Der Frieden nach Vengors grausamem Angriff auf die Welt ist trügerisch. Durch die Habgier und Begehrlichkeit eines ohne Magie lebenden Mannes gerät der vor mehr als hundert Jahren im Boden vergrabene Zauberring der einst mächtigen Hexe Ladonna Montefiori an die unbescholtene Studentin Rose Britignier. Das im Ring verankerte Seelenfragment der Erzdunkelhexe nimmt über Roses Träume mehr und Mehr Raum in ihrem Geist ein und treibt sie dazu, ihren Verlobten zu töten und dann mit einem zweifelhaften Abenteurer Ladonnas im Versteinerungsbann gefangenen Körper aus dem Atlantik zu bergen. Durch ihr jungfräuliches Blut kann sie den Versteinerungszauber brechen und Ladonna damit wiederbeleben. Zum Dank für ihre Erweckung verwandelt die zurückgekehrte Hexe die unfreiwillige Gehilfin in eine langstielige Rose und tötet den auf Geld ausgehenden Schatzsucher. Anschließend schüttelt sie alle Beobachter der rein technischen Seestreitkräfte ab und kapert mit Hilfe ihres Viertelveela-Charmes und ihrer dunklen Zaubermacht die Yacht des Lebemannes Luigi Girandelli. Da Ladonna bei ihrer Erweckung einen Moment lang nicht darauf achtete, ihren Geist vor ihren Veelaverwandten zu verschließen erfährt die Zaubererwelt von ihrer Wiedererweckung. Catherine Brickston und Julius Latierre werden von der Veela Sternennacht informiert und gewarnt, dass Ladonna wegen ihrer teilweisen Blutsverwandtschaft unter dem Schutz der Veelas steht und nicht getötet werden darf. Weil dieses und die Bedrohung durch die Vampirsekte der schlafenden Göttin eine ständige Gefahr darstellen nutzt Julius Latierre die Dienstreise seiner Frau, um mit Hilfe des von Aurélie Odin geerbten Pokals der Freundschaft eine magische Verbindung mit der Matriarchin der Sonnenkinder zu knüpfen und damit auch zu ihren Bluts- und Schwiegerverwandten. Er erhält von Anthelia eine Einladung zu einer Unterredung, bei der auch Sternennacht anwesend sein darf. Sternennacht provoziert die Führerin der Spinnenschwestern derartig, dass diese der Veela einen Fesselzauber der Erde auferlegt und mit dessen Hilfe die für Sternennacht und ihre unmittelbaren Verwandten typischen Lebensschwingungen in einem bezauberten Stein speichert. Sternennacht ist alles andere als begeistert von dieser Überrumpelung und droht Julius an, seine Verwandten zu töten, wenn Ladonna von Anthelia umgebracht werden sollte. Ihn selbst darf sie nicht anrühren, weil er von Léto alias Himmelsglanz beschützt wird.
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Die letzten Tage waren für ihn wie ein ewiger Glücksrausch vergangen. Jeder Tag war eine Fülle von Hochgefühlen gewesen, jede Nacht ein Fest der Liebeslust. Das verdankte er jener schwarzhaarigen Traumfrau Donni, die er auf Gran Canaria getroffen hatte. Sie hatte ihn total berauscht, ja regelrecht verhext. Das dies wahrhaftig so war hätte er vor einem Monat nie für möglich gehalten. Selbst wenn ihm jemand das gesagt hätte wäre das für ihn bedeutungslos gewesen. Donni alias Ladonna beherrschte seinen Körper und seine Seele. Seine Freunde, alles Glücksjäger und Erfolgssucher wie er, waren ebenso von ihr bezirzt worden. Doch nur ihn hatte sie als ihren persönlichen Gefährten, ihren Traumprinzen auserwählt. Und sie war seine Traumprinzessin, die Königin seiner Nächte.
Nachdem er mal wieder eine furiose Liebesnacht mit seiner neuen Traumfrau erlebt hatte schrak Luigi Girandelli aus leidenschaftlichen Träumen auf. Er meinte, einen Schrei gehört zu haben. Doch nach zehn Sekunden gespannten Lauschens in die herrliche Nachtstille war er sich sicher, dass dieser Schrei wohl nur in seinen Träumen erklungen war. Er tastete nach links, wo vorhin noch seine heißblütige Geliebte gelegen hatte. Die Matratze war kalt. Ladonna war also schon wieder auf den überirdisch langen Beinen. Doch Luigi Girandelli war noch zu erschöpft, ebenfalls aufzustehen. Er drehte sich wieder um und schlief weiter, nicht wissend, was keine hundert Meter von ihm entfernt geschah.
Aus dem Boden an der nördlichen Grundstücksgrenze ragte ein kahlgeschorener Männerkopf heraus. Die Halspartie war gerade noch zu sehen. Seine Halsschlagader war durchtrennt. Den Kopf des in letzten Todesqualen stöhnenden und röchelnden Mannes umgab ein aus seinem Blut und seinem abgeschnittenen Haupthaar gebildeter Kreis, in den an bestimmten Stellen Runen der dunklen Künste eingewirkt waren. Eine unbekleidete, überirdisch schöne Frau umtanzte diese Menschenlebenverachtende Anordnung. Sie ließ ihr wohlgerundetes Becken kreisen, bog sich im Rhythmus der von ihr leise gesungenen Zaubersprüche wie eine schlanke Tanne im Herbstwind und vollführte im Einklang mit den Silben ihres Zaubergesangs abgestimmte Armbewegungen. Ihre Hände deuteten dabei immer wieder auf den vergrabenen Kopf. In der rechten Hand hielt sie ihren Zauberstab. An der linken glomm rubinrot ein besonderer Ring, ihr wahrer Pfeiler der Macht. Dessen unirdischer Schimmer irrlichterte über den im Boden vergrabenen, seine letzten Minuten durchleidenden wie ein blutroter Geist, der immer wieder nachsah, ob sein Opfer noch lebte oder schon tot war. Dann, mit einem letzten anklagenden Atemzug, hauchte der bis zum Hals vergrabene sein Leben aus. Gleichzeitig steigerte sich die Tanzende in die letzten Worte ihres bösen Zaubers. "Sanguis septemtrionalis medianocti datus.
Vapores hostilivorantes vocoo!
Hic et nunc surgunto!"
Unmittelbar nach Ausruf der letzten Zauberworte aus der verbotenen Litanei des Rufus Vulpius Palatinus erglühte der Kopf des zu Tode gemarterten und ausgebluteten Mannes im blutroten Licht. Gleichzeitig glommen die zwei rosenblütenförmigen Rubine des mächtigen Zauberringes im selben unheimlichen Licht. Das blutrote Glühen wurde zu einem flirrenden Gluthauch, der den Rand des gezeichneten Kreises traf und blitzartig zu einer Säule aus glimmendem Dunst wurde, die höher und höher wuchs, bis sie wie der Hut eines riesigen Pilzes auseinanderfloss. Gleichzeitig sprossen auch im Westen, Süden und Osten des weitläufigen Girandelli-Anwesens blutrot glimmende Dunstsäulen. Die pilzartigen Wolken breiteten sich aus, formten eine wabernde, von rotvioletten Funken durchflogene Kuppel, die immer dichter und deutlicher wurde, bis mit kaum hörbarem Knistern der Kreis aus Blut und Haaren zerfiel. Keinen Moment danach fiel die Säule zusammen. Roter Nebel breitete sich ausund berührte die Beschwörerin wie mit heißen Fingern. Sie zuckte unter der Berührung zusammen, atmete den aus sich heraus glimmenden Dunst ein und fühlte, wie er ihr in die Lungen und von da ins Blut drang. Sie keuchte unter plötzlich durch ihren Körper flutenden Hitzewallungen und zuckte unter leichten Schmerzstößen, als die von ihr erweckte Magie mit ihrem Körper wechselwirkte. Mittlerweile hatte sich der rote Dunst derartig ausgedehnt, dass er nur noch einen schwach rötlich schimmernden Nebel bildete, der das ganze Girandelli-Anwesen überdeckte. Allerdings gewährte der durch das Opfer beschworene Dunst genug Sicht auf die altrömisch anmutende Villa, sowie die weitläufige Gartenanlage mit den Oliven- und Zitrusbäumen, den Blumenbeeten und dem Ring aus einer hohen Hecke, in dessen Zentrum eine kurzgemähte Wiese lag, auf der von außen nicht einsehbar Menschen sitzen, feiern oder was auch immer tun konnten.
Ladonna Montefiori atmete tief ein und aus, fühlte, wie die Hitze in ihren Körper drang und wieder hinausfloss. Dabei dachte sie an die vier anderen Seelen, die sie unter ihre Herrschaft und ihren Schutz gestellt hatte. Sie dachte an Pauletta, die Köchin, Luciano, den Chauffeur und Gärtner, Isabella, das Zimmermädchen und natürlich ihren auserwählten Geliebten und Abhängigen Luigi, der wohl gerade schlief, auch wenn der Schrei des von Ladonna aus der magischen Trance erweckten und tödlich am Hals verletzten jungen Burschens aus dem Norden laut genug gewesen war, um alles im Umkreis von zwanzig Kilometern aufzuwecken. Doch Luigi stand so stark unter ihrem Bann, und er hatte sich in den letzten Stunden derartig verausgabt, dass er sicher schnell wieder einschlief.
Eine Minute lang glühte der magische Nebel. Dann erlosch das unirdische Licht wieder. In dem Moment ließen auch die Hitzeschauer nach, die Ladonnas Körper durchfluteten. Jetzt lag das Anwesen in völliger Dunkelheit da. Doch nun wirkte der Zauber des Blutfeuernebels, den der altrömische Zauberer Rufus Vulpius Palatinus vor zweitausend Jahren erfunden hatte, um seine Burg gegen die Truppen des Augustus zu schützen, die ihn und seine Gefolgsleute wegen versuchten Umsturzes töten wollten. Ladonna ärgerte sich, dass diese von ihr bevorzugte Absicherung eines Grundstückes nur solange vorhielt, wie das Herz dessen, der ihn beschwor frei pochen und Blut durch den Körper treiben konnte. Sie dachte daran, dass sie wohl besser Sardonia in den Wirkungsbereich dieses Zaubers hätte locken sollen, statt sich darauf zu verlassen, dass ihre Zauberkenntnisse und der von ihr geschaffene Ring mächtig genug waren, die Rivalin zu bezwingen. Das war eindeutig eine unverzeihliche Fehleinschätzung gewesen. Doch nun hatte sie den Blutfeuernebel des Palatinus wiedererweckt. Gegen den Sonnenlauf hatte sie vier Menschenopfer dargebracht, erst eine alte Frau von einer der drei Balearen-Inseln, dann einen mittelalten Mann aus dem süden, dann eine Frau Anfang zwanzig aus dem Osten und heute Nacht einen noch nicht ganz ausgereiften Jüngling von wohl gerade achtzehn Jahren. Nun wirkte der Blutfeuernebel über dem Anwesen. Wer ihr oder Luigis erklärter Feind oder Feindin war würde bei jedem Atemzug von innen her erglühen und im eigenen Blut gesotten werden, bis die Organe versagten. Das erlöschende Leben würde den Zauber verstärken, je größer die Feindschaft war desto mehr, auch und vor allem, wenn es um magisches Blut ging. Allerdings wusste Ladonna auch, dass der Blutfeuernebel Rufus Vulpius Palatinus nicht lange geholfen hatte. Denn seine Feinde hatten ihrerseits einen Dom der Undurchdringlichkeit über seine Burg errichtet und gewartet, bis ihr Feind verhungert war. Seinen auf Rache ausgehenden Geist hatte eine Priesterin der Hecate mit einem Seelenkessel aufgefangen und ihn darin für Zeit und Ewigkeit eingesperrt. Das würde ihr, Ladonna, nicht widerfahren. Denn bereits bei ihrer Ankunft hatte sie mit eigenem Blut und den sorgsam abgetrennten Spitzen ihrer Haare die hier wachsenden Pflanzen so bezaubert, dass sie jeden räumlichen Zauber aufsaugten, der nicht von ihr gewirkt wurde. Damit unterband sie ohne es zu wissen auch die Streuung von ihr gewirkter Zauber über die Grenzen des Anwesens hinaus.
"Nun können wir alle seelig schlafen", frohlockte Ladonna. Sie ging davon aus, nun von keinem Feinde auf diesem Grund und Boden angegriffen werden zu können. Doch um sicher zu sein, dass ihr Ritual nicht zufällig von jemandem beobachtet worden war verwandelte sie sich in eine schwarze Störchin und umflog das Girandelli-Anwesen in immer größeren Spiralen, um nach möglichen Beobachtern zu suchen. Zu ihrer Beruhigung und wohl auch zum Glück für einen heimlichen Kundschafter blieb ihre Suche ergebnislos.
Adelmo Roselli, Teilhaber an der kleinen Privatbank Roselli, Farinelli & Ponti, prüfte noch einmal die Unterlagen. Falls Luigi Girandelli bis zum 15. Februar keinen Goldschatz von mindestens zwei Millionen Euro wert aus dem Hut zauberte konnte er ohne Furcht vor dessen Anwälten vorgeben, dass er wegen erwiesener Zahlungsunfähigkeit sein schmuckes kleines Landhaus gepfändet bekam, mit allem, was drin war. Diese für ihn und seine heimliche Geschäftspartnerin frohe Botschaft musste er gleich über die verschlüsselte Telefonleitung weitergeben.
"Bist du immer noch an dem Haus interessiert, Tante Gina?" fragte Roselli, als die Telefonverbindung stand und die aufeinander abgestimmten Zerhacker auf jeder Seite eingeschaltet waren.
"Sagen wir so, jemand, dem ich einen Gefallen erweisen möchte, um ihn in meine Schuld zu stellen, ist daran interessiert. Also klappt es, diesem Geldverschwender sein Häuschen wegzunehmen?"
"Die neuesten Analysen geben her, dass seine Zahlungsfähigkeit am Valentinstag endet. Gemäß dem Kreditvertrag kann ich jeden Medio und jeden Primo eines Monats eine Prüfung ansetzen. Fällt diese ungenügend aus, kann ich innerhalb von einer Woche die Übereignung der eingebrachten Sicherheiten fordern. Da er nur das Haus seines Vaters als Sicherheit eingebracht hat kriegen wir es dann wohl. Aber denke bitte daran, dass wir zumindest zum schein anderthalb Millionen dafür bezahlt bekommen müssen, damit das ganze legal über die Bühne geht."
"Dessen bin ich mir bewusst, Adelmo", hörte er seine Schwiegertante antworten.
"Danke, dass ihr uns zu Chrysies erstem Geburtstag eingeladen habt", sagte Laurentine, als sie am Mittag des ersten Februars bei Julius und Millie zu Mittag aß. Julius wollte gleich noch die Landung der Raumfähre Columbia mitverfolgen, weil Laurentine ihm eine Internetadresse gegeben hatte, über die der vollständige Funkverkehr mitgehört werden durfte. Laurentine hatte in den letzten Tagen, wenn sie nicht gerade die Grundschulklassen zu betreuen hatte, immer wieder reingehört, was die Männer und Frauen im Weltraum so erledigt hatten.
"Und heute sind dein Onkel und der ganze Begleittross der Zaubereiministerin rüber in die Staaten gereist?" wollte Laurentine noch von Millie wissen.
"Ja, da hat er sich schon seit Tagen drauf gefreut, vor allem, weil sie da wohl mit einem ähnlichen Luftschiff reisen durften wie die, die zwischen Millemerveilles und Viento del Sol hin und herpendeln", sagte Millie mit einer gewissen Wehmut in der Stimme. Zu gerne hätte sie die Ministerin weiterbegleitet. Doch die Weltreise würde nach den Commonwealth-Ländern, die alle gut mit dem magischen Schnellsegler zu erreichen waren, durch die Staaten und dann Mittel- und Südamerika und von da durch die afrikanischen Staaten und die arabischen Länder gehen, wo nicht immer so gute Schnellreisemittel zur Verfügung standen.
Nach dem Mittagessen brachte Julius Aurore zu den Dusoleils, wo auch schon Claudine Brickston wartete. Danach trafen er, Laurentine und Millie sich im fliegenpilzförmigen Geräteschuppen. Chrysope schlief im Tragetuch auf Millies Schultern. Morgen war sie schon ein ganzes Jahr auf der Welt. Wahnsinn, wie schnell die Zeit verging, dachte Julius. Tja, und beinahe hatte es danach ausgesehen, dass sie und alle anderen keine friedliche Welt erleben würden.
"Columbia von Houston, letzte Statusmeldung vor beginnendem Widereintritt!" hörten sie die von leisen Knack- und Knistergeräuschen durchsetzte Anweisung der Bodenstation an die auf Heimflug befindliche Raumfähre. Der Kommandant machte die letzte Statusmeldung und gab durch, dass der Anflugwinkel nominal, also wie vorgesehen war. Als dann die ersten Ausläufer der dichteren Erdatmosphäre an dem Raumschiff rüttelten kam eine Anfrage der Bodenstelle wegen einer Hitzewarnung in der Backbordtragfläche. Das wurde noch von einer ruhig klingenden Meldung bestätigt, dass einer der Hitzesensoren überhohe Werte meldete. Doch dann kam nur noch ein halblauter Fluch: "O Scheiße!" Danach war erst mal Funkstille.
"Das klingt gar nicht gut", unkte Laurentine. Julius musste ihr da beipflichten. Millie fragte, was passiert war. "Die haben Überhitze im linken Flügel festgestellt. Das heißt, da kommt zu viel Hitze durch. Das kann ziemlich übel ausgehen, bestenfalls eine ziemlich ruckelige Landung bedeuten, schlimmstenfalls ..."
"Schlimmstenfalls was?" wollte Millie wissen. Dann nickte sie. "Das dieses Weltraumfluggerät verbrennt?"
"ä ja, Millie", stellte Julius fest. Laurentine sah ihn mit kreidebleichem Gesicht an. Indes knackte es im mitgehörten Funk. Dann rief der Funker der Flugüberwachungsstelle in Houston: "Columbia von Houston, Komprobe!" Keine Antwort. "Columbia von Houston, Komprobe!" wurde der Anruf wiederholt. Das geschah noch mehrmals, ohne eine Antwort zu erhalten. Laurentine fragte Julius, ob die Fähre vielleicht noch in der Funkstörungsphase war. Julius sah auf die Systemuhr am Bildschirmrand und schüttelte behutsam den Kopf.
Als dann mehrere Minuten lang nichts von der Columbia zu hören war erschien unvermittelt die Anzeige: "Kanal geschlossen. Näheres über Pressestelle NASA.""
"Dann hat wohl gerade der Flugdirektor den Befehl gegeben, die Türen zu schließen", seufzte Julius. Er dachte sofort daran zurück, wie er als gerade mal dreieinhalbjähriger Hosenmatz mitbekommen hatte, wie das große Weltraumflugzeug nach dem losfliegen einfach auseinandergebrochen war. Später hatte er dann die Berichte und nachhörbaren Tonaufzeichnungen zu dieser Katastrophe gelesen und gehört. Er dachte an Chrysope, die jetzt vielleicht mitbekam, dass ihre Maman und ihr Papa gerade sehr betrübt waren.
"Oha, Julius. Dann ist es wohl amtlich, dass die Columbia zerstört wurde", grummelte Laurentine.
"Ihr habt mir doch einen erzählt, dass diese Weltraumflugapparate eine Hitzeschutzverkleidung haben. Kann da was kaputtgehen?"
"Eigentlich zu viel. Aber die warten diese Hitzekacheln vor jedem Flug", sagte Julius. "Aber anders kann das nicht gelaufen sein." Dann fragte er Millie, wann Gilbert Latierre in den Staaten ankommen wollte. "Gegen neun Uhr Ortszeit Kalifornien. Dann soll es um zehn mit dem Luftschiff von San Francisco nach New York gehen."
"Dann sind die zumindest gerade nicht in der Gegend unterwegs", meinte Julius. Sich vorzustellen, dass einer der Stratozeppeline voll durch einen glühenden Trümmerregen fliegen musste behagte ihm nicht.
"Mach mal bitte das Radio an, ob die schon mehr haben!" sagte Laurentine. Julius hatte eine Bessere Idee. Er wählte die Internetseite von CNN an und ging auf die Seite mit dem Ticker. Dieser meldete, dass die Columbia beim Wiedereintritt verglüht sei und jetzt wohl eine Menge Trümmer zur Erde fielen. Zwar habe die NASA noch keine offizielle Bestätigung rausgegeben, aber es seien bereits erste glühende Trümmerstücke am Himmel gesehen worden.
"Und du wolltest da auch mal mitfliegen, Julius", schnarrte Millie. Julius sah seine Frau verwundert an und sagte: "Millie, jemand kann auch bei eingewirktem Bergezauber mit einem Besen abstürzen oder sich beim Apparieren vollständig zersplintern. Unnfälle können eben passieren, so gemein das jetzt klingt."
"Wenn's ein Unfall war", warf Laurentine ein. Julius verstand und sagte: "Glaubst du, das war wieder ein Terroranschlag?"
"Zumindest ist das möglich oder Sabotage oder beides, ein Terroranschlag durch sabotierte Hitzekacheln. Überlege mal wie wichtig den Amis die Raumfahrt ist und wie heftig das bei denen reinhaut, wenn da was passiert, zumal die NASA in den letzten Jahren echt genug Stress mit den Geldgebern hatte, weil die Weltraummissionen zu teuer waren oder die Leute aus dem Kongress den Nutzen von interplanetaren Raumsonden bestritten und so weiter. Die Shuttles sind im Unterhalt teurer als eine Ariane-Rakete, von wegen Wiederverwendbarkeit. Wenn da jetzt echt noch der Eindruck entsteht, dass dieses Programm zu gefährlich ist ..."
"Ihr sagtet, dass in dieser Raumflugfähre sieben Leute saßen. Dann hat von denen keiner überlebt, oder?" fragte Millie sehr betrübt.
"Bei der Flughöhe und bei der wohl auftretenden Hitze sicher nicht, Millie", antwortete Julius. "Die einzige Hoffnung ist, dass das so schnell ging, dass sie nicht gelitten haben. Aber bei den Temperaturen wird von denen nichts übrigbleiben, so grausam das jetzt bei dir ankommen muss."
"Dann haben deren Angehörige keinen Platz, wo sie sie besuchen können", seufzte Millie und schluckte erste Tränen hinunter. Julius nickte. Er fühlte, wie seine Frau von dieser Tragödie ergriffen wurde, erst von Wut, und jetzt von Trauer. Er nahm sie behutsam in die Arme und gab ihr Geborgenheit, während sie ihren Tränen freien Lauf ließ. Laurentine lenkte sich damit ab, dass sie mit Julius stiller Einwilligung weitere Informationsseiten aufrief, um weitere Einzelheiten zu erfahren. Dabei erwischte sie auch Bilder vom Start dieser Mission. Allerdings wurde die Seite bereits derartig häufig besucht, dass der bereitstellende Server nicht so schnell die Bilder liefern konnte. Wohl auch deshalb konnte sie an den Einzelbildern sehen, wie beim Start ein Stück der Außentankisolierung abbrach und die vorderkante der linken Tragfläche traf. Weil Millie sich gerade in ihrem hormongetriebenen Trauerzustand befand und Julius ihr beistehen wollte, sagte sie erst nichts. Doch sie dachte für sich: "Warum haben die das nicht gleich gesehen und noch im All gecheckt, ob dabei was kaputtgegangen ist?"
Nach einigen Minuten hatte Millie sich wieder gefangen und entschuldigte sich bei Laurentine, dass sie derartig die Beherrschung verloren hatte. Julius ließ sich dann die Bilder noch mal zeigen. "Wenn das die Zerstörung verursacht hat werden da demnächst wohl einige Leute große Probleme kriegen", sagte er.
"Ich hoffe, ich kriege bald eine Nachricht aus den Staaten. Am Ende haben sie da gar nichts mitbekommen", sagte Millie. Julius konnte dem nur beipflichten. Was störte es die magische Welt, dass nach der Challenger nun auch die dienstälteste Raumfähre verunglückt war und sieben Astronauten gestorben waren? Die nichtmagische Welt hatte ja auch nichts von Vengor mitbekommen. Die spukenden Horrorbilder von Pickman und die auf Seelenjagd geschickten Schattendiener Kanoras' waren ja durch Gedächtniszauber aus den Erinnerungen der überlebenden Zeugen getilgt worden.
Gilbert Latiere erfuhr um zwei Uhr Nachmittags Ostküstenzeit, was sich über Texas ereignet hatte. Ein Überlandbus der Firma Blauer Vogel war bei der Durchquerung von Texas beinahe von niederstürzenden Trümmern getroffen worden und hatte sich nur per Notsprung in Sicherheit bringen können. Die sonst bei solchen Bussen übliche Hindernisverschiebezauberei wirkte eben nur in die gerade eingenommene Fahrtrichtung, so dass die weißglühenden Bruchstücke nicht dezent bei Seite gedrängt wurden. Da Gilbert sich einmal von Julius hatte erklären lassen, wie genau die Muggel in den Weltraum fliegen konnten und warum sie unbedingt zum Mond gewollt hatten war er im Moment der einzige, der erklären konnte, was passiert war. über die Papostillionverbindung zu seinen Verwandten ließ er sich von Julius beschreiben, was genau passiert war und welchen Auftrag die havarierte Raumfähre ausgeführt hatte. Julius gab auch die Vermutung weiter, dass ein beim Losfliegen gegen den linken Flügel gepralltes Stück von der Wärmeabdeckung des großen Treibstofftanks den schicksalhaften Schaden verursacht haben konnte. Jedenfalls war Gilbert froh, dass er nicht sieben Stunden früher mit dem Luftschiff losgeflogen war. Linda Knowles, die in San Francisco zugestiegen war machte aus dem Umstand, dass die magische Welt ebenfalls zum Teil von dieser Katastrophe betroffen war, weil nicht gerade wenige Hexen und Zauberer in Texas und den angrenzenden Bundesstaaten wohnten, einen Artikel über die Gefahren der magielosen Weltraumflüge. Somit bekam die nordamerikanische Zaubererwelt doch etwas davon mit, was am ersten Februar 2003 geschehen war. Das jedoch beeinflusste nicht die Unterredung mit dem derzeitigen Zaubereiminister Chroesus Dime. Als dann noch sein Laufbursche Lenny mit einem Pergament hereinkam und Dime verdrossen darauf starrte fragte Linda Knowles ihn, was passiert sei. Er sagte nur: "Ich muss das erst klären, ob die Öffentlichkeit das erfahren darf, Miss Knowles. Bis dahin üben Sie alle sich bitte in geduldigem Schweigen."
Aurore Latierre freute sich nur, weil so viele ihrer Freunde aus der Nachbarschaft und die ganzen Kinder aus Uroma Lines großem Haus mitgekommen waren. So richtig toll fand sie es nicht, dass ihre Schwester Chrysope Geburtstag hatte und deshalb die ganzen Geschenke bekam. Sicher, für sie waren viele Sachen schon nicht mehr aufregend oder groß genug. Aber erst als ihr Papa, der an dem Tag nicht im grünen Feuer weggerauscht war, sie auf die Schultern hob und sagte, dass sie schon bald ein ganz großes Mädchen war, freute sie sich. Chrysie machte noch in Windeln und konnte nichts sagen oder noch nicht so rumlaufen wie sie. Aber irgendwie hatte Aurore das noch nicht richtig gerne, dass sie eine kleine Schwester hatte. Ja, und weil die mal im Bauch ihrer Maman gewohnt hatte und da schon wieder wer drin schlief kkriegte sie irgendwann noch so'n Schreibaby mit, für das ihre Maman und ihr Papa da waren.
"Rorie, Besenfliegen?" wollte Blanche wissen, die mit ihrer Schwester und den zwei Brüdern zusammen aus Uroma Line gekommen waren, wie das auch immer gemacht wurde. Aurore nickte und holte ihren rosaroten Spielzeugbesen. Auch Blanche, Linda-Laure und Faunus hatten ihre Spielzeugbesen mitgebracht. So konnten sie lustig im großen Garten herumfliegen, solange die ganz großen mit Chrysie am Tisch waren. Claudine Brickston, die bei dieser Feier das älteste Kind war, überwachte mit gewissem Stolz die kleineren Kinder. So dachte sie nicht mehr an die ganzen Sachen, die ihr Papa gerade hatte.
Ladonna empfand große Schadenfreude, als sie vom Unglück einer Weltraumfähre der Neuweltler erfuhr. War es nur deren grenzenlose Überheblichkeit gewesen, die dieses Unglück bedingt hatte? Oder war es womöglich ein längst überfälliger Gegenschlag der magischen Wesen, um sich die Welt von den Maschinenanbetern und Elektrizitätsbändigern zurückzuholen? Das musste sie demnächst klären, weil sie sonst in eine sehr üble Lage geraten konnte.
Sie wusste von den wenigen tastenden Gedanken nach ihrer Wiedererweckung, dass es noch Anverwandte ihrer Nährmutter gab. Sie musste klären, ob diese vor den Magielosen geflüchtet waren oder diesen als Sklaven dienten. Dass die Veelas herrschten, damit Menschen ohne Zauberkraft Wälder, Flüsse und Meere verdarben glaubte sie keinen Moment. Um mehr herauszufinden musste sie wissen, wo die nächste Blutsverwandte ihrer zweiten Mutter zu finden war. Hierfür hatte sie einen Zauber ersonnen, der sie spüren ließ, wo die nächste Verwandte lebte.
Jetzt, wo sie Luigis Haus und Grundstück mit den für Menschensinne unsichtbaren Blutfeuernebel überzogen und durchdrungen hatte, wollte sie losziehen. Doch sie wollte Luigi nicht sich selbst überlassen. Auch wenn sie ihn durch ihre Magie und ihre Körpersäfte an sich gebunden hatte konnte eine längere Abwesenheit ihn langsam aber sicher wieder freikommen lassen. Aber der gehörte ihr. Nur sie würde entscheiden, wann sie ihn verstoßen, töten oder in eine für sie weiterhin nützliche Daseinsform verwandeln würde. So blieb ihr im Moment nur, ihn und sein Hauspersonal in Zauberschlaf zu versenken, nachdem er allen, die es was anging erzählt hatte, dass er wegen dringender geschäftlicher Angelegenheiten eine mehrtägige Reise machen müsse.
Nachdem Luigi die entsprechenden Anrufe gemacht und auch entsprechende Einträge bei Reisevermittlern geschrieben hatte, besang sie ihn mit ihrer glockenreinen Stimme, bis er tief und fest schlief, ja bis sein Herz nur noch ein viertel so schnell schlug wie üblich. Gleiches ließ sie den Dienstboten angedeihen. Danach versperrte sie alle Fenster und Türen, überzog die Glasscheiben von innen mit einem Zauber, der sie zu von außen undurchsichtigen Spiegelflächen machte. Damit hatte sie einst einen venezianischen Glasmacher zur Verzweiflung gebracht, bis dieser Schlaukopf an Hexenwerk glaubte und ihr die Schergen dieser Eingottanbeter auf den Hals schickte. Damals hatte sie noch nicht ihren Zauberring und wollte auch nicht ausprobieren, ob die Schergen sie erschlagen, erwürgen oder verbrennen würden.
Als alles im Haus schlief apparierte sie über vier Zwischenstellen auf den höchsten Berg in der Mitte des europäischen Erdteils. Sie wusste, dass die Veelas hauptsächlich in Europa wohnten, weil irgendwo in den darin angrenzenden Meeren die verborgene Insel Mokushas liegen sollte. Sie musste in der Mitte des Erdteils ihren Zauber wirken, um die Suche gleichmäßig auf alle Landstriche auszuüben. Sie hatte damals einen Zauber erfunden, der ihr Blut zu einer Art Tongeber machte. Traf dieser für Ohren unhörbare Ton auf ähnliches oder gleichartiges Blut, so kehrte er schneller als der Wind zu ihr zurück und konnte von ihr an der Stelle ihres Körpers verspürt werden, der in die Richtung des gefundenen Artverwandten wies. Bedauerlicherweise bestand eine Abhängigkeit zwischen der Entfernung des nächstgelegenen zur Häufigkeit der Zauberformel und der damit zusammenfallenden Gedankenübungen. Das würde sie sehr gut erschöpfen. Doch wenn sie nach dem Zauber in den Schutz eines Waldes eindrang, so konnte sie die Kraft der Bäume zur Erholung nutzen, wie die Vorfahrin ihrer Gebärerin, deren Seele sie seit der Geburt in sich trug.
Auf dem Punkt, den sie Dank Rose Britigniers Wissen errechnet hatte, konzentrierte sie sich erst auf die Richtungsweisekraft, das Magnetfeld der Erde. Als Nachfahrin zweier mit der den Naturkräften verbundener Wesen konnte sie dieses durch ausreichende Konzentration fühlen und seinen Verlauf erfassen. So bestimmte sie die genaue Nordausrichtung. Danach zog sie mit dem Zauberstab eine Rune für erstarrtes Wasser. Im Osten zog sie Runen für erwachte Luft, im Süden für loderndes Feuer und im Westen für die Tiefe und dunkelheit der Erde. Sie verband die vier Runen mit zwei konzentrischen Kreisen. Dann stach sie sich mit einer silbernen Nadel in den Finger und ließ Blut auf die Ränder der Runen tropfen, wobei sie alle magischen Namen des betreffenden Elementes auf Lateinisch deklamierte, also bei Wind die Worte für Luft, Hauch, Brise, Sturm und Belebung, bei den Runen für das Feuer die Worte für Flamme, Glut, Brennen, Licht, Wärme, Rauch und Funken, bei der Erde für Stein, Felsen, Fruchtbarkeit, Erz und Festigkeit und bei denen des Wassers für Fluss, Eis, Quelle, Lebendigkeit und Frische. Als das einmal vollzogen war stellte sie sich genau in den Mittelpunkt des Doppelkreises und richtete sich nach Norden aus. Dann sang sie die von ihr schon einigemale erprobte Litanei:
"Sanguis surgito!
Sonitus sanguinis sonato!
Sanguis similis sonato!"
Wieder und wieder sang sie diese dreiteilige Formel, wobei sie versuchte, so tief wie möglich zu klingen. Als es ihr gelang fühlte sie gleich nach Durchführung der ersten Teilformel, wie sich ihr Körper erwärmte. Ab da galt es, immer gleichbleibend klingend die Formel zu deklamieren. Darauf allein musste sie sich besinnen und alles andere aus ihren Gedanken verbannen.
Sie kam bei den Wiederholungen ihrer Zauberformel schon auf dreißig mal, was eine Entfernung der dreitausendfachen Sichtweite entsprach. Da fühlte sie aus südöstlicher Richtung einen Wärmehauch, der im Takt ihres Herzschlages mal wärmer und mal kälter auf der Haut wirkte. Dann drang diese Wärme in ihre Adern, doch immer noch klar aus südosten wirkend. Ladonna sang die Formel noch einmal, um die größte Erhitzung zu erreichen. Als das vollbracht war wusste sie, wo genau sie die auf ihren Zauber ansprechende Blutsverwandte finden würde. Sie beendete den Zauber mit "Finis sonitus sanguinis!" Dann apparierte sie in kleineren Sprüngen immer näher an ihre aufgefundene Verwandte heran.
Sie wunderte sich nicht, dass sie bei ihrer Annäherung in einen immer dichteren Wald hineingeriet. Welches Land sie betreten hatte war im Moment nicht wichtig. Sie musste sich an keine von irgendwelchen Herrschern festgelegten Grenzen halten. Denn der Anteil der Veela in ihrem Erbe hüllte sie in eine ständige Unortbarkeit ein.
Bei ihrem letzten Sprung erreichte sie eine Lichtung, in deren Mitte eine Quelle entsprang. Ein gewaltiger Eichenbaum fiel ihr sofort auf. Dann fühlte sie die Nähe der Veelaverwandten. Doch in dieser kurzen Entfernung fühlte die andere sie wohl auch. Ladonna spürte, dass der oder die Verwandte oben im Baumwipfel saß. Dann hörte sie deren körperliche Stimme:
"Du bist hier. Wie hast du mich gefunden?" fragte die Gefundene in der Sprache der Veelas, die Ladonna von ihrer zweiten Mutter erlernt hatte.
"Verrate ich dir, wenn du mir verrätst, was für mich wichtig ist, Base oder Schwester", erwiderte Ladonna. Die andere versuchte, ihre Ausstrahlung zu verhüllen. Doch Ladonna zielte bereits mit dem Zauberstab auf den Baum. "Verschließt und verbirgst du dich vor mir oder rufst unsere anderen Verwandten hierher stirbt dein Baum den Tod im grünen Blitz."
"Was willst du hier?! Du hast hier nichts zu suchen!" schrillte die aufgefundene verwandte. Dann flog ein Kolkrabe aus den Zweigen heraus und kreiste über Ladonnas Kopf.
"Du irrst dich. Ich habe was zu suchen, nämlich dich. Und jetzt, wo ich dich gefunden habe werde ich nicht eher gehen, bis ich weiß, was ich wissen will. Also komm herunter und nimm deine Erdverbundene Gestalt an!"
"Du willst wissen, wie viele es von uns noch gibt, richtig? Du willst wissen, wer deine anderen Verwandten sind, richtig?" drang eine leicht krächzige Gedankenstimme in Ladonnas Geist ein.
"Ja, auch das. Aber da ist noch einiges mehr."
"Du bist böse. Dein Sinnen ist böse. Wir werden dich mit unseren Liedern binden und dir alles fortnehmen, was dir Macht über die hohen Kräfte gibt", hörte sie die krächzige Gedankenstimme.
"Von einem Vogel soll ich mir drohen lassen?" fragte Ladonna und zielte auf den Baum. "Lande und nimm deine angeborene Gestalt an oder sieh zu, wie deine lebende Heimstatt fällt!"
Der Rabenvogel landete. Kaum hatten seine Füße den Boden berührt, wuchs er und nahm menschliche Form an. Jetzt stand vor Ladonna eine sehr zierliche Frau mit ansehnlicher Oberweite und bis zum Gesäß reichendem nachtschwarzen Haar. Sie trug ein waldgrünes Leinenkleid. Dann öffnete sie ihren schmalen Mund und zeigte ihre strahlendweißen Zahnreihen. Sie begann sofort, ein Lied anzustimmen, das Menschen und Tiere lähmen konnte. Das Lied der klingenden Fessel war eine der mächtigsten Abwehrkünste der Veelas. Ladonna fühlte, wie die Kraft dieses Zauberliedes sie schon durchdrang, ihren Körper umschnürte und ihren Willen zu schwächen begann. Doch sie war kein gewöhnliches Wesen. Sie bäumte sich dagegen auf und stieß ihrerseits ein lautes Fauchen und Schrillen aus, dass den auf sie wirkenden Bann schlagartig verdrängte. Gleichzeitig erschrak die Sängerin so heftig, dass sie ihr körperlich-geistiges Gleichgewicht verlor. Sie strauchelte. "Stupor!" rief Ladonna. Der Schockzauber traf die niederstürzende. Ladonna wusste, dass der Schockzauber bei Veelas keine zwei Atemzüge vorhielt. Doch die reichten ihr aus, um unangefochten an ihre Verwandte heranzutreten und ihr mit einem gezielten Faustschlag an den kopf die Besinnung zu nehmen. Gegen körperliche Gewalt war der Zauber der Veelas machtlos. Allerdings fühlte sie bei ihrem Schlag einen Hitzestoß durch Hand und Arm gehen. Aber damit hatte sie gerechnet. Die Gewalthemme gegen Blutsverwandte wirkte irgendwie doch auf sie. Doch dagegen konnte sie sich stemmen.
"So, werte Anverwandte. Jetzt werde ich von dir erfahren, wer du bist und was ich wissen will", dachte Ladonna. "Memorias scientiaque acquireto!" Murmelte sie, auf ihren Ring deutend. Dieser vibrierte. Ladonna Montefiori zog den Ring von ihrer Linken Handund steckte ihn an den linken Zeigefinger der betäubten. Sofort glühte er in einem violetten Schein. Ladonna stellte ihre Fragen laut und deutlich, obwohl die andere ja besinnungslos am Boden lag. "Wer bist du? Wer ist unser beider älteste Anverwandte? Gibt es noch andere Zauberstabträger? Wie leben diese heute? Liegen sie im Krieg oder Frieden mit den zauberkraftlosen? Wie steht ihr zu den Zauberkraftlosen? Was wissen die Zauberstabträger von meiner Rückkehr? Wenn sie davon wissen, was haben sie nun vor oder schon ins Werk gesetzt?" Diese Fragen wiederholte sie eine ganze Minute lang. In ihren Sprechpausen leuchtete der Ring heller. Ladonna fühlte förmlich, wie die in den Ring gebetteten Teile ihrer Seele mit dem Geist der Betäubten wechselwirkten. Ladonna fühlte sich allen überlegen, die mit glühenden oder schneidenden Folterwerkzeugen oder dem Todesqualenzauber Cruciatus oder Wahrheitstränken Aussagen erzwingen wollten. Zehnmal wiederholte sie die Folge von Fragen, wobei sie jedoch genau auf die Umgebung lauschte. Wenn diese Anverwandte noch einen Hilferuf ausgesandt hatte mochten gleich mehrere Feinde erscheinen und auf sie losgehen. Doch die besondere Befragung musste sooft wiederholt werden, bis der Ring seine größte Helligkeit erreichte. Dann hatte er die Antworten auf die gestellten Fragen vollständig in sich aufgenommen.
Noch dreimal wiederholte sie ihre Fragen, bis der Ring mit den zwei Rubinrosen in einem ins Gelb übergehenden Rotton glomm. Dann griff Ladonna nach dem Ring und zog ihn der Betäubten vom Finger. Dabei hörte sie ein leises Gedankenflüstern. Da sie selbst sich immer noch gegen das Aufgefundenwerden verschlossen hielt verstand sie das Flüstern nicht. Sie musste jedoch davon ausgehen, dass die anderen Veelas nach der von ihr gefundenen Verwandten riefen. Wenn sie nicht antwortete würden sie entweder selbst nach ihr suchen oder wen aufscheuchen, der das erledigte. Doch nun, wo sie den Ring wieder an ihrem eigenen Finger hatte, fluteten die Antworten auf ihre gestellten Fragen in einer Woge aus Bildern und Worten durch ihren Kopf. Sie wusste jetzt, dass ihre Anverwandte Neumondlied hieß, dieser Wald im ehemaligen Königreich Bulgarien lag, dass es noch sehr viele Zauberstabträger gab, doch diese bis auf sehr wenige Ausnahmen damit Frieden geschlossen hatten, sich vor den Magielosen versteckt und geheim zu halten. Sie erfuhr, dass wahrhaftig die älteste ihrer noch lebenden Blutsverwandten, Sternennacht, den Verwaltern der magischen Menschen berichtet hatte, dass eine bereits erwachsene Anverwandte neu in die Welt gekommen war und auch, dass ein Zauberer namens Julius Latierre und eine Hexe namens Catherine Brickston, deren Erscheinungsbilder sie bei der Gelegenheit auch im Geiste sah, nach ihr suchten. Sie erfuhr auch, dass Sardonias Macht vor über dreihundert Jahren gebrochen worden war. Das alles wusste sie nun. Sie fühlte eine gewisse Wut, weil diese Schwächlinge mit Zauberstäben den Magielosen freie Bahn gelassen hatten. Sie verwünschte den Umstand, dass sie nicht stärker als Sardonia gewesen war. Am Ende hätte sie mit dieser einen Burgfrieden schließen sollen, um das ganze Elend zu verhindern, dass die magielosen Menschen der Erde und allen Zauberwesen antaten. Sie wusste aber nun auch, dass sie nicht unentdeckt geblieben war. Es galt also, sich auf eine irgendwann stattfindende Auseinandersetzung vorzubereiten. Hierzu musste sie jedoch an das Wissen der heutigen Zauberer und Hexen gelangen, damit sie nicht von irgendwelchen neuen Zaubern entmachtet werden konnte. Auf jeden Fall musste sie jetzt hier weg, weil Neumondlieds besorgte Verwandten nach ihr riefen. Sollte sie sie erwachen und berichten lassen. Nein. Denn ein Nachteil des von ihr benutzten Ausfragezaubers war, dass sich die Befragten daran erinnern konnten, was sie gefragt wurden und was sie geantwortet hatten. Das durfte nicht sein. Die anderen durften nicht wissen, dass sie von ihren Verfolgern und möglichen Todfeinden wusste. So blieb ihr eben nur eins.
Sie konzentrierte sich stark auf einen grünen Schutzwall um sich herum und dachte die Worte von Kraft und Schutz in der Sprache der Waldfrauen. Das hatte ihr damals im Kampf gegen ihre Schwester Regina geholfen, um das zu tun, was sie hatte tun müssen. Dann deutete sie mit dem Zauberstab auf den Körper Neumondliedes und rief die verbotenen Worte: "Avada Kedavra!" gleißend grün sirrte der schnelle Tod aus Ladonnas Zauberstab und traf Neumondlied. Sie hörte einen gellenden Aufschrei, durchsetzt mit ihrem Namen und fühlte einen Moment eine Schwächung ihres Körpers. Sie zitterte, während der Todesschrei der Anverwandten zu einem aus allen Richtungen leiser und leiser klingendem Echo verebbte. Beinahe fiel sie selbst zu Boden. Doch dann strömte die Kraft aus den hier wachsenden Bäumen in sie ein und vertrieb die aufflammende Schuld und die Schwächung ihrer Glieder. Sie hörte noch einmal ihren in letztem Schmerz geschrienen Namen wie ein Chor von anklagenden Seelen aus der Ferne in ihren Geist dringen. Dann war sie allein auf der Lichtung, allein vor dem Leichnam ihrer Anverwandten, die sie gerade einige Minuten lang gesehen hatte. Dass sie ein bereits hundertfünfzig Jahre währendes Leben ausgelöscht hatte war ihr bewusst, aber ohne Bedeutung. Die hätte sich ihr nicht widersetzen dürfen. Vielleicht hätte sie sie dann weiterleben lassen. So hatte sie auch mal von ihrer Schwester Regina gedacht. Deren Todesschrei war nicht mal einZehntel so laut gewesen, zumal Ladonna auch da jenen Abschirmungszauber benutzt hatte wie hier. Offenbar war es doch entscheidend, wie groß der Veela-Anteil im eigenen Körper war.
Um nicht gleich von jemandem angegriffen zu werden verschwand Ladonna, diesmal in die Richtung, wo ihre neue Festung lag.
Nach mehreren Sprüngen erreichte sie das Grundstück Luigis. Sie erschien direkt im Haus und bekam mit, wie eine erregte Männerstimme auf jene Vorrichtung sprach, die Anrufbeantworter genannt wurde.
"Luigi, mann, wenn du das hier abhörst sieh zu, dass du bis zum fünfzehnten mindestens eine halbe Million Euronen flüssig machst. Die Aasgeier von Roselli und Farinelli wollen dein Haus haben." Wenn du das abhörst ruf mich sofort an! Vielleicht kann ich dir helfen." Dann knackte es, und ein mehrfaches Tuten verriet, dass der Anrufer die Verbindung getrennt hatte. Dann kam noch ein langgezogener Piepton. Dann herrschte wieder Stille vor.
"Wer will Luigis Haus haben? Der hat mir doch erzählt, dass ihm das Haus gehört, nur dass er sich Geld geliehen hat", dachte Ladonna. Sogleich weckte sie Luigi aus dem von ihr auferlegten Zauberschlaf. "Hör deinen Anrufbeantworter ab und verrate deiner Herrin, was du ihr bisher verschweigen wolltest!" befahl sie, als er sie sehnsüchtig anschmachtend ansah. Er stand auf und ging an den Telefontisch, um die aufgenommene Nachricht abzuhören. So erfuhr Ladonna, dass es Pietro, einer der Männer war, die Ladonna wie Luigi durch ihre Magie unterworfen hatte. Allerdings hatte sie ihn nicht so vollständig an sich gebunden wie Luigi, weil der kein eigenes Haus besaß, sondern in einer sogenannten Firmenwohnung untergebracht war. Luigi nahm sein Mobiltelefon, weil er ja immer noch den Anschein aufrechthalten musste, auf Geschäftsreise zu sein.
Ladonna konnte dank ihres hochempfindlichen Gehörs jedes Wort des Ferngespräches verstehen und erfuhr so, dass Pietro mitbekommen hatte, dass jemand im Auftrag Rosellis Luigis noch laufenden Kredit auf Basis übereigneter Aktien kündigen sollte. Dafür hatte sich die Bank von Roselli bereiterklärt, die von Luigi als Pfand hinterlegten Aktien zum doppelten Kurswert aufzukaufen. Damit würde er Rosellis Bank insgesamt zwei Millionen Euro schulden, ohne neues Geld beschaffen zu können, um die Schulden zu tilgen.
"Tja, Pietro. Die kleinen Gangster überfallen Banken, die großen gründen selber welche", stieß Luigi aus. "Ich muss bis nächsten Monat genug Geld haben, um den Kredit nicht zu verlieren und gleichzeitig die bei Alessandro gemachten Schulden tilgen zu können? Wo ist der Typ denn gerade?"
"Vergiss es, Luigi! Wenn ich das von meinem privaten Nachrichtendienst mitbekommen habe ist dem eine Partnerschaft bei den Moretti-Brüdern angeboten worden. Du weißt, was über die gesagt wird?"
"Ja, weiß ich, gute Verbindungen zu allen Übeln unseres schönen Landes. Will sagen, wer Alessandro auf die Bude rückt sollte vorher sein Testament gemacht haben. Klar, dass der sich von denen hat einwickeln lassen, mich abzuzocken. Dann hängt da sicher auch wer von einer der großen drei ehrenwerten Firmen an dieser Nummer, mir das eigene Elternhaus unterm Arsch wegzuziehen. Kannst du eine halbe Million flottmachen?"
"Nicht bis zum fünfzehnten und nicht ohne ziemlich gemeine Rückfragen. Verklopp doch deinen Alfa und den 300er SEL. Dann hast du schon mal Handgeld!"
"Wenn Roselli mir am fünfzehnten die Knarre auf die Brust setzt und eine vollständige Tilgung aller nun auf ihn übertragenen Schuldscheine einfordert reicht das nicht aus. Haben die sich sehr schlau ausgedacht."
"Ja, aber du hast die Aktien nicht verkauft, sondern nur als Unterpfand überlassen. Die dürfen die erst verkaufen, wenn du nicht mehr zahlen kannst."
"Die Aktien waren sozusagen mein Girokonto. Ich depp habe bei Alessandro unterschrieben, dass er die Aktien verkaufen darf, wenn ich nicht pünktlich die Tilgung berappen kann. Pünktlich heißt präzise zu einer bestimmten Uhrzeit am Monatsersten. Da war aber gerade bei der Bank, wo ich mein Girokonto habe eine Computerstörung, so dass das Geld erst einen Tag später überwiesen wurde. Im Moment habe ich auf dem Konto gerade mal fünftausend Euros, wegen der mistigen Internetfirmenpleite."
"Dann kauf dir ein Flugticket nach Südamerika und nimm nur mit, was in zwei große Koffer passt. Weil sonst wirst du ab dem fünfzehnten auf der Straße stehen."
"Da bin ich doch gerade, Pietro. War nur ein Zufall, dass ich da gerade mein Mobiltelefon angeworfen habe, um meinen AB zu checken."
"Dann bleib da besser und hol noch rüber, was du an Geld hast! Ich kann dir lediglich eine neue Wohnung suchen, in die du einziehen kannst, wenn sich der Staub gelegt hat."
"Toll, in Rom in einer sündteuren Mietskaserne oder eine Winzwohnung neben lauter Großfamilien, wo jedes Jahr neue Plärrbälger dazukommen. Die darfst du gerne andern Leuten geben und ..."
Ladonna riss Luigi förmlich das Telefon aus der Hand und sprach hinein: "Pietro, hier ist Ladonna. Erinnerst du dich noch an unseren Tanz unter den Sternen?"
"Öhm, ja, natürlich", erwiderte Pietro. "Ich bin mit Luigi unterwegs. Ich kenne noch einige Leute, die mir was schulden. Also lehn dich zurück und überlasse alles andere mir!"
"Öhm, wenn ihr nach Florenz zurückkommt werdet ihr unter einer Brücke am Arno schlafen müssen", erwiderte Pietro.
"Wir nicht, Pietro. Wir ganz bestimmt nicht", stieß Ladonna aus. Gleichzeitig warf sie ihrem Leibeigenen einen höchst verärgerten Blick zu, dass dieser sich wie ein getretener Hund in die äußerste Ecke zurückzog und dort zitternd verharrte.
"Ich weiß nicht, was Luigi dir über sein Vermögen erzählt hat. Aber ein Kartenhaus ist dagegen ein Atomschutzbunker, meine smaragdäugige Sternenkönigin."
"Luigi wird das Haus nicht verlieren, Pietro. Mein Wort darauf."
"Ja, so soll es sein, Herrin", sagte Pietro. Dann wurde die Verbindung getrennt.
"So, jetzt erzähl mir alles, was du mit diesem Haus angestellt hast!" befahl Ladonna dem immer noch total eingeschüchtert in der Ecke kauernden.
Als er ihr erzählte, dass er nach dem Tod seiner Eltern vor drei Jahren außer dem Haus und einer Menge von sogenannten Wertpapieren geerbt hatte hatte sich Luigi dazu hinreißen lassen, ein kostspieliges Leben zu führen. Erst hatte er gedacht, die von den Handelshäusern und Großfabriken jährlich an die Anteilseigner ausgezahlten Gewinnanteile würden ihn über wasser halten. Doch dann war die sogenannte Dotcom-Blase geplatzt. Was das war kannte Ladonna aus den Erinnerungen ihrer Erweckerin. Danach hatte Luigi versucht, mehr Geld aus den noch verwertbaren Firmenanteilen zu ziehen. Um über die Runden zu kommen hatte er dann einen Großteil seiner Wertpapiere verpfändet und das Anwesen mit einer Hypothek von zwei Millionen Euro belastet. Ladonna wusste zwar schon, dass Luigi ein Freund des verschwenderischen Müßiggangs war, aber war davon ausgegangen, dass er aus einer entsprechend begüterten Familie stammte. Das stimmte zwar in gewisser Weise auch. Aber Luigis Vater hatte sein ganzes Geld offenbar in Anteile von Geschäften gesteckt, die mit mehr Schein als sein geprotzt hatten und dann als das erkannt wurden, was sie waren, nur reines Wunschdenken.
"Tja, so rächt sich die Verschwendung von Dingen, die man nicht selbst erworben hat, sondern einfach so überlassen bekommen hat", musste Ladonna dazu loswerden. Ihre Wut ließ sie leicht erbeben. Hatte sie den ganzen Aufwand mit der Absicherung dieses Hauses nur für einen sorglos in den Tag lebenden Tunichtgut vergeudet? Hatte sie sich von den Bedürfnissen ihres Unterleibes zu sehr verleiten lassen, diesen Burschen da zu kultivieren? Offenbar hatte sie von der jetzigen Welt doch noch nicht die nötige Kenntnis, erkannte sie mit einer unübersehbaren Verärgerung. Doch jetzt war es eben passiert. Und sie würde diesen Burschen da, ihren Leibeigenen, auch wie einen solchen behandeln, ihn nach ihrem Willen verwenden oder opfern. Das haus, das durch die Inbesitznahme Luigis auch ihr Haus geworden war, würde sie jedenfalls nicht hergeben, nicht wegen einer Bande von Rosstäuschern, Beutelschneidern und Meuchelmördern. Was sie Pietro gesagt hatte meinte sie auch so. Wer davon träumte Luigis Haus mit ein paar hinterhältigen Tricks zu ergattern würde ein böses Erwachen erleben.
"Nina, wenn Signore Ferucci anruft, solange ich nicht mit einem Kunden im Gespräch bin legen Sie ihn mir ohne Nachfrage auf die Zwei, auch wenn ich da gerade mit wem auf der Eins spreche!" sagte Adelmo Roselli seiner Sekretärin, als er am Morgen des 5. Februar in sein Büro im zehnten Stock seiner Geschäftsstelle eintraf.
"Signore Farinelli hat schon eine Mail herumgeschickt und mich gebeten, dass ich Sie um neun Uhr zu ihm hinschicke", sagte Nina Carlotti zu ihrem Vorgesetzten. Dieser nickte. Farinelli musste mal wieder den obersten Chef rauskehren, obwohl er hierarchisch auf gleicher Stufe wie er, Adelmo Roselli stand. Vielleicht wurde es Zeit, dass er diesem Berufssohn, der mit mehr Geld als Grips sein Diplom in Finanzwesen ergattert hatte, zeigte, wie wichtig echt mächtige Kontakte waren. Doch das ginge wohl nicht, ohne Farinelli seinen Anteil an ihrem gemeinsamen Geldinstitut abzukaufen, und dafür müsste er sich von jenen mächtigen Kontakten Geld leihen. Dann konnte er gleich mit dem Teufel einen Handel machen, dachte Roselli. Allerdings empfand er es weniger belastend, einem anderen Berufssohn sein protziges Häuschen abzujagen, indem ein über mehrere Wochen ganz behutsam durchgeführtes Manöver sein Finale am 15. Februar erreichte.
Die nächste Dreiviertelstunde verflog mit dem Lesen an ihn oder alle Mitarbeiter zugleich gerichteten E-Mails. Farinelli schwebte eine große Investition im US-amerikanischen Immobiliensektor vor. Das hielt Roselli jedoch für zu riskant, da viele Objekte mit mehr oder weniger schweren Hypotheken belastet waren. Sicher hatte er gerade einem guten Freund Geld gegeben, um einen Schuldschein zu kaufen, von dem er nicht wusste, ob der Schuldner diesen völlig auslösen konnte. Doch das war eine andere Sache, die bloß keiner außerhalb seines Büros mitkriegen sollte.
Als es an der Tür klopfte dachte Roselli, Farinelli sei schon eine Viertelstunde vor der erbetenen Besprechung zu ihm gekommen. Jeden anderen würde Nina vorher anmelden. So sagte er: "Bitte eintreten!"
Die Tür ging auf, und unvermittelt überkam Adelmo Roselli ein gewisser Rausch von Erregung und Verzückung. Ein überirdisch schönes Wesen betrat sein Büro. Die eine nie zuvor verspürte Aura von Anmut und Betörung verbreitende Frau trug schwarze HochglanzStiefel, die bis kurz unter ihre Knie reichten. Ab den Kniegelenken verhüllte ein nachtschwarzer Rock züchtig die Schenkel. Roselli konnte jedoch nicht übersehen, dass die ruhig und irgendwie lautlos schreitende Frau ein anregend geschwungenes Becken und eine schmale Taille besaß. Überhaupt war sie schlank. Sie trug eine nachtschwarze Lederjacke über einer ebenso schwarzen Seidenbluse, die sich wie maßgeschneidert ihrem Körper anschmiegte. Die Unbekannte besaß ein göttinnengleiches, blassrosarotes Gesicht mit einer schlanken Nase und Augen, die wie vollkommen kreisförmig geschliffene Smaragde glänzten. Ihr Haar viel so schwarz wie ihre Kleidung über ihren Rücken.
"Sind Sie Signore Adelmo Roselli?" begrüßte die andere ihn mit einer glockenreinen Stimme, die ihr ganzes Erscheinungsbild und die von ihr ausgehende Ausstrahlung noch verstärkte. Roselli hätte jetzt eigentlich fragen müssen, wieso die andere so locker in sein Büro hatte eintreten können und was sie überhaupt von ihm wollte. Doch er konnte nur sagen: "Ja, bin ich. Was kann ich für Sie tun, Signora?"
"Montefiori, Signorina Montefiori", sagte die Fremde und schloss die Tür von innen. Dann schob sie wie beiläufig den kleinen Rigel vor, den Roselli sich nur deshalb hatte einbauen lassen, um im Falle eines weiter unten stattfindenden Überfalls die Tür zusperren zu können, um nicht als Geisel genommen werden zu können. Er wollte gerade sagen, dass sie die Verriegelung wieder öffnen solle, damit seine Sekretärin jederzeit zu ihm hinein könnte. Doch irgendwie schaffte er es nicht, gegen diese ihn überflutende Kraft und Hingezogenheit anzukämpfen. Er saß auf seinem Stuhl und starrte die andere an, während sie sich seelenruhig den bequemsten Besucherstuhl aussuchte und sich behutsam hinsetzte, um ihren Rock nicht zu sehr zu verknittern.
"Ich will nicht länger als nötig bei dir sitzen, Adelmo Roselli. Mir geht es nur darum, dass Luigi Girandellis Schulden gestundet werden. Bisher seid ihr in eurem Geldhaus doch sehr gut damit zurechtgekommen, dass er einen Teil seines Vermögens an euch abführt."
"Sie sind eine Freundin von Luigi Girandelli?" fragte Roselli und empfand Neid und Verachtung, weil diese Zauberfrau da mit einem der unbeherrschtesten Lebemänner nördlich von Rom zusammen war.
"Nein, ich bin seine Lehnsherrin, seine Gebieterin oder wenn Sie es in Handelsbegriffen möchten, seine Eigentümerin. Ich habe ihn mir erworben und damit alles Hab, Gut und Geld, was sein ist. Ich will haben, dass seine Schulden gestundet oder ausgesetzt werden."
Roselli, immer noch im merkwürdigen Rausch dieser Fremden gefangen, grinste. Träumte er das vielleicht gerade? So fragte er:
"Wie darf ich das verstehen, dass Sie ihn sich erworben haben, Signorina?"
"Ich habe ihn mir erwählt und dann zu meinem lebenden Besitz, zu meinem Leibeigenen gemacht. Dadurch wurde alles seinige das meinige. Tja, und die Schulden, die er in seiner unverzeihlichen Sorglosigkeit anhäufte, die sind mir ein unerträgliches Ungemach. Als ich hörte, dass Ihr Haus wohl darauf ausgeht, seinen Besitz zu übernehmen, weil er ihn als Bürgschaft eingesetzt hat, hat mich dies sehr verärgert. Dennoch hoffe ich, das ganze im friedlichen Einvernehmen erledigen zu können. Also, warum willst du so rasch sein Haus an dich bringen?"
"Signorina, ich bin es nicht gewohnt ..." setzte Roselli mit einem gewissen Aufbegehren an, die andere zurechtzuweisen, förmlich und weniger herablassend mit ihm zu sprechen. Doch ihm versagte die Stimme, als er daran dachte, dieses überirdische Wesen zu verstimmen. Doch ganz verflog sein Widerstand nicht. So sagte er: "Ich weiß nicht, wie Sie darauf kommen, einfach zu mir hinzukommen und mir zu sagen, dass ein Schuldner keine Schulden mehr bezahlen soll. Aber so geht das nicht. Er hat eingewilligt, für umgerechnet zwei Millionen Euros sein Anwesen mit Haus und Einrichtung als Sicherheit zu bieten. Ich erfuhr, dass er diese Rückzahlungsvereinbarung nicht weiter einhalten kann. Da habe ich laut Vertrag das Recht, seine Zahlungsunfähigkeit zu erkennen und die von ihm gebotene Sicherheit einzufordern. Wer und was immer Sie sind, dagegen können Sie nichts machen. Sie haben sich den falschen Mann "erwählt"."
"Ja, darin stimme ich dir zu, dass ich mich da doch besser an einen seiner Freunde hätte halten sollen. Aber er war der einzige mit einem eigenen Haus. Und das behält er auch. Entweder, du widerrufst den Vorgang, der ihn um das nötige Geld brachte, um weiterhin die bei euch bestehenden Schulden zu tilgen, oder du widerrufst seine Verpflichtung, euch weiterhin Geld zu geben, um seine Schuld abzutragen. Außerdem will ich wissen, ob du das für dich alleine unternommen hast oder im Auftrag eines anderen handelst."
"Ich möchte Sie bitten ..." setzte Roselli an. "zug gehen" hatte er noch sagen wollen. Doch wieder blieben ihm die Worte im Hals stecken. Dann sah er, wie sie etwas angespannt dreinschaute, als sei da was, das ihr missfiel. Dann hielt sie beinahe übergangslos einen dünnen Holzstab in der rechten Hand und zielte auf Roselli. "Maneto!" zischte sie. Schlagartig fühlte Roselli, dass er nicht mal den kleinsten Finger rühren konnte. Nur sein Atem ging noch. Dann hörte er von der anderen Seite der Tür ganz leise seinen Compagnon rufen: "Hallo, ist jemand da?! Adelmo, bist du im Büro?!" Adelmo Roselli konnte nicht antworten. Der merkwürdige Rausch, in dem er bisher beinahe willenlos gefangen gewesen war, flaute ab. Dafür machte ihn die Lähmung angst, die seinen Körper erfasst hatte. Diese Frau war wirklich ein Zaubergeschöpf. Die hatte ihn mit einem Zauberstab auf seinem Stuhl erstarren lassen.
Jemand versuchte, die Tür zu öffnen. Es ging natürlich nicht. Dann steckte jemand von außen einen Schlüssel ins Türschloss und drehte daran. Doch die Tür blieb zu. "Adelmo, hast du dich eingesperrt? Wir hatten doch für neun einen Termin vereinbart", blaffte eine nun sehr ungehaltene Männerstimme, die Stimme Farinellis. "Wenn du mit Nina da drinnen gerade wilde Liebe machst oder sowas in der Art kannst du den Gewinnanteil für diesen Monat vergessen." Wie um den Mann vor der verschlossenen Tür zu bestätigen verfiel die immer noch auf dem Besucherstuhl sitzende in ein scheinbar lustvolles Stöhnen und hächeln. Das brachte den Mann vor der Tür wirklich in Wut. "Du brünftiger Bock, das sage ich gleich Rudolfo. Der wird sich freuen", schimpfte Farinelli. Da schwang die überirdisch schöne, unheimlich mächtige Besucherin ihren Zauberstab. Die Tür sprang auf, und Farinelli fiel förmlich herein. Keine Sekunde später erstarrte er genau wie Adelmo. Die andere lachte erheitert, weil Girolamo Farinelli dem Bild eines überfütterten Kaufmannssohnes entsprach, der in einen seine Leibesfülle am Rande des Zerreißens spannenden blauen Anzug gekleidet war. Sein dunkler Lockenkopf lag genau vor der rechten Stiefelspitze der Unheimlichen.
"Meine grüne Großmutter hätte dich als kleiner Bengel sicher gerne vernascht und hätte für eine Woche nichts mehr essen müssen. Aber du bist mir zu dick, Bürschchen", schnaubte sie. Dann ließ sie auf magische Weise die Tür wieder zufallen, jedoch ohne dass es krachte. Der Rigel schob sich wieder davor. Dann sagte sie irgendwas auf Lateinisch, was mit Erinnerungen zu tun hatte, vermeinte Adelmo, der die ganze Szene immer noch völlig bewegungsunfähig mitverfolgte. Danach zog sie einen leuchtenden Ring von ihrer linken Hand, griff sich Farinellis rechte Hand und schob den Ring auf seinen kleinen Finger, jedoch gerade mal bis zum ersten Glied. Dann fragte sie ihn, wer er war, was er in diesem Haus zu tun hatte, ob er auch was mit der Sache Girandelli zu tun habe und wie Adelmo und er erreichen konnten, dass Girandelli sein Haus verlor. Zwischen jeder Frage glomm der Ring ein wenig heller auf. Als sie dreimal diese Fragen gestellt hatte erstrahlte dieses sicher auch verhexte Schmuckstück in einem sonnenaufgangsfarbenen Licht. Das war wohl für die andere ein Zeichen, ihm den Ring wieder vom Finger zu ziehen und sich selbst anzustecken. Dann wirkte sie so, als müsse sie sich auf irgendwas ganz wichtiges konzentrieren. Als sie sich wieder entspannte wandte sie sich Adelmo zu: "Wann wolltest du deinem Triumviratskameraden beichten, dass du hinter seinem und eures gemeinsamen Teilhabers Rücken eine Kreditaufkündigung durchführen wolltest? Nun gut, dann werde ich auch dich verhören müssen, damit ich weiß, wie ich eure Machenschaften beenden kann", sagte sie. Danach sprach sie erneut diese lateinische Formel, die den Ring sanft aufleuchten ließ.
Adelmo konnte sich nicht wehren, als ihm der Ring auf den linken kleinen Finger gestreift wurde. Das Ding fühlte sich sehr warm an und vibrierte spürbar. Dann hörte er die Fragen der anderen, die im Grunde die gleichen waren wie bei Farinelli, nur dass sie noch wissen wollte, wer von seiner Tat profitierte. Er versuchte, sich dagegen zu stemmen, an die Antworten zu denken. Doch der Ring jagte ihm bei jeder Frage heißkalte Wellen durch den Arm bis in den Kopf, wo sie irgendwie sein Gehirn aufwühlten. Er schaffte es nicht ganz, die Antworten auf die Fragen zu verdrängen. Immer deutlicher traten die wahrheitsgemäßen Antworten in sein Bewusstsein. Er sah die Bilder vor sich, auch das einer vollschlanken Frau in dunkelgrünem Kleid und ebenholzschwarzen Ringellocken, die ihn in einem weitläufigen Salon gesprochen hatte. Er dachte sogar ihren Namen, Donna Gina Venuti. Gleichzeitig überkam ihn große Furcht. Denn wenn jemand wusste, dass er mit der Maria Theresia der sizilianischen Mafia in Verbindung stand war er Freiwild für ihre Konkurrenten, aber auch für die nicht korrupten Polizeibeamten. Doch was waren die schon gegen die Macht einer echten Hexe? Oder war das sogar eine Dämonin, der Teufel in Frauengestalt oder dessen eigene Tochter oder sowas? Er fühlte, wie der Ring und die Angst seine Körpertemperatur und seinen Pulsschlag in bedenkliche Höhe trieben und konnte nichts dagegen tun. Als der Ring wie vorher bei Girolamo sonnenaufgangsfarben leuchtete und ganz wild vibrierte nahm sie ihm den Ring wieder vom Finger. Schlagartig meinte er, in eiskaltes Wasser zu stürzen. Wie auf einer rasanten Karussellfahrt kreisten die Bilder und Wörter in seinem Kopf, die ihm durch die Fragen der Hexe ins Bewusstsein gezerrt worden waren. Er hatte sich nicht dagegen wehren können, jede Frage wahrheitsgemäß zu beantworten.
"Aha, also eine angeheiratete Verwandte von dir, die eine gewisse Macht errungen hat, will mein Haus haben. Das werde ich ihr nicht erlauben", schnarrte die unheimliche Besucherin. Dann wandte sie sich wieder der Tür zu. Adelmo, immer noch erschüttert von der gemeinen Verhörmethode und im Kreis der erzwungenen Erinnerungen und im Bann der Bewegungslosigkeit gefangen, bekam nur am Rande mit, wie die Tür wieder aufging und Rudolfo Ponti hereintrat. Der wirkte trotz seiner gerade einen Meter und sechzig Zentimeter wie der Inbegriff des südländischen Liebhabers. Anders als seine beiden Compagnons hatte er nie was für Anzüge und Krawatten übrig gehabt. Er war auch eher der Kommunikationsexperte, der die Computer verwaltete und die Kontakte mit den Geschäftspartnern in Übersee pflegte. Offenbar fand die Hexenmeisterin Gefallen an ihm. Sie berührte ihn behutsam an denWangen, um dann seinen Körper abzutasten, bis sie auch seine intimsten Stellen berührte. Sie nickte ihm zu. Dann vollzog sie wieder diesen scheinbar unabschüttelbaren Zauber mit ihrem Ring, wobei sie ihn fragte, was er in diesem Geldhaus zu tun hatte, wie er Dokumente anlegen oder verschwinden lassen konnte und wo die Verträge und Besitzurkunden aufbewahrt wurden. Als nun auch bei Rudolfo Ponti der Ring hell glühte und sie ihr Zauberschmuckstück wieder an die eigene linke Hand gesteckt hatte zielte sie auf Rudolfo und murmelte ein Wort, worauf dieser völlig besinnungslos wurde.
Endlich hörte das Gedankenkarussell in Adelmos Kopf zu kreisen auf. Doch jetzt erwachte in ihm die pure Angst und eine schier die Eingeweide auffressende Verzweiflung. Er hatte seine wichtigsten Geschäftsgeheimnisse verraten und sich damit auf Gnade und Ungnade ausgeliefert. Diese Hexe hatte ihm und den zwei anderen Sachen abgepresst, die ihr Bankhaus in einem einzigen Moment zu Staub zerblasen konnten wie hundert Stangen Dynamit. Immer noch fühlte er diese Lähmung. Dass er noch atmen konnte war wohl eher eine Folter als eine Gnade. Denn so blieb er bei Bewusstsein und musste zusehen, wie die andere noch einen bösen Zauber machte. Sie ließ Rudolfo auf Handtellergröße einschrumpfen. Dann hob sie ihn behutsam auf, um im nächsten Moment mit lautem Plopp zu verschwinden.
Adelmo hätte zu gerne mit Girolamo Farinelli gesprochen, ihm erklärt, was passiert war. Doch es ging nicht. Auch Farinelli stand unter diesem Hexenbann und konnte sich nicht bewegen. Da klingelte das Telefon im Vorzimmer. Das war sicher Ferucci, der wegen einer Firmenübernahme bei Roselli, Farinelli und Ponti einen Kredit aufgenommen hatte. Nina ging nicht dran. Womöglich war sie auch betäubt, verkleinert oder gar getötet worden, dachte Adelmo Roselli. Das Telefon klingelte und klingelte. Dann sprang der Anrufbeantworter an. Nach der Ansage kam der Piepton. Darauf folgte die Nachricht: "Hallo, Signore Roselli. Hier Antonio Ferrucci. Ich ging davon aus, Sie gleich erreichen zu können. Aber wenn Sie gerade anderweitig zu tun haben eben im Telegrammstil: Benötige einen Zahlungsaufschub für drei Monate, weil Abwehr einer feindlichen Übernahme ansteht. Falls weitere Geschäftsbeziehung mit mir erwünscht Bitte um schnellstmöglichen Rückruf. Auf Wiederhören!"
Adelmo dachte daran, dass Ferrucci sowas angekündigt hatte, dass ein chinesischer oder japanischer Konkurrent die mit seiner Firma verschmolzene Fabrik für Autoteile haben wollte. Deshalb wollte er ihn ja unbedingt sprechen, um auszuloten, ob seine Bank zur Abwehr dieser Übernahme nicht noch zusätzliche Konditionen aushandeln konnte. Doch ob er Ferrucci noch einmal sprechen konnte erschien ihm jetzt sehr unwahrscheinlich. Er dachte, dass er sein Leben nur noch in Minuten zählen mochte.
die rechts von der Tür angebrachte Wanduhr tickte ruhig und unbeirrt zwanzig Minuten fort, ohne dass etwas geschah. Dann ploppte es laut, und die Hexenmeisterin stand wieder im Büro. Triumphierend hielt sie mehrere in Klarsichthüllen steckende Dokumente hoch. Adelmo konnte nicht erkennen, was sie beinhalteten. Erst als die Hexe ihm eine dieser Hüllen vor die Augen hielt erkannte er, dass es der Originalkreditvertrag mit Luigi Girandelli war. Dann hielt sie ihm noch einen Ausdruck einer Schuldverschreibungsurkunde unter die Nase. Dann war da noch die von Girandelli unterschriebene Besitzübertragungsvollmacht, die im Fall seiner Zahlungsunfähigkeit den Zugriff auf das Haus und Grundstück regelte. "Ich habe Dank Rudolfos Fertigkeiten alle damit zusammenhängenden Unterlagen aus euren elektronischen Rechengeräten gelöscht", sagte sie überlegen grinsend. "Außerdem habe ich mir zur Entschädigung für meinen Aufwand erlaubt, meinem Leibeigenen eine großzügige Summe als Guthaben auf ein anderes Konto zu übermitteln. Dieses ohne Gold und Silber auskommende Geldübertragungsverfahren ist doch sehr praktisch. Ach ja, hierfür hat er auf die über zehn Jahre bei Seite geschafften Beträge zurückgegriffen, die ihr drei an den Steuereintreibern vorbeigeschmuggelt habt. Ihr braucht jetzt nur noch die Übertragungsurkunde zu unterschreiben.""
Verdammtes Hexenflittchen", dachte Adelmo. Da fühlte er wieder diese unheilvoll betörende Ausstrahlung, der er sich vorher nicht hatte entziehen können. Sie strahlte ihn an und zog noch mehrere Papierblätter aus einer Klarsichthülle und legte vier Blätter vor Adelmo auf den Schreibtisch. Dann fühlte er, wie seine Beweglichkeit zurückkehrte. Er konnte sich jedoch nicht dazu durchringen, dieses überirdisch schöne Geschöpf anzugreifen. Dann sah er noch ihren dünnen Zauberstab auf ihn deuten und hörte ein Wort, das ähnlich wie Imperium klang. Dann wurden alle trüben und feindseligen Gedanken von einer Woge reinster Glückseligkeit aus seinem Geist hinausgespült. Diese vollkommene Glückseligkeit hielt einige Sekunden an. Dann hörte er die Stimme der Hexe in seinem Kopf: "Unterschreibe diese Dokumente!" Er nahm völlig ruhig und ohne Anflug von Widerwillen seinen goldenen Kugelschreiber aus dem Halter, machte ihn einsatzbereit und schrieb seinen Namen in die dafür vorgesehenen Felder. Er nahm wie im Traum wahr, dass Rudolfo ihm zehn Millionen Euro übertrug, um seinen Anteil am Geschäft abzukaufen. Außerdem unterschrieb er, dass er Luigi Girandelli die restliche Zahlung erließ und damit auf jeden Anspruch auf die von ihm eingebrachte Sicherheit verzichtete. Als er das alles unterschrieben hatte gab er der Überirdischen den Abfindungsvertrag und die Stundungserklärung für Luigi Girandelli zurück. Daraufhin erstarrte sein Körper wieder.
Als er wie aus einem Traum erwachend erkannte, dass er gerade seinen Ausstieg aus diesem Bankhaus unterschrieben hatte wurde ihm klar, dass er hier und jetzt nicht mehr gebraucht wurde. Er musste mit ansehen, wie auch Girolamo ein ihm hingelegtes Schriftstück unterschrieb, ohne dass er das eigentlich wollte. Dann sah die Unheilsfrau ihn sehr überlegen an.
"Weil du der Missetäter warst, der meinen Zorn erregt hat, sollst du zusehen, was jenen widerfährt, die meine Wut und meine Feindschaft entfachen." Dann richtete sie ihre linke Hand auf den wieder in magischer Starre gefangenen und verhielt in konzentrierter Anspannung. Da glühte ihr Zauberring rubinrot auf. Im selben Moment leuchtete auch Girolamos beleibter Körper in diesem Licht auf, verlor seine Formen und verging ohne Geräusch und ohne andere Begleiterscheinungen in diesem Licht. Als nichts mehr von ihm zu sehen war erlosch das Licht wieder. Adelmo wusste, was ihm nun widerfahren würde. Konnte er noch um Gnade bitten? Da wandte sich die andere ihm erneut zu.
"Sei nicht enttäuscht, wenn du nicht in eurer Hölle landest", sagte sie mit verächtlichem Tonfall. Dann sah Adelmo das rubinrote Licht. Es hüllte ihn ein. Er fühlte eine unerträgliche Hitze in sich aufsteigen. Einen winzigen Moment fühlte er nur Schmerzen. Dann war ihm so leicht, als wenn alles Gewicht von ihm abgefallen wäre. Er schwebte in einer Welt, die nur aus diesem rubinroten Licht bestand. Dann fühlte er, wie etwas ihn nach vorne riss und mit Urgewalt in einen Strudel aus feuerroten Spiralwindungen hineinzerrte. Er schrie laut auf, und sein Schrei hallte aus allen Richtungen wieder, während er in ein grelles Licht hineingeriet, dass jeden Gedanken und jede Erinnerung verbrannte.
In dem Moment, wo seine Teilhaber von einer gnadenlosen Macht vernichtet wurden erwachte Rudolfo Ponti vor seinem Schreibtisch. Er erschrak. Mann, war er doch glatt an dem Tisch eingeschlafen. Dabei war er gestern doch früh genug ins Bett gekommen und hatte da auch nur geschlafen, bedauerlicherweise. Aber womöglich hatte er jetzt, wo er seit einer Woche Alleininhaber der Bank war den ganzen Stress um die Ohren. Aber er würde ja nicht lange dieses Geschäft führen. Denn jetzt, wo er der Alleininhaber war, konnte er das Bankhaus an das zürcher Konsortium verkaufen, dass ihnen vor drei Monaten schon mal ein Angebot gemacht hatte. Wenn er deren Geld hatte konnte er sich aus diesem von seinem Vater geerbten Finanzgetue herausziehen und seinen Computerspieleladen aufmachen, von dem er schon seit seiner Jugendzeit geträumt hatte.
"Signore Gerstner, ich habe noch mal über Ihr Angebot nachgedacht ..." sagte er, als er mit dem Kontaktmann verbunden war.
Laura Roselli kehrte nach einem langen, ermüdenden Tag von der Arbeit am Flughafen von Florenz zurück. Falls ihr Mann nicht wieder Überstunden in seiner Bank machte saß der sicher schon im Wohnzimmer und klickte sich durch die Börsen dieser Welt. Offenbar hatte er heute keine Überstunde gemacht. Denn im Wohnzimmer brannte Licht.
"Adi, bin auch zu Hause!" trällerte sie, nachdem sie die Diele betreten hatte. Es kam keine Antwort. "Adi, wieso sprichst du nicht mit deiner Lauretta?" fragte sie laut in das Wohnzimmer hinein. Dessen Tür stand einen winzigen Spalt offen. So zeichnete das Licht einen senkrechten Balken auf der blütenweißen Wand. Dann sah sie, wie ein Schatten diesen Lichtbalken unterbrach. Jemand kam zur Tür. Laura fühlte auf einmal einen Anflug von Bedrängnis, ja Belauerung und vor allem eine zunehmende Abneigung, als müsse sie sich gleich gegen irgendwen oder irgendwas wehren. Dann ging die Wohnzimmertür ganz auf, und Laura sah sie.
Die Frau im schwarzen Kostüm aus knielangem Rock und schwarzer Seidenbluse, die sündhaft eng an ihrem Oberkörper anlag und mehr betonte als verhüllte stand so lässig im Türrahmen, als gehöre ihr das Haus und sie wolle nur sicherstellen, das niemand unerwartetes sie besuchte. Die makellose Schönheit dieser Frau mit den kreisrunden Smaragdaugen verstärkte dieses Gefühl der Abgestoßenheit, als wolle dieses ihr völlig fremde Frauenzimmer sie durch ihre reine Erscheinung niederwerfen. Ihr Geist bäumte sich gegen dieses Gefühl der Unterlegenheit auf. Die Frau da war ein Eindringling, eine Einbrecherin oder was noch schlimmer sein mochte, eine heimliche Geliebte ihres Mannes. Dann würde die nicht mehr lange frei herumlaufen.
"Hallo Laura. Ich bin Ladonna. Dein Mann ist nicht hier und wird auch nicht mehr wiederkommen. Denn er hat mich verärgert und musste die Folgen tragen."
"Wer sind Sie und was fällt Ihnen ein ...?" stieß Laura aus.
"Ich bin die Lehnsherrin von Luigi Girandelli, dem Mann, den dein vor diesem am Kreuz verendeten Heilsprediger angetrauter durch ein arglistiges Kunststück Haus und Hof entwinden wollte. Dafür musste er den fälligen Preis bezahlen. Wenn du die Stadtwachen, öhm, die Polizei rufen willst wird sie nichts und niemanden in diesem Haus vorfinden." Als die Fremde diese Drohung aussprach hob sie andeutungsweise ihre linke Hand, an der Laura einen goldenen Ring mit zwei exotisch geformten Rubinen sehen konnte."
"Sie haben meinen Mann ermordet!" stieß Laura Roselli halblaut aus und tastete nach ihrer Handtasche. Da hielt die andere einen Holzstab ganz so wie einen Zauberstab in der rechten Hand und deutete auf die Tasche. "Accio Handtasche", stieß die überirdisch schöne Frau in Schwarz aus. Da wurde Laura die Handtasche von unsichtbarer Hand vom Körper weggerissen und sauste wie an einem ebenso unsichtbaren Seil entlang durch die Luft genau in die linke Hand der ungebetenen Besucherin.
"Sei froh, dass du mir nicht so missfallen hast wie dein Mann. Lege es nicht darauf an, dass du ihm noch nachfolgst", sagte die Fremde. Dann ließ sie die Tasche zu Boden fallen und deutete wieder mit dem Stab darauf. Da verschwand die Tasche mit einem kurzen Fauchen im Nichts. Laura begriff nun, dass sie es hier mit einer Frau zu tun hatte, die übernatürliche Kräfte beherrschte. Sollte sie laut um Hilfe rufen oder besser die Flucht antreten. Sie entschied sich für das zweite zuerst. Sie wollte sich gerade umwenden, als ihre Beine von einer unwiderstehlichen Kraft zusammengepresst wurden und sie der Länge nach hinfiel.
"Meine lange Erfahrung hat mich gelehrt, niemals ein loses Ende zu hinterlassen, an dem sich neuer Unrat festsetzen und mir wieder lästig fallen kann. Aber da du mir und meinem Leibeigenen nichts angetan hast gewähre ich dir die Gnade, solange zu leben, wie ich selbst", hörte sie die andere noch sagen. Dann ließ der unheimliche Klammergriff von ihren Beinen ab. Dafür widerfuhr ihr nun etwas noch unheimlicheres. Alles um sie herum wuchs unvermittelt in alle Richtungen, als wenn Diele und Wohnzimmer ein großer Luftballon wären, der mit mehreren Bar Druck aufgeblasen würde. Zeitgleich merkte sie, wie ihre Beine wieder zusammengedrückt wurden, ja miteinander verschmolzen. Ihre Arme wurden von einer unsichtbaren Macht breiter gedrückt. Ihr Kopf wurde wie von heißen, vibrierenden Knetwerkzeugen umgeformt, und ein merkwürdiges Gefühl überkam sie. Sie meinte, das Gefühl für ihren Unterleib über ihrem Kopf zu haben, als wenn sie einen Purzelbaum schlagen würde, der jedoch niccht vollendet wurde. Schreien konnte sie nicht mehr, denn sie hatte keinen Mund und keine Stimmbänder mehr. Atmen musste sie seltsamerweise auch nicht. Sie fühlte vielmehr, dass das Wohnzimmerlicht ihr Kraft gab. Doch zugleich fühlte sie einen wachsenden Durst, ja sie fühlte sich völlig hilflos. Und dann begannen die Bewegungen der zur Riesin gewachsenen Fremden schneller zu werden. Sie fühlte, wie etwas sie da packte, wo sie sonst ihren Bauch hatte. Dann blitzte es bunt um sie herum auf. Dann war es dunkel. Die Hand der zur Riesin gewordenen Hexe hielt sie. Einen Moment konnte sie durch die Bewegung ihren Körper sehen. Der war auf einmal lang und schmal, bis auf die zu breiten Auswüchsen gewordenen Arme. Überall aus ihrem Körper wuchsen spitze Gebilde wie Stacheln oder Dornen. Dann bekam sie mit, wie sie in etwas weiches, nicht kaltes oder warmes, hineingedrückt wurde. Dann überkam sie ein kurzer, aber wohltuender Wasserschauer. Dann glaubte sie, dass ihr Mund zwischen ihren Füßen saß und nun kleine Schlucke Wasser aufnahm und an ihrem Körper entlang bis nach oben pumpte, wo sie jetzt die Empfindung ihres Geschlechtes fühlte. Dann hörte sie die Stimme der Hexe in ihrem Geist:
"Du bist in netter Gesellschaft. Rechts von dir steht Nina, die ehemalige Schreibkraft deines Mannes. Links von dir sind Anna, Greta und Alessandra, ehemalige Gespielinnen meines Leibeigenen. Tja, und die größte von euch ist auch gleich Namensgeberin ihres Daseins, Rose, meine Erweckerin. Fühlt euch geehrt, die ersten und größten in meinem neuen Garten zu sein."
"Diese Hexe hat dich auch in eine Pflanze verwandelt", hörte sie Ninas Stimme auch in ihrem Geist. Dann erklang die ihr unbekannte Stimme der vor ihr aufragenden.
"Ladonna Montefiori heißt dieses Teufelsweib. Ich Idiotin habe ihren verfluchten Ring getragen und mich davon zu ihrem versteinerten Körper treiben lassen, damit ich den auch wiedererwecke."
"Das träume ich nur. Das passiert doch nicht wirklich", dachte Laura Roselli. Dann erkannte sie, dass wohl alle menschengroße Rosen mit langen, schlanken Stielen und unterschiedlich hellen Blütenkelchen waren. Und jetzt begriff sie auch, wieso sie meinte, sie habe ihren Schoß über ihren Kopf gehoben. In den Blütenkelchen saßen die Fortpflanzungsorgane. Also musste sie die auch an der entsprechenden Stelle fühlen.
"Das ist nicht echt. Das ist nur Hypnose oder eine Droge oder sowas", lamentierte Laura und versuchte, sich zu bewegen. Doch außer ihren zu breiten Blättern gewordenen Armen konnte sie nichts bewegen.
"Find dich damit ab, Leidensgenossin!" hörte sie die Stimme von Nina in ihrem Geist. "Ich habe bis heute Morgen auch nicht geglaubt, dass es echte Hexen gibt und dass die dann auch noch so schön wie Feen aussehen können." Danach berichtete Nina, wie sie ihren letzten Tag als Menschenfrau erlebt hatte. Sie erwähnte auch, dass sie alles im Nebenraum wie einen zehnmal schneller abgespielten Film erlebt hatte. Die früher wohl auch mal eine Frau gewesene Rose namens Rose Britignier meinte dazu, dass alle Pflanzen ja langsamer lebten als Tiere und damit wohl auch die Wahrnehmung der Zeit verlangsamt würde, so dass eine Pflanzensekunde eine Menschenminute dauern würde.
"Dann würden wir ja nichts was normalschnell ist mitkriegen", warf jene ein, die Ladonna Alessandra genannt hatte. "Aber diese Hexe hat mir in ihrer totalen Überheblichkeit erzählt, dass wir zwischen Menschenempfindung und Blumenwahrnehmung blieben, weil sie uns mit ihrem Blut an ihr Leben gebunden hat. Deshalb können wir die auch telepaathisch verstehen und sie uns garantiert auch."
"Was haben wir getan, dass wir derartig grausam bestraft werden?" wollte Nina wissen.
"Wir sind ihr einfach nur in den Weg geraten", bemerkte Rose Britignier dazu. "Und das gemeine dabei ist, dass sie durch mich schon genug von unserer Welt mitbekommen hat, um sich darin zurechtzufinden."
"Umberto, siehst du dich bitte in Adelmos und Lauras Haus um?" fragte Gina Venuti am Nachmittag des 6. Februars. Ihr Großneffe aus Mailand willigte sofort ein. Kunststück. Denn seine Großtante hatte dafür gesorgt, dass die Anklage wegen Unterschlagung fallen gelassen werden musste. So weit reichte der Arm der Maria Theresia von Catania.
Als Umberto abends das Haus der Rosellis erreichte wäre er fast in einen davor stehenden Polizisten reingerasselt. Als er diesem die Geschichte aufgetischt hatte, dass er bei den Rosellis zum Abendessen eingeladen worden wäre erfuhr er, dass diese seit gestern nicht mehr zu finden wären. Eine Nachbarin, die es gewohnt war, mit Laura Roselli in Richtung Flughafen zu fahren, hatte sie vermisst und war dann nach ihrem Arbeitstag zum Haus gegangen, um sich zu erkundigen, ob Laura Hilfe benötige.
"Die sind beide nicht mehr aufgetaucht, Tante Gina", vermeldete Umberto seiner Großtante und Schutzherrin. "Die sind beide unangemeldet abgereist?" fragte Gina Venuti.
"Kann nicht sein. Denn die Nachbarin will noch mitgekriegt haben, wie Laura Roselli alleine nach Hause kam, und dass da Licht im Wohnzimmer gebrannt hat. Aber sie ist nicht wieder rausgekommen. Aber Leichen haben die keine gefunden, nicht im Keller, nicht in der Wohnung und auch nicht auf dem Dachboden. Der Garten wird noch umgegraben. Aber wenn die zwei unter den Blumen verbuddelt wurden hätte das jemand mitkriegen müssen."
"Pass mal auf, dass ich dich nicht in meinem Garten verbuddel, da wo der Erdbeerstrauch steht", knurrte Donna Gina.
"Och, wäre bestimmt lustig, wenn die mit mir gefütterten Erdbeeren dann in deinem Alle-Früchte-Eis gelandet wären und die kleine Hosenkackerin Sofia wegen mir ihr Schlabberlätzchen eingesaut hätte."
"Du hast schon komische Phantasien, Bürschchen", knurrte Donna Gina. Sie wusste schließlich nicht, was mit ihrer Nichte passiert war. Deshalb schrak sie nicht davor zurück, die Umstände des Verschwindens auf einen der letzten Kunden Adelmos zu beziehen. Eine von handzahmen Bankangestellten durchgeführte Recherche ergab noch in derselben Nacht, dass das kleine Bankhaus Rofapo in Florenz nur noch vonRudolf Ponti geleitet wurde, und das seit einer Woche. Die beiden anderen hatten nur noch bis gestern die reibungslose Geschäftsübergabe vollzogen.
"Der hätte mir das gesagt, wenn er hingeworfen hätte", knurrte Donna Gina in den Telefonhörer, als ihr für die Nachtarbeit großzügig belohnter Informant die näheren Einzelheiten verraten hatte. "Ich kläre das, was mit Adelmo passiert ist und mit Laura", sagte sie. Dass sie damit ihr eigenes Schicksal herausforderte wusste sie nicht.
Am Morgen des 10. Februars suchte Apolline Delacour Julius in seinem Büro auf, weil sie zusammen zu den Eheleuten Marceau hinreisen wollten, um die letzten noch ausstehenden Angelegenheiten vor der Hochzeit von Pierre und Gabrielle zu klären. Da sie hierfür schlecht auf einem Besen oder in flugfähiger Tiergestalt reisen konnten hatte Julius einen Antrag auf Zuteilung eines eigenen Wagens mit Fahrer eingereicht und von Nathalie Grandchapeau selbst bewilligt bekommen.
Der Ministeriumswagen war ein grasgrüner Peugeot von 1993, der dafür, dass er immer mal wieder durch Paris fahren musste, noch völlig unverbeultund unangeschrammt aussah. Der Fahrer war Baudouin Soubirand, ein Zauberer mit kastanienbraunem Haar und stahlblauen Augen. Passend zu den haselnussfarbenen Ledersitzen trug er eine Chauffeursuniform, aber ohne eine Mütze. Julius kannte sowohl Fahrzeug und Fahrer von verschiedenen Fahrten.
Apolline nahm im Fond des Wagens Platz. Julius setzte sich neben den Fahrer.
Für Apolline, die schon ein paar mal im Paris der magielosen Leute unterwegs gewesen war, vollzog sich der Übergang von der ruhigen Zaubererweltstraße zum von Autos vollgestopften Straßennetz der Landeshauptstadt nicht so schockierend wie für manchen anderen nur an die Zaubererwelt gewöhnten.
"Oh, ist doch schon ein wenig länger her, dass ich in diesem Teil der Stadt unterwegs war", sagte Apolline, als sie zwischen hektisch rangierenden und nervös herumhupenden Autos aller Sorten und Altersklassen dahinfuhren.
"Ich übe diesen Beruf schon seit zehn Jahren aus, Madame", sagte der Fahrer ruhig und schien den Wagen wie ein Dressurpferd durch einen Parcours aus sich verschiebenden Hindernissen hindurchzulenken. Nicht ein anderes Auto berührte den Peugeot.
"Die Marceaus wohnen in einem Ort bei Avignon. Wie lange brauchen wir dahin?" fragte Apolline, die offenbar doch ihren Besen vermisste.
"Wenn die Autobahnen nicht ganz so voll sind nur zwei Stunden, Madame. Ist genau so wie von hier runter nach Millemerveilles", sagte Baudouin Soubirand.
"Stimmt, hat meine Mutter erwähnt, als sie mal von einem Wagen des Ministeriums nach Millemerveilles gebracht wurde, wo sie selbst noch nicht davon träumte, einmal selbst auf einem Besen fliegen zu können", sagte Julius. Der Fahrer nickte nur, zeigte aber sonst keine Regung.
Unterwegs hörten sie internationale Erfolgstitel der letzten sieben Jahre. Denn Apolline hatte darum gebeten, ein wenig mehr von der Musik zu kennen, die ihr künftiger Schwiegersohn so verehrte. So verging die Fahrt wegen zwischendurch ausgeführter Raumsprünge wahrhaftig in weniger als zwei Stunden. Als die beiden Passagiere vor dem Haus der Marceaus ankamen war es zehn Minuten vor drei Uhr nachmittags, also zehn Minuten vor dem erbetenen Gesprächstermin. Julius guckte sich sofort an einer Gruppe von Jungen fest, die auf einem offenbar für alle Ortsbewohner nutzbaren Rasenstück Fußball spielten. Es juckte ihn in den Füßen, selbst mal wieder über einen Bolzplatz zu laufen und einen Ball zu kicken. Aber jetzt war er im Dienst. Als Apolline in ihrem wasserblauen Kleid aus dem Wagen schlüpfte vergaßen die Jungen den Ball und stierten herüber. So eine überirdisch schöne Frau hatten die sicher nur in Comics zu sehen bekommen, dachte Julius, der sich sehr gut in die Vorstellungen dieser Burschen hineinfühlen konnte. Immerhin hatte ihn selbst damals Fleurs Veela-Aura derartig heftig erwischt, dass er ihr beinahe wie ein Schoßhund hinterhergetrottet wäre, wenn Jeanne ihn nicht zurückgehalten hätte.
"Eh, wo issen die wech?" traute sich einer der wohl entschlosseneren Jungen zu fragen. Julius überhörte es. Er tat so, als sei er Madame Delacours Leibwächter. Von der Statur her würde jeder ihm das abnehmen. "Jau, da können die Spears und Shakira aber voll einpacken, wenn die im selben Raum is'", meinte ein zweiter Junge, der wohl gerade erst zwölf Jahre vollgekriegt hatte.
"Jungs, wir sind hier nur zu besuch, also keine Panik, dass eure Freundinnen eifersüchtig werden", musste Julius jetzt doch einen Spruch anbringen.
"Ich warte im Wagen", sagte Soubirand und wandte sich wieder dem Peugeot zu. Einer der Jungen grinste verächtlich. Offenbar hatte der wohl gedacht, dass so ein Zauberwesen wie die im blauen Kleid in einem Rolls Royce oder mindestens einem Mercedes vorgefahren kam.
Als Julius mit Apolline vor der Tür der Marceaus stand wunderte er sich nicht, dass sämtliche jungen Fußballspieler wie Groupies eines Popstars zusammengedrängt hinter ihnen standen. Fehlte nur noch, dass die anfingen, laut loszukreischen, dachte Julius.
"Kommen Sie bitte herein", sagte Monsieur Marceau mit hochroten Ohren. "Den Burschen fallen sonst die Augen aus oder denen passiert sonst was."
Apolline erkannte, dass sie ihre besondere Ausstrahlung so weit einschränken musste wie sie es konnte.
Julius war schon ein paar mal bei den Marceaus gewesen und übernahm die Vorstellungsrunde. Im gemütlichen Wohnzimmer der Marceaus saßen sie dann bei Kaffee und Kuchen zusammen und besprachen die letzten Formalitäten der Hochzeitsfeier, die am 17. Juli stattfinden sollte. Weil, wie gerade eben wieder eindeutig erwiesen, die übrige Bevölkerung nicht mitbekommen sollte, mit wem sich Pierre verheiraten würde, war zum einen nichts davon erzählt worden und zum anderen würde die Hochzeit an einem ort stattfinden, der für Gäste aus beiden Welten erreichbar war. Da Pierre wegen der Beziehung zum schönsten Mädchen seines Jahrganges mehr Neider als Bewunderer hatte und somit keinen Freund vorweisen konnte, der als Trauzeuge in Frage kam, hatte Julius Latierre sich als Vermittler zwischen Veelas und Menschen als Trauzeuge angeboten. Die Delacours hatten darauf ohne von ihm ausdrücklich darum gebeten worden zu sein auch Millie und die gemeinsamen Kinder eingeladen. Pierre hatte da kein Problem mit. Aber Gabrielle hatte dann ihrerseits darauf bestanden, dass neben ihren Verwandten auch die Brickstons dazukamen, was Julius sehr behagte, da er dann mit Catherine, Joe, Babette und Claudine und dem dritten Brickstonkind zusammen hinreisen konnte.
Alles in allem wurden sich die künftigen Verwandten schnell in den letzten noch abzuhandelnden Punkten einig, was wohl wegen Julius' guter Vorarbeit möglich war. Gegen halb sechs verließen Apolline Delacour und Julius das Haus der Marceaus wieder. Die Fußballspieler hatten inzwischen Verstärkung erhalten. Sämtliche unverheirateten Burschen aus dem kleinen Ort namens Trois Rieus umstanden den grasgrünen Peugeot und unterhielten sich mit dem Fahrer, der ihnen wohl einen erzählte, was der Wagen so für eine Ausstattung hatte, ohne Wörter wie Magie und Zauberei erwähnen zu müssen. "Echt, und der ist so lackiert, dass den nicht mal 'n Diamant ankratzt?" wollte ein siebzehnjähriger Bursche mit rostrotem Haar und bereits gut sprießendem Bart wissen.
"Was meint ihr? Wenn ich solche Passagiere wie die Madame und Ihren Assistenten fahre kann ich doch nicht in einer rostigen Schüssel mit Zerfallserscheinungen rumgurken", erwiderte Soubirand frei heraus, während er sich aus dem Fenster lehnte.
"Tja, aber wenn wer 'ne Panzerfaust auf den Schlitten abfeuert wird's aber doch sicher finster?" fragte ein wohl gerade erst fünfzehn Jahre alter Junge mit schwarzer Igelfrisur.
"Da darf ich nichts zu sagen, weil das Werks- und Dienstgeheimnisse sind, Jungs. Außerdem wollt ihr ja dann auch so'n Wagen haben, und dann wird das für meine Firma zu teuer, wenn die wieder so ein Auto haben möchte", sagte Soubirand.
"Vielleicht gibt's ja schon sowas ähnliches wie die Molekularversieglung vom Knight 2000", meinte ein anderer Bursche.
"Den Wagen kenne ich nicht", sagte Soubirand."
"Unser Fahrer guckt nicht so viel Fernsehen, Jungs", sagte Julius. "Öhm, und die Dame hier möchte jetzt gerne wieder nach Hause."
"Was wollt'n die hier, Monsieur?" fragte ein sehr neugieriger Bursche.
"Wenn sie das wollte, dass das jeder weiß, hätte sie gleich hundert Reporter mitgebracht, junger Mann. Aber jetzt bitte bei Seite treten!" sagte Julius.
"Es war offenbar nötig, den Marceaus zu zeigen, wie wichtig es ist, dass sie kein Aufheben um die Hochzeit ihres Sohnes machen", meinte Baudouin Soubirand, als sie wieder unterwegs waren.
"Ich stand kurz davor, mit Gedächtniszaubern zu hantieren", meinte Julius. "Die jungs löchern jetzt sicher die Marceaus, was eine Dame wie Madame Delacour bei ihnen wollte. Aber ich bin dann doch davon abgekommen, weil wir nicht unnötig in die Gewohnheiten der Marceaus reinfuhrwerken dürfen. Die hätten ja die Jungs vom Fußballspielen abhalten können. Also müssen die jetzt irgendwie klarkriegen, was sie den Jungs erzählen."
"Genau so ist es, Julius", sagte Apolline Delacour.
Gegen acht Uhr am Abend waren sie wieder in Paris. Julius bedankte sich bei Monsieur Soubirand für die Fahrt und wünschte ihm noch einen erholsamen Feierabend. "War mal wieder eine schöne Abwechslung, Monsieur Latierre. Mit den Jungs über sowas wie Autos und Fußball zu quatschen hat mir richtig gut gefallen. Jetzt bin ich mal wieder auf der Höhe, wer in der Liga gerade oben ist und muss deshalb nicht erst meinen alten Herrn anschreiben", sagte Baudouin Soubirand. Dann winkte er den beiden Passagieren.
"Ui, und das halbe Dorf hat geglotzt, als du mit Gabrielles Maman aus diesem grünen Wagen geklettert bist?" fragte Millie belustigt. Julius grinste nur und sagte, dass es zuerst nur zehn Jungen waren, die dann aber alle ihre großen Brüder und Vettern geholt hätten, um denen wohl die schönste Frau der Welt vorzustellen."
"Julius, willst du mich und das Kleine echt heute noch wütend machen?" knurrte Millie. Julius tat unschuldsvoll und sagte, dass er das doch nicht dachte, sondern die ganzen Jungs von Trois Rieus.
Er musste sich noch an das andere Gesicht gewöhnen. Statt seiner hellen Haut hatte er einen samtbraunen Teint erhalten. Seine Haare fielen bis in den Nacken, und er hatte dunkle, fast schwarze Augen im Gesicht statt der hellbraunen. Rudolfo Ponti hatte nicht an Hexen oder andere Formen von überirdischen Wesen geglaubt. Doch als Ladonna Montefiori ihm erschinen war hatte er sich ihrer betörenden Ausstrahlung hingegeben. Er hatte dank ihr die beiden geldgierigen Schnösel Roselli und Farinelli ausbezahlen können, weil die so blöd waren, mehr als 20 Millionen auf hundert angeblichen Kundenkonten zu parken, die nur zum schein angelegt worden waren. Doch Ladonna - wie passend der Name doch war - hatte ihm erklärt, dass er sofort, wenn er das mit der Eigentumsübergabe gedeichselt hatte, eine weite Reise machen sollte und am besten nicht vor fünfzig Jahren wieder nach Italien zurückkehren sollte.
Um ihm genug Bewegungsfreiheit zu geben hatte sie seine Hautfarbe, Augen und Haare verändert. Auch seinen Reisepass hatte sie entsprechend umgewandelt. Seine Stimme hatte er behalten dürfen, um die letzten fälligen Telefongespräche zu führen. Er hatte alle Telefonanschlüsse auf eine kleine Mietwohnung umgeschaltet, in der neben einem Telefon noch ein Faxgerät stand. Über letzteres fuhr er die letzten nötigen Abwicklungen, bis er einen von ihm und Gerstner unterschriebenen Vertrag in den Händen hielt. Doch die zwanzig Millionen, die auf einem Zürcher Nummernkonto deponiert worden waren, würde kein Rudolfo Ponti mehr anrühren. Ab diesem Tag hieß er Omar ben Al-Hamit aus Ägypten. Dass er Arabisch konnte hatte Ladonna von ihm persönlich erfahren, bevor er ihr half, ihre Geschäfte zu erledigen.
Am Flughafen von Mailand bestieg der angebliche Ägypter ein Flugzeug nach Madrid. Von da aus würde er nach Buenos Aires in Argentinien fliegen, wo er sich so heimlich es ging eine neue Existenz aufbauen sollte. Ffalls er in Schwierigkeiten geraten sollte brauchte er sich nur den linken Arm zu halten, wo ihm Ladonna mit ihren Rubinrosen ein blutrotes Brandmal verpasst hatte, das jedoch nur von ihm und ihr zu sehen sein würde. Wenn er in Gefahr war, so würde Ladonna es mitbekommen und konnte ihm hoffentlich beistehen.
Donna Gina Venuti ließ die Digitalfotos über einen Computer und Videoprojektor wie altmodische Dias an eine Leinwand projizieren. Die von ihr ausgeschickten Kundschafter, die sonst einträgliche Betriebe wie Gaststätten, Hotels oder kleinere Fabriken ausspähten, um den sogenannten Versicherungswert zu ermitteln, hatten seit vier Tagen das Landhaus von Luigi Girandelli umstellt und belauerten es mit weitreichenden Teleobjektiven und Lasermikrofonen. Dabei hatten sie immer wieder eine bestimmte Frau aufgenommen, die immer in schwarzer Garderobe auftrat, sofern sie überhaupt etwas am Leibe trug. Der Zeitstempel der gerade betrachteten Aufnahme wies aus, dass diese am 11. Februar 2003 um 23:12 Uhr gemacht worden war, also genau vor zwölf Stunden und zehn Minuten. Sie zeigten Luigi Girandelli in einer total unterwürfigen Pose mit dieser Frau, die makellos schön war. Donna Gina sah deutlich, wie weltentrückt Luigi auf der breiten Matratze seines Bettes lag.
"Dieses Weib beherrscht den. Die hat ihn von ihrem Körper abhängig gemacht", grummelte Donna Gina. "Was wissen wir mehr über dieses Flittchen?"
"Dass sie in keiner Meldeakte oder Hurenkartei drin ist. Die ist auch keine Schauspielerin, kein Modell und auch keine sonstige Berühmtheit", sagte Ginas Kontakt zu den Kundschaftern. "Wir wissen nur, dass sie sich Ladonna nennt, was offenbar Programm ist."
"Wenn ich so strenggläubig wäre wie meine selige Großmutter Angelina müsste ich behaupten, dass dies die vom Satan in die Welt geschickte Verführung schlechthin ist, sowas wie ein Succubus. Doch bevor ich anfange, wieder an Dämonen oder böse Hexen zu glauben will ich erst mal wissen, wie Luigi dieses Weibsbild gefunden hat. Die kann ja nicht aus dem Nichts aufgetaucht sein", schnarrte Donna Gina.
"Öhm, wir wissen, dass Rudolfo Ponti spurlos verschwunden ist, nachdem wir versucht haben, mehr über diese wundersame Auszahlung an die zwei Mitbeteiligten zu klären. Bisher haben wir den nicht mehr wiedergefunden", sagte Ginas Verbindungsmann zur Kundschaftertruppe.
"Da will uns jemand vorgaukeln, es mit einer echten Höllenfrau zu tun zu haben. Am Ende soll die Ponti auch noch aus der Schusslinie gezogen haben, weil der ihr geholfen hat, wie? Irgendwer von unseren Rivalen hat diese Hure gefunden und sie Luigi auf den Leib rücken lassen, damit der spurt. Ich will wissen, wer das getan hat. Der hat auch meine Nichte und meinen Schwiegerneffen auf dem Gewissen", erwiderte Donna Gina. Ihre Verärgerung war nicht zu überhören. Denn innerlich wurde sie das Gefühl nicht los, dass es hier doch nicht mit natürlichen Dingen zuging. Dass jemand ihr in die Suppe spucken wollte war sie gewohnt. Doch in den allermeisten Fällen hatte sie schon weit vorher mitbekommen, wer das war und hatte auch nachher mitbekommen, wohin sich die Leute verdrückt hatten, die das versuchten.
"Fehlt nur noch, dass die Schnalle 'ne Peitsche auspackt und diesem Typen das Fell versohlt", meinte Ricardo, einer von Donna Ginas Leibwächtern.
"Hat die nicht nötig, Ricardo. Die macht das durch reinen Körpereinsatz", sagte Donna Gina.
"Vielleicht hat die sich mit irgendwelchen Drogen eingeschmiert, die den so hingebungsvoll machen", vermutete Ricardo. Das wollte Donna Gina nicht grundsätzlich ausschließen, wo ihre Leute selbst an verschiedenen Rauschmitteln forschten. "Aber dann sollten wir gerade erst recht wissen, wer dieses Luder ist und wie die auf Luigi angesetzt wurde. Außerdem will ich endlich wissen, wo Adelmo und seine Teilhaber abgeblieben sind. Die sind ja sicher nicht weggebeamt worden oder sowas", fauchte die Matriarchin der Venutis.
"Donna Gina, nach dem elften September rotieren alle westlichen Geheimdienste ziemlich heftig und kriegen ziemlich schnell spitz, wenn noch wer ihre Datenquellen anzapfen will", erwiderte Ricardo. "Deshalb dauert das ein wenig länger als sonst, alle Reisedaten zu prüfen und möglicherweise irgendwo gemachte Videoaufnahmen zu finden."
"Erzähl mir bitte mal was neues", fauchte Donna Gina.
"Was sollen wir tun, Donna Gina?" wollte Gigi wissen.
"Versucht die beiden "einzuladen", am besten in unser "Gästehaus" bei Bologna!" befahl Donna Gina. "Ich will endlich wissen, wie der Bursche das gedeichselt hat, dass die Rofapo-Bank ihm den Rest des Kredits erlassen hat. Dann will ich wissen, ob dieses Geschöpf da was mit Adelmos und Lauras Verschwinden zu tun hat und vor allem, von wem die geschickt wurde, um Luigi gefügig zu machen. Vincenzo, sage Paolos Klempnertruppe bescheid, dass die mir die zwei in den nächsten Tagen zur Befragung bringen, ohne dass das irgendwie auffällt."
"Dann schicke ich lieber Dottore Flavio los. Der hat bessere Methoden drauf, um Leute zu einem Gespräch einzuladen", sagte Ricardo.
"Meinetwegen. Wenn ihr die beiden habt klärt das ab, dass ich über Video und Audio mitkriegen kann, was die erzählen, ohne dass die Signale zu mir zurückverfolgt werden können!"
"Das ist echt kein Thema, Donna Gina", versicherte Gigi.
"Also bis zum Valentinstag haben wir das wilde Pärchen im Ferienhaus", bekräftigte Ricardo.
Ladonna Montefiori hatte ihren zweiten Untergebenen, Rudolfo Ponti, gerade noch rechtzeitig aus der Schusslinie genommen, und das wohl wortwörtlich. Irgendwer hatte sich ein wenig zu sehr dafür interessiert, was in der Bank gelaufen war. Ein willkommener Bonus war für sie, dass an dem Konsortium, dem er die Eigentumsrechte verkauft hatte, der Clan der Cavalcantis beteiligt war, der einen Gutteil Siziliens beherrschte und auch gute Verbindungen zu einer anderen Schattenorganisation namens Camorra in Neapel unterhalten sollte. Falls diese Donna Gina hinter den Nachforschungen steckte, wo Adelmo Roselli, dessen Frau Laura, dieser Girolamo Farinelli und auch noch Rudolfo Ponti abgeblieben waren, so mochte sie das ein wenig abschrecken, aber zumindest davon ablenken, wer wirklich dafür verantwortlich war.
Was Ladonna im Moment mehr betraf als die Sache mit Luigis Schulden waren die nach ihr tastenden Rufe und Gesänge von mindestens zwanzig weiblichen Wesen, offenbar Veelas. Natürlich wollten die wissen, wo die achso böse Blutsverräterin war, die einen der ihren umgebracht hatte. Selbstverständlich würden die auch versuchen, sie zu finden und einzufangen. Das war der Grund, warum sie bisher nicht wieder frei in der Welt herumlief. Doch sich von einer Truppe übernatürlich schöner Frauenzimmer dazu treiben lassen, für den Rest ihres Lebens in selbstgewählter Gefangenschaft zu hocken fiel ihr nicht ein. Als sie mitbekam, dass die sie suchenden sich langsam aber sicher ihrem neuen Wohnsitz näherten und zum anderen tatsächlich dreißig sicherlich schon zweihundert Jahre alte Anverwandte auf der Jagd nach ihr waren, beschloss sie, der Sache ein Ende zu machen.
Als es nacht war stellte sich Ladonna keine hundert Meter von der Grundstücksgrenze des Girandelli-Anwesens entfernt hin, öffnete ihren Geist und sang in Gedanken: "Wer mich sucht, ich bin hier, bin hier, bin hihihihier!!" Sofort brausten aus allen Richtungen wütende Gedankenrufe in ihren Geist. Sie hatte Mühe, davon nicht auch körperlich gebeutelt zu werden. "Schwesternmörderin! gib dich in unsere Gewalt und nimm hin, was wir beschlossen", drang die Gedankenstimme einer älteren Veela zu ihr.
"Bist du es, Sternennacht?" wollte Ladonna wissen.
"Ja, die älteste unserer Blutlinie und somit diejenige, die dein Wirken und sein bestimmen wird. Triff dich mit mir und den meinen auf dem höchsten Berg des Landes, in dem du dich gerade aufhältst und hoffe auf Mokushas Gnade, dass wir dich nur in tiefen Schlaf versenken!" flutete die sehr verärgerte Stimme einer Frau ihren Geist.
"Jetzt kriege ich aber wirklich Angst, Sternennacht. Ohne die heute lebenden Hexen und Zauberer traust du dich doch gar nicht mehr in die Sonne, geschweige denn ins Mondlicht", schickte sie zurück.
"Du hättest Neumondlied nicht ermorden dürfen. So ist es nun an uns, dich von weiteren Missetaten abzuhalten", hörte sie Sternennachts Wutgesang.
"Dann kommt her! Ich bin doch hier. Ihr braucht mich nicht mehr zu suchen. Wenn ihr wahrhaftig meint, über mich bestimmen und mein Leben nach euren altmodischen Vorstellungen lenken zu dürfen, dann kommt her und findet heraus, ob dies wahrhaftig gelingt!"
"Diesmal wird es dir misslingen, noch eine unserer Blutlinie zu ermorden", drang Sternennachts wütende Antwort in Ladonnas Gedanken.
"Ach, dann wollt ihr diese kurzlebigen schicken, wie Sardonia eine war oder diesen Julius Latierre, von dem Neumondlied mir vor ihrem vorzeitigen Heimmsprung in den ewigen Bauch eurer Urmutter erzählt hat?" fragte Ladonna und fühlte, dass die anderen nun immer näher kamen. Sie mochten vielleicht noch etliche hundert Meilen entfernt sein, aber sie brausten heran wie ein wilder Wirbelsturm.
"Es war ein Fehler, diesem Burschen von dir zu berichten. Wenn ich gewusst hätte, dass du eine Schwesternmörderin bist, dann hätten wir gleich so über dich beschlossen, wie wir beschlossen haben."
"Och, und was ist das?" wollte Ladonna wissen.
"Dies wirst du am eigenen Leibe und dem, was von deiner verfinsterten Seele noch übrig ist erfahren", verhieß Sternennacht ihrer gemischtrassigen Anverwandten.
"Wenn du den letzten Schnitt meinst, Sternennacht, den kannst du an mir nicht vollziehen. Den kann nur ausführen, wer die Mutter oder Muttermutter des oder der Verfemten ist. Du bist nicht meine Großmutter und schon gar nicht meine Mutter", schickte Ladonna zurück. Das machte offenbar Eindruck auf die anderen. Denn ihr Wutgeschrei erstarb für einige Augenblicke. "Außerdem steckt in mir nicht nur Nachtlieds Blut, sondern auch das einer grünen Waldfrau. Deshalb bin ich euch Tanzpüppchen weit überlegen." Jetzt erstarb das Wutgeschrei der anderen vollends. Eine lange Zeit lang schwiegen die herannahenden Veelas. Dann stieß Sternennacht aus: "Dann bist du wahrlich verdorbenes Blut und wirst von uns gerichtet."
"Ui, dann willst du mich töten? Wie erwähnt, ich bin hier. Komm mit allen her, die du mitbringen willst und versuche es!"
"Wir dürfen ... Wir kommen. Noch in dieser Nacht wirst du unser sein", hörte sie Sternennachts magischen Ferngesang.
"Dann kommt mal her", dachte Ladonna für sich alleine. Sie fürchtete sich nicht vor einer großen Zahl dieser Wesen, die nicht apparieren und zu Angriffszwecken nur Lieder singen oder Blitze und Feuerstrahlen oder Flammenkugeln schleudern konnten. Gegen das alles konnte sie sich schützen. Auf jeden Fall wollte sie dieses schwelende Ungemach zu einem Ende bringen.
Sternennacht war wütend. Diese Wiedererwachte hatte sie und alle Blutsverwandten offen verhöhnt. Das musste und das würde bestraft werden. Da es alle ihre Blutsverwandten mitbekommen hatten, dass sie, Sternennacht, die älteste von ihnen, nicht die Höchststrafe bei blutsverwandten Missetätern vollstrecken konnte, so blieb ihr nur, dieses von Menschenblut und Waldfrauenblut vergiftete Geschöpf dauerhaft an körperlichen und geistigen Handlungen zu hindern.
Sämtliche Blutsverwandte Sternennachts, die gerade keine heranwachsenden Kinder zu umsorgen hatten, flogen in ihren Zweitgestalten aus ihren Heimatländern herbei, in die Richtung, in der dieses Verdorbene Blut sich endlich offenbart hatte. Sternennacht selbst würde der Vollstreckung der Strafe beiwohnen.
"Sternennacht, überlege dir gut, was ihr da tut!" hörte Sternennacht unvermittelt den Gesang von Himmelsglanz. Da Himmelsglanz keine Blutsverwandte von ihr war erstaunte es Sternennacht, wie deutlich, ja überlaut dieser Gesang in ihren Geist hineinklang. "Wo bist du denn, Himmelsglanz?" wollte Sternennacht wissen, die gerade mit der vielfachen Reisefluggeschwindigkeit der natürlichen Vorlage ihrer Zweitgestalt durch die Luft brauste.
"Ich besuche meine Enkeltochter und meine Urenkelin auf der Insel Britannien. Und du bist wohl gerade in Richtung Sonnenuntergang auf dem Weg, um die Wiedererwachte zu treffen, wie?"
"So ist es, Himmelsglanz", erwiderte Sternennacht. Sie bekam zwar mit, wie die sich mit ihr zusammentreffenden von ihr entfernten, weil sie langsamer flog. Doch sie musste sich vollständig darauf besinnen, Himmelsglanz zu antworten. "Wir werden dieses von giftigem Blut verdorbene Geschöpf bestrafen, wenn wir schon nicht dulden dürfen, dass es stirbt."
"Sie lockt euch in eine Falle, Sternennacht. Oder was meinst du, warum sie jetzt auf einmal preisgibt, wo sie ist?" erhielt sie von Himmelsglanz eine warnende Erwiderung.
"Wir sind zu dreißig. Weil zwanzig von uns gerade mit Kind sind oder Kinder großziehen konnten sie bedauerlicherweise nicht mitreisen. Natürlich wird dieses von grünem Gezücht verseuchte Geschöpf gegen uns ankämpfen. Aber welche Falle soll uns halten, wo wir gegen die meisten hohen Kräfte gefeit sind?"
"Das kann ich dir auch nicht sagen, Sternennacht. Dafür weiß ich zu wenig von dieser Frau. Ich weiß nur, dass niemand sich so offen einer ihm feindlich gesinnten Gruppe zeigt und sie dazu auffordert, anzugreifen, wenn da nicht etwas wäre, das die Zuversicht birgt, diesen Angriff nicht nur zu überstehen, sondern alle Angreifer zu besiegen. Also muss sie eine Falle für euch aufgestellt haben, von der sie denkt, dass sie euch halten oder gar vernichten kann. Bedenke, sie war selbst in Versteinerung! Vielleicht hat sie dadurch erlernt, wie sie dies auch reinblütigen Kindern unserer erhabenen Urmutter zufügen kann", wandte Himmelsglanz ein.
"Wir sind drei mal zehn Kinder der Urmutter, davon zwanzig ihrer Töchter, von denen neun aus meinem eigenen Schoß geboren sind. Wir werden sie ergreifen und fesseln oder in einen neuen tiefen Schlaf versenken, den nur wir wieder beenden können und sonst keiner. Vielleicht können wir sie in den schlafenden Körper unserer Urmutter betten, damit diese sie auf Ewig bewahre, ohne ihr inneres Selbst in ihren ewigen Schoß zurückzunehmen."
"Ich habe dich gewarnt, Sternennacht. Mehr kann, mehr darf und mehr will ich auch nicht tun", hörte Sternennacht Himmelsglanzes letzte gesungenen Worte, bevor diese sich wieder zurückhielt. Sternennacht erkannte, dass ihre Blutsverwandten ein großes Stück vor ihr dahinjagten. Sie beschleunigte ihren Flug, konnte aber die schnellsten ihrer Kinder, Nichten und Großnichten nicht einholen. "Wartet gütigst auf mich! Ich musste noch was mit einem überbesorgten Mitglied des Ältestenrates besingen!" gedankenrief Sternennacht ihren Mitstreitern zu. Diese verzögerten ein wenig. Jetzt konnte sie aufschließen, zwischen den anderen hindurchfliegen und sich wieder an die Spitze setzen.
Die Sonne versank gerade mit letzten orangeroten Farbspielen, als Sternennacht das Heulen vor sich hörte. Zu diesem Heulen gesellte sich ein immer lauter werdendes Fauchen. Dann sah sie das fliegende Ungetüm, dass Menschen ohne die hohen Kräfte erfunden hatten, um viele von sich durch die Luft zu befördern. "Alle so schnell wie möglich hundert Längen runter!" stieß Sternennacht eine sehr erregte Gedankenbotschaft aus und warf sich selbst in die Tiefe, schneller als die irdische Anziehungskraft sie niederziehen mochte. Alle anderen folgten ihrem Beispiel und stürzten wie vom Himmel fallende Steine nach unten. Das Heulen und Tosen wurde lauter und lauter. Jetzt begann auch die sie umgebende Luft zu tosen, sich im wilden Aufruhr zu bewegen. Dann brauste das auf zwei feuerspuckenden Rohren unter den starren Flügeln gleitende Fluggerät über sie hinweg. Die von ihm verdrängte und zurückgeblasene Luft erzeugte viele Wirbel, in welche die fliegenden Verwandten Sternennachts hineingerieten. Wie im wilden Tanz wurden sie herumgeschleudert, mehrfach gedreht und überschlugen sich. Dann kam die aufgewühlte Luft endlich wieder zur Ruhe. Doch der Erdboden lauerte auf die immer noch auf ihn herabstürzenden.
"Jetzt wieder hoch und auf die alte Höhe zurück!" befahl Sternennacht und erkämpfte sich mit schnellen Flügelschlägen einen Halt in der Luft und dann die verlorenen Längen über dem Boden zurück. Alle ihre Blutsverwandten taten es ihr gleich. Dabei erkannte Sternennacht, welchen Unterschied es machte, ob jemand gerade dreißig Sommer auf der Welt war oder schon zweihundert Sommer erlebt hatte wie sie selbst. Die noch ziemlich ungeübten kamen dem gnadenlosen Grund sehr gefährlich nahe, während die geübten Flieger schnell wieder Höhe nahmen. Jene, die bereits mehr als hundert Sommer zählten brauchten jedoch länger, um auf die bisherige Flughöhe zurückzusteigen. Der Schrecken saß ihnen allen in den Knochen. Das hätte fast ein unverzeihliches Unglück gegeben.
Flugkapitän Jens Kehlau erstarrte fast vor Schreck. Er hatte nicht mehr damit gerechnet, beim Landeanflug auf Zürich in einen wie irre dahinjagenden Vogelschwarm zu geraten. Er konnte an die zwanzig schwarze Einzelwesen sehen, die erst auf seiner Höhe flogen und knapp vor ihm in die Tiefe stürzten. Als die Boeing 737-600 nur noch freien Luftraum voraus hatte pfiff der erste Offizier Klaus Evers durch die Zähne. Weil die zwei wussten, dass ein Stimmenrekorder mitlief sagte Kapitän Kehlau auf Englisch: "Hui, haben gerade schnell fliegenden Vogelschwarm in fünfzehntausend Fuß über Grund passiert. Beinahekollision. Ich habe große Tiere gesehen, die Adler oder Störche hätten sein können. Was haben sie gesehen, Herr Evers?"
"Bestätige Sichtung und Beinahekollision mit schnell fliegendem Vogelschwarm. Ungefähre Größe der Tiere entspricht der von größeren Greif-oder Storchenvögeln." Dann sagte Evers noch: "Die sind vor uns in den Sturzflug gegangen, als hätten die genau gewusst, dass eine Kollision mit uns tödlich ist."
"Das habe ich auch so empfunden, Herr Evers", erwiderte Kehlau. Dann drückte er die Sprechtaste für den Funk und meldete der Flugsicherung den Beinahezusammenstoß, aber das die Maschine und alle Insassen wohlauf waren.
Ladonna sah die Sterne in der Nacht. Der Himmel war klar wie in der Nähe einer giftigen Brodem verströmenden Stadt ein Himmel klar sein konnte. Sie erkannte sogar die flirrenden Streulichtstreifen, die irgendwo aus den grellen Laternen, elektrisch beleuchteten Anpreisungen und anderen ohne offene Flamme brennenden Lichtquellen entwichen. Früher hatte sie zwischen den Sternen die ewige Dunkelheit des unendlichen Weltalls gesehen. Was hatten diese Jetztzeitmenschen mit dieser herrlichen Erscheinung gemacht? Es wurde wirklich Zeit, dass jemand wie sie einschritt und diesen Möchtegern-Maschinenzauberern ihre verderblichen Spielzeuge wegnahm und sie wieder dahin zurücktrieb, wo sie ihrer Meinung nach hingehörten. Dann dachte sie daran, ob sie diesen nicht ganz so unbefleckten Sternenhimmel heute zum letzten Mal sah. Zwar war sie sich eigentlich sicher, dass sie ihre aufdringliche Verwandtschaft in die Schranken weisen konnte. Doch das war sie damals bei Sardonia auch gewesen und hatte dafür mit einem jahrhunderte langen Schlaf in der Tiefe des Meeres büßen müssen. Doch sie musste diese Entscheidung erzwingen, hier und heute. Denn sonst bekam sie niemals Ruhe. Außerdem galt es, ein unvergessliches Beispiel zu erbringen, dass niemand sich mit ihr, Ladonna Montefiori, der Zwei-Mütter-Tochter, der Rosenkönigin, anlegen durfte.
Mit ihrem Zauber, Blutsverwandte zu erspüren, ohne dass diese es bemerkten, lotete sie die Umgebung aus. Ihr Ton des Blutes wurde von gleich dreißig in dichter Anordnung heranjagenden Wesen zurückgeworfen. Sie kamen wirklich. Waren das alle, die mit ihr über ihre Still- und Ziehmutter Blutsverwandt waren? Sie blickte sich noch einmal um. Hundert Schritte hinter ihr begann das Girandelli-Anwesen. Sie fühlte den dort auf ihre Feinde lauernden Tod. Doch wenn die anderen das auch fühlen konnten mochten sie davon absehen, sie offen anzugreifen. So galt es, sie noch einmal zu verärgern, damit sie ihre Selbstbeherrschung verloren.
"Na, wo bleibt ihr denn. Können die wahren Kinder Mokushas nicht mehr fliegen? Das würde mir erklären, warum ich mit eurer Blutsverwandten Neumondlied so leichtes Spiel hatte."
"Wir befinden uns auf dem Weg zu dir, Trägerin verdorbenen Blutes. Wähne dich nicht als Siegerin", sang ihr eine ältere Frauenstimme in den Kopf, jene Matriarchin namens Sternennacht, die Neumondlieds Erinnerungen nach eine Enkeltochter von Nachtlied war, die wiederum Ladonnas Großmutter war. "Zähle deine freien Atemzüge. Denn es werden ihrer nicht mehr viele sein!" bekam sie noch eine sehr deutliche Drohung zurück.
"Ich lasse mir von einer alten Frau nicht drohen, Sternennacht. Zähle lieber jeden Herzschlag. Denn gleich wird es für immer erstarren, falls es nicht gleich im Feuer meiner Macht verbrennt", erwiderte Ladonna die Drohung. Ihr Bluttonzauber verriet ihr, dass die dreißig Blutsverwandten nun aus der bisherigen Höhe niedersanken. Sie hatten sie also erspürt und flogen heran.
"Du hast Neumondlied getötet, weil in dir das Blut einer wilden Waldfrau fließt. Aber uns alle auf einmal kannst auch du nicht töten, ohne daran an Körper und Seele zu zerbrechen", schickte Sternennacht noch zurück. "Außerdem kann ich doch den letzten Schnitt vollziehen, weil ich die älteste unserer Blutlinie bin."
"Ja, und die Sonne ist eine riesige Weintraube, Sternennacht", versetzte Ladonna. "Du und die anderen seid doch allesamt Schwächlinge unter der Sonne. Ihr habt den Verwandten meiner Mütter erlaubt, größer und mächtiger zu sein als ihr. Und selbst die haben sich vor den viel zu erfindungsreichen und Erfolgsheischenden Leuten ohne Zauberkraft untergeordnet. Die können fliegen, schneller als ihr. In einem ihrer Riesenvögel ist Platz für mehr als zwweihundert Menschen und ihre Habe. Sie können zum Mond fliegen und darauf herumtrampeln, was ihr nie erreichen werdet. Ihr seid doch allesamt niederes Leben ohne Sinn und Herrschaftsmöglichkeiten." Ladonna hörte ein wildes Durcheinanderschwirren erboster Gedanken. Dann peitschte Sternennachts Stimme ein unmissverständliches "Schweiget allesamt" in diese Woge aufgewühlter Gedankenrufe hinein. Ihr Befehl wurde befolgt. Ladonna grinste. Jetzt, wo die anderen so nahe waren wollten sie ihrer aufmüpfigen, ja sich über sie erhaben fühlenden Blutsverwandten nicht verraten, wie nahe sie ihr schon waren. Doch sie hatten da eine unausräumbare Schwäche. Sie mussten sich in ihre menschenförmige Gestalt verwandeln, um irgendwas mit ihr anstellen zu können. Als Vögel waren sie womöglich schnell und konnten von oben her zustoßen. Doch sie konnte dann eine nach der anderen mit ihren Zaubern niederwerfen oder gleich töten. Wollten sie ihr was tun, mussten sie erst mal wieder ihre angeborene Erscheinung annehmen. Sie hingegen konnte auch ohne Flügel schweben, weil ihr Waldfrauenanteil und die in ihrem Körper wirkende Seele ihrer Mutter Giorgiana dies ermöglichte. Wussten die das? Besser, konnten sie damit rechnen?
Jetzt waren sie nur noch zweihundert Schritte heran. Offenbar stimmten sie sich in kurze Strecken reichenden Gedankenrufen ab. Ihre Marschflugordnung löste sich auf. Sie fächerten auseinander, bildeten eine weit ausladende Zange, wollten sie offenbar umzingeln. Ladonna lächelte. Sollte sie denen verraten, dass sie jedes Manöver von ihnen mitbekam? Nein, außerdem musste sie gleich den Blutton-Zauber beenden, um ihre volle Kraft auf alle anderen Zauber zu wirken. Sie wartete jedoch, bis die Angreiferinnen - es war kein einziges Männchen dabei - den um sie gebildeten Kreis immer enger zogen, bevor sie landeten und erst einmal verharrten. Jetzt würden sie sich zurückverwandeln, dachte Ladonna und beendete den Aufspürzauber für Blutsverwandte.
Veelas und Waldfrauen verband neben der menschenähnlichkeit und Fhähigkeit zu Zauberkräften, dass sie bei Dunkelheit sehen konnten. Ja sie konnten sogar die von gleichwarmen Geschöpfen wie Vögeln und Säugetieren ausgehende Wärme sehen, was die Maschinenanbeter Infrarot nannten. So war sie für ihre Gegnerinnen genausogut zu sehen wie diese für sie. Ladonna konnte dazu auch noch den raubvogelgleichen Weitblick ihrer Waldfrauenerbanteile nutzen, um zu klären, wer von denen Sternennacht sein mochte und wer gerade mal die letzten Eierschalen abgestreift hatte. Jetzt waren die dreißig Gegnerinnen nur noch vierzig Schritte heran. Ladonna sah Sternennacht. Diese hielt es nicht für nötig, ihren Rang zu verheimlichen. Wie eine Hochadelige schritt sie heran. Ladonna nickte. So ähnlich fühlte sie sich allen anderen gegenüber. Jetzt waren die dreißig anderen nur noch zwanzig Schritte entfernt und zogen den Kreis immer enger um sie. Sollte sie die mal ärgern und aus diesem Kreis herausdisapparieren? Dann fühlte sie, wie zwischen den Veelas und Halbveelas unsichtbare Kraftstränge ausgespannt wurden, die sich erst zu einer schwingenden Wand und dann zu einer singenden Kuppel über ihr ausbildeten. "Der kurze Weg ist dir verwährt, Ladonna, Tochtertochter meiner erhabenen Muttermutter Nachtlied", sagte Sternennacht. Ladonna sah sie an und nickte. Sie hatte eh nicht disapparieren wollen. Das wäre doch zu schwächlich erschienen.
"Und, was jetzt. Wolt ihr mir was vortanzen, damit ich vor lauter Ehrfurcht in Erdboden versinke?" fragte Ladonna weiterhin aufsässig und überlegen lächelnd.
"Genau das, aber nicht, um dich in die Tiefe der steinernen Mutter zu versenken, sondern um dich in Band und Schlaf zu legen, auf dass du keinem mehr Leid zufügen und keinen Anspruch auf Vorherrschaft mehr erheben kannst."
"Das hat Neumondlied schon versucht und nicht geschafft, Großbase", hielt Ladonna entgegen. "Aber wir sind mehr als eine, viel mehr und damit auf jeden Fall mehr als du."
"Na und?" erwiderte Ladonna trotzig.
"Beginnt, meine Schwestern, Töchter, Nichten, Enkeltöchter und Großnichten!" befahl Sternennacht. Daraufhin begannen die dreißig Veelas und Halbveelas um Ladonna herumzutanzen, wobei sie sich an den Händen hielten und sangen in verschiedenen aufeinander abgestimmten Tonhöhen das Lied der klingenden Fesseln, das erst den Körper und dann den Geist lähmte. Ladonna fühlte sofort, wie stark dieses Lied war. Wahrhaftig wirkten schon die ersten drei Töne wie auf sie drückende und ihre Arme und Beine lähmende Lasten. Doch das Blut einer Waldfrau hielt dem entgegen. Außerdem sang Ladonna ihrerseits das Lied der freien Bewegungen und mühte sich ab, dazu einen anmutigen Tanz zu tanzen. Doch das aus allen Richtungen außer von unten und oben dringende Lied wirkte immer stärker. Wenn sie nicht gleich was unternahm würden die damit Erfolg haben und sie wieder zu einem lebenden Standbild erstarren lassen. Nichts da! Ladonna jagte mit einem Gedanken die Kraft gegen die Erdanziehung durch ihren Körper. Jede Faser Fleisch, jeder Tropfen Blut und jeder Knochen wurde von dieser Kraft durchtränkt. Ladonna schaffte es, sich mit einem eher hölzernen Durchdrücken der Knie vom Boden zu lösen. Doch die in ihr wirkende Kraft ließ sie nun nach oben schnellen. Als sie über die Köpfe der sie besingenden hinwegstieg löste sich der bereits auf sie wirkende Fesselungszauber. Ladonna zog blitzschnell ihren Zauberstab und zielte auf eine der jüngeren Vollveelas. "Avada Kedavra!" zischte sie. Gleißendgrün brauste der schnelle Tod aus ihrem Zauberstab und fand das zugedachte Opfer. Die anderen erstarrten, als ein lauter geistiger Todesschrei sie alle aus nächster Nähe traf. Ladonna erkannte, dass ihr freies Schweben sie gegen die volle Macht dieser letzten kurzen Lebensäußerung einer Blutsverwandten abschirmte. Sie hörte ihn, aber wurde nicht so davon getroffen wie bei Neumondlied. Gut zu wissen, dachte die schwebende Rosenkönigin. So nahm sie das nächste Ziel, eine jüngere Schwester Sternennachts und rief erneut die zwei geächteten Worte. Wieder fand der grüne Todesblitz sein Opfer und ließ es in der letzten halben Sekunde ihren Namen aufschreiend erlöschen. Die anderen wurden wieder von einer Schockstarre gepackt. Den unmittelbaren Tod einer unmittelbar bei ihnen stehenden Verwandten ertrugen sie offenbar nicht. Ladonna musste innerlich grinsen. Damit hatten die nicht gerechnet.
"Du wahnwitzige, von falschem Blut verseuchte Missgeburt aus unkrautfarbenem Schoß!" brüllte Sternennacht wütend und zugleich wohl auch traurig. Denn Ladonna konnte Tränen aus Sternennachts Augen rinnen sehen.
"Du feiges Geschöpf, stell dich uns richtig!" brüllte eine andere Schwester Sternennachts.
"Wer sind hier die Feiglinge, die zu dreißig, öhm, achtundzwanzig auf nur eine einzige losgehen oder die eine, die sich nur wehrt?!" rief Ladonna aus vier ihrer Längen über dem Grund nach unten."So zu fliegen hältst du nicht lange durch, Mädchen!" stieß Sternennacht aus. Ladonna lachte laut. "Wenn ich ein Mädchen bin, was bist du dann, Sternennacht, eine wandelnde Leiche, der man noch nicht erklärt hat, dass sie seit hundert Jahren tot ist?"
"Schwestern, Töchter, alle anderen. Sie ist unwürdig, weiterzuleben!" brüllte Sternennacht. Gleichzeitig schleuderte Ladonna einen weiteren Todesfluch auf eine von Sternennachts Schwestern. Wieder stieß die schlagartig gefällte einen letzten anklagenden geistigen Aufschrei mit Ladonnas Namen und Bild von ihrem Gesicht aus. Jetzt waren es nur noch siebenundzwanzig, drei mal drei mal drei Blutsverwandte.
"Versuch den letzten Schnitt, Tante Sternennacht!" rief eine der jüngeren Veelas.
"O ja, mach das doch, Tante Sternennacht", antwortete Ladonna mit überfließender Häme in der Stimme. Doch Sternennacht sah nur ihre zwei toten Schwestern an, deren Leben sie unbedacht geopfert hatte, weil sie einfach nicht verstehen wollte, dass die andere ihre eigenen Verwandten, noch dazu Kinder aus dem Schoße Mokushas, einfach so auslöschen konnte. Sie scherte sich nicht darum, dass sie das nicht durfte. Sie tat es einfach.
Die jüngere Halbveela, die gerade von ihrer Tante den Vollzug des letzten Schnittes gefordert hatte, starb als nächste unter Ladonnas grünem Todesblitz. Das hatte die nun davon.
"Na, ob die alle im Schoß unserer großen Stammutter landen? Dann kriegt die aber heute ziemliche Bauchschmerzen", feixte Ladonna. Das war wohl das letzte Tröpfchen in das bereits zum überlaufen gefüllte Fass. Denn nun griffen die Veelas mit Feuerbällen an. Ihre Köpfe wurden zu schwarzgefiederten Vogelköpfen. Ihre Arme und Hände wurden zu gefiderten, mit Krallenhänden bestückten Körperanhängseln. Zwischen diesen Händen flammten Feuerauf, die fauchend losflogen und auf Ladonna zurasten. Sie konnte den ihr geltenden Flammenstößen nur durch ihre übermenschliche Schnelligkeit und weiteres aufsteigen ausweichen. Ihr Ring erzitterte. Ja, der konnte ähnlich wie der Flammengefrierzauber wirken. Diese Macht nutzte Ladonna, als ihr gleich drei Feuerfontänen auf einmal entgegenfauchten. Unvermittelt wurde sie von einem blauen Flirren umflossen, an dem die Flammen zerbrachen und zu ungerichtet davonstiebenden Funken zerfielen. Doch die Feuerstöße wurden nun mehr und kamen in kürzeren Abständen. Ladonna merkte, dass sie diesem Dauerbeschuss nicht so lange standhalten mochte, wenn sie gleichzeitig frei schweben musste.
Unangekündigt begannen einige der Angreiferinnen, grelle Blitze zu schleudern. Als einer davon Ladonna voll traf fühlte sie die durch ihren Körper jagende Kraft und sah um sich herum blau-violettes Elmsfeuer irrlichtern. Sie erkannte sofort, dass sie gegen diese Kampfzauber der Veelas nicht wirklich lange bestehen mochte. Die anderen erkannten das auch. Ladonna fällte zwei der Blitzeschleuderinnen mit dem Todesfluch. Die Vernichtungskraft ihres Ringes musste sie nicht versuchen. Die würde gegen die Feindinnen nur bedingt was ausrichten. Aber jetzt musste sie dringend den Standort wechseln. Denn nun begannen die noch lebenden fünf mal fünf Veelas, stärkere Blitze zu machen, in dem je zwei von denen grelle Lichtbögen zwischen sich erschufen und diese dann mit lauten scharfen Schlägen in ihre Richtung entluden. Ein solcher Paarblitz raubte Ladonna fast die Besinnung und ließ ihr schwarzes Haar zu Berge stehen. Ihr Herz hämmerte wild. Schweiß schoss ihr aus allen Poren. Sie verlor einen halben Meter Flughöhe. Das war für die anderen das Zeichen, nur noch solche heftigen Entladungen zu erzeugen. Die nächste davon schlug mit scharfem Knall knapp neben ihr in den Himmel hinauf. Sie roch die davon verbrannte Luft. Ozon nannten die Mogglinos das, wenn sich Elektrizität durch die Luft brannte.
Ladonna warf sich nach vorne, konnte gerade einem weiteren von zwei Gegnerinnen zugleich erzeugten Blitzschlag entgehen. Dann konzentrierte sie sich auf den Vorwärtsflug. Sie wurde schneller und schneller. Doch sie wusste, dass die anderen sie wohl einholen konnten, wenn nicht am Boden, dann aber in der Luft.
"Du kannst uns nicht mehr entgehen. Solange du den Unrat deines grünen Waldfrauenerbes nutzt, ist dir der kurze Weg verschlossen", hörte sie Sternennacht überlegen singen. Doch sie antwortete nicht darauf. Sie hatte nämlich nicht die Absicht, davonzudisapparieren.
Die ihr nachlaufenden Veelas merkten, dass sie zu Fuß zwar schneller als ein Mensch sein konnten, dass Ladonna aber immer noch weiter beschleunigte. Im laufen konnten sie sie nicht mit ihren Blitzen beharken. Das war schon mal gut. Außerdem liefen die genau in die Richtung, in die Ladonna sie haben wollte. Sollten die denken, sie wolle flüchten. Der große Gegenschlag würde gleich erfolgen.
Sie will uns entschlüpfen. Ihr im Fluge hinterher! Drängt sie zu Boden! Drängt die Schwesternmörderin zu Boden!" krakehlte Sternennachts aufgebrachte Gedankenstimme zu den ihr noch verbliebenen Mitstreiterinnen. Nun galt es, die Frevlerin und Widersacherin zu erschöpfen, um sie dann in einem letzten Gnadenakt entweder zu töten und zu hoffen, dass sie nicht in Mokushas ewigen Schoß einkehrte, oder sie wie geplant in einen nimmerendenden Schlaf zu versenken und sie im ewig ruhenden Leib der erhabenen Urmutter zu betten, damit sie dort von niemandem mehr erweckt werden könne.
Ladonna merkte schon, dass sie sich offenbar ein wenig zu viel vorgenommen hatte. Der freie Flug mit hoher Geschwindigkeit kostete eine ganze Menge Ausdauer. Ihr Herz hämmerte schnell und heftig. Ihr Atem ging keuchend und schnell, wie der von einem unter Raserei leidenden Schmiedeknecht getretene Blasebalg. Doch sie fühlte bereits die von ihr ausgebreitete Magie. Sie musste nur noch hundert Schrittlängen überwinden. Da hörte sie die wild schlagenden Flügel von ihr nacheilenden Vögeln. Sie wagte einen Blick nach hinten und erkannte gleich zehn Störche und fünf Schwäne, die über ihr flogen und sie einzuholen schafften. War Sternennacht einer dieser Vögel?
"Ergib dich und hoffe darauf, dass wir gnädiger zu dir sind als du zu meinen Schwestern!" sang Sternennacht ihrer missratenen Anverwandten zu. Diese ging nicht darauf ein. Unter ihr waren gesunde Bäume, zwar noch in Winterruhe, aber immerhin kraftvoll genug. Sie flog zwischen ihnen hindurch und saugte dabei ohne Berührung die Kraft der grünen Freunde in sich auf. Das verlieh ihr die nötige Ausdauer, um ihren Weg fortzusetzen. Da prallten die ersten Schwäne auf sie. Sie wand sich unter ihnen weg. Ja, hatten die denn keine Ahnung, dass sie einen jahrzehnte großen Erfahrungsschatz im Kampf in freier Luft hatte? Wieder schlug einer der Vögel mit dem Flügel nach ihr. Hätte sie nicht unvermittelt den Arm weggezogen, so hätte der Schlag ihr vielleicht einen Knochen gebrochen. Weitere Vögel versuchten, auf ihr zu landen, sie dadurch nach unten zu drücken. Doch Ladonna befreite sich von dieser Last, indem sie selbst einen Meter frei fiel und dann in eine andere Richtung auswich. Doch die Grundrichtung behielt sie bei. Wieder versuchte ein Schwan oder Storch, auf ihr zu landen. Zwei weitere Vögel hackten mit ihren Schnäbel nach ihren Armen, wohl um sie festzuhalten und sie so hinunterzuziehen. Nur die jeder Wildkatze und jedem Raubvogel ebenbürtige Schnelligkeit der Waldfrauen bewahrte Ladonna vor Verletzungen oder einer Last aus gleich fünf oder sechs größeren Vögeln. Fauchend bekundeten die zu schwarzen Schwänen gewordenen Veelas ihren Unmut. Die Störchinnen klapperten ebenso ungehalten. Dann erreichte Ladonna die von ihr gezogene Grenze am Grundstück ihres Lehnsmannes und Geliebten.
Sie selbst spürte es als warme, leicht prickelnde Brise auf der Haut. Wieder plumpsten fünf große Vögel über ihr herunter oder versuchten, sie von unten her zu packen. Doch dann passierte es. Die Vögel gerieten aus dem Flugrhythmus. Jene, die gerade niederstürzten, konnten ihren Sturz nicht mehr bremsen und schlugen auf den Boden. Gleichzeitig drangen Laute der Qual aus den Schnäbeln der Ladonna nachjagenden Vögel. Ladonna konnte nun frei fliegen, ohne weiter bedrängt zu werden. Doch sie musste nicht mehr fliegen. Sie sank federgleich nach unten und landete auf ihren Füßen. Sie wandte sich um und sah, wie die aufgeprallten Veelas mit gebrochenen Flügeln oder Beinen am Boden zuckten wie sterbende Fliegen. Ein blutroter Dunst umhüllte sie. Dann drang dieser Dunst aus ihren Körpern heraus. Weitere Angreiferinnen drangen in diesen Todesbereich ein. "Alle zurück! Eine Falle! Das ist die Falle!" gedankenkreischte Sternennacht. Die war offenbar nicht ganz vorne mitgeflogen, erkannte Ladonna. Sie zählte schnell durch und kam auf fünfzehn in den von ihr geschaffenen Todesraum eingedrungene Gegnerinnen. Ladonna erkannte, dass sie zwar nicht mehr angegriffen wurde, aber dennoch besser noch mal in die Luft stieg, um sich vollkommen mit der Kraft einer Waldfrau durchdrungen gegen die gleich erfolgenden Todesschreie zu verschließen.
Von den fünfzehn Vögeln schafften es nur die fünf jüngsten, sich mit qualvollen Lauten auf ihren Beinen wackelig aus dem sie peinigenden Bereich zu retten. Dann schossen aus den ersten Gegnerinnen blutrote Feuerbälle. Wie Ladonna befürchtet hatte schlugen die geistigen Todesschreie wie Sturmwellen gegen ihr eigenes Bewusstsein. Nur die von ihr aufgebotene Kraft der Waldfrauen schirmte sie dagegen ab, selbst unter Todesqualen zu leiden. Und als die ersten zwei in blutroten Feuerausbrüchen vergingen, beschleunigte sich die Vernichtung. Jetzt gingen gleich drei, dann alle noch nicht wieder freigekommenen in Flammen auf. Ja, und eine schwarze Störchin, die gerade wieder aufflog, um so schnell wie möglich weiter fortzukommen, zerbarst im freien Flug in blutrotem Feuer. Also hatte der Blutfeuernebel auch Macht über die sonst gegen Feuerzauber gefeiten Kinder Mokushas. Ein weiterer Schwan, der schon fast hundert Schritte entfernt war, wurde dennoch vom gleichen gnadenlosen Tod ereilt wie alle bei Ladonna gelandeten. Am Ende blieben gerade zehn noch rechtzeitig davongeflogene Verwandte übrig. Ladonna fragte sich einen Moment, ob Sternennacht unter den Opfern ihres Flächenzaubers war, der offenbar durch die ihm zugeführten Feindesleben noch an Ausdehnung gewonnen hatte. Dann wurde ihr die Frage beantwortet.
"Ich habe dich unterschätzt und dafür mit zu viel meines Blutes bezahlt, Ladonna Montefiori! Doch eines Tages wirst du nicht in diesem von Tod und Vernichtung durchtränkten Bereich sein. Dann findenund holen wir dich, und Mokusha selbst soll dann entscheiden, was mit deinem inneren Selbst geschehen soll."
"Ihr findet mich, Sternennacht? Ich habe Neumondlied gefunden, ohne dass sie es bemerkte. Ich kann auch jeden und jede andere von euch finden, welcher doch heute nicht gegen mich kämpfen wollte. Ich kann mir eine nach der anderen holen und mir deren Lebenskraft einverleiben, bis ich die einzige bleibe, in deren Adern das Blut meiner Vormutter Nachtlied fließt. Und dich werde dich dann als die letzte holen, Sternennacht", sang Ladonna ihr zu. "Und geht nicht davon aus, dass ihr die Zauberstabträger auf mich hetzen könnt. Euren Gesetzen nach müsst ihr jeden und seine Sippe töten, der es wagt, einen Träger oder eine Trägerin von Mokushas Blut zu töten. Und sei es, dass ihr Kinder Mokushas meinen Tod beschließt und versucht, ihn mir zu geben, so wird die alte Urmutter wirklich bald an unerträglichen Bauchschmerzen leiden, wenn alle ihre Kinder so schnell und zahlreich in ihren warmen Schoß zurückgestoßen werden. Wer leben will, der vergesse, mir nach Freiheit und Leben zu trachten. Wer das nicht kann oder will, der oder die lebt bald selbst nicht mehr."
"Sonne dich nicht in deiner beispiellosen Überheblichkeit, Ladonna. Denn jede Sonne blendet und verdorrt alles, was ihr zu lange ausgesetzt ist", hörte sie Sternennachts vorerst letzte Botschaft.
"Soll das eine Drohung sein, Sternennacht. So erkläre ich hiermit deiner Blutlinie den Krieg und bin bereit, ihn jeder anderen von Mokushas Blutlinien zu bringen, die meint, mich bezwingen zu wollen. Zähle deine Verwandten und bereite sie darauf vor, demnächst eine nach der anderen von mir aufgesucht und ausgelöscht zu werden!" schickte Ladonna noch aus. Doch nur Schweigen war die Antwort.
Ladonna wartete noch einige Minuten. Doch nichts und Niemand versuchte, sie körperlich oder geistig zu berühren. Sie merkte jedoch, dass ihr Blutfeuernebel durch die ersten mächtigen Feindesopfer auf die vierfache Stärke gestiegen war. Dann verdichtete sich der Nebel zu einer orangeroten, nur wenige Meter Sicht gewährenden Nebelbank und gewann bis zwischen zehn und zwanzigmal so viel Kraft wie vorher. Ladonna erkannte, dass sich ihr Zauber nun wieder in den vorgezeichneten Grenzen hielt. Sie hörte vom Haus Girandellis her Knistern und Prasseln. Als sie sich umsah konnte sie kein künstliches Licht im Haus sehen. Dann verlor der Blutfeuernebel seine Leuchtkraft. Doch seine neue Kraft blieb für sie spürbar.
"Was war das, meine Herrin? Alles elektrische und elektronische ist plötzlich kaputt gegangen und verschmort, als wenn hundert Blitze gleichzeitig eingeschlagen hätten", zeterte Luigi, als Ladonna ihn im stockdunklen Hauseingang traf und umarmte. "Oh, sind alle deine Helferchen und Fernsprechvorrichtungen kaputt gegangen? Na mal sehen, ob hier demnächst noch was elektrisches geht. Wenn nicht, leben wir zwei hübschen eben so, wie meine Eltern schon gelebt haben, ohne das ganze elektrische und elektronische Geplänkel."
"Ich habe schon gedacht, die Wände explodieren, als ich die blauen Flammen durch die Wände sausen sah", sagte Luigi und zeigte Ladonna die schwarzen Furchen, die von den schlagartig verglühten Stromleitungen in die Wände gezogen worden waren. Doch nirgendwo war offenes Feuer ausgebrochen. Offenbar hatte ihr Flächenzauber das sofort geschluckt, weil es aus ihm entstanden war. Jedenfalls ging nichts mehr. Mobiltelefone lagen als qualmende und übel stinkende Klumpen aus Metall und Kunststoff herum. Ein schwarzgefärbter Metallklumpen und eine mittlerweile wieder erstarrende Kunststoffpfütze zeigten, wo vorhin noch ein leistungsstarker Rechner gewesen war. Doch der Qualm war nicht giftig, sondern nur weiß und grau. Und als der Qualm auch noch zu nichts als Luft wurde, wusste Ladonna, dass zumindest kein ungewollter Brand im Haus ausbrechen würde. Sie schaffte es jedoch auch nicht, mit einem Streichholz eine Kerze zu entzünden. Das ging erst mit dem Incendio-Zauber. Damit stand fest, dass natürliche Feuerquellen in diesem Haus nicht mehr wirken konnten.
Sie beseitigte den zerschmorten und zu Klumpen aus Metall und Kunststoff verformten Hausrat aus Küche, Wohn- und Schlafzimmer mit dem Zauber "Vanesco Solidus". Luigi, der ihr am ganzen Körper zitternd zusah, trauerte seinem bisherigen Leben nach. Ladonna versammelte alle im Haus Girandelli wohnenden im nach gründlichen Sauberzaubern wieder herzeigbaren Salon und erwähnte, dass sie alle nun in einer wehrhaften Festung wohnten und dass alles, was bisher nur mit Elektrizität ermöglicht wurde, von nun an nur noch durch ihre Magie in Gang gehalten und bewirkt werden würde. Danach zog sie sich mit Luigi in dessen Schlafzimmer zurück. Das Bett war frei von verschmolzenen Glassplittern aller Lampen. Ladonna wollte Luigi durch das Teilen des Lagers noch enger an sich binden, damit er wegen des Endes der Elektrikzeit nicht doch noch meinte, von ihr loskommen zu müssen.
Alles gute zum Valentinstag, Donna Gina", sagte Ricardo, einer von Donna Ginas Leibwächtern und überreichte ihr einen Strauß weißer Rosen. Rote durften ja nur echte Liebhaber an ihre Herzensdamen weiterschenken. Donna Gina sah die Blumen an und meinte: "Ricardo, was sollen die Rosen? Sonst kommst du immer mit Tulpen aus Amsterdam. Abgesehen davon will ich langsam gerne mal wissen, wann wir diesen Girandelli und/oder seine Bettgenossin sprechen können."
"Dottore Flavio hat in den letzten Tagen versucht, bei denen anzurufen und sich als Reporterin einer Zeitschrift für abenteuerlustige Frauen auszugeben. Sie wissen ja, dass er ein begnadeter Stimmenimitator ist."
"Spätestens als ich mich selbst hier angerufen habe und mit mir eine halbe Stunde lang telefoniert habe, bis dem Herren doch meine Stimme entglitt ... Ja, und? Du benimmst dich wie die Katze, die um den heißen Brei schleicht."
"Luigis ganze Telefonnummern sind unerreichbar. Dottore Flavio hat sogar über seine Kontakte das E-Mail-Konto von dem prüfen lassen. Wenn das ein Briefkasten wäre dann wäre der so hoch wie der schiefe Turm von Pisa und trotzdem randvoll mit Briefen. Der ist im Moment offenbar total unerreichbar. Die letzten E-Mails hat er laut Serverprotokoll vor drei Tagen abgerufen. Man könnte meinen, der macht Urlaub im 18. Jahrhundert oder früher."
"Und, wo ist Dottore Flavio jetzt?"
"Wollte nachsehen, ob der Typ und seine Matratzenbraut noch im Haus wohnen. Tja, seit nun zehn Minuten totale Funkstille. Der ist auch nicht zu erreichen."
"Und dann kommst du mir mit diesem bekloppten Strauß Rosen um die Ecke, anstatt mir das alles gleich zu melden. Dabei weißt du ganz genau, dass ich seit Rosarios Tod überhaupt keine einzige Rose mehr um mich haben will. Also was geht da gerade in dir ab, dass du derartig durch den Wind bist?" wollte Donna Gina wissen.
"Zu den Rosen, die hat Valeria besorgt, damit ich den Kontakt mit Dottore Flavio halten konnte. Zu der anderen Geschichte, ich habe gehofft, dass Dottore Flavio sich wieder meldet. Aber du hast mich ja zu dir gebeten, weil etwas wichtiges anliegt."
"Ja, nämlich der Umstand, dass wegen der unangekündigten Veräußerung der Rofapo-Bank mehrere Familienoberhäupter nervös geworden sind, ihre dort eingelagerten Depots könnten verloren sein. Auch das Gerücht, die Cavalcantis könnten an diesem Coup beteiligt sein, machen das ganze nicht erträglicher. Um des lieben Friedens willen habe ich deshalb die fünf Capi, deren Familien bei meinem verschwundenen Schwiegerneffen ihr Geld eingelagert haben, für morgen hergebeten. Da jeder mit seiner persönlichen Leibgarde hier anreitet gilt ab sofort der Plan Hannibal ante Portas", erwiderte Donna Gina. "Um morgen nicht wegen dieser Girandelli-Sache aus dieser Besprechung herausgeholt zu werden erwarte ich, dass noch heute geklärt wird, was mit Dottore Flavio ist. Wenn der jemandem in die Falle läuft könnte der uns sehr übel zusetzen. Also sieh zu, dass du Dottore Flavio wiederfindest, damit wir endlich weiterkommen!" erwiderte Donna Gina sichtlich aufgebracht.
Luigi genoss diesen Valentinstag, auch wenn dabei kein Radio lief und auch kein Rechner auf eingehende E-Mails wartete. Es hatte mit leidenschaftlicher Liebe angefangen und würde sicher auch so enden, dachte Luigi. Doch dann war seine Herrin unvermittelt in leerer Luft verschwunden und dann mit einer Puppe im blauen Monteuersanzug wiedergekommen. "Luigi, ich muss noch mal weg. Die Puppe hier hat uns wer vor die Tür gelegt und ich muss klären, wer das war", sagte sie. Dann verschwand sie wieder. Dass sie nur zwei Stockwerke tiefer in einem fensterlosen Keller ankam wusste Luigi nicht. Er wusste auch nicht, dass die Puppe im Monteursanzug ein gerade soeben noch per Schockzauber an feindseligen Gedanken gehinderter Mensch war, den Ladonna der besseren Beförderungsmöglichkeit wegen auf dreißig Zentimeter eingeschrumpft hatte.
Von ockergelbem Licht an Decke, Boden und Wänden schwach erleuchtet lag der ausgemusterte Weinkeller um Flavio Righera herum. Eben hatte er doch noch einen heftigen Hitzeschauer verspürt, als er über die Grundstücksgrenze zu den Girandellis hatte fahren wollen. Dann hatte er nur einen roten Blitz gesehen, und jetzt war er hier und lag auf einem Steintisch. Doch die nächsten Minuten wurden erst recht merkwürdig. Denn in denen musste er einen handwarmen Ring am linken kleinen Finger tragen und die Antworten auf zehn Fragen denken. Erst hatte er versucht, die Fragen zu überhören. Dann hatte er versucht, falsche Antworten zu denken. Das alles hatte nicht geklappt. Dann hatte der an alle merkwürdigen Rollen denken müssen, die er schon gespielt hatte, ob männlich oder weiblich. Was ihm besonders zusetzte war die Bilder- und Gedankenfolge, wo es um seine Beziehung zu Donna Regina Beatrice Venuti ging. Er hatte immer gedacht, dass selbst das stärkste Wahrheitsserum diese Informationen nicht aus ihm herausquetschen konnte. Doch mit nur drei immer und immer wiederholten Fragen hatte diese schwarze Hexe ihn dazu gebracht, andauernd an die aufträge zu denken, die er für die Donna, die von den meisten Familien als sizilianische Maria Theresia bezeichnet wurde, ausgeführt hatte. Das alles schien der Ring in sich aufzusaugen. Dann war da wieder dieser rote Blitz gekommen.
"Sie wird uns alle töten. Die will uns alle umbringen", zeterte Sternennacht, als sie am Tag nach der kläglich gescheiterten Ergreifung Ladonnas auf Mokushas Insel war. "Ich habe allen meinen noch verbliebenen Töchtern, Enkeln und Urenkeln mit dem Lied des tiefen Schlafes erst mal die Möglichkeit gegeben, von diesem Unwesen nicht gefunden zu werden. Aber irgendwie meinte sie, sie könne jeden von uns aufspüren, egal wo. Bei Neumondlied hat sie das ja auch geschafft."
"Warum will Sie euch umbringen, Sternennacht? Du und die Deinen wolltet sie töten. Ihr habt euch gegen die heiligen Gesetze unserer Urmutter vergangen", tadelte Himmelsglanz ihre Artgenossin.
"Sie hat meine Schwestern Silberstern, Abendstille und Nachtruf mit diesem grünen Todesbrausen entleibt. Auch Morgenmond ist von ihr getötet worden, weil die so vorlaut war, von mir den Letzten Schnitt zu verlangen", verteidigte Sternennacht ihr Handeln.
"Den du nicht vollziehen kannst, weil du nicht ihre Mutter oder Muttermutter bist", grummelte Himmelsglanz.
"Sie weiß von Neumondlied, wen wir in der Zaubererwelt kennen, Himmelsglanz."
"Das hattest du mir schon mitgeteilt. Aber was ist genau passiert?"
Sternennacht erzählte die ganze grausame Geschichte von der verfehlten Festnahme Ladonnas. Himmelsglanz sah sie mitfühlend an. "Sie hat euch genau dorthin gerufen, wo sie eine tödliche Falle aufgestellt hat. Das war mir in dem Moment klar, als sie sich unverhofft freimütig zu erkennen gegeben hat. Wie dem auch sei, Sternennacht. Ihr habt ihr nun offen den Tod angedroht. Sie hat keine Schwierigkeiten, Blutsverwandte zu töten. Ich erkenne dein Ansinnen an. Eure Blutlinie darf nicht erlöschen oder nur noch aus dieser verdorbenen Tochter bestehen. Der Rat der Ältesten wird befinden, wie ihr überleben sollt."
"Und wenn sie euch dann töten will?" fragte Sternennacht bange.
"Werden wir es sein, die sie erwarten und nicht dorthin gehen, wo sie uns erwartet. Außerdem kann sie sicher nur direkte Blutsverwandte aufspüren. Denn wenn sie andere von uns hätte aufspüren können, dann wäre sie von da, wo sie offenbar ihr finsteres Nest gebaut hat, erst zu meinen Töchtern und Enkeln in Frankreich gelangt", erwiderte Himmelsglanz. Ihr war anzusehen, dass diese Vorstellung ihr sichtlich zu schaffen machte.
"Unsere Kinder sollen sterben, weil wir mit dieser Missgeburt verwandt sind?" wollte Sternennacht wissen. Himmelsglanz schüttelte den Kopf. Sie verfiel in angestrengter Haltung. Dann sagte sie: "Deine überlebenden Kinder und Kindeskinder werden von uns hergebracht, im tiefen Schlaf. Nur du sollst wachen und versuchen, sie zu dir und damit uns hinzulocken, damit wir vollenden, was ihr ursprünglich vorhattet."
"Ihr wollt sie töten?" fragte Sternennacht. "Nein, bei Mokushas ewigem Schoß. Sie wird von uns in den unaufweckbaren Schlaf versenkt, damit sie nicht noch mehr Unheil anrichten kann.
"Und das Haus, wo wir sie trafen? Soll da jemand von den Zauberstabträgern hin?" wollte Sternennacht wissen. "Damit er oder sie da stirbt? Nein, Sternennacht. Dieses Haus ist unter einer bösen Wolke aus Schmerz und Tod verborgen. Dort werde ich niemanden mit feindlichen Absichten hinschicken. Aber wir werden den Zauberern mitteilen, dass es dieses finstere Nest gibt und was sie dort erwartet."
"Vielleicht hätten wir doch dieser Spinnenhexe ...", setzte Sternennacht an. "Erlauben sollen, dass eine mit Mokushas Blut in den Adern getötet wird?" stieß Himmelsglanz aus. "Nein, das können und dürfen wir nicht erlauben. Ich wundere mich sowieso, wie ihr so vom Wege abgekommen sein könnt, dieses Weib zu töten."
Dann werden meine Blutsverwandten alle hierher kommen um zu leben?" fragte Sternennacht leise. "Nein, um zu schlafen, bis wir diejenige hier haben, die eigentlich hier bleiben soll", sagte Himmelsglanz. Sternennacht nickte.
In der Höhle der Versammlung kniete sie vor der mächtigen Nachbildung Mokushas, der ersten Mutter, ihrer aller Quelle und Ziel. Sie weinte in den zwischen den Beinen des steinernen Denkmals herausströmenden Wasserlauf. Dabei horchte sie in die weiten der Seelen, wie die Kinder Mokushas jene den Raum überwindende Kraft nannten, durch die sie alle miteinander verbunden waren.
"Hallo Ricardo, hier Dottore Flavio. Ich habe den Auftrag erledigt, die haben eine Breitbandfunkanlage um ihr Haus gebaut, die alle Standardsignale überlagert und verfälscht. Deshalb konnte ich mit dir nicht sprechen", hörte Ricardo am späten Abend Dottore Flavios Stimme aus dem Telefon. Donna Gina hörte zu.
"Ich wollte schon los, um dir eine hübsche Urne auszusuchen, Dottore", erwiderte Ricardo.
"Ui, ich war doch nur eine Stunde ohne Verbindung", erwiderte die Stimme Dottore Flavios. "Na ja, und wo ich schon mal da war konnte ich gleich mit Signore Girandelli und seiner sehr attraktiven Herzensdame über das Geschäft reden, dass du ihnen vermitteln möchtest, um eine eigene Yacht zu kriegen. Wie gebeten habe ich dich als meinen Chef Don Emilio ausgegeben. Kannst du morgen noch zur Filiale nach Mailand? Da habe ich die zwei hinbestellt, um zehn Uhr abends."
"Ich kann hier nicht weg, wo ich bin. Die Geschäfte laufen irgendwie nicht mehr so recht. Da will ich das Ruder nicht wem anderem in die Hand drücken, du verstehst", erwiderte Ricardo. Andererseits sollte er die Gelegenheit nutzen, Girandelli und/oder seine neue Konkubine zu erwischen.
"Natürlich, verstehe ich. Aber diese Dame in Schwarz besteht auf ein Gespräch mit dem Geschäftsführer von Nautico Napolitano. Sie ist sozusagen Luigis Schatzmeisterin."
"Schatzmeisterin? Du meinst Finanzministerin", erwiderte Ricardo. "Genau sowas. Aber die wollen nur mit Don Emilio persönlich sprechen", erwiderte Flavio.
"Hast du denen etwa erzählt, wie ich aussehe?" fragte Ricardo argwöhnisch. Auch Donna Gina blickte alarmiert auf das auf Mithören gestellte Telefon.
"Natürlich nicht. Ich habe denen nur verraten, dass du gerne dunkelrote Anzüge und Pizza-Margarita-Krawatten trägst. Daran könnten sie dich erkennen."
"Und wie hoch liegt der Schnee auf dem Brenner?" wollte Ricardo wissen.
"Gerade einen Meter hoch, sagen die Nachrichten. Aber zum Brenner wollten die eh nicht."
"Dann sage denen, das Treffen kann stattfinden!" erwiderte Ricardo.
"Mach ich, Ricardo. Und schöne Grüße an Gloria!"
"Mach ich", erwiderte Ricardo. Dann trennte er die Verbindung. Jetzt war da nur das leise Summen in den Fensterscheiben und Wänden, wo eingebaute Vibratoren mögliche Richtmikrofonen das Lauschen verdarben.
"Welches Codewort war noch mal für eine Falle, Ricardo?" wollte Gina Venuti wissen.
"Also, wenn der Schnee auf dem Brenner unter einem Meter hoch liegt ist er gefangener und kann nicht frei reden. Liegt der Schnee zwischen einem und zwei Metern hoch, ist der Auftrag erledigt. Alles über zwei Meter heißt, dass er unverrichteter Dinge verschwinden musste und den Auftrag entweder später ausführt oder als undurchführbar vermeldet. Außerdem hat er Gloria grüßen lassen, was auch das für Erfolg vereinbarte Codewort ist. Wäre er in eine Falle geraten hätte er mich gebeten, Valeria zu grüßen", sagte Ricardo.
"Und du glaubst nicht, dass Flavio unter Drogen oder Folter all diese Codewörter preisgibt?" fragte Gina Venuti argwöhnisch.
"Genau das ist der Punkt. Wenn er ausgefragt wird und ein wenig Schmerzen abbekommen hat, rückt er damit raus, dass die Schneehöhe auf dem Brenner nicht über einen Meter sein darf, damit kein Argwohn entsteht und dass Giulia meine Braut ist und er Valeria sagen soll, wenn er bedrängt ist. Will sagen, alles außer Gloria wäre ein Hinweis auf eine Falle gewesen."."
"Ricardo, ich hoffe für uns beide, dass die nicht so umgekehrt denken können. Aber du bleibst auf jeden Fall hier, damit Hannibal ante Portas kein Reinfall wird", bestimmte Donna Gina.
Millie freute sich sehr über Julius' Valentinsgeschenk, einen Regenbogenstrauch, den er innerhalb des von prächtig heranwachsenden Apfelbäumen gebildeten Fünfecks gepflanzt hatte und der vorzugsweise Millies Lieblingsfarben Hellblau, Apfelgrün und Goldocker zeigen würde. Wie das ging hatten Camille Dusoleil und er in den letzten Tagen ausgeknobelt. Außerdem bekam sie eine kleine Tonne Lakritzschnecken und eine Packung Schokofrösche, die er extra aus seiner alten Heimat hatte herüberschicken lassen. Außerdem hatte er für sie und sich eine kleine Schachtel aus den Staaten einfliegen lassen. Als Millie diese öffnete blickte sie auf ein goldenes Herz mit zwei Ösen an der Spitze, durch die zwei Ketten gezogen waren. "Du bist ja wirklich süß, Monju. Gefallen dir unsere zwei roten Zuneigungsherzen nicht mehr?" fragte sie grinsend. Ihr Mann grinste zurück und antwortete: "Doch, die gefallen mir immer noch, zumal die ja viel für uns getan haben. Aber ich finde, dass wir jetzt doch die Version für anständig verheiratete Leute tragen dürfen. Britt hat mir das gestern noch gesagt, dass wir nur die bisher getragenen Herzen an das zusammengesetzte Teil halten sollen und mindestens einen Finger an die obere und untere Hälfte. Dann überträgt sich der Zauber von den roten auf die dann zwei goldenen Herzhälften. Wir müssen dann nur noch beide sagen, wann wir geheiratet haben. Dann schreibt sich der Hochzeitstag mit dem Jahr in die nach vorne zu tragende Seite ein. Sonst hätte ich dich nach der Geburt von Nummer drei gerne mit nach VDS genommen, um die beiden Goldherzen einzustimmen."
"Apropos Nummer drei", erwiderte Millie. Sie sah Julius an und schien zu überlegen, was sie nun sagen sollte. Julius fühlte über die Verbindung zwischen den erwähnten Roten Herzanhängern, dass sie nicht wusste, ob sie das jetzt sagen sollte oder besser nicht. Doch dann gab sie sich einen Ruck und legte sich die Hand auf den Unterbauch. "Nummer drei ist Clarimonde, Julius. Ich hoffe, du bist jetzt nicht enttäuscht wegen Ashtarias Vorgabe."
"Mamille. Ob wir jetzt auf Cygnus oder Clarimonde warten ist für mich nicht so wichtig wie, dass sie gesund heranwächst und dir und sich bei der Ankunft nicht zu viele Schmerzen verpasst. Und was Ashtaria angeht, ich habe bisher ohne einen Silberstern leben können und hoffe, dass ich auch die nächsten Jahre ohne dieses Schmuckstück auskommen kann", erwiderte Julius. Doch ganz so locker wie er sprach nahm er es doch nicht, fühlte Millie. Doch natürlich war es erst einmal unwichtig, ob das dritte gemeinsame Kind die dritte Tochter oder der erste Sohn war. Denn dieses kleine Wesen, was noch für einige Monate in Millies Gebärmutter leben musste, war ihr gemeinsames Kind, etwas von ihnen beiden und in jedem Fall einmaliges, auch wenn sie zwei größere Schwestern kriegte.
"Ich danke dir, dass du das so siehst, Monju. Ich hoffe nur, dass diese Ashtaria da nicht anders drüber denkt", antwortete Millie. Dann gab sie ihrem Mann einen Kuss.
"Julius, ich will dich nicht aus der erhabenen Stimmung eures Feiertages der Liebenden reißen", hörte er Létos Gedankenstimme in seinem Geist. "Aber ich möchte dich gerne noch heute sprechen, nicht in eurem Haus. Mir ist nicht nach körperlicher Wonne. Zumindest nicht im Moment", fügte sie noch hinzu.
"Ist Ladonna aufgetaucht, Léto?" fragte Julius zurück. "O ja, unüberhör- und unübersehbar. Sternennacht hat mich zwar gebeten, dich nicht in die Angelegenheit hineinzubitten. Aber erfahren solltest du doch, was geschehen ist."
"Hmm, ich möchte mir mit meiner Frau einen schönen Abend machen, zumal wir jetzt auch wissen, wer unser drittes Kind sein wird. Aber du kannst gerne morgen in mein Büro kommen, sofern keine Gefahr im Verzug besteht."
"Sagen wir es so, du kannst im Moment nichts ausrichten. Ich denke auch, dass die Wiedergekehrte im Moment eher damit zu tun hat, sich gegen ihre Blutsverwandtschaft zu wehren und euch Zauberstabträger noch in Ruhe lässt. In eure Ansiedlung kommt sie auch nicht hinein. Gut, ich spreche morgen bei dir vor", erwiderte Léto.
"War das Temmie oder Catherine, Julius?" fragte Millie ein wenig verdrossen. "Nein, Léto. Offenbar hat die Dame mit den schwarzen Haaren was mit ihren Blutsverwandten angestellt, was Léto beunruhigt. Aber sie meinte, dass wir uns doch einen schönen Abend machen sollen", erwiderte ihr Mann.
"Die ist auch eine für sich, diese überhübsche Großmutter", knurrte Millie. "Die weiß doch sicher von ihren Schwiegerverwandten, was heute für ein Tag ist, beim Bart von Belenus!" Julius nickte. Er sagte schnell, dass Léto ihn morgen im Büro besuchen würde. Millie beruhigte das nur unwesentlich. Offenbar dachte sie wieder daran, dass die Matriarchin aller in Frankreich lebenden Veelastämmigen Julius immer noch als Vater weiterer Kinder auswählen mochte und er sich wegen ihrer magischen Verbindung nicht ausreichend dagegen wehren konnte. Aber laut sagen wollte Millie das nicht. Sie hatte schon genug andere schwangerschaftsbezogenen Anwandlungen. Paranoia musste da echt nicht noch bei sein.
Julius schaffte es, sich von Létos Anruf aus der Ferne abzulenken und mit seiner Frau den erhofften schönen langen Abend zu erleben. Dazu gehörte auch, dass sie aussuchten, wo die dritte Tochter ihr eigenes Zimmer haben konnte. Dafür sollte das auf dem dritten Stock freie Gästezimmer in Südrichtung bereitgemacht werden.
In der Nacht träumte Julius von jener Szene, wie er Ascanius Eauvive gewesen war und die ersten Schuljahre in der Geschichte von Beauxbatons mitbekommen hatte. Der Sohn der Gründungsmutter Viviane Eauvive hatte sich trotz der strickten Geschlechtertrennung in Clarimonde Delourdes verliebt, sie nach der Schule geheiratet und mit ihr drei Söhne und zwei Töchter in die Welt gesetzt. Von einem dieser Söhne stammte er in einer ununterbrochenen Blutlinie ab, auch wenn nach Megan Bakersfield lange keine magischen Familien dabei waren. Als er wieder aufwachte war es schon halb sechs am Morgen. Seine Frau schlief noch. Vor dem gemeinsamen Bett stand noch das kleine Kinderbett, in dem Chrysope schlief. Im Frühling wollten Millie und Julius ihr das Zimmer neben dem Aurores als eigenes Reich geben.
"Aye, Captain Rick, ich schicke meinen ersten Maat zu diesem Treffen. Ihr habt auch Glück, dass ich noch einen ganzen Schrank mit diesen grün-weiß-roten Schlipsen voll habe", sprach Salvatore, ein begeisterter Fan von U-Booten und allen wahren und erfundenen Geschichten, die sich um diese Fahrzeuge drehten. Deshalb liebte er es, sich zwischendurch mal in seemännischen Begriffen auszudrücken.
"Dein Maat kennt mich nicht und weiß auch nichts von unserer gemeinsamen Bekannten? Das ist nämlich verdammt wichtig", erwiderte sein Gesprächspartner.
"Du meinst, wenn der in ein Minenfeld reinschippert, Captain Rick? Neh, da habe ich immer drauf geachtet, dass alle Logbücher gut verschlossen waren. Der kennt nur seinen Heimathafen und mich. Tja, und der liegt nicht in meinen eigenen Hoheitsgewässern. Wenn der torpediert wird kann ich im Notfall ganz schnell abtauchen und wie die "Roter Oktober" lautlos davonziehen, ohne Kielwasser zu hinterlassen."
"Apropos, hast du die "Nautilus" jetzt nachgebaut?" wollte Ricardo wissen.
"Aye, Captain. War zwar nicht einfach, die Beschreibungen von Verne umzusetzen. Aber jetzt hängt Nemos Stolz neben dem gelben U-Boot im Gästebad."
"Dann ist alles klar, Salvatore. Ich schicke dir alles gleich über unsere drei Staffelserver in drei verschiedenen Mails. Zusammenfügen und dann entschlüsseln kennst du ja schon."
"So wie ich das Morsealphabet kenne", erwiderte Salvatore. Dann beendete er das über Zerhacker geführte Telefongespräch.
Eine halbe stunde später hatte er seinen findigen Vertrauten mit den Einzelheiten der heiklen Operation versorgt. Er sollte prüfen, ob wirklich die beiden Leute von den per Mail gesendeten Fotos vorsprachen. Falls ja sollte er sie mit einem ganz besonderen Bürogegenstand reisefreundlich stimmen und dann abtransportieren lassen. Wohin die Reise ging brauchte Salvatores Helfer nicht zu wissen. "Und falls die uns torpedieren wollen, hisst du die rote Flagge und siehst zu, dass bei den Gegnern die Luken zufallen und die Maschinen ausgehen, damit du in den Wind schießen kannst, ohne von denen noch aus dem Wasser gepustet zu werden."
"Geht klar, Capitano", erwiderte Salvatores Helfer, der außer der Adresse auch nur den Namen Capitano Adriano kannte.
Léto stellte sich kurz nach Beginn seines Arbeitstages bei Julius im Büro ein. Er schirmte sich schon fast beiläufig mit dem Lied des inneren Friedens gegen ihre Veela-Ausstrahlung ab. "Sternennacht ist wütend, traurig und hat eine Angst, als wenn der Vater aller dunklen Geister selbst ihr nachstelle, Julius", begann Léto. Dann erwähnte sie, dass Julius nichts davon für die Akten mitschreiben sollte. Erst als er ihr das feierlich schwor berichtete sie, was Sternennacht ihr und den anderen vom Ältestenrat erzählt hatte. Julius erbleichte, als er hörte, wie Ladonna Montefiori ihre eigenen Blutsverwandten erledigt hatte. Als er von einem magischen Nebel hörte, der jeden Feind, der in ihn eindrang von innen her verbrennen ließ, auch die sonst gegen Feuerzauber gefeiten Veelas, wusste er, warum Léto nicht wollte, dass er das aufschrieb. Er dachte an eine schwarzmagische Entsprechung jenes Zaubers, den er zusammen mit Camille und Millie gewirkt hatte, um Aurore zu schützen und dabei eher unbeabsichtigt eine starke, weißmagische Aura um das Apfelhaus gelegt hatte. Auch kannte er einen dunklen Nebel, den Feindfressernebel. Der ließ Feinde bei lebendigem Leibe innerhalb von Sekunden verwesen, wenn keiner schnell genug den Antiscotergia-Zauber wirkte, der dunkle Flächenzauber auflösen konnte.
"Vielleicht könnte ich mit dem Dorfrat von Millemerveilles klären, dass Sternennachts überlebende Verwandte bei uns wohnen, nicht im Apfelhaus, aber unter der Schutzglocke Sardonias. Da kommt auch eine Ladonna Montefiori nicht durch", bot Julius an.
"Nein, das wollen sie nicht. Die wollen sich nicht unter den Schutz von euch Zauberstabträgern stellen. Du weißt, dass wir ein sehr altes, mächtiges und auch stolzes Volk sind. Deshalb wollte sie auch nicht, dass ich dir erzähle, in welches Unglück sie ihre Verwandten hineingetrieben hat."
"Nichts für ungut, aber dass Ladonna laut dem Tagebuch, das Catherine Brickston übersetzt hat ihre eigene Schwester getötet hat habe ich erzählt, oder?"
"Ja, und der Tod von Sternennachts Verwandter aus Bulgarien hat ihr das wieder sehr deutlich gemacht. Aber sie wollte unbedingt ihre Strafe vollstrecken. Doch solange wir nicht wissen, wie dieser böse Nebel gerufen wurde und was diesen erhält, will ich auch nicht, dass du oder sonst jemand von einem Zaubereiministerium da reingeht. Ich hoffe sehr, dass du mich verstanden hast."
"Solange keiner weiß, was für ein Zauber das ist geht da keiner rein", sagte Julius. Er dachte schon daran, ob Incantivacuum-Kristalle, die ja erst seit 150 Jahren bekannt waren, oder der altaxarroische Fluchumkehrer diesem Nebel nicht beikommen könnten. Dann fiel ihm jedoch ein, dass Incantivacuum-Kristalle nur eine Kugelzone von 24 Metern Durchmesser von Flächenzaubern oder Gegenstandsbezauberungen freibliesen und der Fluchumkehrer auch nur eine kleine räumliche Zone ausfüllen konnte. Zu gut erinnerte er sich noch an die Party bei den Sterlings und dass er den Hassdom um Ryan Sterlings Haus nur mit dem Fluchumkehrer sprengen konnte, weil Adrian Moonriver und Camille Dusoleil gleichzeitig die Kraftformel ihrer Heilssterne ausgerufen und Adrian ihm seinen an den Rücken gedrückt hatte.
"Ich gehe davon aus, dass Ladonna außerhalb dieser Schutzzone besiegt werden kann. Dann müssen wir eben warten, bis die Maus das Loch verlässt", grummelte Julius. Léto stimmte ihm zu.
Am Abend des 15. Februars begab sich ein Mann in einem dunkelroten Anzug mit einer grün-weiß-roten Krawatte zu der angegebenen Adresse in Mailand. Er führte einen Führerschein auf den Namen Emilio Bigottini mit sich und auch ein Inlandsflugticket auf denselben Namen von Palermo nach Mailand. Er besaß sogar eine Schlüsselkarte für die Eingangstür und für den Bürotrakt. Als er sich ganz legal Zugang zum leeren Haus in der Nähe des Doms verschafft hatte betrat der Mann, der sich als Don Emilio ausgeben sollte das Büro und knipste das Licht an. Es war eine halbe Stunde vor zehn Uhr. "Entschuldigung, Dottore Righera, hier ist Emilio!" rief er über den Flur. Doch es kam keine Antwort. Dann würde der Mensch, den Salvatore ihm angekündigt hatte noch kommen, zusammen mit den beiden Personen, mit denen er sich hier treffen sollte. Der Mann im roten Anzug öffnete die Aktentasche. Er hantierte mit Tintenfüller und einigen anderen scheinbar harmlosen Schreibutensilien herum. Dann setzte er sich hin, bereit für den Auftrag.
Punkt zehn Uhr Abends tönte die Türglocke. Der Mann mit der grün-weiß-roten Krawatte nahm den Hörer für die Sprechanlage und drückte auch eine Taste, die einen kleinen Flüssigkristallbildschirm erhellte. Doch darauf war niemand zu sehen. "Wer ist da bitte?"
"Hier ist Dottore Righera von der Reederei Mare Nostro. Don Emilio Bigottini?"
"Eben jener. Treten Sie bitte mal ganz vor die Tür, damit ich sehen kann, ob Sie dem mir zugesandtenBild entsprechen."
"Ich stehe doch vor der Tür", hörte er die Antwort des anderen. Doch er sah echt niemanden. Allerdings war da ein merkwürdiges Flimmern, wie bei alten Fernsehgeräten, wenn sie keinen Empfang hatten oder der Sender von Hochhäusern abgeblockt wurde.
"Dann treten Sie bitte mal einen Schritt nach links!" sagte der Mann mit der grün-weiß-roten Krawatte. "ich denke, das kleine Fernsehauge da ist kaputt", hörte er nach einer Sekunde die Stimme des Besuchers. "Eigentlich nicht, ich sehe die Straße, die vorbeifahrenden Autos und auch die Leute, die vorübergehen. ich wusste nicht, dass Sie mittlerweile ein Geist sind, Dottore", scherzte der Mann, der sich hier Don Emilio Bigottini nannte.
"Dann wäre ich ja zwei Stunden zu früh dran", trieb der späte Besucher den Scherz weiter. "Ich habe hier eine Besucherin. Die will erst an die Tür, wenn alles sicher ist. Hat wohl irgendwie Angst, verhaftet oder gleich umgebracht zu werden. Darf ich also rein oder nicht?"
"Dann Sagen Sie ihrer Begleiterin bitte, dass sie kurz vor die Tür treten möchte."
"Die Tür ist zu massiv. Die können wir durch Davortreten nicht aufkriegen", hörte der Mann im Büro die andere Stimme weiterscherzen. Was sollte er jetzt machen. Seine Anweisung war klar, dass er den Dottore und einen von zwei per Foto mitgeteiltten Leuten reinlassen sollte und sonst keinen. Und dass die Kamera kaputt war stimmte nicht. Irgendwas anderes stimmte da nicht. Der Typ vor der Tür hatte auch so merkwürdig kühl geklungen, als er sich wie befohlen vorgestellt hatte. Einfach den Türöffner drücken ließ er auf jeden Fall bleiben. Er wusste zwar nicht, was in diesem Haus alles war. Aber Leute, die keine Kamera aufnehmen konnte, waren suspekt.
"Wird das heute noch mal was?" fragte die Stimme aus der Sprechanlage. Wer da reinsprach musste vor der Kamera stehen und zu sehen sein, verdammt noch mal.
"Wo ist Ihre Begleitung genau, bitte?" Darauf kam erst keine Antwort. Der Mann im Büro erkannte mit einem durch jahrelanges Training im Sumpf der illegalen Geschäfte, dass er gerade in großer Gefahr schwebte. Als dann ein lautes Ploppen direkt hinter ihm erklang und eine glockenreine Stimme "Hier bin ich!" rief sprang er schon auf und fuhr herum. Da stand eine Frau, aber was für eine. Er erkannte ihr Gesicht. Das war das, was er erwartet hatte. Doch diese Ausstrahlung von ihr, ihre makellose Figur, die von dem langen schwarzen Kleid sehr sanft umspielt wurde. So sah eine dunkle Göttin aus den Fantasy-Geschichten aus. Auch wenn er dieses Frauenzimmer da gerade zu vergöttern anfing piesackte ihn sein Gefahreninstinkt, dass die da vor ihm gefährlich war. Und dass die da vor ihm aus dem Nichts heraus, aber zumindest ohne eine Tür zu öffnen hinter ihm aufgetaucht war, bewies, dass die da vor ihm verdammt gefährlich war. Er riss den bereits scharfgemachten Füller hoch und drückte einen nicht aus mehr als einem Meter Abstand sichtbaren Knopf ein. Dann drückte er einen zweiten nieder und hielt die Luft an. Es zischte laut. Da flirrte um die andere ein rubinrotes Licht, das ihre Gestalt umschloss. Funken stoben, als die ersten Schwaden des aus der Hochdruckpatrone entweichenden Betäubungsgases an dieser Aura verbrannten.
"Ich habe mir schon sowas gedacht, Bürschchen. Deine Stimme passte nämlich nicht zu der, die ich gestern abend in Flavios Tragbarfernsprecherchen gehört habe. Hat dein Auftraggeber doch gemeint, er würde hier in eine Falle laufen? Ach, du kannst ja im Moment nichts sagen, weil du dann deinen eigenen Giftbrodem einatmen müsstest", feixte sie. Dann zog die aus ihrem vom rubinroten Strahlenkranz und den daran wie winzige Feuerbälle abbrennenden Gas erleuchtet einen Holzstab und hielt ihn gerade so, dass er nicht aus dem flirrenden und flammenden Spektakel herauslugte. "Expelliarmus!" Ein scharlachroter Blitz, der eine bläuliche Funkenschleppe hinter sich herzog hieb dem Mann mit der grün-weiß-roten Krawatte den immer noch laut zischenden Füller aus der Hand. Dann ließ sie den noch aus dem freien Flug heraus verschwinden. Mit einem schnellen Schlenker ließ sie aus dem Nichts frische Luft in das Büro einströmen. Dann erlosch die rubinrote Aura um ihren Körper.
"So, du kannst wieder ungefährdet Luft holen und dann deiner neuen Herrin erzählen, was Don Ricardo und du im Schilde führt."
"Vergiss es, Hexe!" brüllte der Mann. Jetzt begriff er, warum die andere mit einer Männerstimme gesprochen hatte. Aber die Kamera hatte kein Bild von ihr aufnehmen können, weil sie eine Hexe war, eine Dienerin des Teufels.
"Schnelle Auffassungsgabe oder immer noch bestehende Grundablehnung wahrer Macht? Na ja, völlig unwichtig. Wichtig ist, dass du mir jetzt erzählst, wer du wirklich bist und von wem du beauftragt wurdest."
Der ertappte Handlanger schaltete schnell. Er musste die andere solange wie möglich hinhalten, damit sein Kapitän den Abflug schaffte. So fing er damit an, dass er Don Emilio Bigotini sei und von einem Geschäftspartner aus Palermo beauftragt worden sei, hier mit drei Leuten zusammenzutreffen, um eine Yacht zu verkaufen. Doch das kaufte ihm die andere nicht ab. Sie versetzte wütend, dass sie darauf gefasst gewesen war, mit Ricardo zusammenzutreffen, einem Untergebenen einer ihr offenbar langsam lästig werdenden Dame, Donna Anna. Doch der Handlanger kannte keine Donna Anna und auch keinen Ricardo. Die andere sah es ihm wohl an, dass er die Wahrheit sprach. Sie wollte dann noch wissen, was er denn hätte tun sollen, wenn alles in Ordnung gewesen wäre, schließlich sei das ja jetzt auch unwichtig. Er erzählte über eine volle Minute hinweg, dass wenige Blocks weiter weg ein Krankenwagen und zwei Sanitäter standen, um die erwarteten Gäste abzuholen und nannte sogar eine Position. Doch die war erlogen. Irgendwie merkte die Hexe das und schnarrte, dass er gleich Höllenqualen leiden würde, wenn er weiterlüge. Darauf sagte er nun ganz entschlossen:
"Mein Auftraggeber hat sich sicher schon verdünnisiert, weil der kleine Füller nicht nur ein Gas absprüht, sondern auch ein kleiner Sender ist. Ich habe die Einstellung Rot gedrückt, was heißt, dass ich aufgeflogen bin. Das wird auch kein weiteres Hexenkunststück von dir wieder umkehren, zumal du so dämlich warst, den Füller wegzuzaubern, womit das Sendesignal verstummt ist und somit niemand mehr glaubt, dass es mir gut geht."
"Ja, ist mir bewusst. Aber wenn ihr so gerne Katz und Maus mit mir spielt solltet ihr auch wissen, dass wenn die Katz' den Schwanz von der Maus gepackt hat, die Maus vorne dranhängt, egal, wie tief sie sich in ihrem Loch verkriecht."
"Wir spielen lieber Schlange und Eidechse", sagte der Mann mit der Krawatte. Er bemühte sich, der anderen nicht in die Augen zu sehen. Am Ende hypnotisierte die da vor ihm ihn noch oder konnte so seine Gedanken lesen wie Königin Galadriel.
"Ach, du meinst, wenn die Schlange einmal den Schwanz einer Eidechse zu fassen bekommt, wirft die Eidechse den Schwanz ab und verschwindet? Dann ist die Frage, ob du der Schwanz oder die Eidechse bist."
"Frag das deinen Herrn und Meister Luzifer, oder heißt der für euch Hexen Asmodis oder Diabolus?"
"Ich frage mich, wie viele Jahrhunderte vergehen müssen, dass ihr diesen völlig hirnrissigen Schwachsinn nicht mehr glaubt, dass Hexen diesem aufrecht gehenden Ziegenbock dienen. Aber lassen wir das! Ah, du mieser kleiner Eidechsenschwanz willst mich hinhalten, damit die wahre Eidechse weit genug weglaufen kann, wie? Stupor!"
"Mist, der ist aufgeflogen, Ricardo. Ich jage den Ausweichhafen in die Luft und bin weg, bevor die ersten Wabos kommen", hörte Ricardo über die verschlüsselte Telefonleitung Salvatores erregte Stimme. Ricardos Armbanduhr zeigte 22:00:30 Uhr. "Alles klar, Captain Nemo", stieß Donna Ginas oberster Leibgardist aus. Er trennte die Verbindung sofort. Wenn Salvatore auf das Alarmsignal aus Mailand wirklich schnell reagierte zerstörte der gerade die ganze Technik seines Bürohauses. Womöglich machte er auch, dass der erste feindliche Eindringling eine Sprengfalle auslöste. Mehr wusste Ricardo nicht.
Zu gerne wollte Ricardo Donna Gina über diese doch sehr betrübliche Wendung informieren. Doch sie saß mit zwanzig Gästen in ihrem gegen alle Formen von Belauschung abgeschirmten Konferenzzimmer, das zur Not auch als Bunker benutzt werden konnte. Er konnte zwar klingeln, durfte das aber nur im direkten Gefahrenfall.
Wie ein Tiger im Käfig ging er in seiner Kommandozentrale auf und ab. Über die zehn Monitore hatte er eine Rundumsicht über das Grundstück. Im Bedarfsfall konnte er noch zehn weitere Kameras zuschalten, um neuralgische Punkte wie denZugang zum Abwassersystem oder den Generatorraum zu überwachen. Die zehn silbernen und hellgetönten Limousinen standen auf dem ummauertenParkplatz, der nur durch ein gesichertes Tor von außen oder einen mit Schlüsselkarte bedienbaren Aufzug von unten her zu erreichen war. Die Chauffeure saßen in den Wagen und hörten wohl Musik oder sahen sich was im Internet an. Zusätzlich hatte Ricardo mehrere Bedienstete auf der Grundstücksmauer postiert und Selbstschussanlagen scharfgeschaltet, die nach außen feuern sollten, wenn Feinde anrückten. Im Innenhof der auf altrömischen Landsitz ausgelegten Villa standen sogar Flugabwehrgeschütze, die unerwünschte Hubschrauber und Drohnen bis in zweitausend Metern Höhe abschießen konnten. Alle sich tunlichst unsichtbar haltenden Wachposten trugen MPs und je zwei 9-Millimeter-Pistolen, sowie rasiermesserscharfe Kampfdolche bei sich. Falls Feinde in gepanzerten Fahrzeugen anrückten konnten zudem auch Handgranaten und Panzerfäuste ausgegeben werden. Doch davon durften die Gäste nichts wissen. Denen wurde nur zu ihren eigenen Leibwachen eine Wache zugeordnet, die den unmissverständlichen Befehl hatte, Donna Ginas Leben zu verteidigen. Es sollte keinem was bringen, zuerst zu schießen.
Um halb elf Uhr abends läutete das Telefon. Donna Gina hatte die klare Order erteilt, dass alle Anrufe erst mal zu ihm durchgestellt werden sollten. Außerdem hatte er ein Gerät, dass ermitteln konnte, von wo der Anruf kam oder gleich die betreffende Telefonnummer anzeigte. Ein angeschlossener Rechner konnte den Anruf dann auch gleich auf einer elektronischen Karte zeigen, die mit einem Videoprojektor auf eine blütenweiße Leinwand geworfen wurde. So konnte Ricardo sehen, dass der Anruf von einer Nummer aus Mailand kam, und zwar von da, wo vorhin Dottore Flavio mit den beiden Gästen eintreffen sollte. Wussten die Gegner vielleicht noch nicht, dass ihre Falle weitergemeldet worden war? Doch gemäß Donna Ginas Order, nur Anrufe von auf einer Liste stehenden Nummern direkt anzunehmen ließ Ricardo den Anrufbeantworter anspringen. Nach dem Piepton erklang die Stimme Dottore Flavios.
"Hier Dottore Flavio. Treffen kam nicht zu Stande, weil unbefugte Person am Treffpunkt aufgetaucht. Geschäft geplatzt, Regressansprüche nicht ausgeschlossen. Ende!" Also hing dieser Kerl mit drin", dachte Ricardo. Aber dann wusste die Gegenseite auch, dass Donna Gina ihn losgeschickt hatte. Dabei hatten sie gehofft, dass Girandelli und seine Leute nicht wussten, wer eigentlich die Fäden in der Handhielt. Jetzt erkannte Ricardo, welchen Kardinalfehler er begangen hatte. Er hätte nicht den sonst so zuverlässigen Dottore Flavio losschicken dürfen, der ihn und Donna Gina kannte, sondern über mehr als vier Zwischenstellen einen gut bezahlten Greifertrupp hinschicken sollen, deren Führer nur die ihm nächste Kommandoebene kannte, aber alle anderen die nächsthöheren nur mit Decknamen und Scheinadressen kannten. Dann hieß das jetzt, dass Donna Gina in der Schusslinie stand. Sie musste in Sicherheit gebracht werden. Auch wenn das Haus gerade eine waffenstarrende Trutzburg war saß sie hier doch zu sehr auf dem Präsentierteller. Doch sollte er jetzt Alarmstufe Rot geben oder erst warten, bis die fünf Capi der wichtigsten Familien mit ihrem Anhang wieder losgefahren waren? Am Ende war einer von denen mit diesem Girandelli und dessen Bettgenossin verbündet. Vielleicht fand Donna Gina das sogar heraus.
Der einsame Wächter, so kam sich Ricardo vor, als er in die nur vom Arbeitssummen der elektronischen Geräte übertönten Stille lauschte. Wie früher, wo ein Nachtwächter durch die Gassen der Stadt zu patrouillieren hatte oder ein Türmer vom Kirchturm aus die Stadt zu überblicken hatte, um jedes ausbrechende Feuer zu erspähen oder das Nahen von Feinden zu melden. Ricardo musste was tun, um nicht in seinen Sorgen zu ertrinken. Er forderte Lagemeldungen von den im Haus und um das Haus verteilten Wachen an. Keiner hatte was gesehen oder gehört, was zur Beunruhigung Anlass gab. Nur der Chauffeur im Mercedes von Don Gaetano di Lorenzo war wohl zur Musik von Eros Ramazotti eingeschlafen, vermeldete ein Außenposten mit schwenkbarem Richtmikrofon.
"Stimmt, zu dem seiner Mucke kann man echt nur schlafen oder kübeln. Aber die Mädels stehen drauf", kommentierte einer der anderen Wächter auf der Mauer.
"Hier die Küche. Bekam eben noch die Bestellung für zwei Flaschen Chianti und für Don Rafael noch was von den Scampi. Schickt wen rüber, der es abholt!"
"Kein Problem", sagte Ricardo und schickte seinen Kollegen Bonzo, der auch ausgebildeter Kellner war. Eigentlich war dies die passende Gelegenheit, Donna Gina über Flavios Anruf zu unterrichten. So schrieb er schnell den Wortlaut von Flavios Nachricht auf und schaltete den Alarmmelder auf seinen Pieper. Dann verließ er den Überwachungsraum. Eigentlich musste er ihn nicht verschließen. Doch uneigentlich galt der Plan Hannibal ante Portas, und da mussten alle unbesetzten, sicherheitswichtigen Räume verschlossen gehalten werden.
Unterwegs traf Ricardo Bonzo in der weißen Kellnerjacke, der bereits ein Tablett mit den bestellten Köstlichkeiten vor sich hertrug.
"Hier, in dem kleinen Umschlag ist was für die Donna persönlich. Vielleicht möchte sie darauf was erwidern. Also auf linke Hand mit gekreuzten Fingern achten", raunte Ricardo. Dann standen beide vor der äußeren der beiden massiven Stahltüren im Kellergeschoss der Venuti-Villa. Bonzo drückte zweimal kurz und einmal lang auf den Klingelknopf, das Zeichen für eine Lieferung aus der Küche. Keine Reaktion.
"Moment mal. Die haben vor nur gerade mal zwei Minuten bestellt", wunderte sich Bonzo, der das Tablett noch sicher ausbalancierte. Ricardo drückte noch mal auf den Klingelknopf. Als nach der Wiederholung des festgelegten Klingelzeichens immer noch niemand die Türen entriegelte drückte Ricardo aus einer dunklen Eingebung heraus den Klingelknopf fünfmal kurz hintereinander, pausierte fünf Sekunden und drückte noch einmal fünfmal kurz auf den Knopf. Das hieß "Dringende Mitteilung." Wieder reagierte niemand. Ricardo blickte die von außen wie eine edle Eichenholztür wirkende Tür an, als könne er bei ausreichender Konzentration hindurchspähen wie mit Röntgenaugen. Doch er hatte keine Röntgenaugen. Die Tür blieb für ihn undurchsichtig. Weil dieser Raum unabhörbar sein sollte gab es zur Verständigung mit der Küche nur ein Texteingabe- und -ausgabegerät. Dieses wurde auch solange wie es nicht gebraucht wurde in einem verschliessbaren Metallschrank eingeschlossen. Doch vielleicht konnte von der Küche aus Kontakt mit dem Lausch- und Bombensicheren Konferenzraum aufgenommen werden.
"Die hätten doch gleich nach der Bestellung reagieren müssen, als ich geklingelt habe", sagte Bonzo, als Ricardo ihn anwies, das Tablett auf dem Beistelltisch abzusetzen.
"Sollen wir nicht gleich rein, Ricardo?"
"Wenn die drei Furien im Schleusenraum auf ihrem Posten sind wird jedes unbefugte Türöffnen als Angriff gewertet. Ich habe keine Lust, mich von Valeria, Diana oder Lucia über den Haufen schießen zu lassen."
"Haben die keine Sprechanlage nach draußen?"
"Nur wenn die von Donna Gina bereitgeschaltet wird. Wenn ich die Überschreibfunktion auswählen will muss ich erst Alarm geben. Selbes gilt auch für die Schlüsselkarte zur Tür, wenn Donna Gina im Konferenzsaal die Innenverriegelungen eingeschaltet hat. Die sollen da drinnen ja nicht von einer Armee niedergemacht werden können."
"Soll ich dann hierbleiben?" fragte Bonzo. Ricardo nickte und eilte dann erst mal zur Überwachungszentrale. Er wollte schnell nachprüfen, wann die beiden schweren Servotüren für den Konferenzraum zuletzt geöffnet worden waren. Schnell aber nicht hastig steckte er die Schlüsselkarte in den Leseschlitz. Darauf ging mit leisem Surren eine Verblendung auf, hinter der eine kleine Tastatur verborgen war. Ricardo tippte die für heute festgelegte Identifikationsnummer ein. Jetzt klackten die elektronischen Verriegelungen in der schweren Tür. Leise summend glitt sie auf.
Während Ricardo und Bonzo in Sorge um die Konferenzteilnehmer waren spielte sich im Lausch- und bombensicheren Verhandlungssaal folgendes ab.
"Valeria, da kommt gleich eine Bestellung für uns, Scampi und Chianti", sagte Donna Gina einer ihrer Leibwächterinnen, die im Zwischenraum zwischen den Türen postiert waren. "Kann noch zwei Minuten dauern", fügte sie hinzu und ließ die Tür wieder zufahren. "Wo waren wir stehengeblieben, Don Gaetano?"
"Dabei, dass wir unsere Anlagen auf der kleinen Sparkasse deines Schwiegerneffens verloren haben", sagte der Capo des Bertucci-Clans. "Keiner hier findet das spaßig, mal eben mehrere Millionen Euro in Rauch aufgehen zu sehen."
"Gut, hatten wir schon ein paar mal heute. Ich weiß nicht, wo mein Schwiegerneffe mit seiner Frau abgeblieben ist. Denn das wüsste ich auch zu gerne. Als Rudolfo Ponti dazu von meinen Leuten befragt werden sollte ist der ganz schnell und ohne eine Spur untergetaucht. Der hat das also schon längst vorbereitet, ohne dass mein Schwiegerneffe das mitbekam. Ich habe euch seine Beschreibung gefaxt, seine Privatadresse in Florenz mitgeteilt und alles, was mir zu dem einfiel. Meine Leute haben sein Haus gefilzt, Ergebnis: Null, nix, überhaupt nix."
"Dann möchte ich gerne wissen, wer das Haus dieses Girandelli haben will. Damit hat die ganze verflixte Sache doch angefangen", wandte der Capo einer anderen sehr mächtigen Familie ein. Da ploppte es laut wie ein großer Sektkorken. Alle starrten auf die Tischmitte. Donna Gina verschlug es den Atem, als sie sah, das da jemand ganz urplötzlich auf diesem mit feinen Leinen gedeckten Tisch stand wie auf einer Bühne. Außerdem erkannte sie die Person, die sich das gerade herausnahm. Doch bevor sie rufen oder was sagen konnte erklang ein lauter Ruf: "Sensofugato!" Dann wurden sämtliche Leute im Raum von einem grellen Blitz und einem Schlag wie von unsichtbarer Faust betäubt. Selbst die auf schnelle Angriffe trainierten Leibwächter konnten ihre Waffen gerade zur Hälfte freiziehen.
Ladonna Montefiori hatte die Fachsen Dick. Nachdem sie erst diesen Laufburschen mit dem grün-weiß-roten Halsschmuck verhört hatte war sie gleich losgezogen, um diesen Salvatore zu vernehmen. Doch statt ihn fand sie in seinem Haus nur mit Bewegungsmeldern gespickte Sprengkörper und ausströmendes Wasserstoffgas. Dem entging sie nur, weil sie erst das Haus von außen mit dem Mentijectus-Zauber untersucht hatte. Salvatore selbst war sehr schnell verschwunden. Sein Laufbursche hatte was von einem abfahrbereiten Miniatur-Unterseeboot zu berichten gewusst. Doch das Ding war offenbar nicht mehr da. Dann blieb ihr nur noch eines, die Schlange direkt am Kopf anzugreifen, und zwar so, dass sie ihr kein Gift in den Leib treiben konnte.
Erst hatte sie sich in die Nähe der von Flavio Righera bekannten Adresse begeben. Dann hatte sie sich unsichtbar gemacht und war in ihrer Tiergestalt losgeflogen, um die Lage zu erkunden. Wahrhaftig ähnelte das Anwesen der Donna Regina Beatrice Venuti einer Festung. Aus den Laura Roselli entrissenen Erinnerungen wusste sie, wie das Haus von innen beschaffen war. Sie gewahrte auch die Leibwachen, die mit diesen neumodischen Feuerwaffen auf der Mauer und an allen Zugängen postiert waren. Nach drei Überflügen landete sie außerhalb der Umfriedung, wobei sie darauf achtete, nicht in den Erfassungsbereich einer Kamera zu geraten. Von Rose Britignier wusste sie, was Infrarotkameras waren. Sie wollte nicht riskieren, dass die Wärme ihres Körpers ein verräterisches Bild schuf.
Aus sicherer Entfernung untersuchte sie nun das Hausinnere mit dem Erkundungszauber Mentijectus. Dabei fand sie zwanzig Personen in einem großen Raum, dessen Wände so dick und mit metallhaltigem Zeug gefüllt waren, dass sie fast nicht hindurchgeguckt hätte. Als sie jedoch die wichtig aussehende Frau im langen violetten Kleid sah wusste sie, dass dies die gesuchte Donna Regina Beatrice Venuti war. Sie schätzte so genau sie konnte Richtung und Entfernung ab. Da sie dem Apparieren bei errichteter Unsichtbarkeit nicht über den Weg traute flog sie erst einmal einige hundert Meter weit zurück und nahm hinter einem Busch Deckung. Dann wurde sie wieder sichtbar. Gekonnt wie seit Jahren wechselte sie so leise wie möglich von ihrem Standort direkt auf den großen runden Tisch im Konferenzraum. Sie kannte das, dass Mogglinos einen plötzlich in einem verschlossenen Raum auftauchenden Apparator erst eine Sekunde lang ansehen mussten, bevor sie was unternahmen. So konnte sie schnell den bis auf Rufweite wirkenden Betäubungszauber Sensofugato wirken. Im Widerschein des grellen Blitzes sah sie, wie alle Anwesenden umfielen oder mit den Oberkörpern auf den Tisch sanken. Sie wusste, dass sie nur eine Minute Zeit hatte, um alles zu erledigen. Die hier postierten Leibgardisten hatten sogar schon ihre Waffen freigezogen. Diese entfielen ihnen aber. Ladonna zielte schnell auf die Tür und rief: "Colloportus!" Knarzend verschmolz die Tür mit ihrem Rahmen. Dann hob sie die linke Hand. "Ignis invictus!" murmelte sie. Zwei rubinrote Lichtstrahlen traten aus den Rubinrosen auf ihrem Ring. Zwei der Männer im Raum glühten im selben Licht und vergingen ohne weitere Anzeichen. Sie zielte auf zwei weitere Männer, die auch zur Leibgarde gehörten. Die waren von den Schutzbefohlenen zu unterscheiden, weil sie statt maßgeschneiderter Anzüge schwarze Mäntel mit weiten Taschen trugen und wesentlich athletischer aussahen als die älteren Männer mit ihren Wohlstandsbäuchen.
Ladonna hörte ein leises Bimmeln und lauschte. Dann begriff sie, dass jemand vor dem Raum auf einen Türglockenknopf gedrückt haben musste. Schnell setzte sie fort, was sie beschlossen hatte.
Accumulus Handfeuerwaffen!" zischte sie, als sie sah, wie einer der niedergestreckten Wächter sich bewegte. Laut zusammenklirrend häuften sich die entfallenen Schusswaffen auf dem Tisch. "Plurivanesco!" zischte sie. Leise fauchend verschwanden alle zusammengetragenen Handfeuerwaffen im Nichts. Der gerade wieder zu sich kommende Wächter wollte aufspringen, da erwischte ihn die Kraft des Ringes. Ladonna beeilte sich, die restlichen Leibwachen verglühen zu lassen. Dann vollführte sie sechs Verwandlungszauber. Die sechs Oberhäupter wichtiger Familien wurden zu rosaroten Spitzentaschentüchern. Denn schließlich wollte Ladonna Montefiori noch eine Menge mehr über diese Schattengesellschaft wissen, die sich selbst als ehrenwerte Gesellschaft bezeichnete. Als sie sämtliche Opfer ihrer Verwandlungszauber eingesammelt hatte wollte sie noch einen haben, Ricardo. Vorher hatte sie den im Überwachungsraum gesehen. Da musste sie sowieso noch hin, um das Nervenzentrum der Haussicherheit zu zerstören. Die ständigen Klingelversuche von draußen nahm sie als Ansporn, sich zu beeilen. Denn sicher würde irgendwer gleich versuchen, in diesen Raum vorzudringen. Um ihre Spuren für alle zu verwischen holte sie etwas aus einer winzig aussehenden Tasche ihres Kleides. Es war eine Goldene Kugel, halb so groß wie ihre Hand. Diese hatte sie aus den Goldketten und Broschen angefertigt, die sie Luigis Gespielinnen abgenommen hatte. In diese Kugel hatte sie fünfhundert Feuerzauber eingearbeitet, die nur solange nicht losgingen, so lange sie ihren Ring der Rosenkönigin trug. Der hielt die in die Kugel eingezwengten Zauber nieder. Doch wenn der Ring sich mehr als fünfzig Schritte entfernte würde sich die Kugel bis auf Schmelztemperatur erhitzen um dann ... Sie bedauerte es, dieses Schauspiel nicht mit ansehen zu können. Sie legte die Kugel unter den Tisch. Jetzt wollte sie nur noch Ricardo haben.
Im Überwachungsraum war niemand. Ricardo oder wer hier arbeitete war wohl unterwegs. Dann konnte sie zumindest die Rechner und Überwachungsgeräte unschädlich machen. Sie richtete ihren Ring auf den großen Bildschirm und löste dessen unheilvolle Kraft aus. Nun lernte sie was völlig neues. Wo Menschen von innen her aufglühten und rauch- und flammenlos verbrannten und Gegenstände zu Asche zerfielen verhielten sich von elektrischem Strom durchflossene Geräte ganz anders. Der große Überwachungsbildschirm sprühte Funken, dann Blitze, um dann mit einem scharfen Knall in verkohlte Fetzen zu gehen. Allerdings flogen die Trümmer nicht umher wie bei einer Sprengung oder einem schlagartigen Zusammensturz. Doch diese Wirkung war ihr bisher nicht untergekommen. Sie verlor jedoch keine Zeit damit, darüber nachzugrübeln, warum das so ablief. Schnell ließ sie auf dieselbe Weise alle Computer, Bildschirme und Sprechgeräte zerspringen. Ihre Augen schmerzten wegen der grellen Lichtentladungen, die dabei auftraten. Doch endlich war alles zerstört, bis auf die Tür. Die sollte noch nicht vernichtet werden.
Ladonna Montefiori sah mit kleinen schwarzen Punkten im Blickfeld, wie die Tür geöffnet wurde. Da stand er, Ricardo, der, den sie noch haben wollte.
Die Zerstörungen im Überwachungsraum wirkten auf Ricardo nicht so heftig wie die Frau im schwarzen Kleid, die beinahe seelenruhig im Zentrum des Chaos stand und ihn anlächelte. Sofort überflutete eine nie zuvor bei einer Frau empfundene Hingezogenheit den Leibwächter Donna Ginas. Es war das schönste Wesen, dass er je gesehen hatte. "Hallo Ricardo", säuselte dieses Wunder der Weiblichkeit. Ricardo dachte nicht daran, Alarm zu geben. Er dachte auch nicht mehr daran, seine Beretta freizuziehen um diese eindeutig unbefugte Person zu bedrohen oder gleich in Notwehr zu erschießen.
"Du hast noch gefehlt. Du hast die Verbindungen zu euren Einsatztruppen. Mehr gleich bei mir", sagte dieses göttinnengleiche Geschöpf. Aber nun erkannte er sie. Das war Girandellis Beilagergenossin. Wie war die denn hier hereingekommen?
Er konnte sich seinen Teil denken, als ein violetter Blitz ihn traf und die Welt um ihn herum schlagartig auf zehnfache Größe aufgeblasen wurde. Auch die Frau in Schwarz war zu einer wahren Titanin aufgeschossen, die mit bebenden Schritten auf ihn zustürzte. Er fühlte, wie die von ihr verdrängte Luft ihn regelrecht vom Boden riss und durchwalkte, als sei er nur noch aus Stoff oder Papier. Dann hatte ihn dieses zum Ungeheuer gewordene Höllenweib gepackt und mal eben zusammengedrückt, dass er meinte, seine ganzen Knochen hätten zerspringen müssen. Dann sah er nur noch eine Folge bunter Lichtentladungen und meinte, in die Tiefe zu stürzen oder zu schweben.
Zunächst war da nur das leise Säuseln der Belüftung und das warme Licht aus einem vierundzwanzigarmigen Kronleuchter. Dann begann es, unter dem runden Tisch zu glimmen und zu glühen. Das Glühen wurde heller. Erst war es rot, dann gelb. Dann zerfloss weißglühendes Metall spotzend und zischend auf dem Boden. Nur zwei Sekunden später blähte sich ein grellweißblauer Feuerball auf, der innerhalb einer Hundertstelsekunde mit Urgewalt gegen die Wände stieß und sie aufheizte. Die Macht von fünfhundert erweckten Feuerzaubern suchte sich ihren Weg. Doch die Wände hielten der freigesetzten Macht stand. Jedoch die Tür begann, sich unter Hitze und Druck nach außen zu biegen. Dann brach sie wie dünnes Eis unter einem glühenden Stück Kohle weg. Ein gleißender Glutarm brach durch die entstandene Öffnung und erwischte die dahinter postierten Frauen. Sie bekamen nicht mehr mit, wie sie innerhalb einer Sekunde in Dampf und Kohlenstaub aufgelöst wurden. Der weißblaue Feuerstoß krachte gegen die Außentür, heizte diese auf, bis auch sie sich unter Hitze und Druck verbog. Dann hatte die lächzende Lohe freie Bahn hinein in die restliche Villa. Auch der Boden und die Wände des bunkerartigen Konferenzraumes erlagen der auf sie wirkenden Hitze und brachen oder schmolzen weg. Mit einem urgewaltigen Donnerschlag barst der Keller auseinander. Die Flammenkugel blähte sich nun unaufhaltsam auf. Alles aus Stein, Holz, Stoff und lebendem Fleisch wurde verschlungen oder gnadenlos hinweggefegt. Innerhalb von nur einer Minute hatte sich die bis dahin kompakte Feuerkugel zu einer helweißgelben, hundert Meter durchmessenden Glutwolke verdünnt, in der alles und jeder verbrannte oder zerkochte. Als die auf je fünf Meter Umkreis wirkenden Zauberfeuer sich weit genug auseinandergedrängt hatten, um in ihre Einzelsphären zu zerfallen, war von der Villa Venuti, ihren Bewohnern und Gästen, sowie allem Hausrat und Fahrzeugen nichts mehr übrig. Deshalb loderten die mit irrsinniger Geschwindigkeit auseinandertreibenden Zauberfeuer auch nur noch wenige Sekunden lang, wo sie keine weitere Nahrung mehr fanden. Wer dieses unheilvolle Schauspiel aus sicherer Entfernung hätte sehen können wäre in Ehrfurcht erstarrt, um dann doch aus lauter Furcht davonzurennen. Nach nur einer weiteren Minute gab es nur noch einen brodelnden kleinen Lavasee, wo eins die Venuti-Villa gestanden hatte. Darüber stieg eine meilenhohe Wolke aus zerborstenem Stein, Metall, Dampf und Asche in den Himmel.
Weil sie für sie alle Feinde waren hatte Ladonna ihre Gefangenen in das Bürogebäude geschafft, in dem sie an und für sich Ricardo persönlich antreffen wollte. Hier errichtete sie einen provisorischen Klangkerker in einem fensterlosen Raum. Dann verwandelte sie den ersten in seine menschliche Gestalt zurück und bewegungsbannte ihn. Mit Hilfe ihres Rings verhörte sie den ersten Gefangenen. Das dauerte nur zwei Minuten, weil der Ring ja alles erfragte Wissen und was damit verknüpft war in sich einspeicherte. Um es daraus wieder abzurufen musste Ladonna den Ring nur an ihren Finger zurückstecken und warten, bis die Flut der Kenntnisse und Begebenheiten in ihr Gedächtnis eingeströmt war. "Danke für deine Mithilfe, Don Armando!" sagte sie, bevor sie den Gefangenen im flammenlosen Feuer ihres Ringes verbrannte, womit die von ihm erhaltenen Kenntnisse endgültig in ihrem Gedächtnis verankert wurden.
So ging es weiter, über Don Lorenzo Bertucci, Don Gaetano Moretti, Don Alberto di Moreno und Don Rafael Marchetti. Ihr Kopf dröhnte von der Unzahl verschiedener Kenntnisse. Sie musste erst einmal eine Pause machen. Erst als die dumpfen Kopfschmerzen verebbten kam die Reihe an Donna Gina.
"Das beste oder wichtigste immer zum Schluss, Donna Regina Beatrice Venuti", begrüßte Ladonna ihre Gefangene. Diese erkannte nun, wer und vor allem was die überragend schöne Geliebte Luigis war.
"Du bist eine echte Hexe, eine wahrhaftige Hure aus der ..." "Crucio!" rief Ladonna. Donna Gina wurde wie von einem unsichtbaren Trageseil hochgerissen und schrie in schlimmsten Todesqualen auf. Eine Minute ließ Ladonna sie so leiden. Dann nahm sie den Folterfluch von ihr. "Das war dafür, dass du mich eine Hure genannt hast und dafür, dass du und deine Spießgesellen seit Tagen versucht, meinen Lehnsmann zu bedrängen. Deine Verwandten habe ich geholt. Die haben mir wahrhaftig sehr viel über dich zu berichten gewusst."
"Meine Lehnsmänner haben dich aus der Ferne beobachtet, du Flittchen und ..." spie Donna Gina aus und geriet erneut unter den gnadenlosen Cruciatus-Fluch Ladonnas. "Übrigens, hier hört dich niemand schreien, Weib! Ich habe diesen Keller zum Klangkerker bezaubert!" rief Ladonna über Donna Ginas Schreie hinweg. Erst nach einer weiteren Minute nahm sie den Zauber wieder von ihr. "Ich brauche dich noch bei Verstand, sonst könntest du jetzt eine ganze Stunde so schreien und leiden", fauchte Luigis Lehnsherrin.
"Wofür, um dir eine willige kleine Dienstmagd zu sein, du ...?" Ladonna hob wieder den Zauberstab. Doch diesmal verzichtete die Patriarchin der Venutis auf ein Schimpfwort.
"Dafür bist du zu aufsässig und zu ungeübt in häuslichen Dingen. Aber du wirst mir eine weitere hübsche Trophäe sein, und dein Wissen wird mir helfen, die deinen auf Abstand zu halten, wenn die sich nicht bald mit den Verwandten der fünf kleinen Fürsten bekriegen, die du zu dir eingeladen hast, weil ich ihnen die ganzen erschwindelten und zusammengeraubten Schätze weggenommen habe."
"Wie?! Du hast Adelmo und die beiden anderen dazu getrieben, die Bank aufzugeben?" fragte Donna Gina.
"Ihr habt die Hand nach meinem Eigentum ausgestreckt, Ginella. Luigi Girandelli gehört mir, somit gehört auch alles, was er besaß mir." Donna Gina wollte aufspringen, dieser unirdischen Kreatur den schlanken Hals umdrehen. Doch die sie fesselnden Stricke hielten sie fest, wenn auch nicht an den Boden gebunden.
"Meine Leute werden herausfinden, dass ich noch lebe. Ich trage einen Notpeilsender am Körper", stieß Donna Gina aus.
"Tust du nicht, Ginella. Erstens hättest du das dann nicht gesagt, zweitens hat mir Ricardo verraten, dass das letzte mal, wo du sowas an dir hattest auch andere rausfanden, wo du warst und du deshalb auf solche Vorrichtungen verzichtest", erwiderte Ladonna. Dann zog sie seelenruhig den Ring von ihrem Finger. Sie bewegungsbannte Donna Gina, um ihre Hand nehmen und den Ring anstecken zu können. Dann unterzog sie die Gefangene einer längeren Befragung, vor allem zu dem Punkt, weshalb sie ihren Schwiegerneffen dazu gebracht hatte, Luigi den Kredit aufzukündigen, damit das Haus verkauft werden konnte. So erfuhr sie, dass unter dem Haus eine legendäre Schatzkammer aus der Zeit der Medici sein sollte und Ginas Client sich für einen legitimen Nachfahren dieser in den Adel aufgestiegenen Kaufmannsfamilie hielt. "Schön, könnte sogar zu der Zeit angelegt worden sein, wo ich diese Kanallie aus Frankreich noch nicht im Nacken hatte. Jetzt weiß ich auch, warum meine Feuerzauber da so gut wirken. Gold ist ein hervorragender Verstärker und Ausrichter."
Als Ladonna Donna Gina fragte, ob sie bis heute an Hexen oder Zauberer geglaubt hatte oder nicht, zuckte es in Donna Ginas Kopf, während der Ring violett zu flackern begann. Ladonna kannte diese Zeichen. Der Ring kämpfte gegen einen Gedächtniszauber, der wegen der Antwort dieser Frage errichtet worden war. Sie musste die Frage zehnmal wiederholen, bis der Ring weiß leuchtete. Donna Gina verlor jedoch das Bewusstsein. Eigentlich könnte sie sie nun töten. Doch sie hatte ja beschlossen, sie in ihre Sammlung aufzunehmen.
Millie Latierre meinte, einen kurzen Hitzeschauer zu spüren, der sie von den Füßen bis zum Kopf durcheilte. Sie fühlte ein leichtes Zittern im Bauch. Hoffentlich war nichts mit Clarimonde, jetzt, wo sie wusste, dass sie in ihr wuchs.
"Als wenn mir mal eben wer einen Schuss heißes Wasser durch den Körper gejagt hat, Monju. War das jetzt was körperliches oder magisches?"
"Am besten rufen wir Tante Trice her, dass die dich untersucht", meinte Julius mit unüberhörbarer Sorge. Dann sah er seine Frau genauer an und fragte: "Öhm, kannst du womöglich starke Feuerzauber spüren, wie ich durch die Zeit als Madrashainorian Erdzauber spüren kann?"
"Hmm, stimmt, hat Kailishaia mir gesagt. Aber das müsste schon ein ziemlich heftiger Feuerzauber gewesen sein, wenn der mich hier noch erreicht."
"Klären wir das besser ab, ob das körperlich oder magisch war. Ich habe keinen Hitzestoß verspürt", sagte Julius.
Als Millies heilkundige Tante sie noch einmal genau untersucht und sie zu der heftigen Empfindung befragt hatte meinte sie: "Kann sein, dass irgendwo nicht ganz so weit von hier jemand mit einem heftigen Feuerzauber experimentiert hat. Das könnte die Dame sein, die das Feuerschwert an sich gebracht hat oder vielleicht jemand, der gleich zehn Drachen auf einen Schlag umgebracht hat."
"Oder jemand, der ein starkes Feuerartefakt hat und damit irgendwas feuerelementarmagisch aufgeladen hat?" fragte Julius seine Frau. Diese nickte. "Sowas geht. Wie Unfeuersteine eben die Elementarkraft Feuer niederhalten könnte wer auch einen Vielfeuergegenstand gemacht haben, der mit mehr als fünfzig oder hundert Drachenfeuerzaubern oder genauso vielen Incendius-Zaubern vollgemacht wurde. Ich habe da einen Zauber gelernt, Ruf des Erdfeuers, den legst du auf einen Vulkan- oder Basaltstein, machst den Zauber und bestimmst, wann er losgeht und wie heftig. Kostet aber ziemlich heftig Ausdauer. Wenn der losgeht schießt da, wo der Stein liegt, eine zwischen zwei und zwanzig Meter hohe Lavafontäne hoch. Kampfmagier vom Schlag Yanxothars haben es hinbekommen, den Flugwinkel dieser Fontäne zu bestimmen, dass damit große Gegner getroffen werden können. "Aber außer mir kenne ich keinen, der diesen Zauber so gelernt hat, und beibringen darf ich den keinem, hat mir meine Lehrmeisterin gesagt."
"Wissen wir echt, ob du oder ich die einzigen sind, die noch alte Zauber können, Millie?" fragte Julius. Er erinnerte sie an den Friedensraum-Zauber, den Silvester Partridge gebaut hatte, nachdem seine Tochter Venus eine Mora-Vingate-Party gestört hatte.
"Eh, stimmt, der konnte das. Und dein damaliger Kampfgenosse, der auch so einen Silberstern trägt, kann garantiert auch ein paar von den alten Zaubern", fügte Millie hinzu. Béatrice Latierre wiegte den Kopf. "Tja, und wen kennen wir drei süßen noch, wer aus Feuermagie heraus entstanden ist und damit sicher auch sehr vertraut ist?"
"Die Sonnenkinder", antworteten Millie und Julius im Duett. Dann fügte Millies Mann noch hinzu: "Oder die Veelas. Kann sein, dass die wieder was ausprobiert haben, um die andere bewusste Dame zu erwischen."
"Zu den Veelas hast du den Draht, Julius. Aber dann teile deiner Wegführerin von denen bitte mit, dass die sowas bitte nicht machen sollen, bis ich dein und mein drittes Kind bekommen habe. Dasselbe darfst du den Sonnenkindern schreiben, sofern du nicht dochnoch mit dieser totgesagten Zwillingsmaman mentiloquieren kannst."
"Wenn die Veelas zum großen Schlag gegen ihre neue Feindin ausholen kriege ich das sicher bald erzählt. Tja, und mit der Sonnentochter, die vorher eine Spinnenschwester war, kann ich nicht direkt mentiloquieren, weil wir nicht blutsverwandt sind."
"Das wäre auch der Schlager des angehenden Jahrhunderts", grummelte Millie. Dann bat sie darum, weiterschlafen zu dürfen. Ihre Tante erwiderte darauf: "Genehmigt. An und in dir ist nichts besorgniserregendes. Falls es nicht einfach eine heftige Hitzewallung war besteht für euch jetzt eh keine Möglichkeit, das rauszufinden. Naacht!"
"Schlaf gut, Tante Trice."
"Bis der Blanche-Lilau-Wecker mich wieder wach macht. Die beiden Jungs schlafen ja jetzt besser durch."
"Die kriegen aber schon andere Sachen zu essen, oder?" fragte Julius.
"Trotzdem wachen die nachts immer noch auf und wollen was trinken, und wenn es nur Wasser ist", erwiderte Béatrice Latierre. Dann winkte sie den beiden Hauspatienten zu und verschwand durch den orangen Verschwindeschrank.
Julius wartete, bis seine Frau schlief. Dann besann er sich auf Faidarias Gesicht und Stimme und ging alle Stufen des Mentiloquismus durch.
"Ist was bei euch geschehen, was uns beunruhigen könnte?" fragte Faidaria, nachdem die Verbindung errichtet war. Julius erwähnte nur, dass jemand einen kurzen Hitzestoß verspürt hatte,was von einem starken Feuerzauber kommen könne.
"Ja, den haben Gwendartammaya und ich auch wahrgenommen, weil wir die Zeichen des großen Himmelsvaters tragen. Und unsere Geschwister im Sonnenturm haben auch eine kurze aber heftige Freisetzung von Feuerrufkraft festgestellt, da, wo die Halbinsel ist, die wie ein auf der Spitze stehender Stiefel aussieht. Wo genau bekommen wir noch heraus. Aber es war kein Tausendsonnenfeuer."
"Warum nicht?" wollte Julius wissen.
"Weil dies nicht durch einen Feuerruf entsteht, sondern durch eine Umkehrung der stofflichen Ordnung, weshalb das ja bei den Istzeitleuten ohne die erhabene Kraft Antimaterie genannt würde, wenn sie diesen Stoff denn erzeugen könnten."
"Gut zu wissen", erwiderte Julius in Gedanken. "Aber ihr habt da nichts gemacht, beispielsweise wieder sowas wie mit Nocturnia?"
"Schön wäre es, wenn wir dieses Unheil endlich ohne Nachfolgen auslöschen könnten", gedankenschnaubte Faidaria. Dann wünschte sie Julius eine gute Nachtruhe.
Italiens Zaubereiminister Romulo Bernadotti erwachte vom wilden Pingeln einer Alarmglocke. Seine Frau Vanessa grummelte, weil sie ebenfalls aus dem verdienten Schlaf erwachte. Bernadotti schwang sich aus dem Bett und schnappte seinen Zauberstab vom Nachttisch. "Schlaf weiter, Vanni!" säuselte er über das wilde Gepingel hinweg.
"Nicht schon wieder irgendwelche Ungeheuer, die unser Land angreifen", maulte Vanessa. Ihr Mann schwieg dazu. Die letzten male, wo dieser Alarm losgegangen war, war es immer um bösartige Wesen gegangen, welche die Zaubererwelt und die der Magielosen heimgesucht hatten.
Bevor Bernadotti in sein Arbeitszimmer eilte zog er sich einen grün-goldenen Umhang mit weitem Stehkragen an, kämmte sein vom Schlaf zerzaustes Haar glatt und strich sich mit einem eingeübten Zauber seinen fünfzig Zentimeter abstehenden Schnurrbart zurecht.
"Was liegt an oder vor?" fragte Bernadotti den Wachhabenden in der Sicherheitsabteilung. "Signore Bernadotti, sämtliche Zauberspürsteine sind zerstört worden. Jemand hat einen Weg gefunden, einen derart starken Überladungsstoß zu zaubern, dass davon alle Spürsteine überlastet und gesprengt wurden. Das hatten wir noch nie, selbst nicht, als die Schreckensbilder dieses Pickman gespukt haben."
"Sämtliche Spürsteine? Was für ein Zauber muss das sein, der das kann?" fragte er. Dann wollte er noch wissen, ob es alle Spürsteine zeitgleich oder in einer bestimmbaren Reihenfolge hintereinander erwischt hatte.
"Es hat auf Sizilien angefangen und sich dann innerhalb von nur zwei Sekunden zu uns ausgebreitet und dabei wie eine Welle von Süd nach Nord und Westen nach Osten ausgewirkt. Das war so ähnlich wie damals, wo irgendwo im Süden diese magische Welle losgebrandet ist, die alle Nocturnia-Vampire erledigt hat. Allerdings haben wir damals keinen einzigen Spürstein eingebüßt."
"Und sonst ist nichts gemeldet worden?" fragte Bernadotti.
"Bis jetzt nicht. Aber unsere Notrufbearbeiter sind bereit. Allerdings sind wir jetzt für mindestens einen Monat ohne Spürsteine."
"Lassen Sie klären, wo der Ursprung dieser so dreisten Attacke liegt, Rico. Ich sage Montebiancos Leuten, sie sollen auch die Moggli-Nachrichten überwachen, ob denen was aufgefallen oder gar passiert ist."
"Sie meinen, dass das nicht nur eine mutwillige Zerstörung der Spürsteine werden sollte?" wurde der Minister gefragt.
"Es kann auch ein magischer Versuch gewesen sein, der auf einen Schlag die hundertfache oder tausendfache Wirkung eines Zaubers freigemacht und dann eine Kettenreaktion ausgelöst hat", erwiderte der Minister. Wo er noch nicht Minister gewesen war hatte er sich besonders mit Erkundungs- und Erkennungszaubern befasst. Daher wusste er, dass alle Spürsteine eines Landes untereinander verbunden waren, um eine präzise Orts- und Zauberbestimmung vornehmen zu können.
Nach fünf Minuten hatten die Sicherheitszauberer heraus, dass sich der Ursprung der magischen Superentladung in der Nähe von Catania auf Sizilien ereignet hatte. Der Vorgang hatte sich so schnell vollzogen, dass die Überwacher nicht einmal klären konnten, was für ein heftiger Zauber verwendet worden war.
"Was für ein Haus soll das sein, wo das herkam?" fragte Montebianco, der Leiter der Abwehr dunkler Zauber seine Untergebenen in Anwesenheit des Zaubereiministers.
"Nach dem Adressplan der Moggli steht oder stand da die Villa einer Familie Venuti. Der Name ist von Clementis Abteilung für Kontakte zwischen uns und den anderen als "Möglicherweise angehörige der ehrenwerten Gesellschaft" gekennzeichnet worden", antwortete Chiara di Monti, die eine Liste aller bebauten Grundflächen Italiens zur Verfügung hatte.
"Die Mafia?" fragte Bernadotti. Er wusste, dass diese aus verschiedenen Familien zusammengefügte Schattengesellschaft für die Moggli genauso eine Last war wie für die Zaubererwelt Vampire, Werwölfe oder irrsinnige Schwarzmagier und Dunkelhexen. "Dazu kann wohl nur der Kollege Clementi was sagen", gab di Monti die Frage zurück.
"Ja, Moment! - Ja, verstanden. Danke!" sprach Montebianco in eine kleine Silberdose. "Herr Minister, ich bekomme von unserem Ohr bei den Ordnungshütern der Moggli mit, dass die Villa Veenuti verschwunden ist. Statt ihrer befindet sich dort nun ein Krater von mindestens 200 Metern Durchmesser. Jemand hat mit einem Zauber dieses Haus vernichtet. Zufall, Unglücksfall oder Absicht, das muss noch geklärt werden."
"Ist unser Elementarzauberexperte schon von dem Kongress aus Neuseeland zurück?" wollte Bernadotti wissen.
"Ja, der ist wieder da, gerade gestern angekommen. Ich sage Gattovoce bescheid, dass er ihn dahinschicken soll."
"Ja, bitte, tun Sie das", erwiderte der Minister. Danach zog er sich wieder in seine Privaträume zurück. Er fragte sich selbst, was jemand aus der Zaubererwelt mit der Mafia zu schaffen hatte. Oder war das eine magische Rache, weil diese Vereinigung von Räubern, Erpressern und Zuhältern ihm oder ihr lästig gefallen war?
"Ah, unsere große Kaiserin von Sizilien ist wieder wach", hörte Donna Gina die Stimme dieser verhassten Unperson, dieser Hure Satans, dieser schwarzhaarigen Hexenmeisterin. "Ich wollte dich nicht an deinen neuen Bestimmungsort bringen, bevor du nicht vollends wieder erwacht bist. Sonst würdest du dich daran festklammern, alles nur zu träumen. Das würde mir ja den ganzen Spaß verderben."
"Natürlich träume ich das nur. Heute ist erst die Konferenz. Ich liege noch im Bett und träume diesen Horror nur", dachte Donna Gina. Aber wieso hatte sie dann vorher diese unerträglichen Qualen gespürt? Doch als sie vollends bei Bewusstsein war kniff sie dieses schwarzgekleidete Ding doch glatt in die linke Brust, dass es richtig weh tat. "Du Scheusal", stieß Donna Gina aus.
"Ah, da ist ja doch noch Leben drin", feixte die andere. "Aber sei es. Ich habe dich erwählt, in meinem besonderen Garten zu blühen und zu gedeihen, zusammen mit meiner Erweckerin und mit einigen anderen, weil ich starke, mächtige Frauen respektiere und deshalb nicht zu Wurmfutter mache."
"Du magst vom Teufel selbst auf mich angesetzt worden sein. Aber wenn du deinen Zweck erfüllt hast holt er dich ganz schnell wieder zu sich in die Hölle", spie Donna Gina aus.
"Das diskutieren wir dann weiter, wenn wir beide uns da wiederfinden sollten. Aber bisher gehe ich davon aus, dass ich wohl in einen langweiligen jenseitigen Mutterbauch reingezogen werde um mit tausendenoder Millionen ganzer und halber Veelas den Rest der Zeit zu verdösen. Vielleicht schaffe ich es auch, eines Tages eine Tochter zu gebären, in deren neuem Körper ich meine Seele einlagern und weiterleben kann. Alles ist drin."
"Wir haben es gelernt, dass Dämonenbrütige wie du dem Teufel gehörenund zu ihm zurückkehren, wenn sie von der Erde verdrängt werden. Also, bring mich um oder mach, was immer du meinst, mir antun zu müssen. Meine Leute kriegen dich doch noch."
"Oder ich die, wenn die nicht aufhören, meinem Leibeigenen alles wegnehmen zu wollen. Viel Vergnügen in meinem besonderen Beet!" tönte die Hexe im schwarzen Kleid. Dann richtete sie ihren vom Satan geschnitzten Zauberstab auf Donna Gina. Erst fühlte diese, wie ihre Fesseln verschwanden. Sie wollte aus dem liegen heraus aufspringen. Da traf sie der wirklich peinigende Zauber. Sie fühlte, wie sich ihr Körper veränderte, länger gezogen wurde und die Empfindung ihres Geschlechtes irgendwie über ihrem Kopf war. Dann merkte sie, wie sie aufgehoben und davongetragen wurde, so schnell, dass sie es nicht mitverfolgen konnte. Außerdem fühlte sie Durst. Dann merkte sie, wie sie mit ihren zusammengefügten Füßen in den Boden hineingedrückt wurde. Danach merkte sie, wie Wasser auf sie fiel, an ihr herunterlief und in ihre Füße eindrang. Das Durstgefühl klang ab. Dann erkannte sie links von sich etwas, das wie eine menschengroße Rose aussah. Schwerfällig bewegte sie ihren Kopf. Da sah sie auch rechts von sich ein solches Gewächs. Dann fühlte sie, wie etwas warmes in ihre Füße eindrang und hörte die Stimme der Hexe in ihrem Geist: "Durch mein Blut vereine ich mein Leben mit deinem. Du wirst nicht verblühen, nicht welken, solange dieses Blut in meinen Adern fließt!" Dann erkannte sie im blassrosa Blütenkelch ein Gesicht, das Gesicht ihrer Nichte Laura Roselli.
"Hallo Tante Gina. Willkommen in Ladonnas Rosengarten!" hörte sie Lauras Stimme mit tiefer Wehmut in ihrem Geist säuseln.
"Was, nein! Das ist nicht wahr! Das ist nur ein wahnwitziger Albtraum! Das ist unmöglich wahr!!" gedankenzeterte Gina Venuti.
"Wenn du die ersten zwei Wochen in diesem Boden gestandenhast wirst du dich auch daran gewöhnen, neue Leidensschwester", hörte sie eine andere Stimme, die irgendwie französisch eingefärbt war. Sie drehte ihren Kopf mühevoll und fühlte, wie es in ihrem ganzen Körper spannte. Dann sah sie die andere. "Ich heiße Rose. Deshalb kam unsere neue Herrin wohl drauf, mich in eine Rose zu verwandeln. Hat die früher wohl auch häufiger gemacht."
"Nimm es als dein Schicksal hin, Ginella. Deine Verwandten werden nichts davon mitbekommen, wo und was du jetzt bist", hörte sie die Gedankenstimme der Hexe. "Vielleicht bekriegen die sich gegenseitig. Aber es kann auch sein, dass die glauben, deine achso geliebte Hölle hätte sich aufgetan und dich und die deinen und die fünf anderen Burschen verschluckt. Auch eine lustige Vorstellung."
"Wenn es sowas wie dich gibt dann leben auch welche, die deinem Spuk ein Ende machen werden, Hexe", stieß Donna Gina einen eher hilflosen als trotzigen Gedankenruf aus. Darauf erfolgte nur ein höhnisches Lachen. Mehr kam bei ihr vorerst nicht an.
"Also, die Wetten laufen. Im Angebot sind eine Tochter vom Ätna, ein Feuerdrache, ein Meteoriteneinschlag, oder Berlusconis erste erfolgreich getestete Atombombe", tönte Commissario Enrico Bellini, der zusammen mit einigen Leuten aus Catania und Geologen aus Rom am 16. Februar den mittlerweile erkalteten Krater begutachtete, der genau da aufgetaucht war, wo vorher die Villa Venuti gestanden hatte.
"Sprechen Sie doch nicht so gehässig von Ihrem obersten Dienstherren, Commissario", meinte Professore Marchetti, ein Meteorologe aus Rom. Sein Kollege umschritt derweil den knapp zweihundert Meter durchmessenden Krater mit einem Geigerzähler. "Also die Atombombe ist aus der Wertung, die Herren", sagte der Wissenschaftler, nachdem er sogar bis zur hundert Meter tiefen Kratersohle hinuntergestiegen war. "Strahlung liegt im normalen Bereich. Aber ein Vulkanausbruch war das auch nicht. Weil dann müsste der Schlot noch um einiges tiefer sein. Außerdem hätte sich dann die Lava darin noch lange nicht runtergekühlt."
"Und was ist es dann, Signore Ultraschlau?" versetzte Bellini ungehalten.
"Ich biete zwei Pizza Napoli für einen eingeschlagenen Energiestrahl aus dem Weltraum, weil die Außerirdischen langsam genug Telemüll von Berlusconis Sendern aufgefangen haben", stimmte einer von Bellinis Mitarbeitern in den Kanon der Absurditäten mit ein. Da trat ein kleines Männchen - anders konnte Bellini diese Person nicht bezeichnen - an den Kraterrand heran und blickte durch silbern umrahmte runde Brillengläser hinunter. "Heh, Sie da unten, passen Sie auf, dass sie nicht doch noch durch eine dünne Kruste brechenund dann von Mamma Terra vernascht und verdaut werden."
"Keine Angst! Temperatur liegt nur vierzig Grad über Bodentemperatur außerhalb!" rief der Wissenschaftler auf dem Grund des Kraters.
"Entschuldigung, wer bitte sind sie?" fragte Bellini den gerade mal 1,30 Meter langen Mann im dunkelvioletten Anzug mit regenbogenfarbiger Fliege. An den Beinen trug das Kerlchen grasgrüne Stiefel aus einem Material, dass Bellini nicht einordnen konnte.
"Pontidori, Anselmo Pontidori, vulkanologisches Institut von Neapel. Ich wurde hergeschickt um einen möglichen Nebenkrater vom Ätna zu vermessen oder zu verifizieren, dass es kein vulkanisches Ereignis war", erwiderte der Zwerg mit der silbergeränderten Brille.
"Sie gibt es auch noch?!" rief der Mann aus dem Krater. "Moment, bin gleich wieder oben!" Als er diese Ankündigung wahrgemacht hatte stellte er den Kommissar und den Vulkankundler vor. Bellini, der den merkwürdig angezogenen Wicht um drei Köpfe überragte wollte wissen, wieso jemand aus Neapel nach Sizilien kam, wo die da doch selbst einen Vulkan vor der Tür hatten. "Und vor allem die phlegräischen Felder. Wenn die mal aus dem Dornröschenschlaf aufwachen dann gute Nacht Menschheit", erwiderte das Männchen. Bellini hatte noch nie einen Menschen getroffen, bei den die Bezeichnung Zwerg so angebracht war. Eigentlich fehlten dem Hutzelwicht nur der für zwerge typische Bart und die Zipfelmütze.
"Also, Lava kann das auch keine gewesen sein, weil der leichte Magnetschock und die Kristallisation am Boden für eine noch größere Hitze sprechen", dozierte der Wettermensch, der gerade noch im Krater gestanden hatte. "Ich schätze an die 5000 Grad Celsius, also ungefähr dem, was die Sonne auf der Oberfläche hat."
"Noch heißer als Lava?" fragte der Zwerg, der sich Pontidori nannte. Dann turnte der doch glatt mit seinen grünen Stiefeln in den Krater hinunter, bevor ihn die dort wachenden Polizisten zurückhalten konnten.
Bellini nahm sein Fernglas und beobachtete genau, wie der Hainzelmann nach dem Abstieg die Hände auf die Bügel seiner Brille legte und irgendwie dann daran herumfingerte, als wolle er was an der Sehschärfe einstellen oder dergleichen. Dann sah der Wichtelmann sich um, wobei er immer wieder wie ratlos den Kopf schüttelte. Bellini konnte durch sein Fernglas erkennen, dass der Zwerg irgendwie verunsichert dreinschaute. Doch als der da unten es wohl merkte, dass jemand ihm zusah wechselte sein bartloses Gesicht zu einer entschlossenen Miene. Dann fingerte er wieder an den Bügeln seiner silbernen Brille. Er blickte sich entschlossen um und nickte dann. Danach lief er mit ausgestrecktem linken Arm einmal rund um den Tiefpunkt im Krater herum.
"Stimmt, hier wurde was leicht magnetisiert!" rief er zwei Minuten später nach oben.
"Das können Sie ohne Messgerät rausfinden?" fragte Bellini misstrauisch. Das Männchen winkte zur Antwort mit einer für seine Größe beachtlichen Zwiebel von Armbanduhr. "Das neuste vom neuen, die Vielzweckuhr zur Zeit- und Ortsbestimmung", trällerte der Zwerg. "Auch kann ich damit andere Magnetfelder finden, wenn ich die Trennschärfe entsprechend einstelle."
"Ich halte die Wette, dass da was außerirdisches reingesaust ist, so wie beim Krieg der Welten", meinte einer der Polizisten.
"Marswesen die noch winziger sein sollen als ich?! Weil sonst müsste ja das Raumfahrzeug von denen deutlich zu sehen sein!" rief der gestiefelte Wichtelmann aus den Tiefen des Kraters herauf.
"Mir wird das zu albern hier, Leute. Hier an der Stelle stand bis gestern abend um elf eine im altrömischen Stil gebaute Villa mit Innenhof und Gewölbekeller. Dann hat's bumm oder rums gemacht, und jetzt ist da nur ein Krater. Das naheliegendste fällt Ihnen wohl nicht ein: Ein Anschlag. Jemand hat eine starke Bombe gezündet, um dieses Haus todsicher von der Landkarte zu streichen. Ich glaube nämlich nicht, dass ein Vulkankrater, ein Meteoriteneinschlag, ein Phaserstrahl aus dem Weltraum oder dergleichen zufällig da passiert, wo dieses Haus gestanden hat", erwähnte Bellini.
"Nichts für ungut, Commissario, aber so'n Bums machen mindestens hundert Tonnen TNT oder mehr", bemerkte Bellinis Assistent Varese.
"Alles andere fiele dann wohl in den Bereich der Magie. Feuerdrachen, Feuerbeschwörung, Sonnenkraftanrufung oder sowas", flötete der kleine Bursche, der angeblich ein gestandener Vulkankundeprofessor sein sollte.
"Das müssen Sie ja wohl wissen, wo Sie glatt ein Kobold sein könnten", meinte Varese abfällig. Bellini wollte ihn schon tadeln, nichts politisch inkorrektes zu sagen. Doch Varese hatte nur ausgesprochen, was er selbst gedacht hatte.
"Ich muss doch bitten. Meine Mutter war eine reinrassige Bergzwergin, keine spitzohrige Goldsammlerin", erwiderte Pontidori. Dann klappte er die seiner Größe angemessene schwarze Aktentasche auf und ließ zwei Steine reinplumpsen, die fast so groß wie seine Hände waren. "Probe gesichert um elf Uhr dreiundzwanzig!" sagte er dann noch, als würde er in seine große Silberzwiebel am Handgelenk sprechen. War das vielleicht auch ein Funkgerät à la Dick Tracy oder James Bond?
"Halt, stop. Das ist ein Tatort. Da dürfen Sie nicht einfach was von wegnehmen", sagte Bellini. "Och, dann waren Ihre Fingerabdruckspezialisten da noch nicht dran oder die Leute, die zerkrümeltes Erbgut zusammenkleben können?" erwiderte der winzige Vulkankundler.
"Geben Sie mir bitte die Telefonnummer und Adresse ihres Vorgesetzten!" knurrte Bellini, der diese ungehemmte Dreistigkeit nicht mehr länger hinnehmen wollte. Zur Antwort bekam er von dem Zwerg eine Visitenkarte und einen Zettel mit einer Adresse. "Mein Chef bin ich, Commissario Bellini. Aber Sie dürfen sich gerne bei der vulkanologischen Gesellschaft von Neapel über mich beschweren. Da müssten Sie aber vorher eine Nummer ziehen und im Warteraum sitzen, bis Sie aufgerufen werden. Empfehle mich!" Mit diesen Worten ging der Zwerg einfach davon. Bellini lief ihm nach, versuchte ihn festzuhalten. Da hebelte der Hainzelmann ihm doch glatt den Arm weg und wischte wieselflink unter seinem anderen Arm durch und sauste davon wie eine Gazelle, die den Atem des Löwens im Nacken fühlt. Bellini wollte ihm noch hinterherrufen, als ein seegrüner Panda angerollt kam. Erst dachte er, der Gnom würde unter der Stoßstange des Wagens begraben. Doch irgendwie schaffte der es, genau auf Höhe der Beifahrertür abzubremsen. In nur einer Sekunde war das Wichtelmännchen durch die Tür und die Tür wieder zu. Der Panda drehte um und fuhr weg. Bellini starrte auf das Nummernschild. Der Wagen kam aus Neapel. Er wollte gerade die vollständige Autonummer notieren, da war der Wagen auch schon auf der Zufahrtsstraße und preschte mit raketengleichem Tempo davon.
"Werde ich alt oder bin ich schon verkalkt, dass ich einem flüchtenden Fiat nicht mehr hinterhergucken kann?" fragte sich Bellini. Er konnte ja nicht ahnen, dass "das Männchen" ihm bei allem die Wahrheit gesagt hatte, aber zurecht davon ausgehen durfte, dass niemand ihm glauben würde.
Als Julius Latierre am Morgen in sein Büro gehen wollte hing an seiner Tür ein Schild, dass ihn wie alle anderen Fachbüroleiter um 09:00 Uhr zu einer Versammlung im großen Konferenzraum aufforderte, der auf der Etage des Ministers und der ihm direkt zuarbeitenden Büros lag. Es bestand dringende Anwesenheitspflicht.
Als Julius dann um die angeordnete Uhrzeit auf der obersten Etage mit Monsieur Beaubois, Pygmalion Delacour und seiner Schwiegertante Barbara aus dem Aufzug stieg trafen sie auch seine Schwiegermutter, sowie diverse andere hochrangige Hexen und Zauberer.
Da die Ministerin gerade auf Weltreise war und dabei auch den Leiter für die Abteilung magischen Handel und internationale magische Zusammenarbeit in der Delegation hatte stellten sich deren dienstälteste Mitarbeiter als Stellvertreter ein. Für die Ministerin selbst übernahm der Leiter der Strafverfolgungsabteilung den Vorsitz.
"Monsieur Lionel Dupont aus der Zentrale für magische Überwachung und Sicherheitsvorkehrungen schlug gestern abend Alarm, weil die unmittelbar zur italienischen Grenze platzierten Zauberkraftaufspürsteine nach kurzem Erzittern übergangslos zu schwarzem Staub zerfielen. Bitte, Monsieur Dupont", begann Ministerin Ventvits derzeitiger Stellvertreter und nickte einem kleinwüchsigen, sehr korpulenten Zauberer in einem grün-silbernen Umhang zu. Dieser stand von seinem Platz auf und stellte sich auf eine ihm hingestellte Plattform, die wie ein kleines Siegerpodest wirkte. Dann deutete der kleinwüchsige Zauberer mit seinem Zauberstab auf die Wand. Es wurde Dunkel im Saal. Nur die Wand leuchtete in einem warmen, weißen Licht. Dann erschien auf der Wand eine Landkarte, die den südfranzösischen Raum und das gesamte Mittelmeergebiet von der iberischen Halbinsel bis Italien darstellte.
"Alle ab fünfzig Kilometer zur Französisch-italienischen Grenze installierten Spürsteine verzeichneten die Ausführung von fünf bis einhundert machtvollen Feuerelementarzaubern zur selben Zeit. Die Intensität dieser Zauber konnte eindeutig mit der Entfernung zum Mittelmeer oder dem italienischen Festland in Beziehung gebracht werden", begann der kleine Zauberer zu sprechen. Seine Stimme klang flötend wie die von Julius' früherem Zauberkunstlehrer Flitwick. "Wir müssen davon ausgehen, dass sich im Bereich Süditalien oder Sizilien eine außerordentlich kraftvolle Freisetzung feuerelementarer Zauberkraft zutrug, welche offenbar die Belastbarkeit der üblichen Spürsteine überstieg. Womöglich sind wegen der Vernetzungszauber alle Spürsteine des italienischen Zaubereiministeriums zerstört worden. Dies wird derzeit von meinen Mitarbeitern erfragt, wobei ich die Hoffnung dämpfen muss, dass wir in dieser Angelegenheit überhaupt eine Auskunft erhalten werden. Nach den noch gestern abend von mir und meinen für die Spürsteine zuständigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern angestellten Berechnungen besteht die an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit, dass diese unglaublich intensive Freisetzung feuerelementarer Magie auf der Insel Sizilien stattfand. Die Einordnung in den Bereich Feuerelementarzauberei geschah wegen erwähnter Meldungen der nicht beschädigten Spürsteine.
Dieser Vorfall, Messieursdames et Mesdemoiselles, gibt zur Besorgnis Anlass, dass jemand, womöglich eine Gruppe von Hexen und Zauberern, mit den vulkanischen Kräften des süditalienischen Raumes experimentiert hat oder dies noch tut, weil auf Grund der Vernichtung der im Grenzland befindlichen Spürsteine keine weiteren Zaubereien verzeichnet werden konnten. Sollte es sich wahrhaftig erweisen, dass jemand sehr starke Feuerbeschwörungen durchführt besteht die Gefahr, dass es zu verheerenden Vulkanausbrüchen kommen kann. Außerdem habe ich den stellvertretenden Zaubereiminister darum gebeten, Sie alle bitten zu dürfen, Ihre Außendienstmitarbeiter mit tragbaren Zauberkrafterkennungsartefakten in die Regionen zu entsenden, wo derzeitig keine fest installierten Spürsteine verfügbar sind. Was die Aufklärung des Ereignisses betrifft, dem wir diese Sicherheitslücke zu verdanken haben, so liegt diese wohl in der Zuständigkeit des italienischen Zaubereiministeriums. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit."
"Gibt es dazu irgendwelche Fragen oder Ergänzende Wortmeldungen?" fragte Ministerin Ventvits Stellvertreter. Alle Anwesenden blickten sich um. Dann sah Monsieur beaubois Julius an. Dieser wusste erst nicht, was er dazu sagen sollte. Da fragte Beaubois:
"Monsieur Latierre, da Sie Verbindungen zu außerministeriellen Experten im Bereich destruktiver Zauberkünste oder Elementarbezauberungen haben, wurden Sie im Vorfeld auf ein derartiges Ereignis hingewiesen?"
"Nein, Monsieur Beaubois. Ich erhielt von keiner mit mir korrespondierenden Stelle einen Hinweis auf eine derartige Magieentfaltung", erwiderte Julius ruhig. Alle sahen ihn an. Doch er hielt die Blicke aus. Vendredi, sein direkter Vorgesetzter, war ja nicht da. Der hatte wohl wieder seinen freien Tag.
"Darf ich Sie in Vertretung von Monsieur Vendredi hier vor allen Anwesenden bitten, für uns bei den Ihnen bekannten Stellen anzufragen, wer oder was diese starke Zauberkraftfreisetzung bewirkt haben könnte?" wandte sich der Leiter der Geisterbehörde an Julius. Dieser bejahte es, zumal er ja selbst neugierig war, welche Macht mal eben eine Menge der hochempfindlichen Zauberkraftspürsteine vernichten konnte. Entweder waren das hundert oder mehr Zauberkundige gleichzeitig, oder jemand, der mehr als hundert starke Zauber in einen Gegenstand einspeichern und dann im gleichen Moment wieder freimachen konnte. Gemäß der Pinkenbachregeln zur Bezauberung von Materie war dies schon beachtlich, ja bisher für ziemlich unwahrscheinlich zu halten gewesen. Julius hatte aber schon einen dumpfen Verdacht, dem er gerne nachgehen wollte. Genauer hatte er zwei Verdächtige.
"So erhebe ich Monsieur Beaubois' Anfrage zur ministeriellen Anordnung und beauftrage Sie, Monsieur Latierre, aber auch jeden anderen hier mit Kontakten zu außerministeriellen Fachkräften, Erklärungen oder Vermutungen zu erfragen, wie dieses Ereignis stattfinden konnte. Allerdings untersage ich jedem hier, den Ausfall von Spürsteinen zu erwähnen. Wir wollen schließlich keinen Ausfall unserer Sicherheit herbeiführen. Ich erwarte Ihre Rückmeldungen frühestens ab Mittag dieses Tages in schriftlicher Form zu Händen Ihrer Dienstvorgesetzten oder zu meinen Händen. Vielen Dank", sagte Monsieur Chevallier. Julius und alle anderen Anwesenden nickten.
So schickte Julius, kaum dass er wieder in seinem Büro saß, mehrere Eulenbriefe los, an Catherine Brickston, Florymont Dusoleil, Arcadia Priestley und Professeur Phoebus Delamontagne in Beauxbatons. Danach mentiloquierte er mit seiner Frau, der er nur zuschickte: "Es ist amtlich, dass da gestern bei Italien was ziemlich heftiges an Feuermagie losgegangen ist, Mamille. Ich soll rumfragen, wer weiß, was das war und vielleicht auch, wer das war."
"Wenn das mehrere Zauber auf einmal waren, Monju, dann hätte das jemand hinkriegen müssen, die in einen Gegenstand reinzustopfen, und da ist ja wegen Pinkenbach irgendwo die Grenze. Was für Feuerzauber wurden denn gemeldet?" wollte Millie wissen.
"Starke Feuerbeschwörungen, je nachdem, wie weit das von den Spürsteinen weg war zwischen fünf und hundert", gab Julius weiter.
"Ja, und darüber ist wohl nichts mehr zu messen, weil die Steinchen auch ihre Grenzen haben. Könnte sogar sein, dass die am nächsten zur Quelle zerbröselt wurden."
"Ich kenne die Sättigungsgrenze von Spürsteinen nicht", gedankenantwortete Julius.
"Wahrscheinlich werden die bei euch gerade wie wildgewordene Wespen durcheinanderschwirren, wenn auch nur ein Steinchen zerlegt wurde, Monju. Und natürlich wirst du mir das offiziell auch nicht bestätigen dürfen, wenn das passiert ist. Richtig?"
"Da hast du recht", schickte Julius zurück. Dann verwies er darauf, gleich noch Briefe verschicken zu müssen, um die Anfrage weiterzugeben. Millie wünschte ihm noch einen ruhigeren Tag.
Da Julius bereits gestern schon mit den Sonnenkindern mentiloquiert hatte blieb ihm noch Léto. Diese fragte er, ob Veelaangehörige mehrere Zauber in einen Gegenstand einspeichern konnten, die aber nur zu einem bestimmten Zeitpunkt wieder freigemacht werden sollten.
"Wenn du mich fragen willst, ob die Schwesternmörderin Ladonna Montefiori das getan haben kann so fürchte ich, dass ich da mit "Ja" antworten muss, Julius. Die kleinwüchsigen aus den Bergen oder auch wir können mit unserem Blut die Aufnahmefähigkeit von festen Körpern für bestimmte Vorgänge der hohen Kräfte verstärken. Ich denke, die grünen Waldfrauen können sowas mit ihren Körperflüssigkeiten auch. Die Frage ist aber nur, was dieses völlig von allen Wegen abgekommene Geschöpf damit erreichen wollte."
"Das müssen wir im Ministerium rausfinden, falls wir das überhaupt tun dürfen. Wenn das anderswo auf der Welt passiert ist sind andere Zaubereiministerien zuständig, bis wir um Mithilfe gebeten werden", schickte Julius zurück.
"Bitte teile es mir mit, wenn sich die Hinweise als richtig herausstellen, und diese Ladonna Montefiori das getan hat!" bekam er von Léto zur Antwort. Julius fragte sie dann, ob sie auch bereit wäre, vor einer Gruppe von Experten des Ministeriums darüber zu reden, sollte das mit den Feuerzaubern wirklich auf Ladonnas Mist gewachsen sein.
"Nur dann, wenn ihr offiziell erfahrt, dass sie das getan hat, Julius. Vorher nicht." Damit musste er wohl oder übel leben.
Anselmo Pontedori meldete sich gleich bei Zaubereiminister Bernadotti, nachdem er vom Ort der heftigen Hitzeentfaltung zurückgekehrt war.
"Was ergab die Rückschaubetrachtung? Ich hoffe, Ihnen sind die Augen nicht aus dem Kopf gebrannt worden", sagte Bernadotti. Der kleinwüchsige Zauberer Pontidori grinste mit schneeweißen Zähnen und deutete auf seine unversehrten dunkelbraunen Augen. "Nach der heftigen Explosion in Yankeeland hat dieser Florymont Dusoleil die Lichtwiedergabe der Brille verbessert, dass gerade mal soviel Licht durchgelassen wird, wie das Auge vertragen kann. Allerdings habe ich überhaupt kein Licht gesehen, nur schwarzes Wabern, dass einmal kurz durch dunkelrotes Flirren unterbrochen wurde. Wer oder was auch immer diesen Riesenfeuerzauber abgebrannt hat war zum Zeitpunkt dieser Untat unortbar, Signore Ministre", meldete Pontidori.
"Unortbar? Diese Brillen taugen also doch nicht so viel, wie uns immer wieder erzählt wurde", knurrte Bernadotti und machte eine wegscheuchende Handbewegung gegen Pontidoris Augen, als trüge der noch jene eigentlich sehr praktische Rückschaubrille aus Frankreich.
"Mittlerweile hat sich das ja auch wirklich rumgesprochen", feixte Pontidori.
"Dann sehen Sie ja zu, dass es nicht auch noch die Runde macht, dass unsere ganzen Spürsteine zu schwarzem Staub zerblasen wurden", grummelte Bernadotti.
"Ich habe die zwei Gesteinsproben schon in meinem Labor, Signore Bernadotti. Vielleicht verraten die mir mehr als die Rückschaubrille. Wir sollten auf jeden Fall zusehen, dass wir eine glaubhafte Begründung für diesen Zwischenfall erfinden. Die da herumkriechenden Wissenschaftler glauben nachher noch an Teufelswerk, als wenn jemand versucht hätte, das Tor zu Dantes Schreckensreich aufzureißen oder so'n Quatsch. Die kamen ja schon auf merkwürdige Ideen, von Wegen Außerirdische Wesen oder explodierte Kernspaltungsbomben."
"Sie liefern die Ergebnisse. Was danach geschieht überlassen Sie gütigst uns!" sagte Bernadotti.
"Natürlich, Herr Zaubereiminister", erwiderte Pontidori mit gewisser Aufsässigkeit im Tonfall. Bernadotti funkelte ihn drohend an. Doch den zwergstämmigen Zauberer beeindruckte das nicht.
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