Copyright © 2020 by Thorsten Oberbossel
Die magische Welt ist nach wie vor weit von einem Friedlichen Miteinander aller Menschen und denkenden Mitgeschöpfe entfernt. Verschiedene geheime Gruppierungen wollen der Zaubererwelt ihre Weltanschauung aufzwingen. Vor allem die weltweit bestehende Gruppe, die sich schönfärberisch Gesellschaft zur Wahrung und Mehrung magischen Lebens oder Vita Magica nennt. Sie wollen dem ihrer Meinung nach bestehenden Wildwuchs von nichtmagischen Menschen durch erzwungene Zeugungen von magisch begabten Menschenkindern entgegenwirken und übertreten dafür ganz gezielt bestehende Gesetze. Da sind die Vampire, die von dem im Mitternachtsdiamanten Iaxathans eingebetteten Seelenverbund Gooriaimiria fernüberwacht und angeleitet werden, ein Reich der sogenannten Nachtkinder zu errichten. Dann gibt es immer noch Bruderschaften und Schwesternschaften von magischen Menschen, die mit der durch Zaubereigesetze geregelten Gesellschaftsordnung unzufrieden sind. Ebenso drohen mit der gesellschaftlichen Ächtung hadernde Werwölfe damit, unbescholtenen Menschen ihren Keim einzuimpfen, weshalb Vita Magica zur Vernichtung aller unregistrierten Werwölfe ansetzt. Dann ist da noch die durch den selbsternannten und gescheiterten Erben Voldemorts erzeugte Nachtschattenriesin Birgute Hinrichter, die sich als Mutter und Königin der schattenhaften Geisterwesen versteht und dabei auch unbescholtene Menschen zu Ihresgleichen macht oder ihnen durch den Raub des eigenen Schattens ihren Willen aufzwingt.
In dieser sehr unsicheren Lage bahnt sich eine Auseinandersetzung zwischen zwei Feinden an, die jeder für sich aus unterschiedlichen Gründen lange Zeit untätig schlafen musste. Der Ausgang dieser Auseinandersetzung entscheidet über die Zukunft der gesamten Welt.
... Und da zur Zeit, wo jene, die wir als Stammväter der Götter wähnen, da selbst um die Vorherrschaft auf dem Erdenrund stritten und fochten begab es sich, das jener dunkle Herrscher, welcher in grenzenlosem Machthunger jene Wesen schuf, die des Nachts das Blut der Menschen begehren, jene mit noch mehr Verheerung und Gier betrauen wollte. Zu diesem Zwecke ließ er die von seinen Gegnern wider ihn gezüchteten vielköpfigen Ungeheuer jagen, die sich in der Nähe von Gewässern aufhalten. Nach deren Blut verlangte ihm, weil diese dafür bekannt sind, dass sie schier unbesiegbar sind und sich selbst von einer Enthauptung rasch erholen können. er befahl vier seiner Krieger, die er als Kinder der Nacht bezeichnete, an jenen Orte, wo seine Sklaven ihm ein solch unbezwingliches Ungetüm hingelockt hatten. Die vier Blutsauger trennten je ein Haupt vom verzweigenden Halse des schuppigen Ungeheuers und tranken vom entströmenden Blute. Dreien war erlaubt, so viel sie konnten aufzusaugen wie trockene Schwämme. Der vierte jedoch sollte nur einige Tropfen trinken, damit ihr Herr und Schöpfer, der Nacht und Finsternis entsprungen war, erkannte, ob sein Plan gelänge.
Jene drei, die so viel Blut sie konnten trinken durften durchliefen eine machtvolle Gestaltwandlung. Sie wuchsen turmhoch auf. Ihnen entsprossen vier weitere Armpaare, so dass sie zu wandelnden Türmen mit zehn langen Armen wurden. Der vierte wandelte sich auch, jedoch in ein Geschöpf, das die Farbe klaren Himmels besaß und eine Vermischung von Mensch und fünfstrahligem Stachelhäuter bildete. Die Beine des Siebenarmigen schrumpften in seinen Leib, der die Form einer flachgedrückten Kugel annahm. Sein Hals wuchs zu dreifacher Länge und wurde biegsam wie der eines Schwanes. Mit seinen sieben Armen konnte er soweit ausgreifen, wie fünf sich bei ausgebreiteten Armen an den Händen haltende Männer abmessen konnten.
Die drei zu turmhohen Vielarmigen gewandelten begannen, die Umgebung zu verheeren. Zahllose Magier und bewaffnete Krieger warfen sich ihnen entgegen. Doch jeder Arm, der ihnen abgehauen wart, wurde von drei neuen Armen ersetzt. Als dann auch erkannt wurde, dass eine Enthauptung ihnen je drei Köpfe wachsen ließ, flohen die Krieger in ohnmächtiger Furcht. Die Magier versuchten es mit starken Zaubern der Lähmung, der Wandlung, der Kräfte Feuer, Blitz und eis. Doch alle diese Zauber prallten von den mittlerweile hundertarmigen Unholden wieder ab. Die Gier der drei war so groß, dass sie unermüdlich und unersättlich über die Erde zogen, um Beute zu machen. Auch des Schöpfers machtvolle Worte konnten sie nicht davon abbringen. Der vierte indes war dem Meister noch gefügig. Um die anderen drei davon abzuhalten, ihres Meisters Sklaven allesamt auszutilgen versetzte der dunkle Magier, der ein Nachgeborener von Nacht und Finsternis war und in deren Sinne handelte, den himmelsfarbenen Siebenarmigen mit der Macht der zeitlosen Versetzung an einen nur ihm selbst vertrauten Ort, wohl einem, wo das Sonnenlicht ihn nicht finden konnte.
Mit seinen der Mutter Erde und ihren Kräften vertrauten Getreuen stellte der dunkle König seinen eigenen Unholden nach. Denn ihm war alles zu wider, das er weder beherrschen noch dahinschlachten konnte. Denn die drei widerstanden nicht nur dem für die anderen Blutsauger so tödlichem Sonnenlicht, sondern auch allen Worten der Zaubermacht, die Schwächung, Verwundung oder Tod brachten. Nur eines blieb den Jägern der drei Hundertarmigen: Sie schlossen sie in mehrfache Netze ein. Diese wurden noch versteinert, so dass die Unholde sich nicht mehr regen konnten. Dann gruben der dunkle König und seine Getreuen einen tief in die Erde hineinreichenden Schacht und versenkten die drei sich gegen ihre Fesselung wehrenden so tief, dass nimmer mehr eines anderen Auge sie erblicken sollte. Der Schacht, so wurde mir berichtet, soll tausend Klafter in die Erde reichen und in den von Mensch und Gottheit unbewohnten Bergen Kleinasiens liegen. Doch wo dort genau erhob der Meister selbst zum Geheimnis seiner Macht. Niemand sollte die drei je wieder befreien, weil sie dann sicherlich alles vom Blute erfüllte verschlingen würden.
Jener, der nur wenige Tropfen des Vielköpflerblutes trinken durfte, erwies sich in der ihn umschließenden Dunkelheit als Seelenwanderer. Er konnte sich selbst in alle Richtungen ausatmen und dabei jene durchdringen, die bereits mit ihm Blut getauscht hatten, als er nur ein üblicher Blutsauger gewesen war. Diesen trug er auf, für ihn zu jagen und des Meisters Willen zu erfüllen.
Dem Dunklen König erwuchsen indes so mächtige Feinde auch aus den Reihen der dunklen Magier, dass er fürchten musste, dass sein neues Geschöpf ebenfalls seiner Macht entgleiten mochte. Daher belegte er es mit einem Schlaf, der viele hundert Mondwechsel dauern sollte, sobald der Meister selbst ihn nicht mehr mit einem bestimmten Wort der Macht in Gedanken anzusprechen vermochte. Was dem dunklen König widerfuhr, das ihm den Garaus machte ist von so vielen unterschiedlich berichtet, dass ich das nicht weiter niederschreibe. Sicher ist, dass der dunkle König wohl aus der Welt gestoßen oder vertilgt wurde und er deshalb seinen siebenarmigen Getreuen nicht mehr in Gedanken rufen konnte. Somit erfüllte sich der Bann des Meisters, und der Siebenarmige fiel in den tiefen Schlaf.
So seid alle auf der Hut, wenn langzähnige Nachtgeschöpfe sich zusammenrotten, um der Stimme des Siebenarmigen zu folgen, ihm Opfer zu bringen! Bisher erwachte er wohl wahrhaftig alle siebenhundertsiebenundsiebzig Mondkreise für so viele Tage, wie es unter dem Himmelsgewölbe wandernde Gestirne gibt. Ihn zu töten haben schon etliche versucht und scheiterten grausam. Nur wenige konnten darüber berichten, was sie taten, bevor sie starben. So erkenne ich, dass der siebenarmige gegen Waffen und Feuer, tödliche Zauberbanne und Unterwerfungsflüche gefeit ist, ähnlich wie die Vielköpflerschlange, deren Blut er in sich aufgenommen hat.
Es geht die Furcht um, dass der Meister selbst zu einem Nachtodwanderer wurde. Ist dem so, so könnte der Tag kommen, da er sein Geschöpf doch noch einmal zu unterwerfen vermag, um ihn zum Herren über alle Blutsauger zu erheben. Trachten wir danach, dass der Siebenarmige keinen Diener mehr auf Erden hat, wenn er das nächste Mal erwacht! ...
Sie spürten, dass es bald wieder soweit war. Seit bald wieder 777 Mondwechseln warteten jene, die sich "die Wachenden" nannten, auf die ersten Regungen ihres Herren und Meisters. Dieses mal sehnten sie jenes Erwachen noch mehr herbei als die Male zuvor. Denn sie wollten mit ihm, ihrem wahren Meister, gegen die Usurpatorin angehen, die es wagte, sich als große Mutter der Nacht und als schlafende Göttin auszugeben und bereits weltweit viele willige Gefolgsleute gefunden hatte.
Die wachenden durften nicht zu früh losmarschieren. Nur wenn der Geist ihres Meisters in voller Stärke anwesend war konnten sie in seinem Namen und in seiner Anwesenheit seinen Willen durchsetzen. Sie wussten zwar, dass auch ihr Meister einen Herren und Schöpfer hatte, ihrer aller Herr und Schöpfer, der Erschaffer des heiligen Mitternachtssteines. Doch nur über den Meister konnten sie mit dem Schöpfer in Verbindung treten und dessen Wünsche und Vorhaben erfahren.
"Die Nacht des neuen Erwachens ist nahe, meine Geschwister", raunte jener Wachende, der als "Die erste Hand" bezeichnet wurde. Zusammen mit den sechs anderen Boten würde er bald die Gegenwart des Meisters wahrnehmen und sich von dessen Geist durchdringen lassen. Die dem Nuntius lauschenden Mitgeschwister waren alle Neumondgeborene, von denen drei von Eltern stammten, die vor mehr als zweihundert Jahren Hüter des heiligen Steines gewesen waren. Der Stein selbst war seit einem tückischen Angriff der Sonnenverhafteten im tiefen, starken Strom zwischen der alten und neuen Welt versunken. Doch seine Kraft wirkte durch die von ihm mitgezeugten weiter. "Die erste Hand" hoffte, dass er mit dem Geist des Meisters die Möglichkeit erlangen konnte, den versenkten Stein aus den übermächtigen Fluten des mächtigen Meeresstromes bergen zu lassen. Nur mit ihm konnte die Wachzeit des Meisters verlängert werden. Auch galt es, die an den Stein gebundene Geistform jener, die sich überheblich als Göttin der Nachtkinder ausgab, abzuspalten und in alle Winde zu verstreuen, wie es eigentlich die allen Nachtkindern tödlich verfeindeten Sonnenkinder beabsichtigt hatten, als sie das Weltreich Nocturnia verbrannten, bevor es richtig erblühen konnte.
"Preist den Meister! Preist den siebenarmigen Herren der Nachtkinder!" summte "Die erste Hand". Die mit ihm in der Höhle der Erwartung zusammengetretenen Boten des Meisters wiederholten diese Anrufung im leisen, dunkelklingenden Chor. Bald, ja bald würde der Meister wieder aufwachen, und dann würde die Anmaßende dem Meister unterworfen oder enden.
"Raste nicht, strebe nach draußen!" peitschten Iaxathans Gedanken durch den Raum und trafen mit Wucht auf das, was er unter Schmerzen aus sich herausgeboren hatte, die Verbundenheit von vier den Todesgefilden entrissener Seelen, die er zu einer Geistform zusammengefügt hatte. Kaharnaantorian, der Geist der Unrast, grub sich seit seiner dunklen Geburt durch den Berg, in dem die Nimmertagshöhle lag, den Ort, wo Iaxathans mächtigstes Erzeugnis aufbewahrt wurde. Weil die verhassten Folger des Lichtes und der Lebensbewahrung den bisherigen Zugang mit einem Wall aus Lebenskraft und Geborgenheit versperrt hatten musste der Knecht des letzten dunklen Königs von Altaxarroi einen neuen Zugang freilegen. Das konnte mehr als einen Sonnenkreis dauern. So oder so verwünschte Iaxathan die Lichtfolger, aber auch die ihm abtrünnig gewordene Tochter der Nacht, die aus der Not, ihrem angestammten Körper entrissen und mit den Seelen ihrer Anhänger beladen worden zu sein, einen Machtgewinn geschöpft hatte und nun den Mitternachtsstein, das Werkzeug zur Herrschaft über die Kinder der Nacht, ausfüllte und damit über alle anderen Nachtkinder zu herrschen trachtete. Diese Abtrünnige musste vergehen.
Iaxathan hatte es bisher geschafft, seiner neuen Hauptfeindin das Dasein eines neuen Knechtes zu verheimlichen. Außerdem hatte er auch über Wellen der Dunkelheit mitbekommen, dass die von seinem auserwählten aus Versehen verschmolzene Schattendienerin sich als Königin der Schattenwesen aufschwingen wollte. Hätte er, Iaxathan, die Gabe der Vorhersehung besessen, so hätte er diesem Stümper Wallenkron, der sich als Erbe eines feigen, halbausgegorenen Wirrkopfes verstanden hatte, den Zugang zu seiner Heimstatt verschwiegen, ihn nicht einmal angesprochen. Doch Iaxathan konnte nicht in die Zukunft sehen. So fühlte er jeden verstreichenden Tag, wie seine letzten zwei Niederlagen immer stärker von seiner bisherigen Macht zehrten, um sich selbst daran zu mästen.
"Wie weit bist du, Kaharnanntorian?" wollte Iaxathan von seinem fleischlosen Diener wissen. Dieser hielt mit seiner unermüdlichen Grabungstätigkeit inne und sandte ihm die Gedankenbotschaft: "Mein Herr und Meister, ich bin vielleicht gerade zu einem Zehntel durch den Berg hindurch. Ich bin nicht stark und schnell genug, um schneller durch das dicke Gestein zu dringen."
"Ein Zehntel?!" donnerte Iaxathans Geistesstimme. "Die Kräfte der Gestirne verraten mir, dass es schon mehr als einen Drittelsonnenkreis her ist, dass ich dich in meiner unendlichen Gnade aus mir heraus in diese Welt geboren habe wie eine niedere Milchgeberin ihr Kalb. Wenn du meine ganze Macht und Größe in die Welt tragen willst und dich im Atem meiner Kräfte über alle Sterblichen erheben sollst musst du schneller graben. Also los, Raste nicht! Strebe nach draußen!" Befahl Iaxathan. Kaharnanntorian bestätigte den Befehl und setzte die für ein Geisterwesen wie ihn nicht so leichte Arbeit fort, sich durch das massive Grundgestein des himmelhohen Gebirges zu wühlen wie ein Erddwurm im fruchtbaren Boden. Ein zehntel Weges hatte er bisher geschafft. Also mochte er, wenn das Gestein gleichbleibend hart blieb, noch einmal neun Drittelsonnenkreise also drei ganze Sonnenkreise brauchen, um aus dem mächtigen Gebirgsgrund herauszubrechen, um von der im freien erhältlichen Dunkelheit des unendlichen Raumes zwischen den Sternen die volle Kraft zu erhalten, den Auftrag seines Herren zu erfüllen. Drei ganze Sonnenkreise, sofern sich Kaharnaantorian nicht geirrt hatte und es mehr oder weniger Weg war, den er bisher geschafft hatte.
Beinahe wäre Iaxathan in einen neuerlichen Wutanfall geraten. Doch zwei Dinge halfen ihm, sich zu beherrschen und Ruhe zu bewahren. Das erste war, dass er ja bei der dunklen Verschmelzung der vier Mörderseelen zu Kaharnaantorian geahnt hatte, dass dieser neue Knecht mehr als einen Sonnenkreis brauchen würde, um aus dem Berg zu schlüpfen. Die zweite Sache war, dass Iaxathan in dieser Zeit einen weiteren, bereits seit mehreren Tausendsonnen gehorsamen Diener zur vollen Stärke führen konnte, um diesen zumindest in seinem Namen die Blutsaugenden, die Sonne fliehenden Kinder der Nacht wieder unter seine Herrschaft zu zwingen. Jetzt, wo er wusste, wie viele Sonnenkreise seit seinem letzten Erwachen vergangen waren und er da mehrere Wachzeiten seines Dieners in seinem eigenen Kerker verschlafen hatte, galt es nun, ihn endgültig aus den Fesseln des wiederkehrenden langen Schlafes zu befreien und gegen die Abtrünnige ins Feld zu schicken. Das letzte mal, wo er das versucht hatte, war an einem Weib gescheitert, das von drei Rassen abstammte und damit geprahlt hatte, keinen Vater, sondern zwei Mütter zu haben. Dieses Weib hatte die sieben Boten seines Dieners einen nach dem anderen heimgesucht und mit einem verhassten Vernichtungsfeuer zu Asche verbrannt, bevor sie tun konnten, was Iaxathan seinem Diener aufgetragen hatte. Damit war auch das Wissen verbrannt, dass für diese Aufgabe nötig war. Sicher war dieses widernatürliche Geschöpf mittlerweile selbst zu Staub zerfallen und mochte in den Gefilden der Nachwelt umherstreifen. Doch er, Iaxathan, war durch die Vernichtung der sieben Boten selbst in einen längeren Schlaf gestürzt worden. Erst die Nähe eines von Dunkelheit erfüllten Geistes hatte ihn aufgeweckt. Da sein mächtiger Diener da gerade auch für ihn unaufweckbar tief schlief hatte er ihn nicht erreichen können und somit nicht auf die Wiederholung des Auftrages drängen können. Doch weil die alles endende Dunkelheit sich nicht aufhalten lässt hatte sie ihm, ihrem treuen Diener, gerade rechtzeitig die volle Kraft zurückgegeben, um seinem Untergebenen, einem seiner mächtigsten Geschöpfe, den letzten entscheidenden Hinweis für dauerhaftes Wirken zukommen zu lassen.
Iaxathan lauschte in die Unendlichkeit von Zeit und Raum hinaus. Er vernahm das leise Wispern von Dunkelheit erfüllter Gedanken und Einzelseelen wie das ferne Rauschen eines verheißungsvoll fließenden Flusses. Er hörte jedoch auch die an ihre Diener ergehenden Weisungen seiner widerlichen Widersacherin, der aus vielen Einzelseelen zusammengeballten Abtrünnigen, die sich Gooriaimiria, die große Mutter der Nacht, nannte. Und er fühlte auch, dass jene, die sich als Königin der Schatten erheben wollte, weitere Getreue an sich band oder aus sich selbst heraus gebar. Sie konnte er leider nicht unter seinen Willen zwingen, weil sie einen eigenen Anker der Macht besaß, der mit ihrer Seele verbunden war. Er hatte es einmal versucht, sie zu knechten, weil er die Namen ihrer Mutterseelen kannte. Doch sie hatte ihn abgewiesen, ihn als "entmannten König ohne Reich" bezeichnet, von dem nichts neues mehr zu erwarten war. Der Versuch, sie in einem geistigen Zweikampf niederzuwerfen hätte ihm selbst fast den Halt in dieser Welt gekostet. Auch hatte dieser rein geistige Zweikampf beinahe die Gewalt über Kaharnaantorian überwunden. Ja, fast hätte dieses Schattenweib erfahren, dass er einen neuen Knecht auf den Weg geschickt hatte. Doch diese Erkenntnis durfte niemand erhalten, bis dieser Knecht sich frei unter den Gestirnen bewegen konnte. Dann sollte dieses aus nur zwei Seelen geborene Weib jedoch merken, dass Kaharnaantorian aus vier bereits über die Schwelle des Todes getretenen Seelen entstanden war und somit sicher mehr Kraft und Einfluss haben würde als dieses Zwei-Seelen-Weib, das sich als Erbin des Getreuen Kanoras aufspielte.
"Bald wirst du erwachen, mein siebenarmiger Vollstrecker. Dann wirst du den von mir erkundeten Weg beschreiten und mein Werkzeug der Vergeltung und mein Statthalter sein, bis Kaharnaantorian sich aus diesem Kerker himmelhoher Berge befreit hat", dachte Iaxathan und hütete sich wohl, dass diese Gedanken nur in ihm verblieben und nicht in die Unendlichkeit von Raum und Zeit hinausströmten.
"Bitte wie lange soll das mit den Spürsteinen noch dauern? Habe ich das gerade richtig gehört, Kollege Columbini?" ereiferte sich Zaubereiminister Bernadotti mit wilden Gesten, als er die Mitarbeiter der Sondergruppe Zerstörungswelle im Konferenzraum begrüßt hatte.
"Laut Signore Buonnafontana und Signore Pietrirossi noch bis eine Woche nach dem Auferstehungsfest der Papisten", wiederholte Giacomo Columbini seine gerade erst gemachte Aussage. Der für die magischen Spürsteine zuständige Mitarbeiter aus Montebiancos Gesetzesüberwachungsabteilung wirkte wohl zu recht sichtlich in die Enge gedrengt.
"Moment mal", setzte der Zaubereiminister an. "Erst hieß es, in einem Monat hätten wir wieder das vollständige Spürsteinnetz. Jetzt heißt es, dass wir bis nach Ostern damit warten müssen? Öhm, wieso dauert das so lange?" fragte er Columbini sehr genau anblickend.
"Weil wir laut Ihrer Generalanweisung niemandem außerhalb des Ministeriums mitteilen durften, dass wir keine Spürsteine mehr haben und deshalb neue brauchen", sagte Columbini. "Deshalb habe ich die Bestellung ja auch als für Verdichtungen des bisherigen Netzes gedachte Steine ausgearbeitet, mit direkter Genehmigung von Signore Montebianco." Erwähnter Mitarbeiter nickte bestätigend.
"Ja, aber selbst dann hätten wir doch eigentlich jetzt zumindest schon mal die Hälfte der verlorenen Steine ersetzen müssen, oder?" fragte der Minister.
"Öhm, offenbar haben Buonnafontana, Pietrirossi und di Monti sich zusammengetan und erfasst, dass wir offenbar ganz neue Spürsteine brauchen. Die haben ein Konsortium magischer Minieralienhändler gegründet."
"Kartell trifft es wohl eher", grummelte Enrico Pontidori, der Leiter der Handels- und Finanzabteilung des Zaubereiministeriums von Italien, San Marino und Sardinien.
"Jedenfalls bietet Buonnafontana an, dass seine Arbeiter die Förderung verdoppeln können, wenn wir pro Tag tausend Solicini auf die vereinbarte Summe legen", sagte Columbini. Montebianco verzog das Gesicht, Pontidori errötete sogar vor Wut.
"Dann hat irgendwer doch gequatscht", stieß Pontidori ungewohnt volkstümlich aus. "Zum dreifachgroßen Mercurio, das heißt, die können uns sogar beliebig hinhalten oder damit drohen, uns überhaupt keinen Stein zu verkaufen, wenn wir denen nicht nachgeben. Gut, handeln Sie die auf zweihundert Solicini runter, keinen Mercurino mehr, verstanden!"
"Hmm, ich lasse Ihnen allen besser mal vorlesen, was Buonnafontana geschrieben hat", grummelte Columbini und legte ein Stück beschriebenes Pergament auf den Konferenztisch. Mit dem Scriptumauditur-Zauber lies er den geschriebenen Inhalt als magische Nachbildung der Stimme des Schreibers wiedergeben. Danach sahen sich alle verdrossen an.
"Ich muss Ihnen beipflichten, Enrico, jemand muss geplaudert haben", grummelte Bernadotti. "Dabei habe ich Sie alle darauf vereidigen lassen, keinem Außenstehenden anzudeuten, weshalb wir die neuen Steine brauchen."
"Ich habe eine dumpfe Ahnung, dass unsere lieben Nachbarn in Frankreich und Österreich mitbekommen haben, was bei uns passiert ist, so heftig die Vernichtungswelle war", knurrte Giovanni Montebianco. "Soweit ich weiß ist Buonnafontana mit einer tiroler Berghexe verheiratet, und Pietrirossi hat einen Vetter in Cannes, Frankreich. Dann könnte das Kartell wahrhaftig wissen, warum wir die neuen Steine brauchen, zur dreifach geschwänzten Gorgone."
"Lässt sich nachprüfen, ob es ein solches Informationsleck gibt?" blaffte der Minister. Die Anwesenden wiegten erst die Köpfe. Dann schüttelte einer nach dem anderen sein Haupt. "Gut, dann mache ich von meinem Notstandsrecht gebrauch und rufe so viele Solicini aus dem Haushalt ab, wie für die schnellstmögliche Auslieferung der Steine nötig sind. Enrico, ich weiß, das wird schwirig, andere Projekte entsprechend zu beschränken, bis unser Haushalt wieder genug Gold zur Verfügung hat. Aber ich will diese Sicherheitslücke schließen, noch bevor die Vatikanjünger ihr Auferstehungsfest feiern."
"Moment, Signore Ministre, diese Freigiebigkeit wird Schule machen. Erinnern Sie sich noch daran, wie schnell das herumging, als wir wegen diesen Schlangenmenschen fünfhundert Ruheständler der Abwehrtruppe gegen bösartige Zauberer und gefährliche Geschöpfe zurückgeholt und gesondert honoriert haben? Da wollten dann auch die angeblich von diesen Wesen geschädigten Leute dreifach entlohnt werden. Wenn wir das jetzt noch einmal machen werden sämtliche an uns liefernden Händler die drei- bis vierfachen Preise verlangen. Die Säumigkeit der Einzelhändler, Besendrechsler und vor allem Quidditchvereine tut dann noch ihr übriges, uns in nur einem Jahr in den Ruin zu treiben. Wir tanzen doch jetzt schon auf der Schwelle zum Bankrott", warf Pontidori ein.
"Wenn wir die Steine nicht kriegen ist das total egal, ob wir dann noch Bronze, Silber und Gold in den Verliesen von Gringotts Rom und Mailand liegen haben", blaffte der Minister. "Solange wir keine Spürsteine haben, können wir auch keine Verstöße gegen geltende Gesetze erfassen und ahnden. Und wie schon mal hier in dieser Runde erwähnt könnten skrupellose und machtversessene Hexen und Zauberer das ausnutzen, dass wir keine Spürsteine haben, um uns vor vollendete Tatsachen zu stellen. Und wo wir schon mal dabei sind, Kollege Pontidori, Ihr Onkel Anselmo, der ja diesen Krater bei Catania untersucht hat, hat Montebianco und mir ein fünf Pergamentrollen umfassendes Gutachten zugeschickt, das sämtliche alchemistische und thaumaturgische Untersuchungen dokumentiert. Signore Pontidori, Anselmo, kommt zu der festen Überzeugung, dass eine veelastämmige Hexe mehrere hundert Feuerzauber auf einmal in einen reinen Goldklumpen eingespeichert und bis zu einem von ihr gewünschten Zeitpunkt darin gesichert hat, um sie dann auf einen Schlag freizusetzen. Sowas können eben nur Zwergenstämmige oder Veelastämmige, weil sie durch ihre Körperflüssigkeiten, allen voran das eigene Blut, die Pinkenbachgrenzen auf mindestens das zehnfache ausdehnen können. Wir wissen schließlich, dass Ladonna Montefiori wieder aufgetaucht ist, von der meine Vorgänger und ich gehofft haben, dass sie nur noch ein sehr bedrückendes, jedoch abgeschlossenes Kapitel unserer Geschichte sei. Diese Hexe ist veelastämmig und skrupellos genug, ein solches Höllenwerk zu inszenieren, wenngleich natürlich die Frage aufkommt, welchen Grund sie hatte, eine nur für die Moggli lästige Zeitgenossin zu eliminieren und dann noch mit einem solchen Aufwand, das uns alle Spürsteine um die Ohren flogen, anstatt sie einfach so mit dem Todesfluch auszuschalten."
"Moment, Signore Ministre, Sie haben doch von mir das Schreiben meines Kollegen in Paris erhalten, der wiederum von seinem Kollegen aus der Abteilung für magische Geschöpfe und dem gesamteuropäischen Vermittler zu den reinrassigen Veelas darüber informiert wurde, dass Ladonna Montefiori wieder aufgetaucht sein soll und sich irgendwo bei Florenz eingenistet haben soll."
"Ja, das haben Sie mir mitgeteilt, Signore Montebianco", grummelte der Minister. "Aber ein Beweis dafür steht noch aus. Haben Sie die Sache überprüfen lassen?"
"Natürlich. Ich habe eine Einsatzgruppe in das erwähnte Gebiet geschickt. Die haben dort wahrhaftig eine sehr starke dunkle Magie geortet, die sie eindeutig als den Blutfeuernebel des Rufus Vulpius Palatinus identifizieren konnten. Beinahe wäre einer meiner Leute dabei verstorben, weil er sich sehr nahe an die Abgrenzung gewagt hat."
"Will sagen, da hat jemand mal eben ein größeres Stück Land aus unserer Zuständigkeit herausgerissen", murrte der Minister. "Hmm, dieser Nebel kann durch entsprechende Belagerungszauber gekontert werden, dass die von ihm geschützten nicht aus dem davon umgebenen Bereich hinausgelangen oder von außen etwas erhalten können. Dann sollen Ihre Leute dieses Stück Land entsprechend ummauern, dass wer auch immer dort untergebracht ist selbst gefangen bleibt."
"Haben meine Leute schon erkundet. Offenbar hat wer immer den Blutfeuernebel beschworen und dauerhaft wirksam gemacht hat genau gegen solche Belagerungszauber wirksame Gegenbanne erschaffen. Jeder Versuch, das betroffene Gebiet magisch abzuriegeln scheiterte mit einem bunten Feuerwerk aus magischen Lichtentladungen, so der von mir abgestellte Einsatzgruppenleiter. Wir dürfen also davon ausgehen, dass es wirklich Ladonna Montefiori ist, die diesen Nebel beschworen hat."
"Will sagen, sie kann sich vor uns verbergen und trotzdem unbehelligt im Lande herumzaubern?" wollte Bernadotti wissen. "Da haben wir die Schlangenmenschenpest, diesen mordlüsternen Irren aus England, dessen Nachahmer und seinen willigen Gefolgszauberer Pickman überstanden, um jetzt damit leben zu sollen, dass eine der dunkelsten Hexen unserer Geschichte wieder unter uns weilt und ihre eigenen Ziele verfolgt?"
"Leider all zu zutreffend", erwiderte Giovanni Montebianco. "Ja, und sie könnte auch wissen, dass unsere magische Überwachungsstruktur derzeit ausgefallen ist und uns wie Sie einräumten vor vollendete Tatsachen stellen will. Solange wir sie nicht auf frischer Tat ertappen oder sie an einen für uns ungefährlichen Ort schaffen können ist sie im Vorteil."
"Ich verbiete Ihnen, in dieser Art resignierend zu reden, Signore Montebianco", knurrte Bernadotti. "Dann müssen wir dieses Weib eben auf Sicht erledigen lassen, endgültig."
"Dass Ladonna Veelastämmig ist wurde hier schon erwähnt", entgegnete Columbini. "Veelas legen einen sehr großen Wert auf Blutrache. Wenn einer ihrer Verwandten stirbt werden alle getötet, die dafür verantwortlich sind und deren Familienangehörigen gleich mit. Ich finde, das sollten Sie auf keinen Fall außer Acht lassen, Minister Bernadotti."
"Dann kann die auch noch einfach Leute umbringen, ohne dass sich jemand wehren darf?" wollte der Zaubereiminister wissen. "Wenn die uns auf unserem Hohheitsgebiet übel mitspielt, dann berufe ich mich auf die Notstandsklausel unserer Verwaltungsrichtlinien, dernach das Wohl der unbescholtenen Mehrheit zu schützen ist und ein Agressor im Zweifelsfall auf Sicht zu töten ist. Was eine Vendetta der Veelas angeht müssen wir dann eben klarstellen, dass jeder Angriff auf unbescholtene Menschen ein Kriegsakt ist und wir dann ebenfalls gegen alle unbefugt ins Land eindringenden Veelas tödliche Gewalt anwenden werden. Das sollte diese auf Langlebigkeit ausgelegten Betörungstänzerinnen davon abhalten, unnötig sterben zu wollen. Ich prüfe nach, ob die Notfallverordnung anwendbar ist und werde Ihnen das Ergebnis rechtzeitig mitteilen", verkündete Bernadotti.
Raffael Antinori hatte nur noch zwanzig Leute zur Verfügung. Seine anderen Vollstrecker waren in den letzten Wochen bei unliebsamen Zusammenstößen mit Gruppen aus anderen Familien nach und nach vom Markt verdrängt worden, wie es so schön unblutig hieß. Tatsächlich hatte das Verschwinden, womöglich der Tod von Donna Regina Venuti und fünf einflussreichen Capi anderer ehrenwerter Familien einen schwelenden, zwischendurch kurz aber hell auflodernden Krieg entfacht. Was immer schon befürchtet worden war fand nun statt. Mit dem Tod der Maria Theresia der Cosa Nostra waren die von ihr so gut ausbalancierten Verhältnisse in tödlichen Aufruhr umgeschlagen. Deshalb hatte Raffael Antinori Nachforschungen anstellen lassen, wer genau für Donna Ginas plötzliches Verschwinden verantwortlich sein musste. Dabei hatte er auch ihr Interesse an einem bestimmten Haus bei Florenz entdeckt, und dass jemand die Bank ihres Verwandten ohne großes Vorspiel übernommen und ihren Neffen mitsamt seiner Frau hatte verschwinden lassen. Also musste der Schuldige im Umfeld dieses Luigi Girandelli zu finden sein.
Agostino Bergamo war sowohl Finanztrickser wie vielseitig geübter Mann für finale Problemlösungen. Deshalb sollte er mit vier Experten für Einbruch und "Personentransport" Luigi Girandelli zu einem ausführlichen Gespräch in das Castello Trimontani nördlich von Palermo "einladen". Nur Girandelli sollte leben. Wer sonst noch im Haus anzutreffen war sollte getötet werden, wobei galt, dass jede Leiche restlos zu verschwinden hatte. Für die Polizei sollte die Villa wie vor Wochen verlassen aussehen, falls Girandelli vermisst wurde.
"Spata, das Haus hat offenbar keinen Funken Strom. Ich kann nur Kerzenlicht und Kaminfeuer sehen", meldete Agostinos Späher Girolamo über verschlüsselten Sprechfunk. Agostino, der den Codenamen Spata, also "Schwert" benutzte, weil er für seinen Capo genauso wichtig und tödlich war, fragte an, wie viele Leute Girolamo alias Falcone zählte.
"Wie viele Leute hast du ausgemacht, Falcone?" fragte Agostino seinen Aufklärungsfachmann Girolamo zurück.
"Auf der unteren Etage drei Leute in kleinen Kammern und auf der zweiten Etage ein Paar in einem großen Zimmer mit Ostblick. Die Vorhänge sind zwar sehr dicht, aber mit meinem Infrarotrestlichtverstärker bekam ich die dann doch gut erkannt. Was ist nun?"
"Gut, dann müssen wir das Paar zuerst anpeilen. Chiave, peile, ob die nicht doch was zur Überwachung haben! Falcone, kannst du sowas wie Wachhunde oder Gänse sehen?"
"Gänse? Ach klar. Nein, nur Menschen, keine Tiere größer als Hausspinnen", bestätigte Girolamo alias Falcone.
"Gut, dann vom Osten her anrücken. Ich geb das nur noch an den Gastgeber weiter, dass wir bald unterwegs sind", sagte Agostino. Er griff zu seinem Mobiltelefon und wählte aus dem Kopf die für heute gültige Nummer seines Anführers. Durch den im Apparat verbauten Zerhackerchip wurde das Gespräch beidseitig verschlüsselt.
"Chiave, Leone und ich holen den Gast ab und verteilen für die anderen Schlafsand, Don Raffael", meldete Agostino.
"Passt aber gut auf. Don Fabiolos Jungs sind vor einer Nacht auf die selbe Idee gekommen. Der alte Sack hat danach nichts mehr von seinen Leuten gehört."
"Falcones Nacht- und Nebelblick hat nur fünf Bewohner erspäht. Wenn da Wachen wären hätten wir die gesehen, auch dann, wenn sie in Bunkern unter dem Haus säßen. Aber es gibt keine Klimaanlage und nicht mal Strom."
"Nicht mal Strom?" wollte Raffael Antinori wissen.
"Wir gehen jetzt los und holen Ihren Gast ab", sagte Agostino.
Unvermittelt ploppte es neben ihm, und wie aus dem Boden gewachsen stand da ein hagerer Mensch mit nachtdunklem Haar und gleichfarbigem Schnurrbart. Er war in einen nicht ganz so dunklen, vielleicht blauen Umhang gehüllt und hielt einen dünnen Holzstab in der linken Hand. Die Beine steckten in mondhellen Stiefeln.
"Für welchen Banditenkönig Siziliens oder Neapels Sie arbeiten, Signore, bleiben Sie von dem Haus weg!" zischte der Fremde. Agostino hatte jedoch schon seine kleine, schallgedämpfte Pistole gezogen, um den lästigen Zeugen zum schweigen zu bringen. Während dieser noch seine Warnung aussprach zielte Agostino und drückte ab. Tschiumm-Pioing! Agostino fühlte die sengende Hitze, die das knapp an seinem rechten Ohr vorbeischwirrende Geschoss verursachte. Der Kerl mit dem Stab stand noch da wie eben noch. "Natürlich steht es Ihnen frei, sich eigenhändig zu entleiben, wann und wie Sie wollen", sagte der andere. "Aber uns geht es darum, dass Sie und ihre Räuberbanden aufhören, hinter Girandelli herzuforschen oder ihn gar zu überfallen. Er steht unter mächtigerem Schutz als Sie und Ihresgleichen vertragen können. Wie Sie gerade miterleben durften kann ich mich hervorragend gegen Ihre brandgefährlichen Handfeuerwaffen schützen. Gehen Sie davon aus, dass Girandelli denselben Schutz erhalten kann, wenn es der ihn beschirmenden Macht nötig erscheint."
"Ach ja?" fragte Spata alias Agostino. Dann drückte er noch einmal ab, wobei er dem anderen genau zwischen die bei Nacht kohlschwarzen Augen zielte. Dass er mit dumpfem Knall auf dem Boden landete bekam er selbst nicht mehr mit.
Falcone, der seinen Einsatzgruppenleiter mit dem superstarken Nachtsichtgerät unter Beobachtung genommen hatte, bekam mit, dass da ein Fremder war und sein Einsatzgruppenleiter gerade wie von einem unhörbaren Schuss selbst tödlich getroffen zu Boden ging. Dank seine superguten Nachtsichtgerätes konnte er sogar erkennen, dass sich Agostino alias Spata eine faustgroße Wunde in der Stirn eingehandelt hatte und in seinen Adern kein Blut mehr pulsierte. "Leute, wir sind gerade aufgeflogen!" rief Falcone in sein Funkgerät. Er erwähnte den Fremden, der bei Agostino aufgetaucht war. Leone, ein Scharfschütze und Klingenwaffenfachmann erster Güte, nahm seine schallgedämpfte MP mit Sprenggeschossen von der Schulter, entsicherte sie und nahm den hageren Fremden durch das aufgepflanzte Infrarotzielfernrohr ins Fadenkreuz. Dann feuerte er. Vor dem Hageren explodierte ein Vorhang aus faustgroßen Feuerbällen. Doch mehr passierte nicht. Oder doch. Jemand mit besonders feinen Ohren hörte das Krachen der explodierenden Sprenggeschosse.
Falcone beobachtete, wie Leone seine tödlichen Sprenggeschosse auf den hageren Fremden abfeuerte, der sich ganz ruhig umdrehte und in die Richtung zielte, wo Leone am Boden kauerte. "Leone, weg da, der hat was in der linken Hand!" warnte Falcone. Leone hatte es aber schon selbst erkannt, dass er dem anderen nicht beikommen konnte und jetzt selbst aufs korn genommen wurde. Er huschte zur Seite und entging so einem roten Lichtblitz. Dann verschwand der Fremde einfach, nur um eine halbe Sekunde später neben Leone aufzutauchen, der eine bessere Ausgangsstellung suchte. Der Fremde zielte auf den behände über den Boden krabbelnden und schickte einen weiteren roten Blitz los, der Leone diesmal voll am Brustkorb erwischte. Leone klappte zusammen wie ein Taschenmesser. Also schützte die säure- und Stromstoßsichere Kugelsichere Weste nicht vor dieser Art von Waffe, erkannte Falcone. Dann sah er noch etwas sehr befremdliches.
Aus dem Nichts heraus stand plötzlich ein weiterer Mensch hinter dem hageren Fremden, von der eigenen Körperwärme gut erleuchtet und erkennbar war es eine Frau, und zwar eine vom Typ Megamodel, dachte Falcone. Auch die Frau hatte einen Stab in der Hand. Der Hagere fuhr herum, wollte seinen Stab neu ausrichten, als ihn da selbst der rote Blitz niederstreckte. Dann passierte noch was für Falcone unerwartetes. Der hagere schrumpfte zusammen, wurde gerade so groß wie eine Männerhand. Die Unbekannte bückte sich, griff mit der freien Hand nach dem Verkleinerten und erhob sich wieder. Dann drehte sie sich auf der Stelle und war einfach wieder weg.
"Leute, Spata ist tot, und der ihn abgemurkst hat ist ein Zauberer oder sowas. Und der ist wiederrum von einer Hexe oder sowas eingeschrumpft und mit ihr zusammen weggebeamt worden. Das gibt's doch nicht!" sprudelte es aus Falcones Mund. Da ploppte es neben ihm. Er sah schnell neben sich und erkannte einen schlanken Schatten. Dann traf ihn ein rotes Licht voll am rechten Lungenflügel, und die Welt um ihn herum versank in Schwärze und Stille.
Jetzt stand nur noch Ricardo alias Chiave, der Schlüssel, auf der freien Fläche vor der Grundstücksgrenze. Der Gefolgsmann Antinoris blickte sich hektisch um. Dann nahm er selbst sein Infrarotsichtgerät zur Hand und suchte nach seinen Kameraden. Leone lag noch atmend am Boden, während Spata offenbar mausetot war. Wo war Falcone? "Falcone, hörst du mich? wo bist du hin?" sprach er ins Funkgerät.
"Dein Spießgeselle ist mein Gast und wird bei mir bleiben, bis ich weiß, was ihr bei uns wolltet", hörte er die Antwort einer glockenreinen Frauenstimme aus den Ohrhörern seines Funkgerätes.
"Große Scheiße!" zischte Ricardo und suchte mit seinem Nachtsichtgerät das Haus ab. Sein Apparat war zwar nicht so überragend wie der von Falcone. Aber er konnte zumindest erkennen, dass vor dem Haus niemand war. Das konnte doch nicht angehen. Wenn jemand Falcone kassiert hatte musste der oder die doch noch unterwegs sein.
"Eh, wer immer das war, Ich brauche nur einen Knopf zu drücken, dann fliegt die Villa in die Luft", sprach Ricardo ins Funkgerät.
"Ach ja, wie denn?" fragte die Frauenstimme, doch nicht aus dem Funkgerät, sondern nur fünf Meter hinter Ricardo. Er fuhr herum, wollte seine schallgedämpfte Beretta ziehen, als auch ihn jener rote Blitz traf, der bereits Leone, Falcone und den hageren Zauberer betäubt hatte.
Raffael Antinori hatte die letzte Meldung seines Vollstreckers Spata alias Agostino noch mitbekommen. Er hatte auch gehört, dass da ein Fremder aufgetaucht war und ihn gewarnt hatte. Dann hatte es einen dumpfen Knall gegeben, und die Verbindung war getrennt worden. Jeder Versuch, Agostino zurückzurufen endete nur in der Mobilbox, zumal Agostino sein Mobiltelefon wohl auf Vibrationsalarm gestellt hatte.
Eine halbe Stunde wartete der Capo der nördlichen Familie, deren Vorsitzender er nicht durch Geburt, sondern durch Vererbung geworden war. Was war da an der Villa passiert? "Claudio, mach bitte deine Ariella klar, um zu sehen, was da los ist!" befahl Raffael seinem fünfundzwanzig Jahre alten Sohn, einem diplomierten Flugzeug- und Fernmeldeingenieur.
"Die Ariella ist noch zwanzig Kilometer weit weg, Papa. Ich musste sie möglichst unter dem Radar halten."
"Hauptsache, wir kriegen das Haus zu sehen", grummelte Raffael. Irgendwie fühlte er, dass sich etwas über ihm zusammenbraute.
Er versuchte, Falcone anzurufen, der auch ein Mobiltelefon mit Zerhacker bei sich hatte. Doch auch der antwortete nicht. Hier ging gleich die Mobilbox dran. Raffael wollte gerade aufstehen, um zu seinem Sohn in dessen kleinen Kommandostand zu gehen, als direkt neben ihm mit leisem Plopp eine bildschöne Frau im nachtschwarzen Kleid erschien und ihn mit grünen, kreisrunden Augen durchdringend ansah.
"Jetzt reicht es mir langsam mit euch Inselbanditen. Mein Leibeigener und ich wünschen keine weitere Belästigung von euch und euren anderen Räuberbanden. Damit das jeder von euch weiß wirst du das denen weitergeben. Imperio!" Raffael öffnete gerade den Mund, um nach seinen zwei Leibwächtern zu rufen, als eine Woge grenzenloser Glückseligkeit durch sein Bewusstsein fegte und jeden klaren Gedanken einfach hinwegspülte. Dann hörte er die Stimme der unerwarteten und ungebetenen Besucherin in seinem Kopf: "Ruf alle dir bekannten Familienoberhäupter an und sage ihnen, dass Girandelli unter mächtigem Schutz steht und jeder stirbt, der ihn belästigt, genau wie Donna Regina." Diesen Befehl erhielt er noch zweimal. Dann verschwand die Fremde einfach. Raffael dachte nicht darüber nach, was passiert war. Er fühlte, dass er Girandellis Schutzherrin nicht gewachsen war. Seine Leute waren wohl von ihr getötet worden. Sie konnte auch ihn töten, trotz seiner umfangreichen Schutzmaßnahmen. Also musste er die Finger von Girandelli lassen, oder er würde genauso drauf gehen. Eigentlich hätte er nun alle rivalisierenden Familien ins offene Messer hineinlaufen lassen können. Doch der Befehl der Unbekannten trieb ihn, seine Konkurrenten und Partner zu warnen. "Wer Girandelli lästig wird stirbt", gab er bei jedem Anruf weiter. Doch keiner seiner Gesprächsteilnehmer wollte das einfach so hinnehmen.
Pontio Barbanera hatte eigentlich nur verhindern wollen, dass diese verbrecherischen Moggli sich alle zusammen in den Tod stürzten. Doch dabei hatte er einen entscheidenden Fehler gemacht. Er hatte das wolfsgleiche Gehör Ladonnas unterschätzt. Die von Menschen, Veelas und grünen Waldfrauen abstammende Hexe hatte die gegen ihn fliegenden Explosivgeschosse gehört. Er war von diesem Mordbuben abgelenkt worden, so dass dieses Weib sich in seinen ungedeckten Rücken hatte schleichen können. Das hatte er jetzt von seinem großen Maul. Er hatte behauptet, ohne zusätzliche Absicherung rauszubekommen, wer sonst noch Interesse am Haus Luigi Girandellis hatte. Jetzt lag er an Händen und Füßen gefesselt in einem dunklen Raum. Er war völlig nackt.
"Es ist wirklich nett, dass ihr euch auch mal blicken lasst. Ich dachte schon, irgendwo auf dem Campo di Fiori oder der Piazza san Marco mehrere Moggli quälen zu müssen, um endlich einmal einen von euch zu erwischen. Aber so ist das ganze unauffälliger", sagte die Hexe, die ihn mal soeben überrumpelt und dann wohl entführt und entkleidet hatte. "Interessante Rüstung, die du getragen hast. Ich werde zusehen, mir auch sowas zuzulegen. Gegen die magielosen Schlagetote ist sie sehr hilfreich."
"Ladonna Montefiori, Sie haben keine Chance. Selbst wenn Sie Ihr Versteck in den Blutfeuernebel eingehüllt haben müssen sie doch immer wieder daraus hervortreten. Meine Kollegen wissen, dass ich Sie heute Nacht beobachten wollte. Wenn ich mich nicht rechtzeitig bei ihnen melde werden sie kommen und Sie aushungern."
"Ui, als wenn deine Leute das nicht schon versucht hätten. Leider waren die immer so schnell wieder weg, bevor ich einen von euch einfangen konnte", lachte die Hexe. "Aber sei es. Du wirst mir alles verraten, was ich wissen will, und dann darfst du sogar zurück und in meinem Auftrag dafür sorgen, dass mich diese Leute von eurem Zaubereiministerium nicht weiter behelligen. Es gibt genug für mich zu tun, anstatt dauernd mit euch zu kämpfen."
"Ich werde niemals für dich arbeiten, Ladonna Montefiori. Das Ministerium weiß von deinen Umtrieben und wird dich unschädlich machen."
"Unschädlich machen? Heißt das, die wollen mich nach all den Jahrhunderten wahrhaftig töten, wo ich gerade erst einige Monate wieder wach bin? Das ist aber alles andere als erfreulich", säuselte Ladonna Montefiori und beugte sich zu Pontio Barbanera herunter. Dieser argwöhnte bereits eine Hinterhältigkeit und versuchte, seine Hände freizubekommen. Doch es gelang ihm nicht.
"Oh, bin ich so abstoßend für dich?" fragte sie mit einer unheimlich anmutenden Erheiterung. Er fühlte, wie etwas von ihr ausgehendes in ihn eindrang und ihn merklich verwirrte. Gleichzeitig meinte er, dass sein Körper sich erwärmte. Dann traf ihn etwas warmes, feuchtes direkt unter seiner Nase. Er klappte erschrocken den Mund auf, fühlte sich unvermittelt benebelt, um dann einen Tropfen von Ladonnas Speichel direkt in den Mund abzubekommen. Als nächstes fühlte er ihre Zunge gegen seine Zunge schlagen, sich darum herumtasten. Jetzt schwand ihm endgültig jede Willenskraft. Er trieb völlig berauscht in einem Meer aus glückseliger Hilflosigkeit, während Ladonna ihn leidenschaftlich küsste. Er fühlte ihren freien Oberkörper auf seinen Brustkorb drücken. Er wünschte sich, mit diesem unheilvollen und doch so beglückenden Geschöpf eins zu werden. Als sie ihn erneut leidenschaftlich küsste hörte er ihre Stimme in seinem Kopf:
"Du bist zwar nicht der schönste einer, aber dafür sehr brauchbar. Du wirst für mich Auge, Ohr, Hand und Mund seinn. Ich verbinde deinen Geist mit meinem."
"Ich will dich", erwiderte Pontio Barbanera vollkommen unterworfen und gleichzeitig begierig. "Du willst mit mir das Lager teilen? Das musst du dir verdienen, Pontio Barbanera", säuselte Ladonna, während sie ihm die Wangen streichelte. "Bist du bereit, mir alle Fragen zu beantworten und dann den Eid von Blut und Seele zu schwören?"
"Ja, das ... das bin ich", erwiderte Pontio, während er fühlte, wie die unheilvolle Schönheit sich an ihm zu schaffen machte, ohne die allernächste Nähe zu ihm zu suchen. Dann fühlte er, wie seine linke Hand ergriffen und angehoben wurde. Immer noch im völligen Rausch gefangen spürte er, wie ihm etwas handwarmes auf den kleinen Finger gestreift und durch sachte Drehbewegungen sicher bis zum hintersten Fingerglied vorangeschoben wurde. Dann begann die langwierige Befragung, die ihm, dem Fachzauberer gegen dunkle Künste und eigentlichen Experten für menschenartige Zauberwesen alles an Wissen abrang, was er in sich trug. Bilder und Worte stiegen dabei in sein berauschtes Bewusstsein auf. Jede beantwortete Frage ließ den auf seinen Finger gesteckten Ring kurz erzittern. Anders als andere zu vor empfand er weder Wut, noch Angst, noch Widerwillen, als er befragt wurde. Er sollte alles verraten, von den gegenwärtigen wichtigen Leuten des Zaubereiministeriums, was es in den letzten Jahrhunderten an neuen Erkenntnissen in der italienischen Zaubererwelt gegeben hatte, was vor allem unter Grindelwald und Voldemort geschehen war und dass es amtlich war, dass Anthelia, Sardonias Nichte, ihren ersten Tod überstanden haben sollte. Er verriet, was das italienische Zaubereiministerium über die Schlangenkrieger Voldemorts und die aufgetauchten Töchter des Abgrundes mitbekommen hatte oder zumindest, wo die geheimen Unterlagen dazu aufbewahrt wurden. Dann wurde er auch zum Umgang mit den Werwesen und Vampiren befragt. So erfuhr sie von der Mondbruderschaft und dem gescheiterten Versuch eines Werwolfs, ein Königreich der Lykanthropen auf Erden zu begründen. Ebenso erfuhr sie, dass die Vampire von einer schlafenden Göttin tuschelten, die sich als die ware Königin der Nacht verstand. Das brachte Ladonna wiederum darauf, ihn zu fragen, was er über den siebenarmigen Übervampir Heptachiron wusste.
"Er ist ein Mythos, eine Legende der Vampire. Es ist bisher nicht gelungen, seine Existenz zu beweisen. Aber wenn meine Kollegen das richtig ausgerechnet haben dürfte seine Gefolgschaft bald wieder aktiv werden, weil die siebenhundertsiebenundsiebzig Monde wieder vollendet sein sollen."
"Stimmt, das könnte sein. Und ich dachte, es wäre Sardonia oder einem von euch gelungen, dieses Übel auszurotten. Diesen Unhold gibt es, mein hingebungsvoller Gast. Wenn er wirklich wieder aufwacht wird Blut fließen, nicht nur im sinnlichen Austausch zwischen einem Nachtkind und einem Menschen, sondern in großer Menge. Na ja, dann muss ich ihn eben auch bekämpfen. Was ist mit dieser Widerkehrerin, die sich für Sardonias Nichte hält?"
"Sie muss als Geist in einem Seelengefäß überdauert und sich einen passenden Körper gesucht haben. Aber seitdem der blaue Blutfürst vernichtet ist ist sie fort. Da gibt es aber jetzt eine Hexe, die sich wohl für Anthelias Erbin hält. Die kann zu einer schwarzen Riesenspinne werden, die gegen viele Zauber unter anderem auch den Todesfluch gefeit ist."
"Soso, so was gibt es?" wollte Ladonna wissen. Dann fragte sie mit Hilfe ihres Ringes nach genauen Einzelheiten, die Pontio bekannt waren. Die Sachen, die ihm nicht bekannt waren, sollte er herausfinden, wenn er mit ihr den Eid von Blut und Seele geschworen hatte.
"Öhm, das mit dem Tötungsbefehl, bring das eurem Möchtegernzaubereiminister bei, dass er damit nur Dantes Schreckensreich heraufbeschwören wird, wenn er die Tochter einer Veela töten lässt. Das wirst du sicher tun."
"Ja, das werde ich tun", sagte Pontio ohne jeden Funken Widerwillen. "Öhm, aber mach das bitte nicht so, dass Bernadotti weiß, dass du nun mir gehörst oder bring ihn auch zu mir, damit ich ihn ebenfalls in mein Gefolge holen kann!" erwiderte Ladonna.
"Er wird dir widerstehen, meine Herrin. Seine Frau hat ihn mit einem Zauber belegt, der ihn für Veelakräfte unempfänglich macht."
"Oh, hat sie das? Bisher kannte niemand von euch so einen Zauber, erst recht keine Hexe. Tja, warum bist du nicht mit so einer umsichtigen Hexe vermählt?" hörte er sie überlegen grinsen.
Als sie alles wusste, was sie wissen wollte zog sie ihm wieder den Ring vom Finger und steckte ihn sich selbst an. Dann ritzte sie mit einem der Rubine seinen linken Arm und ließ das Blut aus seiner Wunde auf den Ring träufeln. "Im blute wohnt die Seele. Schwöre mir bei der Vereinigung von Blut und Seele, dass du ewig mein sein wirst, dass du nur das tust, was mir gefällt und jederzeit dein Leben geben wirst, um mich zu schützen, wenn deine Seele nicht auf ewig leiden soll!"
"Ich schwöre dir, Ladonna Montefiori, dass ich immer dein bin, dass ich nur das tue, was dir gefällt und mein Leben geben werde, um dich zu schützen. Das schwöre ich bei der Unversehrtheit meiner Seele", erwiderte Pontio. Da fühlte er, wie sein Körper sich erwärmte. Er fühlte fast jeden durch die Adern rinnenden Blutstropfen und hörte sein Herz lauter schlagen. "So bist du nun an mich gebunden, von nun ab fort durch alle Stunden", bekräftigte Ladonna den Schwur. Pontio meinte einen Moment, aus seinem aufgeheizten Körper herauszugleiten und zwischen diesem und Ladonnas über seinem linken Arm ausgerichteter Hand zu schweben. Dann fühlte er seinen Körper wieder. Sein Herz hämmerte in seiner Brust wie die auf dem Boden schlagenden Hufe eines galoppierenden Hengstes. Dann kühlte sich sein Körper ab. Sein Herzschlag verlangsamte sich. Unvermittelt lösten sich ssämtliche Fesseln. Dann loderte sie wieder in ihm auf, die Begierde, mit diesem übernatürlich schönen, willensstarken und biegsamen Wesen die allernächste Nähe zu erreichen. Als ob sie seine Gedanken gehört hatte fühlte er unvermittelt, wie sie sich auf ihn herabsenkte wie eine große, warme, weiche Decke, ihn umschnürte und dann seinen innigen Wunsch erfüllte.
Das Erlebnis war so berauschend, dass er nicht mehr wusste, ob er wachte oder träumte. Er hörte und fühlte, roch und verspürte die übermächtige, seine wunderschöne Herrin, genoss es, mit ihr eins zu sein und dann doch wieder von ihr loszukommen, weil er ihren Auftrag erfüllen wollte. Doch der Rest der Nacht gehörte nur ihm und ihr. Mit jeder Bewegung, jeder wilden Vereinigung mit ihr wurde er immer mehr zu Ladonnas willigem Diener.
Als sie ihn dann mit einem sanften Säuseln in einen tiefen Schlaf versenkte und von ihm wegglitt dachte sie, dass sie die Macht einer Tochter Lahilliotas hatte. Dass von denen nun wieder welche auf den Beinen waren und zwei dafür unerreichbar für Menschen in einem Zauberbann schliefen hatte sie als für sie sehr wichtige Erkenntnis aufgenommen. Sie würde ihn gleich wieder einschrumpfen und in sein Haus bei Rom zurückbringen, durch die von ihm selbst gewirkten Schutzbanne hindurch.
Das zur völligen Unterwerfung benutzte Liebesspiel hatte Ladonna auch daran erinnert, dass sie in ihrem ersten längeren Lebensabschnitt auch homophil ausgerichtete Hexen auf diese Weise für sich gewinnen konnte. Da war es sogar noch besser gelaufen als mit dem Imperiusfluch, weil sie hier Monatsblut ausgetauscht hatten. Jetzt wusste sie, dass von ihren italienischen Bundesschwestern nur zwanzig Nachtöchter lebten. Von dreien wusste ihr neuer Unterworfener nicht, ob sie vielleicht für die schwarze Spinne oder für die Gruppierung Vita Magica arbeiteten. Überhaupt hätte sie fast den bezaubernden Liebesakt mit Pontio abbrechen müssen, weil sie eine gewisse Wut umtrieb. Da maßten sich Zauberer und auch Hexen an, bestimmen zu dürfen, wann eine Hexe von wem Kinder zu bekommen hatte. Das würde sich die Erbin Sardonias nicht lange bieten lassen, und sie, Ladonna, die Rosenkönigin, die Zwei-Mütter-Tochter, würde das erst recht nicht hinnehmen. Wehe denen, die sie als Mitglieder dieser Bande entlarven würde!
Als Pontio wieder aufwachte wusste er erst nicht, ob er das nicht alles gerade geträumt hatte. Doch dann erkannte er, dass es wirklich geschehen war. Er hatte mit dem mächtigsten weiblichen Wesen der Welt das Lager geteilt, mit einer Liebesgöttin, hinter der die altrömische Venus oder die babylonische Ishtar prüde und einfallslose Kreaturen sein mochten. Dann hatte er erkannt, dass sie ihn mit ihrem Speichel und der angeborenen Veela-Aura vollkommen berauscht hatte. Er hatte sich nicht im Ansatz gegen sie wehren können. Doch statt sich schuldig und missbraucht zu fühlen erkannte er, dass Ladonna Montefiori ihm damit eine sehr große Ehre erwiesen hatte. Sie hatte ihn angenommen und ihm eine neue Ausrichtung seines Lebens gegeben. Er würde dieses von ihr bestimmte Leben nutzen, alle Nachstellungen zu vereiteln, damit sie nach dem langen Zauberschlaf endlich ihre großen Ziele verwirklichen konnte. Sie hatte ihn, Pontio Barbanera, zu ihrem Statthalter gemacht.
Das Pontio in seinem Haus bei Rom aufwachte nahm er auch als völlig verständlich hin. Immerhin musste er heute wohl noch ins Ministerium, um sich dort mit Vampirfachleuten über die vorhergesagte Blutwoche zu beraten, wenn dieser Heptachiron wahrhaftig kein Mythos war. Doch was, wenn jemand ihm ansah, dass er nun nicht mehr sich selbst gehörte, ja seine Erinnerungen auskundschaftete?
"Ich habe alles was dich und mich verbindet für außenstehende Hexen und Zauberer unerkennbar gemacht, mein neuer Getreuer. Sei also ohne Furcht", hörte er ihre Gedankenstimme. Sie wachte über ihn. Er musste nichts fürchten. Mit dieser erhabenen und zugleich ermutigenden Gewissheit erhob er sich von seinem Bett und machte sich für den neuen Arbeitstag bereit.
Ladonna Montefiori war nicht so einfältig zu denken, dass die Mitglieder der verschiedenen Familien sich von einer simplen Drohung einschüchtern ließen. Aber für ihre eigene Moralvorstellung hatte sie zumindest richtig gehandelt, dass ihre Feinde wussten, was ihnen zustoßen würde, wenn sie sie weiterhin bedrängten.
Ihr neuer Statthalter Pontio Barbanera hatte bereits die ersten für sie wichtigen Auskünfte übermittelt. Dazu gehörte zum einen, was das Ministerium über die in den letzten Nächten vorgefallenen Tode von nichtregistrierten Werwölfen wusste, sowie die ersten Ergebnisse, welche heute lebenden Hexen von ehemaligen Gefolgshexen der Rosenkönigin abstammten. Besonders interessierte sie dabei, dass ihre früher so hochgeschätzte und zuverlässige Mitstreiterin Dalia Lunarossa mit ihren zwei jüngeren Schwestern im Verdacht gestanden hatte, eine der französischen Hexenkönigin Sardonia zuarbeitende Sororität begründet zu haben, die Sororitas Trilunaria. Jede der drei in alten Familienchroniken verzeichneten Schwestern hatte Töchter und Enkeltöchter. Doch nur bei Dalia Lunarossa war eine durchgängige Ahnenreihe erhalten geblieben, deren letztes lebendes Mitglied eine Gianna Quatroventi war, Tochter von Celestina Quatroventi. Hier war interessant, dass es im Laufe der Jahrhunderte offenbar für einige Hexen und Zauberer nicht mehr so abwegig gewesen war, sich mit reinrassigen Riesen zu paaren, wobei Riesinnen die Paarung besser überstanden, als wenn Hexen sich auf den Geschlechtsakt mit Riesen einließen. So hatten die Quatroventis eine reinrassige Riesin als Urur- beziehungsweise Urgroßmutter, Megara die Rote aus dem Land der schwarzen Berge. Dalia, die als Mitglied der vierzehn Schwestern vom hohen Tisch den Namen Schwester Milanesa getragen hatte, hatte damals gute Verbindungen in die Nachbarländer nördlich der Alpen gepflegt. Doch vierhundert Jahre waren eine lange Zeit. So viel hatte sich in dieser Zeit verändert. Sie musste noch mehr wissen, bevor sie daran gehen konnte, eine neue Schwesternschaft der Feuerrose zu begründen, ohne gleich zu Beginn mehr Spioninnen ihr feindlich gesinnter Hexenschwesternschaften in die eigenen Reihen zu holen.
Luigi schlief wieder tief und fest. Er hatte nichts von dem mitbekommen, was seine Herrin und Dauerliebhaberin in den letzten Tagen und Wochen so angestellt hatte. Das durfte auch gerne so bleiben. Selbst wenn sie ihn völlig beherrschte musste er nicht wissen, dass sie bald wieder groß und mächtig werden wollte.
Ihre besonders feinen Ohren vernahmen das leise Brummen von Brennstoffmotoren aus weiter Ferne. Jemand kam mit nicht gerade kleinen Kraftwagen. Dann hielten die Wagen im Norden, Westen und Osten. Das war sicher wieder ein Versuch, ihren Wohnsitz zu erstürmen.
Ladonna schlüpfte aus dem Bett und betrat das Atrium der Villa. Hier verwandelte sie sich in eine schwarze Störchin und flog auf das Dach hinauf. Jetzt konnte sie die möglichen Angreifer sehen, dreißig Männer, keine Frauen. Die trugen klobig wirkende Anzüge, wohl kugelsichere Westen. Sie brauchten von ihren Fahrzeugen bis zur Grundstücksgrenze gerade hundert Schritte. Dann schwärmten sie aus, um das Grundstück zu erstürmen. Sie kamen jedoch nur fünf Schritte über die Begrenzung. Dann explodierten sie regelrecht in hellroten Feuerbällen. Einige von denen feuerten aus ihren mitgebrachten Schnellfeuerwaffen. Doch die Geschosse flogen gerade einmal halb so weit wie nötig, bevor sie keinen Schwung mehr hatten und harmlos niederregneten. Einer der noch nicht auf dem Grundstück stehenden feuerte eine Rakete von der Schulter ab, die direkt auf die Villa zufliegen sollte. Das Geschoss raste über die Grundstücksgrenze hinweg und flog auf die Villa zu. Der lange blaue Flammenschweif, der aus dem mit kleinen Flossen besetzten Hinterende schlug, zerfaserte und erlosch. Doch das Ding flog weiter. Gleich war es an der Villa. Ladonna erkannte mit ungewohntem Schrecken, dass diese Banditen genau das Mittel gefunden hatten, ihren Schutzwall zu überwinden. Ohne jedes Geräusch raste die nun antriebslose Rakete auf die Villa zu. Ladonna hoffte darauf, dass die Macht des Blutfeuernebels schlimmeres verhindern konnte. Die Rakete fuhr laut krachend bis zum geflügelten Hinterende in die östliche Wand der Villa, wo zum Glück niemand von der Dienerschaft wohnte. Damit verflog der Rest von Ladonnas Überlegenheit. Sie musste persönlich eingreifen, wenn sie nicht wollte, das ihr neues schönes Haus und vor allem ihr Rosengarten zerstört wurde. Ja, und noch eine Schreckensvision kam ihr. Sie wusste von Rose Britignier, was am elften September 2001 geschehen war. Wenn jemand das bei der Villa Luigis auch so machte reichte die Wucht und das Gewicht einer in die Vernichtung gesteuerten Flugmaschine völlig aus, um die Villa in Trümmer zu legen, ohne dass sie abbrennen musste. Wer zu dem Zeitpunkt darin war würde nicht überleben.
Ladonna kannte es nur von wenigen Gelegenheiten, richtig Angst zu haben. Hier und jetzt bewiesen diese Räubersleute von der Cosa Nostra, dass die Moggli von heute Sachen konnten, mit denen diese sie das Fürchtenlehren konnten. Ihr wurde klar, dass sie ohne das Wissen Rose Britigniers völlig naiv einem solchen Angriff ausgeliefert wäre.
Um dem Angriff ein schnelles Ende zu bereiten apparierte Ladonna in den Rücken der noch stehenden Männer und schleuderte blaue Feuerbälle auf ihre Einsatzfahrzeuge. Diese explodierten in blau-goldenen Flammenwolken. Die Angreifer erkannten, dass ihnen wer in den Rücken gefallen war und wandten sich um. Da sahen sie die Feindin, eingehüllt in eine blutrote Aura, die ihren Körper wie eine Rüstung aus reinem Licht konturgenau umschloss. Da flog der nächste Feuerball los, genau zwischen drei mit diesen Raketenwaffen auf die Villa zielende Angreifer. Diese verschwanden in einem weiteren blau-goldenen Feuerball. Der Anführer feuerte derweil mit Sprenggeschossen auf die von der roten Aura umgebene Widersacherin. Er wusste zwar schon durch die plötzlichen Explosionen seiner auf das Grundstück gestürmten Mitkämpfer, dass er es hier nicht mit natürlichen Gefahren zu tun hatte. Doch sein Befehl war eindeutig: Töte alle auf dem Grundstück! Dieser Befehl wurde erst durch einen weiteren blauen Feuerball aus seinem Bewusstsein gebrannt.
Die letzten fünf Männer, die keine Raketenwaffen dabei hatten rannten blindlings auf das Grundstück und fanden dort den Tod im Blutfeuernebel. Als keiner mehr lebte betrachtete die Rosenkönigin den Schaden durch die ins Haus eingeschlagene Rakete. Luigi und die anderen mochten nun wach sein. Doch sie hatten die klare Anweisung, nicht hinauszulaufen, solange es draußen dunkel war. So konnte Ladonna sich in Ruhe ansehen, wie groß der verursachte Schaden war.
Sie apparierte zur Villa hinüber und ließ die Rakete in der flammenlosen Glut ihres Ringes verschwinden. Dann reparierte sie das ausgefranste Loch in der Wand der Villa mit "Repleno!" Danach begutachtete sie die Zerstörung im von der Rakete verwüsteten Raum. Das ließ sich mit einem einzigen Reparo-Zauber jedoch schnell wieder beheben. Die Villa sah nun wieder so aus wie vor dem Angriff. Von der Dienerschaft war niemand gestorben, auch nicht ihr Unterworfener. Doch wenn die Rakete in den Rosengarten eingeschlagen wäre ... Ladonna verwünschte jene, die diese Waffe erfunden hatten. Diese Moggli waren wahrlich im Stande, selbst gegen gestandene Zauberer und Drachen zu kämpfen.
Um sicher zu sein, dass auch wirklich nichts in ihrem neu angelegten Garten verwüstet war besichtigte sie die neuen Beete und vor allem das große Beet mit den besonderen Rosen, die sie dort eingepflanzt hatte. Sie betrachtete besonders eine davon und dachte konzentriert: "Deine Widersacher und Erben wollen mich vernichten. Aber so werdet ihr mich nicht los, Ginella. Du und die anderen werdet noch viele Jahre von mir gehegt werden."
"Dich soll das Feuer der Hölle fressen, Hexe", hörte sie Donna Ginas wütende Gedanken und sah die dazugehörige langstielige Rose, die sich von selbst hin und herbewegte. So wütend mochte die Clanmutter sein, dass sie die eingeschränkte Bewegungsfähigkeit einer Blume so sehr ausreizen konnte.
"Wie gesagt, Ginella, du und die anderen bleibt bei mir und ich bleibe hier", dachte Ladonna.
Mit den ersten Gedanken, wie sie ein so großes Grundstück gegen schwere Geschosse oder abstürzende Flugmaschinen schützen konnte betrat sie die Villa auf herkömmliche Weise. Ihr fiel ein, dass der einzige erfolgversprechende Zauber mindestens zwei Tage dauern würde, weil hierbei nicht nur die Kräfte der Erde, sondern auch die von Sonne und Mond einbezogen werden mussten. Weil demnächst Frühlingsvollmond war konnte sie die ganze Kraft des Mondlichtes dafür nutzen. Die Zeit musste sie sich nehmen, bevor sie sich der nächsten Aufgabe zuwandte, die Suche nach Heptachirons Haus.
Die anderen waren am Weststrand und erwarteten ihre Söhne und Töchter. Sie hatte damit heute nichts zu tun. Gianna hatte zwei Wochen vor dem Ferienbeginn geschrieben, dass sie über die Frühlingsferientage, die die von den Vatikanlern begeisterten Mitschüler Osterferien nannten, in der Akademie bleiben würde. Gut, mit seit drei Wochen sechzehn Jahren konnte sich Gianna schon überlegen, ob sie über die Wintersonnenwendferien oder die Frühlingsanfangsferien in der Akademie bleiben wollte oder nicht. Celestina konnte ihr das sogar nachempfinden, dass ihr der übliche Alltag auf der Vollmondinsel 30 Kilometer östlich der italienischen Halbinsel, etwa auf Höhe des berühmten Stiefelabsatzes, irgendwie nicht mehr interessant genug war. Hier wohnte nur, wer entweder mit dem Trubel auf dem Festland nichts zu schaffen haben wollte oder wegen wichtiger Gründe vom Festland fort musste, so wie sie damals, als sie Gianna noch in sich getragen hatte und fast wegen eines üblen Gerüchtes von hexenfeindlichen Zauberern getötet worden wäre. Die hatten nämlich gedacht, sie sei eine lebende Anhängerin der Sardonianerinnen. Offenbar hatte da wer alte Chroniken in die Finger bekommen und ihre Ahnenlinie nachverfolgt. Sicher, ihre Ahnmutter Dalia Lunarossa hatte wahrhaftig einer mächtigen Hexenschwesternschaft angehört, den Schwestern der Feuerrose. Als deren Anführerin verschwunden war, weil sie sich wohl mit der Französin Sardonia überworfen hatte, hatten Dalia und ihre zwei Schwestern Emiliana und Feodora die alte Schwesternschaft in die Gemeinschaft der drei Monde umgewandelt. Die für Sardonia waren hatten sich dieser angeschlossen, die anderen hatten sich über Jahrzehnte in den Dolomiten verborgen.
Was Celestina und nun auch Gianna für Zauberer noch irgendwie unheimlich machte war, dass in deren Ahnenlinie eine reinrassige Riesin vorkam. Von dieser hatten Celestina und Gianna nicht nur ein besonders schnelles Größenwachstum, sondern auch eine gewisse Neigung zu heftigen Gefühlsausbrüchen, übermenschliche Körperkraft und eine mit jedem Jahr stärker ausgeprägte Fremdzauberresistenz. Celestina maß stolze 2,30 m und besaß die himmelblauen Augen ihres Großvaters väterlicherseits. Gianna maß mit sechzehn schon 1,90 m und konnte es bis zum Wachstumsende noch auf die Körperlänge ihrer Mutter bringen, obwohl der Riesenanteil bei ihr wieder weniger stark ausgeprägt war.
Sie hatte sich ihrer Größe entsprechend ein Haus mit nur einem Stockwerk aber sehr hohen Räumen erbauen lassen, auf drei Vierteln der Höhe des Monte Luna Piena, wo die Sternwarte und die runde Gemeindehalle standen. Unter dem Berg selbst lagerten große Gold- und Silbervorräte, wofür sie von den Spitzohren aus Mailand und Rom jedes Jahr tausend Galleonen pro Einwohner über zehn Jahren bekamen, auch ein Grund, warum der Inselrat sehr tolerant gegenüber möglichen Neuzugängen war und auch gerne den Nachwuchs förderte. So durften die volljährigen Bewohner bei jedem Vollmond im Haus der hellen Nächte feiern und wem es Spaß machte die Wonnen der leiblichen Liebe erleben. Es galt jedoch, was im Haus der hellen Nächte geschah blieb dort, sofern es nicht neun Monate später mit lautem Schrei die Welt begrüßte. Spätestens dann mussten die Urheber dieses ersten Schreis einander angetraut werden. Tja, ob Gianna das im nächsten Jahr machte oder erst, wenn sie Gattiverdi mit einem hoffentlich achtbaren Abschluss verließ wusste Celestina nicht und würde es niemals wagen, sie danach zu fragen. Überhaupt entwickelte sich das Verhältnis der alleinerziehenden Hexenmutter zu ihrer Tochter zu einer gewissen Rivalität, weil Gianna meinte, etwas versäumt zu haben, weil sie nicht wie ihre Mitschüler in größeren Ansiedlungen aufgewachsen war.
Lautes Lachen gerade erst zwölf Jahre alter Kinder drang bis zu Celestina herauf. Die glücklichen Kinder durften die erste Frühlingsvollmondnacht im lichtdicht verschlossenen Haus erleben. Denn bei Vollmond war die Insel für Außenstehende sichtbar, wo sie sonst unsichtbar war. Deshalb mussten die hundert Bewohner bei Vollmond in den Häusern sein, und die Fischerwache achtete darauf, dass kein Boot und auch kein Schiff der Insel nahe kam, ohne dass die Besatzung mit entsprechenden Gedächtniszaubern darauf gebracht wurde, dass es die Insel nicht gab. Seit zwanzig Jahren musste zudem in jeder Vollmondnacht ein Himmelsaugenwischer zu den Institutionen hin, von denen aus die von den Moggli auf riesigen Raketen hoch in den Himmel geschossenen Kunstmonde kreisten, die mit besonders scharfen elektrischen Augen ausgestattet waren. Die Himmelsaugenwischer hatten dann dafür zu sorgen, dass diese Kundschaftermonde die Vollmondinsel nicht an ihre Überwacher weitermeldeten. Diese Moggli hatten in den letzten hundert Jahren so viele Sachen erfunden, dass die magische Welt langsam in Bedrängnis kam. Eine Sardonia oder eine Ladonna Montefiori hätte denen das niemals durchgehen lassen, dachte Celestina.
Die letzten Sonnenstrahlen färbten den Mittelberg der Vollmondinsel orangerot. Die vier Mondhüter saßen sicher schon in der Sternwarte, um genau bei vollständigem Erscheinen des Mondes über dem Horizont in alle Haupthimmelsrichtungen auszuschwärmen und das Lied von der Vollmondnacht zu singen, damit jeder und jede sich weiterhin an die mehr als achthundert Jahre alten Regeln hielt. Zumindest war in der Zeit der Bildverpflanzungszauber erfunden und für viele Bewohner der magischen Welt verfügbar geworden, dachte Celestina. Früher hatten die Bewohner in wirklich lichtdichten Häusern aushalten müssen, bis der Mond wieder unter den Horizont gesunken war. Insofern glichen sie den Werwölfen.
Bei dem Gedanken an Werwölfe fiel Celestina ein, dass sie wie alle andern gehört hatte, dass in den letzten Nächten in Europa mehrere ungemeldete Pelzwechsler auf eine nicht näher erwähnte, nur als grauenvoll bezeichnete Weise gestorben waren. Angeblich hatte da jemand einen Weg gefunden, das Mondlicht in eine für Lykanthropen tödliche Strahlung zu verwandeln. Deshalb durften die Delli Pontis mit ihrem sechsjährigen Sohn Giacomo in dieser Vollmondnacht im gläsernen Fisch in das Mer hinuntertauchen, tief genug, damit das Mondlicht nicht zur Verwandlung trieb. Sonst wurde Giacomo immer in einem mit vielen unzerreißbaren Kissen ausgepolsterten Zimmer eingesperrt, bis der Mond vollständig untergegangen war. Diesmal würde Celestina also nicht das erst schmerzvolle und dann wütende Heulen und Knurren widerhallen hören. Das würde in sechs Jahren interessant, wenn der dann zwölf Jahre alte Giachi in die Gattiverdi-Akademie gehen sollte, ob sie ihn dort reinließen. Doch wenn sie da Zwergenstämmige, Riesenstämmige, Kinder von grünen Waldfrauen und sogar einen halben Meermenschen aufgenommen hatten bekamen die das sicher auch hin, einen Werwolf in den Vollmondnächten sicher unterzubringen. Ihr Ding sollte das dann eh nicht sein, weil Gianna dann sicher schon längst aus der Akademie raus war.
Celestina schloss ihre Fensterläden und tippte sie mit dem Zauberstab an. Für sie wurden sie scheinbar durchsichtig. Doch in Wirklichkeit übertrugen sie nur die in ihrer Richtung sichtbare Landschaft auf die andere Seite. Wegen ihrer großen Räume hatte Celestina auch große Fenster, metergroße Scheiben aus unzerbrechlich bezaubertem Glas und mit einem Polsterungszauber auf der Außenseite, um aus Versehen dagegen fliegende Vögel unverletzt abzuweisen. So hatte sie in ihrem Haus einen ähnlich unverstellten Rundumblick wie die Besucher der Mondwarte auf dem Gipfel, die auf zwei Stockwerken unter der Kuppel eine gewölbte Fensterfront entlangschreiten konnten. Nur wer einmal bei Vollmond in der Mondwarte war musste da bleiben, bis der Mond wieder unterging.
Celestina lauschte in den Abend hinaus. Sie sah den Frühlingsvollmond gelb über dem östlichen Horizont aufsteigen. Ja, da klang schon das Lied der Mondnacht:
"Hört, ihr Bürger, gebet Acht,
nun beginnt die Vollmondnacht.
Schließt die Fenster völlig Dicht,
dass kein Funken Licht durchbricht.
Weilt im Hause still und stet,
bis der Vollmond untergeht.
Hört, Ihr Bürger, gebet Acht,
nun beginnt die Vollmondnacht."
"Tja, was Gianna gerade macht. Sicher darf sie noch ins Atrium Maximum, bis die Stundenglocke zehn schlägt", dachte Celestina. So war das, als sie selbst in Gattiverdi war, damals eine Exotin, weil sie mit zwölf Jahren schon jeden Vierzehnjährigen Jungen überragte und auch schon sichtbar gerundet war. Gianna hatte sie in der Hinsicht brav beerbt, wohl nur, weil ihr Körper sich nicht darum scherte, wie gut Gianna mit ihrer Mutter zurechtkam.
Irgendwo draußen im Meer mochte nun der gläserne Fisch in der von keinem Funken Sonnen- oder Mondlicht erreichbaren Tiefe gleiten, jenes bis zum Meeresgrund Tauchfähige und mit einer Frischlufterneuerungsbezauberung versehene Fahrzeug für Meeresforscher und Besucher aus der Zaubererwelt. Wie tief musste der Fisch tauchen, um die Kraft des Vollmondes vollkommen abzuschirmen? Sie wusste es nicht.
Ladonna Montefiori hatte die letzten Tage als heimliche Diebin in verschiedenen Juweliergeschäften Silberschmuck erbeutet, ohne dass jemand davon was bemerkt hatte. Ihr neuer Statthalter Pontio Barbanera hatte ihr mehrere als Hexenillustrierte getarnte Listen per Eule geschickt. Die Listen enthielten die Namen von ehemaligen Rosenschwestern aus dem 16 Jahrhundert, deren Nachfahren, sofern es umfangreiche Chroniken und Stammbäume gab. So konnte sie erfahren, dass es die Vollmondinsel immer noch nicht geschafft hatte, der Sichtbarkeit bei Vollmond entgegenzuwirken. Dort wohnte Celestina Quatroventi, die zweitjüngste Nachfahrin Dalia Lunarossas. Ein wenig ärgerte es Ladonna, dass Dalia und ihre Schwestern vor Sardonia zu Kreuze gekrochen waren und sie unbehelligt ihr über den Mittelmeerraum reichendes Imperium Magarum hatte regieren lassen. Pontio Barbanera hatte dann noch herausgefunden, dass die größeren Hexenschwesternschaften nach Sardonias Ende zerfallen sein sollten. Ladonna hatte dafür nur ein verächtliches Grinsen übriggehabt.
Im Moment legte sie direkt um den Garten und die Villa zwanzig eingeschmolzene Silberstücke in die Erde, die sie mit verschiedenen Anrufungen des Mondes und mit eigenem Blut bezaubert hatte. Am Ende der insgesamt zwei tage andauernden Bezauberung hatte sie genau in der Mitte des von den Raketentrümmern löcherig geschossenen und wieder reparierten Daches einen armlangen Zylinder aus reinstem Silber in eine Halterung eingefasst und gewartet, bis der Mond aufging. Auf diesen richtete sie den silbernen Zylinder nun aus. Dann beschwor sie mit Worten aus der Sprache der Veelas und mit Zauberstabbewegungen von Osten, über Süden bis zum Nodern die Mächte der Himmelskörper Sonne, Mond und Erde, nichts der Erde entrissenes, nichts im Feuer geformtes und nichts aus den Höhen der Luft niederfahrendes in den Wirkungsbereich des Zaubers eindringen zu lassen. Am Ende sang sie noch mehrere auf einen bestimmten Rhythmus abgestimmte Zeilen über den Lauf des Mondes, den Spiegel der Sonne. Dann ritzte sie sich mit ihrem Ring am rechten Unterarm und ließ Blut auf den silbernen Zylinder träufeln. Dabei deklamierte sie:
"Blut und Mond vertraut in Pein,
wachse Kraft im Mondenschein!
wachse bis zur ganzen Macht,
die uns schützend überdacht!"
Der Silberne Zylinder erglühte in einem rötlichen Licht. Vom Mond selbst schien ein fingerbreiter Strahl genau auf den Zylinder zu treffen. dann glommen die um Haus und Garten eingegrabenen Silberkörper und sandten helle Strahlen aus, die sich zu einem Lichtgespinnst verwoben, das zu einer silbernen Kuppel verdichtet wurde. Auf dem Höhepunkt der magischen Erscheinungsform erbebte die Erde für eine Sekunde. Rote Feuerschlieren glitten durch die Luft. Der Blutfeuernebel wechselwirkte mit der von Ladonna errichteten Schutzbezauberung. Dann glühte die silberne Kuppel so hell wie der Mond selbst, wurde undurchsichtig und gab einen warmen, leisen Summton von sich. Dieser hielt eine volle Minute an. Dann wurde der Ton leiser und leiser, die Kuppel dunkler und durchsichtiger. Schließlich war sie mit üblichen Menschensinnen nicht mehr zu erkennen. Doch es hatte sich was verändert. Der silberne Zylinder war verschwunden, besser, er war nun unsichtbar. Nur sie, Ladonna, konnte ihn erspüren, weil er mit ihrem Blut in Verbindung gebracht worden war. Der Dom des schützenden Nachtauges war errichtet, ein aus alter Zeit überlieferter Zauber, der womöglich schon den Druiden und Ägyptern bekannt gewesen war. Sein Vorteil war, dass nun nichts metallisches oder sonst wie durch Feuer verändertes von oben oder den Seiten in den Bezauberten Raumm eindringen konnte, das nicht von ihr oder Luigi am Körper getragen wurde. Der Nachteil war, dass innerhalb dieser Bezauberung kein weiterer dem Mond oder der Sonne zugeordneter Zauber mehr gewirkt werden konnte und Ladonna nicht länger als eine Mondphase lang ausßerhalb seines Wirkungsbereiches sein durfte, damit er nicht wieder verflog. Ob sie das immer konnte wusste sie nicht. Aber zumindest konnte sie für's erste Angriffe wie vom elften Sepptember 2001 verhindern.
Er konnte wieder innere Bilder und Laute wahrnehmen. Das war das untrügliche Zeichen, dass er bald wieder mit seinem Geist aus dem Körper hinausgehen und seine sieben Handlungshände führen konnte, sofern es diese noch gab oder diese durch Weitergabe ihres Blutes neue Erben gezeugt hatten. Damals hätte er beinahe durch eine verfluchenswerte Magierin seine sieben Handlungshände verloren. Dieses Weib, dass keinen Vater, aber zwei Mütter gehabt haben sollte, hatte über die Kräfte von drei Rassen geboten, die sonst klar und rein voneinander getrennt gediehen. Mit diesen Kräften hatte sie herausgefunden, wie seine Handlungshände zu finden waren. Sie hatte einen seiner Diener nach dem anderen aufgespürt und in einem übermächtigen Zauberfeuer vergehen lassen. Sicher, körperlich hatte sie diese vernichtet und damit scheinbar die Blutkette dauerhaft unterbrochen. Doch er, der mächtigste Sohn der Nacht nach den drei im Schoß der Erde gefangenen Hundertarmigen, hatte deren inneres Selbst noch rechtzeitig in seinen Geist eingesogen und auf andere Nachtkinder seines Ordens übertragen. Doch das hatte ihm viel Kraft gekostet. Er hatte sich deshalb von seinem Herrn und Meister, dem Schöpfer aller Nachtkinder, Kraft ausborgen müssen, um seine Boten zu retten. Deshalb war sein Meister auch erschöpft eingeschlafen und schlief wohl immer noch. Deshalb würde er von sich aus versuchen, das zu schaffen, was ihm der Meister damals vorgegeben hatte. Er wollte nicht länger nur für sieben Tage und Nächte wachbleiben, um dann ganze siebenhundertsiebenundsiebzig Mondwechsel im unaufweckbaren Schlaf zu verbringen. Doch er wusste auch, dass er mächtige Feinde hatte, die es immer wieder anstellten, sein dauerhaftes Wachen zu vereiteln. Dieses Zwei-Mütter-Balg hatte es ihm zu deutlich gezeigt, wie nahe er seiner eigenen Vernichtung gekommen war. Denn hätte sie die Kenntnisse über seine Heimstatt erlangt, sie hätte ihn wohl direkt angegriffen. Sicher hätte er dann ihr von drei Rotblutträgerrassen gemischtes Blut trinken und damit auch ihre besonderen Kräfte einverleiben können. Doch die Art, wie sie seine Handlungshände ausgebrannt hatte, hatte ihn davon abgebracht, sie zu sich hinbringen zu lassen.
Die inneren Bilder und Klänge die er jetzt wieder wahrnahm waren Erinnerungen an die letzten Wachzeiten. Er sehnte sein vollständiges Erwachen herbei, wieder einmal darauf hoffend, dass er den nächsten langen Schlaf von sich abschütteln und endlich den Zweck seines Daseins erfüllen konnte, der Statthalter des wahren Meisters zu werden und die Kinder der Nacht als ihr aller Herrscher zum vorherrschenden Volk dieser Welt zu erheben.
Was hatte der wahre Herr und König der Dunkelheit ihm geraten? Er sollte um den immer wiederkehrenden Schlaf abzuwerfen seine Handlungshände aussenden und ... was tun? Es hatte irgendwas mit dem Zusammentreiben von Rotblütern aus allen sieben Richtungen seiner immer wieder kurz aufflackernden Herrschaft zu tun. Aber wen genau und wie genau hatte ihm der Meister erst verraten wollen, wenn er seine getreuen Anhänger in alle Richtungen entsandt hatte. Doch da war ihm dieses Zwei-Mütter-Balg in die Quere gekommen, wie auch immer sie seine Handlungshände erkennen und heimsuchen konnte. Innerhalb nur zwei Nächte hatte sie fünf seiner sieben Handlungshände gefunden und versucht, ihnen den Standort ihres Meisters zu verraten. Er hatte versucht, mit Hilfe seiner überragenden Geisteskräfte gegen diese unerträgliche Nachstellung anzukämpfen. Doch das hatte mit der körperlichen Vernichtung seiner Diener geendet. Diese Bilder der Schmach kehrten immer wieder und die Ungewissheit, was der Meister ihm noch sagen wollte, bevor er mit dessen geborgter Macht die sieben Handlungshände aus ihren dem Tode geweihten Leibern herausgerissen hatte. Ab da hatte er jede seiner folgenden Wachzeiten versucht, den Meister zu rufen. Doch dieser war in tiefem Schlaf gefangen, so wie er selbst viele hundert Mondwechsel schlafen musste, bevor er eine neue kurze Wachzeit erleben durfte. Diese Wachzeiten hatte er damit zugebracht, herauszufinden, dass die verhasste Widersacherin von damals, die sich die Herrin vom Blumenberg genannt hatte, kinderlos geblieben war und bei einem Zweikampf mit einer anderen mächtigen Zauberin unterlag. Hatte dieses mit einem verderbliches Feuer aussendenden Ring geschmückte Zwei-Mütter-Balg ihre Kenntnisse an andere rotblütige Zauberinnen weitergegeben? Er wusste es nicht und mied deshalb die Berührung mit Rotblütlerinnen. Ihm war es nur noch wichtig, dass sein Orden weiterbestand und sich heimlich vergrößerte, bis er endlich wieder die Stimme des Meisters würde hören können, auch wenn dieser ihn sicher sehr schmerzvoll strafen würde, weil er dessen Macht erfolglos gegen seine Feinde verschwendet hatte und ihn damit selbst in einen tiefen Schlaf gestürzt hatte. Doch was, wenn der Meister nicht mehr da war? Was, wenn dessen mächtiger Geist in alle Winde verstreut worden war? Dann blieb er, der siebenarmige Sohn der Nacht, der einzig wahre Erbe seines Reiches. Doch was brachte es ihm, wenn er nur sieben Tage und Nächte lang wach sein konnte und dann wieder beinahe sechs Jahrzehnte lang unaufweckbar schlafen musste?
Langsam fühlte er, wie er aus dem Meer von erinnerten Erlebnissen auftauchte. Seine Gedanken wurden immer deutlicher. Nicht mehr lange, so hoffte er, und seine nächste Wachzeit war gekommen.
"Möchtest du mir sagen, wie du dich jetzt entschieden hast, Laurentine?" fragte Catherine Brickston die blondhaarige Mitbewohnerin, mit der sie gerade bei den Latierres den Ostertag verbrachte. Laurentine Hellersdorf blickte ihre Vermieterin an und nickte dann. "Ich werde deiner Mutter morgen einen Brief schicken, dass ich Genevièves Bitte entspreche und mindestens noch fünf Jahre unterrichte. Dann sind erstens alle aus Beauxbatons raus, die mit mir da gewohnt haben und Claudine kann dann noch hier von mir die Grundlagen für den Schulwechsel lernen."
"Ich unterstütze dich in jeder Entscheidung, Laurentine. Ich verstehe, dass du dich hier in Millemerveilles wohlfühlst, weil die Kinder hier dankbare Schüler sind und die Eltern mittlerweile mehr Vorteile darin sehen, dass jemand aus der nichtmagischen Welt die dort für nötig gehaltenen Grundlagen zumindest mal erwähnt, damit ihre Kinder nicht ständig wie unter einer Käseglocke gehalten aufwachsen. Ich denke, Meine Mutter wird dir auch keinen Heuler schicken, weil du dich lieber für den einfacheren Weg entschieden hast, als dich mit ihr und den pubertätsbedingt sehr unwilligen Mädchen und Jungen auseinanderzusetzen. Ich war nur neugierig, wie du dich entscheidest."
"Öhm, Direktrice Dumas hat mir sogar in Aussicht gestellt, mein Gehalt um fünfzig Galleonen im Monat aufzustocken, wenn ich hierbleibe. Aber das war nicht der Grund für meine Entscheidung. Was mich hier hält hast du schon richtig erkannt. Abgesehen davon ist es nicht immer der einfachere Weg, mit Madame Dumas klarzukommen. Vor allem wenn sie selbst gerne wissen möchte, warum ich dieses oder jenes im Unterricht erwähne oder drannehme. Im Grunde sind es ja nur die Rechengrundlagen und der Umgang mit Zahlen im Bereich zwischen Zehntausend und Hunderttausend."
"Und die internationalen Maßeinheiten und warum wir die Zeit in sechzigerteile aufteilen und wieso Computer für die nichtmagische Gesellschaft so unentbehrlich geworden sind und was für eine Katastrophe es wäre, wenn die Stromversorgung ausfallen würde ..." zählte Catherine Brickston auf, was Laurentine ihr mal über den von ihr selbst erstellten Lehrplan erzählt hatte. Laurentine erwiderte darauf: "Bleibt zu hoffen, dass ich damit nicht irgendwem Ideen gebe, wie er oder sie die ganze Welt ins Chaos stürzen kann. Aber Madame Dumas hat es von mir verlangt, das zumindest zu erwähnen."
"Auch wieder richtig", erwiderte Catherine. Dann sah sie ihre Tochter Claudine an, die mit Aurore Latierre und Chloé Dusoleil gerade auf dem Klettergerüst herumturnte und dabei gerade mal mit einer Hand an einer Querstange hing. "Claudine, nicht mit einer Hand alleine!" rief sie ihr zu und zuckte zusammen. "Oh, da habe ich wohl wen erschreckt", grummelte Catherine. Laurentine hütete sich davor, was dazu zu sagen. Sie sah lieber zu Julius und Millie hinüber, die sich mit Jeanne unterhielten. Millie und Jeanne wirkten schon sehr rundlich. Laurentine fragte sich, wo die Zeit abgeblieben war. War sie wirklich noch so jung, gerade erst drei Jahre aus der Schule raus? Jeanne trug schon ihr viertes Kind, Millie die kleine Clarimonde, die im Juni oder Anfang Juli auf die Welt kommen würde.
"Laurentine, kommst du bitte rüber. Sandrine möchte mit dir sprechen!" rief Julius, als er sah, dass Laurentine ihm zusah. Laurentine stand auf und winkte Catherine zu, ohne was zu sagen, damit Catherines drittes Kind nicht noch einmal erschrak.
"Ich hörte von Maman, dass du ihr doch nachgegeben hast und noch fünf Jahre hier bei uns bleibst. Dann kommen Estelle und Brian auch noch bei dir zum Unterricht", sagte Sandrine Dumas. Seitdem ihr Mann sich mit Vita Magica angelegt hatte und von diesen mit einem Wiederaufwachsen unter Beibehaltung seiner bisherigen Erinnerungen bestraft worden war wohnte Sandrine wieder häufiger in Millemerveilles bei ihren Eltern. Das Haus, was ihr nun offiziell verschwundener Mann geerbt und an seinen Sohn Brian weitervererbt hatte, war ihr trotz der Zwillinge zu groß.
"Na ja, vorausgesetzt, deine Mutter kriegt mit mir nicht doch noch mal richtigen Krach wegen was auch immer", sagte Laurentine Hellersdorf. "Es ist auch schon komisch, mir vorzustellen, dass ich erst Claudine und dann noch Chloé, Philemon und Aurore als Grundschulkinder mitbekomme. Zumindest muss ich mir dann selbst keine Kinder zulegen."
"Sieht meine Mutter nicht so. Gut, sie hat nach mir und Véronique wohl keine Lust mehr auf Mutterschaft und Säuglingspflege, sofern ich ihr nicht noch ein paar Enkelkinder vorstelle, von wem dann auch immer", sagte Sandrine.
"Hat Julius noch Kontakt zu der Amme, die Gérard versorgt?" wollte Laurentine wissen.
"Ich bekomme jede Woche einen Brief von ihr weitergeleitet. Mit mir selbst darf sie offiziell keinen Kontakt halten, und ich selbst darf sie nicht direkt anschreiben. Aber Julius macht das für mich, wenn er Leerlauf im Büro hat."
"Oh, das könnte aber schwierig werden. Nach der Kiste mit den Lundis, wo wir nur mitbekommen haben, dass da wohl noch einiges muggeltauglich aufzubügeln ist, ist da wohl nicht viel mit Leerlauf", entgegnete Laurentine.
"Hmm, stimmt wohl", sagte Sandrine und behielt ihren Sohn Brian im Blick, der gerade wieder in die Nähe von Philemon Dusoleil geraten war. Philemon hatte zwar gelernt, dass ein ständig draufhauendes Kind keine Freunde finden und meistens selbst auf die Nase bekommen konnte. Aber wenn es um Spielsachen ging konnte Philemon kleineren Kindern gegenüber immer noch ruppig sein. Doch Aurore nahm ihr die Sorgen ab, ihr Sohn Brian könnte sich mit Philemon um den Platz auf der Seilschaukel zanken. Sie ergriff Brian einfach bei der Hand und zog ihn hinter sich her zur aufgebauten Wippe. "Oha, deine künftige Schwiegertochter", feixte Laurentine.
"Glaube ich nicht, dass Aurore eine zickige Schwägerin wie Estelle mitheiraten will. Aber sie hat wohl gemerkt, dass Brian fast mit Philemon zusammengerasselt wäre. Das ist auch einer der Gründe, warum ich wieder so gerne hier in Millemerveilles wohne, weil die beiden da mit anderen Kindern zusammen groß werden können", erwähnte Sandrine.
"Ich denke eher, dass Aurore wen zum Mitwippen gesucht hat", bemerkte Laurentine trocken. Sandrine sah sie dafür erst verdutzt an, nickte ihr dann aber beipflichtend zu.
ein Besen flog heran, darauf saß Monsieur Renard, der Besitzer des Dorfgasthofes Chapeau du Magicien. Er bremste über dem als Landezone eingerichteten Rasenstück und landete etwas holperig. Dann schulterte er seinen Besenund kam zu den Latierres, Sandrine und Laurentine herüber.
"Oh, heute nichts los bei dir?" fragte Julius den Schankwirt von Millemerveilles. "Doch, eigentlich schon. Ich habe für heute und morgen eine ganze Reisegruppe aus Ford-de-France auf Martinique, die unbedingt das legendäre Zaubererdorf Millemerveilles besuchen wollten. Aber mir fehlt eine Hilfskraft. Oder ist Caroline bei euch?"
"Caroline war bisher nie hier, zu viele kleine Kinder, vor allem von Latierres", erwiderte Millie schnippisch. "Ich dachte, du hättest ihr fünfzehn Galleonen im Monat angeboten, statt sie für umsonst arbeiten zu lassen."
"Ja, habe ich, vor einem Monat", grummelte Monsieur Renard. Aber heute morgen ist sie irgendwie aus ihrem Fenster gestiegen und wohl disappariert. Da sie sonst nichts mitgenommen hat dachte ich, die ist bei euch oder anderen Freunden von hier, um mir zu zeigen, wie aufgeschmissen ich bin, wenn sie nicht mehr da ist. Das finde ich sehr undankbar von ihr."
"Hmm, wenn sie zu einer Freundin hier in Millemerveilles ist, dann sicher zu Alice, die früher bei den Violetten gewohnt hat", sagte Millie. "Seitdem ich mit dem Kinderkriegen losgelegt habe war es das mit Kameradschaft zwischen der und mir. Und das hat sich auch nicht geändert. Könnte aber sein, dass sie zu Apollo und Léonie rübergeflohpulvert ist, um sich von Léonie ihr Leid klagen zu lassen, dass vor Apollos Tür immer mehr kreischende Junghexen stehen."
"Da komme ich gerade her. Léonie ist bei ihren Eltern, weil sie jetzt auch was kleines im Bauch hat und nicht weiß, wie sie das Apollo beibringen soll, dass er auch was beim Sauberhalten zu machen hat, und Alice ist mit ihren Eltern heute morgen nach Paris zu Alices Großonkel und Großtante. Gut, deshalb dachte ich, sie wäre da, wo ich sie wohl nicht suchen würde. Deshalb bin ich hier. Aber wenn sie nicht hier ist, nichts für ungut."
"Ich denke, das ist echt nur ein Test, wie viel Galleonen sie dir wert ist", sagte Julius mit leicht verschmitztem Grinsen. Sandrine sah Carolines Vater noch an und sagte ganz ruhig: "Wann hast du sie denn zuletzt gesehen?"
"Gestern Abend, als die Reisegruppe in den Schankraum reingeflohpulvert kam und dann noch drei von denen aus dem Reisesphärenkreis bei uns ankamen, davon eine, die auch gerade in Umständen ist, und das nicht zu knapp, als hätte die gleich drei oder vier im Bauch. Gut, mehr zu sagen wäre grob indiskret. Ich habe Caroline gebeten, die Zimmer klarzumachen und die Gäste, die noch nicht schlafen wollten zu bedienen. Ich habe ihr sogar zehn Galleonen für die zwei Nächte in Aussicht gestellt. Sie hat's wohl gemacht und ist dann selbst schlafen gegangen, als der Schankraum leer war."
"Ford-de-France? Ja, da kann eine Hexe schnell zwei oder drei Kinder auf einmal empfangen", grummelte Sandrine. "Ach, und dann ist Caroline heute morgen nicht mehr runtergekommen, um weiterzuarbeiten?"
"Genau, ich musste die Gruppe selbst bedienen und mir von Eleonore Gigie ausleihen, um das alles hinzukriegen. Aber die Leute möchten von richtigen Menschen bedient werden, nicht von Hauselfen. Die einen halten Elfen für den Luxus dekadenter Goldwühler, die anderen fühlen sich in ihrer Würde gekränkt, von sogenannten niederen Wesen bedient zu werden. Ich hoffe mal, dass Caro heute abend wieder da ist. Ansonsten weiß ich nicht, wie das morgen weitergehen soll. Aber ich bin nicht hergekommen, euch meinen Arbeitsalltag aufzuladen. Ich bin dann mal wieder weg, den Laden am laufen halten. Noch einen schönen Ostersonntag zusammen!"
"Ichglaube, Caro hat sich verflüchtigt", grinste Julius, als Monsieur Renard auf seinem Besen fortgeflogen war. "Fünfzehn Galleonen im Monat, das ist gerade mal für's Tischabwischen", fügte er noch ziemlich ungehalten hinzu.
"Der war auf jeden Fall sauer", meinte Millie. "Der wollte die hier und jetzt zusammenstauchen, was ihr denn einfiel, ihn so hängen zu lassen. Ich erinnere mich an manche Spottrede, die ich in meiner jungfräulichen Gehässigkeit auch immer gerne mitverbreitet habe, dass Männern abgeraten wird, sich mit Schankmädchen einzulassen, weil die nur das Gold wollen und sonst nichts. Kann sein, dass ihr das gestern überdeutlich klargeworden ist, als das zweite Mal nach der Quidditch-Weltmeisterschaft so viel Andrang im Chapeau war."
"Ja, und wenn ich Béatrice aus meinem Schlafsaal richtig verstanden habe hat sie bei der Weltmeisterschaft auch hundert Galleonen bekommen, aber musste die Hälfte davon an Papa und Maman abgeben, weil sie die ja in ihrem Betrieb verdient hat und die Umsätze nicht so hoch wie erhofft waren."
"Ups, hat die keinem von uns erzählt", erwiderte Millie. "Na ja, hatte sie ja auch echt keinen Grund zu, vor allem, wo ich nach der Weltmeisterschaft schon Aurore unterm Umhang trug und unsere Mädels mich mehr oder weniger zur interessanteren Angelegenheit erklärt haben."
"Moment, die war daa schon siebzehn", knurrte Julius. "Dann darf die doch ihr selbstverdientes Geld behalten, oder nicht?"
"Ich habe das nur von Béatrice, die es wohl von einer Roten hatte, die das mitbekommen haben will", sagte Sandrine. "Weil das eben nur Hörensagen war habe ich das auch nicht in Beaux rumgereicht. Ich wollte keinen Krach mit deinen Mädchen haben, Millie."
"Meine Mädchen? Lass das Léonie und wenn sie doch mal wieder auftaucht Caroline bloß nicht hören. Aber hast recht, irgendwelche nicht bewiesenen und einen selbst nicht betreffenden Sachen weiterzureichen ist schon fies. Zumindest sollten wir das jetzt alle wissen, die wir aus Beauxbatons raus sind."
"Vielleicht will sie dasselbe machen wie ihre große Schwester", wandte Sandrine ein. "von der habe ich von meinen Eltern, dass die damals gezielt einen Burschen aus Avignon betört hat, mit ihr ... na ja, jedenfalls hat sie dann schön gewartet, ob was Kleines bei ihr eingezogen ist und als das klar war diesen Burschen aus Avignon hier in Millemerveilles auf den Besen gehoben. Als Ihre Eltern dann dagegen protestieren wollten hat Hera Matine herausgefunden, dass deren kostengünstige Schankmagd schon schwanger war. Tja, das mit der Besenwerbung zusammen mussten die Renards dann hinnehmen. Deshalb konnte Louiselle wohl auch mit zwanzig aus Millemerveillels raus, wo wir alle gerade erst nach Beaux reinkamen."
"Stimmt, habe ich nie nach gefragt", erinnerte sich Julius. Millie grinste schelmisch und meinte, dass ihr Martine die Sache nach ihrer ZAG-Feier erzählt hatte, wo Caros große Schwester dabei war."
"Soll uns eigentlich auch nicht kümmern", grummelte Sandrine mit leicht geröteten Ohren. Ihr war wohl peinlich, das mit Caros großer Schwester ausgeplaudert zu haben und dass die Latierres sich darüber amüsierten. Deshalb bat sie darum, über etwas anderes zu sprechen.
"Wie geht's Joe, Laurentine. Hat Catherine da noch was zu gesagt?" wollte Julius wissen.
"Der schämt sich wohl noch wegen der Sache mit diesen Aufputschbonbons, Julius. Deshalb bleibt er mir selbst auch schön aus dem Weg. Er ist jetzt bei seinen Eltern in Birmingham. Sein Vater hat aber schon angesagt, dass er sofort wieder nach Paris zurückkehren soll, wenn was mit dem kleinen Brickston sein sollte. Babette ist bei Jacqueline Richelieu und Catherine und Claudine sind hier."
"Ich habe einen ungefähren Eindruck, wie kaputt sich jemand fühlt, der geistig oder seelisch aus der Schine geflogen ist. Aber ich hoffe, Joe kommt wieder in die Spur zurück, bevor der kleine Brickston angekommen isd."
"Achso, wo ihr schon mal hier zusammensteht", sagte Laurentine. "Ich könnte für Ende Mai drei VIP-Karten für ein Alizée-Konzert im Olymp in Paris kriegen, hat Oma Monique mir am Telefon verheißen. Allerdings müsste ich bis zum 16. April fest zusagen. Offenbar haben einige Kunden ihre Vorbuchung widerrufen. Jetzt, wo Opa Henri nicht mehr da ist schmeißt Oma Monique zusammen mit Großonkel Louis die Agentur. Sie meint, das wäre sie den von Opa Henri betreuten Jungkünstlern schuldig. Ich würde da zusagen, für Claudine und vielleicht Joe und Catherine. Aber Oma Monique kann die Karten nicht für lau rüberreichen. Falls ihr also noch nicht wissen solltet, was ihr Claudine zum sechsten Geburtstag schenken wollt ..."
"Ich kuck mal auf das Euro-Konto von mir, was da geht und melde das dann in zwei Tagen zurück, was Millie und ich beisteuern können, wenn es nicht all zu teuer wird", sagte Julius.
"Auf jeden Fall schon mal Danke für die Rückmeldung", sagte Laurentine. Dann sprachen sie wieder von der Grundschule und dass Laurentine sich immer wohler in Millemerveilles fühlte, weil sie hier einen festen Haltepunkt gefunden hatte und mit dem, was sie gelernt hatte auch was sinnvolles anfangen konnte.
Als es abend wurde und die ganzen Gäste wieder fort waren meinte Millie zu Julius: "Sandrine hat sehr biestig geguckt, als Caros Erzeuger und Antreiber was von einer Mehrfachmutter aus Martinique gesagt hat. Am Ende kennt die die noch von der Feier damals."
"Das wäre ziemlich heftig, schon fast paranoid", erwiderte Julius. "Aber irgendwas muss Caroline geritten haben, zumindest mal für heute auszusteigen. Na ja, sie ist volljährig. Ihr Vater kann sie rein rechtlich nicht zwingen, für ihn zu arbeiten, Familie hin oder her. Vielleicht will sie ihm das einfach nur klarmachen. Mancher Esel lernt erst, wenn ihm wer auf den Kopf haut", grummelte Julius. Millie nickte.
"Julius, ich möchte euren schönen Abend nicht mit Sachen verderben, die nicht klar erklärt werden können", hörte Julius Temmies celloartige Gedankenstimme in sich. "Aber ich fühle sowas, dass da irgendwas vorgeht, was mit den Mitternachtsfolgern zu tun hat. Könnte sein, dass es mit Kanoras' Erbin zu tun hat oder mit dem Streit der machtberauschten Nachttochter, die sich für eine Göttin hält und anderen bösen Seelen. Vielleicht ist es aber auch das, was die Mutter der vaterlosen Töchter angerichtet hat oder noch anrichtet. Wie gesagt kann ich das nicht genau erkennen. Ich fühle nur unsanfte Schwingungen im Gefüge der Kraft."
"Hmm, vielleicht kläre ich das noch mit den Sonnenkindern, ob die was mitbekommen haben, Temmie. Ich hoffe, sonst ist alles in Ordnung", erwiderte Julius.
"Meine kleine Tochter möchte bald meinen warmen Schoß verlassen, und meine Körpermnutter hat mein jüngstes Geschwisterchen im Leib. Das ist jetzt zumindest sicher", erwiderte Temmies Gedankenstimme.
"Echt, manchmal könnte ich unsere große weiße Dame wirklich filettieren, Monju. Da haut die wieder so eine Unheilsbotschaft raus, ohne klar anzusagen, was genau ist und ob du da überhaupt was mit zu tun hast. Was soll der Mist?" knurrte Millie.
"Das wir wegen Vengor lernen mussten, wie schnell was weit weg zu sein scheint direkt vor der Tür stehen kann", sagte Julius. Millie fauchte nur unartikuliert. Dann meinte sie: "Ja, wenn man nicht rechtzeitig hinhört, was woher kommt, Monju. Aber wir können die Welt nicht immer retten. Es gibt so viele Leute, die mehr Erfahrung damit haben als wir zwei zusammen. Du hast schon genug mit dieser Lundi-Sache um die Ohren und dann noch die Kiste mit Ladonna, von der wir auch lange nichts mehr gehört haben."
"Du meinst zu lange und zu wenig", erwiderte Julius. "Die Dame ist garantiert nicht wieder eingeschlafen, sondern macht was, das uns allen viel zu früh ganz übel aufstoßen wird. Aber die kann sich dann gerne mit Anthelia/Naaneavargia herumschlagen", grummelte Julius. Millie stimmte ihm zu.
Selene hatte um ihrer Rolle gerecht zu werden die hundert bunten Eier gesucht und gefunden, die ihre Mutter und ihre anderen Verwandten in der Nacht versteckt hatten. In vielen Eiern steckten Geschenke, wie bunte Kleider, eine bei Berührung mit Wasser sehr schön singende Planschnixe, sowie zusammengerollte Zauberbilder, die fliegende Vögel oder Naturansichten darstellten. Richtig erfreut war die Wiedergeborene über eine Haarspange, die wie ein Ganzkörperimperviuszauber jeden Regen, Staub oder Schnee von ihr abhalten konnte. Allerdings musste Selene dabei immer wieder an die höchst beunruhigenden Berichte über die erste Frühlingsvollmondnacht denken. In den Zaubererweltzeitungen hatte was von zwanzig in Flammen aufgegangenen Häusern mit unregistrierten Werwölfen gestanden und dass der immer noch rein kommissarische Zaubereiminister Lionel Buggles einräumen musste, das jemand eine neuartige Waffe zur gezielten Abtötung von Werwölfen erfunden hatte. Außerdem hatte er die damit angerichteten Vernichtungsorgien sogar ausdrücklich begrüßt und verlautbart:
"Wer immer diese Methode ersonnen hat mag im Moment wie ein Massenmörder angesehen werden. Doch mit dieser Machtdemonstration hat wer auch immer der redlichen Zaubererwelt einen sehr großen Dienst erwiesen. Denn nun müssen alle kriminellen Lykanthropen sich entweder unauffindbar halten, wenn der Mond aufgeht oder müssen sich unter den Schutz unseres Ministeriums begeben. Denn jene, die bereits von uns registriert und damit einhergehenden Verhaltensregeln unterworfen wurden blieben unbehelligt. Vielleicht besteht die Möglichkeit, mehr über die Beschaffenheit dieses durchschlagenden Machtmittels zu erfahren, um unsererseits den Wildwuchs der Werwütigen zu beenden und jedes Bestreben, die Lykanthropie wie eine Waffe gegen uns zu verwenden, ein für alle mal zu beenden."
Buggles hatte selbst nicht gesehen, wie grausam die Werwölfe starben. Sicher, Selene hatte das auch nicht mit angesehen. Doch die Erfahrungen aus ihrem Leben als Austère Tourrecandide hatten ihr eine sehr plastische Vorstellung davon verschafftg. Sie hatte sich dann angehört, wie ihre Mutter und die von ihr eingeladenen Eltern natürlich entstandener Zaubererweltkinder sich darüber unterhalten hatten, dass es womöglich zu einem Vergeltungsfeldzug der verbrecherischen Werwölfe kommen mochte. Außerdem suchten sie noch nach Silvester Partridge. Buggles war in eine gewisse Bedrängnis geraten, weil immer mehr der von späten unfreiwilligen Vaterfreuden bedachten Zauberer dem Ministerium unterstellten, es sei nicht daran interessiert, das Verschwinden des Heilers aus Viento del Sol aufzuklären, weil Buggles offenbar Angst habe, sich mit den Entführern oder Mördern anzulegen und deshalb den Ministerposten an jemanden abtreten sollte, der mehr Entschlossenheit und Mut aufbiete. Natürlich wurde Vita Magica für Silvester Partridges Verschwinden beschuldigt. Doch weil ja dieser höchst unerträgliche Friedensvertrag zwischen dem Zaubereiministerium und dieser obskuren Gruppierung bestand konnten sie in den Staaten niemanden verfolgen, selbst wenn der oder die sich offen hinstellte und zugab, dass er oder sie zu dieser Bande gehörte. Immerhin war Eartha Dime wieder aufgetaucht und hatte nur erzählt, dass sie wohl in Zaubertiefschlaf versenkt worden war. Dann war herausgekommen, dass sie im frühen Stadium mit Zwillingen schwanger war. Das hatte Eartha und ihre Mutter dazu gebracht, öffentlich zu behaupten, dass die Spinnenhexen offenbar auch mit dieser Bande paktierten. Das wiederum glaubten weder Selenes Ururgroßmutter Eileithyia noch ihre zweite Mutter Theia noch sie. Deshalb fürchtete Selene, dass die Führerin der Spinnenhexen diese Anschuldigung nicht auf sich sitzen lassen oder gar zu einem Vergeltungsschlag ausholen würde. Vielleicht hatte sie das sogar schon, und Buggles' Leute hatten es geschafft, einen tonnenschweren Granitdeckel darüber zu stülpen.
Als der Ostersonntag sich dem Ende neigte verabschiedeten sich die Gäste Theia Hemlocks. Selene hatte einige der aus den magischen Ostereiern gezogenen Geschenke je nach Geschlecht an die Gäste weitergegeben. Jetzt saß sie mit ihrer Wiedergebärerin am Küchentisch und genoss den orangeroten Sonnenuntergang.
"Was hältst du davon, was Buggles zu den Vollmondmassentötungen gesagt hat, Selene?"
"Überhaupt nichts, Mom", erwiderte Selene. "Auch wenn ich selbst keine Werwölfe in der Nähe haben will sind sie keine Schimmelpilze, die mal eben weggescheuert oder weggebrannt werden können. Wer immer das gemacht hat ist genauso skrupellos wie Tom Riddle oder dessen nicht minder wahnwitziger Nachahmer Wallenkron. Aber Buggles singt das Loblied auf einen möglichen Siegfrieden mit den Lykanthropen. Was hat Dime geritten, diesen Mann zum Stellvertreter zu berufen?"
"Wo du dies so fragst, Kleines, behaupte ich mal, dass es die Hexe war, die ihm durch Catena-Sanguinis-Fluch die Unterwerfung abgezwungen hat und jetzt vielleicht bangt, dass jemand ihn doch noch tötet."
"Ich denke, wenn Vita Magica das eingefädelt hat werden sie ganz sicher aufpassen, dass er nicht einmal eine Beule am Kopf abbekommt, solange das mit ihm verbundene Kind noch nicht geboren ist", schnaubte Selene Hemlock. "Aber am Ende ist dieser Buggles ebenso von diesen Leuten verflucht worden und muss Dimes abgezwungene Politik fortsetzen."
"Zumindest steht er nicht unter dem Catena-Sanguinis-Fluch. Aber wenn die kriminellen Werwölfe mitbekommen, dass er sich gefreut hat, dass mal eben hundertzwanzig Lykanthropen einfach so vernichtet wurden könnten die ihrerseits was ganz übles gegen ihn planen. Da müssen wir aufpassen, dass wir da nicht zwischen alle Fronten geraten", sagte Theia Hemlock. Selene nickte ihrer zweiten Mutter zustimmend zu.
Minister Bernadotti hatte sie alle um sich versammelt, die es unmittelbar betraf, Giovanni Montebianco von der Gesetzesüberwachung, Pontio Barbanera vom Eingreiftrupp bei unerwünschter Magie in der Moggli-Welt, Umberto Cavalletti von der Einsatzgruppe gegen gefährliche Zauberwesen und Magier, auch bekannt als die roten Schwertträger, Marga Lunarossa, die einzige Abteilungsleiterin, welche die Aufsicht und Führung magischer Geschöpfe unter sich hatte und deren direkte Stellvertreter, seinen eigenen eingeschlossen.
Der Raum war fensterlos. Die Tür mit einem purpurfarbenen Vorhang verhängt. Ebenso hing vom zwölfarmigen Kronleuchter eine langstielige weiße Rose herab, seit der Römerzeit das Symbol für eine streng geheime Unterredung. Derartig eingestimmt sahen die hier zusammengetretenen drei Hexen und die acht Zauberer den Minister an. Dieser straffte sich in seinem mit goldenen Armlehnen und einer Spitzbogenartig abschließenden Rückenlehne versehenen Stuhl und richtete das Wort an die Versammelten:
"Signore e Signori, wie in den letzten Tagen in einzelnen Gesprächen wie auch bei der allmonatlichen Sicherheitskonferenz erörtert habe ich Sie alle heute hier zusammengerufen, um die schwerwiegende Entscheidung zu verkünden, die im Angesicht der uns bekannt gewordenen Bedrohung ansteht.
Mit Wirkung vom heutigen Tage an erkläre ich die aus einem uns bisher unbekannten Zauberbann befreite und bereits ungesetzlich tätig gewordene Dunkelhexe Ladonna Montefiori, auch genannt die Rosenkönigin, zur Persona non grata maxima und spreche ihr alle Schutz- und Bürgerrechte der italienischen Zaubererwelt, sowie der mit uns verbundenen Länder San Marino und Sardinien ab. Sie gilt gemäß der Gefahrenlageeinstufungsverordnung vom 13. Januar 1735 als unbeherrschbare Gefahr für Frieden, Leib und Leben der uns anvertrauten Hexen und Zauberer, sowie der Menschen ohne Magie in unserem Zuständigkeitsbereich. Daher gilt für jedes Mitglied der zur Bekämpfung von Gefahren aus der Zaubererwelt unterhaltenen Einsatzgruppen die Weisung, Ladonna Montefiori bei Sicht mit allen Mitteln dauerhaft handlungsunfähig zu machen. Eine Entziehung magischer Gebrauchsgegenstände würde nicht ausreichen, da sie zu uns nicht vollständig bekannten Teilen die Eigenschaften einer Veela und einer grünen Waldfrau in sich vereint und somit auch ohne Zauberstabgebrauch Einfluss auf Menschen und Tiere ausüben kann. Ladonna darf ohne vorhergehenden Anruf mit voller magischer Gewalt bekämpft und beim kleinsten Ansatz von Gegenwehr sofort getötet werden. Da ich sie eben gemäß meiner Befugnisse von allen Schutz- und Bürgerrechten verlustig erklärt habe begeht niemand der sie tötet einen Mord." Die Anwesennden sahen den Minister ein wenig beklommen an. Doch keiner wagte etwas zu sagen, weil der Minister noch nicht fertig war. "Im Gegenteil besteht für den Vollstrecker dieses unmissverständlichen Auftrages die Möglichkeit, eine wenn auch sehr diskrete Entlohnung und/oder Auszeichnung zu erwerben. Ich weise Sie alle nun an, Ihre Einsatzgruppenleiter in einzelnen Gesprächen gemäß der hier verdeutlichten Sub-Rosa-Verordnung mit dieser klaren Anweisung vertraut zu machen. Ich erwarte nicht, dass Sie in den nächsten Tagen schon Erfolg haben werden. Doch ich erwarte, dass diese Anweisung ohne Widerspruch und Zögern umgesetzt wird. Wer aus Gewissensgründen ablehnt, dieses Subjekt namens Ladonna Montefiori zu töten, soll durch Gedächtniszauber von Ihnen vergessen, dass diese Anweisung erteilt wurde und dem oder der Betreffenden ein anderer Auftrag erteilt werden, bei dem die Begegnung mit diesem Subjekt höchst unwahrscheinlich ist. Ich weise zusätzlich zur sichtbaren Geheimhaltungssymbolik in diesem Raum ausdrücklich darauf hin, dass dieser Beschluss und die an Sie ergangene Anweisung auf gar keinen Fall an andere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Zaubereiministeriums und damit auch auf gar keinen Fall der magischen Öffentlichkeit bekannt werden dürfen, da wir sonst mit einem unmittelbaren Präventivangriff dieses Unwesens zu rechnen haben und dadurch unnötige Opfer unter der Zivilbevölkerung verursachen würden. Nur ihre unmittelbar untergeordneten Mitarbeiter dürfen diese Anweisung kennen und ausführen. Hierzu ist Ihnen die Verwendung von Eidessteinen ausdrücklich erlaubt. Auch wenn nicht jeder von Ihnen diese Anweisung gutheißen mag und es mir schwerfiel, sie zu beschließen, erhoffe ich für uns alle, dass diese schwerwiegende Maßnahme dazu beitragen wird, die Sicherheit und den Frieden in der magischen Welt zu wahren und bei dieser Gelegenheit auch klarzustellen, dass wir Bürger der italienischsprachigen Zaubererwelt keine weitere Tyrannei auf unserem Boden dulden werden, wie sie von Sardonia in Frankreich, Ladonna in Italien, Grindelwald in Nord und Westeuropa, Tom Riddle auf den britischen Inseln und zu letzt Hagen Wallenkron weltweit angestrebt oder vollzogen wurde. Pericolum extraordinarium sit delendum cum velocitate maxima. Dieser Grundsatz galt schon für den Orden des Mercurius Trimagnus zur Zeit der römischen Republik, der Ursprungszeit der akademischen und hermetischen Zauberei und Hexerei. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit, Ihre Loyalität und Ihre Mitarbeit!"
Als der Minister sich zurücklehnte wollte Marga Lunarossa wissen, ob es zutreffe, dass Ladonna Veelastämmig sei. Bernadotti bejahte es. "Dann wird eine mit welcher Notwendigkeit auch immer begründete Tötung dieser Hexe eine grausame Vendetta entfachen. Bei den Veelas gilt, wer einen wie auch immer von ihnen abstammenden gewaltsam ums Leben bringt beschwört den eigenen Tod und den aller Familienangehörigen herauf. Wollen Sie Ihre Entscheidung angesichts dieses Einwandes noch einmal überdenken?"
"Ich wurde bereits deutlich darauf hingewiesen, dass die Veelas grausame Blutrache üben, zumindest damit drohen, dies zu tun, auch wenn sie dadurch selbst ihre Angehörigen gefährden, weil wir Hexen und Zauberer durch die Benutzung von Zauberstäben mehr Abwehr und Gegenschläge aufbieten können als Veelas", sagte der Minister.
"Ja, aber in Frankreich, so wie in vielen Ländern Ost- und Südosteuropas leben mehrere veelastämmige Hexen und Zauberer, die ebenfalls diesem Verhaltenskodex unterworfen sind. Jene können genausogut, wenn nicht noch besser Zaubern und hexen. Das ist ja auch wohl einer der Hauptgründe, warum Sie sich dazu entschlossen haben, Ladonna Montefiori als größtmögliche Bedrohung einzustufen und ihre Beseitigung zu verfügen. Aber diese Hexe hat sicher noch lebende Verwandte, die ihren Tod rächen werden. Im Moment des Todes übermitteln Veelas und Veelastämmige an ihre Blutsverwandten eine letzte Gedankenbotschaft, egal wie schnell der Tod eintritt. Die Gedankenbotschaft vermittelt die Todesursache. Es würde also nicht reichen, Ladonna Montefiori mit dem Todesfluch zu treffen, zumal dieser laut ausgerufen werden muss und dem Opfer somit eine Sekunde bleibt, sich seiner Wirkung bewusst zu werden, also ausreichend Zeit verschafft, den unmittelbar bevorstehenden Tod zu vermelden. Sardonia muss das gewusst haben, da sie dafür bekannt war, ihre Feinde und Feindinnen als sehr abstoßende Leichname zurückzulassen oder sie ganz und gar verschwinden zu lassen. dass Ladonna wieder aufgetaucht ist sagt mir, dass Sardonia wusste, dass die Veelas sich an ihr rächen würden, wenn sie sie tötete. Wir sollten deshalb selbst davon absehen, Ladonna zu töten. Kampf- und handlungsunfäig machen ja, aber nicht töten."
"Einwand zur Kenntnis genommen. Also versuchen Sie, Ihren Leuten zu verdeutlichen, dass dieses Geschöpf auf jeden Fall handlungsunfähig gemacht werden muss. Falls es sich jedoch wehrt soll und darf tödliche Magie eingesetzt werden. Vielleicht besteht auch die Möglichkeit, sie aus so großer Ferne zu eliminieren, dass sie den Urheber ihres Todes nicht erkennen und weitermelden kann. Auch daran dürfen Sie gerne arbeiten, wobei Veelastämmige eine sehr hohe Fluchresistenz besitzen", erwiderte der Minister. Barbanera meldete sich dann noch zu Wort:
"Öhm, warum haben Sie diesen Beschluss ausdrücklich für Ladonna Montefiori gefasst und nicht schon für jene Hexe, die sich in eine schwarze Spinne verwandeln kann und von sich behauptet, das Erbe Anthelias vom Bitterwald übernommen zu haben?"
"Wenn die Gefährlichkeit dieser Hexe entsprechend hoch einzustufen ist werde ich einen derartigen Beschluss sicher fassen und verkünden", erwiderte der Minister.
"In den nächsten Tagen rechnen meine Mitarbeiter von der Vampirüberwachung mit einer neuen Aufwallung der Heptachironsekte, weil diese glauben, dass ihr Herr und Meister wieder aufgewacht ist und sie ihm durch Blutopfer neue Kraft zuführen wollen. Wie sollen wir in dieser Angelegenheit verfahren", wollte Montebianco wissen.
"Jeden Vampir pfählen oder mit Sonnenspeeren niederstrecken, der sich einem Zaubererhaus nähert, ohne darum gebeten worden zu sein", sagte der Minister.
"Ich gebe noch einmal zu bedenken, dass wir uns keinen Vergeltungsfeldzug der Veelas einhandeln dürfen, auch und vor allem unter Berücksichtigung des Schutzes unschuldiger Mitmenschen und der Einhaltung der internationalen Magiegeheimhaltungsstatuten", erwiderte Marga Lunarossa. Barbanera nickte ihr zustimmend zu.
"Wenn wir dieses Unwesen und alle die wie sie denken nicht mit aller Härte bekämpfen wird sie die Geheimhaltungsstatuten und alle anderen Zaubereigesetze nichtig machen. Untätigkeit und Verzagtheit sind also die falschen Mittel."
"Wann haben Sie einen Menschen in Notwehr getötet, Minister Bernadotti?" wollte Marga Lunarossa wissen.
"Ich danke dem Schicksal dafür, dass ich bis heute diesen Akt nicht vollbringen musste", erwiderte der Zaubereiminister.
"Dann fällt es um so leichter, es zu befehlen, dass andere dies tun, nicht wahr, Minister Bernadotti?" erwiderte Marga Lunarossa. Doch der Minister zögerte keine Sekunde mit seiner Antwort:
"Ich frage Sie, ob Sie nur deshalb auf die Schonung dieser Unperson drängen, weil sie genauso eine Hexe ist wie sie, Signora Lunarossa. Immerhin galt und gilt seit vielen Jahrhunderten auch und vor allem durch die brutale Verfolgung vor allem von Hexen, dass jede Hexe eine andere als ihre Mitschwester ansieht."
"Ich kann nichts dafür, dass Zauberer andere Zauberer nicht als ihre Mitbrüder ansehen, wenn diese nicht in ihrem Geiste handeln", erwiderte Marga Lunarossa ebenso unverzüglich. Der Minister merkte, dass sein Vorstoß gerade zum Rückschlag wurde und sagte schnell: "Ich habe Ladonna gerade aller Rechte als Hexe ledig gesprochen. Damit ist sie keine Ihrer zu achtenden Mitschwestern, Signora Lunarossa. Dies dürfen Sie als verbindliche und vor allem endgültige Bestätigung von mir vermerken."
"Dann gibt es wohl nichts mehr zu sagen", gestand Marga Lunarossa ein. Der Minister und alle anderen nickten ihr zu.
"Hiermit weise ich Sie alle an, an Ihre Arbeitsplätze zurückzukehren. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag!" beschloss der Minister diese ganz geheime Dienstanweisungsrunde. Die von ihm einbestellten standen auf und verließen den kleinen Konferenzraum. Bernadotti blieb alleine zurück. Natürlich hatte er daran gedacht, dass es eine Blutfehde mit den Veelas geben konnte. Doch wenn diese selbst unter Ladonna Montefiori zu leiden hatten mochten sie ihre Familienehre in diesem Falle zurückstellen, zumal ein blutiger Krieg zwischen ihnen und den Zauberern viel mehr Opfer auf ihrer Seite fordern würde. Er bedauerte, keinen eigenen Veelavertreter zu haben, da es in seinem Zuständigkeitsbereich keine Veela oder eine veelastämmige Hexe oder einen dito Zauberer gab. Doch er wusste, dass er mit seiner sehr einschneidenden Entscheidung nicht zu den Franzosen hingehen durfte, um deren Veelavertreter zu bitten, eine Art Abschussfreigabe gegen Ladonna Montefiori zu erwirken. Er kannte den Veelabeauftragten der Franzosen, der angeblich auch für alle anderen Veelas und deren Blutsverwandte in Westeuropa zuständig war nicht persönlich, wusste jedoch, dass dieser wohl wie Marga Lunarossa jede ansatzweise Gefährdung von Velas ablehnen würde.
Er dachte daran, dass Ladonna Montefiori womöglich nicht in Italien bleiben würde. Wenn sie das Land verließ bestand vielleicht die Möglichkeit, einen Aussperrungsbann über sie zu verhängen, der sie ihr ganzes Leben lang daran hindern würde, italienischen Boden zu betreten. Das wäre noch eine Möglichkeit, das Problem aus seinem Hoheitsgebiet abzuschieben. Sollten sich dann andere mit ihr herumschlagen. Er dachte an ein Gebet, dass er im Tagebuch seines moggli-Urgroßvaters gelesen hatte:
O heiliger Sankt Florian,
verschon mein Haus!
Zünd' das Haus von ander'n an!
Der Minister konnte nicht wissen, dass sein heftig verteidigter Beschluss, Ladonna auf Sicht zu töten, bereits in diesen Sekunden an diese Selbst weitergemeldet wurde. Sicher musste er davon ausgehen, dass Hexen vor allem aus der Lunarossa-Linie immer noch den "guten alten Zeiten" nachtrauerten und deshalb vielleicht mit dieser Unperson paktieren würden. Doch dass Ladonna sich bereits einen Zauberer unterworfen und zum ihr sklavisch ergebenen Statthalter geformt hatte konnte er wirklich nicht ahnen.
"Wagt er es also wirklich, mich für vogelfrei zu erklären. Er soll froh sein, dass ich im Moment etwas anderes zu unternehmen habe, als ihm die gebührende Aufwartung zu machen. Bleibe weiter unauffällig und wachsam. Aber warne davor, dieses Anwesen zu betreten. Es sei denn, du möchtest unliebsame Mitarbeiter loswerden."
"Natürlich nicht, meine Königin", gedankenantwortete Ladonnas Kundschafter und Statthalter in der italienischen Zaubererwelt. "Aber wo du mir gerade die Meldung des Tages gemacht hast, mein Statthalter, was hat deine Suche nach den lebenden Vampiren dieses Siebenarmigen ergeben. Wohnen von der Sekte welche in eurem Hoheitsgebiet?"
"Laut der Aufzeichnungen aus der Vampirüberwachungsbehörde muss es im Jahre 1954 in Venedig zu mehreren grauenvollen Morden gekommen sein, bei denen die Opfer völlig ausgeblutet waren. Es konnte ermittelt werden, dass die Familie Manoquinto, einstmals Angehörige einer Venezianischen Kaufmannsfamilie, mit dieser Bluttat in Verbindung stehen sollte. Doch die sieben Familienangehörigen, zwei Paare und drei als ihre Töchter bezeichnete Frauen, die vor der Vampirwerdung schon leibliche Schwestern waren, sind untergetaucht und mehr als ein Jahr nicht mehr gefunden worden. Dann waren andere Dinge bei uns wichtig, die Hinterlassenschaften Grindelwalds unter den Ruinen von Pompei, die wohl zehn Jahre nach seinem Machtverlust tätig wurden."
"Gibt es diese Hinterlassenschaften noch oder wurden sie vernichtet?" wollte Ladonna wissen.
"Diese Hinterlassenschaften mussten vernichtet werden, weil sie sonst wie eine Pest über uns alle hereingebrochen wären. Das ist aber auch schon alles, was mein Vorvorvorgänger in der Vertuschung von Magie vor Moggli an Aufzeichnungen hinterlassen hat."
"Gut, dann interessieren mich nur die Vampire von Venedig. Wie sagtest du, hieß diese Familie?" "Manoquinto?" Barbanera bestätigte es und konnte seiner Herrin sogar bildhafte Beschreibungen der sieben Vampire übermitteln. "Das sind sie. Ich habe schon mit einem von denen zu tun gehabt, einem jungen Burschen, dessen Eltern bei den zwei älteren Paaren sind, die du erwähnt hast. Gut, Ich weiß, wo und wie ich sie wiederfinde. Melde das keinem weiter, dass diese Vampire wieder auftauchen könnten. Ich will sie für mich. Wer mich davon abhält düngt meine Blumen", schickte Ladonna zurück. Ihr Statthalter bestätigte es.
"Da wwird sich Claudine freuen", sagte Laurentine, als sie von Julius offiziell mehrere 50-Euro-Scheine in die Hand gedrückt bekam. "Catherine kann wegen des kleinen Brickston nicht mitkommen, hat Hera ihr klargemacht. Joe hat nur zugestimmt, dass Claudine hingeht, wenn er selbst nicht mitgehen muss. Ich werde da mit ihr hingehen. Wer von euch möchte noch mit?" wollte Laurentine wissen.
"Du hörst die doch auch gerne, die blondierte Korsin", grinste Millie ihren Mann an. Dieser nickte. Das nahm Laurentine als Zusage. "Gut, da wird Catherine wohl auch froh sein, dass noch wer mitgeht, der auch gut mit der sogenannten Muggelwelt klarkommt und gut zaubern kann. Das Konzert von der ist am 28. Mai", erwähnte Laurentine. Julius nickte.
"Öhm, dass die Renards den Chapeau du Magicien zugemacht haben habt ihr natürlich mitbekommen", sagte Laurentine. "Caros Eltern suchen offenbar nach ihr, oder?"
"Ich weiß es nicht ganz genau. Millie hat da mehr läuten gehört", sagte Julius.
"Ja, dass Caro offenbar in Kanada gesichtet wurde, aber da nur eine halbe Stunde an einem Punkt gewesen ist. Offiziell nach ihr fahnden lassen können sie ja wegen ihrer Volljährigkeit nicht, solange kein Hinweis auf ein Verbrechen vorliegt. Caros Mutter hat nur gemeint, sie könnte ja von denen von Vita Magica entführt oder verführt worden sein. Jedenfalls sieht's so aus, dass die freiwillig da war. Na ja, die Leute hier kommen auch mal ohne abendliches Gemeinschaftsbesäufnis aus. Vielleicht hat Madame Matine dann im nächsten Januar einige neue Kinder zu holen", feixte Millie. Julius grinste lausbübisch, während Laurentine nicht wusste, ob sie das jetzt lustig oder peinlich finden sollte. Sie behalf sich damit, dass sie sagte: "Gut, ich bin nicht Heras Hilfskraft. Ich muss mich damit nicht auseinandersetzen." Das verstärkte zwar Millies und Julius' schadenfrohes Grinsen, machte ihr selbst aber keinen weiteren Kummer.
Er fühlte, dass sein Herr bald wieder aufwachen würde. Dann würde er ihm wieder Blutopfer bringen, zusammen mit seinem Schwager Velocchio, dem schnellsten Sohn der Nacht unter Mond und Sternen. Außerdem musste er die Verkündung vorantreiben. Denn eines Nachtens würde der siebenarmige Herr und Meister die Last des langen Schlafes endgültig abwerfen und mit seinen treuen Streitern und Verkündern erst die Nachtkinder und dann die rotblütigen Sonnenverbundenen beherrschen.
"Sag den Mädchen, sie sollen in den nächsten Nächten behutsamer jagen und nicht mehr wie schmutzige Menschenhuren ihre Beute ködern", sagte Manoquinto seiner Blutgefährtin. "Sag du es ihnen selbst. Die meinen, weil wir alle Nixenblut getrunken haben hätten wir die Pflicht, unsere dabei gewonnene Schönheit so oft es geht einzusetzen", schnarrte Manoquintos Frau Cassandra, die ihrem Namen ehre gemacht und ihn da selbst vor achthundert Jahren eingewickelt hatte, ihr Gefährte zu werden.
<"Dann soll Velocchio das tun. Sind ja seine und Mortulinas Töchter", knurrte Manoquinto. Warum er so hieß wussten nur die, die dem siebenarmigen Meister dienten. "Ich werde nun ausfligen, um die Mitbrüder unserer Gemeinde zusammenzubringen, damit wir dann, wenn er wieder aufwacht, sofort für ihn da sind", verkündete der Patriarch der Manoquinto-Sippe.
"Sei auf der Hut vor denen mit Eichenholzpfählen oder Sonnenzaubern!" rief ihm seine Frau zu. "Ich werde da selbst in dieser Nacht nach Sardinien fliegen und meine Blutschwester Pietranera besuchen. Sie wollte mir ihren neuen Blutgemahl vorstellen."
"Wir sind die einzigen, die das können, übers Meer fliegen", grinste Manoquinto und wünschte seiner Frau einen sicheren Flug durch die Nacht. Dann blickte er auf die große Standuhr, die durch verschiebbare Markierungen auch die Zeiten von Sonnenauf- und Untergängen anzeigen konnte, die er aus einem Kalender an der Wand ablesen konnte. Gleich überschritt der kleine Zeiger die für den heutigen Sonnenuntergang gesetzte Markierung. Dann würde er noch eine Viertelstunde warten, um sicher vor Sonnenstrahlen loszufliegen. Er dachte daran, ob sie nicht doch die Ketzer heimsuchen sollten, die meinten, einer Göttin huldigen zu müssen und zum Dank für diesen Abfall vom Glauben künstliche Häute tragen durften, die jeden Sonnenstrahl von ihnen fernhielten. Falls das kein dummes Gerücht war wären die Manoquintos unbesiegbar. Denn durch das trinken jungfräulichen Nixenblutes waren sie bereits vor der Kraft fließenden Wassers gefeit. Nur von Lykanthropen oder ägyptischen Werkatzen durften sie nicht trinken, weil deren Wandelbarkeit sich nicht mit ihrem Wesen vertrug.
Als sicher war, dass die Sonne nicht mehr schien öffnete Manoquinto den geheimen Ausgang aus dem unterirdischen Gewölbe, in dem früher Gold und Silber des Dogen gelagert worden waren. Er kletterte behände durch den schmalen Schacht nach oben und öffnete den bis heute nur seiner Familie bekannten Geheimausgang aus dem Dogenpalast. Er selbst hatte die Herren von Venedig noch erlebt, sogar das Blut derer Geliebter getrunken, nicht nur Mädchen.
Draußen im Freien verfiel er in die transformative Trance, in der er sich in eine menschengroße Fledermaus verwandelte. Dass er auf den lederartigen Flügeln silberne Fischschuppen hatte war die vernachlässigbare Nebenwirkung des regelmäßig getrunkenen Nixenblutes. Er hob ab und flog in Richtung norden davon.
Velocchio beobachtete, wie sein Schwager in die Nacht entflog. Auch er fühlte die tastenden Gedanken des bald erwachenden Meisters. Noch konnte er nicht klar zu ihnen sprechen oder ihnen mit seiner großen Macht helfen. Doch bald war er wach.
Cassandra flog eine Stunde vor Mitternacht davon. Weil sie eine Nacht lang auf Sardinien bleiben wollte konnte sie es sich leisten, so spät fortzufliegen, wenn sie dafür möglichst unbeobachtet das Meer überqueren konnte. Jetzt war er mit seiner Frau Mortulina alleine. Die drei gemeinsamen Töchter waren sicher schon gleich nach Sonnenuntergang aus ihren Verstecken in der Lagunenstadt losgezogen, um in den Touristenvierteln so zu tun, als seien sie niedere Straßendirnen, um die, die sowas nötig hatten, in uneinsehbare Ecken zu locken, damit sie ihnen dort genug Blut aussaugen und ihnen danach die Erinnerungen nehmen konnten. Die hatten es bis heute nicht für nötig gehalten, eigene Gefährten zu finden. Lunaurea, eine der drei, hatte sogar mal gescherzt, dass sie auch als drei Schwestern einen gemeinsamen Blutsohn oder eine Bluttochter haben konnten. Das hatten Velocchio und Mortulina strickt abgelehnt, weil die uralten Gesetze besagten, dass nur ein verschiedengeschlechtliches Paar einen Blutnachkommen zeugen durfte, wohl weil es damals in Griechenland zu abartigen Auswüchsen der Nachtkinder gekommen war.
"Velocchio, fühlst du das auch. Eine feindliche Ausstrahlung, die sich uns nähert. Ich fürchte, wir werden angegriffen", dachte Mortulina ihrem Blutgemahl zu.
"Ja, ich fühle es auch. Ist wie damals, wo wir unseren ersten Sohn verloren haben, weil diese Mischblüterin mit den Feuerrosen uns gejagt und fast gefunden hat. Er hat sich ihr entgegengeworfen und sein Leben für uns gegeben. Aber diese Mischblüterin ist von der dunklen Königin der Franken getötet worden. Die kann das nicht sein", erwiderte Velocchio. Doch die immer näher rückende Feindseligkeit war unbestreitbar.
Gewisperte Worte drangen aus dem Nichts zu ihm. Er fühlte, wie sein Blut darauf reagierte. Es prickelte erst, dann kamen die Schmerzen. Es war, als steche ihm jemand spitze Nadeln in Brustkorb, Arme und Beine. Die gewisperten Worte schwollen zu in seinen Ohren nachklirrendem Gebrüll an. Er verstand die Worte nicht. Doch sie taten ihm so weh, als stehe er im vollen Schein der Mittagssonne.
Unvermittelt ließen Gebrüll und Schmerzen nach. Velocchio fühlte jedoch, dass das feindliche Wesen noch näher gekommen war.
"Flieh, Mortulina, bevor die Feindin uns direkt angreift!" rief Velocchio. Er selbst eilte bereits in die Richtung, aus der die feindlichen Gedanken zu ihm hinwehten. Wäre der Meister schon wach, er hätte seine Geistesohren schärfen und die Gedanken verstehen können. Doch der Meister musste erst erwachen. Auch so erkannte er, dass es dieselbe Todfeindin war, die bereits drei der handelnden Hände des Meisters getötet hatte, nur um dessen Heimstatt zu finden. Er würde sie töten, er, Velocchio, der schnellste aller Nachtsöhne überhaupt. Im Vorbeirennen zog er ein sorgfältig geschliffenes Langschwert aus seiner an der Wand befestiggten Scheide und schwang es probehalber durch. Dabei pfiff die Klinge so hoch und laut durch die Luft, als stieße eine Fledermaus ihr Jagdgeschrei aus. Er würde der anderen mit einem Schlag den Kopf abhauen oder sie von oben bis unten spalten oder sauber in der Körpermitte in zwei Teile zerhauen. Ihr das Blut auszusaugen hatte sein Sohn schon versucht und war deshalb gestorben. Er würde nicht von dieser Metze totgeflucht werden.
Unvermittelt fiel vor ihm ein Stein von der Decke. Er war nur noch zehn Schritte vor dem Geheimausgang zum Schacht, durch den sein Schwager Manoquinto ausgeflogen war. Velocchio bremste seinen leisen Lauf und sah auf den Stein. Das war kein Kalk- oder Granitstein, sondern ein unförmiger Kohlebrocken. Als er genauer hinsah erglühte dieser im blutroten Licht, wurde schlagartig so hell, dass Velocchios überempfindliche Augen fast geblendet wurden. Dann entfuhr dem Brocken leise zischend eine fingerdicke rote Feuersäule, die sich innerhalb eines Atemzuges zu einer langstieligen Rose mit flammendem Blütenkelch auswuchs. Er erstarrte. Die Feuerrose, die Todesdrohung der schwarzen Rosenkönigin. Doch die konnte nicht mehr leben.
"Ihr, die ihr euch seine fünfte Hand nennt, bleibt wo ihr seid. Wer zu fliehen oder mich zu bekämpfen versucht stirbt einen grausamen Tod!" sprach eine glockenreine Stimme aus dem flammenden Blütenkelch. Dann verging die Feuerrose mit einem lauten Fauchen zu Rauch.
"Zur Mittagssonne, Velocchio, die Feuerrose. Die Feuerrose ist bei uns im Familiensaal erschinen", hörte er Mortulina laut aufschreien. "Ja, ich habe hier auch eine gesehen. Wer immer die geschickt hat will uns gefangennehmen oder töten!" rief Velocchio und dachte nicht daran, dass er damit wohl die Feindin auf sich aufmerksam machen konnte. Das begriff der schnelläugige erst, als sie direkt vor dem Eingang zum geheimen Luftschacht aus dem Nichts erschien, wie es die Rotblütler mit Zauberstäben lernen konnten. Den Zauberstab in der rechten, einen sanft glühenden Ring an der linken Hand stand sie vor ihm, eingehüllt in ein ärmelloses, schwarzes Kleid, dass gerade bis zu ihren Oberschenkeln herabfiel. Velocchio riss sein Schwert hoch und lief auf die andere zu. Er holte im Laufen aus und schlug zu. Jeder normale Mensch hätte den Schlag nicht einmal kommen sehen können, geschweige denn ihm auszuweichen vermocht. Doch als sein Schwert laut pfeifend die Luft zerteilte schnellte die Feindin nach rechts weg. Das Schwert sauste bis zum Boden durch und hieb laut klirrend einen Kratzer in den Boden.
"Na warte", zischte die Feindin und riss den Zauberstab hoch. Velocchio tauchtte nun seinerseits zur Seite weg, gerade als ein viel zu heller Lichtspeer in seine Richtung zischte. Er versuchte, sich für einen neuen finalen Hieb in Stellung zu bringen. Da schlug aus dem Ring der Feindin ein blutroter Blitz und fing das Schwert im Niedersausen ab. Die Klinge glühte auf. Auch der Griff zitterte. Funken stoben aus der in der Luft feststeckenden Klinge. Dann war der Griff für Velocchio zu heiß. Er musste das Schwert loslassen. Es wurde nun in roter Glut gebadet und zerrann zu apfelsinenfarbenen Tropfen, die laut zischend den Boden trafen. Velocchio hatte seine schöne Waffe verloren. Doch er selbst war gefährlich genug. Er war schnell, stark und vor allem wütend. Er sprang auf die andere zu, die ihn kommen ließ und dann mit beiden Beinen zugleich über sich hinwegschleuderte. Sein eigener Schwung warf ihn mit Urgewalt gegen die Wand neben dem Zugang zum Schacht. Das machte ihm keine Schmerzen. Er rolte sich zusammen und warf sich herum. Die andere stand jedoch nicht da, sondern schwebte knapp unter der Decke und zielte mit der linken Hand auf ihn. Da wurde er von einer Wolke aus blutrotem Nebel eingehüllt. Die Glut fraß sich wie mit hunderttausend nadelspitzen Zähnen in seine Haut hinein. "Halt still, dann dauert es nicht zu lange", hörte er die Feindin sagen. Doch er versuchte, aus dieser Folterglut herauszuspringen. Doch die Wolke hielt ihn wie kochender Schlamm, ja sie hob ihn sogar vom Boden an und umfloss seine Beine. Er konnte sich nicht mehr bewegen.
""Mortulina, hau ab. Das ist die Feuerrose. Sie will uns ... arg! Sie will uns das Geheimnis unseres Meisters .... Aaarrg!" Velocchio konnte seine letzte Warnung nur unter äußerster Anstrengung ausstoßen. "Ah, er ist noch nicht aufgewacht. Aber ich kriege doch heraus, wo er steckt", knurrte die in Schwarz gekleidete. Die Leuchtkraft und Pein der Glutwolke nahm zu. Velocchio konnte sich nicht mehr daraus befreien. Nur die Macht des Meisters hätte ihn noch schützen können. Er rief nach dem Meister. Doch dieser antwortete nicht. Dann fühlte er, wie die gefräßige Glut sich immer mehr in sein Fleisch hineinfraß. Er schaffte es noch, seine Frau mit einem Gedanken zu erreichen. "Versteck dich mit den Mädchen, Mortulina. Sonst kriegt sie euch auch." Dann verbrannte alles an und in ihm in einer einzigen Schmerzenswoge. Er sah sich selbst in einen roten Strudel stürzen, an dessen Ende ein grelles weißes Licht aufleuchtete. Dann erlosch sein Geist für immer.
Ladonna Montefiori sah, wie ihr Gefangener flammenlos verbrannte, bis nur noch sein Skelett übrig war. Sie fühlte, wie etwas von ihm in den Raum ausstrahlte, bevor er alle seine Kraft an ihren Ring verlor. Ja, die Richtung hatte sie schon mal erspürt. Lag da wirklich das Haus Heptachirons? Doch der Siebenarmige war wohl noch nicht erwacht, sonst hätte der sicher wieder eine Gegenkraft angewandt, um seinen Diener zu beschützen oder durch magischen Befehl getötet. Also musste sie die Blutgemahlin von ihm fangen. Wo diese war hatte sie vorhin durch die Anrufung "Blut ruft Blut" und "Feuer bricht die Nacht" herausgefunden. Doch der gerade zum schwarzen Gerippe zerfallene Blutsauger hatte sie gewarnt. Außerdem hatte sie überall da, wo einer von denen war, eine in Kohle eingewirkte Feuerrose hinteleportiert, um alle gleichzeitig zu erreichen. Sie wollte keinen der Vampire töten, bevor sie nicht wusste, wo deren siebenarmiger Meister war.
Immerhin konnte sie in diesem Gewölbe apparieren. Ihre natürliche Nachtsicht machte jedes künstliche Licht unnötig. Außerdem hatte sie ihren magischen Ring erweckt, feindliches Blut zu erhitzen und damit die gewünschte Gegenwirkung heraufzubeschwören.
"Sharumirtagorun!" hörte sie eine wütende Frauenstimme zischen. Da war ihr, als drücke eine eiskalte Hand gegen ihre Brust. Doch sofort erhitzte sich ihr Ring, und Kälte und Druck verschwanden sogleich. Ein wütendes Fauchen war die Antwort. Dann rief die aufgestöberte Vampirin: "Stirb, Unselige!" Instinktiv tauchte sie nach unten und entging so zwei durch die Luft sausenden Wurfdolchen. Dann sah sie die Vampirin, die sich gerade von der gegenüberliegenden Wand abstieß und auf sie zuflog. Ladonna ließ sie ins Leere fliegen und warf sich selbst herum. Dann kam die Vampirin mit zwei weiteren Dolchen in den Händen auf sie zugesprungen.
Weil Ladonna körperlich wie seelisch die Fähigkeiten einer erfahrenen Waldfrau hatte entging sie den beiden vorstoßenden Dolchen. Doch sie musste schnell nach oben, weil die Vampirin versuchte, die Dolche in ihren Rücken zu rammen. Aus dem freien Flug heraus trat Ladonna der Vampirin gegen den Kopf. Diese blieb auf der Stelle stehen, fiel aber nicht um. Wieder hörte Ladonna das gezischte Wort "Sharumirtagorun!" Wieder fühlte sie für eine Sekunde eine ihren Brustkorb bedrückende Eiseskälte. Doch noch schneller als vorher jagte ihr Ring seine Gegenkraft durch ihren Körper und machte sie von diesem Zauber frei. Wieso konnte dieses Blutweib noch zaubern, wo die meisten anderen ihrer Art nur noch über Blickkontakt Magie wirken konnten?
Die Vampirin merkte, dass sowohl ihr Zauber als auch die zwei Dolche das Ziel verfehlt hatten. Sie versuchte statt dessen, die zwei geführten Dolche nach oben zu stoßen. Doch der Winkel war zu steil. Ladonna war schon zwei Meter zurückgewichen. "Wieso kannst du ohne Flügel fliegen, du Stück vergorenen Kuhmists?!" kreischte die Vampirin und holte zum zweifachen Wurf aus. "Das hatten wir schon", knurrte Ladonna und ließ blitzschnell eine Wand aus blauem Feuer vor sich hochschnellen. Die zwei Dolche sausten durch die Luft und blieben in der Feuerwand stecken. Dann schmolzen sie zu glühenden Klumpen, die mit einem befremdlichen Platschen auf dem Boden landeten. Die Feuerwand erlosch. Die Vampirin wirbelte herum und rannte los, auf einen bereits geöffneten Ausgang zu. Ladonna konnte ein leises Plätschern hören. Offenbar war dort ein unterirdischer Bach. Doch fließendes Wasser entriss Vampiren Kraft und Ausdauer. Gerieten sie gar völlig hinein konnte das sie töten, je nach Fließmenge und Aufenthhaltszeit. Überqueren konnten sie es jedenfalls nicht, ähnlich wie grüne Waldfrauen. Ladonna erkannte, dass sie eine Sekunde zu Viel mit diesem Gedanken vertan hatte, als die Vampirin schon in den aufgeklappten Brunnen hineinsprang.
Ladonna apparierte aus dem Stand heraus die fehlenden dreißig Schritte und stand sogleich am Brunnen. Sie hörte noch, wie die flüchtige Feindin tief unten ins Wasser klatschte. Sie zielte mit dem Zauberstab nach unten. "Retractus!" stieß sie laut aus. Funken umflogen die Vampirin. Mehr ging nicht. Natürlich. Der Einholzauber wirkte nicht unter Wasser. "Omnes Ignes evanescento!" zischte sie, wobei sie an ein verlöschendes Feuer und tiefe Dunkelheit dachte. Dieser von ihr erfundene und von ihr in ihr Tagebuch eingetragene Zauber entzog einer Flüssigkeit oder einem Festkörper jeden Funken Wärme, alles, was durch ein offenes oder inneres Feuer an Hitze erzeugt wurde. Der ging auch gegen warmblütige Lebewesen, nur dass die dann aus ihr bis zum Wiedererwachen unverständlichen Grund gleich zu Eissstaub zerplatzten. Jedenfalls schaffte sie es, das Brunnenwasser schlagartig zu Eis zu gefrieren, schneller als mit dem Hibernevus-Zauber. Nun konnte sie die im Eis festgefrorene Vampirin sehen, wie ein Insekt in einem Bernstein, dachte Ladonna. Kälte konnte einem Vampir nichts anhaben, oder wenn dann nur die gnadenlose Kälte des Weltraums. "Glaciofrago Minima!" knurrte Ladonna. Sie erzeugte damit einen bläulichen Lichtstrahl, der sich in die Eissäule hineinfraß und so die gefangene Vampirin aus dem Eiskörper herauslöste. Dann ließ Ladonna die noch tiefgefrorene mit "Wingardium Leviosa!" nach oben steigen. Behutsam legte sie die gefrorene Gefangene auf den Brunnenrand. Dann sprach sie einen behutsamen Auftauzauber auf die eiskalte Vampirin. Als diese wieder Lebenskraft ausstrahlte fesselte Ladonna sie mit einem von ihrer Schwester Dalia Lunarossa erfundenen Zauber "Per Lunam incarcerus!" Ein feines Netz aus Silberlicht umschloss die Vampirin. Sicher kannten die Vampirfänger von heute diesen Zauber auch noch. Denn Dalia hatte ihn stolz an alle Mitschwestern und wohl auch ihren Gefährten weiterverraten, der freischaffender Vampirtöter war.
"So, die Dame. Ich will deinen Herrn und Meister finden. Verrate mir besser freiwillig, wo er wohnt. Dein Gemahl war zu stur und musste deshalb sterben."
"Der Meister wird dich töten. Er wird unsere Brüder und Schwestern aussenden und dich zerreißen lassen, wenn er nicht dein Blut selbst trinken und deine Knochen zerbeißen will", knurrte die Vampirin wie aus einem dicken Leinensack heraus klingend.
"Mädchen, ich habe viele Jahrhunderte verschlafen und keine Zeit mehr, mit dir zu streiten. Deine Brut ist wohl vorher schon geflüchtet, Mutterhenne. Aber dafür muss ich mir mit dir die nötige Zeit nehmen, um zu erfahren, wo dein Herr wohnt. Er ist eine Pest, die von der Erde getilgt werden muss."
"Die Pest bbist du, Feuerrosenhexe. Warum hat die Frankenfurie dich nicht getötet?" schrillte Mortulina.
"Tja, warum hat die euch nicht getötet, Blutegelweibchen?" erwiderte Ladonna bissig.
"Weil sie uns nicht finden konnte. Wir wohnten unter Wasser. Wir sind Nixensauger, du Metze. Deshalb können wir auch im Wasser existieren."
"Oh, wissen die anderen Blutsauger das, dass sowas geht?" wollte Ladonna wissen. Dann erkannte sie, dass sie wirklich keine unnötige Zeit vertun sollte und ließ die glühende Folterwolke aus ihrem Ring entströmen. Das Netz aus Mondlichtfäden zerfiel in dieser Wolke, weil deren Kraft aus dem Sonnenfeuer stammte, dass dem Mondlicht überlegen war. Doch die Vampirin konnte sich nicht aus der peinigenden Glut befreien. Länger als vorher bei dem sehr schnellen Vampir ließ Ladonna die Kraft wirken. Dabei fühlte sie wieder, dass es eine Gegenwirkung gab, sehr schwach, irgendwo östlich von hier, womöglich die Halbinsel, die heute Balkan genannt wurde, vielleicht aber auch eine griechische Insel. Doch die Gegenkraft war immer noch zu schwach. Dann schrie die Gefangene laut auf und war einfach tot. Die Glutwolke ließ sie innerhalb einer Sekunde zum verkohlten Knochenhaufen zerfallen. Ladonna sah, wie die Wolke in ihren Ring zurücksprang. Jetzt wusste sie auch, wie die Vampirin es angestellt hatte, so plötzlich zu sterben. Mortulina hatte einfach ihrem Herzen befohlen, zu zerspringen. Das also war es, womit sie sie zweimal angegriffen hatte. Dieses Vampirweib musste früher eine sehr mächtige Hexe, vielleicht eine dunkle Druidin oder eine direkte Nachfahrin der mächtigen Hecate gewesen sein, dass sie diesen Zauber noch im Vampirdasein ausführen konnte. Also gab es mindestens noch einen sofort tödlichen Zauber. Nur ihr Ring und die durch ihn verstärkte Lebensaura hatten diesen Zauber von ihr abgeschüttelt. Vielleicht konnte sie so auch dem Todesfluch widerstehen, dachte Ladonna. Ausprobieren wollte sie das aber dann besser nicht.
Drei Dinge hatte sie jedoch erfahren. Ihr bereits vor vierhundert Jahren erprobter Zauber mit der Glutwolke wirkte immer noch wie er sollte. Der siebenarmige Meister war noch nicht ganz wach, weil seine Gegenwirkung nicht gezielt und stark, sondern instinkthaft und sehr schwach erfolgt war. Ja, und er war in Südosteuropa zu finden, irgendwo im östlichen Mittelmeerraum. Sie würde noch einige Tage warten und dann weitere Diener dieses Unholdes suchen. Dann würde er ihr verraten müssen, wo sie ihn treffen konnte. Bis dahin wollte sie sich auf diesen Endkampf vorbereiten.
Zwei gellende Todesschreie stachen ihm direkt unter die Schädeldecke. Alle seine Extremitäten bebten. Für einen winzigen Moment verwehten alle Bilder erlebter Ereignisse. Er konnte die ihn umhüllende Dunkelheit sehen und hörte das leise Tröpfeln von der Decke rinnenden Wassers. Er fühlte, dass gerade jemand, der in seinem Namen gelebt hatte, unwiederbringlich vergangen war. Doch wer genau war da vergangen? Wer hatte es gewagt, seine Diener zu töten? Das würden die ersten Fragen sein, die er stellen musste, wenn er seinen Körper und Geist wieder vollständig beherrschte.
Silver Gleam saß einmal mehr in der nur für Nachtkinder zugänglichen unterirdischen Schenke zur blutroten Fledermaus unterhalb der Nokturngasse in London. Durch Blickkontakt hielt sie eine reine Gedankensprechverbindung zu ihrer Blutmutter Erythrina Lunesku, um mit ihr die neuesten Nachrichten aus der Welt der Vampire auszutauschen.
"Sie suchen wohl immer noch nach dieser Nyctodora, dieser mit mächtigem Hexenblut selbst zaubermächtig gebliebenen Hohepriesterin, Silvy", vernahm Silver Gleam die geistige Stimme Erythrinas. "Allerdings hält es diese Götzinnenanbeter nicht davon ab, ihre neue Weltanschauung weiterzuverbreiten. Du erinnerst dich noch, was dieser Vollstrecker mitgeteilt hat, der Robur Blutbart töten sollte?"
"Ja, dass die blutrote Fledermaus wohl nicht mehr lange heiliger Boden sein mag", erwiderte Silver Gleam ebenfalls durch reine Gedankenkraft. "Hast du Anlasss zur Besorgnis, dass diese Ankündigung bald wahrgemacht wird, meine Blutmutter?"
"Ich fürchte, die Aufdeckung der wahren Identität der Hohepriesterin dieser Sekte hat deren Mitglieder darauf gebracht, dass sie bald mehr Macht über uns Nachtgeborenen erringen müssen. Das hieße dann auch, dass der von allen Nachtkindern geachtete Status dieser Schenke aufgekündigt werden kann, damit Widersacher wie Robur Blutbart nicht erst vor die Tür gebeten werden müssen, wenn diese Götzin beschließt, dass jemand zu sterben hat. Ich weiß nicht, ob deine rotblütigen Vertrauten uns damit nicht das vor der Sonne schützende Dach über dem Kopf entrissen haben, dass sie die Kenntnisse über das angestrebte Kloster verwendet haben. Immerhin sind da draußen mehr Feinde von uns als Befürworter, und jetzt, wo das mit den Mondheulern passiert ist wissen wir nicht, ob die, welche das gemacht haben, sowas nicht auch mit uns anstellen können."
"Wenn diese Hohepriesterin sich andauernd verstecken muss kann sie zumindest keine neue Gebetsstätte errichten", erwiderte Silver Gleam.
"Ja, aber womöglich neue Abartigkeiten erzeugen, diese grauen Kreaturen, die jede für sich stärker als zehn von uns sind", erwiderte Erythrina. "Außerdem können die Diener dieser Götzin immer noch von dieser selbst fast zeitlos um die halbe Welt geschickt werden. Wir müssen echt aufpassen. Tja, und dann kommt noch dazu, dass auch er bald wieder aufwacht. Seine Getreuen haben sich schon wieder aus ihren Verstecken getraut, Silvy."
"Er?" wollte Silver Gleam wissen. "Der siebenarmige, der wohl vor etlichen Jahrtausenden im östlichen Mittelmeerraum aufgetaucht ist und deshalb von den Rotblütern Heptachiron genannt wird. Mitternacht steh mir bei, dass ich ihn damit nicht anlocke, seinen Namen auch nur zu denken!" gedankenseufzte Erythrina Lunesku.
"Wieso erfahre ich jetzt erst von ihm?" wollte Silver Gleam wissen.
"Kind, du warst damals auf der Insel Britannien gut aufgehoben. Er hat sich zum ersten wirklich mächtigen Götzen der Nachtkinder erhoben, auch wenn er selbst wohl kaum körperlich tätig werden kann. Aber es heißt, er sei unverwundbar und könne seinen Geist auf sieben Körper ausdehnen, die seinem fleischlichen Dasein Blutopfer beschaffen. Auch kann dieser wohl aus einer sonnenverbrannten Laune heraus erzeugte Unhold wohl nur eine Woche lang tätig sein, bevor er wieder in einen langen Schlaf verfallen muss, wohl die Auswirkung eines Fluches oder Schutzbannes. Was genau ihn schlafen lässt weiß niemand genau. Einige derjenigen, die deinem Blutvater mal im Rausch mit Met versetzten Jungstierblutes mehr erzählt haben behaupten, er sei eine Weiterentwicklung der ersten Nachtkinder, die vor vielen Jahrtausenden entstanden sind und stehe deshalb mit dem Geist unseres Schöpfers in Verbindung. Einer hat auch behauptet, eine dunkle Hexe aus Italien, die keine reinrassig menschliche Ahnenlinie hat, hätte fast sein Versteck gefunden. Aber das können reine Mythen sein, genauso wie seine eigene Entstehungsgeschichte."
"Kennst du seine Entstehungsgeschichte?" wollte Silver Gleam wissen. Da hörten sie beide das Schwatzen von drei jungen Frauenstimmen vor der Tür zur Schenke. "Oha, die drei Damen aus Venedig sind da, Kind. Besser wir tauschen erst wieder gedanken aus, wenn die weg sind. Ich weiß nämlich nicht, ob die nicht mittlerweile auch dieser Götzin anhängen. Aber wenn du mehr über den siebenarmigen wissen willst suche in unserer Bibliothek nach einem Folianten über die mächtigsten Töchter und Söhne der Nacht!"
Die Tür zur Schenke ging auf, und drei dunkelhaarige Nachttöchter traten ein. Das waren die Schwestern Vocenotte, Lunaurea und Fiorenera, die es irgendwie hinbekamen, in Venedig zu wohnen, wo dort doch immer wieder fließendes Wasser vorkam. Silver Gleam hatte mal das Gerücht gehört, dass deren Bluteltern Nixenblut getrunken hatten und deshalb nicht wie alle anderen von der Kraft fließenden Wassers entkräftet werden konnten. Normalerweise kannte Silver gleam die drei Schwestern, die in derselben Vollmondnacht zu Nachttöchtern geworden waren, als gerne und viel redende Frauenzimmer. Doch im Moment beließen sie es bei wenigen Worten und schwerfälligen Gesten. Vocenotte, die wegen ihrer glockenhellen Sopranstimme ihren Vampirnamen bekommen hatte, sah Erythrina an und bestellte drei Krüge körperwarmen Jungschafblutes.
"Kommt sofort, Signorine", sagte Erythrina. Lunaurea, die ihren Namen daher hatte, dass sie bei Mondaufgang den feierlichen Blutausttausch vollzogen hatte, sah Silver Gleam an. Diese wusste, dass die ihr durch die freiwillige Gabe jungfräulichen Blutes aufgeprägte Aura sie für ihre Feinde uninteressant machte, solange sie diese nicht direkt angriff. "Dich habe ich lange nicht mehr hier gesehen. Du bist doch die grünäugige Tochter der Luneskus, richtig?" fragte Lunaurea in akzentfreiem Englisch. Silver Gleam musste wieder daran denken, dass die drei Schwestern schon siebenhundert Jahre alt waren und deshalb wohl schon die großen Pestepidemien und Venedigs große Blütezeit miterlebt hatten. Sie antwortete ruhig: "Ja, ich fand, dass ich meine erhabenen Bluteltern mal wieder mit meinem Besuch beehren möge. Darf ich fragen, was Sie und Ihre zwei Schwestern so weit von der Lagune fortgeführt hat?"
"Die Feuerrose will wieder blühen. Unsere Bluteltern wurden ermordet, von ihr, der Rosenkönigin. Wage nicht zu fragen, wer das ist. Denn sie zu kennen könnte sie dir zur Feindin machen, und das willst du junges Mädchen nicht wirklich."
"Die Rosenkönigin, wer soll das sein?" fragte Silver Gleam.
"Eine viel zu mächtige Hexe, von der wir damals hofften, dass sie sich mit der französischen Furie überworfen hat und deshalb von dieser getötet wurde", seufzte Fiorenera, die ihren Namen daher hatte, dass sie bei ihrer Wiedergeburt als Nachttochter neben einem Bouquet aus roten Rosen gelegen hatte.
"Moment, das mit Sardonia ist bald fünfhundert Jahre her. Wie soll eine Rotblütlerin die Zeit überdauert haben?" wollte Silver Gleam wissen.
"Sie war wohl in einen magischen Kerker eingesperrt oder anderswie gebannt, dass sie nicht altern konnte. Jedenfalls hat sie unsere Eltern heimgesucht, weil sie mehr von ... Nein, das erfährt niemand von uns, dessen Blut nicht in seinem Namen fließt", knurrte Lunaurea. "Jedenfalls haben unsere Eltern uns zugerufen, zu fliehen und bis auf weiteres nicht mehr nach Italien zurückzukehren, solange ... Vergiss es, neugieriges Kind!" fauchte Lunaurea. Silver Gleam konnte ihr deutlich ansehen, dass sie kurz davorgestanden hatte, was ganz wichtiges zu verraten. Da sie selbst auf der Hut war, nicht als zu neugierig aufzufallen nickte sie den drei Schwestern nur zu, die von nun an durch Blickkontakt in reinen Gedankenaustausch eintraten.
Erythrina brachte drei große, dampfende Krüge und stellte jeden davon vor eine der italienischen Besucherinnen auf den Steintisch. Dann sah sie Silver Gleam sehr durchdringend an: "Sie sind also nicht von ihr ergriffen worden, sondern folgen immer noch dem siebenarmigen Götzen", gedankensprach Erythrina. Silver Gleam gedankenfragte zurück, woher ihre Mutter das wisse:
"Weil ich beim Schöpfen des Blutes durch deine Ohren mitgehört habe, was du sie gefragt hast. Hüte dich vor zu viel Neugier, mein Kind! Auch die Diener des Siebenarmigen sind Fanatiker, die ihre Geheimnisse zu hüten suchen. Aber wer die Rosenkönigin war kann ich dir verraten", erwiderte Erythrina Lunesku nur für Silver Gleam vernehmbar. So erfuhr die für eine Vampirin noch sehr junge Nachttochter, dass zur Zeit Sardonias eine mächtige Hexe namens Ladonna Montefiori gelebt hatte, die ähnlich wie Sardonia eine Schwesternschaft aus dunklen Hexen um sich errichtet hatte. Somit war es kein Wunder, dass die beiden machtversessenen Hexen eines Tages oder eines Nachtens aufeinandertrafen, um zu entscheiden, wer die alleinige Herrin aller Hexen sein sollte. Ladonna unterlag Sardonia, die daraufhin ein ganzes Jahrhundert in Frankreich, Spanien und Italien die Herrin aller dunklen Hexen geblieben war. Offenbar hatte Sardonia ihre Rivalin nicht getötet, sondern nur in tiefen Schlaf oder Erstarrung gezaubert, warum auch immer. Wenn Ladonna jetzt wieder aufgetaucht war, dann wohl, weil jemand so unwissend oder vorwitzig war, diesen Zauberbann zu brechen. "Das ist nichts, worüber wir uns freuen dürfen. Dieses Weib soll aus dem Blut der widerwärtig schönen Männerfängerinnen aus meiner Heimat abstammen, also von Veelas."
"Oh, dann ist klar, warum Sardonia sie nicht töten wollte", schickte Silver Gleam zurück und erwähnte die Blutrache der Veelas, wenn einer aus ihrem Volk abstammendes gewaltsam starb.
"Interessant, das kannte ich noch nicht", erwiderte Erythrina. Dann wandte sie ihr Gesicht den drei Schwestern zu. Lunaurea sah sie an und sagte: "Meine Schwestern und ich bitten um Unterkunft für mindestens einen Mond. Wir werden von einer Rotblütlerin verfolgt, die sich vorgenommen hat, unsere ganze Familie auszulöschen."
"Dann ist euch der Schutz und die Geborgenheit unseres Hauses gewährt", sagte Erythrina. "Doch bedenket bitte, dass mein Gatte und ich unsere Lieferanten bezahlen müssen und daher eine gewisse Entlohnung fordern müssen."
Lunaurea nickte und griff unter ihr dunkles Kleid. Sie nestelte an ihrem Unterzeug, bis sie mehrere in der hier vorherrschenden Dunkelheit matt und wertlos aussehende Gegenstände hervorholte. "Das in diesen Juwelen verarbeitete Gold und die darin gefassten Edelsteine dürften für uns drei einen Mondwechsel lang genug Bezahlung für die Unterkunft sein", sagte Lunaurea und legte alles auf den Tisch, was sie unter ihrer Kleidung hervorgekramt hatte.
"Mein Gatte kennt sich mit sowas besser aus als ich. Er wird es prüfen."
"Ja, und etwas müssen wir noch klarstellen", wandte sich Vocenotte an Erythrina und Silver Gleam: "Kein Rotblütler darf erfahren, dass wir uns hierher zurückgezogen haben. Denn wenn wir deshalb unser Leben verlieren, so wird unsere Sippe jeden töten, der uns verraten hat. Ist dies verstanden?"
"Ja, das ist verstanden. Abgesehen davon gilt das Schutzrecht für alle Kinder der Nacht, die vor rotblütigen Verfolgern Zuflucht suchen", sagte Erythrina. Silver Gleam sagte dazu noch: "Da ich selbst weiß, wie schnell ein Rotblütler zum Todfeind werden kann achte ich euer Recht auf Schutz und Verborgenheit."
"Dann ist es ja gut. Wir, die Schwestern aus der erhabenen Blutgemeinschaft der Manoquintos, dürfen nicht sterben. Wer unseren Tod bringt soll selbst vergehen."
Silver Gleam wartete noch, bis die drei Schwestern ihre bis auf weiteres bestehende Unterkunft besichtigten. Dann verabschiedete sie sich von ihren Bluteltern, um an ihren eigenen Ruheort zurückzukehren, denn der Tag war nicht mehr fern. Was sie hier und heute erfahren hatte reichte schon für einen weiteren Brief an ihre rotblütigen Vertrauten jenseits des westlichen Meeres. Sicher durfte sie nicht verraten, dass die drei venezianischen Schwestern in der blutroten Fledermaus Asyl erhalten hatten. Aber dass diese Rosenkönigin wieder aufgewacht war und es wohl feststand, dass sie veelastämmig war, wie auch die Gerüchte um einen bald für kurze Zeit aufwachenden Übervampir musste sie unbedingt weitermelden. Am Ende galt es, dass dieser Übervampir mit der schlafenden Göttin einen Machtkampf ausfocht, der leicht zu einem langwierigen Krieg zwischen den Vampiren ausufern konnte. Und was die Rosenkönigin Ladonna Montefiori anging, so konnte das gleiche auch im Bezug auf dunkle Hexen- oder Zaubererorden gelten. Das mit Wallenkron alias Vengor war noch nicht wirklich lange genug her, um zu vergessen, wie solch ein magischer Machtkampf ausufern konnte.
Selene schrak aus einem bedrückenden Albtraum auf. Um sie herum schrien und heulten Kinder, hochschwangere Frauen und hochbetagte Hexen und Zauberer, bevor sie wie sterbende Fliegen am Boden zuckend zu Werwölfen mutierten, um nur zwei Sekunden später in grellroten Feuerbällen zu vergehen. Und über allem lag helles, silberblaues Licht, als sei der Mond um ein vielfaches Heller geworden.
Selene hörte ihr kleines Herz wild pochen. Einen Moment musste sie daran denken, dass es lange Zeit so schnell geklopft hatte, wo sie mit allen Erinnerungen an ihr früheres Leben im Unterleib Daianira Hemlocks wiedererwacht war und erst damit gehadert hatte, als Tochter dieser dubiosen Hexe wiedergeboren zu werden. Doch mittlerweile kam sie mit ihrem zweiten Leben sehr gut klar, auch wenn sie in der Öffentlichkeit immer das kleine, unbedarfte Mädchen geben musste, das scheinbar nicht mal bis zehn zählen konnte, ohne dabei die eigenen Finger zur Hilfe zu nehmen. So ein zartes kleines Hexlein durfte dann auch mal bitterböse Träume von in Flammen aufgehenden Werwölfen haben, wenn jemand so gemein war, in seiner Hörweite davon zu sprechen, was beim ersten Frühlingsvollmond passiert war, dachte Selene voller bitterer Ironie.
"Stundeneule, wie spät?" wisperte Selene in die Dunkelheit hinaus. Ein schuhutes "Fühünf Minuhuhuten vor drei Uhuhr" klang laut zurück. Selene zuckte zusammen. Wieso konnte sie dem von Leda Greensporn zu ihrem dritten Geburtstag geschenkten Uhrenvogel nicht beibringen, dass er nachts nicht so laut sein sollte? Aber eine eigene Taschen- oder Armbanduhr durfte sie noch nicht haben, weil das für drei Jahre und neun Monate alte Mädchen ziemlich komisch aussehen würde. Aber sie hoffte darauf, zum vierten Geburtstag eine richtige Zeigeruhr ins Zimmer zu kriegen, nicht so einen Uhrenlerneulenvogel aus bezaubertem Silber, Eisen und aufgelötetem Gefider.
Gerade wollte sich Selene wieder in eine bequeme Schlafhaltung drehen, um bis zum Wecken noch genug Schlaf zu bekommen, als es an ihrem Fenster kratzte. Sie kannte das Geräusch zu gut, um sich zu wundern. Auch wunderte sie sich nicht darüber, dass nur eine halbe Minute später die Tür zu ihrem Zimmer aufging und Theia Hemlock hereinkam. "Ich glaube, du solltest deiner langzähnigen Briefpartnerin doch mal schreiben, dass ihre Postfledermäuse nicht mitten in der Nacht an deinem Fenster herumkratzen sollen", wisperte Theia und öffnete das Fenster. Selene ärgerte sich mal wieder, dass ihre Wiedergebärerin den Fensterriegel mit einem Körperspeicherzauber belegt hatte, so dass nur diese das Fenster öffnen und schließen konnte. Angeblich war das passiert, damit Selene nicht aus Versehen ihre eigene Sicherheit gefährdete.
Leise flatternd flog eine Fledermaus durch das geöffnete Fenster herein und ließ leise raschelnd einen Umschlag auf den mit Buntstiften, Zeichenblöcken und einer Palette hautverträglicher Fingerfarben beladenen Tisch fallen.
"Ich lese dir den Brief morgen früh vor, meine Tochter. Für dein Wachstum ist jede Stunde Schlaf genauso wichtig wie genug zu Essen und zu trinken", kehrte Theia die fürsorgliche Mutter heraus. Selene ließ ihr das ohne Murren und grummeln durchgehen, weil sie wirklich noch sehr müde war. Dieser verdammte Albtraum von lodernden Lykanthropen hatte sie sehr angestrengt.
Als sie wieder in den Schlaf fand träumte sie davon, wie sie als hoffnungsvoll erwarteter Fötus durch Theias Bauchdecke ruhige Harfenmusik vorgespielt bekam. Sie gab sich dieser weit zurückliegenden Geborgenheit hin, bis die Stundeneule laut schuhute und "Sieben Uhuhr, Huhu!Sieben Uhuhr, huhu!" rief.
Und, was schreibt Silvy?" fragte Selene, als sie gewaschen und gestriegelt mit ihrer Mutter beim Frühstück saß.
"Das sie was von einem bald erwachenden siebenarmigen Übervampir gehört haben will und dass da eine Rosenkönigin namens Ladonna aufgetaucht sein soll, wo genau schreibt sie nicht, nur soviel, dass diese Hexe wohl durch einen Bannzauber Sardonias in jahrhundertelangem Schlaf oder Erstarrungszauber gefangen war, weil Sardonia sie nicht töten wollte oder durfte."
"Oh, hat diese nicht minder verbrecherische Hexe sich mit Vampiren angelegt?" fragte Selene biestig. Dass Ladonna Montefiori wieder aufgetaucht war und wohl irgendwo in Italien untergeschlüpft war wussten Theia und Selene schon seit Ende Februar aus den dunklen Kanälen diverser Hexenschwesternschaften und auch über die Heilerzunft.
"So wie sich das hier liest ja. Allerdings will die von deinem Blut aufgeweckte Nachttochter nicht verraten, wo genau und wen genau Ladonna heimgesucht hat. Es steht hier nur, dass sie von einem Überfall auf eine Vampirfamilie gehört hat, als sie in der blutroten Fledermaus eingekehrt war. Aber was mich persönlich eher beunruhigt ist die Erwähnung eines siebenarmigen Götzens der Vampire, der womöglich mit der selbsternannten schlafenden Göttin aneinandergeraten könnte. Von einer derartigen Kreatur habe ich bisher nichts gehört, und ich behaupte, mich eigentlich gut mit magischen Ungeheuern auszukennen."
"Die Leute aus der Liga gegen dunkle Künste in Frankreich, Griechenland und Italien kennen da eine Geschichte, dass es so vor vielen tausend Jahren neben den gewöhnlichen Blutsaugern noch Versuche gab, noch stärkere Kreaturen zu erschaffen. Teile der griechisch-römischen Mythologie wurden davon mitbeeinflusst. Es hieß, dass es irgendwo im Mittelmeerraum ein Versteck geben soll, wo eine monströse Mutation ..." Theia räusperte sich sehr laut und zischte: "Viel zu große Wörter für kleine Hexenmädchen." Selene verzog ihr Gesicht vor Wut. Es ärgerte sie immer, dass Theia auch ohne weitere Zuhörer darauf bestand, dass sie, Selene, sich in Kindersprache auszudrücken hatte. Früher, in ihrem ersten Leben, hätte sie eine derartige Maßregelung mit sehr energischer Erwiderung von sich gewiesen. Doch sie war nun einmal durch Schwangerschaft und Geburt die Tochter der Hexe, bei der sie wohnte und musste sich, so ungern sie es tat, mit dieser Rolle zurechtfinden. Denn leider hatte Theia insofern recht, dass eine aus Gewohnheit unbedachte Äußerung hochtrabender Begriffe sehr unangenehme Vermutungen aufwerfen konnte. So atmete Selene dreimal kurz durch und sagte dann beinahe schon übertrieben kleinkindhaft betonend: "Die Großen in Frankreich und Griechenland erzählen was von einem Langzahn, der sieben Arme haben soll und deshalb viel stärker ist als die bösen Blutsauger. Deshalb haben die ganz viel Angst vor dem. Der kann aber nicht einfach so rumlaufen, weil der eben nicht wie ein anderer Blutsauger aussieht. Aber der kann machen, dass er durch Augen und Ohren von denen mitkriegt, die ihn ganz gut finden, was die so machen. Sowas macht doch auch die schlafende Göttin, oder, Mom?"
"Und der bitterböse mit den sieben Armen heißt deshalb Heptachiron, weil der da auf die Welt kam, wo die alten Griechen herkommen?" fragte Theia Hemlock.
"Das ist so eine Geschichte in einer ganz alten Sprache, Altgriechisch heißt die, wo die Geschichte vom Heptachiron erzählt wird. Ein ganz schlauer Zauberer hat die vor ganz vielen Jahren geschrieben, Philokryptes hieß der Mensch. Sicher haben die Großen in Frankreich, Griechenland und anderen Mittelmeerländern die Geschichte noch irgendwo."
"Silver Gleam schreibt, dass sie selbst noch einmal in die Bibliothek der Nachtkinder reingehen und das noch genauer nachlesen will und uns dann schreiben will, was sie da gefunden hat."
"Stimmt, kann noch mehr über den stehen", sagte Selene Hemlock. Dann biss sie wieder in den Marmeladenmuffin, den ihre Mutter ihr auf den Teller gelegt hatte.
"Du hast gerade gesagt, dass die großen sagen, dieser Siebenarmige kann machen, dass er durch andere Ohren hören und durch andere Augen sehen kann. Kann der dann auch in andere Leute reinsprechen, was die machen sollen?"
"Ganz sicher kann der das. Der ist wie ein König oder Gott für die, die ihn gut finden, genauso wie bei der, die sich schlafende Göttin nennt", erwiderte Selene unter Beibehaltung der Kleinmädchenbetonung.
"Ja, dann könnten die wirklich böse aufeinander werden und kämpfen. Wird dann sicher wohl passieren, dass die nicht direkt miteinander kämpfen, sondern ihre Anhänger aufeinanderhetzen", seufzte Theia.
"Ja, ist wohl ziemlich sicher. Was machen wir dann?"
"Das kriegen wir, wenn wir mehr wissen", sagte Theia Hemlock.
Ladonna hatte sich frei schwebend an eine Hütte herangepirscht, die außerhalb von Budapest in einem Waldstück verborgen war. Das war ihr sehr gelegen gekommen, weil sie so die Kraft der aus dem Winterschlaf erwachenden Bäume für sich nutzen konnte. Sie hatte den Vampir wahrhaftig als Diener des Siebenarmigen erkannt und mit der Glutwolke aus dem Ring gefangensetzen können. Erst hatte dessen Meister versucht, seinen Diener mit zusätzlicher Kraft zu stärken. Dann jedoch hatte er ihn einfach mit einem Schlag alles Leben entrissen. Ladonna hatte noch sehen können, wie der in apfelsinenfarenem Licht glühende Geist des getöteten Vampirs zwischen ihr und der zu Asche zerfallenden Leiche schwebte. Dann riss etwas ihn förmlich nach oben und fort. Ihr Ring sprühte Funken. Dann war dessen Zauber erloschen, weil das damit belegte Ziel verschwunden war. "Ah, das kannst du also auch", grummelte Ladonna. Sie sah sich sofort um. Von ihren ersten Begegnungen mit den Dienern des Siebenarmigen wusste sie, dass sie von ihm selbst an jeden ihm bekannten Ort versetzt werden konnten, was eine unglaubliche Macht war. Doch kein anderer Vampir kam aus dem Nichts, um den Tod seines Mitbruders zu rächen. So blieb Ladonna nur, sich selbst wieder zurückzuziehen. Zumindest hatte sie nun Gewissheit, dass Heptachiron wahrhaftig irgendwo im östlichen Mittelmeerraum steckte. Wenn sie nun noch ein paar seiner Diener in verschiedenen Richtungen und Entfernungen angriff bekam sie heraus, wo ihr Endziel lag.
Endlich kam er aus dem Meer bunter Erinnerungen frei. Seine Gedanken ordneten sich, und er fühlte, wie das Leben in seine sieben Gliedmaßen, den kugelförmigen Körper und den auf einem zusammenfaltbaren Hals ruhenden Kopf zurückkehrte. Mit dem Erwachen kam der Blutdurst. Wenn er nicht in den nächsten Zehnteltagen matt und handlungsunfähig sein wollte musste er Blut trinken.
Der Siebenarmige blickte sich um. Seine Augen durchdrangen mühelos die ihn umschließende Dunkelheit. Er sah die kuppelförmige Kalksteinhöhle, in der jenes Steinerne Becken stand, in dem er in eine ölige Schutzlösung eingebettet ruhte. In den 777 vergangenen Mondwechseln waren einige der von der Decke herabhängenden Steinzapfen ein kleinwenig breiter und länger gewachsen. Auf dem Boden hatte sich ein kleiner runder Hügel aus Kalkstein gebildet. Zehn seiner Armlängen entfernt erhob sich der wie ein von Mutter Erde selbst erschaffener Rundbogen beschaffene Durchgang in das weit verzweigte Gewirr von Gängen, Hallen und Kammern. Wieder zersprang ein von der Decke gefallener Wassertropfen am Boden. Der Siebenarmige hob jeden seiner vielen Arme aus der ihn umschließenden Schutzlösung und prüfte die Beweglichkeit. Als er mit seinem Sinn für die Eisenweisekraft der großen Mutter merkte, dass der in Halbabendrichtung weisende Arm schwerfälliger zu bewegen war wusste er sofort, woran das lag. Einer seiner Erfüllungsgehilfen, die er Handlungshände nannte, lebte nicht mehr. Entweder war er schon vor undenklich langer Zeit vergangen oder erst vor kurzem ... Doch nun fühlte er, wie das Leben in den Halbendrichtungsarm zurückkehrte. Es gab also noch einen, der mit diesem Arm und den damit verbundenen Möglichkeiten verwoben war.
Als das vielarmige Geschöpf im Steinbecken wusste, dass es noch alle Körperteile gebrauchen konnte, streckte es seine reinen Gedankenfühler aus, wobei es seine Arme als Ausrichtungshilfen nutzte. Mit geschlossenen Augen tastete es sich immer weiter nach außen, hinaus aus seinem Versteck, seinem Haus tief unter einem Kalkfelsen, der im Laufe der vielen tausend Mondwechsel immer mehr ausgehöhlt wurde. Nun jagten seine tastenden Gedanken blitzschnell in sieben verschiedene Richtungen. Seine sieben Boten sollten wissen, dass er wieder wach war und nach Nahrung verlangte. Einerseits ärgerte es ihn, dass er bei aller Kraft und Macht, die sein Herr und Meister ihm verliehen hatte nicht von sich aus auf Blutjagd gehen konnte. Andererseits konnte er jeden Boten, der mit ihm verbunden war, mit einem wohlgezielten Wunsch direkt zu sich hinüberziehen, egal wie weit er auch von ihm entfernt war. Dann bekam er Verbindung mit der ihm am nächsten wartenden Handlungshand, der ersten Hand überhaupt. "Ich, dein Herr und Meister, bin erwacht und verlange nach Nahrung. Finde ein warmblütiges Wesen und halte es fest, damit ich euch zu mir hinziehen kann!" befahl Heptachiron, nachdem er kurz durch die Augen des Botens dessen Umgebung gesehen hatte. Das die nicht mit Zauberkraft begüterten Menschen ihre Städte immer mehr so bauten, wie er es von den Tagen seiner Ankunft in der Welt her von den Begüterten kannte erstaunte ihn nicht mehr. Er hatte bei seinem letzten Erwachen auch mitbekommen, dass die Zauberkraftlosen aus eingesperrtem Feuer die Kraft von mehreren Zugtieren freisetzen und damit selbstfahrende Fuhrwerke vorantreiben konnten und auch, dass sie mittlerweile in lautstarken, starrflügeligen Apparaten wie ehernen Vögeln fliegen konnten.
"Meister, es freut meine Seele, von dir nach all den Jahren wieder gerufen zu werden", hörte er die Gedanken seines Dieners. Dann berührte sein Geist auch den zweiten Diener, die dritte Hand, die aus irgendeinem Grund näher als die zweite war. Auch diesem Diener befahl er, ihm einen warmblütigen als Nahrung zu fangen.
Auch den nächsten Boten befahl er dies. Dann erreichte er die fünfte Hand, jene, die in halbabendrichtung von ihm wohnte. "Meister, deine große Wiedersacherin ist wieder wach. Sie muss auch geschlafen haben. Sie hat den Bruder meiner Gefährtin, der mein Stellvertreter war, sowie seine Frau gequält um dein Haus zu finden, meister. Doch wir verraten nichts."
"Die Frau vom Blumenberg, die aus kalten Steinen brennende Blumen erblühen lassen kann und den Hauch der männer betörenden Frauen an sich hat? Sie ist nicht gestorben? Was weißt du von ihr, meine fünfte Hand?"
"Das sie wieder da ist und dass sie mit ihrem Feuerring Wissen aus lebenden Opfern heraussaugen kann. Doch die, die sie tötete wussten nicht, wo ich bin. Ich habe mich mit allen Fingern umgeben, um sie zu strafen, sollte sie dennoch meine Zuflucht finden."
"Wenn sie dich findet bevor ich wieder einschlafe rufe laut, damit ich dich vor ihr schützen kann. Ich kann sie leider nicht zu mir hinziehen, weil die in ihrem Blut steckende Kraft gegen die Versetzungswünsche ihrer Feinde wirkt."
"Meine Verwandten haben versucht, sie zu töten. Doch ich empfing noch die Warnung vor ihrer Schnelligkeit und ihrem Ring", gedankensprach die fünfte Hand.
"Ich werde dir und den anderen Boten genug Kraft einflößen, um die Macht der Elemente zu wirken. Vielleicht kann sie damit vernichtet werden", erwiderte Heptachiron. Doch der siebenarmige wusste, dass das schon einmal nicht gelungen war. Dieses Weib beherrschte die Kräfte von Feuer, Luft und Wasser so gut, dass sie damit verknüpfte Zauber an sich abgleiten machen konnte. Er hatte sie damals, wo sie seine handelnden Hände aufgespürt hatte verwünscht, dass eines ihrer Nachgeborenen eines Nachts von seinen Getreuen ergriffen und in seinen Dienst hineingezwungen werden würde. Doch dass sie selbst wieder auferstehen mochte war für ihn eine sehr unerfreuliche Mitteilung. Und die nächste Unerfreulichkeit erfolgte sogleich.
Als Heptachirons Gedanken nach seiner siebten Handlungshand tasteten vernahm er eine sichtlich erheiterte Frauenstimme in seinem Geist. Er meinte, dass diese Frau in einem weitläufigen Raum stehe oder mit mehreren Stimmen zugleich sprach. "Ah, die siebenarmige Missgeburt ist auch wieder wach. Meine Kinder haben von dir berichtet und davon, dass dir dieser Flaschenkobold aus Atlantis eingeredet hat, du seist der wahre Gott aller Nachtkinder. Dann habe ich da eine sehr betrübliche Mitteilung für dich: Du wurdest entthront. Die einzig wahre Göttin aller Nachtkinder bin ich, Gooriaimiria!"
"Wer bist du?" schickte Heptachiron zurück. "Ich bin die große Mutter der Nacht, was in der Sprache deines Schöpfers Gooriaimiria heißt. Ich herrsche über den Mitternachtsstein und alle damit verbundenen Nachtkinder. Nutze die kleine Woche, die du wach sein darfst, um dich mir zu unterwerfen, dann dürfen deine Handlanger weiterleben!"
"Wer bist du Größenwahnsinnige?!" gedankendröhnte Heptachiron. Da bekam er eine andere Stimme zu hören, eine, die zu hören er schon fast nicht mehr gehofft hatte:
"Ihr habt euch also schon einander offenbart. So wisse, mein treuer und mächtiger Statthalter im Reiche der Nachtkinder, dass dieses Weibsbild, dessen Stimme du und ich als Ärgernis empfinden müssen, ein aus meiner Herrschaft entglittenes Geschöpf ist, dessen inneres Selbst mit dem inneren Selbst vieler Anderer aus dem angestammten Leib gebrannt wurde und nun in meinem Stein der Mitternacht haust, um damit meine und deine treuen Anhänger zu unterjochen. Deshalb hält sie sich für eine Göttin, eine schlafende Göttin, weil sie noch weniger körperlich tätig sein kann als du. Aber der werden wir beikommen."
"Ach, kleiner Flaschenteufel, träumst du jetzt wieder davon, dass du all die kleinen Fehler berichtigen kannst, die du gemacht hast? Ich gebe zu, ich hatte den Termin für das Erwachen deines Supersiebenschläfers nicht mehr genau in Erinnerung. Ich weiß aber, dass er nur eine Woche Zeit hat, um seinen kleinen Kult zu streicheln und ein paar Sachen anzustellen, damit ihn bloß keiner vergisst. Aber damit ist ab heute schluss. Jetzt, wo ich fühle, in welcher Richtung dein siebenarmiger Armleuchter wohnt hat er nicht mal die sieben Tage zeit, um sich mir zu unterwerfen, bevor er wie eine Kerze im Sturmwind ausgepustet wird."
"Kann es sein, dass du Dirne mich unterschätzt?" fragte Heptachiron mit unverhohlener Verärgerung zurück. "Ich war und bleibe der wahre Herrscher der Nachtkinder, auch ohne den Mitternachtsstein. Aber wenn ich ihn in der Zeit, die ich wach bin ergreifen lassen kann, dann werde ich durch ihn noch stärker sein."
"Oh, da hast du nicht auf das gehört, was dein Schöpfer dir gerade erzählt hat? Der Stein bin ich. Nur ich kann ihn noch dazu nutzen, andere zu beherrschen. Aber ich biete dir an, dich mir zu unterwerfen, in mich einzukehren und dort in Ehren ein Teil meiner Selbst zu werden. Denn deine Kräfte sind schon beachtlich, wenn ich das aus den Erinnerungen aller in mir schon aufgegangener erkennen kann."
"Den wirst du dir nicht einverleiben, Hure!" stieß Iaxathans Geistesstimme aus. "Er ist auch für dich zu stark. Dass du Kanoras in dich hineingesaugt und verdaut hast mag ein kleiner Sieg für dich gewesen sein. Aber ihn wirst du so nicht vertilgen."
"Flaschengeist, wenn ich raushabe, wie ich meine Jünger zu dir in diese Höhle reinschicken kann, in welche du diesen wirren Zauberschmied aus Deutschland eingeladen hast, kriegst du mit, dass ich keine Bange habe, dich auch in mich reinzusaugen und genüsslich zu verdauen, um zu wissen, was du alles so angestellt und herausgefunden hast. Aber wenn ich vorher deinen siebenarmigen Armleuchter zu fassen kriege reicht mir das für's erste", gedankentönte die scheinbar vielstimmige Widersacherin.
"Meine handelnden Hände werden den Mitternachtsstein ergreifen und ihn mir übergeben. Dann werden wir sehen, wer wen einverleibt", gedankenknurrte Heptachiron. Dann zuckte er unter einem neuerlichen gellenden Schrei zusammen. Sein Halbmorgenarm zuckte und schmerzte. Gerade hatte wer seine dritte Handlungshand angegriffen, die unterwegs war, um für ihn ein Opfer zu fangen.
"Nein, du biest. Nein, du wirst mich nicht ... Aaaaaah!!" hörte Heptachiron noch, bevor er eine andere Frauenstimme eindringliche Fragen wispern hörte.
"meister, wieso kann die das? Ich muss meinem Diener beistehen."
"Diesmal wirst du nicht meine Kraft erhalten. Töte deinen Diener und erhalte aus seinem Blute einen neuen!"
"O, Krach mit den modernen Hexenschwestern?" feixte die Stimme, die sich Gooriaimiria genannt hatte. "Wirst du erfahren, wenn deine hurige Essenz in meinem Geist zerrinnt", knurrte Heptachirons Gedankenstimme. "Ui, das hat mir schon dein Herr und Schöpfer angekündigt, dass er mich gerne in sich drin hätte. Aber bisher habe ich nur von ihm was in mir, das aber nach ganz viel mehr schmeckt." "Die Nacht deiner Niederlage ist nahe! Mein Statthalter wird bald mehr Macht haben als du ertragen kannst und wird vor allem mehr als sieben Tage wachen können", stieß Iaxathans Geist aus.
Heptachiron indes sah durch die Augen seiner dritten Handlungshand, dass diese gerade von einer blutroten Wolke umschlossen mit unerträglichen Schmerzen gequält wurde. Er fühlte, dass etwas versuchte, ihm die Antworten auf die Fragen aus dem Geist zu saugen, vor allem die, wo das Haus des meisters lag. Heptachiron erkannte, dass sein Diener kurz davorstand, dieses Wissen preiszugeben. Deshalb befahl er: "Leib meiner dritten Handd, erstarre und vergehe!"
"Meister, gnade!" hörte er seinen dem Tod geweihten Diener rufen. Doch da traf diesen schon die volle Wucht der tödlichen Verwünschung. Heptachiron fühlte, wie die Seele seines Dieners dem Körper entwich. Er bekam sie gerade noch mit einem Strang seines weitreichenden Geistes zu fassen und hielt sie fest. Er konnte sie in sich hinübersaugen oder einem Träger seines Blutes einflößen, damit dieser die Aufgaben übernahm. Er entschied sich für die zweite Möglichkeit.
Weil der Vorgang der Seelenverpflanzung seine volle Aufmerksamkeit forderte bekam er nicht mit, wie sich sein Herr und Meister und Gooriaimiria darüber stritten, für wen sein Erwachen mehr Verheißung oder Verdruss sein mochte. Endlich hatte er einen Abkömmling der dritten Hand gefunden, eine Tochter der Nacht. Heptachiron zögerte kurz. Doch dann stieß er die von ihm gehaltene Seele in den erspürten Körper hinüber. Erst dachte er, sie würde sich dort sofort neu entfalten und den neuen Körper unterwerfen. Doch genau das Gegenteil geschah. Mit einem langgezogenen Aufschrei zerflossen die Erinnerungen und Gedanken der dritten Hand im Geiste der neuen Hülle. Dann riss die Verbindung dazu völlig ab. Jeder Versuch, die dritte Handlungshand erneut zu führen wurde zum Schlag ins gnadenlose Nichts.
"Ui, danke, dass du meiner Getreuen einen Teil deines Geistes geschenkt hast", lachte Gooriaimiria. "Aber die Kleine ist schon seit einem Jahr meine folgsame Anhängerin und wurde von mir schon oft ausgeborgt."
"W-was!" stieß Heptachiron aus. Iaxathan gedankenknurrte unüberhörbar: "Du hast den aus dem zu sterben befohlenen Körper geschöpften in eine Tochter der Nacht gebettet? Dieses Weib kann in meinen ehemaligen Dienerinnen ein- und ausgehen, du Unwissender!"
"Nicht mit deinem kleinen Diener schimpfen, nur weil du ihm nicht rechtzeitig erzählt hast, was ich so alles draufhabe, Flaschenteufelchen", spottete Gooriaimiria. Heptachiron versuchte derweil, der dritten Handlungshand den Tod zu befehlen. Doch wieder schlugen seine geistigen Kraftstöße in reine Leere. Dann wurde ihm klar, dass er wahrhaftig wieder einmal viel zu lange geschlafen hatte.
"Kehre in dich selbst zurück, mein vielarmiger Vertrauter", gedankenschnaubte Iaxathan. Heptachiron wollte schon entgegnen, dass er noch Blutjäger ausgesandt habe, die er zu sich hinholen musste, wenn sie ein Opfer für ihn hatten. Doch dem Befehl des wahren Meisters musste er gehorchen, ohne zu zögern und ohne den Befehl zu hinterfragen. Also zog er alle seine Geistesfühler schneller als einWimpernschlag zurück. Er fühlte jedoch, dass sein Halbmorgenarm schwerfällig blieb. Die geistige Trennung von dem damit verbundenen hatte ihn bis auf weiteres so gut wie unbrauchbar gemacht. Das hatte der siebenarmige zwei verhassten Frauen zu verdanken, jener, die sich Herrin vom Blumenberg oder Ladonna Montefiori nannte und der ihm erst bei seinem Erwachen vorgestellten Gooriaimiria.
"Geh mit deinen Gedanken nur noch hinaus, um dir Nahrung zu verschaffen, aber nie zu weit", hörte er Iaxathans Geistesstimme wispern. "Ich werde dir nun enthüllen, wie du zum einen meinen Bann des wiederkehrenden Schlafes von dir abwerfen kannst und zum zweiten deine eigenen Kräfte vervielfachen kannst, damit dir das, was gerade geschah nicht ein weiteres mal widerfährt."
"Ich höre deine Worte und vertraue deiner Weisheit, mein Herr und Schöpfer", erwiderte Heptachiron in bedingungsloser Ergebenheit.
"Du hast wohl noch Diener aller sieben Richtungen. lass sie je einen Träger der hohen Kraft von jedem Geschlecht erspüren und umzingeln. Sie sollen sich an den Händen fassen, so dass er und sie vollständig von deinen Dienern umschlossen werden. So kannst du sie alle auf einmal in dein Haus hinüberholen, wie du es mit deinen einzelnen Dienern vermagst. verleibe dir dann das Fleisch und Blut der Gefangenen ein, aber nur je einen von jeder deiner handelnden Hände am Tag eines sichtbaren Himmelswanderers. Wichtig ist auch, dass jeder dieser Opferdiener bereits eigene Nachkommen unter den Tagkindern hervorbrachte. Das ist deshalb ganz wichtig, weil durch das Leben dieser Nachkommen ein Teil der Kraft niedergerungen wird, die deinen wiederkehrenden Schlaf bewirkt. Wenn du so an jedem Tag eines sichtbaren Himmelswanderers einschließlich der euch verhassten Sonne und des euch kräftigenden Mondes je ein dir dargebrachtes Opfer von jedem Geschlecht jeder Handlungshand in dein Fleisch und Blut eingefügt hast, werde ich dir die Worte mitteilen, mit denen du die Macht meines Schutzschlafes ein für alle Mal von dir abweisen kannst. So beginne nun!"
"Meister, wenn dies gelingt, so erbitte ich nur die Antwort darauf, warum du mir dies nicht schon wesentlich früher kundgetan hast."
"Dies zu wissen ist nur deinem Meister gestattet. Nun eile! die erste Nacht hat längst begonnen.", hörte er die Antwort des Meisters. Weil er diesem bedingungslos gehorchen musste durfte er nicht weiter nachfragen. So wusste Heptachiron nicht, dass Iaxathan, sein Herr und Meister, ihm damals den Bann des tiefen Schlafes über siebenhundertsiebenundsiebzig Mondwechsel auferlegt hatte, damit Heptachiron nicht an Körper und Geist über den Meister hinauswuchs, wie es mit den drei anderen geschehen war, von denen er, der Siebenarmige, nur wusste, dass sie wie er damals das schnelle Selbstheilung bietende Blut aus den enthaupteten Hälsen eines Vielköpflers getrunken hatten. Er hatte damals nur einen Schluck genießen dürfen. Seine drei Mitauserwählten sollten so viel trinken, wie sie konnten. Was dann mit ihnen geschehen war hatte er nicht mitbekommen, weil sein Herr und Meister ihn mit der Macht des Mitternachtssteines und der Schattenwirbel schnell an einen anderen Ort versetzt hatte. Dort hatte sich seine Verwandlung ereignet, die aus einem Sohn der Nacht den siebenarmigen Statthalter Iaxathans gemacht hatte.
Dass Iaxathan ihn nun, wo es diese Gooriaimiria gab, erstarken und dauerhaft wachen lassen wollte verstand der siebenarmige jedoch sofort. Oft war es nötig, Feuer mit Feuer zu bekämpfen.
Theia und Selene Hemlock konnten sich zwar darauf verlassen, dass Silver Gleam ihnen selbst nicht nach Blut und Leben trachtete. Doch konnte jemand ihr gefolgt sein. Dann war es wichtig, dass sie gut geschützt waren. So trugen sie beide wieder ihre mit dem Sonnensegen bezauberten Halsketten und hatten zudem je eine Sonnenlichtkugel mit fünf Stunden eingespeichertem Tageslicht dabei. Selene hätte zwar auch gerne einen Zauberstab gehabt, um weiterführende Abwehrzauber auszuführen. Doch mit ihrer Wiedergebärerin konnte sie darüber nicht verhandeln. Deshalb ersparte sie sich die dafür aufzuwendende Zeit.
Silver Gleam flog in Fledermausgestalt auf die Höhle zu. Das Schlagen ihrer lederartigen Flughäute war selbst noch in hundert Schritten Entfernung zu hören. Theia Hemlock ließ ihren Zauberstab kurz durch die Luft kreisen, wobei sie "Sanguis noctis resonato!" zischte. Selene kannte diesen auf Vampirblut wirkenden Aufspürzauber. Der hatte jedoch den kleinen Nachteil, dass damit erspürte Vampire ihn ebenso zielsicher orten konnten und je nach Tageslaune den Anwender angreifen oder vor ihm fliehen konnten. Auf diesem Zauber bauten sicher auch die Vampirblutresonanzkristalle des Laveau-Institutes, vermutete Selene Hemlock.
"Nur eine Tochter der Nacht", mentiloquierte Theia ihrer vaterlos empfangenen Tochter.
"Ihr seid wirklich süß", zwitscherte eine Stimme aus fünfzig Metern Entfernung. Das macht mich richtig wuschig, wisst ihr das?" Dann plumpste etwas größeres auf den Boden. Wenige Sekunden später sahen die beiden Hexen im Licht ihrer Zauberstäbe die in einem seidigen Nachthemd steckende schlanke Vampirin, deren langes Haar bei genug Licht rubinrot schimmerte.
"Wir wollten nur sicher sein, dass niemand anderes hinter dir herfliegt. Ich habe auch Beobachtungsabwehrzauber gewirkt", sagte Theia Hemlock.
"Sehr vorsorglich, wo die Hohepriesterin dieser im Mitternachtsstein eingebetteten selbst mit einem Zauberstab herumhantiert", sagte Silver Gleam nun mit ihrer menschlichen Stimme. Dann griff sie unter ihr seidiges Gewand und zog eine Rolle Pergament hervor, dass mit geflochtenen Haarbüscheln zusammengehalten wurde. "Ein paar Zaubertricks kann ich immer noch als Tochter der Nacht, darunter den Capilliclavis-Zauber. Wenn mir wer das Pergament weggenommen hätte hätte der oder die es nicht entrollen können, weil das darum geflochtene Haar es nur für mich benutzbar macht. Und wer mich umgebracht hätte hätte dabei auch das Pergament zu Staub werden lassen", sagte Silver Gleam und nestelte an den geflochtenen Haarbüscheln, bis diese sich in einzelne Haare auflösten und sie das Pergament entrollen konnte. Dann gab sie es Selene. "Du darfst deiner Wiedergebärerin gerne vorlesen, was ich in unserer Bibliothek aufgeschrieben habe."
Selene nahm das Pergament unbekümmert entgegen und strich kurz darüber. Sofort leuchteten die darauf angebrachten Schriftzeichen in einem sanften Rot auf. Das lag daran, dass Selene und Silver Gleam durch Selenes Blut miteinander verbunden waren.
"So sei euch kundgetan, was meine Vorausgegangenen mir, Erebus, zu wissen anvertrauten, auf dass ich es für euch niederschreibe", begann Selene den auf Englisch übersetzten Text zu lesen. "So erfahre, Bruder oder Schwester unserer Daseinsart, dass der große Urvater der Söhne und Töchter der Nacht beschloss, nach seinem großen Erfolg unserer Schöpfung noch stärkere zu erschaffen und diese zu Feldherren seiner eigenen Streitmacht der Nacht zu erheben. Er ließ mit seinen Getreuen jene beinlosen Riesentiere fangen, die bis zu neun Häupter tragen können und deren Selbstheilungskräfte so überragend sind, dass jedes abgeschlagene Haupt durch zwei neue Häupter ersetzt wird. Deren Blut wollte er mit dem unseren vereinen, auf dass die so bestärkten Kinder der Nacht unbesiegbar und unverwüstlichh sein würden, so selbst nicht vom verhassten Feuer der Sonne noch von Giften oder der entkräftenden Macht eilenden Wassers niedergeworfen und vertilgt werden könnten. Vier Söhne der Nacht wählte er aus. Deren Namen kannte nur er. Drei von ihnen ließ er aus den blutenden Stümpfen zum Teil enthaupteter Vielkopfschlangen, die von den Hellenen Hydra genannt werden, weil sie meistens in der Nähe von Gewässern nisten das ständig nachströmende Blut trinken und vereitelte so, dass dem Ungeheuer neue Häupter sprossen. Dem vierten Auserwählten gebot er jedoch, nur aus den Halsstümpfen wenig Blut zu genießen. Danach gebot er den Kräften des mächtigen Steines, jeden trinkenden an einen anderen Orte zu versetzen. Dann beobachtete er, was seine Versuche bewirkten. Bei jenen dreien, die so viel des Vielhäupterblutes wie möglich hatten trinken können, vollzog sich gar riesenhaftes Wachstum. Außerdem entsprossen ihnen dutzendfach mehr Arme und jedem bis zu drei Häupter. Der vierte, der nur wenig des hochwirksamen Blutes hatte kosten dürfen, verformte sich zu einem in der Farbe klaren Wassers schimmernden Körper ähnlich jener fünfarmigen Stachelhautträger aus dem Meere, die wegen ihrer Erscheinungsform Seesterne genannt werden. Er bekam jedoch nur sieben Arme, die mit Stacheln und Saugnäpfen besetzt waren. Seine Beine wurden in den Leib eingesogen und verschwanden darin. Sein Hals wuchs auf die dreifache Länge eines Menschenhalses im Verhältnis zu der wie bei den anderen zunehmenden Größe. Viermal so dick wie ein gewöhnlicher Mann mit Armen die bald dreimal so lang wie ein ganzer Mensch wurden, konnte der vierte nur noch kriechend und rutschend vorankommen. Die drei ersten wuchsen zu baumhohen Ungetümen heran und entfalteten eine unbändige Gier nach Fleisch und Blut. Der Urvater, der in seiner Muttersprache Der Nacht sei Ehre oder Herr der Nacht bedeutet, versuchte, die drei zu riesenhaften Vielarmigen erwachsenen mit der Kraft des machtvollen Steines zu unterwerfen. Doch offenbar verdarb das von diesen getrunkene Vielköpflerblut den Gehorsam dem Urvater gegenüber, ja vergiftete sogar deren Verstand. Trotz der zwei zusätzlichen Häupter vermochte keiner der drei mehr in gezielten und vernunftgemäßen Bahnen zu denken und zu handeln. Nur noch Tod und Vernichtung trieben sie. Der vierte entfaltete indes eine vielfach stärkere Geistesmacht. Er erkundete seine Umgebung und erkannte, dass er befähigt war, in die Gedanken und Sinne anderer Nachtkinder einzutauchen. Er konnte durch den mächtigen Stein der Mitternacht noch vom Urvater unterworfen werden und diesem bedingungslosen Gehorsam schwören.
Weil der Urvater unseres erhabenen Volkes nicht zulassen wollte, dass die drei seiner Macht entwachsenen blindwütig und unbändig hungrig alles und jeden vertilgten, der oder die ihnen in den Weg geriet, so rief er seinen Bewunderer, einen Meister der Erde und beinlosen Tiere. Mit diesem zwang er die große Mutter Erde dazu, ihren mächtigen Leib aufzutun und stieß die drei ihm entwachsenen bis zu tausend Manneslängen tief hinein in Mutter Erdes fruchtbaren Leib, damit sie dort auf Ewig gefangen seien. Er wusste jedoch, dass sie nun unsterblich waren und nicht verhungern oder ersticken konnten. Doch sie erstarrten, wurden eins mit der sie umschließenden Erde. Doch sei jeder von uns gewarnt, dass wenn eines Tages jemand so tief in Mutter Erdes Schoß hineinwühlt, dass er ihre Kerker öffnet, die drei vieldutzendarmigen Ausgeburten wiedererwachen werden und dann wie die legendären turmhohen Krieger über alles Leben herfallen werden. Deshalb sei euch der Ort verkündet, wo die drei im ewigen Leib der Mutter Erde eingeschlossen sind. Er liegt drei Nachtflugreisen gegen Morgenrot am abendrotzugekehrten Strande Kleinasiens unter einem Gebirge, dessen Gipfel eine neunzackige Krone bilden und deshalb Haupt des steinernen Königs heißen.
Der vierte Sohn der Nacht, jener der nur sieben Arme erhielt, ließ sich durch die Kraft des Steines noch beliebig versetzen und wurde in eine nur dem Urvater vertraute unterirdische Heimstatt getragen, wo der Urvater ein rundes Bett aus Granit schuf und dieses mit einer Mischung heilsamer Öle und Kräutersäfte einbettete, auf dass sein unumkehrbar verwandelter Diener nicht vertrokdnen oder von Staub und Gestein beeinträchtigt werden konnte. Die besonderen geistigen Kräfte nutzte der Urvater, um aus sicherer Entfernung mehrere Dutzend Nachtkinder zugleich lenken zu lassen. Der Siebenarmige durfte die sieben am besten für seinen Willen erreichbaren von wenigen Tropfen seines Blutes trinken lassen. So wurden sie die Hände des siebenarmigen. Um jedoch sicherzustellen, dass niemand das Versteck des siebenarmigen fand erlegte der Urvater ihm einen Bann auf, dass er, sobald der Urvater sein leibliches Dasein verlöre, in einen tiefen Schlafe sinke, der siebenhundertsiebenundsiebzig Mondwechsel dauern möge. Danach, so der Wille des großen Urvaters, sollte sein siebenarmiger Diener für einen Tag jedes sichtbaren Himmelswanderers wach sein und die mit ihm verbundenen dazu bringen, für ihn Dienste zu tun und Nahrung zu beschaffen. Danach sollte er erneut siebenhundertsiebenundsiebzig Mondwechsel weiterschlafen, bis der Geist des Urvaters einen Weg fände, wieder selbst in der Welt zu wirken, um seinem Diener zu verkünden, wie dieser sich vom Banne des langen Schlafes befreien könne. Wie wir aus der Geschichte des Urvaters wissen unterlag dieser der unbändigen Gier einer überlebensgroßen Spinne. Doch sein Auge der Finsternis wacht über die Welt und hält seinen Geist. Wer seine Gunst erlangt wird sein Statthalter auf dieser Welt."
""Als ich das las wurde mir ziemlich anders, meine lieben Erweckerinnen", grummelte Silver Gleam, als Selene das Pergament wieder zusammenrollte. Auf der Rückseite waren die Küstenlinien der Gegend und das kronenförmige Bergmassiv eingezeichnet, wo die drei unbeherrschbar mutierten Vampire in die Erde versenkt worden waren. Theia nickte und sagte dann: "Interessant. Daher haben die Griechen also den Mythos von den Hundertarmigen, die der Himmelsgott Uranos aus Wut über diese Missgeburten in den Schoß der Erde zurückstieß. Die Geschichte muss sich also auch unter gewöhnlichen Menschen verbreitet haben."
"Dieser Urvater hat das sicher selbst rumerzählt, damit bloß keiner die drei wieder aus Mutter Erdes dunklem Bauch herausziehen kann und aus Dankbarkeit dafür von denen aufgefressen wird", erwiderte Selene. Das von Silver Gleam erhaltene Pergament bestätigte für Selene auch, was Austère Tourrecandide noch aus den Aufzeichnungen des Philokryptes kannte. Der musste es also irgendwie erfahren haben, was Iaxathan damals angestellt hatte. Außerdem fragte sie sich gerade, welche gierige Riesenspinne dem Urvater am Ende den Garaus gemacht haben sollte. Irgendwie wurde sie den Gedanken nicht los, dass sie dieses Ungeheuer kannten.
"Es ist auch klar, warum dieser Urvater den vierten Umgewandelten mit einem wiederkehrenden Schlafzauber belegt hat", sagte Theia. Silver Gleam sah Selenes Mutter erwartungsvoll an. "Er wollte verhindern, dass jemand nach ihm, der den Mitternachtsstein in die Hände bekommt, den Siebenarmigen zu seinem Machtwerkzeug macht. Deshalb durfte dieser nur alle öhm, ungefähr 60 Jahre aufwachen und seine eigenen Bedürfnisse befriedigen, sozusagen als schwelende Vergeltung des achso vorausschauenden Urvaters."
"Ja, und womöglich fürchtete dieser Urvater, der ganz sicher Iaxathan ist, dass ihm auch Versuchsvampir Nummer vier wortwörtlich entwachsen könnte, vielleicht nicht körperlich, aber geistig. Ein Geschöpf, dass sieben oder mehr andere Lebewesen gleichzeitig geistig unterwerfen kann ist an sich jedem noch so skrupellosen Dunkelmagier überlegen. Das erleben wir ja seitdem diese schlafende Göttin ihr Unwesen treibt."
"Du hast wohl recht, dass er sicherstellen wollte, dass sein Geschöpf ihm nicht auch noch über den Kopf wächst", grummelte Theia, weil sie nicht darauf gekommen war. Silver Gleam nickte nur. Dann sagte die Vampirin: "Aber wer das weiß macht sich selbst zum Feind dieses Siebenarmigen oder beschwört ihn förmlich herauf, diese Macht zu gewinnen." "Deshalb sollten wir zusehen, dass wir dieses Wissen möglichst an die richtigen Stellen bringen, ohne dass herauskommt, dass wir es erworben haben", antwortete Theia Hemlock. Die anderen stimmten ihnen zu. "Also sollten wir uns schnellstmöglich wieder von hier entfernen, nur für den Fall, dass dir doch jemand gefolgt ist, Silver Gleam."
"Gut. Ich werde mich für die nächste Woche erst einmal verstecken. Wenn dieser Siebenarmige schon wach ist, muss er spätestens in einer Woche wieder einschlafen", sagte Silver Gleam. Daraufhin verwandelte sie sich in die riesige Fledermaus, als die sie hier angekommen war und flog ohne weiteres Abschiedswort davon. Theia nahm Selene durch Seitanseitapparieren mit zu einem geheimen Anlaufpunkt der schweigsamen Schwestern, wo sie einen unortbaren Portschlüssel nutzten, um wieder in die Staaten zurückzukehren. Theia würde noch am frühen Morgen das Pergament abschreiben und an bestimmte Stellen weiterleiten.
"Ob Ladonna auch das weiß, was Silver Gleam uns an Wissen zugespielt hat?" fragte Selene.
"Sagen wir es so, sie verfolgt wohl einen anderen Weg. Außerdem hat Silver Gleam erwähnt, dass ihre Kontakte wohl schon früher mit ihr zu tun hatten, auch wenn sie nicht verraten wollte, wer das war", sagte Theia. Selene nickte. Vielleicht bekamen sie doch noch heraus, wo der siebenarmige wohnte. Ob sie ihn vernichten konnten, ja ob sie das überhaupt durften war dann aber vorher zu klären. Selene wusste, dass sie, wenn sie irgendwann wieder einen eigenen Zauberstab benutzen durfte, die vier mächtigsten Zauber vergessen würde, die sie gelernt hatte, wenn sie ein vernunftbegabtes, fühlendes Wesen vorsetzlich tötete. Theia hätte nicht solche Skrupel.
Ladonna verzog das Gesicht vor Wut. Sicher hatte sie damit gerechnet, dass Heptachiron seinem Diener half. Er hatte ihn ja auch erst so stark aufgeladen, dass er sogar die Glutwolke von sich abstreifen konnte. Doch dann hatte der noch ungreifbare Gegner seinen Diener einfach wegteleportiert. Wo genau er nun war konnte sie auf diese Entfernung nicht erfassen. Zumindest aber wusste sie nun, dass Heptachiron irgendwo zwischen Kreta und Korfu zu finden sein musste. Sie musste sofort klären, woher die gerade erfasste Empfindung kam. Immerhin hatte sie die letzten Zusammentreffen sorgfältig auf einer Landkarte verzeichnet. Außerdem würde sie noch etwas machen, was nur Hexen mit Veela-Abstammung tun konnten.
Der Siebenarmige fühlte, wie die sechs Diener seiner Handlungshand in genauer Morgenrichtung mit einer Trägerin der hohen Kraft kämpften. Sie wandte starke Zauber der Sonne an und rief auch Kräfte des Mondes. Nur seiner starken Geisteskraft verdankten die Handlungshand aus Morgenrichtung und ihre sechs Untergebenen, dass sie den ihnen entgegenfliegenden Zaubern widerstanden. Dass die aufgespürte eine ehemalige Lehrerin des Durmstranginstitutes war erfuhr Heptachiron erst, als es seinen sieben Dienern in Morgenrichtung endlich gelang, den einschließenden Kreis zu bilden und sich bei den Händen zu fassen. Ludmilla Iwanowna Rodenkowa rang um Atem. Die wilde Zauberschlacht gegen gleich sieben schier unverwüstliche Nachtkinder hatte sie an den Rand der Ohnmacht getrieben. Endlich konnten die sieben Helfer Heptachirons sich gut genug aneinander festhaltenund die Überwältigte dabei mit ihren Körpern einschnüren. .
"Meine Diener hört mein Wort!
folget ihm zum rechten Ort!" stieß Heptachiron seinen mächtigen Wunsch aus, der in den Seelen seiner Diener widerhallte, sich verstärkte und sie alle zusammen aus der stofflichen Welt heraus direkt zu ihm hinüberriss. Es verging kein Augenblick, da erschienen die sieben sich an den Händen haltenden und die Gefangene einschließenden mit einem überlauten Knall in der weitläufigen Höhle, die Heptachiron sein Haus nannte. Der Siebenarmige hörte nun den lauten Aufschrei der herbeigeschafften Gefangenen. "Gebt sie mir!" befahl er auf rein geistigem Wege. Seine Diener öffneten den Kreis. Die Gefangene stolperte und fiel zu Boden. Als sie erkannte, was geschehen war und dass sie in unmittelbarer Lebensgefahr schwebte war es jedoch schon zu spät. Ein viele Armeslängen messender Fangarm peitschte fauchend durch die Luft, schlang sich blitzartig um den zitternden Körper der Gefangenen und riss sie vom Boden. Die Gier nach frischem Blut drohte den Siebenarmigen zu übermannen. Doch als er mit seinen jede Dunkelheit durchdringenden Augen sah, dass die andere noch ihre Kleidung trug hielt er inne. Wenn er sie sich einverleiben wollte durfte sie nicht bekleidet sein. Er hatte in mancher unbändiger Gier schon Menschen mit Kleidung verschlungen und danach arge Übelkeit empfunden, bis er die verschluckten Wäschestücke wieder ausgewürgt hatte. Hier wollte er garantiert nicht ins Würgen geraten.
"Reißt ihr alle Kleidung vom Leibe, aber verletzt sie nicht! Sie darf keinen Tropfen ihres Blutes verlieren!" peitschten seine Gedanken durch die Bewusstseine der herbeigeholten Diener. Diese fielen sofort über die von einem der sieben Arme gehaltene Her und rissen ihr mit lautem Ratschen Umhang, Unterzeug und Schuhwerk vom Körper weg. Dass sie noch einen Gedankenruf aussandte bekam Heptachiron zwar noch mit, kümmerte sich aber nicht weiter darum.
Als die Gefangene keinen künstlichen Fetzen Stoff mehr am Körper trug riss sein Fangarm sie vor sein unheilvolles Maul. Seine kurzschwertartigen Fangzähne schlugen in den Leib der Angstschweiß verströmenden und hielten sie einen Moment fest. Dann schlang Heptachiron die Gefangene bei lebendigem Leibe in sich hinein. Ja, es stimmte, was der Meister gesagt hatte. Ihre Kraft floss aus ihrem Fleisch und Blut in ihn ein, während sie die allerletzten Atemzüge ihres Lebens durchlitt. Dann, als sie in seinem Leib verstarb, flossen auch alle Erinnerungen von ihr in ihn über. Er erfuhr so, dass sie fünfzig Jahre lang Lehrerin für magische Tierwesen gewesen war und in der Zeit zwei Söhne und eine Tochter hervorgebracht hatte. Diese Nachkommen hatten mittlerweile selbst Kinder in die Welt gesetzt. Damit erfüllte sie die vom Meister gestellte Bedingung.
"So, und bevor die merken, was ihr tut beschafft mir noch einen männlichen Rotblüter mit der hohen Kraft, bei dem ihr fühlt, dass er wohl schon eigene Nachkommen gezeugt hat!" befahl Heptachiron, als die Wogen der geistigen Einverleibung Ludmilla Rodenkos weit genug verebbt waren, dass er wieder klar denken konnte.
"Wir haben schon einen gefunden. Aber der war noch von zu vielen anderen umgeben, als dass wir sieben ihn angreifen konnten. Aber wir spüren dir einen weiteren auf, Herr und Meister", sagte seine Handlungshand aus Morgenrichtung. Heptachiron trieb ihn und seine sechs Diener an, sich zu beeilen. Denn er ging davon aus, dass die Träger der hohen Kräfte bald wussten, was ihrer Angehörigen widerfahren war. Denn sicher hatte das rotblütige Weib, dass er sich mit Haut, Haaren, Fleisch, Blut und Seele einverleibt hatte, mit ihrem letzten Gedankenruf noch wen erreicht, vielleicht eines ihrer Kinder.
Es dauerte eine Zeit, von der Heptachiron nur merkte, dass sie lang war. Die Nacht war fast vorbei, als seine sieben Morgenrichtungsdiener die erfolgreiche Einschließung eines männlichen Rotblütlers mit eigener Zauberkraft vermeldeten. Diesmal war es ein Bewohner jenes weit im Osten der bekannten Welt gelegenen Reiches der vielen Inseln, das dessen Volk Nippon und der Rest der bekannten Menschheit Japan nannte. Diesmal war es ein nicht ganz so alter Mensch wie die Zauberkraftträgerin. Aber die von Heptachiron verliehene Gabe, zu fühlen, wer körperlich unberührt war und wer schon häufiger die fleischliche Fortpflanzung vollzogen hatte hatten ihn als mindestens zweifachen Vater ermittelt.
Nachdem die Diener den halbbewusstlosen Mann seine Kleidung und alle mitgeführten Gegenstände entwendet hatten packte Heptachirons Arm zu und riss ihn hoch. Doch der Gefangene war noch nicht am Ende. Unvermittelt fühlte der Siebenarmige, wie ihm Lebenund Seele entwichen. Er fühlte, wie das innere Selbst, der atmende Geist, dem angeborenen Leib entschlüpfte und gedankenschnell davonhuschte, während Herz, Lungen und Verdauungsorgane schlagartig aussetzten. Nun hielt Heptachiron einen noch körperwarmen Leichnam in seinem Fangarm.
"Ihr Versager!" brüllte er seine Diener an und schleuderte die für ihn wertlose Hülle aus Menschenfleisch von sich. Die Diener zuckten zusammen wie von einem Blitz getroffen. Dann sagte einer der Helfer der handelnden Hand aus Morgenrichtung, dass sie noch einen Träger der Kraft wussten, den sie fangen konnten. Heptachiron wischte mit allen sieben Armen durch die Luft. Er fühlte, dass über seinem Haus bald die verhasste Sonne aufgehen würde. Er hatte vielleicht noch einen Zwölfteltag, um das Ziel seiner ersten wachen Nacht zu erfüllen. So kühlte er mit einem konzentrierten Gedanken seinen Ärger herunter und befahl: "Denkt an den Ort, wo er wohnt und haltet euch dabei bei den Händen!" Als seine Diener den Befehl befolgten schleuderte er den rein gedachten Wunsch in den Raum: "Wo die Beute wohnt seid auch!" Die Kraft seines Wunsches verstärkte sich in seinen Dienern und warf sie innerhalb eines Augenblickes über viele tausend Tausendschritte hinweg an den Ort, an den sie in diesem Moment dachten.
Es verging ein halber Zwölfteltag. Der Ersatz für den japanischen Zauberer wehrte sich mit Mondzaubern, die Heptachiron jedoch durch seine eigene Macht von den Dienern fernhielt. Dann hatten sie ihn endlich umzingelt und schnürten ihn ein, dass er sich nicht mehr rühren konnte. Unverzüglich befahl er den seinen, bei ihm zu sein. Die Kraft seines Wunsches holte sie und den Gefangenen zu ihm.
Nun brauchte er es nicht zu befehlen, dass sie den anderen entkleideten. Schneller als vorhin riss er den aller Kleidung und Sachen beraubten hoch und schlang ihn lebendig hinunter. Ja, der andere hatte drei Kinder gezeugt, alles Töchter. Sein Name war Iwan Dimitrjewitsch Borodin gewesen, der als Fachzauberer für jene fliegenden Dinger gearbeitet hatte, auf dem die Träger der hohen Kräfte seit vielen hundert Jahren durch die Luft fliegen konnten. Als Borodin im Leib des Siebenarmigen sein Leben verlor ergoss sich all sein Wissen in den Geist des mächtigen Herrn der Nachtkinder.
"Ach neh, siebenarmiger Armleuchter, versuchst du jetzt, dich an älteren Zauberkraftträgern groß und stark zu fressen?" drang eine höhnische Gedankenstimme zu Heptachiron vor, jene Stimme, die sich als Gooriaimiria, die neue Göttin der Nachtkinder, ausgegeben hatte.
"Mein Meister und ich werden dein Schandmaul bald für immer schließen", stieß Heptachiron zur Antwort aus. Die Vertilgung von zwei Trägern der Kraft hatte ihm mehr Stärke gegeben. Und so würde es weitergehen.
"Wenn ich heraushabe, was du mit dieser Fressorgie bezweckst bekommst du meine Antwort", erwiderte die verhasste Rivalin rein gedanklich. Heptachiron konnte jedoch eine gewisse Spur Unsicherheit aus ihren Gedanken heraushören. Offenbar musste sie gerade daran denken, wie mächtig er doch war. Mochte es sein, dass sie seine wahre Macht unterschätzt hatte? Jedenfalls würde er am Ende obsiegen, im Namen und zum Ruhme seines großen Herrn und Meisters.
"Lass dich von ihr nicht dauernd herausfordern, mein Diener! Vor allem aber verberge deine Gedanken besser als bei deinen bisherigen Beutezügen!" vernahm Heptachiron die geistige Stimme seines Gebieters.
"Meister, sie wird nicht erfahren, was ich für dich vollbringen soll", erwiderte der siebenarmige.
"Es wird ihr schon reichen, dass du es hinbekommst, Träger der hohen Kräfte gegen ihren Willen zu dir zu holen. Und wenn sie dann noch ergründet, auf welche Weise es gelingt könnte sie danach trachten, dir die nächsten nötigen Fänge zu vereiteln. Also hüte deine Gedanken und berge deine Absichten in Schweigen!" Befahl Iaxathan. Irgendwie klang auch die Geistesstimme des Meisters ein wenig verunsichert, so als traue er seinem großen Plan selbst nicht so recht über den Weg. Doch das zu denken war Verrat am Meister. Wenn er damit nicht sofort aufhörte würde ihn sein Gebieter grausam strafen, bangte der siebenarmige.
Jedenfalls hatte er das Werk der ersten Nacht seiner endgültigen Befreiung vollendet, die Nacht des verhassten Himmelsfeuers. In der kommenden Nacht, jener des schnellen Himmelsläufers, würde er die nächsten beiden nötigen Opfer erhalten. Dann würde die Nacht der weißen Mutterschwester und Verkünderin des Himmelsfeuers anbrechen, danach die Nacht der kleinen Himmelsschwester, dann die des blutigen Mutterbruders, dann die des großen Wächters und zum schluss die des fernen Kranzträgers. Noch sechs Nächte, noch zwölf Opfer. Dann würde er endlich aus dem Bann des viele Mondkreise dauernden Schlafes erlöst sein.
Endlich war es soweit, , fand Theia Hemlock, die neben Linda Knowles am langen Tisch der Schwesternschaft saß. Sie hatte über einige Umwege die Notizen Silver Gleams weitergereicht und damit gehofft, in den nächsten Tagen zu einer Vollversammlung gerufen zu werden. Endlich war es soweit.
Auch wenn es sich um eine Vollversammlung aller nordamerikanischen Mitschwestern handeln sollte hieß es in der Teilnahmeaufforderung, dass erst einmal diejenigen erscheinen sollten, die ohne unliebsame Fragen herauszufordern von ihren Familien oder Arbeitsstellen fort konnten. Womöglich würde die Sprecherin solange hier im geheimen Versammlungsraum bleiben, bis sie alle nordamerikanischen Mitschwestern gesprochen hatte.
Gerade ging die Tür auf, und Beth McGuire trat ein. Alle bereits hier versammelten Hexen blickten sie genau an. Alle wussten, dass sie in erster Linie für die Vorhaben der Ungeduldigen eintrat, ja dass sie aber auch als Mitglied des auch bei der Schwesternschaft mit sehr großem Unwillen betrachteten Spinnenordens der Wiederkehrerin eben jener Sardonianerin berichten würde, was Roberta Sevenrock ihr durchgehen ließ. Beth nahm die ihr entgegengerichteten Blicke als zu erwartende Sache hin und setzte sich wortlos auf ihren Platz links des hohen Stuhls, auf dem Lady Roberta Sevenrock bereits saß.
Wer nicht wusste, dass Roberta Sevenrock, die sich von Freunden auch Bobbie nennen ließ, eine mächtige Hexe in der Gruppe der schweigsamen Schwestern war hätte sie für eine gemütliche, liebenswerte Großmutter halten mögen. Sie trug ein dunkelgrünes, mit roten Rosenblütenmustern besticktes Kleid. Ihr schwarzer Schopf war bereits von silbernen Strähnen durchzogen, und die wachen grauen Augen hinter den kreisrunden Brillengläsern blickten erwartungsvoll, aber nicht auffordernd in die Runde. Beth war vorerst die letzte Mitschwester, die ihrer Einladung gefolgt war. So wartete Roberta Sevenrock noch einige Sekunden, in denen keine was zu sagen wagte. Dann begrüßte sie ihre herbeigeeilten Mitschwestern und kam ohne lange Einleitung auf den Grund der Versammlung:
"Ich erhielt in den letzten zwei Tagen sehr beunruhigende Berichte aus unserem Land, sowie den Ländern Russland, Bulgarien, ja und über eine nur mir bekannte Quelle auch einen Bericht aus dem fernen Kaiserreich Japan. Alle Berichte beziehen sich auf das alle knapp 60 Jahre stattfindende Erwachen jener vampirischen Missgeburt, die als "Der siebenarmige" oder Heptachiron bekannt ist. Sicher haben wir von der erhabenen Sororitas Silenciosa schon etliche Male mit dieser Kreatur zu tun gehabt, aber nur indirekt. Jetzt sieht es aber so aus, als ob dieses Unikum danach trachtet, die eigene Macht zu steigern und zugleich die ihr auferlegte Einschränkung loszuwerden. Ich erfuhr von unserer russischen Mitschwester Olga Iwanowna Rodenkowa, dass ihre Zwillingsschwester Ludmilla, die lange im Durmstranginstitut gelehrt hat, von mindestens fünf Vampiren heimgesucht und irgendwie verschleppt worden sein muss. Sie erhielt zwei mentiloquierte Rufe, einen unmittelbaren Hilferuf und bedauerlicherweise eine Ankündigung, dass sie wohl in den nächsten Sekunden sterben würde, da sie der Übermacht nicht trotzen konnte und nun von ihm, dem Siebenarmigen, ergriffen worden sei, wohl um diesem als Opfer zu dienen." Roberta Sevenrock ließ diese Unheilsbotschaft einige Sekunden wirken. Dann sprach sie weiter: "Drei Stunden später muss es dann einen bulgarischen Zauberer betroffen haben, der trotz seiner guten Kenntnisse der Mondzauber offenbar keine Chance hatte, sich gegen vier bis sieben Blutsauger zu behaupten. Ob er ebenso dem Siebenarmigen als Opfer zugeführt wurde bekam niemand von uns mit. Meine Kontakte in Bulgarien vermelden nur, dass das dortige Zaubereiministerium nach ihm sucht und Kampfspuren und verwehende Echos ausgeführter Mondzauber entdeckt hat. Ja, und dann erfuhr ich Dank unserer Mitschwester Beth McGuire vor fünf Stunden, dass ihr Kontakt nach Japan das Erscheinen eines dem sterbenden Körper entflohenen Geistes eines mächtigen Wassermagiers mitbekommen hat. Dieser Geist verkündete, dass sein früherer Körper von sieben bleichgesichtigen Bluttrinkern aus dem Westen überfallen, umstellt und auf zeitlose Weise in eine Tropfsteinhöhle verschleppt worden sei, wo er den siebenarmigen blauen Teufel selbst gesehen habe. Ihm sei nur die Möglichkeit verblieben, mit der Macht seines Schutzgottes Susanoo den eigenen Leib abzuwerfen und zu fliehen, auf dass der siebenarmige Teufel ihn nicht lebendig verschlingen könne. Also steht zu befürchten, dass der bulgarische Zauberer ebenfalls diesem siebenarmigen Scheusal zum Fraß vorgeworfen wurde und es nicht das Werk jener obskuren Entität ist, die sich als schlafende Göttin bezeichnet und sich als Erbin Nocturnias versteht." Wieder ließ die Sprecherin ihre Worte wirken. Dabei sah sie jeder der anwesenden genau in die Augen. Die meisten von ihnen beherrschten die Okklumentik und konnten sich für einige Zeit vor der Ausforschung ihrer Gefühle und Erinnerungen schützen. Offenbar ging es Roberta Sevenrock jedoch nicht darum, die Gedanken ihrer Mitschwestern auszuspähen, sondern nur, wie jede von ihnen auf diese Schreckensmeldung reagierte. Zwanzig Sekunden lang fiel kein Wort. Dann sagte die Stuhlmeisterin: "Die drei Berichte geben zur allerhöchsten Sorge Anlass, meine lieben Mitschwestern. Denn sie beweisen, dass der Siebenarmige nicht nur mächtig genug ist, seine eigenen Diener zeitlos zu sich hinzurufen, sondern auch, dass er sie gegen ihnen entgegengeschleuderte Abwehrzauber zu schützen vermag und, was das wirklich erschütternde ist, dass seine Diener erfahrene Hexen und Zauberer mitreißen können, wenn ihr Herr und Meister sie zu sich hinzieht. Bisher sind keine solchen Berichte bekannt gewesen. Der Siebenarmige hat in den kurzen Wachphasen immer nur magieunfähige Leute, meistens junge Menschen, von seinen Dienern verschleppen lassen, um sich mit deren Blut zu stärken. Dass er nun lebenserfahrene Magier und Hexen jagt und wahrhaftig auch erbeuten kann, sofern sie ihren Körper nicht in einem letzten Verzweiflungsakt abwerfen und der ewigen Daseinsform als Gespenst den Vorzug vor dem Gefressenwerden geben, lässt mich vermuten, dass ihm mitgeteilt wurde, wie er das anstellen kann und wozu er das anstellen soll. Hierzu passt auch ein Bericht, den unsere Mitschwester Eileithyia aus nur ihr bekannten Quellen erhielt, und zwar eine Abschrift aus einem Buch, das in der geheimen Bibliothek der sogenannten Nachtkinder aufbewahrt wird." Sie tippte mit ihrer rechten Hand auf den Tisch. Unvermittelt lag da ein Pergament. Von diesem las sie nun ab, was Theia Hemlock und ihre vaterlos empfangene Tochter Selene von Silver Gleam erfahren hatten und was sich mit dem Bericht des altgriechischen Zauberkundlers Philokryptes deckte. Als Roberta die Abschrift verlesen hatte deutete sie kurz noch auf die Rückseite des Pergamentes und erwähnte, dass darauf die Position der in die Tifen der Erde versenkten drei Übervampire verzeichnet war. Dann sagte sie:
"Wir müssen also davon ausgehen, dass jener dunkle Geist, der uns den Terroristen namens Vengor alias Hagen Wallenkron aufgehalst hat, nun auf seinen alle 777 Mondzyklen wiedererwachenden Diener als neuen Unheilsstifter aufbauen will. Also ist dieser uralte böse Geist nicht wieder in jene tiefschlafartige Untätigkeit verfallen, wie nicht nur wir gehofft haben, sondern kann noch zu seinen Kreaturen sprechen. Die Fragen, die ich gerne mit euch erörtern möchte lauten: Was hat diesen Urvater aller Erzdämonen der Menschheitsgeschichte dazu veranlasst, jetzt erst seinen siebenarmigen Diener derartig anzuweisen? Müssen wir damit rechnen, dass auch weitere Hexen und Zauberer entführt werden? Besteht die Gefahr, dass er auf diese Weise dem ihm auferlegten Schlafbann entrinnen kann und weiterhin Angst und Schrecken verbreitet? Wie können seine Diener gestoppt und seine Raubzüge unterbunden werden? Denn offenbar dringen seine Diener durch übliche Aparierabwehrzauber."
Theias Mitschwester Mirella Springwater fragte, was die bisher bekannten Entführungsopfer gemeinsam hatten. Darauf erfuhren sie, dass die beiden Zauberer und die Hexe mehrere Kinder hatten und seit über vierzig Jahren ausgebildete Zauberkundige waren. Linda vermutete, dass der bulgarische Zauberer womöglich ein Ersatz für den Japaner war, weil dieser sich selbst getötet hatte. Das nahmen alle als höchstwahrscheinliche Erklärung hin, zumal es vom zeitlichen Ablauf her zutraf, dass der bulgarische Zauberer nach dem Magier aus Japan verschleppt worden war.
"Kann es sein, dass der Siebenarmige den Auftrag hat, nur solche Hexen und Zauberer zu töten, die lebende Nachkommen haben?" wollte Beth McGuire wissen. Roberta gab die Frage weiter. Theia sah ihre Mitschwester an und wandte sich dann an die Stuhlmeisterin. Diese erteilte ihr durch Nicken das Wort.
"Es gilt als eines der magischen Grundgesetze, dass Vermehrtes Blut die Kraft des Blutvermehrers steigert, auch wenn er oder sie nicht unmittelbar stärker zu sein glaubt, sobald er oder sie ein weiteres Kind oder Enkelkind im Leben begrüßen kann. Doch es ist so, dass schlummernde Kräfte des Lebens in jedem wachsen, die ihr Fleisch und Blut vermehren. Das könnten sowohl dieser in seinem eigenen Machtfokus eingekerkerte Dunkelgeist als auch sein durch jenen Versuch mit Hydrablut erzeugter Sklave wissen. Vielleicht hat der, der sich Iaxathan nennen lässt sogar jetzt erst dieses Wissen weitergegeben, weil er wie schon vermutet wurde einen neuen Unheilsstifter gegen uns aussenden will. Der Grund dafür ist eindeutig die Provokation, die ihm durch die selbsternannte schlafende Göttin widerfährt und dass es gelungen ist, den von ihm verführten Zauberer Wallenkron davon abzuhalten, sein bedingungslos unterworfener Knecht zu werden, auch wenn wir nicht wirklich froh sein dürfen, dass das von den Fortpflanzungserzwingern von Vita Magica erledigt wurde. Auch wird Iaxathan auf irgendeine Weise bekannt geworden sein, dass es diese neue Nachtschattenkönigin gibt, die sich offenbar bisher seinem Einfluss entziehen kann. Also setzt er nun auf den Siebenarmigen und will ihn ziemlich sicher aus dem Bann des wiederkehrenden Langzeitschlafes lösen."
"Ja, aber warum hat er das nicht schon vor Jahrhunderten gemacht?" wollte Linda Knowles wissen. Theia sah erst sie und dann die Stuhlmeisterin an. Diese nickte erneut. So sagte Theia Hemlock: "Womöglich, weil Iaxathan entweder damals selbst in einer Art Tiefschlaf lag und/oder er fürchten musste, dass auch der Siebenarmige seiner Kontrolle entgleiten und zu einer nicht mehr beherrschbaren Abscheulichkeit heranwachsen könnte, wenn der Siebenarmige dauerhaft wach bliebe. Entweder ist seine Wut nun größer als diese Angst, das Ungeheuer könne ihm entgleiten, oder er fürchtet, dass er da selbst auch wieder in einen tiefen Schlaf verfallen könnte und beim nächsten Erwachen überhaupt keine Möglichkeit mehr hätte, irgendwas zu beeinflussen. Sollte er bald selbst einschlafen will er sicherstellen, dass etwas von ihm in der Welt weiterwirkt. Womöglich nährt sich dieser dunkle Geist auch davon, dass es genug Leute gibt, die an ihn denken und sich seiner erinnern. Je mehr das sind, desto wacher bleibt er selbst. Das ist keine bloße Behauptung, sondern beruht auf den Niederschriften hochrespektabler Vorschwestern, die sich mit den Gesetzmäßigkeiten von Seelenwandlungen befassen."
"Mit anderen Worten, weil unter anderem wir jetzt über diesen Dämon reden wird er immer mächtiger?" wollte Mirella Springwater wissen. Beth McGuire nickte leicht. Roberta Sevenrock wiegte den Kopf. Dann sagte sie: "Das war ganz sicher der Grund, warum Adamas Silverbolt vor bald hundert Jahren alles Wissen um den Standort des Ankerartefaktes jenes dunklen Geistes aus seinen Erinnerungen getilgt hat. Doch wenn dieser nun über seine siebenarmige Ausgeburt eine neue Schreckenszeit einleiten will ist es unerheblich, ob wir oder andere an diesen selbstgemachten Dämonen denken oder gar wissen, wo sein gefährliches Artefakt zu finden ist. Es geht sicher darum, seine Machtansprüche zu behaupten, weil zwei ebenso machtstrebende Kreaturen entstanden sind, die zu seinem Verdruss auch noch weiblichen Geschlechtes sind. Laut den alten Niederschriften, die unsere erhabene Schwesternschaft über die Jahrhunderte gesammelt hat, war Iaxathan zur Zeit seiner fleischlichen Existenz sehr Hexenfeindlich eingestellt. Er betrachtete magisch begabte Frauen als Übel, das er tunlichst zu meiden hatte. Meine in Ehren entschlafene Altvorgängerin Lady Joanna Oakwood vermutete, dass ihm wohl sehr viel Unterdrückung von seiner Mutter oder anderen weiblichen Blutsverwandten zugefügt worden sein muss, dass er eine derartig ausgeprägte Misogynie an den Tag legte. Der Vorfall mit dem von Körper zu Körper wandernden Boten dieses Unheilsgeistes, der 1984 in Hogwarts verzeichnet wurde bestätigt die Annahme, dass Iaxathan diese Feindseligkeit gegenüber Hexen auch in seiner Nachtodform beibehielt. Also muss er sich in mehrfacher Hinsicht provoziert und beleidigt fühlen, dass eine Vampirin es angestellt hat, sich zur Herrin seines Mitternachtssteines zu machen und es einen hochpotenten weiblichen Nachtschatten gibt, der sich als Mutter einer neuen Zauberwesenart versteht."
"Ja, und weil der uralte Dunkelgeist selbst nicht unmittelbar gefährdet werden kann ist es ihm dann auch egal, ob seine Kreatur irgendwann selbst zu einer unbeherrschbaren Erscheinung wird, solange sie damit die ihn beleidigenden Mächte auslöscht", sagte Roberta Sevenrock.
"Alles gut und schön, Lady Roberta und liebe Mitschwestern", setzte Linda Knowles an. "Aber was bitte können oder müssen wir jetzt tun, damit wir nicht von diesem Monster und seinen Abkömmlingen umgebracht werden oder Leute, die uns sehr wichtig sind getötet werden? Ich könnte jetzt einen Artikel in den Westwind setzen, dass alle Hexen und Zauberer noch mehr Antivampirzauber vorbereiten sollen, vor allem die, die schon eigene Kinder haben. Aber dann werde ich gefragt, woher ich das habe, und das wollt ihr ja nicht wirklich."
"Solange die Vorkommnisse von den betroffenen Ministerien als geheim eingestuft werden können wir das leider nicht verbreiten", sagte Roberta. "Aber wir können unsere Anverwandten besser schützen, indem wir ihnen Notfluchtportschlüssel zukommen lassen, die sie an einen von mehrfachen Sonnenzaubern gesicherte Orte bringen. Da die Diener des siebenarmigen Scheusals ihre Opfer unmittelbar berühren müssen können und werden wir dasselbe machen, was die vom Laveau-Institut damals mit der durch den Mitternachtsdiamanten größenwahnsinnig gewordenen Vampirin Nyx gemacht haben." Da dieses Ereignis trotz der von den Beteiligten verhängten Geheimhaltung den schweigsamen Schwestern bekannt geworden war brauchte Roberta Sevenrock nicht weiter auszuführen, was damals passiert war. So beschlossen sie einstimmig, ihren bereits eigene Nachkommen habenden Anverwandten Schmuckstücke mit Portschlüsselwirkung zu übergeben, die bei einer Berührung eines Vampirs zehn Sekunden später einen Transport in die Festung der goldenen Säulen bewirkte, einer uralten Inkafestung im Urwald Kolumbiens, in der Priester des Inti und Priesterinnen der Pacha Mama eine von dunklen Geistern undurchdringliche Sonnenmagie angereichert hatten, auch wenn dabei wohl auch Menschenopfer vollzogen worden waren. Jedenfalls galt, dass ein Vampir, der in den Schutzbereich der Festung geriet, wie von einer Stunde Sonnenstrahlung getroffen zu Asche zerfiel. Da nur Roberta Sevenrock und ihre südamerikanische gleichrangige Mitschwester Doña Alvara Beatríz Carmelita Durante den genauen Standort dieser Festung kannten durften auch nur die von ihnen ins Vertrauen gezogenen Mitschwestern diese Portschlüssel anfertigen. Wer nicht das bedingungslose Vertrauen der Stuhlmeisterin genoss musste warten, bis diese da selbst eine Anzahl von Portschlüsselartefakten hergestellt hatte. Das mochte mehrere Tage dauern. Jedenfalls bekamen Eileithyia Greensporn, sowie ihre unmittelbaren Anverwandten die ersten Portschlüssel in Form von fest anlegbaren Fußgelenkketten. Noch bevor es in den Staaten Abend wurde kehrte Theia Hemlock mit einer solchen Fußkette in ihr Haus zurück und übernahm ihre Tochter Selene von ihrer Base und zeitweiligen Mutter Leda.
Gleich nach dem Untergang der verhassten Himmelsfeuerkugel hatte er seine handelnde Hand der Richtung zwischen Morgen und Mittag ausgesandt, die nächsten beiden Opfer zu beschaffen. Der Siebenarmige fühlte, dass die Zeit drängte. Sicher hatten die Zauberkraftträger bereits begonnen, sich gegen ihn zu wappnen. Das taten sie immer, wenn sie merkten, dass er seine Diener aussandte, was ihn ja all die bisherigen Wachzeiten dazu gezwungen hatte, nur unmagische Rotblütler zu erbeuten und sich darauf zu beschränken, nur die Kinder der Nacht direkt anzusprechen. Doch des Meisters Wille war, dass er endlich aus dem Bann des wiederkehrenden langen Schlafes freikam und vor allem im Namen des Meisters die Schmach tilgen musste, dass es eine selbsternannte Herrin oder gar Göttin aller Nachtkinder gab. Vor ihren geistigen Ohren musste er seine Gedanken verhüllen. Doch ganz konnte er es nicht verhindern, dass sie von ihm etwas mitbekam, wenn er seine eigenen Geistesarme ausstreckte, um mit seiner handelnden Hand in Verbindung zu treten. Er konnte nur darauf hoffen, dass er die Ziele seines Meisters erreicht haben würde, bevor sie wusste, was er genau tat.
Er fühlte gerade, wie seine handelnde Hand in Richtung zwischen Morgen und Mittag mit den sechs Untergebenen einen weiteren Zauberkraftträger erkundete, ob dieser als Opfer geeignet war, als sein vierter Arm wie in loderndes Feuer gehüllt brannte und er laute Aufschreie hörte. Er wusste sofort, was das bedeutete. Jemand hatte seine Handlungshand, die mit diesem Arm verbunden war aufgespürt und griff sie mit Feuerzaubern an. Trotz der rasenden Schmerzen schaffte es Heptachiron, sich auf den angegriffenen Diener zu besinnen und konnte durch dessen Augen sehen und dessen Schmerzensschreie wie durch dessen Ohren hören. "Du verfluchtes Weib! Verdorren soll dein Leib! Vom Schlund des Vergessens soll deine Seele gefressen werden!" hörte er den gepeinigten Diener lauthals schrillen, während dieser in einer ihm leider schon bekannten Wolke aus blutrotem Feuer stand. Der Siebenarmige konnte trotz der von Schmerzwellen immer wieder verschwimmenden Verbindung die Frau im schwarzen Kleid sehen, an deren linker Hand ein sonnengelb glühender Ring steckte, von dem eine blutrote Lichtwolke ausging und den Diener des Siebenarmigen fest umschloss und mit brennendem Schmerz quälte. Er erkannte dieses makellos schöne Ungeheuer sofort. Ja, das war sie, seine damalige Erzfeindin, die Herrin vom Blumenberg.
"Ich will nur wissen, wo dein Herr und Meister haust. Dann bist du ganz schnell erlöst", hörte er durch die wogenden Schmerzwellen hindurch die andere sagen. Ja, sie hatte immer noch diese betörend schöne, glockenreine Stimme, mit der sie rotblütige Männer um den Verstand bringen und Kinder der Nacht mit gemeinen Liedern der Schwächung oder Vernichtung den Garaus machen konnte. Sofort schickte Heptachiron einen Kraftstoß zu seinem gepeinigten Diener, auch wenn er wusste, dass er damit durchaus seinen geheimen Aufenthaltsort preisgeben konnte. Doch der Diener musste leben. Er musste leben, um ihm zu helfen, den Auftrag des Meisters zu erfüllen.
Tatsächlich schaffte es der Siebenarmige, die furchtbaren Schmerzen zu verdrängen, die sein Diener fühlte. Aus diesem selbst strahlte dunkelblaues Licht und sprengte den Griff der Glutwolke, die irgendwie aus dem Ring der Anderen entstanden war. "Hat sie Kinder?" wollte der siebenarmige Helfer Iaxathans wissen. Die Frage mochte reichen, das Gespür für bereits bestehende Nachkommenschaft zu erwecken. Das gelang ihm auch. Die da vor ihm hatte bisher kein neues Leben getragen. Doch sie war mindestens doppelt oder dreimal so stark wie eine andere rotblütige Zauberkraftträgerin. Er fühlte sogar, dass es ihm übel bekommen würde, das Blut dieser schwarzgewandeten Ausgeburt zu sich zu nehmen. Dann brach die auf seinen Diener gewirkte Schutzbezauberung zusammen. Sofort wurde die handelnde Hand in der vierten Richtung des Siebenarmigen wieder von unbändigen Schmerzen übermannt. Die Pein drohte sogar die geistige Verbindung zu unterbrechen. Die auf den Diener einstürmenden Qualen wurden immer stärker. Offenbar wollte die Feindin es nun zu ende bringen. Sollte er ihn zu sich hinrufen? Nein, das wollte die doch gerade erreichen. Aber er konnte ihn noch aus ihrer feurigen Fesselung herausreißen. Er stellte sich einen Ort vor, einen hohen Berg und dachte mit ganzer Kraft: "Hand in Halbabendrichtung, hör auf mein Wort und sei dort!"
Schlagartig verebbte jeder Schmerz. Heptachiron fühlte, dass sein Diener wahrhaftig den Standort gewechselt hatte und nun auf dem schneebedeckten Gipfel eines Berges stand, der in jenem Gebirge aufragte, dass die wie ein Stiefel aussehende Halbinsel vom restlichen Festland trennte.
"Sei bedankt, mein Herr und Meister", hörte er die Gedankenstimme seines Dieners. "Ich brauch dich noch. Such die Höhle auf halber Bergeshöhe auf und schlafe dort bis zur übernächsten Nacht! Denn dann brauche ich dich", befahl Heptachiron. Sein Diener bestätigte diesen Befehl. Nun konnte sich der siebenarmige aus den Gedanken des Untergebenen zurückziehen. Er hoffte nur, dass dieses verdammte Geschöpf, das von drei magischen Lebensformen abstammte, den Diener nicht noch einmal aufspüren konnte. Allein dass sie es immer wieder schaffte, seine handelnden Hände zu finden war schon beängstigend genug. Sollte er beim nächsten Mal entbehrliche Untergebene zu ihr hinschicken oder sollte er sie beim nächsten mal, wenn sie einen seiner Diener peinigte zu sich hinüberreißen und dann von seinen Dienern töten lassen? Ja, das würde er tun, wenn sie nicht aufhörte, ihm nachzustellen.
Einen Tausendsteltag später erreichte ihn die frohe Kunde, dass seine Diener in Halbmittagsrichtung wahrhaftig ein brauchbares Opfer aufgespürt hatten. Er befahl, es ihm zu beschaffen.
Die scharfohrige Reporterin der Stimme des Westwindes hatte sowohl im heimlichen Auftrag Lady Robertas sowie im öffentlichen Interesse der US-amerikanischen Zaubererwelt alle Artikel und Gerichtsreportagen gesichtet, die sich mit Übergriffen von Vampiren auf arglose Menschen befassten. Dabei hatte sie natürlich auch die Buffalo-Creek-Akte wieder ausgegraben, wo die Macht Nocturnia damals ein durch Trinkwasser übertragbares Vampirwerdungsvirus verbreitet hatte. Zwar galt bei allen Vampirexperten, die sie seither interviewt hatte die Ansicht, dass nach der Massenvernichtung der Nocturnia-Vampire vorerst kein neuerlicher Anschlag mit einem Vampirifizierungserreger möglich sein mochte, da für dessen Herstellung Vampirblut im Einfluss des Mitternachtsdiamanten benötigt würde. Doch die Geschichten um den wiedererwachten Vampir Heptachiron machten deutlich, dass es neben der Sekte der schlafenden Göttin noch andere Gefahren aus der Welt der langzähnigen Blutsauger gab. Am Ende konnte dieser Heptachiron da weitermachen, wo die Königin Nocturnias aufgehört hatte, sofern es ihm möglich wurde, länger als nur die eine Woche alle knapp 60 Jahre wach zu bleiben.
"Linda Knowles, auf ein Wort!" hörte die Reporterin eine ihr schon einmal untergekommene Frauenstimme aus der leeren Luft zu ihr hinwehen. Sie erschauerte. Das war doch jene, die sich in eine schwarze Spinne verwandeln konnte. Also wirkte die den Vocijectus-Zauber, um nicht gegen die um Lindas Haus errichteten Schutzbanne zu stoßen. Sollte sie sich dieser Hexe da draußen ausliefern, wo sie gerade einige brisante Dinge in ihrem Gedächtnis trug? Offenbar hatte dieses Spinnenweib sie genau deshalb angerufen.
"Was willst du, schwarze Spinne?" fragte Linda in den leeren Raum zurück. Denn sicher hörte die andere mit einem Schallansaugzauber zu, solange Linda nicht in ihrem eigenen Klangkerker-Arbeitszimmer saß.
"Es geht um diese blaue Ausgeburt, die alle siebenhundertsiebenundsiebzig Mondkreise aufwacht. Sie will sich offenbar dauerhaft wachhalten. Kann sein, dass deine Mitbürgerinnen und Mitbürger demnächst ungebetenen Besuch erhalten sollen. Also komm bitte dahin, wo VM das letzte mal diese widerliche Mora-Vingate-Feier veranstaltet hat! Ich habe nicht vor, dir körperlich oder seelisch zu schaden."
"Welche Garantie habe ich dafür?" fragte Linda Knowles.
"Die Achtung einer Schwester, mit der du nicht in Feindschaft lebst und die Aussicht, dass du mithelfen kannst, dieses Übel zu unterbinden, bevor es unabwendbar wird", erwiderte die aus dem Nichts dringende Stimme. Linda atmete kurz durch. Einerseits konnte sie sich gut gegen unerwünschte Ausforschungen ihres Geistes wehren. Andererseits stimmte es schon, dass sie mit der Spinnenhexe bisher keinen offenen Streit hatte. Dann war da noch die Neugier, was die andere ihr freiwillig mitzuteilen bereit war, auch wenn die Gefahr bestand, dass die Spinnenhexe Linda Knowles für sich vereinnahmen, sie gar instrumentalisieren wollte. Auch war Linda neugierig, die seit ihrem ersten großen Auftritt in New Orleans vielbesprochene Hexe von Angesicht zu Angesicht zu sprechen. Also stimmte sie der Bitte um eine Aussprache zu. Nur eine Minute später apparierte Linda Knowles an der Stelle, wo die letzte Mora-Vingate-Party gefeiert worden war. Warum die andere ausgerechnet diesen Ort gewählt hatte begriff Linda, als sie direkt unter dem Scheitelpunkt einer Kuppel aus grünem Dunst erschien. Linda sah sofort, dass die Kuppel genau die Abmessung besaß, welche die von den Mora-Vingate-Leuten gezogene Doppelte Alterslinie besessen hatte.
Wortwörtlich aus dem Boden gewachsen stand die andere vor ihr, eine Frau mit einer exotischen, blassgoldenen Hautfarbe, dunkelblondem, schulterlangem Haar und grün-blauen, kreisrunden Augen in einem sehr anmutig gestalteten Gesicht. Überhaupt war dieses Wesen da vor ihr makellos schön und von einer Männerherzen betörenden Figur. Auch Linda konnte sich der vollkommenen Schönheit dieser Frau nicht ganz entziehen, auch wenn sie bisher nie wirklich eingeräumt hatte, für Frauenreize empfänglich zu sein. Die andere trug ein scharlachrotes, hautenges Kostüm, dass mehr hervorhob als verbarg, ohne dass die andere völlig nackt herumlaufen musste. In der rechten Hand hielt die andere genau den silbergrauen Zauberstab, den die Wiedergeburt Anthelias benutzt hatte, mit der Linda schon einige unangenehme Begegnungen erlebt hatte.
"Du bist gut, deinen Geist zu verhüllen, Schwester Linda", sagte die andere mit ihrer ebenso betörend tiefen und glockenreinen Stimme.
"Wie darf ich Sie anreden, Ma'am?" wollte Linda wissen.
"Die Anrede Schwester reicht mir aus, Schwester", sagte die andere. "Aber kommen wir gleich zum Punkkt. Wie du ganz sicher weißt hat meine Schwesternschaft auch Ohren in der, deren Mitschwester du geworden bist. Fürchte keinen mithörer. Denn ich habe die Macht der bergenden Erde aus der Kraft der altersbeschränkenden Macht hervorgerufen, die hier einst gewirkt wurde", sagte die andere. Linda Knowles nickte verdrossen. Natürlich hatten die Spinnenhexen ihre Spioninnen auch bei den Schweigsamen. Immerhin hatte Daianira Hemlock Anthelias Seele lange genug in einem Ungeborenen Kind mit sich herumgetragen, bis jemand die magisch hervorgerufene Schwangerschaft schmerzlos beendet und Anthelia wieder zur Erwachsenen zurückverwandelt hatte.
"Dann weißt du natürlich, worüber die, denen du mich zuordnest so gesprochen haben, Schwester", sagte Linda ohne Anflug von Verdrossenheit in der Stimme.
"Ja, und ich kann euch ganz verbindlich mitteilen, dass dieses siebenarmige Geschöpf bestimmt von seinem eingekerkerten aber zur Gedankenverständigung fähigen Meister den Auftrag hat, zum mächtigsten Vampirwesen der Gegenwart zu werden. Dieser eingekerkerte Geist, der mit Fug und Recht als Erzdämon bezeichnet werden kann, hat das natürlich nicht auf sich sitzen lassen, dass der ausgewählte Handlanger abgefangen werden konnte und dass es seit der Massenvernichtung von Nocturnia-Vampiren diese schlafende Göttin der Blutsauger gibt, deren Schöpfer er als lebender Zauberer gewesen ist. Ich habe von meinen Ohren in allen nötigen Gruppen und Behörden der weltweiten Zauberergemeinschaften, dass dieses Scheusal gezielt nach Zauberern und Hexen sucht, die schon eigene Kinder oder auch schon Enkelkinder haben. Offenbar hat der eingekerkerte Geist seinem Geschöpf zugeflüstert, dass die lebenden Nachkommen durch ihr Blut mit den Opfern verbunden sind und er diese belebende Verbindung nutzen kann, wenn er deren Väter, Mütter, Großväter oder Großmütter einverleibt. Was ihr zögerlichen Schwestern sicher nicht wusstet ist, dass diese Verbindung nur dann wirkt, wenn die Opfer von diesem blauen Vielarmigen lebendig einverleibt werden, so dass deren Leben und deren Seelenkraft in ihm aufgehen und er damit zum Teil dieser magischen Blutbindung wird. Das ist nicht jedem aus der magischen Welt bekannt, dass nicht nur Jungfrauen und unberührte Knaben eine besondere Kraft in ihrem Blut haben, sondern auch durch Nachkommenschaft eine magische Kraft in die Welt gebracht wird, die sowohl von denen genutzt werden kann, die sich als gute Menschen verstehen, sowie auch von denen, die ohne Rücksicht auf andere die eigene Macht stärken wollen, und die deshalb von den meisten anderen für böse gehalten werden."
"Soso, du fürchtest dich vor diesem blauen Ungeheuer, weil es dir und deinen Mitschwestern gefährlich werden kann?" fragte Linda Knowles.
"Es wäre töricht, keine Angst vor diesem Ungeheuer zu haben, Schwester Linda. Andererseits ist es ebenso töricht, sich von dieser Angst lähmen zu lassen. Also bleibt nur, aus dieser natürlichen Furcht die nötige Kraft zu schöpfen, die Quelle dieser Furcht zu beseitigen, so wie es ja viele meinen, mit mir und meinen Mitschwestern tun zu müssen. Abgesehen davon gibt es schon genug menschenfeindliche Kreaturen auf der Welt. Da brauchen wir nicht noch einen von einem gefangenen Geist vorangepeitschten mutierten Vampir. Denn wenn der wirklich für alle Zeiten wach bleiben kann wird er die offene Auseinandersetzung mit uns Menschen und den anderen Vampiren suchen. Das würde tausende von Toten gfordern. Die spukenden Bilder Pickmans und dessen Verbündeter Wallenkron haben erst mal gereicht, finde ich."
"So, dann möchtest du nicht die Welt nach deinen Vorstellungen umformen?" fragte Linda bewusst herausfordernd.
"Doch, das schon, aber nicht durch unnötiges Blutvergießen. Genau deshalb, damit ich meine Pläne fortsetzen kann muss dieses blaue Scheusal wieder einschlafen, am besten für immer. Töten kann es wohl keiner, wenn es die Selbstheilungskraft einer Hydra mit der eines Vampirs verschmolzen hat."
"Und was möchtest du, dass ich tue oder weitergebe, oberste Schwester des Spinnenordens?" fragte Linda Knowles.
"Bestelle deinen eingeschworenen Mitschwestern einen schönen Gruß von der schwarzen Spinne und sage ihnen, dass der blaue vielarmige Vampir seine Beutezüge in Sonnenlaufrichtung fortsetzen wird und es besser ist, die Hexen und Zauberer mit eigenen Nachkommen mit Unversetzbarkeitszaubern auszustatten oder mit jenen sehr praktischen Gerätschaften, die gesammeltes Sonnenlicht freisetzen können. Die Handlanger dessen, der bei euch Heptachiron genannt wird haben sicher keine Solexfolien wie die Gefolgsleute der selbsternannten großen Mutter der Nacht. Öhm, übrigens solltet ihr wissen, dass auch eine gewisse Dame aus Italien, die vor einiger Zeit wieder aufgewacht ist, hinter dem blauen herjagt. Auch wenn ich persönlich diese Hexe gerne wieder dahin zurückschicken möchte, wo Sardonia sie hinverbannt hat bin ich nicht abgeneigt, sie in diesem einen Fall gewähren zu lassen. Sie könnte unter Umständen erfolgreich gegen die blaue Ausgeburt sein."
"Du meinst diese aus langem Schlaf erwachte Viertelveela namens Ladonna, die irgendwo in der Toscana hausen soll?" fragte Linda Knowles sichtlich erregt. Denn das wäre der Knüller des noch sehr jungen Jahrtausends, diese Hexe interviewen zu dürfen, auch wenn dieses Hexenweib genauso brandgefährlich war wie Grindelwald, Voldemort und Wallenkron.
"Eben die meine ich. Öhm, ihr wisst sicherlich auch von euren französischen oder italienischen Mitschwestern, dass Ladonna nicht getötet werden darf, weil ihr sonst einen Schwarm blutrachedurstiger Veelas am Hals habt. Falls ihr das noch nicht wusstet gib das bitte auch weiter! Ich möchte keine mir nicht offen feindlich gesinnten Schwestern verlieren."
"Also soll ich sowas wie deine Heroldin sein, deine Fürsprecherin oder was?" fragte Linda Knowles.
"Botin, parlamentärin, das passt eher zu dem, was ich dich zu tun bitte", sagte die andere. Hatte sie echt gesagt, sie zu bitten?
"Warum ich und nicht eine von denen, die dir sowieso schon verbunden sind?" wollte Linda noch wissen.
"Weil du zudem noch mit allen wichtigen Leuten in der magischen Welt reden und dabei für deine Mitschwestern sehr wichtige Dinge erfahren kannst, was meine bei euch weilenden Getreuen nicht alle können", war die zu erwartende Antwort der anderen. Linda nickte. Natürlich war sie als offizielle Nachrichtenbeschafferin und Reporterin ideal geeignet, Informationen an den richtigen Stellen auszustreuen. So sagte sie: "Weißt du vielleicht auch, wo dieser vielarmige Vampirmutant demnächst zuschlagen wird?"
"Wenn ich das wüsste käme ich ihm zuvor, und ihr würdet es nicht einmal mitbekommen, dass er und ich aneinandergerieten", sagte die Spinnenhexe mit unüberhörbarer Verbitterung.
"Gut, ich werde zusehen, deine zusätzlichen Beschreibungen weiterzugeben, oberste der Spinnenschwestern. War das alles, was du mir mitteilen wolltest?"
"Nicht ganz. Pass auf, dass dir nicht dasselbe widerfährt wie denen, die meinten, sich auf fragwürdige Feiern einlassen zu müssen. Oder legst du es darauf an, mit mehreren Kindern zugleich schwanger zu werden?"
"Garantiert nicht", stieß Linda verärgert aus. Immerhin hatte sie die Opfer jener Halloweenfeier interviewt, die aus der höchst zweifelhaften Gnade Vita Magicas neues Leben trugen, darunter auch Nancy Gordon und Beth McGuire.
"Gut, dann danke ich dir für deine Aufmerksamkeit. Wir begegnen uns sicherlich irgendwann wieder", sagte die andere. Dann sah es so aus, als wenn sie in einen bodenlosen Schacht hinabstürzte. Doch der Boden unter ihr war unversehrt und blieb es auch, als die andere verschwunden war. In dem Moment erlosch auch die grüne Lichtkuppel über Linda Knowles. Das war für sie das Zeichen, zu verschwinden.
Nur zehn Minuten später traf sie sich mit Lady Roberta Sevenrock, um ihr die von der Spinnenhexe weitergegebenen Dinge zu berichten.
"Soll dich das ehren, dass sich diese undurchsichtige Hexe an dich wendet, wenn sie selbst an ihre Grenzen stößt?" fragte Roberta Sevenrock. Da Linda ihr darauf keine Antwort geben konnte sagte sie nur noch: "Ich habe schon Schwester Eileithyia und jene, die Zugriff auf Ministeriumsakten haben und mit thaumaturgischen Erzeugnissen dienen können losgeschickt, unsere Mitbürger mit Sonnenlichtsammel- und Wiederausstoßartefakten auszustatten. Ich hoffe nur, wir können noch alle erreichen, bevor dieser blaue Siebenarmvampir bei uns seine Opfer sucht. Und was den letzten Ratschlag der Spinnenschwester angeht muss ich ihr voll und ganz beipflichten. Sieh zu, dass du nur das Kind oder die Kinder eines Mannes bekommst, den du auch an deiner Seite behalten möchtest!"
"Nancy hat sich mit Maya Unittamo unterhalten. Im Mai will sie den unfreiwilligen Kindesvater heiraten, damit die drei Babys mit beiden Eltern groß werden können", sagte Linda.
"O, das stand noch nicht im Westwind oder im Herold. Danke für die Information, Schwester Linda", grinste Roberta Sevenrock.
Der Siebenarmige fühlte, wie jene Diener erwachten, denen er nicht zu schlafen befohlen hatte. Heute, in der der weißen Mutterschwester zugeordneten Nacht, sollten ihm zwei weitere Opfer zugeführt werden. Seine Handelnde Hand sollte in Mittagsrichtung unterhalb der großen Sandwüste auf dem südlichen Erdteil nach Trägern der hohen Kraft suchen. Er ging davon aus, dass die ohne Zauberstäbe zaubernden Stammesmagier, die sich Medizinleute oder Schamanen nannten, gegen seine Diener keine Abwehrmöglichkeiten hatten, bevor diese sie überwwältigen und fortbringen konnten.
"Herr und Gebieter, meine Nachkommen und ich haben eine Rotblütige mit dunkler Haut gefunden, die bereits Nachkommen in der dritten Nachfolge hat. Sie wohnt in einem runden Dorf hundert Tausendschritte in Halbmittagsrichtung von der großen Sandwüste. Sollen meine Nachkommen und ich sie dir darbringen?"
"Umkreist sie erst und erkundet, ob sie wirklich hohe Kräfte hat. Dann ergreift sie und umschließt sie mit euren Leibern, auf dass ich sie zusammen mit euch zu mir hinüberholen kann", befahl Heptachiron.
"Wir hören und gehorchen, Herr und Gebieter", bestätigte die handelnde Hand seines in Mittagsrichtung weisenden Armes. Der Siebenarmige freute sich, dass er trotz der Anfeindungen bisher seinen Weg verfolgen konnte. In vier Nächten würde er die entscheidende Zauberformel von seinem Herrn und Meister hören, um die Last des wiederkehrenden Schlafes abzuwerfen. Dann würde er Jagd auf seine Feinde machen und sie entweder zu seinen Dienern machen oder töten.
"Ich riet dir, deine Gedanken zu bergen. Nicht, dass unsere gemeinsame Widersacherin erkennt, worauf wir aus sind", schnarrte die verärgerte Stimme seines Meisters in seinem Geist. Wahrhaftig erkannte der Siebenarmige, dass er sich ein wenig zu sicher und sorglos verhalten hatte. Wenn die Kreatur, die sich als neue Göttin der Nachtkinder bezeichnete, seine Gedanken erlauschen konnte würde sie zu früh wissen, was er vorhatte.
"Ja, sie ist würdig, dir dargebracht zu werden, Meister", hörte der Siebenarmige seinen Diener in Mittagsrichtung frohlocken. "Dann bringt sie mir!" befahl der siebenarmige Helfer Iaxathans.
Seine Diener schwärmten aus, um die auserwählte Rotblüterin einzukreisen und dann in ihrer Mitte zu halten. Heptachiron verfolgte durch gleich drei Diener mit, wie diese die Hütte umkreisten, in der die Stammeszauberin lebte. Sie wollten gerade hineintreten und sie ergreifen, als ein kehliger Laut aus der Hütte drang und plötzlich lodernde Flammen aus dem Holz der Hütte schlugen. Die sieben Diener des Siebenarmigen waren schnell, aber nicht schnell genug. Die gelborangen Garben aus verzehrendem Feuer trafen sie im Zurückweichen und hüllten sie in Mäntel aus Feuer. Alle sieben schrien lautstark auf. Eine unbändige Schmerzenswelle fegte durch Heptachirons Geist und hinterließ dort ein Wirrwarr aus gleißendem Licht und schrillen Geräuschen. Heptachiron fühlte, wie die Schmerzenswoge auch seinen natürlichen Arm in Mittagsrichtung erfasste. Einen Moment lang meinte er, dass sein Arm von mehreren gefräßigen Panzerechsen zugleich zerkaut würde. Dann fühlte er gar nichts mehr in seinem Arm. Er riss seine übergroßen Augen auf und sah, dass sein in Mittagsrichtung weisender Arm gerade nachtschwarz abdunkelte. Dann sah er, wie sein Fangarm regelrecht verdorrte, immer trockener und dünner wurde, um dann mit leisem Ratschen von seinem runden Rumpf abzufallen und knisternd auf dem Boden zu zerfallen. Hellblaues Blut schoss aus der geschlagenen Wunde. Heptachiron fühlte, wie in ihm unbändige Kräfte erwachten. Es war wie eine Mischung aus übergroßer Freude und großer Erschöpfung zugleich. Solch ein Gefühl hatte er dann erlebt, als er damals noch kein Kind der Nacht gewesen war und mit einer leidenschaftlichen Gespielin das Lager geteilt hatte. Damals hatte er noch Gwandrajoran geheißen und als Landbebauer des dunklen Hochkönigs von Altaxarroi gelebt.
Während der ihm abgefallene Arm zu nichts als schwarzer Asche zerfiel schloss sich die geschlagene Wunde von Augenblick zu Augenblick. Erst war es ein kleiner, dünner Stumpf, der aus der Wunde wuchs. Doch von Augenblick zu Augenblick wuchs der Stumpf immer länger und breiter, bis sich ein neuer Arm formte. Als dieser seine endgültige Größe und Beschaffenheit erreicht hatte, verebbte der Zustand von Glückseligkeit. Für einige Augenblicke herrschte nur noch die Erschöpfung vor. Dann drang die wohltuende Kraft der dauerhaften Dunkelheit in seinen Leib vor und gab ihm wieder Kraft. Allerdings wusste Heptachiron nun, dass er gerade alle handelnden Hände seines in Mittagsrichtung weisenden Armes verloren hatte. Offenbar hatte ihm die Trommlerin und Gesundsängerin auf dem südlichen Erdteil eine Falle gestellt und irgendwas gemacht, dass aus ihrem Haus ein Feuersturm hervorbrach. Damit hatte sie zu seiner großen Wut die Möglichkeit verdorben, in dieser Nacht die für diese Himmelsrichtung fälligen Opfer zu erbeuten. Das mochte sein Vorhaben vereiteln, den langen Schlaf abzuschütteln. Wut und Angst brachen nun in seinem Geist hervor. Die Stimme seines Meisters tat ihr übriges, seine drohende Niederlage zu offenbaren:
"Wenn du in dieser Nacht keine neuen Diener hinschickst, um dir die nötigen Kraftquellen zu sichern wirst du in vier Nächten wieder in den langen Schlaf fallen."
"Ich schicke die sieben der vergangenen Nacht. Die sollen mir neue Opfer suchen, Meister", schickte Heptachiron zurück.
"Ja, mach das, aber schnell. Aber lass dir auch unbegabte Rotblütler bringen, damit die Kraft, die das Nachwachsen deines zerstörten Armes gekostet hat, wieder aufgefrischt wird", erwiderte Iaxathan. "Und sage deinen Dienern, dass sie nicht zu den Wohnstätten der Stammeszauberer hinsollen. Die können offenbar was, um tödliche Feinde zu verjagen. Du hättest darauf gefasst sein sollen."
"Wie hätte ich das, Meister? Die Zauberfertigkeiten der Urwald und Graslandvölker reichen doch nicht an das heran, was du und deine Feinde vollbringen konntet", schickte Heptachiron zurück.
"Du hättest es bedenken müssen", war Iaxathans Antwort. "Und jetzt lass deine Diener ausschwärmen, dir neue Nahrung und die zwei nötigen Kraftgeber zu beschaffen!"
"Ja, Meister, ich werde .... Arrg!" Der Siebenarmige fühlte einen erneuten Schmerz, diesmal in seinem Arm, der die Halbabendrichtung anzeigte. Es war wieder jenes Lodern, als brenne sein Arm. "Herr und Meister, sie hat mich gefunden, aaaarrrrg!" hörte er über die ihn treffenden Schmerzwogen hinweg die angstvoll schrillende Gedankenstimme seines Dieners, den er doch eigentlich bis zur nächsten Nacht schlafen lassen wollte. Einen Moment lang sah er die siegessicher dreinschauende Widersacherin mit den langen, seidigweichen nachtschwarzen Haaren, die in ihrem genauso dunklen Kleid vor seinem Diener stand und ihn in dieser verfluchten blutroten Glutwolke festhielt. . "Nein, nicht noch einen", dachte Heptachiron und schickte seinen Schutzzauber aus, um den Bedrängten zu unterstützen. Doch offenbar hatte die wiederwärtige Tochter dreier Zaubervölkger mitbekommen, wie dieser Schutzbann wirkte. Sie hob ihren Zauberstab und ließ einen hellgrünen Flammenspeer daraus hervorschießen. Heptachiron wusste in dem Augenblick, dass sein Diener diesem Zauber erliegen würde. Gedankenschnell befahl er ihm, zu ihm hinzukommen. Der Diener verschwand und wurde von Heptachirons Gedanken getragen. Dann war er im Haus seines Meisters und fiel entkräftet zu Boden.
"Wie hat sie dich finden können, wo du geschlafen hast?" wollte der Siebenarmige von seinem Diener wissen.
"Ich weiß es nicht genau, Herr und Gebieter. Ich habe merkwürdiges geträumt, von meinen Nachkommen, dass sie wie die Kinder der Rotblüter aus dem Unterleib eines Weibes herausgequollen sind und dann unter betörendem Gesang immer größer wurden. Dann traf mich der schmerzvolle Blitz und ich wurde wach."
"Sie vermag, die Verwandtschaft zu ergründen", vernahm der Siebenarmige die von Wut getragene Gedankenstimme seines Herrn und Meisters. "So fand sie auch die anderen. Doch du hast einen schweren Fehler begangen, mein Diener. Du hättest ihn da wieder an einen anderen Ort versetzen müssen, aber nicht zu dir hinholen dürfen. Schick ihn schnellstens wieder fort, oder sei gewiss, dass sie dein Haus findet."
"So, kann sie das, wo es doch von deiner Kraft und meiner Kraft verhüllt ist, Meister?" wollte der siebenarmige Helfer Iaxathans wissen.
"Offenbar kann sie das", erwiderte der Meister.
"Herr und Gebieter, wir haben einen Träger der Kraft, der drei Nachkommen hat. Sollen wir ihn dir bringen?" hörte Heptachiron die Gedankenstimme eines seiner Diener, die er mal eben auf den südlichen Erdteil geschickt hatte. "Ja, ergreift ihn. Ich hole euch dann mit ihm zu mir."
"Schick den anderen wieder weg, du einfältiges Geschmeiß!" dröhnte die Gedankenstimme Iaxathans in Heptachirons Geist. Der Siebenarmige gehorchte. Dann fiel ihm jedoch was ein. Wenn diese schwarzgewandete Frau mit dem Glutwolken absondernden Ring wahrhaftig einen ungebetenen Besuch abstatten wollte, dann wollte er sie gebührend empfangen.
Ohne den Meister zu fragen befahl er den Dienern, die ihm bereits Opfer gebracht hatten, weitere Nachkommen zu erschaffen. Diese wollte er dann zu sich holen., um gegen die Widersacherin zu kämpfen, wenn diese wirklich zu ihm hinfinden sollte.
"Ich habe dir zwar nicht befohlen, deine Helfer bei dir zusammenzurufen, erkenne jedoch, dass du darauf vorbereitet sein musst, dass diese Ladonna Montefiori oder andere Widersacher dich heimsuchen. Aber verfolge weiter unser Ziel, dich von der Last des immer wiederkehrenden Schlafes zu befreien!" befahl Iaxathans Geist.
"Meister, wir haben das Opfer umstellt. Wir ergreifen es. Hol uns zu dir, wenn es dir gefällt!" hörte Heptachiron die Stimme des Dieners, der für dessen vernichteten Mitbruder eingesetzt worden war.
"So sei es", erwiderte Heptachiron.
Die durch den plötzlichen Tod aller Mittagsrichtungsdiener entrissene Kraft war durch die beiden ausgesuchten Opfer wieder aufgefrischt worden. Der mit der hohen Kraft in Fleisch und Blut angereicherte Mann war zudem ein Vertrauter der Erdzauber gewesen. So hatte der Siebenarmige durch dessen Einverleibung zusätzlich aus der unter ihm und um ihn herum bestehenden Gesteinsmasse neue Kraft schöpfen können. Der vor dieser schwarzgekleideten Widersacherin weggeholte Diener war nun in einem der Wälder hoch in Mitternachtsrichtung, wo er befehlsgemäß in tiefen Schlaf fallen sollte, bis er mit den ihm unterworfenen Nachtkindern in der kommenden Nacht die nächsten beiden Opfer aufspüren und seinem Meister darbringen sollte.
"Unterschätze dieses Weib nicht! Sie sucht deine handelnden Hände und hat einen Weg gefunden, sie über große Entfernung zu erspüren", hörte der siebenarmige Diener Iaxathans die Geistesstimme seines Herren warnen. "Unterschätze auch niemals die Kraft und die Hinterhältigkeit mit der Kraft erfüllter Weibsbilder", fügte der Urvater aller Nachtkinder noch hinzu. Heptachiron wagte es nicht, seinem Herren zu widersprechen.
Noch würde die Nacht über dem Haus Heptachirons einen Zwölfteltag andauern. Dann würde er wie alle Nachtkinder in einen leichten Schlaf versinken, der genau nach dem Ende des letzten Sonnenstrahls vergehen würde. Der siebenarmige und der sich sehr schnell von Verletzungen erholungsfähige Abgesandte Iaxathans befolgte seines Meisters Weisung, nur dann seine Geistestaster nach seinen gerade jagenden Dienern und Getreuen auszustrecken. So bekam er erst mit, dass wieder etwas vorfiel, als einer seiner unteren Diener aus Abendrichtung laut aufschrie. Sofort schickte er ihm einen Teil der neu erheischten Kraft, um ihn vor was auch immer zu schützen. Dabei erkannte er, dass der Untergebene seiner Handlungshand in Abendrichtung von einem Ungetüm bedrängt wurde, das wie ein Nachtkind aussah und auch dessen besondere Ausstrahlung besaß. Allerdings sah das Wesen nicht hell wie der bleiche Mond aus, sondern grau wie der Himmel kurz vor der Morgenröte. Und die besondere Ausstrahlung wirkte so wie von zehn Nachtkindern zugleich. Sein Diener war gerade dabei, mit diesem entarteten und dabei offenbar übermächtig gewordenen Geschöpf zu kämpfen und hatte schon einige Bisswunden in Arme, Bauch und Beine hingenommen. "Das ist einer der Unlichtkristallkrieger von ihr, der Aufmüpfigen, der Verräterin!!" peitschte Iaxathans Geistesstimme durch Heptachirons Bewusstsein. Jetzt wusste er, warum das graue Nachtkind sein Feind war. "Er ist stärker als mein Getreuer", schickte Heptachiron zurück, während er seinem Diener soviel Kraft gab, dass ihn ein unsichtbarer Schild aus Feindeskraft abweisender Zauberkraft umschloss. Dann fiel Heptachiron ein, dass er dem Getreuen Hilfe senden konnte. Er tastete ohne den Getreuen aus der geistigen Überwachung zu lassen nach zwei weiteren Dienern, treuen Verkündern seiner Macht und Größe. Diese waren gerade dabei, mit fünfzig anderen seiner Getreuen die baldige Erstarkung des siebenarmigen Meisters zu feiern. So konnte dieser selbst mehrere Gefolgsleute dazu bringen, sich aneinander festzuhalten. Nun, wo er wusste, dass er seine ihm verbundenen Diener in großer Zahl befördern konnte, wenn sie einander berührten, konnte er sie innerhalb zweier Gedanken von ihrer Kultstätte in halber Richtung zwischen Mitternacht und Morgen in die Abendrichtung schicken, genau dorthin, wo sein einzelner Diener gerade unmittelbar davorstand, von dem grauen Krieger getötet zu werden. Er hörte sogar, wie in dessen Geist eine hetzerische Frauenstimme klang: "Saug ihn und sein Selbst in dich ein! Los, Er ist erledigt!" Dann griffen die dem Anhänger Heptachirons zu Hilfe geschickten Mitbrüder und drei Mitschwestern ein. Nun schlug das Pendel des Blutes gegen den grauen Krieger aus. Zwanzig Diener Heptachirons, durch dessen Gedankenkraft zusätzlich mit mehr Gewandtheit und Ausdauer erfüllt, rangen den Grauen nieder. Dieser war zwar sehr stark und gab nicht auf. Doch dann hatten ihn die zwanzig so, dass sie ihn in alle Richtungen auseinanderreißen konnten. Da passierte was, womit Heptachiron nun überhaupt nicht mehr gerechnet hatte. Der Befehl des Meisters, den Grauen sofort loszulassen, kam genau in dem Augenblick, als um den Grauen ein nachtschwarzer Wirbel erschien. Dieser umschloss nicht nur den Grauen, sondern auch die an ihm zerrenden zwanzig Diener Heptachirons. Der nachtschwarze Strudel verschlang sie alle. Heptachiron fühlte, wie auch an ihm etwas zerrte. Er fühlte, dass es gefährlich war, die Verbindung mit den Dienern zu halten. Er kämpfte darum, aus dem seinen Geist erschütternden Sog freizukommen. Dabei hörte er wieder diese verfluchte Frauenstimme: "Habe ich dich, Armleuchter!" Er erkannte, dass seine Diener geradewegs in einen Abgrund aus alles verschlingender gnadenloser Gier hinabgerissen wurden. Endlich schaffte er es, freizukommen, weil er nur noch an die Diener dachte, die in Mitternachts- und Halbmorgenrichtung zu erspüren waren. Doch dann hörte er für einen Vierteltausendsteltag einen vielstimmigen Aufschrei, der schrill und endgültig in seinem Geist klang und dann schlagartig leiser wurde und verebbte. Es klang für ihn so, als habe jemand seinen Dienern dicke Stoffballen in die Münder gestopft, um ihre Schreie zu ersticken. Dann meinte er, etwas wie eine einmal hin und herschwappende Welle aus Gedankenkraft zu spüren. Danach war es still.
"Sie hat deine Diener verschlungen, du Narr. Deine Knechte hätten den Grauen nicht mit eigenen Händen halten dürfen, du Tor. Sie hätten den Grauen mit der Kraft der feurigen Lichter treffen können, wenn du sie so gestellt hättest, dass sie die zwischen sich wehende Luft mit dieser Kraft angereichert hätten."
"Meister, wie konnte ich wissen, dass sie dies vollbringen kann? Woher sollte ich wissen, dass meine Diener die Kraft der lauten Lichter erzeugen können, wenn sie in einer bestimmten Anordnung bereitstehen?" schickte Heptachiron seinem Herren zurück.
"Stimmt, das habe ich dir nie offenbart. Aber du hättest mich erst fragen sollen, ob diesen Kriegern beizukommen ist. Denn sie sterben, wenn sie die Schreie gerade erst aus ihren Müttern entschlüpfter Tagkinder hören müssen."
"Mein Knecht war in Gefahr und ich habe ihm Hilfe gesandt", wagte es Heptachiron, dem Meister entgegenzuhalten. Die Angst, die er in den wenigen Augenblicken verspürt hatte, als ihn die unheimliche Macht des nachtschwarzen Strudels mitzureißen angesetzt hatte, überlagerte den bedingungslosen Gehorsam dem Meister gegenüber.
"Jetzt weiß dieses im mächtigen Stein der Nachtkinder eingekerkerte und sich für eine mächtige Herrin haltende Geschöpf alles, was deine Knechte wussten. Denn sie hat sie alle in sich einverleibt. Nun wird sie sicher ihre grauen Krieger aussenden, um deine anderen Knechte zu jagen und sie zu töten oder ebenfalls zu verschlingen. Ich warnte dich, niemals die Hinterhältigkeit eines Weibes zu unterschätzen. Erstarre für den Rest der Nacht und hoffe, dass unser gemeinsames Werk durch deine Torheit nicht bereits verdorben ist!" Heptachiron konnte nicht mehr antworten. Denn wenn der Meister befahl, zu erstarren, dann gehorchte sein Geist so schnell wie ein niederfahrender Blitz.
"Soso, dein siebenarmiges Haustier soll ganz wach bleiben und seine Brut gegen meine Kinder und die Rotblütler ausschicken, damit du endlich mal wieder ein Erfolgserlebnis hast, Flaschenteufelchen?" hörte Iaxathan die Gedankenstimme seiner größten gegenwärtigen Widersacherin.
"Spei sofort die Seelen meiner Unterknechte wieder aus und lass sie in den acht Winden verwehen, Hure!" gedankenbrüllte Iaxathans Geist.
"Oder sonst?!" kam die aufsässige Gegenfrage der selbsternannten Mutter der Nacht zurück.
"Oder sonst werde ich befehlen, dass mein treuer Diener weitere Knechte in seine Reihen hineinholen lässt und deine Brut mit tausenden von meinen Getreuen niederwerfen und zertreten lassen. Bedenke, dass ich weiß, wie den unerlaubt mit Unlichtkristall erfüllten Missgeburten beizukommen ist", erwiderte Iaxathan.
"Oh, der große böse Geistermeister hat gesprochen", spottete die Feindin des ehemaligen dunklen Königs von Altaxarroi. "Aber du kannst mir nichts mehr vorgaukeln, Flaschenkobold. Ich habe es durch deinen blauen Armleuchter gespürt, dass du dieselbe Angst wie er hast, ich könnte dich wie ihn über dessen Diener greifen und zu mir hinüberziehen. Darauf bin ich vorher nicht gekommen, dass das gehen könnte. Aber gut, mit Kanoras ging das ja auch, warum nicht auch mit deinem blauen Armleuchter oder gar dir? Hmm, ist es da nicht für uns beide besser, du kommst freiwillig zu mir und schläfst in meiner Obhut?"
"Niemals, solange die Sterne und der eine am Himmel stehen!" gedankenbrüllte Iaxathan in unbändiger Wut. Denn ihm wurde nun endgültig klar, dass die abtrünnige Nachttochter, die nun die Kraft vviler hundert Seelen in sich trug, ihm wahrhaftig gefährlich werden konnte. Erfuhr sie, wo sein Mitternachtsauge verborgen war, mochte sie ihre Geistesarme gezielt danach ausstrecken.
Schnell hüllte er seinen Geist in den Schutz der gedanklichen Stille, damit die Feindin nicht noch mehr von ihm erfuhr. Denn er erkannte, dass ihn dann auch die in der dunklen Spiegelkugel gebündelte Kraft seiner Macht nicht dauerhaft schützen mochte. Zum ersten mal in seiner viele tausend Sonnen währenden Daseinszeit fühlte er wieder Angst, dieselbe, die er damals gefühlt hatte, als ihn die zur schwarzen Spinne gewordene Naaneavargia lebendig verschlungen hatte. Sollte er erneut einem gierigen und hemmungslosen Weib zum Opfer fallen? Er verwünschte einmal mehr die Unzulänglichkeit dieses Narren Wallenkron, der es nicht geschafft hatte, die vor der Nimmertagshöhle errichtete Barriere aus der Kraft von Leben und Liebe zu durchbrechen. Er verwünschte jene Lichtfolger, die es gewagt hatten, sein Reich mit dieser Mauer zu versperren, weshalb Wallenkron nicht gleich den Weg zu ihm gefunden hatte. Dann war da noch die Wut, weil Wallenkron sich nach Erreichen der Nimmertagshöhle gegen ihn aufgelehnt und ihm sogar einige mächtige Geheimnisse entrissen hatte. Einen Moment dachte er daran, die mächtigen Worte des neuen Schlafes zu denken, damit er die Zeit bis zum nächsten in der Nähe erfassbaren Leben überdauern konnte, unauffindbar, unangreifbar. Doch dann fiel ihm wieder ein, dass er ja noch seinen neuen Knecht hatte, der in seinem Auftrag einen anderen Weg ins Freie suchte, um dann in seinem Namen neue Angst und neuen Schrecken über die jetztzeitigen Menschen und Zauberwesen zu bringen. Er dachte auch daran, dass er noch einen neuen Boten brauchte, der für ihn vier lebende Träger der hohen Kraft, deren Blutlinie weit zurück reichte, zusammentreiben und ihm bringen sollte, damit er aus deren Leben einen neuen, eigenständigen Körper erschaffen konnte. Er ärgerte sich über diese auf ihm lastende Bürde. Denn selbst wenn er die nächsten tausend Sonnen verschlafen würde mochte diese Verräterin immer noch da sein, ja ihre unerlaubt zugefallene Macht weiter ausgedehnt haben. Nein, er durfte nicht aufgeben. Tat er dies, blieb er auf ewig der Gefangene seiner eigenen Angst und seiner eigenen Hilflosigkeit.
"Jetzt sind eine Hexe und ein Zauberer im Raum Iran verschwunden. Zumindest weiß ich das von einem gemalten altpersischen Zauberer, der ein Gegenstück in Teheran hat", vermeldete die gemalte Ausgabe von Lady Medea von Rainbowlawn aus ihrem vergoldeten Rahmen heraus. Theia Hemlock und Selene hörten der in Rot gewandeten Hexe aufmerksam zu.
"Offenbar begeht dieses Monstrum seine Untaten in Sonnenlaufrichtung, obwohl diese Kreaturen die Sonne sonst fliehen und fürchten", bemerkte Theia Hemlock dazu. Ihre Tochter Selene nickte bestätigend. Dann sagte diese sehr ernst: "Er befolgt ein Ritual, Mom. Offenbar muss er jeden Tag aus jeder Himmelsrichtung je eine Hexe und einen Zauberer töten und deren Kraft in sich aufnehmen. Da Zeitzauber am besten wirken, wenn dabei in natürlicher Sonnen- und Mondlaufrichtrung entsprechende Gesten oder Zwischenzauber ausgeführt werden gilt das sicher auch für den Siebenarmigen."
"Mit anderen Worten, in der nächsten Nacht ist dann Afrika an der Reihe", seufzte Theia. "Hmm, wir müssen unbedingt wissen, ob er auch bei uns in den Staaten oder in Kanada Untergebene hat und diese ausschalten, bevor sie ihm Opfer besorgen."
"Was mir eher Sorgen macht ist, wie lange sich diese neue Göttin der Vampire das anguckt. Die spürt doch sicher, dass da jemand ist, der ähnlich mächtig wie sie ist."
"Ja, das befürchten wir anderen auch, dass sie das nicht lange tatenlos hinnimmt. Es könnte zu einer sehr blutigen Auseinandersetzung zwischen den Vampiren kommen, bei der auch unschuldige Menschen sterben können. Die Frage ist aber, wie stellt er das an, magische Menschen zu entführen, wo selbst die wesentlich mächtigeren Abgrundstöchter keinen magisch begabten Menschen zeitlos versetzen können, wenn sie keine Verbündeten in der Zaubererwelt haben, die das mit Portschlüsseln erledigen."
"Ich fürchte, er schickt mehrere Diener zugleich aus. Wenn sie das ausgewählte Opfer aufgespürt haben, kreisen sie es ein und halten es gemeinsam fest. Dann muss er seine Diener nur noch zu sich hinwünschen, wie er das ja schon nachweislich häufig getan hat, als er während der letzten Wachphasen nach Opfern gesucht hat. Er selbst kann offenbar nicht aus seinem Versteck heraus, falls er überhaupt eine Art von selbstständiger Beweglichkeit besitzt", stellte Selene im Stil einer sehr erfahrenen Fachhexe für dunkle Künste und Vampirismus fest. Normalerweise ließ ihr Theia diese Sprechweise nicht durchgehen, weil sie wollte, dass Selene sich wie ein gerade drei Jahre altes Mädchen auszudrücken hatte.
"Mindestens haben Oma Thyia, meine Tanten und Onkel sowie ich den Schlüssel zur Festung Intis. Aber Wir müssen auch die schützen, die keine Verwandten bei uns haben, sonst sind wir nicht besser als der Spinnenorden", grummelte Theia Hemlock. Beide sahen verdrossen auf Medeas Bild. Beide dachten wohl daran, dass sie ohne Anthelias gemeinen Trick noch immer mächtig oder einflussreich in der Zaubererwelt wirken könnten.
"Euch ist klar, dass ihr diese Portschlüssel in fünf Tagen wieder abgeben müsst, so der Handel mit dieser Inkanachfahrin, von der die Stuhlmeisterin Südamerikas die Ortsangaben für die Festung erhalten hat", sagte Medeas gemaltes Ich. Theia nickte. Wenn Heptachiron wieder einschlief sollten sie die Portschlüssel wieder abgeben. Da fiel Selene was ein:
"Falls es so ist, wie ich befürchte, Mom und Lady Medea, dann könnte die sogenannte schlafende Göttin mitbekommen, wie der Siebenarmige seine Opfer findet und zu sich hinholt. Das könnte ihr die sehr unangenehme Idee eingeben, das auch so zu machen, wenn sie ihr feindliche Hexen und Zauberer vernichten will. Dann brauchen wir und nicht nur die schon Mutter gewordenen Hexen diese Schlüssel."
"Das darfst du vergessen, kleine Selene", grummelte Medeas Bild-Ich. "Der Handel mit den Nachkommen der alten Sonnenanbeter gilt nur für die Zeit, wo der Siebenarmige wach ist. Da ihr es ja verpasst habt, mit den Sonnenkindern in Kontakt zu bleiben müsst ihr dann eben andere Sachen machen."
"Der Sonnensegen hilft offenbar nicht, wenn dieses Scheusal seine Untergebenen mit zusätzlicher Kraft erfüllt", grummelte Selene, die sich von ihrer zweiten Mutter die Berichte hatte vorlesen lassen, dass selbst ein sehr kundiger Zauberer nichts gegen ihn bedrängende Blutsauger ausgerichtet hatte. Das hatte ihr schon eine gewisse Angst gemacht, die alte Angst, die Austère Tourrecandide jahrzehntelang umgetrieben hatte, seitdem deren eigene Schwester zur Vampirin geworden war. Womöglich konnten nur die Sonnenkinder oder die Spinnenhexe mit ihrem Flammenschwert was gegen diese Brut ausrichten.
Es war ihm gelungen, einen mit magischer Kraft begüterten Mann aus dem mittagsgelegenen Teil des doppelten Erdteiles jenseits des großen Abendrichtungsmeeres zu erbeuten. Der Siebenarmige fühlte sich wieder stark und zuversichtlich, dass er das Ziel erreichen konnte, dauerhaft wachzubleiben. Als seine Hand in Halbabendrichtung mit ihren Unterknechten versuchte, die in einem kleinen Dorf lebende Stammesmagierin zu ergreifen hatte diese eine glänzende Scheibe an einer Halskette hervorgezogen und einen Namen laut gerufen: Inti! Daraufhin hatte die Ausgewählte selbst in einem Mantel aus gleißendem Licht gestanden, das so schmerzvoll und zerstörerisch wie das Himmelsfeuer selbst war. Seine Diener litten Schmerzen. Er holte sie gedankenschnell zu sich hin, ohne die andere mitnehmen zu können. Er erschrak beinahe, als er sah, dass die Haut seiner Knechte nachtschwarz verkohlt war und roch das verbrannte Fleisch und Haar seiner Diener. "Wieso konnte die sowas?" wollte Heptachiron wissen. Bisher hatte er seine Halbabendhand nur auf dem Erdteil wüten lassen, den die meisten Völker dort Europa nannten, nach der Legende um eine Königstochter aus dem Osten, die von einem in Stierform umherwandernden Gott entführt und geschwängert worden war. Doch da jagte ja die verhasste Herrin vom Blumenberg. Also hatte er seine Diener möglichst weit nach Halbabendrichtung geschickt, soweit, dass er sie fast nicht mehr erspüren konnte. Und jetzt hatte er sie zurückholen müssen, weil die dort lebenden Zauberkraftträger was konnten, was wie eine Anrufung des großen Himmelsfeuers war. Sowas kannte er eigentlich nur von denen auf dem in direkter Mittagsrichtung liegenden Erdteil, die an den Ufern des langen Stromes ihr einst so mächtiges Reich gegründet hatten. Deshalb hatte er ja dort keinen seiner in Mittagsrichtung reisenden Knechte hingeschickt.
"Ihr seid fast vernichtet worden. Dann müsst ihr erst einmal wiederbestärkt werden", teilte der Siebenarmige seinen schwer geschundenen Dienern mit, die sich immer noch unter Schmerzen am Boden wälzten. "Trinkt meine Lebenskraft und heilt dadurch eure Wunden!" befahl er und hielt den gepeinigten Dienern den für ihre Hauptrichtung zuständigen Arm hin.
Die sieben Diener schafften es gerade so, ihre ebenfalls stark angegriffenen Fangzähne in das Fleisch des dargebotenen Armes zu schlagen und das daraus strömende Blut zu trinken. Dabei wiederholte der Meister immer die Worte: "Blut von meinem Blut, heile und stärke!"
Zwar fühlte Heptachiron, dass ihm durch diese Opfergabe ein Teil der ihm in den letzten Nächten zugeführten Kraft abgesaugt wurde. Doch er brauchte diese Diener zu sehr, wollte er nicht nach drei weiteren Nächten wieder für lange Zeit einschlafen, sofern der Meister ihn dann überhaupt noch bestehen lassen wollte. Er konnte ja nicht wissen, dass der Meister ihn selbst dann nicht töten konnte, wenn er das wollte. Denn dafür hätte der Meister den Mitternachtsstein benötigt.
Die Blutgabe des blauen Meisters half den von der freigesetzten Sonnenfeuerkraft angeschlagenen. Die verbrannten Stellen lösten sich zu reiner Asche auf. Darunter wuchs jedoch neues Fleisch, und nach nur einem halben Hundertsteltag standen die sieben Diener unversehrt, wenn auch mit blassblauer Hautfarbe, kraftstrotzend vor ihrem Herren, dessen Armwunden in dem Moment heilten, wo der letzte seiner Diener von ihm abgelassen hatte. "So sende ich euch erneut aus, mir ein zauberkräftiges Weib zu beschaffen. Aber seid auf der Hut vor schlafendem Sonnenfeuer!" gab der blaue Diener Iaxathans seinen Knechten mit, bevor die Kraft seines Wunsches in ihnen verstärkt wurde und sie zeitlos über viele viele Tausendschritte in Halbabendrichtung trug.
"Gerade hatte die handelnde Hand der Halbabendrichtung verkündet, eine alte Frau gefunden zu haben, die als Gesundbeterin in einem Eingeborenendorf im dichten Urwald des Mittagsrichtungslandes lebte, als Heptachiron wieder einen lauten Schrei aus Halbmitternachtsrichtung vernahm. Dieses Weib hatte seine dortige Handlungshand wiedergefunden, wie auch immer die das gemacht hatte. Sie quälte den Knecht, versuchte, ihm dessen Wissen aus der Seele zu saugen wie seinesgleichen das rote Blut von Kurzlebigen.
"Komm, sag mir schon, wo ist dein blauer Herr. Ich muss das endlich mit ihm klären, wer von uns beiden leben darf und wer nicht", säuselte die Feindin, während sein Diener schon wieder in dieser verwünschten Glutwolke schwebte und größte Qualen erlitt. Heptachiron wusste, dass er sie niemals in seine unmittelbare Nähe lassen durfte. Denn selbst wenn er es schaffen sollte, sie zu töten, so würde die in ihrem verwünschenswerten Ring gebändigte Macht des Feuers entfesselt. Ob er das trotz seiner besonders guten Selbstheilungskräfte überstand wusste er nicht und wollte es auch nicht herausfinden. So versetzte er seinen Diener in Gedankenschnelle weit in die Richtung zwischen Abend und Mitternacht und ließ ihn auf jener Insel auftauchen, von der er erfahren hatte, dass sie Neufundland hieß und zu einer der ersten Landmassen gehört hatte, die die Nachkommen des alten Reiches wiederentdeckt hatten, bevor sie den Doppelerdteil jenseits des Abendmeeres wiedergefunden hatten.
"Wieso kann ich ihr den Ring nicht vom Finger hacken oder den ganzen Arm abschlagen lassen?" knurrte Heptachiron. Er erinnerte sich zu gut daran, dass dieses Weib ihn fast schon einmal aufgespürt hatte und dass er zwei Diener mit den besonders scharfen Klingen der japanischen Samurai gegen sie hatte kämpfen lassen. Doch die Klingen waren nicht nur an einer roten Lichtbarriere um die Feindin abgeglitten, sondern hatten sich innerhalb von zwei Augenblicken auch so stark erhitzt, dass die sie führenden Diener sie loslassen mussten, um nicht zu verbrennen.
"Auch wenn es die Erhabenheit und wohl auch Macht der Bezauberung verringern könnte will ich, dass du nicht bis zur letzten Nacht, sondern bis zur kommenden Nacht alle vierzehn Opfer in dich aufgenommen hast, damit wir die mächtigen Namen der Himmelswanderer anrufen und wir zusammen dich aus dem Bann des wiederkehrenden Schlafes freisprechen können", erklang Iaxathans Geistesstimme. Heptachiron fragte, ob das gelingen würde, wo er eigentlich jede nacht nur zwei Opfer vertilgen durfte, um einen Teil der Kraft jedes der sieben sichtbaren Himmelswanderer aufzunehmen.
"Ja, sicher ist es die machtvollste Art, dich aus dem von mir verhängten Bann zu lösen. Doch es kommt wohl nur auf die Zahl der Opfer und deinen und meinen vereinten Willen an, habe ich ergründet. Ich muss nämlich annehmen, dass unsere Feinde nun genau wissen, wie du den mächtigen Schlafzauber abwerfen willst. Sie werden bereitstehen, denen zu helfen, die du als Opfer aussuchst, und dieses in Nachtfarbe gewandete Weib ist mir lästig. Nur wenn du alle Zeit wachbleiben und deine Diener aus ihrer Reichweite halten kannst, nützt du mir was. Ja, und wenn wir ergründen, wie wir sie da selbst in eine tödliche Falle locken können, dann werden wir zuschlagen. Also los, lass die Diener in halber Mitternachtsrichtung nach weiteren Opfern suchen!"
Ladonna bereitete den ihrer Meinung nach entscheidenden Zauber zur entdeckung von Heptachirons Versteck vor. Sie hatte sich eines ihrer langen Haare ausgezupft und es so bezaubert, dass es ihr verriet, wie weit es fort war und in welcher Richtung es zu finden war. Dieser bei Veelastämmigen sehr beliebte Überwachungszauber war Heptachiron sicher nicht bekannt. Dann hatte sie den durch die Vernichtung mehrerer Diener des Siebenarmigen auf diese eingestimmten Ring als Suchvorrichtung benutzt, um weitere Diener zu finden. So hatte sie den bereits einmal beinahe ergriffenen Diener wiedergefunden, irgendwo zwischen Lugano und Malpenza. Sie hatte sich mit einem Unhörbarkeitszauber umhüllt und dazu noch ihre Veela-Ausstrahlung niedergehalten. Dann hatte sie dem Vampir erst das Mondlichtnetz übergestreift,um nicht von ihm überrascht zu werden und ihm dann ihr bezaubertes Haar in mehrfachen Windungen um das linke Fußgelenk zu binden. Erst dann hatte sie die Glutwolke ausgeschickt, mit der sie die bisherigen Opfer gefoltert hatte. Diesmal hatte sie Heptachirons Gegenzauber mit der grünen Flamme der Reinigung gekontert. Der hatte dann genau das gemacht, was sie erhofft hatte, nämlich seinen Diener fortgeholt und ja, in der Gegend wieder auftauchen lassen, wo sie ihn schon längst vermutete. Nur jetzt konnte sie ihn gezielt erfassen. Wo das war bekam sie gleich heraus, wenn sie die magische Landkarte befragte, die sie für diesen Einsatz angefertigt hatte.
"Verrotte im tiefsten Pfuhl, Sardonia vom Bitterwald", knurrte Ladonna. Denn das, was sie heute vollbrachte, hätte sie all zu gerne schon vor vierhundert Jahren vollbracht.
Der Siebenarmige hatte befunden, dass er vor einem möglichen Überfall seiner Feinde besser geschützt werden müsse. Der Umstand, dass da jemand starke Sonnenanrufungen konnte und die ihn auch sehr beängstigende Hartnäckigkeit der schwarzgewandeten Feuerringträgerin zeigten ihm, dass er nicht mehr so unangreifbar war wie in den letzten Wachzeiten. So holte er während der Zeit, wo seine Diener in Halbmitternachtsrichtung nach Opfern suchten möglichst viele seiner Diener in sein Haus hinüber. Zwar sollten die eigentlich unter den anderen Nachtkindern die Kunde seiner bestehenden Allmacht verbreiten und weitere Rotblüter zu ihren Unterknechten machen. Doch sein direkter Schutz war im Augenblick wichtiger.
Mit jedem gedanklichen Befehl holte er zehn der minderen Diener zu sich. Nur die Handlungshände der noch zu durchsuchenden Richtungen und je sechs direkte Abkömmlinge derselben ließ er wo sie waren. Damit die von ihm herbeigerufenen nicht vor unbändigem Blutdurst in Aufruhr gerieten und ihm womöglich seine zugeführten Opfer streitig machten belegte er sie durch die Worte der Untätigkeit mit einem wiederrufbaren Erstarrungsbann. Nun standen um ihn herum mehr als fünfzig wie zu Stein gewordene Gehilfen. Nur Ein gedanklicher Ruf würde jedoch reichen, sie zu erwecken und sogleich zum Angriff auf jeden zu treiben, der in dieser Höhle weilte. Das hielt Heptachiron für ausreichend genug, um sich voll auf die Beschaffung der letzten Opfer besinnen zu können.
Sie stand da, aus einer blauen Portschlüsselspirale herausgefallen, Ladonna Montefiori. Hier und heute würde sie die Entscheidung suchen. Vielleicht würde sie es sein, die dabei den Tod fand. Doch sie hatte sich so gut sie konnte vorbereitet. Neben dem einen Portschlüssel, der sie zielgenau hier abgesetzt hatte trug sie noch einen bei sich, der sie im Falle unmittelbarer Todesgefahr an diesen Ort zurückversetzen würde, womöglich weit genug weg, um den eigentlichen Schlag auszuführen.
Zunächst prüfte sie die Umgebung und erkannte starke Bannzauber, die Feindesblut zum Kochen und dem zu beschützendenfeindlich gesinnte Seelen in dauerhafter Agonie fesseln sollten. Außerdem gab es hier mehrere Antiapparier-Zauber, damit niemand auf die Idee kam, direkt in Heptachirons sogenanntem Haus zu erscheinen. Zudem konnte sie auch einen Zauber erfassen, der mit Flugzaubern belegte Hilfsmittel zu Boden riss und um ein vielfaches schwerer am Boden festhielt. Wer also auf einem Besen herbeiflog würde gnadenlos in die Tiefe gerissen und konnte dann noch von Gnade sprechen, beim Absturz sofort tot zu sein.
Um genug Kraft für sich zu schöpfen leerte sie behutsam einen mitgebrachten LeinenSack aus und setzte winzig kleine holzige Gebilde auf den Boden. Dann ließ sie diese mit einem für alle in Ausrichtung stehenden Körper wirksamen Rückvergrößerungszauber zu stattlichen Bäumen emporschnellen. Sofort fühlte sie, wie die in diesen Pflanzen schlummernde Kraft auf sie einwirkte. Dann hüllte sie die hier aufgestellten Bäume mit einem Tarnzauber ein. Nun konnte sie ohne Angst vor frühzeitiger Erschöpfung zaubern.
Ladonna musste mehrere Vorstufenzauber aussprechen, um dann, als diese wirkten, die eigentlichen Aufhebungszauber zu wirken, wobei sie genau darauf achtete, die aufgerichteten Bannzauber in der richtigen Reihenfolge aufzuheben. Natürlich merkte der Unhold dort drinnen das sicher. Doch was sollte es. Sie wirkte ihre Zauber weiter. Dann endlich war der Weg zur Wand frei von Feindesabwehrzaubern. Selbst die im Boden schlummernden Festhaltezauber waren erloschen. Mit einem letzten Zauber enthüllte sie den Zugang zu einem langen Stollen, der ganz sicher in ein verwirrendes Labyrinth hineinführte. Doch sie würde sich nicht verirren. Erstens besaß sie den Richtungssinn von Veelas und Waldfrauen. Zweitens konnte sie nun, wo sie dem Endgegner sehr nahe war, dessen geistige Ausstrahlung genau erspüren. Jetzt würde es weniger als eine Stunde dauern, dann stand fest, in welche Richtung diese Welt sich weiterbewegte, in ihre oder die des Siebenarmigen.
Unnak, der mächtige Zauberer seines Dorfes, sang außerhalb der gegen den grimmigen Wind schützenden Iglus das Lied der schützenden Geister von Erde und Wind, auf dass die seinen in dieser Nacht vor den Gefahren der Eislandschaft bewahrt wurden. Denn im Moment waren außer den Frauen und Kindern nur die alten Männer hier. Die jüngeren Männer waren zur Robben- und Bärenjagd ausgefahren, wie es seit undenklichen Zeiten Sitte und Lebensweise seines Stammes war. Selbst wenn andere Inuit sich den fragwürdigen Segnungen von den alten Geistern ungelenkter Dinge hingaben und statt mit Speeren und Pfeilen mit Donnerstöcken auf Jagd gingen oder gar ganz auf die Jagd verzichteten, so hielten sie es in diesem Dorf für wichtig, die alten Regeln zu befolgen. Auch wenn die Sonne nun wieder aufging wirkte ihr Licht doch noch zu kurz, um sich ganz sicher zu sein, die Schrecken der Nacht ohne Schutzlied zu überstehen.
Keiner rief oder sprach, während der Stammeszauberer sein Lied sang. Denn niemand wollte es riskieren, dass die bösen Geister sie heimsuchten und ihre Seelen holten.
Das vergangene Jahr hatte ihnen reichliche Beute eingebracht, so dass die in dieser Zeit geborenen Kinder alle überleben durften. Früher galt der Brauch, die neugeborenen Mädchen der Kälte und den großen Bären darzubringen, weil sie da selbst keine Jäger werden konnten und in Zeiten knapper Nahrung deshalb nicht unnötig mitversorgt werden sollten. Zumindest hatte er, der Stammeszauberer dieses Ortes, in den fünfzig letzten Wintern nicht auf diese Sitte zurückgreifen müssen.
Der Stammeszauberer sang sein Lied im Schein einer auf Walspeckwürfeln glimmenden Feuerstelle. Das Licht und die Wärme sollten mithelfen, die Kälte und das Unheil von seiner Sippe fernzuhalten. Seine sechs Sinne waren schärfer als sonst. Besonders sein geistiges Auge für die Vorgänge der unsichtbaren Gefilde, in denen die Geister der Ahnen, aber aus denen auch die rastlosen Seelen der getriebenen wirkten, tastete die Umgebung ab.
Unnak erkannte, das irgendwas in der Nähe lauerte, eine böse Seele, die noch von der Macht des Liedes zurückgetrieben wurde. Ohne aus Rhythmus und Tonlage zu fallen richtete der Stammeszauberer sein geistiges Auge auf den erspürten Ort. Da sah er es, dass es nicht nur eine gierige Seele war, sondern ihrer sechs, die so eng zusammenstanden, dass sie beinahe als eine Kraftquelle erkennbar waren. Dann kam noch eine böse Seele dazu, getrieben von einem unbändigen Durst. Er wusste, dass es böse Geister gab, die vom Blut der lebenden tranken. Sie waren hier im Eisland zwar selten. Doch wenn sich aus dem grünen Land im Süden ein derartig rastloses Geschöpf hierher verirrte, dann konnte auch hier im Land des großen Eises der eine oder andere Bluttrinker sein Unwesen treiben. Unnak besann sich noch mehr auf seinen Zauber. Er musste diese sieben bösen Seelen daran hindern, über sein Dorf herzufallen. Sicher konnte er ihnen befehlen, andere Ansiedlungen zu suchen. Doch wenn dort kein mächtiger Stammeszauberer wohnte war er mitschuldig am Tod anderer Menschen. Das würden ihm die Ahnen und die über sein Dorf wachenden Schutzgeister nicht verzeihen. Also musste er sie in tiefen Schlaf singen, bis das wärmende Licht wiederkehrte. Die Geister der Nacht vergingen im wärmenden Himmelslicht und die aus der Erde geborenen Felsgeister erstarrten zu Stein, wenn sie zu lange ins wärmende Licht gerieten.
Als er nun genau den Zauber sang, um die unruhigen Blutgeister in tiefen Schlaf zu bannen fühlte Unnak, dass eine andere, sehr mächtige Kraft die sieben überkam und sie mit mehr Stärke erfüllte. Sie kamen nun näher, ließen sich nicht vom wirkenden Zauber der Schutzgeister fernhalten. Unnak erkannte, dass ein mächtiger böser Geist die Bluttrinker ausgeschickt hatte, ihn und die Seinen zu vernichten. Gegen wessen Willen hatten er und die Seinen sich vergangen, derartig bestraft zu werden?
Die sieben Bluttrinker eilten nun als große Flügelträger durch die Luft heran, wobei sie einen Kreis bildeten, in dessen Mittelpunkt der Zauberer selbst geriet. Also galt ihr Überfall erst ihm, damit sie freie Bahn bekamen. Unnak schaffte es noch, die letzten Silben des Schutzliedes zu singen. Dann besann er sich darauf, den Kampf mit den Bluttrinkern aufzunehmen. Hierfür rief er den Geist seines Schutztieres an, den großen Bären Nanuk. Wenn dieser ihm hold war würde er ihn, Unnak, in seine erhabene Erscheinung kleiden und damit nicht nur die große Kraft seiner Kinder verleihen, sondern das dreifache dieser Stärke zuführen. Gerade als die sieben Bluttrinker über Unnak herabstießen wie nach Fischen jagende Vögel, überflutete den Zauberer die mächtige Kraft seines Schutzgeistes. Er fühlte, wie seine Muskeln anwuchsen, fühlte, wie sein Kopf und seine Glieder sich wandelten. Seine rötliche Haut wurde schwarz, bevor ihr schneeweißes Fell entspross. Unnak stieß noch drei machtvolle Silben aus, bevor sein Mund und seine Stimme sich wandelten. Nun konnte er nur noch llautes Brummen und Brüllen von sich geben. Er fühlte, wie seine Wandlung vollendet wurde. Der Geist des großen Bären hatte ihn erhört und ihm den Segen seiner Kraft verliehen.
Als die Bluttrinker niederstießen richtete sich der zum großen Bären gewordene Zauberer auf und hieb mit den zu tödlichen Tatzen geformten Händen nach dem ersten. Zielsicher und mit aller ihm eingefahrenen Kraft traf er den Feind und zerfetzte dessen rechten, lederartigen Flügel. Er hörte das laute Aufschrillen des getroffenen Feindes. Die anderen fielen jedoch sofort wie die lästigen Blutsirrer an den langen Tagen über ihn her, versuchten, ihn niederzudrücken und am Boden zu halten. Doch in ihren Tiergestalten ging das nicht. Dafür konnte Unnak nun mit seinen Bärentatzen verheerende Treffer landen. Bleiches Blut quoll aus den Wunden. Nun hörte der Verwandelte eine geisterhafte Stimme, die aus den Richtungen der Angreifer klang: "Bei allen Mittagsonnen, haltet diesen Eislandsänger doch endlich fest, damit ich euch mit ihm holen kann!"
"Böser Geist, der du mir deine blutsaugenden Kinder sandtest, mich und die Meinen erbeutest du nicht", stieß Unnak in Gedankken aus, während er gleich zzwei Angreifer von sich wegschlug wie lästige Kerbtiere. Zwar hatten ihn zwei andere an den kräftigen Hinterbeinen zu fassen bekommen. Doch in ihrer Flugtiergestalt konnten sie ihn nicht länger als einen Atemzug halten. Dann hörte Unnak eine fremde, aber rein körperliche Stimme rufen. Er verstand nicht, was sie rief. Doch es musste ein mächtiger Zauber sein.
Der Siebenarmige schäumte vor Wut. Da hatten seine in die nahe Mitternacht gelegenen Eislande geschickten Diener einen mächtigen Zauberer aufgespürt, und dann verwandelte dieser sich doch wahrhaftig in einen dieser weißen Bären, noch dazu einen, der dreimal so groß und wohl auch so stark wie die natürlichen Vorlagen beschaffen war. Wieso konnten seine Diener nicht einfach mal einen Zauberkraftträger im Schlaf überraschen und so halten, dass er sie und ihn zu sich hinziehen konnte? Jetzt bekam er auch noch mit, dass dieser Eislandzauberer seine Diener wahrhaftig verletzen konnte. Er hätte sie schnell wieder zurückbefehlen müssen. Doch ihre Schmerzen überlagerten seine Sinne und die Gedanken, die er ihnen zusandte. Und es sollte noch schlimmer kommen.
Unvermittelt erschien aus dem Nichts ein rotblütiger Mensch und rief "Lass die Sonne raus!" in der Sprache der Angelsachsen. Dann strahlte unvermittelt grelles heißes Licht auf, als wenn direkt über seinen Dienern das verhasste Himmelsfeuer aufgegangen wäre. Die Wirkung war auf jeden Fall die gleiche. Sofort erfasste ein lodernder, sich in das Fleisch hineinfressender Schmerz die sieben den Bären umschwirrenden Diener. Sie schrien laut auf, konnten sich auf nichts mehr besinnen. Denn das Licht war zu hell und der Schmerz zu groß. Heptachiron fühlte, wie seine Diener vergingen. Ihre Körper verbrannten in jenem grausamen Licht. Ihre Seelen zerrannen in unerträglichen Todesqualen. Dann, mit einem Schlag, waren sie weg, aus und erloschen, für immer und ewig. Seine Handelnde Hand des Weges zwischen Abend und Mitternacht gab es nicht mehr, genauso wie ihre Abkömmlinge.
Als wenn deren unerträgliche Qualen sich in einen Feurigen Speer verwandelt hatten durchraste Heptaachirons Arm dasselbe verzehrende Feuer, das ihm schon bei seinen Dienern in Mittagsrichtung heimgesucht hatte. Er fühlte, wie der betroffene Arm zerfiel. Wieder überkam ihn das Gemisch großer Glückseligkeit und heftiger Erschöpfung. Wieder wuchs ihm aus der geschlagenen Wunde ein neuer Arm, während der abgestorbene restlos zu feinster Asche zerfiel. Ihm war klar, dass er nur noch fünf gebundene Handlungshände hatte, um die letzten Opfer zu ergreifen. Er musste sie aussenden, sonst würde er in nur noch zwei Nächten wieder in den tiefen Schlaf stürzen. Er bangte, dass er dann nie wieder erwachen würde.Er wollte gerade die für die Mitternachtsrichtung aufgesparte Handlungshand nach Halbmitternacht schicken, um doch noch eine Frau und einen Mann mit Zauberkräften zu erwischen, als er die Erschütterung des magischen Schutzes fühlte, der seine Heimstatt umspannte.
Unnak hörte die Stimme rufen. Dann blendete ihn das grelle Licht von oben. Er schlug sich schützend beide Vordertatzen vor die Augen. Ein warmer Hauch floss über seinen weißen Pelz, als wenn er gerade im Licht der Mittagssonne stünde. Die ihn bedrängenden Bluttrinker schrien in Tonlagen, die für Menschenohren zu hoch waren. Er fühlte ihre Todesqual. Das über sie und ihn kommende Licht verbrannte sie wie das Licht des warmen Himmelslichtes selbst. Er hörte und roch ihren Tod. Es war der Tod im Feuer, etwas, dass seine Nase bisher noch nie wahrgenommen hatte. Doch es war wie verbrennendes Fleisch, dass aus Unachtsamkeit direkt in die Flammen gerät und nicht schnell genug herausgeholt wird. Dann hörte er nur noch einen kurzen letzten Aufschrei im Geiste und fühlte, wie feiner, heißer Staub auf ihn niedersank.
Wieder rief der Fremde etwas. Jetzt verlosch das helle Licht und die Kälte und Dunkelheit der langen Eislandnacht umfingen Unnak wieder.
"Mein Bruder, die bösen Geister sind vergangen. Du und die deinen seid nun wieder in Sicherheit!" hörte Unnak die Männerstimme, die eben den Himmelslichtzauber gerufen hatte. Sie sprach seine Sprache, wenn auch mit einer fremden Betonung, als wäre er aus einem fernen Dorf. Aber er sprach die Sprache der Menschen vom großen Eis. Jetzt spürte Unnak auch, dass der andere mit der magischen Welt verbunden war. Seine geistige Ausstrahlung floss mit der seinen zusammen.
Es dauerte mehr als zwanzig Atemzüge, bis Unnak den Dank an seinen Schutzgeist gedacht und um seinen eigenen Körper gebeten hatte. Nun stand er wieder in seiner menschlichen Gestalt da und konnte den anderen sehen. Er fühlte nun, dass der andere eine Verbindung mit dem Wind haben musste, denn um ihn floss ein sanfter Wirbel aus reiner Luft. Er sah, dass der Fremde eine glänzende Kugel mit spitzen Auswüchsen wie kleine Zähne in der linken Hand hielt. Dann fragte er ihn: "Wer bist du, mein Bruder?"
"Ich bin ein Wissenswanderer, der zwischen den Völkern und ihren Fertigkeiten umherwandert. Aber ich wurde im Eisland geboren und großgezogen und von einem mächtigen Schamanen mit der magischen Welt und den Geistern vertraut gemacht. Ich heiße Louis Anore, weil mein Schutzgeist der Windgeist ist."
"Woher wusstest du, dass mich die Bluttrinker angriffen, Bruder Anore?" fragte Unnak.
"Ich bin für jene, die meine Brüder im ewigen Krieg gegen die zerstörerischen Geister streiten an den Rand zwischen der grünen und der Eislandwelt gezogen und habe meinen Schutzgeist beschworen, mir zu helfen, auf jene zu hören, die vom Blut lebender Menschen trinken, ohne sie zu fragen, ob sie das dürfen. Da erspürte ich die Unruhe in den Gefilden der Geister und hörte dich nach deinem Schutzgeist rufen. Mein Schutzgeist half mir, deinen Wohnort zu erkennen und ich ging den Weg des langen Schrittes, eine Kunst, die nur wenige von uns in die Wiege gelegt bekamen, aber jene, die in der grünen Welt die hohen Mächte nutzen mit einem Stück aus einem Baum und einem mächtigen Tier erwecken und nutzen können.
"Du erkundest also auch die Gesänge und Anrufungen der weißen Fremden, die aus dem Land in Sonnenaufgangsrichtung kommen?" fragte Unnak.
"Ja, das tue ich. Aber ich bin und bleibe unseren Bräuchen und Fertigkeiten verbunden. Das hier ist ein Erzeugnis jener, die ohne Hilfe von Schutzgeistern Zauber wirken. Sie nennen es Sonnenlichtkugel und können damit einen tag Lang einen Teil des Sonnenlichtes einsammeln, um es dort erleuchten zu lassen, wo Dunkelheit und Todesgefahr erwachen."
"Dann hast du einen Teil des machtvollen Lichtes des Sonnenlenkers eingefangen. Durftest du das?" wollte Unnak wissen.
"Ja, das darf ich, weil er will, dass ich böse Geister wie die Bluttrinker damit vertreiben oder vernichten kann", sagte Louis Anore. "Und ich hätte das Licht wohl nicht freilassen können, wenn der große Lenker der Sonne es mir verboten hätte, wo du hier bereits einen machtvollen Zauber des Schutzes gewirkt hast."
"Der war leider nicht machtvoll genug, Bruder. Denn die Bluttrinker konnten ihn durchdringen", sagte Unnak.
"Weil ein noch mächtigerer, böser Geist ihnen dafür Kraft und Willensstärke einblies. Ich konnte es fühlen, wie etwas mächtiges in diesen Bluttrinkern wirkte, das mit einem Schlag dorthin zurückgeeilt ist, von wo es gekommen war. Es ist weit in Richtung Gras- und Baumland, wohl auch weit über das große Meer hinweg, dass zwischen diesem Erdteil und einem Erdteil in Morgenrichtung liegt. Aber ich spüre noch die Nachschwingungen dieser Kraft wie die Fußspur eines großen Bären im frisch gefallenen Schnee. Ich werde ihr folgen und dann meinen Mitstreitern verkünden, wo sie hinführt. Sei derweil unbesorgt, mein Bruder. Der böse Geist der Bluttrinker kann dir bis zum nächsten Mondaufstieg nichts mehr anhaben."
"Dank deinem Schutzgeist und den Ahnen, dass sie dich zu mir trugen, als die Gefahr sehr groß war. Man wünscht dem reisenden reizendes Wetter!"
"Ich habe den Wind im Rücken, Bruder. Bis dass die Geister der Ahnen uns wieder zusammenführen", sagte Louis Anore und drehte sich auf einem Fuß um. Mit leisem Knall wie ein abbrechendes eisstück verschwand er in leerer Luft. Unnak wusste, dass seine Urgroßmutter diesen Zauber des langen Schrittes gekonnt hatte, weil sie die Tochter eines guten Geistes war. Doch wenn die Fremden im grünen Land das so erlernten, wie er die Lieder und Anrufungen erlernt hatte, dann war das für diese wohl nichts erhabenes oder besonderes, auf diese Art zu reisen. So richtig gefallen mochte es Unnak nicht. Doch er wollte nicht undankbar sein, dass die guten Geister ihm diesen Retter gesandt hatten.
Die Schutzbanne bebten unter unsichtbaren Kräften. Ein Feind bedrängte die von seinem Meister errichteten Wälle und Wehren. Heptachiron fühlte, dass jemand zu ihm vordrang. Dann hörte er eine Stimme, die ein Lied sang. Doch es war nicht einfach ein Lied, sondern ein Zauber. "Weck deine Diener, du wirst angegriffen!" peitschte seines Meisters Stimme durch seinen Geist. Heptachiron sah, wie die von der Decke hängenden Tropfsteine erzitterten. Staub rieselte von den nach unten hängenden Spitzen herab. Jetzt bebte der Boden. "Worauf wartest du noch, du schneckenlahmer Knecht?!" dröhnte die Gedankenstimme des Meisters. "Ich muss den Feind erblicken, dann wird er vergehen, Meister", erwiderte Heptachiron. "Du hörst sie doch singen, so ein widerliches Lied, wie es die grünen Waldfrauen und diese Ausgeburten dieser Mokusha singen können. Los, mach deine Diener wach, du Narr!"
"Auf den Feind und macht ihn tot!" gedankenbrüllte nun Heptachiron. Ein heftiges Zucken durchfuhr die erstarrten Diener. Dann sprangen sie vor und eilten lautlos in die Richtung, in der das machtvolle Singen erklang. Die Feindin würde nicht einmal merken, dass sie getötet wurde, dachte Heptachiron. Da brach der Gesang ab. Offenbar hatten seine Diener die Feindin schon erreicht und niedergeworfen. Doch dafür empfand er kein entsprechendes Siegesgefühl. Er fühlte nur die Gier nach Feindesblut und etwas, das wie ein Aufwallen von Kraft war.
Ohne jede Vorwarnung jagten laute schrille Schreie und geistig übermittelte Schmerzenswogen durch Heptachirons Haus. Der Siebenarmige glaubte, von unsichtbaren Riesenfäusten gepackt und kräftig durchgeschüttelt zu werden. Dann sah er das orangerote Licht und hörte das laute Tosen. Mit dem Licht kam auch die Hitze. Dann sah er das Verhängnis, das seine Diener ereilte.
"Wenn Sie sicher sind, Louis, sollten wir unverzüglich aufbrechen", sagte Sheena O'Hoolihan, die zeitweilige Leiterin des multikulturellen Marie-Laveau-Institutes. Der Inuitschamane und langjährige LI-Mitarbeiter bestätigte, dass seine magischen Untersuchungen eindeutig einen Berg auf Kreta ermittelt hatten. "Dann nehmen wir genug Leute mit, die sich mit Sonnenmagie auskennen", erwiderte Sheena O'Hoolihan.
Ladonna betrat die Höhle und begann, das Lied der Fesselung zu singen, wie es ihre lebenden Blutsverwandten gegen sie versucht hatten. Wenn hier schon wer auf sie lauerte sollte der oder die zumindest nicht so schnell über sie herfallen.
Wahrhaftig verzweigte sich der hundert Schritte lange Eingangsstollen zu fünf Gängen. Doch sie erspürte, wo ihr Ziel lag. So ging sie laut singend weiter.
Ihr besonderer Instinkt für gefährliche Gegner verriet ihr früher als ihre Augen und Ohren, dass eine Menge Feinde auf sie zuhielten. Also hielt er sich eine Leibgarde. Dann sah sie die auf sie zujagenden Riesenfledermäuse, alles verwandelte Bluttrinker. Sie hatte nur noch zwei Sekunden. Sie warf einen goldenen Zylinder so, dass dieser quer zur Flugrichtung in Drehung geriet. Dann zischte sie das Auslösewort "Purgatorium!" Aus dem Zylinder brach eine lodernde Feuerwalze hervor, die in Flugrichtung des goldenen Gegenstandes in den Gang hineinrollte. Die ihr entgegeneilenden Vampire konnten nicht schnell genug ausweichen und gerieten voll in die lodernden Flammen hinein. Hinter der Feuerwalze herschreitend, diese mit roten Strahlen aus ihrem Ring in Schwung haltend, schritt Ladonna durch den immer enger werdenden Stollen, bis sie endlich das Ziel sah, eine Höhle, groß wie das Versammlungshaus der Gattiverdi-Akademie, vielleicht auch wie das Hauptschiff der Kirche Notre Dame in Paris, die Rose Britignier mehrmals besucht hatte. Dann sah sie den gesuchten Feind.
Es war wahrlich eine Abscheulichkeit. In einer mehrere Meter durchmessenden Halbkugelschale aus blauem Stein hockte in einem Bad aus einer dunklen, schmierigen Flüssigkeit, ein Geschöpf, dass im Licht der lodernden Feuerwalze himmelblau flackerte. Es besaß wahrlich sieben lange, an der Oberseite stachelige Arme mit breiten Händen mit Saugnäpfen an den Fingern am Ende jedes Armes. Der Körper selbst war eine plattgedrückte Kubel. Wie sie an der Unterseite aussah konnte Ladonna nicht sehen, nur den langen, mehrfach gewundenen Hals, auf dem ein Kopf saß, der mindestens dreimal so groß wie ein Männerkopf war. Ein bis auf zwei kurzschwertartige Fangzähne unbezahntes Maul tat sich auf, bereit, sie zu verschlingen. Eine graue Zunge tastete schlangenartig aus dem Maul hervor und schmeckte wohl die Umgebung. Doch im Moment gab es hier nur Feuer und Tod. Die Augen der Abscheulichkeit waren tellergroße schwarze Kugeln mit einer senkrechten Pupille. Das also entstand, wenn ein Blutsauger das aus den Wunden einer enthaupteten Hydra strömende Blut trank. Jetzt galt es, erkannte Ladonna. Hier und jetzt würde die Entscheidung fallen.
Eine Woge aus gefräßigen Flammen wälzte sich gnadenlos durch den Zugang zu Heptachirons Haus. Jene Diener, die er vorausgeschickt hatte, loderten auf wie trockenes Holz. Die, welche noch nicht ganz in den Gang hinausgestürmt waren sprangen in unbändiger Angst zurück, ungeachtet ihres klaren Auftrags, den Feind zu töten. Ihr Sprung war zwar schneller als die Flammenwalze. Doch es war vergeblich, weil es aus der Höhle keinen weiteren Ausgang gab. Als die Feuerwalze laut tosend in die große Halle hineinbrach fühlte Heptachiron, wie seine Haut in Brand geriet. Doch sofort stemmte sich seine Selbstheilungskraft dagegen. Es flirrte um ihn herum in blauem Licht, während der ihn bergende Nähr- und Schutzbehälter in dunkelblauem Licht aufleuchtete und das Licht sich zu einer himmelblauen Kugel verband, die den Siebenarmigen einschloss. Doch das Tosen der Flammen und das von ihnen ausgehende grelle Licht peinigten ihn weiterhin. Ebenso vernahm er die Schmerzenslaute und die Todesqualen seiner Diener, die inmitten der lodernden Lohe litten. Ein Diener nach dem anderen verlor in einem aussichtslosen Todeskampf das übernatürliche Leben. Heptachiron merkte, dass sein Plan, sich zu schützen, gerade wortwörtlich zu Asche zerfiel. Nur sein Schutzbehälter und die mit ihm zusammenwirkende Selbstheilungskraft bewahrten ihn selbst vor den wütenden Flammen. Als dann der letzte seiner Diener das Leben aushauchte stürzten die wild wogenden Flammen in sich zusammen. Die von ihnen erhitzte Luft wurde laut fauchend von nachdrängender Kaltluft verblasen. Das blaue Licht um Heptachirons Ruhestatt dunkelte bis auf ein schwaches Schimmern ab. Er fühlte, dass da etwas nach ihm tastete und immer wieder gegen einen seiner Arme kam. Da wurde ihm klar, dass die Feindin nun freie Bahn zu ihm hatte und wusste, wo er war. Er musste sie sofort bekämpfen. "Alle Diener zu mir!" rief er in Gedanken. Doch weil die meisten seiner verbliebenen Diener so weit von ihm fort waren reichte ein Rufen nicht aus. "Alle meine Diener hört aufs Wort und seid bei mir an diesem Ort! Alle Diener zu mir!" schrie Heptachirons Geist in Raum und Zeit hinaus.
Während er seine verzweifelten Befehle in die Weite des Raumes hinausschleuderte trat ein schlankes, menschliches Wesen in seine Heimstatt ein, eine Frau, so schön, dass sie unmöglich ein reinblütiger Mensch sein konnte. Sie trug eine Kleidung, die aus geschwärzter Tierhaut bestand und die so eng anlag, dass ihre makellosen Körperformen so richtig hervortraten. auf ihrem Kopf trug sie einen nachtschwarzen, spitz zulaufenden Hut. Ihr Haar war zu zwei raumgreifenden Windungen rechts und Links hochgebunden und so festgemacht, dass es nicht herumfliegen konnte. Sie brauchte wohl kein Lichtt, weil sie nichts selbstleuchtendes bei sich trug. Er erkannte die Feindin. Ja, sie hatte den Weg zu ihm gefunden. Er musste sie überwältigen, bevor sie einen neuen Feuersturm entfachen konnte.
"Alle Diener zu mir! Auf die Feindin!" gedankenschrie Heptachiron, während die ungebetene Besucherin leise aber trittsicher auf ihn zuschritt, ihren hölzernen Stab vorgestreckt, die linke Hand vor ihrem Bauch in der Luft haltend. Er konnte nun die Wurzel seines ganzen Übels sehen, den goldenen Ring mit den zwei roten Steinen, die wie die Blütenkelche einer Blume beschaffen waren. Damit hatte sie damals drei seiner Diener vernichtet und beinahe aus ihnen den Weg zu seinem Haus erkundet. Damit hatte sie in den letzten Nächten seine Diener gefoltert und beinahe getötet.
"Ich grüße dich, Siebenarm, wenn das überhaupt dein wahrer Name ist", sprach die Unbekannte. Sie sprach die Sprache der Hellenen, wie er sie vor wohl fünfzig Schlafzeiten erfahren und erlernt hatte, als seine damaligen Handlungshände in der Welt waren.
"Du kannst mich nicht töten, Herrin vom Blumenberg. Hier endet dein Weg und dein Leben", zischte Heptachiron wie eine übergroße Schlange zurück. Er hatte sehr sehr lange schon nicht mehr mit seiner körperlichen Stimme gesprochen und erschauerte selbst über deren unheilvollen Klang.
"Mein Weg zu dir ja. Mein Leben wird noch dauern, wenn du längst im Staub der Vergangenheit zerronnen sein wirst, Siebenarm. Ach, du rufst die anderen Bluttrinker her? Du denkst, ich hätte meine Kraft schon verbraucht, wie?"
"Lass dein Blut für meine Diener!" zischte Heptachiron so laut, dass seine Worte laut fauchend widerhallten. Da flimmerte die Luft, und alle von ihm erreichbaren Diener seines mächtigen Kultes standen im Raum. Sie gingen unverzüglich zum Angriff über. Das heißt, es konnten nur zwölf zugleich von allen Seiten angreifen. Heptachiron frohlockte schon, weil er dachte, dass die Unverfrorene nur noch einen Augenblick leben würde. Da umstrahlte sie ein Licht von der Farbe der aufgehenden Sonne, breitete sich von ihrer linken Hand aus und durchdrang die sie bestürmenden Gegner wie halbdurchsichtiges Glas. Heptachiron konnte die Knochen im Inneren seiner Diener als schwarze Schattenzeichnungen erkennen. Dann überkam ihn die schlagartig losbrechende Todesqual seiner Gehilfen. Auch um ihn strahlte grelles Licht auf, jenes blaue Licht, dass seinem Aufbewahrungsgefäß entströmte und ihn erneut in eine Kugelschale aus schützender Kraft einschloss.
"Hast du siebenarmige Ausgeburt wahrlich gedacht, ich würde mich so unvorbereitet in deine Nähe begeben, wo du schon zu oft gezeigt hast, dass du deine Diener zu dir hinwünschen kannst?" hörte er die andere überlegen fragen. "Das ist das Kleid des Ra, du siebenarmiges Unding", sagte sie noch, während das sie umstrahlende Licht immer heller wurde, bis es die schmerzhaft gleißende, weißgelbe Farbe der Mittagssonne angenommen hatte. Die sie umzingelnden Nachtkinder stürzten zu boden. Wer dabei in die Körperformgenaue Ausprägung des magischen Leuchtens geriet zerbarst laut schreiend in einem Ball aus weißen Flammen.
"In Ras Abwesenheit kannst du es nur zehn Atemzüge erhalten, du Närrin. Gleich wirst du vergehen", fauchte Heptachiron. Doch das Kleid des Ra verging nicht. es hielt die Diener Heptachirons handlungsunfähig. Jetzt hob die Feindin ihre Linke Hand und zielte auf die vor ihr liegenden Nachtkinder. Sie rief etwas auf Lateinisch: "Ignis Invictus!" Nun erkannte Heptachiron, dass ihr verhängnisvoller Ring viel stärker wirken konnte, als er bisher gewirkt hatte. Feuerrote Strahlen schossen in die Reihen seiner Diener hinein. Sie zerbarsten laut krachend in blutroten Flammenwolken. Die roten Strahlen tasteten auf der Jagd nach sicherer Beute von links nach rechts. Wo sie auf ein Mitglied des Heptachironkultes trafen verging dieses keinen Augenblick später im blutroten Feuer. Jedesmal fühlte der Siebenarmige, wie das innere Selbst des sterbenden dem Leib entsprang und sich wie verwehender Dampf im Raum ausbreitete. Er fühlte es, dass ein winziger Teil davon von jenem Ring aufgesaugt wurde, aus dem der blutrote Tod kam.
"Alle Zauberkraft ist erschöpflich", schnaubte und schrillte Heptachiron gegen die Vernichtungswut der Feindin an. Er hoffte darauf, dass die immer noch im Raum erscheinenden Diener doch noch die Übermacht gewannen. Doch wer erschien unterlag der lähmenden Macht von Ras Kleid und erlag der vernichtenden Kraft der blutroten Todesstrahlen aus dem Ring der Hexe. Wieso hielt Ras Kleid noch stand?
"Meister, wie kann ich den Hauch der Dunkelheit in mein Haus rufen?!" fragte Heptachiron seinen Herren, der sich in den letzten Tausendsteltagen nicht mehr gemeldet hatte.
"Denke an Kälte und Nacht. Dann wird die Dunkelheit einer Eislandnacht deine Heimstatt ausfüllen und ..." gedankensprach Iaxathan. Heptachiron konnte deutlich die Wut und Verbitterung seiner Stimme hören.
Als Heptachiron den Rat seines Meisters befolgte fühlte er, wie sein Aufbewahrungsgefäß erzitterte. Dann flutete völlige Finsternis den Raum. Er hörte mit seinen überfeinen Ohren, wie es leise prasselte und dann laut knackte. Er fühlte, wie eine unbändige Last von seinen Dienern abfiel. "Jetzt macht sie endlich tot!" befahl er rein geistig. Gleich war dieses unverfrorene Weib nur noch ein Haufen zerfetzten Fleisches und Knochen.
Er wusste, dass er der Spur nicht über Stunden folgen konnte. Sie würde bald vom Winde verweht sein. Doch der Wind war sein Gefährte, sein Beschützer, sein Vertrauter. Louis Anore ahnte, dass er nach Europa musste. Deshalb wirkte er den Zauber "Macht des langen Atems!" Mit diesem sog er zwischen den gesungenen Zaubersilben immer tiefer Luft ein. Dann apparierte er so weit ein Zauberer sonst nicht apparieren konnte. Nur Zwei Sekunden später spie ihn jene tiefschwarze Einengung wieder aus, die zwischen Hiersein und Dortsein herrschte. Er fiel in die Tiefe. Doch das machte ihm nichts. Denn er konnte jederzeit gegen die Schwerkraft der Erde anzaubern und sich abfangen. Er tastete mit gewisperten Zauberworten die Fortsetzung der Spur entlang, bis er seinen Horizont erreichte. Dorthin apparierte er nun. Wieder fiel er aus großer Höhe. Doch er behielt die Ruhe und ertastete die Fortsetzung der Spur. Nun ahnte er, dass das Ziel auf einer der griechischen Inseln liegen musste. Erneut apparierte er über die ertastete Strecke hinweg, weiter und weiter, bis er wahrhaftig über einem Ort war, wo die Spur am stärksten war. Denn hier war die zurückschnellende Zauberkraft gerade erst in ihren Ursprung zurückgefahren.
Der selbsternannte Wissenswanderer wirkte durch reine Gedankenkraft einen Federleichtzauber, der ihn sanft und ohne Gefahr für seine Unversehrtheit zu Boden sinken ließ. Vor ihm lag ein Hang aus zerfurchtem Kalkgestein. Dann fühlte er, dass ein Tarnzauber zwischen ihm und der Fortsetzung seines Weges aufgespannt war. Er ging einfach darauf zu, wobei er das Lied des wehrenden Windes sang. Wie von einem tragbaren Wirbelsturm umschlossen ging der Inuitschamane und Thorntailsabsolvent, der im Dienste des Laveau-Institutes stand, auf die magische Barriere zu und durchbrach sie. Um ihn herum pfiff und knallte es leise. Er fühlte, wie die ihn abweisenden Zauber von seiner umkreisenden Windsäule wörtlich weggeblasen wurden. Dann hatte er den Eingang zu einem nach unten führenden Stollen vor sich. Sollte er nun hinuntergehen und erkunden, was dort war? Nein, er musste Verstärkung holen. Die Griechen musste er erst gar nicht fragen. Die würden ihn sicher für einen Spinner halten. Also ging es nur mit seinen Dienstkameraden, vor allem mit denen, die altägyptische Sonnenzauber und andere Vampirabwehrzauber konnten. "Heim und Feuer sind mein Ziel, vertraue mich dem Wind im Spiel!" dachte er in seiner Muttersprache. Die ihn umwirbelnde Luftsäule fauchte laut auf. Dann umschloss ihn jene schwarze Einengung, wie sie beim Appariervorgang zu spüren war.
Als er wieder eine weite helle Welt um sich herum hatte stand er auf dem Platz im Zentrum seines Heimatdorfes im Nordwesten Kanadas. Sein Heimkehrzauber hatte ihn wieder einmal zuverlässig abgesetzt. Von hier aus konnte er nun mit dem Rest seines Zaubers des langen Atems direkt in die Besenaufbewahrungshalle apparieren, von wo aus er ins Laveau-Institut fliegen konnte. So machte er sich auch gleich daran, die Verstärkung zusammenzurufen, die er in die geheimnisvolle Höhle mitnehmen musste.
Der Siebenarmige erwartete, dass die Feindin gleich tot am Fuße seines Aufbewahrungsgefäßes liegen würde. Der Zauber völliger Dunkelheit hatte Ras Kleid zerfetzt und vergehen lassen. Doch warum hörte er sie nicht schreien, nicht röcheln, nicht ihren letzten Atemzug aushauchen? "Meister, die Feindin ist nicht mehr hier!" quälte sich ein bis gerade eben noch gebannter Diener die ersten Worte ab.
"Wie, sie ist nicht mehr hier? Sie war doch gerade noch hier. Und den kurzen Weg kann niemand hier vollführen. Das geht hier nicht, weder herein noch hinaus.
"Sie ist nicht mehr hier. Ihr Duft hängt noch in der Luft. Aber wir fühlen und hören sie nicht mehr. Ihr warmes Blut ... kreist am Eingang. Hinaus und drauf!" gedankenrief einer der Diener.
Die Diener erhoben sich. Doch der Bann von Ras Kleid hatte sie derartig ausgelaugt, dass sie eher wie seelenlose belebte Leichname torkelten und stolperten als wie eine Armee lautloser Nachtkrieger loszustürmen. Wie war dieses Weib aus der unmittelbaren Gefahr entkommen?
"Auf sie und macht sie nieder!" befahl Heptachiron. Ihm ging der Ausfall seiner Diener zu langsam. Was, wenn die Feindin ins Freie entkam und von dort aus den kurzen Weg betrat. Dann hatte er sie zwar vertrieben. Aber an die dreißig kleine Aschehaufen verrieten, dass dieser Sieg sehr schwach sein würde. Außerdem wusste die nun wo seine Heimstatt war und konnte mit Verstärkung wiederkommen, wenn sie Freunde oder Knechte oder Mägde hatte.
Schlagartig hörte und fühlte er wieder, wie seine Diener litten. Nun war es noch schlimmer. Denn alle zugleich schrien mit Stimmen und Gedanken auf, Dann durchraste die Woge der Zerstörung die Reihen aller Diener. Heptachiron fühlte, wie ihm sämtliche Arme vom Leib gebrannt wurden und auch sein Körper litt. Da wusste er, dass er nun keine frei handelnden Hände mehr hatte. Er hoffte nur, dass seine Unterknechte noch lebten. Sonst stand er ganz alleine da. Dieses Weib hatte wie auch immer alle Diener zugleich vernichtet. Wie das möglich war erahnte er, als er den blutrot glühenden Nebel sah, der lautlos durch den Gang kroch und sich in der Halle ausdehnte. Er fühlte sofort die von diesem Hauch ausgehende Gier nach Leben, nach Blut, etwas, dass er selbst zu gut kannte. Doch das war keiner seiner Diener. Oder doch? Ja, er fühlte die in diesem Dunst wtreibenden Bestandteile der entleibten Seelen seiner Diener. Sie vergingen in dem Nebel, nährten ihn immer noch. Dann waberten die ersten Ausläufer des tödlichen Dunstes auf Höhe seiner gerade erst wieder neu wachsenden Arme. Im Zwischenstadium von Lust und Entkräftung bebend bekam Heptachiron mit, wie der rote Nebel von einer blau leuchtenden Wolke aufgehalten wurde. Es blitzte mehrmals auf. Dann zerfielen der rote Nebel und die blaue Wolke zu violetten Funken. Doch noch etwas geschah. Etwas knackte in Heptachirons Aufbewahrungsbehälter. Dann knallte es, und er hörte, wie etwas schneller als ein Pfeil davonschwirrte und dann mit hässlichem Splittern an einer Wand zersprang. Jetzt hatte er den Eindruck, dass die eben noch herrschende Dunkelheit um die Hälfte lichter geworden war. Er begriff, dass die Vernichtung seiner Diener und die sich gegenseitig auslöschenden Nebelzauber den hier entfalteten Dunkelheitszauber zerstört hatten. Mehr noch, das ihn bergende Teilstück seiner Aufbewahrungsschale war dabei weggesprengt worden. Damit konnte er den Zauber nicht noch einmal heraufbeschwören.
"Deine Diener sind weg, du Narr. Jetzt stehst du ganz alleine gegen sie", gedankenschnaubte sein Herr und Meister.
"Herr, befördere mich mit den Schattenstrudeln an einen neuen Ruheort, damit dein treuester Diener nicht vergehen muss", flehte Heptachiron seinen Herren an.
"Du elender Versager", schrie Iaxathans Stimme in seinem Geist auf. "Du kannst dich nur retten, wenn du es schaffst, die letzten Angriffe dieses einem verdreckten Kelch entquollene Unratsbündels mit eigener Kraft zu töten. Also erwarte sie und entscheide dein eigenes Schicksal!"
"Meister, sie ist stark, stärker als du dachtest, als du mir den Schutz dieses Hauses gabst."
"Niemand ist stärker als mein Wille", erboste sich Iaxathan. Dann fühlte Heptachiron, wie eine unbändige Kraft ihn durchströmte, ihn erbeben und förmlich erstrahlen ließ. Der Meister schickte ihm etwas von seiner Kraft. Er wollte ihn nicht vergehen lassen.
"Ach, der siebenarmige Leuchter ist ja noch da und leuchtet sogar nun von alleine", trällerte eine sehr unverfroren klingende Frauenstimme. Dann sah er, dass die Feindin wieder in die Höhle trat und dabei mit ihrer Linken Hand wischbewegungen vollführte. Rote Blitze schossen davon durch den Raum und trafen laut fauchend auf die Wände. "Du kannst mich nicht töten. Iaxathan selbst hat mich eingesetzt, als seinen Statthalter", zischte Heptachiron.
"Du meinst als seinen letzten Versuch, noch irgendwas in dieser Welt bewirken zu wollen", erwiderte die makellos schöne Hexe im schwarzen Lederanzug. "Ich erdrücke dich und sauge dein Blut aus", fauchte Heptachiron und rollte seine Arme zu Windungen auf, dass er sie wie sich entspannende Sprungfedern losschnellen lassen konnte.
"Gut, mein blauer Feind. Das elende Spiel hat schon viel zu lange gedauert, und ich muss zugeben, dass ich nicht ganz unschuldig war, dass wir das nicht schon vor Jahrhunderten zu Ende gebracht haben. Aber jetzt bringen wir zwei das zu Ende, ganz ohne Handlanger und ohne deinen verdrossenen Herrn und Meister. Oder will er auch herkommen?"
"Er ist da, wo ich bin", schnaubte Heptachiron. Dann sah er, dass die andere nahe genug vor ihm stand. Er fühlte ihre Gedanken, hörte ihr Herz, roch das unter ihrer Haut kreisende Blut. Auch wenn er wusste, dass ihr Blut nicht reines Menschenblut war und er womöglich schlimme Schmerzen fühlen mochte wollte er die Genugtuung, dieses freche Frauenzimmer ein für alle mal wortwörtlich aus der Welt getilgt zu haben. "Ein schleimiger Schlund stieß dich in die Welt, mein gieriger Schlund wird dich daraus herausreißen", stieß Heptachiron noch aus. Dann ließ er die drei vorderen Arme vorschnellen.
Seine drei Arme trafen ihr Ziel. Sie umschlossen den Körper der Feindin. Er konnte sie jetzt zerdrücken, einfach so das Leben aus ihr herauspressen, ihre Knochen genüsslich zerbrechen. Doch er wollte ihr Blut trinken, es Schluck für Schluck aus ihr in sich hinüberströmen lassen. Er versuchte, sie anzuheben. Sie blieb fest auf der Erde stehen. Er versuchte es wieder. Jetzt merkte er, dass ihm von irgendwas die Kraft aus den Armen gesaugt wurde, als sauge sie sein Blut und nicht er das ihre. Er erzitterte. Wenn er sie nicht anheben konnte musste er sie doch zerdrücken. Blitzartig spannte er die geschmeidigen Muskeln in seinen schlangenartigen Armen mit den spitzen Stacheln an. Jetzt musste er sie doch durchbohren, sie zerdrücken, ihre Knochen zermalmen. Doch je stärker er zudrücken wollte, desto härter schien sie zu werden. Außerdem sog ihm etwas immer mehr Kraft aus den Armen. Je mehr er an Körperkraft aufwandte, desto widerstandsfähiger wurde sie. Sie atmete ruhig weiter, schien nicht wirklich in Sorge zu sein, dass drei seesternartige Arme sie festhielten. "Dann ersticke ich dich eben", dachte der Siebenarmige und ließ den vierten Arm vorschnellen, um der Feindin Mund und Nase zuzuhalten. Doch als er ihr Gesicht berührte stach ihm etwas wie mit einem glühenden Dolch in den Arm. Er ließ ihn zurückzucken, versuchte es dann noch einmal. Das konnte unmöglich sein. Wieder stach ihm etwas so schmerzhaft in den Arm, dass er diesen zurückriss.
"Ich finde es ja schön, wenn mich wer innig umarmt. Aber du bist mir schlicht zu unförmig und hässlich", stieß die Feindin aus. "Wie machst du das, bei allen Mittagssonnen!" stieß Heptachiron aus.
"Das möchtest du gerne wissen, blaues Untier. Aber ich sage dir das nicht, weil ich genau weiß, dass dein Geistermeister über deine Ohren mithört, und ich seine Intelligenz nicht beleidigen möchte."
"Sie leitet deine Kraft in die Erde, du Narr. Sie hat sich wohl mit einem Lied der schützenden Mutter bezaubert, damit ihr niemand körperlich was anhaben kann, du Ausgeburt von Dummheit", hörte er Iaxathans Geistesstimme in sich.
"Na, hat dein Schöpfer und Geistermeister verraten, wie ich das hinkriege, dass du mich nicht zerdrücken oder mir die Luft abwürgen kannst, Bläuling?"
"Ich bin kein Kerbtier mit blauen Flügeln", schnarrte Heptachiron. Dann riss er sein gewaltiges Maul auf. Er warf seinen Kopf vor, um der anderen einfach das Genick durchzubeißen und zuckte zurück, weil etwas ihm lodernd in den Hals fuhr.
"Lass sie los und tauch in die schützende Lösung. Dort kann sie dich nicht mehr herausziehen, ohne sich die Hände zu verbrennen, weil nur Nachtkindblut davor schützen kann", blaffte die Gedankenstimme des wahren Meisters.
Heptachiron ließ von der Feindin ab, die einen halben Schritt zurücktaumelte. Dann fuhr ihre linke Hand in eine Tasche der schwarzen Weste und zog eine Kugel halb so groß wie ihre Faust hervor. Noch ehe Heptachiron seine drei vorderen Arme zur Abwehr hochgerissen hatte pfiff die Kugel durch die Luft und zielgenau in sein immer noch geöffnetes Maul hinein. Der Siebenarmige schlenkerte mit allen neuen Armen herum, würgte und schluckte dann.
"Mein Abschiedsgeschenk an dich und deinen Herren und Meister Iaxathan", erwiderte Ladonna. "Du hast mir geschworen, dass meine Kinder deine Diener werden. Doch jetzt erfülle ich meinen Schwur. Ein Wort von mir, und du wirst zu Asche."
"Der letzte Schlag, mein Diener! Der Schlag der hundert Blitze!" befahl Iaxathan, während Heptachiron fühlte, wie die aus reinem Drang zu schlucken in seinen Bauch geratene Kugel auf dem Grund seines Magens landete. Wenn das wirklich ..."Los, erledige sie, bevor sie das Wort ruft!" befahl Iaxathan.
Noch einmal fühlte Heptachiron, wie neue Kraft in ihn einströmte. Er fühlte, wie seine Arme förmlich aufgeladen wurden. Er breitete sie so aus, dass sie einen Fächer bildeten. Dann riefen er und Iaxathan gleichzeitig in Gedanken: "Hunder Todeslichter fällt den Feind!" Schlagartig jagte ein Kraftstoß von bis dahin ungefühlter Macht durch die aufgefächerten Arme und entlud sich in einem einzigen weißblauen Blitzstrahl, der durch die Halle und den Zugangsstollen schoss und dabei einen ohrenbetäubenden Donnerschlag erzeugte. Der Schlag war so heftig, dass die Tropfsteine zerbarsten. Heptachiron hörte für einige Sekunden ein Klingen in den Ohren und erahnte den vielfachen Widerhall des entscheidenden Schlages. Die Feindin war nicht mehr da. Sie war im Blitzstrahl verdampft.
"Sei erfreut und dankbar, einen solch vorausschauenden Meister über dir zu haben", hörte Heptachiron Iaxathans Geistesstimme.
"Ja, das bin ich, Meister. Die Feindin ist zerstört, nicht einmal Asche blieb von ihr. Wenn sie wirklich was hätte tun können, mich zu verletzen, dann hat sie zu lange gezögert. Doch wie erwerbe ich mir neue Handlungshände, Meister?"
"Das wird sich weisen, wenn du wieder aufwachst, mein Diener."
"Aber, Meister, ich dachte, du würdest mir den Bann des langen Schlafes vom Leib nehmen", schrak Heptachiron auf.
"Das geht jetzt nicht mehr, wo du die letzten Opfer nicht mehr erhalten kannst und zu allem Verdruss noch die Kraft der bisherigen im Schlag der hundert Blitze ausgestoßen hast. Aber dafür ist die lästige Feindin nun vergangen und in siebenhundertsiebenundsiebzig Monden wirst du mit mir zusammen neue Ziele anstreben."
"Versprich dem kleinen blauen Armleuchter nicht was, dass du nicht halten kannst, Flaschenteufelchen", mischte sich die überaus vergnügt klingende Gedankenstimme einer anderen Frau ein. Heptachiron erkannte, dass er zwar eine Feindin vernichtet hatte, aber dass er noch eine andere hatte, die nicht wieder einschlafen musste.
"Tauch in dein Gefäß, bevor dieses verräterische Stück Dreck dir seine Untergebenen schickt", schrillte Iaxathans Gedankenstimme durch Heptachirons Geist. Dieser erkannte, was sein Meister fürchten musste. Er riss alle Arme dicht an den Körper und machte sich so flach wie möglich, damit sein Kopf unter die Oberfläche der schwach bläulich glimmenden Lösung sank.
"ich schicke dir gleich meine großen Grauen, die tragen dich dann sicher wohin, wo ich deine Seele heraussaugen und in mich aufnehmen kann", hörte Heptachiron die Gedankenstimme der anderen Feindin. Er wollte gerade etwas erwidern, als es passierte.
Eine blaue Lichtspirale schnellte aus dem karstigen Kalkboden. Ihr entschlüpften sechs menschliche Wesen, fünf Hexen und ein Zauberer. Der Zauberer war Louis Anore. Die Hexen waren ein kleiner Querschnitt durch die Menschenvölker der ganzen Erde. Eine Afrikanerin trug goldene Schnüre durch ihre krausen Haare. Eine Araberin trug eine Halskette mit darin eingeschmiedeten goldenen Hieroglyphen, die die Macht des Ra und die Kraft der Erneuerung bezeichneten. Eine den Ureinwohnern Amerikas entstammende Hexe trug neben der gefiderten Tracht einer Medizinfrau ein goldenes Stirnband. Eine Inderin trug einen mit goldenen Zeichen durchwebten weißen Sari und trug eine Schellentrommel mit silbernen Schellen unter dem linken Arm. Dann war da noch eine Hexe mit roten Haaren und kleegrünen Augen, die eindeutig irische Vorfahren hatte. Sie trug eine kleine Silberflöte mit altdruidischen Symbolen bei sich.
Der Portschlüssel, ein von unzähligen Löchern durchsetztes graues Leinentuch, glitt gerade zu boden. Die Rothaarige Hexe bückte sich und klaubte es auf. Mit schnellen Handgriffen faltete sie es zusammen und verstaute es in einem kleinen Rucksack auf dem Rücken des Inuitschamanen, der ebenfalls eine Trommel mitführte, deren Fell mit magischen Zeichen der Inuit bemalt war.
"Sonne, Erde, Wasser und Wind vereint zum Kampf gegen Dunkelheit und Blutgier", stellte die Rothaarige fest. "Okay, Louis und die anderen, TFAs und VVHs auf Infraschall einstimmen, da zu befürchten ist, dass der Feind normalhohe Töne und Ultraschall hören kann."
"Öhm, wir machen das nicht über Vocamicus?" fragte die afrikanischstämmige Hexe.
"Geh davon aus, dass mentale Zauber in dieser Umgebung entweder gar nicht gehen oder mitgehört werden können. Wenn wir aber so tief brummen, dass jemand meint, die Wände ächzten, ist das schwerer abzuhören. Ach ja, die Gedankennetze machen Vocamicus auch undurchführbar. Und die brauchen wir, falls dieser Übervampir da drin uns trotz der Sonnenartefakte zu beeinflussen versucht. Also los, Junge und Mädels!"
Schnell hatten sie die Transfequenzauriculare und die damit zusammenwirkenden Varivoxhalsbänder entsprechend eingestellt und gingen nun los. Zwar würden sie in diesem Zustand schwer die mitgeführten Musikinstrumente spielen können. Doch die waren eh nur das letzte Mittel, wussten die an diesen Ort geportschlüsselten. Sheena O'hoolihan, die immer noch amtierende Stellvertreterin von Elysius Davidson, hatte sich trotz der berechtigten Bedenken nicht nehmen lassen, dieses Kommandounternehmen "Haus des Heptachiron" zu leiten, allein schon, weil sie diesen in Niederschriften erwähnten Vampirmutanten endlich einmal leibhaftig sehen wollte, bevor sie ihn unschädlich machten. Für letzteres hatten sie mehrere Möglichkeiten. Auch mussten sie damit rechnen, dass er über seine Gabe der Fremdwesenteleportation seine Helfer zu sich rief, wenn jemand ihm auf die Bude rückte. Dagegen würden sie dann die verschiedenen Sonnenzauber verwenden, die sie in Artefakten oder aus ihrem Wissen heraus aufbieten konnten.
Auf den Lautloslaufschuhen für alle Ohren unhörbar eilten die sechs LI-Angehörigen auf den von Anore entdeckten Eingang zu. Der Tarnzauber war nicht mehr vorhanden oder musste sich erst wieder regenerieren. Sheena ließ ungesagt einige Prüfzauber über den Tunneleingang wischen. "Oh, hier hat schon wer mächtig aufgeräumt. Da waren mal Schutzbanne gegen Feinde, gegen Entdeckungen und oh, sogar ein Versteinerungsfluch."
"Öhm, Madam O'hoolihan, wieso stehen so dreihundert Meter von hier zehn ausgewachsene Pinien und eine Eiche?" wollte die ägyptischstämmige Samira Al-Assuani wissen. Sheena fragte sie, wo denn da Bäume sein sollten. Daraufhin deutete die Ägypterin in eine bestimmte Richtung. "Hmm, könnte ein Tarnzauber sein", sagte Louis und hörte seine Stimme merkwürdig rumpelnd aus dem Tunnel widerhallen, wohl weil er gerade im Infraschallbereich klang.
"Kann sein, wo ich auch die Zeichen für Horus Auge und das allsehende Auge des Osiris an der Kette habe", erwiderte Samira Al-Assuani.
"Ich kann in diesem Zustand nicht das Lied vom enthüllenden Wind singen. Am Ende wird mein Schutzgeist so wütend, dass ein Sturm aufkommt", erwiderte der Schamane.
"Nehmen wir es als gegeben, dass du gerade den Durchblick hast, Schwester", sagte die dunkelhäutige Hexe, Joanna Portsmith.
"Bitte nenne mich Kollegin oder Mitstreiterin. Sonst meine ich noch, dass wir irgendeiner obskuren Hexenschwesternschaft angehören", grummelte die Ägypterin, worauf ein wenig Staub vom Boden aufstieg. Offenbar war das auch ein Effekt der auf extrem tief gestellten Töne, die sonst nur ein Elefant, ein Drache oder eine Latierre-Kuh von sich geben konnte.
"Leute, keinen Zank, wir sind hier nicht im Kindergarten", rief Sheena O'Hoolihan ihre Leute zur Ordnung. Dann ließ sie von den beiden Ritualmagiefachleuten Louis Anore und der Dacotastämmigen Lara Leapingfrog auf mögliche animistische Zauber und Fallen prüfen, wobei die beiden nur ihre Sinne einsetzen und keine Geräusche machen durften. Beide erkannten keine auf schamanistische Rituale basierenden Zauberkräfte. So gingen sie weiter. In dem Moment hörten sie ein unheimlich lautes Dröhnen, dass mit einem glockenartigen Schlag anfing und zu einem disharmonischen Schwirren ausuferte, dass weit weit hallte und auch von den Bergen zurückgeworfen wurde.
""Hau, ich habe gerade einen heftigen Aufschrei des Windes verspürt, als hätte jemand der Luft um uns Kraft entrissen und sie dann mit einem Schlag zurückgeschleudert", sagte der Inuitschamane. Lara Leapingfrog nickte. "Ja, es war ein der Luft entrissener Blitz ohne dazu gehörende Wolke. Jetzt fehlt irgendwo auf der Welt ein Blitz oder mehrere."
"Neh is' klar, fehlende Blitze", feixte Joanna Portsmith. Sheena räusperte sich ungehalten, was wegen ihrer Infraschallabstimmung rumpelnd aus der Höhle zurückkam. Dann zeigte Samira auf den Punkt, wo sie einzelne Bäume zu sehen gemeint hatte und stieß aus: "Leute, da!"
Es brach so plötzlich aus ihm heraus, dass er nicht einmal mehr sagen konnte, ob es sich irgendwie angekündigt hatte. Außerdem fühlte er einen winzigen Augenblick lang einen nie gekannten Schmerz, als wolle ihn etwas von innen her zerreißen. Dann sah er für einen Moment noch ein weißblaues Glühen um sich herum, bevor er in einem schwarzen Nichts schwerelos dahintrieb. "Meister, was war das?" ließ Heptachiron seine Stimme durch die Dunkelheit hallen.
"Du bist tot. Dein Leib wurde von dieser widerwärtigen Schlampe zerstört, so gründlich, dass selbst die Macht der Vielköpfler dich nicht mehr zusammensetzen kann", jaulte Iaxathans höchst verärgerte Gedankenstimme. "Sie hat uns beide ein letztes Mal genarrt. Das Ding, was sie dir zu Schlucken gab hat auf ihren Tod angesprochen und eine Zerstörungskraft entfesselt, die ich den jetztzeitigen Stümpern nicht zugetraut hätte. Sie hat das Tausendsonnenfeuer in dir entfesselt, das mächtigste Zerstörungswerk, dass jemals ersonnen und erprobt wurde. Nur dein Halt mit mir hat dein inneres Selbst davor bewahrt, in alle Winde verweht zu werden. Doch du hängst im Zwischenreich, in den Gefilden zwischen Leben und Nachtod. Und dort lasse ich dich nicht hin. Ich wwerde dich zu mir nehmen und mit mir vereinen, damit ich deine Gaben habe und mein Mitversagen keinem offenbart werden kann."
"Vergiss es, kleiner Flaschenkobold. Wandernde Seelen von Nachtkindern gehören zu mir", drang laut und wie von fernen hohen Wänden widerhallend jene Frauenstimme, die Heptachiron als schlafende Göttin oder abtrünnige Nachttochter vorgestellt worden war.
"Niemals, du Hure! Siebenarm ist mein Knecht und mein Geschöpf. Er kommt zu mir und wird mir die nötige Kraft geben, dir endlich wirksam Widerstand zu leisten", donnerte die Geistesstimme des Meisters.
"Siebenarm, Heptachiron, komm zu mir, deiner einzig wahren Herrin und würdigen Ruhestatt. Sei mit mir vereint und vereine deine und meine Stärke, so dass das Reich aller Nachtkinder von uns gemeinsam beherrscht werde", säuselte die wie von fernen Bergen oder Schluchtwänden widerhallende Frauenstimme.
"Und ich befehle dir, komm zu mir, mein Knecht. Du gehörst zu mir, mit mir sollst du eins werden", hielt Iaxathan entgegen. "Die Nachtkinder haben nur einen Meister, und der bin und bleibe ich, ihr Her und Schöpfer. So sei du bei mir, mein Geschöpf!"
"Wenn er dich zu sich nimmt wird er dich endgültig untätig machen, Heptachiron", hielt ihm die andere entgegen. Da meinte er, in der tiefen unendlichen Schwärze ein schwaches glimmen zu sehen, ein Licht, rot wie das Blut, Blut, das er zum Leben brauchte.
"Und du kommst zu mir", gedankenknurrte Iaxathans Geistesstimme. Doch wo Heptachiron früher bedingungslos gehorchte, wenn der Meister rief, emmpfand er nun einen gewissen Widerwillen. Was, wenn der Meister ihn wirklich nur deshalb zu sich nehmen wollte, um sich an seiner Kraft zu stärken, er dann aber für alle Zeiten nur noch ein kleiner, willenloser Helfer war? Er wollte leben, die Welt erleben und gestalten, wie er es immer getan hatte, seitdem er der siebenarmige Herrscher der Nachtkinder geworden war.
"Du wagst es, dich mir zu widersetzen, du blaue Missgestalt?! Du bist mir unterworfen, mein Geschöpf, mein Knecht. Gib dich mir hin und vereine dich mit mir!"
"So, du willst also ein Knecht sein, Heptachiron? Dabei hast du doch bei deinem Erwachen gefordert, deine Herrschaft zurückzugewinnen. Ich biete dir an, sie zu stärken, nicht nur über einige wenige, sondern über alle", hörte er die immer verlockender klingende Stimme der Anderen. Mit jedem ihrer Worte wurde das blutrote Leuchten in der Dunkelheit heller und größer. Es war, als treibe er auf eine auf- oder untergehende Sonne zu. Sonne? Die Sonne war seine natürliche Feindin. Doch das Licht da vorne verhieß Kraft, Macht und vor allem einen festen Punkt in dieser unendlichen Dunkelheit außerhalb der Welt.
"Dann hole ich dich eben selbst, du wankelmütiger Wicht", gedankenknurrte Iaxathan. Heptachiron fühlte, wie etwas ihn ergriff, ihn wahrlich in eine Richtung zog. Er sah nun auch um sich herum ein blaues Leuchten, dass immer heller wurde. Doch er wollte nicht gezogen werden. Er wollte frei sein, frei wie vor dem Labsal des Vielköpflerblutes. Er erkannte, dass der Meister ihn nur zu sich hinziehen wollte, um ihn weiterhin an einem Ort festzuhalten. Dann sah er das rote Leuchten und besann sich darauf. Aus dem roten Leuchten säuselte die verheißungsvolle Stimme der Anderen:
"Du bist ein machtvoller Sohn der Nacht, ein Herrscher über viele Krieger. Wenn er dich in sich einverleibt wirst du nicht einmal mehr ein niederer Knecht sein, sondern nur eine Erinnerung, ein Nichts."
"Vergeude deine Heuchelei nicht an ihm, Hure. Du wwarst immer nur eine niedere Dirne, die ihren Leib und ihre Seele anderen Hingab, um ein wenig Blut und ein niederes Vergnügen zu empfinden. Ich kenne deine Gedanken, weil ein Teil von mir im machtvollen Stein wirkt, den du niederes Weib so lange in deinem schleimigen Schoß getragen hast. Er da ist mein Geschöpf, die Krönung meiner Macht auf dieser Welt. Nur mit mir wird sein Wirken weiterbestehen und ich endlich die Macht zurückerhalten, die mir, dem wahren Herrn der Nachtkinder, zusteht. Also her mit dir, Siebenarm und Ammaysharian."
Samira Al-Assuani deutete auf die Stelle, wo sie alleine die kleine Gruppe aus Bäumen sah. Gerade hatte sich was darin verändert. Etwas war aus einem grün leuchtenden Stamm herausgetreten, eine Frau in einem Kostüm aus schwarzen Lederstiefeln, einer ebenso schwarzen, hautengen Hose und einer nachtschwarzen Lederjacke. Die Haare der Fremden waren zu zwei nachtschwarzen Schnecken rechts und links hochgerollt worden. Samira wollte gerade zu einer Warnung ansetzen, als die fremde kalt lächelnd zu ihr hinüberwinkte und dann einfach in einer blauen Lichtspirale verschwand. Dann krachte es laut, und da, wo vorhin noch die hinter einem Tarnzauber verborgenen Bäume gestanden hatten, loderten nun für alle anderen der kleinen Expedition sichtbar baumhohe Flammensäulen auf.
"Sie war das, diese schwarze Hexe Ladonna. Sie muss irgendwie aus einem der Bäume herausgetreten sein, hat uns gesehen und sich sofort abgesetzt", sagte Samira.
"Wir waren eindeutig zu viele, um sich mit uns auf einen Kampf einzulassen", meinte Sheena O'Hoolihan verdrossen. Sie hatten gerade eine Gelegenheit verpasst, eine äußerst gefährliche Hexe dingfest zu machen, und das alles nur, weil keiner außer Samira ein Artefakt zur durchdringung von Tarnzaubern dabei hatte. Darüber würde sie mit Quinn Hammersmith noch einmal sprechen müssen, dass sie alle solche Enthüllungsartefakte mitführten.
"Achtung, Aufruhr des Feuers und der Erde!" rief Louis Anore. Die Hexe aus dem Volk der Dacota schrie in diesem Moment auf. Um sie herum flogen rote und goldene Funken. Dann erbebte der Boden und federte wie ein übergroßes Sprungtuch. Gleichzeitig krachten und barsten sämtliche Incantimeter, die die kleine Expeditionsgruppe mitführte.
Vom Berghang her brach laut heulend und fauchend ein Strom sengendheißer Luft hervor. Die Artefakte, die mit Schutzzaubern gegen Feuermagie bezaubert waren, glühten nun hellrot auf. Dann kam die Feuerwalze.
Mit einem Getöse wie eine Salve aus hundert hintereinander abgefeuerten Kanonen explodierte eine weißblaue Flammengarbe aus der wankenden Wand und jagte, eine mehr als fünfzig Meter breite, aber hundert Meter tiefe Furche in den Boden fressend auf die Angehörigen des Laveau-Institutes zu. Sheena rief: "Accio Portschlüssel!" doch weil ihre Stimme gerade auf Infraschall eingestellt war misslang der Zauber. Nun hörten sie wegen der magischen Hörbereichsumstellung etwas, das wie ein durcheinandersingender Chor aus kratzigen Bassstimmen klang und von einem tiefklingenden Pulsieren begleitet wurde.
Louis hatte den verpatzten Aufrufezauber als direkten Befehl verstanden, den ihm anvertrauten Portschlüssel aus seinem Rucksack zu ziehen und mit zwei schnellen Armbewegungen auseinanderzufalten. Er deutete darauf. Die anderen verstanden. Sheena stieß Lara Leapingfrog vor, damit sie mit einem winzigen Teil ihres Körpers Kontakt mit dem löcherigen Tischtuch bekam. Die Flammenwalze hatte inzwischen den Eingang verbreitert und wuchs dadurch noch schneller. Der Boden sank immer mehr ab. An die zweihundert Meter vom Berghang entfernt entstand ein immer tieferer Krater. Erste glutheiße Felsbrocken stürzten zu Boden, wo sie für die Expeditionsgruppe wie eine kraftvoll angezupfte, meterlange Stricknadel klangen.
Die immer breiter werdende Feuerfront war noch fünfhundert Meter entfernt, als Sheena ihr Halsband auf Normalstimmlage umgestellt hatte und das Auslösewort "Maries Heimat!" ausrief. Dann setzte der Portschlüssel ein. Gerade als die blaue Lichtspirale sich bildete, schlug die dem Feuer voraneilende Druckwelle mit voller Wucht zu. Doch sie konnte keine Opfer mehr finden außer den hier herumliegenden Steinen und den brennenden Bäumen. Diese wurden nun eins mit dem Feuer. Doch davon bekamen die Laveau-Mitarbeiter schon nichts mehr mit.
Wieder in ihrem Hauptquartier berichtete der Inuitschamane, dass er in dem Moment, wo die Hexe in Schwarz verschwunden war, den Aufruhr von Feuer und Erde verspürt hatte. Lara war dafür offenbar noch empfänglicher gewesen. Denn sie war sofort in Ohnmacht gefallen. Samiras Sonnenzauber waren völlig erschöpft, ebenso die der anderen.
"Dieses Weib hat etwas erfunden, was urplötzlich mehrere Feuerzauber gleichzeitig freisetzen kann. Damit haben wir es amtlich, dass sie für den Krater bei Catania verantwortlich ist. Unsere Incantimeter konnten die aufgewandte Zauberkraft nicht aushalten. Wetten, dass auf Kreta alle Zauberspürvorrichtungen ausgelöscht wurden?"
"Ich habe mir abgewöhnt, um Sachen zu wetten, die so offensichtlich sind", erwiderte Joanna Portsmith.
"Hoffentlich kommt Lara wieder auf die Beine und nimmt keinen bleibenden Schaden hin. Ein Patient aus unserem Haus reicht im Moment völlig aus", meinte Sheena O'Hoolihan.
"Bei unserem Job ist das Verletzungsrisiko viel höher als bei anderen Berufsgruppen", meinte Joanna Portsmith dazu. Doch ihr war auch anzumerken, dass sie gerade beinahe alle aus der Welt getilgt worden wären, womöglich ohne auch nur ein Körperfragment von sich zu hinterlassen.
"Offenbar galt der Feuerschlag nicht vordringlich uns, sondern diesem siebenarmigen Monster, dass sicher in der Höhle gehaust hat", vermutete Samira Al-Assuani. Sheena pflichtete ihr bei. Dann wies sie ihre Untergebenen an, ihre Berichte zu schreiben. Der Umstand, dass Ladonna Montefiori nach einem Disapparier- oder Portschlüsselvorgang einen zigfach verstärkten Feuerzauber freisetzen konnte musste unbedingt erörtert und nach Möglichkeit gekontert werden. Was Ladonnas Feuerzauberei in Wirklichkeit angerichtet hatte, und wie das die Welt und damit das Laveau-Institut noch beschäftigen würde, wusste zu diesem zeitpunkt kein lebender Mensch.
Als Heptachiron den in der alten Sprache gesprochenen Namen hörte, den er als Sohn der Nacht erhalten hatte, fühlte er, wie die Kraft des Meisters zunahm. Er zog ihn zu sich hin. Dabei wurde das blaue Leuchten wieder stärker. Doch das blutrote Licht folgte ihm. Da berührte ihn ein dünner blutroter Faden und regte ihn wohlig an. "Du bist ein Kind der Nacht, wie ich. Kinder der Nacht brauchen keinen Meister, der so einfältig ist, sich in eine Zauberkugel einzuschließen, nur weil er nicht sterben will. Ich bin die Göttin der Nachtkinder. Du kannst mit mir als Gott über sie alle herrschen, wenn du zu mir kommst, Ammaysharian", hörte er die andere Wispern, während er fühlte, dass zwei Kräfte an ihm zogen. Diese gegeneinanderwirkenden Kräfte setzten eine Flut von Bildern aus seinem körperlichen Leben frei.
Er erinnerte sich an die Tage, als er als kleiner Junge Gwandrajoran vor den turmhohen Toren der mächtigen Hauptstadt gewohnt hatte. Er hatte seinen Eltern bei der Bepflanzung der Äcker und der Versorgung der Hühner, Schweine und Rinder geholfen. Damals hatte er keine Zauberkraft gehabt. Er hatte zu den sogenannten Unbegüterten gehört, die keine eigene übergeordnete Kraft besaßen.
Er dachte an die Zeit, in der er vom Kinde zum Jüngling wurde und da sein erstes mal die Begierde nach einem jungen Mädchen verspürt hatte. Doch gemäß der für seine Rangstellung geltenden Gesetze durfte er keine Wahl treffen, bis seine Eltern beschlossen, welches Leben er zu führen hatte. So hatte es zwanzig Sonnen gedauert, bis er vom Vater einen Teil der Ländereien übergeben bekam. Erst dann durfte er sich eine Gefährtin nehmen. Gemäß den für die Unbegüterten gültigen Regeln galt er mit dieser erst dann verbunden, wenn sie sein erstes Kind geboren hatte. So nutzte er die Gelegenheiten aus, sich mit ihr in leidenschaftlichem Lebenstanz zu vergnügen. Dann hatte sie ihm den ersten Sohn geboren. Der Grundherr, ein Begüterter, hatte durch ein Lied der Blutsbande bestätigt, dass der Junge sein Fleisch und Blut war. Von da an hatte er mit Koaiammaya, seiner Gefährtin, zwanzig Sonnen lang in Ruhe und Frieden gelebt. Sie hatte ihm noch zwei weitere Söhne geboren. Gemäß den überall geltenden Gesetzen durfte er Koaiammaya nun solange nicht verlassen, bis sie ebensoviele Töchter von ihm bekommen hatte. Auch sie durfte sich keinen anderen Gefährten nehmen.
Dann hatte er die Wanderer getroffen, zwei bleiche Wesen, die nur des Nachts durch das Land reisen konnten. Sie hatten ihm von ihrem Dasein als Kinder der Nacht erzählt und dass sie mächtiger waren als die Unbegüterten und länger leben konnten als die Begüterten, die fünfmal älter werden konnten als die Unbegüterten. Diese Aussicht, länger zu leben als andere hatte ihn verleitet, der Sohn der beiden Wanderer zu werden. Da hatte er dann die Stimme des Meisters zum ersten Mal gehört. Er hatte von ihm gefordert, als Beweis, dass er es wert war, so stark und langlebig zu sein, das Blut der früheren Gefährtin und seiner eigenen Kinder zu trinken. Die Macht des Meisters hatte ihn völlig unterworfen, und er hatte dessen Befehl ohne Zögern und ohne Abscheu befolgt. Seitdem hatte er Ammaysharian, Sohnestod, geheißen. Er hatte auch erfahren, dass in ihm ein gewisses Maß an höherer Kraft geschlummert hatte, dass er durchaus mit einer Begüterten zur vollen Kraft hätte entfalten können. Deshalb hatte der Meister ihm die beiden Wanderer geschickt.
Dem Meister völlig unterworfen hatte er viele Sonnen in seinen Reihen gegen die anderen Könige des Landes der Mächtigen gekämpft, bis der Meister befunden hatte, dass er wie drei andere den Versuch wagen sollte, zu einem noch stärkeren, unbezwingbaren Krieger zu werden. Danach war er der Siebenarmige, gebunden an ein nährendes und schützendes Gefäß, nur mit seinem Geist in die Gedanken seiner direkten Abkömmlinge hineinwirkend.
"Und du bleibst mir unterworfen, Ammaysharian. Du gehörst mir. Mein Wort ist dein Wille. Mein Wunsch ist deine Tat", drang die Stimme des Meisters in die aufgestiegenen Bilder seiner Erinnerungen ein. Er fühlte, dass er jetzt dem Meister so nahe war wie vorher nicht. Er fühlte, dass dieser ihn nun ergreifen und halten konnte. Da hörte er seinen Menschennamen wispern: "Lass dich nicht erniedrigen, Gwandrajoran ! Sei ein wahrer Herrscher, kein niederer Knecht!" Zwar klang die Stimme der anderen nun so leise, als sei sie viele Tausendschritt entfernt. Auch hörte er keinen Widerhall aus der Unendlichkeit. Er sah jedoch mit seinen Geistesaugen jenen roten Lichtstrang, der ihn noch hielt, aber gerade nicht so stark war wie der Sog des Meisters.
"Ich sagte dir, du vergeudest deine Heuchlerischen Worte, undankbare Dirne. Jetzt wirst du erleben, wie ich deine unerlaubte Vorherrschaft breche und mit seiner Hilfe alle Nachtkinder unterwerfe, die noch nicht mit deinen Lügen vergiftet wurden."
"Du, der du als Vorlage für alle Erzdämonen und Höllenfürsten der Glaubensbilder aller Menschen herhältst, wirfst mir Verlogenheit vor?" lachte die andere. Doch ihre Stimme schien immer leiser zu werden. Offenbar war der Siebenarmige nun so nahe bei dem Meister, dass dessen Kraft ihre Gedanken schwächte. "Du wurdest als wahrer Herrscher erkannt, Gwandrajoran. Deshalb hat der da dich zum niederen Knecht gemacht, damit du nicht an seine Stelle treten konntest. Warum hat er dir befohlen, dass du deine eigenen Söhne tötest? Er wusste, dass in ihnen schon die große Kraft wirkte, mit der die anderen sogenannten Begüterten euch alle beherrscht haben. Davor hatte dieser Feigling Angst und hat dich deshalb zu einem seiner Knechte gemacht. Du bist stärker als er. Das Blut der Vielköpflerschlange und die von dir vor kurzem einverleibten Seelen der heutigen Magier machen dich stärker als er. Das weiß der und will dich deshalb jetzt in seinen eigenen schwachen Geist einsaugen. Wehre dich und erfülle deine wahre Bestimmung!"
"Deine wahre Bestimmung ist mir zu dienen und mir zur Macht zu verhelfen", donnerte die Gedankenstimme Iaxathans. Doch Gwandrajoran oder Ammaysharian oder Heptachiron fühlte den wachsenden Widerwillen gegen den Meister. Denn er erkannte, dass die andere recht hatte. Iaxathan war ein Feigling. Er hatte immer alles vernichtet, was auch nur ansatzweise ebenbürtig werden mochte. Auch hatte er die drei anderen aus dem Versuch mit dem Vielköpflerblut entweder getötet oder in einen unlösbaren Schlaf gebannt. Ja, und er selbst war in eine Höhle gesteckt worden, aus der er nur mit seinen Gedanken hinausgreifen konnte und froh sein durfte, dass er als Ammaysharian schon genug eigene Blutkinder hatte, in deren Gedanken er eintauchen und sie nach seinem Willen führen konnte. Nach seinem Willen? Nein, auch der war ihm von dem Geist des Meisters aufgezwungen worden. Schließlich hatte der ihn auch in diesen immer wiederkehrenden Schlaf gehüllt, aus dem er nur für wenige Nächte erwachen durfte. Ja, die Andere hatte recht, so dass sie es geschafft hatte, sich diesem Meister zu entwinden. Sie bot ihm das gleiche an. Er konnte mit ihr herrschen, endlich als freies Wesen über die Seinen gebieten, jetzt wo die große Feindin vergangen war. Ja, deren letzter gemeiner Schlag würde ihn nicht entmachten, sondern stärken, doch nur, wenn er sich dem falschen Meister entwand und sich ihr anvertraute, Gooriaimiria, der großen Mutter der Nacht.
"Du elende Dirne, du vergiftest meinen Knecht? Er ist mein. Gleich wird er bei mir sein, unumstößlich und für alle Zeiten", donnerte Iaxathans Gedankenstimme. Der von ihm ausgehende Sog wurde stärker. Der entkörperte Heptachiron fühlte, dass er gleich unrettbar mit diesem eingekerkerten Geist zusammenfinden und von diesem verschlungen werden würde. Er versuchte, sich an dem ihn noch berührenden roten Strang zu klammern. Er schaffte es, gegen den Sog Iaxathans zu bestehen. Der von ihm umklammerte Leuchtfaden gab ihm die nötige Kraft.
"Wage es nicht länger Widerstand zu leisten. Du kommst zu mir!!" gedankenbrüllte der falsche Meister. Doch er hörte nur die aus der Unendlichkeit wispernden Worte: "Ja, sei ein Herrscher. Zerreiße die Kette, mit der er dich an sich geschmiedet hat!"
"Das lasse ich nicht zu", donnerte die Geistesstimme Iaxathans. "Zu mir!" dröhnte der Ausruf des mächtigen Geistes.
Heptachiron hielt sich jedoch fest. Doch er fühlte, wie etwas aus der gegenrichtung auf ihn zukam und fühlte die unbändige Wut und Entschlossenheit eines Mannes. "Wen ich erschaffen habe behalte ich und lenke ich", hörte er Iaxathan schnauben. "Die niedere Hure kann dich nicht länger halten. Jetzt habe ich dich!"
Blaues Licht umfloss Heptachiron. Er fühlte, dass wenn er nun den roten Lichtfaden losließ unrettbar in diesem Licht verbrennen würde. Dann geschah etwas, mit dem er nicht gerechnet hatte.
Ladonna atmete auf, als sie wieder im Schutz des Blutfeuernebels stand. Ihr Portschlüssel hatte zuverlässig gewirkt. Die Vorkehrung, mit einem Pinienkern und dem darauf bezogenen Baum eine besondere Fluchtzauberei zu wirken hatte sich als doppelter Erfolg erwiesen. Zum einen war sie vor der Zerstörungskraft des Siebenarmigen entkommen. Zum anderen hatte sie damit genau den Abstand gewonnen, um die hundert Feuerballzauber in der kleinen Goldkugel zu entfesseln. Natürlich hätte sie das den auf sie lauernden Hexen und dem Geistertrommler zurufen können. Doch zum einen wollte sie Heptachiron nicht wissen lassen, dass sein Blitzschlag sie nicht getötet hatte. Zum anderen hätten die ihr fremden Hexen und Zauberer sie womöglich mit aller Macht niedergerungen und vielleicht getötet, bevor sie selbst dem hundertfachen Feuerschlag zum Opfer gefallen wären.
Jedenfalls war Heptachiron nun erledigt. Gegen hundert in ihm gezündeter Feuerbälle gleichzeitig konnte seine Selbstheilungskraft nichts ausrichten. Dieser Akt war nun endlich abgeschlossen. Jetzt konnte sie sich auf ihre weiteren Ziele besinnen, die Wiedererrichtung der Sororitas Rosarum Ignium.
Das rhythmische Gebrüll einer wütenden Sphinx dröhnte durch die von Marmorsäulen getragenen Gänge und Hallen der Kryptopolis, jener seit zweitausend Jahren bestehenden geheimen Stadt unter der Stadt Athen, wo die Diener des Hermes Trismegistos und der Hecate die Geschicke ihrer Gleichbefähigten lenkten. An der Decke hängende Leuchtkugeln glommen sonnengelb auf. Die gerade Nachtwache haltenden Zauberer in den rot-silbernen Gewändern hasteten zu ihren Wachpunkten. Vom Lärm des magisch gespeicherten Sphinxgebrülls aufgeweckt erwachte Griechenlands erster Zauberrat und setzte sich sofort auf. Mit zwei schnellen Griffen prüfte er, wie sein Körper gerade beschaffen war. Also war er Alexios Eudoros Anaxagoras. Soweit so gut. Doch was hatte bei Hermes Trismegistos den Alarm ausgelöst?
"Wache, was ist vorgefallen?!" rief er.
"Kirios Anaxagoras?" Hörte er den obersten Überwacher. Er bestätigte es. "jemand hat das Gefüge der Wächtersteine erschüttert und alle Wächtersteine zerstört", hörte er die Stimme von Heliopteros Tachydromos, seinem für die Nachtschicht zuständigen Großüberwacher und .. na ja nicht jetzt so wichtig.
"Wie was wie, wie bei den Italienern?" fragte Anaxagoras. "Ich komme rüber.
"Wir haben keine Wächtersteine mehr, Kirios. Die Zerstörung entstand wohl bei Kreta und hat dann innerhalb von zwei Sekunden unser ganzes Wächternetz zerstört. Kann sein, dass bei den Türken auch entsprechende Artefakte vernichtet wurden", erwiderte Tachydromos.
"Das sollen die Allahanbeter dann selbst klären", knurrte Anaxagoras. Eine Stimme in seinem Kopf sagte: "Da lasse ich dich einmal wieder Alexios sein, und schon spuckst du wieder ganz große Töne."
"Du bist zwei Drittel am Tag du, da möchte ich das genießen", dachte der Zauberrat zurück. Dann erreichte er die Wächterstube, wo alle Überwachungsvorrichtungen ablesbar waren. Tatsächlich glommen hier blutrote Lichtstreifen unter den Teleidoskopen, die es schon seit 1500 Jahren gab und auf magische Weise das konnten, was seit gerade erst 70 Jahren elektrisch betriebene Bildschirme taten, ferne oder besonders darzustellende Vorgänge wiedergeben.
"Hier, Kreta war das Zentrum. Allerdings konnten wir nicht mehr ermitteln, welcher Zauber das war. Dürfte aber ähnlich sein wie das Ding auf Sizilien, dass auch zwei Wächtersteine bei uns überlastet hat", sagte der breitgebaute Wachzauberer.
"Sonst irgendwas?" fragte Alexios Eudoros Anaxagoras.
"Könnte sein, dass wir vorher drei ungemeldete Portschlüssel hatten. Die waren aber offenbar so abgesichert, dass sie nicht auf den Zielpunkt genau erspürt werden konnten. Könnte also ein Angriff von außen gewesen sein."
"Mach den Rundruf, ob noch alles andere so ist wie es soll. Dann schick von den Nachteulen fünf aus, die nach der Ursache suchen. Auf Sizilien hat wohl wer einen überstarken Feuerzauber ausgelöst oder den verbotenen Stoff in die Umwelt entlassen. Könnte hier auch passiert sein", sagte der erste Zauberrat.
"Prüfen wir nach", sagte Heliopteros Tachydromos. Er sah den in seinem grün-silbernen Schlafrock gehüllten ersten Zaubererrat so an, als könnte der jederzeit explodieren. "Hmm, der ist enttäuscht, das ich jetzt nicht bei ihm bin", kicherte eine erheiterte Stimme in Anaxagoras' Geist.
"Der soll sich eine ganze Frau suchen und nicht eine Halbtagsfrau", dachte Anaxagoras.
"Spätestens wenn die kleine Eulalia schreit übernehme ich wieder", bekam er zur Antwort. Wie hatte er damals auch nur so einfältig sein können, die Freudentränen der Salmakis zu sich zu nehmen. Das hatte er nun davon, oder auch sie, wenn es mal wieder was gab, was sein zweites, weibliches Ich Alexia Daphne Tachydromos besser konnte als er.
"Wenn ich auch was kleines auf den Weg bringe sprechen wir uns noch mal gründlich aus", dachte er zurück. Dann eilte er wieder in sein Schlafzimmer.
"Genieße deinen Schlaf. Wenn die Kleine schreit muss ich raus, ob dir das passt oder nicht", wisperte die andere in ihm.
Gwandrajoran fühlte die unbändige Angst, gleich für immer zu vergehen, . Da erfasste er, wie der von ihm gerade noch gehaltene rote Faden sich in mehrere Verzweigungen auflöste. Gleichzeitig umflutete weiteres blutrotes Licht ihn und den ihn umklammernden Iaxathan.
"Gwandrajoran komm zu mir, sei bei mir! Herrsche mit mir!" hörte er nun die Stimme der Anderen um ein vielfaches Lauter als zuvor. "Gwandrajoran, Ammaysharian, höre meine Worte und sei bei mir!" erklang es von der anderen wie ein auf tiefer Tonlage gesungenes Lied. "Komm zu mir, sei bei mir!" wiederholte sie.
"Nein, du bleibst bei mir. Nein, was ist das! Das kann sie nicht. Ich bin der Meister! Ich bin der Meister!!" schrillte Iaxathans Gedankenstimme. Der ehemalige Siebenarmige fühlte, wie ein mächtiger Sog ihn und den sich immer noch an ihn klammernden Geist des früheren Meisters immer schneller voranzog. Jetzt konnte er in der Ferne eine blutrote Erscheinung sehen, von der die ihn und den Geist Iaxathans umschnürenden Lichtfäden ausgingen. Es war eine immer größer werdende unbekleidete Frau aus blutrotem Licht.
"Nein, das darfst du nicht. Ich bin der Meister!" kreischte Iaxathans Gedankenstimme. Gwandrajoran fühlte, wie der ihn noch haltende Geist seines früheren Meisters von ihm abließ. Doch offenbar zeigte das nicht die von diesem erhoffte Wirkung. "Ich widerstehe dir, Dirne. Du wirst mich niemals niederzwingen und verschlingen!" hörte Gwandrajoran den anderen vor wilder Wut aber auch unbändiger Angst ausrufen. Dann sah er, wie er auf den weit offenstehenden Mund der ihn mit weit ausgebreiteten Armen erwartenden Frauengestalt zuraste. Lange Fangzähne, länger als Dachbalken, deuteten darauf hin, dass die Erscheinung der mächtige Geist eines früheren Nachtkindes sein musste. Dann raste er in die blutrot leuchtende Mundhöhle der nun turmhohen Erscheinung hinein. "Du verdammtes Drecksweib! Niemals werde ich mich von dir ... Neeeiiiin!!" hörte er noch Iaxathans Stimme schrillen. "Kaharnaantorian, hilf deinem wahren Meister!" hörte der ehemalige Siebenarmige nochh, bevor er begriff, dass ihn die Andere belogen hatte. Sie wollte ihn nicht als Gott neben sich haben. Doch als er das erkannte prallte er geradewegs auf den Grund einer blutrot leuchtenden Halle, größer als seine ehemalige Wohnstatt. Er sah unzählige Gesichter in den weit entfernten Wänden und im Boden. Dann fühlte er, wie die Gedanken der Anderen in ihn einströmten und mit ihm verschmolzen. Er fühlte die Macht hunderter von Seelen und verspürte eine unbeschreibliche Glückseligkeit. Er wurde eins mit dieser mächtigen Vereinigung. Dann war da nur noch gleißendes Licht, als er vollständig in den Gedanken der aus vielen hundert Einzelseelen bestehenden Daseinsform Gooriaimirias aufging.
Kaharnaantorian unterbrach sofort seine Grabungsversuche und eilte gedankenschnell in die große Höhle zurück, wo auf einem Sockel die wild erzitternde Spigelkugel stand. Der aus vier Einzelseelen zu einem schattenhaften Dasein verschmolzene sah mit seinen alle Dunkelheit durchdringenden nichtstofflichen Augen das Bärtige Gesicht eines Mannes, das wie im wilden Kampf keuchte und zuckte. Dann fühlte Kaharnaantorian, wie der ihn haltende Zwang abschwächte. Der Meister verlor Macht über ihn. Doch er sollte ihm helfen. Womöglich sollte er ihn hier halten, damit er nicht irgendwohin entführt wurde. Doch da kam Kaharnaantorian ein Gedanke: Der dem Sheitan verbundene oder dieser selbst hatte ihn unter seinen Bann genommen, damit er für den die Drecksarbeit erledigte. Jetzt kämpfte der Dämon gegen etwas an, das ihn aus seinem Zauberspiegel herauszerrte, vielleicht sein wahrer Herr und Meister. Dann war das da im Spiegel nicht Sheitan persönlich, sondern auch nur einer seiner verfluchten Gehilfen. Doch das Schattenwesen, das Kaharnaantorian genannt wurde, spürte auch, dass die Spiegelkugel ihn zu sich hinzog. Ein sehr verwegener Gedanke kam dem Knecht des Spiegels. Der Meister war geschwächt, dann konnte er ihn verdrängen oder vernichten und dadurch freikommen. Er stürzte sich auf die Spiegelkugel und drang in diese ein. Dabei jagte er mit aller Kraft seiner neuen Daseinsform den Wunsch hinaus, den Spiegel restlos auszufüllen und alles daraus hinauszudrängen, was er nicht haben wollte. Er fühlte, dass der Spiegel ihm gehorchte, ihm, Kaharnaantorian, dem Geist der Unrast. "Was machst du? Du sollst mich festhalten, nicht ... Verräter! Vergehe in meinem Zorn!" hörte er den anderen noch laut rufen, bevor er diesen mit seiner ganzen Kraft von sich stieß. Es war, als stürze Kaharnaantorian in ein Meer aus Farben und Lichtblitzen. Er hörte und fühlte, wie der, der ihn zu seinem Dämonendiener gemacht hatte, davongeschleudert wurde und erspürte, wie er die Spiegelkugel immer mehr ausfüllte. Ja, sie nahm ihn an und barg ihn. Jetzt war er alleine. Der andere war fort. Doch dann fühlte er, wie der Spiegel immer mehr erzitterte. Bilder aus den vier Leben Kaharnaantorians wirbelten wieder durcheinander. Ein immer lauterer mittelhoher Ton, ein unheilvolles, dreistimmiges Singen erfüllte seine Gedanken. Die letzte Verwünschung des geschwächten und vertriebenen Meisters schwangen in diesem immer lauteren Singen mit. Kaharnaantorian merkte, dass er wohl zu viel gewagt hatte. Der ihn haltende Spiegel des Erzdämons erbebte, ja glühte nun förmlich auf. Der Geist der Unrast, als Knecht des Dämons Iaxathan erschaffen, bebte und glühte immer mehr. Der aus dem Bann Iaxathans befreite Geist wünschte sich, den Spiegel wieder zu verlassen. Doch der verfluchte Zaubergegenstand ließ ihn nicht frei. Der Geist flehte zu Allah, seinem Gott. Doch dann merkte er, dass er ja gerade wegen Allahs Zorn hier gelandet war. Er hatte sich gegen den Willen des Allerhöchsten vergangen und musste nun seine Strafe hinnehmen, der endgültige Sturz in die Hölle.
Schlagartig schwoll das dreistimmige Singen des Spiegels zu einem überlauten Ton an, dass auch die Wände und die Decke in der Nimmertagshöhle erbebten. Dann entlud sich die in Iaxathans Machtgefäß gebändigte Kraft mit einem einzigen gewaltigen Schlag. Kaharnaantorian fühlte, wie es ihn förmlich in einem grellen Licht davonriss, hinein in einen Tunnel aus wild um ihn herumwirbelnden Sonnen. Er schrie seine ganze Todesangst hinaus, die in allen vier vereinten Seelen wohnte. Er fühlte, wie es ihn immer weiter davonschleuderte, bis er mit einem einzigen Grellen Schmerz gegen eine unsichtbare Wand prallte. Doch er schrie weiter, laut und schrill, mit einem weit aufgerissenen, zahnlosen Mund. Er schrie und schrie. Er fühlte, dass ihm die Luft wegblieb. Er holte laut Atem und schrie weiter. Dann versank alles um ihn in ein Meer aus Schwärze und Stille.
Iaxathan verfluchte seine eigene Unvorsicht, dass er aus lauter Angst den Knecht zurückgerufen hatte, um ihm zu helfen. Doch da musste er schon zu sehr geschwächt gewesen sein. Dieser Vier-Seelen-Geist hatte es gewagt und vollbracht, ihm den entscheidenen Stoß zu versetzen, vollständig in den Schlund dieser Abtrünnigen hineinzugeraten. Er hatte gerade noch gesehen, wie der von ihm in wilder Wut festgehaltene blau leuchtende Geist seines Dieners im blutroten Boden versank und hatte noch dessen höchst beglückten Aufschrei vernommen, weil er unvermittelt eins mit so vielen anderen geworden war. Doch er wollte nicht eins mit dieser Abtrünnigen werden. Er war doch der Meister. Er sah etwas dunkles auf dem Boden, klein und wie der Schatten eines winzigen Menschen. Er spürte die Verbundenheit mit diesem Etwas und wusste, dass dies sein eigenes Bruchstück war, dass er in den Mitternachtsstein eingewirkt hatte, um über ihn Macht auf die Nachtkinder auszuüben. Das winzige Bruchstück seiner Selbst flog wie von einem kraftvollen Eisenfangstein angezogen zu ihm hin und schlug mit einer kurzen, beglückenden Erschütterung in seinen Geist ein. Nun war er wieder vollständig.
Er fühlte jedoch, wie die alte Verbindung zu seinem Machtgefäß zerriss. Sein eigener Knecht hatte ihn daraus vertrieben, um es selbst auszufüllen. Doch das würde ihm nicht bekommen. Denn wer es schaffte, gegen Iaxathans eigenen Willen das Auge der Mitternacht zu unterwerfen und einzusetzen löste dessen Selbstvernichtung aus. Vor allem konnte das Auge nur Iaxathans inneres Selbst bergen, ohne daran zu zerbrechen. Kaharnaantorian bestand aber aus vier zusammengefügten Geistern, Geistern von Unfähigen, aber in ihrer Wahrnehmbarkeit und Stärke doch mehr als sein eigener Geist. Das hielt sein schwarzer Spiegel nicht aus. Er hörte aus großer Ferne die Angstschreie, die er erst für seine eigenen gehalten hatte. Doch das war sein Knecht, den er eigentlich aussenden wollte, um die Welt zu erobern. Dann hörte er, wie dessen Geist aus reiner Todesangst schrie, ja schrie wie ein gerade erst geborener Junge. Er hörte, wie das Geschrei seines Knechtes in einem lauten Widerhall verklang. Gleichzeitig erschütterte eine wuchtige Welle aus schlagartig freigesetzter Dunkelheit und Vernichtungswut die blutrote Unholdin, die ihn sich einverleiben wollte. Ihre Gestalt erzitterte für einen Moment, während er in diesem Augenblick die Worte der Macht in seinen Erinnerungen hörte, mit denen er selbst das Auge der Mitternacht erweckt und auf sich selbst geprägt hatte. Das Auge der Mitternacht war zerstört, wie er es für den Fall, dass jemand es gegen seinen Willen durchdringen konnte geplant hatte. Es war vorbei. Seine ganze Macht in dieser Welt war zerstört. Doch er war nicht vergangen. Er und dieses Unweib, das ihn mit der Macht von mehr als 500 vereinten Seelen in sich hineingeschlungen hatte waren noch in der Welt. Doch nun war auch die von ihm über Jahrzehnte gesammelte Kraft von Dunkelheit, Vernichtungswillen, Angst und Wut zurück in der Welt, die er im Auge der Finsternis eingefangen hatte. Sollte er sich darüber freuen?
Der einst mächtigste Meister der Mitternächtigen war Gefangener seiner eigenen Schöpfung geworden. Er fühlte, dass diese seinen siebenarmigen Diener vollständig in ihrem blutroten Geisterleib hatte zerrinnen lassen. Damit hatte sie alles was er konnte und wusste in sich selbst einverleibt. Er fühlte auch, wie die mit dem Siebenarmigen gehaltene Geistesbrücke, über die er ihn hatte lenken können, zu einer unangenehm an ihm ziehenden Schlinge wurde. Auch er sollte in diesem roten Riesenweib vergehen, ihm dadurch alles überlassen, was er je gekonnt und gewusst hatte. Noch konnte er sich dagegen stemmen. Ja, er wusste, dass das nun wieder in ihm eingekehrte Bruchstück all die Zeit unverdaulich und unversehrt geblieben war. Doch es hatte nicht gegen diese Besatzerin, dieses zu unerwünschter Macht gelangte Geschöpf ankämpfen können. Ja, es hatte diesem einige sehr mächtige Geheimnisse verraten müssen, wie das der Unlichtkristalle. Jetzt hatte dieses Geschöpf ihn ganz und gar in sich eingesaugt. Er merkte, dass die immer noch zu den Gedanken des Siebenarmigen führende Verbindung nicht vergangen war. Nein, sie verstärkte sich. Wie schnell das geschah war an diesem Ort und in diesem Zustand völlig bedeutungslos. Denn hier konnte ein Jahr in einem Augenblick verpuffen oder ein Augenblick zu einem Jahr gedehnt werden. Er fühlte jedoch, dass er seiner ihm nun ganz entfallenen Schöpfung nicht lange Widerstand bieten konnte. Wenn sie ihm sein Wissen entriss würde sie unbesiegbar werden, solange der große Stein der Mitternacht bestand.
Eine Erinnerung stieg in seinem gefangenen Bewusstsein auf, die Erinnerung an seine Muttermutter Gwendashiaimiria, die es geschafft hatte, seine körperliche und seelische Unversehrtheit an ihre eigene zu binden, ja ihn durch einen Zauber, den nur fruchtbare Trägerinnen der Kraft erlernen und nutzen konnten, seinen Gehorsam abzuringen. Erst spät hatte er herausgefunden, wie das gelungen war. Deshalb hatte er seine Muttermutter nicht töten können. Selbst als er König der Mitternächtigen war und den großen Krieg ausgerufen hatte, hatte er sie nicht einmal angreifen können. Skyllian hatte es versucht, ganz ohne zu wissen, dass sein Herr und Meister an diese Meisterin der Mitternächtigen gebunden war. Gerade soeben hatte Iaxathan ihn noch zurückrufen können, bevor seine Schlangenkrieger die goldenen Schwertkämpferinnen Gwendashiaimirias mit ihrer die hohe Kraft aufzehrenden Umarmung hatten überwinden können. Durch Skyllians Ohren hatte er mithören müssen, wie Gwendashiaimiria eine Vorhersage machte, die ihn sehr erschreckte:
"Der letzte Träger der nachtdunklen Krone des Reiches der Mächtigen wurde aus dem Leibe meiner eigenen Tochter in die Welt gestoßen. Einst wird die große Mutter der Nacht ihn durch seine Wut und ihre Macht aus der Welt in ihren Leib hineinschlingen und ihn dort solange als ihr ewig ungeborenes Kind tragen, bis das große Himmelsfeuer selbst der ewigen Nacht zum Fraße fallen wird. Sage das deinem Herren, der mein Diener ist!"
Viele Monde lang hatte ihn diese Vorhersage gepeinigt. Deshalb hatte er ja seinen Geist mit dem Auge der Mitternacht verbunden, auf dass er bei seinem unmittelbar bevorstehenden Ende die Flucht in diesen mächtigen Gegenstand vollbringen konnte. So war er der unverzeihlich unterschätzten Naaneavargia entgangen, die zwar seinen Leib, aber nicht sein inneres Selbst verschlungen hatte. Deshalb hatte er gedacht, dem von Gwendashiaimiria vorhergesagten Ende entronnen zu sein. Sicher hatte er immer wieder daran gedacht, warum sich die aus vielen hundert einzelnen Seelen zu einer mächtigen Daseinsform zusammengefügte Tochter der Nacht ausgerechnet Gooriaimiria, die große Mutter der Nacht nannte. Er dachte erst, dass sie es tat, weil sie über den kleinen Bestandteil seiner Selbst die alte Sprache gelernt hatte und daher einen klangvollen wie machtvollen Namen für ihre eingekerkerte Daseinsform gesucht hatte. Jetzt aber erkannte Iaxathan mit eisigem Schrecken, dass seine Muttermutter Gwendashiaimiria dieses von dieser ehemaligen Liebeskrämerin beherrschte Geschöpf aus vielen hundert Nachtkindseelen gemeint haben musste. Er erkannte, dass er sich mit der Erschaffung der Nachtkinder und des diese beherrschenden Steines sein eigenes Verhängnis geschaffen hatte. Wollte er sowohl seiner Muttermutter als auch diesem von ihrer unerlaubt zugeflossenen Macht berauschten Weib entgegenwirken musste er schnell handeln. Denn eines konnte er noch. Er hatte sowieso alles verloren. Deshalb würde er hier und jetzt alles beenden.
Er scherte sich nicht darum, ob seine Widersacherin seine Gedanken mitbekam. Gleich würde sie sowieso wissen, was er vorhatte. Er sammelte seine ganze Geisteskraft und bündelte sie in eine Anrufung, die er eigentlich niemals hatte ausrufen wollen und sein Bruchstück es bisher nicht geschafft hatte, weil es eben nur ein winziger Teil von ihm gewesen war. Mit voller Geistesstärke rief er aus:
Gorkaliaipangil
siri ud eiumaxaril
taumaxani Porlin Aubrari!
taidoAn fubaruri!
Sinngemäß übersetzt hieß das:
Großer Stein der Mitternacht
warst gebor'n aus meiner Macht.
Hör auf deines Meisters Wort
und vernichte dich sofort!!"
Iaxathan fühlte, dass sein mächtiger Gedankenruf die riessenhafte rote Kugel um ihn heftig erschütterte. Er fühlte, wie die mit dem darin eingesaugten Siebenarmigen bestehende Gedankenverbindung wie eine übergroße Saite eines Zupfklangkunstwerkzeuges auf, ab, schnell und langsam ausschwang. Das äußerte sich in lauten und farbigen Erinnerungsbruchstücken von ihm und seinem früheren Diener Gwandrajoran, der als Unbegabter die große Ehre erhalten hatte, zu seinen persönlichen Kriegern der Nacht zu werden. Er hoffte, dass gleich die alles entscheidende Kraft erwachte, die den großen Stein der Mitternacht zerstören musste. Doch dann war ihm, als klängen seine Worte rückwärts und mit umgekehrtem Hall zu ihm zurück. Die rote Halle erzitterte nur noch einen Augenblick. Dann verebbten alle Erschütterungen. . Statt dessen meinte Iaxathan, der sich selbst als dunkle schattenhafte menschenförmige Erscheinung sehen konnte, dass zwischen der roten Wand und ihm ein hellblauer Lichtstrahl entstand, der ihn in seiner Körpermitte traf und ihn da selbst blau aufleuchten ließ. Da wusste er, dass er gerade den wohl größten aller Fehler begangen hatte. Denn durch seinen letzten großen Aufruf hatte er dieser ihn festhaltenden den genauen Wortlaut der Vernichtungsformel preisgegeben, und sie hatte diese mit der ihr zugeflossenen Macht umgekehrt. Außerdem hatte sie von sich aus die Geistesbrücke zwischen dem ihr einverleibten Siebenarmigen und ihm, dem eigentlichen König der Nacht erheblich verstärkt. Er erkannte gerade noch, dass er sich dieser schlafenden Göttin gerade auch ohne in ihr zu zerfließen ausgeliefert hatte. Denn er fühlte, wie seine Gedanken von Erinnerungen aus seiner früheren Zeit überlagert und verdrängt wurden. "Niemals wirst du mein Wissen erbeuten, Dirne!" rief er noch. Doch da versank sein Geist in der Masse der Erinnerungen aus mehr als tausend Sonnenkreisen.
Gooriaimiria indes empfand große Erleichterung, dass sie den Widersacher doch noch niederringen konnte. Durch die Verbindung zu seinem früheren Knecht Heptachiron hatte sie ihn mit sich verbunden und in eine Art Schlaf versetzt, in dem er ihr sein Wissen nach und Nach preisgeben würde. Sie wusste zwar, dass sie ihn nicht wie eine Nachtkindseele in sich aufgehen lassen konnte. Doch die Gefahr, dass er ihre Heimstatt zerstörte war nun endgültig gebannt. Vielleicht fand sie einen Weg, ihn doch noch irgendwo unschädlich für sich und andere abzulegen. Doch erst einmal wollte sie ihn bei sich behalten.
Als sie einen fernen Aufschrei wie von einem gepeinigten Neugeborenen hörte und fühlte, wie eine mächtige Welle aus verdichteter Dunkelheit, Eiseskälte und zerstörerischen Elementarkräften durch Raum und Zeit raste und sie wie ein vom wildesten Sturm getribener Brecher traf wusste sie, dass Iaxathans eigene Macht vergangen war. Er gehörte nun ganz ihr. Sie war seine Alleinerbin.
Was sie regelrecht in Euphorie aufschreien ließ war, dass sie durch den letzten gescheiterten Vernichtungsversuch endgültig die volle Beherrschung des Mitternachtssteines erlangt hatte. Damit konnte sie nun nicht nur jene Nachtkinder beherrschen, die bereits damit in Berührung gekommen waren, sondern auch jene, die ohne mit ihm zu tun gehabt zu haben lebten. Ebenso vermochte sie durch Heptachirons einverleibte Fähigkeit, in nicht nur sieben Nachtkindbewusstseinen zugleich anwesend zu sein, sondern in 28, egal ob männliche oder weibliche Nachtkinder. Das verlieh ihr wahrhaftig einen Hauch von Allgegenwart, einer Göttin würdig. Nun konnte sie mehrere Vorhaben zeitgleich ausführen lassen oder sich besonders mit einem ihrer Diener geistig verbinden. Das ging jetzt auf jeden Fall besser als vor der Einverleibung Heptachirons. Ja, und sie hatte durch den in ihr aufgegangenen Siebenarmigen erfahren, wie dieser Träger magischer Kräfte zu sich hinbefördern konnte. Sicher, sie konnte nur Nachtkinder unmittelbar zu sich selbst hinüberziehen. Ansonsten konnte sie sie nur von einem Punkt auf der Welt an einen anderen Punkt der Welt hinversetzen. Von Heptachiron und seinem gestürzten Meister wusste sie, dass sie auf eine bestimmte weise wohl auch Hexen und Zauberer gegen deren Willen teleportieren konnte. Doch damit wollte sie im Moment nicht experimentieren. Sie fühlte, wie Iaxathans gefangener Geist sich langsam beruhigte. Endlich schlief er. Sie war jetzt wahrhaftig eine Göttin und eine Mutter, eine ewige Mutter der Nacht. Und der da in ihr unauflöslich aber unentrinnbar eingelagert war sollte nicht mehr Iaxathan heißen. Nein, Giriainanaansirian, der kleine Ungeborene der Nacht. Ja, so würde sie ihn von nun an nennen, bis er es hinnahm, so zu heißen.
Als sie fühlte, dass der nun von ihr Giriainaansirian genannte in eine Art Traumschlaf versunken war und seine Geistesregungen langsamer aber immer noch sehr kraftvoll zwischen ihm und ihr pulsierten, wusste sie, dass sie ihn von nun an ewig in sich tragen würde. Vielleicht konnte sie ihn so verändern, dass er ihr völlig unterworfen sein würde, sozusagen als Vergeltung dafür, dass er über sein Wächterbruchstück im Mitternachtsdiamanten ihre Gedanken beeinflusst hatte, damit sie Nocturnia begründete. Dann sollte es eben so sein, dass sie endgültig zur einzig wahren Herrin aller Nachtkinder aufstieg. Als solche würde sie die Werwölfe jagen und töten lassen, aber auch alle Hexen und Zauberer, die sich offen gegen ihre Dienerinnen und Diener stellten, allen voran diese Spinnenhexe mit dem Flammenschwert. Immerhin gab es diese Ladonna Montefiori nicht mehr. Heptachiron hatte sie vorher noch mit einem Blitzschlag verdampfen können. Was ihr aber am wichtigsten war: Sie wollte und musste die Töchter Lahilliotas ausrotten, damit ihre Kinder ungefährdet in der Welt herumziehen konnten. Zwar konnte sie noch besser fühlen, wie viele von ihnen wach waren und auf welchen Erdteilen sie sich gerade aufhielten. Sie konnte sie aber nicht zielgenau orten. Das ärgerte sie, weil sie nun, wo sie alle Macht des Mitternachtssteins und die Fremdteleportationsgabe Heptachirons nutzen konnte, zu gerne jeder von denen ein Killerkommando Kristallstaubvampire auf den widernatürlich schönen Hals hetzen wollte. Ebenso fühlte sie auch die Schwingungen in der Dunkelheit, die von einer mächtigen Daseinsform ausgingen. Das musste dieser weibliche Nachtschatten sein, von dem ihre Diener ihr schon berichtet hatten, sofern sie den Kontakt mit ihr überhaupt überlebt hatten. Diese Geistererscheinung hielt sich selbst für die wahre Mutter der Nachtgeschöpfe. Doch es durfte nur eine wahre Mutter der Nacht und Königin aller Nachtwesen geben, Gooriaimiria.
Anthelia/Naaneavargia überprüfte das von Sardonia geerbte Denkarium auf alles, was mit dem siebenarmigen Vampir zu tun hatte. Immerhin mochte Sardonia mit diesem auch schon zu tun gehabt haben.
Sie wollte gerade nach weiteren möglichen Erinnerungen suchen, als sie ohne jede Vorwarnung von einem unsichtbaren Kraftstoß getroffen wurde. Es war wie eine Welle aus eiskaltem Wasser, in der ein langgezogener Aufschrei mitschwamm. Anthelia/Naaneavargia fand sich für eine volle Sekunde in völliger Dunkelheit und Kälte treibend. Sie fürchtete einen Moment, in einen lichtlosen Abgrund hinabzustürzen. Dann war die Welle aus Dunkelheit und Angst auch schon über sie hinweggebrandet. Sie fand sich in Gestalt der schwarzen Spinne auf dem Boden kauernd. Ihr Angstreflex hatte sie verwandelt und dadurch womöglich einen Teil der über sie hinwegbrandenden Gewalt abgewehrt. Doch in dieser Gestalt waren ihre Sinne schärfer, vor allem für die magischen Regungen in der Erde und für geistige Regungen. So bekam sie mit, dass irgendwo im Osten jemand gerade darum rang, aus einer ihn verschlingenden Falle herauszukommen. Sie hörte unvermittelt das siegreiche Lachen von mindestens zehn Frauenstimmen gleichzeitig. Dann ebbten diese Eindrücke wieder ab.
Die Vereinigung aus Anthelia und Naaneavargia blieb zunächst in der Spinnengestalt und überlegte, was ihr da gerade geschehen war. Hatte jemand versucht, sie aus der Ferne zu verfluchen? Nein, das war so ungestüm und so unbestimmt über sie gekommen wie eine vom Sturm getriebene Riesenwelle oder ein aus dem All niedergehender Meteorit. Was immer es war hatte nicht ausdrücklich ihr gegolten. Irgendwo auf der Welt hatte jemand eine Quelle dunkler Magie entfesselt und damit sich selbst aus der Welt geschafft. Was für eine mächtige Quelle konnte das sein, wenn sie weit von ihr weg war und dabei immer noch so mächtig sein konnte? Ihr fiel nur Iaxathan ein, der behauptet hatte, er habe sein ganzes Wissen und seine Macht in eine mächtige Spiegelkugel eingelagert. Dorthin hatte sich sein Geist in haltloser Angst geflüchtet, als Naaneavargia zum ersten Mal zur schwarzen Spinne geworden war. Mochte es angehen, dass irgendwer es vollbracht hatte, diesen Machtanker zu zerstören? Aus Anthelias Erinnerungen wusste sie, wie urgewaltig die Vernichtung des Lebenskruges der Abgrundstochter Halliti gewesen war. Falls es wirklich möglich war, Iaxathans Machtanker zu zerstören mochte dessen freigesetzte Kraft ungleich stärker sein als die aus dem Lebenskrug. Dann konnte es zu hunderten von Toten gekommen sein. Doch nein, sie hatte nur einen Aufschrei und dann das überlegene Lachen von zehn Frauen gehört, die zeitgleich erklungen waren. Also mochte was immer passiert war von dieser Vampirgötzin ausgegangen sein. Ja, das war es sicher. Diese selbsternannte Gottheit aller Vampire hatte sich mit dem siebenarmigen Ungeheuer und dessen Herren und Meister angelegt ... und gewonnen? - Anthelia/Naaneavargia wusste nicht, ob sie sich über diese Aussicht freuen sollte oder sich davor fürchten musste. Einerseits hieße es, dass Iaxathan entmachtet war. Andererseits konnte genau dessen Macht auf die Vampirgötzin übergegangen sein und diese dadurch ungleich stärker geworden sein. Irgendwie musste sie herausfinden, was geschehen war. Denn ihr war klar, dass davon nicht nur ihr eigenes Leben, sondern die Zukunft der Welt abhängen mochte.
"Dieses Ameisengehirn hat sich für den größten König der Mitternächtigen gehalten und geht in eine so offensichtliche Falle rein", spottete Iaighedonna. Ihre Zwillingsschwester Kaliamadra fügte dem hinzu: "Er wollte das so, Schwester. Offenbar war es ihm in seinem kleinen runden Spiegel doch zu langweilig, wo er nach Ammaysharians Ende niemanden mehr hatte, der ihm neue Diener besorgen konnte."
"Ja, aber jetzt ist er genau da, wo er nie wieder hin wollte", feixte Iaighedonna. "Ja, und die freigelassene Kraft aus seinem Spiegel hat einiges angeregt, Schwester", erwiderte Kaliamadra. "Das wird sicher noch sehr spannend und abwechslungsreich für uns, wenn das alles so richtig erwacht."
"Wer von uns beiden sagt es dieser achso gutmeinenden Ianshira, dass sie diesen Burschen besser in sich behalten soll, damit er nicht in dem aufkommenden Aufruhr stirbt?" fragte Kaliamadra ihre Zwillingsschwester. "Lass die selbst drauf kommen, ob das noch so klug ist, den überhaupt noch mal in die Welt rauszulassen, wo seine Verwandten ihn bald sowieso für tot erklären. Am Ende findet die das ganz anregend, ihn für immer im Bauch zu haben. Dann bringt er es sicher auf mehr Sonnenkreise als Nunaisirian." Beide lachten darüber gehässig. Aus der Ferne hörten sie ein tadelndes Räuspern und dann Ianshiras Stimme:"
"Ich weiß, euch gefällt es, dass ich mir die Verantwortung für diesen Leichtfertigen Jetztzeitler aufgeladen und ihn bis auf weiteres in meine innerste Obhut genommen habe, ihr zwei Spottschnäbel. Sicher ist das nicht einfach für jeden, der da draußen lebt, was Iaxathan in seiner Machtgier angerichtet hat. Aber er muss nun den Preis für seine Haltlosigkeit bezahlen, und ihr werdet genausowenig in die Jetztwelt zurückkehren können wie ich oder Madrashmironda. Aber mein Eingebetteter kann noch zurück und mit dem, was er von mir mitbekommt gegen diesen Aufruhr ankämpfen, der euch so erheitert. Genau das ist es doch, was euch beide so verärgert, dass ihr bis heute keinen mehr gefunden habt, der von euch angeleitet werden will, damit er eure Gemeinheiten in der Welt der jetztzeitigen Menschen ausführt."
"Da können wir gerne noch einmal drüber sprechen, wenn der, den du dir ganz ungefragt in den eigenen Bauch hineingesteckt hast wirklich wieder nach draußen darf und frei entscheiden kann, ob er deine Bevormundungen hinnimmt oder mit aller Macht ablehnt. Das wird dann sicher auch sehr spannend. Oh, ich bekomme gerade mit, dass sich die erste und einzige Mannesgeburt Iaxathans wieder regt. Sie zu beobachten wird ganz sicher lohnend", knurrte Iaighedonna. Kaliamadra pflichtete ihr bei. Im Grunde hatte Ianshira recht. Sie konnten nur beobachten und hoffen, dass irgendwann jemand kam, um von ihnen zu lernen. Doch die bisher gekommen waren wollten nur die Kenntnisse der Lichtfolger oder der Grundkraftvertrauten erlernen. Das störte die zwei spöttischen Schwestern. Doch nun hatten sie ja was, was ihnen wohl demnächst viel Vergnügen und höchst lehrreiche Erkenntnisse bringen mochte. Ja, und außerdem war die Schadenfreude noch zu groß, dass Iaxathan ausgerechnet von seiner eigenen Schöpfung, dieser Blutsaugergöttin einverleibt worden war und nun selbst ein Nunaisirian sein würde, bis das Himmelsfeuer seine eigenen Kinder fraß, bevor die letzte und längste aller Nächte über die Welt hereinbrach.
Julius hörte seine Frau wie aus weiter Ferne "Achtung, Feuerball!" rufen. Er selbst stand auf einer Wiese mit kniehohem Gras. Da sah er Millie, die knapp hundert Schritte von ihm fort stand. Sie trug Kailishaias schwach aus sich selbst leuchtendes magisches Kleid und winkte ihm sehr entschlossen zu. Ohne einen Zauberstab zu nehmen wechselte er im selben Augenblick zu ihr hinüber. Dann sahen beide die heftige Feuerkugel wie eine schlagartig über dem Horizont aufsteigende und sich blitzartig aufblähende Sonne. Die Luft um sie herum flimmerte. Das Gras rauchte erst, um dann laut knisternd und prasselnd in Flammen aufzugehen. Die Feuerkugel füllte nun das ganze Blickfeld aus. Sie loderte weißblau, wie eine weit entfernte Riesensonne. Außerhalb eines etwa drei Meter großen Bereiches verbrannte das grüne Gras, als wäre es knochentrockenes Heu . Dann fiel der weißblaue Glutball innerhalb nur einer Sekunde wieder in sich zusammen. Laut fauchend stürzte kalte Luft in die von ihm geschaffene Unterdruckzone. Millie und Julius geschah nichts weiteres. Nur das weiterbrennende Gras leuchtete in der über Ihnen liegenden Nacht.
Dann hörte Julius laute Schreie, Wutgeschrei und ja, auch Angstgeschrei. Gleichzeitig knallte es wie ein Kanonenschuss, und Temmie erschien in etwa zwanzig Metern höhe. "Mädels, kann oder will mir eine von euch sagen, was das jetzt wieder war?" fragte Julius. Da landete Temmie so, dass sie genau über den beiden Eheleuten stand. "Irgendwas hat das Gewebe der Kraft erschüttert", dröhnte Temmies celloartige Stimme. Millie nickte. "Jemand hat wieder einen ganz starken Feuerzauber gemacht." Dann hörten sie alle die immer lauteren Wutschreie, ohne klare Wörter daraus zu verstehen. Für eine Sekunde war es, als würde eine art dunkler Blitz alles um sie herum in eine kurze, aber völlige Finsternis hüllen. Als sie wieder sehen konnten raste die Flammenwalze der brennenden Wiese weiter von ihnen fort, und sie konnten die Quelle der Wut- und Angstschreie über sich dahinrasen hören, ohne zu sehen, wovon sie ausgingen. Dann hörten sie ein überlegenes Siegesgebrüll wie von einem völlig zeitgleich rufenden Frauenchor. Aus dem Siegesruf wurde triumphales Lachen, dass die immer noch klingenden Wut- und Angstschreie übertönte. Dann erklang aus der ursprünglichen Richtung der Wutschreie ein weiteres Triumphgeheul, diesmal von mindestens einem Mann, das weit widerhallte. "Nein, etwas hat seine Machtquelle ergriffen und will sie sich unterwerfen", hörten sie Temmie. Dann wurde aus dem zweiten Triumphgeheul ebenfalls Angstgeschrei, diesmal so, als wenn mehrere Männer zugleich von einer tödlichen Gefahr überrascht worden waren. "Bleibt bloß bei mir!" rief Temmie und begann unvermittelt in weißgoldenem Licht zu erstrahlen. Julius sah, wie sich die geflügelte Kuh in eine riesenhafte Frau verwandelte. Millies Kleid glomm im Widerschein der weißgoldenen Lichtfrau orangegolden. Dann überflutete neue Dunkelheit alles um sie herum, bis auf die weißgoldene Leuchterscheinung einer ins Riesenhafte gewachsenen Darxandria. Zeitgleich hörte Julius einen heftigen Knall wie eine schwere Explosion, dem sofort ein langer, aus allen Richtungen zugleich klingender Widerhall folgte. Hätte nicht völlige Dunkelheit um sie herum geherrscht hätte Julius an eine Atombombenexplosion glauben müssen. Im langen, donnernden Nachhall hörte er die weiteren Angstschreie schnell leiser werden und sich in die ihm wohlvertrauten, von kurzen Atempausen unterbrochenen Schreie eines verängstigten Babys verwandeln, bis auch diese Schreie nicht mehr hörbar waren. Schlagartig kehrten Licht und Umgebung zurück. Die Aus Licht beschaffene Darxandria wurde wieder zu der ihnen beiden vertrauten gigantischen Kuh Artemis vom grünen Rain, deren Bauch von bevorstehendem Mutterglück geschwollen war.
"Was war das denn jetzt? Hat da wer eine schwarzmagische Atombombe oder sowas gezündet?" brach es aus Julius heraus.
"Ja, es war eine sehr starke, für mich fast zu starke Freisetzung böser Kraft, die sich in alle Richtungen ausgebreitet und zerstreut hat. Ich denke, jemand hat Iaxathan aus seinem Machtgefäß verdrängt oder ausgenutzt, dass jemand anderes ihn daraus verdrängt hat. Doch das hat wohl das Auge der Mitternacht zerstört und alle in ihm eingeschlossene Dunkelkraft auf einmal freigesetzt", erklärte Temmie.
"Dann gibt es Iaxathan nicht mehr?" wollte Millie wissen.
"Ich kann die Gedanken der Mitternächtigen nicht als Worte hören. Doch was wir gehört haben mag seine Angst gewesen sein, von etwas selbst für ihn zu mächtigem ergriffen worden zu sein. Ich fürchte, jene Kraft, die in seinem Stein der Nachtkindbeherrschung wohnt, hat es geschafft, ihn zu ergreifen und an sich zu reißen. Doch wer dann das Auge der Mitternacht zu erfüllen versucht hat weiß ich nicht. Aber dieser Geist mag nicht zerstört worden sein, sondern wurde nur irgendwo in die Welt geschleudert und dabei wohl aller erlebten Jahre beraubt und zum hilflosen Wesen, wie ein neugeborenes Kind", vermutete Temmie. Dann sagte sie noch: "Ich habe den Kampf dreier Kräfte verspürt, jedoch nicht, wo genau und wer genau kämpft. Deshalb kam ich zu euch, um euch mit meiner inneren Beschützerin zu bedecken. Denn durch eure Verbindung mit mir wäret ihr gnadenlos von der ausbrechenden Dunkelkraft niedergeworfen oder gar zerstört worden."
"Das habe ich gemerkt", meinte Julius dazu. Millie deutete auf ihr Kleid. "Ich weiß nicht, wieso ich das Kleid anhabe, Monju und Temmie. Aber das hat uns wohl vor dem Feuerball gerettet. Aber heiß geworden ist mir trotzdem", sagte sie.
"Das war sicher die Aufregung und die Wechselwirkung mit deiner in deinem inneren Nest heranwachsenden Tochter", vermutete Temmie. Dann sagte sie. "Ich fühle, dass mein Werk mich viel Kraft gekostet hat. Ich lasse euch nun wieder alleine. Die freigesetzte Dunkelkraft hat sich entweder zerstreut oder wurde von dafür empfänglichen Dingen und Wesen aufgenommen. Mehr kann ich im Moment nicht erspüren. Ruht euch aus! Wir werden sicher bald unsere ganzen Kräfte brauchen." Mit diesen Worten verschwand Temmie ohne den üblichen Kanonendonnerknall, wenn sie disapparierte. Millie und Julius standen auf der außer im Schutzkreis des magischen Kleides niedergebrannten Wiese und sahen einander an. Für einen Moment konnte Julius durch das orangegoldene Kleid in Millies gerundeten Bauch hineinblicken und den im warmen Fruchtwasser schwebenden Fötus seiner dritten Tochter sehen. Es war ihm, als blicke die noch ungeborene Clarimonde ihren Vater mit fragenden Augen an. Dann wurde Millies Unterleib wieder undurchsichtig.
im nächsten Moment fand sich Julius auf dem Rücken liegend auf seiner bettseite. Seine rechte Hand hielt die linke hand seiner Frau, die wohl auch gerade wieder aufgewacht war. "Sag mal, Monju, was müssen wir machen, dass wir nicht andauernd so abgedrehte Träume haben?" grummelte Millie. Sie fragte nicht erst, ob Julius dasselbe geträumt hatte wie sie.
"Ich fürchte, dass wir das nicht loswerden, bevor wir sterben, Mamille. Irgendwas ist da wieder passiert, was Temmie veranlasst hat, in unser beider Träume reinzufunken."
"Wohl wahr", grummelte Millie. "Und ich habe diesen riesigen Feuerball gespürt, bevor der aufgetaucht ist. Mann, war das heftig!" maulte Millie.
"Hast du auch von Temmie geträumt, und vor allem, was die gesagt hat?"
"Das dieser Supererzdunkelmagier wohl gegen irgendwen verzockt hat und deshalb das von dem benutzte Aufbewahrungsding kaputtgegangen ist", grummelte Millie. Julius bestätigte das. "Ich lager meinen Traum mal im Denkarium ein. Falls du das auch möchtest helfe ich dir gerne wegen der Erinnerungskonzentration", sagte Julius.
"Stimmt, dieses Zeug sollten wir sicher auslagern, vielleicht auch mal für Catherine, Camille oder andere vom stillen Dienst nachsehbar halten", erwiderte Millie und ließ Julius' Hand los. Das war für ihn das Zeichen, zu tun, was er gerade beschlossen hatte. Ob der gemeinsame Traum eine echte Mitverfolgung eines heftigen magischen Ereignisses war konnte er später immer noch nachprüfen.
Schreiend raste er wild schlingernd und sich überschlagend durch eine Unendlichkeit aus bunten Wirbeln. Er rechnete damit, gleich in tausend Stücke zerfetzt zu werden, so stark zerrte und walkte es an ihm. Dann traf es ihn wie eine gleißendhelle, glühendheiße Riesenfaust und presste ihn zusammen. Die wahnwitzige Wirbelei war beendet.
Er fühlte, dass er auf einer weichen Unterlage lag. Doch die Kraft, die ihn nach unten zog war so stark, dass er seine Arme und Beine nur sehr schwer bewegen konnte. Vor allem sein wild dröhnender Kopf wog schwer. Dann öffnete er schwerfällig seine Augen. Er lag in einem wackeligen Bett. Nein, es war eine Wiege. Die Wiege war etwas größer als er selbst. Langsam erkannte er, was ihm passiert war. Die Kraft des dunklen Spiegels hatte ihn von sich weggeschleudert und hinein in ... diesen Körper, den Körper eines Babys. Statt der Freuden des Paradieses hatte er endgültig die Mühsal des Lebens zurückbekommen. Dann kamen in ihm Gedanken auf, Gedanken von vier Männern, die zwei Flugzeuge in das Welthandelszentrum von New York gesteuert hatten, aber auch Gedanken eines Mannes, der ein echter Zauberer war, der Diener eines mächtigen Dämonenfürsten. Dieser Zauberer hatte wohl einen Pakt mit dem Statthalter Sheitans auf Erden geschlossen, die Seelen der beim Anschlag verstorbenen in sich aufzunehmen, um damit mehr Kraft zu erhalten. Ja, und er, der jetzt im Körper eines schwächlichen Kindes eingesperrt war, war nur deshalb hier, weil der Zauberer und sein dämonischer Vertragspartner sich zerstritten hatten und der Dunkelmagier ihn dafür aus sich hinausgestoßen und dem Dämon zum Fraß vorgeworfen hatte. Ja, er erinnerte sich an immer mehr, was der Zauberer getan und gedacht hatte, jener, der sich Lord Vengor genannt hatte. Mit jedem Atemzug, den sein neuer Körper tat, mit jedem Schlag seines schnell pochenden Herzens erinnerte er sich besser. Kaharnaantorian hatte der Erzdämon Iaxathan ihn genannt. Er sollte sein williger Sklave sein. Doch jetzt war er ein Mensch aus Fleisch und Blut. War er gerade erst geboren worden? Wie lange war das mit dem Spiegel her? Wessen Kind war er nun? War er überhaupt ein "Er"? Am Ende hatte der von ihm hintergangene Dämonenfürst ihn damit bestraft, als schwächliches, von allen Versuchungen heimsuchbares und selbst zur Versuchung werdendes Mädchen leben zu müssen. Dann hörte er Stimmen, die einer Frau und die eines Mannes. Sie klangen besorgt. Erst verstand er die Sprache nicht. Es war weder Arabisch, noch Farsi, noch Englisch. Dann verstand er die Worte. Das war Deutsch, die Muttersprache des dunklen Zauberers, dessen Kraftspender er lange Zeit gewesen war. Er? Wie hieß er denn jetzt. Er wusste, dass vier in ihm vereint waren. Doch ihm fiel nur ein Name Ein: Kaharnaantorian, was "Geist der Unrast" in der Sprache des Erzdämons hieß. Er hörte, wie eine Tür aufging. Seine Säuglingsohren waren offenbar wesentlich feiner als die eines erwachsenen Mannes. Dann sah er, wie sich eine für ihn riesenhafte Frau über die Wiege beugte. "Hast du was böses geträumt, Arnold? Du brauchst keine Angst zu haben. Mama ist da und Papa auch", sprach die über ihn gebeugte ruhig und sanft. Hieß er Arnold. War das ein deutscher Jungenname?
Erst mit Widerwillen und dann doch mit Erleichterung ließ er sich gefallen, dass die Andere an ihm herumfingerte, ihm die Kleidung vom Körper zog und dann etwas um ihn gewickeltes und zwischen Seinen Beinen hindurchgestecktes wegnahm, ihn in warmes Wasser legte und sauberwusch. Er dachte daran, dass ihm das Paradies mit den 72 Houris für jeden Märtyrer verwehrt worden war. Hieß das, dass das alles nur Lügen gewesen waren, um ihn und andere zu Dienern von Dämonen zu machen? Ja, so musste es sein. Denn sonst hätten die vier, deren Namen ihm merkwürdigerweise nicht mehr einfallen wollten, ihr Ziel erreichen müssen. Das sollten sie ihm büßen, alle die, die ihn zu dem gemacht hatten, was er nun war, Kaharnaantorian, der Geist der Unrast.
Er dachte erst daran, der Frau, in deren Bauch er womöglich ohne Besinnung herangewachsen war, zu sagen, wer er war. Doch dann fiel ihm ein, dass er ihr wehrlos ausgeliefert war. Sie würde ihn aus purer Angst umbringen oder was anstellen, um seine Seele endgültig ins Dämonenreich zu verbannen. Welche Qualen mochten ihn dort erwarten, weil er den ihn beherrschenden Dämonenfürsten hintergangen hatte? Die Angst vor dem Tod und was danach kam ließ seinen Körper erschauern. Er wollte nicht sterben, nicht jetzt und nicht irgendwann in hundert Jahren. So beschloss er, sich wie ein völlig hilfloses Baby zu verhalten, sich alles gefallen zu lassen, was diese Leute ihm gutes und weniger gutes taten, bis er groß genug war, die Macht zu erlangen, den eigenen Tod zu verhindern. Die Erinnerungen des Zauberers, der die vier Seelen seiner ersten Daseinsform in sich hineingeschlungen hatte, ließen ihn daran denken, dass er dem Erzdämon Iaxathan entkommen war. Er würde nie wieder eines anderen Sklave sein, weder der eines Menschen, noch der eines Dämons. Wenn er jetzt sowas wie ein in einen Säuglingskörper gebannter Dschinn war, dann würde er eines Tages wissen, wie er diesen Körper für sich nutzen konnte. Dann würde er nachforschen, was ihn in die Fänge dieses Erzdämons getrieben hatte und ob dieser nun wegen seines Versagens in Sheitans Reich gestürzt war oder noch auf dieser Welt herumlief und darauf lauerte, ihn erneut zu unterwerfen. Ja, er fühlte, dass irgendwo auf der Welt etwas war, dass ihm auflauern mochte, sobald er sich zu erkennen gab. Er musste das Wissen des Zauberers nutzen, um sich dem entgegenzustellen. Denn der Zauberer Vengor alias Wallenkron hatte es geschafft, Iaxathan zu trotzen.
Sie hatten es alle mitbekommen, die der siebenarmige Meister nicht zu sich hingerufen hatte. Sie hatten die Entleibung des Meisters körperlich wahrgenommen, hatten einen Moment gedacht, selbst in lodernden Flammen zu verbrennen. Dann fühlten sie, wie der mit ihnen verbundene Geist des Meisters mit einer anderen Kraft zusammengeflossen war und dann regelrecht darin verging. Das hatte ihnen die Besinnung geraubt. Denn ohne den sie durchströmenden Geist des Meisters waren sie schwächlich. Nun erwachte einer nach dem anderen von ihnen, je satter und jünger, desto früher. Irgendwas oder irgendwer flüsterte aufmunternde Worte. Dann sprach eine laut hallende Frauenstimme, die aus allen Richtungen zu gleich zu klingen schien:
"Es freut mich, dass ihr alle erwacht seid, auch wenn viele von euch für den Handlanger des schwächlichen Königs ihr Leben gegeben haben. Ich habe alles, was euer Meister war und konnte in mich aufgesogen und mit mir vereint. Somit bin ich, Gooriaimiria, die Göttin der Nachtkinder, nun eure Meisterin."
"Was hast du mit unserem Meister getan, Anmaßende? Unser Meister hätte niemals sein Leben gegeben. Er konnte es gar nicht", protestierte einer der hier versammelten Nachtsöhne.
"Eine übermächtige Vernichtungskraft hat seinen Leib zerstört, schneller und gründlicher, als seine eigene Selbstheilungskraft es hätte ausgleichen können. Dadurch wurde sein Geist freigesetzt, und ich habe ihn mir einverleibt und zu einem kleinen Teil von mir selbst gemacht. Deshalb kann ich zu euch sprechen und euch sagen, dass ich ab heute eure Herrin und Göttin bin. Mich abzulehnen wird bestraft."
"Der Meister ist unsterblich. Er hat uns von seinem Blut trinken lassen, damit wir einen Teil seiner Kraft haben. Gib ihn sofort wieder frei!"
"So, Haematodendrios, der du schon neunhundert Jahre lebst? Ja, ich höre deine Gedanken und sehe die Bilder deiner Erinnerungen, weil ich die Kraft deines früheren Meisters in mich aufgenommen habe. Also erkenne mich an!"
"Ich habe von dir gehört, selbsternannte Götzin. Du bist die, die den heiligen Stein des großen Schöpfers an sich gerissen und sich mit ihm vereinigt hat. Gib unseren Meister wieder frei, sonst werden wir Boten aussenden, die den heiligen Stein finden und dich daraus herauspressen."
"Gut, du willst es so", hörten die anderen. Dann bekamen sie mit, wie Haematodendrios, ein wahrhaft baumlanger Vampir, blitzartig von einer schwarzen, schattenhaft wirkenden Spirale umschlungen wurde und seine Körperumrisse mit diesem Schatten verschmolzen, bevor die Spirale einschrumpfte. Sie hörten die angsterfülten Aufschreie des auf diese Weise ergriffenen. Sie hörten seine Gedanken weiter fort fliegen. Dann war da nur ein kurzer Schmerzensschrei, der zu einem schlagartig leiser werdenden Freudenschrei wurde. "Er wollte das so. Ich habe ihn auch zu mir geholt und vertilgt. Das kann ich mit jedem von euch tun, der oder die mir mit Worten, Taten oder Gedanken widerstrebt. Ich bin Gooriaimiria, die Göttin aller Nachtkinder. Das habt ihr gefälligst anzuerkennen. Oder Wessen Körperkraft und Seele soll ich mir als nächstes schmecken lassen?"
"Du bist wirklich mächtig. Wir können nichts gegen dich tun", erwiderte ein anderer Nachtsohn abbittend und verzweifelt. "So ist es. Wer mich zu stürzen wagt stürzt selbst und macht mich noch stärker. Also hört zu, was ich euch und denen, die gerade nicht in eurer Versamllungshöhle sind zu sagen habe ..."
Nachdem Gooriaimirias wie aus allen Richtungen zugleich in die ehemaligen Diener Heptachirons eindringende Stimme beschrieben hatte, was die schlafende Göttin wollte, sahen sie sich alle betreten an. Sie hatten versucht, den Meister wachzuhalten, gerade um nicht dieser Götzenmutter zu dienen. Doch die hatte ihren Gegenspieler überwunden und auch den Urvater und Schöpfer aller Nachtkinder aus seinem schützenden Gefäß herausgezerrt. Damit war sie nun die einzige mächtige Herrin aller Nachtkinder auf der Erde, eine wahrhaftige Göttin. Damit mussten sich die Vampire Heptachirons nun abfinden oder in der schwarzen Todesspirale vergehen.
"Wir haben immer dem Meister gedient. Wir werden dir nur dienen, wenn du uns nicht in tödliche Gefahren treibst", gedankensprach Lunaurea, eine der drei Überlebenden der Manoquinto-Sippe.
"Mädchen, wenn ich sage, "Da hingehen", dann gehst du da hin, oder besser, ich befördere dich auf dem selben Weg, wie ich diese Widerborstigen zu mir hingeholt habe. Also seid ihr nun meine Diener, von heute bis zum Ende aller Zeiten", stellte Gooriaimiria klar. Dann sprach ihre Gedankenstimme wohlwollend: "Am Ende werdet ihr sehr froh sein, das ich meine schützende Hand über euch halte und ich mehr als zwei Augen und Ohren habe, zu erkennen, wem etwas widerfährt. Also dankt der Fügung, dass ich endlich euer aller Göttin sein darf!"
"Wir erkennen deine Macht an", sprach ein vom äußeren Schein her uralter Vampir mit schlohweißem Haar. "Dann ist es ja gut", erwiderte die geisterhafte, lautstarke Stimme. Dann fuhr sie mit der Beschreibung ihres Plans fort.
Sie nahm es hin, dass auch ihr wie allen Bewohnern genau eine Minute nach Mitternacht zum Geburtstag gratuliert wurde, wenn da nicht gerade Vollmond war. Celestina Quatroventi, die selbst den feisten Domenico Cantomonti um einen Kopf überragte, bedankte sich gewohnheitsmäßig höflich für das ihr dargebrachte Ständchen. Zweiundvierzig Jahre war sie nun alt. Für eine Hexe war das noch sehr Jung. Für ein Kind wie den kleinen Giacomo oder die erst drei Jahre alte Luisella Arbeloroso war das allerdings schon eine Ewigkeit.
"Jetzt sind du und Gianna schon sechzehn Jahre bei uns und kommt wunderbar mit uns Mondmenschen aus", sagte der 1,80 m lange und ein Meter durchmessende Domenico Cantomonti und strahlte über sein kinnbärtiges Mondgesicht. "Hier habe ich eine Flasche mit meinem besten Mondbergwein, der genauso jung ist wie du. Möget ihr beiden euch wunderbar verstehen", fügte er hinzu und übergab der Gefeierten eine bauchige Glasflasche mit einem wachsversiegelten Korken.
"Danke dir, Dom. Den werde ich nachher feierlich entkorken, wenn ihr alle zum Kuchenessen kommt", sagte Celestina. Sie mochte es zwar nicht, die halbe Inselgemeinde bei sich bewirten zu müssen, aber sie hatte schnell eingesehen, dass sie dieses ewige Spiel des ritualisierten Miteinanders mitspielen musste, wenn sie hier nicht von allen schief angesehen werden wollte. Das hatte sie auch ihrer Tochter Gianna beigebracht, die wegen ihrer Jugend noch weniger Probleme damit hatte, zu sagen, was ihr nicht gefiel.
"Dann sehen wir uns nachher so um ... vier?" fragte Selina Delli Ponti, Giacomos Mutter. Celestina bejahte es. Immerhin würden die anderen die Geburtstagstorte mitbringen. Sie hatte bis dahin nur die Getränkevorräte und die Dekoration zu besorgen.
Endlich war sie wieder allein in ihrem Haus. Immerhin hatte die Nachtkühle die hohen Räume nun soweit heruntergekühlt, dass sie problemlos schlafen konnte.
Sie wollte gerade aus dem himmelblauen Morgenrock schlüpfen, in dem sie die um Mitternacht aufgelaufenen Gratulanten begrüßt hatte, als etwas an ihrem Kamin im tanzsaalgroßen Salon rumorte. Etwas raschelte von oben herunter und landete leise polternd auf dem Kaminrost. Es war ein kleiner Leinenbeutel, der mit einem dünnen schwarzen Faden zugebunden war. Wer schickte ihr denn sowas? Wenn sie Geschenke bekam klopften die überbringer oder ihre Eulen ans Fenster oder an die Tür. Aber niemand schickte etwas durch einen Kamin, seitdem Kamine offiziell als Beförderungswege verwendet wurden. Die einzige, die das trotzdem und gerne getan hatte war die dunkle Hexe Ladonna Montefiori gewesen.
Celestina war es nicht ganz geheuer, als sie den ihr ins Haus gefallenen Leinenbeutel näher betrachtete. Der dünne Faden war kein Faden, sondern ein mehrfach gedrehtes und dreifach verknotetes Stück schwarzes Haar. Auch das war typisch für Ladonna Montefiori, erinnerte sich Celestina aus den Berichten ihrer heimlichen Mitschwestern vom Orden der drei Monde. Mochte es also wahr sein, dass sie wieder da war? Doch warum schickte sie ihr dann eine Gabe? Celestina erschauerte. Suchte Ladonna nach möglichen Nachfahren ihrer einstigen Mitschwestern und wusste, dass Celestina Quatroventi eine Nachfahrin von Dalia Lunarossa war?
Um sich keinen Fluch oder ein am Leinenstoff haftendes Gift einzuhandeln zog Celestina besondere Drachenhauthandschuhe an. Doch als sie versuchte, damit das festgebundene Haar zu lösen rutschten ihre Finger immer wieder ab. Dann nahm sie eine silberne Schere und setzte an, den aus Frauenhaar gedrehten Faden durchzuschneiden. Da meinte sie, dass ihr jemand eine eiskalte Zange um den Hals legte. Sie schloss behutsam die Schehre und fühlte, wie der eisige Griff ihr die Luft abschnürte. Dann begriff sie. Ladonna hatte schon immer Wert auf Zauber mit Blut und wahren Namen gelegt. Wenn Celestina wissen wollte, was im Beutel war musste sie ihn mit bloßen Händen anfassen. Wollte sie wirklich wissen, was in dem Beutel war? Ja, sie wollte das.
Sie legte die Schere weg und zog die Handschuhe aus. Jetzt konnte sie den Beutel greifen und auch den dreifachen Knoten lösen. Es ging ganz einfach, womöglich zu einfach. Als sie den letzten Knoten gelöst hatte sah sie, dass in dem Beutel ein schwarzer Steinbrocken lag, nein, kein Stein, sondern ein Kohlestück. Da fiel ihr wieder ein, dass Ladonna für ihre berühmt-berüchtigten Feuerrosen immer etwas brennbares benutzt hatte, ein Stück holz oder eben ein Stück Kohle. Sollte sie das Kohlestück dem Inselrat übergeben, damit die herausfanden, ob es wirklich ein Feuerrosenzauber war? Doch die würden sie fragen, warum ausgerechnet sie sowas bekam. Am Ende hatte die offenbar zurückgekehrte Rosenkönigin noch was eingewirkt, dass jeden Verrat bestrafte. Solange sie das Kohlestück nicht anfasste blieb der Zauber sicher untätig. Doch was, wenn jemand anderes das Kohlestück bei ihr fand und den Zauber auslöste?
Mit einem gewissen Unbehagen griff Celestina Quatroventi in den Beutel und umfasste den kinderhandgroßen Kohlebrocken. Sie zog ihn behutsam aus dem Beutel frei. Jetzt merkte sie, dass sich das Kohlestück erwärmte. Schnell warf sie es in den Kamin zurück. Ja, das Kohlestück glühte bereits dunkelrot. Dann glühte es hellrot. Unvermittelt schnellte eine blutrote Flamme aus dem glühenden Brocken heraus und richtete sich zu einer fingerdicken Feuersäule auf. Aus dem oberen Ende spross ein runder Flammenkranz, fünf rote Flammen, die eine kleinere Flamme in der Mitte umflackerten. Celestina keuchte. Ja, so hatte ihre Vorfahrin es in ihrem geheimen Tagebuch erwähnt. Das war eine von Ladonnas Feuerrosen.
Zehn Sekunden stand die aus purem Zauberfeuer bestehende Rose kerzengerade auf dem Kaminrost. Dann kippte der flammende Blütenkelch in Celestinas Richtung. nun erklang daraus eine glockenreine Frauenstimme: "Sei gegrüßt, Erbin einer treuen Schwester! Sei gegrüßt, Celestina Quatroventi! Ich, Ladonna Montefiori, Königin der Rosen, Hochmeisterin der ruhmreichen Sororitas Rosarum Ignium, beglückwünsche dich zu deinem Wiegentag und entbiete dir meine Aufmerksamkeit. Wenn du diese meine Botschaft empfängst weiß ich, dass vom Blute und Geiste meiner einst so treuen Mitkämpferin noch genug in dir lebendig ist, dass mein Wort dich erreicht. So stell dich in der nächsten Vollmondnacht an jenem Eichenbaum ein, unter dem Dalia und ich uns einst die Treue schworen. Sage keinem anderen, dass du diese Botschaft erhalten hast! Komme allein! Verrätst du anderen, das du meine Botschaft erhalten hast, oder weigerst du dich, meine Aufforderung zu befolgen, so wirst du im selben Momente innerlich verdorren, sobald du meinem Wort zu Wider handeltest. So sei erfreut, dass du eine Auserwählte bist! Erscheine vor mir und vereine deine und meine Stärke, auf dass die Feuerrose in neuer Kraft und altem Glanze neu erblühet!
Als das Letzte Wort aus dem flammenden Rosenkelch verklang löste sich die Feuerrose in eine weiße Rauchspirale auf. Das Kohlestück, aus der sie erblüht war, zerfiel im selben Moment zu grauer Asche. Celestina fühlte, wie die Botschaft in ihr nachwirkte. Sie wusste, dass eine mit einer Feuerrose verkündete Aufforderung ein Erfüllungsfluch war. Kam sie der Aufforderung nicht nach, erfolgte die in der Botschaft verkündete Strafe. Doch wenn sie ihr nachkam, was dann? Dann würde die Rosenkönigin ihr wohl einen neuen Treueschwur abverlangen. Sicher empfand sie immer noch Sympathien für alle entschlossenen Hexen, die versuchten, das erstarrte Gefüge der Menschenwelt zu durchbrechen, die zögerliche, ja feige in Deckung verharrende Zaubererwelt aufzurütteln und die immer wahnwitzigeren Fortschrittskapriolen der Moggli zu beenden, um sie auf den Stand zurückzuführen, der ihnen seit je her gebührte. Doch Ladonna Montefiori war nicht nur sehr zaubermächtig, sondern auch gnadenlos und Unerbittlich. Wer ihr Treue schwor konnte nur durch den Tod von ihrem Eid entbunden werden. Wollte sie das, dieser Hexe folgen, ohne zu wissen, ob in eine bessere Zukunft oder in einen unendlich tiefen Abgrund? Dann dachte sie, dass dieses Weib auch Gianna in der Akademie mit so einer Rose behelligen konnte. Denn wenn Ladonna von irgendwoher wusste, dass Celestina eine Nachfahrin der Gründungsschwester des Drei-Monde-Ordens war, dann galt das auch für Gianna. Sicher, Gianna faszinierten die Moggli, weil die Sachen ohne Magie machen konnten, die vor hundert Jahren nur mit Magie gelangen. Doch sie war auch stolz darauf, einer weit zurückreichenden Hexenfamilie anzugehören.
Celestina bangte einen Augenblick, ob jemand anderes die Botschaft der Feuerrose mitgehört hatte. Doch dann fiel ihr ein, dass diese Art von Botenzauber nur dort wirkte, wo nur der klar bestimmte und in der Botschaft eingewirkte Namensträger zuhören konnte. War auch nur ein anderes denkendes Wesen in Hörweite, schwieg der Botenzauber oder dessen stofflicher Träger zerfiel, ohne die darin eingewirkte Botschaft zu übermitteln. Also hatte nur Celestina diese Nachricht gehört. Das hieß aber auch, dass sie an die darin erwähnte Aufforderung gebunden war. Sie musste sich mit Ladonna treffen, ob ihr das gefiel oder nicht, und sie durfte es niemandem sagen, wenn sie nicht sofort sterben wollte. Dann wäre Gianna alleine. Wie die dann reagieren würde wusste Celestina nicht. Aber sicher würde es ihr übel bekommen, wenn sie sich an Ladonna zu rächen versuchte. Nein, das durfte Celestina Quatroventi nicht riskieren. Auch deshalb musste sie zu jenem Eichenbaum, von dem Dalia Lunarossa damals geschrieben hatte, dass dort mächtige Druidinnen ihre Rituale gewirkt hatten.
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