phoenix alias Olarammaya genoss diese bewusst erlebte zweite Kindheit, die ja ganz anders verlaufen musste als die erste. Langsam schärfte sich auch der Sehsinn, sodass Olarammaya schon auf dem Schoß ihrer Mutter sitzend zusehen konnte, was sie am Rechner tat. Jetzt, wo Gwendartammaya alias Patricia Straton die Folgen ihrer Zwillingsschwangerschaft gut überwand passte sie auch wieder gut auf den Bürostuhl vor den Tisch mit dem gegen die Sonnenkindausstrahlung abgeschirmten Klapprechner, der über eine Solarstromanlage seine Energie bezog und über ein ständig die Übermittlungssatelliten wechselndes und über mehrere Stellvertreterknotenpunkte arbeitendes Modem Zugriff auf das Internet hatte. Mit Albertine Steinbeißers Arkanetzugangsdaten und den Programmpaketen, um im Schattennetzwerk der Zaubererwelt unterwegs zu sein konnten auch die Sonnenkinder auf ihrer privaten Insel Ashtaraiondroi das Geschehen in der Muggel und der Zaubererwelt verfolgen.

Heute waren Phoenix und ihre wenige Minuten ältere Schwester Pandora genau einen Monat auf der Welt, und trotz dieser kurzen Zeit halfen sie schon fleißig bei den nötigen Nachforschungen mit. Auch wenn Olarammaya körperlich ein kleines, süßes, hilfsbedürftiges Baby war konnte sie ihrer Mutter Gwendartammaya helfen, wichtige Nachrichten zu sortieren. So wie es im Moment aussah wollte George W. Bush noch nicht gegen Saddam Hussein in den Krieg ziehen. Offenbar wollte der amerikanische Präsident erst einmal sicherstellen, dass ihm so viele wie möglich folgen würden. Phoenix alias Olarammaya hatte einmal auf rein gedanklichem Weg gescherzt, dass die CIA, der MI6 und der Mossad noch nicht alle Beweise zurechtgebastelt hatten, um einen Krieg zu rechtfertigen. Als Faidaria, die durch ihr Alter ranghöchste der Sonnenkinder sie gefragt hatte, ob sie wirklich daran glaubte, dass jemand einen Kriegsgrund erschwindeln würde hatte Olarammaya auf rein gedanklichem Weg erwiedert, dass sie dem amtierenden US-Präsidenten solche Methoden zutraute.

"Hier, Julius Latierre und Belle Grandchapeau haben es jetzt so gestrickt, dass Joe Brickston in einem streng geheimen Krankenhaus der französischen Streitkräfte untergebracht ist, weil die von ihm genommene Wachhaltedroge noch völlig unbekannt war und die Militärs an ihrer wachhaltenden Wirkung höchstes Interesse haben", fasste Patricia Straton alias Gwendartammaya die neueste Tagesmeldung aus dem Arkanet zusammen. Auch die Verhaftungen der Leute, die Joe Brickston dieses Mittel zugespielt hatten wurde weiterhin erörtert. Immerhin legten Catherine Brickston und ihre magischen Verwandten Wert darauf, die öffentlichen Medien aus der Angelegenheit herauszuhalten.

"Das Gnadengesuch von Ex-Senator Wellington wurde vom Gouverneur von Florida abgelehnt. Außerdem hat Eve Gilmores Anwalt es hinbekommen, dass sie ein Drittel des Barvermögens von ihm und die Immobilie in Philadelphia zugeschlagen bekommt, um ihren Sohn ohne Geldsorgen großzubekommen", dachte Olarammaya. Sie dachte an die Tage zurück, wo sie noch als Wellingtons Sohn Cecil mit diesem Mann unter einem Dach gewohnt hatte. Olarammaya erfasste auch die Gedanken ihrer Mutter, dass sie im Grunde die ganze Familientragödie ausgelöst hatte, weshalb der ehemalige Senator in Ungnade gefallen war und jetzt wohl auf seine Hinrichtung warten musste, während seine Ex-Frau sich langsam von dem Schock erholte, dass ihr einziger Sohn Cecil bei einem gewaltsam herbeigeführten Flugzeugunglück gestorben war. Olarammaya/Phoenix hoffte sehr, dass zumindest Cecils Mutter wieder in ein erfülltes und sorgenfreies Leben zurückkehren konnte. Jung genug war sie ja noch, um noch einmal eine Familie zu gründen. Aber sie würde wohl dann genauer hinsehen, wen sie da heiraten und von wem dann auch noch ein Kind bekommen wollte.

"Eh, Mami, sage meiner Cousine bitte, sie soll nicht so wild meine Wiege schaukeln, sonst muss ich deine nahrhafte Milch gleich wieder ausspeien!" hörten Olarammaya und ihre Mutter die zwischen Unbehagen und Verärgerung schwingende Gedankenstimme Gennarammayas alias Pandora Straton Version 2.0.

"Ich bin gleich bei dir und bring dir auch deine kleine Schwester zurück", gedankensprach Gwendartammaya alias Patricia Straton und schloss alle Anwendungsfenster, um den Rechner herunterzufahren.

Als Olarammaya wieder neben ihrer Zwillingsschwester in der großen Wiege lag und sich an sie kuschelte freute sich auch ihrer beider Cousine, die als ganz von einem vorigen Leben unbeschwertes kleines Mädchen geboren worden war und von ihren Eltern damals Laura genannt worden war, wo sie noch mit dieser Virginia Fox zusammen in einem Haus gewohnt hatten. Phoenix alias Olarammaya hing leicht betrübt den Gedanken nach, dass Laura eigentlich Brandons Tochter hätte bleiben können. Doch dann amüsierte es sie, dass sie demnächst einen kleinen Bruder bekommen würde, der wohl noch weniger begeistert war, dass sie kleinere Kinder gerne als lebendiges Spielzeug ansah, wenn ihr nicht jedesmal wer sagte, dass sich das nicht gehörte.

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Wieder zerbarst ein mit dem eingeritzten Bild eines Löwens verzierter, mit dem Blut eines langsam getöteten Löwens und einem starken Zauber behaftete Stein. Das hieß, dass der damit in der Welt zurückgehaltene und zur Jagd auf einen Feind gezwungene Geist des Löwens zerstört worden war.

Dunkelhüter, der mächtigste Kenner der Lieder von körperlosen und rastlosen Seelen, Blut und Tod, blickte auf den kleinen Staubhaufen. Geisterlenkers Mitbrüder hatten ihre Sache richtig gemacht. Aber gegen die geballte Macht des unsichtbaren Rächers halfen zur Jagd gezwungene Tiergeister offenbar nicht. Da trat Seelenlied, eine der Tänzerinnen aus der Gruppe von Krieg, Blut und Tod zu ihm hin. Er fühlte diesen widerwärtigen kleinen Gegenstand, den sie an einer Lederschnur um den Hals trug, den Friedensstein der Erdmutter, der eine Frau vor gewaltsamem Tod und bösen Geistern schützte und auch ihr Blut für jeden danach gierenden zu Gift machte. Deshalb schnaubte Dunkelhüter sie an: "Was willst du hier?"

"Die Trommler wissen, dass sie den Rächer so nicht fangen oder töten können, Lehrmeister Dunkelhüter. Meine Blutsschwester Erdfreude hat deshalb vorgeschlagen, den mächtigen Erdgeist zu suchen, der seit einiger Zeit irgendwo bei uns im Land umgeht und den die Tänzerinnen der Erde in ihren Träumen sehen können."

"Was für ein Erdgeist?" schnarrte Dunkelhüter und achtete darauf, seinen Mund nicht zu weit zu öffnen, um der anderen nicht seine Blutzähne zu zeigen.

"Es ist wohl eine Sonne her, dass sie zuerst von diesem Erdgeist geträumt haben. Er erscheint im Körper einer fruchtbaren Frau und gebietet durch Gedankenkraft über die Kräfte der Erdeltern. Dieser Geist ist gierig und verschlingt das Leben anderer Menschen, nicht mit dem Mund, sondern mit ihrem Schoß. Statt neue Kinder zu bekommen saugt sie das Leben ihrer Opfer in ihren Schoß hinein oder bindet ihre Opfer an ihr Wort und ihren Willen. Deshalb tragen wir Tänzerinnen alle ja die Steine des Erdfriedens."

"Was, ein Erdgeist, der in Gestalt einer fruchtbaren Frau erscheint und Menschenleben mit ihrem Schoß aufsaugt? Von dieser Art Geister habe ich von dem gehört, der mich zu Dunkelhüter geweiht hat", stieß Dunkelhüter aus. Er musste sich sehr anstrengen, der Tänzerin da nicht zu zeigen, dass er Angst hatte. Ja, von dieser Art von Frauen hatte er gehört. So sagte er: "Sie ist kein Erdgeist, sondern eine unerwünschte Tochter der Erdeltern, deren leibliche Mutter einen Zauber gemacht hat, um ohne von einem Mann berührt zu werden ein Kind zu bekommen. Denkt nicht mal daran, dieses Unwesen zu suchen oder gar herbeizurufen! Ihr würdet sehr teuer dafür bezahlen."

"Ist dieser Erdgeist also gefährlicher als der unsichtbare Rächer?" wollte die Geistertänzerin wissen.

"Auf ihre Weise ja. Denn sie verlockt durch ihre reine Schönheit und verschlingt die Seelen der Männer wie die Riesenschlange ein Wasserschwein. Denkt nicht daran, dieses Unwesen zu fragen, ob es für euch den Rächer jagt und bekämpft!"

"Irgendwas muss es geben, dass diesen Erdgeist bindet und führt", sagte Seelenlied verdrossen.

"Das gilt auch für den unsichtbaren Rächer. Doch jetzt ist er frei und tut nur das was ihm gefällt", schnarrte Dunkelhüter. "Sage deinen Schwestern und den Trommlern, die auch schon daran denken, die ungeratene Tochter der Erdeltern zu finden und zu binden, dass sie das ihr eigenes Leben kosten wird."

"Gut, ich sage es ihnen", erwiderte Seelenlied. Doch Dunkelhüter fühlte, dass seine Warnung offenbar nicht die gewünschte Wirkung zeigte. Die Erdtrommler mochten meinen, dieses Unwesen einfangen und zu ihrer Dienerin machen zu können. Auch wusste er zu gut, wie verzweifelt die Trommler in ihrem Versteck waren, in das er selbst nicht hineinkonnte, weil das mit Nachtwanderer getauschte Blut ihn selbst zu einem der unerwünschten Feinde der in der Festung gebundenen Kriegergeister machte.

Seelenlied verließ Dunkelhüters Höhlenversteck und rief die noch nicht ganz verklungene Kraft der Flügel starker Wünsche wieder wach. Das dauerte nur einen Augenblick, weil sie diese Zaubermacht vor weniger als einem Tageszehntel aufgeweckt hatte.

"Die werden dieses Ungeheuer suchen. Wehe ihnen, wenn sie es auch finden", dachte Dunkelhüter. Ihm war klar, dass er wohl nicht mehr länger hierbleiben durfte. Denn wenn diese Narren die vaterlose Tochter der Erdkräfte fanden würde die ihnen alles entlocken, was sie wussten, auch sein Versteck und auch dass er zu den Kindern der Nacht gehörte. Die Kinder der Nacht waren die natürlichen Feinde dieser vaterlosen Töchter, hatte Nachtwanderer ihm erzählt, nachdem er mit Dunkelhüter den mächtigen Blutaustausch vollzogen und Dunkelhüter sich in einen Sohn der Nacht verwandelt hatte.

Vielleicht sollte er die neue Göttin der Nachtkinder um Hilfe bitten, um vor dieser vaterlosen Tochter geschützt zu sein. Doch nein, er wollte dieser übermächtigen Lenkerin der Nachtkinder nicht auch noch zu Füßen kriechen, um ihren Schutz zu bekommen. Es würde völlig reichen, wenn er sich ein anderes Versteck suchte. Er sah noch auf drei Steine, die ihm die Todestrommler hingelegt hatten, damit er den entscheidenden Zauber darauf legte, der die daran gebundenen Geister von erlegten Löwen und Leoparden besonders schnell und stark machte. Er würde es mitbekommen, wenn die unterworfenen Tiergeister Witterung aufgenommen hatten.

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"Und er hat wirklich gesagt, wir sollen diesen Erdgeist nicht suchen oder gar herbeirufen?" fragte Felsenwender seine Lebensgefährtin Seelenlied, als diese von den Flügeln starker Wünsche wieder in die gemeinsame Hütte innerhalb der sicheren Festung getragen worden war.

"Er hat es mir nicht tzeigen wollen. Aber ich hörte es doch aus seiner Stimme, dass er Angst vor diesem Erdgeist hat. Außerdem kannte er ihn schon und hat gesagt, dass es die vaterlose Tochter einer Zauberin ist, die eben nicht mit einem Mann zusammenliegen wollte, um ein Kind zu bekommen. Sie würde unser Leben aufsaugen, vor allem das von Männern, die ihren Schoß berühren."

"Das wissen wir doch schon, dass sie so jagt. Aber auch sie ist ein Geist, der durch etwas an diese Welt gebunden ist. Finden wir das, binden wir diesen mächtigen Geist und befehlen ihm, den Rächer zu jagen oder die von ihm fortgetragene Schnitzerei zurückzuholen, die ihn an die Welt bindet. Du erinnerst dich an die Geschichte, wo der unsichtbare Rächer eine Zauberkönigin weiter in Mittagsrichtung töten wollte. Sie konnte ihn bändigen und für mehr als hundert Sonnen kampfunfähig machen."

"Ja, weil sie durch Blut und Milch einer Kuh den Geist des Rächers in ein gerade ungeborenes Kalb dieser Kuh hineintreiben und dort einschließen konnte, und zwar so, dass er nichts tun konnte, bevor der ihm zugedachte Körper eines gewaltlosen Todes starb", sagte Seelenlied. "Die Geschichte erzählt auch, dass das Kalb zu einer neuen Kuh wurde und der Rächer als letzte Tochter dieser Kuh wiedergeboren wurde, bis eines Tages, nachdem die mächtige Zauberkönigin selbst tot war, jemand den Körper tötete, um dessen Fleisch zu essen und dadurch den Rächer aus der Gefangenschaft befreit hat. Aber das ist eben nur eine Geschichte, die vor ganz vielen Sonnenkreisen geschehen sein soll."

"Ja, aber womöglich kann eine mächtige Zauberin den Rächer besser bändigen als wir Trommler. Ich weiß, meine Mitbrüder werden mich totzaubern, wenn sie das hörten, weil ich denen nicht mutig und männlich genug rede. Aber ich denke doch, dass wir den Rächer nur noch einfangen und kampfunfähig machen können, wenn wir einen mächtigen Geist im Körper einer Frau auf ihn ansetzen."

"Was würdest du dieser mächtigen Erdfrau geben?" fragte Seelenlied ihren Lebensgefährten. Dieser glotzte sie verstört an, weil er mit dieser Frage nicht gerechnet hatte. Sie wiederholte die Frage deshalb noch einmal. Es vergingen mehr als fünfzig Atemzüge, bevor er sagte: "Wenn die Urmächtigen mir nur noch die Wahl lassen, in lebenslanger Gefangenschaft in dieser Festung zu leben und wohl nach meinem körperlichen Ende zum weiteren Wächtergeist zu werden oder ich für die Freiheit unserer Brüder und Schwestern sterben muss, dann wähle ich lieber meinen Tod."

"Du willst sie also rufen, die mächtige Erdfrau, die seit einem Sonnenkreis in unserem Land lebt?" wollte Seelenlied wissen. Ihr Gefährte bejahte das.

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15. November 2002

Catherine war froh, dass Claudine sich von dem Schrecken der letzten Tage erholt hatte. Sie war hellauf begeistert, viele andere Kinder zu treffen. Da waren die Dusoleil-Kinder, die ganzen neuen Latierres und Großneffen von Lucky Merryweather. Der stolze Drillingsvater trug zu diesem Tag einen dreifarbigen Umhang und hatte sich aus Jux alles Har von Kopf, Händen und Armen abrasiert, um die Ähnlichkeit mit seinen Kindern herauszustellen. Dabei hatten die kleinen Merryweathers schon richtig dichtes Haar, dafür, dass sie gerade mal einen Monat und ein paar Wochen auf der Welt waren. Zwar zeigte sich Martha gegenüber erwachsenen Hexen oder solchen, die es bald sein würden sehr argwöhnisch, schaffte es aber, sich nicht danebenzubenehmen. Zumindest ließ sie es zu, dass die ganzen Kinder ihren drei neuen Kindern die Hand gaben oder vorsichtig über die Köpfe streicheln konnten.

Brittany Brocklehurst hatte jetzt keine Ähnlichkeit mehr mit einer athletischen Quodpotspielerin. Sie schritt auf säulenartigen Beinen einher und trug einen ausladenden Kugelbauch und zwei nicht minder ausladende Brüste stolz vor sich her. Auf die Frage, wann der kleine Brocklehurst denn ebenfalls gefeiert werden durfte sagte sie: "Ich weiß nicht. Offenbar findet der meinen Unterbau noch richtig luxuriös. Außerdem habe ich den starken Verdacht, dass der nicht als Skorpion auf die Welt kommen will, sondern als Schütze. Dann darf ich den auf jeden Fall noch sechs oder sieben Tage lang in mir herumschaukeln."

Abends beim Essen langten alle zu. Beim Trinken jedoch hielt sich Catherine an die nicht-alkoholischen Getränke, ebenso Millie.

"Tja, dann werden wir wohl im nächsten Jahr noch wen neues dazukriegen", sagte Millie Catherine und Brittany zugewandt. Catherine fragte sie leise, ob sie sich da so sicher sei. "Tante Trice weiß es seit drei Tagen. Julius hat es eine Stunde nach ihr erfahren. Ja, da kommt demnächst Nummer drei zu uns", sagte Millie und strahlte alle an. Catherine überlegte, ob sie zumindest den beiden werdenden Müttern gegenüber erwähnen sollte, dass sie auch diesem erhabenen Club angehörte. Doch sie wollte das erst erzählen, wenn sie wusste, woran sieund Claudine mit Joe waren. Zumindest hatte sie Brittany gegenüber nichts von seinem Zustand erwähnt. Für die vegan lebende Hexe war jede Form von Rauschmittel unzulässig. Die musste ihr da nicht auch noch erzählen, wie idiotisch Joe sich verhalten hatte. Catherine hoffte, dass er das auch so erkannte.

Catherine unterhielt sich auch mit den beiden Heilerinnen Hygia Merryweather und Eileithyia Greensporn, bei denen sie jedoch tunlichst nicht erwähnte, dass sie mehr als Sorge um Ihren Mann in sich trug. Eileithyia wünschte ihrem Mann eine rasche Genesung und verglich seinen Zustand mit dem einer Sabberhexenabhängigkeit junger Männer, die bei der Entwöhnung von deren Körpersekreten auch erst alle Welt und ihre Mitmenschen verdammten, am schlimmsten aber sich selbst verwünschten, dass sie so schwach gewesen waren. "Ja, und wie meine Kollegin Hera Matine - Die Sie bitte sehr von mir grüßen dürfen - kann ich nur sagen, dass unsere magische Heilkunst bei rein künstlichen Giften, die nicht auf Wirkstoffen aus natürlich gewachsenen Pflanzen, Tieren oder Pilzen aufbauen, ist es sehr wichtig, keine übereilte Maßnahmen zu ergreifen. Aber ich wünsche Ihnen, dass Sie und ihr Mann wieder ein friedliches Familienleben führen können." Dabei lächelte sie tiefgründig und zwinkerte Catherine durch ihre goldene Brille wissend zu. Catherine hätte fast gefragt, ob ihr körperlicher Zustand schon im Heilerherold veröffentlicht worden sei, als ihr einfiel, was Hera ihr mal gesagt hatte, dass Eileithyia einen sechsten Sinn für schwangere Frauen und ihr Wohlbefinden entwickelt hatte. Außerdem wollte sie keinen schlafenden Drachen kitzeln. Sie freute sich, dass Claudine sich auch gut mit allen Erwachsenen hier verständigen konnte und dass es schon richtig gewesen war, Claudine wie vorher schon Babette zweisprachig aufwachsen zu lassen. Das sah sie auch an Aurore Latierre, die zwar nicht so gut Englisch konnte wie Claudine, aber doch schon mit einigen ein paar ganz einfache Sätze austauschen konnte.

Gegen Mittag am 16. November Ortszeit kamen die Europäischen Gäste der Willkommensfeier wieder nach Hause. Catherine hatte auf dem Rückweg noch mal mit Julius über ihren Ausflug nach Afrika gesprochen, weil ihr die Berichte über diesen Dämon Otschungu genausogroße Sorgen bereiteten wie der Zusammenbruch ihres Mannes.

"Glaubst du, der sucht dich, wo du dich damals verkleidet hast?" fragte Julius, der mit Catherine in einer Zweierkabine saß und von einem ockergelben Klangkerkerlicht umgeben war. Catherine schloss es nicht vollständig aus. "Vielleicht solltest du denen am Kap doch mitteilen, dass du bei denen nach dem Ursprung der Dementoren gesucht hast, Catherine. Die könnten dann nach den Beschwörern, diesen Trommlern suchen", erwähnte Julius. Catherine überlegte. Dann fragte sie: "Und die mit der Nase drauf stoßen, dass ich nach diesem Sonnenamulett gesucht habe und das nicht bekommen habe? Ich gehe davon aus, dass die dieses körperlose Unwesen aus ganz eigenen Interessen zu bannen versuchen oder dessen Beschwörer dingfest machen werden. Allerdings sind meine afrikanischen Kameraden von der Liga schon dabei, zu klären, ob man diesen Dämon nicht orten oder dessen Materiellen Fokus finden kann, falls es sowas gibt."

"Öhm, sollen wir die Sonnenkinder auf dieses Amulett ansetzen, Catherine? Nicht, dass diese Trommelsekte das noch für irgendwas verwenden kann", erwiderte Julius.

"Ach ja, du hast ja die Telefonnummer der ominösen Ms. Gwendartammaya", grummelte Catherine. "Wann willst du es deiner Mutter mitteilen, dass jemand unerwünschtes auch Zugriff auf ihr geheimes Netzwerk hat?"

"Wenn wir wissen, wer die undichte Stelle ist. Wir wissen nur, dass Gwendartammaya von einer ehemaligen Mitschwester ordentliche Zugangsdaten bekommen hat. Tja, aber wie viele treue Schwestern es gibt wissen wir nicht. Da jede zu verdächtigen wäre den Unschuldigen gegenüber unfair, würde das Vertrauen in das mühsam aufgebaute Arkanet pulverisieren und die Schuldigen vorwarnen, wann sie den schnellen Rückzug machen müssen. Außerdem empfinde ich persönlich das als gar nicht so schlecht, dass die Sonnenkinder einen Arkanetzugang haben, insbesondere, wenn ich so mitkriege, wie sich das mit dieser neuen Vampirvereinigung entwickelt. Ja, und VM ist ja auch noch zu bedenken. Da brauchen wir vielleicht Freunde, mit denen keiner mehr rechnet", sagte Julius. "Aber das sollten Nathalie und Belle nicht wissen. Die würden dann lieber das Arkanet zumachen, und dann passiert wieder was, wo das Internet schneller ist als die magische Eingreiftruppe, und wir haben alle das Nachsehen."

"So trägt jeder sein Päckchen", seufzte Catherine. Julius konnte ihr da nicht widersprechen.

Wieder zurück in Millemerveilles aßen die Latierres aus dem Apfelhaus, Laurentine Hellersdorf und die zwei Brickston-Hexen aus Paris bei Camille und Florymont Dusoleil zu Mittag.

Eine Stunde nach dem Essen bekam Julius eine Eule von Belle Grandchapeau. Er las den Brief und gab ihn an Catherine weiter. Sie las ihn, stutzte und strahlte dann alle an. "Interpol hat nach Tipps von unseren Mithelfern bei den Polizeibehörden zwei Labore ausgehoben. Die sollten gerade in die Luft gesprengt werden. Es konnten vier Leute festgenommen werden, die mit CD-ROMs, also scheibenförmigen Computerdatenspeichern entwischen wollten. Damit ist der Verteilerposten in Frankreich wohl erledigt. Wird Joe freuen, wenn es ihm wieder besser geht.

"Willst du heute noch zu ihm hin?" fragte Camille Catherine.

"Nein, heute nicht. Er soll sich erst noch ein wenig erholen. Außerdem hatten Claudine und ich gerade so einen schönen langen Tag. Ich will den mir nicht noch mal verderben lassen", flüsterte Catherine. Camille begriff, was sie meinte.

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"Die werden dichthalten, Monsieur S. Auch wenn die Flics die Formeln und Geräte haben werden die nicht auspacken, wo die anderen Labore sind", beschwichtigte ein als Wirtschaftsanwalt tätiger Verbindungsmann von Primus Superior. Sie waren mal wieder per dreifach verschlüsselter Videokonferenz miteinander verbunden.

"Haben Sie schon den Verdienst-und Zeitverlust kalkuliert?" wollte Superior wissen. Jetzt sprach er akzentfreies Französisch pariser Prägung.

"Wir liegen durch das vorzeitig abgebrochene Projekt nun um zwei Monate zurück. Insgesamt hat uns die Investition in Innova France zwanzig Millionen Euro gekostet.

"Dann müssen wir andere Geldquellen stärker anpumpen, um das wieder rauszuholen. Chicago ist angelaufen und hat die bisherigen Versionen und Skizzen übernommen. Vielleicht können wir den Zeitverlust um einen Monat aufholen", sagte Superior.

"Noch wird kein Weltuntergang erwartet", meinte der Anwalt.

"Haben Sie eine Ahnung, ob nicht morgen ein weltweiter Stromausfall, eine verheerende Pandemie oder vielleicht der Ausbruch der Yellow Stone Caldera stattfindet? Jeden Tag, den wir früher fertig werden, erhöht die Überlebenswahrscheinlichkeit unserer Wiederauferstehungsgruppe um einen Prozentwert. Wenn die Sonnensturmabsicherung nicht bald perfekt ist könnte uns eine entsprechend starke Sonneneruption morgen schon ins finstere Mittelalter zurückbeamen. Wollen Sie nicht wirklich", knurrte Superior.

"Was ist mit Deville und den anderen? Sollen wir deren Anwälte finanzieren?"

"Die sind es selbst schuld, dass sie diesen britischen Fremdarbeiter gleich so viele von unseren Durchhaltedrops überlassen haben, dass der sich damit fast ins Jenseits geschossen hat. nein, die sollen selbst zusehen, wie die da durchkommen", bestimmte Superior. Sein Gesprächspartner nickte. Dann fragte er noch: "Und sie sind sicher, dass Deville nicht weiß, wo und wie Sie zu erreichen sind. Ich meine, der kannte die Fürsorgetruppe."

"Der weiß das nicht. Und die Fürsorgetruppe habe ich komplett beurlaubt. An die kommt jetzt keiner mehr dran."

"Gut, dann ist von meiner Seite aus alles mitgeteilt", sagte Superiors Gesprächspartner.

"

Der Mann, der das alles koordinierte und seit zwanzig Jahren darauf hinarbeitete, eine außerstaatliche, weltweit einsetzbare Organisation für die Zeit nach dem Tag X zu führen prüfte schnell alle auf seine verschiedenen Großprojekte geschalteten Computer. Da fingen auf einmal mehrere Alarmglocken zu leuten an. Auf den Rechnern, die die Tätigkeiten in Australien, den USA und Großbritannien zeigten leuchteten die Warnungen: "Chemische Ausrüstungsabteilung von staatlichen Truppen gestürmt. Rückzug und Selbstvernichtung nicht mehr möglich."

Superior stierte auf die Anzeigen. Dann blinkte auch noch diese Meldung für den Bereich Deutschland und Österreich auf, wo er unter regulären Chemifabriken geheime Produktionsstätten für seine Durchhaltedroge Ultradrenalon und das farb- und geruchlose Narkosegas Tachyhypnol betrieb. Das war eine konzertierte Aktion. Wer hatte da so schnell alles wichtige erfahren, um einen derartigen Sturmangriff auf so viele Punkte zugleich zu koordinieren, ohne dass seine Polizeiüberwachungsroutinen das früh genug berechnet hatten? Es war so, als hätten sich verschiedene Behörden abgestimmt, und das ohne Telefon, Funk oder Internet. Selbst wenn die verschlüsselte Text- oder Klangdateien verschickt hätten wäre zumindest der Datenverkehr aufgezeichnet worden. Dann wurde er auch noch alarmiert, dass seine Fabrikationsstelle in der nähe von Tihuana, Mexiko gerade aus den Angeln gehoben wurde. Er hieb sich vor den Kopf. Zehn Jahre hatte er an den Programmen geschraubt, mit einem Schwarm von Hackern alle möglichen Verbindungen geknackt und mit Hintertüren versehen, um jetzt eiskalt erwischt zu werden? Das wirklich erschreckende war nicht nur die gezielte Erstürmung, sondern vor allem, wie schnell die Internetverbindungen und auch die Notfallsatellitenschaltungen unterbrochen wurden, als wenn da jemand wüsste, auf welchen Frequenzen seine Knotenpunkte sendeten. Dafür gab es nur eine Erklärung: Er selbst, der große Primus Superior, war von feindlichen Hackern ausgetrickst und ausgespäht worden.

Sofort prüfte er alle Verbindungen und machte Zustandsabfragen und Laufzeitabgleichstests. Wenn seine Rechner nicht in bestimmten Zeiten bestimmte Routinen abarbeiteten oder bestimmte Verbindungen durchtesteten hatte sich da wohl was eingenistet. Ja, und als er den Server unter Alice Springs genauer diagnostizierte fand er seine Befürchtung bestätigt. etwas, das sich nicht an IP-Adressen, Prüfsummen und ähnlichem zu fassen bekam durchstöberte die Datenbanken, prüfte die Ports und verschleierte Datentransfers zu unbekannten Empfängern. Superior, der gemeint hatte, alle Eventualitäten berücksichtigt zu haben, war mit seinen eigenen Waffen geschlagen worden. Doch wie hatten diese Lumpenhunde es angestellt, alle Polizeiorganisationen weltweit so schnell und leise auf seine chemischen Ausrüstungsabteilungen anzusetzen? Er wusste nur, dass er gerade von der alles überwachenden Spinne zur Fliege im eigenen Spinnennetz geworden war. Wenn er jetzt nicht den schnellen Rückzug antrat hatten sie bald seine Rechenzentrale, falls die nicht schon längst von einem Virus durch verschiedene Hintertüren infiziert worden war. Doch sein Projekt, die Gesellschaft für die Wiederauferstehung der Menschheit, musste bestehen. Die Welt brauchte freie Denker und risikobereite Macher wie ihn, die sich nicht von Wirtschaft und Staat gängeln ließen. "Alles kappen und Diagnose Stufe eins einleiten!" rief er einem Standmikrofon zu. Sofort blinkten alle Bildschirme: "Verbindungen gekappt. Bereit für Diagnose Stufe eins!" Jetzt musste er erst einmal prüfen, ob sein physikalischer Standort bereits erfasst worden war. Falls ja, musste er schnellstmöglich abrücken, bevor sie ihn hier noch kassierten. Falls nein, konnte er die Redundanten, aber über ganz andre Verbindungswege arbeitenden Systeme benutzen.

Er glaubte schon, dass er kein Virus und keine Spionagesoftware in den eigenen Rechnern hatte. Da hörte er das Poltern an den tonnenschweren Stahlbetonluken, die selbst einem Atomangriff standhalten konnten. "Ihr wollt mich also wirklich hoppnehmen. Dann eben so!" knurrte Superior und drückte vier viereckige Knöpfe. Danach drehte er sich auf seinem breiten, hochlehnigen Schreibtischstuhl zweimal um die eigene Achse. Mehrere Verriegelungen lösten sich. Dann sauste der Stuhl mit dem Stück Boden auf dem er stand nach unten. Über ihm schob sich rumpelnd ein drei Meter dicker Pfropfen aus hitze und Sprengstoffbeständigem Material an die Stelle, wo vorher noch der Boden war. Der Stuhl sauste derweil auf der kleinen Plattform fast frei fallend abwärts. Die rasende Fahrt wurde erst nach hundert Metern von starken Wirbelstrombremsen aufgefangen. Dann rumpelte es, und die kleine Freifallplattform stand auf festem Boden. Licht von der Helligkeit und Farbgebung natürlicher Sonnenstrahlung flammte auf, und über ihm schob sich ein neuer, drei Meter dicker Verschluss in den Schacht.

"Und ihr kriegt mich doch nicht", grummelte Superior. Dann betätigte er eine Schalttafel. Darauf glitt eine schwere Schiebetür auf. Dahinter war der Zugang zu einer Einschienenbahn, die er sich vor zehn Jahren hierher hatte bauen und die Techniker anschließend hatte hinrichten lassen, damit sie nicht verrieten, für wen sie wo was gebaut hatten. Mit der Bahn fuhr er erst langsam und dann immer schneller davon. Während dessen erwartete die Einheit, die seinen Bunker zu stürmen trachtete eine dichte Wolke aus Tachyhypnolgas und eine Ansammlung implodierter Monitore und geschmolzener Rechner, die garantiert keinem mehr was über ihren Hern und Meister verrieten. Er würde in einer Woche von einer anderen Zentrale aus weitermachen, mit anderen Verbindungsleuten. Fünfmal konnte er so ein Manöver durchführen. Aber das erste mal hätte schon nicht passieren dürfen. Wer immer seine Computer gehackt hatte hatte alles überwunden, Firewalls, Antivirusprogramme, Zugangsbeschränkungen, kodierte Datentransferprotokolle. Wenn er den oder die erwishte, dann würde er die nackt im Urwald, in den verlassenen Straßen von Tschernobyl oder am Südpol aussetzen lassen, damit die lernten, wie schnell ihr Lebensstandard verloren gehen würde.

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16. November 2002

Otschungu erschrak, als er in einer silbernen Schüssel voll Wasser das Gesicht seines Wirtskörpers sah. Die Wangen waren eingefallen, die Haut trocken wie Leder und faltig. Die Haare waren hellgrau. Otschungu hatte bei den letzten zu machenden Zaubern offenbar viele Lebensjahre des von ihm besessenen Körpers verbraucht. Allein schon, dass er durch die endlos erscheinende Sandlandschaft ohne Wasser und Pflanzen immer wieder mit den Flügeln starker Wünsche hatte reisen müssen, um nicht an der Hitze der gnadenlosen Sonne oder dem Verdursten zu sterben, hatte sicher eine Menge Zeit aus dem Körper des anderen vertrieben. Außerdem jagten ihn immer noch diese Tiergeister. Deren Beschwörer hatten wohl gelernt, dass ein Geist alleine nicht siegen würde. Drei Geister getöteter Löwinnen waren hinter ihm her. Doch immer dann, wenn er den Geistervernichtungszauber trommelte, wichen sie zurück. So wollten sie ihn erschöpfen, dass er ihnen schwach und wehrlos zur Beute wurde. Wollte er sie vernichten musste er einen neuen Körper haben, der noch ganz jung war und den die ihn jagenden Tiergeister vielleicht nicht als Träger seines Geistes erkannten.

In diesen Landen lebten Menschen, die trugen weiße Tücher über ihren Körpern und hatten nicht die ganz dunkle Haut, die die Menschen in den großen Wäldern oder am anderen Ende des großen Landes hatten. Er konnte bei den auf großen Tieren mit einem oder Zwei auswüchsen auf dem Rücken welche wittern, die Zauberkräfte hatten. Von denen wollte er aber keinen. Denn die kannten sich sicher nur in ihrem Stammesland aus. Er brauchte einen, der sich mit den Hellhäutigen auskannte, ja vielleicht sogar zu denen hinreisen konnte, um mehr über die mächtige Zauberin zu erfahren.

Er wollte in eine der ganz großen Ansiedlungen, die die Menschen als Stadt bezeichneten. Doch erst als er einen Mann belauschte, der keine Zauberkraft im Körper hatte aber wusste, wo die nächste größere Stadt war, benutzte er noch einmal die Flügel starker Wünsche.

Trotz der durch die so schnell verstrichenen Lebensjahre abgestumpften Ohren war es doch so laut um ihn herum, dass er sich nicht besinnen konnte, wo genau er angekommen war. Außerdem wehten ihn so viele Gedanken und Gefühle an, dass es für ihn wie ein Sturm war. Otschungu war es gewohnt, in wenig besiedelten Gegenden zu jagen. Deshalb wurde er von den so plötzlich über ihn hereinbrechenden Geistesströmen überflutet wie ein Sandkorn im Sturm. Das wirkte sich auch auf den noch von ihm benutztzten Körper aus. Er fühlte überstarke Kopfschmerzen. Seine Glieder taten weh. Sein durch die vielen Zauber verbrauchtes Herz hämmerte schneller und schneller. Dann waren da noch diese Selbstfahrwagen, die auf den teilweise schwarzen Wegen dahinjagten. Er hörte sie röhren, dröhnen und wie wild voranstürmende Rüsselträger in verschiedenen Tonlagen tröten.

Tuuuuuuut! Er hörte es hinter sich tröten. Dann kreischte und zischte etwas laut. Er fühlte eine Woge von Wut und Angst von hinten. Dann warf ihn etwas mit entschlossener Kraft zu Boden. Er fühlte seine Knochen brechen. Dann war er plötzlich frei von Schmerzen und geschwächten Sinnen. Es war, als wurde er geradewegs in eine laute, klar zu sehende Welt hineingehoben. Dann konnte er sehen, dass ein ganz großer Selbstfahrwagen mit einem breiten, langen Rücken über einem leblosen Körper stand, dem von Geisterlenker. Da begriff Otschungu, dass der Aufprall und die Altersschwäche seinem Wirtskörper das Leben genommen hatten. Otschungu erkannte, dass die ihn überflutenden Sinneseindrücke ihm den Körper genommen hatten. Das sollte der Lenker dieses großen Selbstfahrwagens ihm büßen.

Die Angst und die Schuld machten den Führer des Selbstfahrwagens leicht zu nehmen. Otschungu schlug in seinen Körper und seine Seele ein wie ein Blitz. Und ähnlich verheerend wütete er darin. Er zerwühlte und zerstückelte den unglücklichen Menschen von innen her, um dann, als er sich restlos an dessen Ängsten und Todesqualen gelabt hatte, wieder als unsichtbarer Geist aus dem zu einer von unversehrter Haut zusammengehaltenen Masse aus Fleisch, Blut und Knochen hinauszufahren und sich zwischen die immer noch wild trötenden und über die Wege dröhnenden Fahrzeuge zu mischen. Die vielen vielen Geistesregungen wirbelten seinen Geist umher. Er musste hier weg, bevor er nicht mehr Herr seines Weges war.

Weil er von allen Seiten von geistigen Regungen getroffen wurde außer von oben wich er in den Himmel aus, stieg höher und höher, bis er mehr als tausend Manneslängen über dem Boden die Stadt als vor Menschenseelen brodelnden und summenden Quell seiner üblichen Nahrung fühlte. Doch was jetzt? Er hatte Geisterlenkers Körper verloren, durch einen schlichten, ja völlig ehrlosen Zusammenstoß mit einem dieser neuen Selbstfahrwagen. Wollte er einen neuen Körper finden musste er wieder in eine Gegend, wo er klar die einzelnen Gedanken- und Gefühlsströme unterscheiden und verstehen konnte. Hier in diesem vor abertausend Seelenregungen siedenden Ort ging das nicht. So flog er nun schnell wie ein Pfeil davon, ließ die große Stadt hinter sich, von der er nur den Namen kannte: Marakesch.

Unterwegs dachte er darüber nach, was er tun würde, wenn die Frau, die er suchte, in einer von genausovielen oder noch mehr Menschen bewohnten Siedlung lebte? Würde er sie da überhaupt erkennen, selbst wenn sie keine zehn Schritte vor ihm stand? Doch zunächst wollte er ja wissen, wer sie überhaupt war. So machte er sich wieder auf die Suche nach einem geeigneten Wirtskörper, aus dessen Erinnerungen er diese wichtigen Kenntnisse schöpfen konnte.

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Auf Ashtaraiondroi dämmerte bereits der Abend heran. Gisirdaria schlenderte am Strand entlang. Dabei achtete sie darauf, keine zu weit auslenkenden Bewegungen zu machen oder zu heftig aufzutreten, um ihren noch zu gebärenden Sohn nicht aufzuwecken. Weil in dessen Körper die Seele ihres älteren Bruders Gooardarian wiederverkörpert war wollte sie sich nicht schon wieder was anhören, dass er endlich auf die Welt zurück wollte. Nur dann, sohatte er am Vortag noch in ihre Gedanken gesprochen, würde er das endlich hinnehmen, ihr Sohn und nicht ihr Bruder zu sein. Doch noch fühlte sie sich nicht so, als müsse auch sie bald ihr Kind bekommen.

"Gisirdaria, wir haben eine Nachricht von Julius Latierre bekommen. Möchtest du sie mit eigenen Augen lesen oder soll ich sie dir als Gedankenbild übermitteln? gedankenwisperte Gwendartammaya ihrer Schwägerin zu."

"Der Kleine schläft gerade so friedlich, Gwendartammaya. Ich fühle sogar gewisse Regungen der Leidenschaft von ihm, als wenn er im Schlafleben eine schöne Begebenheit nachempfindet. Bevor ich mich da hineinfühle schicke mir lieber die von Julius gesandte Botschaft als Abbild deiner Wahrnehmung."

"Gut, mach ich", hörte sie Gwendartammayas Gedankenstimme leise in ihrem Geist.

Gisirdaria ließ durch die Kraft einen bequemen Stuhl aus dem Nichts erscheinen und setzte sich. Dann fühlte sie sich in Gwendartammayas Wahrnehmung ein, wobei sie sich fast durch die abrupt versiegenden Glücksgefühle ihres träumenden Sohnes ablenken ließ. Doch nun konnte sie die auf dem Flüssigkristallbildschirm ihres nicht mehr bestehenden Gefährten nachlesen, dass Julius Latierre im Auftrag von Catherine Brickston, der Tochter jener, die meinte, Gennarammaya und Olarammaya für ihre Lehranstalt einfordern zu dürfen, einen Reisebericht versandte. Er schrieb zwar mit den Lautzeichen der Jetztzeitmenschen, hatte aber alles in die Gelehrtensprache des alten Reiches übersetzt. Offenbar hatte er wahrlich eine sehr einprägsame Unterweisung darin erhalten, fand Gisirdaria. Der Bericht enthielt die Schilderung über ein von tausend gefangenen Seelen und dunkler Kraft erbautes Tor, hinter dem in einem mit dunkler Kraft erfüllten Rüsselträgerschädel, ein starkes, der Sonne verbundenes Ding mit eigenem Wirken steckte, welches sie, Catherine, als Unwürdige abgewiesen hatte. Gisirdaria war sich mit Gwendartammaya dahingehend einig, dass es um das zweite von drei auf der Welt versteckten Zeichen des großen Himmelsfeuers ging, das irgendwo in Afrika sein sollte. Julius hatte auch noch die Bezugspunkte mitgeliefert, wo dieses von Catherine überwundene Tor zu finden war, wobei er die Zahlwörter aus dem versunkenen Reich benutzte, um mögliche unerwünschte Mitleser nicht darauf zu bringen, dass er hier Ortsangaben mit genauen Bezugspunkten übermittelte.

"Er hat unsere Standortmessgrößen verwendet", stellte Gisirdaria fest. Diese bestätigte es wohl. Denn sie hatte von Yantulian und Miridaria die genaue Umrechnung der internationalen Standortbezugspunkte in die der alten Zeit erlernt, ebenso wie die erhabene Sprache des großen Reiches.

"Das muss Faidaria beschließen, ob wir dort nachsehen", gedankensprach Gisirdaria.

Wenige Tausendsteltage später hatte Faidaria ihren Entschluss gefasst. weil die Wachhabenden im Sonnenturm ebenfalls eine Wirkung des zweiten Zeichens ganz zufällig beobachtet hatten war zu befürchten, dass jemand anderes außer Catherine versuchte, sich das mächtige Zeichen des großen Vaters Himmelsfeuer zu unterwerfen. Es musste also von dort geborgen werden, wo es mehrere Tausendersonnen versteckt gewesen war.

"Wir senden zwei unserer mit den Kenntnissen der alten Zeichen bestens vertrauten Mitbrüder dort hin, wenn sie erfolgreich ihren Samen weitergegeben haben", bestimmte Faidaria. Denn immer noch waren nicht alle überlebenden Sonnentöchter in freudiger Erwartung. Sie rief die beiden Sonnensöhne Yanhagoorian - Langes Feuer und Askanyanar, Kraftfeuerträger zu sich und sprach mit körperlicher Stimme zu ihnen. "Ich hoffe, Adiramiria und Kenashtarilia verkünden bald, dass ihr auch Ihnen zu Nachwuchs verholfen habt. Die Zeit eilt. Wir müssen bald wieder in die Welt der Istzeitmenschen eintreten, um dort das zweite der drei Erbzeichen zu finden. Sein Versteck wurde gefunden."

"Dann sollten wir jetzt los, Faidaria", sagte Askanyanar zu der ältesten Sonnentochter.

"Unser Überleben ist genauso wichtig wie das zweite Zeichen. Es kann sich gegen unberechtigtes Ergreifen wehren, sonst wäre es schon längst aus dem Versteck herausgeholt und im Namen seines Trägers eingesetzt worden. Das wissen wir auch vom ersten wiedergefundenen Zeichen, mit dem Gwendartammaya uns alle erweckt hat."

"Aber die, der sie es abnahm hat es auch erbeutet, trotz aller Gegenwehr", sagte Yanhagoorian. Askanyanar bejahte es.

"Weil es von einer Jungfrau genommen wurde, die durchaus einen Erben unserer alten Linie hätte treffen und von diesem empfangen können. Gennarammaya hat ihrer Mutter und ihrer Schwester doch weit vor dem ersten Atemzug berichtet, dass sie in ihrem Warzeitleben abgewiesen wurde, weil sie da schon einem Sohn das Leben gegeben hat und dass jene, mit der sie damals das Zeichen gesucht und gefunden hat, genau deshalb auf sie als ihre Begleiterin vertraut hat. Ein mann, der nicht einen Tropfen vom Blut unserer Ahnen in sich hat kann dieses Zeichen nicht ergreifen. Und eine Frau, die bereits neues Leben hervorbrachte auch nicht, es sei denn, sie ist eine Tochter unserer erhabenen Ahnenlinie."

"Doch wer hat das zweite Zeichen mit starker Kraft zu unterwerfen getrachtet?" fragte Yanhagoorian.

"Womöglich war es eine Handlung, bei der die erhabene Kraft in einem langen Vorgang verstärkt und auf dieses eine Ziel gerichtet wurde. Es kann sein, dass es ein einzelner mächtiger Geist war, ein Zwischenweltler, der das Zeichen mit seinen Gedanken zu ergreifen versucht hat. Vielleicht waren es auch mehrere Lebende, die über einen Verdichter am Orte das Zeichen mit vereinter Kraft zu unterwerfen suchten. Jedenfalls wurde es nicht von einem Lebenden ergriffen und mit dem eigenen Körper verbunden", sagte Faidaria und fühlte eine starke Bewegung im Unterleib. Sie besann sich auf ihren noch ungeborenen Sohn, der wohl was dazu beitragen wollte:

"Künftige Mutter, die Erbzeichen können körperlose Wesen zur Sichtbarkeit zwingen und zurückweisen, wenn sie Feinde ihrer Träger sind oder Feinde der Schöpfer der Zeichen werden. Aber ich denke, du hast ganz recht, dass die zwei Kundigen von lange brennendem Feuer und den Himmelslichtern erst einmal meine künftigen Mitgeschwister ins Leben hineinrufen sollen, bevor du sie auf diese Reise schickst."

"Ich muss mir nichts von einem, der seinen Körper geopfert hat, um im Leib einer Mutter neue Kraft zu gewinnen vorbestimmen lassen, was ich zu tun habe", erwiderte Askayanar, der den Gedanken von Faidarias künftigem Sohn mitgehört hatte. Faidaria sagte körperlich:

"Aber recht hat er. Wir sind uns einig, dass wir gegen die istzeitigen Gefahren nur als großes Volk bestehen können. Daher werdet ihr die kommenden Ruhezeiten mit euren Zugeteilten zusammenlagern, sofern sie noch in den Tagen der Fruchtbarkeit sind. Falls sie das nicht mehr sind dann geht zu Irunyana und Simattadaria. Von denen weiß ich, dass sie gerade in den fruchtbaren Tagen sind."

"Simattadaria könnte meine Mutter sein", entrüstete sich Askayanar.

"Und ich hätte Ilangardians Muttermuttermutter sein können. Dennoch gewährte er mir Ehre und Recht, seinen Sohn zu empfangen und genoss dieses so erhabene Ereignis sogar. So genieße du auch, was du zu tun hast, Askayanara."

"Genau, der soll sich nicht so haben. Mich wird es ja nur geben, weil du Ilangardian vor seiner letzten Reise so erfolgreich zu dir genommen hast, künftige Mutter", musste jemand gerade wohl verstautes auf gedanklichem Wege erwähnen.

Die beiden Männer, die gerade zehn Jahre älter als Gisirdaria waren, bekundeten noch einmal ihre Einsatzbereitschaft, das Volk der Sonnenkinder zu mehren. Dann zogen sie sich zurück.

"Die sollen sich nicht so anstellen. Die müssen nur mit einer von denen zusammen auf dem Lager liegen. Ich habe es da schwerer", gedankengrummelte Faidarias ungeborener Sohn.

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Der Zaubereiminister von Marokko hatte seine wichtigsten Mitarbeiter versammelt, um mit diesen die im Dezember geplante Konferenz der Mittelmeerzaubereiminister zu erörtern. Bei dieser würde er dann die neue französische Zaubereiministerin Ornelle Ventvit treffen. Um sich bestmöglich auf dieses Treffen vorzubereiten hatte er alles über sie zusammentragen lassen, was über sie in seinem Ministerium an Dokumenten verfügbar war.

Er wollte gerade mit seinem Beauftragten für magische Beziehungen ausloten, wie er sich dieser Hexe gegenüber darstellen sollte. Da erreichte ihn die Nachricht von einem tödlichen Zusammenstoß zwischen einem dieser mit magielos arbeitenden Kühlmaschinen ausgestatteten Lastwagen mit einem steinalten Urafrikaner, der außer seiner einfachen Kleidung noch eine Trommel dabeigehabt hatte. Das und der Umstand, dass der Lenker des Gemüse befördernden Selbstfahrwagens regelrecht von innen her zerbissen oder in tausende Teile zerstückelt war, ohne dass seine Haut äußere Verletzungen zeigte, legte nahe, dass hier Magie im Spiel war. Womöglich war der Mann mit der Trommel ein Zauberer aus einem Land südlich der Sahara, dessen Geist nach dem Tod blutige Rache genommen hatte und vielleicht nun immer noch umherspukte, weil er keinen Weg in die friedliche Nachtodwelt fand. Zumindest aber musste das Zaubereiministerium die Spuren des Unfalls verwischen und den von innen her restlos zerhackten Leichnam verschwinden lassen. Das war wieder viel Arbeit für die Verhüllungstruppe, die die Auswirkungen der Magie in der sogenannten modernen Welt der Nichtmagier zu behandeln hatte. Vor allem musste sichergestellt werden, dass der mögliche Rachegeist nicht noch andere Menschen tötete.

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17. November 2002

Catherine Brickston überlegte, ob sie es Joe sagen sollte, dass sie das dritte Kind von ihm trug. Doch sie verschob es erneut. Noch war Joe nicht in der entsprechenden Verfassung. So reiste sie ohne Claudine noch einmal zu ihm in die Delourdesklinik, um ihm zu erzählen, wie die Willkommensfeier für Linda Estrella, Hillary Camille und Louis Eurypides Merryweather verlaufen war. Außerdem wollte sie ihm Heilerin Greensporns Genesungswünsche überbringen. Doch offenbar war Joe gerade in einer sehr aggressiven Phase. Als Catherine zu ihm ins Zimmer ging bellte er sie wie ein wütender Straßenhund an, ob sie das anmachte, dass er gerade so hilflos im Bett liege. "Kann mir vorstellen, dass du jetzt ganz oben auf bist, weil du mich endlich mal vom Rechner weggekriegt hast. Aber dafür hast du jetzt keinen, der es dir besorgen kann, wie?"

"Den hatte ich auch in den letzten fünf wochen nicht, weil du ja immer erst ins Bett gekommen bist, wenn ich schon geschlafen habe oder schon wieder aufgestanden bist, wo ich noch geschlafen habe", erwiderte Catherine kalt. "Haben sie dir nicht erzählt, warum du hier bist? Das wundert mich jetzt aber."

"Die meinen, ich sei hier, um von einer Droge runterzukommen, als wäre ich so'n verlauster Fichser. Aber das kann ja nicht sein, weil die mir ja dann mit einem einzigen Entgiftungstrank die bitterbösen Drogen aus dem Körper geschwemmt hätten."

"So, diese Bonbons, diese sogenannte Kreativschokolade, hast du nicht gegessen, um dich ständig wach und leistungsfähig zu halten?" fragte Catherine sehr ungehalten.

"Das Zeug ist harmlos. Ist wie drei Tassen Kaffee in einem Bonbon. Heute säuft jeder Pimpf diese Energiegetränke. Nichts anderes ist das. Also kann das mich nicht so abgeschossen haben, wie die hier behaupten, vor allem die große Meisterin, der gerade wohl einer nach dem anderen abgeht, dass sie mich hier in ihrem Reich festhalten kann. Die haben mir irgendso'n Sauzeug eingetrichtert, dass mir die Birne fast weggeflogen wäre. Am Ende hat die noch in diesen Hexentrank reingepisst, damit ich wieder was von der im Körper habe oder hat sich die alten Milchtüten ausgewrungen, wo die mir damals wegen dieser Muggelabwehrverwünschung in Millemerveilles ihre angejahrte Glibberdose auf die Füße gedrückt hat, um mich aus ihrem Bauch raus mit magischer Energie aufzuladen", erging sich Joe in wüsten Äußerungen. Catherine war froh, dass Claudine das nicht mithörte. Dabei musste sie an Julius' Erzählungen über seine Zeit mit Madame Maximes Blut im Körper denken.

"Ich soll dir schöne Grüße von den Latierres und Martha bestellen. Martha ist traurig, dass du nicht kommen konntest."

"Ich bei der kommen? Da hat die's doch nie drauf angelegt. Die hat sich doch von Richard beschwatzen lassen. Wäre die damals mit mir zusammengekommen würde ich heute nicht hier liegen", polterte Joe. Catherine traf diese Äußerung wie ein Dolch ins Herz. Sie war froh, gerade zu sitzen. Sonst wäre sie sicher umgefallen, so schwindelig wurde ihr. Joe grinste, weil Catherine wohl gerade kreidebleich wurde. "Klar, dass dich das jetzt aus den Schuhen haut, nicht wahr. Aber wenn Martha meinte, sich erst mit so einem Plastikmixer zusammen zu tun und jetzt meint, es sei toll, eine Hexe zu sein und gleich drei Bälger von einem anderen Zauberer ausgebrütet hat, dann ist die nicht traurig, dass ich bei dieser gottlosen Willkommensfete nicht dabei war."

"Joe, sei ganz froh, dass ich weiß, wie mies es dir gerade geht. Sonst hätte ich dir den Spruch eben nicht durchgehen lassen", erwiderte Catherine, die jetzt die Wutröte ins Gesicht steigen fühlte. "Ich habe dir ein erfülltes Leben ermöglicht, dir deine Interessen und Ziele erlaubt, von dir zwei gesunde Töchter bekommen und dich gegen viele Anfeindungen und Erniedrigungen aus der Zaubererwelt verteidigt. Das muss und werde ich mir nicht anhören, dass du immer noch meinst, dieser einseitigen Verehrung für eine Andere Frau nachzuhängen, die auch ein erfülltes Leben hat und gerne deine Freundin gewesen wäre, wenn du nicht gemeint hättest, sie für mehr haben zu wollen." Joe blaffte nur:

"Wusste ich doch, dass das bei dir da trifft, wo's weh tut."

"So, dann wolltest du mir hier und jetzt in voller Absicht weh tun? Wolltest du das wirklich?" ereiferte sich Catherine. Ihr Herz wummerte bereits mit über hundert Schlägen. Sie musste sich schnell wieder beruhigen. Nicht dass sie hier vor Joe das dritte Kind verlor. Joe grinste nur wie ein kleiner Junge, der einen gelungenen Streich gespielt hat. Dann brüllte er:

"Mach, dass du rauskommst und sage dieser Eauvive, wenn die noch mal versuchen, mir was einzutrichtern können die mich mit den Füßen voran hier raustragen."

"Werde ich ausrichten, Joe. Erhol dich und komm wieder zu dir selbst zurück!" Grummelte Catherine und versuchte, aufzustehen. Doch die Aufregung der letzten Minute hatte ihren Kreislauf sichtlich durcheinandergebracht. Sie fiel wieder auf den Stuhl zurück, musste um ihr Gleichgewicht kämpfen. Sie schaffte es erst beim zweiten Versuch, aufzustehen und mit sichtlichem Seegang zur Tür zu gehen. Joe lachte gehässig und meinte, dass sie wohl bei der Drillingsankunftsparty mehr gesoffen hatte als sie vertrug und das immer noch wirkte. Doch Catherine hörte jetzt nicht mehr darauf. Sie dachte immer daran, dass Joe gerade nicht bei Sinnen war und alles was er sagte das Geschwätz eines mit sich und seiner Umwelt im Streit liegenden Kranken war. Nein, im Moment wollte sie ihm die Sensation der Woche nicht auftischen. Außerdem würde er ihr das wohl nicht glauben.

"Da hat meine Kollegin Greensporn schon in gewisser weise recht, dass Joseph sich gerade in einer sehr abneigenden Phase befindet wie einer, der jahrelang von einer grünen Waldfrau abhängig war", sagte Antoinette Eauvive bei der kurzen Besprechung in ihrem Büro. "Zumindest heißt das aber, dass wir mit diesem Seelenzustand umgehen können. Es ist jetzt auch sicher, dass dieses künstliche Stimulanz die Gehirnfunktionen umgestellt hat. Aber wir kriegen das hin, Catherine."

"Und wenn ihr das nicht hinbekommt. Ich meine, wenn sein Körper so auf dieses Gift umgestellt worden ist, dass es für ihn so lebensnotwendig ist wie Wasser und Luft für uns, was dann?" wollte Catherine wissen.

"Dann bleiben zwei Möglichkeiten: Entweder wir stellen ihn entsprechend auf eine geringe Menge dieses Unrates ein oder führen eine Genesungsverjüngung durch, einschließlich Erinnerungsentleerung."

"Dürft ihr das bei einem erwachsenen Mann, der noch dazu nur durch die Ehe mit mir mit der magischen Welt zu tun haben darf?" fragte Catherine, die sich fragte, wie sie das ihren Schwiegereltern beibringen konnte.

"Im Moment behandeln wir ihn so wie einen,der von einer Waldfrauenabhängigkeit entwöhnt wird, eben nur mit anderen Tränken. Was ich sagte ist nur der letzte Ausweg. Ich werde ihn auf jeden Fall nicht als von unserer Seite untherapierbar in die Hände der Muggelweltärzte geben. Die würden ihn in eine sogenannte Nervenheilanstalt einsperren oder in einem Pflegeheim unterbringen. Wir wollen und werden ihm helfen, Catherine. Im Moment ist das für dich und deine Töchter sehr schwer zu verkraften. Aber wenn wir es schaffen, ihn zu heilen, wird er dir danken, dass du ihm geholfen hast."

"Falls ihr ihn heilen könnt", meinte Catherine dazu.

"Nein, wenn und dann, Catherine", stellte Antoinette Eauvive klar.

Wieder bei sich zu Hause ließ Catherine der angestauten Wut und Verzweiflung ihren Lauf und weinte hemmungslos in ihrem Arbeitszimmer. Wieso konnte dieser englische Sturkopf nicht begreifen, dass sie ihm nur helfen wollte? Wieso hatte der überhaupt dieses Gift genommen, wo er doch im Fernsehen sehen konnte, wie Drogen junge Leute zu körperlichen und seelischen Trümmerhaufen machen konnten. Der hätte doch einfach nur nein zu sagen brauchen. Und von dem hatte sie wieder ein Baby im Bauch. Und sie war auch noch so blöd gewesen, das von Hera bestätigen zu lassen. So hätte sie heimlich den Trank der folgenlosen Freuden brauen und schlucken können, und dieser undankbare Kerl hätte nie im Leben erfahren, dass er bald wieder vater geworden wäre. Doch dann fand sie endlich wieder zu sich. Er war krank, er wusste nicht, was er sagte und hatte sicher verdammt viel Angst. Hinzu würde er irgendwann noch unter Selbstvorwürfen oder Selbstmitleid zu leiden haben, wenn er endlich an sich heranließ, was er sich angetan hatte. Außerdem trug sie vor allem ihr drittes Kind. Das konnte ja wirklich am allerwenigsten für die vertrackte Situation, in der sich seine Eltern befanden.

Am Nachmittag bekam sie einen Anruf von Julius Latierre aus dem Computerraum des Büros für die friedliche Koexistenz von Menschen mit und ohne Magie. Er teilte ihr mit, dass in einer konzertierten Aktion der australischen, britischen, Deutschen, Österreichischen, US-amerikanischen, französischen und tschechischen Polizei unter Leitung von Interpol die Drogenlabore ausgehoben werden konnten, wo das sogenannte Ultradrenalon hergestellt wurde, dass unter dem verharmlosenden Namen Kreativschokolade verteilt worden war. Dank der heimlichen Recherchen und Computerspionage von Julius und anderen Zaubereiministeriumsexperten anderer Länder war auch eine Liste aller Konsumenten erbeutet worden. Diese wurden jetzt von Muggelweltheilkundigen betreut. Als sie hörte, dass zehn von den Konsumenten in psychiatrische Kliniken eingewiesen werden mussten, weil sie mit übermenschlichen Kräften gewalttätig geworden waren wusste sie wieder, wie viel Glück ihr Mann hatte, dass er von Antoinette Eauvive behandelt werden durfte.

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18. November 2002

Tage war er umhergeflogen, nachdem er aus Geisterlenkers Körper hinausgestoßen worden war. Jetzt fühlte er mit seinen uneingeschränkten Sinnen die drei letzten ihm nachjagenden Geisterlöwinnen. Er nahm sich vor, diese Verfolgerinnen ein für alle mal zu vernichten.

Er wartete, bis die drei nur für ihn sichtbaren Tiergeister auf ihn zusprangen. Dann teilte er mit seinen eigenen Gedankenpranken aus. Eine der Geisterlöwinnen erwischte er voll am Kopf. Sie zerbarst lautlos in einer Wolke silberner Funken. Da er als körperloser Rächer beliebig viele Gedankenarme und -hände einsetzen konnte schaffte er es, die beiden anderen Löwinnen wie mit stacheligen Fangranken einzuschnüren und ihnen ihre Kraft auszusaugen. Sie wurden kleiner und kleiner, bis sie als winzige Silberdunstwolken in ihn hineingesaugt wurden.

"Ich bin unbesiegbar!" brüllte Otschungus Gedankenstimme so laut, dass sie sicher in allen Welten gehört wurde.

Nach dem Rausch der Überlegenheit erkannte Otschungu, dass er zwar die letzten Verfolger erledigt hatte, sein eigenes Jagdziel aber noch in einiger Entfernung lag. Denn solange er nicht wusste, wer die zweifache Mutter war, solange musste er von Land zu Land, von Körper zu Körper überwechseln, immer in Gefahr, von anderen Feinden entdeckt und zum Kampf gestellt zu werden. Jeder Kampf würde mehr Aufmerksamkeit erregen. Wuchs die Aufmerksamkeit, so wuchs auch die Gefahr, dass die gesuchte Menschenfrau gewarnt wurde und sich wie die Trommler an einen für ihn unbetretbaren Ort zurückzog, und zwar mit ihren zwei Bälgern. Also musste er schnell herausfinden, wer sie war, um sie sich zu holen.

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19. November 2002

Der Mensch war ahnungslos wie die Maus, die nicht merkt, dass der Adler bereits über ihr kreist. Er war ein Träger der Magischen Kraft, schon einige Jahrzehnte alt. Wie er hieß bekam Otschungu erst heraus, als er in Hörweite des Menschen war: Abdel ben Hussein Al-Maadi. Der Mensch war unverheiratet. Gut so, so hatte der weder Weib noch Kind. Außerdem arbeitete er in einer Organisation, die sich Zaubereiministerium von Algerien nannte. Da war er sowas wie ein Botenhäuptling, einer der die Boten seines Stammes in alle Himmelsrichtungen aussandte oder Botschaften anderer Stämme und Bünde hörte und seinem obersten Anführer, dem Zaubereiminister, überbrachte. Ja, den wollte er sich jetzt nehmen. Wenn der nicht wusste, wer die weißhäutige Hexe mit den nachtschwarzen Haaren und den blausteinfarbenen Augen war, dann konnte der zumindest einen Boten ausschicken, der nach ihr suchte.

Wie der niederstoßende Adler, so schnellte Otschungus Geist aus vier Manneslängen Höhe auf sein Opfer nieder, drang in dessen Körper ein und umschlang seinen aufflackernden Geist. Es kam zu einem wilden Kampf, bei dem jeder außenstehende sehen und hören konnte, dass sich Abdel ben Hussein Al-Maadi wild schreiend und Stöhnend mit zuckenden Armen und Beinen am Boden wälzte. Otschungu wusste, wenn er ihn nicht in weniger als fünf weiteren Atemzügen überwältigt hatte würde jemand Hilfe holen, um den scheinbar unter einem wilden Anfall leidenden Mann zu holen. Dann war die ganze Mühe umsonst.

Abdel wehrte sich. Doch Otschungu war gnadenlos und stieß in Bereiche des zu knechtenden Geistes vor, wo die schlimmsten Erinnerungen, die größten Enttäuschungen und die größten Ängste schlummerten. Mit grauenvollen Visionen schaffte es Otschungu, den anderen niederzuringen. Dann überflutete er den niedergeworfenen Geist mit Bildern von Lust und Leidenschaft, um ihn endgültig aus der wirklichen Wahrnehmung herauszulösen. Dann hatte er ihn endlich restlos umschnürt und durchdrungen. Jetzt bekam er auch die Gewalt über den Körper. Wieso hatte er erst gedacht, der andere wäre schwächer als Geisterlenker gewesen? Der war eher stärker als dieser Trommelschläger und konnte sich eine kurze aber für den Rächer viel zu lange Zeit lang gegen ihn wehren. Was wäre gewesen, wenn der den Angriff vorausgeahnt und sich darauf vorbereitet hätte? Doch das war jetzt unwichtig. Otschungu hatte einen neuen Wirt und konnte mit ihm seinen Plan fortführen.

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20. November 2002 christlicher Zeitrechnung

"Ja, und am ende tragen vier von unseren Mitschwestern deinen Nachwuchs, feixte Yanhagoorian seinen Begleiter an, der nicht Blutsverwandt war. Sie waren von den noch lebenden Sonnenkindern mit vereinter Kraft über die lange Strecke geschickt worden. So ähnlich machte es wohl auch ihre neue Erzfeindin, die im Stein der Mitternacht eingeschlossene Nachttochter, die ihre Kraft aus tausend mit ihr verwobenen Seelen bezog.

"Was gibt es hier alles für ungebändigte Tiere?" wollte Askayanar wissen.

"Beinlose Schuppentiere, gepanzerte Schuppentiere in den Gewässern, Großkatzen, bei denen die Männlichen dichtes Kopfhaar tragen und solche, die viele Punkte auf dem Haarkleid tragen, Rüsselträger, Nasenhornträger und Fleckenfellige Hochaufrager mit langen Beinen und Hälsen, die von den Istzeitlern Giraffen genannt werden", sagte Yanhagoorian. Gwendartammaya hat Irunyana und mir alle Bilder aus diesem Land, dass sie Südafrika nennen, übermittelt."

"Ach ja, und weil Simattadaria sich nicht auf was anderes besinnen wollte als auf den Lebenstanz mit mir habe ich davon nichts mitbekommen", grummelte Askayanar.

"Nicht verärgert sein, Askayanar. Dafür dürfen wir jetzt sogar gegen alles kämpfen, das uns böses tun will und dabei sogar sterben. Wer weiß, vielleicht darfst du dann noch mehr von Simattadarias körperlichen Fähigkeiten mitbekommen."

"Stimmt, die hat schon vor zwei Sonnen den kleinen Schreihals Osantadarian bekommen", schnaubte Askayanar. "Also sollten wir besser am Leben bleiben, auch deshalb, weil wir dieses Zeichen nach Ashtaraiondroi bringen sollen."

"Wer sagt, dass nicht einer von uns es tragen soll?" fragte Yanhagoorian.

"Wenn ein Sohn der Sonne eines der drei Zeichen findet und an sich nehmen kann, dann darf er es nur tragen, wenn er das älteste ihm bekannte Sonnenkind ist oder nicht weiß, dass es noch andere Sonnenkinder gibt und er mit diesen keine Verbindung erhalten kann. Gwendartammaya konnte das erste Zeichen nur behalten, weil sie unsere Erweckerin ist und keine geborene Sonnentochter war, aber von dem Zeichen als künftige Mutter von Sonnenkindern auserwählt wurde. Wenn einer von uns das Zeichen findet und seine Gunst erwirbt, dann darf er es nur solange behalten, bis er einem älteren reinblütigen Sonnenkind begegnet, so das alte Gesetz der Eltern."

"Dann darf ich das Zeichen ergreifen, weil ich zwei Sonnen älter als du bin", sagte Yanhagoorian. Askayanar bejahte es. Die ganze unterhaltung war auf reinem Gedankenweg erfolgt.

Die Landschaft glühte im Schein der aufgehenden Sonne. Die beiden Sonnensöhne wollten nicht noch einmal den Fehler ihrer verstorbenen und zum Teil in neuen Sonnensöhnen wiederkehrenden Volksangehörigen begehen, ohne die ihnen zufließende Kraft des Himmelsfeuers auf mögliche Feinde zu treffen. In ihren Hautengen, alle Körperausscheidungen tilgenden Rüstungen waren sie für jeden Unberechtigten unsichtbar. Doch ob das auch gegen die Kräfte half, die hier noch wirken mochten?

Die Rüstung von Yanhagoorian erzitterte sanft aber spürbar. Etwas wirkte auf sie ein und wurde von ihr zurückgedrängt. Mit dem Lied der Erhellung, das dunkle Kräfte für den Sänger sicht- oder anderswie wahrnehmbar machte, beschwor Yanhagoorian einen rötlichen Nebel herauf, der aus den sich auflösenden Körperteilen von Menschen zu bestehen schien. Zugleich hörte er den aus der Warzeit in die Istzeit reichenden Nachhall eines dumpfen Berstens, begleitet vom erst schmerzhaften Schreien und dann fröhlich jauchzenden Menschen. Ja, hier hatte vor nicht einmal einem halben Sonnenkreis noch eine sehr dunkle Kraft gewirkt, die jedoch durch eine mächtige Kraft des reinen Lichtes in ihr Gegenteil umgewandelt wurde und damit alle mit ihr verwobenen Flüsse und Formen ausgelöscht hatte. Yanhagoorian vermutete das nur den Folgern reinen Lichtes bekannte Lied der alles Übel wendenden Worte. Er kannte eigentlich nur die Berichte von Julius Erdengrund, der wohl von einer überdauernden Lichtkönigin zu ihrem Helfer und Boten erkoren worden war. Doch offenbar hatte er die Erlaubnis bekommen, auch anderen die Lieder des reinen Lichtes beizubringen. Denn sonst hätte diese Catherine, was Reinheit hieß, wohl nicht diese mächtige Kraft niederreißen und zerstören können.

"Na, merkst du auch, dass hier die Lieder des dienstbaren Daseins gesungen wurden, Yanhagoorian?" fragte Askayanar, der wohl auch nachprüfte, was hier gewirkt hatte.

"Ja, ich merke es. Da vorne", gedankensprach Yanhagoorian und deutete auf einen großen Haufen hausgroßer Felstrümmer. Askayanar wies mit seinem rechten Arm auf einne Stelle, die wie ein Durchgang aussah, allerdings zu klein für die beiden Sonnensöhne. Der Durchgang war offenbar erschaffen worden, um durch diesen Trümmerhaufen hindurchzugelangen. Allerdings rutschten die schweren Brocken immer mehr nach. Der Durchlass würde bald auch für Nagetiere zu klein sein. Weitere Spalten und Risse in den Felsbrocken zeigten nur, dass hier große Kräfte gewirkt hatten.

"hinter den Trümmern muss die Höhle liegen, wo der mit dunkler Kraft beladene Schädel eines Rüsselträgers liegt, in dem das zweite Zeichen steckt", vermutete Askayanar. Dann zog er seine mitgenommene Sonnenkeule und zielte auf die Felsen über dem schmalen Durchlass.

"Das wird nicht viel bringen, weil wir nicht wissen, wie viele Felsen es sind", gedankensprach Yanhagoorian. Doch Askayanar wollte es zumindest versuchen. Er löste den dünner als ein Finger gebündelten Strahl aus verdichteter Sonnenglut aus. Fauchend fraß sich der gleißende Strahl in die Felsen um den Durchlass. Mit lautem Knall barst einer nach nur einem Atemzug unter dem Strahl, der viel heißer war als der glühende Auswurf der großen Mutter. Weitere Felsen platzten mit lautem Krachen auf und zerbrachen. Dichter Rauch aus Staub und Wasserdampf wölkte vor der Höhle auf. Immer noch hielt Askayanar auf den Durchlass. Doch wo er Felsen wegbrannte rutschten knirschend neue Felsen nach. Der Trümmerberg war zu hoch und zu schwer. So gab Askayanar es auf, als der Vorrat an geladener Sonnenglut aufgebraucht war.

"Wie hat die das gemacht, durch diesen Berg zu kommen?" knurrte Yanhagoorian.

"Gesteinszersetzungszauber, Jungs", hörten sie die Gedanken von Gwendartammaya, die über Faidaria mit den beiden Ausgesandten verbunden war. "Wie geht der?" wollte Askayanar wissen. Gwendartammaya schickte ihm und Yanhagoorian die entsprechenden Gedanken in Worten und Bildern, wie sie den Excavatus-Zauber und den Effodius-Zauber einsetzen konnten. Damit ging es dann so schnell und gründlich in den Trümmerberg und durch diesen hindurch, dass Yanhagoorian einmal mehr verwünschte, mehr auf die das Feuer und die Sonne bezogenen Kräfte ausgeprägt worden zu sein. Ein Kundiger der Erde hätte hier sicher nicht lange verharren müssen und den Trümmerberg innerhalb weniger Atemzüge aus seinem Weg geschafft.

Durch den Trümmerberg ging es hinein in einen Gang, dessen Decke bereits sehr rissig war. Offenbar war die Höhle nicht mehr so beständig wie über die letzten Tausendersonnen.

Askayanar sang das Lied des geleitenden Lichtes und erschuf damit eine über seinem Kopf frei schwebende, flammenlose Kugel aus warmem, weißgelbem Licht. So konnten die zwei Sonnensöhne in die Höhle eindringen.

Sie merkten bei ihrem Vorstoß, dass die sie vorhin noch so belebende Kraft ihres übermächtigen Ahnherren, der Sonne selbst, nicht mehr wirkte. Hier herrschte ewige Nacht. Dadurch, dass sie das geleitende Licht gerufen hatten, nützte ihnen auch die für Unberechtigte errichtete Unsichtbarkeit nicht viel.

"Wir hätten das Lied des kleinsten Lichtes singen sollen", knurrte Yanhagoorian. Doch Askayanar widersprach: "Das hätte unsere Macht über Feuer und Licht auf ein Viertel niedergedrückt. Glaub mir bitte, dass ich meine Licht- und Feuerlieder gelernt habe."

"Ich habe sie auch gelernt. Aber so bieten wir gerade ein gutes Ziel oder warnen jeden, der im Dunkeln lauert, dass wir kommen."

"Die sehen nur das geleitende Licht, sonst nichts", widersprach Askayanar.

"Willst du mir jetzt einreden, dass uns niemand so erfassen und bestürmen kann?" gedankenfragte Yanhagoorian.

"Jungs, seid ihr sicher, dass ihr schon ausgereifte Männer seid oder nicht doch noch mal neu geboren werden wollt?" fragte Gwendartammaya über die errichtete Gedankenverbindung.

"Ich lasse mir von einer, die meine Sohnestochter sein kann sicher nicht so frech kommen", knurrte Yanhagoorian. "Schon gar nicht von einer, die erst von innerer Dunkelheit freigebrannt werden musste, um mit einem der Unseren ein Kind zu zeugen", fügte er noch hinzu.

"Was mir mehr weh getan hat als die Geburten von Gooardarians Kindern", gedankenschnaubte Gwendartammaya.

"Yanhagoorian, ich spüre die Kraft der Mitternacht und den leisen Ruf des Himmelsfeuers. Das zweite Erbzeichen ist wahrhaftig in einem Gefäß der Mitternächtigen gefangen."

"Dann holen wir es jetzt dort heraus", stellte Yanhagoorian klar. Denn auch er fühlte das wilde Ruckeln an der Rüstung und sah einen blutroten Strahlenkranz um sich herum.

"Ich gewahre euch, Söhne meines Volkes! Ihr seid mir willkommen!" wisperte eine weder männlich noch weiblich klingende Gedankenstimme. Die beiden Männer nahmen diese Mitteilung als endgültige Aufforderung wahr, nun so schnell es ging in die Höhle einzudringen.

Wie der mit dem Reich der Vorväter in Verbindung gekommene Istzeitmensch berichtet hatte war das Gefäß der mitternächtigen Kraft der mit Mondmetall und Sonnenmetall überzogene Knochenschädel eines männlichen Rüsselträgers. Die gewaltigen Stoßzähne ragten den Eindringlingen abweisend entgegen. Jetzt sahen sie auch die dünne, durchsichtige Haut, mit der der Schädel bespannt war. Diese Haut fing auf einmal zu zittern und zu beben an. Es klang ein dumpfes Brummen, das zu einem eher mit dem Bauch vernehmbarem Wummern wurde. Doch die Rüstungen hielten dem durch ihre eingewirkten Kräfte entgegen. Der durch die bebende Haut erzeugte Schall wurde von Körper und Ohren der beiden Sonnensöhne abgehalten. Auch als das Wummern offenbar so stark wurde, dass erster Staub von Wänden und Decke abfiel konnten die beiden Ausgesandten noch auf den Schädel zugehen. Yanhagoorian sah durch eines der Augen und erkannte das immer heller werdende Licht aus dem inneren. Ja, da glomm das zweite Zeichen. Er erkannte die Form und sah im Widerschein die Kette, an der es befestigt war. Er wollte durch die Augenhöhle des nun wild pochenden und bebenden Schädels greifen. Doch dabei prallte die Schutzkraft seiner Rüstung auf eine ihr entgegenwirkende Kraft. Es prasselte und blitzte zwischen Yanhagoorians Hand und der Augenhöhle. Jetzt änderte das Wummern die Geschwindigkeit, wechselte sogar die Abfolge der Erschütterungen.

Askayanar sang noch einmal das Lied des erhellenden Lichtes. Damit beschwor er wilde Leuchterscheinungen aus Rot, Grün, Blau und Gold herauf, die alle wie um sich schlagende Fangarme mit armlangen Feuerstacheln aussahen. Nun zeigten sich in der Bespannung überlebensgroße Gesichter von dunkelhäutigen Menschen, wie sie auch die Sonnenkinder als Ureinwohner dieses Erdteils kannten. Sie brüllten ihnen laute Verwünschungen entgegen. Es knisterte um die beiden Sonnensöhne herum. Außerdem geriten die Decke und Wände nun durch das wilde Wummern in Aufruhr. Risse bildeten sich. Erst Trümmerstücke, klein wie Flusskiesel, regneten herunter.

"Und wir nehmen unser Erbe doch mit", dachte Yanhagoorian, wollte seine Sonnenkeule nehmen. Da fiel ihm jedoch ein, dass das Metall auf dem Schädel den Strahl womöglich spiegeln mochte und gegen Hitze beständig gemacht worden war. Doch er hatte eine andere Idee.

Er stimmte ein Lied an, das die Macht des Himmelsfeuers anrief, in ihrem Namen verstärkte Dinge zueinander zu bringen. Das hätten sie eigentlich schon längst machen können. Doch das Lied kostete immer so viel Kraft.

Tatsächlich strahlte das im Schädel steckende Sonnenkraftschmuckstück heller und schleuderte Blitze, die auf die Rüstung Yanhagoorians trafen und von dieser zurückgeschickt wurden, bis ein gleißender, ganz geräuschlos flackernder Lichtbogen zwischen Yanhagoorian und dem Schädel bestand. Der Schädel ruckte zur Seite und nach oben, wohl um den Verbindungsstrahl zu trennen. Doch dieser schnitt nun in die Ränder der Augenhöhlen, fraß sich mal zur Seite und mal nach unten seine Bahn durch den Stoff. Dann sprang das Sonnenzeichen an seiner Kette aus dem so freigesprengten Loch heraus und sauste auf Yanhagoorian zu. Er fing es auf. Da krachte es so stark, dass die Wände und die Decke barsten und die ersten größeren Felsbrocken auf sie niederstürzten. Doch die Sonnenrüstungen panzerten ihre Träger. Vielmehr erzeugten sie eine Umhüllung aus unsichtbarer Glut, in der die niederfallenden Trümmer laut krachend zerbarsten und ihre Reste glutrot in alle Richtungen davonspritzten. Dann gedankenrief Askayanar:

"Die mitternächtige Kraft zerstört ihr Gefäß! Holt uns zurück!"

"Das geht nur unter freiem Himmel", hörten sie Faidarias Gedankenstimme rufen. Also hieß es, schnellstmöglich aus der Höhle hinauszulaufen, bevor die dunkle Kraft sich aus ihrem Gefäß freisprengte und was auch immer hervorrief.

Als die beiden im Flackern der immer noch sichtbar gemachten Erscheinungen der dunklen Kraft auf den Höhlenausgang zurannten sahen sie, dass der Trümmerberg wieder den Durchgang verschüttet hatte. So blieb ihnen wieder nur der Effodius-Zauber.

Im nächsten Moment barst hinter ihnen etwas, und sie fühlten eine unbändige Welle über sich hinwegjagen, die nur deshalb spürbar war, weil sie Rüstungen trugen, die ihre Kraft zurückdrängte.

Als sie sich durch den Trümmerberg hindurchgearbeitet hatten brach hinter ihnen die Höhle zusammen. Staub wirbelte wie bei einem heftigen Sandsturm an ihnen vorbei. Vor ihnen breitete sich ein dunkelrotes Wetterleuchten aus, das in alle Richtungen zuckte und flackerte. Dann hörten sie das Brüllen von großen, gefährlichen Tieren. Außerdem sahen sie, dass überall dort, wo die roten Blitze in den Boden fuhren, Erdfontänen hochschnellten. Aus den sich öffnenden Kratern wuchsen stämmige Männer mit Lendenschurzen. Es waren mindestens tausend. Sie gingen auf die beiden Sonnensöhne zu. Gleichzeitig flogen von oben Feuerbläser herunter, gepanzerte Echsen mit Flügeln, die für andere Menschen verheerende Feuerstöße speien konnten. Doch die beiden Sonnensöhne sahen die ihnen leicht wankend entgegenkommenden Männer als größere Bedrohung an. Denn sie trugen Speere in ihren Händen. Feuer konnte den Sonnensöhnen nichts. Aber gegen tausend geworfene Speere würden die Sonnenrüstungen nicht lange durchhalten, auch wenn sie bereits wieder im Sonnenlicht standen.

"Wir rufen euch zurück!" hörten sie Faidarias Stimme. Da waren die ersten der aus dem Boden gewachsenen Krieger heran und stießen blitzschnell zu. Ihre Speere wurden von den Rüstungen abgeprellt. Aber die beiden merkten, dass ihnen dafür Kraft entzogen wurde. Noch mehr Krieger griffen an. Sie wankten von allen Seiten heran. Da sang Yanhagoorian das nur aus seiner Ausbildung vertraute Lied der zehn augenblicklichen Tage und hielt dabei das Zeichen des Vaters Himmelsfeuer nach oben, genau in das Licht der Sonne hinein.

Als er die letzte Silbe gesungen hatte strahlte ein Licht von solcher Stärke aus, dass jeder andere Mensch auf der Stelle erblindet und verbrannt wäre. Die Sonnensöhne konnten jedoch das auf diese Weise freigesetzte Sonnenfeuer ohne Gefahr für die Augen sehen. Für wenige Sekunden sahen sie die Knochen der Gegner. Dann schlugen Flammen aus den Körpern heraus. Die Speere loderten wie schnell abbrennende Reisigbündel. Dann zerbarsten die Angreifer im plötzlich freigesetzten Licht. Dampf und Asche war das einzige, was von den tausend unheimlichen Angreifern übriggeblieben war. Gleichzeitig hörten sie die von oben niederstoßenden Feuerbläser. Diese brüllten vor Schmerzen auf und spuckten ihre Flammenstöße. Dann gerieten sie aus ihrer Flugbahn und stürzten völlig hilflos wie Felsbrocken zu Boden. Es krachte dumpf. Staub und Erdreich spritzte hoch. Das meiste davon war schwarz verbrannt. Dann erlosch das beschworene gleißende Licht. Die Helligkeit von zehn hellen Sonnentagen war innerhalb zweier Atemzüge freigesetzt worden.

Weitere Feuerbläser fielen Flammengarben ausspeiend nieder und krachten auf dem verbrannten Boden, der bis zu hundert Schritte um die beiden Sonnensöhne herum ausgebreitet lag. Askayanar konnte bei einem der Feuerbläser sehen, dass die Augen schwarz angelaufen waren. Dann erfasste ihn und seinen Mitstreiter Yanhagoorian der leuchtende Wirbel der vereinten Kraft der Sonnenkinder.

Über die vielen tausend Tausenderschritte eilten die beiden Sonnensöhne auf ihre Heimatinsel zurück, wo sie in der Mitte eines von allen lebenden Sonnenkindern gebildeten Kreises herauskamen. Yanhagoorian atmete durch. Askayanar verbeugte sich tief vor den anderen. Er war froh, dass sie wieder in Sicherheit waren.

"Habe ich das richtig mitbekommen, dass zwanzig schwarze Drachen über euch herumgeflogen sind?" wollte Gwendartammaya wissen.

"Ja, und die sind alle blind geworden und dann runtergefallen", sagte Yanhagoorian. "Aber diese Krieger hätten uns in ihrer Menge sicher gefährlich werden können."

"Ihr seid wieder da, und das zählt", sagte Faidaria, die sichtlich angestrengt aussah. Dann streckte sie ihre rechte Hand aus. Yanhagoorian sah erst fragend. Doch dann verstand er. Er übergab seiner Anführerin das erbeutete Erbzeichen der Sonnenkinder. Faidaria nahm es, sah es an und hielt es in die Sonne. Sie nickte. "Ja, es ist erschöpft, aber noch am Leben. Es soll sich erholen", sagte sie. Dann hängte sie sich das Schmuckstück an der Kette um den Hals und verstaute es unter ihrem weiten Gewand.

"Jetzt fehlt das in der Morgenrichtung versteckte", sagte Miridaria.

"Zumindest stehen unsere Möglichkeiten gegen die schlafende Göttin besser als vorher", sagte Faidaria erleichtert. "Gwendartammaya, warte noch einen halben Tag, bevor du unserem Gesinnungsgenossen die Kunde von unserem Erfolg berichtest."

"Ja, Faidaria, werde ich machen", erwiderte Gwendartammaya.

"Künftige Mutter, bitte mach das nicht noch mal, bevor ich nicht aus deinem inneren Nest geschlüpft bin", beklagte sich Faidarias ungeborener Sohn. "Dein Atem und dein Herz sind so laut, dass ich unmöglich schlafen kann."

"Bald darfst du hinaus und mir in die Augen sehen, Kleines. Gedulde dich noch ein wenig!" erwiderte Faidaria und streichelte zärtlich über ihren gerundeten Unterbauch.

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Samira, eine der Töchter des grünen Mondes, hatte ihre Schwestern um Hilfe gerufen, weil sie am Vortag versucht hatte, ihren Sohn in Gedanken zu rufen. Doch eine unsichtbare Mauer hatte ihre Rufe zurückgeworfen. Als sie noch stärker gerufen hatte, hatte sie ein riesenhaftes Gesicht gesehen, das Gesicht eines dunkelhäutigen Kriegers aus den Regionen südlich der großen Sandwüste. Sie stieß noch einmal vor und wurde von einem Wutschrei zurückgetrieben: "Ich will nichts von dir, Weib!" Samira hätte fast gerufen, dass sie die Mutter war. Doch dann wurde ihr klar, was passiert war. Ihr eigener Sohn war von einem übermächtigen Dibbuk ergriffen und in Besitz genommen worden. Immer schon hatte es solche Fälle gegeben, und sie hatte ihrem Sohn eigentlich auch ein Mittel gegen derartige Überfälle gegeben, die Gemme des freien Geistes. Um so erschreckender war es, dass trotzdem ein solcher Körperdieb ihren Sohn unterworfen hatte. Sie musste jetzt was unternehmen.

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Blutsänger und Winderwecker hörten den letzten Schrei der in der Trommel des Wissens gefangenen Geister. Sie fühlten die Welle aus Todeskraft aus der Richtung, wo das Herz des Feuervaters versteckt gewesen war. Da wussten sie, dass ein Würdiger es erobert und hinausgetragen hatte. Denn nur dann, wenn die Gegenkräfte der Trommel die Fremden nicht daran hindern konnten, das Herz des Feuervaters aus der Trommel herauszuholen, musste sich die Trommel selbst zerstören und damit das letzte Aufgebot beschwören, die tausend Seelenlosen und die zwanzig Feuerbläser.

"Was ist, wenn der, der das Herz erbeutet hat damit auf Flügeln starker Wünsche entkommt?"

"Nicht, solange die Fesseln hemmender Kraft in der Nähe des Berges wirken, sobald die Seelenlosen erwacht sind. Doch wenn doch, dann haben wir unsere Aufgabe verwirkt und müssen uns wohl dem oder denen beugen, der oder die das Herz des Feuervaters haben", sagte Winderwecker verärgert.

"Und wenn das Hellhäutige sind. Ich will nicht zum Diener von Eindringlingen werden", schnaubte Blutsänger.

"Wir haben die Macht über den Rächer verloren. Ihn müssen wir genauso fürchten wie die Herrschaft dessen, der das Herz des Feuervaters hat. Der einzige Weg wäre, noch wen zu unterwerfen, der oder die noch mächtiger ist als der eine oder der andere."

"Du meinst den Erdgeist in Gestalt einer Frau?" fragte Winderwecker. Blutsänger bejahte es.

"Aber von der haben wir nichts, womit wir sie an unser Wort binden oder in das wir sie nach getaner Arbeit hineinzwingen können", erwiederte Winderwecker darauf. Blutsänger deutete auf einen großen Steinbrocken, in den Striche und bogenförmige Runden eingegraben waren. "Wenn wir schon nicht den Stein der großen Erdmutter haben dann zumindest den Ruf- und Sprechstein ihres ersten Sohnes. Sein Geist wacht über den Stein und hilft denen, die damit die mächtigen Geister der Erde herbeirufen. Felsenträger kann die alten Lieder, und seine Gefährtin Lebensruferin kann die Geschichte der Vereinigung zwischen den Erdeltern nachtanzen. So können wir diesen bei uns angekommenen Erdgeist beschwören."

"Ich warne davor, dass wir dann noch eine unüberwindliche Feindin haben, nachdem der unsichtbare Rächer bereits Jagd auf die macht, die von der weißen Schlange mit den Feueraugen wissen", sagte Winderwecker. Doch er fühlte, dass Blutsänger nicht mehr davon abzubringen war, das Buschfeuer mit einem Blitz zu bekämpfen. Vielleicht hätte er genauso gehandelt, wenn er einen Geist der Lüfte hätte rufen können.

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Gwendartammaya saß erneut vor dem Computer. Irgendwie fühlte sie sich ein wenig zurückgesetzt, weil jetzt auch Faidaria ein mächtiges Sonnenmedaillon trug. Doch ihre erstgeborene Tochter Gennarammaya alias Pandora Straton schickte ihr beruhigende Gedanken zu: "Sei froh, dass Faidaria das zweite Medaillon bekommen hat! Sie hätte sonst irgendwann dein Medaillon eingefordert."

Gwendartammaya verfolgte weiter, wie sich die Lage um die in einem griechischen Kloster vermutete Zuflucht jener Vampire entwickelte, die unter dem Einfluss der im Mitternachtsdiamanten eingeschlossenen ehemaligen Lamia standen. Dabei war auch eine Nachricht von Albertine Steinbeißer an sie, Patricia Straton. Albertine hatte es von ihrer höchsten Schwester erfahren, wer genau die Hohepriesterin der schlafenden Göttin war. Anthelia hoffte, diese immer noch als erfolgreiche wie skrupellose Unternehmerin auftretende Griechin bald außer Gefecht setzen oder sie zur Entmachtung Gooriaimirias einsetzen zu können. Zumindest aber erschien nun die Quelle für die Unlichtkristalle gefunden zu sein, mit denen die sogenannte schlafende Göttin ihre Kristallstaubvampire erschuf. Vielleicht lohnte es, sich in Afghanistan umzusehen, ob dort irgendwo jene Handlanger von ihr waren, die im Schatten des Vergeltungskrieges der USA gegen die Taliban und Al-Qaida eigene Massenmordfabriken betrieben, wie Vengor sie betrieb und von denen das tschechische Zaubereiministerium und Anthelia jeweils eine zerstört hatten. Sie wusste aber, dass sie im Moment keine solchen Außeneinsätze mitmachen konnte, weil sie als junge Mutter auf das Wohl der von ihr geborenen Zwillinge und deren älteren Bruder zu achten hatte. Hätte ihr vor acht Jahren jemand geweissagt, sie würde mal als Haushexe auf einer abgelegenen Insel leben, sie hätte denjenigen wohl schallend ausgelacht.

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Er wusste, dass er einen Fehler gemacht hatte. Er hätte dieses nach Abdel rufende Weib nicht so gewaltsam zurückstoßen dürfen. Denn als er noch einmal in den für ihn offen daliegenden Erinnerungen Abdels nachgeforscht hatte, woher er das Weib kannte, da hatte er erfahren, dass es die Mutter seines neuen Körpers war. Er wusste auch, dass sie einem mächtigen Bund angehörte, der sich dem Mond unterworfen hatte. Lächerlich, wo der Feuervater den Himmel regierte und der Mond nur sein nächtliches Auge aber kein ganzes Wesen war. Doch jetzt galt es, schnell in Abdels Erinnerungen zu suchen, ob er die andere Frau kannte, die er suchte. Die Suche dauerte lange, weil Abdel viele Frauen kannte und einige davon leidenschaftlich körperlich geliebt hatte, sehr zum Unwillen seiner Mutter, die gerne endlich einen Nachkommen von ihm begrüßt hätte. Dann fand er eine junge Frau, eher ein gerade erst erblühendes Mädchen, das diese Augen und Haare hatte. Die war vor mehr als zwanzig Sonnen in Abdels Land gewesen, als er noch ein junger Hilfswildhüter in einem großen Reich riesengroßer und gefährlicher Tiere gewesen war. Catherine hatte dieses Mädchen geheißen. Sie war damals mit einer Lerngruppe, Schulklasse genannt, aus dem Land herübergekommen, dass dem hier lebenden Volk seine Sprache und Lebensgewohnheiten aufzudrängen gewagt hatte. Doch wenn das schon solange her war, was hatte dieses Mädchen erlernt und woher kannte sie, die nun eine Mutter von zwei Kindern war, so mächtige Anrufungen, um das Tor der tausend Wehklagen zu vernichten? Leider hatte Abdel ihren Nachnamen nicht mehr gehört. So wusste Otschungu auch nicht wo er sie genau suchen sollte. Er würde wohl in dieses Land namens Frankreich hinüberwechseln müssen, hinein in das Reich der Hellhäutigen. Womöglich kannten die da keinen Weg, jemanden wie ihn aufzuhalten. Er würde dort reiche Beute machen, Leben für Leben, Leib für Leib, Seele für Seele. Dadurch würde er auch in diesem großen Erdteil Europa zum König der Geister, zum Herrscher der körperlosen Seelen.

Um sich für einen erneuten Körperwechsel einzustimmen musste er jedoch in die Nähe von jemanden, der oder die gerade auf dem Weg über das Meer war. Er wollte einen jungen Mann nehmen, kein unreifes Kind, keine Frau. Er verabscheute weibliche Wirtskörper, seitdem ihn diese Geisterbezwingerin damals für ein Jahrhundert besiegt hatte. Doch er fand im Moment niemanden aus der magischen Welt, der über das Meer wollte. Dann sollte es eben einer aus der unmagischen Welt sein.

Ein Wüstenuhu landete in Abdel Al-Maadis Büro. Er brachte den Brief eines Zauberers aus Ägypten, das Land am Nil. Otschungu staunte immer wieder, wie nützlich und vielseitig diese Kunst war, Wörter in kleine gemalte Figuren auf Ziegenhaut zu bannen, damit sie von anderen mit den Augen gesehen und im Kopf in Wörter zurückverwandelt wurden. Das ging sogar ohne Zauberei, wusste Otschungu. Die gemalten Wörter sagten ihm, dass Abdel zu einem geheimen Treffen des ägyptischen, sudanesischen und marokkanischen Mitarbeiters für internationale magische Zusammenarbeit kommen sollte, das dreihundert Kilometer, also an die dreihunderttausend Schritte in Morgenrichtung entfernt sein sollte. Es sollte dabei um etwas gehen, das nordafrikanisches Bündnis zur Verbesserung der Ausfuhr von bezauberten Gegenständen und Zutaten für Zaubertränke hieß. Da Abdel/Otschungu hoffte, dort einen passenden Körper zu finden, der seinen mächtigen Geist über das Meer brachte willigte er sofort ein.

So kam es, dass er um die letzte Stunde vor Mittag den besagten Punkt erreichte. Er sah sich um, horchte auf andere beseelte Wesen oder schwächliche Geister, die handlungsunfähig umhertrieben, nicht gesehen und nicht gehört werden konnten, gefangen in der Angst vor dem Tod. Doch außer ein paar niederen Tieren war niemand da.

Abdels Erinnerungen verrieten ihm, dass bei solchen Treffen meistens Verspätungen geschahen. Also musste er sich in Geduld üben, etwas, dass er, der es gewohnt war, seine Ziele so schnell er konnte zu erreichenund zu erledigen, nicht gelernt hatte.

Als auf einen Schlag zwanzig denkende und fühlende Wesen um ihn herumstanden dachte er erst, es seien die erwarteten Männer. Doch als er erspürte, dass es alles Frauen waren, Zauberinnen, wusste er, dass diese Närrinnen ihn überrumpeln wollten. Doch das hatten schon andere versucht und ... Auf einmal konnte er von denen keine Geistesregungen mehr wahrnehmen. Er sah nur grünsteinfarbene Lichtgewänder, die um die Frauen herum erglühten und ihre Gedanken vor seinen geistigen Ohren verhüllten. Dann brach es mit Urgewalt über ihn herein, ein Gewitter aus silbernen Blitzen und Feuerstrahlen. Dann fingen diese Weiber noch an zu tanzen wie die Töchter der Trommler. Und ihr Tanz war wie eine riesige Hand, die sich auf ihn legte.

"Otschungu, sei bezwungen,
was du begonnen, es sei dir misslungen!
Gib frei den Leib den du gestohlen!!
Sonst soll dich das Nichts einholen."

"Niemals gebe ich her, was ich mir nahm!" rief Otschungu, den der Gesang der Frauen und ihre Zauberkraft bereits sichtlich zu schaffen machte. Er fühlte, wie er vom Boden hochgehoben wurde und schwebte. Er schlug mit seinen Gedankenarmen in alle Richtungen zugleich aus. Doch er prallte nur gegen die ihn immer dichter und härter umschnürende Kraft. An die ihn bezaubernden Feindinnen kam er nicht heran. Woher konnten die sowas? Wieso waren die so gut aufeinander abgestimmt, dass ihr Zauber keine schwachen Stellen oder Lücken bot? Er fühlte, wie seine Kräfte erlahmten. Er fühlte auch, wie eine Stimme in den Geist seines Wirtskörpers eindrang. Das war diese Samira, die Frau, aus deren schleimigen Schoß sein Körper herausgeschlüpft war. Das machte Abdel stark, das regte ihn an, gegen seinen Bezwinger zu kämpfen. Otschungu wusste, wenn er nicht sofort die ihm unterworfene Seele zerstörte würde er aus dem Körper dieses Mannes austreten und in diesem silbernen Zauberlicht eingesponnen wie die Fliege im Spinnennetz. So stieß er mit all seiner Gnadenlosen Grausamkeit zu. Doch Abdel wich aus, ja er entschlüpfte Otschungus Zugriff, wich aus dem eigenen Körper aus und verschmolz mit dem silbernen Licht. Jetzt steckte der unsichtbare Rächer allein in dieser Hülle. Doch diese wurde auf einmal sein schlimmstes Gefängnis. Denn sie erstarrte. Er konnte sie nicht mehr lenken wie er wollte. Sie wurde langsamer und träger. Er fühlte Angst, als ihm auch noch Abdels Erinnerungen wie mit der verbrauchten Luft aus dem Körper wichen. Diese Weiber hatten ihn wahrhaftig kurz vor der Niederlage. Welche Kraft gab ihnen diese Macht? Er war so stark wie sechzehn einzelne Geister. Doch da um ihn herum standen zwanzig mächtige Zauberinnen, vier geister mehr als er auf einmal zurücktreiben konnte.

"Ich gebe nicht nach. Wenn ich diesen Körper nicht halten kann so töte ich ihn!" brüllte er mit Abdels immer brüchiger werdenden Stimme. Dann fühlte er ein unter ihm dahinhuschendes Wesen, ein hungriges Tier, ein männliches Tier auf der Suche nach Nahrung oder Fortpflanzung. Er fühlte es trotz der ihn immer enger umschnürenden Riesenhand. Oder war es nicht vielmehr ein gewaltiges Maul, dass diese verdammungswürdigen Weiber da heraufbeschworen hatten. Er konnte sich nur noch zusammenziehen. Dadurch verlor er die Gewalt über die Gliedmaßen seines Wirtskörpers. Dann bündelte er seine ganze Willenskraft auf das nun unter ihm entlangeilende Tier und stieß sich mit einem gewaltigen Ruck ab und schleuderte sich als auf einen winzigen Raum verdichtete Kraftladung auf das ihn umschlingende Zaubernetz zu, durchstieß es wegen seiner Winzigkeit und Dichte und fand sich übergangslos im Körper des Tieres wieder. Es zuckte zusammen. Dann war das kümmerliche Geflecht aus Triebenund Erfahrungen in Otschungus Geist aufgegangen. Doch er merkte, dass der Ausbruch und der so plötzliche Wirtswechsel ihm viel Kraft gekostet hatte. Er musste schnell wieder freikommen, sich einen anderen Menschen unterwerfen und hoffen, nicht gleich wieder in diese tückische Falle zu geraten.

Er lief im Körper der Ratte, wie er nun erkannte, durch die unterirdischen Gänge. Erst als seine Geistestaster die gnadenlose Zauberei nicht mehr erspürten, die ihn aus Abdels Körper hinauspressen sollte wie den Saft aus einer Frucht, besann er sich. Er wollte aus dem unpassenden Körper hinausströmen, wieder frei und Herr aller seiner Kräfte sein. Doch das gelang nicht. Das innere Gefüge dieses Tieres und die von ihm aufgebrauchte Kraft forderten einen hohen Tribut. Er blieb gefangen in diesem niederen Tier, fühlte auch, dass er, wenn er nicht bald einen neuen Menschen fand, auf den er überspringen konnte, bis zum Tode dieses Tieres damit verbunden bleiben würde. Diese Weiber hatten ihn genauso überwunden wie diese in aller Ewigkeit verwünschte Stammeszauberin, die ihn in den Leib eines ungeborenen Kalbes getrieben hatte und er in der Gestalt von drei Milchkühen immer und immer wiedergeboren wurde, bis ihn endlich die Gnade eines gewaltsamen Todes befreit hatte und er seinen erretter aus Dankbarkeit für drei Jahre übernommen und gelenkt hatte. Jetzt steckte er zwar in einem männlichen Tier und würde nicht andauernd neu zur Welt kommen müssen. Aber die Aussicht, auch nur für einen Mond in dieser unwürdigen Umhüllung festzustecken, war eine Schande. Das würde er diesen Weibern nicht verzeihen. Eines nach dem anderen würde er töten, wenn er wieder freikam. Er würde jede heimsuchen, als ihr allerletzter Besucher. Das schwor er sich, während er fühlte, wie die Triebe seines neuen Körpers ihn zu einer empfängnisbereiten Ratte führten, ihn und zehn andere Männchen. Doch am Ende würde es das Weibchen sein, das entschied, wessen Brut es in seinen stinkenden Bauch aufnehmen und heranwachsen lassen würde.

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Samira fühlte erst die grenzenlose Überlegenheit. Sie hatten mit Hilfe des Unterwerfungszaubers vier Zauberer in den Nachbarländern Algeriens dazu bekommen, Abdel anzuschreiben, dass sie sich hier mit ihm treffen wollten, fern von anderen Zaubern, Menschen und Geistern. Auch hatte sie einen Auffindezauber benutzt, den selbst der Überdibbuk Otschungu nicht erkennen oder unterbrechen konnte. Sowas ging nur zwischen einer Mutter und ihrem Kind. Ein Zauber, der unter den Schmerzen der Geburt gewirkt werden musste und gleich einer lebenslang pochenden Nabelschnur des Geistes die Mutter mit ihrem Kind verband.

Sie hatten den Dämon in Abdels Körper auf einmal umzingelt und ihn mit dem Lied der Seelenfessel in eine aus Mondlicht bestehenden Kugelschale eingeschnürt. Dabei hatte Samira Abdels Geist mit neuer Kraft aufgeladen. Das aber war ihr Fehler gewesen. Denn Abdel hatte nichts anderes zu tun gewusst, als sich wegen der von Otschungu geschaffenen Trennung von seinem eigenen Körper gelöst und in das Netz der Seelenfessel geflüchtet. Samira hatte danach nur noch ihr Halbmondamulett gegen ihren Unterbauch drücken können und Abdels Geist aus dem Netz in ihren Leib zurückrufen und mit den Worten des Wartens und der Untätigkeit einschläfern können. Jetzt trug sie seine voll entwickelte Seele wie ein ungezeugtes Kind in sich. Gab sie ihn frei würde es zwischen ihrer und seiner Seele zum Kampf um ihren Körper kommen. Blieb ihr also am Ende nur, mit einem anderen Zauberkundigen einen neuen Körper für ihren entkörperten Sohn zu zeugen?

Samira bekam über diese Gedanken nicht mit, wie Abdels unrechtmäßig beseelter Körper immer mehr erlahmte. Doch sie fühlte, wie ein geistiger Überschlagblitz aus dem Netz in die Erde erfolgte. Sie hörte noch einen kurzen Freudenschrei, der jedoch sofort von einem verklingenden Wutschrei abgelöst wurde.

"Er hat sich zu einem winzigen aber starken Kraftbündel zusammengezogenund sich in einen niederen Körper hinübergeworfen", verkündete die grüne Mutter, die diesen Befreiungsschlag persönlich geleitet hatte. Doch nun war Abdels Körper reglos und völlig leblos. Das Netz der Seelenfessel war nun völlig wertlos. Die zwanzig Töchter des grünen Mondes, die es errichtet hatten, beendeten den Zauber. Die dabei freigesetzte Mondmagie war wie ein in sie alle einschießender Schluck besonders starken Kaffees. Doch die zwanzig wussten, dass dies auch den Zaubereispürern der von Zauberern beherrschten Magieministerien nicht verborgen bleiben konnte. So galt nur noch eines: "Schnell absetzen, Schwestern, bevor die Ministeriumszauberer hier auftauchen!"

Fast im selben Augenblick, als hundert Zauberer aus allen Himmelsrichtungen zugleich aus dem Nichts erschienen verschwanden die zwanzig verschleierten Mondtöchter.

Samira weinte, als sie wieder bei sich zu Hause war. Sie hatte um ihren Sohn gekämpft und dabei sein Leben ausgelöscht. Doch seine Seele barg sie in sich, wie damals, als diese in seinem Körper in ihr heranwuchs. Würde sie ihm ein zweites Leben geben? Doch dann musste er alles vergessen, was er bisher erlebt hatte. Denn von ihrer Ururgroßmutter Akila wusste sie, dass sie auch einmal den viel zu früh aus seinem Körper gewichenen Geist ihres Sohnes, Samiras Urgroßonkel Amar, in sich aufgenommen und ihn in einem zweiten Körper neu empfangen hatte. Doch er hatte ihr das sein ganzes zweites Leben lang nicht gedankt, weil er als Mädchen wiedergeboren wurde. Amar, der dann als Alia neu aufwachsen durfte oder musste, wollte nicht zu den Töchtern des grünen Mondes gehören. Im Alter von zwanzig Jahren hatte sie ihre zweifache Mutter erdolcht, weil sie nur so das eigene Leben verlieren konnte. Denn sich selbst zu töten vermochte kein Kind, das im Schoß einer Tochter des grünen Mondes herangewachsen war. Also musste Samira einen Weg finden, die Last des Erlebten von Abdels nun schlafender Seele zu nehmen, um ihn unbeschwert neu aufwachsen zu lassen. Doch damit würde sie ihn endgültig töten, wusste sie. Doch nun war es passiert. Seine Seele war mit ihrem Körper verbunden. So blieb nur noch eines, sie musste bis zum eigenen Tod auf weitere Kinder verzichten, um mit Abdel zusammen in die Gefilde der sorgenfreien Nachwelt überzuwechseln. Die Frage war nur, ob sie das auch so hinbekam?

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Der algerische, der ägyptische und der marokkanische Zaubereiminister trafen sich eine halbe Stunde nach Mittag an dem Ort, wo Abdel Al-Maadi ein frühes Ende gefunden hatte. Sie hörten sich an, was ihre Mitarbeiter zu berichten hatten. Demnach hatte es hier eine starke magische Auseinandersetzung zwischen zwanzig Menschen auf der einen Seite und einem einzigen in der Mitte eines geschlossenen Ringes gegeben. Den Fußspuren nach waren es wohl Frauen gewesen, also wohl Hexen, diese sich über die Gebote der angeborenen Zugehörigkeit hinwegsetzenden Weiber, die in anderen Ländern sogar gleichberechtigt ihre Zauberkräfte üben und damit sogar Gold verdienen durften. Für den algerischen Zaubereiminister war sofort klar, dass es sich um die sogenannten Töchter des grünen Mondes handelte. Doch was hatte denen der eine Mann getan, dass gleich zwwanzig auf ihn losgestürmt waren?

Abdul Al-Horani, ein Experte für Geisterwesen fand die Antwort. "Herr Minister, der Mann hat wohl einen Edelstein an einer Kette bei sich getragen. Doch der ist regelrecht zerschmolzen, allerdings ohne Schaden auf der Haut verursacht zu haben. Ich vermute, dass dies eine Gemme der geistigen Freiheit war, wie wir sie bei den nachgewiesenen Kindern dieser Mondtöchter finden konnten. Sie wehren eigentlich magische Fernbefehle und die Übernahme durch Körperdiebe also ägyptische Seelenräuber und arabische und jüdische Dibbukim ab. Wenn dieses Amulett hier zerstört wurde dann nur, weil wohl mehrere Dibbukim auf einmal diesen einen Körper erobern wollten. Zumindest sieht das so aus. Jetzt wissen wir hier alle aber, dass Körperdiebe rücksichtslose Einzelgänger sind. Die würden sich niemals einen lebenden Körper teilen, zumal der dann auch wohl nur wenige Monate lang am Leben bleibt.Also war es nur ein einziger Körperdieb, der jedoch so stark wie zehn oder zwanzig andere ist. Na, kommen Sie darauf, wer das sein muss, meine Herren?" "

"Sparen Sie sich Ihre Überheblichkeit für diese aufmüpfigen Frauen auf, die meinen, erhabener zu sein als Allahs Söhne", knurrte der ägyptische Zaubereiminister. Doch sein marokkanischer Kollege sagte nur einen Namen: "Otschungu, der unsichtbare Henker."

"Finden Sie heraus, wer die Hexen waren, die Abdel Al-Maadi getötet haben und auch, ob dieser Otschungu jetzt gebannt oder nur vertrieben ist!" befahl der algerische Zaubereiminister. Al-Horani nickte ihm zu und zupfte sich dabei den bis zum Bauch wallenden weißgrauen Vollbart.

"Ich schlage vor, wir fahnden nach den Hexen, die Abdel getötet haben. Sie gehören vor Gericht und dann als Kamelstuten auf den nächsten Markt gestellt", knurrte der ägyptische Zaubereiminister. Sein marokkanischer Kollege zwinkerte ihm zu und sagte: "Vorsicht, Minister Al-Assuani, bedenken Sie, dass Sie in drei Wochen die Zaubereininisterin Frankreichs in Paris besuchen. Da dürfen Hexen bis in die höchsten Ränge aufsteigen."

"Ja, aber nicht wenn sie gemordet haben. Da sind wir mit unserem Strafrecht noch rücksichtsvoll und führen die überführten Mörderinnen einer nutzbringenden Verwendung zu", widersprach der ägyptische Zaubereiminister seinem Kollegen.

"Wollen Sie das dieser Ornelle Ventvit so erklären?" feixte der sudanesische Zaubereiminister. Darauf kam keine Antwort, natürlich nicht.

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"Al-Assuani will uns als Mörderinnen verurteilen lassen", sagte die Mutter des grünen Mondes zu ihren versammelten Schwestern. ""Schwestern, ich werde mich weder als Henne, noch Ziege, Kuh oder gar Kamelstute auf irgendeinem Markt verkaufen lassen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis jemand von außerhhalb kommt, der oder die Otschungu bekämpfen wird und uns damit vom Verdacht reinigt, wir hätten Samiras Sohn in böser Absicht getötet." Dann erzählte sie, was sie herausgefunden hatte. Am Ende stimmten alle ihr zu, dass sie wohl bald eine Wendung im Kampf gegen Otschungu und wohl auch um die Anerkennung ihrer Rechte erleben würden.

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21. November 2002

Joes Zustand hatte sich noch nicht wirklich gebessert. Zwar schaffte er es jetzt, nicht in Anwesenheit von Claudine auf sie und ihre Mutter zu schimpfen. Doch er glaubte immer noch, dass er das Opfer einer Verschwörung der magischen Leute aus Catherines Verwandtschaft geworden sei. Catherine übergab ihm einen Brief von Babette. Er wollte ihn aber nicht anfassen, weil er fürchtete, dadurch wieder was abzukriegen. So nahm sie den Brief und las ihn laut vor:

"Hallo Maman, bitte gib den Brief Papa, damit ich dem schreiben kann, das ich einen heftigen Schrecken gekriegt habe, dass der sich mit fiesen Drogen aus den Schuhen gehauen hat. Haben wir echt so wenig Geld, dass wir verhungern müssen, wenn er nur halb so heftig ranklotzt? Ich bin auf jeden Fall ziemlich sauer auf die Drecksäcke, die dir das Zeug verpasst haben, Papa. Madame Rossignol, von der ich dich übrigens auch sehr grüßen soll, sagt, dass auch Zaubertränke nicht andauernd geschluckt werden dürfen, ohne wem ziemlich heftig zuzusetzen. Madame Faucon hat mir Urlaubstage angeboten, damit ich zumindest mal zu dir hinkann, um mit dir zu reden, welcher wilde Wichtel dich gebissen hat, irgendwelches Durchhaltezeug zu schlucken. War das Crystal oder Speed oder was für'n Dreck? Ich bleibe aber in Beaux, sofern Maman mir nicht schreibt, dass du doch noch kurz vor dem Verrecken bist. Ich habe das bisher auch keinem gesteckt, was dir passiert ist, weil ich mich von Gardie und Jacquie nicht bemitleiden lassen will und weil ich bei den anderen nicht wieder als die arme Halbmuggelstämmige rumgereicht werden will, die zwar 'ne wichtige Oma hat, aber sonst voll zwischen zwei Welten hängt. Das habe ich echt hinter mir. Deshalb siehst du mich erst wieder, wenn du von dem ganzen Dreck runter bist. Wenn die das bis Weihnachten nicht hinkriegen bleib ich in Beaux. Madame Faucon hat's genehmigt, wenngleich sie mir geraten hat, dir zumindest gute Besserung zu wünschen, ich sollte schließlich froh sein, dass ich noch einen Vater habe. Also wünsche ich dir gute Besserung und hoffe, dass Madame Eauvive oder Hera Matine dich wieder hinkriegen.

Gruß von Babette, der, der du immer gepredigt hast, nix mit Drogen anzufangen

P.S. Madame Rossignol sagt, wenn dein Hirn durch das Zeug komplett verdreht ist und die das nicht mehr zurechtbiegen können könnten die dich immer noch zurückverjüngen, weil das alle Spuren von längerer Vergiftung aufhebt. Aber ich will keinen kleinen Plärrbruder, sondern einen Vater, der sich selbst an das hält, was er mir und Claudine vorgebetet hat."

"Ui, jetzt hast du es mir aber sowas von gegeben, Catherine. Als wenn Babette sich sowas wagen würde", antwortete Joe auf das ihm vorgelesene.

"Du hast sie enttäuscht, Joe. Du hast ihr geraten, was richtig und was falsch ist und dich dann selbst nicht dran gehalten. Fehler kann ein Mensch machen, aber dann eher solche, die er vorher nicht als Fehler erkennen kann oder glaubt, ihm käme keiner drauf, wenn er was falsches macht. Du kannst von ihr und Claudine wohl nur wieder Respekt erwarten, wenn du dich so schnell wie möglich von dieser Sache erholst und erkennst, was du dir da selbst angetan hast", sagte Catherine.

"Neh is' klar, Catherine. Das ist nicht von Babette", knurrte Joe. Catherine schnippte ihm den Brief zu. "Lis den bitte selbst!" sagte sie sehr energisch, fast schon in der gestrengen Stimmlage ihrer Mutter. Joe nahm den Brief und las ihn. "Stimmt verdammt, das ist ihre Handschrift. Aber so lasse ich mich nicht von euch und von der schon gar nicht runtermachen. Schreib der zurück, ich hätte den Wisch gelesen und erwarte, dass die sich bei mir entschuldigt, wenn rauskommt, dass ich das Opfer einer bösartigen Verschwörung von euch bin."

"Verstanden, Joe. Komm, Claudine, Papa kriegt gleich Mittagessen", sagte Catherine.

"Hmm, was gibt's denn?" fragte Claudine.

"Wieder so'n Pamp, den die mit so'nem Schlaftrank versetzt haben. Ich muss nach dem Dreck immer wieder schlafen, Claudine."

"Echt?! Schmeckt das denn gut?"

"Es schmeckt so, als wäre das schon mal in einem dringewesen", schnarrte Joe und bemühte sich, nicht schlimmeres zu sagen. Claudine stierte ihn kurz an. Doch Catherine legte ihr die Hand auf die Schulter und sagte: "Wenn Papa wieder bei uns zu Hause ist kriegt er wieder richtiges Essen."

"Ach neh!" knurrte Joe. Catherine überhörte es diesmal. Sie winkte ihrem Mann zu. Claudine winkte auch.

Wieder zu Hause erfuhr Catherine über Eulenpost, dass in Griechenland ein verlassenes Kloster gestürmt und vernichtet worden war, dass jener neuen Vampirsekte von der schlafenden Göttin gehört haben sollte. Bei den Angreifern sollte es sich um rivalisierende Vampire gehandelt haben. Dann rief Julius noch über Kontaktfeuer an und berichtete, das irgendwer ins Arkanet reingesetzt hatte, ddass die oberste Befehlshaberin dieser Sekte Eleni Papadakis heiße. Er hatte das mit seinem Rechner nachgeprüft und Hinweise gefunden, die zu dieser argen Behauptung passen mochten. Demnach unterhielt die Vampirsekte eine rein muggeltechnische Flugzeugflotte und sei auch in Afghanistan tätig. Dann wartete Julius mit einer weiteren Nachricht auf:

"Ach ja, und ich soll dich und deine Mutter von der Dame Grüßen, die in unserem Haus zwei kleine Mädchen ausgeliefert hat. Die Post wäre angekommen. Sie bedankt sich sonnig für die große Hilfe von dir und mir.'"

"Hat sie das Amulett?" fragte Catherine.

"Nein, einer ihrer Mitbrüder hat es aus dieser Elefantentrommel rausgeholt und damit erst mal an die tausend untote Krieger zerbrutzelt und zwanzig Drachen kampfunfähig gemacht. Dann hat er es seiner Königin geschenkt. Die Dame kennst du ja auch."

"Ich frage mich immer wieder, ob das so gut ist, dass ich die kennengelernt habe", sagte Catherine. "Öhm, denen ist klar, dass sie damit womöglich eine Vergeltungsaktion der Trommler heraufbeschwören."

"Die Trommler sind denen doch egal. Gut, dieser Superdibbuk spukt wohl noch rum. Ich wurde gerade von deiner Mutter aus dem Kamin heraus, aus durch den ich meinen Kopf geschickt habe, hingewiesen, dass es demnächst wohl wieder eine Zusammenkunft geben soll. Näheres gibt sie von sich aus rum."

"Verstanden, Julius. Grüß mir Millie, die ist doch jetzt sicher wieder auf der rosaroten Glückswolke unterwegs, weil du und sie wen neues erwarten."

"Vor allem, weil der oder die neue wohl bei Britt auf die Reise zu uns gegangen ist", hörte Catherine Millie im Hintergrund sagen. Catherine verstand und rief zurück:

"Dann seid ihr und die Brocklehursts ja jetzt quitt!" Darauf grinste Julius. Millies Stimme lachte wie aus einem Brunnenschacht.

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Seelenlied und ihr Gefährte standen zusammen mit zehn weiteren Trommlern und Tänzern um einen aus ihrem eigenen Blut gezeichneten Kreis, in den zudem noch Figuren der Unterwerfung und Bindung eingeschrieben waren, wie sie früher von den Trommlern und Tänzern durch Bewegungen zu ihren Liedern dargestellt wurden. jetzt galt es. Sie würden gleich jemanden rufen, von dem sie wussten, dass es ein gefährliches und mächtiges Wesen war. Doch sie würden es binden, weil es mit den Erdeltern verbunden war. Außerdem kannten sie den Namen der zu rufenden. Denn die Schwester Blutsängers hatte bei ihrem Besuch dort, was das südafrikanische Zaubereiministerium genannt wurde, den von ihr zeitweise ähnlich wie von Otschungu ausgefüllten Zauberer ausgeforscht und den wahren Namen jener Erdverbundenen erfahren: Ullituhilia. Ab da waren Tage vergangen, in denen Steine und ausgegrabene Wurzeln mit Zaubern belegt worden waren, die auf die Trägerin dieses Namens abgestimmt waren. Außerdem hatten sie den Stein des Sohnes von Madrash Ghedon. Auf ihm sttellten sich Felsenwender und seine Tochter Höhlenglanz bereit, das große Lied der Erdanrufung und der Treue zu den Erdeltern anzustimmen. Jetzt würden sie sie herbeisingen und unterwerfen.

Die Trommeln klangen. Die Tänzerinnen sprangen. Alle dieses Lied anstimmenden Sangen. Immer wieder sang Seelenlied den Namen Ullituhilia vor. Die anderen antworteten mit "Höre und folge uns! Sei uns zu diensten!" Von Durchgang zu Durchgang sangen immer mehr Tänzerinnen den namen der zu rufenden. Die Männer wiederholten dann immer die Aufforderung an sie, zu hören und zu dienen.

Es mochte mindestens alle Finger an den Händen so viele Durchläufe dauern, bis der Boden bebte und der aus Blut gemalte Kreis zu glühen anfing. Die Trommler und Tänzerinnen der acht Ureltern, hier jetzt vor allem die der beiden Erdeltern sowie der Geister und des Blutes steigerten sich immer mehr in wilde Erregung. Jetzt begann die Luft innerhalb des Kreises zu flimmern. Blutrote Funken sprangen aus dem Kreis nach oben und trafen im Mittelpunkt aufeinander. Es wurden immer mehr. Wieder erschütterte ein Erdstoß den Boden. Doch er konnte die Tänzerinnen nicht aus ihrer Bewegung stoßen oder den Trommlern den Takt verderben. Dann spritzte eine Handvoll Erde und Steinchen aus der Kreismitte nach oben. Der Boden bebte nun richtig stark. Dann zuckten blutrote Strahlen aus dem Kreisrand in die Mitte und bildeten dort eine blutrote Lichtsäule, die sich immer schneller drehte. Dann, mit einem mal, stand eine in kurze, himmelsfarbene Kleider gehüllte Frau mit nicht ganz bleicher Haut und nachtschwarzen Haaren da. Sie sah sehr verärgert aus.

Sie rief etwas, während die roten Lichtfäden aus dem Kreis sie festhielten. Doch keiner hier verstand sie. Dann versuchte sie, aus dem Kreis herauszutreten. Das gelang nicht. Dann sah sie die beiden führenden der Beschwörungsgruppe an. Blutsänger guckte sich an der makellos schönen Frauengestalt fest, vergaß dabei fast, weshalb er sie hergerufen hatte. Da ergriff Seelenlied das Wort. Sie benutzte die Sprache der Ureltern, die nur bei zauberischenAnlässen gesprochen werden durfte.

"Ullituhilia, Tochter von Erde und Tod. Wir haben dich gerufen, damit du uns hilfst, den unsichtbaren Rächer zu fangen und davon abzuhalten, unsere Kinder zu töten."

"Urwaldtrommler? Ich bin von Urwaldtrommlern hierhergezerrt worden", stieß die Herbeigerufene aus. Jeder hier konnte fühlen, dass sie eine starke Ausstrahlung dunkler Macht aussandte. Doch jeder hier hoffte auch, dass der Kreis, in dem sie erschienen war, sie an Körper und Geist binden würde.

"Wir gebieten über die Macht, die dich erschaffen hat und damit über deinen Geist", sagte Blutsänger und hoffte, dass sie diese Frau da wirklich binden und lenken konnten.

"So, denkt ihr das?" erwiderte Ullituhilia. "Schön, euer Blutkreis ist recht ordentlich mit eurer Lebenskraft aufgeladenund ihr habt darunter einiges vergraben, was ihr wohl auf meinen Namen abgestimmt habt. Aber das gibt euch Kurzlebigen nicht das recht, mich von einem wichtigen Ort wegzurufen und hierher zu zwingen. Ich lasse mich doch nicht von Kurzlebigen herumstoßen und mich deren Befehlen unterwerfen. Ich bin eine mächtige Tochter der Herrin alles lebendigen. Zur Sühne für eure Untat verlange ich fünf von euren Männern und die jüngste noch unberührte Jungfrau von euch."

"Du verlangstt? Wir haben dich gerufen. Du musstest kommen. Du musst gehorchen", sagte Blutsänger, der sich seiner Sache aber nicht mehr so sicher war. Denn die Gerufene blickte ihn und dann jeden anderen an, als suche sie nach einer Schwachstelle. Doch das Flimmern über dem Kreis schien sie zu stören.

"Bursche, wenn ich dich erst mal bei mir habe wirst du dir wünschen, dass ich dich ganz schnell in das Gefäß der hundert Leben hineinstecke, damit du sofort darin zergehst. Aber dieser widerwärtige Kreis stört. Weg damit!"

Sofort setzten die Trommler wieder mit dem Lied der Unterwerfung an. Die Strahlen in dem Kreis wurden heller. Die Gerufene wurde bis zu den Oberschenkeln darin festgehalten. Sie wand sich, versuchte, ihre Füße anzuheben. Doch es gelang nicht. Sie schlug mit ihren Händen aus, traf dabei auf flimmernden Widerstand und schnaubte. Dann hockte sie sich hin, ließ es sogar zu, dass ihr die Haltestrahlen nun bis zur Oberkante ihres Bauches reichten. Dann stöhnte sie auf. Die Trommler dachten schon, dass die Gerufene jetzt der Macht ihres Liedes unterworfen wurde. Da quoll etwas sonnenaufgangsfarben leuchtendes aus dem Unterleib der Gerufenen heraus, breitete sich unter ihr und dann um sie herum aus, traf auf den Boden. Die sie haltenden Lichtstrahlen verschwammen in diesem nebelhaften, aus sich selbst leuchtenden Stoff, den die Gerufene aus ihrem Körper ausstieß. Dann sprang Ullituhilia mit einem Satz in die Höhe, streckte ihre Beine aus und landete in dem von ihr ausgestoßenen Stoff. Der Boden bebte, als wenn etwas mit dem Gewicht von hundert Elefanten zugleich aufgeschlagen wäre. Das Beben dauerte jedoch an. Dann, mit einem mal, dehnte sich der nebelhafte Stoff aus, den Ullituhilia aus sich ausgestoßen hatte. Der Kreis verschwand unter dem sonnenaufgangsfarben leuchtenden Dunst. Dann blähte sich die Dunstwolke schneller als ein Löwensprung aus und traf die Trommler und Tänzerinnen. Sie erstarrten.

Ullituhilia trat nun aus dem an mehreren Stellen unterbrochenen Kreis heraus. Sofort ffühlten alle, dass ihre Macht wuchs. Sie sah Blutsänger an, der mit schwerfälligen Bewegungen versuchte, seine Trommel anzuheben und darauf zu spielen. Er erstarrte. "Du kommst mit mir", sagte die Gerufene. Er blieb wo er war. Die Anderen erkannten, dass sie den im Körper einer sehr schönen Frau wohnenden Geist gnadenlos unterschätzt hatten und versuchten, zu flüchten. "Nix da. Ihr seit von meinem Lebenshauch berührt worden. Jetzt seid ihr mein. Die, die ich will gehen mit. Die anderen bleiben für immer hier!" beschloss die Gerufene und ließ weiteren Leuchtstoff aus ihrem Unterleib entströmen.

Seelenlied fühlte, dass sie ihre gefährlichste Gegnerin vor sich hatte. Die war noch gefährlicher als Otschungu, weil sie aus sich heraus ihr unbekannte Zauber machen konnte. Sie wollte nicht einfach so von der da getötet oder gar zu ihrer ewigen Dienerin gemacht werden. Sie musste die anderen warnen, vor allem ihre von Blutsänger bekommenen Söhne und Töchter. Sie musste von hier weg. Doch der Zaubernebel hielt sie an den Beinen und drückte ihre Füße gegen den Boden. Der Stein, auf dem sie stand, erzitterte und wurde immer wärmer. Dann zerfiel er langsam aber unaufhaltsam zu einem einzigen Sandhaufen. Jetzt stand sie im vom sonnenaufgangsfarbenen Nebel durchdrungenen Sand. Da deutete die Gerufene auf weitere Männer und hob dabei je einen Finger. "Du bist auch gut genug für mich. Du auch", hörte Seelenlied sie sagen. Die suchte sich wirklich Opfer aus. Sie dachte an Mondlichtfolgerin, ihre jungfräulich gebliebene Schwester, die bei diesem Rufgesang mitgemacht hatte. Wenn dieser böse Geist eine unberührte Jungfrau haben wollte würde sie Mondlichtfolgerin auch auswählen. Das trieb Seelenlied dazu, einen Zauber zu rufen, den sie nur im äußersten Gefahrenfall benutzen durfte, wenn Leib und Seele von ihr oder ihrer kleinen Schwester bedroht waren. Ihre Hände waren noch frei. Solange die von ihnen herbeigezwungene Frau sie nicht ansah würde sie wohl noch frei handeln. So griff sie unter ihr Fellgewand und zog das in Ton eingebackene Amulett an einer Schnur aus dem Leder einer Löwin hervor. Dabei dachte sie "Geister unserer Mütter, rettet Mondlichtfolgerin und mich vor dem Verderben! sonst müssen wir sterben."

"Was wird das, Buschzauberin?" stieß Ullituhilia aus. Doch da umfloss Seelenlied bereits ein blattgrünes Licht, das den ihre Beine umfangenden Dunst und den Sand zurückdrängte. Sofort lief Seelenlied schnell wie eine flüchtende Antilope zu ihrer Schwester hinüber. Ullituhilia erkannte einen Augenblick zu spät, dass die andere sie überwunden hatte. Seelenlied umschlang den Körper ihrer Schwester. Beide erstrahlten nun im grünen Licht. "Ihr bleibt hier. Ihr gehört beide mir!" schrillte Ullituhilia in der Sprache der Ureltern. Doch da krachte es laut, und die beiden waren einfach weg. Die von den Geistern ihrer Vormütter gesammelten Zauberkräfte hatten die beiden Schwestern ohne großes Anrufen der Flügel starker Wünsche in Sicherheit getragen. Doch dafür ließ die Gerufene ihre Wut nun an den anderen Trommlern und Tänzerinnen aus, die noch im Bann ihres Lebenshauchbrodems standen. Die, die sie lebendig haben wollte, ließ sie erst einmal so stehen. Die anderen ließ sie zu Stein erstarren, wobei sie ihnen ihre Seelen entriss und sie in mitgebrachten Auffangsteinen einschloss, um sie später an ihre Seelenkette zu hängen. Statt Mondlichtfolgerin, der einzigen Jungfrau in dieser Gruppe, nahm sie Feuerrufers Mutterschwester Funkenfängerin, die bisher keine eigenen Kinder bekommen hatte. Diese zwang sie mit der Macht ihres Blickes, zu ihr hinzukommen. Dann sollten sie sich bei den Händen greifen. Sie nahm den ältesten der Trommler und die ausgesuchte Tänzerin mit ihren Händen und stieß unter einem lauten Aufschrei noch einmal jenen Lebenshauch aus sich aus. Dieser umfloss alle. Dann verschwanden sie übergangslos. Nun standen nur noch die zu Standbildern aus dem gerade von ihnen berührten Steinen gewordenen Trommler und Tänzerinnen da, als ewige Mahnung, sich nicht mit der Tochter des schwarzen Felsens anzulegen.

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Klageträger hörte den Warnruf seiner beiden Schwestern Seelenlied und Mondlichtfolgerin. Die Anrufung war gescheitert. Er musste fliehen. Denn anders als seine Schwestern hatte er kein Schutzamulett bei sich, um böse Geisterwesen zurückzutreiben. So blieb ihm nur das Lied der Flügel starker Wünsche. Aber wohin sollte er. Ja, das war es, er musste jene herbeirufen, die das Tor der tausend Klagen überwunden hatte. Die sollte sich dem offenbar unzähmbaren Erdgeist in Frauengestalt stellen. So stellte er sich beim Trommeln das meer zwischen Morgen und Abendrichtung vor. Er musste eine sehr weite Reise machen. Doch die andere Möglichkeit war, dass der gefährliche Erdgeist ihn finden würde. Bestenfalls wurde er von ihm getötet. Schlimmstenfalls unterwarf sie ihn sich und machte ihn zu ihrem Beutefänger oder Liebessklaven. Beides wollte er nicht.

Endlich wirkte die Kraft der Flügel starker Wünsche. Sie trugen ihn davon, durch das Nichts zwischen den fernen Orten.

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Claudine war diesmal bei Jeannes Familie. Da war auch Aurore. Millie hatte Chrysope im Tragetuch mitgebracht. Sie schlief in Babettes Zimmer in ihrer langsam zu klein werdenden Wiege.

Nathalie Grandchapeau kam mit Belle zusammen im kirschroten VW Käfer vorgefahren, während alle anderen Mitglieder des stillen Dienstes durch den Kamin im Partyraum herüberkamen.

Blanche Faucon berichtete von ihren Kontakten aus Afrika und erwähnte dabei auch, dass Otschungu wohl ohne klaren Auftrag einfach versuchte, sich nach norden durchzuschlagen. Offenbar konnte der Dämon nur mit Hilfe eines magisch begabten Wirtskörpers apparieren und musste sonst wie ein Vogel fliegen. "Es ist einer Gruppe in den arabischen Ländern nicht gerade verehrter Hexen gelungen, einen Zauberer namens Abdel ben Hussein Al-Maadi zu stellen, der von Otschungu besessen war. Sie haben den Dämon mit einer uns noch unbekannten Form des Exorzismus, den sie Leib der liebenden Mutter Mond nennen, aus dem Besessenen herausgelöst. Doch dieser Dämon muss ähnlich wie die Beaurivage-Schwestern eine quadrierte Stärke der in ihm gebündelten Grundkraft aufbieten können oder fand wegen der Anwesenheit eines unter diesem Zauber unterirdisch hausenden Nagetiers eine schmale aber für ihn ausreichende Durchlassmöglichkeit. Ich habe ja seit der Angelegenheit mit Hallittis versuchter Rückkehr durch ihre Schwester Ilithula einige alte Kontakte aufgewärmt und so von dieser Aktion erfahren", berichtete Catherines Mutter. Dann erwähnte sie noch, dass in Algier ein afrikanischer Zauberer mit einer Trommel aufgegriffen worden war, der behauptet hat, er sei einer der vier letzten, die Otschungu noch einfangen könnten. Aber dazu bräuchte er Hilfe. Der hat noch eine unterschwellige Drohung ausgestoßen, dass der unsichtbare Rächer oder letzte Besucher diejenige suchen würde, die ein gewisses Tor der tausend Wehklagen zerstört und damit den Zugang zu einem wertvollen Gegenstand freigeräumt habe. Der Dämon bräuche nur bei seinen Wirtswechseln wen zu finden, der die Zauberin kenne. dann würde dieses Unwesen zu uns nach Europa kommen."

"Das fehlte noch, einen Überdibbuk, wo außer den französischen Ligamitgliedern und den von diesen ausgebildeten Desumbrateuren keiner eine Ahnung hat, wie ein gewöhnlicher Körperdieb erkannt und bekämpft werden kann", meinte Phoebus Delamontagne, der es mal wieder hinbekommen hatte, in Beauxbatons nicht vermisst zu werden.

"Ja, und deshalb möchte ich meine werte Mitstreiterin und Tochter Catherine fragen, ob sie diesen Trommler interviewen kann, am besten in der von ihr damals angenommenen Erscheinungsform", wandte Blanche Faucon ein.

"Öhm, ja, es liegt mir sehr viel daran, dass dieser Spuk ein Ende hat", sagte Catherine. Dafür bräuchte ich aber mehr über diesen Trommler. Außerdem müsste ich dann irgendwie ins algerische Zaubereiministerium rein und da als wichtige Person auftreten, die ein Recht auf das Interview hat."

"Ich kenne Al-Horani, einen dortigen Bekämpfer dunkler Zauberwesen", sagte Phoebus Delamontagne. Ich kann Ihnen ein Empfehlungsschreiben ausstellen."

"Wie war das, dass Catherine in einer anderen Erscheinungsform hingegangen ist?" fragte Hera Matine. Catherine nickte und erklärte, was sie damals gemacht hatte. "Selbst derartig eingeschränkte Selbstverwandlungen sind sehr anstrengend und nicht in jedem Zustand zu empfehlen", sagte Hera Matine. Catherine verzog das Gesicht. Dann sagte sie: "Das ist richtig, Hera, und ich danke dir, dass du das hier erwähnst. Wenn ich gegen diesen Dämon kämpfen soll würde eine aufrechterhaltene Verwandlung viel Kraft kosten."

"Darf ich?" fragte Julius Blanche Faucon, die für heute den Vorsitz inne hatte. Sie nickte. "Wir haben von der Kosmetikfirma Dione Porters genug Augenschminke, Haarfärbemittel und so weiter bekommen, seitdem Millie und ich mal erwähnt haben, dass wir bei Außeneinsätzen auch mal dahin müssen, wo wir erkannt werden könnten. Ich biete Catherine an, von den Mitteln die zu nehmen, die der von ihr benutzten Verwandlung entsprechen."

"Öhm, damit Catherine dieses Phantom jagen kann?" fragte Hera. Catherine nickte und deutete dann in die Runde. "Ich habe damals auf der Suche nach dem Ursprung der Dementoren auch die Spur des zweiten Sonnenmedaillons gefunden. Insofern habe ich wohl, so sehr mich das selbst bekümmert, eine Schuld abzutragen. Wenn wegen meiner Reise damals dieser Dibbuk nun gänzlich unbeherrschbar herumspukt muss ich zumindest mithelfen, ihn zu bannen oder zu vernichten. Ich ging damals davon aus, dass seine Leute ihn nach vergeblicher Suche wieder einfangenund in seinen Schlaf versenken würden. Offenbar haben sie das nicht vorgehabt oder wurden von ihm zurückgeschlagen."

"Ich will jetzt gerne noch mehr über dieses Tor der tausend Wehklagen erfahren", sagte Nathalie Grandchapeau. Dann tippte sie sich mit dem Zauberstab an den Körper und wisperte "Auscultato Interna!" Unvermittelt hörten alle ihren Herzschlag laut und deutlich, das Fauchen der Luft in ihren Lungen, das Gluckern in Magen und Gedärmen und das kleine schnell wummernde Herz eines ungeborenen Kindes. Catherine verstand und berichtete nun für alle sicht- und unsichtbaren Ohren über ihre Reise und das Tor. Julius ergänzte den Bericht dann damit, dass er Catherine auf dieses Tor gebracht habe, weil es hieß, dass es zur selben Zeit wie die Dementoren entstanden sein sollte. Catherine erwähnte dann noch, mit welchenZaubern sie dem Tor beigekommen war. darauf sagte Nathalie mit nun etwas stärker klingender Stimme:

"Dann könnten diese Trommler auch Erben des alten Reiches sein, die jedoch zu archaischen Ritualen zurückgekehrt sind?" Catherine und Julius nickten.

"Ich bin dennoch dagegen, dass Catherine sich diesem Phantom ausliefert, vor allem, wo ihr Mann gerade nicht auf Claudine aufpassen kann", sagte Hera. Catherine verzog das Gesicht wieder. Dann sagte sie ruhig: "Vielleicht sollten wir das alleine besprechen, bevor eine endgültige Entscheidung getroffen wird." Damit war Hera einverstanden.

Im Dauerklankerker-Arbeitszimmer Catherines kam Hera sofort auf den Punkt: "Wenn du nicht wirklich möchtest, dass ich unserer exklusiven Runde einschließlich dem in seiner ehemaligen Gattin dauerhaft eingenisteten Armand Grandchapeau alias Demetrius Vettius darlege, dass du im Moment nicht mehr für dich alleine entscheiden darfst kläre du das mit deiner Mutter, dass sie und meinetwegen auch Julius oder Phoebus Delamontagne diese Geisterjagd durchführen."

"Hera, tut mir leid, aber dieser Dämon ist wegen mir beschworen worden. Dass er jetzt immer noch umgeht ist auch meine Schuld. Ich hätte das damals zu Ende bringen müssen, anstatt mich zu verstecken und zu hoffen, dass er mich nicht mehr sucht. Ich weiß jetzt, dass ich damals inkonsequent gehandelt habe."

"Ja, aber jetzt trägst du ein Kind aus. Das darf nicht gefährdet werden."

"Ja, und ich habe zwei Kinder, die gefährdet werden, wenn dieses Ungeheuer es bis nach Europa schafft. Und draußen leben noch mehr Muggelkinder, die gefährdet werden, wenn dieser Dämon seine Wut an arglosen Menschen auslässt. Ich sehe diesen Zeugen in Algier als Möglichkeit, dem Spuk doch noch ein Ende zu machen, möglicherweise das Mittel zu finden, Otschungu dauerhafter handlungsunfähig zu halten. Hinter mir ist er her, ich muss mich ihm stellen."

"Das kann und das werde ich dir verbieten, Catherine", knurrte Hera.

"Du hast Angst um mein ungeborenes Kind, sehe ich ein. Vor allem wo Joe im Moment immer noch nicht wieder bei Sinnen ist. Dann berufe ich mich auf den Präzedenzfall Jacqueline Deroubin und Heilerin Clarimonde IV. Eauvive von 1840, wo die damalige Desumbrateurin die einzige war, die in den innersten Kreis einer postsardonianischen Hexenschwesternschaft eindringen konnte. Die war da im vierten Monat schwanger, und ihre Hebamme wollte ihr den Einsatz verbieten. Als Deroubin vom Minister und ihrem Vorgesetzten eine Einsatzvollmacht beibrachte, dass sie diesen Einsatz gegen alle Bedenken durchzuführen habe, weil Gefahr im Verzug bestand, einigten sie und Clarimonde Eauvive sich darauf, dass Clarimonde für die Zeit des Einsatzes durch Transgestatio-Zauber Jacqueline Deroubins Leibesfrucht weitertrug. Der einsatz dauerte zwanzig Wochen. Der dunkle Hexenzirkel konnte restlos ausgehoben werden, wenngleich gewisse Unterlagen nicht aufgefunden werden konnten. Jacqueline konnte ihr Kind noch drei Wochen selber weitertragen und gesund zur Welt bringen."

"Soll mich das jetzt wundern, dass du mir diesen Fall um die Ohren haust?" fragte Hera Matine. "In Ordnung, wenn du mir schriftlich versicherst, alle Konsequenzen einer Leibesfruchtüberantwortung einzugehen, auch die, dass ich das Kind dann unter meinem Namen gebären und dadurch seine Mutter sein werde, dann sei es." Mit diesen Worten holte Hera aus ihrer Heilertasche, die sie immer dabei hatte, einen Packen Pergament und suchte die richtigen Formulare heraus. Das Ausfüllen und Unterschreiben dauerte nur zehn Minuten. Dann wandte Hera den Transgestatio-Zauber auf Catherine an. Diese wurde zwar erst bleich, und Hera musste auch erst mehrmals durchatmen, bis beide wussten, dass sie mal eben ihren körperlichen Zustand geändert hatten. Dann sagte Hera: "Gut, euer drittes Kind ist wohl verstaut. Sieh zu, dass du in den nächsten dreißig Wochen lebend und körperlich vollkommen gesund zurückkehrst, damit du es in dich selbst zurücknehmen und zu ende tragen kannst. Nicht dass ich ein Problem damit hätte, noch mal selbst Mutter zu werden. Aber irgendwie behagt es mir nicht, ausgerechnet ein Kind von Joseph Brickston heranzutragen. Also überlebe bloß diesen wahnwitzigen Einsatz, sonst muss ich diesen übereifrigen Herrn noch heiraten, damit sein Kind zwei Elternteile hat."

"Das ist der Grund schlecht hin, bloß nicht zu sterben, abgesehen von zwei Töchtern, die dann ohne Mutter aufwachsen müssten oder einer Blanche Faucon, die dir dann in die Erziehung ihres dritten Enkelkindes dreinreden könnte."

"Gut, das reicht erst mal. Gehen wir zurück und beraten deinen neuen Ritt auf brennendem Besen!" schnaubte Hera Matine.

Als Catherine allen erklärte, dass Hera keine Bedenken mehr habe, sie reisen zu lassen, weil Madeleine ja als Patin von Babette und Claudine ihre Fürsorge übernehmen könne, solange Joe in Behandlung sei, berieten sie, wie vorzugehen war. Julius würde von Belle Grandchapeau einen Auslandsauftrag in Algier erhalten, um da mit den Kollegen zu reden, die mit der Kontaktpflege zwischen magischen und nichtmagischen Menschen noch nicht so vertraut waren, zumal es in Algier noch keinen zaubereiministeriellen Computerarbeitsplatz gebe und Kontakte mit arabischen Sprachkenntnissen gerade durch Vorfälle wie diesen sehr wichtig wären. Da es sich dabei ja nicht um einen gefährlichen Auftrag handelte konnten Catherine und Julius keine Drachenhautpanzer aus Ministeriumsbeständen oder Duotectus-Anzüge mitnehmen. Doch das konnte Phoebus Delamontagne besorgen. Denn als Mitglied der Liga gegen dunkle Künste hatten er, Madame Faucon und Catherine auch Kontakte zu Herstellern solcher gegen Körpergewalt und anfliegende Geschosse nützlichen Hilfsmittel. Außerdem bot Blanche Faucon ihrer Tochter an, ihr für die Reise etwas mitzugeben, was sich vor allem in der Abwehr bösartiger Geisterwesen als sehr wirksam bewährt hatte, das aus Silber, Saphiren und Diamanten gemachte Amulett der als Königin der weißen Hexen bezeichneten Magierin Eulalia Bellavista. Dazu nahm Catherine natürlich auch eine Phiole mit Phönixtränenverstärktem Goldblütenhonig mit, wie Julius auch eine von Madame Blanche Faucon bekommen hatte. Es verstand sich natürlich von selbst, dass die beiden Reisenden keinem in Algerien erzählten, welche hochpotenten Zaubergegenstände sie bei sich führten. Einer Befragung oder gar Durchsuchung ihres Gepäcks konnten sie aber nur entgehen, wenn beide einen offiziellen Auftrag des Zaubereiministeriums hatten. So wurde noch einmal genau über die Formulierung dieses Auftrages und einen Zeitraum für dessen Ausführung besprochen, damit Belles und Julius' Kollegenin Algier nichts zu beanstanden hatten. Sie durften nämlich nicht übersehen, dass seit dem Ende der französischen Kolonialzeit immer noch Vorbehalte gegen Einmischungsversuche Frankreichs bestanden. Catherine wandte ein, dass sie ja durchaus auch in andere afrikanische Länder reisen mussten, um entweder etwas über den Ursprung des unsichtbaren Henkers und letzten Besuchers zu erfahren oder diesen Dämon selbst finden mochten, wenn es ging lange bevor der Superdibbuk Catherine fand.

Als endlich alle Fragen geklärt waren und Belle den für Julius geltenden Auftrag vorformuliert präsentiert hatte wünschten alle Mitglieder des stillen Dienstes Catherine und Julius viel Glück und Erfolg. Da Nathalie Grandchapeau zu dieser Unterredung kein umbindbares Cogison mitgebracht hatte konnte sie Demetrius' beste Wünsche erst weitergeben, als dieser ihr das zumentiloquiert hatte.

Am Nachmittag eröffnete Catherine Claudine, dass sie mit Julius nach Afrika fahren würde, um da mit den Zauberern über die Einrichtung von Einsatztruppen gegen böse Zauberwesen zu reden und dass Claudine solange bei ihrer Tante Madeleine wohnen dürfe. Claudine verzog erst das Gesicht, weil ihre Maman auch weggehen wollte. Doch dann freute sie sich, weil sie auf dem Rabenhügel bei ihrer Großtante Madeleine und ihrem Großonkel François wohnen durfte.

So kam es, dass Catherine am Abend ganz allein im Haus war, jetzt auch, wo sie gerade das in ihr eingenistete neue Kind an Hera abgetreten hatte. Sie hatte schon ein schlechtes Gewissen, weil sie mal eben die Verantwortung für das neue Leben an eine andere abgeschoben hatte. Dann dachte sie wieder daran, dass sie eine weitaus größere Verantwortung für alle Menschen hatte, die von Otschungu bedroht wurden.

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22. November 2002

Julius und Catherine trugen Allversteher-Ohrringe. So waren sie in der Lage, ihnen fremde Sprachen zu verstehen. Dass Catherine mit etwas haderte bekam Julius mit, während sie beide aus dem Ankunftskreis der Reisespähre heraustraten. Catherine hatte jetzt, wo sie derzeitig nicht schwanger war, doch die Methode der Selbstverwandlung benutzt, um sich als Maribelle Soubirand, eine halbmuggelstämmige Forscherin nach alten Zauberkenntnissen auszugeben. Sie hatte ihr Haar in brünette Wellen gelegt und ihre Augen von Saphirblau zu Rehbraun umgefärbt. Julius indes blieb wie und wer er war. Schließlich hatte er ja einen offiziellen Auftrag von Belle Grandchapeau, einen Interviewtermin wegen in Algerien lebender Zauberwesen, wie die Wüstenteufel, die auch in Tunesien heimisch waren, sowie ein Empfehlungsschreiben an einen gewissen Abdul ben Musa iben Hassan Al-Horani, der sich mit Dschinnenund anderen Geisterwesen des orientalischen und zentralafrikanischen Kulturkreises auskannte.

Während Julius sich mit dem Leiter des Muggelkontaktbüros unterhielt, ob und wie auch die Algerier in den Genuss einer Internettauglichen Computerausstattung gelangen konnten wurde Catherine zu einem Mann in einem fensterlosen Raum geführt, dessen Innenwände mit geometrischen Figuren bemalt waren, die alle in einer bestimmten Beziehung zueinander standen. Als der in diesem Raum sitzende Mann, eindeutig reinrassig afrikanisch, die Frau sah verzog er sein Gesicht zu einer wütenden Grimasse. Catherine sah ihn jedoch sehr streng an und sagte auf Französisch:

"Die haben mich gesucht und gefunden, weil dein Volk einen gefährlichen, ja unersättlichen Geist hinter mir hergeschickt hat, der jeden tötet, mit dem ich vielleicht zu tun hatte. Wer bist du?"

"Klageträger, Trommler der Ureltern von Feuer und Wind, Bändiger des Todes. Die haben mir meine Trommel weggenommen. Ich will die wiederhaben."

"Du bist geflohen, richtig?" fragte Catherine den Mann, von dem sie nicht wusste, ob er Gefangener oder Schutzbefohlener des algerischen Zaubereiministers war.

"Der unsichtbare Rächer hat meinen Lehrmeister Geisterlenker genarrt und ihm denStab seiner Herrschaft fortgenommen, die weiße Schlange mit den Feueraugen. Jetzt ist der Rächer frei und kann tun, was er will, und daran bist du schuld, weiße Närrin."

"Ich bin schuld, dass ihr meintet, mir diesen Rächer nachzujagen, diesen Otschungu?" fragte Catherine. Der Afrikaner zuckte schreiend zusammen. Dann stieß er aus: "Du darfst seinen Namen nicht mal denken. Wer das tut ruft ihn zu sich hin. Wer nicht die weiße Schlange hat oder die Gesänge der Bindung kennt stirbt oder wird sein fleischlicher Diener."

"Ich weiß. Aber ich suche ja gerade das, was ihn ruft und hält. Was ist das mit der weißen Schlange?"

"Ich will meine Trommel wiederhaben. Die haben sie mir weggenommen. Wenn ich die nicht wiederkriege und diese vaterlose Tochter der Erde mich auch noch aufspürt ... Ich sage besser nichts mehr. Du wirst sterben, weil du das Tor zerstört hast, Unwissende. Er wird dich finden und töten."

"Oder ich ihn", stieß Catherine aus. Sie durfte diesem mann gegenüber keine Schwäche andeuten, keine Unsicherheit verraten.

"Den kann niemand töten. Er hat keinen eigenen Körper mehr. Er ist aus vier Seelen zu einem mächtigen Geist zusammengewachsen. Er ist unbesiegbar geworden."

"Das waren die Seelen im Tor der Wehklagen auch. Sie haben versucht, mich zu töten. Aber ich habe es überlebt und das Tor selbst zerstört", sagte Catherine.

"Ja, und deshalb ist das Herz des Feuervaters jetzt von uns genommen worden. Verlorene Kinder von ihm haben es gefundenund es beschworen, alle Wächter zu töten, die du nicht getötet hast, weiße Untäterin."

"Ich weiß davon. Ein Kollege von mir hat eines dieser verlorenen Kinder gesprochen. Sie haben sich bei mir bedankt, weil sie sonst wohl nicht durch das Tor gelangt wären."

"Wer das Herz aus der Trommel des Wissens nimmt ist unser Feind. Denn er könnte uns zu seinen Dienern machen wollen. Wir werden aber niemandem dienen. Deshalb haben meine Brüder ... Ich will meine Trommel wiederhaben."

"Du willst. Dann musst du auch was dafür geben, Kenntnisse, Wissen, wichtige Namen", sagte Catherine.

"Ich habe dir gesagt, was du wissen sollst, damit deine Seele nicht unwissend vergeht, wenn der unsichtbare Rächer sie verschlingt. Jetzt will ich endlich meine Trommel wiederhaben, damit die vaterlose Tochter der Erde mich nicht besiegen kann."

"Die vaterlose Tochter der Erde? Sieht sie vielleicht so aus?" fragte Catherine und vollführte mit dem Zauberstab einige Bewegungen, worauf erst flimmernd und dann konturgenau und farbgetreu das Abbild einer bronzehäutigen Frau mit schwarzen Haaren und braunen Augen im Raum schwebte. Der Trommler schrie auf. Er warf sich auf den Boden, rief Bannsprüche in seiner Heimatsprache. Da ließ Catherine die nichtstoffliche Nachbildung der fremden Frau im Nichts verschwinden. "Also habt ihr sie gesehen. Kam sie zu euch oder habt ihr sie gerufen?"

Der Trommler bibberte und erzählte nun, wie die älteren Trommler der Geister und des Todes versucht hatten, die in irer Heimat angekommene Erdfrau zu rufen. Sie war auch gekommen. Doch sie war wütend gewesen, dass sie von einfachen Trommelzauberern gerufen werden konnte. Klageträger sei nur Dank seiner Schwester Seelenlied in Sicherheit gebracht worden. Sie habe sich woanders versteckt. Doch die Erdfrau hatte in ihre Gedanken hineingerufen, dass sie sie findenund bestrafen würde.

"Ich kenne sie und ihre Schwestern. Sie sind noch gefährlicher als der Rächer. Deshalb will ich ihn besiegen, damit er keine Gefahr mehr ist. Wie habt ihr ihn gelenkt?" wollte Catherine wissen. Der Trommler erklärte es ihr, nachdem Catherine gedroht hatte, die gerade noch als reines Bild gezeigte Erdmagierin, die selbst schon eine Dämonin war, leibhaftig herbeizurufen, weil sie ihren Namen kannte. Da erwähnte Klageträger, dass es möglich war, die weiße Schlange zu finden, wenn man eine vor kurzem vom Geist des Rächers besessene Leiche mit Liedern der Verbindung zwischen Erde und Fleisch, Tod und Seele besingen würde. So sei es Möglich, Richtung und Entfernung zum Herrscherstab des unsichtbaren Rächers zu bestimmen. Auf die Frage, wie diese Lieder zu singen waren lachte der Afrikaner.

"Das werde ich dir nicht beibringen. Ich will sie selbst singen, um dann auf den Flügeln starker Wünsche an den Ort zu reisen, wo die weiße Schlange ist. Ich kenne noch die Lieder der Bindung und werde den unsichtbaren Rächer unter meinen Willen zwingen. Ich weiß, dass er vor kurzem hier noch einen lebenden Körper besessen hat. Den will ich suchen. Aber erst meine Trommel. Gebt mir meine Trommel zurück, oder ich werde zu atmen aufhören und mich aus meinem Körper lösen und dann jeden töten, der mich beleidigt hat, erst dich, dann diese halbweißen, die mich in diesen Raum ohne spürbaren Fluss der Zauberkraft gesperrt haben."

"Du willst mir die Lieder nicht beibringen? Auch gut, dann werde ich mich Otschungu dem Rächer stellen. Und sollte er an meinem Körper Gefallen finden und ich ihn in mich einlassen, kommen wir wieder und fragen dich weiter über die übermächtige Tochter der Erde aus. Denn sie ist sicher Otschungus Feindin und würde sicher auch sehr gerne den Gegenstand seiner Bindung haben", sagte Catherine.

"Du kannst die Lieder nicht spielen, du bist eine Frau, nur eine unwissende, wenn auch mit Zauberkraft begabte Frau. Dir werde ich diese Lieder nicht beibringen. Und wenn du wirklich Otschungus Dienerin wirst, dann kann ich euch beide töten und über deinen toten Körper erfahren, wo die weiße Schlange ist."

"Und Otschungu dazu bringen, dich vorher zu übernehmen?" fragte Catherine. Der Trommler schrie wieder. "Er wird dich bald finden, wenn du noch lauter nach ihm rufst", unkte er. Catherine nickte. Dann hob sie den Zauberstab und versetzte dem Trommler den Schockzauber. Gleich danach sagte sie "Retardo enervate!" wobei sie die Zahl 3600 im Sinn hatte. Somit würde der Gefangene in genau einer Stunde wieder aufwachen.

Um zu erfahren, wo der letzte Wirt des unheilvollen Geistes war musste Catherine erst darauf warten, dass Julius seinen offiziellen Auftrag soweit ausgeführt hatte, dass er mindestens einen Tag Zeit hatte, um mit dem Geisterexperten Abdul ben Musa iben Hassan Al-Horani zu sprechen, wie es sein zweiter Auftrag war. Gut, dass Phoebus Delamontagne Catherine und Julius vorgewarnt hatte, dass dieser altehrwürdige Zauberer eine gewisse Abneigung gegen Hexen hatte. So vermieden die beiden es, zusammen bei Al-Horani aufzutreten. Leider konnte Catherine auch keine Exosenso-Verbindung mit Julius einrichten, weil Al-Horanis haus von mehreren Gegenflüchen und Fernbeobachtungsabwehrzaubern umspannt wurde, auch und vor allem um nichtstoffliche Feinde und Eindringlinge abzuwehren. So blieb Catherine alias Maribelle Soubirand nur, die im algerisch-tunesischen Grenzland wohnende Hexe Soraya Bint Amar iben Faisal Al-Buraq aufzusuchen, die ihre Mutter ihr als eine Verbindungsmöglichkeit zu den Töchtern des grünen Mondes benannt hatte.

Da sie den Zauber des reinigenden Wassers kannte, der Tarnungen und Verwandlungen regelrecht wegwusch, wusste sie beim Anblick des silbern glitzernden Wasserfalls, der sich zwischen den wohlgepflegten Bäumen und Büschen über den mit weißem Kies bestreuten Weg ergoss und links und rechts in kunstvoll ausgeführte Kanäle abfloss, dass sie so oder so ihre wahre Natur offenbaren musste. Das hatte sie eigentlich erst vorgehabt, wenn sie der gewünschten Gesprächspartnerin gegenüberstand. Doch so musste sie noch vor diesem Wasserfall ihr natürliches Aussehen wiederherstellen.

Als sie nun wieder als schwarzhaarige Hexe mit saphirblauen Augen in den silbernen Wasservorhang eintrat fühlte sie es wie streichelnde Hände, die ihr von Kopf bis Fuß über den Körper glitten. Das unter ihrer Kleidung sorgsam versteckte Amulett der Eulalia Bellavista erwärmte sich kurz, ein Zeichen, dass der sie treffende Zauber an und für sich gutartig war. Nur wer in Verkleidung oder Verwandlung kam, um jene hinter dem Wasserfall zu täuschen würde eine schmerzvolle Rückverwandlung durchleben und zudem noch von großer Reue befallen, weil er oder sie es gewagt hatte, jemanden derartig hinters Licht zu führen. Doch weil Catherine sich vor dem Wasserfall offenbarte geschah ihr nichts dergleichen.

Als sie nach mehreren Dutzend Metern auf dem sanfte Kurven beschreibenden Kiesweg vor dem Haus stand, das schon eher dem Sommersitz einer Königsfamilie entsprechen konnte, sah sie blaue Funken und silbernen Rauch aus dem Schornstein aufsteigen. Im Moment herrschte hier kein Wind. Deshalb stieg die Rauchsäule kerzengerade in den Himmel hinauf und zerfiel weit oben zu flauschigen kleinen Wolken, die von den weiter oben herrschenden Winden davongetragen wurden.

Catherine suchte ein Glockenseil an der Tür. Doch da war keines. So klopfte sie erst sachte und nach einer halben Minute etwas lauter an die grüne Tür. Doch es antwortete niemand. Catherine vermutete eine Geduldsprüfung. Manche Zauberer und Hexen aus den östlichen Ländern wollten damit den Charakter oder den Zeitdruck des Besuchers ergründen. So wartete sie fünf Minuten. Dann klopfte sie erneut sanft an die Tür. Sie dachte dabei an das italienische Märchen von Pinocchio, der auch mal vor einem Haus gestanden hatte und hatte warten müssen, bis eine Schnecke von weiter oben herunterkam. Das zauberte ein amüsiertes grinsen auf ihre Züge. Sie blickte sich in Ruhe um. Doch im Moment fühlte sie nur die auf sie treffenden Sonnenstrahlen.

Ihr magischer Talisman vibrierte sanft, strahlte aber weder Wärme noch Kälte aus. Dann hörte Catherine leise Schritte hinter der Tür. Es klickte in schneller Folge sechs mal. Dann ging die grüne Tür auf. Im dahinterliegenden Eingang stand eine ziemlich großgewachsene Frau mit mittelbrauner Hautfarbe und den Halben Rücken herabwallendem schwarzem Haar. Ihre Augen waren dunkelbraun. Sie trug einen smaragdgrünen Umhang, der weich und luftig floss wie feinste Seide. Catherine verglich die Frau in der Türöffnung kurz mit Camille Dusoleil. Deren Haut und Augen waren eine Winzigkeit heller getönt. Auch war das Haar der anderen glatt, ohne sanfte Wellen.

Catherine begrüßte die andere mit den wenigen arabischen Worten, die sie kannte und stellte sich mit ihrem wahren Namen vor. Die andere lächelte und zeigte makellos weiße Zähne. Dann sagte sie in ihrer Heimatsprache:

"Ich grüße dich, Tochter des weißen Falken. Auch wenn du offenbar nicht die üblichen Anmeldevorgänge des sogenannten Zaubereiministeriums durchlaufen hast erfreut es mich doch sehr, endlich einmal die einzige Tochter jener Zauberkundigen zu erblicken, die vor dreißig Jahren meinen Eltern helfen konnte, die Macht des blauen Dschinns zurückzudrängen, der meinte, die alte Schuldmeiner Familie eintreiben zu müssen. Meine Mutter gewährte ihr danach eine Bitte, die sie bis heute nicht ausgesprochen hat. Bitte tritt über die Schwelle und sei Gast in meinem Hause!"

Catherine bedankte sich und trat über die Türschwelle. Dabei durchlief sie noch einmal ein kurzer Wärmeschauer, der von ihrem Amulett ausging.

In einem gemütlichen salon durfte Catherine sich auf ein gemütliches Sofa an einen kleinen Tisch setzen. Soraya schrieb mit ihrer rechten Hand eine Figur in die Luft, worauf auf dem Tisch eine große Teekanne auf einem silbernen Gestell mit zwei ruhig brennenden Teelichtern erschien. Ebenso standen nun zwei fein gearbeitete Porzellantassen auf kleinen blauen Untersetzern da.

Catherine ging immer noch davon aus, dass ihre Geduld geprüft wurde. So ließ sie sich darauf ein, erst einmal nur Höflichkeiten und Ansichten über das Wetter zu besprechen. Irgendwie ging es dann langsam zu den Ereignissen der letzten drei Jahre über, wobei Catherine natürlich auch die Quidditch-Weltmeisterschaft in Frankreich erwähnte. Als sie dann doch auf die Vorfälle mit den Abgrundstöchtern kamen, von denen natürlich auch die arabische Welt Kenntnis hatte, erwähnte Soraya, das das Zaubereiministerium in Algier genauso hilflos war wie die meisten Ministerien in Europa. Sie bedauerte, dass das Erwachen der jüngsten Abgrundstochter die Welt noch unsicherer gemacht hatte als sowieso schon. Catherine nutzte diesen Einwurf, um zu erwähnen, dass die Abgrundstöchter nicht die einzige Bedrohung sein mochten, wo es in der Welt auch andere Feinde gab.

So ging es zunächst um die neue Vampirvereinigung, die schon eher einer religiösen Sekte mit einer wahrhaftigen Götzin entsprach. Soraya erwähnte dabei auch, dass die Gestaltwechsler aus dem fernen Indien ebenfalls wieder in der Menschenwelt erschienen seien. Sie erwähnte ebenfalls die Gemeinschaft der Trommler, die wohl südlich der großen Sandwüste lebte. Dann waren sie an dem Punkt, auf den Catherine zu sprechen kommen wollte. Denn sie erwähnte, dass diese Sekte wohl eine alte Legende zu neuer Tätigkeit getrieben hatte, den letzten Besucher. Soraya bejahte das heftig.

Ist das nicht der Grund, warum du mich aufsuchen wolltest, weil deine Mutter dich baat, näheres über den letzten Besucher zu erfahren, dessen Namen niemand laut nennen darf, der ihn nicht zu sich oder den Seinen hinlocken möchte?" fragte Soraya. Catherine tat so, als müsse sie sehr genau abwägen, was sie antworten sollte.

"Wir hörten davon, dass etwas, das mit diesem bösen Geist verglichen wurde, jetzt auch die nördlichen Länder Afrikas durchstreift und dabei lebende Menschen zu seinen willigen Werkzeugen und Hüllen macht. Da meine Mutter und ich einer erhabenen Gemeinschaft gegen ´alles verderbliche kämpfender Zauberer und Zauberinnen angehören wurde ich von ihr gebeten, näheres über diese Vorfälle zu erfragen. Meine Mutter erwähnte dich, weil du auf Grund der langen und ruhmreichen Geschichte deiner Vorfahren sicher weißt, wie einer solchen Erscheinung begegnet werden muss, damit sie geliebte Menschen nicht bedroht."

"So fürchtet ihr diesen bösen Geist?" fragte Soraya. Catherine bejahte es, erwähnte aber auch, dass etwas zu fürchten den Quell der Furcht nicht von einem fernhalten würde. So seien sie dazu entschlossen, diese Bedrohung von ihrer Heimat abzuhalten.

"Vor allem wo es eine Hexe aus Europa war, die die Trommler erzürnt hat und ohne dies zu wollen dazu antrieb, einen der schlimmsten Geister unserer Zeit zu rufen und ihr hinterherzuschicken", sagte Soraya. Das musste Catherine als indirekten Vorwurf hinnehmen. Als Soraya dann noch sagte, dass der letzte Besucher auf seiner Reise bereits mehrere unschuldige Menschen getötet hatte erwiderte Catherine darauf, dass es sicher Gründe gab, an Geheimnisse zu rühren, die die Trommler alleine nicht hüten oder gar beherrschen konnten.

So zog sich die Unterhaltung mit den für Catherine nur mit größter Selbstbeherrschung durchzuhaltenden Umschreibungen und Umgehungen der sie betreffenden Lage. Auch musste sie sehr stark aufpassen, als Soraya sie auf Julius Latierre ansprach, der ja beinahe ein Opfer Ilithulas geworden sei und dies wohl , weil er wegen seiner starken Zauberkräfte und der Geschichte zwischen seinem Vater und Hallitti für die vaterlosen Kreaturen sehr begehrenswert blieb. Da fragte Soraya doch tatsächlich, ob die den Zorn der Trommler entfachende Zauberkundige wegen der Suche nach noch älteren Berichten an deren Geheimnisse gerührt hatte. Das konnte und durfte Catherine nicht abstreiten, wollte sie nicht doch noch mit der Tür ins Haus fallen.

Endlich sprachen die beiden über die Ereignisse mit dem letzten Besucher. Catherine erfuhr auch, wer der letzte Wirt gewesen war und dass das Zaubereiministerium nach den Zauberinnen suchte, die den Dämon aus ihm herausgetrieben hatten. Denn nach wie vor galten Zauberinnen in Algerien als verdächtig, eher den dunklen Künsten zuzuneigen. Das wusste Catherine schon. So erwähnte sie noch einmal die im Westen entstandene Schwesternschaft, deren frühere Anführerin die Wiederverkörperung einer dunklen Magierin gewesen war und deren jetzige Anführerin zu einem großteil wohl eine mächtige Magierin aus einem alten Königreich sei, die sich auf eigenen Wunsch in eine schwarze Riesenspinne verwandeln konnte. Soraya bejahte es und auch, dass diese Zauberin wohl nach einer von ihresgleichen geführten Ordnung strebte, aber dabei wohl sehr behutsam vorgehe, soweit ihr dies gestattet wurde. Catherine fragte nun, ob es diese Hexe gewesen sein mochte, die die Trommler erzürnt hatte. Darauf erhielt sie die Antwort, dass die andere sicher nicht das legendäre Tor der tausend Wehklagen hätte finden und zerstören können. Denn hierzu sei nur reines Licht im Stande, das in denen, die schon bewusst Menschen getötet hatten, nicht aufleuchten konnte. Catherine sah dies ein. Dann fragte sie, ob nicht die Gefahr bestehe, dass der böse Geist, den keiner beim Namen nennen wollte, auf Rache an denen ausging, die ihn aus seinem letztenWirtskörper hinausgetrieben hatten.

"Er weiß jetzt, dass er sich wohl nicht mit jedem Zauberer und jeder Zauberin anlegen darf, ohne gebannt oder aus der Welt gestoßen zu werden."

"Dann glaubst du, dass er die in Ruhe lassen wird, die ihn zurückgeschlagen haben.

"Er wird sie auch jagen, wenn sie sich nicht vor ihm verbergen können", erwiderte Soraya. Außerdem wüssten sie nun, dass sie den bösen Geist einfangen konnten, wenn kein kleines Tier im Boden war. Catherine fragte, ob das Zaubereiministerium diese Kenntnisse nicht gut gebrauchen könne.

"Die Zauberinnen, die den letzten Besucher bekämpft haben, halten das Ministerium eh nicht für wichtig oder gar über ihr Leben herrschendes Gefüge. Catherine fragte, wie diese Zauberinnen sich mehr Achtung oder gar Mitgestaltungsrecht erhofften. Darauf antwortete Soraya: "Die selbe Achtung, die eine Mutter von ihrem Kind zu erwarten hat und dieselbe Mitgestaltung, die eine liebende Ehefrau mit ihrem Mann zusammen bewirken kann."

"Catherine fragte nun etwas freier heraus, ob der Körper des letzten Wirtes verbrannt worden sei. Soraya antwortete, dass sie das nicht wisse, weil das Ministerium den Leichnam an sich gebracht habe. Aber wenn sie darauf ausginge, den Ursprung des letzten Besuchers zu ergründen, um ihren Leuten zu verkünden, wie er wohl zurückgeschlagen oder gar für alle Zeiten gebannt werden könne, so empfahl sie Catherine einen Besuch bei Amar, dem Zauberweber. Doch der mochte nur die drei Zauberinnen, von denen er eine geehlicht und zwei gezeugt hatte. dann sagte Soraya unerwartet direkt heraus:

"Wenn du diesen Dämon bannen willst, um seine Mordtaten nicht weiter auf deiner Seele lasten zu fühlen, so erscheine an diesem Abend nach Mondaufgang in der Oase Aindjabar, die als Treffpunkt jener Zauberinnen gilt, die durch Klugheit, Schönheit und Entschlossenheit den Weg der leisen Mitherrschaft beschreiten. erscheine alleine und ohne getragenes Zauberding, dass die anderen deinen Standort erkennen lässt!"

Dann sprachen sie noch eine Viertelstunde lang über den Unterschied im Verhalten von magisch begabten Männern und Frauen in Europa.

Als Catherine endlich Sorayas Haus wieder verließ waren ganze drei Stunden ins Land gezogen. Was Julius in der Zeit erreicht hatte erzählte er ihr, als sie sich in dem Zelt trafen, welches Catherine bereits für ihre Reise im August benutzt hatte. Zwar hatte Julius auch eine offizielle Unterbringung, allein schon wegen der Spesenabrechnung für Belles Schwiegervater. Aber Catherine und er hätten sich sicher nicht in der Herberge zur goldenen Palme im Zaubererviertel von Algier treffen dürfen.

"Der alte Geistermeister hat mir erzählt, dass man die Spur eines Dschinns oder Dibbuks verfolgen kann, wenn man das jüngste Opfer eines solchen Wesens in Hörweite hat und mit alten Zaubern der Preisgabe belegt. Doch das ist so gefährlich, weil der Dibbuk, der in einem lebenden Körper haust, das mitbekommt und dann seinerseits versucht, den Zauberkundigen zu töten oder in Besitz zu nehmen. Deshalb kann dieser Zauber nur ausgeführt werden, wenn der Zauberkundige sich selbst in die Mitte eines Kreises mit aus seinem Blut gezeichneten Symbolen der vier Elemente und der zwölf Tierkreiszeichen stellt." Julius erzählte Catherine genau, wie der alte Al-Horani ihm das erklärt hatte. Catherine berichtete von ihren Gesprächen. Julius grinste unpassenderweise. "Lieder der Erdbefragung kann ich auch. Wenn es das ist, dann kann ich auch ohne den Dämon noch mal zu uns zu locken rausfinden, wo sein materieller Fokus, sein Ankerartefakt, versteckt ist. Der alte Abdul hat mir auch einen erzählt, dass diese Töchter des grünen Mondes dem Toten ein paar Haare ausgerupft haben, wohl um damit noch irgendwas anzustellen. Er meinte, dass die vielleicht darauf kämen, diesenDämon in eines ihrer ungeborenen Kinder einzusperren, damit er darin ein ganzes Menschenlebenlang bleiben könne und von der Hexe, die das Kind gebiert und stillt beherscht werden könnte, was, so der alte Abdul Al-Horani, für diese grünen Mondtöchter ein bitterböses Erwachen bringen würde. Denn der letzte Besucher habe dadurch, dass er wohl aus vier verdorbenen Seelen zusammengefügt wurde, die sechzehnfache Kraft eines gewöhnlichen Geistes. - Das kenne ich schon von dem Fall mit den Bonhams und den vier Beaurivage-Schwestern.""

"Das deckt sich mit meinen Forschungsergebnissen. Aber was das angeht, dass irgendeine Hexe dieses Ungeheuer in eine eigene Leibesfrucht hineinzwingen würde halte ich das für total abwegig. Diese Mondtöchter wollen gerade darüber, dass sie Kinder von wichtigen Zauberern bekommen, mitgestalten. So hat es mir Soraya angedeutet. Das ist anders als bei Anthelias Truppe, die sich eine eigene Vorherrschaft erstreiten wollen. Ich gehe also heute Abend zu dem konspirativen Treffen. Wenn ich zwei Stunden nach demAufbruch nichts von mir habe hören lassen informiere bitte das Zaubereiministerium darüber, dass Maribelle Soubirand in eine Falle gelockt wurde und hilf denen, mich wiederzufinden!"

"Du denkst, die würden dich töten, Catherine?"

"Töten oder in irgendwas verwandeln, das ihnen nicht mehr gefährlich werden kann", seufzte Catherine. So ganz wohl war ihr nicht bei der Angelegenheit.

Wie aufgefordert trat Catherine nach dem Mondaufgang in der kleinen Oase AinDjabar ein. Sie hatte aber nicht darauf verzichtet, die Phiole und das Amulett von Eulalia Bellavista mitzunehmen.

Als der Mond drei Handbreit über dem Horizont stand spiegelte sein Silberlicht sich im kleinen See in der Mitte der Oase. Drei konzentrische Kreise aus hohen Palmen säumten das Gewässer, das von einer unterirdischen Quelle gespeist wurde, und dessen Abfluss mehrere Meter unter der Erdoberfläche liegen musste. Denn Catherine konnte keinen Bach oder ein sonstiges Fließgewässer sehen, das von dem See ausging.

Catherine Brickston, die im Moment in ihrer natürlichen Gestalt zwischen den Palmen stand, fühlte ein sanftes Aufwärtsruckeln ihres Talismans. Dieses kündigte ihr an, was im nächsten Moment geschah. Aus dem Mond heraus schinen leuchtende Stücke herauszubrechen und wie ein Riesenschwarm Sternschnuppen auf die Erde niederzugehen. Dabei entstand kein einziges Geräusch. Die silbernen Leuchterscheinungen jagten auf Catherines Standort zu. Dann zerflossen die kleinen Fragmente Mondlicht in silberne Funkenwolken, die sich über der Oase ausdehnten und dann in einem einzigen Augenblick zu einer Kuppel aus silbernen Lichtfäden zu werden. Der Scheitelpunkt der Kuppel lag über dem Mittelpunkt des Sees und wölbte sich weit über der höchsten Palme. Die Kuppel wurde immer undurchsichtiger. Schließlich stand Catherine unter einer völlig geschlossenen, aus verfestigtem Mondlicht bestehenden Kuppel. Alle Geräusche in der Oase erstarben. Die Natur hielt den Atem an. Catherine tastete nach dem Amulett der Eulalia Bellavista. Es fühlte sich warm an und pulsierte ganz langsam. Dann sah Catherine fünf Frauen, die scheinbar aus den Stämmen der Palmen heraustraten. Sie alle trugen smaragdgrüne Gewänder, Kopftücher und Schleier. Ebensoo trugen alle feine Ketten um ihre Hälse, an denen aus sich heraus leuchtende, smaragdgrüne Halbmonde hingen. Catherine unterdrückte den Impuls, nach ihrem Zauberstab zu greifen. Sie wollte und durfte sich hier keinen Kampf liefern.

Eine der grüngewandeten Halbmondträgerinnen trat vor und sprach Catherine an. "Du bist also doch erschienen,um die Schuld zu begleichen, die du vor drei Monden auf dich geladen hast", sagte die verschleierte Hexe. Von Stimmlage und unter dem Gewand nur zu erahnender Körperfülle her war sie wesentlich älter als Catherine, womöglich sogar älter als Catherines Mutter.

"Wer sagt, dass ich Schuld auf mich geladen habe?" fragte Catherine mit Hilfe des Allversteher-Ohrrings.

"Der Rächer, der unsichtbare Henkersklave, der aus dem Land südlich der großen Wüste zu uns gekommen ist, um zu erfahren, wer das Tor der tausend Wehklagen zerstört hat und seine damaligen Herren damit verängstigt und gleichermaßen erzürnt hat. Zwanzig meiner kundigsten Schwestern konnten den Körper, dem er innewohnte finden und den Unhold daraus herauslösen. Doch dabei starb dieser. Meine Schwestern konnten in den gegen sie kämpfenden Gedankenbildern sehen, wer die Zauberin war, die das alte Sonnenzeichen gesucht hat, das nur einer oder eine nehmen kann, der oder die vom selben Blut wie dessen Erschaffer ist oder noch jungfräulich ist, um mit einem Nachkommen seiner Erschaffer Kinder zu zeugen. Da du bereits zwei Töchter geboren hast warst du unwürdig, Catherine Brickston, Tochter der Blanche und des Hugo. In dem Moment, wo meine Schwestern mir die Gedankenbilder übermittelten, die ihnen der Feind offenbarte, war mir klar, dass du eines nicht so fernen Tages zurückkehren musstest, um das von dir ganz ohne Absicht heraufbeschworene Unheil zu tilgen oder bei dem Versuch das eigene Leben zu geben. Das ist die Macht der Vorherbestimmung."

"Ich möchte, bevor ich dazu was sage, nur gerne wissen, wer du bist, ehrwürdige Frau."

"Mein Name ist nur für jene erlaubt, die meine Schwestern werden dürfen. Doch zum einen hast du dich darauf eingelassen, von einem unbegabten Mann Kinder zu empfangen, was dich für unsere Schwesternschaft unrein macht. Zum anderen hast du dir zu viel Zeit gelassen, um den von dir erzürnten Unheilsboten zu bekämpfen oder zumindest wen zu befragen, der dir dabei helfen kann. Je früher du dich dem Unheilsboten gestellt hättest, desto größer wäre unsere Anerkennung für dich geworden. So kannst du keine meiner Schwestern werden und damit auch nicht meinen Namen erfahren."

"Und wenn ihr mich so sehr verachtet, weil ich so spät herkam, ohne zu fragen, welche Gründe es dafür gab. So gestattet mir bitte die Frage, warum ihr mir dann überhaupt die Gunst erweist, mich hier und jetzt anzutreffen?" wagte sich Catherine vor.

"Weil wir es für geboten halten, dass das von dir unabsichtlich entfachte Unheil aus unserem Land und am besten aus der Welt verschwindet. Wir wissenauch, dass du mit einem starken Zauberer in unser Land gereist bist, dem von den vaterlosen Töchtern begehrten, dem Träger nach langer Zeit erwachter Zauberkräfte, den durch die Vorbestimmung zum Vermittler zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erhobenen Julius Latierre. Wir wissen, dass er Zauber erlernt hat, die der alten Zeit entnommen sind. Mit ihm willst du den unsichtbaren Henker besiegen. Auch um ihm zu helfen, diese Aufgabe schnell und erfolgreich zu erfüllen dient unser Zusammentreffen. Denn wir werden dir nun den Ort nennen, wo der letzte Wirt des Unheilsboten begraben ist. Er liegt unverbrannt in einem aus Steinen errichteten Grabhügel dreihundert Tausendschritte von hier. Wir zeigen dir wo. Und nutze die Tageszeit, zu der er starb aus. Nur bei gleichem Sonnenstand wie zu dem Zeitpunkt, als wir den bedauerlichen Wirtskörper des Unheilsbotens töten mussten, kann jener Zauber gelingen, der die Spur zum festen Halt des unsichtbaren Henkers aufzeigt. Es war die Stunde vor Mittagsstand der Sonne, weshalb meine Schwestern auch mehr Kraft einsetzen mussten, um den bösen Geist aus dem ihm nicht gebührenden Körper herauszulösen. So sieh her und nimm alles gesehene in dein Gedächtnis auf!" sprach die ältere Hexe, wohl die Anführerin, höchste Schwester, ehrwürdige Mutter oder Königin der Töchter des grünen Mondes.

Mit einem magischen Tanz um Catherine herum begann es. Dann präsentierte die Anführerin ein Bündel Haare, hielt es an ihr Mondsymbol und dann zum Himmel hoch. Da fühlte Catherine die genaue Richtung. "Sieh den Ort, weit hinfort!" sangen die grüngewandeten Hexenschwestern in einer altarabischenSprache, die nur der Allversteher für Catherine verständlich machte. Sie fühlte tatsächlich die Richtung, in der sie suchen musste. Es war, als flöge sie selbst dorthin. Da überlagerte ein leicht flimmerndes Bild die von ihr gesehene Umgebung. Sie sah einen aus größeren Steinen errichteten Hügel, fast schon eine einfach und schnell gebaute Pyramide, die zwischen zwei unförmigen Felsen errichtet worden war. Die sie umtanzenden Mondhexen nahm sie wie Schatten wahr. Dann flammte ein smaragdgrüner Blitz aus allen Richtungen auf. Das Bild des Steinhügels verschwand. Catherine konnte nun sehen, wie die halbmondförmigen Anhängsel der sie mit wehenden Gewändern umtanzenden Hexen aus sich heraus glommen und die Umgebung in ein geisterhaft grünes Dämmerlicht hüllten. Ihr Amulett strahlte durch ihre Unterkleidung und Oberbekleidung hindurch smaragdgrün auf. Dann war es vorbei.

"Wir haben dich mit einem Zauber versehen, der dich ohne groß überlegen zu müssen beim Sprung durch das Nichts an den betreffenden Ort bringt. Hüte dich vor Entdeckung und belege den Leichnam mit einem Zauber der Totenruhe, falls ihr in Europa dergleichen kennt! Falls nicht könnte es euch widerfahren, dass der unsichtbare Henker aus seinem lebenden Gefängnis ausbrechen kann und die tote Hülle nochmals in Besitz nehmen kann, um damit gegen euch zu kämpfen. Ich wünsche dir den Segen der Nachthüterin und dass ihr zwei den Unheilsboten vertreiben oder endgültig handlungsunfähig machenkönnt. Und nun geh!" sagte die Anführerin der grüngewandeten Hexen. Mit diesen Worten löste sich die silberne Kuppel auf. Keine Sekunde später waren die grüngekleideten Hexen fort. Catherine verspürte einen wachsenden Drang, diesen Ort zu verlassen. Deshalb disapparierte sie ebenfalls.

Um Mitternacht traf Catherine Julius in ihrem gegen Flüche, Fernbeobachtung und Feindesblick abgeschirmten Zelt wieder. Um aus seiner offiziellen Unterkunft unbemerkt verschwinden zu können hatte er einfach den altaxarroi'schen Feinstofflichkeitszauber benutzt, um wie ein Gespenst durch feste Wände zu verschwinden, bis er im Hinterhof des Gasthauses wieder feststofflich wurde und so leise er konnte disappariert war.

"Der ist nicht auf einem richtigen Friedhof oder wie das hier auch immer heißt beerdigt worden?" fragte Julius Catherine.

"Die vom Ministerium haben dem armen Menschen einen Grabhügel weit genug weg von der Stadt errichtet. Falls die wilden Ghule ihn da wittern könnten deren Weibchen auf den Geschmack kommen, ihn auszugraben. Die entsprechen leider dem von den Muggeln verzapften Vorurteil, alle Ghule seien Leichenfresser", meinte Catherine.

"Die Wüstenguhle fressen alles, vor allem die Weibchen, weil die ja für ihren Nachwuchs genug Energie im Körper brauchen", ergänzte Julius Catherines Bemerkung. Sie nickte ihm zu. "Dann brauchen wir nur den entsprechenden Tarnzauber, um nicht von zufällig vorbeilaufenden oder -fliegenden Hexen und Zauberern erwischt zu werden. Bei einem Friedhof hätte ich gleich gesagt, dass wir das vergessen können."

"Die feinheiten des Umgangs mit den Toten in der arabisch geprägten Zaubererwelt kenne ich auch nicht, Julius. Womöglich dürfen nur reine Körper auf deren Totenackern beerdigt werden. Oder die von bösen Geistern oder Flüchen getöteten Körper müssen sofort verbrannt werden. Da hätte meine Mutter mir mal was drüber erzählen dürfen", sagte Catherine. Dann stimmte sie Julius zu, dass er mit seinem Einwand wohl recht hatte, dass eine Leiche auf einem magischen Friedhof sicher von vielen Schutzzaubern umgeben und durchdrungen war, um bösartigen Hokuspokus mit den Toten zu verhindern. Und von dieser Art Leichenschändung gab es ja mehr als zu viel, wusste Catherine ganz genau. Dann beschrieb sie Julius noch einmal das Treffen mit den Mondtöchtern. Julius fragte sie, ob diese Hexen mit den Mondtöchtern in Frankreich zu tun hatten. Catherine musste zugeben, davon nichts zu wissen und auch nicht danach gefragt zu haben. "Diese vorwurfsvolle Stimmung, die deren Anführerin verbreitet hat wollte ich nicht noch weiter ausreizen. Aber ich denke eher, dass die zu sehr an dem interessiert sind, was in der großen, weiten Welt passiert. Die Mondtöchter, denen Millie und du eure Ehe und Familie verdankt leben da doch eher für sich und abgeschirmt." Das bestätigte Julius. Dann fragte er Catherine, woher die grüngewandeten Ladies wussten, dass sie mit ihm nach Algerien gekommen war. Am Ausgangskreis der Reisesphäre bei dem Wildtierpark hatte ja nur dieser Einreiseregistrierzauberer auf sie gewartet. Catherine nickte. Die Frage war berechtigt. Doch dann hatten sie beide die Antwort: "Die Töchter des grünen Mondes haben Spione im Zaubereiministerium oder sind per Exosenso-Zauber mit für sie empfänglichen Zauberern verbunden", sagte Catherine. Julius setzte dem noch einen drauf. "Ja, und am besten geht Exosenso, so haben wir's ja alle mal in Beaux belernt, wenn die beiden damit verbundenen blutsverwandt sind, also Bruder und Schwester, Vater und Kind und am besten Mutter und Kind."

"Genau das entspricht wohl deren Weltanschauung, sich über Ehe und Mutterschaft Einfluss in der patriarchalischen Zaubererwelt zu verschaffen", grummelte Catherine.

"Madrashainorian hat diverse Zauber gegen unerwünschte Begegnungen oder Eindringlinge gelernt. Ich denke, das Lied des unbehelligten Aufenthaltes dürfte hier am besten sein", sagte Julius.

"Ja, und ich durfte einen Zauber lernen, der Lied vom Wind der Vorwarnung heißt und dem uns beiden beigebrachten Zauber Anuntiato Anuntiandum entspricht."

"Einen Zauber der Totenruhe kenne ich nur als Lied des behüteten Friedens. Der muss aber auf die Grabstelle gewirkt werden. Dann geht da aber nichts anderes mehr rein oder raus", fügte Julius hinzu.

"Ich kann so einen Zauber. Inferium inhibito heißt der. Der kann aber nur von denen gewirkt werden, die schon einmal einen magisch belebten Leichnam entzaubern mussten."

"Okay, dann suchen wir morgen nach diesem unsichtbaren Henker", sagte Julius.

"Ja, und sieh zu, dass dein Zimmer mit Geisteraussperrzaubern und dergleichen versehen ist und vor allem, dass du nicht von ihm träumst. Wenn er wahrhaftig umhergeistert könnte auch sein im Traum geäußerter Name ihn anlocken."

"Okay, ich lege den Pacibiculum-Zauber auf mein Bett und zu dem noch den Regnosomnium-Zauber, damit ich nicht von dem träume", versprach Julius.

"Dann solltest du aber morgen früh gut frühstücken. Regnosomium zehrt von der Körperkraft", sagte Catherine.

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24. November 2002

Catherine begann diesen Morgen damit, dass sie die wie ein indisches Mantra zu wiederholenden Friedens- und Segensbitten hersang, mit denen Eulalia Bellavista Himmel und Erde um Beistand bat. Catherine fragte sich nach diesem morgentlichen Zeremoniell, mit dem sie das ihr geborgte Amulett mit maximaler Stärke aufladen konnte, ob Eulalia Bellavista nicht mit den Kindern Ashtarias verwandt gewesen war. Sie wusste nur, dass sie zur Zeit der schwarzen Hexe Ladonna Montefiori gelebt hatte und nach deren Untergang auch Sardonias Vordringen in Italien vereitelt hatte. Paradoxerweise hatte sie das in der Verkleidung als Äbtissin eines Benediktinerinnenkonventes getan, wo auch magielose Ordensschwestern gewohnt hatten. Und das zu einer Zeit, wo sich römisch-katholische Kirche und Zaubererwelt als Todfeinde gegenüberstanden.

Wie mit Julius verabredet traf sie diesen um halb elf Ortszeit vor ihrem Zelt. Sie hatte auf ihre hier gebräucliche Tarnidentität als Maribelle Soubirand verzichtet, um im Vollbesitz ihrer Kräfte handeln zu können.

Sie apparierte mit ihm Seit an Seit zu dem Grabhügel hinüber. Sofort fühlte sie einen Ruck durch ihren Körper gehen und sah smaragdgrüne Funken aus ihrem Körper hinausfliegen. Sie waren also am richtigen Ort. "Na, wenn diese Ladies in Grün nicht jetzt wissen, dass wir hier sind", meinte Julius. Doch dann fing er sofort an, den Grabhügel zu umschreiten und dabei das Lied des unbehelligten Aufenthaltes zu singen. Er schritt dabei in Sonnenlaufrichtung. Catherine verfolgte diese Prozedur mit, wagte nicht, selbst was zu zaubern. Sie merkte nur, dass ihr Schutzamulett mit ihrer Goldblütenhonigphiole im Gleichklang vibrierte und sich etwas schwerer anfühlte als sonst.

Viermal vollzog Julius den alten Erdzauber. Wer jetzt außerhalb des von ihm beschrittenen Kreises war sah und erreichte ihn nicht, solange er selbst in diesem Kreis blieb. Deshalb hatte er ihn schon auf dreißig Meter Durchmesser angelegt.

"Pro pace mortui inferium inhbito!" beschwor nun Catherine mit auf den Grabhügel gerichteten Zauberstab. Einen Moment lang glomm ein silbrig-blaues Leuchten aus der einfachen Steinpyramide heraus. "So, der Leichnam kann jetzt durch keinen Belebungszauber animiert werden. Führen wir deine Zauber aus, die du erwähnt hast, Julius", sagte Catherine.

Erst einmal wurde eine Seite des Grabhügels geöffnet, um freie Sicht auf den Begrabenen zu erhalten. Mit dem Wissen Madrashainorians war das für Julius ein Akt von gerade zehn Sekunden. Was er dann machte entzog sich Catherine erst einmal. Sie hörte nur ein leises Murmeln von ihm, sah ein leichtes Nicken von ihm und dann eine konzentrierte Anspannung, als müsse er gerade etwas sehr anstrengendes unbedingt fehlerfrei hinbekommen. Das dauerte ganze fünf Minuten. Dann schien er aus der halben Trance, in die er sich hineingesungen hatte, wieder herauszufinden. Er straffte sich und atmete mehrfach einund aus.

"Dein Totenruhezauber hat zwar alles davor magisch mit ihm angestellte leicht übertönt. Aber die heftigsten magischen Berührungen habe ich dann doch erkennen und nachvollziehen können", sagte Julius, nachdem er sich etwas von seinem letzten Zauber erholen konnte. "Ich habe die Spur gefunden und zehnmal verfolgt, um einen Direktsprung hin zu dem Ort zu finden. Dabei habe ich auch immer das wütende fauchen einer Ratte zu hören gemeint. Haben diese grünen Mondschwestern den Dämon nicht zum Ausweichen auf ein Nagetier gezwungen?" Catherine bestätigte das. "Dann habe ich diesen Rachegeist wohl gekitzelt. Kann sein, dass der jetzt da wartet, wo diese weiße Schlange sein soll", sagte Julius verdrossen. Catherine widersprach ihm. "Wenn du wirklich die Wutgeräusche eines Nagetieres zu hören meintest, dann heißt das für mich, er kann seinen jetzigen Wirtskörper nicht verlassen, weil er zu fest an den gebunden ist. Aber das heißt auch, dass wir seinen materiellen Fokus auf keinen Fall zerstören dürfen oder mit dem Fluchumkehrer belegen können, wie wir das zumindest angedacht haben." Sie sah Julius fragenden Blick und begründete ihre Feststellung: "Wenn er mit der Ratte oder was immer gerade sehr fest verbunden ist würde dieser Körper sein neuer materieller Fokus, sobald wir die Schnitzerei zerstören oder entfluchen. Und wenn das Tier stirbt wäre er endgültig frei von einem Ankerartefakt. Er würde sozusagen als überdimensionaler Tiergeist weiterbestehen. Und von einer gespenstischen Riesenratte lebenslang verfolgt werden wollen wir beide nicht wirklich."

"Nein, dass können wir zwei unseren jeweiligen Prinzessinnen nicht antun", sagte Julius leicht beklommen. Er selbst fürchtete sich nicht vor bösen Gespenstern, wusste Catherine. Aber um seine Kinder musste er sich Sorgen machen, weil die ja nicht ihr ganzes Leben in der schützenden Sphäre des Apfelhauses bleiben würden. Selbes galt für Catherines bereits geborene Kinder und das gerade bei Hera Matine im Leib geborgene dritte Kind.

"Gut, die ersten Sachen zu erst, wie wir Engländer sagen", meinte Julius. "Also erst mal das Schlangenartefakt finden."

"Ja, machen wir. Du hast die genaue Entfernung und Richtung?" fragte Catherine. Julius nickte und prüfte sicherheitshalber noch mal die Spur.

Plötzlich schnellte etwas außerhalb des von Julius geschaffenen Schutzkreises aus dem Boden. Es war eine fast nackte, schon sehr abgemagert aussehende Ratte. Sie versuchte, in den Schutzkreis einzudringen und wurde dabei augenblicklich auf die gegenüberliegende Seite versetzt. Obwohl das Tier sichtlich krank und überaltert aussah besaß es doch eine große Kraft. Es rannte noch einmal auf Catherine und Julius zu und sprang. Doch wie zuvor wurde die Ratte im selben Augenblick, wo sie den Rand des Schutzkreises berührte, genau an der gegenüberliegenden Seite außerhalb des Kreises sichtbar und flog wie ungebremst etliche Meter weit, bis sie wieder auf ihre vier Pfoten kam.

"Damit ist es amtlich, welchen Wirt unser Schreckgespenst nehmen musste", flüsterte Julius. Da hörten sie beide eine dünne Stimme wütend schrillen:

"Ich werde euch die Eingeweide zerreißen, ihr verdammten Frevler. Mich so zu verhöhnen, mich, den König der Geister. Wenn ich erst aus diesem widerlichen Ungeziefer herausschlüpfen kann werde ich euch beide von innen her zerstückeln."

"Wollen doch mal sehen", zischte Julius Catherine in der Sprache des alten Reiches zu, die diese dank des Allverstehers gerade genauso verstand, als habe sie sie wie Julius wie eine zweite Muttersprache erlernt.

"Selber Ungeziefer, Otschungu", provozierte Catherine den in der Ratte gefangenen Dämonen. "Du hast viele hundert Menschen getötet und dich an ihren Körper- und Seelenqualen geweidet und gemästet. Wird Zeit, dass jemand dir den letzten Einhalt gebietet."

"Du Weib wagst es ... Du bist das Weib, dass das Tor zerschlagen hat. Dich werde ich nicht gleich töten. Dich werde ich erst genüsslich ausforschen, wie du das gemacht hast. Dann töte ich dich und dann alle Bälger, die aus deinem stinkenden Schoß herausgeschlüpft sind. Dann werde ich alle töten, von deren Blut du stammst, bis von deiner verdammenswürdigen Blutlinie niemand mehr da ist!" schrillte die nun auf Hinterbeinen und dem langen, sowieso schon nackten Schwanz balancierende Ratte. Sie zitterte vor Wut und wohl auch Anstrengung. Doch der in ihr steckende Überdibbuk wollte sich so groß zeigen, wie er gerade war.

"Komm, Madrashainorian, wir gehen", sagte Catherine, wobei sie Julius mit dem Namen seiner zeitweiligen Identität bei den Altmeistern ansprach. Die immer noch Männchen machende Ratte schwankte nun sichtlich und bleckte dabei ihre gelblichbraunen Nagezähne. Die Tasthaare standen wie sende- oder empfangsbereite Antennen zu den Seiten ab, so sehr stand das kleine Tier unter Anspannung. Eigentlich konnte es diese Belastung unmöglich aushalten, dachte Catherine. Doch sie wollten nicht warten, dass Otschungus Wut ihn aus seinem lebenden Gefängnis freisprengte.

Dann flogen ihnen auch noch zwei kleine Steine von außerhalb des Kreises entgegen. Doch diese prallten wie auf eine unsichtbare Mauer und fielen auf den Rand der von Julius geschaffenen Halbsphäre. Wieder flogen kleine Steine und landeten jedes Schwungs beraubt auf dem Rand der unsichtbaren Begrenzung.

"Julius, schließe bitte wieder das Grab, damit der arme Tote weiterhin in Frieden ruhen kann! Er hat uns alles verraten, was wir wissen müssen", sagte Catherine zu Julius. Julius befolgte ihre Anweisung mit einem schnellen Zauberstabwink, der alle von ihm bei Seite geräumten Steine innerhalb eines Augenblicks an ihren angestammten Platz zurückversetzte. Dann nahm Catherine Julius beim Arm. Wieder flogen Steine. Dieser Dämon konnte also wahrhaftig telekinetische Vorgänge auslösen.

"Und ich kriege euch doch. Bald bin ich hier wieder raus. Dann fresse ich eure Seelen auf und töte in euren Körpern alle die ihr liebt! Alle!"

""Bring uns zwei dahin, wo wir mehr ausrichten können!" rief Catherine. Julius nickte. Doch dann erschrak er heftig. Gleichzeitig quiekte die von Otschungu besessene Ratte vor Angst und fiel auf alle vier Pfoten. Sie warf sich herum und lief los. Doch die Anstrengung war wohl zu viel gewesen. Sie kam nicht auf Geschwindigkeit. Catherine wollte Julius gerade fragen, was ihn so erschreckt hatte, als ihr Amulett unvermittelt einen kalten Schauer in ihren Körper jagte, um dann in Wechselwirkung mit der Goldblütenhonigphiole zu schwingen und um sie herum eine veilchenblaue Aura entstand. Auch um Julius' Körper bildete sich ein magischer Lichtkranz, der weißgolden war und von smaragdgrünen Schlieren durchzogen wurde, die immer dichter und zahlreicher auftraten, bis um Julius eine smaragdgrüne Aura mit goldenen Funken erstrahlte. Die beiden magischen Energiegebilde berührten einander und flossen zu einer weißgoldenen Aura zusammen. Catherine empfand unvermittelt tiefe Geborgenheit und Furchtlosigkeit. Gleichzeitig hörte sie wie in weiter Ferne einen Frauenchor das am Morgen von ihr selbst gesungene lateinische Schutzmantra singen, sphärisch und glockenrein, wie Engelschöre aus den zahlreichen Weihnachtsliedern der Muggelwelt. Dann sah sie, was Julius und Otschungu erschreckt hatte und was so unvermittelt die volle Schutzkraft ihres Amulettes und ihrer beider Goldblütenhonigphiolen ausgelöst hatte.

Ob sie aus dem Boden gewachsen oder aus dem Nichts heraus entstanden war konnte Catherine nicht sagen. Sie sah nur, dass die unvermittelt am Rand des schützenden Erdzaubers stehende Frau makellos schön war. Sie trug keinen künstlichen Faden am Leib. Ihren Oberkörper umhüllte nur ihr schwarzes Haar. Ansonsten glänzte ihre bronzefarbene Haut im Licht der Sonne. Catherine sah die andere an, die verärgert auf die sie und Julius umfließende Schutzaura starrte und dann mit einem Ruck nach vorne vorstieß. Der Boden erbebte. Sie wurde nicht auf die gegenüberliegende Seite des unsichtbaren Kreises versetzt. Sie drängte noch einmal gegen die unsichtbare Barriere und löste ein leichtes Beben aus. Sie schaffte es, einige Zentimeter in den Schutzbereich einzudringen.

"Soso, haben dir deine großen Beschützer sehr mächtige Zauber beigebracht, um gegen mich anzutreten, Julius Latierre", lachte die wunderschöne wie tödlich gefährliche Unbekleidete. "Ich will dir nichts. der oberste Befehl meiner Mutter beschützt dich, solange du nicht meinst, mich mit deinen erlernten Kenntnissen bedrängen zu müssen. Aber die da, die neben dir steht trägt was bei sich, das mich beleidigt. Wenn du nicht willst, dass ich sie töte, bring sie bloß weit genug weg von hier!"

"Ullituhilia! Wieso bist du jetzt hier?" fragte Julius verdrossen.

"Warum wohl, starker Jüngling, weil hier jemand mit starken Erdzaubern herumgewirkt hat", lachte die unheilvolle Frau. "Sowas fühle ich, wenn ich nicht weit genug davon weg bin, je stärker desto besser", lachte sie. Catherine zog ihr Amulett frei und stimmte nun in das in ihrem Geist klingende Lied ein. Ihr Talisman glühte weiß auf. Ein breiter Lichtstrahl traf die Abgrundstochter. Diese prallte wutschnaubend zurück. "Willst du meinen Zorn und den meiner Schwestern ernten, dann mach so weiter, Kurzlebige. lege dieses widerliche Schmuckstück weg!" krakehlte sie. Dann fauchte sie nur: "Seid froh, dass ich gerade was wichtigeres gefunden habe", und wandte sich ab. In der nächsten Sekunde stand sie hundert Meter weiter fort. Catherine sah eine sehr nahe am Boden schwebende Staubwolke und meinte einen noch leicht zitternden Sandhügel zu sehen, der langsam in sich zusammenfiel. Die schützende Aura um die beiden zeitweiligen Dämonenjäger erlosch. Doch das Amulett der Eulalia Bellavista strahlte weiter im weißen Licht.

"Sie will Otschungus Wirtskörper ausbuddeln", sagte Julius, dem nach dem Schrecken nun die Schamröte im Gesicht stand. "Ich Idiot hätte das doch wissen müssen, dass dieses Weib merkt, wenn irgendwo in ihrem Ortungsbereich ein so starker Erdzauber wie das Lied des unbehelligten Aufenthaltes gewirkt wird. Könnte sein, dass sie nicht die einzige ungebetene Besucherin bleibt." Catherine verstand. Natürlich erinnerte sie sich auch an ihr gefährliches Abenteuer mit der schlafenden Riesenschlange Skyllians. "Wenn sie die Ratte tötet wird er freigesetzt. Los, hin zu seinem Fokus!" zischte Catherine.

"Ja, Catherine", erwiderte Julius und konzentrierte sich. Catherine wünschte sich, dort zu sein, wo er sein wollte und hielt sich fest an seinem Arm. Dann zählte er an. "Eins - zwei - drei!" Sie sprang ab. Er drehte sich mit erhobenem Zauberstab auf der Stelle. Mit scharfem Knall verschwanden sie beide. Deshalb bekamen sie auch nicht mit, wie grüne und rote Funken durch die Luft flogen und in den Boden hineinfuhren.

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Immerhin konnte er seine Gedankenhände in eingeschränkter Weise benutzen. Diese beiden Fremden, von denen er eine als die Überwinderin des Tores der tausend Wehklagen erkannte, wurden von Mänteln aus schützendem Licht umkleidet. Außerdem kam er nie bei ihnen an, weil etwas aus der Erde geschöpftes sie in einer Art äußeren Raum versetzte, den er zwar sehen aber nicht betreten konnte. Doch jetzt sah er trotz des wilden Zitterns, das seinen überanstrengten Körper durchlief, dass die Steine nicht wie er selbst auf der anderen Seite herauskamen, sondern am Rand des geschützten Raumes niederfielen. Doch er würde sie schon kriegen, alle beide. Da fühlte er einen Kraftstoß und eine Woge unbändiger Willenskraft, die von mindestens vier oder fünf Menschenleben hervorgerufen wurde. Doch diese Kraft gehörte nur einem Geist. Dessen Überlegenheit trieb den in der Ratte gefangenen Otschungu in Angst. Denn er dachte an den Kampf mit der Stammeskönigin und den abgestimmten Angriff der zwanzig Zauberinnen, wegen denen er jetzt so hilflos war wie eine neugeborene Gazelle vor den Mäulern des Löwenrudels. Dann sah er sie leibhaftig, die mächtigste Frau, der er jemals in seinem langen Bestehen begegnet war. Der in seinem Geist wirkende Urtrieb seines Wirtskörpers trieb ihn zur Flucht. Die Frau da war gefährlicher als ein Schwarm Greifvögel, gieriger als hundert Katzen und listiger als die größten Riesenschlangen, und wohl mindestenszehnmal so giftig wie die tödlichsten Giftschlangen. Da half nur noch die Flucht!

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Als die Welt um Catherine und Julius wieder weit und hell war sah sie zunächst einen an die zwanzig Meter breiten Fluss, der leise rauschend dahineilte. Dann erkannte sie knapp fünfzig Meter entfernt einen Geröllhaufen aus kleineren und größeren Steinen. Irgendwas sagte ihr sofort, dass dieser Steinhaufen künstlich errichtet worden war. Julius deutete auch auf den Steinhaufen und ging los. Catherine folgte ihm unverzüglich.

"Vielleicht will sie ihn nicht gleich umbringen, wenn sie merkt, dass er in der Ratte gefangen ist", erging sich Julius in einer Vermutung, als sie knapp fünf Meter vor dem Geröllhaufen stehenblieben.

"Stimmt, es könnte sein, dass sie merkt, dass er selbst ihr überlegen ist, wenn sie ihn freisetzt", erwiderte Catherine. Sie sah auf das Amulett. Es leuchtete nun in jenem Veilchenblau, in dem vorhin Catherines eigene Schutzaura erstrahlt war. Also war hier noch was bösartiges, aber gerade wohl inaktives, dachte Catherine. Sie waren also wirklich am richtigen Ort angekommen.

""Julius,vielleicht können wir ihn doch zwingen, herzukommen und ihn dann mit seinem Fokus zerstören", sagte Catherine. Sie hatte ein ungutes Gefühl, wenn sie daran dachte, dass Ullituhilia Otschungu in ihre Gewalt bringen mochte.

"Ich habe vorsorglich den Lotsenstein mitgenommen. Wenn wir den in seinen Schlangenfetisch zurückzwingen könnten kann ich uns dahin bringen, wo die rastlosenSeelen wohnen und das Ding da wieder wegwerfen. Wenn er dann da wieder ausfährt erlebt der König der Geister sein Waterloo, aber ohne St. Helena."

"Das ist nicht ganz ungefährlich, Julius. Maman hat mir von eurem Ausflug erzählt. "Hmm, probieren wir es. Aber du darst die Schlange nicht mit deinen Händen berühren. Nachher springt dieser Unheilsgeist direkt auf deinen Körper über. Und jetzt komm mir bloß nicht damit, dass du ja die Phiole hast und von Ashtaria wiedergeboren wurdest!"

"Ich bin nicht größenwahnsinnig", erwiderte Julius darauf. "Und ich kapiere das, dass solche körperlichen Anker einem die damit verbundene Seele in den Leib treiben können, bevor ich das Lied des inneren Friedens durchgegangen bin."

"Gut. Du gräbst diesen dunklen Fetisch aus. Ich versuche dann mit dem Heimruf der Geister seine Seele an diesen Ort zu holen. Ähm, am besten machst du diesen Zauber des inneren Friedens, von dem du gesprochen hast und den du mir bei nächster Gelegenheit gerne mal beibringen darfst, falls Madrashmironda dir das erlaubt hat."

"Von ihr habe ich den nicht. Von dem, der mir das Lied beigebracht hat ... Aber ich denke, wir müssen uns beeilen", trieb Julius sie und sich selbst an. Catherine sah ihm an, dass er begriffen hatte, was sie eben angedeutet hatte.

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Julius beseitigte mit zwei schnellen Zauberstabschwüngen die aufgeschichteten Steine. Dann lag sie frei, die aus reinem Elfenbein bestehende Schlange, die dreimal gewunden war. Sie durchmaß in dieser Form einen halben Meter. Die feuerroten Augen starrten die beiden Europäer an, als wollten sie abschätzen, ob sie Feinde oder Beute für die Schlange waren. Tatsächlich meinte Catherine, die Augen wären nur sehr träge, aber doch lebendig. Sie hob ihren Zauberstab an. Sie kannte den Zauber "Ruf der Heimkehr", mit dem Geister an den Ort ihres körperlichen Todes oder zu dem an mit ihnen verbundenen Gegenstand zurückversetzt werden konnten. Wie schnell das ging hing von der eigenen Willensstärke des zu beschwörenden Geistes ab. Sie begann die alte Litanei in einer melancholisch klingenden Art zu singen. Es klang wie ein uraltes Trauerlied. Dabei dachte sie an die Tragik eines schmerzvollen Verlustes und baute in ihren Gesang auch den Namen Otschungus ein. Ihr war bewusst, wie gefährlich das war. Doch sie vertraute auf ihr Schutzamulett und darauf, dass ein Ankerartefakt die damit verbundene Seele wie ein starker Magnet anzog, wenn der Zauberstab des Beschwörers darauf gerichtet blieb. Doch was jetzt geschah hatte Catherine so nicht erwartet.

Die elfenbeinfarbene Schlange entrollte sich langsam und reckte ihre vordere Körperhälfte nach oben wie eine drohende Königskobra. Die feuerroten Augen leuchteten von innen her. Der Schlangenkopf begann, hin und her zu pendeln. Catherine und Julius traten einen Schritt zurück, während Catherine weiterhin den Heimrufungszauber sang. Die dadurch irgendwie lebendig gewordene Schlange ließ sich langsam wieder nach vorne fallen. Dann kroch sie erst behäbig und dann immer schneller voran. Dabei sah Catherine es, dass sie anwuchs. Julius stand neben ihr, bereit, selbst irgendwas zu machen. Die Schlange beschleunigte ihren Vormarsch. Immer wieder hob sie ihren Kopf. Dann zuckte kurz eine gespaltene Zunge aus dem aufklappenden Maul hervor, schmeckte die Luft und zuckte wieder zurück in das Maul. Jetzt wurde die Schlange noch schneller. Zwischen ihr und den beiden Verfolgern Otschungus lagen noch zehn Meter.

Catherines Amulett wurde immer heller. Auch Julius schien wieder von einer erst sehr schwachen goldenen Aura umflossen zu werden. Dann geschah etwas, womit sie beide nicht gerechnet hatten.

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Anthelia/Naaneavargia fühlte es wie ein fernes Tasten. Dann merkte sie, dass es eher eine Art Zusammenballung wurde, die Kraft ansaugte und sie in einer der Erddrehung entsprechenden Kreisbewegung an einem Ort bündelte. Sie erkannte diesen Zauber. Aber sie staunte erst, dass jemand ihn in dieser Zeit ausführen konnte. Dieser Zauber wurde immer stärker und hielt sich dann selbst die Waage. Das war eindeutig das Lied des unbehelligten Aufenthaltes, ein mächtiges Schutzlied der Erde, dass eher unter freiem Himmel angestimmt wurde und nicht einen alleine schützte, sondern einen bestimmten Raum gegen jede Form von Eindringling abschirmte. Sie fragte sich erst, wer diesen Zauber gewirkt haben konnte. Doch dann verstand sie. Das war er, Julius Latierre. Doch diese Erkenntnis machte sie zugleich traurig und wütend. Das hieß, dass er endlich erkannt hatte, dass er die mächtigen Zauber der Erde nur erlernen durfte, wenn er sich den Vertrauten der Erde selbst anvertraute. Doch in dieser Zeit gab es doch nur die eine Erdvertraute aus der alten Zeit, sie, Naaneavargia, die mit Anthelia vereint war. Aber er hatte eine andere Wissensquelle auftun können und war nun darin geübt, diesen Zauber zu machen. Doch den lernte man nicht mal eben in einer Stunde. Der musste immer wieder geübt werden. Doch genau das hätte sie mitbekommen müssen. Daraus kam ihre Wut. Denn ihr wurde klar, dass nur eine Erdvertraute aus den Reihen der Altmeister von Khalakatan Julius Latierre unterwiesen haben konnte, und zwar nicht mal eben, sondern über einen längeren Zeitraum. Er hatte sich ihr, Naaneavargia, als der einzig in dieser Zeit bestehenden Lehrmeisterin und Wegführerin entzogen. Das ärgerte sie. Zu gerne hätte sie ihn auf diesen Weg geführt. O ja, das hätte sie all zu gerne. Sie wollte wissen, wo genau das war. So verwandelte sie sich in die schwarze Spinne, um so noch empfindlicher auf die Strömungen der Erdmagie zu lauschen.

Die zweite Erkenntnis, die ihre bereits angedunkelte Laune noch mehr eintrübte war, dass dieser Erdzauber in Nordafrika vollzogen wurde. Den kraftströmen nach, die ihn erhielten Algerien oder Ägypten. Diese Länder waren im Moment für sie tabu, wollte sie nicht den Frieden mit den Töchtern des grünen Mondes beenden und damit ihre Zuverlässigkeit dieser Hexenschwesternschaft gegenüber verwirken.

Als sie fühlte, wie eine starke Gegenkraft versuchte, den von Julius errichteten Zauber zu durchdringen wäre sie fast vor Wut an die Decke gesprungen. Denn sie konnte sich nur eine weitere Kraftquelle außer ihr selbst vorstellen, die gegen diesen mächtigen Erdzauber aufgeboten werden konnte: Ullituhilia, die Tochter des schwarzen Felsens. Doch dann verebbte erst die Gegenkraft und dann der eigentliche Zauber. Die von ihm gebundenen Kräfte flossen in schnellen aber sanften Wellen zurück in das Geflecht der magischen Grundströmungen der Erde. Julius war einfach disappariert, was seinen Zauber unnötig gemacht hatte. Vielleicht sollte sie ihm doch einmal verraten, dass dieser Zauber anständig zurückgenommen werden sollte. Es war nicht im eigentlichen Sinne gefährlich, ihn einfach so abbrechen zu lassen. Aber wenn dadurch ein natürlicher Fluss der Erdkräfte gestört oder umgelenkt wurde konnte das irgendwann irgendwo zu einer plötzlichen Freisetzung von rein natürlichen Erdkräften führen, einem Höhleneinsturz, einem Erdbeben oder einem Vulkanausbruch. Doch solange Julius in einem für sie gerade unbetretbaren Gebiet unterwegs war ging das nicht. Sicher würde sie ihm aber früher oder später wieder begegnen. Und dann würde sie auch herausbekommen, welche Altmeisterin von Khalakatan ihn in die Gemeinschaft der Erdvertrauten eingeführt hatte. Sie hatte da einen ganz bestimmten Verdacht. Aber es genauer zu wissen war immer besser als nur zu vermuten, dachte die Führerin der Spinnenschwestern.

Sie wurde wieder zur bildschönen Frau mit blassgoldener Hautfarbe. Nur so konnte sie zu Romina Hamton hin, um ihr zu berichten, was sie gespürt hatte. Wenn Julius Latierre wieder in der abendländischen Welt auftauchte wollte sie das früh genug wissen.

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Er hatte sich tief in den Boden eingegraben. Hier bekam sie ihn nicht zu fassen. Doch das war ein Irrtum. Denn unvermittelt wurden der Sand und alle Steine um ihn herum lebendig und wichen über ihm und um ihn herum aus. Sein erschöpfter Körper konnte nicht mehr. Er wollte ihn verlassen, sich freisprengen, sich in die ihn in der Welt haltende Schlangenschnitzerei flüchten. Doch da hatte etwas ihn an diesem viel zu langen Anhängsel gepackt und zerrte ihn mit unmissverständlicher Entschlossenheit und Wut aus dem Gang. Jetzt konnte er mit seinen Nagetieraugen die schlanke Hand erkennen, die nicht so dunkel war wie die der hier lebenden Bewohner. "Hast du Widerling gedacht, dass du mir in dieser Gestalt entwischen kannst, wie?" schnarrte ihn eine Stimme an. Er versuchte, um sich zu beißen, die letzten Kraftvorräte aufzubringen. Da hatte ihn eine zweite für ihn riesige Hand um die lange Schnauze gepackt und drückte diese fest zusammen. "Schön, dass du dich mir so einfach zu tragen anbietest, Otschungu. Ja, ich weiß, wer du bist. Nach dir wurde ja schon eifrig gefragt. Und ich habe dich jetzt."

"Wer bist du?!" gedankenschrillte jener, der selbst das Grauen und den Tod zu überbringen gewohnt war.

"Dein persönlicher Tod, Otschungu."

"Ich bin unsterblich und unbesiegbar. Der Körper ist nur eine Hülle, die abgestreift wird, wenn sie stirbt", gedankenschrillte Otschungu. Er hoffte, dass sein mickriger Wirtskörper gleich sterben und er dann wie ein fertig ausgereifter Falter seiner Puppe entspringen und sofort davonfliegen konnte. Er hörte die Frau lachen, die meinte, ihn besiegt zu haben. Zwar hatte er noch Angst. Aber die hatte er nur, weil er nicht aus diesem Körper freikam. Doch wenn die ihn tötete tat sie ihm den größten Gefallen überhaupt.

Er fühlte, wie sie ihn gegen seinen Willen durch eine Lücke zwischen den Standorten zerrte. Sie beherrschte die Flügel starker Wünsche. Dann fühlte er nur noch eine ihn ganz und gar einschließende Zauberkraft, ähnlich der, mit der die zwanzig Frauen ihn aus Abdels Körper hinausgepresst hatten. Dann sah er es goldfarben leuchten.

"Du wolltest aus diesem Körper raus. Ich bin da sehr großzügig. Wird umgehend erledigt", hörte er die Fremde sagen. Ihre Stimme klang wie in einer gewaltigen Höhle. Dann sah er das riesenhafte Gefäß. Es war wie einer dieser Wasserkrüge, die er früher schon häufiger zu sehen bekommen hatte. Er wurde dort hinübergehoben. Dann fühlte er es, das schlimmste, was er je in seinem Dasein gefühlt hatte, das Brodeln und Sieden zerfließender und immer wieder ineinanderströmender Lebenskräfte. Er wusste, was das hieß. Dieser Krug war mit einem Zauber der Lebenskraftaussaugung belegt. Die Körper vergingen darin. Doch die Seelen der Getöteten blieben als Kraftquelle in diesem Behälter vorhanden. Jetzt verstand er die Gehässigkeit in den Worten seiner Überwinderin. Er schrie auf. Er wollte nicht vergehen, nicht so enden. Er besann sich auf seinen Halt in der Welt. Lieber wollte er in diesen zurückkehren und dort solange schlafen, wie diese Urgewalt in Frauengestalt auf dieser Welt herumlief. Er wollte sie um Gnade bitten. Sie sollte ihn freilassen, damit er in seine ihm zugewiesene Heimstatt zurückkehrte. Doch da hatte sie schon losgelassen, und er fiel geradewegs hinab in die sonnenaufgangsfarbene, brodelnde Masse, die weder Wasser noch Dampf war, weder Feuer noch Wind. Als sein Körper in das leuchtende Brodeln geriet fühlte er einen Moment der völligen Leichtigkeit. Dann durchfuhren ihn die gnadenlosen Gewalten, die diesem Behälter eingeprägt waren. Er stieß den längsten und allerletzten Schrei seines langen, Leid und Tod bereitenden Daseins aus. Dann fühlte er nur noch, wie alle seine Gedanken und Erinnerungen im wilden Brodeln zerstoben und zu einem Teil dieser unbändigen Kraft wurden.

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Die magisch belebte Elfenbeinschlange war nur noch zwei Meter entfernt und machte Anstalten, auf Catherine zuzuspringen wie eine angreifende Viper. Doch da glühte sie von innen her auf. Ihre Rubinaugen sprühten wie rote Wunderkerzen. Dann explodierte mit scharfem Knall ein violetter Feuerball aus der Mitte der Schlange heraus. Gleichzeitig hörte Catherine einen weit entfernten, langgezogenen Schrei, der wie zwischen zwei Wänden hin und her geworfen in die Ferne zurückwehte, aus der er sie erreicht hatte. Ihr Amulett glühte für eine Sekunde weiß auf. Auch um Julius' Körper erstrahlte im selben Augenblick jene goldene Aura, durch die sich smaragdgrüne Schlieren zogen. Dann war alles vorbei.

Da wo die gerade noch zum Angriff ansetzende Schlange gewesen war, war nur noch ein grauer Aschehaufen zu sehen. Catherine stierte auf die Asche und wiegte den Kopf. Dann begriff sie, was passiert war. Auch Julius schien zu erkennen, was da gerade vorgegangen war.

"Ich fürchte, wir waren zu spät dran", sagte Catherine zu Julius. Dieser deutete auf die Asche und fragte: "Heißt das, Otschungu ist von ihr vernichtet worden?"

"Ich habe einen lauten Todesschrei gehört, Julius. Mag daran liegen, dass ich da gerade den Heimrufzauber gewirkt habe. Aber ich fürchte wirklich, dass die Schlange nur deshalb zerstört wurde, weil die mit ihr verbundene Kraft versiegt ist. Normalerweise ist es umgekehrt. Wenn der Fokus zerstört wird vergeht auch der daran gebundene Geist."

"Dann hat sie ihn vernichtet", seufzte Julius und fügte hinzu, was Catherine dachte: "Und damit wohl seine ganze Kraft in sich einverleibt, wie sie das mit den Seelen ihrer lebenden Opfer macht."

"Wenn sie ihn wie einen lebendigen Mann in ihren eigenen Lebenskraftkrug geworfen hat, wo er noch in der Ratte festgesteckt hat ..." setzte Catherine an. Julius nickte heftig, weil er begriffen hatte.

Unvermittelt ploppte und krachte es um sie herum. Erst dachten sie, Ministeriumszauberer hätten sie aufgespürt, weil hier auf einen Schlag so viel Magie freigesetzt worden war. Doch dann erkannten sie die afrikanischstämmigen Männer in Lendenschurzen und Fellumhängen. Sie trugen keine Zauberstäbe. Statt dessen trug jeder der zehn Männer eine große, bauchige Trommel bei sich. Catherine konnte deutlich die sicher mit Tier- oder Menschenblut auf die straff gespannten Felle gemalten Symbole sehen. Sie kannte diese Leute und ihre Musikinstrumente.

"Ihr Narren habt den Stab der Macht zerstört. Jetzt ist der unsichtbare Rächer frei wie ein Rudel Löwen!" brüllte der größte der Trommler. Er machte drohende Gesten gegen Catherine. Dann flog wohl die Erkenntnis über sein Gesicht: "Du bist die, die auch das Tor zerstört hat. Reicht es dir nicht, dass du den Kindern der Feuereltern erlaubt hast, Herren unserer Welt zu werden? Nein, du willst auch uns alle zur Beute des unsichtbaren Rächers machen! Dafür werdet ihr jetzt den Tod finden und dann zu unserem vereinten Diener werden, auf dass ihr uns vor ihm, den Kindern des Feuervaters und der gierigen Erdfrau beschützt."

"Eh, Mann, kühl bleiben! Der unsichtbare Rächer ist nicht von uns vernichtet worden. Wir wollten ihn in seiner Elfenbeinschlange einsperren, damit er keinem mehr was tun kann", erwiderte Julius. Doch da fingen die zehn Trommler auf ihren Instrumenten zu spielen an. "Und denkt nicht, dass ihr hier wieder wegkommt. Unsere Trommeln schwächen die Flügel starker Wünsche, wenn sie aus allen Richtungen klingen", knurrte der Anführer, während seine Mittrommler schon mit einem Lied ansetzten.

"Gosanaiailnorati Shuhaan!" rief Catherine mit erhobenem Zauberstab. Julius, der selbst wohl gerade was anstimmen wollte, sah schnell zu Catherine. Dann hörten beide die bedrohlichen Trommeln und das Lied nicht mehr, das für ihren Tod gesungen wurde. Um sie herum brodelte nun die Luft und bildete eine flirrende Wand, die sie beide kuppelartig umschloss. "Ui, ein totaler Geräuschloszauber ohne große Gesten", hörte Catherine Julius' Gedankenstimme nach zehn Sekunden absoluter Stille.

"Ja, auch die Luftzauberer haben gewisse Schutzlieder", mentiloquierte Catherine zurück. Sie war trotz der gerade bestehenden Gefahr etwas stolz, was zu können, das Julius imponierte. Dann mentiloquierte sie noch: "Damit können nicht nur Geräusche, sondern von diesen getragene Zauberkräfte ausgesperrt werden. Außerdem wissen wir ja jetzt, dass Ullituhilia von starken Erdzaubern angelockt werden kann."

Die Trommler spielten noch einige Sekunden. Doch als ihre Instrumente langsam wie von unsichtbaren Pressstempeln zusammengedrückt wurden hörten sie schnell auf und liefen wie auf ein unhörbares Kommando in alle Richtungen davon. Um Catherine und Julius blitzte es blau auf. Dann war es wieder ruhig.

"Uh, sie haben gemerkt, dass sie sich fast selbst mit ihrem Lied getötet hätten", gedankensprach Catherine. Ihr wurde in dieser Sekunde klar, dass sie beinahe einen unwiderruflichen Fehler gemacht hätte. Wären die Trommler durch die von ihnen entfesselten Todeszauber selbst getötet worden, hätte Catherine sie alle durch ihren Gegenzauber auf dem Gewissen gehabt. So hatte nur die Langsamkeit archaischer Zauberrituale und der Selbsterhaltungstrieb der Feinde verhindert, dass sie sich selbst umgebracht hatten. Denn dann hätte Catherine die Kenntnisse und Gewalt über die vier starken Lichtzauber verloren, die Julius ihr und den anderen vom Stillen Dienst beigebracht hatte. Unvermittelt waren alle Trommler weg. Sie mussten eine ihr unbekannte Form des Apparierens beherrschen. Vielleicht meinten sie das mit den Flügeln starker Wünsche.

Catherine widerrief ihren Zauber des total stillen Raumes. Dann sagte sie zu Julius: "Am besten verschwinden wir jetzt auch. Wir sitzen hier doch förmlich auf dem Präsentierteller." Julius nickte und wollte ihr schon den Arm für eine Seit-an-Seit-Apparition bieten, da flimmerte die Luft, Catherines Amulett strahlte wieder hell auf.

Unvermittelt stand sie wieder vor ihnen beiden, jene makellos schöne Unheilsfrau, Tochter der Lahilliota, Gebieterin über die dunklen Kräfte der Erde. Doch sie stand mehr als fünfzig Meter entfernt, wohl gerade in der Reichweite, die Eulalias Amulett besaß.

"Keine Angst, ich will euch nichts. Auch dir nicht, weiße Hexe!" rief die unheilvolle Schönheit über die Entfernung. Dein gemeines Spielzeug piesackt mich zwar sehr heftig. Aber dafür, dass ihr zwei mir einen dicken fetten Happen neuer Kraft beschert habt lasse ich dich und alle die du liebst solange am leben, wie mir keiner von euch in die Quere kommt. Ui, so heftig wie bei ihm hat mich die große Wonne noch nie erbeben und erglühen lassen. Jetzt weiß ich, dass der aus vier zusammengebackenen Seelen bestand. Noch einmal vielen Dank für diese so großzügige Gabe, die dir und den deinen meinen Dank einträgtt."

"Dann hast du ihn wirklich -?!" rief Julius.

"Er kam aus diesem mickrigen kleinen Körperchen nicht selbst heraus, obwohl er das doch so gerne wollte. Da habe ich ihm geholfen. Allerdings wollte er das so, wie ich das tat, sicher auch nicht. Na ja, jetzt will er gar nichts mehr", sprudelte es aus Ullituhilias Mund wie aus einer munteren Bergquelle.

"Ja, und sein Ankergegenstand ist dabei zerstört worden", schnarrte Catherine und machte Anstalten, nach ihrem Amulett zu greifen, um die Widersacherin gezielt damit zu vertreiben.

"Lass dein Schmuckstück wo es ist, weiße Hexe. Ich habe dir gesagt, dass ich dir nichts mehr tue, wenn du und die dir wichtigen mich in Ruhe lasst. Und falls du meinst, mich töten zu können kriegst du sehr großen Ärger mit meinen anderen Schwestern. Das willst du nicht wirklich!" rief Ullituhilia verärgert.

"Ich weiß, dass ihr nicht für immer verschwinden könnt!" rief Catherine und praktizierte ihr Amulett wieder unter die Kleidung. "Aber wenn ihr denkt, einfach so wie wilde Tiere in der Welt herumjagen zu dürfen ..."

"Bedenke diesen Vorwurf, wenn du oder einer der deinen wieder ein Stück Fleisch oder etwas aus Ei gemachtes isst! Wir sind keine wilden Tiere, keine Ungeheuer oder wie es die Angelsachsen nennen, Monster, sondern eine euch kurzlebigen überlegene Lebensform!" stieß die Abgrundstochter zornig aus.

"Sagen auch Vampire und grüne Waldfrauen!" tönte Julius frech.

"Ja, weiß ich, Julius Latierre. Aber denen sind wir wiederum überlegen. Also fang keinen Streit mit mir an, wo du nicht zu denen gehörst, die diese gemeinen Erbstücke meiner Mutterschwester haben! Vielleicht kommt der Tag, wo du bereust, dass du Ilithulas und Hallittis Angebot nicht angenommen hast. Gehab dich solange wohl und denke daran, dass der Segen meiner Mutter mit dir ist, auch wenn du sie verachtest!" Sie warf sich noch einmal in eine überlegene Pose. Dann war sie einfach nicht mehr da. Der Umstand, dass das Amulett Eulalias nicht mehr vibrierte oder glühte zeigte, dass hier nun wirklich nichts und niemand mit dunkler Magie angereichertes mehr war.

"Interessant, wo du das mit Vampiren und grünen Waldfrauen erwähnt hast, Julius", setzte Catherine an und deutete auf den munter und unbehelligt dahineilenden Fluss. Julius sah erst das Gewässer an und dann seine Begleiterin. "Könnte es sein, dass Otschungu gefürchtet hat, ein solches Wesen könnte ihm diesen Schlangenfetisch wieder wegnehmen?"

"Du meinst, weil er die Schlange auch sonst in einer Höhle oder im tiefsten Dschungel oder auf einem hohen Berg hätte verbuddeln können?" wollte Julius wissen.

"Genau, irgendwo, wo sonst niemand mal eben vorbeikommt oder einen künstlichen Steinhaufen sehen kann", erwiderte Catherine.

"Kriegen wir jetzt wohl nicht mehr raus", erwiderte Julius.

"Du hast recht. Komm, Julius, bevor noch welche von dem hier zuständigen Zaubereiministerium aufkreuzen", sagte Catherine und ergriff Julius beim Arm.

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Ullituhilia konnte es immer noch nicht recht fassen, welche Energiequelle sie da auf einem goldenen Tablett überreicht bekommen hatte. Doch als sie sich von den beiden unfreiwilligen Gönnern dieser Kraft verabschiedet hatte erinnerte sie sich wieder daran, dass hier wieder mal diese Buschtrommler aufgespielt hatten, um einen Todeszauber auf genau die zwei zu legen, die ihr Otschungu, die stärkste je von ihr erbeutete Einzelseele, zugeführt hatten. "Die wollten ihn töten, Julius Latierre, den Schützling meiner Mutter? Jetzt ist das Maß voll", dachte Ullituhilia. Sie erinnerte sich durch die Verhöre der Gefangenen Zaubertrommler, dass es eine Festung gab, in die angeblich keine bösartigen Wesen und erst recht keine Geister eindringen konnten. Das wollte sie doch mal sehen. Sie würde diese Buschtrommler bestrafen, gründlich und nachhaltig. Doch sie musste Vorbereitungen treffen. Otschungus freigesetzte Seelenenergie wollte sie nicht so schnell für sowas aufbrauchen. Doch sie wusste, wo sie genügend frische Lebenskraft finden konnte, die sie nicht in ihren Krug einlagern, sondern in Seelensteine einschließen konnte. Die brauchte sie nämlich, um die Kräfte der Erde gezielt an einer Stelle zu bündeln.

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25. November 2002

Catherine verabschiedete sich von Julius, als sie wieder in der Rue de Liberation 13 ankamen. "Da haben wir beide doch wirklich was sowohl erfreuliches wie bedrückendes erlebt, nicht wahr?"

"Ich wundere mich echt, warum Anthelia nicht auch noch aufgekreuzt ist", erwiderte Julius. Catherine überlegte kurz. Dann hatte sie eine Antwort: "Sie wäre sicher gekommen, wo du diesen kontinuierlichen Erdzauber gewirkt hast. Dass nicht sie zu uns hinkam mag daran liegen, dass sie wohl eine Übereinkunft mit den Töchtern des grünen Mondes hat."

"Öhm, mit diesen Ladies in Grün?" fragte Julius. Dann begriff er wohl. "Na klar, weil die in Algerien und anderswo die Nummer eins der Hexenwelt sind und Anthelia keinen Krieg mit anderen Schwesternschaften riskiert, wenn die ihr wohl doch überlegen sind. Okay, dann können Millie, Rorie, Chrysie und Nummer drei dann demnächst in Algerien Urlaub machen, wo wir von denen und Ullituhilia beschützt werden", erwiderte er mit unüberhörbarer Ironie.

"Ich würde es nicht so gehässig abtun, dass die Töchter des grünen Mondes euch vielleicht vor der einen oder der anderen beschützen können", sagte Catherine. Julius sah sie an und beugte schuldbewusst den Kopf. Dann verabschiedete er sich von Catherine und flohpulverte ins Apfelhaus von Millemerveilles.

Catherine stand eine Weile alleine im Partyraum. Als Julius was von der Nummer drei gesagt hatte war ihr wieder eingefallen, welche Verantwortung sie eigentlich wortwörtlich zu tragen hatte. Ja, das sollte sie gleich mit Hera klären, dass sie diese Verantwortung für eine Nummer drei auch wahrnehmen wollte.

Eine halbe Stunde später - Catherine musste Hera erst einen Bericht über ihre Reise abliefern - fühlte Catherine, wie ihr Körper sich umstellte. Hera hatte ihr das mit Joe gezeugte Kind zurück in den rechtmäßig zustehenden Mutterleib verpflanzt. "Es ist ein herrliches Gefühl, für wen mitzuleben, zu wissen, dass da jemand in meiner ganz eigenen Obhut ist", sagte Hera, als sie die Rückversetzung von Catherines Kind überprüft hatte. "Aber ich möchte doch darauf bestehen, dass sowas auf rein natürliche Weise entsteht. Und ich habe eigentlich auch immer genug, die auf mich zählen möchten, mir ihr Leben anvertrauen. Grüß mir deine Mutter! Die möchte sicher auch wissen, was passiert ist", sagte Hera Matine.

"Ja, nur sollte ich der und auch Julius nicht verraten, dass ich dir mein ungeborenes Kind "ausgeliehen" habe, um gegen gleich zwei gefährliche Ungeheuer zu kämpfen", grummelte Catherine.

"Das solltest du dir also immer überlegen, ob es besser ist, für etwas zu leben oder gegen tödliche Gefahren zu kämpfen."

"Vergiss es, Hera, ich konvertiere nicht zu euch", würgte Catherine Heras versteckte Aufforderung ab.

"Im Moment musst du auch eher an einen Mann denken, der durch die eigene Unvernunft immer noch ein Fall für meine Kollegen ist und an das kleine Wesen, dass ihr beide auf den Weg ins Leben gerufen habt. Das ist für viele Frauen mehr als genug. Findest du nicht auch?"

"Da kann ich dir nicht widersprechen, Hera", grummelte Catherine.

"Will ich dir auch nicht geraten haben", grinste die Heilerin von Millemerveilles.

Hera, Julius sucht Catherine. Darf ich ihm sagen, dass sie bei dir ist?" rief die Stimme der gemalten Viviane Eauvive aus ihrem Bild in Heras Behandlungszimmer.

"Ich schicke sie wieder zurück. Sage ihm, sie sei bestimmt bei der Liga, um Bericht zu erstatten!"

"Seit wann muss ich für dich lügen, Hera?"

"Seitdem du mich gefragt hast, ob du wem anderen sagen darfst, ob jemand bestimmtes bei mir zu Gast ist", erwiderte Hera Matine keck. Darauf konnte Viviane Eauvive nichts erwidern.

Als Catherine wieder zu Hause war hörte sie gerade noch Julius' Stimme aus dem Telefonlautsprecher: "Also ein doppelt einprägsamer Tag, Catherine. Gruß an die Leute von der Liga!" Es piepte. Das hieß, der Anruf war beendet.

Catherine ging schnell ins Wohnzimmer. Ihr war ein wenig schwindelig. Aber sie überspielte dieses Gefühl. Sie war zu neugierig, was Julius so dringendes von ihr wollte. Dann hörte sie die Nachricht ab und erfuhr, dass am Vortag ein gewisser Leonidas Andronicus Brocklehurst angekommen war. Das war doch mal eine sehr erfreuliche Nachricht. Wohl wahr, etwas, was den gestrigen Tag doch zu einem einprägsamen Tag machte. Dann dachte sie wieder an ihre eigene Familie. Zuerst würde sie Claudine zurückholen, falls ihre Tante sie ihr auch wieder zurückgab. Joe wollte sie morgen wieder besuchen. Hoffentlich war er bald wieder der alte.

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26. November 2002 Christlicher Zeitrechnung

Die Festung der Trommler wurde von starken Erdstößen erschüttert. Die Trommler undTänzerinnen der Erdeltern versuchten immer wieder, dagegen anzuwirken. Doch es gelang nicht. Sie wussten zu gut, wer die Erdstöße machte. Dieser gierige Geist in Gestalt einer wunderschönen Frau versuchte, ihre Festung zu zerstören. Bisher war es gelungen, ihn zurückzudrängen. Doch aus irgendeinem Grund nahmen die Erdstöße zu. Hundert Trommler und Tänzerinnen der Erde schafften es nicht mehr, die Zauberkraft eines Gegners zu bezwingen. Sie konnten ja auch nicht wissen, woraus diese Feindin ihre Kraft schöpfte. Sie merkten nur, dass sie ihr nicht mehr widerstehen konnten. So versuchten sie, die in den Mauern gefangenen Geisterkrieger loszuschicken, um die Feindin zu erledigen. Das aber genau war der entscheidende Fehler.

Als die Trommler die eingesperrten Geister freigesungen und getrommelt hatten erschütterte ein neuer Erdstoß die Festung. Die Mauern zerbrachen mit lautem Knall. Dadurch wurde auch die letzte rückhaltende Zauberkraft entladen. Violette und silberne Blitze schlugen zischend und prasselnd von unten nach oben. Die freigesetzten Seelen schrien vor Glück auf. Dann griffen sie die an, auf die sie bisher aufgepasst hatten. Zugleich rüttelten weitere Erdbeben an den aufgeschlagenenZelten und einfachen Hütten. Die befreiten Geisterkrieger stürmten auf die Trommler zu und stießen in sie hinein, wobei sie die Herzen der Trommler erstarren ließen. Der letzte Widerstand brach zusammen.

Unvermittelt stand eine Frau mit goldbraun glänzender Haut auf dem Hof. Um sie herum glühte es violett auf. "Wer nicht ewig gefangen sein will soll ganz schnell von hier wegfliegen!" rief sie den ihr entgegenschwirrenden Geistern zu, die mit durchsichtigen Speeren auf die Fremde losgehen wollten. Sie gehorchten nicht. Da hob die Unbekannte kleine, eiförmige Steine hoch und sprach ein paar sehr mächtige Worte. Im nächsten Augenblick wurden fünf der heranjagenden Geister aus der Angriffsordnung herausgerissen und mit gnadenloser Geschwindigkeit in die Steine hineingesaugt. Die anderen Geister erstarrten im Flug. "Von euch will ich nichts. Ich will nur die Trommler und Tänzer hier!" rief die Unbekannte in einer uralten, bei Jetztzeitmenschen ausgestorbenen Sprache. Die Geister heulten vor wut auf. Doch dann begriffen sie wohl, dass die andere ihre Rache zu Ende bringen würde und wirbelten wie Rauchwolken im Sturm in alle Richtungen davon.

"Jetzt zu euch", knurrte die Unbekannte und deutete auf die Männer der Trommelbruderschaft. "Ihr habt es gewagt, mich gegen meinen Willen zu euch hinzuzerren, weil ihr von irgendwem gehört habt, wie ich heiße und irgendwelche Wurzeln mit eurem Blut besudelt habt, um sie auf meinen Namen abzustimmen. Dafür nehme ich mir jedes einzelne Leben von euch. Eure Weiber sollen erstarren. Ihr aber werdet mir auf ewig Kraft und Wohlbefinden geben." Mit diesen Worten begann sie einen mächtigen, nur durch die vorhergehende Opferung von zwanzig Leben wirkenden Zauber, das Lied der Erstarrung. Die hier versammelten Frauen schrien auf. Dann versteinerten sie. Gleichzeitig traten ihre Seelen als durchsichtige, annähernd menschlich geformte Dunstwolken aus und wirbelten auf die vor der Unbekannten aufgeschichteten eiförmigen Steine hinein. Die Männer versuchten in der Zeit, neue Lieder anzustimmen, um die andere zu bekämpfen. Doch solange sie auf der Erde stand und solange sie noch zwanzig Menschenleben in sich hatte widerstand sie. Als ihr Vorrat an erbeutetem Leben zu versiegen drohte verschlang sie einfach welche von den kleineren Steinen. Dadurch sog sie die Seelen der gebannten Tänzerinnen in sich auf und erhielt neue Kraft. Als schließlich keine Tänzerin mehr frei herumlaufen konnte ließ die Feindin orangeroten Dunst aus ihrem Unterleib ausströmen, der die noch verbliebenen Trommler umwehte und fesselte. Danach war es ihr ein leichtes, einen nach dem anderen zu ergreifen und im zeitlosen Sprung mit ihm zu verschwinden. Jeden Gefangenen warf sie gleich in ihren Lebenskrug und holte sich so dessen ganze Lebenskraft. Zwar ging das immer mit einer wilden körperlichen Wallung einher. Doch sie erntete ihre Opfer wie Bauern das Getreide. Schließlich gab es keine lebenden Männer mehr in der Festung. Die zu seelenlosen Standbildern verwandelten Tänzerinnen waren der einzige Beweis für die gnadenlose Vergeltungshandlungen Ullituhilias, der Tochter des schwarzen Felsens. Bis auf wenige, die weit genug von der Festung entfernt in einer gewissen Abgeschiedenheit lebten war die Bruderschaft der Trommler und damit die letzte auf dem afrikanischen Kontinent bestehende Gruppe von Bewahrern des alten Wissens, ausgelöscht.

Seelenlied und ihre Schwester Mondlichtfolgerin waren die einzigen, die noch übrig waren. Nach ihrer magischen Flucht waren sie an einem Ort angekommen, wo nur die Kräfte von Lebenund Liebe wirkten. Da Seelenlied jedoch schon den Trommlern von Krieg und Tod geholfen hatte verfiel diese in einen tiefen Schlaf. Als Mondlichtfolgerin deshalb weinte, weil sie fürchtete, allein bleiben zu müssen hörte sie hundert Frauenstimmen singen:

"Tochter unser, frei von Schuld!
Wir erweisen dir die Huld.
Sollst nicht bangen oder trauern,
nicht der Schwester Los bedauern.
Frei von Trauer, Angst und Sorgen
sei von unserer Macht geborgen!"

Als sie diese Worte hörte fühlte sie, wie sie selbst in einen wohligen tiefen Schlaf hinüberglitt, der jedoch nicht ewig dauern sollte, sondern nur bis an den Tag, wo die Mütter des Wissens, wie die hier wirkenden Geister genannt wurden, sie in die Welt zurückschicken würden, um das alte Wissen weiterzugeben, dass tief in einer Felsenhöhle verwahrt wurde, in Form von Malereien und Lautschriftzeichen.

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Anthelia nahm mit großer Erleichterung zur Kenntnis, dass Julius bereits am 25. November wieder in Millemerveilles eingetroffen war. Offenbar hatte er in Algerien einen Auftrag des Zaubereiministeriums erledigen sollen. Was daran so gefährlich war, dass er seine neuen Fertigkeiten anwenden musste erfuhr sie nicht.

Die US-amerikanischen Zaubererweltzeitungen erfreuten sich an den ersten Bildern von Brittany Brocklehursts neugeborenem Sohn. Der kleine Leonidas Andronicus wirkte so, als sei die ganze Welt ihm schon zu viel. Doch das konnte täuschen, und aus dem Sohn von Brittany und Linus mochte mal ein selbstbewusster, fähiger und auch körperlich sehr attraktiver Zauberer werden. Da Anthelia/Naaneavargia relativ unsterblich war konnte sie davon noch profitieren, so in siebzehn bis zwanzig Jahren, dachte sie.

Als sie dann wieder Erdmagie in starkem Fluss verspürte dachte sie erst, Julius sei noch einmal verreist. Doch die Schwingungen waren eher typisch für eine Horde Kobolde oder andere Erdelementarverbundene. Dann war ihr klar, dass es wieder Ullituhilia war, die mit einer brachialen Gewalt an irgendwas rüttelte. Anthelia fühlte, dass sie hier wohl auf die Lebenskraft von Gefangenen zurückgriff. Das hatte diese erdbezogene Dirne aus Lahilliotas Schoß ihren Schwestern voraus, die ihre Kraft unmittelbar aus der gespeicherten Lebenskraft von bereits vernichteten Opfern schöpften.

Sie verwandelte sich erneut in die schwarze Spinne, Naaneavargias innere Tiergestalt. So konnte sie wieder die Herkunft der magischen Erschütterungen und Kraftwellen erfassen. Das dauerte wieder einmal eine gewisse Zeit, zumal Erdelementarmagie sich gerade mal mit der doppelten in Gestein möglichen Schallgeschwindigkeit ausbreitete.

Die zerstörerisch wirkenden Wellen fanden in Südafrika statt, also weit genug außerhalb der Interessenssphäre der Töchter des grünen Mondes. Also reiste Anthelia in zwanzig weiten Apparierettappen in das Land am Kap der Guten Hoffnung. Als sie dort eintraf hatte Ullituhilia ihr Vernichtungswerk bereits vollendet.

Den letzten Echos der freigesetzten Erdzauber folgend erreichte Anthelia/Naaneavargia ein eigentlich verstecktes Tal. Doch dort sah sie ein Bild der Zerstörung. Hohe Mauern waren zerborsten, Zelte und Hütten waren wie von den Krallen riesiger Raubtiere zerfetzt worden. Im Boden klafften Risse, die mehrere Dutzend Meter tief waren. Doch das bedrückenste waren die kreuz und quer in diese Vernichtungsszene hineingestellten Steinstatuen, alles afrikanische Frauen in ritueller Kleidung mit Schellen und Perlen. Anthelia prüfte sofort, ob noch Leben in den Steinfiguren steckte. Falls ja wollte sie das Lied von der Gnade der großen Erdmutter anstimmen, um diese Frauen zu wecken. Doch sie erfasste mit drei Prüfzaubern, dass es nur noch die zu Stein erstarrten Körper waren. Jemand hatte ihnen vorher schon die Seelen entrissen. Jemand? Natürlich war es Ullituhilia gewesen. Die konnte das. Anthelia erkannte erneut, wie gefährlich gerade diese Feindin ihr noch werden konnte, wobei Ullituhilia noch nicht einmal die allermächtigste überhaupt war.

Die Führerin der Spinnenschwestern fand nichts und niemanden im Umkreis, der oder die ihr mehr über den Grund von Ullituhilias Angriff hätte verraten können. Deshalb apparierte sie die selben Ettappen zurück, um wieder in die Daggers-Villa zu gelangen.

Sie wollte sich gerade umziehen, um in einer der US-Großstädte auf Männerfang auszugehen. Es wurde wieder Zeit, dass ihr Lebenskelch zu seinem Recht kam. Da bekam sie von ihrer Mitschwester Melonia eine alarmierende Nachricht:

"Höchste Schwester. In Chicago sind sechsarmige Monster aus einem Bild herausgestiegen und haben drei junge Männer getötet."

ENDE

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