Auch nach dem Sturz des selbsternannten Erben Voldemorts ist die magische Welt alles andere als ein friedlicher Ort. Verschiedene Interessengruppen ringen heimlich oder in offenen Angriffen um neue Macht. Die nach Jahrhunderten aus magischer Versteinerung wiedererweckte Dunkelhexe Ladonna Montefiori ist nur eine weitere Bedrohung neben den Vampiren der sogenannten schlafenden Göttin, der Mondbruderschaft verbrecherischer Werwölfe, Anthelias Hexenorden der schwarzen Spinne, sowie der nicht minder skrupellosen Vereinigung Vita Magica, die eine mit allen magischen Mitteln beschleunigte Vermehrung magisch begabter Menschen herbeiführen will und nicht davor zurückschreckt, Ministerialbeamte unter ihre Kontrolle zu zwingen. Ebenso will die aus zwei zu Nachtschatten gewordenen Seelen zu einer neuen Schattenform verschmolzene Birgute Hinrichter ein Volk aus Schattenkindern über die Welt verbreiten.
Weil Lahilliota, die Mutter der Töchter des Abgrundes, auch mit diesen Feinden konfrontiert ist, entschließt sie sich zu einem höchst waghalsigen Unternehmen, ihre eigene Macht zu steigern und zugleich eine schlagkräftige Schutztruppe zusammenzustellen.
Die Suche nach der falschen Tochter ging zwar weiter. Doch seit dem Versuch, sie in das Nichts zurückzustoßen, aus dem sie entstanden war, hatte diese sich vor ihren Tastversuchen verborgen. Itoluhila, Tarlahilia und Ullituhilia konnten die Schmach, gegen ein einziges künstliches Geschöpf beinahe verloren zu haben, nicht verwinden. Doch auch sie hatten zu viele andere Verpflichtungen. Dann war auch noch Thurainillas Schattenzwilling von einer aus mehreren Einzelgeistern zusammengewachsenen Gegnerin verschlungen und vernichtet worden. Damit war die Schwester der kosmischen Finsternis eigentlich nur noch halb so mächtig wie vorher, was für diese ebenfalls eine grausame Demütigung war. Da nützte es auch nichts, dass Errithalaia, die Schwester der fliehenden Zeit, durch den Kampf mit einem Sohn Ashtarias geschwächt worden war. Denn sie konnte und würde sich wieder erholen und ihre Kraft bis auf einen kleinen Teil zurückgewinnen, jenen Teil, der seit erwähntem Zweikampf wieder frei und mächtig in der Welt herumlaufen konnte, ihrer aller Mutter, Lahilliota, die Meisterin des Lebens.
Die Herrin und Mutter der vaterlos gezeugten Töchter schritt durch ihr Reich, die Höhlen im Berg der ersten Empfängnis. Dieser Berg hieß so, weil sie hier ihre allererste Tochter auf rein magische Weise empfangen und geboren hatte. Seit ihrer Befreiung aus der körperlichen Gefangenschaft Errithalaias bewohnte sie den Körper der Jetztzeitigen Kurzlebigen Alison Andrews, teilte sich mit dieser Wissen und Kenntnisse. Das hatte sie Itoluhila zu verdanken, die Alisons Körper und Geist mit der eigenen Magie des dunklen Wassers durchdrungen und in ihrem Sinne verändert hatte.
Weil sie nicht noch einmal von einem anderen Gegner um seelische Freiheit oder Leben gebracht werden wollte hatte Lahilliota sich entschlossen, das eigentlich unerhörte zu tun und von den Tränen der Ewigkeit zu trinken, die einerseits eine nahezu absolute Unsterblichkeit schenkten, dies jedoch zu dem Preis, dass die jedem einzelnen denkenden Wesen innewohnenden Urtriebe niederer Tiere äußerliche Gestalt gewannen. Lahilliota hatte mit Erstaunen erkannt, dass ihre innere Tiergestalt eine rote Waldameisenkönigin war und deren Begierden verspürt, ein eigenes Volk zu gebären. Diese Begierden hatte sie bis auf weiteres zurückdrängen können, um weitere Angriffe dieser verachteten Nachtkinder zurückzuschlagen. Dann war da noch diese von einem kurzlebigen Magier aus dessen reiner Vorstellungskraft und mit Zauberkraft gestärkten Farben entstandene Schöpfung, die sich als Meisterin über Menschen und Pflanzen dargestellt hatte.
Sie stand auf dem Gipfel des felsigen Berges, der ihr ganz eigenes Reich war. Ihre Augen betrachteten die karge Landschaft, die sich um den Fuß dieses Berges erstreckte. Bis zum Horizont dehnte sich eine Stein- und Sandwüste. Wie eine blassblaue Kuppel wölbte sich der wolkenlose Himmel über dieser Landschaft, beherrscht von einer gnadenlos heiß und hell niederbrennenden Sonne. Im Lichte ihrer Strahlen konnte die Herrin dieses Berges bis über viele hundert Tausendschritte hinwegsehen. Doch nicht nur mit den Augen nahm sie die Umgebung wahr. In ihrem Geist klangen leise die Stimmen ihrer wachen Töchter Itoluhila, Tarlahilia, Ullituhilia und Thurainilla. Errithalaia, ihre jüngste und mächtigste Tochter, verbarg ihren Geist immer noch vor allen anderen. Sie alle dachten an die verstrichenen Wochen und wie es weitergehen sollte. Sie sandte an ihre erreichbaren Töchter: "Ich werde bald mit jeder einzelnen von euch beraten, wie es weitergeht. Denn eines ist sicher: Wir dürfen es uns nicht bieten lassen, derartig beleidigt zu werden, wie wir es wurden." Das bestätigten jene, die mit ihr Verbindung halten wollten.
Er versuchte immer wieder, Verbindung mit jener aufzunehmen, in der Kanoras' Kräfte entfaltet worden waren. Doch er erreichte sie nicht. Sie war einfach zu eigenständig. Das und der Umstand, dass Kanoras' Erbe in einem verfluchten Weibsbild weiterbestand, trieben den in seinem eigenen Machtgefäß eingeschlossenen Iaxathan immer wieder an den Rand ohnmächtiger Wut. Doch dann dachte er daran, dass er seinen neuen Knecht Kaharnaantorian aussenden würde, um dieser unwürdigen Erbin den Garaus zu machen. Doch sein neuer Knecht musste erst einmal einen Weg aus dem Bergmassiv hinausgraben, in dem die Nimmertagshöhle mit Iaxathans dunklem Vermächtnis verborgen war.
Der sich selbst als Diener der immerwährenden Finsternis bezeichnende einstige Hochkönig von Altaxarroi fühlte, wie die Ströme aus reiner Dunkelheit in Wallung waren. Immer wieder entstanden neue Kinder der Nacht, die er einst in die Welt gesetzt und beherrscht hatte. Doch auch diese aus mehreren Frauenseelen zusammengezwungene, die der Narr Hagen Wallenkron noch vor dem Versuch, sich ihm zu nähern unbeabsichtigt erschaffen hatte, brütete neue Abkömmlinge aus, gehorsame Diener, bestehend aus dunkler Macht und entleibter Seelen, herangereift in einer von Kanoras' Kräften durchströmten Gebärmutter.
"Na, Flaschengeist, so schweigsam heute. Sonst wolltest du doch keine Nacht vergehen lassen, mir deine achso große Überlegenheit zu bekunden", hörte er die ihm verhasste Geistesstimme der aus tausend Nachtkindseelen zu einer herrschenden Macht gewordenen, die sich selbst als schlafende Göttin und Gooriaimiria, der großen Mutter der Nacht, bezeichnete.
"Wähne dich ja nicht auf dem Sockel der Unbesiegbarkeit, abtrünnige Hure. Meine Zeit wird kommen. Ich kann warten", schickte Iaxathan zurück.
"So, ohne Knecht? Es wird wohl diesmal niemand mehr so verblödet sein, mit dir einen Pakt zu schließen, wo dir ein paar Hexen und Zauberer den einzigen weggenommen haben, der so dumm war", erwiderte die sich überheblich als schlafende Göttin bezeichnende, die eigentlich selbst eine ewige Gefangene war.
"Ach, du meinst, wenn mein neuer Knecht in die Welt hinausgeht hättest du schon die Welt mit deinen Ausgeburten unterworfen?" wollte Iaxathan wissen.
"Abgesehen davon, dass ich jede Nacht zwanzig neue Kinder und Getreue dazubekomme spürst du Flaschenkobold sicher auch, dass da etwas die weltumspannenden Ströme der Dunkelheit aufwühlt. Da Kanoras von mir erledigt wurde kann das ja nur wer sein, der weder dir noch mir unterworfen ist. Nur anders als du kann ich meine Nachtkinder aussenden, diese neue Macht zu erforschen und niederzuhalten, wenn sie mir zu lästig wird."
"Ach, dann weißt du es nicht, wer das ist, im Mitternachtsstein gefangene Dirne? Soll ich dir das verraten? - Ach nein, wenn du so überheblich bist, dass du das für dich gefährliche selbst erkunden willst, dann finde das selbst heraus!" schickte Iaxathan zurück. Unter keinen Umständen durfte er sich zu siegessicher zeigen. Denn dass er selbst einen aus vier aus der Nachwelt zurückgezerrten Seelen zusammengefügten neuen Knecht unterworfen hatte durfte dieses verfluchte Weib in seinem eigenen Mitternachtsstein nicht erfahren.
"Du meinst die Mutter der neuen Schattenbrütigen, Iaxathan. Ich weiß, dass es sie gibt. Meine Kristallstaubträger haben sie ja noch erlebt, bevor diese Bande von Hexen und Zauberern sie mit wildem Babygeschrei vernichtet haben. Ich weiß von meinen Kundschaftern auch, dass diese Schattenmutter da weitermachen will, wo Kanoras aufgehört hat, nur mit dem Unterschied, dass sie sich frei bewegen kann und ich sie bisher nicht erreichen konnte, um ihr Einhalt zu gebieten."
"Tja, weil du genau wie der Stein, den du gegen meinen Willen ausfüllst, meine Geschöpfe seid. Ich werde es sein, der diese aus Kanoras' Macht und der zugegeben einfältigen Tat meines erwünschten Knechtes entstandene entweder unterwirft oder vernichtet. Denn wahrlich kenne ich die Kräfte der alles endenden Finsternis besser als ihr alle anderen. Mein ist die Rache und der Endsieg", schickte er an seine weit entfernte Gegenspielerin weiter.
"Endsieg? Woher kennst du alter Flaschenkobold denn dieses Wort? Doch ein paar Naziseelen verschluckt, oder?"
"Ich kenne das Wort, du niedere Dirne. Und ich werde das Wort gestalt werden lassen, damit du es nur weißt."
"Och joh, kleiner Flaschengeist. Bis du mal wieder wen findest, der dir auf den Leim kriecht und sich zu deinem willigen Erfüllungsgehilfen machen lässt habe ich längst mein tausendjähriges Reich begründet und gegen neue Übergriffe von dir und deinen Anhängern abgesichert", erwiderte Gooriaimiria mit unerträglicher Überheblichkeit. Sollte er ihr jetzt verraten, dass sie keine tausend Jahre mehr hatte, bis das dunkle Erwachen erfolgte? Nein, er durfte sich von ihren anmaßenden Worten nicht verleiten lassen, seinen Plan zu enthüllen. So schickte er ihr nur zurück:
"Wenn du deine mir abgerungenen Diener über die Erde herfallen lässt werden genug Träger der erhabenen Kräfte danach trachten, dich zu besiegen. Einige davon werden sich daran erinnern, dass ich dir Einhalt gebieten kann und in meinem Namen handeln oder mir ihr inneres Selbst anvertrauen, auf dass ich Ihnen die Kenntnisse gebe, um den Stein zu vernichten, in dem du eingeschlossen bist wie ein ewig unschlüpfbares Küken."
"Piep piepiep!" kam dafür nur zurück. "Ich kümmere mich um diese Schattenmutter. Denn was du sicher noch weißt, Flaschenkobold, ich habe mir Kanoras' inneres Selbst oder besser die zwei Seelen seiner Erzeuger einverleibt und weiß daher alles, was die wussten und konnten. Ich werde mit dieser Schattenmutter schon fertig. Nachher kann ich sogar mit der einen Pakt schließen, eine Allianz der Nacht. Dann wirst du kleiner Flaschengeist auf ewig in deinem achso mächtigen Spiegelchen eingeschlossen bleiben und noch dazu in einen dauerhaften Schlaf gezwungen, und die Kinder der Nacht werden die Welt beherrschen. Wer weiß, vielleicht setze ich auch das um, was einer meiner größten Widersacher machen wollte und wir kriegen die Menschen sogar dazu, einen weltweiten dunklen Winter heraufzubeschwören, in dem die Sonne keine Macht mehr hat. Erst der Weltenbrand und danach Fimbul, wenn du verstehst, was ich meine."
"Du bist irrsinnig. Aber das musst du ja sein, wenn unzählige einzelne Geister in dir herumtoben und du ihnen nicht entfliehen kannst", schickte Iaxathan zurück. Darauf bekam er keine Antwort mehr. Auch nach fünfmaliger Nachfrage, ob sie ihn verstanden hatte, blieb das Schweigen in der nur für besondere Sinne erfassbaren Weite geistiger Kräfte.
Über ihr glommen die Sterne an einem wolkenfreien Himmel. Unter ihr wogten die Wellen des größten Meeres der Erde. In Gestalt eines gigantischen Nachtfalters flog Thurainilla dahin. Die Herrin der Kräfte der ewigen Dunkelheit zwischen den Sternen bewegte ihre hhaarigen Antennen in sanft kreiselnden Bewegungen gegen den sie umströmenden Flugwind. Ihre vier Flügel zerteilten in schnellen Schwüngen die Luftmassen. Die Dunkelheit der Nacht, die nur von einem frei auf die Erde leuchtenden Mond verdorben wurde, gab ihr die Ausdauer, um ohne Rast und mit einer Geschwindigkeit schneller als jeder Raubvogel dahinzujagen. Sie musste immer wieder den geistigen Ausstrahlungen von Schiffsbesatzungen ausweichen. Für die mit brennbarer Flüssigkeit angetriebenen Eisenvögel der Jetztzeitigen flog sie zu niedrig, um von diesen gefährdet zu werden. Doch von den Schiffsbesatzungen durfte sie auf gar keinen Fall gesehen werden. Zu gut erinnerte sie sich noch an die erste Handlung ihrer jüngsten Schwester. Wenn die Welt der Kurzlebigen erfuhr, dass es nicht nur riesige Käfer, sondern auch sehr schnell fliegende Riesenfalter gab würden sie sicher anfangen, sich mit den wenigen Trägern der Zauberkraft zu verbünden, um diese ihnen gefährlich werdenden Geschöpfe zu bekämpfen.
Warum Thurainilla nicht den kurzen Weg zu ihrem Ziel beschritt lag an zwei Dingen. Sie musste das Ziel erst herausfinden und zum zweiten auch, ob es sich lohnte, dort hinzureisen. Zwar fühlte sie einzelne Ansammlungen von Dunkelheit umgebener Wesen, doch sie wollte möglichst viele auf einmal von denen haben. Sie erinnerte sich noch an ihre ersten Begegnungen mit jenen, die sich als Krieger der letzten Schlacht bezeichnet hatten und aus der der Jetztzeit vorauseilenden Stadt Garumitan entkommen waren. Zehn von denen hatte sie damals unterworfen, obwohl sie mit ihrer Lebensfreude und Wärme entreißenden Dunkelheit versucht hatten, sie niederzuhalten. Doch die Dunkelheit war ihre Kraftquelle. Das mussten diese Freude und ganze Seelen vertilgenden Geschöpfe leidvoll lernen. Zumindest hatten es die Kurzlebigen nicht geschafft, sie auszurotten, auch wenn sie mehr als fünfhundert von ihnen auf einen Schlag vernichten konnten.
Thurainilla wusste von ihrem Abhängigen, der als ihr Schwestersohn wiedergeboren worden war, wie die Länder und Meere der Welt von den Jetztzeitigen genannt wurde. Doch wo genau welches Eiland oder welcher feste Erdteil lag musste sie durch eigene Erkundungen herausbekommen. So wusste sie erst nicht, wie die Insel hieß, auf die sie zusteuerte. Sie wusste nur, dass sie wohl zum Doppelerdteil Amerika gehörte, etwa tausend mal tausend Menschenschritte in Abendrichtung von der Küste entfernt. Von hier erfasste sie die Ausstrahlung von mehr als fünfzig der alten Krieger. Sie hielten die Bewohner der Insel in ihrem Würgegriff aus Leid und Hoffnungslosigkeit fest, labten sich an deren Lebensfreude. Doch weil schon lange kein Schiff mehr an dieser Insel gelandet war konnten sie auch nicht herunter, denn sie scheuten den Weg über das Wasser, wenn sie dafür mehr als einen Tag reisen mussten.
Nun konnte sie mit ihren Kerbtieraugen die Insel erkennen. Die Augen eines Nachtfalters gewahrten auch die aus Wärme bestehenden Strahlen, die für Menschenaugen unsichtbar waren. So konnte sie die Hitzequellen sehen, die den auf der Insel gefangenen die unsichtbare Kraft der Elektrizität erbrüteten oder ihre Häuser wärmten. Denn auf dieser Breite der Weltkugel wurde es bei Nacht so kalt, dass die Menschen künstliche Wärmequellen zum Überleben brauchten. Allerdings gewahrte sie auch die Dunkelheit der in den Straßen der zwei Menschensiedlungen umhergleitenden Krieger der letzten Schlacht, die einfach nur umherstreifen mussten, um ihre Nahrung zu sich zu nehmen. Je näher sie der Insel kam, desto klarer erkannte sie, dass es an die hundert dieser Wesen waren. Das würde nicht einfach für sie werden. Doch sie war entschlossen, diese Streitmacht für sich, ihre Schwestern und ihre Mutter zu unterwerfen und als ihre eigene kleine Armee zu befehligen, wenn es gegen die Nachtkinder und die Schattenförmigen ging.
Jetzt fühlte sie, dass die ihr nächsten umherstreifenden Krieger sie bemerkten. Sie war nur noch zwei Tausendschritte von der Insel entfernt. Die Anderen kamen ihr entgegen, um zu erfassen, welche starke Gedankenquelle sich da näherte. Womöglich dachten die, dass sie leichtes Spiel mit der Fremden haben würden.
Thurainilla wünschte sich einmal mehr, mit ihrer schattenförmigen Zwillingsschwester diesen Vorstoß zu machen. Doch Riutillia war vernichtet, einverleibt von einer widerwärtigen Daseinsform, die sich als Kanoras' Erbin verstand. Also blieb es ihr allein vorbehalten, diesen Kampf zu führen.
Die ihr entgegeneilenden Krieger teilten sich auf, um die Anfliegende von mehreren Seiten gleichzeitig zu bestürmen. Es waren jetzt zehn Stück. Von der Insel stiegen nun noch mehr Krieger auf. Thurainilla wusste, dass sie in ihrer Zweitgestalt zwar die Dunkelheit dieser Wesen aufsaugen konnte. Doch um sie zu unterwerfen musste sie ihre angeborene Stimme und Geisteskraft vereinen. Sie musste einen sicheren Standplatz haben, um sich in ihre überragend schöne, zierliche Frauengestalt zu verwandeln. So brach sie nach oben aus, was die ihr entgegenfliegenden nicht sofort mitbekamen, weil die Ausstrahlung von Gedanken auf große Entfernung nur richtungsmäßig zu erfassen war.
Thurainilla überflog die nun unter ihr hindurchjagenden Geschöpfe und sog dabei winzige Bruchstücke ihrer ausgestrahlten Finsternis in sich auf. Das mochte denen schon zeigen, dass sie es nicht mit einem einfachen Menschenwesen zu schaffen haben würden. Dann stürzte sie sich wie ein niederstoßender Greifvogel in die Tiefe und jagte mit zusammengefalteten Flügeln einem Felsplateau zu, dass die höchste Erhebung dieser Insel bildete. Kurz vor dem verheerenden Aufprall fing sie ihren rasanten Sturzflug ab und kam auf allen sechs Beinen zugleich auf. Die besondere Stärke von Kerbtieren, ein mehrfaches des eigenen Körpergewichtes zu tragen, bewahrte sie davor, mit ihrem aus ringförmigen Einzelabschnitten bestehenden Leib auf dem Felsen aufzuschlagen. Dann fühlte sie, wie von den Ansiedlungen her die anderen Unheimlichen herbeijagten. Sie waren bei Dunkelheit ebenfalls schneller als jeder Vogel und jeder Pfeil. Sie würden nur eine halbe Minute brauchen, um zu ihr hinaufzugelangen. Doch die Zeit reichte ihr vollkommen. Ein einziger konzentrierter Gedanke reichte aus, und aus dem mehrere Meter großen Nachtfalter mit behaartem Leib und Flügeln wurde eine zierliche Frau, die vom Aussehen her aus China oder Japan stammen mochte. Thurainilla trug gerne dunkle Kleidung. Jetzt trug sie hautenge Sportkleidung aus dunkelblauem Stoff und an den Füßen halbhohe Laufschuhe. Sie warf den Kopf in den Nacken und trank mit drei kräftigen Atemzügen die Dunkelheit des wolkenfreien Himmels. Ihr wäre zwar lieb gewesen, wenn der Mond nicht gerade in halber Leuchtkraft zu sehen gewesen wäre. Doch auch so reichte die dargebotene Nachtdunkelheit aus, sie für die anstehende Auseinandersetzung zu wappnen.
Da kamen sie an, die Krieger der letzten Schlacht. Sie deckten mit ihrer für unmagische Lichtquellen undurchdringlichen Dunkelheit das Plateau zu. Thurainilla fühlte einen winzigen Moment lang die alle Wärme entziehende Kälte. Doch dann stemmte sie sich dagegen und wirkte mit leiser Stimme und voll auf die Dunkelheit gerichteten Gedanken ihren eigenen mächtigen Zauber. In der Sprache der alten Herrscher sang sie leise die Anrufung der ewigen Dunkelheit und forderte ihre Unterwerfung. Sie hörte das leise Rasseln der um sie herum atmenden Gegner. Diese versuchten ihrerseits, die Freude und Zuversicht der anderen in sich aufzusaugen. Doch jeder Atemzug war wie ein betäubender, die eigenen Kräfte aufzehrender Brodem. Thurainilla stemmte sich nun gegen die geballte Dunkelheit von hundert Kriegern aus Garumitan. Sie fühlte, wie diese gegen die Gegnerin ankämpften. Doch mit jedem weiteren Krieger sank deren Kampfkraft. Denn die Dunkelheit, die aus ihnen selbst entströmte, kehrte als sie schwächende Kraft in sie zurück. Auf den Gedanken, ihre Kälte und Verzweiflung bringende Dunkelheit zurückzuziehen kamen sie offenbar nicht. Sie schafften es gerade, in einem taumelnden Tanz um die andere herumzuschweben. Diese sang nun immer lauter ihre Anrufungen. Dabei bildete sie selbst eine Kugel aus reiner Dunkelheit um sich herum. Sie verband sich mit jener verderblichen Finsternis ihrer Gegner. Sie fühlte, wie deren Kraft ihr selbst Nahrung bot. Sie bekam immer mehr Zugriff auf die einzelnen Gedankenquellen. Dann waren es dreihundert dieser Wesen, die sie in einem Taumel der Benebeltheit umkreisten und immer schwächer wurden. Als sie keinen Widerstand mehr fühlte breitete sie ihre eigene Kugel der Dunkelheit so weit aus, dass sie die nächsten Wesen erfasste. Dadurch bekam diese Kugel aus Unlicht noch mehr Kraft und blähte sich so schnell auf, dass alle zu ihr hingeflogenen Gegner darin eingeschlossen wurden. Sie erstarrten. Dann sprach Thurainilla mit ganzer Lautstärke. Ihre Stimme durchdrang alle in ihrem unmittelbaren Einflussbereich.
"Hört mich an! Wer mich hört der ist mir Untertan! So seid mir alle Untertan!" sprach Thurainilla in der alten Sprache, welche diese Wesen jedoch offenbar nicht mehr kannten. Denn sie blieben starr in der Kugel aus reiner magischer Dunkelheit. So verwendete Thurainilla andere ihr bekannte Sprachen, um ihre Anrufung zu wiederholen. Als sie sich der englischen Sprache bediente, war es für sie wie ein Dammbruch in die sie umgebenden Gedankenquellen hinein. Die Anderen verloren ihren passiven Widerstand. Sie konnten sich nicht mehr auf eigene Gedanken besinnen. Das, was sie selbst als ihre stärkste Waffe und gleichzeitige Nahrung ansahen, wendete sich nun gegen sie selbst. Weil diese Wesen keine Angst empfinden konnten waren sie der sie durchdringenden Macht nun völlig wehrlos ausgeliefert. Thurainilla sang die nun in Englisch gesprochene Anrufung und Unterwerfungsforderung immer und immer wieder. Sie musste ganz sicher sein, dass sie unumkehrbar in den alten Kriegern verankert wurde. Erst als sie hundertmal ihre Anrufung gesungen hatte forderte sie die sie umschwebenden Krieger auf, ihr den Gefolgseid zu schwören, wobei sie sich als Herrin der ewigen Dunkelheit zwischen den Sternen zu erkennen gab.
"Schwört mir ewige Treue und Gefolgschaft, solange ihr lebt! Schwört mir, eure Artgenossen zu mir zu bringen, damit auch sie mir zu Diensten sind!" forderte sie. Die Krieger der letzten Schlacht schworen in einem vollkommen zeitgleichen Chor, der Herrin der ewigen Dunkelheit zu folgen.
Als nach einer Zeit, die für Thurainilla unwichtig war, alle Krieger auf dieser Insel ihr die Treue gelobt hatten befahl sie ihnen, auf ein Schiff zu warten, dass sie überall dorthin bringen sollte, wo sie weitere Artgenossen hatten. Entweder sollten diese Thurainilla den Gefolgseid schwören oder von ihren neuen Dienern getötet und deren Kraft einverleibt werden. Denn Thurainilla wusste, dass diese Wesen sich auch an der Lebens- und Seelenkraft ihrer Artgenossen laben konnten, wenn keine anderen denkenden und fühlenden Wesen in der Nähe waren. Sie hatte das bei ihrer ersten Eroberung mal anbefohlen und aus acht dieser Wesen vier doppelt so große werden lassen, weil die Stärkeren die schwächeren vertilgt hatten. Doch sie wusste auch, dass die doppelt so großen nur ein Jahr lang unterworfen blieben, wenn sie nicht immer wieder an ihre Macht gebunden wurden.
"So verbergt euch in den dunklen Vorratsräumen eurer Opfer und wartet, bis ich euch ein großes Schiff schicke, dass euch zu den anderen bringen wird!" befahl Thurainilla. Dann schickte sie die anderen mit einem laut ausgestoßenen "So führt mein Wort aus!" davon. Mit unbändiger Freude fühlte sie, wie die von ihr niedergerungenen Krieger folgsam in alle Richtungen davonjagten. Erst als keiner mehr in Hörweite war schickte sie an ihre weit entfernte Mutter Lahilliota: "Mutter, ich kann es immer noch. Ich habe mir von diesen Dunkelheitverbreitern, die sich Krieger der letzten Schlacht nennen, dreihundert unterworfen. Soll ich so weiter machen?"
"Gut, dass du das kannst. Doch komm erst einmal zu mir zurück und hilf mir dabei, eine ganz eigene Streitmacht zu erschaffen. Wie das geht verrate ich nur denen, die mir treu sind", empfing sie die Gedankenstimme ihrer Mutter. Thurainilla fühlte, wie die aus dem sicheren Sieg erstandene Glückseligkeit getrübt wurde. Warum wollte ihre Mutter, dass sie den nun als sicher erkannten Weg nicht fortsetzte? Welche eigene Streitmacht wollte sie schaffen, die stärker war als bedingungslos unterworfene Krieger alter Zeiten? Das würde sie bald erfahren.
"Da unten soll das sein, wo diese Anverwandte deiner Feindinnen unsere Kristallstaubkrieger besiegt hat?" fragte Nyctodora ihre Göttin über die weltweit reichende Gedankenverbindung.
"Ja, unter dir liegt dieser Berg. Die Koordinaten sind genau die. Jetzt haben wir endlich die GPS-Koordinaten. Wenn du es hinkriegst, den Yankees eine Wasserstoffbombe zu entwenden und herauszukriegen, wie sie gezündet wird, dann werden wir diesen Berg einäschern", erwiderte die schlafende Göttin mit unüberhörbarem Hass in der Gedankenstimme.
"Eine reicht da nicht. Das da unten ist ein Berg, der mindestens tausend Meter hoch ist und mindestens einen Kilometer tief in die Erde hinunterreicht. Das ist ein natürlicher Atomschutzbunker, meine Göttin."
"Wirklich? Sieh ihn dir bitte noch einmal an, meine Hohepriesterin!"
"Ja, mache ich", erwiderte die in einem Privatjet in fünftausend Metern über Grund fliegende Eleni Papadakis. Da glühte der Berg unter ihr plötzlich auf. Erst war es ein orangeroter Schein. Dann gleißte es wie von einem riesigen Spiegel zurückgeworfenes Sonnenlicht. Dabei war es gerade finstere Nacht über diesem Gebiet.
"Ich glaube, wer auch immer die Zauberkraft da unten steuert greift uns gerade an", schickte Nyctodora alias Eleni Papadakis zurück. Sie war froh, dass sie die getönten Kontaktlinsen trug. Doch ihr Copilot, einer ihrer früheren Angestellten, geriet voll in die Wirkung dieses gleißenden Lichtes und schrie vor Schmerz auf. Dann begann es um seinen Kopf zu qualmen. Wie mit unsichtbaren Flammen brannte es sich in seine Augen hinein, fraß sich bis zu seinem Gehirn vor. Unter letzten Zuckungen hauchte ihr Copilot sein Leben aus. Sie roch den Gestank verbrannten Fleisches und sah die ersten Ascheflocken aus den ausgebrannten Augenhöhlen herausrieseln. Sie selbst war gegen Feuer und Sonnenlicht immun. Dennoch fühlte sie einen starken Druck auf ihren Körper wirken. Das Licht war nicht einfach nur aus einem magischen Speicher freigelassenes Sonnenlicht, sondern zudem wohl auch mit einem Zauber gegen erklärte Feinde aufgeladen.
"Die hat uns wahrscheinlich geortet", gedankenschnaufte Nyctodora. "Waldo ist gerade wie in reinem Sonnenlicht verendet, innerlich verbrannt und ..." Gerade sackte leise raschelnd die Kleidung und die darunter getragene Solexfolie auf dem Copilotensitz zusammen und umschloss den Haufen aus Asche, in den sich ihr Copilot wegen der in ihn hineingedrungenen Strahlen verwandelt hatte.
"Dann müssen wir Menschen oder Marschflugkörper hinschicken. Aber wenn die mit einer Menge Magie arbeitet kann dadurch alles mit Elektronik gesteuerte ausfallen", schickte Gooriaimiria zurück.
"Dann werden Wasserstoffbomben wohl auch nicht zünden, weil deren Zünder elektronisch ausgelöst wird", erwiderte Nyctodora.
"Dann brauchen wir einen Weg, das Tausendsonnenfeuer zu erschaffen. Das ist sogar noch mächtiger als eine Wasserstoffbombe", gedankenschnaubte Gooriaimiria. "Kannst du noch zu deinem Versteck zurückfliegen, Nyctodora?" fragte die Göttin.
"Das kriege ich hin", erwiderte Nyctodora. Doch dann sah sie, wie die Fläche aus gleißendem Licht zusammenschrumpfte, bis es zu einem gerade mal fingerdicken Strahl wurde. Da fühlte sie auch schon die immense Hitze, die durch die Außenhaut ihres Flugzeuges drang. Sofort schnarrten und pingelten alle Alarmsignalgeber los. Vor allem Feuer wurde gemeldet, aber auch der plötzliche Ausfall der äußeren Stromkreise und dann ein schlagartiger Druckverlust in der Kabine. Nyctodora wusste, was da passierte. Ihre Gegner hatten blitzschnell reagiert und das flächendeckende Licht zu einer Art Laserstrahl verdichtet. Sie versuchte noch, die Maschine aus dem Strahl herauszukriegen. Doch die Avionik war schon erledigt. Gleich würden die Tanks überhitzen und dann ...
Sie fühlte, wie trotz der hermetisch verschlossenen Cockpittür auch bei ihr der Druck absank. "Meine Göttin, die Maschine wird angegriffen und zerstört!" gedankenrief sie. Da fielen die Alarmsignale aus, und sie fühlte, wie die Maschine antriebslos in die Tiefe sank. Der auf wenige Zentimeter Breite gebündelte Vernichtungsstrahl folgte der Sturzbahn. Dann hatte das Kerosin in den Tanks die kritische Temperatur erreicht. Als einer der Tanks dann noch unter der Hitzewirkung des Todesstrahls schmolz war es nicht mehr aufzuhalten. In einem gewaltigen Feuerball zerplatzte der für zwölf Personen ausgelegte Privatjet im freien Fall. Die Druckwelle blies die glühenden Trümmer in alle Richtungen davon. Nach wenigen Sekunden fiel der Feuerball wieder in sich zusammen. Nur Rauch und glühende Trümmer blieben übrig.
Lahilliota verwünschte diese Bande. Sie erkannte, dass ein Kind der Nacht ihren Herrschaftssitz ausspähte. Sie konnte wegen der Entfernung nicht erkennen, ob der Feind männlich oder weiblich war. Sie erkannte nur, dass der Spion oder die Spionin in einer jener neuartigen Flugmaschinen sitzen musste. Hatten die denn gedacht, sie damit auskundschaften oder gar angreifen zu können? Sie ließ sogleich den über mehrere Tage gespeicherten Vorrat an reinem Sonnenlicht ausströmen. Tatsächlich fühlte sie die Todesqual eines Gegners. Doch dann war immer noch einer übrig. Jetzt konnte sie erkennen, dass es eine Blutsaugerin war, auch wenn sie deren Gedanken selbst nicht klar erfassen konnte. Doch die musste auch noch sterben. So wendete sie einen weiteren Zauber an, den Lichtverdichtungszauber. Das flächenförmig ausbrechende Licht wurde zu einem Strahl gebündelt, in dem die hundertfache Wirkung der bisherigen Lichtstärke übermittelt wurde. Damit konnte sie das Fluggerät wahrhaftig zerstören. Doch sie verspürte keinen geistigen Todesschrei der Insassin, als es in einem gleißenden Feuerball zerplatzte. War der Tod so schnell über dieses Geschöpf gekommen, dass es diesen nicht verspürt hatte?
"Sie konnte noch aus dem Flugzeug herausgeholt werden, Mutter. Ich habe den kurzen Wirbel aus verdichteter Dunkelheit gespürt", gedankensprach Thurainilla, die nach der Unterwerfung der alten Krieger auf dem kurzen Weg ins Reich ihrer Mutter übergewechselt war.
"Diese Brut", knurrte Lahilliota. "Aber dann soll dieses Geschöpf seiner Gebieterin verkünden, dass auch auf diesem Weg kein Angriff auf diesen Berg erfolgen kann", erwiderte die Meisterin des Lebens. Sie fühlte, dass die Wut sie beinahe in ihre mächtige Zweitgestalt verwandelte. Nur mit großer Anstrengung schaffte sie es, diesen Drang niederzuhalten. Dem wollte sie erst nachkommen, wenn ihre anderen Töchter bei ihr waren.
"Ich wundere mich sowieso, dass auch nur einer von denen freigesetztem Sonnenlicht widerstehen konnte", erwiderte Thurainilla. "Das werden wir ergründen, wenn unsere ganz eigene Streitmacht groß genug ist", erwiderte Lahilliota.
"Was für eine Streitmacht soll das sein?" fragte Thurainilla ihre Mutter. "Das werdet ihr treuen Töchter alle zur selben Zeit erfahren, wenn ich euch mit körperlicher Stimme erreichen kann", vertröstete Lahilliota ihre Tochter.
Es hieß, hier könnten sie die besten Profischlampen Spaniens abkriegen. Jack, Tim und Rafael hatten vor zwei Tagen erfahren, dass auch sie in den persischen Golf fahren mussten. Da würden sie auf einem Zerstörer als Teil eines Schutzverbandes für einen Flugzeugträger dienen. Die mit ihnen zusammen dienenden Frauen waren tabu. Also mussten sie sich hier und heute noch einmal richtig austoben.
Casa del Sol hieß der Laden, wo sie hofften, noch einmal voll einen wegstecken zu können. Es war gerade sieben Uhr abends und in der Bar war außer ihnen dreien noch kein anderer Kunde. Offenbar mmachten sich die Mädels hier auch gerade fit für die Nachtschicht. An der Bar standen zwei Frauen, eine schon älteren Semesters, die wohl für das Matratzenwuchten nicht mehr taugte und eine verdammt knackige Frau mit schwarzen Ringellöckchen, die wohl irgendwo einen arabischen Vorfahren gehabt haben musste, so schön gebräunt ihre Haut aussah. Der Gedanke daran, eine orientalische Nutte zu vögeln ließ die sowieso schon aufgestaute Lust noch stärker ansteigen. Alle drei fühlten den zunehmenden Druck. Jack sollte die da klarmachen und checken, ob die auch mit den beiden anderen konnte.
"Hey, Süße! Möchtest du mir und meinen Kameraden noch den Tag retten und ganz lieb zu uns sein?" fragte Jack die Viertelorientalin.
"Jungs, ich bin nur für die Getränke zuständig. Für das andere sind gleich die Kolleginnen hier unten", sagte die Angesprochene mit entschlossener Stimme.
"Neh, glaube ich nich'", sagte Jack, der von den Jungs hier wegen seiner mexikanischen Oma noch am besten Spanisch konnte. "Meine Kameraden und ich müssen morgen früh um acht auf unseren Dampfer zurück. Da haben wir nich' die Zeit, um auf die anderen zu warten. Außerdem steht mir gerade der Sinn nach Milchkaffee." Tim und Raf grinsten.
"Oh, dann wartet besser auf Loli, die kann euch alle besser bedienen als die anderen Mädels hier. Ich bin nur für oben rein zuständig."
"Ey, wenn ich sage, dass ich gerade voll auf dich abfahre und meine Kumpels auch, dann machst du das, was wir wollen. Kannst gerne noch zwei Hunderter mehr kriegen. Aber dafür gehen wir vier jetzt rauf und machen es, klar?"
"Junge, lies bitte noch mal die Regeln da an der Wand. Allels was auf meiner Seite vom Tresen steht ist für da oben nicht zuständig", sagte die Viertelorientalin und deutete erst von sich über die Bar und dann zur Decke.
"Eh, Luder, wenn ich sage, ich will dich, dann ..."
"Lis die Regeln!" sagte die ältere hinter der Bar und deutete auf ein Poster, auf dem in zehn Sprachen die Geschäftsbedingungen der Casa del Sol standen.
"Eh, mit dir abgelegter Schnalle rede ich nicht. Du kannst meinen Kumpels gerne was zu Trinken geben, während ich mit deiner Kollegin zu Gange bin, falls wir nicht alle drei mit der ..."
"Leute, so läuft das hier nicht. Das könnt ihr gerne in irgendwelchen Häusern in Marseille, Cadiz oder Tunis ausprobieren. Aber hier gelten Regeln, auch für amerikanische Seeleute. Oder wollt ihr rausfliegen?"
Tim hatte unvermittelt seine Pistole gezogen und entsichert. "Alte, wenn mein Kamerad sagt, wir wollen die Orientschnalle da neben dir, dann hältst du dich geschlossen. Oder glaubt ihr, ihr seid was besseres als die anderen Nutten hier."
"Huren", sagte die ältere. "Meine Kolleginnen bestehen aus mehr als der kleinen Vordertür, wo ihr unbedingt so gerne reinwollt."
"Jetzt wird die auch noch frech. Ich mach dir gleich noch'n Loch in den Körper", knurrte Tim. Doch die ältere Frau blieb ganz ruhig. Jack ging derweil an die Bar. Dann ließ er seine Arme vorschnellen und packte die Viertelorientalin mit beiden Händen am Hals. "So, du Schlampe. Entweder du gehst mit mir jetzt auf ein Zimmer oder ich leg dich gleich hier flach", schnaubte Jack, während Tim die andere Bedienung vor seiner Pistole hielt. Raf grinste Jack an und skandierte: "Ja, Jac! Sei ein Mann! Nimm die Schlampe richtig ran!" Das spornte Jack noch mehr an. Doch dann verpasste ihm die junge Frau hinter der Bar einen ansatzlosen Schlag voll auf die Nase. Jack hörte sein Nasenbein Brechenund sah ein Sternenmeer vor seinen Augen explodieren. Doch er hielt die andere im Würgegriff. Da stieß sie beide Arme zwischen seinen Armen hoch und wirbelte herum. Der Griff löste sich. Jack wurde dadurch zurückgeworfen und fiel auf den Rücken. Das und das nun frei aus der Nase strömende Blut im Gesicht schürten seine Wut und seine Entschlossenheit. "Raf, schnapp dir das Biest und mach sie klar!", schniefte er. "Joh, geht klar, Jack!" hörte er seinen Kameraden. Der stürmte an ihm vorbei und flankte über die Bar. Tja, was ein angehender Navy-Seal war hatte mehr drauf als so ein blöder Radartechniker wie Jack. Tim indes hielt immer noch die andere mit seiner Knarre in Schach. "Schrei bloß nicht rum, sonst bist du hin, alte Schachtel", stieß Tim auf Englisch aus.
"Na, jetzt geht's rund", hörte Jack Rafael frohlocken, als er die junge Teilorientalin in einen Griff gezwungen hatte, aus dem sie sich nicht so locker befreien konnte. Sie stieß eine Verwünschung auf Arabisch aus. Doch das heitzte Raf erst richtig an. Jack fühlte, dass der und Tim ihm die Freude verderben konnten, wenn die alleine mit der Hure rummachen konnten. Doch die wild pochende Nase und das Blut im Gesicht machten ihm zu schaffen.
"Ist gut jetzt, Jungs!" rief eine andere Frauenstimme laut und sehr streng klingend. "Komm, lass Sulaika los. Wenn du's nötig hast gehen wir zwei gerne in meinen Garten Eden. Aber Sulaika ist nur für Getränke zuständig", sagte die Jack noch nicht bekannte. Er kam auf die Knie und stellte sich hin. Da konnte er die dritte sehen, eine superschöne Frau im meergrünen, hautengen Kostüm. Sie besaß ebenfalls milchkaffeebraune Haut und langes, schwarzblaues Haar. Ihre Augen waren wasserblau.
"Jau, der Jackpot!" tönte Tim und schwenkte die Waffe auf die andere ein. "Okay, Raf kriegt deine Kollegin, und dich nehm ich", sagte er. Jack indes sah die andere an, wie sie auf Rafael zuging und ihn dabei mit ihrem Blick einfing. "Komm, Junge, verlange nicht nach wenig, wenn du für's gleiche Geld alles haben kannst."
Rafael ließ die Viertelorientalin los und sah wie hypnotisiert die andere an. Jack fühlte, dass dieses Frauenzimmer da seinen Kameraden gerade voll überrumpelt hatte. Dann sah er noch, wie die andere auf Tim deutete und sagte: "Und das Ding da tust du ganz schnell weg. Hier drinnen darf nicht geschossen werden. Wer das macht wird noch in derselben Stunde Fischfutter."
"Eh, wirr wollen vögeln", knurrte Tim.
"Ja, und dafür seid ihr hier auch goldrichtig. Aber wir haben hier ganz klare Regeln, von unserem Patron abgesegnet. Wer hinter der Bar steht schenkt nur Getränke aus. Nur wer vor der Theke steht darf für was anderes angesprochen werden, aber ganz höflich. Lies dir das bitte durch, solange ich mit deinem Freund die Früchte des Paradieses pflücke."
""hey, ihr habt zu spuren", stieß Tim aus und zielte auf die andere. Jack merkte, dass die sich davon nicht beeindrucken ließ und griff an seinen Rucksack. Als er auch eine Waffe freizog meinte er, der Schlag eben hätte sein Hirn doch heftiger durchgerüttelt. Denn unvermittelt sah er eine schwarze Nebelwolke aus der linken Hand der Frau in Grün dringen und auf ihn zutreiben. Die Nebelwolke hüllte seinen Arm ein. Dann meinte er, schlagartig mit dem Arm in eiskaltes Wasser geraten zu sein. Er verlor jedes Gefühl und jede Kraft. Die Pistole entfiel ihm. Dann sah er noch, wie Tim in den Blick der anderen geriet und dann seine Waffe einfach fallen ließ, als wäre die ihm zu schwer geworden.
"O mann, ihr habt es alle drei sehr nötig. Gut, ich nehm euch alle drei und mach euch von allem Druck frei", sagte die Frau in Meergrün und sah Jack an. Dieser fühlte immer noch den wilden Schmerz. Deshalb geriet er auch nicht so in den Bann der wasserblauen Augen wie Rafael oder Tim. Er konnte sich dagegen wehren und versuchte, wieder nach seiner Pistole zu greifen. Doch die Unheimliche reagierte ungewohnt schnell. Sie sah von Jack zu Tim und flüsterte ihm was zu. Als Jack sich nach seiner eigenen Waffe bückte sah er, wie Tim auf ihm zusprang. Er konnte gerade noch mit der nicht betäubten Hand die entfallene Pistole fassen, als ein Karateschlag an die Schläfe ihm die Lust und die Schmerzen austrieb.
Als Jack wieder zu sich kam hörte er eindeutige Geräusche von nebenan. Er merkte, dass er auf einer Badezimmervorlage lag und hörte ein leichtes rhythmisches Quietschen. Wie war er denn hierhergekommen? Er war doch eben noch in der Bar dieses Hurenhauses gewesen und ... offenbar jetzt ein oder zwei Stockwerke weiter oben. Offenbar hatten die Schlampen beschlossen, dass er nicht in ihrer Bar rumliegen sollte. Er wollte sich aufsetzen. Da merkte er, dass er mit seinen Handgelenken an einem Heizungsrohr gefesselt war. Auch seine Füße steckten in Fesseln, offenbar Handschellen. Die hatten den echt hier gefesselt. Das sollten die büßen. Dann erkannte er, dass er völlig nackt war. Hatte er vorhin nicht noch eine kaputte Nase gehabt? Davon fühlte er jetzt nichts mehr. Er öffnete den Mund, um zu rufen. Doch sein Ruf blieb ungehört. Vielmehr bekam er mit, wie nebenan eine Frau und ein Mannn voll zur Sache gingen. Die hatten offenbar im Moment für nichts anderes Ohren.
"Eh, Tim, hol mich hier raus!" rief er, als er die vor Anstrengung ächzende Stimme seines Kameraden Tim erkannte. "Nicht aufhören. Gleich bist du am Ziel deiner Reise!" hörte er dieses Frauenzimmer keuchen, das vorhin diese Sulaika beschützt hatte.
Jeder weitere Ruf blieb ungehört. Statt dessen hörte er Tim immer lauter aufstöhnen. Dann stieß Tim noch einen ins Röcheln ausufernden Schrei aus. Danach hörte Jack nur noch das leise Schnaufen der anderen. Jack hatte das höchst ungute Gefühl, dass Tim sich gerade komplett verausgabt hatte. Was für eine Schlampe konnte das hinkriegen. Und wo war Rafael. Der hatte auch nicht auf seine Rufe geantwortet.
Die Badezimmertür ging auf und sie trat ein, diesmal ohne ihr meergrünes Kostüm. Sie wirkte sehr beglückt, ja strotzte vor Kraft, als sie Jack am Boden liegen sah.
"Das beste zum Schluß und das mit Genuss", sagte sie. "Übrigens, ich habe deine Nase geheilt. Noch einmal lasse ich mir das nicht nehmen, dich mit Leib und Seele zu vernaschen, Süßer."
Jack erkannte, dass er mit seinen Kameraden in eine tödliche Falle getappt war. Die Braut da war keine einfache Hure. Die war eine Außerirdische oder eine Hexe oder sowas. Dann fielen ihm die Geschichten von sogenannten Buhlhexen ein, die sich an der Lust sterblicher Männer sattsaugten wie Vampire am Blut. Wer Glück hatte krepierte dabei. Wer Pech hatte wurde diesen Weibern Untertan.
"Ach, ist bei euch Schlagetoten von der nordamerikanischen Kriegsflotte noch bekannt, dass es solche wie mich gibt?" lachte die andere, während sie sich Jack näherte und dabei verheißungsvoll die Hüften schwang. Jack begriff, dass die andere seine Gedanken lesen konnte. Dann kam sie körperlich über ihn. Er fühlte, dass sie genau wusste, was sie machen musste, um ihn in die Stimmung zu kriegen, die er vorhin schon gespürt hatte.
"Ui, habe gerade gedacht, ich müsste aufpassen, nicht von einem Kunden blöd angemacht zu werden, Maruja", sagte Sulaika, als sie ihrer direkten Vorgesetzten half. den Boden zu scheuern, weil ein früher Kunde sein Abendessen daraufgespuckt hatte.
"Kann dir hier nicht passieren, Sulaika. Wer sich gegen die klaren Regeln vergeht bekommt den größten Ärger seines Lebens", sagte Maruja und deutete auf das Plakat, auf dem in fünf europäischen Sprachen, sowie chinesischen, japanischen, kyrillischen und arabischen Schriftzeichen geschrieben stand, wer wie hier zu seinem Glück finden konnte und was ein Kunde tunlichst beachten musste, um keinen Ärger und nur ein paar glückliche Stunden zu kriegen. Sulaika nickte. Sie wusste, dass die Casa del Sol dem schwarzen Engel gehörte, jenem sehr mächtigen Beschützer aller freischaffenden Huren Sevillas. Wer ihm dumm kam starb. Das wusste mittlerweile jeder in der Umgebung.
Als Loli, die superattraktive Stellvertreterin des Patróns aus dem Treppenhaus kam bewunderte Sulaika sie. Wie konnte eine Frau gleichzeitig als Dirne anschaffen und dann noch so damenhaft auftreten. Was machte die dann eigentlich hier in diesem für einfache Kunden gedachten Laden?
"Noch keine neuen Kunden da, Maruja, Sulaika. Gut, dann mach ich noch was vom Bürokram. Die anderen sind auch gerade fertig. Dann habe ich Zeit", sagte sie und ging um die Bar herum zur Tür nur für Hausangestellte.
Remurra Nika hasste die Straßenbeleuchtung. Es war wie eine Säule aus glühendem Metall. Deshalb bemühte sie sich immer, nicht in den Lichthof zu geraten oder auch nur vom Widerschein getroffen zu werden. Hoffentlich hatte ihr Bruder Garnor Reeko recht, und das ging, was ihre gemeinsame Mutter sich ausgedacht hatte. Da hatte sie endlich die junge Frau erreicht, die im Lichtschein eines Schaufensters stand und die Auslagen des Bekleidungsgeschäftes begutachtete. Der Widerschein am Boden wurde von ihrem verschwommenen Schatten unterbrochen. Remurra Nika fühlte, wie das elektrische Licht sie förmlich abbremste. Doch sie musste es riskieren. Sie näherte sich völlig lautlos der jungen Frau und überstrich ihren Schatten. Ja, jetzt tat ihr das Licht nichts. Sie legte sich nun ganz über den Schatten der immer noch dastehenden Stadtbummlerin. Sie konzentrierte sich auf Atembewegungen. Wie ging das noch mal? Seit sie die Tochter der Königin der Schatten war atmete sie nicht mehr. Aber ihr fiel ein, wie das sich vorher angefühlt hatte, als sie noch ein schwächliches Menschenmädchen gewesen war. Ja, sie fühlte die im Schattenwurf eingefasste Dunkelheit in sich einströmen. Dabei verschmolz sie immer mehr mit dem Schatten der anderen. Das ging also schon mal. Doch würde das reichen?
Nun fühlte sie, dass sie eins mit dem auf den Boden gezeichneten Schatten war. Sie richtete sich auf und vernahm unvermittelt die in sie einströmenden Gedanken der anderen. Sie huschte völlig geräuschlos aus dem Widerschein des erleuchteten Schaufensters. Die Andere, Silke Dehmel, erschrak, weil sie meinte, plötzlich in gleißendes Licht zu blicken. Da richtete Remurra Nika ihre völlig lichtschluckende rechte Hand auf das Schaufenster und wünschte, dass das Licht erlosch. Als Tochter der Schattenkönigin konnte sie deren Kraft nutzen und flammenloses Licht verdunkeln. Die Schaufensterbeleuchtung erlosch. Das tat nicht nur Remurra Nika gut, sondern auch der Frau, deren Schatten sie mit sich vereint hatte.
"Silke, du gehörst jetzt mir, einer Tochter der mächtigen Königin der Schatten. Ab heute wirst du nur noch das tun, was wir dir sagen. Und bleib immer aus der Sonne. Die könnte dich umbringen!" dachte Remurra in die verwirrten Gedanken der anderen hinein. Silke Dehmel drehte sich um und sah die schattenhafte Erscheinung mit den für sie nun hellweiß leuchtenden Augen. "Du gehörst jetzt mir und damit meiner Mutter und Königin", zischte Remurra ihrem Opfer zu. Dieses fühlte Angst in sich aufsteigen. Doch als Remurra auf sie zuglitt und sie mit ihrer rechten Hand auf Herzhöhe berührte verflogen alle störenden Gefühle. "Du gehörst jetzt uns und wirst tun, was wir wollen. Ich bin deine Herrin, und meine Herrin ist auch deine", sagte sie. Silke Dehmel dachte nur zurück: "Ich gehöre und gehorche dir, meine Herrin." Das genügte Remurra Nika. Sie hatte ihre persönliche Dienerin sicher. So erfuhr sie innerhalb einer Minute, was Silke Dehmel bei Tag so tat und konnte es ihrer Mutter und Königin weitermelden.
"Dann soll sie sich morgen krank melden. Ist ja noch Grippesaison", hörte Remurra die Gedankenstimme ihrer Mutter. "Übrigens hat Hirabeela auch gerade ihre ehemalige Kollegin erreicht und sie dazu gebracht, einen Schatten zu werfen. Also geht, was Garnor behauptet hat. Die Kraft dieses Kanoras, die in uns drinsteckt, kann Schatten von lebenden Wesen auflösen und die daran hängenden unterwerfen."
Es war der Morgen des dritten März. Commander Billings vom Zerstörer USS Alwin Flagley ließ gerade von seinem Exekutivoffizier Lieutenant Commander Roy Denvers die Besatzung durchzählen. Einige der Männer waren noch um sieben Uhr aus Städten wie Sevilla und Madrid zurückgekehrt. Die hatten womöglich noch einmal das wilde Nachtleben genossen. Das brachte den Commander darauf, dass seine Frau Heather schon zwei Monate auf ihn verzichten musste und durch die Marschbefehle wohl noch einmal ein Monat oder so draufgehen würde.
"Sir, drei Mann sind nicht an Bord", meldete Denvers über Bordsprechanlage. Der Commander fragte zurück, wer genau. Sein XO erwiderte: "Ensign Jack Ortega, sowie die Petty Officers Tim Dalton und Rafael Benson. Sie sind bis jetzt nicht an Bord zurückgekehrt."
"Wie, versumpft oder desertiert?" schnaubte der Commander. Bisher hatte er noch keinen Fall von Disziplinlosigkeit auf seinem Schiff erlebt.
"Kann ich nicht sagen, Sir, weil ich nicht mit den dreien unterwegs war", erwiderte Denvers. "Ach, hat der Smutje wieder ein paar Clowns zum Frühstück ausgegeben, XO?"
"Ich kann nur sagen, was ich bestätigen kann, Sir. Die drei sind gestern vormittag von Cadiz mit dem Schnellzug nach Sevilla gefahren und wollten heute morgen um sieben wieder an Bord sein.
"Dann haben die den letzten Zug verpasst. Wann fährt von da der erste los?" Er erfuhr die genaue abfahrtszeit und auch, dass die drei dann wohl erst um "zehnhundertdreißig" an Bord kommen konnten.
"Gut, dann geht eine entsprechende Nachricht an den Kommandanten des Trägerverbandes raus, dass wir ohne die drei auslaufenmussten. Sollen die sich dann vor dem Militärgericht wegen Verpasstem Auslaufens verantworten, wenn die nicht wirklich desertiert sind. Klar Schiff zum Ablegen ind zehn Minuten, XO!"
"Aye Sir, klar Schiff zum Ablegen in zehn Minuten", bestätigte Denvers.
So verließ der Zerstörer USS Alwin Flagley um genau sieben Uhr Zuluzeit den Hafen von Cadiz, der auch als NATO-Stützpunkt verwendet wurde. Das Schiff sollte sich nach Durchquerung des Suezkanals mit dem TrägerVerband der USS Jefferson vereinen, die in den persischen Golf verlegt wurde, um bei einem anstehenden Angriff auf den Irak zur Stelle zu sein. Um die drei Vermissten sollte sich die spanische Polizei kümmern. Wurden sie erwischt, dann konnten sie nach dem üblichen Statut der NATO an den zuständigen JAG-Offizier in Cadiz übergeben werden.
Lahilliota hätte ihre Tochter Itoluhila fast angeschrien, was der denn eingefallen war, zu spät zu kommen. Doch als sie erfuhr, dass diese drei übereifrige Matrosen davon abhalten musste, sich an einer ihrer Gehilfinnen zu vergehen und dafür deren gesamte Lebenskraft in sich einverleibt hatte verzieh sie ihr noch einmal. Dann befahl sie ihre treuen Töchter in die kleine Versammlungshöhle im Berg der ersten Empfängnis.
"Meine Töchter, ich beglückwünsche Thurainilla zu ihrem Erfolg über die Krieger, die Dunkelheit und Verzweiflung verbreiten. Die werden uns eine treffliche Armee sein. Aber wir brauchen auch Kämpfer, die nicht auf die Lebensfreude fühlender Menschen angewiesen sind und die zudem auch von mir aus direkt an jeden befohlenen Einsatzort versetzt werden können. Diese Armee werde ich erbrüten, und ihr, meine treuen Töchter, werdet mir helfen, die dafür nötigen Begatter heranzuschaffen."
"Du willst jetzt doch mit Männern eigene Kinder haben?" wollte Ullituhilia wissen. Tarlahilia nickte ihrer Schwester beipflichtend zu.
"Kinder im Sinne von Säuglingen, die erst in meinem Bauch wachsen, geboren und gesäugt werden müssen nicht. Das würde zu lange dauern. Für das, was ich vorhabe, werde ich darauf zurückgreifen, was ich bei Erlangung meiner Unsterblichkeit erreicht habe", erwiderte Lahilliota. Dann beschrieb sie ihren treuen Töchtern, was sie vorhatte. Dafür erntete sie von allen verständnislose bis verunsicherte Blicke. "Woher weißt du, dass es so gehen kann, Mutter?" fragte Tarlahilia. "Weil ich mit eurer Hilfe die Begatter entsprechend vorbereiten kann. Ihr müsst mir, wenn ich in meiner neuen erhabenen Erscheinung vor euch stehe, einiges von dem Lebenssaft entnehmen und diesen in den Kessel der stetigen Frische füllen. Wenn wir dann genug Begatter hierhaben sollen sie diese Gabe zusammen mit dem Trank der dauerhaften Bindung direkt in ihr eigenes Blut eingeflößt bekommen. Dann hoffe ich, dass sie sich auf meinen Befehl oder in meiner unmittelbaren Nähe selbst verwandeln und mir helfen, aus mir neue Nachkommen zu erbrüten."
"Und was, wenn das nicht geht, Mutter?" fragte Itoluhila, der der Gedanke sichtlich zusetzte, in Tiergestalt Nachkommen zu kriegen.
"Dann müsst ihr die herbeigeschafften töten, und ihr beschafft mir genug treue Diener, die dort, wo sie arbeiten, meinen Willen befolgen. Wie viele Abhängige kann jede von euch binden?" fragte sie in die Runde. Alle erwähnten, dass sie bis zu zwölf Abhängige dauerhaft binden konnten und Itoluhila und Ullituhilia bereits acht hatten, wobei Ullituhilias Dienerin als durch andere Dinge als die körperliche Vereinigung gebunden war. "Also können wir nur achtundvierzig Menschen beherrschen. Dann sollten wir hoffen, dass der Plan gelingt, den ich entworfen habe", erwiderte Lahilliota.
Als Lahilliota ausgiebig gegessen und getrunken hatte ließ sie sich eine mit dem Zauber der Unzerstörbarkeit belegte Metallkanüle in den rechten Arm stechen. Sie war mit einem Schlauch, einer Pumpvorrichtung und einem Tank aus gediegenem Silber verbunden, in den die Zauberzeichen für Frische und Dauerhaftigkeit eingraviert waren. Dann verwandelte sie sich vor den Augen ihrer Töchter in eine mehrere Menschenlängen große, geflügelte Ameise. Itoluhila erstarrte. Sie hatte diese Erscheinungsform ihrer Mutter bisher noch nicht zu sehen bekommen. Was hatte die angestellt, um so werden zu können? Sie dachte auch an die schwarze Spinne, die in Wirklichkeit eine mit der Hexe Anthelia verschmolzene Erzmagierin aus dem alten Reich war.
"Nun entnehmt mir gerade genug Blut, um die von mir ausgedungene Zahl von Begattern damit zu verwandeln", hörten sie die Gedankenstimme ihrer Mutter, die nun in ihrer unheimlichen Erscheinungsform vor ihnen allen auf sechs verhältnismäßig dünnen aber kraftvollen Beinen ruhte. Ullituhilia setzte mit einem Fingerstupser die Pumpvorrichtung in Gang. Nach mehrmaligem Röcheln des Apparates begann eine weißliche Flüssigkeit durch den durchsichtigen Schlauch zu tropfen und dann zu fließen. Nach nur fünf Minuten war der silberne Aufbewahrungstank voll genug. Lahilliota strahlte eine gewisse erschöpfung aus. Dann wurde sie ohne Umwege wieder zur Menschenfrau. Nun tropfte hellrotes Blut durch den Schlauch. Bleich wie ein Kreidefelsen blickte Lahilliota auf die trotz der Verwandlungen immer noch in ihrem Körper steckende Vorrichtung. Dann sagte sie:
"Jetzt ist genug. Die Vermischung meiner beiden Lebenssäfte sollte reichen, um jeden damit versehenen in einen Artgenossen von mir zu verwandeln.
Itoluhila übernahm es, die Mutter von der Pumpvorrichtung zu lösen. Bleich wie eine Tochter der Nacht taumelte sie ihrer Tochter in die Arme. Diese heilte mit einer leichten Berührung die kleine Wunde am Arm. "O, ich fürchte, ich muss mich mindestens einen Tag lang erholen", stöhnte Lahilliota. Was sie dachte verbarg sie vor ihren Töchtern.
"Wie viele sollen wir dir bringen?" fragte Ullituhilia. "Aus jeder Weltgegend mindestens zwei, aber vor allem welche aus den von euch bewohnten Revieren", keuchte Lahilliota. Ihre Töchter nickten bestätigend.
"Sie kann also auch hoch fliegende Flugzeuge abschießen", hörte Nyctodora die Gedankenstimme ihrer Göttin, als sie nach Sonnenuntergang des dritten März wieder aufwachte, um in einem afghanischen Dorf auf Blutjagd zu gehen.
"Dann wird das nichts mit was für einer Bombe auch immer, Mutter und Göttin", erwiderte Nyctodora.
"So müssen wir wohl doch wieder mehrere Kristallstaubvampire erschaffen und hoffen, dass dieses Weib nicht eine ganze Stadt voller plärrender Wickelkinder um sich versammelt", stellte Gooriaimiria klar. "Mutter und Göttin, das wird auf die Dauer auffallen, wenn wir wieder mehrere tausend Leute umbringen müssen, um diese instabile Kristallform zu ernten", wandte Nyctodora ein.
"Soweit du mir erzählt hast will dieser George Walker Bush auch den Irak angreifen. Falls wir da auch einen heimlichen Landehafen kriegen können haben wir Zugriff auf jede Menge Wüstenstämme, die wir alle unauffällig auslöschen können. Im Zweifel sind das eben Kriegsopfer der Amerikaner und der Iraker", empfing Nyctodora die Gedanken ihrer Herrin. "Sieh zu, dass du das hinbekommst, meine Hohepriesterin. Denn deine Schuld bei mir ist noch lange nicht abgegolten", fügte Gooriaimiria hinzu. Nyctodora alias Eleni Papadakis verstand. Sie war immer noch auf Bewährung, nachdem sie es indirekt mitverschuldet hatte, dass die schlafende Göttin die Bibliothek der Nachtkinder in einem eigenen Stützpunkt zusammentragen konnte und seitdem die ganze Welt wusste, wer die Hohepriesterin der schlafenden Göttin war. Das waren schon zwei unverzeihliche Fehler. Noch einen derartig schweren Fehler durfte Eleni sich nicht leisten. Denn sie wusste von ihrer Herrin, dass es genug andere mit der Menschenwelt vertraute Dienerinnen gab, die bestimmt sehr gerne ihre Nachfolge antreten würden. Nur der Umstand, dass sie durch das Blut einer dem Feuer verbundene Hexe und deren halbvampirischen Sohn Zauberkräfte besaß hielt sie offenbar noch am leben.
Sie hatte jetzt zwanzig neue Helfer, davon vierzehn weibliche und sechs Männliche. Diese komische Idee, Menschen durch reine Berührung in Artgenossen verwandeln zu wollen, wie Garnor Reeko es ihr vorgeschlagen hatte, hatte echt funktioniert. Sie hatte sich früher nichts aus trivialen Horrorgeschichten gemacht. Aber als sie selbst zu einer irgendwie dämonengleichen Wesenheit mutiert war und nun Birgute Hinrichter war, ließ sie sich von Garnor, der bald ein Kollege von ihrem Teil-Ich Birgit Hinrichs geworden wäre, einige Sachen nacherzählen, vor allem die Geschichten, bei denen es um Vampire, Hexen und einen über ein Land der Schatten gebietenen Erzdämon ging, der seinen Besuchern und Feinden meistens als gestaltlose Wolke gegenübertrat. Ja, wenn sie daran arbeitete, weitere tausend eigene Schattenbabys zu bekommen und zu bedingungslosen Helfern heranzuziehen, dann kam sie dieser fiktiven Gruselfigur schon sehr nahe, ohne in einer mysteriösen Zwischenwelt hausen zu müssen. Auch konnte sie auf Gepränge wie einen Thron aus Knochen oder Totenschädeln verzichten. Wer sie traf wusste auch so, dass sie eine mächtige Herrscherin war. Dass dieser Iaxathan, der diesen Kanoras befehligt hatte, als Schablone für sämtliche dunklen Götter und Höllenfürsten einschließlich dem Satan dienen mochte wusste sie auch. Aber sie hatte genug gedient. Die Zeit als Sklavin von Kanoras hatte sie nicht vergessen. Wo sie nicht mehr in ihre menschliche Erscheinungsform zurückverwandelt werden konnte, wollte sie zumindest keine dienstbare Sklavin mehr sein.
Sie fühlte die vier in ihrem einzig feststofflichen Uterus heranwachsenden neuen Kinder. In der nächsten Nacht würde sie diese auf die Welt bringen und mit neuen Namen bedenken, damit sie nicht mal eben so beschworen werden konnten. Sie dachte auch daran, dass sie all zu gerne noch die drei letzten der Überlebenden von Kanoras' erstem Überfall in sich aufnehmen würde, entweder alle drei zusammen oder nacheinander. Ja, und auch diese verflixte Hexe, die ihr mit einer Art Hochdruckdunkelheit beinahe den Garaus gemacht hätte, wollte sie als gehorsame Tochter wiedergebären. Doch vorerst musste sie sich mit anderen begnügen.
Pablo Juan Martinez Romero hörte immer noch die Stimmen seiner Freunde. Er sollte endlich auch mit einer Frau schlafen. Der was Mädchen anging alles andere als ein heißblütiger Macho denkende wusste, wie wichtig diesen wandelnden Piephähnen war, wer schon mal was mit einer gemacht hatte. "Im Zweifelsfall machst du 'ne Nutte klar und bringst uns von der den Büstenhalter mit", hatte Francisco getönt, der mit seinen gerade erst neunzehn Jahren nachweislich schon vier Mädchen entjungfert und eine von denen sogar schon geschwängert hatte. So einer wollte Pablo nicht werden. Aber als ewiger Schlappschwanz und Nixkönner herumgereicht werden wollte er auch nicht. Immerhin war Pablo drei Monate älter als Francisco.
Mit seinen brunzkatholischen Eltern konnte er über sowas nicht reden. Denen nach musste er erst heiraten, bevor er Sex haben konnte. Vielleicht hätte er auch das Angebot seines Onkels Rodrigo annehmen und zum Studium nach Salamanca gehen sollen, weg von diesen wandelnden Piephähnen. Andererseits liebte er seine Heimatstadt Sevilla, die schmalen Gassen aus der arabischen Zeit, die Plaza de España und auch die Tänze hier. Also blieben ihm nur, weiterhin als ewige Jungfrau verspottet zu werden oder es echt mal mit einer zu treiben, auch wenn er dafür wohl eine Menge Geld rüberreichen musste.
Als er von diversen Internetseiten erfahren hatte, dass es in Sevilla einen Club gab, bei dem nicht groß gefragt wurde, warum jemand dort sein wollte, solange auf dem Ausweis mehr als 18 Lebensjahre zu lesen waren, hatte er viele seiner sonstigen Interessen zurückgestellt, war nicht mehr in die Spielhallen gegangen oder hatte sich die neuesten Platten besorgt, sondern mehr als 500 Euro zurückgelegt, von denen seine Eltern nichts wussten.
Am Abend des dritten März 2003 fuhr er mit einem Taxi bis auf vier Häuserblocks an das ausgewählte Ziel heran. Er musste dem Fahrer ja nicht auf die Nase binden, dass er heute seine Unschuld loswerden wollte. Zu Fuß war er dann zur Casa del Sol marschiert, gut gekleidet, damit er nicht wegen heruntergekommener oder zu teenagermäßiger Klamotten von irgendeinem Türsteher abgewiesen wurde.
Jetzt stand er vor dem im Internet so hochgepriesenen Freudenhaus, in dem angeblich auch Leute vom Königshof verkehrten, aber dann durch geheime Ein- und Ausgänge geschmuggelt wurden. Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals. Schweiß trat auf seine Stirn und seine Handinnenflächen. Er meinte, gerade fünf Gläser Wein auf einmal getrunken zu haben. Er war dabei, eine verbotene Tat zu begehen, die er aber begehen musste, wenn er sich seinen Freunden gegenüber noch als wichtig und wertvoll behaupten wollte.
Tatsächlich wollte eine ältere Dame an der Rezeption seinen Ausweis sehen, weil nur ab 18 Jahre alte Besucher eingelassen wurden. Als die Pförtnerin, die vielleicht selbst mal hier angeschafft hatte, alles geprüft hatte sagte sie ihm, er möge sich drinnen mit einem anderen Namen vorstellen, damit die anderen nicht wussten, wer er wirklich war. Er nickte. Zumindest trug die Dame seinen Namen nicht in eine Besucherliste ein oder sowas.
An der Bar des wirklich sehr luxuriösen Hauses saß er zusammen mit ihn neugierig bis verschlagen anblickenden Männern. Gerade spielten sie von Madonna das Lied "Erotica über die Lautsprecher. Nein, eine Domina suchte er sicher nicht. Er wollte es einfach nur wwissen, wie das zwischen Jungs und Mädchen ablief, wenn sie es miteinander trieben.
"Hast du dir schon eine ausgesucht, Francisco?" fragte ein irre gut aussehendes Wesen im meergrünen Kostüm, dass eigentlich wie eine zweite Haut war. Pablo, der sich hier Francisco nannte, sah die milchkaffeefarbene Schönheit mit den schwarzblauen Haaren an und schaffte es gerade zu sagen: "Öhm, die alle sehen sehr gut aus. Da weiß ich nicht, mit welcher ich auf's Zimmer möchte."
"Ich bin Loli. Ich bin gerade frei. Voulez-vous Monsieur?" Pablo starrte die andere an. Von denen, deren Bilder er sich hier hatte angucken können war die mit Abstand der Tophit. Allerdings hatte er ihr Foto nicht zu sehen bekommen. Deshalb fragte er, ob sie echt hier arbeitete, weil sie nicht in der Galerie war.
"Ich bin nicht jeden Abend hier, weil ich noch andere Sachen zu tun habe. Deshalb bin ich nicht im Katalog", sagte dieses Wunderwesen da neben ihm. Er wollte sie gerade fragen, ob er ihr vorher noch einen ausgeben sollte. Da grinste sie nur: "Neh, komm. Alkohol verdirbt das Erlebnis, und du willst es schließlich unvergesslich werden lassen, richtig?" Pablo fragte sich, ob diese Zauberfrau ihm ansehen konnte, dass er noch keine vor ihr gehabt hatte. Sicher, er sah sicher auch so alt aus, wie er war. Aber wenn er an den dachte, dessen Namen er sich ausgeborgt hatte ... "Öhm, ich dachte immer, sowas ist hier üblich", schaffte er es, ohne sich zu verhaspeln auszusprechen.
"Nicht immer, noch weniger das Ding mit der Zigarette danach", erwiderte Loli. Pablo atmete auf. Er hielt auch nichts vom Rauchen. Dann gab er sich den alles entscheidenden Ruck: "Falls du möchtest, möchte ich gerne mit dir auf's Zimmer, Loli", sagte er mit mehr Entschlossenheit, als er vor seinem Ausflug hierher für möglich gehalten hatte. Sicher, das war keine Frau, die erobert werden wollte. Die bot sich jedem an. Er musste sich also nichts darauf einbilden, so leicht bei ihr zum Zug zu kommen. Aber wenn sie ihm zeigte, was er wissen wollte, dann lohnte es sich. So fragte er noch, was er ihr dafür geben sollte. "Je danach, wie lange wir zwei es miteinander durchhalten. Manchmal gebe ich auch Rabatt, weil ich hier als freie Mitarbeiterin tätig bin, sozusagen meine eigene Chefin."
"Öhm, würde ich gerne vorher wissen, um bloß keine Schulden zu machen", sagte er nun doch wieder etwas verängstigter.
"Keine Sorge, hier ist bisher keiner rausgegangen, der nicht genug dabei hatte, um einige schöne Stunden zu haben. Nur wenn du die ganze Nacht bei mir sein möchtest wird es ziemlich teuer."
"Okay, dann eine Stunde", brachte er heraus.
"Also zwischen einer Stunde und einer halben Nacht, dann können wir gerne drüber reden, was dein Besuch mir wert ist. Ich helfe auch immer gerne, wenn junge Männer lernen möchten, wie sie es richtig hinkriegen. Also, Voulez-vous, Monsieur?"
"Avec Plaísir, Ma...demoiselle", sagte Pablo.
Das nun folgende Erlebnis war für ihn wirklich unvergesslich. Denn Loli ließ ihn Dinge ausprobieren, von denen er sicher war, dass der echte Francisco sie wohl noch nicht versucht hatte. Doch das wahrhaft unvergessliche sollte noch kommen.
Er war gerade mit einer weiteren Runde fertig und fühlte, dass er nun doch sehr müde war. Wenn er hier und jetzt einschlief würde er die ganze Nacht bezahlen müssen, und wie teuer die war wusste er noch nicht. Doch er schaffte es auch nicht mehr, sich aufzusetzen und anzuziehen. Er war regelrecht platt. Diese Wunderfrau hatte ihn echt fertiggemacht. Dabei war Pablo Fußballspieler und machte Krafttraining. Wenn drei Runden wilder Sex heftiger reinhauten als zwei Stunden Muckibude würde er sein Studioabo kündigen und sich demnächst nur noch so fithalten.
"Wenn du schlafen willst schlafe. Ich nehm dann das, was du hast", sagte Loli, die sich ganz weich und warm an ihn kuschelte. Er fühlte ihr Herz schlagen und dachte, gleich aufzuwachen und mit nasser Schlafanzughose in seinem eigenen Bett zu liegen. So gab er sich der Müdigkeit hin und schlief ein.
Als er wieder aufwachte war er ganz woanders. Er lag nicht mehr in einem Bett, sondern auf einer warmen, irgendwie gepolsterten Bank in einem kleinen Raum mit einer vergitterten Tür. Sofort fiel ihm ein, dass so ähnlich Gefängniszellen aussahen. Ein merkwürdiges orangerotes Licht schien von der Decke außerhalb der Gittertür. Wo war er hier.
"Hallo, wo bin ich hier?" rief er. Dann sah er die anderen Männer, die von ganz jung bis knapp ans Verfallsdatum waren. Die meisten von denen waren keine Europäer. "Hallo, was geht ab? Wie bin ich hergekommen?" Er dachte an Krimis, wo Kunden von irgendwelchen Huren abgezockt worden waren oder wegen ihres Vermögens kassiert worden waren. Verdammt! Genau das war ihm passiert. Vielleicht war er auch irgendwelchen Organmafiosi in die Hände gefallen, die seine noch jungen und gesunden Einzelteile haben wollten. Aber was sollten dann diese Transfünfziger hier, die seine Großväter sein konnten?
"Heh, was immer hier abgeht. Man wird mich vermissen. Ich habe meinen Freunden erzählt, dass ich zu den Nutten von der Casa del Sol wollte", rief er. Da tauchte aus dem Nichts heraus eine zierliche Frau auf, Hautfarbe und Augenform nach eine Asiatin. Sie trug einen schwarzen Kimono am Körper und einen bewusstlosen Mann über der Schulter. Auch der Bewusstlose war Asiate. Jetzt konnte Pablo sehen, was mit ihm selbst passiert war. Denn die Unbekannte trug den Bewusstlosen in eine freie Zelle und legte ihn auf die Schlafbank. Dann verschloss sie die Tür von außen. Die anderen Männer hier lärmten in für Pablo unverständlichen Sprachen. Doch das machte der kleinen Frau nichts aus. Sie lächelte nur jeden an und war einfach wieder weg. Jetzt dachte Pablo nicht mehr an irgendwelche Gangster, sondern an Außerirdische. Ja, er war von Außerirdischen entführt worden. Offenbar suchten die sich ihre Beute unter Männern, die käuflichen Sex haben wollten. Vielleicht sortierten sie sogar die, mit denen sie eigene Nachkommen ausbrüten wollten. Pablo fühlte sich auf einmal total erledigt. Wenn ihn wirklich Aliens gekidnappt hatten konnten seine Eltern und Freunde ihn lange suchen. Vielleicht hatte er Glück, und die ließen ihn nach ihren Experimenten wieder frei. Aber dann würde er womöglich keine Erinnerungen mehr haben, wie er mit denen zusammengetroffen war.
"Wenn du musst nimm den Topf unter der Pritsche. Danebenpinkeln ist verboten. Dann wirst du mit der Nase reingesteckt, wie ein unartiger Welpe", hörte er in seinem Kopf eine Stimme, die Stimme Lolis. Konnten die also nicht nur teleportieren, sondern auch telepathische Nachrichten schicken. O verdammt, am Ende konnten die auch seine Gedanken lesen. Dann war klar, warum diese Loli gleich gewusst hatte, dass er das erste Mal vor sich hatte.
"Keine Angst kriegen. Du wurdest von jemandem ausgewählt, die eine Menge gute Sachen mit dir vorhat", hörte er Lolis Gedankenstimme in sich.
"Und wenn ich mich hier und jetzt selbst umbringe?" fragte er.
"O, dann würde deine Seele mit dem Nachttopf verschmolzen, und du würdest das fühlen, wie dein Nachfolger in dich reinstrullt. Willst du nicht wirklich", hörte er Lolis Stimme im Kopf. "Also bleib am Leben und freu dich,weil wir dich aus deinem langweiligen Leben herausgeholt haben."
"Was seid ihr, Aliens, Dämonen oder was?"
"Wir sind in gewisser Weise Fremde, und früher haben Leute mich und meine Schwestern echt als Dämoninnen und Töchter Satans bezeichnet. Aber wir sind doch was ganz anderes, euch Menschen überlegenes."
"Und die anderen hier sind genauso dir und dieser japanischen Schlampe ins Netz gegangen wie ich?" wollte Pablo wissen.
"Sagen wir es so, ihr seid alle erst geprüft und dann von jemandem erwählt worden. Wer das ist bekommt ihr später alle mit", erwiderte Lolis Gedankenstimme. "Und jetzt gib Ruhe, ich muss noch einiges erledigen. Aber die Runden mit dir haben mir sehr gutgetan. Das wird jemand sehr zu würdigen wissen. Erhol dich gut!"
"Wie immer, Currywurst und Pommes Bahnschranke?" fragte Kalle die junge Kundin, die gleich nach Öffnung seiner Bude hereingekommen war. Die studierte hier an der Uni in Bochum irgendwas und kam immer nach den ersten Vorlesungen bei ihm rein, um sich was nicht zu teures einzuwerfen. Heute hatte die junge Frau, die sich ihm als Helga vorgestellt hatte, dicke Wintersachen einschließlich einer rosaroten Wollmütze angezogen. Dabei war es im Moment doch gar nicht so kalt draußen.
"Heute mal doch mal das Schnitzel Deluxe mit Pfefferrahmsoße und Bratkartoffeln. Habe den Nachmittag frei. Da kann ich auch mehr essen", sagte Helga. Kalle nickte und wandte sich an Berti, seinen Hilfskoch.
"Okay, einmal Pfefferrahmschnitzel mit Bratkartoffeln zum Hieressen. Zu trinken?" fragte er dann noch.
"Ein großes Wasser ohne Kohlensäure", sagte Helga. Irgendwie sah sie nicht gerade so aus, als wäre sie noch richtig wach. Sie blinzelte mit den Augen, als sei ihr das Licht zu hell. Tatsächlich deutete sie auch in eine dunkle Ecke, wo ein Zweiertisch stand, den Berti vor Ladenöffnung noch auf Hochglanz geschrubbt hatte. Kalle nickte ihr zu. Dann sah er, wie sie vor dem breiten Verbundglasfenster vorbei auf die Ecke zuging, in der der Tisch stand. Kalle hatte das komische Gefühl, dass irgendwas nicht so war wie sonst. Der Auftritt, die dicke Winterkleidung, irgendwie merkwürdig. Ja, und irgendwie war da was, dass er gerade nicht richtig einordnen konnte. Doch dann kamen vier Jungs von der Autowerkstatt drei Häuserblocks weiter herein, in voller, ölverschmierter Mechanikeruniform. Anderswo hätte ein Lokalbesitzer sicher gleich sehr streng dreinschauend zur Tür zurückgezeigt. Doch bei Kalle kamen die Kunden so, wie sie vom Beruf oder der Stimmung her angezogen waren. Nur nackig durfte hier keiner reinkommen. So hatte er schon mal ein Mädel vom Straßenstrich in spärlicher Aufmachung neben einem Typ im Managerzwirn zur gleichen Zeit im Laden gehabt. Der Manager hatte dann später gefragt, ob es im Lokal keine Kleiderordnung gebe. Darauf hatte Kalle gesagt, dass hier die Leute in Arbeitskleidung hinkämen, wie er ja auch gerade. Das hatte dem Mann genügt. Der war dann auch echt noch einige Monate lang wiedergekommen. Aber das mit Helga war schon merkwürdig.
Als Berti das Schnitzel fertig hatte brachte Kalle es persönlich an den Tisch, während die Jungs aus der Werkstatt gerade ihre Doppelten Currywürste und Pommes wegspachtelten.
"Ist heute was mit dir, Helga? Siehst so aus, als könntest du keine Sonne vertragen."
"Wetterumstellung, Kalle. Habe ich meistens, wenn es Frühling wird", sagte Helga. Da Kalle sie erst seit diesem Wintersemester kannte musste er das erst einmal so hinnehmen.
Wider ging die Schwingtür auf, und zwei junge Damen in textilarmen Kostümen traten ein, Jacqueline und Yvonne. Die Mechaniker pfiffen, als sie die zwei sahen. "Ui, schon so früh konjunktur?" fragte einer der vier, Hannes, sehr frei heraus.
"Tja, Jungs. Bei euch kommen die Autos unterschiedlich rein und bei uns ...", sagte Yvonne ganz locker. Mehr musste sie nicht verraten.
Kalle stellte sicher, dass die Jungen aus der Werkstatt nicht zu doll mit den leichtgeschürzten Mädchen herumscherzten. Immerhin konnten ja noch Schulkinder hier hereinschneien, und die mussten nicht noch live mitkriegen, was ihnen das Internet schon alles bieten konnte.
Als Helga mit ihrem Essen fertig war winkte sie Berti, der gerade Jacquelines Bestellung, knoblauchfreien Gemüseeintopf mit Bockwürstchen, in eine große Suppentasse füllte. Berti nickte Kalle zu. "Alles klar", sagte er laut und winkte Helga heran. Diese zog sich erst ihre Wintersachen wieder an und kam dann an den Tresen, über den Kalle schnell noch mit einem spülmittelgetränkten Lappen wischte, um die Majoflecken abzukriegen, die einer der Jungs aus der Werkstatt gemacht hatte. Wieder meinte er, etwas merkwürdiges würde passieren, als Helga vor dem nun von der Mittagssonne beschinenen Fenster vorbeiging. Dann war Helga bei ihm und holte ein kleines Portemonnaie aus ihrer Handtasche. Kalle sagte ihr leise den Preis für ihr Mittagessen und bekam die entsprechende Summe plus zwei Euro Trinkgeld. Dann wandte sie sich der Schwingtür zu und ging darauf zu. Dabei sah Kalle, dass sie ihre Augen bis auf sehr enge Schlitze geschlossen hielt. Die gläserne Eingangstür lag halb im süden und bekam deshalb Sonnenstrahlen ab. Helga ging auf die Tür zu, als unvermittelt alle Gäste ihr Besteck weglegten und mit merkwürdigen Blicken hinter der dick vermummten Studentin herstarrten, als hätte die was an sich. Kalle lehnte sich über den Tresen und blickte selbst hinter ihr her. Da sah er es auch.
Die Sonne schien durch die Tür und beschien die hellgrauen Bodenfliesen. Doch ein Teil davon hätte von Helgas Körper abgeblockt werden und einen deutlichen Schatten werfen müssen. Doch es sah so aus, als wenn Helga aus Glas oder unsichtbar wäre. Denn sie warf überhaupt keinen Schatten.
"Öhm, Helga, bleibst du mal bitte stehen und ..." setzte Kalle an, der das was er sah nicht begreifen wollte. Doch Helga drückte gegen die Tür und ging eilig hinaus. Kalle überlegte, ob er hinter ihr herlaufen sollte. Doch dann dachte er, was das bringen sollte. Am Ende hatte er nur falsch hingeguckt.
"Eh, spinn ich oder habt ihr mir was in das Currypulver reingeschüttet", brach einer der Werkstattjungs das plötzliche Schweigen. "Was hast'n gesehen, Fred?" wollte einer seiner Kollegen wissen.
"Eigentlich ist die Dame gerade voll durch die Sonne gelaufen. Aber die hat keinen Schatten gemacht. Wie geht sowas?"
"Mach keinen Mist. Dann wäre die ja sowas wie'n Geist oder Vampir", wandte Pitt, der angesprochene Kollege ein.
"Öhm, Jungs, ich weiß nicht, wie das geht. Aber ich habe die auch keinen Schatten werfen gesehen", sagte Yvonne, die gerade von Berti ihren Gemüseeintopf vorgesetzt bekommen hatte. Berti wurde daraufhin von Kalle so dirigiert, dass er zwischen Tür und Tresen stand. Berti war groß und untersetzt. Ja, und er warf einen ganz deutlichen Schatten auf die Fliesen.
"Wau, wie hat die andere das dann gemacht?" fragte Fred.
"Also, die Neonlampen sind alle aus. Also mehr Licht im Raum ist nicht", sagte Kalle. Darauf meinte Jacqueline, die sich einen ebenfalls ungeknofelten Geflügelsalat gönnte: "'n Vampir kann die nicht sein, weil die zum einen nicht bei Tag rumlaufen können und zum anderen keinen Knoblauch vertragen. Und Berti hat ihr Knoblauchbutter auf die Bratkartoffeln getan."
"Mja, unmfd mgeifter sinf mvoll durcfsiftif", mampfte Hannes, der gerade erkannte, dass sie gerade noch vier Minuten bis Pausenende hatten und er noch zu viel Wurst auf dem Teller hatte, als den zurückgehen zu lassen.
"Hui Buh, unser Gespensterexperte hat gesprochen", scherzte Fred. "Aber was ist mit Hexen? Haben die auch keinen Schatten und kein Spiegelbild wie Vampire?"
"Klar, und die essen dann auch Schnitzel inner Pommesbude", musste Pitt dazu loswerden.
"Ja, aber komisch ist's echt, dass die Frau eben keinen Schatten geworfen hat", meinte Yvonne dazu. Immerhin hatten alle gesehen, was Kalle gesehen hatte. Er sagte deshalb noch: "Jungs, ich verpansche hier kein Zeug. Ich habe das auch gesehen. Ja, und ich weiß auch, dass das eigentlich nicht gehen kann, weil die Physik das sagt, dass Sachen, die nicht durchsichtig sind und gegen das Licht stehen einen Schatten werfen."
"Aber die war nicht durchsichtig", hakte Pitt nach, während Berti fragte, ob er wieder auf seinen Posten konnte, weil gleich die nächsten Currywürste durch waren.
"Ja, aber so blass die aussah hat nicht mehr viel gefehlt", warf Kuno, der vierte im Tross der Werkstattjungen ein.
"Leute, wir kriegen das wohl heute nicht raus. Deshalb esst lieber zu Ende, bevor ich von eurem Boss eine Vermisstenanzeige kriege", sagte Kalle.
Als die Gäste alle wieder gegangen waren meinte Kalle zu Berti: "Am besten quatschen wir nicht weiter drüber. Das glaubt uns eh keiner." "Geht klar, Kalle", sagte Berti und warf eine weitere Schaufel Kartoffelstreifen in die Fritöse.
Arion Vendredi hatte den Kurzurlaub genutzt, um mit seinem schnellen Motorboot einen Ausflug zu den Ballearen zu machen. Er war froh, dass er alles hinter sich lassen konnte. Beaubois würde die Abteilung schon handhaben, und er konnte seine angestauten Bedürfnisse befriedigen. Wenn er es schaffte, am neunzehnten wieder nüchtern genug zu sein würde am zwanzigsten keiner mitbekommen, was er alles so angestellt hatte.
Es war am Abend des vierten März, als er den geflüsterten Tipp eines gut betuchten Stadtabenteurers befolgte und an einer Bushaltestelle in Ibiza-Stadt mit anderen Männern zusammenstand. Sein Haar und seine Augenfarbe hatte er einmal mehr durch einfache Verwandlungszauber verändert, damit ihn bloß keiner als den Ministerialzauberer Arion Vendredi erkannte. Er betastete seinen legeren Anzug und stellte sicher, dass er noch die kleine Plastikkarte hatte, die er in einem Geschäft für Herrenmoden auf seine Anfrage nach einem violetten Reisehut der Größe 30 erhalten hatte. Er hatte tatsächlich auch einen solchen Hut bekommen, in dessen Innenfutter eine kleine Pappkarte steckte, auf der diese Bushaltestelle erwähnt wurde und auch, dass er den Decknamen Rodrigo Burgos führen würde. Dann hatte er die Plastikkarte bekommen und für alles zusammen 1900 Euro hingeblättert. Gut, dass sein Pariser Muggelgeldkonto noch das zehnfache bereithielt. Aber er würde es wohl bei seinem nächsten freien Tag auffüllen müssen, um weiter solche Ausflüge machen zu können.
Ein seegrüner Kleinbus rollte heran. Zwei Männer in ebenfalls seegrünen Uniformen saßen ganz vorne und prüften die wartenden Gäste. Alle stellten sich mit Namen vor und gaben ihre Pappkarten ab. Als Vendredi seine Namenskarte vorzeigte nickte ihm der Busfahrer zu und flüsterte: "Haben Sie die Schlüsselkarte sicher einstecken, Señor Burgos?" Er nickte bestätigend und widerstand der Versuchung, sich an die Stelle zu greifen, wo er die Karte verstaut hatte.
Weil alle sieben Männer die gültigen Namenskarten vorgezeigt hatten durften sie einsteigen. Der Bus fuhr los und verließ die um diese Jahreszeit nicht so überlaufene Hauptstadt der beliebten Urlaubsinsel. Arion Vendredi und die anderen Fahrgäste schwiegen. Denn das hatten sie alle in dem diskreten Bekleidungsgeschäft wohl gelernt, dass sie nichts von sich erzählen durften, ob wahr oder reine Legende. Wer nichts fragte bekam auch keine Lügen zu hören, und wer nichts sagte musste auch nicht lügen. Eigentlich wusste Vendredi, dass er sich auf sehr fragwürdiges Gebiet begab. Andererseits hatte er schon sehr früh beschlossen, dass ihm das gutbürgerliche Leben eines anerkannten Ministerialbeamten nicht gefallen würde und er sich nur dann nicht langweilte, wenn er die für seine Gesellschaftsgruppe bestehenden Anstandsgrenzen vergaß.
Weil es für ihn zum Urlaub dazugehörte, keine Magie zu benutzen, machte er diese umständliche Anreise mit. Er genoss es sogar, wie sich der Bus über viele Haarnadelkurven einen sonst viel zu steilen Berghang hinaufarbeitete. Serpentinen wurden solche am Hang gebauten Straßen genannt, wusste er. Weil diese Straße nicht beleuchtet war konnte sich der Fahrer nur auf die Scheinwerfer verlassen. Es ging vorbei an haarsträubenden Abhängen und massiven Felsbrocken. Die Pflanzen hier mussten wohl erst aus dem Winterschlaf aufwachen, dachte Vendredi. Dann sah er zwischen vier wie von der Natur auf den Berg gelegten Felstrümmern die Burg, das Castillo Estrellado, eine beeindruckende Festung mit vier Außen- und einen Mittelturm. Der Bus fuhr auf ein eisernes Tor zu und bremste die Fahrgeschwindigkeit bis unter Schritttempo herunter. Als die Frontseite des Kleinbusses nur noch zwei Meter von dem Tor entfernt war teilte dieses sich in zwei Flügel, die nach innen auseinanderglitten. Der Bus wurde wieder schneller und durchfuhr das Tor. Vendredi staunte schon lange nicht mehr über die ganze Technik, die Türen und Tore von selbst auf- und zugehen ließ. Er sah jedoch die kleinen gläsernen Augen im Torbogen. Offenbar beobachtete da jemand den ankommenden Bus. Als sie drei Meter von den offenen Torflügeln entfernt waren schlossen diese sich wieder. Wahrscheinlich wurden sie dann auch verriegelt. Die Abendgäste sollten ja schließlich ungestört bleiben.
Vor einem echten Burggraben hielt der Bus ganz an. Der Fahrer griff hinter sein Steuerrad und holte ein kleines Gerät hervor, auf dem er herumdrückte. Eine Zugbrücke klappte für die Fahrgäste völlig unhörbar herunter. Hinter dieser lag noch ein Tor, diesmal ein eisenbeschlagenes Holztor. Kaum war die Brücke heruntergelassen trat der Fahrer wieder auf das Beschleunigungspedal seines Fahrzeuges und trieb es mit sicherer Hand über die geländerlose Brücke hinauf auf das Tor zu. Vendredi ging davon aus, dass dieses sich gleich auch von selbst auftun würde. Doch der Bus hielt wieder, ohne dass das Tor aufging. Statt dessen knackte es rechts und links im Bus, und eine sonore Männerstimme fragte: "Seid ihr alle da, Freunde der sternenklaren Nacht?" Alle sagten "Ja". Dann verlangte die Stimme, dass sich jeder vorstellen sollte. Vendredi erkannte, dass jeder einen anderen Anfangsbuchstaben im Nachnamen hatte, Alvarez, dann er, Burgos, dann Clemente, dann Duarte, Esteban, Figueras und Granvia. Als sie alle ihre Namen genannt hatten ging das Tor auf. Sie konnten nun auf den Burghof.
Hier hörte jedoch die Festungsnostalgie auf. Denn auf dem Hof standen sieben Häuser mit Flachdächern, sogenannte Bungalows, die durch gepflasterte Wege miteinander verbunden waren. Der Schnittpunkt der Verbindungswege war der mittlere Burgturm, der auf den unteren zwei Dritteln achteckig gebaut war und im oberen Drittel kreisrund gestaltet war. In jedem Bungalow könnten dreißig Leute leben, schätzte Vendredi. Ob der Turm nur Kulisse oder ebenfalls Bestandteil der Räumlichkeiten war wusste hier keiner. Was hier jeder wusste war, dass jeder sein eigenes Reich zugeteilt bekommen würde, in dem er die ganze Nacht seine Wünsche erfüllt bekam.
"Bitte vor dem mittleren Turm aufstellen, meine Herren! Wir holen Sie dann morgen um neun Uhr wieder ab", sagte der Busfahrer. Sein Begleiter öffnete die Schiebetür und stellte sicher, dass jeder mit dem Nachtgepäck sicher aus dem Bus gelangte. Dann wurde die Seitentür wieder verschlossen. Der Bus fuhr leise brummend rückwärts und glitt wieder auf das Tor zu. Es tat sich auf, und der Bus verließ die verborgene Festungsanlage. Als das Tor wieder zuging meinte Vendredi einen Moment, dass sie alle hier jetzt irgendwie eingeschlossen waren, wie Gefangene auf einem Gefängnishof. Andererseits wollten die sieben ja für sich sein. Diskreter konnte es nur noch gehen, wenn jeder einzeln hergeschafft würde. Aber dann hätte wohl jeder die dreifache Summe bezahlen müssen, dachte Vendredi. Einen Moment dachte er an die Paradiso di Mare, ein gewaltiges Luxusschiff, auf dem jede nur erdenkliche Sinnen- und Leibesfreude geboten wurde, bis eine Horde Dementoren das Schiff überfallen und sich an der Lust und Freude der Passagiere fruchtbar und satt gefressen hatte. Vendredi überlegte einen Moment, ob er nicht doch ein wenig zu waghalsig war, ganz ohne Zauberstab in eine so abgeschlossene und sicher auch nicht auf öffentlichkeit ausgehende Einrichtung zu gehen, nur um mal eine besondere Nacht zu erleben.
Vor dem Turm wurden die Gäste von einem Mann in Smoking und Fliege und einer Dame im kurzen dunklen Kleid begrüßt. Jeder würde nach Nennung seines Namens das für ihn bereitgehaltene Haus betreten können. "Wer die Nacht der unbegrenzten Grenzerfahrungen gebucht hat kann zwischen ein und fünf Uhr die Attraktionen im Bergfried wie den Tieftauchtank oder den Fallschacht benutzen. Ebenso steht unser neues VR-Abenteuerstudio für je zwei Personen zur Verfügung, in dem eine Begleiterin mit dem Besucher oder jeder Besucher einzeln seine größten Visionen verwirklichen kann. Hierfür ist lediglich eine Voranmeldung über das Haustelefon nötig und wird nur für Gäste, die die Goldsternkarte erworben haben angeboten", sagte der Mann ganz im Stil eines spanischen Geschäftsmannes. Die Frau ergänzte mit verruchter Stimme: "Allerdings werden Sie sicher in den für Sie vorbereiteten Häusern keine Langeweile empfinden. Jedes Haus hat ein großräumiges Badezimmer und Aufenthaltsräume mit verschiedener Ausstattung. Wir möchten euch jedoch darauf hinweisen, dass sämtliche Mobiltelefone bei meinem Kollegen abzugeben sind. Sie werden dann bei der Rückkehr wieder zurückgegeben."
Auf diese Ankündigung traten vier Männer aus der Tür im Mittelturm und prüften mit länglichen Handgeräten, ob irgendwer verräterische Mobilfunksignale ausstrahlte. Vendredi hatte so ein Mobiltelefon nicht bei sich. Einer der Gäste hatte wohl gedacht, ein ausgeschaltetes Mobiltelefon würde schon nicht gefunden. Doch irgendwie konnten die Geräte der Prüfer wohl auch ausgeschaltete Telefone finden. Die beiden mussten ihre tragbaren Fernsprecher abgeben. Dann musste jeder seine Namenskarte abgeben und bekam eine andere Pappkarte mit der Nummer des Hauses und einen vierstelligen Eintippcode. Vendredi kannte sowas schon von einigen Gelegenheiten. So nahm er es hin, dass er in der "Casa 7" unterkommen sollte. Er suchte den betreffenden Bungalow und öffnete die Tür mit der Plastikkarte und der mitgeteilten Codenummer, die er in ein Membrantastenfeld eintippte.
Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte wurde diese leise klickend verriegelt. Hieß das, dass er nun jedem persönlich aufmachen musste, wenn er Besuch haben wollte? Die Frage wurde schnell beantwortet. Denn in seinem Bungalow gab es einen Aufzug, der wohl in eine Kelleretage fuhr. Als er versuchte, ihn zu benutzen sagte eine weiblich klingende Stimme aus einem der Lautsprecher: "Tut mir leid, lieber Gast. Aber unsere Bereitschaftsräume darf nur das Personal betreten."
Er konnte die Beleuchtungsfarbe und Helligkeit über einen in die Wand bei der Tür eingebauten Apparat auswählen und für jeden Raum eine eigene Musik oder Geräuschkulisse auswählen. Er staunte, was die hier alles hingebaut hatten. Vom Schlafgemach eines arabischen Herrschers über eine künstliche Lichtung in einem Dschungel unter dem Sternenzelt bis zu besagtem großen Badezimmer mit eigenem Schwimmbecken und künstlichen Felsen war einiges aufgeboten worden. Als er dann herausfand, wie er sich die für seine Vorlieben passenden Unterhalterinnen wählen konnte wählte er zwei junge Damen europäischer Herkunft und mittleren Alters. Er hielt nichts davon, blutjunge Mädchen für seine Bedürfnisse auszuwählen. Ihm ging es nicht um das Gefühl, Macht über ganz junge Leute zu haben, sondern das zu bekommen, wonach ihm gelüstete.
Als seine Unterhalterinnen für die ersten Stunden aus dem Personalaufzug kamen trugen sie nur goldenfarbene, sehr stoffarme Badeanzüge. Immerhin hatte er ja auch auf zeitnahen Service geklickt, als er die zwei ausgewählt hatte. Sie nannten sich Silvi und Florina, was bestimmt nicht ihre richtigen Namen waren. Aber er hieß heute ja auch Rodrigo. Er war froh, dass er akzentfrei Spanisch und Englisch sprechen konnte, so dass ihm niemand den Franzosen anhören konnte. So kam er mit den beiden im großen Badezimmer bald zur Sache.
Die gebuchten zwei Stunden waren sehr anstrengend aber auch sehr erfüllend. Florina erwies sich als geschickte Unterwasserliebeskünstlerin, die es hinbekam, dass sie beide während ihrer leidenschaftlichen Betätigung nicht ertrinken mussten. Als die zwei dann wieder gegangen waren ließ sich der Gast ein leichtes Abendessen servieren, um sich für die nächste Runde neue Kraft zuzuführen.
Als er sich wieder stark genug fühlte orderte er eine einzelne Unterhalterin, eine gewisse Celesta. Ihm stand jetzt der Sinn nach einer richtig hochgewachsenen Unterhalterin. Celesta war mindestens 2,10 Meter hoch und hatte nachtschwarzes Haar. Er dachte kurz an die Töchter von Besenfabrikant Dornier. Doch die hatten grüne Augen und keine dunkelbraunen wie Celesta. Mit ihr wollte er sich auf der künstlichen Urwaldlichtung austoben. Dabei fühlte er nicht nur die steigende Erregung und wie sich sein Körper erhitzte, sondern auch ein leichtes Prickeln, während Celesta mit ihm zusammenfand. Er sog das von ihr aufgelegte Duftwasser oder die Hautcreme in seine Nase und fühlte, wie er davon berauscht wurde. Hatte die etwa eine ätherische Droge benutzt, um ihn in eine bestimmte Stimmung zu treiben? Er konnte das nicht so richtig durchdenken, weil ihre beruflich dargebotene Leidenschaft und seine eigene Lust seinen Verstand förmlich hinwegschwemmten. Erst als er die ersten roten Ringe vor seinen Augen sah erkannte er, dass er es entweder übertrieben hatte oder einer tückischen Falle zum Opfer fiel. Da sauste jedoch schon ein schwarzer Vorhang vor seinen Augen herunter. Er hörte noch einige Sekunden das lauter werdende Rauschen in seinen Ohren und meinte, ins Leere zu stürzen. Dann fühlte er gar nichts mehr.
"Der hat nichts magisches bei sich", stellte die Frau mit der milchkaffeefarbenen Haut und dem langen, schwarzblauen Haarschopf fest, als sie den ohnmächtigen Gast behutsam abtastete. Dann grinste sie. "Ah klar, der hat sich verwandelt, um nicht als der erkannt zu werden, der er eigentlich ist, deshalb die heftige Aura. Auf jeden Fall hast du das gut gemacht, ihn mit dem Schlafdunst zu lähmen. Mal sehen, wer das eigentlich ist", dachte die Frau, die wie Celesta gerade nichts am Leibe trug und strich behutsam mit drei Fingern kreisförmig über die Stirn, das Gesicht und den Oberkörper des Betäubten. Da verformten sich seine Gesichtszüge, und seine Augen nahmen eine andere Farbe an. Auch sein Haar wurde etwas länger und verfärbte sich. "Das ist keiner von den Spaniern. Ich kriege schon raus, wer das ist. Mach ihn auf dem Baumstamm fest und sprüh ihm was vom Wachmacher in die Nase. Und dann lass mich mit ihm alleine!" dachte die milchkaffeefarbene Dame ihrer Gehilfin Celesta zu. Diese nickte und holte vier der künstlichen Lianen von einem der scheinbar 90 Meter hohen Urwaldbäume herunter, der aber in wirklichkeit nur drei Meter hoch war. Nur gute Holografien hielten den Anschein aufrecht, auf einer wirklichen Urwaldlichtung zu sein. Mit den Lianensträngen fesselte sie den Betäubten auf einem umgeworfenen Baumstamm. Dann nahm sie eine Sprühdose aus einem künstlichen Baumstumpf. Diese hielt sie dem Überwältigten unter die Nase und verpasste ihm eine kleine Ladung des Inhalts. Dann verließ sie ganz schnell den Urwaldraum und schloss die schalldichte Tür von außen.
Es schwirrte und kribbelte in seinem Kopf, als Vendredi aus dem tiefen Schacht der Ohnmacht auftauchte. Sofort merkte er, dass er an vier Stellen fest mit einem harten Untergrund verbunden war. Die hatten ihn in eine Falle gelockt und erwischt, dachte er. Dann sah er sie. Sie kniete vor ihm auf dem Boden und beugte sich mit ihrem milchkaffeebraunen Luxusoberkörper zu ihm herunter. Er sah ihr Gesicht und ihr Haar und wusste sofort, wer das war. Sein Herz verfiel in wilden Galopp. Sein Blut schien in den Adern zu kochen. Er wusste, dass dieses Frauenzimmer da brandgefährlich war. Doch wieso war die hier? Er wusste doch, dass sie ihr Jagdrevier in Sevilla hatte.
"Öfter was neues, mein Freund. Du kennst mich. Gut, das spart deine Zeit. Na, besser nicht dieses Gedankenverstecken machen, sonst muss ich dir sehr weh tun, und daran liegt mir nichts. Also sieh mich an und lass es einfach geschehen. Denn wenn ich nicht kriege, was ich will, was höchst selten passiert, kommst du hier nicht mehr weg."
"Seit wann geisterst du auch auf Ibiza herum, Abgrundsdirne", knurrte Vendredi, der wusste, dass er eh nichts mehr verlieren konnte. Er wollte Zeit für einen gelungenen Occlumentievorgang haben.
"Wie erwähnt, öfter mal was neues. Und meine Mitarbeiter haben mir mal empfohlen, auch mal hier zu sein, weil hier die wirklich wichtigen Männer aus Europa gerne ihren geheimen Wünschen und Vorlieben nachhängen. Na, wie gesagt, Verstecken wird nicht gespielt", knurrte sie und packte Vendredi sehr brutal an eine hochempfindliche Körperstelle. Er geriet aus der Konzentration. Im nächsten Moment hatte er nur die Augen seiner Überwinderin vor sich und fühlte, wie er immer mehr in diesen wasserblauen Tiefen versank. Er hörte sie mit Mund und Geist fragen, wer er sei. Er versuchte noch, seinen Decknamen zu nennen. Doch beim zweiten Mal war das ihm nicht mehr möglich. So verriet er, dass er Arion Vendredi war und der Leiter der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe in Paris war. Diese Berufsangabe brachte seine Gegnerin zum lachen. "Ihr kleinen kurzlebigen Zauberstabschwinger meint also immer noch, ein Recht zu haben, andere Zauberwesen herumbestimmen zu dürfen und nach euren Vorstellungen handeln zu lassen. Dann arbeitest du auch mit diesem Salvador Gimenés aus Madrid zusammen, der mal gemeint hat, mit fünfzig Leuten meine Heimstatt finden zu können?"
"Ich kenne den Kollegen nur von Briefen", erwiderte Vendredi, der völlig im Bann der wasserblauen Augen stand.
"Und warum bist du dann hier? Ach ja, du bist auch einer von denen, die ihre achso anständigen Mitmenschen nicht wissen lassen dürfen, dass sie bestimmte Gelüste haben. Ja, solche wie du haben mir schon viele schöne Stunden und reichlich Kraft beschert. Dir ist klar, dass ich dich so nicht mehr einfach nach Hause lassen kann. Vielleicht möchtest du ja mein neuer Vertrauter werden und fortan meine Augen und Ohren in Paris sein."
"Die werden das merken, wenn ich von einer wie dir unterworfen wurde. Die haben Spürgeräte. Du kannst mich nicht zu deinem Sklaven machen", brachte Vendredi heraus.
"Haben die das? O, wohl wahr. Ich kann dir kein Medaillon von mir schenken, damit ich immer weiß, wo du bist. Dann muss ich dir wohl das ganze Gedächtnis nehmen oder gleich alles, was du mir an Lebenskraft geben kannst. Wer dich sucht findet dich dann auch, aber schön weit weg von hier. Schade, dass ich dich nicht in mein Versteck bringen und da kultivieren kann. Aber das würde auffallen."
"Was immer du meinst, Tochter des schwarzen Wassers", erwiderte Vendredi. Dann folgten erst einmal einige Sekunden Ruhe. "Ah, ich höre gerade, dass jemand Verwendung für dich hat. Es ist zwar noch nicht der erste Sonntag im Mai oder bei euch der zweite Maisonntag, aber für Geschenke an die eigene Mutter ist ja immer eine Gelegenheit."
"Dann ist sie wahrhaftig wieder da, diese Erzhure der dunklen Seite?" fragte Vendredi.
"Hallo, geht es noch? Wie redest du denn von meiner Mutter?" tadelte Itoluhila ihren Gefangenen. "Die hat ein verdammt anstrengendes Dasein hinter sich und hat auch von euch kurzlebigen Respekt verdient. Aber den wird sie dir sicher beibringen. Ah, ich fühle, dass sie erscheint."
Ohne Geräusch tauchte eine andere Frau aus dem Nichts auf. Sie besaß braungetönte Haut und dunkles Haar und trug ein violettes Gewand. "Und der hat nichts magisches bei sich, nicht einmal einen Zauberstab?" fragte die Unbekannte. Offenbar bekam sie eine Antwort. Denn sie erwiderte: "Dann werde ich mich sehr erkenntlich zeigen, dass er sich für mich bereitgestellt hat. Löse deine Geistesfesseln und auch die um seinen Leib, Tochter!" Die andere gehorchte. "Ach ja, mach, dass keiner ihn hier vermisst, wenn diese dummen Beischlafhungrigen bei Sonnenaufgang wieder fortgebracht werden!"
"Natürlich, Mutter", sagte Itoluhila. Dann löste sie erst die vier Fesselstränge um Vendredis Körper. Das alles bekam er noch wie in Trance mit. Dann erwachte er unvermittelt und erkannte, dass er voll in eine Falle geraten war, mit der er überhaupt nicht gerechnet hatte. Aber ohne Zauberstab und Schutzartefakte war er diesen beiden Missgeburten hilflos ausgeliefert. Kein Troll der Welt konnte dümmer sein als er gerade war.
"Du hast dir eine sehr große Ehre verdient, Frankenländer. Du darfst mir helfen, meine Streitmacht gegen die Langzähne und Euresgleichen zu errichten. Gib mir deine Hand, oder soll ich mir aussuchen, wo ich dich anfasse, um dich mitzunehmen?" sprach ihn die zweite Frau an.
"Ich habe es deiner Ausgeburt da schon gesagt, weil ich nicht anders konnte. Die werden mich entweder suchen oder mitkriegen, wenn du oder die da irgendwas mit mir anstellt. Meine Leute sind gerade auf euch besonders gut vorbereitet."
"Warum haben wir dich dann erwischt?" fragte die andere. Er fühlte diese starke Aura von ihr ausgehen, eine Aura beinahe grenzenloser Macht.
"Er hat Urlaub genommen. Keiner sollte wissen, wo er ist", feixte Itoluhila.
"Wenn du ganz gehorsam tust, was ich von dir will, werden deine Leute dich nicht früher finden als dir lieb ist", sagte die andere. Das war wahrhaftig Lahilliota. Julius Latierre hatte es Ornelle Ventvit gegenüber protokolliert, dass ihre Seele wohl in seiner früheren Tante Alison Halt gefunden hatte. Aber offenbar hatte die dabei auch gleich ihren alten Körper wiederhergestellt. Er konnte nicht weiterdenken. Denn eine schmale Hand packte ihn am Hals und drückte so kräftig zu, dass er schon fürchtete, gleich keine Luft mehr zu bekommen. Dann sah er, wie die andere einen Zauberstab hob und meinte dann, von einer mörderischen Kraft an allen Stellen des Körpers zusammengequetscht zu werden. Er kannte das Gefühl. Er apparierte, gegen seinen Willen. Eigentlich konnten die Abgrundstöchter keinen wachen Zauberer auf diese Weise mitnehmen. Aber was war nach der Rückkehr ihrer Urmutter noch eigentlich?
Er fand sich mit der Mutter der Abgrundstöchter in einem weitläufigen unterirdischen Raum wieder. Von der Decke fiel schwaches, gelbes Licht in diesen Raum. Er sah mehrere Gittertüren in den Wänden, hinter denen andere nackte Männer hockten. "Da ist noch eine Zelle frei. zwölf habe ich, zwei sind noch zu besetzen", sagte Lahilliota. Vendredi versuchte trotz der totalen Chancenlosigkeit einen Fluchtversuch und hieb nach der anderen. Sie tanzte den Schlag aus und versetzte ihm ihrerseits einen ansatzlosen Kinnhaken, der ihn erst in einen bunten Sternenregen und dann in völlige Dunkelheit hüllte. Als er mit schmerzendem Kifer und dröhnendem Schädel wieder zu sich kam hockte er auf einer Holzbank hinter einer verschlossenen Gittertür. Fluchtversuch gescheitert!
Lahilliota sprach in einer Vendredi unbekannten Sprache zu den anderen. Diese rüttelten an den Zellentüren und machten einen heftigen Aufstand. Doch mit einer blitzartigen Zauberstabbewegung versetzte sie alle in eine Art Schockstarre, auch Vendredi, der nach dem Schloss der Zellentür gesucht hatte. Jetzt fvühlte er sich völlig Kraftlos. "Ich habe dich und die anderen hergeholt, weil ihr eine sehr vielversprechende Lebensausstrahlung zeigt. Weil du ein Träger der hohen Kräfte bist bist du für mich natürlich besonders begehrenswert", sagte Lahilliota auf Französisch. Wieso konnte diese uralte Höllendirne diese Sprache, wo sie doch bis vor einigen Monaten noch in ihrer jüngsten Tochter eingeschlossen im Tiefschlaf gelegen hatte? "Weil ich mit der eins wurde, die diese Sprache als junges Mädchen erlernt hat, Arion", hörte er ihre Gedankenstimme. Dieses Weib konnte seine Gedanken hören und ihm was zumentiloquieren. "Ja, und wenn ich will auch sachen in deinen Geist hineinpflanzen, die dich alles glauben lassen, was ich dich glauben lassen will. Du hättest deinen Lebensspender bei euch in Frankreich benutzen sollen. Jetzt gehörst du mir."
"Wie erwähnt, die werden mich suchen", knurrte Vendredi.
"Wo denn, wie denn? Du weißt ja nicht mal, wo du bist. Woher sollen das andere dann wissen?" hörte er die Gedankenfrage. "Aber jetzt will ich zusehen, die zwei fehlenden zu beschaffen, damit ich die erhabene Zahl zusammenhabe."
"Ich dachte, das sei für dich die dreizehn", stieß Vendredi in Gedanken aus, weil er nicht sprechen konnte.
"Soll das mich erheitern oder verärgern?" hörte er die Gedankenstimme wieder in sich. "Weil ich dich sehr gerne unversehrt haben will nehme ich das erste an", fügte sie noch hinzu. Dann war sie auf einmal verschwunden. Vendredi und die anderen konnten sich wieder bewegen und sprechen. Doch ohne Wechselzungentrank konnte er wohl keinen von denen hier verstehen. Er hörte nur, dass sie alle große Angst hatten. Ja, und er konnte diese Angst auch riechen. Eigentlich müsste er hier die meiste Angst haben, soviel er von dieser Dunkelhexe, die sich zu einer wahrhaftigen Erzdämonin weiterentwickelt hatte, gelernt hatte. Sie ließ ihm Zeit, sich auszumalen, was sie mit ihm vorhatte, und er wusste, dass er keinem verraten konnte, wo er war. Trotzdem versuchte er, jemanden anzumentiloquieren. Doch seine eigenen Gedankenbotschaften flogen ihm wie auf ihn geschleuderte Steine gegen den Kopf und brachten ihn noch mehr zum dröhnen. Also war das Gedankensprechen hier nicht möglich, sowie in den Schlafhöhlen der Abgrundstöchter. Damit hätte er doch rechnen müssen, schalt er sich einmal mehr einen Idioten.
Als Lahilliotas Wiederverkörperung genauso lautlos disappariert war, wie sie vorher in diesem verfluchten Bungalow appariert war, schaffte es Vendredi, seine aufgekommene Angst einstweilen niederzuhalten. Er prüfte seinen eigenen Zustand. Er war völlig nackt. Nichts hatten diese Dämonendirnen ihm gelassen. Womöglich wurden seine in diesen vertückten Bungalow mitgebrachten Habseligkeiten schon in einem versteckten Ofen verbrannt, um bloß keine Spur von ihm zurückzulassen. Die anderen würden sich nicht daran erinnern, dass er mit ihnen mitgefahren war. Dafür würde dieses kaffeebraune Flittchen sorgen, das er eigentlich in Sevilla und Granada vermutet hatte. Soviel zu seinen Möglichkeiten und Aussichten.
Nun betrachtete er die elf anderen Mitgefangenen. Es waren körperlich gesund aussehende Männer zwischen blutjung und in den besten Jahren. Auch sie waren völlig nackt. Vendredi erkannte, dass sich die Mutter der Abgrundstöchter aus allen Weltecken Männer und Jünglinge zusammengefangen hatte. Er erkannte zwei Asiaten, fünf Araber oder Inder, einen ebenholzfarbenen Afrikaner, der vom Körperbau ein kampferprobter Stammeskrieger sein konnte und drei amerikanische Ureinwohner. Außer ihm und einem gerade schlafenden Jüngling gab es hier keine weiteren Europäer in dieser unfreiwilligen Gemeinschaft. Offenbar trachtete Lahilliota danach, sich einen männlichen Harem zusammenzustellen, in dem arglose Burschen aus aller Welt eingepfercht sein sollten und ihr und wohl auch ihren durchtriebenen Töchtern als Liebesssklaven und wohl auch Nahrungsquellen dienen sollten. Vendredi wusste auch aus seinen berufsbedingten Studien und den Berichten von Julius Latierre, dass diese weiblichen Ungeheuer eigentlich keinen Zauberer gegen seinen Willen ortsversetzen konnten. Julius war damals von einer Dienerin der Windsbraut Ilithula per Portschlüssel in die Nähe ihres magischen Refugiums befördert worden. Doch Lahilliota war mächtig genug, auch Zauberer gegen deren Willen beim Apparieren mitzunehmen. Eigentlich konnte er Julius Latierre dafür danken, dass die Mutter dieser Unheilsbräute wieder freigekommen war. Doch andererseits wusste er auch, dass Julius Latierre das auf gar keinen Fall beabsichtigt hatte, als er seiner Tante Alison zur Hilfe geeilt war und dabei in die magische Auseinandersetzung zwischen den verfeindeten Schwestern Itoluhila und Errithalaia hineingeraten war. Doch nun steckte er, Arion Vendredi, als Gefangener dieser Unheilsmutter in einer kleinen, vergitterten Zelle. Hier gab es nur eine glattpolierte Holzpritsche, unter der ein schon edel aussehender Porzellantopf mit Deckel stand, der wohl als Auffangbehälter für jede anfallende Notdurft diente. Auch die anderen Gefangenen hatten diese spärliche Ausstattung in ihren Zellen. Sie sahen ihn, den Neuzugang, immer wieder mit einer Mischung aus Argwohn und Mitgefühl an. Aber die wussten wohl nicht, was ihnen hier zugedacht war. Sie waren einfach nur betrübt und verängstigt, weil sie von einem auf den anderen Moment in diesen Kerker geraten waren. Für Muggels war die plötzliche Ortsversetzung schlicht erschreckend, auch wenn ihre phantasievollen Geschichtenerzähler ihnen immer wieder Märchen aus Vergangenheit und Zukunft auftischten, in denen je nach Handlungsjahr Zauberei oder eine spekulative technische Entwicklung solche Beförderungsvorgänge ermöglichte. Doch sowas am eigenen Leib zu erleben konnte sich kein lebender Muggel vorstellen, bis es passierte.
Das aus magischer Quelle stammende gelbe Licht bekam einen immer stärkeren Rotton und wurde schwächer. Trotz der angespannten Stimmung merkte Vendredi, wie er immer müder wurde. Er argwöhnte einen neuerlichen Angriff mit Schlafgas und versuchte, durch spärlicheres Atmen die Wirkung zu verzögern. Tatsächlich sah er, wie die ersten Gefangenen sich stark schwankend zu den Pritschen bewegten und darauf niedersanken. Dann fühlte er, wie auch er dem Schlaf nicht mehr widerstehen konnte. Er verdrängte den Trotz, einfach dort umzukippen, wo er stand und nahm die ihm dargebotene Schlafstätte an. Kaum lag er auf der sich merkwürdig weich und warm anfühlenden Bank übermannte ihn auch schon der Schlaf.
Als Arion Vendredi wieder aufwachte sah er zunächst, dass die magische Beleuchtung wieder zu einem warmen, gelben Ton verfärbt war. Dann erkannte er, dass die zwei vorher noch leeren Zellen ebenfalls besetzt waren. Zwei Europäer waren die neuen Mitgefangenen. Es waren Jungen, die wohl gerade erst siebzehn bis neunzehn Jahre alt sein mochten. Sicher, für die Abgrundstöchter waren hauptsächlich geschlechtsreife Menschenmännchen empfänglich, dachte Vendredi in einem Anflug aus seiner eigenen Hilflosigkeit geborenen Sarkasmuses. Auch sah er, dass die zwei Neuen selige Gesichter zur Schau trugen, als erlebten sie gerade einen sehr schönen Traum oder hätten gerade das beglückenste Erlebnis ihres Lebens erfahren, vielleicht das berühmte erste mal. Das war sicher auf dem Mist Itoluhilas gewachsen, erkannte Vendredi mit großer Verbitterung. Doch dann siegte seine Entschlossenheit, sich nicht als beliebig spielbare Figur in Lahilliotas finsterem Spiel zu fügen. Er ging an die Gittertür seiner Zelle und rief die zwei selig lächelnden Jünglinge auf Französisch an. Die reagierten nicht darauf. So rief er ihnen auf Spanisch die Frage zu, wer sie waren. Die Sprache konnten sie wohl. Denn sie sahen ihren Mitgefangenen an und nannten ihre Namen, José und Miguel. Die anderen Gefangenen wachten von dieser kurzen Unterhaltung auf und blickten ihre europäischen Mitgefangenen verstört an. Da meldete sich noch ein junger Bursche, gerade erst achtzehn oder neunzehn Jahre alt und stellte sich als Pablo vor. Dann erinnerten sie sich wohl wieder daran, dass sie hier gefangen waren und rüttelten lautstark rufend und brüllend an den Gittertüren. Einer versuchte sogar, den unter seiner Pritsche abgestellten Nachttopf gegen die Gitter zu werfen. Arion Vendredi fürchtete schon, dass dieses besondere Geschirr zerbrechen und seinen anrüchigen Inhalt verlieren würde. Doch der Nachttopf tippte geräuschlos von den Gittern zurück und segelte einfach unter die Pritsche zurück. Ein neuerlicher Versuch, ihn als Wurfgeschoss zu missbrauchen gelang dem Mann aus dem Orient nicht. Denn das Notdurftauffanggefäß stand nun wie festgebacken auf dem Boden. Offenbar hatte Lahilliota oder eine ihrer wachen Töchter was angestellt, um die Zelleneinrichtung nicht zu beschädigen. Das passte auch dazu, dass Vendredi seine Pritsche wie eine weiche, vorgewärmte Matratze empfunden hatte. Offenbar wollte dieses Unheilsweib ihren Gefangenen einen gewissen Komfort bieten. Bei dem Gedanken fühlte Vendredi, dass er selbst gerade einen gewissen Drang hatte. Er bückte sich unter die Pritsche und holte den ihm zugebilligten Porzellantopf hervor. Der Deckel klappte von selbst auf. Ohne sein Zutun bekam Vendredi mit, wie er ohne Hand anlegen zu müssen Wasser in den Topf abließ, ohne sich darauf hocken oder von sich aus hineinzielen zu müssen. Keine zwanzig Sekunden später war seine Blase leer. Er dachte schon, etwas würde nachtropfen. Doch dem war auch nicht so. Der Topf schloss sich von selbst wieder. Vendredi knurrte verdrossen und stellte ihn unter die Pritsche zurück. Dieses Biest hatte echt an alles gedacht, um zu verhindern, dass jemand unabsichtlich oder aus purer Trotzreaktion diese Zelle besudelte. Doch was war mit Wasser und Nahrung?
"Eh, ist langsam gut, Leute! Toller Gag das. Aber jetzt könnte echt mal wer die Tür aufmachen und mir stecken, was die Kiste soll", lamentierte José, als ihm endgültig klarwurde, dass das hier kein unangenehmer Traum nach einer herrlichen Liebesnacht oder so war. Vendredi rief ihm zu, dass sie alle Gefangene von ganz bösen Frauenzimmern seien, vor denen sogar mächtige Hexen und Vampire zitterten. Miguel lachte darüber. "Neh, alter. Vampire und Hexen. Doller Witz das. Aber ich glaube nich' an diesen Scheiß. Das gibt's nur in Märchen und Geistergeschichten."
Miguels trotzige Antwort war noch nicht im Kerker verhallt, als sie aus dem Nichts erschien. Lahilliota trug wieder oder immer noch ihr violettes Gewand, dass irgendwie aus der Vorzeit zu stammen schien. Sie sah Miguel an und lächelte überlegen. "Du wirst noch ganz andere Dinge erleben, von denen du bisher nicht glauben konntest, dass es sie gibt, mein hübscher Junge", sagte sie auf Spanisch. Dann wandte sie sich an den afrikanischen Gefangenen. Ihm rief sie was zu, was Vendredi nicht verstand. Er vermutete nur, dass es in der Sprache Suaheli gerufen wurde. Der Afrikaner ballte seine Fäuste und schlug damit durch die Gitter. Doch weil Lahilliota zu weit von ihm entfernt stand erreichte er damit nichts. Sie zielte kurz mit ihrem Zauberstab in die Zelle. Der Gefangene wurde in die Luft gerissen und schrie laut und in größten Todesqualen auf. Vendredi kannte das vom Cruciatus-Fluch. Doch Lahilliota hatte kein hörbares Zauberwort ausgestoßen. Sie konnte diesen Fluch oder etwas gleichwertiges ungesagt ausführen. Diese schreckliche Erkenntnis ließ Vendredi erbleichen. Die Schreie des gefolterten Afrikaners hallten eine halbe Minute lang durch den Kerkertrakt. Dann fiel der gefolterte Gefangene aus anderthalb Metern Höhe zu Boden und blieb wimmernd und in letzten Auswirkungen der Agonie zuckend liegen. Lahilliota stieß mit unüberhörbarer Verärgerung mehrere Worte aus. Offenbar galten diese allen Gefangenen. Denn als sie die drei neuen Gefangenen mit ihrem zornigen Blick bedachte rief sie auf Spanisch: "Jetzt wisst ihr, was dem widerfährt, der es wagt, mir und meinen Töchtern mit Gewalt zu widerstehen. Ich habe euch alle hier zusammengebracht, weil meine Töchter und ich erkannt haben, dass ihr mir sehr gute Diener verschaffen könnt. Fügt euch und wagt nicht noch einmal, mir irgendwie zu trotzen! Es würde keinem von euch bekommen."
"Wir sollen dir Diener verschaffen?" fragte Vendredi auf Spanisch. Lahilliota wirbelte herum und sah ihn an. Den Zauberstab hielt sie jedoch gesenkt. "Ja, das ist deine und aller anderen Aufgabe hier, Arion Vendredi", sagte sie nun mit einer ruhigen, aber gleichfalls sehr entschlossen klingenden betonung. "Ja, und wenn du denkst, ihr seid schon meine Sklaven, so stimmt das nur zum Teil. Ihr seid meine Befruchter", fügte sie noch hinzu. Vendredi musste überlegen, ob er es richtig verstanden hatte und fragte auf Französisch, ob sie ihn und die anderen gerade als Befruchter bezeichnet hatte. Sie nickte bestätigend. Dann sagte sie auf Spanisch: "Zwei meiner Töchter werden in kürze zu euch kommen und euch für mich vorbereiten. Sie können auch ohne feststofflichen Kraftausrichter ihre Kräfte wirken. Sollten sie euch wegen sinnloser Ungebärdigkeit töten müssen muss ich mir eben neue Befruchter holen."
"Ich ging davon aus, dass du niemals einen Mann so nah an dich heranlassen wolltest, um Kinder von ihm zu bekommen, Lahilliota", stieß Vendredi aus.
"Tja, andere Zeiten erfordern andere Vorgehensweisen", bekam er eine schnippische Antwort. Dann war dieses in Violett gekleidete Frauenzimmer auch schon wieder im Nichts verschwunden. Vielleicht hatte sie sich aber auch nur unsichtbar gemacht. Deshalb sagte Vendredi noch: "Eher beiße ich mir selbst was ab, als dass ich dir meine Kinder in den Bauch lege, Unheilsdirne." Doch darauf erfolgte keine Antwort.
"Eh, Franzmann. Du scheinst wohl zu peilen, was hier abgeht. Was soll die beschissene Kiste hier?" wandte sich José an Vendredi. Dieser grinste ihn überlegen an und sagte: "Tja, offenbar hat Lahilliota, die in eurer Bibel auch Lilith genannt wird, beschlossen, dass wir, die Söhne Adams und Evas, ihr doch noch ein paar eigene Kinder in den Bauch stoßen sollen, wo sie vor mehr als viertausend Jahren noch keinen Mann für sowas nötig hatte."
"Die Lilith, die das Paradies verlassen hat, weil sie beim Rammeln nicht unten liegen wollte?" fragte Pablo verdattert. Vendredi grinste wieder und nickte. "Meine Ex hat 'ne Cousine, die von deren Eltern Lilith genannt wurde, nur um die Pfaffen zu ärgern, die sie taufen sollten. Die haben das dann natürlich voll abgelehnt. Deshalb läuft die ohne vatikanische Weihwasserdusche durchs Leben. Aber dass es die Braut echt geben sollte habe ich nie geglaubt. Und wir sollen die auffüllen?" wollte Miguel wissen.
"So habe ich das verstanden", sagte Vendredi verdrossen. Pablos Antwort war ein passender, wenn auch unanständiger Ausdruck. José schlug das Kreuzzeichen. Offenbar hatte der kapiert, dass er hier von genau den Ausgeburten der Hölle drangsaliert wurde, vor denen ihn die katholischen Priester und die von diesen erzogenen Leute immer gewarnt hatten. "Eh mann, ich wollte es nur mit 'ner Frau treiben, bevor ich bei der Marine anfange. Die wollen da keine Jungfrauen, hat mir so'n Matrose erzählt", lamentierte José. Vendredi grummelte ob dieser Begründung. Dann fragte er doch, wo genau José dieses berühmte erste Mal erlebt hatte und erfuhr von einem Freudenhaus namens Casa del Sol in Sevilla. "Und da haben sie dich reingelassen, wo du noch keine achtzehn Jahre bist?" wollte Vendredi wissen. José funkelte ihn dafür verärgert an und erwähnte, dass er bereits neunzehn sei und die Puffmutter da seinen Ausweis kontrolliert hatte, bevor sie ihn in den Auswahlbereich reingelassen hatte. Dann habe ihn eine gewisse Loli angesprochen und sich ihm angeboten. Tja, und als er bei ihr im Zimmer war und die erste Runde hinter sich gebracht hatte, sei er von ihr einfach hierher teleportiert worden.
"Tja, du hast dir den falschen Ort ausgesucht, wie wohl wir alle hier", sagte Vendredi. Denn was dem blutjungen Burschen passiert war hatte er ja selbst erlebt. "Normalerweise entzieht diese sich Loli nennende Ausgeburt ihren Liebhabern Lebensenergie, um sich daran zu mästen und ihr eigenes widernatürliches Leben zu verlängern. Insofern kannst du froh sein, dass sie dich ihrer Mutti überlassen musste."
"Ja, aber ich hab' doch ... Mist, die haben mir echt auch Oma Conchis Kreuz weggenommen. Gehen die nicht daran kaputt wie Vampire?" fragte José verstört. Vendredi seufzte. Dieser von den Phantasten der Muggel verbreitete Blödsinn, dass Vampire und andere Wesen der dunklen Kräfte beim Anblick eines christlichen Kreuzes erschraken oder durch dessen Berührung vernichtet wurden hatte schon so viele vermeidbare Katastrophen in der magielosen Welt herbeigeführt, weil jemand meinte, einem echten Vampir mit sowas kommen zu können oder gegen die Begehrlichkeiten einer Sabberhexe angehen zu können. So musste er den ihn verstehenden Jungen erklären, dass diese unheilvollen Frauenzimmer älter als das Christentum waren und somit jede christliche Symbolik verlachten. Pablo meinte dazu: "Und das mit den Kreuzen ging bei "Tanz der Vampire" auch nur bei nichtjüdischen Vampiren. Das war ja neben dem schwulen Vampir der zweite Gag in diesem Film."
"Habe ich nicht gesehen. Ich wollte mir sowas nie angucken, weil meine Oma meinte, ich sollte keine Witze über die Ausgeburten der Hölle machen oder mir Sachen anhören oder ansehen, die diese Geschöpfe als Witzfiguren darstellen", erwiderte José.
"Woher wissen Sie eigentlich soviel über diese Schicksen. Sind Sie auch so'n scheinheiliger Seelenhirte, der am Sonntag Enthaltsamkeit predigt und dann anderswo unter falschem Namen die Sau rauslässt?" fragte Pablo Vendredi. Dieser antwortete, dass er in einer geheimen Behörde arbeitete, die überirdische Wesen und deren Taten erforschte und so gut es ging unter Kontrolle hielt. Er fügte schnell hinzu, dass diese Behörde auch dem Vatikan völlig unbekannt sei, da ihre Arbeitsweise auch nicht mit der Weltanschauung der katholischen Kirche vereinbar sei.
"Ach, dann jagen Sie solches Gezücht, sowie die Geisterjäger in den Gruselromanen?" wollte Pablo wissen.
"Tja, Burschi, wenn wir nicht selber von diesen Ausgeburten gejagt werden schon", schnaubte Vendredi.
"Nett, dass du unseren drei ganz jungen Gästen erklärt hast, womit sie es zu tun haben", erklang eine Stimme aus dem Nichts. Dann flimmerte die Luft, und Itoluhila stand da. Sie trug ein wasserblaues Kleid, dass zu ihrer Augenfarbe passte. Sie wandte sich an José und säuselte: "Du hast mir eine sehr schöne Stunde bereitet, José. Meine Mutter will dich deshalb zuerst haben, weil noch was von mir in dir wirkt und damit eine erhabene Verbindung ermöglicht."
"Vergiss es, Satanstochter!" rief José. Doch da traf ihn der Blick der Abgrundstochter. "Das klärst du mit meiner Mutter persönlich, wenn du dich mit ihr triffst", säuselte Itoluhila, als José weltentrückt und ganz ohne Anflug von Widerwillen an die Gittertrür trat. "Komm, ich bring dich in den Vorbereitungsraum. Meine Mutter bereitet sich schon auf eure Vereinigung vor", sagte sie.
"Glaub's mir, widernatürliche Missgeburt, dass ihr nicht lange Freude an uns haben werdet", stieß Vendredi aus. "Meine Leute suchen mich sicher schon bald."
"Mann, kleiner Zauberstabschwinger, das hatten wir doch schon. Erstens vermisst dich bis zum zwanzigsten März keiner von deinen Leuten, weil du selbst nicht gefunden werden wolltest. Dahin sind es noch genug Tage. Außerdem weißt du nicht, wo du bist. Dann können deine Leute dich auch nicht finden. Außerdem hast du nichts mehr bei dir, mit dem du deinen Leuten Zeichen geben kannst, wo du bist. Also gib endlich dieses sinnlose Aufbegehren dran. Meine Mutter will dich erst, wenn die jüngeren bei ihr waren. Deine Zauberkräfte sollen für die sein, die sie als Außenschutz und Kundschafter ausbilden will. Die anderen sollen Arbeiter und Leibgardisten mit ihr hinkriegen."
"Ach, hat deine Mutter was gezaubert, dass sie an einem Tag ein Kind empfangen, austragen und gebären kann? Weil sonst müsste auch sie mindestens neun Monate warten, bis die von uns abgezwungene Brut ausgetragen ist", begehrte Vendredi weiter auf.
"Ich kann mich gerade nicht auf dich konzentrieren, damit es hier nicht zum unnötigen Krawall kommt, Arion Vendredi. Aber glaub es mir. Meine Mutter kriegt hin, was sie vorhat, und du wirst ganz anders von ihr denken, wenn wir dich vorbereiten."
"Gefällt dir das, nur noch die Handlangerin deiner wiedererwachten Mutter zu sein, Abgrundsdirne?" provozierte Vendredi sie weiter. Er hatte sich entschlossen, lieber von diesem Weibsbild getötet zu werden, als der willige Zuchthengst ihrer Mutter zu werden.
"Gefallen tut mir das nicht. Aber ich habe schon vieles machen müssen, was mir nicht gefiel und doch verflixt nötig war. Und weil wir auch dir nicht ganz unbekannte Gegenspieler haben muss ich meine geliebte Eigenständigkeit einstweilen zurückstellen. Aber das darf dir meine Mutter gerne erzählen, wenn sie von dir hat, was sie will. Und jetzt habe ich genug Zeit mit dir verquatscht."
Sie holte einen Schlüssel aus ihrem blauen Kleid und sperrte Josés Zellentür auf. Wie in tiefer Trance folgte ihr der junge Spanier, wobei sie immer wieder Blickkontakt mit ihm suchte. Die anderen Gefangenen rüttelten derweil an ihren Zellentüren und krakehlten. Doch Itoluhila ging nicht darauf ein. Sie lotste den ihr vollkommen verfallenen Jungen hinter sich her. Vendredi erkannte, wie mächtig diese Abgrundstochter war und wie viel Glück dieser ihm oftmals aufmüpfig aufgefallene Bursche Julius Latierre gehabt hatte, nicht in den Bann dieser Ausgeburten geraten zu sein. Der wäre am Ende noch zum Massenmörder oder nützlichen Spion geworden wie sein Vater Richard Andrews. Vielleicht steckte in José sogar eine schwache magische Kraft, die er jedoch bisher nie freisetzen konnte. Ja, konnte es sein, dass dies ein Kriterium bei allen Gefangenen hier war, dass sie unaufweckbare Zauberkräfte hatten? Oder boten sie nur das bestmögliche, was ihre Rassen und Völker zu bieten hatten?
Itoluhila führte den unter ihrem Bann stehenden Jungen wie an einer unsichtbaren Hundeleine aus dem Kerkertrakt, der durch eine per Handauflegen zu öffnende Felsentüre verlassen werden konnte. Der Durchgang schloss sich mit leisem Schaben wieder. Jetzt sah es wieder so aus, als besäße die Halle mit den zwei mal sieben Gitterzellen keinen Ausgang. Nur das magische Licht glomm von der Decke herab.
"Eh, Señor Arion, der Kleine muss jetzt echt mit der Mutter von dieser Wahnsinnsbraut 'n Kind machen oder sowas?" wollte Pablo wissen. Vendredi sah ihn etwas ungehalten auf Grund dieser nach allen Erklärungen überflüssigen Frage an und erwiderte: "Ja, und er wird das vielleicht sogar mit vollster Lust erleben, sowie diese Dirne ihn mit ihrem Blick bezirzt hat."
"Eh, und Ihre Leute suchen uns?" fragte Pablo.
"Wohl erst einmal mich, weil von euch wissen sie ja noch nichts", berichtigte Vendredi den jungen Burschen. Dabei belog er ihn sogar eiskalt. Denn Itoluhila hatte recht, dass er vor dem zwanzigsten März wohl nicht gesucht werden würde. Wie viele Tage es noch dahin waren wusste er nicht, weil er nicht wusste, wie lange ihn das Schlafgas oder der Schlafzauber benebelt hatte. Er fühlte noch nicht mal seinen Magen knurren. Am Ende hatten die hier was gemacht, dass niemand Hunger fühlen konnte. So einen Zauber gab es, wenn jemand mehr als zwei Tage von der Außenwelt abgeschnitten sein musste. Aber die Heiler empfahlen den nicht, weil der Körper trotzdem von Nahrungszufuhr abhängig war. Pablo schien Vendredis Gedanken mitbekommen zu haben. Denn der fragte: "Wenn diese Höllenbräute echt jeden von uns über Stunden rannehmen wollen, wie sieht's für die anderen dann mit Essen und Trinken aus?"
"Geh davon aus, dass die dieses Problem schon bedacht und entsprechende Vorkehrungen getroffen haben", erwiderte Vendredi verdrossen klingend. Er deutete auf den Nachttopf unter seiner Pritsche. "Wer was für unten raus hier reinstellt muss auch für oben rein was anbieten."
"Eh, und wenn ich dieser Dämonenschnepfe jetzt eins auswische und alles im Handbetrieb aus mir rauslasse, was die von mir haben will?" fragte Miguel verwegen dreinschauend.
"Tja, das kann ich dir nicht sagen. Aber vielleicht binden sie dir dann die Hände am Gitter fest, damit du das nicht noch einmal machst und warten, bis du wieder genug vorrätig hast, um denen zu liefern, was sie wollen", erwiderte Vendredi. Der Gedanke hatte schon was wirklich verwegenes. Doch er war kein pubertierender Jüngling mehr und kannte sich zudem zu gut mit diesen Biestern aus. Deshalb wusste er, dass ihm jede Zeugungsvereitelungsmaßnahme übel bekommen würde.
Irgendwie meinte Vendredi, dass das gelbe Licht noch ein wenig stärker schien, als er unvermittelt das gefühl hatte, dass etwas direkt in seinem Magen verstofflicht wurde und ihm ein gewisses Völlegefühl bereitete. Auch die anderen schienen ähnlich zu empfinden. Sie fassten sich an ihre straffen Bäuche, die jetzt wahrhaftig ein wenig rundlicher aussahen. Pablo sah Vendredi an und fragte ihn, ob das ein Sattmacherzauber war oder sowas.
"Mir persönlich ist ein solcher Zauber unbekannt, was aber nicht heißt, dass es nicht genau das ist. Irgendwie wirkt in diesem Kerker eine Magie, die ermöglicht, dass wir alle zu bestimmten Zeiten benötigte Nahrung direkt in unsere Bäuche hineinverpflanzt bekommen, sicher auch auch benötigtes Wasser. Womöglich lagert irgendwo durchgekautes Zeug oder nahrhafter Brei, der in diesen Zauber einbezogen wird." Dann dachte er daran, dass die magischen Heiler einen Zauber zur sauberen Magenentleerung kannten, den Ventervacuus-Zauber. Aber der wurde hier wohl nicht angewendet, sonst hätten sie sich die Nachttöpfe ersparen können.
Das Licht wurde wieder schwächer. Vendredi vermutete, dass es einen natürlichen Tag-Nacht-Rhythmus nachempfand. Dann würde wohl bald wieder der Schlafdunst oder Schlafzauber über sie kommen. Die Zeit bis dahin verbrachte er mit für ihn belanglosen Gesprächen mit Pablo und Quame, dem Afrikaner, der zumindest Englisch konnte. Auch der Afrikaner war in eine Falle der Abgrundstöchter geraten, allerdings von einer seiner Rasse angehörigen Frau in Nairobi erwischt worden. Einer der Asiaten, ein Mann aus Tokio, war aus dem völlig dunklen Raum eines sogenannten Swingerclubs heraus verschwunden, als er da gerade mit einer wilden kleinen Frau die Wonnen der Liebe gekostet hatte. Das war sicher die aus dem Schlaf geweckte Tochter der kosmischen Dunkelheit, welche aus Dunkelheit Kraft ziehen und Wesen der Nacht unter Kontrolle bringen konnte, weshalb sie von Vampiren als die schlimmste anzunehmende Feindin überhaupt gefürchtet wurde, seitdem jener Herrscher der Nachtschatten, der in Marokko sein Unwesen getrieben hatte, in einer gewaltigen Hitzeentladung vergangen war. Also hatte Lahilliota alle ihre gerade wachen Töchter dazu abgestellt, ihr kräftige oder anderswie lohnende Männer zu beschaffen, um ihren neuen Plan umzusetzen. Womöglich wollte Lahilliota nun auch Jungen kriegen, weil ihre frühere Vorgehensweise nur Töchter ermöglicht hatte. Vendredi überlegte, wie er sich diesem verruchten Vorhaben verweigern konnte. Er musste es darauf anlegen, zu sterben, damit sein Erbgut nicht in solche Unheilskinder einfloss. Das ließ ihn wieder daran denken, dass er eigentlich vorgehabt hatte, wegen Vita Magica eine dauerhafte Unfruchtbarkeit herbeizuführen, aber bisher keinen gefunden hatte, der den dafür nötigen Zauber an ihm ausführen wollte. Heiler kannten den zwar. Doch ihre zehn Direktiven verboten die gezielte und dauerhafte beeinträchtigung gesunder Körper.
Als die ersten wohl ihren Drang nicht mehr einhalten konnten stellte Vendredi fest, dass die dafür bereitstehenden Töpfe das wohl mitbekamen und sich von selbst in die bestmögliche Position schoben. Auch schinen sie alles, was in sie hineingelassen wurde ohne unangenehme Gerüche zu verbreiten aufzunehmen. Auch war wohl ein Reinigungszauber eingewirkt, der nach den Sitzungen die betroffenen Körperstellen säuberte. Das konnte Vendredi am eigenen Leib erfahren, als er unverdauliches loswerden musste. Zumindest meinte er, nach der Verrichtung warmes Wasser an den betreffenden Stellen vorbeifließen zu spüren. Diese Frauenzimmer hatten wahrlich das meiste bedacht.
Als dann das Licht wieder einen erst orangen und dann orangeroten Farbton bekam fühlte Vendredi, wie ihn wieder die Müdigkeit überkam. Dann stimmte es doch, dass der Schlafzauber mit dem Licht gekoppelt war. Er versuchte, ihm diesmal zu widerstehen. Doch als das Licht zu einem schwachen, blutroten Glimmen abgedunkelt war, konnte er sich nicht mehr auf den Beinen halten. Er fiel fast hin. Gerade so konnnte er sich noch auf die scheinbar vorgewärmte Pritsche niederlassen. Dann erlosch das Licht völlig und mit ihm schwand Vendredis Bewusstsein.
Wie frisch gebadet fühlte sich Vendredi, als er wieder aufwachte. Er erinnerte sich zwar daran, geträumt zu haben, aber nicht daran, was genau. Zumindest hatte er keinen Albtraum durchlitten. "Ich fühle mich irgendwie, als hätte ich geduscht und mich abgetrocknet. Ich kann mich aber nicht dran erinnern", sagte Pablo, nachdem er seinen ihn verstehenden Mitgefangenen einen guten Morgen gewünscht hatte. Vendredi bestätigte das Gefühl, frisch gesäubert zu sein. Doch dann meinte er, dasss diese Bezauberung auch so eingestellt sein konnte, dass nur ein halber Tag verging oder es in wirklichkeit mehr als die 24 Stunden dauerte, bis ein Zyklus von Licht und Dunkelheit durchlaufen war. "Die könnten uns vorgaukeln, mehr oder weniger Tage hier zuzubringen als wirklich vergehen", begründete Vendredi seine Vermutung.
"Wieso sollten die das? Wenn die echt hexen können und wir eh als Deckhengste oder Zuchthähne hier abhängen lassen die uns eh nicht mehr raus. Dann können wir auch die übliche Zeit Tag und Nacht haben", wandte Miguel ein. Offenbar hatte der Jüngling sich mit der Lage besser angefreundet als Vendredi oder der Afrikaner Quame. Denn der grummelte: "Da geht dir wohl einer ab, kleiner weißer Mann, dass jemand sich von dir bespringen lassen will wie eine stierige Kuh. Ich habe aber zu Hause eine Frau, die auf mich wartet. Und nur die soll meine Kinder kriegen."
"Dann hättest du nicht in so einen Bumsclub gehen dürfen", konterte Miguel auf diese Bemerkung. Quame drohte ihm dafür mit den Fäusten und blaffte, dass der Bursche von Glück reden konnte, dass seine Arme nicht weit genug reichten, um ihm die große Klappe zu stopfen. Miguel musste darüber nur lachen.
Itoluhila erschien wieder aus dem Nichts heraus und verkündete, den nächsten in den Vorbereitungsraum zu bringen. Dann wählte sie Pablo aus. Dieser fragte, was mit José passiert war und warum der nicht mehr wiederkam. Doch dann geriet er in den magischen Bann von Itoluhilas Augen und folgte ihr wie ein benebelter Hund an unsichtbarer Leine. Vendredi versuchte noch einmal, die Abgrundstochter zu provozieren. Doch diesmal ging sie gar nicht auf ihn ein. Sie führte den Ausgesuchten durch die magische Felsentür hinaus und ließ die anderen Gefangenen mit ihren Fragen und Ängsten zurück. So blieben für Arion Vendredi nur noch der pubertären Trotz zeigende Miguel, der zu hitzigen Ausbrüchen tendierende Quame und der in einer schicksalergebenen Haltung wartende Japaner Hiro als Gesprächspartner. Vendredi dachte daran, dass Lahilliota erst die jüngeren Gefangenen haben wollte. So konnte er durch einen kurzen Rundblick abklären, wen es als nächsten erwischen würde. Der Umstand, dass José nicht mehr zurückgeschickt worden war gefiel Vendredi nicht. Was hatte Lahilliota mit dem Burschen angestellt? Hatte sie ihn im Stil einer Spinne oder Gottesanbeterin nach der Begattung getötet? Oder war er von ihrer dunklen Magie derartig durchdrungen worden, dass er frei herumlaufen durfte, weil er sowieso nicht mehr von ihr weg wollte?
Diese Frage beschäftigte Vendredi die ganze Phase des gelben Lichtes lang. Als dann wieder Sonnenuntergangslicht in den Kerkertrakt fiel legte er sich freiwillig auf die Pritsche. Er konnte noch sehen, wie das Licht völlig erlosch, bevor er wieder in tiefen Schlaf fiel.
Wenn hier die Tage genausolang waren wie draußen, so dachte Vendredi, so schrieben sie draußen vielleicht den siebten oder schon den neunten März. Alle jüngeren Mitgefangenen waren von den Abgrundstöchtern aus den Zellen herausgeholt und unter magischem Einfluss hinausgeführt worden. Vendredi hatte so auch die wachen Töchter Ullituhilia, Thurainilla und Tarlahilia zu sehen bekommen, die die von ihnen hergeschafften Gefangenen abholten. Offenbar hatte Lahilliota die Weisung ausgegeben, sich nicht mehr von ihm, dem einzigen echten Zauberer in dieser fragwürdigen Runde, ansprechen und provozieren zu lassen. Doch nachdem Quame als sechster Gefangener geholt worden war hatte Vendredi nur noch Hiro als Gesprächspartner. Doch der japanische Mann Ende dreißig hielt es wohl für sinnlos, noch irgendwas zu besprechen. Scheinbar schwermütig lag er auf seiner Pritsche und wartete darauf, aus der Zelle geholt zu werden. Sicher dachte der auch daran, dass die anderen Gefangenen nicht mehr zurückgekommen waren. Vendredi vermutete, dass der Japaner mit seinem Leben abgeschlossen hatte. Vielleicht dachte der daran, dass er nur noch wenige Tage in dieser tristen Umgebung aushalten musste, um dann, nach dem er seine Aufgabe erfüllt hatte, sterben zu dürfen. Überhaupt schienen viele der Mitgefangenen sich mit der Vorstellung zu befassen, lieber bald zu sterben, als noch einmal irgendwie hier herauszukommen. Vendredis Befürchtungen drehten sich jedoch um etwas anderes. Er war Mitarbeiter im Zaubereiministerium von Paris. Diese Brut hatte mit ihm einen verdammt großen Fisch an Land gezogen, von dem sie mehr als nur eine Hengstleistung abringen konnten. Deshalb würden sie ihn wohl nicht gleich umbringen, sondern erst gründlich ausforschen und ihn vielleicht ähnlich wie Richard Andrews zu ihrem Erfüllungsgehilfen machen. Dem konnte Vendredi nur durch den eigenen Tod entgehen. Doch er fand in seiner Zelle nichts, womit er seinem Leben ein vorzeitiges Ende hätte setzen können. Der Gedanke, sein Gesicht im Nachttopf zu verbergen und sich so zu ersticken war nicht umsetzbar, weil der Deckel nur dann abzunehmen war, wenn das Ding seinen vorgesehenen Zweck erfüllen musste. Sich erhängen konnte Vendredi nicht, weil er keinen Fetzen Faserstoff am Leib trug. In einen Hungerstreik treten ging auch nicht, weil ihm das Essen direkt ohne den üblichen Weg über Mund und Speiseröhre in den Magen gezaubert wurde. Die Luft anzuhalten und zu hoffen, dem Drang zum Ausatmen lange genug widerstehen zu können half auch nicht, weil jedesmal, wenn er mehr als dreißig Sekunden den Atem anhielt ein heftiger Niesreiz aufkam und er danach reflexartig wieder ausatmete. Mit dem Kopf gegen die Gitter oder die Wände anzurennen brachte auch nichts, weil ein Polsterungszauber darin eingewirkt sein mochte. Jedenfalls wurde Quame, der das am dritten Tag versucht hatte, immer wieder sanft abgefangen, als er versuchte, mit dem Kopf gegen die Wand anzurennen oder diesen durch die Gitter zu pressen, in der Hoffnung, sich entweder die Schädelknochen zu brechen oder dann eine Möglichkeit zu haben, sich an den Gittern die Luftzufuhr abzuwürgen.
Der hier herrschende Tag hatte noch nicht die Zeit der magischen Fütterung erreicht, als Itoluhila im Kerkertrakt erschien und mit der Hand auf Arion Vendredi wies. "Es ist Zeit, Arion Vendredi. Meine Mutter ist mit den bisherigen Ergebnissen zufrieden und möchte nun deine magischen Erbanlagen in sich aufnehmen."
"Die kann sie aus den Teilen meiner Leiche gewinnen, Flittchen", schnaubte Vendredi, der beschlossen hatte, durch Widerstand seinen Tod heraufzubeschwören. Als die Abgrundstochter ihn mit ihren Augen zu fixieren trachtete hielt er nun mit Occlumentie dagegen. Noch einmal wollte er sich von diesem Luder nicht überrumpeln lassen. Tatsächlich hielt er ihr mehr als eine halbe Minute stand. "Du legst es echt darauf an, dass ich dich zu ihr hintragen muss", schnaubte Itoluhila. Sie trat einige Schritte zurück und hielt ihre Handflächen nach vorne. Tiefschwarzer Nebel quoll zwischen ihren Händen hervor und drang zwischen den Gittern hindurch zu Arion Vendredi vor. Dieser sprang in die äußerste Ecke der Zelle. Doch das half ihm nichts. Der schwarze Brodem füllte die untere Hälfte der Zelle völlig aus. Vendredi fühlte, wie der magische Dunst seine Beine umfloss und spürte, wie eisige Kälte in ihm aufstieg. Da begriff er, dass dieses widernatürliche Geschöpf ihrem Namen gerecht wurde und ihn nun mit ihrer dunklen Wassermagie vereiste. Er konnte sich schon nicht mehr bewegen, als der Nebel ihm bis zum Bauch reichte. Dann erstarrte er schlagartig. Er fühlte keinen Schmerz mehr, ebensowenig wie den Drang, Luft zu holen. Dann war ihm, als würde die Zeit um ihn herum mit vieldutzendfacher Geschwindigkeit verlaufen. Die Zellentür war im nächsten Moment offen. Dann meinte er, in nur einer halben Sekunde durch den Kerkertrakt zu schweben, durch die blitzartig vor ihm auf - und hinter ihm zufallende Tür zu gleiten und hinter der wie ein unscharfer Schatten vor ihm dahinjagenden Itoluhila herzurasen, ohne auch nur ein Bein bewegen zu können. Er bekam mit, wie er in einer für ihn nur fünf Sekunden dauernden Zeit um mehrere Kurven herumgewirbelt und mal nach oben und nach unten gerissen wurde, ohne dass er eine körperliche Empfindung von alledem fühlte. Nur seine Augen und Ohren funktionierten noch. Für ihn klangen alle Geräusche wie hektisches Knistern und Klicken. Dann ging es durch eine weitere Felsentür in eine weitere Halle hinein. Er meinte noch, umzukippen und mit dem Gesicht nach oben aufzukommen. Auch in diesem Raum glomm das sonnengelbe magische Licht, das keine klaren Quellen zu haben schien, ähnlich wie das Licht eines magischen Klangkerkers. Dann fühlte er plötzlich seinen Körper wieder und hörte sein Herz mit einem lauten Rumpeln weiterschlagen. Er sog gierig Luft in seine bisher erstarrten Lungen ein und versuchte, die Beine zu bewegen. Da merkte er, dass ihn jemand an Armen und Beinen auf einer anderen Holzpritsche festgebunden haben musste.
"Du wolltest das so, Arion Vendredi. Die anderen konnten die Prozedur in einem wohligen Traumzustand überstehen. Du musst da nun bei vollem Bewusstsein durch. Wird für dich sein, als seist du eine Frau, die sich selbst als Kind bekommt, hat mir meine Mutter gesagt. Da musst du jetzt durch."
"Eher sterbe ich, als deiner Mutter zu Willen zu sein, Flittchen. Warum hast du mich nicht gleich vollständig vereist, wie du es mit allen anderen Opfern von dir machst?"
"O Mann, für deine Kenntnisse stellst du aber total bescheuerte Fragen", fauchte Itoluhila. "Du wirst gebraucht. Meine Mutter will dich haben und wird dich kriegen, basta!"
"Was immer ihr euch mit mir und den anderen ausgedacht habt, ich bin kein hilfloser Muggel wie die anderen", knurrte Vendredi.
"Ohne Zauberstab bist du genauso für uns verfügbar wie alle anderen. Dein Trick mit dem Gedankenwegschließen hätte dir nicht lange geholfen, wenn ich wirklich mit aller Gewalt in deinen Kopf hineingeblickt hätte. Aber ich habe den Auftrag, dich unerschöpft abzuliefern und durch die Vorbereitung zu bringen. Glaube mir, dass du deine ganzen Kräfte noch brauchen wirst."
Eine andere Felsentür ging auf, und ein menschengroßes Wesen kam herein. Vendredi starrte mit vor Staunen und Entsetzen weiten Augen auf dieses Geschöpf. Es sah aus wie eine aufrechtgehende, menschengroße Waldameise mit zwei Stummelflügeln. Doch irgendwie erschien ihm der Kopf eher menschlich, von den zwei Hervorhebungen auf der Stirn abgesehen, die wie die Stümpfe von Insektenfühlern aussahen. Itoluhila erkannte wohl, dass Vendredi den befremdlichen Eindringling bemerkt hatte und machte eine wegscheuchende Handbewegung. Der Eindringling ging jedoch durch die Halle und verschwand durch eine andere Felsentür. Itoluhila schnarrte etwas unverständliches. Dann wandte sie sich wieder dem Gefangenen zu.
"Wie gesagt musst du jetzt durch die Vorbereitung durch. Danach wirst du sicher wesentlich umgänglicher sein." Mit diesen Worten griff die Abgrundstochter den Deckel einer ebenholzfarbenen Kiste, in der für Vendredi unverständliche Zeichen eingeritzt waren, sicher magische Zeichen, um die Kiste vor unbefugtem Zugriff zu schützen. Der Deckel klappte lautlos auf. Itoluhila griff in die Kiste hinein und zog zwei Gegenstände heraus, eine verkorkte Phiole und eine Vorrichtung, die aus einem gläsernen Zylinder und darin passgenau eingeschobenen Kolben bestand. Vendredi erkannte die Vorrichtung. So sahen Injektionsgeräte der magielosen Heilkundler aus, mit denen Wirkstoffe direkt in das Blut eines Menschen hineingespritzt werden konnten. Dann fiel ihm auch der rosarote, durchsichtige Inhalt der Phiole auf. Damit war klar, was dieses Unheilsweib mit ihm vorhatte. Statt durch direkte Magie sollte er durch einen alchemistischen Stoff, ähnlich wie das Schlangenmenschengift oder den Keim von Werwölfen und Vampiren umgewandelt werden. Aber was zur zehnköpfigen Hydra hatte das mit der angekündigten Fortpflanzungsabsicht Lahilliotas zu tun.
"Wusste gar nicht, dass deine von allen Blitzen des Himmels zu erschlagende Mutter neuerdings Drogen braucht, um sich ihre Leute unterwürfig zu machen", sagte Vendredi. Ihm war klar, dass er was da auch immer in ihn hineingespritzt werden sollte nicht widerstehen konnte. Doch sich kampflos seinem Schicksal hinzugeben fiel ihm auch nicht ein.
"Das ist keine Droge, sondern magisches Blut, das sich mit deinem vermischen soll. Ich hätte es auch lieber gehabt, wenn meine Mutter nicht darauf zurückgegriffen hätte. Aber ihr Wille ist mein Gesetz und deines demnächst auch", sagte Itoluhila mit unüberhörbarer Entschlossenheit.
"Ach, soll ich ihr Blut in den Leib bekommen, damit ich leichter von ihr herumgekriegt werde, weil sie nicht so einen betörenden Blick hat wie du und deine Schwestern? Wo ist eigentlich deine jüngste Schwester, diese Käferfrau?" begehrte Vendredi auf.
"Weit genug von hier weg, um uns nicht zu stören", knurrte Itoluhila. "Die muss auch erst wieder zu Kräften kommen, bevor sie was neues anfangen kann. Die Befreiung meiner Mutter durch deinen jungen Mitarbeiter Julius Latierre hat meine jüngste Schwester sehr eingeschränkt. Aber das darf dir meine Mutter gerne erzählen, wenn du mit ihr zusammengekommen bist und sie findet, dass du das wissen darfst. Aber genug gequatscht", erwiderte Itoluhila. Mit diesen Worten öffnete sie die Phiole, zog eine Verschlusskappe aus porzellanähnlichem Stoff von der filigranen Nadel der gläsernen Spritze und zog den gesamten Inhalt der Phiole in den Glaszylinder hinüber. Vendredi zählte sein freies, unversehrtes Dasein nur noch in wenigen Sekunden. Itoluhila machte nun nämlich keine Pause mehr. Sie trat mit der vollen Spritze an seine linke Seite heran, betastete den Arm und fand dann die Stelle, wo sie die Nadel einstechen wollte. Vendredi war so stramm gefesselt, dass er nicht den mindesten Wiederstand leisten konnte. Selbst das Anspannen seiner Muskeln half ihm nicht weiter. Er fühlte den schmerzhaften Einstich im linken Arm und spürte, wie das verderbliche Elixier in die Vene hineinfloss. Es fühlte sich wie heißes Wasser an. Er fühlte, wie der Unheilsstoff sich in seinem Arm und dann immer mehr in seinem Körper verteilte. Behutsam drückte Itoluhila den Glaskolben in den Zylinder hinein, darauf bedacht, den tückischen Inhalt nicht zu schnell in Vendredis Körper zu pressen. Noch bevor sie die fremdartige Substanz vollständig aus der Spritze in Vendredis Blutbahn eingeflösst hatte fühlte der gefangene Ministerialzauberer, dass mit ihm eine Veränderung vorging. Sein Körper fühlte sich immer heißer an. Er meinte, von innnen her aufgeblasen zu werden. Gleichzeitig pochten seine Schläfen, und seine Kiefer schmerzten. Seine Gesichtsmuskeln spannten sich an. Sein Herz schlug schneller und heftiger. Dann meinte er sogar, dass zwischen Schultern und Bauchraum irgendwas aus seinem Körper hinausdrängte. Er erbebte unter der Wirkung jenes heimtückischen Elixiers, das sich in seinem Blut verteilte. Jetzt veränderten sich auch seine Sinne. Das Bild vor seinen Augen verschwamm und fügte sich immer wieder neu zusammen, wobei er meinte, die Umgebung in vielen einzelnen Bildern zu sehen und auch in völlig anderen Farben zu erkennen. So konnte er sehen, dass Itoluhilas blaues Kleid nicht einfarbig war, sondern weiße Muster aufwies. Gleichzeitig wurde die Umgebung heller. Nun fühlte er, wie etwas aus seinem Kopf hinausragte und sich erst zitternd und dann ausgreifender bewegte. Zugleich meinte er, dass sein Geruchssinn verstärkt wurde. Sein Gehör schien im Moment nicht weiter beeinträchtigt zu sein. Er nahm Itoluhilas Körpergerüche in sich auf. Doch da war noch was, eine Spur, die er nicht deuten konnte. Doch es regte ihn irgendwie an, sich eine Partnerin für einen ausgedehnten Liebesakt zu suchen. Diese Empfindung ging nicht von Itoluhila aus, sondern hing irgendwie in der freien Umgebung.
Jetzt überfilen ihn starke Schmerzen, als zöge sich alles in ihm zusammen. Gleichzeitig meinte er, zusätzliche Glieder aus dem Körper wachsen zu fühlen. Die Schmerzen wurden unerträglich. Er wollte schreien. Doch seine Stimme schien verkümmert zu sein. Er schaffte nur, ein langgezogenes Zischenund Pfeifen auszustoßen. Dann fühlte er, wie unter nie vorher verspürten Schmerzen sein ganzer Kopf umgeformt wurde. Sein Mund schien von einer erbarmungslosen Kraft nach außen gestülpt zu werden. Seine Gedärme und sein Magen brannten wie Feuer und schienen zugleich von gnadenlosen Rührstäben durchgequirlt zu werden. Vendredi erkannte unter den wie der Cruciatus-Fluch über ihn kommenden Schmerzwogen, dass er gerade dabei war, sich in ein riesiges Insekt zu verwandeln. Mit Grauen dachte er daran, dass er das Endergebnis der ihn heimsuchenden Verwandlung bereits gesehen hatte. Es war das menschengroße Geschöpf, das aussah wie eine aufrechtgehende rote Waldameise. Das also passierte denen, die Lahilliota für sich wollte. Sie wurden in menschengroße Ammeisen oder Mensch-Ameisen-Hybriden umgewandelt. Das war teuflisch. Zugleich aber verstand er nicht, was das mit Lahilliotas Ankündigung sollte, sie wolle Kinder von den Gefangenen haben.
Die mörderischen Qualen der Metamorphose drohten, ihm das Bewusstsein zu nehmen. Mit den brennenden Augen konnte er noch sehen, dass Itoluhila im Nichts verschwand. Mit den aus seinem Kopf heraussprießenden Antennen fing er auf, dass ihr Körpergeruch bis auf die in der Luft verbliebenen Reste verschwunden war. Er zuckte und wand sich unter den schier unerträglichen Schmerzen auf der Bank. Er hörte, wie dabei die Fesseln zerrissen, mit denen er gebunden worden war. Eine weitere Schmerzwoge warf ihn von der Bank herunter. Er wälzte sich auf dem Boden. Doch der Schmerz war nicht mehr das schlimmste, was ihn überkam. Er empfand eine immer größere Lust, sich ihr zu unterwerfen, die ihren Duft verbreitete, ihren unwiderstehlichen Liebesduft. Jetzt begriff er, dass auch sein Geist verwandelt wurde. Dann erkannte er auch, was damit gemeint gewesen war, dass Lahilliota sich vorbereiten musste. Ja er wusste nun auch, warum die anderen nicht mehr in ihre Zellen zurückgelassen worden waren und wie es angehen konnte, dass Lahilliota in so kurzer Zeit von mehreren Männern Kinder bekommen wollte. Sie würde nicht schwanger werden. Sie würde Eier legen, viele Eier, die die anderen vorher befruchteten. Als er das erkannte, vollendete sich mit einem letzten, schmerzhaften Ruck die Verwandlung. Er fühlte nun, dass er neben zwei aus dem Kopf gewachsenen Fühlern und aus dem Mund gesprossenen Beißwerkzeugen sechs weitere Gliedmaßen bekommen hatte, ein weiteres Beinpaar und vier kurze Flügel. Er fühlte, wie die von ihm eingeatmete Luft nicht in den Lungen, sondern gleich im ganzen Körper verteilt wurde. Er fühlte die immer stärker werdende Lust, sich mit einem fruchtbaren Weibchen, seiner Königin, zu paaren, mit ihr einen wilden Hochzeitsflug zu erleben. Ihr Duft hing in der Luft. Er konnte ihm folgen. Als sein Rest von menschlichem Verstand den wortwörtlich eingeimpften Instinkten unterlag stemmte er sich auf alle sechs Beine und trippelte erst unbeholfen und dann immer geschickter auf die Stelle zu, wo der verheißungsvolle Duft seiner Königin immer deutlicher wurde. Die Wand ging von selbst auf. Er durcheilte mit immer schnelleren Schritten einen langen Tunnel und gelangte durch eine weitere sich vor ihm auftuende Tür in eine andere weitläufige Halle. Hier überflutete der ausgeströmte Liebesduft der Königin seinen neuen Geruchssinn derartig, dass er nichts mehr bewusst wahrnahm. Er ließ seine Flügel erzittern, bis sie ihn vom Boden lösten. Erst etwas unbeholfen und dann immer zielsicherer flog er durch das Meer aus verlockendem Duft, durch die große Halle hindurch zu einer weiteren Wand, die sich für ihn auftat. Dann sah er sie.
Sie war größer als er, mindestens dreimal so groß. Doch sie war stark. Ihre vier Flügel spannten sich fast so weit auf wie sie von der Fühlerspitze bis zum Ende des Hinterleibes lang war. "Na endlich. Da bist du, mein neuer, starker Gefährte. Nimm mich und gib mir von deinem Samen, damit wir zwei starke, kluge und geschickte Nachkommen haben!" hörte er eine Stimme in seinem Kopf. Es war die Stimme seiner Königin. Gleichzeitig verströmte sie noch mehr von dem Geruch, der ihn zu ihr drängte. Dann hob sie mit wild schwirrenden Flügeln ab und glitt laut brummend durch die Halle. Er folgte ihr im Flug, holte sie einund stürzte sich auf ihren Hinterleib. Mit seinen Beinen klammerte er sich fest, umwirbelt von den großen Flügeln seiner Herrscherin, die die Mutter seiner Kinder sein wollte. Er fühlte, wie er seinen und ihren Hinterleib miteinander vereinte und fühlte die pulsierenden Bewegungen, mit denen er seinen Samen in sie hinüberpumpte. Er fühlte, dass sie sehr erregt und erfreut war. So erging es auch ihm.
Neben seiner Saat floss bei jeder Bewegung auch etwas von seinen Erinnerungen in die andere über. So übermittelte er ihr im Rausch des Hochzeitsfluges, was ihm in den letzten zehn Jahren seiner Tätigkeit alles untergekommen war, darunter vor allem die Angelegenheit mit den Grandchapeaus oder dass er Julius Latierre all zu gerne zum reinen Archivgehilfen degradiert hätte, weil der nicht verraten wollte, was ihm die Kinder Ashtarias beigebracht hatten. Nun, wo er mit dem Wesen zusammen war, das ein ganz außerordentliches Interesse daran hatte, mehr über diese Gruppe von Hexen und Zauberern zu erfahren, bedauerte er es noch mehr, dass er es nicht geschafft hatte, sich gegen den Minister und dessen Nachfolgerin durchzusetzen. "Und Armand Grandchapeau wurde durch eine dieser widerlichen Veelas mit seinem ungeborenen Sohn vereint und muss deshalb Jahrzehnte lang im Bauch seiner ehemaligen Frau bleiben, bis dieses Veelaweib einen Enkel hat?" hörte er die unter Anstrengung verschwommene Gedankenstimme seiner Königin und leidenschaftlichen Geliebten. Er bejahte es auf rein gedankliche Weise, während er noch mehr von sich in sie hinüberpumpte, um die Zahl der gemeinsamen Nachkommen so groß wie möglich werden zu lassen. Dabei flogen sie immer wieder durch die von sonnengelbem Licht durchflutete Hochzeitshalle, wie seine Königin es nannte.
Zeit spielte für ihn keine Rolle mehr. Für ihn war nur wichtig, dass er bei ihr war und mit ihr eins blieb, bis er sehr erschöpft war. Dann erst löste er sich von ihr und fiel beinahe völlig entkräftet zu boden. Ein winziger Rest seines menschlichen Verstandes verriet ihm, dass er jetzt sterben musste, weil das das Schicksal jeder Drohne war, die ihre Königin begattet hatte. Doch wenn er jetzt starb war das die Sache wert. Er hatte sie befruchtet. Seine Nachkommen würden stark und klug sein und der Königin dienen. Sie würden ihr helfen, die Feinde abzuwehren, die langzähnigen Blutsauger, die einer gefährlichen Götzin huldigten, den fleischlosen, dunklen Schattenbrütigen, die eine überstarke Schattenkönigin erbrütete und als Diener um sich scharrte, ja und auch den Menschen, die übernatürliche Kräfte durch dafür hergestellte Ausrichtungsgegenstände ausüben konnten, solche, wie er vorher einer gewesen war, bevor er vom Blut der Königin erhalten hatte und zu ihrem willigen Besamer geworden war. All das würden seine Nachkommen vollbringen, wenn er nicht mehr da war.
Er schlug auf dem Boden auf. Doch seine Beine fingen die Wucht ab, bevor sie kraftlos zur Seite gespreizt wurden und er auf seinem Bauch zu liegen kam. Über sich hörte er das Brummen der zu einem Landeplatz fliegenden Königin. Dann schwanden ihm die Sinne.
Als Vendredi wieder aufwachte meinte er erst, alles nur geträumt zu haben. Doch dann erkannte er, dass er immer noch verwandelt war. Doch die große Begierde, die Königin zu befruchten, war verklungen. Ihr Liebesduft hing nicht mehr in der Luft. Seine menschlichen Gedanken konnten sich nun wieder stärker hervortun. Sie hatten ihn verwandelt, um die als riesenhafte Ameisenkönigin erscheinende Lahilliota zu begatten. Wer immer diese perfide Idee gehabt hatte wusste er nicht. Er wusste nur, dass er wohl nie mehr der sein konnte, der er mal war. Er hatte seinen Zweck erfüllt. Doch warum war er nicht gestorben? Hatte er sich nicht völlig verausgabt?
Er blickte sich um. Die in Einzelbilder zerlegte Ansicht störte ihn nicht mehr. Er hatte sich daran gewöhnt. Er nahm den Geruch Lahilliotas wahr und erkannte auch, dass etwas aus ihr hervorbrach, dass ihrem und seinem Geruch ähnelte. Er trippelte auf noch nicht ganz so erholten Beinen dorthin, wo sie war, in einer anderen Halle, die für wilde Flüge zu klein war. Hier sah er sie wieder. Die riesenhafte Königin hockte über einer gewaltigen Grube und ließ unter kräftigen Pumpbewegungen ein langes Ei nach dem anderem aus ihrem Hinterleib kullern. In der Grube selbst hockten vier, die kleiner als sie waren. Er erkannte sie am Geruch und vernahm auf diese Weise auch ihre Gedanken. "Ui, schon siebenhundert Eier. Aufpassen. Die neuen nicht zu dicht zusammenliegen lassen! O ha, wenn die anderen auch noch auf sie drauf dürfen haben wir am Ende mehr als zehntausend Eier von ihr zu bewachen." Die Ameisen-Drohne, die früher Arion Vendredi gewesen war unterschied am Geruch die Daseinsformen von José, Pablo und Quame und fühlte auch, dass sie mit ihrem Zustand sehr zufrieden, ja sehr glücklich waren. Sie hatten die Königin ebenfalls begatten dürfen und waren nicht gestorben. Sie blieben halt nur in diesem Zustand. Dann erfuhr er, dass José sich zwischendurch in einen gewöhnlichen Jungen zurückverwandelte, wenn er im Auftrag der Königin aus dem heimischen Berg hinausgehen durfte, um die von den anderen Kindern der großen Mutter angelieferten Tierhälften und Pflanzen hereinzutragen. Er erfuhr auf diese Weise auch, dass wer weiter als hundert ihrer Längen von der Königin entfernt war wieder zu einem Menschen wurde, weshalb Pablo und Quame sich all zu bereit erklärt hatten, in ihrer Nähe zu bleiben und die von ihr gelegten Eier zu sortierenund zu bewachen, auch wenn in diese Räume kein Feind hineinkommen mochte. José haderte damit, dass er auch lieber in der Nähe der Königin bleiben wollte, um sie sofort wieder zu befliegen, wenn sie in eine neue Stimmung kam. Doch die Königin hatte ihm befohlen Nahrung zu beschaffen, weil sie auch die von den anderen erhoften Samenpakete erhalten wollte.
"Du wirst bis auf weiteres in einer eigenen Zelle unter Ausschluss meiner Geruchsspuren verbleiben, Arion. Du hast mich gut befruchtet und sicher hundert sehr begabte Nachkommen gemacht. Aber damit ist dein Zweck noch lange nicht erfüllt", hörte er unvermittelt Lahilliotas Stimme im Kopf.
"Was soll ich noch für dich tun, meine Königin?" fragte er in einer Unterwürfigkeit, die er vorher nie geäußert hatte.
"Du wirst mir und meinen wahren Töchtern als Helfer und Berater beistehen, um Deinesgleichen auf Abstand zu halten und bei der Gelegenheit auch all die widerlichen Geschöpfe aus eurem Land zu schaffen, die keine Menschen sind, aber wie Menschen aussehen. Ich will, dass sie aus deinem Heimatland verschwinden. Gleichzeitig sollst du dafür sorgen, dass du der herrschende eures Volkes wirst, um in meinem Namen alle anderen wie dich und mich zu bändigen, damit sie mir und meinen wahren Töchtern nicht mehr lästig fallen. Doch um das alles zu tun wirst du solange warten, bis ich alle anderen zu mir genommen habe. Sie werden unser aller Brut bewachen, bis sie ins Erwachsenenstadium eintritt. Da sie wohl in ihren Ländern gesucht werden muss ich mir dann überlegen, ob sie mir weiter bei der Vermehrung helfen oder von meinen wahren Töchtern beseitigt werden müssen. Aber das mache ich davon abhängig, wie gut sie sich als Pfleger und Wächter eignen", erwiderte Lahilliota.
"Ich will auch bei dir bleiben. Die Vereinigung mit dir war das herrlichste, was ich je erlebt habe", erwiderte Vendredi.
"Ja, und deshalb wirst du es immer wieder erleben, wenn ich noch mehr besondere Nachkommen haben will. Aber du wurdest von mir ausgewählt, weil du als Amtsträger in eurem sogenannnten Zaubereiministerium wertvoller für mich bist als als Brutpfleger."
"Was immer du willst, meine Königin", erwiderte Vendredi mit jener Unterwürfigkeit, die seinem Zustand entsprang. Was er vorher von Lahilliota gedacht hatte war fort und verweht.
"Dann folge nun meiner Tochter Tarlahilia, die im Saal der hellen Sonne auf dich wartet. Dorthin gelangst du, wenn du durch die Gänge in Mittagsrichtung fliegst oder läufst. folge der Duftspur, die ich für dich dorthin gelegt habe! Lass dich von Tarlahilia in dein Gemach führen. Dort wirst du die selbe Zuwendung erfahren wie in den letzten Tagen schon. Nur wirst du dich dann wieder in deine ursprüngliche Gestalt zurückverwandeln. Wenn ich alle hatte, die noch in den Zellen sind, werde ich dir auf dem Weg der reisenden Gedanken deine neuen Aufgaben zuweisen."
"Wie du es willst, meine Königin", sandte Vendredi zurück. Dann besann er sich auf den in ihm erwachten Richtungssinn. Wo war die Mittagssonnenrichtung? Wo war Süden. Seine Königin half ihm, indem sie sich entsprechend ausrichtete, bevor sie weitere Eier ablegte, ob diese von ihm, José oder Pablo befruchtet waren wusste Vendredi nicht. Es war auch nicht wichtig. Was zählte war, dass er seine Pflicht bei der Königin erfüllte.
Auf seinen sechs Beinen durcheilte er Gänge mit sich selbst öffnenden und schließenden Türen, einer deutlichen Duftspur folgend, die nicht die Begehrlichkeit nach körperlicher Vereinigung verströmte, aber eindeutig von seiner neuen Herrin stammte. Unterwegs merkte er bereits, dass sein Körper sich veränderte. Er fühlte eine gewisse Wehmut, weil er wohl gleich wieder große Schmerzen haben und wieder zu einem schwächlichen Menschen werden würde. Doch die Königin hatte ihm befohlen, in eine eigene Kammer zu gehen. Er wusste aber auch, dass er nicht viel Zeit hatte, ihrer Spur zu folgen.
Er merkte, wie seine Flügel immer kürzer wurden und auch, dass er seine beiden Antennen nicht mehr so weit ausschwingen konnte. Doch er erreichte noch die von hellem Sonnenlicht durchflutete Halle, die eher ein ummauertes Plateau war. Dort traf er Tarlahilia, die dunkelhäutige Tochter Lahilliotas. Ihr Anblick und Geruch beschleunigte die Rückverwandlung. Er fühlte, wie sein Kopf und sein Gesicht sich wieder zurückbildeten. Er wand sich auf dem Boden, während seine zusätzlichen Laufglieder in seinen Leib zurückschrumpften. Unter wilden Zuckungen vollendete sich die peinigende Metamorphose. Mit jeder Schmerzwallung trat wieder mehr von Vendredis menschlichem Verstand in den Vordergrund. Er erkannte, dass er nun für alle Zeit verloren war. In ihm kreiste ein heimtückisches Gift, das ihn an Lahilliota gebunden hatte, stärker als ein Zauberspruch wie Imperius es vermochte. Doch eben dieses in ihm kreisende Gift bereitete ihm auch eine große Glückseligkeit. Denn er war stärker als alle anderen und hatte als einer von wenigen mithelfen dürfen, dass Lahilliotas Macht auf dieser Welt wieder zunahm. Als dann mit einem letzten wilden Zucken auch der letzte Rest ameisischen Aussehens von ihm abgefallen war wusste er, dass Lahilliota oder eine ihrer Töchter ihm alles abverlangen konnte, weil es ihn immer und immer wieder danach drängen würde, eins mit Lahilliotas neuer Zweitgestalt zu werden.
""Unangenehm, wie?" fragte Tarlahilia den Zurückverwandelten. Dieser kam mühsam auf die nun verbliebenen Beine und stellte sich vor sie hin. Sie trug ein gelbes, mit goldenen, wie altägyptische Hieroglyphen aussehenden Stickereien geschmücktes Gewand, während er völlig unbekleidet war.
"Es ist unangenehm. Aber ich durfte das herrlichste Liebeserlebnis meines Lebens genießen. Sie will haben, dass ich für euch arbeite. Aber damit ich das kann soll ich warten, bis sie alle durchgenommen hat, die noch in den Zellen stecken", sagte Vendredi.
"Dann komm mal mit, Arion Vendredi", sagte Tarlahilia. Er fühlte die in ihr ruhende Kraft. Er wusste, dass sie diese Kraft von der Sonne selbst bezog. Diese flutete ungefiltert auf diesen Platz.
Durch eine weitere von selbst aufgleitende Felsentür ging es in einen weiteren Tunnel hinüber und dann in einen Raum mit einer beschlagenen Holztür. Die Wände besaßen scheinbare Fenster. Doch Vendredi erkannte, dass es magische Bildverpflanzungsflächen waren, wie es sie auch im Zaubereiministerium gab. Ansonsten hatte er hier auch eine etwas breitere Pritsche und einen verschließbaren Nachttopf zur Verfügung.
"Dann lass ich dich hier mal alleine. Erhol dich gut. Wer weiß, wann meine Mutter dich wieder nötig hat", sagte Tarlahilia mit nicht zu überhörender Gehässigkeit. Vendredi wollte ihr dazu was sagen. Doch die dunkelhäutige Abgrundstochter disapparierte einfach. Im selben Moment fiel hinter ihm die Tür zu und wurde verriegelt.
"Erhol dich, mein treuer Gefährte", hörte er Lahilliotas Stimme im Kopf. Dieser Aufforderung folgte Vendredi all zu gerne.
Er muste es endgültig glauben, dass es eine magische Welt geben musste. Was ihm in den letzten Tagen passiert war konnte kein Traum sein. Pablo war Loli wie unter Hypnose gefolgt und hatte dann erst die totale Angst bekommen, als er auf eine andere Pritsche gefesselt worden war. Als er dann aber das Zeug aus der Spritze im Körper hatte und zum ersten Mal die heftige Verwandlung durchlaufen hatte war die Angst verflogen und einer wilden Lust auf Sex gewichen. Ja, und dann hatte er es mit ihr, der großen Königin, so richtig wild im Flug getrieben. Das war noch heftiger gewesen als das erste Mal mit Loli. Dann war er wieder völlig erschöpft gewesen und musste sich ausruhen. Er hatte dann mitbekommen, wie dieser Franzose, der angeblich ein echter Zauberer war, ebenfalls von der Königin angeheizt worden war. Der sollte dann aber wohl wieder dahin zurück, wo er herkam, weil er noch nicht vermisst wurde.
Das größte Ding war, dass Pablo sich jetzt mit allen anderen, die die Ammeisenflugspritze bekommen hatten rein telepathisch unterhalten konnte. So sprach er mit José darüber, dass sie beide wohl schon von allen Polizisten Spaniens gesucht wurden. "Ja, und wenn du das deinen Kumpels gesteckt hättest, dass du in dieses Sonnenhaus gehen wolltest hätte Loli dich garantiert nicht hergeschafft", sagte José einmal, als sie beide dabei waren, die ersten gelegten Eier der Königin zu sortieren, dass sie genug Wärme und Licht bekamen. Pablo dachte, dass dies wohl den Rest seines Lebens so weitergehen würde. Das konnte auch sehr kurz sein. Denn zwei von denen, die nach Arion Vendredi zum Begatten herangeholt worden waren, waren danach runtergefallen und verreckt, wie das in der Natur eigentlich bei allen Ameisendrohnen ablief. Doch die Königin hatte erwähnt, dass jeder von denen, die sie als Befruchter ausgewählt hatte, besondere Begabungen hatte, größere Intuition, besonderes Gespür für Abläufe, ja und im Fall von Vendredi sogar voll wirksame Zauberkräfte. Pablos besondere Begabung sollte demnach ein überdurchschnittliches Durchhaltevermögen sein, dass die Königin selbst ausgereizt hatte und gerne an ihre gemeinsamen Nachkommen weitergeben würde. Auf die Frage, was das dann für Nachkommen würden, Ameisen, Babys oder irgendwas dazwischen hatte die Königin gesagt, dass es auf jeden Fall starke und gehorsame Helfer und Helferinnen sein würden. Das hatte Pablo mit Stolz erfüllt. Denn mal eben von einer mächtigen Ameisenkönigin aus dem All oder der Hölle als Vater ihrer Kinder angenommen zu werden hatte der große Francisco nicht hinbekommen. Da war es auch kein Problem, wenn er, José und die, die nicht gleich nach dem ersten Flug tot waren, den Rest ihres Lebens zwischen Begatten und Eierzählen zubringen mussten.
Der Drang immer neue Nachkommen zu erbrüten wurde immer größer. Als sie sich vom letzten der vierzehn Gefangenen und umgewandelten hatte befliegen und begatten lassen, fühlte sie eine gewisse Enttäuschung, weil es schon der letzte war. Ja, und der hielt den wilden Hochzeitsflug auch nicht lange aus. Immerhin würde sie von ihm mindestens hundert befruchtete Eier ablegen und diese zu ihr allein untergebenen Nachkommen ausreifen lassen.
Mutter, wir haben den Zauberer wieder in seine Heimat geschickt. er ist wohl schon da, wo er arbeitet. Wann treffen wir uns zu unserer nächsten Beratung?" hörte sie eine Frauenstimme in ihrem Kopf. Sie kannte die Frau. Es war eine ihrer Töchter. Die hieß Itoluhila und konnte starke Wasser- und Eiszauber machen. Aber die war nicht so stark wie die neuen Nachkommen, und sie war ihr zwar untertan aber nicht so unterwürfig wie die neuen Kinder sein würden. Aber sie brauchte die menschlich geborenen. Bei dem Gedanken, wie das war, jede von den neun zu bekommen tat ihr der Hinterleib weh. Das Eierlegen war dagegen wie ein erregendes Beben in ihrem Körper. Sie wollte nur noch so Nachkommen kriegen. Aber wenn die ganzen befruchteten Eier aus ihr rausgefallen waren hatte sie nur noch sieben Begatter. Wenn der, den sie so einfach weggeschickt hatte, damit er für sie Kundschafter war, zu ihr zurückkam waren es acht. Das waren für sie, eine Königin, die viele tausend Nachkommen haben wollte irgendwie wenig. Doch irgendwas in ihr sagte, dass sie erst einmal keine neuen Begatter anbringen lassen sollte. Denn sie hatte über die mit den Begattern hergestellte Fernsinnverbindung mitbekommen, dass die nicht mehr so leben konnten wie früher. Hoffentlich konnte sich der, der Arion Vendredi hieß, länger halten und das machen, was er als Menschling machen sollte. Wenn er damit fertig war sollte er wieder zu ihr und noch mehr Nachkommen machen, die womöglich innere Zauberkräfte hatten. Bald würde sie ein eigenes Volk mit Kriegern, Arbeitern und Baumeistern haben und dann den ganzen großen Berg, in dem ihre eigene Zauberei eingewirkt war, zu ihrem Reich machen, dem Reich der roten Königin, oder auch dem Reich der roten Regentin.
Arion Vendredi, beziehungsweise das, was Lahilliotas Manipulation aus ihm gemacht hatte, empfing jeden vergehenden Tag kurze Berichte seiner neuen Herrin und gebärerin seiner Nachkommen. Immer wieder empfand er Anflüge von Eifersucht, weil die anderen bei ihr sein und sich mit ihr zum Hochzeitsflug vereinen durften und er nicht. Doch dann rief ihm seine Königin immer wieder zu, dass er der wichtigste ihrer neuen Gefährten war und bald schon wieder zu den gewöhnlichen Menschen sollte, um für sie Augen, Ohren und Hände zu sein. Die Vorstellung, dass er im innersten Kreis der französischen Zaubereiverwaltung für die große Mutter Lahilliota arbeiten sollte, ohne dass jemand das mitbekam, erfüllte ihn fast mit derselben Wonne wie der leidenschaftliche Hochzeitsflug mit der riesenhaften Ameisenkönigin.
Die Bildverpflanzungswände zeigten ihm Ansichten von anderen Landschaften. Er konnte auf eine Urwaldlandschaft blicken, in der bunte Vögel oder gemusterte Schlangen durch die Baumwipfel turnten, konnte einem Eisbären bei der Robbenjagd zusehen oder wie von einem fliegenden Besen herunter auf eine uralte Stadt mit einer mehrere Manneslängen hohen und mehrere Menschenlängen breiten Mauer blicken, deren Zentrum ein Stufentempel war, der eine Mischung aus Pyramide und Turm bildete. Er dachte an die Geschichte vom Turm von Babylon, dessen Bau und angebliche Vernichtung im alten Testament der Bibel erzählt wurde. Offenbar hatte Lahilliota einst hier gelebt oder hatte Verwandte dort gehabt. "Meine Schwester hat diese Stadt beherrscht, besser, einer ihrer mit Manneskraft erbrüteten Söhne", hörte er Lahilliotas vor Verachtung triefende Gedankenstimme. Doch dabei fiel ihm ein, dass Lahilliota nun selbst zu einer von männlichen Gefährten befruchteten Mutter werden wollte. Was hatte diesen Wandel herbeigeführt?
Weitere Tage vergingen. Vendredi fühlte eine gewisse Furcht. Denn wenn er nicht wie angekündigt am 21. März in das französische Zaubereiministerium zurückkehrte würde er Verdacht erregen. Dann würde es nichts mit seiner geheimen Mission für die Königin.
"Es ist herrlich, so viele neue Abkömmlinge von mir zu haben. Ich fühle auch, dass in jedem von denen bereits was von dem Wissen ist, was ich und deren Väter geteilt haben", hörte er die Gedankenstimme seiner Königin. Morgen soll Itoluhila dich dort absetzen, von wo du zu ihrem bezahlbaren Liebesnest gereist bist. Ich werde solange hier bleiben und weitere Kinder von dir und den anderen bekommen. Die ersten werden bald schlüpfen. Auch sechzig deiner und meiner gemeinsamen Töchter werden dabei sein."
"Du wolltest mir erzählen, was genau ich für dich tun kann, meine Königin", dachte Vendredi zurück.
"Ja, das muss ich noch tun, bevor du in Wohnhäuser oder Amtsräume gehst, wo das Gedankensprechen schwer bis unmöglich ist. Außerdem weiß ich nun, wo fünf der anderen Befruchter wieder in die Menschenwelt zurückgeschickt wurden, dass es nicht einfach für sie ist, den Schein des unveränderten zu bewahren. Oii, drei auf einmal, drei weitere Töchter von uns beiden."
"Wie, die schlüpfen schon?" wollte Vendredi wissen. "Nein, die sind gerade auf einmal aus meinem Leib hinausgequollen und müssen nun in der Wärme der Bruthalle reifen. Aber ich kann riechen, welche Eier Söhne und welche Töchter werden. Wie das für unsere Daseinsform richtig ist sind die meisten Töchter. Aber die einen und anderen Söhne habe ich von euch auch schon aus dem Leib gedrückt. Die werden sicher gute Bautruppler und Wachposten."
"Wie weiß ich, wie ich zu dir zurückkommen kann, wenn du weitere Kinder von mir willst, meine Königin?" wollte Vendredi wissen.
"Das wirst du dann erfahren, wenn ich das will", bekam er zur Antwort. Das ärgerte ihn ein wenig. Allerdings war die Aussicht, einen weiteren herrlichen Hochzeitsflug mit seiner Königin erleben zu dürfen sehr viel beglückender, als dass ihn die derzeitige Zurückweisung verstimmen konnte.
Am Nächsten Tag erschien Itoluhila. Ihr Geruch und ihre Gefühlsschwingungen verrieten, dass sie nicht wirklich erfreut war, was sie zu tun hatte. "Meine Mutter will, dass ich dich da abliefere, von wo aus du zu meiner exklusiven Lustburg gereist bist. Du reist von da aus wie geplant mit einem dieser lauten, die Luft verpestenden Passagierflugzeuge zurück nach Marseille. Soweit sie weiß hast du da ja deinen Zauberstab irgendwo versteckt, weil du ja Urlaub auf Unfähigenart machen wolltest. Vorher sollst du noch einmal genau erfahren, was meine Mutter von dir will, außer an die tausend myrmekanthropen. Also höre gut zu!"
"Meine wahre Tochter Itoluhila wird dich an meiner Stelle zurücktragen. Jetzt, wo in dir etwas von mir und aus mir etwas von dir entsprungenes besteht kann sie dich auch auf dem kurzen Weg mitnehmen, was die Zauberstabschwinger Apparieren nennen. Wenn du wieder in deinem offiziellen Wohnhaus in der Nähe von Paris bist wirst du die nächsten Tage und Wochen damit zubringen, alles zu erfahren, was während deiner Abwesenheit geschehen ist und ein für deine Amtsgenossen annehmbares Gesetz entwerfen, dass in mehreren Stufen die Vertreibung aller menschenähnlichen Wesen mit angeborenen Zauberkräften beinhaltet. Hüte dich jedoch bei allen deinen Taten davor, Julius Latierre zu nahe zu kommen. Er könnte spüren, dass wir beide nun verbunden sind, da die Lebenskraft meiner verwünschten Schwester in ihm wirkt! Wenn du es erreicht hast, dass diese überschönen Frauenzimmer, die bärtigen Kleinlinge, die grünen Waldfrauen, die spitzohrigen Goldhorter und die ungeschlachten Übergroßen und die Wasseratmer nicht mehr in deinem Geburtsland sein dürfen wirst du weitere Anweisungen von mir bekommen, vielleicht dann auch erst einmal wieder mit mir weitere Söhne und Töchter zeugen. Ach ja, die von mir zum Versuch in die Menschenwelt geschickten Daseinsbrüder von dir haben mir unfreiwillig gezeigt, wie gefährlich es für ihre Geheimhaltung ist, andere Frauen zu begehren, von etwas in große Angst versetzt zu werden oder einem Wutanfall zu erliegen. Denn dann bricht die von mir auf euch übertragene Form aus ihnen heraus, und sie werden von ihren Trieben getrieben. Zum Glück waren jene, denen das widerfahren ist dabei immer in kleinen Ansiedlungen. Meine Tochter Tarlahilia und ich konnten sie dann vor unerwünschter Enthüllung bewahren und zurückholen. Doch du musst aufpassen, nicht wütend zu werden oder dich von irgendwem in große Angst hineintreiben zu lassen. Zwar kann ich dich dann zu mir zurückholen, wenn du in meiner starken Daseinsform bist. Doch dann wirst du wohl nicht mehr unter den anderen wandeln und wirken können. Hast du das verstanden?"
"Ja, ich habe verstanden, meine Königin", bestätigte Vendredi.
"Dann soll Itoluhila dich jetzt zurückbringen. Ich werde weiterhin die Nachkommen von euch ausreifen und sie ihren Aufgaben zuweisen", erwiderte Lahilliotas Gedankenstimme. Itoluhila wartete, bis sie fühlte, dass Vendredi keine weiteren Gedanken mit ihrer befreiten Mutter austauschte. Dann ergriff sie Vendredi bei seinem rechten Arm und wechselte in einem einzigen Augenblick aus dem geheimen Höhlenversteck hinüber auf die Baleareninsel Ibiza. Vendredi entging bei alledem nicht, dass Itoluhila einen tiefen Groll unterdrückte. Er dachte, dass sie nicht mit allem einverstanden war, was um sie herum geschah.
Wie er es ursprünglich beabsichtigt hatte bekam keiner seiner Kollegen und Mitarbeiter mit, dass Arion Vendredi die letzten Wochen außerhalb der Zaubererwelt zugebracht hatte. Er war aus der Ferienwohnung in Marseille, die er als Ausgangsbasis für seinen amourösen Abenteuerurlaub bezogen hatte, ausgezogen und war mit Hilfe seines Zauberstabes aus einer Herrentoilette disappariert, die über einen Unaufspürbarkeitszauber verfügte.
Als wenn er sich wunderbar erholt habe, aber eben nichts aus der Zaubererwelt mitbekommen hatte, betrat er am Morgen des 21. März sein Büro und fand als erstes mehrere Schriftstücke auf seinem blitzblank geputzten Schreibtisch vor. Da war zum einen ein Notizheft, in welches sein Stellvertreter Simon Beaubois alle relevanten Ereignisse der letzten Wochen eingetragen hatte. Dann fand er noch eine von der Strafverfolgung erstellte Anklageschrift gegen Madame Euphrosyne Lundi, die neben der Unterschrift des Strafverfolgungsleiters auch die von Madame Nathalie Grandchapeau und Monsieur Julius Latierre als Kenntnisnehmer und Prozessbeteiligte trug. Außerdem lagen mehrere Ausgaben des Miroir Magique und der Temps de Liberté auf dem Tisch, die vordringlich den neuen Krieg am persischen Golf behandelten und was die französischen Hexen und Zauberer damit zu schaffen hatten.
Die Warnung seiner Königin nahm Vendredi sehr ernst. Daher verzichtete er darauf, Julius Latierre in seinem Büro zu empfangen, wo er ihm gerade einmal bis auf drei Armlängen aus dem Weg bleiben konnte. Er berief statt dessen eine Konferenz aller Unterbüroleiter ein, die im dafür vorgesehenen Saal auf der Etage für die Verwaltung von magischen Geschöpfen stattfinden sollte. In diesem Saal konnte er, der oberste Leiter der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe, sich vor Kopf eines langen Tisches setzen und festlegen, wer ihm am nächsten sitzen sollte. Laut innerer Geschäftsordnung des Zaubereiministeriums saßen die dienstältesten Büroleiter ihm am nächsten, also Simon Beaubois von der Geisterbehörde, Barbara Latierre vom Tierwesenbüro, und Hubert Deroubin vom Büro zur Bekämpfung magischer Schädlinge. Weil das Zauberwesenbüro in die Unterabteilungen für Kobolde, Zwerge, Hauselfen, Vampire, Werwölfe, sowie alle Wesen größer als Zwerge und Kobolde aufgeteilt war, saßen deren Leiter und Stellvertreter bereits mehr als drei Armlängen von ihm fort. Julius Latierre, dem seit Januar ein eigenes Büro zugeteilt war, wo er als Verbindungszauberer zwischen menschenähnlichen Zauberwesen und Menschen mit und ohne Magie zu arbeiten hatte, saß neben Adrastée Ventvit, Simon Beaubois Stellvertreterin. Vendredi fühlte nichts von ihm ausgehend und hoffte, dass es auch umgekehrt war.
Der Leiter der Abteilung wollte gerade ansetzen, seine leitenden Mitarbeiter zu begrüßen und ihnen für die reibungslose Arbeit während seiner Abwesenheit zu danken, als jemand an die Tür klopfte. Vendredi überblickte die Anwesenden. Es fehlte niemand, den er einbestellt hatte. Er rief: "Herein!" Auf diese Aufforderung hin betraten Madame Nathalie Grandchapeau und die Zaubereiministerin persönlich den Konferenzsaal. Vendredi blickte die zwei ranghohen Hexen fragend an. Doch die Ministerin blickte ihn sehr kritisch an, als habe er gerade was ganz ungehöriges gesagt oder getan. Daher fragte er sie: "Mademoiselle Zaubereiministerin, welches Anliegen führt Sie zu mir?"
"Dass ich erst von meinem Untersekretär erfahren musste, dass Sie eine Büroleiterkonferenz Ihrer Abteilung einberufen haben, weil Sie die sehr unangenehme Angelegenheit mit Madame Lundi und die Auswirkungen der neuen Kriegshandlungen im mittleren Osten besprechen wollten. Da sowohl Madame Grandchapeau als auch ich ein fundamentales, unsere Arbeit maßgeblich betreffendes Interesse haben, diese Themen zu erörtern, sahen wir uns gezwungen, ohne Vorankündigung herzukommen. Es wäre für Sie und mich weniger unangenehm gewesen, wenn Sie zumindest Madame Grandchapeau als wegen Aron Lundi betreffende Instanz mit eingeladen hätten. Oder hat Monsieur Beaubois Sie nicht dahingehend unterrichtet, dass dieser Fall auch das Büro für die friedliche Koexistenz von Menschen mit und ohne magische Begabungen berührt?"
"Natürlich hätte ich mit Ihnen eine persönliche Unterredung geführt und auch mit Madame Grandchapeau, Mademoiselle Ventvit. Doch zunächst wollte ich mich bei meinen Büroleitern persönlich erkundigen, wie genau die Vorgänge während meiner Urlaubszeit behandelt wurden und wer da was wie geregelt hat, um mich nicht ausschließlich auf niedergeschriebene Protokolle und angelegte Akten verlassen zu müssen", erwiderte Vendredi, der seine Wut nur schwer verbergen konnte. Was bildete sich diese Hexe, die vor wenigen Monaten noch eine seiner Untergebenen gewesen war, ein, jetzt über ihn verfügen zu können? Außerdem behagte es ihn gar nicht, dass auch Armand Grandchapeaus offizielle Witwe immer noch so viel Einfluss besaß. Leider konnte er nichts gegen sie unternehmen, da sie durch eine Eigenheit des ihr und ihrem ungeborenen Sohn aufgedrängten Zaubers seine Loyalität erzwungen hatte. Aber band ihn dieser Zauber noch, wo in seinen Adern das Blut der Königin floss? Wenn er mit denen allein gewesen wäre hätte er das zu gerne ausprobiert. Doch vor allen seinen Untergebenen durfte er das auf keinen Fall preisgeben, schon gar nicht vor den Latierres oder Simon Beaubois. Deshalb sagte er nach außen hin sachlich: "Natürlich verstehe ich, dass Ihnen diese unangenehme Sache auf den Nägeln brennt, die Damen. Daher nehmen Sie bitte Platz und nehmen Sie an unserer Besprechung teil!"
Nathalie setzte sich neben Julius, während die Ministerin durch eine leichte Winkbewegung die Anwesenden auf der Seite, wo Simon Beaubois saß, dazu anhielt, einen Stuhl weiter durchzurücken, damit sie statt dem Geisterbehördenchef und Urlaubsvertreter Vendredis neben dem Leiter der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe platznehmen konnte. Vendredi fühlte bei ihrer Annäherung eine starke Kraft, die wie ein warmer, pulsierender Luftstrom auf ihn wirkte. Es war, als wolle ihn etwas von der Ministerin ausgehendes zur Seite drängen. Diese Ausprägung einer Aura hatte er bisher nicht bei ihr empfunden. Doch er wusste sofort, was ihm da widerfuhr. Die Natur der roten Königin wurde von der aus der Kraft der Sonne geschöpften Veelabezauberung zurückgedrängt. Hoffentlich fühlte Ministerin Ventvit das nicht auch, dass etwas mit ihm anders war.
Bevor er über die für die Ministerin so arbeitswichtigen Themen sprach ging er jedoch seine Tagesordnung durch. Er begrüßte seine Mitarbeiter und bedankte sich, dass sie während seiner Urlaubszeit die Abteilung reibungslos geführt hatten. Dann ließ er sich von den einzelnen Büroleitern noch einmal kurze Zusammenfassungen geben, was sie in der Zeit genau getan hatten. Der Leiter der vereinigten Werwolfkontrollbehörde erwähnte auch, dass die Légion de la Lune neue Spuren der im Untergrund wirkenden Mondgeschwister gefunden habe. Offenbar gingen die kriminellen Werwölfe davon aus, bald gegen die von Vita Magica in Umlauf gebrachte Seuche geschützt zu sein, um ihre Ziele weiterzuverfolgen. Allerdings sei auf Rückfrage bei der in den Staaten tätigen Gruppe Quentin Bullhorn keine weitere Bestätigung erfolgt, dass nach den versuchen, ungeborene Kinder mit einem Werwutkeim pränatal zu infizieren, weitere Aktivitäten in den Staaten selbst verzeichnet worden waren. Das brachte Lamarck aus der Tierwesenbehörde darauf zu behaupten, dass dieser Großangriff der Werwölfe wohl eine von VM verbreitete Falschmeldung gewesen sein mochte, um den seit dem 26. Februar verschollenen Minister Dime zu jenem umstrittenen Friedensvertrag zu nötigen oder sei von Dime selbst in Umlauf gesetzt worden, falls die Behauptung stimme, er sei von einer von ihm schwanger gewordenen Hexe mit dem Catena-Sanguinis-Fluch belegt worden. Sein Kollege aus dem Werwolfkontrollamt konnte das nicht ausschließen. Doch gerade dann, wenn es eine bewusste Falschmeldung gewesen war, hätte es schon längst eine Aktion der kriminellen Lykanthropen aus der Mondbruderschaft geben müssen.
Um sich nicht zu lange an dem Thema festzuhalten forderte Vendredi, dieses Thema dann wieder zu erörtern, wenn es konkrete Hinweise auf neue Aktivitäten der Mondbruderschaft gebe.
Der Leiter des Vampirüberwachungsbüros unterbreitete den Anwesenden und vor allem dem obersten Abteilungsleiter neuere Erkenntnisse über die als Jünger der schlafenden Göttin bezeichneten Blutsauger. Da nun bekannt war, dass deren Hohepriesterin früher eine griechische Luftfahrtunternehmerin war wurde weltweit nach ihr gesucht. "Immerhin erwies sich der aus den Reihen sehr fragwürdiger Zeitgenossen übermittelte Hinweis als offenbar richtig", sagte der Leiter des Vampirüberwachungsbüros. Mit den fragwürdigen Leuten meinte er die Hexen vom Orden der schwarzen Spinne. Vendredi fragte noch einmal, ob jetzt zumindest die Gefahr ausgeräumt war, dass magielose Seuchenkundler und Erbgutforscher nicht von dieser Vampirsekte zwangsrekrutiert werden konnten. Zumindest gab es nun an allen europäischen Universitäten und sicher auch in Übersee entsprechende Vorkehrungen, Vampire von den magielosen Forschern fernzuhalten.
Als es um die Viertelveela Euphrosyne Lundi ging musste sich Vendredi jedoch sehr anstrengen, nicht doch all zu verärgert dreinzuschauen, als Julius Latierre noch einmal bestätigte, dass die Entziehung von Belle Nathalie Marie Clementine Lundi zum Tod ihrer Eltern und einer Blutracheaktion führen würde. Allerdings, so sagte Julius weiter, überlege Madame Léto bereits, wie sie ihrerseits darauf hinwirken könne, dass Euphrosyne nicht fortwährend unbehelligt ihre Taten begehen konnte. Dass man ihr den Zauberstab entzogen hätte wäre schon mal ein guter Anfang. Es sei aber zu bedenken, dass der auf die Grandchapeaus und die Ministerin gewirkte Veelazauber eine gewisse körperliche Abhängigkeit bewirke und nichts gegen das Leben von Euphrosyne und ihren Kindern getan werden dürfe, weil damit sicher auch Nathalie Grandchapeau und ihre beiden Nachkommen, sowie die Ministerin selbst Schaden hinnehmen würden. "Ich hasse Patts, meine Damen und Herren!" sagte Julius. "Aber wenn wir ein Remis hinbekommen, wo keiner dem anderen mehr was tun kann, stehe ich gerne zur Verfügung."
"Mit anderen Worten, wenn Madame Grandchapeau ihres ihr unerwünscht aufgeprägten langen Lebens überdrüssig sein sollte und sich einem Drachen zum Fraß vorwerfen würde würde auch Euphrosynes Tochter sterben?" fragte Vendredi Julius. Dieser sah Nathalie Grandchapeau an. Die nickte ihm zu. Er nickte ebenfalls und sagte: "Genau deshalb hat sie bisher nichts unternommen, um die Beschlagnahme ihres Zauberstabes anzufechten. Sie weiß genau, dass es ihr genauso schlecht bekommen wird, wenn das ganze öffentlich ausgefochten wird. Deshalb bin ich sehr zuversichtlich, dass wir mit Euphrosynes Verwandten eine Übereinkunft erzielen können, um den für uns alle unliebsamen Konflikt zu beenden. Wir haben es schließlich mit hochintelligenten und durch ihre Langlebigkeit auch zu viel Erfahrung gelangenden Wesen zu tun, nicht mit in die Enge getriebenen Raubtieren. Aber wenn wir uns darauf einlassen, Drohungen auszustoßen oder gar wahrzumachen, dann werden die Veelas entweder zu reißenden Bestien oder werden sich vollständig aus unserer Mitte zurückziehen und im Verborgenen weiterbestehen, bis sie zu wenig Platz haben und sich Raum in unserer Welt erobern. Ich möchte nicht impertinent rüberkommen, Monsieur Vendredi. Doch ich muss zumindest einwerfen, dass wir bisher sehr viel Glück hatten, dass die meisten denkfähigen Zauberwesen ein friedliches Mit- oder auch Nebeneinander einem blutigen Eroberungskampf vorgezogen haben und dies hoffentlich auch weiterhin tun."
"Von den Kobolden, Zwergen und Riesen abgesehen, Monsieur Latierre und von der Sache, wo Sie und Mademoiselle Ventvit damals in Martinique unterhandeln mussten, damit es keine offene Fehde zwischen Land- und Wassermenschen gab", sagte Vendredi. "Abgesehen davon haben wir die aufmüpfigen Zauberwesen alle in ihre Schranken weisen können. Wenn Sie den Veelas Intelligenz und Erfahrungsschatz zubilligen wissen diese sicher, dass eine blutige Auseinandersetzung mit Hexen und Zauberern ihren Untergang bedeuten könnte. Deshalb und nur deshalb haben sich die meisten von ihnen bisher unter unsere Ägide gefügt. Der Fall Lundi könnte aber der Zündfunke für einen neuen Aufstand sein, den wir dann mit aller gebotenen Entschlossenheit niederschlagen müssen, wenn die gesamte Menschheit nicht zu Sklaven von anderen Wesen werden soll. Verschonen Sie mich und uns alle also mit Weisheiten wie von diesem nazarenischen Zimmermannssohn oder diesem indischen Rechtsanwalt, der es mit mehr Glück als Verstand geschafft hat, dass seine achso gewaltlose Freiheitsbewegung sein Heimatland aus der Obhut Ihres Geburtslandes lösen konnte, Monsieur Latierre. Deshalb muss und werde ich Ihnen nun folgendes für diese Dame namens Léto und alle ihre Blutsverwandten mitgeben ... öhm, leider auch für Ihre Frau und ihre Töchter, Kollege Delacour ...: Bis zum zehnten April diesen Jahres erklärt sich Euphrosyne Lundi damit einverstanden, ohne ihre Tochter weiterzuleben und das französische Hoheitsgebiet bis zum Ende ihres Lebens zu verlassen, oder die Außentruppen des Zaubereiministeriums werden sie gegen ihre Drohung, nach einem Tag in Gefangenschaft sich und ihren Abhängigen in den Tod zu reißen, inhaftieren, falls uns bis dahin nicht noch eine wirkungsvollere Bestrafung einfällt. Geben Sie diese Nachricht unverzüglich weiter! Ich weiß, dass Sie mit Léto mentiloquieren können. Sie dürfen sich dafür in das Ihnen zugeteilte Büro zurückziehen."
"Sie wird natürlich erwidern, dass sie ihre Tochter Églée und andere dann nicht davon abhalten kann, Blutrache zu üben, sollte Euphrosyne sterben", erwiderte Julius.
"Ich glaube nicht, dass Veelastämmige, die die Vorzüge unserer Zivilisation gewohnt sind, wegen einer Verbrecherin ihr Leben aufs Spiel setzen", entgegnete Vendredi kalt. "Also bitte, Monsieur Latierre."
"Ich muss dafür nicht die Konferenz verlassen", sagte Julius etwas betrübt. Da schaltete sich die Ministerin ein:
"Ich frage mich gerade, ob Ihnen irgendwas im Urlaub nicht gut bekommen ist, Arion. Aber jetzt eine Familienfehde herauszufordern verhindert den Autoritätsverlust nicht, den Sie befürchten. Deshalb mache ich von meinem Einspruchsrecht Gebrauch und verfüge, dass Sie Madame Léto lediglich mitteilen, dass wir im höchsten Maße besorgt um das bisherige Miteinander zwischen ihrer und unserer Art sind und sehr gerne jeden Vorschlag entgegennehmen werden, den Sie und Ihre Artgenossen einbringen möchten. Ich mache Sie alle darauf aufmerksam, was im Falle des im höchsten Grade irregeleiteten Zauberers Hagen Wallenkron passiert ist. Auch wenn ich die Methoden dieser obskuren Gruppierung größtenteils missbillige haben diese uns damit doch einen möglichen Ausweg aufgezeigt."
"Öhm, Mademoiselle Ventvit, Sie wissen, dass Veelas eine PTR von 998 haben?" fragte Julius.
"Ja, reinrassige wie Léto", erwiderte Ornelle Ventvit. "Abbgesehen davon habe ich nicht behauptet, dass diese Möglichkeit sich auf Madame Lundi beziehen muss."
"Öhm, das dürfen Sie Léto ja nicht mitteilen", knurrte Vendredi, der unvermittelt fühlte, dass Ornelle Ventvit da was angetippt hatte, was auch ihm vielleicht den Tag verderben konnte. Sollte das bei Veelas oder Veelastämmigen gelingen, was mit Wallenkron gemacht worden war, dann musste er sich damit anfreunden, selbst eines Tages derartig behandelt zu werden.
"Ich werde Madame Léto nur mitteilen, was Sie mir zuerst gesagt haben, Mademoiselle Laministre, dass wir um die friedliche Koexistenz besorgt sind und gerne jeden Vorschlag von Létos Seite entgegennehmen und ... Moment", sagte Julius. Vendredi fühlte, dass etwas den Jungen berührte, etwas unsichtbares, was seinen Geist durchdrang. Dann sagte er:
"Ich glaube, das alles hier ist gerade rein akademisch geworden. Madame Léto hat mich gesucht und hat mir mitgeteilt, dass wir uns um Euphrosyne keine Gedanken mehr machen sollten. Sie möchte wissen, ob ich Zeit habe, sie zu empfangen, damit sie mir das genauer zeigen kann. Sie hat echt Zeigen mentiloquiert."
"Öhm, dann gehen Sie in Ihr Büro. Madame Grandchapeau, vielleicht möchten Sie Monsieur Latierre begleiten. Denn gemäß der vertraglichen Vereinbarung darf Monsieur Delacour nicht in Sicht -und Rufweite seiner Schwiegerverwandtschaft sein", sagte Monsieur Vendredi. Ihn brannte es zwar auf der Zunge, herauszufinden, ob da wirklich was entscheidendes passiert war. Doch er wusste auch, dass er sich auf gar keinen Fall der Aura oder den Sinneswahrnehmungen einer Veela aussetzen durfte, solange er nicht mit diesem Wesen ganz alleine in einem Raum sein konnte. So schickte er Julius aus dem Raum. Madame Grandchapeau folgte ihm, wobei sie sich sehr konzentrierte, keine ausladenden Bewegungen zu machen. Das behagte Vendredi, weil schon einmal eine mit diesem widerlichen Veelasegen bezauberte aus dem Raum war.
Als beide den Konferenzsaal verlassen hatten bestellte Vendredi für sich und alle anderen bei den ministeriumseigenen Hauselfen eine Runde Kaffee. Denn er rechnete damit, dass Julius mindestens fünf Minuten ausbleiben würde.
Julius bekam vor der Tür den anderen Ohrring in die Hand gedrückt. Als er den trug brauchte er mal wieder einige Sekunden, um durch die Mutterleibsgeräusche Nathalies hindurch seine eigene Umgebung mitzubekommen. Dann cogisonierte Demetrius: "Ich habe da was komisches gefühlt, als würde in Mamans Bauch ein rotes Licht flackern. Was hat dir Léto gemelot, Julius?"
"Das glaubst du vielleicht nicht. Aber genau das, was die Ministerin angedacht hat, haben Apolline Delacour und ihre jüngste Schwester Laure-Rose Montété gerade durchgezogen. Aber um das zu bestätigen will ich Léto sprechen. Die wartet mit den Beteiligten vor meinem Büro", dachte Julius.
"Moment mal, Veelastämmige können doch nicht infanticorporisiert werden", dachte Nathalie, und ihre Stimme klang leicht sphärisch.
"Kriegen wir sicher gleich brühwarm serviert. Aber wenn das stimmt ist die Kiste vom Tisch und wir können uns alle wieder vertragen", dachte Julius.
"Hieße das, dass der verbotene Segen von mir und Demetrius abfallen würde?" wollte Nathalie wissen. Das konnte Julius ihr noch nicht beantworten.
Vor seinem Büro traf er Madame Léto, sowie Fleurs und Gabrielles Mutter und deren jüngste Schwester. Julius hatte bereits unterwegs das Lied des inneren Friedens gewirkt. Dadurch war zwar Nathalies Bauchmusik und somit auch Demetrius' Cogisonstimme erheblich leiser geworden. Aber er wollte nicht jetzt noch voll von gleich drei Veelastämmigen betört werden.
Apolline trug ein rosarotes Tragetuch über ihrer Schulter, aus dem heraus zwei kurze Arme wild und wütend fuchtelten. Laure-Rose trug ein blaues Tragetuch, dessen Inhalt eher schicksalsergeben ruhig blieb.
"Ah, haben Sie das auch gespürt, Nathalie?" fragte Léto statt einer Begrüßung. Die ehemalige Ministergattin schüttelte den Kopf. Dann deutete sie auf die Bürotür. Julius schloss auf und winkte alle in sein kleines aber eigenständiges Arbeitsreich.
"Machen Sie bitte dieses Klangkerkerlicht, Monsieur Latierre", sagte Léto. Julius deutete auf seinen Schreibtisch. "Sollte das stimmen, was Sie mir vor einer Minute mitgeteilt haben muss das protokolliert werden, auch auf die Gefahr hin, dass dies zu weiterführenden Ermittlungen gegen Ihre beiden Töchter führen sollte."
"Schlimmer als Églées Wutgebrüll kann das auch nicht werden", meinte Laure-Rose und zwinkerte ihrer Schwester verwegen zu. Diese nickte. Der Büroinhaber deutete auf freie Besucherstühle und wartete, dass die drei Veeladamen sich setzten. Dabei nahmen Apolline und Laure-Rose ihre lebenden Lasten vom Rücken auf ihre Schöße.
Julius setzte eine Flotte-Schreibe-Feder an und stellte sich und die Anwesenden in der Reihe ihrer Sitzplätze vor. Dann fragte er, was Madame Léto zu berichten hatte.
"Ich erfuhr vor zwanzig Minuten, dass meine beiden in magischen Künsten voll ausgebildeten Töchter Apolline Delacour geborene Létonia und Laure-Rose Montété ebenfalls geborene Létonia ohne mich vorher zu benachrichtigen das Haus meiner Enkeltochter und meines Schwiegerenkels Euphrosyne und Aron Lundi aufgesucht haben, um in Befolgung eines uralten Veelagesetzes, dem Recht der erzürnten Schwestern, eine nachhaltige Bestrafung ihrer Nichte Euphrosyne auszuführen, indem sie erst deren Ehemann und im Zug der mit diesem geknüpften körperlichen Verbundenheit auch Euphrosyne mittels einem Zauber namens Infanticorpore in die Körper neugeborener Kinder zurückversetzt haben. Dies war weder mit mir abgesprochen, noch hielt ich diese Maßnahme für durchführbar, da die meisten magischen Angriffe und Verwandlungskräfte keinem mit Mokushas Blut in den Adern lange schaden können. So, und jetzt dürft ihr zwei sagen, was euch dazu getrieben hat und warum ihr euch sicher wart, dass euch deshalb nicht die bei uns übliche Gewalthemme gegen Blutsverwandte beeinträchtigt hat", sagte Léto. Dann deutete sie auf Laure-Rose, die den scheinbar gerade erst ein paar Tage alten Säugling behutsam in den Armen wiegte.
"Mein Name ist Laure-Rose Montété und ich bin zweiundfünfzig Jahre alt. Ich bin Mutter von vier Kindern und Großmutter von acht Enkelkindern, deren Namen hier gerade nicht wichtig sind. Wichtig war und ist für mich, dass wir während der Willkommensfeier für meine neugeborene Großnichte Belle Nathalie Marie Clementine erkennen mussten, dass unsere gemeinsame Nichte Euphrosyne darauf ausging, einen gefährlichen Unfrieden zwischen unseren Vorfahren mütterlicherseits und den reinrassigen Menschen heraufzubeschwören. Sie erwähnte vor dem Eintreffen von Madame Belle Grandchapeau und Ihnen, Monsieur Latierre, dass sie beabsichtigte, weitere Konditionen mit dem Zaubereiministerium auszuhandeln, jetzt wo die von ihr gesegnete Mademoiselle Ventvit Zaubereiministerin sei und die Damen Grandchapeau durch ihren Sonnensegen zur Mitarbeit verpflichtet seien. Da wir wegen unserer Verbindungen zu den Menschen mit Zauberkräften wussten, dass derartige Bestrebungen nicht dauerhaft gut ausgehen können wollten wir unserer Nichte nahelegen, auf dieses weiterführende Ansinnen zu verzichten. Als dann nicht Madame Nathalie Grandchapeau, sondern ihre Tochter Belle eintraf und offenbar genau wie Sie, Monsieur Latierre, einen Zaubergegenstand zur Abwehr ungewollter Einflussnahme trug, wollte Euphrosyne abwarten, bis Sie beide ihre Tochter im Leben begrüßt haben, um Ihnen dann auf das Leben des kleinen Mädchens einen unbrechbaren Eid abzunehmen, dass Sie beide für sie die Voraussetzungen schufen, um weiterführende Ansprüche im Ministerium durchzusetzen. Allerdings kamen Sie ihr zuvor und entwanden ihr den Zauberstab. Leider hat unsere gemeinsame Schwester Églée befunden, ihr nach Ihrer Abreise, Monsieur Latierre, ihren Ersatzzauberstab zu überlassen. Somit bestand die Gefahr, dass Euphrosyne ihre Niederlage rächen mochte. Davon erfuhren wir erst heute morgen.
Es gibt bei den Veelas, die sich selbst als Kinder Mokushas verstehen klare Gesetze. Eines davon lautet, niemals die Blutsverwandten zu gefährden oder durch Handlungen dazu zu führen, dass sie von anderen an Leib und Leben bedroht oder geschädigt werden. Das berechtigt nicht nur zum letzten Schnitt, der von der ältesten lebenden Blutsverwandten vorgenommenen Abtrennung von den Lebensquellen Mokushas, sondern auch den Akt der erzürnten Schwestern, dass jede nicht durch körperliche Gewalt vollzogene dauerhafte Strafe vollstreckt werden kann. Eine Möglichkeit wäre gewesen, Euphrosyne dauerhaft von unserer Verwandtschaft auszuschließen, mit ihr nichts mehr zu tun haben zu wollen und ihr keine Möglichkeit mehr zu geben, uns zu erreichen. Doch wir wussten leider, dass sie zu sehr der zauberstab- und Zaubertrankverwendung zugetan war und durch ihre Tochter einen starken Druck auf Sie, Madame Grandchapeau hätte ausüben können. Daher entschieden wir uns für eine magische Bestrafung, die nichttödliche Entziehung ihres durch den ersten Liebesakt an ihren Körper gebundenen Gefährten. Da wir davon ausgehen mussten, dass er durch ihre Bezauberung eine hohe Fremdverwandlungsresistenz hat haben wir direkt nach unserem erzwungenen Eintritt bei Euphrosyne beide zugleich den Infanticorpore-Fluch auf ihn gelegt. Dies führte allerdings dazu, dass Euphrosyne ebenfalls zur Neugeborenen verjüngt wurde, wenn auch nicht sofort, sondern in fünf Minuten. Allerdings wurde damit auch die körperliche Bindung zwischen den beiden restlos ausgelöscht, da diese durch das gemeinsame erste Liebeserlebnis geknüpft worden war und sie körperlich wieder unberührt sind." Das Baby auf Apollines Armen plärrte wild los und versuchte, irgendwas zu artikulieren. Doch mit noch nicht geübter Zunge und ohne Zähne war das unmöglich.
"Mit anderen Worten: Sie beide wollten nur Monsieur Lundi wiederverjüngen und haben dadurch, dass sie den Fluch zeitgleich auf ihn geschleudert haben, einen Dominoeffekt bewirkt?" fragte Julius, der sich sehr anstrengen musste, nicht loszulachen. Dafür hörte er durch den Ohrring ganz leise jemanden anderen lachen, Demetrius Vettius Grandchapeau. Dann fragte Julius, ob Euphrosyne sich gegen die beiden gewehrt oder sie angegriffen hatte. Das verneinten die beiden Schwestern. Léto seufzte deshalb. Denn sie musste davon ausgehen, dass die beiden nun eine Strafe abbekommen würden.
"Moment, wir müssen das prüfen, ob das wirklich Aron und Euphrosyne Lundi sind", sagte Julius. Léto deutete auf seinen Kopf. "Wenn du deinen inneren Schutzschild senkst können wir dich ihre wilden Tiraden mithören lassen. Aron meint wohl noch, er träume", sagte Léto.
"Öhm, wo ist eigentlich Euphrosynes Tochter?" wollte Julius wissen. "Die schläft bei mir zu Hause. Ich habe schon damit begonnen, das Lied der nährenden Mutter zu singen, um mich körperlich darauf einzustimmen, sie zu stillen", sagte Laure-Rose Montété. Apolline fügte hinzu, dass sie sich darauf geeinigt hätten, dass Laure-Rose die kleine neu großzöge, sofern das Ministerium nicht beschließe, sie einer anderen, Nichtveelafamilie zu überlassen. Allerdings, so Apolline weiter, vertrügen veelastämmige Kinder in den ersten Lebensmonaten ausschließlich die Muttermilch von Veelas oder Veelastämmigen.
Julius beendete das Lied des inneren Friedens. Sofort wirkte die dreifache Veela-Ausstrahlung auf ihn ein. Doch er konnte dieser auch so widerstehen, wohl auch, weil die drei überirdisch schönen Damen ihre Ausstrahlung von sich aus niederhielten. Dafür hörte er ein wildes gezeter und Geschimpfe, das eindeutig mit der Stimme von Euphrosyne veranstaltet wurde. "Diese blöden Sabberhexen haben Aron einfach babyfiziert und ich bin dann selbst zu einer kleinen Wickelhexe zurückgeschrumpft. Das haben die sich verdammt gut ausgedacht, weil ich die dafür nicht verhauen kann und jetzt noch von Laure-Rose oder Apolline oder dir, Mémé Léto abhängig bin, um nicht zu krepieren. Aber lieber verdorre ich, als Verräterinnenmilch zu trinken. Und wenn ein Tag vergangen ist sterben Aron und ich, weil dieser Körper wie Gefangenschaft ist."
"Nein, ihr sterbt nicht, weil du nicht als erwachsene Frau in einen Kerker gesperrt wurdest. Du warst so vorwitzig, das genau zu beschreiben, wie du Aron von dir abhängig gemacht hast, meine Enkeltochter", hörte Julius Léto denken. Sie hielt dabei seine Hand, womit die Verbindung zwischen ihr, ihm und ihren Blutsverwandten bestehenblieb.
"Soll euch der Fluss der rastlosen Seelen verschlingen, wenn ihr selbst sterbt!" fluchte die Gedankenstimme Euphrosynes.
"Pass auf, dass du da nicht reingerätst, Euphrosyne", erwiderte Apolline in Gedanken darauf. mit hörbarer Stimme und damit niederschreibbaren Worten fügte sie hinzu: "Wir sind bereit, uns vor Monsieur Vendredi und gegebenenfalls Ministerin Ventvit und dem Zaubergamot für diese Handlung zu verantworten. Doch die Gewissheit, dass die Kinder und Enkel meiner Nichte, sowie meine beiden Töchter und meine Enkelin Victoire nicht im Zuge einer mörderischen Blutfehde sterben müssen war die Tat wert."
"Mäd..., öhm, die Damen, Sie bringen sich und auch mich da gerade in eine heftige Bredullie. Abgesehen davon, dass wir gerade überlegt haben, wie wir die Sache mit Madame Lundi friedlich beheben können, ohne dass irgendwer irgendwas abbekommt", sagte Julius.
"Wolltest du mich gerade Mädel nennen?" hörte er Apolline Delacours Gedankenstimme, weil Léto noch seine Hand hielt. "Das ist aber ein nettes Kompliment für eine gestandene Großmutter."
"Ich wollte Sie nicht beleidigen, Madame Delacour", schickte Julius zurück. Da hörte er Demetrius antworten: "Eh, stark, ich kriege euch alle mit, auch die, die mich zum Dauermieter von Nathalies Unterbau gemacht hat. Aber das bringt mich drauf, zu fragen, ob ich jetzt noch bis zum ersten Kind von Belle Nathalie bei meiner Langzeitträgerin untergebracht bleibe oder doch demnächst den Ausgang durchqueren muss."
"Du bleibst für immer in dieser besserwisserischen und übergriffigen Schlampe drin und hörst jeden Pups und jeden gepinkelten Tropfen von der mit, bis die tot umfällt und du in der erstickst", schimpfte Euphrosynes Gedankenstimme. Doch Léto funkte rein mentiloquistisch dazwischen: "Auch wenn Sie sich damit arrangiert haben, bei Ihrer ehemaligen Gattin im warmen Schoß eingeschlossen zu sein, Monsieur Grandchapeau, so bedauere ich doch, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Sie wohl dort verweilen müssen, bis meine Urenkelin das erste eigene Kind in diesem Land geboren haben wird. Denn Euphrosyne hat ihren Segen der Erde auf dieses Ereignis festgelegt. Und deshalb gilt es, dass sie und die kleine Belle Nathalie bis zu diesem Zeitpunkt weit genug auseinander leben, damit Euphrosyne nicht auf die unschöne Idee kommt, sie unfruchtbar zu machen oder dergleichen."
"Das wirst du nicht wagen, Mémé. Ich muss bei ihr sein. Sie ist meine Tochter", schimpfte Euphrosyne.
"Jetzt höchstens deine einige Tage ältere Schwester", gedankenstichelte Laure-Rose Montété.
"Gut, die Prüfung muss es erweisen, ob hier wirklich Infanticorpore im Spiel ist", sagte Madame Grandchapeau und hob ihren Zauberstab. Mit dem Zauber "Revelo Umbroriginis!" beschwor sie um die Verjüngte eine rote Aura herauf, die zu einer menschengroßen Nachbildung einer erwachsenen Frau wurde und eindeutig Euphrosynes Gesichtszüge annahm. Als sie den Zauber noch bei dem irgendwie in sein Schicksal ergebenen Aron Lundi anwandte wurde das rot leuchtende Ebenbild eines jungen erwachsenen Mannes sichtbar, den Julius an den Gesichtszügen als Aron Lundi erkannte. Deshalb sagte er: "Die Probe mit dem Originalanzeigezauber bei Fremdverwandlungen ergibt, dass die beiden hier anwesenden Säuglinge ursprünglich die Eheleute Euphrosyne und Aron Lundi sind. Da mir die Damen Delacour und Montété nicht die genaue Uhrzeit der Verwandlung mitteilten muss davon ausgegangen werden, dass beide auf natürliche Weise wieder aufwachsen müssen. Allerdings muss ich um der vollkommenen Bestätigung wegen diese Prüfung vor weiteren Zeugen von der diensthabenden Heilerin vornehmen lassen."
Julius rief Anne Laporte, eine der beiden diensthabenden Heiler des Ministeriums. Diese erschien keine Minute später und las das mitgeschriebene Protokoll und wiederholte die Originalansichtprüfung. "Öhm, die Damen wissen, dass dieser Zauber bis zu fünf Jahre in Tourresulatant bedeuten kann, wenn er nicht aufgehoben werden kann?" fragte Anne Laporte, die damals auch den verbotenen Sonnensegen bei Madame Grandchapeau untersucht hatte.
"Wenn meine Enkeltöchter dafür unbehelligt aufwachsen und ohne Anfeindungen zur Schule gehen dürfen ist es mir die Sache wert", grummelte Laure-Rose. Julius dachte da nicht so. Für ihn war es eigentlich niemand wert, deshalb ins Gefängnis zu gehen. Doch hier und jetzt erkannte er, dass er oder Millie in einem ähnlichen Fall wohl ähnlich drastisch gehandelt hätten, wenn sie um das Leben von Aurore, Chrysope oder der noch nicht geborenen Clarimonde hätten fürchten müssen. Sicher, einen Mord würde Julius nicht von sich aus begehen. Aber den hatten die zwei Töchter Létos in gewisserweise auch nicht begangen. Denn Euphrosyne und Aron besaßen ja noch ihre vollständigen Erinnerungen. Nur bei Aron wusste er nicht, ob das auch so bleiben durfte. Denn er war kein Zaubererweltbürger. Ihn konnten sie einfach in einer Säuglingsstation der nichtmagischen Welt abliefern, ohne Gedächtnis, frei von allem bisher erlebten und auch erlittenen. Irgendwann würde er dann wohl wieder merken, dass er eine besondere Begabung hatte und diese vielleicht wieder nutzen. Doch ob er, Julius, dafür zuständig war, wusste er nicht.
Anne Laporte schlug vor, dass sie alle zusammen zum Konferenzraum gehen sollten. Doch wegen der Regelung, dass Apollines Mann nicht in Hör- oder Sichtweite seiner Frau oder ihrer Blutsverwandten verweilen durfte, beziehungsweise umgekehrt, musste Apolline erst sichern, dass ihr Mann nicht bei den Konferenzteilnehmern war, wenn sie dort eintrafen. So mentiloquierte sie ihm zu, um die Erlaubnis zum Austreten zu bitten. Wenn er eine der weiter entfernten Herrentoiletten aufsuchen konnte und dort mindestens fünf Minuten zubrachte blieb genug Zeit, mit den Leuten bei der Konferenz zu klären, was passiert war und wie es weitergehen sollte.
"Monsieur Vendredi, ich bitte um Erlaubnis, das Bad aufsuchen zu dürfen", meldete sich Pygmalion Delacour, während die Konferenzteilnehmer ruhig und wortkarg ihre Kaffeepause genossen. Arion Vendredi sah den Mitarbeiter prüfend an und horchte in sich hinein. Er fühlte schon seit einigen Minuten, dass im Gebäude eine ihm unangenehme Ausstrahlung vorherrschte, wenngleich er sie nicht räumlich orten konnte. Doch ihm war klar, dass es mit Léto, der reinrassigen Veela, zu tun haben musste. Dann wollte die sicher haben, dass Ihr Schwiegersohn aus ihrer Sichtweite verschwand, um herzukommen. So sagte er nach nur zehn Sekunden: "Monsieur Delacour, ich möchte gerne noch warten, bis Monsieur Latierre wieder bei uns ist. Sie wirken auf mich nicht so, dass Sie so dringend vor die Tür müssen. Ich gehe davon aus, dass wir in nur noch fünf Minuten eine Rückmeldung von Monsieur Latierre erhalten, sofern dieser nicht meint, alle Zeit der Welt zu haben."
"Gut, dann bleibe ich eben hier", erwiderte Monsieur Delacour nach fünf Sekunden Schweigen. Vendredi hatte gefühlt, dass ein Hauch von unsichtbarer Kraft von ihm irgendwohin ausgestrahlt und zurückgekehrt war. So fühlte es sich also an, wenn er, ein Diener der roten Königin, einen mentiloquierenden Zauberer in der Nähe hatte, dachte Vendredi. Er war jedenfalls erleichtert, dass Monsieur Delacour seiner strickten Anweisung zum Hierbleiben folgte.
Als wenn Pygmalion Delacour Julius Latierre persönlich gerufen hätte erschien dieser nur eine Minute später in Begleitung von Madame Nathalie Grandchapeau und der diensthabenden Heilerin Anne Laporte, sowie zwei augenscheinlich neugeborenen Kindern, die von der Heilerin auf dem Rücken getragen wurden. Eines der Kinder, der rosaroten Kleidung nach ein Mädchen, strahlte jedoch etwas aus, das dem Leiter der Abteilung sehr missfiel. Es war wie gebündelte Hitze, die in schnellen pulsierenden Schauern auf ihn einströmte. Arion Vendredi war sich sicher, dass dieses Mädchen eine starke, seine Natur zurückdrängende Aura besaß. War das ein Veelakind?
"Ministerin Ventvit, Monsieur Vendredi, Madame Grandchapeau, Messieursdames et Mesdemoiselles", setzte Anne Laporte an: "Ich wurde vor wenigen Minuten als Gutachterin und Zeugin einer höchst merkwürdigen und rechtlich klärungsbedürftigen Angelegenheit hinzugezogen", begann Anne Laporte. Dann schilderte sie in amtlich korrekter Kurzfassung die ihr angezeigte Tat und erklärte auch, dass die Täterinnen sich selbst angezeigt hätten und bereits von Angehörigen der Strafermittlung und dem Ausschuss gegen den Missbrauch der Magie vernommen wurden. Allerdings seien die Corpora Delicti, wie sie die beiden Säuglinge bezeichnete, zunächst vor weiteren Zeugen auf eine ursprünglich andere Körperform zu prüfen. Zwar hatte sie die Prüfung schon durchgeführt, wollte sie aber vor den ranghohen Konferenzteilnehmern hier wiederholen. Vendredi sah nur das kleine Mädchen, das nun als wiederverjüngte Euphrosyne Lundi ausgegeben wurde. Die strahlte immer noch diese ihm unangenehme Kraft aus. Wenn die von ihm auch was mitbekam war er geliefert, wusste er. Deshalb vertat er keine weitere Sekunde und forderte die angesetzte Originalprüfung. Tatsächlich ergab die Originalanzeigebezauberung, dass die beiden Kinder vor noch nicht all zu langer Zeit erwachsene Menschen gewesen waren. Da die meisten hier zumindest Euphrosyne Lundis Aussehen kannten bestätigten alle Anwesenden für das Protokoll, ihr leuchtendes Abbild erkannt zu haben. Sie nahmen es auch hin, dass der scheinbar gerade erst wenige Tage alte Junge vor nicht mal einem Tag oder einer Stunde der erwachsene Aron Lundi gewesen war.
"Die zwei Täterinnen sollen unverzüglich in den magisch abgeschirmten Verwahrungsbereich verbracht werden. Ich werde mit der Ministerin und dem Leiter der Strafverfolgung erörtern, ob sie vor einem öffentlichen oder geheimen Gericht zu erscheinen haben", knurrte Vendredi. Er fühlte die durch die wie Hitze auf ihn wirkende Aura der rückverjüngten Veelastämmigen eine steigende Bedrängnis, die leicht zur Angst oder Angriffslust umschlagen konnte. Das Biest da musste aus seiner Reichweite. Am Ende bekam die wirklich noch was von ihm mit, auch wenn er sich bemühte, sich zu beherrschen. Die Königin hatte ihm verraten, dass je nach seiner Gefühlslage seine Lebenskraftausstrahlung stärker oder schwächer wurde. So wendete er Occlumentie an, um zumindest geistige Regungen zurückzuhalten. "Ähm, die zwei Betroffenen sollen solange zu Ihren Kolleginnen in die Delourdes-Klinik", beschloss Vendredi. Doch die Heilerin schüttelte den Kopf. "Mit Monsieur Lundi kann ich so verfahren. Madame Lundi ist wegen ihrer Veelastämmigen Konstitution auf die Gabe von Veelamilch oder der einer veelastämmigen Hexe angewiesen. Monsieur Latierre schlug vor, sie in die Obhut ihrer Großmutter Madame Léto zu geben, solange, bis geklärt ist, inwieweit eine Wiederherstellung ihres natürlichen Zustandes möglich ist oder nicht und ob sie auch in diesem Zustand weiterhin mit einer Ermittlung wegen unzulässiger Bezauberungen rechnen muss."
"Wirklich? Gut, dann soll dieses ... diese Betroffene bei Léto unterkommen, bis wir wissen, ob sie wiederhergestellt werden kann und/oder selbst einem Gerichtsverfahren zugeführt werden soll", grummelte Vendredi. Er fühlte den Schweiß aus allen Poren brechen. Das musste doch jedem hier auffallen, vor allem der Ministerin und Madame Barbara Latierre, die unmittelbar in seiner Nähe saßen.
"Gut, dann verbringe ich Monsieur Lundi zu meinen Kolleginnen in die Säuglingsstation der Delourdes-Klinik. Madame Lundi übergebe ich bis zur Klärung ihres Zustandes in die Obhut von Madame Léto", bestätigte Heilerin Laporte. Dann trug sie die zwei Wiederverjüngten hinaus. Vendredi fühlte sich sofort wohler. Er wagte nicht daran zu denken, wie ihn die Aura einer reinrassigen, erwachsenen Veela wie Léto peinigen mochte. Jetzt wusste er, warum seine Königin ihm strickt dazu geraten hatte, keine Veelastämmige in seine Nähe zu lassen.
"Gut, das war offenbar das, was Monsieur Latierre dazu rief, die Konferenz vorübergehend zu verlassen. Durch diese nun sehr drastische, wenn auch eindeutige Wendung dieser Angelegenheit besteht wohl kein dringender Bedarf mehr, über das Vorgehen gegen Euphrosyne Lundi zu diskutieren, richtig?" wandte sich Vendredi an die Anwesenden, die den unfreiwilligen Auftritt der Lundis mit unterschiedlichen Gefühlen verfolgt hatten. Die Hexen hatten mit einer Mischung aus Hingezogenheit und Argwohn auf die zwei Babys geguckt, während die Zauberer mit einer gewissen Verunsicherung bis Schadenfreude auf die verwandelte Euphrosyne geglotzt hatten. Zumindest wähnte sich Vendredi sicher, dass dabei niemand auf ihn geachtet hatte. Wenn Euphrosyne jedoch was von ihm mitbekommen hatte ... Die konnte im Babykörper sicher auch noch mentiloquieren oder diese Gedankenverbindung zu Blutsverwandten herstellen. Dann war es vielleicht schon bei Léto angekommen, dass er was merkwürdiges an sich hatte, wenngleich vielleicht nicht, was genau.
Um nicht doch noch in eine für ihn brenzlige Lage zu geraten beendete Vendredi die Konferenz, nachdem alle ihm zugesichert hatten, bis auf weiteres keine Fragen bezüglich Euphrosyne Lundi zu haben. So sagte er dann noch ganz ruhig: "Nun, dann können wir jetzt alle unserer eigentlichen Arbeit weiter nachgehen, und Sie, Monsieur Delacour, dürfen das Badezimmer für Herren aufsuchen, sollte Ihnen immer noch danach sein."
Die Teilnehmer verließen den Konferenzraum. Jetzt war niemand mehr in Vendredis Nähe. So nutzte er eine von zwei getarnten Zugangstüren, durch die ausschließlich Abteilungsleiter oder der amtierende Zaubereiminister oder die amtierende Zaubereiministerin hereinkommen oder hinausgehen konnten, ohne mit dem Fußvolk die Flure zu teilen, wenn sie dies nicht ausdrücklich wollten.
Vendredi fühlte, wie er zitterte, als er durch die Parallelen Gänge in sein Büro zurückkehrte. Dieses zum Baby zurückverwünschte Veelabalg hatte ihm wirklich zugesetzt. Beinahe hätte er aus Wut oder Angst irgendwas angestellt, was ihn verraten hätte. Als er in seinem Büro ankam verriegelte er sofort die Besuchertür und die getarnte Sondertür. An der Besuchertür wurde ein Schild sichtbar:
Dringende Tätigkeiten ohne zulässige Verzögerung.
Jede Störung verboten, außer bei lebennsbedrohlichen Notfällen oder darauf bezogenen Maßnahmen.
"Meine Königin, ich wurde vorhin von einer durch den Fluch der körperlichen Wiederverjüngung gebannten Veelastämmigen bedrängt, nur durch die von ihr ausgehende Kraft. Ich weiß nicht, ob sie von mir etwas vergleichbares verspürt hat. Was soll ich tun, um nicht von diesen Wesen enthüllt zu werden?" dachte Vendredi, wobei er sich eine große, leuchtendrote Ameisenkönigin mit schwirrenden Flügeln dachte. Sofort fühlte er, wie er über eine ihm unbekannte Strecke mit seiner roten Herrin in Verbindung trat. Wellen großer Lust und Befriedigung flossen zu ihm über. Sie war also wohl gerade wieder auf Hochzeitsflug.
"Stör mich nicht. habe gerade Gefährten bei mir. Warte auf meinen Rückruf!" hörte er die Gedankenstimme seiner Herrin wie eine weit entfernt läutende und von Bergen widerhallende Bronzeglocke in seinem Geist klingen. Dann verschwand das gedachte Abbild der roten Ameisenkönigin. Sie hatte die Verbindung zu ihm einfach getrennt. Er war allein, für einen wie ihn eine harte Strafe und zugleich etwas, mit dem er doch irgendwie umgehen musste.
"Falls dieses von den eigenen Tanten infanticorporisierte Veelaflittchen denen irgendwie irgendwas mitteilt muss ich wohl kämpfen. Es sei denn, ich kann machen, dass keine Veela oder Veelastämmige zu mir vorgelassen werden darf", dachte Vendredi. Dann grinste er überlegen. Er war doch Abteilungsleiter. Er konnte Dinge einfach beschließen. So setzte er sich an seinen Arbeitstisch und schrieb mit smaragdgrüner Zaubertinte eine mehrseitige Verfügung, die klarstellte, dass er wegen der Sache mit Euphrosyne Lundi Anfeindungen der Blutsverwandten zu befürchten hatte und daher keine Blutsverwandte Létos näher als hundert Meter duldete, da er von einem hinterhältigen Angriff ausgehen musste. Aus demselben Grund erwähnte er, dass die Veelastämmigen ebenso versuchen mochten, ihm, Vendredi, die Einflussnahme durch ihnen feindliche Mächte zu unterstellen und alle möglichen Behauptungen machen mochten, die ihn diskreditieren konnten. Damit hatte er tatsächlich eine Handhabe, jede gegen ihn erhobene Behauptung, er sei nicht mehr normal oder irgendwie fremdartig, vom Tisch geräumt. Er schickte dann noch ein Memo in seiner Abteilung herum. Bei dem für Julius, das zur Etage von Madame Grandchapeau hinfliegen sollte schrieb er noch: "Sollten Madame Léto oder ihre Blutsverwandten irgendwas behaupten, ich sei auf irgendeine Weise von anderen dazu gedrängt worden, gegen Madame Lundi zu ermitteln als durch die magische Gesetzgebung, ja behaupten, an mir wäre etwas, dass ihnen missfalle, so sind diese Behauptungen als böswillige Verleumdung zu betrachten. Halten Sie mir gütigst Madame Léto und ihre Verwandtschaft vom Hals! Dies ist eine Dienstanweisung der Kategorie A1."
Sie fühlte, dass Arion von irgendwas verborgen wurde. Irgendwas störte ihre Verbindung. Das war sicher diese Hexenfrau Ornelle Ventvit. Die war von einer Enkeltochter dieser wwiderwärtigen, langhaarigen Biester mit einem die Sonne als Quelle nutzenden Zauber erfüllt worden, dass sie länger lebte und schwerer bis gar nicht zu verletzen oder zu vergiften oder zu verfluchen war. Also wirkte dieses verwünschte Zeug wirklich auf ihre eigene Kraft ein. Itoluhila hatte ihr das verraten, dass ihre von Ashtarias Brut in einen unaufweckbaren Schlaf gebannte Tochter Ilithula mal mit einer dieser widerlichen Auswürfe aus dem Schoß einer Verfemten namens Mokusha zusammengestoßen war und dabei fast ihren Körper verloren hatte. Im Moment konnte sie nichts machen. Denn Arion wurde von einem pulsierenden, hellen Nebel umgeben, der sie auch nicht hören ließ, was er dachte. Sie fühlte nur, dass er sich bedrängt fühlte. Hoffentlich kam er bald wieder aus diesem lästigen Zaubernebel heraus, damit sie mit ihm gedankensprechen konnte.
Die Zeit zwischen zwei befruchteten Eiern wurde länger. Auch wenn die rote Regentin nicht die gleiche Zeitempfindung besaß wie die, die irgendwo tief in ihr drinsteckte und nach jeder Begattung immer wieder versuchte, sich nach außen zu drängen, so fühlte sie doch, dass sie bald alle befruchteten Eier aus sich hinausgedrückt haben würde. Dann wollte sie neu begattet werden. Sie musste mehr Nachkommen haben. Doch die in ihr drinsteckte, Lahilliota, die auch mit einer namens Alison eins geworden war, drängte danach, den ausgeschickten Kundschafter nicht zu verlieren. Nur wenn die Königin die in ihr steckende Menschennatur nicht verdrängte, konnte sie den Kundschafter weiterlenken. Aber sie wollte ein großes Volk haben, mindestens noch mehr als das, was sie schon auf den Weg gebracht hatte.
Tarlahilia blickte auf einen kugelrunden, grauen Stein. Damit konnte sie jeden Raum im Berg der ersten Empfängnis betrachten. Im Moment verfolgte sie das Geschehen in der ehemaligen Halle der Anpflanzungen, wo von Sonnenkraftversetzungszaubern belebte Nahrungspflanzen angebaut worden waren. Doch jetzt war da die Begattungs- und Brutkammer einer mehr als zwei Menschenlängen großen Ameisenkönigin. Tarlahilia wusste, dass das die neue Zweitgestalt ihrer befreiten und wiederverkörperten Mutter war. Doch die geistigen Regungen, die sie von der gewaltigen Ameisenkönigin vernahm gefielen ihr nicht. Dieses Tier, in das ihre Mutter sich verwandelt hatte, gewann immer mehr Raum in ihrem Denken und Fühlen. Als eine, die menschliche Gedankenund Gefühle erfassenund verstehen konnte, fühlte die Tochter der schwarzen Mittagssonne eine gewisse Besorgnis. Was, wenn ihre Mutter sich in der Tierform verlor, ja regelrecht davon verschlungen und ausgelöscht wurde? Sie dachte an das, was Itoluhila ihr durch direktes Ansehen übermittelt hatte: "Pass bloß auf unsere Mutter auf! Mir gefällt das nicht, dass die jetzt eine Kerbtierbrutmutter ist."
Tarlahilia sah durch den grauen Mitsehstein, wie drei der noch in der Nähe der Königin verbliebenen Begattungsdrohnen die neuen Eier so sortierten, dass sie gleichmäßig von der in den Raum verpflanzten Sonnenwärme abbekamen. Die Tochter der schwarzen Mittagssonne versuchte zu zählen, wie viele Eier diese rote Riesenameise jetzt schon gelegt hatte. Dann sah sie etwas, von dem sie nicht wusste, ob es sie freuen oder ängstigen sollte.
Öhm, ist es Ihnen zu hell hier, Frau Dehmel?" fragte Professor Finkenstett seine Zuhörerin in der dritten Reihe. Diese sah durch ihre stark getönte Sonnenbrille zu ihm hin und nickte. "Ich habe seit einigen Tagen eine hhöere Lichtempfindlichkeit, Herr Finkenstett", erwiderte sie für alle Mitstudierenden verständlich. Aber ich wollte jetzt kurz vor der Klausur keine Vorlesungsstunde verpassen."
"O, das sollten Sie aber augenärztlich prüfen lassen, junge Dame. Nicht, dass Sie sich etwas schwerwiegendes eingehandelt haben", sagte Finkenstett. "Öhm, können Sie mit der Brille denn überhaupt die Tafel lesen?" wollte er dann noch wissen.
"Ich habe mich dran gewöhnt, Herr Finkenstett", erwiderte Silke Dehmel. "Ja, ich kann die Tafel noch gut lesen", antwortete sie noch korrekt auf die eigentliche Frage.
"Hmm, gut, Sie sollten in Ihrem Alter wissen, was Sie sich zumuten oder besser prüfen lassen sollten", sagte der Professor. Dann setzte er mit seinen Ausführungen an und schrieb die für seine zuhörenden Studierenden wichtigsten Punkte auf die Tafel.
Mark Fechter, der zwei Reihen hinter der blonden Silke Dehmel saß, nahm die Darlegungen und Erklärungen des Professors fast nur noch beiläufig auf. Fast hätte er vergessen, einen mit roter Kreide als besonders Wichtig markierten Punkt auf der Tafel mitzuschreiben. Denn seine Gedanken drehten sich um Silke Dehmel. Die benahm sich schon seit Tagen so komisch, als müsse sie höllisch aufpassen, bloß keinen Sonnenstrahl zu viel abzukriegen. Außerdem wirkte sie so, als müsse sie immer auf irgendwas lauschen. Ja, und wo es heller als eine Kerzenflamme war trug sie seitdem die stark getönte Sonnenbrille, als wenn sie ständig in der Sommermittagssonne herumlaufen müsse. Gut, er war kein Mediziner, sondern angehender Geologe. Aber der Professor, der da gerade über die Altersbestimmungen von Vulkangestein dozierte hatte völlig recht. Am Ende hatte Silke was heftiges mit den Augen. Das sollte die dann echt prüfen lassen.
"Ich hoffe, Ihnen allen jetzt die maßgeblichen Vorgehensweisen verständlich dargelegt zu haben, die Damen und Herren. Bis zur nächsten Stunde bitte ich jede und jeden von Ihnen, sich über die physikalischen Gegebenheiten bei verschiedenen Schwefelbeimengungen in ausgeworfenem Vulkangestein zu informieren. Ich werde dann hauptsächlich Versuche mit verfügbaren Proben aus der Eifel und dem Einzugsgebiet des Vesuvs machen und möchte dann voraussetzen dürfen, dass ich nicht zu lange über die beobachtbaren Eigenschaften sprechen muss.
"Super, Geochemie für Zwischensemester", dachte Mark Fechter. Er bewunderte den ehemaligen Mitstudenten Rico Kannegießer, der im Februar den Absprung gemacht hatte, weil er einen guten Geldjob und was für ihn offenbar ansprechenderes angefangen hatte. Denn Chemie war nie so Fechters Fach gewesen. Aber er hatte diese Vulkanologievorlesung angefangen, weil Silke Dehmel das Thema so spannend fand. Denn irgendwie hatte sich Fechter mehr als verguckt.
Weil er wissen wollte, was genau sein heimlicher Schwarm mit den Augen hatte folgte er Silke. Er dachte, sie würde zur Mensa gehen, wie die meisten anderen. Aber sie steuerte die bei der Uni gelegene U-Bahn-Station an und fuhr mit der Rolltreppe runter. Fechter blieb zirka zwanzig Meter hinter ihr. Dabei fiel ihm auf, dass Silke sich irgendwie auf der Rolltreppe duckte, wenn sie unter den grellen Neonlampen durchglitt. Wieso machte sie das? Beinahe wäre sie dabei mit ihren blonden Locken zwischen den Gummihandlauf und das scheinbar darunter gleitende Metall geraten. Sowas konnte einen voll skalpieren, hatte er mal in einer Internetsendung über schlimme aber vermeidbare Unfälle gesehen. Immerhin schaffte sie es, unfallfrei bis zur ersten Bahnsteigebene zu gelangen. Mark Fechter peilte bereits den festen Abschluss der Treppe an, um mit einem eleganten Übertritt ohne zu wackeln herunterzukommen. Dann lief er weiter hinter der Angebeteten her. Offenbar wollte sie die Linie nach Altonar nehmen. Was wollte sie denn da? In zwei Stunden war der C14-Kurs. Den wollte sie doch sicher mitmachen. Sollte er ihr weiter auf den Fersen bleiben oder sie ziehen lassen? Vielleicht wollte sie jetzt doch zum Arzt, um das mit ihren Augen zu checken. Manche mussten erst von Mama und Papa oder vom Prof drauf gebracht werden, vernünftig zu sein, dachte Fechter sich. Andererseits bestand ja die Gefahr, dass ein Arzt Silke krank schrieb und sie deshalb nicht die Klausur mitschreiben konnte. Dann würde sie erst im nächsten Wintersemester die Chance haben, Vulkanologie 1 fertig zu kriegen. Aber war das echt seine Sache? Wenn er wirklich mehr von ihr wollte als nur hinter ihr im Hörsaal sitzen schon, dachte Fechter. Andererseits kam er sich gerade vor wie ein geisteskranker Nachsteiger oder Stalker, wie sie es unübersetzt aus dem Englischen übernommen hatten.
Silke Fechter betrat den Bahnsteig, der um die Zeit verhältnismäßig leer war. Sie stellte sich bewusst so, dass kein direktes Licht auf sie fiel. Mark Fechter fasste sich ein Herz und ging ganz offenund ehrlich auf sie zu. Alles oder nichts, Sekt oder Selters hieß die Devise.
Silke betrachtete den von innen beleuchteten Fahrplan. Wieso machte sie das, wenn sie wusste, wo sie hin wollte? Mark ging ruhig auf sie zu. Sie musste ihn bei den wenigen Leuten hier hören. Im Moment dudelte auch kein Straßenmusikant dazwischen. Mark war nur noch zehn Schritte entfernt, als ihm auffiel, dass das schwache Licht aus dem Sichtfenster für den Fahrplan scheinbar ungefiltert hinter Silke auf den Boden traf. Wie ging denn sowas? Silke stand doch so davor, dass sie alles Licht abblocken musste. Mark blickte noch einmal auf den Boden. Eigentlich müsste Silke zumindest einen Schatten ihres rechten Fußes machen, weil der genau in dem Widerschein stand. Doch es sah aus, als wenn sie nicht vorhanden oder total durchsichtig wie Glas war. Mark blieb stehen. Er sah noch einmal genau hin. Silke hatte wohl gelesen, was sie wissen wollte und kehrte sich nun um. Der schwache Widerschein auf dem Boden veränderte sich überhaupt nicht. Jetzt sah Silke Dehmel ihren Mitstudierenden und schrak wie ertappt zusammen. Sie blickte ihn an. Nur an ihrem bleichen Gesicht konnte er erkennen, dass sie sich überhaupt nicht wohl fühlte, ihn hier zu sehen. Wieso war sie auch so bleich. Mark fielen Gruselgeschichten über Vampire ein, von denen es hieß, dass sie kein Spiegelbild und bei stärkerer Beleuchtung auch keinen Schatten hatten. Aber sowas waren Märchen für Leute, die immer noch an irgendwelche Geister und Dämonen glauben wollten.
"Hallo Silke, ich wollte dich nicht erschrecken. Aber ich mache mir Sorgen wegen deiner Augen", preschte Mark Fechter vor.
"Ach, seit wann denn das?" fragte sie schnippisch. Damit hatte er rechnen müssen. Dann sagte sie: "Und dafür dackelst du mir hinterher und wärest mir auch in die Bahn nachgestiegen?"
"Öhm, ja", sagte Mark. Er fühlte, wie sein Herz ihm bis zum Halse schlug. Er hatte sich gerade mehr getraut als er eigentlich dachte. Silke war drei Jahre älter als er, hatte nur später angefangen, weil sie vorher eine sogenannte anständige Ausbildung machen musste.
"Mark, ich kann und werde auf mich alleine aufpassen. Ich brauche keinen Babysitter und auch keinen Möchtegernstalker, kapiert!"
"Geht klar, Ansage angekommen", bestätigte Mark. Doch dann fragte er, ob sie nachher beim C14-Kurs dabei sein würde. Sie machte drei schnelle Schritte auf ihn zu. Doch bevor sie in die vom Neonlicht am besten beleuchtete Zone eindrang blieb sie wie vor eine Wand geprallt stehen. "Pass besser auf, dass du nachher noch beim C14-Kurs dabei bist, Kleiner. Und jetzt sieh zu, dass du mit den anderen zum essen findest! Öhm, und du hast mich nicht getroffen, kapiert?"
"Wieso?" fragte Mark.
"Meine Sache, sagte Silke Dehmel und trat noch näher. Jetzt stand sie voll im Licht, und Mark sah, dass es ihr wohl zusetzte. Er sah aber auch, dass sie keinen Schatten warf. Das wiederum wurde Silke nun endgültig klar. "Ach, tja, Mark, das wollte ich eigentlich so nicht. Aber du hast mich verfolgt und dabei was mitbekommen, dass keiner mitkriegen sollte. Dein Pech", sagte sie mit unheilvoll kühler Stimme. Mark erkannte, dass er gerade in eine sehr brenzlige Lage geriet. Wenn die Frau ohne Schatten ihn jetzt als unerwünschten Mitwisser angreifen und töten würde ... Er peilte schnell hinter sich, um seinen Fluchtweg abzusichern. Da fiel mit lautem Knacken das Licht aus, und es wurde kälter in diesem eher zu warmen Bahnhofsbereich.
"Ich nehme ihn zu mir, Mädchen", sagte eine andere Frauenstimme unvermittelt. Sie klang geisterhaft sphärisch und hallte merkwürdigerweise nicht von den Betonwänden wider. Mark blickte in Silkes Richtung. Da sah er jedoch nur zwei riesige blaue Kreise in der Dunkelheit schweben. Dann hörte er hinter sich einen scharfen Knall, der lange im U-Bahn-Schacht widerhallte.
"Rühr ihn nicht an, Schattenmutter!" rief noch eine ihm unbekannte Frauenstimme. Dann rief die Unbekannte noch zwei Worte: "Expecto Patronum!"
Mark glaubte, in einem verrückten Film über Dämonen und Hexen geraten zu sein. Als ein nur schemenhaftes, silberweiß leuchtendes etwas an ihm vorbeisauste und direkt in die totale Finsternis hineinstieß. "Das macht mir nichts, Hexe! Dann sei du eben auch eine Tochter von mir!" brüllte die geisterhafte Frauenstimme.
Mark Fechter war gefangen zwischen Fluchtgedanken und totaler Verwirrung. Deshalb kam er gar nicht dazu, zu reagieren, als etwas ihn von hinten traf und ihn durch die Luft davonriss, hinein in eine riesenhafte, ihn zusammendrückende Hand. Dann hörte er noch, wie die Unbekannte, die vorher eine Art Schutzherrenanrufung ausgestoßen hatte, "Murus Solis Invisibilis!" rief. Da krachte es irgendwo vor Mark, und die Geisterfrauenstimme fluchte: "Schon wieder so eine widerliche Lichtwand. Aber die drücke ich weg und dann. "Aggregato Transmutaccio!" hörte Mark ein leises Flüstern. Doch darauf erfolgte nur ein scharfer Knall und ein schmerzhafter Aufschrei. "Nein, meine Enkeltochter kriegst du so nicht, Hexe!" brüllte die Geisterfrau. Dann prasselte und krachte es, und ein unheilvolles Lachen dröhnte Mark entgegen. Doch dann erkannte er nur noch, wie er in einen wilden Farbenwirbel hineinstürzte.
"Ui, dich können wir wohl nicht so schnell zu deinen Leuten zurücklassen, wo die Mutter der Schattenbiester jetzt selbst hinter dir her ist", hörte er die Frauenstimme, welche die Schutzherrenanrufung gerufen hatte. Dann fühlte er, wie er regelrecht in etwas großes, weiches hineingeschoben und darin verstaut wurde.
Er bekam dann noch mit, wie die Unbekannte sich mit jemandem unterhielt und etwas von der Bestätigung einer ihres Schattens beraubten Frau erwiderte und dass diese wohl ein Opfer jener Schattenriesin sei, die bereits unangenehm aufgefallen sei.
"Und Sie haben den Zeugen dieser Begegnung in ihre Obhut genommen, Fräulein Steinbeißer?" hörte Mark einen Mann fragen. "Ich musste ihn durch die Faucon'sche Berge- und Rettungskombination aus der Gefahrenzone befördern. Öhm, die selbe Bezauberung schlug bei der erkannten Schattenlosen leider nicht an. Es steht zu befürchten, dass sie gegen Fremdverwandlungen gefeit ist."
"Dann geben Sie dem bedauernswerten Muggel seine angeborene Erscheinungsform zurück und versenken ihn in Tiefschlaf, bis wir wissen, ob und wie wir ihn in die freie Umwelt zurückschicken können!" erklang ein Befehl.
Als nächstes wurde Mark aus seiner Aufbewahrung hervorgeholt und aus einer Höhe von mindestens zehn Metern auf den mit großen Poren und Furchen übersäten Boden gelegt. Dann traf ihn wieder was am Körper, und er fand sich auf dem Rücken liegend auf der Erde. Ein unbändiger Drang, alle Glieder zu bewegen ließ ihn wie einen Breakdance-Künstler auf dem Bodenherumzucken. Dann ließ dieser wilde Drang auch schon wieder nach. Er konnte sich frei bewegen. Doch bevor er sich aufsetzen konnte verlor er auch schon das Bewusstsein.
Pablo traute seinen neuen Augen nicht. Der Afrikaner, dieser Quame, vergriff sich an den gerade gelegten Eiern. Er roch förmlich die Eifersucht des Jungen, der auch zu den Begattern gehörte. Der wollte die nicht von ihm stammenden Eier fressen, damit nur seine Brut überlebte. Das durfte Pablo nicht zulassen. Er schickte eine starke Wolke Warnduft aus. Doch Quame nahm weiter die nicht von ihm befruchteten Eier, darunter eines, dass die Königin von diesem Franzosen in den Hinterleib getrieben bekommen hatte. "Eh, lass die Eier liegen, Afroboy", stieß Pablo nun eine klare Botschaft aus.
"Eh, kleiner, du bist nicht gefragt. Die Königin soll nur meine Eier ausbrüten", zischte Quame. Dann ging er auf Pablo los, der sofort zum Gegenangriff ansetzte.
Es kam zu einem wilden Gemenge aus zwölf Beinen und wild schnappenden Beißzangen. Quame entsann sich, dass er auch Säure versprühen konnte. Doch Pablo wich schnell aus. Er fühlte, dass seine Ausdauer größer war. Dafür war der Afrikaner wohl körperlich stärker. Doch genau das nutzte Pablo aus, um Quame ins Leere stoßen zu lassen, als er so tat, als wäre er erschöpft. Als Pablo hinter dem an ihm vorbeigeschnellten hersetzen wollte traf Quame eine nach Tod und Verheerung stinkende Säureladung voll am Kopf. Es zischte und dampfte. Quame stieß einen langgezogenen geistigen Todesschrei aus und verströmte einen unverwechselbaren Schwall von Todesangst. Dann zerfiel sein Kopf unter der Wirkung der hochkonzentrierten Säure. Doch sein Körper lief wie aufgedreht davon und rannte auf die Wand zu. Mit lautem Knall prallte der kopflose Quame gegen den massiven Felsen. Seine sechs Beine ruderten noch wild in der Luft herum. Dann blieb Quame endlich liegen. Von ihm ging keine Regung mehr aus.
"Was wollte der? Unsere Kinder fressen? Das habe ich dem nicht erlaubt", hörte Pablo die Stimme seiner Königin und verspürte einen Hauch von Wutduft. "Dafür darfst du beim nächsten Sonnenaufgang wieder zu mir, neue Eier befruchten."
"Wie du es sagst, meine Königin", bestätigte Pablo.
"Öhm, Geh raus und hol mir von der halben Kuh, die José und Davud in den Vorratsraum gelegt haben!" teilte sie ihm noch mit. Pablo bestätigte das durch ein kurzes Winken seiner haarigen Ameisenfühler. Dann lief er aus der Begattungshöhle hinaus in Richtung Vorratsraum.
Als er das gestern erst angebrachte halbe Rind auf dem Rücken zurücktrug bekam er gerade noch mit, wie die Königin ihren Kopf aus der schlaffen Hülle zog, die einmal Quames Körper gewesen war. Er sah Teile von etwas, das früher mal Beine gewesen sein mochten. Als Mensch wäre er sicher jetzt total angewidert zurückgeschreckt. Doch in seiner Form als riesige Ameisendrohne empfand er nur Genugtuung. Die Königin hatte den Verbrecher getötet und vertilgt, damit das, was noch von ihm übrig war ihren vom vielen Eierlegen erschöpften Körper ernährte. Aber sie hatte auch noch Hunger auf das, was Pablo ihr mitbrachte. "Du darfst davon auch essen", erlaubte sie ihm mit einem Fühlerzeig auf das bereits gehäutete Fleisch.
Beide wussten nicht, dass Tarlahilia sie über den Mitsehstein beobachtete. Was Paablo nicht an Ekel empfunden hatte schüttelte die sonst nicht so zimperliche Tochter der schwarzen Mittagssonne. Was war aus ihrer Mutter geworden? Sicher, dieser Ameiserich hatte angefangen, die gerade gelegten Eier zu fressen, wohl weil er nur seine eigene Brut leben lassen wollte. Insofern was instinktmäßig vollkommen nachvollziehbares. Doch was die Brutkönigin, die früher mal Tarlahilias Mutter gewesen war, mit dem von ihr getöteten Begatter anstellte machte sie schaudern. Was, wenn die Ameisenkönigin, in die sich ihre Mutter verwandelt hatte, irgendwann fand, dass sie keine ihr ebenbürtigen Gesellschafter in Menschenform mehr brauchte? Überhaupt, was würde aus ihr und den anderen wachen Schwestern, wenn dieses Wesen da immer mehr zum reinen Tier wurde?
Mit gewisser Erleichterung nahm Tarlahilia auf, dass ihre Mutter mit Arion Vendredi gedankensprach. Das ging also noch. Vielleicht konnte sie sich auch wieder in ihre eigentliche Gestalt zurückverwandeln und die Instinkte einer Ameisenkönigin verdrängen. Doch die Gefahr, dass sie sich völlig in diesem Tierwesen verlor bestand weiterhin.
"Und, was macht ihr jetzt, wo dieses Schattenmonstrum einen neuen Weg gefunden hat, lebende Wesen zu beeinflussen?" fragte Anthelia, als Albertine Steinbeißer ihr nach Dienstschluss berichtete, was ihr am Mittag widerfahren war.
"Wir wissen nicht, ob es die erste oder einzige ist, die von etwas ähnlichem wie dem Cleptumbra-Zauber getroffen worden ist, höchste Schwester. Vielleicht war sie auch nur ein Experiment, um zu prüfen, ob solche Manipulationen unbemerkt bleiben."
"Ich fürchte eher, es ist wie bei Mäusen und Ratten, Schwester Albertine: Wo eine zu seh'n sind sicher noch zehn", schnaubte Anthelia. "Nein, ich denke, dass du diese Frau getroffen hast lag nur daran, dass du diese Hochschule überwacht hast, weil deine offizielle Dienststelle und wir Schwestern davon ausgingen, ja wohl zu recht, dass die in die Welt getretene Mutter neuer Nachtschatten immer noch darauf hofft, die drei letzten Überlebenden ihrer Entstehung zu erwischen. Womöglich will sie sie zu ihren neuen Kindern machen, so wie sie es mit dir vorhatte."
"Aber wie kann sie Menschen ihre Schatten wegnehmen und wozu das?" wollte Albertine Wissen.
"Aus demselben Grund wie bei Cleptumbra, Kontrolle über das Opfer und Labung an dessen Lebenskraft, ohne es gleich zu töten. Diese Nachtschattenmutter hat sich da was sehr wirksames ausgedacht, um sowohl auch lebende Diener zu kultivieren als auch für ihre Nachtschatten Lebenskraft zu sammeln, ohne gleich völlig vereiste Leichname zu hinterlassen."
"Mit anderen Worten, sie bindet die natürlichen Schatten ihrer Opfer an sich oder ihre sogenannten Kinder?" wollte Albertine wissen.
"Nicht sogenannten Kinder, Schwester Albertine. Der kristalline Uterus, den du selbst damals in diese Schattenriesin hineingleiten gesehen hast, ist wahrhaftig eine Gebärmutter, um aus den ihrer Körper entrissenen Seelen neue Nachtschatten zu erbrüten, die ihrer zweiten Mutter völlig unterworfen sind. Das ist ganz anders als bei denen, die aus eigenem Willen die Nachtschattenform annahmen oder durch einen entsprechenden Fluch direkt dazu gemacht wurden, wie der Norweger, der Vengors erster Diener gewesen war. Ja, und ich fürchte, diese Schattenmutter wird noch nicht müde sein, weitere Kinder zu gebären und in ihrem Sinne großzuziehen."
"Super! Wir haben die Kanallie Wallenkron davon abgehalten, sich zum verlängerten Arm dieses atlantischen Großfinsterlings zu machen und kriegen jetzt dafür eine Armee aus mörderischen Nachtschatten und einer Königin, die sich ganz gut in der magielosen Welt zurechtfindet. Denn dass die mal eben alles Licht ausgeknipst hat weist darauf hin, dass sie wusste, wo sie die entsprechenden Stromkreise unterdrücken muss", erwiderte Albertine.
"Ja, und sie kennt sicher alle Geheimnisse des Schattenlenkers Kanoras. Sie ist seine legitime Erbin, eben nur ortsunabhängig, wie du fast leidvoll erfahren hättest."
"Ja, und die Vampire dieser schlafenden Göttin, die Mörderischen Mondgeschwister, die Babymacherbanditen von Vita Magica, ja, langweilig wird das sicher nicht für uns", zählte Albertine Steinbeißer auf.
"Du hast da noch zwei Parteien vergessen, die mir nicht minder Bauchweh bereiten", seufzte Anthelia: "Die wiedererwachten Abgrundstöchter sowie alle noch im Verborgenen lebenden Anhänger dieses englischen Waisenknabens oder seines selbsternannten Nachfolgers Vengor."
"Öhm, die wurden doch alle erwischt, weil die VM-Verbrecher uns doch gnädigerweise deren Namen und Wohnorte zugespielt haben, als sie das alles aus Wallenkrons Gedächtnis gezerrt haben", sagte Albertine.
"Na, ob das wirklich alle waren?" fragte Anthelia. "Wir müssen auch mit solchen Subjekten rechnen und ebenso mit magielosen Untätern, die uns zufällig in die Quere kommen können." Das konnte Albertine Steinbeißer leider nicht abstreiten. Immerhin hatte die Schwesternschaft es auch schon mit Verbrechern ohne magische Ausprägung zu tun bekommen.
Julius Latierre wunderte sich ein wenig über das Memo seines zweiten Vorgesetzten Vendredi. Zum einen galt doch schon bei Monsieur Delacours Anwesenheit, dass keine Veela oder Veelastämmige die Etage der Abteilung für magische Geschöpfe betrat. Zum anderen ließ Vendredi irgendwie unter den Tisch fallen, dass ja auch andere von denen irgendwie beeinflusst werden konnten, wenn die das wollten. So fragte er per Mentiloquismus bei Léto, ob sie irgendwas merkwürdiges verspürt hatte oder nicht.
"Wo du das fragst, Julius: Ich habe die ganze Zeit, wo ich bei euch im Ministerium war eine schlafende Kraft verspürt, die ich nicht genau einschätzen kann. Meine Töchter haben auch sowas gespürt. Dann könnte da wirklich was sein."
"Und Euphrosyne?" fragte Julius.
"Die schmollt jetzt, benimmt sich jetzt wie ein natürlicher Säugling, der wütend ist, aus Mamans warmem Schoß herauszusein und für alles nötige schreien und quängeln zu müssen. Soll mir recht sein", bekam er zurück.
"Schon komisch. Na ja, werde ich vielleicht noch einmal mit Monsieur Vendredi besprechen, was er damit meint, ihr könntet irgendwas übles über ihn behaupten."
"So, meint er das?" wollte Léto wissen. Dann erfolgte eine kurze Zeit Schweigen im Gedankensprechfunk. Dann erwiderte Léto: "Ich werde meine Töchter und Enkel ansingen, erst einmal nichts zu sagen oder zu tun, was irgendwen von euch schlecht dastehen lässt. Von Apolline und Laure-Rose habe ich noch erfahren, dass sie in jenem mit vielen Verhüllungs- und Abschirmungszaubern gespickten Raum gebracht werden sollten. Ob dieser Raum auch gegen die Gesänge der Blutsverwandtschaft verschließt werde ich später noch erkunden. Aber jetzt gilt es, eine kleine, wütende und störrische Mitbewohnerin satt zu kriegen. Bitte störe mich dabei nicht!" Julius versprach es und verabschiedete sich von Léto.
Gleich nach der Mittagspause erhielt Julius drei Mitteilungen. Eine war eine ausführliche Vorladung zu einem Gericht vor dem geheimen Zwölferrat, der am nächsten Tag über Apolline und Laure-Rose befinden sollte. Die zweite war von Madame Nathalie Grandchapeau. Sie teilte mit, dass die Eheleute Lundi und ihre Tochter für die nichtmagische Öffentlichkeit auf eine kurzentschlossene Urlaubsreise gegangen waren. Sollte es nötig sein, deren dauerhaftes Verschwinden zu begründen würden sie als irgendwo tödlich verunglückt in den Nachrichten der magielosen Welt erwähnt werden. Memo Nummer drei kam von der Ministerin selbst. Es war eine direkte nur an ihn gerichtete Einbestellung um 17:00 Uhr, wenn die meisten anderen bereits in den Feierabend gingen. Julius grummelte erst, weil er eigentlich heute um vier Uhr pünktlich zu seiner Familie zurückkehren wollte, weil Jeanne Dusoleil die in Millemerveilles wohnenden Latierres zu Kaffee und Kuchen eingeladen hatte. Den Termin musste er also absagen.
"Was will die Ministerin noch von dir, Monju?" fragte ihn Millie, als er mit ihr mentiloquierte. Er erwiderte, dass er das nicht wusste. "Hat es was mit dem Ding zu tun, was Euphrosyne und ihrem Wunderburschen passiert ist?" wollte Millie wissen. "Öhm, das ist von Vendredi und der Ministerin auf S7 eingestuft worden. Woher weißt du das schon?" schickte Julius zurück.
"Tante Babs hat sich ein wenig zu laut mit Monsieur Lamarck darüber unterhalten, dass dieser Viertelveela genau das passiert ist, was ihr zustand, nämlich noch mal als kleines Pullerpüppchen anzufangen, wo sie so besitzergreifend und eigensinnig war. Eines von ihren Bildern steht mit einem Gegenstück im Sonnenblumenschloss in Verbindung. Oma Line hat's daher und ich von der, weil die wissen wollte, ob das stimmt, dass die von ihren eigenen Tanten infanticorporisiert wurde. Ist das echt so gelaufen?"
"Wie gesagt, Stufe S7, Mamille, daher bitte nicht als Kaffeeklatsch rumreichen. Ja, aber so ist das. Die ist jetzt bei Léto, weil Veelastämmige nur Veelamilch vertragen, solange sie im Säuglingsalter sind."
"Oha, deshalb hat Oma Line mich wohl so mit Zwinkern angetextet, dass ich aufpassen muss, nicht von Tante Babs und Tante Trice auch so abgefertigt zu werden, weil ich dann wohl auch zu ihr hingesteckt würde. Danke für die Info. Ich werde das keinem erzählen. Aber wenn es wegen der nicht so sicheren Bilderverbindungen auch anderswo rumgeht frage ich besser schon mal für ein Interview mit dem Menschen-Veela-Beauftragten des Zaubereiministeriums an."
"Da bringst du mich auf was, Mamille. Ich schreibe mal besser eine ausführliche Darlegung über die Gesetze der Veelas und vor allem, dass die für die über denen des Zaubereiministeriums stehen. Falls jemand diese Darlegung braucht kann ich die dann locker aus dem Ärmel ziehen", sandte Julius zurück. Dann verabschiedete er sich. Das mit den geschwätzigen Bildern war immer noch ein Sicherheitsleck in jedem Ministerium, erkannte er. Gut, dass er in seinem Büro nur Fotos aufbewahrte.
Die Niederschrift der für Veela verbindlichen Verhaltensregeln und warum die jeder aktuellenZaubereigesetzgebung vorgezogen wurden dauerte anderthalb Stunden. Danach kümmerte sich Julius noch um einige nicht so dringliche Vorgänge und konnte diese endlich abschließen. Er befürchtete keinen Leerlauf, wo er vor einem Schreibtisch saß und nichts zu tun hatte. Madame Grandchapeau hatte ihn ja auch für die Arbeit im Computerraum eingeteilt.
Um 17:00 Uhr benutzte er die ihm eine Woche nach Bezug seines neuen Büros freigegebene Extraverbindung, wo er durch eine getarnte Tür in einen der für untere Dienstränge unzugänglichen Korridore gehen konnte. Es musste keiner wissen, dass er noch im Haus war.
Er klopfte an die Tür der Ministerin und sah sofort das grün leuchtende Türschild: "Monsieur Latierre bitte eintreten".
Dass wir zwei morgen einem nichtöffentlichen Verfahren gegen Madame Apolline Delacour und Madame Laure-Rose Montété beiwohnen wissen Sie ja schon", sagte die Ministerin nach der Begrüßung. Dann deutete sie auf eines der magischen Fenster, die entweder Außenansichten oder vom Nutzungsberechtigten wählbare Abläufe darstellen konnten. "Wiedergabe von Anwesenden zwischen zehn und fünfzehn Uhr!" rief sie dem Fenster zugewandt. Sofort verschwand die wunderschöne Winterlandschaft aus der Auvergne, wo Ornelles Geburtsort lag und machte einem in verschiedenhellen Blautönen gehaltenen Grundriss des Ministeriumsgebäudes platz. "Privileg des amtierenden Ministers, immer sehen zu können, wer von den diensthabenden Mitarbeitern gerade an seinem oder ihrem Arbeitsplatz oder in einem Besprechungsraum ist. Die Winzigen grünen Punkte da sind alle, die zwischen den von mir erfragten Zeitpunkten im Ministerium waren. Ich möchte Ihnen etwas zeigen, Monsieur Latierre, von dem ich hoffe, dass Sie das mit einer gewissen Selbstbeherrschung zur Kenntnis nehmen."
"Öhm, können Sie damit auch sehen, wer gerade in den Toilettenräumen ist?" fragte Julius. "Nein, nur wer in dem Versammlungsraum, einem der Büros oder den auf jeder Etage liegenden Konferenzräumen anwesend ist und eben nur die eingetragenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter", erwiderte die Ministerin. Julius erinnerte sich, dass die Sicherheitszauberer auch eine lückenlose Personenüberwachung aufrufen konnten, wenn eine Alarmsituation bestand. Die beschränkte sich aber nicht auf Mitarbeiter, sondern auch auf als Besucher mit Plakette eingelassene Außenstehende.
"Ich gehe davon aus, dass ich über das, was Sie mir vorführen möchten Stillschweigen bewahren soll", schob Julius schnell vor, um zu bekunden, dass er sich der besonderen Lage und damit einhergehenden Verantwortung bewusst war.
"Das ist sehr nett, Monsieur Latierre", sagte die Zaubereiministerin. "Es könnte sich sogar als lebenswichtig erweisen, wenn Sie vorerst keinem was davon erzählen", fügte sie noch hinzu. Dann deutete sie auf den Bereich des dargestellten Grundrisses, der die Etage der Abteilung für magische Geschöpfe bezeichnete. "Ihre Konferenz begann um zehn Uhr", setzte die Ministerin an. "Ich bekam wie erwähnt wenige Minuten vorher Kenntnis, dass es auch um Madame Lundi gehen sollte. Stockwerk in Vollansicht! Ablauf vom Ausgangszeitpunkt dreißig zu eins!" Die letzten beiden Sätze waren wieder eine Anweisung. Rechts oben wurde eine Zeigeruhr dargestellt, die auf zehn Uhr stand. Julius sah nun den Sekundenzeiger, der für eine Umrundung nur zwei volle Sekunden brauchte. Dann sah er auf die Ansicht, die das Stockwerk wie von oben her zeigte. Julius dachte, dass solche Sachen schon weit vor dem Computerzeitalter möglich gewesen sein mochten oder erst davon angeregt erfunden wurden.
"Da sind Sie alle im Konferenzraum", sagte sie und deutete auf die grünen Kreise, in denen in Weiß die Namen der davon bezeichneten standen. Julius konnte nun alle Bürovorsteher nachlesen. Die rechts oben mitlaufende Uhr stand schon auf zehn Uhr fünfzehn, als auch die Ministerin und Nathalie Grandchapeau als grüne Kreise in den Konferenzraum hineinglitten. Julius fiel auf, dass die beiden Kreise merkwürdig pulsierten und die Namenszüge nicht weiß sondern sonnengelb flimmerten. War das, was er mit Selbstbeherrschung zur Kenntnis nehmen sollte? Dann fiel ihm noch was auf. Der Kreis, der mit Barbara Latierre beschriftet war, flackerte und begann dann wie ein hektisches Blinklicht zu verschwinden und wieder aufzuleuchten. Julius fragte, ob die Kreise die exakte räumliche Position im bezeichneten Raum darstellten. Dann fiel ihm noch was auf, ein Name fehlte in der Darstellung: Arion Vendredi. Der war um die bezeichnete Uhrzeit eindeutig auch im Konferenzraum gewesen.
"Oh, wo ist denn Monsieur Vendredi? Ist der nicht als ordentlich zum Dienst angetreten verzeichnet worden?" fragte Julius und deutete dann wieder auf den Kreis, der die Anwesenheit von Barbara Latierre zeigte oder nicht, zeigte oder nicht ...
"Zu Ihrer ersten Frage: Die Anwesenheitsdarstellung gibt nicht die genaue räumliche Position innerhalb eines Büros oder Besprechungsraumes wieder, sondern nur, dass die betreffende Person dort anwesend ist. Zum zweiten ist Ihnen sicher aufgefallen, dass die Anzeige von Madame Latierre ab einem gewissen Zeitpunkt regelmäßig verschwindet, als würde sie alle zehn Sekunden disapparieren und reapparieren. Ja, und wahrhaftig wurde Monsieur Vendredi bei seiner Ankunft als zum Dienst angetreten verzeichnet, spätestens als er sein Büro aufschloss und betrat. Also hätte er solange als im Ministerium anwesend angezeigt werden müssen, bis er sich durch Verschließen seines Büros und Abreise aus dem Voyer abgemeldet hätte, was er übrigens um genau sechzehn Uhr getan hat. Aber dann hätte er auf jeden Fall als im Konferenzraum anwesend dargestellt zu werden, wo nun wir alle dort als anwesend dargestellt sind. Übrigens, fällt Ihnen auch auf, dass sich der Namenszug in dem mich bezeichneten Symbol in der Ausrichtung verschiebt?" Julius betrachtete den betreffenden Kreis und nickte. Tatsächlich leuchtete der Namenszug: "ZM Melle. Ornelle Ventvit" zum einen nun in einem gelborangen Farbton und stand um einige Grad nach rechts oben versetzt im grünen Kreis.
"Ich habe mir das mit den verschiedenen Darstellungen von den Damen Grandchapeau und mir mit der uns aufgeprägten Veelabezauberung erklärt, seitdem ich diesen Darstellungszauber benutzen darf. Zumindest hat wohl mein Vorgänger entsprechende Notizen hinterlassen, bevor er -uns verließ. Aber eine von der waagerechten Ebene abweichende Darstellung kam bisher nicht vor."
"Ich frage mich vor allem, was die merkwürdige Blinkanzeige von Madame Latierres Namen soll", gestand Julius der Ministerin ein. Diese nickte. Doch dann kam sie wieder auf die Nichtanzeige von Vendredis Anwesenheit. "Sie wissen Sicher noch, wer wo saß, richtig?" Julius nickte. "Dann wissen Sie, dass Madame Latierre links und ich rechts von Monsieur Vendredi saßen, keinen Meter von ihm entfernt, sozusagen auf Armlänge. Und jetzt wird es noch interessanter", sagte sie und bremste die Geschwindigkeit der Darstellung um genau die Uhrzeit auf nur ein Viertel Normalzeit herunter, als Heilerin Laporte, Julius und Madame Grandchapeau zusammen im Konferenzraum angezeigt wurden. Ornelle Ventvits Namenszug glomm wieder weißgelb, pendelte aber zwischen plus zehn und minus zehn Grad im Bezug zur waagerechten Mittellinie des Kreises. Sie ließ die Darstellung anhalten, wobei Julius jetzt sah, dass Barbara Latierres Namenskreis an mehreren Stellen unterbrochen war. Nathalies Namenszug glomm weißgelb, wies jedoch eher nach rechts unten.
"Schon interessant, nicht wahr? Als die beiden infanticorporisierten Lundis hereingebracht wurden veränderte dies die Darstellung meines und Madame Grandchapeaus Namenszuges. Und jetzt lasse ich die Darstellung mal mit zehnfacher Verzögerung weiterlaufen", sagte sie und befahl dem Fenster die entsprechende Darstellung. Somit waren zehn gezeigte Sekunden eine natürliche Sekunde. Julius konnte nun erkennen, dass ein weiterer Kreis aus vielen Einzelpunkten zusammengefügt und immer dichter erschien, ein weißer Kreis mit einem dunkelgrünen Namenszug: "LAFUAMG M. Arion Vendredi"
"Ups!" entfuhr es Julius. Dann sah er, wie der neue Kreis zwei sekunden lang vollständig war und dann wie von unsichtbaren Klingen in Einzelportionen zerlegt wurde und schließlich für zwanzig wirklich verstreichende Sekunden nicht mehr zu sehen war, bis er sich wieder aus Punkten zusammenfügte und vollständig wurde.
"Oha", musste Julius jetzt auch noch loslassen. Denn in seinem Kopf wirbelten gerade mehrere Gedanken, die wie Zahnräder ineinandergriffen, bis sie zu einer für ihn glaubhaften Erklärung wurden. Die Ministerin sah ihn genau an. Als sein Gesicht wohl zeigte, dass ihm was sehr heftiges eingefallen war nickte sie ihm zu.
"Offenbar bewirkt die Anwesenheit auch nur einer körperlich neugeborenen Veelastämmigen etwas, dass die bisher nicht vorhandene Anwesenheitsanzeige von Monsieur Vendredi hervorruft, jedoch in farblich umgekehrter und nicht dauerhafter darstellung. Also löst diese Anwesenheit etwas aus oder besser auf", sagte die Ministerin. "Ich habe mit den Überwachern in der Sicherheitszentrale gesprochen, nachdem ich das hier zum ersten mal gesehen habe", fügte sie hinzu. Julius nickte. Dann bat er ums Wort:
"Offenbar hat sich Monsieur Vendredi aus einem mir nicht bekannten Grund mit einem Unortbarkeitszauber versehen, der bei Anwesenheit einer Veelastämmigen wechselwirkt oder mit deren Zaubern wie dem verbotenen Sonnensegen. Jetzt ergibt diese Anweisung, nichts zu glauben, was Veelastämmige über ihn erzählen könnten einen Sinn."
"Es ist bedauerlich, dass diese Anzeige nur zwei Tage in die Vergangenheit zurückreicht. Ich hätte zu gerne geprüft, ob diese Nichtdarstellung schon vor Vendredis Urlaubsreise war. Aber da müsste ich dann auch die im selben Raum mit ihm anwesenden Mitarbeiter befragen, ob sie ihn dort auch gesehen haben. Ansonsten habe ich genau denselben Schluss gezogen wie Sie, Monsieur Latierre. Da Sie mit den Veelastämmigen direkt und quasi hauptamtlich zu tun haben und zudem ein eigenes Büro zur Verfügung haben wollte und musste ich Sie über diese gerade beobachtete Besonderheit oder auch Absonderlichkeit unterrichten, die wir gerade verfolgen", sagte die Ministerin und hielt die Darstellung an dem Zeitpunkt an, als das Symbol für Heilerin Laporte aus dem Umriss des Konferenzraums in den des Zugangskorridores überging.
"Also, wenn Monsieur Vendredi von einem eng begrenzten Unortbarkeitszauber umgeben ist stellen sich die üblichen sechs Fragen: Wann bekam er diesen Zauber? Wenn nicht er selbst, dann wer sonst hat ihm diesen Zauber verschafft? Wo genau ist das passiert? Wieso wechselwirkt der Zauber mit der Lebensaura von Veelastämmigen? Warum wurde Monsieur Vendredi in diesen Zauber eingehüllt?"
"Ich fürchte, die Antworten auf diese Fragen werden uns nicht gefallen, Monsieur Latierre", grummelte die Ministerin. "Sicher, es kann eine Schutzmaßnahme sein, weil er sich wirklich von den Veelas bedroht fühlt, seitdem die Damen Grandchapeau, mein Vorgänger und ich von Abkömmlingen dieser Zauberwesenrasse manipuliert wurden. Dann könte die Unortbarkeit nicht die ursprüngliche Auswirkung, sondern eine Nebenwirkung sein. Andererseits hätte Monsieur Vendredi dann sicher auch alle seine Mitarbeiter einschließlich Sie anweisen können, eine gleichwertige Vorkehrung gegen mögliche Einflüsse durch Veelastämmige zu treffen, um sicherzustellen, dass ihm nicht von dieser Seite her Gefahr drohen kann. Also ist das eine Einzelaktion. Die Frage ist, ob es eine von ihm eingeleitete und/oder erwünschte ist oder von wem anderem ausgeführt wurde?"
"Also, wenn das ein Schutz vor Veelas sein sollte, dann ist der entweder nicht ausreichend genug, oder es ist etwas, das solange funktioniert, solange keine Veelastämmigen im selben Raum sind", sagte Julius. "Tja, aber ich denke, ich kann den dazu nicht fragen, was er da gemacht hat oder wer ihm da was mitgegeben hat."
"Ich hätte ihn auch nicht alleine fragen können, wenn ich keine weiteren Zeugen dafür hätte, dass die alle Mitarbeiter anzeigenden Zauber ihn nicht im Ministerium auffinden können, solange keine Veelastämmige im selben Raum mit ihm ist. Auch deshalb habe ich Sie ins Vertrauen gezogen, Monsieur Latierre. Ja, und weil Sie am besten mit meinem und dem Schicksal der Familie Grandchapeau vertraut sind möchte ich Ihnen jetzt den Grund für diese Vorführung nennen", sagte die Ministerin und ließ die Darstellung bis zum Nachmittag um drei Uhr weiterlaufen, wobei kein Arion Vendredi verzeichnet wurde, obwohl er von mehreren Zeugen im Foyer gesehen worden war, wie er disapparierte. "Als ich mich neben Monsieur Vendredi hinsetzte hatte ich das Gefühl, etwas von ihm ausgehendes wolle mich zurückdrängen, müsse aber bei jedem Atemzug wieder zurückweichen. Da subjektive Wahrnehmungen ohne incantimetrische Bestätigungen keinen Beweiswert habenmusste ich erst abwarten, bis ich wieder in meinem Büro war, um diese Darstellung zu prüfen. Erst als ich sicher war, dass auch in der Darstellung eine Absonderlichkeit vorliegt konnte ich entsprechend darüber nachdenken."
"Könnte es sein, dass Monsieur Vendredi ein auf Veelas oder ihre Magie abwehrendes Artefakt bei sich trägt, bei dem die Unortbarkeit eine reine Nebenwirkung ist?" fragte Julius.
"Dann bleibt aber die Frage, woher er diesen Gegenstand hat und warum nur er ihn hat, Monsieur Latierre."
"Ja, und warum dieser Zauber in Anwesenheit einer Veelastämmigen fluktuiert", fügte Julius hinzu. Er dachte an die Erbstücke der Kinder Ashtarias. Die bewirkten auch eine Unortbarkeit gegen alle Such- und Überwachungszauber. Dann sagte er was, dass weder ihm noch seiner obersten Chefin behagen mochte: "Könnte sein, dass er keinen Gegenstand bei sich hat, sondern selbst bezaubert oder verwandelt ist. Falls es eine Verwandlung ist, dann ist die Frage, ob es der echte Arion Vendredi ist oder sowas wie ein Bokanowski-Klon."
"Wir beide haben gelernt, dass es nicht immer geboten ist, einen Menschen danach zu befragen, warum er von einer ungewöhnlichen Magie umgeben oder durchdrungen ist. Aber ich fürchte, wir müssen in nicht all zu ferner Zeit Monsieur Vendredi befragen, was mit ihm los ist."
"Ich habe es mir abgewöhnt, zu wetten. Aber im Moment würde ich darauf setzen, dass Monsieur Vendredi morgen nicht bei dem Prozess gegen die beiden Töchter Létos dabei sein wird", sagte Julius. "Falls doch, dann hoffe ich darauf, dass er uns danach erzählen kann, was er gemacht hat."
"Er wurde ausdrücklich vorgeladen. Ich habe selbst mit dem Stuhlmeister des Gamots gesprochen, der die fünf Zauberer und sechs Hexen auswählt, die morgen den geheimen Zwölferrat bilden. Madame Églée Blériot wollte als Nebenklägerin auftreten. Da es aber um Familienangehörige geht und Euphrosyne da schon volljährig war hat sie einen Rechtsanwalt beauftragt, von den beiden alles Gold einzuklagen, was Euphrosynes Ausbildung und Unterhalt gekostet hat. Das kann spannend werden. Aber spannender ist jetzt wohl, was genau mit Monsieur Vendredi passiert ist", sagte die Zaubereiministerin. Julius konnte ihr da nur zustimmen. "Ich lasse die Aufzeichnungen, die wir gerade nachbetrachtet haben sichern und bewahre sie in meinem Geheimtresor auf, wenn wir weiter nachforschen, was der Grund für Monsieur Vendredis zeitweilige unortbarkeit ist. Bis dahin bitte ich Sie noch einmal darum, bis auf weiteres niemandem zu verraten, was Sie hier zu sehen bekommen haben. Als Grund für meine Einbestellung geben Sie bitte an, dass ich mit Ihnen persönlich noch einmal über die Angelegenheit Euphrosyne Lundi sprechen wollte!" Julius nickte. Die Wichtel in der Sache waren eh schon auf dem Dach. Außerdem würde er zu Hause seinem Denkarium die gerade erlebten Minuten anvertrauen. Denn er hatte den unangenehmen Verdacht, dass es bei Vendredis Unortbarkeit nicht ein friedvoller Schutzzauber war, sondern die Auswirkung einer ganz üblen Sache.
Als Julius dann endlich wieder in Millemerveilles war entschuldigte er sich bei Jeanne und seiner Frau für die Verspätung. Jeanne sah noch runder aus als Millie. Sie würde ende April oder Anfang Mai das vierte Kind bekommen, von dem sie ihm stolz erzählte, dass es der zweite Sohn sein und Bertrand heißen würde, wie es schon bei ihrer ersten Schwangerschaft angedacht worden war, wenn da keine Viviane Aurélie bei herausgekommen wäre. Die Erstgeborene der jungen Familie Dusoleil turnte gerade mit ihrer Tante Chloé auf einem Klettergerüst herum, während die Kronprinzessin der Latierres mit den Zwillingen Janine und Belenus auf den Kleinkindbesen herumschwirrten, von Bruno Dusoleil beaufsichtigt.
"Am Frühlingsanfang lade ich Barbara und Catherine ein, damit wir vier wandelnden Mutterbäuche uns alle noch mal begrüßen dürfen, bevor unsere süßen Lasten auf die Welt kommen wollen", sagte Jeanne voller Stolz. Millie nickte zustimmend. Julius freute sich, trotz der trüben Gedanken, die ihn während der Besprechung mit Ornelle Ventvit umgetrieben hatten, doch noch mit etwas schönem, wenn auch anstrengendem zu tun haben zu dürfen. Das Leben würde immer weitergehen, das verrieten die immer runder werdenden Bäuche von Jeanne, Millie, Barbara van Heldern und Catherine Brickston. Wen die letztgenannte übrigens erwartete hatte sie bisher niemandem verraten. Babette war deshalb schon ganz hibbelig und Claudine wusste nicht, ob sie sich auf einen kleinen Bruder oder eine kleine Schwester freuen sollte.
Itoluhila und Thurainilla trafen sich auf einer unbewohnten Insel vor der Südküste Australiens. Die Tochter des schwarzen Wassers hatte darum gebeten, mit ihrer Schwester alleine zu sein, und das möglichst weit genug weg vom Berg der ersten Empfängnis, den ihre gemeinsame Schwester Ullituhilia als steinernen Ameisenhaufen bezeichnete. Tarlahilia und Ullituhilia hatten gerade Wachdienst bei den noch verbliebenen Begattern ihrer Mutter.
"Gehst du davon aus, dass wir unsere Mutter noch einmal so wiederbekommen, wie wir sie kannten?" kam Itoluhila gleich auf den Punkt.
"Wenn du mich so fragst, meine Schwester, dann fürchte ich, dass Mutter sich in der Natur dieser Riesenameisenkönign verlieren wird, je länger sie meint, neue Nachkommen erbrüten zu müssen. Auch ist die Frage, ob sie selbst dann wieder eine menschliche Gestalt annimmt, wenn sie endlich genug Nachkommen hat. Denn wir zwei haben mitbekommen, dass ihre Begatter, die ja einen Teil ihres Lebenssaftes im Körper haben, nur dann wieder Menschen wurden, wenn sie für mehr als zwei Minuten mehr als hundert Längen von ihr fort waren. Wenn sie nur bei ihrer Brut bleibt wird sie sich nicht mehr in unsere Mutter Lahilliota zurückverwandeln können, selbst wenn sie das will."
"Das fürchte ich auch, Schwester. Aber unser Bluteid bindet uns an sie. Wir können sie nicht davon abbringen, was sie tut, ja müssen ihr sogar helfen, wenn sie es befiehlt."
"Müssen wir das, Itoluhila? Wenn sie unrettbar im Inneren dieser Brutkönigin gefangen bleiben wird, so erlischt der Bluteid zwischen ihr und uns nach der Zeit, die sie uns in ihrem Schoß getragen hat."
"Ach, du meinst, wie bei Errithalaia, als diese bei der Geburt das Leben unserer Mutter aufsog und ihren Geist in sich selbst einschloss und unterwarf?" fragte Itoluhila. Dann sagte sie jedoch etwas, dass Thurainilla nicht gefiel: "Vielleicht gilt das für euch, weil ihr nicht durch eine von euch gebundene Seele und eure gesammelte Lebenskraft mitgeholfen habt, Mutter wieder zu stärken."
"Du meinst diese Alison Andrews, deren Körper und Geist du mit Mutter vereint hast?" fragte Thurainilla. Itoluhila nickte. "Könnte aber sein, dass genau dies uns helfen wird, unsere Mutter zurückzubekommen, sollte es wirklich eintreten, dass sie sich in dieser Riesenameise verliert. Aber wie wir sie dann ohne sie zu erzürnen zurückgewinnen können weiß ich noch nicht. Aber etwas anderes, Schwester: Ich fürchte, dass diese Schattenkönigin, die meine Zwillingsschwester verschlungen hat, da selbst eine Armee aus treuen Kämpfern aufstellen wird. Einzelne von denen kann ich sicher unterwerfen oder zerstören. Aber im Moment weiß ich nicht, wie ich die Mutterkreatur vernichten kann. Tarlahilia meinte, dass sie es bei einem Zusammenstoß mit ihr versuchen wird. Aber die kann nur dann ihre ganze Macht aufbieten, wenn die Sonne scheint."
"Ja, und dann ist da immer noch diese falsche Schwester, die sich beliebig vergrößern oder in einen Baum oder sowas verwandeln kann", knurrte Itoluhila. "Und bei all dem muss ich noch darauf aufpassen, dass mir übereifrige Hexen und Zauberer nicht den Garaus machen wollen und ich am Ende noch in dir oder Ullituhilia oder gar Errithalaia wiederempfangen werde."
"Ja, oder wir nicht mehr in einer der anderen lebenden Schwestern, sondern im Leib unserer Mutter neu entstehen und dann als einfältige Riesenameisen zu existieren haben", fügte Thurainilla noch hinzu.
"Es bleibt uns nur, abzuwarten, wie es weitergeht und dann, wenn wir Gewissheit haben, dass unsere Mutter gegen ihren eigenen Willen Opfer ihrer eigenen Vorhaben geworden ist, etwas unternehmen. Womöglich müssen wir dann sogar die Hilfe eines uns verachtenden Zauberers oder einer uns bekämpfenden Hexe in Anspruch nehmen, um schlimmeres zu verhüten."
"Schlimmeres?" fragte Thurainilla. Doch die Antwort fiel ihr sogleich ein. Wenn die von ihrer Mutter erbrüteten Ameisenwesen nicht mehr auf den heimatlichen Berg beschränkt blieben, sondern in die freie Welt hinausliefen, dann waren die Tage der Menschheit und aller anderen menschenähnlichen Wesen gezählt. Damit würde aber auch den Töchtern Lahilliotas die so wichtige und wohltuende Ernährungsgrundlage abhanden kommen. Blieb ihnen dann nur der Überdauerungsschlaf oder wurden sie von den Ausgeburten ihrer eigenen Mutter getötet, nur um nach mehreren Wiedergeburten endgültig als rastlose Seelen die Welt zu durchstreifen?
"Wir müssen sie fragen, wie es für sie weitergehen soll. Wenn da noch was von unserer Mutter in dieser Ameisenkönigin steckt bekommen wir das vielleicht noch hin, diesen Untergang unserer Art zu verhindern."
"Sofern sie nicht längst genau das plant, uns loszuwerden, weil wir trotz der uns mitgegebenen Kräfte im Vergleich zu ihrer Brut vielleicht schwächer und hinfälliger wirken mögen", unkte Itoluhila. Der Gedanke, dass Lahilliota genau das tat, was Iaxathan wollte, nämlich die Menschheit zu vernichten, machte Itoluhila wütend.
Arion Vendredi verbrachte eine unruhige Nacht. Zum einen bedrängte ihn die Sehnsucht nach der großen Königin. Wenn es dunkel wurde erwachten die in ihn eingeflößten Instinkte einer Drohne, die Königin zu begatten. Des weiteren musste er an die ihn sanft aber spürbar zurückdrängende Ausstrahlung denken, die von der Zaubereiministerin ausgegangen war. Wenn die das in einer Weise auch von ihm so gespürt hatte mochte sie Verdacht schöpfen, dass irgendwas von ihm ausging, was vorher nicht in Kraft war. Es konnte ihr passieren, dass sie ihn dazu befragen würde. Wie sollte er das dann begründen? Ja, er würde sagen, dass er während seiner Urlaubszeit an einem nur ihm bekannten Ort war, wo er sich einen wirksamen Schutz gegen Veelakräfte besorgt hatte. Denn, so würde er sagen, gerade die Angelegenheit mit ihr und den Grandchapeaus hatte ihn dazu veranlasst sich abzusichern. Das passte ja dann auch zu dem, was er Julius und den anderen Mitarbeitern geschrieben hatte. Er würde schlicht behaupten, dass dieser Schutzzauber nicht unbegrenzt vorhielt und er deshalb nur dann in der Nähe von Veelas sein wollte, wenn das unbedingt nötig war. Das brachte ihn auch darauf, dass am nächsten Morgen diese Gerichtsverhandlung gegen Apolline Delacour und Laure-Rose Montété stattfinden würde. Da er den Ablauf dieser Verhandlung nicht durch wechselseitige Abstoßungskräfte stören durfte würde er der Verhandlung fernbleiben und den schon gut eingespielten Simon Beaubois als Vertreter seiner Abteilung hinschicken. Ja, so ging es. Er atmete auf, als er sich die Möglichkeit zurechtgelegt hatte. Falls die Ministerin ihn ernsthaft fragen sollte, ob was mit ihm anders war als vorher hatte er jetzt die seiner Meinung nach bestmögliche Begründung zur Hand.
Da war jedoch noch was, dass ihn um den nötigen Schlaf brachte: Was passierte, wenn er tatsächlich in die volle Wirkung einer Veela-Aura geriet? Diese Wesen würden es auf jeden Fall merken, dass er selbst eine menschenuntypische Kraft in sich hatte. Auch wenn er durch seine Memos jeder Behauptung einer Veelastämmigen vorgebaut hatte, er könne was an oder in sich haben und damit selbst zur Gefahr für das Ministerium werden, konnte er nicht mit sicherheit sagen, was genau ihm passierte, wenn ihm beispielsweise Léto über den Weg lief und er ihr nicht ausweichen konnte.
Ja, und da war noch was: Ihm war nicht entgangen, dass die Töchter Lahilliotas nicht besonders begeistert davon waren, auf welche Weise ihre Mutter Nachwuchs haben wollte. Sicher, die konnten eifersüchtig sein, weil ihre befreite Mutter jetzt einen wesentlich produktiveren Weg gefunden hatte, Nachkommen zu haben als durch die magischen Manipulationen, durch die sie neun vaterlose Töchter bekommen hatte. Es konnte aber auch sein, dass die was spürten, was er nicht oder noch nicht spürte, was mit ihrer Mutter passierte. Er wusste aus seinen langjährigen Erfahrungen, dass verwandelte Menschen dazu neigten, die Empfindungen und Begierden des Wesens zu übernehmen, in das sie sich verwandelt hatten oder von wem anderem verwandelt wurden. Epimorphose hieß das. Deshalb fühlte ja auch er, dass er immer mehr zum reinen Begatter wurde. Nur der Umstand, dass er weit genug von seiner Königin fort war hielt sein menschliches Wesen aufrecht und seinen Körper in der angeborenen Erscheinungsform. Doch sobald er die Königin wieder sah würde es ihn selbst in eine befruchtungswillige Ameisendrohne verwandeln. Was, wenn er dann kein Bedürfnis mehr hatte, ein Mensch zu sein? Würde er sich darauf freuen, nicht mehr Arion Vendredi zu sein oder sich im anderen Körper gefangen fühlen, getrieben von immer mehr seinen Verstand übernehmenden Trieben? Sollte er jetzt davor Angst haben oder es als die Erfüllung seines Lebens ansehen?
Er lauschte in sich hinein. Aus weiter Ferne fühlte er die Wogen wilder Lust. Seine Herrin und Mutter vieler neuer Kinder von ihm hatte offenbar noch willige Begatter bei sich, um möglichst viele Eier zu legen.
Er versuchte, einen leichten Schlaftrank zu nehmen. Doch dieser brodelte nur in seinem Bauch und bereitete ihm lästiges Aufstoßen. Doch müde wurde er davon nicht. Da wusste er, dass seine Umwandlung ihn gegen die Wirkung von Tränken immun gemacht hatte. Einerseits war das schön, nicht vergiftet oder körperlich oder geistig beeinflusst zu werden. Andererseits wusste er aber auch, dass ihn diese Eigenschaft auch verraten konnte. Denn ähnlich wirkte sich der sogenannte Segen dieser nun als Wickelhexlein weiterlebenden Viertelveela Euphrosyne aus. Die fragte sich jetzt garantiert, wofür sich dieser Aufwand gelohnt hatte, diesen Balltreter an sich zu binden, mit ihm ein Kind zu zeugen und Ventvit und die Grandchapeaus mit höchst fragwürdigen Zaubern zu belegen, nur um sich zu rächen, dass diese Hexen ihr den Spaß am Ruhm verdorben hatten. Würde das Gericht die zwei Tanten von der dazu verurteilen, wegen unerwünschter und unumkehrbarer Bezauberung nach Tourresulatant zu wandern? Das sollte Simon Beaubois ihm berichten. Er würde am nächsten Morgen eine für ihn dringendere Aufgabe für sich finden.
Ihr Herz schlug langsam, und sie atmete sehr ruhig. Eigentlich konnte er jetzt noch wunderbar schlafen. An die ihn umgebende Lautstärke ihres Körperinneren war er ja gewöhnt. Doch Demetrius Vettius Grandchapeau, dessen Geist aus dem Armand Grandchapeaus und seines ungeborenen Sohnes zu einem verschmolzen war, kam nicht davon weg, ob er noch Jahrzehnte im schützenden Schoß seiner früheren Ehefrau bleiben würde oder schon bald die Tortur der Geburt überstehen und die Drangsal der weiten Welt ertragen musste. Musste? Damals, als ihn Euphrosynes hinterhältiger Zauber in Nathalies Bauch getrieben hatte, wollte er schnellstmöglich wieder zurück auf die Welt und ja, auch ein erwachsener Mann sein. Doch wo er schon bald zehn Monate hier zugebracht hatte, fragte er sich schon, ob er jemals wieder damit zurechtkommen würde, alles selbst beschaffen und erledigen zu müssen. Würde er denn nach der Geburt mit üblicher Geschwindigkeit aufwachsen oder für weitere Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte körperlich ein Säugling bleiben? Wenn ihm wer diese Frage beantworten könnte wäre ihm wohler. Denn falls er nicht wie andere Kinder innerhalb von zwei Jahren aus den Windeln herauswachsen konnte wollte er doch lieber für alle Zeiten unter Nathalies Herzen getragen werden, auch wenn diese das alles andere als wünschenswert fand.
Wahrscheinlich hätte er sich sogar noch eher in den Zustand der völligen Sorglosigkeit und Geborgenheit eines natürlichen Ungeborenen hineingleiten lassen, wenn Nathalie und er nicht ausgemacht hätten, dass er mit Hilfe diverser Zauber alles mitbekam, was außerhalb ihres warmen Schoßes vorging. Er fühlte jedoch nicht, dass jetzt irgendwas anders war, wo Euphrosyne selbst jetzt von ihren eigenen Tanten infanticorporisiert worden war. Er hätte ihr das gegönnt, wenn die auch noch einen Weg gefunden hätten, dass eine von ihnen dieses Frauenzimmer selbst noch einmal in sich herumtragen und zur Welt bringen musste. Aber was hatte er mitbekommen? Léto hatte Euphrosyne mit sich genommen, um sie zu versorgen, schön weit weg von ihrer Tochter. Das war sicher eine viel grausamere Strafe, als sich darauf einzurichten, neu geboren zu werden.
Nathalie, die er offiziell als Maman ansprach, würde mit ihm und Ornelle Ventvit der schnell angesetzten Geheimverhandlung beiwohnen, ja auch als Zeugen für Euphrosynes Untaten. Wie sich das anfühlte, wenn eine Veelastämmige in seiner Nähe war kannte er. Es war ein prickelndes warmes Gefühl, als bekäme er über die mit ihm verbundene Nabelschnur heißen Kaffee direkt in den eigenen Bauch gepumpt und bade in einem Sprudelbad aus körperwarmem Sodawasser. Hoffentlich vergaß die, die ihn dauerhaft mit sich herumtrug, nicht das Cogison mitzunehmen. Nach draußen gucken würde sie ihn wohl nicht lassen, weil sie sich dafür unsichtbar machen musste. Aber dieses neuartige Cogison half ihm, genauso die Außenwelt hören zu können wie sie es tat, so wie sie und jeder andere Mitbenutzer ihre Körpergeräusche mithörte, wenn sie mit ihm kommunizierten.
Rumpelnd und gluckernd arbeiteten Nathalies Verdauungsorgane. Sie verschafften ihr und ihm die nötige Nahrung. Er streckte sich so weit aus, wie seine erreichte Größe und sein winziger Aufenthaltsraum es erlaubten. Nathalie wachte nicht auf. Sie war seine Bewegungen schon längst gewohnt. Was würde sie empfinden, wenn er wirklich eines Tages aus ihrem Leib hinausgelangte? Würde sie ihn dann vielleicht vermissen, dieses mal angenehme und mal unangenehme Gefühl, nicht allein mit sich zu sein? Die Antworten auf diese Fragen lagen irgendwo da draußen, in dem, was die Geborenen die Welt nannten.
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