Die Wiedererweckung der zum Teil von Veelas und zum Teil von grünen Waldfrauen abstammenden Hexe Ladonna Montefiori ist bisher nur wenigen in Europa bekannt. Doch nach dem, was aus einem von Catherine Brickston übersetzten Tagebuch zu lesen ist, wird Ladonna versuchen, dort weiterzumachen, wo das Duell mit Sardonia sie unterbrochen und über Jahrhunderte in einen Versteinerungsbann eingeschlossen hat. Dass Ladonna dabei sowohl hinterhältig wie offen brutal vorgeht bekommen ihre veelaseitigen Verwandten zu spüren, als sie eine ihrer Verwandten nach der mit Hilfe ihres magischen Ringes durchgeführten Befragung tötet. Die Gefangennahme durch die anderen Veelas wehrt sie damit ab, dass sie diese in einen mit einem alten Feindesvernichtungszauber überzogenen Bereich lockt, wo sie aus sich selbst heraus verbrennen. Außerdem schlägt Ladonna gegen Handlanger der Mafia-Patriarchin Donna Gina Venuti los, die versuchen, ihrem unterworfenen Luigi Girandelli Haus und Grundstück wegzunehmen. Dabei tötet sie mehrere ranghohe Mitglieder anderer Familien und verwandelt Donna Gina selbst sowie ihre Nichte Laura Roselli in langstielige Rosen, die sie im Garten ihres neuen Unterschlupfes einpflanzt. Die italienische Zaubereiverwaltung gerät in Aufruhr, weil die sich selbst als Rosenkönigin bezeichnende Dunkelhexe Donna Ginas Haus mit einem zigfachen Feuerzauber auf einen Schlag vernichtet. Dabei werden sämtliche italienischen Zauberkraftaufspürsteine überlastet und zerstört. Dass Ladonna einen blutigen Krieg unter den Mafia-Familien ausgelöst haben mag interessiert sie nicht. Sie will ihre Macht festigen und sich an allen Nachkommen Sardonias rächen und eine neue Hexenschwesternschaft gründen, um die ihrer Meinung nach unzulässigen Errungenschaften der magielosen Menschheit zu zerstören. Eine mögliche Feindin der Wiedererwachten ist die aus Sardonias Nichte und der altaxarroischen Erdgroßmeisterin zusammengefügte Anthelia/Naaneavargia.
Diese weiß durch den Veela-Beauftragten Julius Latierre und die Veela Sternennacht von der neuen Feindin, vor allem, dass sie diese nicht im Kampf töten darf, um nicht der Blutrache ihrer Veelaverwandten anheimzufallen. Doch sie hat noch andere Sorgen. Sie will den US-Zaubereiminister Chroesus Dime aus dem Bann des Blutkettenfluches befreien, den eine ihr bis jetzt unbekannte Hexe auf ihn gelegt hat, weil sie mindestens ein Kind von ihm trägt. Sie weiß, dass Dime unter diesem bösen Zauber seine ordentlich angetraute Frau verstoßen muss. Darauf baut Anthelias Plan, Dime entweder zu entmachten oder zu befreien.
Eartha Dime lag ausgestreckt auf einem mit einer dünnen Daunendecke ausgelegten Untersuchungstisch. Mater Vicesima führte gerade ihren Zauberstab und einen kreisrunden Spiegel über ihren nackten Körper. "So wie es aussieht hast du wahrhaftig empfangen, Eartha. Allerdings kann ich mit dem Spiegel noch nicht genau abschätzen, ob es ein, zwei oder mehr Embryonen sind. Jedenfalls musst du sicher ebenso mit einer Zutrittsabweisung für dein Elternhaus rechnen wie dein Vater", sagte die hoch angesehene Mitstreiterin von Vita Magica, die demnächst darauf hoffen durfte, ihren Titel Mater Vicesima in Mater Vicesima Secunda ändern zu dürfen.
"Du meinst, ich darf nicht zu meiner Mutter ins Haus, um ihr zu helfen, damit sie nicht von übereifrigen Leuten erledigt wird, wenn mein Vater was anleiert, um sie loszuwerden?" wollte Eartha wissen.
"Sagen wir es mal so: Durch die ganzen Schutzzauber, die dein Elternhaus umspannen und durchziehen ist sie dort auf jeden Fall sehr gut geschützt. Allerdings könnte ihr einfallen, diesen Schutzbereich zu verlassen, um ihrer Arbeit nachzugehen oder sich gegen was immer dein Vater sich ausgedacht hat vorzugehen. Für zweiten Fall solltest du dich bereit halten, sie fortzubringen, am besten wohin, wo sie weder was anstellen kann noch von irgendwem im Eifer des Gefechtes getötet werden zu können."
"Ich kann der doch nicht schreiben oder durch das Flohnetz mitgeben, dass sie demnächst wohl entweder im eigenen Haus bleiben oder sich ganz weit vom US-Zaubereiministerium entfernt verstecken soll. Dann müsste ich ihr irgendwie klarmachen, woher ich das weiß", erwiderte Eartha mit gewissem Unmut. In ihr widerstritten die Loyalität zur Gruppe Vita Magica und die Liebe zu ihren beiden Eltern. Sie hatte schon sehr stark gegen ihr Gewissen ankämpfen müssen, um das schicksalhafte Treffen zwischen ihrem Vater und Phoebe Gildfork einzufädeln, obwohl sie genau wusste, was danach passieren würde. Sich damit anzufreunden, dass ihre Mutter demnächst aus dem eigenen Haus verjagt oder herausgeholt würde regte ihr Gewissen erneut an. Andererseits wusste sie, dass es keine andere Möglichkeit gab, sicherzustellen, dass Vita Magica eine sichere Wirkungsstätte in den Staaten finden konnte.
"Ich bin zwar keine ausgebildete Heilerin. Aber die Erfahrung als zwanzigfache Mutter und die, die Säuglingszeit selbst bewusst noch mal erlebt zu haben verraten mir, dass du wohl bald bei Beata und Benedetta aufhören musst. Abgesehen davon brauchen wir eine glaubhafte Legende, wieso du jetzt auch schwanger bist."
"Ich habe an einer der wiederauflebenden Mora-Vingate-Partys teilgenommen. Das, was Berufsspione als Legende bezeichnen, ist so gut wie wasserdicht und einblickspiegelsicher", erwiderte Eartha.
"Gut, Eartha. Dann hoffe ich, dass du deinen Eltern helfen kannst, die notwendige Trennung gut zu überwinden. Öhm, wo ist diese aufsässige Muggelstämmige Nancy Gordon eigentlich untergekommen?"
"Das weiß ich leider nicht", erwiderte Eartha. "Das letzte, was ich von ihr hörte war, dass sie kurz in der Nähe von Los Angeles unterwegs war. Ich weiß nur, dass sie sich in ihrer Heimatgegend eine von den Goldfield-Schwestern als Mutterschaftsbegleiterin ausgesucht hat."
"Man sollte schon wissen, wo die selbsterklärten Feinde stecken", erwiderte Mater Vicesima.
"Dann musst du sie zu dir hinholen, gemäß dem Grundsatz "Halt dir deine Freunde nahe und deine Feinde noch viel näher!"
"Das ist eine gute Idee, Eartha. Wenn das mit deiner Mutter geklärt ist, dass sie nicht sterben muss, suche nach Nancy und ziehe sie als "Leidensschwester" ins Vertrauen!" schlug Mater Vicesima vor.
"Könnte anstrengender werden als meine eigene Mutter vor übereifrigen Draufhaltern des Zaubereiministeriums zu schützen", erwiderte Eartha. Dann fiel ihr noch was ein. "Mater Vicesima, und du bist sicher, dass das mit meinem Vater und Phoebe Gildfork nicht schon längst aufgedeckt wurde? Die Heiler sind genial im Rauskriegen von sowas, und wenn einer sich ihm gegenüber verplappert fällt er noch tot um."
"um die Heiler mache ich mir weniger sorgen, Eartha. Der Fall Cyril Southerland hat bewiesen, dass Heilerinnen, die erfahren, dass jemand durch den Blutkettenzauber an eine mit Kindern gesegnete Hexe gebunden ist, wie ein Wachgreif darauf aufpassen, dass der "Patient" nicht damit konfrontiert wird, dass er unter diesem Zauber steht. Besorgnis erregend ist höchstens, dass sie nach der schwangeren Hexe suchen, die seine Kinder trägt. Phoebe hat mir da zwar versichert, dass ihr niemand draufkommen kann, auch wenn sie sich wegen ihrer Rangstellung und ihrer Geschäfte immer wieder öffentlich zeigen muss. Doch wie sie das angestellt hat missfällt mir, und ich werde deshalb nichts dazu sagen. Worüber ich mir aber Sorgen machen muss, und da muss ich dich auch bitten, dich bereitzuhalten, ist die Gefahr, dass die fanatischen Sardonianerinnen über mögliche Spioninnen bei den Heilern etwas erfahren könnten, solte es doch irgendwie zu den Heilern um Greensporn und Konsorten durchdringen, dass dein Vater unter dem Catena-Sanguinis-Zauber steht. Denen traue ich nämlich zu, ihn damit zu konfrontieren, dass sie es wissen und ihn somit tot umfallen zu lassen. Also sieh zu, dass deine - wie nanntest du das? - Legende demnächst unerschütterlich ist und du deinem Vater beistehen kannst, sollte er von diesen skrupellosen Hexen bedrängt werden!"
"Verstanden, Mater Vicesima", sagte Eartha Dime. Allerdings wusste sie nicht, wie sie das anstellen sollte, wo sie mindestens ein Kind austrug.
In der Nacht zum ersten Februar flog Anthelia auf dem tarnfähigen Besen Harvey 5 in Richtung des Anwesens der Familie Dime bei New York. Sie hatte zusätzlich zur Tarnbezauberung des Besens noch eine von ihr gefertigte Vorrichtung dabei, die Frühwarn- oder Abfangzauber früh genug erkennen und sie vorwarnen konnte. Doch bis auf fünfhundert Meter entfernung zum Anwesen geschah nichts, was ihr Sorgen machen konnte. Sie sank mit dem Besen auf knapp fünfzig Meter Flughöhe herunter, gerade so, um noch über die Wipfel der freistehenden Bäume zu gleiten. Eigentlich müsste sie das ihr beschriebene Landhaus schon sehen. Doch sie erkannte nur sechs mannshohe, glatt und rund geschliffene Steinkegel, die in einem vollendeten Halbkreis standen. Was innerhalb des Kreisbogens lag verbarg sich in einem silbrigen Nebeldunst, als habe jemand Milliarden Wassertröpfchen zum Schweben gebracht und halte sie in einem am Standort verweilenden Wirbelsturm. Anthelia kannte es, dass Schutzbezauberungen das davon umsponnene Gebiet oder Gebäude vor dem Blick erklärter Feinde verbargen. Also war sie hier offenbar richtig. Denn dass sie als angebliche Ministermörderin und dauerhafte Gegenspielerin des Zaubereiministeriums eine erklärte Feindin war wusste sie ja längst. Sie bog nach westen ab und umflog die auf der Stelle stehende Säule aus silbernem Nebel. Dabei zählte sie insgesamt zwölf der kegelförmigen Grenzsteine. Das verriet ihr, dass hier jemand einen starken mit Erde und Himmel wechselwirkenden räumlichen Zauber ausgeführt hatte. Sie selbst kannte genug solcher Zauber, mit denen für eine gewisse Zeit oder dauerhaft ein bestimmtes Gebiet umschlossen werden konnte.
Sie flog auf die Steine zu, nicht zu schnell. Denn sie wollte gewiss nicht mit überhöhter Geschwindigkeit gegen eine unsichtbare Schutzglocke prallen. Je näher sie den Begrenzungssteinen kam, desto mehr verschwammen diese ebenfalls, wurden scheinbar immer durchsichtiger. Der silberne Nebeldunst wurde zu einer silbern leuchtenden Halbkugel. Dann, sie war noch knapp hundert Meter von den Begrenzungssteinen entfernt, stieß sie mit dreifacher Schrittgeschwindigkeit gegen eine sanft vibrierende und dann mit großer Wucht zurückdrängende Kraft. Ihr Besen geriet in eine Drehbewegung, die sie jedoch rasch aufhob und dann wieder auf das Hindernis zuflog. Diesmal traf sie nur mit Schrittgeschwindigkeit auf das Hindernis, wurde jedoch mit der dreifachen Wucht zurückgefedert. Dabei fühlte die Vertraute der alten Erdzauber, dass etwas aus dem Erdboden in diese Kraft hineinwirkte. Und noch etwas gewahrte Anthelia/Naaneavargia. Als sie das zweite Mal mit der unsichtbaren Begrenzung zusammenstieß, verschwanden die Steine und die silberne Halbkugel vollständig. Sie vermeinte, nur die frei stehenden Bäume und den von abgestorbenem Gras bedeckten Boden zu sehen. Wenn vor ihr das Anwesen lag war dieses nun für sie so unsichtbar wie sie und ihr Besen für alle anderen Augen.
Anthelia landete. Sie wirkte leise summend das Lied, das ihr verriet, welche Zauber den Erdboden durchdrangen. Dabei sah sie ein Gebilde, das wie mehrere durch schwach glimmende Verstrebungen verbundene Kugelschalen aussah. Sie hörte ein gleichförmiges Singen aus der Erde und fühlte, dass eine fremde Kraft ihren Untersuchungszauber zurückdrängte. Als sie merkte, dass sie die Widerstandskraft des fremden Zaubers nicht länger aushalten konnte beendete sie ihren Untersuchungszauber. Immerhin hatte sie erfahren was sie wissen wollte. Das Anwesen wurde nicht von einer Glocke aus Zauberkraft umfriedet wie Sardonias Heimatsiedlung Millemerveilles, sondern in eine aus mehreren Schichten bestehende Kugelschale aus miteinander verwobenen Zaubern eingeschlossen. Wenn der gemeinsame Mittelpunkt der ineinandergefügten Sphären der Mittelpunkt des Wohnhauses war, dann durchmass diese Kugelzone vierhundert Meter. Die Kraft dieses Zaubers reichte über die sichtbaren Begrenzungssteine hinaus. Somit war es nicht möglich, durch Schwächung der körperlichen Abgrenzung den Verbund der Schutzzauber zu durchdringen. Ebenso konnte sie es gleich vergessen, unter der Erde unter das Haus zu gelangen und dann durch den Boden darin einzudringen. Denn diese Sphären reichten dann auch zweihundert Meter in die Tiefe und würden sie zurückweisen, je schneller sie unterwegs war um so heftiger.
Anthelia hob wieder ab und flog in die Richtung, aus der sie gekommen war davon. Da sie damit gerechnet hatte, dass das Haus der Dimes sehr gut gegen Feinde gesichert war, fühlte sie sich weder enttäuscht noch verärgert. So würde sie eben den zweiten Ansatz wagen, um Argentea Dime dem Zugriff ihres unter dem Blutkettenfluch stehenden Mannes zu entziehen oder ihn selbst dazu zu zwingen, in sein Haus zurückzukehren, um seiner Frau zu zeigen, dass er selbst zu einer von den Schutzbannen bekämpften Person geworden war.
Zehn Kilometer vom Dime-Anwesen entfernt landete Anthelia und apparierte in die ehemalige Plantagenbesitzervilla fünf Meilen von New Dropout, Mississippi entfernt. Dort schrieb sie einen Brief an Argentea Dime, den sie mit einer ihre drei Posteulen verschickte. Sie ging nicht davon aus, dass Argentea ihren Worten Glauben schenkte. Eher rechnete sie damit, dass sie aus purem Misstrauen ihr gegenüber auf das einging, was sie ihr vorschlug.
"Ich muss davon ausgehen, dass VM mir noch nachstellt, weil ich nicht einsehe, nur weil die mir drei Kinder in den Bauch getrieben haben, meinen Mund zu halten", sagte Nancy Gordon zu Martha Merryweather, als sie diese in ihrem Wohnzimmer traf. Vorsorglich hatten sie das Wohnzimmer zu einem Klangkerker bezaubert.
"Ich denke, diese Leute werden mit ihren Verbindungen zusehen, zu erfahren, wo genau sie untergebracht sind und was sie demnächst vorhaben. Zu dem kann ich mir bei den bisherigen Erfahrungen mit diesen Leuten vorstellen, dass sie verhindern, dass Sie öffentliche Berufe in der Zaubererwelt ergreifen können", erwiederte Martha Merryweather, die ja selbst zu einer ungewollten Mehrlingsmutter geworden war, das aber hingenommen hatte, weil die Kinder von ihrem Mann Lucullus stammten.
"Will sagen, diese Möchtegern-Zaubererweltwohltäter werden über ihre Agenten deichseln, dass ich nirgends arbeiten kann, wo ich was öffentlich wichtiges rausgeben kann?" wollte Nancy wissen.
"Genau das. Dass das Ministerium Ihnen den Arkanet-Zugang gesperrt hat ist nur der erste Schritt. Was immer den Minister dazu getrieben hat, diesen sehr fragwürdigen Frieden mit VM zu vereinbaren, das treibt ihn und alle, die ihm folgen dazu, Leute wie Sie und womöglich auch mich mundtot zu machen, ohne uns gleich als Staatsfeinde wegsperren zu lassen."
"Können Sie mir nicht einen außerministeriellen Arkanetzugang erstellen, Martha?" fragte Nancy mutig. Denn sie konnte nicht wissen, ob Martha die sogenannte Friedenspolitik Dimes befürwortete oder ablehnte.
"Ich habe das Arkanet erfunden und kenne natürlich alle Wege, Zugänge einzurichten. Allerdings habe ich mit dem Zaubereiministerium eine bindende Übereinkunft, nur solchen Bürgerinnen und Bürgern einen Zugang zu ermöglichen, die entweder im Ministerium selbst oder für eine diesem wohlwollend helfende Organisation arbeiten. Das heißt, Nancy, Sie müssten entweder in einem Bereich des Ministeriums arbeiten oder ... vielleicht im Laveau-Institut vorsprechen. Ich weiß jedoch sehr zuverlässig, dass die Bedingungen für Besucher schon sehr strickt sind, und für mögliche Mitarbeiter noch strickter."
"Gut, das verstehe ich, weil ich auch über verschiedene mehr oder weniger dunkle Wege erfahren habe, wie ungefähr die Anwerbung neuer Mitarbeiter stattfindet, Martha. Da ich nicht weiß, was genau sie wissen und ich mir nicht auch noch Ärger mit dem LI einhandeln will, reden wir besser nicht weiter darüber. Aber danke, dass Sie mir zugehört haben!"
"Ich hoffe, Ihnen irgendwann helfen zu können. Zumindest können Sie die Interessengruppe VM-betroffener Mütter kontaktieren, um Erfahrungen auszutauschen", sagte Martha.
"Die Gruppe, die von unter anderem Ihnen, Mrs. Partridge und Mrs. Hammersmith ins Leben gerufen wurde? Ja, das werde ich wohl überdenken", erwiderte Nancy. Dann verabschiedete sie sich. Vor der Tür des Hauses Zwei Mühlen stand der von ihr privat gekaufte Minicooper, den sie selbst mit einigen nützlichen Zaubern aufgebessert hatte, allerdings ohne Erlaubnis des Ministeriums.
Nachdem Nancy mit ihrem mintgrünen Wagen davongefahren war kehrte Martha zu ihren von VM auferlegten Verpflichtungen einer Drillingsmutter zurück. Das hinderte sie jedoch nicht daran, daran zu denken, was Nancy zu Beginn ihres Besuches behauptet hatte, wo sie erwähnt hatte, dass sie nicht mehr als Ansprechpartnerin im Verbindungsbüro für Menschen mit und ohne Magie arbeitete. Sie hatte behauptet, Minister Dime sei offenbar von den Kontaktleuten bei Vita Magica mit unausräumbaren Gründen dazu veranlasst worden, diesem Friedensabkommen zuzustimmen, das zu allem Verdruss über seine eigene Amtszeit hinaus gelten sollte. Das alles, weil die aus skrupellosen Werwölfen bestehende Mondbruderschaft versucht habe, ein tückisches Gas in Umlauf zu bringen, dass ungeborene Kinder in Träger der Werwolfkrankheit verwandelte. Diese Behauptung alleine und auch Nancys verdrossene Vermutung, der Vertrag lege den Minister und seine Mitarbeiter an eine unsichtbare Kette, hatten bei Martha leise Alarmglocken zum klingen gebracht. Was, wenn Dime wahrhaftig auf irgendeine Weise von dieser Bande an eine unsichtbare Kette gelegt wurde? Sie kannte diverse Flüche aus ihrer über wenige Jahre abgehandelten Zaubereiausbildung. Imperius war einer, der wegen seiner umfangreichen Möglichkeiten zu den unverzeihlichen Flüchen gehörte. Hatten diese Banditen den Minister mit diesem Fluch unterworfen? Von Julius wusste sie, dass willensstarke Menschen dieses Joch abschütteln konnten, wenn der Fluch nicht regelmäßig wiederholt wurde. Dann müsste ja der- oder diejenige ständig in der Nähe des Ministers sein. Sicherer wäre da ein Zauber, der den Minister unmittelbar an Leib und Leben bedrohte, wenn er nicht dem Auftrag folgte. Sowas gab es auch, wusste sie von Blanche Faucon. Dann fiel ihr die Geschichte ein, die Julius ihr aus seinem vorletzten Jahr in Beauxbatons erzählt hatte, dass der Austauschschüler Cyril Southerland wegen seiner Unbeherrschtheit die Mitschülerin Bernadette Lavalette beschlafen und unwillentlich befruchtet hatte. Nachdem ihr das enthüllt worden war hatte sie ihn durch einen tückischen Zauber mit dem Leben ihres gemeinsamen Kindes verkettet und dadurch gezwungen, mit ihr zusammenzubleiben. Sie hatte ihn aus Beauxbatons verschwinden lassen, als dieser bösartige Zauber aufzufliegen drohte. Dafür, dass dieses Mädchen sich früher was auf seine Intelligenz eingebildet hatte musste sie unbedingt noch ein Rechtfertigungsschreiben hinterlassen, was sie angestellt hatte und hatte somit Madame Faucon vor einer vorzeitigen Entlassung aus ihrem Amt bewahrt statt alle in Unwissenheit zu belassen. Aber das wäre ja ungeheuerlich, sollte diese verächtliche Methode, die ja auch das Leben ungeborener Kinder bedrohte, auf den Minister angewandt worden sein. Sie hoffte, dass sie da nur einer paranoiden Fehleinschätzung aufgesessen war. Denn sonst hieße das, dass der amtierende Zaubereiminister von Nordamerika eine irgendeiner von VM überzeugten Hexe hörige Marionette war, die nur noch das sagen oder tun durfte, was diese Hexe von ihm verlangte, wollte sie ihm nicht damit drohen, ein gemeinsames Kind umzubringen. Irgendwie kam ihr das wie eine abartige Abwandlung von bösartigen Voodoo-Ritualen vor, bei denen ein Zauberer ein kleines Stück vom Körper seines Opfers in eine Wachs- oder Lehmpuppe einarbeitete, die noch dazu dem Opfer ähnelte, um dieses dann aus der Ferne zu drangsalieren oder zu töten, um es nach Belieben als echten Zombie wiederauferstehen zu lassen. Allerdings fragte sie sich, ob die Leute von VM soweit gehen würden, durch dunkle Verbindungszauber zwischen ungeborenen Kindern und deren Vätern Einfluss auf wichtige Leute auszuüben. Wie skrupellos war diese Bande? Das fragte sie sich ja schon, seitdem ihr mitgeteilt worden war, dass sie drei Kinder erwartete. Auch störte sie es selbst, wie paranoid sie reagierte, wenn jemand sich ihren Kindern näherte. Zu wissen, dass dies von der Mixtur kam, die ihr und ihrem Mann zugespielt worden war genügte leider nicht, um dieses Verhalten grundweg zu unterdrücken.
Argentea Dime schleuderte den Pergamentzettel in die äußerste Ecke ihres in hellen Grüntönen gehaltenen Zimmers, das sie in Anlehnung an die Gepflogenheiten hochrangiger Familien als ihr Boudoir bezeichnete. Wie hatte dieses Spinnenweib es wagen können, ihr eine derartige Botschaft zuzuspielen? Als die erste Wut verflogen war holte sich Argentea den von sich geschleuderten Pergamentbogen wieder und las ihn noch einmal:
Ich grüße dich, Argentea Dime, Tochter der Berenice Lodes! ich bin Anthelia, die Sprecherin und höchste Schwester der weltumspannenden Sororität der schwarzen Spinne, welche das Ziel verfolgt, die Menschen mit und ohne Zauberkräfte unter der fürsorglichen Führung verantwortlicher Hexen in eine friedliche Zukunft zu geleiten.
Auch wenn ich weiß, dass meine Zeit und die auf dieses Pergament geschriebene Menge Tinte womöglich vertan sein werden, weil du mir nicht glauben wirst, so halte ich es doch für meine mitschwesterliche Pflicht, dich davor zu warnen, dass jemand es auf deinen Gatten und auf dich abgesehen hat, der auch gegen die Interessen der von mir geführten Schwesternschaft handelt. Ich hoffe darauf, dass du dir zumindest die Zeit nehmen wirst, meine Botschaft zu lesen. Da der euer Haus umspannende Schutz nichts gegen euch bösartig bezaubertes unbeschadet zu dir vorlässt darfst du dir zumindest sicher sein, dass ich diesen Brief nicht mit einem dich oder deinen Gatten betreffenden Bann- oder Fangzauber belegt haben kann, auch wenn du mir sicher derlei unterstellen magst, was ich durchaus verstehen kann.
Wie du ganz sicher erfahren hast stellte dein Gatte, der derzeitige Zaubereiminister der vereinigten Staaten von Amerika, seinen Mitarbeitern und der magischen Öffentlichkeit ein Dokument vor, dass er als Erfolg im Ringen um eine friedliche Koexistenz magischer Interessengruppen pries, den Friedensvertrag mit der ganz eigene Interessen verfolgenden Gruppierung Vita Magica. Wie ich aus zuverlässigen und von meiner Seite aus nicht preiszugebenden Quellen erfuhr ist dieses Dokument nicht das Ergebnis einer von ihm frei getroffenen Entscheidung, sondern das Ergebnis eines auf ihn ausgeübten Zwanges. Sicher hast du auch erfahren, dass das von ihm als Friedensvertrag vorgestellte Dokument längst nicht überall begeistert aufgenommen wurde. Das liegt daran, dass jene erwähnte Gruppierung Vita Magica über mir derzeit noch unbekannte Mittelsleute eine Möglichkeit gefunden hat, deinen Gatten unter ihren Einfluss zu bekommen, so dass er auf jede von ihnen gestellte Bedingung eingehen muss. Sicher wirst du jetzt einwenden, dass er dann wohl kaum die Weihnachtsfeiertage in eurem Haus zubringen konnte. Doch hat er wirklich mehr als einen Tag und eine Nacht bei dir zugebracht? Hat er wirklich eine ganze Nacht mit dir im gemeinsamen Bett geschlafen? Falls ja, verstehe ich, warum du meine Botschaft für eine böswillige Verleumdung halten musst. Ich habe ja auch nicht behauptet, dass er unter einem Fluch wie Imperius steht. Andererseits kann es auch sein, dass das Mittel, mit dem er zur Erfüllung ansonsten unannehmbarer Bedingungen gezwungen wird, ein progressiver Fluch ist, der immer dann an Stärke gewinnt, wenn ihm Widerstand geleistet wird und sich auf ein für eure Schutzzauber noch überdeckbares Maß abschwächt, wenn die mit ihm verknüpften Bedingungen erfüllt wurden. Ebenso, und darauf deuten die mir zugegangenen Berichte hin, kann es sich um einen mit der Dauer stärker werdenden Fluch handeln, der über den Leib auch die Seele deines Gatten durchtränken und verformen wird und dann natürlich als feindlicher Zauber von eurem Schutzzaubergespinnst abgewiesen wird. Womöglich ist es auch eine Form von körperlich-geistiger Abhängigkeit, in die dein Gatte hineingelockt wurde. In jedem Fall besteht der nächste Schritt jener, die auf diese Weise Einfluss auf ihn ausüben darin, ihn ganz und für immer unter ihrer Herrschaft zu haben, was heißt, dass er sein bisheriges Heim und seine Familie aufzugeben hat. Sicher kann und wird er dich nicht töten, solange ihr beide euch in eurem gemeinsamen Haus aufhaltet. Doch möchte ich nicht ausschließen, dass er durch den ihn unterjochenden Einfluss dazu getrieben werden wird, dich als seine Ehefrau zurückzuweisen und zu verstoßen, wofür er irgendwelche für alle anderen nachvollziehbaren Gründe finden oder erfinden wird. Daher möchte ich dir zwei Dinge vorschlagen:
Lade deinen Gatten ein, weitere Tage bei dir im Haus zu verbringen und frage ihn, ob er die Nächte bei dir im gemeinschaftlichen Bett verbringen wird. Geht er darauf ein, so darfst du meine Warnung als haltlos und böswillig zurückweisen. Geht er nicht darauf ein, ja führt irgendwelche Gründe an, die ihn daran hindern, bei dir zu übernachten, ja betreibt er irgendwas, um eure Ehe zu beenden, so magst du daran denken, dass ich dich gewarnt habe. Dann biete ich dir an, dich an mich zu wenden, damit du vor möglichen magischen Angriffen auf deinen Leib und dein Leben geschützt wirst. Denn mir liegt viel daran, jedes Leben einer Hexe zu bewahren, das nicht in Feindschaft gegen mich geführt wird.
Dieses Angebot, dich vor möglichen Angriffen zu beschützen gilt meinerseits auch für deine Kinder und Kindeskinder. Denn mir wurde ebenso mitgeteilt, dass der Kernzauber des euer Haus beschützenden Geflechtes von Schutzbannen verschwindet, sobald dein Gatte, auf dessen Wort und Blut das Haus geprägt ist, dich zur unerwünschten Person erklärt. Falls du jetzt daran denkst, ich könnte der Auffassung anhängen, dass du deinerseits Misstrauen gegen deinen Gatten hegst und dadurch der Schutzzauber vergeht, so weiß ich, dass dies nicht gelingen wird. Denn das Haus wurde auf deinen Gatten geprägt, bevor er und du von Zeremonienmagier Springfield zu Mann und Frau erklärt wurdet.
Auch wenn du mir kein Wort glaubst: Achte auf dich in schlechtes Licht rückende Berichte oder offene Versuche deines Gatten, sich dir zu entziehen oder dich zu verstoßen! Solche Ereignisse werden mir recht geben. Vielleicht kann ich jedoch auch die Quelle des unerwünschten Einflusses aufspüren und zum Versiegen bringen. Dann darfst du diese Warnung als voreilig oder vorwitzig ansehen.
Triff du die für dich und die deinen richtige Entscheidung!
Anthelia
Dieses verdammte Weib hatte mit zwei Dingen recht, fand Argentea. Zum einen hatte ihr Mann einen eigentlich unannehmbaren Vertrag mit Vita Magica abgeschlossen, der sogar noch von seinen Nachfolgern einzuhalten sein würde. Zum anderen hatte Chroesus nach der Weihnachtsfeier behauptet, wegen aufgekommener Anfragen und der Anfeindungen wegen des Vertrages ins Ministerium zurückkehren zu müssen. Er hatte also keine Nacht in ihrem gemeinsamen Haus geschlafen, anders als ihre gemeinsamen Kinder und Enkel. Doch sollte sie sich jetzt davon ins lodernde Drachenmaul treiben lassen? Bisher hatte ihr Mann auf keinen Fall etwas getan, was ihr übel bekommen würde. Auch würde er sich nicht dazu treiben lassen, sie zu verstoßen und sie damit seinen Feinden auszuliefern. Selbst Kobolde kamen nicht durch das Geflecht von Schutzzaubern hindurch, weil es zum Teil auf Zwergenzauber gründete, den die Kobolde nicht brechen konnten. Aber dieses Spinnenweib hatte auch leider damit recht, dass das Schutzgeflecht den Hauseigentümer und alle von ihm anerkannten und mit ihm verwandten beschützte. Verstieß er sie aus ihr nicht vorstellbaren Gründen, so war sie in diesem Haus ungeschützt. Wer nur ihr feindlich gesinnt war konnte sie dann aus der Ferne angreifen, sofern der Schutzzauber sie nicht von sich aus dazu trieb, seinen Wirkungsbereich zu verlassen. Woher wusste dieses Flittchen das alles? Die einzige Antwort war: Sie hatte sich sehr genau erkundigt, wie die Dimes ihr Haus und Grundstück gegen bösartige Wesen und Kräfte abgesichert hatten. Vielleicht hatte dieses Biest sogar eigene Untersuchungszauber gewirkt, um eine Schwachstelle zu finden. Weil es keine solche gab hatte sich dieses Ungeheuer in Frauengestalt zu diesem Manöver entschlossen, sie aus dem Haus zu locken oder Zwietracht zwischen ihrem Mann und sie zu schüren. Aber das sollte ihr nicht gelingen. Sie überlegte, ob sie ihren Mann diesen Brief übersenden sollte. Doch dann fiel ihr ein, dass dies genau das sein mochte, was diese Anthelia wollte. Am Ende steckte in dem Pergament ein Zauber, der auf den Träger eines bestimmten Namens geprägt war und erst dann seine bösartige Wirkung versah, aber vorher wie ein Küken vor dem Schlüpfen ruhig und reglos verharrte. So entschied sie sich, diesen Brief zu verbrennen. Doch zuvor wollte sie wissen, ob wirklich jene Hexe den Brief geschrieben hatte, die auch als menschengroße schwarze Spinne auftreten konnte. Mit dem Scriptor-Vista-Zauber beschwor sie die Erscheinung einer in ein unanständig hautenges Kostüm aus scharlachrotem Stoff gekleideten Frau mit blassgoldener Hautfarbe, blaugrünen, kreisrunden Augen und dunkelblondem Haar herauf, die eine für Männer höchst attraktive Erscheinung darstellte. Ja, so hatte ihr Chroesus die Anführerin der Spinnenschwestern beschrieben.
"Dein Tag wird kommen, wo deine Seele in den Mauern von Doomcastle eingekerkert wird, Dirne", schnaubte Argentea Dime, bevor sie das heraufbeschworene Abbild wieder verschwinden ließ. Anschließend warf sie das Stück Pergament in den kleinen Kamin ihres Boudoirs und ließ es mit "Incendio" in Flammen aufgehen.
"Argentea, irgendwer hat deinem Mann Dokumente in die Hand gegeben, die angeblich aus eurem Blutsigelschrank stammen sollen und die angeblich bei Leuten von der Werwolfbruderschaft gefunden wurden", hörte Argentea die Stimme ihrer Tante Lenore aus dem Wohnzimmer. Argentea sprang auf und eilte in das weitläufige aber dennoch nicht protzig eingerichtete Wohnzimmer. Sie sah auf das magische Porträt ihrer Tante mütterlicherseits, dass sie zum siebzehnten Geburtstag geschenkt bekommen hatte und von dem es noch fünf Kopien gab, die an verschiedenen Stellen aushingen.
"Was für Dokumente, Tante Lenore?" fragte Argentea.
"Einsatzpläne gegen feindliche Gruppierungen und besonders gegen halbrassige oder halbmenschliche Wesen. Einer von der Werwolfsondergruppe Bullhorn hat bei einer Hausdurchsuchung diese Dokumente gefunden. Jetzt liegen sie im Ministerium."
"Und die sollen aus dem Blutsiegel-Tresor sein, den Chroesus und ich im Keller haben? Da habe ich schon seit einem halben Jahr nichts mehr herausgeholt, geschweige denn wüsste ich, dass dort solche Unterlagen verstaut waren", erwiderte Argentea Dime. Wut und Unbehagen erhitzten ihren Körper.
"Zumindest hat dein Mann das behauptet, nachdem ihm mitten bei der Begrüßungsrunde mit der französischen Zaubereiministerin die Nachricht übergeben wurde, dass die Mondbrüder diese mit S8 klassifizierten Dokumente besessen haben sollen."
"Dann können die die von wem anderen haben, der damit vertraut ist", erwiderte Argentea Dime. "Oder hat Chroesus etwa behauptet, ich hätte diese Dokumente entnommen, um sie unseren erklärten Feinden zuzuspielen? Dann hätte ich die doch eher dieser Hure Anthelia oder den nicht minder verwerflichen Nachtfraktionsschwestern zugehen lassen und nicht solchen Leuten, die Eartha und meine anderen Kinder in beißwütige Mondanheuler verwandeln können."
"Chroesus hat noch nichts gesagt. Er prüft wohl erst, wer die Unterlagen bekommen hat und an wen sie weitergehen sollten, wenn die SQB sie nicht abgefangen hätte", sagte Lenores Porträt.
"Gut, dann danke ich dir für diese Mitteilung und hoffe, dass sich das alles als sehr großes Missverständnis erweist", sagte Argentea Dime. Dann kehrte sie in ihren eigenen Raum zurück. Sie dachte daran, dass Anthelia diesen Streich gespielt haben mochte, um zum einen die Werwölfe der Mondbruderschaft zu belasten und zweitens das Vertrauen innerhalb des Ministeriums und zwischen dem Minister und seiner Frau zu zerstören. Das Prinzip war uralt: "Divide et impera!" - Teile und herrsche.
"Wie war das, Schwester Romina? Dieser Schmierfink vom Kristallherold hat das Zerschellen dieses Weltraumflugapparates als möglichen Angriff von uns oder anderen die Technik der Unfähigen verachtende Gruppen bezeichnet?" wollte Anthelia von ihrer Bundesschwester Romina Hamton wissen. Diese überwachte sowohl die Internetmeldungen über das vor zwei Tagen verunglückte Weltraumfahrzeug namens Columbia und die damit zusammenhängenden Berichte in den beiden großen Zaubererzeitungen.
"Na ja, Ted Steeples ist dafür bekannt, alle die Muggelwelt erschütternden Ereignisse mit unserer Schwesternschaft zu verknüpfen. Außerdem ist er gerade mit Lino bei der Unterredung zwischen Dime und der französischen Zaubereiministerin Ventvit."
"Ach, das ist jener Zauberer, der damals auch behauptet hat, wir könnten auch den Angriff auf diese Handelstürme in New York angestiftet haben, um Chaos in die Welt der Magieunfähigen zu bringen. Gut, da ich dort aufgetaucht bin, um sicherzustellen, dass keiner den dabei entstandenen Unlichtkristall erwischt - was mir leider misslang -, hatte er natürlich seine Geschichte", schnaubte Anthelia. "Aber was hätten wir davon, diese lächerlichen Versuche zu stören, tiefer und tiefer in den Weltenraum vorzudringen, wo jeder vernünftige Mensch weiß, dass wir dort nicht überleben können und uns deshalb auf die Bewahrung unseres Planeten zu besinnen haben? Dann müssten wir ja sämtliche darauf abzielende Vorhaben verderben oder einen Weg finden, die Erde in einen magischen Kokon einzuschließen, der nichts und niemanden in den Weltenraum vordringen lässt. Dabei gibt es für uns hier auf der Erde genug zu tun."
"Ja, aber für unsere Widersacher ist dieser Vorwurf natürlich ein gefundenes Fressen, ähnlich wie die Hetze gegen alle Hexen damals in Salem und anderswo", sagte Romina.
"Wobei wir ja nicht mehr die einzige Hexenschwesternschaft sind, die dem selbstherrlichen Maschinenwahnsinn der Magieunfähigen ablehnend bis offen feindlich gegenübersteht", warf Anthelia ein.
"Ach, du meinst, diese andere Wiederkehrerin könnte das gemacht haben?" fragte Romina.
"In diesem Fall wohl nicht, weil sie erst einmal zusehen muss, sich über unsere gegenwärtige Welt kundig zu machen", entgegnete Anthelia. Romina nickte. "Allerdings möchte ich diese Hexe auch nicht unterschätzen. Immerhin hat sie es erreicht, gegen den Bann Sardonias anzukämpfen und ihre Rückkehr zu vollziehen. Sobald sie weiß, was in unserer Welt vorgeht und wer welche Aufgaben darin hat wird sie ihre früheren Ziele weiterverfolgen, die eigentlich mit denen von Sardonia gleich waren. Sie konnten sich nur nicht darauf einigen, miteinander zu koexistieren. Vielleicht sähe die Welt dann heute wesentlich einladender aus", seufzte Anthelia. Einen Moment hatte sie nämlich daran gedacht, mit Ladonna Montefiori einen Pakt zu schließen. Doch nachdem sie deren Veelaverwandte getroffen hatte und sich noch mal über das Duell zwischen ihr und Sardonia erkundigt hatte war ihr klar, dass Ladonna Montefiori niemals jemanden gleichwertiges neben sich bestehen lassen würde. Also sollte sie, Anthelia, keine Skrupel kennen, die zwar kongeniale aber dennoch unerträgliche Rivalin zu bezwingen und wenn es sein musste, sie zu töten und danach alle ihr entgegenstürmenden Veelas auszulöschen, die mit ihr blutsverwandt waren.
"Diese Dokumente, die der zweithöchsten Geheimhaltungsstufe des Ministeriums unterliegen, tragen eindeutige Kennzeichen, die bestätigen, dass sie aus meinem persönlichen Geheimaktenschrank entwendet wurden, Ladies und Gentlemen", sagte Minister Dime den im Presseraum versammelten Reportern aus den Staaten und Frankreich gegenüber. Gerade hatte er erwähnt, dass er eine Unterwanderung des Ministeriums fürchtete, jedoch keine näheren Auskünfte machen konnte, woher er das hatte. Da hatte ihm dieser rotblonde Igelkopf Gilbert Latierre doch glatt die Frage gestellt, ob das was mit den Alarmplänen bei einer neuerlichen Werwolfattacke auf die Bürger der Staaten zu tun hatte, die bei einer Aktion der SQB gefunden wurden. Dime hatte diesen vorwitzigen Franzosen dann gefragt, wie er auf eine derartige Behauptung komme. Der hatte doch dann glatt geantwortet, dass er seinerseits gefragt worden sei, ob das Ministerium in den Staaten schon geklärt habe, ob es sich um echte Dokumente oder eine arglistige Irreführung zum Zwecke der Verwirrung und Durchsetzung handele. Deshalb hatte Dime schnell geantwortet, dass es wahrhaftig um geheime Unterlagen ginge, er aber nichts über den Inhalt verraten dürfe. Innerlich musste er sich sehr anstrengen, nicht triumphierend zu grinsen oder Gilbert Latierre erfreut zuzunicken, dass der den über mehrere Stationen ausgeworfenen Köder geschluckt hatte und jetzt ganz in seinem Sinn handelte.
"Wir können verstehen, dass Sie nicht näher darauf eingehen möchten, was in den Unterlagen steht, Minister Dime. Aber wieso haben Sie die überhaupt in Ihrem privaten Aktenschrank aufbewahrt, wenn deren Inhalt so brisant ist?" fragte Gilbert Latierre. Seine kalifornische Kollegin Knowles nickte ihm beipflichtend zu.
"Da gibt es so ein Wort, dass Ihnen vielleicht schon mal zu Ohren kam, Monsieur Latierre. Es heißt Vertrauen. Ich ging davon aus, dass es keinen sichereren Ort für derartig geheime Unterlagen gebe als ein mit dem Divitiae-Sanguinis-Zauber gesicherter Raum oder Schrank."
"Welche S-Stufe hatten diese Dokumente noch mal? S0?" wollte Linda Knowles wissen.
"Allein schon das zu benennen wäre ein Verstoß gegen die entsprechende Geheimhaltungsstufe, Linda. Das wissen Sie doch sehr gut. Also unterlassen Sie gütigst solche Fangfragen", erwiderte der Minister.
"Ich denke, meine geschätzte Kollegin aus Kalifornien möchte damit fragen, wieso etwas unterhalb der höchsten Geheimhaltungsstufe nur von Ihnen gelesen werden darf, dass Sie es ausschließlich in einem mit dem Blutsiegelzauber gesicherten Raum oder Möbelstück verstauten, Herr Zaubereiminister", nahm Gilbert Latierre den von Linda gespielten Ball an.
"Dazu gebe ich keinen Kommentar ab, Monsieur Latierre. Ich möchte Sie auch darauf hinweisen, dass ich lediglich Gerüchten entgegentreten wollte, die davon kündeten, dass meine eigene Frau zu einer obskuren Hexenschwesternschaft gehören solle. Zu derartigen Verdächtigungen sehe ich keinen Anlass. Ich stelle nur fest, dass geheime Unterlagen entwendet und/oder kopiert in einem Gebäude aufgefunden wurden, dessen Bewohner nicht zu den Kenntnisberechtigten gehören. Mehr ist von mir und meinen Mitarbeitern nicht zu sagen. Bitte nehmen Sie das alle zur Kenntnis! Sollte sich wider der ersten Einschätzungen doch etwas ergeben, über das die von Ihnen vertretene Öffentlichkeit etwas erfahren muss, so werde ich oder der entsprechende Mitarbeiter des Zaubereiministeriums die nötigen Auskünfte erteilen. Bis dahin üben Sie sich bitte in Geduld!"
"Sie haben sicher recht, dass mein Kollege aus Paris und ich nicht hier sind, um aufgebrochene Lecks Ihrer internen Verständigungswege zu erwähnen", sagte Gilbert Latierre. "Doch wenn da wirklich was dran sein sollte, dass es was mit möglichen Angriffen der Mondbruderschaft zu tun hat, so geht es die Öffentlichkeit schon etwas an. Begehen Sie bitte nicht denselben Fehler, den der britische Zaubereiminister Cornelius Fudge machte, als er die Öffentlichkeit viel zu spät über die Rückkehr des dunklen Lords aufklärte!"
"Sie möchten mir doch nicht etwa vorgeben, wie ich dieses Ministerium zu führen habe, Monsieur Latierre?" entgegnete Minister Dime. "Ich werte das als weiteren durchsichtigen Versuch, näheres über Inhalt und Auswirkungen der Geheimunterlagen zu erhalten. Noch einmal so ein Manöver, und ich widerrufe Ihre Akkreditierung!"
"Das haben schon andere mir angedroht und sind damit sehr kläglich gescheitert", erwiderte Gilbert Latierre. Linda Knowles grinste ihn an. Jetzt fragte Ted Steeples vom Kristallherold:
"Ja, aber so wie Sie eben reagiert haben kommen nur Sie oder ihre Frau oder eines Ihrer gemeinsamen Kinder an alles dran, was in Ihrem Divitiae-Sanguinis-Schrank eingelagert wird. Damit ist es für Kenntnisberechtigte unterhalb S0 doch unerreichbar und somit wertlos. Sind Sie sich also wirklich sicher, dass es sich um Unterlagen aus Ihrem Geheimschrank handelt?"
"Dass Monsieur Latierre vielleicht noch Verständnisprobleme hat muss ich ihm wegen seiner Herkunft zubilligen. Dass Sie jedoch offenbar nicht verstehen, was ich sage enttäuscht mich, Ted. Ich werde nichts über die Geheimhaltungsstufe oder die für diese Unterlagen kenntnisberechtigten verlautbaren. Falls Sie das nicht verstehen können sollten Sie Ihre Kollegin Knowles um die Adresse des Heilers bitten, der ihr Gehör wiederhergestellt hat."
"Ich glaube, Sir, das wollen Sie nicht wirklich", erwiderte Steeples mit jungenhaftem Grinsen. Ja, und er hatte durchaus recht, dachte Dime. Er hatte das auch nur gesagt, um ihn und Linda Knowles erst recht mit der Nase darauf zu stoßen, dass es um eine sehr brisante Sache ging. Sicher hätte er es auch dementieren können. Aber dafür hatte er bereits zu viele Hinweise ausgestreut.
"Dann bleibt mir wohl nur, nachzufragen, was Sie uns als Endergebnis der Gespräche mit Ministerin Ventvit, Monsieur Colbert und Monsieur Chaudchamps mitteilen wollen und dürfen", ging Gilbert Latierre auf den eigentlichen Grund seines Hierseins ein. So konnte Minister Dime eine Liste von Erfolgsmeldungen abspulen, dass unter anderen mehrere Sicherheitsfragen geklärt werden konnten, sowie den Austausch von Ausrüstungsgütern und Forschungsergebnissen betraf. Nach einer halben Stunde hatte er alle Einzelheiten abgehandelt und darauf bezogene Fragen beantwortet, vor allem die, ob eine Aufhebung des Exportverzögerungsgesetzes geplant war, so dass neuere Erzeugnisse aus den Staaten nicht erst in zwanzig Jahren auf den internationalen Markt gelangen durften. Minister Dime erwähnte dazu, dass dies von der Verwendungsart von Erzeugnissen abhinge, welche davon für den freien Handel erlaubt würden und welche entweder erst nach zwanzig Jahren freigegeben würden oder dauerhaft zu verbotener Handelsware erklärt würden. Er erwähnte in dem Zusammenhang auch das nun beigelegte Missverhältnis im Handel zwischen den karibischen Niederlassungen Frankreichs und Südamerikas. Linda Knowles hatte daraufhin gefragt, ob dies im Sinne des brasilianischen oder argentinischen Zaubereiministeriums verlaufen sei. Dime hatte darauf geantwortet, dass er mit diesen Ministerien noch in Verhandlungen stehe und wohl demnächst entsprechende Ergebnisse bekanntgeben könne.
Als die Presseleute gerade den Raum verlassen wollten stürmte Howard McRore von der Sondergruppe Quentin Bullhorn in den Presseraum und lief auf den Minister zu. "Sir, wir haben raus, dass die Bande auch die Neumondakte bekommen hat", wisperte er dem Minister ins Ohr. Dime tat so, als wäre er sichtlich erbost, weil McRore ausgerechnet jetzt in seine Konferenz reingeplatzt war. Dann sagte er laut: "Sie entschuldigen mich, dass ich diese Konferenz beende. Meine Anwesenheit ist anderswo dringend erforderlich."
"Was sollte denn der Auftritt jetzt?" fragte Gilbert Latierre seine amerikanischen Kollegen. Diese zuckten nur mit den Schultern. So ließ er es bleiben, bis sie alle den Saal verlassen hatten.
"Dann werden wir morgen mit dem mexikanischen Zaubereiminister zusammentreffen, die Herrschaften. Außer Monsieur Chaudchamps und Monsieur Latierre bin nur noch ich des Spanischen mächtig genug, um ohne Übersetzer auszukommen. Deshalb habe ich Madame Laporte gebeten, den Wechselzungentrank zuzubereiten, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen", sagte Ministerin Ventvit. Dass sie selbst keinen Zaubertrank mehr trinken konnte, beziehungsweise kein Trank mehr bei ihr wirkte war mittlerweile kein Geheimnis mehr. Euphrosynes verbotener Segen hatte das bewirkt.
"Es ist aber vielleicht doch nicht so ganz unwichtig, zu klären, was von den Geheimgesprächen, die Sie mit Minister Dime geführt haben, nicht irgendwann durchsickert", wandte Gilbert Latierre ein. Ihm gefiel das, die Ministerin damit zu trietzen, dass das amerikanische Zaubereiministerium womöglich eine undichte Stelle in der Geheimhaltung hatte.
"Dann werden Sie ja doch irgendwann erfahren, was Monsieur Colbert, Monsieur Chaudchamp und ich Ihnen bisher nicht darlegen wollen", konterte Ministerin Ventvit.
"Ich habe Ihnen mitgeteilt, dass die LDLL bereits eine Kopie eines angeblichen Geheimdokumentes bekommen hat, um zu prüfen, ob das für die Suche nach versteckten Mondgeschwistern gefährlich werden könnte. Nicht nur die Zaubereiministerien verwenden das Internet, Ministerin Ventvit."
"Dann bitte ich Sie sehr dringend darum, Ihren Informanten bei der LDLL sowie alle weiteren darin einbezogenen Kontaktpersonen darauf hinzuweisen, dass jede Erwähnung in der Öffentlichkeit zu einer Gefährdung derselben führen möge und sie womöglich zu Erfüllungsgehilfen böswilliger Irreführungen werden. Das schließt Sie leider auch mit ein, Monsieur Latierre", entgegnete die französische Zaubereiministerin.
"Deshalb prüfe ich ja alle mir zugehenden Behauptungen und Unterlagen auf mindestens zwei verlässliche Quellen, bevor ich einordne, ob das in meine Zeitung kommen darf oder besser unerwähnt bleibt", beteuerte Gilbert Latierre.
"Dann sollten Ihre Quellen Ihnen sicher verraten, dass es in diesem Fall besser ist, nichts darüber zu berichten", erwiderte die Zaubereiministerin Frankreichs. Gilbert nickte. Beinahe hätte er ausgeplaudert, dass er auch schon wusste, dass die Dunkelhexe Ladonna Montefiori wiedererwacht war. Doch weil das unter Geheimhaltungsstufe S9 eingeordnet war würde er sich und seine Kontaktpersonen einer langjährigen Haftstrafe aussetzen, sofern nicht jemand von der Liga gegen dunkle Künste diese Neuigkeit hinausposaunte, um die Zauberergemeinschaft auf diese schwarze Hexenmeisterin vorzubereiten.
"In Vier Stunden geht es nach Mexiko. Bitte treffen Sie pünktlich in Lakehurst ein!" gab die Ministerin noch an ihre Mitreisenden aus.
Gilbert Latierre wollte die Zeit nutzen, sich noch ein wenig im New York der Muggel umzusehen, wenn er schon mal hier war. Er wollte vor allem jenen Platz sehen, an dem die zwei Türme des Welthandelszentrums gestanden hatten. Immerhin hatte sich Vengor alias Wallenkron dort diesen Dunkelkraftverstärkungskristall besorgt, mit dem er so übermächtig aufgetreten war.
Gilbert suchte die für Ministeriumsbesucher zugelassenen Toilettenräume auf, um sich umzuziehen. Trotz energischer Versuche seiner Mutter hatte er es nie richtig hinbekommen, den praktischen Schnellumkleidezauber hinzukriegen. Gerade wollte er seinen für die offiziellen Treffen mitgeführten waldgrünen Samtumhang gegen eine "Muggeluniform" aus blauer Jeanshose und Pullover tauschen, als ein königsblauer Schmetterling von der Größe eines Zitronenfalters durch den Belüftungsschlitz über seiner Kabine hereinschwebte und einige Male vor seinem Gesicht gaukelte, bevor er sich auf Gilberts rechten Handrücken niederließ. Der Herausgeber und Chefreporter der freien Zaubererzeitung Temps de Liberté dachte sofort an einen Animagus. Doch Kaum berührte der blaue Schmetterling seinen Handrücken, da wuchs er zu einem handtellergroßen Pergamentzettel an. Gilbert schaffte es noch, das Stück beschriebenes Pergament zu greifen, bevor es zu Boden segeln konnte. Es war mit königsblauer Tinte beschrieben. Er las:
Liber Kollege Gilbert Latierre,
Ich möchte mich für das von Ihnen und Ihren Exklusiven Interviewpartnern entgegengebrachte Vertrauen erkenntlich erweisen und Ihnen vor Ihrer Weiterreise noch die Gelegenheit geben, mehr über das zu erfahren, was sich vor Ihren Augen und Ohren abgespielt hat und wohl noch nicht das Ende der Geschichte ist. Falls Sie mir weiterhin vertrauen und es noch einrichten können, mich zu treffen, so finden Sie mich in zehn Minuten am Spendebaum im Garten von Viento del Sol. Am Besten benutzen sie den Besucherkamin im Foyer und rufen "Garten der Sonne" als Ziel aus. Falls Sie kein Interesse an näheren Einzelheiten über das, was angeblich in falsche Hände geratene Geheimunterlagen betrifft haben, zerreißen Sie bitte diese Botschaft und verbrennen Sie sie in einem öffentlichen Kamin oder spülen sie in der nächsten Toilette hinunter. Falls Sie jedoch wie ich weiterhin neugierig sind, was teilweise vor unseren Augen und vor allem Ohren veranstaltet wurde und wird, so schreiben Sie auf die Rückseite des Zettels die Nachricht: "Ich bin einverstanden und komme zu Ihnen"! Dann brauchen Sie den Zettel nur noch weit genug nach vorne oder oben zu werfen, dass er mehr als Armlänge von Ihnen fort ist. Dann wird er auf dieselbe Weise zu mir zurückkehren, wie er Sie erreicht hat. Natürlich könnten Sie auch befinden, den Zettel einem Mitarbeiter von Minister Dime oder Ministerin Ventvit auszuhändigen. Doch in dem Fall, wo er von einer anderen Hand berührt wird, wird er sich erneut verwandeln und dann davonfliegen, ohne zu mir zurückzukehren.
Sicher mögen Sie jetzt denken, dass ich ein wenig paranoid bin. Doch ich habe in den letzten Jahren nicht gerade angenehme Erfahrungen mit der magischen Administration dieser großen Union gemacht, ebenso wie Sie selbst. Die Entscheidung liegt also bei Ihnen, Gilbert.
Lino
Gilbert dachte an das, was Millie und Julius ihm über ihre Verwandlungslehrerin Eunice Dirkson erzählt hatten. Die hatte einen Zauber erfunden, um Briefe in fliegende Tiere zu verwandeln, die gezielt den Empfänger anflogen und sich erst in seinen Händen in den geschriebenen Brief zurückverwandelten. Also konnte Linda Knowles diesen Zauber auch. Außerdem hatte sie ihn durch diese heimliche Postzustellung und die Andeutungen neugierig gemacht. Wenn sie fand, ihm noch was sehr interessantes, womöglich viele Wichtel auf's Dach jagendes erzählen zu können wollte er die Gelegenheit nutzen. So schrieb er mit smaragdgrüner Tinte die erbetene Antwort auf die Rückseite des Zettels und warf ihn aus dem Handgelenk nach oben. Der Zettel drehte sich dabei einmal um, dann schrumpfte er blitzartig, bekam zerbrechlich wirkende Flügel und flog als smaragdgrüner Schmetterling in Richtung Belüftungsschlitz davon. Gilbert sah, wie der zum Schmetterling mutierte Zettel schnell und gekonnt durch die schmalen Schlitze der Belüftung schlüpfte und verschwand. Sicher wartete Linda Knowles irgendwo im Gebäude auf eine Antwort oder solange, bis die zehn Minuten vorbei waren.
Gilbert Latierre zog einen dunkelvioletten Gebrauchsumhang an, setzte seinen samtbraunen Zaubererhut auf die rotblonde Bürstenfrisur und suchte die Halle für die An- und Abreisekamine auf. Er kaufte für zwei Knuts Flohpulver und ließ in einem freien Kamin das magische Reisefeuer auflodern. Problemlos rief er halblaut das Ziel "Garten der Sonne" aus und verschwand im US-amerikanischen Flohnetz.
Zehn Minuten später stand er unter den gerade laublosen Ästen jenes Baumes, der von sich aus seine reifen Früchte anbot, damit die darin aufbewahrten Samenkörner weiterverteilt wurden. Dann hörte er Linda Knowles' Stimme in beide Ohren gleichzeitig eindringen: "Ah, schön. Sie sind gekommen, Gilbert. Bitte apparieren Sie genau dreitausend Schritte nach Nordosten. Dann warten sie vor dem mauvefarbenen Backsteinhaus, was sie im westen sehen können!"
"Vocamicus-Zauber?" fragte Gilbert halblaut und war sich sicher, dass Linda ihn verstehen konnte.
"Manchmal ist sowas praktisch, wenn man mit Standardohrigen reden will, ohne sich mit ihnen zusammen sehen zu lassen", kam ihre Antwort wieder in seinen beiden Ohren zugleich an. Er bejahte das und konzentrierte sich. Anders als den Schnellumkleidezauber hatte er das Zielgenaue Apparieren gemeistert. Er musste nur kurz die Himmelsrichtung ausloten, was nach nur vier Sekunden erledigt war. Nach der fünften Sekunde verschwand er mit leisem Plopp.
Als er vor dem Haus stand dauerte es keine Viertelminute, bis ihm Linda von innen die Tür öffnete und ihm wortlos zuwinkte. Sie führte ihn in einen kleinen, fensterlosen Raum, der mit vier freischwebenden Kerzen erleuchtet wurde. Dort baute sie einen provisorischen Klankerker auf. Dann bot sie ihm einen bequemen Stuhl an. Er sah auf seine Armbanduhr, die wie die von Millies Mann seine Heimatortszeit und die gerade gültige Ortszeit anzeigte.
"Ich weiß nicht, ob Sie mir da zustimmen, Gilbert. Aber ich hatte heute den Eindruck, dass uns irgendwer vor seinen oder ihren Karren voller Drachenmist spannen will. Wie geschrieben bin ich was Ministeriumsauskünfte angeht ein wenig paranoid geworden. Aber es kam mir schon komisch vor, dass der Sprecher der Werwolfsondergruppe Quentin Bullhorn ausgerechnet nach der Verabschiedung von Ministerin Ventvit in den Besprechungsraum reinkam und dann noch was von einer Neumondakte erwähnt hat, wo der genau wusste, dass ich das auf jeden Fall verstehen würde."
"Neumondakte? Noch so was ganz geheimes, was der Minister im eigenen Wohnzimmerschrank aufbewahrt hat?" wollte Gilbert wissen. Die Ironie konnte selbst jemand mit gewöhnlichen Ohren heraushören. Linda Knowles nickte. Dann erwähnte sie, was sie in den letzten drei Tagen mitbekommen hatte, ohne Namen zu nennen. Sie berief sich auf Informantenschutz. Gilbert erwähnte darauf, dass er ebenfalls mitbekommen hatte, dass irgendwie der Eindruck entstehen sollte, dass er und die anderen Zeitungsreporter mitkriegen sollten, dass da was unerlaubt in Umlauf war, aber eben keine konkreten Einzelheiten erfahren durften. Das ganze deutete jedoch darauf hin, dass jemand aus dem Umfeld des Ministers selbst die Akten oder Notizen entwendet haben sollte.
"Sie hatten völlig recht, als Sie fragten, wieso jemand Akten unterhalb der höchsten Geheimhaltungsstufe im privaten Sicherheitsschrank aufbewahrt, wo sonst niemand drankommt, der Kenntnisberechtigt ist", sagte Linda Knowles. Gilbert wiederholte, was er dazu schon gesagt hatte und auch, dass er an einen Propagandatrick denken musste, wie ihn Janus Didier und sein Kettenhund Sebastian Pétain benutzt hatten, um ihre Gegenspieler öffentlich anzuprangern. Linda nickte beipflichtend.
"Ich kann nicht klar sagen, wer da was angeleiert hat und zu welchem Zweck, Gilbert. Ich erinnere mich aber dran, dass die Sondergruppe Quentin Bullhorn nach der Lykotopia-Affäre erst einmal auf kleinen Lohn gesetzt wurde, sozusagen Bereitschaftsgalleonen bekommen hat, aber nicht das volle Dienstgehalt. Außerdem hat Minister Dime nach etwas, was angeblich auf die Mondbrüder zurückgehen soll, ein wenig zu schnell und vor allem zu bereitwillig einen Friedensvertrag mit Vita Magica ausgehandelt, über dessen genauen Inhalt ich nur durch Befragung mehrerer Leute was herausfinden konnte. Im wesentlichen geht es darum, dass diese Gruppierung ohne Angst vor Strafverfolgung ihre Aktionen in den Staaten fortführen darf, solange dabei keine US-Bürger betroffen sind, sofern diese nicht an den offenbar wieder zugelassenen Mora-Vingate-Partys teilnehmen wollen, wie sie bis vor einigen Jahren auch hier in VDS stattfanden. Also dürfen die hier offen herumlaufen, wenn sie das wollen und diese Fortpflanzungsanregungstränke ausschenken, wie sie auch Landsleute von Ihnen abbekommen haben. Das hat natürlich einigen Unmut ausgelöst, vor allem bei den Hexen, die wegen dieser Leute ungewollt schwanger wurden und dann auch mit mehreren Kindern zugleich. Außerdem wird die Sondergruppe Quentin Bullhorn seit diesem Friedensvertrag wieder auf unmittelbarer Einsatzgehaltsstufe entlohnt, wie ich über nicht ganz so öffentliche Nachrichtenwege erfahren konnte. Also haben die SQB und Vita Magica Vorteile ergattert. Dann kann es natürlich sein, dass sie jetzt den Kessel am sieden halten wollen, um keine Kritik an sich aufkommen zu lassen und irgendwas zu machen, dass Unruhe im Ministerium schürt."
"Das erklärt aber nicht, wieso der Minister wie Sie sagen so schnell und bereitwillig so umfassende Zugeständnisse an Vita Magica gemacht hat, Linda", erwiderte Gilbert darauf. Linda Knowles nickte heftig und warf ein, dass genau das die Frage war, die sie seit Erwähnung dieses Friedensvertrages umtrieb. Sie verriet ihrem Kollegen dabei auch, dass eine Bedingung des Vertrages gewesen sei, die Heilerzunft dazu zu überreden, auf weitere Untersuchungen und Enträtselungen der Fortpflanzungsanregungstränke zu verzichten, was die nordamerikanische Zunftsprecherin und dienstälteste Hebammenhexe der Staaten gleich als unannehmbar abgelehnt hatte. Auch erwähnte sie, dass besagte Heilerin mit anderen Heilern geheime Beratungen geführt habe, über deren Ergebnisse sie auch mit ihren superscharfen Ohren nichts erfasst hatte. Und jetzt käme eben diese angeblich so skandalöse Sache mit den unerlaubt entwendeten und an den Mondgeschwisternzugespielten Geheimakten auf. Am Ende könnte Minister Dime einen Sündenbock für sein Verhalten suchen, der oder die mit den Mondbrüdern gemeinsame Sache mache und ihn irgendwie dazu erpresst habe, diesen Friedensvertrag zu unterschreiben.
"Madam Greensporn hat sich mit anderen Heilern getroffen, nachdem dieser Friedensvertrag auf dem Tisch lag?" fragte Gilbert. Linda Nickte bestätigend. "Interessant. Vielleicht glaubt sie oder hat es geglaubt, dass Minister Dime krank oder verflucht sei, Imperius oder ... Ups!"
"Was meinen Sie, Gilbert?"
"Das mir da gerade ein ganz übler Verdacht kommt, von dem ich Sie im Namen unseres gegenseitigen Vertrauens bitte, erst einmal niemandem zu erwähnen. Habe ich Ihr Wort, dass das, was ich gleich sage nur in diesen ockergelben Wänden bleibt?"
"Genau wie ich darauf vertraue, dass Sie über unsere Unterredung erst einmal nichts schreiben oder im Gespräch mit anderen erwähnen werden, Gilbert", sicherte Linda Knowles ihrem Kollegen zu.
"Gut, dann sage ich nur zwei Namen, die Ihnen garantiert bekannt sind: Cyril Southerland und Bernadette Lavalette." Linda dachte eine Sekunde über die beiden Namen nach. Dann schlug sie sich vor die Stirn. Danach fragte sie: "Beziehen Sie diese Vermutung aus dem Umstand, dass Mrs. Dime zu den wenigen gehört, die an diese ominösen Geheimunterlagen gelangen und sie weitergeben konnte?"
"Ich habe mich damals schlau gemacht, als das in Beauxbatons passiert ist, zumal Cyril Southerland ja ein weit entfernter Verwandter von mir ist. Demnach kann das, was Bernadette Lavalette mit ihm angestellt hat nur die volle Kraft entfalten, wenn eine Bedingung in die verbale Ausführung eingeflochten wird, nämlich die, dass der Betroffene nur noch mit der Hexe zusammenleben wird, die diesen Fluch auf ihn legen will. Dann können noch bis zu drei weitere Bedingungen eingewoben werden, die unbedingt und ohne Ausweichmöglichkeit erfüllt werden müssen. Allerdings ist der Verfluchte dann hochgradig gefährdet, wenn jemand ihm mitteilt, dass er oder sie weiß, dass er diesem Fluch unterworfen wurde. Deshalb bestehe ich darauf, erst einmal niemandem davon zu berichten."
"Will sagen, um die eine Bedingung zu erfüllen muss er seine Frau loswerden. Das geht aber nur, wenn schwerwiegende Gründe vorliegen, dass er ihr nicht mehr vertrauen kann. Denn sonst kann ein Zeremonienmagier die Ehe nicht für beendet erklären", sagte Linda Knowles.
"Da muss kein Zeremonienmagier was zu sagen. Es reicht, wenn er irgendwas in der Hand hat, was beweist, dass seine Frau ihn hintergangen und/oder verraten hat, ihm untreu wurde oder einen Anschlag auf sein Hab und Gut oder sein Leben geplant oder versucht hat. Ich habe mich da wegen diverser Sachen sehr genau schlaugemacht", erwiderte Gilbert Latierre.
"Will sagen, wenn er vor Leuten aus der Familienabteilung diese Gründe vorlegt kann er eine Eheauflösung auch ohne Zeremonienmagier beantragen", grummelte Linda Knowles. Gilbert nickte.
"Ja, aber was machen wir jetzt mit diesem Verdacht. Wie erwähnt, wenn wir das rumgehen lassen, und es stimmt echt, dann fällt Minister Dime tot um und wir sind schuld. Wenn es nicht stimmt und die Werwölfe echt eine ganz gemeine Aktion durchziehen werden wir bestenfalls als paranoide Dummschwätzer abgestempelt, schlimmstenfalls wegen schwerer Verleumdung vor den Gamot zitiert. Übrigens, was ist aus dem Kind geworden, dass Cyril Southerland mit dieser Bernadette Lavalette gezeugt hat?"
"Das wüssten die Ministeriumsleute in meiner Heimat auch all zu gerne. Wir wissen nur, dass sie ihn durch Translokalisationszauber aus Beauxbatons herausgeschafft hat. Wohin konnte nicht geklärt werden. Da das Kind mittlerweile geboren wurde, aber keine Ministeriumsinstitution oder Zaubereischule die Geburt verzeichnet hat, ist das Baby entweder an einem mit Fidelius-Zauber belegtem Ort zur Welt gekommen oder außerhalb der Reichweite von Geburtsregistrierungsartefakten irgendeines Zaubereiministeriums. Ich vermute erstes", erwiderte Gilbert.
"Das arme Kind. Dann wird es sein Leben lang von der Unversehrtheit seines Vaters abhängig sein und umgekehrt", sagte Linda Knowles. Dann beteuerte sie nochmals, davon keinem was weiterzumelden. Um noch was für ihre Zeitung zu haben, was sie von Gilbert erfahren durfte sprachen sie dann noch über jene Detektionsdrachen, die Florymont Dusoleil erfunden hatte und was an den Erwähnungen über die mit Zwillingen schwangere Riesin Meglamora noch nicht veröffentlicht worden war und jetzt auch nicht mehr geheimgehalten werde. Gilbert erwähnte dass, was sowohl Julius Latierre als auch die Zaubereiministerin ihm zur Veröffentlichung gestattet hatten, um den von Louvois' Handlangern angerichteten Ansehensschaden zu begrenzen oder gar zu beheben. Er erwähnte nicht ohne verwegenes Augenzwinkern, dass er von Julius Latierre exklusiv über die weiteren Ereignisse um die Riesin Meglamora unterrichtet werde, was seinem Kollegen vom Miroir Magique sichtlich missfiel. Linda Knowles fragte offiziell, ob die Möglichkeit bestand, dass sie im Rahmen einer Artikelserie über humanoide Zauberwesen eine Zweitverwertung seiner Berichte erhalten könne. Gilbert erwiderte, dass er hierfür noch einmal eine offizielle Anfrage an die Zauberwesenbehörde und die Abteilung für internationale magische Zusammenarbeit richten müsse, da es ministerielle Angelegenheiten betraf. Dass er die Exklusivrechte erhalten hatte lag schlicht daran, dass ihm Mademoiselle Ventvit und Monsieur Vendredi honorierten, bei Erhalt der eigentlich geheimen Unterlagen nicht sofort damit herausgekommen zu sein, sondern erst nachgefragt hatte, was er mit den Unterlagen machen sollte.
Die nächsten Stunden vergingen dann mit einem Besuch im Garten von Viento del Sol, wo Gilbert jedoch allein unterwegs war. Er machte noch Fotos von der obersten Plattform des Uhrenturmes und notierte, dass er in einer nächsten Ausgabe erwähnen wollte, dass Viento del Sol ein höchst interessantes Ziel für französische Urlaubsreisende sei, zumal ja seit dem Sommer 1998 die Überschall-Luftschiffverbindung zwischen beiden magischen Ansiedlungen bestand. Dann kehrte er nach New York zurück und traf sich in Lakehurst mit dem Rest der französischen Reisegruppe. Sein Kollege vom Miroir sah ihn kritisch an. Er sagte nur, dass er die freie Zeit genutzt habe, die Partnergemeinde von Millemerveilles zu besuchen und sich wunderte, ihn da nicht auch getroffen zu haben, wo es sich doch gerade anbot.
"Das lässt Sie schön ohne Besen abheben, dass Sie ihr eigener Chefredakteur sind, wie, Gilbert? Mein Chefredakteur hat mich per Blitzeule beauftragt, zwischen dem New York der Zauberer und dem der Mugg..., öhm, Menschen ohne magische Kräfte, zu vergleichen. Ich fürchte, ich muss mir vor unserem Ausflug nach Mexiko noch Ohrentrosttropfen in die Ohren tun, damit ich Piedrarojas Verlautbarungen verstehen kann."
"Ich denke, Mademoiselle Laporte hat welche in der Reiseapotheke", sagte Gilbert vergnügt grinsend. Dann meinte er noch gemeinerweise, dass wenn der Chefredakteur vom Miroir Vergleiche zwischen Zauberer- und Muggelwelt haben wolle, er besser erst noch warten solle, bis sie aus Mexiko-Stadt wieder raus waren. Denn da sollte es noch lauter zugehen als in New York.
"Noch lauter? Nachher brauche ich selbst solche Ersatzohren wie unsere sehr hartnäckige Kollegin Linda Knowles. Hmm, wohnt die nicht auch in VDS?"
"ja, das tut sie", erwiderte Gilbert. "Dann haben Sie sie da vielleicht getroffen?"
"Wenn sie da war hat sie mich sicher gehört, wie ich mich mit den Gärtnern im Zaubergarten unterhalten habe", sagte Gilbert, ohne sich anmerken zu lassen, wie der Kollege ihn gerade in die Enge drängte. Doch er war schon lange genug im Nachrichtengeschäft unterwegs, um seine Gesichtszüge unter Kontrolle zu halten.
Wie angemeldet ging es vom Zaubererhafen an der Atlantikküste südwärts hinein in den Golf von Mexiko mit Ziel Tihuana. Von wo aus es dann mit Portschlüsseln nach Mexiko-Stadt weitergehen sollte, wo Minister Piedraroja schon auf die Amtskollegin aus Frankreich wartete.
Minister dime hatte gehofft, dass die Möglichkeit, jemand könne ministeriumseigene Geheimnisse weitergegeben haben, einen großen Aufschrei in den Zaubererweltzeitungen auslösen würde. Im Kristallherold stand zwar was davon, dass das Ministerium gerade mit neuen Ergebnissen aus der Werwolfsondergruppe Quentin Bullhorn konfrontiert worden war und dass hierbei auch das Vertrauen innerhalb der Sicherheitsabteilungen erschüttert wurde. Doch den überwiegenden Anteil der Berichterstattung füllte die immer noch laufende Auseinandersetzung über Sinn und Unsinn eines Friedensabkommens mit Vita Magica. Weitere unfreiwillig schwanger gewordene Hexen hatten sich gemeldet und forderten die Anklage der Verantwortlichen und die Enteignung der für schuldig befundenen. Die Stimme des Westwinds brachte einen Artikel von Linda Knowles, in dem diese die Atmosphäre der Unterredung mit der französischen Zaubereiministerin und eine mögliche Aufhebung der Außenhandelsvorschrift beschrieb, nur Erzeugnisse, die mehr als 20 Jahre alt waren zu exportieren. Immerhin sei nun auch in der oberen Etage der US-Zaubereiverwaltung angekommen, dass die größten Bedrohungen für die Zauberergemeinschaft von international organisierten Gruppierungen ausginge und jedes Mittel, dass gegen diese Bedrohungen helfen mochte, mit Gleichgesinnten geteilt zu werden habe, wie die neueren Harvey-Besen oder andere machtvolle Gegenstände oder Tränke. Ebenso erwähnte die mit Lino unterschreibende Reporterin, die für ihre besonders scharfen Ohren bekannt war, dass die französische Zaubereiministerin für mehr Respekt den menschenähnlichen Zauberwesen gegenüber eintrat, weshalb sie von hiesigen Ministeriumsmitarbeitern kritisiert worden war. Wie sich Dime zum Thema Ausfuhrbeschränkung entscheiden würde wollte er erst nach zwei Wochen öffentlich mitteilen, wenn er alle dafür- und dagegenstehenden Gründe miteinander verglichen hatte, so seine wörtlich widergegebene Schlusserklärung. Aber was die in Umlauf gesetzte Behauptung anging, Geheimunterlagen wären einer feindlichen Gruppe zugespielt worden, schwieg sich Linda Knowles vollkommen aus. Dabei war Dime sich sicher, dass auch ihre Ohren nichts gehört haben konnten, was ihr verraten konnte, dass diese Behauptung ein notwendiges Manöver war, dessen Zweck nur zwei Leute kannten, Phoebe Gildfork und er, Chroesus Dime.
Ein Memoflieger aus dem Muggelkontaktbüro brachte ihm die Benachrichtigung, dass der Computerüberwacher Nancy Gordons Zugangsdaten für das von Martha Merryweather entwickelte Arkanet gelöscht hatte. Damit war die Verabschiedung der einstigen Mitstreiterin für ein besseres Verhältnis zwischen Leuten mit und ohne Magie abgeschlossen. So konnte und würde sie keine weiteren Vita Magica missfallenden Berichte und Ideen verbreiten können. Das hatte sie nun davon, dachte Dime. Doch statt Genugtuung oder Mitleid empfand Dime Neid, weil Nancy Gordon es geschafft hatte, sich den von ihm einzuhaltenden Bedingungen für einen Frieden mit Vita Magica zu entziehen. Sicher würde sie nun zusehen, irgendwo anders unterzukommen. Bedauerlicherweise hatte VM ihm ja abgenötigt, jedem von dieser Gruppierung ermöglichten Kind einen gewissen Goldanteil zukommen zu lassen. Leider ging das nicht mündelsicher, so dass die Eltern dieser Kinder es auch in die Hand bekamen, weil ja damit alles bezahlt werden sollte, vom Essen über Kleidung bis zur Schulausbildung. Nancy würde also nicht mittellos bleiben. Doch bis die drei von ihr getragenen Kinder geboren waren musste sie irgendwas tun, um sich selbst über die Runden zu bringen oder von eigenem Vermögen zehren.
Trotzdem hatte sie bewiesen, dass Vita Magica nicht jeden nach Belieben bestimmen konnte, und das ärgerte Chroesus Dime.
Argentea Dime musste sich sehr anstrengen, nicht die Beherrschung zu verlieren, als sie eine offizielle Vorladung von der Strafverfolgungsabteilung des Zaubereiministeriums erhielt. Der Steinkauz, der den Brief brachte hatte wohl den klaren Befehl erhalten, ihr diese Vorladung direkt und unverzüglich zuzustellen. Wieder und wieder las sie die Vorladung. Es sollte darum gehen, inwieweit sie mit geheimen Unterlagen des Ministeriums zu tun hatte oder nicht. Doch der Vorwurf zwischen den Zeilen war überdeutlich: Ihr wurde offenbar unterstellt, geheime Unterlagen aus dem gemeinsamen Panzerschrank entnommen und was unerlaubtes damit angestellt zu haben. Sicher wusste sie, dass in dem Schrank einige Arbeitsunterlagen ihres Mannes aufbewahrt wurden, die in verschlossenen Umschlägen mit der Kennzeichnung S7, S8 oder S9 verstaut waren. Natürlich wusste sie auch, dass sie diese Unterlagen nicht lesen durfte. Wenn sie dennoch eine Vorladung bekommen hatte dann wohl, weil irgendwer behauptete, sie habe hinter dem Rücken ihres Mannes mit geheimen Unterlagen hantiert, ja vielleicht sogar gehandelt. Auf jeden Fall hieß es, dass sie sich aus der Sicherheit der Schutzzauber hinauswagen musste, wollte sie keinen Verdacht erregen. Aber genau das hatte ihr dieses Spinnenflittchen angekündigt, dass jemand versuchen würde, das Vertrauen ihres Mannes zu ihr zu beschädigen oder ganz zu zerstören. Das musste sie gleich klären, bevor sie zu sehr nachgrübelte.
Über Flohpulver stellte sie eine Kontaktfeuerverbindung zu ihrem Mann in dessen Büro her. Dieser saß gerade über einige Unterlagen gebeugt an seinem Schreibtisch. Da der Kamin nur für Kontaktfeuergespräche groß genug war konnte niemand auf diese Weise zu ihm vordringen.
"'tschuldigung, Chroesus. Aber mir ist da eben eine amtliche Vorladung auf den Kopf geworfen worden, damit ich sie ja nicht ignorieren kann. Die Strafverfolgung will mich wegen irgendwelcher Geheimunterlagen aus dem Schrank sprechen. Weißt du da was von?"
"Ui, das habe ich befürchtet, Argie. Aber ich darf dir dazu nichts sagen, weil ich in diesem Fall befangen bin. Ich hoffe, dass das ganze nur ein Missverständnis ist. Klär das mit denen bitte!"
"Um was für Unterlagen soll es gehen, Chroesy?" wollte Argentea wissen.
"Das darf ich dir auch nicht sagen, wegen der klaren Übereinkunft, mich nicht in die Angelegenheit einzumischen."
"Hallo, Herr Zaubereiminister! Du willst doch nicht damit sagen, dass jemand mich verdächtigt, irgendwelche Geheimunterlagen aus dem Schrank genommen und wem anderen weitergereicht zu haben? Hältst du mich für derartig hinterhältig?"
"Argy, ich kann und will in diesem Fall nichts behaupten oder gar anregen, was dir und mir noch mehr Ärger macht als im Moment im Raum steht. gehe zu dem, der dich sprechen will hin und klär das mit ihm, was der von dir wissen will! Ich hoffe, das ist alles nur ein sehr übles Missverständnis. Aber ich wurde gestern auch schon dazu befragt. Was und warum und wieso darf ich nicht sagen, weil das die oberste Sicherheit unserer Verwaltung und der ganzen Zaubererbürgerschaft der Staaten betrifft."
"Chroesus, was zur dreigeschwänzten Gorgone und zum feuerroten Donnervogel läuft da? Ich war seit Monaten nicht mehr an unserem Schrank, seitdem du mir gesagt hast, dass du auch Unterlagen aus dem Ministerium darin aufbewahren musst, die in der provisorischen Niederlassung noch nicht gut genug gesichert werden können. Und jetzt soll genau aus unserem Schrank was in Umlauf gebracht worden sein?"
"Das habe ich nicht behauptet", sagte Chroesus Dime mit leicht verunsichert klingender Stimme.
"Wenn du das nicht behauptet hast, wieso habe ich dann diese Vorladung? Diese Unterlagen können ja wohl kaum aus dem Schrank disapparieren. Und dieser Blutsiegelzauber sperrt jeden Aufrufe oder Apportierzauber aus. Also was bitte soll das?" stieß Argentea eine weitere Frage aus.
"Frag das den, der dich vorgeladen hat. Wer genau ist das?"
"ein oder eine B. Hardcastle. Wenn es eine Hexe ist ist mir klar, worauf das hinausläuft", gab Argentea Auskunft.
"Hardcastle? Das ist der Schwiegersohn von Richter Ironside, Barnabas Hardcastle. Hat bis vor zwei Jahren noch für die Inobskuratoren gearbeitet und ist nach Sandhearsts Alleingang um eine Stufe weiter nach oben gerutscht", sagte Dime."Also keine Hexe", sagte Argentea. Darauf fragte ihr Mann, wieso sie erst von einer Hexe ausgegangen sei.
"Weil ich mir sehr gut vorstellen könnte, dass eine gewisse arachnophile Person versucht, dich und mich gegeneinander auszuspielen. Aber wenn das echt ein Barnabas und keine Barbara oder Beryl ist ... Ich kann mich aber nicht des Eindrucks erwehren, dass doch jemand versucht, dich und mich gleichermaßen auszumanövrieren, Chroesus. Deshalb werde ich diesem B. Hardcastle schreiben, dass er gerne zu uns ins Haus kommen darf. Wenn er keine feindlichen Absichten hat kommt er problemlos zu uns rein."
"'tschuldigung, Argy, aber so läuft das leider nicht. Die Strafermittlungsleute sind in sowas sehr eigensinnig. Wer zu ihnen hinkommt will sich von jedem Verdacht befreien lassen. Wer es darauf anlegt, dass die zu ihm oder ihr hingehen könnte magische Fallen stellen oder anderweitig was vorhaben, um sich einer Befragung zu entziehen oder Beamte mit magischer Gewalt zu beeinträchtigen. Ich war da gestern, wenngleich ich von einem anderen Zauberer befragt wurde. Der hat mich aber auf einen Eidesstein schwören lassen, nichts über den Gegenstand und den Verlauf der Befragung zu verraten. So läuft das, wenn mehrere Zeugen befragt werden müssen und die Gefahr der Absprache besteht."
"Weißt du was, Chroesus. Du kommst nach Büroschluss zu mir ins Haus, damit wir das in Ruhe besprechen können, was du mir sagen darfst. Bei der Gelegenheit kannst du gerne sämtliche Unterlagen aus dem Schrank nehmen und anderswo unterbringen. Auch wenn unser Haus gut beschützt ist will ich diese Sachen nicht länger unter unserem Dach haben."
"Ich kann leider nicht zu dir hin, weil für mich heute erst um ein Uhr morgens Dienstschluss sein wird. Es geht da um eine Angelegenheit, die nur nachts geklärt werden kann. Mehr darf ich auch darüber nicht verraten. Ich bleibe auf jeden Fall im Ministerium, weil auch gerade nach Ventvits Besuch einige Wichtel auf dem Dach sind, wann das Außenhandelsverzögerungsgesetz aufgehoben wird und ob überhaupt und ob ich auf Ventvits Wunsch eingehen kann, humanoide Zauberwesen besserzustellen. Da hätte ich dann nur drei Stunden zwischen Heimkehr und Aufbruch. Und da willst du ganz sicher schlafen."
"Denkst du, ich kriege in dieser Nacht ein Auge zu, wenn ich daran denken muss, dass jemand mich oder dich verdächtigt, irgendwem unbefugten Geheimsachen zuzuspielen? Dann komm in der Mittagspause. Ich kann jederzeit was für uns aus dem Conservatempus-Schrank holen, um dich satt zu kriegen."
"Mittags bin ich in Gringotts New York. Die Kobolde wollen wegen eines Patzers meines Amtsnachfolgers klarstellen, dass sie mitreden wollen, wenn das Ministerium irgendwem Ausrüstungsgüter zusagt. Will sagen, sie wollen bestimmen, ob ein Minister X einen Harvey-Besen kriegt oder eine Ministerin Y einen Parsec-Besen."
"Und du hast keine Angst, dass die Kobolde dich mit einem Fügsamkeitstrank oder entsprechendem dazu bringen, auch denen genehme Sachen zu unterschreiben, nachdem du diesen VM-Leuten schon so viel zugestanden hast? Hast du auch gelesen, dass in Cloudy Canyon im März eine Frühlingsfeier von Mora Vingate stattfinden soll? So wie du gerade darum herumredest, mal wieder in dein eigenes Haus zu kommen müsste ich echt glauben, dass in diesem Vertrag drinsteht, dass du bloß nicht mehr bei mir übernachten oder mittagessen darfst. Ich hoffe sehr, dass ich mich da irre. Aber wenn das nicht so ist sieh bitte zu, zumindest in dieser Nacht bei mir zu sein und die Sache, wegen der du so spät noch Dienst machen sollst an wem zu delegieren."
"Nach dem dreischwänzigen Rasselbock, den mein Nachfolger im Handel sich eingefangen hat ist mir das Delegieren vergangen. Die Sache von heute Nacht muss ich durchziehen", erwiderte der Minister.
"Gut, ich überlege mir das, wie das mit dieser Vorladung ist. Aber bitte denke daran, dass ein Ehepaar, das mehr als ein Jahr lang ununterbrochen getrennt von Tisch und Bett lebt gemäß vorher vereinbarter Bedingungen als geschieden gilt", entgegnete Argentea Dime.
"Ich hoffe sehr, dass ich demnächst wieder zu dir hinkommen kann, allein schon, um mit unserer Familie zu feiern oder harmlose Gespräche zu führen. Eartha ist ja immer noch in Vegas und ... Abgesehen davon hoffe ich auch, dass die Angelegenheit, wegen der du vorgeladen wurdest, keinen Vertrauensbruch deinerseits erbringt. Weil dann könnten wir noch schneller geschieden werden."
"Soll das jetzt eine Drohung sein, Herr Zaubereiminister Dime?" Fragte Argenteas Kopf im Kamin argwöhnisch.
"Nein, eine Hoffnung, dass sich das alles als Missverständnis oder böswillige Verleumdung erweist", versuchte Dime zu beschwichtigen.
"Wobei dann zu fragen ist, wer da welchen Fehler gemacht oder wen zu verleumden versucht hat", grummelte Argenteas Kopf. Da klopfte es an der Tür. Der Minister sagte, dass es der Termin für elf Uhr sei. Argenteas Kopf ruckte einmal vorund zurück. Dann sagte er nur: "Früher war das zwischen uns besser." dann verschwand er mit leisem Plopp. Jetzt brannte nur noch das kleine Kaminfeuer.
Argentea Dime musste erst einmal heftig schlucken, als sie ihren Kopf wieder im eigenen Haus auf ihren Schultern sitzen hatte. Sollte es wirklich sein, dass dieses Spinnenweib wahrhaftig recht behalten mochte? Oder hatte die durch ihre Unterschwestern irgendwas angestellt, um ihren Mann und sie voneinander zu trennen. Es wäre nicht die erste durch Magie gestützte Intrige in der Geschichte der Zauberei. Aber an den Minister kam keine Feindin heran und an sie doch auch nicht. Und vor allem, was sollte das mit der Nachtschicht? Hatte ihr Mann nun auch das Vampirüberwachungsbüro an sich gezogen, womöglich um Personalkosten einzusparen? Oder ging es um anderes Nachtgezücht, weshalb er das erledigen musste? Es stand nur fest, dass er nicht zu ihr ins gemeinsame Haus kommen wollte. Was sie an ihrem Mann sonst immer bewundert hatte widerte sie gerade heftig an: Die Fähigkeit, seine wahren Gefühle und Absichten zu verbergen, solange er fürchten musste, dass er sich oder sie damit auslieferte. Chroesus Dime hatte viele Pokerpartien dadurch gewonnen, dass niemand erkennen konnte, ob er ein gutes Blatt auf der Hand hatte oder bluffte. Spielte er gerade wieder Poker mit ihr und womöglich noch mit anderen Leuten? Jedenfalls musste sie Anthelia zugestehen, dass ihre Worte nicht auf fruchtlosen Boden gefallen waren. Ein gewisses Misstrauen, ja ein nicht an klaren Tatsachen festzumachendes Unbehagen trieb sie gerade um. Am Ende sollte sie nach der Vorladung gleich festgenommen werden, weil jemand wirklich diese Unterlagen, von denen sie gerade nicht wusste, was sie beinhalteten, übergeben hatte. Sie dachte daran, dass sie gerne wieder für die Tierwesenbehörde verreisen würde. Vor Zaubertieren hatte sie komischerweise keine Angst, ob es eine dreiköpfige Schlange oder ein ungarischer Hornschwanz war. Doch im Moment fühlte sie sich bei dem Gedanken nicht wohl, die sichere Sphäre der verwobenen Schutzzauber zu verlassen. Sicher konnte sie auch irgendwo hin, wo keiner sie kannte. Aber war das nicht genau das, was diese Anthelia erwartete. Ja, am Ende diente dieses Getue nur dem Zweck, sie nach Verlassen ihres Hauses überwältigen und verschleppen zu können, um ihren Mann zu erpressen oder sie selbst zu einer gegen ihn handelnden Erfüllungsgehilfin zu machen. Sie hatte nicht vergessen, wie feindselig Anthelia in ihrem Brief über VM geschrieben hatte. Natürlich konnte der das nicht gefallen, dass das Zaubereiministerium mit diesen Machenschaftlern Frieden geschlossen hatte und mit ihr das führte, was die Muggel als kalten Krieg bezeichneten, eine ständige Bedrohungslage und Versuche, die eigene Macht ohne offene Kampfhandlungen zu mehren und dem Gegner möglichst viele Rückschläge zu bereiten. Darüber musste sie noch mal genauer nachdenken.
Silvester Partridge, einer von drei residenten Heilern des Zaubererdorfes Viento del Sol, wurde an diesem Morgen von gleich vier Mitbewohnern aufgesucht, die mit ihm etwas gemeinsam hatten. Sie waren alle unverhofft noch einmal Vater geworden, aber nicht, weil sie das so sehr gewünscht hatten, sondern weil eine obskure Bande von zugegeben sehr kundigen Hexen und Zauberern ihnen und ihren Frauen das aufgezwungen hatte.
"Was hat dir Chloe von ihrer Hebammenkonferenz erzählt, zu der sie eure gemeinsame Zunftsprecherin eingeladen hat, Silvester?" wolte Paul Dryfall wissen, dessen Frau Marisa vor fünf Monaten Vierlinge bekommen hatte.
"Ich habe die gefragt, warum nicht alle Heiler zu einer Vollversammlung wegen der von VM ausgelösten Babylawine gerufen wurden. Da hat die mir doch glatt gesagt, dass es eben nur eine Konferenz der Hebammenhexen sein sollte und wir Heilzauberer nun einmal keine Hebammen seien. Fand ich auch ziemlich dreist, Jungs. Ich weiß nicht, was die altehrwürdige Madam Greensporn mit den anderen Hebammen zu besprechen hatte, wo wir Medizauberer nichts von wissen durften, zumal wir ja auch irgendwie für die ganzen Kinder mitverantwortlich sind, die uns diese Bande eingebrockt hat. Aber ich kann mir vorstellen, dass es auch was mit diesem Friedensabkommen zu schaffen hat, dass Dime mit diesen Gangstern verzapft hat." Silvester Partridge scherte sich in der Runde von Mitbürgern nicht um die bei Heilern vorgeschriebene Ausdrucksweise.
"Will sagen, die Kinderpflückerinnen haben was zu geheimnissen, wo ihr mit und ohne Bart nix von wissen sollt, Silvester", griff John Cobbley auf, dessen Frau Jennifer drei neue Kinder in die gemeinsame Familie hineingeboren hatte, wo deren bisher einziger Sohn bereits dreifacher Vater war.
"Ich habe das Chloe gesagt und der werten Großheilerin Greensporn auch als offizielle Anfrage geschickt, dass wir Heiler da nicht außen vor gelassen werden dürfen. In den Heilerdirektiven steht nämlich, dass Heiler das was sie lernen und wissen auch an andere Zunftmitglieder weiterzugeben haben. Auf die Antwort warte ich noch, John."
"Und wenn du die hast, Silvester, was davon dürfen wir dann wissen?" wollte Paul wissen.
"Kann ich erst sagen, wenn ich die Antwort habe", erwiderte Partridge. Die vier anderen zuckten mit den Schultern und glotzten ihn verdrossen an. "Jungs, ich bin bereit, euch alles weiterzugeben, was ihr wissen dürft. Aber ich muss mich leider an die Vorschriften halten, sonst riskiere ich am Ende meine Aprobation und damit das nötige Gold, um meine zwei neuen Töchter groß und gebildet zu kriegen. Ihr würdet ja auch nichts riskieren, um eure guten Jobs zu verlieren, oder?"
"Abgesehen davon, dass die aus dem Ministerium uns ja großzügig einiges an Gold rüberkullern lassen, um unsere vom großen Regenbogenvogel zugeworfenen Kinder groß zu kriegen, Silvester, häng dich da bitte dran, dass wir endlich mal Besen und Flieger mitkriegen. Denn so kann's echt nicht bleiben", schnarrte John Cobbley. "Am Ende dürfen wir alle zwei Jahre neue Babys machen wie die Latierre-Bullen im Tierpark. Das lasse ich mir nicht bieten, und meine Frau hat auch keine Lust, ständig dick zu werden. Mit sechzig Jahren sollte es auch mal gut sein mit dem Kinderkriegen."
"Da bin ich voll bei dir und euch anderen", sagte Silvester. "Außerdem muss ich mich fragen, wann Venus von diesen Verbrechern genötigt wird, ihre Quodpotlaufbahn zu beenden, nur um von irgendwem, den sie nicht mag, was kleines auszubrüten. Wenn sie schon von jemandem Babys kriegen soll, dann nur von dem, den sie sich aussucht und dann, wenn sie das will."
"Sag das dem Goldwühler, der hinter dem zerbröselten Sandhearst auf den Ministerstuhl gerutscht ist!" blaffte Pete Fairwood, dessen Frau Emily zwei Jungen bekommen hatte.
"Sag ihm das bitte selbst, pete. Du kannst ihn schließlich genauso anschreiben wie jeder andere amerikanische Zaubererweltbürger", wies Silvester das Ansinnen von sich.
"Jetzt willst du mich echt verschaukeln, Silvester. Du weißt genau wie wir anderen hier, dass der Minister mindestens drei Leute direkt um sich herum hat und womöglich noch fünf Sortierer davor, die an ihn gehende Briefe darauf prüfen, ob die wichtig genug sind oder ihm vielleicht was übles wollen. Da kommt unsere Anfrage doch nicht bis auf dem seinen Schreibtisch."
"Ja, und warum seid ihr vier dann zusammen bei mir angetreten?" wollte Silvester Partridge wissen.
"Eben weil wir wissen wollten, was Greensporns Hebammen vielleicht über die Versammlung rübergereicht haben und weil wir uns darauf geeinigt haben, trotz der achso netten Goldspenden klarzustellen, dass wir uns das nicht weiter bieten lassen und wir das eine totale Drachenscheiße finden, wenn unser Zaubereiminister, der noch dazu lange Zeit nur die Schatztruhen vom Ministerium umgeräumt hat, mit diesen Nogschwanzauswürfen kungelt, nur damit er einen Frieden mit denen hat", sagte John. "Mein Neffe Fred ist ja im Tierwesenbüro und hat was von der Werwolfeinfangtruppe mitbekommen, dass Dime angeblich was wegen eines Anschlags von Werwölfen geregelt hat, dass nicht auch noch diese Babymacherbande dazwischenfuhrwerkt."
"Am Ende hat diese Gangstertruppe das sogar so gedreht, dass Dime wegen angeblicher Gefahren durch böse Werwölfe auf deren Bedingungen eingestiegen ist. Tja, und dann hat der noch einen magisch bindenden Vertrag unterschrieben, und jetzt hängt er bei denen an einer schnuckeligen Leine oder wie ein Bluthund an der Kette", blaffte Paul. "Wir gründen eine Vereinigung mit anderen Familienvätern und denen, die ungewollt zu Vätern wurden, dass wir klare Garantien haben wollen, dass diese Sauerei vom letzten Jahr nicht noch mal passiert. Sollte es doch so sein kriegt dieser Goldwühler drachenstarken Krach mit uns. Machst du mit, Silvester?" Der gefragte schien wegen irgendwas gerade nicht richtig zugehört zu haben. Erst als er noch mal gefragt wurde sagte er:
"Meine Frau hat doch schon eine solche Interessengemeinschaft von VM-Müttern ins Leben gerufen. Aber ich bin bereit, eine Petition aufzusetzen, in der wir fordern, dass jedes neuerliche Treiben, was ungewollte Schwangerschaften auslöst, verboten werden muss. Das schließt auch die wieder angekündigten Mora-Vingate-Partys mit ein."
"Ich hörte, dass die im März zu Frühlingsanfang so ein Fest in Cloudy Canyon durchziehen wollen", grummelte Pete Fairwood. Die anderen nickten.
"Ich fürchte nur, dass Dime das unterschrieben hat, dass diese Leute von VM ihre Partys feiern können wann und wo sie wollen, ja der sich damit sogar gegen die Ortsvorsteher der betreffenden Zauberersiedlungen durchsetzen darf", sagte Silvester Partridge. "Wir können dann nur dazu aufrufen, dass keiner an diesen Partys teilzunehmen hat. Verbieten können wir es aber keinem, der volljährig ist."
"Eh, dann kriegen wir dieses obszöne Getümmel auch wieder bei uns?" wollte Paul Dryfall wissen. Silvester Partridge nickte schwerfällig. "Das glaubst du aber, dass ich dann persönlich meiner Tochter Joanna alles zunähe, was dabei beansprucht werden könnte. Ich habe die Schnauze sowas von voll, dass wir nur noch Deckhengste und Zuchtstuten sein sollen, bis diese Saubande irgendwann mal findet, dass genug neue Hexen und Zauberer auf der Welt rumkrabbeln."
"Ich fürchte nur, dass deine Joanna sich garantiert nichts von dir zunähen oder zufluchen lassen wird, was ihr selbst großen Spaß macht, die hat immerhin bei Bullhorn und Purplecloud ihre UTZe gemacht", feixte John Cobbley.
"Jedenfalls lasse ich das nicht noch mal zu, dass wegen dieser Partys andauernd junge Mädchen vorzeitig ein Kind auszubrüten haben, Jungs", sagte Paul Dryfall.
"Also wollt ihr jetzt diese Interessenvereinigung durchziehen, Jungs?" fragte Phil Broadhat, der sich bisher so ruhig verhalten hatte.
"Wie sieht's aus, Silvester? Geht das mit euren Heilerbestimmungen klar, dass du bei sowas dabei sein darfst und willst du's dann auch?" wollte Paul Dryfall wissen.
"Wenn das offiziell sein soll müssen wir alle anderen fragen, die es betrifft. Will sagen, wir setzen eine Anzeige in den Herold und den Westwind, dass wir eine Interessengemeinschaft zur besseren Bewältigung unverhoffter Nachwuchsversorgungen gründen möchten. Denn ihr glaubt sicher nicht, dass wir fünf Männchen da alleine vor Dime und alle anderen hintreten dürfen", erwiderte Silvester Partridge.
"Neh is' klar, Silvester. Und dann kriegt auch diese VM-Saubande das mit und schmuggelt uns irgendwelche Spione rein, die dann weitermelden, was wir so machen", sagte Paul Dryfall mit gewissem Unmut. "Wir beschränken das auf VDS. Geht das bei uns gut, geht das ganz privat weiter an die anderen Siedlungen", schlug er noch vor.
"Da besteht aber auch die Gefahr, dass VM das mitkriegt", sagte Phil Broadhat.
"Ja, aber nicht so wie bei einer öffentlichen Anzeige", warf Paul Dryfall ein. Die anderen wiegten dazu nur ihre Köpfe. Dann sagte Pete Fairwood:
"Wir konnten Fornax nicht dazu kriegen, hier mit uns zusammen bei dir aufzulaufen, Silvester. Er hat mal wieder Termine, zumal ja die Ministerin von den Franzosen in den Staaten war und jetzt ein Ausschuss zur Erörterung der Aufhebung des Außenhandelsverzögerungsgesetzes von 1694 gegründet werden soll, wo er als Anteilsinhaber von Frogleap & Flatroot gerne mitreden will."
"Ich habe auch nicht mehr so viel Zeit, Jungs. Ich muss heute noch wegen Nachschub für meine Ausstattung einkaufen. Darüber hinaus sind eine Menge Patientenakten zu bearbeiten. Ich bleibe dabei, dass wir das in die Zeitungen setzen soltten, allein um nicht hundert gleichartige aber mit verschiedenen Stimmen sprechende Gruppen zu kriegen, auf die Dime dann auch nicht hört", stellte Partridge klar.
"Dann machen wir das eben so", knurrte John Cobbley. "Besteht dann zumindest die Möglichkeit, dass alle Interessenten auf einen Eidesstein schwören, nichts von nicht zur Veröffentlichung bestimmten Sachen weiterzuerzählen, egal an wen?" fragte Paul Dryfall.
"Da muss ich dir leider die Hoffnung nehmen, Paul. Eidessteine dürfen nur von Ministeriumsmitarbeitern ausgegeben werden und darauf geleistete Schwüre nur von klar benannten Vorsprechern durchgeführt werden. Wenn Dime wirklich auf der Linie ist, VM keine Schwierigkeiten zu machen, dann könnte er uns die Verwendung von Eidessteinen verweigern", sagte Silvester Partridge.
"Dann müssen wir uns echt blind drauf verlassen, dass die VM-Verbrecher uns keine Laus in den Pelz setzen?" knurrte Paul Dryfall.
"Oder besser einen Maulwurf bei uns in den Garten schicken", fügte John Cobbley hinzu.
"Tja, das ist das Los einer freiheitlichen Zaubererwelt, dass Menschen nicht von Amtswegen zu was gezwungen werden dürfen und jeder seine eigenen Interessen verfolgen darf, auch wenn er oder sie für VM ist", sagte Silvester Partridge schnippisch. Alle anderen grummelten dazu nur unverständliches.
Am Ende einigten sich die fünf auf den Text einer Anfrage, den sie heute noch zur Anzeigenredaktion der Stimme des Westwindes und des Kristallherolds schicken wollten.
Als die vier anderen Väter sein Sprechzimmer verlassen hatten griff Silvester die Gedanken auf, die ihm vorhin regelrecht in den Kopf gesprungen waren, als Paul Dryfall was von einem Bluthund an der Kette geblafft hatte. Das wäre natürlich ein heftiger Grund, warum die Hebammenhexen zu einer Generalversammlung zitiert wurden, die männlichen Kollegen aber schön außen vorgehalten worden waren. Partridge dachte an seine Frau, die seit der Geburt der gemeinsamen Töchter Vesta und Ceres völlig verändert war. Die war regelrecht paranoid und bestimmerisch, ja gegen ihn und andere regelrecht tyrannisch. Alles hatte sich nur noch um die Babys zu drehen. Denen durfte ja nichts passieren. Dabei wusste die noch nicht mal, was sich Venus geleistet hatte, als Julius Latierre mit seiner Familie seine Mutter besucht hatte. Da wollte er sowieso noch mal mit Chloe Palmer drüber reden, was da zu machen war. Denn so konnte es nicht weitergehen. Venushatte sowieso schon eine neue Wohnung bezogen, nachdem sie erst einige Tage im Haus zum Sonnigen Gemüt gewohnt hatte, wo keine plärrenden Säuglinge und eine Feuerlöwin als deren Mutter zu finden waren. Vielleicht konnte er bei der Gelegenheit auch klären, ob der Minister selbst ein bedauernswertes Opfer einer Unbedachtsamkeit geworden war. Jedenfalls wollte er noch mal was nachschlagen und überprüfen.
Hierzu ging Silvester Partridge in seine Brand- und Zaubersichere Bibliothek, wo er viele Bücher aus der sogenannten Schattenbibliothek der Heilzunft aufbewahrte. Das was er suchte war ein schlankes Buch mit milchweißem Rücken, auf dessen Klappe eine Hexe im purpurfarbenen Gewand mit deutlich sichtbarem Umstandsbauch und eine im goldenen, vorne offenen Kleid mit zwei an den Brüsten liegenden Säuglingen aufgeprägt war. Das war jetzt schon das elfte mal, dass er dieses Buch, das er persönlich für gefährlichen Unrat hielt, hervorgezogen hatte. Eigentlich müsste er darauf einen Drachenrachenputzer kippen, dachte er. Doch jetzt musste er erst mal nüchtern bleiben und das richtige Kapitel finden. Gut, dass er im Moment keine Patienten zu betreuen hatte. Die Einkäufe konnte er auch in einer Stunde noch erledigen.
Argentea schlief in der Nacht zum 6. Februar sehr unruhig. Jedes kleinste Geräusch, das der Wind draußen erzeugte, ließ sie aufschrecken. Natürlich wusste sie, dass die das Haus und die Umgebung durchdringenden Schutzzauber eine unsichtbare Kugel von vierhundert Metern Durchmesser formten. Somit konnte kein ihr feindlich gesinntes Wesen an sie herankommen. Dennoch fühlte sie sich nicht so geborgen wie früher. Irgendwas stimmte nicht mehr mit ihr oder dem Haus.
Als sie dann davon träumte, wie sie ins Ministerium flohpulverte und geradewegs in einen Schockzauber hineingeriet und vor einem Tor wieder aufwachte, auf dem in roten Lettern stand:
Hic est locus ubi animae inimicorum mortem salutaverint
Sie wurde von unsichtbaren Händen auf dieses Tor zugetrieben und hindurchgestoßen. Da wachte sie auf. Kalter Schweiß war auf ihrer Stirn. Erst dachte sie, dass ihr jemand diesen bösen Traum geschickt hatte. Doch auch Fernflüche konnten nicht zu ihr vordringen. Dann hatte nur ihr Geist diese Schreckensbilder entwickelt, dass sie auf das Eingangstor von Doomcastle zugetrieben wurde, dem gefürchteten Gefängnis Nordamerikas, von manchen noch als schlimmer empfunden als die schwarze Pyramide in Mexiko oder das einst von dunklen Kreaturen bewachte Gefängnis Askaban. Wer in Doomcastle hineingeschickt wurde, der oder die wurde durch dort bewahrte Zauber an Leib und Seele getrennt. Die Körper überdauerten wie steinerne Statuen, während die Seelen in kugelförmigen Behältnissen dahinvegetieren mussten, unfähig, ins Reich der Toten überzutreten. Doomcastle war die dunkle Tochter der hermetischen Magie Eurasiens und der animistischen Magie der amerikanischen Ureinwohner. Deshalb gab es lange Zeit fast kein magisches Verbrechen in den Staaten oder Kanada. Dort eingekerkert zu werden war schlimmer als eine Hinrichtung, obwohl die Betreiber dieser Verwahranstalt behaupten konnten, niemanden dort getötet zu haben.
"Ich stell mich nicht in die lange Reihe von Leuten, die dich verfluchen wollen, Anthelia", knurrte Argentea. Doch ganz wollte sie dieser Albtraum nicht loslassen. Was, wenn ihr Mann mit Vita Magica was ausgehandelt hatte, dass er sie auf irgendeine Weise loswurde, um für deren auf Nachwuchs ausgehende Mitglieder verfügbar zu sein? Am Ende musste er um des lieben Friedens willen jede Nacht mit einer anderen Hexe das Bett teilen. Aber was dachte sie denn jetzt? Das war ja furchtbar! Sie musste das aus dem Kopf bekommen. Sie musste daran denken, dass ihr Mann ihr nichts zu Leide tun würde und sie ganz bestimmt nicht nach Doomcastle schicken würde. Dahin gehörten nur magische Massenmörder und Geistesquäler wie dieser Pickman oder diese Anthelia. Vielleicht sollten da auch die rein, die viele Familien um ihre Ehemänner, Söhne und Töchter gebracht hatten, indem sie sie in hilflose Säuglinge zurückverwandelt hatten.
Argentea beschloss noch einen Versuch zu wagen, das von Anthelia geschürte und von ihrem Mann noch stärker entfachte Unbehagen aus dem Kopf zu kriegen. Er musste einfach für mindestens eine Nacht bei ihr sein. Dann würde sie endlich wissen, dass die böswilligen Behauptungen dieser Spinnenhure nur gemeine Versuche gewesen waren, ihr Vertrauen zu erschüttern.
Sie stand auf und machte sich tagesfertig. Wieder kam ihr dieses Haus für sie alleine zu groß vor. Wo die Kinder noch klein gewesen waren oder in den Ferien aus Thorntails nach Hause kamen war immer Leben in diesen Wänden gewesen, Lachen, Singen, aber auch Plärren, Brüllen oder Streiten. Diese Stille drückte auf ihr Gemüt. Sie wollte losschreien, diese sie umklammernde Ruhe von sich wegbrüllen. Doch was brachte das?
"Guten Morgen, Chroesus. Ich wollte dich fragen, ob du nicht zumindest mit mir frühstücken möchtest, bevor ich zu euch ins Ministerium komme", begrüßte sie ihren Mann, der bereits wieder über irgendwelchen Akten grübelte. Er wirkte im Moment nicht gerade beruhigt oder entspannt. Doch als er sie ansah blickte er sie so an, als habe er alles im Griff und müsse keine Schwierigkeiten fürchten.
"Argy, ich weiß, dass es dir wichtig ist, dass wir uns wieder privat zu sehen kriegen. Doch wie ich dir das gestern schon gesagt habe kann ich heute nicht weg. Aber wenn es dich beruhigt kann ich dir für die Unterredung einen Rechtsbeistand empfehlen, der sicherstellt, dass du weder zu unrecht verdächtigt werden kannst, noch gleich nach der Unterredung abgeführt wirst."
"Ich will keinen Rechtsverdreher bei mir am Tisch haben, sondern dich, meinen Ehemann, angetraut, um in guten wie in schlechten Zeiten an meiner Seite zu sein", stieß Argentea aus. "Oder steht in dem Friedensabkommen mit diesen Babymacher-Banditen drin, dass du dich scheiden lassen sollst, damit du deren Bundesschwestern schwängern kannst?" stieß sie nun sehr forsch aus. Da sah sie, dass die bisher so gut aufrechterhaltene Fassade des alles beherrschenden und überblickenden Mannes erschüttert wurde. Sie konnte für einen winzigen Moment Ertapptheit und auch Furcht erkennen, die dann aber wieder zu jener scheinbar unerschütterlichen Überlegenheit wurde.
"Ich sehe es ein, du bist in letzter Zeit wegen mangelnder Dienstaufträge betrübt und hast weil wir durch mein Amt nun doch mehr bedroht sind als vorher gewisse Befürchtungen. Ich sehe dir auch an, dass du nicht wirklich gut geschlafen hast", erwiderte Chroesus Dime.
"Wie denn auch, in einem viel zu großen Bett in einem leeren Haus?!" stieß Argentea aus. Ihr Mann bedeutete ihr, nicht so laut zu sein. Sie erkannte, dass er ihr nicht helfen würde, nicht heute und vielleicht auch lange nicht mehr. Um zu prüfen, ob sie sich eben nicht verguckt hatte sagte sie:
"Du hast mir übrigens meine Frage nicht beantwortet. Will Vita Magica, dass du mich loswirst. Ich meine, wenn ja, dann werde ich dich freigeben, alleine, um dich nicht in noch größere Schwierigkeiten geraten zu lassen. Aber dann kläre du bitte auf, was da angeblich passiert ist!"
"Nein, Vita Magica hat mich nicht dazu gezwungen, dich loszuwerden", sagte der Minister mit einer sehr entschieden klingenden Stimme. "Aber wenn du so derartig paranoid bist solltest du dich vielleicht noch vor der Unterredung mit Mr. Hardcastle einem psychomorphologischen Experten anvertrauen. Der könnte dann erreichen, dass du erst dann die Unterredung haben sollst, wenn keine Bedenken wegen deines Geisteszustandes bestehen", sagte Chroesus Dime mit einer Mischung aus Unbehagen und Wohlwollen. Doch Argentea hatte wieder einen winzigen Moment lang eine Erschütterung seiner Selbstbeherrschung gesehen. Diesmal war es sowas wie ein Hoffnungsfunken, als wenn er sie jetzt da hatte, wo er sie haben wollte. Sein Pokergesicht war eben doch nicht aus Granit, dachte sie für sich. Dann sagte sie: "Ja, könnte sein. Aber dann wohl deshalb, weil jemand mir einen Brief geschrieben hat, in dem drinstand, dass du auf jede Aufforderung, bei mir einen Tag und eine Nacht zu verbringen, ausweichend bis ablehnend reagieren wirst. Offenbar glaubt diese Person zu wissen, was dich gerade umtreibt", wisperte Argentea Dime und sah ihrem Mann nun ganz genau in die Augen. Er zuckte nicht zurück oder versuchte, seinen Blick abzuwenden. Doch sie war sich nun sicher, dass wirklich etwas mit ihm los war, das ihr nicht gefiel. Es war ein winziger Funke von Furcht, ja der Angst, gleich mit etwas schlimmen oder gar tödlichem zu tun zu bekommen. Doch er fing sich sofort wieder und erwiderte:
"So ist das also. Jemand manipuliert dich, um dich gegen mich auszuspielen. Wann bitte hast du diesen ominösen Brief bekommen? Hast du den noch? Ich meine, der konnte ja schlecht mit einem Fluch beladen gewesen sein. War es diese angebliche Wiedergeburt von Anthelia, die mit einer anderen Hexe zu dieser Spinnenhexe wurde?"
"Ja, da hast du völlig recht. Die war das. Und das ist erst wenige Tage her. Sie behauptete, du wolltest mich loswerden. Die einzige Möglichkeit, sie zu widerlegen bestehe darin, dich für einen Tag und eine Nacht bei uns im Haus zu haben. Offenbar weiß sie, dass unser Haus gut abgesichert ist. Vielleicht hat sie sogar versucht, durch die Zauber durchzukommen. Ich wollte ihr das nicht glauben. Aber dann kam diese Vorladung und du hast Gründe vorgeschoben, warum du nach Dienstschluss nicht zu mir kommen konntest. Damit machst du gerade genau das, was diese Dirne der dunklen Künste vorausgesagt hat. Denkst du, das lässt mich kalt? Wenn du gesagt hättest, ich komme nach Hause, Argy und bleibe die ganze Nacht, damit du ruhig schlafen kannst hätte ich endlich Gewissheit, dass dieses Weib uns gegeneinander ausspielen will. Aber dann komm auch nach Hause und bleibe eine Nacht bei mir, damit wir zwei endgültig wissen, dass keiner von uns von irgendwas bösem erfüllt ist! Ich werde nicht zu der Vorladung hingehen, Chroesus. Denn jetzt muss ich erst Gewissheit haben, dass mit dir alles in Ordnung ist und du nicht unter einem fremden Zauber stehst", sagte sie. Dabei sah sie wieder für einen Moment, , wie seine überlegene Miene erschüttert wurde. Diesmal ließ er jedoch nicht zu, dass sie ihm genau in die Augen blicken konnte.
"Wenn du nicht zu ihnen kommst werden sie denken, dass du was zu verbergen hast und dich zur Fahndung ausschreiben. Selbst wenn sie dann nicht in unseren Schutzzauber eindringen können, weil sie wohl oder übel deine Freiheit bedrohen, wirst du dann nirgendwo in den Staaten mehr frei und sicher sein."
"Soll mich das jetzt einschüchtern oder was. Als wenn Leute wie Pickman oder eben die Spinnenhexe und ihre Schwestern je davor Angst gehabt hätten, als Geächtete nirgendwo mehr sicher zu sein. Also hör mit dieser Beredungstaktik auf! Ich kenne dich zu gut, dass ich weiß, dass du mir nie nach Freiheit oder Leben trachten würdest, sofern du nicht von einer überstarken Kraft dazu gezwungen wirst, mich und die Kinder in Gefahr zu bringen. Mr. Hardcastle darf gerne zu mir kommen, wenn er nur mit mir reden will. Wenn der aber schon einen Haftbefehl gegen mich hat ist verständlich, dass er mich in unserem Haus nicht aufsuchen kann. Und was einen Heiler mit Psychomorphologischer Ausrichtung angeht, dann kann ich den gleich fragen, ob es Flüche außer Imperius gibt, die jemanden dazu treiben können, ganz gegen seinen Willen zu handeln, ohne anddauernd neue Anweisungen erhalten zu müssen. Vielleicht hat dir auch jemand den Psychopolaris-Trank verabreicht, damit deine Gefühle für mich ins Gegenteil verkehrt werden."
"Jetzt wirst du wirklich paranoid", erwiderte Chroesus Dime.
"Ja, vielleicht. Doch das Problem bei der Paranoia ist, dass sie nicht vor wirklicher Verfolgung schützen kann. Ich schicke Mr. Hardcastle einen kurzen Brief, dass ich um mein Leben fürchten muss, weil jemand meint, mich von dir wegzukriegen um bei dir freie Bahn zu haben. Vielleicht kommt er dann darauf, dass es doch erst mal geprüft werden muss, wer wirklich davon profitiert, dass das Vertrauen zwischen dir und mir zerstört wird. Ich profitiere jedenfalls nicht davon", warf sie ihrem Mann an den Kopf. Sie war darauf gefasst, blitzartig ihren Kopf aus dem Kamin in ihr Haus zurückzuziehen. Doch Chroesus Dime saß auf seinem Stuhl und wirkte unschlüssig, wie er jetzt antworten sollte. Das dauerte vier Sekunden. Dann sagte er:
"Wer wird schon davon profitieren? Nur Anthelia oder andere das Ministerium bekämpfende Gruppen, einschließlich der Werwolfbruderschaften."
"Dann hat Anthelia einen logischen Fehler gemacht. Sie hätte mich dann nicht warnen dürfen, sondern hätte es anleiern müssen, dass ich arglos das Haus verlasse und irgendwo hinreise, um mich dort zu überwältigen und als Druckmittel gegen dich zu verwenden."
"Sie hat Wishbone ermordet, weil er gegen alle Hexen vorgehen wollte. Das war auch nicht logisch, weil seine Ansichten den Unmut überdauert haben, den die Leute wegen ihm hatten."
"Und gegen dich, weil du damals schon der Goldverwalter warst und die Handels- und Verkehrsblockade von ihm mitgetragen hast, Chroesus. Also hätte Anthelia dich schon längst hinter Wishbone herschicken können, falls sie wirklich so kurzsichtig und unbeherrscht ist", sagte Argentea.
"Du hast noch drei Stunden Zeit, dich zu entscheiden, Argy. Ich hoffe, du entscheidest dich richtig."
"Richtig für wen?" stellte sie eine sehr provokante Frage. Ihr Mann sagte schnell: "Für uns alle."
"Danke für deine Geduld und deinen Zuspruch", erwiderte Argentea mit unüberhörbarer Ironie. Dann zog sie schnell den Kopf aus dem Kamin zurück und überstand das Herumwirbeln, bis ihr Kopf wieder an seinem richtigen Platz saß.
"Ich habe ihm nicht gesagt, um wie viel Uhr die Vernehmung sein soll. Wenn er damit nichts zu tun haben darf konnte er das nicht wissen, wann ich einbestellt bin, allein schon, um nicht von sich aus was zu machen", dachte Argentea. Diese Erkenntnis passte in einer erschreckenden Weise zu ihren Beobachtungen. Sie hatte keine Halluzinationen gehabt. Chroesus Dime verbarg etwas, etwas, das nicht herauskommen durfte, weil es für ihn gefährlich, ja tödlich werden mochte. Aber Natürlich konnte er nicht damit herausrücken, was es war. Doch dass da was war wusste sie nun.
Um sich völlig zu versichern, dass ihre Befürchtungen unzutreffend waren schrieb sie den erwähnten Brief. Um nicht herauszulassen, dass sie von jemandem aus dem Ministerium bedroht sein mochte schrieb sie, dass sie am Abend eine Eulenpost erhalten habe, dass ihr Leben bedroht sei. Sie vermute die Spinnenschwestern oder die Werwölfe, weil ihr Mann den Friedensvertrag mit Vita Magica geschlossen habe. Sie sei jedoch bereit, in der Sicherheit ihrer Schutzzauber jede Frage zu beantworten, die ihr gestellt würde, ja böte sogar an, für die dazu berechtigten Beamten alle Unterlagen aus dem Schrank zu holen, falls es darum gehe, welche von denen fehlen mochte. Dann schickte sie den Brief los.
"Und das ist sicher?" gedankenfragte Anthelia ihre Mitschwester Maura Copperspoon, deren Neffe im Ministerium als Untersekretär in der Strafverfolgung arbeitete.
"Mein Geburtstagsgeschenk an ihn hat mir das zugekrächzt", erhielt die höchste der Spinnenschwestern die prompte Antwort. Sie erinnerte sich, dass Maura ihrem Neffen ein Bild mit darin herumfliegenden Papageien und Paradiesvögeln verehrt hatte. Dass dieses Bild zwei Kopien besaß hatte seine Tante ihm wohl nicht verraten, nur dass er den Vögeln befehlen konnte, leise zu sein, wenn er arbeitete.
"Dann will Dime wirklich zusehen, dass seine Frau in Ungnade fällt, damit er einen Scheidungsgrund anführen kann", gedankensprach Anthelia. "Ich muss es überwachen, ob sie ihm in die Falle geht, ohne selbst in eine Falle zu laufen. Wenn ich in vier Stunden nichts von mir hören lasse ist mir was unangenehmes passiert."
"Das du getötet wirst, höchste Schwester?" wollte Maura wissen.
"Das wird dann die ganze Welt erfahren, wenn dieses wahrhaftig passieren soll. Und wer das immer herbeiführen könnte wird es bitter bereuen", schickte Anthelia zurück. Dann verließ sie die Daggers-Villa und reiste in die Nähe des Dime-Anwesens. Auch wenn sie den Zauber selbst nicht durchdringen konnte würde sie es zumindest Dank ihrer Kenntnisse der Erdzauber mitbekommen, wenn er sich veränderte, wenn jemand von ihm beschirmtes das Haus verließ.
Barnabas Hardcastle drehte den ihm um neun Uhr zugegangenen Brief noch einmal in den Händen. Darin hatte mrs. Dime erklärt, den ihr zugegangenen Termin für eine Befragung nicht wahrzunehmen, da sie befürchtete, gleich nach Verlassen ihres Hauses von verbrecherischen Hexen überfallen und zum Zwecke einer Erpressung gegen ihren Mann entführt zu werden. Sie stehe jedoch für eine Befragung an ihrem Wohnsitz zur Verfügung.
"Wen ich vorlade, der oder die hat bei mir zu erscheinen, nicht umgekehrt", hatte der grauhaarige Zauberer Barnabas Hardcastle darauf geflucht. Doch was half es? So musste er bedauerlicherweise die erst nur als Zeugin eingestufte Ministergattin zur dringend tatverdächtigen erklären, damit die Außentruppen sie festnehmen und vorführen konnten. Denn er sah es gar nicht ein, dass er selbst ausrücken musste, um die Befragung durchzuführen. Daher holte er den in seiner dreifach verschließbaren Schreibtischschublade aufbewahrten Haftbefehl hervor, in den er nur noch Haftgrund und Datum eintragen musste. Als Haftgrund nannte er, dass die vorzuführende die einzige nach dem unter Eidessteinschwur befragten Minister war, die an die ihm vorliegende Kopie eines Einsatzplanes gelangen konnte. Somit bestehe dringender Tatverdacht gegen Argentea Dime. Dass er damit seinen Leuten die Möglichkeit nahm, unangefochten bis zu Argentea Dime vorzudringen wusste er zu diesem Zeitpunkt nicht.
Als nach einer Viertelstunde seine ausgesandten Mitarbeiter vermeldeten, dass sie gerade bis auf zweihundert Meter an das Dime-Anwesen herangekommen waren und dann auf einen undurchdringbaren Widerstand gestoßen waren förderte das seinen ohnehin schon schwelenden Unmut.
"Erlaubnis zur Durchbrechung der Abwehrzauber erteilt", hatte er dem vor Ort geschickten Mitarbeiter Banes dann mitgeteilt. Doch die Schutzzauber erwiesen sich als vielschichtiges Geflecht miteinander wechselwirkender Elementar und Bannzauber. Jeder gegen sie gewirkte Zauber wurde in spektakulären Lichtentladungen und unterschiedlichen Geräuschmusstern zurückgeworfen oder wie von einem unsichtbaren Schwamm verschluckt. Da weder die Gesamtzahl der benutzten Schutzzauber noch die genaue Reihenfolge ihres Errichtens unbekannt waren schlugen alle Versuche fehl, Argentea Dime aus ihrem Haus zu holen. Ruth Barkley, eine der am Zugriffsversuch beteiligten, warf sogar die Vermutung ein, dass die Zuzuführende gar nicht in ihrem Haus sein müsse. Denn selbst Erkundungszauber wie Mentijectus und Homenum Revelio prallten von der kugelförmigen Absicherung ab. Sie konnten also genauso vor einer unbestürmbaren Festung ohne Besatzung stehen.
Barnabas Hardcastle raffte seinen dunkelvioletten Samtumhang und eilte mit sichtbarer Verärgerung zu Minister Dimes Büro. "Bitte prüfen Sie nach, ob Ihre Ehefrau sich in Ihrem gemeinsamen Haus aufhält, Sir! Falls sie da ist weisen Sie sie an, sich freiwillig in die Obhut meiner Leute zu begeben!"
"Das wird sie nicht tun, solange die Zauberbanne und Gegenflüche sie als zu schützende Hausbewohnerin anerkennen."
"Dann möchte ich Sie bitten, uns die Reihenfolge der bei Ihrem Schutz gewirkten Zauber zu nennen, um diese vorübergehend zu durchdringen", sagte Hardcastle mit unüberhörbarer Verstimmtheit.
"Diese Zauber können nur aufgehoben werden, wenn dort niemand mehr ist, zu dessen Schutz sie errichtet wurden. Außerdem sind sie an die Gestirne gebunden und beziehen von diesen und der Erde ihre Kraft. Selbst wenn ich Ihnen die Reihenfolge der Zauber nenne würden Sie diese nicht aufheben können, weil jeder einzeln bekämpfte Zauber gleich von drei anderen ersetzt wird und sich nach erfolgreicher Unterbrechung innerhalb von einer Stunde vollständig regeneriert. Abgesehen davon müssten Ihre Leute bis zum magischen Mittelpunkt unseres Anwesens vordringen, um von dort aus die bereitgehaltenen Gegenflüche aufzuheben. Wenn sie schon versucht haben, die Zauber zu unterbrechen wurden sie damit zu Feinden der Hausbewohner. Aber ich werde mit ihr sprechen, dass sie sich nur noch verdächtiger macht, wenn sie eine Befragung verweigert."
"Meine Leute haben den Befehl erhalten, sie als bereits dringend Tatverdächtige festzunehmen", sagte Hardcastle.
"Dann sind Ihre Leute bereits als ihre Feinde erkannt worden. Warum sind Sie nicht selbst und ohne Vorbehalt zu ihr hin, Barney?"
"Weil ich in meiner Dienstzeit gelernt habe, dass Leute, die einer amtlichen Befragung fernbleiben etwas zu verbergen haben, Sir", sagte Hardcastle entschlossen.
"Tja, dann kommen Sie nicht an sie heran. Das stimmt mich traurig, weil ich jetzt doch befürchten muss, dass sie die Unterlagen aus unserem gemeinsamen Schrank entwendet hat. Das stellt eine Zerstörung meines Vertrauens in sie dar", seufzte Minister Dime. Hardcastle nickte ihm zu.
"Können Sie sie dann nicht zur unerwünschten Person erklären?" fragte Hardcastle.
"Genau wie Sie. Aber solange Sie mit mir verheiratet ist und als anerkannte Mutter meiner Kinder zählt wird sie im Bereich der Schutzzauber ausharren", antwortete Dime scheinbar sehr betrübt dreinschauend. Hardcastle nickte wieder beipflichtend. Auch wenn Hardcastle nur mit seinem Beruf verheiratet war und seit zehn Jahren nur noch zwischen seiner Arbeitsstelle und dem kleinen Haus bei Washington pendelte konnte er Minister Dimes Enttäuschung und damit einhergehende Verärgerung verstehen.
"Wir versuchen noch einmal, die bestehenden Schutzzauber auszulöschen. Öhm, Incantivacuum-Kristalle könnten das tun."
"Sie wissen, dass diese nur einen Wirkungsradius von zwölf Metern haben. Sie würden nur ein besonders spektakuläres Feuerwerk, schlimmstenfalls ein messbares Erdbeben hervorrufen. Der Schutzzauber würde sich jedoch sofort den freigesprengten Raum zurückerobern und dabei von den erwähnten Energiequellen zehren", sagte der Minister. "Nein, an mir ist es, Argentea aus der Obhut der Schutzzauber herauszulösen."
"Bis wann können Sie das, Sir? Ich meine, es liegt doch ganz sicher auch in Ihrem Interesse, dass eine hinter Ihrem Rücken verlaufende Verschwörung aufgedeckt und ihre Hinterleute dingfest gemacht werden", erwiderte Hardcastle darauf.
"In fünf Stunden. Denn solange wird es dauern, dass ich die nötigen Schritte mache, damit die Schutzbezauberungen weiterhin für mich und meine Nachkommen bestehen bleiben", sagte Minister Dime immer noch mit einer von Enttäuschung und Verärgerung geprägten Tonlage.
"Gut, dann formieren wir einen Absperrring um das Grundstück und installieren einen Locattractus-Zauber, falls sie disapparieren will. Benötigen Sie den Flohnetzanschluss Ihres Wohnsitzes?"
"Ich werde noch einmal versuchen, sie über Kontaktfeuer zu bewegen, Sich der Befragung zu stellen. Ganz auszuschließen ist ja leider nicht, dass jemand sie verschleppen möchte, sobald sie das Haus verlässt. Wenn sie von sich aus zu Ihnen kommt dürfte es keine Schwierigkeiten machen. Ansonsten werde ich Ihnen mitteilen, wenn der Flohnetzanschluss meines Hauses für einen Zeitraum von zwölf Stunden unterbrochen werden soll."
"In Ordnung, Sir. Wir erwarten dann Ihre Ankündigung", sagte Hardcastle.
Argentea Dime bekam durchaus mit, dass jemand versuchte, zu ihr vorzudringen. Denn sie fühlte selbst in ihrem Salon eine leichte Schwankung von Stimmung und Temperatur. Es war, als pulsiere die Luft um sie herum und als flösse ihr mit jedem zweiten Atemzug mal Erleichterung und mal Unbehagen zu. Doch ihr Entschluss stand fest. Sie wollte, dass ihr Mann persönlich zu ihr hinkam, allein um zu widerlegen, was Anthelia geschrieben hatte. Alles was sie tun konnte war warten. Sie wartete auf Chroesus.
Es war nun genau zwölf Uhr Mittags, als die Schwankungen im Wärmeempfinden nachließen und auch die immer wieder aufkommenden Gefühle von Erleichterung und Unbehagen zu einem gleichmäßigen Gefühl des angespannten Abwartens ausgependelt wurden. Argentea vermutete, dass wer immer versucht hatte, in feindlicher Absicht zu ihr vorzustoßen, erst einmal aufgegeben hatte. War das also schon alles, oder wurde jetzt der wahre Angriff auf sie vorbereitet?
Um Chroesus eine sichere Ankunft zu bieten hatte Argentea den Kamin im Salon nicht gesperrt. Denn wer über den Kamin zu ihr kam wurde unvermittelt bis über die Grenze der Schutzzone hinaus versetzt, wenn es ein Feind war.
Ohne Vorankündigung erschien Chroesus' Kopf auf dem Kaminrost. Sie sah ihn an und nickte ihm zu. "Du kannst auch gerne ganz zu mir rüberkommen, Chroesus", sagte sie. Doch der Kopf im Kamin ruckte zweimal nach links und rechts. Dann sagte er:
"Argy, du hast bei uns alle Wichtel auf's Dach gescheucht. Vor unserem Haus stehen die Eingreiftruppen aus der Strafverfolgungsabteilung. Hardcastle hat einen Haftbefehl gegen dich erstellt, weil er denkt, du hättest wirklich was angestellt. Ich will nicht glauben, dass er recht hat. Aber wenn du dich seiner Befragung entziehst wird er nicht aufhören, an deine Schuld zu glauben. Komm bitte durch den Kamin zu uns herüber. Ich kann dir versichern, dass dir nichts passieren wird und du, sollte der Verdacht unbegründet sein, keine Folgen der verabsäumten Vorladung fürchten musst."
"Komm du zu mir rüber und erzähl mir in aller Ruhe, was mir genau vorgeworfen wird und warum es nur mir vorgeworfen wird, Chroesus! Denn jetzt bleibe ich erst recht hier. Du musst mir beweisen, dass du nicht unter einem bösartigen Zauber stehst und dass du immer noch frei entscheiden kannst, was du tust, ohne Angst vor körperlichen oder seelischen Qualen haben zu müssen. Also schieb den Rest von dir nach und sei ganz hier bei mir!" erwiderte Argentea Dime.
"Das werde ich nicht. Denn wenn ich zu dir herüberkomme fürchtet Hardcastle, du könntest mich als Geisel nehmen."
"Das sagt der, der mir heute Morgen Paranoia unterstellt hat", erwiderte Argentea, die nun sehr sicher war, dass ihr Mann wegen etwas ihm auferlegtes nicht in sein Haus gehen konnte. Sie hätte es ihm zu gerne auf den Kopf zugesagt, dass sie nun wusste, dass ihm was auferlegt worden war. Doch gerade noch rechtzeitig fiel ihr ein, dass sie damit den Fluch oder was es war erst recht auslösen würde, ja über sich und ihren Mann ein Todesurteil sprechen mochte. Deshalb sagte sie nur:"Ich bleibe hier. Wenn Hardcastle mich frei von Vorurteilen befragen will kann er gerne herkommen." Ihr Mann sah sie dafür verstimmt an. Dann sagte der Kopf im Kamin: "Dann kann ich dir wirklich nicht helfen. Ich habe sowieso schon zu viel getan." Mit diesen Worten verschwand der Kopf aus dem Kamin. Argentea Dime starrte noch einige Sekunden auf den Rost. Dann beschloss sie, noch einen letzten Versuch zu wagen, die Sache friedlich zu beenden und vielleicht mithelfen zu können, dass der Minister von diesem Fluch befreit wurde.
Sie schrieb einen kurzen Brief an Barnabas Hardcastle, indem sie sich sehr entrüstet gab, dass man ihr derartig nachstellte, als sei sie eine Schwerverbrecherin. was immer ihr zur Last gelegt werden sollte, in den Staaten gelte noch immer der Grundsatz, die Schuld zu beweisen und nicht die Unschuld zu beweisen. Bloße Verdächtigungen würde sie nicht hinnehmen. Wer zu ihr hinwollte möge dies ohne feindliche Absicht tun. Sie lud Hardcastle ein, zu ihr ins Haus zu kommen, um sie zu befragen. Dann schickte sie Thelma, die zweite von drei Eulen aus ihrem Haus.
Chroesus Dime erklärte seinem Mitarbeiter Hardcastle, was passiert war und jetzt der Flohnetzanschluss gesperrt werden sollte, um Argentea nicht durch das Netz der Zaubererweltkamine entwischen zu lassen. Hardcastle gab die vorbereitete Anweisung gleich an die dafür zuständige Stelle weiter.
"Ich habe es versucht, sagte der Minister zu Barnabas Hardcastle. Aber sie sieht sich selbst als Opfer einer üblen Intrige. Dann muss ich eben den letzten Ausweg nehmen, der mir bleibt", seufzte er. Als Barnabas Hardcastle fragte, was er meine erwiderte Dime, dass er auf Grund des mit Argentea geschlossenen Ehevertrages eine einseitige Eheauflösung erwirken würde. Er bräuche dafür nur zu Zeremonienmagier Xylodios Springfield zu gehen und ihm verdeutlichen, dass er seiner Frau nicht nur misstraute, sondern sich von ihr bedroht fühle, weil sie ihn womöglich hintergehen wollte. Hardcastle nickte nur. Dann wünschte er dem Minister die Kraft für diesen schweren Schritt. Dime bedankte sich und verließ das Büro Hardcastles.
Die Vorstellung, schnell eine Lossprechung hinzukriegen erwies sich jedoch als zu optimistisch. Denn der Zeremonienmagier war derzeit nicht zu sprechen, weil er mehrere Termine in der nächsten Woche hatte, vor allem sehr viele schnelle Eheschließungen. Viele durch VM auf Kinder wartende Hexen hatten beschlossen, die Väter dieser Kinder zu heiraten, und diese hatten schweren Herzens zugestimmt, sofern sie schon volljährig waren. Dime erkannte, dass ihm diese Gruppe damit ungewollt eine Menge Steine in den Weg gelegt hatte.
Als dann noch eine Eule seiner Frau im Ministerium eintraf, deren Brief ankündigte, dass seine Frau sich bis auf weiteres in ihrem Haus aufhalten und nur noch über ihre Anwälte mit dem Ministerium korrespondieren würde, fragte er sich, wie es weitergehen sollte. Bis zum 15. Februar war Springfield unterwegs oder ausgebucht. Wenn er versuchte, einen Termin dazwischen zu kriegen würde das sofort große Wellen schlagen. Die wollte er zwar haben, aber erst, wenn seine Frau von ihm losgesprochen war.
"Sieh zu, dass Argentea bald aus diesem verflixten Schutzzauber herauskommt! Am 1. März musst du von ihr völlig losgesprochen sein", vernahm er Phoebe Gildforks Gedankenstimme. Er wusste auch, dass er an diesem 1. März sterben würde, weil er die erste Bedingung des ihn bindenden Catena-Sanguinis-Fluches nicht erfüllt hatte. Aber er wollte nicht sterben.
Anthelia/Naaneavargia war sofort losgeflogen, als sie gehört hatte, dass jemand versuchte, Argentea Dime aus ihrem Haus zu holen.
Da sie nicht entdeckt werden wollte apparierte sie erst einmal drei Kilometer von der Grundstücksgrenze entfernt. Dann flog sie auf ihrem Harvey-Besen unsichtbar zweitausend Meter über Grund dahin. Das störte sie zwar, weil sie als Erdvertraute gerne den Kontakt zu der großen Mutter Erde haben wollte. Aber von Anthelias Seite her war und blieb sie auch eine dem Besenflug verbundene Hexe.
Mit einem Zauberfernrohr beobachtete sie, wie das Haus der Dimes umzingelt gehalten wurde. Dann sah sie auch, wie Ministeriumsleute einen Locattractus-Zauber um eine gläserne Kabine schlossen, indem sie einen goldenen Kreis mit entsprechenden Symbolen zeichneten. Die gläserne Kabine stand auf vier kurzen Beinen, die zusammengedrückt werden konnten. Diese Wichte wollten wohl jeden der apparierte in diesem Glashaus einsperren und gleich mit einem schnell wirksamen Gas betäuben. Das würde sie denen verleiden und wusste auch schon wie.
Sie sank noch ein wenig tiefer, jedoch auf der Hut, nicht entdeckt zu werden. Denn sie kannte selbst einen wirksamen Umgebungserkundungszauber. Der wirkte aber nur auf Wesen, die gerade mit der Erdoberfläche verbunden waren. Die Windvertrauten konnten hingegen einen kugelförmig wirksamen Zauber verwenden, der Lied der atmenden Geschöpfe hieß und alles was Luft zum leben brauchte erkannte.
Als sie sah, dass dreißig Leute mit Besen das Haus weiträumig umzingelten und dann noch mehrere Dutzend Zelte aufstellten, weil sie wohl länger hierbleiben wollten, nahm sie ein mit Sonorus-Zauber belegtes Sprachrohr. Sich selber mit dem Zauber zu belegen ging wegen der Tränen der Ewigkeit nicht mehr. Sie räusperte sich kurz. Dann sang sie in das Sprachrohr die ersten Töne von Sardonias Schlaflied. Die Töne wurden für alle in hundertfacher Rufweite hörbar und trugen auch die Magie der alten Druiden in Ohren und Köpfe der Zuhörer.
Während sie das Lied zum ersten Mal sang konnte sie sehen, wie erst eine blaue Funkenwolke entstand, die dann zu einer vollständigen himmelblauen Halbkugel verdichtet wurde. Sie wusste, dass ihr Lied von der kugelgestaltigen Abwehrbezauberung pariert wurde. Womöglich würde Argentea Dime deshalb nicht davon betroffen. Doch das war auch nicht Anthelias Absicht. Einige der unten herumlaufenden Hexen und Zauberer versuchten zwar, sich gegen das Lied zu wehren. Doch seine Lautstärke und Ausbreitung, sowie Anthelias geübte Singstimme brachten die Gegner zum taumeln. Dann sanken alle nieder und blieben liegen. Anthelia sang noch drei Wiederholungen, um sicher zu sein, dass alle außerhalb der Sphäre eingeschlafen waren. Gemäß des Liedes würden sie erst beim nächsten Sonnenaufgang wieder aufwachen. Somit hatte sie mehr als zwölf Stunden Zeit gewonnen. Vielleicht reichte die aus, Argentea zu überzeugen, auf einem Besen den Schutzbereich zu verlassen und mit ihr irgendwohin mitzukommen. Doch die würde ihr weiterhin misstrauen. Sie musste sich also überlegen, was sie sagen wollte.
Argentea überlegte, was sie tun sollte. Sicher war sie im kugelförmigen Geflecht der Schutzbanne sicher. Doch genauso sicher war diese uneinnehmbare Festung ein Gefängnis. Sicher arbeiteten die Ministeriumsleute schon daran, die Zauber endgültig zu brechen oder sie dazu zu treiben, ihren Schutz zu verlassen.
Vielleicht konnte sie durch das Flohnetz entkommen. Sie entzündete den Kamin. Dann warf sie eine Prise Flohpulver hinein. Doch statt eine smaragdgrüne Flammenwandzu erschaffen veränderten sich die Flammen zu einem blutigen Rot, bevor sie laut fauchend in sich zusammenstürzten und erloschen. Damit stand fest, dass ihr Kamin nicht ans Flohnetz angeschlossen war. Also wollte ihr Mann auch nicht mehr zu ihr ins Haus.
Die Frau des derzeitigen Zaubereiministers der vereinigten Staaten ging davon aus, dass die Inobskuratoren da draußen warteten, bis sie das Haus verließ. Doch solange die Schutzzauber wirkten, hatte sie keinen Anlass dazu. Dann fiel ihr ein, was ihr Mann tun konnte. Er musste sich nur gemäß dem magisch und mit beider Blut bekräftigten Ehevertrag von ihrem damaligen Zeremonienmagier lossprechen lassen. Sie verwünschte ihre Eltern und Schwiegereltern, die damals in einer seltenen Einigkeit darauf bestanden hatten, dass im Falle eines schweren Vertrauensbruches der dadurch geschädigte die vorzeitige Auflösung der Ehe erwirken konnte. Wenn ihr Mann das machte waren zwei Sachen so sicher, wie dass die Erde nicht mal eben ihre Drehrichtung änderte: Zum einen bewies er ihr damit quasi Amtlich, dass er von irgendwem verflucht worden war. Zum zweiten würden die ineinander verflochtenen Schutzbanne sie nicht mehr beschützen. Dann war sie selbst ein unerwünschter Eindringling. Sollte sie jetzt warten, bis Zeremonienmagier Xylodios Springfield sich von ihrem Mann die Gründe für eine einseitige Eheauflösungszeremonie angehört hatte? Nein, sie musste bald fliehen und wusste nun auch wie. Da hörte sie unvermittelt eine wunderschöne, tiefe Frauenstimme ein Lied in altdruidischer Sprache singen. Zur selben Zeit fühlte sie, wie etwas wie mit warmen, sanft pulsierenden Fingern in ihre Ohren Drang. Sie fühlte sofort mit den Händen nach, konnte aber nichts fremdes ertasten. So blickte sie fasziniert auf die sich in der Luft formenden, im Rhythmus der Silben tanzenden, himmelblauen Funken, die zu immer größeren Lichtkugeln anwuchsen, bis diese sich zu einem einzigen Meer aus himmelblauem Licht vereinten. Überall um sie herum, in Jede Richtung, war dieses himmelblaue Leuchten. Es wirkte auf sie, als stehe sie mitten in dieser Erscheinung. Sie fühlte aber noch den Boden unter den Füßen. Sie streckte ihre Hände aus. Es war so wie sonst, nur dass sie Ihre Hände nur noch eine halbe Armlänge weit von sich entfernt sehen konnte, bevor sie im blauen Licht verschwanden. Sie fühlte jedoch keinen Schmerz. So stand sie da und lauschte dem sanften Lied.
Da sie die Sprache der Druiden von ihrer Großmutter Lunabella erlernt hatte und sie auch an ihre Kinder weitergeben konnte hörte sie, dass das Lied den Frieden des tiefen Schlafes bringen möge und die Aufregung und Kämpfe des wachen Tages niederhalten solle, bis das große Himmelslicht mit seiner Kraft von neuem dem Schoß der Erde entstieg. Da sie die immer noch sanft pulsierende Kraft in ihren Gehörgängen fühlte wusste sie, dass dieses Lied eine Form dunkler Magie in sich trug. Die Hexe da draußen wollte sie wohl in den Schlaf singen. Aber die Schutzzauber hielten noch. Oder galt dieses Zauberlied denen, die ihr Haus umstellt hatten und nun hofften, sie da irgendwie herauszuholen? Sie wusste jedoch eines, dass sie nicht auf die ihr einzig mögliche Weise heimlich fliehen konnte, solange dieses Lied gesungen wurde. Das war eine klassische Pattsituation.
Als die fremde Hexe mit ihrem Gesang aufhörte löste sich das alles umschließende Licht wieder in Lichtkugeln auf, die schlagartig zu winzigen Funken schrumpften und dann lautlos verloschen. Gleichzeitig war das Gefühl von zwei warmen Stopfen in ihren Ohren weg.
"Jetzt oder nie", dachte Argentea und traf die letzten Vorbereitungen für ihre heimliche Flucht.
Anthelia überlegte, ob sie die Locattractus-Falle unschädlich machen oder weiterwirken lassen sollte. Wenn Argentea Dime jetzt disapparierte und in der Glaskabine gefangen wurde war sie auch für Anthelia/Naaneavargia erreichbar. Doch falls der Zaubereiminister es hinbekommen hatte, dass ein tödliches Gas in der Kabine freigesetzt wurde starb seine Frau. Also war es besser, die Falle zu entschärfen.
Zunächst landete die höchste Schwester des Spinnenordens neben dem goldenen Zauberkreis und las einen kleinen Stein auf. In diesen ritzte sie mit einem angespitzten Diamanten Zeichen der bewegten Erde aus der Zauberschrift Altaxarrois. Danach besang sie den Stein mit jenem Zauber, der ein örtlich begrenztes, aber heftiges Beben auslöste. Schließlich flog sie mit ihrem Besen auf und ließ den Stein aus hundert Metern Höhe genau auf den Rand des goldenen Locattractus-Zauberkreises fallen. Augenblicklich erbebte die Erde. Die gläserne Kabine ruckelte, dann hüpfte sie regelrecht auf und ab. Was immer darin verbaut war wurde nun ausgelöst. Außerdem klafften mehrere Risse im Boden, die den goldenen Kreis an mehreren Stellen durchschnitten. Damit war die Apparatorenfalle unwirksam. Anthelia sah aus ihrer Warte heraus rot-grüne Lichtblitze durch die Zaubersphäre blitzen wie kreuz und quer flackerndes Elmsfeuer. Offenbar wies der Schutz um das Grundstück der Dimes den Erdbebenzauber ab. Ja, es war so, dass eine kreisförmige Erhebung entstand, die wie eine Welle nach außen über den Boden lief. Dann hörte das magisch ausgelöste Beben auf. Die Bodenwelle fiel in sich zusammen. Rings um die Schutzsphäre verlief nun ein zwei Meter tiefer und fünf Meter breiter Graben.
Anthelia/Naaneavargia griff zu ihrem bezauberten Sprachrohr. Sie wollte Argentea zurufen, dass der Weg nun frei war. Da geschah etwas, mit dem selbst sie nicht gerechnet hatte.
Minister Dime hatte sich in sein Büro zurückgezogen. Niemand durfte mitbekommen, wie sehr er unter dem litt, was er hatte veranlassen müssen. Seine Seele wurde von widerstreitenden Gefühlen aufgewühlt. Er musste seine Frau verstoßen, sie irgendwie loswerden, damit er nicht am ersten März tot umfiel. Andererseits hatte er mit Argentea so viele glückliche Jahre verbracht und liebte diese Frau immer noch. Doch immer dann, wenn er an die schönen Zeiten mit Argentea dachte, fühlte er diese dumpfen Schmerzen im Unterleib. Phoebes Zauber zwang ihn, nur noch sie als seine Gefährtin anzunehmen. Je weiter die von ihr getragenen Kinder heranwuchsen desto stärker wirkte sich dieser Zauber auf ihn aus. Nun hatte er alles angestoßen, was er tun konnte, ohne Verdacht zu erregen. Zumindest hoffte er das, dass niemand ihn verdächtigen würde, seine eigene Frau loszuwerden. Doch wenn sie wirklich ergriffen und wegen Geheimnisverrates verurteilt wurde konnte sie im Seelenkerker von Doomcastle enden. Wäre es da nicht gnädiger, sie zu töten? Doch er wollte sie nicht töten, die Frau, mit der er so viele glückliche Jahre zugebracht hatte. Er musste jetzt nur noch auf Springfields Antwort warten, wann dieser ihn empfangen und ihn von ihr lossprechen konnte. Aber vielleicht war sie so ungeduldig und versuchte vorher zu fliehen. So oder so musste er bis zum ersten März von ihr losgesprochen werden.
Er wollte gleich sein Mittagessen bestellen und hoffte, nicht wieder eine puppengroße Nachbildung dieser verflixten Spinnenhexe statt des bestellten Essens serviert zu kriegen. Doch bevor er sich an die Küchenelfen wenden konnte schwirrte ein Memo von Barnabas Hardcastle herein.
Sir, angewiesene Lagemeldung zur vollen Stunde von um Ihr Haus postierter Einsatzgruppe ausgeblieben. Sende Aufklärungsgruppe zur Überprüfung.
B. Hardcastle
Dime verzichtete darauf, was zu essen zu ordern. Das musste er erst einmal klären.
Aus dem Nichts heraus erschienen erst zehn, dann zwanzig und dann fünfzig frei fliegende Waldohreulen. Sie entstanden scheinbar über dem Pol der magischen Sphäre um das Dime-Anwesen. Anthelia konnte nicht so schnell gucken, wie noch mehr Eulen auftauchten und unverzüglich in alle verfügbaren Richtungen davonflogen. Damit hatte Anthelia nicht gerechnet. Doch sie brauchte nur wenige Sekunden, bis sie begriff, was das sollte. Die Hausherrin hatte wohl ihre verbliebenen Posteulen mit dem Plurimaginis-Zauber belegt, damit sie irgendwem schriftliche Hilferufe zuschicken konnte, ohne dass ihre Belagerer die Eulen abfangen konnten. Die wohl überwiegend rein illusionären Vögel jagten bald schneller als jeder Flugbesen in alle Richtungen davon. Es waren nun scheinbar über hundert geflügelte Boten unterwegs.
Anthelia/Naaneavargia selbst jagte unsichtbar auf ihrem Harvey-Besen los und mitten hinein in den Eulenschwarm. Als die ersten Euelen genau auf sie zuflogen, ohne ihr auszuweichen wusste sie, dass die garantiert nicht echt waren. Sie riss ihren Zauberstab senkrecht nach oben und rief: "Katarash!" Ein greller Blitz erstrahlte über ihr. Sie fühlte, wie etwas von ihr weggestoßen wurde. Dann waren die allermeisten Eulen einfach verschwunden. Jetzt konnte sie noch genau zwei Eulen sehen, die in größter Eile dahinjagten. Beide waren bereits so weit weg, dass Anthelia sie nur noch als immer kleiner werdende Punkte wahrnahm. Sie ärgerte sich, dass sie lieber unsichtbar statt schnell fliegen wollte. Landen und apparieren konnte sie gerade nicht, weil sie über der Schutzbannsphäre flog. Dann blieb nur noch eine Möglichkeit. Sie jagte im Rosselini-Raketenaufstieg nach oben, soweit ihr Besen das Hergab. Dann schwang sie sich vom Harvey-Besen herunter. Dadurch wurden sie und der Besen wieder sichtbar. Egal! Sie klemmte sich den Besen unter den Linken arm und schloss die Augen, um sich konzentrieren zu können. Der immer kräftiger um sie wehende Aufwind wühlte in ihrem Haar. Da sie ihr hautenges Kostüm trug wurde zumindest kein Rock oder Umhang aufgebauscht. Wie lange sie frei fiel beachtete sie nicht. Als sie sicher wusste, dass sie ihr Ziel erreichte disapparierte sie.
Argentea war eine unregistrierte Animaga. Schon als junges Hexenmädchen hatte sie die Posteulen darum beneidet, so schnell und wendig zu fliegen. Von ihren Lehrern und Familienangehörigen völlig unbemerkt hatte sie während ihrer Zeit in Thorntails und danach immer wieder geübt, bis sie völlig fehlerfrei und blitzartig die Gestalt einer Waldohreule annehmen konnte. Eigentlich hätte sie diese Fertigkeit anmelden müssen. Doch sie hatte dies bewusst versäumt, weil sie davon ausging, irgendwann mal in eine gefährliche Lage zu geraten, wo diese Fertigkeit ihr Leben retten mochte.
Nachdem das Zauberlied der fremden Hexe verklungen war hatte sie zwei vorbereitete Bauchtaschen mit einem Abbildvervielfältigungszauber belegt und sich dann selbst in eine Waldohreule verwandelt. Sie hatte mit ebenfalls heimlich trainierter Geschicklichkeit einen der Tragebeutel vor ihren Bauch bekommen und war dann zehn Sekunden hinter ihrer noch verbliebenen Posteule hergeflogen. Wer immer noch draußen lauerte wurde garantiert lang genug von den so vielen Eulen abgelenkt, dass sie aus jeder Sichtweite entkommen konnte.
Als sie eine Minute lang geflogen war hörte sie aus großer Ferne ein laut gerufenes Wort, das sie nicht kannte. Ihre Umhängetasche erzitterte und sprühte Funken. Was das hieß konnte sie nur ahnen. Die Hexe, die das Schlaflied gesungen hatte kannte einen Zauber, der den Scheinbildvervielfältigungszauber brach. Also hieß das, dass sie nun noch schneller fliegen und am besten noch die Richtung ändern musste, um nicht doch noch abgefangen zu werden.
Sie ließ sich zwanzig Meter in die Tiefe fallen, um noch mehr Geschwindigkeit zu gewinnen. Dann versuchte sie, die Richtung zu wechseln. Doch dabei brach sie sich beinahe die Flügel, so heftig wirkte der Flugwind. Sie musste sich entscheiden, schnellstmöglich weiterzufliegen oder erst mal zu verzögern, um dann einen harten Richtungswechsel zu schaffen. Sie entschied sich für das schnellstmögliche weiterfliegen.
Anthelia erschien keine fünfzig Meter hinter der dahinsausenden Waldohreule. Aus der Entfernung konnte sie mit ihrer besonderen Begabung, Dinge und Lebewesen bis zu ihrem Eigengewicht ohne ausgerufene Zauber zu bewegen einsetzen. So fing sie die Eule ein, drückte ihre Flügel an den Körper und zog sie wie an einer unsichtbaren Angel zu sich heran. Sie fühlte die Angst und Abwehrbereitschaft des Postvogels. Dass beide gerade aus mehr als fünfhundert Metern Höhe in die Tiefe stürzten nahm Anthelia nur am Rande warh. Sie entließ die Eule aus der telekinetischen Umklammerung, nur um ihr den Schockzauber aufzuerlegen. Dann zog sie den betäubten Vogel ganz zu sich heran. Danach konzentrierte sie sich auf die Richtung, in der die zweite Eule geflogen war. Sie wünschte sich so stark sie konnte, mindestens zwei Kilometer in diese Richtung zu überwinden. Dann disapparierte sie erneut.
Als sie aus der sie zusammenpressenden Dunkelheit freikam prüfte sie erst, ob sie auch vollständig appariert war. Zu ihrer Erleichterung hatte sie sich gut genug konzentriert. Doch nun strömten menschliche Gedanken auf sie ein, Gedanken an große Eile und Frustration, weil es nicht möglich war, jederzeit die Richtung zu ändern. Das waren die Gedanken einer Hexe, die gerade zweihundert Meter vor ihr war. Anthelia sah jedoch nur den kleiner werdenden Punkt eines fliegenden Vogels. Doch dann erkannte sie die Lage. Sie schwang sich wieder auf den Besen. Allerdings verzichtete sie auf die Unsichtbarkeit. Denn so konnte sie ein Zehntel mehr an Höchstgeschwindigkeit herausholen. Eine Eule konnte sehr gut hören, und der von Anthelia geflogene Harvey war noch nicht mit einer Lautlosflug-Bezauberung ausgestattet. Damit war es also egal, ob sie unsichtbar war oder nicht.
Genau auf die Eule zuhaltend bekam Anthelia immer besser mit, dass sie da nicht irgendeinen Postvogel jagte, sondern Argentea Dime persönlich verfolgte. Die Frau von Minister Dime war eine Animaga. Das war selbst für die Führerin des Spinnenordens eine dicke Überraschung. Aber nun tat dies auch nichts mehr zur Sache.
Argentea hörte ein vernehmliches Krachen hinter sich und bekam auch den Widerhall aus mehr als hundert Metern Tiefe mit. Jemand war irgendwie mitten in der Luft appariert. Dann hörte sie das eindeutige Brausen eines schnell dahinjagenden Flugbesens. Sie beschleunigte noch mehr. Doch der sie jagende Besen holte immer mehr auf. Sie fühlte ihr Herz mit einem trommelwirbelartigen Takt in der Brust pochen. Wenn sie nicht doch noch einen Richtungswechsel schaffte bekam wer auch immer sie zu fassen. Angst und Verzweiflung stiegen in ihr auf. Sie erkannte, dass ihre ach so sichere Flucht kurz vor dem Scheitern stand. Vielleicht konnte sie doch noch entwischen, indem sie sich in die Tiefe stürzte und dann im rechten Winkel abbog. Sie warf sich nach vorne und legte ihre Flügel an. Jetzt ging es mehr ab- als vorwärts. Dabei hörte sie nicht nur den Wind durch ihr Gefieder sausen, sondern auch das Brausen der Luft durch das Reisigwerk des verfolgenden Besens. Als sie knapp hundert Meter über dem Grund war drehte sie sich nach rechts und breitete die Flügel aus. Sie fühlte den nun zum Seitenwind gewordenen Luftstrom auf die Flügel einwirken. Sie kämpfte um den Auftrieb, fürchtete schon, gleich doch noch auf dem Boden aufzuschlagen. Dann wäre alles vorbei, dachte sie. Doch knapp über Grund schaffte sie es noch, ihren Absturz zu parieren. Dann konnte sie auch wieder nach oben steigen. Doch das Brausen von Luft durch Reisigwerk verriet ihr, dass ihr mörderisches Manöver nichts gebracht hatte. Der Verfolger hatte nur noch schneller aufgeholt und ihren Kurswechsel mitgemacht.
"Schwester Argentea, es bringt dir nichts mehr, wenn du vor mir fliehen willst! Ich will dir nichts antun. Ich will dir helfen!" hörte sie eine Frauenstimme, die sie gleich wiedererkannte. Das war zum einen jene, die vorher das magische Lied gesungen hatte. Zum anderen war es genau jene Stimme, die sie aus dem Brief heraufbeschworen hatte, den dieses Spinnenweib ihr geschickt hatte. Woher wusste diese goldhäutige Sabberhexe, dass es sie, Argentea, war?
"Komm besser zu mir hin! Du kannst mir jetzt nicht mehr wegfliegen, Schwester!" rief die Spinnenlady . Ja, das mochte wohl stimmen, erkannte Argentea. Dann blieb ihr nur noch ein Weg. Sie musste landen, sich zurückverwandeln und disapparieren. Hoffentlich war sie schon weit genug weg, um nicht in eine Locattractus-Falle zu geraten.
Sie ging in einen schnellen, gerade so noch beherrschbaren Sinkflug und bremste jede Vorwärtsbewegung. Dass die Spinnenlady dabei noch näher an sie herankam musste sie hinnehmen. Doch sobald sie gelandet war brauchte sie nur noch zwei Sekunden für die Rückverwandlung und dann nur noch eine Sekunde, um an einen ihr wohlvertrauten Ort zu apparieren, sofern sie nicht doch in eine Falle geriet. Als sie mit einem spürbaren Ruck aufkam blickte sie schnell nach oben. Für ihre Eulenaugen war das Tageslicht jedoch zu hell, um zu erkennen, dass die Verfolgerin nun genau auf sie herabstieß. Blieb ihr also nur die schnelle Rückverwandlung.
Sie jagte den Wunsch, wieder menschliche Gestalt zu haben, wie einen starken Hitzestoß durch ihren Körper. Es war, als bliese sie etwas von innen her auf, jage wie ein Feuerstoß über ihre Haut. Das Licht wurde dunkler, die Geräusche der Umgebung leiser. Sie fühlte, wie ihre Flügel zu Armen, ihre Vogelbeine zu Frauenbeinen wurden und fand sich dann in ihrer angeborenen Erscheinungsform wieder. Jetzt brauchte sie nur noch den Zauberstab hochzureißen und ... "Stupor!"
Als ihre Sinne zurückkehrten fand sie sich auf dem Rücken liegend auf einer weichen Unterlage wieder. Als sie ihre Arme und Beine bewegen wollte merkte sie, dass sie offensichtlich an die Unterlage gefesselt war. Sie schlug die Augen auf und erkannte über sich eine hölzerne Decke im Widerschein einer schwachen Lichtquelle. Dann sah sie sich um und erkannte mehrere um sie herum aufgestellte Kerzenleuchter. Ebenso erkannte sie, dass sie auf einem bequemen Bett lag und mit breiten Lederriemen daran festgebunden war. Zumindest trug sie noch ihre Kleidung. Dann erkannte sie die neben dem Bett auf einem bequemen Stuhl sitzende Frau in einem schon sehr gewagten, hautengen Kostüm aus scharlachrotem Stoff.
"Schön, dass du wieder wach bist, Schwester Argentea. Gut, dass ich dich noch rechtzeitig von da weggebracht habe, wo du herumgeflogen bist", sagte die andere mit einer warmen, tiefen Stimme.
"Ich bin nicht deine Schwester, du ..."
"Na, kein übles Schimpfwort sagen, Schwester Argentea. Immerhin habe ich dich vor den aufgescheuchten Heschern deines gegen dich aufgebrachten Mannes gerettet."
"Muss ich davon ausgehen, dass du mich an einen nur dir bekannten Ort verschleppt hast? Dann möchte ich zumindest wissen, was du jetzt vorhast."
"Ja, du bist an einem Ort, den nur meine Bundesschwestern und ich kennen. Meine Absicht ist, dein Leben und deine Freiheit zu schützen, Schwester Argentea."
"Ich bin nicht deine Schwester, zum feuerroten Donnervogel noch mal!" stieß Argentea aus.
"Bist du etwa keine Hexe?" wurde sie gefragt.
"Ach, dann sind für dich alle Hexen von vorne herein Schwestern?, auch wenn sie weder durch Blut noch im Geiste solche sind?"
"Das ist völlig richtig, Schwester Argentea. Abgesehen davon könnte ich mir vorstellen, dass die Leute, die dich wegen einer angeblichen Untat aus eurem Haus holen sollten, davon ausgehen werden, dass du von mir Hilfe bekommen hast und somit auch als eine meiner Bundesschwestern gelten magst. Ja, ich muss wohl befürchten, dass dein Ehegatte es als sehr günstige Möglichkeit hinstellen wird, um dich endgültig verstoßen zu können, sofern ich oder wer anderes ihm da vorher nicht Einhalt gebietet."
"Ach, dann bist du nicht diejenige, die ihm was auch immer aufgehalst hat?" stellte Argentea eine äußerst gewagte Frage.
"Wie kommst du darauf, dass ich deinen Gatten verflucht habe? Ach ja, weil ich dich darauf hinwies, dass dein Gatte sich von dir abwenden würde. Mag daran liegen, dass ich zuverlässige Kenntnisse habe, dass dein Mann von jemandem mit einem sehr wirksamen Zauber belegt wurde. Doch Vorsicht. Wer ihm dies sagt tötet ihn genauso zuverlässig, als ob er oder sie den aramäischen Todesfluch verwendet", erwiderte die Hexe in Scharlachrot. Argentea überlegte, was die andere meinte. Sicher wusste sie, dass es Flüche gab, die nicht laut erwähnt werden durften, damit sie nicht erst recht wirkten.
"Ich weiß, dass du mir weiterhin misstraust. Daher möchte ich meine Zeit nicht damit verschwenden, dir Dinge zu erzählen, die du mir sowieso nicht glauben wirst. Das werde ich dann anderen überlassen, wenn ich weiß, dass für deinen Mann und dich keine Gefahr mehr besteht."
"So, und was soll ich dann hier?"
"Erst einmal in Sicherheit sein. Außer meinen treuen Bundesschwestern und mir kennt niemand diesen Ort, da er durch Fidelius-Zauber verborgen ist. Dein Gatte wird alles daransetzen, eure Ehe auflösen zu lassen, damit er frei ist. Wenn er das nicht kann oder bis zu einem gerade nur ihm bekannten Zeitpunkt nicht vollbringt, dann wird er darauf ausgehen, dich zu töten, um nicht selbst zu sterben."
"Wieso soll er sterben, wenn er sich nicht von mir lossagen kann?" wollte Argentea wissen. Dabei dachte sie, dass die andere sie jetzt am Haken hatte. Aber die Sorge um ihren Mann war zu groß, auch nachdem, dass er ihr die Inobskuratoren auf den Hals gehetzt haben mochte. Aber bisher war sie davon ausgegangen, dass er lieber sterben würde, als sie zu Tode kommen zu lassen.
"Wie erwähnt, ich vergeude keine Zeit damit, dir etwas zu offenbaren, das du mir eh nicht glauben wirst. Außerdem ist es besser, wenn nicht jeder weiß, was mit deinem Noch-Ehegatten geschehen ist. Am Ende spricht jemand es in seiner Anwesenheit aus und tötet ihn dadurch gänzlich unbeabsichtigt."
"Die werden mich suchen und als flüchtige Verbrecherin behandeln. Flucht gleich Geständnis.", stieß Argentea aus.
"Ja und? Du wolltest doch sowieso flüchten. Jetzt bist du sogar in einem sehr guten Versteck gelandet. Hier erwischt dich auch nicht dieser Suchzauber, mit dem eure Leute die Niederlassung dieser Nachkommenschaftserzwinger gesucht und gefunden haben. Doch um ganz sicher zu sein wirst du tief und fest schlafen, bis du außer Gefahr bist", sagte die Spinnenlady. Argentea wollte noch was dagegen sagen. Doch da bestrich sie schon ein Zauber, der sie immer schläfriger machte. Sie hörte die verflixte Hexenlady eine einlullende Litanei summen, die sie Ton für Ton, Silbe für Silbe immer müder machte. Dann glitt sie beinahe übergangslos in eine tiefe Bewusstlosigkeit.
Anthelia/Nanneavargia blickte auf die gerade von ihr in tiefen Schlaf versenkte Hexe. Sie hatte alle Gedanken von ihr mitgehört und wusste, dass sie sich große Sorgen um ihren Mann machte. Zwar wusste sie nun aus eigener Erfahrung, dass ihr Mann mit etwas bösartigem bezaubert worden sein musste. Doch gerade deshalb wollte sie ihn noch nicht aufgeben.
"Ruhe sanft, meine Schwester, bis der Tag gekommen ist, wo du dich wieder frei unter den deinen bewegen kannst", säuselte Anthelia, nachdem ihr Schlafzauber seine volle Wirkung entfaltet hatte. Argentea Dime würde nun solange schlafen, bis Anthelia ihr das Stichwort "Zweite Liebe" sagte. Leise verließ sie das kleine Gästezimmer, in dem sie die in ihre Obhut genommene Ministergattin abgelegt hatte. Sie schloss die Tür und belegte diese mit einem Verschlusszauber, der nur von ihr selbst aufgehoben werden konnte.
Barnabas Hardcastle war mit seiner Aufklärungsgruppe zusammen zum Anwesen der Dimes gereist. Sofort fielen ihm die Risse im Boden und der ringförmige Graben um eine für ihn gerade nebelhaft sichtbare Halbkugel auf. Dann erkannte er auch den von mehreren Rissen durchschnittenen Zauberkreis, an dessen Rand eine gläserne Kabine stand, in der er einen bläulichen Dunst zu sehen meinte. Was ihm aber den kalten Schweiß auf die Stirn trieb war der Umstand, dass alle seine Einsatzzauberer und -hexen besinnungslos auf dem Boden lagen. Wer hatte das geschafft, dreißig Spitzeninobskuratoren derartig zu überrumpeln? Außer den Rissen im Boden konte er keine Spuren eines stattgefundenen Kampfes erkennen.
"Versucht die anderen zu wecken!" befahl Hardcastle. Wieder erkannte er, warum er nicht mehr selbst an die Front ging, wenn es sich vermeiden ließ.
Die Besinnungslosen erwachten nicht, als sie mit dem Enervate-Zauber belegt wurden. Ebenso wurden sie nicht wach, wenn sie eiskaltes Wasser ins Gesicht gespritzt bekamen. Was immer sie getroffen hatte musste schnell und über eine große Fläche gewirkt haben. Das brachte Hardcastle auf einen Gedanken: Es gab magische Sänger, die jeden in Rufweite in Angst, Siegesgewissheit oder Schlaf versetzen konnten. Außerdem wusste er von Sardonia, dass diese neben ihren anderen Fertigkeiten die magischen Lieder aus der Zeit der Druiden erlernt und vervollkommnet hatte. Wenn ihre angeblich wiedergekehrte Nichte diese Lieder auch kannte?
"Können wir ins Haus vordringen?" fragte Hardcastle.
"Nein, geht nicht", erhielt er die Rückmeldung. Also wirkte der Schutzbann immer noch. Hieß dass, dass Argentea Dime noch im Haus war?
"Bringt alle anderen in die Krankenabteilung! Ich will wissen, was sie derartig gründlich außer Gefecht gesetzt hat", gab Hardcastle eine Anweisung aus.
"Was hat den Boden hier eigentlich so angeritzt?" wollte Stabbins, einer von Hardcastles Leuten wissen.
"Sieht nach einem örtlichen Erdbeben aus. Respekt, ein gelungener Graben um die Schutzzone herum."
"Ja, und den Locattractus-Zauber gleich gründlich zerbröselt", meinte Daniel Crawford, ein Experte für Versetzungszauber aller Art.
"Dann ist sehr wahrscheinlich, dass die Gesuchte nicht mehr im Haus ist", grummelte Hardcastle. "Jemand hat ihr geholfen, beziehungsweise, eine ganz bestimmte Hexe hat ihr geholfen, uns zu entkommen."
"Die Sardonianerinnen?" stellte Stabbins eine rein rhetorische Frage.
"Das würde bestätigen, dass die zu befragende gegen uns konspiriert hat", warf Hardcastle ein. Sich vorzustellen, dass die langjährige Ehefrau des Zaubereiministers ihren eigenen Mann hintergangen hatte gefiel Hardcastle nicht. Doch er durfte es deshalb nicht ausschließen.
"Öhm, dann ist die jetzt nicht mehr hier?" wollte jemand aus der Aufklärungstruppe wissen.
"Sagen wir so: Wir installieren hier Meldezauber, die den Zustand der Sphäre überwachen und jede daraus hinausführende Bewegung registrieren. Zudem bauen wir eine neue Locattractus-Falle auf, aber eine, die nicht durch ein kleines Erdbeben ausgekontert werden kann. Weiteres überlassen wir unserem obersten Dienstherren", sagte Hardcastle.Als Minister Dime erfuhr, dass seiner Frau jemand mit einem flächendeckenden Schlafzauber und einem Erdbebenzauber geholfen hatte, womöglich unangefochten zu verschwinden, tat er so, als sei er sehr davon betroffen. Er sagte nur: "Ich habe gehofft, dass sie dieser falschen Schlange nicht auf den Leim gekrochen ist. Oder sollte ich besser sagen, dieser Spinne ins Netz gegangen ist?" Dann gab er der Strafverfolgungsabteilung die Erlaubnis, seine Frau zur Fahndung auszuschreiben. Anschließend kontaktfeuerte er die Residenz von Zeremonienmagier Springfield und legte dessen Gehilfen alle bisherigen Erkenntnisse vor. "Es besteht somit nicht nur der Wunsch, sondern sogar die Notwendigkeit, mich von meiner Frau loszusprechen", sprach sein Kopf im Kamin von Springfields Residenz.
Keine fünf Minuten später erhielt er Antwort. Er möge um zwei Uhr nachmittags in die Residenz kommen, um die notwendige Lossagungszeremonie durchzuführen. Wahrscheinlich hatte Dimes Anmerkung, mit einer Sardonianerin zusammengelebt zu haben, die notwendige Erkenntnis vermittelt.
Als Dime alle Formalitäten erledigt hatte musste er unbedingt für sich alleine sein. Trotz seiner legendären Körper- und Gesichtsbeherrschung schaffte er es nicht, die Glückseligkeit zu verdrängen, die ihn übermannen wollte. Diese vorwitzige Hexenlady, die sich als Nachfahrin Sardonias verstand, hatte ihm gänzlich unbeabsichtigt den größten Gefallen getan, den sie ihm erweisen konnte. Jetzt konnte er nicht nur eine schnellere Lossprechung von seiner Frau erwirken, sondern Argentea sogar als Verschwörerin verfolgen lassen. Sein Gewissen wurde von dieser sein Leben erhaltenden Erkenntnis förmlich hinweggefegt.
Um zwei Uhr stellte er sich bei Zeremonienmagier Springfield ein. Dieser ließ ihn auf einem leicht vibrierenden Stuhl sitzen, wohl weil da ein Wahrheitserkennungszauber drinsteckte. Doch der kam gegen den auf Dime wirkenden Zauber nicht an. Doch dann passierte was, dass Dime nicht erwartet hatte.
Heiler Silvester Partridge erfuhr an diesem Morgen, dass mehrere Inobskuratoren in Marsch gesetzt worden waren, Minister Dimes Ehefrau festzunehmen, weil diese angeblich irgendwelche geheimen Unterlagen entwendet und einem nicht näher bestimmten Feind zugespielt haben sollte. Damit stand für den Heiler aus Viento del Sol fest, dass seine ursprüngliche Befürchtung der Wahrheit entsprach. Denn was hatte er wortwörtlich in jenem anrüchigen Buch gelesen:
Willst du deine Macht über ein Mannsbild vollenden, so verlocke es zum Beilager und nimm seine Saat in deinen Schoße auf, auf dass du von ihm ein Kinde empfangest. Denn somit sein Fleische und Blute in dir geborgen vermagst du, ihn endgültig unter dein Wort und deinen Willen zu zwingen. Du kannst ihn verdingen, bis zu vier Wünsche zu erfüllen, die ihm unabwendbare Bedingungen sind. Doch der erste davon solle immer sein, dass er nur dich alleine als die Frau an seiner Seite und Mutter seiner Kinder annehme und allen anderen im Laufe von zwei Monden Treu, Lieb und Ehr zu entsagen habe, mit der er bis dato Heimstatt und Lager teilet. So erfahre nun, Freundin der Macht der Mütter, wie du die Vereinigung zwischen seinem und deinem Fleische und Blute zu nutzen wissen kannst. ...
Silvester Partridge hatte auch die folgenden Instruktionen und die lateinischen Zauberformeln gelesen, in die bis zu vier unabschüttelbare Befehle wie lebensnotwendige Bedingungen eingebunden werden konnten. Er hatte dann erst einmal zwei Minuten gebraucht, die Ungeheuerlichkeit dieser Macht und vor allem dieses verwerflichen Missbrauches eines der schönsten und erhabensten Wunder der Natur, die Erschaffung neuen Lebens, zu verdauen. Sicher war er als Heiler schon schlimmen Zaubern begegnet. Auch kannte er wie alle US-amerikanischen Heiler den Bericht über den Vorfall in der französischen Beauxbatons-Akademie, wo eine gerade erst volljährig gewordene Junghexe den Austauschschüler Cyril Southerland mit diesem Zauber unterworfen hatte. Doch als er die genaue durchführung studiert und dabei die skrupellosigkeit der Beschreibung gelesen hatte, wusste er, dass dieser Zauber wirklich nur von solchen Hexen benutzt würde, die weder ihren Nachwuchs, noch den Vater ihrer Kinder wirklich liebten. Es ging nur um Zwang, unbrechbare Unterwerfung. Damit stand für ihn fest, dass dieser Zauber eigentlich genauso unverzeihlich war wie Imperius, Cruciatus und Avada Kedavra. Mit Imperius vereinte diesen Zauber, dass sein Opfer zur Ausführung von Befehlen, die gegen seinen eigenen Willen gingen, gezwungen wurde. Es war sogar noch schlimmer als Imperius, weil hier gleich bis zu vier zu erfüllende Bedingungen als dauerhafter Zwang auferlegt wurden. Mit Cruciatus verband diesen Zauber, dass das Opfer alle Schmerzempfindungen der werdenden Mutter und des Kindes über die Geburt hinaus zu ertragen hatte. Ja, und mit Avada Kedavra verband diesen Zauber, dass der damit belegte Mann in dem Moment starb, indem er bewusst oder ohne es zu ändern eine der bis zu vier Bedingungen nicht erfüllte, in dem Moment starb, wenn das von ihm gezeugte Kind starb oder ein dritter ihm auf den Kopf zusagte oder glaubhaft mitteilte, dass er von dem Fluch wisse. Allerdings würde auch dabei das vom Opfer gezeugte Kind sterben, ob noch im Mutterschoß oder bereits in der Wiege.
Als Silvester also erfuhr, dass Minister Dime seine eigene Frau festnehmen lassen wollte, weil sie angeblich eine schwerwiegende Tat verübt hatte, war dem Heiler klar, dass Minister Dime das Opfer jenes Fluches geworden sein musste. Also hatte Vita Magica ihm eine damit vertraute Hexe auf den Hals geschickt oder ihn zu dieser hingelockt, damit er, womöglich unter Einfluss die Lust anregender Tränke, mit dieser Frau mindestens ein Kind zeugte. Als die andere sicher war, dass sie empfangen hatte, brauchte sie den Minister nur noch mal unter einem Vorwand zu sich hinzurufen, um ihm in Abwesenheit anderer Zeugen diesen verwerflichen Catena-Sanguinis-Zauber aufzuerlegen. Zu gerne würde Silvester Partridge in das Ministerbüro gehen und den Terminplan von Chroesus Dime einsehen, wann dieses fatale Zusammentreffen stattgefunden haben musste. Auch wusste er nun sicher, dass die Heilerinnen unter Führung von Eileithyia Greensporn genau wussten, dass Minister Dime unter diesen bösen Unterwerfungszauber gestellt worden war. Allerdings durften sie eben nicht zu ihm hingehen und ihm das sagen oder irgendwem mitteilen, was mit ihm passiert war, damit niemand bewusst oder unbewusst ausplauderte, was passiert war. Aber warum wurden die männlichen Angehörigen der Heilerzunft nicht eingeweiht? Sie hatten ja genauso die Pflicht, alles zu vermeiden, was einen Patienten gefährden konnte. Dann fiel ihm ein, warum die Heilerinnen ihr eigenes Geheimnis daraus gemacht hatten:
Der Catena-Sanguinis-Zauber wirkte solange, wie das darin einbezogene Ungeborene im Leib seiner Mutter heranwuchs und war unbrechbar, wenn das Kind oder die Kinder von ihrer Mutter entbunden worden waren. Also bestand eine winzige Chance, den Fluch zu brechen, indem die Verbrecherin, die ihren eigenen Nachwuchs missbrauchte, um dessen Vater zu unterwerfen, dieses Kind oder diese Kinder nicht gebar. Dabei durfte das ungeborene Leben jedoch nicht getötet werden, da an ihm ja auch das Leben seines Vaters hing. Dann blieb nur der Transgestatio-Zauber, mit dem eine Heilerin ein ungeborenes Kind in den eigenen Schoß übernehmen und wie ein selbstempfangenes Kind weitertragen konnte. So galt wohl für die Heilerinnen, dass sie zum einen die Identität der Untäterin herausfanden und dieser zum zweiten mit dem Leibesfruchtwechselzauber das ungeborene Kind entzogen, damit eine Heilerin es unter ihrem Namen austragen und gebären konnte. In dem Moment, wo dieses Kind sicher auf die Welt gelangt war und vom Blutkreislauf der Mutter getrennt war, erlosch auch der seinem Vater auferlegte Bann. Ein Heiler konnte das nicht so hinbekommen.
Auch wenn er jetzt sicher war, warum die Heilerinnen sich derartig verhielten würde er bei einer nächsten Gelegenheit ein paar klare Worte an Eileithyia Greensporn richten. Doch dazu musste Minister Dime erst einmal von diesem gnadenlosen Zauberbann gelöst werden. Silvester Partridge war nun entschlossen, dazu beizutragen.
Der Heiler fragte sich aber, was war, wenn die mutmaßliche Hexe, die den Zauber auf Dime ausgeübt hatte, keine US-Bürgerin war und vor allem, wenn sie bis zur erfolgreichen Entbindung und damit Unbrechbarkeit dieses Fluches in einem sicheren Versteck ausharrte, an das keine Heilerin herankam, um ihr das Kind oder die Kinder wegzunehmen. Dann war die Geheimnistuerei der Heilerinnen für nichts und wieder nichts. Ihm fiel auch ein, dass starke Körperbeeinflussungsflüche, die nicht gleich töteten, gegen schwächere Flüche immunisierten. Daran konnte auch ein Fluchopfer erkannt werden. Da Catena-Sanguinis mit der Größe des ungeborenen Kindes an Stärke zunahm mochten am Ende keine Zauberfallen, ja auch keine Geistesunterwerfungsflüche wie Imperius das Opfer treffen. Das war also eine ungewollte Entschädigung dafür, dass der Betroffene Zeit Lebens des von ihm gezeugten Nachwuchses dem Willen der Mutter unterworfen blieb. Dann fiel ihm noch ein, dass bei manchen Zaubern die Menge wirksamer Bestandteile die Kraft eines Zaubers bestimmte. Was wenn die Mutter nicht ein Kind sondern zwei, drei oder mehr auf einmal empfangen hatte. Dann galt dieser Fluch für alle gerade einbezogenen Ungeborenen. Gemäß der Grundpfeiler magischer Wirksamkeit vervielfachte sich die Wirkung des Fluches dann, aber nicht einfach so, dass bei zwei die doppelte und bei drei die dreifache Kraft erzielt wurde, sondern bei zwei die vierfache und bei drei die neunfache Wirkung erzielt wurde. Das wussten garantiert auch Eileithyia Greensporn und ihre Hebammenschwestern. Doch eines wussten sie ebenso garantiert nicht: Silvester Partridge besaß Kenntnisse, die in der modernen Zaubererwelt größtenteils vergessen waren. Falls Dime wahrhaftig dem Catena-Sanguinis-Zauber unterworfen war und falls dessen Urheberin mit dem gemeinsamen Nachwuchs unerreichbar war, bis dieser geboren war, gab es nur eine erfolgversprechende Möglichkeit, Dime zu helfen und Vita Magica die Suppe zu versalzen, eine Marionette im Zaubereiministerium zu haben: Er musste unbedingt zum Vorsitzenden der mit anderen Zauberern erörterten Interessengruppe durch VM zu späten Vätern gewordener Zauberer gewählt werden. Wie er das anstellen konnte, ohne selbst auf dunkle Magie zurückzugreifen, musste er noch ausarbeiten. Doch die Zeit drängte. Denn wenn das wirklich alles stimmte, was er gerade durchdacht hatte, wusste niemand außer der Urheberin, wann der in den Zauber einbezogene Nachwuchs ausgereift war und zur Welt kommen würde. So blieben also vielleicht noch zwischen einer Woche und vierzig Wochen Zeit, um den Fluch zu brechen, ohne Dime zu sagen, dass er verflucht war.
Springfield hielt seinen Zauberstab über ihn und sprach ihm vor: "Ich bekunde und schwöre, dass die mir in Wort und Blut angetraute Argentea Rosalinde Dime geborene Lodes durch Untreue und Verrat das von mir in sie gesetzte Vertrauen zerstörte. Daher entsage ich allen Worten und gegebenen Versprechen, die mich an sie binden und gebe sie frei von ihren Worten und Versprechen, die sie an mich binden. So sei es, bei meinem Leibe und meiner Seele!"
Als Dime die Worte nachgesprochen hatte sprühte eine Wolke wasserblauer Funken aus Springfields Zauberstab. Die Funken trafen aber nicht auf Dime, sondern ballten sich vor ihm zusammen, bis eine blaue Lichtwand entstand, die zu einer wild vibrierenden Lichtsäule wurde, die den Minister umkleidete. Er fühlte, wie etwas ihn umklammerte und ihm heißkalte Schauer durch den Körper jagte. Dann, mit einem Mal, wechselte die Lichtsäule von Wasserblau zu blutrot, um dann mit einem scharfen Knall als greller Blitz in die Decke hinaufzuschlagen. Springfield starrte auf seinen wie eine Sprungfeder zusammenstauchenden und sich wieder ausstreckenden Zauberstab. Das Gesicht des Zeremonienmagiers war kreidebleich. Dime deutete es so, dass der Loslösungszauber nicht wie gewünscht vollzogen worden war. Springfield sah den Minister mit weit aufgerissenen Augen an, als sei Chroesus Dime ein furchterregendes Ungeheuer. Da begriff der Minister, dass der Loslösungszauber nicht nur fehlgeschlagen war, sondern irgendwas dem Zeremonienmagier das blanke Entsetzen in die Glieder getrieben hatte. Wenn der jetzt darauf kam, dass er, Dime, unter einem besonders starken Fluch stand ..."
Blitzschnell zog Dime seinen Zauberstab und rief: "Obleviate!" Damit drang er in die Erinnerungen seines Gegenübers ein. Dabei erkannte er, was diesem so zugesetzt hatte. Springfield hatte vor sich einen tiefroten Schlund gesehen, in den er hineingezogen wurde. Gleichzeitig hatte Springfield das kanonendonnerartige Pochen eines risigen Herzens gehört, aber auch die Schreckensschreie gequälter Säuglinge, die immer lauter wurden, bis er, Springfield, in den Chor der gepeinigten Kinderseelen eingestimmt hatte und dann wie von einer lodernden Riesenschlange verschlungen und verbrannt zu werden meinte. Dime musste dagegen ankämpfen, sich von dieser Angstvision überrumpeln zu lassen. Erst nach einer gewissen Zeit schaffte er es, die Bilder und Geräusche in die von Springfield erwarteten blauen Funken zu verwandeln, die Dimes Körper durchdrangen und ihn kurz von innen her aufleuchten ließen. Erst als er das geschafft hatte konnte er den Gedächtniszauber anständig beenden und seinen eigenen Zauberstab senken. Er fühlte, wie diese magische Gedächtnisumformung ihm selbst sehr zu schaffen machte. Sein Herz hämmerte mit mindestens hundert Schlägen in der Minute gegen seinen Brustkorb. Sein Atem ging fauchend und schmerzte in den Lungen. In seinen Schläfen pochte dumpfer Schmerz. Es fiel ihm jedoch noch früh genug ein, den eigenen Zauberstab fortzustecken, bevor Springfield wieder zur Besinnung kam.
"Ja, eine magische Lossprechung geht ganz schön an Herz und Nieren", meinte Springfield wohlwollend. "Aber es ist vollbracht, Herr Minister. Was immer sie mit Ihrer Exfrau verbunden hat ist nun gelöst. Allerdings gilt das nicht für Ihre Kinder. Die leben natürlich noch. Das hat womöglich auch diese starke Belastung für sie verursacht, dass ja von Ihnen gezeugte Kinder leben."
"Ich bedanke mich aufrichtig, dass Sie mir geholfen haben", sagte der Zaubereiminister. "Nun kann ich die Untreue aus ihrem vermeintlich sicheren Unterschlupf herausholen lassen. Ich wünsche Ihnen noch einen erfolgreichen Tag."
"Ich Ihnen auch, Sir", sagte Springfield.
"Was zu allen Donnervögeln hast du jetzt schon wieder angestellt, Chroesus Dime? Es war mir, als wolle jemand unsere beiden Kinder durch meinen Magen nach oben drängen, dass sie mir bald zur Speiseröhre herausgedrückt würden", fing Dime Phoebe Gildforks erboste Gedankenbotschaft auf.
"Phoebe, ich fürchte, die Kette, die du geschmiedet hast, wirkt allen anderen Bindungs- und Bindungslösezaubern entgegen. Ich fürchte, die Lossprechung hat nicht vollständig geklappt. Zwar bin ich jetzt offiziell losgesprochen. Aber ob das reicht, Argenteas Schutz zu durchbrechen weiß ich nicht. Auch könte es dann schwer werden, dass wir vor einen Zeremonienmagier treten", schickte er zurück. Dann sollte er beschreiben, was er erlebt hatte.
"Dreigeschwänzte Gorgonen, davon wusste ich nichts. Dann bleibt dir eben doch nur eins: Bring das Weib um!"
"Das kann ich nicht", erwiderte Dime. Doch die Inbrunst dieses ihm zugedachten Befehls rang sein wiedererwachendes Gewissen nieder. "Finde und töte sie!"
"Ich weiß nicht, wo sie ist. Und wenn der Schutzzauber sie doch noch beschützt kann ich das nicht."
"O doch, du kannst und du wirst das", peitschten Phoebes worthafte Gedanken auf seinen Geist ein. "Um wirklich von ihr loszukommen muss sie eben sterben. Sonst müssen du und unsere Kinder sterben", setzte Phoebe noch nach. Chroesus Dime verstand und begehrte nicht weiter dagegen auf. Doch nach der Euphorie, dass die Sardonianerin ihm einen großen Gefallen erwiesen hatte, beherrschten nun Wut und Angst seine Gedanken. Denn wenn die Sardonianerin Argentea nicht nur zur Flucht verholfen hatte, sondern sie auch gleich irgendwo in einem ihrer Verstecke untergebracht hatte, so kam er jetzt erst recht nicht an sie heran. Das einzige was ihm blieb war, seine Lossprechung landesweit bekannt zu machen und Argentea das Recht auf den gemeinsamen Nachnamen abzusprechen. Das erledigte er in den nächsten fünfzig Minuten, so dass alle Zaubererweltzeitungen und Rundfunkanbieter es noch am Abend in die Welt hinausposaunen konnten. Dime dachte, dass etwas auch dann zur Wahrheit werden mochte, wenn es oft genug erzählt und weit genug verbreitet wurde. Vielleicht konnte er nun noch etwas bewirken, dass die Sardonianerin gegen seine Exfrau aufbringen würde, so dass diese ihm die blutige Arbeit abnahm und Argentea tötete.
"Hast du das hier auch schon gelesen, Silvester?" wollte Paul Dryfall von Silvester Partridge wissen, als er am selben Abend eine Sonderausgabe des Kristallherolds schwenkend zu ihm hereinstolzierte.
"Ja, habe ich, Paul", sagte Silvester Partridge. "Also sollen die Sardonianerinnen Dimes Frau gegen ihn aufgehetzt haben. Tja, wäre wirklich übel, wenn das so ist. Weil dann dürften wir alle unseren Ehefrauen nicht mehr über den Weg trauen", seufzte Partridge. Dryfall sah ihn verdutzt an. Dann begriff er, was der Zeitungsartikel für Auswirkungen hatte.
"Fehlt noch, dass wir anfangen, unsere eigenen Frauen, Töchter, Schwestern, Tanten und Nichten zu verdächtigen, für diese Sardonianerin zu sein", grummelte er und ließ die Sonderausgabe des Kristallherolds auf Partridges Tisch fallen. Dann fiel ihm was ein: "Vielleicht hat die den auch deshalb geheiratet, um über ihn Einfluss auf das Zaubereiministerium zu gewinnen, Silvester."
"Unschuldig bis zum Beweis der Schuld, Paul. Nur weil Dime in der Zeitung was behauptet muss es noch lange nicht stimmen. Weil sonst könnte ich ja gleich in den Westwind reinsetzen, dass Minister Dime ein Werwolf ist, der im Auftrag einer Bande krimineller Werwölfe Unfrieden und Instabilität ins Ministerium und in den Rest der magischen Bevölkerung treiben soll."
"Hmm, könnte echt auch sein", sagte Paul Dryfall. Silvester Partridge erkannte, dass sein eher verächtliches Beispiel für eine bare Sickel genommen werden mochte und fügte seiner nicht wirklich ernst gemeinten Vermutung hinzu: "Siehst du, wie schnell jemand sich auf abstruse Vermutungen einlässt? Das ist ja genau das, wo wir Heiler immer genau überlegen müssen, wem wir was sagen und ob das, was wir herausfinden, öffentlich erwähnt werden muss oder besser unerwähnt bleibt. Außerdem glaube ich nicht, dass Minister Dime ein Werwolf ist oder seine Frau eine Sardonianerin. Was da abgeht wird von ganz anderen Interessengruppen gesteuert. Aber weil nun einmal die Unschuldsvermutung gilt und wir keine Richter sind, Paul, bleibt uns nur abzuwarten, wie es weitergeht oder das mit der Interessengruppe in den nächsten Tagen zu klären. Wie viele Interessensbekundungen haben wir schon?""
"John hat bisher hundert Eulen gezählt, alle aus den anderen Zauberersiedlungen. Allerdings haben wir auch schon Post aus dem Ministerium, dass eine solche Interessengruppe nur dann als solche berücksichtigt wird, wenn die Grundlage für das Interesse unstrittig ist. Da wir ja für die von uns gemachten Babys jeweils siebzehn Goldriesen kriegen sollen besteht diese Grundlage nicht, heißt es. Ja, es könnte sogar passieren, dass uns der Anspruch auf diese Unterstützung abgesprochen wird, wenn wir mehr zu erstreiten versuchen. Das ist voll die angewandte Demokratie."
"Gut, für eine konstituierende Sitzung reichen hundert Leute aus. Sollten bis zum 18. Februar noch mehr dazukommen, treffen wir uns am 20. Februar in VDs."
"Sagt wer?" fragte Paul Dryfall.
"Ist ein Vorschlag, Paul, keine Anweisung", erwiderte Silvester Partridge. Ihm war klar, dass Paul sich offenbar als geborener Sprecher dieser Gruppe fühlte, wohl weil er damals auch Haussprecher von Greenscale gewesen war. Partridge ging es aber darum, dass er direkt zum Minister vorgelassen wurde. Das musste er nicht als Gesamtsprecher. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass er zum Minister vorgelassen wurde war größer, wenn er Gesamtsprecher war, allein schon, weil Dime sich dann ausmalte, diesen in seinem Sinne umstimmen zu können, was bei einem einfachen Boten ziemlich nutzlos sein mochte.
"Wie kommst du eigentlich auf den zwanzigsten? Ich meine, das ist der Geburtstag meiner Frau", warf Dryfall ein.
"Weil wir ja möglichst bald tätig werden wollen, oder?" erwiderte Partridge. Dryfall nickte. Dann verabschiedete er sich von Silvester Partridge. Beim Hinausgehen lief er Chloe Palmer über den Weg, die gerade ankam, um ihre drei derzeitigen Schutzbefohlenen zu besuchen. Dryfall sagte ihr noch: "Na, schon ein Dankesschreiben an VM geschickt, dass ihr im Moment so viel zu tun habt?"
"Lass deinen Unmut nicht an mir aus, Paul, ich habe euch beiden nicht was auch immer gegeben, um noch eigene Kinder zu kriegen", hörte Silvester Partridge die Heilerin sagen. Dann war Paul Dryfall aus dem Haus.
"Chloe, ich bin kein kleines Mädchen, dem wer zu sagen hat, was es tun und lassen soll. Hör gefälligst mit dieser Begluckungstour auf", keifte Silvesters Frau durch das Haus, während der Heiler die letzten Einträge in die Bestandsliste seiner Ausrüstung vornahm. Einige Posten musste er noch in die Liste einfügen, vor allem den Alraunensaft und die von ihm angerührte Mischung von Träumguttee für einen albtraumfreien Schlaf. Er wollte gerade die Gesamtmenge von Alraunensaft aufschreiben, als es in seinem Kamin ploppte und der Kopf von Xylodios Springfield auf dem Rost erschien. "'tschuldigung, Silvester, störe ich gerade?" fragte Springfield.
"Nur Inventarlisten auf den neusten Stand bringen. Kann ich auch gleich noch zu ende machen. Was möchtest du?"
"Ich wollte dir nur sagen, dass ich so'n komisches Gefühl habe, was den Minister angeht. Den habe ich ja heute von seiner Frau losgesprochen, weil er mir mehrere Akten vorgelegt und was darüber gesagt hat. Aber irgendwie fühle ich mich bei der Sache benutzt, zumindest aber als nützlicher Idiot eingespannt. Ich kann und will damit nicht hausieren gehen. Aber weil wir zwei uns ja schon oft geholfen haben kam ich zu dir als Heiler, ob du mir da vielleicht was zu sagen kannst."
"Du hast ihn losgesprochen. Hast du das mit diesen blauen Funken gemacht, die die Wirkung der goldenen Funken aufheben?" wollte Partridge wissen. Springfields Kopf nickte. "Wie sieht das aus, wenn es so wirkt, wie es soll?" fragte er noch. Springfield beschrieb ihm, dass die Funken in den Körper des Loszusprechenden eindringen mussten. "Und das haben sie getan?" fragte Partridge. "Ja, haben sie. Aber irgendwie hatte ich dabei den Eindruck, irgendwas schwerwiegendes zu tun. Aber das wird vielleicht daher kommen, dass ich gerade mal drei Lossprechungen in meiner Laufbahn vorgenommen habe."
"Drei? Wie hast du dich denn bei den beiden ersten gefühlt?" wollte der Heiler wissen. Springfield runzelte die Stirn. Dann sagte er: "Ein wenig betrübt, weil ich etwas eigentlich erhabenes einfach so aufheben sollte. Aber heute war es so, als müsste ich gegen etwas kämpfen, dass ich nicht sehen konnte, was irgendwie bedrückendes. Außerdem hatte ich den Eindruck, dass er nur die Lossprechung wollte, damit seine Frau nicht mehr von seinen Schutzzaubern umgeben ist. Wie du sicher gelesen hast haben seine Leute seine Frau nicht festnehmen können, weil jemand ihr zur Flucht verholfen hat. Jetzt hat er sie zur Unerwünschten erklärt. Wenn sie sie erwischen und wegen dem, was der Minister ihr vorwirft schuldig sprechen landet sie in Doomcastle, Silvester. Dann hätte ich sogar mitgeholfen."
"Moment, aber wenn sie wirklich was schwerwiegendes verbrochen hat wäre das doch gut, dass du dem Minister geholfen hast", warf Silvester Partridge ein, während seine eigene Frau gerade noch einer Verärgerung Luft machte, weil Chloe offenbar meinte, sie sei nicht ausreichend gut ernährt um Zwillinge zu stillen. Springfield hörte es leider auch und meinte: "Wusste nicht, dass dieses Nachwuchserzwingungsgebräu derartig auf die Persönlichkeit wirkt. Aber noch zu deiner Antwort, Silvester: Ja, ich wäre froh, wenn es eindeutig bewiesen werden könnte, dass der Minister von seiner eigenen Frau verraten und betrogen wurde. Aber im Moment habe ich eher den Eindruck, dass da was ganz anderes ist. Ich kann das aber nicht in Worte fassen. Es ist eher so ein Unbehagen, wo ich aber nicht erklären kann, wo es herkommt."
"Hmm, haben die ersten von dir losgesprochenen Kinder gehabt oder nicht?" fragte Partridge.
"Der erste nicht, weil das im Grunde zwei Jahre nach der Hochzeit war. Beim zweiten war gerade ein Kind unterwegs, und der hat herausgefunden, dass seine Frau mit einem anderen geschlafen hat. Um nicht durch das Gesetz, dass in eine Ehe hineingeborene Kinder von vorne herein den Ehemann als Vater haben, zur Unterstützung dieses Kindes herangezogen werden zu können hat er sich von mir von seiner Frau lossprechen lassen."
"Dann kann dein Unbehagen daher kommen, dass du eine Ehe aufgelöst hast, aus der mehrere Kinder hervorgegangen sind. Blutsbindungen können eine sehr starke magische Wirkung haben", erwiderte der Heiler. Springfield nickte. Dann sagte er noch: "Ich hoffe nur, dass ich nicht dazu benutzt wurde, eine unbescholtene Hexe vor den Gamot und dann wohl noch nach Doomcastle zu bringen, nur weil ihr Mann sie loswerden wollte."
"Soweit ich diesen Artikel im Kristallherold verstehe wird noch nach Mrs. Dime oder wie sie nun wieder heißen mag gesucht. Ebenso behauptet der Artikel, die Anhängerinnen einer dunklen Schwesternschaft hätten ihr geholfen, zu entwischen. Glaub mir, dass wenn das stimmen sollte, Minister Dimes Ex-Gattin gerade irgendwo versteckt ist, wo Ministeriumszauberer sie nicht finden können. Denn wenn wir eines von Leuten wie der Spinnenhexe gelernt haben, dann ist es das, dass sie auftaucht, zuschlägt und wieder abtaucht, ohne dass ihr nachspürende Ministeriumsleute und Suchzauber auf die Spur kommen. Sowas ähnliches machen die unter Wasser fahrenden Kriegsschiffe der Muggel auch. Dann dürfte es noch lange dauern, bis die ehemalige Ministergattin gefunden wird, vielleicht sogar, dass sie nie gefunden wird und unter anderer Identität weiterlebt, möglicherweise sogar völlig neu aufwachsen muss, wie die Opfer von VM, die nicht erst dazu genötigt werden, neue Zaubererweltkinder zu zeugen."
"Soll mich das jetzt beruhigen, dass entweder eine Schwerverbrecherin unauffindbar versteckt ist oder eine unbescholtene Hexe von ihren vermeintlichen Wohltätern erst zu einer Schwerverbrecherin gemacht wird, weil ich ihre Ehe aufgelöst habe?" fragte Springfields Kopf.
"Dann hättest du die schnelle Lossprechung nicht machen dürfen, Xylodios", hielt Silvester Partridge seinem ehemaligen Schulkameraden und auch sonst noch guten Freund entgegen.
"Ist jetzt gelaufen, Silvester. Ich kann es nicht mehr zurücknehmen", grummelte Springfield. Da fragte Partridge ihn: "Du warst die ganze Zeit nur mit Minister Dime zusammen?" "Ja, war ich", sagte Springfield. "Ist es nicht üblich, dass eine Lossprechung vor mindestens einem Zeugen vollzogen werden muss, damit sie rechtskräftig wird?"
"Nur in den Fällen, wo beide Ehepartner das wollen. Wenn sich jemand von seinem Ehepartner betrogen oder gar verraten fühlt genügt eine rechtlich korrekte Vorlage von Beweisen, um die einseitige Lossprechung zu erwirken."
"Und obwohl du deine Aufgabe nach bestem Recht erledigt hast piesackt dich dein Gewissen, was unrechtes oder zumindest unangenehmes getan zu haben?" fragte Partridge.
"'tschuldigung, Silvester. Aber ich komme mir vor wie bei einem Verhör. Dafür habe ich meine Birne nicht in deinen Kamin gewirbelt", knurrte Springfield.
"Das ist kein Verhör sondern eine Anamnese", erwiderte Partridge. Denn er musste daran denken, dass mit einer ordentlich vollzogenen Lossprechung seine Vermutung entkräftet war, der Minister stehe unter dem Catena-Sanguinis-Zauber.
"Ich fühle mich doch nicht krank, Silvester. Abgesehen davon habe ich dann den psychomorphologischen Überwacher der Zeremonienmagier, an den ich mich wenden müsste."
"Ich habe dich nicht herbeibefohlen wie ein orientalischer Zauberer einen versklavten Dschinn, Xylodios. Ich stelle nur fest, dass du dich unwohl fühlst, was nicht körperlich bedingt ist. Außerdem hast du vorhin gesagt, dass du mich als Heiler sprechen wolltest. Deshalb wollte ich in meiner Eigenschaft als Heiler ergründen, woher das kommt. Aber du hast recht, das kann und soll dann der offiziell für euch Zeremonienmagier aufsuchbare Kollege machen."
"Der könnte auf die Idee kommen, jemand habe mich irgendwie beeinflusst, diese Lossprechung zu machen und mir die Berufsausübung bis zur Klärung untersagen. Dabei habe ich in den nächsten drei Wochen eine Menge zu tun."
"Verstehe, deshalb bist du zu mir gekommen, um zu klären, ob das eine reine Gewissenssache ist oder vielleicht doch eine Erkrankung, Xylodios."
"Nein, verdammt noch eins! Ich bin mit meiner Birne bei dir im Kamin, weil ich dir nur sagen wollte, dass ich mich irgendwie nicht richtig wohl dabei fühle, eine Ehe aufgelöst zu haben. Mehr war und ist nicht."
"Xylodios, komm bitte ganz zu mir und setz dich auf einen Stuhl, damit wir das in Ruhe weiterbereden können. Ich verspreche dir, dass ich dich nicht für berufsunfähig erkläre, solange es dafür keine klare Begründung gibt. Aber dazu solltest du vollständig bei mir sein, damit ich zumindest prüfen kann, ob dein Körper was ausbrütet."
"Ich bin doch kein Huhn", knurrte Springfield. "Aber gut, damit du Ruhe gibst", schnaubte er noch. Keine zwei Sekunden später stand der vollständige Zeremonienmagier in seiner hellgrünen Dienstrobe im Sprechzimmer von Silvester Partridge. Dieser deutete auf einen Stuhl und schloss das Fenster. So wurde sein Sprechzimmer zum Klangkerker. Das hielt zwar die lautstarken Wortwechsel von draußen nicht ab. Doch die beiden ehemaligen Schulfreunde konnten unhörbar für Leute wie Lino miteinander sprechen.
"So, während ich mit Körpererkundungszaubern über dich gehe erzähl mir bitte, was du an diesem Tag erlebt hast. Es schreibt nichts und niemand mit", sagte Silvester Partridge.
Wenige Minuten später wusste der Heiler, dass sein Freund körperlich kerngesund war. Auch erfuhr er, dass kurzentschlossene Clientinnen mit bereits gut sichtbaren Umstandsbäuchen bei ihm vorgesprochen hatten und mal eben schnell verheiratet werden wollten. Dass es sichhierbei um weitere Opfer jener Halloweenfeier in Miami handelte brauchte Springfield nur einmal zu erwähnen. Dann fragte Partridge ihn, ob er sich vorstellen könne, dass ihm jemand von seinen Clienten einen Gedächtniszauber auferlegt hatte, um bestimmte geheime Sachen nicht aus Versehen zu verraten. Springfield musste eerst lachen. Doch als Partridge ihn sehr entschlossen ansah meinte er: "Meine Statuten verbieten mir, für Geheim erklärte Sachen an dritte weiterzuverraten. Da habe ich auf einem Eidesstein geschworen, dass mir sowas nicht passiert. Alle wissen das."
"Das würde aber erklären, warum du ein gewisses Unbehagen fühlst, ohne zu wissen, wo es herkommt", sagte Partridge.
"ich bitte dich, Silvester. Ein Gedächtniszauber würde doch jeden Grund für ein schlechtes Gewissen auslöschen. Abgesehen davon ist das strafbar, einem Zeremonienmagier einen solchen Zauber aufzuerlegen, weil damit ja auch Gründe für eine zeremonielle Handlung vorgetäuscht werden können. Sollte mein Überwacher bei der halbjährlichen Sitzung sowas herausfinden würde der oder die, welcher das gemacht hat mit einer schweren Strafe zu rechnen haben."
"Gründe oder auch Auswirkungen einer zeremoniellen Handlung?" griff Partridge etwas auf, was Springfield gesagt hatte. Dieser stierte ihn verdutzt an und wiegte den Kopf.
"Du meinst, jemand könnte mir vorgaukeln, jemanden verheiratet zu haben oder ... Neh, ne? Das glaubst du nicht wirklich."
"So wie du gerade reagiert hast doch, Xylodios. Denn wenn bei einer Lossprechung etwas nicht so verläuft, wie du es aus deiner Ausbildung oder Erfahrung kennst, dann wäre das für dich doch sicher ein Grund, zu hinterfragen, warum es so und nicht wie üblich verlaufen ist, richtig?"
"Du willst doch nicht ernsthaft dem Minister unterstellen ... Ich glaube, ich gehe besser wieder, bevor du dich und auch noch mich in eine haltlose Verschwörungsvermutung reinziehst."
"Das können wir ganz einfach klären, ob ich recht habe oder nicht. Und glaub's mir, Xylodios, ich möchte nicht recht haben."
"Wie soll das gehen, was du meinst?" blaffte Springfield.
"Eine legilimentische Rückbesinnung. Wir gehen deine Erinnerungen an den heutigen Tag gemeinsam durch. Sollte dabei was auftauchen, was nicht mit üblichen Erlebnissen zu erklären ist, dann hat dir jemand einen Gedächtniszauber auferlegt", erläuterte Silvester Partridge.
"Wie lange würde sowas dauern?"
"Bestenfalls eine Viertelminute pro Tagesstunde. Wenn du dich dagegen wehrst zwei Stunden pro Tagesstunde. Das könnte uns beide aber dann den Verstand kosten, wenn du dich derartig absicherst. Deshalb kann und will ich dir das nur anbieten, um auszuschließen, dass jemand mit deinem Gedächtnis herumgemurkst hat, womöglich noch Vita Magica. Du erinnerst dich ja sicher an die Rückkehr von George Bluecastle."
"Du hast eine Art, jemandem Sachen beizubiegen, dass ich mich frage, ob du nicht besser Besenvertreter oder Metzgermeister werden sollst", grummelte Xylodios Springfield. Dann nickte er. "Okay, damit diese Spekulationen endlich aufhören."
Die beiden nahmen einander gegenüber platz. Silvester Partridge entspannte sich. Dann hob er den Zauberstab und wisperte: "Legilimens!" Unvermittelt glitt seine geistige Wahrnehmung in die Erinnerungen seines Gegenübers hinein. Er lenkte die ihm zufließenden Erinnerungen so, dass er beim heutigen Morgen anfing und arbeitete sich durch, wobei er wahrhaftig vieles zu sehen bekam, dass er bloß keinem anderen erzählen durfte. Dann erreichte er den Zeitpunkt, wo der Minister sich lossprechen lassen wollte. Da passierte es. Die mit der Lossprechung verbundenen Erinnerungen wirkten so, als stehe Springfield in von heftiger Hitze aufgewühlter Luft, die gleichzeitig von einem leichten Dunst erfüllt war, der die Formen der sichtbaren Gegenstände und Personen verwischte. Die blauen Funken trafen den Minister, der wie in immer dichteren Nebel gehüllt da saß. Dann sahen beide, wie die Funken in den Körper des Ministers eindrangen und ihn kurz aufleuchtenließen. Danach klärte sich die Sicht, und der Eindruck, in flirrender Hitze zu stehen, ohne dass es sich heiß anfühlte, verschwand übergangslos.
"Drachenmist!" stöhnte Springfield, als die Sitzung vorbei war. "Hat echt wer meine Erinnerung vernebelt", grummelte er. "Aber das können wir dem Minister nicht beweisen. Der wird uns glatt als Mitverschwörer seiner Frau hinhängen."
"Wann wäre die nächste Sitzung bei deinem Überwacher fällig gewesen?" fragte Partridge.
"Ich war am zweiten Januar bei ihm. Also erst wieder am zweiten Juli", erwiderte Springfield.
"Ja, dann hätte sich der Zauber wohl so gut in deine weiteren Erinnerungen eingefügt, dass kein Überwacher auf die Idee käme, dass da ein Gedächtniszauber am Werk sei. Was du in Wirklichkeit erlebt hast kann ich so nicht herausfinden, weil ich hierfür wirklich skrupellos genau auf diese Erinnerung eindreschen, an ihr zerren und sonst was mit ihr anstellen müsste, bis ich den Gedächtniszauber aufgelöst habe und die echte Erinnerung freigesetzt wird. Allerdings geht das eindeutig auf die geistige Verfassung dessen, dem der Zauber auferlegt wurde. Deshalb dürfen wir Heiler das nicht tun. Ich konnte nur herausfinden, dass dir jemand einen Zauber aufgepfropft hat, um dich glauben zu machen, die Lossprechung sei erfolgreich verlaufen. Logischerweise heißt das, dass sie es eben nicht ist und jemand, der Minister oder VM, ein ganz fundamentales Interesse hat, dass du das keinem weitersagen kannst, was wohl auch damit zu tun hat, was du statt dessen empfunden hast. Ich kann nur vermuten, dass die echten Ereignisse dir das blanke Entsetzen in die Knochen getrieben haben. Deshalb fühlst du dich bei der Sache nicht wohl. Die Bilder in deinem Kopf sagen, dass alles in Ordnung ist. Aber die mit den wahrhaftigen Erinnerungen erzeugten Nebenerinnerungen, die rein gefühlsmäßig sind, wurden davon nur abgeschwächt, aber nicht völlig verdrängt. Das heißt für mich aber auch, dass wer immer das dir angetan hat kein ausgebildeter Vergissmich oder Psychomorphologe ist, sondern den Zauber gerade mal so gut erlernt hat, dass er damit Bilder, Wörter und Geräusche in einer Erinnerung verändern oder überlagern kann. Denn jemand, der sich mit Gedächtniszaubern sehr gut auskennt hätte auch alle Gefühle überlagert und dich dann im reinsten Glauben, alles wie gehabt erledigt zu haben, zurückgelassen. Auch hatte derjenige wohl nur wenige Minuten Zeit, um seine Spuren zu verwischen. Wir heiler lernen das in der Ausbildung, genau sowas zu beachten und entsprechend zu behandeln, wenn ein Gedächtniszauber die beste Therapie gegen traumatische Erfahrungen ist. Die Vergissmichs sind da sogar so geübt, dass sie alle verknüpften Erinnerungen auf einen Schlag angehen, die verändert werden müssen, damit nicht nur die Sichtung eines Drachens, sondern auch die von diesem erzeugte Todesangst verändert werden."
"Und wie willst du jetzt, nachdem du meine Erinnerungen ausgelotet hast, Minister Dime beweisen, dass irgendwas an oder in ihm ist, weshalb ich die Lossprechung nicht ausführen konnte?" fragte Springfield.
"Ich fürchte, er hat das mit dir gemacht, weil niemand wissen darf, dass da etwas mit ihm los ist. Denn wer das weiß kann es gegen ihn verwenden. Womöglich hängt sogar sein Überleben davon ab, dass keiner davon weiß, Xylodios. Das heißt aber auch, dass alle, die es wissen, selbst in Gefahr für Freiheit, Leib und Leben sind, je danach, was der Grund ist, weshalb du ihn nicht wie üblich lossprechen konntest. Wenn er wirklich mit VM zusammenhängt könnten du und ich uns noch glücklich schätzen, von deren Ammenhexen neu großgezogen werden zu dürfen, ohne uns an unser voriges Leben erinnern zu können. Schlimmstenfalls dreht er das so, dass ich dir einen Gedächtniszauber aufgeladen habe, den Minister für einen Verschwörer oder sowas zu halten. Dann landen wir beide in Seelenkristallen in Doomcastle, weil ein Gedächtniszauber nämlich nur auf drei Arten gebrochen werden kann: Entweder nimmt der und nur der, welcher ihn wirkte, ihn zurück und gibt die verdrängten Erinnerungen frei. Dann kann ein skrupelloser Legilimentor ihn durch beständiges Reißen und darauf einwirken erschüttern und zerstören, bis die wahren Erinnerungen wieder frei sind. Die dritte Art ist, den Bezauberten mit unbestreitbaren Tatsachen zu konfrontieren, die gegen seine falschen Erinnerungen sprechen und unmittelbar mit ihm zu tun haben. Das passiert aber so selten, weil jemand bei einem Gedächtniszauber auch alle gegenständlichen Gegebenheiten verändert, damit sie zu der eingeflößten Erinnerung passen, also Dokumente verändern oder verschwinden lassen, Personen tot oder lebendig verschwinden lassen, die der Bezauberte nicht mehr kennen und nie gekannt haben soll und so weiter. Ich fürchte, ich verfalle in einen Vorlesungsmodus", stellte Silvester Partridge für sich und seinen Besucher fest. Dann sagte er: "Gut, was dir hilft ist, dass du es nicht geschafft hast, den Minister loszusprechen und dass jemand ein sehr großes Interesse hat, dies zu verbergen. Also war es gut, dass du dich mir anvertraut hast. Denn ich habe da eine Idee ..."
Als Silvester seinem Besucher erläutert hatte, wie er sich das weitere Vorgehen vorstellte meinte der Zeremonienmagier: "Und du bist dir sicher, dass das bis zum ersten Juli klappt, bevor ich zu meiner halbjährlichen Sitzung mit unserem psychomorphologischen Überwacher gehe?"
"Ja, da bin ich mir sehr sicher", erwiderte Partridge. Für sich selbst dachte er, dass er auch nicht mehr alle Zeit hatte und Juli schon ein sehr optimistisch ferner Zeitpunkt war, bis wann er das aufgeklärt haben sollte. Im Grunde wollte er das sogar schon morgen erledigen. Doch was und warum verriet er seinem Besucher nicht.
"Gut, dann warte ich auf deine Mitteilung mit dem Codewort "Feuerkuckuck", Silvester. Vielleicht kommt mir ja bis dahin im Traum unter, was genau passiert ist."
"Dann hätte ich den Zauber schon beim Legilimentieren brechen müssen, wenn der so schwach wäre. Aber du könntest Albträume mit anderen Bildern als dem Besuch des Ministers haben, weil die von der eigentlichen Ursache abgelösten Angstvorstellungen neue Wege suchen, irgendwie erklärt zu werden."
"Hallo, du bist Heiler. Du darfst mir doch nicht noch zusetzlich Angst einreden, verdammt", blaffte Springfield.
"Ich habe heute zehn Pfund Träumguttee zusammengemischt. Ein Pfund davon gebe ich dir mit. Ich hatte den Posten ja noch nicht ins Inventar eingetragen", sagte Partridge. Er öffnete einen der vielen Schränke, wo er seine Zutaten für Heiltränke und -pulver hatte und gab seinem Besucher einen mit luftdichtem Band verschließbaren Wachspapiersack voller getrockneter Kräuter mit. Dann verabschiedete er Xylodios Springfield. Als dieser durch den Kamin verschwunden war setzte sich Partridge wieder hin. Dieser Besuch hatte die endgültige Bestätigung gebracht, dass der Minister von keinem der heutigen Welt bekannten Zauber erreicht und durchdrungen werden konnte. Damit stand für Partridge fest, dass Dime unter diesem verhängnisvollen Blutkettenfluch stand. Also war die Frage, wie viel Zeit noch blieb, ihn davon zu lösen, ohne ihn oder das darin einbezogene ungeborene Kind zu töten. Vielleicht sollte er zusehen, schon vor dem 20. Februar ein Gespräch mit dem Minister zu führen und mit ihm allein im Raum zu sein. Denn bei dem, was er vorhatte, wollte und durfte er keinen Zeugen haben.
Die Gäste der Vorführung applaudierten eher aus Höflichkeit, als Phoebe Gildfork am dreizehnten Februar in Cloudy Canyon den neuen Bronco-Besen vorführte, den Bronco Tornadofänger, der doppelt so schnell wie der Millennium fliegen, aber dann auf dem Punkt anhalten und stehenbleiben konnte, ohne dass die bis zu zwei Reiter von ihm abgeworfen wurden, sich ohne Vorwärtsflug um alle Achsen drehen konnte und in nur einer Zehntelsekunde auf 300 Stundenkilometer beschleunigte. Die füllige Hexe, die für diesen Anlass einen hautengen, zweiteiligen weißen Anzug trug, der ihre Körperformen nicht einquetschte, sondern nur noch deutlicher ausprägte, fast so, als wäre sie völlig nackt, grinste breit über ihr vollmondrundes Gesicht ins Publikum. "Das ist die Mutter aller Rennbesen, Ladies und Gentlemen. Mit ihm werden alle Quodpotmanöver, die bisher ersonnen und erprobt wurden, völlig nutzlos, einschließlich der von der Heilerin Aurora Dawn entwickelten und an nur ihr vertraute Interessenten weitergegebenen Doppelachsentechnik. Damit wird Quodpot mehr als die Summe aller Spieler. Damit wird uns die nächste Quidditch-Weltmeisterschaft wie eine reife Frucht in den Schoß fallen, Ladies und Gentlemen. Ja, und Sie von der Presse, die sonst nicht müde wurden, meine Leibesformen zu verhöhnen oder mich als für keinen Besen geeignete Hexe zu verspotten, werden jetzt ihre mit Gehässigkeit getränkten Federn und Ihre vor Ironie triefenden Münder halten müssen. Ab Sommer 2003 ist der Bronco Tornadofänger in allen US-amerikanischen Besenfachvertrieben und direkt bei uns im Versandthandel zu erwerben."
"So, ist er denn schon lizenziert?" wollte Linda Knowles wissen, die die Flugkünste der übergewichtigen Hexe bewundern musste.
"Wie erwähnt, ab diesen Sommer ist dieser Besen zu erwerben, werte Ms. Knowles."
"Ja, aber die abrupten Geschwindigkeits- und Richtungswechsel", warf Pia Goldfield, die zwei Meter messende Heilhexe ein, die als Beobachterin des Heilerherolds anwesend war. "Oder wollen Sie etwa behaupten, eine schwangere Hexe könne ebenso auf diesem Besen fliegen wie ein junger Zauberer?"
"Gut, im Moment bin ich nicht schwanger. Aber ich kann Ihnen versichern, werte Ms. Goldfield, dass auch Mütter kurz vor der Entbindung auf diesem Besen die Manöver fliegen können, die ich Ihnen gerade vorführte", erwiderte die auf dem waagerecht und völlig ruhig auf derselben Stelle schwebenden Besen thronende Phoebe Gildfork.
"Darf ich das selbst ausprobieren?" fragte eine junge Hexe, die einen bereits deutlichen Umstandsbauch aufwies.
"Früher hätte ich von Ihnen eine Unterschrift verlangt, dass Sie für jeden angerichteten Schaden aufkommen und Ihrerseits keine Schadensersatzansprüche geltend machen, ms. oder Mrs. ..." erwiderte Phoebe Gildfork.
"Hojaverde, Carmen Hojaverde, Mrs. Gildfork", erwiderte die schwangere Hexe. Alle sahen sie an. Natürlich, das war die Hojaverde, eine versierte Kunstfliegerin und Großmeisterin aller klassischen Tanzarten. Ihr schwarzes, leicht gewelltes Haar fiel ihr ungebändigt bis auf die Schultern.
"Ich denke, meinen noch sicher verstauten Töchtern Clara und Cordula wird es gefallen, auf so einem Besen zu fliegen, der noch nicht auf dem freien Markt ist", sagte die werdende Mutter. Alle sahen sie erstaunt an. Keiner sagte was. Linda konnte mit ihren magischen Ohren deutlich alle Herzschläge vernehmen, auch die zwei kleinen Herzen der in Carmens Leib wachsenden Föten. Carmen war nicht von Vita Magica zur Mutterschaft getrieben worden. Sie hatte vor einem halben Jahr den jungen Saxophon-Zauberer Bert Fitzgerald geheiratet, weil er ihre Tanzbewegungen so genial mit seinem die Größe wechselnden Saxophon begleiten konnte. Linda wusste, dass Carmen in drei Monaten die zwei kleinen Hojaverdes bekommen würde. Das war also sehr gewagt, mit denen auf einem Besenprototypen zu fliegen. Aber wenn die Gildfork das machte wollte Carmen das wohl auch ausprobieren.
"Moment, bevor hier eine werdende Mutter auf einen völlig neuen Besen hüpft und ihre Kinder herumjongliert will ich erst prüfen, ob wir hier nicht alle zum Narren gehalten werden, Mrs. Gildfork. Landen sie gütigst und steigen Sie vom Besen, damit ich Sie untersuchen kann, ob es wirklich Phoebe Gildfork ist", sagte Pia Goldfield. Sofort fiel der Besen die zehn Meter nach unten, aber die Reiterin schlug nicht hart auf, sondern kam ganz locker und ohne die Knie zu beugen auf die Füße. Sie legte den Besen in einen silbernen Bannkreis, damit er nicht entwendet werden konnte und winkte Pia heran. Diese untersuchte sie gründlich und bestätigte, dass es eine lebende Frau war, deren Organe nicht durch den atemberaubenden Flug verschoben oder verletzt worden seien. Alle klatschten verhalten.
Als dann Carmen Hojaverde in ihrem grünen Umstandskleid erst zaghafte und dann wilde Flugfiguren ausprobierte klatschten alle immer begeisterter. Linda richtete ihr rechtes Ohr auf die Reiterin und lauschte. Sie hörte Carmens Magen und Gedärme gluckern, ihren Atem und das Pochen ihres Herzens und Wummern der kleinen Herzen in ihrem Unterleib. Nichts hörte sich nach einer heftigen Belastung für die inneren Organe an. Dann landete Carmen wieder, verbeugte sich ansatzweise und sagte dann einen Satz, der Phoebe Gildfork eine gewisse Zornesröte ins Gesicht trieb:
"Mit diesem Hyperbesen nehmen Sie jedem Flugbegeisterten den Spaß am Fliegen." Keiner wagte was zu sagen. Alle lauschten, ob Mrs. Gildfork dazu was sagte. Doch Phoebe Gildfork sah die gerade sanft landende an. Diese sprach weiter: "Bisher war es immer so, dass sich Besen und Reiter aneinander gewöhnen mussten. Das hat nicht nur für mich den Reiz am Flug ausgemacht, herauszukriegen, was damit geht oder besser nicht gemacht werden sollte. Aber der Besen hier nimmt vieles einfach vorweg und vermittelt für mich den Eindruck, dass nicht ich ihn fliege, sondern er mich gnädigerweise herumträgt. Das mag für einige Minuten ganz aufregend sein. Doch dann kommt jeder Flieger, vom Erstklässler bis zum Profi wie ich oder Venus Partridge darauf, dass es nicht sein Besen ist, sondern er nur das notwendige Übel, um den Besen zum fliegen zu bringen. Warum bauen Sie dann nicht gleich den selbstfliegenden Besen, Mrs. Gildfork?"
"Ich verstehe nicht, wie Sie es wagen, unsere jahrelange, harte Arbeit mit einem einzigen Satz derartig verächtlich reden zu dürfen", stieß Phoebe Gildfork aus.
"Sie durften diesen Besen bauen, weil Sie es können. Ich durfte meinen Kommentar sprechen, weil ich was vom Fliegen und von der Seele des Besenfliegens verstehe. Ihnen geht es doch nur um Gold und ewigen Ruhm, nicht um Spielfreude oder kreatives Fliegen. Oder soll dieser Wunderbesen hier für nur zehn Galleonen verkauft werden? Denke ich nicht. Also sollten Sie schon darauf wertlegen, wer diesen Besen fliegen will und wer nicht. Sicher ist der Name verwegen, und sicher kann jemand mit diesem Besen durch jeden Tornado fliegen. Aber für mich ist der hier schlichtweg zu heftig überzüchtet. Tut mir zwar leid für die ganzen Leute, die dafür unter dem verdienten Lohn haben schuften müssen. Aber ich bin da ehrlich."
"Hoffen Sie darauf, unrecht zu haben, werte Dame. Denn falls Sie mit ihrer abfälligen Beurteilung den Verkauf dieses Besens verdorben haben sollten, so werde ich persönlich den Kaufpreis für einhundert Besen von Ihnen einklagen, wegen massiver Geschäftsschädigung. Dann wissen Sie, wie viel jeder Besen kostet. Aber Sie werden unrecht behalten, Mrs. Hojaverde. Der Tornadofänger wird mehr Fans und Besitzer finden als alle anderen Rennbesen aus unserem Hause zusammen. Er wird die europäische und asiatische Konkurrenz mit Überschallgeschwindigkeit hinwegfegen und somit unsere großartige Nation den Ruhm eintragen, der ihr gebührt. Und jetzt steigen Sie vom Besen!" Carmen Hojaverde gehorchte. Phoebe Gildfork nahm den neuen Besen und legte ihn noch einmal in den silbernen Bannkreis, weil sie noch mehr über die Vorzüge dieses Fluggerätes erzählen wollte. Linda Knowles war ganz Ohr. So konnte sie hören, wie Phoebes Herz trotz ihrer fröhlichen Ausschmückungen und Darlegungen immer noch wild hämmerte, weil Carmens Kommentar ihr doch mehr zugesetzt hatte, als die auch ohne Babybauch sehr runde Dame das vertragen konnte.
Nach der Besenpräsentation kehrte Linda Knowles in ihre Redaktion zurück und fand dort einen Eulenbrief vor. Darin wurde sie von Phoebe Gildfork ausdrücklich gewarnt, den Kommentar der "doppelshwangeren grünen Hüpfhexe" zu erwähnen. Doch Linda hatte schon so häufig nicht auf Phoebe gehört, dass sie das auch jetzt nicht tat. Sie formulierte den entsprechenden Ausspruch nur so aus, dass die berühmte und wegen einer auf ganz natürliche und gewollte Weise mit Zwillingen schwangere Kunstflughexe und Tanzbodenkaiserin Carmen Hojaverde die Befürchtung äußerte, dass der neue Bronco Tornadofänger die Freude an der Übung und die Spannung der noch zu erprobenden Flugmanöver nicht vermitteln mochte, weil der Besenoffenbar so gebaut und bezaubert war, dass wirklich jeder darauf alles machen könne. Ebenso konnte sie es sich nicht verkneifen, hinzuzufügen, dass die Lizenzzuteiler der Abteilung für magische Spiele und Sportarten den Besen nur für den Gebrauch innerhalb der USA freigeben würden, um keine Langeweile bei internationalen Turnieren aufkommen zu lassen. Es sei jedoch zumindest beruhigend, dass durch Vita Magica in andere Umstände getriebene Hexen sicher und sorglos darauf fliegen konnten wie auf dem bewährten Familienbesen Bronco Himmelswiege.
Sie rollte die Textpergamente zusammen und steckte sie in einen Silberzylinder. Diesem sagte sie: "Zum Satz!" Mit nur für sie überlautem Plopp verschwand der silberne Zylinder im Nichts. Keine Sekunde später ploppte ein anderer silberner Zylinder links von Linda auf den Schreibtisch. Da klopfte es an die Tür. Als Linda "Herein!" rief betrat Eileithyia Greensporn das kleine Schreibzimmer.
"Hallo Madam Greensporn", grüßte Linda und winkte sofort einem bequemen Besucherstuhl, der gehorsam auf seinen vier Beinen herantrottete und sich neben die Heilerin stellte. Diese nahm das Angebot an und setzte sich. "Wenigstens nicht die dicke Gildfork", hörte Linda ein leicht knarziges Flüstern vom Stuhl her, das für andere Ohren unhörbar war.
"Ist dieser Raum ein Klangkerker?" Flüsterte die oberste Heilerin Nordamerikas. Linda sagte laut: "Ja, ist er. Zudem ist dann, wenn ich Besuch habe eine zeitweilige magische Wand vor meiner Tür, damit nicht doch jemand wie ich an der Tür lauscht."
"Habe ich noch in Erinnerung, dass du auch durch Klangkerkerzauber lauschen kannst, wenn du ein Ohr von außen an eine davon bedeckte Wand oder Tür legst, Schwester Linda", mentiloquierte Eileithyia, wobei sie Linda direkt in die Augen sah. Dann sagte sie mit hörbarer Stimme: "Wir heilerinnen haben uns nach dieser Besenvorführung besorgt gezeigt, dass dieses Fluggerät zu unüberlegten Wagnissen verleitet. Was Carmen Hojaverde gesagt hat halte ich persönlich für bedenklich im Sinne, dass ungeübte Flieger meinen könnten, gleich perfekt auf diesem Fluggerät sitzen und fliegen zu können. Aber eine andere Frage: Haben Sie mit ihrem besonderen Gehör irgendwas von Phoebe Gildfork gehört, dass sie vielleicht mit irgendwelchen zusätzlichen Hilfsmitteln arbeitet um den Besen als narrensicher zu vermarkten?"
"Wenn Sie meinen, dass ich auf natürliche Hörweite das Singen von Zauberkräften hören kann lautet meine Antwort, dass Phoebe Gildfork nichts benutzt hat, um ihre Flugvorführung besser aussehen zu lassen. Sie war auch keine magicomechanische Puppe. Aber das hat ja Ihre Kollegin Goldfield auch herausgefunden."
"Und sie hatte ein regelmäßig schlagendes Herz und übliche Magen-Darm-Geräusche?" wollte Eileithyia wissen.
"Ja, hatte sie. Genauso wie Mrs. Hojaverde, bei der ich ja besonders drauf gehört habe, ob ihre Ungeborenen durch die Besenwirbelei durcheinandergebracht werden. War aber nicht so."
"Ja, auch das hat meine vor Ort anwesende Kollegin überprüft", sagte Eileithyia Greensporn. "Und außer Mrs. Hojaverde war niemand mit ungeborenen Kindern im Raum?"
"Darf ich, bevor ich die Frage beantworte, wissen, warum Sie mich das fragen?" stellte Linda Knowles eine Gegenfrage.
"Weil wir Heilerinnen davon ausgehen müssen, dass einige Hexen, die den Rummel um Vita Magica und ungeplante Schwangerschaften meiden möchten, nicht zu uns Heilerinnen kommen, wenn sie Schwangerschaftssymptome äußern oder sicher wissen, dass sie mindestens ein Kind tragen", erwiderte Eileithyia Greensporn.
"Also außer den im Mai ankommenden Hojaverde-Schwestern befand sich meinen Ohren nach kein ungeborenes Kind bei der Vorführung. Das sage ich Ihnen aber auch nur, weil ich Ihre Besorgnis verstehen kann, Großheilerin Greensporn", erwiderte Linda.
"Dann möchte ich Sie nur noch bitten, meine Erwiderung auf Mrs. Hojaverdes Bemerkungen Ihrem Artikel hinzuzufügen, sofern Sie einmal mehr die üblichen Klagedrohungen von Mrs. Gildfork überhört haben, was bei Ihrem Gehör schon eine sehr große Anstrengung darstellt", erwiderte Eileithyia. Dann mentiloquierte sie: "Ich danke dir, Schwester Linda. Näheres zu meinen Fragen beim nächsten Treffen."
"Hoffentlich nichts, was ich wieder mal ganz geheim halten muss, Schwester Eileithyia", schickte Linda zurück.
"Ach ja, das hier dürfen Sie gerne eins zu eins abdrucken lassen, Ms. Knowles", sagte Eileithyia und gab Linda aus ihrer mitgeführten Heilertasche zwei Pergamentbögen.
"Oha, das wird Minister Dime aber nicht gefallen, dass Sie damit seinen kostbaren Frieden mit Vita Magica erschüttern wollen", sagte Linda Knowles.
"Diese Verbrecher haben meinen Enkelsohn entführt und über Monate dazu gezwungen, mit fremden Hexen das Lager zu teilen. Ich kann, will und werde das nicht schweigend fortbestehen lassen, nur weil unser Zaubereiminister meint, mit allen, die keine Werwölfe sind, einen Anbiederungsfrieden halten zu müssen, der laut Vertrag nicht einmal aufgekündigt werden kann. Aber ich vertraue darauf, dass Ihr Mut und Ihr guter Wille zur weiteren gedeihlichen Zusammenarbeit mithelfen, diese unsägliche Situation nicht zum Normalzustand verkommen zu lassen. Vita Magica wollte Krieg, dann sollen Sie Krieg haben, zumindest mit uns Heilerinnen."
"Nur, dass Sie keine Gewalt anwenden dürfen", wusste Linda.
"Die größten Kriege wurden nicht durch Schlachten, sondern Strategien gewonnen", sagte Eileithyia Greensporn. Dann verabschiedete sie sich wieder.
Linda fragte sich erst, was dieses umgedrehte Interview jetzt sollte. Welche Hexe kam schon auf die Idee, eine Schwangerschaft zu verheimlichen? Vor allem, wenn sie durch VM dazu getrieben wurde, alles erdenkliche für das Wohl des oder der Ungeborenen zu tun, würde sie doch erst recht zu den Heilerinnen gehen. Die mussten das ja nicht jedem verraten, und das wussten die allermeisten Hexen spätestens nach dem Aufruf Eileithyias vor zwei Wochen, wo sie den betroffenen Hexen keine Schuld gab, dass sie derartig überrumpelt und wie Zuchtstuten behandelt wurden.
Minister Dime las einen Tag nach der vor Presse und Fachpublikum vollzogenen Besenvorführung den Bericht im Westwind. Als er las, dass Phoebe Gildfork nicht schwanger war und Linda das auch mit keinem ihrer berühmten Nebensätze behauptet hatte, fragte er sich, was denn jetzt stimmte. Er mentiloquierte mit Phoebe Gildfork.
"Ach, hast du jetzt gedacht, ich bekäme unsere Babys nicht? Keine Sorge, die zwei kleinen liegen immer noch gut verstaut und warm verpackt in Mom Phoebes rundem Bauch. Du spürst ja auch, dass sie sich gut entwickeln, solange du nicht was machst, um ihr Leben zu bedrohen", erwiderte die irgendwo sitzende Phoebe Gildfork. "Ich habe schon vor zehn Jahren eine Stellvertreterin aus einer meiner Eizellen erbrüten lassen, von einem dir sicher nicht unbekannten russischen Großmeister der magischen Lebenskunde. Das habe ich getan, um auch bei höchstgefährlichen Vorführungen anwesend sein zu können und da, wo mir eine Entführung drohte, einen Köder vorhalten zu können. Das ich die zwischendurch lange schlafende Gastspiel-Phoebe als Alibi benutzen kann, nicht als angeschwängerte VM-Momma an die Öffentlichkeit zu müssen, ist ein günstiger Umstand. Aber wir zwei werden die zwei in mir und die fünf nach denen zusammen großziehen, wenn du endlich rauskriegst, wo Argentea ist."
"Du hast dir von Bokanowski eine Doppelgängerin erbrüten lassen?" gedankenfragte Minister Dime.
"Er brauchte damals viel Gold, um sein neues Labor einzurichten. Ich hatte genug zur Seite gelegt, um ihm zu helfen. Dafür hat er sich auf einen Eidesstein verpflichtet, niemandem davon zu berichten, dass er meine Doppelgängerin herstellt. Und wenn du mich nicht ins Gefängnis und unsere Kinder damit in Unfreiheit auf die Welt kommen lassen willst, wirst du das niemandem verraten."
"Nein, werde ich nicht, Phoebe", erwiderte Dime in Gedanken. Sein Herz raste wieder. Diese Hexe hatte ihn fest in der Hand, mit Leib und Seele. So ähnlich mussten sich Leute fühlen, die von einer der Abgrundstöchter vereinnahmt worden waren, dachte er und merkte sofort, wie ihm speiübel wurde, weil er es gewagt hatte, die Mutter seiner Kinder, die mit ihm untrennbar verbunden waren, zu beleidigen. Ja, Phoebe Gildfork musste unbedingt beschützt werden, weil er sonst sterben musste.
"Wo wir schon mal miteinander Gedanken tauschen. Heute ist Valentinstag, Chroesus. Da du den ja nicht mehr mit deiner Exfrau verbringen kannst lade ich dich ein, nach Dienstschluss bei mir zum Abendessen vorbeizukommen. Keine Sorge, meine Hauselfe ist sehr diskret und kann dich gleich aus deinen Privaträumen abholen, wenn du das erlaubst."
"Möchtest du, dass ich zu dir komme?" fragte Chroesus Dime. "Sagen wir es so, mir würde es sehr gut schmecken, mal wieder mit jemandem zusammen zu essen. Ich muss schließlich mehr essen, damit unsere beiden Kleinen anständig heranwachsen."
"Ich komme zu dir. Deine Hauselfe kann mich um acht Uhr aus meinem Wohnzimmer im Ministerium abholen", schickte Dime zurück. "Gut, dann sage ich ihr bescheid", gedankenantwortete Phoebe Gildfork.
"Pater Duodecimus, das geht jetzt in die entscheidende Phase", sagte der Kopf eines Zauberers, der im Kamin eines anderen Zauberers hockte. "Ach, du meinst diese Interessensgemeinschaft zu späten Vaterfreuden "genötigter" Zauberer?" wollte der Besitzer des Kamins wissen.
"Genau die meine ich. Soll ich irgendwas machen, um dieses Treffen am 20. Februar zu verderben?" fragte der Kopf im Kamin.
"Nur, wenn du als unser fähiger Kundschafter auffliegen willst", erwiderte der Zauberer, der in einem hohen Lehnstuhl saß. "Noch können wir nicht offen auftreten, auch wenn Dime uns Straffreiheit versichert hat. Gegen einen magischen Mob mit Lynchabsichten können wir im Moment nichts tun, bis die entsprechenden Gesetze erlassen sind."
"Und was soll ich dann machen, Pater Duodecimus?" wollte der Kopf im Kamin wissen.
"Das, was du bisher gemacht und gesagt hast. Du gehörst zu den aufgebrachten Zauberern, die gegen ihren Willen neue Kinder gezeugt haben. Ihr verlangt ein Gespräch mit dem Minister, wie der sich eure weitere Zukunft vorstellt. Sicher wäre es gut, wenn du zum Gesamtsprecher wirst. Aber wenn da aussichtsreichere Kandidaten sind bloß keine offene Feindseligkeit äußern! Bei der Gelegenheit, wer kommt derzeitig in Frage?" Der Kopf zählte sieben Namen auf, seinen eigenen eingeschlossen. "Der auch? Verstehe. Die Dosierung bei ihm und seiner Frau war ein wenig höher als nötig, zumal unser Agent da gerade erst mit der Verteilung angefangen hat. Hmm, dann trete für ihn ein, damit er das wird!"
"Wieso das, Pater Duodecimus?" fragte der Kopf im Kamin verwundert.
"Weil der aus beruflichen und moralischen Gründen nichts unternehmen wird, um Minister Dime zu gefährden. Bei euch anderen Heißblütern bin ich mir da nicht sicher, ob nicht dem einen oder dem anderen der Zauberstab oder die Hand ausrutscht."
"Dem Minister kann doch eh nichts passieren, wenn der in seinem Büro sitzt", widersprach der Kopf im Kamin.
"Eben doch, weil die provisorische Niederlassung noch keine Sicherungsbezauberung für vereidigte Minister hat, die ihn bei unmittelbarer Gefahr für Leib und Leben in Sicherheit bringt. Das hat uns Sandhearst verdorben, als er das altehrwürdige Ministeriumsgebäude in die Luft sprengte.", schnarrte Pater Duodecimus. "Also sieh irgendwie zu, dass der erwähnte Kandidat die Gesamtsprecherwürde bekommt. Er darf dem Minister nichts tun und auch nichts tun."
"Und ich selbst soll mich nicht aufstellen?" fragte der Kopf im Kamin.
"Nein, als vehementer Hetzer gegen den Friedensvertrag und als Einforderer von zusätzlichen Goldzahlungen bist du für uns besser geeignet. Aber übertreibe es damit nicht! Das würde dann wieder auffallen. Wir brauchen zuverlässige Kundschafter in den Reihen unserer erklärten Widersacher, auch und vor allem, nachdem sich die Sardonianerin in die Ermittlungen um Dimes Frau eingemischt habt."
"Habt ihr denn da zumindest wen sitzen?" wollte der Kopf im Kamin wissen.
"Wenn du dich contrarigenisieren lässt bald", sagte Pater Duodecimus. Das stopfte dem Kopf das Lästermaul.
"Ich melde mich dann, wenn das konstituierende Treffen gelaufen ist", sagte der nur als Kopf bei Pater Duodecimus anwesende. Dafür bekam er ein leichtes Kopfnicken zur Antwort.
Minister Dime war froh, dass niemand mitbekommen hatte, dass er den Abend und die Nacht im Wohnturm der Gildforks verbracht hatte. Phoebe hatte ihn dazu gebracht, mit ihr im großen Himmelbett zu schlafen, damit ihre gemeinsamen Kinder sich schon mal daran gewöhnten, dass ihre Mutter nicht mehr lange allein sein würde. Zumindest hatte ihn Phoebes Hauselfe noch vor der Frühstückszeit in seinen Privaträumen im Ministerium abgesetzt, sodass es niemandem auffiel, dass er die Nacht anderswo zugebracht hatte.
Am Morgen hatte er im Kristallherold lesen dürfen oder müssen, dass Barnabas Hardcastle davon ausging, dass Argentea jetzt wieder Lodes entweder das Hoheitsgebiet der USA verlassen habe oder in einen nicht so leicht zu beendenden Zauberschlaf versenkt worden war. Zwar hatte Dime ihm nicht ausdrücklich verboten, das Laveau-Institut einzubeziehen. Doch richtig froh war er auch nicht darüber. Die Vorstellung, dass Anthelia oder wie immer dieses Weib hieß seine Ex-Frau sicher versteckt hatte und nichts und niemand sie aufspüren konnte machte Chroesus Dime nervöser als ein drohender Bankrott im Haushalt des Zaubereiministeriums. Wenn er nicht bis zum ersten März eindeutig von ihr losgekommen war, und sei es durch ihren Tod, würde der Tod sie auf jeden Fall voneinander scheiden. Nur würde der grimmige Schnitter dann ihn holen. Doch er wollte nicht sterben. Wehe wenn dieses Hexenweib herausfand, was mit ihm los war. Dann war er geliefert. Angst und Verzweiflung fraßen an Dimes Seele wie Mäuse an einem Stück Speck. Wenn er nicht bald die rettende Idee hatte konnte er seine letzten Tage zählen. Das schlimme daran war, dass er niemandem sagen durfte, in welcher tiefen Krise er nun steckte.
Gegen fünf Uhr nachmittags erhielt Anthelia über ihre Relaisverbindung nach Europa eine Gedankenbotschaft ihrer italienischen Mitschwestern. Auf der stiefelförmigen Halbinsel war es zum Ausfall aller Magieaufspürsteine gekommen. Das dortige Zaubereiministerium war ein aufgescheuchter Hornissenschwarm. Sicher war nur, dass die Quelle für diese Überladungskraft auf Sizilien zu finden war und dass das Ministerium einen Elementarzauberexperten hinschicken würde, einen gewissen Anselmo Pontidori. Der Name sagte Anthelia nichts. Als sie jedoch hörte, dass er ein halber Zwerg war, der von einer Lutetia Arno geboren worden war, musste sie lachen. Dann war der Bursche ja mit Julius Latierre verschwägert. Anthelia bat darum, sie über das Ergebnis seiner Untersuchung zu unterrichten. "Die denken, du könntest was damit zu tun haben", bekam sie die Antwort. Anthelia konnte darüber nur lachen. Dann fiel ihr ein, wer jedoch was damit zu tun haben mochte. Italien war damals ihr Jagdrevier gewesen. Es mochte jetzt auch wieder ihr Jagdrevier sein. Womöglich hatte sie herausbekommen, dass seit zweihundert Jahren Aufspürsteine die Freisetzung von Zauberkraft überwachten, wenngleich nur bei Minderjährigen, die in einer Zauberschule unterrichtet wurden, eine deutliche Spur vorhanden war, wo sie wann was zauberten.
"So steht fest, dass wir uns wie geplant am 20. Februar konstituieren", sagte Paul Dryfall, als er und vierzig weitere Zauberer aus Viento del Sol sich versammelt hatten, darunter auch Silvester Partridge. Genau 600 Zauberer aus allen magischen Ansiedlungen, ob eindeutig Opfer von VM oder mit Ultimata von dieser Gruppe bedrohte, hatten sich in einem regen Eulenpostaustausch bereitgefunden, eine bundesweite Interessengemeinschaft später Väter ohne ausdrücklichen Kinderwunsch zu begründen, die ähnlich wie Handelshäuser, die Bank Gringotts oder die verschiedenen Zauberwesen im Ministerium für ihre Anliegen werben und Vorschläge einreichen sollte. Auch wenn es bereits eine entsprechende Vereinigung der von VM betroffenen Mütter gab hielten die Zauberer es für richtig, auch ihre Meinung und ihre Interessen zu vertreten. Die ISVOAK, wie sie sich abkürzen wollten, sollte noch vor dem ersten März eine vierköpfige Führung bilden, deren Mitglieder aus den vier größten Zauberersiedlungen der Staaten kamen, Viento del Sol in Kalifornien, Misty Mountain in Colorado, CloudyCanyon in Montana und der Gemeinde von Bayoo, zu der alle Hexenund Zauberer im Gebiet um und in New Orleans gehörten. Jetzt galt es, die vier direkten Ansprechpartner zu wählen.
"Wir sind uns darüber einig, dass unsere Aktivitäten, sofern wir sie nicht in die Zeitung setzen, ohne Absprache mit unseren Frauen stattfinden", sagte John Cobbley. Alle anderen bejahten es. "Dann verlese ich jetzt die Liste der fünf Kandidaten, die sich zur Wahl als Fürsprecher unserer Gemeinde vorstellen", sagte er und verlas die fünf Namen, darunter seinen eigenen, den von Paul Dryfall und Pete Fairwood, aber auch den von Silvester Partridge, der sich am Morgen noch von seiner Frau was hatte anhören müssen, dass er den gemeinsamen Sohn Oberon zu seiner Schwester Venus geschickt hatte, weil ihr schon an Paranoia grenzendes Getue um die zwei jüngsten Kinder schier unerträglich wurde. Callisto, die in diesem Jahr die ZAGs in Thorntails schaffen wollte, war ja weit genug weg. Insgeheim beneidete er sie und seine älteste Tochter Venus, dass sie nicht unter demselben Dach mit ihrer Mutter bleiben mussten.
Nach nur einer einzigen Wahl stand fest, dass Silvester Partridge der Interessenssprecher von VDS sein sollte. Damit stand auch fest, dass er möglicherweise mit dem Zaubereiminister persönlich sprechen durfte, wenn feststand, welche konkreten Forderungen die ISVOAK hatte.
"Wenn wir Post aus den anderen Siedlungen und Nachbarschaftsregionen haben wird am 20. Februar feststehen, wer unsererseits ein Treffen mit dem Minister erwirken wird. Wir sind uns darüber einig, dass wir uns nicht auf ein Gespräch mit Leuten aus der Familienstands- oder Finanzabteilung einlassen dürfen wie die Gemeinschaft später Mütter ohne weiteren Kinderwunsch", sagte Silvester Partridge, nachdem er sich für das Vertrauen der anderen späten Väter ohne ausdrücklichen Kinderwunsch bedankt hatte.
Um sich zum einen die Wartezeit bis zu den Nachrichten aus den anderen Zauberergemeinschaften zu verkürzen und zum anderen seiner eigentlichen Arbeit nachzugehen traf sich Silvester Partridge mit dem offiziellen Medimagier der Viento del Sol Windriders, um die Organisation des kommenden Heimspiels zu beraten. Weil Silvesters Tochter Venus immer noch eine begnadete wie erfolgreiche Eintopferin war durfte er aus Befangenheitsgründen nicht zum Duett der offiziellen Medimagier der Windriders gehören. Doch weil die Gemeinde groß genug war bot sie genug platz für drei residente Heiler, von denen Chloe Palmer als residente Hebamme im Moment die allermeiste Arbeit hatte.
Gegen elf Uhr kehrte Silvester in sein Haus zurück, wo er in seinem Bürobriefkasten bereits zwanzig neue Briefe fand. Fünf davon waren Anfragen für Termine in den nächsten Tagen. Einer davon war eine Antwort auf seinen vor drei Monaten im Heilerherold veröffentlichten Beitrag zu neuartigen Instrumenten zur berührungslosen Überwachung von Herz-Kreislauf-Tätigkeiten, womit er aber auch gleichzeitig eine neue Art von Personenfrüherkennung entwickelt hatte. Deshalb wurden die von ihm zusammen mit den Geschwistern Dexter entwickelten Geräte auch als Überwachungs- und Aufspürvorrichtungen geführt. Außerdem hatte er eine Antwort aus Millemerveilles, ob die von Florymont Dusoleil entwickelten Vegephone auch in der Heilmagie eingesetzt werden konnten, um den Zustand von Heilpflanzen zu bestimmen. Der Rest der Post waren die ersten Antworten aus den anderen Gemeinden. So erfuhr er, dass Ryan McElroy der Sprecher der ISVOAK aus Cloudy Canyon war. Fornax Hammersmith beglückwünschte ihn offiziell zur Wahl in Viento del Sol. Der Gesamtsprecher der Siedlungsgemeinde von Viento del Sol hatte sich nicht für die Wahl in der ISVOAK aufstellen lassen, da er mit seinen anderen Verpflichtungen schon genug ausgefüllt war.
Ganz zu unterst im Briefkasten lag ein kleines Etui, in dem zum einen eine kleine Brille mit grünen Bügeln lag und zum anderen eine kleine rosarote Umhängetasche, die, als er sie berührte, ihren Farbton zu Goldfischfarben änderte. Hatten die Dexters doch daran gedacht, ihm das Muster der neuen Vielraum-Umhängetasche zu schicken. Das geniale daran sollte sein, dass darin geborgene Zaubergegenstände nur von dem erkannt wurden, der die Tasche als erster nach der letzten Bezauberung berührte. Außerdem konnten bis zu vier voneinander getrennte Stauräume benutzt werden, ähnlich wie bei der Vielraum-Reisetruhe. Die Brille war eine neue Entwicklung der Dexters, die sowas wie Seriositätssonden oder Maledictometer überflüssig machte, weil durch die Brillengläser verschiedene Arten von Verwünschungen als unterschiedlich gefärbte, statische oder fließende Auren erkannt wurden und noch dazu eine nur für den Träger vernehmbare Klangform in die Ohren übertrug, damit er merkte, worum es sich handelte. Das besondere an dieser Brille war, dass sie einen Schwächungszauber gegen Erkennungszauber besaß, der nur durch zweistündiges Lagern des Gerätes im Sonnenlicht voll aufgeladen werden musste. Allerdings hatten sich die Erfinder noch nicht auf einen Namen für dieses neue Hilfsmittel für Heiler, Inobskuratoren oder Artefaktprüfer geeinigt. Silvester setzte die Brille auf, die sich ganz sacht wie Florymonts Gleitlichtbrillen an ihren Träger anpasste. Er blickte sich um. Doch es war nichts auffälliges zu sehen oder gar zu hören. Silvester Partridge lächelte. Dieses Gerät kam ihm gerade recht. Jetzt musste er wirklich nur noch warten, ob er derjenige sein durfte. Aber darauf würde er schon hinwirken, wenn er am 20. Februar mit den anderen gewählten Fürsprechern zusammentraf.
Eartha Dime merkte, dass auch sie nicht mehr in ihr Elternhaus hineingehen konnte. Zwar konnte sie noch in den von vielen Schutzzaubern abgedeckten Bereich eindringen. Doch nach nur wenigen Sekunden empfand sie ein dumpfes Ziepen im Unterbauch. Gleichzeitig meinte sie, eine unsichtbare Hand würde ihr ständig von außen gegen den Bauch drücken und dann ziemlich unangenehm in den Schritt greifen, als gelte es, etwas unerwünschtes zu ertasten oder gleich zu entfernen. Da Eartha wusste, dass sie mit Dustin Maywood nicht in seinem Einvernehmen jene noch unauffällige Fracht in ihren Körper aufgenommen hatte, war ihr klar, dass mit zunehmender Größe des in ihr aufkeimenden Nachwuchses das Betreten ihres Hauses immer schwerer bis irgendwann unmöglich sein würde. So beeilte sie sich, ihre ganze Habe aus dem Haus herauszuholen. Denn nun war es für sie amtlich, dass sie nicht länger hier wohnen bleiben konnte. Außerdem wusste sie nicht, was ihr Vater sagen oder tun würde, wenn er erfuhr, dass sie ohne vorher offiziell zu heiraten ein Kind oder gleich zwei oder drei empfangen hatte. Also nutzte sie die neue Lage, um den endgültigen Abflug aus dem warmen Nest zu vollziehen.
"Ist gut, ich merk's", dachte Eartha, weil dieses Ziepen und dieses Abtastgefühl wie von warmen Geisterhänden immer aufdringlicher wurde. Sie verstand vollkommen, warum ihr Vater sich hier nicht mehr hintrauen konnte. Die von Phoebe Gildfork geschmiedete Blutkette musste ihm ja noch mehr zusetzen als ihr die mit Luststeigerungsaerosolen bewirkte Zeugung mit Dustin Maywood, dem sie zu allem nach der wilden Neujahrsnacht noch einen Gedächtniszauber auferlegt hatte. Denn für sie stand fest, dass sie ab dem dritten Monat die ausgearbeitete Legende in Umlauf setzen würde, bei einem Vorlauf der Mora-Vingate-Partys ohne es zu wissen auch so einen Fruchtbarkeitsanregungstrank erwischt zu haben wie Nancy Gordon und die anderen Hexen von der Halloweenfeier in Miami. Aber irgendwas riet ihr noch davon ab. Am Ende wurde sie von irgendwem bezichtigt, ihren Vater in diese Lage getrieben zu haben, was ja auch stimmte.
Mit einer Vielraum-Reisetruhe hinter sich und auf ihrem Bronco Centennial reitend verließ Eartha Dime das Haus ihrer Eltern. Wo auch immer ihre Mutter war und ob sie noch einmal wieder auftauchte, sie würde wegen der Lossprechung hier nicht mehr hineingehen dürfen. Aber auch ihr Vater konnte hier nicht mehr wohnen, vor allem dann nicht mehr, wenn Phoebes Babys geboren waren. Im Grunde, stellte sie fest, während sie aus dem Schutzbereich hinausflog, konnte nur noch ihr Bruder Plutonius was damit anfangen. Ob der sich darüber freuen würde?
Sie war gerade aus der Sphäre der Schutzbezauberungen heraus, als ihr ein Uhu entgegenflog. Der große Eulenvogel nahm sofort Kurs auf Earthas Besen und gab ein forderndes Wuhuh von sich. Er winkte förmlich mit dem rechten Bein, an dem ein Briefumschlag hing. Eartha bremste den Besenflug und verhielt ihn auf der Stelle. Dann streckte sie die rechte Hand aus. Der Uhu segelte zielgenau darauf zu. Eartha pflückte dem Vogel den Briefumschlag vom Bein und las, dass der Brief aus dem Laveau-Institut kam. Ein gewisser Laslo Hintley hatte den Brief abgeschickt. Eartha landete kurz, um zu lesen, was denn das Marie-Laveau-Institut bei New Orleans von ihr wollte.
Wie sie sich schon länger hatte denken können ging es darum, dass sie mithalf, ihre seit dem 6. Februar verschwundene Mutter zu finden. Weil das Marie-Laveau-Institut zur Bekämpfung dunkler Magie aus allen Kulturkreisen im Moment noch das Monopol auf jenen genialen Suchzauber hatte, mit dem verschollene Anverwandte gefunden werden konnten, war klar, dass sie für die sehr gefragt war. Um des schönen Scheins wegen hätte sie da sicher auch mitgeholfen. Doch die gewisse Zurückweisung der Schutzzauber ihres Elternhauses hatten ihr klargemacht, dass sie von Fluch- oder Dunkelkrafterkennungszaubern als Verdächtige erkannt werden konnte. Dann musste sie nicht ausgerechnet dahin, wo die Experten für Erkennung und Beseitigung dunkler Zauberkräfte waren. Andererseits konnte sie diese Anfrage auch nicht ohne Verdacht zu erregen zurückweisen. Sicher, in dem Brief stand, dass auch ihr Bruder Plutonius gefragt würde. Doch Plutonius war mit seiner eigenen Familie gerade unterwegs in Asien, weil irgendwer dem von den japanischen Zauberartefakten vorgeschwärmt hatte. Wenn der Brief an den mit einer normalen Posteule unterwegs war konnte das noch einige Tage dauern, bis ihr Bruder sich meldete. Also würde es wohl an ihr hängenbleiben.
"Wuhuh!" ließ sich der Uhu wieder vernehmen und flog einmal um Eartha herum, bevor er sich ganz hemmungslos auf das Vorderende ihres Besens setzte. Eartha musste lachen. Ihre gerade in Las Vegas weilende Eule Bitsy war genauso unermütlich, wenn sie eine Antwort mitnehmen sollte. So schrieb Eartha auf die Rückseite des Pergamentbogens, dass sie am nächsten Wochenende in die Anlaufstelle von New Orleans kommen würde. Dann schickte sie den Uhu mit der Antwort los. Sie wartete, bis der Postvogel außer Sichtweite war. Dann hob sie selbst wieder ab und flog, die Reisetruhe im Gefolge, in Richtung Newerk davon, wo sie den sonnengelben VW Käfer namens Sunny geparkt hatte.
"Eh, die ist aber groß, die Truhe", quäkte die künstliche Stimme von Sunny, als Eartha den Kofferraumdeckel, der ja nicht wie bei anderen Automobilen hinten, sondern vorne eingebaut war, anhob und ihrer Reisetruhe befahl, dort hineinzufliegen. "Die passt schon", sagte Eartha. "Neh, ist zu groß. Lad das aus, was drin ist, dann geht's!" erwiderte die magische Stimme vonSunshine.
"Da ist mein ganzer Hausrat drin, kleiner Sonnenschein", sagte Eartha. Dann schaffte sie es, die Truhe ganz unterzubringen. "Jetzt kann ich aber nur noch zwei Drittel so schnell fahren wie sonst", quäkte Sunshine.
"Immer noch schneller als die anderen von deiner Bauart", sagte Eartha. "Ey, in den Gebrauchsanweisungen steht aber drin, dass ich nur bezauberte Möbel und Gepäckstücke tragen darf, die nur halb so groß wie der Kofferraum sind. Sonst kann ich nicht so gut laufen und springenund in die Kurven rein und wieder raus", beschwerte sich Sunshine, als Eartha noch ihren Flugbesen in die Truhe legte und sie verschloss.
"Gebrauchsanweisungen sind Möglichkeitsangaben, keine Vorschriften", grummelte Eartha. Sich mit einem magicomechanischen Fahrzeug zu zanken wollte sie echt nicht. Außerdem musste sie sich was einfallen lassen, wie sie aus der Nummer mit dem LI herauskommen konnte.
Der gelbe Käfer zuckelte mit gerade 80 Stundenkilometern über die Schnellstraßen Richtung Westen. Sunshine beklagte sich, dass er wegen der "Monstertruhe" nicht so weit springen konnte wie sonst. Doch Eartha hörte nicht darauf. Solange dieses Vehikel nicht das Dach aufklappte und sie mit einem kühnen Schwung des Fahrersitzes rausschleuderte oder ihr das Lenkrad ins Gesicht drosch, wie er das mal mit einem Fahrer gemacht hatte, der unterwegs unbedingt Cerberus' Cidrecups Zigarren in Königsgröße rauchen musste und was von der Asche auf den Boden gefallen war. Sunshine war nach seiner Vergeltungsaktion eigenständig zum Fuhrpark des Ministeriums zurückgekehrt, weil er fachmännische Wartung brauchte. Aber Eartha erlebte nichts dergleichen. Die Reise verlief ohne weitere Auffälligkeiten, zumal Sunny es nicht lassen konnte, einem an ihm vorbeisausenden Ferrari zu zeigen, dass er doch noch schneller als der italienische Sportwagen war. Als er den Ferrari regelrecht versenkt hatte lachte Sunnys quäkige Kunststimme lautschallend, während Eartha nichts anderes hatte tun können als ruhig die Hände auf dem sich von selbst drehenden Lenkrad zu lassen. Keine zehn Sekunden später war die Straße frei genug, um mal wieder ein Stück vom Weg im Transitionsturbo-Sprung zu überwinden. "Ui, bin doch hundert Kilometer weiter gelandet als ich annahm!" quäkte Sunnys Stimme mit einem gewissen Erstaunen im Tonfall.
"Tja, da müssen deine Wartungsfachleute wohl demnächst die Gebrauchsanweisung umschreiben, Schätzchen", sagte Eartha.
Mittlerweile war ihr eingefallen, wie sie das Treffen mit den LI-Leuten schwänzen konnte, ohne in Verdacht zu geraten. War ihre Mutter nicht von dieser Spinnenhexe aus dem Haus geholt beziehungsweise nach Schlafbezauberung der Belagerer fortgeschafft worden? Nun, was diese Spinnenschlampe einmal gemacht hatte konnte sie gerne noch mal machen, dachte Eartha. "Sunny, ich will eine Stunde schlafen. Fährst du mich weiter und passt bitte auf, keine Polizei oder andere Ordnungshüter zu ärgern?"
"Es sind noch zweitausend Kilometer zu fahren. Schlafen Sie gut, Miss Eartha", trällerte Sunshine und nahm ein wenig Geschwindigkeit zurück. Unter dem sanften Orgeln des Motors und gegen die von selbst in Schlafstellung zurückgeklappte Rückenlehne gedrückt entspannte sich Eartha. Allerdings schlief sie nicht sofort ein. Sie konzentrierte sich darauf, mit jemandem zu mentiloquieren.
"Das war zu befürchten, dass die dich dafür haben wollen. Wie sollen wir helfen?" wurde sie gefragt, als sie kurz erwähnt hatte, dass das LI hinter ihr her war. Sie teilte es ihrem Kontakt mit.
"Da werden aber einige weinen, wenn wir denen ihr schnuckliges gelbes Spielzeug zerbeulen", kam die Antwort. Eartha schickte zurück, ob das auch anders ginge.
"Wenn es echt wirken soll muss was ganz gemein zugerichtetes zurückbleiben. Oder hast du dich in dieses Muggelding verliebt?"
"Quatsch. Aber es haben eine Menge Leute dran gearbeitet, den so hinzukriegen. Das darf nicht einfach so kaputtgemacht werden", schickte sie zurück.
"Wir holen dich vor Vegas von der Straße runter. Wenn das Gefährt uns dabei nicht zu lästig fällt kommt es mit platten Lufträdern und einigen kleineren Beulen davon."
"Na hoffentlich", erwiderte Eartha.
Nachdem sie alles geklärt hatte fühlte sie, dass sie sich doch sehr angestrengt hatte. Sie gab sich der Erschöpfung hin und schlief.
Ein melodisches Glockenläuten weckte sie auf. "Miss Eartha, wir sind jetzt am Stadtrand von Vegas. Ich bitte um eine gründliche Wäsche, bevor wir bei ihrem derzeitigen Wohnhaus halten", quäkte Sunny. Eartha sah sich um. Dann mentiloquierte sie schnell die erkannte Adresse.
Keine halbe Minute später schwirrten vier Besen heran, auf denen Frauen in weißen Kapuzenumhängen saßen. Sunny bremste auf dem Punkt ganz ab, weshalb zwei Autos hinter ihm fast in ihn reinkrachten. Doch mit einer schnellen Drehung seiner Räder in Seitwärtsstellung schlüpfte er nach rechts von der Straße. Da flogen ihm mehrere Zauber entgegen. Doch sie prallten silbern wetterleuchtend von einem unsichtbaren Schild ab. "Ich blas Alarm!" schrillte Sunny und stieß über seine Hupe ein lautes, schrilles, total disharmonisches Getröte aus, dass die auf den Besen heranstürmenden Hexen beinahe von ihren Flughilfen herunterfielen. Wieder zuckten Zauberblitze von den Angreiferinnen in Richtung Reifen und Motor. Doch wieder prallten die Zauber silbern wetterleuchtend ab. Eartha konnte sogar ein vernehmliches Pioning und Doing hören, als die auf sie abgefeuerten Zauber zurückgeprellt wurden. Das wusste sie nicht, dass Sunny einen eingewirkten Schildzauber hatte. Zwei Hexen nahmen Abstand. Eartha fürchtete schon, dass sie jetzt mit dem Feuerballzauber angreifen würden. Doch sie spannten ein großes, aus silbernen Lichtsträngen bestehendes Netz auf, in das Sunny, der wieder im Vorwärtsfahrbetrieb war, beinahe hineingeriet. Doch der Wagen bremste voll, drehte sich wie auf einer unsichtbaren Spindel um hundertachtzig Grad und preschte mit laut aufbrüllendem Motor davon. "Das sind die Anthelianerhexen. Die wollen Ihnen böses, Miss Eartha. Ich rufe Verstärkung!" schrillte Sunnys Stimme über das nun in einen ständigen Rhythmus verfallende Tröten hinweg. Da verlor der Wagen unvermittelt den Boden unter den Rädern und schwebte nach oben. Auch Eartha fühlte eine plötzliche Schwerelosigkeit, ja einen sanften Zug nach oben. Sie hatten den deterrestris-Zauber gewirkt.
"Ey, schweben lassen ist gemein!" quängelte Sunny. Doch dann konterte der bezauberte Wagen mit einem blauen Sprühnebel aus Heck und Front. Außerdem wechselte das Motorengeräusch zu einem vernehmlichen Fauchen. Sunny flog wie von mehreren Raketen getrieben nach vorne, während er gleichzeitig immer noch aufwärts stieg. Es sah für Eartha so aus, als wenn der von ihr selbst bestellte Überfall danebengehen würde. Doch da tat sich vor Sunny unvermittelt eine grüne Halbkugel auf, in die er vom eigenen Schwung getrieben hineingeriet und gegen eine federnde Wand prallte. Sofort umschloss das grüne Leuchten den ganzen Wagen. Eartha sah, wie der vorhin noch gewirkte Schildzauber in silbernen Lichtentladungen gegen dieses grüne Zauberlicht anwirkte. Doch wer immer die grüne Auffangkugel gezaubert hatte war stärker als die eingebauten Schildzauber. Es knackte laut, dann schmiegte sich die grüne Blase vollständig um den Wagen. "Eh, was ist das für eine Sauerei?!" schimpfte Sunny mit irgendwie leieriger Stimme. "Dieses miese Grünlicht macht mich ganz ... ge... mein ... mü...." Die letzten Worte klangen immer langsamer und tiefer, bis sie in einem kurzen Knattern verebbten. Gleichzeitig erstarb das Fauchen des Motors, aber auch jede Innenbeleuchtung. Eartha fühlte selbst eine gewisse Müdigkeit. Dann hörte sie in ihrem Kopf gleich vier Stimmen ein Wiegenlied singen. Außerdem meinte sie, vier große Herzen im gleichklang pochen zu hören. Hatte ihr Mater Vicesima nicht was von einem Zauber erzählt, der "Schoß der grünen Mutter" genannt wurde? Sie fühlte, wie sie selbst immer schläfriger wurde. Vielleicht träumte sie schon, als sie einen Aufprall fühlte, und wie durch das grüne Licht mehrere Arme griffen und beide Türen aufrissen. Auch vorne griffen zwei Armpaare nach dem Kofferraumdeckel und stemmten ihn hoch. Dann verlor Eartha unter dem auf sie einsingenden Quartett und den beruhigenden Herzschlägen das Bewusstsein.
Als sie wieder aufwachte lag sie auf einem weichen Bett. Als sie sich umsah erkannte sie ihre Vielraum-Reisetruhe. Dann sah sie ihre VM-Kameradin Lotta, und einen gerade mal zehn Jahre alten Jungen, der spitzbübisch grinste.
"Hi, Eartha! Gut geschlafen?" fragte Lotta.
"Ich habe schon gedacht, das klappt nicht", grummelte Eartha. "Ich wusste nicht, was der Wagen noch so alles drauf hat."
"Oja, und vor allem drunter", grinste der scheinbar nur zehn Jahre alte Bursche. "Aber gut, dass wir den unbeschädigt erwischen konnten. So können wir den richtig studieren, bevor wir den wieder unter freien Himmel lassen, wo der sich an den Gestirnen neu aufladen kann. Musste nur den Rufzauber abschirmen, den der noch von sich gab, bevor die grüne Mutter euch beide in den Schlaf geschaukelt hat. Aber gegen den Zauber konnten die nix, die den Kleinen zusammengeschraubt haben."
"Lass den dir patentieren", erwiderte die blonde Lotta. Dann streichelte sie Eartha über das Gesicht. "Hier sucht und findet dich jedenfalls keiner. Auch der Blutrufzauber kommt hier nicht mehr durch, seitdem die uns damals damit fast das Karussell ramponiert haben."
"Wollt ihr Plutonius auch noch einsacken?" fragte Eartha.
"Eigentlich eine gute Idee. Hella und Vanny könnten sich gut ein paar süße Babys von ihm vorstellen. Aber gemäß unseren Statuten darf jemand, der von sich aus magische Kinder hervorbringt nicht auf unser Karussell."
"Und den Wagen stellt ihr wieder irgendwo ab, wenn ihr raus habt, wie sein magicomechanisches Gedächtnis funktioniert?" fragte Eartha.
"Aber Holla die Windsbraut. Das habe ich schon bei deiner Ankunft ausgebaut und bin schon fast damit durch, wie es geht. Dann setz ich dem Käfer 'ne neue Erinnerung unter die Haube, dass er noch mitbekommen hat, wie die bösen Hexen von Anthelia oder wie die echt heißt dich aus ihm rausgezerrt haben und mit dir weggeportschlüsselt sind. Wird das Ministerium und die vom LI ziemlich heftig zum rotieren bringen."
"Du genießt das echt, wieder Kind sein zu dürfen, nicht wahr, Perdy?" fragte Lotta.
"Das in Windeln kacken war zwar nicht so spaßig, aber alles andere hat echt Spaß gemacht, Lottchen."
"Nenn mich nicht Lottchen, sonst darfst du ab heute wieder in Windeln machen, Kleiner!" drohte Lotta. Das wirkte offenbar. Denn der Bursche hielt den Mund.
"Apropos Windeln. Ich bleib jetzt hier, bis das oder die da in mir auf der Welt sind?" fragte Eartha.
"Nur, wenn du es dir nicht mit unserem Herbergsvater verdirbst, Pater Duodecimus Occidentalis", sagte Lotta. Eartha nickte.
ENTFÜHRUNG AUS VEGAS
MINISTERTOCHTER VON HELFERINNEN DER SPINNENSCHWESTERN VERSCHLEPPT
In den hellen Nachmittagsstunden des 17. Februars kam es am östlichen Stadtrand der bei den Magielosen für Freizügigkeit und Glücksspiel so beliebten Stadt Las Vegas, Nevada, zu einer dreisten Entführung auf offener Straße. Eartha Dime (27), die zur Zeit wegen einer Aufgabe in der sogenannten Stadt der Sünde weilt, wurde mit ihrem zur Verfügung gestellten Kraftfahrzeug aus Ministeriumsbeständen von vier in Weiß gekleideten Hexen auf Flugbesen der Marke Bronco Millennium angehalten und gegen ihren Willen aus dem Fahrzeug herausgezerrt. Die Angreiferinnen haben einen kombinierten Lähm- und Einschlafzauber verwendet, der auch magicomechanische Artefakte betrifft. Zudem haben sie einen gegen Meldezauber wirkenden Kraftdom errichtet, der das Herbeirufen von Verstärkung unterband. So konnten erst dann Hilfstruppen des Zaubereiministers an den Tatort eilen, als bereits Ordnungshüter der Magielosen den Wagen vom Fabrikat VW 1300 genannt Käfer sicherzustellen versuchten. Die Ordnungshüter konnten durch Gedächtniszauber dazu gebracht werden, keinen solchen Wagen vorgefunden zu haben. Die spätere Auswertung des im Fahrzeug verbauten Ereignisspeichers ergab, dass durch die auf den Wagen und seine Insassin wirkenden Zauber keine selbsttätigen Bewegungen mehr möglich waren und dass die Entführerinnen die Tatzeugen mit Gedächtniszaubern belegt haben, bevor sie mit der bewusstlosen Geisel einen Portschlüssel zur Flucht nutzten.
Etwa drei Stunden nach dem hinterhältigen Überfall trafen im Zaubereiministerium und dem Marie-Laveau-Institut Briefe ein, in denen sich der Hexenorden der schwarzen Spinne zu dieser Entführung bekannte. Ziel dieser Aktion sei es, den Zaubereiminister Chroesus Dime dazu zu veranlassen, den um Weihnachten 2002 geschlossenen Friedens- und Duldungsvertrag mit der Gruppierung Vita Magica zu widerrufen und die "Hexenrechtsbrecher" mit allen verfügbaren Kräften zu bekämpfen. Erst wenn Vita Magica alle in den vereinigten Staaten errungenen Stützpunkte und Helfer verloren habe, würde dem Minister sowohl dessen ebenfalls vom Spinnenorden ergriffene Ehefrau und Eartha unversehrt zurückerstattet.
Minister Dime ließ umgehend verlauten, dass er nicht daran denke, sich einer solchen Erpressung zu beugen und die Hexen vom Spinnenorden jeden Anspruch auf Gesprächsbereitschaft verwirkt hätten. An deren Anführerin richtete er die Aufforderung, ihrerseits alle in den Staaten errungenen Standorte zu räumen und dass deren aktive Mitglieder unverzüglich das Land zu verlassen oder sich freiwillig zu stellen hätten. Sollten sie im Zuge weiterführender Aktionen erkannt und ergriffen werden, so sei ihnen unabhängig von begangenen Taten eine unbestimmte Zeit im Hochsicherheitsgefängnis Doomcastle gewiss, so der Zaubereiminister.
Die derzeitige Direktrice des Marie-Laveau-Institutes, Sheena O'Hoolihan (Altersangabe untersagt) erklärte unserem Reporter Ted Steeples, dass die Entführung von Eartha Dime den bedauerlichen Schluss nahelege, dass selbst in ihren Reihen Sympathisanten oder gar Agentinnen der Spinnenschwesternschaft zu suchen seien. Sie hofft, dass diese bald gefunden werden. Auf genaue Nachfrage unseres Reporters, ob mit einer unversehrten Rückkehr von Argentea Lodes und ihrer Tochter Eartha zu rechnen sei erwiderte sie, dass ihnen wohl kein körperliches Leid geschehen würde, da es ja Hexen seien. Nur müsse damit gerechnet werden, dass die beiden zu aktiven Mitgliedern dieser Gruppierung umgeformt und danach zurückgeschickt werden könnten und dass die beiden Hexen eine Menge interne Dinge aus dem Ministerium sowie aus dem Privatleben des Zaubereiministers selbst kennen.
Minister Dime hat für Hinweise auf Angehörige der Spinnenschwesternschaft und deren Verbleib eine Belohnung von eintausend Galleonen ausgesetzt. Sollten diese Hinweise zur Befreiung seiner Tochter und seiner Ex-Frau führen hat er zusätzliche 500 Galleonen in Aussicht gestellt. Vertraulichkeit der Informanten wird garantiert.
TS
Anthelia warf die Extraausgabe des Kristallherolds vom Abend des 17. Februars auf den Steintisch, auf dem sie selbst ihren zweiten Körper erhalten hatte. Eigentlich hätte sie jetzt vor Wut schäumen müssen. Doch irgendwie hatte sie genau mit einer derartigen Aktion gerechnet. Denn diejenigen, die wirklich hinter diesem Überfall steckten, konnten so zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Zum einen konnten sie Eartha dem Zugriff des Laveau-Institutes entziehen. Zum anderen konnten sie die Zauberergemeinschaft wieder gegen den Spinnenorden aufbringen und damit von den Machenschaften von Vita Magica ablenken. Da Anthelia dieses bewährte Prinzip von Teile und herrsche ebenfalls gerne benutzte konnte sie nicht so wütend sein, wie es eigentlich zu erwarten gewesen wäre. VM hatte Eartha entführt, um das Laveau-Institut davon abzuhalten, Argentea Dime oder Lodes wiederzufinden. Oder war das am Ende gar keine Entführung, sondern eine mit Earthas Einverständnis oder gar Anregung durchgeführte Aktion? Dann stand die Frage im Raum, wessen Sympathisantin die junge Hexe wirklich war.
"Höchste Schwester, hast du das auch gelesen, was der Herold schreibt?" gedankenfragte Portia ihre Anführerin. Diese schickte zurück, dass sie es wohl gelesen habe. "Ruhig verhalten, nichts auffälliges unternehmen. Die warten doch jetzt darauf, dass wir wie aufgescheuchte Wespen durcheinanderfliegen und um uns stechen", schickte Anthelia zurück. "Nächste Versammlung aller nordamerikanischen Schwestern wird durch Proteusstein bekanntgemacht", fügte sie noch hinzu. Dann ergriff sie den unter dem Tisch liegenden schwarzen Stein, den sie über den Proteuszauber mit allen in den Staaten lebenden Mitschwestern verbunden hatte. Sie überlegte, ob sie gleich den nächsten Tag nehmen sollte, beschloss aber, den 1. März als Zeitpunkt zu bestimmen.
Sie hatte gerade den Stein entsprechend umgestaltet, als ein lautes Eulenheulen von draußen erklang. Irgendwer hatte ihr eine Posteule geschickt. War das mal wieder eine Falle?
Es war jedoch kein verfluchter oder mit Ortungsverstärkerzauber belegter Brief, sondern eine mit smaragdgrüner Zaubertinte verfasste Botschaft, die von einer willensstarken Hexe geschrieben worden war.
Werte Lady des Ordens der schwarzen Spinne,
sicher werdet Ihr die neuesten Meldungen aus dem Kristallherold vernommen haben, denen nach Ihr und eure Mitschwestern die Entführung der jungen Hexe Eartha Dime begangen haben sollt. Ich schreibe das deshalb so, weil wir, meine Mitschwestern und ich, davon überzeugt sind, dass Ihr mit diesem Überfall nichts zu tun habt. Drei Dinge lassen uns dies vermuten:Zum ersten hättet Ihr die junge Hexe Eartha Dime schon am selben Tag verschleppen können, als Ihr die Gattin des Ministers dem Zugriff seiner Leute entzogen habt. Denn der präzise Ort und Zeitpunkt der berichteten Aktion legt nahe, dass die Ortsbewegungen von Ms. Dime hinlänglich bekannt waren.
Zweitens hättet ihr sicher keinen Wert darauf gelegt, dass Zeugen und Spuren einer solchen Entführung zurückbleiben und hättet das von Ms. Dime benutzte Fahrzeug restlos vernichtet, eben um jede Möglichkeit einer Ereignisnachbetrachtung zu vereiteln.
Drittens gilt nach dem Grundsatz cui bono, dass Ihr und eure Mitschwestern von einer solchen dreisten Untat keinen Nutzen hättet, weil dadurch eine wiederverstärkte Feindseligkeit gegen Euren Orden geschürt wird. Somit können wir vom Orden der Duldsamen Schwestern nur davon ausgehen, dass dieser Überfall von jenen Elementen begangen wurde, deren Machenschaften zur erzwungenen Vermehrung magischer Menschen führen sollen.
Da meine persönliche Rangstellung und Einschätzung der Lage ein direktes Zusammentreffen verbietet möchte ich euch nur darum bitten, die in Eurer Obhut befindliche Argentea Dime in unsere Obhut zu übergeben, da wir fürchten müssen, dass ihr Ex-Gatte gesundheitliche Schwierigkeiten zu erwarten hat, wenn er nicht bald erfährt, wo sie sich befindet. Als ranghohe Heilerin bin ich verpflichtet, jedes menschliche Leben vor Schaden zu bewahren, wenn mir dazu Auftrag und Mittel geboten sind. Außerdem besteht die Gefahr, dass mindestens ein unschuldiges Leben gefährdet wird, wenn Ihr Argentea Dime, die im Moment mit ihrem Mädchennamen Lodes geführt wird, dauerhaft unter Verschluss haltet. Ich hoffe inständig darauf, dass trotz aller früher geäußerten Entschlossenheit, auch den Tod von Menschen in Kauf zu nehmen, der Tod von unschuldigem Leben, womöglich sogar das von Hexen, nicht in Eurem Sinne ist.
Womöglichkönnt ihr sogar durch die Herausgabe von Argentea Lodes den losgetretenen Anfeindungen entgegenwirken und damit jenen, die Eartha Dime entführten oder dem Zugriff des Ministeriums entzogen als wertlos hinstellen.
Unsere Ordensführerin ist bereit, mit einer von euch erwählten Vertrauensperson zusammenzutreffen, um die von euch in Obhut genommene Argentea Lodes entgegenzunehmen.
In der Wertschätzung, die geistig hochstehende Hexen füreinander empfinden verbleibe ich
hochaachtungsvoll
E. Greensporn
Anthelia klatschte in die Hände. Es gab also auch unter den achso behutsamen und besorgten Schwestern welche, die nicht sofort jeden hingehaltenen Köder fraßen, wenn es gegen die entschlossenen Schwestern oder sie ging. Natürlich wusste Lady Roberta, dass Beth McGuire auch eine treue Mitschwester von ihr, Anthelia, war. Es wäre also kein Akt, Argentea Dime von dieser an Lady Roberta übergeben zu lassen. Aber wie sollten die dann hinstellen, dass sie Argentea hatten? Anthelia grinste. Denen ging es nicht darum, dass Argentea sofort in Freiheit gesetzt wurde. Die wollten sie selbst als Druckmittel gegen den Minister verwenden, um ihn womöglich in eine Falle zu locken, damit er solange handlungs- und besinnungsunfähig gehalten wurde, bis die verdammenswürdige Hexe gefunden war, die ihn mit dem gemeinsamen Nachwuchs an sich und ihre Pläne gekettet hatte. Ja, und E. Greensporn hatte mit ihren Worten auch riskiert, dass Anthelia darauf kam, warum der Minister gerade tat, was er tat. Sollte sie E. Greensporn zurückschreiben, dass sie das doch schon längst wusste, dass Chroesus Dime unter dem Catena-Sanguinis-Zauber stand? Hmm, vielleicht machte sie das demnächst. Erst einmal wollte sie ein paar Tage verstreichen lassen, um zu sehen, welche Wellen die Aktion mit Eartha Dime schlug.
Anthelia hatte gerade noch mal geprüft, ob Argenteas Zauberschlaf ungestört verlief, als im Empfangssaal der Daggers-Villa jemand apparierte. "Höchste Schwester, die Schattenfrau ist wahrhaftig aufgetaucht", hörte die Führerin der Spinnenschwestern Albertine Steinbeißers Stimme.
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