VEELAS UND WERWESEN

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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Die Menschheit ist in Aufruhr. Jene Menschen ohne magische Kräfte führen einen Vergeltungskampf gegen die Hinterleute des grausamen Terroranschlages vom 11. September 2001. Der US-Präsident zieht mit mehreren Verbündeten gegen den irakischen Machthaber Saddam Hussein in den Krieg. Nur jene Mitarbeiter, die aus der magischen Welt in die CIA und andere Behörden eingeschleust sind, wissen, wie viel Glück die Soldaten hatten, dass ein macht-und ruhmsüchtiger Dschinnenmeister gerade noch rechtzeitig gestoppt werden konnte, bevor er den Irak mit unaufhaltsamen Waffen versorgen konnte. Die sizilianische Mafia erleidet einen schweren Enthauptungsschlag, nicht von der Polizei oder der Justiz, sondern von der aus jahrhunderte langem Zauberbann erweckten Dunkelhexe Ladonna Montefiori, die den von ihr unterworfenen Luigi vor der Geldgier dieser Unterweltvereinigung beschützen will. Ladonna darf nicht getötet werden, weil sie zum Teil Veelastämmig ist. Das hindert sie jedoch nicht daran, die ihr nachstellenden Blutsverwandten zu bekämpfen und etliche von ihnen grausam zu töten.

Die aus vielen hundert Einzelseelen zusammengeballte Daseinsform Gooriaimiria, die maßgeblich vom Willen der ehemaligen Vampirkönigin Lamia alias Nyx geführt wird, erklärt sich trotz ihres Exils im Mitternachtsdiamanten Iaxatans zur schlafenden Göttin und steuert ein großes Heer von Vampirinnen und Vampiren, die nicht nur die magische Welt in Gefahr bringen.

Die bei Lord Vengors großem Entscheidungskampf vor der Nimmertagshöhle Iaxatans aus zwei einzelnen Nachtschatten verschmolzene Schattenriesin Birgute Hinrichter erbrütet ihr untertänige Nachtschatten aus den Seelen unschuldiger Menschen und will ihre Daseinsform zur vorherrschenden Macht aufbauen. Sie schafft es sogar, die mit ihr rivalisierende Tochter der kosmischen Dunkelheit zu schwächen.

Die nach Jahrtausenden in untergeordneter Stellung freigekommene Mutter aller Abgrundstöchter will gegen Vampire und feindliche Zauberer eine unbesiegbare Streitmacht aufbauen und nutzt hierfür die hochpotenten Tränen der Ewigkeit, um sich und andere in Wesen zu verwandeln, die mal Mensch und mal menschengroße, befruchtungsfähige Ameisen sein können. Eines ihrer Opfer ist der französische Ministerialbeamte Arion Vendredi. Ihn schickt sie nach seiner Umwandlung und der ersten von ihm geleisteten Befruchtungsarbeit in seine Heimat zurück, um ihn als Spion und Erfüllungsgehilfen einzusetzen.

Dagegen erscheint die Tat zweier veelastämmiger Hexen vernachlässigbar harmlos. Dennoch müssen sie sich vor Gericht verantworten. Weil dabei aber so viele geheime Dinge erörtert werden können, findet diese Verhandlung unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.

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Für die meisten Augen war sie unsichtbar. Das war auch gut so, denn sonst hätten wohl viele daran geglaubt, eine echte fliegende Untertasse zu sehen. Die Form des Objekts war die einer flachen Glocke mit verdicktem, abgerundetem Rand. Auf ihrer Oberseite, genau im Scheitelpunkt, da wo bei einer üblichen Glocke die Aufhängung saß, drehte sich mit fünff Umdrehungen die Minute ein Kranz aus zwölf nach oben offenen Halbkugelschalen. Diese fingen das vom Himmel kommende Licht ein. Früher war es ausschließlich das ins Blaue hineingestreute Licht der Sonne und die Strahlen des Tagesgestirns selbst. Doch ein paar sehr findige Meister der Zauberschmiedekunst hatten das Artefakt so verändert, dass es nun ausschließlich das Mondlicht einsaugte und dann, wenn es über einer bestimmten Ausstrahlungsquelle schwebte, verharrte und das aufgesammelte Mondlicht in Form einer Glocke aus gebündelten Strahlen in die Tiefe sandte. Für Menschen waren diese Strahlen nur als silbrig-blaues Licht zu sehen. Für Träger eines ganz bestimmten Blutes war die Wirkung jedoch wesentlich spürbarer.

Die von den meisten Augen gerade nicht zu sehende schwebende Glocke glitt von einem schwachen Flugzauber getrieben nur hundert Meter über dem Boden Spaniens. Die in ihr enthaltenen Spürvorrichtungen hatten ihr vor genau einer Minute ein klares Ziel gezeigt, eine deutliche Ausstrahlung, die nur von zwei Dingen stammen konnte, dem Blut mindestens eines Werwolfes und ein Abstoßungszauber, der zwei gleichartige Materialien daran hinderte, sich unter einem Meter zu nähern. Auf diese beiden Ausstrahlungen hatten die Erfinder ihre Konstruktion abgestimmt. Nun flog sie unbeirrt vom Wind weiter, bis sie über einem kleinen Haus, eher schon einer Hütte, verharrte. Hier war die Quelle der für das Artefakt betreffenden Ausstrahlungen.

Über eine nicht durch Funkwellen vermittelte, aber dennoch weltweit reichende Verbindung teilte das Artefakt seinen Erschaffern mit, dass es ein klares Ziel hatte. Keine zehn Sekunden später erhielt es genau den magischen Impuls, der für den Befehl "Ziel auslöschen!" eingeprägt war.

Unverzüglich glitt ein silbrig-blauer Strahlentrichter nach untenund umschloss das Haus. Jetzt stand es genau in der Mittelachse des glockenartigen Gebildes. Das bläuliche Licht flirrte nun, während die zwölf auf dem Artefakt kreisenden Halbkugelschalen begierig das Licht des zunehmenden Mondes einsaugten und in der veränderten Form nach unten weitergaben.

Aus dem kleinen Haus drangen Schmerzenslaute, als wenn jemand lebendig am Spieß geröstet würde. Erst waren es menschliche Laute. Dann wurden sie immer tierhafter, bis sie wie das in schlimmster Todesqual klingende Heulen und Winseln eines großen Hundes oder Wolfes klangen. Es dauerte nur wenige Minuten. Dann erstarb es mit einem letzten, grässlichen Röcheln. Jetzt empfing die Spürvorrichtung des glockenförmigen Flugkörpers nur noch die alles gleichartige abweisende Bezauberung. Das durch Zauberschmiedekunst in die Vorrichtung eingearbeitete Programm endete mit einem magischen Kraftstoß, der für "Ziel ausgelöscht!" stand. Dann erlosch die bläuliche Lichtglocke, und das nun wieder völlig unsichtbare Fluggerät schwebte weiter, einem neuen Ziel entgegen.

"Das war also diese Rezaluna, die diese Mondgeschwister in Nordspanien postiert haben", sagte ein äußerlich gerade zehn Jahre alter Junge zu zwei Männern und einer Frau in einem kreisrunden Raum voller tickender, klickender, schnurrender und zirpender Vorrichtungen. Er zog ein aus einem Schlitz herausgeschnurrtes Stück Pergamentstreifen ab und las die mit dem Zielerkennungssignal und dem Auslöschungsbestätigungssignal übermittelten Werte. "Ja, ein weibliches Exemplar, um die vierzig Jahre alt. Dauer der Auslöschprozedur zwei Minuten und zwanzig Sekunden. Das heißt, dass es stimmt, dass bei zunehmendem Mond die Auslöschungsprozedur immer kürzer wird. Allerdings müssen wir demnächst mehrere Exemplare zugleich erwischen, um zu erkennen, ob die Auslöschungsprozedur gleichlang bleibt oder mit der Anzahl malgenommen wird. Davon hängt ab, ob Operation "Blauer Mond" wunschgemäß durchgeführt werden kann. Zumindest klappt die Zielerfassung optimal, mit nettem Dank an Mr. Hammersmith aus dem LI."

"Geht dir das echt nicht an die Nieren, dass du mal eben ein denkendes und fühlendes Wesen abgetötet hast wie einen lästigen Pilz?" fragte die Frau, die mit im Überwachungsraum saß, Véronique, alias Mater Vicesima.

"Véronique, wir hatten es doch davon, dass wir diese Pest nicht weiter so ungehindert über die Welt herfallen lassen können. Oder willst du eines deiner zwanzig Kinder oder die zwei, die in dir heranwachsen der Gefahr aussetzen, irgendwann mal mit deren Keim infiziert zu werden. Insofern habe ich gerade kein denkendes Wesen abgetötet, sondern eine in ihrem Wirt lauernde Population von Krankheitserregern."

"Machst du es dir da nicht ein wenig zu einfach, Perdy?" wollte Mater Vicesima wissen. "Du hast gerade vorgelesen, dass es über zwei Minuten gedauert hat, bis die Zielperson tot war. Wir haben nicht mitbekommen, wieviel Schmerzen sie dabei empfunden hat. Oder fällt sie schlagartig in Ohmnacht und verstirbt ohne Bewusstsein?"

"Kommt wohl auf die Zielperson an, Véronique", erwiderte Perdy verdrossen, weil er mal wieder gemaßregelt wurde. "Abgesehen davon haben wir gerade verhindert, dass sie hunderte von Kindern mit diesem Keim ansteckt. Die hätten damals einfach zu den Ministerien gehen und sich registrieren lassen sollen."

"Wie gesagt, Perdy, wir haben nicht mitbekommen, ob und wenn ja wie sehr sie gelitten hat. Überlege dir und überlegt euch das bitte, ob ihr einen minutenlangen Todeskampf führen wollt, nur weil wer berechtigte Angst davor hat, dass ihr ihm oder ihr irgendwas tun könntet!" erwiderte Mater Vicesima sehr ernst dreinschauend. Nur Perdy schien das schwache Glitzern kleiner Tränen in ihren meergrünen Augen zu bemerken. Deshalb sagte er diesmal nichts.

"Wann wissen wir, ob die Vorrichtung auch gegen Vampire wirkt?" wollte einer der Männer wissen.

"Wenn mir die Firma Q. Hammersmith auch fünf von diesen neuartigen Vampirblutresonanzkristallen überlassen haben wird, Sören", sagte der scheinbar nur zehn Jahre alte Bursche an der Überwachungsanlage.

"Soweit wir wissen hat dein verehrter Konkurrent in den Staaten diese Dinger in verschiedenen Muggel-Unis angebracht, um die mit Viren und Erbgut herumpfuschenden Wissenschaftler vor den Langzähnen zu schützen. Kannst du dir nicht von da die benötigten Kristalle ziehen, Perdy?"

"Genau deshalb, weil die Dinger da verhindern sollen, dass solche Virenbrüter von Vampiren angeworben werden sind die Kristalle da unverzichtbar", erwiderte Perdy sehr entschlossen. "Nein, das kriegen wir anders hin. Auch wenn uns Silvester Partridge den Zaubereiminister Dime vom Haken gepflückt hat werden wir wohl bald Zugriff auf gerade nicht lebenswichtige Vorräte dieser Kristalle bekommen. Falls der blaue Mond dann genauso hell über Vampiren scheint wie über Werwölfen besteht Hoffnung, auch dieses Ungezifer loszuwerden, wenn vielleicht auch nicht so schnell wie bei den Mondheulern", sagte Perdy. Dass Mater Vicesima ihn dafür sehr streng ansah steckte er diesmal unbekümmert weg.

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Lunera schrak aus dem für sie gerade so nötigen Schlaf. Erst dachte sie, ihre Tochter Lykomeda benötige etwas. Doch es war das wilde Wimmern in ihrem sogenannten Nachrichtenschrank, wo sie mehrere Dutzend dosenförmige Geräte aufbewahrte, über die sie mit den nach der erfolgreichen Abwehr des Lykokillerviruses in die Welt geschickten Brüder und Schwestern Verbindung hielt. In einer Sekunde war sie aus dem Bett und am Schrank. Sie brauchte nur einmal hineinzusehen um die kleine, blutrot leuchtende Dose, nicht größer als zwei Fingerhüte, zu entdecken. Das wild flackernde blutrote Licht wurde von einer orangeroten Buchstabenfolge unterbrochen: "Rezaluna soeben verstorben"

"Verdammte Mondfinsternis!" schimpfte Lunera. Damit schreckte sie die neben ihrem Bett in einem kleinen Gitterbett schlafende Lykomeda auf. Diese fing sofort zu schreien an. "Ja, ist gut, Kleines, Mamita wollte dich nicht aufwecken", versuchte sie, möglichst beruhigend zu klingen. Doch das gelang ihr nicht, und das kleine Mädchen, das fleischgewordene Bindeglied zwischen magischer und nichtmagischer Welt, stieß weiter schrille Schreie aus. Natürlich wurde jetzt auch Alejandro eine Tür weiter wach und stieß ein wildes schnarrendes Geschrei aus.

"Ich muss mich wieder besser beherrschen, bevor ich noch vor der Kleinen die Gestalt wechsel", dachte Lunera. Dann besann sie sich auf das, was nun anstand. Rezaluna war tot. Der mit ihrem Blutkreislauf gekoppelte Meldezauber in der anderen Fernverständigungsdose hatte ihren Tod festgestellt. Das hieß, jemand hatte sie entdeckt und getötet. Es konnte keiner dieser widerlichen Virenträger gewesen sein, weil die nicht durch die Silberabwehraura dringen konnten. Also musste ein Zauberer oder eine Hexe ihr auf die Spur gekommen sein und sie mal eben umgebracht haben. Bei einer Entführung hätte der Meldezauber im orangen Licht geleuchtet und "unangekündigte Entfernung von Rezaluna!" vermeldet. Das Ding hatte aber eindeutig ihren Tod erfasst und gemeldet. Also blieb nur noch die völlige Vernichtung ihres Unterschlupfes.

Lunera griff nach der immer noch rot flackernden Dose und drehte den darauf geschraubten Deckel zweimal gegen den Uhrzeigersinn herum. Dann riss sie das Schlafzimmerfenster auf und warf die Dose hinaus. Keine fünf Sekunden später zischte es kurz wie auf eine glühende Herdplatte tropfendes Fett. Dann war wieder Ruhe. Mit der Vernichtung der einen Dose wurde ein zwanzigfach stärkerer Selbstvernichtungszauber in Rezalunas Fernverständigungsdose ausgelöst. Damit dürfte ihr Haus nun lichterloh brennen.

"Wen hat's erwischt, Lunera?" hörte sie Finos Stimme aus der Luft klingen. Sie hob den Kopf und sprach der Decke zugewandt: "Rezaluna wurde getötet. Ich habe ihr Haus sofort vernichtet. Wenn der Mörder noch drin war ist er nun wohl auch tot."

"Öhm, nichts für ungut, Lunera, aber wir hätten vielleicht erst nachsehen sollen, wie genau sie umgebracht worden ist."

"Nein, Fino, das ist genau das, was diese Eingestaltlichkeitsfanatiker wollen, dass wir da sofort wen hinschicken, der oder die dann gleich miterledigt werden kann. Rezaluna wusste das genau wie alle anderen, dass wir ihnen niemanden schicken, wenn sie gefangengenommen oder getötet werden."

"Und du hast das rote Licht gesehen, kein oranges oder gelbes?" wollte Fino wissen.

"Meine Augen funktionieren noch ausgezeichnet, Fino. Ich kann Rot von Gelb unterscheiden, so wie ich Vollmond von Mittagssonne unterscheiden kann. Rezaluna wurde im Erfassungsbereich des mit ihrem Blutkreislauf verbundenen Meldezaubers getötet, Schluss, aus, Exitus. Immerhin hast du diesen Zauber für alle Außeneinsatzkameraden eingerichtet."

"Is' gut, Lunera. Ich wollte nur sicherstellen, dass wir keinen ganz dummen Fehler gemacht haben", klang Finos Stimme. Dann sagte er noch: "Öhm, kriegst du deine Kleine wieder zum schlafen oder soll ich auch bei ihr den Schlummerzauber machen, mit dem ich meinen kleinen Kronprinzen gerade besungen habe?"

"Ich kriege das hin", schnaubte Lunera. Doch innerlich war sie gerade ganz woanders als am Kinderbett ihrer Tochter. Wer hatte Rezaluna gefunden und ohne große Ankündigung umgebracht? War das vielleicht schon der befürchtete neue Anlauf dieser Babymacher-Banditen, die unbedingt alle Werwölfe wie lästiges Ungezifer ausrotten wollten? Sie hoffte inständig, diesen Leuten bald klarmachen zu können, wer das wahre Ungezifer war.

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"Ja, Sie werden mir jetzt mitteilen, dass die Anwesenheit des höchsten Beamten aus der Abteilung für magische Geschöpfe bei dieser Geheimverhandlung obligatorisch ist, Simon. Doch ich habe gestern vor und nach der Abteilungskonferenz feststellen müssen, dass während meiner Urlaubszeit einige Dinge angefallen sind, um die ich mich höchst persönlich kümmern sollte", sagte Arion Vendredi dem offiziellen Leiter der Geisterbehörde, als er diesen am Morgen des 22. März in dessen Büro aufsuchte. In nur einer Stunde begann die nichtöffentliche Gerichtsverhandlung gegen die Veelastämmigen Delacour und Montété.

"Ich kann sie gerne bei der Verhandlung vertreten, Arion. Aber dann benötige ich trotz ihrer offiziellen Rückkehr aus dem Urlaub noch einmal alle Vollmachten, um auf das Urteil, sofern es heute schon fallen sollte, angemessen zu reagieren. Stellen Sie sich vor, die beiden Beklagten werden zu Haftstrafen verurteilt. Dann könnte es durchaus geschehen, dass die Mutter dieser Euphrosyne Lundi Schadensersatzansprüche stellt, uns vielleicht sogar verklagt, weil wir ihre Tochter wehrlos zurückgelassen haben."

"Wenn es um benötigtes Gold geht gebe ich Ihnen gerne den Freibrief, mit dem Kollegen Colbert alles nötige auszuhandeln. Abgesehen davon bin ich ja nicht wieder für Wochen weg, sondern nur für diesen Tag."

"Darf ich wissen, wo ich Sie dann erreichen kann, wo Sie nicht im Urlaub sind?" fragte Beaubois.

"Auf Réunion, wegen der Wilderei gegen Sidericantor argyropteros. Immerhin hat dieser junge Narr Gérard Dumas auf seiner eigenmächtigen Erkundungsreise ja herausbekommen, dass die VM-Gruppierung die Gelege dieser Tiere stielt, wohl um damit ihren verwerflichen Zeugungstriebtrank anzusetzen. Sie hatten in dieser Hinsicht ja während meiner Urlaubsreise offenbar keine Notwendigkeit gesehen, richtig?"

"Ich ging und gehe davon aus, dass die dortigen Kollegen die Angelegenheit sehr gut handhaben. Immerhin ist im letzten Monat kein Rückgang des Bestandes vermeldet worden", erwiderte der offizielle Geisterbehördenleiter mit gewisser Beklommenheit in der Stimme.

"Sie meinen, keine Benachrichtigung sei immer eine gute Benachrichtigung, Simon? Das sehe ich leider nicht so. Daher will und werde ich diese Angaben an Ort und Stelle erfragen und dann mit den dortigen Wildhütern aushandeln, was geschieht, wie der Bestand vor weiteren Eierdieben geschützt werden kann."

"Öhm, und wenn Sie dabei wie Monsieur Dumas in eine Falle von Vita Magica tappen, Monsieur Vendredi?" wollte Beaubois wissen.

"Werden die sich sehr wundern. Ich habe meine Reise nicht nur zur Erholung und Zerstreuung genutzt, Simon. Mehr darf und will ich nicht sagen, um weder Sie noch mich unnötig zu gefährden. Sollte ich auf der Inspektion nichts erfahren, was meine Anwesenheit auf Réunion für mehr als diesen Tag erfordert bin ich heute abend spätestens um acht Uhr unserer Zeit wieder in Paris, Simon. Ich vertraue Ihnen noch einmal die Abteilung an."

"Ich hoffe, mich auch dieses Mal dieses Vertrauens als würdig zu erweisen, Monsieur Vendredi", erwiderte Simon Beaubois. Da erklang ein besonderer Meldezauber. Es war wie eine kleine Silberglocke, deren Schall heranschwebte und mit einem kurzen lauten Klingen aufhörte. Also befand sich ein Geist auf dieser Etage. "Oh, haben Sie einen Termin oder jemanden vorgeladen?" wollte Vendredi wissen.

"Ich habe die tanzende Jungfrau vorgeladen, weil sie mal wieder in der Bekleidungsabteilung eines Warenhauses herumgespukt hat und mit ihren telekinetischen Kräften Kleidung entwendet und vor nichtmagischen Menschen ausprobiert hat. Das muss aufhören", sagte Beaubois. Da bimmelte der Geistermeldezauber dreimal kurz hintereinander, das Zeichen, dass das bereits vermeldete Gespenst direkt vor der Bürotür war. "Kommen Sie herein, Mademoiselle Brigitte!" rief Simon Beaubois mit der rechten Hand auf der Schreibtischoberfläche. Der sonst bestehende Geisteraussperrzauber wurde damit unterbrochen.

Vendredi kannte die tanzende Jungfrau von Vichy. In ihrer postmortalen Erscheinungsform trug sie ein silbergraues Tutu und dunkelgraue Tanzschuhe. Um den Hals trug sie immer noch die dünne Kette, mit der sie damals erwürgt worden war, während sie für ihre Henker den letzten Tanz tanzen musste.

"Gut, Sie haben Ihre Anweisungen, Simon. Bis dann heute abend um spätestens halb neun mitteleuropäischer Zeit!" sagte Vendredi und drehte sich zum gehen. Die geisterhafte Ballerina wich ihm aus, damit er nicht durch sie hindurchgehen musste. Doch das reichte offenbar nicht aus. Denn irgendwas drängte das weibliche Gespenst, das vor dem Tod gerade einmal achtzehn Jahre alt geworden war, auf Armlänge nach rechts weg. Vendredi verstand sofort, dass er das bloß nicht weiter erwähnen sollte und öffnete die Tür, weil er selbst nicht mal eben hindurchschweben konnte wie die gespenstische Ballerina.

"Hoffentlich hat Beaubois das nicht bemerkt oder dieses Dunstpüppchen macht darum kein weiteres Aufsehen", dachte er. Er ging in sein Büro hinüber, um den kleinen Reisekoffer zu holen, der immer für eine kurze Reise bereitstand und mit einem auf ihn geprägten Verfolgungszauber versehen war, wenn er "Gepäck mir nach!" ausrief. Doch bevor er die angekündigte Reise antrat setzte er sich noch einmal an den sauber aufgeräumten und blitzblank geputzten Schreibtisch und konzentrierte sich auf eine überlebensgroße rote Ameise mit munter schwirrenden, durchsichtigen Flügeln. Er fühlte, wie allein der Gedanke an dieses Wesen seine Leidenschaft anregte. Sein Körper erbebte sacht aber spürbar.

"Meine Königin, hörst du mich?" fragte er in Gedanken. Doch jene, die er erreichen wollte antwortete ihm nicht. Offenbar schlief sie gerade so tief, dass sie seine geistigen Rufe nicht hören konnte. So musste er erst einmal zusehen, die von ihm angekündigte Dienstreise zu machen, damit der Anschein gewahrt blieb, er habe dringenderes zu tun, als einer nichtöffentlichen Gerichtsverhandlung beizuwohnen.

Er prüfte noch einmal den Sitz seines dunkelgrünen Reiseumhangs. Dann wandte er sich der Tür zu. "Gepäck mir nach!" rief er deutlich. Ein leises Schaben aus der Ecke zwischen Schreibtisch und Bürowand erklang. Doch mehr geschah nicht. Vendredi wandte sich ein wenig verunsichert um und blickte in die bestimmte Ecke. Dort zitterte ein kleiner, dunkelroter Koffer, nicht größer als eine Aktentasche, aber groß genug, Kleidung und Pflegeartikel für mehr als zwei Wochen aufzunehmen. Das magische Gepäckstück rührte sich nicht vom Fleck, sondern vibrierte nur wie eine dauernd angezupfte Harfensaite, jedoch ohne einen hörbaren Ton von sich zu geben. "Gepäck mir nach!" wiederholte Vendredi seinen Folgebefehl. Der kleine Koffer erbebte nun. Jetzt konnte Vendredi auch ein leises, tiefes Brummen aus der Ecke hören. Doch mehr tat der Koffer nicht. Vendredi stieß ein leises Wutschnauben aus. Denn ihm war klar, warum sein magischer Koffer ihm nicht gehorchte. Der war auf die Aura seines lebenden Körpers eingestimmt, die er verfolgen konnte. Doch genau die, besser sein ganzer Körper, war ja verändert worden. Deshalb vernahm das Köfferchen zwar den Nachfolgebefehl, konnte ihn aber nicht ausführen, weil er den rechtmäßigen Befehlsgeber nicht erfassen konnte. "Dann eben so", dachte Vendredi leise und ging zu seinem kleinen Gepäckstück hin, darauf bedacht, dass es sich eigentlich nur von ihm ergreifen und mit eigenen Händen forttragen oder öffnen lassen würde.

Vendredi bückte sich, streckte seine rechte Hand nach dem ebenholzfarbenen Griff aus ... Plopp! Der Koffer verschwand ohne Vorwarnung und Übergang. Vendredi gab ein verärgertes Knurren von sich. Die Notfallsicherung hatte gegriffen. Weil in dem Koffer auch hoch- bis streng geheime Akten befördert werden sollten, hatte der nicht eine einfache Diebstahlschutzbezauberung, zumal die seine Verfolgungsbezauberung gestört hätte. Wenn jemand unbefugtes ihn zu ergreifen versuchte, nachdem er bereits den Nachfolgebefehl erhalten hatte, disapparierte der Koffer einfach und landete in einem der Hochsicherheitskeller des Ministeriums, bis der rechtmäßige Eigentümer ihn dort nach Vorlage der nötigen Berechtigungsunterlagen und Bestätigung seiner Identität herausholen konnte.

"Hoffentlich bekommt das keiner mit, dass mein Bereitschaftsgepäck im Sonderkeller gelandet ist", dachte Vendredi mit gewisser Verunsicherung. Zumindest war in dem Koffer nichts von dringender Notwendigkeit, dachte Vendredi. Dann musste es eben auch ohne Reisegepäck gehen.

Er verließ sein Büro und ging noch einmal zu Simon Beaubois, um ihm seinen Büroschlüssel und die bereits ausgestellte Amtsvertretungsvollmacht zu übergeben. Die gespenstische Ballerina schwebte über einem der Besucherstühle, als säße sie auf einem unsichtbaren Kissen. Ihr sonst perlweißes Gesicht schimmerte im durch sie hindurchdringendem Licht silbern, ein Zeichen von Verlegenheit und Scham. Vendredi tat jedoch so, als gehöre das junge Gespenst zum sowieso schon spukhaften Inventar des Geisterwesenbüros und nickte Beaubois zu, dass er nun die geplante Dienstreise machen würde. Danach fuhr er mit einem der vergitterten Aufzüge in das Foyer hinunter, von wo aus er per Flohpulver in Richtung Réunion aufbrach. Er hoffte, dass das geheime Tribunal heute schon ein Urteil fällen und auch vollstrecken konnte. Denn sonst musste er sich was einfallen lassen, seine Abwesenheit hinauszuzögern.

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"Dieser mann", seufzte das weibliche Gespenst, der hat was an sich, dass mich zurückdrängt, als wenn von dem ein starker Wind ausgeht."

"Womöglich hat sich Monsieur Vendredi etwas umgehängt, dass ihn vor übernatürlichen Zugriffen schützen soll", bemerkte Simon Beaubois dazu. Das musste seine gerade über dem Stuhl schwebende Gesprächspartnerin hinnehmen. Sie musste sich auch von ihm anhören, dass sie wegen ihrer ständigen Umtriebe in Bekleidungsgeschäften dazu verurteilt werden konnte, in einem für Menschen unbetretbaren Gebäude zu existieren. Dies schien für Mademoiselle Brigitte eine höchst erschreckende Androhung zu sein. Denn ihr eben noch schamsilbernes Gesicht wurde nun so bleich, dass es im durch sie dringenden Licht der magischen Fenster beinahe nebelhaft verschwand. Beaubois legte deshalb noch nach, dass Mademoiselle Brigitte nur noch diese eine Chance hatte, sich für nichtmagische Menschen unauffällig zu verhalten. Ihr könne auch die Gefangenschaft in einem Geisterbannbehälter drohen, wie sie orientalische Dschinnen und ruhelose Seelen erleiden konnten. Deshalb versprach Mademoiselle Brigitte, die Spukerei mit moderner Kleidung zu unterlassen und sich die ausgestellten Kleider und Sportanzüge nur noch unsichtbar anzusehen und nur auf den üblichen Feiern anderer Geister zu tanzen. Danach durfte sie wieder aus dem Büro hinausschweben. Hierzu musste Simon Beaubois seine linke Hand an die von ihm aus linke Schreibtischecke legen, um die in Tür und Wänden verwobene Geisterabsperrbezauberung zu unterbrechen.

"Adrastée, ich muss Sie heute erneut bemühen, meinen Posten zu besetzen, da Monsieur Vendredi wegen einer kurzfristig beschlossenen Dienstreise die Amtsgeschäfte erneut auf mich übertragen hat", rief Simon Beaubois in den elfenbeinernen Federhalter auf dem Tisch. Aus diesem erfolgte keine vier Sekunden später Adrastée Ventvits Antwort: "Habe verstanden, Monsieur Beaubois. Ich bin in einer Minute im Büro."

Als die Nichte der Zaubereiministerin die erbetene Ablösung vollzogen hatte verließ Simon Beaubois das Geisterverwaltungsbüro und ging zunächst in Vendredis Büro hinüber, um dort die ihm aufgetragene Besetzung des Stellvertreterpostens aktenkundig festzuhalten. Danach begab er sich zu seiner ersten Amtshandlung als Stellvertretender Leiter der Abteilung für magische Geschöpfe.

"Na, wo ist Monsieur Vendredi hin, Simon?" fragte die Zaubereiministerin den Geisterbehördenleiter, der heute noch einmal der Stellvertreter der gesamten Abteilung für magische Geschöpfe sein sollte.

"Er will das mit der Nesträuberei bei den tropischen Sternensängern noch einmal nachprüfen. Sie wissen, dass der zum Wiederaufwachsen verdammte Monsieur Dumas vor seiner Überordnung in die Obhut einer britischen Ammenhexe entsprechende Angaben gemacht hat", sagte Simon.

"Ach, und das kann er jetzt erst erledigen?" wollte die Ministerin wissen. Julius Latierre, der die Ministerin zum Verhandlungsraum begleitete, musste sich zusammenreißen, nicht spöttisch zu grinsen. "Er hat mir indirekt unterstellt, ich hätte diese Angelegenheit nicht mit der nötigen Aufmerksamkeit verfolgt, weil seit der Entführung und Infanticorporisierung von Monsieur Dumas keine Meldungen über einen Rückgang des Sternensängerbestandes vermeldet wurden. Ich hielt und halte eine direkte Nachprüfung zum jetzigen Zeitpunkt für nicht erforderlich, Monsieur Vendredi offenbar schon. Auch meinte er, das ganze als Chefsache behandeln zu müssen. Er hat in der Hinsicht ja auch immer noch die größeren Vollmachten als ich", entgegnete Beaubois, als sie, sowie die Damen Grandchapeau auf dem Weg zu einem freien Fahrstuhl waren, um in die unteren Etagen zu fahren, wo die Gerichtsräume lagen.

"Und das hätte er nicht erst nach der Verhandlung tun können?" wollte die Zaubereiministerin wissen. Der Geisterbehördenleiter konnte ihr darauf keine Antwort geben.

Wie in vilen Zaubereiverwaltungsbehörden der Erde befanden sich die Räume für magische Gerichtsverhandlungen in den untersten Geschossen des französischen Zaubereiministeriums. Da die Verhandlung unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden sollte war dafür ein kleiner Raum vorgesehen, dessen Nummer nur den unmittelbar an der Verhandlung beteiligten bekannt gemacht worden war. Die zwölf Mitglieder des Gerichtes sollten sich aus dem Leiter der Strafverfolgung, dem obersten Richter, sowie Gamotmitgliedern aus allen Ministeriumsabteilungen zusammensetzen. Eigentlich hätte Monsieur Vendredi als Gesamtleiter der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe einen Platz in dieser Zwölfergruppe besetzen müssen. Doch weil der mal eben angeblich wichtigere Dinge in Übersee zu erledigen hatte musste Simon Beaubois diesen Platz einnehmen. Julius konnte dem Geisterbehördenleiter ansehen, dass diesem das nicht so behagte, wohl weil das nicht sein eigentliches Betätigungsfeld war.

Vor dem Verhandlungsraum trafen sie auf einen würdigen Zauberer mit grauem Haar und auf den Brustkorb wallenden Bart, der die pflaumenblaue Robe eines Gamotsmitgliedes trug, darüber jedoch noch die dunkelrote Scherpe eines amtlichen Rechtsbeistandes. Julius fiel sofort die Ähnlichkeit mit dem Vater von Irene Pontier, seiner früheren Saal- und Klassenkameradin in Beauxbatons auf. So wunderte er sich nicht, auf der silbernen Namensplakette "Dr. Jur. Mag. Balthasar Pontier" lesen zu können. Monsieur Pontier war von Madame Delacour und Madame Montété beauftragt worden, ihre Verteidigung zu übernehmen. Als ordentliches Gamotsmitglied war er auch dazu berechtigt, bei Geheimverhandlungen mitzuwirken, entweder als Kläger oder Verteidiger, je nach Sachlage und mögliche Personenverhältnisse.

Im kleinen Verhandlungsraum selbst konnte Julius die Mitglieder des geheimen Zwölfertribunals sehen. Midas Colbert von der Abteilung für magischen Handel und Finanzen hatte seine Stellvertreterin Laurie Renard geschickt. Julius konnte so die Ähnlichkeit zu ihrer Nichte Caroline erkennen. Zudem waren sechs nicht unmittelbar im Ministerium tätige Hexen und Zauberer dazugekommen, darunter auch Eleonore Delamontagne aus Millemerveilles. Damit hatte Julius jetzt nicht gerechnet und wunderte sich einen Moment darüber. Doch dann beschloss er, das als gegeben hinzunehmen, dass eine ranghohe Person aus Millemerveilles einen Sitz im Gamot und somit Mitsprache- und Entscheidungsrecht bei Sondergerichtsverhandlungen haben durfte.

Weil Julius als Veela-Beauftragter zeitgleich Zeuge und zuständiger Beamter war sollte er im Nebenraum des für dreißig Leute ausgelegten, fensterlosen Raumes warten. Dort hinein begleiteten ihn auch Nathalie und Belle Grandchapeau. Nur zwei Minuten später trafen dann noch Léto und Églée Blériot ein. Julius wusste, dass er mit den beiden nicht über den verhandelten Fall sprechen durfte. Doch er sah Léto in ihrem weiten, blattgrünen Kleid fragend an. Diese nickte ihm zu und übermittelte ihm auf rein gedanklichem Weg: "Ich musste Euphrosyne im Verhandlungsraum lassen. Sie hat dort so ein Halsband mit einem kleinen Anhängsel wie ein Blasebalg umgelegt bekommen, Cogison hat der Mensch mit dem großen Silberhammer das genannt." Julius verstand. Zum einen wirkte offenbar die Mentiloquismusabsicherung in diesem Raum nicht bei Veelastämmigen und mit ihnen magisch verbundenen Wesen. Zum anderen wollten die zwölf Tribunalsmitglieder von Euphrosyne eigene Aussagen haben, und das ging bei ihrem körperlichen Zustand nur mit Hilfe des praktischen Gedankenvertoners.

Nathalie lehnte sich so locker ihre Rangstellung und der schmale Besucherstuhl es erlaubten zurück, um mit Demetrius eine möglichst bequeme Wartehaltung einzunehmen, während Belle kerzengerade, ohne sich anzulehnen auf dem Stuhl saß. Sie strahlte unmissverständliche Kampfbereitschaft aus. Denn immerhin konnte es ja sein, dass Euphrosynes Eltern ihr wegen der Beschlagnahme von Euphrosynes Zauberstab Schwierigkeiten machen würden.

Tatsächlich betraten die Eheleute Blériot den Warteraum. Églée warf Belle einen höchst feindseligen Blick zu. Doch diese nahm ihn ohne Zucken oder sonstige Regung hin. Sie trug ganz sicher wieder jenes Schutzartefakt, dass sie bei Belle Nathalies Willkommensfeier getragen hatte, um die auf sie wirkende Veela-Ausstrahlung abzuwehren. Julius hingegen verlies sich heute nur auf das Lied des inneren Friedens, um sich gegen diese Ausstrahlung abzuschirmen.

"Mir wurde gesagt, nicht mit Ihnen oder Ihrem Befehlsempfänger über diese unsägliche Sache zu reden", setzte Madame Blériot an. "Doch eines will ich Ihnen beiden gleich sagen: Sollte das wirklich sein, dass meine Tochter nicht mehr auf ihre bereits erreichte Körpergröße und Eigenständigkeit zurückgebracht werden kann, zahlen Sie und ihre bevormundende Abteilung mindestens eine Million Galleonen, um die meinem Mann und mir entstandenen Verluste zu ersetzen und sicherzustellen, dass unsere Tochter genug Gold hat, um eigenständig weiterleben zu können."

"Wie Sie sagten dürfen und werden wir nicht über die Angelegenheit sprechen, solange sie verhandelt wird", erwiderte Belle. "Nur was Ihre Ansprüche angeht sollten Sie besser nicht mit einem wie auch immer gearteten Entgegenkommen des Zaubereiministeriums rechnen. Immerhin ist Ihre Tochter seit mehreren Jaahren nicht nur volljährig, sondern wohnt auch schon seit Jahren außerhalb Ihres Hauses und somit nicht in Ihrer Obhut und Fürsorge. Alle davor entrichteten Zahlungen für Bekleidung, Ernährung und Ausbildung sind somit als im Rahmen üblicher Familienangelegenheiten erfolgt. Mehr werde ich bis zum Schluss der laufenden Verhandlung nicht dazu sagen."

"Und Sie, junger Mann: Sie werden sich dafür einsetzen, dass meiner Tochter das Wiederaufwachsen bei mir zugesprochen wird", wandte sich Madame Blériot an Julius. Dieser sah erst Nathalie und Belle an, die jedoch keine Regung zeigten. Für ihn hieß das, dass er das alleine zu klären hatte. So sagte er: "So wie es aussieht kann Ihre Tochter nur noch auf natürliche Weise wieder erwachsen werden. Solange sie körperlich ein Kind ist gilt die Anna-Fichtental-Regel, dernach eine von magischer Widerverjüngung an Körper und/oder Geist betroffene Person nicht in der Obhut der eigenen Mutter, der eigenen Schwester oder eines Ehepartners aufwachsen darf, weil ausgeschlossen werden muss, dass die benannten Personen persönliche Vorteile aus dem Schicksal der betroffenen Person ziehen, schlimmstenfalls die Wiederverjüngung herbeigeführt haben, um Einfluss auf den Betroffenenund Verfügungsrechte über das von diesem erworbene Vermögen erlangen könnten, wie es im Fall der Namensgeberin dieses Gesetzes nachgewiesen wurde. Ob Euphrosyne dann auch nicht bei Ihrer Frau mutter verbleiben darf muss geklärt werden."

"Julius, kein Gericht der Menschenwelt kann und wird mir vorschreiben, dass ich Euphrosyne bei wem anderen als bei mir neu aufwachsen lasse", fing er eine ungemein starke Gedankenbotschaft Létos auf, die ihm fast Kopfschmerzen verursachte.

"Wie erwähnt ist jede Unterhaltung oder gar Diskussion über die Gegenstände des Verfahrens unerwünscht, solange dieses von den Entscheidungsberechtigten nicht eingestellt oder vollständig abgeschlossen wurde", wandte Belle Grandchapeau noch einmal ein. "Des weiteren laufen Sie gerade Gefahr, sich selbst der unzulässigen Einflussnahme auf Ministerialbeamte schuldig zu machen, Madame Blériot. Da Madame Grandchapeau und Monsieur Latierre dies genauso bezeugen können wie ich sollten Sie besser ab sofort kein weiteres Wort mehr über diese Angelegenheit verlieren, Madame Blériot." Églées Mann sah seine Frau verdrossen an. Dann nickte er den anderen beipflichtend zu und flüsterte seiner Frau was ins Ohr, worauf sie ihn ihrerseits sehr ungehalten ansah, aber kein weiteres Wort sprach.

Julius dachte daran, dass das noch sehr heftig werden konnte. Doch im Moment konnte er nichts anderes tun als darauf zu warten, dass er in den Verhandlungsraum gerufen wurde, um die Fragen der zwölf Gamotsmitglieder zu beantworten.

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In Saint-Denis auf der französischen Insel Réunion war es schon zehn nach eins Nachmittags, als Arion Vendredi aus dem Flohpulverkamin der dortigen Ministeriumsvertretung herausfauchte. Weil auf der Insel im indischen Ozean nur wenige Hexen und Zauberer aus Europa lebten und die wenigen schamanistische Riten ausübenden Ureinwohner meistens für sich blieben war das Gebäude nur ein Zehntel so umfangreich wie das Zaubereiministerium in Paris. Was Arion an der Vertretung so gefiel war, dass auch im An- und Abreisefoyer große Fenster verbaut waren, durch die natürliches Sonnenlicht hereindrang. Dieses lud Arion Vendredi förmlich mit Lebenskraft auf. Sicher würde die auf der Insel herrschende Tropenwärme ihn noch mehr beleben, weil in ihm die Natur eines Insektes schlummerte. Doch in der Vertretung des Zaubereiministeriums wurde die Luft durch Gleichwärmezauber und Lufterfrischungszauber auf für Mitteleuropäer angenehmen Temperaturen gehalten. Vendredi wandte sich sofort dem Büro seines hiesigen Ansprechpartners Beaumont zu. Doch auf sein Klopfen kam nicht Beaumont aus der Tür, sondern dessen Stellvertreter Alwin Fontbleu.

"Ah, Monsieur Vendredi, wieder aus dem Urlaub zurück? Es ist uns eine Ehre, dass sie zu uns kommen", begrüßte der Beamte in mittlerer Rangstellung den Besucher aus Paris. Dieser tat es als übliche Höflichkeitsfloskel ab, weil niemand hier wirklich erfreut war, wenn jemand aus Paris herüberkam, um in eigener Person nach dem rechten zu sehen. Besonders nach der Angelegenheit Dumas hatte es eine heftige Auseinandersetzung gegeben, wer da wann und wie etwas wichtiges versäumt oder nicht mitbekommen hatte. So sagte Vendredi: "Ich danke für die freundliche Begrüßung und hoffe, dass meine Anwesenheit für uns alle zu einem erfreulichen Ergebnis führt, Monsieur Fontbleu." Der Vertreter von Vendredis Vertreter vor Ort nickte bestätigend und geleitete den hohen Besucher durch das oberirdische Gebäude, das für Muggel wie die Ruine einer alten Villa aus der Blütezeit der französischen Kolonialzeit aussah.

"Wo ist Monsieur Beaumont?" wollte Vendredi von dem Anfang 30 alten Untergebenen wissen. Das Türschild verhieß, dass er wegen eines Außentermins unterwegs sei.

"Heute morgen haben Fischer der Mugg..., öhm, der nichtmagischen Bevölkerung einen jungen Wassermann im Netz gehabt, der offenbar keine Erfahrung mit ausgelegten Fischernetzen hatte und als unerwünschter und unsererseits unangenehmer Beifang an Bord geholt wurde. Wir erhielten über Mademoiselle Dulac Mitteilung über einen Sprechfunkanruf der Fischer an ihren Heimathafen. Da wir nur eine zehn Mann starke, von allen Abteilungen anforderbare Außentruppe unterhalten gelang es uns erst vor einer halben Stunde, das betreffende Fischfangboot auf dem Meer zu finden und die Besatzung durch Gedächtniszauber davon zu überzeugen, lediglich einen Delphin im Netz gehabt zu haben, der bereits erstickt war, als das Netz wieder eingeholt wurde. Mademoiselle Dulac persönlich hat die Zeugen der Sprechfunkmitteilung aufgesucht und entsprechend eingestimmt, dass der Funkanruf sich auf einen erstickten Delphin und die damit verbundene Meldung an die Umweltschutzbehörde bezog. Wir rechnen jeden Moment mit der Rückkehr von Monsieur Beaumont."

"Gut, Monsieur Fontbleu, da Sie sein Büro und die darin vorgehaltenen Akten benutzen dürfen suchen Sie mir bis zu dieser Rückkehr bitte die neuesten Mitteilungen über den Bestand von Sidericantor argyropteros zusammen. Ich erbitte eine vollständige Aufstellung der bis heute verzeichneten Bestandszahlen seit der letzten diesbezüglichen Anforderung", sagte Vendredi.

"Wieso das, Monsieur Vendredi? Monsieur Beaubois erhielt am fünfzehnten die neuesten Bestandszahlen aus unserem Reservat. Die damals aufgedeckte Plünderung von Nestern wurde offenbar von den Tätern aufgegeben", bekräftigte Alwin Fontbleu.

"Was ich persönlich erst glaube, wenn ich das selbst nachgeprüft habe. Monsieur Beaubois konnten Sie sicher mit Ihren Mitteilungen beruhigen, da er in Paris wichtigere Dinge zu betreuen und zu entscheiden hatte. Aber ich will sicherstellen, dass die Plünderungen wirklich eingestellt wurden, auch wenn die Täter selbst nicht dingfest gemacht werden konnten", entgegnete Arion Vendredi."

"Kein Problem, Monsieur Vendredi, ich habe sämtliche zugestellten Notizen hier. Falls sie vor Ort prüfen wollen kann ich Sie gerne beim Chef der Wildhüter anmelden und ..." setzte der hiesige Beamte für magische Wesen an.

"Das untersage ich Ihnen kategorisch, Monsieur Fontbleu. Jede Voranmeldung muss ich als Vorwarnung ansehen, da ich genau prüfen muss, ob die den Schutzbereich für magische Tierwesen betreuenden nicht mit den Nesträubern gemeinsame Sache machen. Dies zu ermitteln gelingt mir nur, wenn ich vor Ort und ohne Voranmeldung tätig werde", erwiderte Vendredi.

"Öhm, welche Veranlassung haben Sie, den dortigen Wildhütern zu misstrauen, Monsieur Vendredi?" wollte sein Gesprächspartner wissen.

"Das werde ich Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt nicht mitteilen", antwortete Vendredi. "Werten Sie diese Antwort als Ausdruck der meinem Rang zustehenden Vorrechte, Mitteilungen oder Erkenntnisse nach eigener Entscheidung preiszugeben", fügte er noch hinzu. Damit ließ sich immer so viel auf einen Streich erschlagen, dachte er. Als Abteilungsleiter konnte er Sachen behaupten, ohne sie begründen zu müssen. Wer seine Entscheidungen hinterfragte musste erst einmal rechtfertigen, weshalb er oder sie das tat. Er musste seine Entscheidungen nur dem Minister oder derzeitig der Ministerin begründen, und die war gerade mehrere tausend Kilometer entfernt.

"Wie erwähnt kann ich Ihnen die nötigen Unterlagen übergeben. Falls diese eine Prüfung vor Ort erfordern haben Sie natürlich das Recht, diese Prüfung durchzuführen", erwiderte Alwin Fontbleu mit schwer aufrechterhaltener Untergebenheit. Vendredi war sich aber sicher, dass er mit seinem bloßen, ja eher aus leerer Luft gegriffenen Verdacht den Unmut aller hier tätigen Leute geweckt hatte. Doch das störte ihn nicht. Wenn es wieder zu einer heftigen Auseinandersetzung kommen sollte war ihm das sogar lieb, weil er diese dann aktenkundig machen und damit einen trefflichen Grund für seine Abwesenheit bei der Gerichtsverhandlung in Händen halten würde.

Es dauerte nur zehn Minuten, da hatte er die seit seiner persönlichen Anfrage aufgezeichneten Bestandszahlen vorliegen. Tatsächlich deuteten diese darauf hin, dass nach dem leichtfertigen Unternehmen Gérard Dumas' keine weiteren Nestplünderungen mehr stattgefunden hatten. Das von Dumas, der jetzt in England unter anderem Namen neu aufwachsen musste angegebene Haus der Täter war nur noch ein Haufen Schutt und Asche. Die Kriminellen von Vita Magica hatten ihren konspirativen Unterschlupf zerstört und obendrein mit Incantivacuum-Kristallen die Spuren aller die Zerstörung betreffenden Zauber ausgelöscht und gleichzeitig dafür gesorgt, dass keine mit einem Retrocular vorgenommene Nachbetrachtung der betreffenden Ereignisse möglich wurde. Da es von Sidericantor argyropteros noch anderswo wilde Bestände gab mochten diese Verbrecher sich eben anderswo zu schaffen machen. Zumindest sah es für die Wildhüter so aus. Ob das stimmte wollte Vendredi hier und heute genauer nachprüfen.

"Die Zahlen bestätigen Ihre Aussage und auch das, was mein Stellvertreter, Monsieur Beaubois mir bei Beendigung meiner Urlaubszeit mitgeteilt hat", erwähnte Vendredi. "Ich möchte jedoch eine sofortige Besichtigung des Wildschutzgebietes vornehmen, solange es hier noch hell genug ist und bei Bedarf eine nochmalige Zählung von Nesternund Eiern vornehmen lassen. Das wird wohl an die vier Stunden andauern."

"Monsieur, sicher ist Ihnen bekannt, dass die Eier und bereits geschlüpften Exemplare bei Mondlicht leichter zu sehen sind als bei Sonnenlicht", sagte Vendredis Gesprächspartner.

"Ja, genau deshalb, weil unsere verbrecherischen Widersacher davon ausgehen, dass diese Tiere nur bei Mondlicht schnellund gründlich gezählt werden will ich die Prüfung eben nicht bei Mondlicht vornehmen. Ich habe da eine Methode erarbeitet, mit der ich die Zählung auch bei Sonnenschein optimal durchführen kann", sagte Vendredi. Er übersah nicht, dass sein Gesprächspartner einen winzigen Moment lang verunsichert dreinschaute. Deshalb legte er noch nach: "Die Methode habe ich vor Antritt meiner Urlaubszeit in Indien mit einem dortigen Kollegen erprobt und vervollkommnet. Ich sah bis heute keinen Grund, Sie hier vor Ort darüber zu unterrichten, dass es auch eine Zählmethode gibt, die am hellen Tage die gleichen Ergebnisse erbringt wie bei Mondlicht. Richten Sie Monsieur Beaumont aus, dass ich ihn in vier Stunden von nun an zu sprechen wünsche. Sollte ich bis dahin nicht hier sein ist er aufgefordert, mich im Gebäude der Wildschutzreservatsverwaltung zu besuchen. Danke!"

"Und Sie möchten wirklich nicht, dass ich den Hauptwildhüter über Ihr Kommen verständige?"

"Nur für die Akten und damit Sie beruhigt sind, nein, ich untersage jede Voranmeldung meines Besuches."

"Die Leute machen da gerade Mittagspause und werden wohl erst ab zwei Uhr wieder anzutreffen sein, weil viele von ihnen bei ihren Familien mittagessen", sagte Alwin Fontbleu.

"Dann würde eine Voranmeldung meines Besuches eh nicht vor meinem Eintreffen dort zur Kenntnis genommen", sagte Vendredi trocken. Danach bat er darum, einen der ministeriumseigenen Flugbesen auszuleihen, auch wenn er bis zum Verwaltungsgebäude des Wildreservates für tropische Zaubertiere apparieren konnte.

"Sicher führen Sie die dafür nötige Vollmacht mit sich", sagte der hiesige Ministerialbeamte. Vendredi nickte. Eine Vollmacht, im Hoheitsgebiet des französischen Zaubereiministeriums jederzeit einen Flugbesen auszuleihen hatte er immer dabei, wenn er offiziell unterwegs war. Wenn der Bursche da vor ihm um eine Vollmacht zur Verwendung von ministeriumseigenen Einsatzkräften gebeten hätte sähe es schlimmer aus. Denn die steckte im kleinen Reisekoffer, der sich Vendredi durch den Ortsversetzungszauber entzogen hatte.

So hatte Vendredi keine zwei Minuten später einen Ganymed 9 Marathon aus der hiesigen Ausrüstungskammer zwischen den Beinen und flog damit die Strecke entlang, wo möglichst niemand aus der magielosen Welt ihn sehen würde. Er fühlte die kraftvollen Strahlen der tropischen Sonne durch seine Haut in seinen Körper dringen und ihn mit Wärme füllen. Er fühlte, dass er in großer Versuchung war, sich der ihm eingeflößten Natur hinzugeben und es geschehen zu lassen, sich in eine menschengroße rote Ameisendrohne zu verwandeln. Er rang diese Regung nieder, indem er daran dachte, dass niemand mitbekommen durfte, was mit ihm geschehen war.

Unterwegs versuchte er noch einmal, seine Herrin zu erreichen. Diesmal gelang es ihm. "Du hast was?" fragte sie ihn, als er ihr mitteilte, dass er gerade auf Réunion unterwegs war, um dort nach Nestern einer Zaubervogelart zu sehen. Er lieferte ihr die nötige Erklärung, bloß nicht in die Nähe mehrerer Veelastämmiger geraten zu dürfen. Doch statt ihn dafür zu loben, dass er einen für alle nachvollziehbaren Grund gefunden hatte, der Verhandlung fernzubleiben, dröhnte ihre Gedankenstimme wütend in seinem Geist los:

"Du solltest deine Leute überwachen, damit sie nichts machen können, was gegen mich und meine Interessen geht, ohne dass ich das früh genug mitbekomme. Auf dieser Insel ist das sicher nicht möglich. Also sieh zu, dass du wieder nach Paris zurückkommst! Am Ende nutzen die Leute von dir deine Abwesenheit aus, um gezielt nach meinen Töchtern zu suchen oder sich mit irgendwem zu verbünden, der oder die gegen mich und meine Töchter arbeitet."

"Ich kann jetzt nicht einfach zurück, meine Königin. Denn sonst müsste ich bei dieser Verhandlung dabei sein. Nur eine nicht an einem Tag kurierbare Krankheit oder eine dringende Dienstreise sind brauchbare Gründe für mein Fernbleiben."

"Du weißt, dass ich alles weiß, was in deiner Behörde so alles passiert ist. Deshalb weiß ich auch, dass diese Leute, die sich Vita Magica nennen, sehr zauberkundige Gegner sind. Dich ausgerechnet dahin zu begeben, wo sie über eine unbekannte Zeit lang ihre Raubzüge unternommen haben ist nicht nur sehr gefährlich, sondern auch völlig unnötig. Du hättest wen anderen dorthin schicken können."

"Jetzt bin ich hier, meine Königin und werde die Prüfung durchführen", erwiderte Vendredi und merkte nicht, dass er vor lauter Konzentration auf seine mächtige Meisterin vom vorgegebenen Weg abkam und auf ein im Dschungel verstecktes Dorf zuflog.

"Du begehrst gegen mich auf? Ich habe dir gerade befohlen, wieder nach Paris zurückzukehren. Also mach das! Wenn du dich mir widersetzst darfst du nie wieder mit mir die Wonnen der Fruchtbarkeit erleben. Abgesehen davon könnte ich dich dazu verurteilen, nur noch als niederer Diener in meinem Reich zu arbeiten. Also los, verfrachte deinen ranghohen Hintern nach Paris zurück!"

"Ja, wenn es niemandem auffällt, wieso ich so früh wieder dort bin", gedankenantwortete Vendredi. Doch er merkte, wie die Macht des Befehls ihm beinahe körperliche Schmerzen bereitete. Wenn er nicht gehorchte würde er sein Leben lang zu leiden haben.

"Gut, du hast recht. Wenn du jetzt schon wieder zurückkehrst werden sie dich alles mögliche fragen und vor allem, sie werden von dir erwarten, in die Nähe dieser widerlichen Weibsbilder zu gehen. Also beeil dich mit deiner Erkundung und vor allem, hüte dich vor magischen Kämpfen!"

"Niemand kann mir was antun, wo du mich zu einem von deiner Art hast machen lassen, meine Königin", erwiderte Vendredi.

"Ja, aber das muss niemand wissen, schon keiner, der nicht von dir oder mir beherrscht werden kann", erwiderte seine Königin und Mutter seiner Nachkommen. Vendredi überlegte kurz. Dann antwortete er: "Ich werde nicht von mir aus zu kämpfen anfangen, meine Königin. Aber ich könnte zur Gegenwehr gezwungen werden, sollte jemand mich angreifen."

"Dann hinterlasse weder Zeugen noch Mitwisser!" bekam er einen unmissverständlichen Befehl in sein Bewusstsein gepflanzt. Also sollte er bei einem magischen Gefecht jeden Zeugen und Beteiligten töten und/oder unauffindbar verschwinden lassen. Diesen Befehl bestätigte er ohne zu zögern.

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Julius sah auf seine Uhr, als Monsieur Blériot vor seiner Frau in den Verhandlungsraum hineingerufen wurde. Seit sie sich alle hier in der Seitenkammer hingesetzt hatten waren zwanzig Minuten vergangen. Für die Verlesung einer so kurzen Liste von Anklagepunkten und einer ersten Äußerung der Beklagten war das schon eine Menge Zeit. Julius entging auch nicht, dass Églée Blériot sehr verärgert auf die schalldichte Tür zum Nebenraum blickte, als ihr Mann hindurchging. Offenbar argwöhnte sie, dass ihr Mann deshalb zuerst befragt wurde, um abzuschätzen, was er von Euphrosynes Taten und dem, was ihr deshalb passiert war mitbekommen hatte. Als dann auch Madame Blériot in den Verhandlungsraum hinübergerufen wurde waren zehn Minuten vergangen.

"Ich behalte mir vor, Madame Blériot nach Beendigung dieses Verfahrens wegen der erwähnten Beeinflussungsversuche anzuzeigen, wenn sie nicht von sich aus auf die Erfüllung ihrer überzogenen Forderungen verzichtet", sagte Belle Grandchapeau. Julius nickte. Das würde dann womöglich noch eine Verhandlung geben, bei der er dabei sein musste. Solange er selbst nicht wegen etwas angeklagt wurde sollte ihm das egal sein. Fast wäre das ja passiert, als das mit der grünen Gurga passiert war oder jemand befunden hatte, geheime Akten über die erfolgreiche Befruchtung der Riesin Meglamora an die Presse weiterzureichen. Auch machte er sich Gedanken über das, was Ministerin Ventvit und er besprochen hatten. Was, wenn Monsieur Vendredi irgendwas illegales gemacht hatte oder Opfer von unerlaubter Bezauberung geworden war und jetzt nicht mehr ohne fremden Einfluss war? Die Frage war ja, wie sie das herausfinden konnten, ohne ihn unnötig zu belasten, falls er unschuldig war oder wen auch immer zu früh vorzuwarnen, wenn er wirklich das Opfer einer unzulässigen Bezauberung war.

"Monsieur Julius Latierre, bitte in den Verhandlungsraum eintreten!" rief der per Eidesstein zum Stillschweigen verdonnerte Gerichtsdiener. Julius nickte den Damen Grandchapeau zu und dachte daran, dass Demetrius wohl nicht viel von all dem mitbekommen konnte, weil seine Mutter nicht mal eben den Zauber machen konnte, um ihn alles ungefiltert mithören zu lassen oder aus ihrer schützenden Gebärmutter heraus die Umgebung beobachten zu können.

Das erste, was Julius im kleinen Verhandlungssaal auffiel waren die zwei hochlehnigen Stühle, auf denen Apolline Delacour und Laure-Rose Montété mit dünnen Silberketten angebunden waren. Er dachte zum wiederholten Male, dass das bei Gerichtsverhandlungen in der magielosen Welt unzulässig war, solange der Angeklagte nicht vor Gericht gewalttätig wurde. Denn im Zweifelsfall galt bei den sogenannten Muggeln die Unschuldsvermutung, was hieß, dass jeder Mensch ungefesselt vor Gericht treten und sich dort verteidigen durfte. Aber die Zaubererwelt steckte in dieser Hinsicht wohl noch in irgendeinem Jahrhundert vor dem Jahr 2000, erkannte Julius ebenfalls zum wiederholten Mal.

Die zweite Auffälligkeit im Saal war der auf einen kleinen Beistelltisch gestellte und wohl festgeschraubte oder mit Anklebzauber befestigte Stuhl, auf dem ein Säugling in sonnengelbem Strampelanzug saß. Sein Kopf ruhte an einem weißen Kissen an der Rückenlehne und war unter dem Kinn mit einem weichen Riemen befestigt, dass er nicht unkontrolliert herumschlenkern konnte. Um Bauch und Brustkorb verliefen schmale, ebenfalls weiche Gurte, die wohl hinter der Rückenlehne mit dem Stuhl verbunden waren. Arme und Beine des äußerlich gerade wenige Tage alt wirkenden Wesens waren frei beweglich. Julius wusste aus einem Versuch mit dem Infanticorpore-Fluch, dass das scheinbare Neugeborene ihn im Moment nicht klar erkennen konnte, sondern nur einen riesigen Schatten in einem grauen Dunst wahrnahm. Sonst hätte das kleine, körperlich gerade wenige Tage alte Mädchen ihn ganz sicher bitterböse angefunkelt. Doch die Gesichtszüge des auf dem Stuhl angeschnallten Babys sprachen schon genug dafür, dass es auf ihn und wohl auch den ganzen Rest der Welt wütend war.

Die zwölf Mitglieder des geheimen Gerichtes trugen jene pflaumenblauen Umhänge, die sie als ordentliche Mitglieder des Zaubergamots kennzeichneten. Der Vorsitzende Richter trug darüber noch eine violette Robe mit einem aufgestickten Hammer und einer im Gleichgewicht befindlichen Waage. Julius sah nun auch, dass auch die Heilerin Alouette Laporte aus der Säuglingsstation der Delourdesklinik zu den zwölf Gerichtsmitgliedern gehörte. Julius nickte den Anwesenden zur Begrüßung zu.

"Nehmen Sie bitte im Zeugenstand Platz!" forderte der vorsitzende Richter Augustin Delatour den Zeugen auf. Julius bestätigte durch Nicken und trat zwischen die zwei mit den Lehnen an den Tisch gerückten Stühle, die als Begrenzung aufgestellt waren. Er musste nun den Eid schwören, alle ihm gestellten Fragen wahrheitsgetreu und ohne Auslassungen zu beantworten, bei der Unversehrtheit von Leib und Seele. Bei irgendeinem Gott zu schwören war in der magischen Welt spätestens seit den großen Hexenverfolgungen abgeschafft. Julius schwor es und erwartete die erste Frage.

"Wann erfuhren Sie, dass Euphrosyne Lundi geborene Blériot den nichtmagischen Bürger Aron Lundi zu ihrem Ehegatten erwählen würde?" fragte der Richter, während die elf Beigeordneten in Hufeisenformation links und rechts von ihm am Tisch saßen. Julius erwähnte das Datum. Als er dann gefragt wurde, von wem genau erwähnte er Madame Léto, die Großmutter der betreffenden Mitbürgerin. So ging es dann erst mal weiter, wie genau Julius auf diese Ankündigung reagiert hatte, was er unternommen hatte und wie er mit den daraus entstandenen Folgen umgegangen war. Zur Frage nach dem sogenannten Segen der Sonne, der die Damen Grandchapeau und die Ministerin selbst betroffen hatte sagte er aus, was er persönlich an Madame Nathalie Grandchapeau beobachtet hatte. Soweit ging es noch. Julius beantwortete jede der gestellten Fragen mit kurzen, nur den gefragten Punkt abhandelnden Sätzen. Dann wurde es für ihn und wohl auch alle anderen hier aufregender.

"Was wissen Sie im Bezug auf eine Beteiligung Madame Euphrosyne Lundis am Verschwinden des ehemaligen Zaubereiministers Grandchapeau?" Julius hätte in diesem Moment lieber nichts davon gewusst. Denn im Grunde musste er hier und jetzt aussagen, was dem Minister passiert war. Doch er tröstete sich damit, dass das sowieso hier und heute herausgekommen wäre, wenn hier wirklich ein Wahrheitszauber wirkte. Außerdem wusste Alouette Laporte es, weil sie Nathalies Vertrauensheilerin und Hebamme in Langzeitwartestellung war. So sagte er, dass er von Madame Belle Grandchapeau und später auch Madame Nathalie Grandchapeau erfahren hatte, dass Madame Lundi einen weiteren verbotenen Zauber gewirkt hatte, welcher den Zaubereiminister dazu verurteilt hatte, mit seinem ungeborenen Sohn zu verschmelzen und wegen des vorangegangenen Alterungsverzögerungszaubers nun dazu verurteilt war, mehr als dreißig oder vierzig Jahre im Uterus seiner Ehefrau zu bleiben, bis er als sein eigener Sohn wiedergeboren würde.

"Und Sie hielten es nicht für Ihre Pflicht, diese Tat zur Anzeige zu bringen?" fragte Richter Delatour den Zeugen. Julius erkannte, dass er hier und jetzt in einer nicht wirklich erfreulichen Lage steckte. Doch er hatte für genau diesen Fall schon länger eine Antwort parat, zumal ihm die Grandchapeaus den Rücken decken würden.

"Da der Minister nicht gewaltsam ums Leben kam und seine Angehörigen darauf bedacht waren, sein Weiterleben so gut es ging zu schützen wäre eine Anzeige dieses Vorkommnisses für Armand Grandchapeau lebensgefährlich geworden. Denn der ihm auferlegte Zauber war, so seine per Cogison geäußerte Widergabe der betreffenden Bedingung, auf die körperlich-seelische Freiheit von Madame Lundi festgelegt. Wäre sie deshalb verhaftet und für mehr als einen Tag eingesperrt worden und gestorben, so wäre auch er gestorben oder zum Ziel einer von den Veelas ausgerufenen Blutrache geworden." Auf die Frage, woher er das so genau wusste sagte Julius, dass ihm die Grandchapeaus den genauen Wortlaut dieses tückischen Segensspruches mitgeteilt hatten, nachdem geklärt war, dass sich der ehemalige Zaubereiminister auch im Zustand eines im Uterus geborgenen Fötus per Cogison mitteilen konnte. Eleonore Delamontagne und die Heilerin Alouette Laporte tauschten einen verdrossenen Blick aus. Julius übersah das und stand aufrecht und so entspannt er konnte vor dem ihn befragenden Richter.

"Natürlich ist Ihnen die öffentliche Mitteilung bekannt, wie Minister Grandchapeau zu Tode gekommen sein soll. Fiel diese Täuschung, sofern die bisherigen Aussagen den Tatsachen entsprechen, ebenfalls unter das Gebot, die Unversehrtheit des Betroffenen zu schützen?" fragte der Richter Julius. Dieser erwiderte, dass er an der für die Öffentlichkeit inszenierten Geschichte vom Tode des Ministers nicht mitgewirkt hatte, sondern sie wie die meisten anderen nur so zur Kenntnis genommen hatte. Dass er wider sein Wissen um die tatsächlichen Gegebenheiten geschwiegen hatte begründete er wirklich damit, dass ihm daran gelegen war, den im Körper eines Ungeborenen gefangenen zu schützen, da es keinen Weg gab, den Minister in seine frühere Körperform zurückzuverwandeln.

"Dies erklärt die Geheimhaltung dieser Verhandlung", bemerkte Richter Delatour ohne Anflug eines Gefühls. Julius entging nicht, dass Eleonore Delamontagne und Alouette Laporte die zur Neugeborenen zurückverjüngte Euphrosyne sehr kritisch ansahen.

"Sie sagten, dass es keine Möglichkeit gab, Minister Grandchapeau in seine ursprüngliche Form zurückzuverwandeln. Woher sind Sie sich da so sicher?" fragte der Richter und legte nach: "Immerhin hätte eine weiterführende Untersuchung ja auch Experten für Flüche einbeziehen können, die mit mehr Fachkenntnissen aufwarten konnten."

"Weil, so Madame Léto, jeder von einem der verbotenen Segen der Veelas betroffene von keiner äußeren Bezauberung betroffen werden kann", wusste Julius die rettende Antwort. "Ich selbst wurde Zeuge, wie ein Agent von Vita Magica versucht hat, Madame Belle Grandchapeau mit einer Vorrichtung unter den Infanticorpore-Fluch zu nehmen und dieser auf den Urheber zurückgespiegelt wurde. Außerdem wurde ich Zeuge, wie Heilerin Anne Laporte versucht hat, die Bezauberung von Madame Nathalie Grandchapeau zu stoppen und umzukehren. das einzige Magische Mittel außerhalb von Madame Grandchapeaus Körper, das seine bisherige Wirkung beibehalten hat, ist der Einblickspiegel für die noninvasive Betrachtung innerer Organe und ungeborener Kinder." Hier nickte Großheilerin Laporte und bestätigte es auch mit Worten, damit ihre Bestätigung in das geheime Protokoll eingetragen wurde.

"Gut, halten wir uns nicht zu lange an diesem Ereignis auf", sagte Richter Delatour. Danach befragte er Julius zu den Ereignissen um die Willkommensfeier für die Tochter von Euphrosyne und Aron Lundi. Hier gab er gemäß dem sowieso von ihm dazu verfassten Protokoll die erwünschten Auskünfte.

Anschließend wollte Balthasar Pontier von ihm wissen, inwieweit Belle Grandchapeau und er davon erfahren hatten, dass Euphrosyne Lundi möglicherweise die Sicherheit ihrer Familie riskieren wollte, sich den von Belle beschlagnahmten Zauberstab zurückzuholen. Außerdem wollte der Verteidiger der zwei angeklagten Schwestern wissen, ob er, Julius, eine Alternativlösung zur Beschlagnahme des Zauberstabes gewählt hätte. Darauf antwortete Julius, dass ihm diese Frage rein akademisch vorkomme. Aber um der Auswahlmöglichkeiten wegen erwiederte er, dass außer einer Verhaftung von Euphrosyne Lundi keine Alternative bestanden habe, als ihr den Umgang mit einem Zauberstab zu verwehren, was Madame Belle Grandchapeau ja dann auch durchgeführt habe. Schließlich fragte Monsieur Pontier ihn noch, ob er wegen der zwischen ihm und Léto bestehenden Vertrauensbeziehung eher für die Durchsetzung der von Menschen gemachten Gesetze eintrete oder auch das in dieser Form von den Schwestern Delacour und Montété angewandte Gewohnheitsrecht innerhalb von Sippen und Clans nachvollziehen könne. Julius witterte in der Frage eine Falle für ihn, weil er bei einer Befürwortung von sogenanntem Clansrecht seine Loyalität dem Ministerium gegenüber in Frage stellen musste. Wenn er sich für die von Menschen für andere Menschen und Zauberwesen gemachten Gesetze aussprach könnte ihm das Vertrauen bei den Veelas und Veelastämmigen kosten. So sagte er nach zehn Sekunden Bedenkzeit, die der Richter an einer kleinen Sanduhr ablas:

"Ich habe meinen Eid auf das Ministerium geleistet, um mitzuhelfen, die für alle Menschen mit magischen Kräften gleichermaßen geltenden Rechte zu wahren, wozu auch der den im Hoheitsgebiet des Zaubereiministeriums lebenden Menschen gewährte Schutz gehört. Insofern sehe auch ich die an Madame Euphrosyne Lundi ausgeführte Verwandlung als Beeinträchtigung des für sie als Teilveelastämmige geltenden Schutzes. Allerdings weiß ich auch gerade durch die mir zugesprochene Verpflichtung, zwischen Veelas und Menschen zu vermitteln, dass eine reine Befolgung der von Menschen für Menschen gemachten Gesetze in diesem Fall nicht ausreicht. Ja, es ist notwendig, die Angelegenheit rechtlich zu ergründen und eine angemessene Reaktion im Sinne der für uns alle geltenden Gesetze zu finden. Doch gilt auch bei jenen bestehenden Zaubereigesetzen, die ausschließlich für Menschen mit magischen Kräften geschaffen wurden, dass Angelegenheiten innerhalb einer Familie erst dann vom Zaubereiministerium geklärt werden müssen, wenn ein Familienmitglied körperlich oder geistig zu Schaden kam oder wegen einer Familienangelegenheit davon abgehalten wird, das allen Menschen garrantierte Recht auf körperlich-geistige Selbstbestimmung wahrzunehmen. Deshalb musste das Ministerium diesen Akt von Madame Delacour und Madame Montété verfolgen, da Madame Lundi durch die unerwünschte körperliche Verjüngung bis auf weiteres davon abgehalten wird, sich eigenständig zu bewegen und eigenständige Handlungen auszuführen. Aber, meine Damen und Herren Gamotsmitglieder, dies betrifft auch den in den Uterus seiner eigenen Ehefrau gebannten Geist von Zaubereiminister AD Armand Grandchapeau. Dessen körperlich-geistige Eigenständigkeit wurde hier nicht für nur ein bis zwei Jahre, sondern für mindestens dreißig Jahre unmöglich gemacht. Hinzu kommt die nicht zu unterschätzende Beeinträchtigung, in einem sehr engen Raum eingeschlossen zu sein und der mit dem Verlust seines angeborenen Körpers einhergehende Verlust all seiner Rechte und Errungenschaften. Es heißt, der in der Heiligen Schrift der Juden und dem alten Testament der christlichen Bibel aufgezeigte Rechtsgrundsatz "Auge um Auge, >Zahn um Zahn" würde dazu führen, dass alle Welt blind und zahnlos würde. Ich erinnere mich an eine UTZ-Aufgabe in Verwandlung, wo es darum ging, dass eine Hexe wegen böswilliger Verwandlung ihres Mannes selbst dauerhaft verwandelt werden sollte und der zuständige Richter den Grundsatz geprägt hat: "Gleiches mit gleichem bleibt ungleich." Ja, es ist richtig, dass die Damen Delacour und Montété durch die doppelte und unumkehrbare körperliche Rückverjüngung von Euphrosyne und Aron Lundi große Schuld auf sich geladen haben. Doch hier hat Madame Lundi wwahrlich mehr Schuld auf sich geladen, als ihr im Gegenzug von Ihren Tanten an ministeriell festgelegtem Unrecht zugefügt wurde. Dass sich die Damen Angeklagten auf den Schutz ihrer eigenen Familie und damit auf ein uraltes Gesetz zum Schutz der eigenen Familie berufen könnte ihnen wegen der bestehenden Bedrohungslage als Akt der Notwehr zuerkannt werden. Dieser Rechtsgrundsatz gilt ja auch bei uns reinrassigen Menschen, wenn ein Mitglied der eigenen Familie gewalttätig wird und damit uns an Leib und Leben bedroht oder fortgesetzte Verletzungen unserer Ehre begeht. Auch wenn ich Ihre Frage nicht so kurz wie alle anderen Fragen beantwortet habe, Monsieur Pontier, so hoffe ich zumindest, dass ich den von mir erbetenen Standpunkt so unmissverständlich wie möglich darlegen konnte. Vielen Dank!"

"Oh, tragen Sie sich mit der Idee, irgendwann meinen Beruf ausüben zu können, Monsieur Latierre?" fragte Pontier den jungen Zauberer. Dieser schüttelte behutsam den Kopf und antwortete: "Ich habe in der Zeit, die ich schon für das Ministerium arbeite viele rechtlich relevanten Formulierungen kennengelernt und auch schon eigenständiges Argumentieren erproben müssen und dürfen. Ich bin jedoch mit meiner jetzigen Aufgabenzuteilung voll und ganz zufrieden."

"Sie würden also in Ihrer Eigenschaft als offizieller Vermittler zwischen Menschen und Veelaangehörigen dafür sprechen, dass die beiden Angeklagten nicht mit der größtmöglichen Härte des Gesetzes bestraft werden, gegen das sie auch Ihrer Einschätzung nach verstoßen haben, Monsieur Latierre?" wollte der Richter von Julius wissen.

"Wie Monsieur Pontier gerade durch seine Frage und meine Antwort ergründet hat übe ich nicht seinen Beruf aus und darf daher nicht für mildernde Umstände oder einen teilweisen oder völligen Straferlass plädieren, Herr Vorsitzender. Ich möchte nur anmerken, dass es im Sinne des zwischen uns reinrassigen Menschen und den Veelas und der mit Menschen hervorgebrachten Nachkommen bestehenden friedlichen Miteinanders äußerst wichtig ist, dass ein Mittelweg zwischen den Gesetzen der einen und denen der anderen Gruppe gefunden wird. Wie dieser aussieht kann und darf ich nicht vorschlagen."

"Noch weitere Fragen an den Zeugen?" wandte sich der vorsitzende Richter an seine Tribunalsbeisitzer. Madame Delamontagne nickte und sah Julius an. Er erwiderte den Blick und erwartete ihre Frage:

"Monsieur Latierre, es ist kein Geheimnis, dass Sie durch Ihre Abstammung von nichtmagischen Eltern und den damit verbundenen Eingliederungsprozess in die Magische Welt eine andere Erfahrungsgrundlage besitzen als jene, die von vorne herein als Mitglieder der magischen Menschheit aufwuchsen. Jetzt haben Sie seit Januar 2003 die Aufgabe, zwischen Menschen und Angehörigen der Zauberwesenart Veela zu vermitteln, aufkommende Interessenskonflikte zu erkennen und zu schlichten oder als Fürsprecher zwischen den Gruppen Anliegen entgegenzunehmen und weiterzuvermitteln. Ich weiß auch, dass Sie dem Grundsatz logischer Überlegungen verbunden sind, wo dies hilfreich oder erforderlich ist. Welche Folgen hätte einer rein logischen Überlegung nach ein Straferlass trotz erwiesener Schuld im Vergleich zur vom Zaubereigesetz zur Ahndung von nachhaltigen Flüchen gegen vollständige oder teilweise menschliche MitbürgerInnen und Mitbürger?" Julius fragte sich erst selbst, was die Sprecherin des Dorfrates von Millemerveilles mit dieser Frage bezweckte. Dann hatte er die Antwort:

"Verzichtet dieses Gericht auch in geheimer Urteilsfindung auf eine Bestrafung der beiden Angeklagten, so müsste die Anklage als solches als nicht stattgefunden und die dieser zu Grunde liegende Tat als nicht geschehen dargestellt und in der Öffentlichkeit aufrecht erhalten werden. Widrigenfalls würde eine unerfreuliche Debatte beginnen, warum Veelastämmige straflos Mitmenschen verfluchen dürfen und Menschen für eine entsprechende Tat für Jahre oder gar ihr Leben lang in Haft genommen werden. Möchte dieses Gericht ein Exempel statuieren, dass auch im Namen rasseneigener Gesetze keine Ausnahme von den für alle intelligenten Wesen mit magischen Kräften erlassenen Gesetzen gemacht werden darf und deshalb die höchstmögliche Strafe verhängen, so wird die Öffentlichkeit fragen, was Madame Delacour und ihre Schwester Madame Montété verbrochen haben, dass sie ohne öffentliche Verhandlung für bis zu fünf Jahren inhaftiert werden. Damit würde die Geheimhaltung dieses Prozesses obsolet, also wirkungslos. Außerdem würde der Ältestenrat der reinrassigen Veelas, der sich meiner Kenntnis und Erfahrung nach über staatliche, von Menschen gemachte Gesetze erhaben sieht, die weitere Zusammenarbeit mit uns für sinnlos erachten und sie aufkündigen. Nicht dass ich Angst um meine Arbeit habe, Messieursdames. Ich hatte vorher genug Dinge zu tun und muss wohl nicht fürchten, nur sinnlos vor einem leeren Schreibtisch zu sitzen. Ich möchte jedoch auf Grund der erwähnten Kenntnisse und Erfahrungen feststellen, dass wir magischen Menschen es uns nicht leisten können, eine so mächtige Zauberwesenrasse wie die Veelas gegen uns aufzubringen, solange es keinen weiterführenden Anlass wie eine offene Rebellion oder gar allgemeine Feindschaft gibt. Der Rat der Veelas hätte leichtes Spiel, alle von ihm vertretenen Familien dieser Zauberwesenart gegen uns aufzubringen, bestenfalls jede Anerkennung unseres Zaubereiministeriums und der von diesem vollstreckten Gesetze zu missachten, ohne jemanden körperlich oder geistig zu schädigen, schlimmstenfalls eine offene und zeitlich unbefristete Blutfehde zwischen Veelas und Menschen zu entfachen. Ein Kompromiss, so habe ich mal gelernt, sei das, worauf sich alle Beteiligten einlassen können, aber was keiner der Beteiligten von sich aus will. Deshalb bitte ich Sie aus rein logischen Erwägungen, nur die Lösung zu finden, mit der alle Seiten einverstanden sein können, auch wenn niemand den Ausgang als solchen haben wollte."

"Sie erwähnten die von Madame Lundi verübte Beschränkung von Monsieur Armand Grandchapeau", setzte Heilerin Laporte an. "Können Sie sich ungefähr vorstellen, wie einschränkend diese Lage für den ehemaligen Minister ist?" Julius hätte fast gegrinst. Madame Laporte wusste sicher, dass er bei allen bisher mitbetreuten Schwangerschaften und Geburten auch mal die Exosensohaube eingesetzt hatte. So sagte er ruhig: "Ich durfte im Rahmen meiner Ausbildung und Arbeit als Pflegehelfer von Beauxbatons durch Verwendung der Exosensohaube die Sinneswelt ungeborener Kinder erkunden, ohne diese dabei zu beeinträchtigen. Daher weiß ich, dass deren direkte Umgebung und Lebensumstände für einen bereits zum Erwachsenen entwickelten Geist beinahe die schlimmste vorstellbare Form von Isolationshaft bedeuten. Ich sagte deshalb beinahe die schlimmste, weil durch die völlige Abschirmung aller Sinneswahrnehmungen eine weitaus größere seelische Qual ausgeübt wird, während ein Mensch im Zustand eines Ungeborenen zumindest noch die Körpergeräusche und Stimme seiner Mutter, sowie in gewisser Weise auch die Umgebungsgeräusche außerhalb des ihn umgebenden Mutterleibes wahrnehmen, umhertasten, riechen, schmecken und Bewegungen spüren kann. Wenn Madame Grandchapeau sich nicht dazu bereitgefunden hätte, ihrem mit dem eigenen Sohn verschmolzenen Ehemann die Möglichkeit zu verschaffen, sich anderen mitzuteilen oder durch bestimmte Zauber auch die außerhalb ihres Körpers stattfindenden Vorgänge mitzuerleben, wäre er sicher weit vor dem errechneten Geburtstermin entweder dem Wahnsinn verfallen oder hätte sich aus reiner Schutzreaktion auch geistig wieder auf den Zustand eines Fötus zurückentwickelt, was eine Form von umgekehrtem Tod gleichkommt." Die Heilerin und Hebamme nickte und bestätigte, dass auch sie diese Erfahrung gemacht habe und ähnliche Schlussfolgerungen daraus ziehen müsse.

"Noch jemand Fragen an den Zeugen Latierre?" wollte der Richter wissen. Diesmal wollte niemand was von ihm wissen. "Gut, dann sind sie entlassen. Vielen Dank für Ihre Aussagen und auf Nachfrage dargelegten Einschätzungen als für diesen Fall anerkannter Sachverständiger", sagte Richter Delatour. Julius nickte und verabschiedete sich von den Angehörigen des Zwölfertribunals, sowie den beiden Angeklagten, die ihm einen erleichterten, ja schon dankbaren Blick zuwarfen. Danach sollte er in eine Nebenkammer, wo die bereits befragten Zeugen warteten. Julius nickte und verließ den Zeugenstand. Die Aussicht, mit den Blériots allein im Raum zu sein gefiel ihm zwar nicht. Doch er vertraute darauf, dass sie nicht aus Rache irgendwas gegen ihn unternehmen würden. Dennoch war er froh, als er im bezeichneten Raum auch Léto antraf. Da er unter ihrem Schutz stand würde zumindest Églée nichts gegen ihn unternehmen.

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"Und du konntest das nicht verhindern, Alwin?" gedankenfragte Mathilde Fontbleu ihren Sohn, der in der Vertretung des französischen Zaubereiministeriums auf Réunion arbeitete.

"Dann hätte ich ihn mit Imperius belegen müssen oder sicherstellen müssen, dass er einen beschädigten Besen kriegt und unterwegs abstürzt. Dazu hätte ich aber dann auch wissen müssen, welchen Besen er genau bekommt, und das liegt leider nicht in meinem Zuständigkeitsbereich, Maman", empfing sie die Antwort ihres Sohnes. Das musste Mathilde Fontbleu einsehen. "Gut, dann gebe ich das an die anderen weiter. War ja eh eine Frage der Zeit, wann jemand genauer nachprüft, ob hier alles so läuft, wie das Ministerium es gerne hätte oder nicht", schickte sie zurück und bedankte sich noch einmal für die prompte Mitteilung. Dann trat sie vor ein silbern gerahmtes Bild, dass eine Hexe im sonnengelben Kleid darstellte. Sie blickte der Gemalten in die meergrünen Augen und sagte: "Gib bitte weiter, dass Arion Vendredi persönlich die Bestände der Sternensänger im Wildreservat von Réunion überprüfen will. Sage bitte auch weiter, dass er nicht so behandelt werden kann wie dieser Heißsporn Gérard Dumas, weil sonst alles vergeblich war!"

"Ich gebe das weiter, Mathilde. Er muss nicht verschwinden oder sich von wem anderem neu großziehen lassen."

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Als Belle Grandchapeau in die Kammer der bereits befragten eintrat waren zwischen Julius' Aussage und ihrem Eintritt zehn Minuten verstrichen. "Na ja, wird das halt ein noch größerer Kreis an Mitwissern, was mit meinem Vater passiert ist", grummelte sie nur. Ansonsten schwieg sie wie alle anderen hier, bis Léto sagte: "Ich glaube, ich sollte darauf hinweisen, dass Euphrosyne ihre nächste Milchmenge trinken darf, damit sie nicht beeinträchtigt wird."

"Im Moment wird das wohl schwierig, weil nun Madame Grandchapeau im Zeugenstand ist und da sicher wegen meiner Aussagen wesentlich mehr zu erklären und wohl auch vorzuführen haben wird", sagte Belle Grandchapeau.

"Euphrosyne wird von sich aus nicht schreien. Sie schmollt immer noch. Ich musste sie schon mit sanfter Gewalt dazu bringen, meine Milch anzunehmen und nicht gleich wieder auszuspucken. Offenbar hofft sie sogar darauf, zu verhungern, damit auch Ihr Vater sterben muss, Madame."

"Die sollen sie mir überlassen", knurrte Églée Blériot. Doch Léto sah ihre Tochter verärgert an und sagte, dass sie beide froh sein könnten, wenn Euphrosyne nicht bei einer anderen Veela lande, die mit Menschen überhaupt nichts zu schaffen haben wolle.

"Ich denke eher, die wollen heute Vormittag die ganze Vorgeschichte haben, damit sie am Nachmittag Euphrosyne Lundi selbst befragen können. immerhin haben sie ja ein Cogison", sagte Belle. Julius erwähnte, dass er das aber nicht bei ihr gesehen hatte.

"Wahrscheinlich, weil sie erst einmal ruhig sein soll", meinte Belle Grandchapeau dazu. Julius nickte beipflichtend. Das Cogison hatten sie wohl nur benutzt, um sicherzustellen, dass das mitgebrachte Menschenkind wahrhaftig schon einen entwickelten Geist besaß. Julius wagte es, Léto anzumentiloquieren. Das gelang:

"Wo sind eigentlich Aron und Belle Nathalie?" "Bei Lucille Grandlac", erwiderte Léto ebenfalls rein gedanklich. "Sie wird die beiden solange behüten, wie Laure-Rose oder Apolline das nicht tun können." Julius war mit der Antwort zufrieden. Schließlich musste er als Vermittler zwischen Menschen und Veelas wissen, wo die Veelastämmigen dieses Landes untergebracht waren, vor allem die kleine Belle Nathalie Marie Clementine, von deren Unversehrtheit abhing, ob und wann Demetrius Vettius Grandchapeau geboren wurde.

Es dauerte noch zwanzig Minuten. Dann verkündete die magisch in den Raum verpflanzte Stimme von Richter Delatour: "Messieursdames, vielen Dank für Ihre Mithilfe. Sie dürfen nun zur Mittagspause in einen der Ministeriumsspeiseräume gehen. Wir weisen Sie jedoch eindringlich darauf hin, über die Verhandlung und Ihre Aussagen kein Wort zu sprechen. Madame Léto, Ihnen ist für die Mittagspause gestattet, die Ihrer Pflege zugeführte Madame Lundi zu versorgen, damit diese in drei Stunden genug Kraft hat, unsere Fragen zu beantworten. Monsieur Latierre, Sie bitte ich, nach der Mittagspause um zwei Uhr Nachmittags im Verhandlungsraum Platz zu nehmen, um den Fortgang zu verfolgen und falls heute schon möglich, den Ausgang des Verfahrens bezeugen zu können. Danke!"

"Wir gehen zusammen", wisperte Nathalie Julius zu. Die Bleriots sahen sie verstimmt an. Églée deutete auf Nathalies unter einem besonderen Umhang versteckte Körpermitte. Doch sie wagte es nicht, ein Wort zu sagen.

Im Fahrstuhl nutzte Nathalie die Gelegenheit, Julius den Ohrring für ihr neuartiges Cogison anzuhängen. Julius hörte erst nur die üblichen Körpergeräusche Nathalies. Dann hörte er Demetrius' Kinderstimme wispern: "Der gute Delatour war ziemlich verunsichert, als er mitbekam, dass ich echt aus Mamans Bauch heraus mit allen cogisonieren kann, wenn sie den Sprechbalg umschnallt. Ich musste ihm dann noch bestätigen, dass ich trotz der ziemlich engen Unterbringung froh bin, dass sie mich weiterträgt und ich hoffe, dass weder Euphrosyne noch ihre Tochter stirbt, damit ich auch irgendwann wieder ganz an die Luft kommen kann."

"Und was hat der Vorsitzende dazu gesagt?" dachte Julius zurück. "Soweit ich das durch Mamans Bauchdecke mitbekam war er sichtlich erschüttert. Andererseits hat die gute Alouette Laporte ihm versichert, dass Maman und ich weiterhin bestmöglich betreut werden", klang Demetrius' Gedankenstimme in Julius Ohren nach.

"So, ihr zwei Süßen, wir sind auf dem Stockwerk für den Speisesaal. Jetzt bitte nicht weitercogisonieren, weil du, Julius, dann das essen vergessen könntest und du, Demetrius, mich beim Essen ablenken könntest und so nicht genug von mir mitbekommst!" gemahnte Nathalie ohne körperlich zu sprechen, dass sie besser jetzt nicht weiterplaudern sollten.

Julius fühlte sich an das letzte Jahr in Beauxbatons erinnert, wo er wegen der mitgefühlten Gelüste seiner mit Aurore schwangeren Frau sehr viel und sehr vielfältig gegessen hatte. Außerdem musste er sich beherrschen, nicht darüber zu reden, wie laut das klang, wenn das von Nathalie verspeiste Essen in ihrem Verdauungssystem verarbeitet wurde.

Wie ihm befohlen worden war fand er sich um zwei Uhr wieder vor dem kleinen Verhandlungssaal ein, allerdings ohne Cogison-Ohrring. Dass sie ihm den Herzanhänger als Schmuckstück hatten durchgehen lassen genügte Nathalie und Julius.

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Arion Vendredi erschrak, als er sah, wie er geradewegs über einen von mehreren Menschen bevölkerten Dorfplatz hinwegflog. Einige riefen von unten was, dass er nicht verstand. Doch so aufgeregt, ja ängstlich es klang musste er vermuten, dass sie ihn gesehen und als das erkannt hatten, was er war. Das hätte nicht passieren dürfen. Wieso war er über dieses kleine Dorf hinweggeflogen? Als ihm klar wurde, dass seine Gedankenunterhaltung mit seiner wahren Herrin ihn abgelenkt hatte und er den Besen nicht auf Kursbeharrung eingestimmt hatte beschloss er, die Zeugen seines Überfluges mit Gedächtniszaubern zu belegen. Das musste er alleine tun, weil er nicht vor den hier arbeitenden Außentrupplern zugeben durfte, beim Fliegen nicht aufgepasst zu haben. "Hinterlasse keine Zeugen für alles, was dich auffällig macht!" hörte er unvermittelt die Gedankenstimme seiner Herrin. Dieser Befehl war so klar und so überlagernd, dass er es erst nicht bewusst wahrnahm, wie er den Besen wendete und dann wie ein niederstoßender Greifvogel über dem Dorf herunterschoss und mit fünf gezielten Feuerballzaubern alle Häuser in ein loderndes Flammenmeer verwandelte. Die daraus fliehenden Menschen traf eine schnelle Abfolge von grünen Todesblitzen. Erst als er aus dem ihn überkommenden Tötungsrausch erwachte und merkte, dass er mal eben ein ganzes Dorf ausgelöscht hatte erkannte er auch, dass er nun endgültig auf einem Weg war, auf dem er nicht mehr umkehren konnte. Der Befehl der Königin hatte ihn zum schnellen, gründlichen und gnadenlosen Massenmörder werden lassen. Dann fiel ihm ein, dass andere Zauberer das womöglich nachbetrachten konnten, was er gerade gemacht hatte, auch wenn es auf dieser Insel keinen Spürstein gab. Doch auch dafür bot ihm die Königin einen Ausweg. Er musste einfach nur landen und zusehen, nicht in Brand zu geraten. Wenn er einige Minuten durchhielt würde seine bloße Anwesenheit dafür sorgen, dass niemand nachbetrachten konnte, was hier in den letzten Minuten passiert war. So blieb er zehn Minuten lang auf dem Boden, um sich herum das tosende Flammenmeer und die von ihm selbst zu Tode gefluchten Bewohner, Männer, Frauen und kleine Kinder. Reue oder gar Schuld fühlte er nicht. Er hatte ja nur getan, was seine Herrin ihm befohlen hatte. Sie hatte ja auch recht. Er durfte nicht auffallen. Wer ihn auf einem fliegenden Besen sah und weder Hexe noch Zauberer war musste dann eben sterben.

Als die Hitze der von ihm gelegten Brände den von ihm aufgerufenen Flammengefrierzauber an die Grenze der Erschöpfung trieb hob er wieder ab und flog weiter, um das Reservat für Zaubertiere aufzusuchen.

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Julius saß eher abseits als unmittelbar einbezogen im Verhandlungsraum und hörte zusammen mit der Ministerin und den anderen Beisitzern, was Euphrosyne mit Hilfe des ihr nun umgeschnallten Cogisonhalsbandes aussagte. Sie wurde zu ihrer Auswahl von Aron Lundi befragt, auch zu den von ihr bezauberten Männern und Frauen, die sie als kleinen Hofstaat kultiviert hatte, über die drei Sonnen-und den einen Erdsegen, worüber sie eigentlich nichts sagen wollte. Doch offenbar war in dem Cogison etwas drin, das die Antworten auf die Fragen aus ihrem Bewusstsein herausquetschte. Zumindest hörte es sich für Julius so an, als Euphrosyne erklären sollte, wann genau sie beschlossen hatte, die Grandchapeaus und die Ministerin mit dem scheinbaren Segen verzögerter Alterung und Widerstandskraft gegen Zauber und Zaubertränke zu belegen. Als sie von der Heilerin Laporte gefragt wurde, ob ihr keinen Moment lang Bedenken gekommen seien, dass sie Armand Grandchapeau zu einer jahrzehntelangen Einzelhaft auf sehr sehr engem Raum verurteilt habe cogisonierte Euphrosyne: "Der hat mich mit einem Einhaltungszauber belegt, der wie ein magischer Vertrag wirkt. Er wollte die Geburt seines Sohnes jung genug miterleben, um sein Aufwachsen genießen zu können. Diese Bitte habe ich ihm gewährt, nichts anderes. Der soll froh sein, dass seine Frau auch seine Mutter sein will und es schon so lange mit ihm aushält."

"Seien Sie besser Froh, dass niemand sie weiter als bis zur Neugeborenen verjüngen konnte", erwiderte Alouette Laporte. "Ich habe schon dutzende von intrauterinen Sinnesausflügen mitgemacht und weiß, wie beklemmend es für einen bereits ausgereiften Geist ist, körperlich in einem so engen Raum eingeschlossen zu sein, egal wie fürsorglich und liebevoll die ihn tragende ist. Auch dass Sie sich mit allen Mitteln einer rechtlichen Verfolgung entzogen haben spricht eher dafür, dass ...."

"!In Ordnung, Madame Laporte. Bitte keine eigenen Standpunkte vorbringen, solange ich Sie nicht ausdrücklich darum bitte", gemahnte sie Richter Delatour. Die Leiterin der Mutter-Kind-Station der Delourdesklinik nickte und überließ es nun wieder dem Richter, die im Säuglingskörper steckende Euphrosyne Lundi zu befragen. Als diese dann mittels Cogison berichtete, dass ihre beiden Tanten Apolline und Laure-Rose in ihr Haus eingedrungen waren und Aron mit einem zeitgleichen Doppelschlag infanticorporisiert hatten und sie im Zug der körperlich-seelischen Verbundenheit mit ihm dann selbst immer kleiner und jünger geworden sei musste Julius erst einmal tief durchatmen. So wie Euphrosyne den Vorgang beschrieb war das schon gruselig. Das passte schon ins Bild bösartiger Hexen, die ihre Opfer leiden lassen wollten. Als sie dann gefragt wurde, ob sie noch etwas von Aron Lundi fühlte musste sie zugeben, dass nach der Wiederverjüngung die von ihr erzeugte Verbindung mit jedr Stunde immer schwächer wurde. Also klang sie demnächst ganz ab. Julius dachte dann, dass Euphrosyne dann vielleicht wieder zur Erwachsenen werden mochte. Doch Alouette schien seine Gedanken aufgefangen zu haben.

"Nun, offenbar hat sich die durch den zeitgleichen Doppelangriff auf Ihren Gatten übertragene Magie dahingehend ausgewirkt, dass auch Sie trotz des hohen Fremdverwandlungswiderstandes die volle Wirkung dieses Zaubers zu spüren bekamen. Das heißt aber für Sie, dass Sie nun genau wie ein reinrassiger Mensch, bei dem der Zeitpunkt der Verwünschung nicht ermittelt wurde und/oder dessen davor erreichtes Alter nicht auf die Minute bekannt ist, neu aufzuwachsen haben. Vielleicht gibt Ihnen das einen Eindruck, wie hilflos sich jemand fühlen muss, der zum Ungeborenen zurückverwandelt wurde, aber diesen Zustand mit voll entwickeltem Bewusstsein erleben muss", hielt die Chefin der Mutter-Kind-Station der Delourdesklinik der körperlich Wiederverjüngten vor.

"Die zwei untreuen Tanten sollen dafür leiden, dass sie ihre Kräfte gegen mich angewendet haben", cogisonierte Euphrosyne. "Und die sollen mir und Aron genug Galleonen zurücklegen, damit ich in zwei Jahren, wenn ich wieder alleine laufen kann, ein erfülltes Leben haben kann."

"Ob Sie dazu befugt sind, derlei zu fordern müssen Sie wohl uns überlassen", erwiderte Delatour. Dann setzte er die Befragung fort. Dabei kam auch heraus, dass Euphrosyne auch einmal versucht hatte, mit der Spinnenschwesternschaft Kontakt zu bekommen, deren Anführerin aber wohl der Meinung war, dass sie, Euphrosyne, sich wie ein verzogenes Mädchen benahm, mit dem diese nichts zu schaffen haben wolle. Auch deshalb sei sie darauf verfallen, sicherzustellen, dass sie unbehelligt in Frankreich wohnen und eine Familie großziehen könne. Julius musste grinsen. Also verdankte Armand Grandchapeau es Anthelias Ablehnung, dass er nun als sein eigener Sohn Demetrius auf seine Geburt warten musste. Das machte die Angelegenheit jedoch nicht erträglicher für ihn.

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Arion Vendredi wurde den Verdacht nicht los, dass er doch vorangekündigt worden war. Denn als er bei dem Reservat für Zaubertiere dieser Breiten eintraf warteten gleich fünf Wildhüter auf ihn. Angeblich waren sie gerade aus der Mittagspause hier zusammengekommen und hatten den Besucher aus der Ferne gesehen. Arion Vendredi bestand darauf, die Nester mit den Sternensängereiern besichtigen zu können. Da sagte einer der Wildhüter: "Tja, die Brutsaison ist seit einer Woche offiziell um, Monsieur Vendredi. In den Nestern liegen derzeit keine neuen Eier mehr. Aber die Küken können Sie gerne besichtigen, sofern Sie genug Zeit mitgebracht haben. Denn alle Nester abzufliegen dauert sicher sechs Stunden, wenn Sie persönlich nachkontrollieren wollen."

"Sechs Stunden? Ich hörte von Ihrem Vorgesetzten, dass es nur vier Stunden dauert, die Nester aus ausreichender Höhe zu begutachten", sagte Vendredi. Das deckt sich auch mit den bisherigen schriftlichen und eidesstattlichen Angaben, die Sie und ihre Kollegen dem Ministerium gemacht haben."

"Ja, wenn mindestens zwei von uns bei unverhülltem Mondlicht die Nester überprüfen. Aber wenn Sie jetzt, wo die Sonne scheint, alle Nester persönlich prüfen wollen, so sind sechs Stunden eigentlich noch sehr optimistisch berechnet", wagte einer der Zaubertierhüter eine schon an Dreistigkeit grenzende Antwort. Vendredi fühlte eine gewisse Wut. Wenn er um acht Uhr mitteleuropäischer Zeit nicht in Paris sein würde fiel das auf. Aber dann würde Beaubois ihn wohl hier suchen. Wie kam er da jetzt wieder raus, ohne richtig heftig aufzufallen?

Sie schwören mir alle auf einen Eidesstein, zu jeder Zeit die volle Wahrheit über den Bestand der Sternensänger Sidericantor argyropteros gemacht zu haben und begleiten mich bei der persönlichen Überprüfung. Ich kann einen Zauber, der auch bei hellem Tageslicht die Sichtbarkeit von Silberschnatzernestern und Einzelwesen verbessert. Wenn die Zahl der geschlüpften Küken und der Altvögel dem entspricht, was Ihre letzten Angaben aussagen, dann sind Sie mich noch heute wieder los, meine Herren."

"Haben Sie einen Eidesstein mit?" wollte ein noch junger Wildhüter mit keckem schwarzem Schnauzbart wissen.

"Ich kann und werde einen besorgen", sagte Vendredi. Doch was der Schnauzbart, der sich als Louis Dubois vorgestellt hatte, entgegnete machte Vendredi beinahe auf sich selbst wütend.

"Da wir auf Réunion ja nur eine kleine Außenstelle des Zaubereiministeriums haben und ich von meinem da arbeitenden Onkel sicher weiß, dass seit zwanzig Jahren niemand dort mit einem Eidesstein zur Einhaltung bestimmter Zusagen gezwungen werden musste, gibt es da keinen einzigen. Wenn Sie keinen mitgebracht haben müssten Sie einen beantragen, der aus Paris herüberkommt. Um das zu tun müsste entweder eine klar erkenn- und beweisbare Gefahrenlage vorliegen und/oder sie müssten Beweise für ein schwerwiegendes Fehlverhalten oder eine wahrheitswidrige Aussage zu einem das Ministerium sehr betreffenden Umstand haben. Solange Sie solche Beweise nicht haben kriegen Sie sicher vor übermorgen keinen Eidesstein hier hin, zumal die Strafverfolgungsbehörde dann sicher auch wissen will, wofür Sie den brauchen."

"Allein schon diese freche Bemerkung von Ihnen, Monsieur Dubois sollte genug Grund sein, einen Eidesstein zu benutzen", sagte Vendredi. Dubois und zwei seiner Kollegen blickten ihn mit einer aufgesetzten Unschuldsmiene an, als hätten sie überhaupt nichts angestellt. Dann sagte Dubois:

"Wie erwähnt, erst übermorgen können Sie Eidessteine hier haben. Allerdings bestehen wir dann auch auf die Einhaltung des Gesetzes, demnach wir vor einem damit bekräftigten Schwur sicherstellen müssen, dass der uns diesen Schwur abnehmende Beamte der ist, als der er sich ausgegeben hat. Mit so Eidessteinen kann auch viel Unfug angestellt werden, besonders wenn wir bedenken, was ende der Neunziger bei Ihnen in Frankreich und Großbritannien los war."

"Öhm, Ihren Namen werde ich mir wohl sehr gut merken, Monsieur Dubois", raunzte Vendredi. Er fühlte, wie die Wut über sich und diesen Mitte zwanzig Jahre alten Burschen, der einen kreolischen Elternteil hatte, immer stärker wurde. Wenn er nicht aufpasste würde die Wut ihn in die überlebensgroße Ameisendrohne verwandeln, zu der ihn die Mutter der Abgrundstöchter gemacht hatte. Er musste sich verdammt noch mal beherrschen. Sonst musste er die fünf da noch umbringen. Und das würde erst recht auffallen. Er atmete dreimal tief ein und aus. Dann sagte er mit einer vielgeübten Strenge in der Stimme: "Ich werde die Nester mit einem von Ihnen abfliegen. Da Sie, Monsieur Dubois mir so offen renitent begegneten werde ich Ihrem Vorgesetzten mitteilen, dass sie bis übermorgen unbezahlten Urlaub bekommen werden. Mit Monsieur Barnier hier werde ich die Nester abfliegen."

"Moment, der Kollege Dubois wies Sie nur auf die gesetzliche Grundlage hin, die für uns ebenso wie für Sie gilt", sprang ein anderer Wildhüter seinem schnauzbärtigen Kollegen bei. Dubois legte noch nach: "Wenn wir schon nicht mal mehr darauf bauen dürfen, was für Rechte und Pflichten wir haben, liegt sicher einiges im argen in der alten Welt." Vendredi erkannte, dass er gegen Leute, die ihre Rechte kannten, schwer ankommen würde, sofern er nicht einen Trick brachte, sowas wie Gefahr im Verzug oder einen unmittelbaren Angriff auf seine Person oder das Ministerium als solches. Noch wütender machte ihn, dass in seinem kleinen Reisekoffer ein Eidesstein enthalten war, den er bisher aber nie benötigt hatte. Tja, der lag jetzt genausoweit weg wie die anderen magischen Ausrüstungsgüter, die das Ministerium beherbergte.

"Interessiert es Sie denn überhaupt nicht, dass jemand unbefugtes die Sternensängereier entnimmt, um damit verbotene Mixturen zu erstellen? Ist Ihnen Ihre Arbeit so wenig wert, dass Sie es zulassen möchten, dass jemand die Bestände der von Ihnen gehüteten Zaubertiere gefährdet?" versuchte es Vendredi mit einem Beredungsmanöver.

"Sie meinen diese Leute von Vita Magica, die hinter unseren Sternenschnatzern hergewesen sind?" fragte Dubois, den die anderen quasi als ihren Sprecher ansahen. Vendredi nickte. "Soweit wir das mitbekamen wurde deren Versteck von denen selbst zerstört, nachdem irgendwer aus Frankreich die beim Klauen der Eier erwischt hat, bevor sie ihn erwischen konnten. Die jagen sicher jetzt in Indien, wo die Wildbestände noch größer sind als bei uns."

"In fünf Minuten fliege ich los. Sie, Monsieur Dubois, werden noch von mir hören", sagte Vendredi. Dann wandte er sich an Barnier und befahl ihm: "Holen Sie Ihren Dienstbesen." "Natürlich", erwiderte Barnier.

Nach nur fünf Minuten schwirrten Vendredi und sein ausgesuchter Begleiter Barnier auf Ganymed-9-Besen über dem Zaubertierreservat dahin. Vendredi hielt seinen Besen mit einer Hand auf Kurs, während er mit geführtem Zauberstab nach unten zielte und "Mirror solis diem luminato!" murmelte, sobald er mehr als hundert Meter weit geflogen war. Dieser Zauber vermochte, die in Zauberstabausrichtung auf den Boden treffende Sonnenstrahlung so umzuwandeln, dass sie wie vom Mond zur Erde gesandt wirkte. Deshalb glänzten die unter ihm stehenden Bäume nicht grün, sondern silbergrau. Tatsächlich konnte er in diesem verzauberten Lichtschein die ersten Nester von Sternensängern erkennen.

"Interessanter Zauber. Den haben die uns weder in Beauxbatons noch in der Wildhüterausbildung beigebracht", bemerkte Barnier, als Vendredi immer wieder silbergraue bis gespenstisch weiße Stellen aus dem satten Grün des Waldes hervorhob. Vendredi sah seinen Begleiter an und erwiederte: "Den habe ich auch nicht in einer Ausbildung gelernt, sondern aus einem nur in wenigen Stückzahlen veröffentlichtem Buch einer sehr kundigen Astralzaubermeisterin, deren Namen Ihnen ziemlich sicher unbekannt ist. Jedenfalls formt er in Hundert Metern Umkreis das auftreffende Sonnenlicht so um, als sei es Mondlicht und bewirkt damit, dass alles auf Mondlicht ansprechende genau wie bei natürlicher Mondlichteinstrahlung anspricht, solange ich den Zauberstab nicht wieder in eine andere Richtung halte. Wie erwähnt kann ich damit auch bei hellem Tag Sternensänger und ihre Nester sichtbar machen", dozierte Vendredi, froh, dass er seine Unsicherheit und damit verbundene Verärgerung abgeschüttelt hatte.

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"... und Sie wollen uns nicht verraten, wie Sie die von Ihnen vorgenommene Manipulation mit den magielosen Menschen ausgeführt haben und wie diese aufgehoben werden kann?" fragte Richter Delatour sichtlich erbost, nachdem er sich von Euphrosyne weitere Erklärungen für ihr Tun angehört hatte. Die eigentlich hier vor Gericht stehenden oder besser auf Büßerstühlen angeketteten Schwestern Apolline Delacour und Laure-Rose Montété saßen ruhig da, ihr eigenes Urteil erwartend.

"Die Männer und dieses dumme Mädchen Loulou sind durch meinen Zauber ein Teil von mir geworden. Können Sie sich vorstellen, ihr Gedärm oder ihre Leber herauslösen zu lassen, Monsieur Delatour?" entgegnete Euphrosyne über das ihr umgelegte Cogison. Julius empfand diese Antwort schon sehr dreist.

"Das heißt, diese Leute sind solange von diesem Zauber betroffen, solange Sie leben?" fragte ein anderer der elf Gerichtsbeisitzer. Euphrosyne bestätigte das. "Und wenn Sie sterben?" fragte Alouette Laporte die körperlich zur Neugeborenen zurückverwandelte.

"Tja, dann werden diese Leute da tot umfallen, wo sie gerade sind, ob sie schlafen oder wach sind", cogisonierte Euphrosyne. Offenbar, so dachte Julius, war es der zwangsverjüngten nicht bewusst oder völlig gleichgültig, dass sie mit dieser Aussage eine verdammt schlimme Tat gestand.

"Nun, der Umstand, dass Sie, anders als den Grandchapeaus, Monsieur Vendredi und der Zaubereiministerin angekündigt bereits länger als einen Tag in einer Lage überlebt haben, die Sie als sehr große Einschränkung Ihrer Bewegungs- und Handlungsfreiheit erkennen müssen, gibt zur Hoffnung anlass, dass die von Ihnen verwünschten aus dieser Bezauberung freikommen, wenn sie lange genug aus Ihrem Einfluss heraus sind", sagte Richter Delatour. Darauf erklang eine merkwürdige Abfolge aus dem Gedankenvertonungsbalg des Cogisons. Julius sah, wie sich das rosige Gesicht der Wiederverjüngten zu einem überlegenen Lachen verformte. Ihr gerade völlig zahnloser Mund klaffte rhythmisch auf und zu, und ihr kleiner Brustkorb pulsierte in schneller Abfolge. Euphrosyne lachte den Richter offenbar aus. Zumindest kam außer jener merkwürdig blubbernden Abfolge von Tönen nichts aus dem Cogison, bis sich die im Säuglingskörper gefangene Veelastämmige beruhigte und dann deutlich und unmissverständlich verkündete:

"Sie sind von mir abhängig. Sie werden nicht lange durchhalten, ohne mich zu spüren oder zu sehen. Spätestens in einem Monat werden sie alles daransetzen, in meine Nähe zu kommen, wo immer ich da auch sein werde. Und wie Sie mitbekommen durften können sie nicht mit Ihren üblichen Fang- oder Lähmzaubern aufgehalten werden. Erreichen Sie mich dennoch nicht, dann werden sie qualvoll sterben. Es ist egal, ob ich jetzt wieder neu aufwachsen muss oder nicht. Die werden mich suchen und dabei alles aus dem Weg räumen, wass sie abhält, mich zu finden. Auch wenn dieser blöde Sprechbalg mir einiges aus dem Kopf gezogen hat, was ich Ihnen nicht sagen wollte, das, wie ich den Zauber gewirkt habe kriegen Sie nicht."

Léto sah ihre wiederverjüngte Enkeltochter sehr tadelnd an. Dann blickte sie die Mitglieder des Gerichtes fragend an. Delatour nickte ihr zu.

"Sie wissen sicher, dass wir Veelas und die von uns abstammenden eine besonders starke Magie in den Haaren haben, weshalb wir darauf achten, keines unserer Haare zu verlieren, wenn wir nicht einen ganz bestimmten Grund haben, es zu opfern. Früher wurde gerne behauptet, dass eine von uns sofort erlöschen müsse, wenn ihr auch nur ein Haar entrissen würde. Das ist so nicht richtig. Aber Euphrosyne wird eine mir bis heute nicht bekannte Möglichkeit genutzt haben, mit Hilfe ihrer Haare die von ihr ausgewählten Menschen unter ihren Einfluss zu bringen und ihnen dabei noch mehr körperliche Kraft und Ausdauer zu verleihen. Ich fürchte, sie hat recht, wenn sie behauptet, dass die von ihr bezauberten Menschen körperlich oder geistig von ihr so abhängig sind wie wir alle von Atemluft oder Trinkwasser. Aber ich möchte Ihnen hier und jetzt versichern, dass ich mich auf deren Erscheinen einrichten und ihnen eine gewisse Milderung verschaffen werde, damit sie nicht vor unerträglichem Entzug versterben müssen. Doch dafür benötige ich Ihre für Ihre Behörde verbindliche Zusage und Anweisung, das Wiederaufwachsen meiner vom Wege abgekommenen Enkeltochter zu behüten."

"Wo Tante Sarja sich von diesem Russenbengel noch mal hat schwängern lassen macht dich das sicher ganz glücklich, dass deine zwei verräterischen Töchter mich zum Wickelhexlein zurückverwünscht haben, wie, Mémé Léto?" quäkte Euphrosynes Cogison.

"Was würden Sie tun, wenn wir Madame Lundi oder besser Mademoiselle Blériot nicht in Ihrer Obhut belassen, sondern sie einer anderen, uns wesentlich genehmeren Amme und Ziehmutter überantworten?" fragte der oberste Richter. Léto sah ihn ganz ruhig an und erwiderte: "Ihrer leiblichen Mutter dürfen Sie sie nicht wiedergeben, weil eine gewisse Anna-Fichtental-Regel das verbietet. Einer anderen, die keine Tochter unserer großen Urmutter ist können Sie Euphrosyne erst nach einem Jahr übergeben, wenn sie keine Muttermilch mehr benötigt. Wird sie von einer Frau gestillt, die nicht von unserer erhabenen Urmutter abstammt, so verhungert sie selbst dann, wenn sie in dargebotener Milch baden kann. Das dürfen Sie sehr gerne nachprüfen, da es darüber schon einige Niederschriften in Russland, Bulgarien, Transsylvanien und Ungarn gibt, wobei die magischen Menschen in Österreich da sicher auch einige Niederschriften zusammengetragen haben, solange deren Land mit Ungarn vereint war." Die zwölf Gerichtsmitglieder sahen sich daraufhin gegenseitig an. Alouette Laporte nickte und erbat sich durch einen Blick das Wort.

"Es kam fast zur Ermordung einer ganzen Familie, weil eine Hexe ohne Veelavorfahren das Kind einer veelastämmigen Freundin versorgen wollte und es beinahe trotz mehr als ausreichender Milchgabe verhungerte. Was immer diese Zauberwesenrasse so besonders macht, wenn ein Kind von einer Veela oder Veelastämmigen getragen und geboren wurde, muss es auch von einer solchen genährt werden. Ob das bei Kindern, die von männlichen Veelas gezeugt wurden zutrifft ist der Heilerzunft bisher nicht bekannt."

"Gut, dann sollten wir noch einmal auf die Motive zurückkommen, die Madame Delacour und Madame Montété dazu trieben, die eigene Nichte und ihren Ehepartner derartig zu verzaubern", kehrte der Richter zum eigentlichen Verhandlungsgrund zurück. Er wollte dann noch einmal wissen, ob es seitens der Veelagesetze keine Alternativen zu deren Vorgehen gäbe. Apolline, die offenbar besser mit Beamten vertraut war als ihre Schwester Laure-Rose, beantwortete die Frage und erwähnte die bei den Veelas geltenden Gesetze. Julius und Léto bestätigten auf Nachfrage, dass ihnen diese ungeschriebenen Gebote bekannt waren, demnach Veelas oder Veelastämmige ihre eigenen Verwandten davon abhalten mussten, die eigene Familie zu gefährden und dass Euphrosynes Verhalten eine solche schwerwiegende Gefährdung bedeutete. Euphrosyne versuchte dazwischenzucogisonieren, dass dieses Recht nur galt, wenn sie wahrhaftig jemanden dazu getrieben hätte, ihre eigenen Verwandten anzugreifen. Doch Delatour unterbrach die Bezauberung des Cogisons durch einen Hammerschlag. "Dass Sie also nur die Wahl hatten, sich gegen die Zaubereigesetze oder Ihre überlieferten Rechte und Pflichten zu vergehen soll also rechtfertigen, dass Sie zu einer von uns aus unzulässigen Art der Selbstjustiz griffen, die Damen?" fragte er Apolline und Laure-Rose. Die beiden sahen den Richter an. Dann sagte Apolline: "Monsieur Delatour, bei allem, was magische Menschen in den vergangenen Jahrhunderten erreicht und vereinbart haben unterliegen wir Nachgeborenen unserer großen Urmutter deren Gesetzen, die schon älter sind als das Reich der ägyptischen Pharaonen oder der Römer. Und eines der obersten Gesetze sagt, dass wir bei allem, was wir tun, immer das Wohlergehen jedes Blutsverwandten zu beachten haben und niemanden von unseren Blutsverwandten gefährden dürfen oder durch Untätigkeit zulassen, dass einem Verwandten von uns körperliches Leid zugefügt wird. Geschieht dies doch, so sind wir ja auch gehalten, die gegen einen Blutsverwandten begangene Tat zu vergelten."

"Mit anderen Worten, Sie halten sich nicht für an unsere Gesetze gebunden?" fragte einer der Beisitzer. Apolline hatte wohl mit dieser Vorhaltung gerechnet und antwortete unerschüttert: "Wir, die wir auch Verwandte unter den Menschen haben, haben uns darauf verständigt, deren Gesetze zu befolgen, solange nichts und niemand unser körperliches und seelisches Wohl bedroht oder gar zerstört. Solange das nicht eintritt achten wir die für Menschen geltenden Gesetze, da sie ja auch das friedliche Miteinander und Wohlergehen gewähren sollen. Das was meine Nichte getan hat verstößt ja auch gegen Ihre Gesetze. Doch dass sie nun auch danach trachtete, einen offenen Aufruhr gegen Ihre Rassenangehörigen zu entfachen sahen meine Schwester und ich als Gefahr, dass unsere Familien körperlich gefährdet würden und mussten uns auf den Zorn der Schwestern berufen, der einen nicht vom Ältestenrat unserer Rasse beschlossenen Strafakt erlaubt."

"Ihnen ist klar, dass wenn dieses Gericht mehrheitlich befindet, dass Sie nicht über unseren Gesetzen stehen und verbotene Zauber zu unerlaubten Zwecken verwendeten, dass Sie beide für bis zu fünf Jahren inhaftiert werden können?" fragte Delatour, obwohl er am Morgen schon das drohende Strafmaß für den Infanticorpore-Fluch erwähnt hatte. Apolliene und Laure-Rose Montété bejahten es für die mitschreibende Zauberfeder. Da wandte sich deren Anwalt Monsieur Pontier an das Tribunal:

"Die von meinen Mandantinnen gemachten Aussagen bestätigen, dass sie nicht in willkürlicher Selbstjustiz, sondern eindeutiger Notwehr gehandelt haben, da sie befürchten mussten, dass sie und alle ihre Verwandten durch Madame Lundis Tat zu Schaden kommen würden. Ich bitte daher, die von dem hier anwesenden Monsieur Latierre gemachte Aussage in Ihre Urteilsfindung einzubeziehen."

"Notwehr gilt nur im Falle eines unmittelbar bevorstehenden oder erfolgenden Angriffes", wandte ein Julius nicht namentlich bekannter Zauberer aus dem Zwölferrat ein. Eleonore Delamontagne nickte ihrem Beisitzerkollegen zu. Doch dann sagte sie: "Die Unmittelbarkeit eines bevorstehenden Angriffes kann schon durch dessen Ankündigung eintreten, Monsieur Beringer. Ich denke da an den Fall Augustin Dupont gegen den Grindelwald nahestehenden Zauberer Cassius Lestrange im Jahre 1930. Um einer von Lestrange angedrohten Verfluchung seiner Angehörigen zu begegnen vollzog Beringer eine Mensch-zu-Tier-Verwandlung, um nicht auf den tödlichen Fluch zurückzugreifen. Das nach Grindelwalds Sturz einberufene Gericht zur Aufarbeitung der in Frankreich stattgefundenen Verbrechen und Folgetaten sprach Beringer von der Anklage der böswilligen Fremdverwandlung frei, weil es genug Zeugen für den seiner Familie angedrohten Fernfluch gab." Julius konnte nicht anders als Eleonore bewundernd anzusehen, weil sie so frei und ohne nachschlagen zu müssen einen konkreten Fall benannte. Gut, Anwalt werden wollte er ja nicht, hatte er ja erst diesen Morgen klargestellt. Aber bewundernswert war es schon, zur Lage passende Fälle und Urteile anführen zu können. Das fand wohl auch der Großteil des Tribunals. Balthasar Pontier zeigte sogar ein höchst erleichtertes Gesicht, weil die strohblonde Dorfratssprecherin ihm eine geniale Steilvorlage für seine Verteidigung geliefert hatte.

"Ich bedanke mich bei Ihnen, Madame Delamontagne, für diese uns durchaus beachtenswert erscheinende Darlegung", sagte der Richter. Dann wandte er sich den Angeklagten zu.

"Nun, wir haben jetzt Ihre Aussagen und die Ihres Opfers vernommen und auch die Aussagen der Zeugen zur Kenntnis genommen. Sollte keiner meiner Kollegen und Beisitzer befinden, weitere Aussagen oder gegenständliche Beweise einzufordern können wir uns wohl zur Beratung zurückziehen." Julius bat ums Wort und verwies ganz ruhig sprechend darauf, dass auch bei einer geheimen Gerichtsverhandlung Anklage und Verteidigung zu Wort kommen mussten und deshalb die beiden Angeklagten noch einnmal etwas sagen sollten, was keine Beantwortung von Fragen, sondern eine freie Aussage zu den Anklagepunkten bedeutete. Der Richter sah Julius erst verstimmt an. Doch dann musste er sehr heftig nicken. Wenn er den beiden Beklagten das Recht zur Rechtfertigung oder einer Unschuldsbeteuerung verwehrte konnte er das Verfahren nicht rechtskräftig abschließen. Nur wenn die beiden nicht anwesend gewesen wären und Gefahr im Verzug bestanden hätte, dann hätte er auch ohne eine Schlussbemerkung der Beklagten urteilen dürfen. Deshalb nahm er die zur Messung von Bedenkzeiten benutzte Sanduhr, prüfte, dass kein Sand im oberen Kolben war und drehte sie dann mit dem leeren Kolben nach unten. Als er die Uhr auf den Tisch vor sich stellte sagte er: "Von nun an zwei Minuten".

Apolline sprach als erste und fasste in nur einer Minute noch einmal ihr Vorgehen und den Grund dafür zusammen. Dann sprach Laure-Rose und erwähnte, dass sie ihrer Schwester beistehen musste, da sie sonst riskiert hätten, dass ihre Blutsverwandten zu Schaden gekommen wären. Als dann der letzte Rest Sand in den unteren Kolben fiel gab die kleine Uhr ein zweisekündiges Bimmeln von sich. Was ab nun gesagt wurde durfte nicht mehr in die Urteilsfindung einbezogen werden.

Julius und die anderen Zeugen wurden wieder in den Nebenraum geschickt. Léto sah Julius mit wohlwollendem Lächeln an und mentiloquierte ihm zu: "Sie werden keinen einstimmigen Beschluss fällen können. Unsere Aussagen und Euphrosynes trotziges Gebaren haben nicht wenige von ihnen davon überzeugt, dass sie aufgehalten werden musste, aber sie eben keine Möglichkeit hatten."

"Und du glaubst, sie überlassen dir Euphrosyne?" gedankenfragte Julius die reinrassige Veela.

"Es wird ihnen nichts anderes übrigbleiben", erwiderte sie nur für ihn verständlich.

Nathalie Grandchapeau saß ruhig in einem bequemen Sessel, während ihre Tochter Belle sehr konzentriert auf die Tür blickte, als wolle sie durch diese hindurch sehen. Julius hätte zu gerne gewusst, was Demetrius jetzt empfand. Denn falls Euphrosynes Tochter außerhalb von Frankreich aufwuchs und dort eine Familie gründete würde Demetrius wohl bis zum Tode Nathalies ungeboren bleiben, ähnlich wie Ashtargayyan, den Julius in der Halle der Altmeister getroffen hatte.

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"Wie erklären Sie sich das, dass wir von den schriftlich angegebenen fünfzig Brutpaaren nur zwanzig gesehen haben, Monsieur Barnier?" wollte Vendredi wissen, als sie die Suche beendet hatten. Der mit ihm geflogene Wildhüter hatte jedoch die passende Aussage parat:

"Ihr Zauber ist beachtlich, Monsieur Vendredi. Aber die Natur dieser Vögel ist das Nachtleben. Wenn Sie die Sternensänger zählen wollen müssen Sie dann fliegen, wenn es wirklich Nacht ist. Die zwanzig Vögel, die wir sehen konnten waren die, welche erst wenige Wochen flügge sind und noch nicht den natürlichen Tag-Nacht-Rhythmus gefunden haben. Aber das haben meine Kollegen Ihnen vor unserem Rundflug schon erzählt, weiß ich."

"Selbst wenn die Sternensänger nachtaktive Vögel sind hätte mein Mondlichtnachahmungszauber sie in den Nestern sichtbar machen müssen. Wir haben aber nur zehn Nester gefunden und darin eben nur zwanzig Exemplare. Wo sollen die übrigen Brutpaare sein, und vor allem, wo sind die flügge gewordenen Jungen von denen abgeblieben?"

"Nun, wir haben verschiedene hohle Bäume passiert. Viele Sternensänger nisten in den hohlen Bäumen, weil dort noch weniger Sonnenlicht hingelangt wie nur unter den Baumwipfeln. Das heißt aber auch, dass Ihr Lichtveränderungszauber dort nicht hineindringen konnte. Sie beharrten jedoch darauf, alle Zählungen im Fluge zu machen, und ich wollte Ihnen nicht dreinreden, um nicht wie der Kollege Dubois als renitent oder besserwisserisch aufzufallen."

"Achso, und da haben Sie dann lieber zugelassen, dass ich vom fliegenden Besen aus den Boden absuche, wo Sie genau wussten, dass ich so nicht alle Einzelwesen von Sidericantor argyropteros auffinden kann?" entrüstete sich Vendredi. "Mit anderen Worten, Sie haben vier Stunden meiner wertvollen Zeit damit vertan, mich über dieses Reservat zu führen, ohne dass ich einen unstrittigen Beweis für die Richtigkeit oder Unrichtigkeit der von Ihnen und Ihren Kollegen dokumentierten Bestandszahlen erlange? Steht auf meiner Stirn sowas wie: "Chef total unfähig, kann nach belieben veralbert werden"? Ich denke doch mal, dass Sie und Ihre Kollegen mich nicht derartig einschätzen, oder?"

"Sie haben vorhin überdeutlich gesagt, dass Sie die Zählung am Tage und auf eine von Ihnen erwogene Weise durchführen wollten. Als Dubois Ihnen klare rechtliche Grundlagen nannte, haben Sie ihn suspendiert. Daher wollte ich Ihnen nicht widersprechen", verteidigte sich Barnier ganz gelassen. Vendredi funkelte ihn dafür sehr verärgert an. Er fühlte es heiß und wild in seinen Gedärmen Prickeln. Wenn der Bursche da ihn noch wütender machte mochte es passieren, dass Vendredi sich in den getreuen Begatter der roten Königin verwandelte. Aber das durfte ihm hier und jetzt nicht passieren. Denn dann müsste er jeden Augenzeugen sofort töten. Das aber würde dann eine Menge Fragen aufwerfen. Deshalb zwang sich Vendredi, sich wieder zu beruhigen. Als ihm das gelang sagte er noch:

"Ich werde mich gleich mit Monsieur Beaumont über diese Inspektion unterhalten und ihn danach fragen, ob er Ihrer Ausführung beipflichtet, Monsieur Barnier. Sollte er dies nicht tun werde ich ihn veranlassen, mit einer Gruppe Außendienstmitarbeiter aus Paris diese Zählung bei Nacht zu wiederholen. Sollten Sie mir wahrheitsgemäße Auskunft erteilt haben ist danach für Sie die Angelegenheit beendet. Sollte jedoch auch nur ein einziger Vogel weniger zu finden sein als Ihrer Darstellung nach könnte dies zu einer sehr unangenehmen weiterführenden Prüfung Ihrer Verwaltungs- und Personalführung führen. Nehmen Sie dies bitte als Rechtsbelehrung zur Kenntnis!"

"Dann müssten Sie aber sehr zeitnah die von Ihnen erwähnten Beamten aus Frankreich herüberschicken", erwiderte Barnier mit einer ähnlichen unverfrorenheit wie sein Kollege Dubois.

Vendredi fühlte wieder das Prickeln und die Hitzestöße in sich, die ihn vorwarnten, dass er nicht mehr so weit von einer unbeabsichtigten Verwandlung war. Erst nach drei tiefen Atemzügen fand er seine Ruhe wieder und antwortete so trocken er konnte: "Ich brauche nur in den Kamin zu rufen, und in fünf Minuten stehen zwanzig Außeneinsatzbeamte im Ankunftskreis von Réunion, Monsieur Barnier. Falls Sie also fürchteten, die Angelegenheit könnte wegen der nötigen Anträge und Mitarbeiterverlegung länger dauern und Ihre alltägliche Arbeit verzögern, so ist diese Furcht völlig unbegründet." Barnier nickte und erwiderte nur, dass seine Leute eben noch andere Aufgaben hätten, als den Bestand des Silberschnatzers zu überwachen. Vendredi nahm dies ohne weitere Bemerkung hin.

Als der Leiter der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe des französischen Zaubereiministeriums wieder in der Ortsvertretung des Ministeriums ankam wurde er bereits von seinem offiziellen Stellvertreter vor Ort, Augustin Beaumont, begrüßt. Diesem erklärte er ganz ruhig, warum er heute diese Zählung hatte vornehmen wollen und was ihn dabei irritiert habe.

"Interessant, ein Sonnenlichtumwandlungszauber, der alles wie im Mondlicht erscheinen lässt", sagte Augustin Beaumont, der Vendredi gerade bis zum Kinn reichte und sehr füllig aussah. Die Sonne der Südsee hatte seine Haut fast so braun wie Schokolade gebrannt. "Was der Wildhüter Barnier anmerkte ist leider wahr. Die Sternensänger ziehen sich bei den ersten Sonnenstrahlen in Baumhöhlungen zurück oder verstecken sich in blattreichen Baumwipfeln, wo kein Sonnenstrahl sie treffen kann. Nur wenige fliegen auch bei Sonne noch herum, wobei sie aber auch möglichst die Schatten von Baumwipfeln ausnutzen. Da konnten Sie mit Ihrem Mondlichtzauber nicht viel mehr erkennen als bei unveränderter Tagesbeleuchtung."

"Will sagen, ich bin umsonst hier hingekommen?" wollte Vendredi wissen. Beaumont erwiderte darauf, dass er nicht umsonst hier war. Denn wo Arion Vendredi schon einmal diese Niederlassung des französischen Zaubereiministeriums beehrte konnte Beaumont auch gleich mit ihm andere Verwaltungsangelegenheiten und vor allem Finanzierungsfragen besprechen. Vendredi erinnerte den Stellvertreter daran, dass er eigentlich um acht Uhr mitteleuropäischer Zeit wieder in Paris sein wollte. Doch Beaumont hatte auch darauf die passende Antwort:

"Nun, Sie können zurückkehren und die Sache bis morgen vertagen oder gleich heute Nacht unserer Zeit die Prüfung mit unseren Außendienstmitarbeitern wiederholen, um die leidige Angelegenheit zu klären. Auch wenn die Anreise Sie nicht mehr als eine Galleone gekostet haben mag wäre das doch reine Gold- und ja auch Zeitvergeudung, erst einmal wieder zurückzureisen."

"Ich habe kein Gepäck mitgenommen", erwiderte Vendredi. Denn eigentlich hätte er schon gerne einen vollen Tag hier auf dieser Insel verbracht, genau aus dem von Beaumont erwähnten Grund.

"Haben Sie nicht die allgemeine Ausleiherlaubnis mit, um sich aus den hier aufbewahrten Ausrüstungsgütern Dinge zu entleihen?" wollte Beaumont wissen. Vendredi bestätigte das natürlich. "Dann können Sie sicher auch einen Reserveumhang und einen Satz Unterkleidung erhalten, um die Nacht zu überstehen. Wir haben auch Pyjamas für auswärtige Gäste, die nicht mit zu viel Gepäck verreisen wollten."

"Ich muss erst die geeigneten Mitarbeiter zusammenbringen und instruieren. Das kann ich nur vom Hauptsitz aus", erwiderte Vendredi verdrossen. Einerseits hatte Beaumont recht, dass er jetzt, wo er hier war, die Sache durchziehen konnte. Andererseits galt für ihn der Befehl seiner Königin, schnellsttmöglich wieder nach Paris zurückzukehren. Sie würde es ihm sicher nicht gestatten, auch noch die Nacht auf Réunion zu verbringen.

"Wie Sie wünschen, Monsieur Vendredi", sagte Beaumont mit eingeübter Untergebenheit. "Ich erwarte dann also Sie und Ihre Mitarbeiter ... morgen?"

"Ich schicke sie direkt vom Ausgangskreis zum Reservat, ohne sie vorher anzumelden", sagte Vendredi. Er fühlte sofort, dass diese Antwort Beaumont nicht gefiel. Natürlich gefiel sie ihm nicht, weil er ja bei dieser Sache außen vor gehalten wurde. Deshalb fügte Vendredi hinzu: "Einerseits haben Sie völlig recht, dass die Sache nicht unnötig aufgeschoben werden darf. Andererseits sind wie erwähnt noch andere Dinge zu erledigen, die ich nach meinem Urlaub zu erledigen trachte, und die gleichermaßen wichtig sind wie die Prüfung von Wildtierbestandszahlen in den Überseeischen Gebieten. Um beides zu vereinen muss ich die offenbar verlorene Zeit hier wieder gutmachen und schnellstmöglich nach Paris zurückkehren."

"Wie Sie wünschen, Monsieur Vendredi", sagte Augustin Beaumont. "Mein Stellvertreter Fontbleu wird Sie noch bis zum Ausgangskreis geleiten."

"Der Weg dorthin ist mir hinlänglich vertraut", erwiderte Vendredi etwas ungehalten. Wieso wollte Beaumont ihn begleiten lassen, wo er doch schon fünfmal hier gewesen war? Beaumont nickte Vendredi zu und verbeugte sich. Mehr war zur Verabschiedung nicht nötig.

Vendredi verließ das Büro und ging durch die Korridore der Ministeriumsniederlassung. Er kam an die Tür, die wegen der hohen Außentemperatur geschlossen war. Er legte gerade die Hand auf die massive Messingklinke, als ihm von oben etwas über den Kopf fiel und ihm schlagartig die Arme nach unten drückte. Es glitt blitzartig seinen Körper entlang und presste die Arme fest an den Rumpf. Vendredi fühlte, wie er eingeschnürt wurde und erkannte sogleich, was ihm widerfuhr. Jemand hatte einen bezauberten Sack über ihn geworfen und diesen dazu gebracht, ihn fest zu umschließen. Jemand hatte ihn verraten. Er riss den Mund auf, um einen Protestruf auszustoßen. Da schob sich was von dem, was ihn umschlossen hatte passgenau in seinen Mund und knebelte ihn. Er fürchtete schon, ersticken zu müssen. Die Angst davor brachte sein verändertes Blut zum kochen. Er fühlte, wie sein Körper auf diesen Gefühlsstoß reagierte. Dann begann dieser verhexte Sack noch wild zu zittern, sprühte blaue Funken. Vendredi erkannte, dass ihn da jemand nicht nur eingesackt hatte, sondern gleich per Portschlüsselzauber an einen anderen Ort verschicken wollte. Doch das ging irgendwie nicht, erkannte Vendredi, bevor in ihm eine magische Entladung freigesetzt wurde, die seinen Körper schmerzvoll durchlief und jede Faser seines Körpers veränderte. Die Verwandlung zum Ameisenmännchen begann.

__________

Als die zwölf Mitglieder des geheimen Tribunals die Zeugen und die Angeklagten wieder in den kleinen Verhandlungsraum zurückriefen konnte Julius den meisten ansehen, dass sie eine sehr hitzige Debatte geführt haben mussten. Alouette Laporte tupfte sich gerade mit einem rosaroten Taschentuch die Stirn ab, während Richter Delatour sehr verdrossen dreinschaute, als habe er gerade eine sehr verstimmende Nachricht erhalten. Als die Zeugen auf den bereitstehenden Bänken saßen holte Alouette Laporte die in einem anderen Nebenraum abgelegte Euphrosyne Lundi in den Saal und setzte sie wieder auf den auf einem Podest stehenden Stuhl. Dann ergriff Richter Delatour das Wort:

Geschätzte Anwesende, nach eingehender und teils sehr emotioneller Beratung gelang es mir und den mir beigeordneten Mitglidern dieser geheimen Verhandlung nicht, ein einstimmiges Urteil zu fällen. Offenbar müssen wir von einem Präzedenzfall der magischen Rechtsprechung ausgehen und können diesen noch nicht einmal zur allgemeinen Diskussion im vollständigen Gamot stellen, da ein vollständiger Zaubergamot nur bei hergestellter Öffentlichkeit tagen darf. Ich stelle fest, dass wir zu zwölft offenbar nicht im Stande waren, den geltenden Zaubereigesetzen vollumfänglich zu entsprechen, indem wir ein eindeutiges Urteil finden konnten. Sicher steht mir als Vorsitzendem das Recht einer eindeutigen Entscheidung zu. Doch ich muss zu meinem sehr großen Bedauern bekunden, dass ich selbst keine eindeutige Entscheidung treffen kann, da alle vorgelegten Beweise und Aussagen jede für sich ein gewisses Gewicht haben. Da alle relevanten Zeugen gehört und alle gegenständlichen Beweise vorgelegt wurden konnte ich auch keine Vertagung zur weiteren Beurteilung veranlassen. Dies nur, damit Sie alle die nun folgende von der Mehrheit dieses Zwölferrates getroffene Entscheidung als das erkennen, was sie ist, ein Kompromiss, der zur Wahrung des Friedens zwischen magischen Menschen und menschengestaltlichen Zauberwesen geschlossen wurde. Somit verkünde ich als Vorsitzender dieses Zwölfertribunals gemäß Paragraph fünf der magischen Rechtsprechungsverordnung Satz zwei zur Wahrung lebensnotwendiger Geheimnisse folgendes Urteil: Die Angeklagten Madame Apolline Delacour und Madame Laure-Rose Montété werden wegen ihres eigenmächtigen Einwirkens auf Madame Euphrosyne Lundi in Tateinheit mit Verwendung eines nachhaltigen Zaubers der Kategorie sieben zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr in der Zaubererfestung Tourresulatant verurteilt. Wegen der Begleitumstände der von ihnen begangenen Taten hat dieses Gericht jedoch die Strafe zur Bewährung ausgesetzt. Die Bewährungszeit soll zwanzig Jahre betragen und folgenden Bedingungen unterliegen:

Erstens sollen die beiden Beklagten ein Viertel der ihnen im Verlauf der Bewährungszeit zufallenden Vermögenswerte der gemeinnützigen Stiftung schuldlos in Armut geratener Hexen und Zauberer zukommen lassen. Zweitens wird Madame Apolline Delacour dazu verpflichtet, für die Dauer der zwanzigjährigen Bewährungszeit kein öffentliches Amt anzustreben und/oder die Räumlichkeiten des Zaubereiministeriums Frankreich und der amtlichen Niederlassungen in Übersee zu betreten, aus welchem Grund auch immer. Dieses gilt auch für Madame Laure-Rose Montété. Des weiteren werden die Beklagten verpflichtet, für die Dauer der Bewährungszeit von Reisen ins Ausland abzusehen. Des weiteren wird den Beklagten auferlegt, für die Dauer der festgelegten Bewährungszeit jeden Kontakt mit den Angehörigen der Familie Blériot und Lundi zu vermeiden, sei es durch direkte Besuche, Briefe oder magische Gedankenübermittlung wie das bei Veelastämmigen bekannte Singen von Blutsverwandten. Die von Euphrosyne Lundi geborene Tochter Belle Nathalie Marie Clementine Lundi wird in die Obhut der Familie Grandlac überantwortet, wo sie von der Heilerzunft und dem amtlichen Beauftragten für die Beziehungen zwischen Menschen und Veelastämmigen betreut aufwachsen soll. Die Familie Grandlac wird dazu aufgefordert, sicherzustellen, dass die in ihre Obhut gegebene Belle Nathalie Marie Clementine bis zum Erreichen ihres zwanzigsten Geburtstages keinen Kontakt mit den Beklagten, sowie mit der von diesen eigenmächtig infanticorporisierten Euphrosyne Lundi erhält. Sie darf zwar nach Vollendung des siebzehnten Lebensjahres erfahren, wessen Tochter sie ist, ihre Mutter aber nicht vor Ende der verhängten Bewährungszeit aufsuchen. Die Begründung für diese Maßnahme erfolgt gleich. Weiterhin wird verfügt, dass der ebenso wie die von der Tat der Beklagten betroffeneMensch ohne Magische Ausprägung Aron Lundi durch vollständige Erinnerungsentnahme auch geistig auf den Stand eines gerade erst wenige Tage alten Säuglings zurückgeführt werden und einer nichtmagischen Betreuungseinrichtung für verwaiste Kinder außerhalb Frankreichs überstellt werden soll, so dass dieser ein seinen Erbanlagen angemessenes und von einer für ihn nicht mehr ausschöpfbaren Kenntnis unserer Welt unbelastetes Wiederaufwachsen erleben kann. Dieses geheime Tribunal sieht es als erwiesen an, dass durch den rechtswidrig auf ihn gelegten Zauber jede körperlich-geistige Bindung zu der von ihm gezeugten Belle Nathalie Marie Clementine erloschen ist und somit beide ohne Gefahr für Leib und Leben voneinander getrennt aufwachsen können. Die Familie Grandlac wird hiermit höchstamtlich verpflichtet, die in ihre Obhut überstellte Belle Nathalie Marie Clementine Lundi dahingehend zu informieren, dass ihr Vater kurz nach ihrer Geburt durch einen tödlichen Unfall während einer Reise verstarb.

Kommen wir nun zu dem Grund, warum meine Beisitzer und ich uns zu einer Bewährungsstrafe entschlossen haben, obgleich meiner Ansicht nach eine exemplarische Bestrafung der beiden Beklagten durchaus angeraten war. Wir konnten nicht den Sachverhalt bestreiten, dass Madame Euphrosyne Lundi sich selbst durch ihre eigenen gesetzeswidrigen Handlungen in eine Lage gebracht hat, die eigentlich durch eine langjährige Haftstrafe geahndet werden mussten. Da sie jedoch in Voraussicht, eine solche Strafe erwarten zu müssen, Mittel ergriff, einer Freiheitsentziehung erfolgreich auszuweichen, brachte sie unsere Rechtsprechung da selbst an den Rand der Machtlosigkeit. Insofern erkenne ich als Vorsitzender die Argumentation an, dass Madame Euphrosyne Lundi weiterhin strafbare Handlungen begangen hätte, wenn ihr niemand ohne Gefahr für Leib und Leben unbescholtener Mitbürger Einhalt geboten hätte. Das ist ja auch ein Grund, warum diese Verhandlung nicht vor dem vollständigen Gamot in aller Öffentlichkeit stattfinden durfte, auch um niemanden zu ermutigen, ähnliche Taten nachzuahmen. Warum Mutter und Tochter zwanzig Jahre lang getrennt voneinander leben sollen liegt daran, dass dieses Gericht verhindern will und muss, dass Euphrosyne Lundi versuchen könnte, ihre Tochter dahingehend zu beeinflussen, Vergeltung für das ihr zugefügte Schicksal zu üben. Des weiteren gilt es, die durch Euphrosyne Lundi erwirkte Beschwernis für die Familie Grandchapeau zu erleichtern, indem dieses Gericht dazu beiträgt, dass der durch Euphrosyne Lundis verbotenen Zauber über lange Zeit im Zustand eines Ungeborenen verharrende Demetrius Vettius Granchapeau die Möglichkeit erhält, auf die Welt zu kommen und möglichst unbeschwert aufzuwachsen, wobei dieses Gericht keine verbindliche Angabe dazu machen kann, wie lange dieses Aufwachsen dauern wird. Deshalb wird die hier anwesende reinrassige Veela, die als Madame Léto im Verzeichnis namentlich bekannter Zauberwesen aufgeführt ist, die Fürsorge und Aufsicht über die durch Infanticorpore-Fluch wiederverjüngte Euphrosyne Lundi, künftig wieder Blériot, versehen und unter Aufsicht der magischen Heilzunft und des amtlichen Vermittlers zwischen Menschen und Veelastämmigen sicherstellen, dass Vergeltungstaten weder von der Wiederverjüngten selbst oder von dieser angestifteten Personen verübt werden. In dem Zusammenhang wird noch ein Bescheid ergehen, dass Euphrosyne Blériot auch bei Annahme eines anderen Nachnamens auf Lebzeiten hin Besitz und Benutzung eines Zauberstabes untersagt wird, was auch einschließt, dass ihr ein neuerlicher Besuch der Beauxbatons-Akademie für französischsprachige Hexen und Zauberer verwehrt bleibt, weil zu befürchten ist, dass sie daselbst auf ihre Tochter treffen und diese in ihrem Sinne zu Racheakten anstiften könnte.

Gegen dieses Urteil gibt es das Rechtsmittel der Berufung, sofern die Beklagten innerhalb von einer Woche davon gebrauch machen möchten. Im Falle einer solchen Berufung wird dann ein anderer Zwölferrat die Verhandlung übernehmen. Es steht den Beklagten frei, auf ihre Berufung zu verzichten. Dieser Verzicht kann durch verstreichen lassen der erwähnten Frist oder durch eine schriftliche Bekundung innerhalb der Frist erfolgen. Im namen der magischen Bürger Frankreichs und seiner Überseebesitzungen beschließe ich dieses geheime Verfahren am 22. März 2003." Delatour klopfte mit seinem Richterhammer zweimal auf den Tisch. Dadurch wurde auch die magische Sperre aufgehoben, die Zauber und Zaubergegenstände blockiert hatte. Sogleich quäkte Euphrosynes Cogison los:

"Das habt ihr euch toll ausgedacht, mich auf diese Weise loszuwerden, dass meine euch hörige Großmutter mich bewachen soll. Aber ich werde länger leben als jeder von euch hier. Und wenn ich wieder erwachsen und euren Rechten nach volljährig bin werde ich meinen Weg gehen. Ihr und eure Nachkommen solltet zusehen, diesen nicht zu kreuzen. Und was die Grandchapeaus angeht: Sie hätten mich und Aron einfach nur in Ruhe unser freies Leben führen lassen sollen. Deshalb haben sie das Recht auf ihr früheres Leben verwirkt und sollen sehen, was sie davon haben. Und ihr könnt meiner Tochter nicht verbieten, ins Ausland zu ziehen, wenn sie volljährig ist. Dann wird der ehemalige Zaubereiminister auch dann noch im Leib seiner ehemaligen Ehegattin stecken, wenn ich und meine Enkelkinder in Mokushas ewigem Schoß zur Ruhe gekommen sind."

""Nur kein Neid, weil du für alles schreien musst, was du gerade brauchst", ertönte eine leicht quäkige Kleinjungenstimme von Nathalie Grandchapeau her. Alle hier sitzenden blickten die heimlich ihr Kind weitertragende ehemalige Ministergattin an. Diese deutete auf ihre Körpermitte und sagte: "Ich sehe kein Vergehen darin, dass mein mir dauerhaft anvertrauter Sohn sich zu diesen ganzen Aussagen äußert."

"Diese Aussagen kommen ja schon nicht mehr ins Protokoll", sagte Delatour. Dann deutete er auf Léto: "Klären Sie mit Madame Laporte und Monsieur Latierre ab, wie genau die von uns beschlossene Fürsorge für diese uneinsichtige Person auf dem Stuhl geregelt werden soll! Und dann sehen Sie bitte zu, mit ihr das Ministeriumsgebäude zu verlassen. Je danach, ob die Beklagten von ihrem Berufungsrecht Gebrauch machen oder nicht wird spätestens in einer Woche ein entsprechendes Dokument verfertigt, in dem die rechtlich verbindlichen Punkte dargelegt werden", sagte der oberste Richter noch. Dann entließ er die Zeugen. Die Beklagten wurden von den sie haltenden Ketten gelöst und durften auf freiem Fuß den Verhandlungsraum verlassen, während Léto Julius und die Leiterin der Mutter-Kind-Abteilung der Delourdesklinik zu sich hinwinkte. "Ich möchte diese Angelegenheit gerne im Büro des amtlichen Vermittlers zwischen Menschen und Veelastämmigen erörtern", sagte Léto und nahm Euphrosyne das Cogison ab. Weil sie nun keine worthaften Gedanken mehr übermitteln konnte begann Euphrosyne wütend zu schreien. Doch da Julius selbst zwei Kinder hatte, die in den ersten Monaten häufiger geschrien hatten und weil Madame Laporte schreiende Säuglinge gewohnt war beachteten sie es nicht. Nathalie Grandchapeau nickte Julius nur zu, ebenso Belle Grandchapeau.

Im amtlichen Sprechzimmer von Julius Latierre wartete derselbe darauf, dass seine Besucherinnen sich auf freie Besucherstühle setzten. Dann nahm auch er Platz und wandte sich Léto zu, die der immer noch wild schreienden Euphrosyne einfach einen Schnuller in den zahnlosen Mund steckte, worauf Euphrosyne unverzüglich zu greinen und quängeln aufhörte. Julius wollte gerade fragen, ob der Schnuller bezaubert war, als Léto schon sagte: "Schlafgutschnuller, Monsieur Latierre. Zur Rettung aus Gefahrenlagen oder gerade zur Vermeidung der solchen durch frei zugelassenes Schreien empfohlenen und zulässiges Mittel der Beruhigung von Kindern zwischen Geburt und Vollendung des dritten Lebensjahres." Die Leiterin der Mutter-Kind-Station der Delourdesklinik nickte heftig, worauf Julius laut genug für alle zusammen sagte: "Ich erkenne die Verwendung dieses magischen Hilfsmittels in dieser Lage an, da keine Zeit vergeudet werden darf, um das weitere Vorgehen abzustimmen." Danach bat er Léto darum, ihre Meinung zu dem ergangenen Urteil zu äußern.

"Ich habe keine Schwierigkeiten damit, Euphrosyne auch als Stillmutter neu großzuziehen, weil ich dadurch die einzige Möglichkeit sehe, sie davon abzuhalten, sich und uns alle weiterhin zu gefährden. Deshalb werde ich meine Töchter Apolline und Laure-Rose davon überzeugen, das Urteil dieses Zwölferrates anzunehmen. Ebenso werde ich den Ältestenrat der Kinder Mokushas darüber unterrichten, was heute beschlossen wurde und dessen Erlaubnis erwirken, Euphrosyne als meine Ziehtochter großzuziehen. Ich weiß, dass meine Tochter Églée sicher keine Freude daran haben wird und ... Ah, der Blitz verkündet den Donner!" Julius wollte erst fragen, was mit dieser Redewendung gemeint war, als er ein Klopfen an der Tür hörte. "Es ist meine Tochter Églée", sagte Léto."

Julius überlegte, ob er sein Lebensauraverstärkungshalsband hervorholen sollte oder nur das Lied des inneren Friedens wirken lassen sollte. Er entschied sich für die zweite Lösung. Als er sicher war, dass das Lied seine volle Wirkung entfaltete rief er "Herein!"

"Monsieur Latierre", begann Églée Blériot, kaum dass sie durch die Tür hereingetreten war und diese von innen schloss. "Ich fordere von Ihnen die Aussetzung dieser ominösen Fichtental-Regel, dernach eine Mutter oder Ehefrau nicht die Fürsorge eines durch den Infanticorpore-Fluch körperlich verjüngten Verwandten übernehmen darf. Auch will ich wissen, weshalb meine Mutter dann berechtigter sein soll. Des weiteren wünsche ich, dass Sie diesen Zwölferrat dazu veranlassen, die Zuweisung meiner Enkeltochter an meine Schwester zu widerrufen und diese ebenfalls in meine Obhut übergeben wird." Julius fühlte, wie Églée ihre volle Veelakraft einsetzte. Doch zugleich fühlte er, wie auch Létos eigene Ausstrahlung stärker wurde. Einen Moment lang meinte er, in einem Strudel aus heißem Wasser zu stecken. Dann berührte ihn Létos Hand an seiner Wange, und alle Hitze und aller Schwindel fielen von ihm ab. "Églée, er steht unter meinem Schutz und wird nichts tun, was ihm Schwierigkeiten bereiten wird", sagte Léto. Julius keuchte wegen der ihn so heftig treffenden Veelamagie. Vielleicht hätte er doch besser seinen Lebensauraverstärker benutzen sollen. Aber jetzt fühlte er sich irgendwie leichter und unbeschwerter als vor drei Sekunden noch. So sagte er: "Ich habe die Anna-Fichtental-Regel nicht aufgestellt, Madame Blériot. Aber sie hat schon eine gewisse Berechtigung, vor allem, weil besagte Anna Fichtental ihren eigenen Mann mit dem Infanticorpore-Fluch belegt hat, um ihn so von ihrer Fürsorge vollkommen abhängig zu machen. Daher ist es den Müttern und Ehefrauen der Betroffenen verboten, durch Infanticorpore zu Neugeborenen verjüngte Söhne oder Ehemänner großzuziehen, sofern eine Aufhebung des Fluches misslingt. Und was Belle Nathalie angeht, Madame Blériot, so haben Sie auch gehört, was Richter Delatour und Madame Laporte gesagt haben, als es um die Unterbringung ging. Das Mädchen soll bei jemandem groß werden, der oder die keinen Anlass hat, es zu einer Vergeltung wegen seiner Mutter zu erziehen. Bei Ihnen ist das leider nicht vollkommen auszuschließen. Auch die Aktion eben, mich durch volle Entfaltung Ihrer Lebenskraftschwingungen zu überrumpeln, verbietet mir jede Fürsprache, was die Unterbringung von Belle Nathalie Marie Clementine Lundi angeht, zumal wohl auch bei dieser der Nachname womöglich geändert wird."

"Schon sehr dreist, in meiner Anwesenheit überhaupt auch nur zu erwähnen, die Fichtental-Regel zu suspendieren", knurrte Alouette Laporte. Églée Blériot schien die Leiterin der Mutter-Kind-Station der Delourdesklinik jetzt erst zur Kenntnis zu nehmen. Sie blickte die Großheilerin verärgert an und wandte sich dann ihrer Mutter zu, die ansetzte, was zu erwidern:

"Wusste nicht, dass die Verjüngung deiner Tochter dich selbst in ein aufsässiges, verzogenes Mädchen zurückverwandelt hat, Églée. Aber was ich und was der junge Mann hier gesagt haben ist gültig. Belle Nathalie bleibt bei deiner Schwester Lucille, und Euphrosyne bleibt bei mir. Wie kommst du darauf, dass dies geändert werden könnte?"

"Weil ich mich auf das Recht der direkten Blutsverwandten berufe, dem Recht der lebenden Ahnin gemäß den Beschlüssen des Ältestenrates unseres Volkes, Mutter."

"Ja, genau wie ich. Nur dass der Ältestenrat nach allem, was Euphrosyne getan hat meiner Bitte folgt, dass ich sie neu großziehe, weil du sicher irgendwann ihren Wünschen und Bitten nachgeben wwürdest, meine Tochter. Auch habe ich diesem jungen Herren gerade mitgeteilt, dass ich Apolline und Laure-Rose dazu bringen werde, keine Berufung einzulegen und das für sie noch sehr milde ausgefallene Urteil anzunehmen."

"Dann bleibt mir noch der Ältestenrat. Wenn der mir erlaubt, Euphrosyne wieder großzuziehen, sofern ich dies nicht in diesem Land tue, dann wirst du sie mir überlassen, weil ich als Mutter mehr Anrecht auf die Unversehrtheit ihres Körpers habe als du."

"Oh, außer deiner Tante Sarja wird dir da niemand beipflichten, meine Tochter. Aber wir leben lange genug, um auch für derartig erfolgloses Zeit aufwenden zu können", erwiderte Léto erheitert grinsend. "Sonst noch etwas?" fragte sie nach drei Sekunden angespannten Schweigens. Églée Blériot starrte auf die in Létos linker Armbeuge schlafende Euphrosyne und schüttelte den Kopf, dass ihr bis zum Gesäß reichender Haarschopf wild wogend pendelte.

"Wenn der Ältestenrat darüber berät erbitte ich Ihre Anwesenheit, Monsieur Latierre", sagte Églée Blériot. Léto erwiderte: "Dort, wo der Ältestenrat zusammentrifft darf nur hin, wer ein reines Kind unserer erhabenen Urmutter ist, sonst niemand, meine Tochter." Das reichte Madame Blériot aus, um einmal mit ihrem schlanken Fuß aufzustampfen und dann ohne weiteres Wort das Büro zu verlassen.

"Was sollte dieser Auftritt denn bedeuten?" fragte Alouette Laporte, nachdem zwanzig Sekunden lang niemand was sagte. Julius sah die Heilerin an und erwiderte: "Offenbar vermutete Madame Blériot, einen gewissen Einfluss auf mich ausüben zu können, damit ich in ihrem Sinne vorgehe. Wie Sie mitbekommen durften war sie da einer Fehleinschätzung aufgesessen."

"Nun gut, Madame Léto. DA ich noch weitere Verpflichtungen habe nehme ich zur Kenntnis, dass Sie wohl auch die nächsten Jahre die Wiederverjüngte betreuen werden, sofern Ihr Volk nicht doch anders beschließt und sich damit über die Verwaltungshoheit des Zaubereiministeriums hinwegsetzt."

"Bevor Sie gehen, junge Dame, nur so viel: Mein Volk lebt auf der ganzen Welt, wenngleich wir eher auf dem Erdteil leben, der als eurasisch bezeichnet wird. Daher untersteht es nicht den Vorschriften oder gar Gesetzen eines auf ein einzelnes Land beschränkten Verwaltungsgefüges. Wenn der Ältestenrat meines Volkes wider meine Überzeugung beschließt, dass ich sie hier", wobei sie auf ihre Wiederverjüngte Enkeltochter deutete, "an ihre Mutter zu übergeben habe, dann muss ich dieser Forderung folgen. Allerdings kann und wird in diesem sehr unwahrscheinlichen Fall der Ältestenrat meiner Tochter Églée vorschreiben, aus dem Hoheitsbereich des französischen Zaubereiministeriums auszuwandern. Sie weiß das auch und muss sich überlegen, ob alles, was sie hier erreicht und bewirkt hat so leicht aufzugeben ist." Dem konnte Madame Laporte nicht widersprechen. Sie verabschiedete sich noch von Julius. Dann verließ sie dessen Büro.

"Hast du dieses Etwas noch, mit dem du deinen Lebenshauch zum wilden Sturm entfachen kannst, Julius?" fragte Léto Julius Latierre. Dieser nickte bestätigend. "Am besten trägst du es immer bei dir, für den Fall, dass Églée findet, dich mal aufzusuchen, ohne dass ich in deiner unmittelbaren Nähe bin." Julius nickte erneut. Genau das und nichts anderes hatte er beschlossen.

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Alwin Fontbleu sah, wie der grüne Bringbeutel blitzschnell über Arion Vendredi niedersauste und ihn innerhalb einer halben Sekunde vollkommen umschlang und verschnürte. Jetzt musste der an diesem Sack angebrachte Portschlüssel auslösen. Doch statt einer blauen Lichtspirale entstanden nur himmelblaue Funken, die wild knisternd durch den Gang stoben, bis das Spektakel mit leisem Piff endete. Der magische Sack, der ein Opfer einfangen und entweder durch die Luft oder mit angebrachtem Portschlüssel an einen vorbestimmten Ort entführen konnte, schwebte mit seinem Inhalt einen halben Meter über dem Boden. Fontbleu erinnerte sich, dass seine Landsleute Schutzvorkehrungen gegen ungewollte Portschlüsselreisen erfunden haben sollten. Also stimmte das wohl. Doch Vendredi musste in den nächsten Sekunden fort sein, bevor Beaumont oder jemand ganz unbeteiligtes in den Gang trat. Laut rufen konnte er nicht mehr. Aber wenn jemand den grünen Sack sah würde gleich Alarm geschlagen. Fontbleu, der unter einem Tarnumhang verborgen war, hielt sich einen ihm kurz nach Vendredis Aufbruch zu den Sternensängern zugestellten Ring an die Stirn. "Zielperson durch Tür und dann zu Einsammelpunkt eins!" dachte er konzentriert. Dann sah er, wie sich der grüne Bringbeutel ausdehnte. Doch das konnte nicht gehen. Der widerstand djedem Versuch, ihn zu dehnen. Dann bekam der Beutel erste Risse. Grüne Funken flogen aus dem bezauberten Stoff heraus und zerstoben knisternd an der Decke. Dann riss die Umhüllung ganz auf, und Fontbleu traute seinen Augen nicht.

Aus dem nun laut zerreißenden Sack fiel eine Kreatur, die mit einem Menschen nur noch die Größe gemein hatte. Genau das war das grauenvolle. Denn was da gerade auf sechs dünnen aber wohl starken Beinen auf dem Boden landete, war ein Insekt, eine geflügelte Ameise, die blitzartig herumfuhr und die behaarten Antennen in den Gang schwang, um zu erfassen, ob wer feindliches dort lauerte. In dem Moment, wo das zum Ungeheuer aufgeblasene Insekt auf Fontbleus Standort zurannte wusste dieser, dass der Tarnumhang ihm keinen Schutz bot. "Notsprung!" dachte er mit einer Hand auf seinem oberen Hemdknopf. In dem Moment, wo das einer roten Waldameise gleichende geschöpf aus vier Schritten Entfernung auf ihn zusprang umschloss Fontbleu eine blaue Lichtspirale. Dann fühlte er den Wirbel durch das bunte Zwischengefüge, in dem sich ein ausgelöster Portschlüssel mit seinen Benutzern bewegte. Einen Moment lang glaubte Fontbleu noch, dass das Ameisenungeheuer ihn doch noch erreicht hatte. Doch nach drei Sekunden hatte er die Gewissheit, es abgeschüttelt zu haben. Wie hatte sich Vendredi in dieses Schreckenstier verwandeln können?

Als Fontbleu nach der Portschlüsselreise an einem vorbestimmten Ort landete sah er drei Mitstreiter. Die hatten wohl nur das Portschlüssellicht gesehen. So warf er schnell den Tarnumhang ab und rief: "Alarm, Vendredi kann Gestalt einer menschengroßen roten Waldameise mit Flügeln annehmen!"

"Bitte was?!" rief einer seiner Mitstreiter, Monsieur Barnier vom Wildtierreservat. Fontbleu widerholte seine Warnung und erklärte dann, was er gesehen hatte. Weil der eigentlich auch hier erwartete Bringbeutel zerstört worden war, was nur mit übermenschlichen, nicht aus den Muskeln absaugbaren Kräften möglich war, mussten seine Mitstreiter es wohl glauben, dass Vendrredi etwas konnte, was kein normaler Mensch vollbrachte.

"Interessant und zugleich sehr besorgniserregend", sprach die gemalte Ausgabe von Mater Vicesima, die im Ankunftsbereich zur Beobachtung an der Wand hing. "Könnte es ein ähnliches Phänomen wie bei der schwarzen Spinne sein, in die sich die Erbin Anthelias verwandeln kann?"

"Öhm, kann ich nicht sagen. Aber wenn ja, dann hat Vendredi vielleicht Zugang zu dieser Verwandlungsart."

"Deine Kollegen sind in Gefahr, Alwin. Wenn Vendredi einen verbotenen Verwandlungszauber kann oder von jemandem diesem unterworfen wurde, so sind alle, die ihn in dieser Form sehen in Lebensgefahr, du eingeschlossen", sagte Mater Vicesima.

"Soll ich zurück und denen zurufen, dass sie in ihren Büros bleiben sollen, bis unser Ungezieferbekämpfungstrupp das Ungetüm erlegt hat, Grandmaman?" fragte Fontbleu.

"Auf gar keinen Fall. Wenn du rufst werden alle herausstürmen und diesem Gestaltwandler zum Opfer fallen. Geh davon aus, dass er genausowenig Zeugen für seine Beschaffenheit wünscht wie wir, dass wir Vendredi zu uns holen wollten, um ihn durch einen uns genehmen Doppelgänger zu ersetzen."

"Vielleicht kann er sich auch wieder zurückverwandeln und dann alarm geben, dass ihn wer wortwörtlich einsacken wollte", sagte Fontbleu. "Das klärt unser Bilderspion Gaston", erwiderte die gemalte Mater Vicesima. "Du kommst solange zu meinem lebenden Vorbild bis wir wissen, dass für dich keine Gefahr besteht. Dann portschlüsselst du dich in dein Büro und tust weiter so, als hättest du nur deine Arbeit verrichtet." Fontbleu nickte. Was seine Großmutter sagte war sicher richtig, auch wenn es nur ihr magisches Abbild war.

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Wer hatte ihn eingesackt? Er würde ihn mit seinen Beißzangen genauso zerfleischen wie diesen verhexten Fangsack. Er roch einen Mann im Korridor. Doch seine Facettenaugen sahen niemanden. Das war ein Feind. Er rannte los und sprang. Da verschwand der andere. Vendredi fühlte, dass eine starke Zauberkraft den anderen weggerissen hatte. Doch bevor er das genau begreifen konnte knallte er mit seinem chitingepanzerten Kopf gegen die Wand. Seine Panzerung hielt dem Aufprall mühelos stand. Er prallte zurück und landete auf seinen sechs Beinen. Sofort schwang er wieder die Antennen, um weitere Feinde zu wittern. Er nahm mit seinen Tast- und Witterorganen vielerlei menschliche Ausdünstungen wahr, von ausgeatmeter Luft über tagealten Achsel- oder Fußschweiß über verschiedene Parfüms oder Pflegemittel bishin zu jenen Dünsten, die geschlechtlich erregte Männer und Frauen abgaben. Doch in seiner unmittelbaren Nähe war keine direkte Geruchsquelle mehr. Seine tierischen Triebe drängten ihn, die Flucht zu ergreifen, damit ihn niemand zu fassen bekam. Sollte er fliegen? Der noch verbliebene Rest menschlichen Verstandes drängte danach, keinen Lärm zu machen. Wenn noch niemand auf den Gängen war musste er auch niemanden dazu bringen, aus den Büros zu kommen. Also laufen. Aber wie bekam er die Tür auf? Einfach durchrennen! Er hatte Kraft, er war gut gepanzert, er war schnell. Er lief los. Die Bilder an der Wand nahm er nicht zur Kenntnis, weil für seine Insektenaugen nur räumliche Körper in fließender Bewegung erkennbar waren. So bekam er nicht mit, dass ein gemalter Zauberer in einem grasgrünen Umhang aus einem ebenholzgerahmten Bild heraus hinter ihm hersah, wie Vendredi auf die wärmedichte Haustür zurannte.

"Nein, nicht so!" durchbrauste Vendredi ein wütender Gedanke, der nicht sein eigener war. Unvermittelt prallte er auf eine Wand aus Licht, die innerhalb eines Lidschlages zu einem ihn umschließenden Ring, ja zu einer Kugelschale aus flirrendem Licht wurde. Dann meinte er, eine pechschwarze Riesenhand würde ihn zerdrücken, wie ein ganz ordinäres Insekt. Doch diese Pein dauerte nur eine winzige Zeit. Als er wieder etwas um sich herum wahrnahm fiel er aus nur zwei seiner Höhen zu Boden.

Das erste, was er wahrnahm, war eine überwältigende Duftwolke, die Macht und Lust, Herrschaft und Willigkeit trug. Er sah die Quelle dieser herrlichen Geruchslawine, seine Herrin und Königin, wie sie gerade über der Legegrube hockte, um weitere Eier dort hineinzupressen. Dann nahm er auch den unangenehmen Geruch von toten Artgenossen wahr. Ein schneller Rundblick zeigte ihm zwei reglos auf dem Boden liegende Artgenossen, die den beglückenden Hochzeitsflug mit der Königin offenbar nicht überlebt hatten.

"Ich schicke dich in diesen Reisekreis, wo ihr diese sehr anerkennenswerten Kugeln aus rotem Licht machen könnt", hörte er die Gedankenstimme seiner Königin. Bevor er darum bitten konnte, doch bei ihr zu bleiben fing ihn erst das flirrende Leuchten und dann die ihn zusammendrückende Riesenhand wieder ein. Er schrie in Gedanken, als sie ihn aus dem Reich der roten Regentin wegriss. Dann fühlte er wieder den freien Fall und nahm feuchtheiße Luft geschwängert mit tropischen Pollen und Sporen, feinstem Sand und Salzwassertropfen wahr. Als er wieder auf seine Beine kam wandte er sich um und suchte die Umgebung ab. Er stand wirklich keine hundert Meter von der Ministeriumsniederlassung und mitten in einem leise vor magischer Kraft brummenden Kreis. "Nimm deine Menschenform an!" befahl die Gedankenstimme seiner Königin. "Wandle dich!" setzte die Stimme nach. Vendredi wehrte sich erst dagegen, wieder ein schwächlicher Menschenmann mit nur vier Gliedmaßen und einer viel zu weichen Haut zu werden. Doch gegen den Befehl der Königin kam er nicht an. Schmerzvoll fühlte er, wie sein Körper sich veränderte. Er meinte, von innen her zerkocht zu werden und wie seine überzähligen Gliedmaßen sich peinigend in Kopf und Rumpf zurückzogen. Dann stand er wieder als Mensch im Reiseumhang da, Arion Vendredi.

"Los, mach den Zauber, der dich nach Paris bringt, bevor ich dich noch einmal zu mir hinziehen muss und dann wegen Versagens töte!" peitschte der Gedankenbefehl seiner Königin durch Vendredis Geist. Diesem Befehl kam Vendredi unverzüglich nach. Keine zehn Sekunden später umfing ihn die sonnenuntergangsrote Lichtkugel, in deren Mittelpunkt er schwerelos dahintrieb, bis die Erdschwerkraft ihn wieder auf den Boden zog. Unterwegs dachte er mit Bangen, wer der andere Mann gewesen war, der ihn unsichtbar beobachtet hatte und sich in der allerletzten Sekunde noch mit einem Portschlüssel vor ihm gerettet hatte. Dieser Mann würde weitergeben, was er gesehen hatte. Vendredi war sich jedoch auch sicher, dass nicht das Ministerium davon erfahren würde. Denn der ihn da beobachtet hatte musste einer derjenigen sein, die ihn einsacken wollten. Da kam nur eine Macht in Frage: Vita Magica. Er hatte also wahrhaftig etwas aufgestöbert, dass mit diesen Fortpflanzungserzwingern zu tun hatte. Wie idiotisch war das, ihn so dermaßen mit der Nase darauf zu stoßen, dass sie die Ministeriumsniederlassungunterwandert hatten? Doch dann fiel ihm ein, dass er nur wegen der vielfachen Körperkraft einer Riesenameise aus dem Fangsack entwischt war und nur wegen seiner besonderen Beschaffenheit nicht mit dem Portschlüssel verschleppt werden konnte. Ohne die Gaben der Königin hätten sie ihn unbemerkt einkassiert und dann -? Er erkannte, wie viel Glück er gehabt hatte, dass die Kraft der roten Regentin ihn beschützte. Doch was sollte er jetzt machen? Mit wildem Getöse zurückkehren und die Niederlassung in ihre Einzelteile zerlegen, bis die Spione und Helfershelfer dieser Bande gefunden waren? Die waren jetzt auf jeden Fall gewarnt und würden ihre Agenten zurückbeordern, wie den, den er fast erwischt hatte. Doch die Räuberei mit den Sternensängereiern würde er jetzt rigoros weiterverfolgen. Morgen würde er ihm unverdächtige Mitarbeiter losschicken, das Reservat zu durchforsten. Wenn er das beweisen konnte, dass die zugesandten Angaben falsch waren, würde er alle nach Paris zum Verhör einbestellen lassen, die irgendwie mit den Sternensängern zu tun hatten. Er musste nur auf der Hut sein, falls ihm auch in Paris Agenten von VM auflauern mochten, die dann wohl nicht daran dachten, ihn zu fangen, sondern gleich umzubringen. Spätestens dann würde aber auch er auffliegen und damit für seine Herrin wertlos. War es dann vielleicht nicht ratsamer, erst einmal in Ruhe zu bedenken, was die richtige Maßnahme war? Zunächst einmal würde er so tun, als sei nichts gravierendes geschehen. Morgen war ein neuer Tag.

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Der hohe Rat des Lebens traf sich noch am frühen Morgen des 23. März Ortszeit zu einer von Mater Vicesima einberufenen Dringlichkeitssitzung in der geheimen Niederlassung auf dem australischen Kontinent. Mater Vicesima, die nun unübersehbar neues Leben trug und daher in drei bis vier Monaten einen neuen Titel erhalten würde, wartete wie alle zusammengetretenen Mitglieder auf die Begrüßung durch den Gastgeber, den australischen Zauberer, der im Rat nur als Pater Decimus Quintus Australianus angesprochen werden durfte. Es handelte sich um einen bereits 110 Jahre alten Zauberer mit silbergrauer Lockenfrisur und gleichartigem Backenbart, der seine dunkelbraunen Augen hinter einer silbergeränderten Brille mit dicken Gläsern barg. Er begrüßte die Hexen und zauberer, die sich durch die Zeugung oder Geburt von mindestens zehn Kindern einen Platz in diesem geheimen Gremium erworben hatten und übergab dann das Wort an Mater Vicesima, die als Prima inter pares, als erste unter Gleichen, eine herausragende Stellung im Rat innehatte.

"Verehrte Mitstreiterinnen und Mitstreiter. Ich habe um diese dringliche Zusammenkunft gebeten, weil meine Landsleute und treuen Späher und Helfer vor Ort eine wortwörtliche Ungeheuerlichkeit aufgedeckt haben", begann die mit zwillingen schwangere Mitstreiterin von Vita Magica. Dann sagte sie: "Der gegenwärtige Leiter der französischen Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe, Arion Vendredi, Sohn des Guillaume und der Melpomene, muss vor nicht langer Zeit mit einem Zauber in Verbindung gekommen sein, der ihn zu einer Art Werwesen gemacht hat. Mein Kundschafter auf Réunion und die von uns dort platzierten bildhaften Beobachter vermeldeten einhellig, dass Arion Vendredi sich beim Versuch, ihn auf Grund übermäßiger Neugier in Verwahrung zu nehmen, in ein menschengroßes, geflügeltes Insekt verwandelte, welches die dem bewährten Bringbeutel eingewebte Schwächungsmagie überwinden und den Bringbeutel zerreißen konnte. Von der Gestalt her sah Vendredi aus wie eine paarungsfähige Drohne der großen roten Waldameisen. Er konnte uns entkommen und ist laut Berichten unserer pariser Agenten wieder an seinen Dienststandort zurückgekehrt. Es steht sehr zu befürchten, dass er nun eine tiefgreifende Überprüfung und womöglich Umbesetzung der Wildreservatsbetreuung von Réunion vornehmen wird. Falls wir seine neue Natur veröffentlichen würden wir unsere vor Ort eingesetzten Helfer und informellen Mitarbeiter der Enthüllung preisgeben. Andererseits dürfen wir, die wir das Wohl magischer Menschen als Hauptziel verfolgen, nicht einfach so tun, als sei Vendredis neue Eigenschaft ein alltägliches Vorkommnis. Weil wir wie erwähnt die Wahl zwischen stillschweigender Hinnahme dieser neuen Lage und offensiver Bekanntmachung unter Gefährdung unserer eigenen geheimen Mitstreiter haben kann und will ich diese Entscheidung nicht alleine treffen. Auch könntet ihr weitere Möglichkeiten kennen, die sich mir bisher nicht erschließen konnten."

"Wir möchten die Beweise sehen, dass Arion Vendredi kein unverdorbener Zauberer mehr ist. Dann brauchen wir jede Menge zusetzlicher Kenntnisse, vor allem, wann, wo und wie er diese Eigenart erhalten hat und somit auch die Frage beantwortet wird, warum er nun so ist und ob es noch mehrere wie ihn gibt", sagte Pater Decimus sixtus Africanus orientalis. Alle Ratsmitglieder nickten zustimmend.

Zumindest konnten Mater Vicesima und ihr aus Saint-Denis herüberbeorderter Enkelsohn Aufzeichnungen vorlegen, dass Vendredi zum einen gegen Portschlüsselversetzungen abgesichert war und wahrhaftig zu einer geflügelten Ameisendrohne geworden war. Die Frage, wann und wo er diese Eigenschaft erhalten hatte konnten sie jedoch nicht beantworten. Sie vermuteten nur, dass es ein ähnlicher Zauber sein musste, den jene Hexe benutzt hatte, die als menschengroße schwarze Spinne herumlaufen konnte. Da es beim hohen Rat des Lebens mittlerweile offenkundig schien, dass jene Hexe sich durch Verschmelzung jener in Australien erstmalig auftauchenden schwarzen Spinne und einer anderen Hexe entwickelt hatte, mochte es sein, dass Vendredi einem ähnlichen Verschmelzungsvorgang unterworfen wurde. Womöglich war er dadurch nicht nur gegen Portschlüsselversetzungen immun und konnte den Muskelschwächungsbann innerhalb eines Bringbeutels überwinden, sondern in der monströsen Tiergestalt auch andere Zauber abwehren, vielleicht auch den tödlichen Fluch. Dass die Hexe, die auch als schwarze Spinne auftreten konnte dies vermochte war seit der Sache mit den Zombies in New Orleans nicht nur dem US-amerikanischen Zaubereiministerium bekannt. Perdy, der äußerlich gerade wie ein zehnjähriger Junge aussehende Weggefährte Mater Vicesimas, streute die Vermutung ein, dass beide Zauber was mit Unlichtkristallen zu tun haben mochten. Gegen die halfen die Lebensäußerungen von unschuldigen Kindern. Es war jedoch die Frage, ob Vendredi wie ein Werwolf, Wertiger oder Schlangenkrieger seine dunkle Beschaffenheit weitergeben konnte oder ein Einzelwesen blieb.

"Vielleicht können wir Vendredi schwächen, wenn wir ihn in eine Incantivacuum-Entladung hineinlocken können", sagte Fontbleu, nachdem er seine Zeugenaussagen beendet hatte. Perdy nickte. Er dachte auch daran, Vendredi und/oder die schwarze Spinne mit einem Geschoss zu treffen, dass nicht in den Körper eindringen musste, sondern nur für ausreichend lange Zeit einen Incantivacuum-Kristall tragen sollte, der vor dem Abfeuern aktiviert wurde und nach dem Treffen seine Magie auslöschende Kraft entfesselte. Eine Hexe aus dem Rat merkte an, dass sowas aber auch den Tod eines Zauberers oder Zauberwesens herbeiführen konnte, und es sei doch sicher wichtig, von Vendredi zu erfahren, wie und wo genau er die Wergestalt einer menschengroßen Ameise erhalten habe. Tot könnte er das sicher keinem erzählen.

"Ja, nur wenn er wahrhaftig diese Unnatur so weitergeben kann wie die Lykanthropie oder das mutagene Gift dieser Schlangenkrieger, dann müssen wir uns womöglich dazu entschließen, ihn lieber zu töten als eine unbekannte Anzahl solcher wie ihn auf der Welt zu haben. Vielleicht können unsere Kontralykanthropie-Flugkörper ihn auch töten, auch wenn sie vordringlich zur Zersetzung mit dem Werwutvirus infizierten Blutes gemacht sind."

"Ich bin kein ordentliches Ratsmitglied", schickte Fontbleu voraus, "Doch ich möchte euch alle darauf hinweisen, dass wir erst das wirklich dringendere und sicher auch lösbare Problem angehen sollten, die drohende Überprüfung der Silberschnatzerbestände und eine mögliche Festnahme und den Austausch unserer treuen Mitstreiter im Wildtierreservat. Wie sollen wir, die wir vor Ort sind, diese Prüfung überstehen? Sollen wir alle, die uns auf die Bude rücken austauschen, wie wir es mit Vendredi vorhatten?"

"Da habe ich schon für gesorgt", sagte Mater Vicesima. "Während wir hier sprechen bringen unsere Mitstreiter in Indien und auf den indonesischen Inseln Nester mit Eiern und erwachsenen Silberschnatzern in das Wildreservat auf Réunion herüber, um die offiziell vermeldete Anzahl an Brutpaaren und Nestern bestätigen zu können. Wer auch immer die tiefergehende Überprüfung vornehmen wird kann keinen Fehlbestand feststellen. Da es auch keine genaue Erbgutkartei über die Sternensänger gibt besteht auch von dieser Seite her keine Gefahr, dass Vendredis Leute eine Abweichung der offiziellen Bestandszahlen feststellen können", sagte Mater Vicesima. Ihr Enkelsohn und Feldeinsatzagent auf Réunion sah seine Großmutter verdutzt an. Er fragte sie, warum sie nicht gleich derartiges gemacht hatten oder warum nicht nur ausschließlich in den Wildbeständen Indiens, Indonesiens und Sumatras nach Silberschnatzereiern gesucht werde. Darauf antwortete Mater Vicesima: "Ein einzelner Wolf kann in einer Nacht zehn Schafe reißen, wenn er in einen Pferch eindringt, aus dem die Beute nicht entkommen kann. In freier Wildbahn braucht es aber ein Rudel von mindestens vier Wölfen, um ein Beutetier zu erlegen. Das Wildtierreservat ist der Pferch, in dem auf derselben Fläche mehr Silberschnatzerbrutpaare anzutreffen sind als im indischen urwald. sicher könnten wir weiterhin für unsere Empfängnisauslösenden Tränke ausschließlich unüberwachte Wildbestände bejagen. Doch solange wir die Möglichkeit haben, wesentlich mehr Eier zu ernten, weil die entsprechenden Tiere auf engem Raum zusammenleben mussten wir nicht allein im Urwald suchen."

"Dann schlage ich jetzt ganz offiziell vor, dass wir eigene Zuchtgebiete gründen, wo wir aus Wildbeständen zusammengefangene Silberschnatzer so ansiedeln, dass sie nicht aus dem Gebiet entwischen können. Dann verflüchtigt sich die über uns allen schwebende Gewitterwolke wieder", wandte Pater Decimus Sixtus Africanus ein.

"Hätten wir schon längst, wenn diese Vögel nicht die dumme Eigenschaft hätten, bei einer Dichte über zwanzig auf vier Morgen Fläche ihre Legerate auf ein Viertel des üblichen zu beschränken", warf Perdy ein. "So brauchen wir bereits anerkannnte Siedlungsgebiete mit genügend freier Fläche, um die maximale Eierzahl pro Gelege erhoffen zu dürfen."

"Danke, dass ich und damit wir alle das endlich mal erfahren, dass die für unseren Empfängnisfördernden Trank so wichtigen Tiere nur unter bestimmten Bedingungen den von uns gebrauchten Rohstoff liefern können", grummelte Pater Decimus Sixtus Africanus. Zumindest aber fand die Entscheidung, bis auf weiteres Fremdbestände für die Aufrechterhaltung von offiziellen Zahlen zu nutzen die volle Zustimmung des Rates. Perdy fragte noch, ob zu erwarten sei, dass Vendredi von sich aus verraten würde, dass jemand ihn wortwörtlich einsacken wollte. Darauf erwiderte Mater Duodecima Canadensis: "Wenn er seine neue Natur nicht vor anderen geheimhalten muss hat er das sicher gleich nach seiner Rückkehr getan." Mater Vicesima bat ums Wort und erwähnte, dass ihre Pariser Agenten und Bildhaften Beobachter keine derartige Meldung mitbekommen hatten. Denn dann wären sicher schon Einsatztruppen ausgerückt, die nach den ihrer Meinung nach kriminellen Elementen suchen würden.

"Mit anderen Worten, wir haben ein Informationspatt", sagte Perdy. "Er darf nicht erzählen, dass er fast unser Gast geworden wäre, weil er dann ja erklären müsste, warum er es eben nicht wurde. Genausowenig dürfen wir einen klaren Hinweis darauf geben, was mit ihm passiert ist, weil wir ja dann unsere Feldeinsatzagenten in Gefahr bringen. Tolle Sache das."

"Das würde ja dafür sprechen, dass Arion Vendredi gegen seinen Willen und ohne Genehmigung seiner Dienststelle die Natur eines Ameisenmenschen angenommen hat", vermutete Pater Decimus Quintus Australianus und erhielt ein zustimmendes Nicken seines um ein offizielles Kind vorauseilenden Landsmannes. Mater Vicesima sah alle an und sagte:

"Wenn das stimmt, dass Vendredi unfreiwillig zu diesem Myrmekanthropen geworden ist, dann besteht zum einen die Gefahr, dass auch andere Zauberer und Hexen diesem Prozess unterworfen wurden, womöglich auch die Gefahr, dass Muggel dieser Verwandlung unterzogen wurden und zum anderen auch die Gefahr, dass jene Macht, welche diese Umwandlung bewirkt hat uns missfallende Ziele verfolgt, beispielsweise die Übernahme der Vorherrschaft in der Magischen Welt. Wir haben nicht diese Schlangenmenschenseuche überstanden und wirksame Mittel gegen diese mit Dunkelkristallen angereicherten Blutsauger getroffen, um von halben Rotameisen überrannt zu werden, die sich für die einzig wahre Herrenrasse halten. Wir müssen also herausbekommen, was Vendredi widerfahren ist und ob er der einzige ist, dem es widerfahren ist und wer dahintersteckt und so weiter. Dazu müssen wir ihn in unsere Hand bekommen und körperlich und geistig erforschen. Am Ende kann so ein Ameisenmensch mit einem gleichartigen Zeugungspartner tausende von Artgenossen in die Welt setzen. Ameisen verhalten sich in manchen Punkten wie in den Körper einer Frau entlassene Samenzellen. Wenn eine das Ziel erreicht und in das fruchtbare Ei eindringt war die Mission erfolgreich, auch wenn hunderte von Millionen andere dabei sterben. Wir müssen also herausfinden, was mit Vendredi passiert ist, weil er der einzige ist, von dem wir sicher wissen, dass diese Veränderung an einem Menschen geschehen ist."

"Es sei denn, wir finden noch andere wie ihn", sagte Perdy und fügte noch hinzu: "Ja, und es könnte auch sein, dass es nicht mehrere fruchtbare Weibchen gibt, sondern wie in der Natur auch eine einzige Königin, die von hunderten von Männchen begattet wird und ihre Brut an einem geheimen Ort heranzieht, um sie irgendwann als große Welle auf uns alle loszulassen. Zumindest hoffe ich das." Dieser Schlusssatz ließ die Ratsmitglieder spürbar aufhorchen. Einer der Zauberer fragte Perdy, warum er genau das hoffe, wo das ein an und für sich grauenhaftes Katastrophenszenario sei. "Weil die Alternative ist, dass es hunderte von fruchtbaren Weibchen, alles kleine Königinnen gibt, die ihre eigenen Nester bauen und die Welt so an hundert verschiedenen Stellen mit ihrer Brut überschwemmen können", sagte Perdy. "Wenn sowas passiert sind wir reinrassigen Menschen Geschichte. Deshalb hoffe ich auf eine einzige Königin, die irgendwo auf der Welt andauernd Eier legen muss und deshalb nicht von ihrem Standort weg kann. Ihr erinnert euch doch sicher auch an die Entomanthropen Sardonias, die von dieser angeblichen oder wahrhaftigen Wiederkehrerin nachgezüchtet wurden. Die hat sicher mehrere Brutköniginnen gezüchtet, um möglichst schnell möglichst viele Kampfinsekten zu haben."

"Moment, dann könnte diese Spinnenhexe Sardonias Versuche nachmachen und statt mit Bienen mit Ameisen experimentieren?" fragte Mater Duodecima Canadensis. Perdy nickte halbherzig. Dann sagte er: "Es ist auf jeden Fall klar, dass wir trotz des Misserfolges eigentlich von Glück reden dürfen, dass wir jetzt wissen, dass es diese verhunzten Menschen gibt. Stellt euch bitte vor, dass die Verwandelten in menschlicher Form genauso unverdächtig in der magischen Welt handeln und auskundschaften können wie unsere Leute. Nur weil wir Vendredi festnehmen wollten hat er sich überhaupt als diese Art von Ameisenmensch enthüllt. Ansonsten wäre der ganz ruhig wieder in seine Heimat gereist, ohne dass wir oder andere das von ihm mitbekommen hätten." Dem konnten die anderen nicht widersprechen.

Am Ende einigte sich der hohe Rat des Lebens darauf, die Silberschnatzerbestände künstlich auf den offiziellen Stand zu bringen und eine Möglichkeit abzuwarten, Vendredi oder gleichartig veränderte Menschen sicherstellen zu können. Da verstofflichte sich aus einer grünen Lichtspirale heraus ein Stück Pergament in einem silbernen Ring. Pater Decimus Quintus Australianus zog den Ring ab und entrollte das Pergament. "Unsere deutschen Mitstreiter warnen uns vor Menschen ohne Schatten. Das dortige Zaubereiministerium hat unter Vertraulichkeitsstufe C5 Unterlagen über eine Frau aus Hamburg ohne eigenen Schattenwurf abgelegt und forscht nach Ursache und weiteren Betroffenen. Sie gehen davon aus, dass diese Nachtschattenriesin dahintersteckt", verkündete er. Da der hohe Rat des Lebens gerade vollzählig anwesend war konnten sie diese neue Entwicklung ebenfalls gleich diskutieren. Weil im Rat viele Experten für dunkle Magie anwesend waren und die Erscheinung eines übergroßen Nachtschattens bei der Ergreifung Wallenkrons dokumentiert worden war vermuteten sie, dass diese Schattenriesin eine Form des verwerflichen Schattenraubzaubers nutzte, um die davon betroffenen zu ihren Marionetten zu machen, die anders als vollständige Nachtschatten auch bei Tageslicht handeln konnten. "Als wenn wir nicht schon genug Ärger mit diesen Blutsaugern, diesen werwütigen Mondanheulern und den uns offen oder heimlich bekämpfenden Hexen- und Zaubererorganisationen hätten", grummelte Pater Decimus Quintus Australianus. Dem widersprach keiner.

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Es war noch sehr früh am Morgen, als Arion Vendredi in das Büro von Barbara Latierre ging, um diese offiziell damit zu beauftragen, die Zählung der Silberschnatzer auf Réunion zu überprüfen und gegebenenfalls die Wildhüter zu verhören. Die Leiterin des Tierwesenbüros hatte bereits mit einer derartigen Dienstanweisung gerechnet. Denn sie präsentierte ihrem direkten Vorgesetzten eine Aufstellung von gerade verfügbaren Außendienstmitarbeitern und den neuesten Zahlen von Brutpaaren und erwähnten Jungtieren. Vendredi lobte diese gute Vorbereitung. Dann sagte er:

"Madame Latierre, da wir nach der Angelegenheit mit Gérard Dumas geborener Laplace davon ausgehen müssen, dass die sich Vita Magica nennende Gruppierung an Eiern oder Jungtieren der Species Sidericantor argyropteros interessiert ist könnte es sein, dass unter den Wildreservatsmitarbeitern Agenten oder Helfershelfer dieser Verbrecherorganisation sind. Gemäß der dokumentierten Beobachtungen Ihres Schwiegerneffen Julius Latierre verfügen die Mitglieder dieser kriminellen Vereinigung über Vorrichtungen, um Menschen direkt und ohne Ausruf der nötigen Zauberformel dem Infanticorpore-Fluch zu unterwerfen. Ich erteile Ihnen hiermit die Erlaubnis, bei einer möglichen Gegenwehr mit Ihnen unbekannten Vorrichtungen Angriffszauber mit materiellen Komponenten zu verwenden, da reine Lähm- und Betäubungszauber offenbar nicht wirken. Sollte auch nur einer Ihrer Mitarbeiter bei diesem Einsatz unter den Infanticorpore-Fluch geraten, so gilt die Berechtigung zum Einsatz größtmöglicher Zauberwirkung zur Herstellung dauerhafter Handlungs- und Kampfunfähigkeit bei allen erkannten Gegnern. Hier ist die von mir diesbezüglich verfasste Genehmigung, die Sie jedem von Ihnen ausgewählten Mitglied Ihrer Einsatztruppe aushändigen möchten."

"Moment, die Anwendung maximaler Zauberwirkung zur Herstellung dauerhafter Kampfunfähigkeit heißt, dass wir den Todesfluch einsetzen sollen", sagte Barbara Latierre. "Eine derartige Anweisung und Vollmacht muss von der Zaubereiministerin selbst bestätigt werden, bevor wir in den Einsatz gehen."

"Dies ist mir bewusst. Wenn sie das entsprechende Dokument lesen werden Sie die nötige Bestätigung finden. Ich weise Sie an, die schriftliche Anweisung mittels Multiplicus-zauber zu vervielfältigen, damit jeder von Ihnen eingeteilte Außendienstmitarbeiter die schriftliche Bestätigung erhält und sich daran hält. Öhm, Sie selbst müssen nicht in diesen Einsatz, falls Sie es nicht von sich aus wünschen. Soweit ich erfuhr haben Sie ja genug mit der Nogschwanzplage in Massentierhaltungsbetrieben in der Normandie zu tun. Außerdem hat mir Monsieur Beaubois mitgeteilt, dass der oberste Hüter des Drachenreservates wegen einer Beschränkung der Gelege bei den bretonischen Blauen mit Ihnen unterhandelt, ob die seiner Meinung nach überzähligen Eier in das rumänische Drachenreservat oder in den Garten der Erhabenheit nach China ausgeführt werden sollen, um die darin heranwachsenden Jungtiere an einem anderen Ort schlüpfen und aufwachsen zu lassen."

"Das ist alles schon im Bearbeitungsvorgang, Monsieur Vendredi. Meine Mitarbeiterin Cassandre Pommerouge erwartet übermorgen einen Abgesandten des chinesischen Zauberrates, um mit ihm dieses Thema zu erörtern. Da sie die einzige von meinen Leuten ist, die Mandarin sprechen, lesen und schreiben kann hat sie meine Generalvollmacht, diese Angelegenheit zu einem für uns alle gewünschten Abschluss zu bringen. Wenn wirklich Vita Magica weiter mit den Sternensängereiern herumwerkelt und vielleicht Helfer oder Helfershelfer unter den Wildhütern von Réunion hat, dann möchte ich das selbst herausfinden. Aber danke für die Erlaubnis, mir meine Einsatzgruppe selbst zusammenstellen zu dürfen! Ich möchte nämlich in diesem Falle nur Hexen in diesen Einsatz nehmen.""

"Wieso nur Hexen?" wollte Vendredi wissen. "Weil nach den bisherigen Erfahrungen mit diesen Leuten gewisse Vorkehrungen gegen ungewollte Wiederverjüngung getroffen werden müssen und ich da eine Möglichkeit erkundet habe, die uns vor dieser Art von Feindseligkeit besser absichert. Allerdings kann diese Möglichkeit nur von Hexen genutzt werden, da sie wegen der Kraft der vorzunehmenden Bezauberungen nicht gegen unerwünschte Fernbewegungen abgesichert werden kann und somit nur die Möglichkeit verbleibt, einen lebenden, magie erfüllten Körper als Absicherung gegen Handlungen wie den Aufrufezauber zu verwenden. Ich hoffe, ich muss keine weiteren Einzelheiten erwähnen." Vendredi verzog das Gesicht und nickte dann. Er wolte dann aber wissen, wie genau die Vorrichtung bezaubert werden musste, um den erwähnten Schutz gegen jene Mittel von Vita Magica zu gewährleisten, falls das überhaupt ging. Als er erfuhr, dass hierbei Gold im Wert von zwei Galleonen pro auszustattender Person benötigt wurde musste er jedoch grinsen und meinte, dass Monsieur Colbert das sicher nicht genehmigen würde, wenn mehr als fünf Einsatztruppler damit ausgestattet werden sollten.

"Das habe ich schon vor vier Tagen mit erwähntem Kollegen besprochen und ihm glaubhaft versichert, dass der Verlust von Einsatztruppenmitgliedern wesentlich kostspieliger als die zwei Galleonen Gold sind. Das hat er verstanden und mir für bis zu zwanzig Außendienstmitarbeiterinnen die Ausstattungsvollmacht gewährt. Die Vorkehrungen sind für diese Anzahl bereit und können jederzeit eingesetzt werden." Vendredi nickte verhalten. So ganz gefiel es ihm nicht, dass Barbara Latierre derartig vorauseilend und eigenständig handelte. Andererseits hatte er sie genau deshalb bisher immer als gute Mitarbeiterin gesehen, weil sie dann, wenn es wichtig war, nicht lange um Erlaubnis fragen musste, etwas vorzubereiten. Nur die Sache mit der grünen Gurga störte ihn immer noch, vor allem, weil sie sich bei der Befragung der überlebenden Zeugen zu sehr auf die Seite ihres Schwiegerneffens gestellt hatte. Der Gedanke an Julius Latierre brachte Vendredi darauf, beruhigt zu sein, dass Barbara Latierre nur Hexen in den Einsatz mitnehmen wollte. Denn seine neue Herrin hatte ihm vor dem Abschied klargemacht, dass er nicht von sich aus etwas gegen Julius Latierre unternehmen oder in Auftrag geben durfte, da sie, seine Königin, ihm indirekt ihr freies Leben und ihre wiedergewonnene Macht verdanke.

"Ich erteile Ihnen die Erlaubnis, die von Ihnen erwähnte Vorkehrung auf eine Einsatzgruppe von bis zu zwanzig Mitarbeiterinnen anzuwenden. Ich halte jedoch meine Anweisung zur größtmöglichen Abwehr gegen mögliche Angriffe seitens Vita Magica aufrecht", sagte Vendredi. Er wollte sich nicht anmerken lassen, dass er eigentlich jedes erkannte VM-Mitglied am liebsten gleich und ohne Vorwarnung mit dem Todesfluch unschädlich machen wollte. Denn jeder von denen mochte wissen, was mit ihm los war und es verraten, wenn die Notwendigkeit dazu bestand. Jemanden lange reden zu lassen wäre für ihn zu riskant. Doch laut sagen oder es gar aktenkundig niederschreiben durfte er es auch nicht. Er hoffte nur, dass Barbara Latierre die Bestätigung zum Einsatz größtmöglicher zaubermittel bei gezielten Angriffen nicht überprüfte und die Ministerin fragte, wann sie diese Genehmigung erteilt habe. Julius Latierre würde das wohl tun, weil er ja angeblich einen Pakt mit diesen Ashtariakindern hatte, die es wahrhaftig gab. Denen nach durfte er kein denkfähiges Wesen töten oder durch sein Handeln ermöglichen, dass es getötet wurde. Aber wenn Barbara Latierre nur Hexen in den Einsatz mitnehmen wollte und Julius sowieso ganz andere Zuständigkeiten hatte bestand für Vendredi in dieser Hinsicht keine Gefahr.

Eine halbe Stunde später erhielt er ein Memo, dass Barbara Latierre als Anführerin einer Einsatzgruppe aus sechzehn Hexen aus der Tierwesenabteilung, den Desumbrateuren und der Gruppe zur Behebung magischer Unglücke aufbrach, um die von Vendredi veranlasste Prüfung durchzuführen.

Vendredi ging davon aus, dass er nun genug Ruhe und Zeit hatte, sich auf sein Anti-Veela-Gesetz zu konzentrieren. Das Verhandlungsergebnis vom Vortag wollte er als Rechtfertigung dafür nutzen, die Veelas und ihre mit Menschen gezeugten Nachkommen als potentiell illoyal hinzustellen und jedem, der oder die nicht auf einen Eidesstein schwor, nur noch den Zaubereigesetzen zu folgen, die Ausbürgerung in Aussicht zu stellen, zusammen mit allen Blutsverwandten. Falls ihm das gelang, die Veelas aus Frankreich zu verbannen konnte er auch darauf hinarbeiten, dass sie aus anderen europäischen Ländern verschwinden mussten. Er wusste zu gut, dass allein die Nähe einer reinrassigen Veela seiner neuen Natur zusetzte.

Es war elf Uhr vormittags, als Vendredi die Annäherung einer abgeschwächten Veelakraft fühlte. Er wusste, dass es die Zaubereiministerin sein musste. Da klopfte es auch schon an seiner Tür. Er atmete tief durch und überlegte dabei, was die Ministerin bei ihm wollte. Hatte Barbara Latierre doch hinterfragt, ob die Ministerin die Anweisung zum Einsatz tödlicher Zauber genehmigt hatte? Er hoffte es nicht. Sonst war er so gut wie erledigt, dachte Vendredi.

"Herein!" rief er. Die Zaubereiministerin trat ein. Sie war aber nicht alleine. In ihrer Begleitung war der oberste Leiter der inneren Sicherheitstruppen, Monsieur Pierre Duchamp und der Menschen-Veela-Beauftragte Julius Latierre. Einen winzigen Moment lang verzog er sein Gesicht, weil er daran dachte, dass Julius Latierre wohl was gegen ihn vorgebracht hatte, weil er das mit den möglichen Gerüchten über ihn in Umlauf gesetzt hatte. Dann sah er die entschlossen dreinschauende Mademoiselle Ventvit an, die gezielt auf ihn zukam und sich direkt vor ihn hinstellte, als müsse sie ihn genauestens überprüfen. Sie begrüßte Vendredi mit der für eine hohe Beamtin üblichen Sachlichkeit. Duchamp schloss derweilen die Tür und stellte sich so, dass niemand den Raum verlassen konnte, ohne an ihm vorbei zu müssen. Was sollte das denn jetzt werden?

"Ich erfuhr, dass Sie gestern abend erst nach Sonnenuntergang nach Paris zurückkehrten", sagte die Zaubereiministerin. "Hatten Sie auf Ihrer Dienstreise Erfolg?" fragte sie noch. Vendredi fragte sich erst, was diese Frage sollte. Doch dann erkannte er, dass die Zaubereiministerin wahrhaftig noch nicht wusste, was ihm widerfahren war und dass er deshalb eine Außeneinsatzgruppe losgeschickt hatte. So erwiderte er: "Ich hoffte, dass mein Verdacht unbegründet sei, Mademoiselle Ventvit. Doch wie meine in eigener Person vorgenommene Inspektion ergab besteht eine dringend zu überprüfende Unregelmäßigkeit bei den offiziell vermeldeten Beständen von Sidericantor argyropteros und der wahrhaftigen Anzahl dieser Zaubertierart. Ich muss befürchten, dass betrügerische Elemente das Zaubertierreservat von Réunion unterwandert haben. Ich habe Madame Barbara Latierre in dieser Angelegenheit beauftragt, eine möglichst tiefgehende Überprüfung durchzuführen."

"Oh, dann ist das Memo mit der Meldung über diesen Auftrag offenbar noch nicht bis zu mir gelangt", sagte die Ministerin. "Schließlich gehe ich davon aus, dass Sie wie alle anderen Abteilungsleiter Aufträge unter Beteiligung von mehr als drei Personen meinem Sekretär mitteilen, damit er mich gegebenenfalls über Entwicklungen in der Zaubererwelt unterrichten kann." Vendredi erkannte, dass er da ein wenig nachlässig gehandelt hatte, aber auch nur deshalb, weil er keinen schlafenden Drachen kitzeln wollte. So sagte er schnell: "Ich habe diesen Einsatz nach Rücksprache mit Madame Latierre angeordnet. Wegen der Ergebnisse der Gerichtsverhandlung gestern und der Angelegenheit mit den überzähligen Dracheneiern in unserem Reservat wollte ich Ihnen einen vollständigen Bericht zukommen lassen, wenn der Einsatz beendet ist und ich dem Bericht selbst auch die Einsatzprotokolle von Madame Latierre beifügen kann. Von diesem Werden Sie natürlich eine vollständige Kopie erhalten."

"Gut, das nehme ich zur Kenntnis", sagte Mademoiselle Ventvit ruhig. Dann deutete sie auf Vendredi und dann an die Decke und danach auf Monsieur Duschamp, der den Leiter der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe erst fragend ansah, dann jedoch entschlossen unter seinen Umhang griff und eine kleine, silbrig glänzende Vorrichtung von seinem Drachenhautgürtel löste. Vendredi argwöhnte einen drohenden Angriff und fragte, was Duchamp vorhatte. Dieser sah die Ministerin an, die ihm zunickte, dass er antworten sollte. "Die Ministerin hat mich gebeten, sowohl als Prüfer wie als Zeuge anwesend zu sein. Seitdem Sie aus Ihrem Urlaub zurückgekehrt sind können die internen Personenüberwachungszauber Sie nicht mehr an einem Ort erfassen, obwohl es genug Zeugen gibt, die sie zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort gesehen haben. Eben vor Ihrer Tür habe ich mit dem Homenum-Revelio-Zauber ausgelotet, ob Sie in Ihrem Büro sind oder nicht. Der Zauber hat niemanden in diesem Büro erfasst."

"Homenum-Revelius? Den hätte ich doch spüren müssen", erwiderte Vendredi. Dann sagte er schnell: "Und welche Aufgabe haben Sie Monsieur Latierre zugewiesen, ohne Rücksprache mit mir zu nehmen, Ministerin Ventvit?"

"Monsieur Latierre ist in seiner Eigenschaft als Menschen-Veela-Beauftragter mitgekommen, da ich auf Grund von gewissen Wahrnehmungen, die ich hier und jetzt erneut verspüre, davon ausgehen muss, dass der mir von Euphrosyne nun wieder Blériot auferlegte Alterungsverzögerungszauber mit irgendwas an oder in Ihrem Körper wechselwirkt. Dies würde auch erklären, weshalb Sie offenbar weder von der internen Personenüberwachung erfasst noch von Monsieur Duchamp mit einem einfachen Menschenerfassungszauber aufgefunden werden können", erwiderte die Zaubereiministerin kurz und direkt.

"O das", erwiderte Vendredi, der schnell erkannte, was die Ministerin umtrieb. Seine neue Lebensaura, ja seine ganze neue Beschaffenheit verhüllte ihn natürlich vor Ortungszaubern, also wohl auch dem Homenum-Revelius. "Ich wusste nicht, dass der mit meiner ausdrücklichen Genehmigung auf meinen Körper und Geist gelegte Zauber die Eigenschaft hat, mich unortbar zu machen. Es hieß nur, dass er mich für Feinde unauffindbar macht. Na ja, in gewisser Weise stimmt dies ja dann auch. Öhm, ich sah es nach den Übergriffen von Euphrosyne und der eigenmächtigen Vergeltungsaktion ihrer Tanten als notwendig an, meine Person gegen Zugriffe durch Veelas und Veelastämmige zu sichern. Seitdem umgibt mich eine aus meiner eigenen Zauberkraft aufrechterhaltene Aura, die auf Veelazauber abweisend wirkt. Woher ich diesen zauber habe und wie genau er gewirkt wird ist ein Geheimnis, das zu wahren ich jener Person versprechen musste, die den Zauber an mir ausführte. Diese Person möchte nichts mit dem Zaubereiministerium zu schaffen haben, ja misstraut ihm wegen der Ereignisse der letzten zehn Jahre. Dass ich als Ministeriumsbeamter in hoher Rangstellung diesen Zauber erhalten durfte liegt an Gefälligkeiten, die ich der besagten Person erwiesen habe. Allerdings darf ich wie erwähnt nicht verraten, wer mich derartig ausgestattet hat, dasss eine Veela oder Veelastämmige nicht meinen Verstand vernebeln kann."

"Moment, Sie haben sich einem Zauber unterzogen, der ihre Lebensaura verändert hat? Wann und wo war das bitte?" fragte die Zaubereiministerin.

"Die Antworten auf diese Fragen gehören zu den Geheimnissen, die zu hüten ich geschworen habe. Da Monsieur Latierre bei Ihnen ist und dieser die Quellen uns unbekannter Zauberkenntnisse mit derselben Begründung geheimhält erwarte ich als ranghöherer Beamter die gleiche Anerkenntnis, dass ich nicht die Quellen eines für mich wichtigen und für Sie alle unschädlichen Zaubers preisgebe, auch nicht auf Ihre persönliche Nachfrage, Mademoiselle Ventvit. Denn genauso wie Monsieur Latierre erwartet mich eine unerwünschte Vergeltung im Falle eines von mir begangenen Wortbruchs."

"ich bin durchaus bereit, diese Äußerung als ausreichend zu akzeptieren, Monsieur Vendredi, allerdings nur unter der Bedingung, dass Sie mir verraten, warum sie sich derartig bedroht fühlen, eine derartige Vorkehrung treffen zu müssen."

"Ich erwähnte es schon, dass mir die von Madame Lundi oder jetzt wieder Mademoiselle Blériot verübten Taten verdeutlicht haben, dass ich als Leiter der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe besonders gefährdet bin, falls diese Person Nachahmerinnen findet, die meinen, einen möglichst großen Einfluss auf unsere Arbeit gewinnen zu können. Allein schon, dass Sie, Ministerin Ventvit, vom leiblichen und geistigen Wohl dieser Person abhängig gemacht wurden und Monsieur Latierre durch die nur unter großem Bauchgrimmen erlaubte Verbindung mit Madame Léto ebenso nicht völlig frei von einer möglichen Einflussnahme ist, dergleichen die Damen Grandchapeau, sah und sehe ich es als mehr als ausreichenden Grund, mich selbst gegen eine derartige Beeinflussbarkeit abzusichern. Da mir selbst kein Zauber bekannt war, mit dem ich dieses Vorhaben verwirklichen konnte, suchte ich außerhalb des Ministeriums Hilfe und fand sie bei der von mir nicht mit Namen, Geschlecht oder gar Wohnort zu erwähnenden Person. Dieser magische Mensch hatte mir schon vor mehreren Jahren angeboten, meine eigene körperlich-geistige Unversehrtheit durch einen besonderen Schutzzauber zu erhalten. Allerdings erwähnte die Quelle meiner Absicherung, dass die Bezauberung nicht ohne körperliche Auswirkungen ausgeführt werden könne und ich mindestens vier Tage Bettruhe halten und keinerlei von mir ausgehende Zauberei ausführen dürfe, damit die Behandlung ungestört und erfolgreich verlaufen könne. Da ich ungerne mehr Zeit als nötig mit Untätigkeit verstreichen lassen wollte entschied ich mich erst kurz vor Urlaubsantritt dafür, den angedeuteten Zauber an mir ausführen zu lassen, weil ich zum einen an einem nur mir bekannten Ort verweilen und zum anderen die nötige Zeit ausruhen konnte."

"Und die Person, welche diesen dem Ministerium offenbar nicht bekannten Zauber an Ihnen ausführte, hat sie dafür eine Gegenleistung erwartet?" fragte Ministerin Ventvit, während Duchamp mit dem silbernen Etwas in seinen Händen hantierte.

"Ja, zweihundert Galleonen aus meinem Privatvermögen, sowie die durch unbrechbaren Eid garantierte Geheimhaltung Ihres Namens und Wohnortes."

"Oh, will sagen, wenn Sie den Namen doch in einer Form preisgeben sollten sterben sie?" fragte Ministerin Ventvit. Vendredi nickte und bemühte sich, nicht triumphierend zu grinsen. Er sagte: "Ich falle nicht einfach tot um, sondern werde wohl einen sehr qualvollen Tod erleiden, wenn ich den Wortlaut des Eides richtig interpretiere. Genau deshalb erbitte ich von Ihnen, Ministerin Ventvit, dass Sie das Geheimnis der mir auferlegten und nur für Veelas und Veelastämmige spürbaren Bezauberung respektieren. Es sei denn, Sie wünschen mir einen schmerzvollen Tod, Ministerin Ventvit." Die Ministerin schüttelte energisch den Kopf. So legte Vendredi nach: "Das beruhigt mich sehr, zumal ich nun auch zuversichtlich bin, dass Sie einem von mir erwogenen Vorhaben zustimmen werden, um künftig Angriffe seitens mächtiger Zauberwesen vorzubeugen. Insofern trifft es sich sehr gut, dass Monsieur Latierre Sie zu mir begleitet hat." Vendredi wollte noch was sagen, als sein Körper leicht zu vibrieren begann und er schnell aufeinanderfolgende Hitzeschauer im Körper fühlte. "Bitte Unterlassen Sie das, mit Ihrem Gerät meinen Körper zu durchdringen, Monsieur Duchamp. Sie werden den mich umhüllenden und aus meiner eigenen Kraft gespeisten Zauber nicht auf diese Weise entschlüsseln können, da er dem Ministerium unbekannt und somit nicht von thaumaturgischen Hilfsmitteln erkannt werden kann. Nehmen Sie bitte dieses Ding fort! Danke!"

"O, Sie verspüren also eine Wirkung", sagte Duchamp und nahm das silberne Gerät, das in seiner Hand surrte und klickte herunter. "Ja, dann möchte ich Sie jedoch fragen, ob Sie mir und meinen Leuten gestatten, Sie für unser Personalerfassungsgefüge auffindbar zu machen, indem ich die Natur der Ihnen aufgeprägten Bezauberung ergründe und entsprechend einfüge."

"Das hieße, dass Sie die mir aufgeprägte Bezauberung grundlegend ermitteln und nachvollziehen. Dies darf ich jedoch nicht erlauben, hat die Quelle gefordert, welche mich gegen Veelaeinflüsse abgesichert hat", sagte Vendredi, dem es nun doch ein wenig unheimlich war, dass Duchamps Gerät eine spürbare Wirkung auf ihn hatte.

"Will sagen, wenn Sie ihn weiter mit Ihrem Gerät erforschen könnte er das als unfreiwillige Preisgabe des ihm auferlegten Geheimnisses auslegen und die ihm angekündigte Auswirkung erleiden", sagte Mademoiselle Ventvit. Duchamp nickte und nahm das leise surrende Gerät aus Vendredis Sichtbereich. Sofort hörten die Vibration in seinem Körper und die schnell aufeinanderfolgenden Hitzeschauer auf. Vendredi atmete auf. Das lief ja besser als er befürchtet hatte. Ventvit hatte ihm den Schnatz zugetrieben, mit dem er das Spiel entscheiden würde. So sagte er:

"Spüre ich, dass jemand mich auf eine Art ausforschen will, die ich nicht erlauben darf kann es mir passieren, dass mich der Tod ereilt, von dem ich nicht weiß, in welcher Form genau dies stattfindet. Wenn Sie, Monsieur Duchamp, nicht als mein Mörder vor Gericht gestellt werden wollen, unterlassen Sie von nun an jede Handlung, die mich zur unfreiwilligen Preisgabe der auf mich geprägten Bezauberung veranlasst! Danke!"

"Zur Kenntnis genommen", sagte Duchamp vergrätzt. Ministerin Ventvit nickte ihrem Mitarbeiter aus der Sicherheitsüberwachung zu. Dann deutete sie auf Julius und wieder auf Vendredi: "Sie erwähnten, es sei sehr günstig, dass Monsieur Latierre mich begleitet hat. Was möchten Sie von ihm?"

"Die Übergriffe von Euphrosyne Lundi und die Rückendeckung, die sie von ihrer Familie erfuhr und gegen die Monsieur Latierre offenbar nichts im Rahmen der ihm gebotenen Mittel unternehmen konnte lassen nur den Schluss zu, dass wir, wollen wir nicht als hilflose oder gar unterwürfige Erfüllungsgehilfen dieser Zauberwesenart die Herrschaft über unser eigenes Gebiet verlieren, Veelas, Veelastämmigen, Waldfrauen und Kobolden den unbrechbaren Eid abnehmen müssen, keinerlei Bezauberungen gegen einen Ministerialbeamten auszuführen, oder, wenn sie diesen Eid verweigern, unverzüglich alle Bürgerrechte verlieren. Den genauen Wortlaut dieses Erlasses oder, falls Sie mir darin zustimmen möchten, dieses Ergänzungsgesetzes zur Führung und Aufsicht magischer Wesen, erarbeite ich gerade und werde diesen zu Ihren Händen schicken, wenn ich ihn auf seine rechtlichen Auswirkungen geprüft habe."

"Moment mal, den unbrechbaren Eid?" fragte Julius. "Wie Sie gerade erwähnten heißt das, sie mit dem eigenen Tod zu bedrohen, wenn sie nicht tun, was sie unter diesem Eid zu tun schwören müssen. Öhm, ich fürchte, das könnte alle Veelas und Veelastämmigen als Angriff auf ihre körperliche Unversehrtheit und ihre Ehre vorkommen. Das soll ich dann den Veelas und Veelastämmigen Frankreichs begreiflich machen?"

"Ich denke mal, das ist Ihr Job, wie es in Ihrem Geburtsland heißt, Monsieur Latierre. Sie sind zum Vermittler zwischen Menschen und Veelaabkömmlingen berufen worden und verdienen seit Januar etliche Galleonen mehr, weil sie den Rang eines Behördenleiters errungen haben. Da werden Sie diese Aufgabe sicher lösen können. Ansonsten müssten wir unsererseits diese Berufung als Irrtum erkennen und zu unser aller Bedauern widerrufen", sagte Vendredi, der innerlich lauthals frohlockte, gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe zu schlagen.

"Wenn ich den genauen Wortlaut habe kann und werde ich natürlich mit Madame Léto und ihren in Frankreich lebenden Verwandten darüber sprechen, was damit gemeint ist und Ihnen die Auswahlmöglichkeiten darstellen. Allerdings habe ich diesen Wortlaut noch nicht, und nur wenn die Ministerin dieser sehr drastischen Neuregelung zustimmt werde ich mit Madame Léto und ihren Verwandten erörtern, ob sie lieber den unbrechbaren Eid schwören, keinerlei Zauber mehr auf Ministeriumsbeamte auszuüben oder lieber auf die Rechte und Pflichten von französischen Zaubererweltbürgern zu verzichten, sofern Abkömmlinge von Menschen und Veelas."

"Ach ja, zu den unerwünschten Bezauberungen gehört natürlich auch, dass diese Wesen ihre überragende Ausstrahlung auf andere Menschen unterdrücken, weil allein diese bereits als Beeinflussung zählt, besonders im Bezug zwischen weiblichen Veelas und männlichen Menschen", legte Vendredi nach und genoss es, dass Julius ihn mit versteinerter Miene ansah. "Ach ja, und weil Euphrosynes Tat ja dazu beitrug, dass Madame Nathalie Grandchapeau das von ihrem Mann verdiente Gehalt nicht mehr mitnutzen kann, ja vielmehr wegen der ihr auf Jahrzehnte aufgezwungenen Schwangerschaft zusätzliche Ausgaben entstanden sind wird die wohl rechtlich als Euphrosynes Vormund bestimmte Madame Léto zusehen müssen, wie sie ohne gegen die Strafgesetze der Menschen mit und ohne Magie zu verstoßen die nötigen Auslagen erstattet, im Zweifelsfall Gold von Ihren hier lebenden Blutsverwandten erbittet. Außerdem sollte Létos Familie, die ja bisher die schützende Hand über Euphrosyne hält, so dass wir sie nicht gemäß der geltenden Gesetze bestrafen konnten, eine monatliche Gebühr an das Ministerium abführen, weil Ministerin Ventvit durch Euphrosynes sogenannten Segen in ständiger Gefahr schwebt, auf Grund von Euphrosynes vorzeitigem Tod zu sterben oder allein schon durch die Drohung damit erpresst werden zu können. Wie hoch diese Gebühr ausfallen soll erörtere ich dann mit Monsieur Colbert."

"Und diese Sondersteuer würden Sie gerne in die Bedingungen für den unbrechbaren Eid einbinden, Monsieur Vendredi, richtig?" fragte die Zaubereiministerin.

"Um Ihre körperliche und geistige Unversehrtheit zu garantieren ja, Ministerin Ventvit", erwiderte Vendredi trocken. Er sah Julius an und stellte sich vor, wie dieser sich winden musste, um diesen überheblichen, widernatürlich attraktiven Biestern einzuheizen, wo er doch selbst von diesen irgendwie abhängig geworden war.

"Das mit der Veelasteuer hatten wir doch schon", sagte Ministerin Ventvit. "Wenn Sie dergleichen einführen wollen können wir auch gleich mit Kobolden, Zwergen und Meermenschen darüber streiten, ob sie in diesem unserem Lande noch erwünscht sind oder nur durch Zahlung einer solchen Steuer ihr Bleiberecht wahren können. Das könnte bei den Kobolden und Meerleuten sehr sehr schwierig werden, weil die ersten rein rechtlich die Verwaltung von privaten und geschäftlichen Vermögen innehaben und die zweiten dadurch, dass sie nur mit besonderen Vorrichtungen erreichbar sind jede Zusammenarbeit aufkündigen und jeden mit erwähnten Vorrichtungen versehenen Besucher als Eindringling einstufen und bekämpfen könnten", sagte Ministerin Ventvit. "Ich wundere mich, dass ich das Ihnen überhaupt erzählen muss, wo wir nach dem beinahe ausgebrochenen Krieg zwischen den Meerleuten von Martinique und den dort lebenden Hexen und Zauberern genug Zeit damit zubrachten, über das Für und Wider einer friedlichen Koexistenz zu diskutieren und Sie am Ende zustimmten, dass eine offene Auseinandersetzung mit den Meermenschen eine Katastrophe bedeutet."

"Es geht mir nicht um Kobolde, Zwerge oder Meermenschen, sondern um Veelas, Mademoiselle Ventvit", erwiderte Vendredi ganz ruhig. "Es darf nicht weiter hingenommen werden, dass diese Zauberwesen uns nach belieben auf der Nase herumtanzen können. Aber natürlich erkenne ich auch, dass ein derartiges Gesetz als Grundlage für eine Weiterentwicklung der Koexistenzbeschlüsse zwischen uns und anderen Zauberwesenarten genutzt werden kann", sagte der Leiter der Abteilung zur Aufsicht und Führung magischer Geschöpfe.

Julius Latierre sah seinen direkten Vorgesetzten und seine oberste Dienstherrin nun mit einem entschlossenen Blick an. Dann sagte er: "Da wir für jede Zauberwesenart eigene Ansprechpartner haben müsste Ihre Abteilung auch Ansprechpartner für Vampire, Nachtschatten und die wachen Abgrundstöchter ernennen. Da ich bereits als Vermittler zu den Veelas berufen bin heißt das, dass Sie mehr Personal einstellen müssten, Ministerin Ventvit, Monsieur Vendredi.

Duchamp sah Julius verstört an. Dann überflog ein belustigtes Grinsen das Gesicht des Sicherheitsleiters.

"Wollen Sie mal wieder meine Entscheidungen lächerlich machen, Monsieur Latierre?" fragte Arion Vendredi verbittert. Doch statt Julius antwortete die Zaubereiministerin:

"So empfinde ich das nicht, Monsieur Vendredi. Ich denke sogar eher, dass Sie diese Bemerkung als zu bedenkende Konsequenz zur Ausarbeitung Ihres Vorhabens auffassen dürfen. Wir haben keinen offiziellen Mensch-Vampir-Kontakter und nur über die Legion de la Lune eine Anlaufstelle für gesetzestreue Lykanthropen. Wenn Sie ein Gesetz ausarbeiten möchten, dass jede Form von Übergriffen von Zauberwesen unterbinden soll, dann gehören zu diesen Zauberwesen nicht nur die grünen Waldfrauen, Kobolde, Zwerge, Meerleute und Hauselfen, sondern auch Vampire und die wachen Abgrundstöchter. Wenn Sie eine Ergänzung zu den bestehenden Koexistenzabkommen erwirken möchten - wobei ich Ihnen gerne helfen möchte - dann benötigt Ihre Abteilung auch Ansprechpersonen für diese Zauberwesen."

"Jetzt möchten Sie mich offenbar veralbern, Ministerin Ventvit. Ihre Vorrechte erlauben Ihnen ja, die Ansichten von Untergebenen ins Lächerliche zu ziehen. Aber finden Sie nicht, dass Ihre und meine Zeit für derlei nicht zu kostbar ist?" fragte Vendredi. Duchamp sah den Leiter der Abteilung für magische Geschöpfe nun verhalten amüsiert an und kam der Ministerin mit einer Antwort zuvor:

"Das sollte ich dann schon wissen, wenn unsere Alarmzauber entsprechend umgestellt werden sollen, damit friedfertige Vampire oder auf eine einvernehmliche Koexistenz ausgehende Succubi unser Ministerium besuchen dürfen, ohne meine Leute und die Desumbrateure aufzuscheuchen. Deshalb möchte ich in meiner Eigenschaft als ranghöchster Verwalter der ministeriumsinternen Sicherheitsmaßnahmen bereits mein Interesse an dem genauen Wortlaut Ihres Koexistenzerweiterungsgesetzes anmelden, Monsieur Vendredi."

"Wie erwähnt habe ich zunächst nur vor, das Verhältnis zu den Veelas zu bestimmen und die erfassbaren Schäden durch Euphrosynes Handlungen finanziell auszugleichen, wo dieses Subjekt da selbst wohl in den nächsten Jahren keine eigene Einkommensquelle erschließen kann", grummelte Vendredi. Eben hatte das doch noch so gut ausgesehen. Jetzt musste er davon ausgehen, dass ihn keiner hier wirklich ernstnahm, ja und dass die Ministerin sein Vorhaben nicht gutheißen mochte.

"Nun, dann sollten wir Ihnen die zur Ausarbeitung Ihres Entwurfes für das von Ihnen vorschwebende Ergänzungsgesetz die nötige Zeit einräumen", sagte die Ministerin nach drei Sekunden Pause. Sie deutete auf die Tür und winkte Duchamp und Julius Latierre zu, ihr zu folgen. Vendredi sagte deshalb noch schnell:

"Ja, und außerdem erbitte ich von Ihnen, Monsieur Duchamp, eine magisch verbindliche Erklärung, dass Sie oder ihre Mitarbeiter zu keiner Zeit an keinem Ort mit welchen Mitteln auch immer auf Ursprung und Wirkungsweise des mich gegen Veela-Einflüsse schützenden Zaubers untersuchen werden und schriftlich bestätigen, dass jede gegen meinen Willen vorgenommene Enthüllung der mich schützenden Bezauberung meinen Tod herbeiführen wird und somit als bewusste Tötungshandlung gegen einen ranghohen Ministerialbeamten zu ahnden ist. Vielen Dank für Ihren Besuch und für Ihre Aufmerksamkeit!" Damit deutete er ebenfalls auf die Tür, obwohl er kein Recht hatte, die Ministerin aus dem Büro hinauszuschicken, wenn diese noch etwas mit ihm zu besprechen wünschte. In dem Fall wünschte sie es wohl nicht weiter und verließ mit ihren beiden Begleitern das Büro.

"Ui, das war knapp", dachte Vendredi. Denn ihm fiel jetzt ein, dass Duchamps Aufspürgerät ihm ziemlich gut zugesetzt hatte. Das hatte in dem Apparat sicher eine gewisse Gegenwirkung hervorgerufen, die gemessen werden konnte.

"Zumindest kann mir dieser Bengel nicht querkommen", dachte Vendredi mit unverhohlener Befriedigung an Julius Latierre. Wenn der nicht spurte würde er ihn für unfähig oder gar treulos erklären und aus seinem schönen neuen Einzelbüro hinausjagen. Der konnte dann froh sein, wenn er dann noch in der Abteilung Unterlagen sortieren durfte, falls die Ministerin ihn nicht als ihren privaten Laufburschen übernahm oder die mit einem bereits voll entwickelten Mann im Fötuskörper schwangere Madame Grandchapeau ihn ganz in ihre Abteilung übernahm.

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Barbara Latierre fühlte den Druck in ihrem Körper. Zusammen mit sechzehn Hexen, drei davon zwanzig Jahre älter als sie selbst, hatte sie die seit vorgestern verfügbaren goldenen Kugeln erhalten und mit einer Mischung aus Angeregtheit und Angewidertheit in ihren Körper eingeführt. Nur so waren die mit bis zu sechs schlummernden Gegenzaubern angereicherten Goldkugeln vor Aufrufezaubern oder anderen Fernlenk- oder Apportationszaubern sicher untergebracht. Außerdem trugen die Hexen vom Einsatztrupp neuartige Unterkleider, die gegen andere Zauber schützen sollten. Die goldenen Kugeln jedoch dienten dem Schutz vor jenen Vorrichtungen, die Barbaras Schwiegerneffe Julius als Reinitiatoren bezeichnet hatte. Sollte wirklich Vita Magica das Wildtierreservat kontrollieren und sich gegen die angesetzte Überprüfung wehren, so wollten sie diesen Banditen nicht so hilflos begegnen wie ihre Kollegen, die nun ohne ihre Erinnerungen irgendwo in den Reihen dieser Verbrecher neu aufwachsen mussten und somit faktisch tot waren.

"Schon ein komisches Gefühl, Madame Latierre", sagte Amélie Bonfils, die als Expertin für Schnatzer und andere Zaubervögel galt. Barbara Latierre nickte und deutete dann auf die anderen Hexen, die gerade aus den Badezimmern für Damen herauskamen und so liefen, als müssten sie aufpassen, dass ihnen nichts herunterfalle. "Ja, das ist ein merkwürdiges Gefühl. Aber je länger wir die Kontrainfanticorpore-Kugeln tragen, desto besser fühlt sich das an, weiß ich durch eigene Erfahrung", sagte Barbara. Immerhin hatte ihr Bruder Otto diese Methode erarbeitet und auf Ministeriumskosten umgesetzt. Er hatte aber gemeint, dass die bezauberten Goldkugeln vielleicht nicht mehr aus den Körpern ihrer Trägerinnen herauswollten, weil sie sich mit diesen verbanden, sobald sie mehr als eine Minute mit dem um sie fließenden Blut und der sie aufheizenden Körperwärme wechselwirkten. Er hatte sogar die Frechheit besessen zu sagen, dass diese Goldkugeln nicht nur machten, dass jemand nicht gegen seinen oder ihren Willen zum Baby zurückgeschrumpft werden konnte, sondern auch kein unerwünschtes Kind empfangen würde. Diese Erkenntnis war einige Jahre zu spät gekommen, dachte Barbara. Doch jetzt hieß es, dass sie alle nach Réunion reisten, um die angeordnete Intensivprüfung zu machen.

Als sie mit der Reisesphäre auf Réunion ankamen schlossen die sechzehn Hexen noch die um ihre Handgelenke verlaufenden Antiportschlüssel-Armbänder. Nun konnten sie von keinem unerwünschten Versetzungszauber entführt werden.

Barbara Latierre sprach bei Monsieur Fontbleu vor, der mit einem gewissen Unwillen die amtliche Anweisung zur genaueren Prüfung las. "Wir begeben uns direkt zum Reservat", sagte Barbara Latierre. "Ich untersage Ihnen jegliche Voranmeldung", fügte sie hinzu. Fontbleu nickte schwerfällig.

Weil sie von sich aus noch apparieren konnten gelangten die Hexen in zwei Gruppen zu je acht Mitgliedern direkt vor die Pforte zum Wildreservat. "Gut, Amélie, verteilen Sie die Mondlicht-Leuchtsteine!" befahl Barbara, während bereits die ersten Wildhüter heranflogen, die das Eintreffen der sechzehn Hexen registriert hatten. "Ich gebe dem Koordinator die Dienstanweisung, während Sie alle schon mal ausschwärmen und mit den Leuchtsteinen die Bäume absuchen. Amélie, sie haben das Transfrequenzaurikular?" Die gefragte nickte und setzte sich jene magische Vorrichtung auf, die es Menschen ermöglichte, entweder die für Menschenohren zu hohen oder zu tiefen Töne hörbar zu machen. Außerdem hatte Amélie eine kleine Silberfflöte dabei, auf der sie die Revierlaute von kleinen Zaubervögeln nachspielen konnte, auch die von Sidericantor Argyropteros. Mit den in kleinen Laternen eingesetzten flimmernden Kristallen konnten sie zudem Gegenstände mit gespeichertem Vollmondlicht beleuchten, ebenfalls eine Erfindung von Barbaras Bruder Otto Latierre.

Monsieur Barnier, mein Vorgesetzter Monsieur Vendredi hat mich beauftragt, die von Ihren Leuten gemeldeten Bestände von Sidericantor argyropteros zu verifizieren", sagte Barbara Latierre zu Oberwildhüter Barnier, der sich aber lieber als Wildbetreuungskoordinator bezeichnen ließ. "Och, und da sind Sie dann persönlich angeritten, Madame Latierre? Das muss Monsieur Vendredi ja sehr wichtig sein, wie viele Sternensänger wir hier hegen und hüten", erwiderte Barnier mit einer gewissen Impertinenz in Stimme und Gesichtsausdruck. Barbara sah dies jedoch als zu erwartende Trotzreaktion an und erwiderte, dass Monsieur Vendredi seit der Sache mit Gérard Dumas jede auch nur ansatzweise vorkommende Unregelmäßigkeit im Tierbestand auf Réunion überprüfen wollte und sie gebeten hatte, das als Leiterin des Tierwesenbüros persönlich zu tun."

"Ich habe es Ihrem direkten Vorgesetzten schon gestern zu erklären versucht und hoffe, Sie verstehen es ebenso, dass es keinen Sinn macht, die Bestände der Sternensänger bei hellem Tag zu überprüfen. Um verlässliche Zahlen zu bekommen empfehle ich Ihnen die Nachtstunden bei natürlichem Mondlicht."

"Nur dass Sternensänger bei Nacht frei herumfliegen und zu schnell sind, um sie durch das dichte Laub der hier wachsenden Bäume unter Beobachtung zu halten, um ihre Bestände klar und deutlich zu erfassen. Deshalb besteht ja durchaus die gewisse Wahrscheinlichkeit, dass Sie und Ihre Kollegen sich verzählt haben. Damit nicht einmal ein Hauch von Verdacht auf Sie oder Ihre Mitarbeiter fällt habe ich die Nachprüfung persönlich übernommen, auch schon weil Monsieur Vendredi in dieser Sache ein wenig skeptischer ist als für eine sachliche Prüfung empfohlen wird."

"Gut, dass Sie nicht gegen Ihren Vorgesetzten sprechen und auch nicht dessen Befehle verweigern verstehe ich", sagte Barnier, während die ersten Hexen aus Barbaras Truppe schon unterwegs waren. "Nur Hexen?" fragte Barnier. Barbara erwiderte darauf, dass die männlichen Außeneinsatztruppler gerade gegen marodierende Drachen vorgehen mussten. Das war zwar gelogen. Aber sie durfte keinem die Wahrheit erzählen. "Interessante Laternchen", bemerkte Barnier, als er eine von Barbaras Mitarbeiterinnen dabei beobachtete, wie sie mit ihrer kleinen Mondlicht-Laterne an den Stämmen zweier Bäume hinauf- und hinunterleuchtete.

"Sie leuchten in einem Licht, dass Sternensänger spiegeln", sagte Barbara. Dann sah sie Barnier genau an und raunte: "Wenn Sie und Ihre Kollegen sich für die Dauer der Prüfung gütigst aus dem Reservat zurückziehen möchten, dann sind wir in drei Stunden durch und haben ein für uns alle hoffentlich hinnehmbares Ergebnis."

"Öhm, Sie wissen, dass wir außer Sternensängern auch Vereisungsküsser und Drachenzungenfrösche bei uns haben, von den Steinstachelechsen ganz zu schweigen?"

"Monsieur Barnier, ich pflege mich jede Woche über die von unserem Ministerium registrierten Tierbestände zu informieren. Meine Mitarbeiterinnen tragen die nötige Schutzausrüstung, um gegen den Feuerspeichel von Drachenzungenfröschen, das Erstarrungsgift der Steinstachler und das die Körpertemperatur absenkende Gift der Vereisungsküsser zu bestehen. Außerdem habe ich eine mit magischen Tiergiften erfahrene Kollegin dabei, die einige wirksame Antidote mitführt. Also rufen Sie bitte Ihre Kollegen aus dem Reservat zurück!"

Barnier griff zu einer kleinen goldenen Pfeife und blies kräftig hinein. Nur darauf abgestimmte Gegenstücke machten den Ton hörbar. Als dann alle im Park tätigen Wildhüter vollzählig angetreten waren informierte Barbara Latierre sie alle über die Sonderprüfung, die ja für die meisten nicht unerwartet kam. Dann saß sie auf ihrem eigenen Besen auf und flog los um den für sie abgesteckten Sektor abzusuchen.

Tatsächlich entging sie wegen ihrer fleischfarbenen Drachenhauthandschuhe der vorschnellenden Zunge eines blattgrünen Drachenzungenfrosches und sah, wie der schleimige Speichel innerhalb einer Sekunde rotglühend wurde und dann, nach nur drei Sekunden, in einer kleinen, gelbroten Flammenwolke restlos verpuffte. Geriet der Speichel auf lebende Haut war die Wirkung ungleich verheerender für die betroffene Stelle.

Das auf einen leisen Befehl ausgestrahlte Mondlicht aus der Leuchtstein-Laterne übergoss die Bäume und Wipfel mit silberweißem Licht. Barbara leuchtete in die Aushöhlungen hinein und konnte so Nester der Sternensänger finden. Ihre Mitarbeiterin Bonfils indes ging anders vor. Sie lockte mit ihrer kleinen Flöte die männlichen Sternensänger aus ihren Nestern, damit diese dem vermeintlichen Revierkonkurrenten mitteilten, dass dieses Gebiet schon besetzt war. Auf diese Weise konnte Amélie auch schon aus gewisser Entfernung die Exemplare zählen. Da jedoch nur sie die Töne der Sternensänger so gut nachflöten konnte, dass diese wunschgemäß reagierten, hatte nur sie diese Möglichkeit.

"Unterabschnitt eins geprüft. Sieben Nester, sieben Brutpaare und insgesamt fünfunddreißig Küken", hörte Barbara über die durch kleine Silberbroschen errichtete Vocamicus-Verbindung die Meldungen ihrer Mitarbeiterinnen. Sie selbst hatte gerade zwei Sternensänger in ihrer Bruthöhle aufgestöbert. Diese wirkten wie erstarrt, bis das gespeicherte Mondlicht sie voll erfasste. Ihre Flügel schwirrten, und die zwei Vögel sausten wie von einer Armbrust abgeschossen an Barbaras Köpfen vorbei, um keine drei Sekunden später mit einem kurzen wilden Trillern wieder in die Bruthöhle hineinzuflitzen, weil es draußen Tag war.

So verlief die weitere Suche. Barbara notierte die gefundenen Nester, Alt- und Jungvögel. Dann erklang Amélies Stimme über die Vocamicus-Verbindung: "An Einsatzleiterin, wurde gerade von vier Hähnen gleichzeitig attackiert. Offenbar waren die wesentlich aggressiver als die bisherigen Hähne, die nur die Reviergesänge ausstießen und ... Eh, Hahn Nummer fünf. Der kam von weit weg. Gut, dass der fvoll in einen Sonnenstrahl geraten ist. Der hätte mir fast die Schutzbrille von der Nase gehauen."

"Moment mal, Amélie. Sternensängerhähne auf Réunion attackieren nur Konkurrenten, die auf ein Zehntel ihrer Rufweite herankommen und da zu singen wagen. Die Rufweite bei Sternensängern liegt doch bei drei Kilometern, richtig?"

"Das stimmt, Madame Latierre", sagte Amélie. "Aber die in Urwäldern lebenden Sternensänger, die nicht durch einen Rückhaltebannring an ihren Füßen auf engerem Gebiet zusammengepfercht leben müssen, attackieren mögliche Konkurrenten schon auf einem Fünftel ihrer Rufweite, also alles, was unter 600 Metern von ihnen entfernt wie ein Sternensängerhahn singt. Ups, und ich sehe gerade zwanzig Hennen, die auf mich zufliegen und die typischen Paarungswellen fliegen. Wenn sich Brutpaare gebildet haben bleiben die drei Jahre zusammen und hören dann nur auf die Reviergesänge des jeweiligen Partners. Nur die Ungefreiten fliegen dem Ruf eines fremden Hahnes nach", sagte Amélie.

"Moment mal, soweit mir bekannt ist haben wir hier in diesem Reservat um diese Jahreszeit ausschließlich gebildete Brutpaare", schickte Barbara nur für ihre Mitarbeiterinnen hörbar zurück.

"Sind aber alles erwachsene Hennen, keine gerade erst flügge gewordenen Jungtiere", bestätigte Amélie. "Ich prüf mal was nach", sagte sie noch. Barbara Indes hatte ein weiteres Nest knapp unter einem Baumwipfel gefunden, in dem eine schlafende Henne und vier Küken saßen. Eigentlich musste der Hahn auch hier sein, weil die Tiere nur nachts auf Nahrungssuche gingen. "Ich habe hier ein von einer einzelnen Henne bewachtes Nest. Entweder ist der dazu gehörende Hahn von einem anderen Tier gefressen worden oder hat den Heimweg nicht mehr gefunden", sagte Barbara für alle ihre Mitarbeiter hörbar.

"Könnte einer von denen sein, die mich vorhin angegriffen haben", sagte Amélie. Barbara erbat daraufhin einen Abstandslotungszauber. Dieser ergab, dass die Mitarbeiterin knapp zwei Kilometer von ihr entfernt war. Hähne mit zu pflegenden Jungen flogen aber nie weiter als ein Drittel ihrer Rufweite von den Nestern weg, damit sie innerhalb von nur zwanzig Sekunden zur Stelle sein konnten, wenn ihre Partnerin rief oder sie Angstlaute ihrer Küken hörten. Das konnte also nicht einer der Hähne sein, die Amélie angegriffen hatten.

"Ergebnis der Prüfung: Ich habe eine Henne eingefangen. Sie trägt den üblichen Flugweitenbegrenzungsring am linken Bein. Registriernummer: IDRU-102-092-226. Ich habe die Liste auswendig gelernt. Ui, die Nummer steht für einen zweijährigen Hahn. Aber die Henne ist drei Jahre alt, hat das Kopfgefieder einer in den vierten Brutzyklus eintretenden Henne, die einen neuen Partner sucht."

"Sind Sie da absolut sicher, Amelie?" fragte Barbara Latierre hörbar alarmiert. Amélie bestätigte das, sie hatte mit einer kleinen Dosis von Bicranius' Gedächtnistrank die hundertseitige Liste auswendig gelernt, um auf Nachfragen zu antworten, ob eine Ringnummer stimmte oder nicht. Und hier stimmte sie überhaupt nicht. Das wiederum hieß, dass an dem ganzen Bestand was nicht stimmen konnte. Hähne, deren Angriffsentfernung doppelt so hoch war wie bei den hier gehaltenen Tieren üblich, Hennen, die eindeutige Partnersuchfiguren ausflogen und altgediente Hennen, die mit den Markierungsringen junger Hähne herumflogen.

"Netter Versuch, ihr Idioten", grummelte Barbara Latierre. Dann gab sie an alle aus, jeden schlafenden Sternensänger auf seine Ringnummer zu prüfen. Wenn noch weitere Unstimmigkeiten aufkamen sollten sie sich am Versammlungs- und Verwaltungsgebäude einfinden und die Wildhüter verhören, woher die falschen Silberschnatzer kamen.

So ging die Überprüfung eine Stunde weiter, wobei noch zwanzig falsch beringte Tiere ermittelt wurden und weitere Konkurrenzabwehrangriffe erfolgten.

"Damit haben wir es sprichwörtlich amtlich, dass hier manipuliert wurde", stellte Barbara über die Vocamicus-Verbindung fest. Dann wollen wir die Herren mal fragen, was ihnen dazu einfällt."

Da innerhalb des Reservates nicht appariert werden konnte mussten die sechzehn Hexen auf ihren Besen zum Ausgang fliegen, wo das zentrale Verwaltungsgebäude stand.

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"Was? Leute, das hättet ihr eher klären müssen", knurrte Perdy in ein silbernes Horn hinein, dessen spitzes Ende in einem roten Licht flimmerte. Damit konnte er mit Leuten sprechen, die bis zu 30.000 Kilometer von ihm entfernt sein konnten, was eigentlich hieß, dass er immer Kontakt mit ihnen halten konnte.

"Wir hatten nur die Nacht und das war schwer, die fliegenden Flitzeflöten einzufangen und ohne zerzaustes Gefieder zu beringen", tönte es aus dem Horn. Perdy verzog sein Kindergesicht und legte seine linke Hand auf eine Fläche, die wie ein roter Handabdruck aussah. "Véronique, wir könnten Ärger kriegen!" rief er. Weil seine Gönnerin Mater Vicesima gerade in Australien war, um dort den Standort auf seine Sicherheitsvorkehrungen zu prüfen, musste er die zweite Langstreckenfernverbindung nutzen, die sein Bruder und er damals erfunden hatten, um mit den in der Muggelwelt immer besser werdenden Funkgeräten mithalten zu können.

"Was für Ärger, Perdy?" kam wie aus leererLuft Vicesimas Stimme zu ihm. Er erwähnte, dass es bei der Beringung der nachträglich im Reservat von Réunion ausgesetzten Sternensänger wohl Pannen gegeben hatte, weil keiner von den Leuten aus Indien eine korrekte Liste bekommen hatte.

"Vielleicht fällt denen das nicht auf, Perdy. Und wenn doch: Wir haben sechzehn Bringbeutel am Verwaltungsgebäude bereitliegen. Wenn Ursulines zweitgeborene Tochter meint, sich als große Detektivin zu präsentieren sacken wir sie und ihre Mitstreiterinnen ein und nehmen genug Haare von Ihnen, dass wir genug Stellvertreterinnen losschicken können."

"Hmm, und wenn die von dieser Riesenkuhhirtin in das Schloss ihrer Ahnen reingeht? Die haben da Sanctuafugium, Véronique."

"Was du nicht sagst, Kleiner. Dann kehren eben nur fünfzehn zurück und Barbara wird als von zwei Vereisungsküssern getötete Leiche nach Hause geschickt, während das Original neu aufwachsen darf und die guten Latierre-Erbanlagen an eines deiner oder meiner Kinder weitergeben darf."

"Wenn du das meinst", sagte Perdy. Er hielt die beinahe grenzenlose Überlegenheit seiner Gönnerin für gefährlich. Spätestens seit Silvester Partridge einen ihrer Stützpunkte aufgemischt hatte und von einer aus dem Nichts aufgetauchten goldenen Roboterfrau weggeschafft worden war sollten Mater Vicesima und die anderen doch mehr auf der Hut sein, fand Perdy.

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"Es kann sein, dass er stirbt, wenn jemand ausspricht, was ihm auferlegt wurde, Ministerin Ventvit", setzte Pierre Duchamp an, als er zusammen mit Julius Latierre im abhörsicheren Büro von Ministerin Ventvit saß. "Aber meine Auroskopie und die incantimetrische Kraftquellenbestimmung ergaben, dass irgendwas dunkles, schwarzmagisches in Monsieur Vendredis Blut wirkt. Die Auroskopie hat sogar was ganz merkwürdiges ergeben, was ich erst genauer auswerten muss. Aber ich bekam bei der Resonanzprobe sowohl die für Menschen üblichen Schwingungsmuster als auch die von mindestens 2000 Insekten, jedenfalls so vielen, wie nötig sind, um die Lebendmasse eines Menschen auszufüllen. Bei Ihnen, Monsieur Latierre, habe ich bei der Gelegenheit die Schwingungsmuster von vier weiblichen Humanoiden erfasst, welche in der Summe halb so stark sind wie die eines männlichen Humanoiden. Sowas habe ich bisher nur bei Drillingsmüttern festgestellt, aber da war die Aura eines männlichen Kindes schwächer als die weibliche der Mutter. Aber Sie sind zumindest nicht von irgendwelchen tierhaften Schwingungen umgeben, abgesehen davon, dass wir Menschen die mit abstand gefährlichsten Raubtiere der Welt sind.""

"Interessant. Ich könnte jetzt sofort erklären, warum das so und nicht anders ist. Aber das gehört zu den Sachen, die ich nicht verraten darf, ohne mein ganzes Gedächtnis einzubüßen", sagte Julius Latierre.

"Moment, dann könnte die Unortbarkeit daher kommen, dass Vendredi die Lebensaura eines Insektes aufgeprägt wurde?" fragte die Ministerin.

"Hmm, wenn sie gleichförmig wäre wäre er so nicht unortbar. Aber womöglich macht die dunkle Komponente in seinem Blut, dass magische Erfassungen nicht gelingen und er statt dessen andere Auren beeinflusst, wie die Ihre, Mademoiselle Ventvit."

"Veelas sind von Natur aus unortbar", sagte Julius. "Aber auch besonders mächtige Vampire können sich bei hoher Konzentration unortbar halten, und die Abgrundstöchter sind ebenfalls von Natur aus ... unortbar."

"Echt?" fragte Duchamp. Ministerin Ventvit nickte. Schließlich kannte sie sich mit humanoiden Zauberwesen aus und wusste von Tim Abrahams, dass die zwei bei Alison Andrews aufgetauchten Abgrundstöchter eine magische Rückschau durch einen mächtigen Unortbarkeitszauber verhindert hatten. Dann fragte Mademoiselle Ventvit: "Sie sagten was von tausenden Insekten. Haben sie die wirklich als Einzelwesen erfasst?" "ich sagte, es müssten so viele sein, weil sie genau die Stärke aufbieten, die ein normalgroßer Mensch zeigt. Insekten haben eine sehr schwache Lebensaura, selbst mit Vivideo so gut wie nicht zu erkennen. Aber ich habe schon Wespen- und Hornissennester mit dem Aura-Prüfgerät untersucht und es dann auf solche Massenansammlungen eingestimmt", sagte Duchamp. Julius zuckte einen Moment zusammen, als Duchamp das mit den Wespen- und Hornissennestern erwähnte.

"Konnten Sie mit Ihrem Gerät die inneren Organe erfassen?" fragte Ministerin Ventvit. "Bei Ihnen ging das nicht, weil dieser Veelazauber wohl alles überlagert. Bei Monsieur Latierre ging das ganz ohne Schwierigkeiten und bei Monsieur Vendredi habe ich schlicht weg in ein schwarzes Loch hineingehorcht. Zumindest bekam ich keine üblichen Organtätigkeitsmuster. Aber da kann unsere residente Heilerin gerne noch mal mit ihren spezifischen Prüfgeräten ran. Ich habe ja eher das Besteck, um Flüche und andere dunkle Zauber aufzuspüren. Aber genau das wage ich zu behaupten, dass Monsieur Vendredi von einem nicht gerade schwachen Potential dunkler magie durchdrungen ist, dass ich mit dem unhörbaren Ton der tiefen Nacht wunderbar zum Nachschwingen anregen konnte. Das war das, was er selbst verspürt hat und mich sofort darauf hinwies, dass jeder weitere Untersuchungsversuch seinen Tod bedeuten würde."

"Und es ist nicht nur die Aura, die ihm durch Berührung einer mächtigen Kraft aufgeprägt wurde, sondern in ihm selbst drin, von ihm sozusagen aufrechterhalten?" wollte die Ministerin wissen. "Ja, sagte ich so und kann es nur so bestätigen", sagte Duchamp.

"Dann verstehe ich sehr gut, dass die Quelle, die ihm diesen Zauber oder dieses Geflecht von Zaubern zugefügt hat, keinen Wert darauf legt, bekannt zu werden", seufzte Mademoiselle Ventvit.

Julius sah den Sicherheitszauberer noch einmal aufmerksam an und fragte: "Sie sind sich sicher, dass diese nichtmenschliche Ausprägung in der Aura Insekten ähnelt und nicht etwa Spinnen?" "Hmm, ich habe die Lebensaura von Acromantullas und Blaubauchspinnen in der Abstimmung für das Gerät. Nein, Monsieur Vendredi wies in seiner zwischen Einzelmensch und Insektenschwarm schwingenden Aura eben nur Insektenanteile auf, keine Spinnenanteile. - Hmm, achso, verstehe! Sie vermuteten, dass die neue Anführerin der Sardonianerinnen ihn irgendwie zu einem Artgenossen umgewandelt hat?" Julius nickte. Dann zuckte es in seinen Augen. Auch Ornelle Ventvit wurde von einer offenbar schmerzhaften Erkenntnis durchzuckt. Sie sprang auf und sah Duchamp mit einem Ausdruck wie ein aufgeschrecktes Tier an.

"Artgenosse", stieß sie mit unüberhörbarem Unbehagen aus. "Offenbar hat er einen Pakt mit jemandem geschlossen, dem wir im Ministerium keinen Millimeter über den Weg trauen würden, wenn wir es wüssten. Und dieses Wesen oder diese Wesen wechselwirken mit Veelamagie. Das erklärt auch, warum er gestern nicht bei der Verhandlung dabei sein wollte oder durfte."

"Die Entomanthropen sind es nicht. Die bleiben immer ein Mischwesen aus Mensch und Biene", murmelte Julius.

"Nein, es muss ein uns noch nicht bekanntes Werwesen sein, also kein Werwolf, kein Wertiger und auch keiner dieser Schlangenmenschen, die uns im dunklen Jahr bestürmt und Ihnen, Monsieur Latierre, ziemlich übel zugesetzt haben", sagte Mademoiselle Ventvit. Julius ergänzte, dass es auch kein Artverwandter der schwarzen Spinne war, weil diese dann sicher ihre treuen Mitschwestern alle entsprechend umgewandelt hätte. Dann fragte Duchamp die Ministerin, ob Veelas natürliche Feinde hätten, sowie das Wasser der Feind des Feuers war, aber von genug feuer auch verdampft werden konnte.

"Monsieur Latierre, die Frage sollten Sie beantworten", gab die Ministerin Duchamps Frage weiter. Der Angesprochene straffte sich und sagte ohne lange nachdenken zu müssen: "Veelas sind natürliche Feinde von Werwölfen, überhaupt Werwesen, Vampiren, grünen Waldfrauen und vor allem den Abgrundstöchtern. Ich erinnere mich sehr gut daran, wie oft Madame Léto mir gesagt hat, ich sollte sie rufen, sobald ich mal wieder mit einer von denen zu tun bekäme. Vielleicht können die was machen, was den Töchtern Lahilliotas nicht bekommt. Oder sie sind auch nur neidisch, weil die Abgrundstöchter genauso übernatürlich anziehend sein können wie reinrassige Veelas."

"Ja, wie Meigas mit Sabberhexen verfeindet sind oder Werwölfe mit Vampiren, Basilisken mit Spinnen und Zwerge mit Kobolden", sagte Mademoiselle Ventvit.

"Ich hoffe, Monsieur Vendredi hat wirklich nur einen uns unbekannten und womöglich obskuren Zauber aufgeprägt bekommen", seufzte Julius Latierre. Doch Mademoiselle Ventvit schüttelte den Kopf. "Ich werde mich nicht auf reine Hoffnung verlassen. Bei Ihnen, Monsieur Latierre, wissen wir ja, dass sie wohl gutartige Zauber erlernt haben und wohl durch Madame Maximes Blutgabe bestärkt wurden. Aber wenn Monsieur Duchamp sagt, er habe dunkle Magie in Monsieur Vendredis Körper erfasst und dessen Aura offenbar in einem Zustand zwischen humanoider und insektoider Lebensschwingungen wechselt will ich wissen, woher das komt. Am Ende wurde uns Vendredi unter der Bedingung zurückgeschickt, dass er im Sinne eines oder einer anderen handelt. Dieses von ihm erwähnte Veelagesetz könnte ein solcher Auftrag sein, und ich halbe Trollin bin fast darauf eingegangen."

"Sind Sie nicht. Sie haben ihm nur in Aussicht gestellt, seinen Entwurf zu prüfen und dann zu genehmigen, wenn nichts bedenkenswertes daran ist", sagte Julius beschwichtigend. Duchamp nickte dem jüngeren Kollegen zu.

"In Ordnung. Wir lassen Monsieur Vendredi bis heute Nachmittag in Ruhe, damit er nicht auf die Idee kommt, wir könnten irgendeine Art Verdacht geschöpft haben. Dann möchte ich gerne mit Ihnen beiden, sowie dem Leiter der Strafverfolgungsabteilung noch einmal zu ihm hingehen und herausbekommen, was los ist. Und sollte er wahrhaftig dabei sterben, weil wir sein Geheimnis enthüllen könnten, dann übernehme ich dafür die volle Verantwortung", sagte die Ministerin.

"Wie erwähnt, er könnte einfach nur was an sich vorgenommen haben, was wir noch nicht kennen", sagte Julius. Die Ministerin sah ihn dafür sehr tadelnd an. "Ich verstehe sehr gut, dass Sie akzeptieren möchten, dass er auch ein Geheimnis hat, dass nicht jeder erfahren darf, wie Sie, Monsieur Latierre. Aber wenn wirklich dunkle Magie im Zusammenhang mit einer Art Mischwesennatur im Spiel ist, dann gehört das nicht in das von mir geleitete Ministerium. Wo kämen wir denn dahin, wenn jeder und jede sich mit schwarzmagischen Methoden Vorteile verschafft? Am Ende könnten wir es zulassen, dass schwangere Hexen sich den Kindsvater durch den Catena-Sanguinis-Fluch gefügig machen, um Vorteile zu erringen. Nein, Monsieur Latierre! Falls da wirklich dunkle Magie im Spiel ist muss ich Monsieur Vendredis Begründung ignorieren."

"Tja, und wenn er wirklich stirbt?" fragte Julius.

"Dann werde ich dafür wie erwähnt die volle Verantwortung übernehmen, sei es, dass ich vor der Presse einräume, dass wir einen mit dunklen Kräften manipulierten Mitarbeiter enttarnt hatten oder dass ich mein Amt wieder zur Verfügung stelle und womöglich ganz aus dem zaubereiministerium ausscheide. Aber soweit sind wir noch nicht, meine Herren", verkündete die Ministerin. Julius blickte sie abbittend an und sagte nichts weiteres.

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Das Verwaltungsgebäude stand verlassen da. Alle äußeren Türen und die Fenster standen sperrangelweit offen. Amélie Bonfils wirkte den Menschenfindezauber Homenum Revelio. Doch in einer Kugelzone von 200 metern Durchmesser gab es nur sie und ihre fünfzehn Kolleginnen. "Gegen den zauber gibt es wirksame Unortbarkeitszauber", sagte Barbara zu ihren Mitstreiterinnen. "Entweder sind sie im Haus versteckt und lauern uns dort auf oder haben mit dem Haus was angestellt, dass wir es nicht heil überstehen, hineinzugehen. Charlotte, prüfen Sie auf Fallenzauber. Amélie, lass unseren kleinen Freund aufsteigen, damit er die Gegend erhellt!" Vorher alle Kopfblasen zaubern!" befahl Barbara. Sie schoben ihre Haare nach oben, dass sie vollständig in der Kopfblase eingeschlossen sein würden. Innerhalb von zwei Sekunden hatte jede von ihnen die gegen Atemgifte, Rauch und Wasser wirksame Bezauberung ausgeführt. "Die wollen uns wohl in jedem Fall lebend, sei es, um uns unsere Geheimnisse zu entreißen oder nur, weil wir Hexen sind und denen neue Zaubererkinder gebären sollen. Nicht in Panik geraten, die Damen. Wir sind gut ausgebildet und gut ausgerüstet."

"Späher unterwegs, Enthüllungshauch in Kraft", meldete Amélie, als sie einen kleinen, silbernen Drachen aus ihrer Ausrüstungstasche gefischt und mit Schwung gegen den Wind in die Luft geworfen hatte. Der Drachen schraubte sich rasant nach oben und stieg innerhalb von nur zehn Sekunden auf über hundert Meter an. Dann glomm etwas von ihm blau auf und hüllte das Wildhüterhaus ein. Unvermittelt hörten die Ministeriumshexen von drinnen Aufschreie wie von kleinen Kindern. Amélie probierte noch einmal den Menschenfindezauber. Diesmal konnte sie dreißig andere Menschen direkt vor sich im Gebäude erfassen. "O ich glaube, Camille, ich leih mir deinen Mann für mein fünftes Kind aus", dachte Barbara einen für eine ranghohe Beamtin unstatthaften Gedanken. Über den Vocamicus-Zauber teilte sie mit, dass sie am Besten den schnellen Rückzug antreten sollten, da im Haus wohl noch Fallenzauber lauerten.

"Disapparieren nicht empfohlen. Locattractus-Zauber geortet. Mittelpunkt unter dem Haus, womöglich in lebensbedrohlicher Umgebung", vermeldete Charlotte Pommerouge über den Verständigungszauber. "Könnte auch ein Antiportschlüsselzauber wirken. Ich habe zumindest sowas wie eine sich dauernd gegen Uhrzeigersinn von oben nach unten windende Spirale aus Zauberkraft ausgemacht", fügte sie noch hinzu.

"Dann auf die Besen und zum Ausgangskreis!" befahl Barbara. Doch die Besen schlugen plötzlich der Länge nach auf den Boden und blieben schnell zitternd darauf liegen. Sie ließen sich um keinen Millimeter anheben. Barbara nickte einem unsichtbaren Beobachter zu. Das hätte sie auch erwarten müssen. Da krachte es knapp neben ihr. Blaue, silberne und rote Funken stoben knisternd und spotzend um sie herum. Als sie sah, dass es der silberne Drachen war, der von einer fremden Kraft heruntergerissen und beim Aufprall zerschlagen worden war wusste Barbara, dass es entweder gleich heftig unfein würde oder sie mindestens zwei Kilometer weit laufen mussten, um aus dem Locattractus-Bereich herauszukommen. Sie wollte gerade befehlen, im Laufschritt Richtung Reisesphärenkreis zu laufen, als aus dem Himmel heraus sechzehn grüne Leinensäcke auf sie alle nniedersausten und sie in einer einzigen Sekunde völlig umschlossen. Barbara öffnete den Mund, um noch eine Anweisung zu geben. Da schob sich etwas von dem wie lebendig wirkenden Stoff passgenau zwischen ihre Zähne und knebelte sie. Dagegen half dann nur Mentiloquieren, dachte Barbara. Sie fühlte, wie der sie umschließende Sack sich immer enger zusammenzog. Sie versuchte sich mit ihrer durch Latierre-Kuh-Milch überragenden Körperkraft dagegen zu stemmen. Doch irgendwas saugte ihr förmlich die Kraft aus den Muskeln. "Verzichten Sie auf sinnlosen Widerstand, die Damen. Wir bringen Sie schnell und sicher an einen geschützten Ort!" erklang eine Stimme wie von einem Zweijährigen. Barbara Latierre versuchte erneut, sich gegen den sie einschnürenden Sack zu stemmen. Doch immer noch saugte ihr etwas die Kraft aus Armen und Beinen. Da erzitterte ihr Mieder, und wie mit tausend Blasebälgen blies etwas Luft zwischen sich und den Sack, ohne ihr auf die Brust oder den Bauch zu drücken. Dann ratschte es, und die sie eben noch unentrinnbar umschlingende Stoffhülle zerriss in dünne Streifen, die in alle Richtungen davonflatterten. Sofort sah sich Barbara um. Auch bei den anderen Hexen platzten gerade die sie umschließenden Säcke auf und gingen in wild davonwirbelnde Fetzen.

"Höh?!" kam eine höchst verwirrt klingende Lautäußerung von dieser Kleinjungenstimme. Barbara grinste überlegen, auch wenn sie wusste, dass es dafür wohl noch zu früh war. Aber dass ihr Bruder Otto diesen genialen Allentfesslungszauber erfunden hatte, den seine Frau als Zauberweberin in Runenform in jede Kleidung einnähen konnte machte sie wirklich stolz. Der wirkte nämlich nicht durch Kraft, sondern Umkehrung des festhaltenden Zaubers oder Materials, beinahe wie ein schwarzer Spiegel, der einen darauf prallenden Fluch fünfmal so stark auf den Absender zurückwarf.

"Im Laufschritt los, Richtung Ausgangskreis!" befahl Barbara latierre über Vocamicus-Zauber.

"Halt stop, nicht so eilig!" rief die Kleinjungenstimme, als die Hexen schon losspurteten. Da wurden sie von einer unsichtbaren Kraft festgehalten, die sich ähnlich wie ein sie umschließender Gummisack anfühlte. Diesmal erfolgte die Reaktion sofort. Mit lautem Fauchen wirbelte um Barbara die Luft in immer schnellerem Tempo. Es flimmerte einen Moment, dann konnte sie sich wieder bewegen und lief los, ohne darauf zu sehen, ob die anderen ihr folgten. Sie ging einfach davon aus, weil der von ihrem Bruder als Gegenwirkung zum Verfolgungs- oder Fluchtblockadezauber ausprobierte Luftzauber tatsächlich wirkte. Otto Latierre hatte schon bei der Sache mit den Lykanthropenjägern und den infanticorporisierten Ministerialkollegen vermutet, dass der Festhaltezauber auf der Elementarkraft Luft beruhte. Wenn also die Luft durch einen anderen Zauber in wilde Rotation versetzt wurde konnte der Festhaltezauber wohl nicht mehr die volle Wirkung ausüben. Barbara war froh, dass der Festhaltezauber sogar vollständig aufgehoben worden war. "Weiterlaufen, nicht umdrehen. Die wollen uns lebend haben. Die Schildzauber in den Umhängen fangen alles nichttödliche ab!" rief Barbara, die keine Probleme hatte, beim schnellen Laufen zu rufen. "Zwei Kilometer", keuchte Amélie. "Dann sind wir aus dem Locattractus-Bereich heraus."

"Wieso könnt ihr das?!" krakehlte eine nun sichtlich verärgerte Kleinkindstimme. Doch Barbara achtete nicht darauf.

Unvermittelt entstanden grüne Lichtspiralen vor und hinter ihr. Aus den Lichtspiralen traten Männer und Frauen in Strampelanzügen und mit überlebensgroßen Babyköpfen. Sie hielten silberne und goldene Gerätschaften in den Händen. Aus den silbernen Gerätschaften, die wie Fliegenklatschen aussahen, flogen weiße Kugeln und trafen auf Barbara und ihre Kolleginnen. Die Kugeln zerplatzten und wurden schlagartig zu weißen Kokons, die ihre Opfer fest umschnürten. Sie fielen zu Boden. Doch unverzüglich setzte die Gegenwirkung ein. Die auf bis zu zehn Fesselzauber oder stoffliche Fesselungen ausgelegten Zauber in den Unterkleidern der Hexen sprengten die Kokons mit lauten Knällen ab. Die Fäden des magischen Gespinnstes zerfielen noch im davonfliegen zu Staub. Barbara kam sofort wieder auf die Beine und sah, wie ihr drei silberne Scheren mit blauen, wild schwirrenden Flügeln entgegensausten. Die Scheren klappten auf wie die Schnäbel auf Beute losgehender Vögel. Barbara ahnte, was das sollte. Ihre Gegner wollten sie nicht gleich töten oder infanticorporisieren, sondern ihnen erst Haare oder Fingernägel abschneiden, um damit Vielsaft-Trank ansetzen zu können. Gut, dass sie sowohl Drachenhauthandschuhe trugen als auch ihre Haare in den Kopfblasen verstaut hatten. Da kamen die geflügelten Scheren schon angeflitzt und schnappten laut klirrend zu. Doch sie bekamen keine Haarspitze und auch keinen Fingernagel. Barbara fühlte nur, dass es immer wieder schmerzhaft in ihre Finger kniff oder auch mal wütend an ihrem reißfesten Außeneinsatzumhang zerrte, um doch noch eine freiliegende Haarsträhne zu erwischen. Amélie indes warf nun eine kleine, silberne Kugel auf den ihr nächsten Gegner. Die Kugel zerplatzte wie mit Wucht auf Stein prassendes Wasser. Keine Sekunde später war der Unbekannte von einer weißen Kapsel eingeschlossen und kullerte noch einige Meter am Boden entlang.

"Drachendreck!" hörte Barbara eine wütende Kleinjungenstimme. Da flogen ihr wieder die silbernen Scheren um Kopf und Arme, um doch noch was für Vielsaft-Trank verwertbares von ihr abzuschneiden. Barbara hieb eher aus Verachtung denn aus Angst nach einer der geflügelten Schneidwerkzeuge und brach ihm damit einen der wild wirbelnden Flügel ab. Die Schere trudelte mit einem ziemlich verstörenden Sirren davon und bekam ihren Flug nicht mehr in beherrschbare Bahnen.

"Drecksweib!" tönte es wie von einem kleinen Jungen aus einer zweiten weißen Kapsel, die aus einer von Charlotte Pommerouge geworfenen Silberkugel entstanden war.

"Ducken!" rief Amélie Barbara zu und warf ihre zweite Silberkugel über Barbara hinweg. Diese sah, wie der auf sie zielende Gegner am überdimensionalen Babykopf getroffen wurde und keine Sekunde später vollständig in einer weißen Kapsel eingeschlossen war.

"Ey, lasst das sein! Wir wollen keine von euch verletzen!" schnarrte wieder eine aus allen Richtungen zugleich kommende Kinderstimme.

"Friss das!" rief Amélie mit für alle hörbarer Stimme, was durch die immer noch wirkende Kopfblase sehr dumpf klang. Ein weiterer Angreifer wurde von einer weißen Kapsel eingeschlossen. Dann hatten die Angreifer wohl begriffen, dass sie mit ihren Fangzaubern nicht so gut wegkamen wie ihre Gegnerinnen. "Dann eben so!" rief die Stimme, die scheinbar einem Zweijährigen gehörte. Das war wohl das Kommando für die noch uneingekapselten, ihre goldenen Vorrichtungen hochzureißen und auf die Ministeriumshexen zu zielen. Barbara rannte bereits auf den ihr nächsten noch frei agierenden Gegner zu, als ein goldener Lichtstrahl sie von vorne traf und einhüllte. Sofort meinte sie, etwas würde ihren Unterleib erschüttern. Sie fühlte einen Wärmestoß durch ihren Körper gehen. Da erlosch das goldene Licht. Barbara konnte jedoch sehen, dass es wie von einem straff gespannten Gummituch zurück zum Absender federte, ihn einhüllte und dann erlosch. Barbara sah jetzt nur noch den Strampelanzug und den übergroßen Babykopf. Doch dann erkannte sie die Verdickung in der Mitte des blauen Strampelanzuges und begriff, dass ihr Gegner von seinem eigenen Zauber getroffen worden war. Damit hatte sie jetzt nicht gerechnet. Laut ihrem Bruder sollte Infanticorpore nur wie bei der wörtlich aufrufbaren Gegenbeschwörun unwirksam werden.

Barbara wandte sich um. Immer noch schwirrten geflügelte Scheren herum, die nach abschneidbaren Körperteilen jagten und keine Fanden. Alle ihre Kolleginnen waren mindestens fünfzig Meter hinter ihr. Natürlich hatte Barbara sie alle abgehängt. So sah sie erst im zweiten Hinsehen, dass auch die anderen Angreifer sich selbst infanticorporisiert hatten. Im Moment gab es keinen frei handlungsfähigen Gegner mehr. "Okay, Mädchen, hopp, hopp, hopp! Voran, raus aus der Locattractus-Zone!!" rief Barbara Latierre ihren Kolleginnen anfeuernd zu. Amélie meinte jedoch, sie wollte einen der eingekapselten unbedingt zum Verhör mitnehmen. "Nehmen Sie lieber einen oder zwei von den Helden, die ihre eigene Medizin abbekommen haben!" schlug Barbara vor. Charlotte begriff und tauchte schon nach einem der infanticorporisierten Gegner. Da erstrahlten die übergroßen Babykopfvollmasken in grünem Licht und schleuderten eine aufwärtsdrehende Lichtspirale von sich. Charlotte war gerade so noch zurückgewichen. Als Barbara sich umsah stellte sie fest, dass alle niedergeworfenen Gegner verschwunden waren. Nur die in den weißen Kapseln waren noch da. Doch die Kapseln glühten in einem schwachen tiefgrünem Licht. Die geflügelten Scheren rasten wie auf einen unhörbaren Befehl hin in einer Viereckformation nach oben und verschwanden in grünen Lichtentladungen.

"Nicht die Kapsel auflösen, Amélie, sonst ...", stieß Barbara aus. Doch da hatte Amélie eine der grün schimmernden Kapseln aufgelöst. Sofort verschwand der darin eingeschlossene in einer hellgrünen Lichtspirale.

"Nicht warten! Weiterlaufen. Wir müssen weitermelden, was passiert ist!" rief Barbara Latierre.

"Das lasst ihr gefälligst bleiben!" brüllte eine sehr wütende Kleinjungenstimme zur Antwort. Da sah Barbara, wie über ihnen etwas silbernes aus einer grünen Leuchtspirale herausfiel, in der Luft stehenblieb und dann ein Gespinnst aus blauen Strahlen in alle Richtungen aussandte. Die Strahlen wurden zu einem flimmernden Geflecht aus dünnen Lichtfäden, das innerhalb von nur zwei Sekunden den Boden erreichte und sich zu einer himmelblauen, leicht flirrenden, halbdurchsichtigen Kuppel verdichtete. "Schon interessant, was ihr alles gelernt habt. Wir haben auch gelernt, die Damen. Diese Kuppel dient eigentlich dem Einfangen gefährlicher Zaubertiere, ohne sie zu verletzen. Gut, gewissermaßen sind Sie alle ja die gefährlichsten magischen Tierwesen, die dieser unser Planet hervorgebracht hat. Sie haben jetzt die Wahl, freiwillig alle Kleidung und Zauberutensilien, die sie am oder gar im Körper mitführen abzulegen und sich freiwillig in unser Gästehaus verbringen zu lassen, oder ich gebe der Himmelsglocke die Anweisung, die unter der Kuppel enthaltene Luft aus der Kuppel hinauszuversetzen. Falls Sie das wünschen können Sie dann gerne zusehen, wie Ihre Kolleginnen in dem so entstehenden Vakuum explodieren. Wir bekommen dann auf jeden Fall genug Material, um Ihr Verschwinden bis auf weiteres zu verheimlichen. Die Zeit läuft ab jetzt: Dreißig Sekunden und herunterzählend!"

Barbara bückte sich, hob einen Stein auf und rannte die halbe Strecke bis zu der flimmernden Lichtkuppel. Sie holte aus und warf den Stein. Der flog und flog und prallte mit Wucht gegen das leuchtende Hindernis, um keine Zehntelsekunde später davon zurückgeprällt auf Barbara zuzurasen. Diese ließ sich sofort fallen. Der Stein schwirrte wild rotierend über sie hinweg und klatschte knapp vor Amélie, die hundert Meter entfernt war, auf den Boden. Also so ging es nicht. Doch aufgeben oder sterben wollte Barbara auch nicht. Sie überlegte, was sie noch anstellen konnte, um ihrem Verhängnis zu entgehen. Sie hatte selbst noch vier silberne Kugeln, in denen der Incapsovulus-Zauber eingearbeitet war. Dieser zog seine Haltbarkeit aus der Magie des davon umschlossenen Lebewesens. Vielleicht ging das.

Sie lief vor. "Noch fünfzehn Sekunden!" trällerte diese nervige Kinderstimme und zählte dann laut die noch verbleibenden Sekunden. "Vierzehn - dreizehn - zwölf ..."

Barbara warf die erste Silberkugel und traf die Lichtkuppel. Die Kugel zersprang in einem weißen Blitz, der Barbara fast blendete. Sie sah auf die Stelle und erkannte, dass diese sich violett verfärbt hatte. So warf sie noch eine Kugel. Mit lautem Knall zerplatzte diese. Barbara hatte diesmal ihre Hände vor die Augen gelegt. Nun wagte sie den Blick auf die getroffene Stelle. Der violette Lichtfleck war nun größer. So warf Barbara die beiden weiteren Kugeln. - "Acht - sieben - sechs ..." Auch die beiden weiteren Kugeln vergrößerten das violette Leuchten. Was hätte Barbara jetzt für einen Incantivacuum-Kristall gegeben?

"Vier - drei - zwei - eins - null!! Ihr habt es so gewollt!" plärrte die wütende Kinderstimme.

__________

Julius fühlte sich nicht besonders wohl dabei, vielleicht gleich mit anzusehen, wie sein direkter Vorgesetzter wegen eines tückischen Eides sterben musste. Andererseits war ihm bei der ganzen Diskussion mit der Ministerin und Pierre Duchamp der Verdacht gekommen, dass Arion Vendredi wirklich mit jemandem zusammengetroffen war, der oder die dem französischen Zaubereiministerium oder überhaupt einem Zaubereiministerium der Welt nicht freundlich gesonnen war. Die Vorstellung, dass diese Macht Arion Vendredi als Spion und/oder Vollstrecker der eigenen Interessen zurückgeschickt haben mochte gefiel ihm nicht. Sicher, Vendredi mochte wahrhaftig aus Angst vor Veelazaubern einen unbekannten Schutzzauber auf sich angewendet haben oder hatte dies von einem Bekannten besorgen lassen. Dazu hatte er das Recht. Aber was, wenn die Behauptung, er habe das aus Angst vor Zaubern wie den verbotenen Segen gemacht, nur eine Ausrede war, damit niemand hinterfragte, was er wirklich gemacht hatte und vor allem warum. Julius hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass er seine dem Ministerium unbekannten Zauber aus einer geheimen Quelle gelernt hatte und hatte auch die Kinder Ashtarias erwähnt, die allgemein als gutwillig angesehen waren. Er hätte auch sicher keine schwarze Magie benutzt, die jemanden anderen schädigen mochte oder einen selbst immer mehr zerstörte, wie die Seelenzersplitterung, die sich Tom Riddle alias Lord Voldemort zugefügt hatte oder das Einbringen von Unlichtkristall in den eigenen Körper, wie es Hagen Wallenkron alias Lord Vengor an sich ausgeführt hatte.

"Bevor deine Berufsgefährten ihre Mittel verwenden, geh selbst nahe genug an ihn heran um zu fühlen, was deinen Dienstvorgesetzten umgibt, Julius", hörte er die wie ein sanft angestrichenes Cello klingende Gedankenstimme seiner großen, vierbeinigen Vertrauten Artemis vom grünen Rain.

"Du meinst, durch unsere Verbindung kannst du erfühlen, was das für eine Kraft ist, die Arion Vendredi umschließt?" fragte Julius. "Wenn ich sie erkennen kann ja, Julius. Bedenke, dass Naaneavargia die Tränen der Ewigkeit gekostet hat und deshalb zur schwarzen Spinne wurde. Vielleicht hat Arion Vendredi ebenfalls davon kosten dürfen und trägt deshalb die Natur eines Kerbtieres in sich. Falls dem so sein sollte könnte eine auf ihn einwirkende Kraft dazu führen, dass diese in ihm lauernde Erscheinung freigesetzt wird und dann ohne Angst vor den Kräften von Schwächung und Tod gegen euch kämpfen kann. Dann würde nur der Bann der Tötungslust ihn vielleicht aufhalten."

"Und wenn ich dadurch, dass ich auf ihn zugehe, die Freisetzung einer solchen inneren Tiergestalt auslöse, Temmie? Gegen eine Spinne kann ich den Schein der großen Schlange mit den tödlichen Augen verwenden. Aber was kann ich gegen ein Insekt, also ein Kerbtier machen, das den Basilisken nicht fürchten muss?" "Hast du bei Madrashmironda nicht einen wirksamen Schutzzauber gelernt, um Feinde auf Abstand zu halten?" fragte Artemis. Julius bestätigte das. Er konnte den Zauber vom schützenden Schoß der großen Mutter anwenden, um sich in eine beinahe unaufbrechbare Kugelschale einzuschließen, wenn es sein musste auch mit bis zu zehn anderen. Außerdem hatte er doch diesen Reinigungszauber gelernt, mit dem verfluchte Orte entflucht werden konnten und die Kraft der dunklen Zauber in den sehr aufnahmefähigen Erdboden abgeführt wurde. Den hatte er als Madrashainorian sogar als praktische Prüfungsaufgabe ausgewählt, weil ihm wohl schon im Unterbewusstsein klar geworden war, dass das ein ähnlicher Zauber sein musste wie die Anrufung der Kraft aus Leben und Liebe, welche er von Darxandria gelernt hatte, als deren Seelenanteil in ihm gewohnt hatte, bevor es sich mit der Seele der geflügelten Kuh Artemis verband.

Versuche so nahe wie möglich an ihn heranzukommen, damit ich durch dich erfühle, was ihm innewohnt. Bemerkt er dies und wehrt sich, zieh dich sofort zurück! Lass es nicht dazu kommen, dass er dich körperlich angreifen kann!" riet Temmie ihrem Vertrauten.

Bevor es aber daran gehen sollte, Arions vielleicht sehr dunkles Geheimnis zu ergründen, lenkte sich Julius mit der Bearbeitung weiterer Akten ab. Er fragte sich dabei, was wirklich wäre, wenn jemand wie Arion Vendredi ein Gesetz zur stärkeren Beschränkung von Veelas und Veelastämmigen durchbringen mochte? Am Ende konnte das wirklich noch in einer Art Krieg ausufern. Krieg brauchte echt keiner, außer er hieß George W. Bush oder Saddam Hussein.

"Habt ihr schon was von Barbara gehört?" wollte Julius' Schwiegermutter von ihm hören, als sie ihn im Speisesaal für Ministeriumsmitarbeiter zu sich an den Tisch winkte, an dem auch seine Schwägerin Martine und Michel Montferre saßen.

"Ich habe heute morgen nur mitbekommen, dass Monsieur Vendredi sie noch einmal nach Réuninon geschickt hat, weil da irgendwas mit der Zählung der Sternensänger nicht in Ordnung gewesen sein sollte. Mehr weiß ich nicht und kann deshalb auch nicht sagen, ob ich das dann aus unserer Abteilung hinauslassen darf."

"Wir beide wissen, dass die Banditen von VM dort die Sternensängereier geräubert haben, weil sie damit ihren Fortpflanzungsförderungstrank ansetzen", sagte Hippolyte. "Sie hat zwar von unserem Bruder Otto einige hoffentlich brauchbare Sachen mitbekommen. Aber wenn die da echt auf diese VM-Banditen treffen weiß keiner, was denen alles einfällt.."

"Ich verstehe, dass du dir sorgen machst, Hippolyte. Mir wäre das auch nicht geheuer, wenn ich wüsste, dass es wieder gegen diese Typen geht, wo ich zweimal mitbekommen habe, wie schnell die mit ihren Infanticorpore-Waffen hantieren. Ich hoffe nur, die haben kapiert, dass es nichts brächte, andauernd Leute verschwinden zu lassen. Abgesehen davon habt ihr ja alle Florymonts Vorkehrungen erhalten."

"Ja, das stimmt", sagte Hippolyte. Michel fragte Julius dann, ob es beim Tag nach Osterdienstag bleibe, dass er die jährliche Prüfungsstunde Apparieren machte, um seine Erlaubnis zu verlängern. Bisher hatte er das immer so gelegt und nie einen Grund gehabt, sich deshalb zu sorgen. So sagte Julius auch diesmal, dass er mit dem Termin einverstanden sei.

Am Nachmittag empfing er noch eine Gedankenbotschaft von Léto. "Ich habe meinen Töchtern nahegelegt, keine Berufung einzulegen. Monsieur Pontier wird noch heute dem Zuständigen Protokollführer die Verzichtserklärung zustellen. Dann heißt das ab morgen, dass Euphrosyne wieder Blériot mit Nachnamen heißt und bei mir neu aufwächst." Julius bestätigte das und erwähnte, dass er auf jeden Falle eine Kopie der Verzichtserklärung und der damit einhergehenden Annahme des Urteils erhalten müsse, weil das ja auch in seinen Zuständigkeitsbereich fiel. Léto bestätigte das.

Um zwei Uhr nachmittags bestellte die Ministerin Julius zu sich, ebenso Pierre Duchamp, sowie zwei Zauberer aus der Strafverfolgung. Diese, so die Ministerin, sollten bezeugen, ob Arion Vendredi auf Grund einer unerlaubten Bezauberung suspendiert werden solle, sofern sich herausstellte, dass er mit wem auch immer dunkle Magie benutzt hatte.

"Echt wohl ist mir bei der Sache immer noch nicht, Ministerin Ventvit. Vor allem frage ich mich, warum ich als Veelabeauftragter dieser Befragung beiwohnen soll?" bekundete Julius seine Bedenken. "Merkwürdig, Monsieur Latierre. Dabei liegt es doch auf der Hand: Wenn festgestellt wird, dass Monsieur Vendredi nichts ungesetzliches, nur unbekanntes getan hat, so müssen Sie damit rechnen, dass er demnächst diesen angekündigten Gesetzesentwurf zur Beanspruchung von Ausgleichszahlungen von Létos Familie vorlegen wird. Sie müssten dieses Gesetz dann den Veelas und ihren mit Menschen gezeugten Nachkommen erklären und auf dessen Einhaltung achten. Deshalb sollten Sie auch bezeugen, ob Monsieur Vendredi unbeeinflusst und unbescholten weitermachen darf oder nicht", antwortete Ministerin Ventvit.

"ich verstehe Ihre Argumentation, Ministerin Ventvit", erwiderte Julius. Eigentlich hatte er sie rein logisch schon am Morgen verstanden. Doch er hatte lernen müssen, dass Logik eben nicht alles erklären konnte und auch nicht alles rechtfertigte.

Julius hätte sich jetzt magische Augen wie von Moody oder der deutschen Kollegin Albertine Steinbeißer gewünscht, um durch die Tür zu sehen, was Vendredi gerade tat. Als die Ministerin anklopfte folgten erst einige Sekunden Schweigen. Dann rief Vendredi "Herein!"

Wie zu erwarten war konnte Julius an Vendredis Gesicht ablesen, dass er mit diesem Auflauf von Kollegen und der amtierenden Ministerin ganz unzufrieden war. Julius hatte sich nach dem Mittagessen das Orichalkarmband angelegt, dass er seit einiger Zeit in seinem Practicus-Brustbeutel mitführte, um es dann zur Hand zu haben, wenn er es brauchte und es ansonsten unauffällig und unstehlbar dabei zu haben. Er fühlte, dass das Armband bereits auf etwas in diesem Raum reagierte. Es war die typische Abkühlung auf Grund einwirkender dunkler Zauberkräfte. Also war hier wahrhaftig schwarze Magie am Werk.

"Ich habe den Entwurf für das mit Ihnen besprochene Gesetz gerade fertigbekommen. Doch es wäre nicht nötig gewesen, dass Sie und so viele Leute sich ihre Ausgabe davon bei mir persönlich abholen", sagte Vendredi verdrossen.

"ich werde diesen Entwurf sehr gerne entgegennehmen, wenn wir noch zwei Dinge geklärt haben, Arion", sagte die Ministerin und trat vor, bis sie knapp einen Meter vor dem Mitarbeiter stand. "Punkt eins ist, rührt Ihre Aversion gegen Veelas nicht eher daher, dass sie den zauber auf sich liegen haben, der Sie unortbar macht anstatt sie den Zauber auf sich haben legen lassen, weil Sie in den Veelakräften eine Bedrohung Ihres eigenen Lebens sehen?"

"Verzeihung, Mademoiselle Ventvit, aber diesen Punkt haben wir doch heute morgen schon geklärt", sagte Vendredi mit unüberhörbarer Verstimmtheit. Julius meinte, dass sein Vorgesetzter sich von der gemeinsamen obersten Dienstherrin in die Enge gedrängt fühlte und gerade so noch seine Selbstbeherrschung behielt.

"Das war, bevor mich Monsieur Duchamp darüber informierte, dass er Zweifel an der Rechtschaffenheit jener Quelle hege, die Ihnen diesen Zauber auferlegt haben soll. Außerdem entzieht sich mir, warum Sie auf eine Ausbürgerung von Veelas ausgehen, wenn der Ihnen auferlegte Zauber Sie doch genau vor deren Kräften schützen soll. Nicht wahr, Monsieur Latierre?"

Julius trat weiter vor. Jetzt fühlte er regelrechte Kältewellen durch das Armband in seinen Arm strömen. Sein besonderes Schmuckstück aus der Villa Binoche erzitterte sogar. Offenbar strahlte von Vendredi her eine sehr starke aber immer noch gebändigte dunkle Magie. So ähnlich hatte es sich in der Nähe von Anthelia/Naaneavargia angefühlt. Gut, dass er zusätzlich noch die Goldblütenhonigphiole aus dem Brustbeutel genommen und in eine Außentasche seines Dienstumhanges gesteckt hatte.

"Was soll das werden, Monsieur Latierre? Haben Sie sich wegen heute morgen von Léto noch einmal ins Gewissen reden und sich von ihrer Kraft mehr durchdringen lassen?" fragte Vendredi und streckte seinen Arm nach Julius aus. Seine Hand war nur einen halben Meter von ihm entfernt. Da fühlte Julius den Kältestoß durch seinen Arm gehen. Gleichzeitig sah er es zwischen sich und Vendredi schimmern, golden-grün gemischt mit einem Hauch von violett. Violett?

"Setzen Sie sich gütigst da hinten hin, Monsieur Latierre. Sich derartig an mich heranzuwagen gehört sich nicht für einen Untergebenen", maßregelte Vendredi Julius. Dieser war sich sicher, dass sein bisheriger direkter Vorgesetzter auch etwas gespürt haben musste und jetzt bereits in Alarmstimmung war.

"Julius, tu was er sagt, bevor die in ihm schlafende Kraft unbeherrschbar aus ihm herausbricht", hörte er Temmies Gedankenstimme. So zog sich Julius zurück und setzte sich weit genug weg von Arion Vendredi. Die Ministerin jedoch trat nun dafür näher an Vendredi heran. Der erzitterte für einen Moment und deutete dann auf seinen Kopf.

"Ich bin gegen Veelazauber gefeit. Allerdings vertrage ich die direkte Wirkung ihrer Zauber nicht, wenn diese bei anderen wirken, Mademoiselle Ventvit", sagte er. Doch die Ministerin ließ ihm das nicht durchgehen.

"Ist es nicht eher so, dass was immer Sie nun an oder in sich haben Sie besonders empfindlich für Veelazauber macht? Ich erwarte eine bessere Begründung als das, was Sie mir und den Messieurs Duchamp und Latierre aufgetischt haben. Ist es nicht eher so, dass sie nach der Inkraftsetzung des Sie umgebenden oder erfüllenden Zaubers gemerkt haben, dass sie die Nähe von Veelas oder deren Magie in anderen Lebewesen nicht mehr ertragen können? Immerhin haben Sie Monsieur Delacour bei der Konferenz nach Ihrem Urlaub den Besuch des Badezimmers untersagt, wohl weil Sie fürchteten, dass Léto seine Abwesenheit nutzen könnte, um zu uns zu kommen. Denken Sie wirklich, dass ich Ihnen die Geschichte abkaufen kann, dass Sie aus Angst vor Veelas einen namentlich unerwähnt bleibenden Zauberer oder eine geheimgehaltene Hexe aufgesucht haben, um sich zu schützen. Dann, Monsieur Vendredi, erscheint mir und nicht nur mir dieser Zauber fehlgeschlagen zu sein, wenn Sie derartig nervös auf meine und Monsieur Latierres Nähe reagieren, als trügen wir einen gefährlichen Krankheitskeim in uns."

"In gewisser Weise tun Sie das auch, Frau Ministerin", knurrte Vendredi. "Sie sind von einer unheilvollen Kraft erfüllt, die Sie dazu treibt, nur noch das zu tun, was diese Viertelveela Euphrosyne von Ihnen verlangt. Hätten die Wählerinnen und Wähler das vorher gewusst, dann wären Sie auf gar keinen Fall Zaubereiministerin geworden. Und was Monsieur Latierre angeht, so sollten Sie sich von ihm erklären lassen, welchen Preis er zu zahlen hat, dass ihn die Veelas als ihren Vermittler anerkennen. Mussten Sie Léto zusagen, ihre unverheirateten Enkel und Urenkel zu begatten, um Ihre hohen Zaubergaben mit Veelablut zu vereinen?"

"Das Thema hatten wir auch schon mal", sagte Julius nun ganz entschlossen. "Ich kann mich auch daran erinnern, dass Sie mir immer schon unterstellt haben, dass ich den Veelas irgendwelche Gefälligkeiten schulde. Ich will nicht abstreiten, dass es die eine oder andere Veelastämmige gibt, die sich durchaus sowas vorstellen könnte. Aber dass ich zum Vermittler wurde lag und liegt an der Sache mit Diosan und dass ich deshalb eine besondere Beziehung zu Madame Léto habe."

"Arion, wie erwähnt nehmen wir Ihnen die Begründung von heute morgen nicht ab. Monsieur Duchamp hier hat mir nämlich nach dem Treffen mit Ihnen erzählt, dass seine Untersuchung an Ihnen den Verdacht nahelegt, Sie hätten sich auf die Verwendung dunkler Magie eingelassen. Das würde nämlich auch erklären, warum Sie Veelas ablehnen, weil diese ihre Kräfte aus der belebenden Kraft von Luft, Erde, Wasser und Feuer beziehen", sagte die Ministerin.

"Sie kommen mir mit dem Vorwurf, dunkle Magie benutzt zu haben, wo Ihre verlangsamte Alterung doch nur dadurch erwirkt wurde, dass diese Person Euphrosyne ihre ungeborene Tochter missbraucht hat, um ihren sogenannten Segen zu wirken. Wenn Sie mir schon einen derartig drastischen Vorwurf machen müssen Sie das beweisen."

"Monsieur Duchamp, Monsieur Beaumont, Ihr Stichwort", wandte sich die Ministerin an den Sicherheitsleiter und einen der Strafverfolgungszauberer. Beide traten vor und hielten wie in den Händen verstofflicht silberne Geräte bereit, die unvermittelt zu zirpen, sirren und klicken begannen. Julius fühlte, wie etwas in Vendredis Richtung immer stärker wogte, als würde jemand eine Schüssel Wasser schwenken und die Flüssigkeit immer mehr über den Rand schwappen.

"Ich verbiete Ihnen das! Wenn Sie so weitermachen und wahrhaftig ergründen, was ich tun musste töten Sie mich!" begehrte Vendredi auf. Im Moment sah Julius nur verhaltene Wut in seinen Augen. Doch je mehr die von Duchamp und Beaumont benutzten Geräte zirpten und klickten, desto mehr sah es danach aus, als trieben sie Vendredi in die Enge. Jedes in die Enge getriebene Raubtier, der Mensch eingeschlossen, wurde dann besonders angriffslustig. Doch da war noch mehr als nur Bedrängtheit. In Vendredi steckte was, dass selbst Temmie beunruhigte und Julius' Armband sehr deutlich angeregt hatte. Dann war da dieses geisterhafte Farbenspiel zwischen ihm und Vendredi gewesen, seine grün-goldene Aura und ein violetter Farbton, den er irgendwoher kannte. Ihm war klar, dass Vendredi kurz davorstand, sich gegen jeden hier in diesem Raum zu stellen, wobei er, Julius, das mit Abstand schwächste Glied in der Befehlskette war. Selbst wenn er Ornelles Befehl befolgte würde Vendredi ihm das als unerlaubte Eigenmächtigkeit auslegen. Der hatte ihn doch sowieso schon länger auf dem Kieker.

"Hören Sie jetzt mit diesem Getue auf!" blaffte Vendredi, als irgendwas in ihm erzitterte. "Ministerin Ventvit, sollte ich deshalb gleich sterben, weil Ihre Apparateknechte da meinen, mich und alles mich umgebende analysieren zu müssen, dann fällt das auf Sie zurück."

"Ich habe es bereits diesen Herren hier gesagt, dass ich bereit bin, dieses Risiko einzugehen. Monsieur Duchamp, was sagt Ihre Auswertung?"

"Ich komme nicht darum herum, festzustellen, dass der Kollege Vendredi von einer in den Bereich dunkler Magie reichenden Kraft erfüllt ist, die nach meiner Auswertung hier mit seinem Blut verbunden sein muss. Ähnliche Auswertungen habe ich bisher bei Vampiren und Werwölfen erzielt, allerdings nicht in diesem so starken und doch noch gut unterdrückten Maße. Was immer der Kollege Vendredi mit sich hat anstellen lassen, es ist keine wohltätige Kraftquelle."

"Sind Sie noch zu retten?" knurrte Vendredi. Da sprach der Strafverfolgungszauberer Beaumont: "Ich muss die Auswertung von Monsieur Duchamp leider bestätigen. Grob gesprochen muss ich sagen, dass Sie verflucht sind, Monsieur Vendredi. Ich weiß natürlich, dass die bloße Erwähnung eines Fluches dessen Kraft verstärken kann. Aber in Ihrem besonderen Falle ist es leider unumgänglich, dies zu erwähnen, weil Sie eine zu wichtige Position bekleiden, um unbemerkt im Sinne dieses Zaubers zu handeln, von wem oder was er auch immer herrührt."

"Halt dich bereit, Julius! Es könnte auf dich ankommen", dröhnte Temmies warnende Gedankenstimme.

"Soso, wenn ich verflucht bin, Monsieur Beaumont, dann von wem bitte? Wir haben da ja einiges im Angebot, nicht wahr? Außerdem gilt das dann ja auch für die Ministerin. Diese wurde auch einem nachhaltigen Zauber unterworfen, der eigentlich ein Fluch ist, weil er sie an die Leben zweier Veelastämmiger kettet wie Catena Sanguinis."

"Also, bei Ihnen ist es eindeutig nicht der Catena-Sanguinis-Fluch, weil Sie den dann sicher nicht erwähnt hätten", sagte Beaumont trocken. "Aber ich kann zumindest eine Schwingungsart bestimmen, die wahrhaftig aus einer starken weiblichen Quelle stammt, als hätte jemand sie ähnlich wie Monsieur Latierre oder Mademoiselle Ventvit mit einem starken Veelazauber belegt. Also ist die Quelle entweder eine besonders mächtige Hexe oder eine über das Menschsein hinausgewachsene Daseinsform. Jedenfalls muss ich der Ministerin und Monsieur Duchamp beipflichten, dass Sie mit dieser Bezauberung ein gewisses Risiko darstellen."

"Risiko? Ich stelle ein Risiko dar? Da sitzt einer, der dem Ministerium unbekannte Zauber gelernt hat und sie auch noch anwendet, ohne zu erläutern, von wem er sie gelernt hat", sagte Vendredi und deutete auf Julius. "Ja, und die Dame hier, die durch das Wohlwollen großer Zaubererfamilien in das Ministeramt erhoben wurde, steht unter dem Einfluss einer Veelastämmigen und womöglich auch ihrer Tochter und ihrer anderen Blutsverwandten. Diese Frau hier wird, wenn sie nicht aus dem Amt entfernt wird, eines Tages enthüllen, dass sie den Veelas unbeschränkte Freiheiten einräumen muss, um des lieben Friedens Willen. Genau das ist doch der Grund für Ihre Aktion, mich zu diskreditieren, nicht wahr, Frau Ministerin?" polterte Vendredi. Doch die erwähnte sagte nichts.

"Ich würde gerne noch eine Heilerin hinzuziehen, um prüfen zu lassen, ob irgendwas Ihren Körper verändert hat, womöglich ihr Blut und Ihren Geist vergiftet hat", sagte Duchamp und trat noch näher an Vendredi heran. "Aber bevor ich das tue will ich noch eine klare Bestimmung der Quelle machen, die Sie verändert hat. Am Ende tragen Sie etwas in sich, dass wie bei einem ungeborenen Kind wächst und ausreift."

"Sie alle verschwinden aus meinem Büro, auch Sie, Mademoiselle Ventvit. Ich werde noch heute eine Anzeige wegen Verleumdung und Amtsmissbrauch erstatten. Wenn Sie meinen, mich derartig in Verruf bringen zu müssen, dann tragen wir das vor Gericht aus, und zwar öffentlich, damit alle Welt erfährt, dass Sie mich nur deshalb abzusetzen trachten, weil ich Ihren großen Gönnern Einhalt gebieten möchte. Monsieur Latierre hier darf schon einmal den Entwurf jenes Entschädigungsgesetzes mitnehmen, das die Untaten dieser Euphrosyne Blériot ahnden soll. Weigert er sich, diese Anweisung auszuführen, mag er sich gut überlegen, wo er in diesem Zaubereiministerium noch einen einträglichen Posten einnehmen darf."

"Zuvor soll Monsieur Duchamp seinen Versuch machen. Was genau wollen Sie ermitteln, Monsieur Duchamp?" wandte sich die Ministerin an Pierre Duchamp. Dieser holte noch einmal das silberne Instrument hervor und hantierte daran. Unvermittelt gab es einen aufsteigenden Summton und ein immer lauter werdendes Wimmern von sich. Julius fühlte in seinem rechten Arm und in der Seitentasche seines Umhanges, dass dieses Gerät irgendeine Form dunkler Energie aussandte, die wie ein von einer Betonwand zurückprallender Tennisball von Vendredi zurückgeworfen wurde, um dann um so stärker von diesem aufgesogen zu werden, als würde da jemand eine Wasserpumpe betätigen.

"Was soll das? Eh, aufhören!" presste Vendredi heraus. Die Ministerin sah Duchamp erwartungsvoll an. Dieser las wohl was von seinem Gerät ab, das immer wilder in seinen Händen erbebte. "Ich prüfe auf das Echo des dunklen Atems, Ministerin Ventvit. Wenn ich die Schwingung treffe, die Monsieur Vendredi erfüllt kann ich bestimmen, welcher Art die ihm auferlegte Bezauberung ist."

"Das werden Sie auf der Stelle beenden, Sie überheblicher ..." stieß Vendredi aus, dessen Körper jetzt wie unter Stromschlägen zusammenzuckte. Julius sah auch wieder ein Licht, ein Schleier aus dunkelvioletten Funken.

Vendredi ergriff seinen zauberstab, um sich gegen die ihn peinigende Kraft zu wehren. Da erreichte der aufsteigende Summton eine schmerzvolle Tonhöhe. Gleichzeitig mischte sich noch ein tieferer Ton dazu, wie von einer mit nassem Finger am Rand angestrichenen Glasschüssel. Jetzt konnte Julius deutlich die violette, flackernde Aura erkennen, die Vendredi umgab. Das war genau das dunkelviolette Licht, dass er schon mehrmals gesehen hatte, immer im Zusammenhang mit den Töchtern Lahilliotas. Dann passierte es.

__________

Die Zeit war um. Wenn Barbara nichts mit ihren Versuchen erreicht hatte mochten sie gleich alle vom eigenen Innendruck zerrissen werden. Dagegen, so wusste Barbara, schützte auch keine Kopfblase, sondern nur ein druckausgleichender Duotectus-Anzug.

"Wie viele Kapseln habt ihr noch?" versuchte Barbara den Vocamicus-Zauber. Doch sie erhielt gerade nur ein lautes Rauschen und Prasseln. Also wirkte diese fliegende Glocke und die von ihr gebildete Umschließungskuppel auf den Vocamicus-Zauber ein. Doch was Barbara weitergeben wollte war offenbar klar geworden. Denn gerade liefen die anderen Hexen herbei. "Den alten Hut haben die aus dem Hut gezogen", knurrte Amélie. "Incapsovulus schwächt die Kuppel an der Stelle, wo er mit ihr in Berührung kommt. Aber er hält nur eine Minute. Aber in der kommt zumindest Luft durch", sagte sie noch. "Aber was diesem blauen Ding die letzte Glocke läutet ist das hier", sagte Amélie und zog aus ihrem Umhang ein Ding, das aussah wie eine vergoldete Kaastanienhülle. "Lass die Sonne raus!" rief Amélie und warf die Kugel nach oben. Sie leuchtete nun sonnenhell auf und stieg wie ein aufgelassener Ballon höher und höher, bis zur Unterseite der silbrigen Konstruktion, die wie eine flachgedrückte Glocke mit verdicktem Rand beschaffen war. Als das von der Sonnenlichtkugel ausgehende Licht von der Unterseite der fliegenden Silberglocke gespieglt wurde verfärbte sich die um die Schwebeglocke schimmernde Stelle der blauen Kuppel orangerot wie bei einem Sonnenaufgang. Die schwebende Silberglocke begann zu wackeln und zu wippen, ruckte hin und her. Derweil zuckten orangerote und gelbe Blitze über die blaue Kuppel. Da, wo sie entlangschossen glühten rote Rillen, die immer breiter wurden, bis es auch querlaufende Rillen gab. Dann erstrahlte die Kuppel in orangerotem Licht, um im nächsten Moment in Milliarden nach außen wirbelnden Funken zu vergehen. Die silberne Glocke, welche die Kuppel aufgebaut hatte begann sich immer schneller zu drehen und jagte wie von mehreren Raketen getrieben immer weiter nach oben. "Nicht hingucken. Gleich zerplatzt das Ding. Ist nicht wirklich augenfreundlich!" warnte Amélie Barbara und ihre Kolleginnen über den wieder wirksamen Vocamicus-Zauber. Da erstrahlte der Boden in weißem Licht. Zwei Sekunden später gab es einen dumpfen, von weit her widerhallenden Knall, direkt gefolgt von einem vielstimmigen Schwirren und Sirren, Zischen und Pfeifen. Dann wechselte das Licht von blendendweiß zu Hellgelb, warmem Orange, dunklem Rot, um dann ohne weiteren Übergang zu verlöschen. Die Hexen auf dem Boden fühlten, dass die Luft um mehrere Dutzend Grad erhitzt worden war.

"Wie gesagt, das war der älteste Hut der Tierfangbezauberung und wird seit zwanzig Jahren nicht mehr benutzt, weil sich erwiesen hat, dass unter die Himmelsglocke gestrahltes gespeichertes Sonnenlicht den auf Feuerelementarzaubern und Luftbewegungszaubern fußenden Ausrichter so dermaßen überlädt, dass die Vorrichtung der Kraft nicht standhält und schlagartig verdampft, wobei leider auch die Sonnenlichtkugel mitzerstört wird", sagte Amélie.

"Okay, dann weiter, raus aus der Locattractus-Zone. Wir haben wen, der auf uns wartet!" befahl Barbara und lief los, um nicht wieder von was auch immer aufgehalten zu werden.

"Hmm, Vielleicht geht das Fliegen jetzt wieder", meinte Charlotte Pommerouge und deutete in Richtung Wildhüterhaus. Sie vollführte einen Apportationszauber und ließ so ihren Flugbesen neben sich erscheinen. Dem Beispiel folgten die anderen auch. Es zeigte sich, dass sie nun wieder frei fliegen konnten, weil der Antiflugzauber wohl nur im direkten Umfeld des Wildhüterhauses wirksam war.

Sie waren gerade eine Minute mit maximaler Beschleunigung unterwegs, als wieder ein heller Widerschein vom Boden her erglühte, aber auch die Wolken am Himmel so hell wie die Sonne selbst strahlten. "Windumlenkung voll!" rief Barbara ihren Kolleginnen zu und hantierte an ihrem Besenstiel, um die Windumlenkung auf größten Wert zu bringen. Dann befahl sie noch "Escappericulum!" Mit einem gewaltigen Satz sprang der Besen vorwärts und nahm innerhalb einer Sekunde das doppelte Tempo auf. Die anderen folgten Barbaras Beispiel. Der Gefahrenfluchtmodus jedes modernen Besens konnte ihn für einige Kilometer bis auf die fünffache Reisegeschwindigkeit beschleunigen. Das war offenbar auch nötig. Denn unvermittelt überfiel sie alle eine sengende Hitze von hinten. Die Hitze nahm zu, bis um Besen und Reiterinnen eine blau flimmernde Aura erglühte, der in die Kleidung eingewirkte Flammengefrierzauber. Auch die Besen besaßen seit zwei Jahren einen Flammenschutzzauber. So konnten sie der mörderischen Hitzewelle standhalten. Doch dann kam mit lautem Donnerschlag eine Druckwelle über sie alle, die ihnen nur deshalb nicht die Trommelfelle zerfetzte, weil sie schon in dünnerer Luft flogen und die Kopfblase trugen, die dem auftreffenden Druck standhielt, wie sie es auch in hundert Metern Wassertiefe vermochte. Doch für die im Gefahrenfluchtbetrieb dahinjagenden Besen war die Druckwelle wie ein zusätzlicher Anschub. Die Besen rasten von der aufgepeitschten und aufgeheitzten Luft dahin und erzitterten hefftig. Das Tosen der sie alle vorandrängenden Luftmassen klang auch durch die Kopfblase so laut wie zehn Wirbelstürme auf einmal. Dann ebbte der Aufruhr ab. Für einige Sekunden jagten die Besen durch völlig ruhige Luft. Dann erfolgte der Gegensog. Die von der Welle ausgedünnte Luft wurde von allen Seiten mit dichteren Luftmassen aufgefüllt. Nun mussten die immer noch im Gefahrenfluchtbetrieb dahinrasenden Besen gegen einen gnadenlosen Gegenwind ankämpfen. Barbara fühlte trotz Unterrock und Unterhose, wie der Besenstiel zwischen ihren Beinen immer wärmer und wärmer wurde. Ihre behandschuhten Hände spürten davon nichts, weil Drachenhaut selbst noch in offenem Feuer keine Hitze durchließ.

Die in den Raum verdünnter Luft hineinstürzenden Luftmassen drückten die fliehenden Besen und ihre Reiterinnen im Uhrzeigersinn vom Kurs weg. Erst als die letzte Böe der Gegenströmung verflogen war und die Besen durch leicht aufgewühlte, aber nicht mehr wahllos herumschlagenden Luftmassen stießen, konnten Barbara und ihre Mitarbeiterinnen aufatmen.

"Haben die uns eine Kernspaltungsbombe hinterhergeworfen?" wollte Amélie Bonfils wissen. Barbara Latierre überlegte kurz. Dann blickte sie sich um. Weit in der Ferne, da, wo das Wildhüterhaus gestanden hatte, wuchs eine glutrot flimmernde, kilometerhohe Rauch- und Staubsäule in den Himmel, die sich weit in den Wolken zu einem pilzartigen Hut verbreitete. "Sieht echt so aus, wie mein Schwiegerneffe uns das mal beschrieben hat. Aber ich denke eher, diese Malefizbanditen haben das Haus mit einer Clamp'schen Kommotion pulverisiert, um bloß keine Spuren zu hinterlassen, was sie dort alles angestellt haben. Womöglich können wir das Wildtierreservat bald schließen, weil die dort wachsenden Pflanzen und Tiere absterben und der Boden nachhaltig verseucht ist. Öhm, wenn wir wieder in Paris sind ordne ich für uns alle eine vollständige Untersuchung und falls nötig Entseuchung von alchemistischen und radioaktiven Stoffen an."

Die Gruppe der Sechzehn landete fünf Minuten später mit wild zitternden und bereits leicht rauchenden Besen im Reisesphärenkreis. Barbara rief die Reiseformel für Paris aus und beförderte sich und ihre Mitstreiterinnen auf diese Weise in die Heimat zurück.

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"Sag mal, bist du eigentlich noch ganz gesund, Pater Decimus Quintus?!" polterte Pater Decimus Tertius Australianus, der zusammen mit dem äußerlich gerade zehn Jahre alt aussehenden Perdy die Niederlassung Ozeanien besuchte, von wo aus die Sammlung von Sternensängereiern erfolgte. Der angesprochene, ein untersetzter Zauberer von siebzig Jahren, starrte den einige Jahrzehnte jüngeren Mitstreiter an und fauchte: "Was fällt ausgerechnet dir ein, mich zu fragen, ob ich noch ganz gesund bin? Wer hat denn das mit den indischen Sternensängern vermasselt, dass diese Inspektionshexen den Braten zehn Meilen gegen den Wind gerochen haben? Wenn das nicht passiert wäre hätten die genau den Bestand ermittelt, den unsere Männer vor Ort denen in Paris weitergemeldet haben."

"Ja, stimmt, der Schnellschuss ging laut krachend nach Hinten los", bemerkte Perdy dazu. Dafür glubschten ihn die rein äußerlich wesentlich älter aussehenden Mitstreiter verärgert an. Doch er war noch nicht fertig. Er wandte sich an Pater Decimus Quintus Oceanius und sagte: "Ja, und du hast versucht, die mit einer der noch nicht umgebauten Himmelslichtglocken zu kassieren, nachdem sie irgendwie einen Abwehrzauber gegen unsere Reinitiatoren gewirkt haben und auch noch unseren Bringbeuteln und dem Festhaltezauber entrinnen konnten. Erstens sind die Plattformen für das Projekt "Blauer Mond" gedacht und zweitens seit der Erfindung der Sonnenlichtkugeln total obsolet, um andere Menschen damit einzuschließen. Wusstest du das nicht?"

"Konnte ich wissen, dass eine von denen gespeichertes Sonnenlicht mitführt und es genau unter die Glocke strahlen konnte?" blaffte Pater Decimus Quintus.

"Wissen nicht, aber annehmen, dass die sich auf vieles vorbereitet haben, nachdem wir Vendredi nicht einsacken konnten", knurrte Pater Decimus Tertius Australianus. Da meldete sich Perdy erneut zu Wort:

"Leute, dieser halbe Liter voll clamp'scher Mixturen hat jetzt sicher das Reservat versaut, abgesehen von der freigesetzten Strahlung. Ich frage deshalb auch mal: Was hat dich derartig dreinschlagen lassen, Ernesto?"

"Ich wollte verhindern, dass diese Hexenbande in Paris herumerzählt, dass wir das Reservat beherrschen", knurrte Pater Decimus Quintus Oceanius. "Außerdem musste ich alle Aufzeichnungen im Wildhüterhaus vernichten. Und das Wildtierreservat ist nicht verseucht worden, weil die dort eingesetzten Vulkanabwehrzauber alle Druckwellen, Feuerwolken und Giftstoffe in die höhere Erdatmosphäre ablenken. Könnte nur sein, dass da gerade ein Flugzeug der Muggels durchgeflogen ist. Das ist dann ganz weg. Schwund gibt's eben immer."

"Öhm, ich glaube, die Frage nach seinem Gesundheitszustand ist damit beantwortet, Kleiner", sagte Pater Decimus Tertius Australianus. Perdy nickte zustimmend.

"Leute, wenn die Latierre und ihre Besenamazonen bei dieser Aktion in unsere Hände geraten wären oder durch meinen finalen Befreiungsschlag vernichtet wurden werdet ihr mir auf Knien danken, dass niemand es mitbekommen hat, was wir auf der Insel gemacht haben. Das Wildhüterhaus ist auf Grund eines nicht genehmigten Zaubertrankversuches in die Luft geflogen, zehn Wildhüter tot, die anderen nur leicht verletzt", versuchte Pater Decimus Quintus Oceanius, den Vorwurf gegen ihn abzuwettern.

"Der hohe Rat tritt in einer Viertelstunde zusammen. Die Themen sind die unglaubliche Panne bei der Abwehr dieser Inspektion und das weitere Vorgehen gegen Vendredi", klang die Stimme von Pater Decimus Quintus Australianus aus leerer Luft zu ihnen.

"Such dir schon mal eine ergiebige Amme aus, Ernnesto", feixte Pater Decimus Tertius. "Könnte nämlich passieren, dass du wegen erwiesener Gemeingefährlichkeit für alle magischen Menschen noch mal neu aufwachsen darfst."

"Pass du auf, dass wir nicht in derselben Wiege landen, Klugscheißer", knurrte Pater Decimus Quintus Oceanius. Perdy sagte dazu nichts. Ihm ging das an die Nieren, dass ihre Gegner vom französischen Zaubereiministerium plötzlich wirksame Abwehrzauber gegen ihre sonst so unfehlbaren Fang- und Rückverjüngungszauber besaßen. Zehn Mitstreiter mussten wieder auf ihr natürliches Alter zurückgeführt werden. Bei vieren wusste keiner genau, wie viele Jahre das eigentlich waren. Das hieß dann, dass diese vier dann wirklich neu aufwachsen mussten, vielleicht mit oder vielleicht auch ohne ihre bisherigen Erinnerungen. Perdy wusste, wie unangenehm das sein konnte, die ersten Monate hilflos ausgeliefert zu sein. Nur der Wunsch, wieder jünger zu sein hatte ihm geholfen, das auszuhalten und noch dazu Spaß daran zu empfinden.

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Es brannte und walkte in ihm. Er fühlte, wie dieses künstliche Ding vor seiner Nase seine Innereien umkrempelte und sein Fleisch aufheizte wie in einem großen Kessel. Die Schmerzen wurden unerträglich. Das fegte auch den letzten Rest krampfhaft aufrechterhaltener Selbstbeherrschung aus seinem Bewusstsein. Er fühlte nur noch Schmerzen, sah um sich herum dunkelviolettes Licht und fühlte, wie sein Körper sich veränderte. Seine neue erhabene Erscheinungsform brach sich durch alle Schmerzen und durch alle Wut Bahn. Gleich würde er diese Brut da zerfetzen, sie in ätzenden Säurestrahlen zersetzen, ihr Fleisch zerkauen und hinunterschlucken, um dann in seiner mächtigen Gestalt durch das Ministerium zu fegen. Er würde Ventvits mit Veelakraft getränktes Blut trinken, Duchamp und sein verfluchenswürdiges Spielzeug an der Wand verteilen und auch Julius Latierre umbringen. Denn der hatte was an sich, was ihn ärgerte. Ja, jetzt hatte er seine Endform. Jetzt gab es keine Gnade mehr. Jetzt würde er sie alle vernichten, alle!!!

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"Sag mal, Vater meiner Kinder zehn bis zwölf, hat es bei dir da oben ausgehakt, dass du derartig laut dreinschlagen musstest?" fragte Mater Vicesima den Hauptverantwortlichen der sogenannten Aktionsicheres Nest. Dieser sah die Hexe an, mit der er vor mehr als vierzig Jahren zwei Jungen und ein Mädchen gezeugt hatte, weil sie unbedingt das Blut der Südseeinseln mit ihrem Fleisch und Blutverbinden wollte.

"Kommst du mir jetzt auch noch überheblich, ... Véronique?" stieß der Angesprochene aus. "Schon schlimm genug, dass dieser Jungspund da, der nur mehr Glück mit seinen Frauen hatte und dieser Technikfetischist, der unbedingt wieder zum kleinen Jungen werden wollte, sofern er das nicht schon immer gewesen war, mich dermaßen heruntermachen. Wir hatten vereinbart, dass das französische Zaubereiministerium nicht herausfindet, dass wir über Jahre diesen Wildtierpark beherrschten und die Sternensängereier einsammeln konnten. Es bestand die Gefahr ..."

"Das wir uns für alle Zeiten aus Réunion zurückziehen müssen und wieder indische Urwälder absuchen müssen, um genug von unseren Glücklichmachern herstellen zu können, vom blauen Lebensspender ganz zu schweigen. Warum habt ihr eigentlich nicht die Incantivacuum-Kristalle benutzt, die wir für solche Notfälle aufgespart haben? Damit hätten wir diese Hexenbande schnell und vor allem ungefährdet überwältigen und herschaffen können. Barbara Latierre war die Anführerin? Dann haben wir jetzt eine Blutfehde mit den Latierres, einer der fruchtbarsten Zauberersippen Frankreichs."

"Ach ja, ich habe das angerichtet? Du warst ja so sentimental und rachsüchtig und hast diesen Pimpf Gérard Dumas im Vollbesitz seiner Erinnerungen in die Freiheit zurückgeschickt. Der hätte bei uns neu aufwachsen sollen, ohne dass wer mitbekommen hätte, wo er genau verschwunden ist. Also, wer ist hier nicht mehr ganz richtig?" ging Ernesto Figuera, der im Rat bisher Pater Decimus Quintus Oceanius geheißen hatte, seine frühere Gefährtin an. "Ohne diesen Bengel hätten die nie darüber nachgedacht, dass es auf Réunion was zu kontrollieren gibt, du Genie. Und da wagst du es und da wagt ihr anderen es, mich anzupampen, weil ich keine andere Wahl hatte als die Brücken zu uns niederzureißen?"

"Du hast die Brücke mit lautem Getöse in die Wolken hochgepustet, nicht abgerissen", warf Pater Decimus Tertius Australianus ein.

"Komm, du sei bloß ganz still", knurrte Pater Decimus Quintus Oceanius. "Wer hat denn ständig behauptet, dass unsere Bewegungsblockierzauber unbrechbar seien? Wer hat trotz der Einwände unseres wiederverkleinerten Mitbruders hier andauernd getönt, dass die Reinitiatoren nicht gekontert werden können?" Bei seiner Frage deutete der sich in die Rolle des Hauptangeklagten gedrängte auf den körperlich zehn Jahre alten Mitstreiter Perdy.

"Ich begreife das nicht, dass die das hinbekommen haben", grummelte Pater Decimus tertius Australianus. Darauf sagte Perdy: "Leute, ich habe euch immer gesagt, je mehr Leute mitkriegen, wie unsere Zauber wirken, wächst die Wahrscheinlichkeit, dass irgendwer einen Gegenzauber entwickelt. Glaubt mir bitte, dass ich mich da sehr gut auskenne, wo ich sowohl reale Magie als auch fiktive Zukunftstechnologien studiert habe. Ja, und auch unsere Rekordhalterin Véronique hier wollte mir das nicht glauben, weil die Dinger so schnell auslösen. Sonst hätte sie garantiert nicht zugelassen, dass jemand unsere Werwolfjäger beobachten und das weitermelden kann oder diesen Gérard Dumas im Vollbesitz seiner Erinnerungen ausgesetzt."

"Lohnt es sich, über einen umgekippten und restlos ausgelaufenen Kessel zu jammern?" fauchte Mater Vicesima. Natürlich ging ihr nun auf, welche überheblichen Unterlassungsfehler sie begangen hatte. "Stimmt leider. Jetzt ist der Kessel echt umgekippt und alles rausgelaufen", brummte Pater Decimus Tertius Australianus.

"Ja, aber wieso haben die was hinbekommen, dass unsere Reinitiatorkraft auf die Anwender selbst zurückspiegeln kann. Das wäre nur mit einem schwarzen Spiegel gegangen oder wenn das Ziel bereits von einem anderen mächtigen Körperveränderungszauber betroffen war wie diese Belle Grandchapeau", warf Ernesto alias Pater Decimus Quintus Oceanius ein.

"Dadurch, dass du mit den IVKs gegeizt hast, großer Bruder, kriegen wir das jetzt nicht mehr heraus. Denn glaube mir, dass unsere Agenten in Frankreich gerade sehr unauffällig bleiben müssen. Vielleicht haben die auch den Gegenspruch in mehrfacher Ausfertigung in ihre Abwehrvorrichtungen eingesetzt. Aber wie gesagt werden wir das so schnell nicht herauskriegen", erwiderte Perdy mit einer unüberhörbaren Verachtung in der Stimme.

"Ja, und jetzt dürfen wir damit leben, dass unsere Gegner alle diesen Gegenzauber bei sich haben", seufzte Mater Vicesima mit schuldvollem Gesichtsausdruck. Doch dann straffte sie sich und sprach allen zugewandt: "Warum ich damals auf die Schonung von Julius Latierre bestanden habe halte ich weiter aufrecht, geschätzte Mitstreiter. Er kennt Dinge, die auch für uns sehr wichtig sein können und trägt zudem durch seine besondere Begabung und die Ehe mit einer einer auf gesunden Nachwuchs ausgehenden Hexe zur Vermehrung und Bestärkung der magischen Menschheit bei, was er als Wiederverjüngter ohne Gedächtnis mehr als zehn Jahre lang nicht vollbringen könnte." Dann wandte sie sich an Ernesto Figuera. "Du hast mich gerade auf eine gute Idee gebracht. Du wirst mit meinen zwei Töchtern neu aufwachsen, zum Dank dafür, dasss du mir drei gesunde und treue Kinder in den Bauch gelegt hast."

"Das darfst du vergessen, Véronique. Unsere Statuten verbieten es, dass ein Ratsmitglied zur Strafe von einem anderen Ratsmitglied neu aufgezogen werden darf. Du darfst mir auch nicht die Erinnerungen nehmen. Vergiss es also, dasss ich mich von dir noch mal großziehen lasse!"

"Stimmt, ein Ratsmitglied darf kein anderes Ratsmitglied neu großziehen", grummelte Mater Vicesima. "Dann wächst du eben zusammen mit den Kindern von Amanda Morrow ehemals Gildfork auf, als deren Milchschwester."

"Moment, das wirst du nicht wagen", knurrte Ernesto. Doch da hatte Véronique ihrem ehemaligen Ratskollegen und Lebensabschnittsgefährten bereits den Schockzauber auferlegt.

"Glaubst du, der wird als Mädchen besser drauf sein als als Mann?" fragte Perdy.

"So wie Amanda sich in ihre neue Rolle eingefügt hat mache ich mir da keine Sorgen."

"Véronique, wir erkennen an, dass Ernesto zu weit gegangen ist. Aber er kann als Säugling kaum den Schaden reparieren, den er angerichtet hat", sagte eine andere Hexe aus dem Rat.

"Der Schaden ist jetzt schon zu groß, um ihn noch zu reparieren. Vier unserer Mitstreiter werden wohl neu aufwachsen müssen, unser Stützpunkt auf Réunion ist verlorengegangen und das Abschreckungspotential unserer Reinitiatoren ist wohl auch dahin. Es könnte uns sogar passieren, dass man weltweit auf uns Jagd machen wird, ohne zu bedenken, was wir der magischen Menschheit für Vorteile bringen."

"Ja, das Projekt Blauer Mond zum Beispiel", wandte Pater Decimus Quintus Australianus ein. Perdy bedachte ihn dafür mit einem überlegenen Lächeln. Mater Vicesima, die gerade eben noch sehr entschlossen dreingeschaut hatte, blickte ihre Ratskollegen ein wenig unbehagt an. Doch dann nickte sie behutsam. Dann straffte sie sich und gewann ihre vorherige Entschlossenheit zurück.

"Apropos Halbmenschen und magisches Ungezifer", nutzte Mater Vicesima das Stichwort. "Wie können und wollen wir mit dem Umstand umgehen, dass ein einflussreicher Ministerialbeamter offenbar zu einem exotischen Werwesen geworden ist?"

"Indem wir ihn doch noch einfangen und seine Natur untersuchen. Andererseits besteht für ihn die Gefahr, dass er sich durch irgendwas selbst verrät und von seinen eigenen Leuten ausgelöscht wird. Ich spreche mich dafür aus, dass wir die nächsten Tage abwarten, wie Vendredi sich in Paris verhält und dann weitersehen. Wer stimmt mir zu?" Fast alle aus dem Rat einschließlich Perdy stimmten ihr zu. Die wenigen Gegenstimmen kamen von jenen, die selbst Kinder oder Enkel an Werwölfe oder Vampire verloren hatten und deshalb jedes Wesen dieser Art unbedingt sofort abtöten wollten. Sie wussten alle nicht, dass sich gerade in diesen Minuten das Schicksal Vendredis erfüllte.

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Julius war gewarnt gewesen. Als er sah, wie sich Vendredi in einem violetten Schimmer in eine menschengroße rote waldameisendrohne verwandelte verschlug es ihm nur einen Augenblick lang den Atem. Doch er wusste jetzt, dass er Vendredi bekämpfen musste. Töten durfte er ihn nicht, weil er trotz der unheilvollen Umwandlung immer noch eine menschliche Intelligenz besaß, ein mitfühlendes Wesen war. War er das noch?

Mit unheilvollen Zischlauten sperrte die monströse Ameisendrohne ihre Beißzangen auf und schwang die haarigen Fühler, um die verlockensten Duft- und Botenstoffe aus der Luft einzufangen. Julius hatte schon die Hand am Zauberstab, als die Riesenameise mit ihren vier hinteren Beinen durchfederte und lossprang, genau auf die Ministerin zu. "Katashari!" rief er, während Ornelle Ventvit sich zur Seite warf, um dem Aufprall zu entrinnen. Ein silberweißer Lichtstrahl aus Julius' Zauberstab fuhr dem Ameisenmännchen in den Schlund. Volltreffer! Das Ungetüm flog vom eigenen Schwung getrieben durch den Raum und knallte mit Urgewalt gegen die östliche Wand. Die darauf angebrachten Bildverpflanzungsfenster erzitterten und zeigten ab da erst mal nur noch ein Gewitter aus roten, blauen und grünen Schlieren und Wellen. Offenbar war Vendredis neuer Körper derartig mit Magie angereichert, dass diese alle anderen Zauber zurückdrängte. Doch der in seinen Schlund gejagte Angriffslustverdrängungszauber wirkte, weil er nicht durch den magisch gesättigten Chitinpanzer hindurchmusste und gleich in Vendredis Gehirn angekommen war. Zitternd und bebend lag die Kreatur auf dem Boden, die vorhin noch Arion Vendredi gewesen war. Julius fiel jetzt auf, dass sich sein direkter Vorgesetzter wie ein Animagus verwandelt hatte, nicht wie ein Werwolf. Seine Kleidung war im Fluss der Verwandlung verschwunden, nicht von ihm weggeplatzt. Das sprach auch für einen ähnlichen Zauber wie die Spinnengestalt Anthelia/Naaneavargias.

"Versuche den großen Zauber der Reinigung. Falls der misslingt versuche das Lied von Schutz und Leben!" hörte er Temmies Einflüsterung. Julius wollte es gerade angehen, da sahen er und alle anderen, wie das dunkelviolette Leuchten, das die Verwandlung begleitet hatte, wieder aufleuchtete. Für einen Moment konnte Julius ein erzürntes Frauengesicht in diesem Licht sehen. Dann glühte es noch heller auf, dass alle wegschauen mussten. Dann war es wieder so wie vorher. Nur Arion Vendredi war nicht mehr da. Die Kreatur, in die er sich verwandelt hatte, war mit kaum vernehmlichem Plopp verschwunden, disapparirt. Oder hatte etwas oder jemand ihn aus diesem Raum hinausteleportiert? Eigentlich ging das doch im Ministerium nicht. Aber was war eigentlich noch eigentlich? fragte sich Julius.

"Wir haben das alle gesehen, nicht wahr?" fragte Pierre Duchamp. Die Ministerin rappelte sich wieder auf und ordnete ihren langen Seidenumhang. Dann sagte sie: "Ja, wir haben das alle gesehen, Pierre. Sie haben irgendwie einen Auslöser berührt, etwas, dass ihn zwang, sich zu verwandeln. Was für ein Ungeheuer!"

"Was war das für ein Zauber, den Sie da verwendet haben, Monsieur Latierre?" wollte Monsieur Beaumont wissen. Julius erwähnte, dass es ein mächtiger Zauber zur Abwehr direkter Mordlust und tödlicher Angriffe war, dieser jedoch nicht lange vorhielt.

"Und den dürfen Sie mir und anderen nicht beibringen?" wollte Beaumont wissen.

"Leider nicht. Die, die ihn mir beibrachten, haben gerade so erlaubt, dass wenige ihn erlernen durften. Wer das ist darf ich ebensowenig sagen wie von wem genau ich diesen und andere Schutzzauber gelernt habe. Aber ich fürchte, was ich Ihnen sagen muss ist, dass Vendredi mit Lahilliota selbst in Kontakt gekommen ist. Ich wusste nicht, dass diese machtsüchtige Hexenlady als innere Tiergestalt eine Ameise hat."

"Wie kommen Sie bitte darauf, dass der offenbar in eine sehr schlimme Lage geratene Kollege Vendredi mit dieser wiederauferstandenen Erzdunkelmagierin in Berührung kam und dass diese als innere Tiergestalt eine Ameise haben müsse, Monsieur Latierre?" fragte die Ministerin. Julius holte Luft und sagte dann:

"Als Monsieur Vendredi kurz davor war, zu verschwinden und die violette Aura immer heller wurde habe ich kurz ein Gesicht in diesem Licht gesehen. Es war das Gesicht meiner von Lahilliotas Geist übernommenen Tante Alison, bevor es sich in den Kopf einer großen Ameise verwandelt hat. Danach verschwand Vendredi. Ich mutmaße, dass sie ihn von uns weggeholt hat, weil er aufgeflogen ist."

"Dann ist sie jetzt wohl sehr wütend auf dich", sagte die Ministerin, die höfliche Formulierung vergessend. Julius sah die Ministerin an und erwiderte: "Kann sein, dass sie wütend auf mich ist, weil ich ihre neue Drohne für eine Minute handlungsunfähig gemacht habe. Kannn aber auch sein, dass sie nur auf Monsieur Duchamp wütend ist, weil der Monsieur Vendredi dazu gezwungen hat, sich vor unser aller Augen zu verwandeln und damit seinen Wert als heimlicher Kundschafter und Gehilfe eingebüßt hat. Sie sind Experte für Abwehrzauber. Deshalb muss ich Ihnen sicher keinen Ratschlag geben, was die Möglichkeit angeht, dass Lahilliota Ihnen eine ihrer Töchter auf den hals schicken könnte, falls ihr nicht noch was gemeineres einfällt."

"Ja, mich auch in so ein Ungetüm zu verwandeln, um sich von mir kleine Ameisenbestien machen zu lassen", grummelte Duchamp. Julius nickte. Duchamp hatte genau das gesagt, woran Julius soeben gedacht hatte. Lahilliota hatte ihre innere Tiergestalt gefunden, wohl weil sie die Tränen der Ewigkeit getrunken hatte. Sie konnte ihre neue Natur irgendwie weitergeben. Wenn Männer damit umgewandelt wurden dann sicher zu dem Zwweck, eine Kolonie von Monsterameisen oder Werameisen beziehungsweise neuartigen Entomanthropen zu gründen. Falls das stimmte konnten sich alle warm anziehen, Menschen mit und ohne Magie, Wergestaltige, Vampire und vielleicht auch Lahilliotas eigene Töchter. Denn was hatte er sowohl von Temmie als auch von Naaneavargia mitbekommen, bevor diese mit Anthelia verschmolz? Die innere Tiernatur konnte die menschliche Ausprägung immer mehr verdrängen.

"wie bereits erwähnt übernehme ich die volle Verantwortung für das, was hier gerade geschehen ist", durchbrach Mademoiselle Ventvit das eine Minute dauernde Schweigen. "Das heißt im wesentlichen, dass ich befinden muss, wie wir uns auf diese neue Lage einrichten können und dass ich einen neuen Leiter der Abteilung für magische Geschöpfe benennen muss, wobei ich erklären werde, was mit dem bisherigen passiert ist, soweit ich das überhaupt erklären kann. Eine Nachbetrachtung der Szene ist wohl unmöglich, weil der ehemalige Kollege Vendredi nachweislich unortbar war und es wohl immer noch ist. Deshalb möchte ich Sie bitten, mir als Zeugen für eine Anhörung zu dienen, die jemand einberufen muss, der oder die unbefangen ist. Eine Geheimhaltungsstufe zu verhängen erscheint mir leider kontraproduktiv. Aber ich möchte Sie alle bitten, diese Angelegenheit als Vertraulichkeit der Stufe fünf zu respektieren. Das heißt, bis zum Zeitpunkt, wo eine Anhörung erbracht hat, ob ich weiterhin Ministerin für Zauberei bleibe und wer Vendredis Nachfolger wird, sind Interviewanfragen oder überhaupt journalistische Anfragen zurückzuweisen. Das sage ich vor allem, weil Sie, Monsieur Latierre, mit einer akreditierten Reporterin verheiratet sind. Es ist an mir und dem leiter der Strafverfolgungsbehörde, offizielle Stellungnahmen herauszugeben, wenn wir wissen, welche Auswirkungen diese Verlautbarung haben soll. Denn eines dürfte Ihnen sicher klar sein, Messieurs: Ein Zaubereiministerium, in das sich eine derartig mächtige feindliche Kreatur einschleichen kann, gewinnt nicht an Vertrauen hinzu, wenn das durch die Presse geht. Auch gilt, dass wir aus diesem Zwischenfall lernen, künftige Infiltrationsversuche von welcher Seite auch immer früh genug zu erkennen und mit weniger Getöse zu bereinigen. Monsieur Latierre, ich gehe davon aus, dass das von Monsieur Vendredi angedachte Gesetz zur Einforderung von Entschädigungen vom Tisch ist. Es wäre gut, es als nicht einmal geplant anzusehen und nicht den Veelas gegenüber zu erwähnen." Julius nickte der Ministerin zu, die gerade seine einzige direkte Vorgesetzte war. Denn dass Vendredi nicht mehr als Ministerialbeamter geführt werden durfte stand wohl fest.

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Er war schon fast bei dieser mit widerlicher Veelakraft aufgeladenen alten Jungfrau. Da traf ihn etwas so heftig ins Gesicht, dass er nur noch laut schreien konnte. Seine ganze Wut war mit einem Schlag verdampft. Statt dessen hatte er nur noch große Reue und Verbitterung empfunden, weil er gerade dabei gewesen war, einen Menschen umzubringen. Was immer ihn getroffen hatte war durch seinen Kopf gerast und hatte alle Lust zu Töten hinweggefegt. Jetzt empfand er sich als Abscheulichkeit, als gemeingefährliche Bestie und wollte sterben. Doch da hatte sie ihn ergriffen, seine Königin, die Mächtige, die ihn zu einem der ihren gemacht hatte. "Du wirst keinen von denen töten, du Narr. Du kommst zu mir", hatte sie ihm in den Kopf gebrüllt. Er wollte nicht. Er wollte nicht zu diesem Ungeheuer hin, dass ihn nur dafür haben wollte, viele tausend kleine Ungeheuer auszubrüten. Doch sie hatte ihn mit ihrer Macht zu sich hinübergezogen, über tausende von Kilometern hinweg. Als er genau in ihrer großen Begattungs- und Bruthöhle ankam nahm er sofort ihren verlockenden Paarungsduft wahr. Dieser wehte seine Reue und die aufgekommene Selbstverachtung einfach wieder weg. Er wolte dieses herrliche, große, fliegende Geschöpf, seinen Samen in ihren Leib hineintreiben und sich daran erfreuen, ihr viele starke und kluge Kinder auf einnmal zu machen.

"Ich hätte es wissen müssen, dass diese Menschen sich gegenseitig so misstrauen, dass sie Mittel zur gegenseitigen Überwachung eingerichtet haben. Ja, und ich hätte es wissen müssen, dass meine kraft in dir so stark ist, dass es selbst einem vollblinden mit Augenbinde auffallen muss, das du dich verändert hast. Ich habe halt nur einen irrwitzigen Traum geträumt, einen braven, ergiebigen Gefährten in einem dieser Magieverwaltungsinstitute. Aber dann sei es eben deine angeborene Zauberkraft, die in mich und unsere Jungen einfließen soll", hörte er seine Königin grübeln, während er sich bis an den Rand der totalen Erschöpfung mit ihr vereinigte. Als er dann von ihr loskam und in einer Ecke umkippte und bewusstlos wurde hörte er seine Herrin noch denken: "Vielleicht hole ich mir Julius auch noch in mein Nest."

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"Da haben wir heute ja beide was spannendes erlebt", sagte Barbara Latierre zu Julius, als sie sich abends im Château Tournesol trafen, weil sie unbedingt über die Ereignisse dieses Tages sprechen musste. Ursuline Latierre, die Matriarchin der Latierre-Sippe, hatte sich sowohl Barbaras Bericht als auch Julius Beobachtungen und Gedanken angehört. Dann sagte sie: "ich bin stolz, dass unsere Familie dieser Bande von Verächtern wahrer Liebe und Lebensfreude endlich den längst überfälligen Dämpfer versetzt hat. Zumindest könnt ihr froh sein, Babs, dass die offenbar durch Clamp'sche Kommotion verursachte Explosion euch nicht vergiftet hat. Wir müssen aber jetzt davon ausgehen, dass Vita Magica sich neue Gemeinheiten ausdenken wird, nachdem das mit der schlagartigen Verjüngung nicht mehr den großen Einschüchterungswert besitzt. Das schwierige ist nur, dass die Vorkehrung nur bei Hexen wirklich sicher einsetzbar ist.""

"Du meinst eher: "in Hexen", Maman", raunte Barbara. "Abgesehen davon, dass die den Fluch nicht nur aufgehoben, sondern auf den Absender zurückgeworfen haben, was ich mir gar nicht erklären kann."

"Was hat Onkel Otto dir denn gesagt, wie oft diese Kontra-Infanticorpore-Kugeln den Fluch abwehren?" wollte Julius wissen.

"Sechsmal, so viele male hat er die Gegenformel in die Schichten der Goldkugeln eingraviert. Wir, die wir den Schutz beanspruchen wollten, mussten kurz vor dem Losfliegen noch etwas von unserem eigenen Blut in die äußere Gravur geben, um die Kugeln auf unsere erwachsenen Körper abzustimmen", sagte Barbara Latierre. Julius überlegte. Dann sprach er eine Vermutung aus:

"Ich habe bei den nichtministeriellen Lehrstunden mitbekommen, dass Zauber von Leben und Sonnenlicht im Zusammenspiel mit Blut am oder im lebenden Körper eines magisch begabten Lebewesens einen bösen Zauber eins zu eins auf den Absender spiegelt, wenn der Gegenzauber so in allen Raumrichtungen ausgerichtet ist, also vorne, hinten, links, rechts, oben und unten. Hat Onkel Otto diesbezüglich was gesagt?"

"Du meinst, dass er die entsprechenden Winzrunen bei jeder Bezauberung an einer anderen Stelle der Kugel eingraviert hat?" fragte Barbara. "Nicht dass ich wüsste. Hmm, ich schreibe dem eh demnächst einen Dankesbrief. Dann frage ich den, ob das wahrhaftig so ist." Julius nickte.

"Du hast gegen Euphrosynes Veela-Aura etwas gebaut, dass dich vor Ausstrahlungen starker Zauberwesen schützt, Julius. Wenn es wirklich stimmt, dass der bedauernswerte Arion Vendredi durch eine körperliche Beeinflussung zu einem Geschöpf dieser Lahilliota wurde, dann könnte die auf die Idee kommen, dich auch zu so einem Monstrum zu machen, Julius. Wenn das Teil, was du gegen Euphrosynes Kraft benutzt hast immer noch wirkt, habe es am besten immer bei dir, um es ganz schnell anzuwenden, wenn du merkst, dass sie oder eines ihrer vaterlosen Unheilsmädchen in der Nähe ist!" sagte Ursuline. Julius sah sie beruhigend an und erwähnte, dass er "das Teil" seit dem ersten Einsatz immer dabei hatte, auch weil er sich schon dachte, dass es nicht nur gegen die Auren von Veelas schützte. "Am Ende treffe ich noch eine Frau, die unter dem Aura-Veneris-Fluch lebt. Den kann ich damit sicher auch von mir fernhalten."

"Da musst du aber wirklich schnell reagieren können, mein Junge", lachte Ursuline Latierre. "Meine Schwestern, Brüder und Ich verdanken unsere Leben wohl einem Ururgroßvater, den eine böse Hexe mit diesem Fluch belegt hat, weil der sie als schoßlastige Bruthenne bezeichnet hat. Er hat es unter dem Fluch nicht geschafft, all die fruchtbaren Frauenzimmer von sich fernzuhalten, die von diesem Fluch angeregt mit ihm zusammensein wollten."

"Ups, wann war das?" fragte Julius seine Schwiegergroßmutter.

"Irgendso um 1604 herum, noch im sardonianischen Zeitalter. Es war aber nicht Sardonia oder Anthelia, die diesen Schabernack getrieben haben, Julius", erwiderte die matriarchin der Latierre-Familie. "Immerhin verdankt dann Millie und damit auch Aurore und Chrysope ihr Leben dieser bitterbösen Hexe", erwiderte Julius. Da begriff er, was seine in ihrer Mutter- und Großmutterrolle aufgehende Verwandte sagen wollte: Manchmal kann böses gutes bewirken und dann auch wieder gutes böses. Doch was mit Arion Vendredi passiert war sah für ihn nicht nach etwas aus, das zum guten führen würde. Ja, auch die Warnung seiner angeheirateten Großmutter wollte er nicht vergessen. Wenn Lahilliota echt durch die Tränen der Ewigkeit eine übergroße Ameise, wohl eine Königin, freigesetzt hatte und in dieser Form nun richtig gerne lebte, war Vendredi nicht der einzige gewesen, dem sie derartig übel mitgespielt hatte. Da kam ihm eine Idee, die er gleich am nächsten Arbeitstag umsetzen wollte. Wenn auch nichtmagische Männer dieser gravierenden Umwandlung unterzogen worden waren, dann mussten die ja entweder irgendwann genauso auffallen wie Vendredi oder waren schlicht verschwunden. Wenn er das dann noch mit ihm bekannten Standorten der Abgrundstochter Itoluhila verknüpfte ging da womöglich was, um herauszufinden, wer, wann und wo noch in diesen Umwandlungsplan Lahilliotas einbezogen worden war.

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Trotz des heftigen Erlebnisses am Vortag hatte Julius gut geschlafen, wohl auch, weil er sich im Sonnenblumenschloss so sicher gefühlt hatte. Millie und er hatten zusammen mit den beiden bereits geborenen Töchtern im grünen Salon gefrühstückt. Danach war Julius zusammen mit Hippolyte, ihrer Erstgeborenen Martine und Barbara Latierre ins Zaubereiministerium geflohpulvert.

Als er sein Büro betrat lag da schon ein Memo auf seinem Schreibtisch. Ministerin Ventvit lud ihn und alle anderen Behördenleiter der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe um zehn Uhr zu einer Besprechung ein. Offenbar hatte die Ministerin sich sehr schnell entschlossen, wie es mit dieser Abteilung weitergehen sollte. Dann bekam er noch eine per Memoflieger weitergeleitete Eulenpost von Monsieur Balthasar Pontier, magischer Rechtsbeistand und ordentlich zugelassenes Mitglied des Zaubergamots von Frankreich. Der Anwalt von Apolline Delacour und Laure-Rose Montété teilte sowohl Richter Delatour, als auch dem Leiter der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe und dem Leiter des Büros für Kontakte zwischen menschen mit und ohne Magie und humanoiden Zauberwesen mit, dass seine Mandantinnen auf ihr Recht auf Berufung sowie auf ihr Recht einer Verfahrensrevision verzichteten und das vom geheimen Zwölfertribunal gefällte Urteil vollumfänglich annahmen. Damit würde es, wenn der Richter die Verzichtserklärung ebenso schriftlich bestätigte, am Tag nach dieser Bestätigung rechtskräftig werden. Das hieß, dass Fleurs und Gabrielles Mutter dann nicht zu ihm ins Ministerium kommen durfte. Weil er ja immer noch mit den Hochzeitsvorbereitungen für Gabrielle und Pierre Marceau befasst war war dies schon für ihn zu bedenken. Andererseits konnte Pygmalion Delacour, der ja nun hauptamtlicher Leiter des Büros für Zauberwesen größer als Hauselfen, Kobolde und Zwerge war, als Vater der Braut auch offiziell zu ihm hinkommen, wenn noch was zu besprechen und vorzubereiten war.

Um die Zeit bis zum angesetzten Treffen sinnvoll zu nutzen notierte er sich für später die von ihm erwogenen Stichpunkte, nach denen er die Ministeriumsrechner suchen lassen wollte, damit es nicht zu viele Treffer gab und die Angaben auch in einem gewissen zeitlichen Zusammenhang aufbereitet wurden. Mit dem Zettel wollte er dann gleich nach der Besprechung in den Computerraum, falls die Besprechung nicht bis zur Mittagspause dauerte. Dann würde er eben Nachmittags in den Rechnerraum gehen.

Um viertel vor Neun ploppte es, und der Hauself Servatio schälte sich unter einem großen Stück Pergament hervor. "Servatio bringt ganz großen Brief für Julius Latierre persönlich. Der Briefschreiber möchte eine Antwort haben", piepste das dienstbeflissene Zauberwesen und versuchte, das Pergamentstück auf dem Schreibtisch auszubreiten. Julius nahm dem Elfen das Pergamentstück aus den kleinen Händen. Er musste daran denken, dass dafür sicher eine halbe Kuhhaut für geopfert werden musste und dachte an Temmie, die wegen ihrer Größe viel mehr Glück als ihre unmagischen kleineren Vorfahren hatte, nicht derartig verwertet zu werden.

Der Brief stammte, wie er sich von der Größe her schon hatte denken können, von Mademoiselle Maximes ganz großer Tante Meglamora. Julius wunderte sich, dass die Buchstaben für ihre Größe so schlank und filigran aussahen. Mit was hatte die gerade mit Zwillingen schwangere Riesin denn da geschrieben? Die Frage vertagte er zunächst einmal und las den Brief.

Hallo Julius.

Du liest, ich kann jetzt noch viel mehr schreiben als ganz früher. die kleine Tochter meiner Schwester Ramante hat mir und Ragnar immer viel gezeigt. Das ist ja auch ganz wichtig, wenn ich was zu dir oder andern sagen will, zu denen ich nicht hingehen kann. Die Guiguis in meinem Bauch sind schon richtig schwer und machen immer was, dass ich fühle, dass sie lebendig sind. Olympe hat ja gesagt, dass du das wissen sollst, dass die zwei Guiguis von mir Mädchen sind, wenn ich die aus mir rausdrücken kann. Olympe und ich suchen schon nach Namen, die für Mädchen sind, die zumindest so groß wie Olympe werden. Vielleicht willst du uns auch helfen, meint Olympe.

Ich bin vor drei Tagen ganz böse gewesen und habe Olympe fast gegen die hohe Steinwand geworfen, die da ist, wo wir jetzt wohnen, damit dieses große, blattgrüne Weib nicht rankommt, dass Utgardir totgeschlagen hat und jetzt Gurga ist. Ich habe nämlich mit einem Großguckglas eine alte Sammlung von Schreibpapier gefunden, Zeitung heißt das in eurer Sprache, was denen, die es lesen sagt, was an einem Tag so in der Welt los war. Da habe ich gelesen, dass der Vater meiner zwei neuen Guiguis kein lebendiger Mensch von deiner Art war, sondern sowas wie ein Einfüllgerät, eine lebendige Samentiereinspritzflasche. Das fand ich gar nicht schön, dass ihr Kleinlinge mich so genarrt habt, will ich dir so in diesem Brief hier mal sagen. Wenn ich mir wen für Guiguis suchen will, dann soll das ein echter Mann sein, einer wie ich oder ein Kleinling wie der Vater von Olympe oder du. Gut, die Guiguis kriege ich und werde die auch wohl groß genug füttern, dass die ohne mich rumlaufen und weiterleben können. Aber wenn ich wieder eins haben will oder zwei oder drei oder ganz viele, dann will ich einen richtigen, lebenden Mann dazu haben und keine lebende Einspritzflasche auf Beinen, die so tut, als wenn das ein richtiger Mann ist. Das sollst du nur wissen, weil die Zeitung gesagt hat, du hättest da mitgemacht. Aber die Guiguis sind sicher nicht aus deinem Samenzeug oder? Dann sage ich hier und jetzt, jeder, der dieses nachgemachte Fleischding gebaut hat, aus dem ich meine neuen Guiguis in den Bauch reinbekommen habe, hat dann bei mir zu sein, wenn ich wieder ein Guigui haben will. Ich such mir dann einen davon aus. Olympe hat mir gesagt, dass ihr Kleinlinge ganz viel Angst habt, wenn wir großen Frauen mit denen Guiguis machen wollen. Ihr Vater, der Kleinling, der sie in meine Schwester Ramante reingelegt hat, ist kurz nach dem wilden Guiguimachspiel tot gewesen, weil Ramante ihm wohl viel an ihm kaputtgemacht hat. Das ist sehr traurig. Aber ich bin keines von den Mäh- oder Muhmachtieren, die für euch ihre Milch geben und deshalb immer wieder Guiguis kriegen müssen, von denen die meisten dann auch noch von euch oder uns aufgegessen werden. Deshalb will ich für das nächste Guigui jeden von euch Kleinlingen in der Nähe haben, der mir diese Flasche aus Fleisch und nachgemachtem Blut geschickt hat. Sag das denen, die das mit mir gemacht haben. Aber ich freu mich trotzdem auf die kleinen. Ich habe immer schon lieber Mädchen um mich gehabt, weil ich mit denen besser spielen konnte als mit den Jungs, die nur kämpfen wollten aber dann immer ganz schnell ganz weit weggelaufen sind, wenn eine von uns ein Guigui haben wollte. Wenn ihr andauernd Angst habt, uns großen Frauen Guiguis zu machen, dann zeigt uns bitte, wie wir das mit euch machen können, ohne euch totzumachen. Dann müsst ihr auch keine Angst kriegen, und wir sind dann auch nicht böse auf euch. Aber vielleicht kriegst du das ja mit Olympe hin, dass ich für das nächste Guigui einen von den Großen kriegen kann. Olympe sagt aber, dass die jetzt alle von dieser grünen gemeinen Frau herumgeschubst werden und die finden könnte, ich hätte mich auch von der rumschubsen zu lassen.

Bitte schreib mir einen Zurückbrief! Dann weiß ich, dass ich keine blöde horntragende Milchgeberin und Essensausträgerin bin.

Ich wünsche dir Kraft und immer genug zu essen, dass du nach dem schlafen stark genug aufwachst.

MEGLAMORA

"Ui, wird Camille und Florymont freuen, dass Florymont der kleinen Chloé noch ein gaaaanz großes Halbgeschwisterchen besorgen soll", dachte Julius. Dann dachte er an Millie, die diesen Brief garantiert mit einem Feuerstrahl aus dem Zauberstab in mikroskopisch kleine Ascheflocken zerbrutzeln würde. Wie war denn die Riesin an eine der Zeitungen geraten, in denen das mit dem Freudenspender für sie dringestanden hatte? Das sollte er aber demnächst mal klären.

Er schrieb als Antwort oder auch "Zurückbrief" für Meglamora:

Madame Meglamora,

danke für Ihren Brief und das, was Sie darin klargestellt haben. Denn nur wenn wir, die wir uns um alle kümmern, die mit Zauberkraft leben oder angefüllt sind, wissen, wie es richtig gemacht wird, können wir es auch richtig machen. Dass Sie sich jetzt ausgenutzt und betrogen fühlen verstehe ich. Ich sage aber nicht, dass mir das leid tut. Denn das ist schon so, dass wir Leute, die nur ein Viertel so groß sind wie Ihre Eltern und Sie, Angst kriegen, wenn uns viermal so große Leute zu diesem auch für uns eigentlich sehr herrlichen Zusammensein auffordern, bei dem Guiguis oder Kinder im Bauch ihrer Mutter heranwachsen können, das ist leider richtig. Wir konnten keinen Mann meines Volkes dazu bekommen, mit Ihnen ein neues Guigui zu machen. Deshalb haben wir das so gemacht, wie das passiert ist. Es wird auch nicht so einfach gehen, dass wir bei einem neuen Guigui von Ihnen einfach so mit Ihnen das machen können. Denn alle Männer, die Ihnen geholfen haben, bald die zwei neuen Mädchen zu haben, haben schon Gefährtinnen und mit denen Kinder also Guiguis. Weil das bei uns so ist, dass sich die Männer und Frauen vor dem Zeugungsakt, also dem, was die Guiguis macht, versprechen, nur füreinander da zu sein. Die Männer versprechen, dass nur die mit ihnen zusammengesprochenen Frauen ihre Kinder bekommen sollen und die Frauen versprechen, dass sie nur die Kinder der Männer kriegen wollen, mit denen sie zusammengesprochen werden. Vielleicht hat Ihnen Olympe Maxime das sogar schon erzählt. Deshalb können wir Männer, die Ihnen geholfen haben, wieder Guiguis zu bekommen, nicht für neue Guiguis von Ihnen da sein, auch wenn wir Ihnen zeigen, wie wir das mit Ihnen tun können, ohne dabei ganz ohne Ihre Absicht totgemacht zu werden. Ich sage das aber sehr gerne weiter, dass sie dann, wenn Sie noch einmal ein Guigui haben wollen, mit einem Mann aus Ihrem Volk, also einem, der so groß ist wie sie, das machen wollen. Ob das so geht weiß ich noch nicht. Aber erst mal wollen die zwei neuen Mädchen aus Ihrem Bauch rauskommen und noch größer werden. Das dauert sicher mehrere Warm- und Kaltzeiten. Das ist genug Zeit, um das herauszufinden, wie es dann weitergehen kann.

Mit freundlichen Grüßen

Julius Latierre

Julius hatte sich beim Schreiben echt Mühe gegeben, ganz große Buchstaben zu malen, wofür er die größte ihm verfügbare Schreibfeder, die Schwanzfeder eines Adlers, benutzt hatte. Als er die Rückseite des Perrgamentes entsprechend beschrieben und die smaragdgrüne Tinte mit genug Streusand getrocknet hatte faltete er das Pergament so klein es ging. Servatio saß ganz reglos wie eine Puppe in der Ecke und wartete. "Hier ist die erbetene Antwort. Danke für das Bringen", sagte Julius. Servatio verbeugte sich tief, nahm das große Pergamentstück und verschwand mit einem scharfen Knall.

Nach diesem etwa zehn Minuten dauernden Zwischenspiel vollendete Julius seine Stichpunktsammlung und das Schema der zu programmierenden Anweisungen, damit der Rechner nicht ständig neu bedient werden musste. Als dann jemand an die Tür klopfte stellte er mit Schrecken fest, dass es schon eine Minute nach Zehn uhr war. Unpünktlichkeit war sonst nicht sein Markenzeichen. Deshalb nahm er schnell die Notizen und das Programmschema, um es als mögliche Rechtfertigung für die verschwitzte Zeit vorweisen zu können.

"Ich wurde von unserer gemeinsamen Dienstherrin gebeten, dich höflich zu fragen, ob du ihre Nachricht bekommen hast, Julius", lachte ihn Barbara Latierre an, als er die Tür öffnete. Er nickte und errötete an den Ohren. "Dann mal los. Wir werden nicht die letzten sein. Monsieur Beaubois ist wegen der Sache von gestern noch auf Réunion und klärt da, was mit dem Wildreservat weiter geschehen soll. Er will in einer halben Stunde wieder da sein."

"Ui, öhm, hat dir Millie oder sonst jemand schon ihr Leid geklagt, dass das Arbeiten mit einem Computer viel Zeit frisst, ohne dass der, der damit arbeitet, das merkt?" fragte Julius seine Schwiegertante. "Ja, Millie und Martha haben sowas erwähnt", erwiderte Barbara Latierre. Julius wunderte sich ein wenig, dass sie auf familiär machte, wo sie im Dienst sonst auf förmliche Anrede bestand. Na ja, vielleicht hatte sie begriffen, dass es keinen Respektsverlust bedeutete, mit Verwandten wie mit Verwandten und nicht wie mit Antragstellern oder Vorgeladenen zu reden.

Julius entschuldigte sich bei der Ministerin, die zusammen mit Pygmalion Delacour, sowie dem Chef des Vampirüberwachungsbüros, dem Leiter des Werwolferfassungs- und Überwachungsamtes, dem Anführer der Sondergruppe Legion de la Lune, sowie Adrastée Ventvit aus der Geisterbehörde zusammensaß. Auch Clopin aus dem Koboldverbindungsbüro war anwesend und ging wohl noch ein paar Notizen durch.

"Ich verzichte einmal darauf, Sie für die drei Minuten Verspätung zu tadeln, Monsieur Latierre, da ich mir denken konnte, dass Sie wie alle anderen hier Ihre eigene Arbeit auf die geänderten Umstände einrichten mussten. Außerdem erwarten wir noch Monsieur Beaubois, der als dienstältester Mitarbeiter erneut als Stellvertreter Monsieur Vendredis im Einsatz ist", sagte die Ministerin.

Um sich die Wartezeit zu vertreiben tranken sie Kaffee und besprachen die jeweiligen Arbeiten. Julius erklärte sowohl der Ministerin als auch den Kollegen aus der Werwolf- und Vampirüberwachung, was er sich überlegt und für den Ministeriumsrechner ausführbar zusammengefasst hatte.

"Oh, hätten wir glatt auch machen können, um mögliche Neumitglieder dieser Sekte der schlafenden Göttin zu erkennen", sagte Boris Charlier, der Leiter der Vampirüberwachungsbehörde. "Zumindest wissen wir von unseren VVs, dass diese eine Abgrundstochter, die sich in ihrem Revier auch als schwarzer Engel bezeichnet, mehrere Dirnenhäuser betreibt. Wir haben sogar eine Liste der für Vampire völlig unbetretbaren Vergnügungsstätten dieser Art. Vielleicht können meine und Ihre Behörde eine Zusammenarbeit bei der Suche mysteriös verschwundener und unverhofft wieder aufgetauchter Menschen erwirken. Aber das erst, wenn wir wissen, wer unser Abteilungsleiter oder unsere Abteilungsleiterin wird.

Kurz vor halb elf schwebten zwei Geister in den Besprechungsraun, ohne die Tür öffnen zu müssen. Das musste Monsieur Beaubois allerdings tun, bevor er auch noch hereinkam. Er trug einen luftigen hellblauen Reiseumhang und wirkte sichtlich erleichtert, nicht mehr in tropischen Gefilden herumlaufen zu müssen.

"Die beiden postmortalen Herren habe ich veranlasst mitzukommen, weil sie nachher noch eine Aussage im Bezug auf die Unterwanderung der Wildtierüberwachung und eines möglichen Agenten von Vita Magica in unserer Niederlassung auf Réunion machen können", sagte Beaubois, nachdem er die Ministerin begrüßt hatte. Diese nickte und bat die zwei männlichen Gespenster, die wohl wütenden Machetenschwingern ihre abgetrennten Köpfe zu verdanken hatten, solange im Warteraum vor dem Besprechungsraum der Ministerin zu bleiben. Die zwei geköpften Männer winkten mit ihren sauber abgetrennten Häuptern und zogen sich durch die Wand direkt in den ihnen zugewisenen Warteraum zurück. Barbara grinste mädchenhaft, während es Pygmalion flüsternd aussprach, dass die dort auf einen Termin bei der Ministerin wartenden Menschen jetzt sicher bedröppelt dreinschauten.

Die Ministerin eröffnete die offizielle Besprechung mit einer mehrminütigen Zusammenfassung der Ereignisse vom Vortag und erwähnte bei der Gelegenheit auch, was Barbara Latierre und ihrer Einsatzgruppe widerfahren war. Hierzu sollte die Erwähnte später einen ausführlicheren Bericht abgeben. Dann ließ sie sich von Julius Latierre noch einmal bestätigen, dass er dasselbe gesehen hatte wie sie und auch, welche Schlussfolgerung er daraus zog. Er legte auch gleich nach, dass er deshalb demnächst die ministeriumseigenen Rechner so programmieren wollte, nach auf seltsame Weise verschwundenen oder durch irgendwas merkwürdiges aufgefallenen Menschen zu suchen. Welche Priorität das haben sollte müsse er jedoch erst einmal erfragen, sagte er noch, um sich nicht als zu übereifrig und zu selbstständig hinzustellen.

Es ging dann auch um das Gerichtsurteil gegen zwei Veelastämmige und dass diese das für sie noch glimpfliche Urteil annehmen würden. Pygmalion Delacour nickte bestätigend. Danach sprachen sie darüber, wie die Abteilung bei allen gleichermaßen wichtigen Einzelbereichen von einem Gesamtleiter oder einer Gesamtleiterin weitergeführt werden konnte. Dabei zeigte sich, wer mit seinem oder ihrem Job vollauf zufrieden war und wer fand, doch noch ein wenig höher aufzusteigen. Julius und Barbara hielten sich dabei gut zurück, weil sie zu denen gehörten, die im Moment genau das taten, was sie gerne taten und wo sie auch mit ihren Kenntnissen sinnvoll arbeiten konnten. Der Leiter der Vampirüberwachung verstrickte sich mit dem Leiter des Koboldverbindungsbüros in einer Debatte um die Dringlichkeiten der jeweiligen Unterbehörden, weil der Leiter des Vampirüberwachungsbüros der Meinung war, dass die Abteilung in Zukunft wohl mehr mit den sogenannten Kindern der Nacht befasst sein würde und hier wohl gut alle bestehenden Kräfte gebündelt werden konnten. Monsieur Clopin aus dem Koboldverbindungsbüro räumte dagegen ein, dass er dadurch, dass die Kobolde eine größtenteils eigenständige Verwaltung hätten und ihm im Grunde nur berichteten, was sie für die Zauberstabträger wichtiges beschlossen hatten, mehr Zeit erübrigen könne, zumal sein Stellvertreter Brussac dann auch nicht in noch mehr Verfahrensweisen eingearbeitet werden müsse als er schon kenne. Simon Beaubois von der Geisterbehörde erwähnte, dass sein Aufgabenbereich ihm zwar noch mehr Zeit lasse als dem Kollegen vom Koboldverbindungsbüro, er aber durch die verschiedenen Gelegenheiten, wo er Vendredis Arbeit hatte machen dürfen, gelernt habe, dass dieser Posten nicht von jemandem mit einer zu großen Festlegung auf einen Teilbereich wahrgenommen werden dürfe. Dass er das hinbekommen habe verdanke er seinen fähigen Mitarbeitern, allen voran Madame Adrastée Ventvit, die dieses Lob nur mit einem zufriedenen Lächeln abnickte.

Nun griff auch der Leiter des Werwolferfassungs- und -überwachungsamtes in die Nachfolgediskussion ein und erwähnte, dass gerade die Lykanthropen sich in den letzten Jahren zu einer alle Teilbereiche dieser Abteilung betreffenden Gruppierung gemausert hätten und auch durch die Einmischung von Vita Magica die Bedeutung dieser magischen Personengruppe gewachsen sei. Er selbst wolle zwar nicht auf Vendredis freigewordenen Stuhl. Aber er kenne da einen sehr talentierten Mitarbeiter, der durch privat geknüpfte Kontakte in sieben Länder bereits eine gute Ausgangsstellung für einen wichtigen Posten erworben habe. Das wiederum veranlasste Barbara Latierre zu der Zwischenbemerkung, dass sie dann ja eher geeignet sei, Vendredis Posten zu übernehmen, weil sie über ihre Familie in zwölf Länder, darunter die USA, sowie Brasilien und Argentinien, Kontakte unterhalte. Als sie dann von den meisten angesehen wurde sagte sie jedoch: "Genau aus dem Grund bin ich dort, wo ich jetzt arbeite auch nicht so leicht zu ersetzen, selbst wenn ich einige zuverlässige Innendienst- und Außendienstmitarbeiter habe, die das rein verwaltungs- und Personalführungstechnische Können beweisen."

"Sie schweigen sich aus, Monsieur Latierre. Fürchten Sie, Sie hätten hier kein Mitspracherecht?" fragte Adrastée Ventvit Julius und erhielt ein beipflichtendes Nicken ihrer Tante und obersten Dienstherrin.

"Was mich angeht habe ich meinen Anwesenheitsgrund hier bereits erfüllt und erwarte nur noch, wer von Ihnen Monsieur Vendredis Nachfolge antritt, Messieursdames. Ich selbst bin ja im Grunde schon eine Stufe höhergeklettert, als meine bisherige Dienstzeit und Arbeitserfahrung eigentlich ermöglicht. Dass ich ein eigenes Büro führen darf liegt an dem Vertrauen, welches mir sowohl die französischen Veelastämmigen als auch Madame Grandchapeau aussprechen. Dieses Vertrauens wegen darf und kann ich mich nicht auf einen anderen Posten bewerben als den, den ich gerade innehabe", sagte Julius ruhig. Das genügte den anderen, um zu wissen, dass er sich nicht mit ihnen um Vendredis Nachfolge streiten würde.

Die Ministerin hörte sich ruhig alles an und nahm zwischendurch für sie einfliegende Mitteilungen entgegen, ohne sie zu lesen. Als es dann darum ging, ob die Nachfolge durch Auswahl oder durch Festlegung bestimmt werden sollte ging es wieder hektischer zu, weil die, die sich Sympathien von den hier Anwesenden erhofften, auf eine demokratische Wahl hofften und die, welche sich wegen ihrer Dienstzeit und Kompetenz für am besten geeignet hielten, auf eine klare Festlegung durch die Ministerin pochten.

Als die ganze Debatte anfing, sich wie ein Riesenrad immer wieder im Kreis zu drehen machte die Ministerin von ihrem Wortzuteilungsrecht gebrauch und gebot erst einmal eine halbe Minute Atempause. Dann sagte sie: "Es erfreut mich, dass Sie alle, wie Sie hier zusammengetreten sind, die Ihnen anvertraute Arbeit wertschätzen und sie auch mit der nötigen Umsicht wie Entschlossenheit ausüben. Ich hätte vor sechs Monaten auch nicht gedacht, dass ich mich gut als Zaubereiministerin eigne. Eines habe ich aber bis heute nicht so recht verinnerlicht, die Notwendigkeit, einfach auf jemanden zu zeigen und zu sagen, der oder die macht jetzt diese oder jene Arbeit. Ja, ich muss zugeben, dass ich bis heute von der guten Vorarbeit meines hauptamtlichen Vorgängers Armand Grandchapeau profitiere, was die Einteilung und Abstimmung innerhalb der Hauptabteilungen angeht. Allerdings hat mir diese höchst obskure Wesenheit namens Lahilliota hier und heute zum ersten Mal die Entscheidung aufgezwungen, des weiterhin ordentlichen Arbeitsablaufes wegen eine Person aus Ihren Reihen zu berufen, Gesamtsprecher der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe zu werden. Ich wollte mir die Entscheidung nicht leicht machen. Ja, und ich hoffte auch darauf, dass Sie von sich aus einen Nachfolger auswählen und ihn oder sie dann vorschlagen, damit ich es nur noch bestätigen kann. Aber leider geht das aus Zeitgründen nicht. Zum einen müssen wir seit gestern davon ausgehen, dass Monsieur Vendredi nicht der einzige ist, der von dieser sich offenbar jeder menschlichen Natur überlegen fühlenden Kreatur verändert wurde und wir deshalb in nicht so ferner Zukunft mit weiteren Zwischenfällen dieser Art rechnen müssen. Des weiteren haben Sie alle gerade verdeutlicht, welche anstehenden Aufgaben es gibt, die nicht durch eine all zu lange Nachfolgedebatte aufgeschoben werden dürfen. So bleibt mir dann doch nur das Vorrecht der obersten Dienstherrin, die Einsetzung eines allen Unterbehörden übergeordneten Abteilungsleiters zu beschließen. Hierbei greife ich gerne auf die von Ihnen dargelegten und diskutierten Wichtigkeiten und Qualifikationen zurück. Allerdings darf und will ich nicht den Eindruck erwecken, hier nach eigener Sympathie und möglichen freundschaftlichen oder verwandtschaftlichen Beziehungen zu urteilen. Sicher, ich könnte jetzt alle Stühle zu einem Kreis aufstellen lassen, Sie alle innerhalb dieses Stuhlkreises aufstellen und einen Stuhl wegnehmen und eine zufällig lange Zeit ein Musikstück erklingen lassen, zu dem Sie im Kreis herumlaufen sollen, bis das Musikstück unangekündigt abbricht und Sie alle sich auf die noch verfügbaren Stühle setzen, außer einem der dann ausscheidet. Der könnte dann als Nachfolger gelten. Oder wir wiederholen die Prozedur mit immer weniger Stühlen und Teilnehmern, bis nur noch einer den einzigen freien Stuhl besetzt und das ist der offizielle Nachfolger. Aber so machen wir das nicht." Die anderen sahen die Ministerin verdutzt bis belustigt an. Julius fragte sich, woher die Ministerin das Spiel "Reise nach Jerusalem" kannte. Vielleicht fragte er sie das nachher ganz offiziell. Dann hörte er wie alle anderen, wie was die Ministerin beschlossen hatte: "Auf Grundlage aller vorgebrachten Gründe für die Wichtigkeit einzelner Behörden oder Arbeitsgruppen und der eigenen dargestellten Qualifikationen komme ich nun zu folgendem Beschluss: Ab Heute wird Monsieur Simon Beaubois, bisheriger Leiter des Büros für die Angelegenheiten postmortaler Existenzen, auch Geisterbehörde genannt, die Amtsgeschäfte von Monsieur Arion Vendredi vollumfänglich übernehmen, weil er zum einen bereits häufiger die stellvertretende Geschäftsführung innehatte, er wegen seiner erwisenen Führungsqualitäten gut mit ihm unbekannten Mitarbeitern übereinkommen kann und vor allem, weil in seiner bisherigen Behörde genug qualifizierte Mitarbeiter tätig sind, welche mit den auf sie zukommenden Mehrverantwortlichkeiten sehr gut umgehen können, zumal die Geisterbehörde wahrhaftig im Moment nicht einem derartig hohen Belastungsdruck ausgesetzt ist wie zum Beispiel die Behörde zur Erfassung und Überwachung von Werwölfen oder die Behörde zur Erfassung und Überwachung von Vampiren. Diese zusammenwirkenden Einzelpunkte rechtfertigen die Beförderung von Monsieur Beaubois zum hauptamtlichen Leiter der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe. Allerdings muss ich einräumen, dass diese Ernennung erst einmal nur solange gilt, wie ich selbst das Amt der Zaubereiministerin ausüben darf, was durch noch anstehende Besprechungen mit allen anderen Abteilungsleitern und ihren Stellvertretern erörtert werden muss. Ich wollte diese wichtige Entscheidung jedoch nicht bis auf diesen kommenden Zeitpunkt verschieben, weil Ihre Abteilung eben neben der magischen Gesetzesüberwachung und der Handelsabteilung fundamentale Interessen der magischen Mitbürger vertreten muss. Eine kopflose Schlange kann vielleicht noch kriechen und sich zusammenrollen, aber nicht mehr zischen und auch nicht beißen. Sie verliert dann ihre Erhabenheit und Durchsetzungskraft. Ich gehe davon aus, dass Monsieur Beaubois nicht lange benötigen wird, um seine Nachfolge im Büro für Postmortale Existenzen zu bestimmen und mir die entsprechende Fachkraft vorzustellen." Julius sah, wie Simon Beaubois zwischen sich geehrt fühlen und Enttäuschung, dass ihm diese große Verantwortung nicht erspart blieb gefangen war. Bei politischen Wahlen oder bei Amtsübergaben war es üblich, eine kurze Rede zu hhalten. Doch hier reichte es wohl, dass Simon Beaubois sich bei der Ministerin für das in ihn gesetzte Vertrauen bedankte und versprach, sich dieses hohen Vertrauens immer und überall würdig zu erweisen. So konnte er dann als beschlossener Amtsnachfolger Vendredis auch gleich die von ihm mitgebrachten Gespenster hereinbitten um diese im Beisein von Madame Ventvit, Adrastée zu vernehmen, zumal es ja um einzelbehördenübergreifende Dinge wie die Verwaltung der tropischen Tierwesen, Zauberwesen, Verhältnisse zwischen Menschen mit und ohne Magie und Werwesen ging. Die zwei Geister sagten nämlich aus, dass sie an dem Tag, wo Vendredi alleine nach Réunion gereist war, er dort selbst schon zu einer Riesenameise geworden sei, die sich aus einem ihr über den Körper gefallenen Sack herausgekämpft habe. Julius begriff, dass dieser Sack von Vita Magica gekommen sein mochte. Denn so hatten die auch Lord Vengor aus Iaxathans dunkler Höhle herausgezaubert. Also wusste VM noch länger als das Ministerium, dass Arrion Vendredi ein neuartiges und hoffentlich einzigartiges Werwesen war. Vielleicht, so dachte Julius, war es sogar Glück im Unglück, dass Lahilliota Vendredi zu sich geholt hatte. Hätte Vita Magica ihn fangen können, könnten diese Banditen mit ihm herumexperimentieren, entweder um eine wirkungsvolle Massentötungsvorrichtung zu bauen wie bei den Werwölfen oder die in ihn eingeflossenen Eigenschaften für sich zu nutzen.

Als die zwei enthaupteten Geister ihre Aussagen gemacht und bei der Unversehrtheit ihrer Seele geschworen hatten, dass das alles die Wahrheit war, durften sie wieder hinausschweben. Dann sagte Simon Beaubois: "Wenn ich gleich meine offizielle Ernennungsurkunde empfange, bitte ich darum, auch die Ernennungsurkunde für Madame Adrastée Ventvit als meine Nachfolgerin in der Geisterbehörde sowie eine offizielle Ernennung von Madame Barbara Latierre als meine Stellvertreterin im Amt des Abteilungsleiters überreichen zu dürfen." Die Ministerin bestätigte es durch Nicken und mit Worten. Da warf Clopin aus dem Koboldbüro ein, dass das so nicht richtig wäre, weil Mademoiselle Ventvit genau hätte wissen müssen, dass Simon Beaubois seine bisherige Stellvertreterin als seine Nachrückerin benennen würde und die Ministerin somit wissentlich eine eigene Verwandte mitbefördert habe, was sie ja angeblich nicht vorgehabt hätte. Darauf antwortete die Ministerin ganz ruhig:

"Zum einen oblag und obliegt es nicht mir, die Posten innerhalb einer Einzelbehörde vorzuschlagen, sondern nur zu befinden, ob die mir vorgelegten Vorschläge für die betreffende Verwaltungseinheit sinnvoll und förderlich sind. Zum zweiten erwähnte ich, dass die Ernennung von Monsieur Beaubois und damit auch alle daraus erfolgenden Nachfolgen für die Zeit meiner Amtsführung als Zaubereiministerin gelten. Sollte ich vorzeitig aus dem Amt scheiden können Sie Ihre Beschwerde gerne meinem Nachfolger oder meiner Nachfolgerin vortragen, Monsieur Clopin. Dies dürfen Sie als amtliche Verlautbarung anerkennen und sich im Bedarfsfall auf die hier anwesenden als Ohrenzeugen berufen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit! Damit möchte ich diese Sondersitzung zur Feststellung des amtlichen Nachfolgers von Monsieur Arion Vendredi beschließen. Ich bedanke mich für Ihre Teilnahme und wünsche Ihnen allen noch einen erfolgreichen Arbeitstag und einen erholsamen Feierabend. Auf Wiedersehen, Messieursdames!"

"Wir treffen uns zur Mittagspause im Speisesaal, Julius. Sei da bitte pünktlich!" sagte Barbara noch auf dem Weg durch die Gänge des Ministeriums. Julius bestätigte das.

Um nicht wieder wegen Computersachen die Zeit zu verschwitzen nutzte Julius die verbleibende Zeit bis zur Mittagspause, um noch einige Antwortbriefe zu verschicken, darunter einen an Fleur Weasley, die ihn als Vermittler zwischen Veelastämmigen und reinrassigen Menschen gebeten hatte, eine Einreiseerlaubnis auch für ihre Schwiegerverwandten zu Gabrielles Hochzeit zu erwirken. Julius dachte dabei, dass dann ja auch Ginny Weasley zusammen mit ihrem berühmten Ehemann anreisen würde, wie wohl auch Ronald Weasley mit seiner jedes Buch verschlingenden Ehefrau. Dabei bekam er sicher mit, ob die zwei Paare demnächst auch wen dazubekommen würden. Außerdem konnte er dann auch sehen, wie weit sich die kleine Victoire entwickelt hatte, die er das letzte Mal bei seiner Vorstellungsrunde im Herbst 2001 gesehen hatte.

Wie erbeten fand er sich pünktlich zur Mittagspause vor dem Speisesaal ein, wo er die zwei Schwestern Hippolyte und Barbara Latierre, sowie die aus England herübergekommene Melissa Whitesand früher Melanie Leeland traf. Er freute sich über die gelungene Überraschung. Schließlich interessierte er sich dafür, wie Pinas Cousine sich nach der Willkommensfeier für den kleinen James T. Fielding fühlte. So konnte er sich auch gut von dem schweren Ballast ablenken, den Vendredis Verwandlung und Verschwinden auf seine und vieler andderer Seelen gelegt hatte.

"Es ist jetzt durch, dass ich am ersten April in Hidden Groves anfange", sagte Melissa Whitesand freudestrahlend. Julius beglückwünschte sie dazu. Denn er kannte den Tier- und Pflanzengarten in Australien ja auch sehr gut. Barbara Latierre bemerkte dazu, dass sie ja deshalb noch einmal mit Melissa Whitesand über das internationale Abkommen über den Handel mit magischen Tierwesen und deren Produkten sprechen wollte. Melissa Whitesand nickte und erwähnte, dass die Australier sich auch für die Latierre-Kühe interessierten, deren Einfuhrbeschränkungen jedoch da klare Grenzen setzten.

"Ja, und die sind durch die Konferenz der Imazov nicht geringer geworden, jetzt wo das Statut gilt, jeder Region ihre Mitbestimmung über die dort vorkommenden Tierwesen", erwiderte Barbara Latierre. "Aber deshalb habe ich noch vor Mademoiselle Whitesands Aufbruch auf die Südhalbkugel um eine Unterredung gebeten, wie sie dort, wo sie dann arbeiten darf, entsprechende Unterhandlungen führen kann. Da die Latierre-Kühe meine ganz private Domäne sind liegt es bei mir, auf welche Bedingungen ich mich einlassen werde oder nicht", sagte Barbara Latierre. Julius und Hippolyte nickten. Dann ging es darum, dass es in der Abteilung für magische Geschöpfe demnächst wohl neue Richtlinien geben könnte, ohne zu erwähnen, warum Vendredi nicht mehr der Leiter dieser Abteilung war.

"Gib es zu, kleine Schwester, dass du ganz gerne auf dieselbe Stufe wie ich geklettert wärest", feixte Hippolyte.

"Hallo, ich bin Barbara und nicht Blanche Berenice. Neh, lass mal, Hippolyte. Ich bin da wo ich bin ganz gut ausgelastet", erwiderte Barbara Latierre.

"Blanche Berenice, ist das nicht eine von den vieren, die Ihre Mutter vor drei Jahren bekommen hat?" fragte Melissa Whitesand. Die zwei Latierre-Schwestern bestätigten es. Hippolyte hatte sogar ein nur zwei Wochen altes Zaubererfoto der vier dabei, wo auch Aurore und Chrysope drauf waren. So konnte Julius sagen, dass sie gleich auch seine Prinzessinnen zu sehen bekam. "Ich muss mich immer noch dran gewöhnen, dass ich ein Stück Fotopappe in der Hand habe und die auf dem Bild herumwuseln wie auf einem Bildschirm", sagte Melissa.

"Ja, genau wie ich mich bis heute nicht dran gewöhnt habe, dass ohne Magie mal eben ein längerer Brief oder ein Musikstück von einem Ende der Welt an das andere verschickt werden kann", sagte Barbara Latierre. Julius griff diese Bemerkung auf und erwähnte, dass er nach der Pause in den Computerraum wollte, um E-Mails und Bekanntmachungen aus aller Welt zu studieren. "Oh, können da nur Leute rein, die mit der sogenannten Muggelwelt zu tun haben oder auch Leute, die für ihre Abteilungen mal eben was durchrechnen lassen wollen?" fragte Melissa.

"Bisher hat mich noch keiner gefragt, der oder die in einer anderen Abteilung oder Unterbehörde zu tun hat", sagte Julius. Barbara sah ihm und Melissa an, dass sie wohl dachte, dass er ihr eine solche Gelegenheit bieten mochte, wenn es was gab, was mit Computern schneller zu klären war als von Hand ausgezählt. So sagte Julius: "Es gibt ja immer noch Leute, die sagen, dass Computer nur dazu da sind, die Probleme zu lösen, die jemand ohne sie nicht hätte. Hmm, das sagen aber auch böse Zungen von der Ehe. Bisher kann ich weder das eine noch das andere bestätigen."

"Würde ich dir auch nicht geraten haben, wo meine Tochter dir vieles möglich gemacht hat", sagte Hippolyte. Melissa wiegte ihren Kopf, als müsse sie ein bleischweres Gewicht darin ausbalancieren. Dann sagte sie:

"Bisher hat sich mein kleiner Bruder nicht beschwert, dass er bei Prudence gelandet ist. Ja, und dass er mir schon um zwei Kinder voraus ist schmiert er mir auch bei jeder Gelegenheit aufs Butterbrot. Aber das ist wohl für diesen Ort zu privat."

"Dann dürften meine kleine Schwester und ich nicht zusammensitzen und ich erst recht nicht mit meinem Schwiegersohn zu Mittag essen", sagte Hippolyte Latierre und schenkte Julius noch was von dem Kürbissaft nach, ohne dass er darum gebeten hatte. Doch er erinnerte sich, dass er einmal ausgeplaudert hatte, dass die Arbeit am Computer auch Hunger und Durst verdrängte. Seitdem lieferten sich Millie, ihre große Schwester Martine und ihrer beider Mutter einen unausgerufenen Wettbewerb darin, ihn immer satt und durstfrei zu halten.

Julius wünschte Melissa Whitesand auf jeden Fall eine erfolgreiche aber vor allem interessante und abwechslungsreiche Zeit in Hidden Groves. Er bat sie, Madam Helianthus von ihm zu grüßen. Immerhin kannte sie ihn ja von seinem ersten Besuch in Hiddengroves und von den Reisen mit Millie und Aurore. Melissa erwiderte, dass sie die Grüße ausrichten würde.

Nach der für Julius so überraschenden und höchst erfreulichen Mittagspause kehrten seine Sorgen wieder zurück. Als er die von ihm ausgearbeiteten Programmierschritte in die entsprechende Anwendung des Arkanet-Servers in Frankreich eingab dachte er daran, dass das was Arion Vendredi passiert war indirekt auf ihn zurückging. Hätte er damals nicht gegen Errithalaia gekämpft und dabei Ashtarias Formel verwendet, so wäre Lahilliota nicht aus ihrer geistigen Gefangenschaft in Errithalaias Körper freigekommen und hätte sich mit seiner Tante Alison zu einem neuen Körper vereint. Was von Lahilliota war jetzt noch Alison Andrews? Mochte es sein, dass seine Tante nun genausoeine Seelengefangene war wie Lahilliota, unfähig, sich gegen das zu wehren, was Lahilliota in ihrem Körper so anstellte? Oder waren beide wie Anthelia und Naaneavargia zu einer einzigen Persönlichkeit verschmolzen, die sich dazu entschlossen hatte, dieses Ameisenexperiment zu machen. Dann fiel ihm ein, dass er die neuen Wendungen sowohl was Vendredi als auch Vita Magica auf Réunion betraf den Sonnenkindern weitergeben wollte. Immerhin mochte Vendredis Verwandlung wegen Lahilliotas Abneigung gegen Vampire passiert sein, und das auf Réunion ging auch die ehemalige Sardonianerin Patricia Straton was an, weil die wohl noch lebende Verwandte hatte, welche sie jedoch für von ihrer ehemaligen Herrin Anthelia grausam getötet hielten.

Als er im Posteingang des Arkamail-Programms eine Nachricht von Bärbel Weizengold fand hellte das seine Stimmung überhaupt nicht auf. Denn sie schrieb, dass es in Deutschland zur Sichtung von zwei Menschen ohne natürlichen Schattenwurf gekommen sei und dass einer von denen, der Bruder eines Arbeitskollegen eines jungen Mannes, der von der neuen Schattenriesin verfolgt wurde, beim Versuch, ihn in Gewahrsam zu nehmen, regelrecht explodiert war. Schon eine gruselige Vorstellung, die völlig ohne die dabei getöteten drei Lichtwächter ausgekommen wäre. Bärbel erwähnte auch, dass die Angelegenheit nicht als Geheim sondern nur höchst vertraulich also Stufe C5 eingestuft worden sei. Das hieß, er durfte es seinen Kollegen weitererzählen und auch denen, denen er vertraute, es nicht gleich in die Zeitung zu bringen oder anderen weiterzutratschen. Er bestätigte den Erhalt der Mail und schlug vor, dass Bärbel Weizengolds Chef sich mit Madame Grandchapeau darüber unterhalten möge und dass die Geisterbehörden Frankreichs, Deutschlands und Englands diese Botschaft bekommen sollten. Offenbar saß Bärbel auch gerade am Rechner in Berlin. Denn sie schickte keine zehn Minuten später die Antwort, dass ihr Vorgesetzter, Herr Armin Weizengold, dieses Vorgehen genehmige und sie dazu beauftragt sei, mit ihm oder jedem, den Madame Grandchapeau beauftrage, einen Termin und eine Tagesordnung auszuarbeiten. So konnte man sich eben auch zusätzliche Arbeit einhandeln, dachte Julius. Doch andererseits war er froh, nicht nur über Vendredis Verwandlung nachdenken zu müssen, selbst wenn die Vorstellung sich vermehrender Nachtschatten und explodierender Männer ohne eigenen Schatten auch nicht wirklich erfreulich war.

Julius ließ die von Bärbel geschickte Mail ausdrucken. Er wollte gerade damit zu Nathalie Grandchapeau und Monsieur Beaubois, als der von ihm gerade mit der neuen Suchanfrage gefütterte Rechner hektisch lospingelte und in roten Buchstaben auf dem Bildschirm "Warnung, Suchobjekt von weiterer Suchroutine überwacht!" angezeigt wurde. Julius nickte. So was ähnliches hatte er erwartet, da er damit rechnete, dass die sogenannte Casa del Sol in Sevilla bereits von der Polizei überwacht wurde. Als er aber dann die Programmfunktion "Verfolger identifizieren", anklickte musste er erst einmal schlucken. Drei der von ihm programmierten Faktoren gehörten zu einem Suchraster, welches ein für die CIA arbeitender Internetsuchroboter namens Arachnobot erledigen sollte, darunter die Punkte "Casa del Sol", "Verschwindefälle junger Männer" und "schwarzer Engel". Offenbar hatte Julius' Suchprogramm einige virtuelle Signalfäden dieser digitalen Suchspinne gekitzelt. Wie gut, dass seine Mutter umfangreiche Tarn- und Erkennungsroutinen in ihre Suchprogramme eingebaut hatte. Da er wegen der nach Euphrosynes sogenanntem Sonnensegen fälligen Neueinrichtung des Computerraumes alle nötigen Hard- und Softwarekenntnisse per Gedächtnisverstärkertrank auswendig gelernt hatte konnte er das eigene Suchprogramm sogar abfragen, von wo und wann genau der Auslandsgeheimdienst der vereinigten Staaten mit dem Suchprogramm Kontakt bekommen hatte und ob die Phantomdaten des Arkanet-Suchroboters auch ihre Funktion erfüllt hatten. Offenbar wollte die CIA seit dem 20. März wissen, warum drei Angehörige der Kriegsmarine nicht mehr aufzufinden waren. Womöglich hatte die CIA zusammen mit dem auf Telekommunikationsüberwachung spezialisierten Dienst NSA nachgeprüft, was an den Gerüchten dran war, dass in Sevilla Besucher eines bestimmten Bordells verschwanden oder erst später wieder auftauchten. Julius unterdrückte den Anflug von Schadenfreude. Denn auch wenn die Warnung bedeutete, dass Itoluhila sich vielleicht mit den falschen Leuten angelegt hatte klärte das zum einen nicht, was die Abgrundstochter mit drei Navy-Männern vorhatte und auch nicht, ob die von ihr kultivierten Polizisten da nicht gleich den Deckel draufgemacht hatten. Sicher, die Amerikaner hielten nicht viel davon, wenn andere Staaten ihr eigenes Ding machten, sobald US-Bürger betroffen waren. Spätestens seit dem elften September waren alle US-Nachrichtendienste noch empfindlicher im Bezug auf mögliche Folgetaten. Am Ende ballerten die Bushkrieger noch einen Marschflugkörper in die Casa del Sol, um das mögliche Terroristennest auszuräuchern. Dabei würden zwangsläufig unschuldige Menschen sterben. Das war also kein Grund zur Freude, in welcher Form auch immer. Aber vielleicht konnte der elektronische Spion der CIA auch helfen herauszufinden, ob noch weitere Männer wie Arion Vendredi auf der Welt unterwegs waren. Das musste er dann vielleicht noch mit den ihm namentlich bekannten Kontaktern zur CIA, Ira Waterford und Brenda Brightgate klären. Das wiederum durfte er aber nicht in Eigenregie angehen. So nahm er den Ausdruck von Bärbels Mail und die erste Statusmeldung seines neuen Suchdämonen aus dem Laserdrucker und kehrte in das Ministeriumsgebäude zurück.

"Menschen ohne Schattenwurf? Klingt nach dem heimtückischen Cleptumbra-Fluch", grummelte Simon Beaubois, der mit einer Mischung aus Frustration und Beklommenheit die Nachricht aus Deutschland las. Julius nickte. Er kannte diesen Fluch zumindest vom Namen und der Beschreibung her aus den UTZ-Jahren bei Professeur Delamontagne. "Hmm, wie sich das liest ist die Kontaktperson aus Deutschland in der Behörde für friedliche Koexistenz zwischen Menschen mit und ohne Magie tätig. Welche Erfahrung hat sie im Bereich Phantasmologie vorzuweisen?"

"Sie war in meinem Abschlussjahr Mitreisende von Greifennest beim trimagischen Turnier und hat in dieser Eigenschaft auch den UTZ-Kurs bei Professeur Delamontagne besucht. Da hatten wir es von verschiedenen Geisterwesen und wegen des Turnierverlaufes auch von Dschinnen und Nachtschatten", sagte Julius. Monsieur Beaubois nickte. "Nun, wenn hier wirklich eine neue und mächtigere Form von Nachtschatten am Werk sein soll könnte diese eine Abwandlung dieses Fluches erlernt haben. Das jedoch wirft zwei Fragen auf: Hat dieses nichtlebendige Wesen diese Abwandlung auf natürliche Weise entdeckt, durch Versuch und Irrtum? Oder wurde diesem Wesen das Wissen über eine solche Form des Schattenraubes von einer anderen Quelle anvertraut?"

"Sie fragen, ob diese Nachtschattenriesin Wissen von jenem erhalten hat, der die Schattenwesen in Afrika gelenkt hat?" fragte Julius.

"Mmhmm, ja, stelle ich mir gerade vor", erwiderte der frischgebackene Abteilungsleiter für die Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe. "Da unsere oberste Dienstherrin mich auf diesen neuen, noch einzusitzenden Stuhl gesetzt hat kann ich die Angelegenheit nicht selbst verfolgen. Bitte gehen Sie zu meiner direkten Nachfolgerin in der Geisterbehörde und übergeben Ihr die mir vorgelegten Dokumente! Ich gehe davon aus, dass auch Madame Grandchapeau diese Benachrichtigung sehr interessiert", sagte Beaubois. Julius nickte heftig. Deshalb hatte er ja auch fünf Kopien von Bärbels Mail gemacht.

"Moment, bevor Sie meine Anweisung ausführen, Monsieur Latierre, noch zu dem Punkt mit der Abgrundstochter, die in Spanien als Bordelldirne ihre Opfer sucht: Wenn dabei wirklich Angehörige von bewaffneten Streitkräften aus anderen Ländern betroffen sind darf nur das den Tatort betreffende Zaubereiministerium tätig werden. Haben Sie eine diese Computergeräte bedienende Kontaktperson in Madrid?"

"Die haben da erst seit Jahresanfang einen vollständigen Arkanetzugang, also das hochverschlüsselte Netzwerk, über das wir unbemerkt Nachrichten austauschen können", sagte Julius.

"Dann gehe ich davon aus, dass Madame Grandchapeau Ihnen die Anweisung geben wird, jeden von Ihnen vorbereiteten oder bereits begonnenen Suchvorgang mit den Kollegen in Spanien abzustimmen. Auch wenn der höchst alarmierende Zwischenfall mit Monsieur Vendredi uns unmittelbar etwas angeht dürfen wir nicht einfach deren Mitbürgerinnen und Mitbürger auskundschaften."

"Natürlich nicht, sofern es sich bei der erwähnten Wesenheit um eine Mitbürgerin im rechtlichen Sinne handelt. Aber natürlich haben Sie recht, dass die in Spanien hausende Abgrundstochter die Angelegenheit des spanischen Zaubereiministeriums ist. Ich werde das also mit Madame Grandchapeau besprechen, inwiefern wir an einer weiterführenden Überprüfung von Monsieur Vendredis Verwandlung beteiligt bleiben sollen oder nicht", sagte Julius ganz ruhig, obwohl der von Beaubois zwischen seinen Worten versteckte Vorwurf schon gehörig ärgerte. Sicher wollten sie nicht spanische Menschen mit und ohne Magie ausspionieren. Doch wenn die CIA da keine Probleme mit hatte, mal eben spanische Nachrichtenkanäle anzuzapfen, weil drei Navy-Soldaten verschwunden, vielleicht auch nur desertiert waren, dann hatten sie hier in Paris ebenso ein Recht, nachzuprüfen, was mit einem ihrer langjährigen und hochrangigen Mitarbeiter passiert war. Aber das sollte Nathalie entscheiden. Er hatte sich wohl mal wieder unnötig weit aus dem Fenster gelehnt.

Mit den Kopien der letzten Mitteilungen aus dem Computerraum suchte Julius Nathalies Büro auf. Madame Grandchapeau war nicht alleine. Bei ihr war die Zaubereiministerin persönlich. "Ah, Julius, gut, dass Sie bei mir vorsprechen", sagte Nathalie Grandchapeau ruhig. "Was immer Sie mir gerade vorlegen möchten hat sicher einige Minuten Zeit."

"Was dringendes?" wollte Julius wissen. "Nein, dann hätte ich Ihnen einen meiner Büroboten geschickt oder wäre selbst in das Rechnerhaus gekommen", sagte Nathalie Grandchapeau. Dann forderte sie Julius auf, sich hinzusetzen. Das tat er. Dann sagte sie: "Es ist deshalb nicht dringend, weil der betreffende Kessel eh schon umgekippt und restlos ausgelaufen ist. Ich meine, dass Monsieur Vendredi nicht nur körperlich verwandelt wurde, sondern sicher auch geistig verändert wurde. Das heißt, dass die Macht, die ihn derartig umgeformt hat, auf das ganze von ihm besessene Wissen über das Ministerium zugreifen kann. Ministerin Ventvit und ich gehen davon aus, dass die Verwandlung gestern nachmittag unbeabsichtigt war, eine Panne, wie es bei den Magielosen genannt wird. Möchten Sie Ihre Ausführungen noch einmal wiederholen, Ministerin Ventvit?" Dabei sah sie die Zaubereiministerin Frankreichs an. Diese nickte ihr zu und sah dann Julius an.

"Sicher war beabsichtigt, Monsieur Vendredi als Spion und/oder Erfüllungsgehilfen, also Agenten bei uns einzuschmuggeln. Wäre es dieser dunklen Macht nur darum gegangen, ein begattungsfähiges Geschöpf für eine Zucht neuer Zauberwesen zu haben wäre Monsieur Vendredi sicher nicht zu uns zurückgekehrt. Das ist noch der am leichtesten nachvollziehbare Teil", begann die Ministerin. "Was die Ziele angeht dürfte es sehr schwer zu ergründen sein, worauf Monsieur Vendredi genau angesetzt wurde, bevor wir ihn enttarnten. Allerdings vermute ich, dass er die Anweisung hatte, erst die Veelas und danach andere intelligente Zauberwesen gegen uns aufzubringen oder uns dazu zu bringen, diese aus dem Land zu jagen oder zu töten. Ich habe Sie als sehr phantasievoll aber auch logisch befähigten Zauberer kennengelernt. Deshalb möchte ich Sie fragen, welchen Grund es für das eine oder das andere Ziel geben könnte, wohl gemerkt Ihrer Einschätzung und Vorkenntnis gewisser Wesenheit nach?"

"Soweit ich das aus dem schließen kann, weshalb wir überhaupt darauf kamen, dass Monsieur Vendredi irgendwas an sich vorgenommen hat oder hat vornehmen lassen, reagiert er und wohl auch die dunkle Macht hinter ihm empfindlich auf die Anwesenheit und Zauberkräfte von Veelas. Das macht Veelas oder ihre mit Menschen gezeugten Nachkommen zu natürlichen Revierkonkurrenten bis Todfeinden, vergleichbar mit Luft und Erde oder Feuer und Wasser. Eine Verbannung aller Veelas, wie er sie ja schon angedeutet hat, sollte wohl das Gelände freimachen, damit seine neue Herrin sich hier bei uns breitmachen kann, ohne Angst vor Störungen durch die Veelas zu haben. Was andere Zauberwesen angeht, vor allem Vampire und Werwölfe, so wurden und werden diese von - ähm - der dunklen Macht - als lästige Störenfriede gesehen, sowie wir Fliegen oder Küchenschaben als lästig bis schädlich einstufen. Ja, und wie wir leichthin Fliegen totschlagen und Kakerlaken mal eben zertreten, wenn wir sie in unseren Wohnstätten antreffen, so wollte oder sollte Vendredi sicher eine Kampftruppe gegen diese Wesen aufstellen, um sie ohne große Verhandlungen und Friedensangebote auszurotten. Was Wassermenschen, Zwerge und Kobolde angeht habe ich im Moment keine Vorstellung, als was diese von der Mutter der Abgrundstöchter eingestuft werden und welche Anweisung sie Vendredi für diese Wesen mitgegeben haben mag."

"Nachdem, was er auf Réunion aufgescheucht hat könnte eine seiner Aufträge auch darin bestanden haben, weitere Erfüllungsgehilfen für seine neue Herrin zu beschaffen, sei es durch verlockende Werbung oder mit magischer oder körperlicher Gewalteinwirkung", sagte die Ministerin. "Das habe ich nämlich auch noch vermutet, nachdem wir ihn enttarnt haben. Er wäre in seiner Abteilung vergleichbar der Spinne im Netz gewesen, ja, obwohl er von der Zweitgestalt her eine übergroße Ameise wurde. Aber rein was die Zugangsmöglichkeiten angeht wäre das Bild von einer Spinne schon passender."

"Klingt nicht wirklich beruhigend", wandte Julius ein. Nathalie Grandchapeau nickte beipflichtend. Die Ministerin wartete, ob Julius noch mehr dazu sagen wollte. Dann sprach sie selbst weiter:

"Wir müssen davon ausgehen, dass Monsieur Vendredi immer noch dazu eingesetzt werden kann, für seine neue Gebieterin wertvolle Sklaven zu beschaffen, wenn beide erst einmal den Schock der frühzeitigen Entlarvung überwunden haben. Da wir in Vendredis Büro keinerlei entsprechende Hinweise wie Namenslisten oder Akten in Frage kommender Personen gefunden haben gilt es, von uns aus auszuloten, wer für derartige Anwerbungsvorhaben in Frage käme, außer Ihnen natürlich. Denn sicher trachtet dieses Geschöpf, mit dem sie auf dem Grundstück Ihrer Tante zusammentrafen danach, Ihrer irgendwie habhaft zu werden oder Sie in eine für seine Ziele empfängliche Stimmung zu versetzen. Ich sage Ihnen das so frei heraus, weil ich weiß, dass Sie das sowieso schon befürchten, Monsieur Latierre. Deshalb gehe ich auch davon aus, dass Sie Ihre unmittelbaren Angehörigen entsprechend absichern oder dies schon getan haben. Allerdings mag Monsieur Vendredi unter dem Einfluss dieser Kreatur weitere aussichtsreiche Kandidaten und Kandidatinnen erwähnt haben, Leute, die vom Wissen und ihrer Rangstellung her gut als neue Erfüllungsgehilfen taugen mögen. Deshalb erteile ich Ihnen den Auftrag, alle von Ihnen für Ihre Angehörigen erwogenen und/oder bereits getroffenen Schutzmaßnahmen ohne Gegenfrage Ihrerseits auch auf jene anzuwenden, die Monsieur Beaubois, Madame Grandchapeau oder ich als mögliche Zielpersonen einstufen. Haben Sie Schwierigkeiten damit, diese Anweisung auszuführen, Monsieur Latierre?"

"Wenn dabei nicht von mir verlangt wird, die Geheimnisse preiszugeben, die mir die Kinder Ashtarias anvertraut haben nicht", erwiderte Julius. Nathalie musste darüber verhalten lächeln. Natürlich wusste diese, woher Julius sonst noch geheimes Wissen bezog und dass vor allem der in ihrem ungeborenen Sohn neu auf seine Ankunft in der Welt hinwachsender Ehemann maßgeblich mitgeholfen hatte, dass Julius an dieses alte Wissen herankam. So sagte er noch schnell: "Ich kann mit jenen, die mir ihr Wissen anvertrauten Zauber und Artefakte ausarbeiten, die denen helfen, welche Sie beide und Monsieur Beaubois als mögliche Ent- und Verführungsopfer Lahilliotas einstufen. Es darf aber niemand dabei zusehen oder mithören, was genau gemacht wird. Wenn Sie mir das zusichern können habe ich damit keine ethischen oder technischen Schwierigkeiten." Die Ministerin nickte bestätigend. Dann sagte sie: "Nun, dann kann ich wieder an meinen eigentlichen Arbeitsplatz zurückkehren und nachsehen, ob meine Untersekretäre die laufende Korrespondenz in meinem Sinne erledigt haben. Noch einen angenehmen Tag, Nathalie und Julius."

Als die Ministerin das Büro verlassen hatte kam Julius endlich dazu, die für Nathalie mitgebrachten Unterlagen vorzulegen. Nathalie nahm die gedruckte E-Mail und las sie laut vor, wohl auch, um den über ihren silbernen Cogison-Ohrring mithörenden Körpermitbewohner erfahren zu lassen, worum es ging. Dann las sie noch die Meldung über die sich beinahe verhedderten Suchprogramme. Danach gab sie Julius den zweiten Ohrring, so dass er Demetrius' vertonte Gedanken mitbekommen konnte.

"Warst du damit schon bei eurem neuen Abteilungsleiter?" fragte Demetrius' künstliche Kleinjungenstimme. Julius dachte zurück, dass er ihn hergeschickt habe, um zu klären, wer eigentlich für die Suche nach weiteren Verschwindefällen zuständig war. "Ja, stimmt, hättest du mit der, di für mich mitisst vorher besprechen können, ob da nicht Hoheitsrechte angekratzt werden", bekam er zur Antwort. Demetrius' Mutter in Dauerwartestellung fügte dem hinzu: "Ja, nur dass ich Eigeninitiative nicht grundsätzlich verbiete, kleiner Strampelwichtel. Aber leider haben wir die seit Grindelwalds Machenschaften geltende Übereinkunft, dass jedes Zaubereiministerium der Welt oder vergleichbare Verwaltungsinstanzen die auf ihrem Hoheitsgebiet auftretenden Ereignisse in eigener Verantwortung behandeln, ohne sich von anderen Zaubereiministerien vorgeben zu lassen, was richtig und wichtig zu sein hat. Die Aktion Wolfsherbst hat ja die Belastungsgrenze dieser Übereinkunft deutlichgemacht."

"Ja, doch wir wissen beide, dass gerade was diese Königin der schwarzmagischen Wonnefeen in Spanien angeht die Leute um Señor Pataleón alles andere als durchsetzungsstark sind, meine Warme Austrägerin", schickte Demetrius zurück. "Wenn dein sehr vielseitiger Mitarbeiter denen jetzt was erzählt, die könnten oder sollten mit einem Computer überwachen, wer bei denen alles verschwindet bekommt Papa Armands ehemaliger Amtskollege sicher einen gehörigen Wutanfall, was uns denn einfiele, ihm zu zeigen, was er noch machen könnte. Außerdem hast du gerade was vorgelesen, dass auch die magielosen Nachrichtenbeschaffer von Übersee drauf gekommen sind, dass dieses Freudenhaus in Sevilla eine Männerfalle sein könnte. Öhm, Julius, wissen die vom LI nicht, dass dieses Abgrundsweib in Sevilla sein Unwesen treibt?"

"Öhm, Demetrius, die wissen das längst. Aber die dürfen nichts machen, wohl auch wegen der Nichteinmischungsvereinbarungen. Andererseits haben wir damals im Sub-Rosa-Club nichts anderes gemacht, als uns in die Belange der britischen Zaubereiverwaltung einzumischen", schickte Julius zurück. Darauf zuckte Nathalie kurz zusammen und gedankenschnaubte: "Ey, tritt mir ja nicht das Mittagessen hoch, Kleiner!" Darauf erwiderte Demetrius:

"'tschuldigung, meine Holde und Hoffnungsvolle, aber ich wollte damit nur dir und ihm da draußen vor deiner Bauchdecke mitteilen, dass wir heute denselben Grund haben, uns für die Sachen in Spanien zu interessieren wie damals für die Sachen auf den britischen Inseln."

"Du meinst, die Spanier könnten schon seit einer unbekannten Zeit lang unterwandert sein und deshalb nichts ausrichten?" fragte Julius.

"Ganz genau, Julius. Aber dann wäre das auch total widersinnig, denen auf die Nase zu binden, dass wir einen Computer haben, der ausrechnet, wo bei denen Menschen verschwinden und warum", kam Demetrius' Antwort. Nathalie schaltete sich in die zwischen ihrem ungeborenen Sohn und ihrem vielseitigen Mitarbeiter laufende Unterhaltung ein, indem sie sagte:

"Es hat noch nie geschadet, einem drängenden Bauchgefühl zu folgen, auch und vor allem, wenn es durch logische Gedanken unterstützt wurde. Deshalb bleibt es unser Betriebsgeheimnis, wie der kleine Mann in meinem warmen Schoß, dass wir diese Casa del Sol überwachen, zumindest wer da wohl irgendwann mal gewesen ist und danach nicht wieder auftauchte. Am Ende unterhält dieses Geschöpf Itoluhila noch andere solche - wie sagtet ihr es? - Männerfallen, um für dieses Weibsbild und ihre wiedererwachte Mutter willige Sklaven und/oder Nahrungslieferanten zu erbeuten, sowie die Nocturnia-Vampire das sicher auch getan haben und wohl auch wieder tun. Es könnte sogar sein, dass nicht nur unser Zaubereiministerium unterwandert werden sollte, sondern auch andere magische und nichtmagische Machtzentren der Erde. Deshalb werde ich dem Kollegen Beaubois ein Memo senden, dass ich Ihre Unternehmung abgesegnet habe, um uns wegen möglicher Wiederholungsfälle wie bei Monsieur Vendredi im Bilde zu halten."

"Gutes Stichwort, Maman. Wir sollten auch unsere eigenen Bilderboten entsprechend einstimmen, auf Unregelmäßigkeiten bei uns und in anderen Zaubereiministerien zu achten, ob da nicht auch so eine riesengroße Waldameise auftaucht. Geht beide mal davon aus, dass die VM-Verbrecher das auch schon längst wissen. Denn die dürften Vendredi ja sicher nicht so einfach bei sich haben rumspazieren lassen, ohne zu versuchen, ihn zu täuschen oder gar zu unterwerfen."

"Könnte sein", erwiderte Julius. Der Gedanke, dass VM bereits Spione im Zaubereiministerium unterhielt hielt sich ja schon länger bei den oberen Ebenen in Paris. Nur solange niemand sich verdächtig machte oder gar auf frischer Tat ertappt wurde galt die Unschuldsvermutung und der Grundsatz, die Unschuldigen nicht zu Unrecht zu belangen und die Schuldigen nicht vorzeitig zu warnen, dass jemand was gegen sie unternehmen mochte.

"Hmm, das mit dem explodierten Cleptumbra-Geschädigten ist nichts für eine werdende Mutter, Julius. Dennoch musste ich diese Meldung auch zur Kenntnis nehmen. Wir müssen davon ausgehen, dass diese Schattenriesin eine Form der Fortpflanzung nutzt, um willige Diener zu erbrüten, auch ähnlich wie eine Vampirin oder wie eine Entomanthropenkönigin. Sie haben die Erlaubnis, mit Mademoiselle Weizengold und jemanden aus dem Büro von Monsieur Abrahams ein gemeinsames Vorgehen abzustimmen, wie in unseren Ländern nach solche Schattenlosen gesucht und ihre Explosion verhindert werden kann, wenn sie gefunden werden. Öhm, vielleicht ist der von Ihnen erlernte Fluchumkehrzauber da doch mal so hilfreich, wie er bei verfluchten Gegenständen oder Orten ist."

"Dann müssten wir einen solchen Schattenlosen erst einmal bei uns finden und ich da gerade in Rufweite sein, ohne dass es durch das halbe Ministerium geht, dass ich dort hingerufen werde", sagte Julius. Demetrius erwiderte über die Cogison-Ohrring-Verbindung: "Ja, das wäre wohl sehr praktisch. Die Wortverpflanzungsdosen zeichnen alle durch sie gesprochenen Worte auf, um sie später abzuschreiben und zu den Einsatzakten zu legen. Die gehen also nicht. Aber dieser Brief-zu-Tier-und-zurück-Zauber, den Professeur Dirkson erfunden hat, dürfte sehr nützlich sein. habt ihr den nicht gelernt, Julius?"

"Kurz vor den UTZ-Prüfungen hat uns Professeur Dirkson ihn vorgeführt und erklärt, wie aus einem geschriebenen Brief ein fliegendes Tier werden kann und dass dieses durch einen Teleportationszauber auch über hunderte von Kilometern in die Nähe des Adressaten versetzt werden kann. Schwierig ist es dann, wenn diese besondere Botschaft auch beantwortet werden soll. Dann muss die Reise sozusagen auch umgekehrt ablaufen. Aber Meine Frau und ich haben die Aufzeichnungen noch, ebenso die seit 2000 im Ministerium tätigen Mitarbeiter. Das ginge sicherlich."

"Dann bestellen Sie meiner ehemaligen Mitarbeiterin Mademoiselle Hellersdorf, die ja ebenfalls einen Ohne-Gleichen-ZAG in Transfiguration erworben hat, dass ich trotz ihres vorzeitigen Verlassens nicht ungehalten bin, zumal sie mir ja eine klare ethische und seelisch nachvollziehbare Begründung vorgelegt hat. Sie möge jedoch an das hier erlernte Sonderrecht denken, dass begabte Hexen und Zauberer, die über bestimmte, dem Ministerium bekannte Fertigkeiten und Fähigkeiten verfügen, jederzeit für einzelne Aufgaben im Rahmen der Abwehr dunkler Bedrohungen herangezogen werden können. Nur für den Fall, dass wir für den Ernstfall nicht die nötige Anzahl Außendienstmitarbeiter haben, wenn es mit diesen Nachtschatten größere Ausmaße annimmt."

"Sie meinen annehmen sollte", wagte Julius, seine Covorgesetzte zu berichtigen. Wie er erwarten musste räusperte sie sich sehr ungehaltenund erwiderte: "Ich pflege schon, genau zu überlegen, was ich warum und wie genau sage, um verstanden zu werden, Monsieur Latierre. Riskieren Sie bitte keine schriftliche Ermahnung wegen aufkommender Renitenz! Ich meine es so, dass wir sicher noch viel ungemach mit dieser Nachtschattenriesin und ihren kleineren aber nicht mindergefährlicheren Dienern oder Abkömmlingen erleben werden. Es sei denn, jemand findet dieses Unwesenund macht ihm den Garaus, ohne dabei selbst zu versterben.""

"Verstanden, Madame Grandchapeau", bestätigte Julius. Damit gab sich die dauerschwangere Amtshexe zufrieden. Sie würde es sicher nicht riskieren, Julius auch noch dazu zu kriegen, dass er von sich aus kündigte, wusste er, wusste sie. Aber sie wollten ja gut miteinander auskommen. Also war es wichtig, auch die bestehende Rangordnung zu achten.

Weil nichts weiteres mehr zu besprechen war durfte Julius den ihm geliehenen Ohrring wieder zurückgeben und in sein Büro zurückkehren, um die noch nicht verschickten Briefe an Kollegen in anderen Zaubereiministerien fertigzuschreiben und loszuschicken.

Abends nutzte Julius die Gelegenheit, als er für sich alleine am eigenen Rechner saß und private E-Mails abrief, zwei Gedankenbotschaften an Faidaria auf der Insel der Sonnenkinder zu senden. Durch die mit dem Pokal der Verbundenheit geknüpfte Verbindung war die Entfernung zwischen Millemerveilles und Ashtaraiondroi bedeutungslos. "Sprecherin Faidaria, habe heute zwei sehr wichtige Dinge mitbekommen. Zum einen hat die mächtige Lahilliota einen der unseren durch einen starken Zauber in ein Wesen verwandelt, dass zwischen Mensch und Riesenameise wechseln kann, ähnlich wie Naaneavargia zwischen Menschenfrau und Spinne wechseln kann. Zum zweiten hat eine neu entstandene Nachtschattenriesin, die aus zwei ehemaligen Dienerinnen von Kanoras entstanden ist, lebende Menschen ohne natürlichen Schatten erschaffen, wohl als tagsüber nützliche Helfer."

Nur eine Minute später kam die Antwort der ungekrönten Königin der Sonnenkinder: "Was genau wisst ihr von dieser Frau aus dunklen Schatten, die früher eine Unterworfene von Kanoras war?" Julius schickte in Bildern und gedachten Worten zurück, was er von Bärbel Weizengold erfahren hatte und konnte sich sogar die Explosion eines lebenden Menschen in Form einer schwarzen Splitterwolke vorstellen. "Dann hat diese aus Dunkelheit gemachte Frau bei ihrer Befreiung und Verschmelzung aus zwei Dienerinnen alles Wissen Kanoras' über die Wechselwirkung von leben und mit der Kraft angefüllten Dunkelheit erhalten und nutzt es. Ein Mensch kann zum Schattenlosen werden, wenn einer ihrer Diener oder direkten Nachkommen den freien Schatten eines solchen Menschen berühren und sich darauf legen kann. Das geht aber nur dort, wo nicht das machtvolle Licht unseres Vaters Himmelsfeuer auf uns niederleuchtet. Hat eines der Schattenkinder den geworfenen Schatten in sich eingeschlossen hat es damit auch einen Teil des Menschenlebens verschlungen, ohne es ganz zu beenden. Doch gerät ein solcher Diener in Gefangenschaft oder wird zum Verrat seiner Herren gezwungen, kann dieses Schattenkind das lebende Fleisch in sich schlagartig ausbreitende Dunkelheit und dessen Blut in tödliches Eis verwandeln, das jeden tötet, der weniger als zehn Schritt im Umkreis des bedauerlichen Menschens lebt. Ob der Mondschild dagegen schützt wissen auch wir nicht sicher. Sicher aber kannst du den Übelwender wirken, aber nur dann, wenn unser großer Vater Himmelsfeuer sein machtvolles, erhellendes und belebendes Licht auf uns herabsendet. Denn dann kannst du dem Betroffenen seinen ihm gehörenden Schatten wiederverschaffen und womöglich den Diener, der ihn geraubt hat schwächen. Wirkst du den Übelwender bei Abwesenheit unseres großen Vaters Himmelsfeuer, so mag der Diener, der den Schatten geraubt und in sich selbst eingeschlossen hat, zeitlos an den Standort seines Opfers reisen und dich für deinen Angriff auf ihn strafen. Außerdem sind die Schattenlosen wie unsere eigentlichen Feinde, die warmes Blut trinkenden Kinder der Nacht. Im Lichte unseres großen Vaters sind sie schwach und leiden an den vom Licht der Sonne getroffenen Körperstellen Schmerzen. Bei Dunkelheit können sie wohl schneller als unbetroffene Menschen sein und sich die Räuber ihres Schattens durch Atmen der Dunkelheit stärken. Dann könnte wohl nur ein verdichteter Schlag mit dem gesammelten Licht unseres großen Vaters Himmelsfeuer sie besiegen. Doch das mag sie auch töten. Ob ihr inneres Selbst dann freikommt oder gänzlich in den Räuber ihrer Schatten eingesaugt wird weiß keiner von uns. Daher darf dieser Schlag mit der Sonnenkeule nur der allerletzte Ausweg von allen bestehenden sein. Doch wenn du einen der aus Dunkelheit gemachten Diener antriffst treffe ihn unbesorgt mit dem gesammelten Licht unseres großen Vaters! Denn er ist kein lebendes Wesen mehr und kann wohl auch zu keinem solchen zurückverwandelt werden." Julius bestätigte den Erhalt dieser Botschaft und tippte die ihm zugesandten Kenntnisse in eine mit Passwort gesicherte Notizdatei. Irgendwie musste er versuchen, auch anderen davon mitzuteilen, was er erfahren hatte, ohne dass er seine gefestigte Verbindung zu den Sonnenkindern verriet. Dann erfuhr er von Faidaria, dass Lahilliota, die Mutter der vaterlosen Töchter, sicher das Geheimnis der Tränen der Ewigkeit ergründet hatte. Denn nur damit sei es ihr wohl möglich gewesen, andere Menschen so zu verwandeln. Allerdings, so vermutete Faidaria nach kurzer Rücksprache mit ihren Volksangehörigen, hätte sich Lahilliota zuerst selbst dieser unumkehrbaren, verlockenden Macht ausliefern müssen. Dann sei es wohl möglich, mit ihrem Blut und dem von ihren Opfern einen kleinen aber mächtigen Anteil ihrer neuen Daseinsform auf andere zu übertragen. Ob dies nur bei geborenen Trägern der erhabenen Kräfte gelang wusste aber auch niemand von den Sonnenkindern. Julius vermutete, dass Anthelia/Naaneavargia das sicher schon ausprobiert hätte, wenn sie der Meinung war, dass ihre Mitschwestern oder mögliche männliche Handlanger ebenfalls die Natur eines anderen Tieres entfalten sollten. Darauf kam von Faidaria die Antwort:

"Vielleicht kann diese Lahilliota aber nur so vielen Leuten von ihrem Blut geben, wie sie zum Zeitpunkt der Verwandlung im eigenen Leibe hatte. Ist diese Menge überschritten könnte die Macht der Tränen nicht mehr die von ihr gewollte Wirkung auf andere haben." Julius fragte, wie viel Blut die Spenderin hergeben müsse. Doch darauf wussten die Sonnenkinder keine Antwort. Am Ende mochten 100 Milliliter reichen, um einen bis dahin arglosen Menschen in eine Werameise zu verwandeln, einen Myrmekanthropen, wie Julius diese neue Zauberwesenart offiziell benannt hatte, um sie von den Bienenmenschen oder Menschenbienen Sardonias und Anthelias zu unterscheiden. Er erinnerte sich daran, dass auch Bokanowski mit Insektenhybriden gearbeitet hatte. Am Ende hatte der auch Zugriff auf die Tränen der Ewigkeit gehabt und dieses Wissen mit in den feurigen Tod genommen.

"Wir vermuten", begann Faidaria die letzte Gedankensendung für diesen Moment, "dass diese Lahilliota genauso die Blutsauger fürchtet und deshalb auch hasst wie wir sie fürchten und bekämpfen. Denn nur jemand, der keine Ehrfurcht vor dem Eigenen Leben hat und über alles und jeden die größte Macht gewinnen will, erliegt der Verlockung der Tränen." Das musste Julius bestätigen. Lahilliota hatte mit der Geburt ihrer neun Töchter klargestellt, dass sie keine Ehrfurcht vor menschlichem Leben hatte und zugleich auch möglichst viel Macht erlangen wollte. Falls sie wirklich selbst zu einer Myrmekanthropin geworden war, um als Königin dieses Zauberwesengeschlechtes zu leben, dann auch deshalb, um möglichst viele schlagkräftige und ihr bedingungslos gehorsame Helfer zu erbrüten, ähnlich wie die Entomanthropenkönigin Valerie Saunders das wohl vorhatte.

Gut erschöpft von mehrminütigen Gedankensendungen beendete Julius noch die Sitzung an seinem Rechner. Brittany Brocklehurst hatte neue Fotos von ihrem Sohn Leonidas Andronicus geschickt und erwähnt, dass sie nach der Babypause in die Besenbeschaffungsgruppe der Windriders gehen würde. Sie schrieb auch was von einem neuen Bronco-Besen, der Tornadofänger hieß und alle bisherigen Rennbesen weit in den Schatten stellte. Sie verglich diesen Besen mit einem Wanderfalken, der die anderen Besen zu lahmen Enten erniedrigte. Außerdem könne er Phoebe Gildfork locker herumtragen. Julius vermeinte Brittanys gehässigen Tonfall aus dieser Randbemerkung von ihr herauszuhören.

Endlich hatte er alle Sachen durch, die er im fliegenpilzförmigen Geräteschuppen erledigen wollte. Er sah leise nach, ob Aurore sicher in ihrem Bett lag und betrachtete die friedlich in ihrer Wiege schlummernde Chrysope. Wie erhaben aber auch sehr fordernd war das, die eigenen Kinder schlafen zu sehen. Er hoffte, dass er immer die richtigen Entscheidungen treffen konnte, um deren Leben zu schützen, wo dort draußen so viele feindliche Wesen lauerten.

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Die Nachmittagssonne schien von einem blauen Himmel auf ein hochherrschaftliches Gutshaus, das im Zentrum einer bald schon parkartigen Gartenanlage aufragte. Weit um das Grundstück herum führte eine fünf Meter hohe Mauer, die nur an zwei Stellen unterbrochen war. An einer war ein mächtiges, zweiflügeliges Tor, dass dem mittleren Tor zum Paradierhof des Buckingham-Palastes nachempfunden sein mochte. Der andere Zugang war wesentlich kleiner und sicher für niederes Volk wie Lieferanten, Müllkutscher und gelegentliche Unterhalter für die Gutsherren reserviert. Der Zugangsweg zum Gutshaus war mit Granitplatten gepflastert. Die Gartenlandschaft hatte sicher damals die Ordnung und Schönheit der Gärten von Versailles nachahmen wollen. Doch außer den majestätischen Bäumen regierte hier nur noch das Wildkraut und Wildgras in den Beeten, in denen einst Blumen und Ziersträucher gewachsen waren. Alles in allem schienen Mensch und Geschichte diesen Gutshof vergessen zu haben. Doch einige gab es, die sich noch an das Gut des Earls von Glenfield Brooks erinnerten.

Das Sonnenlicht zwengte sich mühsam durch die vom Staub der Jahrhunderte fast blinden Fensterscheiben hinein in den einst für rauschende Bälle und fürstliche Versammlungen gebauten Saal. Unvermittelt glühte ein blaues Licht auf, das mit dem durch die verstaubten Scheiben hereinsickerndem Sonnenlicht nichts gemein hatte. Das Licht formte blitzartig eine mehr als mannshohe, mindestens vier Meter breite Spirale, die sich für wenige Augenblicke wild drehte und dann beinahe übergangslos verschwand. Dabei spuckte das blaue Licht fünf erwachsene Menschen aus, drei Frauen und zwei Männer. Die Frauen hatten alle flammenrotes Haar und blickten mit goldbraunen Augen interessiert umher. Sie trugen figurbetonte olivegrüne Zweiteiler und hatten kirschrote Handtaschen dabei. Vom Gesichtsschnitt her war unschwer zu erkennen, dass es drei unterschiedlich alte Schwestern sein mussten. Die beiden Männer in ihrer Begleitung trugen graublaue Jeansanzüge und trugen von den Schultern bis zum Steißbein reichende Rucksäcke. Die älteste der Frauen legte soeben eine abgewetzte Fußmatte auf den knöcheltief mit Staub bedeckten einstmals glatten Parkettboden.

"Ist Mondkralle nett oder ist er nett, uns in dieses vergessene Zwergschlösschen reinzuschicken?" fragte die mittlere der Schwestern, Maura McRore. Ihre große Schwester Tara nickte und griff an ihre Handtasche. "Leute, legt schnell die Unspürer aus, die der Dünne für uns gebaut hat. Dann kann ich hier mal richtig durchputzen. Klar, dass die blonde Mummy und ihr dünner Apportierhund uns drei zuerst reingeschickt haben. Die wissen genau, das wir die putzsüchtigsten Hexenschwestern unter dem Mond sind und dieses Elend all zu gerne aufräumen, bevor hier wirklich der britische Stützpunkt eingerichtet werden kann. Jungs, ihr könnt mal vor die Tür gehen und sehen, ob draußen genauso viel Staub in der Luft hängt wie hier."

"Der hat uns was von einem altenglischen Gutshof erzählt, dieser Piephahn mit Armen und Beinen", lamentierte einer der jungen Männer, Pete Walters. Sein Vetter Hank Mosley stupste ihn nur an und deutete auf die für das Alter noch gut erhaltene Flügeltür. "Kommen Sie, Sir Peter, damit Ihre Ladyschaften das Ausmaß der Untragbarkeit gebührend besprechen können."

"Jetzt ganz schnell raus, bevor ich beim schönsten Sonnenschein in meinen Pelz fahre und dir noch mal kräftig in die Hinterbacken beiße", grummelte Tara McRore. Die zwei jungen Männer, gerade in die Gefilde der Zwanziger eingetreten, beeilten sich, durch die Flügeltür hinauszugelangen. "Ganz raus aus dieser Lachnummer von Gutshaus!" hörten sie Tara noch hinter sich herrufen.

"Stimmt, von der wilden Wirbelei durch dieses Portschlüsseldings müssten wir uns erst mal gründlich auskotzen", schnarrte Pete, der immer was zum meckern fand, auch wenn es nichts gab. Deshalb beachtete sein Cousin ihn nicht weiter. Sicher, Hank war es in gewisser Weise schuld, dass er, Pete, von dieser Maura in Gestalt eines rotbraunen Wolfes gebissen worden war und seitdem ein echter Werwolf sein musste. Hank hatte vor sieben Monaten diese Lorna McRore kennengelernt und erst ihr Haar und dann den Oberkörper bewundert. Weil das Fahrgestell auch nicht übel war hatte er sich auf dieses Weib eingelassen. Tja, und als Hank dann einen Monat später Pete einlud, mit seiner neuen Verlobten und einer Schwester von der eine kleine Viererparty bei Vollmond zu feiern hatte er Trottel sich darauf eingelassen, weil er es wohl nötig hatte und gehofft hatte, mit Lornas ebenso heißer Schwester Maura durch die Nacht zu fliegen. Dann hatten die drei sich vor ihm in Werwölfe verwandelt und ihn mal eben an den Beinen und einem Arm gebissen. Damit er nicht selbst zu einer reißenden Bestie wurde, so hatten Lorna, Maura und deren älteste Schwester ihm und Hank dann verklickert, mussten sie sich als neue Kinder des Mondes den Geschwistern des Mondes verdingen und einen Eid schwören, immer für die gemeinsame Sache einzutreten. Seitdem gehörten Hank und Pete diesem Hexentrio, dass zugleich als Werwolftrio auftreten konnte, und das nicht nur bei Vollmond. Dann hatten sie das Führungsquartett dieser Mondgeschwister kennengelernt, die Blondinen Lunera und Nina, sowie den Computerfreak Valentino und den langen Dünnen, der sinnigerweise Fino genannt wurde. Von denen hatten sie den Auftrag, hier in England, östlich von Brighton, einen Stützpunkt für die Mondgeschwister einzurichten. Als Zeichen der Verbundenheit trugen sie alle silberne Halsbänder, die ihnen nichts antaten, weil sie nicht auf die für echte Werwölfe tödliche Weise hergestellt worden waren. Dafür sollten die aber alle anderen Silbersachen langsamer als zehn Metern die Sekunde von ihnen fernhalten.

"Ui, hier hätte meine liebe Oma jetzt voll den Schlaganfall gekriegt", meinte Pete, als sie sich die Gartenanlage ansahen. "Dass das jemand in all den Jahrhunderten nicht einmal gesehen hat und da mit 'ner Planierraupe drübergebügelt hat ist komisch."

"Tja, könnte man meinen, dass das Haus und das ganze Grundstück verflucht sind und niemand außer uns vom Vollmond gegrillte Spatzenhirne es wagt, hier einen Fuß draufzusetzen."

"Eh, so ganz abwegig ist das nicht. Deine Fille Fatale is' 'ne Hexe, genau wie ihre größeren Schwestern."

"Erstens ist sie kein Mädchen mehr, seitdem wir zwei uns die Sterne vom Himmel gerammelt haben, also eher eine Femme Fatale. Zweitens hat dich Maura auch schon klargemacht, Pete. Also hör auf mit dieser bescheuerten Eifersuchts- und Vorwurfsarie!"

"Echt, du träumst noch davon, dass du die als erster hattest. Wenn das so ist können Zitronenfalter auch Zitronen falten", versetzte Pete.

"Am besten buddel ich dich Meckerkopf hier ein. Dann wird der Boden so sauer, dass das ganze Unkraut von selbst eingeht", grummelte Hank. Dann sah er das knapp zweihundert Meter entfernte Haupttor. "Jau, wenn da mal 'ne Brigade Zimmerleute und Schmiedegesellen drangehen könnte das echt wieder ein hochherrschaftliches Portal sein<", freute sich Hank über das mögliche neue Zuhause.

"Ich sag's ja, du träumst gerne", grummelte Pete. Da ploppte es, und Maura stand neben ihm. Ohne Ansage legte sie ihren linken Arm um seinen Brustkorb und schmiegte sich an ihn. "Der kleine Miesepeter hat Angst, dass wir das hier nicht hinkriegen und er auf diesem Kompost da sitzen bleiben muss? O, das kriegen Tara und Lorna schneller hin als du "Frühlingsvollmond" sagen kannst. Abgesehen davon, mein Süßer, kannst du froh sein, dass ich dich klargemacht habe und nicht meine große Schwester. Die hätte dann sicher gleich darauf bestanden, es der blonden Lunera nachzutun und mit dir das erste kleine Wolfsbübchen aufgelegt. Aber ich habe dafür noch Zeit, bin ja auch fünf Jahre jünger als die gute Tara."

"Ich wollte nur sagen, dass dieser ganze runtergekommene Haufen Staub, Rost und Unkraut nicht echt was sind, was man mal als Stützpunkt bezeichnen darf."

"Dann warte mal ab, bis Lorna und Tara durch das Haus geputzt und alles reparierbare repariert haben. Bei der Gelegenheit, ihr zwei. Ihr sollt gütigst sofort die Unspürsteine auslegen, damit meine Schwestern mit der Sauberzauberei loslegen können. Sonst könnte es Tara einfallen, dich in einen Staubwedel zu verwandeln und damit das ganze Haus vom Boden bis zum tiefsten Keller blankzuputzen. Also los, voran und an die Mauer mit den Steinen!"

"Ich streiche den zehnten September 2002 aus dem Kalender", knurrte Pete.

"Tja, dann müsstest du auch den fünften August desselben Jahres aus dem Kalender streichen. Geht aber nicht mehr, die sind durch. Und jetzt hopp!" trieb Maura ihn an.

"Nur weil Tara die größte Spaßbremse von euch dreien ist", grummelte Pete und lief so schnell, dass er Hank überholte.

Es dauerte an die fünfzig Minuten, bis die mitgebrachten 24 bräunlichen Steine so ausgelegt waren, dass deren berunte Seiten dem Himmel zugekehrt waren. Sofort fühlten sie ein schwaches Vibrieren in der Luft, das jedoch nur eine halbe Minute vorhielt. Über dem Gutshof stand nun eine unsichtbare Kuppel, die alle magischen Ausstrahlungen abschirmte. Ab jetzt konnten raumgreifende Zauber ausgeführt werden, ohne dass diese von empfindlichen Aufspürgegenständen erfasst werden konnten. Das nutzten die McRore-Schwestern gleich aus. Hank und Pete durften von außen zusehen, wie die Fensterscheiben spiegelblank wurden, wie in dem Gutshaus die mit durchsichtigen Blasen um die Köpfe herumtanzenden Schwestern kleine Sandstürme aufkommen ließen, die sich dann zu kopfgroßen Kugeln verdichteten, um dann einfach so im Nichts zu verschwinden. Dann wurden die wurmstichigen Fensterrahmen und -läden repariert. Der eine oder andere Holzwurm fiel sogar noch heraus und musste zusehen, dem Wüten der putzwütigen Werwölfinnen und Hexen zu entrinnen.

Wenn die den ganzen Garten genauso umpflügen können alle Planierraupen und Rasenmäher der Welt verschrottet werden", sagte Hank beeindruckt.

"Ach ja, wenn ihre Majestäten und deren hochwohlgeborenen Kinder hier eintreffen muss ja alles picobello sein", nörgelte Pete Walters. "Hast du Alicius im Werwolfwunderland dir schon mal die Frage gestellt, wie das wer wann deinen und meinen Eltern steckt, dass wir schon seit sieben Monaten an diesen drei roten Raubtieren dranhängen? Oder traust du dir zu, deinem Dad, also meinem Onkel Elrick deine Lorna vorzustellen und zu sagen: "Daddy, meine Braut is' 'ne hexe, und wenn es Vollmond ist wird die sogar zum Werwolf."

"Pete, musst du vor lauter Meckerei nicht schon über deine eigenen Sprüche kotzen?" begehrte Hank auf. Pete wertete aber genau das als Punkt für sich. Denn so empfindlich reagierte Hank sonst nicht auf seine berechtigten Einwände.

"Du wirst es erleben, dass bald die Rechnung für das ganze Zeug fällig wird, Hank. Die drei sind unser Untergang, wirst sehen!"

"Kann sein, aber ganz bestimmt nicht heute", grummelte nun Hank und machte, dass er einen gewissen Abstandzwischen Pete und sich brachte. Doch der hielt locker mit und wollte ihm noch einen mitgeben, dass Hank das genau wusste, dass sie hier gerade ziemlich heftig auf einer immer heißer werdenden Rasierklinge entlangliefenund jeder falsche Schritt der letzte sein konnte, als ihm aus dem Nichts heraus ein Stück stoff direkt in den Mund flog und ihn unverzüglich knebelte. Er bekam gerade noch genug Luft durch die Nase, dass er nicht ersticken musste. Dann hörte er noch Lornas Stimme wie durch unsichtbare Kopfhörer direkt in seine Ohren dringen:

"Du bleibst jetzt erst mal für drei Stunden stumm, freundchen. Wir haben dich nicht in unsere Reihen aufgenommen, damit du uns ständig was vom Untergang predigst, sondern weil Hank und Valentino unabhängig voneinander sagen, dass du dich mit diesem Elektronikkram so gut auskennst. Solche brauchen wir auch, und Lunera wird das nicht zulassen, dass du dich für uns wertlos machst. Jetzt geh in die Ecke da und lass uns andere schaffen!" Pete wollte rufen. Doch er konnte keinen hörbaren Laut hervorbringen. Als Hank ihn so sah und von Lorna erfuhr, dass das jetzt drei volle Stunden so bleiben sollte musste er lachen.

Nach drei Stunden waren Haus und Gartenanlagen mit geballter Zaubermacht von drei Hexenschwestern soweit vorzeigbar umgestaltet, dass sie beschlossen, die Mondgeschwister zum ersten Frühlingsvollmond hierher einzuladen. Zumindest konnten die Fremdsilberabwehrhalsbänder nach Finos gewisser Umgestaltung ein gesittetes Tanzen und noch mehr erlauben, wo die ersten Versionen dieser Schmuckstücke alles Silber also auch andere Schutzhalsbänder abgewehrt hatten. Jetzt wehrten sie ausschließlich Mondsteinsilber ab, das einzige, was ihnen durch Haut und Fleisch dringen und sie auf körperliche Weise töten konnte.

Abends saßen sie bei geschlossenen Fensterläden im Licht von hunderten von Kerzen, die die McRore-Schwestern aus ihren unergründlichen Handtaschen hervorgezogen hatten. Im Kamin brannten die Überreste unerwünschter Holzgewächse mal in hellen, mal in dunkelroten Flammen. Der Kamin war jedenfalls dank Lornas Schornsteinfegezauberei blitzblank und somit ungefährlich. Sie tranken sich noch zu und riefen aus, dass dieser 24. März 2003 bald als ein wichtiger Tag in der Geschichte der Mondbruderschaft eingehen würde. Ihre Feinde waren für sie gerade Lichtjahre weit entfernt.

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"Für drei bei fast vollem Mond vier Minuten. Das ist also echt von der Anzahl abhängig", erklärte Perdy nach einem weiteren Angriff auf erfasste Werwölfe, die jene Silberhalsbänder trugen, die sie als Mitglieder der Mondbruderschaft markierten.

"Kannst du das vorherberechnen, wie lange es dauern würde, einen Stützpunkt dieser Ungeheuer mit hundert von denen auszulöschen?" wollte Pater Duodecimus Borealis wissen. Perdy schüttelte den Kopf. "Das hängt von der Mondphase, der Anzahl der betroffenen und vom Alter derjenigen ab. Bevor wir eine eindeutige Aktion starten müssen wir das noch klären, wie genau das zeitlich zusammenhängt", sagte Perdy. Eine Kollegin aus dem Rat fragte ein wenig betrübt dreinschauend:

"Was passiert denen genau, wenn sie sterben? Fallen die einfach tot um oder haben die heftigste Schmerzen? Ersticken die oder verbrennen die bei lebendigem Leibe?"

"Wohl eher zerkochen", warf Perdy unvorsichtig ein. Denn sämtliche gerade Kinder tragenden Ratsmitglieder starrten ihn verstört an. Mater Vicesima sagte dann:

"Vier Minuten sind eine viel zu lange Zeit, um als schnelle Art von Hinrichtung bezeichnet zu werden, liebe Freundinnen und Freunde des magischen Menschenlebens. Was ihr da macht ist kein simples Abtöten von lästigem oder gar tödlichem Ungezifer. Wir wollten und wollen unsere Kinder und Kindeskinder und auch andere unbelastete Menschen vor diesen Leuten schützen, die die Tatsachen verdreht haben und sich nicht mehr für Kranke, sondern für Besondersbegabte, ja Auserwählte halten. Ja, die können innerhalb einer Vollmondnacht hunderte von Menschen töten oder mit ihrem verfluchten Keim anstecken, alles richtig. Doch wenn wir mit unserem Projekt ein Gegengewicht schaffen wollen, das uns nicht selbst auf die Stufe feiger, an Qualen anderer erfreuter Mörder stellt, muss dieses Verfahren wesentlich schneller ablaufen und vor allem, zielgenau wirken, nicht nur auf diese Silberhalsbänder mit Silberabstoßung als Auswahleigenschaft. Kriegt ihr das bis zum ersten Frühlingsvollmond nicht hin, dann werde ich diese Operation nicht befürworten."

"Véronique, du hast damals gesagt, wir müssen uns gegen diese Brut wehren, wenn sie wild um sich beißt", warf Pater Duodecimus Occidentalis ein. Perdy nickte zustimmend.

"Ja, weil die uns sozusagen den Krieg erklärt haben. Aber das heißt nicht, dass wir sie an Grausamkeit weit überbieten müssen, wenn es auch anders geht", sagte Mater Vicesima. "Unsere Todbringer töten innerhalb von nur zehn bis sechzig Sekunden, je nach Blut- und Körperfettverhältnis. Das ist schon heftig, aber als Antwort auf deren Androhungen noch vertretbar. Wenn aber das Verfahren für Blauer Mond mehr als vier Minuten dauert, um drei oder Vier von ihnen zu töten, dann wiederhole ich mich gerne, ist das eine grausame Art der Hinrichtung. Das grenzt an dem, was die Muggel damals mit tausenden unschuldiger Männer und Frauen angestellt haben, die sie für Hexen und dunkle Zauberer hielten. Ich habe mir das mal in verschiedenen Berichten durchgelesen, wielange ein Verurteilter Mensch auf einem dieser Scheiterhaufen gelitten hat, noch dazu unter den Augen eines Blut-und Sensationssüchtigen Pöbels, nur noch vergleichbar mit den Zuschauern eines Gladiatorenkampfes oder dass ausgehungerte Raubkatzen auf Verurteilte gehetzt wurden. Wollen wir uns wirklich auf dieses Niveau herablassen?"

"Ich kann nur wiederholen, dass auch du, Mater Vicesima, damals dafür eingetreten bist, dass wir diese Lykanthropenbrut möglichst gründlich beseitigen", warf Pater Decimus Tertius Australianus ein. "Wir können ja schließlich nicht selbst hinausgehen und die alle mit Mondsteinsilberpfeilen abschießen, so viele das schon sind."

"Höh, wie viele sind das denn schon?" wollte Mater Decima Tertia Hispanis nun wissen. "Laut den Listen des spanischen Zaubereiministeriums gibt es in meiner sonnigen Heimat gerade einmal hundert registrierte Lykanthropen. Das ist gerade einmal ein halbes Promill der magischen Bevölkerung bei uns."

"Öhm, Ladies, habt ihr jetzt alle die große Ehrfurcht vor allem Leben entdeckt, einschließlich den Bazillen?" wollte ein älterer Zauberer aus dem Rat wissen. Dafür wurde er von den weiblichen Ratsmitgliedern verdrossen angeblickt, vor allem von denen, die gerade neues Leben trugen.

"Also, es müssen noch mindestens zwei Versuche mit mehr als vier Lykanthropen gemacht werden", sagte Perdy unvermittelt kalt, als habe ihn die ganze Diskussion nicht angerührt. "Ich kann dann auch sagen, ob es möglich ist, die Zeit vom Anfang bis zum Abschluss der veränderten Bestrahlung zu verkürzen. Welche längste Zeit wäre den hoffnungsvoll gerundeten Damen den lieb?"

nicht mehr als die Zeit, die unsere Todbringer wirken", schnarrte Mater Decima Tertia Mediteranis. Dafür erhielt sie ein wildes Nicken von den Hexen im Rat und ein äußerst anerkennendes Lächeln von Mater Vicesima.

"Auf jeden Fall wird Blauer Mond weitergeführt, allein schon, um die angedrohte Ausbreitung dieser Pest wirksam einzudämmen", pochte Pater Decimus Tertius Australianus auf die weitere Durchführung des Projektes "Blauer Mond".

"Dem stimme ich vorbehaltlos zu", sagte Pater Duodecimus Canadensis. "Allein das mit diesem Rabioso war doch Warnung genug. Und wenn wir da nicht eingeschritten wären hätte dieses Untier viele Millionen Menschen mit seinem Keim verseucht und sich als deren allmächtiger Herrscher aufgespielt."

"Öhm, nichts für ungut, aber den Entscheidungsschlag gegen Rabioso hat die schwarze Spinne gelandet, nicht wir", musste Pater Decimus Tertius Australianus einbringen. Alle sahen ihn an. Dann antwortete Perdy:

"Die auch all zu gerne die Herrschaft über alle magischen Menschen haben möchte und uns als hexenverachtende Schwerverbrecher hinstellt, die auf Sicht zu erledigen sein sollen. Ja, die hat Rabioso erledigt, wo wir noch suchen mussten, wo der sich versteckt hat. Aber ohne unsere Todbringerfliegen hätten sich die anderen Mondheuler doch nicht so lange in ihr Versteck zurückgezogen. Also hat es schon einen guten Grund, dass wir uns um diese Pest kümmern. Sicher, es gibt einige von denen, die nehmen das hin, dass sie keine Sonderstellung haben, sondern eine ansteckende Krankheit haben und deshalb nicht alles machen können, was gesunde Menschen machen dürfen. Denen könnten wir im Bedarfsfall lebenswerte Möglichkeiten vorschlagen. Welche das sind kann gerne diskutiert werden."

"man kann doch auch Werwölfe reinitiieren, oder?" fragte ein anderes Ratsmitglied in die Runde. "Nicht alles kann damit ungeschehen gemacht werden. Wenn die Werwut sich erst mal im Körper ausgebreitet und eingenistet hat bleibt der Körper sein ganzes Leben verändert, auch wenn er in den Zustand eines neugeborenen zurückversetzt wird", wusste Mater Vicesima. "Genausogut kann ein vom Contrarigenus-Zauber verwandelter Mensch nicht durch Infanticorpore-Zauber das ursprüngliche Geschlecht zurückbekommen. Das beste Beispiel dafür ist die angebliche Wiedergeburt Anthelias, die für eine kurze Zeit lang zur Ungeborenen zurückverjüngt wurde, wo die Liga gegen die dunklen Künste von ausgeht, dass ihr Körper ursprünglich der des von einem Dementor entseelten Bartemius Crouch Junior war."

Pater Duodecimus Canadensis blickte alle hier gerade versammelten und nicht wegen ihrer üblichen Aktivitäten unabkömmlichen Ratsmitglieder an. Dann nickte er Perdy und den anderen Hauptverantwortlichen des Projektes zu. Er sagte: "Wir setzen die Studie noch eine Woche fort. Wissen wir dann genug, können wir die Operation "Blauer Mond"vollumfänglich durchführen, wenn der Frühlingsvollmond am Himmel steht."

"Öhm, ich erinnere noch einmal daran, wie viele magielose Frauen als Hexen bezichtigt und erst gefoltert und dann grausam umgebracht wurden. Setzen wir dieselbe selbstherrliche Denkweise bei Werwölfen an, wie diese sogenannten Heilsbringer namens Inquisitoren das bei ihrer fanatischen Jagd auf alles magische vorgelebt haben?" wollte eine noch junge Ratskollegin wissen, die vor einem halben Jahr ihr zehntes Kind bekommen und somit ein Recht auf Mitsprache erreicht hatte. Mater Vicesima nickte ihr stumm zu.

"Ich glaube, wir vergleichen gerade Kürbisse mit Quaffeln", tat Perdy diesen Einwand ab. "Die damals haben Angst geschürt, weil sie nicht hinnehmen wollten, dass es andere Denkweisen gibt, die sich mit ihren gepredigten Vorstellungen nicht vereinbaren ließen und wollten ein Wissensmonopol haben, dass durch heilkundige Menschen, Naturforscher und eben auch Magier ad Absurdum geführt wurde. Diese Pelzwechsler haben sich offen zu unseren Feinden erklärt und trachten danach, jeden Menschen unter ihren Einfluss zu kriegen. Wenn denen das gelingt, sind wir die Opfer, nicht die Täter, um das mal ganz klar festzustellen."

"Hoffentlich wirst du das nicht eines Tages sehr bereuen, was du gerade gesagt hast", meinte Mater Decima Germanica. Mater Vicesima sah Perdy an und ergänzte: "Wie gesagt, Zielgenauigkeit, dass nur die getötet werden, die wirklich für uns gefährlich sind und vor allem, Schnelligkeit der Ausführung, am besten wie bei einem dieser ominösen Phaserschüsse aus deiner Lieblings-Weltraumphantasie, Perdy. Wenn du das hinbekommst werde ich meinen Einwand gegen die Ausführung widerrufen."

"Würde ich all zu gerne machen. Aber bisher kann unsere Mondwandlervorrichtung keine gebündelten Strahlen erzeugen, die einzelne Ziele treffen und sofort zu Asche und Wasserdampf umwandeln, ohne dass die was davon spüren", schnaubte Perdy. Musste Mater (noch) Vicesima ihm nun auch noch damit kommen. Denn genau das würde er all zu gerne machen, diese Brut auf engstem Raum treffen und innerhalb einer Sekunde erledigen, bevor da noch wer vielleicht irgendwelche Gegenmaßnahmen treffen konnte. Dann sagte er: "Aber womöglich hilft uns der natürliche Vollmond, weil dessen magisches Potential so groß ist, dass die Blaumondstrahlung zehn- bis zwanzigmal schneller wirkt. Dann hätten wir das, was du gerne hättest, Mater Vicesima."

"Das besprechen wir dann, bevor die endgültige Freigabe für die Gesamtaktion ansteht", sagte Mater Vicesima nun sehr hart klingend. Diesmal regte sich kein weiterer Einwand.

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Lunera hatte die Dose nicht mehr festhalten können, über die sie gerade mit ihrem Mitbruder Farinello in Norditalien gesprochen hatte. Der hatte sich mit zwei anderen italienischen Mondbrüdern in der Nähe von Mailand postiert, um während des ersten Frühlingsvollmondes wichtige Leute aus Politik und Industrie zu beißen, um sie vor die Wahl zu stellen, entweder bei jedem Vollmond unkontrolliert zu Wölfen zu werden, oder diesen Zustand jederzeit mit freiem Willen und ohne Verlust der eigenen Selbstbeherrschung anzunehmen.

Was und wie es passiert war verstand Lunera nicht. Es war nur so, dass die kleine, nur ein Drittel so groß wie eine Getränkedose beschaffene Blechdose schlagartig sengendheiß geworden war und sie sie hatte loslassen müssen. Dann hatte das Ding zu wimmern und zu glühen angefangen, bis es genauso rot glomm, wie beim tod der Mondschwester Rezaluna. Dann dauerte es auch keine dreißig Sekunden mehr, bis in feurigen Lettern der Tod von Bruder Farinello angezeigt wurde. Lunera fühlte, wie ihr die blanke Todesangst in die Knochen fuhr. Irgendwer oder irgendwas hatte ihren Mitstreiter umgebracht, die Sprechverbindung einfach getrennt, um dann was anzustellen, was Farinello und sicher auch die zwei anderen umzubringen. Das war sicher übelste dunkle Magie, eine Art Werwolftötungsfluch, der Farinello erwischt hatte.

"Fino, ich fürchte, was mit Rezaluna passiert ist war kein Zufall, sondern wirklich geplant", teilte Lunera ihrem Mitstreiter Fino mit, der als einer von drei Zauberern und noch drei Hexen auf dem geheimen Stützpunkt der Mondgeschwister lebte.

Fino kam herüber und besah sich die noch glühende Dose, die darauf wartete, ihrer magisch verbundenen Gegenstelle den Selbstvernichtungsbefehl zu übermitteln. "Wo war das genau, Lunera?" fragte Fino. Lunera wunderte sich, wo Fino doch eigentlich die Standorte der über die letzten Wochen heimlich angelegten Ausgangspunkte für ihre Operation Frühlingsmond kennen sollte. "Das war der norditalienische Stützpunkt, Fino", sagte Lunera mit belegter Stimme.

"Gut, nicht den Selbstvernichtungsbefehl auslösen, bevor ich da nicht zwanzig Fernerkundungsvögel hingeschickt und das herausbekommen habe."

"Ja, aber wenn das italienische Zaubereiministerium das auch mitbekommen hat ..."knurrte Lunera.

"Drachenmist!" knurrte Fino. "Aber trotzdem müssen wir wissen, was da passiert ist, ohne selbst wen von uns reinzuschicken. Am Ende wirkt das, was den Mitbruder erledigt hat immer noch auf unsereins."

"Du meinst also auch, dass das ein auf unsere Daseinsform abgestimmter Angriff ist, ein Fernfluch?"

"Ja, oder eine Form von Zaubergas, wie das, was diese Panscher zusammengemischt haben, um uns umzuhauen. Kann sein, dass die mittlerweile eine heftigere Form davon haben, die nicht lähmt, sondern gleich tötet, ähnlich wie Drachengallengas."

"Ewige Mondfinsternis!" fluchte Lunera. Denn sowas konnte sie sich zu gut vorstellen. Man hatte sie als unerwünschtes Geschmeiß eingestuft, nicht nur die von den offiziellen Zaubereiverwaltungsbehörden, sondern vor allem Verbrecherbanden wie Vita Magica oder die Bande um diese Spinnenhexe, die Fino irgendwie grausam gedemütigt hatte.

"Gib mir bitte zehn Minuten. Weiß ich bis dahin nicht, was passiert ist, dann kriegen wir das auch nicht mehr raus. Dann kannst du den Selbstvernichtungsbefehl geben", sagte Fino. Lunera nickte.

"Als die zehn Minuten vergangen waren trat ein kalkweißer, wild zitternder Fino in das gemeinsam genutzte Besprechungszimmer ein. Das erste, was er tat war, sich auf den nächsten freien Stuhl zu setzen. "Hau die Vernichtungsanweisung raus, Lunera, bevor die vom Zaubereiministerium da hinkommen." Lunera befolgte diese Empfehlung sofort. Dann fragte sie Fino, was die kleinen, wie Sperlingskäuze beschaffenen Fernerkunder auf dem Stützpunkt gesehen hatten. Fino schluckte und wiegte den Kopf. Ihm war anzusehen, dass er etwas wirklich schreckliches mitbekommen hatte und es eigentlich aussprechen musste, es aber nur schwerlich konnte.

"Lunera, wenn ich dir erzähle, was genau mit den drei Brüdern passiert ist, wirst du mir erst dein Abendessen vor die Füße kotzen und dann total platt sein. Frag mich also bitte nicht, was die Erkunder mir mitgeteilt haben", stöhnte Fino. Lunera fauchte, dass sie ein Recht habe, zu wissen, was ihre Leute derartig schnell und zielsicher umbrachte außer gezielte Mondsteinsilbergeschosse oder der Todesfluch.

"Es ist kein Gas, Lunera, das konnten die Erkunder dank meiner Aufspürvorrichtung für tödliche Gase herausfinden. Aber was genau es ist weiß ich deshalb erst recht nicht."

"Waaaas?!!!" schrillte Lunera.

"Lunera, besser ist das, wenn du alle unsere Leute zurückrufst und wir noch eine Zeit abwarten, bis ich weiß, wie genau die das gemacht haben."

"Was gemacht haben?! Fino, ich bin kein kleines Mädchen mehr. Außerdem bin ich die von euch allen anerkannte Anführerin. Ich habe ein verdammtes Recht, zu wissen, was Rezaluna und Farinello passiert ist", schrillte Lunera und fuchtelte mit geballten Fäusten vor Finos Nase herum. "Also rück endlich damit raus, was denen passiert ist!"

Als fino es der sehr wütenden Mitschwester erzählte, in welchem Zustand die Erkunder die drei italienischen Mitbrüder gefunden hatten erbleichte sie und begann zu zittern, nicht nur vor Wut, sondern vor Angst. Was Fino da beschrieb war so unglaublich und unerträglich zugleich, dass selbst eine abgebrühte Untergrundkämpferin wie Lunera das nicht verdauen konnte. Sie brauchte zwanzig Sekunden, bis sie wieder etwas sagen konnte. "Wenn das stimmt können die das überall mit uns machen, Fino. Die bringen uns einfach um. Die machen das ganz einfach." Bei den letzten Worten brachen alle Dämme in ihr. Sie verfiel in einen heftigen Weinkrampf, während Fino nur dasaß und nichts sagen konnte. So blieb es fünf Minuten, in denen alles mögliche hätte passieren können. Doch dann straffte sich Lunera. Ihre tränenroten Augen glommen nun vor wilder Entschlossenheit. Das wiederum machte Fino eine gewisse Angst.

"Nein, Fino. Die kommen damit nicht durch! Die wollen uns wie veränstigte Schafe bei schwerem Gewitter im Stall zusammentreiben, damit wir bloß nichts mehr machen, was denen nicht passt. Außerdem wollen sie uns an einem Ort zusammentreiben, um uns da erst recht fertigzumachen. Aber nicht mit mir. Wir machen weiter. Wenn noch einmal ein Stützpunkt von uns ausfällt verlege ich "Frühlingsmond" vor. Dann werden wir halt Rabiosos Weg gehen müssen."

"Lunera, das meinst du nicht ehrlich. Das ist nur die Scheißangst, die du genauso wie ich hast", erwiderte Fino sichtlich erschüttert.

"Genau das ist das, was die uns einjagen wollen. Wir sollen uns nirgendwo mehr sicher fühlen. Wer immer das ist will, dass wir uns freiwillig einigeln, ja am besten gleich mit Mondsteinsilberkugeln aus der Welt blasen. Doch da haben die sich geschnitten. Wir machen weiter. Und wenn die meinen, uns mit dieser fiesen Waffe einfach so wegbrutzeln zu dürfen, dann dürfen wir eben mit massiven Eingliederungsaktionen dagegenhalten. Also, wenn noch einer unserer Stützpunkte ausfällt gilt die Aktion "Frühlingssturm". Ich wollte nicht Rabiosos Weg gehen. Aber diese elenden Eingestaltlichkeitsfanatiker wollen uns ausrotten. Dagegen können wir nur durch massive Vermehrungsaktionen was machen, dass die merken, dass ihre Methode nicht zum Ziel führt. Wir machen weiter. Uns Kinder des Mondes wird es auch in tausend Jahren noch geben. Die werden uns nicht ausrotten", tönte Lunera wild und kampfeslustig. Doch wie es in ihr zuging verriet sie nicht.

"Lunera, ich fürchte, du versteigst dich da gerade in eine sehr gefährliche Sache und ..." erwiderte Fino. Doch Lunera brüllte nur: "Dann krieg gefälligst raus, was denen passiert ist und mach was dagegen."

"Lunera, wir müssen unsere Leute zurückpfeifen. Wenn wer immer diese furchtbare Waffe weltweit einsetzen kann wie wir unsere Erkunder ...." versuchte Fino es erneut mit Vernunft.

"Bist du ein Wolf oder bist du ein verstörtes Schaf?!" schrillte Lunera. "Ich bin vor allem ein Mensch, der überleben will, Lunera, genauso wie du. Was haben wir davon, jetzt zu wild um uns beißenden Bestien zu werden, wie der Spinner Rabioso das geplant hat. Du weißt genau, was ihm das gebracht hat. Willst du zusehen, wie jemand deine Tochter abmurkst, weil sie die Lykanthropiesaat in sich hat? Nachdem ich unter Opferung meines Abendessens mitbekommen konnte, wie das bei Nina abging, als Alejandro ankam, will ich nichts riskieren, was das alles umsonst macht, Lunera. Lass dir von deinem Gefährten Valentino sagen, wie unsinnig das ist, blindwütig dreinzuschlagen und in jedes offene Messer reinzurennen!"

"Halt die Klappe! Ich bin die Anführerin der Mondgeschwister. Ja, es hat mir verdammt weh getan, Valentinos Baby zu kriegen. Ja, ich will auch, dass die Kleine und euer Kleiner leben. Das geht aber nur, wenn wir auch ein Recht auf Leben erstreiten können und nicht wie niederes Geschmeiß und ekliger Schimmelpilzbefall angesehen und wie solcher einfach ausradiert werden dürfen. Die haben Rezaluna, Farinello und die anderen einfach so umgebracht. Das darf nicht umsonst passiert sein. Wer immer das macht soll das begreifen, dass er oder sie uns damit nicht einschüchtern kann. Ich hasse es, dauernd Angst haben zu müssen. Dann sollen die lernen, wie beschissen es sich anfühlt, nirgendwo mehr sicher zu sein."

"Ich verstehe, dass du jetzt sehr verstimmt bist. Versuch mal drüber zu schlafen. Vielleicht ...", setzte Fino an. Dafür erntete er nur ein in seinen Ohren wild nachklirrendes "Raus hier!" Da er seine Ohren noch brauchte kam er dieser unüberhörbaren Forderung unverzüglich nach.

"Hoffentlich wird die nicht noch wahnsinnig", dachte Fino und erkannte, wie nahe er selbst an der Schwelle zum Irrsinn entlangbalancierte. Denn was ihm die aus dem Boden herausgefahrene Hexe mit der blassgoldenen Haut angetan hatte wirkte in ihm immer noch sehr schmerzhaft nach. Er ertappte sich selbst immer wieder dabei, wie er mit wilden Faustschlägen gegen die Wand seines Arbeitszimmers drosch, wenn ihn die Seelenschmerzen über die ihm zugefügte Demütigung übermannten. Aber wenn Lunera jetzt genauso austickte wie Rabioso und ihre Mitbrüder und -schwestern nur noch zu ziellosen Überfällen ausschickte würden sie bald alle draufgehen, soviel war sicher. Rabioso war von dieser blassgoldenen Hexenhure erledigt worden. Wenn sie das nicht gemacht hätte, dann hätten die von den Ministerien das gemacht.

Sie hatten viele Monate in Ruhe und vor allem Heimlichkeit darauf hingearbeitet, die gescheiterte Operation "Erntemond" zu wiederholen, Stützpunkte ausgewählt und mit getreuen Mitstreitern besetzt. Das durfte doch nicht alles für nichts und wieder nichts gewesen sein. Doch er hatte die Bilder gesehen und die Luftzusammensetzungsangaben der Erkunder gelesen. Wie immer einer der vielen Feinde das angestellt hatte, es war im höchsten Maße wirksam. Ja, und er ertappte sich bei dem Gedanken, dass sie, die Mondbruderschaft, mit den langzähnigen Blutsaugern auch nichts anderes anstellen würden, wenn sie wussten, wie mal eben mehrere von denen auf einmal erledigt werden konnten. Ja, und er erkannte, dass er bei Lunera gerade als totaler Feigling rübergekommen war. Gerade nach der Schwangerschaft mit Valentinos Kind wollte Lunera jetzt klarstellen, dass sie immer noch die unbestrittene Anführerin war. Doch um zu führen musste jemand sich erst einmal selbst klar sein, wohin die Reise gehen sollte, wusste Fino. Doch er wusste genauso, dass ein offener Führungsstreit in der Mondbruderschaft ihren vielen Feinden gerade recht kommen würde.

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Es war der 27. März. Seit nun schon zwei Wochen zog ein für unmagische Augen unsichtbarer Mondbote mit Codenamen "Pax Britannica" über den britischen Inseln dahin. Ziel der Unternehmung war, die Standorte aller registrierten Lykanthropen zu überfliegen, um zu klären, ob dort mehr oder weniger der 99 aktenkundigen Werwölfe anzutreffen waren. Perdy, der die Überwachung von "Pax Britannica" übernommen hatte, verfolgte den Weg des außerhalb von Ansiedlungen mit 100 Stundenkilometern dahinfliegenden Artefaktes, dessen Kurs in Zickzackbahnen von West nach Ost und Ost nach West von Norden nach süden verlief. In Schottland hatte das Artefakt die dort ansessigen Werwölfe alle an den Orten gefunden, an denen sie laut der Agenten von Vita Magica zu leben hatten. Merkwürdig war Perdy nur erschienen, dass am Wohnort der Werwolffamilie McRore nur die älteren Lykanthropen Bruce und Brenda geortet wurden. Perdy wusste, dass deren drei Töchter, die allesamt schon mit dem Lykanthropiekeim im Blut zur Welt gekommen waren, nicht mehr als zwei Kilometer von ihren Eltern entfernt gemeldet waren. Die drei hatten damals ähnlich wie Remus Lupin nach Hogwarts gehen sollen. Doch anders als bei Lupin hatte der Schulrat sich gegen Dumbledores Fürsprache durchgesetzt. Es sei schließlich anders, wenn jemand bereits mit dem verfluchten Keim im Blut geboren war, als wenn jemand nach der Geburt damit angesteckt wurde, so die Begründung des Schulrates von Hogwarts. Die McRores hatten diese Entscheidung akzeptiert, wusste Perdy. Er wusste aber auch, dass gerade die Greybackianer ein Netzwerk aus Bücherbeschaffern unterhalten hatten, die in Zauberbuchhandlungen die für den Unterricht nötigen Bücher ankauften, wenn die Kinder magisch begabt waren. Über dunkle Kanäle aus der Nokturngasse war auch an Zauberstäbe heranzukommen, wusste Perdy und ärgerte sich, dass das Zaubereiministerium diesen Sumpf bis zum Ende Greybacks nicht hatte trockenlegen können. Ihm wäre es lieb, wenn alle Lykanthropen, die nicht an ordentlichen Zaubereischulen aufgenommen wurden, auch keine Zauber und Zaubertränke erlernten. Wo das hinführte hatte dieser Rabioso ja überdeutlich gezeigt.

Gerade überflog der Mondbote "Pax Britannica" die Stadt Brighton. Perdy gab der Anblick der Stadt einen Stich ins Herz. Diese magielosen Leute verschandelten die umgebende Natur und bliesen ungehemmt ihre Giftwolken aus ihren Verbrennungsmaschinen und Petroleumheizungen in die Luft. Doch weil bei denen immer mal wieder magisch begabte Kinder zur Welt kamen durften sie die nicht so locker dezimieren, wie sie es mit Vampiren und Werwölfen taten. Anders als die Todesser wussten die Mitglieder Vita Magicas, dass eine Beschränkung auf uralte Zaubererfamilien nur zu einer ungesunden Inzucht führen würde.

Nachdem er das moderne Brighton hatte ansehen müssen erfreute sich Perdy an den malerischen Dörfern der Umgebung. Dabei konnte er einen großen Gutshof sehen, der im Zentrum eines aus drei Dörfern gebildeten Dreieckes angelegt war. Laut seinen Unterlagen war dies mal der Herrensitz des Earls von Glenfield Brooks gewesen, bis dessen letzter Erbe vor zwanzig Jahren gestorben war. Die drei Dorfgemeinschaften konnten sich nicht darauf einigen, was mit dem Gutshof geschehen sollte. So hatten sie ihn dem Zahn der Zeit und der geduldigen Gärtnerin Mutter Natur überlassen.

"Ja, das wäre auch ein genialer Stützpunkt für uns", dachte Perdy, als der Mondbote über den Gutshof hinwegflog. Dabei fing er keine Spur von menschlicher, elektrischer oder magischer Ausstrahlung ein. Genau deshalb wunderte sich Perdy, wie gepflegt die Grünanlagen waren. Er hatte mit einem verwilderten Waldstück und einem von allen möglichen Wildkräutern überwucherten Garten gerechnet. Doch die Wiesen sahen frisch gemäht aus, und in den Beeten schien gerade nichts zu wachsen.

"Prüfung auf eingestaltliche Menschen!" sprach Perdy in einen kleinen Schallansaugtrichter, der seinen Befehl in eine Folge unsichtbarer Schwingungen verwandelte, die keinen Funken elektrischer Kraft in sich trugen, wie es die Rundfunkwellen der rein technischen Welt taten. Eine Minute später war das Ergebnis da. Es gab auf dem Gutshof keinen lebenden Menschen. Es wurde jedoch auch kein Zeichen von magischem Wirken erfasst. "Weiterfliegen!" befahl Perdy der weit von ihm entfernt dahinziehenden Vorrichtung. Er ging davon aus, dass die Dörfer sich zumindest darauf geeinigt hatten, die Gartenanlagen in Stand zu halten, wenn mal doch ein weit entfernter Verwandter des letzten Earls von Glenfield Brooks auftauchen sollte. Sein Wissen über hermetische Thaumaturgie war immens, ebenso seine alchemistische Ausbildung. Doch die magischen Künste der Druiden waren ihm genauso fremd wie die Zauber uralter afrikanischer, amerikanischer oder australischer Stämme. Sonst hätte er den Mondboten sicher mit einer Aufspürvorrichtung für altdruidische Ritualbezauberung versehen und so die Antwort auf die stumme Frage bekommen, wieso der Gutshof so gepflegt aussah.

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"Sie kriegen nicht das, was sie von mir haben wollen, Sie Sabberhexe", polterte er auf Deutsch, weil er gemerkt hatte, dass sie ihn verstand. "Ja, ich weiß, Divitiae Mentis. Aber dann dürfte Ihnen klar sein, dass Sie jede Möglichkeit verloren haben, hier wieder wegzukommen", sagte die wie ein Riesenbaby verkleidete.

"Meine Tochter ist bei den Lichtwächtern und der Außeneinsatztruppe gegen unerlaubte Zauberei. Sie können mich nicht so einfach verschwinden lassen, ohne das jemand nach mir sucht."

"Das hatten wir auch nicht vor. Sie wollten ein vollständiger Mann sein, und wir wollten Ihnen die Gelegenheit bieten, es wieder zu werden, ohne dass Sie und wir von ständigen Versuchen, Sie zu finden gestört werden. Und was Ihr Fräulein Tochter angeht, so sollte sie langsam einmal zusehen, wen zu finden, mit dem sie mehr als leidenschaftliche Stunden vereinen kann. Wir haben Sie zu uns hinbekommen und können das jederzeit mit ihr wiederholen. Dabei können wir sie sogar dazu bringen, mit uns genehmen Zauberern Nachwuchs hervorzubringen. Haben Sie vielleicht besondere Wünsche, was Beruf, Aussehen oder Familienzugehörigkeit angeht?"

"Würde meiner Tochter recht geschehen, wenn solches Pack wie Sie sie auf eine reine Zuchtstute reduzieren. Doch ich fürchte, Sie feiges Stück Drachendreck, dass Sie sich damit selbst die Beine abfluchen oder gleich ihren Kopf von den Schultern hauen. Meine Tochter hat beste Verbindungen zu den Lichtwächtern - und sicher noch zu dem einen oder der anderen", erwiderte der Gefangene. Beinahe hätte er dieser verkleideten Verbrecherin da aufgetischt, dass irgendeine Hexe ihm mit dem Imperius-Fluch das Heraustragen der Familienchronik abgezwungen hatte. Doch weil die Chronik genauso eines der in seinem Geist verborgenen Divitiae-Mentis-Geheimnisse war durfte er das nicht ausplaudern. Das war ihm gerade noch rechtzeitig eingefallen.

"Was heißt hier "der anderen", Alarich?" wollte die ihn verhörende wissen.

"Wenn Sie alles mögliche aus mir herausgezogen haben wissen Sie sicher, dass meine Tochter abartigerweise mit anderen Hexen verkehrt. Da wird sicher die eine oder andere dabei sein, die sich übel rächen wird, wenn Sie ihre Geliebte auf eine reine Mutterkuh herunterstufen", konterte der Gefangene.

"Ja, das könnte leider stimmen", hörte er dieses Geschöpf mit der sicher künstlichen Kleinmädchenstimme, das anders als die Banditen, die ihn hier in den Sessel gesetzt hatten, keinen Strampelanzug trug, sondern einen weiten, blasslilafarbenen Umhang. Allerdings trug auch sie diesen rosaroten, runden Babykopf zwischen den Schultern, sicher auch eine besondere Maske.

"Können die Schutzzauber um Ihr Anwesen erkennen, dass Sie es sind, der auf dieses Anwesen geht? Das hat das, was Sie als Gehirnentleerungshaube bezeichnet haben nämlich nicht ermitteln können. Bevor Sie weiter den Trotzkopf miemen sollten Sie sich auch überlegen, dass Ihre Frau als gebärfähige Hexe gut und gerne schon drei bis vier Kinder hätte kriegen können, wenn sie nicht darauf beharren würde, mit einem aus eigener Schuld zum Kastraten gewordenen Spießbürger zusammenzubleiben, der nicht mal vertragen kann, dass seine Tochter Hexen liebt."

"Sie haben wirklich keine Ahnung von Anstand und Ehre. Ich werde Ihnen nicht verraten, wie die Schutzzauber um mein Haus angelegt sind, weil das eben auch zu meinen kleinen Geheimnissen gehört, die ihr Machwerk nicht aus mir heraussaugen konnte. Und wenn Sie meine Frau oder meine Tochter entführen, um sie in ihrem Regenbogenvogel-Karussell gegen ihren Willen schwängern zu lassen haben sie nicht nur meine Familie gegen sich, sondern auch ihre. Aber das ist Ihnen sicher schon klar."

"Stimmt wohl", sagte die andere. "Dann müssen wir davon ausgehen, dass jeder, der vorgibt, Sie zu sein von den Schutzzaubern abgewiesen wird. Vielleicht ist das sogar Ihr glück, weil sie dann wesentlich unbelasteter in ihr neues Leben gehen können, als wenn wir darauf einwirken müssten, dass Sie uns doch noch ihre fünf Divitiae-Mentis-Geheimnisse enthüllen."

"Wenn Sie mir das Gedächtnis rauben oder mich gegen meinen Willen in etwas hilfloses verwandeln werde ich froh sein, die Auswirkungen davon nicht mehr mitbekommen zu müssen."

"Oh, wird jetzt gepokert?" amüsierte sich die andere mit ihrer eindeutig künstlichen Kleinmädchenstimme.

"Ja, und ich habe den Royal Flush auf der Hand. Denken Sie, Sie wären die einzige, die die Familiengeheimnisse der Steinbeißers an sich reißen möchte? Also, machen Sie mit mir, was sie wollen und ..."

"Wenn Sie auf Vincentius Racheschlag anspielen, der beim Tod oder einer dauerhaften Schwächung des Betroffenen auslöst und zwischen einer feurigen Magiefreisetzung bis zu einem monatelangen Siechtum für die Schuldigen variieren kann, so werden wir das gleich erleben, ob sie diesen mächtigen Fluch hier in unserer Einrichtung freisetzen können. Aus derselben Quelle, der die Erinnerungserkundungshaube entsprungen ist entstammt auch der unsichtbare Mantel der Vergeltungshemmung. Glauben Sie denn wirklich, Sie seien der erste Zauberer, der uns mit einer posthumen Rache droht? Wie heißt es also so schön beim Pokern? Ich will sehen!"

Doch bevor sie irgendwas sah klappte sie die Vollmaske eines überlebensgroßen Babykopfes wie eine Kapuze zurück und enthüllte ihr wahres Gesicht. Alarich Steinbeißer starrte in die meergrünen Augen der schwarzhaarigen Hexe. Er kannte das Gesicht. Als Zauberkunstinteressierter und eher mäßiger Schachspieler hatte er dieses Gesicht schon häufiger in Berichten oder ganzen Büchern gesehen. "Nur, damit Sie mir nicht länger vorbeten können, ich sei Feige, Alarich Steinbeißer", sagte sie, und ihre Stimme erinnerte ihn ein wenig an die von Blanche Faucon, als sie vor ihm und vielen anderen interessierten Abschlussklässlern von Greifennest über Flüche mit Materialisationskomponenten referiert hatte. Doch die da war nicht Blanche Faucon. Aber sie konnte es eigentlich auch nicht sein, weil es hieß, dass sie in den Tropen umgekommen war und ... In dem Moment, wo er den Namen ausrufen wollte schickte sie einen goldenen Lichtstrahl zu ihm hinüber. Das Licht umfloss und durchdrang ihn gleichermaßen. Dann fühlte er einen Ruck und lag von einer viel zu hohen Schwerkraft niedergedrückt auf der dreimal so groß geratenen Fläche des Verhörsessels, an den er bis gerade eben noch mit Händen und Füßen gebunden gewesen war. Ein schnelles Tasten seiner Zunge durch den Mund bestätigte, dass er keinen einzigen Zahn mehr im Mund hatte. Da wusste er, dass sie ihn ohne Vorankündigung infanticorporisiert hatte. Dann bekam er mit, wie um ihn herum ein Feuerwerk aus freigesetzter Zauberkraft tobte. Er hörte es überlaut zischen, krachen, prasseln und fauchen. Das ging an die dreißig Sekunden lang. Dann verebbten die Entladungen. Er fühlte sich auf einmal ausgelaugt und müde.

"Ja, wirklich beachtlich, aber wie erwähnt gut zu unterdrücken. Dann trage deine fünf Geheimnisse weiter mit dir." Das waren die letzten Worte, die er als Alarich Steinbeißer in seinem langen Leben hörte. Der ihn treffende Ansturm von Magie, der seinen Kopf regelrecht leerfegte, ließ ihn nur noch hilflos aufschreien, hilflos, weil er gerade jetzt erst auf die Welt gekommen war.

"So wie er getönt hat steht zu befürchten, dass er seine Tochter verdächtigt, mit uns feindlichen Hexen zu konspirieren. Wenn wir ihn nicht zurückschicken können wird sie die letzte Erbin von Gertrude Steinbeißers unbekannten Hinterlassenschaften sein und damit genau das erfüllen, was diese düstere Sauerkrauthexe von Anfang an geplant hat", seufzte Mater Vicesima, während sie den soeben vollkommen zurückverjüngten Alarich mit routinierten Handgriffen in frische Windeln wickelte und in einen himmelblauen Strampelanzug steckte.

"Dann ist unser Vorhaben gescheitert", erwiderte Véroniques irische Mitstreiterin im hohen Rat des Lebens. "Aber du musstest doch damit rechnen, dass er genau die Sachen, die mit seiner Vorfahrin zu tun haben, als besonders zu schützende Geheimnisse verbirgt, unter anderem auch, ob es die ominöse Familienchronik und das Testament gibt, das Trude Steinbeißer vor allem ihren nachgeborenen Töchtern hinterlassen haben soll."

"Eben genau deshalb wollten wir ihn ja wie Shacklebolt durch einen Doppelgänger ersetzen, um das herauszubekommen. Aber dieser Doppelgänger wäre dann sicher gleich bei der Ankunft enttarnt worden und somit zum sofortigen Rückzug gezwungen worden. Also bleibt uns nur, eine möglichst spektakulär verunglückte Leiche Alarichs ausszulegen, weit genug weg von unserem Mitstreiter Burrero Molinos", sagte Mater Vicesima, während sie den Wiederverjüngten, endlich zur Ruhe kommenden in eine beigefarbene Wiege bettete. Als er so dalag, als wäre er gerade erst vor zwei Tagen zur Welt gekommen, wechselte sie das Thema.

"Gemäß dem Grundsatz, dass die Blutsverwandten der Amme nicht die Zeugungspartner des schutzbefohlenen sein dürfen wird es sicher interessant, wer sich seiner annehmen wird und dabei das Recht aufgibt, ihre Tochter mit ihm zusammenzubringen, wenn er wieder zeugungsfähig ist. Immerhin wird er es in dreizehn bis vierzehn Jahren wieder sein."

"Das ist eine lange Zeit, Véronique. Wenn stimmt, dass es im Haus der Steinbeißers noch was aus Gertrudes Zeit gibt, und wenn Albertine vielleicht mit ähnlich gelagerten Hexen konspiriert, wer kann sie daran hindern, ihnen diese Hinterlassenschaften zuzuspielen?" wollte Mater Duodecima Hibernica wissen.

"Das ist genau das, was mir die größten Kopfschmerzen macht. Aber vielleicht bekomme ich aus den frei erfassbaren Erinnerungen Alarichs doch noch was heraus, was nicht so gut geschützt war. Außerdem könnten wir seine Tochter zu uns holen, um sicherzustellen, dass sie eben nicht im Sinne von Gertrude Steinbeißer handelt, falls es dafür nicht schon viel zu spät sein sollte", erwiderte Mater Vicesima, leicht ungehalten, noch einmal auf die gerade eben erlittene Niederlage angesprochen zu werden.

"Dann willst du sie gleich auch noch - ähm- einladen?" wollte Mater Duodecima Hibernica wissen.

"Nach der Sache mit der Truppe, die unsere Silberschnatzeiersammeltruppe hat auffliegen lassen dürften die verschiedenen Zaubereiministerien sich auf gewaltsame Einbestellungen vorbereiten. Abgesehen davon sorgt mich die Sache mit dem weiblichen Riesennachtschatten. Wenn stimmt, was unsere deutschsprachigen Mitstreiter berichten will dieses Nachtgespenst wohl Nocturnia beerben. Nein, im Moment können wir Alarichs Tochter nicht so einfach zu uns hinüberbitten. Es sind noch zu viele Wichtel aufgescheucht. Auch wenn jeder Tag, den sie vielleicht für eine uns feindliche Hexenbande tätig sein kann ein Tag zu viel ist wäre es eine weitere Niederlage, die wir hinnehmen müssten. Kurz vor diesem meiner Meinung nach sehr fragwürdigen Großversuch zur Eindämmung der Werwütigen dürfen wir uns keine weiteren Pannen erlauben", sagte Mater Vicesima.

"Was heißt fragwürdig, Véronique", wollte Mater Duodecima Hibernica wissen. "Wir waren doch im Rat alle dafür, dass die unkontrolliert um sich beißenden Pelzwechsler von der Erde verschwinden müssen, wenn sie ihr Schicksal nicht annehmen und vor allem davon absehen, ihren Keim weiterzuverbreiten."

"Ja, ich weiß, ich habe auch zugestimmt, dass wir diese Leute erledigen. Aber so wie Perdy und seine Mitstreiter das hinbekommen haben ist das sehr grausam, grausamer als der schnelle Tod durch die Werwolfsblutzersetzungskeime, die unsere kleinen magicomechanischen Stechmücken verabreichen", erwiderte Mater Vicesima. Dass sie mittlerweile das Vorgehen nicht nur für sehr fragwürdig sondern auch für schlicht weg barbarisch ansah wollte sie ihrer Mitstreiterin nicht auftischen. Zu deutlich klang ihr noch in den Ohren, dass wohl wegen ihrer gerade erlebten Schwangerschaft ihre Gefühle aus der Bahn geraten waren und deshalb ihre klare Haltung gegen diese Mondheuler ins Wanken brachten. Außerdem hatte Mater Duodecima Hibernica einen Enkelsohn an Greybacks beißwütige Bande verloren und hasste deshalb all die Werwölfe, die in voller Absicht andere Menschen mit ihrem verfluchten Keim ansteckten.

"Wir kommen vielleicht nicht an Albertine direkt heran", sagte Mater Vicesima nach einigen Sekunden Schweigen. "Aber wir können zumindest über unsere Mittelsleute in Deutschland wen in ihrer Nähe postieren, der oder die aufpasst, dass sie nicht etwas gegen unsere Interessen tut."

"Öhm, soweit uns unser Mitstreiter aus Norddeutschland mitgeteilt hat verfügt Albertine seit der Sache mit dem Handlanger dieser Abgrundstochter der kosmischen Dunkelheit über biomaturgische Augen mit noch besseren Eigenschaften als das beliebig einsetz- und herausnehmbare Auge Moodys. Der kannst du keinen unsichtbaren Beobachter auf den Hals hetzen oder irgendwas getarntes in ihrer Nähe verstecken."

"Das weiß ich doch", schnarrte Mater Vicesima. "Der oder besser die soll ja auch ganz offen in ihrer Nähe sein und ihr so bekannt sein, dass sie keinen Verdacht hegt. Aber das sollen unsere Mitstreiter in Deutschland ausarbeiten. Erst einmal müssen wir wissen, ob das Unternehmen "Blauer Mond" den gewünschten Erfolg hat oder nicht doch besser wieder verworfen wird. Das dabei auch unschuldige sterben können ist dir ja ebenso bewusst wie wohl allen anderen."

"Seit wann siebst du bei diesen beißwütigen Mondanheulern denn aus, Véronique", wurde sie gefragt. Darauf antwortete sie:

"ich siebe nicht aus, sondern erkenne nur, dass Menschen erst einmal nur Opfer sind, wenn sie von diesen Beißwütigen mit ihrer Krankheit infiziert werden. Stell dir bitte vor, einer von diesen Beißern würde mitten in einem Kinderhort seine Wolfsgestalt annehmen und sämtliche Kinder dort beißen. Sind die dann von vorne herein dieselben Untäter wie der, der ihnen das angetan hat?"

"Öhm, nein, das nicht. Aber sie werden zu Ansteckungsherden, die unabsichtlich diese Pest weitergeben. Aber das hatten wir doch auch im Rat schon durchgesprochen", grummelte Mater Duodecima Hibernica. "Mein Sean hätte sicher ein ganz erfülltes Leben haben können, wenn ihn Greybacks willige Zuchthündin nicht gebissen und damit um eine lebenswerte Zukunft gebracht hätte. Denkst du, mir gefiel das, dass ich Sean mit einem Mondsteinsilberpfeil erschossen habe, als er in der Werwut über seine eigene Schwester Maureen herfiel? Denkst du, mir hat das spaß gemacht, mir anzusehen, wie er sich im Tode in seine menschliche Form zurückverwandelt hat und mich dabei anklagend angesehen hat? Nein, Véronique! Wir müssen diese Pest ausrotten, hast auch du gesagt. In dem Moment, wo einer gebissen wird wird er zur Gefahr für alle anderen, ob ihm oder ihr das gefällt oder nicht."

"Ich wollte es dir nur noch einmal beschreiben, warum mir "Blauer Mond" mittlerweile nicht mehr so angebracht erscheint wie vor zwei Monaten noch, wo wir im Rat die Unternehmung durchgesprochen und beschlossen haben", erwiderte Mater Vicesima, die den abgrundtiefen Hass in den Augen ihrer Mitkämpferin als deutliche Warnung verstand, sich nicht zu früh zu weit aus dem Fenster zu lehnen.

"Dein Liebling und Vater von drei Kindern wird schon darauf achten, dass die Aktion möglichst schnell verläuft, allein schon um denen keine Möglichkeit zu geben, sich rechtzeitig abzusetzen."

"Das wird wohl sein", erwiderte Mater Vicesima. Mehr wollte sie jetzt nicht mehr dazu sagen.

ENDE

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