IM SCHEIN DES BLAUEN MONDES

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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P R O L O G

Die Hoffnung auf ein friedlicheres Jahrhundert ist in beiden Welten bereits nach zwei Jahren eingetrübt. Wegen des Attentats auf das Welthandelszentrum in New York und das Pentagon führt die US-Regierung zusammen mit ihren Verbündeten einen blutigen Vergeltungskrieg gegen die afghanischen Taliban, welche sie für Unterstützer der Attentäter hält. Auch strebt die US-Regierung eine Auseinandersetzung mit Iraks Machthaber Saddam Hussein an, wofür sie jedoch nicht jeden befreundeten Staat begeistern kann. Als es tatsächlich wegen angeblicher Massenvernichtungswaffen im Irak zum Krieg kommt wissen nur die US-amerikanischen Hexen und Zauberer, wie viel Glück Präsident Bush und die von ihm ausgeschickten Soldaten haben. Denn nur die Brüder des blauen Morgensterns verhindern, dass ein vergeltungs- und geltungssüchtiger Dschinnenbeschwörer von ihm verzauberte Panzer und Flugzeuge an die irakische Armee ausliefert und sie damit beinahe unbesiegbar macht.

In der magischen Welt denken alle, nach dem selbsternannten Erben Voldemorts kehre endlich Frieden ein. Doch da sind etliche Gruppierungen und Einzelwesen, die ihre eigenen Ziele verfolgen.

die Umtriebe der skrupellos die Vermehrung magischer Menschen vorantreibenden Gruppierung Vita Magica beschäftigen die Zaubereiministerien weltweit. Die von einem selbsternannten hohen Rat des Lebens geführte Geheimgesellschaft scheut auch nicht davor zurück. amtierende Zaubereiminister unter magischen Bann stellen zu lassen. Magisch begabte Menschen im Zeugungs- oder Gebärfähigem Zustand werden entführt, um in einem Auswahlkarussell unter Einfluss die Fortpflanzungstriebe anheizender Gase neue Kinder auf den Weg zu bringen. Wer sich den im Namen dieses hohen Rates handelnden entgegenstellt läuft Gefahr, vollkommen zum Neugeborenen zurückverjüngt zu werden und somit das bisherige Leben zu verlieren.

Ebenso wollen die Anhänger der im Mitternachtsdiamanten eingeschlossenen Vielfachseele der ehemaligen Vampirkönigin Lamia im Namen ihrer schlafenden Göttin mehr Macht über Ihresgleichen und dann die Menschheit erringen. Deren lebende Anführerin ist die nach außen hin immer noch skrupellos und erfolgreich auftretende Luftfahrtunternehmerin Eleni Papadakis, die bei den Anhängern der schlafenden Göttin als Hohepriesterin Nyctodora bekannt ist.

Nach jahrhunderte langer Versteinerung wird Sardonias ehemalige Erzrivalin Ladonna Montefiori von einer arglosen jungen Studentin wiedererweckt. Ladonna nistet sich im Haus des italienischen Lebemannes Luigi Girandelli ein, den sie mit ihren von einer Veela und einer grünen Waldfrau ererbten Eigenschaften gefügig hält. Als diesem die Pfändung seines Anwesens droht beseitigt sie dessen Gläubiger, zu denen auch die Matriarchin einer sizilianischen Mafiafamilie gehört. Ihre besiegten Feindinnen werden zu langstieligen Rosen, die nicht verblühen können, solange ihre Überwinderin lebt. Als ihr die von der Veelaseite her noch lebenden Verwandten nachstellen, um sie in magischen Tiefschlaf zu bannen, lockt sie diese in den von einem bösartigen Feindeswehrzauber umfriedeten Bereich um Luigis Haus, wo viele der zumeist weiblichen Anverwandten einen schmerzvollen Tod erleiden. Da Ladonna jedoch noch nicht genug über die gegenwärtige Zaubererwelt weiß geht sie danach sehr behutsam vor.

Während des Entscheidungskampfes von Lord Vengor um den Zugang zum Wissen des in seinem machtvollen Artefakt eingeschlossenen Geistes des altaxarroischen Erzdunkelmagiers Iaxathan kam es zur Verschmelzung der von Kanoras, dem Schattenträumer, zu seinen Dienerinnen gemachten Frauen Birgit Hinrichs und Ute Richter zur riesenhaften und vielfach mächtigeren Nachtschattenkönigin Birgute Hinrichter. Diese versucht, die ehemaligen Kameraden Birgit Hinrichs und Ute Richters auf schwarzmagische Weise als ihre neuen Kinder zu bekommen und unterwirft sich andere Nachtschatten, ja kann auch die ebenfalls schattenförmige Zwillingsschwester der Abgrundstochter Thurainilla besiegen.

Was vor allem das französische Zaubereiministerium erschüttert ist die Verwandlung des hochrangigen Ministerialbeamten Arion Vendredi in eine wergestaltige Kreatur, die mal Mensch und mal menschengroße Ameisendrohne sein kann. Schuld daran ist die von Julius Latierre gänzlich unbeabsichtigt aus jahrtausendelanger Unterwerfung befreite Mutter aller Abgrundstöchter. Diese hat nach Genuss der Tränen der Ewigkeit beschlossen, eine große Armee ihr bedingungslos gehorsamer Wesen zu erschaffen und braucht von ihr umgewandelte Menschen wie Vendredi als Begatter, wenn sie in der von den Tränen der Ewigkeit hervorgeholten Zweitgestalt, einer metergroßen Waldameisenkönigin, neue Abkömmlinge haben will.

Neben all diesen neuen Bedrohungen gibt es dann immer noch die außergesetzlichen Gruppierungen wie die Schwestern der schwarzen Spinne oder die von mit ihrer gesellschaftlichen Stellung unzufriedenen Werwölfe der Mondbruderschaft. Doch genau jene Lykanthropen wissen nicht, dass sie in großer Gefahr schweben. Denn Vita Magica will zur Bewahrung gesunder Hexen und Zauberer einen vernichtenden Schlag führen, der alle missliebigen Werwölfe auslöschen soll.

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Bisher hatte es niemand gemerkt, wie sehr sie sich am 25. März verändert hatte. Rein äußerlich war und blieb sie Albertine Steinbeißer, die Außentruppmitarbeiterin im Büro für friedliche Koexistenz von Menschen mit und ohne Magie. In dieser Eigenschaft war sie jetzt zum hamburger Flughafen im der Nähe des Stadtteils Fuhlsbüttel gereist, um dort die Ankunft der jungen Eheleute Hansen zu überwachen. Auch zwei Lichtwächter, Elmo Kielholz und Klaas Wattendorn, verfolgten die Ankunft der zwei seit Januar verheirateten Studenten, die die ersten Aktionen des Schattenlenkers in Marokko überlebt hatten.

Die Hexe, die früher nur Albertine Steinbeißer gewesen war, stand auf der Aussichtsplattform des Flughafens und musste sich sehr beherrschen, beim lauten Heulen und Fauchen der Flugzeugtriebwerke nicht ständig zusammenzufahren. Diese Magieunfähigen hatten es wirklich geschafft, metallene Vögel zu bauen, mit denen sie hunderte von Menschen und ihre Habe über die Weltmeere befördern konnten, aber zum Preis, dass deren Antriebskraft die Luft verpestete und einen Lärm wie waidwundgeschossene Drachen machten. Ähnlich wie aus Drachenmäulern schlugen auch aus den unter den starren Flügeln angebrachten Antriebsvorrichtungen dieser infernalischen Flugmaschinen Flammenzungen.

Endlich sah die für alle anderen Magier als Albertine weiterlebende Hexe den metallisch glänzenden Körper eines sogenannten Jumbojets mit dem aufgemalten Kranich der deutschen Flugfirma Lufthansa, wie dieser aus den niedrig hängenden Wolken herabglitt und mit immer lauterem Triebwerksgetöse auf die ihm zugewiesene Landebahn zuglitt, um dann mit erst rutschenden und dann sicher rollenden Rädern darauf entlangzupreschen. Es bremste mit qualmenden Rädern seine große Fahrt ab und bog schließlich von der Landebahn ab. Danach folgte das tosende, Feuer und Qualm spuckende Ungetüm einem gelb-schwarzen Kraftwagen zu dem ihm zugeteilten Haltepunkt.

"Ich habe die zwei Zielpersonen im Blick", sprach die Hexe Albertrude in die ihr zugeteilte Fernverständigungsdose an einer dünnen Kette. "Ich begebe mich nun in das Ankunftsgebäude. Ich gehe davon aus, dass Sie beide ihre Beobachtungsstellungen eingenommen haben."

"Es ist nicht das erste mal, dass wir angekündigte Leute aus dem Ausland überwachen", hörte sie die Stimme von Elmo Kielholz aus der Dose antworten. "Ich konnte es sogar hinbekommen, dass nichtmagische Polizisten die beiden observieren, weil sie immer noch in Gefahr sind, von Terroristen ermordet zu werden."

"Ah, ich sehe Sie, Kollege Kielholz", sagte die Hexe mit den magischen Augen, als sie diese auf das Ankunftsgebäude richtete und die dort wartenden Menschen wie mit einem stufenlosen Vergrößerungsglas immer näher an sich heranholte.

"Warum steckt der Kollege Wattendorn im Toilettentrakt?" fragte die Beobachterin nach einer Minute der gründlichen Betrachtung.

"Weil es durchaus möglich ist, dass die Passagiere nach einem solchen Langstreckenflug gleich nach der Gepäckabholung noch die Bedürfnisräume aufsuchen, sofern sie nicht schon in ihrem Flieger dort waren", erwiderte Klaas Wattendorn. "Öhm, gucken Sie jetzt durch die Wände zu den Männern rein?" fragte Wattendorn nach drei Bedenksekunden.

"Keine Sorge, ich bin keine Spannerin, Kollege Wattendorn. Ich habe nur die Trennwände durchblickt", erwiederte Albertrude und fügte noch hinzu: "Ich sehe mir Elend nur an, wenn es gilt, eine Gefahr abzuwehren."

"Fernsprechdisziplin, Fräulein Steinbeißer", mahnte Kielholz an, der das heimliche Begrüßungsaufgebot anführte.

"Die Maschine ist nun an der ihr zugeteilten Tunnelverbindung angekommen. die Ziehharmonikatunnel werden gerade mit den Ausstiegen verbunden", vermeldete die Beobachterin und fragte sich, wielange sie dieses Treiben der Magieunfähigen hinnehmen würde, wenn sie zumindest in Europa die alte Führungsstellung zurückerobert hatte und nur noch diese Wiederkehrerin Anthelia als Nebenbuhlerin um die Gunst und Vorherrschaft der entschlossenen Hexen hatte? Eigentlich hätte sie schon am liebsten jetzt ihre berühmt-berüchtigten Eisenfressfeuerbälle ausgeschickt, die eine gelungene Verschmelzung zwischen dem Bollidius- und Ferrugus-Zauber waren und jedes eisenhaltige Objekt innerhalb von zwei Sekunden in glühende Asche verwandeln konnten. Ein solcher Zauber hätte die Unfähigen auf diesem Gelände in wilde Panik versetzt. Sie dachte kurz an den Großbrand im Flughafen Düsseldorf im Jahre 1996. Welch ein Inferno war das gewesen, auch ohne schwarzmagisches Feuer. Dann bekam sie ihre die magielose Technik verachtenden Gedanken wieder in den Griff und konzentrierte sich auf ihre Aufgabe. Es galt, die beiden jungen Leute vor dieser Schattenriesin und den aus ihrer feststofflichen Gebärmutter entschlüpfenden Abkömmlingen zu schützen. Denn diese neue Pest durfte sich keinesfalls genauso ausbreiten wie die langzähnigen Blutsauger oder die bei Vollmond zu beißwütigen Bestien werdenden Lykanthropen.

Für die Augen der Beobachterin war die Wand eines Fluggastumsteigetunnels kein Hindernis. Sie konnte die aus der Flugmaschine steigenden Menschen mühelos im Blick behalten und in das Ankunftsgebäude gehen sehen. Auch erkannte sie, dass bereits die ersten Gepäckstücke aus dem Bauch des Riesenfliegers ausgeladen wurden. Immerhin hatten diese Magieunfähigen Methoden erfunden, Koffer und Taschen zielgenau durch das Flughafengebäude zu befördern und sie im richtigen Flugapparat abzuladen oder aus einem solchen heraus zum für die Fluggäste wichtigen Abholband zu schaffen.

"Wie lange dauert sowas normalerweise, bis die Fluggäste ihre schweren Gepäckstücke wiederkriegen?" fragte Kielholz nach fünf Minuten. Die Beobachterin erwiderte, dass sowas zwischen zehn Minuten und mehr als einer Stunde dauern konnte, je danach, wie weit das Fluggerät vom Gepäckausgabegerät entfernt stand und ob dazwischen andere Gepäckstücke zu ihren Zielen befördert wurden.

"Ich sehe das Mädchen, diese Erna Hansen", sagte Kielholz nach einer weiteren Minute. Darauf konnte Albertrude nicht anders als zu sagen, dass es kein Mädchen mehr war, zumal sie einen unverkennbaren Ehering trug.

"Al, für den Kollegen Kielholz ist alles, was nur zwei Jahre jünger als die jüngste Tochter ist immer noch ein Mädchen, auch wenn sie mit Drillingen schwanger geht", musste Wattendorn dazu loswerden. Auch er wurde ermahnt, Fernsprechdisziplin zu wahren.

"Ich habe jetzt auch den jungen Mann erkannt, den wir überwachen sollen. Sie stehen jetzt zusammen an diesem Kofferkarussell und warten wie die anderen, dass ihre Sachen ankommen", sagte Kielholz.

Die beiden zu beobachtenden Eheleute Hansen mussten eine Viertelstunde warten, bis sie ihre zwei Koffer und zwei Reisetaschen hatten. dann mussten sie durch die Passkontrolle und den Zoll. "Offenbar ist die junge Dame für das Kofferpacken zuständig", meinte die Beobachterin auf der Aussichtsterrasse. "Alle Kleidung ist auf dieselbe Weise zusammengefaltet und verstaut worden."

"Öhm, soll das eine wichtige Meldung darstellen, Kollegin Steinbeißer?" wollte Kielholz wissen.

"Im Bezug auf eine eheliche Rollenverteilung ganz sicher", erwiderte Albertrude mit spöttischem Unterton. Denn ihr aus Gertrudes Erinnerungen zugeflossenes Gedächtnis enthielt diverse Streitigkeiten, wer in der Ehe welche Aufgaben, Rechte und Pflichten innehatte. Einmal hätte Gertrude deshalb fast den Catena-Sanguinis-Fluch auf ihren Mann und das da gerade in ihrem Leib heranwachsende Kind Boreas gelegt. Doch dann hatte sie es doch gelassen, weil sie Boreas nicht für die Hexenunterdrückungsalüren seines Vaters bestrafen durfte, noch bevor er geboren war.

"Kollege Wattendorn, Sie dürfen ihren Beobachtungsposten verlassen und sich zu mir in die Ankunftshalle begeben. Die zwei Observanden begeben sich zum Ausgang des Ankunftsgebäudes, Ziel, Untergrundbahnstation."

"Danke, Herr Kielholz. Räume meinen vorgeschobenen Posten und stoße zu Ihnen. Öhm, Fräulein Steinbeißer, möchten Sie auch zu uns kommen?" erwiderte Wattendorn.

"Sind Sie sicher, dass die zwei die U-Bahn nehmen wollen, Kollege Kielholz? Ich sehe nämlich gerade, dass die zwei in Richtung Taxistand abbiegen. Offenbar hat sie ihn überredet, nicht mit all dem Gepäck in eine U-Bahn zu steigen", vermeldete die Hexe, die für die allermeisten Zeitgenossen Albertine Steinbeißer war.

"Drachendreck, habe ich auch gerade erkannt", knurrte Kielholzes Stimme blechern aus der kleinen Silberdose.

"Wie war das mit der Fernsprechdisziplin, Kollege Kielholz?" fragte Albertrude schnippisch. Denn sie sah sich als Kielholz gleichgestellt, auch wenn der offiziell die Einsatzleitung hatte.

"Vorsicht mit den Renitenzpunkten, Fräulein Steinbeißer", bekam sie ein zu erwartendes Grummeln zur Antwort. Beinahe hätte die Beobachterin über diese Drohung gelacht. Wenn es nicht mehr in ihrem Sinne war, als Beobachterin und Einsatztrupplerin in dieser muggelfreundlichen Zaubereibehörde zu arbeiten würde sie sehr schnell den Besen besteigen und auf nimmer Widersehen davonreiten. Was sollten dann noch die im Ministerium geläufigen Punkte für vorbildliches oder die Minuspunkte für ungebührliches Verhalten?

"Ich sehe von hier aus drei Taxis mit Freibeleuchtung warten. Gemäß der ungeschriebenen Regel, dass der vordere den oder die nächsten Kunden bekommt müssten die zwei nun den geräumigen Wagen Marke BMW als ihr Fuhrwerk nehmen", sagte die Beobachterin.

"Gut, dann erteile ich Ihnen die Erlaubnis, auf dem Harvey hinter dem Fahrzeug herzufliegen und es bis zum Ziel zu verfolgen", gab Kielholz über die Zauberdosenverbindung durch. Die Hexe mit den magischen Augen bestätigte es und duckte sich hinter einen der klobigen, mit verrottendem Abfall gefüllten Behälter und zog aus ihrer kleinen Umhängetasche einen aus den Staaten erhaltenen Harvey-5-Besen mit Tarneigenschaften. Zur Verfolgung eines Automobils reichte der allemal aus. Aber diese wild fauchenden und heulenden Düsenvögel konnte sie damit nur eine kurze Zeit lang verfolgen. Gerade fauchte eine weitere Großraummaschine hernieder und berührte mit den Landerädern die Betonpiste.

Auf der Hut vor den von den Flugzeugen aufgewirbelten Luftmassen bekam Albertrude ihren sich und sie unsichtbar haltenden Besen von der Terrasse weg und über die Dächer der Gebäude hinweg über den Platz mit den wartenden Taxis.

"Für das Protokoll: Habe soeben Wartestellung über Taxihalteplatz eingenommen. Uhrzeit. Uhrzeit ansagen!" Aus der Dose klang ein quäkiges "Fünfzehn Uuuuhr und fünfzehn Minuuuuuten." Für unsichtbare Besenflieger war das schon praktisch, dass die amtlichen Fernverständigungsdosen einen Uhrzeitansagezauber enthielten, der die gemeldeten Beobachtungen zeitlich einordnen half. Dann blickte Albertrude auf den vordersten der wartenden Taxis und sah durch dessen Dach. Der Fahrer trug nur einen blauen Pullover über einem Feinrippunterhemd und halblange graue Jeanshosen. Der konnte also keiner von denen sein, auf die die Lichtwächter ganz genau aufpassen mussten. Sie gab die Nummer des Wagens im deutschen Buchstabieralphabet durch, als die Hansens mit ihrem Gepäck das Fahrzeug besetzt hatten und das Taxi sich in den vom Flughafen wegführenden Autoverkehr einfädelte. Da die Sonne gerade von einem wolkenlosen Himmel herabschien bestand im Augenblick kein Anlass zur Besorgnis. Dennoch wollten die Lichtwächter so sicher sein wie möglich, dass sie die zwei jungen Eheleute nicht aus den Augen verloren. Dafür war sie, Außentruppmitarbeiterin Albertine Steinbeißer, gerade die beste Wahl überhaupt. Sie konnte selbst dann noch den Wagen im Blick behalten, wenn dieser durch Tunnel oder unter Brücken durchfuhr.

"Achtung, sind jetzt in Harburg. Offenbar will Arne Hansen seinen Vetter aufsuchen. Der wohnt in diesem Stadtteil in einem der Mietshäuser von Saga", vermeldete die fliegende Beobachterin und musste grinsen, weil sie daran dachte, dass das Kurzwort für die hamburgweite Wohnungsgesellschaft auf lateinisch die Bezeichnung für eine Zauberkundige war. Dann sah sie das Zielgebäude und stellte ihre magischen Augen sofort auf Nahbetrachtung und Durchblick, um zu spähen, wo genau Arnes Vetter Hein wohnte. Das war nicht einfach, weil es mehr als zwanzig Wohnungen in dem Haus gab und viele von denen fensterlose Badezimmer hatten. Sie erkannte jetzt erst, wie nachlässig ihre Truppe eigentlich gewesen war, nicht früh genug herausgefunden zu haben, wo Arne Hansen noch unterkommen konnte, wenn er nicht in sein Elternhaus fuhr. Dann entdeckte sie mit ihrem feste Wände wie dünnes Glas durchblickenden Sehsinn einen Mann in einem der Wohnzimmer und erkannte, dass dieser die Jalousie von außen vor dem Fenster herabgelassen hatte und dann noch die schweren Vorhänge vor die Fenster gezogen hatte. "Achtung! Achtung! Warnstufe vier. Ziel der Anreise möglicherweise von Nachtschatten oder Vampiren heimgesucht. Anreisezielperson hält sich in völlig verdunkeltem Raum auf!" meldete die fliegende Beobachterin weiter. Sie ärgerte sich jetzt doch, dass durch die Vereinigung zwischen Albertines und Gertrudes Seele ihre geistige Stimme verändert worden war, so dass sie nicht ohne Verdacht zu erregen die ihr nächste Melo-Übermittlerin andenken konnte, um Anthelia zu unterrichten, was hier los war. So mussten es wohl die Lichtwächter selbst richten.

Völlig arglos betraten Arne und Erna das Haus, nachdem der Mann aus dem verdunkelten Wohnzimmer in den fensterlosen Flur getreten war und den Türsummer betätigt hatte. Albertrude blickte nun mit der durch einen Gedanken zugefügten Ansicht für magische oder natürliche Auren auf den Mann. Ja, den umfloss ein dunkelblauer, fast schwarzer Dunst. Außerdem konnte sie im Badezimmer knapp unter der Decke noch eine kugelförmige Kraftquelle erkennen, die im dunkelblauen Farbton wild pulsierte. Da war also die Falle für die zwei gestellt worden. Irgendwie hatte dieses Schattenweib herausbekommen, bei wem Arne und Erna unterschlüpfen wollten und zielgenau ihre Brut auf Hein Siebert angesetzt.

"Bestätigung für Warnstufe vier. Konnte verdächtige Aura um Bewohner der Zielwohnung erkennen und kugelförmige Zauberkraftquelle in Abluftauslassöffnung in fensterlosem Raum. Unverzügliches Eingreifen empfohlen! - Uhrzeit mit Sekunde!"

"Fünfzehn Uuuhr, siebenunddreißig Minuuuten, und dreiundvierzig Seeeekundänn

"Wir sind sofort da. Haben noch Verstärkung angefordert", hörte sie Kielholz. Da erreichten Arne und Erna bereits die Wohnung. Was dann passierte konnte nur Albertrude begreifen.

Unvermittelt explodierte völlige Finsternis von dem vorne gehenden Arne und verschlang ihn und seine Frau. Gleichzeitig schien ein wilder Windstoß durch den Korridor zu den Wohnungen und die Diele der Wohnung zu blasen. Hein wurde von diesem Wind erfasst und mit unabwendbarer Gewalt gegen die nächste Wand geworfen. Zugleich flitzte das kugelförmige Etwas aus dem Badezimmer durch die Luft ins Wohnzimmer, nur um im nächsten Moment wie von einem Rammbock getroffen gegen die nächste Wand geschleudert zu werden, wo Albertrude mit ihrer Sicht für fremde Auren jetzt blaue Blitze zucken sah. Dann verschwand die aufgekommene Dunkelheit übergangslos. Albertrude erfragte die Uhrzeit auf die Sekunde und erfuhr so, dass seit der letzten Uhrzeitabfrage gerade fünfzig Sekunden verstrichen waren, davon wohl zwanzig in der magischen Dunkelheit.

"Die Runde geht an die Spinnenschwestern, Schattenkönigin", dachte Albertrude nicht ohne gewisse Anerkennung für die Zauberkraft Anthelias. Dunkelheit derartig zu verdichten und sie in einem Ring einzuschließen machte der so schnell keiner nach. Selbst mit dem Verfinsterungszauber war einem Nachtschatten so nicht beizukommen, da dieser natürliche Dunkelheit und auch magisch erzwungene Lichtlosigkeit als Nahrung nutzte. Doch was hatte Anthelia erwähnt? Wie Paracelsus schon festgestellt hatte machte die Dosis das Gift, und wenn über Stunden oder Tage anhaltende Dunkelheit aus einer von Sonnen- und Mondlicht unerreichbaren Umgebung innerhalb weniger Sekunden freigesetzt wurde war das auch für davon existierende Geschöpfe zu viel auf einmal. Anthelia hatte was von insgesamt fünf Minuten dieser stark verdichteten Dunkelheit erwähnt. Also mochten die Hansens noch vier Minuten und vierzig Sekunden davon zur Verfügung haben. Doch Anthelia hatte auch behauptet, dieser von ihr ausgegebene Schutz würde bei Anwesenheit der Schattenriesin selbst freigesetzt. Offenbar galt das nicht nur für diese, sondern auch für von ihr erschaffene oder unterworfene Nachtschatten. Das musste Albertrude dieser mit einer mächtigen Spinnen-Animaga verschmolzenen doch weitergeben.

"Fräulein Steinbeißer, haben Sie was gezaubert, dass uns fast hier die Incantimeter zerblasen hätte?" wollte Kielholz wissen. Albertrude blickte sich sofort um, während die zwei jungen Leute merkwürdig ruhig in die Wohnung gingen, als sei die plötzliche Dunkelheitsfreisetzung ganz spurlos an Ihnen vorbeigegangen. Die in ihren passgenau gefertigten Höhlen frei drehbaren Zauberaugen brauchten sich nur um 182 Grad um die Senkrechtachse und minus 10 Grad um die Querachse zu drehen, um Elmo Kielholz zu entdecken, der gerade mit zwanzig für Albertrude gerade nebelhaft erscheinenden Gestalten zusammenstand, getarnte Zauberer und Hexen. Wenn Albertrude sehen wollte, wer genau das war musste sie auf normale Sichtweite an diese Leute herankommen.

"Ich habe einen massiven Ausbruch von magischer Dunkelheit beobachtet, den selbst ich nicht durchblicken konnte", antwortete die Beobachterin so wahrheitsgemäß sie konnte und musste. Jetzt liegt der Inhaber der Wohnung bewusstlos am Boden und die zwei Gäste betrachten ihn. Moment, ich muss mich auf Nahbetrachtung einstimmen, um deren Lippenbewegungen zu erkennen", legte sie noch nach und beobachtete die beiden nun mit ihren beiden Zauberaugen. Mit ihren Kenntnissen im Lippenlesen verstand sie aus der eingenommenen Beobachtungsposition, dass die zwei sich darüber unterhielten, dass das stimmte, was ihnen der Verkäufer der Ringe erzählt hatte und in Heins Wohnung wohl etwas böses der Nacht gewartet haben musste. Immerhin lebte Hein noch, war aber völlig bewusstlos. Albertrude erbat zwei magische Heiler und Vergissmichs und beschrieb die Zielwohnung, damit diese dort gezielt hineinapparieren konnten.

Während die Heiler sich um die Hansens und Arnes Vetter kümmerten nutzte Albertrude die Fähigkeit des Besens, auch ohne körperliche Lenkung den erreichten Standort beizubehalten und schickte unter Verwendung bestimmter Losungswörter eine Gedankenbotschaft an Anthelia. Die Vermittlerin in Europa, die Gedankenbotschaften an ihre Mitstreiterin auf den Kanaren weiterschicken sollte, fragte kurz zurück, ob sie wirklich im Namen Albertines Nachrichten weitergeben musste. Weil die anderen Spinnenschwestern bloß nicht wissen durften, dass in Albertines Körper die zu einer verschmolzene Seele Albertines und Gertrudes wohnte und somit deren Gedankenstimme anders klang gab Albertrude vor, im Auftrag der bezeichneten Mitschwester zu mentiloquieren, da diese mit anderen Zauberern im Einsatz sei. So konnte sie ihre Beobachtungen in einem kurzen Satz weitergeben: "Nachtschattenabwehr schlägt nicht ausschließlich bei bekannter Hauptfeindin an. Freigesetzte Dunkelheit für zwanzig Sekunden wirksam."

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Ein schmerzhafter, in Tonhöhe abfalender und dabei kurz ganz laut werdender Schrei erfüllte für nur drei Sekunden den geheimnisvollen Raum, in dem nur die Gedanken der großen Königin Birgute und ihrer direkten Nachgeborenen und von ihr verdingten Gefolgsleute herumschwirrten. Birgute fühlte ihren aus wärme- und lichtschluckender Kraft bestehenden Körper erzittern. Es waren starke Schmerzen, nicht körperliche, sondern geistige. Dann war der kurze aber heftige Todeskampf vorbei. Sie erkannte nun, dass ihr Sohn, den sie ausgeschickt hatte, diesen Hein Siebert zu lenken, von irgendwem blitzartig umgebracht worden war. Also hatten diese Zauberstabschwinger doch etwas unternommen, um Erna und Arne Hansen zu beschützen, wohl einen Leibwächter abgestellt, der Wesen wie sie eines war, auffinden und zerstören konnten. Dann erkannte sie, dass ihr Sohn beim Schreien immer größer gewirkt haben musste, bis er regelrecht zerrissen wurde, als wenn jemand einen Luftballon mit Pressluft zum platzen gebracht habe. So musste es gewesen sein. Diese Paracelsus-Hexe aus den Staaten hatte die Hansens mit etwas ausgestattet, dass ihren gemeinen Zauber an anderen Orten wiederholen konnte, ohne dass sie selbst dabei sein musste.

"Remurra, bist du am Zielort?" gedankenfragte Birgute ihre Tochter Remurra Nika.

"Nicht einfach gewesen, Mutter und Königin. Aber ich konnte durch das Herumteleportieren in den Kabelschächten herausbekommen, wo Ricos Badezimmerbelüftung ist. Ich sitze jetzt genau hinter den Luftzufuhrschlitzen. Wenn Rico ins Badezimmer kommt ziehe ich ihn aus seinem Körper und trage ihn zu dir hin, damit du ihn in dich hineinrufen kannst."

"Pass auf, dass du nicht von einem inneren Druck zerrissen wirst, Mädchen! Dein Bruder Argotorrgo ist gerade von einer Art Pressluftdunkelheit zersprengt worden. Unsere Widersacher haben einen Weg gefunden, die Dunkelheit von mehreren Stunden in unter einer Minute wieder freizusetzen. Auf fleischliche Wesen wirkt sowas wie ganz schwer einzuatmende Luft. Aber unsereins kann davon überfüllt und überdehnt werden wie ein viel zu Stark aufgepumter Reifen oder ein viel zu sehr aufgeblasener Ballon. Also verschwinde sofort, wenn du merkst, dass etwas von außen in dich hineinschießt!"

"Verstanden, Mutter und Königin", erwiderte Remurra Nika. "Aber wenn ich ihn aus seinem Körper rausziehen und zu dir hintragen kann nützt denen so ein fieser Zauber nichts", fügte sie noch hinzu.

"Halt dich gefälligst an meine Anweisungen, Mädchen. Du nützt mir ausgelöscht nichts mehr, und deine Seele wird sicher irgendwo hingeschleudert, wo du nicht die ganze Ewigkeit bleiben willst", erwiderte Birgute. Im Moment trug sie den künstlichen Uterus, den ihr dieser Trottel Vengor verschafft hatte in sich, aber derzeit keine darin zu ihrem Neuen Kind ausreifende Seele. Eigentlich hatte sie gehofft, die Hansens und Rico Kannegießer heute Nacht noch zu empfangen und in der Nacht darauf als ihre treuen Schattenkinder wiederzugebären. Jetzt fürchtete sie eher, dass ihr dieses Vergnügen bis auf weiteres vergönnt bleiben würde. Doch noch wollte sie nicht aufgeben.

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Elmo Kielholz gehörte mit zu dem Trupp, der zielgenau in Hein Sieberts Wohnung apparierte. Die zur Lichtwache Hamburg gehörende Feldeinsatzheilerin Annalena Kleewurz nahm sich erst des Bewusstlosen an. Ihre anderen Kollegen überprüften die Nachbarwohnungen, ob jemand den so heftigen Ausbruch von Magie mitbekommen hatte.

"Eh, wo kommen Sie denn her?" wollte die junge Frau, Erna Hansen geborene Grabowsky wissen und zerrte unter ihrer Bluse ein kleines Kreuz hervor. Kielholz verzog das Gesicht. Natürlich dachte die jetzt an diese Groschenheftdämonen, die mit sowas zurückgeschlagen oder vernichtet werden konnten. Auch hielt sich ja das Märchen, dass ein christliches Kreuz in welcher Form auch immer gegen Vampire schützte.

"Keine Sorge, ich bin kein Abgesandter von Satan, Luzifer oder wie immer Sie den mit den Hörnern und dem Pferdefuß nennen. Im Gegenteil, wir sind von einer Truppe, die Gestalten der schwarzen Magie bekämpfen", sagte Kielholz ganz ruhig, wohl im Bewusstsein, den beiden eh gleich wieder die Erinnerungen nehmen zu können, wenn er wusste, was genau passiert war.

"Also hat uns der Goldschmied keinen Seemannsgarn aufgetischt, Erna. Die Ringe machen, dass irgendwelche Nachtmonster und -dämonen verschwinden oder zerbröselt werden, wenn wir die Ringe anhaben", sagte Arne Hansen. Jetzt war Kielholz sehr neugierig, aber auch die Heilerin, die gerade ihre Diagnosezauber auf Hein Siebert einwirken ließ.

"Öhm, Ihre Ringe? Man hat Ihnen Ihre Eheringe als magische Artefakte beschrieben?" fragte Kielholz den jungen Mann, der jetzt erst merkte, was er da gerade ausgeplaudert hatte. Arne lief rot an, während Erna verstört auf die so plötzlich in der Wohnung aufgetauchten Leute stierte.

"Mann, Arne, der hat uns gesagt, das keinem zu sagen, dass unsere Ringe das machen", zischte sie. Arne nickte seiner Frau zu und sah dann Kielholz an, der einen mittelhellen Anzug mit Krawatte trug, anders als die Leute in den weißen Umhängen, die mit echten Zauberstäben herumliefen.

"Kriminalhauptkommissar Ernst Karstens vom LKA Hamburg", stellte sich Kielholz vor und zeigte einen echten Polizeiausweis vor, der seine Behauptung bestätigte.

"Oh, dann gehören Sie zur Geisterjägerfraktion dieser Behörde, und die Regierung hält schön den Deckel drauf, dass es doch echte Dämonen gibt?" fragte Arne nun sehr forsch.

"Ja und ja", sagte Kielholz ganz froh über den ihm zugespielten Quaffel. "Genau deshalb müssen wir wissen, was das mit Ihren Ringen für eine Bewandnis hat. Bitte zeigen Sie uns Ihren mal!"

"Hier, Wiedersehen macht freude!" sagte der junge Mann und versuchte, seinen Fingerring abzuziehen. Doch er schaffte es nicht, den Ring abzustreifen. "O Mist, habe ich wohl seit der Hochzeit um den Finger rum einiges mehr zugelegt. Ich kriege den nicht runter."

"Das kriegen wir eh nicht, weil die Ringe auf uns geprägt sind, du Hirnie", knurrte Erna verbittert, weil ihr Mann diesem in die Wohnung hineingebeamten Typen so bereitwillig erzählte, was mit dem Ring los war.

"Hmm, vielleicht brauche ich den Ring auch nicht in die Hand zu nehmen", sagte der angebliche LKA-Beamte und nahm ein kleines Gerät zur Hand, mit dem er bezauberte Dinge prüfen konnte. Da ploppte es innerhalb der Wohnung, und Kielholzes Kollegin Albertine Steinbeißer stand da. Sie trug einen hellblauen Umhang und darunter Rock und Bluse.

"Eh, wer is' die denn?!" brach es aus Erna heraus. Doch da richtete die Hexe ihren Zauberstab auf die junge Frau und belegte sie mit einem Erstarrungszauber.

"Dann muss an den Gerüchten doch was dran sein, dass es in Las Vegas einen thaumaturgischen Goldschmied gibt, der auch an Nichtmagier Schutzartefakte verkauft, die auf deren Körper und Blutkreislauf abgestimmt werden, sobald sie länger als einen Tag getragen werden", sagte Albertine und machte dabei eine missmutige Miene.

"Moment mal, davon haben uns die Yankees nichts gesagt, als wir wissen wollten, was die mit den zweien angestellt haben", knurrte Kielholz alias Kommissar Karstens.

"Seit wann glauben Sie denn, dass uns die aus den Staaten alles erzählen?" fragte Albertine verächtlich. "Das werde ich aber noch klären, was die uns zu erzählen haben oder nicht", knurrte Kielholz. "Spaß daran, gegen eine meterdicke Granitwand zu rennen?" fragte Albertine schnippisch. Kielholz blickte sie dafür sehr verärgert an, doch die künstlichen Augen der anderen bohrten sich so starr und unbewegt in seine eigenen Augen, dass er dieses Anstarrduell schon nach fünf Sekunden verlorengab und resignierend seufzte: "Seien Sie froh, dass ich im Moment mehr mit diesem Fall befasst bin und Sie zu wichtig sind, um sie mal eben suspendieren zu lassen. Aber ich werde mir Ihre fortgesetzte Aufsässigkeit sehr gut merken, Fräulein Steinbeißer."

"Wenn Sie sonst nichts wichtiges in Ihr Gedächtnis aufnehmen müssen habe ich nichts dagegen", sagte die Hexe mit den Zauberaugen. Kielholz wollte schon sagen, dass auch ein gewisser Lebenswandel schlecht für die Vertrauenswürdigkeit sein mochte, wollte das aber nicht gerade vor den hier anwesenden Kollegen breittreten. Sowas konnte auch zu leicht nach hinten losgehen, wie ein mit angeknackstem Zauberstab gewirkter Fluch.

"Die erste Diagnose ergibt, dass der Bewusstlose alle Tagesausdauer schlagartig verloren hat. ich konnte den komatösen Zustand in einen erholsamen Schlaf umkehren, aber dabei auch eine gewisse Restmagie nachweisen, die ähnlich wie ein Lebenskraftaufsaugzauber wirkt", meldete Heilerin Kleewurz. Elmo Kielholz fragte dann, ob dieser Lebenskraftaufsaugzauber auch der Cleptumbra-Fluch sein konnte. Die Heilerin überlegte und führte eine weitere Bezauberung aus, während Kielholz mit dem Incantimeter auf den nun ebenfalls bewegungsgebannten Arne Hansen zuging. "Hmm, stimmt, die Restkraft könnte ein gewirkter und durch irgendwas schlagartig aufgehobener Cleptumbra-Fluch sein. Kann mir mal bitte wer helfen, den Patienten so zu lagern, dass ich einen Schattenwurf von ihm sehen kann? Danke!"

Weil die Zauberer und Hexen die geschlossenen Vorhänge und Jalousien verschlossen gelassen hatten, um unbeobachtet ihre Arbeit zu machen, musste eine Stehlampe eingeschaltet werden, um eine punktförmige Lichtquelle für ein Schattenwurfexperiment zu bekommen. Für einige Sekunden ließ Kielholzes Kollege Wattendorn den Bewusstlosen mit Mobillicorpus-Zauber wie in unsichtbarem Tragegeschirr aufrecht schweben. Die Heilerin hatte das Genick des Patienten fixiert, so dass er mit unbewegtem Kopf vor der lichtstarken Lampe hing. Deutlich konnten sie einen menschenförmigen Schatten an der Wand erkennen, sowie dann noch zwei, als die anderen Zauberer sich in das Licht stellten. "Wenn er vorher keinen Schatten hatte hat er den nun wieder", sagte Wattendorn.

"Dann werde ich mir jetzt doch mal diese sehr exklusiven Eheringe ansehen", knurrte Kielholz und führte sein Incantimeter an die rechte Hand Arne Hansens. Unverzüglich stieß das kleine Gerät einen lauten schrillen Ton aus und schüttelte sich so dermaßen, dass Kielholz es fallen ließ. Dann gab es ein lautes Piff und metallische Knacklaute von sich und sprühte silberne, rote und blaue Funken.

"Faszinierend", bemerkte Kollege Wattendorn zu diesem abrupten Ausfall des nützlichen Zauberkraftprüfgerätes.

"Was soll daran bitte faszinierend sein, Kollege Wattendorn", zischte Kielholz, während er mit einem vorsorglichen Brandlöschzauber über das auf dem Boden liegende Incantimeter ging.

"Dass es erst dann ein magisches Artefakt anzeigte, als sie gerade noch fünf Zentimeter davon entfernt waren und dessen Magie offenbar so kompakt eingewirkt ist, dass sie keine Streuung hervorruft, die das Gerät schon früher hätte aufnehmen müssen", sagte Wattendorn. Dann hantierte er an seinem Incantimeter und gab es dem Einsatzgruppenleiter. "Ich habe die Empfindlichkeit auf Minimum heruntergeregelt. Vielleicht können Sie so erkennen, um was für einen eingelagerten Zauber es sich handelt.".

"Kielholz führte das geliehene Incantimeter an Arnes rechte Hand und sah, wie sämtliche Messzeiger sofort in den roten Bereich ausschlugen, aber erst, wenn er das thaumaturgische Prüfgerät näher als fünf Zentimeter an den Ringfinger heranführte. Als er es knapp einen Zentimeter über dem Ringfinger hielt, knackte es wieder metallisch, und das Incantimeter wurde schlagartig so heiß, dass er es fallen lassen musste.

"Ich kenne keinen Zauber, der so stark ist, dass ein Incantimeter auf unterster Empfindlichkeitsstufe schon davon zerstört werden kann und der dabei keine verräterische Streuwirkung aufweist. So was gab es bisher nicht."

"Wir haben noch drei Geräte mit", meinte ein anderer Zauberer, der sich gerade ein Dusoleil-Retrokular aufsetzte, um die letzten Minuten und Stunden nachzubetrachten.

"Haha, wie überaus witzig, Kollege Silberklang", blaffte Kielholz. Albertine, die ihm vorhin schon frech gekommen war setzte dem noch einen drauf: "Herr Heller wird sicher sehr bereitwillig hundert neue Incantimeter für die Lichtwachen spendieren, wenn dadurch bewiesen werden kann, wie haltbar oder nichthaltbar diese sind."

"Wie erwähnt, ich merke mir jede unverfrorene und respektlose Bemerkung, nicht nur von Ihnen, Fräulein Steinbeißer", konnte er dazu nur sagen und erkannte am unveränderten Gesicht der Hexe, dass seine unterschwellige Drohung nichts brachte.

"Joh, der Herr Heller freut sich immer, wenn unsere Ausrüstungsabteilung bei ihm anklopft", musste der Kollege Silberklang noch eins draufsetzen. "Jetzt ist aber gut hier!!" bellte Kielholz endgültig verärgert. Die Heilerin sah ihn dafür sehr verstört an und zischte: "Sie hätten mich fast aus der Konzentration für einen geordneten Wiedererstarkungszauber gebracht, Herr Kielholz. Sowas kann ein Tiefkoma oder gar einen Totalzusammenbruch von Atmung und Kreislauf herbeiführen. Dann hätten Sie aber von meiner Zunft einen gehörigen Ärger bekommen."

"Ist ja schon gut!" zischte Kielholz, der sich fragte, ob ihn hier irgendwer ernstnahm. Das würde für die Nachbesprechung einiges geben, dachte er für sich.

"Also, der Bewohner dieser Wohnung erhielt beim Besuch seines Badezimmers ungebetenen Besuch von einem aus dem Abluftauslass unter der Decke heraussteigenden Nachtschatten", berichtete Lichtwächter Silberklang nach zwei Minuten konzentrierter Ereignisrückschau. "Der Nachtschatten hat sich sofort auf den von Herrn Siebert geworfenen Schatten gelegt und diesen vollständig in sich aufgesogen. Zumindest besaß der Bewohner dieser Wohnung danach keinen natürlichen Schatten mehr. Offenbar muss dadurch eine geistige Verbindung mit dem Nachtschatten geknüpft worden sein und der Bewohner Instruktionen erhalten haben. Achso, die Uhrzeit für diesen magischen Übergriff war zwischen elf uhr zwanzig und elf uhr einundzwanzig heute morgen."

"So machen die das also", knurrte Kielholz, während Albertine Steinbeißer und Annalena Kleewurz sehr aufmerksam zuhörten. Die Heilerin nickte sogar, als sie erfuhr, dass jemand dem Nichtmagier hier den Schatten entrissen hatte. "Der Bewohner, Hein Siebert, hat nach Verlassen des Badezimmers unter Schmerzen gelitten, wohl wegen des einfallenden Sonnenlichtes. Erst als er sämtliche Fenster lichtdicht verschlossen hat ging es ihm besser. Danach hat er dann ohne sich zu bewegen in seinem Sessel gesessen und sich erst gerührt, als die beiden Gäste wohl an der Haustür ankamen, so zumindest die erkannte Uhrzeit. Danach erfolgte der von Kollegin Steinbeißer erwähnte Ausbruch magischer Dunkelheit ähnlich wie der Tenebrae-Maxima-Zauber. Deshalb konnte ich nicht sehen, was genau mit dem nach seinem Anschlag in den Abluftauslass zurückgekehrten Nachtschatten geschehen ist. Bedauerlicherweise verfügt der Nachbetrachter nicht über eine Einstellung, magische oder von Lebewesen erzeugte Auren sichtbar zu machen. Der Umstand, dass die freigesetzte Dunkelheit nur zwanzig Sekunden vorhielt und dass der hier lauernde Nachtschatten danach nicht mehr da war legt nahe, dass diese Form von Dunkelheit für diese Geschöpfe schädlich bis tödlich sein könnte."

"Wenn die Eheringe der zwei jungen Leute hier der Auslöser für diesen Ausbruch waren oder sind könnte es eine Form über Stunden gesammelter natürlicher Dunkelheit sein, die innerhalb von wenigen Sekunden wieder freigesetzt wird. Gemäß der Feststellung des großen Paracelsus gilt ein Mittel auch als Gift, wenn es in genügend hoher Dosis verabreicht wird." Albertine nickte Annalena Kleewurz zustimmend zu, während die anderen die Heilerin perplex ansahen.

"Moment mal, gespeicherte Dunkelheit? Gut, der Tenebrae-Maxima-Zauber kann in Gegenständen gespeichert und daraus abgerufen werden. Aber von einer über längerem Zeitraum gesammelten Dunkelheit, die innerhalb von Sekunden freigesetzt wird, davon habe ich bisher nichts gehört, Heilerin Kleewurz. Und ich bin wie Sie alle wissen schon lange genug in der Lichtwache tätig", sagte Kielholz.

"Ja, aber nur so kann ich mir erklären, warum der einem Nachtschatten zum Opfer gefallene Junge Mann hier wieder einen vollständigen Schatten besitzt, während der ihn heimsuchende Nachtschatten von der freigesetzten Dunkelheit nicht gestärkt, sondern bis zum Erlöschen geschwächt oder schlichtweg übersättigt und zerrissen wurde", erwiderte Heilerin Kleewurz unerschüttert.

"Haben wir nicht mal alle gelernt, dass es in der Magie und vor allem der dunklen Magie nichts gibt, was es nicht gibt?" fragte Wattendorn seinen dienstälteren Kollegen Kielholz. "Die amerikanischen Zauberer haben Zugriff auf verschiedene Herangehensweisen der Magie. In Ilvermorney lernen die Kinder von indianischen Medizinleuten mit europäischen Zaubererkindern zusammen, und in den moderneren Zauberschulen wie Dragonbreath und Thorntails, wo seit den 1890ern mehr europäischstämmige und afroamerikanischstämmige Zauberer zur Schule gehen, haben sie auch Leute aus Osteuropa und dem nahen Osten als Lehrer, die Zauber kennen, die bei uns in Greifennest oder dem Turm der goldenen Wehr nicht bekannt sind."

"Einwand zur Kenntnis genommen und zur späteren Nachprüfung vermerkt", sagte Kielholz verdrossen.

"Sie haben die Broomswood-Akademie ausgelassen, Kollege Wattendorn", warf Heilerin Kleewurz ein. "Immerhin war meine Nichte ein Jahr lang Austauschschülerin dort, wenngleich meine Schwester und sie dieses Jahr als vertanes Jahr bezeichnet haben. Aber die dort lehrenden Expertinnen kannten bestimmt auch Zauber, die nur obskuren Hexenorden zugänglich sind."

"Auch für die Nachbesprechung notiert", erwiderte Kielholz. Dann wollte er, dass Hein Siebert behutsam geweckt würde. Um das nicht in einer zehnminütigen Bezauberung ablaufen zu lassen bot er an, einen Teil der eigenen Tagesausdauer auf Hein Siebert übertragen zu lassen. Als das geschehen war konnte Hein sich nicht daran erinnern, was ihm zwischen dem Besuch seines Badezimmers und der Freisetzung magischer Dunkelheit widerfahren war. Auch eine legilimentische Auslotung brachte diese Erinnerungen nicht zurück. So blieb eben nur die von Silberklang durchgeführte und berichtete Nachbetrachtung.

Um mehr über die mit starker, aber keine verräterische Streuwirkung aufweisender Magie geladenen Eheringe zu erfahren verhörte Kielholz Arne Hansen auch unter Verwendung von Legilimentik. Dabei erfuhr er, dass die beiden ihre Ringe in einem Juweliergeschäft abseits der Glitzerstadt Las Vegas gekauft hatten und dafür mit einer sogenannten Kreditkarte bezahlt hatten. Der Goldschmied hatte erwähnt, dass die Ringe nicht nur die eheliche Verbundenheit zeigten, sondern auch gegen Kräfte der Nacht schützten, sollten die zwei vielleicht doch mal mit solchen zusammenstoßen. Arne, der sich seit seiner Jugend für Geschichten mit Geistern und Dämonen interessierte, hatte diese Auskunft mit einer Mischung aus Faszination und Belustigung hingenommen und noch gefragt, ob er eine Zauberformel oder sowas ausrufen musste. Doch der Juwelier hatte nur behauptet, dass die Ringe schon rechtzeitig wirkten, wenn eine übernatürliche Gefahr drohte. Das hatte Erna zu der Bemerkung veranlasst, dass die Ringe dann wirkten wie die gefahrenempfindlichen Sonnenbrillen eines gewissen Douglas Adams. Den kannte der Juwelier nicht.

Was Kielholz bei der Befragung auffiel war, dass die aus Arnes Gedächtnis geschöpften Ereignisse um den Kauf der Ringe merkwürdig verschleiert waren, so dass die Einrichtung des Geschäftes und das Aussehen des Verkäufers nicht zu erkennen waren. Das konnte auf einen Gedächtniszauber zurückzuführen sein, aber auch ein magischer Schutz vor möglichem Verrat bedeuten. Zumindest hatte der Verkäufer keine hörbaren magischen Handlungen ausgeführt.

Heilerin Kleewurz verhörte Erna Hansen im Schlafzimmer Hein Sieberts, während die anderen Lichtwächter mit den noch gebrauchsfähigen Incantimetern das Badezimmer absuchten und wahrhaftig Reststreuung von Nyctoplasma, der feinstofflichen Beschaffenheit von Nachtschatten, nachweisen konnten. Offenbar hatte es bis vor wenigen Minuten so viel davon gegeben, dass zwanzig niedere oder fünf höhere Schatten daraus hätten bestehen können. Wenn es nur einer alleine war hatte der offenbar innerhalb von Sekunden soviel an Kraft zugelegt, dass er wie zwanzig Schatten gewirkt haben mochte. Das konnte ihn dann wahrhaftig wie einen übervoll geblasenen Ballon zum Platzen gebracht haben.

"Kollegen, es steht wohl außer Frage, dass die Nachtschattenbrut genau wusste, dass die Hansens heute nach Hamburg kommen wollten und bei wem sie unterschlüpfen wollten", brachte Kielholzes Kollegin Albertine Steinbeißer es auf den Punkt. "Wenn wir die beiden nicht unter magische Dauerüberwachung stellen wollen wie Rico Kannegießer, dann müssen wir was machen, dass diese Brut kein Interesse mehr an denen hat."

"Dann muss diese Brut Zugriff auf persönliche Daten und Passagierlisten haben", knurrte Wattendorn verdrossen. "Mit anderen Worten: Die wissen mehr als wir, die wir auch auf Muggelsachen zugreifen können." "Mit "wir" meinen Sie dann wohl eher die Kollegen aus dem Koexistenzbüro, Kollege Wattendorn", warf Albertine Steinbeißer überlegen lächelnd ein. "Eh ja", grummelte Wattendorn.

"Ja, und die zwei haben mit einer anderen magisch begabten Person Kontakt bekommen und von dieser illegalerweise hochpotente Artefakte erhalten", raunte Kielholz. "Soweit ich weiß gilt die Verzauberung von Gegenständen, die in den Handel für nichtmagische Menschen gelangen sollen genauso in den Staaten ein ähnlich stricktes Verbot wie bei uns."

"Da muss ich erst die entsprechenden Gesetzestexte vergleichen", sagte Albertine Steinbeißer und sah Kielholz immer noch überlegen an.

Die im restlichen Haus ausgeschwärmten Hexen und Zauberer trafen ein und vermeldeten, dass die anderen Bewohner von der plötzlichen Dunkelheit überrascht worden waren und gemeint hatten, jemand blase ihnen mit Überdruck Luft in die Lungen ein und ihr Hörsinn sei um ein vielfaches verstärkt worden. Die Erinnerungen der Betroffenen waren so verändert worden, dass sie von einem für die betreffende Zeit stattgefundenem Versagen der Versorgung mit elektrischem Strom, volkstümlich auch Stromausfall genannt, ausgingen. Die Lungen der Betroffenen hatten keinen Schaden erlitten. Wichtig war, dass der Dunkelheitsausbruch offenbar selbst durch lichtundurchlässige Hindernisse dringen konnte, also schlagartig einen bestimmten Raum ausfüllte und nicht wie Licht und Schall von der Quelle aus verbreitet wurde.

"Es ist dringend davon abzuraten, die bezauberten Ringe gewaltsam von ihren Trägern zu lösen", bemerkte Kleewurzes Zunftkollege Prunellus Himmelsspross. "Mit den einfacheren Diagnosezaubern konnte ich ermitteln, dass die Ringe förmlich zu nachträglich entwickelten Körperanhängseln der beiden Träger geworden sind. Wie genau die Bezauberung ausgeführt wurde konnte ich nicht ergründen, ohne mein eigenes Gehirn an den Rand eines Schlaganfalls zu treiben. Ich muss jedoch von einem erweiterten Diebstahlsschutz ausgehen und von einer magischen Wechselwirkung ähnlich einer Wirt-Symbionten-Beziehung. Will sagen, die Träger sind von ihren Ringen abhängig geworden."

"Das ist doch wohl nicht wahr!" blaffte Kielholz, während Heilerin Kleewurz und Albertine Steinbeißer Himmelsspross zunickten. Da sagte Kleewurz: "Wie bereits schon erwähnt haben uns die amerikanischen Kollegen offenbar nicht alles mitgeteilt, entweder weil sie es selbst nicht wussten oder weil sie die betreffende Person schützen."

"Moment mal, Heilerin Kleewurz", sprang Kielholz auf diese Bemerkung an. "Wollen Sie damit andeuten, dass die drüben genau wussten, was die zwei hier erwartet und haben die mit diesem obskuren Goldschmied zusammenkommen lassen, damit der denen diese verhexten Ringe andreht, im wahrsten Sinne des Wortes?"

"Nun, das Wort andrehen hat einen zu negativen Nachklang dafür, dass hier wohl ein besonderer Schutzzauber gegen die Dunkelheit aufsaugende Wesen gewirkt wurde. Zumindest aber kann ich Ihren Ausführungen dahin zustimmen, dass jemand in den Staaten wusste, was den beiden droht und wollte, dass sie davor geschützt sind oder, wenn wir schon von obskuren Elementen reden, hat es sogar darauf angelegt, dass sie als Lockvögel für diese Schattenwesen dienen, um sie durch die in die Ringe eingelagerten Zauber zu vernichten, bestenfalls deren gigantische Anführerin."

"Tja, wer außer den Kollegen im Land der wahrhaftig unbegrenzten Möglichkeiten käme denn dafür in Frage?" warf Albertine bewusst provozierend ein. "Alle Zauberergruppen, die genug Wissen über Nachtschatten haben und diese als gefährliche Plage einstufen, natürlich auch höchst fragwürdige Sororitäten den Zaubereigesetzen ablehnend gegenüberstehender Hexen. Sollte sowas geschehen sein, dann haben unsere Kollegen natürlich keine Ahnung gehabt, es sei denn, sie konspirieren mit solchen Gruppierungen, um diese die sogenannte Drecksarbeit erledigen zu lassen, die anständige Zaubereiverwaltungsbeamte niemals ausführen würden. War da nicht mal sowas, dass der mittlerweile als sein viertes Kind aufwachsende Minister Cartridge mit einer solchen dunklen Schwesternschaft koexistieren wollte? Abgesehen davon könnte auch die uns allen sehr präsente Vereinigung Vita Magica diese beiden Lockvögel beschert haben, da Vita Magica nur magisch begabte Menschen schützen will und alle diese bedrohenden Zauberwesen auslöschen möchte."

"Das wiederum hieße, dass Vita Magica ebenso auf alle Daten zugreifen könnte, wie diese Nachtschattenbrut selbst", grummelte Wattendorn. Heilerin Kleewurz nickte.

"Ja, und weil Ihr Kollege Himmelsspross gerade festgestellt hat, dass die beiden Hansens ihre Ringe nicht ohne Gefahr für ihr eigenes Leben ablegen oder von diesen getrennt werden können werden wir die Frage nach deren Hersteller wohl nicht beantworten können", stellte Albertine mit gefühlsfreier Stimme fest.

"In Ordnung. Ich verfüge hiermit im Bewusstsein der damit verknüpften Verantwortung, dass die beiden jungen Eheleute hier von uns nur die Erinnerung erhalten, dass sie mit ihrem Verwandten einen für zwanzig Sekunden auftretenden Stromausfall erlebt haben. Bei Herrn Siebert wird zudem noch die Erinnerung erzeugt, dass er den ganzen Morgen nur einen hier vorhandenen Film auf diesen Silberscheiben gesehen hat."

"Sie meinen DVDs, Kollege Kielholz. Hmm, was könnte er denn da gesehen haben, was wir auch kennen?" fragte Wattendorn und prüfte den Bestand der so nützlichen Bild- und Tonträger. Dann lachte er. "Ja, das passt! "Der Fluch des Dämonen", kenne ich gut, weil ich den bei der Lichtwächterausbildung mindestens fünfmal in einem sogenannten Oldiekino gesehen habe, um zu prüfen, was davon echt passieren kann und was nicht."

"Wenn Sie das so sehen", knurrte Kielholz, der sich gerade dabei ertappte, wie unkundig er, der sich mit den sogenannten Muggelangelegenheiten herumschlagen musste, eigentlich war, was deren Phantasien im Bezug auf übernatürliche Wesen und Ereignisse anging. Zumindest hatte Wattendorn mit seiner Filmauswahl alle zum schmunzeln gebracht.

So wurden die Hansens und Hein Siebert entsprechend gedächtnismodifiziert, dass sie eben nur einen Stromausfall erlebt hatten. Denn Kielholz hatte beschlossen, die ausgeworfenen Köder weiter im freien Strom der Ereignisse treiben zu lassen um zu sehen, ob nicht doch der erhoffte wirklich große Fisch anbiss und dann genauso zerstört wurde wie der Nachtschatten.

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"Ich kann die Ringe wieder auffüllen, wenn sie restlos alle gespeicherte Dunkelheit freigesetzt haben", sagte Anthelia zu Albertrude, als diese sich nach der obligatorischen Besprechung mit ihren Kollegen hatte absetzen können und in der Daggers-Villa erschienen war.

"Ja, zumindest gehen einige von uns jetzt offiziell davon aus, dass die Ringe nicht von eurem Zaubereiministerium gemacht worden sind. Wie abgesprochen habe ich das Gerücht von dem Zauberer in Las Vegas ausgestreut. Aber einige Herrschaften verdächtigen natürlich jetzt auch den Orden der Spinne, aber auch die Babymacher-Banditen von Vita Magica."

"Tja, damit werde ich wohl leben können, Schwester Albertine", erwiderte Anthelia schnippisch. Dann sagte sie noch: "Aber wenn dieser Herr Kielholz die beiden weiter frei herumlaufen lässt, um sie als Köder für diese Nachtschattenbrüterin zu nutzen, dann sollten wir auch diesen dritten Burschen entsprechend absichern. Wie hieß der noch einmal?" Albertrude nannte den Namen Rico Kannegießers und wo dieser wohnte und arbeitete. "Gut", begann Anthelia, "dann werde ich ihm wohl auch so einen Dunkelheitsfreisetzerkristall zukommen lassen, damit dieses Schattenungeheuer ihn nicht einverleiben kann und das wohl wortwörtlich."

"Rico Kannegießer steht unter Überwachung, Schwester Anthelia", erwähnte Albertrude Steinbeißer. Anthelia fragte, wielange noch. Albertrude dachte kurz daran, was sie mit den Lichtwachen besprochen hatte. "Zumindest noch einen vollen Monat. Solange hat uns der Zaubereiminister die Überwachung genehmigt."

"Das heißt, einer von deinen ahnungslosen Kollegen begleitet ihn unsichtbar auf seinen Wegen?" wollte Anthelia wissen.

"Zwei, aber nur, solange er im Dunkeln zur Arbeit oder von dort zurückfährt. Um seine Arbeitsstätte wurden nach dem explodierten Mann ohne Schatten zehn Lichtwächter postiert. In seinem Wohnhaus hängen drei Sonnenlichtkugeln, die auf die Anwesenheit dunkler Geisterwesen ansprechen", berichtete Albertrude. Anthelia bestätigte den Erhalt der Kenntnisse mit einfachem Nicken.

"Hmm, was schreibst du denn in deinen Bericht für deinen offiziellen Dienstherren, Schwester Albertrude?" wollte Anthelia wissen. "Das was offiziell gesagt wurde, also auch die ganzen Vermutungen, dass jemand sehr kundiges die beiden Eheringe bezaubert hat. Das werde ich auch in dieses von Martha Merryweather erfundene Arkanet hineinsetzen, damit die anderen Zaubereiministerien sich damit herumschlagen, dass da jemand ist, der Dunkelheit wie verdichtete Luft in bezauberte Behälter einschließen kann."

"Ja, und die wilden Bienenschwärme werden dann laut summen, aber niemanden finden, den sie stechen können", grinste Anthelia. Auch Albertrude musste darüber grinsen. Doch dann zuckte es in Anthelias Gesicht, und ihre nächsten Worte klangen alarmierend statt überlegen.

"Moment, wenn dieses Nachtgespenst nun einen Weg kennt, seine Unterschatten in fremde Häuser zu schicken, damit sie dort auf ihre Beute lauern, so ist dieser Bursche, der diese merkwürdige aus reiner Elektrizität geschöpfte Musik verehrt, wieder in größerer Gefahr, Schwester Albertrude. Können die von euch angebrachten Sonnenlichtkugeln bis in den Wasch- und Toilettenraum von Rico Kannegießer hineinwirken, sobald er die Tür von innen verschließt?"

"Die Sonnenlichtkugeln werden wohl auslösen, aber bei geschlossener Tür nur sehr wenig Licht zu ihm hineinschicken. Die Tür hat einen lichtdichten Schließmechanismus. Da die Ausdünstungen durch ein elektrisches Entlüftungssystem abgesaugt werden, sobald er das Licht einschaltet, ist die Tür auch mit Gummistreifen licht- und wasserdicht gemacht worden. Will er Licht im Badezimmer, muss er das von außen einschalten. Das ist bei den meisten Badezimmern in modernen Muggelhäusern so", erwiderte Albertrude.

"Und wenn jemand die elektrische Lichtquelle beschädigt oder gar zerstört, Schwester Albertrude?" wollte Anthelia wissen. "Dann bleibt es dunkel, schwester Anthelia", seufzte Albertrude. Dann erkannte sie, was Anthelia umtrieb, auch ohne ihre Gedanken erfassen zu können. "Ich glaube, ich muss ganz schnell nach Neuwerk, Schwester Anthelia. Mir ist etwas eingefallen, dass vielleicht wirksam gegen diese Brut sein könnte, auch wenn es nur ein Viertel so stark ist wie ein Weg, der mir sonst noch geläufig ist - vielleicht auch dir. Gehab dich einstweilen wohl, Bundesschwester!"

"Ich erlaube dir, in deine Heimat zurückzukehren", sagte Anthelia, während Albertrude bereits nach ihrem Zauberstab griff.

Albertrude verschwand beinahe übergangslos. Sie benötigte keine umständliche Drehbewegung, um den Apparierzauber auszulösen, erkannte Anthelia. Ein wenig Neid kam in ihr auf, weil sie diese starke Begabung nicht hatte. Doch dann dachte sie daran, dass sie etliche Sachen mehr konnte als die heute lebenden Hexen und Zauberer. Sicher mochte Albertrude viele Sachen gelernt haben, die heutigen Hexen und vor allem Zauberern nicht mehr bekannt waren. Aber auch wenn Gertrude sie und Albertine posthum überlistet und sich in Albertines Körper eingenistet hatte bestand zwischen ihr und Anthelia sicher noch ein gewisser Unterschied. Doch, so hatte sie sehr schmerzvoll lernen müssen, es gab nichts gefährlicheres, als die Entschlossenheit und die Kenntnisse einer Hexe zu unterschätzen.

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Weil sie genau wusste, wie es bei Rico Kannegießer aussah apparierte Albertrude Steinbeißer zielgenau im Wohnzimmer des jungen Radiotechnikers. Im Moment war der Mieter dieses Bungalows an seinem Arbeitsplatz und würde erst gegen sieben Uhr zurück sein. Genug Zeit, um auch das Badezimmer zu sichern, damit dort nichts übles eindringen konnte.

Albertrude stand vor der verschlossenen Badezimmertür und blickte mit ihren magischen Augen hindurch. Sie benutzte die Erweiterung, mit der sie die Aura lebender Wesen und starker Magie erkennen konnte. Deshalb entging ihr nicht, dass knapp unter der Badezimmerdecke ein pulsierendes, sphärisches Etwas hing, das in einem dunkelblauen Licht glomm, die Aura einer dunklen, räumlich klar begrenzten Zauberkraft. Wenn das ein sich vollständig zusammengeballter Nachtschatten war mochte dieser ihre körperlich-geistige Ausstrahlung wahrnehmen, aber auch die Geräusche hören, die sie machte. Unvermittelt fluteten Gertrudes Erinnerungen an den Nachtschatten Tannenschreck ihr Bewusstsein. Gertrude hatte damals im Jahre 1728 zusammen mit ihrer bis dahin bedingungslosen Rivalin Claudia Aurea Morgenrot den zum Nachtschatten gewordenen Geist des Dunkelmagiers Melanippos Bärenzahn durch einen uralten Zauber namens Lied der lockenden Nacht in einen silbernen, mit Runen verstärkt bezauberten Quader hineingelockt und dort eingekerkert, obwohl sie noch nicht sicher waren, dass es jener Melanippos Bärenzahn war, der Claudias Enkelin Ophelia beinahe getötet hatte, weil sie ihm anders als die Mädchen der Unfähigen nicht hilflos ausgeliefert war. Dieser Nachtschatten da im Badezimmer war ihr völlig unbekannt. Seinen oder ihren wahren Namen konnte sie nicht so einfach erraten. Außerdem konnte sie das Lied der lockenden Nacht derzeit nicht mit voller Wirkung anstimmen, weil dazu eine ganz bestimmte Bedingung erfüllt werden musste. Ihr jetziger, atmender Körper musste mindestens vier neue Leben hervorgebracht haben, durch Zeugung oder Geburt.

Weil sie das Lied der lockenden Nacht nicht benutzen konnte wollte sie ein anderes Ritual wirken. Doch dafür musste der feindliche Nachtschatten erst einmal weit genug fort sein.

Albertrude trat leise zwei Schritte zurück, dabei immer die kugelförmige Kraftquelle im Blick, die nun wild zitterte, nicht vor Angst, sondern vor erregung, Beute machen zu können, aber nicht in die feindliche Helligkeit hinausgehen zu können.

Albertrude zielte auf die Tür und dachte konzentriert das Zauberwort "Alohomora!" Die Tür flog soweit auf, dass sie fast aus den Angeln geriet. Nun fiel Tageslicht in den bisher so dunklen Sanitärbereich. Albertrude hörte ein gespenstisches, schmerzvolles Wimmern. Das war die Stimme einer jungen Frau. Dann sah sie, wie die kugelförmige Kraftquelle zu einem wild zitternden schlangenartigen Gebilde wurde. "Murus Solis!" rief Albertrude mit ins Badezimmer hineinzielendem Zauberstab. Unverzüglich stand zwischen ihr und der Badezimmerwand eine von ihrer Seite her auch ohne Zauberaugen durchsichtige Wand aus gelbem Licht. Nun erfolgte ein lauter Aufschrei wie aus einer anderen Welt, und das nun schlangenförmige Etwas schnellte blitzartig in das Entlüftungsrohr zurück. Albertrude sah jedoch, dass sich das Etwas nur soweit in die Tiefe zurückzog, bis es sicher war, dass das beschworene Licht es nicht mehr berühren konnte. Das war noch nicht weit genug. "Na warte, Nachtgewächs", knurrte Albertrude und stürmte das Badezimmer.

Ohne Probleme stieg sie auf den zugeklappten Toilettendeckel und hoffte, dass der stabil genug war, nicht unter ihrem Gewicht durchzubrechen. Dann zielte sie mit ihrem Zauberstab in die Entlüftung hinein und murmelte leise, worauf in der Entlüftungsöffnung hellblaues Licht wie ein wolkelnoser Sommermmittagshimmel erstrahlte. "Penetrato spatium accessibilem!"

"Nein!" schrillte eine Stimme von weiter unten. Dann glomm das himmelblaue Leuchten noch eine Spur heller. Damit hatte Gertrude damals eine ganze Gruppe älterer Hexen in grenzenloses Erstaunen versetzt, als sie diesen Zauber erstmalig vorgeführt hatte. Der ging aber auch nur bei Tag, wenn der natürliche Himmel vom Sonnenlicht erfüllt wurde. Womöglich fehlte dem blauen Himmel jetzt soviel von seinem Blau, wie in das Entlüftungssystem hineinpasste. Albertrude blickte schnell nach unten durch die Wand und den Boden und sah den sich lang ausstreckenden Nachtschatten nicht mehr. Der hatte es wohl vorgezogen, ganz schnell zu verschwinden. Also konnte dieser Nachtschatten zeitlos den Standort wechseln, war also schon mit genug armen Menschenseelen gemästet worden, um diese Willenskraft aufzubringen. Jedenfalls war der Eindringling nun fort. Also konnte Albertrude ihr eigentliches Ziel angehen.

Sie hörte es vor der Tür ploppen und krachen. Damit hätte sie doch rechnen müssen. Finis Incantato!" zischte Albertrude. Dann wandte sie sich den Kollegen zu, die gerade ins Badezimmer hineinstürmten.

"Öhm, darf ich fragen, was Sie hier tun?" fragte Kielholz, der offenbar gleich selbst herbeikommen wollte.

"Ich habe soeben einen hier bereits in Lauerstellung befindlichen Nachtschatten aufgespürt und durch einen meiner Familie bekannten Lichtzauber vertrieben. Ich musste nach unserem Zusammenstoß mit dem bei Hein Siebert lauernden Nachtschatten davon ausgehen, dass unsere nachtschwarze Widersacherin diese Art von Überfall auch auf Rico Kannegießer verüben lassen wollte. Wir müssen jetzt davon ausgehen, dass fensterlose Badezimmer eine sehr ernstzunehmende Gefahrenzone darstellen", sagte Albertrude ganz ruhig, als sei sie von höchster Stelle in diesen Einsatz geschickt worden.

"Moment mal, Sie haben einen dieser Nachtschatten hier aufgestöbert? Öhm, Dann taugen die Sonnenlichtkugeln offenbar nicht viel", knurrte Elmo Kielholz. Albertrude hätte ihn dafür fast einen Schlauberger genannt. Doch die Lage war zu ernst für derartige Frechheiten.

"Wie erwähnt hat unsere namentlich noch unbekannte neue Feindin wohl dank ihrer eigenen Kenntnisse von der magielosen Welt und ihrer Wohnstätten erkannt, dass ihre Helfer in fensterlosen Badezimmern größtenteils vor den Sonnenlichtkugeln ungefährdet eindringen und auf Beute lauern können. Wir müssen umgehend was dagegen machen, noch bevor es dunkel wird. Eben gerade konnte ich den Eindringling noch zur zeitlosen Flucht zwingen. Bei Dunkelheit könnte er Verstärkung erhalten und vor allem durch die Ventilationsöffnung unter dem Dach ins Freie und in sicherem Abstand auf eine zweite Gelegenheit lauern."

"Und was sollen wir tun, schlagen Sie vor?" fragte Kielholz, der Albertrudes Unerschütterlichkeit und Selbstbeherrschung offenbar unheimlich fand, seinem Blick nach zu urteilen.

"Ich schlage einen die Luft im Zimmer ständig erneuernden, mit dem Segen der Sonne bezaubberten Verschluss der Entlüftung vor."

"Hmm, aus welchem Material?" fragte Kielholz. Albertrude sah ihn schon fast mitleidsvoll an und erwiderte: "Am besten aus Gold, Herr Kielholz."

"Öhm, könnte vielleicht klappen", sagte der mitgereiste Kollege Wattendorn und besah sich Lufteinlass und Luftauslassöffnung im Badezimmer. "Ich kläre das mit der Ausrüstungsabteilung. Die sollen das mit Heller klären, wie das verrechnet werden soll. Öhm, für einen 24stündigen Sonnensegen würde auch eine zweilagige Folie genügen, ähnlich wie das Abputzpapier da auf der Rolle", wobei er auf den Halter mit der halbvollen Rolle Toilettenpapier deutete. "Eine Lage für den Sonnensegen, eine in Wandfarbe bemalter mit dem Lufterfrischungszauber. Warum nicht gleich so."

"Tja, dann lassen Sie sich das mal ausrechnen, wie viele Galleonen dafür ausgegeben werden müssen, Kollege Wattendorn", grummelte Kielholz. Dann sagte er Albertrude zugewandt: "Das nächste Mal klären Sie das bitte vorher mit uns, wenn Sie in Muggelhäusern irgendwelche starken Zauber ausführen wollen."

"Gefahr im Verzug, Kollege Kielholz", sagte Albertrude ganz ruhig. Dann legte sie noch nach: "Außerdem heißt es Häuser von Personen ohne magische Ausprägung oder PomA, gemäß allgemeine Dienstanweisung vom 1. Januar 2003." Sie genoss es, dass Elmo Kielholz sie verstimmt ansah, jedoch nichts einwenden konnte. Damit hatte sie ihm gut eingeschenkt, obgleich sie ähnlich herablassend von den unmagischen Leuten dachte, vor allem, wo die immer mehr Unrat in die Welt bliesen und sich durch die Bändigung von Elektrizität und in ausgegrabenen Resten uralter Pflanzen gespeicherter Sonnenkraft für die Herren der Welt hielten.

"Ich gehe davon aus, dass dieser Nachtschatten vor Einbruch der Nacht nicht zurückkehrt", sagte Elmo Kielholz nach einer halben Minute hörbar ungehalten. Doch Albertrude schüttelte ihren Kopf. "Die wollen es jetzt wissen, Herr Kielholz. Am Ende dringen hier drei oder fünf von denen ins Haus ein und warten ab, bis jemand das Badezimmer betritt. Ich weiß nicht, ob die elektrische Beleuchtung ausreichend hell ist, um sie zu lähmen. Deshalb schlage ich vor, dass ich hierbleibe, weil ich die Auren von Nachtschatten auch durch Steinwände hindurch sehen kann und kann dann gleich dagegenhalten."

"Gut, dann gebe ich der Spürsteinbrigade Bescheid, dass Sie möglicherweise noch einmal was machen müssen", grummelte Elmo Kielholz.

"Ja, aber warten Sie nicht zu lange. Am Ende schickt unsere fleischlose Gegenspielerin zwanzig ihrer Schattendiener hierher", sagte Albertrude.

"Nicht bei hellem Tage", lachte Wattendorn. Doch dann fing er sich und erkannte, dass dieser natürliche Vorteil nur noch zwei Stunden lang bestand.

"Gefahr im Verzug", grummelte Kielholz und disapparierte, bevor Albertrude noch was sagen konnte. Wattendorn und die drei anderen Zauberer in der Wohnung verschwanden dann auch. Die hatten alles mitgehört. Jetzt hatte Albertrude endlich den Freiraum, den sie brauchte. Doch sie wusste, dass sie bei der Überempfindlichkeit der Zaubereiüberwacher das eigentliche Ritual nicht ausführen konnte, wenn schon eine harmlose Himmelslichtbeschwörung derartig auffiel, oder war es der Sonnenlichtwall, der immer noch vor der Wand aufgebaut war, aber kaum die ganze nötige Zeit lang errichtet bleiben konnte. Albertrude wusste auch, dass die Königin der Nachtschatten einen solchen Wall mit nur zwei oder drei Schlägen zerstören konnte. Doch die würde wohl nicht selbst herkommen, um sich Rico Kannegießer zu holen.

Wie sie angeboten und genehmigt bekommen hatte wachte Albertrude, bis der Kollege Klaas Wattendorn mit breitem Grinsen auf dem Gesicht im Wohnzimmer von Rico Kannegießer apparierte. Er hatte fünf gefärbte dünne Folien dabei. "Ich habe noch ein halbes Kilo Rohgold bei uns im thaumaturgischen Fundus gefunden und davon genug abgetrennt, um diese Folien zu pressen. Unser Materialwart hat zwar sehr bedröppelt geguckt und was von "Heller wird uns dafür alle die Dienstkleidung streichen", gewimmert. Aber ich habe das Material. war noch so'n böser Schatten hier?" fragte Wattendorn. Albertrude schüttelte den Kopf.

"Dann stopfen wir jetzt die Löcher zu. Hätten wir eigentlich schon längst machen sollen", sagte der Ministeriumszauberer und drückte die zwei vorbehandelten Folien übereinander. Auf der einen Folie war durch einen Illusionszauber neben dem Lufterneuerungszauber auch ein Abbild der Belüftungsritzen zu sehen. Das würde kein Muggel sehen, dass es was anderes war. Direkt darunter war die Folie, die mit dem Segen der Sonne bezaubert war und alle 24 Stunden wieder aufgeladen werden musste.

Als Klaas Wattendorn zum Befestigen auf den geschlossenen Toilettendeckel stieg knackte es, und der Deckel brach durch. Wattendorn stieß noch einen zur Situation vollkommen passenden Kraftausdruck aus, bevor er seinen rechten Fuß aus der Keramikschüssel herauszog.

"Kunststoff. Dieses Plastikzeug taugt hinten und vorne nicht", knurrte er, nachdem er seinen rechten Fuß mit Säuberungs- und Trocknungszauber behandelt hatte. Dann ließ er den Toilettendeckel wieder zusammenwachsen und belegte ihn obendrein noch mit einem Unzerbrechlichkeitszauber. "So, jetzt kann da ein vollgefressener Riese drauftreten, ohne den durchzubrechen", schnaubte der Ministeriumszauberer und vollendete, weshalb er eigentlich hergekommen war.

"Ich mach mal eben, dass die Belüftungsmaschine in der Wand nicht so stark ist wie sonst, sonst saugt die unsere Vorrichtung an und frisst sich fest", sagte Albertrude und behandelte mit Unterstützung ihres vollkommenen Durchblicks die elektrischen Leitungen des Belüftungsgebläses so, dass dessen Motor zwar ansprang, wenn das Licht angeknipst wurde, aber nicht einmal mit halber Stärke pumpte. Danach verließen die beiden Ministeriumsmitarbeiter Rico Kannegießers Wohnung.

Albertrude räumte ein, jede in diesem Haus befindliche Wohnung entsprechend behandeln zu können. Das taten sie dann auch, wobei sie mal ungestört arbeiten konnten und mal einer älteren Dame erst das Bewusstsein und dann die Erinnerung nehmen mussten. Doch an derlei Sachen waren die beiden mehr als gewöhnt.

"So, wenn ein Nachtschatten durchs Fenster kommt strahlt ihm gesammeltes Sonnenlicht entgegen, und durch die Belüftungsritzen kommt auch keiner mehr", sagte Wattendorn bei der kurzfristig anberaumten Nachbesprechung.

"Was hätten sie denn gemacht, wenn wir nicht sofort auf Ihre Lichtzauberei reagiert hätten oder wenn es bereits mehr als nur einen Nachtschatten in diesem gekachelten Wasch- und Bedürfnisraum gegeben hätte?" wollte Elmo Kielholz von Albertrude wissen. Diese hatte mit dieser Frage gerechnet und antwortete ganz ruhig: "Das, was der Kollege Wattendorn gemacht hat, Herr Kielholz. Nur hätte ich dafür kein Gold, sondern die im Haus vorhandene Aluminiumfolie benutzt."

"Waaas?!" stieß Kielholz aus. Wattendorn grinste lausbübisch. Albertrude wiederholte ihre Antwort. "Und dafür haben wir von unserem eigenen Goldvorrat was abgezweigt, wo das mit dieser Frischhaltefolie auch gegangen wäre?"

"Nicht über 24 Stunden, Herr Kielholz", warf Klaas Wattendorn ein. "Aluminium hätte wohl den Lufterfrischungszauber aufnehmen können, aber der Sonnensegen hätte das Material in nur fünf Stunden zersetzt."

"Oder zehn, je nach benutzter Menge", erwiderte Albertrude. Die Kollegen hier wussten nicht, dass Gertrude Steinbeißer eine Expertin in Sachen Materialbezauberung war.

"So oder so muss alle vierundzwanzig Stunden jemand von uns da rein und den Sonnensegen erneuern", knurrte Kielholz.

"Ja, wenn wir nicht beschließen, dass Rico Kannegießer geopfert werden darf, um Ruhe vor dieser Kanallie zu haben", warf Klaas Wattendorn ein.

"Sie sind wohl von allen drei Köpfen einer Runespore gebissen worden, was?! Wir Lichtwächter verwenden keine Drachenbremsen und auch kein Wolfsfleisch, um unsere Feinde in Schach zu halten! Das steht ganz weit oben in unseren Dienstanweisungen: Unschuldige Menschen sind in jedem Fall zu schützen. Hoffen Sie ja darauf, dass ich Ihren Einwurf bis morgen früh wieder vergessen habe, Kollege Wattendorn!" Kielholzes Kopf schwoll bedrohlich an und leuchtete beinahe von selbst in einem unübersehbaren Tomatenrot. Es dauerte eine volle Minute, bis der norddeutsche Lichtwächter sich wieder weit genug beruhigt hatte um zu sagen: "Sollte ich das von Ihnen gerade gesagte nicht vergessen, Herr Wattendorn, könnte das Ihnen zwanzig Jahre Beförderungsstop, wenn nicht eine Degradierung zum Ausrüstungsgehilfen einbringen, nur damit Sie es sich noch einmal vergegenwärtigen, dass derartige Anregungen nicht bei uns geduldet werden."

"Ui, da haben Sie aber mein Renitenzkonto um mindestens zweitausend Punkte übertroffen", meinte Albertrude weit genug weg von Kielholzes Büro zu Wattendorn.

"Das macht mir weniger zu schaffen als der Gedanke, dass anderswo sowas gleich als die annehmbare Lösung schlechthin genommen würde. Irgendwann werden wir die Leute nicht mehr überwachen können. Was dann?" fragte Wattendorn.

"Darauf kann ich Ihnen derzeitig auch keine Antwort geben", erwiderte Albertrude Steinbeißer.

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Remurra Nika erschien mit einem lauten Schrei und aus blendend hellen, blauen Funken heraus in der tief unter den Bergen Dalmatiens liegenden Höhle. Die von Birgute geborene Schattenfrau erbebte, und vor allem wirkte sie auf zwei Drittel der bisherigen Kraft und Größe verringert. Etwas hatte an ihr gefressen und einen Teil ihrer Kraft aufgezehrt.

"Verdammt, da war eine Frau, eine Hexe. Die hat irgendwie gemacht, dass in dem Schacht das Licht wie vom klaren hellen Himmel war. Das hat wie mit tausend kleinen Mäulern an mir gefressen. das tat verdammt weh. Ich musste mich nach unten fallen lassen. Dann hat sie das Licht in das ganze Belüftungssystem hineingezaubert. Da konnte ich nur noch wegteleportieren."

"Aha, sowas können die also auch, Lichtverpflanzung von draußen in einen Hohlraum", knurrte Birgute Hinrichter. "Dann wird das so nichts. Ich muss wohl davon ausgehen, dass die jetzt dabei sind, die Belüftungsschlitze mit diesem Lichtzauber zuzukleben, damit wir da nicht mehr durchschlüpfen können. Also gut, die werten Fleischlinge. Ich lasse erst mal die drei in Ruhe. Aber ihr werdet trotzdem bald genug wieder an mich denken", dachte Birgute. Dann rief sie alle ihre in Europa bestehenden Kinder und Diener herbei und erklärte ihnen ihr weiteres Vorgehen. Die Hansens und Rico waren dabei erst einmal ausgenommen. Sicher hätte sie die drei gerne in Wesen ihrer Art verwandelt. Doch dafür bereits geborene Schattenkinder sterben zu lassen war ein zu hoher Preis. Den würde sie dann erst bezahlen, wenn sie mehr als tausend Nachkommen hatte. Sicher, Remurra hätte die drei gerne persönlich bei ihr abgeliefert, damit die zu ihren Geschwistern wurden. Aber gerade Remurra hatte gemerkt, dass die echten Hexen und Zauberer genug Sachen konnten, um sie und ihre Geschwister festzusetzen oder gleich zu vernichten. Sicher würde sich die Gelegenheit bieten, herauszufinden, wann die drei, die Birgute noch gerne als ihre Kinder bekommen hätte, wieder unbewacht sein würden. Doch im Moment war wichtig, mehr Diener und Kinder um sich zu haben, um gegen die anderen Feinde bestehen zu können. Sie wusste durch die in sich einverleibte Seele der Schattenzwillingsschwester Thurainillas, dasss diese ganz sicher schon darauf ausging, ihr, Birgute Hinrichter, die Königin der Nacht, zu entmachten und zu vernichten. Allerdings kannte Birgute auch die Schwächen der Rivalin. Diese würde sich umsehen, wenn sie ihren Standort ermittelt haben würde.

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"Nein, so geht das nicht weiter", blaffte Giesbert Heller, als er von Andronicus Eisenhut und Armin Weizengold die vorausberechnung der zu beschaffenden Ausrüstung und Personenzahl für eine fortgesetzte Überwachung studiert hatte. Wegen dieser drei an und für sich unwichtigen Magieunfähigen sollte er zwölftausend Galleonen hergeben? Offenbar hielten die ihn für diesen Esel aus den Märchen der Gebrüder Grimm, der Gold aus Maul und Hinterteil abschied, wenn jemand ihm am Schwanz zog. Aber er war kein Esel, weder einer, der Gold ausscheiden konnte noch sonst ein solches Grautier. Aber die Drachenbremse war bereit. Noch in dieser Nacht, einen Tag früher als eigentlich geplant, würde der heimliche Plan umgesetzt.

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Der hohe Rat des Lebens hatte noch am Nachmittag des 28. März getagt. Es ging darum, ob die Operation "Blauer Mond" noch einmal auf mehrere Subjekte bei zunehmendem Mond geprüft werden sollte oder besser kein weiterer Test stattfinden sollte. Perdy, der die Mondboten entwickelt und die ersten Tests damit durchgeführt hatte, wollte die volle Rückendeckung des Rates haben, weil er meinte, dass es durchaus sein konnte, dass ihre Versuche schon bei den Zaubereiministerien Europas aufgefallen sein konnten und sie dadurch der eigentlichen Durchführung gefährdeten. Sein Einwand war zwar zur Kenntnis genommen worden. Doch fünfundzwanzig der vierzig Ratsmitglieder, alles Mütter oder Väter von mindestens sieben Kindern, hatten auf zwei weiteren Tests bestanden, um die Wirkung bei zunehmendem Mond auf mindestens vier Subjekte zu erproben. Perdy hatte daraufhin bestätigt, dass seine Mondboten zwei mögliche Testziele gefunden hatten und dort nur noch in Angriffsstellung gehen mussten, sobald der Mond vollkommen frei am Himmel stand. Von den fünfzehn, die nicht zugestimmt hatten waren zehn gegen einen weiteren Test und fünf enthielten sich. Unter den zehn Ablehnern eines weiteren Versuches waren ausnahmslos nur gerade wieder schwangere Mitgliedshexen, darunter auch Mater Vicesima, die Ende Juni Mitte Juli eine Namensänderung erfahren würde.

Perdy war nicht allein im Überwachungsraum. Die drei an Jahren ältesten Ratsmitglieder blickten mit ihm zusammen auf die magische Bildverpflanzungswand, auf der all das zu sehen war, was der Bildsammelzauber des Mondboten einfangen konnte, sowohl im verstärkbaren sichtbaren Licht als auch, wenn Perdy wollte, als Wärmesichtdarstellung, was er Infrarot nannte, so wie es bei den nichtmagischen Technikern hieß. Auf dem rechten Schenkel des hufeisenförmigen Pultes tickte eine kopfgroße Uhr die Zeit weg. "Gut, Mondbote Pax Germanica zwo hat genauen Kurs auf Zielgebiet T-12", vermeldete Perdy, der wegen seiner derzeitig geringen Körpergröße in einem lehnstuhl mit verlängerten Beinen saß.

"Stell auf Wärmesicht um, Perdy!" befahl Pater Decimus Sixtus Gallicus, ein hundert Jahre alter Zauberer mit silbergrauem Haar, gleichfarbigem, geschwungenen Schnurrbart, aber sonst keiner Gesichtsbehaarung. Der äußerlich zehn Jahre alte Mitstreiter, der von allen Perdy genannt wurde, kippte einen Hebel auf der rechten Seite zwei Einstellungen nach hinten. Nun wurde nicht mehr die vom Mond beleuchtete Szenerie gezeigt, sondern die an diesem Ort bestehenden Wärmequellen.

Nun sahen sie auf der Bildverpflanzungswand einen dunklen Wald, in dessen Bäumen jedoch hellgraue Lichter hingen. Ebenso konnten sie helle, weiß leuchtende Wölkchen sehen, die aus einem dreißig Zentimeter durchmessenden Rohr nach oben austraten. . Perdy erkannte wegen seiner Begeisterung für die magielose Technik der Neuzeit und alle möglichen Zukunftsaussichten, dass die Qualmwolken von einem gut arbeitenden elektrischen Generator stammten, dessen Eigenhitze das Gerät hellgrau leuchten ließ. Außerdem konnte er die im Blockhaus leuchtenden Lampen sehen, die an der Decke hingen. Er stellte fest, dass es wohl Stromsparlampen mit weniger Wärmeabgabe als die sonst so verbreiteten Glühdrahtleuchtkörper waren. Vorsichtig drehte er an zwei kleinen Rädern unterhalb des Hebels für die Darstellungsweise. Jeztt sahen sie alle das Haus näher von oben und alle darin bestehenden Wärmequellen heller aber auch konturgenauer. "Na bitte, da sind zehn lebende Menschen, laut Zählung zehn eindeutige Mondgeschwister", sagte Perdy. "Moment, mal sehen", fügte er hinzu und hantierte erneut an der Helligkeitsdarstellung. Jetzt wurden die zehn Menschen konturscharf sichtbar. Dafür gleißten die Qualmwolken aus dem Generator wie kleine Sonnen. Perdy hantierte schnell an einem dritten Rad und machte die Wolken und alles etwas dunkler. Aber die genauen Umrisse blieben klar erkennbar. "Joh, Sechs Männer und vier Frauen", stellte Perdy fest. "Also, soll ich?"

"Bevor sie wodurch auch immer merken können, dass sie beobachtet werden und fliehen können, Perdy", sagte Pater Decimus Sixtus Gallicus.

Perdy tippte mit dem Zauberstab eine rotmarkierte Kreisffläche an. Damit ging nun die unhörbare Anweisung hinaus, den blauen Mond aufleuchten zu lassen. Keine zwei Sekunden später stülpte sich eine Glocke aus gebündelter, aber veränderter Mondstrahlung über das Haus. Das Mondlicht wurde durch die Vorrichtung so abgewandelt, dass es für jeden Betrachter halb so hell wie die Sonne und in einem silbrig-blauen Farbton niederstrahlte. Nun konnten sie alle sehen, was passierte.

Das Licht in dem Haus erlosch. Der Generator ruckelte einmal und paffte keine weiteren Wolken mehr aus. Die zehn anderen Wärmequellen flackerten erst. Dann sahen sie, wie sie sich verwandelten. Aus Menschen wurden innerhalb einer Minute Wolfswesen. Doch das wirklich beeindruckende war, dass die Wärmequellen immer heller leuchteten, was hieß, dass sie heißer und heißer wurden. Perdy sah nun genau, was mit denen passierte, die er mit seiner Erfindung beharkte. Einerseits faszinierte es ihn, wie durchschlagend seine Schöpfung war. Andererseits bekam er nun mit, dass die davon getroffenen litten, ja einen höchst schmerzvollen Todeskampf führten, von dem Perdy wusste, dass sie ihn verlieren mussten.

Gebannt vom Anblick und der Erkenntnis, was im Zielgebiet gerade geschah, sagte keiner ein Wort. Perdy verfolgte mit einer gewissen Beunruhigung, wie heftig die Betroffenen unter den Auswirkungen litten. Sie wurden weiter erhitzt, wohl von innen her. Dann, als sie den Kampf gegen ihr Ende endgültig verloren, hörte die Erhitzung auf. Ein Klingelzeichen vermeldete, dass der Mondbote keine lebenden Ziele mehr erfasste und deshalb die Mondlichtverformung beendete. Während sich die zehn reglos im Blockhaus liegenden langsam wieder abkühlten pingelte eine andere Glocke, die zeigte, dass der Mondbote bereits drei neue Ziele erspürt hatte. Perdy tippte ein blaues Viereck auf dem Hufeisenpult an und rief damit die Darstellung einer Landkarte auf, bei der drei Stellen durch rotes Blinklicht hervorgehoben wurden, eine in der Nähe von Würzburg, eine in Linz und eine im Umland von Krakau.

"Vier Minuten", stellte Perdy mit einem Blick auf eine kleine Uhr links auf dem Hufeisenpult fest. "Bei zehn Subjekten und mehr als dreiviertelvollem Mond noch vier Minuten."

"Silber geht doch schneller", knurrte Pater Decimus Sixtus Gallicus. Die drei anwesenden weiblichen Ratsmitglieder, die selbst gerade neues Leben trugen sahen kreidebleich und mit tränenglitzernden Augen auf die Bildwand, auf der immer noch die Szene der Vernichtung zu sehen war. "Mach wieder Lichtdarstellung!" befahl Mater Vicesima, die sichtlich zu schlucken hatte, um nicht in einen Weinkrampf auszubrechen. Perdy verstand, was sie umtrieb. Sie hatte zum ersten mal gesehen, wie die Ziele des blauen Mondes den Tod fanden, nicht schlagartig, nicht mit einem schnellen Ende, sondern in einer minutenlangen Agonie, die schon an die Geschichten über den bei Eingottanbetern so beliebten Ort namens Hölle heranreichten.

"Seid ihr jetzt zufrieden", fragte Mater Decima Tertia Mexicana Pater Decimus Sixtus Gallicus. Auch sie würde im Juni eine Namensänderung erfahren, wenn ihre drei neuen Kinder geboren sein würden.

"Kriegen wir noch mehr von denen auf einmal?" fragte der Gefragte Perdy.

"Es müssten doch eigentlich mehr Ziele da sein", meinte ein anderer Zauberer. Perdy sah ihn an und sagte, dass nur die Quellen als Ziele angezeigt wurden, die nicht mit den Standorten registrierter Werwölfe im Einzugsbereich von Mondbote Pax Germanica 2 übereinstimmten. So konnte die Vorauswahl erheblich begrenzt werden. Dann lenkte er den Mondboten in Richtung Würzburg, ohne dafür den Befehl erhalten zu haben.

"Und wenn in dem Zeitraum noch welche neu registriert werden?" wolte Pater Decimus Sixtus Gallicus wissen.

"Kann ich die bei Tag noch als Ergänzung in die Auswahlkarte übermitteln", sagte Perdy. "Vorausgesetzt, eure Zuträger liefern zeitnah die Listen nach. Sonst kann es natürlich passieren, dass welche unter den blauen Mond geraten, die beim Zaubereiministerium gemeldet sind, aber noch nicht von mir erfasst wurden. Also, wenn ihr nicht wollt, dass unsere Operation auch die trifft, die sich brav am eingetragenen Standort aufhalten haltet eure Leute in Schwung, zumindest die aus Deutschland, Frankreich und Spanien. Über die englische Liste kriegen wir ja jede dritte Stunde einen Bericht, sofern sich da was verändert hat."

"Aus Frankreich bekommst du auch regelmäßige Berichte, Perdy. Aber vier Minuten sind immer noch viel vviel zu lang", schnarrte mater Vicesima. Perdy konnte ihr deutlich ansehen, wie heftig es sie mitnahm, was sie gesehen hatte. Es stimmte schon, jemandem beim Sterben zuzusehen war sehr viel schwieriger, als durch einen Befehl oder eine Handlung hunderte von Menschen sterben zu lassen, die viele Meilen weit fort waren. Andererseits galt es, die unbeherrschbare Brut der Lykanthropie auszulöschen, die Geschöpfe, die sie bewusst verbreiten wollten von der Erdoberfläche verschwinden zu lassen und denen, die übrig blieben klare Regeln für ihr Leben aufzuerlegen, damit nicht auch sie ausgelöscht wurden. Doch so ganz ließ es auch den scheinbar nur zehn Jahre alten Perdy nicht in Ruhe, dass er mithalf, fühlende und meistens auch denkfähige Wesen gezielt zu töten, von denen sicher auch einige magisch begabte Leute dabei waren. Doch sie hatten beschlossen, dass jeder Werwolf hundert andere Menschen mit seinem verfluchten Keim anstecken konnte und deshalb jeder, der das ganz gezielt machte, so wie es die Mondgeschwister, die Lykotopia-Geschöpfe und die Anhänger des getöteten Fenrir Greyback taten, zu sterben hatte. Auch wenn eine Waffe oder ein Geschoss aus Mondsteinsilber schneller tötete, so waren die Boten des blauen Mondes wesentlich kostengünstiger und effizienter, was die Wirkung in der Fläche anging.

Der Zielpunkt bei Würzburg erwies sich als Paar aus Lykanthropen, die in einem verlassenen Haus waren. Diese sollten heute noch nicht im Licht des blauen Mondes ihr Leben lassen.

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Willi Kieselbleich und Toni Eisenfeld trafen sich nur dann, wenn ihr ganz exklusiver Club zusammentrat, um Vorhaben zu besprechen, die zum Vorteil der Mitglieder waren. Sie verstanden sich in ihrem Club der acht oder der Vereinigung Eisenbarren als kleine aber schlagkräftige Gruppe, welche die Ausprägungen und Vorgaben der Zaubererwelt zu nutzen wussten, um ihre körperlichen Nachteile mehr als auszugleichen.

Willi war als Sohn einer reinrassigen Koboldin ständig damit aufgezogen worden, dass er nur bei anderen Koboldinnen oder gar Zwerginnen landen würde, weil "richtige Frauen" ihn immer nur als kleinen Jungen sehen würden. Das hatte ihn dazu getrieben, sein ganzes Leben darauf auszurichten, besser und gewitzter zu sein als die selbstherrlichen Reinmenschen, ob mit oder ohne Zauberkräfte. Deshalb war er auch nicht ins Ministerium gegangen, sondern verdiente seine Galleonen als Vermittler von Dienstleistungen aller Art, solange diese legal waren. Auch wenn ihm andere aus dem Eisenbarrenclub erzählten, dass andere Halbkobolde oder Halbzwerge richtig wichtige Posten oder zufriedene Familien hatten tat er das immer als Lohn der Angepasstheit ab, dass die benannten wie Filius Flitwick oder Albericus Latierre sich all zu leicht mit ihren körperlichen Nachteilen abgefunden hatten und deshalb keinen Antrieb hatten, mehr zu erreichen als nur ein Lehrer in Hogwarts oder ein Zauberkunsthandwerker dritten Grades zu sein. Immerhin lief im deutschsprachigen Raum, sowie in Irland jedes zweite Geschäft zwischen Menschen und Kobolden über seine geheimen Verbindungen.

Toni hatte anders als Willi keine Probleme mit seiner erbbedingten Kleinwüchsigkeit im Vergleich zu anderen Menschen. Außerdem kannte er Leute wie Carbonius Pumphut, die trotz ihrer weit zurückreichenden Koboldstämmigkeit mit Normalmenschen mithalten konnten. Er hatte anders als Willi eine Hexe fürs Leben gefunden und mit ihr vier Kinder hinbekommen, die in den letzten Jahren herausragende Abschlüsse in Greifennest erzielt hatten. Beruflich war Toni Eisenfeld seinem Namen treu und hatte sich vom einfachen Erzfinder zum Minenbesitzer in Sachsen und dem Harz hochgearbeitet. Auch wenn Kobolde für gewöhnlich nur Ihresgleichen über sich stehen haben wollten hatte er es hinbekommen, zwanzig reinrassige Kobolde in seine Bergbau- und Verhüttungsmannschaften aufzunehmen. Durch die mit Berührungen und Gesten gewirkten Zauber der Kobolde konnten sie härtere Werkzeuge und zuverlässigere Metallaufspürgeräte einsetzen als mancher Reinmensch. Was Toni Eisenfeld zum Mitglied im Eisenbarrenclub gemacht hatte war der Umstand, dass er trotz der äußerlich guten Eingliederung in die Gesellschaft der großen Leute mitbekommen hatte, dass es auch wichtig war, mit anderen Halbkobolden zusammenzuwirken, weil die noch andere Verbindungen unterhielten als er. Allerdings war das Gebot, dass sie sich nur dann trafen, wenn es eine für alle gemeinsame Sache zu tun gab. Was dabei oder danach noch an Zweiervereinbarungen abfiel war für den Club, dessen Vorsitz alle dreiunddreißig Monate wechselte, vernachlässigkbar, solange dieses Geschäft zwischen zwei Einzelmitgliedern nicht zum Schaden aller anderen ausartete.

Im Moment hatte der Finanzabteilungsleiter Giesbert Heller den Vorsitz des Clubs. Sie hatten ihm geholfen, auf seinen Stuhl zu kommen, und er hatte sich dafür revanchiert, dem einen oder anderen gewinnträchtige oder das Ansehen steigernde Aufträge zuzuspielen. Dafür bekam er eben auch günstigere Ausrüstungsgüter aus Koboldfertigung oder konnte mal eben eine Million Galleonen Schulden aufnehmen, um ein Projekt zu fördern, was sonst vielleicht höhere Schuldzinsen einbrockte.

Heute Nacht trafen sich die zwei Mitglieder des Eisenbarrenclubs in einem restlos ausgebeuteten Stollen einer Eisenmiene im Erzgebirge. Hier unten, mindestens fünfhundert Meter unter Tage, hatte Toni Eisenfeld wirksame Eindringlingsabhalte und Fernbeobachtungsabwehrzauber eingerichtet, um sowohl sehr wertvolle Artefakte aufzubewahren als auch wirklich geheime Vorhaben durchzusprechen und/oder auszuführen.

Willi trug zu diesem Anlass einen dunklen Anzug, in dem mit Mondlicht bestrahlte und durch eigenes Blut und teilweiser Koboldmagie ein starker Unortbarkeitszauber eingewirkt war, der ihn nicht nur im Bedarfsfall völlig unsichtbar machte, sondern ihm sogar ermöglichte, durch alle nichtmetallischen Hindernisse hindurchzugehen, solange die Sonne nicht schien. Bei Vollmond war diese Ausrüstung besonders stark, so dass er selbst durch meterdicke Granitwände hindurchlaufen konnte, als ob sie nicht vorhanden wären.

Toni Eisenfeld erschien in einer Tracht, die einem Bergzwerg abgenommen erschiehn. Sogar eine Zipfelmütze hatte er sich aufgesetzt. Doch Willi Kieselbleich wusste, dass Tonis Ausrüstung ähnlich praktische Zauber eingewoben waren wie seinem Anzug. Eine Ausprägung war, dass Toni damit einen Flächenbann gegen alle magischen und nichtmagischen Lichtquellen wirken und damit auch offene Feuer schlagartig erlöschen lassen konnte. Ein anderer Vorzug war, dass er in dieser Ausrüstung körperlich dreimal oder viermal so stark und so schnell sein konnte wie ohne die Ausrüstung. Das lag vor allem an dem Werkzeuggürtel. Die Mütze konnte selbst Schläge mit zentnerschweren Hämmern oder magisch vielfach gehärteten Klingenwaffen abfangen. Ja, und durch die Stiefel mit den silbernen Schutzkappen konnte Toni genauso wie Willi durch feste Hindernisse gehen, wenn er nicht die von seinem Vater geerbte Fähigkeit nutzte, direkt in den Erdboden einzudringen und unter der Erde mit der dort möglichen Schallgeschwindigkeit dahinzueilen.

Fred hat das Boot an der Elbmündung bereitliegen. Damit kommen wir nach der Abholaktion schnell zur Halbmondinsel hin", sagte Toni. Willi nickte ihm zu. Die Halbmondinsel war eine mit magischem Nebel verhüllte Insel südlich von Irland. Nur Koboldstämmige konnten sie finden. Daher benötigten sie keinen Fidelius-Zauber. Dort sollten die drei abzuholenden für die Zeit im magischen Tiefschlaf verwahrt werden, bis ihr Clubvorsitzender und Gesinnungskamerad Giesbert Heller befand, ob sie wieder in die freie Welt zurückgelassen oder gar als Drachenbremse gegen die neue Bedrohung verwendet werden sollten.

Weil Portschlüssel geortet werden konnten und das Apparieren körperlich anstrengender war als der die Erde durchdringende Reisezauber der Kobolde nutzten die beiden ihre ererbte Fähigkeit, in den Boden einzusinken und Hand in Hand mit mehreren Meilen in der Sekunde in Richtung Norden zu rasen. Da sie seit ihren Kindertagen erlernt hatten, die Magnetlinien der Erde sinnlich wahrzunehmen, konnten sie sich auch nicht verirren.

Es war gerade ein Uhr Nachts, als sie in der Nähe eines Hauses in Hamburg Harburg aus dem gepflasterten Boden eines Hinterhofes hervorschnellten. Sofort machten sich beide für andere Augen unsichtbar, indem sie ihre getragene Kleidung an bestimmten Stellen berührten. Nur sie konnten einander noch sehen, weil Willi und Toni vor Jahren schon den Blutschwur geleistet hatten, der sie miteinander und mit jedem anderen Mitglied des Eisenbarrenclubs verband.

"Dieser Hein Sibert wohnt dort in dem Haus", wisperte Willi Kieselbleich. "Haben wir gleich", sagte Toni und zog aus seinem mitgebrachten Rucksack ein Stück Pergament nur halb so groß wie seine Hand hervor. Er hielt es sich so nahe vor den Mund, als wolle er es küssen. Dann flüsterte er was. "Gut, wir können. Ich habe den genauen Lageplan und den sicheren Zuweg übernommen", flüsterte Toni Willi zu.

"Gut, dann schnell. Öhm, hast du auch die roten Kristalle mit, die Giesbert uns mitgab?" wisperte Willi.

"Aber sicher doch. Denkst du, ich will haben, dass die Großen uns mit dieser blöden Rückschaubrille bei unserem Einsatz erkennen?" grummelte Toni Eisenfeld. Dann ging er los, Richtung Ziel. Sein Pergamentstück, dass er nun sorgfältig zusammengerolt in der linken Hand hielt, verriet ihm irgendwie, wo er langlaufen musste. Wie genau Toni das machte wusste Willi bis heute nicht. Aber dieser Trick hatte dem Bergbaufachzauberer wohl auch schon aus manchem unterirdischen Höhlen- und Stollengewirr herausgeholfen.

Zügig gingen die zwei für alle anderen Menschen unsichtbaren weiter. Willi fürchtete schon, dass Toni die Unleuchtelampe schütteln würde, um die dunstigen orangen Schein verbreitenden Straßenlaternen zu löschen. Er hatte mal gehört, dass der Zauberer Dumbledore ein ähnliches Ding erfunden haben sollte, mit dem das Licht nicht unterdrückt, sondern regelrecht aus den Lampen herausgepflückt und eingesaugt werden konnte. Doch Tonis Methode war wohl besser, weil sie auch offene Flammen mal eben wegmachen konnte.

Durch Türen gehen konnten andere gerne machen. Die zwei Eisenbarrenbrüder gingen einfach durch die Betonmauer des Hauses, als ob sie nur eine räumliche Bildillusion wäre. Auch wenn es Willi in den Fingern juckte, einen der zwei Aufzüge zu benutzen ließ er es doch bleiben. Wenn sie einmal in so einem elektrisch betriebenen Kasten steckten konnten sie nicht mal eben wieder hinaus, weil die Innenwände von diesen Dingern mit Kunststoff verkleidet waren. Kunststoff und handgeschmiedetes Eisen stellten für reinrassige Kobolde wie für deren halbblütige Nachkommen die einzigen unüberwindlichen Hindernisse dar. Deshalb nutzten sie die Treppen. Das ging eh schneller, weil Willi seiner Hose durch Berührung erst am linken und dann am rechten Bein vermittelt hatte, den Schnellschreitezauber in seinen Körper zu strömen und Toni sowas ähnliches auch mit seinem Gürtel anstellte. So flitzten die zwei wie auf der Flucht vor der Katze befindliche Mäuse die Treppenstufen hinauf und bogen dann in einen der Flure ab. Weil die Tür aus Glas und gegossenem Stahl bestand brauchten sie diese auch nicht zu öffnen.

Im Flur schüttelte Toni ganz kurz die um seinen Hals hängende Unleuchte, die einer altertümlichen Grubenlampe nachgebildet war. Was darin alle Lichter im Umkreis von zwanzig Schritten löschte wusste Willi auch nicht. Es funktionierte eben. Das allein war entscheidend. Die im Flur angebrachten kleinen Notfallleuchten erloschen sofort, und wer jetzt noch meinte, Licht nötig zu haben würde solange im Dunkeln bleiben, bis Toni und seine Unleuchte entweder aus der Reichweite fort waren oder Toni seine Lichtlöschlampe in umgekehrter Weise schüttelte. Da die zwei die angeborene Nachtsicht von Kobolden besaßen brauchten sie auch kein Licht, um die richtige Tür zu finden. Außerdem verstärkte sich ihr Gehör auf ein mehrfaches. Bei reinrassigen Kobolden war es der zwanzigfache Wert, sobald sie in völliger Dunkelheit waren oder ihre Augen schlossen. Toni reckte die Hand mit dem zusammengerollten Pergamentstück hoch. Willi sah, dass es in einem schwachen, waldgrünen Licht leuchtete. Dann deutete Toni auf die verschlossene Tür.

Willi hatte seinen Einsatzanzug noch auf Durchdringung eingestimmt. Toni brauchte nur die neben der Tür liegende Wand mit der rechten Schuhspitze zu berühren und ging dann einfach durch die Wand. Willi folgte ihm. Dabei bekam er jedoch mit, dass in der Wand elektrische Leitungen verliefen. Warum auch immer, wenn er mit Elektrizität in Berührung kam war es, als bohrten sich mehrere Zwerge mit ihren verfemten Kreiselbohrern durch seinen Schädel und er bade in blauen und weißen Blitzen. Doch nach nur einer Sekunde war diese Tortur wieder vorbei.

In der Wohnung leuchtete kein Licht, wohl nicht nur wegen Tonis Unleuchte. Gerade sprang mit einem kurzen Rumpeln und dann stetig brummend ein Kühlschrank an. Was das war hatte Willi erst von einer von magielosen abstammenden Mitschülerin in Greifennest erfahren. Dass diese Kalthalte kästen so laut waren, wenn sie alles in ihnen liegende kühlhielten wusste Willi nicht mehr. Nun konnte er aber auch das regelmäßige Atmen von drei Menschen hören, zwei im Schlafzimmer und einer im Wohnzimmer. Sie hörten dank der um sie herrschenden Dunkelheit auch die langsamen Herzschläge der hier schlafenden Menschen. "Gut, da ich glücklich verheiratet bin übernehme ich das Ehepaar und du den Wohnungsmieter", flüsterte Toni. Für Willi klang es aber so laut wie mit dem Stimmverstärkerzauber Sonorus verstärkt. Willi wollte Toni gerade noch einen erzählen, dass er diese verächtliche Tour nicht leiden konnte, mit der Toni ihm immer wieder kam, wenn sich eine passende Gelegenheit bot. Doch er unterließ das. Denn es gab wichtigeres.

So leise er konnte schlich er in das Wohnzimmer. Dort lag auf dem Sofa ein Mann Ende zwanzig. Er hatte sich sorgfältig zugedeckt, weil er offenbar fürchtete, sonst frieren zu müssen. Willi pirschte sich unsichtbar und lautlos an den Schlafenden heran. Dabei konzentrierte er sich auf seine rechte Hand. Er hatte den Tiefschlafzauber lange nicht mehr auf diese Weise gewirkt. Das letzte Mal hatte er damit einen kraftmeierischen Burschen von bald zwei Metern Größe durch einfaches Handauflegen bewusstlos gemacht. Wichtig war, klarzustellen, wie lange jemand schlafen sollte, sonst wachte der oder die nie wieder auf oder musste mit einem entsprechenden Handauflegezauber geweckt werden, was dann aber auch dazu führen konnte, dass der Betreffende danach nicht auf natürliche Weise einschlafen konnte. Das alles hatte Willi schon erlebt und gut im Gedächtnis behalten. So trat er schnell vor, ließ die rechte Hand mit den gespreizten Fingern über dem Kopf des Schläfers heruntersausen und patschte ihm seine Finger voll auf die Stirn. "Bis der Vollmond zweimal schien", dachte er dabei, während er fühlte, wie aus seinen Fingern die Kraft des angestimmten Zaubers in den Körper des Berührten übersprang. Toni und die anderen Eisenbarrenbrüder hatten diesen Zauber von Willi erlernt, der ihn von seiner Mutter, einer Heilerin der Kobolde, erlernt hatte. Jedenfalls versank der auf dem Sofa liegende in einen noch tieferen, beinahe todesartigen Schlaf. Sein Herz pochte leiser und nur noch mit fünf Schlägen in der Minute, während sein Atem so langsam ging, dass er in einer Minute nur einmal ein- und wieder ausatmete. Erst als das Kribbeln aus Willis Fingern verschwand nahm er seine Hand wieder fort. Diesen Zauber konnten sie noch nicht mit einem Spürstein erfassen, weil er unmittelbar durch Berührung gewirkt wurde und nicht aus einem Zauberstab durch die Luft überspringen musste.

Toni behandelte die zwei anderen schlafenden wohl zur selben Zeit. Denn Willi hörte, wie die Atemgeräusche und die Herzschläge langsamer wurden. Dann hörte er noch was, Tonis leise summende Stimme, die auf Koboldogack eine mehrmalige Beschwörung sang. "Leicht und klein sollst du sein, sollst gar leicht zu tragen sein!" hieß der Spruch unter Beibehaltung von Reim und Rhythmus ungefähr. Willi konnte diesen Zauber leider nicht. Er hörte zwar die Worte, wusste aber nicht, welche Berührungen dabei ausgeführt und welche Gedankenbilder dabei im Kopf aufgebaut werden mussten. Toni hatte es bis heute nicht für nötig gehalten, diesen Zauber seinen Gesinnungsbrüdern beizubringen, weil er meinte, dass jeder von denen seine Geheimnisse haben sollte, also auch er. Willis Geheimnis war kein Einschrumpfungszauber, sondern ein Verschmelzungszauber, mit dem er alle möglichen Metalle oder Mineralien miteinander verschmelzen konnte, um so besonders harte oder leichte Verbundstoffe zu erschaffen. Sowas war vor allem bei der Zusammenfügung von Bergbausilber und Occamysilber nötig, konnte aber auch bei Gold und Diamant interessante Endformen geben.

Toni kam mit geschultertem Rucksack aus dem Schlafzimmer. Er wirkte angestrengt und vor allem sehr verstimmt. "Zum großen grauen Eisentroll und allen seinen Töchtern und Söhnen, ich kann die zwei nicht einschrumpfen. Diese Ringe an deren Fingern schlucken meinen Zauber."

"Aber einschlafen konnten die schon, oder?" wollte Willi wissen.

"Gerade soeben. Ich fürchte nur, dass wir die jeden Tag neu in Schlaf versenken müssen. Was immer wer immer mit diesen Eheringen angestellt hat schluckt Koboldzauber."

"Dann können wir die nicht einfach in deinen Rucksack packen?" wollte Willi wissen.

"Neh, geht so nich'", grummelte Toni verdrossen. Dann prüfte er, ob zumindest der von Willi in Tiefstschlaf versenkte auf seine Weise eingeschrumpft werden konnte. Das ging. Innerhalb von nur zehn Sekunden wurde Hein Siebert kleiner als Tonis Hand. Er konnte ihn so ganz leicht aber behutsam vom Sofa pflücken und in den gut ausgepolsterten Rucksack hineinstecken. Weil der Verkleinerte tief schlief würde er in den nächsten vier Stunden nicht ersticken können.

"Hmm, dann wird das nichts mit durch die Erde abhauen", grummelte Willi. Toni schnaubte zur Antwort: "Müssen wir jeder einen von denen im Appariersprung zum Boot rüberschaffen. Ich lege schon mal den einen Kristall hier hin und mach den Zeitverzögerungszauber drauf, dass der uns nicht gleich in fünf Sekunden um die Ohren fliegt", zischte Toni und förderte einen der roten Kristalle aus seinem Rucksack zu Tage. "Gut, dann nehme ich den Mann mit und du glücklicher Familienvater darfst das junge Weibchen mitbringen", legte Willi fest.

Eine Minute später verschwanden die zwei Koboldstämmigen mit lauten Knällen im Nichts. Keine weitere Minute später strahlte silberweißes Licht auf, das sogar durch die Wände drang und alles in zwölf Metern umkreis oder in einer Kugelzone von vierundzwanzig Metern Durchmesser durchfloss und von jeder ruhenden oder gerade wirkenden Bezauberung freispülte. Dass dabei auch elektronische Geräte beeinträchtigt wurden, weil sämtliche Speicherzellen in ihr jeweiliges Gegenteil umgepolt wurden wussten die beiden magischen Menschenräuber nicht und hätten das auch nicht für wirklich wichtig gehalten. Für sie allein zählte, dass im betroffenen Bereich alles was in der Stunde vor und nach der Entladung geschehen war unerkennbar blieb.

Die zwei Eisenbarrenbrüder apparierten mit sichtlich angestrengten Gesichtern auf dem östlichen Elbufer. Im Norden lag normalerweise die Nordsee. Je nach Tidenstand konnten die Wellen bis hierher plätschern oder das Mündungsgebiet noch etliche hundert Meter weit nach Norden verlagern. Hier lag ein zwanzig Meter langes Kajütenboot mit blauen Segeln, an dessen Ruder ein weiterer kleinwüchsiger Zauberer stand, Fred Tiefensand. Als er die zwei Mitverschwörer der Aktion Drachenbremse mit ihrer Last sah feixte er: "Na, wollten die zwei nich' lütt werden, Grubentoni?"

"Halt den Rand, Fred. Dieser Ringeschmied aus Yankeeland hat denen ohne das zu wissen einen Unschrumpfbarkeitszauber mitgegeben. Bin froh, dass zumindest der Tiefschlaf hingehauen hat", knurrte Toni.

"Oh, wird aber lustig, wo ich in der Hütte auf der Insel gerade mal Platz so groß wie für die Puppen deiner Friedel hingekricht hab, Dicker!"

"Kann ich was für, dass die zwei unschrumpfbar sind, du Sprottenbändiger? Wir fahren mit denen und wenn Lutz mit dem vierten hier ankommt zur Insel rüber und basta. Irgendwie kriegen wir die zwei dann eben in deinem Keller unter. Stinkt da zwar nach altem Fisch, aber das wird die zwei dann nich' kümmern."

"Ey, nich' dem Hai an der Nase kitzeln, du Maulwurfsschreck. Mein Fisch ist immer fangfrisch. Damit kann ich loggää am Sonntag auf'm Fischmarkt Staat machen, wenn ich das will. Aber jetzt mal an Board hiää!" erwiderte Fred Tiefensand, der anders als die meisten Koboldstämmigen eine Liebe zum Schwimmen und Tauchen entdeckt hatte. Angeblich hatte der es sogar schon mit einer Nixe getrieben, wurde im Club gerne herumgereicht. Aber das glaubte Willi nicht wirklich.

Die zwei Menschenräuber luden ihre lebende Beute einschließlich dem im Rucksack eingeschrumpft steckenden Hein Siebert ins Boot. Dann mussten sie noch warten. Fred peilte dabei immer wieder mit seinem Erddurchblickfernglas herum. Dann endlich winkte er in südwestliche Richtung. "Ah, Lutz und Max sind im Anrauschen", bemerkte er.

Eine Viertelminute später schossen zwei ebenfalls kleinwüchsige Männer aus dem sandigen, feuchten Boden heraus. Einer der beiden trug einen Reiserucksack ähnlich wie Toni. Lutz Felsspalter und Max Glimmerflöz machten das verabredete Zeichen für erfolgreiche Ausführung der Mission. Dann sprangen sie auch schon an Bord.

"Ich habe die Sonnenlichtsammelkugeln eingesammelt, damit die nicht vom Kristall zerbröselt wurden. Nur Vollidioten würden einen IVK in der Nähe einer aufgeladenen Sonnenlichtkugel losgehen lassen", sagte Max Glimmerflöz, der beruflich im Flugbesenkontrollamt zu tun hatte.

"Joh, den letzten, der das nich' wahrhaben wollte haben sie dann im Umkreis von hundert Metern zusammengefegt, und das oberste Stockwerk vom Haus, wo der Döspaddel das gemacht hat war ganz wech, als wenn zwanzig bannige Drachenbullen das mal eben weggebrutzelt hätten oder so", sagte Fred.

"Ja, und bei drei voll aufgeladenen Kugeln hätte der ganze Bungalow gefehlt und auf Neuwerk wohl den ersten aktiven Vulkan der Weltgeschichte hingesetzt", spann Max die Zerstörungskraft von unsachgemäß entladenen Sonnenlichtkugeln weiter. Fred musste darüber lachen.

Mit einem Geflecht aus Windkraftsammel- und Vortriebszauber glitt das Boot aus der Elbemündung. Da es kielseitig mit Dauerglättezauber belegt war konnte es sogar dann noch wie auf Wasser fahren, wenn es schon auf Sand und Schlick rutschte. So reisten die vier Menschenräuber im Auftrag Giesbert Hellers nach Nordwesten, bis sie soweit auf offener See waren, dass sie nur noch mit ihren Richtungs- und Standortsinnen den Kurs bestimmen konnten. Ihnen war nicht wichtig, wann genau das Verschwinden von vier magielosen Menschen bemerkt werden würde. Wichtig war nur, dass Giesbert Heller Fred für jede Nacht Unterbringung hundert Galleonen aus seinem Privatvermögen gab und Fred zusätzlich noch zehn Kilogramm Eisenerz pro Tag von Toni bekommen würde, solange die vier Entführten in seiner Hütte auf der Mondinsel untergebracht blieben. Immer wieder blickte Fred auf die tief schlafenden Eheleute Hansen und vor allem auf deren Eheringe mit dunklen Steinen. Als Max meinte, die Ringe einmal mit seinem Magieerfühlungstrick befragen zu wollen meinte Toni: "Falls du deine Hände oder dein Gehirn nicht mehr brauchst mach das. Ich habe da nur beim verschluckten Schrumpfzauber kurz mit dem Finger draufgepackt und gleich einen ganzen Trupp Bergbauzwerge von innen gegen meine Schädeldecke klopfen gehört. Außerdem habe ich meinen Arm für fünf Sekunden nicht mehr gespürt, als hätte mir den wer abgeflucht.".

"Wie geht sowas. Ich kann jeden Zauber auskundschaften, ohne dass mir dabei was wegfliegt oder durchbrennt", meinte Max und hielt seine rechte Hand über der schlaff neben dem Körper liegenden Hand Erna Hansens. Da meinte Willi, dass Max von einem schwarzen Blitz getroffen und dann bis auf die Knochen völlig durchsichtig dastand. Dann fiel Max um wie ein gefällter Baum und blieb liegen, während das Boot mit mehr als hundert Knoten über die leichte Dünung der Nordsee preschte.

"Tja, haben die uns gerne immer wieder auf die Stulle geschmiert, dass wer nich' hören will eben fühlen muss", bemerkte Fred dazu, bevor er Lutz heranwinkte, der wegen der durch Berührung wirkenden Heilzauber als genialer Heiler im Wurzelmannkrankenhaus für magische Verletzungen und Krankheiten arbeitete.

"O ha, Max ist voll weggetreten. O oh, hätte der den Ring richtig berührt wäre ihm wohl der Schädel geplatzt. Ich fühle einen erhöhten Innenkopfdruck, als wenn wer sein Gehirn aufgepumpt hätte. Das muss ich eben behandeln, bevor dem noch wichtige Sinne oder Gedächtnisbereiche wegfallen."

"Wie kann wer sowas?" stöhnte Toni Eisenfeld und sah auf den harmlos wirkenden Ehering von Arne Hansen.

"Kann ich dir nich' sagen. Nich' mein Heimathafen", meinte Fred dazu. Lutz bearbeitete den Clubkameraden derweil mit dem Zauberstab und bestrich seinen Kopf einige Male mit der rechten Hand, wobei er merkwürdige Töne summte. Nach fünf Minuten sagte Max: "Ich hab's raus, dass in den Ringen wohl zusammengestauchte Dunkelheit steckt. Das hat unseren Zauberfühler voll aus den Schuhen gehauen. Ich hoffe, dem sein Sehvermögen hat nicht drunter gelitten. Wenn ich den ins WMK schaffen muss wird man mich wohl fragen, was dem passiert ist."

"Dann krieg den ohne deine anderen Heilbeter und Trankrührer wieder hin", blaffte Willi. Sich vorzustellen, dass Max für immer blind sein würde oder vergessen haben mochte, wie was aussah, um es auch so zu sehen, wie alle anderen beunruhigte ihn. Eigentlich war bei dieser Aktion kein Unfall vorhergesehen worden.

"Auf jeden Fall bleiben die Ringe an den Leuten dran. Ich habe nämlich mal eben einen Aurensichtzauber gemacht. Die sind mit den Ringen verbunden, dass die im selben magischen Lichtgeflecht erscheinen, Leute. Seid ihr euch echt sicher, dass wir die echt zu Freds Insel bringen sollen. Am Ende lockt die in den Ringen eingezwengte Dunkelheit uns selbst unliebsame Leute auf die Bude."

"Knutwender Giesbert hat gesagt, dass wir die solange einlagern, bis er weiß, ob sie wieder frei herumlaufen oder dieser Nachtschattenkönigin zum Fraß vorgeworfen werden sollen. Muss er noch herauskriegen, was für uns alle die bessere Lösung ist", sagte Willi Kieselbleich. "Außerdem kommt nur auf die Insel, wer den Erdreisezauber der Kobolde kann. Wer übers Wasser will oder fliegt verpasst die Insel immer wieder."

"Ja, oder muss mein Boot haben, das ich ganz genau auf die Insel draufsetzen kann", sagte Fred. Dem widersprach niemand.

Dass Max Glimmerflöz bewusstlos war und vielleicht einen Gehirnschaden abbekommen hatte trübte die vorhin noch so lockere Gesamtstimmung deutlich ein. Jetzt waren die vier noch wachen Eisenbarrenbrüder sehr reizbar und schweigsam, bis Fred mit einer Handgeste nach nordwesten Half Moon Island voraus!" ausrief. Dann griff er fest an das Steuerrad und konzentrierte sich.

Das Boot begann zu beben, während es immer noch mit mehr als hundert Knoten über das Wasser dahinschoss. Dann hob es regelrecht ab, um im nächsten Moment durch einen bläulich flimmernden Nebel zu brechen. "Nix, du landest anständig", knurrte Fred und ruckelte am Ruder. Dann bremste sein Boot im Flug und landete mit dem flachen Kiel auf einer ovalen, silbernen Plattform. "Da sind wir. Alle Mann von Bord!" rief Fred.

"Und du bist dir sicher, dass im Moment keiner hier wohnt, Fred?" wollte Toni wissen.

"Frag das unseren Schacherwilli hier, Dicker!" gab Fred die Frage weiter.

"Giesbert und ich haben die ganze Insel für ein Jahr im Vorraus angemietet. Alle, die hier ihre Strandhütten haben kriegen von Toni und mir Zaubertränke und bezauberte Textilien rübergereicht. Keiner fragt bei den Kobolden, wofür jemand so viel zahlt, falls er nicht zu ... ja zu denen gehört", erwiderte Willi. Der letzte Teil seiner Antwort klang sehr beklommen, als müsse er sich hüten, etwas auszusprechen, dass einen verheerenden Zauber freisetzte.

"Und mit denen kämen wir über Knutwendergiesbert auch klar, weil der die Fäden zum Rat der grauen Bärte hat, vor dem selbst die kuschen, die du nich' laut nennen willst, Willi", sagte Toni. Willi hätte fast gesagt, dass auch Fred nicht laut den namen Axdeshtan Ashgacki az Oarshui aussprechen würde. Doch er ließ es besser bleiben. Nachher machte der das doch und konnte damit einen der angeblich hunderttausend Ohrensteine wachkitzeln, den besagter Bund Axdehstan Ashgacki az Oarshui ausgelegt hatte.

Nachdem alle mit den entführten und schlafenden Menschen von Bord waren verrsank das Boot wie in Morast in der Silberplattform. Jetzt konnte keiner sehen, dass es je hier gelandet war.

Freds Hütte schien außen nur vier mal drei Meter groß zu sein. Innen war sie aber mindestens zehnmal so groß und beherbergte mehrere Wohn- und Schlafräume. In einem der Schlafräume standen winzige Betten, gerade handgroß. Dort hinein legten sie die vom Einschrumpfzauber verkleinerten Entführungsopfer Rico Kannegießer und Hein Siebert. Die beiden uneinschrumpfgbaren Opfer Arne und Erna Hansen wurden in zwei frisch bezogene Betten gelegt.

"Gut, Toni und Willi. Ihr macht euch besser fix davon, damit euch keiner sucht. Lutz, wenn du das nich' hinkriegst, den Max wieder an Deck zu bringen bleibt der hier und du verziehst dich auch, damit keiner dich vermisst. Ich bin ja hier zu Hause und kann deshalb auf unsere Gäste aufpassen", sagte Fred.

"Wer sagt es Giesbert, dass wir alles hinbekommen haben?"

"Mach ich gleich über die lütte Dose", erwiderte Fred Tiefensand. Dann deutete er auf den Boden. Für Toni und Willi hieß das, dass sie den Reisezauber durch die Erde nutzen sollten. Das taten sie dann auch und waren in nur einer halben Minute schon weit draußen unter dem Grund der irischen See unterwegs.

"Gut, Fred, ich konnte Max heilen. Er hat keine bleibenden Hirnschäden abbekommen. Ich bring ihn dann apparierend vor sein Haus und verdrück mich dann auch. Pass gut auf unsere Gäste auf, Sprottenbändiger!"

"Pass du besser auf, dass du nicht in zwölf Einzelteile zerlegt in deinem eigenen Krankenhaus landest, Gesundbeter!" knurrte Fred. Lutz grinste ihn dafür an und griff dann Max' Hand, um im nächsten Moment von der Insel zu disapparieren. Auf die Insel apparieren ging nicht, weil ja dafür klar sein musste, dass es die Insel gab und wo genau sie lag.

"Na, dann will ich mal frühstücken", dachte Fred und verschloss das Schlafzimmer, in dem die Hansens, HeinSiebert und Rico Kannegießer lagen mit drei Schlüsseln. Hier sollte nur rein, wer auch seine Genehmigung hatte.

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Albertrude wachte vom wilden Geläute ihres altertümlich wirkenden Weckers auf. Sie hatte gerade von der Hochzeitsnacht Gertrudes geträumt. Einen winzigen Moment lang musste sie die Abscheu ertragen, von einem Liebesakt mit einem am Körper behaarten Mann und das Gefühl der mit diesem erlebten Vereinigung geträumt zu haben. Doch dann überwog Gertrudes wohlige Erinnerung an diese Zeit diese Abscheu. Schließlich drang das immer noch klingende Läuten des Weckers ganz in ihr Bewusstsein durch. Es waren noch zwei Stunden, bis dass dieses lästige Zeitmessgerät sie eigentlich aufwecken sollte. Die Zeiger des Weckers leuchteten rot, was hieß, dass jemand den in den Wecker eingewirkten Meldezauber ausgelöst hatte. Von der Hektik der kleinen Glocke her war es der Alarmruf aus Albertines Dienststelle. Erst dachte sie an einen neuerlichen Überfall der Nachtschatten und griff nach dem wild läutenden Wecker. Das hektische Geläute verstummte. Dafür sprang der Minutenzeiger zehn Minuten weiter und glomm in einem hellen Blau. Damit zeigte der Wecker, dass seine Besitzerin sich zur angezeigten Uhrzeit an ihrem Dienststandort einzufinden hatte. Albertrude bestätigte den Erhalt dieser Anweisung mit "Verstanden!" Darauf stellte sich der Wecker von selbst auf die richtige Uhrzeit zurück. Die Zeiger verloren bis auf einen schwachen Silberschimmer ihre Leuchtkraft.

Mit dem Körperreinigungs- und Schnellankleidezauber war die Hexe mit den magischen Augen innerhalb einer Minute ordentlich gepflegt und bekleidet. Dann apparierte sie aus ihrem Bungalow in das Foyer des Zaubereiministeriums, wo Mitarbeiter und Besucher ungehindert apparieren und disapparieren konnten.

Mit einem Aufzugfuhr sie in die Etage ihrer Abteilung hinauf. Dort wurde sie bereits von Armin Weizengold und Ranulf Waldgrund, dem Leiter des Werwolfüberwachungsamtes erwartet. Anders als der hoch aufgeschossene und goldblonde Armin Weizengold war Ranulf Waldgrund klein und gedrungen und trug einen pechschwarzen Scheitel. Albertrude ertappte sich dabei, wie sie die zwei Männer mit dem Blick einer auf geschlechtliche Partnerschaft ausgehenden Frau ansah. So durfte sie die zwei gerade nicht ansehen, vor allem, wenn sie weiterhin für Armin Weizengold die homophile Hexe darstellen sollte, als welche sie diesem bekannt war.

"Ich ging erst von einem neuerlichen Angriff der Nachtschatten aus", bemerkte Albertrude, nachdem ihr Chef sie und den Kollegen in sein Büro geleitet hatte. Darauf erwiderte Weizengold: "Nein, diesmal ist es was ganz anderes, Fräulein Steinbeißer." Er zog eine Schublade seines Schreibtisches auf und holte mehrere Blätter aus dünnem Papier heraus. Diese legte er zwischen sich und seine Besucher auf die Schreibtischplatte. Albertrude konnte sofort lesen, dass es sogenannte Faxe waren, durch elektrische Vorrichtungen erstellte Kopien beschriebener Seiten, wobei die Abschrift kilometerweit vom ursprünglichen Schriftstück oder Bildnis entfernt erstellt worden sein konnte. Während Albertrude die gefaxte Mitteilung las sprach Armin Weizengold:

"Vor ungefähr zwanzig Minuten bekam unser Verbindungszauberer im Landeskriminalamt Hessen Kenntnis von einem sehr merkwürdigen und zugleich höchst erschreckenden Vorkommnis. Ein besorgter Staatsbürger, wohnhaft in Frankfurt am Main, meldete um 23:30 Uhr der Ortspolizei der südhessischen Stadt Darmstadt, dass sein Freund in einem Haus bei Darmstadt während des Gespräches laut zu schreien begonnen habe und die über drahtlose Fernsprechgeräte errichtete Verbindung ausgefallen sei. Die Polizei suchte daraufhin den entsprechenden Ort auf und fand zehn tote Menschen in einem großen Blockhaus. Der Zustand, in dem die Verstorbenen gefunden wurden trieb die entsandten Polizeibeamten zur Übelkeit. So dauerte es um die fünf Minuten, bis diese Meldung machen und um Verstärkung bitten konnten. Als diese vor Ort eintraf wurden die zehn Toten und ihre Umgebung gründlich untersucht. Daraufhin wurde auch das Landeskriminalamt des Bundeslandes Hessen über den Vorfall unterrichtet.

Albertrude las, während Armin den Zustand der Toten beschrieb, dass die am Ort gefundenen Menschen einer enormen Hitzequelle ohne Flammenwirkung ausgesetzt gewesen sein mussten, die sie ähnlich eines Schmorgerichtes hatte durchbacken lassen. Kleidung und Umgebung wiesen jedoch keinerlei Brandeinwirkung auf. Im Haus da selbst fand sich auch kein Ofen und auch kein Saunaraum, der diesen Zustand irgendwie hätte erklären können. Das hatte den vom Zaubereiministerium eingesetzten Überwacher Bodo Gärtner alarmiert. Dieser hatte die gefaxte Mitteilung aus Darmstadt dann per Blitzeule nach Berlin geschickt, während er selbst um Verstärkung gebeten hatte.

"Und wozu haben Sie mich dann hinzugezogen, Kollege Weizengold?" wollte Ranulf Waldgrund wissen. "Weil Kollege Gärtner bei der Ortsbesichtigung gleich eine magische Rückschau vornahm und dabei folgendes zu sehen bekam", sagte Armin Weizengold und legte dem Kollegen einen kleinen Pergamentzettel vor. Albertrude brauchte nur ihr rechtes Auge um einige Grad zu drehen und auf vierfache Annäherung abzustimmen, um den handgeschriebenen Text lesen zu können.

Kurzbericht über Nachbetrachtung von Ereignissen in einem Blockhaus in Waldstück 20 km nordöstlich von Darmstadt

Nach Erhalt der Mitteilung, dass um 00:00 Uhr in der Nacht des 28. zum 29. März 2003 in erwähntem Blockhaus zehn tote Menschen vorgefunden wurden stellte ich mittels Dusoleil'scher Rückschaubrille eine über drei Stunden zurückreichende Nachbetrachtung an. Diese ergab folgendes:

Um 22:00 Uhr empfing ein älteres Paar acht junge Menschen im Alter zwischen neunzehn und zweiundzwanzig Jahren, fünf männliche und drei weibliche Personen. Sie versammelten sich offenbar zu einer Beratung, die bis 23:20 Uhr andauerte. Dann nahm einer der jungen Männer sein kabellos tätiges Fernsprechgerät und nutzte dieses, um mit einer anderen Person zu sprechen, womöglich jenem Mann, der die Ortspolizei Darmstadt alarmierte. Gegen 23:30 Uhr drang silber-blaues Licht durch die mit Vorhängen verhängten Fenster und traf auf die zehn Personen. Darauf vollzog sich bei allen eine schlagartige Verwandlung zu Werwölfen. Diese zeigten die typischen Zuckungen und Windungen unerträglicher Schmerzen. Offenbar wurden die zehn von einer inneren Hitzequelle dermaßen beeinträchtigt, dass sie innerhalb von vier Minuten wie im Ofen schmorender Gänsebraten wirkten. Während dieser Zeitspanne trat bei einem nach dem anderen der Tod ein und damit die bei Lykanthropen Typische Rückverwandlung in ihre menschliche Erscheinungsform. Mit Eintritt des Todes der letzten betroffenen Person endete auch der Erhitzungsvorgang, sowie das durch die Lücken zwischen den Vorhängen dringende silber-blaue Leuchten.

Vermutung: Das silber-Blaue Licht bewirkte die schlagartige Werwandlung und die tödliche Überhitzung und Veränderung der zehn Betroffenen.

Bitte um Fachkollegen aus dem Amt zur Erkennung, Überwachung und Ergreifung von Werwölfen zur amtlichen Personenfeststellung, falls möglich.

Ebenso ergeht die Bitte, die Quelle des unnatürlichen silber-blauen Leuchtens zu ermitteln, da ich bei der oben berichteten Nachbetrachtung keinen Flugbesen zur Verfügung hatte, um das Haus und dessen Umgebung nach der auffälligen Lichtquelle abzusuchen.

Berichtet und durch Unterschrift bestätigt von

Bodo Gärtner

"Ich habe Sie beide hinzugezogen, um diese Bitten zu gewähren", sagte Armin Weizengold, nachdem Albertrude und ihr Kollege aus der Werwolfüberwachung den Bericht gelesen hatten. "Herr Waldgrund, Bitte senden Sie Mitarbeiter mit Fotoausrüstung und Abgussmaterial zur Anfertigung von Totenmasken zu dem betreffenden Blockhaus! Sie, Fräulein Steinbeißer, überprüfen bitte die Umgegend des Hauses auf die mögliche Ursache des erwähnten blauen Leuchtens."

"Falls die Quelle noch am Ort ist, Herr Weizengold. Falls nicht kann ich diese nicht mehr auffinden, auch nicht durch Benutzung der Rückschaubrille. Mein erweitertes Sehvermögen wirkt sich nur auf zeitgleich in seinem Einsatzbereich vorgehende Dinge aus", erwiderte Albertrude Steinbeißer.

"Bereits als bekannt zur Kenntnis genommen", erwiderte Armin Weizengold. "Allerdings können Sie ermitteln, ob die Erhitzung sich auch auf andere Dinge ausgewirkt hat." Das konnte Albertrude bestätigen.

"Das sieht nach einer bisher unbekannten Form von Magie aus, die erst eine Werwandlung erzwingt und dann zum Tode führt", sagte Ranulf Waldgrund. Albertrude nickte. Das hatte sie auch schon vermutet.

"Genau deshalb müssen wir unbedingt wissen, was für ein Zauber genau das ist und wie dieser gewirkt wurde", sagte Armin Weizengold. "Ich habe wegen dieser Angelegenheit gleich noch eine Unterredung mit dem Zaubereiminister und dem Oberkommandierenden der Lichtwachen und dessen Hessischen Unterkommandanten. Womöglich möchten diese Herren dann auch gleich Ihre Berichte erhalten."

"Ich gehe da selbst hin und betrachte den Vorgang selbst durch die Rückschaubrille. Ich habe einen Flugbesen zur Verfügung, sofern dort keine Muggel, öhm nichtmagische Personen vor Ort sind."

"Keine Sorge, Herr Waldgrund. Der Mitarbeiter Gärtner hat nach der Rückschau einen an die zweihundert Meter durchmessenden Abwehrkreis gegen nichtmagische Personen errichtet. Solange wir nicht wissen, wie dieser Vorfall für Mitbürger ohne Magie darzustellen ist bleibt dieser Absperrkreis bestehen", erwiderte Weizengold. Dann bedeutete er den beiden, den Tatort aufzusuchen.

Da Albertrude einen der amerikanischen Harvey-Besen benutzen durfte, den das Ministerium einhandeln konnte, musste sie nicht auf der Hut vor nichtmagischen Zeugen sein. Sie apparierte einen Kilometer an das Blockhaus heran und umflog dieses in einer Höhe von hundert Metern in immer engeren Kreisen, wobei sie mal zum Boden und mal in den Himmel hinaufblickte. Zehn Kollegen von ihr flogen zu fünf Paaren gebildet auf fünf Besen über dem Haus herum. Die fünf hinteren Besenreiter benutzten bereits die Rückschaubrillen, von denen das Ministerium insgesamt zwanzig Stück aus Frankreich bekommen hatte. Albertrude stimmte ihre magischen Augen auf Wärmesichtvermögen und Festkörperdurchsicht ab. So konnte sie erkennen, dass im Haus selbst keine Heizung oder andere Wärmequelle vorhanden war. Dafür konnte sie dort, wo die zehn Leichname gefunden worden waren, zehn gewisse Resthitzeausstrahlungsquellen erkennen. Also waren die zehn wahrhaftig durch tödliche Überhitzung umgekommen. Als dann einer ihrer Kollegen mit Rückschaubrille über die Fernverständigungsdose meldete, dass er eine blaue Lichtkuppel gesehen habe, die zum fraglichen Zeitpunkt aus dem Nichts heraus entstanden zu sein schien und das Haus bis hundert Meter Umkreis umschlossen habe wurde Albertrude gefragt, ob sie nicht genauer nachsehen könne, wie diese blaue Kuppel entstanden sein mochte. Sie flog in das betreffende Gebiet und blickte sich ganz genau um, wobei sie auch das auf die Abstimmung auf die Auren von lebenden Wesen und/oder magischen Wirkungsbereichen nutzte, vermochte sie eine leicht wabernde silbrige Kugel zu sehen, die aber nur zu sehen war, wenn sie im Zentrum der von ihrem Kollegen erwähnten Kuppel schwebte. Was genau das für eine Magie war konnte sie auf diese Weise nicht erkennen. Feststand jedoch, dass es hier ein Objekt gegeben haben musste, das diese starke Magie ausgerichtet haben musste und danach entweder spurlos verschwunden war, sei es durch zeitlosen Ortswechsel oder einen Flugzauber ohne jetzt noch sichtbare magische Restkraftausstrahlung.

"Hier war eindeutig etwas, dass genau an dieser Stelle Magie gebündelt hat, von der ich noch was sehen kann. Aber wo es herkam und wohin es verschwunden ist kann ich jetzt nicht mehr sehen", verkündete Albertrude ihren Kollegen.

"Die Rückschaubrille zeigt das nicht, was das war. Wenn es unsichtbar war hat es auch keine Wärme abgestrahlt", sagte Rudi Rosendorn, einer der mit Rückschaubrille ausgerüsteten.

"Eine Vorrichtung, die zielgenau über anwesenden Lykanthropen eine auf diese tödlich wirkende Magie wirkt", seufzte Bodo Gärtner, ein schlachsiger Zauberer mit dunkelblondem Haar und keckem Schnauzbart.

"Was anderes kommt wohl nicht in Betracht", erwiderte Rosendorn, der im Vergleich zu Gärtner sehr athletisch aussah und bei Tageslicht dunkelbraune Locken hatte. Ja, der käme womöglich auch für eine erfolgreiche Nachkommenschaft in Frage, dachte Albertrude, bevor sie sich darauf besann, besser nur dem hier stattgefundenen Massensterben ihre volle Aufmerksamkeit zu widmen.

"Will sagen, jemand hat eine Art Werwolfabtötungsvorrichtung gebaut, die zielgenau dort hinfliegt, wo solche zu finden sind? Das ist ja sehr unheimlich", erwiderte Ranulf Waldgrund, der sich die zehn aus dem Haus herausgeschafften Toten besehen und sichtbar mit einem aufkommenden Brechreiz gekämpft hatte. Albertrude traute sich ebenfalls, die zehn Leichname anzusehen. Sie war froh, mindestens fünfzig Meter von diesen entfernt zu sein. So bekam sie zumindest nicht mit, wie sie rochen. Am Ende konnte sie kein Stück gebratenes Fleisch mehr essen.

"Sie sind von innen her durchgebacken worden, als habe jemand in ihren Eingeweiden das dafür nötige Feuer entfacht", stellte sie fest, nachdem sie mit ihren magischen Augen die Toten schichtweise von außen nach Innen durchblickt hatte.

"Und dieses Ding, was die blaue Lichtglocke erzeugt hat lieferte dafür die nötige Hitze, ohne alles andere außer den unmittelbar am Körper getragenen Sachen in Mitleidenschaft zu ziehen?" wollte Gärtner wissen. Rudi Rosendorn und Albertrude Steinbeißer nickten bestätigend. "Dann bleibt die Frage, ob dieser Zauber nur die in seinem Wirkungsbereich anwesenden Werwölfe betrifft oder auch die nicht mit Lykanthropie behafteten Menschen derartig zu Tode bringt."

"Wie das durch die Brille aussieht wird es wohl eine Vorrichtung sein, die über den Zielort gelenkt werden muss, kein Fernfluch. Solch einer hätte sich ohne eine derartige Lichtglocke geäußert und zudem wohl wesentlich schneller gewirkt." Waldgrund nickte bestätigend. "Für mich sah es so aus, dass die hier grausam getöteten Wergestaltigen mit dem silber-blauen Licht in Wechselwirkung standen. Alles andere blieb ja unbeschädigt, und die incantimetrische Untersuchung ergab auch keine Restkraft eines mächtigen dunklen Zaubers."

"Wie gesagt, die Herren, die Toten wurden von innen her geröstet", erinnerte Albertrude die Kollegen daran, was sie erkannt hatte. Sie konnte ihre Verachtung für die offenbar sehr betroffenen Zauberer nur schwer unterdrücken. Gertrude hatte zu ihrer Zeit weitaus schlimmere Verwüstungen angerichtet, Sardonia oder Anthelia in ihrem ersten Leben ganz zu schweigen.

"Stellen wir fest, dass in der Nacht vom 28. zum 29. März 2003 zehn mit dem Werwutkeim behaftete Menschen einen höchst grausamen Tod erlitten, dessen Ursache ein magisches blaues Leuchten in Form einer Kuppel ausstrahlendes, für Menschenaugen unsichtbares Objekt war, dessen Herkunft und Verbleib bis auf weiteres ungeklärt ist", sagte Bodo Gärtner, der wohl all die verbliebene Entschlossenheit aufbieten musste, um diesen für alle Protokolle tauglichen Abschlusskommentar zu sprechen.

"Meine Kollegen werden von den zehn Betroffenen Totenmasken anfertigen. Womöglich erfahren wir dann auch, wer sie waren. Dann besteht zumindest die Möglichkeit, sie in Würde zu bestatten", sagte Waldgrund. Alle nickten ihm zu, auch Albertrude.

Wieder zurück in ihrem Büro schrieb die Hexe mit den magischen Augen ihren Bericht für Armin Weizengold. Sie schloss ihn damit ab, dass dieser Vorfall sicher nicht der einzige bleiben würde und es ziemlich sicher andernorts gleichartige Vorkommnisse gab und empfahl eine Anfrage bei befreundeten Zaubereiministerien, ob diese dergleichen schon verzeichnet hatten und ob diese vielleicht schon mehr darüber herausgefunden hatten.

Als sie fünf Kopien ihres Berichtes erstellt hatte und diese zu den entsprechenden Absendern geschickt hatte fühlte sie, dass sie immer noch ziemlich müde war. Doch jetzt schlafen zu gehen würde ihr nicht genug Erholung bgingen, da sie in nur anderthalb Stunden wieder aufstehen musste, um ihren üblichen Arbeitstag zu beginnen. Doch für den Fall hatte sie vorgesorgt. In ihrer kleinen, rauminhaltsvergrößerten Tasche führte sie immer eine Flasche mit Wachhaltetrank mit, deren Inhalt sie bis zu achtundvierzig Stunden einsatzfähig halten konnte. Um ihren gewohnten Tag-Nacht-Rhythmus nicht unnötig zu verwirren trank sie gerade soviel davon, dass sie den laufenden Tag durchhalten und um zehn Uhr abends wieder müde genug werden konnte, um den verpassten Schlaf nachholen zu können. Dabei achtete sie darauf, dass sie genug Ausdauer bekam, um mehrere Gedankenbotschaften zu verschicken. Zwar strengte sie das Mentiloquieren in ihrer neuen geistigen Form nicht mehr so an wie zuvor, aber sie wollte nicht mitten am Tag unaufweckbar in ihrem Büro schlafen.

Um die Zeit bis zum Beginn ihres üblichen Arbeitstages sinnvoll auszufüllen kehrte sie vom Foyer aus in ihr eigenes Haus zurück. Dort hatte sie verschiedene Bücher über die Maschinen und Lebensgewohnheiten der Magielosen, sowie verschiedene Bücher über menschenförmige Zauberwesen und die schwersten magischen Erkrankungen, darunter auch Vampirismus und Lykanthropie. in "Die tragische Seite des Vollmondes" stand eine ausführliche Zusammenführung zwischen zaubereigeschichtlichen und medimagischen Erläuterungen über Werwölfe in zeitlicher Ordnung. Es stand auch dabei, dass ein mit dem Fluch der Lykanthropie behafteter Mensch nur dann zum Wolf wurde, wenn das Licht des Vollmondes ungehindert auf die Erde treffen konnte. Lagen Wolken vor dem Mond fand die Verwandlung nicht statt oder kehrte sich wieder um. Allerdings half es nicht, werwütige Menschen in ein völlig vom natürlichen Licht abgeschlossenes Gebäude einzusperren. Aus irgendeinem Grund wurden sie dann trotzdem verwandelt. Ein Zauberwesenkundler namens Philobathes Moorgrund hatte die Vermutung geprüft, ob die sowohl schwerkraftmäßige und auch magische Beziehung zwischen Mond und Wasser eine Rolle spielte und dabei festgestellt, dass ein Lykanthrop, der in einer mit Kopfblasenzauber in einer luft- und wasserdicht verschlossenen Kiste eingesperrt war, mehr als zehn Meter unter Wasser nicht zum Wolf wurde. Allerdings bekamen die Versuchspersonen heftige Platzangstanfälle und entwickelten in diesem Zustand so große Kräfte, dass sie aus ihren kleinen Holzgefängnissen ausbrachen und dann an die Wasseroberfläche zurückkehrten, wo sie dann doch der Vollmond erwischte und verwandelte. Moorgrund sah seine Hypothese jedoch nicht als verworfen an, sondern vermutete, dass es auf die Wassertiefe ankomme, ob Werwölfe Menschen blieben, ohne in wilder Platzangst aus allem auszubrechen, worin sie steckten.

Ein anderer Magier vertrat den Standpunkt, dass die magische Verbindung zwischen dem Mondlicht und dem Metall Silber helfen könne, eine ungewollte Verwandlung zu verhindern. Doch dabei kam es dann zu denselben Überlastungen der körpereigenen Organe, dass Anthelia selbst schon festgestellt hatte. Im Mondlicht steckte eine offenbar sehr starke Magie, die mit rein menschlichen Mitteln nicht beliebig abgeschirmt werden konnte. Zumindest pflichtete ein österreichischer Medimagier namens Clemenz Steinbrunner Philobathes Moorgrund bei, dass dessen Hypothese mit der genügend großen Wassermenge zwischen Mond und Wolfsmensch durch die Verwandlungshemmung durch Bewölkung nachvollziehbar sei, da Wolken ja auch nichts anderes als Ansammlungen feinster Wassertröpfchen seien. Er hatte dann seine Schwägerin, die als kleines Mädchen vom Werwolf Rainhold Bärenzahn gebissen worden war, mit Schlaftrank betäubt und sie in eine Höhle mehr als zweihundert Klafter unter der Erdoberfläche eingeschlossen. Als der Vollmond frei auf die Erde schien hatte sie sich zur Hälfte verwandelt und war aus der Betäubung aufgewacht. Wie bei Philobathes' Versuchen mit ins Wasser versenkten Lykanthropen war sie in wilde Panik verfallen und hatte sich dabei durch heftiges Rammen der Felswände den Schädel zertrümmert und das natürlich nicht überlebt. Steinbrunner war deshalb von seinem eigenen Bruder und den Heilern wegen unzulässiger Versuche mit magischen Menschen angeklagt und zu dreißig Jahren im Turm der lauten Reue verurteilt worden. Zeitgleich hatten ihm die Heiler seine Zulassung abgesprochen, weil er nicht sichergestellt hatte, dass seine Schwägerin sich bei dem Versuch nichts antun könne. Außerdem hatte er versäumt, seine Heilerkollegen über den Versuch an sich zu unterrichten, weil die das natürlich auch interessierte, wie die Werwandlung unterbunden werden konnte. Zumindest wurde in diesem Zusammenhang noch einmal erwähnt, dass bedauerlicherweise feststand, dass von einer Werwölfin empfangene Kinder den Werwutkeim schon über die Nabelschnur ins eigene Blut bekamen und sich während der Vollmonde während der Schwangerschaft ebenso verwandelten wie ihre Mutter und es daher dringend zu unterlassen sei, eine erwiesene Werwölfin schwanger werden zu lassen. Ja, diese Einstellung hatte auch Gertrude Steinbeißer gepflegt und die fünf Werwölfinnen, denen sie in ihrem langen Leben begegnet war, einfach die Gebärmütter absterben lassen, damit sie ja keine lebensfähigen Nachkommen ausreifen konnten. Dass sie selbst dafür nicht von wem auch immer verklagt wurde lag daran, dass sie ihren "Patientinnen" nach erfolgreicher Behandlung die Erinnerungen genommen hatte, dass diese mit ihr zusammengetroffen waren. Zumindest hatte sie auf diese Weise die Züchtung neuer Werwölfe vereitelt, lobte sich die nun in Albertines Körper steckende Hexengroßmeisterin. Aber die Methode, Werwölfe auf einen Schlag und ohne Vorwarnung abzutöten wie widerlichen Schimmelpilzbefall durch behutsames Abbrennen mit einer heißen Flamme war schon beachtlich. Allerdings würden die achso menschenfreundlichen Leute aus ihrem Zaubereiministerium und denen anderer Länder das natürlich anders sehen, als feigen Massenmord. Ihr war klar, dass wenn die Geschichte nicht zur streng geheimen Angelegenheit erklärt würde, sehr rasch die ersten lautstarken Anklagen in den Zaubererzeitungen zu lesen sein würden, gerade auch deshalb, weil nach der Sache namens "Wolfsherbst" alle Ministerien versuchten, eine höhere Wertschätzung der Werwölfe zu erreichen. Das war aber bisher noch am leisen aber starken Widerstand der meisten Hexen und Zauberer gescheitert, die keinen Überträger unheilbarer Ansteckungskrankheiten bei sich leben oder arbeiten lassen wollten. Außerdem, so hatte ein Vertreter aus Hellers Finanz- und Handelsabteilung getönt, sei es nur gerecht, wenn erwiesene Lykanthropen nur niedere Arbeiten verrichten könnten, damit sie bei Vollmond ohne Schwirigkeiten für ihre Arbeitgeber pausieren konnten. Denn es sei ja bekannt, so der betreffende Zauberer weiter, dass Werwölfe am Tag nach Vollmond körperlich und geistig sehr geschwächt seien und deshalb nicht arbeiten könnten. So ähnlich sei es ja mit schwangeren Hexen, weshalb es früher durchaus angebracht war, dass Hexen keine hochwichtigen Berufe ausüben durften, weil sie durch ihren Fruchtbarkeitsrhythmus und eine mögliche Schwangerschaft nicht dieselbe Leistung wie ein Zauberer bringen könnten. Ja, wenn es die Seelenverschmelzung Albertrude da schon gegeben hätte wäre dieser Zeitgenosse sicher von ihr sehr heftig gezüchtigt worden. Aber der hatte ja noch schnell besänftigend eingeworfen, dass seit der Zeit aber auch viele Fortschritte in der Heilmagie und vor allem der Zaubertrankkunde gemacht worden waren, damit Hexen trotz ihrer körperlichen Mehrbelastungen gleichwertige Arbeiten wie Zauberer ausüben konnten. Gertrude hatte ihren Körper nie als Belastung empfunden und die vier Schwangerschaften, die sie ausgetragen hatte auch als Aufwertung gesehen, weil sie neues Leben hervorbringen konnte.

Alles in allem verflogen die Stunden für Albertrude mit eigenen Erinnerungen und dem Lesen der über Werwölfe geschriebenen Berichte, Theorien und Gerüchte. Schließlich konnte sie höchst offiziell an ihren Arbeitsplatz zurückkehren und sich wieder dem widmen, was Albertine offiziell zu tun hatte.

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Die magisch begabten Mitstreiter der Mondgeschwister saßen in einem mit Klangkerkerzauber belegten Raum des Mondlichtungshauses zusammen, jenes Geheimverstecks auf einer Insel mitten im Amazonasstrom. Gerade hatten Lunera und Fino erfahren, dass eine Niederlassung der deutschen Verbündeten bei Darmstadt von jener unheimlichen Kraft ausgelöscht worden war, welche bereits in Spanien und anderen Ländern einzelne oder mehrere versteckte Mitstreiter getötet hatte. Es musste unbedingt geklärt werden, was für eine Kraft das war, ob sie ein direkt wirksamer Fluch oder die Wirkungsweise einer magischen Vorrichtung war, die erst einmal ihre Ziele aussuchen musste. So diskutierten die nur zwanzig zauberisch begabten Mondgeschwister, wie die mörderische Kraft entfacht werden konnte. Es stand fest, dass ausschließlich Lykanthropen davon betroffen wurden. Sie wurden schlagartig zu Wölfen, um dann unter einer übergroßen Hitze regelrecht durchgebacken zu werden, als hätte wer sie bei lebendigem Leibe in einen Backofen gesteckt. Diese tödliche Hitze wirkte aber nicht auf in der Näe lebende Tiere und beeinträchtigte auch keine toten Gegenstände, außer den mit Werwolfsblut und Verbindungszaubern behandelten Fernverständigungsartefakten. Also war das sowas wie ein Feuerzauber, der seine Kraft aus Werwolfsblut bezog? Es konnte aber auch mit dem Mond zu tun haben, an dessen Zyklus alle Werwölfe gebunden waren, sofern sie nicht den von Cortoreja erfundenen Lykonemisis-Trank nutzten, um die Verwandlung willentlich auszulösen oder zu unterdrücken und dabei den eigenen Willen zu behalten. Auch wurde sehr breit darüber gesprochen, ob dieser Zauber durch einen Fluch entfesselt wurde, der vom Aussprecher ohne Zeitverlust auf das ausgesuchte Opfer springen konnte oder von einer Vorrichtung ausgelöst wurde, die in die Nähe der Opfer geschafft werden musste, um zu wirken. Die peruanische Hexe Patanegra, von der einige behaupteten, ihre indigenen Vorfahren stammten aus einem Zweig der letzten Herrscherfamilie der Inkas ab, erwähnte, dass die Macht von Mama Killa, der Mondgöttin der Inkas, angerufen werden konnte, um gutes wie böses unter dem Mond zu erschaffen. Allerdings glaube sie nicht, dass die modernen Hexen und Zauberer aus Europa noch die alten Rituale kannten, mit denen die Kraft Mama Killas beschworen werden konnte, zumal es meistens die von ihr selbst mit Kraft begüterten Priesterinnen waren, die diese Macht beschwören konnten.

Dem widersprachen Fino und andere europäischstämmige Hexen und Zauberer dahingehend, dass es immer noch Mondzauber aus der Zeit des Altertums bis hin zu Zaubern gebe, die das von der Sonne gespiegelte Licht und die Schwerkraft des Mondes als Kraftquelle nutzen konnten. So könnten dann auch europäischstämmige Hexen und Zauberer auf die Macht des Mondes zurückgreifen.

Falls die unheilvolle Kraft durch auf die Opfer treffendes Mondlicht verstärkt wurde, so war die Frage, wohin sich die Mitstreiter verziehen konnten. Sie konnten bei klarem Himmel nur in einer Wassertiefe von über hundert Metern oder in einer Höhle, die unter einem kilometerdicken Bergmassiv lag der Kraft des Vollmondes entrinnen und sich den Belastungen der unfreiwilligen Verwandlung entziehen. Doch das alles würde nur helfen, wenn es kein direkt auf die Opfer gelegter Fernfluch war. Sowas ginge aber auch nur, wenn dem Dunkelmagier oder der schwarzen Hexe der Name des Opfers bekannt war und/oder er oder sie Körperproben wie Haare, Fingernägel oder bestenfalls Blut zur Verfügung hatte. Weil die Mondgeschwister es tunlichst vermieden, sich von eingestaltlichen Menschen berühren zu lassen war zumindest auszuschließen, dass jemand sich an ihnen zu schaffen gemacht hatte, um die nötigen Wirkstoffe zu erhalten. Und wenn es ein Fernfluch war, der ohne das alles auskam und auf alle lebenden Werwölfe zugleich ausgeübt werden konnte, dann wären sie alle wohl schon längst gestorben, so Lunera. Das konnten der europäisch geprägte Zauberer Fino und die auch mit magischen Fertigkeiten der Inkas vertraute Patanegra grundsätzlich ausschließen. "Wer einen Fluch aussprechen will, der viele tausend Menschen zugleich treffen und verheeren soll", so Patanegra, "Muss aus der Gruppe der Opfer mindestens ein Zwölftel so viele zur Verfügung haben, um mit ihrem Leid und ihrem Tod das Unheil für alle anderen zu rufen." Fino stimmte dem zu und verwies auf den Fluch, mit dem der Dunkelmagier Voldemort sein Heimatland überzogen hatte, um keine ausländischen Hexen und Zauberer mehr ungefährdet in "sein Land" hineinzulassen. Hierfür hatten mehr als hundert Menschen qualvoll sterben müssen, so der Bericht von Mondkralle, dem Kontakt zu den immer noch bestehenden Greybackianern, die in Großbritannien und Irland ähnliche Ziele wie die Mondbrüder verfolgten und sich all zu gerne mit Rabiosos Lykotopia-Bewegung zusammengetan hätten, wenn diese nicht von dieser Spinnenhexe ausgehoben worden wäre. Gut, diese in Menschengestalt überragend schöne Person hatte das gemacht, was die Mondgeschwister hatten tun wollen. Dennoch war sie auch eine Feindin der Mondkinder. Besonders Fino glomm immer wieder der blanke Hass in den Augen, wenn er über diese Hexe sprechen musste. So wunderte es niemanden, dass er immer wieder behauptete, dass es auch diese Hexe sein mochte, die ihnen diese tödliche Macht entgegengeschickt hatte. Schließlich wisse ja außer ihr niemand, woher sie stammte und welche Magie sie beherrschte. Allein schon, dass sie zur menschengroßen Spinne werden konnte sprach dafür, dass sie nicht nur mächtig war, sondern aus einer ganz anderen Weltecke stammte als die anderen in der Mondbruderschaft vereinten Hexen und Zauberer.

"Wenn diese Schlampe nicht ihren besudelten Lendenschurz mit Diebstahlzauber belegt in unserem Tauchschiffchen liegengelassen hätte könnten wir zumindest alle wichtigen Mitstreiter in die Reina de las Mareas bringen. Die ist weit genug unter wasser", sagte Fino mit unverkennbarer Verachtung in der Stimme.

"Ich weiß, ich habe es euch verboten, in das Schiff zurückzukehren, weil wir nicht wissen, ob dieses Weibsbild nicht doch sowas wie einen Fluch darauf gelegt hat, der ähnlich wirkt wie ein Krankheitserreger. Aber vielleicht sollte doch jemand nachsehen, ob unser Schiff noch da ist, wo wir es verlassen haben", sagte einer von Luneras Mitstreitern.

"Ich probiere das sicher nicht aus, entweder voll unter Wasser zu apparieren, weil unser Schiff nicht mehr da ist, wo es mal war oder mir so einen Fluch einzufangen", knurrte Fino. Mondkralle, der seit einigen Monaten ständig im Mondlichtungshaus anwesende Greybackianer, schnaubte: "Dann kannst du das auch nicht wissen, ob dieses Weib da irgendwas verhext hat, Fino. Hast ja voll Angst vor der, nicht wahr?"

"Brauchst du deine Klöten noch, Greybackanbeter?" schnarrte Fino und machte Anstalten, zu seinem Zauberstab zu greifen.

"Wenn es nach Vera, meiner Frau geht zumindest noch, um ihr ein kleines Wolfsmädchen in den Wanst zu rammeln, Dünnerchen", schnarrte Mondkralle zurück und machte ebenfalls Anstalten, nach seinem Zauberstab zu greifen. Lunera sprang auf und schrillte: "Jungs, bloß keinen Zank hier! Oder wer von euch will Vita Magica und dieser Spinnenfrau einen brief schreiben, dass die uns nicht mehr mit Flüchen oder Mördermücken umbringen müssen, weil wir das ganz gut alleine hinkriegen?" Das wirkte offenbar heftiger als ein Bestrafungszauber. Die zwei, die sich beinahe in die Wolle gekriegt hatten, blickten sich verdrossen an, ließen aber ihre Hände von den Zauberstäben. Fino knurrte: "Dieses Spinnenweib wird bald als Hauptgericht für unsere Siegesfeier serviert, und diese Vita-Magica-Brut, die meint, nur eingestaltliche Hexen und Zauberer dürften sich fortpflanzen und leben, wird mitkriegen, welchen großen Drachen sie da kitzelt, falls die das sind, die unsere Mitstreiter umgebracht haben."

"Gut geheult, Wolfsbruder", feixte Mondkralle. "Dann kriegt bloß bald raus, wie das mit diesem Durchbackzauber geht, bevor du noch irgendwem als Würstchen zwischen zwei Brötchenhälften serviert wirst, Fino."

"Ich hab's versucht, Lunera!" Knurrte Fino. dann sprang er auf und wollte seinen Zauberstab ergreifen. Doch Lunera sprang zwischen ihn und Mondkralle. "Lass das sein, Fino, oder du bist der nächste nach ihm, der dann Probleme hat", drohte sie mit katzenhaft vorgestreckten Fingernägeln. Da erhob sich Patanegra von ihrem Stuhl und sagte ganz ruhig: "Besser ist es, wenn wir hier aufhören und unns alle zurückziehen, damit am Ende nicht mal mehr einer hier ist, der unseren Feinden ihren Sieg über uns verkünden kann."

"Dann geh du doch zurück in die Anden, Inkaprinzessin", blaffte Mondkralle, während er versuchte, an Lunera vorbeizuspähen, was Fino machte, der sich ganz bequem hinter Luneras Rücken verstecken konnte. Genau deshalb sagte er dann auch: "Fino, du willst ein spanischer Macho sein und versteckst dich hinter einer Frau, die breitere Schultern hat als du?"

"Lunera, ich lasse mich nicht so beschimpfen. Geh mir aus dem Weg!" schnarrte Fino und versuchte, Lunera bei Seite zu drücken. Diese wandte sich um und versetzte Fino ansatzlos einen kräftigen Kinnhaken. Fino bekam nicht einmal mit, wie er von der Wucht des Schlages getroffen zu Boden ging.

"Wenn du irgendwelche angestauten Sachen hast, Mondkralle, dann geh zurück zu deiner Frau und bring sie dazu, dir diesen Ballast von Körper und Seele zu nehmen. Aber komm erst wieder, wenn du dich wieder gut genug im Griff hast, um hier keinen tödlich zu beleidigen. Das genau würde dich dann nämlich aus der Welt schaffen."

"Willst du mir drohen, die gerade mal soviel Magie im Blut hat, um ein paar Zaubertränke anzurühren? Du bist hier keine Königin, sondern nur Bittstellerin, was uns vom Orden der Ritter des Mondes angeht, Cortorejas Bettwärmerin. Der hat dich doch nur in seine Reihen gebissen, weil ihm dein goldenes Haar so gefallen hat", knurrte Mondkralle.

"Verschwinde dahin, wo du herkommst", schnaubte Lunera mit erhobenen Fäusten. Mondkralle setzte zu einem höhnischen Lachen an, als er unvermittelt in eine blaue Lichtspirale gehüllt wurde und verschwand.

"Das müssen wir uns nicht bieten lassen", knurrte Lunera. "Ab heute ist Tara McRore unsere Verbindungssprecherin zu den Greybackianern."

Auf Luneras Anordnung hin weckte Patanegra, die zwanzig Jahre älter als Lunera war, den niedergeschlagenen Fino. Dieser sah erst seine blonde Mitstreiterin verächtlich an. Doch diese konterte mit einem sehr warnenden Blick. "Ich habe Mondkralle mit dem von dir eingerichteten Verbannungsportschlüssel nach Hause geschickt. Krieg du bitte endlich hin, dass nicht jeder auf diesen Zusammenstoß mit dieser Spinnenschlampe zielende Spruch dich aus der Bahn wirft, Fino!"

"Zusammenstoß? - Ihr habt alle keine Ahnung, wie sehr dieses Weib den Tod verdient hat. Die soll hoffen, dass irgendeines von diesen Eingestaltlichkeitsfreundlichen Zaubereiministerien die zu fassen kriegt und ich nicht rausfinde, in welchem Gefängnis die landet. Denn wenn ich die kriege zerlege ich die Stückchen für Stückchen, Lunera."

"Ja, wenn, Fino. Weil die das weiß kann die dich wunderbar um deine Beherrschung bringen und dann ihrerseits erst seelisch und dann körperlich zerlegen", sagte Lunera sehr entschlossen. "Willst du echt, dass Alejandro ohne seinen Vater aufwachsen muss? Oder willst du haben, dass er, weil er meint, dich rächen zu müssen, viel zu jung stirbt?"

"Nicht, bevor ich dem beigebracht habe, wie er sich gegen diese Hexenschlampe und ihre Mitschwestern wehren kann. Der wird ganz sicher zaubern können."

"So wie ich oder Nina?" fragte Lunera. Fino stierte sie an. Dann sah sie was in seinen Augen, das sie bereuen ließ, was sie gerade gefragt hatte. "Er ist dein Sohn, Fino, ob Magier oder nicht, ob Eingestaltler oder Mondkind", sagte sie dann noch. Doch sie erkannte, dass es nicht die erhoffte Wirkung hatte. Fino drehte sich wortlos um und ging aus dem Raum. Offenbar sah er nach dem Kinnhaken seiner Mitstreiterin keinen Grund mehr, hier noch was wichtiges beizusteuern.

"Du hast ihn an seiner Zaubererehre gepackt, Schwester Lunera", wisperte Patanegra ihrer anerkannten Anführerin zu. "Hoffe darauf, dass wir das alles nicht bald bereuen müssen, was du ihm da gerade vorgehalten hast, dass sein Sohn vielleicht kein Zauberer wird."

"Du hast leider recht, Schwester Patanegra. Ich habe offenbar auch Probleme, mir genau zu überlegen, was ich sage. Aber irgendwas musste ich ihm mitgeben, dass er weiß, wofür er noch leben soll."

"Das weiß er, weil er sich und/oder uns sonst schon längst getötet hätte. Öhm, diese Reina de las Mareas, was und wo ist das genau?" fragte Patanegra.

Lunera beschrieb der halbindigenen Hexe aus Peru, was die RDLM war und wieso sie nicht mehr an Bord gegangen waren, nachdem Lunera, Fino und Tibo das walförmige Unterseeschiff stillgelegt hatten.

"Wenn wir uns vor Mama Killas Anblick verbergen wollen und nicht in die Tierform überwechseln wollen brauchen wir solche Gefährte, Lunera. Ich werde es riskieren, dort hinzueilen. Denn ich kenne einige wirksame Rituale, um gegen den Hauch des Verderbens, wie ein Fluch bei den alten Stämmen genannt wurde, gefeit zu sein. Außerdem bin ich eine aus zwei Kulturen vollständig geübte Hexe. Vielleicht hilft mir das auch, einem anderen Hexenzauber zu widerstehen."

"Wir brauchen deine Kenntnisse der Mondmagie, Patanegra. Wenn dort ein Fluch wirkt, der dich sofort tötet oder einer, der dich zum Überträger einer Krankheit macht kannst du nicht mehr zu uns zurück."

"Wie erwähnt, wir müssen es herausfinden, ob euer Schiff noch immer unbeweglich auf dem Meeresgrund liegt", sagte Patanegra. Lunera sah die schlanke Hexe an. Mit ihrer schwarzblauen, bis auf die Schultern wehenden Haartracht, der kaffeebraunen Haut und den kohleschwarzen Mandelaugen wirkte sie wie das Idealbild einer halbindianischen Traumfrau. Wenn sie als Wölfin herumlief war sie nachtschwarz, daher ihr spanischer Name für Schwarzpfote.

Lunera versuchte es noch einmal, Patanegra zu überreden, nicht an Bord der auf dem Meeresgrund liegenden RDLM zu gehen. Sie könnte schließlich auch von der anderen zerstört worden sein und es dort deshalb nur noch Salzwasser mit mörderischem Druck geben. Doch die Mitstreiterin ließ sich davon nicht abbringen.

Lunera bekam mit, wie sich Patanegra mit einem ihr völlig fremden Singsang und offenbar durch ihr Zimmer tanzend in eine Art Trance versetzte. In diesem Zustand beschwor sie wohl die Kräfte von Sonne, Mond und Erde. Zumindest konnte Lunera zwischendurch die Worte Inti, Mama Killa und Pacha Mama heraushören, von denen sie wusste, dass es drei wichtige Gottheiten aus der Inkazeit gewesen waren und von vielen Ureinwohnern Südamerikas trotz aller gewaltsamen Christianisierung heute noch verehrt wurden. Dann, nach ungefähr zwanzig Minuten, erschien Patanegra in eine helle, grünlich-blaue Aura gehüllt. Sie trug keinen Faden Kleidung am Körper, aber eine Halskette mit blutroten Perlen und ihren Mahagonyzauberstab mit den Fasern aus dem Herz eines peruanischen Vipernzahnweibchens. Die magische Aura leuchtete so stark um ihren Kopf, dass dieser wie von einer leuchtenden Kugelschale umschlossen wirkte. Lunera fühlte die unbändige Kraft, die von Patanegra ausstrahlte. Deshalb wagte sie nicht, irgendwas zu sagen. Mit einer sehr eleganten Drehung verschwand die von einer Ureinwohnerin geborene Hexe mit leisem Plopp im Nichts.

Bange fünf Minuten musste Lunera warten. Dann tauchte Patanegra wieder auf. Sie hielt etwas in der linken Hand. Lunera erschrak, als sie in das bleiche Gesicht von Rabioso blickte. "Das hier hat die Spinne im Kommandoraum zurückgelassen. Es ist nur mit einem Verfallsverzögerungszauber belegt, vielleicht Conservatempus."

"Die hat dem echt den Kopf abgehauen", seufzte Lunera. Doch dann fing sie sich wieder. Sie hätten Rabioso ebenfalls umgebracht, weil der ihre Daseinsform gefährdet hatte. Dann hatte das eben diese Spinnenhexe getan, die Fino dazu gezwungen hatte, ihr Rabiosos möglichen Unterschlupf zu verraten und Fino deshalb bis heute jede Berührung von Frauenhand wie einen Schmerz empfand, ob ein Streicheln oder einen Kinnhaken.

"Können wir ungefährdet in das Schiff hinein?" fragte Lunera. Patanegra nickte und erklärte: "Ich habe die Lieder der Reinheit der Erde und des Wassers gesungen. Da euer treffliches Schiff gerade auf dem Meeresgrund liegt konnte ich die beiden Urkräfte hervorragend miteinander vereinen. Wenn dort eine böse Zauberei gewirkt hat, dann wirkt sie jetzt nicht mehr dort. Nur noch die auf alle beweglichen Teile wirkenden Kräfte sind wohl noch vorhanden."

"Gut, dann werden Fino, Tibo und ich dort wieder hingehen und das Schiff besichtigen. Öhm, hast du dort noch den Lendenschurz gefunden, den die Spinnenhexe hingelegt hat?"

"Ich habe sehr genau danach gesucht und ihn nicht gefunden. Womöglich hat sie ihn wieder mitgenommen, nachdem sie den hier zurückgelassen hat", sagte Patanegra und hielt Rabiosos abgetrennten Kopf hoch, als sei das nicht die Trophäe einer Bluttat, sondern nur ein Stück Pergament.

"Ich danke dir, Patanegra. Vielleicht brauchen wir die RDLM wirklich nötiger als ich uns bisher eingestehen wollte", raunte Lunera.

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Als Julius Latierre am Morgen des 29. März sein Büro aufsuchte saß da schon Bärbel Weizengold auf einem der Wartestühle. Sie bemühte sich um ein Lächeln. Allerdings konnte sie die Sorgen und Verdrossenheit nicht wirklich wegbekommen.

"Hallo Fräulein Weizengold. Wenn ich gewusst hätte, dass Sie persönlich bei mir vorsprechen wollen wäre ich wohl zehn Minuten früher von zu Hause abgereist", begrüßte Julius Bärbel.

"Voll amtlich, wie der Herr, den ich nur dann Papa nennen darf, wenn wir nicht im Ministerium und nicht während der offiziellen Arbeitszeiten zusammentreffen", grummelte die blonde Hexe aus Deutschland. Doch dann erwiderte sie den Gruß und bedankte sich, dass Julius sie jetzt schon anhören könne.

Als sie dann in Julius' Büro saßen übergab Bärbel ihm eine dicke Pergamentrolle in vier fest verknoteten Schnüren.

"Mein unmittelbarer Dienstvorgesetzter hat den Bericht über die Veränderung von Monsieur Ventvit mit sehr großer Besorgnis entgegengenommen und hat mich vorgeschickt, dass ich das von dir, öhm, Ihnen vorgeschlagene Treffen zwischen ihm und seiner Amtskollegin Grandchapeau und dem wohl schon neuen Leiter der Abteilung für magische Geschöpfe vorbereite. Ich bin gestern abend noch losgeflogen und im Sternenhaus abgestiegen, um sofort bei Öffnung der Tore hier hereinzukommen. Der Packen Pergament ist eigentlich eine fünffache Kopie von drei Pergamentseiten, die sich mit diesen Nachtschatten befassen. Da hat es nämlich gestern Nachmittag noch einen Zwischenfall gegeben, der unbedingt in die Zusammenfassung eingefügt werden musste", sagte Bärbel. Ihr Französisch war das einer in Paris geborenen. Niemand konnte ihr die Deutsche anhören. Er bewunderte Bärbels Sprachkenntnisse, obwohl Julius selbst durch einen Jahrzehntezufall innerhalb eines Tages so gut französisch gelernt hatte wie ein Muttersprachler aus Paris, aber auch gut den Dialekt der Provence nachahmen konnte, den Catherine Brickston mit den Renards und Eleonore Delamontagne sprach, wenn es nur um private Sachen ging.

"Ui, öhm, bei uns dürfte das die Geheimhaltungsstufe S9 sein", raunte Julius, als er die überreichten Unterlagen durchgelesen hatte. "Ich stimme Ihrer Kollegin Steinbeißer dahingehend zu, dass jemand außerhalb eines Ministeriums, der oder die an fast vergessene Zauber herankommt, sowas erfunden haben kann, dass Dunkelheit über längerem Zeitraum sammelt und sie in explosionsartiger Weise wieder freisetzen kann. Und die zwei Studierenden können ihr bisheriges Leben so weiterführen?"

"Zumindest sagen das Herr Weizengold, sowie der oberste Leiter der Lichtwachen, Andronicus Eisenhut. Denn so kommt wohl keiner dieser Nachtschatten richtig nahe an die zwei heran, um sie zu töten oder deren Schatten zu stehlen. Öhm, übrigens weiß die von Ihnen erwähnte Kollegin nicht, dass mein Vorgesetzter mich als Botin zu Ihnen allen hingeschickt hat. Die soll wohl weiter den einen Mann überwachen, der nicht so einen Verdunkelungszauber mit sich herumträgt. Der Mann macht im Inselfunk von Neuwerk eine Sendung über sowas, das elektronische Musik heißt und ist da auch für die Gerätschaften zum Aufnehmen und senden zuständig."

"Elektronische Musik? Lange kein rein elektronisches Stück mehr gehört", erwiderte Julius und dachte an die erste feste Freundin des Bruders seines Ex-Schulkameraden Malcolm. Die hatte voll auf die deutsche Band Kraftwerk und den Synthesizerkünstler Jean-Michel Jarre gestanden. Womöglich tat Joany das immer noch.

"Na klar, du hast sicher schon so Sachen gehört", sprach Bärbel im nun persönlichen Ton zu Julius. Dann wechselte sie wieder zur amtlichen Sprechweise: "Jedenfalls bin ich beauftragt und befugt, den Termin und die Tagesordnung für ein Treffen zwischen meinem direkten Vorgesetzten, Armin Weizengold, sowie dem Leiter der Geisterbehörde Windspiel unsererseits, sowie Madame Nathalie Grandchapeau und Geisterbehördenleiter Simon Beaubois Ihrerseits zu erörtern und zu vereinbaren. Ich besitze in diesem Fall die Genehmigung, entsprechende Übereinkommen zu unterschreiben und zu besiegeln."

"Hmm, da der bisherige Leiter der Geisterbehörde nun der neue Leiter für magische Geschöpfe ist ist seine Nachfolgerin Adrastée Ventvit, nebenbei die Nichte unserer Zaubereiministerin", erwiderte Julius. "Aber ansonsten besteht sehr großes Interesse der erwähnten Damen, dieses Treffen abzuhalten. Aber war da nicht irgendwas von einer europäischen Gesamtkonferenz im Gespräch?"

"In der Angelegenheit ist ein anderer Kollege von mir unterwegs zu Mr. Tim Abrahams, um mit dem zu unterhandeln. Der hat übrigens auch die notwendigen Rechte, verbindliche Vereinbarungen zu treffen wie ich, nur damit hier nicht der quietschgelbe Gerüchtewichtel herumschwirrt, dass ich wegen meiner direkten Blutsverwandtschaft mit Herren Armin Weizengold besondere Vorzüge genieße", erwiderte Bärbel.

"Zur Kenntnis genommen", erwiderte Julius darauf und genoss es heimlich, dass seine Besucherin ihr Gesicht verzog. Er fragte noch, wie er zu der Ehre käme, als erster angesprochen worden zu sein. Darauf antwortete Bärbel, dass er ja als der Verbindungszauberer zwischen Zauberwesen- und Koexistenzbüro tätig sei. Das bestätigte Julius. "Wir haben einen solchen Dienstposten noch nicht bei uns, zumal wir seit zwanzig Jahren einen Finanzverwalter haben, der jeden Knut nicht nur dreimal, sondern fünfmal umdreht. Wenn jemand die Arbeit von zweien macht kriegt der nur anderthalbfaches Gehalt, weil ihm die zweite Amtsfunktion als monatliche Überstunden angerechnet wird, weshalb das mit den Personalunionen vor drei Jahren aufgehört hat. Koboldstämmig halt. Da sind wir dann auch schon bei unserem eigentlichen Thema: Mein Vorgesetzter befürchtet, wohl leider völlig zu recht, dass unser Finanzverwalter gerade nach den Mehrausgaben im letzten Jahr eine weitere Bewachung der drei noch lebenden Überlebenden dieses Schattendämons in Marokko nur noch bis zum Maianfang aufrechterhalten wird. Sollte sich, so Herr Weizengold, dabei ergeben, dass die Ausgaben höher ausfallen als der Sinn dieser Maßnahme es gebietet, könnten die drei sich selbst überlassen bleiben und dann eben doch noch von dieser Nachtschattenriesin und ihren Dienern heimgesucht werden. Im Grunde rotiert unser Finanzverwalter Heller sowieso, weil die Sache mit den Dunkelheitsfreisetzerringen ihm durch den Besenschweif fegt und er jetzt wohl zustimmen muss, dass die zwei miteinander Verheirateten doch noch länger überwacht werden müssten, weil dieser weibliche Überschatten sich wohl was anderes einfallen lassen muss, um sie wieder anzugreifen, solange sie bei uns in Deutschland sind."

"Sie haben die Reisepläne und Vorhaben der beiden nicht in den überstellten Unterlagen aufgeführt", sagte Julius. "Darf ich davon ausgehen, dass diese Ihrer Abteilung zumindest bekannt sind?"

"Mann! Ich wusste doch, dass da irgendwas war, was ich vor meiner Reise noch hätte fragen müssen", schnaubte Bärbel. "Gut, mach ich das von hier aus. Darf ich mal an die Wand da, Julius?"

"Kein Problem", erwiderte Julius. Bärbel nickte und zog aus ihrer Handtasche ein zusammengerolltes Stück Leinwand und Einzelteile eines verschraubbaren Bilderrahmens. Julius erkannte das nun aufgerollte und sorgfältig eingespannte Bild. Es stellte Bärbels Ururgroßmutter Mechthild da, die aus irgendeiner Laune heraus damals im hochschwangeren Zustand gemalt werden wollte. Bärbel wartete, bis sich die nun offen sichtbare Hexe ein paar mal räkelte und dann leise aufstöhnte. Dann fragte sie sie auf Deutsch, was Julius nicht verstand. Die Gemalte machte die Kopfbewegung, die im üblichen Raum ein Nicken sein musste und verschwand durch den linken Rand aus dem Bild.

"Hoffentlich kommt meine Frau nicht auch mal auf die Idee, sich im schwangeren Zustand als Zaubererbild malen zu lassen", sagte Julius.

"Ist auch eine abgedrehte Sache, dass sie meinen Urgroßvater immer dabei hat, als wenn der nie geboren worden wäre", sagte Bärbel leise, weil sie nicht wollte, dass draußen jemand mithörte. Julius dachte daran, dass Bärbel oder ihr Vater dann demnächst eine treffen würden, die auch jemanden immer mit sich trug, der bereits Vater geworden war und selbst noch lange Zeit ungeboren bleiben musste, weil eine rachsüchtige Veelastämmige sich das so ausgedacht hatte. Aber laut sagte er nur: "Na ja, solange ihr keinen Weg findet, in die Welt deiner Ururgroßmutter einzusteigen und dein Vater und du dann wie bei einer Matrjoschkapuppe in der drin hängenbleiben würdet."

"Das fehlte noch", grummelte Bärbel. Dann wurde sie wieder amtlich: "Wann erhalten Sie die nächste Gelegenheit, Madame Grandchapeau und ... Madame Ventvit mit mir bekannt zu machen?"

"Um zehn Uhr nach der hier üblichen Kaffeepause. Bis dahin können wir noch durchsprechen, wann wer Zeit hat und ob bei dem Treffen nur Informationen ausgetauscht oder gültige Aktionspläne und praktische Zusammenarbeit ausgehandelt werden soll." Bärbel nickte.

So verbrachten die zwei die nächsten zehn Minuten damit, über mögliche Termine zu reden. Da demnächst ja Ostern war sollte das Treffen erst danach stattfinden, sofern nicht Gefahr im Verzug bestand oder sich eine Lage ergab, die ein unmittelbares Zusammengehen erzwang, zum Beispiel wenn die Schattenriesin mehrere Länder zugleich bedrohte oder sich längere Zeit aus Deutschland nach Frankreich absetzte. Da Albertine Steinbeißer ja ermittelt hatte, dass die Schattenriesin aus den Seelen zweier Frauen aus der nichtmagischen Welt entstanden sei stehe zu Befürchten, dass sie deren Machtstrukturen angreifen würde, also vielleicht auch die Institutionen der europäischen Union in Brüssel, Frankfurt und Straßburg.

Während dieser Zeit blickte Bärbel immer wieder auf das von ihr ausgehängte Bild ihrer Ururgroßmutter. Doch diese fand sich nicht ein.

Bis zur Kaffeepause hatten die beiden eine fix und fertige Vorschlagsliste, welche Themen besprochen werden konnten und was vor allem im Zusammenhang mit den neuen Nachtschatten dringlich und erfolgversprechend sei. Julius bedauerte, der ehrenvoll fertig gewordenen Greifennestschülerin nicht verraten zu dürfen, dass er bei sich zu Hause zwei sehr praktische wenn auch nicht ungefährliche Werkzeuge hatte, um gegen Nachtschatten vorzugehen. Doch genau das durfte er bloß keinem Ministerialbeamten aufs Brot schmieren.

Bevor der Hauself mit dem Teewagen apparierte kehrte Bärbels Ururgroßmutter im blau-weiß-Grünen Umstandskleid wieder in ihr Bild zurück. Sie wirkte nicht wirklich erheitert, als sie Bärbel ansah, und auch der mit ihr gemalte, damals noch ungeborene Urgroßvater Bärbels schien über irgendwas beunruhigt zu sein. Denn er stieß immer wieder mit Händen oder Füßen gegen seine kugelrunde Unterbringung.

"Damit Sie es auch gleich verstehen, junger Mann, sage ich es auf Französisch. Zum einen ist in den Nachtstunden ein sehr grausamer Massenmord an erwiesenen Lykanthropen geschehen, weshalb Herr Weizengold gerade in einer Dringlichkeitskonferenz mit dem Zaubereiminister, dem Leiter der Strafverfolgung und den Lichtwächtern sitzt. Zum zweiten könnte sich das ganze gut gemeinte Unternehmen um die drei zu beschützenden jungen Malos oder Muggels als nicht weiter nötig oder nicht weiter fortführbar erweisen, wenn die ganzen Schlaumeier herausfinden, wer dafür verantwortlich ist."

"Öhm, bitte zu beiden Erwähnungen weitere Einzelheiten", bat Julius die gemalte Hexe. Was er dann zu hören bekam erschütterte und erstaunte ihn zugleich..

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"Ich bin gleich in einer Konferenz der in der Sache mit den toten Werwölfen zuständigen Abteilungsleiter und dem Minister, Fräulein Steinbeißer. Soweit ich weiß sind sie ja gleich wieder auf Neuwerk, um Rico Kannegießer zu überwachen", sprach Armin Weizengold zu seiner besonderen Außeneinsatztrupplerin. Dann seufzte er: "Ach ja, Herr Heller hat durch einen sehr üppigen Blumenstrauß mitgeteilt, dass die Lichtwache sich demnächst nur noch mit den Nachahmern von Wallenkrons Wahnsinn, den Vampiren dieser schlafenden Göttin und einer sicher stattfindenden Vergeltungsaktion der kriminellen Lykanthropen befassen sollen. Er klang dabei so entschlossen, dass ich schon fragen wollte, ob er die Lichtwachen mit sofortiger Wirkung von ihren Wachposten abberuft. Öhm, ja und er will Sie wohl demnächst persönlich anschreiben, ob sie nicht mal einen Monat lang seinen Posten übernehmen wollen um zu merken, wie belastend es ist, andauernd mit Zitat "leichtfertig mit Ministeriumsgold um sich schmeißenden Kollegen" Zitat ende umzuspringen. Offenbar missfiel es ihm sehr, dass die Lichtwache auf Ihr Anraten hin ein Haus von Nichtmagiern mit Gold im Wert von drei Galleonen gegen zudringliche Eindringlinge abgesichert haben. Wahrscheinlich fürchtet er, dass der Personal- und Goldaufwand demnächst weiter ansteigen, wenn wir befinden sollten, dass noch mehr Abluftanlagen mit Sonnensegenträgern versehen werden sollten."

"Ob das gemacht werden muss kann er sehr gerne die große schwarze Dame fragen. Die weiß das genau, wer wann von ihr erwählt werden könnte, Schattenloser oder neuer Nachtschatten oder einfaches Futter für sie und ihre Dienerschaft zu werden. Ich fürchte nur, dass sie ihn dann unmittelbar in alles einführt, was ihre Existenz betrifft", erwiderte Albertrude. Sie war sich voll und ganz sicher, dass diese Antwort als sehr aufsässig und womöglich ungehorsam aufgefasst werden würde. Doch ihr stank dieses Getue eines halben Kobolds. Am Ende kam der noch darauf, dass ihre magischen Augen zu teuer für den Einsatzbereich waren, in dem sie arbeitete. Aber dann, das wusste sie schon jetzt, gab es ganz schnell einen Halbkobold weniger auf Mutter Erde.

"Gut, dass ich die Schreibe-Feder schon im schalldichten Etui habe, um mir gleich alles besprochene wortwörtlich mitschreiben zu lassen, Fräulein Steinbeißer. Deshalb habe ich das gerade gesagte nicht gehört. Ich bitte Sie aufrichtig, es nicht zu wiederholen oder in anderer Form weiterzugeben. Ich würde Sie sehr ungern verlieren", grummelte Armin Weizengold. Albertrude nickte nur, machte aber sonst keine Anstalten, für ihre Bemerkung um Entschuldigung zu bitten. So sagte er noch: "Wie erwähnt steht zu befürchten, dass uns die Lykanthropen diesen Massenmord an Ihresgleichen nicht so einfach durchgehen lassen, auch wenn wir, also das Ministerium und 9999 von 10000 Hexen und Zauberern nichts damit zu tun haben. Vielleicht haben wir dann auch bald einen internationalen Krieg, genau wie die Menschen ohne Magie."

"Ich fürchte, Ihnen da nicht widersprechen zu können", sagte Albertrude Steinbeißer. Andererseits konnte sie sich vorstellen, dass die Werwolfsbrut jetzt erst mal angstvoll zitternd in ihren Löchern und Erdhöhlen steckte wie neugeborene Wolfswelpen bei schwerem Gewitter. Außerdem konnte sie sich zu gut vorstellen, wie egal es den Erfindern dieser Werwolftötungsvorrichtung sein mochte, ob diese Pelzwechsler gezielt gegen ein Zaubereiministerium losschlugen oder nicht. Am Ende wollten diese Leute das sogar, dass die Zweigestaltler wie wild auf Jagd gingen und dadurch noch leichter mit dieser Blaulichtvorrichtung zu treffen waren. Denn eines war ja schon längst klar: Die Erfinder dieser grausamen aber unbestreitbar wirksamen Methode hatten eine Möglichkeit, lebende Lykanthropen zu finden und dann gezielt anzugreifen. Aber was die Sache mit Hellers Abneigung gegen die Ausgaben zur Bekämpfung dieser Nachtschattenkönigin anging, da sollte sie wirklich mal mit ihm sprechen, wie sehr diese darauf lauerte, dass den Lebendigen, den Sonnenlichtverhafteten, die Geduld ausging oder sie einfach nur resignierten und ihr alles durchgehen ließen, was immer ihr einfiel. Vielleicht war sie aber auch schon ganz weit weg, um sich irgendwo in der Welt, wo noch keiner mit ihr rechnete, ein eigenes Reich aufzubauen um dann wie ihr dunkler Erzeuger, dieser Kanoras, nach über hundert Jahren um so gnadenloser und vor allem unaufhaltsam zuzuschlagen. Insofern stimmte ihre sehr aufsässige Bemerkung, die Weizengold nicht gehört haben wollte: Nur die Schattenkönigin wusste, was sie demnächst vorhatte und wie sie es verwirklichen wollte. Aber sie zu suchen und zu fragen würde einem nur den Tod oder die ewige Leibeigenschaft in ihrer Dämonendomäne einbrocken, wobei der Tod dann wohl das kleinnste Übel sein mochte.

Albertrude wollte sich gerade abmelden, um aus dem Foyer heraus abzureisen, als ein Memoflieger durch die dafür zuständige Klappe hereinflog und Armin Weizengold genau in die fangbereiten Hände plumpste. Albertrude riskierte es und las den übermittelten Text:

von Leitung Liwa an Leitung BüfrieKoex

Betr. Observanden im Fall "Schattenkönigin" spurlos verschwunden

Hallo Armin, ich bekam es gerade von meinen Mitarbeitern auf Neuwerk und aus Hamburg, dass die drei jungen Menschen Arne und Erna Hansen, sowie Rico Kannegießer spurlos verschwanden. Am Haus von R. K. wurde zudem die Entwendung der drei daselbst angebrachten Sonnenlichtkugeln festgestellt. Weiteres in der AK um Viertel neun

Gez. A. Eisenhut, Leitung Liwa

"Öhm, prüfen Sie bitte vor Ort nach, ob es stimmt, dass Herr Kannegießer weder an seinem Wohnsitz noch an seinem Arbeitsplatz anwesend ist", sagte Armin Weizengold leise. Dann gab er den Text der ihm zugestellten Nachricht wieder. Albertrude blickte ihren Vorgesetzten betroffen an. Doch innerlich fühlte sie mehr. Wenn das stimmte, dass die drei spurlos verschwunden waren, dann bedeutete das, dass entweder wer aus dem Ministerium die drei fortgeschafft hatte oder dieses Schattenungeheuer doch noch einen Weg gefunden hatte, sich die drei zu holen. Allerdings hätte diese Möchtegerngeisterkönigin sich nicht in die Nähe der Sonnenlichtkugeln wagen können, ohne diese auszulösen. Und Anthelias Dunkelheitsfreisetzerringe wehrten sie auch zielsicher ab, solange genug Dunkelheit in ihnen gespeichert war.

"Ich prüfe es sofort nach, Herr Weizengold", sagte Albertrude nach zehn Sekunden Stille. Er deutete auf die Tür. Sie nickte und winkte ihm zum Abschied zu. Dann verließ sie sein Büro, um ins Foyer zu fahren. Von dort aus konnte sie problemlos nach Neuwerk apparieren.

Als sie eine Minute später nur einen halben Kilometer vom Sendegebäude von Radio Nordsand entfernt war konnte sie gleich mit einem weit- und durchdringenden Blick erkennen, dass Rico wahrhaftig nicht im Raum für die Betriebstechnik saß. Als sie dann mit ihren besonderen Augen ergründete, dass er auch nicht hinter einer Tarnwand saß und ebensowenig in seiner Wohnung war suchte sie nach Spuren. Tatsächlich fand sie dort, wo ihr Kollege Wattendorn gestern die Folien mit dem Lufterneuerungs- und Sonnensegenzauber angebracht hatte einen Schriftzug an der Wand, der aber nur für ihre biomaturgischen Augen sichtbar war und in einem dunklen Rot glomm wie glühende Kohle.

Diese Nachricht ist für euch, die ihr meint, mir vorzuenthalten, was mir seit Monaten zusteht.

Ich habe die drei jungen Fleischlinge zu mir genommen, auch wenn ihr alles getan habt, um sie mir vorzuenthalten oder abspenstig zu machen. Aber ich kenne mich besser in der Welt aus als ihr Zauberstabschwinger und konnte so was machen, um sie mir zu holen. Ach ja, die kleinen Spielzeuge, die ihr in Ricos Wohnung und dem Rundfunkhaus angebracht habt braucht ihr ja nicht mehr. Ich habe sie von davon nicht zu tötenden Leuten abnehmen und einkassieren lassen. Vielleicht finde ich heraus, wie sie für mich und meine Diener unschädlich zu machen sind. Übrigens, einer dieser mir und meinen Dienern sehr verbundenen Menschen hat diese Botschaft mit einer nur für Wärmeseher sichtbaren Tinte an die Wand gemalt. Wenn ihr was kennt, um Wärme sichtbar zu machen könnt ihr die ja lesen.

"Wie erwähnt, ich habe mir nur geholt, was mir zusteht. Seid froh, dass ich nicht noch einmal sowas machen musste wie in diesem Tanzhaus für junges Volk, um ihre Herausgabe zu erzwingen. Ihr könnt euch also jetzt gerne um die Sachen kümmern, die euch sonst noch Bauchschmerzen machen.

Dies schreibt euch im Auftrag der großen Herrscherin der Schatten

n. n.

"Netter Versuch, ihr Idioten", knurrte Albertrude, als sie den nur für ihre Augen sichtbaren Text gelesen hatte. Der Text war von einem Mann geschrieben worden, und zwar einem mit auffällig kleinen Händen, wie von einem Grundschüler oder einem Zwwerg oder Kobold. Der musste sich dann aber wie Wattendorn auf den heruntergeklappten Toilettendeckel gestellt haben. Außerdem hätte die Schattenkönigin nicht von ihren Dienern, sondern ihren Kindern schreiben lassen. Denn so ähnlich hatte sie sich ja ihr gegenüber schon ausgedrückt, und so ähnlich hatte es Anthelia von dem ersten Zusammentreffen mit diesem Nachtgespenst berichtet. Abgesehen davon hätte keiner ihrer Schatten sich der Sonnenlichtkugel oder dem Dunkelheitsfreisetzer nähern können. Ja, und was sollte das, dass dieses widernatürliche Unwesen die Sonnenlichtkugeln behalten wollte, um herauszufinden, wie sie von denen nicht mehr behelligt werden konnte. Das wäre ja genauso wie einen ausgewachsenen Drachen unter dem eigenen Bett zu haben oder einen Basilisken im Keller zu beherbergen. Ja, und die Schattenkönigin kannte die Welt der Nichtmagier besser als die Hexen und Zauberer. Sie hätte also nichts von Wärmesehern geschrieben, sondern wohl von Infrarotstrahlung oder Infrarotlicht schreiben lassen. Außerdem hätte sie dann sicher Club oder Disco schreiben lassen statt "Tanzhaus für junge Leute". Dieser Ausdruck stank förmlich nach gerade mal bis zum Intermedium mit Muggelweltkunde vertrauten Leuten, die sich nicht weiter mit der Kultur, Technik und dem, was den Muggeln zugänglich war von denen als Wissenschaft bezeichnet wurde befassen konnten oder wollten. Also war dieser Text da ein reines Ablenkungsmanöver, dazu gedacht, das Ministerium glauben zu machen, es habe versagt und zugleich die drei Überwachten irgendwo hinzuschaffen, wo das Ministerium keinen Zugriff auf sie hatte. Deshalb sollten die für tot gehalten werden.

"Schwester Griselda, an die höchste Schwester von Albertine", begann sie unverzüglich die ihr nächste Spinnenschwester anzumentiloquieren. In drei kurzen Sätzen schilderte sie die neue Lage. eine Minute später vernahm sie die Antwort: "Die höchste Schwester appariert selbst nach Deutschland, um mit dir zu mentiloquieren. treff sie nicht persönlich!"

Albertrude grinste. Anthelia kannte doch ihre Gedankenstimme noch nicht. Doch als sie keine Minute später Anthelias Gedankenstimme in ihrem Geist hörte lächelte sie nicht mehr.

"Schwester Albertrude, lies mir bitte diesen Text noch einmal ganz vor!" Das tat sie dann. "Ich gebe dir recht, es wirkt eher wie ein Täuschungsmanöver, um entweder euch von den dreien abzubringen oder den wahren Entführer zu verbergen. Ich habe schon befürchtet, dass meine Dunkelheits-Eheringe einigen Neid erwecken könnten. Allerdings waren sie für mich das einzig machbare, um die Hansens abzusichern. Behalte jedoch bitte erst einmal für dich, dass du und ich diesen Trick durchschaut haben. Erwähne jedoch, dass der Schreiber der Nachricht offenbar noch sehr jung oder von Natur aus kleinwüchsig ist. Mehr nicht. Das sollte jenen, die diesen Schlag geführt haben schon genug zu denken geben. Ach ja, die Hansens leben noch, und ich bin schon dabei, ihre Ringe zu orten. Kann sein, dass da heute noch jemand sehr sehr niedergeschlagen dreinschauen wird. Und diesmal werde das nicht ich sein, Schwester Albertrude."

"Was genau wirst du tun, solltest du sie finden, Schwester Anthelia?"

"Das, was ihr eigentlich hättet machen müssen, sie bis auf weiteres in Sicherheit bringen und zwar so, dass diese Mutter der Nacht sie nicht finden wird. Ihr dürft ja keine Magieunfähigen über längere Zeit verstecken, wenn ihr nicht wisst, wie lange genau. Ich habe das ja schon oft genug gemacht."

"Wohl wahr", erwiderte Albertrude. Dann wünschte sie Anthelia viel Erfolg. Sie antwortete darauf: "Stellt am besten dar, dass es die drei nie gegeben hat. Ach ja, die Eltern dieses Ricos und der jungen Frau Erna werde ich besser vorher beehren, damit die nicht dieser Schattenkreatur anheimfallen."

"Wie du meinst, Anthelia", gedankengrummelte Albertrude. Darauf wurde sie für Ohren unhörbar gefragt, ob sie sie nicht mal mehr als Schwester anerkenne. Darauf berichtigte sich Albertrude. Im Grunde galt für sie dasselbe wie für Anthelia: Alle Hexen waren Schwestern.

Bevor sie ins Ministerium zurückkehrte führte sie noch einen Trick aus, um zu klären, ob die Kollegen von Rico was mitbekommen haben mochten. Sie rief beim Sender an und bekam gleich Jenny Horten an den Apparat. Mit dem Varivox-Zauber hatte sie ihre Stimme so verstellt, dass sie wie Rico klang: "Hallo Jenny, ich wollte da noch was klären, wo ich heute schon nicht selbst zu euch hin konnte. Ich muss wegen einer Sache wegen meiner Exmatrikulation noch einmal nach Hamburg. Irgendwo habe ich im Formular ein X vergessen, das muss ich noch nachreichen."

"Öhm, ich dachte, du hättest gestern abend was unverdauliches gegessen und jetzt den flotten Otto", erwiderte Jenny Hortens Stimme.

"Deshalb kann ich ja erst heute Nachmittag rüber nach Hamburg. Dann wirkt das Durchfallmittel wohl", sagte Albertrude, aber schon drauf bedacht, ihren riskierten Versprecher gleich aus Jennys Gedächtnis zu streichen.

"Nichts für ungut, Rico, aber wenn du nicht mehr für uns schaffen willst brauchst du uns nicht anzulügen. Du bist noch in der Probezeit und kannst von dir aus gerne anderswo anfangen", erwiderte Jenny Horten nun sehr verschnupft, was Albertrude durchaus nachempfinden konnte. Wenn einer zwei verschiedene Sachen erzählte, um nicht zur Arbeit zu gehen war eine Sache davon garantiert eine Lüge und die zweite dann womöglich auch. Aber zumindest wusste sie nun, dass die Hinterlasser dieser Botschaft aus dem Schattenreich Rico ordentlich abgemeldet hatten. Vielleicht hatte der das auch selbst getan, unter dem Imperius-Fluch womöglich. Jedenfalls verabschiedete sie sich von Jenny, ohne auf deren letzte Bemerkung einzugehen.

Albertrude apparierte erst vor den Sender und dann direkt zu Jenny Horten ins Büro. Dort belegte sie diese und ihren Mitarbeiter mit einem Schockzauber, um ihre Erinnerungen zu verändern. Doch bevor sie das tat fiel ihr ein, erst einmal die Aufzeichnungen von Ricos bisherigen Tätigkeiten zu sichten und zu löschen. Deshalb bekam sie heraus, dass seine Sendung nicht in den leeren Raum hinausgestrahlt worden war. Unzählige Menschen, bei weitem nicht nur Bewohner der Insel Neuwerk, hatten sich über Ricos bisherige Sendungen geäußert, die meisten sehr begeistert. Sie hatte nur die E-Mail-Adressen und die Vornamen von ihnen und nicht bei jedem eine Wohnortangabe. Vollständige Adressen fand sie überhaupt keine in den rein elektronischen Zuschriften. Sie erkannte, wie vertückt dieses neue Fernbriefverfahren war. So war es nur mit einem überaus großem Aufwand möglich, die Hörer der Sendungen zu finden und jedem von ihnen die Erinnerungen daran zu nehmen, die Sendungen gehört zu haben. Außerdem, das erkannte Albertrude mit sehr großem Ingrimm, waren das sicher nicht die Zuschriften aller Zuhörer, sondern nur der kleine Teil, der sich an der Sendung irgendwie beteiligen und sie nicht einfach nur hören wollte. Sie dachte wieder an Anthelias Spruch von Ratten und Mäusen: "Wo eine zu seh'n sind sicher noch zehn." So war es sicher auch mit der Hörerschaft einer Rundfunksendung. Das war ja auch in der Zaubererwelt so. Wer alles zuhörte war von den Verbreitern nicht zu prüfen. Damit stand fest, dass Rico Kannegießer höchstens zwei weitere Wochen wegen einer Krankheit oder dergleichen ausfallen durfte, wollten sie Heller und anderen Finanzabteilungsleuten nicht noch ganz schlechte Tage machen, weil sie ungleich viele Obleviatoren aussenden mussten, herauszufinden, wer alles Ricos Sendung über elektronische Klänge und Geräuschanordnungen mithörte. So prägte sie Jenny und den anderen nur die Erinnerungen ein, dass Rico sich für zwei Wochen abgemeldet hatte, weil er sich wohl eine heftigere Grippe eingefangen hatte. Um diese Jahreszeit ging das noch sehr gut als Grund für ein längeres Wegbleiben durch. Sie prägte den Kollegen auch ein, dass Rico zum Auskurieren in sein Elternhaus zurückgekehrt sei, weil er da leichteren Zugang zu Arzneien und seinem Hausarzt hatte. Deshalb war die Wohnung auf Neuwerk einstweilen leer.

Als sie die nötigen Erinnerungsveränderungen ausgeführt hatte apparierte Albertrude zunächst in ihr eigenes Haus. Dort mentiloquierte sie Anthelia direkt an:

"Du kannst den jungen Burschen Rico nicht auf Dauer verschwinden lassen, wenn du ihn vor uns findest. Sein Wirken im magielosen Wort- und Musikverbreitungsbereich ist zu vielen bewusst und bei den meisten sehr willkommen. Die alle zu bezaubern, ihn nicht gekannt zu haben würde zu lange dauern. Ich habe zunächst die Erinnerung in die Köpfe seiner Vorgesetzten und seiner Kollegen gepflanzt, er sei wegen einer schwerwiegenden Grippe zunächst zwei Wochen in seinem Elternhaus in Hamburg."

"Wohl verflucht sei dieses aus elektrischen Schwingungen gemachte Zeug", gedankenknurrte Anthelia. "Aber glaube es mir, dass jeder es hinnehmen wird, dass er nie wieder zurückkehren wird, wenn ich ihn erst gefunden habe. Oder kennst du etwa nicht den Similicorpus-Zauber?"

Albertrude musste erst überlegen. Doch in Albertines Erinnerungen war die Antwort auf die Frage. Sie kannte den Zauber, mit dem falsche Leichname erschaffen und augenfällig platziert werden konnten, um den Magielosen den Tod eines Menschen vorzugaukeln. Nur mit entsprechenden Prüfzaubern ließen sich durch Magie erzeugte Fälschungen von echten Leichnamen unterscheiden. So mentiloquierte sie Anthelia:

"Dann musst du es aber so anstellen, dass auch seine Eltern einem tödlichen Schlag zum Opfer fielen."

"So sei es", gedankenantwortete Anthelia.

Albertrude verwünschte den Umstand, noch nicht alles von der Gegenwart mit ihrem neuen Bewusstsein durchdrungen zu haben. Selbst wenn sie alles im Gedächtnis behalten hatte, was Albertine Steinbeißer erlernt und erlebt hatte, so konnte sie doch eines Tages unangenehm auffallen, wenn sie nicht sofort richtig reagierte, wo die unveränderte Albertine es augenblicklich getan hätte. Das hieß auch für sie, dass sie ihr Vorhaben, einen Zauberer bewusst und ohne ihm anschließend eine falsche Erinnerung zu verabreichen nicht als Vater ihrer Kinder heranziehen konnte, weil Albertines Sapphismus, was die Leute heute als lesbische Liebe bezeichneten, zu vielen anderen Zauberern und Hexen bekannt war. Sicher, sie sprachen nicht darüber. Aber deshalb wusste sie auch nicht, wer das alles mitbekommen hatte.

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Giesbert Heller war zufrieden, dass der erste Abschnitt der Mission Drachenbremse geklappt hatte. Als er erfuhr, dass die Lichtwächter und das Büro von Armin Weizengold in Aufruhr waren, weil die von ihnen betreuten Menschen verschwunden waren, konnte er sich eines gewissen Grinsens nicht erwehren. Tja, wenn sie die Botschaft fanden, die Max mit der nur mit Wärmesicht lesbaren Tinte an die Badezimmerwand von Rico Kannegießer geschrieben hatte, würde entweder diese Kesselschlürferin Albertine Steinbeißer oder einer der Lichtrwächter mit Wärmeblickbrille lesen, dass die bitterböse Schattenriesin Rico hatte wegschaffen lassen. Ob die das glaubten oder nicht, Spuren wie es wirklich abgelaufen war würden sie nicht finden.

Um den Ruf des unerbittlichen, schwer zu überzeugenden Goldverwalters nicht zu beschädigen zwang sich Giesbert zu einer angestrengten, unerbittlichen Grimasse, als der nächste Besucher zu ihm vortrat. Es war ein Kobold mit hellgrauem Bart.

"Freund Giesbert", begrüßte ihn der Kobold in Koboldogack, nachdem er die Tür verschlossen hatte. "Ich habe beschlossen, dass dieser böse Streich mit den Leuten in Frankfurt unbedingt geklärt werden muss. Immerhin sind Ratzpack und Rollnack dabei umgekommen und noch dreißig brave Sicherheitsleute von da. Das kann und will ich nicht an meinem Bart hängen lassen. Finde raus, wer uns da so frech ausgetrickst hat und sag mir, wo ich den finde! Sonst muss ich die vom Bund losschicken, und das könnte bei meinen wie deinen Leuten irgendwann rumgehen, dass da wer uns geärgert hat. Brummback vom Bund hat natürlich schon in den Steinen knacken gehört, dass jemand die Goldhüter in Frankfurt verhöhnt und umgebracht hat. Nur mein und Vater Nebelbarts Einschreiten hält ihn noch davon ab, seine Zwölfertrupps loszuschicken. Aber er meint, dass er nur noch einen halben Monddurchlauf warten will und schon mal wen in die Nähe von dem Haus hinpflanzt, wo der angebliche Alarich Steinbeißer wohnt."

"Vater Mondbart, ich bin hier nur Goldzähler. Wenn du möchtest, dass wir uns auch damit befassen müssen wir eine offizielle Anzeige kriegen, am besten bei meinem Kollegen vom Verbindungsbüro zwischen uns und euch."

"Wir haben einen Handel, Giesbert. Wenn ich den Freunden aus Gringotts sagen muss, dass die eine ganz ordentliche Anzeige ausrufen sollen können wir gleich zugeben, dass wer zweimal in kurzer Zeit geschafft hat, in unsere Hochsicherheitsverliese rein- und unerkannt und ungeschoren wieder rauszukommen und dabei noch den Notaufstieg für Zweigstellenleiter benutzen konnte. Wehe, das war ein Zwerg. Dann rappelt es aber demnächst in den Höhlen im Schwarzwald, unter dem Untersberg und unter den Bergen in Sachsen aber sowas von laut, dass alle das hören.""

"Und wenn es keiner von uns Zauberstabträgern ist und wir das nicht rausbekommen?" fragte Giesbert.

"Tja, dann geht bei euch rum, was ihr euch da gestern geleistet habt, du und die anderen sieben Halblinge. Denkst du, Vater Nebelbart wäre so verblödet, dass er nicht mitbekommen hat, warum dieser Wassertreter Fred Tiefensand die ganze Halbmondinsel für ein Jahr gemietet hat? Ihr habt die verschwundenen Leute da abgelegt, damit die keiner findet. Also krieg raus, wer uns in Frankfurt an den Ohren gezogen hat! Einen halben Mond lang habt ihr Zeit, damit du in Ruhe Ostern mit deiner Schwester und ihren Viertelbrütern feiern kannst. Noch einen einsturzfreien Tag, Freund Giesbert", grummelte der Kobold mit dem weißgrauen Bart und verließ das Büro Hellers. Giesbert Heller erkannte, dass er sich da gerade sehr leicht erpressbar gemacht hatte. Wer hatte noch einmal behauptet, Gold und andere Wertsachen kassierende Kobolde fragten nicht nach Herkunft und Grund? Mondbart und sein irischer Ratskollege Nebelbart taten das doch. Lag wohl daran, dass er vergessen hatte, sie ebenfalls gut zu bezahlen. Womöglich würde er demnächst das zehnfache zu zahlen haben, um die zwei ruhig zu halten. Das stieß ihm sehr sauer auf. Denn so hätte er auch die von den Menschenfreunden Eisenhut und Weizengold angesetzte Dauerbewachung der verdammten PomAs oder Muggels weiterführen lassen können und könnte nicht von diesem Graubart erpresst werden.

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"Wir können das Verschwinden des jungen Mannes Rico Kannegießer nicht zu lange andauern lassen, ohne den PomAs eine unbestreitbare Erklärung zu liefern, dass er entweder für lange Zeit oder für immer fort bleibt. Seine Tätigkeit in diesem Rundfunksender reicht über die Insel Neuwerk hinaus. dieser Rundfunkbetrieb übertrug seine Musik- und Wortbeiträge auch in das Internet, meine Herren", bekräftigte Albertrude, nachdem sie den ranghöheren Beamten Eisenhut und Weizengold ihren mündlichen Bericht erstattet hatte. Die zwei dienstälteren Zauberer sahen erst einander und dann Albertrude verstimmt an. Denn zumindest Armin Weizengold wusste, was es hieß, Spuren im weltweiten Informations- und Wissensnetzwerk zu verändern. Martha Merryweather hatte es ihm überdeutlich und für ihn hundertprozentig nachvollziehbar dargelegt, als sie noch Andrews mit Nachnamen geheißen hatte. Was einmal im Internet war blieb dauerhaft dort, sofern es nicht möglich war, die betreffenden Darstellungen und Texte als unrichtig oder von den Ereignissen überholt darzustellen. Wenn also einer eine Rundfunksendung nicht nur als elektrische Wellen in das Umland schickte, sondern gleich in dieses Internet hineinsendete konnten sie dort Jahrzehnte lang umhergereicht und an unzähligen Stellen gespeichert werden. Diese Stellen alle zu finden würde sehr lange dauern. Albertrude war von Anthelia gebeten worden, den deutschen Ministeriumszauberern erst einmal nicht zu sagen, dass sie über die Ringe der Hansens herausfinden konnte, wo diese versteckt waren. Denn sollte Rico nicht bei ihnen sein musste sie sich was neues überlegen.

"Es steht mittlerweile fest, dass die jungen Eheleute Arne und Erna Hansen ebenfalls aus der Wohnung von Hein Siebert verschwanden, zusammen mit ihm. Aber es hat niemand mitbekommen, wann genau und wohin genau", erwähnte Andronicus Eisenhut. Dann enthüllte er den größten Paukenschlag dieser Affäre: "Meine Rückschaubrillenträger haben sowohl die Wohnung des Observanden Kannegießer wie auch die Unterbringung der Observanden Arne und Erna Hansen betreten und die Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden nachbetrachtet. Damit steht fest, dass die Observanden beinahe zur Selben Zeit von einer starken magischen Macht betroffen wurden, die sich in der Rückschau nur als schwarzer, wabernder Nebel darstellen lässt, der insgesamt zwei Stunden der rückschaubaren Zeit überlagert. Sowohl im Haus von Rico Kannegießer als auch der Wohnung Hein Sieberts trat dieses Phänomen zwischen zwei und vier Uhr morgens auf. Die Art dieses Nebels, beziehungsweise der nebelhaften Ansicht über die betreffende Zeit spricht für ein Wesen mit natürlicher, sehr starker Unortbarkeit. Allerdings haben meine Leute keinen Funken verbliebener Magie in den Wohnungen, wohl aber die Störung und teilweise Zerstörung dieser auf Wert- und Wissensverarbeitung ausgelegten Gerätschaften festgestellt, was dafür spricht, dass diese durch eine starke, magische Überlagerung geschädigt wurden. Das wiederum spricht für den Einsatz von Incantivacuum-Kristallen, Fräulein Steinbeißer, Kollege Weizengold. Wie Sie beide ja hinlänglich wissen hat es sich erwiesen, dass die Freisetzung der alle Arten von Magie in toten Dingen dauerhaft und bei lebenden Wesen zeitweilig auslöschenden Kraft alle im Gewebe von Raum und Zeit entstehenden Spuren von Ereignissen überlagert, die um bis zu eine Stunde vor und eine Stunde nach der Freisetzung entstanden. Wer immer also die Entführung der drei Observanden durchführte besaß Zweierlei: Zum einen wusste diese Macht, dass Incantivacuum-Kristalle diese Wirkung haben und zum zweiten war sie im Besitz von mindestens zwei solchen Kristallen. Da wir im Ministerium gerade zwanzig dieser Kristalle vorrätig haben habe ich meine Befugnis als oberster Lichtwächter genutzt, um diesen Vorrat auf Vollständigkeit zu prüfen. Ergebnis: Alle zwanzig Incantivacuum-Kristalle sind noch vorhanden. Somit hat die uns unbekannte Macht zwei Kristalle aus anderen Beständen oder gar eigener Produktion eingesetzt, um ihre Aktion jeder magischen Rückschau zu entziehen. Damit steht fest, dass es nicht die Nachtschattenriesin war, welche die drei Observanden und Herrn Siebert in ihre Gewalt gebracht hat. Der nur für Wärmeseher lesbare Text, damit auch natürlich für Fräulein Steinbeißer, war wohl eine falsche Spur, eine grüne Nebelkerze, wenn Sie es besser verstehen."

"Dann stellt sich die Frage, wer aus der Zaubererwelt Motiv, Mittel und Gelegenheit besaß, die vier zu entführen?" erwiderte Armin Weizengold.

"Ich vermute sehr stark, dass diejenigen, welche die mit einem selbst für Schattenwesen verderblichem Dunkelheitszauber versehenen Ringe erschaffen haben, kein Interesse haben, dass deren Geheimnis von uns ergründet wird. Womöglich kann die betreffende Person oder Personengruppe über die Ringe sogar eine art exosensorische Verbindung zu ihren Trägern errichten und erfuhr so von dem Vorfall von gestern. Außerdem könnte in diesem Zusammenhang der Name Rico Kannegießer gefallen und dessen Wohnort erwähnt worden sein. Somit ergab sich für die betreffende Macht auch, dass dieser Mann ohne magische Ausprägung in Gefahr schwebt oder sich als Köder für die Nachtschattenriesin eignet."

"Will sagen, wer immer das gemacht hat will nicht, dass wir wissen, wie die Ringe hergestellt wurden und weiß, dass auch Rico Kannegießer das Ziel einer menschenfeindlichen Daseinsform ist. Woher?" fragte Armin Weizengold in den Raum. Darauf konnte Albertrude eine Vermutung äußern, die sie in genau diesem Fall einwerfen durfte:

"Wir hatten es doch davon, dass die beiden Eheringe wie mit ihren Trägern wechselwirkende Wesen sind. Wenn über sie deren Sinneswahrnehmungen mitverfolgt werden können, warum nicht auch ihre Gedanken?"

"Hmm, ja, das wäre möglich. Vor allem, wenn die beiden Hansens beim Kauf dieser Ringe vorher genauer überprüft wurden und die Scheinerinnerungen aufgedeckt und durchdrungen werden konnten", sagte Eisenhut.

"Unterstellen wir dem oder den Unbekannten, dass die Ringe als Überwachungs- und Erinnerungsausspähartefakte geschaffen wurden. Dann will diese Person oder Machtgruppe sicher herausbekommen, ob die wohl auch ihr gefährlich werdende Nachtschattenriesin reagiert, wenn die drei Observanden unauffindbar bleiben oder wird diese wie einen dreifachen Angelköder auswerfen, um zu prüfen, ob die Schattenriesin anbeißt, also das tun, was wir eigentlich auch tun wollten. Wahrscheinlich hat sich die Person, welche die Fernüberwachung durchführte köstlich über unseren Auftritt gestern nachmittag amüsiert", erwiderte Armin Weizengold. Albertrude verzog ihr Gesicht, als wenn ihr die Vorstellung, an einer unsichtbaren Angelschnur entlanggelaufen zu sein missfiel. Tatsächlich aber wurde sie den Gedanken nicht los, dass Anthelia genau das empfunden hatte und dass sie wahrhaftig irgendwas in die Ringe hineingezaubert hatte, um die beiden nicht nur zu orten, sondern auch deren Gedanken und Sinneseindrücke zu erfassen. Anthelia hatte ihren Schwestern noch nie wirklich alles erzählt, was sie so unternahm.

"Dann bleibt immer noch die Frage, wer genau diese Macht verkörpert", sagte Andronicus Eisenhut. Seine Kollegen waren aber sofort mit den üblichen Verdächtigen zur Stelle: Die Spinnenschwestern, überhaupt jede sich dem Ministerium entziehende Hexen- und Zauberervereinigung, darunter auch Vita Magica und womöglich auch die Brüder des blauen Morgensterns aus den orientalischen Ländern, die behaupteten, ausschließlich im Dienste der Menschen gegen dunkle Geschöpfe und Zauber zu kämpfen, dabei aber durchaus auch mal das eine oder andere angeblich unrettbar verdorbene Menschenleben beendeten, wenn es dem "guten Zweck" diente.

"Apropos Vita Magica", griff Albertrude das Stichwort auf. "Nach allem, was in dieser Nacht ermittelt werden konnte vermute ich sehr stark, dass auch dieses für Werwölfe tödliche Leuchten von dieser obskuren Vereinigung erschaffen wurde. Immerhin haben die schon einmal versucht, Lykanthropen aus sicherer Entfernung gezielt zu töten, ohne unbelastete Menschen in Mitleidenschaft zu ziehen. Da sehr schnell ein Weg gefunden wurde, die mechanischen Giftstoffträger abzuwehren, die das Blut von Lykanthropen verseuchen und zerstören konnten, ist diesen Leuten wohl etwas neues, womöglich nicht so leicht abwehrbares eingefallen. Wir sollten also davon ausgehen, dass diese Gruppierung auch für das Verschwinden der Eheleute Hansen, sowie Rico Kannegießers und Hein Sieberts verantwortlich sein kann. Das Ziel dürfte sein, die neue Gefahr durch die Schattenriesin zu beseitigen, sofern diese nicht doch noch von ihrem Vorhaben ablässt, sich die drei letzten Überlebenden der in Afrika aufgetretenen Schattenwesen zu verschaffen."

"Das könnte sein", sagte Armin Weizengold. "Immerhin hat diese Verbrecherbande von Vita Magica ja auch verschiedene Muggel entführt und als erinnerungslose Säuglinge zurückgeschickt, ja dabei sogar offen damit geprahlt, dass diese Leute ihnen irgendwie missfallen waren und entsprechend bestraft worden seien", erwiderte Armin Weizengold.

"Will sagen, wir fahren gerade fröhlich singend auf dem Spekulationskarussell herum und wissen nicht, wann es anhält und was wir dann zu sehen kriegen", erwiderte Andronicus Eisenhut verdrossen. Dem konnten die beiden anderen nur zustimmen. Albertrude dachte für sich, dass sie wohl was Rico anging bald eine Antwort bekommen würden. Ihr missfiel dabei jedoch, dass der von ihr gerade ausgestreute Verdacht dann wieder von Vita Magica abfallen würde, was die Entführung anging.

Albertrude bekam mit, dass das lebende Porträt einer im hochschwangeren Zustand gemalten Anverwandten Armin Weizengolds sehr aufmerksam der Unterhaltung folgte. Natürlich wusste sie, dass lebende Menschen sich über Zaubererweltgemälde verständigen konnten, wenn es von einer magischen Person mehrere gemalte Nachbildungen gab. Damit ließ sich ein trefflicher Schnellverständigungs- und Kundschafterdienst betreiben, hinter dem sich so mancher Geheimdienst der Muggel verstecken konnte. Sie dachte daran, dass Armin Weizengold wohl mit seinen direkten Blutsverwandten in solcherlei Verbindung stand, also seinem Bruder in München, seinem Neffen in Dresden und sicher auch seiner Tochter, die gleich nach Greifennest im Ministerium als Außeneinsatz- und Computerfachhexe angefangen hatte. Sollte sie fragen, wo Bärbel gerade war? Besser nicht!

"Gut, verbleiben wir wie folgt: Ihre Maßnahme, die Abwesenheit von Rico Kannegießer für seine Kollegen und Interessenten seiner Rundfunktätigkeit zu erklären wird meinerseits nachträglich genehmigt, nur damit unsere Berichte sich da nicht widersprechen. Ansonsten wird die ganze Angelegenheit weiterhin auf der zweithöchsten Geheimhaltungsstufe eingeordnet, also dass nur die unmittelbar damit befassten etwas über das Verschwinden von Rico Kannegießer und den Hansens erfahren. Öhm, Kollege Eisenhut, was ist mit den Eltern von Rico Kannegießer?"

"Die Eheleute Kannegießer verbringen offenbar einen ausgedehnten Urlaub auf den Hawaii-Inseln. Eine Anfrage bei den Kollegen in den USA ist noch unterwegs. Meine Leute erfuhren das erst vor einer halben Stunde, wo sich die beiden aufhalten. Wegen der verordneten Tiefschlaf-Schutzhaft mussten wir der nichtmagischen Öffentlichkeit vorgaukeln, dass auch die Grabowskys auf einer ausgedehnten Überseereise sind. Zumindest kommt so keines dieser Schattengeschöpfe an sie heran."

"Zumindest haben wir diesbezüglich im Moment keine Sorgen", sagte Armin Weizengold dazu. Seine Zuhörer nickten bestätigend.

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"Es mag sein, dass eine Ihrem und unserem Ministerium entgegenarbeitende Gruppierung die drei von diesen Nachtschatten bedrohten Menschen und den bedauerlicherweise mit in diese Angelegenheit verstrickten Hein Siebert entführt hat, um ihr eigenes obskures Spiel mit diesen dämonischen Daseinsformen zu treiben, wobei wir nicht wissen, welche Rolle wir darin spielen sollen", sagte die gemalte Ururgroßmutter Bärbels, als sie von ihrer längeren Erkundung bei ihrem Gegenstück in Berlin zurückgekehrt war. Gerade hatte sie in Kurzform berichtet, was sich außer dem tödlichen blauen Licht noch ereignet hatte. Adrastée Ventvit, Nathalie Grandchapeau, Bärbel Weizengold und Julius Latierre hatten aufmerksam zugehört. Julius wartete, ob die dauerhaft mit Umstandsbauch dargestellte noch etwas hinzufügen wollte. Dann bat er ums Wort.

"Hmm, so wie Sie den Text wiedergegeben haben war das sicher nicht diese Nachtschattenriesin. Die hätte andere Wörter benutzt, zumindest wenn die Übersetzung des Textes den Wortsinn erhalten hat. Soweit wir erfahren durften sind ihre einfacheren Diener für eine Rückschaubrille nachbetrachtbar, während sie selbst unortbar ist. Da es hoffentlich nur sie gibt kann sie nicht an zwei Orten zugleich auftauchen. Das spricht eindeutig für eine andere Macht, also die Spinnenschwestern, die Abgrundstöchter, vielleicht die Vampire dieser schlafenden Göttin, oder Vita Magica, wenngleich ich noch nicht durchblicke, warum diese Leute drei nichtmagische Menschen entführen sollten, die ihnen nichts getan haben."

"Mein Urenkel hat mit seinem Kollegen Eisenhut geplant, die drei zu beobachten, um sie im Falle, dass diese Schattenriesin sich ihrer bemächtigen will, gegen dieselbe vorgehen zu können, sie also als Ködertiere zu nutzen. Womöglich trachtet die Macht, die sich der vier Menschen bemächtigt hat nach demselben Ziel."

"Darf ich noch einmal?" wandte sich Julius an Adrastée Ventvit. Diese nickte ihm zu. "Dann ergäbe die Entführung der vier Leute nur einen Sinn, wenn die Entführer schon einen Ort vorbereitet hätten, um die Nachtschattenriesin zu fangen oder zu vernichten und das auch nur dann, wenn sie dieser zukommen lassen können, wo die vier sind. Da diese Nachtschattenriesin durchaus sehr intelligent ist geht diese sicher davon aus, dass jemand sie bannen oder auslöschen will und wird nicht sofort auf einen ihr zugespielten Hinweis anspringen wie ein Tiger, der das klägliche Meckern einer Ziege hört und sofort zu dem Baum hinrennt, an dem sie angebunden ist. Falls eine Falle geplant war haben die Entführer der vier Menschen es verdorben. Sollte die Schattenriesin immer noch mitbekommen, was die drei von ihr gejagten machen, wird sie jetzt sehr misstrauisch sein. Ich denke aber eher, die Entführer haben nicht geplant, die drei so schnell wieder freizulassen. Sie wollten sicherstellen, dass kein Zaubereiministerium Zugriff auf die drei Zielpersonen hat. Vom Text her haben die geplant, die vier für tot und begraben zu erklären, damit dieses Schattenwesen das Interesse an ihnen verliert. Warum das so ist weiß ich nicht, gehe nur davon aus, dass sie nicht in absehbarer Zeit als mögliche Lockmittel eingesetzt werden."

"Das spräche aber gegen Vita Magica", erwiderte Nathalie Grandchapeau. Ihre Kollegin Ventvit nickte. Dann wandte Adrastée sich dem Bild der im blau-weiß-grünen Umstandskleid posierenden Hexe zu und fragte:

"Ist über die ominösen Dunkelheitsfreisetzungsartefakte mehr herausgekommen, von dem wir erfahren dürfen?"

"Es wurde mir nicht gesagt, dass da etwas enthüllt wurde und deshalb auch keinerlei Beschränkung auferlegt, was die Weitergabe von Erkenntnissen betrifft", erwiderte die gemalte Hexe in lupenreinem Französisch, dass selbst einer Madame Faucon imponiert hätte. "Ja, dann liegt es doch nahe, dass die Hersteller dieser Artefakte die zwei jungen Eheleute nur nach Deutschland haben ausreisen lassen, um herauszufinden, wer ihre Schicksalsgenossen sind, um diese mit ihnen zusammen wieder in Gewahrsam zu nehmen und wohl für eine gewisse Zeit in magischem Tiefschlaf zu halten, dass sie sich nicht einmal durch Gedanken oder Träume offenbaren können, wenn jemand auf diese Aktivitäten ihres Geistes Zugriff haben sollte."

"Auf ihre Träume?" wollte Nathalie wissen. Adrastée nickte. "Gerade Geisterwesen können sich über die Träume von lebenden Menschen mitteilen, vor allem solche, die nicht als bewusst sichtbare Entitäten verblieben sind, aber auch solche, die mit den lebenden Menschen eine gewisse Verbindung haben." Julius hätte fast genickt. Er war das beste Beispiel dafür, wie Wesen wie Ashtaria, Ammayamiria oder Darxandria in seinen Träumen herumspuken konnten. Doch er beherrschte sich so gut er konnte. dann fragte Bärbel:

"Können solche Geisterwesen die Träumenden dann auch im Traum töten, dass sie wahrhaftig sterben?"

"Das können wir leider nicht sicher sagen oder ausschließen, weil wir dazu ja die Aussage eines derlei heimgesuchten Menschen hätten erhalten müssen", sagte Adrastée Ventvit. "Es ist in den letzten fünfhundert Jahren aber dreimal passiert, dass Menschen in ihren Träumen von nachweislich toten Hexen oder Zauberern angeklagt oder durch Ratschläge auf einen bestimmten Weg gebracht worden sind, um drohenden Gefahren zu entgehen. Aber weil es das medimagisch zertifizierte Krankheitsbild Traumrufsyndrom gibt könnte dieses auch bei nichtmagischen Menschen auftreten, die von einem starken Geisterwesen heimgesucht und mit der dazu nötigen Magie durchflutet werden können. Aber das führt uns jetzt wohl ein wenig weit weg vom Thema", sagte Adrastée. Nathalie wandte ein, dass sie diesen Punkt angeschnitten habe. "Ja, um aufzuzeigen, dass es nicht reicht, Menschen einfach nur zu verstecken, wenn mächtige Geister mit ihnen in Verbindung treten oder durch ein gemeinsames Schicksal bereits verbunden sind. Soweit wir ja von Fräulein Weizengold erfuhren handelt es sich bei der aufgetauchten Schattenriesin wohl um eine oder zwei Teilnehmerinnen an einer gemeinsamen Forschungsreise in das Atlasgebirge, richtig?" Bärbel nickte bestätigend. "Dann müssen diese Leute wahrhaftig in traumlosen Tiefschlaf versenkt werden, damit sie keine Geistesregungen zeigen und somit auch nicht ausstrahlen können, Perithanasia-Zauber, die Damen und der Herr." Alle nickten. Der Scheintodzauber oder auch Schlaf der Todesnähe war der mächtigste mit Zauberstäben ausführbare Schlafzauber, den die gegenwärtige Zauberkunde kannte. Julius dachte auch an den Tiefschlafzauber, dem Naaneavargia unterworfen war, als sie in den Höhlen des Uluru eingeschlossen war, um Ailanorars Stimme zu bewachen. Als Julius merkte, dass er ins Nachsinnen abtrieb musste er sich schnell wieder zusammenreißen. Um seine sekundenlange Geistesabwesenheit zu begründen sagte er: "Ich habe mir gerade vorgestellt, dass wer die drei entführt hat nur wollte, dass das deutsche Zaubereiministerium die für diese drei aufgebotenen Mittel und Einsatzkräfte einsparen möchte, um sie für seiner oder ihrer Meinung nach wichtigere Einsätze zur Verfügung zu haben." Die drei Hexen im Raum und die im Bild sahen ihn verdutzt an. Doch dann nickte Nathalie, und die gemalte Hexe bekam auf Höhe ihres vorgetriebenen Unterbauches eine kleine Ausbeulung, als wenn das in ihr versteckte Menschenkind mitgehört und sich über seine Aussage erschreckt hatte. Dabei war diese Erklärung Julius gerade erst eingefallen, auch irgendwie aus dem Bauch heraus.

"Das klingt sehr weit hergeholt", sagte Adrastée Ventvit. Doch Nathalie erwiderte: "Es ist nur eine Vermutung, aber eine, die ich seltsamerweise teilen kann, Kollegin Ventvit. Ich kann mich daran erinnern, dass mein Gatte, als er noch lebte, öfter mal einen Disput zwischen Monsieur Colbert und anderen Abteilungsleitern schlichten musste, weil unser hochverehrter Finanzhüter die Ausgaben für bestimmte Einsatzmittel in Frage stellte und der Antragsteller felsenfest darauf beharrte, diese Einsatzmittel zur erfolgreichen Durchführung unbedingt zur Verfügung gestellt zu bekommen. Ich möchte Ihrem Finanzhüter nichts unterstellen, Fräulein Weizengold. Ich hörte jedoch von diversen langen und zähen Unterhandlungen zwischen Ihrem Finanzhüter Heller und Mitgliedern der deutschen Sektion der internationalen Zaubererkonföderation. Seitdem wird er als Knutjongleur bezeichnet, der nur die Geldstücke herausgibt, die beim Hochwerfen nicht wieder herunterfallen."

"Aber sowas von, ... öhm, ja, Herr Heller ist schon sehr streng auf Einhaltung der zugebilligten Kostenbeschränkungen bedacht", erwiderte Bärbel darauf. "Er hat mir sogar nahegelegt, mir in meiner Freizeit jene Kleidung vom verdienten Gehalt zu kaufen, die ich zum Auftritt in der magielosen Welt anziehen soll. War schon sehr spannend, mitzukriegen, in welchen Bahnen er denkt."

"Kann auch sein, dass es jemand außerhalb des Ministeriums war, der einfach nicht mehr wollte, dass gestandene Abwehrzauberer hinter drei harmlosen jungen Menschen herlaufen", sagte Julius. "Ich werde hier jetzt sicher keinen großen Drachen kitzeln, irgendwen zu verdächtigen, der mir dienstmäßig um Jahre voraus ist."

"Wie erwähnt ist das ja auch nur eine von mehreren Vermutungen", beschloss Nathalie diesen Punkt. Dann ging es noch um die geplante Zusammenkunft der europäischen Verantwortlichen für Menschen mit und ohne Zauberkräfte und Geisterwesen. Als Julius nach einer Dreiviertelstunde eine der Abschriften des Protokolls mit allen Unterschriften für seine Akten entgegennahm fragte er sich, ob er da nicht doch einen sehr großen Drachen gerufen hatte, als er, nur um seine kurzfristige Entrücktheit zu begründen, behauptet hatte, dass jemand die um die Mehrausgaben für die Überwachung von drei für die Zaubererwelt an sich unwichtigen Leuten einzusparen, drei für die Zaubererwelt eigentlich völlig unwichtige Leute in Gewahrsam genommen hatte. Sicher, Antehlia könnte einen Grund haben, den er nicht kannte, die drei einzukassieren. Ein Grund könnten die bezauberten Eheringe sein. Denn er kannte einen solchen Zauber, und die Vereinigung Anthelia/Naaneavargia kannte den ganz sicher auch. Wahrscheinlich wusste sie über die Natur dieser Nachtschattenriesin noch mehr als alle anderen, mit denen er gesprochen hatte. Immerhin hatten ihm die Sonnenkinder mitgeteilt, dass dieses Geisterwesen die wahre Erbin von Kanoras sein mochte, die alles wusste, was dieser Schattenlenker gewusst hatte. Was das blaue Licht anging, das mal eben zehn Werwölfe von innen her hatte durchbacken lassen blieb er bei seiner Vermutung, dass Vita Magica dafür verantwortlich war. Das passte einfach zu einer Organisation, die keine Rücksicht auf Menschenleben nahm, nur um ihr Ziel einer starken magischen Menschheit zu folgen. So ähnlich hatten die Nazis ihren Massenmord an Juden und Andersdenkenden und -lebenden gerechtfertigt. Deshalb wusste er auch schon, was er nach seinem Dienst zu tun hatte.

Vorerst besuchte er mit Bärbel den Computerraum, um nachzuforschen, wo die Grabowskys und kannegießers abgeblieben waren. Denn wenn die Schattenkreatur nicht an ihre ausgewählten Opfer kam, so die bitterböse Erfahrung, schlug sie bei deren Verwandten zu, wohl auch, um die von ihr eigentlich gesuchten zur Aufgabe zu zwingen.

"Hmm, laut Arkanet Berlin haben die Lichtwächter die Eheleute Peter und Karla Grabowsky bereits nach dem ersten Auftauchen der Nachtschatten in magische Schutzhaft genommen und sie im Zaubertiefschlaf in einem ihrer "sicheren Häuser" versteckt, aus denen nicht mentiloquiert werden kann", sagte Bärbel, als Julius für sie eine Anfrage mit den Stichworten Arne Hansen, Erna Grabowsky und Rico Kannegießer eingegeben hatte. "Ricos Eltern befinden sich noch auf Hawaii und wollen erst nach Ostern zurückkommen. Offenbar hat es da vor einigen Wochen sehr viel Geld geregnet, dass die sich so einen Urlaub leisten können", fügte Bärbel noch hinzu.

"Oha, dann könnte dieses Schattenbiest versuchen, über die an ihn heranzukommen. Es sei denn, die kann nicht mal eben über den Atlantik und den halben Pazifik apparieren", erwiderte Julius.

"Ich kläre das mit meinen Leuten, ob da schon eine entsprechende Anfrage an die Kollegen in den Staaten rausgegangen ist, dass die nicht bei der Rückkehr von dieser Schattenriesin überfallen werden", sagte Bärbel. Julius bot an, seine Verbindung zum Laveau-Institut zur Bekämpfung dunkler Zauber aus allen Kulturkreisen spielen zu lassen, zumal ja sicher war, dass die Kollegen in den USA nicht alles mitgeteilt hatten, was womöglich sehr wichtig war. Bärbel nickte ihm zu. Sie hatte ja eine Blankovollmacht, entsprechende Anfragen zu tätigen. Ob sie nur Julius fragte oder der wen weiteres fragte.

So schickte Julius eine entsprechende Mail an die Arkanetadresse von Brenda Brightgate, einer LI-Mitarbeiterin, die als Maulwürfin in der CIA aufpasste, dass der US-Auslandsgeheimdienst keine Sachen aus der Zaubererwelt mitbekam. Allerdings würde Brenda diese Nachricht wohl erst lesen, wenn sie an ihren Privatrechner kam. Im Moment mochte sie in ihrem Büro bei den Schlapphüten sein. Zumindest konnte er ihr mit stillem Einverständnis von Nathalie Grandchapeau auch die Kurzberichte über die von einem geheimnisvollen blauen Licht zu Tode gequälten Werwölfe schicken. Falls die in den Staaten da noch keinen solchen Vorfall zu verzeichnen hatten waren die vom LI zumindest schon mal vorinformiert.

Er ging davon aus, dass er wohl erst am nächsten Morgen die Antwort haben würde. Doch als keine zehn Minuten später bereits der Eingang einer neuen Post mit der Adresse von Brenda Brightgate vermeldet wurde sah Julius Bärbel nur verwundert an. Diese blickte ebenso verwundert zurück und deutete dann auf den Bildschirm. Da Bärbel genug Englisch konnte, um mitlesen zu können brauchte Julius nicht zu übersetzen:

Sehr geehrter Monsieur Latierre,

vielen Dank für das in uns gesetzte Vertrauen und die damit verbundene Anfrage an unser Institut. Wir werden die von Ihnen gemachten Angaben sofort an unsere verfügbaren Außentruppmitarbeiter weitergeben und die Eheleute Kannegießer unverzüglich durch Versenkung in magischen Tiefschlaf jeder möglichen Nachstellung dieser sehr besorgniserregenden Schattenwesen entziehen. Ich wundere mich allerdings, dass es diesbezüglich keine Anfrage seitens des deutschen Zaubereiministeriums an die offiziellen Stellen gab. Somit bleibt nur zu hoffen, dass die Eheleute Kannegießer noch rechtzeitig gefunden und in Obhut genommen werden können, bis entschieden werden kann, wann und wie sie ihr gewohntes Leben fortsetzen können, sofern die bis dahin verstreichende Zeit eine Fortführung ihres gewohnten Lebens überhaupt ermöglicht.

Der kurze Hinweis auf die Massentode von Trägern der Lykanthropie gibt ebenfalls zur Sorge anlass. Wir mussten bisher keinen solchen Vorfall zur Kenntnis nehmen. Unser Stand war bisher, dass es jene magicomechanischen Insekten mit Mondsteinsilberstachel gibt, die einen auf Werwölfe tödlichen Blutzersetzungserreger übertragen können. Die von Ihnen kurz dargestellte Art und Weise, wie die Lykanthropen in Deutschland zu Tode kamen deutet auf eine getarnte Vorrichtung hin, die zur Erfassung ihrer Ziele auf das von unserem Chefausrüster entwickelte Verfahren zur Ortung von Lykanthropen zugreift. Das geht aber wohl nur, wenn jemand widerrechtlich die von uns erfundene Methode kopieren kann. Deshalb ist es auch sehr wichtig, dass wir diese Vorfälle nachprüfen. Bitte teilen Sie uns umgehend mit, wenn Ihre Kollegen in dieser Angelegenheit eindeutige Ergebnisse erzielt haben werden!

Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag

S. Ohoolihan

"Ui, darf die derzeitige Chefin vom LI bei Brenda mitlesen?" bemerkte Julius dazu. Bärbel bat darum, diese Botschaft auf Papier ausdrucken zu lassen. Dann sagte sie: "Hmm, darfst du die elektronische Anschrift von denen an andere Kollegen weitergeben, Julius?"

"Ich darf leider nur die Anschriften von Ministeriumskollegen im Ausland an andere Kollegen weitergeben. Vom LI hat keiner was gesagt. Das ist auch eher eine gewisse Rückversicherung von Madame Grandchapeau, meiner Mutter und mir, dass wir nicht nur auf offizielle Kanäle angewiesen sind, nachdem die in den Staaten so viele neue Zaubereiminister in Folge hatten."

"Vor sechzig Jahren soll das noch heftiger gewesen sein, sagte mir mal Ururoma Mechthilds Bild. Da haben die sich voll gegen alles aus dem Ausland abgeschottet und jedem misstraut, der aus Europa rüberkam. Das war ja die Zeit, wo Grindelwald in Europa auf dem Höhepunkt seiner Macht war. Da gab es in den Staaten noch einen Schattenkongress, der sich selbst als Makusa bezeichnet hat. Erst nach Grindelwalds Tod und der Reform der internationalen Zaubereikonföderation hat sich diese elitäre Clique aufgelöst und ein ähnliches Verwaltungssystem eingerichtet wie wir hier in Europa."

"Ich habe das auch mal gelesen, dass es auch wegen der Anerkennung der Zauberschulen in den Staaten immer wieder zu Unstimmigkeiten gekommen ist, weil die Nachkommen der sog. Söhne und Töchter der Opfer von Salem die magisch begabten Kinder von Einwanderern nicht in die von denen begründete Zauberschule reinlassen wollten. Das hat ja dann zur Gründung von Dragonbreath, Thorntails und Broomswood geführt. Sind schon ein sehr exotisches Völkchen, die Leute überm Teich", sagte Julius. Dann fügte er hinzu: "Aber wo meine Mutter einen ehemaligen Thorntails-Schüler geheiratet hat sehe ich das als gewisse Herausforderung, mit dieser Exotik zurechtzukommen."

"Vor allem, wo du noch drei Halbgeschwister dazubekommen hast", sagte Bärbel. "Die neuen Angaben über von diesem Fortpflanzungsgebräu betroffener Hexen und Zauberer, die nichtmagische Elternteile haben liegen deiner einen Chefin ja vor. Bei uns sind es ja nur drei." Julius nickte.

Bärbel ließ es sich nicht entgehen, zum Mittag noch im Ministerium mitzuessen, wobei sie auch mit Julius Schwägerin Martine zusammentraf. Jetzt konnte sich Martine davon überzeugen, dass sie, sowie ihre Mutter und ihre erwachsene Schwester nicht die einzigen hochgewachsenen Europäerinnen der Zaubererwelt waren. Nach dem Essen besprach sich Bärbel noch alleine mit Nathalie Grandchapeau. Dann verließ sie das Ministerium, um sich noch ein wenig im Paris der Zauberer und der Magielosen umzusehen. Abends würde sie dann ins Sternenhaus zurückkehren, von wo sie am nächsten Morgen wieder nach Deutschland zurückreisen würde.

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Anthelia hatte nach der Meldung, dass die von der Schattenriesin verlangten Menschen von irgendwem aus ihren Wohnhäusern entführt worden waren zwei Minuten auf einem Hügel in der Nähe der Daggersvilla zugebracht, um dort mit dem Stein, aus dem sie zwei Stücke herausgeschlagen hatte, eine direkte Verbindung zu den beiden Eheringen der Hansens herzustellen. Dabei fand sie heraus, dass die zwei wohl gerade bewusstlos waren oder in einem sehr tiefen Zauberschlaf steckten. Deshalb war es auch nicht so leicht, herauszubekommen, wo genau sie nun waren. Sie erkannte sogar, dass irgendwer oder irgendetwas ihre Suche verderben wollte. Als sie meinte, vor lauter blauem Nebel nichts mehr sehen zu können legte sie den Stein auf den Boden, stellte sich mit dem rechten Fuß darauf und zielte mit dem Zauberstab zwischen ihren Beinen direkt auf die Erde. Dann rief sie einen mächtigen Erdzauber auf, der wie eine unterirdische Welle kreisförmig in alle Richtungen davonraste. Wenn er auf das mit ihm verbundene Ziel traf würde nur der Teil davon zu ihr zurückfluten, der mit dem Ziel wechselwirkte. Solange musste sie Kontakt mit dem Auffindstein und der Erde da selbst halten.

Während die Minuten vergingen sang Anthelia leise ihre Zauberformel des Rufes der getrennten Erde. Dann fühlte sie, dass ein gebündelter Strahl aus Zauberkraft durch ihr linkes Bein in ihren Körper schnellte. Sofort dachte sie daran, dass die beiden Steine in der Nähe von Irland sein mussten. Dann wusste sie dank ihres Richtungs- und Entfernungsgespürs, wo das Versteck lag. Dorthin wollte sie gleich reisen, um die Entführten in ihre eigene Obhut zu nehmen.

Bevor sie aufbrach traf sie noch gewisse Vorkehrungen. Sie durfte nicht mal eben in ein ihr unbekanntes Haus eindringen und gleich erkannt werden. Deshalb bezauberte sie einen silbergrauen Schmuckgürtel, den sie sich zu einem besonders schicken Abendkleid besorgt hatte, mit dem alten Zauber Hauch der Unergründlichkeit, einem eigentlich der Elementarkraft Luft zugeordneten Zauber. Doch mit Naaneavargias Bruder, einem mächtigen Meister der Winde, hatte sie diverse Kenntnisse ausgetauscht, wenngleich sie maßgeblich Meisterin der Erde war und durch die Verschmelzung mit Anthelia auch viele andere Zauber der anderen Grundkräfte beherrschte. Als sie dann noch mehrere Steine so bezaubert hatte, dass jeder davon ein mittelschweres Erdbeben auslösen konnte, verließ sie die Daggersvilla zu Fuß. Dann stampfte sie kurz auf den Boden auf und beschwor die Macht der schnellen Reise im Leib von Mutter Erde. Sie fiel förmlich in die Tiefe, obwohl unter ihr festes Gestein lag. Dann richtete sie sich so aus, dass sie genau dorthin eilen konnte, wo das Ziel lag. Denn es war nicht direkt auf der Insel Irland zu finden.

Nach einer Reise über mehr als einer halben Stunde fühlte Anthelia/Naaneavargia, wie sie gegen eine nachgiebige Wand stieß und dann wie von unsichtbaren Händen ergriffen hindurchgezogen wurde. Dann entfuhr sie einem felsigen Untergrund. Um sich herum spürte sie wild kreisende Zauber und vernahm auch im Boden entlangrasende Kräfte, die sich in die Gegenrichtung drehten.

Anthelia/Naaneavargia erkannte, dass sie auf einer kleinen Insel gelandet war und dass die Insel von blauem Nebel überdeckt war. Dieser Nebel bewirkte in ihr dieses Gefühl um sie kreisender Kräfte. Dann sah sie eine Hütte vor sich. Sie prüfte schnell mit dem mitgebrachten Stein, aus dem die Steine für die Ringe stammten, ob sie noch weit zu laufen hatte. Der Prüfzauber wies ihr den Weg genau auf die Hütte zu. Sie prüfte auch, ob sie hier gefahrlos apparieren konnte. Dabei erkannte sie, dass dieses Eiland ein von vielen Trägersteinen aufrechterhaltener Locorefusus-Zauber war. Sie konnte zwar verschwinden, aber nicht an einer anderen Stelle der Insel reapparieren. Der Abweisezauber reichte ganze zehn Kilometer weit, zu weit, um nach einem Appariersprung wieder zur Insel zurückzuschwimmen. Also blieben nur noch einmal durch die Erde zu reisen und das ganz schnöde laufen. Sie entschied sich für das Laufen, da sie nicht riskieren wollte, wegen der im Gestein geltenden Schallgeschwindigkeit zu weit über das Ziel hinauszuschießen.

Mit dem Zauber der unerschöpflichen Ausdauer lief Anthelia/Naaneavargia zu der Hütte. Auf nur noch zweihundert Metern entfernung hörte sie die Gedankenstimme eines Mannes. "Das wird den guten Giesbert aber noch mehr kosten als vereinbart. Wenn ich die zwei nicht bald irgendwo anders hinkriege kommen mir die Reinrassigen doch noch dumm, nachdem Nebelbarts Enkelsohn meinte, doch noch in sein eigenes Haus reinzugehen."

Anthelia/Naaneavargia umschritt das Haus weiträumig und prüfte mit dem Zauber "Wissen der großen Mutter", ob Tiefensands Grundstück mit Schutz- oder Fallenzaubern gesichert war. Tatsächlich fand sie drei Zauber, die ihr missfielen. Zum einen konnte sie in der Grundstücksbegrenzungsmauer einen Zauber gegen Flug- und Schwebezauber entdecken. Auf einem Besen oder Flugteppich kam also niemand an das Haus heran. Dann waren da mindestens drei Räume im Haus, die mit besonders starken Erdzaubern belegt waren. Offenbar wurden da auch die Gefangenen verwahrt. Der dritte Zauber ärgerte sie jedoch am meisten. Denn es war ein Zauber, der offenbar auf bestimmtes Blut abgestimmt war und jeden, der nicht dieses Blut in den Adern hatte vollständig abwies. So etwas ähnliches hatten die Werwölfe von Lykotopia gemacht, um bei ihren Aktionen nicht gestört werden zu können. So blieb ihr nur, Fred Tiefensand herauszulocken, um freie Sicht auf ihn zu bekommen.

Anthelia las kleine Steine vom Boden auf und prüfte, ob in denen schon Magie steckte. Als feststand, dass sie nur von dem allgegenwärtigen Unortbarkeitszauber durchdrungen wurden warf sie einen nach dem anderen hoch in die Luft, um ihn dann mit ihrer Willenskraft so sehr zu beschleunigen, dass er wie vom Katapult geschnellt auf eines der Fenster zuflog und laut krachend gegen die Scheibe prallte. Das wiederholte sie mit vier weiteren Steinen. Tatsächlich horchte Fred auf und ging an das Fenster, um zu sehen, wo die Geschosse herkamen. Noch einmal ließ Anthelia mit ihrer telekinetischen Kraft einen kleinen Stein mit irrwitziger Geschwindigkeit durch die Luft sausen und laut gegen die Scheibe klatschen. Immerhin waren die Fenster unzerbrechlich, dachte Anthelia. Dann sah sie Fred Tiefensand ganz genau. Das reichte ihr aus, um ihm den entscheidenden Schlag zu versetzen.

"Imperio!" zischte sie. Mit der Kraft der zwei Seelen in einer schwemmte sie jeden Gedanken an Argwohn und Gefahr mit einer Flut aus Glückseligkeit fort. Dann bekam sie den gewünschten Kontakt mit Tiefensands Geist. "Bring die dir anvertrauten Gefangenen vor das Tor deines Grundstückes und lege sie dort ab!" befahl Anthelia/Nanneavargia. Diesen Befehl wiederholte sie noch einmal. Dann verfolgte sie auf rein geistiger Ebene mit, wie ihr Opfer durch das Haus ging und eine massive, mit koboldbezauberten Silberblechen beschlagene Tür aufschloss. Sie überwachte, wie er erst Arne und dann Erna Hansen aus dem Haus bis zur Grundstücksgrenze schleppte und außerhalb des Tores ablegte. Als er dann noch zwei kleine Betten wie für Puppen heraustrug kam ihr die Idee, ihn auch mitzunehmen. Hierfür wartete sie, bis er vor das Tor getreten war. Dann betäubte sie ihn einfach und ließ ihn trotz der koboldstämmigen eigenen Fremdverwandlungsresistenz auf nur noch zehn Zentimeter Größe zusammenschrumpfen. So konnte sie ihn und alle Gefangenen mit sich nehmen.

Um den Transport möglichst reibungslos durchzuführen bezauberte sie die nicht einzuschrumpfenden Gefangenen so, dass diese für eine kurze Zeit von ihrer Lebensausstrahlung durchdrungen wurden. Diesen Heilertrick hatte sie schon in ihrem ersten Leben erlernt. Sie beschwor ein Tragegeschirr herauf, mit dem sie sich und die auf den Tragen liegenden Gefangenen aneinanderband. Dann disapparierte sie.

Anders als vorhin brauchte sie vier Zwischenhalte, um zur Daggers-Villa hinüberzuwechseln. Dort bettete sie die Hansens in einem der Gästeräume auf bequeme Matratzen und deckte sie sorgsam zu. Da sie vor gewisser Zeit alle hier in der Villa spukenden Geister in Flaschen eingesperrt hatte musste sie sich keine Gedanken um unerwünschte Beobachter machen.

Mit dem Zauber "Bote der roten Erde" unterwarf sie sich den eingeschrumpften Fred Tiefensand. Als er wieder wach war und merkte, dass er in einer Art rotem Ton feststeckte war es bereits zu spät. Anthelia befahl ihm, während sie ihm behutsam etwas von ihrem eigenen Monatsblut auf den Kopf tropfen ließ, ihr alles über den Bund des Eisenbarrens zu erzählen. Zunächst wollte er das ablehnen. Doch der Zauber der roten Erde quälte ihn dermaßen, dass er nach nur fünf weiteren Blutstropfen schwor, die reine Wahrheit zu sagen. Anthelia setzte sich vor ihn hin und stellte ihre Fragen, zunächst nach allen Mitgliedern, dann nach bisherigen Aktionen und dann, wer was bei dieser Gruppe einbrachte. Schließlich wollte sie wissen, wer die Sonnenlichtkugeln aus Ricos Haus und dem Sendestudio in Besitz hatte. Als sie erfuhr, dass es sich um Lutz Felsspalter handelte bedankte sich Anthelia bei Fred Tiefensand. Dann schockte sie ihn zuerst, um ihm dann die Erinnerungen an diese Heimsuchung zu überlagern. Als sie ihn wieder hinter seinem Tor abgelegt und entschrumpft hatte wirkte sie den Aufweckzauber so, dass dieser nach einer Viertelstunde in Kraft treten sollte. Diese Zeit wollte sie nutzen, um sich auch noch die Sonnenlichtkugeln bei Lutz Felsspalter abzuholeln.

Da sie von Fred Tiefensand alles über die Gruppe namens Eisenbarren erfahren hatte wusste sie auch, wo Lutz Felsspalter wohnte, auf einem Hügel bei Regensburg in Bayern. Sie brauchte nur eine Minute, um das besagte Haus zu finden, zumal ein vorausgeschickter Erdzauberaufspürzauber mit mehreren Schutzzaubern wechselwirkte. Tatsächlich ging auch sofort ein Meldezauber los, was Anthelia daran erkannte, dass der noch wache Lutz Felsspalter unverzüglich einen Fernortungszauber in Kraft setzte, um zu erfassen, wer ihm da auf die Pelle rücken wollte. Anthelias Unortbarkeitsgürtel lenkte jedoch alles um sie herum. Dann wandte sie die gleiche Taktik an wie bei Fred Tiefensand. Sie schleuderte mit ihrer telekinetischen Begabung Steine gegen das in ihrem Blickwinkel liegende Fenster. Die Antwort war ein plötzlich in ihrer Nähe auftauchender Zauberer in einem Unsichtbarkeitszauber. Der nutzte Lutz jedoch nichts, weil Anthelia seine Gedanken erfassen und unverzüglich den Zauberstab auf ihn richten konnte. Wie bei Fred wendete sie den Imperius-Fluch an. "Hol mir die Sonnenlichtkugeln, die ihr aus den Häusern auf Neuwerk habt mitgehen lassen!" befahl Anthelia dem Überwältigten. Keine zwanzig Sekunden später legte der von ihr bezwungene sechs faustgroße, goldene Artefakte vor ihre Füße, die wie vergoldete Kastanien in ihren stacheligen Hüllen wirkten. Um nicht von ihm verraten werden zu können belegte sie ihn dann auch mit einem Gedächtniszauber, dass ihm zehn Kobolde auf die Pelle gerückt seien, um die bei anderen Zauberwesen so begehrten Sonnenkugeln an sich zu bringen. Um den Überfall glaubwürdig vorzutäuschen ließ Anthelia telekinetisch mehrere Möbel umfallen oder in Stücke gehen. Lutz sollte dann zwischen all den Trümmern wieder aufwachen. Als sie mitbekam, wie mehrere Lichtwächter auf das Haus von Lutz Felsspalter zuflogen verschwand sie einfach in der Erde und jagte mit der dort möglichen Schallgeschwindigkeit in Richtung USA davon.

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Giesbert Heller hatte bereits einen anstrengenden Morgen hinter sich, weil die Lichtwachen von ihm verlangten, mit allen verfügbaren Kräften und Mitteln nach den Entführern der Hansens und Rico Kannegießers suchen zu dürfen. "Wir müssen davon ausgehen, dass die Täter die vier dazu benutzen werden, auf eigene Faust mit der Nachtschattenkönigin zu verhandeln, diese entweder für sich zu vereinnahmen oder ihr die vier anzubieten, um einen fragwürdigen Frieden zu schließen, der wohl gerade einmal zwei Nächte halten wird", hatte Andronicus Eisenhut dazu gesagt. Doch Heller hatte immer wieder betont, dass er nicht der Zaubereiminister war.

Armin Weizengold hatte wegen der Entführung der insgesamt vier Magielosen angefragt, ob er die ihm zugeteilten Ausrüstungsgüter bereits jetzt schon wieder zurückerstatten sollte oder noch weiterermitteln lassen sollte. Heller hatte ihn darauf vertröstet, dass der Minister selbst noch einmal mit ihm sprechen möge, wenn klar war, ob mit einem baldigen Wiederauftauchen der Verschwundenen zu rechnen sei oder nicht.

Diese Sache war ja noch zu erwarten gewesen, dachte Giesbert Heller. Doch dann erfuhr er über die kleinen geheimen Fernsprechdosen, dass Lutz Felsspalter in der Nacht von Kobolden überfallen worden sein sollte, die sich die bei ihm gelagerten Sonnenlichtkugeln angeeignet hatten. Fred Tiefensand meldete sich nach ein Uhr, um zu berichten, dass er von irgendwas, das er nicht mehr wusste, aus seinem Haus hinausgetrieben worden sein musste. Als er wieder aufgewacht war hatte er festgestellt, dass die vier Gefangenen verschwunden waren. Irgendjemand hatte also in der Nacht, wo er meinte, selig schlafen zu dürfen, die vier magielosen Leute befreit, hinter denen die Schattenriesin her war. Oder hatte wer auch immer die vier nicht befreit, sondern nur ihm und seinen Bundesgenossen entzogen? Am Ende wollten da wirklich andere Hexen undZauberer mit der Schattenriesin paktieren, so wie es Andronicus Eisenhut am Morgen noch behauptet hatte. Dann fiel ihm ein, wie das gelaufen sein musste. War er nicht gewarnt worden, jemand könne über die Eheringe der Hansens orten, wo diese seien? So musste es abgelaufen sein. Womöglich hatte dieser Jemand auch erkannt, dass die kleine Dreingabe nicht mehr den gewünschten Zweck erfüllen und die Schattenkönigin selbst vernichten würde. Jedenfalls waren die vier Magielosen aus der Obhut seiner Kameraden entführt worden, und er konnte nicht einmal Anzeige erstatten. Ob wirklich Kobolde die Sonnenlichtkugeln gestohlen hatten wusste er nicht. Zuzutrauen war denen das schon. Andererseits mochte wer immer die vier Magielosen befreit hatte, auch die Sonnenkugeln einkassiert haben. Denn sowas war ja nicht billig. Das hieß auf jeden Fall, dass er sie nicht wie mit Lutz und Max besprochen zurückerhalten konnte. Irgendwie wurde er gerade den Gedanken nicht los, dass er die Sache besser nicht derartig aufgeblasen hätte. Jetzt mochte irgendwer die Gefangenen dazu einsetzen, diese Schattenriesin zu bekämpfen oder ihre Gunst zu erringen, ohne dass das Ministerium sie festsetzen und möglicherweise auslöschen konnte. Keine wirklich erfreulichen Aussichten.

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Am Morgen des 30. März bekam Julius gleich beim Betreten des Zaubereiministeriums mit, dass es in der vergangenen Nacht wieder zu einem unheimlichen Zwischenfall gekommen war. Diesmal waren zwölf erwiesene Werwölfe durch jenes sie von innen her aufheizende Phänomen grausam zu Tode gequält worden, welches in der magischen Rückschau als silbrig-blaues Licht erschien, welches unmittelbar vom Mond selbst zu kommen schien. Besonders tragisch an diesem Vorfall war, dass es bis auf zwei Personen nur Jugendliche zwischen fünfzehn und sechzehn Jahre waren, sechs Mädchen und vier Jungen.

Nathalie Grandchapeau zitierte ihn unmittelbar nach seiner Anmeldung in seinem Büro zu sich hin. Auch Monsieur Beaubois war da und Monsieur Lemont, der Leiter der Légion de la Lune, der aus Lykanthropen bestehenden Sondereinheit gegen kriminelle Werwölfe.

"Sie haben es ja mitbekommen, Monsieur Latierre. Zwölf Personen, davon zehn Minderjährige aus der nichtmagischen Welt, sind durch jenes eine innere Überhitzung auslösende Verfahren grausam getötet worden. Jetzt haben wir so einen Massenmord auch bei uns. Will sagen, wir sollten bald herausfinden, wer diese Todesfälle zu verantworten hat, bevor diese Leute sich noch dazu verleiten lassen, ihre Massenmordmethode bei Vollmond anzuwenden und dann hunderte von größtenteils unschuldigen Trägern der Lykanthropie zu töten", sagte Nathalie sehr ernst klingend. Simon Beaubois, der nun die gesamte Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe leitete, legte seine Stirn in tiefe Sorgenfalten. "Wer immer diese Grausamkeiten verübt plant offenbar, sämtliche Lykanthropen zu töten. Allerdings haben die in der Nacht ausgerückten Bereitschaftszauberer ermittelt, dass jeder der Toten einen fest mit dem Körper verbundenen Gegenstand aus purem Silber trug, der durch mit runen verstärkten Zaubern zur Abstoßung von anderem Silber bezaubert war. Daraus ergibt sich, dass diese nichtmagischen Minderjährigen entweder überbleibsel aus der Zeit von Lykotopia sind oder Mitglieder der sogenannten Mondbruderschaft sind. Die zwei erwachsenen Opfer waren Lehrer einer nichtstaatlichen Oberschule in Lüttich, Belgien, so zumindest die ersten Ergebnisse, die Madame Grandchapeaus Büro zu Tage fördern konnte. Wir möchten Sie bitten, den Hintergrund der Opfer ausführlich zu recherchieren und zu dokumentieren. Sollte es nötig sein, entsprechende Meldungen für die nichtmagischen Nachrichten zu erstellen, so hoffen wir darauf, dass Sie uns dabei helfen werden, Monsieur Latierre."

"Es konnte nicht gesehen werden, wie dieses tödliche Licht erzeugt wird?" wollte Julius wissen. Nathalie Grandchapeau schüttelte den Kopf und erwähnte, dass die dazu benutzte Vorrichtung wohl in einem Unsichtbarkeitszauber eingeschlossen war, der bei einer reinen Rückschau nicht durchdrungen werden kann. Es war nur wieder zu sehen, dass scheinbar aus leerer Luft heraus eine silbrig-blaue Strahlenglocke über der Waldhütte auf Korsika entstand, in der die zwölf Betroffenen übernachtet hatten.

"Die Namen der Toten sind bekannt?" fragte Julius.

"Ja, das konnten unsere Kollegen noch klären. Auch sind erste Totenmasken der Opfer erstellt worden. Doch das mindert die Schwere dieser Untat nicht. Hier werden einfach Leute getötet, weil sie den Keim der Lykanthropie im Leib haben, ohne dass sie gezielt gegen unbelastete Menschen vorgegangen sind." Julius pflichtete ihr bei. Dann sagte er:

"Das sind Feiglinge, Madame und Monsieur. Die haben eine Waffe erfunden, die aus sicherer Entfernung gelenkt werden kann und gezielt gegen Lykanthropen eingesetzt werden kann. Die Erfinder sehen und hören nicht, wenn ihre Waffe wirkt. Das ist genauso feige wie der Abwurf von Sprengbomben über einer Stadt. Die wissen, dass unten Leute sterben oder schwer verletzt werden. Aber solange sie die nicht sehen und nicht schreien hören müssen können sie ihre Waffen benutzen. Vor allem sind das meiner Meinung nach Faschisten, Leute, die nur eine bestimmte Sorte Menschen für einzig lebenswert und herrschaftsberechtigt halten, ähnlich wie die Todesser oder deren Nachahmer von Wallenkron alias Lord Vengor. Deshalb schlage ich vor, die Sache nicht weiter als Geheimnis laufen zu lassen, sondern öffentlich anzuprangern, die Namen und Gesichter der Toten in alle uns verfügbaren Nachrichtenverbreitungsmedien zu bringen, um denen, die in Frankreich beobachten, wie ihr Massenmordgerät wirkt daran zu erinnern, dass sie keinen lästigen Pilzbefall oder gefährliche Schädlinge abtöten, sondern fühlende, intelligente Menschen, die nur das Pech hatten, mit einer magischen Krankheit leben zu müssen. Aber kranke Leute nur wegen ihrer Krankheit umzubringen ist genauso feige wie die Art, wie sie das gemacht haben oder immer noch machen. Vielleicht erkennen die Handlanger und Beobachter, die für diese Schwerverbrecher arbeiten, was sie da anstellen, wenn sie die Gesichter der Toten in der Zeitung sehen und lesen, dass es junge Leute waren, die ihr Leben noch vor sich hatten."

"Zu welchem Zweck, Monsieur Latierre, dass diese uns ihre Hinterleute oder Mittäter verraten?" wollte Simon Beaubois wissen. Der Leiter der LDLL sah den ehemaligen Geisterbüroleiter verdrossen an und wandte sich dann an Madame Grandchapeau:

"Bevor das in anderen Ländern passiert ist hatten wir beide doch schon ein Konzept für eine Gleichstellungskampagne für unbescholtene Lykanthropen. Die können wir nach diesem Vorfall wohl auf den Kompost werfen. Auch könnte es passieren, dass diese Mörder sich nicht nur auf Leute von der Mondbruderschaft einstimmen, sondern beschlossen haben, dass jeder Lykanthrop zu sterben hat. Dann kriegen auch wir gut in die Gesellschaft eingebundenen Träger dieser Krankheit dieses blaue Licht ab. Wenn das was bringt, den Sympathisanten dieser Mörder zu zeigen, dass sie nicht einfach bösartige Zauberwesen umbringen, sondern kranke Menschen, die vielleicht über die Art, wie die Gesellschaft sie behandelt verstimmt sind, könnte ich mir auch vorstellen, dass der eine oder andere Helfershelfer auspackt und uns die Hinterleute nennt, zumindest die, die unmittelbar mit dem Helfershelfer in Verbindung stehen."

"Ja, und dass es sich bei diesem und allen vorigen Anschlägen um feige, menschenverachtende Massenmorde handelt", betonte Julius nochmals. "Und sollten die Hinterleute zu dieser Vita-Magica-Bande gehören, dann haben wir endlich die Handhabe, sie als Gefahr für eine friedliche, freie Zaubererwelt darzustellen. Denn dann können wir auch fragen, wer nach den Werwölfen getötet werden soll. Leute, die eine Herrenrassen- oder Reinrassigkeitsfixierung haben halten sich nicht nur mit einer ihrer Meinung nach minderwertigen oder gefährlichen Gruppe auf, sondern haben gleich mehrere Gesellschaftsgruppen auf dem Kieker, also wollen denen entweder nur die Freiheit oder gleich das Leben nehmen. Vor allem sollten wir klarstellen, dass heute nacht eine rote Linie überschritten wurde, also der Kessel überläuft."

"Sie vermuten also auch Vita Magica hinter diesen Massenmordanschlägen?" fragte Nathalie Grandchapeau. Dann verfiel sie in eine konzentrierte Haltung, als müsse sie auf eine ferne oder in ihr selbst klingende Stimme lauschen. Womöglich war das auch der Fall, dachte Julius. Dann sagte sie: "Ja, es spricht mehr für diese selbstherrliche, skrupellose Gruppierung als für einen Nachahmungstäter des britischen Massenmörders und seines deutschen Nachahmers. Denn jene haben sich die Werwölfe als Druckmittel zu nutze gemacht, auch wenn sie diese ebensowenig wertschätzten wie die Nachkommen nichtmagischer Eltern. Bei Vita magica ist anzunehmen, dass sie die Lykanthropen vor allem nach den Umtrieben der Mondbruderschaft und der von dieser selbst abgespaltenen, noch radikaleren Lykotopia-Fraktion zur lebensunwerten Daseinsform erklärt haben, die ihre eigenen Pläne stört, mehr magiebegabte Menschen auf dieser Welt zu haben."

"Also pflichten Sie Monsieur Latierre bei, dass es nicht nur um die erwiesenen Verbrecher unter den Lykanthropen geht?" wollte Monsieur Lemont wissen. Madame Grandchapeau nickte bekräftigend. "Gut, dann werde ich meine Mitarbeiter und unsere inoffiziellen Helfer wohl entsprechend vorwarnen müssen, nicht in größeren Gruppen die Nacht zu verbringen und die Truppen am besten gleichmäßig über das Land zu verteilen."

"Wenn die mit einer ähnlichen Zielfindevorrichtung arbeiten wie das vom Laveau-Institut entwickelte Lykanthroskop könnten die auch einzelne Werwölfe aufspüren", warf Julius ein. Dann legte er nach: "Aber ich sehe auch einen Vorteil darin, dem Feind - anders können wir diese Mörder nicht nennen - möglichst keinen ergiebigen Angriffspunkt zu bieten."

Haben Sie nicht berichtet, dass Vita Magica die uns anvertrauten Lykanthroskope erbeutet hat?" fragte Nathalie Grandchapeau Julius. Dieser bejahte es. "Noch ein deutlicher Hinweis mehr auf diese Gruppierung. Die könnten die Funktionsweise dieser sehr skuril beschaffenen Geräte ergründet und für ihre Zwecke nutzbar gemacht haben."

"Öhm, habe ich die Genehmigung, mit Vertretern unserer Zeitungen und Rundfunkanstalten die Nachricht über die Getöteten zu entwerfen?" fragte Julius.

"Warten Sie bitte ", sagte Beaubois. Er überlegte einige Sekunden. Dann schüttelte er den Kopf. "Ich möchte zum jetzigen Zeitpunkt keine öffentliche Diskussion oder Erregung um diese Vorfälle auslösen, Monsieur Latierre. Zum einen könnten jene, die dafür verantwortlich sind, ihre Aktivitäten einstellen und sich unauffindbar machen. Oder sie schlagen noch brutaler zu, weil sie sich bedrängt und unter Zeitdruck fühlen. Das wollen Sie sicher auch nicht wirklich, Monsieur Latierre. Zum dritten besteht die nicht zu unterschätzende Gefahr, dass wir Begehrlichkeiten bei anderen außergesetzlichen Gruppierungen wecken, dieses Verfahren entweder auszukundschaften oder in eigener Anstrengung nachzuvollziehen und es dahingehend zu erweitern, auch unbelastete Menschen zu töten, die ihren unannehmbaren Vorstellungen nach unwert oder gefährlich sind. Am Ende haben jene, die diese blaue Todesstrahlung entwickelt haben einen schlafenden Drachen gekitzelt, dass auf diese Weise nicht nur Werwütige aus sicherer Entfernung und in großen Gruppen getötet werden können." Julius sah Beaubois erst verdrossen an. Doch dann zuckte es in seinem Gesicht. Ihm war eingefallen, was Barbara Latierre auf ihrer Inspektionsreise nach Réunion widerfahren war. Ihre Einsatzgruppe wäre beinahe von einer fliegenden Plattform festgesetzt worden, die einen aus dem Licht der Sonne gespeisten Strahlendom über sie gestülpt hatte. Barbaras Truppe hatte diese Vorrichtung durch Überladung durch gespeichertes Sonnenlicht zerstören können. Wenn Vita Magica so eine schwebende Plattform oder Himmelsglocke hatte, dann nicht nur in wenigen Stückzahlen. Er musste sich noch einmal über diese Vorrichtung informieren.

Zunächst einmal nickte er Simon Beaubois zu und sagte für eine mitschreibende Zauberfeder: "Auch wenn es mir persönlich in der Seele weh tut, den Tod dieser jungen Leute einfach als unser Geheimnis abzuhandeln und dieser Bande keine Gewissensnöte zu machen, ja durch vermeintliches Schweigen sogar irgendwie zustimmen, verstehe ich leider auch zu gut, was Sie zu Ihrer Empfehlung veranlasst, Monsieur Beaubois. Wenn die Vorrichtung, mit der dieses blaue Todeslicht erzeugt werden kann, sich nicht sonderlich schwer nachbauen lässt, könnten wirklich andere auf die Idee kommen, sie so abzuändern, dass auch Nichtlykanthropen damit getötet werden können, womöglich Leute ohne eigene Magie. Das wäre dann das, was bei Kernkraftwerksbetreibern als Supergau bezeichnet wird, die schlimmste und verheerendste Form eines großen Unfalls, bei dem der Schaden womöglich nicht mehr zu beheben ist. Entschuldigen Sie bitte meinen ersten Vorstoß!"

"Ich behalte mir vor, Ihre Idee doch noch umzusetzen", sagte Nathalie Grandchapeau zu Julius und fing sich von Simon Beaubois einen verwunderten Blick ein. "Bei allem Respekt, Kollege Beaubois, wir dürfen nicht zu lange schweigend danebenstehen und es einfach geschehen lassen. Denn sobald es auch in der Zaubererwelt lebende Lykantrhopen trifft werden deren Angehörigen uns fragen, seit wann wir davon wussten, dass sowas möglich war und ob wir etwas dagegen zu unternehmen gedenken oder es einfach so hinnehmen, wo es "nur" um Werwölfe geht. Wenn wir widerspruchslos hinnehmen, dass kranke Menschen ihrer Krankheit wegen massenweise umgebracht werden wecken wir nämlich ebenso Vorstöße, andere als unwert betrachtete Menschengruppen umbringen zu dürfen, schlimmstenfalls noch im Namen einer stabilen, überlebensfähigen Zaubererwelt. Sie haben sich mit den Gewaltherrschaftsperioden der nichtmagischen Welt nicht befasst, Kollege Beaubois. Deshalb können Sie leider nicht wissen, dass jede Form von Toleranz oder gar Kolaboration die Gewaltherrscher und ihre Helfer in ihren Ansichten bestärkt hat, im Namen ihres Zieles Menschen umzubringen, ob es die Nationalsozialisten in Deutschland und Österreich waren, die eine Zeit lang mit Billigung anderer Länder von ihren Hass auf andersgläubige und Andersdenkende getrieben alle verfügbaren behördlichen und technischen Einrichtungen in ihrem Land zu einer regelrechten Völkermordmaschinerie ausbauen konnten oder diejenigen, die in afrikanischen Ländern die dunkelhäutigen Ureinwohner als minderwertige Menschen abgestempelt und Jahrzehnte lang unterdrückt haben, weil mit diesen Machthabern ja weiterhin gute Geschäfte gemacht werden sollten. Auch für die Todesser gab es genug Sympathien, vor allem während der Amtszeit von Janus Didier und seinem Helfer Pétain. Wir müssen jeden Tag neu befinden, welche Geisteshaltung und moralische Verpflichtungen wir haben. Zuzulassen, wie Menschen umgebracht werden gehört nicht zu den Werten, die wir verteidigen müssen, wenn wir unsere magische Gesellschaft nicht gleich in die Hände von Fanatikern wie Vita Magica oder zaubererfeindlichen Hexenschwesternschaften übergeben wollen. Deshalb gebe ich uns nur noch bis zum Ostertag, entweder die Methode der Massenmörder zu entschlüsseln und Gegenmittel zu entwickeln oder die Mörder öffentlich anzuprangern, in der Hoffnung, dass ihre Befürworter erkennen, dass sie womöglich die nächsten auf der Todesliste dieser Verbrecher sein könnten."

"Gut, das muss ich wohl zur Kenntnis nehmen", sagte Simon Beaubois. Der Leiter der LDLL sah Madame Grandchapeau sehr erleichtert an und nickte auch Julius zu, der die Idee mit der Anprangerung der Mordtat geäußert hatte. Da kam Julius noch eine Idee, die er hier und jetzt prüfen wollte:

"Entschuldigung, die Damen und Herren", sagte er, als ihm das Wort erteilt wurde. "Wie sieht es mit den Werwolfaufspürartefakten aus? Haben wir aus den Staaten neue erhalten, oder sind die dort immer noch verstimmt, weil wir uns die von ihnen zugeteilten Lykanthroskope haben rauben lassen?"

"Sie wissen, dass diese Lykanthroskope von einem Thaumaturgen des Laveau-Institutes ersonnen und gebaut wurden", sagte Beaubois. "Die Leute in den Staaten haben eine weitere Ausfuhr dieser Gerätschaften untersagt, und die Mitarbeiter im Laveau-Institut haben nach gegenwärtigem Kenntnisstand keine Veranlassung, uns ohne ministerielle Genehmigung neue Lykanthroskope zukommen zu lassen. Offenbar sehen sich die Leute dort um ihre Monopolstellung beim Auffinden von unregistrierten Lykanthropen geprellt, nachdem Vita Magica diese Verseuchungsdrohnen herstellt."

"Ich biete an, meine privaten Verbindungen zu Mitarbeitern des LI in New Orleans zu nutzen, um für uns mindestens fünf Lykanthroskope zu erbitten", wagte sich Julius vor. Madame Grandchapeau und Barbara Latierre sahen ihn erfreut an. Doch Simon Beaubois erwiderte:

"Ihnen ist bekannt, dass das Laveau-Institut über die Kammer internationaler Rechtspfleger eine Schadensersatzklage wegen fahrlässigkeit im Umgang leihweise überlassener Sonderausrüstungsgüter gegen uns erhoben hat?" fragte Beaubois. "Ich kenne Ihre privaten Verbindungen zum Laveau-Institut nicht. Doch ich wage zu vermuten, dass Sie nicht in der Position sind, deren Ansichten und Bestrebungen zu ändern. Es heißt, dass nur eine bestimmte Menge, einem nach Bevölkerungszahl ermittelter Anteil von Lykanthroskopen an europäische Zaubereiministerien verteilt werden durfte."

"Ich fürchte, Sie dürften recht haben, Monsieur Beaubois, was meinen Einfluss auf die Mitarbeiter des LIs betrifft", seufzte Julius. Von der Schadensersatzklage hatte er natürlich gehört. Aber eigentlich hatte er gedacht, dass die Anwälte der beteiligten Parteien sich im stillen Kämmerlein auf sowas wie einen Vergleich einigten, damit die durchaus berechtigten Sicherheitsanliegen des französischen Zaubereiministeriums berücksichtigt wurden. Dann fiel ihm ein, warum ein derartiger stiller Prozessausgang noch nicht möglich war. "Ich gehe davon aus, dass Finanzabteilungsleiter Colbert eine wie hoch auch immer bemessene Schadensersatzzahlung ablehnt, richtig?" fragte er.

"Vom eigenen Torraum direkt durch den gegnerischen Mittelring, Monsieur Latierre", grummelte Nathalie Grandchapeau und fing sich dafür ein verstimmtes Räuspern Beaubois' ein. Dieser fügte dann noch hinzu: "Nun, es sind so viele Erwägungen zu berücksichtigen, darunter auch, ob wir sofort, wenn uns etwas verlorengeht, irgendwem Schadensersatz zu zahlen haben. Monsieur Colbert möchte keinen Präzedenzfall schaffen. Er setzt darauf, durch das Prinzip Manus manum lavat oder auch quid pro quo wichtige Ausrüstungsgüter aus dem Ausland einhandeln zu können. Doch solange das US-Zaubereiministerium und das Laveau-Institut auf einer Entschädigung bestehen kommen keine neuerlichen Vereinbarungen zu Stande. Wie Sie wohl auch leider mitbekommen mussten, Mesdames und messieurs. erwiesen sich die Rückschaubrillen Monsieur Dusoleils als nur bedingt einsetzbar, und zwar nur dort, wo im nachbetrachtbaren Zeitraum keinerlei Unortbarkeitszauber oder Incantivacuum-Entladung stattfand. Da wir davon ausgehen müssen, dass kriminelle Hexen und Zauberer von dieser Schwäche erfahren haben ist der Wert dieses Ausrüstungsgutes nur noch ein Zehntel so hoch wie zu Beginn der damit vollzogenen Tauschgeschäfte. Wir haben im Grunde nur noch die Detektionsdrachen, die Sprengschnatze und die Duotectus-Schutzanzüge als ausschließlich von uns aus lieferbare Güter anzubieten. Tja, und was die Sprengschnatze angeht haben Ministerin Ventvit und der Leiter der Abteilung zur Durchsetzung magischer Gesetze und Strafen beschlossen, diese auch gegen uns einsetzbaren Güter nicht auf bloßes Vertrauen und als diplomatische Geschenke auszuliefern, obwohl es genau dafür einige amtliche Interessenten gibt."

"Na klar, Waffen gehen immer", knurrte Julius leise. Nathalie nickte ihm beipflichtend zu. "Will sagen, die Damen und Herren in Washington und New Orleans würden uns gerne Lykanthroskope schicken, wenn sie dafür einige Sprengschnatze bekämen, richtig, Simon?" fragte Nathalie. Der erst wenige Tage im Amt befindliche Leiter der Abteilung für magische Geschöpfe nickte heftig und lief an den Ohren rot an, als habe er diese leidige Angelegenheit verursacht.

"Dann müssen wir wohl selbst nachvollziehen, wie ungemeldete Werwölfe geortet werden können", warf Julius ein. Barbara Latierre deutete ein Nicken an und wandte sich Simon Beaubois zu:

"Ist es nicht etwas merkwürdig, dass wir nicht ermitteln können, wie Träger der Lykanthropie geortet werden können, Simon. Wir haben doch sehr gute Zauberwesenexperten und Thaumaturgen bei uns."

"Die alle mit anderen, derzeitig wichtigeren Aufgaben betraut sind, Barbara", erwiderte Simon. "Oder kennen Sie jemanden, der oder die zunächst unentgeltliche und im Rahmen der geltenden Zaubereigesetze an einer eigenen Methode zur Werwolfortung forschen kann?"

"Ja, natürlich, mein Bruder Otto, ein hervorragender Thaumaturg. Der hat mir aber schon höchst offiziell mitgeteilt, dass er eine entsprechende Vorrichtung nur bauen kann, wenn sich mehrere Lykanthropen beiderlei Geschlechtes zu Studienzwecken bereiterklären, was auch mit Blutspenden einhergeht." Sie sah Monsieur Lemont von der LDLL an. Dieser verzog erst das Gesicht. Dann fragte er: "Hat Ihr Bruder auch angedeutet, wie viele von uns genau für diese freiwillige Studie nötig sein sollen?"

"Das wollte er mir erst mitteilen, wenn ihm diese Studie genehmigt wird", erwiderte Barbara Latierre.

"Gut, wenn Monsieur Lemont dies mitbefürwortet erhalten Sie von mir in einer Stunde eine offizielle Genehmigung, im Rahmen der Tierwesengesetze eine Ortungseinrichtung für ungemeldete Lykanthropen in Auftrag zu geben. Ihr Herr Bruder möchte sich dann mit Monsieur Lemont hier direkt in Verbindung setzen."

"Zur Kenntnis genommen", sagte Barbara Latierre. Lemont nickte und bestätigte auch mit Worten, dass er diesem Vorhaben zustimmte.

"Ich werde auch die Thaumaturgen bei uns darauf ansetzen, die von diesen Verbrechern verwendete Methode zu entschlüsseln", sagte Beaubois. Julius wollte schon anbieten, auch Florymont Dusoleil und seinen Schwiegeronkel Otto Latierre in die Sache einzuweihen. Doch Beaubois legte sofort nach: "Bis auf weiteres verfüge ich, dass diese Vorfälle als S8-Geheimnisse gelten, bis ich eine anderslautende Anweisung ausspreche." Julius bestätigte das. Auch wenn er zum Teil für Nathalie Grandchapeau arbeitete unterstand er offiziell immer noch dem Leiter der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe, also Monsieur Beaubois. Da er sich bereits früher bei einigen Leuten aus der Abteilung nicht gerade leinenführig gezeigt hatte musste Julius immer aufpassen, wie weit er gehen durfte.

"Gut, bringen Sie Ihre Leute dazu, dieses blaue Licht zu entzaubern", grummelte Nathalie. "Ich werde meinen Fachleuten für Zauberkunst und Flüche gleichartige Anweisungen erteilen."

"Dann hoffe ich mal, dass wir zumindest einen ruhigen Tag erleben, um nicht noch mit anderen Schwierigkeiten umgehen zu müssen", sagte Beaubois. Damit verabschiedete er sich von Nathalie Grandchapeau, nicht ohne eine verstohlene Nickbewegung in Richtung ihres Bauches zu machen, als wenn Demetrius ihn daraus heraus sehen könne. Der Leiter der Légion de la Lune sah Julius noch einmal fragend an. Nathalie nickte ihm zu.

"Wie möchten Sie sicherstellen, dass nicht doch in nächster Zeit auch unbescholtene Leute mit dem Werwutkeim im Blut sterben müssen?" Alle sahen Julius an, als könne der nun die Lösung des Problems aus dem gerade nicht aufgesetzten Hut zaubern. Er überlegte kurz, ob er sich einmal mehr vorwagen oder es doch besser anderen überlassen sollte. Dann fiel ihm was ein.

"Wenn wir die Vorrichtungen orten können, während sie auf der Suche nach ihren Zielen sind, hätten diese Sprengschnatze, auf die Ihr Vorgänger, Monsieur Beaubois, so versessen war, tatsächlich einen lebenserhaltenen Sinn. Denn die könnten dann im Stil der japanischen Kamikazekrieger direkt in die Vorrichtungen hineinfliegen und sie dadurch zerstören, sie aber zumindest unbrauchbar machen. Es sei denn, die Erfinder dieser blauen Lichtglocke haben sowas einkalkuliert und umgeben ihre Mordmaschinen mit einer Art Schildsphäre, ähnlich einem Drachenhautpanzer oder einem Amniosphaera-Zauber."

"Kamikaze? Wer war das bitte, Monsieur Latierre?" wollte Simon Beaubois wissen. Monsieur Lemont knurrte verächtlich, während Nathalie ihren gleichrangigen Kollegen mitleidsvoll ansah. Julius blieb äußerlich ruhig. Dann erwähnte er die auf Selbsttötungsmissionen geschickten Flugzeugpiloten im zweiten Weltkrieg, die sich mit ihren Maschinen und darin enthaltenem Sprengstoff auf US-amerikanische Kriegsschiffe stürzten, um diese zu vernichten. Er erwähnte auch, dass sein Kampfkunstlehrer einen Onkel hatte, der als Kamikaze ums Leben gekommen war, nachdem seine Frau ihm die erfolgreiche Geburt seines zweiten Sohnes mitgeteilt hatte. "Die Bezeichnung ist ein schönfärbender Begriff aus der Mythologie und bedeutet soviel wie göttlicher Wind", beendete Julius seinen Kurzvortrag über diese auf Freitod basierende Kampftaktik der japanischen Streitkräfte.

"Die Sache klingt zwar sehr interessant, Monsieur Latierre, hat aber den kleinen Haken, dass wir hierfür wissen müssen, wo ungefähr die Werwolfvernichtungsartefakte sind. Sprengschnatze können nicht beliebig weit fliegen, sondern gerade einmal hundert Kilometer. Soweit reicht die Abstimmung mit dem Lenker. Was die Einsatzdauer angeht hängt sie wohl von der Anzahl der Flügelschläge eines Sprengschnatzes ab. Wie genau sich die Ausdauer berechnet weiß ich derzeit nicht und weiß auch nicht, ob ich dies dann an meine Mitarbeiter weitergeben darf."

Nathalie Grandchapeau nickte und schien wieder in sich hineinzulauschen. Dann sagte sie: "Kollege Beaubois, Madame Latierre, Monsieur Lemont und Monsieur Latierre, die Sprengschnatze hatten zur Zeit, wo Monsieur Grandchapeau noch Zaubereiminister war, eine größtmögliche Einsetzbarkeit von einem vollen Tag, da sie bei einer Ortsverharrung über einem Zielgebiet nur zwischen fünf und zwanzig Einzelflügelschläge die Sekunde tätigen. Müssen sie jedoch dauerhaft mit Höchstgeschwindigkeit von 260 Stundenkilometern fliegen, verkürzt sich diese Einsatzdauer auf kleinstmögliche zwanzig Minuten, da sie hierfür Insektengleiche Flügelschlagzahlen pro Sekunde aufbieten müssen. Monsieur Grandchapeau teilte mir damals diese Angaben mit, um zu wissen, was diese eindeutigen Zerstörungsmittel für Begrenzungen haben. Da ich davon ausgehe, dass in dieser Gesprächsrunde alle Zugang zu Kenntnissen bis zur Geheimstufe S0 haben habe ich keine Bedenken, diese Mitteilung zu machen." Sie lehnte sich wieder zurück und entspannte sich, während Julius versucht war, im Kopf nachzurechnen, wie viele Flügelschläge ein Sprengschnatz maximal machen konnte und wie hoch die Schlagzahl beziehungsweise Frequenz bei Höchstgeschwindigkeit sein würde.

"Nimm die Angaben einfach hin, ohne die Hintergründe ausrechnen zu müssen, Julius!" hörte er unvermittelt die celloartige Gedankenstimme Temmies im Kopf. Er dankte Catherine Brickston dafür, dass sie ihn so sehr auf die Befolgung der Mentiloquismusmannieren eingeschworen hatte, dass er nicht unvermittelt nickte oder sonst eine sichtbare Regung äußerte. Wenigstens brachte Temmies rein geistig übermittelter Einwand ihn davon ab, weiterzurechnen.

"Hmm, heißt, wir müssten genau wie die Erfinder des blauen Todeslichtes orten, wo Werwölfe sind, um dann schnell genug entsprechend viele Sprengschnatze ins Zielgebiet zu bringen und gegen die Vorrichtung loszulassen", seufzte Julius. Alle nickten. Nathalie schien wieder auf ihren Bauch zu hören. Dann sagte sie: "Soweit ich weiß unterhält die LDLL verdeckte Ermittler in verdächtigen Untergruppen. Falls die über geheime Treffpunkte und Unterschlupfe unregistrierter Werwölfe etwas herausbekommen könnten dort Sprengschnatze bereitgehalten werden, die sofort losgeschickt werden, sobald über den Stützpunkten etwaige magische Kräfte erspürt werden."

"Tja, Problem nur, dass meine Leute zwar in die Gruppen reingekommen sind, aber deren Treffpunkte sich von mal zu mal ändern", erwiderte Monsieur Lemont. "Aber ich bohre da nach, ob es nicht doch geht, die nächsten Treffpunkte herauszubekommen, bevor der Vollmond aufgeht." Nathalie und Simon erteilten ihm den offiziellen Auftrag, das zu ermitteln. "Wird Monsieur Colbert nicht freuen, vielleicht hundert Sprengschnatze im Einsatz zu verbrauchen, je danach, wie viele dieser Blaulichtvorrichtungen über Frankreich herumfliegen", grummelte Beaubois.

"Ja, und er könnte uns damit querkommen, dass die Goldvorräte des Ministeriums nicht zum Schutz von potentiellen Schwerverbrechern ausgegeben, sondern zum Schutz derer möglicher Opfer aufgewendet werden sollen", grummelte Nathalie Grandchapeau. Julius war sich sicher, dass sie den Schwiegervater ihrer Tochter Belle wirklich gut genug kannte, um ihn richtig einzuschätzen. Auch wusste Julius, wie schwer es gewesen war, nach Euphrosynes Coup gegen die Grandchapeaus eine Neuausstattung und Inbetriebnahme des Computerraumes zu erwirken. Wie teuer so ein Sprengschnatz war wusste Julius nicht, weil er sich bisher nicht damit beschäftigen wollte, dass da jemand lenkbare Bomben gebaut hatte.

"Gut, so halten wir fest, dass wir weiterhin nicht verlautbaren, dass es diesen höchst anrüchigen Zwischenfall auf Korsika gab, wir aber alles daran setzen, weitere Vorfälle dieser Art zu verhindern oder zumindest den Schaden zu begrenzen", fasste Simon Beaubois, der Konferenzleiter, die Sitzung zusammen. Alle bejahten diesen Beschluss, auch Julius Latierre. Immerhin hatte er ja zwei Ideen eingebracht, die vielleicht weitere Todesopfer verhüteten. Denn anders als in Gruselgeschichten mit Werwölfen sah er in diesen Wesen keine dämonischen Ungeheuer, die auf jeden Fall erledigt werden mussten, sondern eben schwerkranke Menschen, die zu bestimmten Zeiten unter den Auswirkungen ihrer Erkrankung litten und sie bedauerlicherweise auf andere Übertragen konnten, vergleichbar mit HIV-positiven Menschen.

Als Nathalie, Demetrius und Julius alleine waren gab Nathalie Julius den Cogison-Ohrring. Julius wartete, bis er sich wieder an Nathalies Körpergeräusche gewöhnt hatte. Dann hörte er Demetrius' Gedankenstimme: "Das hat dem guten Simon Beaubois nicht behagt, dass wir die Sache publik machen wollten. Er als Fachzauberer für Geisterwesen kennt das so, dass aufgestöberte Geister noch wilder spuken, wenn sie den Eindruck haben, große Aufmerksamkeit damit zu gewinnen. Die Leute, die das mit dem blauen Licht verbrochen haben könnten ähnlich gestimmt sein, denkt er. Aber ich denke eher, dass sie es sehr begrüßen, noch im geheimen arbeiten zu können, denn sonst hätten sie ja wohl eine weltweite Warnung hinausposaunt, dass demnächst alle nicht bestimmten Bedingungen folgende Werwölfe einfach so umgebracht werden."

"Ich halte daran fest, dass die sowas ähnliches wie diese Himmelslichtglocken benutzen, die Madame Latierre auf Réunion angetroffen hat. Nur dass die damit jetzt offenbar eine auf Werwölfe tödlich wirkende Ausstrahlung abgeben können", sagte Julius.

"Interessante Idee. Maman, kriegst du das hin, unseren Zauberschmieden das irgendwie mitzuteilen?" erwiderte Demetrius. Nathalie erwiderte rein gedanklich: "Interessante Idee. Ja, das könnte der Schlüssel zu diesem Vorgang sein. Die Himmelslichtglocken dienen eigentlich der Festsetzung von übermenschlich starken Zaubertieren oder menschlichen Feinden, die fliehen wollen. Aber sie könnten durchaus auch entsprechend umgearbeitet werden, dass sie ihre Ziele töten."

"Hmm, und dann könnten die Sprengschnatze noch besser darauf abgerichtet werden", erwiderte Julius. Dann fiel ihm noch etwas ein. Er fragte: "Kann man sich da irgendwie einmischen, wie diese Vorrichtungen gesteuert werden, so wie sich wer in die Wellenlänge von Fernsteuerungsgeräten einschalten kann?"

"Leider nicht, weil die betreffenden Vorrichtungen auf ganz bestimmte Steuerungsartefakte geprägt werden", cogisonierte Demetrius. Danach fügte er über Nathalies Magengrummeln hinweg hinzu: "Außerdem können die unortbar und/oder unsichtbar gezaubert werden, was bei den bisherigen Vorfällen sicher auch so abgelaufen ist."

"Vielleicht können wir solche Dinger auch als Gegenmittel zu diesen Vorrichtungen bauen", brachte Julius eine Hoffnung an. Nathalie erwiderte darauf: "Falls es genau diese Himmelslichtglocken sind können wir sie zwar nicht orten, aber versuchen, unsererseits mögliche Zielpersonen zu finden und gegen die Strahlen zu schützen, wenn wir wissen, wie diese entstehen." Das hofften auch Demetrius in seiner warmen, wenn auch sehr beengten Unterbringung und Julius Latierre.

Nach dem Mittagessen las Julius, dass Bärbel wohlbehalten an ihren eigentlichen Arbeitsplatz zurückgekehrt war und auch das mit den zwölf belgischen Werwölfen auf Korsika mitbekommen hatte. Soviel zum Nutzen von Geheimhaltungsstufen, dachte Julius.

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Albertrude Steinbeißer nahm die über inoffizielle Kanäle des deutschen Zaubereiministeriums hereinbekommene Mitteilung über zwölf weitere tote Werwölfe auf Korsika nur zur Kenntnis. Sie selbst hatte im Moment damit zu tun, dass keiner mitbekam, wie Anthelia die entführten Hansens und Rico Kannegießer befreit hatte. Anthelia hatte versprochen, die vier in Gewahrsam genommenen nicht vor einem Jahr wieder aufzuwecken. Sicher legten die, die sich der vier jungen Leute bemächtigt hatten, keinen Wert auf eine öffentliche Verfolgung der dreisten Bande, die ihnen die vier Muggels wieder weggenommen hatte. Doch Albertrude argwöhnte, dass ihre Vorgesetzten fragen mochten, wer da den Hexen in Weiß den Tipp gegeben haben mochte, wo die vier Entführten festgehalten worden waren.

Immerhin wusste Albertrude nun, dass Giesbert Heller mit den Entführten in Verbindung stand. Doch weil sie das von Anthelia erfahren hatte durfte sie es nicht einfach ausnutzen. Heller würde sich herausreden und alle beweise verschwinden lassen. Außerdem würde er Albertrude als mögliche Verräterin von Ministeriumsgeheimnissen hinhängen und ihr damit womöglich den Arbeitsplatz, wenn nicht sogar die Freiheit verderben. Nein, solange sie niemand konkret verdächtigen oder gar ihre Verbindungen mit ministeriumsfeindlichen Hexenschwestern nachweisen konnte musste sie sich unauffällig verhalten.

Was ihr bei der ganzen Sache mehr Sorgen bereitete, als ihr mögliches Auffliegen als Mitverschwörerin Anthelias, das war die Frage, wie die Schattenriesin reagieren würde, wenn die ihr so wichtigen Leute nicht mehr verfügbar waren. Die Eltern von Erna hielten sich offiziell in New York auf, um auf ihre Tochter Erna zu warten, lagen in Wirklichkeit jedoch in einem Haus der Lichtwachen im Perithanasia-Tiefschlaf. Die Kannegießers würden noch bis Ostermontag auf Hawaii sein. Dass die Schattenriesin über den Atlantik pendeln konnte hatte sie schon bewiesen. Ihr Chef, Armin Weizengold, hatte in einer Randbemerkung anklingen lassen, dass eine Anfrage auf Überwachung der Kannegießers an dafür zuständige Stellen in den Staaten abgesandt worden war. Womöglich hatte das Mädchen Bärbel über diese modernen Elektrorechner die Anfrage losgeschickt, was wesentlich schneller als eine Posteule war. Albertrude ärgerte sich darüber, wie sehr sich die gegenwärtige Zaubererwelt auf das schnelle, hektische und die Umwelt gefährdende Getue der Magieunfähigen einließ. Wo blieb denn da noch die Zaubererweltehre?

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"meine wohlgerundete Vorlage, von Toulouse aus werden wohl gerade 200 Sprengschnatze mehr an das Ministerium ausgeliefert. Dreimal darfst du raten, wozu die gebraucht werden, vor allem, weil sie gesonderte Lufttbewegungs- und Fremdzauberkraftspürvorrichtungen bekommen sollen, um unsichtbare, fliegende Körper anzusteuern", vermeldete das in einem goldenen Rahmen steckende Vollporträt einer dunkelhaarigen Hexe.

"War zu erwarten, dass sie uns damit kommen werden, wenn sie davon ausgehen, dass die Auslöschung des Monbruderschaftsnestes auf Korsika von einer fliegenden Plattform aus erfolgt. Diese Lebens- und Friedensbefürworter meinen immer noch, es sei ihre Menschenpflicht, auch die Werwütigen zu beschützen. Die denken nicht einen Moment darüber nach, dass ein Lykanthrop, egal wie alt oder jung, in jeder Vollmondnacht an die fünfzig bis hundert andere mit seinem verseuchten Speichel anstecken kann. Sonst würden sie von sich aus härtere Gesetze zum Umgang mit diesen Subjekten beschließen, zum Beispiel Ortsmarkierungshalsbänder oder gleich Ortsverharrungshalsbänder, um sie nicht in die Nähe von unbelasteten Menschen kommen zu lassen. Die Idee eines großen Sammellagers wurde ja von Janus Didier und diesem Wechselbalg von der Elfenbeininsel komplett zum Unding verdorben, zumal dieser Ehrgeizling die Garouts als Lagerwachen eingeteilt hat."

"Na ja, die haben wohl nachbetrachtet, was passiert ist, wie ja wohl auch anderswo. Dann wissen die jetzt, wie lange es dauert, bis die von euch angezielten Lykanthropen sterben. Das lässt deren achso strenges Gewissen natürlich laut aufschreien."

"Tja, und wenn wir denen sagen würden, dass unsere Aktionen dem größeren Wohl dienen würden sie uns als Anhänger Grindelwalds beschimpfen, der behauptet hat, die Welt von den Umtrieben der Muggel befreien zu müssen und dabei auch viele Träger magischen Blutes getötet hat, weil sie seine Methoden verdammten und ihn bekämpften. Also bleibt es dabei, dass wir das bis auf weiteres nicht veröffentlichen, was wir tun."

"Und die Sprengschnatze?" fragte das gemalte Ich.

"Hat Perdy schon beim Entwurf der Mondboten einberechnet und seiner Aussage nach genug Abwehrzauber eingewirkt, um sie nicht mit den Mondbotenzusammenstoßen zu lassen. Auch Feuer- und Sprengzauber kommen wohl nicht durch, ebensowenig Fernlenk- oder Lähmzauber."

"Gut, das war dann das, was mein Gegenstück in Toulouse mitteilen konnte."

"Und dein Gegenstück in Paris? Ist da was erwähnt worden?"

"Du weißt, dass sie davon ausgehen, dass ich euch berichte, was sie gegen unsere Vereinigung vorhaben. Deshalb bereden sie sowas sicher nicht mehr in der Hörweite meines pariser Gegenstückes. Und weil du ja durch mich darauf bestanden hast, dass mein Gegenstück aus Millemerveilles nach Paris überwechseln sollte kann auch in Millemerveilles was gegen euch beraten werden, genauso wie in den fünf Schlössern im Loiretal."

"Das hast du mir schon einmal gesagt. Trotzdem war und bin ich davon überzeugt, dass es da hingehört, wo weitere Nachkommen von mir leben."

"Ich wollte nur klargestellt haben, dass ihr von mir und meinen Gegenstücken nicht alles wichtige mitbekommen könnt."

"Dafür haben wir auch genug weitere Gegenstücke von anderen Bildern in Frankreich, wenngleich leider keines in den Châteaus Florissant und Tournesol", schnaubte die natürliche Vorlage der gemalten Hexe.

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Seitdem Lunera Fino wegen einer drohenden Untat niedergeshlagen hatte hielt der sich von ihr fern und verständigte sich mit ihr nur noch über Briefboten oder Übersetzer. Lunera hatte schon überlegt, ihn für den Kinnhaken um Verzeihung zu bitten. Doch wegen der Vorfälle in Darmstadt und auf Korsika hatte sie befunden, Härte zu zeigen und ihre Taten nicht zu entschuldigen, solange da draußen der Feind lauerte, der sie alle umbringen wollte. Zumindest hatte sich Fino darauf eingelassen, mit Patanegra die Vorzüge hermetischer Thaumaturgie und traditioneller Inka-Mondmagie zu vereinen, um zumindest einige Vorkehrungen für den Fall zu treffen, dass es zu erneuten Übergriffen kam.

Was Lunera sehr beunruhigte war, dass sie keinen Fernverständigungsdosenkontakt mit Tara McRore aufnehmen konnte, weil diese mit ihren zwei Schwestern einen Kreis gegen nach außen wirkende Zauber und auch nach innen wirkende Zauber gezogen und für mindestens einen Monat mit Kraft aufgeladen hatte. Patanegra hatte dazu bemerkt, dass dieser Zauberkreis wohl auch Fernflüche auffangen oder die Entdeckung durch böswillige Hexen und Zauberer erschweren oder gar vereiteln konnte. Allerdings, so hatte Patanegra bei einem Besuch zusammen mit Lunera festgestellt, konnten dort auch keine Portschlüssel ausgelöst werden. Die verschwanden zwar, jedoch nur um keine zwei Sekunden später aus großer Höhe über dem Mittelpunkt des magischen Bannkreises herunterzufallen. Bei einem umgekehrten Versuch war es nicht gelungen, einen Portschlüssel in den Kreis hineinzubefördern. Der war dann zwei Halbmesser des Kreises weiter draußen heruntergefallenund beim Aufprall zu Staub zerfallen. Mit einem transportierten Menschen wäre das sicher nicht besser gelaufen. Somit musste die große Frühlingsvollmondversammlung der britischen Werwölfe, die nicht am Gängelband des Ministeriums geführt werden wollten, doch im Hause von Mondkralle stattfinden. Dabei war es jedoch zu einem Streit zwischen Mondkralle alias Hubert Barkley und Tara McRore und ihrer Schwester Maura gekommen, weil die zwei Hexen nun besser bei Lunera angeschrieben waren als der sich selbst als legitimer Erbe Greybacks verstehende Hubert Barkley. Somit hatte Tara Hubert auch nicht mitgeteilt, dass Lunera jenen Greybackianern, die sich ihrem Befehl unterstellten, nicht nur zwei Fässer Lykonemisis-Trank ausliefern wollte, sondern noch vor dem Frühlingsvollmond Halsbänder, die bei Schmerzen oder Angst einen Portschlüsselzauber entfesselten, um die Träger an einen von keinem Mondstrahl erreichbaren Ort zu befördern. Zudem hatte Barkley Maura dumm angemacht, weil sie einen Muggel zum Mondbruder gemacht hatte. "Hättest wenigstens einen jungen Zauberer anbeißen sollen, Mädchen. So kannst du von dem nur niedere Halbblüter ausbrüten."

"Na und, du mondstichiger Struwelpelz?" hatte Maura darauf geantwortet. Das hatte Mondkralle dazu getrieben, ihr an die Gurgel zu gehen, worauf sie ihm kräftig und äußerst schmerzhaft zwischen die Beine getreten hatte, um dann mit Tara die Zusammenkunft zu verlassen. Das führte dazu, dass die McRore-Schwestern und ihre Auserwählten offiziell aus der Vollmondversammlung des Ordens der Ritter des Mondes ausgeladen wurden und zehn Freunde der McRore-Schwestern sich daraufhin von Mondkralle lossagten, weil sie mit den drei schottischen Schwestern zusammen feiern wollten. "Dann bleibt gleich bei denen!" hatte Barkley ihnen noch nachgerufen, als sie das bekundet hatten.

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Julius hatte Tage und Nächte überlegt, wie er ohne Umgehung der ihm auferlegten Geheimstufe was gegen diese Werwolfmassenmörder machen konnte. Es hatte sich nämlich erwiesen, dass die Unortbarkeitsbezauberung beim Ministerium gelagerter Himmelslichtglocken nicht von Sprengschnatzen umgangen werden konnte. Davon ausgehend, dass die Werwolfmassentöter ähnliche Vorrichtungen benutzten, konnten die sogar die Unortbarkeit verbessert haben, so wie bei Star Trek von der ersten zur nächsten Generation eine verbesserte Tarnvorrichtung bei den Klingonen und Romulanern zum Einsatz kam. Julius hatte in Anlehnung an diese Geschichten daran gedacht und es Nathalie und Demetrius erklärt, dass sie das ganze Land mit magischen Strahlen überdecken mochten, um dort hindurchfliegende Objekte dadurch zu orten, dass sie die Strahlen vollständig unterbrachen oder sie von ihren festgelegten Empfangsvorrichtungen ablenkten. Darauf hatte Nathalie ihm gesagt, dass auch in der Magie nicht alles schon heute möglich war, was sich die Nichtmagier für eine ferne Zukunft ausmalen mochten. Denn, so hatte sie begründet, damit hätten Didier und Pétain sicher gearbeitet, um den magischen Personenverkehr über Frankreich zu überwachen. Da sie es nicht getan hatten, schloss Nathalie, dass sie es nicht gekonnt hatten. Solche Flugsperren konnten eben nur auf eng begrenzte Gebiete angewendet werden.

Immerhin hatte Otto Latierre erste Erfolge bei der Ortung fremder Träger des Werwolfblutes erzielt. So hatte er nichtlykanthropische Ministeriumsmitarbeiter mit klobigen Geräten ausgerüstet, die bei einer Ansammlung von mindestens drei Werwölfen eine Ortung auf zwei Kilometer genau ermöglichten. Das würde reichen, um jeweils zehn Sprengschnatze in das Gebiet zu schicken, die dann im Stil von wild kreisenden Wachdrohnen über den georteten Werwölfen herumflitzten und dann, sollte dort die Vorrichtung der Werwolfkillertruppe eintreffen, auf Gut glück dagegenknallten und sie bestenfalls zerstörten, mindestens aber unbrauchbar machten. Monsieur Colbert hatte zwar erst laut gestöhnt und zweimal kräftig auf seinen Schreibtisch gehauen, so Julius' Schwiegertante Barbara, aber dann hatte er den Ankauf und Einsatz von zweihundert Sprengschnatzen im Wert von 4000 Galleonen genehmigt. Barbara Latierre hatte ihm begreiflich machen können, dass dann, wenn hunderte von französischen Werwölfen sterben sollten, immer noch genug übrig sein würden, die blutige Rache nehmen mochten, weil sie sich vom Zaubereiministerium verraten fühlen mussten. Diese Vergeltung mochte das Ministerium personell und finanziell wesentlich teurer kommen als 4000 Galleonen, so Barbara Latierre.

Eigentlich hätte er dennoch gerne die Medien informiert, dass es diese geheime Massenmordvorrichtung gab, um jene, die mit ihren Erfindern zusammenarbeiteten, aufzurütteln und aus ihren Verstecken zu treiben. Doch das sollte eben erst nach Ostern geschehen, falls es vorher nicht möglich war, die Benutzer dieser Mordwaffe auf frischer Tat zu ertappen oder zumindest die Mordgeräte zu zerstören.

Julius durfte laut der festgelegten Geheimhaltungsstufe mit keinem nicht offiziell damit betrauten über diese Angelegenheit reden. Doch Catherine Brickston hatte ihm einen Tag vor dem ersten Frühlingsvollmond eine Eule geschickt, dass Claudine sich sicher freuen würde, wenn Aurore noch einmal zum Spielen käme. Sie könnten dabei auch über "die Urlauber auf Korsika" reden. Also hatte Catherine über ihre Drähte zur Liga gegen dunkle Künste alles nötige mitbekommen. Das beruhigte Julius sehr, auch wenn das eigentlich gegen die Geheimhaltungsbemühungen des Ministeriums verstieß. Natürlich konnte er nicht frei darüber sprechen, sondern nur mentiloquieren oder es im Dauerklangkerker-Arbeitszimmer im Haus der Brickstons.

Joe Brickston hatte seit vier Wochen wieder eine bezahlte Arbeit, aber eine, die er zu Hause ausüben konnte. Er war Mitglied im Programmiererstab einer Firrma für Lagerhaltung und Transporte und saß deshalb zwischen neun Uhr und fünf Uhr in seinem Computerraum. Claudine freute sich, dass Aurore wieder zu Besuch kam, auch wenn sie gerne die kleine Chrysope gesehen hätte. Doch die war mit ihrer Mutter bei Martine und Héméra.

Gut, ihr könnt in den Garten, Claudine. Aber nicht so laut spielen, weil Papa arbeitet!" wies Catherine ihre Zweitgeborene an. Dass Claudine bald ein neues Geschwisterchen haben würde war nicht mehr zu übersehen.

Als Julius mit Catherine im Wohnzimmer saß, um gegebenenfalls schnell hinausrufen zu können, wenn die beiden Mädchen zu wild und zu laut spielten, sagte Catherine:

"Ich habe selten so viel Sorge vor einer Vollmondnacht gehabt wie heute, Julius. Dabei wohnen hier bei uns in der Gegend keine Lykanthropen, die uns gefährlich werden können."

"Bei uns in Millemerveilles sowieso nicht, Catherine. Soweit ich weiß gibt es in Frankreich fünfzig registrierte Lykanthropen, die unter der Aufsicht des Zaubereiministeriums stehen."

"Das habe ich auch so mitbekommen", erwiderte Catherine ruhig. "Es ist bedauerlich, dass die nicht alle den Wolfsbanntrank oder gar den Lykonemisis-Trank haben dürfen. Aber selbst wenn, nachdem Vita Magica ganz offen alle Werwolfaufspürgeräte gestohlen hat könnten diese Leute jederzeit meinen, arglose Menschen umzubringen, nur weil sie mit der Lykanthropie befallen sind und damit leben müssen."

"Tja, falls nicht irgendso ein Mensch oder eine Menschengruppe meint, diese Menschen mal eben umzubringen, sowie es die Nazis mit Juden und anderen ihnen nicht genehmen Gruppen gemacht haben. Okay, ich verstehe, dass Hexen und Zauberer sich darum sorgen, von frei herumlaufenden Werwölfen angefallen zu werden und entweder von denen getötet oder mit deren Keim infiziert zu werden. Will ich sicher nicht und für Rorie, Chrysie und unsere dritte Tochter will ich das garantiert auch nicht. Aber unser Registrierungssystem ist doch seit der Todesserzeit sehr gut, zumal wir ja die LDLL haben, die nach kriminellen Lykanthropen sucht."

"Ja, aber stell dir mal vor, dass jemand irgendwas macht, um aus großer Ferne möglichst viele Werwölfe auf einmal umzubringen", sagte Catherine. Julius nickte nur, so musste er nichts aussprechen und so nicht gegen die Geheimhaltungsstufe verstoßen. "Ja, und wenn solche Leute meinen, der Welt einen großen Gefallen damit zu tun, dass sie dieses Mittel ohne groß nachzufragen einsetzen und damit jeden umbringen, der oder die mit Lykanthropie belastet ist. Was wäre das dann: Schädlingsbekämpfung, Notwehr oder Mord?"

"Gut, wir haben bei uns im Ministerium die sogenannten Lykanthropieinhibitoren, was der technisch saubere Ausdruck für Werwolfjäger ist. Die müssen wohl zwischendurch raus, um unregistrierte oder kriminelle Lykanthropen zu fangen oder mondsteinzuversilbern, damit die keinem mehr was tun können. Das kann dann als Notwehr oder amtliche Schutzmaßnahme gelten. Aber wenn jemand echt was machenkönnte, sowas wie eine Strahlenkanone im Erdumlauf auf die Erde richten und auf von deren Zielerfassungsgerät als Werwolf erkannte Menschen feuern ist das ein heimtückischer Angriff, vergleichbar mit einem Fernfluch. Wenn jemand das so macht, um irgendwelche Werwölfe umzubringen, ohne sich denen auf Sichtweite zu nähern, dann ist das Mord!" stellte Julius klar.

"Sehe ich auch so", sagte Catherine. "Ich bin gerade sehr besorgt, weil die Liga fürchtet, dass jemand nach der Sache mit diesen Blutzersetzungsüberträgerartefakten von Vita Magica was neues gemacht haben soll, um möglichst viele Werwölfe auf einmal aus großer Entfernung umzubringen. Der oder die könnten auch für Vita Magica arbeiten oder eine radikale Splittergruppe von denen sein, die der Idee nachhängen, die Welt von den Lykanthropen "säubern" zu müssen. Was würdet ihr im Ministerium machen, wenn jemand euch so eine Methode anböte?"

"Ihn oder sie darauf hinweisen, dass das Zaubereiministerium gerade wegen der großen Hexen- und Zaubererverfolgungen und der Gräueltaten von Grindelwald, Voldemort und Vengor niemanden mehr einfach so ohne Gerichtsverhandlung oder unmittelbar von ihm oder ihr ausgehende Lebensgefahr einsperren oder gar umbringen will und eine solche Methode als strafbar einstuft. Deshalb wird wohl keiner darauf kommen, bei uns sowas zu verkaufen, wenngleich ich mir da bei einigen Leuten nicht sicher bin, ob die nicht gerne so einen Werwollftötungszauber können wollen. Ich denke da nur an die Sache mit den Riesen. Aber das würde jetzt Ministeriumsinterna berühren, Catherine. Seit dem Bekanntwerden dieser Vampirsekte gibt es ja auch mehr Leute, die eine generelle Auslöschung aller Vampire fordern. Die wären dann wohl auch gut für eine Werwolfausrottungskampagne zu haben. Aber wer das sein soll sage ich nicht, zumal ich da nur Gerüchte weiterverbreiten würde", erwiderte Julius.

"Ja, nur wenn diejenigen nicht auf das Ministerium hören wollen und einfach das tun, was sie für richtig halten, was dann?" wollte Catherine wissen.

"Dich, Babette und Claudine hätten sie vor fünfhundert Jahren auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Mich wollten Voldemort und Kumpane wegen meiner angeblichen Schlammblütigkeit umbringen. Da müssen wir ganz klar sagen, dass wir so nicht ticken dürfen. Also, wenn wirklich sowas passieren sollte, dass jemand von Vita Magica oder den Spinnenschwestern oder wem auch immer mal eben einen Werwolf-Overkill-Zauber hinbekommt, der wie die erwähnte Todesstrahlenkanone von oben alles vernichtet, was Lykanthropenblut im Körper hat, ist das saufeiger Mord, ja Massenmord. Feige ist das auch deshalb, weil hier einfach an und für sich kranke Menschen umgebracht werden, die nichts für das können, was ihnen passiert ist. Und selbst die, die was dafür können haben Anrecht auf eine ordentliche Gerichtsverhandlung. Eine nachhaltige Verfluchung, wie der Biss eines Werwolfs in Wolfsgestalt, ist strafbar. Wer sowas macht und als Täter überführt wird kann als Mensch eingesperrt und in Wolfsgestalt unter Berufung auf eine unmittelbare Gefahr für andere Menschen getötet werden, aber nur dann und quasi auf Sicht und nicht aus hundert Kilometern Entfernung. Wer meint, Leute umbringen zu müssen, deren Angst er nicht sehen und deren Schreie er nicht hören muss ist eine Feige Sau und eben ein Mörder. Wieso kommst du darauf, Catherine. Hat dir wer von der Liga was entsprechendes rübergereicht?"

"Nicht nur einer", sagte Catherine und offenbarte damit, dass sie ohne Hilfe des Ministeriums mitbekommen hatte, was passiert war. "Aber da du kein Mitglied der Liga bist darf ich dich nicht in alles einweihen", fügte sie hinzu. "Ich wollte von dir nur hören, was du davon hältst, wenn jemand mit so einer aus der Ferne wirkenden Zauberei oder einem Ding wie einem Sprengschnatz mal eben dutzende von Lykanthropen auf einem Schlag tötet. Deine Bewertung einer solchen Tat deckt sich mit meiner und der der Leute, die mich über diese Möglichkeit unterrichtet haben."

"Wie gesagt, wenn jemand sowas baut und benutzt ist er oder sie eine feige Sau, ein Massenmörder und Unmensch, nicht besser als die Todesser in meinem Geburtsland oder dieser Vengor, der auch jeden umgebracht hätte, der nicht seiner Meinung war oder in seinen Augen unwertes Leben war. Wie gesagt, wir wären vor mehreren Hundert jahren von einem gröhlenden Mob auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden. Da sollten wir nicht genauso ausrasten."

"Hmm, ausrasten? Du meinst, jemand, der sowas macht könnte auch wahnsinnig sein?" wollte Catherine wissen.

"Wenn jemand aus großer Entfernung wen umbringen will hat er oder sie doch noch sowas wie Hemmungen und damit wohl das, was einen gesunden Menschen ausmacht. Deshalb sage ich ja auch, dass sie feige sind, nicht irre", stellte Julius klar.

"Öhm, mir ist klar, dass wenn ihr vom Ministerium entsprechende Sachen erfahrt, das sicher zur Geheimsache erklärt wird. Deshalb möchte ich da besser nicht weiter drüber reden, schon gar, wenn ich nicht weiß, was Joe davon mitbekommt", raunte Catherine halblaut.

Julius sah Catherine Brickston an. Dann schweifte sein Blick durch das Wohnzimmer zu den Zaubererweltbildern, die Catherine an der dem Fernseher gegenüberliegenden Wand aufgehängt hatte. Eines davon zeigte eine Hexe mit dunklem Haar und meergrünen Augen, Catherines Urgroßmutter Mütterlicherseits. Ihre lebende Vorlage sollte das Opfer eines Lethifolden geworden sein. Feststand nur, dass damals keine Leiche von ihr gefunden worden war. Die Gemalte Ausgabe von Claudine Rocher hatte nach der Zerschlagung von Superiors Netzwerk darauf bestanden, das Aufwachsen ihrer Nachfahren mitverfolgen zu dürfen. Sicher war nur, dass sie wohl ein Gegenstück bei den Leuten von Vita Magica hatte und somit auch als eine bekannte Agentin dieser Gruppierung angesehen werden konnte. Deshalb sagte Julius noch: "Also, bisher hatte ich nicht den Eindruck, dass die Leute, die meiner Mutter ungefragt drei Kinder auf einmal beschert und Gérard Dumas zum Baby zurückverjüngt haben durchgeknallte Typen sind, sondern sehr intelligente, entschlossene Leute, die sich genau überlegen, was sie machen. Falls einer von denen so einen Werwolf-Overkiller gebaut haben sollte und nun einsetzt dann aus purer Berechnung heraus. Dann ist das kein Mord im Affekt, sondern ein geplanter Mord. Darauf steht Lebenslänglich in Tourresulatant, meine Damen und Herren von Vita Magica. Aber lebenslang als Feiglinge herumzulaufen ist heftiger als im Knast abzusitzen."

"Die würden es als effektives Mittel bezeichnen, um Mondsteinsilber einzusparen und die Lykanthropie nachhaltig einzudämmen, sowie die Medimagier die Drachenpocken eingedämmt haben oder die Muggel in den westlichen Ländern Lepra und Typhus eingedämmt haben", hielt Catherine Julius entgegen.

"Deshalb ist es ja wichtig, dass klar ist, dass es nicht richtig ist, Träger des Lykanthropieerregers umzubringen, sondern sie nach möglichkeit ihr Leben führen zu lassen, unter hohen Auflagen, wie bei der Spanischen Grippe von 1918. Aber die einfach umzubringen ist heftiger, als all das, was diese Leute an Ideen hatten, wie mit den HIV-Infizierten umzugehen sein soll."

"Ich weiß, du hast damals in Beauxbatons an einer Diskussion teilgenommen, ob es sicherer ist, Werwölfe in Lager einzusperren oder gleich umzubringen, und du hast dafür geworben, sie außerhalb der Vollmondnächte als Menschen zu achten und ihnen genauso das Recht auf Leben zu lassen wie einer Zaubererweltgeborenen wie mir oder einem von nichtmagischenEltern stammenden wie dir." Julius nickte heftig. Dann sah er ganz gezielt das Bild von Claudine Rocher an. Die gemalte Vorfahrin Catherines wandte sich ihm zu: "Ich möchte hier niemanden beschuldigen, einfach so Leute umzubringen, nur weil deren Blut nicht so rein ist wie das von anderen Hexen und Zauberern. Ich möchte jedoch gerne haben, dass Sie Ihrem Gegenstück weitergeben, dass Vita Magica kein würdiger Verhandlungspartner für irgendein Zaubereiministerium der Welt darstellt, wenn da auch nur einer mit so einer Idee herumspielen sollte. Immerhin wissen wir, dass Vita Magica diesen Werwolfblutzersetzungskeim in Umlauf gebracht hat. VM hat das ja überdeutlich eingestanden. Auch das ist schon als Mord zu werten. Aber wenn da noch wer was noch heftigeres auffährt, um die angebliche Pest der Lykanthropie von der Erdoberfläche zu putzen, und unser Ministerium oder ein anderes sollte so einen Verbrecher dingfest machen, dann könnten da auch alle dranhängen, die das mitbekommen haben, was der gemacht hat. Abgesehen davon können unbelastete Hexen auch gesunde Kinder von mit Werwut belasteten Zauberern kriegen. Sollte der mit dem Lykanthropiekeim im Blut aus einer wichtigen Zaubererfamilie stammen könnte das diese Familie ziemlich heftig wütend machen. Wenn dann noch rauskommen sollte, dass wer von Vita Magica diese Untaten begangen hat können die Leute, mit denen Sie in Verbindung stehen, mal ganz schnell zum Abschuss freigegeben werden: Auge um Auge sozusagen. Von den durchgeknallten Werwölfen wie den Lykotopianern oder den Mondgeschwistern fange ich besser erst gar nicht an."

"Du möchtest also lieber mit der Angst leben, dass du oder deine Töchter von einem Lykanthropen angefallen und verseucht werden als sicher zu sein, dass diese Krankheit niemanden mehr befallen kann?" fragte Claudine Rochers Vollporträt.

"Ich glaube, dass ich das gerade klargestellt habe, dass wir im Ministerium genug Mittel zur Verfügung haben, um uns gegen Werwölfe abzusichern. Sicher, es kann immer wieder zu einzelnen Fällen kommen oder von so Verbrechern wie den Mondgeschwistern gezielt darauf hingewirkt werden. Aber wegen ein paar Krimineller gleich eine ganze Gesellschaftsgruppe auszulöschen ist eben feige und grausam und unmenschlich. Und wer sagt Ihnen denn, dass es nicht doch irgendwann eine Heilung gibt. Immerhin können Menschen seit mehr als fünfzig Jahren in den ersten fünf Minuten nach der Infektion davon freigespült werden. Dann gibt es noch den Wolfsbanntrank und Dank Leuten wie Tessa Highdale und Ceridwen Barley aus Großbritannien Zugriff auf den von diesen Gangstern erfundenen Lykonemisis-Trank, der das wilde Um-sich-beißen unterdrückt. Außerdem ist bis heute nicht geklärt, woher der Werwutkeim überhaupt stammt, genauso wie der Vampirismus. Aber das dürfte denen, die Vampire genauso für bedenkenlos abzutötendes Ungeziefer halten ganz egal sein, gemäß Signore Machiavelli, dass der Zweck die Mittel heiligt. Dann sind die eben so drauf wie Vengor und Voldemort und Sardonia."

"Sieht deine Frau das genauso, wo sie gerade euer drittes Kind austrägt?" fragte Claudine Rocher sichtlich verdrossen.

"Sie sieht das auch so. Nur die, die ihr und unseren Kindern unmittelbar gefährlich werden müssen abgewehrt werden. Die, die es schaffen, sich von uns fernzuhalten sind keine Gefahr für uns", sagte Julius. Er wusste, dass Claudine ihn an seinem Beschützerinstinkt zu packen versucht hatte. Doch seine Antwort musste sie nun als verbindlich nehmen. Dann fiel ihm noch was ein: "Ja, und was passiert eigentlich, wenn das Zeugs oder Dings, was Werwölfe umbringt, auch Normalhexen und -zauberer tot umfallenlässt, womöglich noch welche, die gerade selbst ein oder zwei Kinder erwarten? Sind das dann Kollateralschäden wie die ganzen zivilen Opfer im Afghanistankrieg von Mr. Bush Junior? Oh, wir haben ein Krankenhaus in Schutt und Asche gebombt. Was müssen die das auch gleich neben einem Geheimquartier der Taliban hinbauen?"

"Julius, es ist auch dann ein Kollateralschaden, wenn junge ahnungslose Menschen von verbrecherischen Lykanthropen angefallen wurden und keine Gelegenheit bekommen, mit den Auswirkungen friedlich und ohne Gefahr für andere Menschen zu leben. Das kommt einer brutalen Abtreibung oder dem Ertränken von unerwünschten Neugeborenen gleich", stieß Catherine ins selbe Horn wie Julius.

"Jau, hast recht, Catherine. Das ist für die, die sowas machen dasselbe, wie überzählige Kätzchen zu ertränken oder Wespennester auszuräuchern. Aus sicherer Entfernung geht das. Das hat der Pilot, der damals die Atombombe über Hiroshima abgeworfen hat auch so gesehen: Ich kriege nicht mit, wie die da unten verbrennen, erblinden oder später mal total verstrahlt krepieren."

"Catherine, meine Urenkelin, du trägst ebenfalls ein neues Leben in dir. Hast du keine Angst, dass ihm oder deinen beiden anderen Kindern was von diesen menschenfeindlichen Lykanthropen zustößt?"

"Dann müsste ich auch alle Hexen und Zauberer umbringen, die mich wegen meiner Arbeit als Feindin sehen, Uroma Claudine. Natürlich mache ich mir sorgen. Aber das berechtigt mich nicht, deshalb selbst zur Verbrecherin zu werden. Davon hätten meine Kinder dann nämlich auch nichts", erwiderte Catherine.

"Das wollte ich nur wissen. Gut, ihr möchtet, dass ich meinem Gegenstück sage, dass ihr findet, dass auch Werwölfe ein Lebensrecht haben, was im Moment nur eure Meinung ist. Aber ich gebe das deshalb weiter, weil ihr mir wichtig seid, du, deine Kinder und du, Julius, sowie deine Nachkommen.!"

"Ach ja, die echten Verbrecher unter den Lykanthropen können sich garantiert ganz schnell in Sicherheit bringen, sollte rumgehen, dass da wer einen Werwolfaabmurkser gebaut hat", legte Julius noch nach und erwähnte Portschlüssel. Claudine Rochers Vollporträt nickte und verschwand dann durch den linken Bilderrahmen.

"Hui, da haben wir zwei die aber gut beharkt", bekam Julius Catherines Gedankenstimme zwischen die Ohren. Julius schickte zurück: "Ich musste heftig aufpassen, nicht konkret rauszulassen, was echt passiert ist, auch wenn sie das wohl keinem vom Ministerium aufs Butterbrot schmieren wird."

"Ich bin mir bei Urgroßmutter Claudine leider nicht mehr sicher, inwieweit sie mit dieser Bande zusammengearbeitet hat und selbst von deren Ansichten überzeugt war."

"Kriegen wir hoffentlich nie mit, weil das dann hieße, dass wir bei denen Dauergäste sind, so wie Gérard einer war. Ich hätte der fast um die gemalten Ohren gehauen, dass wir uns eher Sorgen machen, dass Babette, Aurore und ihre Namensvetterin unfreiwillig mit drei Kindern im Bauch herumlaufen, nur weil die dieses Fortpflanzungsgebräu erwischt haben."

"Kannst du immer noch. Sie ist sicher gleich wieder da, um uns einen Vortrag über unachtsame Verdächtigungen oder Naivität gegenüber den Werwölfen zu halten", gedankenantwortete Catherine.

"Stimmt, könnte sie bringen. Aber dann wüssten wir, dass wir mit unseren Bemerkungen ins richtige Wespennest gestochen haben", schickte Julius zurück. Catherine nickte ansatzweise und zuckte zusammen, weil Julius sie spöttisch angrinste. "Ja, ich weiß, ich habe dir das beigebracht, nicht auf Gedankenbotschaften mit Gesten oder Mienenspiel zu reagieren", knurrte Catherine. Dann musste sie lächeln. "Allerdings dürftest du recht haben, dass sie uns das nicht auf die Nase binden wird, dass ihre Verbindungsleute was damit zu tun haben", mentiloquierte sie Julius zu.

Tatsächlich kehrte Claudine Rochers Vollporträt nach fünf Minuten in ihr hiesiges Gemälde zurück und sagte: "Ich habe eure Vermutungen und eure darauf bauenden Ansichten weitergegeben. Das hat jetzt eine Diskussion ausgelöst, ob eine generelle Werwolfvernichtung nicht vielleicht die beste Lösung sei. Ihr könntet also genau das angestiftet haben, was ihr meint, mit allen euren Mitteln verhindern zu müssen. Wenn ihr damit leben könnt, dass einige von der Vereinigung, die ihr zwei aus weltfremdem Idealismus für eine Bande von Verbrechern haltet, wirklich solche Sachen erfinden und einsetzen wollen, dann wäret ihr das auch schuld. Das sage ich euch deshalb, weil ich mir um euch Sorgen mache. Auch wenn meine natürliche Vorlage schon seit mehr als fünfzig Jahren nicht mehr existiert trage ich ihre Sorgen und ihre Verbundenheit mit euch in mir, Catherine. Ich fürchte allerdings, dass du dich nicht aus dem engen Geisteskorsett befreien kannst, in das meine Schwiegertochter und deine Mutter dich eingesponnen haben. Ja, und Julius, was dich betrifft: Auch wenn du nicht mein Blut in deinen Adern hast bist du ein hervorragender Zauberer und ein sehr intelligenter und mitfühlender Mensch. Du bist eine Bereicherung der magischen Welt. So hoffe du bitte darauf, dass du nicht eines Tages aufwachst und erkennen musst, wie sehr deine achso heilige Menschenfreundlichkeit dich nicht selbst zum Instrument der Unmenschlichkeit gemacht hat. Und vor allem hoffe darauf, dass du deinen Kindern nicht eines Tages erklären musst, warum sie dazu verdammt sind, auf einem verödeten, von Gier und Schaffensdrang ausgebeuteten Planeten leben zu müssen, weil die, die keine Magie beherrschen, nicht damit leben wollten, dass sie die Natur nicht mit seelenlosen Gerätschaften und giftigen Kunststoffen zerstören dürfen. Und weil du diese verheerenden Bomben erwähnt hast, überlege dir bitte mal, was du tun würdest, wenn du erführest, wer aus einem niederen Beweggrund eine solche Bombe über deiner Geburtsstadt oder über Millemerveilles herabfallen lassen wird. Würdest du ihn oder sie dann gewähren lassen oder nicht vielleicht doch lieber sicherstellen, dass er oder sie dir und den deinen niemals mehr etwas zufügen kann."" Julius konnte nicht anders als grinsen. Denn die Gefahr, dass wer mindestens eine Atombombe auf London abwerfen würde bestand ja über fünfzig Jahre lang und war trotz aller Entspannungen und Umwälzungen noch nicht ganz aus der Welt. Doch das musste er der gemalten Urgroßmutter Catherines nicht lang und breit darlegen.

"Die Frage war zu erwarten und ist einfach zu beantworten", setzte Julius an. "Was die Menschen der nichtmagischenWelt angeht, so könnten die eines Tages herausfinden, dass sie sich selbst die Lebensgrundlage entziehen und sich bessern, was auch heißt, den Schaden zu reparieren, den sie gerade anrichten. Was die Atombombengefahr angeht würde ich dann, wenn ich einen dafür zuständigen töten würde, erst recht einen Angriff damit auslösen. Abgesehen davon hat der sogenannte Sebastian Pétain bereits versucht, Millemerveilles mit Giftgas zu entvölkern. Ihre Enkeltochter und ich haben das verhindert, ohne den Täter umbringen zu müssen. Solange ich immer noch zwei Möglichkeiten mehr als das Töten zur Verfügung habe werde ich nicht zum Mörder."

"Zwei Möglichkeiten? Warum nur zwei und nicht tausend oder nur eine?" knurrte Claudine Rochers Bild-Ich.

"Weil das zusammen drei errgibt und die Drei als Zahl der Zeit und des Lebens so wichtig ist. Sicher, die sieben oder die Zwölf sind auch magische Zahlen. Aber wenn ich drei Möglichkeiten habe, von denen zwei nichttödlich sind, dann habe ich auf jedenfall zwei zur Auswahl, um kein Mörder zu werden."

"Das nehme ich zur Kenntnis", erwiderte Claudine Rocher. Offenbar behagte es ihr nicht, dass Julius so selbstsicher blieb. Oder es imponierte ihr, dass er genau wusste, was er nicht wollte. Dann stellte sie sich wieder so wie vor zehn Minuten, als Catherine und Julius ihr Zwiegespräch begonnen hatten. Julius ritt ein kleiner Frechheitswichtel, noch etwas nachzulegen:

"Wollen wir nur hoffen, dass nicht eines Tages die Menschen ohne Magie rauskriegen, worin die sich von Hexen und Zauberern unterscheiden und dann was erfinden, dass wie ein Insektenspray alle Hexen und Zauberer abtötet. Die das machen würden sicher auch denken, schädliches Gefleuch auszurotten."

"O, ruf bitte keinen so großen Drachen, Julius", erwiderte Catherine darauf. Julius nickte ihr zu und sagte, dass er selbst hoffe, dass dieser Tag niemals kommen würde. Aber Geschichten von Leuten, die meinten, einen Großteil der Menschheit umbringen zu müssen, um die Erde "vom Unrat und Wildwuchs zu säubern" gab es ja mehr als genug. Gerade jetzt, wo mal wieder mehrere Kriege auch mit westlicher Beteiligung liefen konnten solche Leute offene Ohren finden. Catherine nickte heftig und erwiderte, dass sie sich selbst auch immer wieder grusele, wenn sie Filme aus dem Bereich der sogenannten Science Fiction mit Joe sah, wo solche Zeitgenossen ihre menschenfeindlichen Pläne umsetzten.

Da nun alles geklärt war, was ohne die direkte Anschuldigung von Vita Magica unter Vorbringung der Geschehenen Ereignisse möglich war, sprachenCatherine und Julius über ihre Töchter. Dabei mentiloquierte Catherine Julius zu: "Sag bitte noch nichts zu Millie oder Joe. aber unter meinem Herzen wächst ein kleiner Zauberer."

"Joh! Hast du schon einen Namen für ihn?" gedankenfragte Julius zurück.

"Das ist Joes Sache. Der wird mir diesmal wieder zusehen. Nur wenn er es diesmal aushält, wie ich unser Kind zur Welt bringe, dann darf er den Namen aussuchen. Falls er wieder schlappmacht muss ich das wohl tun."

"Kein Problem", erwiderte Julius rein mentiloquistisch.

Weil Aurore nach der ganzen Toberei im Garten der Brickstons sichtlich geschafft war brachte Julius seine Kronprinzessin ins Apfelhaus zurück. Millie war noch nicht da. Aber im Briefkasten lag ein Eulenbrief von Camille. Sie lud die Latierres zum Abendessen ein. Julius fragte Aurore, ob sie noch mit zu Chloé wollte. Natürlich wollte sie, auch wenn sie eben noch gaanz müde gewesen war.

Als Millie am Abend zurückkehrte war sie sichtlich geschafft. "Ui, Brittas Angetrauten erträgst du nicht lange, wenn du eine kleine Hexe im Bauch strampeln hast", seufzte Millie. "Ist das ein Giftspucker unter dem Himmel. Hat dich und mich doch glatt als willige Zuchtpferdchen bezeichnet, weil Clarimonde auf dem Weg zu uns ist."

"Ui, habe ich nicht gemerkt, dass dich das so ankotzt", erwiderte Julius und deutete auf seinen Herzanhänger unter dem Umhang.

"Weil Temmie wohl wieder alles abgefangen hat, was mich umgetrieben hat. Womöglich habe ich dem Miesepeter deshalb keine geschallert", grummelte Millie. Dann fragte sie, wie es bei den Brickstons war. Julius erwähnte, dass Catherine sich Sorgen mache, weil die Liga irgendwas mitbekommen habe, was ihr nicht gefiel. Millie mentiloquierte: "Die Kiste mit den totenWerwölfen, Monju?" Julius gedankenbejahte es und deutete nach oben. "Ich hoffe, diese Mondnacht gibt es keinen noch heftigeren Angriff." Millie nickte ihm zu, obwohl das gegen die Mentiloquismusmanieren verstieß. Doch so brauchte sie ihm nicht noch was zuzumentiloquieren.

Sie sahen sich noch den aufgehenden Vollmond an und dankten jeder für sich dafür, dass sie in Millemerveilles keine Schwierigkeiten mit beißwütigen Werwölfen kriegen würden. Julius erwähnte auch die Mondtöchter. Sechs jahre war das schon her, dass Millie und er in der versteckten Burg der sechsunddreißig Mondhexen das berühmte erste Mal erlebt hattenund damit vor dem Mond und voreinander den Bund der Ehe eingegangen waren, noch bevor ein Zeremonienmagier es amtlich bestätigt hatte. Die Mondtöchter hatten ihnen erzählt, das Werwölfe, die den Weg zu ihnen fanden, von ihrem verfluchten Dasein geheilt werden konnten. Es war bedauerlich, dass dieses Wissen nicht allgemein verfügbar war. Die ganzen Toten hätten so vermieden werden können.

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"Das war klar, dass sie auch mit solchen Beredungstricks arbeiten", grummelte Mater Vicesima. Sie konnte nicht ganz verdrängen, dass jene, die ihr und vor allem den Erfindern des blauen Mondes Feigheit vorwarfen, leider recht hatten. Ja, sie griffen nicht offen an und kämpften ehrlich mit ihren Feinden. Doch diese Feinde brauchten ihre Gegner nicht zu töten. Es würde völlig reichen, ihnen den verfluchten Keim mit ihrem Speichel ins Blut zu treiben und sie dazu zu verurteilen, solche Mondanheuler wie sie selbst zu werden. Außerdem war es schon ein Ausbund von Heuchelei, dass die Zaubereiministerien gegen Vampire, Sabberhexen und Riesen kämpften, die Werwölfe aber nur als Aussätzige ansahen, die schön weit von allem bleiben sollten aber nicht getötet werden sollten, wenn sie sich brav an diese Beschränkungen hielten. Zumindest half das Mater Vicesima, die Vorwürfe und Beredungsversuche zu überwinden, die ihr aus Paris zugetragen worden waren.

"Hat uns dieser Julius Latierre echt als feige Säue bezeichnet?" fragte Perdy verächtlich. Véronique nickte beipflichtend. "Lustig! Der geht wohl davon aus, dass ich und andere Jungs dann wie total gehirnamputiert in jede Gefahr reinrennen und jeden Mist machen, nur weil jemand das zu uns gesagt hat. Sicher kennt der auch die Filmreihe, wo soeiner erst ganz zum Schluss gemerkt hat, dass er nicht gleich auf diesen Spruch anspringen soll und damit seine eigene Zukunft wesentlich aussichtsreicher gestalten konnte als er sie schon zu sehen bekommen hat."

"Ach, die Geschichte mit diesem Zeitreise-Automobil, die du mir mal erzählt hast um mir zu erklären, wie gefährlich Eingriffe in die Vergangenheit sind?" fragte Véronique.

"Isso", erwiderte Perdy darauf. Dann sagte er noch: "Tja, vielleicht sollten wir ihn doch mal ins Karussell stecken. Meine Enkeltochter könnte von dem sicher auch was brauchbares ausbrüten."

"Perdy, nichts für ungut. Aber dass einige hohe Ratshexen und ich beschlossen haben, Julius Latierre nicht anzutasten, weil er durch seine besondere Zauberkraft und die ihm von einer uns immer noch unbekannten Stelle her überragende Kenntnisse erworben hat, mit denen er die Zaubererwelt beschützen kann und damit auch deine und meine Nachkommen, bleibt unbestritten. Nur weil er meint, in das Horn dieser Lebensrecht- und Friedensjünger blasen zu müssen müssen wir ihn nicht gleich als Feind oder abzustrafenden Zauberer behandeln. Es sei denn, er greift dich oder mich direkt an. Dann müssen wir ihn wohl strafen, und ja, dann wäre das Karussell wohl der beste Ort, wo er am besten büßen kann, zumal er dann sicher von dieser sehr fleißigen Familie Latierre verstoßen werden könnte. Aber solange der mit deren Angehörigen gute Zaubererweltkinder hinbekommt bleibt er unantastbar", sagte Véronique ganz entschlossen. Perdy nickte verhalten. So richtig kapierte er das nicht, obwohl in diesem noch sehr jungen Körper ein schon über hundert Jahre alter Verstand wohnte.

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es war sicher eine der besten Ideen gewesen, die Anthelia je gehabt hatte. Das noch frische Blut zweier sich unter dem Mond verwandelnder Lykanthropen hatte ihr als Bestandteil ihres eigenen Lykanthropenaufspürartefaktes sehr gute Dienste geleistet. Sicher hatten die vom Laveau-Institut bei ihrer Erfindung des sogenannten Lykanthroskopes etwas vergleichbares benutzt. Doch deren achso menschenfreundliche Ausrichtung hatte sie bestimmt davon abgehalten, dafür Lykanthropen zu töten.

Der Werwolffinder Anthelias sah rein äußerlich wie ein winziger Kelch mit langem Stiel und zwölfeckigem Fuß aus. In dem Kelch, nahtlos und durch einen wirkungsvollen Dauerglättezauber frei drehbar, war eine Kugel aus Mondsteinsilber eingepasst, in der genau wie im silbernen Kelch das Blut von Rominas zu Werwölfen gemachten Eltern einbezogen worden war. Durch Zauber des Mondes und Beschwörungen des dunklen Atems der kleinen Himmelsschwester hatte Anthelia ihr Artefakt so eingestimmt, dass es Lykanthropen in hundert Tausendschritt Umgebung durch Aufleuchten einer Richtungsrune im Kelch anzeigte. Je näher sie der Quelle kam, desto heller glomm die im Kelch eingepasste Silberkugel. War sie nur noch einen Tausendschritt von mindestens einem Lykanthropen fort, konnte Anthelia alleine ein sphärisches summen hören, weil sie das Artefakt erst einmal nur mit Hilfe ihres Blutes auf sich allein abgestimmt hatte.

Nachdem sie erfahren hatte, was in Europa mit unregistrierten Werwölfen geschehen war hatte Anthelia beschlossen, beim ersten Vollmond im Frühling in die Nähe von mindestens zwei Werwölfen zu gelangen, um sich anzusehen, ob diese von jener unheimlichen blauen Strahlung getötet wurden. Auch wenn Albertrude und Marga Eisenhut unabhängig voneinander geschildert hatten, was dabei passierte wollte Anthelia/Naaneavargia das mit eigenen Augen sehen und dabei auch ergründen, um welche Art von tödlicher Magie es sich handelte. Sie mutmaßte Mondmagie, weil ja die Kraft des Vollmondes die Werwandlung bewirkte.

Nach mehreren Probesprüngen apparierte die Führerin der schwarzen Spinne in der Nähe von Toledo in Spanien. Hier hatte sie eine deutliche Reaktion ihres Werwolfsuchkelches wahrgenommen. Hundert Schritte von ihr entfernt verliefen die parallelen Eisenschienen einer Bahnstrecke. Um diese Zeit des schwindenden Tages fuhr hier hoffentlich keine Bahn mehr. Aber jetzt konnte Anthelia ein kleines Steinhaus sehen, eher eine Hütte, das zwischen den schlanken Stämmen von Pinien stand. Jetzt hörte sie das schnelle Summen in ihren Ohren. Die für den Norden stehende Richtungsrune glomm immer heller auf. Anthelia/Naaneavargia nutzte die einer Meisterin der Erde antrainierte Fähigkeit, die Himmelsrichtungen sinnlich wahrzunehmen und folgte nun dem Richtungsleuchten. In dem kleinen Steinhaus musste der gefundene Lykanthrop sein.

Groß und honigfarben glitt der Mond über den Horizont. Wenn er voll am Himmel stand und sein Licht zu silberweißem Schein wurde konnten sich Lykanthropen ohne denWolfsbanntrank oder den LNT nicht mehr dagegen wehren. Die Verwandlung war schmerzvoll, und der Geist wurde immer mehr von niederen Trieben und wilder Aggression durchflutet, bis der Wille unterlag und nur noch das Tierhafte herrschte. Da Naaneavargia durch die Tränen der Ewigkeit selbst eine Wergestaltige war wusste sie, wie belastend es war, wenn die Tiergestalt die Oberhand bekam. Durch die körperlich-seelische Verschmelzung mit Anthelia konnte sie zumindest die Verwandlung bewusst steuern und vor allem dann immer noch eher durchdacht handeln als triebhaft. Womöglich erging es Lahilliota ähnlich, nach dem, was sie über viele dunkle Umwege aus Frankreich mitbekommen hatte.

Das Mondlicht hüllte die Landschaft ein. Die Eisenbahnschinen glänzten, und die Pinien warfen erste Schatten auf den Boden. Anthelia/Naaneavargia schlich näher an das Haus heran. Sie musste unbedingt nahe genug, um die Gedanken der Leute in der Hütte zu erheischen.

Endlich war sie auf zweihundert Meter an die Hütte herangeschlichen. Jetzt erfuhr sie, dass dort drinnen drei Leute von der Mondbruderschaft saßen und fünf junge Frauen miteinander scherzten, wie wer von ihnen im Wolfspelz aussehen würde. Dann vernahm Anthelia noch die Gedanken einer von der Mondbruderschaft:

"Hoffentlich funktioniert das, was Lunera uns mitgegeben hat." Anthelia erfuhr auch, was genau das war, ein besonderer Portschlüssel, der bei aufkommenden Schmerzen und beschleunigtem Pulsschlag auslöste und die damit ausgestatteten in das Geheimversteck brachte. Wo das lag bekam Anthelia/Naaneavargia nicht mit, weil da etwas wie ein überlagerndes Rauschen und eine Art grauer Nebel war. Also lag das Versteck im Schutz des Fidelius-Zaubers. "Was immer die vorhaben, falls wir angegriffen werden. Hoffentlich kommen wir alle schnell genug weg", dachte einer der Mondbrüder. Anthelia konnte förmlich spüren, wie die Angst in ihm aufstieg wie Milch in einem immer heißer werdenden Topf. Auch spürte sie, wie es bei den anderen Schon losging. Die wild wallenden Botenstoffe junger Menschen beschleunigten den Eintritt in die Verwandlung.

Anthelia überwand die letzten zweihundert Meter mit dem Freiflugzauber, um kein unnötiges Geräusch zu machen. Dann sah sie, wie das honiggelbe Mondlicht immer bleicher wurde. Gleich würde die Kraft des Vollmondes die Lykanthropen voll erwischen. Die ersten Regungen der Metamorphose waren bereits zu vernehmen. Sie hoffte nur, dass sie hier nicht am falschen Ort war und anderswo Werwölfe angegriffen wurden.

Unvermittelt spürte Anthelia eine Kraft, die nicht aus der Hütte kam. Seitdem sich Dairons Seelenmedaillon vernichtet und dabei einen winzigen Rest seiner Kraft in sie eingepflanzt hatte konnte sie dunkle Zauber beinahe körperlich spüren. So bekam sie mit, wie über ihnen etwas die vom Mondlicht getragene Kraft unvermittelt bündelte und immer mehr auf ein Ziel ausrichtete. Anthelia nahm Höhe. Sie fühlte, dass irgendwas auf ihrer Haut prickelte. Da sie nicht mondabhängig war fürchtete sie keine Gestaltwandlung.

Sehen konnte sie nichts, nur fühlen. Sie versuchte, die Quelle der unbekannten Kraft anzufliegen. Doch irgendwie schien diese sich vor ihr zurückzuziehen, als wenn sie einen Zusammenstoß vermeiden müsse. Vielleicht war das auch genau so. Anthelia wusste auf jeden Fall, dass sie hier an einem richtigen Ort war. Sie ließ sich absinken. Die unsichtbare Kraftquelle glitt wieder auf die bisherige Stelle zurück. Dann fiel unvermittelt blaues Licht auf den Boden, und zwar genau von dort, wo der Mond gerade leuchtete. So sah es aus, als wenn jemand den Mond unvermittelt silber-blau eingefärbt und auf ein vielfaches der Ausgangshelligkeit verstärkt habe. Doch die dunklenStellen auf der Mondscheibe waren noch dunkler geworden. Anthelia fühlte beinahe körperlich, wie um sie herum ein dichtes Gewebe aus diesem blauen Licht auf den Boden traf. Als das passierte fühlte sie eine unmittelbare Reaktion der Erde. Dann empfing sie die ersten Schmerzausstrahlungen der Werwölfe in der Hütte. Sie selbst wurde in wabernder Luft gebadet. Ihr Blut kribbelte. Doch Schmerzen fühlte sie erst, als ihr mehrere überstarke Gedanken der in der Hütte steckenden in den Kopf stachen. Schmerz und Hitze, Angst und Verzweiflung schaukelten sich in den Gedanken der Lykanthropen auf. Anthelia musste sich dagegen verschließen, erzeugte schnell einen inneren Schutzwall. Keine Sekunde zu früh. Denn nun drangen die lautenAufschreie der Gepeinigten aus dem Steinhäuschen an ihre Ohren. Sie lief die letzten Meter. Dann sah sie, wie im Licht des blaugefärbten Mondes die Lykanthropen schlagartig in ihre Wolfsgestalt wechselten. An ihren Hälsen glommen grüne Lichtringe. Aber das waren wohl die Portschlüssel. Die sollten ja bei Schmerzen auslösen. Dann hörte Anthelia wie aus weiter Ferne eine blechern klingende Stimme: "Ruf an alle! Fluchthilfe wirkungslos. Allel nicht betroffenen in sicheres Versteck!"

"Anthelia sah, wie einer der erwachsenen Werwölfe damit rang, die Menschliche Form zu behalten. Doch schlagartig, so wie sie es selbst vermochte, verwandelte er sich in einen struppigen rotbraunen Wolf, der laut schrie und wie von unsichtbaren Messern gepeinigt zuckte. Dann sah Anthelia, wie Rauch aus dem Fell stieg. Brannte der Werwolf? Nein, soweit sie wusste wurde ein von diesem blauen Licht getroffener Lykanthrop von innen her geschmort, regelrecht durchgebacken. Womöglich wäre sie längst unter der Flutwelle der von Todesqual und Todesangst getriebenen Gedanken zusammengebrochen, wenn sie nicht rechtzeitig ihre Sinne dafür verschlossen hätte.

immer mehr Qualm quoll aus dem Pelz der verwandelten Lykanthropen. Dann passierte es. Mit einem kurzen, lauten Fauchen schossen orangerote Stichflammen aus den Pelzen der in Agonie heulenden Wölfe. Dann war es vorbei. Das Haus stand nun in hellen Flammen. Die eingeschlossenen Werwölfe heulten nicht mehr. Es gab sie einfach nicht mehr. Anthelia wagte es wieder, ihrenGedankensinn zu entfalten. Doch im Umkreis von dreihundert Metern war kein höheres Lebewesen. Vor ihr stand das nun aus Fenstern und Dachöffnungen lodernde Haus und verbreitete sengende Hitze und beißenden Brandgeruch. Wie immer dieses Licht auf die Werwölfe einwirkte, sie waren aus sich selbst verbrannt, hatten nicht einmal zwanzig Sekunden lang leiden müssen.

Anthelia fühlte immer noch dieses Kribbeln im Blut und die erbebende Luft. Um sie herum sah sie eine silber-blaue Lichtglocke. In deren Scheitelpunkt strahlte ein unnatürlich gefärbter und vielfach heller leuchtender Mond. Würde dieses magische Gebilde nun die ganze Nacht verweilen oder von selbst verschwinden? Anthelia nahm ihren Silbergrauen Zauberstab und machte damit von der Erde zum Himmel weisende Gesten, wobei sie leise Zauberwörter aus dem alten Reich sang, die die Verbindung von Mond und Erde beschworen. Ja, jetzt konnte sie erkennen, dass die Kraft dieses blauen Lichtes auf alles wirkte, was das Mondlicht mit der Erde verband. Anthelia deutete nach oben zum verfärbten Mond, der halb so hell wie die Sonne strahlte. Dann dachte sie die Freiflugformel und stieß sich ab. Sie gewann innerhalb von einer Sekunde drei Meter Höhe. In diesem Moment verschwand der Aufruhr in der Luft, das Kribbeln in ihrem Blut und auch die blaue Lichtglocke um sie herum. Auch der blaue Mond wurde wieder dunkler und bekam den natürlichen silberweißen Glanz, den die kleine Himmelsschwester seit vielen Muttersonnen auf ihre große Mutter und deren Kinder hinabschickte. Jetzt fühlte Anthelia auch wieder die frei in der Luft schwebende Kraftquelle. Sie glitt in südwestlicher Richtung davon und wurde dabei schneller. Die höchste Schwester des Spinnenordens wusste, dass sie nicht so schnell wie ein Rennbesen fliegen konnte. Wenn das da vor ihr die Flugbezauberung eines solchen oder eines Zauberteppichs aus dem Orient besaß konnte sie es nicht einholen. Aber sie konnte im Flug apparieren. Sie verharrte und wirbelte herum. Jetzt befand sie sich fünfhundert Meter weiter vorne. Ja, da fühlte sie das unsichtbare Etwas von hinten heranjagen. Sie warf sich auf der gleichen Höhe schwebend herum und zielte mit ihrem Zauberstab auf das unsichtbare Etwas. Da wich dieses blitzartig nach Nordosten aus und schnellte dabei in die Höhe. Offenbar wurde es von etwas gelenkt, das erfasste, dass vor ihm ein bewegliches, ja gefährliches Hindernis war. Am Ende besaß es sowas wie Augen. Vielleicht sollte sie selbst sich auch unsichtbar machen. Doch Unsichtbarkeit und Freiflugzauber zehrten sie schnell aus. Wenn sie heute noch mit den Leuten zu tun bekam, die dieses Etwas losgeschickt hatten brauchte sie ihre ganze Kraft.

Noch einmal versuchte Anthelia, in die Flugbahn des unsichtbaren Flugobjektes zu apparieren. Das gelang auch. Doch nach nur zwei Sekunden hatte das für Werwölfe wortwörtlich brandgefährliche Ding sie wohl wieder als Hindernis erfasst und schnellte wie von Raketen getrieben nach oben und sauste dann in Südrichtung davon. Anthelia wollte nicht noch einmal apparieren. Sie verfolgte das beschleunigende Objekt und tastete dabei mit ihrer angeborenen und durch die Fusion mit Naaneavargia verstärkten Telekinese nach einem festen Körper. Tatsächlich fühlte sie dergleichen. So hnutzte sie ihren Zauberstab und bündelte ihre Gedankenkraft auf das erspürte Etwas. Jetzt hatte sie es. Sie fühlte, wie es zitterte, sich ihrer Gedankenkraft entgegenstemmte. Anthelia holte auf. Sie wollte wissen, was es war.

Es war nicht einfach, dem immer noch gegen ihren telekinetischen Sog ankämpfenden Objekt zu folgen. Nur langsam holte sie auf. Sie konnte nicht genau einschätzen, wie nahe sie ihm schon war, als ein plötzlicher Kraftstoß sie zusammenzucken ließ. Sie verlor die Beherrschung ihres Fluges und stürzte in die Tiefe. Dabei sah sie auf den Erdboden. Vielleicht war das ihr Glück. Denn unvermittelt erstrahlte der geisterhafte Widerschein des Vollmondes beinahe so hell wie die Sonne selbst. Für eine einzige Sekunde wurde alles um Anthelia in weißes Licht gebadet. Dann hörte sie noch einen dumpfen Knall. Danach erlosch das helle Weiß und überließ dem silbergrauen Widerschein des Mondes die Szene. Anthelia hörte über sich wild dahinjagende kleine Geschosse. Offenbar war sie durch die plötzlich aufgewachte Kraft in dem unbekannten Etwas vor ihrer größten Niederlage überhaupt bewahrt worden, ihrem eigenen Tod und die Wiedergeburt als reiner, machtvoller Windgeist. Jetzt begriff sie, was passiert war. Das fremde Objekt hatte von sich aus oder von außen anbefohlen einen Selbstvernichtungszauber freigesetzt, der es in Millionen von Splittern zersprengt hatte.

"Oha, dieses Mondlichtmanipulationsmedium hätte mir fast die schöne lange Nacht verdorben", dachte Anthelia/Naaneavargia. Dann fiel ihr ein, dass sie immer noch aus großer Höhe abstürzte und das besser beenden sollte. So bremste sie ihren Absturz. Knapp fünf Meter über Grund blieb sie in der Luft stehen. Sie sah sich noch einmal um. In einiger Entfernung grüßte rotflackernd das lichterloh brennende Steinhaus, in dem eine Gruppe Mondbruderschafts-Werwölfe grauenvoll verendet und am Ende in einem Akt fragwürdiger Gnade in Flammen aufgegangen war.

Anthelia erfasste, dass sich ihrem Standort mehrere fliegende Menschen näherten, spanische Ministeriumszauberer. Sie flogen aber eher auf das brennende Haus zu. Dennoch wollte sie hier nicht erwischt werden. Sie landete schnell und wirkte den Zauber der schnellen Reise durch die Erde. Als einer der heranjagenden Zauberer laut "Hola, alto!" rief, fiel sie wie durch Luft unter die Erdoberfläche.

"Die Verwirrung des Zauberers entschädigte sie dafür, nicht sein verdutztes Gesicht gesehen zu haben. Außerdem war sie bereits mit der im Gestein möglichen Schallgeschwindigkeit unterwegs und damit innerhalb einer halben Sekunde nach dem Eintauchen im Gestein außerhalb ihrer Gedankenerfassungsreichweite.

Als sie hundert Kilometer vom Standplatz des nun niederbrennenden Hauses entfernt wieder aus dem Boden emporfuhr verhielt sie für einige Sekunden. Dann disapparierte sie. Sie wollte erkunden, wo noch andere Werwölfe waren, welche, die ihr vielleicht das Leben zu verdanken hatten, weil sie den unsichtbaren Verbreiter jenes blauen Mondlichtes aufgehalten hatte.

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"So grüßen wir unseren großen Freund am Nachthimmel, den ewig wiederkehrenden Vollmond, unseren Kraftquell!" rief Hubert Barkley alias Mondkralle, als die ersten Strahlen des Frühlingsvollmondes über den östlichen Horizont tasteten. Noch waren sie honigfarben, und der Mond würde größer aussehen als am hohen Himmel. Aber wenn er silbern und rund in die Höhe glitt würden sie sich seiner Kraft hingeben. Durch den Wolfsbanntrank und neuerdings auch durch den Lykonemisis-Trank konnten sie auch in der Verwandlung alles tun, was sie wollten und dabei im Angedenken Fenrir Greybacks junge Menschen in ihr neues Dasein beißen.

"Heben wir noch einen, bevor sich unser Gefährte der Nacht zu vollem Glanze erhebt", forderte Barkley und hob sein Whiskeyglas zum Mund. Alle Männer taten es ihm gleich. Alle hier versammelten Frauen hoben Sektgläser.

Seit Greybacks unrühmlichem Ende begrüßten seine Anhänger, die Ritter des Mondes, den ersten Frühlingsvollmond auf diese Weise, auch als sie noch die Auswirkungen der Verwandlung ohne Beibehaltung des eigenen Willens erdulden mussten. Doch was für die Eingestaltler Feste wie Halloween, Ostern und Weihnachten waren, das war für die Greybackianer der erste Frühlingsvollmond. Denn das hieß, dass wieder mehr Menschen unbedacht in Wäldern herumstrolchen würden und somit zu willigen Opfern wurden.

Langsam schob sich der gelbe Mond immer weiter über den Horizont. Es würden nur noch wenige Minuten vergehen, bis er silbern wurde. Doch jetzt schon fühlten sie alle jenes unangenehme, und doch so vertraute Brennen in Blut und Muskeln. Bald würden starke Hitzewallungen über sie kommen und sie jeden Knochen, jedes Nervenende spüren, das wilde kribbeln auf der Haut, wenn das Wolfsfell spross. Doch weil sie alle den LNT getrunken hatten würden sie nach der Verwandlung noch frei denken und handeln können. Sicherlich mochten dabei die einen oder anderen Paare zusammenfinden, um die Natur des wilden Wolfes in einem Rausch der Lust ausleben, den sonst nur niedere Tiere empfinden konnten, die frei von menschlichen Hemmungen und auferlegten Verhaltensregeln lebten. Im letzten Jahr waren bei sowas zehn neue Wolfskinder auf den Weg gebracht worden, die sich immer fleißig mit ihren Müttern mitverwandelten, ob noch in deren Bäuchen oder bereits geboren. Fenrirs Anbeißer war so ein Wolfskind gewesen, das in Wolfsgestalt geboren worden war und daher nie wirklich menschliche Beschränkungen angenommen hatte. Er hätte gerne die rote Tara auf diese Weise beglückt. Aber wegen dieser spanischen Schlampe Cortorejas waren ihm alle drei McRores von der Gabel gesprungen.

Jetzt wurde das Brennen und Reißen immer stärker. Das Blut in seinen Adern brodelte wie sidendes Wasser. Er schrie seine herrliche Agonie hinaus in die Nacht. Alle anderen taten es ihm gleich. Sein Herz pochte immer wilder, pumpte sein aufgewühltes Blut noch stärker durch seine Adern. Seine Gedanken rasten wie ein Schwarm Bienen durch sein Gehirn. Gleich würde die wunderschöne Agonie ihren Höhepunkt erreichen, schmerzhafter als die höchste Liebeswonne, aber auch irgendwie beglückend, wenn sie vorbei war.

Jetzt stand der Mond silbern im Osten. Jetzt brandeten die größten Schmerzen durch seinen Körper. Seine Knochen begannen zu kochen. Sein Blut war wie heißer Dampf, der durch die gedehnten Adern schoss. Auf seiner Haut prickelte es wie eine Armee von darüber laufenden Ameisen. Kopf und Glieder schmerzten. Dann sah Barkley durch das Flimmern vor seinen sich ändernden Augen, wie der silberne Mond plötzlich heller wurde und ein blaues Leuchten ausstrahlte. Unvermittelt meinte Barkley, dass in seinen Eingeweiden ein immer heißerer Glutball wuchs. Er schrie, nein heulte einen noch nie gefühlten Schmerz in die Nacht hinaus. Seine Haut brannte wie von den darüberlaufenden Ameisen mit Säure benetzt. Die in ihm lodernde Glut wurde von Herzschlag zu Herzschlag immer heißer. Sein Herz jagte nun mit irrsinniger Taktzahl das immer wilder glühende Blut durch seine Adern. Er fühlte nur noch Schmerzen, obwohl er merkte, dass die eigentliche Verwandlung längst vollendet war. Doch der viel zu helle blaue Mond schien seinen Körper von innen her aufzuheizen. Sein letzter klarer Gedanke war, dass er nun verbrennen würde. Dann sah er, wie sein Nachbar in einer Glutwolke auseinanderplatzte. Er begriff nicht, was geschehen war. Dann erlöste ihn eine wuchtige Explosion aus Hitze von allen Qualen und Sorgen seines Daseins.

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Lunera sah gleich fünf Fernsprechdosen rot aufglühen, zwei für Spanien, zwei in Frankreich und eine für Deutschland. Ihr war sofort klar, was vorging. Da, wo jetzt schon der Vollmond vom Himmel strahlte ereilte ihre Mitstreiter jenes grauenvolle Schicksal, das auch schon Rezaluna ereilt hatte und zu letzt ihre Freunde Jean und Brigitte mit ihren neuen Weggefährten.

"Alle aus dem Mondlichtungshaus in die Reina!" rief Lunera in die Stille des Mondlichtungshauses. Gestern hatten sie hier noch hundert Mitstreiter begrüßt, von denen sich sechzig zu spontanen Liebesakten auf der Insel verteilt getroffen hatten. Von denen würden wohl zwanzig gerade den unheimlichen Tod erleiden, den sich irgendwer von den Eingestaltlern ausgedacht hatte."

"Alle in die vorbereiteten Schutzbereiche, die das noch können!" rief Lunera in eine besonders große Fernsprechdose hinein, die mit allen anderen weltweit verteilten in Verbindung stand. Dann sah sie, wie weitere Fernverständigungsartefakte zu glühen begannen. Offenbar hatten diese Mörder ihre Mordwaffe sehr großflächig ausgerichtet. Sie war froh, dass sie hier noch drei bis vier Stunden bis Mondaufgang hatte. Die Zeit würde reichen, alle nordamerikanischen Mitstreiter in der Reina zu versammeln. Wer noch aus Europa flüchten konnte würde in mit Inkazaubern des Mondes gesicherten Schlafkellern landen, die von der üblichen Verbindung zwischen Mond und Erde abgekoppelt waren und somit nichts von der Kraft durchließen, die der Mond ausübte.

"Was passiert, Lunera?" fragte Fino besorgt. Das war das erste Mal seit dem beinahen Duell zwischen ihm und Mondkralle, dass er wieder mit Lunera direkt sprach. Sie erzählte ihm, was passierte. "Drachenmist, und wir haben nicht alle Standorte mit Fernsprechdosen beliefern können, weil uns das Normalosilber ausging, verdammt noch eins."

"Ja, dann werden wohl über zwei Drittel von uns draufgehen", dachte Lunera und fühlte die ersten Tränen in die Augen steigen. Wer immer das machte hatte jetzt wirklich die Macht, alle Kinder des Mondes auf einen Schlag auszulöschen, wenn die nicht rechtzeitig in Sicherheit gelangen konnten.

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Tara McRore hatte das mit dem großen Fest zum Frühlingsvollmond gelassen, als klar war, dass die an der Innenseite der Begrenzungsmauer aufgereihten Unspürsteine auch Portschlüssel abwiesen oder nicht von hier fortließen. Aber zehn ihrer Freundinnen und Freunde waren auf Besen oder durch Apparieren hergekommen und hatten dann das von Taras schmiedefertigen Freunden reparierte Tor durchschritten. Allerdings war ihr nicht ganz wohl, weil Lunera sie vor einer Kraft gewarnt hatte, die ihre Mitstreiter in anderen Ländern einfach so getötet hatte. Lunera vermutete dieselben, wegen denen sie zu jeder Zeit die silbernen Halsbänder tragen mussten. Hatten die jetzt was neues erfunden, das nicht so leicht abzuhalten war? Sie hoffte darauf, dass diese Macht nur auf kleinen Räumen Ziele erkennen und treffen konnte.

Als der Mond über dem Gut von Glenfield Brooks aufging fühlte Tara die Schmerzen der einsetzenden Verwandlung. Die uralte magische und physikalische Beziehung zwischen Erde und Mond war also stärker als die über dem Gutshof stehende Kuppel gegen hinausdringende Zauberkraft. Wollte sie sich der Verwandlung hingeben? Nein, sie musste eine Hexe bleiben, um notfalls mit den anderen fliehen zu können, wenn etwas unerhörtes über sie hereinbrach. Doch hatte sie dann noch Zeit oder gar die Kraft, sich dem entgegenzustemmen? Das durfte sie jetzt nicht umtreiben. Sie musste ihren Willen und ihren Körper behalten, nicht in die Verwandlung hineingleiten. Auch Lorna und Maura fühlten wohl die einsetzende Verwandlung und hielten dagegen. Nur Hank und Pete ließen es geschehen, dass sie sich wieder einmal verwandelten. Pete lamentierte in den Pausen zwischen den Schmerzwellen, dass er sich beim nächsten Mal doch die Silberkugel geben würde, um das nicht noch einmal durchmachen zu müssen. Dann erfasste ihn die volle Kraft des vollen Mondes.

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Perdy hatte alle hundert europäischen Mondboten im Einsatz. Deshalb konnte er nicht mehr so einfach jeden einzelnen gleichzeitig überwachen. Er hatte jedoch die für Spanien, Frankreich, Deutschland und sein Geburtsland Großbritannien bestimmten Überwachungskristalle bereitgelegt und konnte sie in eine dafür ausgegrabene Mulde im Hufeisenpult einlegen. Auf der magischen Bildwand konnten sie auf einer meterbreiten Europa- und Nordafrikakarte sehen, wie weiße Punkte über die mit ihren Anfangsbuchstaben markierten Ansiedlungen hinwegflogen.

Als der für die spanische Provinz Kastillien eingesetzte Bote von Weiß zu Gelb, Grün und dann Blau wechselte legte Perdy den Überwachungskristall in die Mulde. Die Karte verschwand und machte der direkten Ansicht des Mondboten Platz. Perdy stellte sofort auf Wärmesicht um. So konnten sie das Haus sehen, in dem mehrere Menschen sich verwandelten. Dann sah Perdy noch eine Frau, die gerade in den Wirkungsbereich des blauen Mondes trat. "Die ist eine Hexe. Die hat auch was dabei, um Lykanthropen aufzuspüren", stellte Mater Vicesima fest, die der Vorwurf, hinterhältig und feige zu handeln, nicht losgelassen hatte. Deshalb wollte und musste sie mit ansehen, was passierte. Was sie und elf andere Ratsmitglieder nun zu sehen bekamen war schlimm und gleichermaßen erfreulich, zumindest für die Angehörigen von Vita Magica. Zuerst verwandelten sich die in einem Haus steckenden Werwölfe innerhalb nur einer Sekunde. Dann erhitzten sich ihre Körper so schnell, dass es fast schon blendend hell wurde. Nach nur zwanzig Sekunden explodierten die Verwandelten in metergroßen Feuerbällen, die einander durchdrangen und das gesamte Haus erfüllten. Nun schlugen meterlange Flammen aus Dachritzen und Fensteröffnungen.

"Jau, unter einer Minute bei Vollmond", erkannte Perdy. Dass da mal eben mehrere denkfähige Wesen verbrannt waren störte ihn schon nicht mehr. Allerdings störte ihn die Hexe vor dem Haus.

Die Fremde sah genau nach oben. Bewunderte sie den blauen Mond? Perdy wunderte sich auch, dass der blaue Mond noch nicht erloschen war, obwohl eindeutig alle Werwölfe in seinem Licht vernichtet worden waren. Hielt die fremde Hexe ihn in Gang? Perdy und die anderen Zuschauer bekamen mit, dass sie mit ihrem Zauberstab Gesten machte, die hauptsächlich zum Mond und der Erde zeigten. "Sie erkundet die Magie", knurrte Mater Vicesima. Genau das hätte sie nämlich auch getan, wenn über ihr der Mond hell und blau geworden wäre. Dann sahen sie, dass die andere ohne Besen oder anderes Flugartefakt vom boden abhob. In diesem Moment wurde der Mond wieder silbern und nur so hell, wie ein Frühlingsvollmond werden konnte. Lag es daran, dass die Fremde sich vom Boden gelöst hatte?

Als der Mondbote zum nächsten Ziel fliegen wollte bekamen die Mitglieder des hohen Rates des Lebens mit, wie die fremde Hexe hinter dem Boten herflog, ja mehrmals direkt in seiner Flugbahn apparierte und dann wohl was machte, was ihn in der Luft festhielt.

"Das glaube ich nicht. Die kann den Boten nicht mit Fernlenkzaubern bannen", stieß Perdy aus. Doch er sah, dass sie es konnte. Dann bekam er noch mit, wie ein roter Blitz über das gesamte Bild zuckte. Gleichzeitig barst der Überwachungskristall mit leisem Klirren.

"Hätte nicht gedacht, dass die echt nötig war", schnaubte Perdy und fegte mit einer Zauberstabbewegung die Scherben aus der Mulde auf dem Hufeisenpult. Véronique nickte. Perdy hatte behauptet, dass es nicht nötig war, einen Selbstvernichtungszauber in die Mondboten einzuwirken. Doch die Sache mit Silvester Partridge hatte sie alle gelehrt, auch das undenkbare einzuplanen. In dem Fall war es die rein gedankliche Telekinese der zum freien Flug fähigen Hexe, von der sie alle nun wussten, dass es die mächtige Anführerin der Spinnenschwestern war. Denn nur diese war wohl im Stande gewesen, einen unsichtbaren Mondboten wahrzunehmen und zu verfolgen und ihn dann noch im Fluge festzuhalten. Offenbar wirkte der blaue Mond nicht auf sie wie auf einen Werwolf, obwohl sie unzählige Male als schwarze Riesenspinne aufgetreten war.

"Dieses Weib ist wirklich gefährlich für uns. Wir sollten ihre Drohungen sehr ernst nehmen, dass sie jeden von uns grausam für die Beeinträchtigung von Hexen bestrafen will", grummelte Mater Vicesima.

"Vielleicht kriegen wir die auch ins Karussell rein", meinte Pater Decimus Sixtus Gallicus.

"Das dürft ihr ganz schnell vergessen", schnarrte Mater Vicesima. "Die kann sich ohne Zauberstab in die Spinne verwandeln. In der Gestalt ist sie sogar gegen den Todesfluch gefeit. Wir sollten sie bloß nicht zu uns hereinholen. Schon schlimm genug, wenn sie herausbekommt, wie sie in einen unserer Stützpunkte eindringen kann. Dass sie es bisher nicht versucht hat liegt sicher daran, dass sie alleine nicht viel ausrichten mag."

"Dann stelle ich zur Abstimmung, dass dieses Weib zur größten Todfeindin erklärt wird und auf Sicht zu exekutieren sein soll", bemerkte Pater Decimus Sixtus Gallicus dazu.

"Wird sie nicht beeindrucken, zumal sie dann finden könnte, jedes durch uns auf die Welt gelangte Kind als widernatürlichen Unrat anzusehen, so wie wir die Werwölfe und Vampire. Das sie es bisher noch nicht getan hat liegt wohl daran, dass sie die Mütter dieser Kinder als potenzielle Mitschwestern respektiert."

"Auch dich, Véronique?" fragte Perdy provokant.

"Werd nicht frech, kleiner, sonst darfst du mit meinen zwei Kleinen neu aufwachsen", mentiloquierte Véronique. Laut sagte sie: "Mich, Eileithyia Greensporn, Frankreichs Zaubereiministerin Ventvit und sicher auch Blanche Faucon. Solange wir ihr nichts anhaben können wird sie uns nicht von sich aus töten wollen."

"Dann kann es keine Sardonianerin sein. Die haben auch feindliche Hexen umgebracht. "Zu meinen Füßen oder darunter", nicht wahr, Véronique?" legte Pater Decimus Sixtus Gallicus nach. Véronique nickte verdrossen.

"Ui, das wird kitzlig. Der für die Gegend um Paris eingeteilte Mondbote wird langsamer und fliegt auf das Viertel Mont Martre zu. Da wohnt kein registrierter Werwolf, richtig?" fragte Perdy die zwei französischstämmigen Ratsmitglieder. Die beiden nickten. Perdy legte den Überwachungskristall für den Mondboten von Paris ein und ließ die Direktansicht darstellen.

"Perdy, wenn da unten auch nur ein Lyko so explodiert wie die in Spanien sterben auch unschuldige", zischte Véronique, als sie sah, wie unter dem unsichtbaren Mondboten ein hellerleuchtetes Stadtviertel immer näher heranrückte und der unsichtbare Bote unvermittelt über einem Haus stehen blieb, aus dessen Dach grüne, blaue und rote Blitze in den Himmel zuckten. "Ui, muss schnell sichern", knurrte Perdy und kippte einen kleinen Roten Hebel mit einem Drachenkopf mit geschlossenem Maul nach vorne. Unvermittelt erloschen alle elektrischen Lichter dunter dem Mondboten. Das geschah im selben Moment, wo dieser auch das blaue Licht über sein Ziel ergoss. "Dann hoffen wir mal, dass der Unfeuerzauber nicht den Exterminationsvorgang stört", grummelte Perdy. Véronique atmete auf. Also hatte Perdy doch noch was hinbekommen, um bei starker Hitzeentfaltung kein offenes Feuer ausbrechen zu lassen. Sie zählte die Sekunden, die auf der kleinen Uhr mitliefen. Perdy hatte inzwischen die Ansicht auf Wärmesicht umgestellt. So konnten sie zwar nicht ganz in das Haus hineinsehen, aber sie bekamen mit, dass die Menschen, die im blauen Mondlicht standen offenbar nicht davon erhitzt wurden. Dann konnten sie einen aufleuchtenden grauen Fleck sehen, der eine Sekunde lang zu sehen blieb und dann übergangslos verschwand. Im selben Moment stoppte die mitlaufende Uhr, die die Dauer des blauen Mondes maß.

"Zwanzig Sekunden und kein Feuer. Falls der Werwolf aber als heiße Dampf- und Aschenwolke explodiert ist könnte das die ihm nächsten Muggel verletzt haben", meinte Perdy. Dann stellte er die Ansicht schnell auf Karten um, nahm den Überwachungskristall aus der Mulde und legte den roten Hebel zurück. Dann legte er einen neuen Kristallkörper ein und kippte den roten Hebel mit dem Drachenkopf nach vorne. Das wieder holte er innerhalb der nächsten zwei Minuten zehn Mal und prüfte, welche Monndboten gerade über dicht besiedeltem Gebiet waren. Seine drei britischen Mondboten flogen gerade Ziele bei Sheffield, Limerick und Southamton an und wurden schon langsamer, um genauestens über dem erfassten Ziel stoppen zu können. "Oh, wenn in London zwei ungemeldete Lykos sind sollte ich Pax Britannica auch auf Unfeuer stellen", sagte Perdy und suchte schnell nach dem betreffenden Überwachungskristall. Véronique sah Perdy erleichtert an, weil der offenbar vorausgeahnt hatte, dass es bei der Werwolfvernichtungsaktion zu offenen Bränden kommen mochte. Doch das, was Julius Latierre als Kollateralschaden bezeichnet hatte ließ sich so nicht ganz vermeiden. Sie hoffte, dass die Muggel und die Leute der betroffenen Zaubereiministerien schnell genug vor Ort waren um zu helfen.

Ui, ich sehe gerade, dass Pax Britannica vorhin hundert Lykanthropen auf einen Schlag exterminiert hat", stellte Perdy fest, der einen der fvür sein Geburtsland eingesetzten Mondboten durch nur ihm bekannte Zauberstabberührungen am Kristall befragte. "Offenbar hat da jemand gemeint, eine Vollmondorgie feiern zu wollen. Das könnten die Anhänger von Fenrir Greyback gewesen sein. Dann gibt's von denen jetzt auch erheblich weniger."

"Solange keine unbefallenen Menschen dabei waren, Perdy. Wenn die schon betroffen wurden, bevor du deine Unfeuervorrichtung in Gang gesetzt hast ..." "... könnten die Muggel denken, da wäre ein kleiner Vulkan ausgebrochen", feixte Perdy. Véronique fand das nicht sonderlich lustig. Andererseits war sie erleichtert, hundert beißwütige Seuchenträger weniger auf der Welt zu wissen.

"Können wir noch einmal die französischen Boten sehen?" fragte Pater Decimus Sixtus Gallicus. Neben ihm stand mit Blick auf die Bildverpflanzungswand sein Ratskollege Pater Duodecimus Canadensis. Er wartete darauf, dass der Blaue Mond auch über seiner Heimat aufging und die Erde von den Auswürfen dunkler Mondmagie reinigte. Véronique entging weder die Entschlossenheit, wie der glühende Hass in den Augen ihres Mitstreiters aus den Weiten Kanadas. Er hatte darauf bestanden, gleich reinen Tisch zu machen und sämtliche Werwölfe der Erde mit der neuen Waffe zu vernichten, damit der Keim der Werwut keine Gefahr mehr darstellte. Als der Rat darüber abgestimmt hatte, ob zunächst nur die als potenziell gefährlich einzustufenden Werwölfe exterminiert werden sollten oder gleich alle, hatte eine Mehrheit gegen eine totale Auslöschung im ersten Ansatz gestimmt. Auch wenn in der Gemeinschaft zur Bewahrung und Mehrung des magischen Lebens die Ansicht galt, dass Lykanthropen eine Gefahr für magische Menschen darstellten hatten doch einige von denen mitgeholfen, dass es den Zaubererweltbürgern in den meisten Staaten nicht so schlecht erging, als dieser Fanatiker Tom Riddle zum zweiten mal nach der absoluten Macht griff. Andererseits hatten die Garouts in Frankreich eine Spur aus Angst und Schrecken, Gewalt und Unterdrückung hinterlassen, weshalb französische Hexen und Zauberer nicht alle begeistert waren, dass dort jetzt eine Beamtengruppe von Lykanthropen arbeitete, um Ihresgleichen zu überwachen und wenn nötig von Untaten abzuhalten.

"Ui, gut, dass ich den Unfeuerzauber im zweiten für den deutschsprachigen Raum eingesetzten Mondboten schon in Kraft gesetzt habe", sagte Perdy und deutete auf einen gerade blau flirrenden Punkt auf der leuchtenden Landkartendarstellung mit den Einzelstandorten der umherjagenden Mondboten. "Verstehe", sagte Véronique. Denn der Mondbote war wohl gerade über der Stadt Köln am Rhein, die weltweit für ihr Bier, ihren Dom und ihren Karneval berühmt war.

"Das hätte uns unsere Mitstreiterin Mater Nona Germanica sicher sehr übel genommen, wenn wir ihre kleine Stadtkappelle eingeäschert hätten", meinte Perdy. "Ja, oder die hätten geglaubt, nach ihrem Karneval gleich Silvester zu haben", erwiderte Véronique.

"Wie viele Werwütige waren da denn?" wolte der kanadische Ratskollege wissen. Perdy musste dafür den betreffenden Überwachungskristall einlegen. Sogleich änderte sich die Ansicht auf der Bildverpflanzungswand, und sie konnten den Überflug über die Stadt mitverfolgen. Da Mondboten zwischen zwei Zielen immer mehr als hdreihundert Meter über Grund flogen reichte der immer noch wirkende Unfeuerzauber nicht weit genug hinunter, um die vielen elektrischen Lichtquellen zu unterbrechen. Dass ein Unfeuerzauber das tat war erst herausgekommen, als jemand einen Unfeuerstein aus Australien mitten in Paris in Kraft gesetzt hatte und dadurch alles im Umkreis von hundert Metern verdunkelt und alle elektrischen Geräte außer Funktion gesetzt hatte.

"Es waren wahrhaftig zwanzig Stück in einem Haus nahe des Rheins. Da werden die Muggels wohl blöd kucken, wenn sie das Haus leer finden", meinte Perdy. Dann nahm er den Überwachungskristall wieder aus der Bereitschaftsmulde und holte so die Landkartenansicht auf die Wand zurück. Gerade blinkte eines der französischen Mondbotensymbole orange. "Versuchter Angriff", meinte Perdy dazu und legte sofort den betreffenden Kristall ein. Sofort begann am Pult eine kleine Glocke zu pingeln, und auf der Wand sahen sie sich kurz aufblähende silberne Feuerbälle, die für eine Sekunde loderten und dann wieder in sich zusammenfielen. "Ah, unser Sprengschnatz-Abwehrnetz wird herausgefordert", feixte Perdy. Dann tippte er mit dem Zauberstab an den Kristall und konzentrierte sich. "Ui, schon zehn erledigt und noch drei ... Ups! ... zwei im anflug!" Gerade blähte sich ein weiterer silberner Feuerball auf und verlosch nach einer weiteren Sekunde. Der Mondbote schien von den Attacken nicht aus der Bahn zu geraten. Er flog einfach weiter. Véronique alias Mater Vicesima suchte und fand die Standortangabe und wusste, dass der Mondbote gerade auf dem Weg nach Avignon war. Sie wusste, dass dort kein registrierter Werwolf lebte. Da sie in der zu Avignon gehörenden Zauberersiedlung Quartier Sorcier Nachkommen hatte kam in ihr eine unvermittelte Anspannung auf. Was, wenn diese Mondheuler einen von ihren Nachkommen erwischt hatten. "Lass den Kristall bitte noch in Bereitschaft, Perdy. Ich muss wissen, was in Avignon vor sich geht", sagte Mater Vicesima.

Die beiden verbliebenen Sprengschnatze zerbarsten unter dem Mondboten. Offenbar hatte wer gemeint, die Dinger von unten an das Ziel zu lenken. Doch die Abwehr war kugelförmig, wie es sich für ein fliegendes Artefakt gehörte.

"Ob die es jetzt begriffen haben", wollte Perdy wissen und meinte wohl die, welche die Sprengschnatze losgeschickt hatten.

"Begriffen vielleicht, aber nicht wahrhaben", vermutete Véronique.

"Moment mal, das Haus kenne ich. Da wohnen die Charliers, die Eltern, zwei erwachsene Töchter und ein Sohn gerade sechs Jahre", sagte Véronique. Als sie dann wie alle anderen sah, wie der Mondbote über dem Haus stehenblieb und dann unverzüglich das blaue Licht ausstrahlte ahnte die zwanzigfache Mutter schon, dass dort gerade eine Tragödie ihren Lauf nahm. Es dauerte nur zehn Sekunden, bis das blaue Licht erlosch und der Mondbote im Gewitter von gleich vier explodierenden Sprengschnatzen weiterflog. "Kannst du herausfinden, wie viele es waren?" fragte Mater Vicesima nun doch betroffen ihren äußerlich zehn Jahre alten Mitstreiter. Dieser berührte mit dem Zauberstab den Kristall und verharrte für vier Sekunden in Konzentration.

"Öhm, irgendwie stimmt die Anmessung nicht. Da wird was von einem Drittel eines Lykanthropen zurückgemeldet. Das werde ich aber noch mal prüfen, wenn Pax Gallica zwei wieder bei uns ist."

"Ich fürchte eher, dass die Erfassung stimt, Perdy", grummelte Mater Vicesima. Was sie in Paris vielleicht noch hatten verhindern können war wohl nun geschehen. In der Zauberersiedlung Quartier Sorcier war ihretwegen ein kleines Kind getötet worden, ein sechsjähriger Junge, der das Pech hatte, als ungemeldeter Lykanthrop erfasst worden zu sein. Womöglich hatten die Charliers es nicht übers Herz gebracht, ihren Sohn registrieren zu lassen, aus Angst, das Zaubereiministerium könnte ihnen den Jungen fortnehmen. Falls das stimmte Hatte dieser hochbegabte Bursche doch noch recht bekommen. Es tröstete sie auch nicht, dass ihm das noch weniger gefallen würde als ihr.

"Bitte lass die Karte wieder sehen!" seufzte Véronique. Sie musste sich setzen. Falls wirklich der kleine Jean-Pierre gestorben war, weil er ein ungemeldeter Werwolf war, dann hatte auch sie sein Blut an den Händen. Ja, es war schon etwas ganz anderes, wenn hinter den Toten Namen und Geschichten standen, musste sie hier und jetzt schmerzvoll erkennen. Doch dann fing sie sich wieder. Die Eltern hätten den Jungen schließlich registrieren lassen können. Dann wäre sein Zuhause aus den erfassten Zielen ausgefiltert worden. Offenbar erkannte das auch Pater Duodecimus Canadensis. Doch anders als Véronique empfand er kein Mitleid für einen Werwolf, ob im Kinderkörper oder im Körper eines Zweihundertjährigen.

Unvermittelt läutete eine handtellergroße Messingglocke, und auf der Kartenansicht färbten sich die weißen Symbole für die Mondboten dottergelb. "Was bedeutet das?!" rief Pater Duodecimus Canadensis über das rhythmische Bimmeln hinweg.

"Zielverlust bei mindestens fünf Mondboten", sagte Perdy ganz ruhig und deutete auf die Bildverpflanzungswand.

"Wie, Zielverlust?" wollte der kanadische Ratskollege wissen. "Dass von den an nicht ausgeschlossenen Orten erfasste Ziele verschwunden sind, nicht einfach weggeflogen sind", rief Perdy und tippte dann mit seinem linken Zeigefinger auf ein Glockensymbol am linken Schenkel des Hufeisenpultes. Das Gebimmel verklang.

"Da haben wir den Fall, werte Kollegen. Die Verbrecher sind durch unsere Tests gewarnt worden und haben an ihre Feldposten oder Unterschlupfe Portschlüssel verteilt oder die zauberfähigen von ihnen zum disapparieren aufgefordert. Also haben die eine Fernverständigungsgemeinschaft", sagte Véronique.

"Wie viele?" wollte der kanadische Ratskollege wissen. Véronique entging nicht der lauernde Hass in seiner Stimme und das Funkeln in seinen Augen.

"Moment, gleich geklärt", erwiderte Perdy selbst ein wenig ungehalten. Denn jetzt hatten sie die schwere Entscheidung zu treffen, alle verbliebenen Ziele anzugreifen und zu riskieren, dass über 90 von 100 davon unschuldige, wenn auch ungemeldete Lykanthropen waren oder die Operation "Blauer Mond" an dieser Stelle zu beenden.

"Von dreihundert erfassten Zielen sind siebzig verschwunden. Wie viele Lykanthropen das im einzelnen sind kann aus dieser Entfernung nicht ermittelt werden", erwiderte Perdy.

"Vielleicht haben die sich an die Orte verzogen, wo die gemeldeten Werwölfe sind. Entferne den Ortsfilter und lass die Boten auf alles los, was sie erfassen!" befahl Pater Duodecimus Canadensis.

"wo ist diese Niederlassung hier?" fragte Perdy. Pater Decimus Sixtus Gallicus und Véronique blickten erst ihn und dann einander an.

"Ach, will der Bursche, der bewusst noch mal in Windeln machen wollte mir jetzt den Hoheitsparagraphen vorhalten. Ja, wir sind in Frankreich. Aber es besteht Gefahr im Verzug. Los, die Filter raus und größtmögliche Einsatzgeschwindigkeit!" wiederholte Pater Duodecimus Canadensis alias Hubert Greenbrook.

"Stimmen die hier anwesenden französischen Ratsmitglieder dieser Anweisung zu?" fragte Perdy für das Protokoll.

"Nein, tun wir nicht", sagte Véronique. "Die Ortsfilter bleiben in Kraft."

"Stellen Sie die Boten auf höchste Fluggeschwindigkeit und nehmen Sie die Unsichtbarkeit heraus, auch wenn sie dann leichter anzugreifen sein werden!" sagte Pater Decimus Sixtus Gallicus.

"Wenn diese Lykanthropen sich dahin zurückgezogen haben, wo gemeldete Daseinsgleiche sind könnten die sich dauerhaft entziehen", knurrte Pater Duodecimus Canadensis. "Mach sofort die Filter raus und jage die Boten auf alles, was sie dann erfassen!" brüllte er dann so laut, dass Véroniques ungeborene Kinder deutlich spürbar erschraken.

"Hubert, wenn Sie mit Ihrem Gebrüll eine Fehlgeburt auslösen kriegen Sie aber mächtigen Ärger", warnte Véronique den Kollegen.

"Ich kann die Filter erst rausnehmen, wenn ich die Mondboten wieder hier habe. Die Filter sind bezauberte Landkarten aus Silberfolie, Werwolfsblut und Zaubertinte", sagte Perdy.

"Das kann nicht sein, du lügst", zischte der kanadische Ratskollege Véroniques. Dann stieß er ein Wort aus, dass kein gesetzestreuer Zauberer der Welt aussprechen sollte: "Imperio!"

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Primula Arno hatte Nachtschicht im Computerraum des französischen Zaubereiministeriums. So bekam sie als eine der ersten mit, dass etwas im Gang war. Als um 22:20 Uhr Ortszeit für einem Teil von Mont Martre nicht nur die Straßenbeleuchtung ausging, sondern die Antriebsvorrichtungen der Kraftfahrwagen ausfielen hatten wohl viele versucht, mit ihren Mobiltelefonen um Hilfe zu rufen. Doch das war erst gegangen, als für vierzig Sekunden eine Kuppel aus silber-blauem Licht über dem Elmsfeuerclub gestanden hatte. Das Haus galt als der Tanzpalast für halbwüchsige Kinder wohlhabender Eltern aus Paris und Umgebung. Als der unheimliche Stromausfall wieder abgeklungen war hatten die im freien stehenden es wieder mit ihren Fernsprechgeräten versucht, um Hilfe zu rufen. Dann waren noch an die hundert sehr verängstigte Jugendliche und junge Erwachsene aus den sich öffnenden Nottüren herausgestürmt, als seien sie auf der Flucht. Vor was oder wem hatten die Fußgänger nicht sofort erfahren. Nur das sehr irritierende Blitzgewitter aus blauen, grünen und roten Laserstrahlen war zu sehen, als habe die Steuerungsanlage für die in den Himmel geschickten Strahlenblitze einen Schaden abbekommen. Jemand wollte so schnell sein und hatte einer Nachrichtenagentur die Fotos des Clubs geschickt.

"Rose, du musst zum Mont Martre zu einem Tanzhaus namens Elmsfeuerclub. Da könnte was magisches vorgefallen sein", rief Primula ihrer Schichtkameradin Rose Deveraux zu. Diese nickte und verließ den Computerraum durch die Tür, um mindestens zwanzig Meter von den laufenden Rechnern entfernt zu disapparieren. Die Halbzwergin Primula Arno gab in einen zweiten Rechner die Schlagworte zu diesem Vorfall ein und erkannte, dass bereits die ersten Nachrichten durch das Internet spukten, dass im Haus erst alles ausgefallen war, auch die Notlampen und dann jemand laut wie am Spieß geschrien habe. Einer der Zeugen wollte mitbekommen haben, wie es immer mehr nach bratendem Fleisch roch, bis dann ein sehr lauter Knall und ein Schwall aus kochendheißem Dampf in die verunsichert dastehenden Besucher hineingefahren war. Zwanzig von denen hatten dann ihrerseits zu schreien angefangen.

Die, welche in Räumen mit großen, schall- und Einbruchssicheren Fenstern getanzt hatten, wollten einen sehr hellen, blau leuchtenden Mond gesehen haben und ein silbrig-blaues Flimmern, dass wie eine Glocke um den Club aufragte.

Primula verfolgte die Nachrichten noch einige Minuten weiter. Dann wusste sie, was sie zu tun hatte. Sie tippte mit einer irrsinnigen Geschwindigkeit und Geschicklichkeit, zu der nur Abkömmlinge von Zwergen fähig waren, einen weiteren Beitrag zu den immer wilder werdenden Beschreibungen, dass jemand ein leichtes Kribbeln auf der Haut gefühlt habe und nach dem Stromausfall erst einmal alle Computer auf den 01.01.2000 zurückgesprungen waren. Sie gab sich als Zeugin Christine Bouvier aus, die ein unbekanntes Flugobjekt am Himmel gesehen haben wollte, dass von einem blauen Lichthof umflossen worden war. "Ich hörte eine Stimme in mir drin, die sagte: "bleib ruhig, wir wollen nichts von dir." Dann textete sie, dass ihr Abendbegleiter in einem silber-blauen Licht verschwunden sei und nicht mehr aufgetaucht war. Dann wäre die Kuppel erloschen, und das unbekannte Flugobjekt habe sich ganz schnell in nördliche Richtung abgesetzt. "Die haben meinen Freund entführt, und ich fürchte, dass mir das keiner glauben wird", beendete sie den Artikel. Wie gut, dass Ihr zeitweiliger Kollege und angeheirateter Neffe Julius Latierre ihr immer gerne Geschichten von Wesenvon anderen Sternen erzählt und die für eine Zukunft vorgestellten Maschinen und Lebensweisen erläutert hatte, zumal ihr Bruder Albericus sich auch für diese mal mehr und mal viel weniger wissenschaftlichen Phantasien interessierte. Dann würde es gleich sicher noch weitere solche haarsträubenden Berichte oder sehr ungehaltene Ablehnungen dieser Berichte geben. Das Chaos war angerichtet, zumindest im Internet. Was in der stofflichen Welt geschah war sicher Sache des Zaubereiministeriums.

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Alle starrten auf Hubert Greenbrook. Perdy sah den auf sich zielenden Zauberstab. Doch das Zauberwort für den Unterwerfungsfluch war noch nicht verhallt, als ein roter Blitz fauchend aus der Decke niederfuhr und Pater Duodecimus Canadensis voll am Kopf traf. Er klappte zusammen wie ein Regenschirm und fiel schlaff zu boden. Sein Zauberstab klapperte auf den Steinboden.

"War wirklich eine gute Idee, die gespeicherten Schockzauber in denDeckensteinen, die auf die drei Unverzeihlichen reagieren", mentiloquierte Perdy an Véronique. "Da ich keine Zeit habe, auszuprobieren, ob ich mich gegen Imperius wehren kann habe ich Abwehrzauber gegen ddessen Auslöser eingebaut. Da alles hier in Bild und Ton und mit drei Fflotten Federn mitgeschrieben wird kann der da sich nicht rausreden", schnarrte Perdy mit körperlicher Stimme und deutete verächtlich auf den betäubten Kanadier.

"Falls er nicht durch diesen direkt in den Kopf geschlagenen Schockzauber sein Gedächtnis verloren hat", meinte Pater Decimus Sixtus Gallicus dazu. Darauf erwiderte Mater Vicesima: "Dann darf er gleich ab morgen bei einer unserer Ammen neu groß werden. Annsonsten kann ihn das Gericht der zwei mal sieben vernehmen und auf Grundlage der Beweise verurteilen."

"Und was machen wir jetzt mit den Mondboten?" fragte Pater Decimus Sixtus Gallicus.

"Weiterjagen lassen, aber mit größtmöglicher Geschwindigkeit, auch wenn dafür die Unsichtbarkeit aufgehoben werden muss", bestimmte Véronique.

""Und er hier?" wollte Véroniques Landsmann und Ratskollege wissen. Sie sah ihn verdutzt an und erwiderte: "Der möchte von den Heilern hier abgeholt und in sein Gästezimmer gebracht werden. Er soll erst geweckt werden, wenn von unseren Kollegen sieben Hexen und sieben Zauberer zusammentreten können, um ein ordentliches Gericht abzuhalten."

Perdy hantierte mit den Überwachungskristallen und den Schalthebeln. Immer wieder tippte er mit seinem Zauberstab ein Symbol an, dass ein geschlossenes Auge darstellte. Darauf wechselte ein Mondbote nach dem anderen die Farbe von Dottergelb oder Weiß zu Violett.

"Noch einmal für das Protokoll. Die aufgehobene Unsichtbarkeit verleiht den Mondboten die dreifache Geschwindigkeit. Sollte aber jemand mit einem entsprechend schnellen Flugbesen hinter ihm herfliegen und ihn eine Minute lang unter Dauerbedrängung durch Spreng- oder Geschosszauber halten, kann jeder Bote zerstört werden."

"Verstanden und notiert", erwiderte Pater Decimus Sixtus Gallicus. Dann gab er Anweisung, die Mondboten unverzüglich nach Monduntergang an ihre Bereithaltungsorte zurückspringen zu lassen. Das bestätigte auch Mater Vicesima.

Véronique wollte nicht abwarten, wie es weiterging. Sie fühlte eine zunehmende Müdigkeit. Da sie für zwei neue Leben atmete und schlief musste sie nun wohl doch den Rückzug antreten. Sie wünschte Perdy viel Erfolg und suchte ihre mehrfach abgesicherten Gemächer auf.

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Tessa Highdale war sichtlich erschüttert. Sie hatte über kleine Mithör-Ohrringe mitbekommen, wie an vier Stellen des Landes, wo sich Greybackianer vom Mondritterorden getroffenhatten, erst ein Ausruf wie "Verdammt, was ist mit dem Mond?!" oder "Wieso ist der Mond blau?!" erklang und dann erst menschliche und dann wölfische Todesschreie erklungen waren, bevor die Verbindung abrupt abgerissenwar.

Auf Tessa Highdales Bitten hin wurden Unfallumkehrtrupps an die von ihr angegebenen Stellen geschickt. Dort, wo der schon seit langem von den Mitgliedern des Kommandos Remus Lupin verdächtigte Hubert Barkley seine Spießgesellen zusammengerufen hatte konnte nur noch rotglühender Erdboden mit kleineren Kratern gefunden werden. Die Rückschau mit Dusoleils Retrocular zeigte, dass die hundert Mondritter und ihre Damen eine wahrhaftige Höllenfahrt erlebt haben mussten. Erst eine unbeschreibliche Agonie und dann eine vielfache Feuerexplosion, die für mehrere Minuten das Gelände mit einem Flammenteppich überdeckt hatte.

In einem stillgelegten Lagerhaus bei London wurde gleichmäßig über den großen Raum verteilte graue Asche gefunden. Hier ergab die Rückschau, dass in dem Moment, wo der Mond unvermittelt halb so hell wie die Sonne und in einem silbrig-blauen Licht erstrahltt war, die in dem Lagerhaus versteckten Menschen erst schlagartig zu Wölfen wurden und nach nur zwanzig Sekunden in Wolken aus Damf und Asche zerbarsten, als habe jemand sie von innen gesprengt. Hier war jedoch keine offene Flamme entstanden.

Tessa dachte, dass auch sie mit dieser mörderischen Waffe angegriffen werden mochte. Doch alle registrierten Lykanthropen blieben verschont. Wo und wie viele unregistrierte es noch immer gab wusste sie nicht, obwohl genau das ihr Beruf war, solche zu finden.

Als der Mond endlich wieder unterging konnte Tessa Bilanz ziehen. Diese Frühlingsvollmondnacht hatte sie zehn ins Feld geschickte Agenten gekostet, Leute, die Familien hatten, die bisher nicht einmal wissen durften, dass ihre Angehörigen wegen ihrer Lykanthropie zum Kommando Remus Lupin gehört hatten. Wie konnte sie das anstellen, dass die für Großbritannien gefallenen Mitstreiter nicht als Angehörige einer Verbrechergruppe wie den Rittern des Mondes eingeordnet wurden? Jedenfalls lag noch eine Menge Arbeit vor der offiziellen Führerin des Sonderkommandos Remus Lupin. Diese wurde dadurch erschwert, dass es nicht gelungen war, auch nur eine der Vorrichtungen zu erbeuten, mit denen dieses unnatürliche blaue Mondlicht erzeugt worden war. Entweder waren die Objekte unsichtbar geblieben und somit nicht zu erfassen gewesen, oder sie waren so schnell unterwegs, dass es nur für Benutzer der neuesten Feuerblitz-Besen möglich war, sie über eine Zeit lang zu verfolgen. Wurden sie dann mit Fang- und Bewegungszaubern beharkt schüttelten sie diese ab und schlugen blitzschnelle Haken in zufällige Richtungen. Es sah so aus, als habe jemand diese bei Sichtbarkeit als flache Glocken erkennbaren Objekte mit der Dawn'schen Doppelachse vertrautgemacht. Wo es dann doch einmal gelang, ein solches Objekt in die Enge zu treiben, hatte es sich in einer grellen weißen Lichtentladung selbstzerstört. Drei Ministeriumszauberer waren bei dieser schlagartigen Vernichtung zu nahe dran gewesen und von ihren Besen geschleudert worden. Ihre Kollegen hatten sie erst wiedergefunden, als sie schon zerschmettert auf dem Boden lagen. Drei Zauberer, deren Funktion nicht so leicht zu ersetzen war, hatten ihr Leben für irgendwelche ihnen unbekannten Leute gelassen, die noch dazu Werwölfe waren. Weil Werwölfe jedoch trotz aller Bemühungen der letzten Jahre immer noch von vielen Hexen und Zauberern mit Argwohn, Abscheu und Angst betrachtet wurden mochte der Tod der drei für den erhofften Frieden zwischen den eingestaltlichen und wergestaltlichen Zaubererweltbürgern eine schwere Schuldenlast darstellen.

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Birgute Hinrichter mochte den Vollmond nicht. Sein Licht schränkte die Bewegungsfreiheit ihrer Schattenkinder ein. Andererseits half der Mond dabei, dass auch in der Nacht Schattenbilder entstanden. Nur so konnten ihre Kinder weitere Menschen um ihre natürlichen Schatten berauben, um weitere willige Handlanger bei Tageslicht zu haben. Bald würde sie die ersten Zauberstabträger zu ihren neuen Kindern werden lassen. Sie musste ihnen nur eine entsprechende Falle stellen. Doch genau hierbei galt es, besonders vorsichtig zu sein, damit die Jägerin am Ende nicht die Beute wurde.

"Wenn Ostern gefeiert wird gehen wir in die Dörfer, um uns dort Nachwuchs und Nahrung zu sichern", legte Birgute fest, nachdem sie verkündet hatte, dass sie vorerst keine weiteren Versuche machen wolle, Arne und Erna, sowie Rico zu ihren neuen Kindern werden zu lassen. Das behagte Remurra Nika nicht wirklich. All zu gerne hätte sie die drei als ihre neuen Geschwister gehabt, damit die Vier, die damals Kanoras' Angriffe überlebt hatten, endlich ihre Bestimmung erfüllten und mit Kanoras' Erbin zusammen die Welt umkrempelten. Da Birgute Remurras Gedanken klar und deutlich verstand wusste sie, dass ihre Tochter durchaus eigensinnig sein konnte, um die drei zu finden. Deshalb erinnerte Birgute Remurra daran, dass sie ja fast selbst von einem Zauberlicht wie aus dem Himmel gepflücktes Blau zerstrahlt worden wäre. Das kühlte Remurras Tatendurst ein wenig ab. Doch Birgute wusste, dass ihre Kinder trotz der angeborenen Fügsamkeit immer noch eigene Ideen haben konnten, die sie nur deshalb nicht wahrmachten, solange ihre Mutter ihnen das nicht gestattete.

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Julius konnte sich an keinen Traum oder dergleichen erinnern. Er fühlte sich jedoch irgendwie matt und trübselig, als er am nächsten Morgen von der Miniaturausgabe Temmies wachgemuht wurde. Sonst hatten doch Aurore und auch Chrysope das Amt der Aufweckerinnen übernommen. Doch Chrysope schlief ruhig in der mit Ashtarias Heilszauber erfüllten Wiege, und Aurore war wohl noch in ihrem eigenen Zimmer. Offenbar hatte sie die Toberei mit der drei Jahre älteren Claudine Brickston gestern wohl doch heftiger erschöpft als sie selbst wahrhaben wollte, dachte Julius, bevor er die im Elternschlafzimmer herumfliegende Minitemmie einfing und ihr kurz über die vier prallen Zitzen strich, als wolle er sie dadurch zur Milchabgabe bringen. Tatsächlich aber verstummte die verkleinerte Nachbildung der großen, aber sanftmütigen Artemis vom grünen Rain und kehrte auf ihre wie kurzes Gras aussehende Unterlage zurück, wo sie reglos stehenblieb wie aus weißem Ton geformt.

Nun erwachten auch Chrysope, die sich wand und ihre Ärmchen über die Ränder ihres Schlafmögels streckte, und aus einem anderen Zimmer tapste ein kleines, rotblondes Wesen mit ganz müden Augen herüber.

Minitemmie hat Muh gemacht", sagte Aurore Latierre und deutete auf die Nachbildung der geflügelten Kuh mit weißem Wollkleid.

"Ja, wir haben alle länger geschlafen als sonst", erwiderte Julius darauf und fing seine erstgeborene Tochter auf, als die sich ihm förmlich in die Arme warf. Kurz aber prüfend schnupperte er, ob sie sich in der Nacht nicht eingenässt oder schlimmeres angestellt hatte. Doch sie bekam das immer besser hin, ihre natürlichen Bedürfnisse für alle erträglich zu erleichtern. Nur wenn sie was hatte oder nicht rechtzeitig aufwachen konnte kam es immer noch mal vor, dass sie Wasser ließ. Doch heute war das nicht passiert.

Eine kräftige Trompetenmelodie schmetterte durch das Zimmer. Die von Claire Dusoleil für Julius gemalten Musikzwerge gab es auch noch, nur dass der Trompetenzwerg betrübt war, weil andere seine Aufgabe an sich gezogen hatten, seine lebenden Eigentümer zu wecken.

"Oha, schon fünf Minuten nach halb sieben? Offenbar haben wir alle gestern richtig viel anstrengendes gemacht", meinte Millie mit einem Blick auf ihre auf dem Nachttisch liegenden Armbanduhr. Julius nickte und stellte Aurore auf die nackten Füße. "Gut, dann müssen wir wohl Rorie, du musst ganz sicher Pipi, oder?" Aurore nickte. Diese Geste hatte sie sich schon sehr früh von ihren Eltern und den anderen Großen abgeguckt. "Dann ab ins Badezimmer", sagte Julius und folgte seiner Erstgeborenen ins Badezimmer, wo er ihr den Zwischensitz für Kleinkinder herunterklappte.

Nachdem seine Tochter alles erledigt hatte, was die Nacht über angefallen war und mit für Kleinkinder eher untypischer Begeisterung die kleine singende Zahnbürste über ihre kleinen Zähne schrubben ließ nutzte Julius die Gelegenheit, eine kurze Dusche zu nehmen. Irgendwie musste er doch richtig wach werden.

Millie hatte derweil mit der noch kleineren Tochter das Bad ein Stockwerk tiefer aufgesucht. Julius dachte wieder daran, welchen Luxus er und seine junge Familie genossen, mehrere Badezimmer und Küchen zur Verfügung zu haben, wo andere gerade nur eine kleine Herdstelle besaßen und ein kleines, fensterloses Badezimmer nur mit Dusche, Waschtisch und Toilettenschüssel zur Verfügung hatten. Doch er gab es mal wieder auf, nach dem Recht auf diesen Luxus zu fragen. Seine Kinder nahmen das als einfach gegeben hin, warum also nicht auch er?

Nachdem Eltern und Töchter Latierre ordentlich gewaschen und bekleidet waren holte Julius die tagesfrischen Ausgaben der beiden Zaubererweltzeitungen herein. Seine schwache Hoffnung, dass nichs passiert war wurde bereits von den Schlagzeilen auf Seite 1 des Mirroir Magique und der Temps de Liberté zerstört.

FÜNF NICHT GEMELDETE LYKANTHROPEN UNTER BLAUEM MONDLICHT IN FLAMMEN AUFGEGANGEN

ZWANZIG JUGENDLICHE TANZHAUSBESUCHER IN MONT MARTRE DURCH SCHLAGARTIG VERDAMPFENDEM LYKANTHROPEN SCHWER VERBRÜHT UND ANGESENGT

FAMILIE IM ZAUBERERVIERTEL QUARTIER SORCIER BETRAUERT GEWALTSAMEN TOD VON SECHSJÄHRIGEM SOHN

"Ist echt was passiert?" gedankenfragte Millie ihren Mann. Er mentiloquierte zurück, dass in der Temps was über einen gewaltsam verstorbenen Jungen stand und der Mirroir mit heftigen Horrormeldungen über schlagartig verdampfte Lykanthropen auf einer nichtmagischen Party aufmachte.

"Dann werfe ich mir besser Tante Trices Notfallschluck für die nötige Ruhe ein, damit mir Clarimonde nicht auf den Boden fällt", gedankengrummelte Millie. "Bloß nichts zu den Kleinen!" schickte sie noch hinterher.

Millie wirkte wegen der erwähnten Mixtur, die ihr körperlich-seelisches Gleichgewicht ausbalancierte etwas weltentrückt. Dieser Trank war auch nur für den Notfall, dass Millie irgendwas sehr aufwühlendes oder erschütterndes bevorstand oder sie dergleichen überstehen musste. Béatrice Latierre hatte darauf bestanden, dass ihre Nichte und Patientin derartig ausgestattet war.

Julius musste zweimal die Selbstbeherrschungsformel denken, damit er seine Erstgeborene nicht verdrossen anknurrte, als diese mit ihrem kleinen Löffel eine flotte Marschmusik auf ihren Teller trommelte, weil ihre Eltern sich nicht um sie kümmerten. "O, Leute, das gibt drachengroßen Ärger", murrte er dann jedoch, als er den von Gilbert noch in der Nacht geschriebenen Artikel über den Tod eines gerade sechs Jahre alten Kindes im Zaubererviertel von Avignon las. Erst hatte sich der Mond blau gefärbt und war halb so hell wie die Sonne geworden. Dann war aus dem betroffenen Haus lautes Schreien erklungen, das in das gepeinigte Heulen und viepen eines grausam gequälten großen Hundes oder Wolfes umgeschlagen war. Anschließend war Stille eingetreten. Die Eheleute Charlier, letzte Erben der in Frankreich einst sehr großen Familie, waren mit schweren Schocks von den alarmierten Heil- und Sicherheitszauberern in die Delourdesklinik gebracht worden. Von dem gerade erst sechs Jahre alt gewordenen Jungen Jean-Pierre war nichts als im ganzen Wohnzimmer verteilte Asche gefunden worden. Was die extrafesten Eisenketten an einer Wand sollten erschloss sich den Heilern erst, nachdem es ihnen möglich war, von den schwer erschütterten Eltern mehr über das Unglück zu erfahren. Gilbert hatte über seine Quellen erfahren, dass anderswo in Frankreich ebenfalls Menschen unter blauem Licht erst zu Werwölfen geworden und dann wie von einem in ihnen freigesetzten Bollidius-Zauber zu Asche verbrannt worden waren oder wie auf dem Mont Martre in Paris schlagartig verdamft waren und dabei arglose Mitmenschen verletzt hatten. Deshalb konnte er durch hartnäckiges Nachfragen herausfinden, dass Jean-Pierre Charlier seit einem Jahr den Werwutkeim im Blut hatte und die Vollmondnächte in einem Dauerklangkerker zu verbringen hatte, weil seine Eltern verhindern wollten, dass er vom Ministerium abgeholt oder in Wolfsgestalt erlegt wurde.

"O, das gibt echt noch Ärger, ihr Freunde des blauen Mondes", dachte Julius. Allerdings fragte er sich, warum die Werwolfsuchbrigade mit Schwiegeronkel Ottos neuen Aufspürern nicht schnell genug herausgefunden hatte, wo es noch ungemeldete Werwölfe gab.

Millie wollte durch Musik die Stimmung auflockern und stellte das kleine Zauberradio auf den Sender für junge Hexen und Zauberer ein. Doch anstatt fröhliches Spiel und beschwingte Tanzmusik hörten sie ein Gespräch zwischen dem mittlerweile unter dem Künstlernamen MC Trippel-A auftretenden Apollo Algernon Arbrenoir und zwei anderen jungen Leuten im Studio, die sich über einen schlagartig zum Wolf verwandelnden Jungen redeten, der keine fünf Sekunden nach der Verwandlung von innen her in einer Feuerwolke explodiert war. Drei Partygäste mussten mit schweren Verbrennungen in die Delourdesklinik gebracht und dort in Diptamwannen gelegt werden, während die Freundin des so heftig getöteten in der psychomorphologischen Abteilung gelandet war.

Millie stellte das Radio sofort wieder aus und sagte: "Heute keine Musik im Radio." Dann holte sie ein kleines Musikfass aus der Vorratskammer und wählte zum Morgen passende Kinderlieder aus dem Angebot von Hecate Leviata aus.

Von diesen überaus erschütternden Nachrichten vorgewarnt konnte Julius bei seiner Ankunft im Ministerium sofort sehen, wer in dieser Nacht mit diesen Ereignissen zu tun bekommen hatte. Ihn wunderte auch nicht, dass Nathalie Grandchapeau vor seinem Büro auf ihn wartete. Sie deutete auf die Tür und setzte an, hineinzugehen. Julius nickte und schloss schnell auf, damit Nathalie nicht mit dem wohlverstauten Demetrius durch die Tür brechen musste.

Als er unaufgefordert den zeitweiligen Klangkerker in seinem Büro errichtet hatte hängte ihm Nathalie einen der Cogison-Ohrringe an das linke Ohr. Sofort hörte er wieder in ihren Körper hinein und vernahm auch die vom Cogison erzeugte Kleinjungenstimme, die Demetrius' Gedanken vertonte.

"Was in der Zeitung gelandet ist und auch im Radio für alles zwischen vierzehn und vierundzwanzig besprochen wurde sind nur fünf von zwanzig Vorfällen, Julius. Maman wurde mitten in der Nacht aufgeweckt, weil die diensthabende Computerwärterin Rose Deveraux was zu diesem Tanzhausvorfall auf dem Mont Martre bearbeiten musste. Die weiß ja nicht, dass ich bei Madame Grandchapeau im Unterstübchen wohne."

"Ja, aber durch diese Verwünschung Euphrosynes halte ich auch mit dir da drinnen mehr aus als eine Hexe nach einem Bad im Fortuna-Matris-Trank", dachte Nathalie nur zurück, auch wenn gerade ein Klangkerker vorherrschte.

"Öhm, haben unsere Leute nicht versucht, diese Vorrichtungen zu erwischen?" fragte Julius.

"Doch, deshalb wissen wir das ja, dass es zwanzig Vorfälle gab, Julius. Aber irgendwie haben die Erfinder dieser Massenmordwaffen sie genau auf den Angriff mit Sprengschnatzen eingestimmt. Denn als diese durch Erfassung von Luftbewegungen die ungefähre Richtung hatten explodierten die im freien Flug in silbernen Feuer. Kein Sprengschnatz hat eine dieser Vorrichtungen beschädigt oder gar unschädlich gemacht. Die sofort nachvollzogene Rückschau ergab, dass diese Vorrichtungen den Mond mit veränderter Helligkeit und der bekannten Blaufärbung nachbildeten. Dieses Licht hat die Lykanthropen innerhalb von zehn bis zwanzig Sekunden in Flammen aufgehen oder in einer sengendheißen Dampf- und Aschewolke auseinanderplatzen lassen. Entweder haben sie die Kraft dieser Mordgeräte verstärkt, oder der Vollmond an sich hat deren Kraft gesteigert, Julius."

"Ich denke das zweite. Oha, dann kriegen wir wohl noch Krach mit der Ministerin, weil irgendwer diesen Leuten mitgeteilt hat, dass wir Sprengschnatze einsetzen wollten", seufzte Julius. Mit "wir" bezog er sich tatsächlich in die möglichen Nachuntersuchungen ein. Nathalie sagte jedoch sofort:

"Du hast uns gewarnt, dass diese Waffe eine Schutzvorrichtung besitzen kann, die gegen Zerstörungszauber wirkt. Nur weil du das gesagt hast wird dir keiner unterstellen, dass du mit diesen Blaumondmördern paktierst."

"Na ja, Vendredi hätte ihm das durchaus unterjubeln können, Maman", bemerkte Demetrius über das Cogison.

"Und es war nicht möglich, mit anderen Zaubern gegen diese Vorrichtungen vorzugehen?" fragte Julius.

"Die Frage hätte ich auch ganz gerne beantwortet", sprach Nathalie nun mit körperlicher Stimme. Julius war es schon gewohnt, dass er diese wie dumpfen Widerhall in einem engen Raum nachhören konnte, solange er den Cogison-Ohrring trug.

"Wie gehen wir jetzt vor?" wollte Julius wissen. "Folgendermaßen. Solange kein außerministerieller Zeuge bestätigt, dass Sprengschnatze im Einsatz waren verschweigen wir deren Existenz. Dann soll die Presse sich was anderes zum dran festbeißen suchen. Das heißt natürlich auch, dass du deiner Frau weiterhin nichts davon erzählen darfst, was genau wir versucht haben, Julius." Dieser bestätigte es.

Keine zehn Minuten später fand eine Dringlichkeitssitzung der Abteilungen für Strafverfolgung, magische Geschöpfe, der Vergissmichbrigade, der Légion de la Lune und dem Büro für die friedliche Koexistenz von Menschen mit und ohne magische Kräfte statt. Die Zaubereiministerin persönlich hatte die Abteilungs- und Bürovorsteher in den an ihre Amtsräume anschließenden Konferenzraum beordert. Dort sollten alle berichten, was ihre Mitarbeiter herausbekommen oder unternommen hatten. Nach zwanzig Minuten sagte die Ministerin: "Ich verfüge hiermit, dass wir der Presse gegenüber erwähnen, dass wir Hinweise auf eine geplante Werwolftötungsaktion bekommen hätten, aber nicht wussten, wie genau diese durchgeführt werden sollte. Die Sprengschnatze erwähnen wir nicht, solange der Meister der Manufaktur, in der die Sprengschnatze hergestellt werden, nicht gegen die Bedingungen des magisch bindenden Vertrages verstößt und irgendwem verrät, dass er einen Großauftrag erhalten und zweihundert Sprengschnatze ausgeliefert hat."

"Der Hersteller, dessen Namen ich gerne wüsste, hat also einen magisch bindenden Vertrag unterschrieben. Sind seine Gesellen und Lehrlinge auch daran gebunden?" wollte LDLL-Führer Gerome Lemont wissen.

"Sie vermuten Verrat nicht nur bei uns, sondern auch in der Werkstatt?" wollte der Leiter der Strafverfolgung wissen.

"Vielleicht nicht aktiven Verrat, aber zumindest die Möglichkeit, dass jemand ausspioniert wurde", grummelte der Leiter der LDLL zur Antwort.

"Messieursdames, ich möchte bei aller berechtigten Sorge um mögliche Indiskretionen und böswilliger Informationsweitergabe darum bitten, ja nicht in großflächige Verdächtigungen zu verfallen, wer da was absichtlich oder völlig ahnungslos weitergegeben haben könnte oder nicht. Ich möchte mir am Ende auch nicht vorwerfen lassen müssen, dass wir durch Untätigkeit weiteren Schaden auf das Ministerium und die von ihm verwaltete Zaubererwelt fallen lassen. Doch zunächst gilt es, die genaue Beschaffenheit der tödlichen Mondveränderungsvorrichtungen zu ergründen. Hierfür gebe ich die Generalanweisung, dass sämtliche mit dunklen Zaubern und thaumaturgischen Fertigkeiten vertrauten Mitarbeiter aus allen Abteilungen diese heimtückische Methode ergründen und eine erfolgreichere Abwehr entwickeln, damit wir beim nächsten Vollmond nicht noch mehr unschuldige Opfer zu beklagen haben."

"Wie vorhin gesagt, Ministerin Ventvit, meine Mitarbeiter, von denen sieben bei dieser Massenmordmondscheinsauerei starben, konnten vermelden, dass nur ungemeldete Lykantrhopen umgebracht wurden. Also gibt's nicht nur bei den Sprengschnatzmachern oder denen, die diese Dinger einsetzen können einen Maulwurf im Garten, sondern auch im Werwolfkontrollamt, werte Kollegen von der Eingestaltlerfraktion."

"Bitte jetzt bloß nicht impertinent werden, werter Monsieur Lemont", blaffte der Leiter des Werwolfkontrollamtes zur Antwort. Doch dessen Kollege aus der Vampirüberwachungsbehörde schlug in dieselbe Kerbe wie Lemont. "Die hatten Listen, damit deren Werwolftötungsartefakte nicht die umbrachtten, die schon registriert sind. Das ganze zielte eben auf die ungemeldeten. Der kleine Jean-Pierre Charlier wäre womöglich noch am Leben, wenn seine Eltern ihn gleich angemeldet hätten."

"Meine Rede Leute!" erwiderte Lemont und bekam diesmal sogar ein zustimmendes Nicken des Leiters des Werwolfkontrollamtes.

Julius saß bei allem nur ruhig dabei und dachte nach, ob es eine Verbindung zwischen den Leuten aus der Sprengschnatzwerkstatt und Vita Magica gab. Denn er konnte sich nicht davon lösen, dass diese Blaumond-Mordvorrichtungen aus deren geheimen Werkstätten stammten.

"Also, wenn wir mit der Presse reden dann bitte ich Sie alle, auch jene, die Rundfunk- und Zeitungsmacher in der Familie haben, nichts von Sprengschnatzen zu erwähnen", sagte die Ministerin und blickte nicht ganz zufällig zu Julius hinüber, der diesen Wink mit einem ganzen Jägerzaun auch so verstanden hatte. Allerdings wusste die Ministerin nicht, dass Millie und damit wohl auch Gilbert über Otto Latierre von der Existenz der Sprengschnatze wusste. Solte Gilber das doch irgendwie ausnutzen konnte sich Julius hoffentlich zurücklehnen und seinem Schwiegeronkel den ganzen Zorn des Ministeriums aussetzen.

Die Pressekonferenz um zwölf Uhr geriet zu einem Pingpongspiel immer gleicher Fragen und mehr oder weniger uneindeutiger Antworten. Als Gilbert bat, Julius eine Frage zu stellen straffte dieser sich ein wenig. "Als quasi Verbindungsbeamter zwischen den Abteilungen für magische Geschöpfe und dem Büro für friedliche Koexistenz zwischen magischen und nichtmagischen Menschen werden sie sicher auch in die Ermittlungen einbezogen. Wie sehen Sie die Gefahr, dass der Vorfall in dem Pariser Tanzhaus doch noch als das erkannt wird, was er war?"

"Soweit ich von Madame Grandchapeau erfuhr haben die für sie arbeitenden Computerfachkräfte bereits entsprechende Irrsinnsmeldungen insInternet geschickt, die jede Behauptung, ein Werwolf sei explodiert an für nichtmagische Internetnutzer als absurd erscheinenden Behauptungen übertreffen. Ich selber werde nach der Mittagspause mit den Mitarbeitern Madame Grandchapeaus die Lage prüfen und gegebenenfalls noch was hinzufügen, dass keiner glauben wird, es habe sich um echte Werwölfe gehandelt."

"Öhm, was wäre gewesen, wenn das Ministerium nicht über den Zwischenfall auf dem Mont Martre informiert worden wäre? Wie hätten Sie dann die Zeugenaussagen noch rechtzeitig wertlos machen können?" wollte Gilbert wissen. Julius meinte dazu: "Das war jetzt schon die zweite Frage an mich, Monsieur Latierre." Dafür erntete er ein beipflichtendes Grinsen der anderen.

"Okay, die bitte noch beantworten, damit ich keine unzureichende Behauptung in die nächste Ausgabe bringen muss", erwiderte der stoppelhaarige Zeitungsmacher und Chefreporter in einer Person.

"Monsieur Latierre, Messieursdames von Rundfunk und Presse: Grundsätzlich gilt, was einmal im Internet ist bleibt auch im Internet. Es sei denn, wir können mit den uns verfügbaren Änderungsprogrammen die Speicherorte uns beunruhigender Nachrichten ermitteln und die Nachrichten und ihre Kopien verändern. Dabei muss jedoch so vorgegangen werden, dass keiner Verdacht erregt, da sei nachträglich was gelöscht oder anders dargestellt worden. Hätten wir also nicht mitbekommen, dass es auf dem Mont Martre diesen sehr beunruhigenden Vorfall gegeben hat, so hätten wir die nächsten Tage damit zubringen müssen, alle darüber in Umlauf gesetzten Nachrichten zu finden und unverdächtig umzutexten. Da dies aber zeitaufwendig ist haben wir uns auf die Taktik verständigt, den für Magielosen haarsträubend erscheinenden Behauptungen noch verrückter klingende Behauptungen entgegenzustellen, so dass die Wahrheit als Bestandteil kruder Verschwörungstheorien abgetan wird. Dafür haben wir in der Computerabteilung des Zaubereiministeriums entsprechende Programme zur Verfügung. Ich denke aber nicht, dass Ihre Leserinnen und Leser diese Byte für Byte nachlesen wollen."

"Danke für Ihre Erläuterung, Monsieur Latierre", sagte Gilbert. "Da nicht für, Monsieur Latierre", erwiderte Julius. Auch dafür ernteten sie beide ein Grinsen von allen anderen Presseleuten.

Als Julius nach erwähnter Sichtung der Internetmeldungen sichtlich geschafft nach Hause kam wurde er von Aurore begrüßt. Einen brutalen Schreckmoment lang sah er sie zuerst eine Wolfsschnauze bekommen und dann in seinen Armen in lodernden Flammen verbrennen. Er musste sich sofort wieder fangen, damit seine Erstgeborene nicht meinte, sie habe ihm was böses getan. Offenbar wirkte die Nachricht, dass ein sechsjähriger Junge hatte sterben müssen, nur weil seine Eltern ihn nicht als Träger der Werwut registrieren lassen wollten, heftiger, als er sich am Morgen noch eingestanden hatte. Auch ging ihm die Tirade der gemalten Claudine Rocher durch den Kopf, ob er das haben wollte, dass seine Töchter zu Werwölfen würden. Hatte er mit Catherine zusammen wirklich erst recht eine Massenvernichtung dieser Personengruppe heraufbeschworen? Am Ende wollte die gemalte Urgroßmutter Catherines ihm damit ein schlechtes Gewissen machen. Nein, das wollte er sich garantiert nicht einreden lassen, dass Catherines und seine vor Claudine Rochers Bild-ich abgehaltene Anprangerungstirade das ganze noch schlimmer gemacht haben mochte.

Auch wenn es ihm erst schwerfiel schaffte er es doch, sich von den Aufregenden Erlebnissen eines bald drei Jahre alten Mädchens beeindrucken zu lassen. Aurore hatte an diesem Tag zusammen mit ihrer Großtante Béatrice den Zaubertierpark von Millemerveilles besucht. Sie erzählte ihrem Papa alles ganz haargenau, was sie da gesehen hatte. Julius freute sich, dass es doch noch etwas anderes gab, als zur Zerstörung ausufernde Angst vor Wesen, die auf ihre Art gefährlich aber auch zu bedauern waren. Er dachte an sein erstes Jahr in einer Zauberschule zurück. Warum konnten nicht alle Hexen und Zauberer unvoreingenommen mit Werwölfen umgehen? Es gab wahrhaftig schlimmere Wesen, und die allerschlimmsten waren die magisch begabten Menschen selbst. Wenn die irgendwann doch mal die Nase von der hochtechnischen Welt der Magielosen voll hatten, was dann?

Da er diese Frage nicht beantworten wollte und lieber mit seiner Erstgeborenen noch einen Besenausflug machte, um noch einen schönen Abend zu erleben, verdrängte er zunächst alles, was ihm irgendwer auf die Schultern geladen oder auf die Füße geworfen hatte. Im Moment gab es nur seine Familie und ihn, etwas, das es wert war, an die Welt und das Leben zu glauben.

ENDE

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