TRUDES TESTAMENT

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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P R O L O G

Auch im fünften Jahr nach dem Sturz Voldemorts ist von Frieden in der Zaubererwelt nichts zu sehen. Magische Gruppierungen wie die Mondgeschwister, die Vampirsekte der schlafenden Göttin oder die auf die mit allen Mitteln erzwungene Vermehrung magischer Menschen ausgerichtete Vereinigung Vita Magica halten die Zaubereiverwaltungen Weltweit auf Trab und bedrohen nicht nur die magische Menschheit. Ebenso könnte sich die nach Jahrhunderten erfolgte Wiederkehr der dunklen Hexe Ladonna Montefiori noch als sehr gravierend erweisen. Denn sie stammt zu einem Viertel von Veelas und unterliegt somit deren Schutz der Blutsverwandtschaft, was sie nicht davon abhält, die eigenen Verwandten zu töten, die versuchen, sie festzusetzen. Der orientalische Dschinnenmeister Al-Hamit versucht sich über seine dunklen Künste Anerkennung der Militärführung des Iraks zu erwerben, vier der lange im Tiefschlaf liegenden Töchter des Abgrundes erwachen und wollen ihre Macht stärken, und die von Vengor in einer Affekthandlung erzeugte Verschmelzung zwischen den weiblichen Nachtschatten Birgit Hinrichs und Ute Richter bringt gleich eine neue Form dunkler Geisterwesen in die Welt.

Die heimlich mit der Spinnenschwesternschaft Anthelias verbundene Hexe Albertine Steinbeißer, die in Sorge um drei junge Menschen wegen der neuen Nachtschattenart ist, geht davon aus, dass dies das einzige ist, was sie in nächster Zeit beschäftigen soll. Doch dies erweist sich als Irrtum.

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"Tja, wenn deine Eltern meinen, du seist nicht die richtige Tochter geworden, dann feiern wir Schwestern eben mit dir", sagte die durch einen ihr bis heute unbegreiflichen Zauber entstandene, überragendschöne Oberste der weltweiten Schwesternschaft, der sie, Albertine Steinbeißer, seit nun bald acht Jahren angehörte. Vor Albertine auf dem weißgedeckten Tisch im Keller der amerikanischen Plantagenbesitzervilla stand eine fünfzig Zentimeter durchmessende Geburtstagstorte, auf der vierundvierzig schlanke weiße Kerzen leuchteten. Außer der höchsten Schwester waren noch ihre heimliche Geliebte Louisette Richelieu, sowie Marga Eisenhut, Romina Hamton und Izanami Kanisaga, die japanische Mitschwester hier zusammengekommen. Albertine fühlte sich geehrt, doch noch ihren vier mal elften Geburtstag mit lieben und treuen Gefährten feiern zu können, nachdem ihre Eltern es hinbekommen hatten, dass niemand aus ihrem früheren Freundeskreis noch was von ihr wissen wollte. Die Frauen fühlten sich unstatthaft von ihr begehrt, die Männer fanden sie abartig oder unerreichbar. Mit ihren Kollegen wollte sie nicht feiern, weil auch diese ihr nicht so recht über den Weg trauten. Immerhin hatte sie es hinbekommen, dass sie an diesem Tag frei hatte und nicht von irgendwem behelligt werden würde.

"Geburtstage in denen eine Quadratzahl drinsteckt sind schon was feines, Schwester Albertine", sagte Louisette Richelieu und zwinkerte ihr vielsagend zu. Sicher würde sie nachher, wenn sie wieder in Montecarlo war, mit Albertine den Ehrentag heißer als die Flammen dieser vierundvierzig Kerzen ausklingen lassen. Albertine erwiderte: "Ja, und nächstes Jahr kommt gleich noch einer, fünf mal neun."

"So nutze die Kraft deines Lebenshauches, um die Flammen der verwehten Lebensjahre zu erlöschen, um daraus die Kraft für dein neues Lebensjahr zu entfachen", sagte die höchste Schwester mit ihrer verflucht anziehend tiefen Stimme. Albertine sah die Hexe an, die durch jenen ihr unbegreiflichen Zauber die Begabung hatte, auch als menschengroße schwarze Spinne herumzulaufen. Wie gerne würde sie einmal eine wilde Liebesnacht mit der Höchsten Schwester erleben, ihren Körper an ihrem, ihre Hände in beglückenden Berührungen auf sich spürend und ihr gleiche Wonnen zurückzugeben. Ja, das wünschte sie sich so sehr, dass sie fast daran zerfloss. So ergriff Albertine die sich hier bietende Gelegenheit. Denn auch bei Hexen und Zauberern galt, dass ein beim Ausblasen der Geburtstagskerzen in Gedanken formulierter Wunsch sich erfüllen mochte, wenn er nur stark genug war und wenn das Geburtstagskind ihn keinem verriet.

Albertine holte lange und nicht zu krampfhaft Luft. Sie wollte die Kerzen mit einem einzigen Atemstoß ausblasen. Sie näherte ihren Mund behutsam den fröhlich flackernden Flammen, die bereits das obere Drittel der federkieldünnen Kerzen verzehrt hatten. Sie sog mit dem letzten Bisschen Luft, das ihre Lungen fassen konnten den Geruch schmelzenden Bienenwachses in ihre Nasenflügel ein. Dann verharrte sie einige Sekunden und blickte in die vor ihren magischen Kunstaugen tanzenden, gelbweißen Flammen. Vierundvierzig kleine Feuer, die sie allein brennen lassen oder verlöschen lassen konnte, wie es ihr beliebte. Dann blies sie zielgenau in die vor ihr leuchtenden Flammen hinein. Dabei dachte sie so stark wie möglich: "Ich will nur einmal mit dir meine Liebeswonnen teilen, Höchste Schwester, erleben, wie es mit uns beiden ist und wo es hinführen kann." Während sie diesen einen Gedanken dachte kämpften die brennenden Flammen um ihr Bestehen. Sie wanden sich unter dem Hauch aus Albertines Lungen, duckten sich und zuckten. Doch eine nach der anderen verlosch. Nur dünner, zur steinernen Decke emporschwebender Rauch blieb übrig. Dann erstarb auch die letzte der vierundvierzig Kerzenflammen. Albertine Steinbeißer hatte ihr neues Lebensjahr begonnen. Doch was war das? Kaum dass sie den Rest ihrer Atemluft aus sich hinausgeblasen hatte, sprossen neue Kerzenflammen aus den rauchenden Dochten. Hatte eine ihrer Mitschwestern sich den Scherz erlaubt und die Kerzen mit einem ungesagten Anzündzauber wieder angesteckt? Die Flammen blieben jedoch nicht klein, sondern wuchsen. Sie wurden zu richtigen Feuerzungen, die hell und heiß loderten und dabei miteinander verschmolzen. Die Kerzen, auf denen sie brannten, zerliefen dabei zu dampfendem Wachs. Die Geburtstagstorte, in der die Kerzen steckten, begann zu qualmen und sich schwarz zu färben. Der Gestank nach verbranntem Teig breitete sich aus, und damit war es noch nicht vorbei. Unvermittelt schoss die vereinte Flamme zu einer an die zwei Meter hohen Feuersäule empor und verwandelte den so liebevoll gebackenen Geburtstagskuchen innerhalb einer Sekunde zu klebriger Asche. Albertine wollte sich in den Arm kneifen, weil sie dachte, dass dies unmöglich wirklich geschah. Doch der Blick in die auflodernde Flammensäule hielt sie davon ab. Ihre Augen reagierten auf ihre Gedanken und vergrößerten das Bild der auf dem Tisch brennenden Flamme noch mehr als sie schon loderte. Dann sah Albertine etwas, mit dem sie nicht gerechnet hatte.

In der aufrecht brennenden Flamme stand eine vollkommen unbekleidete Frau mit goldblondem Haar. Sie besaß einen dezenten Bauchansatz und verheißungsvolle Rundungen. Doch was Albertine an dieser Erscheinung so fesselte waren die heidelbeerfarbenen Augen, die so glommen, als brenne die sie umschließende Feuersäule auch in ihrem Körper. Außerdem erkannte Albertine die Gestalt in der Flamme. Sie wollte ihre Mitschwestern fragen, ob sie auch das sahen, was sie sah. Da öffnete die unversehrt in der Riesenflamme stehende ihren schmalen Mund und sprach mit einer leicht von Knistern und Prasseln verfremdeten Stimme:

"Du liderliches, undankbares Mädchen. Du verweigerst dich schon seit dein erstes Monatsblut aus dir entströmte, in dem auch mein Blut fließt. Bis heute hast du es gewagt, keinen fruchtbaren Zauberer mit deinem Leib zu vereinen, auf dass du die Frucht seiner Lenden empfängst. Und dann wagst du es auch an dem Tag im Leben, an dem ich damals die Macht der sich selbst vervielfachenden Zahl nutzte, um mein Erbe zu verfügen, dir fruchtlose Wonnen mit einer auf ihr eigenes Wollen und Wirken bedachten Hexe zu wünschen, mich, deine Urahnin, damit zu verhöhnen, weil du, das letzte Glied in der langen Kette aus Freude, Fleisch und Blut, nicht im Ansatz daran denkst, diese unsere erhabene Blutlinie zu verlängern? So sage ich dir folgendes: Sieh zu, dass du bis zu deinem fünfundvierzigsten Wiegentage mindestens einem Kind aus deinem Leibe das Leben gibst, oder mein in erwartungsvoller Erhabenheit ruhender Geist wird dir in deinen seiner Aufgabe vorenthaltenen Schoß fahren und dich dem ersten Mann zur leiblichen Vereinigung zutreiben, der von dir zu sehen ist. Erst wenn du von ihm ein Kind im Leibe fühlst, werde ich dich wieder verlassen und mir aus meiner erhabenen Warte ansehen, wie du seine Mutter wirst. So spreche ich, Trude Amalia Steinbeißer geborene Rabenwald, durch deinen Geist aus deinem Blut dieses Urteil, das bereits in meinem Testamente steht."

Als die Erscheinung in der Flammensäule diese Worte ausgesprochen hatte verlosch die Flamme mit einem lauten Faucher und nahm die darin eingebettete mit sich. Dunkelheit umgab Albertine. Sie fand sich selbst in ihrem Bett liegend, die Decke nur über ihren Füßen zusammengeknäult. Ihr Herz wummerte schnell und beinahe schmerzhaft in ihrem Brustkorb. Albertine sah sich sofort um. Ihre nach einem schicksalhaften Außeneinsatz erhaltenen biomaturgischen Augen konnten durch Wände dringen und unsichtbares für sie sichtbar werden lassen. So konnte sie durch die Wände ihres Schlafzimmers wie durch klare Luft blicken, durch die Wände ihres kleinen Bungalows hinaus in die dünn besiedelte Wohngegend mitten in der Lüneburger Heide. Draußen war es noch dunkel. Doch die Kraft ihrer magischen Augen ließ sie alles klar erkennen. Mit einem einzigen Gedanken stellte sie ihre Sehkraft wieder so um, dass sie nur in ihrem Zimmer umherblicken konnte. Hier war nichts verändert worden. Kein unsichtbarer Eindringling belauerte sie. Sie hatte wirklich nur geträumt. Natürlich hatte sie nur geträumt. Denn ihr vierundvierzigster Geburtstag würde erst in etwas mehr als drei Monaten stattfinden, am 25. Juni 2003. Heute war ja erst der 22. März 2003. Vor zwei Tagen hatte dieser Kriegstreiber George W. Bush mit den ihm nachlaufenden Regierungen der Welt den Irak angegriffen, um seinen verhassten Widersacher Saddam Hussein zu entmachten. Ob das gelingen würde war noch sehr fraglich. Jedenfalls hatte Albertine diese aus den Fugen geratene Geburtstagsfeier nur im Traum erlebt. Ja, so würde die Feier eh nicht laufen, wo die höchste Schwester, mit der sie all zu gerne einmal das Bett teilen wollte, nicht in die Nähe von Louisette Richelieu kommen durfte, weil sie einen Pakt mit orientalischen Hexen geschlossen hatte, nicht in die Nähe von Hexen zu kommen, die in deren Länder reisen mochten oder gar selbst in ein muslimisches Land zu reisen. Aber sie hatte die Erscheinung von Trude Steinbeißer in einer aus den Kerzenflammen gebildeten Feuersäule erkannt und ihre Forderung und Drohung gehört. Was war davon zu halten?

Dann fiel ihr ein, dass diese Trude Steinbeißer, ihre Urahnin, am 22. März im Jahre 1665 geboren worden war. Deshalb wurde sie auch immer als Kind des ersten Frühlingstages bezeichnet. Offenbar hatte ihr Geist im Schlaf diesen Tag und ihren eigenen bevorstehenden Geburtstag zusammengebracht. Doch was sollte dieser Feuersäulenspuk? Bisher hatte Albertine nichts davon gehört, dass ihre Vorfahren derartig heimgesucht worden waren. Doch da fiel ihr ein, dass sie über die väterliche Seite mit dieser Trude verwandt war und die ihr vorausgegangenen vier Generationen eben nur Söhne gelebt hatten. Sie war nach langer Zeit die erste Hexe, in der Trude Steinbeißers Bluterbe lebte. Gab es also vielleicht doch sowas wie einen Familienbann, eine Art magischen Auftrag, der von Generation zu Generation weitergereicht wurde? Sie hatte schon oft von derlei Vorkehrungen gehört und wusste auch, dass Trude ein mächtiges Erbe hinterlassen haben sollte, dass nur von einer Hexe enthüllt werden konnte, die bereits einen Sohn und eine Tochter geboren hatte. Allein bei der Vorstellung, dass sie das zu bringen hatte tat ihr schon der Unterleib weh. Sie konnte beim besten Willen nicht verstehen, wie sich eine lebenslustige Hexe dazu hingeben konnte, neun Monate lang ein immer größer werdendes Balg in sich herumzutragen, sich bei dessen Austreibung fast ihr Geschlecht zu ruinieren und dann noch freiwillig für dieses aus ihr gekrochene Wesen viele Interessen aufzugeben, damit es bloß in Sicherheit aufwuchs und anständig ausreifte. Sie dachte daran, was ihre Eltern ihr vor kurzem noch um die Ohren gehauen hatten, als sie sie das letzte Mal zu sich hingebeten hatten. Sie hatten ihr die Befugnis entzogen, das Elternhaus zu betreten, ja auch an die für sie angelegten Goldreserven in Gringotts Frankfurt zu gelangen. "Wir können dich nicht zwingen, ein anständiges Leben zu führen, wo du schon mehr als siebzehn Jahre alt bist, Albertine. Aber ich werde keine Zeit und keine Kraft mehr auf eine derartig umtriebige Kesselschlürferin vergeuden, die aus purer Undankbarkeit heraus alles ablehnt, was unserer Familie heilig ist." Das hatte ihr Vater Alarich ihr so um die Ohren gehauen, bevor er ihr die Schlüssel zu seinem Haus und dem seit ihrer Geburt immer wieder nachgefüllten Verlies von Gringotts in Frankfurt entzogen hatte. Allerdings hatte sie sich darüber nicht weiter den Kopf zerbrochen. Sie hatte eh schon seit ihrer Ausbildung im Ministerium ein eigenes Verlies, damit ihre Eltern nicht mitbekamen, wofür sie Gold aus der Bank holte oder woher sie weiteres Gold bekam. Sie könnte eigentlich ganz ohne ihre achso altbacken denkende Verwandtschaft leben und vor allem lieben. Also warum dann dieser seltsame Traum?

Albertine wusste, dass sie auf diese ganzen Fragen erst einmal keine Antwort finden würde. Vielleicht sollte sie das ganze als eben nur von ihrem Geist ersponnenen Unfug abhandeln, sowas wie irgendwo in ihrem Unterbewusstsein gährende Schuldgefühle, die sie im Wachzustand nicht spürte. Aber die Klarheit, mit der sie das geträumte in ihrer Erinnerung hatte piesackte sie doch mehr als erträglich war. Ja, sie musste dem nachgehen und herausfinden, was an dieser Anweisung der im Feuer erschienenen Vorfahrin dran war. Am Ende passierte das echt noch, dass ihr pünktlich zum fünfundvierzigsten ein wilder Geist in den Bauch fuhr und sie auf irgendeinen Kerl scharf machte, damit sie sich von dem ein Balg in den Wanst stoßen ließ. Sie beschloss, mehr über Trudes Testament herauszufinden. Allerdings konnte sie das nicht so einfach machen, weil die Originalausgabe im Gringottsverlies ihrer Eltern in einer nur für Familienangehörige berührbaren Silberschatulle steckte. Tja, und nur wer den Schlüssel zu dem Verlies hatte und eben aus der langen Linie der Steinbeißers stammte kam da heran. Sollte sie es also einfach darauf anlegen, dass sie nur totalen Blödsinn geträumt hatte? Nein! Sie wollte und würde das herausfinden, was wirklich in diesem achso gehüteten Testament stand.

Vorher galt es jedoch, mehr über die Frau ohne Schatten herauszufinden. Sicher hatte die sich zur Mutter neuer Nachtschatten und deren Königin berufen fühlende Ausgeburt aus Wallenkrons letztem großen Fehler Silke Dehmel in Sicherheit gebracht, damit nicht noch wer aus der Zaubererwelt an sie rankam. Aber dann war dieses junge Ding doch auch wertlos für dieses aus Nyctoplasma bestehende Ungeheuer. Das musste sie auf jeden Fall klären, bevor sie sich mit ihren echten oder angeblichen Familienangelegenheiten befassen konnte.

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"O Mann, Mädchen, aus dir könnte man zwei machen", stöhnte Clark Winters, als er nach vier Runden leidenschaftlichen Sex neben der blassgoldenen Schönheit zu liegen kam und endlich von der heftigen Anstrengung ausruhen durfte. Seine erst an diesem Abend in einer Bar in Brighton getroffene Gespielin grinste vergnügt und meinte, dass ihr das schon andere gesagt hatten. Clark verzog darüber zwar das schweißnasse Gesicht. Doch dann konnte sein von den Wogen der Wonne durchfluteter Verstand wieder etwas Tritt fassen. Natürlich hatte Nancy, wie diese Frau hieß, auch schon mit anderen so heftig rumgemacht. Na ja, zumindest hatte er immer verhütet, weil er ja auch nicht nur einer Frau verbunden war.

"Wenn ich morgen meine Arme und Beine nicht mehr bewegen kann wird's aber eng mit dem Training. Wird mein Trainer aber blöd glotzen."

"Du bist so gut im Training, du kriegst das hin", erwiderte Nancy. Dann kuschelte sie sich an ihn. Er fürchtete schon, sie wollte noch eine Runde mit ihm. Doch sie flüsterte nur: "Ich will dich nur warm halten, damit du dich nicht verkühlst, Süßer."

Als Clark dann total erschöpft neben seiner Liebesgespielin einschlief löste diese ihre Arme von ihm, schlüpfte so naturrein, wie sie nach ihrer besonderen Geburt aussah aus dem zerwühlten Bett und griff zu der über einem Stuhl hängenden Handtasche. Nur sie konnte den Reißverschluss öffnen. Nur sie konnte in die Tasche hineingreifen und nehmen, was sie dort herausnehmen wollte. In diesem Fall war es ein silbergrauer Stab. Diesen richtete sie auf den völlig erschöpft schlafenden Rugbyspieler Clark Winters und murmelte: "Obleviate!" Eigentlich war das nicht ihre Art, einen Liebhaber nachträglich noch mit einer veränderten Erinnerung zu versehen. Doch in diesem Fall musste der glauben, dass er seine Nachtgöttin noch durch den dezenten Hinterausgang des Stundenhotels begleitet und ihr ein Taxi gerufen hatte, bevor er sich noch einmal hinlegte, um für den nächsten Tag genug Erholung zu bekommen.

Die Frau mit der blassgoldenen Hautfarbe hatte kurz vor Erreichen des dritten Höhepunktes eine nur für sie vernehmbare Botschaft direkt in ihren Geist erhalten, dass die Werwolfvereinigung der Mondgeschwister es gewagt hatte, dem amerikanischen Zaubereiministerium ein Friedensangebot zu machen. Der kommissarische Zaubereiminister Buggles hatte versucht, den Boten festnehmen zu lassen. Doch der hatte einen wörtlich auslösbaren Portschlüssel bei sich gehabt und war entkommen. Keine halbe Minute später, so die Absenderin der Gedankennachricht, sei ein weiterer Portschlüssel vor dem Ministerium aufgetaucht und habe eine Botschaft abgesetzt, dass der Festnahmeversuch als Ablehnung des Friedensvertrages und als Missachtung der weißen Fahne verstanden würde.

"Hallo, höchste Schwester. Ich bitte dich um Verzeihung, dass ich dich gestört habe. Aber das erschien mir sehr wichtig", sagte Eugenia Bluelake, eine von Beth McGuire anempfohlene Mitschwester, die Kontakte ins Zaubereiministerium hatte.

"Es war in jeder hinsicht erfüllend und befriedigend, Schwester Eugenia", erwiderte ihre Anführerin mit unmissverständlichem Lächeln. "Aber was wissen die vom Ministerium über diesen Boten?"

"Öhm, er hat sich Jack Greyback genannt, war laut meinem Kontakt gerade einmal Mitte zwanzig und von weißer Hautfarbe. Ob sein Name wirklich Jack Greyback lautete konnten die Leute im Zaubereiministerium nicht ergründen. Jedenfalls trug er eine kleine weiße Fahne bei sich und mehrere Papierblätter mit dem Inhalt dieses ominösen Friedensvertrages. Den hat Buggles gleich an seine lykanthropischen Lykanthropiefachleute weitergereicht. Was genau drinsteht weiß ich nicht."

"Greyback war einer der gefürchtetsten und fanatischsten Lykanthropen der britischen Inseln", erwiderte die Frau mit dem silbergrauen Zauberstab.

"Sowas ähnliches musste es wohl sein", erwiderte Eugenia Bluelake. "Jedenfalls trauen die Brüder und Schwestern sich wohl wieder an die Luft, nachdem die Babymacher diese Werwolfabtötungsdinger freigesetzt haben."

"Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Mondheuler ein wirksames Abwehrmittel entwickeln", grummelte die höchste Schwester.

"Hmm, öhm, wo die doch schon um Weihnachten herum was angestellt haben und ..."

"Glaub doch dieses Märchen nicht, Schwester Eugenia! Das war eine von Vita Magica und dem zu diesem Zeitpunkt schon unter Catena-Sanguinis-Fluch stehenden Dime ausgemachte Scheinbehauptung, damit dieser sogenannte Friedensvertrag zwischen den Nordamerikanern und dieser Bande den freien Willen von geschlechtsreifen Hexen missachtenden Leute in Kraft gesetzt werden konnte", ereiferte sich die höchste Schwester.

"Dann hat das echt solange gedauert, bis die unregistrierten Lykantrhropen darauf kamen, wie sie sich vor dieser Werwolfseuche schützen können?"

"Ja, oder deren oberste Anführer hatten genug mit eigenen Familienangelegenheiten zu tun", erwiderte Eugenias Anführerin gehässig. Eugenia konnte nicht wissen, was ihre ranghöchste Gesprächspartnerin wusste. Jedenfalls sagte sie noch, dass sie weiter dranbleiben würde und auch zusehen wollte, jemanden in der Sondergruppe Quentin Bullhorn auszufragen.

"Ja, aber lass dich nicht auf irgendwelche unumkehrbaren Sachen ein, Schwester Eugenia!" erwiderte die Frau mit der blassgoldenen Hautfarbe. Dann sah sie zu, wie Eugenia aus der Empfangshalle heraus disapparierte.

"Diese Pelzwechsler kann ich jetzt am wenigsten gebrauchen, wo in Deutschland dieses Schattenweib aufgetaucht ist", dachte Anthelia verärgert. Dass sie vor wenigen Minuten noch leidenschaftlich geliebt worden war hatte sie beinahe vergessen, aber eben nur beinahe.

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"Wie bitte?! Wir sollen jedes Gebäude, in dem öffentliche Feste oder Konferenzen stattfinden sollen mit einem Sonnenlichtzaun umfrieden?" ereiferte sich der koboldstämmige und daher kleinwüchsige Zauberer Giesbert Heller, als er am 23. März von Armin Weizengold, sowie dem Leiter der vereinten Lichtwachen Andronicus Wetterspitz aufgesucht wurde. "Armin, ich erkenne an, dass Sie sich Sorgen um die Muggels machen, die von dieser Nachtschattenriesin verfolgt werden. Ja, und es stimmt, das mit diesem Tanzhaus war auch eine sehr üble Sache. Deshalb kann ich Sie auch verstehen, dass Sie fürchten, dass uns diese Nachtschattenriesin oder -königin damit ganz schön zusetzen kann, wenn sie diese Überfälle wiederholt. Aber zum feuerroten Tatzelwurm und seinen hundert Schwestern, wir können doch nicht um jedes möglicherweise bedrohte Grundstück Sonnenzäune bauen, so viel Gold kriegen wir dafür nicht zusammen. Abgesehen davon - und das erwähnte ich glaube ich auch schon längst - müsste ich jede dafür anfallende Ausgabe irgendwie wieder hereinholen, um die anderen nötigen Ausgaben zu leisten. Ich glaube nicht, dass Sie dazu bereit sind, unseren magischen Mitbürgern zu verraten, wieso sie zum einen erheblich mehr Steuern bezahlen sollen und zum anderen weniger Hilfe vom Ministerium erhalten können. Nein, die Herren! Das mit den Nachtschatten muss anders erledigt werden. Abgesehen davon, wieso haben Sie nach der Sache mit den Hansens nicht gleich darauf hingearbeitet, dass die noch bedrohten Menschen in ein gesichertes Gebäude wie das Haus am blauen Stein verbracht und dort in Tiefschlaf gehalten werden, bis die Bedrohung ausgeräumt ist?"

"Dann frage ich Sie mal, wie Sie sich fühlen würden, wenn sie abends ins Bett gehen und nach dem Aufwachen erfahren, dass sie wie die Märchenprinzessin Dornröschen hundert Jahre verschlafen haben", sagte Wetterspitz. "Selbst mit einer Erinnerungsveränderung müssten diese Leute erst einmal lernen, in einer ganz neuen Umwelt und Gesellschaft zu leben. Außerdem habe ich das auch dem Kollegen Weizengold gesagt, dass diese neue Gefahr nicht dadurch verringert werden kann, indem ihr die ausgewählten Opfer entzogen werden. Dieses nyctoplasmatische Ungeheuer würde sich dann einfach andere arglose Menschen fangen oder seine Nachtschatten wie wilde Heuschreckenschwärme über unschuldige Menschen herfallen lassen. Nein, wir müssen diesem Monstrum das Jagen verleiden. Vor allem macht uns gerade Sorgen, dass diese Schattenbrut jetzt auch Menschen durch eine Form des Cleptumbra-Fluches ihrer natürlichen Schatten beraubt, um sie dadurch zu willigen Erfüllungsgehilfen zu machen. Es steht zu befürchten, dass es bereits mehr als die eine erkannte Schattenlose allein in Deutschland gibt."

"Der Cleptumbra-Fluch kann nur mit einem Zauberstab ausgeführt werden", widersprach Heller. Wetterspitz sah ihn verdrossen an und erwiderte: "Tja, das habe ich auch mal so gelernt und bis zum Auftauchen dieser einen Schattenlosen für gültig gehalten. Aber die ausgelagerten Erinnerungen von Fräulein Steinbeißer zeigen, dass es offenbar auch ohne Zauberstab geht, wenn ein Wesen selbst aus dunkler Magie besteht."

"Nichts für ungut, aber wer sagt Ihnen, dass Fräulein Steinbeißer ihre Erinnerungen nicht absichtlich verfälscht hat, um zum einen mehr Aufmerksamkeit zu erheischen und zum anderen mehr Wichtel auf das Dach zu jagen als schon dort sitzen? Am Ende handelt sie noch in anderem Auftrag?"

"Diese Unterstellung weise ich auch im Namen aller meiner Mitarbeiter zurück", wandte Armin Weizengold ein. "Wenn wir anfangen, jedem unserer Kollegen ministeriumsfeindliche Absichten oder gar Handlungen zu unterstellen könnten wir uns gleich alle in einzelnen Zellen einschließen. Also können Sie uns nicht die Mittel gewähren, um alle möglichen Angriffsziele wirksam abzusichern?"

"Sie haben es erfasst, Kollege Weizengold", erwiderte Heller. "Ich kann nicht noch mehr Gold für derartige Unternehmungen freigeben. Wir haben schließlich noch andere Verpflichtungen."

"Das war zu befürchten", grummelte Wetterspitz. "Dann haben Ihre Finanzverwaltungsangestellten ja wohl bald die Möglichkeit, auszurechnen, wie viel Gold ein toter Mensch wert ist. Denn das dürfen wir Ihnen versichern, jeder Mensch, der von diesen Nachtschatten nicht nur vertilgt sondern in einen Artgenossen verwandelt wird, kann weitere Menschen zu seinen Artgenossen machen. Lassen Sie sich bitte von einem Heiler erklären, was exponentielle Ausbreitung von Seuchen bedeutet!""

"Moment, wollen Sie mir jetzt etwa die Schuld für alle künftigen Opfer dieser Nachtgeburten in die Schuhe schiben? Das verbitte ich mir aufs entschiedenste. Denn wenn es zu weiteren unschuldigen Opfern kommt, dann nur, weil Ihre Lichtwachen nicht rechtzeitig zur Stelle sind, Herr Wetterspitz."

"Kommen Sie, Andronicus, hier ist derzeit nichts für uns zu holen, in jeder Hinsicht", sagte Armin Weizengold resignierend.

"Wenn Sie einen Weg finden, das Übel an der Wurzel zu packen, meine Herren, dann kann und werde ich sicher die dafür nötigen Goldmengen freigeben. Aber für eine auf unbestimmte Zeit angelegte Absicherung von so vielen Gebäuden kann und darf ich keine unbegrenzten Mittel freigeben. Noch einen schönen Tag, die Herren!" Mit diesen Worten deutete Heller auf die Tür seines Büros. Der bohnenstangenlange Armin Weizengold und der sich durch viele verschiedene Sportarten athletisch haltende Andronicus Wetterspitz verließen das Büro des Leiters der Abteilung für magischen Handel und Finanzen. Giesbert Heller wartete, bis die zwei Besucher die Tür von außen geschlossen hatten. Dann zog er die zweite Schublade von rechts oben auf und holte eine kleine Silberdose an einer Kette heraus. Er klappte den Deckel auf und legte seinen rechten Zeigefinger an den Deckel. Eine kleine spitze Hohlnadel schnellte heraus und bohrte sich in Hellers Finger. Er hielt die Luft an, während etwas in der Dose Tropfen seines Blutes absaugte. Als die Nadel sich wieder in den Dosendeckel zurückgezogen hatte hielt er die offene Dose vor seinen Mund: "Fall Drachenbremse. Benötige alle Mitarbeiter der Gruppe Eisenbarren in zehn Minuten ab jetzt." Er hatte sich entschlossen, im Zweifel waren fünf Leben leichter zu verschmerzen als 500. Wenn Weizengold und Wetterspitz sich rein beruflich dagegen sträubten, harte Maßnahmen zu ergreifen, Heller konnte das. Und er hatte die beste Rückendeckung überhaupt: Sowohl der Zaubereiminister als auch das Margull-xedag-Gurukballok, der Rat der sieben großen Köpfe der deutschsprachigen Kobolde, stand hinter ihm, wenn es darum ging, sowohl Menschenleben als auch Gold zu schonen, wenn dafür sehr drastische Maßnahmen durchgeführt werden mussten.

Zehn Minuten später trafen sieben Zauberer ein, allesamt wie er Koboldstämmig und somit kleinwüchsig und mit besonders spitzen Ohren verziert. Sie hatten die geheimen Zugänge, die nur hohen Ministerialbeamten bekannt und erlaubt waren benutzen können, um ungesehen zu ihm zu kommen.

"Es ist so, liebe Freunde", sprach Heller im geschliffenen Koboldogack zu den sieben Anwesenden, "Dass uns diese Schattenpest ernsthaft Probleme machen kann. Im Moment denken die von den Lichtwachen und der Behörde für friedliches Miteinander von Menschen mit und ohne Zauberkraft daran, dass eine aus zwei Nachtschatten zusammengefügte weibliche Daseinsform und die ihr unterworfenen gewöhnlichen Nachtschatten darauf ausgehen, bestimmte Menschen in ihre Gewalt zu bringen oder gleich zu töten. Dieser Weizengold von der Behörde für friedliches Zusammenleben hat leider zu glaubhaft dargestellt, dass dieser weibliche Überschatten womöglich die Seelen gefangener Menschen zu neuen Artgenossen werden lassen kann, sowie ein Wolfsmensch durch seinen Biss einen Reinmenschen zu seinem Artgenossen machen oder ein Blutsauger durch das gegenseitige Trinken von Blut einen Reinmenschen zu seinem Artgenossen machen kann. Das kann und will ich nicht abstreiten. Allein schon, dass Nachtschatten im Rudel einen Tanzpalast für junge Zauberkraftlose überfallen haben spricht für diese Möglichkeit. Womöglich will dieses Schattenweib immer noch drei bestimmte Menschen erbeuten ..." Er schilderte seiner ganz geheimen Sondergruppe, was er erfahren hatte und erwähnte dann, dass sie eine wirksame Drachenbremse schaffen sollten, nämlich dadurch, dass die von Wetterspitz und Weizengold erwähnten Menschen an einem bestimmten Ort zusammengebracht wurden, um dort sozusagen die Hauptwucht der Schatten hinzulenken. Dort wollten sie mit einem zweifach gestaffelten Sonnenzaun jeden niederen Nachtschatten vernichtenund die Urmutter, diese Schattenriesin, derartig schwächen, dass sie auch vernichtet werden konnte. Wenn dabei der eine oder die andere von ihren ausgewählten Opfern starb wollte die Sondergruppe das als notwendigen Einsatz hinnehmen. Wetterspitz und Weizengold hätten das garantiert nicht erlaubt oder gar selbst in Kauf genommen.

"Werden die betreffenden Menschen noch überwacht?" fragte Willi Kieselweiß seinen Vorgesetzten. Dieser bejahte es und erklärte die Schutzmaßnahmen, weil er ja die Goldmengen dafür hatte freigeben müssen. In nur einer halbenStunde war ein Einsatzplan gefasst, der am 29. März seine Vollendung erreichen sollte, nämlich dann, wenn die Vorbereitungen für das Verschwinden der betreffenden Personen geklärt war. Hinzu kam noch, dass zwei der Betreffenden Menschen derzeitig in den vereinigten Staaten waren und am 28. März für eine Hochschulangelegenheit nach Hamburg zurückkehren mussten. Weizengold hatte darum ersucht, diese beiden jungen Leute lückenlos zu überwachen, bis sie wieder aus dem Hoheitsgebiet des Zaubereiministeriums heraus waren. Das würde aber in Personal und Einsatzgerätschaften wie unsichtbaren Besen und Fernbeobachtungsartefakten ausufern. Besser war es da, die entsprechenden leute mit möglichst wenig Personal einzufangen und an einem Ort unterzubringen, der über Umwege den Nachtschatten bekanntgemacht wurde. Entweder würde deren Königin dann auf diese Leute verzichten oder ihre Unterschatten losschicken, sich die von ihr verlangten Menschen zu holen oder gar selbst dorthin reisen, um sie zu töten oder in ihre neuen Unterschatten umzuwandeln. Natürlich durften weder Weizengold noch Wetterspitz das spitzkriegen. Nur der Minister sollte und musste darüber informiert werden, um im Zweifelsfall zusätzliche Einsatzkräfte bereitzustellen.

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Das war schon genial, dass ein Schallansaugrohr mit Einfügung eines Magneten so bezaubert werden konnte, dass in Form elektromagnetischer Wellen übermittelter Schall wieder hörbar gemacht werden konnte, so wie es die magielosen Rundfunkempfänger auch machten. So konnte Albertine Steinbeißer, die im Abstand von nur einem Kilometer das rote Backsteinhaus mit dem Sendestudio von Welle Neuwerk umflog mithören, was von dort aus über den Sender im Leuchtturm von Neuwerk ausgestrahlt wurde. Sie wollte nur prüfen, ob die im Studio verteilten Sonnenlichtkugeln noch nicht entdeckt worden waren und zudem genug Tageslicht aufnehmen konnten, um es bei Annäherungen von Nachtschatten wieder abzustrahlen. Das zumindest hatte ihnen der Knutumdreher Giesbert Heller genehmigt, zehn Sonnenlichtkugeln, die mit einem zusätzlichen Zauber belegt werden konnten, um daraufhin zu erstrahlen.

"Adlerauge an Adlerhorst, alle Lichter noch da, wo sie sein sollen", vermeldete Albertine über die kleine silberne Fernverständigungsdose an einer dünnen Halskette. In dem über dem linken Ohr hängenden Schallansauger mit kleinem Magneten klang gerade das Lied "All The Things She Said" von dem russischen Mädchenduo T.A.T.U. für alle Hörer. Albertine musste einmal mehr grinsen, wenn sie daran dachte, dass russische Musikproduzenten diese jungen Frauen als angeblich lesbisches Liebespaar vermarkteten, wo gerade in Russland so viel Abneigung gegen gleichgeschlechtliche Beziehungen bestand, wie Albertine aus eigener Erfahrung wusste.

"Gut, dann prüfen Sie noch das Haus von den Grabowskys in Bochum", erklang die Stimme des Einsatzgruppenleiters aus der silbernen Dose. Albertine bestätigte den Befehl und flog auf ihrem Harvey-5-Besen davon. Weit genug weg von allen Häusern Neuwerks landete sie, um keine Viertelminute später zu disapparieren.

Auch am Haus der Grabowskys war soweit alles in Ordnung. Die vier von den Lichtwachen Westfalen entbehrten Zauberer hatten ihre Posten gut getarnt um das Haus der Eltern Erna Hansens bezogen. Sie arbeiteten in vier Schichten zu je 6 Stunden. Wenn aber nicht bald geklärt war, wie die Grabowskys auch ohne ständige Bewachung größtenteils sicher leben konnten würde Heller dem Leiter der Lichtwachen wohl bald den Goldhahn zudrehen. Denn die Lichtwachen mussten auch für mögliche Vampirangriffe oder dunkle Magier vom Schlage Riddles und Wallenkrons bereitstehen, und nur weil im Moment diese Nachtschattenriesin so viel Aufsehen erregte waren die anderen Widersacher nicht untätig. Albertine Steinbeißer hatte es förmlich zu ihrer Angelegenheit gemacht, die Sicherheit der in Deutschland beheimateten Überlebenden von Kanoras' erstem Überfall seit hunderten von Jahren zu schützen, nachdem ihre Warnungen so lange ungehört geblieben waren und Karin Maurer sowie die Mutter Arne Hansens dafür mit dem Leben bezahlt hatten, womöglich sogar noch etwas schlimmeres erlitten hatten als den Tod.

"Hier in Bochum ist auch alles klar. Aber wo ich schon mal im Ruhrgebiet bin bitte ich um die Genehmigung, eine Currywurst zu essen."

"Dieses undefinierte, scharfe Zeug wollen Sie sich antun?" wurde sie prompt von ihrer Einsatzleitung gefragt. Sie bestätigte das. "Gut, sind ja Ihr Magen und Ihre Geschmacksnerven", bekam sie zur Antwort.

Albertine wusste, dass Erna an der hiesigen Hochschule studiert hatte, bis sie eigentlich nur für ein Austauschsemester nach Hamburg gegangen war. In der Nähe von Schulen, also auch Hochschulen, gab es viele Lebensmittelläden und Speisenanbieter von der Imbissbude bis zum Nobelrestaurant. So fand sie schnell eine Bude, in der sie finden würde, was sie suchte. Vom Geruch her wurde da auch wohl regelmäßig das Frittierfett ausgewechselt, was sie schon für wichtig hielt.

In ihrem hellen Kostüm aus wadenlangem Rock und figurbetonter Bluse betrat Albertine den Gastraum und überblickte schnell die Bedienung und die Kundschaft. Hier waren gerade drei Studenten und vier Männer in ölverschmierten blauen Arbeitsanzügen, womöglich Monteure oder Mechaniker. Sie bestellte eine doppelte Currywurst mit Pommes ohne Soße und stilles Mineralwasser. Sie setzte sich an einen der ordentlich abgewischten Tische und bekam ihre Bestellung dorthin gebracht. So einen Service kannte sie eigentlich nur von gehobeneren Speiselokalen. "Heh, junge Frau, auch am studian?" wurde sie von einem der Blaumänner angesprochen. Sie war es gewohnt, zwischendurch angemacht zu werden und hatte es zumindest bei Muggeln immer hinbekommen, gewaltlos und intelligent abzuweisen.

"Im Moment studiere ich den Unterschied von Bochumer und Berliner Currywurst und mache noch Vergleiche", erwiderte Albertine. Der Mechaniker bekam von seinen drei Kollegen verwegene Blicke zugeworfen. Der mit rot-weißer Schürze bekleidete Wirt hinter der Theke sah die Besucherin abbittend und doch erwartungsvoll an. Dann sagte der Mann, der Albertine angesprochen hatte: "Weiß doch echt jeder außer den Berlinern, dat wir die wahre Currywurst haben. Da brauchse nich' für nach Berlin. Eh zu teuer da. Wat die für 'ne einfache Currywurst nehmen kannze hier für zwei doppelte mit Pommes Schranke hinblättern."

"Gut zu wissen, dass ich noch ein wenig mehr Geld einstecken muss, bevor es nach Berlin geht", konterte Albertine. Da sagte einer der Kollegen des Blaumanns:

"Fred, die is dir intellenzmäßig über. Außerdem bisse verlobt. Also mach hier keine anderen Mädels an!"

"Klar, Familienpapa, musse ja sagen, weil sonst dein Image kaputt geht", sagte der, der mit Fred angesprochen worden war. Albertine bedachte alle vier mit einem prüfenden Blick, wobei sie es sogar wagte, den Männern durch alle Kleidung zu gucken. Einmal mehr fühlte sie sich bestätigt, dass sie mit sowas haarigem nichts anfangen wollte, wenn sie keiner unter Imperius nahm oder ihr doch irgendwie ein gemeines Aphrodisiakum unterjubelte.

"Jungs, ihr könnt mit den Ladies von der roten Ecke rumschäkern, die sind darauf aboniert. Aber mit Frauen, die ihr nicht kennt, bitte nicht so umspringen", sagte der Mann hinter dem Tresen, während sein Kollege oder Angestellter, ein untersetzter Bursche Mitte dreißig, mit einem Hammer auf unschuldige, noch ungebratene Schnitzel einschlug, um sie breitzuklopfen.

"Ich habe nix böses gesacht, Kalle. Weiß jede hier, dat ich 'n Gentleman bin."

Fred, is gut getz", erwiderte der Kollege, der wohl schon verheiratet war.

Albertine konnte in Ruhe ihre Currywurst essen, weil die vier Blaumänner offenbar merkten, dass ihnen nicht viel Zeit blieb. Die Studenten hatten sich Salate bringen lassen und diskutierten angeregt über ihre letzte Vorlesung, wie ihr Professor dieses oder jenes gemeint haben mochte. Als dann noch zwei junge Frauen in sehr aufreizender Bekleidung hereinkamen musste Albertine sich sehr beherrschen, den beiden Frauen nicht zu sehr in den tiefen Ausschnitt zu glotzen. Die waren sicher jene von der "roten Ecke", wie der Wirt das genannt hatte. Dass die aber in ihrer Berufsbekleidung in eine Imbissbude gingen, wo sie doch sicher keine unnötigen Fettgerüche abbekommen durften wunderte Albertine. Doch die Luft in diesem Raum wurde sehr gut gereinigt. Womöglich würde sie auch nicht so viel von den Ausdünstungen hier an der Kleidung zurückbehalten. Offenbar war es einem der Blaumänner aufgefallen, dass Albertine eine der zwei Leichtgeschürzten so begehrend angesehen hatte. Der meinte dann: "Ui, okay, jungs, die blonde mag lieber Möpse als Muskeln."

"Bist du denn noch ganz dicht?" zischte einer der anderen. Die Studenten blickten sich um. Die zwei jungen Frauen gönnten ihnen aber keinen Blick. Sie wollten nur was zu essen.

Als Albertine mit ihrer Portion fertig war ging sie an die Theke und bezahlte ihre Zeche. "Lassen Sie sich nich' von Fred und seinen Kollegen dumm anmachen, junge Frau. Das sind Hunde, die bellen", flüsterte der Wirt ihr noch zu.

"Ich habe keine Probleme mit bellenden Hunden", wisperte Albertine zurück. Dann ging sie in Richtung Tür. Die lag gerade halb im direkten Sonnenlicht. Sie hatte fast die Tür erreicht als der, der Fred genannt wurde zischte: "Wenigstens hat die 'nen Schatten." Albertine hatte zwar keine magischen Ohren. Aber das hatte sie doch deutlich verstanden. Für wen anderen hätte die Bemerkung eine Beleidigung bedeutet, von wegen nicht ganz richtig im Kopf. Aber für Albertine war diese Bemerkung eher ein Grund für Alarmstimmung. Sie wandte sich behutsam um und fragte: "Ach, sehe ich so dünn aus, dass ich keinen Schatten werfen könnte?"

"Hören Sie nich' auf Fred. Der quatscht gerne erst und denkt dann darüber nach, ob er erst darüber nachdenken soll, ob er was sagt", meinte einer der drei anderen Blaumänner.

"Stimmt, vergessen Sie's, Mylady. War nur ein blöder Spruch", sagte Fred mit geröteten Ohren.

"Geht ja auch nicht. Ein undurchsichtiges Ding oder ein Mensch muss ja bei dem schönen Sonnenlicht einen Schatten werfen", erwiderte Albertine. Dabei sah sie Fred genauer an. Sie konnte an Freds Halsschlagader sehen, dass sein Herz schneller schlug und wärmeres Blut pumpte. Außerdem sah sie Schweißtropfen auf seiner Stirn. Deshalb sagte sie: "Muss Sie nicht ängstigen. Ich kann einiges ab." Dann wandte sie sich wieder zum gehen und verließ das Lokal.

Einige Dutzend Meter entfernt sprach sie leise in ihre Fernverständigungsdose hinein und erwähnte, dass ein Gast des Imbisslokals eine Bemerkung über jemanden gemacht habe, der wohl keinen Schatten geworfen hatte. Wer das genau war habe sie jedoch nicht herausbekommen, weil sie dazu den betreffenden genauer hätte ausforschen müssen. Sie wurde gefragt, was genau der Muggel gesagt hatte. Dann bekam sie den Auftrag, den betreffenden Mann unauffällig zu verfolgen und für eine nähere Befragung abzupassen. Albertine bestätigte diesen Befehl.

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Ralf Petersen war der jüngere Bruder von Hinnerk, dem Wetterclown, wie er von den Fans von "Morgenbrise Neuwerk" genannt wurde. Eigentlich hatte er wunderbar damit leben können, dass sein Bruder auf der Insel und im Internet zum Star geworden war, während er nur einfacher Wattführer war, sofern Touristen über den freigelegten Grund der Nordsee laufen wollten. In dieser Eigenschaft hatte er vor zwei Tagen ganz spät abends noch einen Wattwagen reparieren müssen, bei dem das rechte Vorderrad nicht mehr rund lief. Da war es dann passiert. Etwas hatte ihm plötzlich alle Kraft weggenommen. Er war hingefallen. Dabei war seine Stirnlampe ausgegangen. Erst war ihm kalt geworden. Dann kehrten seine Kräfte zurück. Dann hatte eine irgendwie shwebende Stimme mit ihm gesprochen. "Du gehörst jetzt mir und meiner Mutter, der Königin der Nacht. Du wirst nur noch das tun, was wir von dir wollen. Ach ja, wenn du wem verrätst, dass du jetzt uns gehörst bist du ganz tot. Wenn du zu lange in der Sonne bleibst vertrocknest du und zerfällst zu Asche. Am besten packst du dich immer gut ein, wenn du unbedingt in die Sonne musst. Und jetzt steh auf und mach das fertig, was du angefangen hast! Ich werde dir in dein Hirn reinsprechen, was du dann für uns machen sollst."

Zwei Tage war das jetzt her, dass etwas ihn derartig verändert hatte. Er hatte geglaubt, von einem Vampir angefallen worden zu sein. Doch dann hätte er ja lange Zähne kriegen müssen und kein Spiegelbild mehr haben dürfen. Doch die Sonne tat ihm wirklich weh, und er fühlte, dass das Licht ihm Kraft wegnahm, wenn er zu lange darin stand. Tja, und dann hatte er erkannt, dass er zwar noch ein Spiegelbild, aber keinen eigenen Schatten mehr hatte. Diese Erkenntnis hatte ihn völlig erschüttert. Irgendwer hatte ihm den Schatten weggezaubert oder weggefressen oder was, zumindest nichts natürliches. So durfte er auf keinen Fall von zu vielen Leuten gesehen werden. Die riefen dann noch die Ghost Busters oder einen der vielen Heftroman-Geisterjäger. Am Ende war er selbst schon sowas wie ein Dämon oder Zombie. Zumindest konnte das, was ihm den Schatten weggenommen hatte eine Kreatur aus der Hölle sein, an die zu glauben er mit zehn Jahren aufgehört hatte.

Es war der 23. März, als Ralf Petersen die Stimme des Unheimlichen wiederhörte, genau in seinem Kopf, zwischen den Ohren. "Heute Nachmittag gehst du zu diesem kleinen Inselsender hin und behauptest, dass du was für deinen Bruder abholen musst. Dann sagst du, dass du mal musst und guckst dir das Badezimmer an. Wir wollen wissen, ob da was ist, was da nicht hingehört."

"Und was soll das sein?" fragte Ralf Petersen in Gedanken. "Wirst du sehen oder auch fühlen, wenn es da ist, und ich dann auch. Also mach hinne!"

Ralf fuhr dann auf seinem Fahrrad zum roten Backsteinhaus, in dem das Sendestudio untergebracht war, wo sein Bruder morgens arbeitete, bevor er am Nachmittag im Seewetterbüro die Vorhersagen für morgen sichtete. Er fühlte, dass die Sonne trotz seiner drei Schichten Wäsche ziemlich fies auf der Haut brannte. Seine Augen waren hinter einer stark getönten Skibrille verborgen. Dennoch vermied er es, auf die hellsten Stellen zu sehen. Sein Kopf dröhnte beinahe vor Schmerzen. Doch er hielt sich eisern im Sattel. Da die Sonne gerade von links kam hätte er rechts einen deutlichen Schatten werfen müssen. Doch da war keiner.

Als er nur noch hundert Meter vom Sender entfernt war meinte er, durch einen Strahl aus Eiswasser zu fahren. Gleich darauf meinte er, von einem Flammenstrahl getroffen zu werden. Fast wäre er deshalb vom Rad gefallen. Was war das denn schon wieder gewesen?

Ralf hielt vor dem Haus. Er hoffte, gleich aus der Sonne raus zu sein. Doch als er aus dem Sattel stieg traf ihn etwas wie eine unsichtbare Hand, die ihn fassen wollte und dann förmlich durch ihn hindurchglitt. Er wandte sich um und fühlte, dass da etwas war, aber sehen konnte er nichts.

Moin moin, junger Mann", sie wollen zum Sender Welle Neuwerk?" fragte ihn unvermittelt ein älterer Mann mit grauem Ziegenbart. Der Mann trug einen grauen Anzug mit Fliege.

"Öhm, Sie wohnen nich' auf Neuwerk, richtig?" fragte Ralf, um Zeit für eine Antwort auf die ihm gestelte Frage zu haben.

"Das ist richtig", sagte der ältere, der aber zumindest mit hamburger Klang sprach, wenn er auch Hochdeutsch sprach. "Hau ab da, das ist dein Feind!" brüllte es förmlich in seinem Kopf auf. Ralf Petersen sah den Fremden misstrauisch an. Doch dann reagierte er. Er lief zurück zu seinem Fahrrad und sprang in den Sattel. Erst schlingerndund dann gleichmäßig nahm er Fahrt auf. Der andere rief ihm nichts hinterher. Das war kein gutes Zeichen, fand Ralf. "Die haben gesehen, dass du anders bist und auch was gemacht, was dich erkennbar macht, verdammt noch eins", brüllte die Stimme des unheimlichen Wesens in seinem Kopf. Er fuhr immer schneller. Da fiel über ihm etwas herunter, ein großes, engmaschiges Netz. Er bemerkte es erst, als es ihn umfing und sich zusammenzog. Das Fahrrad glitt unter ihm weg und rollte noch etliche Meter, bis es zu langsam war und umkippte. Ralf wurde derweil in die Höhe gerissen. Jetzt sah er drei Männer auf fliegenden Reisigbesen, als wenn es in Männer verwandelte Hexen seien.

"Hol's der Blitz, die haben dich. Dann eben nicht", hörte er die Stimme dessen, der ihn um seinen Schatten gebracht haben musste. Ja, er erkannte, dass drei auf Besen reitende Zauberer ihn einkassiert hatten, ja, ganz sicher Feinde dieses Dämons, der ihn ... Da fühlte er, wie es ihn innerhalb einer Zehntelsekunde wie mit tausend ATÜ von innen her aufblies. Danach fühlte er nichts mehr.

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"Nicht zu nahe ran, nachher trägt er was bei sich, was ...!" rief Ole Bruhnacker, der vor dem Sender postierte Zauberer. Sie hatten gerade den Radfahrer überprüft, der keinen sichtbaren Schatten hatte. Sowohl der Prüfzauber für dunkles Zauberwerk als auch der Zauber für Sonnenlichtverträglichkeit hatten gezeigt, dass der Radfahrer von einer dunklen Magie durchdrungen wurde, die ihn zu einem halben Nachtschatten oder Vampir gemacht hatte. Bruhnacker wollte den Burschen unverfänglich ansprechen und wissen, wer das war und was er bei dem Sender wollte. Inzwischen wurde das aus sicherer Entfernung gemachte Foto von ihm schon zur Entwicklung gebracht. Seine Kollegen hatten sofort gehandelt, als der Verdächtige auf sein Tretzweirad gesprungen und weggefahren war. Tja, und die hatten den mal eben mit einem Netz eingefangen, obwohl die Erlaubnis hierfür noch nicht gekommen war. Dann hatten sie das Netz hochgezogen. Ole Bruhnacker rief noch mit dem Vocamicus-Zauber, dass sie nicht zu nahe heransollten, als es auch schon passierte.

Schlagartig blähte sich der Verdächtige zu einer schwarzen Kugel auf, aus der pfeilschnelle Eiskristalle heraussausten und trotz der Drachenpanzerabsicherung in die Köpfe und Körper der drei Kollegen einschlugen. Keine halbe Sekunde später fiel die schwarze Kugel wieder in sich zusammen. Von dem Verdächtigen war nichts mehr übrig. Bruhnackers Kollegen bluteten aus unzähligen Wunden. Rötliche Blitze umzuckten sie, und ihre Besen sprühten silberne und blaue Funken. Dann stürzten sie wie total entkräftet ab. Bruhnacker starrte durch sein Fernglas auf das sich abspielende Drama. Er erkannte, dass seine Kollegen regelrecht durchsiebt worden waren. Warum hatte der Drachenpanzer die Splitterwolke nicht abgewehrt? Bruhnacker war froh, dass er wenigstens den Aufschlag der drei tödlich verletzten Kollegen nicht hören musste. Es reichte ihm völlig aus, dass die drei nicht mehr am Leben waren. Der Verdächtige musste förmlich explodiert sein und sich dabei in diese Splitterwolke verwandelt haben, die stark genug war, Menschen vollständig zu durchschlagen. Welche skrupellose Macht konnte sowas anrichten? Dann fiel es ihm ein: Das konnte nur diese Nachtschattenkönigin getan haben. Sie hatte den Verdächtigen schlagartig zu Eis werden und dieses auseinanderfliegen lassen. Doch immer noch wusste Bruhnacker nicht, warum der Drachenhautpanzer diese Geschosse nicht pariert hatte.

Bruhnacker schluckte einmal, dann noch einmal. Dann sprach er in seine Silberdose, dass die Kollegen Distelwurz, Hollerblatt und Isenbügel beim versuch, einen eindeutig schattenlosen Mann festzunehmen, von einer aus demselben erfolgenden Explosion getötet worden waren. Er betonte, dass selbst der Drachenhautpanzer die Wucht der Explosion nicht abgefangen hatte. Indes lief im Haus des Senders alles weiter wie bisher. Keiner kam heraus um sich umzusehen.

Als Bruhnacker seinem Vorgesetzten Wetterspitz Bericht erstattet hatte sagte dieser: "Unsere Tanatologen haben die drei Kollegen untersucht. Was sie getroffen hat war pures Eis, aber offenbar mit dunkler Magie angereichert. Das hat die Abwehraura des Drachenhautpanzers offenbar durchdrungen wie gewöhnliche Luft. Tja, offenbar haben wir gerade erlebt, dass Drachenhautpanzer keine hundertprozentige Abschirmung bieten. Falls unsere Gegner das mitbekommen haben wissen die jetzt, wie sie gegen uns vorgehen können. Falls nicht, und diese Explosion war eine Abwehrmaßnahme gegen die Gefangennahme, so werden sie demnächst gleich auf diese Weise jeden töten, der von uns erkannt und festgenommen wird."

"Öhm, Herr Wetterspitz", setzte Bruhnacker an. "Könnte es sein, dass der Mann auch so hätte explodieren sollen, sobald er im Gebäude des Senders war, um alle dort zu töten?"

"Tja, das können wir leider nicht mehr herausfinden", bemerkte Wetterspitz trocken. Dass ihm die Sache noch mehr an die Nieren ging als seinem Untergebenen Bruhnacker wollte sich der Kommandant der deutschen Lichtwachen nicht anmerken lassen. Ihre schattenförmige Gegnerin war wesentlich gefährlicher als sie alle gedacht hatten. Das konnte noch ein sehr heißer Sommer werden, oder auch ein sehr sehr kalter und dunkler, je nach Sichtweise.

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Albertine verfolgte die vier Männer in blauer Arbeitskleidung. Sie musste herausbekommen, ob diese wirklich einen Menschen ohne Schattenwurf gesehen hatten. Da die vier als Gruppe dicht zusammen die Straße langgingen und auf dieser viele andere Fußgänger unterwegs waren, von den über die Fahrbahn brummenden Autos ganz zu schweigen, durfte Albertine nichts machen, wass jeder hätte mitbekommen können. Nur in unmittelbarer Gefahr für Leib und Leben durften Außentruppler an Orten mit hoher Zahl magieunkundiger Personen (OmhZmuP) ohne Rücksicht auf Augenzeugen zaubern. So eine Gefahr bestand noch nicht. Deshalb verfolgte Albertine die vier bis zu einem Gebäude, über dessen großem Wellblechtor ein großes Emailleschild mit blauen Großbuchstaben auf silberweißem Hintergrund verkündete, dass hier eine Reparaturwerkstatt für Kraftfahrzeuge vom Mofa bis zum 7,5-Tonnen-Transporter war. Die Hexe mit den magischen Kunstaugen beobachtete, wie die vier Männer durch eine kleine Seitentür das Werkstatthaus betraten. Da sie 100 Meter hinter und ebenso über den Männern flog konnte sie die Eigenschaft ihrer Kunstaugen nutzen, durch undurchsichtige Hindernisse wie durch klare Luft zu sehen, als wenn diese nicht vorhanden seien. Sie bekam auf diese Weise mit, wie die vier sich in einer großen Halle einfanden, in der ein silbermetallikfarbener Audi auf einer nach oben gefahrenen Hebebühne ruhte. Offenbar waren die vier damit beauftragt, die Unterseite dieses Fahrzeuges zu prüfen oder zu reparieren. Albertine kannte sich gerade einmal so gut mit den Autos der magielosen Welt aus, dass sie erkennen konnte, dass das meistens unter einem Fahrzeug angebrachte Auspuffrohr fehlte. Ein kurzer Rundblick über die Werkstatthalle zeigte ihr, dass gerade auf einem Gestell zwanzig Schritte von den vier Männern entfernt lag. Dann kam noch ein Mann herein, der ebenfalls einen blauen Überwurf trug, der jedoch keinen Ölfleck aufwies. Außerdem war der Mann älter und wirkte durch Gesicht und Gesten wie der Meister dieser Männer. Da Albertine wegen ihrer Kunstaugen einen Schnellkurs in Lippenlesen absolviert hatte holte sie das Gesicht des Meisters scheinbar bis auf einen halben Meter zu sich heran und konzentrierte sich.

Die Vier Männer zwischen vierundzwanzig und dreißig bekamen nicht mit, dass sie aus sicherer Entfernung auf magische Weise beobachtet wurden. Für sie war gerade wichtig, dass ihr Meister Lutz Hagenkötter sie wohl zusammenstauchen wollte. Er wirkte nämlich ziemlich verärgert.

"Schön, dass ihr auch wieder da seid. Herr Dombrowsky will seinen Wagen um vier wiederhaben, weil er mit seiner Frau noch abends ausfahren will. Wenn wir den bis vier nicht klar haben kriegen wir die Taxirechnung, hat er gesagt. Mensch, was hat euch bei Kalle wieder so lange aufgehalten?"

"Das Essen, Meister. Das kam wegen der Konjuntur da später als geplant", sagte Fred, der von der Truppe immer das größte Mundwerk hatte.

"Dann lasst euch demnächst was liefern, um pünktlich aus der Pause zu sein! Mann, Leute, wenn ich euretwegen pleite mache steht ihr auf der Straße. Geht das endlich mal in eure Hirne hinein?" polterte Hagenkötter weiter, nicht ahnend, dass jedes seiner Worte von einer fremden Frau mitverfolgt wurde. Dann deutete er auf den Wagen. "Bis vier ist der Wagen wieder voll einsatzbereit und vor allem sauber. Ich will keine Beschwerde von Dombrowsky, dass jemand von euch seine öligen Fingerabdrücke auf dem Lack hinterlassen hat oder sowas. Frohes Schaffen!"

Ohne ein Wort abzuwarten wandte sich Hagenkötter um und ging mit ausgreifenden Schritten zur Tür, die in den Bürobereich führte. Die kleine Standpauke hatte eine wertvolle Minute gekostet. In der Zeit hätten fünf Kunden anrufen können.

Kuno deutete auf den Wagen auf der hochgefahrenen Hebebühne und meinte: "Tja, Fred, dann hättest du dem Meister die Taxirechnung für den Kunden abdrücken dürfen, weil du mit dieser blonden dünnen Dame rumgeschäkert hast, obwohl die eindeutig nix von dir wollte. Also ran an die Kiste!"

"Pass auf, dass du beim Runterlassen nicht mit dem Fuß unter der Bühne klemmst, Kuno", knurrte Fred und eilte an den ihm zugeteilten Werkzeugkasten. Es galt, die Auspuffanlage zu reparieren, dass der Wagen zum einen leiser lief und zum anderen die Abgasfilterung top war.

Gerade standen die vier Männer wieder um den zu reparierenden Wagen, als mit leisem Plopp eine ihnen nicht mehr ganz unbekannte Frau genau zwischen ihnen auf dem Dach des Audis auftauchte. Die vier Männer starrten erschrocken und verblüfft auf die Frau, die sie eben noch in Kalles Pommesbude gesehen hatten. Bevor einer von ihnen sich aus der Erstarrung lösen konnte hörten sie die Fremde murmeln: "Manento in Circo!" Dann traf jeden von ihnen etwas, das machte, dass keiner mehr einen Finger rühren konnte. Fred dachte erst an Außerirdische. Doch dann kam er auf die Idee, es mit einer Hexe ohne Besen zu tun zu haben. Dann sah die ihn auch noch so an, als wenn die ihn hypnotisieren oder röntgen wollte. Dass er damit nicht ganz so falsch lag wusste er nicht.

Albertine hatte genau den richtigen Zeitpunkt erwischt, als die vier einen Kreis um das zu reparierende Auto bildeten. So konnte sie unmittelbar nach dem Apparieren mit einer erweiterten Möglichkeit des Manetus-Zaubers alle vier gleichzeitig erstarren lassen. Zwar hielt dieser Zauber nur eine Viertelstunde vor, anders als der zielgenau auf ein einzelnes Wesen gerichtete Zauber. Doch in der einen Stunde war sie fünf mal mit jedem von denen durch. Zu legilimentieren war mit ihren Kunstaugen nicht ganz so einfach, weil sie aufpassen musste, nicht durch den zu prüfenden hindurchzublicken. Doch sie hatte mittlerweile eine gewisse Übung darin. So holte sie erst aus dem Mann mit dem großen Mundwerk die Bilder der letzten drei Wochen heraus und erkannte wahrhaftig, dass er eine Frau ohne Schatten in dicker Winterkleidung und mit Sonnenbrille gesehen hatte. Welcher Jahrhundertzufall hatte sie in ausgerechnet diese Frittenbude geführt? Dann fiel ihr ja ein, dass sie ja deshalb in eines dieser Schnellrestaurants gegangen war, weil es in der Nähe des Hochschulgebäudes lag und deshalb von Mitstudenten Erna Hansens geborene Grabowsky besucht wurde.

Auch die drei anderen Männer hatten die Frau ohne Schatten gesehen. Bei einem hatte sie sogar mitbekommen, dass der Wirt des Imbisslokals sie mit dem Namen Helga angesprochen hatte. Der Name war nicht so selten. Aber Albertine hoffte, die betreffende Frau dennoch ermitteln zu können.

Als sie bei allen vieren enthüllt hatte, dass diese die Frau ohne Schatten gesehen hatten und dass es nicht an der Beleuchtung gelegen hatte, vollzog sie an jedem einzelnen einen Gedächtniszauber, dass die vier sich nur länger über die Reparatur des unter Albertines Füßen stehenden Autos unterhalten hätten. Das dauerte jedoch zehn Minuten, weil sie klarstellen musste, dass jeder sich an dasselbe erinnerte. Das war nämlich die Tücke von Gedächtniszaubern, dass sie trotz ihrer Wirkung zu unerwünschten Fragen und einander widersprechenden Gemeinschaftserinnerungen führen konnten. Doch Albertine hatte lange genug in Weizengolds Behörde gearbeitet, um diese Art von Erinnerungsangleichung hinzubekommen. Als sie damit fertig war nutzte sie die halbe Minute, die die Männer brauchten, um wieder klar zu werden, um von dem Wagen herunterzuklettern. Sie bestrich das Dach mit einem Ratzeputzzauber, damit nicht jemand Schuhabdrücke auf dem Dach erkennen konnte. Dann wisperte sie eine verzögerte Aufhebung des rundumwirkenden Bewegungsbannes und kehrte auf zeitlosem Weg zu ihrem Besen zurück. Wenn die Männer gleich wieder klar waren würden sie sich beeilen, das Fahrzeug auftragsgemäß zu reparieren, um die verplapperte Zeit wieder aufzuholen.

Sie selbst flog wieder zu Kalles Bude zurück. Vielleicht bekam sie ja den Auftrag, der Schattenlosen aufzulauern. Als ihre Fernverständigungsdose vibrierte suchte sich Albertine einen sicheren Ort, um sie aufzuklappen. Sofort klang ihr die in der Dose aufgefangene Wortnachricht entgegen: "Achtung, an alle Einsatzteilnehmer der Operation Schattenspieler! Mann ohne sichtbaren Schattenwurf bei Sendegebäude auf Neuwerk erkannt und gestellt. Subjekt durch magisch herbeigeführte Detonation von unbekannter Seite vernichtet. Drei Kollegen bei Detonation trotz Drachenhautpanzerung tödlich verwundet. Keine Festnahme eines erkannten Schattenlosen, solange keine wirksame Verhinderung der Explosion oder Absicherung gegen die Auswirkungen einer solchen verfügbar! Ich wiederhole: Keine Festnahme eines erkannten Schattenlosen, solange keine wirksame Verhinderung der Explosion oder Absicherung gegen die Auswirkungen einer solchen verfügbar! Ende!"

"Gut zu wissen", dachte Albertine. Dann gab sie über die Silberdose die Ergebnisse ihrer legilimentischen Erkundung durch und erwähnte auch, dass sie die Männer erst bewegungsgebannt und anschließend gedächtnisbezaubert hatte, damit das ja ins Protokoll kam, auch wenn es an und für sich bei jedem Einsatztruppler selbstverständlich war.

"Besteht die Möglichkeit, dieser Frau zu begegnen und sie aus sicherer Entfernung zu verfolgen?" wurde Albertine nach einer weiteren Minute gefragt. Sie räumte ein, dass diese Frau nur bei einem Besuch der vier Männer von diesen gesehen worden sei. Da alle vier immer gleichzeitig in die Mittagspause gingen konnte es sein, dass die Verdächtige davor oder danach regelmäßig in die Bude ging. Also hieß das, dass Albertine noch einmal zu diesem Kalle hin musste um ihn auch noch auszuforschen.

Verborgen durch ein nur für sie völlig unsichtbares Haus saß sie hundert Meter von Kalles Bude entfernt auf einem aus ihrer Einsatztasche geholten Klappstuhl und sah zu, wie die Kunden ein- und ausgingen, darunter Männer und Frauen in Kostümen für leitende Angestellte. Sie wartete auf eine günstige Gelegenheit, wenn kein Kunde im Lokal war. Doch sie musste bis drei Uhr warten, bis niemand außer Kalle und seinem Angestellten im Haus waren. Dann wechselte sie auf zeitlose Weise direkt hinein. Da der kreisförmig wirksame Bewegungsbann bis zu dreißig Metern weit reichte musste sie diesmal die beiden Männer einzeln bezaubern. Beinahe entwischte der untersetzte Angestellte aus ihrer Zauberstabausrichtung. Doch dann hatte Albertine auch ihn bewegungsunfähig und konnte nun jeden der beiden einzeln ausforschen. Doch zunächst ließ sie die Zugangstür fest verschließen und legte eine magische Barriere zwischen Tür und Theke, die den Eindruck vermittelte, dass gerade keiner in der Bude war. Dann nahm sie sich die nötige Zeit, um die beiden Schnellköche auszuforschen. So bekam sie heraus, dass die Frau ohne Schatten Helga hieß, dass sie zwischendurch zum Mittagessen kam und vor zwei Wochen wohl noch ganz normal ausgesehen hatte. Also musste der unheilvolle Zauber, der ihr den Schatten geraubt hatte, zwischen ihren letzten beiden Besuchen über sie gekommen sein. Gewarnt von der Rundmeldung über den explodierten Schattenlosen nahm sie sich vor, Helga nur zu verfolgen, nicht mit ihr Kontakt aufzunehmen und sie auch nicht zu bezaubern, um zu prüfen, durch welche Magie sie ihren natürlichen Schattenwurf eingebüßt hatte. Vielleicht bekam sie dabei heraus, wie genau dieser Schattenraub abgelaufen war.

Nachdem sie die zwei Imbissbudenbetreiber mit den üblichen Gedächtniszaubern belegt hatte, dass sie wegen einer Panne mit der Tiefkültruhe für zwanzig Minuten den Laden zugemacht hatten, löste sie die illusionswand auf, ließ die Tür wieder entriegeln und verschwand, bevor die zwei Männer wieder klar denken konnten.

Weil die Erkundung ergeben hatte, dass die schattenlose Helga nicht regelmäßig in Kalles Bude zu erwarten war konnte Albertine zu ihren Kollegen an die Nordseeküste zurückkehren. Die hatten inzwischen ermittelt, dass der explodierte Mann ohne Schatten Ralf Petersen geheißen hatte und der Bruder von Hinnerk Petersen war, einem Kollegen von Rico Kannegießer. Das musste jetzt natürlich entsprechend bereinigt werden, dass die Familie des Verstorbenen nicht mehr wusste, dass es ihn gegeben hatte. Armin Weizengold empfand diese drastische Maßnahme zwar immer als sehr grausam, konnte aber keine bessere Möglichkeit finden, um das für Menschen ohne Magie unerklärliche Ableben eines Angehörigen besser zu vermitteln. Albertine indes behielt den Sender unter Beobachtung. Tagsüber war wohl nicht mit einem neuen Überfall zu rechnen, jetzt, wo die Verursacher der Schattenlosigkeit wussten, dass ihre Opfer enttarnt werden konnten. Doch wenn es dunkel wurde war besondere Vorsicht geboten. Die Schattenriesin konnte apparieren und disapparieren, solange es an Start- und Zielort dunkel genug war. Wenn die beschlossen hatte, sich Rico persönlich zu holen mochte sie jederzeit bei ihm auftauchen. Für den Fall hatte Albertine wie bei dem Studenten Mark Fechter die Kombination von Verwandlungs- und Aufrufezauber als probates Mittel entdeckt. Damit konnten Menschen innerhalb von anderthalb Sekunden aus einer unmittelbaren Gefahrenzone gerissen werden und ohne Schwierigkeiten beim Apparieren mitgenommen werden. Nur die Schattenlosen selbst waren gegen diese Art von Mitnahme gefeit, wohl wegen der dunklen Magie, die sie durchdrang.

Um sich nicht zu langweilen hörte Albertine über die magische Entsprechung eines tragbaren Elektroradios das Programm mit. Rico saß im Technikraum und überwachte die Lautstärke und den Pegel der Sendeanlage. Er würde aber um sechs Uhr gehen, wenn Hannes Braun, genannt Cowboy Jack, mit seinem Bruder Mike ins Studio kam, um die dreistündige Country-Sendung "Von Nashville nach Neuwerk" zu moderieren. Mike Braun machte dann den Tontechniker und schaltete nach der Sendung die Nachtschleife ein, ein Computerprogramm, dass bis zum Start der nächsten Morgensendung Musik von den angeschlossenen Festplatten abrief und ausstrahlte. Zumindest wusste Albertine das seit Anfang März, als klar war, dass Rico Kannegießer nicht mehr in die Universität zurückgehen würde.

Die Ablösung klappte reibungslos. Rico fuhr auf seinem Fahrrad nach Hause, aus gewisser Entfernung von Albertine und zwei Kollegen begleitet. Einer der Kollegen trug eine Sonnenlichtkugel bei sich, die er innerhalb einer Zehntelsekunde dorthin schleudern konnte, wo ein Nachtschatten auftauchte. Vielleicht war die Schattenriesin damit auch zu erledigen, wenn sie nicht rechtzeitig disapparierte, sofern sie das bei der Freisetzung gesammelten Sonnenlichtes überhaupt noch konnte.

Rico erreichte seinen Bungalow und verstaute sein Fahrrad in einem Holzverschlag an der Hinterseite. Dann ging er in das Haus mit dem Flachdach hinein. Dort war er auf jeden Fall durch die deponierten Sonnenlichtkugeln gegen vordringende Schattenwesen gesichert. Zumindest hofften Albertine und ihre Kollegen das. Allerdings hatte der Vorstoß von Ralf Petersen gezeigt, dass dieses nachtschwarze Ungeheuer keine Skrupel hatte, auch auf Menschen zurückzugreifen, die nicht unmittelbar mit Rico in Beziehung standen. Die alle zu überwachen würde mehr Personal und Zaubervorkehrungen erfordern, wusste Albertine. So blieb nur, die von dieser Schattenriesin immer noch gejagten Menschen zu überwachenund so gut sie konnten abzusichern.

"Wir haben es amtlich, dass die beiden jungen Leute, die in Las Vegas geheiratet haben am 28. März aus den vereinigten Staaten zurückkehren, um hier die Formalitäten für den dauerhaften Hochschulwechsel zu erledigen", sagte Armin Weizengold, dem die mittlerweile an die fünfzig Überstunden schon gut ins Gesicht geschrieben standen. Albertine schrieb noch ihren Tagesbericht ab, der mit den Aufzeichnungen der Wortverpflanzungsdosen zu den Akten genommen wurde.

Wieder in ihrer eigenen Wohnung in dem kleinen Haus auf der Lüneburger Heide sinnierte die Hexe mit den magischen Augen darüber, wie lange sie die Überwachung der verbliebenen drei Überlebenden dieser Nachtschattenattacke aufrechterhalten wollten. Die Angelegenheit Ralf Petersen und die noch zu klärende Sache mit der nur als Helga bezeichneten Frau in Bochum zeigten ja, dass die Gefahr nicht nur auf die drei Überlebenden beschränkt war. Passierte anderswo noch mehr Unheil, so würden die Lichtwächter wohl neu beraten und beschließen, ob sich die Überwachung noch lohnte oder sie nicht besser alle Kräfte bereithielten, um sofort einzugreifen, wenn irgendwo wieder was unheimliches stattfand.

Albertine verglich die Uhrzeiten in Deutschland und dem US-Bundesstaat Mississippi. Wenn sie glück hatte, konnte sie die höchste Schwester persönlich antreffen und sich mit ihr über den heutigen Tag und ihren merkwürdigen Traum unterhalten.

In fünf Etappen apparierte Albertine über den Atlantik. Der letzte Ortswechsel brachte sie direkt in die Empfangshalle der alten Plantagenbesitzervilla. Dort rief sie nach der höchsten Schwester. Diese war jedoch nicht im Haus. So mentiloquierte sie ihr: "Höchste Schwester, bin in unserem Versammlungshaus. Muss mit dir über verschiedene wichtige Dinge direkt sprechen. Teile mir bitte mit, wann du wiederkommst!"

"Schwester Albertine, ich forsche gerade nach, wo ein Stützpunkt der Mondgeschwister in den Staaten ist. Die Werwölfe werden offenbar wieder hungrig. Harre eine Stunde aus. Bin ich dann nicht da, komm morgen wieder!"

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"Ist was, höchste Schwester?" fragte Anthelias Mitschwester Melonia, weil die Anführerin des Spinnenordens gerade auf was anderes konzentriert war.

"Ich erhielt gerade einen Gedankenruf von einer anderen Mitschwester, Schwester Melonia", erwiderte Anthelia. "Bist du dir sicher, dass dieser Werwolf, der sich Greyback nannte, mit Goodwin Rawlings identisch ist?"

"Die SQB-Leute haben ihn tatsächlich identifiziert. Der ist aber nicht mehr unter der Adresse zu finden, wo er zuletzt gewohnt hat. Mehr kriege ich aus Jill nicht raus, ohne mich verdächtig zu machen, höchste Schwester."

"So, du nicht, aber ich. Wo wohnt deine Cousine genau?"

"Zwanzig Kilometer von Denver Colorado entfernt, nördlich von der Stadt in einem Haus auf halber Höhe der Anhöhe, auf der Denver gebaut wurde. Aber in dem Revier wohnen auch die Eheleute Alexis und John Ross, Mitglieder der Liga gegen dunkle Künste, freiberufliche Zauberunfallexperten. Könnte sein, dass die kommen, wenn du bei Jill bist."

"Ich kann einen Zauber, der meine Zaubereien vor anderen verbirgt. Ich will wissen, was das Ministerium über diesen Werwolf weiß und auch, ob sie den noch zu finden hoffen. Falls ja will ich ihn schneller finden. Diese Mondbruderschaft ist für ein paar mit Lykanthropie behaftete Ministeriumslakeien zu weitverzweigt."

"Ja, und weil die Gefahr besteht, dass die Mondgeschwister jeden unverdorbenen Menschen mit ihrem Keim anstecken will das Ministerium nur die Sondergruppe Quentin Bullhorn einsetzen. Du könntest auch von einem dieser Pelzwechsler gebissen werden", meinte Melonia.

"Ich bin im Grunde schon mit einer Wergestaltigkeit infiziert, Schwester Melonia. Kein fremder Zauber und kein Gift können mir was anhaben, nicht einmal der Todesfluch, wie du sicher weißt. Ich verschaffe mir die Auskunft, die du nicht bekommen konntest", sagte Anthelia und disapparierte ohne weiteres Abschiedswort.

Als die Vereinigung aus Anthelia und Naaneavargia in der Nähe der großen Stadt Denver apparierte lauschte sie erst. Melonia hatte ihr den Ort in Gedanken gut beschrieben. Im Moment waren keine Menschen und keine Werwölfe in der Nähe. Da es noch Tag war und wenige Wolken am Himmel zogen musste sie sich auch nicht vor Nachtschatten fürchten. Aber ihr fiel ein, dass auch die Vampire dieser schlafenden Göttin Jagd auf die Mondgeschwister machen konnten. Vor denen musste sie auf der Hut sein, solange sie nicht Yanxothars Klinge bei sich hatte. Das mächtige Schwert des Feuermeisters aus Altaxarroi konnte sie nicht immer mit sich herumschleppen. Sie wollte es nur dort bereithalten, wo sie es auch wirklich brauchte.

Das Haus von Jill Summerview zu finden dauerte nur fünf weitere Minuten. Es besaß die üblichen Absicherungen gegen unbefugte Apparatoren, Feindeswarnzauber und auch einen damit gekoppelten Captaranea-Fangzauber. Offenbar war Jill wirklich sehr wichtig in der Abteilung für magische Geschöpfe. Die Hausbewohnerin selbst war jedoch gerade nicht da. Weil Anthelia nicht wusste, wie lange sie warten sollte, beschloss sie, erst in ihr Hauptquartier zurückzukehrenund sich anzuhören, was Albertine ihr zu berichten hatte.

Die deutsche Mitschwester Anthelias saß im Salon und las in einem der dort bereitgehaltenen Bücher. Anthelia erkannte, dass es die Geschichte der Zaubererwelt Nordamerikas war.

"Hallo, Schwester Albertine. Wie ich erkenne hast du dich zu beschäftigen gewusst", begrüßte Anthelia ihre Mitschwester.

"Schon interessant, dass es bis zu Grindelwalds Niederlage in den Staaten einen parallel zum Kongress der Muggel existierenden Magischen Kongress der USA gegeben hat und der erst seit 1946 dem Beispiel vieler europäischer Institutionen folgend zu einem Ministerium für Magie umgewandelt wurde. Bei uns lernt man das nicht in Zaubereigeschichte. Die geht nur bis zu den Zerwürfnissen zwischen Grindelwald und den anderen Hexen und Zauberern in Europa", sagte Albertine Steinbeißer. Dann legte sie das Buch fort.

"Unsere Mitschwester Melonia hat auch das Buch über die Geschichte aller in den Staaten bestehenden Lehranstalten von 1789 an dagelassen", sagte Anthelia. Dann fragte sie, warum Albertine sie unbedingt persönlich sprechen musste. So erfuhr Anthelia, was Albertine an diesem Tag erlebt und vor allem erfahren hatte.

Als Anthelia von der Explosion eines Schattenlosen und den damit verbundenen Tod dreier Lichtwächter erfuhr nickte sie heftig. "Also wahrhaftig eine Form des Cleptumbra-Zaubers, allerdings eine erheblich stärkere. Ein Schattenräuber kann mit dem Artefakt, in das er den Schatten seines Opfers eingelagert und mit seinem eigenen Blut verbunden hat, jeden Zauber auf das Opfer legen, außer dessen sofortigen Tod. Offenbar gilt das für Nachtschatten, die diese Magie ausüben können nicht mehr. Sie können das, was sie eigentlich machen, nämlich einem Wesen Leben und Wärme entreißen, aus der Ferne nachholen und das wohl so wuchtig, dass die Opfer unter der sie gefrierenden Magie zerbersten. Ich verstehe nur nicht, warum eure Leute nicht begreifen, warum derartige Eissplitter durch Drachenhautpanzer dringen. Drachenhautpanzer fangen schnell bewegte Körper ab, solange sie nicht aus mit dem Drachenschwächungszauber Dracofrigidum bezaubertem Silber bestehen. Silber ist dem Mond und damit indirekt auch dem Wasser zugeordnet. Der Drachenschwächungszauber, der in ein Auge oder in das geöffnete Maul eines Drachens geschleudert werden muss, kühlt dessen Feuer ab. Es ist dann für zehn Atemzüge lang nur ein Zehntel so heiß wie sonst. Tja, und da Nachtschatten aus verstofflichter Dunkelheit bestehen wirkt ihre Vereisung noch stärker als Dracofrigidum. Will sagen, das Eis einer von Nachtschatten getöteten Lebensform kann genauso durch den Schutzbann eines Drachenhautpanzers dringen wie ein Silbergeschoss mit Dracofrigidum-Bezauberung. Vielleicht solltest du das deinen Kollegen mal fragen, ob sowas möglich sein könnte, ohne zu behaupten, es sei möglich."

"Hmm, Ich kenne da einen, der würde mich gerne erwürgen, wenn ich ihm gegenüber raushängen ließe, dass ich etwas mehr über thaumaturgische Wechselwirkungen weiß als er", erwiderte Albertine. Anthelia hörte aus ihren Gedanken, dass sie einen gewissen Sebastian Klingenspeer meinte, der in der Unfallbehebungstruppe sowie bei den Lichtwächtern als Experte für Zauberkunst und Flüche mitarbeitete. Dass albertine von ihm als viel zu dicken, schon angejahrten Hutzelbart dachte tat die höchste Schwester als Albertines übliche Ablehnung männlicher Nähe ab.

"Was ist das zweite, das dich leibhaftig zu mir führte, Schwester Albertine?" fragte Anthelia, die sich nicht zu lange mit Nebensächlichkeiten aufhalten wollte.

Albertine erzählte ihrer Anführerin nun von ihrem merkwürdigen Traum von ihrer Urahnin Trude Steinbeißer. Anthelia erinnerte sich, dass Albertine bereits sowas angedeutet hatte, dass Trude offenbar einen Stein wie den Lotsenstein der alten Straßen von Altaxarroi erworben haben sollte, der in einem Buch aus ihrem Nachlass erwähnt wurde. Dass Albertine angeblich nur dann an die Hinterlassenschaften Trudes gelangen könne, wenn sie Mutter geworden sei, wie es ihr Großvater immer wieder behauptet hatte, als sie gerade erst zwölf Jahre alt war, tat Albertine mit der Behauptung ab, dass Trude wohl sicherstellen wollte, dass sie bloß genug Nachkommen in der Welt haben wollte, um ihre ach so kostbare Blutlinie nicht erlöschen zu lassen. Anthelia schüttelte jedoch den Kopf und erwiderte:

"Unterschätze niemals nie die Macht einer durch Blut ausgeführten Zauberei, sobald sie kurz vor dem Tode eines Magiers oder einer Magierin ausgeführt wurde. Wenn deine Urahnin wahrhaftig festgelegt hat, dass nur eine direkt von ihr abstammende Hexe, die selbst Mutter eines oder mehrerer Kinder geworden ist, an ihre geheimsten Hinterlassenschaften gelangen kann, so ist das wohl zutreffend. Aber ist das auch wirklich so überliefert oder nur Hörensagen, durch die Generationen verfremdet?"

"Ich weiß, dass es im Gringotts-Verlies meiner Eltern eine silberne Schatulle geben soll, in der das Originaltestament Gertrudes oder Trudes eingeschlossen ist. Diese Schatulle kann nur ohne Gefahr für das eigene Leben berühren, in dessen oder deren Adern noch etwas von Trudes Blut fließt. Aber mein Großvater hat dieses Testament nicht gelesen, und mein Vater traut sich auch nicht da heran, weil er fürchtet, dass nur eine Hexe diese Schatulle berühren darf und einem Zauberer dann womöglich das Herz explodiert, höchste Schwester."

"Auch das halte ich für sehr gut möglich. Ich würde meine geheimsten Hinterlassenschaften auch so absichern, dass ein Zauberer, der daran zu rühren wagt, sehr grausam dafür bestraft wird. Aber es gab doch sicher auch Hexen seit Trude. Oder hat sie keine Töchter bekommen?" entgegnete Anthelia.

"Laut der Familienchronik gebar Trude je zwei Söhne und zwei Töchter, wobei sie angeblich in Richtung der Haupthimmelsrichtungen ausgerichtet gebar, damit sie ein Kind von Morgen, Mittag, Abend und Mitternacht hatte. Die Söhne bekam sie demnach in Nord und Südrichtung, während ihre Töchter Aurora und Lykoris nach Osten und Westen in die Welt hineingeboren wurden."

"Die Chronik interessiert mich. Du kannst sie mir nicht beschaffen?" fragte Anthelia. Albertine sah sie an und erwiderte: "Vor anderthalb Monaten wäre das kein Akt gewesen. Aber jetzt, wo meine Eltern mich verstoßen haben, wirkt ein Zauber auf deren Haus, der mich als Unerwünschte zurückweist, egal wie ich dort hineingelangen will. Außerdem haben sie mir den Drittschlüssel des Verlieses Nummer 004 in der Filiale Frankfurt am Main abgenommen. Gut, dass ich noch ein eigenes Verlies bei den Spitzohren habe. Aber an das Verlies meiner Eltern komme ich nicht dran, zumal da ein Drache vorsitzt, der es bewacht."

"Ein Drache? Was für einer?" fragte Anthelia. Sofort sah sie in Albertines bildhaften Gedanken ein blauglänzendes schuppiges Ungetüm mit einer auffallend kurzen Schnauze statt eines langen, breiten Drachenmauls.

"Große Mutter, da haben deine Eltern sich aber was kosten lassen, wenn ihr Verlies derartig bewacht wird", erwiderte Anthelia, als Albertine ihr sagte, dass es ein schwedischer Kurzschnäuzler sei, der laut ihrem Großvater schon zur Zeit seines Großvaters dort Wache gestanden haben soll. Dann fügte sie hinzu: "Zudem gibt es die üblichen Sicherungen der Kobolde, die ein Zauberstabträger nicht so einfach aufheben oder umgehen kann. Ich denke auch seit dem Coup von Harry Potter und seinen Freunden dürften die Sicherungen noch ausgefeilter sein. Zumindest können unter Imperius genommene Kobolde nun leichter als solche erkannt werden, habe ich von unserem Finanzabteilungsleiter Heller erfahren."

"Ja, und sicher können verkleidete oder durch Wandlungstrank veränderte Eindringlinge immer noch ganz leicht enthüllt werden", erwiderte Anthelia. Doch sie überlegte schon, wie sie an dieses Verlies kommen könnte. Auch die Chronik interessierte sie. Dann sagte sie: "Ich wäge eine Idee ab, die mir in diesem Zusammenhang kommt. Sieh du bitte zu, dass du in den nächsten achtundvierzig Stunden immer von mindestens einem Zeugen gesehen wirst, der bestätigen kann, dass du weder in der Nähe deines Elternhauses noch von Gringotts Frankfurt warst!"

"Öhm, höchste Schwester, meine Eltern haben Appariersperren und Feindesmeldezauber errichtet, die bis zur Grundstücksmauer alles abhalten oder weitermelden, was dort nicht hindarf", erwiderte Albertine.

"Als wenn mich sowas schon davon abgehalten hätte, einen gewünschten Ort zu besuchen", erwiderte Anthelia. Die Erinnerungen von Naaneavargia ergänzten sich mit denen Anthelias und dem von Sardonia erworbenen Wissen. Dann wiederholte sie die Aufforderung, immer von genug glaubhaften Zeugen umgeben zu bleiben, bis die höchste Schwester etwas anderes befahl. Albertine nickte. Dann disapparierte sie, um diese Anweisung auch erfüllen zu können.

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"Das möchte ich nicht noch mal machen müssen, Mutter und Königin", stöhnte Tharnor Mennas, als er seiner mächtigen Mutter berichtete, dass er den von ihm berührten und um seinen Schatten gebrachten Ralf Petersen hatte zerstören müssen, damit er nicht von den Zauberstabschwingern und Besenreitern ausgefragt werden konnte. Birgute Hinrichter sah auf ihren relativ jungen Sohn hinab, der als Mensch aus Fleisch und Blut ein harmloser Taxifahrer gewesen war, der nur das Pech oder auch Glück gehabt hatte, den betrunkenen Vater von Arne Hansen nach Hause gefahren zu haben.

"Es ist, als wenn dir selbst etwas aus dem Körper gerissen wird, richtig? Aber nur so können wir unsere ffleischlichen Diener vom ungewollten Verrat abhalten. Außerdem kannst du dir ja einen neuen Diener suchen, wenn du zwei Nächte lang genug freie Dunkelheit in dich aufgenommen hast oder einen anderen Fleischlichen vollständig in dich eingesaugt hast."

"Der wäre fast in diesem Radiostudio gewesen und hätte uns diesen Typen rausgebracht, den du unbedingt noch als unseren neuen Bruder bekommen möchtest, Herrin und Mutter", sagte Tharnor Mennas.

"Ja, ich höre es, dass du mit meinem Wunsch, alle die als meine Kinder zu haben, die damals mit meinen Vormüttern diesen Kanoras aufgeweckt haben, unzufrieden bist und ihm nur entsprichst, weil ich deine Mutter und Herrin bin. Doch es ist nicht einfach nur eine Fixe Idee, die mich umtreibt. Mehr will ich dazu nicht sagen. Ich habe beschlossen, dass Arne Hansen, seine Frau Erna und dieser Rico deine Geschwister werden, ob das diesen Zauberstabschwingern und vor allem dieser vermaledeiten Paracelsus-Hexe passt oder nicht." Tharnor Mennas wagte nichts darauf zu antworten. Was seine Mutter und Herrin dachte bekam er nur mit, wenn sie das wollte. So zog er sich zurück, um auf die Nacht zu warten, damit die Dunkelheit unter Freiem Himmel ihm die verlorengegangenen Kräfte zurückgeben konnte.

"Die haben ihn sicher mit Zaubereien gesichert, die Sonnenlicht sammeln und bei Annäherung oder auf Zuruf wieder ausstrahlen", dachte Birgute. "Doch sie können nicht überall zugleich sein. Ich werde anderswo noch ein paar Kinder empfangen und zur Welt bringen. Irgendwann werden diese Besserwisser dann mitbekommen, dass wir nicht mehr auszurotten sind und uns geben, was wir wollen, damit sie ihren kleinen Frieden behalten können."

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Wahrhaftig hatten Albertines Eltern mehrere Bannzauber um das gemeinsame Haus gelegt. Wenn Sie einfach dort hineingehen würde mochten ihr in einer Minute mehrere Dutzend Lichtwächter im Nacken sitzen. Aber wie hieß es so schön: Wenn der Kessel zu heiß war brauchte man einen ausreichend langen Schöpflöffel, um das Gewünschte herauszufischen. Sicher konnte die Führerin der Spinnenhexen jedem ihr entgegenwirkenden Bann widerstehen, vor allem in der Gestalt der schwarzen Spinne. Doch sie wollte ja unauffällig vorgehen. Zumindest hatten die Steinbeißers keine Absperrung gegen ihre Gabe des Gedankenhörens errichtet, wohl weil diese Gabe so selten war. So konnte Anthelia/Naaneavargia die zwei Eigentümer belauschen. Alarich, der Hausherr, wollte heute nach Spanien, weil er dort mit einem Heiler sprechen wollte, ob es nicht doch möglich war, ihn wieder vollwertig zu machen. So erfuhr Anthelia, dass Alarich vor vierunddreißig Jahren bei einem Zaubererduell in Belgien einen sehr üblen Fluch abbekommen hatte, der ihm die Geschlechtsteile zerstört hatte. Er war somit eine Art Eunuch oder postpubertärer Kastrat. Kein Wunder, dass er und vor allem seine Frau so darauf bestanden, dass Albertine die Blutlinie verlängerte, wenngleich Elsa auch nicht so zufrieden damit war, dass sie die Nachfahrin jener Hexe geboren hatte, die damals ihre Ururgroßmutter Edelgunde getötet hatte. Das hatte sie leider erst erfahren, als Albertine unter ihrem Herzen heranwuchs und sie somit die Chronik berühren konnte, die nur von geborenen Steinbeißers angefasst und umgeblättert werden konnte. Das alles wurde noch einmal auf den Tisch und in die Köpfe der beiden Eheleute gebracht. Denn beide warfen sich gegenseitig vor, nicht früh genug an weitere Kinder gedacht zu haben. Elsa hatte damals, nachdem Albertine entwöhnt war, ihre Quidditchkarriere fortgesetzt, erst als Spielerin und dann als Funktionärin der Friesland Feuertänzerinnen, einer reinen Hexenmannschaft aus dem Norden Deutschlands mit Hauptsitz auf Feensand.

"Und du musst unbedingt nach Zamorra fliegen, wo dieser Heiler sitzen soll, dieser Señor .... öhm?" fragte Elsa Steinbeißer gerade.

"Burrero Molinos, Patricio Aurelio Burrero Molinos", Elsa. Ja, der kommt nicht nach Deutschland, weil er unsere Temperaturen nicht verträgt. Der soll ja schon mehr als hundert Jahre alt sein."

"Alarich, du suchst schon seit diesem verflixten Zauberduell nach einem Weg, deine Männlichkeit zurückzubekommen. Alle Heiler haben dir gesagt, dass nur eine völlige Wiederverjüngung durch Infanticorpore das beheben könnte und sie diesen Zauber nicht anwenden dürfen, weil das gegen ihre Direktiven verstößt. Da soll jetzt ein spanischer Heiler was anderes gefunden oder erfunden haben?" fragte Elsa.

"Elsa, unsere Tochter ist eine verdorbene Kesselschlürferin geworden, wohl weil deine Oma auch so gestrickt war und ..."

"Hatten wir schon, das Thema", bekam Anthelia Elsas ausgesprochenen Gedanken mit und hörte bei ihr nachschwingen, warum ihr Mann immer noch darauf herumritt, dass ihre Großmutter Amalia nur Mutter werden konnte, weil sie sonst nicht an das Testament ihres Vaters gekommen wäre, der unbedingt wollte, dass ein Enkelsohn sein Erbe antrat.

"Es ist nicht erblich, sondern eine Veranlagung, die durch Umwelteinflüsse und Vorlieben hervorkommt", sagte Elsa dann noch, auch wenn sie, wie Anthelia mitbekam, nicht so recht dran glauben wollte.

"Wie dem auch sei, ich fliege gleich los. Morgen werde ich hoffentlich da sein."

"Warum nimmst du nicht das Flohnetz, Alarich?" fragte Elsa das, was Anthelia auch gerade dachte.

"Das weißt du genau. Wer mit Flohpulver reist wird seit diesen Psychopathen aus England und dessen noch hirnamputierteren Nachfolger Wallenkron registriert, damit zumindest da klar ist, wer von wo nach wo unterwegs ist. Apparieren geht auch nicht, weil ich nicht weiß, wo genau das sein soll, wo Burrero Molinos wohnt. Also nehme ich unseren Donnerkeil 15. Der kann lange Strecken", sagte Alarich.

Anthelia wusste nun, dass nur Alarich ihr den Schlüssel und die Chronik bringen konnte. Doch um den Imperius-Fluch wirken zu können brauchte sie Sichtkontakt zum gewählten Ziel. Also musste sie warten, bis er aus dem Haus kam. Das dauerte jedoch nur zehn Minuten. Als er dann auf einem nicht mehr ganz so taufrischen Reisebesen in die Luft hinaufstieg folgte Anthelia ihm auf ihrem Harvey-Besen, bis sie eine Minute lang geflogen waren. Dann beschleunigte sie und näherte sich ihm. Keine zehn Besenlängen hinter ihm zog sie ihren bewährten Zauberstab frei und zielte auf den vor ihr fliegenden. "Imperio!" murmelte sie. Sofort bekam sie die Verbindung zu ihrem Opfer. Alarichs Geist wurde von einer Woge reiner Glückseligkeit niedergespült. "Kehre um und hol noch die Chronik und einen eurer Bankverliesschlüssel! Sage deiner Frau, du hättest noch was wichtiges vergessen, damit sie nicht argwöhnisch wird! Dann bring mir die gewünschten Sachen hundert Meter von deinem Haus entfernt auf der Südseite!"

Anthelia wiederholte ihre Befehle dreimal, obwohl sie merkte, dass einmal schon gereicht hätte. Alarich hatte keinen Funken Widerstand aufgeboten. Offenbar hatte er nicht damit gerechnet, derartig überfallen zu werden. Außerdem wähnte die aus zwei mächtigen Hexen zu einer verschmolzene, dass ihre verstärkte Zauber- und Willenskraft jeden Widerstand im Keim erstickten. Nur wer sich mit den inneren Wällen gegen Beeinflussungs- und Ausforschungszauber versehen konnte hatte eine Chance, sich zu widersetzen. Doch sie kannte nur einen außer ihr, der sowas konnte.

Wie von ihr befohlen kehrte Alarich in sein Haus zurück. Seiner Frau sagte er, dass er doch noch das Wörterbuch Deutsch-Spanisch mitnehmen wolle, da er seit zehn Jahren keine fließende Unterhaltung auf Spanisch geführt habe. Unbemerkt von Elsa holte er nicht nur das Wörterbuch, sondern auch die über sieben Generationen zurückreichende Familienchronik, die in Seeschlangenhaut gebunden war, sowie seinen Gringotts-Schlüssel. Dann flog er endlich los. Elsa dachte nur, dass Männer manchmal sehr nachlässige Leute waren, wenn sie die wichtigsten Sachen beim Packen vergaßen.

Anthelia stand bereit und erwartete Alarich. Der landete wie befohlen auf der Südseite noch einmal und legte das Buch und den Schlüssel hin. Dann flog er gleich weiter. Sicher würde er irgendwann wieder aus dem Bann des Imperius-Fluches erwachen. Doch das konnte Tage, Monate oder Jahre dauern, ganz nach Willensskraftunterschied des Anwenders und seines Opfers. Und wenn er sich erinnerte, dann würde er ganz sicher nicht Albertines Stimme als die erkennen, die ihn dazu genötigt hatte, die Chronik und einen Verlisschlüssel herauszubringen.

Anthelia wartete, bis Alarich aus ihrer Sichtweite verschwand. Dann flog sie schnell zu der Stelle, wo Buch und Schlüssel lagen. Den Schlüssel konnte sie mit ihrer angeborenen Telekinese aufheben und zu sich hinfliegen lassen. Das Buch ließ sich auf diese Weise nicht bewegen. Vielmehr jagte es ihr Kopfschmerzen wie heiße Nadelstiche ein, wenn sie versuchte, es mit Gedankenkraft aufzuheben. Daran hatten die Verfasser des Buches also gedacht, erkannte Anthelia verbittert. Also musste sie es riskieren, das Buch aufzuheben. Auch wenn sie eigentlich gegen eine Unzahl von Flüchen gefeit war musste sie nicht riskieren, einen der wenigen abzubekommen, die ihr in ihrer menschlichen Gestalt doch zusetzen konnten. Aber wie war das eben: Wenn der Kessel zu heiß ist muss eben mit einem langen Schöpflöffel gefischt werden. Anthelia landete neben dem Buch. Dabei bekam sie mit, wie Elsa im Keller mit Aufräumzaubern Ordnung machte. Gut so. Dann würde sie das ganz sicher nicht mitbekommen, was vor ihrem Haus geschah.

Anthelia wurde sichtbar. Dann wurde aus der makellos schönen Hexe eine grauenerregende, menschengroße schwarze Spinne. Diese pflanzte sich etwa zehn Meter vor dem auf dem Boden ligenden Buch auf. Aus ihrem Hinterleib sauste ein Fangfaden heraus und traf den Einband des Buches. Es erfolgte keine Reaktion. Die schwarze Spinne umlief nun das Buch und wickelte es dabei immer mehr in den Fangfaden ein, bis dieser zu einem dichten, watteweichen Kokon wurde. Da dieser noch mit dem aus dem Hinterleib der Spinne ausgetretenen Faden verbunden war umschlang die spinne durch ein letztes umlaufen des Gespinnstes das Buch und hob es an. Ja, es ließ sich mechanisch bewegen. die Spinne fühlte jedoch ein leichtes Prickeln in ihrem Körper und bekam über ihre vielen Augen mit, wie blau-grünes Elmsfeuer über ihren schwarzen Panzer und die acht Beine zuckte. Also war in das Buch wahrhaftig eine mächtige Abwehrbezauberung eingewirkt, die nur deshalb nicht ausreichte, weil die schwarze Spinne gegen mächtige Zauber gepanzert war. Nanneavargia, deren Gedanken in dieser Gestalt vorherrschten, gingjedoch davon aus, dass mit den entsprechenden Zaubern der Erde die Abwehrkraft zumindest geschwächt werden konnte. Den Zauber völlig zu brechen konnte die Zerstörung des Buches bedeuten. Das wollte sie auf jeden Fall nicht.

Behutsam band die Spinne den Kokon an dem Besen fest und löste dann den Faden von ihrem Hinterleib. Sie trippelte einige Meter weit fort und wurde innerhalb von nur zwei Sekunden wieder zu jener attraktiven, lebenslustigen Hexe im scharlachroten Kostüm.

Anthelia prüfte mit ihrem Zauberstab, ob der Besen vielleicht gerade unter einem tückischen Zauber stand. Doch der Kokon schien jede Bezauberung von dem Buch zu schlucken. So saß Anthelia auf dem Besen auf und hob ab. Sie merkte, dass der Besen nicht mehr so leichtund direkt ansprach. Doch mit dem, was der Besen noch tat konnte sie erst einmal leben.

Sie war zehn Minuten unterwegs, als sie merkte, dass der Besen immer wärmer wurde. Das machte der nur bei Überbelastung. Ja, das musste sie wohl ernstnehmen. Sie landete. Konnte sie mit dem Buch am Besen Disapparieren? Sie klemmte sich den gut aufgeheizten Besen unter den linken Arm und disapparierte. Das zumindest gelang.

Als sie nach zwanzig Sprüngen über alle Kanaren hinweg in ihrer Zuflucht eintraf fühlte sie sich sehr erschöpft, als habe sie einen ausgewachsenen Elefanten auf dem Rücken getragen. Doch sie schaffte es noch, den Besen mit dem angeklebten Kokon mit einem letzten Appariermanöver in den Keller zu befördern. Dann nahm sie ihren Zauberstab und beschwor aus der Erde neue Kraft in ihren Körper. Die erste Etappe auf dem Weg zu Trudes Testament war beendet.

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Remurra Nika hatte von ihrer mächtigen Herrin und Mutter einen Auftrag: "Finde heraus, ob die Zauberstabschwinger deinen Ex-Komilitonen mit Bannzaubern geschützt haben und wenn nicht, löse seine Seele aus dem Körper und bring sie zu mir!" Da remurra nach der Einverleibung mehrerer Menschenseelen zu einer der größeren Töchter der Königin der Nacht geworden war konnte sie auch zeitlos von Ort zu Ort wechseln, wenn es am Zielort dunkel genug war, dass sie nicht gelähmt wurde oder gar zersetzt wurde. Allerdings kannte sie Ricos neue Wohnung nicht. Auch wäre es sehr leichtsinnig, genau direkt darin zu erscheinen. Denn wenn dort von den echten Hexen und Zauberern irgendwelche Dämonen- oder Geisterbannzauber eingerichtet worden waren würden diese sie sofort festhalten, zerstören oder bestenfalls aus dem davon geschützten Bereich hinausschleudern oder an ihren Ausgangspunkt zurückversetzen. Also galt es, die Insel Neuwerk bei Nacht zu überfliegen und dabei auf die für sie hörbaren Gedanken Rico Kannegießers zu achten. Sie war ihm zwar in ihrer neuen Form noch nicht nahe genug gekommen, um zu wissen, wie seine Gedanken klangen. Doch sie hoffte, seinen Namen oder mit ihr oder den anderen verbundene Bilder aus seinen Erinnerungen wahrnehmen zu können.

Zu einer kompakten schwarzen Kugel nicht größer als ein Fußball zusammengerollt jagte Remurra Nika über die Insel Neuwerk hinweg. Die für sie verheerende Sonne war bereits vor vier Stunden untergegangen. Außerdem bedeckten Wolken den Nachthimmel, so dass die Tochter Birgutes mit der Dunkelheit verschmolz. Sie fühlte jedoch die noch leuchtenden Lichter etwas unangenehm auf ihrem neuen Körper. Doch in ihrer jetzigen Erscheinungsform trafen längst nicht so viele Lichtstrahlen auf sie, als wenn sie in menschenähnlicher Erscheinungsform unterwegs wäre. Sie lauschte auf die Regungen lebender Wesen. Sie bekam die einfachen Lebensschwingungen vieler hundert Wasservögel und ihrer frischgeschlüpften Jungen genauso mit wie die Gedanken vor dem Schlafengehen noch was erledigender Menschen. Einige sanken gerade in tiefen Schlaf. Andere lasen noch was oder sahen Fern. Keiner von denen war Rico Kannegießer. Dann fühlte sie, dass da unten jemand war, der daran dachte, wie die nächste Sendung "Elektronentanz auf Neuwerk" ablaufen sollte. Sie wusste von ihren Geschwistern und deren fleischlichen Marionetten, dass Rico Kannegießer eine Sendung über elektronische Musik moderierte, wenn er nicht gerade für die Studiotechnik verantwortlich war. So sank sie etwas tiefer hinunter um zu hören, ob es wirklich Rico war.

Als sie auf der Stelle hielt und wie ein pechschwarzer Mond über einem Bungalow mit drei Wohnungen schwebte hörte sie wahrhaftig Rico Kannegießers Stimme wie durch ein sich ständig verlängerndes und zusammenschiebendes Rohr klingen und konnte sogar erspüren, in welcher Richtung genau er sich aufhielt. durch lichtundurchlässige Dinge sehen konnte sie nicht. Daher konnte sie nicht erkennen, in was für einem Raum ihre Zielperson war. Sie fühlte nur eine gewisse Aufregung. Wenn sie ihn zu ihrer Mutter brachte, damit er ihr jüngerer Bruder wurde, mochte das ihr sicher noch mehr Ansehen bei den wahren Nachtkindern einbringen. Doch sie hatte die Warnung wohl verinnerlicht. Die Zauberstabschwinger wussten, wen die große Königin der Nacht noch in ihr Volk hineingebären wollte. Also drängte sie die fast schon wie körperliche Lust wirkende Vorfreude zurück und konzentrierte sich auf alle ihre neuen Sinne. Dabei sank sie ganz behutsam immer tiefer. Weder Wind noch Regen hätten sie daran hindern können, genau über dem erreichten Haltepunkt herunterzuschweben. Sie hörte zwar, wie der Wind die Büsche und die Wäscheleinen zum schwingen brachte, doch fühlen konnte sie ihn nicht. Sie fühlte das zwischen den Lamellen der heruntergelassenen Rollläden hindurchsickernde Licht leicht auf ihrem zusammengeballten Körper wirken, aber noch lange nicht so, dass dieser davon gelähmt würde. Dann war da noch was, dass ihre Vorfreude noch mehr verdrängte. Es fühlte sich für sie an, wie die kurz vor dem Sonnenaufgang bereits spürbare Kraft des für sie verhassten weil tödlichen Tagesgestirns. Allerdings kam diese Empfindung nicht aus einer Himmelsrichtung vom Horizont her, sondern direkt von unten. Sie sank noch tiefer und erkannte, dass diese Empfindung nicht auf eine Stelle beschränkt blieb. Vorsichtig schwebte sie über das Dach und konnte so erkennen, dass es drei Stellen im Haus gab, wo diese sie vorwarnende Kraft zu spüren war. Ja, und dort war auch Rico Kannegießer. Also lauerte diese Kraft eines bevorstehenden Sonnenaufgangs in Ricos Wohnung. "Die haben was, das durch einen bestimmten Auslöser gesammeltes Sonnenlicht freilässt", hörte sie laut und wie in einer Kathedrale hallend die Stimme ihrer mächtigen Mutter. Also verfolgte sie mit, was Remurra Nika erlebte und dachte. Die Schattentochter wusste nicht, ob sie sich deshalb freuen oder ärgern sollte, dass sie gut überwacht wurde.

Remurra Nika sank noch zwei Meter tiefer. Ja, jetzt meinte sie, in wenigen Sekunden die ersten Sonnenstrahlen abbekommen zu müssen. Sie hatte das nur einmal ausprobiert, obwohl ihre Mutter sie da schon gewarnt hatte. Das würde sie nie wieder machen, hatte sie geschworen, nachdem die ersten Sonnenstrahlen sie wie mit glühenden Nadeln durchbohrt hatten. Doch sie musste es genau wissen, ob es drei Räume waren, in denen diese verfluchte Kraft auf sie lauerte. Als sie das wusste stieg sie wieder einige Meter nach oben und umflog nun den Bungalow. Dabei fand sie heraus, dass die Räume, in denen die lauernde Abwehrkraft herrschte, ein oder zwei Fenster hatten. Aus einem Fenster drangen die schmalen Lichtstreifen, die ihr beim Sinkflug schon aufgefallen waren. Auch saß Rico in diesem Raum und arbeitete noch an seinem Rechner, wohl um ein Moderationsmanuskript fertigzuschreiben.

"Komm unverzüglich zu uns zurück! Du kannst ihn so nicht aufsuchen, weil dich dann sicher dieser Sonnenlichtfreilasszauber trifft und womöglich auslöscht!" befahl ihre Mutter und Königin. Remurra Nika gehorchte und war nur eine Viertelsekunde nach dem Befehl dort, wo ihre Mutter und die nicht in die Dunkelheit der Nacht hinausgeschickten Geschwister versteckt waren, in einer Höhle in Dalmatien, wo kein Tageslicht hindrang und die noch keine Tourismusagentur erschlossen hatte.

"Deine Erfüllungsgehilfin soll am Tag herausfinden, wer diese Bungalows gebaut hat oder vermietet. Dann soll sie herausfinden, wie die Wohnungen beschaffen sind. Mich interessiert da vor allem, ob die Badezimmer Fenster haben oder nur Abluftschächte mit oder ohne Luftumwälzungsgebläse", legte die mächtige Königin der Nacht das weitere Vorgehen fest. Remurra fragte, ob nicht auch im Badezimmer so eine tödliche Falle aufgestellt worden sein mochte. "Wenn diese Zauber oder Zaubergegenstände das tägliche Sonnenlicht sammeln und bei einem bestimmten Auslöser freilassen können sie das nur da, wo auch die Sonne hineinscheint", erwiderte die Königin. Remurra begriff, was sie damit sagen wollte und entschuldigte sich für ihre Begriffsstutzigkeit. "Hauptsache in der Ausführung deines Auftrages bist du schnell, zielgenau und vor allem erfolgreich", erwiderte die Mutter der wahren Kinder der Nacht darauf.

"Soll ich ihn dann irgendwie durch das Abwasserrohr ziehen oder was?" fragte Remurra Nika. Birgute schwieg einige Sekunden. dann deutete sie auf eine tiefe Pfütze. "Halt deine Hand da hinein!" befahl sie. Remurra gehorchte. Sie schwebte auf die große Pfütze zu, sank darüber nieder und tauchte ihre Hand ein. Weil sie keinen stofflichen Körper hatte bewegte sich der Wasserspiegel keinen Millimeter. Doch unverzüglich bildeten sich da, wo ihre Hand und ihr Handgelenk in das Wasser tauchten Eisstücke, die blitzartig zu zusammenhängendem Eis verfestigt wurden. Keine zwei Sekunden später war die ganze Pfütze vollständig gefroren. Remurra fühlte, dass ihr dieses Manöver Kraft abgesogen hatte. Zwar konnte sie ihre Hand wieder zurückziehen, doch nicht so leicht wie sie sie in das flüssige Wasser getaucht hatte.

"Dann vergessen wir das mit dem Abfluss und auch mit dem Badezimmer", zischte Birgute. Remurra Nika sog indes die wohltuende Dunkelheit der Höhle in sich ein. "Das hat mich richtig runtergezogen, Mutter und Königin", bemerkte die Tochter der Schattenkönigin. "Ja, habe ich auch gespürt. Offenbar ist flüssiges Wasser für uns ein gefährliches Medium, weil es unsere Kraft in Kälte umwandelt, ohne dass wir dafür was zurückbekommen. Ja, und wenn Eis ganz dick wird ist es auch undurchsichtig, also von uns dann auch nicht mehr zu durchdringen."

"Wie machen wir es dann, Mutter und Königin?" fragte Remurra, eigentlich froh, nicht durch die Abflussrohre tauchen und vielleicht aus der Toilettenschüssel herausfahren zu müssen.

"Dann muss Rico eben irgendwie von allen Häusern weit weg, wo sie diese Fallen aufgestellt haben", knurrte Birgute Hinrichter. "Ich werde darüber nachdenken, Remurra. Ich nehme aber deinen Wunsch gerne zur Kenntnis, ihn mir als deinen jüngeren Bruder zuzuführen", fügte sie noch hinzu.

__________

Er wusste nur noch, dass dieses Hexenweib, diese Ansammlung von Darfinhorlnuck, ihn mit seinem Weihestein in der Hand mit einem immer langsameren und tieferen Gesang bewusstlos gesungen hatte. Jetzt hörte er eine andere Frauenstimme sowohl wie durch eine Wand als auch direkt in seinem Kopf auf tiefer Tonlage.

"Picklock Loluk Habarzak, höre und erwache! Picklock Loluk Habarzak, verstehe mich und rege dich! Picklock Loluk Habarzak, Höre und erwache!"

Diese drei eindringlichen Sätze flößten ihm körperliche und geistige Kraft ein. Es war wie Wellen aus Wärme, die in seinem Rumpf wogten und sich wie ein sachtes Kribbeln bis in die Spitzen seiner Ohren, Finger und Zehen ausbreiteten. Immer wieder erklangen diese Sätze, jedesmal ein wenig schneller und auf einer immer mehr erhöhten Tonstufe. Er erkannte die Stimme nicht. Das war nicht die, die ihn damals von diesen anderen Zauberstabweibern weggefangen und durch den ihm zugeordneten Weihestein zu ihrem Erfüllungsgehilfen gemacht hatte. Doch die, die da jetzt sprach kannte seinen vollen Namen und hatte damit dieselbe Macht über ihn, welche die andere über ihn gehabt hatte. Wenn die auch noch den Weihestein von ihm hatte konnte die ihm auch Sachen abverlangen, die unter seiner Würde waren. Das machte ihn wütend. Er ballte seine rechte Hand zur Faust und drosch damit nach oben in die Dunkelheit. Es gab ein dumpf und hohl klingendes Pong. Die andere Stimme verstummte. Immer noch wütend trat der Erwachte nach oben aus und stieß sich schmerzvoll die Zehen an. Dann erst begriff er, dass er auf einer Daunendecke lag und weniger als eine Armlänge über ihm eine feste Decke sein musste, "Ey, da draußen, lass mich sofort raus hier!" schrillte er auf Englisch und ärgerte sich darüber, dass er vorher nicht erkundet hatte, wie klein und eng sein Gefängnis war. Denn seine eigene Stimme hallte sehr schmerzhaft in seinen Ohren. Denn immer wenn es um ihn dunkel war oder er die Augen schloss konnte er bis zu zwanzigmal besser hören als im hellen. Das war seine Natur.

"Wie heißt das Zauberwort?" fragte dieses Weib ihn glatt. Er streckte seine linke Hand nach oben und berührte harten Kunststoff. "Ey, mach das hier auf und lass mich raus, zum großen grauen Eisentroll noch mal!" schimpfte der Erwachte. Dann fühlte er, wie etwas wie ein zwanzig Goldbarren schweres Gewicht direkt auf ihn niederdrückte und ihn fest auf seine weiche Unterlagepresste, so dass er nicht einmal mehr einen Finger rühren konnte. Er erzitterte vor Angst und Hilflosigkeit. Dieses Weib hatte wirklich den mit ihm verbundenen Stein und machte, dass ihm die eigene Kraft wegging. Dann stöhnte er mit schmerzhafter Reumut: "Bitte, meine Herrin, öffne was auch immer und lass mich bitte da raus!"

"Warum nicht gleich so", bekam er zur Antwort. Dann fiel das niederdrückende Gewicht von ihm ab. Es klickte und schabte über ihm. Dann hob sich die Decke seiner Aufbewahrungsstätte. Er sah eine im Widerschein mehrerer kleiner Flammen glimmende Steindecke. Vorsichtig setzte er sich auf und blickte sich um. Ja, er saß in einer langen Kiste, fast wie einer dieser Särge, in dem die Menschen ihre Leichen reinsteckten, um sie den Erdwürmern zum Fraß vorzuwerfen. Widernatürlicher Kunststoff und geschmiedetes Eisen waren die einzigen Stoffe, durch die er nicht hindurchdringen konnte, wenn er den schnellen Weg durch Erde und Stein gehen wollte. Wer auch immer hatte ihn echt in einen Plastikkasten reingesteckt und im Keller abgelegt wie ein altes Möbelstück oder etwas, dass irgendwann mal wieder benutzt werden mochte, aber dafür nicht in der Wohnung herumstehen sollte. Dann sah er sie.

Das war nicht die, die ihn gemeinerweise von diesen anderen Weibern weggefangen hatte. Das war eine für Menschenmänner sicher sehr begehrenswerte Frau, schlank, mit langen Beinen und schmalen Füßen, geschwungenen Beckenknochenund für die eigene Brut sicher sehr ergiebigen Milchkugeln. Die Andere trug eine aus zwei Teilen bestehende, im Licht der vielen Kerzen rot leuchtende Kleidung, die ihre die Begattungslust anregenden Formen mehr hervorhoben als versteckten. Die Andere hatte eine ganz andere Hautfarbe. Im Licht der Kerzen wirkte sie für den Aufgewachten wie Weiß, auf das jemand eine ganz ganz dünne Goldschicht aufgetragen hatte. Am Ende hatte das wirklich wer gemacht, um dieser Frau da eine besondere Eigenschaft zu geben. Denn bei seinem Volk war ein Goldüberzug eine Strafe, die schlimmste aller Todesstrafen, vor allem für die, die ihren Dienstherren bestahlen. Was ihn an der anderen Frau erschreckte war, dass sie in der rechten Hand jenen silberfarbenen Zauberstab hielt und in der linken den ovalen, leicht grünlich glimmenden Stein, dessen Verbundenheit er sofort spürte, als er ihn ansah. Die hatte wirklich seinen Weihestein. Die hatte damit Macht über ihn, Picklock Loluk Habarzak. Wenn sie den Stein zerstörte tötete sie auch ihn, egal wie weit der Stein von ihm entfernt war.

"So, hast du mich genug bewundert, kleiner Höhlenkobold?" fragte die andere ihn im besten Koboldogack, seiner Muttersprache. Er setzte schon zu einem derben Fluch gegen die andere an, als diese den Stab an den Stein hielt und er sofort von jenem Schwergewicht niedergeworfen wurde, dass er bereits zu spüren bekommen hatte. "Hüte deine Zunge und auch deine Gedanken, kleiner Wicht. Denn ich bin deine Herrin, die Herrin deines Lebens und deines Todes", hörte er die Andere sehr entschlossen sagen, während das übermächtige Gewicht ihn auf die Decke in der Plastikkiste niederpresste wie zwanzig gutgenährte Männer seiner Art. Er bekam kaum noch Luft. Gleich würde er wieder besinnungslos sein oder gar ersticken. Er röchelte, dass er nichts böses gegen sie, seine Herrin, sagen oder machen würde. Da ließ dieser gnadenlose Druck auf seinen Körper wieder ab. Er konnte sich wieder aufsetzen.

"Ich habe dich aus drei Gründen aus deinem langen Schlaf geweckt", setzte die andere nun an. "Einmal wollte ich dir sagen, dass ich dich von meiner Vorgängerin geerbt habe, dich und deinen Weihestein. Denk nicht einmal daran, ihn mir wegzunehmen oder wen anzustiften, das zu tun. Wenn ein Mensch ihn zu nehmen versucht entreißt er ihm die Körperkraft und die Besinnung für mindestens einen Tag. Wenn einer wie du ihn berührt zerspringt er so wuchtig, dass der Unbefugte von seinen Splittern durchschlagen und getötet wird. Dass du dann auch stirbst weißt du ja", fuhr sie fort. "Komme ich zu meinem zweiten Grund, warum ich dich jetzt wieder aufgeweckt habe: Ich will wissen, wer für Gringotts in Frankfurt am Main in Deutschland zuständig und wichtig genug ist. Ich weiß, dass du wen kennst, der das wissen kann. Der dritte Grund, warum ich dich aufgeweckt habe ist, dass du mir verrätst, wen von Gringotts in England ich befragen kann, um die ganzen Sicherungszauber zu erfahren, die ihr euch ausgedacht und eingesetzt habt."

Picklock lachte erst schrill. Dann erkannte er, dass seine neue Gebieterin es verdammt ernst meinte. Ja, er hatte einen Vetter, Crushrock, der in der Sicherheitsmannschaft von Gringotts London arbeitete. Doch wenn er diese Frau zu ihm hinschickte würde der Bund der tausend Augen ihn sehr bald finden und dann selbst in die Halle der gierigen Verräter stellen, von innen und außen mit Gold überzogen. Vielleicht hatten die das damals schon vor, als er für die erste, die wie eine übliche rosahäutige Menschin aussah, seine besonderen Eigenschaften einsetzen musste. Dann dachte er daran, dass er einmal von einem Kobold namens Ratzpack gehört hatte, der vor fünfzig Jahren der Leiter von Gringotts Frankfurt am Main geworden war. Wenn der immer noch lebte, dann war er das. Denn nur der Tod oder wild dahinjagende Altersvergesslichkeit und -verwirrtheit konnten einen Gringotts-Zweigstellenleiter von seinem mit Silber verzierten Stuhl werfen. Doch das durfte er dieser Frau doch nicht laut sagen. Dann konnte er sich sogar aussuchen, ob das Gericht der grauen Bärte, die ältesten seiner Art, ihn zum Tod im flüssigen Golde, Zerstückelung oder Drachenfutter verurteilte.

"Du wirst mir jetzt ganz genau erzählen, wer dein Vetter ist und wie ich an ihn herankomme. Wer ist Crushrock?" fragte die andere. Picklock erkannte, dass seine neue Herrin seine Gedanken lesen konnte. Damit konnte die ihm alles aus dem Kopf ziehen, was sie wissen wollte. Er seufzte auf. Dann fühlte er, wie die andere sich seinen Weihestein an die Stirn drückte. Unvermittelt fand er sich neben seinem Vetter Crushrock Orbak Morramack, der ihn ausschimpfte, weil sein Hang zum Stehlen ihm den Posten in Gringotts verdorben hatte. Er hörte, dass Picklock nicht einmal daran denken sollte, in Gringotts einzubrechen, um dort was zu stehlen. Dann zählte ihm Crushrock alle gegen Zauberer, Hexen und diebische Kobolde und Zwerge eingerichteten Schutzmaßnahmen und Fallen auf, verriet aber natürlich nicht, wie sie beschaffen waren. Er sagte nur zum Schluss: "Also sieh es ein, dass du keinen Fuß nach Gringotts reinsetzen kannst, ohne sehr schnell zerbröselt zu werden. Dann hörte er, dass Crushrock erwähnte, dass auch der Diebstahl eines Weihesteines eines Gringotts-Mitarbeiters nicht klappen würde, weil alle Weihesteine aus allen Koboldfamilien Europas im Verlies 007 verstaut waren, vor dem vier schwedische Kurzschnäuzler angekettet waren. Die entsprechenden Drachen bekam er dann im nächsten Moment zu sehen. Sie hingen mit ihren Hinterbeinen an schweren Kettenund flankierten einen für zwei Menschen ausreichend breiten Gang zu einem sechs Koboldoklafter hohen Silbertor, auf dem in flammendroter Schrift die Nummer 007 und darunter ein glühendroter Totenkopf und eine Inschrift prangten:

Durch mich gelangt nur, wer geweiht
Der Wahrung unserer Daseinszeit.
Doch wer durch mich ohn' Recht will streben,
verliert sehr schmerzvoll Leib und Leben.

Dieser Spruch stand da in Englisch, schottischem Gälisch, Walisisch und den Symbolen der Koboldoschrift. Womöglich konnte jemand, der nicht das gegen die vier Wachdrachen schützende Mittel dabei hatte gerade noch den Spruch lesen, bevor ihn die Zähne oder die blauen Feuerstöße der Drachen ein schnelles Ende machten. Tja, und wer es irgendwie doch an den Drachen vorbeischaffte und die Tür anfasste, der kein Geweihter war, den ereilte ebenfalls ein schmerzvoller Tod. Denn was ein Kobold in Metall einschrieb und mit eigenem Blut bestärkte, das geschah auch. Dagegen konnte kein Zauberstabträger was machen. In diesem Verlies, das den sieben mit bloßem Auge erkennbaren Himmelswanderern gewidmet war, bewahrten also die Familien aller Kobolde die Weihesteine ihrer Angehörigen auf. Doch manche holten sie heraus, wenn damit mehr Macht über den damit verbundenen ausgeübt werden sollte. Deshalb hatten diese Hexen ihn am Ende doch erwischt und ihn zu ihrem leinenführigen Apportierhund gemacht. Tja, die hätten seinen Stein besser in diesem Verlies liegen lassen sollen, diese Dummköpfe, dachte Picklock.

Unvermittelt fand er sich mit zwei anderen, ebenso raffgierigen Kobolden zusammen in einer Spilunke namens "zum toten Zwerg" wieder, um sich über die Gringotts-Kobolde auszulassen. Da war auch ein Kobold der Sauerkrautesser bei, Rutschback mit Namen, der mal in der frankfurter Gringotts-Niederlassung geschuftet hatte. Der war wegen unbedachter Äußerungen im Schlaf als Unsicherheitsfaktor eingestuft und mit einem Klumpen Eisenerz auf dem Rücken aus Gringotts hinausgeworfen worden. Seitdem strolchte der in der Welt herum und gab damit an, schon mal eine Zwergenkönigin im Schwarzwald geschwängert zu haben und dass deren Mann jetzt das von ihm gemachte Kind mit durchfüttern müsse, ohne zu wissen, dass es ein halber Kobold war. Der erzählte auch von seinem Chef Ratzpack und dessen Sicherheitsbeauftragten Rollnack. Demnach konnte Rollnack alle Sicherungen in Gringotts Frankfurt steuern oder unterbrechen und hatte zudem auch Zugang zu allen Zweitschlüsseln der Verliese. Picklock hatte sich sehr dafür interessiert, was Rollnack so erzählte. Doch der konnte auch nur sagen, dass er die Sicherungen nicht knacken konnte, vor allem nicht den Diebesfall, der Verwandlungen, Tarnungen und Verkleidungen aller Art abwusch, um so die wahren Eindringlinge zu enthüllen. Am gemeinsten sei der Schurkenschluckerzauber, der jemanden ohne Vorwarnung im Boden verschwinden und da für mehrere Minuten wie eingebacken hängen ließ oder ihn, wenn er eine nicht ihm zustehende Tür aufmachen wollte, durch das Türblatt gezogen wurde und dann solange im Verlies festsaß, bis mal ein Angestellter nachsah, ob noch alles in Ordnung war, was in manchen Fällen erst in zehn oder fünfzig Jahren passieren mochte.

Dann fand sich Picklock ohne Übergang wieder bei einer Koboldin namens Saxumida und keuchte wegen der gerade mit ihr erlebten körperlichen Liebe. Das war sozusagen die Belohnung dafür, dass er für die ein goldenes Kreuz aus einer Kirche in Dublin herangeschafft hatte. Das Kreuz war nämlich koboldgearbeitet gewesenund trug eine unter nachträglicher Goldauflage verdeckte Inschrift, welche dem Besitzer üble Krankheiten wie das Koboldfieber oder die Glutohrenpest vom Hals schaffen sollte. Das Ding hätte er dann gut gebrauchen können, als er sich bei diesem Saufbruder Pitchpuck genau dieses alle zwei Jahre voll durchschlagende Übel eingehandelt hatte, weil der mit ihm aus dem selben Humpen gesoffen hatte. Dafür hatte er diese Pestbeule dann auch mit einem Silberdolch den Wanst aufgeschnitten und ihn verbluten lassen.

Ohne Vorwarnung saß er wieder in diesem Gewölbekeller und sah die andere Frau, die gerade seinen Weihestein von ihrer Stirn nahm. Da begriff er, dass das gerade erlebte eine ganz gemeine Zauberei gewesen war, um ihm alles zu entlocken, was sie wissen wollte. "Das hätte meine Vorgängerin damals so noch nicht machen können", grinste sie ihn überlegen an. Er wollte aufspringen, ihr dafür an die Gurgel gehen. Doch wieder berührte sie seinen Weihestein mit diesem silbergrauen Zauberstab und machte, dass er wieder unter diesem Mordsgewicht niedergeworfen wurde. "Sei ganz lieb oder riesel durch ein Küchensieb", sang die andere. "Eigentlich brauche ich dich jetzt nicht mehr. Aber ich kann nicht wissen, ob ich nicht doch noch Verwendung für dich haben werde. Also schlaf wieder ein, kleiner Klaubold!"

"Der Tag kommt, wo dich meine Leute erst rammeln und dann in kleine Portionen zerhacken, um dich an die Zwerge in Hogsmeade zu verfüttern", stöhnte Picklock. Da flog der deckel der Plastikkiste über ihn und verschloss sich selbst. "Heh, nein! Ich will hier wieder raus und ..." röchelte er. Dann hörte er die Andere hoch und schnell singen:

"Picklock Loluk Habarzak, höre und ermüde! Picklock Loluk Habarzak, sink in tiefen Schlummer! Picklock Loluk Habarzak, leg ab Leid und Kummer!" Jeder dieser Sätze entzog ihm wieder eigene Kraft. Es war wie damals, wo er meinte, erst nichts sagen, dann nichts mehr bewegen und schließlich nichts mehr denken zu können. So fiel der Kobold von immer tiefer und langsamer gesungenen Befehlen getrieben in einen neuerlichen Tiefschlaf.

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Elsa Steinbeißer war gerade dabei, die Bibliothek zu putzen, als ihr auffiel, dass nicht nur das umfangreiche Wörterbuch für Spanisch und Deutsch fehlte, sondern auch die Vitrine mit den wertvollsten Büchern ein Ausstellungsstück weniger enthielt. Die Familienchronik fehlte. Sie trat an die Vitrine heran und prüfte, ob die zwischen ihm und ihrem Mann Alarich abgestimmten Zauber noch wirkten. Dem war so. Also konnte nur Alarich die Vitrine geöffnet und die Chronik herausgenommen haben, ja auch nur, weil dieses Buch nur von geborenen Steinbeißers oder gerade mit einem noch zu gebärenden aus der Blutlinie schwanngere Hexen es anfassen und durchblättern konnten. Wozu hatte ihr Mann die Chronik mitgenommen? Sie hatten doch beide vereinbart, das diese unter keinen Umständen aus dem Haus gelangen durfte, solange sie lebten. Denn in der Chronik standen zu viele Familiengeheimnisse der Steinbeißers vor und nach der dunklen Hexe Trude. Am Ende sollte ihr Mann diesem ominösen SeÑor Burrero Molinos noch welche davon verraten, um seine Zeugungsfähigkeit zurückzuerhalten. Ja, er hatte ihr nicht erzählt, was dieser Heiler von ihm haben wollte, damit er vielleicht doch noch einen Sohn oder eine wesentlich familienbewusstere Tochter zeugen konnte. Elsa konnte leider nicht mentiloquieren, weil sie sich nie so recht auf die fünf nötigen Vorstufen hatte konzentrieren können. Also konnte sie Alarich nicht einmal fragen. So blieb ihr nur zu hoffen, dass Alarich das Buch nur mitgenommen hatte, um eine mögliche Wartezeit zu überbrücken. Falls er doch Dinge daraus weitererzählen oder abschreiben sollte konnte sie es ihm nicht einmal verbieten, weil das ja die Chronik seiner Familie war. So nahm Elsa es hin, dass die Chronik doch noch einmal das Haus verlassen hatte.

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Anthelia/Naaneavargia kannte schon einige Gringotts-Gebäude von außen. Der Protz und das Gepränge dieser Bank nötigten ihr nur ein müdes Lächeln ab. So nahm sie das große zweiflügelige Tor und den darüber stehenden Warnspruch zur Kenntnis. Heute, am frühen Morgen des 25. März, wollte sie es wissen, ob sie, eine Vertraute der großen Mutter Erde, genausowenig zu den tiefsten Verliesen vordringen konnte wie andere Hexen und Zauberer.

Um nicht gleich als außereuropäische Hexe aufzufallen hatte sie ihr Gesicht und alle freien Hautpartien mit rosiger Schminke überdeckt und sich zudem eine rotblonde Perücke aufgesetzt und ihre Augen mit brauner Augenschminke verfärbt. Solte sie der sogenannte Diebesfall, ein nur von Kobolden ausführbarer Wasserzauber, doch noch erwischen, so war die Verkleidung fort und sie musste sich den Weg hinein erkämpfen und vielleicht auch den Weg hinaus. Im höchsten Gefahrenfall würde sie zur schwarzen Spinne, ihrer zweiten wahrhaftigen Gestalt. Tja, und sollten die Kobolde es unerfreulicherweise hinbekommen, sie zu töten, dann würde Gringotts wohl keinen Besucher mehr empfangen können.

Mit ihrem Gedankenspürsinn konnte sie schnell herausfinden, wer von den in der imposanten Schalterhalle arbeitenden Kobolden Crushrock war. Ihn direkt anzusteuern hielt sie für zu auffällig. Aber sie hatte sich da was anderes ausgedacht.

"Hallo, ich bin Thalia Grover aus New York und möchte gerne ein Verlies in London anmieten, um für meinen Sohn und meine Schwiegertochter eine größere Menge Gold und Wertsachen dort einzulagern. Darunter sind ein paar sehr wichtige Erbstücke", begrüßte sie den gerade freigewordenen Kobold in bestem New Yorker Englisch. Dieser sah sie durchdringend an. Anthelia/Naaneavargia hatte schon erfahren, dass die Schalterkobolde seit dem Coup von Potter, Granger und Weasley besondere Kontaktlinsen trugen, die sie erkennen ließen, wenn jemand log. Dagegen schützte sie eine kleine mitgeführte Glaskugel, in die sie den Zauber "Bild der großen Mutter" eingewirkt hatte. Dieser bewirkte, dass alle auf Sicht wirkenden Zauber versagten und nur das gesehen wurde, was der Anwender beschrieb.

"Öhm, ja, Sie sind nicht aus England", raunte der Kobold mit gewissem Misstrauen. "Ich darf nur Menschen, die von den britischen Inseln kommen ein Verlies anbieten", fügte er noch hinzu. Anthelia nickte und erwiderte, dass ihr Sohn Malcolm auf seiner Reise um die Welt eine junge Hexe kennen gelernt hatte, mit der er unbedingt in ihrer Heimat Irland leben wollte. Da sie ihm nicht zumuten wolle, für Goldangelegenheiten andauernd nach New York zu reisen wollte sie ihm die ihm zustehenden Familienbesitztümer und eine für die erste Zeit mehr als ausreichende Goldmenge in einem britischen Bankverlies hinterlassen.

"Öhm, ja, das ist sehr vorsorglich, Madam", raunte der Kobold. "Wie wertvoll ist denn das alles?" fragte er mit gewisser Gier in den Augen. Anthelia deutete auf ihren langen Drachenhautkoffer mit silbernen Beschlägen. Sie erwähnte, dass sie gerne eines der Hochsicherheitsverliese anmieten wolle, sofern noch welche frei seien. Dabei erhaschte sie aus den Gedanken des Schalterkobolds, dass das Ministerium auf Schacklebolts Befehl und in Absprache mit der Leitung von Gringotts die Verliese toter Todesser beschlagnahmt und leergeräumt habe, darunter auch das der Lestranges. Hörbar sagte er, dass er das nicht entscheiden könne, weil das immer mit dem Sicherheitsbeauftragten zusammen erledigt werden müsse. So bat sie schon eher fordernd, dass dieser Sicherheitsbevollmächtigte hinzugebeten würde. Denn sie habe nicht ewig Zeit und müsse noch andere Termine wahrnehmen.

So berührte der Kobold am Schalter eine nicht sichtbare Stelle unter der Ausgabefläche für Gold oder andere Tauschgüter. Crushrock kam herüber. Er war nicht viel älter als Picklock, besaß aber glatteres Haar und einen sorgfältig gestutzten Bart. Außerdem trug er einen roten Anzug mit silbernen Knöpfen und Schuhspitzen. Anthelia tischte ihm ihre Geschichte von der reichen New Yorker Hexe auf, die für ihren Sohn und seine Zukünftige ein Verlies in der Nähe mit hohen Sicherheitsvorkehrungen anmieten wollte. Crushrock bat sie und den Kollegen am Schalter in ein kleines unabhörbares Büro. Dort besprachen die drei die Möglichkeiten, aber auch vor allem die jährlichen Mietkosten und ob diese per Goldanweisung oder aus dem Verlies da selbst entrichtet werden sollten, wenn es einmal gefüllt war. Dann ging es um die Sicherheitsvorkehrungen. Anthelia fragte nach, ob stimme, dass auch in London die Hochsicherheitsverliese von Drachen bewacht würden. Das wurde ihr bestätigt. Außerdem könne sie sich aussuchen, ob zum Schutz gegen Unbefugte ständige Vervielfältigungszauber, Erhitzungszauber, Personengefrierzauber oder bei Berührung schwach wirkende Einschrumpfungszauber eingerichtet werden sollten. Es sei jetzt auch möglich, einen Strafzauber einzurichten, der je nach Gier des unbefugten Eindringlings dessen Blut nur erwärmte oder gar zum Kochen brachte, bis er zerplatzte oder in seinen eigenen Körpersäften gesotten würde. Für besonders genial, aber auch sehr riskant hielt Crushrock die Absicherung, die bei der unerlaubten Berührung mit Gold eine schmerzlose Loslösung von Fleisch und Blut bewirkte, so dass der Räuber nach und nach zu einem lebenden Skelett wurde, als das er gerade noch einen Tag lang existierte, zur Abschreckung seiner Mitmenschen. Anthelia lehnte dies jedoch ab, da sie bereits aus ihren Studien panamerikanischer Zauberkunde erfahren hatte, dass es ähnliche Flüche bei den Azteken und Inkas gegeben haben sollte und diese sehr infektiös verlaufen seien. Dergleichen wolle sie nicht. Aber der Zauber, der bei jeder Berührung eines Goldstückes den Dieb um einige Hundertstel seiner Ausgangsgröße einschrumpfte, bis er zu klein für einen gelingenden Raubzug war, den wollte sie auf jeden Fall mit einbeziehen.

"Ähm, dann müssten wir aber ganz sicher jeden, den Sie und Ihr Sohn für befugt erklären auf diesen Zauber abstimmen, damit Ihr Sohn oder seine Familie nicht diesem Zauber zum Opfer fällt", sagte Crushrock, der dabei immer wieder versuchte, Anthelia länger als eine Sekunde in die Augen zu sehen. Dass Kobolde nicht legilimentieren konnten wusste Anthelia. Aber diese Wahrheitsblicklinsen könnten ihr zu früh einen Strich durch den Plan machen.

Am Ende wurde beschlossen, dass Anthelia mit Crushrock zusammen nach unten fuhr, sobald sie den Vertrag mit ihm unterschrieben hatte. Anthelia war auf der Hut vor Zaubern, die den Unterzeichner eines Dokumentes dazu zwangen, dessen Text wortgetreu zu befolgen. Außerdem schützten sie die Tränen der Ewigkeit. So unterschrieb sie mit einer vergoldeten Adlerfeder nach genauem Studium der Vertragsbedingungen mit Thalia Grover und erhielt zwei Kopien für ihren Sohn Titus und die künftige Schwiegertochter Nancy. Dann sollte es zu den Verliesen hinuntergehen.

Mit einem der Schienenwagen ging es in die unergründlich scheinenden Tiefen von Gringotts hinab. Anthelia erfasste nicht nur die Gedanken der auf diversen Ebenen stationierten Sicherheitskobolde, sondern auch die in Boden, Wändenund Decke eingewirkten Erdzauber, die zwischenzeitlich auch mit Wasserzaubern vermischt waren, aber immer einen Bezug zur Erde besaßen, was für Anthelia/Naaneavargia sehr gut nachvollziehbar war. Erst als sie sicher sein konnte, dass sie nicht vor zwei Minuten von einer Schutztruppe der Kobolde gestört werden könnte nahm sie ihren Zauberstab und richtete ihn blitzschnell auf Crushrock. Dieser argwöhnte zwar einen Angriff und wollte schon den Hebel für die Auskippvorrichtung berühren, als sie schon "Crushrock Orbak Morramack, Bandaraku tara MMadrashai!" aussprach. Mit dem von Picklock erheischten vollständigen Namen des Kobolds hatte sie ihn schlagartig von jeder eigenen Handlung abgebracht. Die danach folgenden Worte waren die Worte der Bindung der Erde verbundener Wesen an den Rufer. Crushrock erbebte. Gegen Imperius konnte er seit der Sache mit dem Verlies der Lestranges einigermaßen ankämpfen. Aber jetzt stand er schlagartig unter einem wesentlich stärkeren Bann, verbunden mit seinem vollständigen Namen. Er konnte nichts mehr tun. Der Wagen fuhr noch einige Sekunden weiter. Dann befahl Anthelia: "Bring mich zu eurem Verlies 007, Crushrock Orbak Morramack!"

"Wer hat der gesagt, wie mein voller Name ist?" dachte der gebannte Kobold, der bereits die entsprechende Lenkberichtigung ausführte, um den nächsten Abzweig in die tiefsten Tiefen seiner Bank zu nehmen. Anthelia ließ das kalt. Sie behielt ihre Umgebung unter Überwachung und merkte, dass auch einige Feuerzauber mit den Erdzaubern verknüpft waren. So konnte einem Dieb auch ein Lavastoß aus dem Boden heraus den Garaus machen, wenn kein zugangsberechtigter Kobold bei ihm war. Gegen sowas hatte sie auch etwas, aber eigentlich eher gegen die ihrer harrenden Drachen.

Es ging ziemlich schnell und ziemlich steil in die Tiefe. Anthelia fühlte die Macht der großen Mutter Erde mit jedem zehnten Meter wachsen. So tief in den Schoß der großen Mutter Erde war sie lange nicht mehr hineingeglitten. Selbst Madrashghedoxalan, die heilige Stadt der Erdvertrauten, lag nicht so tief unter der Erdoberfläche. Kein Wunder, dass die Kobolde hier ihre wertvollsten Schätze verbargen.

Der von ihr gebannte Sicherheitskobold sagte kein Wort. Er dachte nur daran, dass die, die ihn unterworfen hatte, sicher von den Drachen getötet werden würde. Doch selbst töten durfte er sie nicht, weil sie seinen Namen kannte.

Anthelia/Naaneavargia empfing die tierischen Gedanken lauernder Drachen, noch bevor sie sie schnaufen und zischen hörte. Crushrock dachte daran, dass der an seinen Körper gebundene Schutzring ihn für Drachen unentdeckbar machte. Aber die, die ihn gezwungen hatte, sie zur Halle der Familien zu fahren, würde gleich sterben. Anthelia/Naaneavargia klappte ihren Koffer auf und holte einen länglichen Gegenstand hervor. Mit dem Wort "Faiyanschaitargesh!" ließ sie eine anderthalb meter lange Klinge aus orange leuchtenden Feuerzungen entstehen. Crushrock sah es, konnte aber nichts unternehmen. Da bog der Wagen auf die Gerade ein, an deren Ende jenes silberne Tor lag, dessen Inschrift blutrot leuchtete. Aus tiefen Seitenhöhlen schoben sich kurze, blau glänzende Mäuler hervor. Schwedische Kurzschnäuzler spien blassblaue Flammen, die bei allen Drachenkundlern unumstritten als das heißeste und zerstörerischste Drachenfeuer überhaupt galten. "Seid mir unterworfen!" rief Anthelia, wobei sie in der Schlangensprache Parsel sprach. Verbunden mit der klar sichtbar lodernden Feuerklinge zwangen sie alle dem Feuer verbundenen Wesen unter ihren Willen. "Seid mir alle unterworfen!" wiederholte sie, weil zwei Drachen Anstalten machten, ihre Mäuler zum Feuerspucken zu öffnen. Noch einmal befahl sie den Drachen, ihr unterworfen zu sein. Sie fühlte, dass es wesentlich anstrengender war, vier Drachen zugleich zu beherrschen als nur einen zur Zeit. Doch wenn Yanxothar und der Waisenknabe Riddle das geschafft hatten, mehr als zehn Drachen zur selben Zeit zu befehligen, dann sollte es auch ihr gelingen. Tatsächlich ließen die vier Drachen den immer langsamer rollenden Wagen passieren. Kurz vor der Tür hielt er vollständig. "Du bleibst im Wagen, Crushrock Orbak Morramack!" befahl sie auf Koboldogack. Dann stieg sie aus. Die ihr unterworfenen Drachen schnaubten leise hinter ihr. Doch keiner machte Anstalten, die Länge seiner Halteketten auszureizen um sie anzugreifen oder ihr gar mit dem Flammenatem den Garaus zu machen. Anthelia erkannte jetzt auch, dass es vier Weibchen waren. Bei Drachen galten die weiblichen Einzelwesen als noch aggressiver und ausdauernder als die männlichen.

Als die mit Anthelia verschmolzene Naaneavargia mit ihrem Zauberstab den Boden, die Wände und das Tor prüfte erkannte sie, dass das Tor wahrlich die gefährlichere Falle als die Drachen war. Denn wer das Tor berührte, der nicht den mit dem eigenen Körper verbundenen Schutzring trug oder von einem solchen Ring sieben mal an Kopf, Bauch und beinen berührt worden war, wurde erbarmungslos von der Tür angezogen und dabei immer mehr zerfressen. Das war eine Kombination aus dem Zauber "Geschenk an die große Mutter, sowie dem Zauber "Rückkehr des Fleisches in den Schoß der großen Mutter, als auch ein von ihr nicht genau bestimmbarer Feuerzauber. Doch gegen Feuerzauber hatte sie ja gerade was dabei. Sie wandte sich um und rief den Drachen noch einmal zu, ruhig zu bleiben, sie nicht anzusehen und sich nicht zu bewegen. Als sie das viermal gerufen hatte dachte sie den Freiflugzauber, um an die rot glühende Gravur eines überlebensgroßen Totenschädels heranzureichen. Danach würde sie sich um die Inschrift kümmern. Wie war das? Was ein Kobold in Metall schrieb und mit seinem Blut verstärkte geschah so, wie es geschrieben wurde.

Anthelia ging davon aus, dass der Totenkopf das Ziel der Bezauberung, den Tod der Unbefugten, verstärken mochte. Deshalb stieß sie ihre Flammenklinge zuerst zwischen die Augen des glühenden Schädels. Dieser loderte im blutroten Feuer auf. Sie meinte noch, einen lauten Schrei zu hören. Hoffentlich war das kein Alarmruf! Der Schädel zerfloss zu glutflüssigem Metall. Nur ein tiefrot glühendes Loch blieb zurück, als Anthelia die Spitze der Flammenklinge über den ganzen Schädel geführt hatte. Dann zog sie die Klinge behutsam und präzise von oben nach unten über alle Formen der Inschrift und wieder von unten nach oben. Als die ersten Buchstaben funkensprühend zerliefen fühlte Anthelia, dass die im Tor verborgenen Fallenzauber bereits erheblich schwächer wurden. Als dann die gesamte Inschrift zu einer Ansammlung parallel verlaufender Furchen mit glühenden Rändern geworden war brauchte die Spinnenführerin nur noch zwei Aufhebungszauber aus dem Wissensschatz der altaxarroischen Erdvertrauten zu wirken. Einen Zauber konnte sie jedoch nicht brechen, den Verschlusszauber, der das Tor nur für Kobolde zu öffnen schaffte. Sie befahl deshalb Crushrock zu sich hin, damit er ihr das Tor öffnete. Dieser tippte mit seinen langen Fingern an drei bestimmte Stellen. Dann vollführte er eine Wischbewegung gegen den Uhrzeigersinn. Rasselnd sprangen wohl an die zwanzig Riegel auf. Die beiden Torflügel glitten nach außen.

Anthelia argwöhnte einen letzten Alarm- oder Fallenzauber. Deshalb schickte sie den Kobold voran. Der betrat den Raum hinter dem Tor. Vorsorglich belegte sich die mächtige Hexenführerin mit dem Zauber, der sie eine Zeit lang gegen jede Form von Erdmagie schützte. Dann folgte sie Crushrock.

Bei dem Verlies 007 handelte es sich um eine gewaltige Höhle, mindestens zweihundert Schritte lang und hundert Breit. Sie wurde von einem Labyrinth aus haushohen Regalwänden ausgefüllt. An den Regalwänden waren Steigleitern angebracht, die oben und unten in Schienen eingehängt waren und sich so verschieben ließen. In den Regalen selbst standen tausende von Tonkrügen, die alle mit Symbolen verziert waren. Anthelia fühlte, dass auch hier noch eine schlummernde Erdmagie wirkte. Da diese sich weiter ausdehnte als sie überblicken konnte lohnte es nicht, sie anzugreifen und aufzuheben. Aber das hielt sie eh nicht mehr für nötig. Sie wolte Crushrock losschicken. Der dachte daran, dass der zerstörte Totenkopf und wohl auch die Zerstörung der magischen Inschrift Alarmvorkehrungen ausgelöst hatten, die ihm und seiner Beherrscherin den Rückweg verlegen und beide umbringen würden. Denn wer es schaffte, bis zum wichtigsten Verlies der Kobolde vorzudringen, der durfte nicht mehr lebend davonkommen. "Was genau lauert uns auf, wenn wir hier wieder herauskommen, Crushrock Orbak Morramack?" fragte Anthelia den Kobold.

"Schlingzauber, Versteinerung, Lavastoß und ganz sicher der Lebensfeuerverstärker, der macht, dass lebende Wesen aus sich heraus in einer Feuerwolke vergehen. Nur wer ein Kobold von Gringotts ist und vor allem einen der drei Ringe der Geweihten trägt kommt unbehelligt durch. Aber das kann ich nur, wenn ich drei Schritte von dir fort bin", erwiderte der Kobold.

"Und sonst?" fragte Anthelia. "Sonst werde auch ich getötet, wenn du in eine geöffnete Falle trittst."

"Dann beschaffe mir jetzt deinen Weihestein und die von Ratzpack und von Rollnack aus Deutschland!" befahl Anthelia.

Crushrock blickte sich um und huschte in einen bestimmten Gang. Anthelia folgte ihm, immer noch im Schutz ihres Erdzaubers. Der Kobold schob eine der Leitern so, dass er einen bestimmten Regalabschnitt überprüfen konnte und eilte mit affenartiger Geschmeidigkeit die Leiter hinauf. Anthelia musste mal wieder bewundern, wie geschickt und gewandt diese spitzohrigen Zauberwesen waren. Dennoch verging eine Minute, bis der Kobold einen der Tonkrüge hinter einigen anderen hervorgeholt hatte und öffnete. Er entnahm diesem einen ovalen, leicht grünlich glimmenden Stein. "Das ist meiner!" rief er von oben herab. "Wirf ihn mir zu, ich kann ihn auffangen!" rief Anthelia. Tatsächlich gelang es ihr, Chrushrocks Stein aufzufangen. Sie verstaute ihn in der verschließbaren rechten Tasche ihres Rockes.

Crushrock turnte die Leiter wieder hinunter. Dabei dachte er, dass sicher auch eine Diebesjagdbrigade auf dem Weg sein mochte. Die würden ihn als Verräter festnehmen und sicher in flüssigem Gold sieden, bis er innen und außen mit Gold beschichtet war. Er fühlte Angst. Doch er konnte sich noch nicht aus dem Bann lösen. Anthelia befahl ihm jedoch sicherheitshalber, sich zu beeilen.

Dennoch gingen weitere zehn Minuten ins Land, bis Crushrock zwei weitere Weihesteine zu ihr hinunterwarf, einen Weihestein von Ratzpack Girax Hannorguk und den von Rollnack Ibrak Klannardak. Dann verließen sie das Gewölbe, in dem eine immer stärkere Erdmagie wirkte. Als sie durch das Tor wollten fühlte Anthelia, dass Crushrock vor lauter Todesangst ihren Bann abschüttelte. Er wollte an ihr vorbeispringen, um sie einzuschließen. Doch sie stellte ihm ein Beinund lief mit vorgestreckter Feuerklinge durch das Tor hinaus. Dann zog sie Crushrocks Weihestein hervorund legte ihn an ihre Stirn. Sie befahl ihm nun rein geistig, ihr nicht noch einmal zu widerstehenund auch keine Angst mehr zu haben. Dann sollte er das Tor schließen, was er auch tat.

Als sie an den immer noch beeinflussten Drachen vorbei waren fühlte Anthelia die in den Schienen gebündelte Kraft des Magnetismus. Also war das schon mal das erste Hindernis. "Kannst du die Eisenhaftungskraft aufheben, Crushrock?" fragte sie ihn. Er erwiderte, dass diese Schutzvorkehrung jede Fahrt in den Stollen und Gängen aufhalten sollte, bis die unerwünschten Eindringlinge gefasst und/oder getötet waren. Er habe das damals so eingerichtet, dass dann nur noch die Sicherheitstruppen auf ihren Höhlenponys durch die Gänge reiten konnten. Außerdem seien nun alle Hochsicherheitsverliese zum Hauptstollen hin mit Barrieren abgesichert.

"Durch die Erde zu dringen gelingt wohl auch nicht, wie?" fragte Anthelia. Crushrock bestätigte das und dachte dabei an alle zwei Ellen im Boden steckende Barren aus geschmiedetem Eisen, die bis zu einer Tiefe von fünf Koboldlängen in das Gestein eingebacken waren. Anthelia nickte. Diese Vorkehrung machte es auch ihr unmöglich, durch die Erde zu eilen, weil durch Feuer aus Erz gewonnenes Metall, dass im Feuer zu einer bestimmten Form getrieben wurde, die Ströme der Erde umlenkte. Dann fiel ihr was anderes ein. "Als Sicherheitsleiter von Gringotts kennst du sicher einen für dich und deine Leute freien Ausweg, ohne dich selbst in Gefahr zu bringen, nicht wahr?" Der Kobold versuchte noch einmal, sich gegen die Macht ihrer Befehle zu stemmen. Da drückte Anthelia sich den Weihestein an die Stirn und drang auf diese Weise in Crushrocks Erinnerungen ein, viel besser als ein Legilimentor. So bekam sie heraus, dass einer von drei Trägern des Weiheringes, also der Gringotts-Zweigstellenleiter, sowie Crushrock und dessen Stellvertreter einen von zehn gut getarnten Notfallschächten benutzen konnten, in denen eine Kette von Transportkörben angebracht war, die sich durch bestimmte Berührungen in Gang setzen ließ. Allerdings würde jeder andere, der den Zugang zu einem dieser Schächte fand gnadenlos versteinert und wurde, falls es ein Mensch war, in der Höhle der gescheiterten Räuber auffgestellt oder falls es ein Kobold war soweit zerstückelt, dass nur noch der Kopf übrig war, der dann in der Höhle der unbelehrbaren Artgenossen aufgestellt wurde mit vollem Namen und Tag seines Todes. Doch gegen Versteinerungszauber konnte sich Anthelia absichern. Sie beschwor nicht nur den generellen Schutz vor den Kräften der Erde, sondern nahm aus ihrer Tasche noch einen Diamanten aus der Menge, die sie damals bei Tiffany's gegen einen Klumpen reinen Goldes erstanden hatte. Damit wirkte sie vorsorglich die Gnade der Großen Mutter. Jetzt war sie für eine volle Stunde gegen jede Form der Versteinerung immun. Danach befahl sie dem immer noch unter ihrem Bann stehenden Kobold, sie zum nächsten Notfallschacht zu führen.

Als sie nach einigen hundert Metern an einer Wand anhielten spürte Anthelia die mächtige Kraft der großen Mutter. Um sie herum glühte eine Aura, die ihre Körperformen nachzeichnete. Sie trieb Crushrock mit hilfe des an ihn gebundenen Weihesteines zu der Wand und befahl ihm, den Schacht zu öffnen. Das tat er mit bestimmten Wisch- und Stupsbewegungen an der Wand. Als eine steinerne Luke nach innen schwang fühlte Anthelia die Belauerung in der Wand. Wer kein Kobold von Gringotts und dazu noch Träger eines Schutzringes war konnte nicht in den Schacht eindringen.

Anthelia ging weiter und betrat den Einstieg des Schachtes. Sie fühlte, wie etwas sie umtoste, wie der Boden unter ihren Füßen erbebte. Das dauerte zwei Atemzüge. Dann war es vorbei.

Wie Crushrock ihr unfreiwillig verraten hatte stand sie nun in einem hölzernen Transportkorb, der an der Oberseite mit vier Ketten verbunden war. An der Unterseite waren sicher auch ketten, unter denen ein Korb hing. Crushrock berührte nun auf Anthelias Anweisung eine Stelle, worauf ein Klingelzeichen erscholl, die Luke wieder zufiel und der Korb mit seinen Fahrgästen leise rasselnd immer schneller in die Höhe stieg. Anthelia musste einmal mehr die Baukunst und das magicotechnische Geschick der Kobolde bewundern. Die Lösung, eine Kette aus Körben in einen Schacht zu hängen, um schnell aus einer Gefahrenlage zu entkommen, ohne den anderswo lauernden Fallen zu begegnen, war genial einfach und deshalb wohl für alle anderen unbekanntund unzugänglich. Die Spinnenführerin wusste, dass sie hier und jetzt zwei der meistgehütetsten Geheimnisse von Gringotts gelüftet und zu ihrem Zweck verwendet hatte. Sie durfte Crushrock nicht am Leben lassen. Denn der würde irgendwem verraten, was er alles getan hatte. Damit war dann die weltweite Jagd auf Anthelia eröffnet, wenn sie es nicht schon war, nachdem sie Picklock in ihre Gewalt gebracht hatte. Aber bisher hatte sie keines der empfindlichen Geheimnisse der Kobolde berührt oder gar durchdrungen. Das war nun geschehen. Jetzt würde es für sie keine Gnade geben, wenn Kobolde ihr begegneten. Da sie nicht alle Kobolde töten wollte, die ihr über den Weg liefen musste sie diesen einen töten, ja und später vielleicht noch zwei. Aber wenn sie dafür nicht alle anderen umbringen musste oder andauernd in Gefahr schweben wollte, selbst umgebracht zu werden, musste sie diese Opfer bringen, um an Trudes Testament und damit auch an den zweiten Lotsenstein zu kommen. Ja, dieser war das Ziel ihrer Bestrebungen, endlich zu den Altmeistern von Altaxarroi vordringen zu können, um sich mit den Vertrauten der Erde über den weiteren Umgang mit den Menschen mit und ohne Zauberkraft zu verständigen.

Die Aufwärtsfahrt im Transportkorb dauerte bereits zehn Minuten, als sie endlich an der obersten Luke ankamen. Anthelia hatte nicht mitgezählt. Aber mehr als hundert Sohlen hatten sie mindestens passiert. Wieder ertönte ein Klingelzeichen, und die Luke schwang auf. Anthelia lauschte zunächst, ob vor der Luke wer lauern mochte. Sie vernahm das übliche Gewirr von Gedanken, wenn mehr als zwanzig Leute in einem Raum zusammenstanden. Es waren aber mehr Menschen als Kobolde. Allerdings, so konnte sie gut genug heraushören, waren die Kobolde in Alarmstimmung und mussten den Menschen immer wieder sagen, dass im Moment keine Fahrten nach unten gestattet waren, da es zu einer Unregelmäßigkeit gekommen sei. Die Halle war noch hundert Meter entfernt. Doch wenn sie da auftauchte konnte sie gleich rufen: "Hier bin ich! Nehmt mich fest oder bringt mich um!" Das musste sie auch nicht, weil ja die drei Geweihten nach Verlassen des Notfallschachtes ebenso durch einen Notstollen direkt ins Freie konnten, wo sie dann wie jeder Kobold einfach im Erdboden verschwinden konnten.

Sie schickte Crushrock wieder vor und überstand die gleiche Magie, die schon weiter unten auf sie eingeströmt war wiederum mühelos. Vielleicht rief das auch einen Meldezauber oder entsprechendes wach. Doch darauf nahm sie jetzt keine Rücksicht mehr. Sie lief Crushrock nach, bis dieser an einer weiteren Steintür stand. Anthelia befahl ihm, die Tür zu öffnen, während sie mit gewisser Beunruhigung mitbekam, dass eine Gruppe Kobolde durch den Zugang von der Haupthalle zum Transportschacht eilte, angeführt von zwei älteren Kobolden. Also hatte doch wer gemerkt, dass wer den Notschacht benutzt hatte. Offenbar machten die sich eher Sorgen um ihren Kameraden, weil der nicht sofort in die Halle zurückgekehrt war, um Meldung zu machen, erfasste Anthelia.

"Gut, von hier aus komme ich dann wohl alleine weiter", sagte Anhtelia/Naaneavargia zu Crushrock, der für sie die Tür aufhielt. Sie ging an ihm vorbei und sagte: "Bleibe hier und schweige, Crushrock Orbak Morramack!" Dann eilte sie hinaus. Wieder fühlte sie, dass da etwas sie bestürmen wollte. Doch immer noch schützten sie die zwei aufgerufenen Erdzauber. Crushrock schloss hinter ihr die Tür. Als sie sich noch einmal umwandte sah sie nur den Stamm einer mächtigen Ulme, die im Mittelpunkt eines von drei Häusern gebildeten Dreiecks wuchs. Sie konnte aber noch deutlich die Gedanken Cruschrocks hören, die im Grunde nur das Echo ihres letzten Befehls waren: "Bleibe hier und schweige! - Bleibe hier und schweige!" Doch sie konnte auch die Gedanken der sich nähernden Kobolde hören. Wenn sie ihn sahen war es für sie zu spät. Also nahm sie schnell den Zauberstab und den für Crushrock gefertigten Weihestein. Ihn einfach nur zu zerstören würde Crushrock wohl noch einige Minuten leben lassen. Sie musste seine ganze Macht auf einen Schlag vernichten. Sie legte ihn auf den Boden, trat schnell drei Schritte zurück und zielte mit ihrem silbergrauen Stab darauf und sprach drei altaxarroische Worte, die jeden losen Stein in puren Staub zerbliesen, ob Kalkstein, Granit oder Diamant: "Panhidur sut Naanpanhidur!" Mit einem lauten Knall zerbarst der Weihestein Crushrocks in einer Wolke aus grünem Staub, die sich blitzartig ausbreitete und im Umkreis von dreißig Schritten beinahe alles überdeckte. Nur Anthelia entging der Wucht und dem Staub, weil ihr Schutzbann gegen Erdzauber die magisch aufgeladene Staubwolke um sie herumlenkte, wie das Eisenweisungsfeld der großen Mutter Erde den unsichtbaren Hauch des großen Himmelsfeuers. In derselben Sekunde, in der der Weihestein wie eine Handgranate explodierte, stieß Crushrock einen geistigen Todesschrei aus, der jedoch keine Sekunde dauerte. Anthelia nutzte die um sie wirbelnde grünlich leuchtende Staubwolke, um ungesehen zu disapparieren. Die zweite Etappe auf dem Weg zu Trudes Testament war vollendet.

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"Die Hansens kommen am achtundzwanzigsten mit einem Überseedüsenflugzeug von New York nach Hamburg. Die Kollegen am Flughafen Fuhlsbüttel sind bereits instruiert, die beiden nach der Landung zu überwachen, bis sie aus dem Flughafen heraus sind", erwähnte Armin Weizengold im Beisein aller Mitarbeiter, die mit dem Auftauchen und den Verheerungen der Nachtschattenkönigin befasst waren. "Allerdings bekam ich gestern über dieses Arkanet-Computernetzwerk eine Anfrage des Bereichskollegen Clyde Fellowfax, was an diesen beiden jungen Leuten so wichtig ist, dass wir darum gebeten haben, sie aus sicherer Entfernung zu überwachen. Ich habe dann über meine Mitarbeiterin Fräulein Weizengold ausrichten lassen, dass wir die Befürchtung hegen, dass die zwei jungen Leute möglicherweise mit etwas in Berührung gekommen sind, dass wir noch nicht einordnen können und daher erstt einmal nichts darüber verlauten lassen dürfen. Es könnte also passieren, dass unsere US-amerikanischen Kollegen auf die nette Idee kommen, die beiden jungen Eheleute unter irgendeinem Vorwandt an der Abreise zu hindern, was uns dann wiederum in die Lage bringt, zu klären, was genau wir unseren Kollegen jenseits vom Salzwassergraben mitteilen dürfen, damit die zufrieden sind und uns nicht dazwischenfuhrwerken. Also, was dürfen wir denen mitteilen, meine Damen und Herren?"

"Das der Käs wegen dieser spukenden Nachtschatten vom November leider noch nicht gegessen ist, Herr Weizengold", bemerkte Arnulf Krautwein, ein noch ziemlich junger Experte für Zauberkunst und Fluchabwehr, der zu den fünf Leuten gehörte, die mit den ministeriumseigenen Rechnern arbeiten konnten.

"Dann werden die uns fragen, warum wir denen nicht gleich erzählt haben, dass zwei möglicherweise höchstgefährdete Menschen ohne Magie auf ihrem Territorium herumlaufen und sich auf die internationale Übereinkunft zur Warnung vor bedrohlichen Wesen berufen, die im Zuge der internationalen Übereinkunft zur früherkennung und Bekämpfung magischer Seuchen und Schädlinge abgefasst und vom damaligen Makusa und den europäischen Zaubereiministerien, wie den Zauberräten Arabiens und Asiens verabschiedet wurde."

"Leute, die haben nicht die Grünpilzseuche oder die Drudengrippe oder diesen blauen Bandwurm, der vor hundert Jahren bei denen einige hundert Leute umgebracht hat", erwiderte Krautwein darauf. Armin Weizengold räusperte sich sehr ernst und erwiderte:

"Nun, jetzt müssen wir aber erkennen, dass diese neuen, auch im Rudel auftretenden Nachtschatten wie eine neue Seuche zu sehen sind, beziehungsweise eindeutig magische Schädlinge sind, die sich freier als andere Nachtschatten vorher ihre Beute suchen. Dass diese Brut noch nicht über den Salzwassergraben springen kann liegt vielleicht nur an den unterschiedlichen Ortszeiten. Aber darauf bauen würde ich da nicht", sprach der Chef des Büros für friedliches Zusammenleben zwischen Menschen mit und ohne Magie.

"Wir waren dabei, was wir unseren US-amerikanischen Kollegen erzählen sollen, damit diese nicht rechtschaffend wütend auf uns sind", warf Albertine keck ein. Armin Weizengold sah die Mitarbeiterin etwas vorwurfsvoll an. Doch dann sagte er: "Also, falls die Ladies und Gentlemen aus Übersee noch einmal anfragen, was so besonderes an den beiden jungen Eheleuten sein soll, die ja immerhin demnächst ständig auf ihrem Territorium zu leben und zu arbeiten wünschen, so geben wir folgende Auskunft: Wir vermuten, dass die beiden deshalb aus Deutschland auszuwandern wünschen, weil sie fürchten, dass sie hier bei uns der Vergeltung einer dunkelmagischen Gruppierung anheimfallen können, die sich erst in den letzten Monaten formiert hat und die beiden so wie zwei andere, die noch in unserem Zuständigkeitsbereich leben, als unliebsame Zeugen töten will. Wir sind froh, wenn die beiden Eheleute für längere Zeit außerhalb Deutschlands leben können, sobald sie die für ihre Zivilisation nötigen Maßnahmen durchgeführt haben, um ohne Rückfragen aus der nichtmagischen Welt Arbeitsplatz und Wohnsitz zu wechseln. Öhm, ich schreibe Ihnen den Wortlaut gleich noch einmal an die Tafel, Fräulein Weizengold, Fräulein Steinbeißer, Frau Kienspan und Herr Krautwein. Damit sind wir aber auch schon beim nächsten Punkt: Es steht zu befürchten, dass unser werter Finanz- und Handelsabteilungsdirektor, Herr Giesbert Heller, auf die unfeine Idee verfallen könnte, dass wir für die Überwachung von vier magielosen Menschen zu viel Gold und Arbeitszeit einsetzen. Ich hatte bei der letzten diesbezüglichen Unterredung mit ihm den nicht ganz auszuräumenden Verdacht, dass er nur deshalb noch auf unserer Seite ist, weil er hofft, dass die drei noch lebenden jungen Menschen uns unfreiwillig eine Möglichkeit bieten, die neue Bedrohung unschädlich zu machen. Leider ist unsere Gegnerin aus dem Schattenreich nicht nur sehr groß und offenbar auch apparierfähig, sondern vor allem sehr intelligent und was die magielose Welt angeht den meisten von uns voraus. Allein die Sache mit den schattenlosen Menschen und dass diese explodieren, wenn wir sie festnehmen wollen, zeigt, dass sie sich sehr gut abzusichern versteht und deshalb auch davon ausgeht, dass wir diese drei jungen Leute überwachen. Wie alle Geisterwesen kann sie warten, weil sie nicht altert. Will sagen, wenn wir nicht bald Resultate liefern, könnte es Heller einfallen, uns die Unterstützung zu entziehen. Oder auch, wenn anderswo was heftigeres aufwallt wird er uns die Unterstützung entziehen. Deshalb möchte ich gerne von Ihnen wissen, wie wir in Zukunft verfahren sollen. Ich bitte um Vorschläge!"

Jetzt ging es hin und her. Die einen fragten, ob es überhaupt einen Sinn machte, vier einzelne Leute von den Lichtwächtern bewachen zu lassen, wenn die Schattenriesin anderswo hunderte von Menschen umbringen ließ. Ein anderer fragte, ob die drei und ihre direkten Angehörigen nicht wie das Dornröschen aus dem Märchenland oder der Comichelf Buck Rogers eine längere Zeit in tiefem Schlaf zubringen sollten, um in der Zeit die Bedrohung zu beseitigen. Noch jemand anderes schlug eine völlige Wiederverjüngung vor und die Säuglinge dann auf verschiedene Länder der Welt zu verteilen, damit sie dort völlig neu aufwachsen konnten. Albertine Steinbeißer ergriff dann das Wort:

"Klingt alles griffig und schnell umsetzbar, Herr Weizengold, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich fürchte nur, dass die Schattenriesin auf die unschöne Idee kommen kann, uns zu erpressen, die drei, die sie noch sucht, an sie auszuliefern. Dass sie das noch nicht versucht hat liegt nur daran, dass sie wohl noch einige Ideen hat, die sie vorher ausprobieren will. Darüber freuen sollten wir uns nicht. Ich will nur darauf hinaus, dass wenn sie dann wirklich einmal darauf kommt, uns zu erpressen zu versuchen, wir ihr schwer erklären können, dass wir die drei mal eben babyfiziert haben, damit die fern von uns und ihr wieder großwerden. Dann macht die nämlich folgendes: Sie schickt ihre Unterschatten in jede erreichbare Säuglingsstation oder jede Kindertagesstätte und lässt die dort untergebrachten Säuglinge und Kleinkinder umbringen, damit sie ihre gewisse Genugtuung hat, die von ihr gesuchten doch noch erwischtzu haben. Außerdem wird sie dann weiterhin Diskotheken heimsuchen, um möglichst viele junge Leben zu erbeuten. Die drei und ihre Eltern und anderen Angehörigen also einfach wegzusperren oder als auf Anfang gezauberte Wickelkinder bei anderen Eltern unterzubringen bringt uns nichts, gerade weil dieses Unwesen sehr intelligent ist und sich mit der magielosen Welt sehr gut auskennt. Also bleibt tatsächlich nur, sie zu ködern, sie ihre Versuche machen zu lassen, an die drei heranzukommen, sie aber dort zu erwarten."

"Ja, aber nur solange, wie Schatzmeister Heller uns nicht den Goldhahn zudreht", warf Krautwein ein. Da bat Bärbel Weizengold ums Wort:

"Echt, dafür dass Ihr Großvater ein anerkanntes Mitglied der Liga gegen dunkle Künste ist spotten Sie aber sehr reichlich, Herr Krautwein. Ich finde, dass wir zumindest solange die drei Überlebenden überwachen sollten, bis wir wissen, woran wir bei dieser Nachtschattenriesin sind. Am Ende hat die doch schon die Jagd auf die drei aufgegeben. Sie hat sich wohl Karin Maurer und deren Zimmernachbarn geholt, was bedauerlich ist. Sie hat auch die Eltern von Arne Hansen heimgesucht. Aber jetzt sollte sie wissen, dass wir die anderen drei gut überwachen. Also muss sie sich was neues ausdenken."

"Ui, Ffräulein Steinbeißer, haben sie vielleicht eine neue Verehrerin?" fragte Krautwein höchst ungehörig. Armin Weizengold sprang auf und deutete auf den ungehörigen Mitarbeiter.

"Gut, Herr Krautwein, sie verlassen jetzt umgehend diese Sitzung und gehen in ihr Büro. Dort werden sie bleiben, bis ich Sie per Memo ausdrücklich zu mir bitte, um diese äußerst unnötige Entgleisung zu besprechen. Hinaus!"

"Hmm, weiter sind wir jetzt auch nicht", meinte Adelheid Kienspan, eine Hexe Mitte dreißig von untersetzter Statur, die in vier Monaten Großmutter sein würde.

"Also bleibt leider nur eins: Weitermachen wie bisher", knurrte Armin Weizengold. Damit endete die Sitzung, die außer viel Gerede und einer ziemlich ungehörigen Bemerkung nichts gebracht hatte.

Albertine sah Bärbel auf dem Weg nach draußen. Die hatte echt verdammt lange Beine. Deshalb war sie ja auch einen ganzen Kopf größer als Albertine, die auch nicht gerade klein war. Interessant wäre das sicher, mit ihr nähere Bekanntschaft zu machen. Allerdings hatte Bärbel ihr mehr als einmal zu verstehen gegeben, dass sie sich nicht auf derartiges einlassen würde. Zudem wollte Albertine keine Liebschaft in derselben Abteilung, und garantiert nicht mit der Tochter des Vorgesetzten. Wenn sie deshalb aus dem Ministerium flog musste sie komplett von vorne anfangen.

Wieder in ihrem Büro ging Albertine die in der Zwischenzeit aufgelaufenen Akten durch. Wegen dieser Nachtschattenriesin hatte sie einige andere Angelegenheiten zurückgestellt. Es war sicher gut, wenn sie das noch abarbeitete, bevor entweder die höchste Schwester oder die Schattenriesin sich wieder meldeten.

Als habe Albertine sie anmentiloquiert hörte sie unvermittelt Anthelias Gedankenstimme: "Schwester Albertine, falls du dir zwei Stunden Zeit nehmen kannst, ohne unliebsame Fragen beantworten zu müssen, bitte ich dich, zum zentralen Eisenbahnhof in Frankfurt am Main zu kommen. Wir können uns dann wahrscheinlich das Testament deiner Vorfahrin beschaffen. Das sollte noch heute geschehen, weil ich fürchten muss, dass die Kobolde aus London ihren Frankfurter Kollegen eine Warnung zukommen lassen oder dies schon getan haben, dass da jemand bei ihnen erfolgreich eingebrochen ist und entkommen konnte."

"Öhm, Gringotts? Du warst in Gringotts London, höchste Schwester? Aber das Testament liegt in Frankfurt."

"Manchmal müssen Umwege begangen werden, um das ausgewählte Ziel zu erreichen, Schwester Albertine. Also, hast du die nötige Zeit?"

"Ich bin erst heute nachmittag für die Bewachung von Rico Kannegießer eingeteilt. Die geht bis abends um elf, bis der Junge wieder in seinem Bungalow ist. Ich hoffe nur, dass Herr Weizengold mich nicht wegen eines sehr dummen Spruchs von einem jungen Kollegen nach meiner Gemütslage befragen will."

"Was hat er denn gesagt, dass du mit mir eine Liebesnacht verbracht hast?" wollte Anthelia wissen. Albertine errötete. Wieso konnte sie das nicht einfach unterdrücken, wenn sie mit der höchsten Schwester zusammen war? Schnell antwortete sie, dass der Kollege gesagt hat, dass Albertine eine neue Verehrerin haben mochte. "Achso! Und ich wollte gerade fragen, wie das Kind heißen soll, dass du von mir unter dem Herzen trägst", erwiderte die höchste Schwester. Albertine lief noch röter an. Was brachte ihre Anführerin darauf, derartig abgedrehte Gedanken zu übermitteln? Dann wurde Anthelia wieder ganz ernst: "Wenn du wirklich wissen willst, was in Trude Steinbeißers geheimem Testament niedergeschrieben ist, so melde dich so rasch es geht vom Hauptbahnhof Frankfurt, Schwester Albertine!" Albertine bestätigte das. Sie legte die begonnenen Akten wieder fort und schrieb, dass sie noch eine wichtige Recherche zur möglichen Herkunft der Nachtschattenriesin machen müsse, um vielleicht über deren Menschennamen Einfluss auf sie zu gewinnen. Diese Mitteilung versandte sie an Armin Weizengold und Andronicus Wetterspitz. Sie wartete noch die Bestätigung ab, dass sie hierfür das Haus verlassen durfte. Dann machte sie sich auf den Weg nach Frankfurt. In ihren Adern kribbelte es vor Anspannung. Entweder wusste sie bald, was in dem Testament stand oder musste zusammen mit Anthelia für längere Zeit untertauchen, um ihre eigenen Kollegen und eine Horde wütender Kobolde in die Irre laufen zu lassen.

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Armin Weizengold kämpfte darum, seine Gefühle wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Wieso konnte er sich nicht besser beherrschen. Was der junge Zauberer Krautwein da unbedacht ausgesprochen hatte war nur dummes Geschwätz, eigentlich nicht weiter zu beachten. Doch er hatte in dem Moment, wo der das gesagt hatte gedacht, dass seine Mitarbeiterin Albertine Steinbeißer wahrhaftig Interesse an seiner Tochter Bärbel haben mochte und sich auf jede erlaubte oder auch ungehörige Art an sie heranmachen mochte. Sicher wusste er, dass Bärbel nicht auf diese Art Beziehung ausging. Aber er wusste auch, dass es immer zu Spannungen kam, wenn jemand versuchte, einen begehrten Menschen für sich zu gewinnen und der Begehrte das nicht durchhielt oder sich wütend gegen den ihn begehrenden wandte. Was er gerade jetzt nicht gebrauchen konnte waren Belauerungen oder heimliche oder offene Beziehungsdramen innerhalb seiner Abteilung. Sicher ging es ihn nichts an, was Albertine Steinbeißer außerhalb der Arbeitszeit machte, solange es nicht strafbar war. Doch er und viele andere im Ministerium hatten da noch diese althergebrachte Vorstellung, wie anständige Beziehungen anzubahnen und in vorbildliche Ehen und Familien übergehen sollten. Wenn dann wer wie der junge Arnulf Krautwein das auch noch hinausposaunte, was bisher schön unter einem Mantel der Diskretion gehalten wurde, sah er für die Kollegialität in seiner Abteilung Schwarz. Offenbar hatte Albertine deshalb um die Genehmigung gebeten, die nächsten Stunden außerhalb des Ministeriums zuzubringen. Im Zweifelsfall konnte er sie ja über die kleinen Silberdosen zurückbeordern.

Es klopfte. Etwas grummelig rief er: "Herein!" Auf diese Aufforderung hin betrat seine Tochter Bärbel das Büro. Gemäß der Vorschriften, dass Verwandtschaftsverhältnisse innerhalb der Dienstzeiten nicht erwähnt werden sollten sprach sie ihren Vater und Vorgesetzten mit den Worten an: "Herr Weizengold, Sie wünschten zu erfahren, was die Franzosen über die Schattenlosen denken."

"Wie, Sie haben schon Antwort aus Paris?" fragte Armin Weizengold.

"Hier, per E-Mail, Herr Weizengold", sagte Bärbel und reichte ihm zwei Seiten Papier. Armin Weizengold nahm die Seiten und las, dass Julius Latierre die Sache weitergegeben hatte und sich mit seinen Vorgesetzten darüber verständigen wollte, wie eine aufeinander abgestimmte Verfolgung dieser Schattenlosen stattfinden konnte, ohne weitere Hexen und Zauberer zu gefährden. Armin stutzte beim lesen. Dann sah er seine Tochter leicht ungehalten an und raunzte: "Haben Sie diesem Julius Latierre etwa geschrieben, dass einer dieser Schattenlosen bei einem Festnahmeversuch explodiert ist? Das hatten wir eigentlich zur Vertrauenssache erklärt."

"Genau aus dem Grund habe ich das ja erwähnt, weil ich Monsieur Latierre in dieser Hinsicht voll vertrauen kann, dass er das nicht in eine der vielen Zaubererzeitungen reinschreiben lässt. Außerdem müssen die unsere Fehler nicht wiederholen und eigene Leute verlieren, nur weil wir sie nicht früh genug gewarnt haben", erwiderte Bärbel unerschüttert.

"Der Junge ist mit einer Frau verheiratet, die selbst bei einer Zeitung arbeitet. Wenn er der auch so vertraut wie ... sie ihm ... haben wir wohl bald einen sämtliche Wichtel auf alle Dächer scheuchenden Alarmartikel in der Feenstimme, dem Hexenspiegel, dem goldenen Wachhorn und womöglich auch der wilden Jagd stehen, verflixt noch mal!" polterte Armin Weizengold. "Oder erzählt dieser junge Bursche dir ... öhm ... ihnen alles, was in seiner Abteilung zur Vertraulichkeit über Stufe C1 erklärt wird, Fräulein Weizengold?"

"Herr Weizengold, Sie erteilten mir den Auftrag, mit den Franzosen über die Vorfälle mit den Nachtschatten zu korrespondieren. Da diese schattenlosen Leute dazugehören betrifft es also auch diese und deren drastisches Ableben. Ich wies ihn auch darauf hin, dass wir diese Angelegenheit als Vertraulichkeit der Stufe C5 eingeordnet haben, eben um keine unnötigen Wichtelflüge und Kesselumstürze zu verursachen. Deshalb habe ich Ihre Verärgerung nicht verdient, Herr Weizengold", blieb Bärbel unerschüttert und standfest.

"Ich muss mich im Zweifelsfall vor Minister Güldenberg verantworten, wenn das durchsickert, dass in Deutschland Leute ohne natürlichen Schatten herumlaufen und bei Enttarnung mit Wucht detonieren, weshalb sie besser einfach machen sollen, was sie machen wollen. Das Problem ist nur, Sie und andere aus dieser Abteilung würden dann mit in den Abgrund gezogen."

"Ich weiß jetzt nicht, was Ihnen so dermaßen den Tag verdorben hat, Herr Weizengold, aber ich habe mich genau an die von Ihnen erteilte Weisung gehalten und Ihren Bitten entsprochen. Ich bin mir sicher, dass auch Monsieur Latierre keine wilden Wichtel auf den Dächern haben will. Außerdem hat er nicht nur eine Ehefrau bei einer Zeitung, sondern auch und vor allem Verbindungen zu Mitgliedern der Liga gegen dunkle Künste. Und die wissen das auch schon längst, was hier passiert ist", erwiderte Bärbel. Ihr Vater atmete zweimal durch und nickte dann zustimmend.

"Gut, dann möchte ich mich bei Ihnen bedanken, dass Sie mir die Antwort auf unsere Anfrage zugestellt haben. Öhm, ein Memoflieger hätte es aber auch getan."

"Ich hatte gerade Freiraum und wollte die Unterlagen bei Ihnen selbst vorbeibringen. Außerdem wollte ich sagen, dass Sie, Herr Weizengold, sich bitte keine Sorgen um mein Privatleben machen möchten, auch wenn Sie meinen, Sie müssten dies, weil ich Ihre Juniormitarbeiterin bin und Sie mein Vorgesetzter. Ich hege weder Interessen noch Absichten im Bezug auf eine außerdienstliche Verbindung mit Fräulein Albertine Steinbeißer. Im Gegenteil, ich möchte mit deren Privatleben möglichst nichts zu schaffen haben, weshalb ich ja damals in Millemerveilles wohnte, als der vermeintliche Mord an Minister Güldenberg begangen wurde. Ich hoffe, Sie erkennen diese meine Aussage als Verbindlich an. Mehr möchte ich dazu nicht sagen."

"Gut, dann danke ich Ihnen für die Zustellung der von Ihnen erhaltenen Antwort. Bitte begeben Sie sich wieder in ihr Dienstzimmer!" Bärbel nickte und bestätigte den Erhalt der Anweisung. Dann verließ sie das Büro ihres direkten Vorgesetzten und Erzeugers.

"Entweder werde ich alt oder wieder zum leicht zu verstörenden Jüngling", dachte Armin. Das seine Tochter seine Anfuhr derartig selbstbeherrscht weggesteckt und ihn immer korrekt angesprochen hatte sollte ihm zu denken geben. Doch wer wusste schon, was noch alles passieren würde?

__________

"Ich soll als mein eigener Vater auftreten, höchste Schwester?" fragte Albertine, als sie sich mit Anthelia in einem Kellerraum in der Nähe des frankfurter Hauptbahnhofes traf. Anthelia hielt einen kleinen, goldenen Schlüssel hoch, auf dem GriFraDeu-004 in winzigen Buchstaben eingraviert war. Außerdem konnte Albertine dank ihrer Kunstaugen magisch glühende Symbole erkennen, die mit einer leichten Goldschicht überdeckt waren und sich in einer bestimmten geometrischen Anordnung über den Schlüsselbart und den Griff verteilten. Da konnte sie auch lesen, dass der Schlüssel mit den Runen für Mann, Stein und Zähnen markiert war.

"Öhm, wie hast du bitte diesen Schlüssel ergattert?" fragte Albertine.

"Dein Vater hat ihn mir vor der Tür deines Elternhauses hingelegt", sagte Anthelia. "Mir war klar, dass wenn ich deinen Schlüssel eingefordert hätte die Kobolde Verdacht geschöpft hätten, sofern deine Eltern denen mitgeteilt haben, dass du nicht mehr an ihr Verlies darfst. Außerdeem war er gerade auf dem Weg zu einem Heiler in Spanien, der ihm seine weggefluchte Zeugungsfähigkeit zurückgeben soll, wenngleich mir als ausgebildeter Heilerin kein solcher Zauber einfällt, der einen magisch entmannten Zauberer oder eine auf magische Weise ihrer inneren Geschlechtsorgane beraubten Hexe das verlorene zurückgeben kann. Da ginge eigentlich nur Infanticorpore oder der Iterapartio-Zauber, um jemanden völlig unversehrt von magischen Verletzungen zu bekommen. Aber es sind ja seit meiner ersten Ausbildung etliche Jahrhunderte verstrichen."

"Öhm, du hast mitbekommen, was meinem Vater ... Gut, Ich erkenne, dass diese leidige Sache dir irgendwann zugetragen worden wäre, von mir oder einem meiner Verwandten. Also, ich soll mit dem Schlüssel meines Vaters in das Verlies hinunter. Alleine oder mit dir zusammen?"

"Wir gehen zusammen. Ich setze eine Maske auf und ziehe Handschuhe an, die meine Hautfarbe verbergen. Du wandelst dich bitte soweit es geht, dass du deinem Vater täuschend ähnlich siehst. Ach ja, bitte bringe dies hier so nahe es geht an deinen Körper!" Mit diesen Worten gab sie ihrer Mitschwester eine kleine Glaskugel, die beim Anfassen einen goldenen Lichtschimmer ausstrahlte. "Wozu die?" fragte Albertine. Anthelia erklärte es ihr. "Dann macht diese kleine Murmel, dass die Kobolde nicht erkennen können, ob jemand lügt und halten was sie sehen und hören weiter für die Wahrheit? Dann mach ich das so."

Schnell und Präzise vollführte Albertine vor ihrem vorübergehend auf vierfache Größe aufgeblähten Taschenspiegel die Verwandlung ihres Haares und ihres Gesichtes. Da ihre neuen Augen ihren natürlichen farblich angepasst waren und ihr Vater dieselbe Augenfarbe hatte musste sie da nichts machen. Dann stellte sie mit dem Zauber "Varivox!" ihre Stimme so um, dass sie nun wie ihr eigener Vater klang. Als das erledigt war praktizierte sie die kleine Glaskugel wahrhaftig so nahe an ihren Körper wie es ihr möglich war. So würde auch kein Aufrufezauber sie von ihr wegreißen können. "Ich bin Alarich Steinbeißer aus dem Haus Sieben buchen." Ihre stimme klang wahrhaftig so wie die von Alarich, erkannte Anthelia. Sie bemerkte auch, dass das Glas mit dem Zauber "Bild der großen Mutter" ihren Gedankenhörsinn für Albertine ein wenig abschwächte. So konnte auch Anthelia ihre äußere Erscheinung durch die erwähnte Maskerade und eine blonde Perücke verändern.

Danach apparierten sie im Abstand von zwanzig Sekunden in die Blaubirnengasse, die wahrhaftig viele Blautöne enthielt, ansonsten aber einer Kopfsteinpflasterstraße wie zur Römerzeit oder dem sogenannten heiligen römischen Reich deutscher Nation entsprach.

"Du bittest um die Begleitung von Gringotts-Zweigstellenleiter Ratzpack, weil du ja an eurem Wachdrachen vorbei musst und wichtige Dinge aus deinem Verlies entnehmen möchtest", mentiloquierte Anthelia, die einige hundert Meter weiter hinter ihr ging. "Ich nehme mir einen anderen Kobold vor. Wenn alles so läuft, wie ich geplant habe, treffen wir uns vor dem Verlies deiner Eltern."

Albertine ging schnurstracks in das Bankgebäude. Ihr weiter grüner Reiseumhang verbarg ihre nicht umgestalteten Formen sehr gut. Sie trat an einen der Marmorschalter heran und stellte sich vor. "Oh, Herr Steinbeißer. Lange nicht mehr gesehen", sagte der Kobold, nachdem er Albertine eine halbe Minute lang begutachtet hatte. Dann fragte er, was er für "ihn" tun könne.

"Ich benötige eine größere Goldmenge und einen Gegenstand aus meinem Familienvermögen aus dem Sicherheitsverlies. Hier ist der Schlüssel", sagte sie mit ihres Vaters Stimme. Sie legte dem Kobold den Schlüssel hin. Der Kobold nahm und prüfte ihn. Dann sagte er:

"Da Sie ein Verlies der zweithöchsten Sicherheitsstufe besitzen benötige ich die entsprechende Ausrüstung."

"Da die Angelegenheit möglichst schnell und ohne langwierige Überprüfungen abgeschlossen werden soll benötige ich die Begleitung eines hohen Sicherheitsbeauftragten. Wenn es geht möchte ich gerne vom höchsten Sicherheitsbeauftragten bei Ihnen begleitet werden."

Ein anderer Kobold kam durch eine von vielen kleineren Türen hinter dem Schalter herein und steuerte seinen Kollegen an.

"Schwellback, sehe ich richtig, Herr Alarich Steinbeißer?" fragte der wesentlich ältere Kobold. Der eben noch zu Albertine sprechende Kobold verbeugte sich vor dem älteren Kobold und bestätigte es. "O, möchten Sie in ihr Verlies?" fragte der ältere Kobold.

"Ja, das möchte ich", sagte die Teilverwandelte. "Ich benötige für ein Geschäft im Ausland ausreichende Goldmengen und einen Gegenstand aus unserem Familienvermögen", flüsterte sie dem älteren zu. "Deshalb möchte ich gerne mit einem Sicherheitsbeauftragten hinunter, der sich mit den Schutzmaßnahmen besser auskennt als andere Ihrer Kollegen."

"O Dann begleite ich sie. Ich bin Ratzpack, der Direktor von Gringotts", erwiderte der ältere Kobold mit leicht schleppender Stimme, als müsse er die Worte einzeln aus seinem Gehirn über die Zunge befördern. Dann sprach er ziemlich flüssig weiter: "Ich begleite Sie persönlich hinunter." Dann rief er noch: "Ich brauche die Klirrer!" Ein anderer Kobold brachte die lauten Metallscheiben an Schnüren. Danach geleitete der Kobold Albertine durch den Zugang zu den Schienenwagen, mit denen es in die Tiefen von Gringotts ging.

"Gut, ich folge dir in wenigen Minuten", hörte Albertine Anthelias Gedankenstimme. Sie bestätigte erst, als der Schinenwagen losgefahren war.

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Anthelia hatte sich unsichtbar einige Dutzend Meter vom Bankgebäude hingestellt und holte erst aus der linken Umhangtasche einen ovalen Weihestein. Diesen drückte sie an ihre Stirn und tippte ihn mit dem Zauberstab an. Sofort sah sie durch die Augen eines anderen, die des Kobolds Ratzpack. Mit konzentrierten gedanken befahl sie ihm, sein Büro zu verlassen und Hern Steinbeißer zu fragen, ob er Hilfe brauchte. Dann beobachtete sie, wie der Kobold mit der teilverwandelten Hexe den Zugang zu den Schinenwagen aufsuchte. Sie mentiloquierte ihrer Mitschwester, dass sie dieser gleich folgen würde. Danach nahm sie einen anderen Weihestein aus der rechtenUmhangtasche und legte auch diesen an ihre Stirn. Nun sah sie durch die Augen eines anderen Koboldes. "Löse deinen Kollegen an Schalter drei ab, Rollnack Ibrak Klannardak! erwarte eine Merle Knarrenburg und bringe sie nach unten zu den Verliesen!" befahl sie gleich zweimal hintereinander. Erst als sie sah, dass der von ihr unterworfene Kobold ihren Befehl ausführte machte sie sich selbst wieder sichtbar und betrat das Bankhaus.

Sie traf Rollnack an Schalter Drei und bekam ihn mit Nennung seines vollständigen Namens dazu, sie ohne Vorlage eines Schlüssels mit hinunterzunehmen. Zwar fühlte sie, dass der Kobold sich zu wehren versuchte, er musste aber ihren Befehl ausführen. Sie wusste jedoch, dass er den rein mündlichen Befehl bald schon abschütteln mochte, wenn sie ihn nicht durch die ständige Berührung des Weiehesteins unter Kontrolle behielt.

Unterwegs prüfte sie mit Ratzpacks Weihestein, ob dieser Albertine wie gewünscht zum richtigen Verlies brachte. Ratzpack bekam über eine geheime und für Menschenohren unhörbare Verständigungsverbindung einige Meldungen und Anfragen, aber nichts, was Anthelia beunruhigen mochte. Zwischendurch wechselte sie zu Rollnacks Stein und hielt ihn so immer wieder nieder, damit er sie auch ja zu diesem Verlies fuhr.

Als Rollnack da selbst einen für Menschenohren unhörbaren Anruf bekam, wohin genau er jetzt unterwegs war zwang Anthelia ihn durch den Weihestein, zu melden, dass er eine Kundin nach Verlies 101 bringen würde. Was dann kam hatte Anthelia zwar nicht erhofft, aber doch erwartet.

"101? Das gehört einem alleinstehenden Zauberer, Barnabas Kleewurz. Wer ist die Kundin, und warum haben wir ihren Wagen seit Abzweig Z auf Hauptebene I nicht mehr in der Überwachung?"

"Zu eins, die Kundin ist Kleewurzes Enkeltochter Merle Knarrenburg und hat eine schriftliche Genehmigung Ihres Großvaters, ein paar für ihn nicht mehr wichtige aber wertvolle Dinge aus dem Verlies zu entnehmen. Mehr zu wissen steht Ihnen und mir nicht zu. Punkt zwei: Mein Wagen und ich sind ganz normal unterwegs. Wieso Sie uns nicht in der Überwachung haben weiß ich nicht."

"Öhm, Schließen Sie die Hexe im Verlies ein und erwarten Sie unsere Sicherheitstruppen. Wir müssen sichergehen, ddass es keine Diebin ist", bekam Anthelia über Rollnacks Gedanken mit. Sie zwang ihn zu melden dass er verstanden habe.

"Verstanden, ich melde mich nach Vollzug", erwiderte Rollnack dem Sicherheitskobold.

Der Rest der Fahrt verlief ohne weitere Zwischenfälle. Als sie kurz vor Verlies 004 anhielten Warf Anthelia Rollnacks Weihestein weit hinter sich und zielte mit dem Zauberstab hinter sich. "Panhidur sut Naanpanhidur!" In etwa zwanzig Metern Entfernung krachte es, und eine grün schimmernde Staubwolke füllte die Breite des Ganges aus. Gleichzeitig schrie Rollnack auf. Dann zerfiel er in nur zwei Sekunden zu grauer Asche. So sah es also aus, wenn der Weihestein eines Koboldes so abrupt alle Kraft freisetzte und verging, bemerkte Anthelia. Dann zog sie ihr Flammenschwert, sprang von dem Wagen herunter und lief die letzten fünfzig Meter. Dabei entzündete sie die Flammenklinge und rief dem aus einer Nische hervortretenden Drachen auf Parsel zu: "Bleibe wo du bist und rühre dich keinen Fußbreit!" Sie beachtete die tiefen Schrammen und Narben auf der blauen Schuppenhaut nicht weiter. Sie eilte zu Albertine, die neben dem im Moment reglos dastehenden Ratzpack stand.

"Mach diese Tür auf, Ratzpack Girax Hannorguk!" befahl Anthelia mit einer Hand an dem Weihestein des Gringotts-Direktors. Dieser löste sich aus der Erstarrtheit und ging auf die silberne Tür zu. Albertine gab ihm den Schlüssel. Ratzpack steckte ihn in das Schloss und drehte ihn viermal herum. Dann vollführte er mit seinen schlanken Händen noch einige Berührungen an der Tür. Weitere Riegel sprangen rasselnd auf. Dann tat sich die Tür auf.

Das grüner Rauch aus der Tür kam kannten Anthelia und Albertine von anderen Gringotts-Verliesen. Doch der Rauch war ein Nebel und leuchtete aus sich heraus. "Bleib besser draußen, weil du kein Familienmitglied bist", dachte Albertine. "Der Brodem des rechten Blutes, gepaart mit einigen anderen Nettigkeiten, die mein Vater mir mal erklärt hat." Anthelia wollte zwar in das Verlies, weil sie dachte, welche Zauber auch immer dort drinnen aushebeln zu können. Doch dann erkannte sie, dass genau das ihr Verhängnis werden konnte. Denn solange die Zauber nicht bekämpft oder gar zerstört wurden blieb für die Kobolde alles in Ordnung.

Albertine betrat das Verlies und sah sich um. Mit ihren Augen konnte sie den grünen Nebel genauso durchdringen wie einen Tarnumhang, eine magische Illusion oder einen mehrere Meter dicken Metallklotz. So konnte sie sehen, was sie suchen sollte. Denn das war die Kunst. Wer sich vorstellte, was er oder sie aus dem Nebel holen wollte und wo es lag, nur der konnte es auch aus dem Nebel holen. Wer das nicht wusste und dreimal ins leere oder die falsche Sache ergriff, löste den Flagrante-Zauber und nach dem sechsten Versuch einen Anwachszauber aus. Nach nur einer Minute konnte Albertine zwischen den mit Galleonen, Sickel und Knuts gefüllten Säcken und Truhen und den silbernen Servicen und einem großen, mit Goldbändern umspannten Eichenfass auch einen kleinen Tisch mit weißer Leinendecke sehen, auf dem eine zwanzig mal zwanzig mal zehn Zentimeter messende Schatulle aus reinem Silber stand, in die magische Muster und Runen eingraviert waren. Albertine las zudem noch einen unter dem Deckel eingravierten Vers in Deutscher Schreibschrift:

Nur wer mein Blut im Leibe trägt
auf den ist dies Gefäß geprägt

Sie griff mit der linken Hand gezielt nach der Schatulle und zog sie behutsam heran. Der Nebel um sie leuchtete heller. Jetzt griff sie auch mit der rechten Hand zu und hob den silbernen Kasten vom Tisch. Sie fühlte, wie etwas aus dem Kasten in ihren Körper einströmte und im Gleichtakt mit ihrem Herzschlag pulsierte. Mehr passierte nicht. Also hatte sie die Probe bestanden. Sie durfte die Schatulle besitzen und wohl auch öffnen. Erst dachte sie, jetzt schon hinauszugehen. Doch dann fiel ihr ein, dass für die Tarnung ja doch eine gewisse Menge Gold Nötig war. So nahm sie einen der kleineren Beutel, in dem mindestens achthundert Galleonen steckten. Diesen Beutel hängte sie sich über die Schulter. Sie klemmte sich die silberne Schatulle unter den linken Arm und verließ das Verlies.

Anthelia überwachte indes Ratzpack, Dabei erfuhr sie, dass sämtliche Wagen wieder angehalten worden waren, weil etwas wie ein magischer Aufschrei durch die Überwachung gegangen war. Sie hatten alle gerufen. Alle hatten sich gemeldet, nur Rollnack nicht. Anthelia nahm es als Fehler der Voreiligkeit hin, Rollnack jetzt schon getötet zu haben. Jedenfalls hatte sie Ratzpack befohlen, von dessen letzten gemeldeten Standort aus nach Rollnack suchen zu lassen. Das brachte die Suchmannschaft zwar auch in die Nähe von Verlies 004, aber keine Suche zu befehlen wäre den Kobolden sicher verdächtig vorgekommen. Außerdem wollte Anthelia sowieso wieder mit der Transportkorbkette fahren, sofern die hier auch sowas hatten.

Als Albertine mit der Schatulle und einem klimpernden Lederbeutel aus dem Verlies kam belegte Anthelia erst sie und dann sich selbst mit dem Zauber "Gnade der großen Mutter", wofür sie zwei weitere Diamanten aus ihrem Großeinkauf bei Tiffany's opferte.

"Wir kriegen gleich Besuch, höchste Schwester", dachte Albertine unvermittelt. "Über uns wuseln mindestens fünfzig Kobolde herum, alle mit Armbrüsten und Kurzschwertern bewaffnet. Sie sind noch zwei oder drei Stockwerke über uns. Wegen der ganzen Eisenklötze in der Decke kann ich das nicht auf den Meter genau einordnen."

"Tja, dann kommen wir so nicht mehr hoch, wie wir herunterkamen", dachte Anthelia ihrer Bundesschwester zu. Dann zielte sie mit dem Zauberstab auf die Schellen der vier Ketten, mit denen der Drache gefesselt war. Mit der immer noch brennenden Klinge Yanxothars auf den Drachen deutend befahl sie in der zischenden Schlangensprache Parsel: "Zerstöre die Eisenwagen im Gang vor dir und flüchte nach oben! Greif jeden an, der auf dich zurennt! Wer dir weh tun will ist dein Todfeind!"

Der Drache, schon dabei, auf die beiden verkleideten Hexen und den Kobold zuzulaufen, blieb in der Bewegung stehen. Er erzitterte. Rauch quoll aus seinen bebenden Nüstern, und sein langer, schuppiger Schwanz pendelte gefärhlich von links nach rechts. Dann, mit einem Ruck, warf sich der Drache herum und preschte mit den Boden erzitternden Schritten davon. Anthelia und Albertine fühlten die Windböe, die der ausschlagende Drachenschwanz ihnen entgegentrieb.

"Darf ich wissen, was du mit dem Drachen gemacht hast?" fragte Albertine rein gedanklich.

"Siehst du doch", erwiderte Anthelia mentiloquistisch. Gerade blies der Drache laut tosend blassblaues Feuer gegen den am nächsten stehenden Wagen. Dieser glühte gelb auf und sackte wie ein Haufen feuchtes Laub in sich zusammen. Keine Zwei Sekunden später zerschmolz auch der zweite Schienenwagen im Feueratem des losgelassenen Drachens.

"Der wird alle Kobolde umbringen oder selbst getötet", bemerkte Albertine mit der Stimme ihres Vaters.

"Willst du mit mir bei der Flucht aus Gringotts gesehen werden?" fragte Anthelia. Dann drückte sie sich wieder den Weihestein für Ratzpack an die Stirn.

"Alarm! Unbekannte Hexe hat Wachdrachen vor Verlies 004 befreit, ist in selbiges gerannt und hat den Kunden Steinbeißer mit Unterwerfzauber angegriffen. Habe schnell beide in Verlies eingeschlossen. Drache hat Schienenwagen mit Feuer zerstört. Benutze Notfluchtmöglichkeit, um schnellstmöglich auf oberste Ebene zurückzukehren. ! Äußerste Vorsicht vor dem Drachen!" brachte Anthelia Ratzpack dazu, über das geheime Wortübermittlungssystem seine Leute zu informieren. Dann trieb sie ihn wie ein Kutschpferd vor sich her, wobei sie von ihm vorderte, den Notschacht zu benutzen. Zeitgleich hörte sie die Meldungen, dass von Rollnack bisher keine Spur gefunden wurde und sie das Brüllen eines wütenden Drachens gehört hatten.

"Ich bin auf Weg zu Notfluchtmöglichkeit. Achtung! Achtung! Achtung! Drache will sicher nach oben!" ließ sie Ratzpack noch sagen. Dann konzentrierte sie sich darauf, dass er den Notausgang dieser Ebene öffnete.

Albertine indes folgte der höchsten Schwester. Irgendwie hatte die mit ihrem Schwert und dem Gefauche den Drachen auf die Kobolde gehetzt. Sie wusste, das dieses Schwert Feuerwesen unterwerfen und zu allem möglichen treiben konnte. Es aber jetzt direkt vor Augen und Ohren geführt zu bekommen war schon was anderes, als nur davon gehört oder gelesen zu haben. Außerdem hatte Anthelia wohl noch einen Kobold an sich gebunden, und dann auch noch Ratzpack, den Chef von Gringotts persönlich. Das würde garantiert Ärger mit dem Koboldverbindungsbüro geben, sollten die Spitzohren das überhautp zulassen, dass eine Hexe oder ein Zauberer davon Wind bekamen. Denn dann kamen ja noch andere auf die Idee, sich einen wichtigen Kobold zu kapern. Das wurde sicher noch spannend, sofern sie hier überhaupt ungerupft wieder rauskamen. Denn gerade entspann sich einige Dutzend Meter über ihr und mehrere hundert Meter voraus ein furchtbares Zusammentreffen zwischen einem weiblichen Kurzschnäuzler und vierzig Kobolden, von denen zehn Klirrer dabei hatten. Die Klirrerkobolde gingen vor und machten einen Krach, der sogar noch bis zu Verlies 004 zu hören war. Doch dann sah Albertine, wie der Drache auf dem Punkt stehenblieb, tief Luft holte und dann alle Klirrerkobolde mit einer mindestens zwölf Meter langen Flamenfontäne verkohlte. Damit war das Klirrerkommando im ersten Ansatz vernichtet. Drache zehn, Kobolde null. Dann sah sie, wie die anderen Kobolde mit ihren Armbrüsten schossen. Doch die meisten Bolzen verglühten funkensprühend im nächsten blassblauen Flammenstoß des losgelassenen drachens. Die, die das Ungetüm trafen, bohrten sich tief in seine Flanken. Die restlichen Geschosse krachten gegen die Wende und zerbarsten in grünen Blitzen. Die Treffer mit den Armbrustbolzen machten den Drachen jedoch noch wütender und damit schneller und wilder.

"Nicht gegen die Wand rennen, Alarich!" warnte Anthelia sie und hielt sie an der Schulter. Sie stimmte schnell ihre Augen wieder auf übliche Sehweise ein und sah, dass sie fast gegen eine graue Granitwand gerannt wäre. Tja, zu viel sehen zu können konnte auch blind machen, dachte die deutsche Mitschwester Anthelias.

Albertine fühlte ein leichtes Kribbeln und meinte, rote und grüne Funken um sich herumtanzen zu sehen. Dann sah sie, wie der von ihrer Anführerin wie eine Marionette geführte Ratzpack mit schnellen Berührungen an bestimmten Punkten eine kreisrunde Luke öffnete. Anthelia deutete auf den dahinterliegenden Transportkorb. Albertine kletterte durch die Luke. Dabei meinte sie, etwas wolle sie mit unsichtbaren Händen festhalten, gleite jedoch ab. Dann stand sie in dem hölzernen Korb. Anthelia stieg zunächst ein. Um ihren Körper flimmerte es eine halbe Sekunde lang. Dann stand sie im Korb. Zuletzt sprang Ratzpack in den Korb. Da fiel die Luke zu.

"Gut festhalten, das geht sehr schnell aufwärts!" warnte Anthelia. Albertine sah kurz nach oben. Der Korb hing mit fvier starken Ketten unter einem anderen Korb. Darüber hing noch einer und noch einer. Albertine konnte gerade nur zwanzig übereinanderhängende Körbe sehen, bevor ihr magisches Weit-und Durchblickvermögen an der Unterseite von Korb 21 endete. Schnell sah sie nach unten und kam auf einen Korb. Ein Blick zur Seite durch eine mit vielen Eisenklötzen gespickte Wand zeigte, dass gegenüber von ihnen auch Körbe aneinandergekettet waren. Das Ding war also sowas wie ein Pater Noster. Dann wurden ihre Gedanken vom wuchtigen Anfahren der Transportkorbkette unterbrochen. Sie ging dabei ziemlich tief in die Hocke und dankte ihrem Sporttraining und der einen oder anderen heißen Liebesnacht, dass sie so kräftige und bewegliche Beine hatte.

Anthelia bekam nur flüchtig mit, was Albertine sah. Sie musste jetzt Ratzpack ständig überwachen, bis sie oben waren. Wenn der sich doch aus ihrem Bann löste, ohne dass sie das merkte, dann konnten sie von Glück reden, wenn da oben nur Kobolde mit Ketten und Handschellen warteten.

Sie verfolgte mit, wie die in höchster Alarmstimmung befindlichen Kobolde den freigelassenen Drachen zu bändigen versuchten. Doch wer sich zu weit vorwagte wurde schlagartig verbrannt.

"Drachen unbedingt töten. Gefangennahme zu gefährlich!" ließ sie Ratzpack befehlen, weil der Drache mittlerweile dreißig Kobolde niedergebrannt oder mit seinem Körpergewicht plattgewalzt hatte. "Herr Ratzpack, sind auf Hauptebene zero unterebene drei . Drache drängt zu ... Aaaah!" Wieder hatte es wohl einen der Kobolde erwischt.

Anthelia fühlte, dass all die Meldungen und die Erkenntnis, was er gegen seinen Willen getan hatte, den Widerstand des Kobolds anheizten. Wenn sie den jetzt nur einen Moment aus der Kontrolle ließ würde der sich grausam rächen. Doch er würde nicht mehr lange zu leiden haben, dachte Anthelia. Außerdem hatte er ja versagt, und Versager hatten auf dem Direktorenstuhl von Gringotts nichts zu suchen.

Die rasende Fahrt nach oben hörte langsam auf. Gleich waren sie oben. "Bin gleich auf oberster Ebene! Was ist mit Drachen?" bekam Anthelia Ratzpacks Ruf mit. "Notmaßnahme ergriffen. Drache unschädlich", bekam er zur Antwort.

albertine hatte trotz der in Boden, wänden und Decke steckenden Eisenklötze mitverfolgt, wie von vier Kobolden mehrere geflügelte Zylinder losgeschickt worden waren. Damit wollten sie wohl den Drachen erledigen. Dann waren sie zu viele Stockwerke weit oben, und Albertine konnte nicht sehen, wie es weiterging.

Sie blickte nach oben, durch die immer weniger werdenden Stockwerke hindurch. "Keine Wache an oberster Luke", schickte sie ihrer Anführerin zu. Diese hörte sie offenbar nicht. Sie behielt den Stein an der Stirn. Denn der Kobold, der sie bisher so sicher hinein- und hinausgeführt hatte, schien sich gegen den magischen Zwang zu wehren, den Anthelia auf ihn ausübte. Albertine blieb also ebenfalls auf der Hut. Dann waren sie oben.

"Keine Wächter an der Luke", vermeldete Albertine. Anthelia nickte und deutete auf die Luke. Ratzpack kämpfte sich mehr als zu gehen an die Luke heran und drückte mal hier und mal dagegen. Die Luke schwang auf. Der Kobold wollte zum Sprung ansetzen, doch Anthelia befahl ihn zurück. Dann stiegen Albertine und sie aus.

"Mach die Nottür ins Freie auf!" befahl Anthelia dem Kobold, sobald er aus der Luke gesprungen war. Er versuchte gerade, seine Finger auf einen bestimmten Knopf zu bekommen. Da riss etwas diesen Knopf von seiner grün-goldenen Jacke und schleuderte ihn davon. "Und jetzt die Tür auf, Ratzpack Girax Hannorguk!" befahl Anthelia. Wie ein getretener Hund ging der Kobold an eine weitere Stelle in der Wand. Albertine konnte nur wie durch weißen Nebel sehen. Offenbar steckte eineMenge Magie in dieser Wand, die auch von ihren Augen nicht durchdrungen werden konnte. Dann ging eine schmale Tür auf. "Los, raus!" zischte Anthelia ihrer Mitschwester zu. Das ließ diese sich nicht zweimal sagen.

Ratzpack stand in der offenen Tür, versuchte wohl vergeblich, irgendwas mit seiner Jacke zu machen. Dann funkelte er Anthelia an. Die hatte immer noch ihr Feuerschwert in der Hand, aber die Flammen waren eingefroren. "Du wirst meinen Stein nicht behalten. Meine Leute werden dich finden", schnaufte der am ganzen Leib bebende Kobold.

"Du hast recht, ich werde den Stein nicht behalten. Aber deine Leute werden mich nicht finden", sagte Anthelia leise. Dann warf sie den Stein mit ganzer Kraft hinter sich. Ratzpack fühlte wohl eine schwere Last von sich abfallen. Er lief los, den Stein zu fangen. "Öhm, wenn er den kriegt ist er frei", zischte Albertine. "Ja, von allem", zischte Anthelia zurück. Da sahen beide, wie Ratzpack hochsprang, den Stein mit den Händen ergriff und ... Bums! eine Wolke aus grünem Feuer und Staub dehnte sich in einer einzigen Sekunde in alle Richtungen aus und erreichte auch die zwei verkleideten Hexenschwestern. Rot und grün umflogen sie die Funken. Dannließ die Druckwelle deutlich nach. Sie konnten immer noch frei atmen.

"Das war gemein!" dachte Albertine, die schlucken musste. Anthelia hatte dem Kobold eine tödliche Falle gestellt.

"Ob er sich selbst oder ich den Stein zerstört hätte kommt für mich auf dasselbe heraus. Er hätte uns verraten. Komm, wir verschwinden, solange der Staub sich noch nicht gelegt hat!" Dem konnte Albertine nicht widersprechen.

Als sie fünfzig Kilometer von Frankfurt entfernt auf einem von Anthelia ausgekundschafteten Waldgrundstück apparierten half Albertine der höchsten Schwester, die Schatulle in einer mehrschichtigen Drachenhauttasche unterzubringen. "So, da steckt genug Magie zwischen mir und der Schatulle", sagte Anthelia. "Am besten begibst du dich sofort nach Umkehrung aller Verwandlungen in dein Büro zurück und meldest, dass deine Recherchen ergeben haben, dass die Schattenriesin sich aus einer Birgit Hinrichs und einer Ute Richter zusammengefügt hat. Aber das würde nur was nützen, wenn ihr den gemeinsamen Namen rausfindet. Und wenn ihr das nicht bis zum nächsten Treffen mit ihr hinbekommt, dann saugt sie eure Seelen aus und brütet euch als neue Jungen aus. Bis dann heute abend bei mir!" gab Anthelia ihrer Mitschwester noch mit. Dann disapparierte sie wieder.

Albertine stellte erst ihre Stimme wieder auf ihre natürliche Färbung um. Dann kehrte sie alle Veränderungen um, dass sie wieder wie sie selbst aussah. Dann apparierte sie erst zu ihrem eigenen Haus, um den aus Gringotts geholten Beutel mit Galleonen zu verstauen. 800 Galleonen Blutgeld, dachte sie. Über dreißig Kobolde und ein Drache hatten dafür sterben müssen. Womöglich, so dachte sie, war das noch nicht das Ende.

Kaum wieder in ihrem Büro angelangt vibrierte ihre Fernverständigungsdose. Sie klappte den Deckel auf und meldete sich.

"Warum waren sie vor einer halben Stunde nicht zu erreichen, Fräulein Steinbeißer?" wurde sie von ihrem Chef gefragt. Sie erwiderte ganz ruhig:

"Gemäß der Unauffälligkeitsvorschrift, bei Anwesenheit an Orten, wo mehr als einhundert magielose Menschen anwesend sind alle auffälligen Artefakte vorübergehend stillzulegen, Herr Weizengold. Ich war in der Hamburger innenstadt. Jetzt bin ich wieder in meinem Büro."

"Dann kommen Sie unverzüglich zu mir und erstatten Bericht!" erwiderte Weizengold.

Albertine argwöhnte, dass jemand sie doch verdächtigte, in Gringotts eingebrochen zu haben. Doch als sie durch die Türen sah, dass bei Weizengold kein Kobold und auch keiner aus dem Koboldverbindungsbüro saß, atmete sie auf.

Ganz ruhig erstattete Albertine nun ihren Bericht, so wie Anthelia das ihr vorgeschlagen hatte. Armin Weizengold legte seine Stirn in Falten und überlegte. Dann sagte er: "Dann ist es wohl amtlich, dass dieses Ungeheuer die magielose Welt besser kennt als wir. Übrigens, was diese dumme Bemerkung des Kollegen Krautwein angeht, so werde ich es, Ihr Einverständnis vorausgesetzt, bei einer mündlichen Ermahnung belassen."

"Ich habe das schon vergessen, als ich durch Ihre Tür hinausgegangen bin, Herr Weizengold. Ein Junge, der gerade zwei Jahre aus Greifennest heraus ist kann mir weder imponieren noch mich ernsthaft beleidigen. Also können Sie diese Bemerkung auch offiziell als dummen, unwichtigen Wortausrutscher werten, ohne Kommentar, ohne Ermahnung, noch sonst was", sagte Albertine.

"Ich muss als Ihrer beider Vorgesetzter schon auf die Einhaltung von Umgangsformen und Anstandsregeln achten, was Sie ja doch sehr gut wissen", sagte Armin Weizengold. "Nur, wenn Sie sich nicht angegriffen fühlen kann ich das eben nur als ungehörige Bemerkung werten."

"Ich sehe kein Problem darin, was Herr Krautwein gesagt hat. Nicht, weil ich irgendwelche Interessen hätte, sondern weil der junge Mann genau das nicht kriegen soll, was er damit erreichen will, mehr Beachtung. Auch eine Maßregelung ist eine Form von Beachtung und Anerkennung", fügte sie hinzu. Dem konnte Weizengold nicht widersprechen.

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"Du bist dir sicher, dass es der Alarich Steinbeißer ist, der das Hochsicherheitsverließ 004 geerbt und mit seiner Familie unterhält? Wurde der leicht zitternde Kobold Schwellback vom ältesten der im rot-golden erleuchteten Raum versammelten sieben Kobolde gefragt, einem schon leicht gebückt gehenden, mindestens 300 Jahre alten Artgenossen, dessen Haar hellgrau gefärbt war und dessen Bart bis auf seinen Bauch hinunterwallte. Seine Finger waren schrumpelig und von dunkelbrauner, lederartiger Haut überzogen. Trotz dieser unüberseh- und unüberhörbaren Verfallserscheinungen strahlte der Graubart immer noch eine starke Führungskraft aus.

"Ich habe ihn mit den Linsen der unverhüllten Wahrheit angesehen. Der hat nicht gelogen", sagte Schwellback. Die anderen sahen ihn durchdringend an. Dann erwiderte der älteste Kobold, den sie alle als Meister Mondbart kannten:

"wir sehen, dass du nicht lügst. Wir mussten gewiss sein. Die Hexe, die sich als Kundin für euer Verlies 101 ausgab hast du nicht gesehen?" fragte der Graubart.

"Ich hörte nur davon, dass Rollnack persönlich einen Termin mit einer Kundin hatte, die er dann selbst geleitete, Meister Mondbart", erwiderte Schwellback. Herr Ratzpack, wo immer er auch gerade ist, hat sich Herrn Steinbeißers angenommen und ihn geleitet. Dass die fremde Hexe hinter ihm hergewesen sein soll erfuhren wir erst viel viel später. Da hatte Herr Ratzpack schon Alarm gegeben."

"Ja, und im Verlies 004, wo Direktor Ratzpack die Diebin und den Kunden eingeschlossen hat, war niemand. Das Ortswechseln der Zauberstabträger geht in Gringotts nicht, weil dort alle Zauber gegen fremdes Eindringen und das Herausstehlen von Dingen durch Zauberkraft misslingt. Also mussten sie doch noch entkommen sein und haben Herrn Ratzpack als Geisel genommen und gezwungen ... Ach nein, das geht ja auch nicht."

"Ihr meint die Transportkorbkette, Meister Mondbart?" fragte ein anderer der sieben Kobolde, die Schwellback gerade vernahmen.

"Ich habe damals als junger Springer miterlebt, wie ein vorwitziger Zauberstabträber versucht hat, dem damaligen Direktor in den Notschacht zu folgen, weil sein unerlaubtes Treiben aufgeflogen ist und die Fangmannschaft schon hinter ihm her war. Der ist zu Stein erstarrt, als er dem Direktor in den Korb nachklettern wollte. Seitdem steht er in der Halle der Mahnung auf der Direktionsetage. Es gibt keinen Zauberstabzauber, der diesen Fluch verhindern kann."

"Ja, aber dann müsste ja diese Hexe und vielleicht auch ihre Geisel ...." Es ploppte laut, und aus dem Kreis in der Mitte des Raumes trat ein anderer Kobold. Als er Meister Mondbart sah verbeugte er sich ganz tief. "Meister Wolkenbart und Direktor Tickleg lassen ausrichten, dass wir vor ungefähr einem Tag bösen Besuch hatten. Eine fremde Zauberstabträgerin hat sich in das von allen unseres Volkes gehütete Verlies 007 eingeschlichen und dort mindestens drei der dort von den Familien unseres Volkes zurückgelegten Weihesteine gestohlen. Offenbar konnte sie entkommen. Es ist so, dass sie wohl Sicherheitsleiter Crushrock unterworfen hat, um in das Verlies hineinzugelangen. Die entwendeten Weihesteine sind die von Crushrock, sowie zwei aus eurem Land, Ratzpack und Rollnack."

"Ist sehr nett, dass ich diese Nachricht doch noch vor meinem Tod zu hören bekomme", schnaubte Meister Mondbart. "Warum hat mein guter Freund und Silberschmied das nicht gleich an uns alle weitergegeben, dass da wer mal eben in das angeblich am besten gesicherte Verlies von Gringotts hineinschleicht und mal eben drei Weihesteine stiehlt? Wollte der erst sicher sein, dass meiner nicht auch fehlt, oder der von anderen wichtigen wie zum Beispiel Meister der Augen Deeplook? Wir haben vor einer Stunde vermeldet bekommen, dass offenbar ein Zauberstabträger und eine Hexe schön nacheinander bei uns hereingekommen sind und dann in einem anderen Hochsicherheitsverlies mit Doppel-0-Status irgendwas angestellt haben und dann spurlos verschwunden sind, nachdem ein dort angeketteter Drache freigelassen wurde und ganz gezielt auf unsere Leute Jagd gemacht hat, bis einer der Drachenbremszylinder ihn erledigen konnte. Wir wissen nicht wer, nicht was und auch nicht woher und wohin. Und da sagst du kleiner Bote uns, dass da gestern wer genau die Weihesteine von Direktor Ratzpack und Sicherheitshüter Rollnack gestohlen hat, womit er oder sie die beiden wunderbar unterwerfen kann, wenn er ihnen androht, die Steine zu zerstören. Ja, und ganz sicher hat er oder sie das dann auch. Oder was sagt euer Crushrock?"?

"Crushrock ist tot. Wir haben nur Asche gefunden, da wo der Notausstieg war", sagte der Bote. "Ja, wie von dir, wenn du nicht ganz schnell wieder nach London zurücksaust und meinen guten alten Saufbruder sagst, dass ich persönlich demnächst bei ihm vorbeikomme und ihm mit meinem Föhrenholzstock so richtig heftig die Frisur zerzause. Ab mit dir!" Der Bote nickte und verschwand nach zwei kräftigen Aufstampfern wieder im Boden.

"wie erwähnt, schön, dass wir alle das so früh erfahren haben", grummelte Meister Mondbart.

"Heißt das jetzt, dass wir alle demnächst von so'ner blöden Rundohrin mit Zauberstab wie diese blöden Hauselfen dressiert werden oder wie diese stinkenden Laufleichen stumpfsinnig alles machen müssen, was die sagt?" wollte einer der anderen Kobolde wissen. Darauf konnte ihm keiner eine Antwort geben.

"Das gehört in die Hände der tausend Augen und Ohren", sagte Meister Mondbart nach einiger Zeit. "Aber, Leute, das sollen die Zauberstabschwinger bloß nicht wissen, dass da wer herausbekommen hat, wie unsereins von denen unterworfen werden kann. Also, in Gringotts London und Frankfurt ist nichts passiert; verstanden?!" Alle nickten ihm zu.

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Albertine war es nicht ganz geheuer, als sie um elf Uhr abends ihrer Zeit über mehrere Etappen in die Nähe von Dropout im Staate Mississippi apparierte. Sicher, sie hatte diesen Unfug mit dem Testament angefangen, weil sie diesen Traum gehabt hatte. Sie hätte es doch einfach dabei belassen können. Aber jetzt hatten sie und die höchste Schwester mindestens dreißig Kobolde und einen sicher nicht ganz billigen Drachen auf dem Kerbholz, vom Schaden am untadeligen Ruf von Gringotts ganz zu schweigen. Wenn das rauskam würden viele Hexen und Zauberer ihr Goldvermögen und ihre Wertsachen da herausholen. Das konnten und würden sich die Kobolde nicht bieten lassen. Hoffentlich rechtfertigte der Wortlaut des Testamentes oder mögliche Hinweise auf versteckte Güter der legendären Trude diese ganzen Schwierigkeiten.

Mit leisem Plopp apparierte die höchste Schwester im Salon. Sie trug die aus mehreren Lagen Drachenhaut gefertigte Umhängetasche mit den gegen Flüche abschirmenden Silberverzierungen bei sich. Albertine deutete fragend auf die Tasche. Anthelia nickte und stellte das Handgepäckstück auf den großen Tisch.

Bevor Albertine die Schatulle aus der Tasche holte versuchte sie, mit ihren magischen Augen durch die Tasche in die Schatulle zu blicken. Doch aus zehn Schritten Abstand gelang ihr das nicht so recht. Da war ein bläulich-silberner Nebel, der innerhalb der Tasche waberte. Sie ging näher heran. Da lichtete sich der Nebel mehr und mehr, bis sie in nur einem Schritt entfernung mit leicht zitternden Augen durch die Tasche und die Schatullenaußenwand blicken konnte. Das erbeutete Gefäß enthielt nur eine Pergamentrolle. Albertine dachte das Auslösewort für Aurensicht, eine Zusatzeigenschaft ihrer magischen Augen. Jetzt konnte sie erkennen, dass sowohl die Schatulle, als auch die darin geborgene Rolle von einer sehr langsam an- und abschwellenden, blutroten Aura umgeben wurde. Blutrot, so hatte sie im Eingewöhnungs- und Einarbeitungskurs für ihre Augen gelernt, stand eben für eine auf tierische Wesen wirkende Kraft, eben von Blut bedingter Zauber, welche auf das Blut anderer wirkten. Ihr Einweisungsheiler hatte ihr erzählt, dass echte Auravisoren bei Vampiren eine solche blutrote Aura sehen konnten, was auch ungefähr erklärte, wie das in den USA entwickelte Vampyroskop funktionieren mochte. Allerdings funkelten zwischendurch auch dunkelblaue und silberne Schlieren in der blutroten Aura. Die Rolle steckte in einem goldenen Haltering, der in der Aurenansicht im bläulich grünlichen Farbmuster glomm. Also war der Haltering auch magisch. Albertine ging noch näher heran, um nun auch die Nahsichtwirkung ihrer Augen zu benutzen. Sie erkannte in dem Haltering winzige Symbole, die sie an ägyptische Hieroglyphen erinnerten. Mochte es sein, dass der Haltering mit altägyptischen, durch ihre entsprechenden Symbole dauerhaft gemachten Zaubern versehen war?

"O, der Haltering ist offenbar mit dem Siegel von Fleisch und Blut versehen", sagte Anthelia unvermittelt. Albertine erkannte, dass die höchste Schwester sich wohl in ihre Sinneswahrnehmung eingeschlichen hatte, um zu sehen, was sie gerade sah. Albertine erwiderte: "Mit altägyptischen Zaubern habe ich keine Erfahrung."

"Die Symbole besagen, dass nur wer von selbem Fleisch und Blut ist den Ring von der Rolle herunterziehen kann. Ich möchte die Rolle aber erst einmal mit Flucherkennungszaubern überprüfen, bevor du sie entrollst." Albertine nickte zustimmend.

Zunächst stimmte sie ihre Augen wieder so ein, dass sie ihre direkte Umgebung so sah wie alle anderen Menschen auch. Danach öffnete sie die Tasche und griff die silberne Schatulle. Wieder meinte sie, etwas warmes ströme daraus hervor und durchfließe sie. Sie zog die Schatulle frei und stellte sie auf den Tisch. Sie zu öffnen war kein Problem, weil die sechs Verriegelungen keine mechanischen Schlösser besaßen. So brauchte Albertine die Verriegelungen nur zu lösen und die Schatulle aufzuklappen.

Nun lag die Pergamentrolle so vor ihnen, dass Albertine sie ohne Durchblickwirkung ansehen konnte. Sofort fiel den beiden Hexen auf, dass das Pergament mit der beschriebenen Seite nach innen aufgerollt worden war. Wer keine magischen Augen hatte konnte also nicht einen Buchstaben oder ein einziges Symbol erkennen.

"Nicht anfassen, bevor ich die Rolle geprüft habe!" zischte Anthelia, die ihren silbriggrauen Zauberstab schon bereithielt. Albertine trat zur seite. Sie sah zu, wie die höchste Schwester leise murmelnd und raunend Formeln aussprach und dabei mit ihrem Zauberstab im Uhrzeigersinn kreisende Bewegungen ausführte oder leicht pendelnde Bewegungen machte. Erst reagierte das Pergament nicht. Dann sprühten blaue, grüne und violette Funken aus dem Pergament, und es erbebte in der Schatulle. Dann glühte der Haltering kurz auf, und um das Pergament legte sich eine grünliche Aura. Es knisterte noch einmal. Dann war es vorbei.

"Was zu befürchten war. An dieser Rolle hängt ein mit dem Blut des Anwenders oder der Anwendering bekräftigter Erfüllungsfluch. Wer das Stück in Händen hält und leise liest muss tun, was geschrieben steht. Wenn das Pergament laut vorgelesen wird betrifft der Fluch jeden, der den Text hört. Das raffinierte ist, dass es vier sich gegenseitig erhaltene solcher Flüche sind und dass der Haltering nicht nur das Siegel des Fleisches und Blutes trägt, sondern die Zauber, die auf dem in ihm steckenden Pergament wirksam sind unverzüglich regeneriert, wenn jemand sie zu brechen versucht, so wie ich das gerade getan habe. Außerdem hängen da auch Zauber dran, die das Pergament vor den Formen der Gewalt und der natürlichen Elemente beschützen, es also beinahe unzerstörbar machen. Es dient also auch als materieller Fokus des in ihm steckenden Fluches oder von etwas noch unheilvollerem. Deshalb wirst du das Testament nicht so lesen können wie üblich. Ah, ich erkenne auch, dass es an die Kräfte von Sonne und Mond gebunden ist. Das heißt, der Erfüllungsfluch wirkt auch dann noch auf den Lesenden, wenn es diesen Gestiernen zugekehrt ist oder Licht von diesen auf die Schrift trifft. Ja, raffiniert war deine Vorfahrin schon, wundere mich, dass ich ihr in anthelias erstem Leben nie begegnet bin."

"Soweit ich die Familienchronik von uns im Kopf habe kam Trude Steinbeißer am 22. März 1665 als Trude Amalia Rabenwald im Norddeutschen Zaubererdorf Ginstermoor zur Welt. Ihre Mutter Corvina gehörte zum Zirkel des goldenen Zaunes, der sich in der Tradition der altgermanischen Hagazussen verstand. Sie hat wohl im blutjungen Alter von achtzehn Jahren den Zauberer Adebar Steinbeißer geheiratet, dessen Vater Ortwin Bibliothekar im Tagungshaus des Bundes norddeutscher Hexen und Zauberer war. Sie hat vier Kinder bekommen, die Töchter Aurora und Lykoris und die Söhne Boreas und Austrinus. Mein Vater und dessen Vater, Großvater und Urgroßvater berufen sich auf die Linie Austrinus, weshalb sie alle A-Namen bekommen haben, einschließlich der, die gerade mit dir spricht. Wann Trude Steinbeißer starb wusste der damalige Chronist nicht. Er oder sie hat nur erwähnt, dass sie seit dem 7. Juli 1806 nicht mehr gesehen wurde, nachdem beide deutsche Hexen- und Zauberervereinigungen wegen Verwendung dunkler Zauber und anderer Verbrechen gegen die damaligen Zaubereigesetze hinter ihr hergejagt haben. Die, welche für mich bei der Stuhlmeisterin der zögerlichen Schwestern vorgesprochen hat behauptete mir gegenüber, dass ihre Urgroßmutter noch nach 1820 den noch unverwesten Leichnam Trude Steinbeißers gesehen habe, weil deren Geist ihr im Traum erschienen sei und ihr gesagt haben soll, wo ihr toter Körper liegen soll. - Okay, jetzt dämmert mir, warum ich so'n Kram geträumt haben könnte."

"Habe ich dir schon erzählt, dass mich die Chronik interessiert?" fragte Anthelia. Albertine bejahte das.

Die höchste Schwester betrachtete noch einmal das zusammengerollte Pergament. Sie beugte sich darüber und sog Luft ein. Albertine wollte ihr schon sagen, dass sie vorsichtig sein sollte, falls an das Pergament die Jahrhunderte überdauernde Krankheitserreger geheftet sein mochten. Da zog sich Anthelia zurück. "Nein, an diesem Stück Pergament haftet kein organischer Erreger, es mag eher was viel schlimmeres sein. ich spüre da so eine mir bekannte Schwingung. Das könnte auch die von deinen Augen enthüllte Aura erklären, warum sie pulsiert und nicht gleichbleibend ausgeprägt erscheint."

"Moment mal, heißt das vielleicht, das Pergament lebt oder ist beseelt oder - Oha, falls das zutrifft", seufzte Albertine. Natürlich hatte sie noch gut in Erinnerung, was nach dem endgültigen Tod Tom Riddles alias Lord Voldemort über dessen Machenschaften enthüllt wurde, ja, dass er durch besonders dunkle Zauber eigenständige Teile seiner Seele an magische Gegenstände gebunden und diese damit zu in seinem Geist und Denken wirksamen Artefakten gemacht hatte. Erfunden hatte er dieses Verfahren nicht. Falls Trude es auch schon gekannt hatte mochte sie skrupellos genug gewesen sein, es anzuwenden.

"Dann darf ich das Testament nicht einfach so anfassen", grummelte Albertine. Anthelia nickte. Doch da hatte Albertine schon die zündende Idee: "Sie hat daran gedacht, dass jemand es so aufrollen muss, dass die Schrift zum Vorschein kommt, also dass er oder sie es auf jeden Fall festhalten muss. Meistens liest jemand ja etwas bei Tageslicht oder im Kerzenschein, also auch so, dass Mondlicht darauf treffen kann. Daran hat sie auch gedacht. Aber dass irgendwann mal magische Augen erfunden werden, die selbst starke Verhüllungszauber durchblicken können, daran konnte sie zu ihrer Zeit wohl noch nicht denken. Laut meinem Traum, den ich jetzt doch ernster nehme als vorher, hat sie dieses Testament an ihrem sechsunddreißigsten Geburtstag abgefasst und da wohl auch alle Zauber eingewirkt, die du entdeckt hast, höchste Schwester. Ich brauche das Testament also nur so aufzurollen, dass die beschriebene Seite nach unten zu liegen kommt und lese es dann mit meinen Augen von oben, durch das Pergament durch spiegelverkehrt. Wie sowas geht habe ich bei der Einübung meiner neuen Sehkraft immer wieder geprobt. Ich darf es aber wohl nicht laut vorlesen, sondern nur für mich, damit dieser Fluch nicht doch in Kraft gesetzt wird."

"Ich werde mir, wie bereits gerade eben, mit dem Exosenso-Zauber deine Augen ausborgen, um mitzulesen. Denn daran hat die mich immer mehr interessierende Hexe wohl auch nicht gedacht", erwiderte Anthelia.

"Behagt mir zwar nicht so ganz, ist aber durchaus verständlich", erwiderte Albertine. "Aber wie halten wir das Testament auf dem Tisch oder auf dem Boden fest?"

"Ich denke, du kannst es so entrollen, dass die beschriebene Seite nach unten weist und in einen dunklen Raum legen, am besten unseren Versammlungskeller auf den Tisch, auf dem ich meinen zweiten Körper erhielt. Wäre ja auch eine erhabene Verbindung, falls uns Schwestern dieses Testament etwas wichtiges und voranbringendes enthüllt. Du kannst doch auch im dunklen lesen?" Albertine bestätigte es.

Behutsam nahm sie die Rolle an ihrem Haltering. Es kribbelte erst. Dann erwärmte sich der Ring ein wenig. Mehr geschah jedoch nicht. Sie hob die Rolle aus der Schatulle heraus und klappte diese mit der linken Hand zu. Ohne ihr Zutun schlossen sich die Verriegelungen wieder. Anthelia blickte die Schatulle einen Moment konzentriert an. Dann zuckte sie zurück. "Ich fürchte, was ich ursprünglich vorhatte wird misslingen. Die Schatulle weist jede form telekinetischer Kraft zurück, auch reine Gedankenkraft", sagte Anthelia. Für Albertine erschien eine solche Absicherung völlig logisch. Eine Schatulle, die nur von bestimmten Menschen berührt und geöffnet werden sollte, musste auch gegen Öffnungszauber und telekinetische Beeinflussungen abgesichert sein, ob mit oder ohne Zauberstab. Dann war zu befürchten, dass das Pergament ebenso für Fernbewegungskräfte unbeweglich war. Musste sie es dann wirklich mit den Händen berühren, um es auszurollen?

Als sie mit der Pergamentrolle in ihrem Haltering im Versammlungsraum appariert waren legte Albertine die Rolle auf den steinernen Tisch. Sie zog hier bereitliegende Antifluch-Handschuhe an und zog behutsam den Ring ab. Dabei fühlte sie trotz der Handschuhe einen warmen, kribbelnden Hauch über Gesicht und Körper streichen. "Drachendreck, dieser Ring wechselwirkt wohl mit meiner Lebensaura", knurrte Albertine. Anthelia nickte verdrossen. Dann erwiderte sie: "Das Pergament tut es, nicht der Ring. Roll es aus und halte es, ohne hinzusehen, auseinandergerollt. Wenn ich es selbst wohl nicht bewegen kann kann ich wenigstens was auf die Ecken legen, damit es sich nicht wieder einrollt."

albertine drehte sich bewusst weg und rollte das Pergament so auseinander, dass die beschriebene Seite unten war. Dann drückte sie das ganz sacht unter ihren behandschuhten Fingern pulsierende Pergament fest auf den Tisch. Sie hörte nur, wie viermal etwas auf den Tisch knallte. "Gut, du kannst es loslassen. Ich konnte vir kleine Briefbeschwerer auf die Ecken legen", sagte Anthelia. Albertine trat zurück. Denn ihr war klar, dass auch ihre mindestens auf Armlänge reichende Aura das Pergament durchdringen und seine geheimnisvolle Kraft erwecken konnte. Da sie längst gelernt hatte, aus zehn Schritt entfernung im Dunkeln zu lesen, konnte sie bis an die Wand des Versammlungsraumes zurücktreten. Anthelia löschte mit einer Zauberstabbewegung die brennende Kerze. Dann bat sie ihre Mitschwester, in genau zehn Sekunden ab nun das Pergament zu lesen. Albertine nutzte diese kurze Zeit, sich geistig zu sammeln und auf alles gefasst zu sein, was ihr gleich enthüllt werden mochte. Dann waren die zehn Sekunden vorbei. Sie blickte auf das Pergament von quadratischer Form und durchdrang es mit ihren Augen. Nun konnte Anthelia mitbekommen, was in Trude Steinbeißers Testament stand.

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Alarich Steinbeißer verwünschte den Wind, der ihn auf Höhe der Pyrenäen immer wieder abgetrieben hatte. Doch endlich sah er weit unter sich die Stadt Zamorra. 15 Kilometer nordwestlich davon sollte das Haus von Burrero Molinos stehen.

Es war kurz nach Sonnenuntergang, als Alarich Steinbeißer das kleine Haus entdeckte. Es stand unter einer merkwürdigen golden schimmernden, durchsichtigen Kuppel. Wozu sollte das denn gut sein? Er bremste seinen Besen und sank auf das magisch umfriedete Haus zu. Etwa zwanzig Meter fehlten noch, als in der goldenen Kuppel ein regenbogenfarbiger Ring entstand, der eine kreisrunde Öffnung einrahmte. Das war eindeutig eine Einladung, fand der deutsche Zauberer, der fast anderthalb Tage unterwegs gewesen war, weil er weder apparieren noch mit Flohpulver reisen sollte. Wozu das gut sein sollte mochte ihm Burrero Molinos erklären, falls er das wollte.

Er segelte durch die geschaffene Öffnung. Dabei dachte er daran, dass er für irgendwen die Chronik und seinen Bankverliesschlüssel hinausgeschafft hatte. Er versuchte seit Paris, sich darauf zu besinnen, die Hexe zu erkennen, die ihm das befohlen hatte. Doch er konnte sich nicht aus dem Bann ihres Fluches lösen. Vielleicht konnte ihm Burrero Molinos auch dabei helfen.

Kaum war er durch die Öffnung in der goldenen Kuppel geflogen erlosch der farbige Ring, und der Einlass war nicht mehr zu sehen. Einen winzigen Moment dachte er daran, dass er womöglich gerade zum Gefangenen geworden war. Da änderte die schimmernde Kuppel ihre Farbe. Jetzt schimmerte sie in einem hellen Violettton. "Machen Sie sich keine Gedanken wegen der Schutzkuppel", hörte er wie aus der Luft eine rauhe Männerstimme in akzentfreiem Hochdeutsch sagen. "Ich möchte nur nicht von unerwünschten Spähern heimgesucht werden. Das Haus und die Kuppel sind gerade für außenstehende nicht zu erkennen oder zu erreichen", erläuterte die rauhe Stimme aus leerer Luft. Alarich antwortete erst einmal nicht.

Ein blinkendes weißes Licht wies ihm den Landeplatz auf einer kleinen Terrasse zu. Als er nach vielen Flugstunden wieder festen Boden unter den Füßen fühlte atmete er erst einmal durch. Er hatte sein Ziel erreicht.

Aus der Tür mit vorspringendem Spitzbogendach trat ein kleiner, korpulenter Mann in regenbogenfarbigem Umhang. Sein Haar war tiefschwarz und fiel ihm ungebändigt bis auf die Schultern, wie bei einer Frau. Doch ein ebenso schwarzer Bart rahmte ein pausbäckiges Gesicht ein, in dem eine vorspringende Nase und zwei diamantschwarze Augen besonders auffielen.

"Bienvenidos a Zamorra, Señor Steinbeißer!" wünschte ihm der kleine Mann und streckte ihm die rechte Handzur Begrüßung hin. Immerhin kam der nicht auf die Idee, ihn landestypisch zu umarmen, dachte Alarich Steinbeißer. Bei der Begrüßung stellte er fest, dass sein Gastgeber Handschuhe trug. Gut, Nachts mochte sowas praktisch sein, erkannte Alarich Steinbeißer. "Sie sind spät dran, Se&ñor Steinbeißer. Ich fürchtete schon, dass sie unterwegs abgestürzt oder von einem der pyrenäischen Purpurdrachen gefressen worden wären."

"Ich bin lange nicht mehr eine solche Strecke geflogen", grummelte Alarich Steinbeißer. "Aber ich habe es geschafft."

"Ja, Sie haben es geschafft. Sie sind gerade zum Abendessen eingetroffen. Gallineta, meine Hauselfe, wird erfreut sein, dass sie sich nicht umsonst bemüht hat. Bitte mir zu folgen", sagte der kleine runde Zauberer. Alarich, der ihn um zwei Köpfe überragte, bedankte sich und folgte ihm mit unter den linken Arm geklemmten besen und hinter sich herfliegendem Reisekoffer. Er hoffte, bald als ganzer Mann wieder von hier fortreisen zu können. Als hinter ihm die Haustür leise ins Schloss fiel hörte Alarich, wie sie verriegelt wurde. Das hieß, dass er nicht mehr ohne den Willen des Hausherren hinausdurfte. Das gefiel ihm nicht sonderlich. Doch wer wusste schon, welche Gründe der spanische Heiler für diese Vorsichtsmaßnahme hatte.

Das Abendessen war sehr erlesen und mehrgängig. Alarich Steinbeißer hatte seit zehn Jahren nicht mehr die spanische Kochkunst genossen. Die kleine, ebenfalls leicht rundliche Elfe, die wohl kein Deutsch konnte, legte ihm und dann ihrem Herrn immer wieder vor und füllte die beinahe leergetrunkenen Gläser immer wieder mit dunklem Wein auf. Alarich zeigte seinem Gastgeber, dass er auch seine Muttersprache konnte, was diesen freute. Das Tischgespräch drehte sich nicht um sein Leiden, sondern um das, was in Deutschland und Spanien gerade so los war. Als Alarich gefragt wurde, wie es seiner Familie gehe erwiderte dieser nur, dass es allen soweit ganz gut gehe.

"Ich werde morgen mit Ihnen herausfinden, wie ich Ihnen helfen kann, Señor Steinbeißer", beschloss Patricio Aurelio Burrero Molinos das Abendessen. Falls Sie möchten, können Sie mein privates Observatorium besichtigen und einen Blick in die Sterne werfen", bot der Gastgeber an. Währenddessen ließ die Hauselfe mit einer Geste alles Geschirr, Besteck und die weiße Tischdecke verschwinden, um dann selbst mit leisem Plopp zu disapparieren.

"Ui, wusste nicht, dass die Hauselfen auch ganz leise apparieren können", staunte Alarich Steinbeißer. Burrero Molinos lachte. "Ja, eine Leisespringerin. Diese Hauselfen sind sehr selten. Ich bin froh, dass ich eine bekommen habe. Es kann manchmal sehr wichtig sein, wenn jemand sehr leise unterwegs ist." Alarich nickte.

Über eine Wendeltreppe ging es hinauf unter eine kleinere, feststoffliche Kuppel. Der Hausherr zeigte seinem Gast die sieben Teleskope, mit denen unterschiedliche An- und Aussichten möglich waren. "Sie wissen nicht, dass ich im astronomischen Zirkel Amici Stellarum Mitglied bin, Señor Steinbeißer", sagte Patricio Aurelio Burrero Molinos. Dann öffnete er die Kuppel und gab damit den Blick in den gerade sternenklaren Nachthimmel frei. "Un cielo estrellado", seufzte der spanische Heiler und Amateurastronom selig.

So vergingen die nächsten Stunden mit der Beobachtung von Mond, Mars, Jupiter und Saturn, die Alarich selbst im Turm der Sternensammler bisher nicht so klar und ohne störendem Lichtschleier von irdischen Lichtquellen gesehen hatte. Gegen ein Uhr gähnte er jedoch bei jedem fünften Atemzug. Deshalb ließ er sich von Gallineta sein Schlafzimmer zeigen, wo ein frischbezogenes Bett mit Laken und einer Decke auf ihn wartete. Die Elfe bot ihm an, noch zwei Decken aufzulegen, falls es ihm zu kalt sein würde. Doch Alarich lehnte dankend ab. Es war warm genug in diesem Zimmer. Unter dem Bett stand ein Nachttopf bereit, falls ihn doch noch ein menschliches Bedürfnis drängte. Nur fünf Minuten später lag Alarich im Bett. Wenige Minuten später schlief er bereits tief und fest.

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TESTAMENTUM GERTRUDAE SAXIvorAE N. SILVA CORVORUM

TESTAMENT VON TRUDE STEINBEIßER GEB. RABENWALD

Hiermit bekunde ich, Gertrude Amalia Steinbeißer, geborene Rabenwald, Rufname Trude, dass dieses Dokument am 22. Tage des März im Jahre 1701 der bei den meisten gültigen christlichen Zeitrechnung, von mir daselbst in vollem Besitze meiner geistigen, körperlichen und magischen Kräfte und Fähigkeiten abgefasst wurde und jedem, der es liest als mein letzter und unbestreitbarer Wille zu gelten hat. Ich tue dies in der Freude am Leben, der Hoffnung auf noch sehr viele Jahre, aber der Gewissheit, dass mein Körper eines Tages seine Kräfte verlieren und mich nicht mehr in sich halten kann. Denn wahrlich, es gilt, für dich, der oder die du diese Niederschrift liest, zu erklären und zu verfügen, was im Falle des Erlöschens meines Körpers zu tun und zu schaffen ist. So lies diesen meinen Willen, zu vollstrecken einem Monde nach meinem Dahinscheiden und führe aus, was ich bestimme!

Mein Leben dient der großen Macht der magie, die das natürliche und das übernatürliche durchdringt und beherrscht. Auch bin ich in den noch jungen Jahren, in denen ich dieses Testament verfasse, bereits eine Großmeisterin der Artes Magicae und eine leidenschaftliche Hexe. Auch wenn das Wort von jenen Heuchlern, die verkünden, einem Friedefürsten zu dienen, der alle Menschen liebe und von allen schrecklichen Folgen ihrer Missetaten erlöse, aber dann mit Gewalt und geistiger Unterdrückung alles Magische verachten und bekämpfen, zu einem Urbegriff von unerwünschtem Tun verdorben wurde, so bin ich froh, dass wir trotz der Verfolgungen und Gräueltaten immer noch dazu stehen, was wir sind. Auch und gerade in diesem Sinne gilt es für mich, sicherzustellen, dass meine Nachgeborenen dieses unser aller Wesen ehren, achten und vor allem pflegen und mehren, auf dass die heuchlerische Brut des sogenannten Christentums es nicht vermag, uns auszurotten.

Bist du einer meiner Söhne oder Kindessöhne und geschult und erprobt in den magischen Künsten, so strebe nach Erfolg und Macht über jene, die nicht wie wir sind! Setze nicht grundsätzlich auf Gewalt, weil dies eher ängstigt! Gehe stets mit Bedacht und vor allem mit Klugheit und List zu Werke, um dir alles zu gewinnen, was dich mit Freude, Stolz und Lebenssinnn erfüllt! Vergiss dabei aber nie, dass dein magisches Blut von mir und unseren Vorfahren dich dazu verpflichtet, es an künftige Generationen weiterzugeben. So trachte bei allem, was dich voranbringen soll, immer auch danach, unseren gemeinsamen Stammbaum und unsere gemeinsamen Kräfte in zauberfähigen Kindern und Kindeskindern zu erhalten. Falls du noch kein Weib erwählt hast, suche es dir gefälligst nach Lesen dieser Zeilen. Doch sie soll wie ich der Magie befähigt und darin geschult sein. Eheliche sie und lasse sie deine Kinder gebären, die ihr dann gemeinsam großzieht. Das ist deine einzige Bestimmung, die ich dir mit diesem Testament auferlege und von dir erwarte.

bist du eine meiner Töchter oder Kindestöchter und wie ich daselbst befähigt und erprobt in den magischen Künsten, so sollst du alles ernten und besitzen, was ich bis zum Versagen meines Körpers erworben haben werde. Du sollst dich mit jenen zusammentun, die die große Gunst, als Hexe geboren und gelehrt zu sein ebenso ehren wie ich. Erwerbe dir durch dein Tun genug Gold und Anerkennung wie du für dich selbst als zum leben wichtig siehst! Doch alle meine Schätze, Schriften und noch mehr wirst du nur dann in deinen Besitz nehmen dürfen, wenn du genau tust, was ich dir hiermit auferlege.

Dein Vorrangiges Lebensstreben sei die Mutterschaft von mindestens einem Sohn und einer Tochter. Hast du dieses Ziel bereits erreicht, so lies die weiteren Zeilen in der ruhigen Gewissheit, deine Pflicht mir und deinen Vormüttern gegenüber erfüllt zu haben. Bist du es zu diesem Zeitpunkte, da du diese Zeilen liest jedoch noch nicht, weil du dich der Wonnen des Leibes und der Fruchtbarkeit versagen willst oder diese nur zu reinem Vergnügen erleben willst, so merke auf und sei gewiss, dass es so gilt, wie ich es dir nun verkünde!

Hast du das fünfundvierzigste Jahr nach deiner Geburt vollendet und bis dahin noch kein Kind in deinem Leib empfangen, so wirst du ungeachtet allem, was du bis dahin getan hast, einen zauberfähigen Mann dazu bringen, mit dir das Lager zu teilen, sooft, bis du die Frucht seiner Lenden unter deinem Herzen trägst. Ist das so empfangene Kind ein Sohn, so vollziehe nach der Entwöhnung von deiner Mutterbrust den fruchtbaren Akt erneut mit einem Manne, ob mit ihm ehelich verbunden oder nur durch kluge Wahl bestimmt, bis du das nächste Kind empfangen hast. Wird auch dieses ein Sohn, so wiederhole das, was für dein erstes Kind galt, solange, bis du eine Tochter geboren und entwöhnt hast.

Wird das erste dir zu empfangen auferlegte Kind eine Tochter, so wirke nach ihrer Entwöhnung darauf hin, das nächste Kind zu empfangen und zu gebären. Wird es erneut eine Tochter, so wiederhole Empfängnis, Niederkunft und Stillzeit, bis du einen Sohn geboren hast. Denn nur eine mit meinem Blute belebte Tochter oder Kindestochter, die sowohl einem Sohn und einer Tochter das Leben gab, soll mein Erbe erhalten.

Bist du endlich Mutter mindestens eines Sohnes und einer Tochter, so gebiete ich dir, am Mittag des Mittsommertages in den Hain der tausend Buchen zu reisen, welcher nur von Trägerinnen magischen Blutes betreten werden kann und von unserer ehrwürdigen und großmächtigen Vorfahrin Mater Millium hortorum angelegt wurde. Suche dort den Baum mit den zwei Wipfeln und berühre mit deinem Leib den Stamm an dessen der Morgenröte zugewandten Seite. Dann wispere deinen vollständigen Namen, sowie den Namen deiner Kinder! Der in dem Baume wirkende und sein ganzes Leben wachsende Zauber wird dich prüfen, ob du die wahrheit sprichst. Sei gewarnt, dass wenn du den Baum zu belügen suchst, wird er dich in sich hineinsaugen und zu einem Teil seiner lebenden Bestandteile machen. Doch wenn du ihn nicht betrügst, so wird er dir durch seine Zweige das Geheimnis meines Hauses künden, wohin selbst ich seit Vollendung meines dreißigsten Lebensjahres all die Dinge schaffe, die für die Mehrheit der Hexen und für alle Zauberer verwehrt sein sollen. Weigerst du dich, diese Probe abzulegen, obwohl du brav darauf hingewirkt hast, sie bestehen zu können, sollst du jeden Mittsommertage um dreißig Jahre älter werden. Verweigerst du dich trotz aller Strenge meiner Forderung, nach Vollendung deines fünfundvierzigsten Lebensjahres Mutter eines Sohnes und einer Tochter zu werden, so wirst du am sechsundvierzigsten Tage der Vollendung deiner Geburt dort tot umffallen, wo du gerade bist und als ruhe- und hoffnungsloser Geist in dieser Welt verbleiben, um zu warnen und zu künden, dass mein Wort und Wille weiterhin Gesetz sind. Solltest du zum Zeitpunkt, da du dieses mein Testament liest, schon über siebenundvierzig Jahre alt sein, so zerfalle augenblicklich zu Asche!

Doch ich bin mir gewiss, dass du, mein Sohn, oder du, meine Tochter, ob direkt aus meinem Schoße geboren oder von einem meiner Kinder oder Kindeskinder gezeugt oder geboren, meinen Willen achten und befolgen wirst.

Mein Sohn oder Kindessohn: Strebe nicht danach, das blaue Haus zu finden, in dem ich meinen Schatz an Wissen und Schöpfung berge! Dir sei dein eigens erworbenes Wissen und Vermögen Belohnung und Anerkennung genug.

Meine Tochter oder Kindestochter: Für dich und deine Schwestern und Basen soll sein, was ich im Blauen Hause aufbewahre. Du darfst davon Gebrauch machen, wann und wofür du magst. Aber du musst es immer nach Verwendung innerhalb von drei Tagen in das blaue Haus zurückbringen, wo es nur für dich und deine Schwestern und Basen bereitliegen soll. Und solltest du, meine nachgeborene Kindestochter, die letzte Hexe sein, in deren Adern mein und unserer Vorfahren Blut fließt, so gebiete ich, bringe deine erstgeborene Tochter nach Vollendung ihres siebzehnten Lebensjahres dazu, diese Zeilen zu lesen! Verweigere ihr nicht das Erbe deiner Vorfahren!

Verrate nicht in Wort oder Schrift, was du gerade gelesen hast und welche Aufgabe du damit übernimmst! Verfertige auch keine Abschrift meines letzten Willens oder versterbe bei dem Versuch und verbleibe als ruhe- und hoffnungsloser Geist zur Warnung an alle, dass mein Wort und Wille weiterhin gelten! Und wenn du jene Strafe erhalten solltest, so wirst du nicht fähig sein, anderen zu verkünden, wo das blaue Haus ist oder welche Bedingung meine Nachgeborenen erfüllen müssen, um mein Erbe zu erhalten.

In jedem Falle gilt: Wer diese Zeilen liest, der muss sie befolgen und darf sich nicht verweigern. Denn was ich schreibe das soll sein. Was ich wünsche soll gedeih'n!

Diese Zeilen wurden von mir, Trude Amalia Steinbeisser, am Tage 22 des März 1701 in meinem Wohnsitze zu Greifenberg niedergeschrieben.

Albertine hatte sich sehr anstrengen müssen, das Testament zu lesen. Das lag nicht daran, dass es spiegelverkehrt zu lesen war, ebenso war es nicht, weil sie die altdeutsche Schreibschrift erst einmal wieder richtig zuordnen musste und auch nicht daran, dass sie aus zehn Schritten Entfernung las. Das alles kannte und konnte sie ja schon gut. Was sie so angestrengt hatte waren die Buchstaben, die mal zur linken oder rechten Seite kippten und dann mal nach oben oder unten wanderten. Ja, und da war noch was: Sie hatte immer wider weitere Symbole oder Buchstaben auftauchen gesehen, die für einige Sekunden zu sehen waren und dann wieder verschwanden. Am beunruhigendsten war, dass immer wieder ein schemenhaftes Gesicht über den sich bewegenden Buchstaben aufgetaucht war, das versucht hatte, sich über die Buchstaben zu legen, um sie zu verbergen. Es war das Gesicht einer Frau, das sichtlich verstört bis gequält ausgesehen hatte, bis es dann doch wieder völlig verschwunden war.

"Wir sprechen im Salon weiter darüber", sagte Anthelia und disapparierte. Albertine sah noch mal auf das von vier Briefbeschwerern auf dem Tisch gehaltene Pergament. Irgendwie meinte sie, einen gewissen Tadel, ja eine stumme Maßregelung davon zu erhalten. Aber das lag sicher nur daran, dass sie es geschafft hatte, Trudes Vorkehrungen auszuhebeln und sich eben nicht an diese ganzen Bedingungen halten zu müssen, obwohl sie sie gelesen hatte.

Als Albertine nun auch bei Anthelia im Salon war zauberte diese zunächst einen Klangkerker. Dann sagte die höchste Schwester des Spinnenordens: "Deine Augen haben mehr gesehen als nur den Text, Schwester. Meine Befürchtung hat sich bestätigt. Dieses raffinierte Weibsbild hat wahrhaftig jenen Zauber in ihr Testament eingewoben, mit dem dieser Waisenknabe Riddle sein Überdauern sichern wollte. Das gesicht, welches du gesehen hast, könnte ihr früheres Gesicht sein, ein magischer Widerschein ihres lebenden Körpers. Trude Steinbeißer hält auf diese Weise die im Testament verwobenen Flüche in Kraft und stellt gleichzeitig sicher, dass sie weiß, von wem das Testament berührt und gelesen wird. Ich mutmaße jetzt mal, dass sie auch eine ähnliche Vorkehrung getroffen hat, eines Tages ins Leben zurückzukehren, wie Sardonias große Feindin Ladonna Montefiori oder ich sie in meinem ersten Leben trafen, um den eigenen Tod zu überdauern. Dieser Traum, den du hattest, kommt womöglich genau aus jener Quelle. Trude fürchtet, ja fürchtet, dass du die letzte geborene Steinbeißer bist und ohne Kenntnis des Testamentes und der damit übertragenen Aufgabe dein Leben führen und irgendwann kinderlos sterben wirst, sofern du nicht das Geheimnis jener beiden Hexen ergründest, welche uns Ladonna Montefiori aufgehalst haben. Das waren auch Hexen, die nicht mit einem Mann das Lager teilen wollten."

"Du meinst, Trude hat mich deshalb im Traum heimgesucht, weil sie Angst hat, ich könnte leben und sterben, ohne ihr Testament je gelesen und die daran hängenden Bedingungen erfüllt zu haben. Aber dann würde sie ja trotzdem irgendwie weiterbestehen oder?"

"Tja, nur zu dem Preis, dass weder jemand kommt, um ihr einen neuen Körper zu verschaffen, wie das bei mir war, oder den gebannten Körper wieder aufzuwecken wie bei Ladonna. Dieser Iaxathan, dden dieser Narr Wallenkron unbedingt als seinen mächtigen Verbündeten haben wollte, hofft auch darauf, eines Tages wieder einen lebenden, eigenständigen Körper bewohnen zu können. Das ist halt unser Streben, dem Tod zu widerstehen, das ewige Leben zu erlangen, auf wessen Kosten auch immer."

"Könnte es sein, dass das Testament dieser einzige materielle Fokus von Trudes Seele ist?" fragte Albertine. "Dann war es ihr natürlich wichtig, dass eine Blutsverwandte überlebt, die ihre Linie aufrecht erhält. Weil sonst könnte dieses Testament ja die nächsten Jahrtausende lang einfach nur unantastbar herumliegen, weil ja keiner und keine mehr da ist, der oder die es anfassen kann."

"Deshalb sagte ich auch, dass dieses Frauenzimmer Angst hat, dass du ohne diese unabschüttelbare Aufgabe leben und im hohen Alter sterben kannst."

"Schön, dann haben wir zwei uns jetzt genauso verhalten, wie die Verfasserin es gewollt hat. Wir haben das Testament aus seinem Versteck geholt, aufgerollt und gelesen", erwiderte Albertine.

"Ja, aber du hast mich an deiner Kenntnis teilhaben lassen. Du hast es nicht beim lesen berührt und auch nicht so gelegt, dass Sonne oder Mond darauf scheinen können, erst recht nicht in dem fensterlosen Gewölbe. Sollte dies wirklich ihr Weg gewesen sein, eines Tages wiederzukehren, so haben wir es jetzt in der Hand, beziehungsweise du, ob sie weiterhin bestehen bleiben soll. Willst du deiner Ahnherrin helfen, ihr Blut zu mehren und dabei womöglich ihre Rückkehr ermöglichen, oder möchtest du frei und ungebunden weiterleben?"

"Das Testament kann nicht zerstört werden, hast du gesagt", erwiderte Albertine. Anthelia schüttelte den Kopf und berichtigte ihre Mitschwester: "Ich habe gesagt, dass es fast nicht zerstört werden kann. Alles zerstörerische, was durch keine Magie geheilt und repariert werden kann, vermag wohl auch dieses Dokument zu vernichten. Das Testament ist gegen alle natürlichen Formen der Gewalt und der Elemente geschützt. Es kann also nicht mit reinem Wasser getränkt und so gelöscht werden, nicht zerschlagen, zerschnitten oder mit gewöhnlichem Feuer verbrannt werden oder in natürlichen Säuren und Laugen aufgelöst werden. Ich denke jedoch, dass Witterwasser, sowie die schwarze Flut, Dämonsfeuer oder das Gift von Basilisken es genauso zerstören können, wie sie alles andere zerstören können."

"Und was, wenn das Testament nicht nur ein einziges solches Ding, so ein Horkrux ist, höchste Schwester?" fragte Albertine.

"Nur der Wahnsinnige Riddle hat es darauf angelegt, mehr als ein solches Artefakt zu erschaffen", erwiderte Anthelia. "Wenn das Testament ein Horkrux ist, dann nur einer von gerade mal zweien oder dreien. Denn die ursprüngliche Seele sollte nach dem Tod des Körpers noch im Stande sein, Einfluss auf jemanden zu nehmen. Der Umstand, dass dir Trude Steinbeißer im Traum erschienen ist spricht dafür, dass sie zu jedem ihrer Nachkommen eine unterschwellige Verbindunghält, also nicht mit wachen Sinnen wahrgenommen werden kann. Im alten Reich und in vielen Kulturen heute gelten die Träume als Fenster und Tore in andere Welten, in denen Dinge möglich sind, die in der Wachwelt unmöglich erscheinen und die Erkenntnisse bringen, die mit wachem Verstand nicht gewonnen werden können. Deshalb sprachen sie im alten Reich auch vom Wach- und vom Schlafleben."

"Ja, ich möchte nicht von einer längst toten Hexe zur Zuchtstute gemacht werden. Wenn das also geht, das zu verhindern, dann lege ich keinen Wert auf die Aufbewahrung des Testamentes. Oder können wir es zurückbringen, wo es gewohnt hat?" wollte Albertine wissen.

"Nur wenn wir beide als von außen und innen vergoldete Statuen bei den Kobolden stehen oder einem der Hochsicherheitsdrachen als Futter angeboten werden wollen", erwiderte Anthelia. "Wie ich die Kobolde unter Kontrolle hielt dürfte jetzt bei denen herumgegangen sein und sie ihre Vorsichtsmaßnahmen verbessern. Zwar dürfte denen noch sehr zu schaffen machen, dass wir ihre Wahrheitszauber und Versteinerungsfallen überstanden haben und sie wissen auch nicht, wer wir sind. Aber sie werden sich das nicht noch einmal bieten lassen, derartig blamiert zu werden."

"Gut, höchste Schwester. Wenn du einen Weg weißt, wie wir diesen Horkrux zerstören können, dann erlaube ich dir als letzte legitime Erbin, das zu tun!"

"Gut, dann tun wir das. Aber nicht hier im Haus. Es könnte sein, dass bei der Zerstörung das Seelenfragment nicht zerstört wird, sondern wie einer der hier im Haus gefangenen Geister vorhanden bleibt", sagte Anthelia. Albertine verstand. Wer in diesem Haus starb blieb als Gefangener Geist hier, so ein alter afrikanischer Fluch.

"Gut, dann stecke die Rolle wieder in den Ring und bringe sie etwa einen halben Kilometer von hier fort! Ich werde dann die Rolle mit Yanxothars Klinge zerschlagen", befahl Anthelia.

Albertine nickte und apparierte zurück in den Versammlungsraum. Dort Rollte sie das Pergament behutsam wieder zusammen und schob es durch den Haltering, bis es gleichlang von ihm geteilt wurde. Dann apparierte sie nach draußen.

Die Abendsonne über dem Staat Mississippi hatte schon die ersten Rottöne angenommen, doch sie würde wohl noch einige Minuten lang scheinen. Ihr Licht fiel auf die Pergamentrolle. Da begann diese leicht zu vibrieren. Albertine sah mit ihren magischen Augen darauf und erstarrte.

"In der geschlossenen Pergamentrolle wirbelten die Buchstaben umher, suchten offenbar neue Positionen. Doch wirklich erschreckend war das erst nebelhafte, dann immer deutlicher zu erkennende Gesicht einer Frau, einer Frau mit dichtem, hellen Haar. Albertine wusste sofort, was geschah. Das in das Testament eingebettete Seelenbruchstück Trudes erstarkte. Es fühlte die Nähe einer Blutsverwandten, atmete deren Lebensaura, aber sog vor allem das Sonnenlicht in sich auf. Womöglich wollte das Etwas sich aus seiner bisherigen Hülle lösen und dann ...

Albertine warf die Rolle mit einem geschmeidigen Schwung von sich. Sie flog mehr als dreißig Meter weit und landete auf einer wilden Wiese, die schon die ersten Frühlingsblumen trug. Allerdings traf das Sonnenlicht noch besser auf die Rolle. Albertine konnte mit der Aurensichtabstimmung ihrer Augen erkennen, dass die rotpulsierende Aura nicht mehr die Pergamentrolle nachzeichnete, sondern einen daraus herauswachsenden Frauenkörper. Die Sonne, Feindin von Vampiren und Nachtschatten, lud das in das Pergament eingefügte Seelenbruchstück Trudes mit neuer Kraft auf. Jetzt wusste Albertine, warum es über Jahrzehnte nicht aus der Schatulle geholt worden war. Irgendwer musste ihre Vorfahren davor gewarnt haben, es ins Sonnenlicht zu halten. Natürlich las man sowas auch nicht im freien, wenn die Sonne schien, schalt sich Albertine eine Idiotin. Da apparierte Anthelia neben ihr.

"Ich fürchte, ich habe einen fatalen Fehler begangen. Hoffentlich lässt er sich noch korrigieren", zischte sie und apparierte die kurze Strecke bis neben die liegende Pergamentrolle. In ihrer Hand flammte Yanxotahrs Schwert auf. Seine orangerote Feuerklinge loderte gegen das Licht der Abendsonne an. Es bezog seine Kraft aus dem Feuer im Erdkern sowie dem der Sonne, wodurch es alle magischen und nichtmagischen Feuerquellen beherrschte. Albertine sah, wie die auf der Wiese liegende Pergamentrolle immer heller leuchtete und sah, wie die aus der roten Aura genährte Erscheinung Unterkörper und Beine bekam.

"Wau, die sieht aber für 'ne Mutter von gerade mal sechsunddreißig richtig anziehend aus", dachte die deutsche Mitschwester Anthelias. Dann sah sie, wie Anthelia die lodernde Klinge nach unten schlug, ohne dass die Flammen flackerten.

Im gleichen Moment, in dem die Klinge die Pergamentrolle traf schlug etwas wie ein blutroter Kugelblitz zu Albertine über und traf sie schmerzhaft am Unterleib. Sie zuckte vor Schmerz und Schreck zusammen und verlor ihr Gleichgewicht. Sie landete auf allen vieren und keuchte. In ihrem Leib schien dasselbe Feuer zu lodern, dass gerade die leuchtende Pergamentrolle erfasste. Albertine wusste nicht, ob sie vor Schmerz aufschrie oder jemand anderes diesen schrillen Schrei tat. Hätte sie weinen können, so hätte sie es wohl getan. Sie sah, wie die Pergamentrolle in weißgoldenen Flammen aufloderte und zerfiel. Der Haltering verformte sich funkensprühend. Dann zerschmolz er rotglühend.

"Wohl noch in letzter Sekunde", hörte Albertine eine Frauenstimme sagen. Sie wusste erst nicht, ob es ihre Stimme oder die Anthelias war. Merkwürdigerweise verklang der Schmerz in ihrem Unterleib. Dafür breitete sich von dort aus nun eine wohlige Wärme aus, erst in die Beine, dann in die obere Bauchregion und von dort aus in ihre Arme und dem Nacken und von da mit einem kurzen Schauer direkt bis unter ihre Schädeldecke.

"Zur dreischwänzigen Gorgone", hörte sie nun Anthelias Stimme aus etlichen Metern Entfernung. "Dann stand die höchste der Spinnenschwestern neben Albertine. Diese keuchte, diesmal vor steigender Lust statt vor Schmerz. Sie konnte sich nicht aus ihrer Vierfüßlerstellung erheben.

"Vermaledeite Nachlässigkeit", knurrte Anthelia. "Schwester, wehr dich, wenn jemand versucht, dir was einzuflüstern, was du nicht willst! Ich konnte fühlen, wie etwas aus dem Pergament zu dir übergesprungen ist. Vielleicht ist sie zerstört. Aber wenn nicht ..."

"Ui, so heftig angeheizt war ich aber bei Louisette noch nicht", stöhnte Albertine. Sie fiel auf ihren Bauch. Ein übergroßes Glücksgefühl flutete ihren Kopf. Dann, als wenn sie von einem Trampolin abgeprallt wäre, flog sie zurück in die Senkrechte Haltung und stand auf ihren Füßen. Dann überkam sie unvermittelt der Drang, so weit es ging von der anderen Hexe wegzudisapparieren. Mit einer schwungvollen Drehung, ohne zu wissen, wohin, drängte sie in das alles zusammenstauchende Dunkel zwischen Hiersein und Dortsein.

Als sie wieder eine weite, helle Welt um sich herum wahrnahm erkannte sie, dass es hier schon Dunkle Nacht war. Sie stand auf festem Boden und spürte ziemlich kalten Wind auf dem Körper. Als sie erkannte, dass sie wohl mal eben über einen der Ozeane hinwegappariert war, fühlte sie eine starke Überlegenheit und zugleich ein deutliches Rumoren in ihrem Schoß, als müssten sich die darin eingebetteten Organe neu ausrichten. Dann meinte sie, etwas würde behutsam in ihr herumtasten, bis es durch ihren Nacken in den Kopf glitt. Ein heftiger Wrärmestoß ließ sie zusammenfahren. Dann fühlte sie, dass sie hier nicht alleine war. Sie erkannte, dass sie offenbar das magische Duell gegen ihre Urahnin verloren hatte. Ein leises, triumphierendes Lachen war die Antwort darauf. Jetzt begriff sie, wer da vorhin was von einer letzten Sekunde gesagt hatte: Nicht sie, nicht Anthelia. "Nein, das war ich, deine Urururgroßmutter Trude Amalia Steinbeißer, geborene Rabenwald."

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Anthelia rammte die brennende Klinge dort in die Erde, wo vor nur zwei Sekunden Albertine gestanden hatte. Die lodernde Klinge glitt wie in Honig bis zum Griff in die Erde und ließ diese dampfen und immer mehr erhitzen. Als Anthelia merkte, dass sie so nicht beheben konnte, was ihre Leichtfertigkeit angerichtet hatte, zog sie das Schwert wieder aus dem Boden. Dampf und schwarzer Rauch schossen wie eine Fontäne aus der Erde und verbreiteten Hitze und üblen Geruch nach verkohltem Humus und schwefelhaltigen Gasen.

Anthelia hielt die brennende Klinge der untergehenden Sonne zu. Sie dachte weiter daran, was sie alles hätte beachten müssen. Dann schalt sie sich innerlich noch mehr eine Närrin. Trude Steinbeißer hatte das Testament zu ihrem sechsunddreißigsten Geburtstag abbgefasst, auf einem quadratischen Pergament. Die Zahl 36 galt in der Arithmantik als sehr mächtige Zahl, weil sie zum einen die Zahl 12 verdreifachte und vor allem, weil sie da selbst das Ergebnis aus der Multiplikation zweier Quadratzahlen war, vier mal neun, wobei die 9 als Quadratzahl der in der Arithmantik ebenso bedeutsamen Zahl drei war. Sie hätte schon früher auf diesen Zusammenhang kommen müssen, als sie zum einen die vier miteinander in gegenseitiger Verstärkung gewirkten Flüche ergründet hatte, als auch von der quadratischen Form des ausgerollten Pergamentes wegen. Dann hatte die Verfasserin durch Berührung jeder Ecke des Testamentes einen dieser Flüche gewirkt und ähnlich wie bei einem Heuler mit dem Zauberstab verbindungslinien gezogen, um alle vier Zauber zu verstärken. Ja, wohl wahr, Trude Steinbeißer geborene Rabenwald war eine sehr begabte und gelehrte Hexe gewesen.

"Sie hat unsere Nähe und unseren Vernichtungswunsch verspürt und sich zu ihr hinübergeworfen, weil sie ihren Lebenshauch bereits kannte", hörte sie eine Stimme, die sich eigentlich nicht mehr bei ihr melden wollte, die in das Schwert eingebettete ganze Seele seines Schöpfers, Yanxothar, dem Meister des Feuers.

"Dann steckt sie jetzt in meiner Bundesschwester Albertine. Kann sie dort überdauern?"

"Das bisschen, was da von ihr aus der Schriftrolle entsprungen ist nicht. Doch wenn es erreicht, dass Albertine seine eigentliche Quelle sucht und sich mit dieser verbindet ja", erwiderte Yanxothars Gedankenstimme. Dann schwieg diese. Auch als Anthelia nachfragte, ob sie nur zu spät gehandelt habe oder es sowieso geschehen wäre bekam sie keine Antwort mehr. Yanxothar hatte ihr gesagt, was er ihr unbedingt sagen musste. Vielleicht, so dachte Anthelia/Naaneavargia, erheiterte es die ebenfalls zu einem Dasein in einem magischen Gegenstand verurteilte Seele des Feuermeisters, dass ein anderer es geschafft hatte, seinem selbstgewählten Gefängnis zu entfliehen. Doch nein, dann müsste Yanxothar auch erfreut sein, wenn Iaxathan dies eines Tages gelingen sollte. Und dafür waren die beiden zu große Todfeinde gewesen, Feuer gegen Dunkelheit, Wärme und Leben gegen Kälte und Tod.

Weil es hier nichts mehr zu tun gab kehrte Anthelia in die Daggers-Villa zurück. Dort fragte sie sich, ob sie nun das ganze Spiel verloren hatte oder es nur eine weitere Runde geben würde?

Sie dachte an die schlafende Göttin, ebenfalls Gefangene in einem toten Ding, jedoch fähig, über hunderte von ihr unterworfenen in der ganzen Welt ihre Ziele zu verfolgen. Ebenso dachte sie an den Waisenknaben Riddle, der mehrere Seelensplitter von sich ausgelagert hatte, um eine fragwürdige Form der Unsterblichkeit zu erlangen. Weil seine Horkruxe zerstört und er im neugewonnenen Körper endgültig gestorben war mochte der Rest seiner Seele nun irgendwo in den Gefilden der Hilflosigkeit herumirren, unfähig, noch irgendeinen Gedanken zu denken. Sie dachte an Ladonna Montefiori, die ebenfalls etwas von sich an ihren magischen Ring gebunden hatte und so die Wiedererweckung ihres Körpers erreicht hatte. Tja, und sie dachte an sich selbst, zumindest den Teil, der Anthelia war. Was hatte Anthelia nicht alles unternommen, um mit ihrem Körper unsterblich zu bleiben? Doch alle Methoden hatten sich als unzureichend erwiesen. Nur die Bindung ihrer Seele an Dairons Medaillon versprach Überleben, von Körper zu Körper, von Zeitalter zu Zeitalter. Nun war sie eins mit Naaneavargia, untrennbar, sehr zufrieden und ja, unsterblich, zu dem Preis, dass sie zwischendurch die schwarze Spinne sein musste, sich nicht nach Belieben verwandeln konnte und immer mehr Gefallen daran hatte, mit fremden Männern wilde Liebesnächte zu verbringen.

Was passierte nun mit ihrer Schwester Albertine? Würde sie von Trudes Seelenfragment übernommen wie von einem Dibbuk? Oder würde das Seelenfragment an ihrem Widerstand zerbrechen und erlöschen? Yanxothar hatte erwähnt, dass das Bruchstück Albertine auch zu dessen Quelle führen konnte. Natürlich musste Trude Steinbeißer nach ihrem körperlichen Tod irgendwo in der Welt weiterexistieren. Das erklärte allein schon Albertines Traum. Falls Albertine den Weg dorthin fand ... War sie nun die längste Zeit ihre treue Mitschwester gewesen? Denn wenn sie ihr untreu würde, so hatte das den sofortigen Tod zur Folge, allein schon, um unfreiwilligen Verrat zu verhindern. Zwar war der neue Treueid nicht so mächtig wie mit Hilfe des Seelenmedaillons. Doch sterben würde Albertine wohl, wenn sie sich bewusst von Anthelia lossagte oder von jemandem unterworfen wurde, gegen sie zu handeln oder auszusagen. Starb Albertine, so dachte Anthelia weiter, so starb auch ihre letzte Hoffnung, an den zweiten Lotsenstein heranzukommen. Blieb dann doch nur der Weg, den ersten wieder aufgetauchten Stein zu erlangen, notfalls gegen den Willen und über die Leiche des Besitzers? Nein! Noch wollte sie das nicht einmal andenken.

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"Ja, es fühlt sich gut an, wieder in einem lebenden, atmenden Körper zu sein. Ja, du liebst es, wenn eine starke Hexe sich in deinem Leib betätigt, aber das Vergnügen muss enden, weil ich fühle, dass ich nicht viel Zeit habe."

"Trude, raus aus mir!" dachte Albertine konzentriert und versuchte sich vorzustellen, wie sie die goldblonde Hexe mit den Heidelbeeraugen regelrecht aus ihrem Schoß hinausstieß wie ein von ihr geborenes Kind. Tatsächlich fühlte sie Schmerzen, als komme sie gerade wirklich nieder. Sie konnte sich nicht auf den Beinen halten und sank wimmernd und keuchend auf die Knie.

"So nicht, meine Nachfahrin. Ich werde nicht als fleisch- und knochenloses Bündel wimmerndes Elend aus dir hinausfallen und in allen Winden verwehen. Nein! Du und ich sind jetzt eins, teilen uns diesen Körper. Ich kann dir Schmerzen geben ..." Albertine schrie vor wilden Schmerzen. Ihre ganzen Eingeweide schienen von glühenden Zangen zerwühlt zu werden. "Und ich kann dir Freude und Lust bereiten", sprach Trudes Stimme in Albertines Geist. Unvermittelt loderte es in Albertine wohlig auf, steigende Wolllust, als würde sie mit einer kundigen Geliebten auf den Gipfel der Leidenschaft hinaufeilen und ... Sie schrie, doch diesmal nicht vor Schmerzen, sondern vor grenzenloser Wonne. Dann klang auch diese wieder ab. Statt der aufgeflammten Liebeslust überkam sie nun der Drang, ihren Heimatort zu besuchen. Die Zuversicht, dort mit einem Appariersprung zu erscheinen wuchs. Doch Albertine wollte nicht weg. Sie wusste, dass diese Gefühle nicht von ihr ausgingen. Trudes Seelenfragment, ja, nur dieses konnte es sein, wollte sich ihres Körpers und ihres Geistes bemächtigen. Noch einmal versuchte Albertine, die unerwünschte Körperbesatzerin aus sich hinauszuwünschen. Doch ein neuerlicher Schmerz brannte alle diese Gedanken weg wie eine Flamme den Schnee. Dann durchflutete sie wieder große Glückseligkeit, diesmal keine körperliche Wonne. Dann sah sie einen Raum vor sich, ein Zimmer mit großen Fenstern. Davor standen kleine Bäume mit bunten Blüten und Blumen mit mannshohen Stengeln und kopfgroßen Blütenkelchen. Sie hörte einen Springbrunnen plätschern, roch den Duft der Pflanzen. Dann überkam sie der Wunsch, genau dort zu sein. Für einen winzigen Moment presste sie das lichtlose Nichts zusammen. Doch dann stand sie genau in der Mitte dieses Raumes. In ihren Gedanken klang wieder Überlegenheit auf. Da erinnerte sich Albertine, dass Trude Steinbeißer bereits mit neun Jahren ohne Zauberstab von ihrem Elternhaus auf den Bauernhof ihrer Großmutter appariert war, der hundert deutsche Meilen entfernt gewesen war. Mit Neuneinhalb konnte sie das schon so gut, dass ihre Eltern keinen Weg mehr fanden, sie im Haus zu halten, als mit einer Antidisapparierkette. "Du hattest dieses Naturtalent auch, nicht wahr, mein Mädchen?" hörte sie die Stimme Trudes, aber nicht nur in ihren Gedanken, sondern wie aus allen Richtungen zugleich in ihre Ohren tröpfeln. Albertine dachte reflexartig daran, dass sie mit acht schon zweimal appariert war, und es beim erlaubten Kurs auch gleich beim allerersten Mal geschafft hatte, was damals aber auf ihren Zauberstab zurückgeführt wurde, Eichenholz mit Einhornstutenschweif. Es hieß, dass die betreffende Einhornstute da gerade mit einem weiblichen Fohlen trächtig gewesen sei. Dann fiel ihr doch ein, dass sie wohl gerade manipuliert wurde. "Willkommen zu Hause, Albertine!" lachte sie die von allen Seiten wehende Stimme an und hallte in ihrem Kopf nach. Dann änderte sich der Raum.

Die duftenden Pflanzen, die sonnendurchfluteten Fenster und der plätschernde Brunnen verschwanden und machten einer kleinen Tropfsteinhöhle ohne Ausgang platz, die jedoch nicht völlig dunkel war. Denn in der Mitte der etwa vier mal vier mal drei Meter großen Kaverne, von deren Decke schlanke, kalkweiße Stalaktiten wie glattgeschliffene Eiszapfen herabhingen, schwebte eine etwa zwei Meter durchmessende Kugel aus honiggoldenem Licht. In dieser Kugel schwebte, beinahe Geisterhaft durchsichtig, zusammengerollt wie ein Ungeborenes Kind im Mutterleib, jedoch ohne nährende Nabelschnur, eine erwachsene Frau mit leichtem Bauchansatz und vollem, hellen Haar. Albertine hatte ihr Gesicht schon so oft gesehen, dass sie sie sofort erkannte: Gertrude, Rufname Trude Steinbeißer.

Ohne Vorwarnung und ohne einen Hauch von Widerstand flutete ein großes Verlangen durch Albertines Körper, auf diese Kugel zuzugehen. Sie fühlte, dass darin ihre wahre und einzige Bestimmung lag. Sie wollte diese Kugel berühren, mit der Hand und mit dem Zauberstab, ihre Kraft spüren, sich daran erfreuen. Sie dachte nicht mehr daran, fremdbestimmt und besessen zu sein. Sie wollte nur das eine: Sie wollte eins sein mit dem trotz der vielen Jahre überaus reizvollem Wesen im inneren der Kugel. Dann berührte ihr Zauberstab die honiggoldene Kugel. Ein Aufschrei der Verzückung klang aus Albertines Mund und dem der in der Sphäre zusammengerollten.

Es war ein Gewittersturm aus goldenen und blutroten Blitzen, der über Albertines Zauberstab in ihren Körper einschlug. Sie stand da, ohne sich bewegen zu können. Sie erbebte nur unter jedem Einschlag. Dann sah sie, wie Trudes zusammengerollter Geisterkörper immer kleiner und kleiner wurde, bis er sich mit der honiggoldenen Kugel vereinte und dann, in einer letzten wuchtigen Entladung, durch ihren Arm in Albertines Körper übersprang.

Erst meinte sie, in eine bodenlose Tiefe zu stürzen. Sie hörte sich schreien und wie ihre Schreie als hundertfaches Echo aus allen Richtungen des Raumes widerhallten. Um sie herum wirbelte ein golden-roter Strudel. Dann meinte sie, innerhalb weniger Sekunden durch viele Jahre zu eilen. Sie nahm die letzten zwei Monate im Mutterleib wahr, fühlte für einige Sekunden die Enge und Angst im Geburtskanal, das grelle Licht, in das sie hinausgestoßen wurde, Säuglingszeit, Kleinkindzeit, Schuljahre, Jugend im Zauberinternat Burg Greifennest. Doch es war nicht ihr Leben, dass sie durcheilte, sondern das einer anderen, der Hexe Trude Rabenwald. Sie erlebte mit, wie diese sich zu einem wissbegierigen und auch frühreifen Mädchen entwickelte, wie sie mit achtzehn den fünf Jahre älteren Adebar Steinbeißer heiratete und eine sehr beglückende Hochzeitsnacht erlebte. Sie spürte auch, wie Trude das erste Kind in sich herantrug und ihre erste Tochter Aurora in Richtung Morgensonne aus sich hinauspresste. Sie bekam mit, wie Trude sich zu einer sehr kundigen Hexe in allen Bereichen entwickelte, den Orden Regina Magarum erster Klasse erhielt, wie sie sich erst mit den zögerlichen und dann mit den entschlossenen Schwestern zusammentat. In deren Orden stieg sie sehr schnell auf, mal mit List, mal mit Schmeicheleien, mal mit brutaler Gewalt, wenn sie mal wieder den Versuch einer Missgönnerin vereiteln musste, sie zu entmachten oder zu töten.

Albertine verfolgte in dieser unfreiwilligen Lebensschau auch mit, dass Trude sich immer schon für das sagenhafte alte Reich interessierte, von dem viele sagten, es sei nur eine Legende gewesen. So bekam Albertine auch mit, dass sie dem rothaarigen Dunkelmagier Vulpiculus Eisenhut einen kleinen runden Stein mit glitzernden Verzierungen abjagte, aber dafür nicht an die Tafeln von Antiochia gelangte, auf denen die Formeln standen, mit denen dieser Stein die Straßen des alten Reiches nutzen konnte. Denn die waren durch einen Selbstvernichtungszauber der Kiste geschützt, der bei feindlicher Berührung sich und alles im Umkreis von einem Dutzend Metern in grünem Feuer verbrannte. Überhaupt war die Suche oder besser Jagd nach den Formeln für den sogenannten Lotsenstein ein Großteil von Trudes Leben. Sie suchte und fand zwar einige andere magische Gegenstände, darunter ein buntes Kleid, das seine Trägerin gegen fast alle Flüche schützte, sowie eine blaue Kristallkugel, mit der das Wettergeschehen im Umkreis von zehn Meilen beeinflusst werden konnte, ja sogar die berühmten Blitze aus heiterem Himmel auf ausgewählte Ziele und Gegner herabbeschwören konnte. Aber all das, so ließ sich immer vernehmen, sei billiger Jahrmarktplunder gegen die wirklich mächtigen Artefakte der alten Magier und die Waffen der Titanen.

Albertine bekam dabei auch die Empfängnis, Schwangerschaft und Geburt der drei anderen Kinder Trudes mit und eine Menge aus ihrem Familienleben.

Was für sie entscheidend war, das waren die Erschaffungen der fünf Horkruxe. Die Tötung der wesentlich älteren Hexe Leonida Falkenstoß ermöglichte ihr, das Testament zu einem Horkrux zu machen, bevor sie es mit den vier sich gegenseitig verstärkenden Erfüllungsflüchen und den Kräften von Sonne und Mond verband. Eine Halskette aus Silber wurde ihr zweiter Horkrux. Hierfür musste kein geringerer als Vulpiculus Eisenhut sterben. Der dritte Horkrux war eine silberne Flöte, für deren Bezauberung der Schwarzmagier Mordred Gaunt in einem ziemlich langen Duell sein Leben einbüßte. Der letzte Horkrux war eine altchinesische Blumenvase, für deren Bezauberung die französische Hexe Drusille Villefort sterben musste.

Am Ende dieser wilden Reise durch ein ganzes Leben sah sie, wie Trude Steinbeißer vier sie verfolgende Besen mit einer Wand aus goldenem Feuer zerstörte und dann in eine Höhle hineinapparierte, die sie vor Jahrzehnten aufgespürt hatte. Dort entkleidete sie sich, ließ ihre Kleidung verschwinden und legte sich hin. Albertine sah, wie sie ein kleines Glasfläschchen zwischen die Lippen führte und dann einfach einschlief. Ihre Seele entwich als durchsichtiges Abbild ihrer Selbst dem Körper. Goldene Funken umtanzten sie und formten jene honigfarbene Kugel, in der Albertine sie getroffen hatte. Sie sah noch, wie sich Trude zusammenrollte und dann schemenhaft wabernd verblieb.

Mit einem Ruck endete die Reise durch ein fremdes Leben. Albertine erkannte mit Schrecken, dass sie gerade mit Trudes in der Welt verbliebenen Seele eins wurde. Sie hatte sich nicht dagegen wehren können. Sie hatte Anthelia verraten und damit ihren eigenen Tod verdient. Da schnellten purpurrote Flammen aus ihrem Leib hinaus und loderten ohne Hitze und ohne Schmerz mehrere Sekunden. Dann erloschen sie einfach, ohne Funken und Rauch. Sofort fühlte sie, dass sie von der großen Last befreit war, Anthelia zu dienen und ihr zu helfen, wobei auch immer. Doch dann floss wieder eine starke Kraft in sie ein, spülte ihre Gedanken fort und schwemmte dafür andere Gedanken in ihren Geist. Jetzt fühlte Albertine, wie ihre eigene Persönlichkeit mit der von Trude Steinbeißer zusammenfand, sich vermischte und dann verschmolz. Unter starken Schmerzen vollzog sich diese Verschmelzung zweier Hexenseelen zu einer einzigen. Vor albertines Augen zuckten weiße Blitze und sprühten Funken. Dann durchbrauste sie eine nie gekannte Euphorie. Sie hatte es geschafft. Sie war befreit von allen Fesseln und konnte in diesem noch jungen Körper, der noch dazu zwei überragende Kunstaugen besaß, das Werk weiterführen.

"So sind wir nun eins, ein Fleisch und Blut, ein Leib und eine starke Seele, vereint bis in den Tod. So setzen wir das Werk fort", klangen zwei Stimmen in Albertines Geist, die Wort für Wort zu einer einzigen lauten Stimme wurden. Ja, sie war nun die wiederverkörperte Trude Steinbeißer mit Albertines Wissen oder Albertine mit Trudes ganzem Leben und Wissen. Auch war der von Anthelia aufgezwungene Treueidfluch verpufft, einfach als Purpurfeuer aus ihr hinausgetrieben worden. Dann dachte sie mit ihrer neuen, lauteren Gedankenstimme: "Frauenliebe ist herrlich und süß, aber mein Leib muss neues Fleisch und Blut hervorbringen. Ich darf mich nicht in all zu große Gefahr begeben, bis ein Sohn und eine Tochter meinem Schoß entstiegen und meiner Milch entwöhnt sind. Wenn anthelia mich nicht zur Geliebten will, dann soll sie sich hüten, mich zur Feindin zu gewinnen."

Es erfolgte keine Bestrafung. Ja, der Treueidfluch war verrpufft. Natürlich war er das, erkannte die aus zwei Seelen zu einer verschmolzene Hexe. Denn was in dieser Höhle gegen Trudes Willen wirkte zerstörte sich unschädlich für sie und jeden, der unter ihrem Schutz stand. Damit hatte sie, Albertine, Anthelia entsagt. Würde die sich damit abfinden können oder versuchen, sie zu töten? Da fiel ihr ein, dass sie Anthelia nicht töten konnte, weil diese was von einem tödlichen Windzauber erzählt hatte, der sie nach dem körperlichen Tod in einen ungebärdigen, unaufhaltsamen Luftgeist verwandeln würde. Jetzt erkannte Albertine/Trude oder auch Albertrude, dass sie da wohl die Wahrheit gesagt hatte. Sie wusste nun, wie es war, wenn zwei geschlechtsgleiche Seelen in einem Körper zu einer einzigen zusammenfanden und vereint wurden. Das war mächtig, ja beglückend, das gab ihr eine sehr große Macht und auch neue Ideen. Sie wusste nun, wie das für Anthelia gewesen sein musste, auch wenn hierbei zwei Körper und zwei Seelen verschmolzen wurden. Aber so ähnlich musste es auch bei jener Schattenriesin abgelaufen sein, die Albertine und ihre Kollegen in Atem hielt. Dann war diese fraglos mächtiger als der mächtigste Einzelschatten. Ihr wurde klar, dass, wenn sie ihre eigene Blutlinie verlängern wollte, sie nicht die direkte Konfrontation suchen durfte. Das musste sie mit Anthelia besprechen und hoffen, dass diese sie nicht tötete. Da entsann sie sich, dass Anthelia sehr gerne den Lotsenstein haben wollte, weil sie erwähnt hatte, dass sie damit was anfangen konnte, wenn sie ihn hatte. Anthelia und die mit ihr verschmolzene Magierin aus dem alten Reich kannten sicher die Reiseformeln für die alten Straßen. Ja, damit ließ sich doch was anfangen.

Ohne Schwierigkeiten landete Albertrude Steinbeißer in der Empfangshalle der Daggers-Villa. Für einen Moment war ihr, als wollten unsichtbare Hände in ihren Brustkorb, Kopf und Unterleib hineingreifen. Doch dann glitten sie wieder ab. Albertrude sah in einer Wand das wütende Gesicht eines Afrikaners und hörte dessen Stimme in ihrem Geist: "Du verruchte steckst noch in einer lebenden Hülle. Aber der Tag wird kommen, wo du mein wirst."

Anthelia apparierte mit dem lodernden Schwert in der linken und ihrem silbergrauen Zauberstab in der rechten hand. Auch Albertrude hielt den Zauberstab bereit, der ursprünglich an Albertine alleine verkauft worden war. Beide mächtigen Hexen blickten sich an. Gedanken flossen unmittelbar. Dann schloss Albertrude ihren Geist und fühlte, dass die andere nicht mehr daran rütteln konnte. Danach sagte sie:

"Ich habe den magischen Eid, der mich töten sollte, wenn ich dich verrate, abgeschüttelt. Dass du mit dem mächtigen Schwert Yanxotahrs das Testament Trudes zerstört hast sollte ich dir eigentlich übelnehmen. Aber ich weiß, dass die, mit der ich nun eins bin, zu viel Angst vor ihrer Bestimmung hatte. Doch das ist jetzt vorbei. Ich kann und möchte weiter deine Bundesschwester sein, Anthelia vom Bitterwald. Denn jede von uns hat etwas, dass der anderen fehlt. Ich kann den Lotsenstein aus Trudes geheimem Haus bergen und du kennst sicher die Reiseformeln für die alten Straßen. Denk nicht einmal daran, mich hier oder anderswo zu töten. Jetzt, wo mein Leib und meine Seele frei von deiner Vergeltung sind, kann alles, was ich von dir weiß, in weniger als einer Sekunde an einen geheimen Ort versetzt werden. Also, wie entscheidest du?"

"Wie nennst du dich nun? Albertrude?" fragte Anthelia, die offenbar schon damit abgeschlossen hatte, Albertine nicht mehr als treue und bedingungslos gehorsame Mitschwester zu haben. Albertrude nickte und lächelte. "Wie möchtest du es denen erklären, die nur Albertine kennen, weil ich doch davon ausgehe, dass du Trudes Vermächtnis erfüllen möchtest?"

"Ich werde weiterhin als Albertine herumlaufen, leben und arbeiten, um mich und später auch meine Kinder ernähren zu können. Ja, du hast recht, wenn ich unverhofft männliche Nähe begehren sollte wird dies Fragen aufwerfen. Doch weißt du ja ganz sicher, dass wir Hexen genug Mittel und Zauber kennen, zu bekommen, wen wir wollen und was wir wollen. So konntest du mein Testament lesen und ich einen neuen Körper bekommen. Sieh dies als gegenseitig erbrachte Schuld, Anthelia vom Bitterwald und wer sich da auch mit dir vereint hat."

"Ja, mir liegt was an dem Lotsenstein, das stimmt. Deshalb kann und werde ich dich nicht töten. Aber Albertine wusste, dass niemand mich gewaltsam töten darf. Weißt du das immer noch, Albertrude?"

"Natürlich weiß ich das und auch warum. Du bist eins mit einer mächtigen aus dem alten Reich geworden, wohl einer Tochter oder Schwester eines Windmeisters. Die Windmeister konnten sich und die ihren miteinem wirksamen Zauber gegen den gewaltsamen Tod wappnen, dem Lied des Rachewindes. Deshalb kann dich niemand töten, der dies weiß. Und wer es nicht weiß und dich tötet stirbt als nächster. Nein, ich werde nicht im Traum daran denken, dich zu töten, Anthelia."

"So bleiben wir nur Verbündete, oder sind wir immer noch Schwestern?" fragte Anthelia.

"Schwestern sind wir, und wenn die anderen mit uns zusammenkommen werde ich dich auch als höchste Schwester bezeichnen. Doch ansonsten bist du für mich gleichberechtigt, Schwester Anthelia.

"So sieh zu, dass niemand von den anderen erfährt, was heute geschehen ist. Auch wenn ich sie zurückhalten kann, so könnten einige doch argwöhnen, dass unser gemeinsames Werk zerfällt. Wir haben schon viel erreicht. Doch sehr viel mehr liegt immer noch vor uns", erwiderte Anthelia in schon staatstragender Art.

"Wahr gesprochen, Schwester", pflichtete Albertrude ihrer nun gleichberechtigten Bundesschwester bei. Dann sagte sie noch: "Genau deswegen möchte ich nun in Albertines Haus zurückkehren. Du wirst wohl erst wieder was von mir hören, wenn es für uns beide wichtig ist, dass du es weißt. Da jedoch im Moment diese Nachtschattenriesin ihre Pläne vorantreibt kann das schon morgen geschehen. Bis dahin erhol dich gut, Schwester Anthelia. Semper Sorores!"

"Schlaf du auch gut, Schwester Albertrude. Semper Sorores!"

Albertrude nickte noch einmal der Wand zu, wo sie gerade noch das Gesicht des afrikanischen Zauberers gesehen hatte. Dann disapparierte sie, um mit einem einzigen Sprung in Albertines Bungalow auf der Lüneburger Heide zu landen. Sie entkleidete sich und betrachtete ihren Körper im mannshohen Spiegel in ihrem Kleiderschrank. Ja, sie besaß trotz einer gewissen Knöchernheit gewisse Reize. Mit Frauen konnte sie gut. Aber sie wollte auch bald erproben, wie es sich anfühlte, mit einem Mann verbunden zu sein, seine Kraft und Ausdauer zu fühlen und hoffentlich bald ein neues Leben in sich heranreifen zu fühlen. Denn nur dann, wenn dieser Körper je einen Jungen und ein Mädchen geboren haben würde, konnte sie mit ihm in das blaue Haus eindringen, ohne von den dort wohl noch wirkenden Zaubern abgewiesen zu werden.

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"Wie, wir bekommen keine Landeerlaubnis in Kuweit Stadt?" fragte Eleni Papadakis ihren Gesprächspartner am Telefon. "Wer hat das veranlasst?" legte sie nach.

"Die Kuweitis haben wohl von irgendwem, dass unsere Fluglinie in Afghanistan dazu eingesetzt wurde, nicht nur Hilfsgüter für die US-Armee heranzubringen, sondern auf dem Rückflug auch Drogen mitgenommen zu haben", erwiderte ihr Kontakt in Washington DC. Kann sein, dass der Mossad unsere Operationen argwöhnisch verfolgt und den Kuweitis dieses Märchen aus tausendundeiner Nacht aufgetischt hat. Wo da genau wer was behauptet hat prüfen wir noch nach."

"Afghanistan ist aber noch sicher?" fragte Eleni Papadakis.

"Oh, dann haben sie es noch nicht erfahren? Die wollen ab morgen jedes Flugzeug prüfen, was von uns dort landet und wieder startet. Offenbar ist die Behauptung, wir würden Drogen schmuggeln auch bis zur Airforce durchgedrungen, und Bush Junior wittert nun seine Chance, uns als private Hilfskräfte mit kommerziellem Anspruch aus dem Spiel zu werfen wie einen Mensch-ärgere-dich-nicht-Stein."

"Dann werde ich wohl mit unserem Verbindungsmann bei den Virginia-Bauernburschen sprechen müssen, was da läuft. Ich lasse mir das Geschäft mit der Airforce und Army nicht von einigen neidischen oder böswilligen Quertreibern versauen, merken Sie sich dies gut!"

"Natürlich. Das ist mir bewusst, Mrs. Papadakis. Seien Sie versichert, dass wir dieses Missverständnis in kürze aufgeklärt haben werden."

"Bis Monatsende will ich die Landegenehmigung, Roger, sonst ist unsere Beziehung beendet", sprach Eleni Papadakis eine unverholene Drohung aus. Ihr Gesprächsteilnehmer bestätigte es. Dann verabschiedeten sich die beiden.

"Das war bestimmt diese Hexe mit dem Feuerschwert", flüsterte es in Elenis Geist. "Sie hat bereits die ersten Stolperschnüre ausgespannt und einen Stapel Knüppel bereitgelegt, den uns andere zwischen die Beine schleudern sollen."

"Ja, das war leider zu erwarten, meine Göttin", dachte Eleni zurück. "Sie suchen wohl nach mir. Aber wenn ich ständig in einem fliegenden Flugzeug unterwegs bin können sie mich nicht erwischen."

"Sei nicht nur vor den Hexen und Zauberern auf der Hut, sondern auch vor Wesen, die aus reiner, feinstofflicher Dunkelheit bestehen! Ich fühle, dass diese sich auch immer weiter in der Welt ausbreiten. Die Nacht, in der wir aufeinanderprallen, rückt näher."

"Ja, und was ist mit dieser Überhexe, dieser Mutter der Abgrundstöchter? Wenn die in ihrem Zauberberg bleibt können wir sie nur töten, wenn wir neue Kristallstaubkrieger haben", dachte Eleni alias Nyctodora zurück.

"Diese beunruhigt mich im Moment mehr als diese Schattengeister. Ich fühle, dass sie irgendwas macht, um noch stärker zu werden, ihre Macht weiter ausdehnt. Deshalb brauchen wir eben neue Kristallstaubkrieger. Also sieh zu, dass du auch im Irak Fertigungsstätten für Unlichtkristalle errichten kannst, falls sie uns jene in Afghanistan verleiden sollten!"

"Ich werde es schaffen, Meine Mutter und Göttin", dachte Eleni Papadakis. Doch innerlich war sie sich nicht mehr so sicher, ob sie überhaupt noch Stützpunkte zur Erzeugung von Unlichtkristall erhalten würde. Außerdem fühlte sie den allen Wesen ihrer Art eigenen Durst auf warmes Blut. Sicher, sie führte im Frachtraum mehrere Dutzend erwachsene Rinder mit, deren Mist im standardmäßigen Sanitärsystem der ihr als fliegender Kommandostand dienenden Boeing 747 entsorgt wurde. Aber Sie wollte wieder Menschenblut trinken, weil dies ihrer Konstitution besser behagte. Doch wann und von wem das sein würde wusste sie noch nicht. Ob sie überhaupt noch lange leben würde war ebenso fraglich. Denn versagte Eleni, so würde die schlafende Göttin sie einfach auslöschen und jemanden anderes an ihre Stelle setzen.

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"Geh davon aus, dass sie dich nun suchen, Goody!" sagte Lunera zu ihrem Kundschafter Goodwin Rawlings, als dieser so heimlich es gegangen war auf der Amazonasinsel eingetroffen war, auf der die Mondgeschwister ihr Hauptquartier unterhielten. Jetzt, wo Ninas Sohn Alejandro und die nur zwei Tage danach geborene Tochter Luneras und Valentinos, Lykomeda, über die ersten Lebensmonate hinweg waren, wollte die von schweren Niederlagen und einer weltweiten Bedrohung durch mechanische Todesmücken zur Untätigkeit verdammte Gemeinschaft der Mondgeschwister wieder mehr in das Weltgeschehen eingreifen. Goodwin hatte unter dem Pseudonym Jack Greyback ein Friedensangebot an das amerikanische Zaubereiministerium übermittelt, wo er auf einen Mr. Lionel Buggles getroffen war. Doch sie hatten das Friedensangebot ausgeschlagen und ihn festzunehmen versucht. Das war eine Kriegserklärung, auf die die Führung der Mondgeschwister reagieren musste. Außerdem wollten sie endlich herausbekommen, wer diese Bandidten waren, die sich Gemeinschaft zur Erhaltung und Vermehrung magischen Lebens oder auch Vita Magica nannten. Dann hatte Lunera noch etwas gehört, dass die Vampire noch frecher wurden als sonst schon. Diese Macht, welche die graugesichtigen Übervampire hervorgebracht hatte, breitete sich offenbar auch weiter aus. Wenn sie, die Träger des Lykanthropiekeims, endlich die gesellschaftliche Gleichberechtigung mit den eingestaltlerischen Menschen erreichen wollte, dann mussten sie diese langzähnige Brut ausrotten.

"Wir müssen einen neuen Plan machen. Ich muss wissen, was in den Zaubereiministerien passiert, Goodwin", sagte Lunera nach einigen Bedenksekunden. Ihr Gesprächspartner nickte beipflichtend. "Geh bitte davon aus, dass diese Babymacher bald was neues versuchen, um uns als unerwünschte Geschöpfe, als Aussätzige, abzutöten, wo ihr gemeines Blutzersetzungsvirus uns im Moment nicht mehr erreichen kann."

"Wie lange soll ich auf der Insel bleiben, Lunera?" fragte Goodwin Rawlings.

"So lange es nötig ist, Goodwin. Mach dir keine Sorgen wegen der Nahrungsversorgung! Wir haben unsere Quellen sicher", sagte Lunera. Goodwin sah sie etwas verstimmt an.

"Der Mensch, auch der Lykanthrop, lebt nicht nur vom Essen", grummelte Goodwin.

"Ach, dein heimlicher Wunsch, eigene Kinder haben zu dürfen, Goody? Am Tag vor dem nächsten Vollmond gebe ich eine Party. Da wirst du vielleicht die eine oder andere finden, die sich mit dir auf sowas einlassen möchte", sagte Lunera Tinerfiño lächelnd. Goodwin errötete ein wenig. Offenbar hatte sie ins schwarze getroffen.

ENDE

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