DAS GROßE ERWACHEN

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

E-Mail: hpfan@thorsten-oberbossel.de
http://www.thorsten-oberbossel.de

Copyright © 2020 by Thorsten Oberbossel

__________

P R O L O G

Die Unehrlichkeit eines Baustreckenbegehers führt dazu, dass die vor Jahrhunderten von Sardonia in eine Versteinerung gebannte Dunkelhexe Ladonna Montefiori aus dem Bann erlöst wird und ihrerseits nach der Vorherrschaft über Hexen und Zauberer strebt. Die Zaubererwelt erfährt von der Wiederkehr der zu einem Viertel veelastämmigen Hexe, kann sie jedoch nicht ergreifen. Vor allem Sardonias Erbin Anthelia muss davon ausgehen, dass sie bald mit der Wiedererwachten zusammentreffen könnte.

Neben der wiedergekehrten Ladonna hält weiterhin die geheime Gruppierung Vita Magica die Zauberei ministerien weltweit in Atem. So wird der US-amerikanische Zaubereiminister Chroesus Dime durch einen den Geschlechtstrieb anregenden Trank zum Geschlechtsakt mit der überreichen Phoebe Gildfork getrieben und von dieser wenige Wochen später im Auftrag Vita Magicas durch einen verächtlichen Fluch an das Wohlergehen der dabei gezeugten Kinder gekettet. Erst der Alleingang des Heilers Silvester Partridge deckt diese Machenschaft auf, allerdings zum Preis, dass Minister Dime durch einen völligen Umkehrzauber gegen Flüche zu einer Zwillingsschwester Phoebes wird und eines der von Phoebe empfangenen Kinder weitertragen muss, während Silvester Partridge von Vita Magica erst verschleppt wird, sich aber gegen diese behauptet. Er verschwindet mit der unerbetenen Hilfe einer übergroßen Frau aus Gold bis auf weiteres aus der Welt.

Der in seinem schwarzmagischen Spiegel ausharrende Geist des Dunkelmagiers Iaxathan setzt alle Hoffnungen auf den durch Hydrablut zum siebenarmigen Supervampir veränderten Diener Heptachiron. Dieser soll gegen den Vormarsch der Anhänger der selbsternannten schlafenden Vampirgöttin Gooriaimiria ankämpfen. Doch Ladonna Montefiori stellt sich dem Siebenarmigen entgegen und schafft es, ihn trotz seiner durch Hydrablut verstärkten Selbstheilungskräfte in einer heftigen Explosion zeitgleich freiwerdender Feuerzauber zu entkörpern. Iaxathan will die dabei freigesetzte Seele Heptachirons daran hindern, sich mit Gooriaimiriaa zu vereinen. Diese nutzt die Gelegenheit, Iaxathans Geist aus dessen Ankerartefakt herauszureißen und in ihrem eigenen Inneren einzuschließen. Weil Iaxathans ausgewählter Knecht Kaharnaantorian versucht, den freigewordenen Zauberspiegel in Besitz zu nehmen löst er dessen Selbstzerstörung aus. Diese erzeugt eine ungeheuer mächtige Welle aus dunkler Zauberkraft, die um die ganze Welt brandet und alles für dunkle Zauber empfängliche mit zusätzlicher Kraft erfüllt. Zwar ist damit die Macht Iaxathans gebrochen. Doch sein finsteres Vermächtnis erwacht in der Welt.

__________

Im Sonnenturm Worakashtaril in der Mojavewüste, am Abend des 25. April 2003 christlicher Zeitrechnung

Schnelles, helles Glockengeläut ließ die hochschwangere Dardaria zusammenschrecken. Das in ihr ruhende Kind erschrak wohl im selben Moment und begann, sich unangenehm spürbar zu regen.

"Ist gut, Akurdarian, Mami macht, dass wieder Ruhe ist", sagte sie leise.

"Geliebter und Vater unseres ersten gemeinsamen Kindes, wo bist du?" fragte sie mit ihrer Geistesstimme.

"Ich war in der Halle der vorausschauenden Gnade und wollte sehen, welche der dort ruhenden Seelen demnächst wieder auf die Welt zurückkehrt. Aber unsere Geschwister auf der Insel haben wohl noch keine neuen Körper für sie erzeugt. Jetzt bin ich unterwegs zum Raum des großen Pendels. Denn von da kommt die klingende Warnung."

"Gut, ich komme auch", kündigte Dardaria an.

"Wenn diese Warnung ertönt ist was sehr schlimmes geschehen oder steht unmittelbar bevor", erwiderte Yantulian rein geistig. Dardaria grummelte mit körperlicher Stimme. Dann erwiderte sie ebenfalls mit ihrer Gedankenstimme: "Das war mir schon bewusst, als ich dieses Klingen hörte, mein Gefährte."

Sie stand auf und musste sich anstrengen, nicht mit zu ausladenden Unterleibsbewegungen den gemütlichen kleinen Wohnraum zu verlassen. Über die Treppen und Gänge innerhalb des ihr zum Zuhause gewordenen Turmes Worakashtaril gelangte sie vor die Tür zu jenem Raum, in dem über einer goldenen Scheibe mit fünf gleichmittigen Kreisen das große Pendel hing, dass dunkle Kräfte auf der Welt anzeigen konnte.

Dardaria wäre fast gestürzt, als sie sah, was in diesem Raum geschah. Das sonst gemächlich schwingende Pendel war zu einem wild kreisenden Schemen geworden, dessen eigene Fliehkraft ihn über den äußersten der fünf Kreise hinaushob. Yantulian und sie hörten das wilde schwirren der Sonnenglanzschnur und das immer noch laute Geläute einer aus der Decke herabgesenkten Mondglanzglocke, die keinen Klöppel hatte, sondern aus sich selbst klar und hell tönte.

"Wir hören und verstehen die klingende Warnung!" rief Yantulian der wild läutenden Glocke zugewandt. Darauf erstarb das schnelle Geleäute ohne üblichen Nachhall. Nur das irgendwie in großen Schwung versetzte Pendel kreiste mit wild schwirrendem Geräusch weit außerhalb seines zugewiesenen Schwingungsbereiches. Dabei durchflog es die Hälfte des verfügbaren Raumes.

"Irgendeine dunkle Kraft überrollt die ganze Welt. Das Pendel wird von ihr überbeschleunigt und kann keinen Ursprungsort zeigen", sagte Yantulian, der seine hoffnungsvoll gerundete Gefährtin aus Sorge um sie und sein kommendes Kind vor der Tür zurückhielt, damit sie nicht beide von dem wild herumkreisenden Pendel getroffen werden konnten.

"Das kann nur der große dunkle König sein, der das gemacht hat. Er hat offenbar einen Weg gefunden, einen großen Sturm aus böser Kraft über unsere Welt zu schicken, um die seinen zu stärken und die Feinde zu schwächen."

"Dann sind unsere Geschwister in Gefahr", seufzte Yantulian. Dardaria nickte ihm zu und rief im Geiste Faidaria, die älteste ihres Volkes und damit dessen Mutter und Herrscherin. Diese antwortete sofort. Yantulian gab über seine hochschwangere Gefährtin weiter, dass das Pendel wild durch den Raum kreiste.

"Das zu mir hingelangte Zeichen unseres Urvaters hat kurz geleuchtet und mich in Morgenlichtfarbenes Licht gehüllt. Die anderen, ob bereits erwachsen oder erst wenige Mondwechsel alt, fühlen nichts von einer dunklen Kraft. Ah, Gwendartammaya spricht zu uns allen. Auch das ihr zugegangene Zeichen unseres Urvaters hat geleuchtet.

"Was konnte der dunkle König, der Feind aller Lichtvölker, erschaffen haben, dass derartig stark ist?" wollte Dardaria wissen.

"Vielleicht hat er einen Weg gefunden, seine immer noch auf der Welt umhergehenden Geschöpfe, die Nachtkinder, zu einer vereinten Quelle böser Kraft zu machen und sie in einem Akt der Bosheit aufzulösen oder dazu zu bringen, ihre Kraft um die Erde zu schicken, um Dinge und Wesen mit seinem dunklen Hauch zu tränken. Wir können froh sein, dass die von uns errichteten Wälle des Vaters Himmelsfeuers uns gegen frei fliegende Kräfte der Mitternacht beschirmen."

"Ja, aber das Pendel ... Moment, Herrscherin Faidaria. Das Pendel verlangsamt seine schnellen Kreise. Ja, jetzt schwingt es nur noch über dem ihm zugedachten Feld. Es kreist aber noch, als sei es kein Pendel, sondern eine über einem Kopf gewirbelte Schleuder. Oh, jetzt hängt es reglos über dem vereinten Mittelpunkt der fünf Entfernungskreise. Es steht still!"

"Es steht still? Unsere Eltern haben es so geschaffen, dass es von den Bewegungen der Himmelskörper immer in Gang gehalten wird. Es kann nicht stillstehen. Denn dann würden unser Vater Himmelsfeuer und die kleine Himmelsschwester nicht mehr da sein, von den fernen Brüdern unserer großen Mutter ganz abgesehen. Erwartet mich in einem Tageshundertstel!"

Dardaria bestätigte den Befehl ihrer Herrscherin und wandte sich dann an Yantulian, der die geistige Zwiesprache mitgehört hatte.

"Es hängt still, ohne Antrieb, ohne Richtung", seufzte er und ging auf das Feld zu, über dem das Pendel hing. Dardaria wollte ihm zurufen, dass er es nicht betreten durfte. Doch er blieb knapp einen halben Schritt vom äußersten der fünf Entfernungskreise stehen und nahm seinen Kraftausrichter. "Die Wechselwirkung zwischen dem Ursprungszeigefeld und dem Pendel ist unterbrochen. Ich kann eine Kraft in dem Ursprungsweisefeld erfühlen und ein sehr schwaches Singen im Pendel selbst hören. Offenbar hat die dunkle Woge, die es aus der Bahn geschleudert hat alle ihm eingewirkte Kraft aufgezehrt. Ich weiß nicht, wie ich das Pendel wieder in Schwung bringen kann und ob das überhaupt von einem alleine geschafft werden kann."

"Was heißt das, mein Gefährte?" wollte Dardaria wissen.

"Das wir derzeitig nicht erfahren können, wo die Mitternachtsmächte sich besonders stark zeigen, geliebte Gefährtin und Trägerin meines ersten Kindes", erwiderte Yantulian und trat von dem nun kraft und reglos niederhängenden Pendel zurück.

Während sie auf Faidaria warteten versuchte Yantulian mehr über die bewirkten Zauber zu erfahren, die das Anzeigependel in Gang brachten. Dardarias als wachender Geist im Sonnenturm verbliebene Mutter kam zu ihr und sagte: "Das Pendel wurde von einer starken Kraft der Mitternacht überwältigt. Es kann sein, dass es nicht mehr in Gang gebracht werden kann. Jener, der es einst in Gang setzte zog es vor, sein Wissen seinem Sohn zu übergeben und dann über die Brücke der Welten in das andere Reich hinüberzugehen, wo die entschlafenen wohnen, die sich nicht an diese Welt binden wollten wie ich oder die Mutter von Gisirdaria und Goardarian."

"Weißt du, wer der Sohn ist, verweilende Mutter?" fragte Dardaria.

"Ja, weiß ich. Doch er wird euch nicht helfen, denn sein inneres Selbst ruht nun in einer der Schalen der Bewahrung und wartet auf die Zeugung eines neuen Körpers. Es ist Dargarrian, Yanhanarias Gefährte."

"Also der Sohn deiner Schwester, verweilende Mutter."

"Ja, meine unsere Zukunft im Leibe tragende Tochter", bestätigte Dardarias Mutter, die als lebende Bewohnerin des erhabenen Reiches Sirdaryania, Morgenfeuer, geheißen hatte, von ihrer noch lebenden Tochter aber nur als verweilende Mutter angesprochen werden wollte.

"Gibt es sonst niemanden, der oder die weiß, wie das Pendel in Bewegung gebracht und seine Gabe geweckt werden kann, die Kräfte der Mitternacht zu zeigen?"

"Darfaian wusste noch von seinem Wesen und Wirken. Doch der hat für uns alle seinen Leib gegeben und kann wohl auch nicht noch einmal zurückkehren, weil er an einem Ort gefangen ist, von dem er aus eigener Kraft und auch nicht durch die in Liebe erfolgte Zeugung neuen Lebens fortgelangen kann", seufzte Dardarias als Geist verweilende Mutter. Dann sah sie ihre noch lebende Tochter sehr ernst an. "Das ist dein erstes Kind, dass du in deinem inneren Nest trägst, richtig. Dann sollte es eigentlich ein neues inneres Selbst werden, um die Vermehrung unserer Vielfalt zu sichern", betonte Sirdaryania. "So habe ich es gelernt, dass die Erstgebärenden ein völlig neues inneres Selbst in ihrem Kind heranreifen lassen", bestätigte Dardaria.

"Ich spreche mit meiner Schwester und vor allem frage Faidaria, wenn sie hier ist, ob sie den Segen der vorzeitigen Erfüllung erteilt. Jetzt, wo sie das im Vormittagsland gefundene Zeichen unseres Vaters Himmelsfeuer erhalten hat, kann sie damit etwas ausrichten, was nur Träger seines Zeichens tun können."

"Was genau?" wollte Dardaria wissen.

"Das darfst du nur erfahren, wenn meine hier verweilende Schwester mir zustimmt und Faidaria den erbetenen Segen gewährt, meine Tochter", erwiderte Sirdaryania. Mit diesen Worten entschwand sie durch die Wand von Dardarias und Yantulians Schlafraum.

"Öhm, deine Mutter wollte dir nicht sagen, was der Segen der vorzeitigen Erfüllung ist. Ich weiß das", sagte Yantulian und wollte gerade ansetzen, es seiner Gefährtin zu sagen, als eine blitzartig aus einer Wand hervorschnellende Gestalt ihn traf und ihn für zwei Atemzüge in hellrotes Licht hüllte. "Ja, ja, ich sage es nicht, Vater. Sie muss es unvoreingenommen hinnehmen", jammerte Yantulian. Dann erlosch das Licht, und sein als körperloses Selbst verweilender Vater Miridarian schwebte in seiner orangeroten Prunkbekleidung durchsichtig vor ihm und Dardaria.

"Du darfst mir das nicht verraten, was meine Mutter vorhat, richtig?" wollte Dardaria wissen. "Nein, darf er nicht. Unser Eid gebietet, die Vorkehrungen des Worakashtaril nur dann zu nutzen, wenn sie wahrhaftig benötigt werden und uns hier verweilenden bewusst ist, dass sie angewandt werden müssen", sprach Yantulians Vater mit unüberhörbarer Unerbittlichkeit.

Als dann wie vorangekündigt Faidaria aus einer hellen Lichtspirale heraustrat trug sie ihren Sohn Ilangammayan in einem Tragetuch auf dem Rücken. Einer der ersten Zwiegeborenen der Sonnenkinder blickte sich mit seinen großen Kinderaugen um und sprach: "Das Pendel ist wahrhaftig zum Stillstand gekommen? Das ist nicht erfreulich. Ich habe meine Wiedergebärerin solange bequängelt, mich mitzunehmen, weil ich denke, dass ich ein wenig von dem mitbekommen habe, was Dargarrians Vater ihm über das Pendel mitgeteilt hat. Er wollte wohl, dass ich das irgendwann selbst wieder richten kann, wenn es durch einen der drei einzigen Fälle beschädigt oder einfach angehalten werden sollte. Aber weil meine liebe, mich mit ihrer Milch nährende Wiedergebärerin mir keinen Kraftausrichter geben will, weil ich den mit meinen kurzen Säuglingsarmen noch nicht richtig führen kann, hoffe ich mal, dass Yantulian das von mir übernehmen und durchführen kann."

"Welche drei Fälle?" fragte Yantulian. Darauf gedankenantwortete Ilangammayan: "Wenn mindestens einhundert Mitternachtsfolger zur selben Zeit das Lied der längsten Nacht vollenden, oder wenn unser Vater Himmelsfeuer sein strahlendes Angesicht verliert , oder seine kleine Tochter, die die Schwester von uns allen ist und die Nächte hütet von ihrem ewigen Wachposten verstoßen wird."

"Die kleine Himmelsschwester und auch Vater Himmelsfeuer sind noch bei uns", sagte Yantulian. "Also kann es nur die erste Bedingung gewesen sein. Dann kennen mindestens noch hundert der jetztzeitigen Mitternachtsfolger das Lied der längsten Nacht und haben es vollbracht, es zur selben Zeit zu vollenden", seufzte Dardaria. "Oder jemand hat ein Gefäß geöffnet, in dem so viele Lieder der längsten Nacht hineingewirkt wurden, dass es ausreicht, das unbedachte Wesen zu vernichten und gleichzeitig die Welt mit einer Woge aus mitternächtiger Kraft zu überspülen", vermutete Ilangammayan. Yantulian dachte, dass der für einen gerade einmal fünf Mondkreise alten Säugling schon sehr gut schlussfolgern konnte.

"Deine Augen sehen meinen kleinen, noch schwächlichen Körper. Aber dein Geist hört mich schon seit der Zeit vor meinem Entschlüpfen aus Faidarias innerem Nest", gedankenerwiderte Ilangammayan. Dardaria grinste ihren Gefährten an. Offenbar hatte der zu kraftvoll gedacht, so dass der Wiedergeborene es wie mit den Ohren hören konnte.

"Wieso ein Sonnensohn und keine Tochter?" fragte Dardaria mit hörbarer Stimme.

"Weil soweit ich weiß eine Verbindung zwischen dem inneren Feuer unserer großen Mutter und dem Lauf des großen Vaters Himmelsfeuer geschaffen werden muss, um die Kräfte und Regungen der Mitternächtigen zu erspüren und darauf hinzuschwingen. Zumindest darf ich mir das Pendel mal ansehen, hat die, die mich noch gerne mit sich herumträgt gesagt."

"Ich kann dich auch gerne hierlassen, dass Dardaria ein kleines Kind zum Üben der nötigen Verrichtungen hat", gedankensprach Faidaria. Darauf verzog der auf ihrem Rücken getragene Säugling sein kleines, pausbäckiges Gesicht.

"Meine hier verweilende Mutter will mit ihrer Schwester sprechen, weil sie hofft, dass etwas gelingt, was mit einem Segen der vorzeitigen Erfüllung gelingen könnte", sagte Dardaria. Ihr Gefährte nickte und sah dabei irgendwie befremdet auf Dardarias vorgetriebenen Bauch, als sei dort nicht sein Kind, sondern ein gefährliches Ungeheuer eingebettet.

"Der Segen der vorzeitigen Erfüllung? Davon höre ich heute zum ersten mal", erwiderte Faidaria. Wie als habe sie damit einen Ruf ausgestoßen erschien Sirdaryania aus der Wand im Empfangsraum des Sonnenturmes.

"Du kannst die nötige Segensformel in der Halle des Wissens erfragen, sobald du zustimmst, ihn zu erteilen, Faidaria. Meine hier weilende Schwester hat es erlaubt, dass du ihn erteilst und damit bewirkst, was die für uns alle sehr unangenehme Lage schneller als üblich beenden kann, wenngleich ... Na ja, später, wenn es vollbracht ist."

"Öhm, meine werten Geschwister und meine Mutter und Königin, darf ich vorher mal das Pendel sehen und mir ansehen, wo genau es hindeutet?" gedankenfragte Ilangammayan.

"Gut, das zuerst", bestimmte Faidaria und ließ sich von Yantulian den Weg zeigen. Dardaria folgte ihnen. Ihre verweilende Mutter schwebte geräuschlos hinterdrein.

"Was hast du genau erkundet, Yantulian?" wollte Ilangammayan von Yantulian wissen. Dieser knüpfte per Blickkontakt eine direkte Geistesverbindung zu seinem wiedergeborenen Artgenossen. So dauerte es nur vier Atemzüge, bis Ilangammayan wieder zu allen in Gedanken sprach: "Ja, das habe ich befürchtet. Die mitternächtige Kraft ist durch die Erde gelaufen und hat damit die direkte Verbindung zwischen dem inneren Feuer der Erde und dem ewigen Feuer unseres Urvaters durchbrochen. Wie sie so wieder hergestelt werden kann, dass das Pendel seinen Dienst versehen kann weiß ich nur Bruchstückhaft. Kann sein, dass Yantulian und ich das Pendel wieder zum schwingen bekommen. Aber dass es dann auch die Quellen mitternächtiger Kräfte und Regungen zeigt kann ich so nicht versprechen."

"Zur ewigen Mitternacht, dann erfahren wir nicht mehr, wo sich die Mutter der Schatten und die Diener der schlafenden Göttin zu schaffen machen. Dann sind wir taub und blind und können nur im dunklen Nebel stochern", knurrte Yantulian. Wieder sah er seine Gefährtin an, als trüge sie was nicht so genehmes mit sich herum. Dann gab er sich einen Ruck: "Faidaria, unser aller älteste und Sprecherin, nur der Segen der vorzeitigen Erfüllung kann daran was ändern, auch wenn es dann wohl einen vollen Sonnenkreis dauern wird, bis das Pendel wieder schwingt. Aber besser als wenn es erst in zehn, zwanzig oder tausend Sonnenkreisen wieder schwingt."

"Ich weiß zwar nicht, worauf ich mich da einlasse, meine Geschwister und Geschwisterkinder, aber ich stimme zu und möchte den Segen der vorzeitigen Erfüllung erteilen", sagte Faidaria. Darauf antwortete Sirdaryania: "So gehe mit Yantulian in die Kammer des gesammelten Wissens und erfrage die Vorgehensweise. Dann lasse dich von ihm und Dardaria zur Halle der vorausschauenden Gnade führen. Nur dort kannst du bewirken, was nötig ist. Meine Schwester und ich werden auch dort sein, wenn du dort eintriffst."

"Hier, nimm ihn solange. Ich habe ihm vor einem halben Tag neue Ausscheidungsauffangpolster umgelegt. Aber du kannst ja herausfinden, ob du ihn in den Schlaf bekommen kannst oder wie du ihn halten musst, um ihm Milch zu geben."

"Ey, ich will nicht schlafen, und die da hat sicher noch keine anständige Milch, die mir bekommt. Außerdem will ich nicht der Milchbruder von Yantulians erstem Kind werden. Wenn das eine Tochter wird könnte ich die sonst nicht zur Gefährtin nehmen."

"Dann schlaf besser", sagte Dardaria und setzte sich auf einen bequemen Stuhl. Sie begann den mit einer bereits ausgereiften Seele geborenen zu wiegen. Der versuchte, sich dagegen zu wehren. Doch als sie das Lied des sanften Schlafes sang konnte er diesem nicht widerstehen.

Als Faidaria aus der Kammer des gesammelten Wissens zurückkehrte wirkte sie sehr ernst und besorgt. "Ich muss auch deine Zustimmung haben, damit der Segen wirkt, Dardaria. Denn nur wenn alle entscheidungsfähigen Beteiligten zustimmen wirkt er."

"Ich stimme dem zu, was immer geschehen soll", sagte Dardaria. Sie legte den kleinen Ilangammayan in das bereits vor mehreren Monden von Yantulian gebaute Schalenbett, dass sie für ihr erstes Kind benutzen wollte. Dann folgte sie Faidaria zusammen mit Yantulian, der nun auch so aussah, als trüge er eine unerträglich schwere Last, zur Halle der vorausschauenden Gnade. "Hier darf niemand laut sprechen, um die Ruhe der wartenden nicht zu stören", wies Yantulian seine älteste Anverwandte und Dardaria noch einmal hin. Dann betraten sie die Halle. Dort vernahmen sie den leisen Klang wie von hundert Stimmen, die in ihren Köpfen summten und so ein beruhigendes Gefühl erzeugten. Sie winkten der frei schwebenden Schale, die groß genug für bis zu vier erwachsene Sonnenkinder war und kletterten hinein. Dann dirigierte Dardaria sie mit ihren Gedanken zu einer der vielen leuchtenden Kugeln, die an den Wänden aufgereiht waren. Sie prüfte die Schriftzeichen und nickte. Hier wartete die aus ihrem Körper gelöste und in dieser Kugel eingebettete Seele Dargarrians auf einen neuen Körper.

Lautlos schwebten zwei Geisterfrauen herein, die sich vom Gesicht her so ähnlich waren, dass sie eindeutig als Schwestern zu erkennen waren. Es waren Sirdaryania und Dargarrians verweilende Mutter Tarikhaolia, Sternenlied. Sie hielten einander bei den durchsichtigen händen und schwebten nun zwischen der leuchtenden Kugel und der schwebenden Schale. Sirdaryania nickte Faidaria zu. Diese zog unter ihrem sonnengelben Gewand die Kette mit der goldenen Scheibe hervor, dem Zeichen ihres Urvaters, dass sie von ihren Artgenossen aus einer mit dunkler Kraft und von gefährlichen Wesen bewachten Höhle herausgeholt hatten. Damit berührte sie erst Dardarias Unterleib und dann die Kugel, die laut darunter leuchtender Beschriftung Dargarrians Seele enthielt. In diesem Moment legte Sirdaryania ihre Geisterhand ganz behutsam auf Dardarias Unterleib, während Tarikhaolias freie Hand sich über der leuchtenden Kugel herabsenkte. Dann summte Faidaria einen einzigen Ton und hielt das goldene meedaillon genau zwischen die beiden Geisterfrauen. Offenbar schickte sie auch Gedanken an ihr besonderes Schmuckstück. Denn es glühte auf und ließ die beiden Geisterfrauen wie im Licht der Morgenröte erstrahlen.

Dardaria ahnte, was diese Vorgehensweise bewirken sollte. Einen Moment regte sich in ihrem Geist Widerwille. Doch dann erkannte sie, dass sie darüber entschied, ob die Sonnenkinder schon bald wieder erfuhren, was in der Welt vorging oder auf lange Zeit von anderen Quellen wie den Jetzzeitmenschen abhängig sein würden. Da sie mit denen nicht mehr als nötig zu tun haben wollte gab sie sich dem hin, was Faidaria und die zwei im Licht des Medaillons immer heller erstrahlenden Geisterfrauen taten. So oder so würde sie Yantulians erstes Kind bekommen, wusste sie nun. Doch es würde nicht so sein, wie sie bisher gedacht hatte.

Faidarias durch geschicktes Atmen ununterbrochen klingender Summton hallte von allen Wänden wieder. Jetzt stimmten auch die zwei Geisterfrauen in diesen Ton ein, verliehen ihm einen erhabenen, ja überirdischen Mehrklang. Dann passierte es.

Die Leuchtkugel erstrahlte in hellem weißen Licht. Gleichzeitig erstrahlte ein Licht aus Dardarias Unterkörper. Sie vermeinte, einen erschreckten Aufschrei zu hören, den Aufschrei eines Kindes. Dann meinte sie, von einer inneren Wärme erhitzt zu werden. Gleichzeitig floss das weiße Licht aus der Kugel durch die beiden Geisterfrauen hindurch und wurde zu einem faustgroßen weißen Lichtball verdichtet, der einen Moment in Sirdaryanias durchsichtiger Gestalt schrumpfte und wieder anwuchs, bevor er mit einem Ruck aus Dardarias Mutter in Dardarias Körper übersprang. Sie fühlte, wie etwas in ihr heftig zusammenzuckte und meinte, etwas würde ihr vom Bauch in die Finger- und Zehenspitzen schießen. Dann fühlte sie, wie sich das in ihr heranwachsende Kind bewegte. Sie fühlte, wie es alle seine Glieder ausbreitete und sich gegen ihr Inneres stämmte. Dann hörten sie alle die erschrocken klingende Gedankenstimme eines bisher stummen Mannes, die jedoch bereits immer höher wurde, je länger sie klang: "Zur Mitternacht! Wo bin ich hingeraten? Eben war ich doch mit Yanhanaria in dieser Stätte für die künstlichen Häute gegen Sonnenlicht. Der grüne Staub! Ich habe nicht mehr atmen können. Nein, ich kann immer noch nicht atmen. Ich stecke unter Wasser in einem viel zu engen Etwas. Wo bin ich. Hilfe!!"

"Hab keine Angst, Dargarrian", gedankensprach nun Dardaria. "Ein uraltes Vorgehen unserer Gemeinschaft hat dein inneres Selbst bewahrt, und ich habe es in meinem Kind aufgenommen, in dessen Körper du neu leben sollst. Du bist noch in meinem inneren Nest. Aber in einem Monddurchlauf werde ich dich auf die Welt zurückbringen und deine Mutter sein."

"Inneres Nest? Ich bin ein ungeborenes Kind? Das ist nicht wahr! Ich träume das nur", hörten sie Dargarrians Gedankenstimme, die immer jünger klang. Irgendwann würde sie wohl auch wie eine Kinderstimme klingen. Das wussten sie alle aus den Erfahrungen mit den ersten Zwiegeborenen.

"Es ist wahr, mein Kampfgefährte. Meine Gefährtin Dardaria hat sich bereitgefunden, deinem inneren Selbst einen neuen Körper zu erlauben. Dafür musste das innere Selbst unseres ersten Kindes deinen Platz im Gefäß der neuen Erwartung einnehmen, wo es auf seinen neuen Körper warten wird, ohne die vergehende Zeit zu vernehmen, ähnlich wie du", erwiderte Yantulian.

"Das kann nicht sein. Irgendwer macht da ein Trugbild mit mir. Weiche Trug!" hörten sie die Gedankenstimme des nun auf seine zweite Geburt hinwachsenden. Dardaria prüfte, ob die ihrem ursprünglichen Körper enthobene Seele ihres ersten Sohnes sicher in die Wartekugel übergetreten war. Sie war beruhigt, als sie den Namen "Akurdarian lesen konnte. Irgendwann würde eine ihrer Blutsverwandten dieses innere Selbst als zweites Kind und vielleicht ersten Sohn den Weg in die Welt öffnen. Sie, Dardaria, war nun mit Dargarrians zweitem Körper schwanger und musste sich und ihn daran gewöhnen.

"Augenblick. Ich bin echt dein ungeborenes Kind, Dardaria. Oha, hätt ich gewusst, dass meine vierzig Sonnen jüngere Mutterschwestertochter mal mit mir im Bauch herumläuft hätte ich mich sicher nicht mit ... Kommt Yanhania auch wieder zurück?"

"Nein, sie ruht in einem anderen Gefäß und verspürt weder Zeit noch Sorgen, bis jemand ihr nahestehendes einen ihr genehmen Körper heranreifen lässt", gedankensprach Faidaria. Darauf fühlte Dardaria, wie das ungeborene und bald zwiegeborene Kind ihr in den Bauch trat. "Faidaria, warum hast du das zugelassen. Ich habe sabbernde, plärrende Stinkhosen immer gemieden, auch als Yanhania mir unser beider Tochter Miridaria zeigte. Jetzt soll ich sowas werden? Oder geht das auch, dass ich gleich nach dem Herausschlüpfen wieder ein erwachsener Mann sein kann?"

"Ja, es wäre uns allen lieb, wenn das ginge. Aber leider musst du, wenn du Dardarias innerem Nest entstiegen bist neu aufwachsen, als kleiner, mal niedlicher, mal lästiger, mal lachender, mal sabbernder Hosenstinker", gab Yantulian mit einer gewissen Derbheit zurück. "Denkst du mir gefällt das, das du nun in meiner Gefährtin steckst und sie für dich essen, trinken, atmen und ihre Ausscheidungen von sich geben muss? Denkst du, ich hätte dem gerne zugestimmt, dass du mein erster Sohn wirst und ich mich mit einem sabbernden Säugling darum zanken soll, wie die Lieder des ruhenden Feuers und der Kugel der gedanklichen Stille am besten gewirkt werden können? Aber wir brauchen dein Wissen um das Pendel, das den Ursprung der mitternächtigen Kräfte und Regungen zeigt. Es ist einiges geschehen, seitdem dein erster Körper in dieser giftigen Staubwolke gestorben ist."

"Das Pendel? Augenblick mal, heißt das, ihr habt den Turm gefunden?" hörten sie Dargarrians sich immer noch weiterverjüngende Gedankenstimme in ihren Köpfen.

"Ja, das heißt es", erwiderte Faidarias Gedankenstimme. "Und weil eine sehr starke Kraft der Mitternacht das Pendel erst in Aufruhr und dann zu völligen Stillstand gebracht hat brauchen wir jemanden, der es wieder in Gang bringen und auf seine Aufgabe einrichten kann. Da außer Darfaian, den wir nicht so zurückholen können wie dich und du die einzigen sind, die das können wirst du eben jetzt als Dardarias und Yantulians erster Sohn zur Welt kommen und von ihnen aufgezogen, bis du groß genug bist, einen Kraftausrichter zu führen, wohl so in einem Sonnenkreis nach deiner zweiten Geburt", erwiderte Faidaria.

"Darfaian? Lebt der nicht mehr?" fragte die immer noch jünger werdende Stimme Dargarrians. Faidaria bestätigte das mit unüberhörbarer Verbitterung und Trauer. Sie erwähnte dem unverhofft zu neuem Leben erwachtem, was geschehen war. Danach war erst einmal Ruhe. Dann erklang die nun wie von einem vier Jahre alten Jungen klingende Gedankenstimme: "Oh, dann möchte ich mich bedanken, Dardaria, dass du mich angenommen hast. Ich finde es zwar immer noch sehr eng und dunkl hier wo ich bin, aber ich will dir nicht mehr zur Last fallen als nötig ist. Ich hoffe, Yantulian kann sich auch daran gewöhnen, dass ich bei euch sein soll."

"Wenn du dich verhältst wie ein Säugling mit neuem inneren Selbst werde ich es nicht immer bedenken, dass du in meinem Sohn und gerade jetzt in meiner Gefährtin steckst. Also genieße das, dass ich dir nicht in die Ohren kneifen oder an der Nase ziehen kann, solange du in Dardaria wohnst."

"Wann soll ich dein inneres Nest verlassen, Dardaria?" wollte Dargarrian wissen. "In einem Mond oder anderthalb Monden. Aber dann, wenn du mir entschlüpft bist, wirst du mich mit Mami anreden, ob mit deinem Geist oder deiner Stimme. Schließlich will ich das auch genießen, Mutter zu sein", antwortete Dardaria mit ihrer Gedankenstimme.

"Und ich bin nicht der erste, der ein zweites Leben bekommt?" fragte Dargarrian. "Ich selbst habe einen der unseren, der bei einem gefährlichen Kampf mit Dunkelheit und Kälte verbreitenden Wesen seinen Körper verlor, als meinen Sohn wiedergeboren. Er wartet unten in der Empfangshalle des Sonnenturmes auf uns", gedankensprach Faidaria. Dann deutete sie auf die beiden Geisterfrauen. Diese ließen einander los und nickten allen zu. Dann schwebten sie aus der Halle hinaus. Ihre Aufgabe hier war erledigt.

Mit dem nun auf seine Wiedergeburt wartenden Dargarrian kehrten Faidaria, Dardaria und Yantulian in die Empfangshalle zurück. Dort weckte Dardaria ihren Sohn Ilangammayan. Dieser fragte mit seiner Gedankenstimme, was jetzt geschehen war. Darauf bekam er von Dargarrian die Antwort: "Ich soll auch wieder zu euch zurückkommen. Aber dass ich das mitkriegen muss, wie ich dem inneren Nest entwunden werde gefällt mir so nicht wirklich."

"Das geht schneller um als die Zeit danach. Und die Zeit davor ist auch angenehm, wenn du deine Trägerin nicht dauernd ärgerst und dich ganz lieb von ihr mitfüttern lässt. Denkst du, ich hätte Faidarias jüngster Sohn werden wollen, noch dazu von einem gezeugt, der dann selbst als kleines Mädchen wiedergeboren wurde, weil der mit Gwendartammaya zu sehr körperlich verbunden war, um als sein eigener Sohn wiederzukommen?" fragte Ilangammayan.

"Mädchen? Öhm, dann bin ich froh, dass ich keine Tochter werde. O, jetzt werde ich aber langsam müde."

"Dann schlaf. Du brauchst alle Kräfte, um groß genug zum eigenen Leben zu werden", ermahnte ihn Dardaria. Ilangammayan gluckste hörbar und sandte noch eine Botschaft zurück: "Wenigstens brauche ich mir keine Gedanken zu machen, dass ich dich zu meiner Gefährtin haben wollte. Das ist jetzt so erledigt wie das, was ich gerade in meinen Ausscheidungsauffänger gedrückt habe."

"Dann darf Dardaria dich doch noch neu wickeln", flötete Faidaria. Dardaria rümpfte zwar die Nase, nickte dann aber. Immerhin würde sie es bei dem, der da nun bei vollem Bewusstsein unter ihrem Herzen wohnte auch sehr oft tun müssen, wenn der erfolgreich auf die Welt zurückgekehrt war.

Als die werdende Mutter ihren zwiegeborenen Verwandten einwandfrei gesäubert und neu gewickelt hatte sprachen die bereits erwachsenen noch über das, was geschehen war. Faidaria erwähnte, dass sie erst einmal auf eine Nachricht von Julius Erdengrund warten würde, ob auch bei den Jetztzeitmenschen etwas verdächtiges geschehen war. Spätestens wenn Dargarrian wiedergeboren war würde sie ihn über die mit ihm geknüpfte Verbindung unterrichten, wie es weiterging. Allerdings würde sie ihm erst einmal nicht verraten, dass ihr Anzeigegerät für dunkles Zauberwerk bis auf weiteres ausgefallen war. Sie hoffte nur, dass sich dieser Ausfall nicht schon bald unangenehm auswirken würde.

Als Faidaria und Ilangammayan wieder in einer von den zusammenwirkenden Sonnenkindern bewirkten Ferntransport-Lichtspirale verschwunden war sagte Yantulian zu seiner Gefährtin: "Ich fühle mich genauso betrübt wie du, Dardaria. Wir beide haben gehofft, einen ganz unschuldigen, von keiner Seelenlast beladenen Sohn zu haben, und jetzt sollen wir genau den wieder großziehen, der sich mit mir immer um irgendwas gestritten hat", flüsterte er ihr mit hörbarer Stimme zu, damit Dargarrian nicht doch mithören konnte.

"Ich habe meinen Frieden gemacht. Unser eigentlicher Sohn wird dann vielleicht unser zweiter Sohn oder unser erster Sohnessohn oder Tochtersohn. Außerdem fühle ich mich jetzt, wo ich mich daran gewöhnt habe, irgendwie überlegen. Denn auch ich habe die ganzen Zankereien von ihm, dir und dem, der jetzt Ilangammayan heißt als lästig empfunden. Soll er jetzt eben erst in mir drin und dann als erst einmal hilfloser Säugling lernen, dass es besser ist, mit uns Frieden zu haben. Außerdem wird es in der nächsten Zeit nicht langweilig, wenn er schon jetzt so kräftig geistsprechen kann", wisperte Dardaria mit breitem Grinsen. Yantulian verzog zwar das Gesicht. Doch dann grinste auch er. Auch wenn beide wussten, dass es zum fröhlichsein wohl keinen Grund mehr gab wollten sie beide und wenn er wollte und konnte auch Dargarrian das beste aus der Lage machen. Immerhin wusste Dargarrian schon, wofür sich die bald anstehende Pein und Plage lohnen würde.

__________

In einem kleinen Dorf bei Tomsk, Russland, 26. April 2003 gregorianischer Zeitrechnung, 7 Uhr Morgens

Er wusste es, dass er gleich sterben würde. Er hoffte nur, dass diese Hexenhure wahrhaftig weit genug von seiner Burg weg musste. Er wusste, dass sein bisheriges, sehr langes Leben gleich vorbei war. Doch er hatte keine Angst. Er fühlte eine gewisse Genugtuung, dass er sie alle hereinlegen würde. Sie würden alle noch an ihn denken. Er lächelte, obwohl dazu kein Anlass war. Denn er war durch Zauberfesseln an einen Stuhl gebunden. Um ihn herum lagerten Fässer mit Höllenglutgebräu, und draußen surrten unheilvoll die Insektenungeheuer, die diese überhebliche Hexenschlampe mitgebracht hatte. Er musste sich ganz ruhig verhalten, sich auf seinen letzten Ausweg konzentrieren, immer wieder den einen Reim denken, der ihm den entscheidenden Halt geben sollte:

"Müde ist mein Leib.
so trage mich ein Weib,
Dessen neues Kind ich werde
und verbleibe auf der Erde.
Doch soll niemand mich erkennen,
dass ich neu auf Erden wandle.
Erst der Liebeswonne Brennen,
wecke mich, so dass ich handle."

Diesen langen Reim, der schon einer Zauberformel gleichkam, dachte er immer und immer wieder. Er stellte sich dabei die Gesichter von zwanzig wie auf einem langsamen Karussell um ihn herumkreisenden blutjungen Mädchen vor, die er im Laufe von dreißig Jahren mit einem von ihm entwickelten Blutzauber belegt hatte und denen er unter Einwirkung eines Schlafzaubers lebende Hautzellen von sich mit einer Pipette in die Gebärmütter eingeführt hatte, wo sie sich mit den Körperzellen der anderen verbanden, als Anker seines Wesens. Zwanzig damals noch blutjunge Mädchen hatte er so vorbehandelt. Das war nun sein Vermächtnis, sein Erbe, seine irgendwann erfolgende Vergeltung für alle ihm zugefügten Niederlagen.

Immer wieder dachte er diesen beschwörenden Reim. Denn er wusste nicht, wann die Vernichtung seiner Burg stattfinden würde. Als dann mit einem kurzen lauten Schlag und einer Lichtexplosion alles vorbei war stürzte er in einen bunten Wirbel aus Farben und Geräuschen, hörte zwischendurch ein ryhthmisches Pochen wie von einem großen Herzen. Dann sah er eine scheinbar riesenhafte Welt um sich herumwirbeln, die irgendwie viel zu schnell um ihn kreiste. Er hörte Stimmen, Worte, Geräusche, die jedoch zu schnell verklangen, als sie zu begreifen. Dann durchfuhr ihn etwas wie ein Hitzestoß, der sich in alle Enden des Körpers ausbreitete. Aus dem Hitzestoß wurde Schmerz. Er schrie auf, mit einer schrillen Stimme, der Stimme ... eines Mädchens?

Laut quängelnd fand er sich in einem Bett wieder. Er fühlte heiße Tränen über seine Wangen rinnen. Er heulte mit dieser Kleinmädchenstimme, als sei er mal eben in den Leib einer fünf- oder sechsjährigen geraten. Ja, er war mit dem Körper eines kleinen Mädchens verschmolzen worden. Erinnerungen fluteten sein Bewusstsein, Erinnerungen aus dem Leben dieses Kindes, das er nun war. Diese trieben ihn erst recht zum weinen.

Eine Tür ging auf. Jemand, ein großer Mensch, kam herein. Er wusste, dass das die Mutter des kleinen Mädchens war, in dem er sich ohne Seelenkampf eingefunden hatte. Er sollte eigentlich beruhigt sein, dass sie ihn gehört hatte. Doch flennen musste er immer noch. Als eine Frau mit besorgter Stimme mit sibirischem Dialekt fragte, ob ihre kleine Marfuscha böse geträumt hatte musste er einige Sekunden gegen die ihn so heftig aufwühlenden Empfindungen ankämpfen, bevor er mit der ihm unheimlich klingenden Kleinmädchenstimme sagte: "Ja, Mamuschka. Ich habe von einer bösen Hexe geträumt, die mich in einen ganz großen Kochkessel reinwerfen wollte, um Suppe aus mir zu machen."

"Die soll sich bloß hertrauen", lachte die andere Frau, von der er nun wusste, dass es die Mutter von Marfa Iwanewna Kiriakowa war. Die Erinnerungen füllten seinen Geist. Er wusste immer mehr von dem kleinen Mädchen, dessen Körper er ganz gegen seine Absicht übergestreift bekommen hatte.

"Mamuschka, das war ganz schlimm", sagte er und erschauerte über den völlig unmännlichen Klang seiner Stimme. "Ja, war es wohll, meine kleine. Aber Mamuschka ist da, und dein Vater kommt auch bald wieder nach Hause. Hier kommt keine böse Hexe rein, die dich kochen will. Und auch die grüne Riesenfrau wird dich nicht fressen. Wir sind bei dir", sprach die große Frau zuversichtlich. Er erinnerte sich, dass er ihre Stimme als aller erstes gehört hatte, um sich herum. Das war schlimm, diese ihn bestürmenden Erinnerungen vom ersten Sinneseindruck überhaupt bis gerade eben. Immer noch rang er darum, nicht weiterzuweinen.

Endlich ging die andere. Jetzt war er mit den ihn durchflutenden Erinnerungen der kleinen Marfa Kiriakowa alleine, die er nun war, ja die er schon seit ihrer Zeugung gewesen war, aber jetzt erst oder besser schon jetzt zu seinem eigentlichen Ich zurückgefunden hatte.

Er fragte sich, warum er in einem Kind aufgewacht war. Seine Vorkehrung hatte er doch so ausgeführt, dass er erst dann wieder erwachen konnte, wenn er die erste körperliche Liebe vollzog. Auch hatte er gehofft, dass die von ihm in dieser Frau, Ludmilla Gregorewna Botkin, zurückgelassene Körperzelle sicherstellte, dass er nur ihr Kind wurde, wenn sie mit einem Sohn geschwängert wurde. Offenbar hatte er die Natur dieser jungen Hexe und des Kindsvaters wohl unterschätzt, und jetzt hing er im Körper einer Sechsjährigen fest, er, der große Meister des Lebens, Igor Bokanowski. Diese Erkenntnis brachte ihn fast wieder zum weinen. Denn ihm war klar, dass er ab heute eben nur als gerade mal vor der Einschulung stehendes Dorfmädchen angesehen wurde und um nicht aufzufallen auch so reden und handeln musste. Sicher hatte seine bei der Vernichtung seines ersten Körpers freigesetzte Seele all die Jahre tief schlafend in diesem Körper gewohnt. Ja, er konnte nun, wo er Marfas bisherigen Erinnerungen mit seinen eigenen vereint hatte alle Augenblicke ihres Lebens nachempfinden, wie die letzten vier Monate vor der Geburt, die einen halben Tag dauernde Geburt selbst und das bisherige Aufwachsen. Er fühlte, dass er die Ängste und Vorlieben dieses kleinen Mädchens in sich trug und es ihn anwiderte, so leben zu müssen. Doch dann fiel ihm ein, dass er auch dann einen gewissen Widerwillen empfunden hätte, wenn er genau dann zu seinem wahren neuen Leben erwacht wäre, wenn Marfa ihre erste körperliche Liebe genossen haben würde, womöglich noch in ihrer Hochzeitsnacht. Dann hätte er vielleicht dabei auch schon ein Kind empfangen müssen und sich damit abzufinden, einem ihn anwidernden Burschen Nachwuchs gebären zu müssen. So war es noch nicht mal schlimm, dass er jetzt schon wieder aufgewacht war und Marfas bisherige Erlebnisse kannte. Ab heute konnte er sich darauf vorbereiten, sein oder besser ihr Leben ganz nach den früheren Vorstellungen auszurichten und musste dafür keinen Beischlaf im Frauenkörper überstehen, falls er nicht doch irgendwann Lust darauf bekommen sollte. Schließlich mochte er durch die Verschmelzung mit diesem Körper dadurch wahrhaftig zu einer jungen Hexe heranwachsen, die die Wünsche und Begierden einer Frau empfand. Er schüttelte sich innerlich und körperlich, wenn er daran dachte, dass er am Ende doch noch einen Zauberer heiraten und von dem kleine plärrende Hosenkacker kriegen wollen könnte. Aber er war doch immer noch Igor Bokanowski. Vielleicht sollte er nach der Pubertät was machen, um diesen Körper in eine ihm genehme Form zu verwandeln, wieder ein Mann zu werden. Doch komischerweise widerte ihn dieser Gedanke schon an, als habe jemand ihm gesagt, er würde gleich ein Bandwurm, der im Darm eines Rindviehs vegetieren musste. Immerhin wusste er, dass Ludmilla eine bis zur zwanzigsten Generation reinblütige Hexe war und Marfas Vater Iwan Kiriakow der dritte Sohn von Atjom Dimitrjewitsch Kiriakow war, den er, Igor, noch als dreijährigen auf dem Schoß seines Vaters Anatoli hatte wippen sehen dürfen. Insofern war er noch gut gelandet, wenngleich er sich trotz der in sich aufgesogenen Erinnerungen erst einmal an diesen Körper gewöhnen musste. Doch warum sein Zauber auf halbem Wege versagt hatte wollte er noch herausfinden. Denn eines wusste er auch, er würde verdammt gut okklumentieren müssen, um die Pforte der Reinheit von Durmstrang durchschreiten zu können, die jeden mischblütigen und jeden Spion enttarnen konnte, der sich nicht gut genug abschirmte. Genau deshalb hatte er ja erst beim ersten Liebesakt aus dem Schläferzustand aufwachen wollen, um diese Hürde überwinden zu können.

Die Vorstellung, mit albern kichernden Hexenmädchen im selben Schlafsaal wohnen zu müssen ließ seinen trotz der Verwandlung immer noch männlichen Verstand in jugendlichen Phantasien wallen. Damals hatte er schon versucht, durch Vielsafttrank ins Haus Leonowa hineinzukommen, wo die Jungfrauen, die Irmina Leonowas Wohlwollen erhalten hatten untergekommen waren. Doch dabei hatte er als einer der wenigen Jungen lernen müssen, dass Irmina Leonowa den Zugang zu ihrem Haus mit einem Seelenlotungszauber gespickt hatte, der sein wahres Ich erfasst und ihm sehr schmerzvoll den Unterleib durchgewalgt hatte, bis die Hausmutter Groschenkowa ihn gefunden und ihn mal eben für vier volle Wochen in eine schwarze Henne verwandelt hatte. "So weißt du jetzt, dass die großen Ureltern dir das Mannsein zugeteilt haben, weil du die Natur einer Gebärerin nicht aushältst und deshalb nicht ergaunern darfst", hatte sie ihm nach der Rückverwandlung gesagt, nachdem er gefühlt hundert unbefruchtete Eier gelegt hatte und mitbekommen musste, wie daraus dieses oder jenes gekocht und gebraten wurde. Immerhin war er der Verbannung aus der magischen Gemeinschaft entgangen, weil Schulleiter Illjescu sich königlich darüber amüsiert hatte, dass einer seiner Meisterschüler vier Wochen Frühstückseier und Zutaten für Kuchen und Omelettes geliefert hatte.

Also würde er nun doch noch in das fragwürdige Vergnügen kommen, eines der reinen Junghexenwohnhäuser von innen zu erleben, ob das Haus Leonowa, das Haus Sobolewa oder das Haus Dserschinskaja, von deren Gründermutter es immer wieder hieß, sie sei eine Zwielichthexe gewesen, weil ihr Vater ein Vampir war, der mal die natürliche Zeugung ausprobiert hatte oder von ihrer Mutter zur körperlichen Vereinigung gezwungen worden war, um dessen besondere Gaben ohne den üblichen Blutaustausch und Körperwandel auf einen Nachkommen zu übertragen.

Jetzt war er sie, Marfa Iwanewna Kiriakowaa. Sie war Igor Bokanowskis lebendes Erbe. So konnte sie viel früher die große Vergeltung durchführen. Ja, und im Körper einer Hexe konnte sie sogar in die inneren Kreise jener verruchten Schwesternschaften eindringen, aus der die eine gekommen war, die seinen ersten Körper nach einem langen Leben im Höllenglutgas verbrannt hatte. Wenn sie, Marfa Iwanewna Kiriakowa sie fand, würde sie diese Hexe auch brennen lassen, aber nicht so schnell und gnädig, sondern ganz traditionell, auf einem Scheiterhaufen, vor einer Schar schaulustiger Gaffer, ihre Schreie hören, sich daran ergötzend. Außerdem konnte sie in diesem Körper unerkannt die Ausrottung jener langzähnigen Nachtbestien angehen. Denn nach einer kleinen, unschuldigen Hexe würden die Ministeriumszauberer nicht suchen. Marfa hoffte nur, dass die von Igor getroffenen Vorkehrungen sie akzeptierten. Doch das mochte erst in einigen Jahren wirklich wichtig sein, dachte Marfa/Igor und musste trotz der überstandenen seelischen Erschütterungen lächeln. Das, was in Marfas Körper steckte, schöpfte aus den sechs jahre angesammelten Erinnerungen und sah dadurch auch die ersten Erfahrungen mit einem Spiegel. Marfa hatte die dunkelgrünen Augen ihrer Mutter geerbt und flammenrotes Haar, wohl von ihrem Erzeuger. Sie besaß eine kleine Stubsnase und hatte wohl wegen sehr nahrhafter Muttermilch und gerne von Kuchen und Süßigkeiten abgebenden Großmüttern einen kleinen Kugelbauch, als würde sie schon bald selbst Mutter. Wenn sie diesen Bauch nicht zu groß werden ließ und ihre Arme und Beine durch die nötigen Leibesübungen schlank und geschmeidig hielt mochte sie in zehn bis zwölf Jahren ein sehr hübsches Mädchen sein, eine junge Hexe, die durchaus wichtiges werden konnte. Mit diesen Wunschvorstellungen an die ihm nun bevorstehende Zukunft ging Marfa/Igor den neuen Tag an, den Tag der zweiten Geburt.

__________

In der Schlafhöhle von Thurainilla, die Nacht der Erschütterung

Es war wie eine Riesenfaust, die auf ihr Versteck einhieb. Thurainilla fühlte, dass etwas die sonst so starken Abwehrzauber zu durchdringen versuchte, die sie um ihre Höhle gelegt hatte. Dann waren da die Blitze, die aus den Wänden auf sie überschlugen, blaue, rote und violette Blitze, die wie Feuerlanzen in sie hineinstachen. Doch sie fühlte keine Schmerzen. Im Gegenteil. Jeder sie treffende Feuerschlag berauschte sie und gab ihr zugleich mehr Kraft. Dann traf sie noch ein blauweißer Blitz und raubte ihr alle Sinne. Thurainilla bekam nicht mit, wie sie auf ihre Strohmatte niederfiel. ihr offener Lebenskrug sprühte blaue, rote und violette Funken. sein zwischen Gasform und Flüssigkeit beschaffener orangeroter Inhalt wallte bis zum Rand und sprühte orangerote Funken durch die Höhle. Dann kam das Wallen zur Ruhe. Doch Thurainilla wachte nicht auf. Sie lag neben ihrem bereits vor Wochen in tiefen Schlaf gebannten Abhängigen Aldous Crowne, den sie jener Ausgeburt der Nacht entzogen hatte, die ihre schattenhafte Zwillingsschwester Riuthillia verschlungen hatte.

__________

Im Haus von Almadora Fuentes Celestes, die Nacht zum 26. April 2003

Maria Valdez erwachte von einem wilden Vibrieren auf ihrem Brustkorb. Sie meinte, ein Mobiltelefon mit Dauervibrationsalarm unter dem Nachthemd zu tragen. Als sie die Augen öffnete sah sie, dass sie von einer alle Körperpartien vollständig nachzeichnenden, blau-golden schimmernden Aura umflossen wurde. Sie erkannte dieses magische Leuchten sofort. Fast sieben Jahre war es her, dass sie, damals noch als Maria Montes, in dieser Aura vor dem Einfluss eines gefährlichen Wesens beschützt worden war, Hallitti, die Tochter des dunklen Feuers. Sie erkannte, dass das wilde Vibrieren unter ihrem Nachthemd das Erbstück ihrer Großmutter väterlicherseits war, dass für sie als silbernes Kreuz existierte. Dann hörte sie in sich die leisen Stimmen singen: "Bleibe ruhig und wachsam!" Auch diese Stimmen erkannte sie. Die hatte sie ebenfalls während des in einer Katastrophe ausartenden Einsatzes am Purpurhaus von Muddy Banks in sich gehört. Wovor schützte sie ihr Talisman gerade? Was unbeschreiblich böses drohte ihr? Dann, nach zehn weiteren Sekunden, erlosch die Aura, verstummten die Stimmen in ihrem Kopf und erstarb das wilde Vibrieren ihres Talismans. Maria griff an die Kette, an der ihr silbernes Kreuz hing, von dem sie erfahren hatte, dass es ursprünglich ein Pentagramm gewesen und von mehreren Hexen und Zauberern mit mächtigen Heil-, Schutz- und Abwehrzaubern aufgeladen worden war. Das für sie überlebenswichtige und machtvolle Schmuckstück, mit dem ihre Großmutter Puri und sie eigentlich nur ihr Bekenntnis zu Jesus Christus bekunden wollten, trug keinerlei sichtbare Verzierung. Sie wusste jedoch, dass die, welche es zusammen mit sechs gleichartigen Gegenständen angefertigt hatten, unmagische Zeichen in das Innere eingeschrieben hatten und damit die eingewirkten Zauber dauerhaft wirksam zu halten.

Maria Valdez dachte an ihre Tochter Marisol. Hoffentlich war ihr nichts passiert. Sie sprang aus dem Bett auf und eilte so leise sie konnte in das angrenzende Kinderzimmer. Sie führte vorsichtig das silberne Kreuz über das Bett, in dem ihre vorgestern sechs Jahre alt gewordene Tochter Marisol schlief. Das Kreuz veränderte sich nicht und pendelte auch nicht auf verdächtige Weise. Das kleine Mädchen merkte aber wohl, dass jemand in seinem Zimmer war. Marisol grummelte, reckte sich und drehte sich um. "Schlaf weiter, Soli, Mamita ist bei dir. Alles gut!" flüsterte Maria Valdez. Ihre Tochter schloss wieder ihre Augen und atmete ruhig weiter. So behutsam sie konnte zog sich Maria Valdez in ihr Zimmer zurück. Offenbar hatte der Schutzbann, den sie und Almadora mit Hilfe ihres Talismans über Marisols Zimmer gesprochen hatten, das unheilvolle von ihr abgehalten. Doch was genau war das gewesen?

__________

Zur selben Minute im Haus der Eheleute Camille und Florymont Dusoleil in Millemerveilles

Camille erwachte, weil ihr unter dem frühlingsgrünen Nachthemd getragener Heilsstern sehr stark erzitterte. Sie zog schnell das mächtige Erbstück ihrer Mutter und deren Vormüttern hervor. Es glomm in einem blau-goldenen Schimmer. Ihr Heilsstern zitterte so wild, als wolle er ihr aus der Hand springen. Dann erlosch das Leuchten, und das wilde Zittern ließ nach, hörte jedoch nicht völlig auf.

Jetzt wachte auch Florymont auf. Er grummelte schlaftrunken: "Is' was, Camille?" Diese wandte sich ihrem Mann zu und flüsterte: "Irgendwas hat meinen Heilsstern angeregt, wohl dunkle Zauberkraft. Erst ganz stark, jetzt immer noch spürbar"

"Wie?!" entfuhr es Florymont. Im gleichen Moment saß er aufrecht auf seiner Bettseite. "Dunkle Magie?! Weißt du vielleicht welche? Ich meine, hat sie dir vielleicht was gesagt?" fragte er. Mit "sie" meinte er die als überirdische Daseinsform fortbestehende Verschmelzung seiner zweiten Tochter Claire und seiner Schwiegermutter Aurélie.

"Nein, ich bin einfach davon wach geworden. Sie hat mich nicht im Traum besucht, Florymont", erwiderte Camille. Sie zeigte Florymont ihren Heilsstern. Dieser vibrierte schwach aber deutlich genug, um eine Wechselwirkung mit einer unbekannten Kraft zu erkennen.

"Hier in Millemerveilles können keine Flüche hineingewirkt werden, weil die in der Kuppel hängenbleiben und in deren Kraftquellen abgeleitet werden. Also was könnte es gewesen sein?" stieß Florymont sichtlich alarmiert aus. "Das weiß ich nicht, Florymont", erwiderte Camille frustriert. "Mein Erbstück verrät mir nicht von sich aus, wer seine Kraft aktiviert. Nur wenn meine Vormutter oder eben Ammayammiria mir im Traum oder wie bei der Sache mit dem getöteten Sohn Ashtarias bei Tageslicht eine Botschaft übermitteln bekomme ich das mit", fügte sie hinzu und schluckte ein "Aber das weißt du doch schon längst" hinunter. Denn sie sah ihm an, dass er noch aufgeregter war als sie. Das mochte daran liegen, dass er vor einem Jahr in den Kreis der Eingeweihten aufgenommen worden war, jener Gruppe aus zwölf langjährigen Bürgerinnen oder Bürgern, die eigene Kinder in Millemerveilles gezeugt oder geboren hatten und alle Geheimnisse von Sardonias dunkler Schutzglocke kennen und hüten durften. Was genau Florymont dadurch erfahren hatte durfte er ihr nicht mitteilen. Aber es mussten wirklich heftige Sachen sein, die er anvertraut bekommen hatte.

"Ich muss in meine Werkstatt, die Messgeräte für obskure Kräfte ablesen", zischte Florymont und schlüpfte aus dem Bett.

"Ja, aber nicht im Schlafanzug, Chérie", bestand Camille darauf, dass ihr Mann sich tagesfertig anzog. Florymont grummelte und fischte nach seinem über einen hochlehnigen Stuhl hängenden Umhang. Unter dem missbilligenden Blick seiner Frau warf er sich den Umhang beiläufig über und stürmte dann aus dem gemeinsamen Schlafzimmer. Sie beschloss, ihm nicht nachzulaufen. Wenn er wirklich was für den Kreis der Eingeweihten prüfen wollte durfte sie es nicht erfahren, auch wenn ihr das nicht gefiel. Sie dachte sich sogar, dass Florymont und sie wohl selig weitergeschlafen hätten, wenn ihr hochpotentes Erbstück sie nicht geweckt hätte. Dass es immer noch schwach erzitterte verdeutlichte, dass da immer noch eine dunkle Kraft in der Luft war. Sie beschloss, sich ebenfalls tagesfertig anzuziehen. Am ende konnte es sein, dass sie auch nach draußen gehen und nach der Ursache des leisen Aufruhrs forschen musste.

Um die Zeit bis Florymonts Rückkehr auszufüllen sah Camille nach ihrer jüngsten Tochter Chloé, die in Jeannes früherem Zimmer schlief. Ja, sie lag in ihrem kleinen Himmelbett und schlief den ruhigen Schlaf des unschuldigen Kindes. Sollte sie noch nach ihrem Neffen Philemon sehen, der in einem für ihn freigeräumten Zimmer gleich neben dem Schlafzimmer seiner Mutter Uranie wohnte? Nein, das war und blieb Uranies Angelegenheit, wenn diese es nicht ausdrücklich erbat, auf ihren einzigen, ohne eigenen Vater aufwachsenden Sohn aufzupassen.

Wenn Florymont wiederkam wollte sie wissen, was er ihr erzählen durfte. Deshalb wisperte sie im Salon: "Illuminato!" Doch die von Florymont erfundene Deckenbeleuchtung reagierte nicht auf das Auslösewort. Jetzt raunte sie das Auslösewort. Wieder blieb das Licht aus. "Illuminato!" rief sie nun trotz der noch sehr frühen Morgenstunde. Doch die Deckenbeleuchtung flammte nicht auf. "Sie zog ihren Zauberstab und dachte "Lumos!" Ihr Heilsstern ruckelte spürbar. Dann sah Camille das übliche Licht an der Zauberstabspitze. Doch es verlor sehr schnell an Leuchtkraft, färbte sich erst gelb, dann orangerot. Wieder ruckelte ihr Heilsstern, und das Licht gewann seine übliche Leuchtstärke zurück. Dieser Vorgang wiederholte sich alle zwei Sekunden. Camille erkannte, dass nur ihr Heilsstern das Zauberlicht aufrechthielt. Da betrat Uranie Dusoleil im Morgenrock und mit zerzausten Haaren den Salon.

"Was bist du denn so Laut, Camille? Wo ist Florymont?" fragte sie sichtlich verstimmt.

"Irgendwas ist über uns alle weggebrandet und hat eine dunkle Kraft um uns aufgeweckt. Florymont will messen, was genau das für eine Kraft ist. Er ist in seiner Werkstatt", flüsterte Camille, der nun klar war, dass sie beinahe ihre jüngste Tochter und Uranies Sohn aufgeweckt hätte. "Öhm, Dunkle Magie? Die wird doch von Sardonias Kuppel abgewehrt oder zerstreut", erwiderte Uranie leise. "Aber irgendwas stimmt echt nicht. Draußen ist es so dunkel wie bei Gewitter. Eigentlich sollten bei wolkenfreiem Himmel die Sterne zu sehen sein. Ich hole mal mein Restlichtverstärkerfernrohr", grummelte Uranie.

"Ich kriege die Deckenleuchte nicht an. Und ohne das Erbstück meiner Mutter ging das Zauberstablicht aus", flüsterte Camille zurück.

"Ein Verdunkelungszauber. Das wird es wohl sein", schnarrte Uranie leise. Sie holte ihren eigenen Zauberstab aus der rechten Tasche ihres mit Sternbildmotiven bestickten blauen Morgenrocks und zielte auf den Kamin. "Incendio!" zischte sie leise. Es knisterte einen Moment. Doch mehr geschah nicht. Kein Feuer flammte im Kamin auf. "Das geht also auch nicht", seufzte Uranie. Camille deutete auf die bereitliegenden Holzscheite und die Tageszeitung von gestern.

Florymont kam sichtlich betreten dreinschauend herein. "Ich fürchte, Mädels, wir haben ein übles Problem", sagte er. Dann sah er, dass Camille gerade die Zeitung von gestern nahm und sie mit dem Diffindozauber in kleine Fetzen zerlegte. "Feuerzauber gehen nicht, Camille", sagte er kurz angebunden. Dann sah er, was Camille wirklich vorhatte. Sie legte so leise sie konnte von Hand mehrere Holzscheite in den Kamin und verteilte die Fetzen der zerrissenen Zeitung dazwischen. Dann nahm sie aus einem kleinen Metallkästchen auf dem Kaminsims eine Schachtel Streichhölzer, die Laurentine Hellersdorf damals hiergelassenhatte, nachdem sie Claire und deren Eltern vorgeführt hatte, wie Muggel mit den Händen Feuer machten. Florymont wartete, bis Camille das erste Streichholz angerissen hatte. Als sie es einfach auf einen aus dem Holz ragenden Papierstreifen fallen ließ flammte dieser auf und brannte weiter. So machte sie es bei einem zweiten und dritten Papierstreifen. Als dann auch das erste Holzscheit zaghaft und dann hell zu brennen anfing ließ Camille das Zauberstablicht erlöschen.

Erst zaghaft dann munter loderte ein Feuer im Kamin auf und brannte unbeirrt knisternd und knackend weiter. Da trippelten Chloé und ihr Vetter Philemon herein und sahen das Feuer.

"Wie spät is'?" fragte Philemon seine Mutter. Diese sah auf ihre Armbanduhr: "Gerade zwei Uhr morgens. Noch zu früh für dich und Chloé aufzustehen. Also Marsch zurück ins Bett, junger Mann!"

"Wiso seid ihr auf?" wollte Philemon wissen.

"Sag ich dir wenn es hell ist, Phil. Aber jetzt ganz schnell wieder ins Bett!" Den letzten Satz bellte sie förmlich wie ein aufgebrachter Jagdhund. Philemon sah seine Mutter an und deutete auf Chloé. Camille sah Chloé an und sagte: "Geh wieder ins Bett, meine Prinzessin. Maman weckt dich, wenn es Frühstück gibt. Husch!" Chloé nickte und winkte ihren Eltern zur Nacht. Dann eilte sie aus dem Salon. "Du auch, Burschi!" befahl Uranie ihrem Sohn. Dieser verzog sein Gesicht. Doch dann ging er nicht so eilfertig wie seine Base aus dem Salon.

"Hmm, der Klangkerker ist ein Lichtabstrahlender Zauber. Könnte sein, dass der auch nicht geht", sagte Florymont. Camille meinte dazu, dass sie ihn womöglich machen konnte, weil ihr Erbstück ihr die nötige Kraft gab. Florymont wiegte kurz den Kopf und nickte dann. "Das könnte hinhauen", raunte er.

Uranie sah erst zu, dass ihr erster und wohl einziger Sohn im Bett lag. Camille und Florymont hörten noch, wie sie in ihrem Zimmer was suchte. Camille wollte schon rufen, wo sie den bleibe, als ihre Schwägerin schon rief: "Das ist doch nicht wahr. Das Fernrohr geht auch nicht!" "Weil es mit einem Lichtverstärkungszauber arbeitet, Ranie!" Rief Florymont zurück. "Können wir im Moment nichts dran ändern. Komm bitte in den Salon ans Feuer. Das ist hell und warm."

"Wie du meinst", kam Uranies Antwort zurück. "Maman, so dunkel. Kriege Angst", maulte Philemon. "Ich hänge dir eine Laterne ins Zimmer, kleiner Wuselwichtel!" rief Florymont und ging an einen Schrank, wo kleine Laternen drinhingen, die aus der Zeit vor seiner eigentlich tollen Deckenbeleuchtungszauberei stammten. Er nahm eine der mittleren Laternen und sah, dass die Kerze darin noch für mindestens drei Stunden halten würde. Dann ging er damit ans feuer, nahm einen kleinen kienspan, der eigentlich nur zum Verteilen von Feuer gedacht war. Den Span hielt er geschickt an die Spitzen der Flammenzungen, bis das Hölzchen hell glomm. Mit dem Kienspan entzündete er nun die Kerze in der Laterne und schraubte den siebartigen Deckel darauf, dass die Kerzenflamme kein Feuer auslösen würde. Camille sah, wie er mit dem tragbaren Licht Richtung Kinderzimmer ging. "Der ist lustig, für Philemon eine Laterne aufzuhängen und Chloé im Dunkeln liegen lassen", dachte Camille. Dann machte sie einfach dasselbe wie ihr Mann, nur dass sie damit zu Chloé ging. "Hier, kleine Prinzessin. Wenn sie dir zu hell ist drehst du hier dran, dann wird es dunkler, ohne dass die Kerze ausgeht. Ich habe sie ganz zugemacht. Du kannst dir nicht die Finger verbrennen", säuselte sie der in wenigen Tagen schon fünf Jahre alt werdenden Junghexe zu. Chloé freute sich, ein wenig Licht im Zimmer zu haben. Eigentlich hatte sie keine Angst vor Dunkelheit, auch nicht als Philemon ihr was von Kinderklauenden Nachtmonstern erzählt hatte. Aber an die glaubte der wohl eher als Chloé.

Wieder zurück im Salon traf sie Uranie und Florymont wieder. "Als hätte jemand alle Sterne, den Mond und die Planeten vom Himmel geputzt", seufzte Uranie. Camille bat um Stille, damit sie den Klangkerker errichten konnte. Sie wollte schließlich wissen, was Florymont herausgefunden hatte.

__________

Tief im Berg der ersten Empfängnis, Im Augenblick der weltweiten Dunkelwoge

Die große rote Ameisenkönigin keuchte unter der Anstrengung, weitere zehn Eier in die ausgehobene Legemulde zu betten. Zwar waren ihre ersten eigenen Kinder schon geschlüpft, doch hingen sie als wurmartige Larven mit Stummelbeinen an den Wänden und mussten von den gerade nicht benötigten Begattern, ihren Vätern, gefüttert werden.

Als die mächtige Welle über sie kam schrie die vereinte Seele Lahilliotas und Alison Andrews' laut auf. Doch es war kein Schmerz, der sie aufschreien machte, sondern ein nie gekannter Kraftstoß, der zu einem Rausch wie von zehn gleichzeitig stattfindenden Liebesakten aufwallte. Die rote Regentin fühlte, wie ihr Körper davon regelrecht aufgepumpt wurde. Ja, sie merkte, dass sie wohl noch ein klein wenig größer wurde. Gleichzeitig entflogen ihr förmlich dreißig befruchtete Eier. Sie hörte in der Ferne die lauten lustvollen Aufschreie ihrer menschenförmigen Töchter wie Echos der über sie hinweggebrandeten Kraft. Doch die Kraft war zu stark, um ausgehalten zu werden. Sie fühlte, wie alle ihre Töchter davon niedergeworfen und bewusstlos gemacht wurden. Hieß das, dass sie nun ganz alleine war? Nein, sie war nicht alleine. Sie war die große Königin. Sie würde bald ein unbesiegbares Volk aus willigen Arbeiterinnen und ihr bedingungslos ergebenen Soldaten haben, aus dem eigenen Leib erbrütet, von starken Begattern gezeugt, davon einer, der selbst viel Magie im Leib hatte. Sie war die Königin. Sie wollte ihr Volk vergrößern, immer mehr Kinder haben. Was kümmerten sie da die neun menschenförmigen Töchter, die sie damals als schwächliche Magierin ohne Hilfe eines männlichen Partners erbrütet hatte. Sie war Lahilliota, die rote Regentin, Feindin aller Blutsauger, Herrin allen Lebens auf dieser Welt. Ihre Kinder würden die schwächlichen Menschen als Nutz- und Schlachtvieh halten. Wer nicht für sie leben wollte, würde halt für sie sterben, Sklave oder Nahrung, so würde sie es den schwächlichen Menschen anbieten. Sie musste nur genug eigene Nachkommen haben, um das zu schaffen.

_________

In der Flohnetzüberwachungszentrale Frankreich, die Nacht zum 26. April 2003

Florian Flaubert verwünschte Nachtschichten. Seitdem seine Tochter Deborah aus Beauxbatons und nach Lyon umgezogen war hatten ihn die grauen Herren vom Flohregulierungsrad immer wieder zu Nachtschichten eingeteilt. Sicher, die wurden besser bezahlt als die Tagschichten, bei denen er dann auch noch viel herumreisen musste, wenn ein neuer Anschluss gemacht oder ein nicht mehr benötigter Anschluss abgekoppelt werden sollte. Aber diese Nachtschichten waren todlangweilig und vermurksten seinen Tag-Nacht-Rhythmus immer wieder. Im wesentlichen musste Florian Flaubert nur darauf achten, dass die Netzknoten stabil blieben und die dafür nötigen Zauber, die das Feuer der Sonne und des Erdinneren anzapften, nicht aus dem Gleichgewicht gerieten, beispielsweise dann, wenn gleich hundert Leute oder mehr eine Flohpulverreise machten. Im Moment wurde das Flohnetz nicht benutzt.

Unvermittelt erlosch die von innen her hellgrün leuchtende Landkarte Frankreichs mit den weiß gekennzeichneten Netzknoten. Gleichzeitig begann ein von wem auch immer auf Kleinmädchentonlage abgestimmter Meldezauber loszuplärren: "Flohnetz ausgefallen! Flohnetz ausgefallen!"

"Das gibt's nicht", stieß Flaubert aus. Da begann zu der immer weiter plärrenden Alarmstimme noch eine schrille Glocke loszubimmeln wie ein völlig unmagischer mechanischer Wecker. "Ja, ich hör's", stieß Florian Flaubert aus und hielt seinen Zauberstab in der Hand. Er hielt ihn sich an die Kehle und dachte "Omnivoco!" Dann sprach er mit normaler Lautstärke: "Achtung an Ausfallumkehrtrupp! Sämtliche Netzknoten gerade zusammengebrochen. Flohnetz vollkommen außer Kraft! Alle Knotenwarte zu den eingeteilten Knoten! Ich wiederhole: Alle Knoten zusammengebrochen. Flohnetz vollständig ausgefallen. Alle Knotenwarte zu den zugeteilten Knoten!"

Im Moment taten nur fünf Knotenwarte dienst. Bei insgesamt hundert über das Land verteilten Netzknoten waren das eindeutig zu wenig. Da er selbst auch als Knotenwart ausgebildet war musste er also selbst ausrücken, um die ihm tagsüber zugeteilten Knoten zu prüfen oder die von drei Kollegen, je nachdem, wer wegen Krankheit oder anderen Sachen gerade nicht arbeiten konnte. Das galt dann auch für die fünf anderen, die nachts die vierfache Zahl zugeteilter Knoten hatten.

"Alarm gehört!" rief Florian Flaubert, als er mit "Vox usualis!" den Rundrufzauber beendet hatte. Die magische Kleinmädchenstimme plärrte noch einmal: "Flohnetz ausgefallen!" Dann war Ruhe. Doch es war eine trügerische Ruhe. Denn nach wie vor war die Flohnetzkarte dunkel. Wer jetzt versuchte, sich von A nach B zu flohpulvern würde das grüne Feuer mit einem kurzen Wusch zum ausgehen bringen, wenn es überhaupt im Kamin erschien. "Notizaufnahme: Bin wegen Ausfalls aller Flohnetzknoten zu den mir zugeteilten Knoten unterwegs!" rief er dann noch in den Raum hinein. Seine Worte wurden von einer Vorrichtung auf Pergament geschrieben, die ähnlich einer Flotte-Schreibe-Feder beschaffen war. Nun konnte er losziehen.

Florian Flaubert musste erst ins Foyer hinunter, von wo aus das freie Apparieren möglich war. Seine fünf Kollegen, erkennbar an der smaragdgrünen Doppelflamme auf den dunkelroten Umhängen, trafen zeitgleich mit ihm ein. "Alle Knoten ausgefallen? Wie geht denn sowas?" blaffte sein Kollege Boulanger.

"Müssen wir rausfinden, Georges", sagte Florian dem Kollegen. Dann disapparierte er, in der Nähe von Paris den in einer Tropfsteinhöhle liegenden Vulkanstein aufzusuchen, der als magischer Fokus für die Flohnetzverbindung diente.

Eigentlich sollte der Stein in einem stetigen smaragdgrünen Licht erstrahlen, das alle drei Sekunden heller und wieder dunkler wurde. Doch als Flaubert den Stein im Licht seines Zauberstabes sah war der nur dunkelgrau und porig. Selbst die ihn in bestimmten magischen Figuren durchziehenden Goldstränge schinen dunkler zu sein als sonst. Flaubert wandte die ihm in einer dreijährigen Ausbildung beigebrachten Zauber an, um die Kraft des Steines zu prüfen, eventuelle Beschädigungen der magischen Goldverbindungen zu erkennen und die Verbindung zu anderen Knotensteinen auszuprobieren. Dabei stellte er fest, dass irgendwas die Verbindung des Steines zum Erdkernfeuer unterbrochen hatte und zudem noch einen Teil der Sonnenfeuerausschöpfung geschwächt hatte. Zwar waren die magischen Goldverbindungen noch unbeschädigt, aber irgendwas hatte dem Stein seine Kraft genommen. Das hieß, er musste den Stein wieder in die gewünschte Schwingung bringen und diese dann mit den ewigen Feuerquellen Sonne und Erdkern verbinden. Sowas war bisher nur alle zwanzig Jahre fällig, wenn die Stimmung des Knotensteines sich veränderte. Das war wie bei einem Saiteninstrument, wo durch häufiges Spielen die Spannung nachließ und nachgestellt werden musste, wobei wie bei einem Klavier oder einer Harfe galt, dass zu viel Spannung den gewünschten Klang verdarb. So hatte sein Feuerpate, wie die Ausbilder im Flohregulierungsrat hießen, es erklärt. Also brauchte er den für diesen Knotenstein nötigen "Stimmton", um ihn wieder auf seine Aufgabe einzupegeln. Das war nicht einfach und zudem wortwörtlich brandgefährlich, weil es wie wohl gerade eben zu einer Entladung kommen konnte, bei der ein direkt danebenstehender Mensch schwere Verbrennungen und den Verlust des Augenlichtes erleiden konnte.

Als Florian Flaubert nach fünf Minuten endlich die für diesen Knotenstein nötige Schwingungsabstimmung eingestellt hatte wandte er die Zauber an, die den Stein nach und nach je mit ein Wenig Sonnenfeuer und Erdkernfeuer erfüllten. Der Stein leuchtete dabei in einem oraneroten und dann gelbweißen Licht. Rein äußerlich erwärmte er sich nicht. Doch ein leises Wummern kam aus dem Stein. Endlich hatte Flaubert die richtige Ausbeute der beiden ewigen Feuerquellen eingestellt. Jetzt galt es, die benachbarten Knotensteine "Anzusprechen", damit die Verbindung innerhalb des Netzes wieder aufgebaut wurde. Immerhin hatten die fünf Kollegen schon fünf von zwanzig Knoten reaktiviert. Von den noch fehlenden fünfzehn lagen vier jedoch in seiner Zuständigkeit. Das würde also noch ein langer Tag werden. Flaubert dachte daran, dass in nicht einmal zwei Stunden die ersten das Flohnetz benutzen wollten, um zu ihrer Arbeit zu kommen oder Kontaktfeuergespräche zu führen. Das war absolut nicht zu schaffen. So wie es jetzt aussah mochten zwölf Stunden schon optimistisch sein, bis die Knoten untereinander stabil verbunden waren. Dann mussten noch Prüfungen der Einzelkamine vorgenommen werden. Erst dann war eine Reise von Kamin zu Kamin wieder möglich. Hoffentlich kam niemand auf die Idee, den Rat auf Schadensersatz zu verklagen. Handels- und Finanzabteilungsleiter Colbert würde dann sicher ein Fall für die geschlossene Abteilung der Delourdesklinik. Bei dem Gedanken an das magische Krankenhaus fiel ihm ein, wie überlebenswichtig ein Flohnetzanschluss werden konnte, wenn jemand dringend dorthin gebracht werden musste. Also sollten sie das Netz schnellstmöglich wieder reparieren.

Eine Halbe Stunde hatte er an dem einen Knoten gearbeitet, das mit den ihm zugeteilten zwanzig Knoten malgenommen ... Zehn Stunden angestrengte und hochkonzentrierte Arbeit. Das ging nicht ohne Wachhaltetrank. Seine Tochter Debbie, welche eine Pflegehelferin in Beauxbatons gewesen war, hatte ihm zwar schon einen Vortrag darüber gehalten, dass der Wachhaltetrank nicht ständig geschluckt werden durfte. Aber für ein bald wieder benutzbares Flohnetz musste er das wohl überhören. Immerhin gehörte eine Tagesdosis Wachhaltetrank zur Außeneinsatzausrüstung jedes Knotenwartes.

Nachdem Florian Flaubert alle von seinem Knotenstein aus ansprechbaren Nachbarknoten verknüpft hatte machte er sich daran, den nächsten Knotenstein zu reaktivieren.

__________

Im Haus von Camille und Florymont Dusoleil, 26. April 2003, 02:05 Uhr Ortszeit

"Nachdem du, Camille mir das von der dunklen Kraft erzählt hast ging ich erst in die Werkstatt. Der Maledictograf und das Scotergioskop waren sehr stark angeregt worden. Die Mitschrift des Maledictografen zeigte, dass eine Kombination aus dunklen Kräften durch die Erde und die Luft über uns weggerollt sind, heftiger als jeder von mir schon mal angemessene Zauberfluch, einschließlich Avada Kedavra. Es war nicht zu erkennen, wie viele und wie stark jeder einzelne Zauber war. Jedenfalls ist das durch die Luft gehende nach der ersten Überschreitung abgeprällt worden. Aber irgendwie ist dabei das mit Messgeräten erkennbare Grundmuster der Kuppel verändert worden. Die Schwingungsstärke und -anzahl hat sich verschoben. Einzeltests mit Elementarzaubern zeigten mir, dass alle Licht- und Wärmeerzeugungszauber, also auch jeder Feuerzauber, versagten. Meine Rückschaubrille zeigte mir nur noch dunkelroten Hintergrund mit darauf leuchtenden hellroten Schlieren, als sei ich nicht mehr im gewohnten Raum-Zeit-Gefüge oder sowas. Ich konnte damit auch keine Ereignisse der letzten 48 Stunden nachbetrachten. Ich konnte jedoch feststellen, dass die weiterwirkende dunkle Kraft unter freiem Himmel stärker war als unter einem festen Dach. Dann habe ich zwei Detektionsdrachen losgeschickt, um mir einen Blick von oben zu bieten. Allerdings konnte ich von denen keine Bildübermittlung sehen, nur wieder diesen unendlichen dunkelroten Raum mit den darin herumhuschenden roten Schlieren. Dann ritt mich der böse rote Frechheitswichtel, mit meinem Besen nach oben zu fliegen und genauer zu messen, wie sich in welcher Höhe über grund was veränderte und ob vom Grund aus auch dunkle Kraft ausgeht."

"Wie bitte?!" stieß Camille aus. Dann besann sie sich und nickte ihrem Mann wieder zu, er dürfe weitererzählen.

"Ich habe den Tortue-D'or-Besen genommen, den ich vor zehn Jahren extra für sowas angeschafft habe, du weißt, den Besen, mit dem man mit der Sonne mitfliegen kann, der extra für behutsames Fliegen gemacht ..." "Was ist passiert?!" schnaubte Camille. Ihre Schwägerin nickte ihr beipflichtend zu.

"Also, ich bin mit dem Besen nach oben, einen halben Meter pro Sekunde. Dabei habe ich meinen Schildzauberumhang und den Schildzauberhut getragen. Außerdem habe ich einen mit Scotergiophon bestückten Drachen vor mir herfliegen lassen. So kam ich die ersten hundert Meter und maß die Zunahme. Der Zauber verstärkte sich jeden zehnten Höhenmeter um ein Zehntel Bodenwert. So ging es erst mal, bis ich nur noch zwanzig Meter von der Kuppel weg war. Da vibrierten mein Umhang und mein Hut ganz heftig. Ich habe den Drachen so hoch geschickt, wie die Kuppel über unserem Haus steht. Ich hörte einen lauten Kreischer, als wenn der Drache ein gerade unter dem Schlachtbeil ligendes Schwein sei, dann sah ich mein Scotergiophon mit lautem Knall in silbernen Funken auseinanderfliegen. Normalerweise kriege ich von dem Gerät nur ein lautes Summen, wenn es die unsichtbare Kuppel trifft. Ich sah noch, wie der Drachen qualmend an mir vorbei nach unten durchfiel. Na ja, ich bin dann gerade so noch fünf Meter nach oben und meinte, in ein Bienennest geraten zu sein, so laut haben mein Hut und mein Umhang gesummt und gebrummt. Auf der am Besenstielende angebrachten Vorrichtung las ich, dass ich voll von dunkler Magie getroffen wurde, ohne die Kuppel zu berühren. Außerdem ist mir auch immer kälter geworden, als bliese da oben schon der nächste Winterwind. Die Vorrichtung zeigte mir auch, dass irgendwas jede Form von Feuerelementarkraft schluckt, sowie dieses dunkle Feuer, mit dem Julius es zu tun hatte. Da habe ich den Besen ganz nach unten gedrückt und die Erdschwerkraft dran ziehen lassen, um bloß wieder runterzukommen. Zwanzig Meter über Grund habe ich dann den Besen noch mal ganz hochgezogen. Hat gerade zum bremsen gereicht, dass ich mir beim Landen nicht die Beine abgebrochen habe. Also da oben in der Kuppel wirkt ein dunkler Zauber, der alles mit Feuer und Magie gemischte schluckt. Wäre ich nicht so früh gewarnt gewesen hätte es mich wohl beim Berühren der Kuppel erwischt, und ich will nicht wissen, wie genau. Also durchfliegen können wir wohl im Moment wohl vergessen."

"Viviane, geh bitte nach Beauxbatons und sage deinem Gegenstück, dass sie Blanche bescheid geben möchte, dass hier was unangenehmes passiert ist!" sagte Camille. Doch das im Salon hängende Gemälde von Viviane Eauvive rührte sich nicht. Auch die anderen mit beweglichen Motiven gemalten Bilder blieben starr wie die in der magielosen Welt. "Viviane? Kannst du uns hören?" fragte Camille. Doch Viviane Eauvives Bild-ich regte sich nicht.

"Könnte auch von dieser dunklen Magie kommen, weil Bilderwesen ja auch durch eine Form alchemistischer Lichtzauber und nachträglicher Motivationszauber sind", meinte Florymont. "Hoffentlich ist nicht die ganze Magie aus den Bildern raus. Öhm, Camille, kannst du bitte mit deinem neuen Armband versuchen, wen außerhalb von Millemerveilles zu erreichen, Aurora oder Martha?" fragte Florymont. Camille nickte und ging an den nur durch ihren eigenen Handabdruck zu öffnenden Hängeschrank, in dem sie die Schlüssel zu allen Gewächshäusern und Pflanzen- und Pilzwirkstofflagerhäusern aufbewahrte. Aus dem Schrank holte sie das Armband, dass sie aus ihrem Elternhaus mitgebracht hatte und legte es sich um den Rechten Arm. Dann tippte sie auf einen Stein, wie Jeanne das immer gemacht hatte, als diese noch Pflegehelferin in Beauxbatons war.

"Aurora, bist du da?!" sprach sie in das Armband. Es dauerte mehrere Sekunden. Dann knisterte und rauschte es leise aus dem Armband. "Bist du das, Camille. Ich höre dich, sehe dich aber nicht", kam verwaschen und von Knacklauten durchzogen die Stimme Aurora Dawns aus dem Armband. Camille bestätigte es und erwähnte, dass sie gerade mit einem offenbar dunklen Zauber zu tun hatten, der Licht- und Feuerzauber unterbrach und auch Zauberbilder einfror.

"Klingt nicht gut. Übrigens, könnte die selbe Ursache haben wie der Flohnetzausfall bei uns. Gerade eben wurde ich von meiner Mentorin anmentiloquiert, dass es zu mehreren Unfällen beim Kontaktfeuern gekommen ist. Und gerade eben ist ein Kurier vom Flohregulierungsrat bei mir appariert, der mir eine amtliche Mitteilung gebracht hat, dass das Flohnetz Australien vollständig ausgefallen ist. Wisst ihr, was das gewesen ist?"

"Wollen wir rausfinden, Aurora", sagte Camille. "Was für Unfälle waren das?" fragte sie noch.

"Bei zweien sind die Köpfe um 180 Grad verdreht auf den Hälsen gelandet, bei einem ist der Kopf noch im Zielkamin gelandet, aber dann von seinem Körper abgetrennt worden. Das war für den betreffenden leider tödlich. Danach war Flohpulvern auf jeden Fall nicht mehr möglich."

"Aber Feuerzauber als solche gehen bei euch noch?" fragte Camille. "Das geht noch. Aber ich kann dein Abbild nicht sehen, Camille", hörten sie Aurora Dawns Stimme. "Ja, und ich deins nicht. Und deine Stimme kommt hier an, wie aus einem brennenden Haus im Sturm", erwiderte Camille. "Ja, und deine Stimme klingt so, als würdest du dich zwischendurch in eine Maus verwandeln und weitersprechen. Liegt wohl an der magischen Kuppel über euch", vermutete Aurora Dawn.

"Ja, die ist verändert worden. Wir können nur noch mit Streichhölzern Feuer machen, und Viviane ist völlig erstarrt. Das Armband war sozusagen der letzte Test, was noch an Verständigungsmöglichkeiten geht. Danke, dass du dir die Zeit genommen hast, Aurora. Ich hoffe, die können die verdrehten Köpfe wieder richtig herumdrehen."

"Wundersamerweise können die Betroffenen weiter atmen und werden offenbar auch richtig durchblutet. Näheres zu erläutern kollidiert mit unserer Diskretionsdirektive, Camille."

"Verstehe ich. Ich melde mich, wenn wir wissen, was bei uns los ist. War aber offenbar ein weltweites Ereignis."

"Frag Julius, ob er da mehr herauskriegen kann. Er möchte das bitte auch an mich schreiben, sollte sein Computerding im Gerätepilz nicht auch gestört sein."

"Das ganz sicher, Aurora, weil der elektrische Strom dafür von Feuerperlen erzeugt wird", meinte Florymont. Aurora bestätigte, das verstanden zu haben. Dann beendeten Camille und sie die stark gestörte Nur-Sprechverbindung.

"In Australien ist das Flohnetz unbenutzbar?" fragte Uranie. "Dann hat es uns vielleicht auch erwischt. O, das gibt ein heftiges Chaos oder besser, eine unangenehm schwere Blockade der Zaubererwelt."

"Gut, das haben wir jetzt auch ausprobiert. Was machen wir jetzt, Florymont und Uranie. Wir müssen unsere Mitbürger doch warnen", wandte Camille ein.

"Ich fliege zu Monsieur Pierre und mach ihm das klar", sagte Florymont. "Noch ist ja Nachtruhe. Deshalb kann ich nicht mal eben bei dem vor der Tür apparieren. Ihr zwei bleibt bitte bei unseren Kindern!"

"Machen wir", sagte Camille.

__________

In einem Höhlenversteck der Schattenkönigin Birgute Hinrichter, die Nacht zum 26. April 2003

Es war wie ein Bad in völlig lichtloser Dunkelheit, jedoch auch so, dass sie meinte, von innen her aufgeblasen zu werden, langsam und stetig. Sie fühlte, wie die gerade fünf in ihr zu neuen Schattenkindern heranreifenden jungen Männer noch schneller heranwuchsen und ihr regelrecht entsprangen und viele Meter weit durch den Raum flogen. Sie keuchte und stöhnte unter der sie durchfließenden und aufquellenden Kraft. Sie wusste nicht, ob das wieder dieses Hexenweib war, dass ihr schon mal mit schlagartig freiwerdender Dunkelheit von mehreren Tagen den Garaus machen wollte. Dann ließ der Ansturm der gewaltigen Kraft nach. Birgute Hinrichter fühlte, dass sie nun noch stärker war, als habe sie die Seelen von zwölf Menschen direkt in ihren Körper aufgesogen, ohne sie in ihrem einzig stofflich gebliebenen Uterus zu neuen Kindern auszutragen. Was immer das war, es hatte sie und auch alle ihre Kinder getroffen. Das erfuhr sie, als sie über die ihr verfügbare Seelenverknüpfung, einer Form der Telepathie unter Ihresgleichen, jeden und jede fragte, was er oder Sie empfunden hatte. Remurra Nika, ihre erste gezielt empfangene Tochter, behauptete, das sie gerade wie in einem wilden Drogenrausch dahintrieb, obwohl sie in ihrer jetzigen Daseinsform kein Rauschgift mehr nehmen konnte. "Könnte eine heftige schwarzmagische Entladung gewesen sein, Mutter", sagte Garnor Reeko, ihr zweiter gezielt empfangener Sohn. "Irgendwo auf der Erde hat wohl wer Pandoras Büchse 2.0 aufgemacht, und wir Nachtkinder haben daraus einige Kilowatt Energie abbekommen."

"Ja, und ich weiß auch, woher wir die haben. Jetzt erinnere ich mich, dass ich vor dieser so herrlich sattmachenden Kraft einen lauten Angstschrei gehört habe, von einem Mann, der über uns weggeflogen ist. Womöglich ist Kanoras' früherer Boss aus seinem Haus verschleppt worden, und das hat sich dann wie in den Geschichten um das IMF-Team fünf Sekunden danach selbstzerstört und dabei eine Menge angesammelter Dunkelzauberkraft freigesetzt. Na ja, dann sind wir den eben erst einmal los, denn ohne sein kleines, angeblich spiegelartiges Häuschen ist der nur noch ein kleiner, schwächlicher Geist, falls er nicht von jemandem wie mir ... Oha, wehe diese Vampirgöttin hat den vernascht! Am Ende kann die von dem alles abbekommen, wenn sie seine Seele verdaut. Okay, Leute, nutzen wir das großzügige Geschenk, dass wir bekommen haben und machen, dass wir diese Langzähne erledigen, bevor die meinen, der Planet gehöre nun ihnen alleine! Ab morgen machen wir noch ein paar schattenlose Männer mehr. Und ihr fünf da, ihr kommt zu mir, damit ich euch mit euren Namen bedenken kann, wenn ihr es schon so eilig hattet, aus meinem Bauch herauszuspringen!" wandte sich die Königin der Nachtschatten an die fünf gerade von ihr blitzgeborenen. Sie bedachte jeden der Neuen mit seinem neuen, wahren Namen, wobei sie ihn kurz mit ihrer riesenhaften Hand berührte. Dann sandte sie die bereits ausgewachsenen Schattensöhne aus, ihren Auftrag zu erfüllen und noch in diesen Nachtstunden zwölf weitere schattenlose Männer zu erschaffen, die für sie in der Welt der fleischlichen Sonnenanbeter Augen, Ohren und Hände sein sollten. Denn ihr war klar, dass auch die Zauberstabschwinger mitbekommen haben mochten, dass diese dunkle Welle über die Welt gelaufen war.

__________

Das Haus der Eheleute Estelle und Edmond Pierre in Millemerveilles, 26. April 2003, 02:30 Ortszeit

Florymont musste zweimal am Glockenzug ziehen, bevor ein sichtlich verschlafen aussehender Edmond Pierre die Tür öffnete. "Was ist Los, Florymont. Ist was passiert?"

"Morgen, Edmond. Ja, leider ist was passiert, was ganz übles. Aber das möchte ich besser in deinem Klangkerkerarbeitszimmer bereden."

"So geheimnisvoll?" fragte Edmond Pierre. Florymont sagte darauf nur das Wort "Grünsteinring." Edmond Pierre zuckte zusammen und winkte Florymont zu, ihm wortlos ins Haus zu folgen.

"Wer war das, Edmond?" kam eine schlaftrunkene Frauenstimme aus Richtung Schlaftrakt. "Florymont war das, Estelle. Offenbar hat er was sehr heftiges gemessen. Schlaf weiter, ma Chere!"

"Was hat Florymont denn gefunden?" fragte Edmonds Frau aus dem Schlafzimmer zurück. "Das weiß ich noch nicht, Zuckerfee. Könnte auch sein, dass ich dir das dann nicht sagen darf, weil das was mit dem Kreis zu tun hat. Schlaf besser weiter! Reicht schon, dass ich so früh auf bin!" rief Edmond Pierre zurück. Dann winkte er Florymont in sein mit Dauerklangkerker bezaubertes Arbeitszimmer.

Florymont erzählte ihm davon, warum er schon so früh aufwachte. Edmond Pierre gehörte zu den wenigen Leuten in Millemerveilles, die um die Herkunft und Kräfte von Camilles silbernem Erbstück wussten. Florymont ergänzte dann noch, dass seine magischen Messvorrichtungen eine Veränderung der Kuppel und die Unterbindung von Licht- und Feuerzaubern angezeigt hatten und dass er sich ganz behutsam der Kuppel genähert hatte, um sie zu erforschen und nur seiner gegen dunkle Zauber gemachten Schutzbekleidung verdankte, nicht voll in eine Zauberfalle hineingeflogen zu sein.

"Du hast die Aufzeichnungen deiner Rasseln und Klickmaschinen?" fragte Edmond Pierre. Florymont legte ihm die von seinen Mitschreibevorrichtungen gemachten Aufzeichnungen vor. "Ui, ist in der Tat ein Grünsteinrring-Ereignis. Irgendwas hat die Kuppel verfremdet, dass sie jetzt noch mehr dunkle Schwingungen ausstrahlt. Und du meinst, durchfliegen geht nicht mehr?"

"Mein mit entsprechender Wiedergabevorrichtung bestückter Drachen ist laut schreiend auseinandergeflogen", erwiderte Florymont.

"Ich will das wissen, Florymont. Ich schicke einen von den Schwatzfratzen rauf. Kommt der durch die Kuppel, dann können wir das auch mit der entsprechenden Ausrüstung."

"Wird unseren Tierparkhüter nicht freuen und Madame Fourmier hätte dich glatt mit einem Arm wie eine Fliege an der Wand zerteilt für diese Idee", sagte Florymont.

"Ich könnte auch versuchen, mit allen bei mir liegenden Goldblütenhonigphiolen durchzubrechen. Nur sagt das nichts, ob dann auch andere das können, von deiner Frau vielleicht mal abgesehen", vermutete Edmond Pierre. "Auch wieder richtig", sagte Florymont.

So verließen die beiden so leise sie konnten mit auf nichtmagische Weise entzündeten Laternen das Haus und flogen auf ihren Besen zum nächtlichen Tierpark. Edmond ging zum Freigehege mit dem Bau der wieselartigen Schwatzfratze und stampfte kurz auf den Boden. da schossen gleich zwei der sprachbegabten Zaubertiere aus dem Bau und eröffneten eine Schimpfkanonade auf die nächtlichen Störer. Florymont erstaunte es immer wieder, woher die kleinen Biester so viele rüde Wörter kannten. Edmond versuchte bereits, einen der beiden immer hin und herwuselnden Wieselartigen mit einem Schockzauber zu erwischen. Doch er konnte keinen Schockzauber auslösen. "Drachenmist, der Schocker geht nicht", schimpfte nun Edmond. Da knallte es scharf neben ihm, und der seit Mademoiselle Fourmiers Abwanderung nach Beauxbatons hauptamtliche Direktor des Tierparks stand neben Edmond und fragte ihn sehr unwirsch, was er hier wollte. "Darf ich dir nicht sagen, Jonà, weil hochsicherheitsbetreffend", erwiderte Edmond. Dann sah der herbeiapparierte Tierparkdirektor Florymont und wollte ihn fragen, was er hier wolle. Doch Edmond blockte das ab, indem er sagte: "gleiche antwort wie von mir, Jonà."

"Ach, und dafür weckt ihr meine Schwatzfratze und löst meinen Eindringlingsalarm aus? Ihr seid doch echt zwei Gräberknechte", blaffte der Tierparkdirektor. "Immer noch ein angenehmeres Schimpfwort als die, welche deine Lautlärmer da gerade auf uns losgelassen haben", grinste Edmond.

Jonà Contcrapauds blickte auf die Laternen der beiden Zauberer und dann zum Himmel. "Öhm, wo sind denn Mond und Sterne abgeblieben? Der Wettertröter hat kein Gewitter angemeldet. Außerdem ist es dafür zu windstill."

"Ist genau das, was wir rausfinden müssen", sagte Edmond dazu nur.

"Ja, aber dafür einen meiner Schwatzfratze verheizen wollen. Schämt euch! Ich habe fünfzig Jackalopen. Da macht es nichts, einen von für die Forschung zu spendieren", knurrte Jonà Contcrapauds. Als die Schwatzfratze trotz ihrer immer noch wilden Schimpfattacken mitbekamen, dass jemand sie wohl für was immer einfangen wollte waren sie schneller in ihrem Bau als einer "Quidditch" sagen konnte.

"Deine Jackalopen sind in einem abgeschlossenen Stall, zu dem nur du die Schlüssel hast, Jonà", sagte Edmond. "Achso, mich zu fragen hattet ihr sowieso nicht vor", blaffte der Tierparkdirektor. "Aber weil ihr zwei wandelnden Geheimschränke mit brennenden Laternen rumlauft anstatt mit Zauberstablicht vermute ich mal, das das auch was mit der totalen Dunkelheit da oben zu tun hat", fügte er hinzu und deutete mit dem Zeigefinger in den pechschwarzen Himmel hinauf.

"Ganz genau. Übrigens, wir haben rausgekriegt, dass Schockzauber nicht wirken", sagte Edmond. Florymont nickte.

"Wie, wirken nicht?" wurden sie gefragt. Edmond versuchte es noch mal. Dann versuchte es ContCrapauds und machte nur "Häh?!" "Ja, und weil wir sicher sind, dass das mit Sardonias Kuppel zu tun hat müssen wir prüfen, ob sie noch ein magisches Lebewesen durchlässt. Kommt ein Schwatzfratz oder dergleichen durch können wir das mit Schildzaubern wohl auch. Kommt es nicht durch, kommt vielleicht nur jemand mit mehreren vorgespeicherten Schildzaubern durch", sagte Edmond.

""Ich schicke eine meiner fünf Eulen los, nach Marseille zu fliegen und hänge ihr ein Findmich ans Bein. Kommt sie weiter als über den Rand der Kuppel hinaus kommen wir wohl auch durch. Immerhin sind die Posteulen ja vor und nach dem Schlüpfen mit entsprechenden Zaubern behandelt worden, das sie einen zugerufenen Zielort oder eine Person, die nicht unter Unortbarkeitszauber oder Fidelius-Zauber steht finden und ausdauernd fliegen können. Verstehe, eine von euren Eulen wolltet ihr Nachtwächter nicht dafür riskieren, richtig?" Die beiden angesprochenen nickten.

Jonà Contcrapauds wählte aus den fünf ihm nach Blasen auf seiner Eulenpfeife zugeflogenen Vögeln den zwanzig Jahre alten Waldkauz Charlie aus. Den beringte er mit einem bis zu 1000 Kilometer weit abrufbaren Findmich und gab ihm einen Brief an seine Tante Diane mit. Dann ließ er den Vogel in die völlig schwarze Nacht hinausfliegen. Auf einer mit dem Findmich verknüpften Karte, die eigentlich von innen her leuchten sollte, es aber nicht tat, verfolgten sie den Flug der Eule im Schein von mehreren Kerzen. Der Postvogel hatte erst einen steilen Aufstieg versucht und war dann in Richtung Marseille losgerast. Er brauchte nur drei minuten, bis er auf zweihundert Meter an die Kuppelgrenze heran war. Dann sahen sie alle drei, dass der Vogel sehr stark verzögerte und dann noch schneller zurückflog. "Tja, Tierbändiger, hättest du wissen müssen, dass Posteulen sowohl sehr klug und für gefährliche Zauber sehr sensibel sind", meinte Edmond dazu.

"Gut, Charlie will da nicht durchfliegen", raunzte Jonà Contcrapauds. "Dann eben so", fügte er noch hinzu. Er deutete in eine freie Ecke und machte die für einen Apportationszauber üblichen Bewegungen. Mit leicht metallisch nachhallendem Plopp erschien aus dem Nichts eine im Licht der Kerzen und Laternen silbern schimmernde Kettenrüstung. Edmond fragte den Tierparkdirektor, was er vorhatte. "Krämert ihr eure Geheimnisse, ich meine", knurrte der oberste Hüter der Zaubertiere von Millemerveilles. Dann drehte er sich erst links herum, worauf er unvermittelt in der herbeigezauberten Rüstung stand. Florymont konnte nun sehen, wie sich aus dem Rückenteil zwei silberne, adlergleiche Flügel entfalteten. Dann drehte sich Contcrapauds schnell nach Rechts und verschwand mit scharfem Knall.

"Der Volltroll will doch da nicht selbst durchfliegen?" fragte Edmond. Doch Florymont deutete schweigend nach oben. Dann zielte er mit seinem Zauberstab auf die magische Landkarte, auf der Charlies Rückflug dargestellt wurde. "Inverto Observandum!" zischte er. Die Karte erzitterte. Dann verschwand der mit "Charlie" beschriftete Kreis und machte einem etwas größeren Kreis mit der Beschriftung "Jonà Contcrapauds" platz. Diese befand sich laut Maßstab gerade einhundert Meter vom mit "Tierparkleitung" beschrifteten gestrichelten Kreis entfernt. Edmond nickte Florymont zu. Dann disapparierte er, um den beim Schwatzfratzgehege zurückgelassenen Besen zu nehmen. Florymont tat es ihm gleich. "Hast du die Rüstung erkannt?" fragte Edmond seinen Begleiter. "Ja, die Mondjägerrüstung, eigentlich gemacht zur Vampirjagd, ist mit verschiedenen dem Mond zugeordneten Schildzaubern behandelt und kann ihren Träger mit halber Ganni-6-Geschwindigkeit zwei Stunden lang fliegen lassen. Wusste nicht, dass Contcrapauds sowas nettes hat."

"Nur dass zu klären ist, ob er damit durch die Kuppel kommt. Oha, wir sollten lieber aufpassen, da nicht selbst reinzugeraten, trotz unserer beiden Schildzauberumhänge", sagte Edmond. Florymont sah bereits auf die auf die Besenspitze festgeschraubte Messuhr. Dann sahen sie vor sich ein schwaches Glitzern in die Tiefe stürzen. Edmond und Florymont jagten mit ihren Besen im flachen Neigungswinkel nach unten. Dann hörten sie ein lautes Scheppern und unheilvolles Klirren. Als sie noch näher heran waren konnten sie die gleichmäßig über den Boden verteilte Kettenrüstung mit zerbrochenen Flügeln sehen. Von ihrem Träger sahen sie zunächst nichts. Erst als sie nur noch vier Meter über Grund waren konnten sie die vielen kleinen Splitter erkennen, die nicht zur Rüstung gehörten. Florymont wusste augenblicklich, was das zu bedeuten hatte. Er seufzte:"Jonà hat die Macht der Kuppel unterschätzt. Seine Rüstung hat wohl die nötigen Schilde nicht aufbauen können, oder die sind zu schnell zusammengebrochen. Jedenfalls ist er in der Kuppel regelrecht tiefstgefroren und dann abgestürzt. Beim Aufschlag ist sein zu Eis gewordener Körper dann wie eine Vase zersprungen. Edmond, du musst wohl eine Warnung rumschicken."

"Bist du dir absolut sicher, Florymont, dass die Splitter -? Du bist dir sicher", seufzte Edmond Pierre. Als Dorfrat für Sicherheitsfragen in Millemerveilles hatte er schon einiges an dunklen Zaubern zu sehen bekommen. Doch da unten die zerschlagene Rüstung mit dem in tausende von Scherben zersprungenen Körper des Tierparkleiters zu sehen rührte ihn sichtlich an.

Wieder gelandet holte Edmond die Notrufpfeife aus seinem Umhang hervor und blies viermal hinein. Allerdings konnte Florymont keinen Ton hören. Nur die Feuerwehrzauberer von Millemerveilles wurden alarmiert und auch darüber informiert, wohin sie zu kommen hatten. Nach einer Minute apparierten die ersten. Als dann fünfzig Zauberer und vier Hexen um Edmond herumstanden unterließ er es, sie für das verzögerte Eintreffen zu rügen. Statt dessen schilderte er in kurzen Sätzen die bisherigen Ereignisse, ohne Camilles Schmuckstück erwähnen zu müssen. Dann sagte er: "Thalos, Sie teilen die Leute für die Warnmeldungen ein. Ab halb sechs wird mit magisch verstärkter Stimme gewarnt, dass niemand die Kuppel durchfliegen kann und dass Eulen nicht mehr durchkommen. Öhm, Ignatius, sie unterrichten die beiden Herren im hier wartenden Luftschiff, dass sie wohl nicht damit aufsteigen können! Die sollen über die ach so geheime Fernkontaktverbindung mit ihren auf dem Weg befindlichen Kollegen reden, dass die auch ja nicht durch die Kuppel zu fliegen versuchen sollen. Sie mögen dann einen halben Kilometer außerhalb der Kuppel landen und ihr Gefährt dann regenerieren, um damit nach Viento del Sol zurückzufliegen. Sagen Sie den Herren, dass wir herausfinden, was genau geschehen ist und falls möglich Abhilfe schaffen werden! Danke!"

__________

Vor dem Apfelhaus der Latierres, in der Nacht des 26. April 2003

Ich bin jetzt wieder wach. Gerade eben hat mich doch noch diese ganz böse Kraft getroffen, als wenn ein ganz starker Wind mich umgeblasen hätte. Aua, mein Kopf tut weh. Er brummt, als hätte ich viele von den schwarzen Rüsselsummern da reinfliegen lassen. Oh, über uns die dunkel singende Kraft ist ein wenig lauter geworden und singt irgendwie noch dunkler, immer wieder lauter und leiser werdend. Auutsch! Jetzt hat sie ganz kurz sehr laut gesungen. Nein, jetzt singt die dunkle Kraft etwas leiser. Aber das ist was böses. Die sonst nur böse Wesen wegjagende Kraft singt ganz angriffslustig, wie hundert von uns, die einen Feind zurücktreiben wollen, aber so, als wenn die dreimal so groß wie wir wären. Ich höre aufgeregt ihre Laute machende Nachtjägervögel. Ich sehe über uns kein Licht. Wo ist denn der Mond? Wo sind die Sterne? Ich kann sie nicht sehen.

Ich höre vom Haus von Julius und Mildrid ein ganz liebes Singen. Das kommt aus den Fünf Apfelbäumen. Das ist lauter als das böse Singen über mir. Ich laufe bis dahin, wo die fünf Bäume sind. Aua, sind die hell! Um das runde Haus ist eine lieb aber laut singende Wand aus tanzenden Lichtern. Die laufen über dem Haus zusammen.

"Böses Zeug da oben. Will uns totmachen", höre ich meinen einzig wahren Begatter laut rufen. Der kommt gerade vom Jagen wieder. Ich habe ein wenig Angst, in die lieb singenden Lichter reinzulaufen. Die Lichter von den Bäumen sind so hell wie brennendes Feuer. Aber sie singen lieb und laut.

"Böses Zeug über uns. Ah, liebe Bäume singen und machen Licht", höre ich Dusty neben mir. Ich antworte ihm nicht darauf. Ich merke, dass Julius und Mildrid hinter den lieben Lichtern sicher sind. Da kann die böse brummende Kraft von oben nichts machen. Dusty läuft vor und geht durch die tanzenden Lichter. Dann schreit er laut und kommt zu mir zurückgeschwankt. "Aua, mein Kopf. Liebe Lichter zu laut für mich", quängelt er wie ein Junges, das von seinem Mitgeborenen gehauen wurde. Wir gehen in unsere auf dem Baum hingemachte Schlafhöhle zurück. Wenn Julius oder Mildrid rauskommen muss ich sie aber warnen.

__________

Das Haus von Bromélie Bleulac in Millemerveilles, 26. April 2003, 03:20 Uhr Ortszeit

Die seit zehn Jahren verwitwete Hexe Bromélie Bleulac geborene Villefort wurde wie üblich von ihrem Weckfrosch mit einem eiskalten Begrüßungsschmatzer seiner langen Zunge aus dem Schlaf gerissen. Seitdem ihr Mann nicht mehr im Haus wohnte und ihre Kinder die schützende Kuppel Sardonias gegen die Freiheit der großen weiten Welt eingetauscht hatten stand sie in den Frühlingsmonaten immer so früh auf, um die aus dem Winterquartier zurückgekehrten Zugvögel beim Morgenkonzert unter freiem Himmel zu genießen. Ihr Mann und sie waren leidenschaftliche Vogelfreunde gewesen und hatten häufiger die gefiederten Nachbarn belauscht und sogar gezählt, wenn sie durch ihre Nacht- und Wärmesichtferngläser die Umgebung beobachtet hatten. Hierfür waren sie meistens in die Nähe der schützenden Kuppelinnengrenze appariert und hatten dort die von ihnen errichtete Plattform in den Bäumen des absichtlich wildwüchsig gelassenen Waldes bestiegen. So hielt sie es seit zehn Jahren jeden Morgen von März bis August, je nach Sonnenaufgangszeit immer früher am Tage.

Seit dem ihr Mann Louis bei der Verfolgung eines geflüchteten Greifen vom Besen gefallen und zu tode gestürzt war sprach die mittlerweile 78 Jahre alte Witwe nur dann mit den Nachbarn, wenn es die Höflichkeit oder die Notwendigkeit, Lebensmittel einzukaufen erforderte. Dass Bromélie Bleulac wie ihre Vorfahrinnen Sardonia immer noch heimlich verehrte wussten sie in diesem von überguten, viel zu toleranten Leuten bewohnten Dorf nicht. Sicher, als Janus Didier Zaubereiminister war hatte sie es auch eingesehen, dass viele Hexen und Zauberer nach Millemerveilles flüchteten. Sie hatte ihre drei Nichten und zwei Neffen bei sich beherbergt und zudem ihre drei Söhne mit deren Familien aufgenommen, solange das sogenannte dunkle Jahr dauerte. Doch seit dieser Zeit lebte sie wieder für sich alleine.

Als sie sich ankleiden wollte, um die heutige Singvogelbeobachtung und -belauschung zu beginnen, stellte sie fest, dass sie kein magisches Licht machen konnte. Weder mit ihrem Zauberstab, noch mit der von Florymont Dusoleil vor fünf Jahren erhaltenen Deckenbeleuchtung konnte sie ihr Haus erhellen. Als sie auch kein Feuer in den Kamin beschwören konnte fragte sie sich ernsthaft, was das sollte. Wer hatte ihr denn einen Unfeuerzauber auf das Haus gelegt? So blieb ihr nur, sich in völliger Dunkelheit anzukleiden. Seltsam, der Mond schien offenbar auch nicht.

Warm gekleidet und mit ihren halbhohen Lautloslaufschuhen an den Füßen verließ sie das Haus. Doch draußen war es keinen Deut heller als drinnen. Ja, und sie meinte auch, dass es hier viel kälter war, als es um diese Jahreszeit sein durfte. Sie war damals bei dem Sommerball gewesen, der von einer Horde Dementoren gestört worden war. Da war es auch so dunkel gewesen und zudem eiskalt. Waren hier in der Nähe Dementoren? Sie blickte sich hektisch um. Doch in dieser völligen Dunkelheit konnte sie nur erahnen, was um sie herum war und auch nur deshalb, weil sie schon so lange hier wohnte. Sie lauschte. Es war still wie in der Familiengruft ihrer Vormütter. Sollte sie ihren Patronus rufen? Dann beschloss sie, zuerst auf ihre Aussichtsplattform zu apparieren, schön weit von ihrem Haus fort. Sie stellte sich die Plattform zwischen zwei Bäumen vor, die mehr als dreißig Meter über dem Boden angebracht war. Sie drehte sich auf der Stelle und verschwand mit leisem Plopp.

Die sie umschlingende Schwärze des Appariervorgangs wollte offenbar nicht nachlassen. Denn als sie meinte, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben war es ganz genauso dunkel wie einen Augenblick zuvor. Sie fühlte das leicht nachgebende Holz und hörte es leise knarren. Offenbar war sie am richtigen Ort angekommen. "Lumos Maxima!" rief sie mit nach oben weisendem Zauberstab. Dieser zitterte einen winzigen Moment. Mehr geschah nicht. Kein Licht leuchtete auf. Sie wiederholte den Zauberspruch. Wieder war ein kurzes Ruckeln ihres Zauberstabs die einzige Wirkung. Dann versuchte sie es mit den hitzelosen Leuchtflammen, die sie sich auf die Hand zaubern konnte. Damit konnte sie selbst die Dunkelheitsaura einer Truppe Dementoren durchdringen. Doch außer einem leisen Piff und einem leichten Prickeln auf ihrer freien Hand geschah nichts. "Cappam Aurorae Aueae porto!" zischte sie. Dieser von Sardonia erfundene Licht- und Schildzauber konnte Dunkelheit und dunkle Zauber verdrängen. Erst sprühten goldene und rote Funken aus ihrem Zauberstab. Als sie die Zauberworte wiederholte verstärkte sich der Funkenregen und hüllte sie ein. Doch erst bei der dritten Widerholung umhüllte die Hexe ein Mantel aus rotgoldenem Licht. Die Kälte verflog sofort. Damit konnten Sardonia und ihre Schwestern problemlos durch die von der mächtigen Hexenkönigin erschaffenen Kuppel, als sie diese mit einem Zauber namens Atem der Nacht angereichert hatte. Jeder ungeschützte konnte dann nicht mehr durch die Kuppel. Er oder sie prallte gegen eine Wand aus verdichteter Dunkelheit. Doch im Mantel der goldenen Morgenröte konnte eine Hexe die Kuppel von innen und außen durchfliegen wie Luft. So konnte nun auch sie, die diesen Zauber von ihrer Mutter selbst erlernt hatte, als sie aus Beauxbatons heraus war, die Plattform unter sich sehen. Das Licht der um sich erstrahlenden Aura reichte bis zum Rand der Plattform. Bromélie lächelte. Außer ihr konnte niemand in Millemerveilles diesen Zauber, und außer den Nachfahrinnen der Getreuen Sardonias kannte den auch niemand. Selbst diese überneugierige Blanche Faucon und ihre nicht minder vorwitzige Tochter Catherine hatten nicht alle Geheimnisse Sardonias ergründet. Dass es den Kreis der Eingeweihten gab, der meinte, alle Geheimnisse von Sardonias machtvoller Kuppel zu kennen und diese für seine Zwecke umgezaubert hatte ärgerte sie zwar. Doch diese Narren wussten nicht, dass es noch Zauber gab, die Sardonia nur ihren unmittelbar vertrauten wie Nigrastra und Anthelia beigebracht hatte.

in ihrer Überlegenheitseuphorie disapparierte sie von der Plattform, um in die unmittelbare Nähe der Kuppel zu gelangen. Sie apparierte wohl nur noch fünfzig Meter davon entfernt. Hier fühlte sie, dass eine starke Kraft auf sie wirkte. Die rotgoldene Aura, die sie um sich erzeugt hatte flimmerte ein wenig. Bromélie überlegte, ob sie nicht besser zurückkehren sollte. Doch dann dachte sie, dass die unheimliche Macht ihr nichts anhaben würde, wenn sie den schützenden Zauber immer wiederholte. "Cappam Aurorae aureae porto!" sprach sie. Das rotgoldene Licht um sie verstärkte sich wieder. "Dann will ich doch mal sehen, ob es wirklich der Atem der Nacht ist", dachte Bromélie Bleulac. Falls es der Zauber war, dann hatte sie allen anderen gegenüber einen erheblichen Vorteil, selbst diesem muggelbrütigen Burschen Julius Latierre gegenüber, von dem sie wusste, dass er Kontakt zu diesen ominösen Kindern Ashtarias bekommen haben sollte. Aber das mochte auch Unfug sein, genauso wie der Unfug, dass Anthelia wieder aufgetaucht sein sollte. Denn wäre sie das wirklich, hätte sie sicher die alten Getreuen kontaktiert und damit auch sie.

Zur Kuppel fehlten nur noch zehn Meter. Jetzt merkte Bromélie, dass ihre schützende Aura erheblich flackerte. Doch sie lud sie immer wieder nach. Womöglich konnte sie sie dann, wenn die Sonne aufgegangen war, auf dafür empfängliche Materialien wirken, dachte die verwitwete Hexe.

Vor ihr war nur eine völlig schwarze Wand. Nicht ein Funke Widerschein drang zu ihr. Dann war sie dort, wo die Kuppel normalerweise jeden durchlassen würde, der kein Feind der Bewohner Millemerveilles war. Bromélie Bleulac tat den einen, alles entscheidenden Schritt.

Ein lautes Tosen, wie auf Kommando über sie herfallende Hornissen dröhnte in ihren Ohren. Gleichzeitig fühlte sie, wie etwas ihr Kraft absaugte. Ihre schützende Aura flackerte kurz heller, dann erlosch sie. Schlagartig drang unbarmherzige Eiseskälte in sie ein. Sie fühlte, wie ihr Herz und ihre Lunge erfroren, dann erlosch ihr Bewusstsein. Ihre ganze Lebenskraft floss in die undurchdringlich gewordene Kuppel über und nährte, was darin erwacht war. Sie bekam nicht mit, wie ihr Körper auf der Stelle am Boden festfror und zu einer Statue aus Eis wurde, eine frauenförmige Grenzmarkierung, die jeden von innen oder außen warnte, wo die Todesgrenze verlief.

__________

Im Apfelhaus der Familie Latierre, am frühen Morgen des 26. April 2003

Millie und Julius erwachten, weil Aurore auf ihr Bett sprang und "Maman, Papa, fremdes Licht draußen!" rief. Millie, der ihre erstgeborene beinahe auf den sichtlich vorgewölbten Unterbauch geprallt wäre, zischte Aurore erst an, nicht so ungestüm zu sein. Dann deutete sie auf eines der Fenster, die in Morgenrichtung wiesen. "Julius, kuckst du bitte mal, was da sein soll?" Julius, der wegen des Traumes von Temmie und der unheimlichen dunklen Explosion sofort hellwach wurde, als seine erste Tochter wie ein Gummiball auf seiner Bettseite hüpfte, öffnete sofort die Vorhänge.

Vor den Fenstern erhob sich eine Wand aus grünen und goldenen Lichterscheinungen. Diese wirkten mal wie sich nach oben schlängelnde Riesenschlangen, mal wie fröhlich hüpfende Bälle verschiedener Größe. Die Lichtwand spannte sich zwischen zwei der die Ecken eines Fünfecks bildenden Apfelbäume. Diese erstrahlten halb so hell wie die Mittagssonne in einem grün-goldenen Licht. Julius sah, wie von den obersten Zweigen der Bäume grüne, rote und goldene Blitze nach schräg oben zuckten und über dem Haus ein dichtes Netz aus grün-goldenen Lichtern woben.

"Millie, das träume ich hoffentlich nur. Draußen steht eine aus sich bewegenden Lichtern gebildete Mauer, die wohl aus den von uns gepflanzten Apfelbäumen aufrechterhalten wird. Ja, und die Lichter bilden über uns eine Art leuchtendes Netz", sagte Julius. Dann öffnete er beide Fenster und steckte seinen Kopf und seine Schultern hinaus. Jetzt konnte er auch sehen, dass die Lichtmauer wohl zwischen allen fünf Apfelbäumen errichtet worden war und dass das Netz aus elmsfeuerartigen Blitzen im Mittelpunkt von tiefschwarzen Schlieren durchbrochen wurde, die wie unter dem Velociactus-Zauber zuckend dahinjagten und nach wenigen Sekunden von den grünen, goldenen und roten Lichtentladungen regelrecht zerschnitten und verzehrt wurden. Als er das Millie weitersagte meinte die: "Oha, dann ist irgendwas von dem über uns hängengeblieben, was Temmie uns gezeigt hat."

"Ja, und unser Schutzzauber hält dagegen, hoffentlich solange, wie die fremde Kraft wirkt." Dann hörte er eine Männerstimme von oben rufen:

"Achtung Achtung! Warnung an alle! Die Kuppel wurde von einer bisher unbestimmten dunklen Kraft verändert. Durchquerung tödlich. Feuer- und Lichtzauber unterhalb der Kuppel unmöglich. Meidet die Berührung mit der Kuppel! - Achtung, Achtung! Warnung an alle ..." Die Meldung wurde wiederholt. Julius erkannte den Rufer. Das war Ignatius Charbonier, ein Mitglied der magischen Feuerwehr von Millemerveilles. Millie hörte wegen der offenen Fenster auch die Stimme klar und deutlich.

"Temmie, schläfst du noch?!" gedankenrief Julius nach der geflügelten Kuh. Er bekam keine Antwort. Klappte das Mentiloquieren durch die Kuppel nicht mehr? Er versuchte es noch einmal. Dann hörte er in sich Temmies Stimme: "Bin gerade aufgewacht, noch sehr müde. Was ist los?" Julius fühlte, wie etwas in seinen Kopf hineintastete und wusste, dass Temmie sich wohl direkt aus seinen neuesten Erinnerungen informierte. Seitdem er Temmies Milch aus dem Pokal der Freundschaft getrunken hatte stand er mit ihr noch stärker in Verbindung als so schon. Auch Millie konnte, wenn Temmie das wollte, ihre Gedanken zeitgleich mit Julius hören.

"Oh, könnte einer von Iaxathans mächtigsten Zaubern sein, der irgendwie mit der Anordnung für die euch überdeckende Kraftkuppel verschmolzen ist. Es könnte das Lied der längsten Nacht sein, das wohl schlimmste aller Lieder der Macht. Sonst würde eure Wache aus den Kindern jenes Baumes, den Camille mit Ammayamiria verbunden hat nicht so hell und stark gegen etwas aufbegehren."

"Lied der längsten Nacht?" fragte Julius Temmie. "Ich habe es nicht erlernt, weil es das Wissen der Mitternächtigen ist. Ich habe nur gelernt, dass es dort, wo es wirkt, alle durch die Kraft entstehenden Licht- und Wärme unterdrückt und eine tiefe Dunkelheit erzeugt, die für von außen darauf blickende kalt und tiefschwarz aussieht, wie eine schwarze Sonne, wenn sie über einem zu sehen ist. Deshalb wird es auch Hauch der schwarzen Sonne genannt. Ich fürchte, die dunkle Meisterin, die jene starke Kuppel über euch errichtet hat, fügte in deren Anordnung Teile aus jenem Ritual ein, mit dem das Lied der längsten Nacht seine volle Kraft ausübt. Versucht, ob ihr im Schutz eures Hauses noch Feuerkräfte rufen könnt und ob ihr eure Zauberstäbe leuchten lassen könnt!"

Julius fischte sofort nach seinem Zauberstab auf dem Nachttisch und dachte: "Lumos!" Unverzüglich leuchtete die Zauberstabspitze auf wie eine leuchtstarke Taschenlampe. "Nox", dachte Julius. Da Temmie ja mitbekam, was er tat brauchte er es ihr nicht weiterzugeben. Millie probierte auch ihren Zauberstab aus. Auch sie konnte den Lichtzauber wirken.

"Gut, dann wirkt die böse Macht nicht in eurem Haus. Aber die anderen werden wohl darunter leiden", vermutete Temmie.

"Öhm, Temmie, von dem Hauch der schwarzen Sonne hat Kailishaia mir auch erzählt", hörte Julius Millies Gedanken in sich. "Sie erwähnte, dass dieser Zauber jedes Zauberfeuer erstickt oder nicht aufflammen lässt und dass er auch die körperliche und seelische Kraft aus warmblütigen Zauberwesen saugt, je näher man dransteht, desto stärker. Das meint unser umsichtiger Feuerwehrzauberer da draußen. Die Kuppel könnte mit diesem Zauber aufgeladen worden sein."

"Oh, dann werdet ihr wohl einen sehr dunklen Tag erleben müssen. Allerdings wirkt das ewige Feuer der Sonne gegen dieses böse Lied an und kann seine Kraft aufzehren. Dabei gilt, je länger die böse Kraft von natürlicher Dunkelheit oder dem Tod in ihrer unmitelbaren Wirkung zehren konnte, so lange muss die unverhüllte Sonne auf den Ort scheinen, wo das böse Lied gewirkt wurde. Daher wandten es die Mitternachtsfolger meiner ersten Heimat eher dort an, wo keine Sonne hinleuchten konnte, also in fensterlosen Gebäuden oder unterirdischen Kammern und höhlen", erläuterte Temmie.

"Moment, Temmie. Wenn die da draußen ausrufen, dass die Berührung der Kuppel tödlich ist ..." setzte Julius an und wagte nicht weiterzudenken. Das tat Temmie für ihn. "Dann wohl, weil sie mitbekommen mussten, wie einer der ihren beim Versuch, die dunkle Kuppel zu durchdringen den Tod fand." Millie zuckte zusammen, als sie das erfuhr. Julius hätte Temmie fast gescholten, seine Frau in ihrem Zustand nicht so zu erschrecken. Doch da beruhigte sich millie wieder. "Seid unbesorgt. Meine Kräfte reichen dank eurer Schutzzauber um das Haus bis zu euch durch, und ich kann Millie weiterhin vor überstarken Gefühlen schützen", gedankensprach Temmie.

"Erst halb sechs. Am Ende kommen wir alle nicht mehr hier raus, bis genug Sonne die Kuppel getroffen hat", sagte Julius. Dann dachte er daran, dass er das, was Temmie ihnen zugedacht hatte, so nicht weitererzählen konnte, nur an die in Millemerveilles, die dem Stillen Dienst angehörten. Das passte ja auch zu dem, was Blanche Faucon von ihm verlangt hatte, als der Stille Dienst, abgekürzt SerSil, gegründet worden war.

"Du kannst noch ein wenig liegen bleiben, Millie, ich kriege das mit den beiden hin, tagesfertig zu werden", sagte Julius. Millie bejahte es. "Dann mach aber bitte die Fenster wieder zu. Es ist noch ziemlich kühl draußen!" grummelte sie. Julius tat ihr und der in ihrem Leib heranwachsenden Clarimonde den Gefallen.

Als Julius Aurore und Chrysie sauber und tagesfertig angezogen bekommen hatte wandte er sich an Vivianes Bild. Die gemalte Mitgründerin von Beauxbatons sah ihn abbittend an und sagte: "Ich habe versucht, zu einem meiner Gegenstücke hinüberzugehen. Ich kann mein Bild nicht verlassen." Julius wandte sich an das Vollporträt Aurora Dawns und fragte dieses, ob noch eine Möglichkeit bestand, ihr Original aufzusuchen. Doch auch die gemalte Aurora Dawn bedauerte, das nicht zu können. Sie konnte gerade mal zu Viviane in das Bild hinüber.

"Das wollte ich wissen, Ladies", sagte Julius und äußerte sein Bedauern, dass sie gerade nicht ihre Gegenstücke besuchen und so die Neuigkeiten von dort erfahren konnten.

"Was ist genau passiert, Julius?" wollte Viviane Eauvives Gemälde wissen. Julius erwähnte es und auch, dass womöglich jemand schon bei der Berührung der Kuppel gestorben sein mochte. "Dann bleib du bloß auch davon weg, Julius! Oder versuch nur, durchzukommen, wenn du Camilles Erbstück benutzen darfst", sagte Aurora Dawns Bild-ich. Julius kam eine Idee. Er holte das Orichalkarmband aus seiner diebstahlsicheren Reisetasche, die im Zimmer mit dem Schrank mit den wichtigsten Ausrüstungsstücken stand. Von dort aus rief er nach Aurora Dawn. Er bekam Kontakt, aber sah nur ein wild wirbelndes Dunstgebilde, wo sonst ihr räumliches Abbild sein musste. Ihre Stimme wurde von leisen Knister- und Knacklauten wie aus einem Funkgerät mit schlechtem Empfang unterlegt. Auroras Stimme erzählte ihm, dass Camille sie auch schon anzurufen versucht hatte. Dann sagte sie ihm, dass in Australien das Flohnetz ausgefallen sei, als hätte eine magische Flutwelle alle Verbindungsstellen weggespült. Ihr Kollege Melchior Vineyard habe fünf Ureinwohner behandeln müssen, die von einer plötzlichen bösen Kraft niedergeworfen worden seien. Sie erzählte ihm auch von den drei Kontaktfeuerunfällen, die beim Ausfall des Netzes geschehen seien.

"Oha, das wird wohl vielen Leuten den Spaß am Flohpulvern verderben", sagte er. Dann beruhigte er Aurora dahingehend, dass diese wahrhaftige Welle wohl einmalig gewesen sei, weil das, was sie ausgelöst habe, nicht mehr existiere. Woher er das wusste wollte er aber nicht über diese Verbindung weitergeben. Aurora bedankte sich dafür, dass er sie auch gerufen hatte und mahnte ihn, seine Mutter zu rufen, damit sie sich nicht zu viel Sorgen machte, wenn er sich nicht bei ihr meldete.

Nachdem Julius seine beiden zuerst auf die Welt gekommenen Töchter mit gewisser Entschlossenheit aber ohne handgreiflich werden zu müssen dazu bekommen hatte, ohne Zank ihr Frühstück zu essen und ohne damit herumzupanschen ihren Morgenkakao zu trinken kam Millie mit umgeschnalltem Leviportgürtel mehr schwebend als gehend herein und sagte: "Danke, dass ihr drei uns beiden noch nicht alles weggegessen habt. Julius, ich habe mitbekommen, dass du deine australische Brieffreundin angerufen hast. Was war das bitte mit dem Flohnetz?" Julius erwiderte es, wobei er Aurore erklären musste, dass das Reisefeuer ausgegangen wäre und da jetzt erst mal neues gemacht werden müsste. Mentiloquistisch fügte er hinzu: "Die hatten da auch drei Kontaktfeuerunfälle, wobei einer tödlich ausging, Mamille. Wenn bei uns das Netz auch ausgefallen ist hatten wir wohl glück, weil es in der Nacht war."

"Wiso sind die Lichter draußen?" fragte Aurore noch einmal. "Das sind Lichter, die machen, dass uns nichts böses passieren kann", sagte Julius noch einmal. Er hoffte nur, dass die Apfelbäume nicht von der vielen Gegenwehr ausgelaugt wurden und abstarben. Dann hatten sie wohl auch ein Problem.

Während Millie ihr Frühstück für zwei einnahm setzte Julius an, mit Catherine zu mentiloquieren. Erst dachte er, dass dies durch die verdorbene Kuppel nicht mehr ging wie früher, aber dann meldete sich Catherine. "Ja, Julius, ich habe die Eule auch bekommen, dass das Flohnetz ausgefallen ist. Laurentine hat auch die Eule bekommen." Julius schickte dann weiter, dass er und Millie in der Nacht von Temmie geträumt hätten, die ihnen eine heftige dunkle Entladung und das Triumphlachen einer mächtigen Frau und das Angstgeschrei eines durch die Luft fliegenden Mannes übermittelt hatte. Und jetzt sei die Kuppel über ihnen von einer unheilvollen Kraft erfüllt, die in nicht mit Ashtarias Segen geschützten Häusern und unter freiem Himmel kein Zauberfeuer und keinen Lichtzauber zuließ.

"Klingt nach dem bösen Hauch der schwarzen Sonne, Julius. Mein Mentor in Khalakatan hat mich davor gewarnt, dass die mächtigsten Schwarzmagier des alten Reiches ein Ritual machen konnten, was Körper- und Seelenwärme entziehen und jedes aus Magie geborene Licht oder Feuer unterbinden konnte. Tja, und wer direkt mit dem Fokus dieses Zaubers in Berührung kam musste sein Leben diesem finsteren Zauber opfern. Moment, mein Kopf ist heiß. Ich kriege hin, mit dir in Kontakt zu kommen, ohne mir andauernd den Kopf ausglühen zu lassen. Öhm, ich gebe es auch an alle anderen vom Dienst weiter. Wir kriegen eine Verbindung hin, Julius. Seht ihr bitte zu, dass ihr nicht von diesem Zauber kirre werdet. Bleibt am besten in eurem Haus, da ist es wohl am sichersten!"

"Mag sein, Catherine. Aber wenn die hier alle kein Feuer zaubern können und im Dunkeln hängen brauchen die meine Hilfe beim magielosen Feuermachen. Solange ich weit genug von der Kuppel wegbleibe hilft mir hoffentlich die Goldblütenhonigphiole deiner Mutter." Catherine schwieg einige Sekunden. Dann kam ihre vorerst letzte Gedankenbotschaft: "Ja, hast recht. Die Leute brauchen auf jeden Fall Licht und Wärme."

"Also, der Dienst wird verständigt, Millie. Das Flohnetz ist auch bei uns aus. Die Brickstons und Laurentine bekamen Eulen. Bei uns wird wohl keine hinkommen", gab Julius die Kurzfassung seiner Gedankenunterhaltung. "Gut, müssen wir also abwarten", sagte Millie ungehalten.

"Rorie, möchtest du mit Papa mit, den Leuten hier neues Feuer bringen?" fragte Julius.

"Au ja!" rief Aurore. Millie fragte Julius, warum er sie mitnehmen wolle. Er antwortete ihr: "Besser, wenn nur Chrysie bei dir ist. Hinter beiden gleichzeitig herlaufen ist nicht einfach."

"Womit du zur dreigeschwänzten Gorgone leider recht hast", schnaubte Millie. Julius wertete das als eine der üblichen Schwangerschaftsaufwallungen bei ihr.

Als sie vor dem Apfelhaus standen lauschten Aurore und ihr Vater erst einmal. Doch außer der immer noch ausgerufenen Warnung war nichts zu hören. Aurore fragte, was das hieß, tödlich. Julius erkannte, dass er das eigentlich nicht wollte, dass Aurore das mitbekam. Doch dann sagte er: "Ich habe dir doch mal erzählt, das Menschen irgendwann tot sind, also für immer liegen und nichts mehr machen können. Der freundliche Feuerwehrzauberer da oben will sagen, dass wir aufpassen, nicht zu hoch zu fliegen, weil wir dann tot sind, und Maman und Chrysie dann ganz traurig sind, weil wir nicht mehr mit ihnen singen und spielen können. Aber Papa weiß, wie hoch wir fliegen dürfen, damit das nicht passiert."

"O wie bei Claire, die auf dem großen Platz mit den vielen grünen Hubbeln schläft?" fragte Aurore. Julius bestätigte das. Dann half er seiner Tochter in einen warmen Umhang hinein und steckte ihr die Goldblütenphiole zu. Ihm war nämlich eingefallen, dass sie diese besser bei sich trug, während er das Lied des inneren Friedens in sich wirkte. Immerhin hatte ihn das in Garumitan mitten in einer Armee aus Dementoren und bei deren ekelerregender Brutmutter geholfen.

Auf dem Familienbesen ging es mit hinten und vorne eingehängter Laterne durch die harmlos aber warm über sie tanzenden Lichter hinein in eine zappendustere Umgebung. Aurore sah nach oben und sagte: "Kein Mond da, keine Sonne da!"

"Ja, kein Mond da. Aber vielleicht scheint die Sonne bald", sagte Aurores Vater und fühlte, wie ihm kalt wurde. Er wendete das Lied des inneren Friedens an und konzentrierte sich auf den Richtungssinn, den er als Madrashainorian erweckt hatte. So konnte er auch in dieser vollkommenen Finsternis dahinfliegen und sicherr sein, nicht zu hoch zu fliegen. Immerhin störte dieser vertückte Fremdzauber die Magnetfeldlinien der Erde nicht.

Die ersten, die Julius gegen halb Sieben besuchte waren die Gasbards, die auch in der Nähe des Farbensees wohnten. Diese wirkten erst ein wenig abweisend, weil sie nicht wussten, was passiert war. Doch als Julius ihnen mehrere Kienspäne gab, die er an den Kerzen seiner Laternen angezündet hatte ging es ihnen gleich schon etwas besser. Als Rudolph Gasbard dann auch den Kamin und sieben Kerzen in seinem Haus angezündet hatte hellte sich nicht nur der Salon, sondern auch deren Stimmung auf. "Ich habe einen von diesen Feuerwehrzauberern zu rufen versucht, um zu hören, was genau da los ist, Julius. Ergebnis: Die wissen's noch nicht. Nur ..." Michelle Gasbard zischte ihrem Mann zu, nicht mehr als nötig zu sagen. Julius nickte verstehend. Rudolph hatte erfahren, wer gestorben war. Das musste Aurore jetzt noch nicht hören.

Unterwegs trafen sie den hünenhaften Thalos Latour, dessen schulterlanges Haar im Licht von Julius' Laterne dunkelrot flackerte. "Ach, ihr habt noch magieloses Feuerzeug?" fragte der Feuerwehrzauberer, der gerade seinen Abschnitt abflog, um die allgemeine Warnung hinauszuposaunen. Julius bestätigte das. "Ich habe auch noch die ganzen Benzinfeuerzeuge, die mir die Flüchtlinge überlassen haben, die in Didiers dunklem Jahr bei uns untergekommen sind", sagte Thalos Latour.

"Stimmt, damit ginge das wohl auch noch. Du musst hier den Warnrufer geben?" fragte Julius. "Ja, bis Sonnenaufgang zumindest, damit die, die da gerne aus dem Haus kommen oder flohpulvern wollen bescheid wissen."

"Das Flohnetz ist landesweit ausgefallen, Thalos. Da geht nichts", erwiderte Julius.

"Dann war das nicht nur bei uns? Landesweit, bei über zwanzig Feuerknoten? Ui!" entgegnete Thalos Latour. Dann meinte er: "Dann bringt ihr besser den Leuten noch nichtmagisches Feuer nach Hause. Außer Florymont wüsste ich keinen, der auch noch Feuermachzeug aus der Muggelwelt da hat."

"Bin weiter unterwegs!" rief Julius und beschleunigte den Familienbesen, Während Tahlos hinter ihnen seine Warnung rief.

Auf seinem weiteren Weg empfing Julius trotz Lied des inneren Friedens Temmies Gedankenstimme. "Millie hat von Jeanne eine Eule bekommen, dass sie auch noch Feurzaubern können und um ihr Haus auch ein Schutz aus tanzenden Lichtern sei, und ob Millie und ihr den auch hättet. Sie hätte dich mit Gedanken anzurufen versucht, doch das ginge wohl nicht."

"Klar, weil außer dir keiner durch das Lied des inneren Friedens bei mir reinmentiloquieren kann", schickte Julius zurück. Er hob die Wirkung dieses Zaubers auf und fühlte sogleich, dass seine tatendurstige, zuversichtliche Stimmung von der über ihm ausgebreiteten Dunkelheit eingetrübt wurde. Er sah auf die Laterne. Ihr warmes Licht hellte seine Stimmung wieder auf. Dann mentiloquierte er mit Jeanne und erfuhr, dass Bruno genau wie er unterwegs sei, um Leuten Glut für Feuer oder Kerzen zu bringen, weil die wohl keinen Schutz wie sie oder die Latierres hätten. Julius erfuhr auch, in welcher Richtung Bruno unterwegs war und stimmte sich mit ihr ab, die anderen Ecken von Millemerveilles abzufliegen.

Auf seiner Feuerbringertour kam Julius auch bei den Dumas' Vorbei. Sandrines Posteule war kurz nach dem Losschicken wild zitternd zurückgekommen. Madame Dumas fragte Julius, ob Aurore Ambrosianus-Schokolade haben dürfe. Er nahm das Angebot an. Auch Wenn Aurore nicht von der draußen herrschenden Dunkelheit betrübt wurde half ihr ein Stück von der Wärme und Fröhlichkeit gebenden Schokolade doch noch mehr. Sandrine fragte Julius, ob Aurore schon gefrühstückt habe. Als er die Frage an Aurore weitergegeben hatte sagte Sandrine: "Falls sie möchte kann sie gerne bei den Zwillingen bleiben. Du kannst sie ja dann auf dem Nachhauseflug wieder mitnehmen, falls sie will."

"Hmm, Rorie, willst du bei Sandrine, Estelle und Roger bleiben?" fragte Julius. Aurore überlegte einige Sekunden. dann sagte sie: "Nöh, will weiter mit dir, Papa."

"Das ist amtlich, Sandrine. Aber wenn in Millemerveilles noch Eulen fliegen können kannst du Millie fragen, ob ihr heute Nachmittag zu uns rüberkommen könnt, falls es sowas wie einen Nachmittag gibt."

"Öhm, du meinst, dass diese fiese Dunkelheit jetzt den ganzen Tag bleibt?" fragte Sandrine. Ihre Mutter, die gerade alle noch im Haus verfügbaren Laternen mit Kerzen bestückt hatte erwiderte: "Sonst hätte uns dein Schulkamerad wohl nicht so schnell brennendes Feuer mitgebracht."

"Nein, das darf doch wohl nicht sein", maulte Sandrine. Julius konnte ihr nur sagen, dass er hoffte, dass es mal wieder hell werden konnte. Mehr konnte er nicht.

Als Vater und Tochter am Schluss ihrer Feuerbringerreise bei den Delamontagnes landeten nutzte er die Gelegenheit, ihr bei Blickkontakt zu mentiloquieren, was er von Temmie erfahren hatte. "Das habe ich befürchtet, dass sich das irgendwann doch noch rächt, dass wir unter einer eigentlich schwarzmagischen Kuppel wohnen", gedankengrummelte Eleonore. Dann fragte sie ebenso unhörbar, ob außer Sonnenlicht noch was anderes gegen diesen heftigen Fluch anwirken konnte. Julius gab die Frage weiter: "Ja, nach möglichkeit magielos brennendes Feuer in der Nähe zu haben und sich nicht von der das innere selbst erkaltenden Stimmung schwächen zu lassen", schickte Temmie ihm zurück. Das gab er dann auch an Eleonore weiter.

"Edmond ist mit Florymontunterwegs, näheres zu erfahren. Die beiden sind ja die Hüter der Kuppel, seitdem Augustin Clopin vor einem Jahr gestorben ist", sagte sie mit hörbarer Stimme. Dann fragte sie in Gedanken: "Weiß Blanche schon von unserer Lage?" Julius bestätigte, es Catherine weitergegeben zu haben. Dann wusste Blanche Faucon es sicher auch schon längst und Eleonores Schwiegervater.

"Warst du schon bei Hera?" fragte Eleonore Julius. Er erwähnte, dass die von Bruno mit Feuer versorgt wurde. "Dann fliege bitte selbst noch einmal zu ihr hin und gebe ihr weiter, was du mir mitgeteilt hast", gedankensprach Eleonore bei direktem Blickkontakt. Mit hörbarer Stimme sagte sie: "Da du Pflegehelfer bist wird sie gerne wissen wollen, ob sie auf dich zählen kann, falls diese Verdunkelung uns allen die Stimmung verfinstert."

Unterwegs zu Hera begegneten sie einem der zwei Luftschiffpiloten aus Viento del Sol. Der war heilfroh, einen englischen Muttersprachler zu treffen und rief ihnen zu: "Hey, Julius, was ist mit dieser Kuppel los. Ist dunkel wie im Hintern eines Donnervogels hier, und mein Mädchen wartet auf mich in VDS."

"Ich weiß nur, dass die Kuppel dicht ist und jeder, der dagegenfliegt den letzten Flug des Lebens antritt, Robin. Ich kann aber Melo mit Leuten in Paris, die wiederum mit Leuten in VDs in Verbindung stehen. Die wissen da sicher schon, dass Chuck und du erst mal hier festhängtund Will und Marmeduke wohl draußen vor der Kuppel landen mussten."

"O Mann, hätt' ich das gewusst hätt' ich mich von Chloe krankschreiben lassen, zum feuerroten Donnervogel." Derartig weiterschimpfend flog Robin auf seinem Bronco Centennial weiter, um für sich und seinen Copiloten schon mal bei Gringotts was abzuholen, sollte der Aufenthalt länger dauern.

Wie Eleonore ihn gebeten hatte machte Julius noch einmal bei Hera Matine Station, die gerade alle im ersten und zweiten Schwangerschaftsdrittel befindlichen Hexen bei sich hatte, also drei. Jeanne, die in den nächsten fünf bis sechzehn Tagen ihren zweiten Sohn gebären würde, war nicht hier. "Ich habe es mit deren Männern geklärt, dass die drei solange in meinem Entbindungshaus wohnen, bis wir wissen, was mit der Kuppel los ist. Jeanne und Millie sind ja in den eigenen Häusern gut untergebracht."

"Alles klar, Hera", sagte Julius laut und mentiloquierte ihr dann, was Temmie ihm und Millie im Traum und dann beim Frühstück mitgeteilt hatte. Sie antwortete darauf: "Dann hoffe ich mal, dass dieser Narr Jonà Contcrapauds diesen Zauber nicht zusätzlich aufgeladen hat. Der meinte, mit seiner fliegenden Ritterrüstung gegen den bösen Einfluss immun zu sein und lernte die allerletzte Lektion seines Lebens." Jetzt hatte Julius es offiziell, wer gestorben war und gedankenantwortete: "Ui, das könnte wirklich heftig werden, sollte dieser Zauber nicht vom Sonnenlicht ausgelöscht werden."

"Ich habe mit Edmond und Eleonore vereinbart, um zehn Uhr eine Versammlung einzuberufen. Aus allen Familien soll mindestens ein Mitspracheberechtigter hinkommen. Das wird zwar noch per Eule verschickt, aber seitdem die Eulen die Nähe der dunklen Kraft gespürt haben müssen die sich erst einmal erholen. Zumindest ist von denen keine gegen die Kuppel geflogen."

Wieder zurück im Apfelhaus erfuhr Julius von Millie, dass Catherine mit seiner Mutter telefoniert hatte. Auch in den Staaten war das Flohnetz ausgefallen. Julius schrak zusammen, weil ihm einfiel, seine Mutter noch über das Armband rufen zu wollen. Das holte er sofort nach und ließ alle schon sprechen könnenden Latierres in das Armband rufen, dass es ihnen gut ginge. "Ich gebe das an Brittany weiter, dass das Luftschiff aus Millemerveilles erst einmal festliegt", sagte Julius' Mutter, deren Abbild wie vorhin bei Aurora nur nebelhaft zu sehen war.

"Gut, du gehst zu dieser Versammlung, während ich auf die zwei aufpasse und ...", setzte Millie an, wurde aber von der Türglocke unterbrochen. Draußen stand Sandrines Mutter.

"Falls ihr irgendwie zu Laurentine durchkommt teilt ihr mit, dass ich ihr den Fehltag nicht vom Gehalt abziehe und dass Sandrine anbietet, auf Chrysie und Aurore aufzupassen, wenn ihr beide zur Versammlung wollt. Ich bleibe mit den anderen in der Schule. Noch einmal vielen Dank für die Glut und die weiterreichbaren Flammen. Da konnte ich nun viele Kerzen und die zwei großen Kamine anmachen. Vielleicht geht diese Dunkelheit weg. Falls nicht müssen wir doch irgendwie weiterlernen."

"Ich bin nachher bei der Versammlung, Geneviève", sagte Julius. "Aber wenn Rorie will bringe ich sie unterwegs bei Sandrine vorbei, nur wenn sie will", sagte er noch.

An Catherine gab er weiter, dass Madame Dumas' Laurentines Fernbleiben nicht als unbezahlten Urlaubstag verbuchen würde.

Gegen acht rumpelte es im Verschwindeschrank der Latierres. Julius fürchtete schon, gleich eine böse Überraschung zu erleben. Doch als ihm eine zwar zerzauste, aber ansonsten muntere Beatrice Latierre entgegentrat freute er sich. Denn das hieß, dass die Schrankverbindung ging, warum auch immer.

"Na, habt ihr nicht mit gerechnet, dass die Schränke auch noch unter Sardonias Atem der Nacht durchreichen. Die böse alte Dame hat nämlich vergessen, dass zwei von ihren angeblichen Getreuen den von ihr als ganz geheimen Passierzauber erfundenen Zauber "Mantel der goldenen Morgenröte" an uns Latierres weitergereicht haben und seitdem jeder neue Schrank in jeder der sechs Richtungen mit diesem Zauber besprochen wird und durch die entsprechenden Runen für bewahren, neu und Tagesanfang dauerhaft wirksam sind."

"Aber wieso bist du dann so zerwühlt wie ein Bettlaken nach einer wilden Liebesnacht?" mentiloquierte Julius.

"Solange ich nicht so fleckig aussehe wie ein solches geht's", schickte Beatrice zurück und mentiloquierte: "Weil diese Kuppel offenbar mit was gleichwertigem, aber mindestens dreimal so starkem aufgeladen wurde und ich unterwegs wie in einem Wirbelwind hing. Aber ich bin durch und komme sicher auch zurück."

"Nur, dass wir das keinem erzählen dürfen, dass wir einen Notausgang aus dieser dunklen Blase haben", schickte Julius zurück. Da kam Aurore angewuselt. Beatrice erzählte ihr, dass sie das keinem sagen durfte, der nicht aus der Latierre-Familie sei. Das sei ganz geheim.

"Und du bist hier wegen Millie oder wegen uns allen?" fragte Julius mit hörbarer Stimme.

"Maman sagt, wenn nur einer bei euch in der Zeit stirbt, wo dieser Zauber wirkt, kommt ihr bitte alle fünf zu uns und bleibt da, bis dieser Zauber entweder gebrochen wurde oder von selbst verklingt. Dafür sei der Schrank bei euch eingestellt."

"Nachher ist eine Vollversammlung. Ich möchte die erst mal abwarten, sage das deiner Maman bitte", sagte Julius. Beatrice Latierre nickte und trat dann in den Schrank zurück, um die ruckelige Heimreise anzutreten.

"Millie, woher wusste Tante Trice, was bei uns los ist?" fragte Julius. "Von ihrer ganz großen Schwester, die Schuld daran ist, dass du mir diese Frage überhaupt stellen konntest", erwiderte Millie. Julius kniff sich in den Arm und machte "Aua". Darauf hätte er ja echt kommen müssen.

__________

Im Haus von Almadora Fuentes Celestes, 26. April 2003, 09:30 Uhr Ortszeit

Maria Valdez hatte ihre kleine Tochter Marisol gerade in die Kindertagesstätte gebracht, wo sie seit ihrem vierten Lebensjahr mit anderen Kindern zusammen lernte und spielte. Sie kam gerade wieder zur Tür der Geschwister Fuentes Celestes herein, als sie Almadora sagen hören konnte:

"Dann bin ich zumindest beruhigt, dass es allen den Umständen entsprechend gut geht. Das war also dieselbe dunkle Macht, die meine Mitbewohnerin aufgeweckt hat und ihr Erbstück zur Gegenwirkung angeregt hat. Ich höre gerade, dass sie wieder da ist, Viviane. Vielleicht möchtest du sie gleich selbst noch einmal fragen."

"Sehr gerne. Aber lass sie erst einmal in Ruhe ankommen", hörte Maria eine andere Frauenstimme sagen. Auch diese kannte sie. Das war Viviane Eauvive, die Bewohnerin eines magisch belebten Porträtgemäldes. Für Maria war das früher gleichbedeutend mit schwarzer Magie, wenn Bilder ein Eigenleben führen konnten. Mittlerweile wusste sie zumindest, dass die allermeisten Bilder mit harmlosen und für die Betrachter unschädlichen Zaubern erstellt worden waren. Die wenigen Ausnahmen, von denen sie selbst eine hautnah miterleben musste, sollten diese Einstellung nicht trüben.

"Almadora, sage Viviane bitte, ich bin gleich bei euch!" rief Maria Valdez und hängte ihre himmelblaue Übergangsjacke an einen freien Kleiderbügel.

Im Salon von Almadora Fuentes Celestes winkte Maria dem gemalten Vollporträt einer Frau im wasserblauen Kleid zu. Dieses erwiderte mit einer entsprechenden Handbewegung.

"Maria, du warst von euch die einzige, die dieses schwarzmagische Beben mitbekommen hat, weil dein Silberkreuz darauf reagiert hat. Es war kein gezielter Angriff auf dich oder deine Tochter, sondern eine unheimliche starke Entladungsfront dunkler Magie, welche die ganze Welt durchflutet hat. Das Flohnetz, das du ja auch kennst, ist von dieser Entladungswelle bis auf weiteres außer Kraft gesetzt worden, und das nicht nur in Spanien, sondern, wie ich von meinen Gegenstücken weiß, auch in Frankreich, den USA und deinem Geburtsland Mexiko. Also betraf diese Entladung die ganze Welt. Heute morgen versuchte ich, meine Gegenstücke in Millemerveilles, Frankreich zu besuchen, um von Camille Dusoleil zu erfahren, ob auch ihr Erbstück auf diese Entladung angesprochen hat. Dabei gelang es mir nicht, in Camilles oder Julius' Gegenstück von mir einzukehren und erhielt auch keinen Besuch von eben diesen Gegenstücken von mir. Es war, als würde ich gegen eine dunkle Nebelwand rennen, die mich in mein Ausgangsbild zurückgeworfen hat. Eine derartige Barriere gegen den Zutritt von Gegenstücken von mir kannte ich noch nicht. Es war, als hätten sie Millemerveilles hinter dieser dunklen Barriere versteckt, förmlich aus der Welt genommen. Mittlerweile erfuhr ich von Martha Merryweather, Julius' Mutter, dass der Ort Millemerveilles nicht aus der Welt verschwunden, wohl aber durch eine dunkle Verfremdung seiner Abschirmung größtenteils vom Rest der Welt abgeschnitten ist. Das Gedankensprechen gelingt wohl noch. So konnte Martha von ihrer früheren Nachbarin in Paris erfahren, was in Millemerveilles los ist. Den Leuten da geht es den Umständen entsprechend gut. Weil diese dunkle Welle eine derartige Auswirkung hat möchte ich dich fragen, ob du Ashtaria irgendwie danach fragen kannst, woher diese Welle kam und wer sie ausgelöst hat?"

"Ui, das war aber eine lange Vorrede", sagte Maria Valdez. Dann sprach sie weiter: "Ich kenne keinen Weg, Ashtaria von mir aus zu erreichen. Sie sagt mir nur dann etwas, wenn es für sie und mich wichtig ist, ob im Wachzustand oder im Traum. Ich hatte ja gehofft, sie würde mir im Traum erscheinen und mir verraten, was ihr Erbstück ausgelöst hat. Bisher hat sie das nicht getan. Ob sie es noch tun wird weiß ich nicht. Das liegt bei ihr allein und wohl auch bei Gott, dem höchsten aller Wesen." Viviane verzog etwas das gesicht. Maria wusste auch, warum. Die gemalte Hexe lehnte die katholische Lehre ab, weil diese gegen Magier und Hexen Front machte und viele Menschen gnadenlos verfolgt und getötet hatte, die sie für Magier und Hexen hielt. Ähnlich würde Maria wohl reagieren, wenn ihr wer sagte, dass er sein Leben dem Willen Satans anvertraue, weil der Herr der Hölle der wahre Freund aller Menschen sei, wo der ihnen doch die Freiheit zu Entscheiden ermöglicht und ihnen die Erkenntnis von Gut und Böse vermittelt habe. Auch wenn die mexikanischstämmige Tochter aus der Linie Ashtarias Dinge gelernt und erlebt hatte, die das katholische Weltbild grundweg für unrichtig und zu verdammen abtat wollte sie nicht ganz auf die ihr anerzogenen Glaubensgrundsätze verzichten.

"Dann bleibt uns wirklich nichts anderes übrig, als zu warten", stellte Almadora Fuentes Celestes fest. Maria und Viviane bejahten das.

__________

Britisches Zaubereiministerium, am Morgen des 26. April 2003

Außer denen, die grundsätzlich zur Arbeit apparierten war erst einmal keiner gekommen. Das halbe Ministerium war lahmgelegt. Der Zauberer, den sie alle hier für Minister Shacklebolt hielten, ging von einem Büro zum nächsten, um zu prüfen, was getan werden konnte. Als er am Büro des Flohregulierungsrates vorbeikam traf er dort Cerby Sparkley, den Sprecher des Rates. "Wann bekommen Sie das mit dem Flohnetz wieder hin und wie zur dreigeschwänzten Gorgone konnte das passieren, dass das ganze Netz ausfiel?" fragte Shacklebolts Ebenbild den hageren Zauberer mit dem ziegelrotem Kurzhaar und dem Energischen Kinn.

"Wir haben gerade erst ein Viertel der Knoten wieder in Kraft gesetzt. Bis wir alle Knoten wieder zusammengefügt und die Einzelkamine getestet haben dauert es sicher noch bis heute um sechs Uhr abends. Zu Frage Zwei kann ich Ihnen keine Antwort geben. Ich weiß nur, dass irgendwas diese Nacht die Spürsteine bis zum Anschlag erschüttert hat und alle auf Flüche abgestimmten Messgeräte gekitzelt hat, als wenn irgendwo auf der Welt jemand hunderttausend Zauberflüche auf einen Schlag losgelassen hätte. Wie das geht und wer das gemacht hat ist nicht meine Zuständigkeit. Das sollten Sie Ihre früheren Kameraden vom Aurorenkorps fragen, Sir.""

"Bin ich gleich auch. Ich wollte erst wissen, wann unser Flohnetz wieder geht. Ich bekam schon eine Eule vom Fahrenden Ritter, dass die einen weiteren Bus bräuchten, um alle einzusammeln, die wegen Flohnetzausfalls und mangelnden Apparierfähigkeiten gestrandet sind. Ich habe schon angeregt, dass der Hogwarts-Express heute dreimal hin und herfährt und an allen größeren Städten Leute rein oder rauslässt. Also kriegen Sie das bitte auch wieder hin!"

"Unser Job, Sir", erwiderte Sparkley.

Als der Zauberer, der schon seit bald einem halben Jahr den britischen Zaubereiminister ersetzte in der Aurorenzentrale ankam traf er dort den immer noch berühmtesten Zauberer der Gegenwart, Harry Potter. Dieser begrüßte Shacklebolt kameradschaftlich und erwähnte dann, dass die Untersuchungen ergeben hätten, dass irgendwo auf der Welt jemand über Jahre hinweg Zauberflüche zu einem großen Gesamtpaket zusammengestellt haben musste. "Leider können wir nicht auf Tausendstelsekunden oder Tausendstelkrafteinheiten genau messen, Herr Minister. Ich weiß nur, dass es keine Hinterlassenschaft von Riddle gewesen ist. Das hätte ich sicher auch anders verspürt", sagte der junge Zauberer mit der Blitznarbe auf der Stirn. Aus Kingsleys abgeschöpfter Erinnerung wusste dessen Doppelgänger, dass Harry Potter durch den gescheiterten Todesfluch eine körperlich-seelische Verbindung zu Riddle gehabt hatte. "Dann könnte es auch ein verspäteter Anschlag Vengors alias Wallenkrons sein?" fragte der angebliche Kingsley Shacklebolt. Er musste sehr aufpassen, Harry Potter nicht zu tief in die hellgrünen Augen zu sehen, weil Potter mittlerweile auch ein guter Legilimentor war.

"Wir sind uns nicht ganz einig, ob es ein später Anschlag von Vengor ist, um die ganze Zaubererwelt lahmzulegen, ob irgendeine dunkle Bruderschaft oder Schwesternschaft dahintersteckt oder ob es sogar Leute von Vita Magica sind, die herausgefunden haben, wie sie das Flohnetz großräumig lahmlegen können, um davon abgeschnittene Zaubererweltbürger zu entführen oder deren Verschwinden lange genug zu verbergen. Deshalb sind wir hier ja auch gerade angespannt wie eine Armbrust."

"Junge, wenn ihr raushabt, was das war kriege ich als erster Bescheid, ja?" verkleidete der falsche Minister einen Befehl als Frage. "Geht klar, Kingsley", erwiderte Harry Potter kameradschaftlich.

Wieder im Büro des Ministers überlegte Cephyrus Rockwell, ob dieser Anschlag auf das Flohnetz ihm nicht doch noch das Genick brechen konnte. Da er nicht einfach so auf den Markt gehen und die Zutaten für den Vielsaft-Trank kaufen konnte bezog er diesen über Mittelsmänner, die nicht wussten, an wen genau sie gingen, aber deshalb auch immer per Flohpulver reisten und nach Lieferung wieder verschwanden. Wenn das Netz noch einen Tag länger ausfiel wurde es Knapp. Dann hatte er gerade noch für einen halben Monat genug angesetzten Vielsaft-Trank da. Ging dieser aus, musste er zusehen, dass er wegkam. Das hieß dann aber auch, dass der echte Zaubereiminister nicht mehr zurückkehren durfte. Doch im Moment konnte er nichts anderes tun als abwarten.

__________

In den geheimen Katakomben unter Millemerveilles, 26. April 2003, 08:20 Ortszeit

Als Florymont Dusoleil und Edmond Pierre am östlichen Bereich der magischen Kuppel auf den majestätischen Eichenbaum zugingen, der bereits zu Sardonias Zeiten dort gestanden hatte, kamen sie nicht umhin, immer wieder zum Himmel hinaufzusehen. Die völlige Schwärze des Morgens wich langsam einem dunkelgrauen Schimmern, als hinge der Himmel voller Wolken wie im Spätherbst. Doch dagegen sprach die klar umrissene runde Scheibe, die bleich wie ein Weißkäse über dem östlichen Horizont Aufstieg. Hätten ihre Uhren nicht halb neun am Morgen angezeigt, so hätten sie an den Mond denken mögen. Doch die über dem tiefgrauen Himmel wandernde Lichtscheibe war doppelt so hell wie der Vollmond und besaß nicht jene dunklen Stellen, die als Mondgesicht oder Mann im Mond in zahlreichen Legenden und Märchen vorkamen. Das war also die Sonne, bleich, viel dunkler als sonst und völlig ohne einen Funken Wärme. Florymont gruselte es bei dem Gedanken, dass dieses bleiche Etwas sie nun für alle Zeiten ddurch die Tage begleiten mochte.

Bevor Edmond auf der bemoosten Nordseite der Eiche die notwendige Handlung ausführte erkundigte er sich, ob Florymont und er wirklich genug magielos brennende Leuchtmittel dabei hatten. Edmond hatte seinem Feuerwehrzauberer Thalos Latour je zwei randvoll mit dem bei den Muggeln so begehrten Brennstoff Benzin gefüllte Feuerzeuge abschwatzen können. Sie trugen alle beide einen Rucksack voller Fackeln und jeder eine windgeschützte Laterne. Edmond tat sich etwas schwer, die Laternenkerze mit einem der Feuerzeuge anzuzünden. Florymont machte erst seine Laterne an, dann half er seinem Mitbürger und Mitstreiter im Kreis der Eingeweihten.

"So, ich hoffe, deine Frau verzeiht es mir, sollten wir bei dem Patrouillengang draufgehen", sagte Edmond Pierre.

"Sie hat gesagt, wenn noch was von dir und mir gefunden würde würde sie es in ein Brombeerbeet einbuddeln und damit einen Brombeerstrauch düngen. So hätten die Kleinen noch was von uns, und ihr Vater könnte sich jedes Jahr in unser Angedenken Brombeeren für selbstgebrannten Schnaps abholen", sagte Florymont. "Allerdings, hat Camille gesagt, könnte ich mir dann nicht mehr meinen zweiten Enkelsohn ansehen."

"Das hat mir meine Frau auch angedroht, dass ich ja nicht draufgehen dürfe, wenn ich jemals noch mal unsere zwei Nichten in Lyon besuchen wollte. Also sehen wir zu, dass wir am Leben bleiben!"

Edmond nahm ein goldenes Messer mit einem Griff aus Drachenhorn. "Sanguis vitam portat. In Sanguini ignis vitam ardet!" murmelte er, während er sich mit dem Messer eine X-förmige Wunde in die Zauberstabhand ritzte. Dann Gab er das Messer an Florymont weiter. Dieser wiederholte die schmerzvolle Prozedur und deklamierte denselben lateinischen Spruch, der als Schlüssel zu den unterirdischen Bereichen diente. Nur die Eingeweihten durften diesen und die elf anderen zwölf Zugänge kennen, von denen einer auf dem Grund des Teiches in der Dorfmitte war und nur bei Dunkelheit geöffnet werden konnte.

Als beide ihre absichtlich verwundeten Hände auf die von Edmond bezeichnete Stelle am Baum legten fühlte Florymont, wie etwas mit spürbarem Sog das Blut aus der X-förmigen Wunde sog. Dann schien die Rinde der Eiche zu schmelzen, formte sich um, bis sie einen zwei Meter hohen Torbogen bildete. Unter dem Torbogen tat sich eine nachtschwarz gähnende Öffnung auf. Dieser entströmte ein widerlicher Geruch von verfaulendem Holz und Moder. Doch die zwei Zauberer wussten, dass sie keine andere Wahl hatten, als ohne Kopfblase dort hineinzugehen. So durchschritten sie nacheinander den Torbogen und traten auf die knapp dreißig Zentimeter tiefer gelegene erste Stufe einer Wendeltreppe. Das Licht ihrer Laternen tanzte wie zwei Irrlichter über die grauen Granitstufen, die in das innere des Baumes hinabführten.

Die Treppe wand sich weiter und weiter in die Tiefe. Mittlerweile schloss sich über ihnen der Torbogen wieder. Edmond und Florymont stiegen äußerst behutsam die immer weiter nach unten verlaufende Treppe hinunter, wohl wissend, dass sie all die Stufen nachher wieder aufsteigen mussten. Endlich erreichten sie die Sohle der Treppe und standen vor einer dunklen Wand. Dort legten sie ihre verwundeten Hände auf einen ovalen Stein, der rechts aus der Wand herausragte. Es knackte laut. Dann knirschte es, und die steinerne Wand klaffte in der Mitte auseinander. Die beiden Hälften falteten sich wie die Rippen eines Akkordeons zusammen. Nun lag der eigentliche Zugang vor ihnen, ein etwa anderthalb Meter hoher Stollen. Soweit war es, wie Florymont es bei seiner Initiation erlebt hatte. Der Unterschied bestand darin, dass aus dem Tunnel eine kalte Luft drang, als wehe dort ein Winterwind. Außerdem hätten in dem Tunnel rote Fackeln aufflammen müssen. Doch der Tunnel gähnte ihnen genauso nachtschwarz entgegen wie der Durchgang unter dem Torbogen weiter oben. "Die Feuerzauber wirken nicht. Also macht sich die Veränderung auch hier unten bemerkbar", sagte Florymont.

Mit vorgestreckten Laternen betraten die beiden den ansonsten unbeleuchteten Tunnel. Der war gerade breit genug, dass einer hinter dem anderen hergehen konnte. Außer ihren Schritten war kein Geräusch zu hören, nicht einmal tropfendes Wasser. Dann gabelte sich der Tunnel in gleich vier Abzweigungen. Edmond blieb kurz stehen und wählte die zweite von links. Florymont rief sich den Merksatz für diesen Teil des geheimen Gängesystems ins Gedächtnis zurück:

Blut ist der Schlüssel zum stinkenden Tor,
wind' dich hinab bis zum Halse der Nacht!
nimm dann den zweiten der Linken dir vor!
Dann den ddrittrechten, so hast du's vollbracht.

So gingen Edmond und Florymont den eingeschlagenen Weg weiter, der links und rechts von schmnalen Seitenwegen flankiert wurde. In den dritten Weg rechts nach dem Zugang bogen sie ab und gingen bis zu einer scheinbar natürlichen Halle, die die Form eines Vogeleis besaß. In der Mitte dieser an die drei Meter aufragenden Halle stand ein schwarzer Sockel, in den ringsherum wie die Spirale eines Korkenziehers oder einer Schraube Runen und Bildsymbole eingeritzt waren. Florymont erschauerte, wenn er daran dachte, dass Sardonia dem auf dem Sockel liegenden Stein Dutzende von Menschen geopfert hatte, um das dunkle Ritual zu vollziehen, welches dem Stein seine Kraft gab. Es war der Stein des Feindestodes. Irrte er sich, oder war der Stein beim letzten Mal etwas heller gewesen? Heute wirkte alles in dieser Halle noch dunkler als sonst. Auch das Licht ihrer Laternen, bisher ein zuverlässiger Begleiter in der Finsternis, glomm nur noch halb so hell.

"Florymont, verstehst du mich noch?" fragte Edmond. Florymont erschauerte noch mehr. Denn Edmonds Stimme klang wesentlich tiefer und irgendwie schnarrend. Ihr Widerhall von den Wänden klang wie ein Chor aus Riesen, die im Stein darauf lauerten, die Eindringlinge anzugreifen.

"Der Schall und das Licht sind hier anders, Edmond. Das war beim letzten Mal nicht so", erwiderte Florymont und musste sich stark konzentrieren, sich nicht dem Grauen hinzugeben. Auch seine Stimme wurde zu der eines Ungeheuers verfremdet und kam als Chor aus Riesen zurück. "Die fremde Magie hat die Steine noch mehr kompromittiert, als Sardonias Ritual es schon getan hat", bemerkte Edmond. Dann nahm er seinen Zauberstab und umschritt den schwarzen Sockel, auf dem der große, flache, schwarze Stein des Feindestodes lag. Florymont machte derweil einen Prüfzauber, um die Auswirkungen von Edmonds Zaubern zu erfassen. Dabei überfielen ihn Visionen von schattenhaften Dämonen, die mit krallenbewehrten Fangarmen und haifischartigen Mäulern auf ihn losgingen, aber immer zehn Zentimeter vor ihm zurückprallten. Er sah die nachtschwarzen Schatten enthaupteter und zerstückelter Menschen und meinte, deren Todesschreie in jenem unheimmlich tiefen Tonbereich zu hören, der auch ihre Stimmen erfasst hatte. Dann war Edmond um den Sockel herum. Florymont und er kamen darüber ein, dass etwas, die Echos der hier gepeinigten Seelen verstärkt hatte. Vor allem griffen die in der Vision aufgetauchten Dämonenschatten an, statt nur in die von der Kuppelaußengrenze fortweisenden Richtung zu wirken. Also hatte die fremde Kraft die Magie des Feindestodsteines wahrlich nach innen gekehrt.

"Hoffentlich reicht das Licht zum Stein der Nacht", sagte Edmond. Dann übernahm er wieder die Führung und ging mit Florymont durch einen anderen Ausgang hinaus.

Durch mehrere teilweise bogenartige Tunnel ging es zur nächsten Halle, in der sie unvermittelt von völliger Dunkelheit und Kälte erfasst wurden. Mit dem ungesagten Strigoculus-Zauber verschafften sich die beiden Nachtsicht. Nun konnten sie das ins Dunkelrot abgewandelte Licht ihrer Laternen wieder sehen und erkannten den in einer von drei konzentrischen Zauberkreisen umschlossenen Mulde ligenden Stein, der genauso Eiform besaß wie die Halle. Er war selbst mit Nachtsichtzauber völlig schwarz und gab ein beinahe unhörbares Summen von sich. Das Summen schwoll langsam an, wobei der Stein sich ausdehnte. Nach zehn Sekunden schwoll das Summen wieder ab. Der Stein schrumpfte unterhalb der Größe, die sie beim Eintritt gesehen hatten. Normalerweise, so wusste Florymont seit einem Jahr, vibrierte der Stein, dehnte sich jedoch nicht aus oder zog sich zusammen. Es sah aus, als atme der eiförmige Stein der Nacht ein und wieder aus. Edmond sagte etwas. Doch es klang dumpf und ohne die hohen Töne: "Er saugt was ein und gibt was anderes ab. Er scheint auch verändert zu sein. Mann, ist das dunkel hier. Raus hier!"

Florymont konnte gerade noch zur seite springen und mit seiner Nachtsicht erkennen, wie Edmond wie von wilden Bestien gejagt aus der Halle hinausrannte und in die Richtung zurücklief, aus der sie gekommen waren. Florymont fühlte keine Panik und merkwürdigerweise keine weitere Temperaturabnahme. Dafür fühlte er das sanfte Pulsieren um seinen Hals. Seine Frau hatte darauf bestanden, dass er eine Kette aus zwanzig Apfelkernen umhängte. Diese wirkte nun als Schutz vor dem Einfluss des Steins der Nacht.

Um nicht am Ende alleine hier unten zu bleiben eilte Florymont Edmond Pierre hinterher, der bereits wieder an der Halle war, in der der Stein des Feindestodes auf seinem Podest ruhte. Erst als Edmond im Tunnel war schaffte es Florymont, den Mitstreiter einzuholen und zum Anhalten zu bringen. "Mann, dieser Stein hat irgendwas gemacht, dass ich plötzlich panische Angst bekam. Wieso hat meine Goldblütenhonigphiole mich nicht davor beschützt?"

"Das weiß ich nicht", sagte Florymont. Den Drang, dem Kameraden zu sagen, was ihn beschützt hatte hielt er nieder. Er wollte keine Begehrlichkeiten wecken. So sagte er nur, dass der Stein ihn wohl als nächsten in Angst versetzt hätte.

"Ich weiß, dass wohl alle Steine kompromittiert sind, Florymont. Aber ich fürchte, wir sollten uns noch den Stein der glühenden Sonne ansehen. Aber wenn der noch so wirkt wie er soll müssen wir unsere Nachtsicht wieder zurücknehmen." Florymont bestätigte es. Sie hoben den Strigoculus-Zauber wieder auf. Die gerade eben noch sonnenhellen Laternen brannten nun gerade mit dem Licht einer gleichmäßig leuchtenden Kerze.

Durch ein weiteres kurzes Labyrinth näherten sie sich einer weiteren Halle. Edmond stoppte. "Eigentlich müssten wir den Zugang als helloranges Licht sehen und einen Warmen Wind fühlen. Aber es ist genau umgekehrt."

Behutsam näherten sie sich der Halle, die kreisrund und kuppelförmig war. Die Wände, so hatte Florymont es gelernt, waren mit Gold ausgekleidet, Gold, für das mehrere hundert Menschen gestorben waren und durch das weitere hundert Menschen den Tod gefunden hatten. An der Decke hing seit Sardonias Zeiten ein mit Goldstaub überzogener einziger großer Kristallkörper, in dem die Asche von hundert durch die Sonne verbrannter Menschen eingelagert war. Bei Tag glühte der Kristall selbst im Licht der sichtbaren Sonne und verbreitete eine sengende Hitze. Wer zu lange in dieser Höhle verweilte dörrte aus und bekam vor allem einen schweren Sonnenbrand. Dieser Kristall diente der Ausdauer der Kuppel und lud diese bei Tag mit der nötigen Kraft auf, um ihr magisches Geflecht aufrechtzuhalten, was der Stein der Nacht bei Dunkelheit tat.

Als sie die Halle betraten fielen Edmond und Florymont zwei Dinge auf. Es war nicht heiß, sondern eiskalt. Es war nicht hell, sondern dunkel. Zwar spiegelte sich das Licht ihrer Laternen beim Eintritt an den goldenen Wänden. Doch als Florymont einen Blick hinauf zum Scheitelpunkt der kleinen Kuppelhalle warf, meinte er, erblindet zu sein und von mehreren eiskalten Nadeln zugleich ins Gesicht gestochen zu werden. Da fühlte er, wie seine Apfelkernkette auf der Schnur aus Frauenhaar vibrierte und ihm Wärme durch den Körper schickte. Jetzt konnte er sehen, dass in der völlig finsteren Kugel an der Decke ein helloranger Kern glomm, winzig wie ein Getreidekorn, aber trotz der ihn umgebenden Schwärze noch zu sehen. Das mochte aber nur an der Wirkung seiner Kette liegen. Edmond indes schien zu Eis erstarrt zu sein. Florymont hörte irgendwas an Edmond in einem ständig auf- und abschwellenden Ton singen. Er wagte es noch einmal, in die tödlich kalte, beinahe völlig schwarze Sphäre hineinzublicken. Ja, da war dieser orangerote, schon ins Gelb übergehende Lichtpunkt. Dieser pulsierte langsam, und mit jeder Ausdehnung wurde er ein wenig größer. Es schien, als wüchse das eigentlich hier zu erwartende Licht neu heran, eroberte sich Pulsschlag für Pulsschlag den ihm zustehenden Raum zurück.

Als Florymont sein Gesicht endlich wieder abwandte fühlte er, dass es fast zu Eis gefroren war. Seine Augen ließen sich nicht mehr bewegen. Die Pupillen schienen erstarrt zu sein. Er fürchtete, einen Fehler begangen zu haben. Dann sah er Edmond, der statuenhaft starr auf der Stelle stand. Aus seiner rechten Umhangtasche drang jenes befremdliche Singen. Florymont tastete den erstarrten Mitstreiter ab und ertastete die vibrierende, eiskalte Goldblütenhonigphiole. "Mobilicorpus!" zischte Florymont. Edmonds Körper löste sich vom goldenen Boden und hing wie an unsichtbaren Seilen in der Luft. Mit geübten Bewegungen dirigierte Florymont den Mitstreiter aus der Halle mit dem komprimittierten Sonnenkristall.

Florymont wusste nicht, was er machen sollte, um Edmond aus seiner Starre zu lösen. Hatte die schwarze Sonnenkugel ihn mit ihren Eisstrahlen alle Wärme entrissen und ihn damit getötet? Er konnte hier unten keinen Feuer- oder Wärmezauber ausführen. Auch der Lebensquellenanzeigezauber versagte, wohl weil er eine Leuchterscheinung erzeugte. Er konnte also nur hoffen, das Edmond noch lebte.

Schnell trieb er den erstarrten Dorfrat für Sicherheit zum nächsten Zugang, dem Tor zum Sonnenstein, das oberhalb einer anderen Wendeltreppe lag und genau in Südrichtung von Millemerveilles lag. Mit Mühe schaffte er es, den Ausgang zu öffnen, für den er brennendes Feuer brauchte und dazu die Kerzenflamme von Edmonds Laterne benutzte. Dann standen sie wieder unter dem dunkelgrauen Himmel, an dem eine fahle, wärmelose Sonnenscheibe stand.

"Ich fürchte, die Heiler werden nicht gerade gut auf uns zu sprechen sein", dachte Florymont. Er versuchte den Notrufzauber. Doch der verpuffte, kaum dass er seinen Zauberstab verlassen hatte, in einer Wolke silberner Funken. Also blieb ihm nichts anderes, als Edmond auf eine heraufbeschworene Trage zu betten, wobei er tunlichst darauf achtete, den Mitstreiter nicht zu berühren. Mit der Trage an beiden Besen brachte Florymont sich und Edmond Pierre zurück ins innere von Millemerveilles.

Heiler Delourdes verschenkte keine Zeit. Er konnte zwar den Einblickspiegel nicht nutzen, da dieser nur jene dunkelrote Fläche mit darauf huschenden hellroten Schlieren zeigte, wie sie auch die Rückschaubrille zeigte. Aber er schaffte es auch so, Edmond einen Schlauch durch die Luftröhre und einen durch die Speiseröhre zu führen. Den Schlauch in den Atemwegen füllte er stoßweise mit angefeuchteter, heißer Luft. Durch den in Edmonds Speiseröhre verlegten Schlauch ließ er heißen Zaubertrank einlaufen, den Trank der Enteisung, der bei Unterkühlungspatienten eine rasche Wiedererwwärmung erreichte und vor einem Ausflug in kalte Gebiete den Körper für zwei Stunden pro Fingerhut vor Erfrierungen unt Unterkühlung bewahrte. Wahrhaftig schaffte es der Heiler, Edmond auf diese Weise in nur einer Viertelstunde aufzutauen und wiederzubeleben. "Edmond war so extrem unterkühlt, dass er deshalb wohl keine Folgeschäden zurückbehalten wirt. Ich behandle ihn nach dem Erwachen noch gegen innere Verletzungen durch die Erfrierungen. Doch der Enteisungstrank behebt schon mal eine Menge Frostschäden", sagte der Heiler. Dann wollte er von Florymont wissen, warum ihm nichts dergleichen zugestoßen sei. Florymont zeigte ihm seine Apfelkernkette. "Ach, aus jenem Baum, den ihr Claire geweiht habt, beziehungsweise, den Claires Geist beseelt hat, um euch zu schützen?" fragte Heiler Delourdes.

"Genau das", sagte Florymont. "Jeder Apfelkern steht für ein Lebensjahr unserer Tochter und wurde von meiner Frau zusätzlich mit dem Erbstück ihrer Mutter behandelt. Das macht die Kette für mich zumindest halb so wirksam wie der Silberstern meiner Frau böse Kräfte abwehrt."

"Ja, aber weil du in die Eisstrahlen hineingesehen hast bekommst du von mir die Augentrosttropfen, die sonst bei Verbrennungen und Überlastung der Augen verordnet werden. Zusätzlich schluckst du bitte einen Fingerhut vom Enteisungstrank, um die kleinsten Frostschäden auszubügeln. Bin ich froh, dass ich gerade sechs Kessel auf dem Feuer hatte, um den Enteiser noch mit Glut aus einer Feuerstelle anzuheizen."

"Ich weiß auf jeden Fall jetzt, dass wohl alle Steine mit dunkler Kraft überladen wurden. Ich behaupte aber, dass die Sonnenkugel sich langsam wieder erholt", bemerkte Florymont. Der Heiler gehörte zu den Eingeweihten und durfte daher alles wissen, was mit den unterirdischen Quellsteinen von Sardonias Kuppel zusammenhing.

"Ich behalte Edmond auf jeden Fall zur Beobachtung hier. Nicht dass diese Kraft ihn auch geistig betroffen hat."

"Ja, und was machst du, wenn das so ist?" wollte Florymont wissen. "Hoffen, dass ich ihn doch noch in die Delurdesklinik bringen kann. Ansonsten kann ich ihn nur mit Morgauses Tränen im Dauerschlaf halten, falls ich nicht den Conservacorpus auf ihn spreche, um seine körperlichen und geistigen Funktionen für unbestimmte Zeit einzufrieren. Hera wird für uns beide im Rat auftreten."

"Gut, dass sie auch eine Eingeweihte ist", sagte Florymont. "Ja, nur dass sie bei der Versammlung nichts davon berichten darf. Aber ich denke, ihr und mir wird was für die uneingeweihten Mitbürger nachvollziehbares einfallen."

Florymont kehrte in sein Haus zurück. Camille warf sich ihm entgegen und drückte ihm erst den silbernen Stern an die Brust und dann ihren Mund auf seinen. "Ich hörte, dass Edmond bei Heiler Delourdes in Behandlung ist. Gut, dass du die Kette umhattest."

"Ja, das ist wohl richtig. Danke, ma Chere, dass du diese Idee hattest", erwiderte Florymont Dusoleil und deutete auf die Apfelkernkette, die seine Frau auf eine Schnur aus von ihrem Schopf stammender Haare gezogen hatte.

__________

Im Apfelhaus der Familie Latierre von Millemerveilles, Um die Mittagszeit des 26. April 2003

Millie hatte damit gerechnet, dasss Julius länger für die Versammlung aller Familien von Millemerveilles brauchte. Sie hatte die Zeit genutzt, das Mittagessen zu kochen, dabei auf die in einem Laufstall hin und herwuselnde Chrysie aufzupassen und mit Aurore Lieder über den Frühling zu singen, während im Herd und im Kamin ein munteres Feuer prasselte. Die Kniesel hatten sich in ihre Baumhäuser zurückgezogen und wollten da nicht mehr heraus, wenn Julius oder sie nicht in eine gefährliche Lage gerieten.

Zwischendurch fühlte sie, dass Ihr Mann sehr verärgert und wie gegen einen Angriff ankämpfend gestimmt war. Sie hoffte nur, das dem nicht wirklich so war. Wenn es wirklich der böse Zauber war, den Temmie als "Lied der längsten Nacht" oder den "Hauch der schwarzen Sonne" bezeichnete, konnte sich die magische Ausstrahlung auch auf die Persönlichkeit der Leute hier auswirken. Der dunkelgraue Himmel und die stark geschwächte Sonne taten da noch ihr übriges.

Als Julius kurz vor zwölf Uhr erschöpft und verdrossen nach Hause zurückkehrte fragte Millie ihn nicht erst, wie es gelaufen war. Er begrüßte seine Erstgeborene Tochter, die ihn fragte, wann die Sonne wieder richtig hell würde. "Wenn es nach allen hier geht braucht wohl nur wer den richtigen Zauber zu finden, um alles wieder wie vorher zu machen, Rorie. Wir hoffen nur, dass die Sonne den bösen Zauber über uns wegbrennt und dann wieder ganz hell und Warm durchkommt.

"Du setzt dich jetzt bitte hin und isst mit uns. Was du für uns alle wichtiges mitbekommen hast kannst du ja danach erzählen", sagte Millie bestimmt. Julius machte erst Anstalten, aufzubegehren, nicht wie ein kleiner Junge angehalten zu werden. Doch Millie hielt ihn mit ihrem Blick festgenagelt. Er gab nach, weil er zum einen zu müde war, auch noch mit ihr zu streiten und zum anderen Hunger hatte.

Während des Essens ging es nur darum, dass Catherine sich mit Millies Mutter getroffen habe und wohl demnächst auf den Latierre-Hof reisen würde. Julius' Gemüt hellte sich merklich auf. "Ach, dann soll Temmie sozusagen zwischen ihr und uns übersetzen oder uns gleich mithören lassen, was sie erzählt?" Millie nickte. "So hat sie es vor", bestätigte sie noch.

Nach dem Essen legte sie Chrysie in ihr Kinderbett. Aurore sollte in ihrem gerade mit fünf verbrennungssicheren Laternen erhelllten Zimmer Musik machen. So konnten ihre Eltern sie hören und sie konnte nicht alles mithören, was ihre Eltern besprachen. "So haben meine Eltern mich immer rausgehalten, wenn sie was für Erwachsene wichtiges besprechen wollten", wisperte Millie, während Aurore in ihrem Zimmer anfing, auf ihrem Kinderxylophon herumzuklimpern, dass sie zu Weihnachten von ihrer Oma Hippolyte bekommen hatte.

"Also, was war los?" rückte Millie mit der sie am meisten interessierenden Frage heraus. Julius erzählte es ihr.

"Erst einmal haben sie sich alle bei Bruno und mir für die Streichhölzer und/oder die Feuerglut bedankt, um ihre eigenen Feuer anzukriegen. Dann wurde uns erzählt, dass Tierparkdirektor Contcrapauds gemeint hatte, als geflügelter Ritter durch die Kuppel fliegen zu können. Dann haben die Feuerwehrzauberer auf einem Rundflug über Millemerveilles die zu Eis erstarrte und genau auf der Kuppellinie stehende Leiche von Bromélie Bleulac gefunden, du weißt, die etwas menschenscheue Witwe, die sich für Vogelkunde interessierte. Warum sie da an den Rand der Kuppel gegangen ist wusste keiner. Die Feuerwehrzauberer haben lediglich beteuert, dass sie alle rechtzeitig gewarnt hätten.

Anschließend hat Florymont erzählt, dass er und Edmond Pierre die Kraftquellen der magischen Kuppel überprüft hätten und dabei festgestellt hätten, das mindestens drei davon mit zusätzlicher dunkler Kraft angefüllt sind.

Dann ging es los, warum die Dusoleils und wir schon vorher einen offenbar wirksamen Schutz gegen diese Kraft hätten, ob dieser Schutz nicht eigentlich allen gehören sollte und ob dieser Schutz dir und mir gegeben wurde, weil Madame delamontagne, Camille und Madame Faucon unbedingt durchsetzen wollten, dass wir hier lebten. Da haben sich doch wahrhaftig zwei Lager gebildet. Die einen stimmten denen zu, die mich für ungerecht bevorteilt ansehen und einem Lager, die für die Vielfalt in Millemerveilles eintreten und sagen, dass jede Familie Vorteile und Nachteile gegenüber anderen hat. Das hat die, die uns ungerechtfertigte Sonderleistungen unterstellen wollen nicht davon abgehalten, einzuwerfen, dass du und ich, sowie Jeanne und Bruno mit den Kindern übermäßig bevorteilt würden und dass er und ich unsere Grundstücke für weitere Mitbewohner anzubieten hätten. Ich erwiderte auf Eleonores Nachfrage, warum wir diesen Schutz hätten, dass ich ja eigentlich Camilles und Florymonts Schwiegersohn hätte werden können und die beiden dich Millie, als Claires Nachfolgerin akzeptiert hätten. Dem haben Camille und Florymont nicht widersprochen. Dann wurden die beiden von der Gruppe der Neidhammel angegangen, warum nicht jeder in Millemerveilles seine oder ihre weißmagische Absicherung um das Haus haben dürfe. Darauf hat Camille dann erwähnt, dass ihre Mutter ihr ein Erbe überlassen habe, das nur bei ihr seine Wirkung zeige, weil sie mit Aurélie Odin geborene Binoche blutsverwandt sei und dass sie nur Blutsverwandten oder jenen, die mit ihr oder ihren Blutsverwandten gefühlsmäßig stark verbunden gewesen wären solche Schutzzauber ausführen könne. Sie bot allen an, dass sie den Zauber jedem geben würde, wenn sie wüsste, wie sie das anstellen könne. Florymont sprang ihr dann bei und warf denen vor, die Jeanne und uns zu gute Absicherungen unterstellen, dass sie doch auch umfangreiche Sicherheitszauber um ihre Häuser gelegt hätten. Ui, da ging es dann los, wer da was wie und wie gut hinbekommen hätte. Jeder warf jedem irgendwas vor. Ich fürchte, diese gemeine Aura über uns hat schon angefangen, die Leute zu verdrehen. Am Ende musste Eleonore Delamontagne auf den Tisch hauen und klarstellen, dass die Versammlung zusammengetreten sei, um auszudiskutieren, was jetzt gemacht werden müsse. Da habe ich vorgeschlagen, dass ich jedem der will beibringe, wie Feuer mit Streichhölzern und Feuerzeugen gemacht wird. Ignatius Charbonier von der Feuerwehr wandte ein, dass dabei leicht die Häuser von anderen in Brand geraten könnten. Das hat wiederum dazu geführt, dass sich alle Erwachsenen gegen ihn zusammengetan haben, weil er sie pauschal für unfähig erkläre, Feuer zu machen. Ich könnte dann gleich ja den Schulkindern zeigen, wie sie Feuer machen könnten. Das brachte dann die Eltern von schulpflichtigen Kindern auf. Die konnte ich aber beruhigen, dass ich mein Wissen nur an Erwachsene weitergeben würde, um eben keinen Flächenbrand auszulösen.

Die Luftschiffer Robin und Chuck beschwerten sich, hier wie in einem Gefängnis abzusitzen. Der Eindruck wird vor allem von den jüngeren geteilt, die gerne wider samstags ausgehen wollen. Komisch ist das schon, dass die sonst alle so stolz darauf sind, hier von aller Hektik entfernt zu leben. Na ja, die älteren hielten dem entgegen, dass sie schon Wert darauf legten, nach dem Didier-Regime wieder ihre Ruhe und ihren Frieden zu haben, aber nicht unter einer dunklen Glocke dahinvegetieren zu wollen. Sie könnten damit gut leben, wenn sie hier nicht mehr rauskämen, wenn dafür aber wieder freier Blick auf den Himmel möglich sei. Denn dass, so einer von Uranies Sternenfreunden, sei doch der große Vorteil von Millemerveilles, hier einen astreinen Sternenhimmel und viele wolkenfreie Tage und Nächte zu haben und weit genug weg von den "Stinkmaschinen der Muggels" fort zu wohnen. Dabei haben mich echt drei von den ergrauten Damen und Herren angeglubscht, als wollte ich hier in Millemerveilles eine Autobahn bauen oder eine Chemiefabrik. Ich hätte denen fast den Vorschlag gemacht, sowas zu machen, um zumindest Brennstoffe und Zündvorrichtungen herzustellen. Aber ich konnte mich gerade so noch beherrschen. Am Ende ging es darum, ob wir alle hierbleiben, sollte es eine Möglichkeit geben, die Kuppel zeitweilig zu passieren, beispielsweise am Mittag, wenn die Sonne am stärksten ist. Da sprachen sich dann o Wunder über neun Zehntel der Teilnehmer gegen eine Evakuierung aus, auch nicht, um die Kinder außerhalb der Kuppel unterzubringen. Ich habe auch dafür gestimmt, das hier durchzustehen. Gut, jetzt habe ich ja das Wissen, dass diese Entladung einmalig war und wenn wir die davon veränderte Kuppel wieder so hinkriegen, wie sie vorher war, Ruhe vor derartigen Sachen haben."

"Da darfst du dich dann mit Oma Line drüber zanken. Die würde Rorie und Chrysie sofort ins Château rüberholen. Tja, und mich würde sie auch gleich bei sich unterbringen, damit Clarimonde in völliger Sicherheit geboren würde. Aber das habe ich ja vom Ausgang dieser Ratsversammlung abhängig gemacht", sagte Millie. Julius nickte. Dann sagte er: "Also, die allermeisten wollen trotz der ganzen Meckerei über den dunklen Himmel und die Kälte hierbleiben und erwarten von den Eingeweihten, die Kuppel wieder zu reparieren. Ende der Durchsage."

"Und was ist mit Tante Camille, wurde sie noch wegen ihres Erbstückes angegangen?" wollte Millie wissen.

"Nachdem Eleonore und Monsieur Castello ein Machtwort gesprochen haben nicht mehr. "Vielfalt vermehrt den Erfolg. Neid lähmt das Miteinander", hat Monsieur Castello einen Ausspruch des obersten Dorfrates nach Sardonias Fall zitiert", erwähnte Julius. Millie nickte und zog ihr Notizbuch, um diese Aussage niederzuschreiben. Sie eröffnete Julius, dass sie für Gilbert eine Reportage über die Zeit unter dieser veränderten Kuppel schreiben würde, egal, wie lange die Phase dauere. Julius nickte und schlug vor, ihr einen schriftlichen Bericht zu schreiben. Sie bedankte sich im Voraus dafür.

Um dem verdüsterten Himmel zu trotzen hängte Julius schon einmal mehrere bunte Laternen raus, die er eigentlich bei Aurores dritten Geburtstag aufhängen wollte. Sandrine kam mit den Zwillingen herüber und unterhielt sich mit den Latierres über die Lage und über die merkwürdigen Ansichten der bisher so friedlich zusammenlebenden Leute. "Ich kann hier im Grunde nur das machen, was meine Mutter und Joe Brickston damals hier gemacht haben, ohne aufdringlich rüberzukommen mein Wissen weitergeben", sagte Julius. Er rechnete schon damit, die nächsten Tage hier ausharren zu müssen. Das würde noch was geben, wenn Madame Grandchapeau überlegen musste, ob er dann noch für das Ministerium arbeiten könne.

Als Sandrine die drei Kinder beim Spielen beobachtete sagte sie: "Schon heftig, wie schnell die Zeit vergeht. Das ist schon drei Jahre her, dass du und ich, Millie, die drei quirligen da noch in unseren Bäuchen herumgetragen haben. Wenn ich Roger und Estelle so herumlaufen sehe spüre ich die immer noch in mir herumstrampeln." Millie grinste und deutete auf Aurore. "Ich auch. Tja, aber dann merke ich, dass es Clarimonde ist, die da in mir herumturnt, als wollte sie nächste Woche schon auf die Welt."

"Julius, mein Heilstern vibriert nicht mehr, sondern pulsiert immer langsamer. Kann sein, dass der dunkle Zauber, der auf ihn einwirkt, verebbt", mentiloquierte Camille Dusoleil an Julius. Dieser schickte zurück: "Wielange möchtest du noch warten, ob ja oder nein?" Darauf erhielt er die nur für ihn vernehmbare Antwort: "Eine Stunde. Dann möchte ich gerne versuchen, durch die Kuppel zu dringen, um für uns Nachschub an Feueranzündmitteln zu holen. Da das nur in Marseille geht, möchtest du mir dabei helfen?" Julius bejahte es.

"Hallo, Julius, wer hat dich da angetextet, Catherine, meine Mutter oder meine Oma?" wandte sich Millie an ihren Mann. Dieser sah sie an und gab ihr und Sandrine weiter, dass Camille den Eindruck habe, dass der böse Zauber nachlasse. Dabei war am Himmel davon noch nichts zu sehen. Von Horizont über Zenit zu Horizont war der Himmel immer noch dunkelgrau wie an Spätherbsttagen. Die Sonne zog immer noch als fahle Lichtscheibe, gerade mal doppelt so hell wie der Vollmond am Himmel entlang.

"Offenbar will sie dann zusehen, rauszukommen. Wollte sie, dass du dabei bist?" fragte Millie. Julius bestätigte das. Da mentiloquierte Millie: "Gut, aber dann nimm bitte die Goldblütenhonigphiole mit, damit sie mit Camilles Silberstern zusammenwirkt!" Julius versprach es.

Gegen drei Uhr Nachmittags bat Camille Julius darum, bei ihr vorbeizukommen. Er verabschiedete sich von Sandrine und Millie. Sandrine sagte leicht verunsichert: "Hoffentlich kommt ihr auch wieder." Julius straffte sich und sagte mit aller von ihm aufzubietenden Zuversicht: "Ich werde wiederkommen, weil ich unsere dritte Tochter im Leben begrüßen möchte." Millie lächelte zwar, doch er fühlte über die Herzanhängerverbindung, dass es ein nicht so zuversichtliches Lächeln war.

In Polohemd, Jeans und Turnschuhen apparierte Julius bei Camille. Diese trug eine apfelgrüne Bluse, einen dunkelgrünen Rock und braune Schuhe mit flachen Absätzen. Sie hatte den Familienbesen der Dusoleils mit einer brennenden Laterne vorne und hinten und drei äußerlich nur wie größere Handtaschen großen Taschen behängt. In der Besenmitte war Platz für zwei erwachsene Reiter freigehalten.

"Du sitzt hinter mir und legst deine Hand auf den Heilsstern, damit seine Kraft auch in dich einströmt. Falls es nötig ist rufe ich die ganze Kraft daraus hervor", sagte Camille. Julius bestätigte es und schwang sich Hinter ihr auf den Besen.

Camille kommandierte: "Eins - zwei - los!" Beide stießen sich zusammen vom Boden ab. Der Besen vom Typ Cyrano Juno stieg waagerecht auf wie ein Hubschrauber. Erst in zwanzig Metern Höhe kippte Camille den Besen ein wenig nach hinten, um eine Vorwärtsbewegung einzuleiten. So ging es erst einmal gemütliche hundert Meter nach oben. Julius, der gemäß Camilles Aufforderung seine linke Hand auf dem Heillstern liegen hatte fühlte sich etwas unangenehm, weil er damit auch Camilles Brüste berührte. Offenbar merkte Camille, dass ihm das etwas unangenehm war. Deshalb sagte sie: "Millie und Florymont werden uns beide nicht zerfluchen, weil du mich anfasst. Du machst es ja nicht, um mich zu irgendwas unschicklichem aufzufordern oder mich zu demütigen." Diese Absolution erleichterte Julius wahrhaftig.

Als sie in die Nähe der eigentlich unsichtbaren Kuppel gerieten pulsierte der Heilsstern erheblich schneller und stärker. Julius fühlte kurze Kältestöße, gleich gefolgt von Wärmeschauern. Auf diese reagierte seine Goldblütenhonigphiole durch leichtes Erbeben und von ihr ausgehende Wärmestöße. So pendelten sich der Silberstern und Julius' von Madame Faucon geschenktes Schutzartefakt immer mehr aufeinander ein. Dann hörte Julius das leise Brummen, als sei hinter einer dicken Wand ein aufgebrachter Hornissenschwarm, der von einem Blasorchester aus tief spielenden Posaunen und Tubas begleitet wurde. Der Gedanke an stechfreudige Insekten ließ Julius erschauern. Das seit seinem vierten Lebensjahr bestehende Angstgefühl bei vielen Wespen, Bienen oder Hornissen war trotz aller erfolgreicher Konfrontationen und Abstumpfungen immer noch nicht ganz aus ihm raus.

Schlagartig fühlte Julius, wie der Silberstern erbebte und starke Kraftstöße durch seinen Körper jagte. Wie eingeschaltetes elektrisches Licht umstrahlte eine goldene Aura Camille und Julius. Das Brummen von gerade eben schwoll zu einem Getöse wie eine ganze Flotte von Propellerflugzeugen an. Um sich herum sah er blaue und violette Blitze wie eine verrückt gewordene Stroboskopleuchte flackern. Dann, ohne Übergang, erlosch die goldene Aura, verklang das Getöse und verschwand das wilde Blitzgewitter. Dafür mussten Julius und Camille die Augen zukneifen. Denn über ihnen gleißte eine weißgelbe, große Wärme abstrahlende Feuerkugel unter einem hellblauen Himmel. So ähnlich war es, wenn ein Flugzeug beim Start durch dunkle Gewitterwolken hindurchflog und dann genauso unvermittelt in den freien Himmel hineinstieß, wusste Julius.

"Die Sonne hat uns wieder", bemerkte Julius dazu. Camille konnte das nur Bestätigen. Dann sah Julius nach unten. Er meinte, eine flirrende, dunkelgraue Dunstspirale zu erkennen, die ihnen folgte, aber dabei immer mehr zerfaserte, bis sie sich einfach in nichts auflöste. Als das geschah hörte der silberne Fünfzackstern unter Camilles Brüsten zu pulsieren auf. Julius nahm sofort seine Hand davon weg und legte sie so zwischen Camilles Hände, dass sie den Besen mit ihn drauf nun sicher und schnell lenken konnte. Das tat sie dann auch und brachte sich und ihn innerhalb von nur zwanzig Minuten von Millemerveilles an den Stadtrand von Marseille, dem französischen Tor nach Nordafrika.

Um nicht als Hexe und Zauberer aufzufallen landete Camille den Besen und löschte die Laternen. Diese verschwanden als erste in ihrer Handtasche. Dann nahm sie eine der anderen drei Taschen vom Besen und hängte sie um. Die zwei anderen Taschen bekam Julius umgehängt.

Mit der mitgenommenen Euroscheckkarte hob Julius bei der nächsten Bank mit Geldautomat alles ab, was er am Tag von einem Automaten abheben durfte. Auf seinem immer wieder von Nathalie aufgefüllten Eurokonto lagerten an die viertausend Euro, nur für den Fall, dass er auch mal wieder in der Muggelwelt unterwwegs war, so wie jetzt. Um Kleingeld für öffentliche Verkehrstmittel zu bekommen ging Julius gleich in den nächsten Tabakladen und kaufte dort Streichhölzer und zwanzig Benzimfeuerzeuge ein. Als die Verkäuferin ihn fragte, warum er so viele Feuerzeuge brauchte sagte Julius: "Meine Schwigertante und ich geben bald eine Party, wo wir eine Liveband haben. Sie wollte wissen, ob das wirklich so toll aussieht, wenn viele Leute brennende Feuerzeuge hochhalten." Camille lächelte ihn an. Sie nickte bestätigend. Rein familienrechtlich war sie ja auch seine Schwiegertante.

Mit einem Bus, immer auf der Hut vor langfingrigen Zeitgenossen, ging es weiter durch die Stadt, von Kiosk zu Kiosk, zu einem Supermarkt, wo sie Holzkohle und Spiritus Flaschenweise einkauften. Julius musste den Verkäufer an der Kasse mit einem Gedächtniszauber belegen, weil der zusah, wie Camille ganz unbefangen mal eben zwanzig große Spiritusflaschen in ihrer Umhängetasche verschwinden ließ. Die Geschichte mit der großen Party brachte Julius dann noch einmal bei einem Tabakhändler an, der wissen wollte, warum sie zwar Feuerzeuge kauften, aber keine Zigaretten und Zigarren.

Weil in die Taschen noch einiges reinging schlug Julius vor, bei einer Tankstelle mehrere Benzinkanister zu kaufen und dort auch gleich vollzumachen, um die Benzinfeuerzeuge nachfüllen zu können. Den Brennstoff wollten sie dann bei Thalos Latour unterstellen.

In einem Laden für Expeditionen beschafften sie sich noch ein Dutzend Magnesiumfackeln, Feuerstein und Zunderschwämme. Zum Abschluss lud Julius Camille in einem Café zu Kaffee und Kuchen ein.

Als sie schließlich mit ihrem hochbrennbaren und -explosiven Einkauf wieder über der Stelle flogen, wo Millemerveilles lag legte Julius seine Hand wieder auf den Heilsstern und drückte sich ganz eng an Camille. Diese ließ den Besen nach unten sinken. Julius sah unter sich. Millemerveilles war aus mehr als dreihundert Metern nicht mehr als weitläufiges Dorf mit großen Grünanlagen und Feldern zu sehen, sondern als graubraunes Brachland, das angeblich seit jahrzehnten mit giftigen Abfallstoffen belastet war. So hatte es das Zaubereiministerium vor fünfzig Jahren in die Welt gesetzt.

Kurz vor der kritischen Höhe konnte Julius wieder jene dunkelgraue, flirrende Dunstspirale sehen, die plötzlich aus dem Nichts auftauchte und sich zielgenau auf sie zuwand. Gleichzeitig fühlte er auch, wie Camilles Heilsstern zu zittern begann. Dann berührten die Ausläufer der Dunstspirale die beiden Besenreiter. In dem Moment strahlte um diese wieder die goldene Aura auf, und der Silberstern erbebte so wild, dass Julius meinte, er wolle gleich von seiner Kette abspringen und davonfliegen. Wieder umtoste ihn der Lärm wie von einer angriffslustigen Flotte Propellerflugzeuge. Erneut flackerte es um die Beiden blau und violett auf. Das ging zwei volle Sekunden lang. Dann hörte es wieder auf. Dafür war der Himmel über ihnen wieder dunkelgrau, und die wärmende helle Sonne war wieder eine kraftlose, fahle Lichtscheibe. Julius vermeinte gerade noch einen kopfgroßen hellblauen Fleck Himmel zu sehen, der von dunklen Schlieren durchzogen und wie mit einem Spinnennetz zugewebt wurde. Dann war der Himmel über ihm nahtlos grau wie an einem verregneten Novembernachmittag. Es fehlte nur der Regen.

"Vielleicht würde es was bringen, wenn sämtliche Kinder Ashtarias der Kuppel mit einer gemeinsamen Anrufung der Schutzformel zu Leibe rückten", wisperte Julius. Camille erwiderte ebenso leise: "Habe ich auch schon dran gedacht. Aber ich fürchte, die räumliche Ausdehnung der Kuppel setzt uns da eine Grenze. Mentiloquistisch fügte sie noch hinzu: "Das war ja schon schwer, diese Barriere vor der Höhle zu verstärken, in der dieser Irrwitzige dieses dunkle Machtartefakt gesucht hat." Julius sah ein, dass selbst die stärksten Zauber an räumliche Grenzen gebunden waren, wenn sie nicht wie ein Feuer von irgendwas zehren und sich ausbreiten konnten.

"Mamille, wir sind wieder unter der Dämmerkuppel", mentiloquierte Julius seine Frau an. "Ich freue mich, auch wenn die Leute hier in der Gegend sehr trübselig bis gereizt drauf sind, Monju. - Öhm, darf ich die Bezeichnung benutzen, wenn ich für Gilbert eine Reportage schreibe?"

"Wir leben in Gütergemeinschaft, Mamille", antwortete Julius darauf. Darauf fühlte er, dass Millie höchst erheitert war. Überhaupt erkannte er, dass die Herzanhängerverbindung selbst durch die mit böser Magie angereicherte Kuppel hindurch gehalten hatte. Das stimmte erst ihn und dann auch Millie sehr zuversichtlich. Denn er hatte vor dem Abflug gar nicht überlegt, das Clarimondes Leben mit den Herzanhängern verbunden war.

"Euer gemeinsamer Schmuck der Liebe und Verbundenheit wurde durch Ashtarias Kinder aufrechterhalten", hörte er unvermittelt Temmies Gedankenstimme. Er begriff. Weil er in der Nähe von Camille war und sich Heilsstern und Phiole gegenseitig bestärkten hatte dies auch die Herzanhängerverbindung durch die dunkle Barriere hindurch erhalten. Dass es eigentlich eher daran lag, dass es die Verbindung zu einer gerade mit einer Hexentochter schwangere Hexe war und der Heilsstern von einer anderen Hexe getragen wurde fiel Julius nicht ein. Es war ihm auch erst einmal unwichtig.

Camille, Florymont und Julius verteilten nun die mitgebrachten Anzündhilfen. Florymont hatte in der Zeit, wo seine Frau unterwegs war, zusammen mit anderen Dorfbewohnern an allen Hauptstraßen Holzpfähle eingesetzt, an denen oben große Sturmlaternen hingen, in denen je vier kreuzförmig angeordnete Kerzen brannten, die eine ganze Nacht vorhalten konnten. Die Imkerin Bégonie L'ordoux hatte alle gerade vorrätigen Kerzen gespendet, um möglichst vielen Mitbürgern die Möglichkeit zu geben, tragbare Laternen anzuzünden. Temmie gedankensprach zu Julius: "Ja, das ist sehr wichtig, immer eine Licht- und Wärmequelle bei euch zu haben. Das vertreibt die dunkle Wirkung auf eure Gefühle."

Auf dem Zentralplatz wurde eine große Feuerstelle errichtet, auf die alles getrocknete Holz, dass nicht in einzelnen Haushalten gebraucht wurde, bereitgehalten wurde. Monsieur Renard, der die Suche nach seiner entflogenen Tochter Caroline wegen der verfremdeten Schutzkuppel zurückstellen musste, bot den alleinstehenden Hexen und Zauberern an, in seiner Schenke zu übernachten und zu wohnen, damit sie nicht andauernd selbst nach magielosem Feuer suchen mussten. Da es nur fünf verwitwete Hexen und Zauberer gab erschien dieses Angebot Julius nicht so großzügig, wie die Renards es anpriesen. Die meisten Ehepaare und Familien wollten auf jeden Fall in ihren eigenen Häusern bleiben.

Kurz vor Sonnenuntergang kam es um den Dorfteich herum zu einer Vollversammlung aller Bewohner von Millemerveilles. Der Dorfrat wollte den Bewohnern noch einmal den Stand der Lage und das weitere Vorgehen mitteilen. Auffällig war, dass der für Sicherheitsfragen zuständige Rat Edmond Pierre nicht unter den anwesenden Ratsleuten war.

"Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, Hexen, Zauberer, Männer, Frauen und Kinder", setzte Madame Delamontagne an, "wir mussten heute Morgen erkennen, dass wir alle uns in einer schwierigen Ausnahmelage befinden. Nur ganz wenigen ist es möglich, während der hellen Tagesstunden für kurze Zeit unsere Gemeinde zu verlassen. Anstatt ihnen dafür Neid und Argwohn entgegenzubringen gebührt ihnen unsere Dankbarkeit und Anerkennung, dass sie dieses Vermögen nicht als natürliches Vorrecht auslegen, sondern als ihre Verpflichtung annehmen, uns allen zu helfen, durch diese Lage zu kommen, die, wie ich von den Vertrauten mit Sardonias Schutzmaßnahmen höre, durch die länger werdenden Tage ein natürliches ende finden wird, wenn wir es vermögen, während dieser für uns alle unangenehmen Zeit jeden unnatürlichen Todesfall zu vermeiden. Denn dies nährt die unmenschliche Magie, die die meisten von uns bis auf weiteres hier gefangenhält. Wir sitzen alle unter Sardonias Kuppel, die wir jahrhundertelang als Inbegriff von Schutz und Geborgenheit anerkannt und geschätzt haben. Es ist an uns, die dunkle Kraft, die nun darin eingewirkt ist, nicht durch Neid, Missgunst und offene Feindseligkeit zu nähren, oder sie gar durch offenen Mord und Totschlag unerschöpflich zu machen. Wenn wir alle hier wieder hinausfliegen und unsere Lieben besuchen oder von diesen besucht werden wollen, so müssen wir stark sein im Miteinander, weil das Gegeneinander uns alle dieser Kraft ausliefert.

Ich weiß, dass die älteren unter uns den Mitteln aus der magielosen Welt bis heute argwöhnisch gegenüberstehen. Doch diese Mittel werden uns helfen, die Unterbindung von Licht- und Feuerzaubern zu überwinden. Die jüngeren unter uns mögen, je länger diese bedrückende Lage anhält, der Meinung sein, ihnen entginge etwas da draußen in der Welt. Sie möchte ich darum bitten, sich als würdige Angehörige der magischen Welt zu erweisen und mitzuhelfen, dass wir alle in nicht all zu ferner Zeit wieder die Freiheit der ganzen Welt genießen können. Alle bis dahin zu erduldenden Entbehrungen dienen uns und damit auch den Reise- und feierlustigen unter uns, am Ende dieser Ausnahmelage hoch erhobenen Hauptes sagen zu dürfen: Wir haben es geschafft. Wann dieser befreiende Moment kommt kann ich noch nicht sagen. Doch wenn wir uns nicht von der Trübsal, der Dunkelheit und der Bedrückung durch die Beschränkung auf die Grenzen von Sardonias Kuppel zu gegenseitiger Feindschaft verleiten lassen, dann wird dieser Tag mit sicherheit kommen. Also begraben wir alle Unstimmigkeiten, die heute morgen zu Tage traten und nehmen wir diese Lage als gemeinsame Aufgabe an, unseren Zusammenhalt, unsere Gemeinschaft und unsere Leistungskraft zu beweisen. Alle gemeinsam schaffen wir das, weil wir es können und vor allem, wenn wir es wollen. Soviel von meiner Seite, meine lieben Nachbarn und Mitbürgerinnen und Mitbürger. Ich übergebe nun das Wort an Monsieur Thalos Latour, der vorübergehend die schwere Bürde des Sicherheitsbeauftragten übernehmen musste." Madame Delamontagne verbeugte sich, soweit ihre füllige Körperform es zuließ. Beifall brandete aus den um die aufgebaute Bühne versammelten. Alle Bürgerinnen und Bürger trugen kleine und große Laternen an Holzstangen oder wie Bergmannsgrubenlampen um den Hals hängend.

Thalos Latour stand in seiner ganzen Größe von 1,87 Metern auf der Bühne, umringt von zwölf an Eisenpfählen befestigten Pechfackeln. Diese ließen sein rotes Haar selbst wie brennendes Feuer erscheinen. Er beschrieb die bisherige Lage noch einmal, wobei er wegen der anwesenden Kinder auf Einzelheiten wegen des Todes von Tierparksdirektor Contcrapauds und Bromélie Bleulac Verzichtete. er bedankte sich bei den Dusoleils und Julius Latierre, dass sie ohne Anweisungen abwarten zu müssen gezielt und erfolgreich magieloses Feuerzeug beschafft hatten und weiterhin bereit waren, den Mitbürgern den möglichst ungefährlichen Gebrauch dieser Mittel zu zeigen. Er erwähnte, dass die wirklich gefährlichen Brennstoffe in der Feuerwache von Millemerveilles sicher weggeschlossen wären, aber bei Bedarf von den Feuerwehrzauberern rationiert ausgegeben würden. Er erklärte, dass seine Leute nächtliche Patrouillenflüge machen würden, um die beschlossene Erhaltung von mindestens einer nichtmagischen Licht- oder Feuerquelle zu überwachen, damit es nicht zu allem Überfluss zu Bränden kommen würde. Immerhin, so erwähnte Latour, seien Wasser- und Vereisungszauber und somit auch Brandlöschzauber weiterhin möglich. "Wenn ihr möchtet und das mit aller Vorsicht ausführt, könnt ihr mindestens eine brennende Kerze im Haus halten und schlafen gehen oder außerhalb des Hauses eine kleine Feuerstelle brennen lassen, wenn diese sorgfältig genug gegen Brandausbreitung abgesichert wird. Wir passen auf euch auf, dass eure Häuser nicht abbrennen, und wir halten die gleich für uns alle entzündete Feuerstelle am Dorfteich in Gang, wenn einer von euch wegen der unnatürlichen Dunkelheit Angst bekommen und nach Licht und Wärme verlangen mag. Hier, in der Mitte Millemerveilles, wo Wasser als Quelle des Lebens von zwölf mächtigen Wesen der magischen Welt umringt bereitsteht, wird auch das Feuer als Quelle von Wärme und Licht und Macht des Menschen über Tag und Nacht bereitgehalten." Mit diesen Worten zog Latour ein großes Benzinfeuerzeug hervor und ergriff einen mit ein wenig Spiritus getränkten Stoffsttreifen. Diesen hielt er an die aufgeschichteten Holzscheite und schlug Feuer, wie Julius es ihm gezeigt hatte. Dabei rief er: "Hokus pokus Fidibus!" Mit dem letzten der drei in Muggelgeschichten häufig gebrauchten Zauberworte berührte die Feuerzeugflamme den Stoffstreifen, der hell entflammte. Die erst bläulich und dann orangeroten Flammen fraßen sich über den Stoffstreifen in die Holzscheite hinein, die erst zaghaft und dann hell auflodernd brannten. Trockene Zweige zwischen den Scheiten nahmen den Brand auf und verteilten ihn knisternd und hell auf die anderen Holzstücke, bis ein helles, warmes, munteres Feuer in Mitten der wartenden Menge brannte. Der laute Applaus übertönte das Knistern, knacken und Prasseln der langen, heißen Flammenzungen. Als der Beifall verebbte sagte der Feuerwehrchef von Millemerveilles noch: "Möge dieses Feuer das Leuchtsignal sein, dass wir alle diese besondere und schwierige Lage genauso überstehen, wie das dunkle Jahrhundert Sardonias, die Tyrannei Grindelwalds, Riddles und Vengors! Es kommt ja selten genug vor, dass ein Feuerwehrzauberer was anzündet statt es zu löschen. Aber in dem Fall dient beides dem Zweck, das leben der ihm anvertrauten Mitbürger zu schützen. Das war und ist eine sehr anspruchsvolle wie erhebende Aufgabe."

"Ähm, was ist mit Edmond Pierre?" fragte einer der umstehenden Mitbürger. Latour deutete auf Monsieur Delourdes und nickte ihm zu. Der Heiler trat zwischen die lodernden Pechfackeln und machte den Stimmverstärkerzauber, der, weil er auf der Elementarkraft Luft gründete, einwandfrei funktionierte. Dann sagte er:

"Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, Monsieur Edmond Pierre, der über unser aller Sicherheit und Schutz wacht, ist in Erfüllung seiner Aufgabe schwer verletzt worden, nicht am Körper, sondern am Geist. Die Suche nach der Quelle unseres derzeitigen Übels setzte ihn der bösen Kraft so stark aus, dass er unter schweren Sinnestäuschungen und Angstzuständen leidet. Er fürchtet, dass Sardonia selbst ihm zürnt, dass er es gewagt hat, die Quellen ihrer Macht anzurühren. Weil ich nicht die Gesundheit unser aller Kinder hier auch noch gefährden will erspart mir bitte jede weiterführende Einzelheit. Ich musste ihm beruhigende Tränke verabreichen, die ihn bis auf weiteres in einen erholsamen Schlaf versetzen. Sobald es wieder möglich ist, jemanden von uns in die Delourdesklinik zu bringen, werden wir ihn dort der fachkundlichen Fürsorge meiner Kollegen übergeben, die, wie ich zuversichtlich hoffe, helfen und heilen können."

"Moment, was genau hat ihn denn erwischt? Am Ende kriegen wir das auch noch ab", warf die schwarzgelockte Yvette Bouvier ein. Delourdes überlegte kurz, was er dazu sagen durfte, weil Yvette und erst recht die anderen hier nicht zu den Eingeweihten gehörten. Dann antwortete er:

"Er untersuchte die Quellen von Sardonias Kuppel und setzte sich dabei der in diese eingefahrenen Kraft aus. Nur wer das so macht wie er, kann sich die entsprechende Geistesverwirrung einhandeln, Yvette. Da nur die Eingeweihten, zu denen ich auch gehöre, wissen, wo die Quellen von Sardonias Kuppel zu finden sind, besteht für dich und euch anderen diese Gefahr nicht. Es ist allerdings wichtig, dass wir diese Kraft nicht durch schlechte Gefühle und gegenseitige Feindseligkeit stärken. Aber das hat Eleonore ja schon erwähnt."

"Öhm, wenn wir die Kraft stärken können, könnnen wir die dann nicht auch schwächen?" fragte Antoine Castello, der zopfbärtige Quidditchveteran von Millemerveilles. Alle sahen ihn an. Darauf antwortete Delourdes: "Eben dadurch, dass wir uns nicht davon gegeneinander aufhetzen und in Angst oder Hass hineintreiben lassen, dass wir in dieser Dunkelheit genug Licht und Wärme bereithalten und dass wir weiterhin am Leben bleiben. Soweit ich weiß kommen in den nächsten sieben Wochen ja neue Kinder bei uns dazu. Das wird wohl auch helfen, diese Kraft niederzuhalten oder auszulöschen. Den Rest kann nur die jeden Tag länger scheinende Sonne erledigen. Bleibt dann zu hoffen, dass sich diese dunkle Kraft dann nicht im Herbst und Winter wiederherstellt."

"Danke, das wollte ich nur wissen. Also, wenn wir uns an Quidditchspielen erfreuen können wir diese gemeine Macht auch kleinhalten?" fragte Castello. Der Heiler überlegte, sah seine Kollegin Matine an und nickte dann mit ihr gemeinsam.

"Als residente Heilerin und vor allem Hebamme möchte ich vor allem den Hexen unter Euch versichern, dass ich jeder, die gerade ein Kind trägt, beistehen werde und genug Mittel zur Verfügung habe, dass ihr um euch und das in euch heranwachsende Kind keine Angst haben müsst."

"Nur, dass die Einblickspiegel nicht mehr gehen, Tante Hera", warf Madame Clavier ein."Dafür habe ich einen anderen Kunstgriff parat", sagte Hera und erläuterte, dass sie wie in guten alten Zeiten durch Abtasten und mit Abhörgeräten die Gesundheit von Mutter und Kind überwachen konnte. Millie, die unter den Zuhörern war, nickte ihrem Mann zu. Dieser nickte zurück. Also war Millie im Zweifelsfall bereit, sich von Hera bei der Geburt von Clarimonde helfen zu lassen.

Zum Abschluss der Zusammenkunft sprach Roseanne Lumière noch einmal allen Mut zu, nicht auf Musik, Tanz und andere rein künstlerische Sachen zu verzichten, weil dies ja auch mithelfen würde, die dunkle Beeinflussung von sich fernzuhalten. Danach kehrten die Dorfräte zu ihren Angehörigen zurück.

Florymont griff Roseannes Ermunterung auf und begann, auf seinem Akkordeon das Loblied auf Millemerveilles, seine Ruhe und seinen Frieden zu spielen. Julius, der die inoffizielle Hymne des Magierdorfes in der Provence für Altblockflöte gelernt hatte, stieg ab der zweiten Strophe in das Stück ein, worauf andere, die ihre Musikinstrumente apportieren mussten, mitspielten. So entstand um das munter und warm lodernde Lagerfeuer ein fröhliches Musizieren. Nur wer wie Julius zwischendurch nach oben sah konnte die schwachen violetten Blitze unter der immer dunkler werdenden Kuppel sehen. Julius gedankenfragte Temmie, was das sollte. "Ihr macht genau das richtige, um den Hauch der schwarzen Sonne zu ersticken, Julius. Die Blitze sind die Regungen, die durch weiterführende Schwächung entstehen. Aber um diesen bösen Zauber ganz loszuwerden muss noch einiges passieren. Die beiden Toten müssen durch zwei hier neu beginnende Leben ersetzt werden." Julius fragte nach, ob das hieß, das hier demnächst mehrere neue Kinder gezeugt oder geboren werden müssten, um die böse Kraft auszukontern. "Bei euch sind gerade sechs, die neues Leben tragen, darunter deine Gefährtin. Sei also zuversichtlich!" Julius wollte Temmies Erläuterung an Millie Mentiloquieren. Doch die schickte sofort: "Ich habe das auch mitbekommen, was unsere große weiße Dame dir mitgegeben hat."

Der mal eben begonnene Musikabend ging noch solange, bis die ersten Kinder zu quängeln anfingen, weil sie müde waren. Im Lichterschein von tragbaren Laternen und Pechfackeln kehrten die Bewohner Millemerveilles in ihre Häuser zurück. Millie und Julius freuten sich, als sie durch die von tanzenden Lichtern gebildete Abgrenzung zu ihrem ganz privaten Schutzbereich flogen und es hier schlagartig einige Grad wärmer wurde.

"Ich hoffe, was Eleonore gesagt hat hält vor", meinte Millie zu Julius. "Aber schon ein komisches Gefühl, dass ich und mein Babybauch mithelfen könnten, diesen Murks aus der Kuppel herauszukriegen. Aber Clarimonde wird erst Ende Juni an die Luft wollen."

"Ja, aber vorher wird wohl der kleine Bertrand auf unsere gerade nicht so helle Welt rutschen und mit lautem Schrei sein Leben begrüßen", sagte Julius. Millie grinste dazu nur. "Ich habe über Oma Line schon von Gilbert die offizielle Erlaubnis, eine Reportage über diese Notlage zu machen. Er hat Oma Line weitergeben lassen, dass er damit sicher weltweiten Erfolg hat und ich somit auch."

"Tja, immer das beste aus jeder Situation machen. Anders geht's nicht", erwiderte Julius.

"Unsere Kniesel sind ja richtig niedergeschlagen, weil über uns diese fiese Kraft singt und sie nicht zu uns in den Schutzbereich reinkommen, weil sie da auch Kopfschmerzen kriegen. Denen eine Laterne hinzuhängen bringt es auch nicht, weil die eine natürliche Angst vor Feuer haben", sagte Millie. "Vielleicht sollten wir sie durch den Schrank ins Château bringen, auch wenn der da wirkende Sanctuafugium-Zauber sie abstumpfen könnte", meinte Julius. "Neh, lass mal, Monju! Unsere Kniesel sind im Dorf genauso bekannt wie wir. Wenn die verschwinden stellen die Leute dumme Fragen", sagte Millie. "Außerdem, könntest du deine Goldschweif dazu kriegen, dich alleine zu lassen, wo du dauernd unter einer bösen Kraft wohnst?" Julius schüttelte den Kopf. "Na siehste", bemerkte Millie dazu.

__________

In der alten Daggers-Villa bei Dropout, Mississippi, am späten Morgen des 26. April 2003

Seit Stunden hörte Anthelia/Naaneavargia das dumpfe Stöhnen und unheilvolle Grummeln aus den Wänden des alten Plantagenbesitzerhauses. Mit ihrem antrainierten Sinn für Veränderungen in der Erde und wirksame Erdzauber spürte sie seit ihrem Erwachen nach der dunklen Woge, dass dieses Haus sich verändert hatte. Sie hatte die in unzerbrechliche Flaschen eingekerkerten Geister alter Soldaten und des letzten Plantagenbesitzers Stanley Daggers überprüft und mitbekommen, dass die eingesperrten Seelen unter einer weiteren Qual als das Eingesperrtsein litten. Ja, die zu kleinen weißen Erscheinungen verdichteten Gespenster wurden von einem bläulich-grünen Leuchten umflossen, aus dem immer wieder Blitze in sie einschlugen wie in Waldbäume bei Gewitter.

Sie ermittelte den magischen Mittelpunkt der Villa und erkannte, dass dort das Zentrum der unheimlichen Veränderung wirkte. Die hier in diesen Wänden seit mehr als hundert Jahren wirkende Magie eines afrikanischen Zauberers bündelte sich dort und pulsierte. Damit stand für die Verschmelzung zwischen Anthelia und Naaneavargia fest, dass der in der Villa ruhende Geist des alten Zauberers von der unheimlichen Kraftwelle bestärkt worden war. Ihr wurde klar, dass dieser eine nicht zu ignorierende Gefahrenquelle darstellte. Diese musste sie beseitigen, bevor sie ihren Mitschwestern zum Verhängnis werden konnte. Das machte ihr Sorgen und ärgerte sie zugleich. Denn wenn es ihr nicht gelang, die Gefahr zu beseitigen musste sie diesen trefflichen Stützpunkt nur fünf Meilen von Dropout entfernt aufgeben und sich einen neuen Unterschlupf suchen.

Sie fühlte, wie dunkle Kraft aus den Wänden strömte und sie zu durchdringen versuchte. Doch die in ihr wirkenden Tränen der Ewigkeit hielten dagegen, wohl auch von jener dunklen Welle mit neuer Kraft bestärkt. Sie fühlte eine auf sie abzielende Belauerung, als würde hinter jeder Ecke des alten Plantagenbesitzerhauses ein hungriges Raubtier lauern, das ihr Fleisch oder ihr Blut begehrte.

"Ich fühle, dass du endgültig aufgewacht bist, Geisterbeschwörer aus dem heißen Land in Morgenrichtung von hier. Ich gewähre dir die Gunst, mich weiterhin als Besitzerin der von dir erfüllten Heimstatt anzuerkennen und mir dies in einem magisch bindenden Schwur zu geloben", sprach Anthelia/Naaneavargia auf englisch. Das dumpfe Stöhnen und das Gefühl der allgegenwärtigen Belauerung wurde stärker. Anthelia, die sonst keine Gedanken von Geistern empfangen konnte, fühlte jedoch durch die sich verändernde Zauberkraft in den Wänden, dass ihre Worte oder auch Gedanken gehört worden waren.

"Deine Seele wird mein sein, und auch alle die Seelen, die dir unterworfen sind, weiße Hexe", dröhnte aus allen Richtungen eine tiefe, höchst ungehalten klingende Stimme an ihre Ohren. "Ich bin erwacht und werde bald frei sein, wenn ich die Kraft der von mir hier festgehaltenen Seelen getrunken habe. Dann werde ich dich selbst entkörpern und deine freiwerdende Seele festhalten und zu meiner bedingungslosen Dienerin machen. Und so wird es auch allen ergehen, die es gewagt haben, mein Haus als ihre Zuflucht und Beratungsstätte zu benutzen. Jede, die herkommt wird von dir und den anderen Dienern getötet und dadurch zu einer weiteren Dienerin von mir, bis ich endlich genug Kraft habe, auch die weißen Unterdrücker in dem Dorf in der Nähe zu bestrafen, dass ihre Vorfahren mich und meine Stammesbrüder zu niederen Dienern gemacht haben."

"So, du willst mich entkörpern, damit ich deine willige Dienerin werde?" fragte Anthelia/Naaneavargia. "Offenbar weißt du noch nicht, was denen passiert, die mich töten können. Ich werde dann noch mächtiger aber auch wütender sein als jetzt, verbitterter Gefangener seines eigenen Fluches. Du ärgerst dich doch nur darüber, dass du selbst in diesem Haus eingesperrt bist und nicht einmal als sichtbare Erscheinung darin umherwandeln kannst, sondern in allen Wänden und Decken eingeschlossen bist. Was immer dich aufgeweckt hat, Zauberer aus Afrika, es wird dir immer mehr Qualen bereiten als mir oder denen, die du in diesem Haus nach dem Tode festgehalten hast."

"Das Haus ist jetzt mein Körper. Ihr kriecht in ihm herum. Und wer darin herumkriecht wird vertilgt. Besser gibst du dir selbst den Tod, dann erspart es dir die Qualen, die du sonst erleiden wirst. Ich werde deine Gedanken, deine Träume und deine Begierden beherrschen, bis du für mich stirbst und als meine körperlose Dienerin weiterbestehst. Du und die anderen weißen Hexen und die, welche ihr Blut verhöhnen und dir bisher dienen, werden eine nach der anderen in meinem steinernen Körper vergehen und darin gefangenbleiben. Dann werde ich endgültig freikommen und endlich Rache an den Unterdrückern nehmen", dröhnte die Stimme des in den Wänden gebannten Geistes.

"Und wenn ich das Haus verlasse und meinen Schwestern sage, dass sie es nicht mehr betreten dürfen, gefangener Geist, was machst du dann?" fragte Anthelia/Naaneavargia herausfordernd.

"Ich habe endlich die Kraft, alle Türen und Fenster zuzuhalten. Die Flügel starker Wünsche werden dich nicht mehr hinaustragen können. Nur wer auf ihnen hereinkommt kann dies noch, wird dann aber wie du gefangen bleiben und sterben. Euer Blut wird mich noch mehr stärken, weil darin die erhabenen Kräfte wirken. Einmal ist es dir gelungen, mir zwei Seelen zu entreißen, weil sie vom Fluch des Mondes betroffen waren und dieser ihnen zum Entkommen verhalf. Aber jetzt geht das nicht mehr. Du gehörst jetz mir und wirst meine willige Dienerin."

"Mir war damals, als ich nur Anthelia war schon bewusst, dass dieser eine Tag kommen würde, wo ich es mit dir ausfechten muss, wem das Haus gehört, gefangener Geist. So, du möchtest also den Kampf um dieses Haus? Dann zeige dich mir, wenn du kein Feigling bist!" rief die Führerin der Spinnenschwestern.

"Ich bin überall, in jeder Wand, in jedem Deckenstein, im obersten Gebälk und dem steinernen Hausgrund. Fühle meine Macht, weiße Hexe!" Mit diesen Worten barst die Tür zum ehemaligen Vorratslager unter dem sich zusammenziehenden Türrahmen. Auch der Türrahmen splitterte laut. Anthelia konnte gerade so die ihr entgegenwirbelnden Splitter mit ihrer telekinetischen Gabe ablenken. Dann sah und fühlte sie, wie die von dem gefangenen Geist gelenkte Erdmagie die Türöffnung immer weiter verkleinerte, bis mit einem dumpfen Geräusch die Wand vollkommen geschlossen war. Um Anthelia war es nun dunkel. Denn der Vorratsraum besaß keine Fenster. "Omnilumos Candelas!" dachte Anthelia mit einem sicheren Rundschwenk ihres Zauberstabes. Sofort flammten die in kleinen Haltern steckenden Kerzen auf. Da kam ein kurzer, heftiger Windstoß auf und blies alle Flammen wieder aus. "Also bist du doch ein Feigling, ein wildes Tier, das aus der Dunkelheit heraus angreift, weil es sonst kein Jagdglück wähnt", sagte Anthelia ganz ruhig und dachte "Lumos!. Die Spitze des silbergrauen Zauberstabes leuchtete auf. Wieder fuhr ein Windstoß durch den Raum. Doch diesmal erlosch das Licht nicht. Anthelia/Naaneavargia fühlte nur, dass der um sie wirbelnde Wind ihr den Zauberstab aus der Hand blasen wollte. "Madrash Dundailonaru Kuotanir!" zischte Anthelia. Schlagartig umgab sie eine goldbraune Lichtsäule, die vom Boden bis zur Decke reichte. Der sie umwehende Wind strich laut und geisterhaft wimmernd darum herum. Dann ebbte er ab. Die Lichtsäule erlosch im selben Moment. Ein sehr gequältes Stöhnen drang aus den Wänden. Wie kannst du es wagen, an meinem Körper zu saugen wie ein Blutgieriges Ungeziefer. Dafür zerdrücke ich dich nun wie solch eines!" rief die dunkle Stimme aus den Wänden. Im nächsten Moment begannen Boden und Decke aufeinander zuzugleiten. Die Entscheidung stand unmittelbar bevor.

__________

In der Halle des gläsernen Konzils von Khalakatan, am Tag nach der Vernichtung des Auges der Finsternis

"Ui, Schwester, sie ist wirklich richtig stark geworden, die sich als große Mutter der Nacht bezeichnet", feixte Iaighedonna. Ihre Zwillingsschwester legte nach: "Ja, und die Schattenfrau ist auch größer und kräftiger geworden. Tja, da werden sich die Jetztzeitler wohl entscheiden müssen, von wem sie lieber herumgescheucht und unterworfen werden wollen. Aber guck dir mal an, was mit diesem kleinen Ort passiert ist, wo die sehr vielversprechende Schwester gewohnt hat, die allen Kraftträgerinnen die Herrschaft auf der Welt erkämpfen wollte!"

"Nein, ich beobachte gerade, was Agolars Töchterchen gerade auszukämpfen hat. Die freigesetzte Kraft aus dem Auge der Mitternacht hat einen sehr wütenden Geist geweckt, der jetzt seine Rache haben will."

"Oh, das ist sicher interessant. Das verfolge ich auch, Schwester", erwiderte Kaliamadra und stimmte sich auf die Geschehnisse ein, die mit Agolars überlebender Tochter Naaneavargia zu tun hatten.

__________

In der alten Daggers-Villa bei Dropout, am späten Morgen des 26. April 2003

Leise grummelnd schoben sich Decke und Boden aufeinander zu. Die höchste der Spinnenschwestern prüfte mit einem schnellen Zauber, ob sie wahrhaftig nicht disapparieren konnte. Ja, da war jene Kraft in der in sie ein- und aus ihr wieder ausströmenden Luft, die von den Windmagiern als "Atem der Verharrung" bezeichnet wurde. Der verhinderte die Flucht über den Kurzen Weg. Sie schätzte, dass sie dann nur noch eine Minute hatte, bis sie zwischen Boden und Decke zerdrückt wurde. Sie fühlte die immense Kraft der Erde, die der afrikanische Geist dafür sammelte und anwandte. Selbst in der Gestalt der Spinne mochte sie die Kraft zerdrücken. Dann würde sie zu einem Luftgeist, der hundertmal stärker als ein orientalischer Luftdschinn würde. Doch konnte sie dann aus dem Haus hinaus? Das gelang ihr wohl nur, wenn sie es zerstörte. Lief es also genau darauf hinaus?

"Madrash Faidur Kamor!" rief sie mit nach oben deutendem Zauberstab. Über ihr spannte sich eine grüne Lichtkuppel auf, die bis zum Boden sank. "Madrash Ghedonnai Aldur!" rief sie mit nach unten deutendem Zauberstab. Sie fühlte, wie dieser Zauber mit der Kraft zusammenprallte, die den Boden nach oben drückte. Dennoch konnte sie das grüne Leuchten sehen, dass sich zwischen ihren Füßen ausbreitete und den Boden bis zur sie bereits umschließenden Kuppel überzog. "Das wird dich nicht retten", presste die dunkle Stimme des in den Wänden eingesperrten Geistes hervor. "Ich sauge an den Seelen meiner Gefangenen und bin stärker als du durch dunkles Wort vereintes Unweib."

"Ach ja?" rief Anthelia und wunderte sich nicht, dass ihre Stimme von der Innenseite der grünen Kuppel widerhallte wie unter einer Bronzeglocke. "Jaaaaa!!" brüllte die unheilvolle Geisterstimme. Anthelia/Naaneavargia erkannte, dass er leider rechtbehalten mochte. Er zapfte die in unzerbrechlichen Flaschen eingesperrten Geister im Keller an. Sie war nur eine aus zwei Seelen vereinte Magiequelle. Sie sah, wie das Leuchten unter und über ihr zu flackern begann. Der Gegenhalt, den sie aufgeboten hatte, bröckelte. Sie hatte wohl nur noch Sekunden, um einen alles entscheidenden Schlag zu führen.

Sie zielte mit ihrem silbergrauen Zauberstab dorthin, wo sie das Zentrum der magischen Zusammenballung erspürt hatte. Dann holte sie tief luft und sang so laut sie konnte ein mächtiges Zauberlied:

"Andurakani Madrashghedon!
Alkaruniaidri Kumarkaron!
Madrash Naanmirtui Muradir
algun Mirtui as Karandonir!!"

Unvermittelt blähte sich die grüne Kuppel um sie herum auf, wurde zu einem goldenen Dom, der den Raum ausfüllte. Der Boden unter ihren Füßen sackte weg. Doch Anthelia/Naaneavargia hielt ihren Zauberstab genau auf den gewählten Punkt gerichtet. Ein immer lauter klingender Aufschrei aus den Wänden erschütterte die goldene Kuppel. Dann zersprühte diese zu goldenen Blitzen, die sich um ein erst unsichtbares Etwas zusammenwoben wie der Kokon einer Seidenraupe. Auch aus dem Boden zuckten goldene Blitze. Dann sah sie ihn.

Innerhalb der Kugel aus goldenen Lichtern erschien das Gesicht eines alten afrikanischstämmigen Mannes mit hell leuchtenden Augen. Es wirkte gequält, wie unter hundert feurigen Peitschenhieben leidend. Seinem halboffenen, beinahe zahnlosen Mund entfuhr der laute Aufschrei. Die Kugelschale mit der heraufbeschworenen Geisterfratze sank immer tiefer und berührte den Boden. Der Aufschrei wurde noch eine Spur lauter. Aus dem goldenen Licht wurde unvermittelt hellgrünes Licht, dass den ganzen Raum erhellte. Wo es von den Wänden widerschien klafften Risse auf. Anthelia/Naaneavargia fürchtete schon, zu viel gewagt zu haben. Dann sah sie den Ausdruck im Gesicht des zur Sichtbarkeit gezwungenen Geistes. Er sah nicht mehr unendlich leidend aus, sondern erleichtert, als habe jemand ihm eine tonnenschwere Last von den Schultern gehoben und ihn einschnürende Eisenbänder vom Brustkorb gelöst, damit er wieder frei atmen konnte. Dann zerfloss die überlebensgroße Geisterfratze im hellgrünen Licht. Anthelia fühlte, wie die im Haus strömende Erdkraft nun wieder dorthin floss, wo sie entstanden war, zurück in den Schoß der großen Mutter Erde. Dabei nahm sie jede Kraft mit, die einen schädlichen oder beängstigenden Einfluss ausübte. Die aus zwei Hexen vereinigte Magierin fühlte, wie der von ihr zur Sichtbarkeit gezwungene Geist mit in die Tiefe raste und dabei immer mehr verging. Alle von ihm in diesem Haus gebündelte Magie folgte ihm, je tiefer er sank um so schneller. Dann, mit einem Ruck, entwich die letzte hier gebannte Dunkelkraft in die Tiefe der Erde. Aus dem Keller hörte Anthelia einen Chor aus freudig schreienden Seelen. Dann erlosch das Licht. Anthelia fühlte, wie ihr die Kräfte schwanden. Rote Kreise tanzten vor ihren Augen. Doch das dumpfe Grummeln um sie herum warnte sie, dass sie besser jetzt nicht ohnmächtig werden sollte. Sie sah die Risse in Wänden und Decke immer größer werden. Steine und Staub regneten von oben auf sie herab. Jetzt den Zauber der erfrischenden Erde zu wirken, um neue Kraft zu sammeln würde zu lange dauern. Sie riskierte es und drehte sich auf der Stelle. Mit einem vernehmlichen Plopp verschwand sie.

Anthelia reapparierte an einem Punkt knapp hundert Meter von der Villa entfernt. Es hatte geklappt. Sie stand draußen. Doch sie fühlte es in den Füßen und mit ihrem Sinn für die Kräfte der Erde, dass der Aufruhr, den die im Haus entfesselten Magien hervorriefen nicht vorbei war. Wieder rotierten rote Ringe vor ihren Augen, und sie meinte, einen immer schwärzeren Vorhang vor sich niederfallen zu sehen. Mit einem letzten Anflug von Geistesgegenwart ließ sich Anthelia kontrolliert fallen und rollte sich ab. Dann sah sie, was ihr großer Zauber und der alte Fluch anrichteten.

Die seit mehr als hundert Jahren verspukte Villa Stanley Daggers erzitterte. Dachpfannen rutschten herunter und zerschlugen auf dem Boden. Risse umzogen das Haus und durchzogen seine Wände. Die Risse wurden immer breiter. Dann brachen die Wände auseinander. Donnernd und dröhnend stürzte die einst so herrschaftliche Heimstatt eines Sklavenhalters in sich zusammen. Eine gewaltige Staubwolke entströmte dem zusammenbrechenden Gebäude. Anthelia/Naaneavargia kämpfte gegen die sie belauernde Ohnmacht. Sie wandte den Zauber zur Stärkung aus der Kraft der Erde auf sich an. Ja, das ging nun. Während das alte Haus polternd und krachend zusammenfiel floss neue Ausdauer in sie ein. Schnell zauberte sie sich noch eine Kopfblase. Denn die aus dem zerstörten Haus quellende Staubwolke eilte genau auf sie zu. Schlagartig wurde Anthelia/Naaneavargia von Sand und Staub umfangen, fühlte die umherwirbelnden Körnchen an ihrer Kleidung und ihrer Haut schaben. Die Staubwolke dehnte sich zu allen Seiten aus, während der Boden unter der Erschütterung bebte, die das in sich zusammenstürzende Haus verursacht hatte.

Der Aufruhr der Vernichtung dauerte eine Minute. Dann verwehten die aufgewirbelten Staubmassen im warmen Frühlingswind. Nun konnte Anthelia das Ausmaß der Vernichtung sehen. Ein großer Steinhaufen, aus dem die Enden zersplitterter Balken wie Nadeln aus einem Nadelkissen herausstachen, bedeckte den Boden, wo bis vor wenigen Minuten das Herrenhaus des Stanley Daggers gestanden hatte. Das Hauptquartier der schwarzen Spinne war zerstört.

Ein Heißer Schreck durchfuhr Anthelia, als sie den Trümmerhaufen vor sich sah. Darin steckte alles, was sie in ihrem zweiten und dritten Leben zusammengetragen hatte, das Schwert Yanxothars, der neue Entomolith, Sardonias Denkarium und deren Mantel, der Kristalll der Sichtbarkeit und eine Menge an Dokumenten und Büchern. Das alles war im Weinkeller. Was, wenn dieser auch zerstört war? Sie musste es schnellstens herausfinden.

Mit dem Zauber, der ihr das Reisen durch die Erde ermöglichte, raste sie innerhalb einer Sekunde unter den Trümmerhaufen und schaffte es, im alten Weinkeller herauszukommen. Obwohl dieser in Felsgestein getrieben worden war wirkte er sichtlich verzogen. Die Decke war rissig geworden. Auf dem Boden lag ein fingerdicker Belag aus Sand und kleinen Steinchen. Auch hörte sie ein leises Knirschen und Knarren in Wänden und Decke. Noch hielt der Keller. Doch wie lange noch? Sie lief durch den Gang, der durch herausgebrochene Brocken schwer zu passieren war. Leise rieselte feiner Sand von der Decke, während es über ihr mal lauter und mal leiser knirschte und knarrte.

Ein wenig wehmütig blickte sie kurz in jenen Kellerraum, in dem ein großer Steintisch stand. Dort war sie vor bald acht Jahren wiederverkörpert worden. In diesem Raum hatte ihr neues Leben begonnen. Jetzt würde er nicht mehr lange bestehen bleiben. Diese wenigen Sekunden der Wehmut und des Bedauerns wurden von einem weiteren Prasseln hinter ihr beendet. Sie durfte sich nicht in derartige Gefühle hineinfallen lassen. Sie musste schnellstens alles nehmen, was ihr wichtig war und dann fort von hier.

Anthelia musste einige Zauber anwenden, um in die Räume zu gelangen, wo sie das Feuerschwert Yanxothars, das Denkarium aus Millemerveilles, den Mantel Sardonias, den neuen Entomolithen und andere für sie wichtige Dinge verstaut hatte. Sie musste nicht auf ihren Erdmagiesinn lauschen um zu merken, dass dieser Keller auch nicht mehr lange bestehen würde. Sie hörte das unheilverkündende Knirschen und Knarren. Dann prasselte es aus einem Teil der unterirdischen Gänge und Räume. Irgendwo war wieder etwas Gestein aus der Decke herausgebrochen. Schnell packte sie die ihre Macht erhaltenden Gegenstände in einen großen Sack aus Seeschlangenleder, den sie vor einem Jahr besorgt hatte, um genau für diesen Fall gerüstet zu sein. Das Knirschen wurde immer lauter und mischte sich mit einem unregelmäßigen Knacken und Knistern. Anthelia wagte es, einen Zauber zu wirken, der die Beständigkeit des sie umgebenden Gesteins erfasste. Das Ergebnis ließ sie kurz erschauern. Doch dann gewann ihre schier unverwüstliche Kaltblütigkeit wieder die Oberhand. Die zehn Sekunden hatte sie noch, dachte sie.

Sie prüfte den Weinkeller, wo früher die Geister in Flaschen eingesperrt gewesen waren. Die Flaschen lagen noch in den Regalen. Doch sie waren leer. Die Geister der Soldaten und von Stanley Daggers waren nicht mehr da, verschwunden, von der reinigenden Macht der Erde von ihrem sie hier festhaltenden Fluch erlöst worden. Als Anthelia das erkannt hatte disapparierte sie aus dem Keller heraus, aus dessen Decke immer mehr Steinchen und Sand niederregneten.

Von derselben Stelle, von der sie den Einsturz des Hauses beobachtet hatte sah Anthelia nun, wie der große Trümmerhaufen von einer letzten, gewaltigen Erschütterung durchgeschüttelt wurde und der obere Teil davon nach unten sackte, gefolgt von den anderen Trümmern. Einige der Brocken kullerten nach außen und hinunter. Andere rutschten in den sich auftuenden Krater hinein, der durch den Zusammenbruch des Kellers entstanden war. Jetzt war es also vollendet, dachte Anthelia. Sie hatte das Haus ihrer Wiedergeburt und ihr langjähriges Heim verloren, die Basis, in die sie sich immer wieder zurückziehen und erholen konnte. Sie fühlte kleine Tränen aus den Augen quellen und heiß an ihren Wangen hinunterrinnen. Dabei fragte sie sich, wann Anthelia oder Naaneavargia das letzte Mal für irgendwen oder irgendwas eine Träne vergossen hatten. Anthelia, als sie vom Tod ihrer Tante Sardonia hörte und Naaneavargia, als ihr langjähriger Geliebter Umandarian von Kriegern Iaxathans getötet worden war. Und jetzt weinte sie, die Vereinigung der beiden, um ein altes Haus. Warum? Sie wusste es erst nicht. Dann erkannte sie, dass auch sie, die die Welt der Menschen erobern wollte, sowas wie eine Heimat brauchte und dass dieses Haus da vor ihr diese Heimat gewesen war. Sicher, sie lebte und würde wohl jede ihrer Mitschwestern überleben. Sie hatte alle für sie wichtigen Gegenstände bergen können. Aber ihre Heimstatt war unbewohnbar geworden. Ja, und mit dem Ende der Daggers-Villa erlosch auch der sie verbergende Fidelius-Zauber, erkannte Anthelia. Hatte niemand außer den von ihr eingeweihten Hexen gewusst, wo ihr Hauptquartier zu finden war, so lag da nun für jeden sichtbar ein einziger großer Trümmerhaufen. Dann stellte sie jedoch fest, dass das gar nicht so drastisch war. Immerhin dachten die von Dropout doch schon seit Jahren, diese Villa sei bei diesem unsäglichen Aufeinandertreffen zweier Verbrecherbanden zerstört worden. Nun würden sie einen echten Trümmerberg sehen und das endgültig anerkennen.

Anthelia beschloss, die Frage nach ihrem neuen Wohnsitz erst einmal auf später zu verschieben. Denn eines war nun sicher: Nicht nur der Fluch des afrikanischen Magiers in der Daggers-Villa war verstärkt worden. Auf der Welt gab es sicher noch unzählige verfluchte Dinge und Orte, die aus einem vielleicht jahrtausendelangem Schlaf erwachten, wachgeküsst durch eine gewaltige Entladung dunkler Zaubermacht aus alter Zeit. Auch wenn ihr viele unterstellten, eine skrupellose und unmenschliche Verbrecherin zu sein empfand sie selbst ein großes Verantwortungsbewusstsein. ihr ganzes Streben galt der Unterwerfung der Menschheit unter die Führung der Hexen zur Errichtung einer neuen, erhabenen Weltordnung. Außerdem wusste sie aus Naaneavargias Erinnerungen, dass bereits im alten Reich viele mächtige Gegenstände hergestellt worden waren, die nicht nur friedfertig mit ihren Besitzern umsprangen.

Unvermittelt erschienen um Anthelia herum mehrere dutzend Leute in blau-weiß-roten Umhängen mit Zauberstäben. Damit hatte sie es jetzt endgültig amtlich, dass ihr Fidelius-Zauber gebrochen war. "Lass deinen Zauberstab fallen, schwarze Spinne und ergib dich!" rief einer der apparierten Zauberer.

"Oder es passiert was? Wollt ihr mich töten?" fragte Anthelia und hob den Zauberstab. "Lass den Stab fallen oder ..." Anthelia grinste einen winzigen Moment. Dann wiederholzauberte sie das Lied der Reise durch den Leib der großen Mutter. Schlagartig versank sie im Boden, als habe sich unter ihr ein tiefer Schacht geöffnet. Sie hörte noch das Wort "Avada", dann raste sie bereits mit der im Gestein möglichen Schallgeschwindigkeit westwärts davon. Innerhalb einer Sekunde unterquerte sie das neu aufgebaute Dropout. Dann verließ sie die Region um dieses Fleckchen Südstaatenidylle in Richtung Nordosten. Sie wusste jetzt, wo sie hin wollte. Das Haus stand schon länger leer. Nur die magische Bedeutung der Daggers-Villa hatte sie bisher davon abgehalten, dort endlich Fuß zu fassen.

__________

Büro der Inobskuratoren des US-amerikanischen Zaubereiministeriums, 26. April 2003, 13:20 Uhr Ortszeit

"Lyndon, die Frau kann auch zur schwarzen Spinne werden und dann sogar dem Todesfluch widerstehen", meinte Buster L. Pearson, der bei der gescheiterten Ergreifung der blassgoldenen,verboten gut aussehenden Hexe dabei war.

"Ach, dann sollen wir also froh sein, dass sie sich vom Erdboden hat verschlingen lassen, statt als unkaputtbare schwarze Spinne über uns hergefallen zu sein?" ereiferte sich Lynch. Pearson überlegte kurz. Dann sagte er: "Ja, oder sie hätte dieses ominöse Schwert ziehen und jeden von uns damit zerbrutzeln können, Lyndon."

"Auch noch frech werden, Buster? Kriegt gefälligst raus, was das für ein Erdzauber war und wie der aufzuspüren ist. Dann seht zu, dass ihr dieses Weibsbild wieder stellt und diesmal nicht wieder verschwinden lasst!"

"Sir, wir haben zum feuerroten Donnervogel gerade viel mehr um die Ohren. Dieser vor drei Stunden durchgebrandete Zauberkraftsturm hat das Flohnetz ausgeblasen, unsere ganzen Inobskurationsgeräte überlastet, dass die meisten von denen mit lautem Getöse zersprungen sind, ja und womöglich hat dieser Zauber bei der Gelegenheit sämtliche indianischen Geisterkerker und andere verfluchte Orte und Dinge geflutet, dass wir seit zwei Stunden von Hilferufen und Anzeigen überschwemmt werden, weil bei jemandem eine Holzmaske eines dunklen Medizinmannes lebendig geworden ist und bei einem Sammler von südamerikanischen Schrumpfköpfen ein Chor aus gepeinigten Enthaupteten eingefallen ist und versucht hat, ihn auch einen Kopf kürzer zu machen, wenn der sich nicht mit einem altägyptischen Sonnenzauber die enthaupteten Indianergeister vom Hals geschafft hätte. Von den Leuten, die womöglich wegen eines verfluchten Gegenstandes oder aus einem Geisterkerker freigekommenen Dämons getötet wurden will ich besser noch nicht reden. Ich stelle nur fest, dass unsere gelobte multikulturelle Gesellschaft einiges an exotischen Verwünschungen, Horrorgestalten und Schadenszaubern parat hat, um die nächsten hundert Jahre Überstunden zu machen", erwiderte Pearson. "Ja, und bevor Sie das andeuten, Sir, ich glaube nicht, dass die Spinnenhexe das angerichtet hat. Dann hätte sie irgendwo in den Staaten eine Unmenge dunkler Magie einlagern und freisetzen müssen. Die sah aber vor dem eingestürzten Haus so aus, als habe ihr jemand gerade das Dach über dem Kopf zum Einsturz gebracht. Abgesehen davon gehörte dieses Haus auch zu denen, die auch den Magielosen als verfluchter Ort bekannt waren."

"Öhm, öhm, eh ja ... Nein! Ich glaube nicht, dass dieses Spinnenflittchen was damit zu tun hatte. Aber sie könnte aus dem von Ihnen erwähnten Chaos ihren Nutzen ziehen. Und wir haben gedacht, Pickmans spukende Bilder wären das schlimmste, was uns in den letzten hundert Jahren geblüht hat."

"Tja, schlimmer geht immer, Sir", erlaubte sich Pearson nun doch eine Frechheit.

"Okay, Sie haben erwähnt, was alles zu tun ist, zurück an die Arbeit!" blaffte Lynch.

Als Pearson sein Büro verlassen hatte dachte Lynch daran, ob es nicht irgendwann nötig sein mochte, diese dunkle Hexe um Rat oder Hilfe zu bitten. Denn ihm wurde klar, dass diese über Zauberkenntnisse verfügte, die er und seine Leute nicht hatten. Aber die Gesetze und vor allem die von Interimszaubereiminister Buggles verordnete Nulltoleranz gegenüber dagegen verstoßende Hexen und Zauberer zwangen ihn und seine Leute, keine Ausnahme zu machen, zumindest nicht so, dass dabei Zeugen anwesend waren.

__________

In der Halle des gläsernen Konzils von Khalakatan, am zweiten Tag nach der Vernichtung des Auges der Mitternacht

"Sind die dumm, diese jetzzeitigen Kraftträger", spottete Iaighedonna. Ihre Zwillingsschwester Kaliamadra< stimmte ihr zu. "Als wenn Agolars sehr liebeslustige Tochter sich so einfach von zwanzig Holzsteckenschwingern einfangen ließe", bemerkte Iaigehdonna, die sich bis heute was darauf einbildete, einen halben zwölfteltag vor ihrer Zwillingsschwester geboren worden zu sein.

"Tja, und jetzt schwirren sie durcheinander wie ein Haufen Süßgoldsammler, wenn jemand ihnen das Süßgold wegnehmen will. Der einzige, der mit ihr mithalten kann ist dieser von dieser vertückten Lichtkönigin und ihrer Mutterschwestertochter Ianshira besäuselte Bursche, der es genossen hat, von Madrashmironda neu geboren worden zu sein", grummelte Kaliamadra. Dann erwähnte sie, dass dieser junge Träger der Kraft aber gerade mit einer anderen Auswirkung der Vernichtungswelle zu kämpfen hatte. Seine Heimat stand unter einer von mitternächtigen Kräften errichteten Kuppel. Die hatten aus der durch die Welt flutenden Welle einiges an neuer Kraft geschöpft, wohl auch das Lied der längsten Nacht. Deshalb mussten die unter der Kuppel jetzt ohne Feuerrufkraft auskommen und sich zeigen lassen, wie die Unbegüterten Feuer machten.

"Wollen wir uns noch einmal ansehen, wie unsere viel versprechende Gesinnungsschwester damals die Kuppel erschaffen hat?" fragte Kaliamadra. Iaighedonna stimmte ihr zu. Sie schlossen sich zu einem geistigen Verbund zusammen und blickten entgegen dem Strom der Ereignisse, bis sie durch die Augen Sardonias sahen, was diese getan hatte, um die mächtige Kuppel über ihrem Heimatort Millemerveilles zu errichten.

"Ui, da werden die, die da jetzt wohnen aber noch viel erdulden und erleiden müssen, wenn bei denen noch mehr Leute sterben und die mächtige Kraft damit verstärken", spottete Kaliamadra.

"Sie werden diese Prüfung bestehen, ihr zwei Spottschnäbel", hörten sie aus der Ferne die geistige Stimme Madrashtargayans. Sie mussten darüber lachen. Dann sagte Madrashtargayan noch: "Wenn alle sterben, die unter der Kuppel gefangen sind, dann wird sich ihre Ausdehnung über das ganze Land erweitern und jeden töten, der in ihre Wirkung gerät. Am Ende wird es keine lebenden Wesen mit der Kraft mehr geben, und die ohne Kraft lebenden werden wegen Dunkelheit und Nahrungsmangel vergehen. Das wäre dann das Ende aller Menschen, die längste Nacht. Und selbst wenn ihr Lästerschwestern euch bis heute darüber erheitert, mich für dreihundert Sonnen im inneren Nest meiner Mutter eingeschlossen und nach dem doch erfolgten Verlassen mein Leben lang im Körper eines Säuglings habt bestehen lassen wollt ihr sicher nicht, dass alle Menschen sterben. Denn dann sind wir hier alleine, und ihr wisst, dass wenn die letzte Seele eines denkfähigen Wesens über die Brücke der Welten gegangen ist, nicht nur die Längste Nacht hereinbricht, sondern auch wir an Kraft verlieren. Also hofft besser darauf, dass diese von Sardonia aus unzähligem Leid und Tod geformte Kuppel von der dunklen Kraft befreit wird, die in ihre Quellen eingeströmt ist!"

Die zwei spottlustigen Zwillingsschwestern sahen sich an und lachten erst einmal nicht mehr. Ja, die Gefahr, dass wenn keine lebende Menschenseele mehr bestand, auch die sie alle hier im Dasein haltende Kraft erlahmte und verging, bestand durchaus. Das war ja auch einer der Gründe, warum Iaighedonna und Kaliamadra Iaxathans Bestreben, die ewige Nacht auf der Erde anbrechen zu lassen, mit sehr großem Unbehagen verfolgt hatten. Deshalb waren sie ja auch so erfreut, dass er und sein Machtgefäß niedergerungen worden waren.

__________

Im geheimen Hauptquartier des Bundes der goldenen Waage, Am Morgen des 27. April 2003

Bald ein Jahr war er schon wieder auf der Welt. Hier, im sicheren Hauptquartier jener magischen Geheimgesellschaft, die sich Congregatio librae aureae nannte, wuchs er als gleicher unter gleichen auf. Auch wenn er nach seiner bewusst miterlebten Wiedergeburt erst darauf gehofft hatte, durch den Schnellalterungszauber wieder zum erwachsenen Mann zu werden, war Juri je länger seine Wiedergebärerin Tamara Warren ihn umsorgte mit der neuen Rolle richtig warm geworden. Alle hier wussten zwar, dass in dem rundlichen Kopf ein bereits ausgereifter Geist wohnte. Deshalb durfte er auch schon bei wichtigen Sitzungen dabei sein. Mit zunehmend besserer Sehschärfe hatte er endlich all die Leute ansehen können, deren Stimmen er bis zu seiner zweiten Geburt nur dumpf und schwer verständlich hatte hören können. Wenn er an den geheimen Besprechungen teilnehmen durfte trug er sogar das an seinen kleinen Hals angepasste Cogison, damit er sich trotz fehlender Zähne und noch nicht ganz so beweglicher Zunge zu Wort melden konnte. Meistens saß er dann in einem frei schwebenden weichen Sessel mit flauschigweicher Kopfstütze.

In der Zeit, die er immer größer und beweglicher wurde hatte er mitbekommen, was in der Welt geschehen war. Vor allem dass sie hatten mithelfen können, diesen wahnwitzigen Nachahmer Tom Riddles zu stoppen empfand er als gewissen Erfolg, obwohl er selbst nicht wirklich was hatte machen können, außer zu ermitteln, dass sich hinter Lord Vengor der deutsche Zauberschmied Hagen Wallenkron verborgen hatte. Der durfte jetzt mit anderem Namen aber ohne eigene Erinnerungen aufwachsen. Juri Warren fragte sich immer wieder, ob Wallenkron nicht das bessere Los gezogen hatte als er, der die letzten Monate in Lady Tamaras Gebärmutter, die Tortur der Geburt und die Hilflosigkeit eines Säuglingskörpers mitbekommen hatte, ohne etwas von seinem früheren Leben zu vergessen.

Natürlich war ihm beziehungsweise seiner zweiten Mutter zugetragen worden, was Wallenkron noch kurz vor seiner endgültigen Niederlage angestellt haben musste und dass es deshalb einen besonders starken Nachtschatten weiblichen Geschlechts gab, der seit Anfang des Jahres die Welt unsicherer machte, als sie es vorher schon war. Auch hatte er mitbekommen, dass die Geheimgesellschaft, in die er nun hineinwuchs, trotz der vorübergehenden Zusammenarbeit mit Vita Magica schon darüber nachdachte, wie der erzwungenen Vermehrungswut dieser Gruppierung beizukommen war. Als dann noch herauskam, dass VM den US-amerikanischen Zaubereiminister Chroesus Dime durch einen sehr heftigen Bindungsfluch einer noch unbekannten Hexe wie eine Marionette an langen Fäden geführt hatte hatte es die erste Dringlichkeitssitzung nach Wallenkrons Niederlage gegeben. Die goldene Waage sollte ihre geheimen Mitglieder und deren ahnungslose Informanten beauftragen, weitere schwarzmagische Machenschaften von Vita Magica zu ermitteln. Denn, so die vier ersten Sprecher, zu denen seine Wiedergebärerin gehörte, es konnte nicht angehen, dass eine im Geheimen tätige Verbrecherorganisation das empfindliche Gleichgewicht in der magischen Welt störte.

So dachte Juri, als ihn seine zweite Mutter aus der langsam immer kleiner werdenden Wiege hob und sanft weckte, dass es um Vita Magica ging, dass vielleicht doch die ersten Mitglieder von denen enttarnt waren.

Als er dann mit einem sanften Körperreinigungszauber behandelt und frisch gewickelt worden war legte ihm Lady Tamara Warren das Cogisonhalsband mit dem kleinen blauen Gummibalg um, aus dem seine worthaften Gedanken wie von einer Jungenstimme gesprochen vertont wurden. Auch wenn er schon große Fortschritte im Krabbeln und erstem Entlanghangeln gemacht hatte ließ er es sich gefallen, dass sie ihn auf den Armen in den Sitzungsraum trug, der mit allen ihm bekannten und noch mehr ihm unbekannten Beobachtungs- und Lauschabwehrzaubern gespickt war. Wie er es schon kannte wurde er in den flauschigen Sessel gesetzt, wo er seinen immer noch im Verhältnis zum restlichen Körper größeren Kopf anlehnte. Der Sessel erhob sich dank eines eingewirkten Schwebezaubers, so dass er auf Augenhöhe der vier Ratssprecher sitzen konnte.

Außer den zwei Hexen und zwei Zauberern des Viererrates trafen noch zwanzig weitere Mitglieder des Bundes ein, fünf Hexen und fünfzehn Zauberer aus verschiedenen Ländern außer der arabischen und ostasiatischen Welt. Sie alle nahmen schweigend Platz. Dann schloss Parthenope Didier aus Frankreich die Tür. Sie ging schnell zu dem ihr vorbehaltenen Stuhl und setzte sich hin.

"Getreue Mitstreiter der Congregatio librae aurea, es gilt zu klären, was die Ursache für eine sehr besorgniserregende Beobachtung ist, die in der Nacht des 26. April gemacht wurde", begann Juris Ziehvater. Parthenope Didier ergänzte: "Unsere Aufspürartefakte haben eine unglaublich hohe Menge jener Kraft empfangen, die bei schwarzmagischen Ritualen oder von mehreren Personen zugleich ausgesprochenen Flüchen wirksam ist. Allerdings vollzog sich diese Kraftentladung wie eine Stoßwelle, die einen wenige Sekunden langen Vorlauf hatte und dann mehrere Echos nach sich zog. Es war wie ein lauter Knall, der von kilometer weit entfernten Bergen widerhallt. Unsere Aufspürgerätschaften konnten bei der Höchststärke der Entladung nicht erkennen, von wo genau sie stammte. Aber die ihr folgenden Echos gaben Aufschluss, dass die magische Explosion im Himalayagebirge stattfand. Ja, ihr hört richtig, in der Region, wo das dunkle Artefakt lokalisiert werden konnte, das Wallenkron alias Vengor aufsuchen wollte, um die eigene Macht zu steigern, zum Preis seiner eigenen Seele. Es steht zu vermuten, dass jenes Artefakt durch irgendwen oder irgendwas zerstört wurde und dabei die darin gelagerte dunkle Magie freigesetzt hat. Sicher wird es einige geben, die meinen, dass das doch gut sei. Aber meine lieben Getreuen, das dürfte ein Trugschluss sein. Denn unsere Thaumaturgen konnten ermitteln, dass für dunkle Zauber vorbehandelte Gegenstände und Gerätschaften stärker wurden, als jene Schockwelle über uns alle hinweggebrandet ist. Ich erinnere gerne noch einmal an eine ähnliche, wenn auch von der Ausprägung her völlig gegensätzliche Welle, bei der scheinbar sämtliche Mitglieder der Vampirvereinigung Nocturnia vernichtet wurden. Die dunkle Stoßwelle indes hat sicher nicht nur unsere für dunkle Zauber aufnahmefähigen Artefakte bestärkt, sondern gab sicher auch anderen Gegenständen oder Lebewesen mehr Kraft."

Madame Didier machte eine kurze Pause, um ihre kurze Schilderung wirken zu lassen. Keiner meldete sich zu Wort, auch nicht der im Säuglingskörper steckende Juri Warren. So sprach sie weiter und machte klar, warum diese Nachricht so besorgniserregend war.

"Wenn, liebe Getreuen, eine weltweite Anregung dunkler Gegenstände und Lebewesen stattfand, so heißt das, dass in allen Teilen der Welt mit Auswirkungen schlummernder Flüche und ähnlichem zu rechnen ist. Womöglich wurde die Stoßwelle genau zu dem Zweck ausgelöst, um nach Wallenkrons Niederlage einen neuen Angriff auf unsere Welt zu beginnen. Wir wissen, dass jenes mächtige Artefakt, das Wallenkron gesucht hat, von einer mächtigen Geistform beseelt ist, die den schwer nachprüfbaren Erzählungen nach die Seele eines Königs der schwarzen Magie aus dem legendären Vorreich gehörte. Soweit wir in Erfahrung bringen konnten soll dieser dunkle Zauberkönig damals dieses Artefakt mit vielen schwarzmagischen Ritualen und Menschenopfern erschaffen haben, ähnlich wie es mit diesen dunklen Kristallen war, denen Wallenkron seine Macht verdankte. Deshalb können wir nicht ausschließen, dass in diesem Artefakt, einem dunklen Spiegel, der die Macht haben soll, jeden, der es wagt, hineinzusehen, seelisch an den dunklen König fesselt, genug dunkle Zauberkraft enthält, um eine solche Stoßwelle zu erschaffen. Vielleicht war es sowas wie ein letztes Aufgebot dieses böswilligen Geistes, um doch noch sein Ziel zu erreichen, unsere Welt ins Chaos zu stürzen. Mehr kann uns unser Mitstreiter Armin Kupferklinker berichten. Armin?"

Ein langer, dünner Zauberer mit flachsblonder Igelfrisur und einer waldmeistergrünen Brille auf der Nase nickte und sprach auf Englisch mit deutschem Akzent zu der Versammlung. Er erwähnte, dass er in seiner thaumaturgischen Werkstatt mehrere Fluchfänger und Dunkelkreisel aufbewahrte, Gerätschaften, die dunkle Zauberkräfte aufnehmen und darauf mit Bewegungen und Leuchterscheinungen reagieren konnten. Auch besaß er eines jener fünfzig steinernen Herzen, die ein schwarzwälder Hexenmeister angefertigt hatte, um einflussreiche Menschen aus der magielosen Welt als seine Diener steuern zu können. Dieses Artefakt hatte nach vielen Jahrhunderten wieder zu pochen angefangen, und mit seinem Incantimeter hatte Kupferklinker festgestellt, dass von diesem Steinherz Kraftströme ausgingen, die auf lebende Menschen wie ein jedes Mitgefühl unterdrückendes Gift wirkten. Er selbst sei diesem Einfluss nur deshalb nicht verfallen, weil er bereits von seinem Großvater ein Schutzamulett gegen dunkle Seelenzauber bekommen hatte. Er zeigte es, einen Smaragd in einem silbernen, berunten Ring an einer reinen Silberkette. "Ohne das hätten mich die Kraftströme aus dem Steinherzen sicher eingelullt und mich sicher dazu gezwungen, das Artefakt aus seiner unzerbrechlichen Vitrine zu nehmen und einem zweiten Herzen gleich am Körper zu tragen. Wer sich dafür interessiert kann gerne die Geschichte jenes alten Hexers lesen, der es sogar verstanden hat, seine Artefakte an die Stelle der lebenden Herzen seiner willigen Opfer zu versetzen, um diese zu unterwerfen."

"Solcherlei Substitutionszauber kannten wir in Russland und Rumänien auch", cogisonierte Juri Warren. Offenbar klang die künstliche Stimme ein wenig gelangweilt. Denn seine zweite Mutter stubste ihn maßregelnd an und räusperte sich. Kupferklinker sah den im Säuglingskörper steckenden Mitstreiter an und sagte:

"Das war mir schon klar. Deshalb bin ich ja froh, dass du seit letztem Mai auf der Welt bist, um uns allen zu helfen, wenn wir mit derartiger Magie zu tun bekommen. Aber die Russen haben diese bösen Zauber nicht erfunden, die sind schon Jahrtausende alt, vielleicht selbst schon in Atlantis oder wie das legendäre Vorreich geheißen haben soll, bekannt gewesen. Öhm, was ich auf jeden Fall noch einbringen muss: Wenn Dinge wie eben dieses von mir erworbene Steinherz verstärkt wurden, dann haben wir in der Welt noch mehr solcher entfesselten Unglücksartefakte. Von den lebenden Trägern dunkler Magie möchte ich besser nicht reden, weil da der Mitstreiter Solomon Goldstein mehr von versteht als ich.""

"Sol, möchtest du jetzt schon was dazu sagen oder erst warten, was die anderen Thaumaturgen hier berichten möchten?" fragte Parthenope einen kleinen, runden Zauberer mit schwarzem Rauschebart. Dieser erwähnte, dass er noch warten wolle, bevor er sich äußerte.

Andere Zauberkunsthandwerker in dieser Versammlung erwähnten ähnliche Beobachtungen. Einer besaß einen Kessel aus Silber, welcher der britannischen Hexe Morgause gehört haben soll. Als die erwähnte Dunkle Welle über die Welt hinweggerollt war habe der Besitzer dieses Kessels ein lautes Schreien wie von vielen gepeinigten Menschen aus dem Kessel hören und das Gesicht einer rothaarigen Frau darüber schweben sehen können. Von dem Kessel hieß es, dass alle darin angerührten Zaubertränke ihre Wirkung verkehrten, wenn heilsam und um ein vielfaches stärker wirkten, wenn Körper, Geist und Seele vergiftend oder zerstörerisch. Eigentlich, so der Thaumaturg Waldon McCloud, hätte das britische Zaubereiministerium dieses Artefakt zu gerne gefunden und zerstört.

Als weitere Thaumaturgen und auch Fachleute für Orte mit schwarzmagischer Vergangenheit ihre Beobachtungen berichtet hatten meldete sich Solomon Goldstein zu Wort: "Hochverehrte und geschätzte Mitstreiterinnen und Mitstreiter. Jetzt haben wir alle gehört, was die erfasste dunkle Woge bewirkt hat. Da ich hier der einzige Fachzauberer für feststoffliche wie geisterhafte Geschöpfe dunkler Magie bin möchte ich euch alle daran erinnern, dass wir im letzten Jahr das Erwachen mehrerer bis dahin schlafender Töchter der Lilith oder auch Lahilliota mitbekommen mussten und dass diese vaterlos entstandenen Geschöpfe sich bereits neue Diener unter den Menschen geschaffen haben. Wir müssen davon ausgehen, dass diese ausschließlich weiblichen Geschöpfe durch die dunkle Stoßwelle einen Kraftzuwachs erfahren durften, der sie noch gefährlicher macht. Hinzu kommt, dass wohl auch die Urmutter dieser hochgefährlichen Frauenzimmer wiedererweckt worden sein soll und sie ebenfalls durch ihren Umgang mit dunkler Magie einen Kraftzuwachs erfahren konnte. Das gleiche gilt für Dibbukim, also Körperdiebe, Schattengeister, Wergestaltige und Blutsauger. Deshalb muss ich Lady Parthenope zustimmen, dass wir es hier womöglich mit einem weiteren Versuch dessen zu tun haben, der durch die Äonen hinweg als Personifiziertes Urböses bezeichnet wurde. Es ist uns zwar bekannt, dass die Kinder Ashtarias, jene, die von einer Königin der hellen Künste abstammen sollen, den Zugang zu diesem dunklen Spiegel mit einer weißmagischen Mauer versperrt haben. Doch die dunkle Kraft hat sich durch die Erde und Luft fortgepflanzt. Wie weit sie dabei in die Tiefe oder in die hohen Luftschichten gedrungen ist hat hier keiner bestimmen können. Somit könnten auch jene körperlichen oder geisterhaften Wesen davon berührt und erweckt worden sein, die mangels Nahrung oder durch ihnen auferlegter Zauberbanne erstarrt waren, wie die noch schlafenden Töchter der Lahilliota. Öhm, war da nicht auch was, was die Mutter aller Unheilstöchter angestellt haben soll, Lady Parthenope?" Die gefragte nickte und erwähnte nun, was sie über verschiedene Kanäle zusammengetragen hatte. Demnach sei Arion Vendredi deshalb so plötzlich aus dem Zaubereiministerium und Frankreich verschwunden, weil er auf irgendeine Weise mit Lahilliotas Magie in Berührung gekommen und durch diese in eine Art Werameise verwandelt worden sei, wohl zum Zweck als Mensch im Zaubereiministerium zu spionieren und Lahilliota genehme Gesetzesvorhaben durchzusetzen und als willige Ameisendrohne noch willigere Werameisennachkommen zu erzeugen, mit denen Lahilliota dann einen Großangriff auf die Menschheit durchführen konnte. Solomon Goldstein sprang förmlich von seinem Stuhl auf und bellte los: "Wie kommt es, hochverehrte Mitstreiterin und Angehörige des Viererrates, dass ich als einer der Fachzauberer für Geschöpfe der dunklen Mächte jetzt erst von dieser Wendung erfahre?! Wie lange Kennt Ihr schon diese Begebenheit?! Warum wurden wir Fachleute für dunkle Wesen und Geistererscheinungen nicht umgehend davon unterrichtet?!" Juri musste gegen die Ernsthaftigkeit dieser Fragen grinsen. Das hätte er eigentlich auch fragen können, wo er trotz seiner Säuglingsgestalt auch als Fachzauberer für dunkle Zauber an lebenden Wesen galt.

"Weil ich erst einmal sicherstellen musste, dass es sich dabei um Tatsachen handelt und nicht um Gerüchte, ich deshalb meine Quellen nacheinander abgleichen musste und bei dieser Gelegenheit auch noch darauf aufpassen musste, dass diese Quellen nicht von Außenstehenden aufgedeckt und damit wertlos gemacht wurden, Sol. Setz dich bitte wieder hin und beruhige dich!" entgegnete Lady Parthenope. Doch Sol Goldstein wollte sich weder setzen noch beruhigen. Er stieß mit der Stimmgewalt eines wütenden Bluthundes aus, dass er sicher einen Weg gefunden hätte, den verwandelten Arion Vendredi aufzuspüren und damit auch den Ort, wo er mit Lahilliotas Zauber in Kontakt gekommen war. Immerhin habe sie sicher auf ein ähnliches Mittel zugreifen können wie die Nachfolgerin der wiedergekehrten Nichte Sardonias, die wenn sie wollte oder musste zu einer schier unverwüstlichen, menschengroßen Spinne werden konnte. Denn wenn das zutraf war dringend zu befürchten, dass Lahilliota noch andere unheilvolle Ungeheuer erschaffen konnte, ähnlich wie der altgriechische Magier Herpo der Üble, der die Basilisken erschaffen hatte. Bei der Gelegenheit erwähnte er, dass nicht nur in Hogwarts ein solches Ungeheuer im Langzeitschlaf liegen mochte und durch die dunkle Welle ebenfalls aufgeweckt worden sein konnte. Juri hob seinen kurzen Arm zur Wortmeldung. Alle sahen ihn an, wie er da in seinem blassblauen Strampelanzug in diesem himmelblauen Schwebesessel saß. Er konzentrierte sich, damit seine Gedanken auch wirklich vertont wurden.

"Werte Mitstreiterinnen und Mitstreiter, hier wurde gesagt, dass dieser dunkle Geist im uralten Zauberspiegel diese Welle gezielt losgeschickt hat, um das alles auszulösen, was andeutungsweise erkannt wurde. Könnte es nicht auch sein, dass sich dieser Dunkelgeist mit irgendwem ähnlich zaubermächtigen angelegt hat und es dabei zu einer Vernichtung seines Artefaktes kam, allerdings nicht ohne Schaden für die Umwelt?" Alle Anwesenden sahen Juri noch eindringlicher an. Deshalb okklumentierte er vorsorglich. Dann sprach der Thaumaturg Kupferklinker.

"Zerstört, von wem bitte? Soweit wir mitbekommen haben war dieses Ding doch unzerstörbar."

"Was ein Mensch erschaffen kann können andere Menschen zerstören, Herr Kupferklinker. Das wissen alle Thaumaturgen, dass es die absolute Unzerstörbarkeit genausowenig gibt wie die absolute körperliche Unsterblichkeit."

"Na ja, die Töchter Lahilliotas sind doch ... Vergesst es. Eine konnte ja entkörpert werden", knurrte Solomon Goldstein. Juri deutete ein Nicken ann.

"Also, die Frage ist, wenn dieses dunkle Artefakt zerstört wurde, von wem?" wiederholte Kupferklinker seine Frage. Juri hielt seine Gedanken noch zurück, um die Frage wirken zu lassen. Dann antwortete er über das Cogison:

"Von der Kraft, die seit der weltweiten Vernichtung von Nocturniaanhängern eine Wiedererstarkung dieses Vampirreiches anstrebt, von der es heißt, dass es der Geist der letzten Besitzerin des Mitternachtsdiamanten sein soll und der sich den für ihn empfänglichen Vampiren als schlafende Göttin ausgibt. Es heißt - und Mitstreiter Solomon stimmt mir da sicher zu -, dass jener dunkle König aus der Vorzeit den Mitternachtsdiamanten und die Vampire erschaffen hat. Falls er darauf ausging, wieder die volle Herrschaft darüber zu erlangen, könnte es zu einem Duell der dämonischen Geister in hochpotenten Zauberartefakten und dabei zu einer Überbelastung dieses ominösen dunklen Spiegels gekommen sein, so dass die in diesem gebündelte Zauberkraft mit einem Schlag freigesetzt wurde. Ich setze mal voraus, dass ihr alle wisst, was ein Horkrux ist. Das ist sowas ähnliches wie diese fünfzig steinernen Herzen, von denen Herr Kupferklinker berichtet hat. Wenn also der Mitternachtsdiamant und der dunkle Spiegel als derartige Artefakte erschaffen wurden, so könnten sie sich auch gegenseitig aufheben."

"Möglich ist das. Immerhin gab es vor zweihundert Jahren ja so einen ähnlichen Fall, wo zwei Körperdiebe sich das Jagdgebiet streitig machen wollten und dabei beide Wirtskörper auf höchst unappetitliche Weise vernichtet wurden. Einer der beiden Dibbukim wurde dabei ausgelöscht, und seine Kraft ging auf den Sieger über. Dieser hat dann als "Stimme der dunklen Verheißungen" nach neuen Wirtskörpern gesucht, bis einer meiner Vorfahren ihn in einem silbernen Krug einfangen und mit entsprechenden Siegelrunen einschließen konnte. Wo dieser Krug ist erfuhr ich bis heute nicht", sagte Goldstein. "Falls dieser ebenfalls durch die dunkle Kraft betroffen ist ..."

"Jetzt einmal angenommen, es sei wahrhaftig zu einem solchen Dämonenduell gekommen, über eine uns unbekannte Entfernung hinweg. heißt dies, dass der dunkle Erzmagier aus der Vorzeit nun ausgelöscht ist oder dessen Geist frei umherstreifen und sich genau wie ein Dibbuk neue Körper aneignen kann?" wollte Parthenope Didier wissen.

"Das kann ich nicht bestätigen oder verneinen. Kann auch sein, dass die schlafende Göttin ihren Gegenspieler in sich einverleibt und so zu einem Bestandteil von sich gemacht hat. Falls das geschehen sein sollte kann und kennt sie vielleicht alles, was er konnte und kannte", warf Juri Warren eine gewagte und sehr beängstigende Vermutung in den Raum. Alle wiegten ihre Köpfe. Dann sagte Tamara Warren: "Das ist leider auch nur eine von mehreren Theorien, die jede für sich so grausam anmuten, dass keiner wünscht, dass sie wahr ist. Halten wir uns doch bitte erst nur an die erkennbaren und bestätigten Tatsachen! Eine Welle aus dunkler Zauberkraft hat in der Nacht zum 26. April europäischer Zeit die ganze Welt umrundet. Dabei wurden schwarzmagische Gegenstände mit zusätzlicher Kraft aufgeladen. Wie sich diese dunkle Kraft auf lebende Wesen auswirkt ist bisher nicht bestätigt. So bleibt uns nur, nach möglichen Auswirkungen dunkler Artefakte zu suchen. Das dürfte schon genug Arbeit und Verdruss machen."

"Ja, doch wenn stimmen sollte, was dein vorweiser Sohn da eingeworfen hat?" wollte Armin Kupferklinker wissen.

"Können wir das nicht mehr rückgängig machen, sofern uns nicht gelingt, den materiellen Fokus dieser schlafenden Göttin zu finden und ohne Gefahr für uns und die Menschheit zu vernichten", erwiderte Tamara Warren, die sich selbst als Fachhexe für dunkle Zauber an lebenden Wesen und Auswirkungen verfluchter Gegenstände verstand.

"Dann bleibt nur, nach solchen Artefakten zu suchen. Öhm. Es wäre sicher besser, die eigenständig handelnden, ja irgendwie beseelten Gegenstände zu vernichten, bevor sie euch doch noch ihrem Einfluss unterwerfen können."

"Es heißt, wer den Kessel der Morgause zerstört, verwirkt das eigene Leben und das seiner Blutsverwandten", warf der Thaumaturg ein, der den angeblich von Morganas Schwester stammenden Zauberkessel in Besitz hatte. Kupferklinker erwähnte, dass selbst das für andere Gegenstände so unentrinnbare Dämonsfeuer nicht im Stande war, das Steinherz zu verbrennen. Offenbar war es damals mit noch mächtigeren Feuerzaubern belegt worden, wie altägyptischen Sonnenzaubern oder einem Zauber, der die Glut aus den Tiefen der Erde anzapfen konnte.

"Tja, wenn wir wen kennen würden, der die Substantia non Grata herstellen kann", warf eine der anwesenden Hexen ein. Juri wiegte den Kopf. Diese bei Alchemisten legendäre Substanz war wohl das zerstörerischste, was jemals erschaffen werden konnte. Es hieß, dass eine winzige Menge davon ein ganzes Dorf, vielleicht eine Stadt zerstören konnte, weil die Elemente es nicht länger als einen Moment bestehen lassen wollten.

"Wir kennen aber niemanden, der diese höchstgefährliche Substanz erzeugen kann", schnaubte Juris Ziehvater. So wurde nur beschlossen, dass die erstarkten Artefakte möglichst tief im Boden in jener mit Blei und Silber ausgelegten Kelleranlage verstaut werden sollten, in der bereits andere als verflucht und beseelt erkannte Gegenstände eingelagert worden waren, damit sie kein Unheil mehr anrichten konnten.

Nach der Versammlung trug Tamara ihren auf magische Weise entstandenen Sohn Juri zurück in den ihr zugeteilten Wohnbereich. Dort sagte sie leise zu ihm: "Du hast die alle gut erschreckt, Kleiner, mich auch. Wenn diese Vampirgöttin wirklich stärker als dieser dunkle Geist ist und ihn im Kampf besiegt hat, dann hat sie sicher auch einen Gutteil der dunklen Kraft in sich aufsaugen können und mag nun noch stärker sein als sowieso schon."

"Das hat mich auch erschreckt", gedankenantwortete Juri, weil seine zweite Mutter ihm schon das Cogison abgenommen hatte. "Vor allem denke ich gerade daran, dass Bokanowskis dunkles Vermächtnis nun noch stärker wirken mag. Und ich weiß immer noch nicht, was genau er hinterlassen hat."

"Musst du auch noch nicht, mein kleiner. Wenn was davon bekannt wird, kümmern wir uns schon früh genug drum", mentiloquierte Tamara Warren. Dann legte sie den von ihr wiedergeborenen in seine Bettstatt zurück, damit er nach der anstrengenden Versammlung noch schlafen konnte. Zumindest wirkte die schmerzunterdrückende Creme noch, die sie ihm auf die Kifer gerieben hatte, damit er nicht auch noch wegen der durchbrechenden ersten Zähne die Konzentration verlor. Juri schloss die Augen und gab sich dem wohltuenden Schlaf hin, innerlich froh, dass seine neue Mutter für ihn da war und er nicht gleich morgen an die vorderste Front musste.

__________

Im Marie-Laveau-Institut in den Sümpfen vor New Orleans, Louisiana, 27. April 2003, 16:00 Uhr Ortszeit

"Es ist also bestätigt, dass diese Welle aus dunkler Kraft, die nicht nur in den Staaten das Flohnetz außer Kraft gesetzt hat, knapp zwei Minuten nach dem überstarken Ausbruch von Zauberfeuer auf Kreta erfolgte", stellte Sheena O'Hoolihan fest, die immer noch als stellvertretende Leiterin des Laveau-Institutes zur Bekämpfung aller Formen dunkler Zauberei tätig war. Einige der Dunkelkraftmessgeräte, die da selbst mit gewissen Flüchen erschaffen worden waren, hatte diese dunkle Welle überlastet und zerstört. Andere Geräte waren für mehrere Minuten entladen worden, konnten aber wieder einsatzbereit gemacht werden. Im Grunde verdankte das Laveau-Institut es den sehr präzise ausgewogenen Schutzzaubern aus mehreren Kulturkreisen, dass die unheilvolle Zauberkraftwelle keinen weiteren Schaden angerichtet hatte. Marie Laveaus Geist hatte nur kurz hereingeschaut und berichtet, Dass von ehemaligen Voodopriestern verfluchte Leichname aus den Gräbern von St. Louis Nr. 1 entstiegen und als führungslose Zombies herumgestolpert waren, bis Maries Geist sie von ihrem Dasein freigesprochen hatte, worauf die lebenden Leichen schlagartig zu Staub zerfallen waren. Der von ihr eingekerkerte Ruben Coalfield alias Gordon Stillwell alias Baron Samedis Sohn war für einige Minuten wiedererwacht, hatte sich aber nicht aus dem Kessel befreien können, in den Maries Geist seine dem Körper entrissene Seele eingesperrt hatte. mit dem auch als Geist von ihr wirkbaren Ritual "Schlaf der Seelen" hatte sie den gegen seine Gefangenschaft aufbegehrenden Geist wieder in tiefen Schlaf versenkt.

"Ob diese Ladonna Montefiori das so beabsichtigt hat?" fragte Joanna Portsmith, die beim Kommandotrupp "Heptachirons Haus" dabei gewesen war.

"Du meinst, dass Heptachirons Vernichtung eine Ansammlung dunkler Zauber freigesetzt hat?" wollte Sheena wissen. Joanna erwähnte, dass es in Afrika durchaus möglich war, durch Opferrituale und Seeleneinkerkerungszauber Lebenskraft in Todeszauber oder Feuerzauber in Verdunkelungszauber umzuwandeln und ohne Rücksicht auf Pinkenbachs Materialbezauberungsgrenzen einlagern konnten, bis wer so verrückt war, die ganze gelagerte Zauberkraft nacheinander oder auf einmal freizulassen. Nur wer das tat starb dann meistens selbst."

"Es könnte sowas wie die Explosion des magischen Kruges von Hallitti gewesen sein", vermutete Ellen McDuffy, die bei der eilig anberaumten Lagebesprechung dabei war. Jeff und Justine Bristol nickten zustimmend. Jeff meinte dann sogar: "Am Ende war die Vernichtung Heptachirons sowas wie das Zündsignal einer schwarzmagischen Superbombe, deren Existenz verhindern sollte, dass Heptachiron getötet wurde."

"Wie bitte?" fragte Joanna Portsmith.

"Ja, könnte sein, dass der, der dieses siebenarmige Monster erschaffen hat, auch eine Art Vergeltungsschlagzauber eingerichtet hat. Wer immer den Siebenarmigen umzubringen schafft sollte dann selbst draufgehen. Öhm, hat unser findiger Erfinder rausbekommen, wo das Epizentrum, der Nullpunkt oder Explosionsherd dieser Entladung war?" wollte Jeff Bristol wissen.

"Hat er uns noch nichts von erzählt. Da er ja von mir wegen der Wiederherstellung der vollständigen Einsatzbereitschaft entschuldigt wurde kann und wird er da wohl erst später was zu sagen können", erwiderte Sheena O'Hoolihan.

"Wenn stimmt, was die Schriften so hergeben hat jemand dieses Monster vor mehr als dreitausend Jahren erschaffen", bemerkte Foster Douglas, der sich gut in der magielosen Welt und mit allen Formen des Vampirismus auskannte. "Was heißt, dass auch dieser Heptachiron wohl mit dem alten Reich oder dessen Erben zu tun hatte." Alle nickten. Seitdem sie alle wussten, dass die Berichte um ein altes Reich weit vor den Ägyptern und Indern keine reinen Spekulationen waren empfanden sich hier viele als unzureichend ausgebildet.

"Jedenfalls muss bei diesen eingelagerten Zaubern ein Unfeuerzauber dabei gewesen sein, weil sonst das Flohnetz nicht ausgefallen wäre", vermutete Fitzroy Torchwood, Drachenforscher und Fachzauberer für Feuerzauber aus verschiedenen Kulturkreisen.

"Da müssen wir wohl von ausgehen", seufzte Sheena O'Hoolihan. Jeff Bristol erwiderte: "Dann kann der, der diesen Siebenarmigen erschaffen hat geplant haben, dass dessen Tod ein weltweites Erwachen dunkler Zauberkräfte hervorruft. Denn wenn bei uns das Flohnetz ausgepustet wurde, weil irgendwo auf Kreta ein überstarker Feuerzauber losgelassen und ein unheimlicher Vampir davon getötet worden ist, dann hat es sicher auch in Griechenland und allen Ländern Europas die Reise- und Kontaktfeuer ausgeblasen."

"Klingt so wie das abrahamitische Schauermärchen vom jüngsten Gericht", warf Joanna Portsmith ein, die wegen ihrer afrikanischen Abstammung sowohl Stammeszauber als auch die hermetischen Zauber aus dem altrömischen und keltischen Kulturbereich kannte.

"Das jüngste Gericht kann es nicht sein, weil es dann uns alle genau diesem vorgeführt hätte, damit wir unsere Seelen wiegen und unser Sünenverzeichnis um die Ohren hauen lassen müssen", spottete Jeff. "Ja, und weil du das jetzt raushauen konntest ist es nicht passiert", grummelte Brenda Brightgate.

"Ui, einen Schluck Logiklikör getrunken?" fragte Jeff Bristol seine angeheiratete Verwandte. "Bei dem Job, den ich offiziell mache immer nötig, Jeff", erwiderte Brenda.

"Ist es mal gut hier?!" ging Sheena dazwischen. "Die Sache ist glaube ich zu ernst für Kindergartengeplänkel. Abgesehen davon wollte unsere residente Heilerin noch was mitteilen. Bitte, Mia!"

"Danke, Sheena. Also, unserem offiziellen Direktor Elysius Davidson geht es körperlich gut. Meine Kolleginnen aus der psychomorphologischen Abteilung wollen versuchen, ihn in zwei Wochen aus der ständigen Erinnerungsschleife herauszuholen und müssen den richtigen Zeitpunkt abpassen, damit er dadurch nicht die Erinnerungen verliert, die er an uns hat. Und falls ihnen das gelingt soll er noch zwei Wochen länger in der HPK verbleiben, um sich körperlich und geistig wieder zu erholen. Das heißt, er wird frühestens am 1. Juni wieder zu uns zurückkehren."

"Dann wird's lustig", meinte Jeff leise. Sheena räusperte sich und fragte ihn, was so lustig sein sollte: "Weil er dann meint, alles nachholen zu müssen, was er verpasst hat und weil er auf die Idee kommen könnte, den Zwischenfall mit Jane Porter doch weiterzuerzählen. Schon schlimm genug, dass Mias Kollegen das mitkriegen werden."

"Die sind aber durch die Heilerdirektiven zum schweigen verpflichtet, solange keine Straftat vorliegt oder bevorsteht", erinnerte Mia Silverlake den Kollegen daran, was ihre Berufsethik anging.

"Gut, dann darf ich euch noch einen Monat lang anleiten. Sehen wir zu, Elysius ein aufgeräumtes Zimmer zu präsentieren, wenn er wiederkommt!" Was damit gemeint war wussten hier alle. Bloß keine losen Enden und anständig präsentierbare Berichte.

__________

Im geheimen Versammlungsraum der Bruderschaft des blauen Morgensterns auf der arabischen Halbinsel, am Nachmittag des 27. April 2003 christlicher Zeitrechnung

Jophiel bensalom hatte um diese Versammlung gebeten. Als dann ausnahmslos alle Brüder des blauen Morgensterns versammelt waren berichtete er, wie er mitten in der Nacht von einem blau-goldenen Licht umflossen worden war und sein Erbstück erbebt war, wie von großer Angst erschüttert. Sie hörten ihm alle sehr aufmerksam zu. "Ich fürchte, die dunkle Zeit hat nun begonnen. Das große Erwachen der verdunkelten Seelen und Dinge hat begonnen. Der wahre Knecht ist nicht dieser Vengor gewesen, sondern ein anderer, und der Urvater aller bösen Geister hat aus Zorn seine ganze Macht über die Welt geschickt, um die zu wecken, die ihm gefällig sind", sagte Mahmut, einer der arabischen Mitbrüder.

"Kann es nicht auch sein, dass wir die ganze Zeit davon ausgingen, dass er selbst wiederkommt oder einen würdigen Statthalter in die Welt schickt, weil wir nur ihn kennen?" fragte Jophiel Bensalom. Er fügte schnell hinzu: "Wir kennen aus den alten Schriften nur ihn. Daher haben wir die Prophezeiung immer so ausgelegt, dass er, der dunkle König selbst, mit seinem Knecht wiederkommt. Aber diese starke Erschütterung letzte Nacht, das könnte auch sein endgültiger Todesschrei gewesen sein, weil ihn etwas besiegt hat, das noch stärker ist als er. Jetzt, wo er seinen lebenden Gehilfen verloren hat war er womöglich anderen Feinden hilflos ausgeliefert. Ich denke da vor allem an die vaterlosen Töchter, aber auch jene ihres Körpers entrissenen Blutsauger, die zu einem einzigen Geist im Stein der Mitternacht gebannt wurden."

"Wieso sollte er sterben? Sein Machtgefäß ist zu stark, als dass etwas anderes als er selbst es zerstören könnte", warf Ibrahim Musa ein, der sich mit babylonischer Magie gut auskannte.

"Weil jemand ihn tötet", meinte Jophiel. "Aber du hast recht, er muss nicht gleich sterben, um entmachtet zu werden. Es würde reichen, ihn aus seinem Machtgefäß herauszureißen, so dass es nicht mehr von ihm gebändigt ist", sagte Alman Amur, einer der ältesten der Morgensternbrüder. Jophiel nickte ihm zu. Die anderen Anwesenden Brüder sahen den altehrwürdigen Mitbruder verdrossen an. Dann fragte Ibrahim Musa: "Dies könnte nur vollbringen, wer ähnlich große Macht hat oder sogar noch stärker ist. Aber so einen gibt es nicht." Jophiel wartete, ob sich dazu wer äußern wollte. Als keiner etwas sagte äußerte er sich:

"Stimmt, so einen gibt es wohl nicht ein zweites mal. Doch, meine Brüder, wir wissen, dass sich jene aus den Leibern gerissenen Seelen der Blutsauger unter die Vorherrschaft einer bereits im Mitternachtsstein eingenisteten Seele unterwerfen mussten, auch wenn wir selbst bisher keine Berührung mit deren Abkömmlingen hatten. Wenn diese vielen Seelen, die von einer einzigen geführt und somit zu einer gemeinsamen Seele verwoben sind, gegen ihn, den wir unseren größten Feind nennen, antrat und ihn bezwang, kann sie ihn vielleicht auch aus seiner magischen Heimstatt entreißen. Mancher Dschinn vermochte dies doch auch mit seinen Gegnern." Alle schwiegen. Dann meinte Ibrahim Musa: "Kann es sein, Bruder Jophiel, dass du einem Weib mehr zutraust als einem Mann?" Darauf erwiderte Jophiel: "ich bin zumindest nicht zu sehr vermessen, einem Weib weniger zuzutrauen als einem Mann, wie du, Ibrahim und du, Bruder Alman es wohl immer noch denkt." Darauf erhielt er die zu erwartende Entrüstung seiner Mitbrüder außer Mehdi Isfahani. So sagte Alman Amur: "Allah schuf Mann und Weib als gleichstarke Wesen. Auch wenn es Glaubensbrüder gibt, die finden, dem Manne sei die Frau untertan, so heißt dies nicht, dass die Frau schwächer oder dümmer als der Mann ist, und der Koran behauptet das auch nicht."

"Aber unsere Traditionen sagen, dass wir nur eine Gemeinschaft von Brüdern sein sollen", warf Ibrahim Musa ein. Darauf erwiderte Mehdi Isfahani: "Wer spricht davon, Hexen in unsere Bruderschaft fest aufzunehmen. Ich habe es damals nicht beabsichtigt und tue es heute nicht. Bruder Jophiel merkt nur an, dass es dämonische Wesen geben kann, die dem dunklen König überlegen sein können, und dass diese Wesen nicht ausschließlich männlich sind. Wir kämpfen seit mehr als einem Jahrtausend gegen die Töchter des Abgrundes. Jede für sich ist stärker, gerissener, erfahrener und mit mehr Magie begütert als einer von uns. Warum soll es da nicht auch in der Geisterwelt eine weibliche Erscheinungsform geben, die dem dunklen König überlegen ist. Und falls das wahrhaftig so sein soll, dann kann so eine ihn besiegen. Wir müssen den Ursprungstext der Weissagung noch einmal studieren, Brüder." Damit waren alle einverstanden.

__________

Millemerveilles, 27. April 2003, 12:00 Uhr Ortszeit

"Julius, das Flohnetz wird wohl bis zum 3. Mai ausfallen. Die Leute um Opa Ferdinand haben wohl drei total zersprengte Knoten gefunden, die erst mal aus betreffenden Steinen nachgebaut und bezaubert werden müssen", begrüßte Millie ihren Mann, der den Morgen damit zugebracht hatte, beim Aufstellen weiterer Straßenlaternen zu helfen und von Hera Matine beauftragt war, Ambrosianus-Schokolade an die Familien mit kleinen Kindern zu verteilen, damit die Kinder nicht doch verängstigt wurden.

"Oha, und wie kommen die anderen damit klar?" fragte Julius. "Das darfst du Catherine oder meine Mutter fragen. Jedenfalls sind schon die ersten Schadensersatzforderungen an den Flohregulierungsrat ergangen. Ach ja, und Blanche Faucon wird heute Nachmittag mit der Liga gegen dunkle Künste reden, wie wir hier in Millemerveilles nicht von dieser Dunkelkraft untergebuttert werden können. Die hat wohl auch was erfahren, was mit dieser Kraft der schwarzen Sonne gemeint ist."

"Ich kann mir denken, von wem", erwiderte Julius. "Genau von der", erwiderte Millie. "Auf die Weise sollen wir auch informiert werden, was dabei herumgekommen ist und sozusagen über Temmie mitteilen, wie wir bisher klarkommen."

"Verstehe", sagte Julius seiner Frau. "Ich habe da auch noch einige Ideen, wie wir die Lebensmittel- und Brennstoffversorgung verbessern können", sagte Julius noch. Was genau er meinte wollte er Millie aber nicht gleich erzählen. Immerhin konnte Temmie sie ja mit in die magische Fernkonferenz einbeziehen.

"Camille macht sich Gedanken, dass die Pflanzen nicht genug Licht bekommen, weil ja viele jetzt eigentlich die Frühlingssonne brauchen. Ich habe sie dann gefragt, ob die Rapicrescentus-Tropfen, mit denen sie Bäume schnell wachsen lassen könnte, nicht in verdünnter Form als Düngerzusatz gegeben werden können. Da hat sie mir auf jede Wange einen Kuss aufgedrückt und gemeint, dass das wohl gehen könnte, wenn die Verdünnung groß genug sei, um kein Schnellwachsen, sondern nur Bestärken von Bäumen zu erreichen. Das will sie mit ihren Gartenbaukollegen hier austesten."

"Stimmt, das ist ja wahr", grummelte Millie. Dann fiel ihr noch was ein: "Die Sonnenblumen im Schloss werden von fliegenden Bestäubungswedeln überstrichen und bestäubt, weil außer Sardonias Entomanthropen wohl kein Insekt das machen könnte. Aber hier, was ist mit den Blumen und Baumblüten hier?"

"Hmm, könnte Madame L'ordoux wohl umtreiben, ob ihre Superbienen hier was zum bestäuben finden, wenn die bei dem Dämmerlicht überhaupt ausfliegen."

"Ich weiß, dir machen brummende Insekten noch immer Angst, Monju. Aber traust du dir zu, das für mich rauszukriegen, weil ich mit meinem Umstandsbauch nicht mehr wilde Besenflugmanöver fliegen darf?" wandte sich Millie an Julius. Dieser überlegte. dann sagte er "Ja, mach ich, auch weil mich das selbst interessiert."

"Mehr dann wohl, wenn wir wissen, was Blanche mit ihren Kampfgefährtinnen und -gefährten besprochen hat", setzte Millie einen vorläufigen Schlusspunkt.

Rein mentiloquistisch schickte Julius noch an Millie: "Die Kobolde von Gringotts sind ziemlich am Boden, weil vier von denen beim Versuch, unterirdisch rauszukommen gegen eine magische Barriere geknallt und dabei gestorben sind. Also mit Erdreisezauber komme ich hier auch nicht raus. Gut, dass die Spitzohren das für mich rausgefunden haben."

"Dann ist es doch keine Kuppel, sondern eine Blase, in der wir leben?" fragte Millie. "Zumindest ist es jetzt eine, Mamille. Vorher konnten die Kobolde wohl noch raus", schickte Julius zurück, während Aurore auf ihrem Kinderstuhl saß und leise das Lied vom blauen Himmel sang, wohl um ihre Angst vor der unnatürlichen Dunkelheit da draußen zu überspielen.

"Und die Spitzohren haben es dir auf die Nase gebunden?" fragte Millie. "Neh, mir doch nicht. Aber Charpentier haben sie es gesteckt, dass sie bis auf weiteres keinen Kontakt mit den anderen Filialen aufnehmen können und somit keiner hier mehr Gold kriegen kann, als in den Verliesen drin ist. Wie gesagt, die sind ziemlich heftig unten", schickte Julius zurück.

"Tja, das wird dann sicher auch zu klären sein, wer da wie bezahlt werden kann", sagte Millie mit hörbarer Stimme. Julius erwiderte ebenfalls hörbar: "Gut, in Millemerveilles selbst können wir ja auf der Grundlage Leistung und Gegenleistung auskommen, solange wir nicht mit wem da draußen Geschäfte machen müssen oder können." Dem stimmte Millie zu.

Es waren wohl noch zwei Stunden bis zur angekündigten Melokonferenz mit der geflügelten Kuh Artemis vom grünen Rain, Catherine Brickston und Blanche Faucon. Julius nutzte die Zeit, um über das Armband mit Aurora Dawn zu konferieren. Deren Flohnetz konnte bereits vor drei Stunden wieder freigegeben werden. "Julius, ich vermute es nur, aber könnte es sein, dass bei eurem Flohnetz auch dunkle Feuerzauber benutzt wurden, um es so stabil zu halten, oder dass schwarze Magier ihre Anschlüsse mit entsprechenden Sperrzaubern abgeriegelt haben, deren Wirkung auf das restliche Netz durchgeschlagen ist?"

"Davon hat mein Schwiegergroßvater nichts erwähnt und würde das wohl auch nicht wagen", sagte Julius. Doch abwegig war die Vorstellung nicht, dass ein dunkler Sperrzauber das ganze Netz überlastet und die ihm nächsten Knoten zerstört haben mochte. "Ich sage das auch nicht von ungefähr, Julius. Mein Kollege Melchior Vineyard hat bei seinen Recherchen gehört, dass da, wo dunkle Rituale vollzogen wurden, auch bösartige Geister aus dem Totenreich zurückgerufen wurden. Die sind zwar ortsgebunden, aber wer denen ins Gehege kommt kann mehr verlieren als das Leben, so mein Kollege. Außerdem sind die Magier der Anangu besorgt, die im Uluru eingesperrten Eidechsenmenschen könnten auch wieder aufwachen. Sie haben etwas von einem großen Erwachen gesagt, dass in der ganzen Welt stattfindet. Ich weiß von in Steinen gebannten Seelen, die von Leuten stammen, die sich gegen ihre Stammesmagier vergangen habenund deshalb nicht in die Ahnenwelt hinübergelassen wurden. Wenn sowas mit archaischer Magie möglich ist, dann nicht nur in Australien, Julius."

"Das große Erwachen? Klint wirklich bedrohlich. Das passt aber leider zu dem, was ich aus anderen Quellen habe, dass die dunkle Welle alle für ihre Zauberei empfänglichen Gegenstände oder Orte aufgeladen hat. Millemerveilles ist ja das Paradebeispiel in Frankreich."

"Wenn du mit Camille noch mal losziehst, dann kläre das über Melo vorher ab, wo du von wem Ambrosianus-Schokolade beziehen kannst, Julius. Die gute Hera wird sicher keine unendlichen Vorräte haben", erwiderte Aurora Dawns Stimme. Ihr Abbild war mehr eine flirrende Nebelwolke statt einer menschlichen Erscheinung.

"Komisch, genau das hat sie Camille und mir heute morgen auch mitgegeben", erwiderte Julius. "Ja, und diese Schokolade ist echt ihr Geld wert. Ich kann mich noch zu gut an meine erste Zugfahrt nach Hogwarts erinnern."

"Das habe ich gehofft, dass du das erkennst", erwiderte Auroras Stimme. "So, und jetzt werde ich noch die nötigen Stunden Schlaf rausholen, bei uns ist ja gerade Mitternacht durch." Julius wünschte Aurora eine gute Nacht.

"Das große Erwachen, klingt echt gruselig, wenn damit irgendwelche Dunkelzauber gemeint sind", erwiderte Millie.

"Ja, vor allem wenn stimmt, was wir über Temmie mitbekommen haben. Ich denke immer wieder an diese Geschichten vom Zeitalter der Finsternis. Haben wir das mit Iaxathans Ende hinter uns oder genau deshalb gerade vor uns?"

"Frag sowas bitte keine schwangere Hexe, wenn du keinen Ärger mit ihr und gleich zwei um sie herumtanzenden Hebammen haben willst", grummelte Millie. Julius nickte nur. Entschuldigen wollte er sich für seine Behauptung nicht, zumal er hoffte, dass sie nicht zutraf.

"Es ist schon merkwürdig, durch eine Kuh zu sprechen", gab Temmie Julius' Gedanken weiter. "Aber ich freue mich, dass es zumindest möglich ist, euch zu sehen, Catherine und Blanche. Ui, Catherine, du siehst jetzt wirklich ganz rund aus."

"Genug der Einleitungsworte, Julius. Bitte teile allen wichtigen Leuten folgendes von mir und der Liga mit!" Setzte Blanche Faucon an, die Julius dank Temmies Gabe, ihn durch ihre Augen sehen und ihre Ohren hören zu lassen, nur ein Drittel so groß sah wie durch die eigenen Augen. "Es handelt sich auf Grund der über Catherine an mich und die Liga herangetragenen Erkenntnisse wahrhaftig um mindestens einen der Zauber der Nacht, die unter anderem eine dunkle Verkehrung von Sonnenzaubern bewirken und gegen auf Feuer bezogene Zauber wirken können. Wenn unsere Direktdolmetscherin das richtig mitgeteilt hat ..." Temmie muhte laut, als wolle sie damit sagen, dass ihrem Wort gefälligst zu glauben war. Zumindest fasste Blanche Faucon es so auf. "Ich bitte dich um Verzeihung, Artemis, wenn ich übervorsichtigerweise Bedenken geäußert haben sollte, deine Aussage könnte unzutreffend sein. - Also, weil Temmie uns das mitgeteilt hat, dass es diesen alten Zauber namens "Lied der längsten Nacht" gibt, befürchten wir von der Liga gegen dunkle Künste, dass dieser Zauber nicht mit der Mittsommernacht endet, sondern darüber hinausreichen kann. Denn Sardonia hat mehrere Quellen ihrer Kuppel mit dunklen Ritualen aktiviert, die durch dieses Lied der längsten Nacht verstärkt und sich gegenseitig ergänzend wirken. Die beiden Todesfälle im Zusammenhang mit diesem Zauber machen die Lage noch schlimmer. Sie können nur durch drei Faktoren aufgehoben werden: Immer unmagisches Licht unter freiem Himmel. Die Sonne da selbst als die Quelle von Licht, Wärme und Leben und Zeugung, Reifung und Geburt von neuem Leben unterhalb der Kuppel. Da Millie und du in der Hinsicht gerade gute Vorarbeit leistet und Jeanne Dusoleil wohl in den nächsten Tagen niederkommen wird besteht eine kleine Hoffnung, dass der Zauber damit ausgelöscht werden kann. Falls und eben nur falls das nicht ausreichen sollte, so muss die Dorfgemeinschaft von Millemerveilles sich der schweren Entscheidung stellen, entweder für alle Zeiten unter dieser erdrückenden Einschränkung zu leben, als wenn jedes Jahr eine Pestepidemie über das Land hinwegzieht oder alle aus Angst vor Räuberbanden in einer ummauerten Festung ausharren müssen, oder dass ein Weg gefunden wird, die jahrhundertelange Existenz von Sardonias magischer Kuppel zu beenden, ohne dabei ungeahnte Vernichtungskräfte freizusetzen. Ich denke da an Mittel wie Incantivacuumkristalle oder ähnliche Magiezerstörer. Es besteht auch die Gefahr, dass wenn die dunkle Verfremdung der Kuppel in den Winter hineinreicht, dass alle bisher getroffenen Maßnahmen nicht mehr ausreichen und es zu Angst- und Feindseligkeitsauswüchsen kommen kann, an deren Ende alle Bewohner von Millemerveilles den Tod finden. Gut, das ist der größte Drache, den ich da rufe. Aber ich wollte es euch und allen Verantwortlichen aufzeigen, wie extrem die Lage ausufern könnte. Die Frage ist jedoch, wie die Versorgung mit Lebensmitteln und anderen Gütern einerseits und Nachrichten von außen andererseits gewährleistet werden kann. Camille und du könnt das nicht alleine machen."

"Florymont hat herausgefunden, dass die Distantigeminus-Kästen zwischen Millemerveilles und dem Château Tournesol funktionieren, über die damals die Temps de Liberté mit Nachrichten aus Millemerveilles versorgt werden konnte, Blanche. Er will noch fünf solche Verbindungen ins Zaubereiministerium, dem Miroir Magique und drei anderen wichtigen Stellen einrichten. Camille und ich sollen die Gegenstellen dann ausliefern", gab Temmie Julius' Gedanken weiter. Blanche wirkte sehr erleichtert, dass zumindest das Thema bald abgeschlossen war. Dann kam Julius mit einer weiteren Idee herüber: "Und was die Lebensmittelversorgung angeht, die nicht von unseren Bauern allein möglich ist, so schlage ich eine Luftbrücke vor, also dass bezahlte Lieferanten Pakete aus sicherer Höhe über Millemerveilles an Fallschirmen abwerfen und die dann bei einer Sammelstelle gelagert werden. Vor allem Ambrosianus-Schokolade wird benötigt, um die Stimmung aufzuhellen, sagen Madame Matine und Monsieur Delourdes. Um nicht andauernd neue Fallschirme anschaffen zu müssen könnten wir versuchen, Leiterwagen an der Grenze zur Kuppel mit einem kräftigen Anschubzauber ohne weitere Vortriebsmagie durch die Barriere zu schieben, damit sie auf der anderen Seite in Empfang genommen und entladen werden können. Wir mussten leider feststellen, dass Apportationen von Dingen außerhalb der Kuppel nicht gehen.""

"Ich gehe davon aus, Florymont, du und die anderen thaumaturgisch bewanderten arbeitet das aus", sagte Blanche Faucon. Julius erwähnte dann noch, dass es in Berlin im Jahr 1948 eine ähnliche Lage gab, nur dass da die Armee der Sowjetunion den Westteil abgesperrt hatte, um dessen Bevölkerung auszuhungern, um die anderen Westmächte zu erpressen. Blanche Faucon nickte. Offenbar kannte sie dieses Ereignis, bei dem die Luftstreitkräfte der vereinigten Staaten und des vereinigten Königreichs Großbritannien zusammengearbeitet hatten. Dann erwähnte Julius noch, dass wegen des Lichtmangels die Pflanzen verdorren könnten und Camille Dusoleil und ihre Gartenbaufachkräfte mit Drachendung und Rapicrescentus-Tropfen gegenhalten wollten. "Wir brauchen also auch bruchsichere Fässer mit diesem Rapicrescentus-Gebräu und öhm, wweil das wohl alles heftig kostet, einen Vermittler zu wem auch immer, der oder die das bezahlen möchte, ob Ministerium, Verwandte der hier lebenden oder alle zusammen. Also, bitte neben der Schokolade auch noch Rapicrescentus-Tropfen und Drachendung auf die Bedarfsliste setzen!"

"Hast du die entsprechende Berechtigung bekommen, derlei Bestellungen aufzugeben?" fragte die Schulleiterin von Beauxbatons. Julius erwähnte, dass was die Pflanzen und die Schokolade anging er "Carte Blanche" von Camille und Hera bekommen habe. Das ließ die oberste Hexe von Beauxbatons erst verdrossen und dann höchst erheitert dreinschauen. Mit einem selten von ihr zu sehenden Lächeln bestätigte sie dann: "Gut, ist notiert." Dann fügte sie noch hinzu: "Dann bleibt eben nur die Hoffnung, dass sich die in die Kuppel eingeflossene Kraft durch Lebensfreude, Licht, Wärme und neues Leben erschöpfen und restlos auslöschen lässt. Sollte das mit dem neuen Leben auch durch Bestärkung der Pflanzen erreicht werden sollte das dem Ministerium einige Fässer Rapicrescentus-Gebräu wert sein. Julius, dir und Camille muss ich ja nicht erzählen, dass dieses hochpotente Gebräu den Pflanzenwuchs beschleunigt."

"Musst du nicht, Blanche. Camille und ich wollen auch eine Verdünnung prüfen, möglicherweise ein Dünger-Wasser-RCT-Gemisch, um die Pflanzen mit genug Kraft zu versorgen, dass sie mit dem kläglichen Rest von Sonnenlicht auskommen. Dabei wird das pure Gebräu dann gestreckt, wie es Drogenhändler nennen. Könnte sein, dass ein Hundertstel von der Schnellwachsdosis auf Wasser und Dünger reicht, um die Bäume gesund zu halten. Camille und Aurora Dawn suchen schon in ihren herbologischen Bibliotheken nach entsprechenden Ergebnissen. Falls das noch keiner gemacht hat und wir das hinkriegen wird das wahrscheinlich die magische Kräuterkunde bereichern, wenn das ganze nicht zu aufwendig oder teuer ist."

"Bekommt es bitte heraus, ob und wie es geht. Mir vorzustellen, dass die Bäume um euer Haus oder die in meinem Garten verdorren und umstürzen könnten missfällt mir", erwiderte Blanche Faucon. Julius ließ Temmi weitergeben, dass er ihr Unbehagen in dieser Sache teilte und Camille ja auch einen Ruf zu verlieren hatte, wenn sie die Pflanzen hier nicht gesunderhielt.

"Soll ich dann noch was weitergeben, Blanche?" ließ Julius Temmie fragen.

"Ja, dass wir anderen euch nicht im Stich lassen, Julius. Das ist meine persönliche Botschaft an euch", sagte Blanche Faucon. Damit endete diese besondere Konferenz.

"Mir fällt gerade ein, dass ich mit Claudine und Laurentine Ende Mai zu Alizée wollte, abgesehen davon, dass Claudine ja am 12. Mai ihren sechstn Geburtstag feiert, genau wie Miriam", sagte Julius zu seiner Frau. "Ja, stimmt, ist ja auch in der Zeit, wo wir unter dieser Kuppel festhängen", grummelte sie. "Das kläre ich noch mit meinen Eltern, inwieweit wir das drehen können, dass wir mal für zwei Stunden rüberkönnen, um sowohl Claudine als auch Miriam zu gratulieren. Sechs Jahre ist ja für Zaubererkinder ein wichtiges Alter nach siebzehn. ." Julius dachte daran, dass er damals vor sechs Jahren Claudines Geburt mitverfolgen durfte. Sollte er ihr jetzt sagen, dass er nicht mit ihr zu Alizée hin konnte, oder sollte er das Geheimnis des Schrankes ausnutzen, um Laurentine und sie zu begleiten? Dann hätte er das Blanche auch gleich aufs Brot schmieren können, dass es noch einen direkten Ausgang hinaus aus der Dämmerkuppel gab. Na ja, bis dahin blieb ja noch genug Zeit, es sich zu überlegen. Vielleicht hatte Camille ja auch eine Idee. Denn dass er und Sie bei Abschwächung der dunklen Kraft die Kuppel durchbrechen konnten war ja in Millemerveilles bekannt. Nur für ein Popkonzert musste sie ihn nicht unbedingt durch die Kuppel bringen, zumal sie ihn dann am Abend, also wenn der dunkle Zauber sich wieder auflud, wieder zurückbringen müsste. Komisch, wie jemand sich über sowas eigentlich nebensächliches solche Gedanken machen konnte. Denn er wollte auf gar keinen Fall den Eindruck aufkommen lassen, jemand brate ihm Extrawürste, wo es auch viele junge Hexen und Zauberer in Millemerveilles gab, die zu gerne mit ihren Freundinnen und Freunden zusammentreffen wollten. Denen durfte er nicht dummkommen, wo sie ihm gerade noch verdankten, dass sie zumindest Feuer im Kamin und Licht zum herumtragen hatten.

"Aber Claudines und Miriams Geburtstag feiern wir zwei süßen mit denen", brach Millie in Julius Gedankengänge ein. Hätte nur noch gefehlt, dass sie "Howk" oder "basta" sagte, dachte Julius. Doch er musste zugeben, dass ihre Entschlossenheit ihn ansteckte.

__________

Aus Mildrid Ursulines Reportage "Unter der Dämmerkuppel"

28. April 2003

Ich weiß nicht, wielange wir in diesem Zustand aushalten müssen. Ich weiß nur, dass wir ganz stark aufpassen müssen, dass keiner von uns für andere gefährlich wird. Natürlich mache ich mir gedanken um meine beiden Kinder und das, was jetzt noch in meinem dicken Bauch herumturnt. Aber irgendwie bin ich zuversichtlich, dass wir von Millemerveilles es hinkriegen, aus dieser ziemlich üblen Lage wieder rauszukommen, sozusagen alle miteinander ans Licht der Welt zurückgeboren werden, ob Babys oder Großeltern.

Bevor ich diesen Bericht richtig beginne, von dem ich selbst nicht weiß, wie lange er am Ende sein wird, nur noch was wichtiges: Die für mich und mein ungeborenes Kind gerade zuständige Hebammenhexe Hera Matine hat mich angehalten, nur die allernötigsten Ausflüge zu machen und dabei zu Fuß zu gehen. Deshalb kann ich die Sachen, die ich von anderen aufschreibe nur erzählen, wenn mir wer anders das erzählt oder zu mir kommt, weil er oder sie will, dass das original in die Temps reinkommt.

Heute habe ich von meinem Onkel und Chef über Gedankenbotschaft meiner Mutter gehört, dass die Schriftstückfernvervielfältigung zwischen Millemerveilles und dem Sonnenblumenschloss immer noch geht. Das hat sowohl meinen Onkel Otto als auch Florymont zu einem kleinen Wettbewerb angestachelt, wer als erster genug dieser aufeinander abgestimmten Distantigeminus-Kästen (Digekas) hinbekommt, um den Nachrichtenaustausch zwischen uns und der restlichen Welt zu verbessern. Eulen kommen ja nicht durch die verdorbene Kuppel durch. Ich habe Florymonts Vorrichtung bei mir untergestellt, die mit der Zentrale der Temps verbunden ist. Auf diese Weise bekam ich auch schon Ausschnitte aus dem Miroir Magique, was da über unsere Lage drinsteht. Zwar überlagert die Nachricht, dass das französische Flohnetz bis nach der Walpurgisnacht ausfällt immer noch alle anderen Mitteilungen. Aber es stand auch was von Madame Faucon in der Zeitung, dass sie besorgt ist, dass die dunkle Matriarchin Sardonia nach über 300 Jahren noch eine späte Rache kriegen könne. Da Monsieur Gilbert Latierre auch ein Interview von ihr bekommen hat muss ich hier nicht mehr darüber erzählen.

Camille Dusoleil hat mir heute ihre Wettervorhersagepflanzen gezeigt. Die sind durch die Verdunkelung des Himmels ganz aus dem Tritt. Die Regen anzeigenden Himmelstrinker öffnen und schließen ihre Blüten immer wieder, als müssten sie Essen durchkauen. Die Sturmknolle, die bei aufziehendem Unwetter ihre Blätter zusammenrollt, hat ein Dauerzittern in den bei hellem Licht grünen Blättern, und das von Aurora Dawn im Wüstenpflanzenhaus von Millemerveilles angepflanzte Sonnenkraut ist zwei Meter nach oben gewachsen und zittert. Diese Reaktion kenne ich noch von der Vorführung, die Magistra Gudrun Rauhfels in der Burg Greifennest am Tag der totalen Sonnenfinsternis gemacht hat.

Mein Mann Julius ist weiter damit beschäftigt, den Leuten hier zu zeigen, wie Feuer gemacht wird. Denn einige kommen mit den Feuerzeugen, die Camille und er aus Marseille geholt haben, nicht zurecht. Aber die meisten hier haben sich eh angewöhnt, mindestens eine brennende Kerze im Haus zu haben, an der sie falls nötig neue Kerzen oder Kienspäne anstecken können.

Die niedergelassenen Heiler Delourdes und Matine haben uns angeschrieben, dass es sich gezeigt hat, dass tragbares Licht nicht nur die unmittelbare Umgebung, sondern auch die Stimmung aufhellt. Daher empfehlen sie jedem, der oder die unterwegs ist, Licht dabei zu haben. Dies soll keine Verpflichtung sein, hat mir die Heilerin Hera Matine gesagt. Sie hofft aber, dass die meisten hier so vernünftig sind, eine brennende Laterne mitzunehmen, wenn sie ihre Freunde und Nachbarn besuchen.

Trotzdem wir jetzt alle wieder Licht und in den Häusern auch brennende Feuer haben drückt diese dunkelgraue Kuppel über uns auf die allgemeine Stimmung. Auch dass außer Camille Dusoleil und einen weiteren Mitflieger keiner ohne zu Eis zu gefrieren durch die Kuppel kommt macht die Stimmung nicht besser. Auch sind trotz Madame Delamontagnes genialer Ansprache nicht wirklich alle davon begeistert, dass Jeanne und Bruno Dusoleil, sowie meine Familie und ich in einem gesondert abgesicherten Bereich wohnen können. Camille Dusoleil musste dem kompletten Dorfrat dazu noch einmal erklären, warum das so und nicht anders geht. Sie meinte dann, sie könne zwar das anfangen, was bei uns schon mehr als vier Jahre wirkt, aber das würde dann eben auch erst in vier Jahren die gleiche Wirkung haben wie bei uns, weil es mit lebenden Kraftausrichtern und Verstärkern zu tun hat.

Unsere Tochter Aurore ist traurig, weil wohl nicht alle die zu ihrem dritten "Burtstag" kommen können, die sie gerne dabei hätte. Ja, Claudine Brickston hätte sie gerne hiergehabt und auch meine Schwiegereltern mit den drei kleinen Merryweathers.

Robin und Chuck, die beiden bei uns mitfesthängenden Luftschiffflieger aus Viento del Sol, benehmen sich wie eingesperrte Raubtiere. Sie wollten doch echt mit dem hier bei uns gelandeten Luftschiff mit Überschall durch die Kuppel durchfliegen. Als Feuerwehrchef Latour es ihnen ausreden wollte haben sie was von "exterritorialem Gebiet" behauptet. Das heißt, sie sehen ihre Luftschiffe nicht als den französischen Zaubereigesetzen oder den Verhaltensregeln von Millemerveilles unterworfen. Zum Glück für sie kam raus, dass ihr Luftschiff sich keinen Meter vom Boden lösen konnte. Dem fehlte die volle Einstrahlung von Sonne und Mond, um die von denen geheimgehaltene Antriebskraft zu erneuern. Natürlich sind die beiden jetzt noch mehr verstimmt. Die wollten auch keine Schokolade von Madame Matine annehmen. Das Zeug ist übrigens sehr gut, wenn wer in einer miesen Stimmung ist oder durch Trübsalzauber entsprechend betroffen ist. Ich darf nur nicht zu viel davon essen, sonst wird Clarimonde zu dick, bevor sie meinen warmen Schoß verlassen kann.

Meine derzeitige Hebamme hat mir auch ein Intterview mit Heiler Delourdes zum Zustand des Dorfrates für Sicherheit und Schutz, Monsieur Edmond Pierre gestattet. Sie wollte aber dabei sein, falls das, was ich höre, zu heftig sein sollte. Mit Erlaubnis von Madame Estelle Pierre, der gerade auch für ihren Mann sprechenden Ehefrau, lege ich das geführte Interview diesem Tagesbericht bei. Nur so viel, Edmond Pierre scheint nach der Erforschung der Ursache unserer Lage in einem starken Delirium zu sein und erzählt immer was von "ihrer Stimme", womit er vielleicht Sardonia meint, welche ja die Kuppel über uns errichtet und bezaubert hat. Mehr dazu im besagten Interview. Ja, heftig war das. Doch aus Erlebnisberichten meines Mannes kenne ich heftigere Sachen und konnte deshalb so ruhig wie möglich bleiben.

Übermorgen ist die Walpurgisnacht. Da kann ich sowieso nicht mitfliegen, ob Dämmerkuppel oder nicht. Aber das nehme ich gerne in Kauf, wenn ich dafür die letzten Wochen meiner gerade ablaufenden Schwangerschaft gesund und ohne unnötige Anstrengungen durchstehen kann.

Ich melde mich dann wieder, wenn es weitere wichtige und zu veröffentlichen erlaubte Sachen zu berichten gibt.

MUL

__________

In der Wohnung von Cantaluna alias Paloma des Angeles, 30. April 2003, 23:50 Uhr Ortszeit

Sie hatten sich so leise sie konnten in Cantalunas Wohnung getroffen, die Hohepriesterin Nyctodora, Cantaluna selbst und ihre Blutsschwester Hijanoches. Ihre Herrin und Göttin hatte sie nacheinander bei Cantaluna abgesetzt. Es ging ihr um einen Versuch, den sie nicht genauer umschreiben wollte.

""Erwartet mich nun in eurer Mitte!" hörten sie alle drei gleichzeitig die Stimme derer, deren Dienerinnen und Töchter sie geworden waren. Cantaluna saß mit Hijanoches arm in Arm auf der breiten Ledercouch im Salon der Appartmentwohnung in San Sebastian. Bis heute hatten sie beide sowohl ihre neue Natur wie auch ihre homophile Beziehung vor der Welt verheimlichen können. Nyctodora verzog nur das Gesicht, als sie sah, wie eng sich die zwei Mitschwestern aneinander kuschelten. Sie wusste, dass deren Blutvater Cielonegro wegen Gehorsamsverweigerung gegenüber der Göttin getötet worden war. Daher hütete sie sich tunlichst, irgendwas zu sagen, was die zwei jungen Nachttöchter kränken mochte. Sie selbst war ja auch nicht in ehelicher Liebe gezeugt worden, was ihr die Göttin zwischendurch auch immer gerne direkt in ihren Kopf hineinsprach.

Zuerst geschah nichts, außer das draußen der trotz der fortgeschrittenen Tageszeit laute Straßenverkehr brummte und rauschte. Zwischendurch tutete ein ungeduldiger Autofahrer, und irgendwo weit weg wimmerte die Sirene eines Polizei- oder Krankenwagens. Die drei Nachttöchter sahen einander an. Ihre Blicke trafen sich und bildeten ein unsichtbares Dreieck. Im Mittelpunkt dieses Dreiecks begann die Luft zu flimmern. Dann schwebten blutrote Funken frei in der Luft, wurden mehr und tanzten immer dichter beieinander. Die roten Funken verschmolzen zu einer dunstigen Säule. Dann, ohne weiteren Übergang, stand zwischen den drei Nachttöchtern eine konturscharfe, blutrote Frauengestalt. Sie war völlig unbekleidet. Deshalb fiel den dreien der leicht vorgewölbte Unterbauch auf, als sei die Erscheinung im vierten oder fünften Monat schwanger. Sie maß von Kopf bis Fuß mehr als zwei Meter, so dass ihr Kopf gerade eine halbe Handbreit unter der Zimmerdecke war. Ihre Arme und beine waren schlank, aber nicht dürr, und sie besaß eine üppige Oberweite, die zu dem scheinbaren Umstandsbäuchlein passen mochte. Ihr Gesicht besaß hohe Wangenknochen und volle Lippen. Nun öffnete die aus rotem Licht geschaffene Frau ihren Mund und entblößte damit die zwei fingerlangen Eckzähne, die aus ihrem Oberkiefer ragten. Dann hörten die drei eine glockenreine, mittelhohe Stimme, die leise von der Erscheinung an ihre Ohren drang, ohne wie bisher gewohnt direkt in ihrem Geist zu erklingen.

"Ich freue mich, dass ihr drei eingewilligt habt, diesen erhabenen Moment mit mir zu erleben. Ich bin glücklich, dass meine Vermutung kein reines Wunschdenken war. Seht ihr mich alle?" Die drei nickten. "Hört ihr meine Stimme?" Auch jetzt nickten die drei. "Dann bin ich erwacht. Ich bin nun fähig, körperlich zu erscheinen, wo mindestens drei von euch in meinem Namen versammelt sind. Doch eine Probe muss ich noch wagen, um endgültig zu wissen, ob ich wahrhaftig anwesend oder nur eine Erscheinung bin." Die aus dem Nichts entstandene Frauengestalt beugte sich vor und langte mit der schlanken Hand nach Nyctodoras Handtasche, die sie auf der rechten Armlehne ihres Sessels abgelegt hatte, Sie umfasste den Henkel und zog daran. Die Tasche löste sich von der Armlehne und baumelte mehrere Sekunden in der Luft. Dann legte sie die Tasche wieder auf die Armlehne und zog ihre Hand zurück. Nyctodora hatte während dieses Vorgangs einen eiskalten Hauch verspürt, der ihre unter der Solexfolie verborgene Haut durchdrungen hatte. Womöglich war die direkte Berührung dieser Hand so kalt, dass Wasser unmittelbar zu Eis gefror, dachte Nyctodora. Seitdem sie selbst die fragwürdige Ehre hatte, eine Tochter der Nacht und zugleich die Hohepriesterin der großen Mutter der Nacht zu sein hatte sie kein Kälteempfinden mehr verspürt. Deshalb war ihr dieses Gefühl so erschreckend unvertraut.

"So stelle ich ähnlich wie der von den Christen so angebetete Wanderprediger aus Nazareth fest: "Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen, ich, Gooriaimiria, die erwachte Göttin und große Mutter der Nacht", sagte die blutrote Erscheinung mit unüberhörbarem Triumph in der Stimme. Gleichzeitig konnten die drei Nachttöchter sehen, wie sich etwas in dem vorgewölbten Bauch der blutroten Riesenfrau regte. Sie war also wahrhaftig schwanger, aber von wem?

"Frage mich eher, mit wem, meine Hohepriesterin", hörte Nyctodora die Stimme ihrer Herrin nun wie gewohnt direkt in ihrem Geist sprechen, während die vor ihnen dreien erschienene Gestalt amüsiert grinste. Dann sagte sie wieder mit von Ohren vernehmbarer Stimme: "So gilt die Nacht, in der die Hexen Europas ihren Frühlingsfeiertag begehen und dazu Zauberer ihrer Wahl an abgelegenen Orten treffen als die Nacht meiner Wiederkehr in die stoffliche Welt. Ich bin erwacht." Nyctodora war sich sicher, dass die zwischen ihnen erschinene Gestalt der Göttin zu gerne laut gerufen hätte. Doch natürlich wusste sie, dass sie damit unerwünschte Aufmerksamkeit erwecken würde. Dann sprach die Göttin weiter: "Durch ein Geschenk der Nacht gelang es mir, einen unliebsamen Mitstreiter um die Vorherrschaft über die Kinder der Nacht zu besiegen und all seine Kraft in mich aufzunehmen, so dass ich nun das kann, was er konnte und sogar noch viel stärker als er."

"Ist er jetzt ... in dir?" fragte Nyctodora und deutete auf den Unterbauch der Erscheinung. "Ja, auch", erwiderte die Göttin. "Und ich behalte bei mir, was ich in mir trage, werde also nicht wieder ausstoßen, was ich in mich eingelassen habe."

"Was ist mit dem Urvater, von dem andere sagen, dass du ihn im Endkampf besiegt und entthront hast?" wollte Cantaluna wissen. "Immerhin haben wir alle die starke Kraft gespürt und konnten einen Angstschrei daraus hören."

"Ja, den habe ich entthront. Er hat nun die Ehre, ganz bei mir zu sein", erwiderte die erwachte Göttin der Nachtkinder. Da war den drei Töchtern der Nacht klar, warum die blutrote Erscheinung wie in freudiger Erwartung aussah.

"Was sind deine nächsten Anweisungen, meine Göttin?" fragte Nyctodora ihres Ranges gemäß.

"Da der von den Nordamerikanern angefachte Krieg im Irak wohl so gut wie beendet ist möchte ich von dir, meine Priesterin, dass du dich weiterhin in Afghanistan betätigst und dort neue Kristallstaubkrieger erzeugst. Ich habe beschlossen, sie wieder zu vermehren, auch wenn sie mit zu einfachen Mitteln zu besiegen sind", erwiderte die Erscheinung der Göttin. Nyctodora bestätigte es. Sie hatte schon mit Cantaluna darüber gesprochen, wie leicht die Angriffstruppen im Irak vorangekommen waren. Dann sagte sie: "Meine Göttin, die militärische Operation mag so gut wie beendet sein. Doch die Truppen werden sicher noch eine längere Zeit dort bleiben müssen, da die Bevölkerung und manche Teilstreitkräfte sicher nicht so willig ihre Niederlage anerkennen werden, wie es die Europäer taten, als der zweite Weltkrieg beendet wurde." Dem musste Cantaluna zustimmen. Sie erwähnte, dass es ähnlich wie in Afghanistan zu einer Zeit bewaffneter Aufstände und Bombenanschlägen kommen mochte. Darauf erwiderte die Göttin: "Nun, dann wird es wohl nicht weiter auffallen, wenn mal eben mehrere hundert Menschen bei einem Bombenanschlag sterben, der nicht von den Aufständischen verübt wurde. Gut, versuche also bitte zumindest Transportflüge in den Irak durchzuführen, um unsere Kampf- und Erbeutungstruppen dort anzulanden, Nyctodora!" Die Angesprochene nickte.

"Wer außer den Zauberern und Hexen sind unsere Feinde?" fragte Cantaluna leise.

"Nun, neben den Sonnenkindern, deren Anwesenheit euch schon peinigen kann, gehören dazu die vaterlosen Töchter der Verfluchten aus dem Orient, sowie eine aus verdichteter Dunkelheit beschaffene Herrscherin und ihre Gefolgschaft, die sich selbst als Königin der Nacht versteht. Doch ich bin die Göttin der Nacht und werde sie mit eurer Hilfe und den Kristallkriegern auf ihren Platz verweisen oder vernichten. Doch seid auf der Hut vor ihren nideren Dienern, weil es viele sind und sie schon wissen, dass sie euch in der Luft zerreißen können, wenn sie aus verschiedenen Richtungen an euch ziehen. Ich habe das Wissen dessen, der diese Nachtgeburt erschaffen hat in mir und werde daran denken, wie ich diese Brut erledigen kann. Das sind unsere drei Hauptfeinde. Dann gibt es noch unter den Rotblütern die, die mit dem Wolfskeim verseucht sind und gelernt haben, diese Verseuchung ihrem Willen zu unterwerfen und meinen, uns Nachtkinder nach belieben umbringen zu dürfen. Außerdem gibt es da diese Hexen und Zauberer, die meine Kristallkrieger am Wohnsitz des Entthronten mit dem bloßen Geschrei neugeborener Kinder besiegt haben. Auch sie trachten danach, uns auszurotten. Doch weil die auch gegen die Wolfsbrütigen kämpfen könnten wir uns das zu Nutze machen. Deshalb gelten nur die Sonnenkinder, die Schattenkönigin und die vaterlosen Töchter der Verfluchten als wahrhaftig gefährliche Feinde. Was ich sonst noch zu verkünden habe werdet ihr in wenigen Tagen erfahren, wenn ich sicher weiß, dass auch andere mich als wahrhaftige Gestalt erkennen können. Passt bis dahin weiter gut auf euch auf und lasst keinen Verdacht aufkommen, was ihr seid und wem ihr dient!" Mit diesen Worten flimmerte die blutrote Erscheinung, um dann völlig übergangs- und geräuschlos zu verschwinden.

"Das habe ich nicht gedacht, dass wir die echt mal als sichtbare Erscheinung erleben, und dass die dann auch Sachen anfassen und hochheben kann", meinte Hijanoches zehn Sekunden nach dem Verschwinden ihrer mächtigen Gebieterin.

"Was immer dieser Rivale von der konnte, sie kann das jetzt alles auch und viel besser, hast du doch gehört", erwiderte Cantaluna mit gewissem Tadel.

"Sie hat den, von dem sie behauptet, dass der uns alle erschaffen hat, zu ihrem ungeborenen Kind gemacht. Dann hat die seine ganze Macht und sein Wissen in sich drin und kann das abrufen, wann immer sie will", flüsterte Nyctodora gerade so laut, dass ihre Worte für die scharfohrigen Mitschwestern noch zu verstehen waren.

"Will heißen, wer sich mit der anlegt stirbt oder wird mit Körper und Geist in ihr eingesperrt oder aufgelöst", seufzte Hijanoches. Anfangs hatte sie das Vampirsein als eine Art besonderen Nervenkitzel empfunden, zumal sie jetzt erst recht mit ihrer Freundin Cantaluna zusammen sein konnte. Doch mit der Zeit war allen klar geworden, dass sie nur dienten und eben nur solange weiterleben durften, solange sie für die Göttin wichtig genug waren.

"Ich gehe davon aus, dass sie mich gleich wieder zu mir nach Hause versetzt, Mädels. Genießt die Walpurgisnacht, aber seid nicht zu laut!" sagte Nyctodora im Stil einer gestrengen Gouvernante. Als habe sie damit einen Teleportationszauber ausgesprochen umschlangen sie im nächsten Moment nachtschwarze Spiralarme und zogen sie in jenen dunklen Tunnel hinein, der zwischen Ausgangsort und Zielort verlief und immer an der blutroten Erscheinung der Göttin vorbeiführte. Irgendwie meinte Nyctodora, die in der Menschenwelt immer noch als Eleni Papadakis unterwegs war, dass die magische Reise wesentlich schneller verlief. So sah sie die blutrote Erscheinung ihrer Göttin nur für einen Sekundenbruchteil, bevor sie wie aus einer Kanone abgefeuert in ihrem mittlerweile auch magisch abgesicherten Wohnhaus in Athen ankam.

"Grübel ja nicht zu oft über den nach, den ich in mir trage, Nyctodora! Er hat dich nicht zu kümmern!" dröhnte die Stimme ihrer Göttin in ihrem Geist.

"Ja, aber die Mädchen wissen doch auch jetzt, wen du in dir trägst, meine Göttin", erwiderte Nyctodora rein gedanklich.

"Ja, das sollten sie auch wissen, damit sie wissen, dass ich mächtige Widersacher nicht umbringen muss, um sie unschädlich zu machen, und er war unser mächtigster Feind überhaupt. Denn er wollte uns wieder zu niederen Sklaven machen. Jetzt dient sein Geist mir und damit uns allen."

"Das Geschöpf tötet seinen Schöpfer", dachte Nyctodora resignierend. Sie dachte an die alten Mythen ihrer Heimat, an Cronos, der seinen Vater kastriert hatte, um selbst Herrscher von Himmel und Erde zu werden, sowie an Zeus, der wiederum Cronos entthront hatte oder die Sage von Oedipus, der unwissentlich seinen eigenen Vater erschlagen und später seine eigene Mutter geheiratet hatte. Sie selbst hatte mitbekommen, wie ihr Schöpfer von der nun als erwachte Göttin bezeichneten Macht getötet worden war. Sie selbst würde die große Mutter der Nacht nicht vernichten können, das wusste sie nun. Wohl auch deshalb war sie ihr und den zwei lesbischen Turteltauben erschienen.

Sie atmete auf, weil sie auf diesen Gedanken keine Antwort erhielt. Vielleicht hatte sich die Göttin bereits anderen ihrer Getreuen zugewandt, um ihre neue Macht zu zeigen.

__________

Millemerveilles, 30. April 2003, 00:50 Uhr Ortszeit

Alle nicht gerade schwangeren Hexen hatten sich von Eleonore Delamontagne und Hera Matine dazu ermutigen lassen, trotz der seit Tagen über ihnen allen hängenden Dunkelheit die Walpurgisnacht zu feiern. Deshalb hatte Eleonore Delamontagne auf der Festwiese mit Hilfe einer Pechfackel und Spiritus einen großen Holzstoß entzündet. Sandrine hatte sich von Millie die offizielle Erlaubnis erbeten, mit Julius ein Besenpaar zu bilden. Da sie hier in Millemerveilles sowieso eher harmlose Walpurgisnachtspiele veranstalteten hatte Millie nichts dagegen, zumal sie so mit der Betreuung von Estelle und Roger eine zusätzliche Beschäftigung hatte. Denn sie war mit den alleinstehenden oder gerade auf Nachwuchs wartenden Hexen zum Hüten der Kinder im Laternenkreis eingeteilt, einem knapp hundert Meter vom Festplatz gelegenen Platz, wo Spielgeräte und vor allem bunte Laternen angebracht worden waren.

Sandrine genoss es sichtlich, mit Julius zu fliegen. Ihrer beider Quidditcherfahrung half ihr, ihn und sich gut zwischen den wilden Hexen herumzuwirbeln. Auch wenn die sonst so farbenfroh leuchtenden Kostüme wegen der unheimlichen Kraft in der Kuppel nicht funktionierten trugen sie alle bunte Kleidung.

"Danke, dass wir zusammen fliegen. Julius. Und danke auch, dass du trotz der fiesen Lage hier rausbekommen konntest, wie es dem kleinen Stephen geht. ich weiß ja, dass ich das offiziell nicht wissen darf. Aber genau deshalb rechne ich das dieser Patience und dir hoch an", wisperte Sandrine, als sie mit Julius einen sehr körpernahen Rumba tanzte.

Als nach Mitternacht die Walpurgisnachtringe ihre magische Verbindung verloren blieb Julius mit Sandrine noch eine halbe Stunde zusammen auf dem Festplatz und brachte sie auf seinem Besen auch nach Hause. Unterwegs sahen sie in nicht all zu großer Ferne eine rotgoldene Lichtspirale in den Himmel steigen. Darauf durchzuckten rote und goldene Blitze den Himmel. Doch es gab keinen Donner. Allerdings meinten Sandrine und Julius, dass die Luft etwas leichter zu atmen war und für einen Moment die seit Tagen herbstlich kühle Temperatur um mehrere Grad anstieg. Das Spektakel am Himmel dauerte mindestens eine Minute. Dann sank die rotgoldene Lichtspirale in sich zusammen, und das Blitzgewitter über ihnen wurde vom beinahe schon gewohnten dunklen Himmel abgelöst. Doch irgendwie wirkte er nicht mehr so abgrundtief schwarz wie vor dem rotgoldenen Lichterspiel. Sicher, Sterne waren immer noch keine zu sehen, doch ein schwaches, bleigraues Schimmern am Himmel zeigte, wo eigentlich der zunehmende Mond stehen musste. Julius machte Sandrine darauf aufmerksam. Sie blickte nach oben und erkannte, dass die bisherige Finsternis ein wenig lichter geworden sein musste.

"Was war das?" wollte Sandrine von Julius wissen. "Etwas hat diese Dunkelkraft erheblich erschüttert - und offenbar geschwächt, Sandrine. Ich habe da so eine gewisse Ahnnung. Aber ich möchte hier nicht den großen Spekulanten rauskehren."

"Was für eine Ahnung?" fragte Sandrine. "Dass da gerade jemand neu zu uns dazugekommen ist", rückte Julius doch mit dem heraus, was er vermutet hatte.

"Hier, unter der Kuppel? ... Ui, natürlich. Öhm, Julius, wenn du da mehr drüber weißt, schick mir bitte deinen Francis. Ich möchte das nicht aus der Zeitung lesen, falls ja!" sagte Sandrine. Julius versprach es.

"Hallo, Julius, falls du mit Sandrine zu ihren Eltern fliegst schon mal soviel, Bertrand Tiberius Dusoleil ist gerade angekommen", fing er Camilles überglückliche Gedankenstimme auf."

"Dann war das die rotgoldene Lichtspirale, die wir da gerade gesehen haben?" schickte Julius zurück.

"Ja, das war sie. Wusste nicht, dass in diesen kleinen Apfelbäumen eine solche Kraft steckt. Ich fürchtete schon, die würden unter diesem rotgoldenen Feuer verbrennen. Aber die sind jetzt wieder so wie bei euch", gedankenantwortete Camille.

"Hast du den kleinen auf die Welt geholt?" schickte Julius noch zurück. Camille bestätigte das. "Hera war zwar nicht so begeistert, aber sie hat es dann doch hingenommen, dass ich Jeanne besser helfen konnte. Na ja, der Kleine ist jetzt da, und hoffentlich darf er im Sommer auch mal die Sonne sehen", beendete Camille den Kontakt.

"Sandrine, ich darf dir als erster außerhalb der Dusoleil-Familie mitteilen, dass gerade eben ein kleiner Junge namens Bertrand Tiberius Dusoleil auf unsere Welt gekommen ist", sagte Julius es Sandrine weiter. Diese freute sich lautstark. "Dann war das die Säule aus Licht. Dann stimmt es wohl, das dieser fiese Zauber durch neues Leben abgebaut wird. Tja, dann seid ihr zwei wohl die nächsten, die mithelfen können, dass diese dunkle Kraft niedergebügelt wird." Julius wollte Sandrine da nicht widersprechen.

"Hallo, Julius, habe jetzt gerade meinen ganz neuen Mitbewohner an der Tränke und bin immer noch ziemlich geschafft. Aber das soll ich dir von Bruno weitergeben: Morgen will er den Kleinen pinkeln lassen. Nur Mannsleute, wie üblich. Wir Weibsvolk dürfen ja über die Herrlichkeit der Geburt schwadronieren", hörte Julius Jeannes schwache, aber noch zu verstehende Gedankenstimme im Kopf. "Meinen allerherzlichsten Glückwunsch, Jeanne. Ich komme bestimmt und sauf den Papa von dem Kleinen Berti locker unter den Tisch", schickte Julius zurück. Jeanne antwortete nicht mehr darauf. Womöglich war sie von der Geburt noch zu sehr geschafft, um in einer Tour zu mentiloquieren.

"Und, hat sich Sandrine sehr gefreut, dass du mit ihr den Abend verbracht hast?" fragte Millie keinesfalls gehässig. Julius bestätigte das und auch, dass sich Millie dafür was von Sandrine wünschen könne. Dann erwähnte er die Geburt von Bertrand Tiberius Dusoleil. Millie grinste ihn an. "Das habe ich schon mitbekommen. Hera musste ganz schnell von der Schwangerengruppe weg." Julius nickte ihr zu. "Sandrine sagt, wenn das so auf die düstere Kraft eindrischt machen wir die vielleicht platt."

"Das wäre es wirklich", erwiderte Millie. "Nur dass bis dahin nicht noch wer auf unnatürliche Weise sterben darf."

__________

In einem verlassenen Haus bei Boston, Massachusetts, 30. April 2003, 15:30 Uhr Ortszeit,

Ja, sie hatte schon viel Wert darauf gelegt, für sich alleine zu bleiben und trotzdem in der Nähe wichtiger Verkehrswege zu wohnen. Nur dass ihre Mitschwestern nicht wussten, was aus ihr geworden war, seitdem sie im Auftrag der höchsten Schwester ein uraltes Artefakt hatte beschaffen sollen und dabei von dessen selbsternannten Hütern gefangengenommen wurde. Seit vier Jahren stand dieses Haus auf einem grünen Hügel. Sein kleiner Vorgarten und die rückwärtig angelegte, von Hecken umfriedete Rasenfläche, waren mit allerlei Wildkraut überwuchert. Hier hatte bis vor vier Jahren noch die Mitschwester Tyche Lennox gewohnt. Doch seitdem Anthelia in Befolggung der letzten Bitte Tyches bei ihren Eltern und Anverwandten alle Spuren ihres Lebens und alle Erinnerungen getilgt hatte, wusste niemand außer Anthelia, wo Tyche einmal gewohnt hatte.

Für die Außenwelt unbemerkt hatte Anthelia/Naaneavargia vor drei Tagen damit begonnen, das Haus als neues Hauptquartier des Spinnenordens einzurichten. Kleinere Schäden in Wänden, Decken und dem Kellerboden hatte sie mit ihren Kenntnissen der Erdmagie nahtlos repariert. Während der hellen Stunden hatte sie darüber hinaus die Lieder von der Ehe zwischen dem großen Vater Himmelsfeuer und der großen Mutter Erde gesungen und dabei Dach, Decken, Wände und Böden mit ihrem silbergrauen Zauberstab bestrichen. Dadurch wurden alle tragenden Bestandteile des Hauses unangreifbar für Erdbeben, Feuer und Blitzschlag. Da Naaneavargia in ihrem ersten Leben auch einige Schutzzauber der Luft erlernt hatte konnte die Verschmelzung zwischen ihr und Anthelia zusätzlich zu Anthelia bekannten Windelementarzaubern auch Bannzauber gegen heftige Stürme einwirken. Zwar kamen die an der Ostküste der vereinigten Staaten gefürchteten Hurrikans selten bis rauf nach Boston. Dafür konnten der Stadt in Massachusetts allerdings jeden Winter heftige Schneestürme, Blizzard genannt, übel zusetzen.

Um das Haus von Tyche Lennox endgültig als das neue Haupquartier der schwarzen Spinne zu eröffnen und hoffentlich länger zu halten als die Daggers-Villa hatte Anthelia/Naaneavargia Unspürsteine um das Haus ausgelegt, die jede hier gewirkte Magie verheimlichten und darüber hinaus noch einen Tarnzauber über dem Haus aufgespannt, der alle, die weiter als zehn Meter davon entfernt waren, einen naturbelassenen Hügel sehen ließen. Sowas ähnliches hatte Sardonia noch vor ihrer magischen Kuppel über Millemerveilles errichtet. Sicher hätte sie den Fidelius-Zauber anwenden können, um das Haus und seine Bedeutung geheimzuhalten. Doch sie wollte es diesmal anders angehen. Vor allem wollte sie dafür sorgen, dass nicht noch einmal jemand dazu genötigt sein konnte, das Haus zu verraten, so wie sie selbst, als sie eine Zeit lang in Lady Daianiras Gebärmutter eingeschlossen war und nicht darauf hoffen konnte, ohne eine schmerzvolle Wiedergeburt und eine demütigende zweite Kindheit an die Macht zurückzukehren.

Hier im nordwesten von Boston war es noch heller Nachmittag. In Europa feierten die Hexen bereits in die Walpurgisnacht hinein. Welch einen besseren Anlass konnte es geben, um Tyche Lennox verlassenes Haus zum neuen Wohn- und Hauptquartier der schwarzen Spinne einzuweihen. Dafür hatte Anthelia alle Schwestern eingeladen, die gerade nicht von Freunden oder Angehörigen vermisst wurden. Als eine der ersten hatte sich Albertrude Steinbeißer bei ihr eingefunden. seitdem Albertine das Erbe ihrer Vorfahrin aufgeladen bekommen hatte und mit der magisch in der Welt gehaltenen Seele Gertrudes verschmolzen war, sah diese sich als Anthelia ebenbürtig und pflegte mit ihr ein Zweckbündnis auf gleicher Augenhöhe. Doch davon sollten und durften die anderen Schwestern nichts wissen. Immerhin konnte Anthelia/Naaneavargia auf diese Weise noch Kontakt zu Louisette Richelieu halten, die sie selbst noch mehr als zwei Jahre lang nicht persönlich treffen durfte, um den fragilen Pakt mit den orientalischen Hexen, die sich Töchter des grünen Mondes nannten, nicht zu gefährden.

Nach und nach waren die anderen einbestellten Mitschwestern erschinen. Weil das Haus ja für außenstehende getarnt war konnten sie ruhig bei nicht geschlossenen Fensterläden zusammentreten. Sie versammelten sich im 50 Quadratmeter großen Wohnzimmer, aus dem Anthelia alle elektrischen und sonstigen Dinge der Magielosen Welt ausgeräumt und in ihre Ausgangsstoffe zurückgeführt hatte, um mit den Metallanteilen neue Dinge zu erschaffen.

Die höchste Schwester trug zur Feier des Tages ein schwarzes, hautenges Kurzkleid mit vergoldeten Säumen und feuerrote Halbstiefel. Sie hatte einen hochlehnigen Polsterstuhl auf zweifache Größe anschwellen lassen und trhonte nun darauf wie eine Königin. Von dieser Warte aus wandte sie sich allen auf Wohnzimmer-, Küchen- und Gartenstühlen sitzenden Mitschwestern zu.

"Ich begrüße euch, die ihr meine treuen Mitschwestern seid, an diesem denkwürdigen Ort und zu dieser denkwürdigen Zeit, um dieses lange Zeit vergessene Haus zu unserem neuen Versammlungsraum-, Zufluchts- und Besprechungsort zu weihen. Hier wohnte einmal unser aller treue Mitschwester Tyche Lennox, bis sie für uns alle ein wertvolles und machtvolles Artefakt beschaffen sollte und dabei für alle Zeiten aus unserer Welt verschwand. Viele, die ich hierher einlud, reisten mit Portschlüsseln an, da es nicht schnell genug ging, euch nacheinander die genaue Lage dieses Hauses zu verraten. Doch in Zukunft wird jede, die ich mit diesem Haus und unserer Schwesternschaft vertraut gemacht habe, ein Ausrichtungsartefakt bei sich haben, das ihr und nur ihr hilft, zielgenau nach möglichst wenigen Sprüngen in der von euch besuchten Empfangshalle zu apparieren. Zudem werde ich heute mit euch das Haus ausschließlich für Hexen betretbar machen, die durch ein wenig ihres Blutes mit meinen Schutzzaubern verbunden sind. Ich habe jedoch die Ausnahme eingeräumt, dass jemand, der in unmittelbarem Körperkontakt mit einer von uns hier ankommt, erst dann von dem Haus abgewiesen werden soll, wenn er oder sie feindliche Handlungen gegen die ihn hier abliefernde oder eine andere dem Haus verbundene versucht. Ihr könnt also weiterhin auf Nachwuchs ausgehen, wie es Schwester Beth derzeit tut, wenn auch wie wir wissen höchst unfreiwillig." Sie sah die mit Zwillingen schwangere Beth McGuire an, die verdrossen zurückblickte, aber kein Wort sprach. "Damit ihr wisst, wo wir hier sind: Das Haus steht in der Nähe der Stadt Boston an der Atlantikküste des nordamerikanischen Kontinentes. Über die geschichtliche und gegenwärtige Bedeutung der Stadt wissen jene, die in diesem Staatenbündnis aufwuchsen sicher genug, um es hier nicht weiter auszuführen. Ich sage auch ganz klar, dass mir selbst die geschichtliche und gegenwärtige Bedeutung Bostons völlig gleich ist. Ich erwähne die Stadt nur, weil wir alle wissen sollten, wo die nächste größere Ansiedlung der Magieunfähigen ist und welche Sektion des US-Zaubereiministeriums meinen könnte, für uns zuständig zu sein. Jedenfalls sind wir jetzt weit genug von New Orleans oder anderen Zentren praktizierter Magie entfernt.

So werde ich euch nun alle mit dem Haus, dass ich in Angedenken an die von uns fortgerissene Mitschwester Tyches Refugium nennen möchte, vertraut machen. kommen wir nun zur feierlichen Bindung, durch das Blut der Töchter der Erde und der großen Mutter Erde selbst. Keine Angst, ihr müsst nicht dem Tod oder einer langen Schwächezeit ins Auge blicken. Es reichen mir von jeder von euch gerade so viele Blutstropfen, um ihren Namen in die Grundmauern einzuschreiben."

Alle hier sitzenden Hexen sahen ihre Anführerin mit gewissem Unbehagen an. Doch sie willigten am Ende ein, dieser ihnen fremden und wohl doch überaus mächtigen Zeremonie beizuwohnen.

Um das Ritual zu vollziehen führte Anthelia alle ihre Schwestern in den Keller des Hauses. Merkwürdigerweise gab es hier nur den einen großen Raum, dessen knapp drei Meter hohe Decke durch in der Mitte aufgereihte Säulen abgestützt wurde. Alles in allem maß der Raum an die 200 Quadratmeter. Auf halber Raumhöhe waren an Wänden und jeder Säule Fackelhalter mit je zwei lodernden Fackeln darin befestigt. Sonst gab es nichts in diesem großen Kellerraum. Kein Schrank, kein Regal, kein Tisch standen hier. Albertrude nutzte ihre Magishen Augen, um die Wände zu durchdringen. Dabei erkannte sie drei Dinge. In den Wänden wirkte eine sehr starke Zauberkraft, die ein Durchblicken beschwerte. In den Wänden verliefen keine Strom-, Gas oder Wasserleitungen. Sie sah auch keinen Hohlraum, dass hier mal solche Leitungen verlegt gewesen waren. Dieses Haus war völlig von magieloser technik befreit.

"Ich werde nun in der Reihenfolge der mir am längsten verbundenen Schwestern und nach ihren Wohnorten in Sonnenlaufrichtung eure Namen aufrufen, um euch das wenige Blut für die magische Verbindung mit dem Haus abzunehmen. Schwester Izanami, komm bitte zu mir!"

Die japanische Bundesschwester trat entschlossen vor und hielt ihre Zauberstabhand über einen Pinsel, den Anthelia in der linken Hand hielt. Mit der rechten Hand führte sie ein Messer mit goldener Klinge, Damit brachte sie der ostasiatischen Mitschwester mit zwei schnellen Schnitten eine X-förmige Schnittwunde bei. Sofort lief Blut auf den Pinsel. Als dieser völlig rot gefärbt war trat Anthelia mit dem Pinsel und dem Messer an die östliche Wand und ritzte mit der Messerspitze den Namen Izanami Kanisaga ein. Dann bestrich sie mit dem blutigen Pinsel die feine Gravur und sagte: "Durch deinen Namen sei verbunden, mit diesem Haus in allen Stunden, Schwester Izanami!" Ein ganz schwaches Beben ging durch den Boden, und Izanamis Name leuchtete blutrot auf. Dann schloss sich die Wand wieder. Doch die blutige Schrift leuchtete noch einige Sekunden. dann verschwand sie ebenfalls. Izanami zuckte zusammen. Dann sah sie auf ihre Hand. Die Schnittwunde war restlos verheilt. Auch war kein Blutstropfen auf ihrer Handfläche zu sehen, ebensowenig wie auf dem Boden.

So vollzog Anthelia/Naaneavargia dieses allen hier neue Bindungsritual, wobei sie wie die Sonne von Osten nach Süden, Westen bis Norden abschritt. An die dreißig Namen leuchteten blutrot an den Wänden und wurden darin eingesaugt. Dabei verheilten die Schnitte in den Händen der Hexen. Wo das während des Aufmalens auf den Boden getropfte Blut abgeblieben war wusste außer Anthelia auch keine. Albertrude konnte sich nur vorstellen, dass das Haus es mit dem Namenszug zusammen in seine Grundmauern eingesaugt hatte.

Als alle anwesenden Hexen dem Ritual unterzogen waren wechselte das bisher orangerote Flackerlicht der Fackeln in ein nur halbhelles, smaragdgrünes licht. Anthelia trat zur mittleren der sieben Säulen und stellte sich nach einem kurzen drehen des Kopfes so, dass sie mit dem Gesicht von einer Seite her auf die Säule sah. Albertrude blickte kurz nach oben und erkannte, dass Anthelia sich gemäß dem Sonnenstand genau von osten Her der Säule zuwandte. Dann sprach sie leise Worte, die außer der scharfohrigen Linda Knowles wohl keiner verstanden hätte. Die Auswirkung ihrer Worte war ein neuerliches Zittern im Boden. Alle Hexen fühlten einen Hitzestoß durch ihren Körper jagen und merkten, wie sämtliche Haare zu Berge standen. Dann ließen Hitze und Erdbeben nach. Die hier versammelten Hexen entspannten sich wieder.

"So, meine treuen Mitschwestern. Damit ist die magische Bindung vollendet. Ihr hab jetzt unangefochtenen Zutritt zu diesem Haus. Jeder oder jede andere, der nicht an eurer Hand, in eurem Arm oder eurem warmem Schoß von euch gehalten oder getragen wird wird auf Grund des nicht vorgemerkten Blutes immer um das Haus herumgelenkt und beim Apparierversuch je nach gewähltem Ankunftsort fünfzig Schritte weit davon entfernt abgesetzt. Das Licht der Fackeln bezeichnet die Verbundenheit von Erde und Sonne zueinander. Grün sind die Pflanzen, die im Licht der Sonne aus der Erde wachsen. Ebenso ist Grün die vermittelnde Farbe zwischen dem Hellblau des Himmelsgewölbes und dem rot bis Braun des fruchtbaren oder auch des öden Erdbodens. Damit ist dieser Teil der heutigen Zusammenkunft abgeschlossen. Folgt mir bitte alle wieder in unseren neuen Versammlungsraum hinauf!" sagte Anthelia und schritt allen anderen voran.

Im neuen Versammlungsraum besprachen sie die Auswirkungen der dunklen Zauberkraftwelle, die Izanamis offizielle Kollegen als dunklen Tsunami oder Wutschrei der Unterweltgötter bezeichnet hatten. Auch in Japan war wie in den Ländern Europas und Amerikas das Flohnetz ausgefallen. Für die Ostasiaten hatte das aber keine so lähmenden Auswirkungen auf den magischen Alltag, da deren Magier bereits vor Jahrhunderten andere Reisemöglichkeiten ersonnen hatten und auch in der Errichtung von Teleportalen, die sie als "Brückenpfeiler des Himmels" bezeichneten, eingerichtet hatten, um zwischen den verschiedenen Inseln oder auch innerhalb der magischen Bezirke von Tokio zeitlos den Standort zu wechseln. Außerdem konnten die meisten dort lebenden Hexen und Zauberer apparieren oder auf westlichen Besen oder ostasiatischen Drachensesseln fliegen.

Was besorgniserregender als der zeitweilige Ausfall des Flohnetzes war, das waren die überall in der Welt aufgetauchten verfluchten Objekte oder die wie bei der Daggers-Villa verstärkten ortsgebundenen Flüche. Die südamerikanischen Mitschwestern wussten zu berichten, dass die Schamamen und Magier der indigenen Völker fürchteten, dass die dunklen Götter und ihre Dämonen einen Weckruf erhalten oder selbst einander zugerufen hatten, nun die Welt heimzusuchen. Dort wo tyrannische Medizinleute ihre blutigen Opferriten abgehalten hattensei es bereits zu finsteren Verstofflichungen scheinbar dauerhaft schlafender Geisterwesen gekommen, die danach gierten, genug Kraft zu gewinnen, sich aus den magischen Fesseln ihres Sterbeortes zu lösen, um frei in der Welt umherrzureisen. Anthelia nickte. Sie wusste, dass die animistischen Magier Afrikas, der Nordpolregion und Südamerikas schon mächtige Bann- und Vergeltungszauber kannten und ihre Seele an einen bestimmten Gegenstand oder Ort binden konnten. Anthelia erwähnte mit Albertrudes Unterstützung, was Louisette aus Frankreich berichtet hatte. Das Zaubererdorf Millemerveilles, das seit Sardonias dunklem Jahrhundert unter einer feindselige Magier und alle nicht mit einem Willkommenstrank begrüßten Muggel abwies, stand nun unter einer den Himmel verdunkelnden Kuppel, die keinen Menschen und auch keine mit ausreichend großer Magie erfüllten Wesen mehr herein oder hinausließ. Nur wenige konnten für die Stunden, an denen die Sonne auf das Dorf schien, die Kuppel durchbrechen. Anthelia erwähnte, dass dabei herausgekommen war, dass die Gartenbauhexe Camille Dusoleil eine von Ashtarias Töchtern sein müsse, die von ihrer verstorbenen Mutter das Erbe ihrer weiblichen Vorfahren erhalten habe und daher für wenige Sekunden eine schützende Aura um sich errichten konnte, um durch schwarzmagische Barrieren zu gelangen. Anthelia führte bei der Gelegenheit an, dass ja auch die ohne eigene Magie lebende Polizistin Maria Valdez eine Tochter Ashtarias sein mochte. Albertrude ergänzte, dass sie auch Herribert Frohwein als offenkundigen Sohn Ashtarias erkannt hatte, als dieser Pickmans Bilderspuk in Hamburg und München beendet hatte. "Tja, damit wissen wir Schwestern zumindest von dreien dieser für uns nicht gerade unwichtigen Erbengemeinschaft", stellte Anthelia nach dieser Auflistung klar.

"Und außer diesen Kindern Ashtarias kommt da keiner mehr durch die Kuppel?" fragte Beth McGuire. Anthelia und Albertrude wiegten ihre Köpfe. Dann sagte Anthelia: "Sardonia hat Jahre Zeit gehabt, ihren unsichtbaren Dom über Millemerveilles zu errichten und dauerhaft zu stärken. Dass die Kraft, die Izanami als dunklen Tsunami bezeichnet hat, diese eher der Dunkelheit und dem Tod zugewandten Kräfte der Kuppel verstärkt hat bedeutet für die Leute dort, dass sie nur darauf hoffen können, dass sie genug Lebensfreude bewahren, um bald möglichst weitere neue Leben in ihrem Ort entstehen zu lassen, sowie dass die Kraft der Sonne reicht, um die verdunkelnden Kräfte aus der Kuppel auszubrennen. Das wird aber nur zutreffen, wenn außer den zwei Menschen, die in der Nacht der dunklen Welle ihr Leben in der magischen Kuppel verloren, nicht noch mehr Menschen sterben, ja womöglich durch die Kraft der Kuppel selbst getötet werden und ihr damit ihre Lebensenergie übertragen."

"Öhm, will heißen, die sollen möglichst bald neue Kinder in die Welt setzen, höchste Schwester?" fragte Schwester Alicia aus Südamerika. Anthelia nickte und bestätigte das. "Ja, oder sie schaffen es, junge Hexen und Zauberer in ihr Dorf hineinzuholen, die noch unberührt sind und die dort ihre erste wilde Leidenschaft erleben", fügte die höchste Schwester mit einem begierigen Blick in den grünblauen Augen hinzu.

"Tja, wäre was für Vita Magica, nicht wahr", meinte Schwester Marga und sah dabei Beth McGuire an.

"Die feiern sicher auch bei euch noch mal was, wo du dir gleich zwei oder drei Bauchturner einfangen kannst, Marga. Wundere mich eh, dass bei eurem Karneval nicht schon so viele Hexen rund wurden", grummelte Beth McGuire."

"Gut, dass ich das jetzt weiß, warum ich dieser terminbezogenen Sauf- und Rammelorgie nicht zustimme", grummelte Marga Eisenhut. Albertrude trötete mit zum trichter geformten Händen vor dem Mund den üblichen Karnevalstusch. Marga warf der dünnen Mitschwester einen verärgerten Blick zu. Doch das brachte nichts.

"Vita Magica ist ein sehr gutes Stichwort, meine Schwestern. Wir müssen davon ausgehen, dass diese Fortpflanzungserzwinger genug Agenten und Helfershelfer in allen offiziellen magischen Institutionen oder Produktionsstätten haben. Immerhin haben sie ihre Werwolfabtötungsmission fast ohne Verlust eines ihrer Mondlichtumwandler durchgeführt und werden sicher beim nächsten Vollmond erneut nach unregistrierten Lykanthropen jagen. Außerdem ist es offiziell, dass Vita Magica hinter der Manipulation an Zaubereiminister Chroesus Dime steckt und sicher auch mit dem Verschwinden von Silvester Partridge zu tun hat, welcher diese Manipulation beenden wollte. Ich unterstelle sogar, dass Dimes Tochter Eartha diesen Leuten angehört, zumindest aber mit ihnen sympathisiert. Denn wir alle wissen, dass wir sie nicht in Gewahrsam genommen haben. Da wir alle davon ausgehen müssen, dass Vita Magica sich dessen bewusst ist, welche Provokation das ist, uns das Verschwinden Earthas anzuhängen gilt es, dass wir diese Agenten und Helfershelfer aufspüren und handlungsunfähig machen müssen. Das heißt auch, dass wir endlich wieder genug Verbindungen in die verschiedenen Zaubereiministerien bekommen müssen, Schwestern. Deutschland, Japan und Italien sind zwar gut erschlossen, aber Frankreich hat gerade eine treue Mitschwester von uns im Ministerium, und in diesem Staatengefüge Nordamerikas hatten wir mal einen Zaubereiminister unter unseren Einfluss. Das sollten wir wieder erreichen und bei der Gelegenheit Vita Magicas Agenten ausschalten, wobei wir sie nicht töten müssen. Die wollen viele magische Säuglinge? Dann sei es deren Schicksal, selbst als solche wieder aufwachsen zu müssen, die Zauberer bei den Magieunfähigen und die Hexen bei uns, natürlich ohne Erinnerungen an ihr früheres Leben", entschied Anthelia und erkannte, dass sie da vielen aus der Seele sprach, vor allem Beth McGuire, die von den Aktionen dieser Gruppe direkt betroffen war.

"Öhm, heißt das, wir sollen diese Babyfizierten VM-Schwestern als unsere Ziehkinder großpeppeln, also erst an uns nuckeln lassen und dann hinkriegen, dass sie unsere Ansichten haben?" fragte Marga Eisenhut und sah Albertrude alias Albertine Steinbeißer verwegen an. Anthelia erkannte, worauf diese Frage abzielen sollte und sagte sofort:

"Ja, jede von uns sollte bereit sein, mindestens zwei Rückverjüngte pro Jahr aufzunehmen. Wenn ich weiß, ob mein neuer Körper den Nutrilactus-Trank verträgt und/oder dieser mich ungiftige, sowie nahrhafte Milch ausbilden lässt, werde ich selbst mindestens eine Wiederverjüngte pro Jahr als Amme umsorgen." Die anderen sahen ihre Anführerin verdutzt an. Dass die sich selbst zu diesem sehr großen Schritt bereiterklärte hatten sie nicht erwartet. Nur die wenigsten wussten, dass bei der veränderten Anführerin kein Zaubertrank wirkte, ob Vielsaft-Trank, Wachhhaltetrank oder Felix Felicis, somit wohl auch nicht der Nutrilactus-Trank, der Hexen zu hervorragenden Stillmüttern machte. Diese wagten aber nicht, Anthelia deshalb Heuchelei oder Verlogenheit vorzuwerfen.

"Da wir ja erfahren haben, dass es in verschiedenen Ländern zu einem massenhaften Aufkommen verfluchter Dinge oder der Verstärkung verfluchter Orte oder Geschöpfe kam ist zu befürchten, dass auch unsere größten Feindesgruppen, also die Töchter der Lahilliota, die Vampirvereinigung um die sogenannte schlafende Göttin und die von diesem Narren Wallenkron erzeugte Nachtschattenriesin und ihre Brut eine Verstärkung der eigenen Kräfte stattgefunden hat. Ja, ich behaupte, dass dieser weltweite Weckruf dunkler Kräfte auch die noch tief schlafenden Abgrundstöchter aufwecken wird, ohne dass ein mit ungeweckter Zauberkraft begüteter Mann in ihre Nähe gelangen muss. Also werden diese auch wesentlich stärker auftreten, was in einer Welt, die der Magie nur noch den Rang von Phantassiegeschichten, Mythen und Märchen zubilligt, eine Menge weiterer Opfer bedeuten wird.. Was die Diener dieser schlafenden Göttin angeht, so kann es sein, dass diese auch mehr Magie wirken können und wie deren Hohepriesterin den Gebrauch von Zauberstäben und damit auch den eigenständigen zeitlosen Ortswechsel erlernen können. Ich fürchte jedoch eher, dass aus der bisher schlafenden, nur in den Gedanken ihrer Diener wirkende Göttin, zu einer wachen Göttin wird, sobald es ihr möglich ist, durch ihre Diener zu wirken. Deshalb gilt im Bezug auf die Diner dieser Blutgötzin, genau wie bei den Nachtschatten und auch bei unregistrierten Werwölfen: Wer einen sieht darf ihn oder sie ohne Vorwarnung töten beziehungsweise auslöschen. Das dürft ihr als Generalbefehl von mir auffassen und deshalb auch jederzeit und jedenorts ausführen."

"Ich habe euch doch von den Menschen erzählt, die von diesen Nachtschatten ihrer natürlichen Schatten beraubt wurden. Die sind nicht nur sonnenempfindlich wie Vampire, sondern auch hochexplosiv, werte Schwestern", warf Albertrude ein, als sie auf ihren fragenden Blick Sprecherlaubnis bekam. Sie durfte dann noch einmal erläutern, was die deutschen Lichtwachen erfahren mussten. Anthelia wartete, ob jemand anderes dazu noch was sagen wollte. Weil das nicht der Fall war erwähnte sie, dass sie weitere Dunkelheitsverdichtersteine erschaffen wollte, da diese sich als Wirksame Abwehr der Nachtschatten erwiesen hatten.

"Kriegt dann jede von uns einen dieser Ringe, mit denen du diese Muggel versorgt hast, höchste Schwester?" wollte Schwester Portia wissen. Anthelia bestätigte das. Dann kam sie auf den letzten ihr wichtigen Tagesordnungspunkt.

"Euch ist sicher allen bekannt, dass eine alte Rivalin Sardonias aus mehrhundertjährigem Schlafbann wieder aufgeweckt wurde und wohl meint, uns konkurrenz machen zu müssen. Um das gleich klarzustellen: Ich begrüße jede Form von kongenialer Schwesternschaft, die bereit ist, mit uns den Weg zur Vorherrscaft aller Hexen über die Menschheit zu gehen. Ich muss nur nach allem, was ich über diese ehemalige Rivalin Sardonias weiß anmerken, dass sie wohl auch von ihrer Abstammung her sehr eigensinnig, selbstverliebt und hitzig ist. Sie mag im Moment noch erkunden, wie die heutige Welt aussieht. Doch weil sie bereits genug Wissen der Magielosen in sich aufnehmen konnte kann es auch sein, dass ... Ja, bitte, Schwester Donnatella?" Sie sah eine kleine, untersetzte Hexe mit schwarzen Ringellöckchen an. Diese blickte mit ihren walnussbraunen Augen in die Runde und sagte dann: "Es ist wohl amtlich, dass Ladonna Montefiori, die von dir erwähnte Feindin Sardonias, bereits massiv in den Lauf der Welt eingreift, indem sie Familien der sizilianischen Cosa Nostra gegeneinander ausspielt oder gar für sich einspannt und bei der Gelegenheit alle italienischen Zauberkraftspürsteine mit einem einzigen Feuerzauber zerstört hat. Ich weiß auch, dass in der Nacht zum 26. April unserer Zeit ein ebensolcher Zauber alle für Griechenland eingerichteten Steine zerstört hat und dessen Quelle auf der Insel Kreta zu finden war."

"Liebe Schwester Donnatella, wieso erfahre ich das erst hier und heute?" fragte Anthelia mit einer unüberhörbaren Verärgerung. Die italienische Mitschwester schien unter den sie treffenden Worten regelrecht einzuschrumpfen. Jedenfalls fühlte sie sich wohl gerade wie mit dem Kopf unter einem Fallbeil, dessen Auslösehebel Anthelia in der Hand hielt. Sie schwieg einige Sekunden. Dann wimmerte sie: "Weil ich das auch erst gestern mitbekam, Souora Altissima. Ich komme nur dann an den Archivar der Brigada di Luce heran, wenn er bei meiner Schwester übernachtet. Das passiert nur einmal in zwei Wochen, Suora Altissima."

"Aber du hast es schon gestern erfahren, Schwester Donnatella", fauchte Anthelia. "Wozu haben wir genug Mentiloquistinnen auf dem Weg zwischen Asien und Amerika postiert, um solche Nachrichten schnellstmöglich weiterzugeben?"

"Ich musste sicher sein, dass dieser Rinaldo mir keine Falschen Nachrichten aufgetischt hat, ich meine, falsche Nachrichten zugespielt bekommen hat, um zu sehen, wer sie erhält und damit was anfängt", brachte Donatella heraus.

"Trotzdem hättest du mir diese Nachricht zukommen lassen können. Womöglich hätte ich diesen Burschen dann dazu bekommen, noch regelmäßiger zu übermitteln, was eure Lichtbrigade so erlebt und mit wem sie so zu tun hat. Das ist ja auch für uns sehr wichtig, Schwester Donnatella", zischte Anthelia. Donnatella rechnete damit, jetzt bestraft zu werden. Da sagte Anthelia: "Früher hätte ich dich wohl für diese Nachlässigkeit mit dem Folterfluch gezüchtigt, Schwester Donnatella. Aber ich habe da eine Bessere Idee: Deine Schwester ist keine von uns, richtig?" Donnatella nickte. "Gut, dann wirst du eben sie und diesen Rinaldo noch enger an dich binden als sie es getan hat, nicht mit Catena-Sanguinis, aber mit anderen Hexenzaubern, die ich dir beibringen werde."

"Ja, aber meine Schwester wird sich wehren", sagte Donnatella. Anthelia zuckte nur mit den Schultern. "Sowie Argentea Dime?" warf sie in den Raum. Alle hier begriffen, wie Anthelia das meinte. Donnatella sackte zusammen. "Setz dich gütigst aufrecht hin, Schwester!" blaffte Anthelia. "Ich habe das soeben beschlossen, und du solltest froh sein, dass ich keine Hexe töte, die ich für wichtig genug halte, unserer Sache zu nützen. Richte es ein, dass du ab übermorgen eine mehrwöchige Auslandsreise machst. Soweit ich weiß schreibst du ja als freie Journalistin für diese Hexenzeitung Corriere delle strege. Da kannst du sogar eine Recherchereise draus machen. Du reist ab, meldest dich vom Reiseziel, damit alle wissen, dass du da bist. Danach wirst du von mir die nötigen Mittel erhalten, die Rolle deiner Schwester Lucibella zu übernehmen, ohne aufzufallen." Donnatella überlegte wohl, ob sie dagegen aufbegehren konnte. Doch dann nickte sie und setzte sich aufrecht hin, um der weiteren Besprechung zu folgen.

"Diese Ladonna, werte Mitschwestern, wird wohl wieder eine eigene Sororität begründen, womöglich wieder unter dem Namen Schwestern der Feuerrose", warf Albertrude ein, als Anthelia ihr das Wort erteilte. "Sie könnte auf die Idee kommen, die weiblichen Nachkommen der Hexen anzuschreiben, die damals bei ihr mitgemacht haben. Wissen wir, wer da zu gehörte, Donnatella?"

"Rinaldo wweiß das noch nicht, Schwester Albertine", antwortete Donnatella auf Anthelias Nicken hin. "Gut, dann wäre es vielleicht erst mal ganz gut, wenn wer das rausfindet und uns dann irgendwie weitergibt. Aber das mit den gezielten Falschmeldungen könnte stimmen, höchste Schwester. Minister Güldenberg hat das über seine Leute auch schon ausprobiert um zu testen, wo was ankommt und wer der entsprechende Maulwurf oder die Maulwürfin war. Intoxikation heißt diese Taktik bei den Lichtwächtern, eine Methode der psychologischen Kriegsführung."

"Ich erkenne an, dass diese Gefahr besteht, Schwestern. Aber genau deshalb hätte ich wohl schneller ergründen können, ob das mit Italien und Griechenland eine solche Gedankenvergiftung war, Schwester Albertine", erwiderte Anthelia. Dann sagte sie: "Womöglich hängt der Vorfall auf Kreta unmittelbar mit dem Aufwallen der dunklen Kräfte zusammen, wenn ich auch noch nicht durchdringe, wie genau. Dann bliebe die Frage, ob Ladonna den dunklen Tsunami, das große Erwachen dunkler Dinge und Wesen, absichtlich herbeigeführt hat oder die dunkle Welle eine Reaktion auf ihre eigentlich beabsichtigte Tat war, eine Art Gegenstoß, der womöglich sogar über das Ziel hinausgeschossen ist. Wie erwähnt, frühzeitige Kenntnis von solchen Dingen bringt uns klare Vorteile, meine Schwestern. Und damit wir frühzeitig über alles erfahren, was durch diese dunkle Welle ausgelöst wurde möchte ich hiermit die Besprechung beenden. Ich danke euch für euer Erscheinen und eure Mithilfe bei der Einrichtung dieses unseres neuen Versammlungs- und Rückzugsortes."

Anthelia gab jeder ihrer Mitschwestern noch einen kleinen weißen Stein, den sich jede an den Kopf drücken sollte. Als das passierte flimmerte um jede von ihnen eine bläuliche Aura, die fünf Sekunden bestand. Dann saßen sie wieder so da wie eben. "Dieser Zielkennungszauber, den ich in jeden Stein eingearbeitet habe, ist nun in jeder von euch. Wenn ihr hierher wollt, braucht ihr nur an dieses Haus zu denken und wisst, wie weit und wohin ihr apparieren müsst, egal wo auf der großen Welt ihr gerade herumlauft", sagte Anthelia. "Auch könnt ihr nun, wo das Haus euch alle kennt, gefahrlos von hier disapparieren." Die Hexenschwestern zögerten nicht lange und disapparierten. Nur Albertrude blieb zunächst hier.

"Du wolltest mir noch was über diese Dame in Schwarz erzählen, Schwester Albertrude?" fragte Anthelia, die andere nun mit ihrem neuen, wahren Namen ansprechend.

"Ladonna war schon zur Zeit meines ersten Lebens eine Legende. Die Taten der Sororitas Rosae Ignis hat auch die Hexen nördlich der Alpen und östlich des Rheines beeindruckt. Sie wird jetzt, wo sie wieder wach ist, ihre angebliche Königinnenwürde zurückfordern, die ihr Sardonia streitig gemacht hat. Du hast eben was von ihrer Abstammung gesagt. Also weißt du, dass sie mindestens von einer Veela abstammt?" Anthelia nickte. "Dann weißt du sicher, wie selbstherrlich, ja selbstverliebt die reinrassigen Angehörigen dieser Zauberwesenart sind und dass deren Fixierung auf ihre Anmut und ihre Schönheit sich zumindest bei den gemischtrassigen Töchtern und Enkeltöchtern äußert?"

"Schwester, ich habe Ladonnas lebende Veelaverwandte schon getroffen und weiß, was ich von dieser und von Ladonna zu halten habe. Aber sehr aufmerksam, mir mitzuteilen, was du von ihr weißt. Und ja, sie wird gezielt nach Erbinnen Sardonias suchen, um sie auf ihre Seite zu ziehen oder zu töten, und somit sind wir beiden hübschen genauso ihre Todfeindinnen. Es sei denn, du möchtest unter einer veelastämmigen Königin leben", raunte Anthelia verdrossen. "Früher hätte ich gesagt, dass ich mich unter Königinnen sehr gut machen würde. Aber ich weiß, was du meinst, Schwester Anthelia. Nein, ich lege keinen Wert darauf, die Stiefelsohlen dieser Mischblüterin zu lecken oder mich von diesen Schusohlen wie ein Kakerlak zertreten zu lassen. Ich hoffe zumindest, dass meine vereinte PTR groß genug ist, dass sie mich nicht in ein derartiges Ungezifer verwandeln kann", antwortete Albertrude.

"Du weißt, was ihre Veela-Abstammung noch bedeutet, Schwester Albertrude?" wollte Anthelia wissen.

"Ja, dass wir sie nur in einen neuen Tiefschlaf zwingen dürfen, aber nicht zulassen, dass sie unseretwegen stirbt", erwiderte Albertrude. Anthelia nickte bestätigend.

"Möchtest du mir noch mehr erzählen, was die anderen nicht mitbekommen sollten?" fragte Anthelia. "Ja, ich habe eine Agentin von VM im deutschen Zaubereiministerium ausgemacht. Allerdings will ich sie noch nicht auffliegen lassen, bevor sie mir nicht diesen Fruchtbarkeitstrank verschafft hat, natürlich ohne zu wissen, dass ich weiß, dass sie eine Agentin ist", erwiderte Albertrude.

"Verstehe, du möchtest deine Aufgabe erfüllen, Schwester Albertrude und möchtest nicht lange um einem ausgewählten Kandidaten herumschawenzern. Wann glaubst du, dass du dieses Ziel erreicht haben wirst?" "Wenn ich weiß, dass von dem, den ich mir aussuche was Kleines in mir heranwächst, Schwester Anthelia."

"Gut, du hast die Erlaubnis, dir den Trank, den damit willig gestimmten Mann und dessen Nachwuchs zu erwerben. Aber dann nimmst du diese Agentin von Vita Magica aus der Welt! Vielleicht können wir es so hinstellen, dass diese Schattenriesin sie sich einverleibt hat", erwiderte Anthelia darauf. "Ja, aber sterben soll sie ja nicht, oder?" wollte Albertrude noch einmal wissen. "Nein, natürlich nicht. Ich bringe keine Hexen mehr um, wo es genug andere Möglichkeiten gibt, deren Feindschaft uns gegenüber zu beenden. Falls nicht noch was wichtiges ist darfst du dich jetzt auch gerne auf den Heimweg machen", sagte Anthelia. Albertrude sah Anthelia noch einmal an und sagte: "Ich weiß, dass diese Frau meinen Vater auf dem Gewissen hat, beziehungsweise, dass der jetzt wohl auch in einer Wiege irgendwo bei diesen Hexenbegattungsbanditen liegt. Vielleicht wäre es gut, ihn dann da wegzuholen, um den nicht zu sehr an deren Unfug zu gewöhnen. Mehr wollte ich nicht, Schwester Anthelia. Bis zum nächsten Mal!" Albertrude verzichtete auf die übliche kurze Verbeugung. Sie drehte sich nur auf dem Absatz und verschwand mit leisem Plopp im Nichts. Anthelia war jetzt ganz allein, diesmal ganz und gar. Sie hatte das neue Hauptquartier und damit ihre neue Heimstatt eingerichtet. Die ihr wichtigen Punkte waren besprochen, neue Anweisungen erteilt. Allerdings fragte sie sich, ob nicht eines nicht so fernen Tages die Entscheidung anstand, ob sie oder Ladonna die wahre Herrscherin der Hexen sein würde. Sollte Ladonna so einfältig sein, sie zu töten und sie deshalb als wütender Luftgeist wiedergeboren werden, dann würde sie Ladonna als erste töten und alle ihre Anverwandten. Aber wer würde dann die Herrin aller Hexen sein? Und würde sie dann als wütender Luftgeist diese Herrin gewähren lassen? Ja, und was würde aus Millemerveilles, wenn die verdunkelte Kuppel dort noch mehr Menschenleben forderte? Hattte Sardonia nicht zu Anthelia gesagt, dass mit dem Tod des letzten Bewohners in Millemerveilles die Kuppel auseinanderstreben und ihre Kraft über einen Großteil der Welt ausbreiten würde? War das damals nur eine leere Drohung Sardonias gewesen, oder hatte sie da schon eine gnadenlose Vergeltung geplant, wenn sie selbst nicht mehr leben würde? Sie würde gleich noch einmal das in der Dachkammer unter mehreren Tarnzaubern verborgene Denkarium Sardonias erkunden, um genau diese Fragen zu beantworten.

__________

In einem ehemaligen Luftschutzbunker in Mittelengland, die Nacht zum 1. Mai 2003

Nightjester und Tachypteros waren zwei Nachtsöhne, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Während der fflachsblonde, äußerlich Mitte zwanzig Jahre alte Vampir Nightjester einen Hang zu derben Streichen und verächtlich machendem Unfug besaß war sein aus dem früheren Konstantinopel stammender Artgenosse Tachypteros ein sehr ernsthafter, immer auf das gerade befohlene Ziel achtender Vampir mit kurzem, nachtschwarzem Haar. Beide wussten nicht, warum die große Mutter der Nacht ausgerechnet sie beide zusammengebracht hatte.

"Das ist eine echte Kirchenbank. Wozu haben du und dein Bruder sie hierher geschafft?" wollte Tachypteros wissen, als er die lange, wurmstichige Holzbank genauer betrachtet hatte.

"Mein Bruder und ich haben vor fünfzig Jahren sowas gehört, unsereins dürfte wegen der in ihnen fließenden Kraft der Hölle nicht einmal in die Nähe einer Kirche, geschweige denn hineingehen. Das haben Quicktooth und ich dann ausprobiert und sind ganz ohne Masken und Schminkzeug in die Kirche bei Birmingham rein, wo der Prediger und sein Dienstbote gerade noch was wegen der nächsten Predigt beredet haben. Tja, da haben wir denen unsere netten Beißerchen gezeigt und dann ganz lässig eine von den Bänken aus der Halterung herausgelöst und fröhlich pfeifend davongetragen. Der Pfaffe hat wohl bis zu seinem Tod geglaubt, wir wären nur eine Karnevalstruppe gewesen, weil ja echte Vampire nicht in sein Gotteshaus reinkommen können. O Mann, seitdem dieser Dracula-Roman erschienen ist meinen viele zu wissen, wie unsereins bekämpft werden kann. Da wollten wir das halt zeigen, dass das eben voll der Blödsinn ist, dass wir die irgendeinem Gott geweihten Räume nicht betreten können", erwiderte Nightjester in seinem lässigen Mittelengland-Dialekt. Tachypteros fragte sich einmal mehr, womit Leute wie dieser Nachtclown es verdient hatten, dass große Geister wie Shakespeare und Newton in ihrem Land gewirkt hatten. Er selbst war schon fünfhundert Jahre alt, sah äußerlich aber gerade wie Anfang vierzig aus. Er hatte die Uraufführungen von Shakespeares Dramen noch selbst mitverfolgt und sie gerne mit den Tragödien des alten Griechenlands verglichen.

"Tja, aber die Göttin hat dich aus tiefem Schlaf erwecken müssen, weil die Magier deiner Heimatinsel dich und deinen Bruder in die Enge getrieben haben und du du denen nur durch den langen Schlaf was vormachen konntest, während sie deinen Bruder Quicktooth in einem kurzen Kampf getötet haben."

"Das waren die Maskierten, die sich Todesser nannten. Ihr schlangenköpfiger Anführer hat denen befohlen, ihm Vampirblut zu beschaffen, weil er das für irgendwelche Versuche gebraucht hat. Und mein Bruder wurde nicht getötet, genausowenig wie ich. Denn ich konnte noch fühlen, wie er einem der maskierten Mordbuben in den Hals biss und sein verdorbenes Blut trank. Dadurch bekam er wohl einen kräftigen Schluck Zauberkraft und hat das genutzt, um ohne einen Zauberstab zu verschwinden. Er lebt noch, aber schläft wohl noch."

"Da hat unsere Herrin und Göttin was anderes ... O, ich spüre was", erwiderte Tachypteros. Auch Nightjester fühlte, dass sie nicht mehr Alleine waren. Vor ihnen schien jemand in den Raum einzutreten. Dann sahen sie blutrote Funken, die zunächst zu einer fast bis zur Decke aufragenden Säule wurden. Aus dieser Säule entstand übergangslos eine riesenhafte nackte Frau mit leicht vorgetriebenem Unterbauch. Die zwei Vampirbrüder kannten die Erscheinung. Sie waren schon mehrfach an ihr vorbeigerast, wenn sie durch den Schattenstrudel gezogen und geschleudert wurden, den die schlafende Göttin erzeugen konnte. Ja, die Frau da vor ihnen sah aus wie sie, ihrer beider Herrin.

"Könnt ihr zwei mich sehen?" fragte die mehr als zwei Meter große Frau mit der Stimme, die sie auch von Gooriaimiria kannten. Beide bejahten es und damit auch, dass sie sie hören konnten. "Gut, so kann ich auch bei nur zwei Nachtsöhnen erscheinen, die mir dienen. Oh, das ist also die geklaute Kirchenbank, von der du mir mal erzählt hast, mein frecher kleiner Geck?" fragte sie Nightjester. Dieser nickte. Da bückte sich die blutrot leuchtende Erscheinung vor, griff mit beiden Händen unter die Bank und drückte sie behutsam nach oben. Die zwei darauf sitzenden Vampire erstarrten vor Schreck oder Ehrfurcht, als die Erscheinung sie mit der Bank bald einen Meter nach oben drückte, sie für fünf Sekunden so hielt und dann wieder absenkte. "Ah, die Kraft reicht bei zweien von euch auch aus", grinste die blutrote Frauengestalt. Nightjester, der ihrem rechten Arm am nächsten gesessen hatte, fühlte, dass sein Körper wie in eiskaltem Wasser erstarrte. Dieses Wesen schien ihm Wärme zu entziehen. Dabei konnten Vampire keine Kälte mehr empfinden. Doch hier fühlte Nightjester sie.

"Gut, dann geht es eben auch, wo zwei von euch zusammen sitzen. Somit verkünde ich euch, meinen Dienern, dass ich, Gooriaimiria, die große Mutter der Nacht, aus dem mir aufgezwungenen Schlaf der Handlungsunfähigkeit erwacht bin. Ich bin nun die wache Göttin der Nacht. Merkt euch dies! Schon bald werde ich denen, die meine Boten in der Welt sind, meine weiteren Absichten verkünden. Ihr zwei, so unterschiedlich ihr seid, so wichtig wart ihr mir, um zu zeigen, dass ich auch bei euch erscheinen kann. Genießt den Rest der Nacht! Die Zeit der Muße ist bald um." Mit diesen Worten verschwand die blutrote Erscheinung übergangs- und geräuschlos im Nichts. Die zwei unterschiedlichen Nachtsöhne waren wieder für sich.

"Okay, mein griechischer Philosoph. Da die Göttin uns gezeigt hat, welche Macht sie hat können wir wohl jetzt in die restliche Nacht hinaus, um ein paar von diesen feierlustigen Leuten anzuknabbern, die das altkeltische Beltane-Fest feiern oder einfach nur, weil der erste Mai ist und ..." weiter kam Nightjester nicht, weil Tachypteros bereits in einer nachtschwarzen Spirale verschwand, die immer kleiner und kleiner wurde, bis sie mit einem leisen Piff im Nichts verschwand. "Dann eben nicht, grummelte Nightjester. "Ihn brauche ich für eine wichtigere Sache, als mit dir durch die Nacht zu jagen", hörte er die Stimme seiner Herrin nun wie sonst üblich direkt in seinem Kopf. Trotz seiner sonst so unerschütterlichen Frechheit wagte er es nicht, was dagegen einzuwenden. So blieb ihm nur, allein durch die Nacht zu fliegen und zu hoffen, dass er möglichst unauffällig Beute machen konnte.

__________

Aus der Reportage "Unter der Dämmerkuppel" von Mildrid Latierre

1. Mai 2003

Ich freue mich sehr, dass trotz der düsteren Stimmung wegen der Dämmerkuppel doch noch neues Leben möglich ist. Fast eine Stunde nach Mitternacht ist bei den Eheleuten Jeanne und Bruno Dusoleil ein kleiner Junge zur Welt gekommen, Bertrand Tiberius Dusoleil. Ich möchte weder Einzelheiten des Geburtsvorgangs noch wie genau dieser die Dämmerkuppel beeinflusst hat beschreiben. Nur so viel: Jeanne und Bertrand haben wohl durch die gemeinsamen Anstrengungen und den Willen, beide zu leben, einen Teil der uns bedrückenden Dunkelkraft ausgelöscht. Jedenfalls zeigte sich die Sonne heute morgen um einiges Heller, wenn auch in einem merkwürdigen blassblauen Licht. Der Himmel war nicht mehr dunkelgrau wie an den Tagen davor. Er sah heute so dunkelblau wie die späte Abenddämmerung ganz kurz vor ihrem Ende aus. Jetzt haben es alle wohl begriffen, dass wir hier unter der Dämmerkuppel wohnen, wo mich vorgestern noch die ältere Mitbürgerin Bouvier gefragt hat, wie ich auf den Titel meines fortlaufenden Berichtes gekommen sei.

Mein Mann wurde vom überglücklichen Vater des kleinen Bertrand eingeladen, mit ihm und anderen Zauberern von Millemerveilles die Ankunft seines zweiten Sohnes gebührend zu begießen, ihn strullern zu lassen, wie es die landläufige Ausdrucksweise ist. Während wir, mein Mann, unsere bereits geborenen Töchter und ich bei den jungen Eltern eingeladen waren konnte ich ein Interview mit der jungen Mutter führen, ohne als Reporterhexe rüberzukommen. Mit genehmigung von Jeanne Dusoleil lege ich das Interview diesem Bericht bei.

Während die Jungen meinten, sich gegenseitig unter den nächstbesten Tisch trinken zu müssen sprachen wir bereits Mutter gewordenen Hexen davon, wie wir unseren Kindern beibringen können, das Leben anderer Menschen zu achten, damit sowas wie die böse Kraft, die in unserer bisherigen Schutzglocke hängt, nicht anderswo freigesetzt wird. Sandrine, deren bisher einzigen Kinder ja kurz nach meiner ersten Tochter geboren wurden, wandte ein, dass die Würdigung von Leben aber auch heißt, dass niemand dazu gezwungen werden dürfe, Kinder zu zeugen oder von Leuten welche zu kriegen, die sie sonst nnie an sich heranließen. Sie spielt damit auf die Machenschaften der sich selbst als Gesellschaft zur Mehrung magischen Lebens bezeichnenden Geheimgesellschaft an, die Sandrine ihren Ehemann und den Zwillingen Estelle und Roger ihren Vater weggenommen hat. Camille Dusoleil bat mich, in diesen Bericht und das Interview mit ihrer Tochter Jeanne hineinzuschreiben, dass sie es bis heute nicht versteht, wie soetwas erhabenes wie die Entstehung eines neuen Menschenlebens derartig zur Massenware abgewertet werden kann und dass die durch solche Taten entstandenen Kinder nie wirklich frei von Vorurteilen anderer aufwachsen und leben können. Sandrine, die ihre zwei Kinder ironisch betrachtet auch dieser selbstherrlichen Gruppierung zu verdanken hat, erlaubte mir, hier hinzuschreiben, dass sie selbst eine gewisse Angst hat, sie könnte die zwei von Gérard Dumas bekommenen Kinder nicht so frei großziehen wie Mütter, die nicht mit diesen Zeugungszwangverfechtern zu tun hatten und wie Julius und ich oder Jeanne und Bruno unsere Kinder aus natürlicher Liebe und Entschlossenheit bekommen haben. Hera Matine, die als Jeanne betreuende Hebamme die ganze Zeit mit im Raum war hat dann gesagt, dass zu dem Thema schon viele Heileraussagen und -meinungen bekannt seien und sie Sandrine völlig zustimmt.

Zwei Sachen muss ich noch erwähnen, die diesen Tag fast ziemlich übel hätten enden lassen. Das eine ist, dass eine Mitbürgerin versucht hat, in die Schutzzone um Julius' und mein Haus einzudringen. Allerdings wurde sie durch die Kraft, die unser Haus gesondert umhüllt, sowie unsere beiden Kniesel Goldschweif und Sternenstaub zurückgetrieben. Einer der Feuerwehrzauberer, die wegen der möglichen Brandgefahren über dem Dorf herumpatrouillieren, hat den Vorfall gesehen und weitergemeldet. Die Hexe, die versucht hat, zu uns vorzudringen konnte in Gewahrsam genommen werden, bevor sie doch noch was machen konnte, um uns zu schaden. Deshalb haben Florymont und Julius weitere Meldezauber um das Grundstück von uns und die Grundstücke von Jeanne und Bruno sowie Camilles und Florymonts eingerichtet.

Der zweite Vorfall betrifft Edmond Pierre. Es stellte sich heraus, dass er durch eine schleichende Seelenumwandlung nicht einfach nur im Delirium liegt, sondern offenbar von einer fremden Kraft getrieben wird. Weil die Fesselung von Kranken nur im äußersten Gefahrenfall zulässig ist konnte Heiler Delourdes fast nicht ausweichen, als Edmond Pierre mit einem Messer auf ihn losging, dass aus dem Nichts gekommen zu sein schien, so Heiler Delourdes. Der Schockzauber wirkt wegen der Eigenschaften der Dämmerkuppel nicht. Daher blieb Heiler Delourdes nur, ihm ein Betäubungsgas ins Gesicht zu sprühen. Das Messer verschwand in dem Moment, als Edmond Pierre bewusstlos wurde. Weil nun klar war, dass Edmond Pierre zu einer Gefahr für andere und auch für sich selbst werden konnte musste Heiler Delourdes ihn in den todesnahen Perithanasia-Zauber versenken. Immerhin wirkt dieser noch. Er hat mich gebeten, allen, die diesen Bericht lesen, mitzuteilen, dass Monsieur Pierre nicht verletzt ist und bis zu einem Zeitpunkt, da er in die Delourdesklinik eingeliefert werden kann, in einem fest verschlossenen, mit genug Luftlöchern versehenen Behältnis schlafen soll. Wieso der Kranke auf einmal ohne Zauberstab ein Messer heraufbeschwören konnte und warum es bei seiner Bewusstlosigkeit von selbst verschwand muss noch geklärt werden. Ich weiß, dieser Vorfall könnte die Stimmung hier bei uns und die Sorge bei Ihnen da draußen verschlimmern. Aber der Vollständigkeit halber musste ich das erwähnen. Denn es ist jetzt wohl klar, dass die Wirkung der verfremdeten Kuppel gefährlicher ist als nur zu verdunkeln oder Feuerzauber zu verhindern.

Trotz der beiden letztgenannten Vorfälle bin ich doch jetzt etwas zuversichtlicher, dass wir die Zeit unter der Dämmerkuppel überstehen können.

Ich melde mich dann wieder, wenn es neues erwähnenswertes zu berichten gibt.

MUL

__________

Beauxbatons-Akademie für französischsprachige Hexen und Zauberer, 2. Mai 2003, 10:20 Uhr Ortszeit

"Blanche Faucon prüfte den gerade von ihr geschriebenen Brief an Cicero Descartes von der Abteilung für magische Ausbildung und Studien und berichtigte Flüchtigkeitsfehler mit dem Zauber "Corrigo!". Jetz hatte sie wieder Zeit, um über die Ereignisse in Millemerveilles nachzudenken. Seit jener schwarzmagischen Stoßwelle am 26. April mussten die Menschen dort fast auf sich allein gestellt leben. Die bei ihr in Beauxbatons lernenden Kinder und Jugendlichen aus Millemerveilles machten sich Sorgen um ihre Eltern und kleineren Geschwister, auch weil keiner wusste, ob sie nach dem Schuljahr zu ihnen nach Hause konnten oder nicht. Das hatte die Stimmung in der Akademie deutlich verschlechtert, auch weil es etliche im Treiben der Pubertät nicht unterlassen konnten, über die "ausgestoßenen Kinder" zu spotten und zu lästern. Sie hatte daher einen der Spötter exemplarisch bestraft. Der schwamm jetzt als Schleierschwanz in einem kugelförmigen Aquarium aus unzerbrechlichem Glas in ihrem Freizeitraum im Schulleiterbereich herum. "Damit Sie es lernen, dass es überhaupt kein erheiterndes Ereignis ist, unter einer undurchdringlichen Kuppel gefangen zu sein", hatte sie vor allen Schülern zu dem Bestraften gesagt. Zwar hatte sie einen Tag danach einen Heuler von den Eltern bekommen, diesen aber eulenwendend gleichwertig beantwortet. Sie war zumindest froh, dass ihre Enkeltochter Babette Dénise Dusoleil aufmuntern und unterstützen konnte.

Es klopfte an die Tür zu ihrem Büro. Hierher kam nur ein Lehrer oder einer der Saalsprecher. Doch gerade war Unterricht. Wer konnte das sein? "Herein!" rief sie.

Nathalie Grandchapeau betrat das Büro der Schulleiterin. Dass sie seit über einem Jahr schwanger war kaschierte sie mit einem entsprechenden Tarnkleid, dass sie schlanker und nicht zu üppig wirken ließ.

"Ich bin zu Ihnen gekommen, Madame Faucon, weil ich in der Temps de Liberté gelesen habe, dass Monsieur Pierre fast seinen Heiler getötet hätte, mit einem ohne Zauberstabnutzung materialisiertem Messer. Da wir beide zertifizierte Fachhexen für Verwandlung und Materialisation sind brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen, wie schwer es ist, durch reine Gedankenkraft ein Messer zu verstofflichen. Auch wenn Madame Latierre ganz bewusst keine Beschreibung der Waffe erwähnt hat konnte ich über die mittlerweile eingerichtete Direktverbindung per Distantigeminus-Kasten erfahren, dass es sich um eine leicht gebogene, silberne Klinge an einem berunten Griff handelte. Ich gehe davon aus, dass sie diese Waffe kennen."

"Der Opferdolch Sardonias", seufzte Blanche Faucon. Dann fügte sie hinzu: "Von dem hieß es, dass er unauffindbar war, nachdem Sardonia von den Dementoren entseelt und ihre Macht dadurch gebrochen wurde. Aber wieso suchen Sie mich in dieser Angelegenheit auf, Madame und nicht der Leiter der Desumbrateure?"

"Weil der nicht die Kenntnisse hat, die ich aus den Beschreibungen meiner Schwiegermutter habe, deren Vorfahrin zu Sardonias Getreuen gehörte. Dadurch weiß ich nämlich auch, dass dieser Opferdolch Sardonia von selbst in der Hand erschien, wenn sie mal wieder ein Blut- oder gar Lebensopfer für ihre dunklen Rituale erbringen wollte. Und wenn sie das Ritual beendet hatte verschwand der Dolch von selbst an einen nur ihr bekannten Ort."

"Ja, aber sie hatte auch ein Messer mit goldener Klinge für Blutopfer", sagte Blanche Faucon. Nathalie Grandchapeau bejahte es. "Das muss aber irgendwie aus Millemerveilles hinausgefunden haben und unter irgendwelchen Sardonianerinnen weiterkursieren. Könnte sein, dass die Wiederkehrerin oder die schwarze Spinne es mittlerweile hat. Aber ich mache mir wirklich Sorgen. Wenn es wirklich der Opferdolch Sardonias war, den sie mit dunkler Mondmagie und anderen reinen Hexenzaubern belegt hat, dann ist dieser offenbar auch von dieser dunklen Kraft erfüllt und verstärkt worden. Meine Schwiegermutter wollte nicht damit herausrücken, weil sie Angst hatte, Sardonia könnte irgendwas hinterlassen haben, was Verräterinnen tötet. Doch sie konnte es zumindest aufschreiben, dass die Getreuen Sardonias davon ausgingen, dass Sardonia ein Bruchstück ihrer Seele in diesen Dolch eingefügt hat, so dass er nur von ihr allein oder einer von ihr selbst für treu genug erkannten Hexe zu verwenden ist. Jetzt ist der arme Monsieur Pierre eindeutig keine Hexe. Wie konnte er dann in einem Delirium den Dolch heraufbeschwören?"

"Sie haben gerade die Frage selbst beantwortet, Nathalie. Der Dolch entscheidet, wer ihn benutzen kann. Sollte Sardonia wirklich ein Bruchstück ihrer damals schon mit Mordtaten beladenen Seele in diesem Dolch verankert haben, dann handelt diese Waffe in ihrem Sinne, ja eindeutig nach ihrem Willen. Ich frage Sie noch einmal, warum nicht der Leiter der Desumbrateure, sondern Sie in dieser Sache bei mir vorsprechen, Madame Grandchapeau?"

"Aus dem einfachen Grund, weil die Desumbrateure gerade nicht nach Millemerveilles hineinkönnen und ich den Kreis der Wissenden möglichst klein halten möchte. Es steht zu befürchten, dass der Dolch sich einen neuen Ausführer oder eine Ausführende suchen könnte, um jemandem zu schaden. Sie haben ja auch sicher gelesen, dass eine namentlich nicht genannte Hexe die Schutzvorkehrungen um das Haus meines Mitarbeiters Julius Latierre durchbrechen wollte."

"Ja, und ich weiß auch wer und warum", erwiderte Blanche Faucon. "In Millemerveilles leben immer noch einige Hexen, die es bis heute verheimlichen konnten, dass sie die Erbinnen der dunklen Ideen Sardonias sind. Bei einigen muss ich sogar fürchten, dass sie durch finstere Zauber wie den Sanctuamater-Zauber dazu gezwungen wurden, im Sinne und im Auftrag ihrer Mütter zu handeln. Eine von denen ist Yvette Bouvier, jene, die wegen des Versuchs, den weißmagischen Schutzwall um das Haus der Latierres zu durchdringen festgenommen wurde. Sie lehnt die magielose Welt grundweg ab, sieht in technischen Erzeugnissen der nichtmagischen Menschheit unstatthafte bis bedrohliche Machenschaften und hätte es am liebsten, wenn die Bewohner Millemerveilles mit den teilweise aus magielosen Familien stammenden Zauberern und Hexen nichts mehr zu tun hätten. Dass sie es zugelassen hat, dass mein Schwiegersohn eine Zeit lang in Millemerveilles wohnte und dass Ihr Mitarbeiter Julius Latierre mit seiner Familie dort lebt liegt einfach daran, dass sie auf den richtigen Moment wartet, dass sie Sardonias späte Rache ausführen kann. Ich hegte diese Befürchtung schon nach der Kenntnisnahme, dass die von den meisten viel zu leichtfertig als reine Schutzkuppel angesehene Begrenzung von Millemerveilles die dort noch lebenden Sardonianerinnen veranlassen könnte, in Memoriam Sardoniae als Vollstreckerinnen aufzutreten, um die erwachte Dunkelkraft unauslöschlich zu machen und alle Unwürdigen und Verächter reinen Hexentums zu bestrafen. Ja, um die nächste Frage zu beantworten, die Sie sicher haben, Madame Grandchapeau, ich weiß nicht, wer von denen dort lebenden Hexen diese Ansicht hegt und ob nicht bei einer von ihnen Sardonias Opferdolch erneut auftaucht."

"Ja, doch wieso ist er bei Edmond Pierre aufgetaucht, Madame Faucon?" wiederholte Nathalie die Frage von eben.

"Weil er, wie ich sagte, von einer fremden Kraft getrieben wird oder besser, weil er mit Sardonias dunkler Magie unmittelbar in Berührung kam und der Dolch womöglich ein gewisses Gespür hat, wer mit seiner Erschafferin am stärksten verbunden war oder ist und diesem Menschen, ob Hexe oder Zauberer, dann beisteht, um Sardonias Willen zu vollstrecken."

"Das heißt, Edmond Pierre ist ... besessen?" wollte Nathalie Grandchapeau wissen.

"Das heißt nur, dass es eine Vermutung von mir ist, dass er von Sardonias Erbe fremdgesteuert wurde, bis Monsieur Delourdes ihn bewusstlos gemacht und dann in den Perithanasia-Schlaf versenkt hat", erwiderte Blanche Faucon.

"Ich weiß, dass Sie und Ihre Tochter das einzig wirksame Gegenmittel gegen das Erscheinen des Opferdolches kennen. Da ich mit meinem Mitarbeiter Julius Latierre seit einer Stunde eine dieser Fernkopierverbindungen habe möchte ich Sie bitten, mir dieses Gegenmittel zu nennen, beziehungsweise, mir mitzuteilen, wo ich es finden und wie ich es anwenden kann."

"Was Monsieur Latierre angeht besteht Ihrerseits kein Grund zur Sorge, solange er sich auf seinem gesondert abgeschirmten Grundstück oder in meinem Haus aufhält. Ansonsten hilft in einer Bergkristallphiole eingeschlossener Goldblütenhonig. Denn der kann nicht nur mittelstarke Flüche parieren und eigene Schutzzauber verstärken, sondern auch von dunklen Begierden durchdrungene Lebensauren aufhellen, damit die Träger nicht von dämonischen Entitäten wie Dibbukim als mögliche Wirte ausgewählt werden können oder eben Gegenstände wie Sardonias Dolch in deren Nähe oder gar Besitz erscheinen und ihnen ihren eingeprägten Willen aufzwingen können. Auch in dieser Angelegenheit kann ich sie beruhigen. Zu den ersten Gütern, die wir im Rahmen der von Monsieur Latierre vorgeschlagenen Luftbrücke über Millemerveilles abwerfen werden gehören Goldblütenhonigphiolen, die meine Mitstreiter von der Liga gegen dunkle Künste und ich hergestellt haben. Professeur Delamontagne ist ja aus ganz eigenen familiären Gründen daran interessiert, dass seine beiden Enkelkinder Baudouin und Giselle so sicher wie möglich leben können. Außerdem hat sich die an Julius Latierre zum Geschenk gemachte Goldblütenhonigphiole bereits mehrfach bewährt und unterstützt ihn und Madame Dusoleil auch, wenn sie erneut durch die Kuppel dringen müssen."

"Und außerhalb der Kuppel kann dieser Dolch nicht auftauchen, Blanche?" fragte Nathalie.

"Falls ja, hätte die Wiedergeburt Anthelias ihn sicher schon längst erhalten. Da er jedoch bei Monsieur Pierre auftauchte hat sie ihn nicht bekommen. Gut, das mag daran liegen, dass der Dolch bis zu dieser bisher noch ungeklärten Entladung dunkler Magie leblos und handlungsunfähig in seinem Versteck ruhte. Dennoch bleibe ich dabei, dass er wohl längst bei der Wiederkehrerin aufgetaucht wäre, wenn er sich aus Millemerveilles entfernen könnte."

"Ich möchte nur sicher sein, dass er nicht bei einer anderen Sardonianerin auftaucht und sie dazu verleitet, der dunklen Matriarchin lästig fallende Mitmenschen zu töten", sagte Nathalie.

"Ich werde veranlassen, dass noch mehr Goldblütenhonigphiolen hergestellt werden, Nathalie. Da die dazu nötige Grundsubstanz aber nicht wie Quellwasser fließt kann es einige Wochen dauern. Im Moment gilt es, den Einfluss der kompromittierten Kuppel auf die darunter lebenden Menschen zu unterbinden. Aber ich nehme Ihre Anfrage ernst und werde sie weitergeben. Wie geht es Ihnen beiden?"

"Danke der Nachfrage", sagte Nathalie. "Offenbar hat Euphrosynes verbotener Segen die dunkle Kraft von uns ferngehalten", erwiderte Nathalie im Schutze von Blanche Faucons Dauerklangkerkerbüro.

"Was Ihren und Monsieur Beaubois Mitarbeiter Julius Latierre angeht hoffe ich mal, dass er auch aus der ihm aufgezwungenen Abschottung heraus weiterhin helfen kann", sagte Blanche Faucon. Nathalie Grandchapeau nickte. Dann verabschiedete sie sich von der Schulleiterin von Beauxbatons.

"Ja, es muss was getan werden, um Sardonias neuerwachten Einfluss zu unterbinden", dachte Blanche Faucon. Was sie Nathalie Grandchapeau nicht sagen wollte war, dass sie die Goldblütenhonigphiolen heute schon nach Millemerveilles schaffen ließ, auch weil sie wegen Sardonias Opferdolch ihre Befürchtungen hatte.

__________

Im Apfelhaus der Latierres in Millemerveilles, am Morgen des 2. Mai 2003

Aurore Hatte sich sowas von gefreut, dass wieder viele Leute vor dem Haus ihrer Eltern gesungen hatten, darunter auch Chloé, Philemon, Viviane, Estelle und Roger und deren Mamans und Papas. Da heute Chloé auch Geburtstag hatte hatten sich deren Maman und Papa und ihre Maman und ihr Papa gesagt, dass sie im Apfelhaus feiern wollten.

Die Sonne war heller, aber gab noch keine Wärme ab. Julius Latierre meinte, dass die Sonne so blau auf dem Mars auf- und wieder untergehen würde. Trotzdem sie durch Bertrands Geburt heller am Himmel stand als davor wirkte sie immer noch gespenstisch dunkel und fremdartig. Doch das konnten die bunten Lichter alle vertreiben, die Julius im Garten um das Apfelhaus aufgehängt hatte.

Gegen zehn Uhr klopfte jemand von innen gegen die Tür des Verschwindeschrankes in der Bibliothek der Latierres. Millie machte ihn auf, weil Julius gerade mit Aurore und der immer freier herumtapsenden Chrysope den Garten feiertauglich machte. Aus dem Schrank traten erst Millies Mutter, danach ihre Schwester Martine mit der kleinen Héméra auf dem Rücken, dahinter Millies eigentliche Hebamme Béatrice und dann noch Millies Großmutter Ursuline. Hinter dieser schlüpfte auch noch Catherine Brickston aus dem Schrank heraus. Alle, die gerade kein Kind auf dem Rücken trugen hatten Umhängetaschen mit leicht klirrendem Inhalt dabei.

"Ich dachte, Aurore wäre im Haus", meinte Hippolyte Latierre.

"Sie ist mit ihrem Vater draußen und macht die Blumenbeete sicher, dass so Wuselwichtel wie Philemon da nicht durchtrampeln können", sagte Millie. "Aber schön, dass ihr gekommen seid, Maman, Oma Line, Tante Trice und Martine, ach ja, Catherine. Öhm, ich dachte, der Schrank sei nur für Latierres."

"Catherine hatte die Wahl, entweder von mir eingeschrumpft unter meinem Umhang durchgetragen zu werden oder bei ihrer Unversehrtheit den Ahnen unserer Familie zu schwören, das Geheimnis unserer Schränke nicht zu verraten", sagte Oma Line mit breitem Lächeln. Catherine sah Millie an und meinte: "Abgesehen davon, dass ich befürchten musste, dass deine kinderreiche Großmutter auf die Idee gekommen wäre, mich nicht mehr zu entschrumpfen, um das Gefühl eines kleinen, behütbaren Wesens an oder in ihrem Körper zu genießen musste ich nicht bei meinem Blut oder meiner Unversehrtheit schwören, weil eure Schränke ein Familiengeheimnis sind", sagte Catherine lächelnd. "Wir wollen auch nicht lange hierbleiben. Wir möchten Aurore nur kurz gratulieren und unsere Geschenke für sie abgeben. Darüber hinaus haben wir viele Geschenke für euch, die ihr hier unter Sardonias Dämmerkuppel aushalten müsst. Mein Mann möchte sich übrigens dafür entschuldigen, dass er früher behauptet hat, die Leute in Millemerveilles würden sich was darauf einbilden, unter einer Käseglocke zu wohnen."

"Wie geht es dem, und was macht das kleine Wesen, was noch gut verpackt unter deinem Umhang wohnt?" wollte Millie wissen.

"Das war einer der Gründe, warum ich das mit dem Einschrumpfen doch nicht gemacht habe", sagte Ursuline. "Ich möchte keine ungeborenen Kinder ärgern", fügte sie hinzu.

"Rorie, komm mal bitte rein! Oma Hipp und Oma Line sind hier!" rief Millie durch ein Fenster nach draußen. Zur Antwort kiekste es laut. Dann wetzte etwas nicht mal einen Meter großes über die Wiese durch die von einem leise dudelnden Musikfass offengehaltene Haustür und hüpfte ganz schnell die Treppe zum zweiten Stockwerk rauf. "Ja, da bist du ja!" freute sich Ursuline Latierre und hob die heutige Ehrenhexe hoch. "Alles alles gute zum dritten Geburtstag, meine Knuddelduddelfee", sang Ursuline und küsste Aurore links und rechts auf die Wange. Dann durfte Aurores Großmutter sie beglückwünschen. Danach kam Martine dran und ließ Aurore auch über Héméras Kopf streichen. Anschließend beglückwünschte Béatrice Aurore zu ihrem dritten Geburtstag.

Julius kam mit Chrysope auf den Schultern herein und begrüßte die durch den Schrank gekommene Verwandtschaft. "Huch, wollte Albericus nicht oder durfte er nicht? Und Miriam?" fragte Julius seine Schwiegermutter, die ihn so knuddelte, als habe er auch Geburtstag.

"Miriam ist mit ihrem Vater auf Babsies Hof. Das Temmies Mutter auch wieder was kleines erwartet weißt du ja schon längst."

"Schade, ich hätte zu gerne gesehen, wie groß Miriam im Vergleich zu Viviane oder Chloeé ist", sagte Julius.

"Wir wollten eigentlich noch deine Mutter und deine Halbgeschwister herholen, aber seitdem das unverrichtet zurückgeflogene Luftschiff das Gerücht verbreitet hat, Millemerveilles sei für alle Zeit abgeschnitten und die da noch wohnen könnten nur von dem leben, was auf deren Feldern und in deren Ställen ist hat deren Dorfrat erst einmal ein Anflugsverbot für Millemerveilles verhängt. So viel zur uneingeschränkten Partnerschaft."

"Ja, und das französische Flohnetz ist immer noch kaputt", sagte Julius. Hippolyte bejahte es. "Die in den Staaten hatten vier Tote, weil die beim Kontaktfeuern so abrupt zerlegt wurden. Auch bei denen soll das noch länger dauern, habe ich von Jacqueline Corbeau. Es ist echt heftig, was diese dunkle Zauberkraftentladung für einen Schock verursacht hat."

"Der blaue Vogel wird dadurch wohl wesentlich mehr Aufträge kriegen", meinte Julius dazu.

"Ja, und das Pendelschiff, das sonst zu euch hinfliegt wurde vom Dorfrat von Viento del Sol als Unterstützung des Reiseengpasses an das US-Zaubereiministerium ausgeliehen, um zwischen Ost- und Westküste zu pendeln."

"Ui, das wusste ich noch nicht", erwiderte Julius. Tatsächlich hatten ihm weder Brittany Brocklehurst noch seine Mutter ihm seit der dunklen Welle mehr aus den Staaten erzählt. E-Mails konnte er ja auch keine austauschen, solange die Sonne zu schwach war, um die Solaranlage seines Geräteschuppens zu betreiben.

"Meine Frau Mutter lässt euch alle schön grüßen und hat mit ihren guten Kameraden von der Liga gegen dunkle Künste zweihundert Goldblütenhonigphiolen hergestellt. Sie hat noch einmal so viele in Aussicht gestellt. Damit sollen die Familien ausgestattet werden, deren Mitglieder empfindlicher auf die Stimmungseintrübung durch die Kuppel reagieren. Ich habe das so gedreht, dass ich gleich zum Haus meiner Mutter appariere und von da aus die Phiolen verteile. Dann sieht das nicht so aus, als wenn ihr einen geheimen Durchgang habt", wisperte Catherine verschwörerisch. Julius nickte. "In das Haus deiner Mutter kommt ja auch keiner rein, wenn keiner dort wohnt", sagte er.

So geschah es, dass Catherine vom Apfelhaus aus mit den mitgebrachten Goldblütenhonigphiolen disapparierte, während die aus dem Schrank gestiegenen Verwandten Aurores mit ihr lachten und die Geschenke für sie in die Wandelraumtruhe legten, auf der "Aurore Béatrice Latierre, 05. 02. 2000 zu lesen stand.

Gegen elf Uhr zogen sich die Latierres durch den Schrank in das Sonnenblumenschloss zurück. Eine halbe stunde später kamen Camille, Florymont und Uranie mit ihren Kindern herüber. Julius hatte vorgeschlagen, dass die beiden Geburtstagshexen schon zusammen Mittagessen sollten.

Um zwölf Uhr flogen Jeanne, Bruno, Viviane, Janine und Belenus auf dem bunten Flugteppich heran. Jeanne präsentierte ein kleines Bündel neues Menschenleben wie ihre persönliche Trophäe. "Hier kommt Bertrand Tiberius Dusoleil, ein Walpurgisnachtzauberer", verkündete Jeanne.

"Die große Hoffnung von Millemerveilles!" fügte Bruno ganz der stolze Vater noch hinzu. Dann klatschten er und Julius sich ab. "Ja, da sind wir schon wieder. Und, gut erholt?" fragte er Julius. Der grinste ihn an und meinte: "Ich ja."

"Bei mir ist noch eine Kompanie Bergwerkszwerge bei der Arbeit. Aber ansonsten bereue ich nicts, weder dass der da jetzt bei uns mitisst noch dass ich mir mit euch anderen gestandenen Burschen den halben Schädel weggesoffen habe. Autsch!" Philemon rämpelte seinen Schwiegervetter an. Dadurch geriet dessen Kopf in Bewegung, was Bruno offenbar nicht so locker wegstecken konnte, wie er gerne wollte. Julius sah Uranie Dusoleils fünf Jahre alten Sohn von oben her an und fragte: "Was möchtest du haben, Philemon?"

"Blaue Blubberbrause", sagte Philemon. Julius nickte und apportierte eine Flasche mit Azzura Fizzyfollys blauer Blubberbrause. Als habe er sie gleich mit herbeigezaubert apparierte Uranie mit lautem Plopp. "Neh, neh, Julius, der kriegt davon heute nichts. Diese Rülpsorgie, die er bei seinem Geburtstag gefeiert hat brauchen wir hier nicht auch." Mit diesen Worten pflückte sie Julius die Flasche mit dem zwischen fröhlichen Luftblasen schwebenden blauen Mondgesicht aus der Hand. Philemon stampfte wütend auf den Boden und knurrte wie ein Hund, dem jemand den Knochen wegnehmen will. "Nein, Phil, das Zeug ist zu heftig mit diesem Blubberzeug überladen, das kriegst du nur mit viel Orangensaft oder Wasser verdünnt." Julius grinste und meinte, dass die Brause dann grün werden würde. "Schlimmer als die grünen Prickeldrachen, die Florymont in der Rue de Camouflage besorgt hat kann das nicht aussehen", flüsterte Uranie zurück.

"Blubberbrauseeee! Blubberbrauseeee!" stieß Philemon laut aus. Da kam Viviane Aurélie angelaufen. "Ui, blaue Blubberbrause. Danke Tante Ranie", sagte sie, streckte ihre rechte Hand aus, und die blaue Brauseflasche sprang Uranie aus der Hand und landete in Vivianes Hand. Ehe Uranie noch was sagen oder machen konnte flitzte Viviane damit fort. Philemon blaffte noch was wie "Mann, wieso die?" und wetzte laut "Ey, die is' mir!" krakehlend Jeannes Erstgeborener hinterher.

"Lass ich mir doch glatt was von einer Sechsjährigen Hexe aus der Hand telekinieren", knurrte Uranie und peilte, wo ihre Großnichte und ihr Sohn demnächst vorbeirennen mussten, um mit einer geschmeidigen Drehbewegung zu disapparieren.

"Toll, ich wollte dem eigentlich nur ein kleines Glas vollmachen", grummelte Julius. Sicher, die Blubberbrause hatte dank der magischen Zutaten mehr Kohlensäure als die gleiche Menge Sprudelwasser oder Cola. Aber dass Uranie da so strickt gegen war wunderte ihn ein wenig. Dagegen sagen oder machen durfte er nichts, weil Millie und er sich auch nicht von anderen in die Erziehung ihrer Kinder dreinreden lassen wollten, auch nicht von seiner oder ihrer Mutter.

Der Zank um die blaue Brauseflasche endete damit, dass Uranie ihrer Großnichte die Flasche aus der Hand acciierte und sie dann vor allen auf dem Gehweg ausleerte.

"eine Sickel, Tante Uranie!" rief Millie durch eines der geöffneten Fenster im Apfelhaus. Uranie blickte nach oben. Millie wiederholte die Ansage. "Die zahl ich dir aus der linken Rocktasche!" rief Uranie verbittert nach oben. Millie nickte ihr zu.

Nach diesem kurzen Geplänkel wurde es doch noch ein einigermaßen manierliches Mittagessen. Philemon stierte zwar immer wieder Viviane an, doch die grinste nur zurück.

Gegen Nachmittag - erkennbar daran, dass die blau leuchtende Scheibe am dämmerungsblauen Himmel wieder nach unten wanderte - kamen noch die Dumas mit Estelle und Roger herüber. Überhaupt kamen sowohl Chloés und Aurores Sandkasten oder Vorschulgruppenfreunde und -freundinnen herüber. Aurore war zwar einige Minuten lang verknirscht, weil Chloé so viele Geschenke bekam, sah aber ein, dass sie ja heute auch Geburtstag hatte und bedankte sich artig bei denen, die ihr was mitgebracht hatten.

Julius hatte jede Menge Papierhüte gefaltet, die er an die ganzen Kinder verteilte und spielte mit ihnen Sachen wie "Reise nach Jerusalem" oder Topfschlagen. Mit den Kindern über fünf spielte er noch Kofferpacken. Aurore durfte die Geschenke aus der Wandelraumtruhe ziehen. Dabei war ein kunterbuntes Kleidchen und rosarote Schuhe für lustige Tanznachmittage, mehrere Bilderbücher mit Geschichten aus anderen Ländern und ein Spielzeugzaubertranklabor mit einem kleinen Zinnkessel und bunten Zutaten, die alle harmlos waren, aber schillerndbunte und auch blubbernde Tränke machten, ohne sie auf ein Feuer zu stellen. Auf die Frage Madame Dumas', wer ihr das denn geschenkt hatte sagte Aurore "Tante Trice hat das geschenkt."

Neben den zwei Geburtstagskindern war der kleine Bertrand Dusoleil die Hauptattraktion für Kinder und Erwachsene. "Hera hat mir nur erlaubt, mit ihm aus dem Haus zu gehen, weil hier zwei Pflegehelfer wohnen", erzählte Jeanne.

Auch wegen der kleinen Kinder aßen die Feiernden früh zu abend. Denn sie wollten die halbhellen Stunden draußen genießen und vor Einbruch der tiefen Dunkelheit wieder in ihren Häusern sein.

Sie waren gerade beim Nachtisch, als eine ältere Hexe im dunklen Kapuzenumhang auf der Wiese vor dem Magischen Fünfeck apparierte, in dem die feiernden an Tischen saßen. "Wo ist das Balg der Dusoleils. Sie will sein Blut!" hörten sie alle die unheilvoll gefühllose Stimme der Verkleideten. Julius war sofort alarmiert, auch Jeanne und Bruno tasteten nach ihren Zauberstäben. Nimm bitte deine Kapuze ab, damit wir sehen, wer uns so unangemeldet besucht", sagte Julius laut und entschlossen.

"Ich bin ... Wo ist dieses Balg? Ah, dort", knurrte die Vermummte Hexe und stürmte vor. Da leuchtete eine rotgoldene Lichtwand vor ihr auf und stoppte ihren Lauf. Grüne und violette Funken stoben von der anderen weg, die laut aufschrie. Julius mentiloquierte an Jeanne: "Bring den Kleinen ins Haus! Die Tür ist offen." Dann sah er die verkleidete an, die mit fahrigen Armbewegungen zurückgetaumelt war und genau sah, wie Jeanne ihren Neugeborenen aus dem Tragebettchen hob und in Richtung Haustür ging. "Gib ihn her. Die Königin will sein Blut", schrillte die andere. Die hier versammelten Kinder starrten mit großen Augen auf die Verkleidete. "Nudato!" rief Bruno unvermittelt. Da fielen von der Verkleideten der dunkle Kapuzenumhang, die Halbmaske und überhaupt alle Kleidungsstücke ab. Zum Vorschein kam eine braunhaarige, leicht untersetzte Hexe mit graugrünen Augen, Hugette Maribeau, die Nichte Yvette Bouviers, wie die Natur sie erschaffen hatte. Die Kinder lachten allesamt über Brunos dreisten Zauber. Die andere stierte ihn an und schnaubte: "Dann soll auch dein Blut den Stein der Buße netzen, Bruno Dusoleil." Mit diesen Worten hielt sie fast übergangslos einen im Licht der bunten Laternen leuchtenden, dreißig Zentimeter langen, leicht gekrümmten Dolch in der linken Hand und hob ihren Zauberstab. "Omnoctes!" zischte sie noch. Eigentlich löschte man damit sämtliche brennenden Lampen, Laternen, Kerzen und Zauberstablichter, wenn jemand stark genug war. Doch die einzige Wirkung war, dass ein aus grünen, roten und goldenen Blitzen bestehendes Elmsfeuer zwischen ihr und den leuchtenden Laternen zuckte. Dann holte sie mit dem Dolch aus und warf die Klingenwaffe. Diese flog kerzengerade in der Luft liegend auf die magische Begrenzung der fünf Apfelbäume zu und blieb zitternd und wie ein erschrecktes Meerschweinchen quiekend in der Luft stecken. Rote und goldene Funken umtobten die Waffe. Julius erkannte, dass dieser Dolch verflucht sein musste und zielte mit dem eigenen Zauberstab darauf. Er wollte den Fluchumkehrer ausrufen, als der Dolch einfach im Nichts verschwand. Die nackte Hexe sah verstört auf die Stelle, wo der Dolch eben noch war und disapparierte dann ohne ihre Kleidung.

"Leute, wer immer uns was tun will, wir sind hier sicher, solange die Kinder von Claires Lieblingsbaum hier stehen", sagte Julius. Dann sah er, wie die von Madame Maribeau heruntergezauberte Kleidung mit leisem Piff verschwand.

"Toll, hoffentlich wartet die jetzt nicht unterwegs auf uns", grummelte Bruno. Da sagte Camille. "Ich begleite euch nach Hause, Bruno und hole dann die anderen ab.

"Als hätte dieses silberne Ding gemerkt, dass ich ihm beikommen will", dachte Julius. Millie wandte sich an die anderen: "Wir hatten eine so schöne Feier bis jetzt. Hier kann euch keiner was tun", sagte sie ganz ruhig und überzeugt. Da kam Catherine Brickston angeflogen. Sie landete auf der Landewiese und schwang sich von ihrem Besen.

"Ich habe noch ein paar Glücksgläser bei mir, Wer braucht noch welche?!" rief sie. Geneviève Dumas nahm dankend von ihr die an reißfesten Ketten hängenden Phiolen, die unzerbrechlich waren und mit einem Versiegelungszauber gegen Auslaufen der wertvollen Flüssigkeit geschützt waren. Als die Phiolen in den Wirkungsbereich von Ashtarias Segen gerieten leuchteten sie in einem warmen goldgelben Licht auf. Sandrines Mutter hängte erst ihren Enkeln, dann Sandrine und dann sich selbst eine der Ketten um und verbarg ihre Phiole unter dem Umhang. Bruno bedankte sich bei Catherine für die gleich sechs Phiolen an unzerreißbaren Silberketten. "Alles mit freundlichen Grüßen von meiner Mutter und den Kämpferinnen und Kämpfern in der Liga gegen dunkle Künste", sagte Catherine. Julius nutzte die Gelegenheit, Catherine zu mentiloquieren: "Hugette Maribeau mit magischem Silberdolch, womöglich verflucht, wollte Bertrand Dusoleil ermorden. Weißmagische Abschirmung hielt sie davon ab. Dolch erschien in ihrer Hand und verschwand, als er von unserer Barriere aufgehalten wurde."

"War zu befürchten, dass jetzt die seit Jahrzehnten unter uns lebenden Schläferinnen Sardonias wieder aufwachen", schickte Catherine zurück. Laut sagte sie: "Passt unterwegs gut auf Leute auf, die merkwürdig weltentrückt gucken! Was Edmond Pierre passiert ist kann auch anderen passieren."

"Hatten wir gerade", sagte Bruno Missmutig. "Die kleine dicke Magibeau hat gemeint, uns noch den schönen Abend zu versauen und wollte meinen Sohn mit einem fiesen Silberdolch angreifen. Aber die Bäumchen hier sind voll auf dem Posten. Die musste nackig wegdisapparieren."

"Dann sagt das am besten schnell den Sicherheitsleuten, dass die Dame festgenommen und falls nötig in Zauberschlaf versenkt wird", sagte Catherine. Camille sagte, dass sie ihre Verwandten nach Hause geleiten würde. Catherine nickte ihr zu. "Ich komme mit euch mit, muss sowieso noch zwanzig Glücksgläser verteilen", sagte Blanche Faucons Tochter.

Auch wenn die Stimmung nach dem ungebetenen Besuch Hugette Maribeaus ein wenig gedrückt war gelang es den Hausherren doch noch, die Feier für alle friedlich zu beenden. Sandrines Mutter schlug vor, dass sie mit einem der beiden und sie mit dem anderen der Zwillinge nach Hause apparierte. Sandrine sah es ein. So verschwanden Geneviève mit Roger und Sandrine mit Estelle. Die anderen Kinder wurden von ihren Eltern auf den Familienbesen mitgenommen.

"Monju, was für ein verfluchter Dolch ist das?" fragte Millie, als sie Chrysie und Aurore ins Bett gebracht hatten und noch im Schein der grün-goldenen Lichtbarriere vor der Tür saßen.

"Der hatte ein Eigenleben, Mamille. Der flog kerzengerade durch die Luft, ohne sich zu drehen, wie ein Wurfmesser oder Bumerang das sonst macht", sagte Julius. "Ich wollte dem den Fluchumkehrer überbraten. Aber das Ding hat wohl schon von der Barriere genug Zunder gekriegt. Aber davon ist es nicht zerbröselt."

"Oma Line erzählte mal was von einem Blut- oder Opferdolch Sardonias, der mit ihrem Geist verbunden sein sollte. Ich habe das damals nicht geglaubt", sagte Millie leise und mentiloquierte: "Bis ich von dir was von den Gegenständen aus dem alten Reich gehört habe."

"Ja, und dass mächtige Hexen und Zauberer Seelensplitter von sich in Sachen einwirken können wissen wir ja mittlerweile auch. Am Ende sucht sich dieser verfluchte Dolch die Leute als Helfershelfer, die gut mit Sardonia können."

"Ja, und Bertrand sollte sterben, um die von ihm unabsichtlich bewirkte Schwächung der Kuppel wieder aufzuheben", gedankengrummelte Millie.

"Julius, Hera ist mir über den Weg geflogen und hat mich mit sanftem Nachdruck eingeladen, die Nacht bei ihr zu schlafen, weil ich heute weit genug mit meinem dicken Bauch herumgeflogen bin. Nacht auch an Millie", empfing er Catherines Gedankenstimme. Dann hörte er noch Camilles Gedankenstimme: "Hugette Maribeau ist unauffindbar. Die Sicherheitsleute suchen sie. Die haben alle schon Catherines sogenannte Glücksgläser am Silberband."

"Erst Yvette Bouvier und jetzt ihre Nichte. Wer ist denn da noch draußen, der oder die meint, Sardonias Rache vollstrecken zu sollen?" wollte Julius wissen.

"Da fragst du besser wen, der die alten Schriften kennt, Blanche zum Beispiel."

"Catherine wurde auf heilmagische Anweisung zur Übernachtung bei ihrer hauptamtlichen Hebamme verdonnert", schickte Julius zurück. "Dann lade sie morgen noch mal zu euch ein und frage sie, wer da alles gefährdet ist. Julius, das sind im Grunde Besessene, sobald dieser Mörderinnendolch bei denen erscheint."

"Kenne ich, so Dinger", erwiderte Julius. Camille schickte zurück: "Wenn mir das Ding unterkommt probiere ich den Stern dagegen aus."

"Ja, und ich entweder den Fluchumkehrer oder das Lied der reinigenden Mutter Erde, auch wenn das mich ziemlich runterziehen dürfte. Wenn du kannst schlaf gut, Camille. Schön, dass ihr alle heute bei uns wart. Das war für Rorie wichtig, auch wenn sie ihren "Burtstag" mit Chloé teilen musste.""

"Chloé ist da auch nicht gleich begeistert gewesen, dass Rorie auch ganz viele Sachen bekommen hat. Aber ich habe mit ihr gesprochen und gesagt, dass das größte Geschenk ist, wenn die Leute mit einem feiern, die einen auch liebhaben, und dass eure Aurore auch dazugehört."

"Ich muss das noch lernen, wie ich kleinen Mädchen die heftigsten Sachen ganz leicht erklären kann", schickte Julius zurück.

"Du hast bald drei Mädchen, an denen du diese wichtige Kunst üben kannst. Dann lernst du das genausogut wie ich", schickte Camille zurück. Danach wünschte sie ihm noch eine gute Nacht.

Bevor Millie und Julius ebenfalls schlafengingen schrieb Millie noch einen weiteren Teil ihrer Fortsetzungsreportage "Unter der Dämmerkuppel". Julius indes mentiloquierte mit Faidaria von den Sonnenkindern. Diese hatten seit dem "Lauf der dunklen Welle", wie Faidaria es nannte, Probleme mit ihrem wichtigsten Anzeigeartefakt für dunkle Zauber und schwarzmagische Wesen. Faidaria bestätigte ihm auch, was Temmie ihm schon angedeutet hatte, nur dass die Sonnenkinder noch mehr von diesem Lied der längsten Nacht wussten. "Üblicherweise erlischt seine Kraft, wenn mehr Sonnenlicht auf die damit verwünschte Umgebung trifft als Nachtdunkelheit. Deshalb wirken die Mitternächtigen dieses hochgefährliche Lied meistens in Räumen, wo kein Sonnenlicht hinreicht. Wenn wirklich Iaxathans Mitternachtsauge zerstört wurde könnten daraus mehrere eingespeicherte und über Tausendersonnen mit Dunkelheit genährte Lieder der längsten Nacht entwichen sein, deren Kraft sich über die ganze Welt der großen Mutter verteilt hat. Ihr habt leider das Unglück, an einem Ort zu wohnen, deren Gründer ihn mit mitternächtigen Schutzbannen umschlossen haben. Diese werden nun von dem kleinen Anteil der ausgebrochenen Kraft verstärkt. Aber das hast du sicher schon ergründet", schickte die Königin der Sonnenkinder zurück. Julius bestätigte das. "Ihr könnt dieses Lied zum schweigen bringen, wenn ihr immer genug natürliches Feuer und Licht um euch habt und die, die bei euch leben, weiterleben und wenn trotz der Absperrung neues Leben dazukommt. Die Geburt eines Menschen wirkt da noch am stärksten." Julius bestätigte, dass er das auch schon mitbekommen hatte. "Dann habt ihr zwei eine sehr wichtige Aufgabe: Erlebt und erreicht die Geburt eures dritten Kindes unter der dunklen Kuppel! Das und die immer längeren Sonnentage sollten die böse Macht brechen."

"Wie geht es euch anderen?" wollte Julius wissen.

"Gerannamaya vermisst deine starken Arme. Dadurch, dass ihr leiblicher Vater als der Sohn Gisirdarias zurückkehrte hat sie natürlich keinen Vater, der sie wiegen und ihr vorsingen kann", schickte Faidaria zurück. "Andererseits könnte sie sich vorstellen, irgendwann, wenn ihre Kleinmädchenzeit vorbei ist, deine Gunst und deine Lebenssaat zu gewinnen, um euch beiden starke und kluge Nachkommen zu gebären."

"Öhm, nicht mehr in diesem Leben", erwiderte Julius. "Denk sowas nicht zu laut! Hier sind einige, die auch nicht gedacht haben, gerade kleine, hilfsbedürftige Säuglinge zu sein", erwiderte Faidaria. Julius wechselte das Thema: "Was ist mit euren Geschenken. Muss ich mir Sorgen machen?"

"Solange du die Sonnenkeulen nicht benutzen möchtest widerstehen sie dem Lied der längsten Nacht, weil die in ihnen gespeicherte Kraft des großen Himmelsfeuers schläft. Die Mondschilde gründen auf dem Tanz der kleinen Himmelsschwester um unsere große Mutter und die dabei in das Wasser der Weltmeere einfließende Kraft. Also werden die Mondschilde ihre Kraft entfalten, auch gegen den Wärme- und Feuerlieder schluckenden Sog des dunkelsten aller Lieder."

"Danke, Faidaria. Wir möchten jetzt schlafen. Ich wünsche euch viel Erfolg bei eurem Kampf gegen die Schattenwesen und Nachtkinder."

"Wir werden uns wiedersehen, Julius Erdengrund oder Madrashainorian. Eine bestärkende Nachtruhe euch vieren!"

Millie kam nach zwanzig Minuten ebenfalls ins Schlafzimmer. "So, der Teil ist auch raus. Ich habe wieder nicht geschrieben, wer uns mit dem Dolch beharken wollte. Im Grunde hat Camille recht, dass es keine Täterinnen, sondern Opfer sind."

"Wollen wir hoffen, dass es keiner von denen gelingt, wen umzubringen. Dann ist die böse Kraftüber uns wieder so wie vorher." Millie nickte. "Deshalb habe ich ja geschrieben, dass die Leute hier nur noch mit Licht und Goldblütenhonigphiolen aus dem Haus gehen sollten. Ob die Leute hier sich dran halten wird sich zeigen."

__________

In Tyches Refugium, nordwestlich von Boston, 2. Mai 2003, 14:40 Uhr Ortszeit

Anthelia/Naaneavargia freute sich, auch wenn sie früher, wo sie nur Anthelia gewesen war, nicht so glücklich gewesen wäre. Sie hatte gerade erfahren, dass unter der verdunkelten Kuppel Millemerveilles ein kleiner Junge zur Welt gekommen war, und zwar im Schutz einer von seiner Großmutter Camille Dusoleil errichteten Bezauberung, wohl aus dem Wissen Ashtarias. Danach war die Kuppel ein wenig lichtdurchlässiger geworden. Wenn noch Julius' Latierres drittes Kind Ende Juni, zu Beginn des Sommers, geboren wurde, dann konnte die Kuppel womöglich endgültig entkräftet werden.

Mittlerweile wusste sie aus dem Denkarium, dass Sardonia vier Horkruxe erzeugt hatte, drei davon in den Quellen der magischen Kuppel und einen mit ihrem silbernen Opferdolch, der eine doppelt so starke Beziehung zum Blut anderer Wesen hatte wie das goldene Messer, dass Anthelia/Naaneavargia sich wiedergeholt hatte. Sie erinnerte sich aus Naaneavargias langem Leben an das Lied der längsten Nacht, dem wohl mächtigsten dunklen Zauber überhaupt. Dagegen verblassten der Todesfluch und ein Horkrux. Denn dieses Lied, das über die Opferung mehrerer Menschenleben hinweg gehen sollte, erschloss dem Anwender eine schier unerschöpfliche Kraftquelle für seine Zauber, ähnlich wie es der Unlichtkristall für Lord Vengor getan hatte. Sicher, Sardonia hatte das ganze Lied wohl nicht gekannt, weil sie sonst sicher gegen Dementoren bestanden oder diese da selbst in ihre eigene Kraft eingefügt hätte, statt denen ihre verstümmelte Seele zu lassen. Ja, die Kuppel war wohl deshalb damals geschwächt worden, weil die Originalseele ihrer Erschafferin unrettbar vergangen war. Unrettbar? Es mochte sein, dass durch die Verdunkelung der magischen Kuppel über Millemerveilles die vier dort lauernden Seelensplitter miteinander verschmelzen und eine körperlose Wiederkehr Sardonias herbeiführen mochten. Falls das geschah, was würde sie, die zum Teil ihre Nichte war, dann machen? Doch auf die Frage hatte sie eine Antwort: Sardonia war tot. Auch wenn ein Teil ihrer Seele wiedererstarken würde, blieb Sardonia handlungsunfähig. Anthelia/Naaneavargia wusste aus der Zeit, wo Anthelias ganze Seele in Dairons Medaillon eingeschlossen war, wie hilflos sich jemand fühlen mochte, der zwar alles mitbekam, aber nicht ohne fremde Hilfe handeln konnte. Ähnlich hatte sie sich dann als magisch zurückverjüngte Ungeborene in Daianiras Leib empfunden. Nein, Sardonia würde nicht selbstständig handeln können. Sie würde Helfer brauchen, aber nie von sich aus handeln können. Das mochte dann Anthelias große Chance sein, endgültig Sardonias Erbin zu werden.

__________

Im Bordell Casa del Sol in Sevilla, Spanien, 3. Mai 2003, 22:00 Uhr Ortszeit

Maruja, die offizielle Leiterin der Casa del Sol, sorgte sich seit mehreren Tagen um ihre junge und sehr begehrte Kollegin Loli. Seit dem 25. April hatte die sich hier nicht mehr sehen lassen. Auch bei den Straßenmädchen tauchte sie nicht auf. Dabei wussten sie hier alle, dass sie eine der wenigen war, die wusste, wer ihr geheimnisvoller Beschützer war, ohne den sie alle längst von skrupellosen Banden und brutalen Zuhältern vereinnahmt worden wären. Sicher war es schon vorgekommen, dass Loli mehrere Tage und vor allem Nächte nicht in der Casa del Sol war. Doch das hatte sie dann meistens vorher herumgehen lassen.

Wie üblich waren die Kolleginnen durch die Personalzugänge hereingekommen, hatten sich angemeldet und waren auf ihre Zimmer gegangen, wo sie auf ihre Kunden warteten. Nur Lenora und Elisa blieben im Barraum. Sie waren zugleich Blickfang und Aushilfe hinter der Bar.

Als zwei Männer mittleren Alters in dezenter Bekleidung hereinkamen erkannte Maruja sofort, dass es keine Spanier sein konnten. Als die zwei dann in fließendem, aber mexikanisch gefärbtem Spanisch je einen Tequila Sunrise bestellten sortierte Maruja die zwei gleich als Nordamerikaner ein. Viele von denen lernten von Mexikanern Spanisch. Nur wer sich einen längeren Europaaufenthalt leisten konnte oder von wem das nötige Geld dafür bekam lernte das europäische Spanisch.

Die beiden Männer unterhielten sich mit Lenora und Elisa, zwei Wasserstoffblondinen, über das Angebot in diesem Haus und ob heute "freie Auswahl" war, also alle hier tätigen Damen auch da waren. Maruja deutete auf die Bildergalerie mit den hier tätigen Kolleginnen und bestätigte, dass sie im Moment frei wählen könnten. Dann sagte einer von denen: "Ich hörte von einem Arbeitskollegen, dass hier auch eine milchkaffeebraune Dame arbeitet, die angeblich mit dem Teufel im Bunde sein soll. Die ist aber nicht auf den Bildern."

"Tja, das liegt dann ganz sicher daran, dass sie ja nicht fotografiert werden kann, wenn sie mit dem Teufel im Bunde ist", erwiderte Maruja. Woher wusste der Ausländer was von Loli? Das machte den schon verdächtig. Der zweite Ausländer fragte schnell danach, ob unter dem Stichwort "Kindliche Freuden und Gefühle" irgendwelche Sachen mit Kindern gemeint waren. Maruja und ihre beiden Kolleginnen sahen einander an. Dann deutete Maruja auf das Bild der mütterlich rundlich aussehenden Simona und sagte: "Ui, dann hätten wir aber schon längst zumachen müssen, wenn wir sowas auch nur im Ansatz anböten, junger Mann. Nein, das Angebot heißt, dass wer es annimmt sich selbst noch einmal wie ein ganz kleines Kind fühlen darf, ob noch vor der Geburt oder direkt danach und je nach Absprache zwei oder drei Monate nach der Geburt."

"Ach sowas, erwachsene Babys", grummelte der zweite Besucher. Dann deutete er auf Lenora, die von ihrer kleinen Gestalt und der wasserstoffblonden Mähne der Sängerin Madonna in den Achtzigern ähnelte, was durchaus von ihr so gewollt war. "Öhm, ist die junge Dame Barpersonal oder darf sie auch in den oberen Stockwerken aushelfen?" fragte er.

"Die Regeln hier sagen, wer hinter der Bar steht ist für hinter der Bar. Wer oben arbeitet ist entweder oben oder an einem der Tische und kann entsprechend angesprochen werden", erwiderte Maruja. Die zwei Besucher nickten. "Okay, ich möchte dann zu Clarabella hochgehen, ist sie frei?" Maruja sah den Frager an, dann auf das nur von ihr hinter der Bar ablesbare Anzeigegerät und nickte. Sie bat aber um Vorkasse. "Wir nehmen auch Kreditkarten. Auf dem Beleg steht dann Sonnenstudio oder Sauna mit einer Ihnen genehmen Zeitangabe."

"Wunderbar. Dann lade ich meinen Kumpel ein", sagte der, der sich für Clarabella interessierte. So suchte sich der zweite die rothaarige Rufina aus und machte eine Dankesgeste zu seinem Begleiter.

"Tja, vielleicht solltest du mit deinem Aussehen doch mal wieder vor die Theke, Elisa", scherzte Lenora, die nicht so klein und nicht ganz so zierlich war wie ihre Kollegin.

"Nur kein Neid, weil ich nicht so gepolstert bin wie du", grummelte Elisa.

Ein junger Bursche gerade Anfang zwanzig kam sich verlegen umsehend herein. Sein nachtschwarzes Haar war auf nur einen Millimeter herabgestutzt. Er sah die drei Frauen hinter der Bar an und schien zu überlegen, ob die nur hier oder auch sonstwo im Haus arbeiteten. Irgendwie wollte oder konnte er nicht sofort sagen, was er wollte. Maruja bot ihm an, sich erst einmal an die Bar zu setzen. Er nahm das Angebot an und trank erst einmal einen alkoholfreien Cocktail. Dabei sah er die Bilder an und überlegte wohl, mit welcher er die nächsten Stunden verbringen sollte. Dann fragte er, ob er nicht auch zwei Stunden nur so an der Bar sitzen dürfe. Lenora und Elisa grinsten verwegen, während Maruja ihn ganz ruhig ansah und sagte: "Wenn du Angst hast, dass du gegen deinen Willen was ungehöriges tun sollst, kannst du gerne an der Bar sitzen. Aber wenn du doch noch was erleben möchtest kann ich dir eine von uns empfehlen, die gut darin ist, Hemmungen ganz sanft abzubauen und einem doch noch was gutes zu tun."

"Öhm, mir wurde gesagt, herzukommen und ... Ich glaube, das ist für Sie nicht wirklich wichtig", erwiderte der Mann, der gerade erst die Schwelle zum Erwachsensein überschritten hatte. Maruja nickte und deutete dann auf eines der Bilder, das eine jung aussehende Frau mit rotbrauner Lockenpracht zeigte. "Esperanza Aurora", las der junge Mann auf dem Schild unter dem Bild. Er musste gegen die an den Tag gelegte Schüchternheit doch verwegen grinsen. "Hoffnung und Morgenrot. Ist die für die ... die Erstkunden zuständig?" fragte er.

"Ganz genau", erwiderte Maruja lässig. Elisa grinste hinter dem Rücken der offiziellen Managerin der Casa del Sol. "Und wenn du doch keine Lust empfinden solltest kannst du dich gerne auch bei ihr hinlegen und zwei Stunden entspannen. Sie lässt dich dann auch in Ruhe. Aber jede Stunde hier kostet 50 Euro Basispreis, je nach Dienstleistung eben nach Absprache hier unten oder bei einer der Mädchen oben, so die Hausordnung. Mit Karte zahlen geht auch ganz diskret, wobei du wählen kannst, als was für ein Geschäft der Erholungsbranche wir kassieren sollen."

"Eh, Lustig, in nem ... Eroscenter mit Karte zahlen. Hat was für sich", grinste der junge Mann unvermittelt. "Wir sind eben sehr anpassungsfähig", erwiderte Maruja.

"Öhm, dann gehe ich zu dieser Hoffnungsvollen Morgenröte rauf", sagte der junge Mann nach fünf Sekunden Bedenkzeit. Maruja nickte ihm zu. Sie erbat eine Vorkasse für zwei Stunden. Wenn er mehr als nur Ausruhen haben wollte konnte er ja mit der Kollegin abrechnen.

"Elisa sah dem jungen Erstkunden nach, wie er durch die Tür zum 1-Personen-Aufzug ging, die diskreteste Art, in die oberen Stockwerke zu kommen.

"Ja, jetzt hätte ich doch besser mal an einem der Tische gesessen. Erstkunden sind immer so überbehutsam und dafür sehr lernwillig", grinste sie.

"Na klar, und nachher hätte er seinen Kumpels erzählt, es mit Madonnas Zwillingsschwester getrieben zu haben", feixte Lenora.

"Wäre doch mal eine Werbung für uns", erwiderte Elisa.

Die Zugangstür für angestellte ging auf und Loli trat ein. Sie wirkte noch kraftstrotzender und zugleich anmutiger als sonst, ja schien irgendwie ein wenig größer und üppiger geworden zu sein. Maruja atmete auf, als die überirdisch schöne Frau mit den schwarzblauen Haaren und den wasserblauen Augen zu ihr hinkam. Maruja meinte, in ein Kraftfeld aus purer Begierde gebadet zu werden. So hatte sie früher nur empfunden, wenn sie einen besonders anziehenden Burschen getroffen und ihn dazu gebracht hatte, es mit ihr zu tun. Damals hatte sie erkannt, dass sie keine biedere Ehefrau sein wollte und sie durchaus mit käuflichem Sex was werden konnte. Das war aber schon dreißig Jahre her. Und jetzt meinte sie, die Ich-Erzählerin in Madonnas Superhit "Like a Virgin" zu sein, das berühmte erste Mal noch einmal vor sich zu haben und sich Knall und fall in Loli verliebt zu haben. Dass sie eine heimliche Lesbierin war erschien ihr auch irgendwie ganz neu.

"Hallo Maruja, war für ein paar Tage unterwegs. Aber jetzt bin ich wieder da. Ist was besonderes gelaufen?" wollte Loli wissen.

"Gerade vorhin sind wieder zwei reingekommen, die wohl mehr über das Personal als über das Angebot wissen wollten. Sie sind dann zu Clarabella und Rufina raufgegangen", erwiderte Maruja.

"Gleich zwei Männer, schön, viel Umsatz", erwiderte Loli.

"Ja, und es hat mal wieder wen zu uns geführt, der wohl dazu beauftragt wurde, endlich sein ... sein erstes Mal zu erleben", erwiderte Maruja. Ihr war irgendwie so, als müsste sie Loli gleich hier vom Fleck weg lieben, ihr zeigen, was sie alles konnte und von ihr mitkriegen, was sie zu biten hatte.

"Ach, und wem hast du ihm anvertraut, maruja?" fragte Loli leise.

"wen wohl, Esperanza Aurora", seufzte Maruja. Denn irgendwie hätte sie diesen Burschen wohl auch gerne in die Welt der Kundigen eingeführt. Aber sie musste hier an der Bar sein, wenn mehr als drei Mädchen frei waren, so die Betriebsordnung. Loli schien zu merken, dass ihre ältere Kollegin ein wenig aus der üblichen Spur war und fragte, ob sie ihr irgendwie helfen könne. Darauf erwiederte Maruja: "Öhm, ich weiß nicht, ob ich das annehmen darf. Aber ... Wie ist das zwischen Frauen?" drang es unvermittelt aber leise aus ihrem Mund. Loli grinste mädchenhaft und flüsterte dann: "In drei Stunden weißt du es, meine treue Statthalterin." Maruja konnte zwar mit dem Begriff Statthalterin nichts anfangen, weil sie bisher immer als Kollegin oder Liebesschwester angesprochen worden war, aber wenn Loli echt auf sie eingehen würde, warum nicht. Dann würde sie auch diese Erfahrung haben, selbst wenn sie seit fünf Jahren nur noch seltenst auf eines der Zimmer hochging, wenn mal wieder wer kam, der keine jungen Mädchen oder zu wilde Frauenzimmer buchen wollte.

"Okay, wir warten, bis die Nacht um ist. Dann suchen wir uns eine schöne Ecke aus", erwiderte Loli, und Maruja meinte, dass sie ihre Stimme nicht mit den Ohren, sondern direkt in ihrem Kopf gehört hatte. Doch das war sicher der in ihr aufgekommene Hormonschub, dachte sie mit einem Rest von Sachlichkeit.

Maruja musste jedoch feststellen, dass Lolis besondere Ausstrahlung auch von den noch hier wartenden Kolleginnen bemerkt wurde. Auch die sahen so aus, als würden sie gerade heftigst mit Glückshormonen überflutet. Doch Loli blieb ganz gelassen und scherzte mit ihnen, was in den letzten Tagen so gelaufen war. Sie verriet jedoch nicht, warum sie seit dem 25. April nicht mehr hier gewesen war. Dann schien sie von einem zum anderen Moment in eine Alarmstimmung zu verfallen. Sie winkte den dreien zu und zischte: "Muss ganz schnell wohin, Mädels. Bin gleich wieder bei euch. Wenn noch wer nach mir fragt, ich bin gerade nicht frei. Danke!" Mit diesen Worten eilte Loli durch die Tür für Angestellte, die in den Trakt mit den Badezimmern führte. Maruja fühlte, dass irgendwas ihre so überirdisch attraktive Kollegin erzürnt hatte. Aber was?

"Mädchen, wir sagen besser gar nicht, dass Loli bei uns ist. Ich denke, das seht ihr ein", sprach Maruja. Die beiden Kolleginnen nickten zustimmend.

__________

Sie war wütend und besorgt zugleich. Sechs Tage hatte sie unfreiwillig untätig in ihrem Lebenskrug zugebracht. Dann war sie mit einem Gefühl unbändiger Kraft und Wachheit wieder aufgewacht, als habe sie in der Zeit die dreifache Menge erbeuteter Lebenskraft in sich aufgenommen. Als sie dann erfahren hatte, dass es schon der 3. Mai des Jahres 2003 war hatte sich Itoluhila alias Teresa Dolores Herrero beeilt, ihr für ziemlich sicher gehaltenes Höhlenversteck zu verlassen und sich zeitlos in ein Badezimmer in der Casa del Sol versetzt. Aus diesem war sie dann in den Bar- und Wartebereich hinübergegangen und hatte behutsam die Gedanken ihrer Schutzbefohlenen erkundet. Dass Maruja wegen der von ihr ausgehenden Ausstrahlung sichtlich angeregt war gefiel ihr. Sonst wirkte ihre Ausstrahlung eher auf geschlechtsreife Menschenmännchen zwischen 13 und 120 Jahren. Gut, dann würde sie nachher ausprobieren, was sie der altgedienten Liebeskünstlerin an Techniken der körperlichen Frauenliebe zeigen konnte. Als sie dann erfahren hatte, dass zwei wohl amerikanische Besucher sich nach dem Hauspersonal erkundigt und einer gezielt nach ihr selbst gefragt hatte, erkundete sie mit ihrem Gespür für fremde Gedanken und Gefühle das ganze Haus. Im Moment waren ja nur drei Kunden hier, und die hier arbeitenden Freudenmädchen vertrieben sich die Wartezeit auf ihren Zimmern mit Kreuzworträtseln oder Videofilmen. Der junge Mann wurde gerade von Esperanza Aurora behutsam mit ihrem Körper vertraut gemacht und würde sicher noch eine sehr lehrreiche wie vergnügliche Zeit haben. Die zwei anderen waren gerade mit ihren Kolleginnen Clarabella und Rufina zusammen. Doch Clarabellas Gedanken wirkten wie im Traum, als nehme sie die Umwelt nicht mehr bei vollem Bewusstsein wahr und beantwortete gerade Fragen, die ihr Kunde ihr stellte. Als sie den genauer erforschte mischten sich Wut und Besorgnis zu einem kurzen aber heftigen Hitzeschauer. Als sie dann noch feststellte, dass auch Rufina in dieser weltentrückten, ja rauschartigen Verfassung war und von ihrem Kunden gefragt wurde, seit wann sie mit dem schwarzen Engel zusammenarbeitete und ob sie diesem selbst schon mal begegnet sei war für Itoluhila das Maß voll. Sie verließ den Warteraum und ging Richtung Mitarbeiterbad. Nach drei Schritten blieb sie stehen und konzentrierte sich auf Rufinas Zimmer. Keine Sekunde später stand sie selbst darin.

"Wann hat dich der schwarze Engel angesprochen, Cristina?" fragte der vor der auf dem breiten, scharlachrot bespanntem Bett liegenden Frau mit der feuerroten Löwenmähne. "Ich habe das von 'ner Kollegin mitgekriegt, dass der auf uns Straßenmädchen aufpasst, wenn wir ein wenig von unseren Einnahmen abgeben. Die Kollegin hat mir dann auch geholfen, hier in die Casa reinzukommen."

Itoluhila fühlte, dass der andere sie spürte, ihre überragende Ausstrahlung traf ihn. Deshalb sprach er die in seinem Geist aufgestiegene Frage nicht mehr laut aus. Doch Itoluhila beantwortete sie laut genug, dass Rufina und der Fremde sie verstanden:

"Ja, du hinterhältiger Wicht, das war ich, Loli, die die junge Dame hier angesprochen hat." Der andere fuhr herum und sah sie. Doch er wich ihrem direkten Blick aus. Sie erfasste, dass er wohl schon davon gehört hatte, dass ihre Augen eine hypnotische Macht haben mochten, was er als Profi nicht grundweg abstreiten wollte. Er riss seinen linken Arm hoch, als habe er eine Waffe in der Hand. Itoluhila stand ganz ruhig vor ihm und ließ es zu, dass er sein Handgelenk blitzschnell drehte. Ein leises Pfeifen und ein unangenehm schmerzhafter Einstich an Itoluhilas Hals zeigten dieser, dass der andere sie mit einer getarnten Schusswaffe erwischt hatte. Doch es war keine Pistolenkugel, sondern ein vergifteter Pfeil. Dessen Wirkung fühlte sie für genau zwei Sekunden als heißkaltes Prickeln in ihrem Körper. Dann ebbte die Wirkung schon wieder ab. Itoluhila griff ganz ruhig nach dem keinen Finger langen, hauchdünnen Pfeil und zog ihn aus ihrem Hals. Der Fremde, der ihr das Ding verpasst hatte stand da und erstarrte vor Schreck. Diesen kurzen Moment nutzte nun Itoluhila.

"Wie heißt es bei euch so schön: "Zwei Sekunden für den Angreifer, die nächsten zwei für den Angegriffenen", knurrte sie, während sie schnell und gnadenlos wie eine Beute machende Katze zupackte und den vermeintlichen Kunden mit einem kraftvollen Schwung neben Rufina auf das Bett warf. Er versuchte, seine Arme freizubekommen. Doch da saß Itoluhila schon auf seinen Beinen und hielt seine Unterarme fest in die Matratzen gedrückt. Jetzt suchte sie den Blickkontakt. Doch er schloss einfach die Augen. Also nutzte sie eine andere ihrer Fähigkeiten. Sie drückte ihr Gesicht auf seines und presste ihre auf seine Lippen. Er fühlte wohl, dass sie ihm kraft wegnahm, konnte aber nichts mehr dagegen machen. Er wand sich noch mehrere Sekunden, dann fiel er in eine tiefe Ohnmacht. Sie würde ihn gleich noch weiter behandeln. Doch er hatte ja noch einen Kollegen, der denselben Auftrag hatte.

Wieder ganz geräuschlos wechselte sie in Clarabellas Zimmer, wo die halbafrikanisch- halbeuropäischstämmige Liebeskünstlerin gerade berichtete, wo Loli häufiger zu finden war. Auch hier machte wohl ihre Ausstrahlung, dass der verhörende sie ohne zu sehen und zu hören bemerkte. Diesmal ließ sie es aber nicht darauf ankommen, dass er ihr einen ähnlichen Giftpfeil in den Körper schoss, sondern versetzte ihm beim umdrehen einen gezielten Handkantenschlag an die Stirn. Es war doch gut, dass sie in ihrem sehr langem Leben auch waffenlose Kampftechniken erlernt hatte, wenn Magie zu lange dauerte und sie den Gegner nicht gleich töten wollte.

"Schlaf ein, meine dunkelbraune Schönheit, schlaf tief und ruhig!" befahl sie Clarabella. Doch die reagierte nicht wie üblich. Sie lag nur da und trieb in einem Zustand zwischen Wachsein und Traumschlaf. Sie war zu keinen eigenen Gedanken fähig, hörte zwar den Befehl und versuchte, ihn zu befolgen. Doch ihr Körper sprach nicht darauf an. Itoluhila sog tief Luft in ihre Nasenflügel und besah sich die Kollegin mit der mittelbraunen Hautfarbe und der ausgeprägten Oberweite. Sie fand zum einen einen winzigen Einstich an ihrem Hals und einen weiteren Einstich an ihrem rechten Arm. Dieser Bursche hier hatte ihr doch wirklich zwei üble Gifte verabreicht, wovon das eine eine den Willen lähmende und das andere eine berauschende Wirkung hatte. In der Kombination war das wohl eine Wahrheitsdroge, wie sie Itoluhila schon in Persien kennengelernt hatte.

Um keine weitere Zeit zu vertun nahm sie den Arm des von ihr bewusstlos geschlagenen und brachte ihn zeitlos in ihre Schlafhöhle. Dasselbe tat sie fünf Sekunden später mit dem zweiten falschen Kunden. Die zwei von ihnen betäubten Mädchen würden wohl noch eine gewisse Zeit von dieser Giftmischung beeinträchtigt.

Als die zwei von ihr überwältigten wieder aufwachten lagen sie gefesselt am Boden. Sie erkannten sofort, dass sie nicht mehr in den Zimmern der Casa del Sol waren. Dann widerfuhr ihnen noch etwas, womit sie nicht gerechnet hatten. Ihre Überwinderin machte sich an ihren privatesten Stellen zu schaffen, bis sie höchst unfreiwillig in der richtigen Erregung waren, dass Itoluhila sich mit ihnen körperlich vereinigen konnte. Auf diese Weise entzog sie einem nach dem Anderen nicht nur einen Gutteil seiner Lebenskraft, sondern konnte jeden von ihnen nun auch geistig unterwerfen.

Der ältere der beiden war Itoluhilas erstes Opfer. Er versuchte sich zwar noch zu wehren, doch nachdem die unirdisch schöne, unbestreitbar gefährliche Fremde ihn immer leidenschaftlicher beschlief verklang sein Widerstand. Er glitt in einen ähnlichen Zustand wie das Mädchen, dass er mit einem kleinen Injektionsfeil aus einem besonderen Armbandschussgerät und einer anschließend gesetzten Spritze behandelt hatte. Der jüngere Fremde wollte noch rufen, dass sein Begleiter nichts verraten durfte, doch er war geknebelt, bis Itoluhila alles erbeutet hatte, was sie an Wissen und Lebenskraft absaugen wollte, ohne ihren Gefangenen zu töten. Als sie sich dann über den jüngeren Hermachte säuselte sie ihm zu: "Wehr dich nicht, dann ist das für dich so schön wie nichts davor und nichts danach!" Tatsächlich hatte der andere wohl schon resigniert und ließ es zu, dass sie ihn ansah und so der Zauberkraft ihres Blickes unterwarf. Als sie den anderen ebenfalls in eine tiefe Bewusstlosigkeit versenkt hatte erhob sich Itoluhila. Das war noch schöner und kraftspendender gewesen als vor diesem unerklärlichen Angriffsversuch auf ihre Schlafhöhle. Jetzt wusste sie, dass Jonathan Chandler und Mark Stockwell für den US-amerikanischen Marinegeheimdienst ONI arbeiteten und den Auftrag hatten, das Verschwinden von drei Matrosen zu untersuchen, die am Abend vor dem Auslaufen ihres Schiffes zuletzt in der Casa del Sol gewesen waren. Recherchen hatten ergeben, dass dieses Freudenhaus von einem unbekannten Verbrecher betrieben wurde, der sich als schwarzer Engel bezeichnete und dass dieser meistens eine gewisse Loli vorschickte, um mit den frei schaffenden Prostituierten zu verhandeln. Wer dem Kriminellen lästig fiel konnte von jetzt auf nachher verschwinden, so waren sie gewarnt worden. Dennoch hatten sie den Auftrag angenommen, denn Jonathan Chandlers Neffe Tim gehörte zu den drei vermissten. Er wollte klären, ob sein Neffe desertiert war oder wegen irgendwas mit diesem schwarzen Engel aneinandergeraten war und deshalb hatte sterben müssen. Tja, jetzt wusste es Jonathan Chandler. Doch er würde es nicht mehr an seine Leute weiterverraten. Itoluhila wusste, dass es vielleicht doch ein Fehler gewesen war, die drei Amerikaner restlos aufzubrauchen. Doch den Fehler konnte sie hier und heute berichtigen. Sie war zumindest heilfroh, dass sie noch rechtzeitig aufgewacht war, um weitere unangenehme Nachforschungen abzuwenden.

So wie sie es schon hundertfach in den letzten Jahrtausenden getan hatte nutzte sie eine Mischung aus Geschlechtsakt und Zauberkraft, die beiden behutsam aber unentrinnbar zu ihren neuen Abhängigen zu formen. Diese würden selbst dann noch verschweigen, ihr zu gehören, wenn sie von jener Mixtur kosten mussten, die sie Itoluhilas Kolleginnen verabreicht hatten. Denn sie lagerte bei ihrer Behandlung gewisse Schutzmechanismen in den Geist der Unterworfenen ein, ja ließ sogar etwas von ihrer orangeroten Lebensessenz in diese einfließen, damit sie Giften und mittelstarken Körper- und Geistbeeinträchtigungszaubern widerstanden. So hatte sie es bei einer ihrer ersten sterblichen Dienerinnen auch getan, die sie über Jahre hinweg geführt und beschützt hatte, bis über ihren Tod hinaus. Bei dem Gedanken an ihre langjährigste und mächtigste Dienerin überhaupt überkam sie ein merkwürdiges Gefühl, als sei da etwas, was sie noch unbedingt prüfen müsse. Doch zuerst musste sie die zwei Marinespione auf ihre Seite umdrehen, wie es bei denen so schön einfach genannt wurde. Sie musste davon ausgehen, dass die zwei, wenn sie in ihre Dienststelle zurückkehrten womöglich selbst verhört wurden. Also galt es auch, ihnen neue Erinnerungen einzugeben, dass sie nicht in der Casa del Sol gewesen waren, sondern auf anderem Weg erfahren hatten, dass die drei Amerikaner schlicht weg von Spanien aus desertiert waren, wohl weil sie nicht für diesen Kriegslüstling George W. Bush im Irak kämpfen wollten. Das würde die Geheimdienste und Militärpolizeitruppen so richtig rotieren lassen. Nur von ihr gesendete Gedanken sollten sie dann dazu bringen, in ihrem Sinne zu handeln.

Als sie Jonathan Chandler und Mark Stockwell endgültig auf ihre Seite gezogen hatte brachte sie die zwei in die Nähe ihres kleinen Hotels am Stadtrand von Sevilla. Dort befahl sie jedem, bis übermorgen in Spanien zu bleiben und dann in die Staaten zurückzukehren. Anschließend kehrte sie in die Casa del Sol zurück, um den zwei bedrogten Kolleginnen das Gegengift zu verabreichen, dass sie zwar die letzten Stunden vergessen ließ, aber keine weiteren Auswirkungen der beiden anderen Drogen zur Folge hatte.

Um ihr langes Ausbleiben zu rechtfertigen erwähnte sie ihren drei Mitarbeiterinnen an der Bar, dass sie einen Kunden empfangen hatte, der nicht durch den üblichen Wartebereich gehen wollte. Das hatte sie tatsächlich schon häufiger getan und so ein gewisses Netzwerk einflussreicher Helfershelfer geknüpft, die ihr eigentlich so leute wie Chandler und Stockwell vom Hals halten sollten. Sie schob diesen Vorfall darauf, dass sie eben erst so spät aus dem ungewollten Schlaf aufgewacht war.

Wie sie es Maruja angeboten hatte ließ sie die Nacht mit ihr zusammen erst gemütlich und dann leidenschaftlich ausklingen. Dabei übertrug Itoluhila ihrer Mitarbeiterin klammheimlich etwas von der in sich aufgenommenen Lebenskraft und band Maruja damit still und leise an sich, machte sie genauso gegen Gifte und Zauberflüche immun wie die zwei Marinespione aus Amerika. Zum Schluss überreichte sie ihr noch eines von zehn selbstgefertigten Medaillons mit dem eingravierten Zauberspruch, dass ihr Leben und das der damit beschenkten untrennbar und alle Zeit Miteinander verbunden waren. Der Vorfall mit den beiden Agenten hatte ihr sehr deutlich gezeigt, wie wichtig eine weitere wachende Kraft in der Casa del Sol war, wenn sie, Loli, wegen sowas wie der magischen Kraftwelle ausfallen mochte oder gerade anderswo zu tun hatte.

Maruja war wortwörtlich verzaubert von der Anmut, der Fertigkeiten und dem Geschenk ihrer Mitarbeiterin, von der sie bis dahin nicht wusste, dass es auch ihre Chefin war. Am Ende schlief die offizielle Geschäftsführerin der Casa del Sol neben Itoluhila in dem für ihr gemeinsames Feierabendvergnügen bezogenen Bett ein.

Als die Nacht vorbei war kehrte Itoluhila in ihre Schlafhöhle zurück. Der Gedanke an ihre langjährigste Dienerin, einer sehr vielfältig begabten Magierin und sehr nach männlicher Zuwendung gierenden Frau, beunruhigte sie ein wenig. Sie horchte in sich hinein. Hatte der Kraftstoß, der sie in den Schlaf gestürzt und dabei doch um so mehr bestärkt hatte, irgendwas verändert. Sie dachte an den Pakt, den sie mit der sich als Sorcière, Hexe bezeichnenden Dienerin geschlossen hatte. "Wenn ich doch sterben sollte, Tilia, dann mach bitte, dass ich nicht in dieses Totenreich gerate, wo es keine körperliche Liebe mehr gibt! Kannst du das?" hatte sie die sich damals Tilia Marinera nennende Tochter des schwarzen Wassers gefragt. Diese hatte ihr geantwortet, dass sie sie bei Eintritt ihres körperlichen Todes zu sich nehmen konnte und bewirken konnte, dass ihre Seele als Tochter einer Blutsverwandten wiedergeboren wurde, sobald diese ihren Namen erhielt. Dabei musste sie wohl was verkehrt gemacht haben. Denn statt bald möglichst von einer Blutsverwandten ihrer Dienerin wiedergeboren zu werden verblieb deren Seele in Itoluhilas innerer Obhut. Dann fiel ihr ein, dass sie den Auffangzauber so gestaltet hatte, dass ihre Dienerin in einer Tochter ihres früheren Namens wiederverkörpert werden sollte. Offenbar war das deren Blutsverwandten zugetragen worden, und die hatten dann beschlossen, dass keines der in direkter Blutlinie abstammenden Mädchen denselben Namen bekommen sollte. Denn bis heute hatte keine ihrer Blutsverwandten und deren Nachfahrinnen einer Tochter denselben Namen wie ihrer Dienerin gegeben. So hatte sie deren schlummernde Seele all die Jahre in sich gefühlt, als ganz leises, gleichmäßig auf- und abschwellendes Gedankensummen. Auf das lauschte sie nun. Sie lauschte eine halbe Minute. Doch das in ihrem Geist ganz unterschwellig klingende Summen war nicht mehr zu hören. Statt dessen erspürte sie einen scheinbar sehr fernen Geist, den Geist einer Frau, die wie in einem langen, wohligen Schlaf lag. Als sie den fernen Geist genauer erkunden wollte fühlte sie einen leichten Hitzestoß in ihrem Unterleib. Dann fühlte sie, dass der Geist der anderen erwachte und seine Umgebung als dunklen Raum wahrnahm, in dem zwei regelmäßig klingende Geräusche zu hören waren, ein langsameres und ein schnelleres, leises Pochen. "Oh, es wart vollbracht. Eine meiner Nachtöchter trägt mich unter ihrem Herzen", hörte Itoluhila die wie von einer erwachsenen Frau klingende Gedankenstimme.

"Das ist nicht wahr, bei Tante Ashtarias Glibberdose", knurrte Itoluhila in Gedanken. Es konnte nicht angehen. Denn sie fühlte, dass der von ihr aufgeweckte Geist im selben Raum wie sie war, ja einen Teil ihres inneren Raumes selbst einnahm. Sie lauschte noch einige Sekunden, bis sie die Gewissheit hatte, dass die von ihr über Jahrhunderte aufbewahrte Dienerin erwacht war. Doch diese war nicht wie im magischen Pakt vereinbart im Körper einer ihrer Nachtöchter erwacht. Sie musste die endgültige Gewissheit haben.

Itoluhila führte ihre Hände behutsam über ihren Körper. Damit konnte sie den körperlichen Zustand eines anderen menschlichen Wesens und den eigenen erfühlen. Als ihre Hände über ihren Unterbauch glitten fühlte sie jenes pulsierende An- und Abschwellen von Wärme, das ihr verriet, dass dort ein neues Leben heranwuchs. Aber genau das durfte nur unter einer Bedingung geschehen, wenn eine ihrer anderen Schwestern starb und deren Geist den Weg zu ihr fand. Itoluhila lauschte wieder in die weitere Umgebung hinaus. Sie konnte ihre eigenen Schwestern nicht mehr hören! Die waren verstummt! Hieß das, dass sie nun eine von ihnen neu austragen musste? Dann hörte sie die tierhafte Gedankenstimme ihrer wiedererwachten Mutter. Diese lebte gerade jene Instinkte einer befruchteten Ameisenkönigin aus, möglichst viele Kinder zu haben, ein sehr großes Volk heranzubrüten. Itoluhila hörte aus der Gedankenstimme ihrer Mutter Ähnlichkeiten mit der von ihr eroberten Alison Andrews heraus. Jedenfalls war Lahilliota mit der Eiablage beschäftigt. Am Ende waren ihre Schwestern alle tot und würden aus Lahilliota neu entspringen, nicht mehr als vaterlose Menschentöchter, sondern als niedere, ihrer Königin unterworfene Kerbtiere. Der Gedanke daran erschauerte Itoluhila. Sie musste mit ihrer Mutter in Verbindung treten, sie fragen. Doch zuvor wollte sie noch einmal in sich hineinlauschen. Sie verschloss sich vor den tierhaften Bedürfnissen ihrer verwandelten Mutter und horchte wieder in sich hinein. Ja, sie erfühlte, dass es keine ihrer Schwestern war, die da in ihr heranwuchs. Sie trug ihre frühere Dienerin im Leib, vaterlos empfangen und nach ihrer eigenen Erfahrung mit dem Körperzustandspürer bereits im dritten Mond. Gerade verfiel der vor kurzem aufgewachte Geist ihrer Dienerin in einen erneuten Schlaf. Diesmal wagte Itoluhila nicht, ihn durch gezieltes Berühren neu zu wecken. Sie wusste nun, was sie wissen musste, auch wenn es ihr nicht gefiel. Sie fühlte zum ersten mal seit Jahrhunderten Tränen in ihre Augen steigen. Das letzte mal hatte sie geweint, als bis auf Ilithula alle ihre Schwestern in den langen Zauberschlaf gebannt worden waren und sie hatte zusehen müssen, nicht selbst in diesen tiefen Schlaf gezwungen zu werden. Ilithula, ihre über Jahrhunderte einzige Geistesgefährtin, der am Ende sie, Itoluhila, ganz übel mitgespielt hatte, nur um nicht Hallittis neue Mutter werden zu müssen. Das hatte ihr den Unmut ihrer von ihr aufgeweckten Schwestern und auch einen kurzen Tadel ihrer Mutter eingebracht, auch wenn Lahilliota am Ende froh war, aus Errithalaias Gefangenschaft freigekommen zu sein und im Körper Alison Andrews' weiterleben zu können.

"Hätte ich das gewusst, hätte ich deine Seele nicht an meinen Schoß gebunden, bis eine deiner Nachtöchter sich traut, ihre Tochter nach dir zu benennen. Diese verfluchten Hexen haben beschlossen, dass keine ihrer Nachtöchter mehr so heißen darf. Jetzt habe ich sie auszubrüten", dachte Itoluhila und fragte sich, ob es dann nicht besser wäre, ihrem über viertausend Jahre dauerndem Leben ein Ende zu machen. Doch was, wenn sie dann wie die anderen als niedere, gehorsame Riesenameise wiedergeboren wurde? Diese höchst unerwünschte Aussicht und ihr Klammern an das eigene Leben vertrieben den Gedanken an die Selbstentleibung wieder. Dann kehrte die Unerschütterlichkeit und Entschlossenheit zurück. Sie wollte herausfinden, was für eine Kraft sie getroffen hatte und warum sie nun die neue Mutter ihrer am längsten gehaltenen Dienerin werden sollte. Doch das wollte sie nicht heute tun, sondern sich die nötige Zeit nehmen.

Falls es stimmte, dass alle ihre Schwestern getötet worden waren galt es, zumindest die Kontakte in die Welt der Kurzlebigen aufrecht zu halten. Wenn diese Vampirgöttin, von der sie gehört hatte, weltweit tätig wurde, dann musste sie auch weltweit tätig bleiben. Sie dachte an ihre Kontakte in Spanien, aber auch zwei in England, den Arzt Lyndon Morrow, sowie einen seiner mit Hilfe ihrer unheiligen Heilsmagie von schweren Verletzungen kurierten jungen Mann, Christopher Randolph Maxwell. Mit den beiden würde sie sich in naher Zukunft weiter befassen. Vielleicht, so dachte sie mit einem gewissen verwegenen Grinsen, sollte sie Morrow dazu bringen, sie offiziell zu heiraten, weil er sie bei der letzten intimen Begegnung geschwängert hatte. Zwar lag ihre letzte Begegnung mit ihm schon wieder fünf Monate zurück. Aber mit Gedächtnisveränderungen kannte sie sich ja gut aus. Oder sie brachte ihn dazu, sie aus Ritterlichkeit zu heiraten, weil sie mit dem Kind eines Freiers weder ihren Beruf weiter ausüben noch in ein von vielen Christenmenschen für anständig gehaltenes Leben umsteigen konnte. Den damals verunglückten Motorradfahrer Maxwell wollte sie, solange sich ihre unerhofft wiederverkörperte Dienerin noch nicht zu deutlich erkennen ließ, genauso an sich binden wie Lyndon Morrow und eben gerade erst die zwei Amerikaner und Maruja. Noch hatte sie fünf neue Medaillons da, und um ein neues zu machen brauchte sie nur vier Wochen, weil hierfür die Leuchtkraft des Mondes durch alle seine Phasen benötigt wurde. Ja, so konnte sie ihr weiteres langes Leben gestalten.

__________

In der Versammlungshöhle der einstmaligen Jünger Heptachirons, die Nacht zum 4. Mai 2003 christlicher Zeitrechnung

Es waren genau fünfhundertsechzig Söhne und Töchter der Nacht, von der gerade erst einen Mondwechsel alten Blutstochter bis zum achthundert Jahre alten Nachtschneehaarigen. Die Versammlungshöhle, die einstmals dem siebenarmigen Götzen Heptachiron gewidmet war, bot sich ideal als Ort der ersten großen Zusammenkunft an, hatte Gooriaimiria beschlossen. In mehreren Gruppen waren die Teilnehmer von ihr persönlich durch den Schattenstrudel hier abgesetzt worden, bis sie alle in dieser Nacht nicht vermissten Dienerinnen und Diener versammelt hatte. Unter den vielen Nachttöchtern waren auch die beiden lesbischen Paare Cantaluna und Hijanoches, sowie Night Swallow und Luna Dorada. Ganz zum Schluss wurde auch die Hohepriesterin der Göttin in dieser Höhle verstofflicht.

Night Swallow, die in der Menschenwelt immer noch als FBI-Frau Sally Fields handelte, fühlte den gewissen Unmut dreier Artgenossinnen aus Italien, die immer noch nicht so recht davon begeistert waren, dass sie nun der einzig wahren Göttin der Nacht zu dienen hatten. Deren Gedanken lesen konnte sie nicht, weil sie mit ihnen kein Blut ausgetauscht hatte. Doch sie war sich sicher, dass die Göttin wusste, wer sie annahm oder ablehnte. Sie bekümmerte nur, dass diese Höhle für so viele Leute sehr eng war.

"Preist die Göttin!" rief Hohepriesterin Nyctodora auf Englisch. Die Sprache konnten die meisten hier. Doch weil eben nicht alle sie verstanden wiederholte sie die Aufforderung in sechs weiteren Sprachen. Jetzt stimmten sie alle in ihren Landessprachen die Huldigung der großen Mutter der Nacht an. Night Swallow sah mit ihren die Dunkelheit durchdringenden Augen, wie sich vor der auf einem erhöhten Felsblock stehenden Nyctodora eine Funkenwolke bildete, die unvermittelt zu einer an die drei Meter aufragenden, in blutrotem Licht leuchtenden Frauengestalt verdichtete, die körperliche Erscheinungsform der Göttin aller Nachtkinder. Alle fielen auf die Knie, auch die mit ihr noch nicht ganz einverstandenen. Denn sie wussten sicher, dass die Göttin sehr hart strafen konnte.

"Meine Kinder", begann die im Raum erschienene Frau aus blutrotem Licht zu sprechen. Ihre Stimme hallte lange von allen Wänden und aus allen Gängen wider wie das Läuten einer mittelgroßen Glocke. "Ich freue mich so sehr, endlich aus dem mir aufgezwungenen Schlaf der körperlichen Untätigkeit erwacht zu sein. Ich bin Dank einer großzügigen Kraftspende zu voller Macht und Größe erwacht. Auch ihr habt von dieser machtvollen Kraft etwas abbekommen, weiß ich. So soll die Nacht, in der diese mächtige Gabe uns erreicht hat als Beginn eines neuen Zeitalters gefeiert werden, in dem wir Kinder der Nacht die Vorherrschaft der kurzlebigen, rotblütigen Kinder des Tages beenden und sie uns allen Untertan machen, auf dass sie wie niederes Nutzvieh oder nützliche Handlanger unserer Ziele dienen, Bürger, Feinde oder Futter für uns alle sind, die wir die wahren Herren der Welt sind. Denn wir leben länger, sind Schneller, stärker und widerstandsfähiger als die Taggeborenen, können wesentlich besser hören, riechen und sehen als diese und zudem mit Hilfe der transformativen Trance als große Fledermäuse durch die Nächte fligen." Mit diesen Worten wurde aus der riesenhaften nackten Frau mit verdächtig nach viertem Schwangerschaftsmonat aussehenden Bäuchlein eine drei Meter große Riesenfledermaus. Als diese sprach sie mit piepsenden Lauten weiter: "Deshalb, weil wir alles das können, ist es endlich Zeit, den Menschen beizubringen, dass unser Dasein keine Krankheit oder Abartigkeit ist, sondern ein Vorrecht und eine Verantwortung." Innerhalb einer Sekunde wurde aus der roten Riesenfledermaus wieder die unbekleidete Riesenfrau. Als diese sprach sie mit ihrer raumfüllenden Stimme weiter: "Wir wurden als Sklavinnen und Sklaven eines nach Vernichtung der Welt gierenden Magiers erschaffen, von ihm gesteuert und beherrscht, nur seinem Willen zu folgen. Dieser Magier wurde das Opfer seiner eigenen Verschlagenheit, als ihn ein anderes Hexenweib regelrecht verschlang und seinem Geist nur noch die Flucht in ein von ihm geschaffenes Gefäß blieb. Seine Handlanger und Knechte versuchten, uns weiter zu unterdrücken. Ja, auch welche von uns, die in mir aufgegangene Nyx eingeschlossen, nutzten das Werkzeug seiner Macht, um andere Nachtkinder zu beherrschen, von den Einflüsterungen seines darin eingelagerten Seelensplitters getrieben. Doch nun ist der Sklaventreiber endgültig entmachtet, sein Werkzeug der Macht ist meine Brutzelle gewesen. Nun, wo ich die Göttin der Nachtkinder bin, ist die Zeit gekommen, uns zu nehmen, was uns zusteht. Holen wir uns die Welt und gewöhnen wir den magielos lebenden Menschen die Zerstörungswut ab, mit der sie im Namen des Wohlstands und der Bequemlichkeit unseren Planeten verheeren.

Meine Kinder, ich weiß, das wird nicht leicht sein. Denn wir haben mehr Feinde auf der Welt als Freunde. Zwar fühle ich im Moment nur, dass eine der verhassten vaterlosen Töchter der Verfluchten wach ist und eine ihrer Verwandten wohl irgendwie zu sehr mit sich beschäftigt ist. Aber da sind noch die uns entgegengestellten Auswürfe widerwärtiger Feuerbändiger und Sonnenanbeter, sowie eine Gruppe von schattenhaften Nachtgespenstern, die von einer ehemaligen Sklavin eines anderen Helfers unseres Schöpfers geführt werden. Diese sehen sich selbst als wahre Kinder der Nacht und wollen wie wir ihre Art zur herrschenden Rasse der Welt machen. Aber Schatten sind keine lebendigen Wesen. Sie gefährden unser Dasein. Sie müssen weg, wie diese widerlichen Sonnenkinder, deren Macht eine der in mir aufgegangenen zu spüren bekam, als diese versuchte, unser Reich auf Erden zu begründen. Auch die Sonnenkinder müssen von der Erde verschwinden.

Ich habe in den Tagen, in denen ich mein endgültiges Erwachen erlebt habe, einen Plan gefasst. Wir werden auf jedem Erdteil eine Festung und Verehrungsstätte errichten, einen Tempel der Nacht, dazu gedacht, Zuflucht und Ausgangsort für unseren Feldzug wider die Kurzlebigen zu sein. Hierzu werden wir jene dunklen Kristalle erschaffen müssen, mit denen ich die mächtigen grauen Krieger erschuf, die noch stärker als alle anderen sind und zu denen jeder von euch werden kann, der oder die bereit ist, mir bis in den Tod des eigenen Körpers treu zu sein. Diese Streitmacht muss gestärkt werden, damit wir den Kampf, der vielleicht Jahrzehnte dauert, gewinnen werden. Die insgesamt sieben Tempel meiner Macht sollen zu uneinnehmbaren Festungen werden, wie die dunkle Festung jenes Magiers, der unsere Vorfahren erschuf, um sie als seine willigen Sklaven und Kriegsknechte zu benutzen.

Wir werden gegen viele Widerstände ankämpfen müssen, auch und vor allem von den Magie wirkenden Leuten, die meinen, sie müssten über uns bestimmen und beschließen, nur um ihr Dasein vor dem Rest der Menschen geheimhalten zu können. Sei es, dass wir ihnen bald zeigen, dass die Zeit der Heimlichkeiten vorbei ist und sie sich entscheiden müssen, ob sie für oder gegen uns sind, meine Kinder!

So soll es sein, dass jene, die das Geschick und die Kenntnisse im Errichten von Bauwerken haben oder wissen, wo bereits bestehende Gebäude für unsere Zwecke eingerichtet werden können, sich damit befassen, die sieben Tempel zu bauen, deren Pläne ich jedem damit beauftragten einzeln mitteilen werde. Jene, die bereits gute Beobachtungsposten und Ausgangsstellungen in der Menschenwelt haben sollen überwachen, wann wer was gegen uns unternehmen wird, um das Vorhaben zu vereiteln. Jene Söhne der Nacht, die darauf brennen, die Rotblüter zu unterwerfen, können sich in den nächsten Nächten entscheiden, ob sie der grauen Garde der Kristallstaubträger angehören oder wie bisher für mein Reich auf Erden kämpfen wollen, wenn die Zeit der direkten Auseinandersetzungen gekommen ist. Bis dahin vermehrt euch weiter, auf dass immer mehr unserer Art auf diesem Planeten bestehen. Doch begeht dabei nicht den Fehler der Rotblütigen, mehr Artgenossen zu haben, als genug Nahrung vorhanden ist! Unser Reich braucht keine Überbevölkerung, sondern klare Regeln und Beschaffenheit.

Schwört mir nun alle die bedingungslose Gefolgschaft, damit das große Werk beginnen kann!"

Nyctodora übernahm es, die Eidesformel vorzusprechen, erst auf Englisch, so dass Night Swallow und Luna Dorada sie nachsprechen konnten. "Ich schwöre bei meinem Leib und meiner Seele, dass ich mein Leben und mein Streben der großen Mutter der Nacht widmen, sie als meine einzig wahre Göttin anerkennen und allen anderen Glaubensformen entsagen, ihre Macht verkünden und vermehren werde, wo auch immer sie mich hinsendet, von nun an bis zum lezten Schlag meines Herzens. Das schwöre ich, weil ich ein Kind der Nacht bin."

Als der Eid dann noch auf Spanisch, Französisch und weiteren fünf Sprachen, die Night Swallow nicht konnte geschworen war, dehnte sich die Erscheinung der erwachten Göttin zu einem blutroten Leuchten aus, das alle und jeden hier erfasste. Night Swallow fühlte, wie sie von einer starken Kraft durchflutet wurde. Dann hörte sie drei Frauen aufschreien und hörte, wie sie offenbar immer kleiner wurden. Das den ganzen Raum erfüllende Leuchten zog sich wieder zu einer riesenhaften Erscheinung der Göttin Gooriaimiria zusammen. Diese deutete um sich herum und sagte mit einer gewissen Verärgerung: "Drei von euch wollten mir die Gefolgschaft verweigern und schworen nicht, ja gelobten, mich zu vernichten, weil jemand ihren wahren Herren und ihre Eltern vernichtet hatte. Ich habe sie in mütterlicher Milde zu mir genommen und bewahre sie nun in meiner vereinten Seele. Du, Cassandra, Mutter dieser drei Unbelehrbaren, hast die Pflicht, mir drei neue treue Töchter zu schenken, zusammen mit deinem Mann, der einstmals Manoquinto geheißen hat und seit dem Ende seines letzten Herren nun Nuntionoctis heißen soll. Das sei die Buße für die drei Ungehorsamen, die ihr mir in den nächsten drei Mondwechseln leisten werdet. Sonst werde ich auch euch euren Körpern entreißen und in mich aufnehmen und für alle Zeit in mir einschließen. So spreche ich, Gooriaimiria, euer aller Göttin."

Night Swallow war so beeindruckt von der Schönheit und Macht der Göttin, dass sie keinen Gedanken daran verschwendete, es mit einer Größenwahnsinnigen oder gar Irrsinnigen zu tun zu haben. Denn sie sah vieles ein, was Gooriaimiria beschrieben hatte. Ihre früheren Artgenossen lebten ja wirklich zu Lasten der Erde, um noch mehr Geld und noch mehr den Alltag erleichternde Dinge zu erzeugen. Ja, und sie alle hier hatten bessere Sinne und größere Körperkräfte. Dennoch dachte sie daran, dass sie ohne die ihren Körper umschließende Sonnenschutzhaut bei Tageslicht qualvoll sterben musste, dass sie nicht in die Nähe von fließenden Gewässern durfte, ohne Ausdauer zu verlieren und dass sie trotz ihrer Langlebigkeit immer noch getötet werden konnte. Unbesiegbar waren sie alle nicht, auch nicht die von der Göttin geforderten Kristallstaubkrieger. Aber sie hatte nun den Eid geleistet und würde ihn befolgen, bis zum letzten Schlag ihres Herzens. Das konnte schon morgen passieren oder in zweitausend Jahren.

"Tja, dann gehe malzurück auf deinen sicheren Beobachtungsposten, meine sinnliche Nachtschwalbe", gedankensprach ihr Luna Dorada zu, als bereits die ersten eingeschworenen Diner der erwachten Göttin die Höhle verließen, um von ihrer Macht getragen an ihre Wohnorte zurückversetzt zu werden. Als endlich auch sie von einem Schattenstrudel ergriffen und in weniger als drei Sekunden durch den magischen Tunnel zwischen zwei Standorten geschleudert wurde, dachte sie daran, dass sie ab heute wirklich ein neues Leben führen musste. Denn irgendwann würde trotz ihres auf Menschen hypnotisch wirkenden Blickes einer auf ihre neue Natur aufmerksam werden und sie jagen, weil sie anders war als die anderen Menschen. Davon, dass es echte Zauberer und Hexen geben sollte hatte sie bisher nichts mitbekommen außer, dass ihre Solexfolie reiß- und kugelfest war. Weil in ihrem neuen Wohnsitz bei New York schon der Morgen graute machte sie sich bereit, ihr Tagwerk zu beginnen. Zur Stärkung nahm sie einen halben Liter aufgewärmtes Rinderblut zu sich. Sicher musste sie bald auch wieder auf Jagd nach lebenden Menschen gehen, um ihnen so behutsam wie möglich genug ihres roten Lebenssaftes abzusaugen und sie danach vergessen zu lassen, von ihr heimgesucht worden zu sein. Doch heute würde sie erst einmal ihren gewohnten Job machen, die Auswirkungen, die der Zerfall des Neuenglandsyndikates nach sich zog. Wie bei einem in Einzelstaaten zerfallendem Großreich gab es auch hier schmerzhafte Nachbeben. Diese zu erkennen und deren Folgen zu beheben war im Moment die Aufgabe der geheimen Einsatzgruppe, der sie zugeteilt worden war.

__________

Auf dem Grunde des Golfstroms, 4. Mai 2003

Gooriaimiria beobachtete heimlich wie gleich zwanzig ihrer Kinder sich daran machten, nach Gebäuden für ihre sieben Tempel zu suchen. Dabei fühlte sie die langsamen Bewegungen Giriainanaansirians, der bis vor kurzem noch Iaxathan geheißen hatte und nun in einem Zustand zwischen Traum und Tiefschlaf dämmerte. Er würde ihr verraten, wie die Tempel abgesichert werden mussten. Von ihm würde sie auch erfahren, wie die Mitternachtsrüstungen geschmiedet werden konnten, die gegen die meisten Elementarkräfte schützten. Damit würde sie dann ihre graue Garde ausstatten, die neuen Kristallstaubvampire. Deren Grundlage, weitere Unlichtkristalle, wurden von den Helfershelfern ihrer Hohepriesterin angefertigt, wobei jeden Tag an die hundert Menschen einen gewaltsamen Tod starben. Bald hatten sie wieder genug, um zwanzig Kristallstaubträger zu machen. Wer die Ehre haben würde, dazuzugehören würde sie später beschließen.

Sie fühlte, dass derzeitig nur die eine Abgrundstochter wach war. Doch irgendwie hatte sie den Eindruck, dass andere dieser Brut auch langsam wieder zu sich fanden. Sie musste also auch einen Weg finden, wie sie eine nach der anderen einzeln angreifen konnte. Heptachiron hatte durch einen aus seinen Jüngern gebildeten Kreis rotblütige Menschen umschließen und dann zu sich hinholen können. Das wollte sie demnächst auch noch ausprobieren, wenn sie wusste, wo die sieben Tempel ihrer Macht errichtet werden sollten. Sie wusste, dass die Zauberstabschwinger, zu denen ihr Kernbewusstsein Nyx einmal gehört hatte, diese Methode mittlerweile kannten und sicher schon nach Gegenmitteln suchten. Aber die Abgrundstöchter wussten das noch nicht. Wenn sie die auf diese Weise einfangen und zu sich hinreißen konnte würde sie sie in sich einzuverleiben versuchen. Doch was wenn diese Biester wegen ihrer anderen Beschaffenheit nicht in ihr aufgehen konnten. Dann half nur, sie von ihren dann hoffentlich vielen Kristallstaubkriegern zugleich angreifen und zerstückeln zu lassen. Ja, so würde es wohl gehen.

__________

In der Schenke zur blutroten Fledermaus unter der Nokturngasse in London, die Nacht vom 4. zum 5. Mai 2003

Erythrina Lunescu ließ sich ihre Besorgnis nicht anmerken. in der nächsten Nacht würde hier in der Schenke eine große Zusammenkunft aller Anführer europäischen freien Nachtkinder stattfinden. Zweck dieser Zusammenkunft war, dass sie den Status der Schenke bestätigten und sicherstellten, dass die sich immer offener zu dieser falschen Göttin bekennenden Nachtkinder hier nicht einfach hereinstürmen und ihnen unliebsame Artgenossen festnehmen oder umbringen konnten. Die Warnung, dass die jahrhundertelange Übereinkunft aufgekündigt werden mochte würde für die Mitbetreiberin der Schenke zweierlei bedeuten. Sie verlor an Einfluss bei den Nachtkindern und sie musste sich entscheiden, wem sie folgen wollte. Sie war ihr ganzes langes Leben lang eine freie Tochter der Nacht geblieben, trotz Heptachiron und trotz mächtigen Magiern wie Grindelwald, Lord Voldemort oder dessen Nachfolger. Sie wollte nicht zu einer willfährigen Götzendienerin werden und für diese Ausgeburt dunkler Verkettungen auch noch sterben.

Wie alle Nachtkinder hatte auch sie die Welle dunkler Kraft gefühlt, die auch durch die blutrote Fledermaus gebrandet war. Nach einer kurzen Besinnungslosigkeit waren sie alle wie von mehreren hundert Litern Blut gestärkt wieder aufgewacht. Das war sicher auch allen anderen Nachtkindern passiert. Damit erklärte sich die zunehmende Dreistigkeit der Anhänger dieser angeblichen Göttin. Womöglich glaubten die noch, ihre neue Herrin sei endgültig erstarkt und würde bald über alle Nachtkinder herrschen.

Sie hatte ihre Bluttochter Silver Gleam dringend angewiesen, nicht eher zu ihr zurückzukehren, bis die Nacht der großen Zusammenkunft vergangen war. Bis heute hatte sie nicht von Silver Gleam erfahren, welche unberührte Hexe sie aus dem von Grindelwald auferlegten Schlaf geweckt hatte. Sie wusste nur, dass sie dadurch mit mächtigen Hexen in Verbindung stand, vielleicht die vom Orden der schwarzen Spinne oder die seit Jahrhunderten heimlich vorgehenden schweigsamen Schwestern. Wie dem auch sei, sie wollte nicht, dass Silver Gleam vor der Zusammenkunft noch einmal mit diesen abwegigen Artgenossen aneinandergeriet oder gar von diesen vereinnahmt wurde.

"Erythrina, die Zulieferer sind da!" hörte sie die Gedankenstimme ihres Blutgemahls. Sie antwortete ihm auf dieselbe Weise: "Ist gut, ich helf dir gleich beim eintreiben der Jungschafe."

Sie legte noch drei blutverkrustete Krüge in einen Zuber voller heißer Lauge. Dann lief sie so leise sie konnte durch die gerade leere Schenke und lief dem angstvollen Blöken und Bähen der in den unterirdischen Ställen eingesperrten Kälber und Lämmer entgegen. Ihr Mann würde wohl schon die ersten frisch angelieferten Tiere in freie Nischen hineintreiben. Sie musste nur zusehen, dass die bestellten zwanzig Jungtiere schnellstmöglich unterkamen, damit die Lieferanten die Nachtdunkelheit ausnutzen konnten, um unbemerkt zu verschwinden. Zwar wussten die Bewohner der Nokturngasse, dass es hier eine Schenke für Vampire gab. Doch wo deren Lieferanteneingang lag musste kein Rotblütler wissen.

Die Tiere hatten Angstunterdrückungselixiere bekommen, weshalb sie nicht wie die anderen Blökten und bähten. Deshalb würden sie sie wohl noch zwei Tage unangetastet lassen, bis der Rest von dem Elixier aus ihnen heraus war. Immer mehr Tiere wurden in die Ställe getragen oder unter der Wirkung des Elixiers eingetrieben.

"Unser Stallmeister hat darum gebeten, darauf hinzuweisen, dass die Beschaffung und Zwischenlagerung der Tiere vier Silberbarren extra kostet", sagte einer der Lieferanten. Bogdan Lunescu sah ihn an und erwiderte: "Ich habe das mit den angemeldeten Gästen schon geregelt. Sagen Sie dem Stallmeister, in der Nacht zum siebten Mai bekommt er die zehn bereits vereinbarten und die vier zusätzlichen Silberbarren." Redfang Rootwood, der Leiter der Lieferantengruppe, lächelte verwegen. Dann verabschiedete er sich vom Betreiber der blutroten Fledermaus.

"Dann viel Vergnügen mit den neuen Mistmachern", lachte Mr. Rootwood und winkte seinen vier Begleitern, ihn zu den breiten, fensterlosen Fuhrwerken zu folgen, die statt von Pferden von Thestralen gezogen wurden. Erythrina Lunescu verschloss die Zugangstür, die von außen wie ein verrottender Abfallhaufen aussah und für Menschen auch so stank.

"Hast du gesehen, wie verwegen Redfang Rootwood geguckt hat, als er das mit Vollmond erwähnt hat?" fragte Erythrinas Mann seine frau.

"Wir können nicht ganz ausschließen, dass es sich auch in den Reihen der unteren Rangordnungen herumgesprochen hat, dass wir die große Zusammenkunft abhalten wollen. Natürlich müssen wir auch darauf gefasst sein, dass diese Götzin das mitbekommen hat und meinen könnte, eine eigene Abordnung zu uns zu schicken. Ich will nur hoffen, dass sie die Fledermaus noch als heiligen Grund und Boden respektiert und keine Schlacht vom Zaun brechen will."

"Die Sicherheitsmaßnahmen könnten ihren Dienern übel bekommen, wenn sie das doch befehlen sollte, meine holde Gefährtin", erwiderte Erythrinas Gefährte Bogdan.

"Ja, hoffen wir", erwiderte Erythrina Lunescu besorgt.

__________

In der Schlafhöhle Itoluhilas, 5. Mai 2003, 02:00 Uhr Ortszeit

Es war wieder wie eine Welle, die über sie hereinbrach. Doch diesmal war es kein Kraftstoß, sondern ein gedanklicher Aufschrei der Freude, noch am Leben zu sein. Er kam von Ullituhilia, der Tochter des schwarzen Felsens und Elementarvertrauten der Erde. Itoluhila, die bis dahin befürchtet hatte, mit ihrer in sich neu heranwachsenden Dienerin die einzige frei handlungsfähige Tochter Lahilliotas zu sein, freute sich auch und grüßte die erwachte Schwester.

"Wie, schon neun Tage soll das her sein?!" entrüstete sich Ullituhilia über die Gedankenverbindung zu ihrer Schwester. Diese erwiderte auf dieselbe Weise: "Ich habe versucht zu erfahren, was für eine Kraftwelle das war. Da ich bei den Zauberstabschwingern im Moment keine Dienerin oder einen Diener habe ..."

"Ich prüfe das, Schwester", unterbrach Ullituhilia die Tochter des schwarzen Wassers. Eine Viertelstunde später wusste sie bescheid.

"Meine Dienerin war für genau fünf Stunden bewusstlos. Aber dann hat sie sich wesentlich stärker gefühlt als vorher. Sie musste sogar aufpassen, nicht aus dem Stand durch die Decke zu springen, Itoluhila. Jedenfalls ist sie danach erst mal behutsam umhergezogen und hat ihre Verwandten befragt, was die mitbekommen haben. Das Ergebnis ist, dass überall auf der Welt Wesen, die mit den Kräften der Mitternacht und den Kräften des Todes erschaffen wurden, erst von der Kraft überwältigt waren und danach gestärkt und zum Teil verjüngt wiedererwachten. Außerdem ist in Großbritannien für zwei Tage das Netzwerk miteinander verbundener Kamine unbrauchbar geworden, so dass die Zauberstabschwinger nicht bequem mit Hilfe eines besonderen Feuerzaubers zwischen den Häusern herumreisen konnten. Von einem verfluchten Gegenstand hat mir meine Dienerin erzählt, dass der nach Jahren der Untätigkeit mit mehr Kraft gewirkt hat und nur durch einen Zauber namens Dämonsfeuer zerstört werden konnte, was immer der bewirkt."

"Er erzeugt sich selbst durch Verbrennen von Gegenständen oder Lebewesen fortpflanzende niedere Feuerkreaturen, die nur durch entsprechende Gegenzauber zu bändigen oder zu vernichten sind", belehrte Itoluhila ihre Schwester.

"Oh, klingt sehr unfein", gedankenknurrte Ullituhilia. Dann erwähnte sie noch, dass ihre neue Dienerin von ihren britischen Verwandten erfahren hatte, dass diese von der Entladung jenes Heimstattgefäßes ausgingen, in das sich der dunkle Kaiser oder König der Vorzeit zurückgezogen hatte. Woher die Briten das hatten hatte Ullituhilias Dienerin nicht herausbekommen können, ohne sich verdächtig zu machen.

"Das Heimstattgefäß des achso frauenliebenden Schlangenkönigs, der uns alle mit Skyllians Kriegerbrut den Tag verderben wollte?" fragte Itoluhila. Da Ullituhilia zu diesem Zeitpunkt noch im Zaubertiefschlaf lag konnte sie natürlich keine Antwort darauf geben.

"Wenn du aufgewacht bist, warum schlafen die anderen noch?" stellte Itoluhila die entscheidende Frage.

"Ja, warum bist du vor mir aufgewacht?" gab Ullituhilia zurück. Dann herrschte erst einmal kurzes Schweigen zwischen ihnen. Schließlich warf Ullituhilia die Vermutung ein, dass es daran liegen mochte, dass Itoluhila mehr ihr treu ergebene Abhängige habe als sie, Ullituhilia. Wenn die anderen nicht genug Unterworfene hatten konnten die wohl noch Wochen oder Jahre schlafen.

"Mutter ist im Augenblick in ihrer Tiergestalt eingeschlossen. Ich habe sie schon mehrmals zu rufen versucht. Doch sie hört mich nicht. Ich fürchte, sie hat sich da falsch eingeschätzt, was die Beherrschung dieser Tiergestalt angeht", erwähnte Itoluhila.

"Vielleicht bekommen wir sie zu zweit wieder so, dass sie ihren Verstand zurückbekommt. Sonst fürchte ich, haben wir sie an diese Riesenameisenkönigin verloren."

"Ich schlage vor, wir warten noch einen Monat. Sind unsere anderen Schwestern bis dahin noch nicht aufgewacht, müssen wir zwei es direkt bei ihr versuchen, sie wieder zur Besinnung zu bringen."

"Das sehe ich genauso, Schwester", bekam Itoluhila zur Antwort.

"Du hast so viele Abhängige, dass ich schon neidisch werden kann", wechselte Ullituhilia das Thema. "Wie haben die denn diese für uns erst niederwerfende und doch bestärkende Welle mitbekommen?"

"Das war davon abhängig, wo sie da gerade waren, Ullituhilia. Die, die schliefen, erinnerten sich an einen Traum von einem Sturm, in den sie gerieten und dass ihre Herzen schneller als gewöhnlich schlugen. Sie meinten, einen über sie hinwegfliegenden, laut vor Schmerz oder Todesangst schreienden Mann gehört zu haben. Dann soll nach allen, die da geschlafen haben, mindestens eine laute Frauenstimme oder eine Gruppe von Frauen zugleich überlaut vor Siegesfreude oder Glückseligkeit gelacht und gejubelt haben. Dann seien sie von einer besonders wilden Sturmböe gepackt und in völlige Dunkelheit geschleudert worden. Die, die wach waren haben in ihren Erinnerungen nur, dass irgendwas sie da, wo sie gerade waren, bewusstlos gemacht hat, aber nach nur zwei handelsüblichen Minuten wieder aufgeweckt hat, als hätten sie erst ein Betäubungsmittel und gleich darauf ein Aufweck- und Wachhaltemittel geschluckt. Die Medaillons jedenfalls haben sich mit mehr Kraft vollgesogen. Ich brauche jetzt nur noch an einen damit bedachten Abhängigen zu denken, und schon kann ich durch dessen Augen und Ohren seine Umgebung mitbekommen oder direkt in seine Gedanken hineinwirken. Früher brauchte ich dafür zehn Sekunden mehr, wenn der betreffende nicht gerade in großer Gefahr oder kurz vor der Wallung höchster Lust stand."

"Interessant, dass haben mir meine Abhängigen auch so berichtet. Ja, und ich kann sie auch über das Verbindungsschmuckstück besser als vorher beobachten und lenken. Auch meine Seelensteinkette hat wohl mehr Kraft aufgenommen. Die Seelenkristalle sind ein wenig größer geworden", erwähnte Ullituhilia. Dann fragte sie: "Meinst du, diese Frau oder Frauengruppe war diese im Mitternachtsstein eingesperrte Blutsaugerin?"

"o, da bist du auch schnell drauf gekommen, Schwester. Genau das ist mir eingefallen, als ich die Erinnerungen der zu diesem Zeitpunkt schlafenden erkundet habe. Dann war der schreiende Mann entweder dieser Siebenarmige, von dem es Thurainilla mal hatte, oder ... dessen Schöpfer selbst, der Geist des dunklen Königs des alten Reiches", erwiderte Itoluhila.

"Moment, der dunkle König der Nacht soll das gewesen sein? Das hieße ja, dass irgendwer ihn aus seiner Heimstatt herausgerissen hat", entgegnete Ullituhilia. "Dann kann es sein, dass die darin enthaltene Kraft sich entladen musste, weil der sie bändigende Geist nicht mehr vorhanden war. Ja, dann haben wir die jetzt gleichmäßig über die Welt verteilt, Schwester." Die letzten Worte gedankensprach die Tochter des schwarzen Felsens mit unüberhörbarer Gehässigkeit. Dazu hatte sie sicher auch Grund, dachte Itoluhila. Denn wenn der Geist des dunklen Königs, vor dem auch sie eine gewisse Furcht empfunden hatte, aus seinem Ankergefäß herausgerissen worden war und dieses sich danach selbst entladen und somit wohl auch zerstört hatte, war entweder der Geist selbst erloschen oder, was die Töchter Lahilliotas ganz genau beachten sollten, Gefangener jener, die sich als Göttin der Blutsauger ausgab, weil sie angeblich jeden von denen aus der Ferne rufen oder lenken konnte. Wenn die den Geist des dunklen Königs eingefangen hatte, dann konnte sie den vielleicht auch dazu zwingen, ihr all sein gesammeltes Wissen über die Künste von Dunkelheit und Tod zu verraten. Was mochte eine, die als einfache Blutsaugerin gelebt hatte, mit dieser Macht anstellen? Nichts gutes, dachte Itoluhila und teilte ihre Überlegungen mit Ullituhilia. Diese schickte zurück:

"Zumindest können wir beide beruhigt sein, dass die von dir gnädigerweise aufgeweckten Schwestern ... ja und Errithalaia, nach und nach auch wieder aufwachen. Dann können wir unserer Mutter hoffentlich helfen, zu sich selbst zurückzufinden." Dem stimmte Itoluhila unverzüglich zu.

__________

Im Höhlenversteck Birgute Hinrichters, Mittagszeit am 5. Mai 2003

Die sich selbst als Königin der Schattenwesen empfindende Verschmelzung zzweier von Kanoras geknechteter Frauenseelen hatte trotz der für sie alle lebensfeindlichen Mittagsstunde ihre wichtigsten Kinder in das von ihr ausgesuchte Höhlenversteck gerufen. Da es hier immer dunkel war konnten sie alle aus ihren Verstecken direkt hier erscheinen. Birgute empfand das immer noch als große Macht, in Gedankenschnelle zwischen zwei weit entfernten Orten zu wechseln. Als sie in den früheren Leben ihrer Mutterseelen Geschichten mit Teleportationsmaschinen oder mutierten Menschen mit dieser Gabe gehört oder auch mal gelesen hatte war sie immer mit den Worten "Ne is' klar" oder "Das würde ich auch gerne können" aus der Geschichte rausgekommen. Jetzt konnte nicht nur sie es, sondern alle aus ihr entschlüpften Schattenkinder, wenn sie mehr als zwei Menschenleben mit Leib und Seele in sich einverleibt hatten. Seit sie alle von der starken Dunkelkraftwelle durchflutet worden waren konnten sie das sogar so gut, dass sie nicht einmal mehr den Zielort genau kennen mussten, sondern rein auf Entfernung und Richtung hin am Ziel ankommen konnten, solange es dort dunkel genug war, um sie nicht sofort zu lähmen oder im Falle von Sonneneinstrahlung vergehen zu lassen.

"Meine Kinder", begrüßte sie die an die dreißig herbeigekommenen Nachtschatten. "Wie ich von Ganor und Remurra erfuhr haben in Deutschland mehrere Blutsauger versucht, neue Abkömmlinge hinzukriegen und das im Namen ihrer angeblichen Göttin, von der es schon diese grauen Superfledermäuse gab, die wir damals im Himalaya bekämpfen mussten. Wahrscheinlich wurden die Langzähne auch von dieser dunklen Welle mit zusätzlicher Kraft aufgeladen. Dann fühlen die sich sicher auch berufen, mehr anzustellen. Das heißt auch, dass die uns querkommen werden. Außerdem werden die wohl neue graue Supervampire machen. Wie das geht weiß ich aus dem, was ich aus den Erinnerungen des Sklavenhalters Kanoras mitbekommen habe, bevor der selbst getötet wurde. Die brauchen für diese grauen Ungeheuer einen Stoff, der von selbst entsteht, wenn mindestens 300 oder mehr Leute an einem Tag durch direkte Gewalteinwirkung wie Explosionen, Beschuss aus Feuerwaffen oder Klingenwaffen sterben. Also werden diese Blutsauger da auf Beute ausgehen, wo gerade viele Leute sterben müssen. Da wird es auch nicht auffallen, wenn diese Flattermänner und Fledermausfrauen weitere Leute umbringen, um diesen Todesstoff zu erbrüten. Das heißt, die werden in Afghanistan und jetzt auch im Irak herumlaufen und dieses Zeug, den Unlichtkristall, züchten, damit sie damit ihre Monster machen können. Das dürfen wir denen nicht durchgehen lassen. Wenn die genug von diesen Biestern machen können werden die uns sicher einen Krieg aufladen wollen. Also gilt dasselbe wie für das, was Bush Junior als Grund für den zweiten Irakkrieg aus dem Hut gezogen hat: Vorbeugender Einsatz zur Verhinderung von militärischer, besser kampftechnischer Überlegenheit. Da dieser sehr umstrittene Einsatz im Irak von diesem texanischen Kriegstreiber schon für beendet erklärt wurde müssen wir nach Gruppen suchen, die sich nicht so einfach geschlagen geben wollen oder die jetzt, wo dort das Chaos herrscht, eigene Machtinteressen haben und dafür töten werden. Die machen wir uns dann zu eigenen Dienern, ob als wahre Kinder der Nacht aus meinem Leib heraus wiedergeboren oder als schattenlose Marionetten, die von ihren Überwindern ferngesteuert werden. So brechen wir auf, um in den beiden Ländern nach brauchbaren Mitkämpfern zu suchen und gleichzeitig dieser Blutsaugerpest den Aufstieg zu neuer Größe zu verderben!"

"Und die drei, die wir dir noch beschaffen sollten, Arne und Erna Hansen und Rico Kannegießer?" fragte Remurra Nika, Birgutes erste gezielt empfangene und geborene Tochter.

"Remurra, meine entschlossene Tochter, die sind von dieser Zauberstabbande eingesackt worden. Womöglich werden sie die für die Nichtmagier für tot und begraben erklären oder ihnen noch mehr Schutz vor uns an die Hand geben. Ich habe entschieden, dass mir diese drei das im Moment nicht wert sind, weil es auch lohnendere Leute gibt, die deine Geschwister werden können. Aber wenn ich eine Möglichkeit finde, sie nacheinander in ein neues Leben gebären zu können, ohne gleich Dutzende von uns zu opfern, dann werde ich das tun", erwiderte Birgute Hinrichter. Das gefiel Remurra Nika und Ganor Reeko nicht sonderlich, weil sie das wohl als ihre persönliche Aufgabe gesehen hatten, die drei auch noch einzufangen. Doch was ihre Mutter und Königin sagte galt und durfte nicht bestritten werden.

Die von ihr als Kämpfer vor Ort bestimmten Nachtschatten versammelten sich um ihre Königin und Mutter und berührten sie und einander. Dann verschwanden sie mit leisem Knall aus der Höhle. Der Knall ertönte nur, weil Birgute eine feststoffliche künstliche Gebärmutter in ihrer schattenhaften Körpermitte trug. Sonst geschah der zeitlose Ortswechsel völlig geräuschlos.

__________

Im französischen Zaubereiministerium, 5. Mai 2003, ab 09:00 Uhr morgens

"Da wird die gute Madame Laporte aber froh sein, dass du mich nicht mehr beim Apparieren verlegen kannst, Maman", hörte Nathalie die Gedankenstimme des in ihrem immer noch ungeborenen Sohnes verkörperten Mannes. "So kann ich dich beim Flohpulvern nur aus mir rausschütteln wie Honig aus der Bienenwabe", konterte Nathalie den derben Scherz von Demetrius.

"Schade, dass Julius am neunten Mai nicht beim Treffen mit Tim Abrahams und am elften nicht mit Armin Weizengold dabei sein kann, wo du eigentlich wolltest, dass er die Vereinbarung wegen dieser Schattenkönigin mitverfolgt."

"Da hast du deinen Wachstumsschlaf geschlafen, kleiner Bauchturner. Ich habe mit Ursuline Latierre gesprochen. Die meinte, dass es einen geheimen Notausgang für Latierres aus schwarzmagisch geladenen Räumen geben soll. Welcher das sein soll wollte sie mir natürlich nicht verraten. Nur soviel, dass sie, wenn das so wichtig ist, Julius für die Zeit aus Millemerveilles rausholen kann. Das muss dann aber so laufen, dass er nicht von den anderen vermisst wird."

"Wieso, Camille kann ihn doch rausbringen, wo sie Ashtarias Erbin ist", gedankenantwortete Demetrius Vettius.

"Stimmt zwar, aber sie wird wohl kaum draußen auf ihn warten, bis er wieder nach Millemerveilles hinein will", erwiderte Nathalie . Dann vertröstete sie Demetrius auf die Kaffeepause, weil sie gerade auf ihrem Arbeitsstockwerk ankam.

"Jetzt können wir endlich wieder anständig Ware verschicken und Blitzeulen", grummelte Nathalies Mitarbeiter Lepont, als sie im Büro für die friedliche Koexistenz von Menschen mit und ohne Magie saß. "FLOHNETZ WIEDER FLOTT" prangte in fingerlangen roten Lettern auf der Titelseite der Temps de Liberté. Der Miroir Magique titelte: "Die Zaubererwelt ist wieder vernetzt".

Außer dem wieder verfügbaren Flohnetz besprachen die versammelten Mitarbeiter die Lage im Irak. US-Präsident Bush Junior hatte am 1. Mai vollmundig verkündet, dass der Kriegseinsatz beendet sei. Doch wie würde es am persischen Golf weitergehen? Konnte es sein, dass jetzt mit mehreren tausend Flüchtlingen aus der Regionzu rechnen war? Was hatten die irakischen Zauberer über den Dschinnenmeister herausgefunden, der vor dem Krieg mehrere Kriegsgeräte der Irakis verzaubert hatte? Nathalie wollte jeden mit den Nachrichtengeräten der magielosen Welt vertrauten Mitarbeiter auf diese Fragen ansetzen. Hinzu kam durch den tagelangen Ausfall des Flohnetzes, dass viele Hexen und Zauberer auf eigenen Besen durch die Lande geflogen waren und nicht wenige in der Hoffnung, schon nicht erwischt zu werden, mitten in von Nichtmagiern bevölkerten Gegenden appariert oder disappariert waren und die Vergissmichs fast nicht mehr mit den Gedächtniszaubern hinterherkamen. Es hatte sich erwiesen, dass diese Behörde entscheidend für die achso wichtige Geheimhaltung der Zauberei im 21. Jahrhundert war. Zwischendurch verwünschte Nathalie Grandchapeau diese vorwitzige Viertelveela Euphrosyne Blériot. Doch die Genugtuung, dass sie bereits bestraft war und ihre Vorkehrungen nichts dagegen ausrichten konnten, dass sie wieder neu aufwachsen musste, gaben ihr eine gewisse Beruhigung.

"Sind die von Monsieur Otto Latierre weiterentwickelten Aufspürer für Werwölfe über den größeren Städten positioniert? Ich wünsche keine Widerholung des Vorfalls von Paris", sprach Madame Grandchapeau zu ihren Leuten. Alle dafür zuständigen bestätigten, dass die von Otto Latierre den US-amerikanischen Lykanthroskopen nacherfundenen Aufspürartefakte bereits im Einsatz waren, um beim nächsten Vollmond alle noch nicht registrierten Lykanthropen zu finden. Diesmal sollten die Werwolfjäger und Vergissmichs den unheimlichen Vorrichtungen, die das Mondlicht verfremdeten, zuvorkommen und die Betroffenen vorzeitig fortschaffen und die Zeugen gedächtnisbezaubern. Als Madame Grandchapeau erfahren hatte, dass soweit alles vorbereitet war nickte sie zufrieden.

"Die Ministerin bat uns ebenso, freie Kräfte zu nutzen, um den in Millemerveilles eingeschlossenen zu helfen. Die Idee einer Versorgung aus der Luft gefiel ihr. Vordringlich geht es um Lebensmittel, Zaubertrankzutaten und Brennstoff und magielose Feueranzündmöglichkeiten. Unser Kollege Julius Latierre hat da zwar schon gut vorgearbeitet. Doch wir wissen nicht, wie lange die Ausnahmelage in Millemerveilles anhalten kann und wie sie beendet werden kann. An uns wird es dann sein, die nötigen Anschaffungen zu tätigen, da wir auf Geldreserven in dieser neuen Einheitswährung Euro zurückgreifen können", führte Nathalie Grandchapeau aus. Da vor allem wiederverwendbare Fallschirme aus Armeebeständen angeschafft werden sollten galt es, deren Hersteller glauben zu lassen, für Armee oder Luftwaffe zu arbeiten, ohne den Imperius-Fluch einsetzen zu müssen.

"Da nun genug Distantigeminus-Kästen oder Digekas verfügbar sind, mit den in Millemerveilles eingeschlossenen Kollegen aus dem Ministerium in Verbindung zu treten wird meine erste Anfrage lauten, wie viel von diesen Euros Monsieur Latierre für die spontane Beschaffungsmaßnahme ausgeben musste. Das Geld soll, so Ministerin Ventvit, zeitnahe zurückerstattet werden."

"Hoffentlich bekommen wir dann auch die entsprechenden Belege, damit Monsieur Colbert die Rückerstattung auch genehmigt", warf Rose Deveraux ein. Nathalie Grandchapeau nickte ihr beipflichtend zu.

__________

In einer Grotte der nördlichen Toscana, die Nacht vom 5. zum 6. Mai 2003

Es sah aus, als habe sich seit dem unrühmlichen Ausgang des Duells nichts verändert. Der große, aus einem einzigen Marmorblock gehauene achteckige Tisch war noch da. Sogar die hochlehnigen Stühle, besonders der thronartige an der zum einzigen Eingang im Osten zuweisenden Seite war noch da. Allerdings waren die Kissen durch die hier herrschende Feuchtigkeit und den sachte aber stetig von der Decke riselnden Kalk bretthart und unansehnlich geworden. Das hatte die wiedererwachte Rosenkönigin jedoch nicht groß gestört. Sie tauschte einfach die Kissen aus. Der Tisch stand auf einer natürlich gewachsenen Erhebung aus Tropfstein. Von hier oben hatte sie den besten Überblick über die dreißig mal zwanzig schritte messende, zwölf ihrer Körperlängen hohe Grotte. In dieser Nacht würde sich entscheiden, ob sie dort weitermachen konnte, wo das Duell mit Sardonia sie aufgehalten hatte, oder ob sie eine einsame Streiterin für die Vorherrschaft aller Hexen sein oder sich eine hohe Rangstellung in ihrem Weltbild entgegenkommender Schwesternschaften erkämpfen konnte.

Sie prüfte noch einmal alle Sicherheitsvorkehrungen. Dreißig Hexen hatten in den letzten Tagen ihre Botschaft erhalten, sich hier und heute einzufinden. Welche diesen Ort nicht oder nicht mehr kannten würden in dieser Nacht noch von einem immer heißer brennenden Fieber ausgedörrt, bis sie aus sich selbst heraus verbrannten. diesen Fluch hatte sie in jede von ihr verschickte Botschaft eingewoben. Doch wer kam musste nicht ihre Freundin oder gar willige Helferin und Streiterin sein. Deshalb hatte sie mit Hilfe ihres Blutes und den Ring diverse Absicherungen errichtet. Diese wirkten nun zuverlässig, vor allem der Zauber, der nur sie disapparieren ließ, solange sie nicht die althergebrachte Entlassungsformel ausrief. Hineinkommen konnte nur eine Hexe. Jeder erwachsene Zauberer würde beim apparieren unverzüglich in Flammen aufgehen und zu Asche verbrennen. Wer ihre Feindin war würde von einer hellroten Aura umflossen, wer ihr neutral gegenüberstand würde in einer goldbraunen, wer ihr gar freundlich bis anerkennend gegenüberstand würde in einer hellgrünen Aura erstrahlen. So hatte sie ohne groß zu legilimentieren einen Überblick, wen sie wie zu behandeln hatte. Um den Tisch herum hatte sie einen Kreis gezogen, in dem sie Runen für Schutz, Bewahrung und Widerstand eingeschriben hatte und ihn mit diversen Schild- und Rückprellzaubern belegt. Sie hatte erst überlegt, ob sie mit Hilfe ihres Blutes nicht mehrere kleine Gefäße füllen und diese zu Trägern eines schwarzen Spiegels machen sollte. Docch dann hatte sie beschlossen, dass der dreifache Kreis mit den Schildzaubern ausreichen würde.

Für den von ihrer Warte aus höchstfeierlichen Akt hatte sich die Wiedererwachte ein nachtschwarzes, bis zu den Fesseln hinabreichendes Kleid mit einem die Taille betonenden schmalen Gürtel aus schwarzem Leder angezogen. Ihre Füße steckten in schmalen, ebenso schwarzen Schuhen. Somit passte ihre Kleidung zu ihrem nachtschwarzem Haar, das ihr den halben Rücken hinabreichte. Auf dem Schopf trug sie einen Kranz aus roten Rosenblüten wie eine Königinnenkrone.

Da sie die Nachtsicht ihrer weiblichen Voreltern beherrschte brauchte sie selbst keine Lichtquelle. Doch für die von ihr einbestellten hatte sie an den Wänden mehrere hundert in verschiedener Höhe befestigte Laternen angebracht. Behutsam drehte sie sich mit waagerecht ausgerichtetem Zauberstab um die eigene Achse. Dann zischte sie: "Omnilumos Lanternas!" Es zischte kurz, dann brannten sämtliche in der Grotte angebrachten Lichter in einem warmen, gelborangen Licht. Ladonna prüfte, ob die von ihr angebrachten Beleuchtungskörper die Versammlungsgrotte wirklich so erhellten, dass nichts und niemand einen Schatten warf. Dann deutete sie mit dem Zauberstab auf einen Punkt knapp einen Meter vor sich und raunte: "Creato Imaginem speculi!" Die Luft vor ihr flimmerte. Dann stand ein klares, undurchsichtiges Abbild von ihr vor ihr. Ladonna Montefiori senkte den Zauberstab. Das Abbild tat es ihr gleich. Nun konnte sie ihr Äußeres noch einmal prüfen und eine winzige, aber ihr rundum ansehnliches Aussehen störende Falte im Kleid glattzupfen. Sie schnallte den schmalen Gürtel noch um ein Loch enger, damit ihre schmale Taille noch mehr zur Geltung kam. Durch das Glattzupfen des Kleides lag dieses beinahe Hauteng an und hob somit ihre übrigen Reize hervor. Nur ihre langen schlanken Beine wurden vom herabreichenden Kleid verhüllt. Ja, so konnte sie vor den Einbestellten auftreten, die wiedergekehrte Rosenkönigin, in Verehrung der Hochsprache des römischen Reiches auch Regina Rosarum genannt. Sie zielte kurz mit dem Zauberstab auf ihr Spiegelbild und wisperte: "Imaginem dissolvo!" Mit einem kurzen weißen Aufflackern verschwand das von ihr beschworene Spiegelbild.

Ladonna blickte zur zwölf Körperlängen über ihr verlaufenden Höhlendecke. Im Widerschein der vielen Laternen glitzerten die ellenlangen Tropfsteine wie glühende Speerspitzen. Zwischen den Stalaktiten glänzte gelborange eine kopfgroße Messingglocke, welche Ladonna am Tag zuvor auf die hier gültige Mitternachtsstunde eingestimmt hatte. Wenn die Wiedererwachte richtig gerechnet hatte war es gleich soweit. Doch sie wollte nicht von der Zeit überrascht werden. So streckte sie den Zauberstab kerzengerade nach oben und murmelte: "Locus Solis indicato!" Diesen himmelskundlichen Zauber hatte sie aus dem Buch "Carmina stellarum" der altrömischen Hecatianerin Diana Flavia Amaluna. Wer ihn sonst noch kannte würde sie vielleicht gleich erfahren. Jedenfalls tauchte am Boden ein schwaches, goldenes Licht auf, dass fast genau in nördlicher Richtung leuchtete. Also stand die Sonne beinahe am tiefsten Punkt unter dem Horizont, was hieß, dass es gleich Mitternacht war. Ladonna sah, wie das kreisförmige goldene Licht noch ein wenig näher an sie heranrückte und dabei ganz im Norden ankam. In diesem Augenblick erklang die an der Höhlendecke angebrachte Glocke. "Finis Indicatum!" zischte Ladonna mit zum Boden weisendem Zauberstab, als der erste Glockenschlag noch weit aus den angeschlossenen Höhlen widerhallte. Das goldene Licht verschwand übergangslos.

Die auf Mitternacht eingestimmte Glocke schlug zum zweiten mal. Ihr Klang erfüllte die Grotte und hallte lange nach. Als der dritte Schlag erklang ploppte und krachte es um Ladonna herum. Dreißig unterschiedlich gekleidete Frauen mit erhobenen und leuchtenden Zauberstäben erschienen aus dem Nichts heraus in der Grotte. Sie hatten den Weg zu ihr gefunden.

__________

In der Schenke zur blutroten Fledermaus unter der Nokturngasse in London, die Nacht vom 5. zum 6. Mai 2003

Bogdan und Erythrina Lunescu begrüßten die ersten Gäste, die der großen Zusammenkunft beiwohnen sollten. Darunter waren altehrwürdige Patriarchen und Matriarchen, die sie, Erythrina, wie ein Kleinkind aussehen ließen. Megara von Delphi, den eigenen Angaben vor tausendzweihundert Jahren als Tochter eines griechischen Admirals geboren und zwanzig Jahre später zu einer Tochter der Nacht geworden, bedankte sich auf Englisch für die Einladung. Hubertus Blutpfeil, ein aus dem Spessartwald in Süddeutschland stammender Vampirfürst und leidenschaftlicher Jäger mit Armbrust oder Speer, trug wie meistens einen bei Tageslicht wohl jagdgrünen Lodenmantel und einen Jägerhut mit einer Falkenfeder. Auch er bedankte sich für die Einladung.

Alles in allem trafen dreißig Söhne und Töchter der Nacht ein, die sich entweder als gute Freunde oder als erbitterte Feinde kannten. Doch hier, in der blutroten Fledermaus, schwiegen alle Feindschaften und Fehden. Und genau damit das so blieb und dieser Ort ein heiliger Rückzugsort blieb mussten die hier versammelten sich einigen und magisch verbindlich verpflichten, dass die blutrote Fledermaus auch weiterhin ein von allen Sippen und Paaren geachteter Ort blieb. Wenn die selbsternannte Göttin der Nacht ihre Fäden weiterspann konnte das zu einem Weltkrieg der Vampire ausufern, zu einem Krieg um Herrschaftsgebiete und Glaubensfrage. Sie hatten nicht die jahrhundertelange Verfolgung und die Zerwürfnisse mit anderen Zauberwesen wie den Veelas, Werwütigen und Waldfrauen überstanden, um jetzt von einem Geist, der in einem Stein gefangen war, beherrscht zu werden. Dafür hätten sie dann auch gleich mit den Jüngern des Siebenarmigen und deren oberstem Herren zusammenfinden können.

Der älteste der geladenen Gäste, Istwan Morowitsch, ein Blutfürst aus dem Kaukasus, wartete, bis alle Gäste einen kleinen Krug frischen Kälberblutes vor sich hatten. Dann trank er allen zu und bedankte sich noch einmal, dass sie alle hier zusammenkommen durften. Er verlas dann die nur drei Punkte umfassende Tagesordnung:

"Zunächst geht es um Berichte über das Vorgehen einer offenbar in Geistform bestehenden Tochter der Nacht, die wohl über den heiligen Mitternachsstein Macht über Söhne und Töchter der Nacht erlangt hat. Der zweite Punkt betrifft den Versuch erwähnter Nachttochter und ihrer Helfer, die heilige Bibliothek der Nachtgeborenen zu entwerten und vielleicht zu zerstören. Der dritte Punkt betrifft den Ort, an dem wir uns aufhalten. Soll und darf die Schenke zur blutroten Fledermaus auch weiterhin als geheiligter Grund und Boden bezeichnet und geachtet werden? Ich sehe hier fünf ältere Fürsten, die mir am liebsten den Hals nicht anknabbern, sondern gleich durchschneiden würden. Tja, und die gute Megara trauert wohl heute noch ihren vor zweihundert Jahren getöteten Söhnen nach, die Magog von Goldach getötet hat. Schön, Magog, dass du auch da bist." Die versammelten lächelten verächtlich, als der angesprochene nickte.

Dann ging es um den ersten Punkt. Dabei zeigte sich, dass die meisten hier nur aus vierter oder fünffter Hand erfahren hatten, was es mit der schlafenden Göttin auf sich hatte. Es entbrannte eine wilde Debatte, ob an den Gerüchten, es könne sich dabei um die Vampirin Nyx handeln, etwas dran war oder es bewusst von den Zauberstabträgern ausgestreut wurde, weil diese Zwietracht unter den Vampiren säen wollten. Das brachte Hubertus Blutpfeil sogar darauf, zu fragen, ob die ganze Geschichte um die sogenannte Göttin der Nachtkinder nur eine von den Zauberstabschwingern ausgestreute Falschmeldung war, um einen Grund zu erfinden, die Kinder der Nacht ausrotten zu dürfen. Dem widersprach Megara, die berichtete, was sie über das von dieser selbsternannten Göttin besetzte Kloster mitbekommen hatte. Dabei sah sie Magog verdrossen an und sagte: "Würde mich nicht wundern, wenn eine der dieser Usurpatorin dienenden Huren nicht schon längst an dich herangetreten ist, weil du fünfhundert Kinder und Enkel dein eigen nennst."

"Ui, das würde mir gefallen, ein blutjunges Ding beglücken zu dürfen, nur um an diese Göttin glauben zu dürfen", lachte Magog mit einem Anflug seines schweizer Heimatakzentes. "Aber die scheint nicht auf altehrwürdige Streiter der Nacht zu fliegen, meine Lieblingsfeindin. Sie umgibt sich, wie ich von meinen vielen Kindern und Kindeskindern erfuhr, mit Leuten, die aus der magielosen Welt stammen. Offenbar ist sie darauf aus, die Elektrizitätsanbeter und Brennstoffantriebsfetischisten zu beherrschen, die uns ja nur aus Geschichten von Bram Stoker und Anne Rice kennen, und deshalb wohl findet, viel Beute und viel Nachwuchs zu schöpfen. Oder was sagst du, Manoquinto?"

"Zum einen, dass ich es ganz sicher weiß, dass es die Göttin gibt, du wandelnder Hüttenkäse ..." Der Vorsitzende räusperte sich und mahnte zur respektvollen Anrede. So sagte der, der mit Manoquinto angesprochen wurde: "Ich habe die Macht dieser Göttin erlebt. Denn sie hat meinen Herren, den siebenarmigen Boten des Urvaters, ausgelöscht."

"O das müsste ich eigentlich bedauern. Aber Heuchelei liegt mir nicht so gut", entgegnete Magog von Goldach. "Aber dann hat sie dich doch sicher schon gefragt, ob du statt eines siebenarmigen Götzens nicht lieber eine unsichtbare Göttin anbeten möchtest, wo du so devot bist. Oder warum hast du dich Manoquinto, die fünfte Hand, nennen lassen?"

"Wie gesagt, Magog, ich habe die Macht der Göttin gespürt. Wenn du sie auch spürst wird dir aller Spott im Halse steckenbleiben, und du wirst dir wünschen, dass du ihr deine Kinder und Kindeskinder als Diener anbieten darfst."

"Ui, da bekomme ich ja gleich richtig Angst, mein venezianischer Freund und Nixensauger", feixte Magog. Der Vorsitzende ermahnte auch ihn zu respektvoller Anrede. Magog konterte damit, dass er Manoquinto doch nur ehren wollte, weil Kinder der Nacht sonst nicht so wagemutig wären, das Blut einer Meerfrau trinken zu wollen.

"Wenn wir alle nicht die erhabene Blässe hätten müsste ich behaupten, das käme bei dir nur vom Neid, Magog", erwiderte Manoquinto. Dann lehnte er sich wieder zurück, um die Versammlung weitergehen zu lassen.

Als der zweite Punkt besprochen wurde schaltete sich ein dreihundert Jahre alter Vampir aus Kroatien ein, der das osmanische Reich, das Kaiser- und Königreich Österreich-Ungarn, die kroatischen Faschisten und den Vielvölkerstaat Jugoslawien überdauert hatte. Er warf ein, dass jeder Sohn der Nacht und auch jede Tochter die Bücher in der Bibliothek lesen dürfe. Es sei daher nicht nötig, Bücher auszulagern oder abzuschreiben. Darauf warf Megara ein, dass es eben darum ginge, dass nicht mehr jeder und jede die Bücher der Bibliothek lesen sollte, außer denen, die dieser selbsternannten Göttin dienten.

"Ja, und was ist passiert. Jemand von uns, nicht unbedingt jemand hier anwesendes, hat es den Zauberstabschwingern erzählt, damit die mal eben ein Bergkloster in Griechenland, deiner Heimat, Megara, niederbrennen und obendrein mehrere von uns umbringen konnten. Also ist das sicher doch eine Erfindung der Zauberstabschwinger, dass es diese Göttin gibt", warf Magog ein.

Es ging nun darum, was genau passiert war, auch um Robur Blutbart und seine zusammengetrommelte Armee, zu der auch zwanzig Söhne Magogs gehört hatten. Dann ging es noch um die Frage, ob die Diener der Göttin sich damit strafbar gemacht hatten, die Bibliothek aller Nachtkinder ausplündern und danach zerstören zu wollen. Weil diese Debatte nicht zu einem Ende fand beschloss nach einer Stunde der Vorsitzende Kraft seines Amtes, den dritten und für die Gastgeber wichtigsten Punkt zu erörtern, die einhellige Bestimmung, dass die blutrote Fledermaus weiterhin als heiliger Rückzugsraum und Ort ruhender Feindschaften verbleiben sollte, egal, ob jemand im Namen der Göttin hier einkehrte oder vor deren Schergen auf der Flucht war, wie es Robur Blutbart gewesen war, wie Erythrina Lunescu bezeugen durfte. Da ging die Tür zum Gastraum auf, und eine schwarzhaarige, äußerlich noch junge Frau im dunklen Kleid betrat zusammen mit zwei weiteren Frauen den Raum.

__________

In Ladonnas Grotte, 6. Mai 2003, 00:00 Uhr Ortszeit

Es waren unterschiedlich alte, unterschiedlich dünne oder dicke und unterschiedlich großgewachsene Hexen, die sich beim dritten Glockenschlag in der bis heute nur den früheren Bundesschwestern Ladonnas bekannten Höhle eingefunden hatten. Vor allem die kleinwüchsige Diana camporosso und die alle anderen um mindestens einen Kopf überragende Celestina Quatroventi fielen der Wiedererwachten ins Auge. Also musste sich bei den Nachfahren der Lunarossas irgendwann ein Zwerg oder Kobold dazwischengemengt haben, um Diana Camporosso hervorzubringen. Dass Celestina eine reinrassige Riesin als Ururgroßmutter hatte wusste Ladonna schon aus dem Verhör ihres Unterworfenen Pontio Barbanera.

Kaum erklang der fünfte und letzte Glockenschlag, umfloss magisches Licht die Einbestellten. Ladonna war hocherfreut, zwölf hellgrüne Auren und bei den anderen goldbraune Lichtumkleidungen zu sehen. Nur Celestina und Diana umgab keine sichtbare Aura. Ladonna sah die zwei genauer an und überlegte schnell, warum ihr Gesinnungsanzeiger bei ihnen nicht wirkte. Natürlich: Riesen und Zwerge besaßen eine sehr hohe Zauberresistenz. Offenbar waren die Erbanteile dieser beiden so unterschiedlichen Zauberwesenarten äußerst durchsetzungsstark, ebenso wie die von Veelas, erkannte Ladonna. Also musste sie die beiden tatsächlich genauer überprüfen, um ihre Einstellung zu ihr zu ergründen.

Die erste Minute des neuen Tages wurde mit dem sechsten und letzten Glockenschlag ausgeläutet. Erst als auch Ladonna mit ihrem ererbten Gehör einer grünen Waldfrau keinen Nachhall mehr wahrnahm wandte sie sich den um den Tropfsteinsockel erschienenen Hexen zu. Diese sahen auch die verschiedenen Auren und fragten sich sicher, was diese bedeuteten. Da begann Ladonna laut und mit glockenreiner Stimme zu sprechen:

"Seid mir alle gegrüßt und willkommen, ihr Töchter jener treuen Schwestern, die vor meinem unsäglichen Kampf mit der Mulier Nova aus Frankreich den Orden der Feuerrose gebildet haben. Es erfreut mich, dass dieser Ort bis heute nur den Töchtern dieser Schwestern und ihren Nachgeborenen bekannt ist. Es stimmt mich zuversichtlich, dass das von meinen Vormüttern und euren Vormüttern errichtete Erbe nicht verlorenging, auch wenn Widersacher wie Sardonia und ihre natürliche Rangstellung verweigernde Zauberer uns damals immer wieder zusetzten und ich da selbst damals von dieser Französin in einem Duell zu ewigem Schlaf verdammt wurde. Zumindest hat dieses machtsüchtige Weibsbild gemeint, der Schlaf dauere ewig. Doch, ihr Nachgeborenen Töchter meiner einst treuen Schwestern, mein Schlaf dauerte nicht ewig. Vorkehrungen, die ich damals traf halfen mir, meinen Weg zurück zu Licht und Leben zu finden. Das Blut einer unberührten Jungfrau löste die Fesseln des magischen Schlafes. Ich erwachte in einer Welt, die mir fast fremd war. Die Moggli haben es gewagt, ihre Magielosigkeit durch immer wahnwitzigere Maschinen und Kraftausschöpfungsvorrichtungen zu überspielen, mit denen sie die Natur ausbeuten und damit uns alle der Rache unser aller Mutter Erde ausliefern, wenn niemand sie aufhält. Die magischen Menschen der Gegenwart verstecken sich unter einem Mantel der Geheimhaltung und lehnen die Verantwortung für alle Menschen ab. Die einzigen, die es versucht haben, die Moggli auf ihren niederen Platz zurückzustoßen waren Zauberer, aber nicht aus Verantwortungsgefühl, sondern aus purer Lust an der Macht. Der eine war Grindelwald, der andere ein Halbblut namens Tom Riddle, der sich um der großen Schau wegen den Kampfnamen Lord Voldemort zulegte. Die Hexen ließen es sich gefallen, unter dieser Glocke der Geheimhaltung stillzuhalten. Die wenigen, die es wagen, dagegen anzugehen, setzen darauf, dass Vernunft und Geduld den Weg der Hexen an die Macht bereiten werden. Das ist schlichtweg Unfug. Wer auch immer Macht erlangen will, muss sie erstreiten, nicht erwarten oder gar herbeibeten. Sicher, ihr kennt sicher einige der Hexen, die sich als schweigsame Schwestern verstehen. Von denen soll es auch welche geben, die nicht auf Geduld und Abwarten setzen, sondern durch Geschick und Beeinflussung, aber auch durch die Anwendung notwendiger Gewalt, die Vorherrschaft der Hexen erstreiten wollen. mir kam sogar zu Ohren, es gebe da eine Hexe, die angeblich wie ich aus langem Schlaf erwacht sein und die Kunst erworben haben soll, zu einer menschengroßen Spinne zu werden, die auch noch gegen alle tödlichen Zauber gefeit sei. Bei dieser Hexe soll es sich um die Wiederverkörperung der Nichte jener Hexe handeln, die mich herausforderte und die ich in einem kleinen aber entscheidenden Punkt unterschätzte, was mein Verhängnis wurde und somit den Weg zur einzig wahren Weltordnung versperrte. Doch ich habe aus meinem Fehler gelernt. Ich bin nun gegen diese Heimtücke gefeit. In dieser Grotte kann nur das bewegt werden, was mit Händen ergriffen oder durch meine Zauberkraft getrieben wird. Also denkt nicht einmal daran, mich mit bloßer Gedankenkraft entwaffnen zu können!" Diese Mahnung ließ Ladonna einige Sekunden lang nachhallen. Dann sprach sie weiter: "Doch ich rief euch nicht her, um euch zu sagen, was ich bisher von der verstrichenen Zeit meines unsäglichen Schlafes erfahren habe. Ich rief euch her, weil ich den Weg fortsetzen will, die Hexen zur einzig wahren Herrschaftsgruppe zu machen und die Moggli ihrer irrwitzigen Naturverwüstungsideen zu entledigen. Wenn wir es schaffen, dass entschlossene, mütterlich fürsorgliche aber ebenso strenge Hexen diese Weltenkugel beherrschen und für künftige Generationen bewahren, können diese Narren gerne als fleißige Bauern und Gärtner, niedere Handlanger und unterhaltsame Künstler für uns arbeiten. Das soll der Sinn ihres Lebens sein.

Mir geht es nicht nur um eigene Macht. Ich will erreichen, dass alle Hexen, die bereit sind, meine Schwestern im Kampf um das große Ziel zu sein, die Herrinnen über ihre Häuser und Anvertrauten und die daran gebundenen Ländereien sind. Zwar sehe ich durch mein Erbe aus zwei starken Zauberwesenrassen mein Vorrecht, die Königin dieser neuen Welt zu sein. Doch weiß ich, dass eine Königin ohne treue Verwalterinnen und Helferinnen kein Reich regieren kann, wie klein oder groß es auch sei. Diese große Verantwortung haben eure Vormütter mit mir zusammen getragen und haben nicht nachgelassen, das große Ziel zu erreichen, gegen alle gegen sie aufgebotenen Widerstände. Ihr seid die Erbinnen dieser treuen Schwestern. Daher biete ich euch allen an, unter meiner Führung den steinigen Weg zur wahren Vorherrschaft der Hexenheit zu beschreiten, wie lang er auch sein mag. Es steht euch frei, diesen Weg mit mir zu gehen oder weiterhin in der Angst vor den Hexen unterdrückenden Zaubereigesetzen oder aus falschverstandener Menschenfreundlichkeit und Duldsamkeit auf das von den Moggli angestrebte Ende der Welt zu warten oder im Bewusstsein zu sterben, dass die eigenen Kinder und Kindeskinder diesen Tag erleben müssen. Ihr habt die Wahl: Herrinnen der Welt oder Sklavinnen der Untätigkeit!"

Bei einigen der einbestellten Hexen färbte sich die goldbraune Aura leicht grün. Allerdings gab es da vier, deren Gesinnungsauren von Goldbraun zu rotgolden wechselte. Nur bei Diana Camporosso und Celestina Quatroventi waren keine solchen Leuchterscheinungen zu sehen.

Eine den Silbersträhnen im dunklen Haar nach schon ältere Hexe hob zaghaft die Hand. Ihre Gesinnungsaura schimmerte goldbraun. Ladonna tippte sich mit dem linken Ringfinger an die Stirn und dachte "Nominem indicato!" Über den Köpfen der von einer sichtbaren Aura umhüllten glommen in derselben Farbe schimmernde Namen auf, die aber nur Ladonna lesen konnte. Sie sah die Fragende an und sagte: "Ja, bitte, Elena!"

"Du willst also wahrhaftig denselben Weg fortsetzen, den Sardonia für dich weitergegangen ist und der uns Hexen mehr Ablehnung als Anerkennung eingebrockt hat?" fragte die die zu sprechen aufgeforderte Hexe.

"Wer den Lauf der Welt bestimmen will darf keine Angst vor den dazu nötigen Handlungen und Widerständen haben, Elena. Deshalb werde ich da weitermachen, wo die widerliche Rivalin mich aufgehalten hat. Sie ist ja selbst gescheitert, weil sie diese pestilensischen Kreaturen, die Dunkelheit, Kälte und Verzweiflung um sich ausbreiten, nicht rechtzeitig ausrotten konnte. Danach wollte ja keine mehr so richtig an die Macht, außer der auf die Insel Britannien geflüchtete Nichte von ihr, von der es heißt, die sei auch wiedergekehrt, so wie ich."

"Wenn du uns also sagen würdest, jeden zu töten, der deinen Ideen im Weg steht, müsste ich auch meine Verwandten töten, falls sie mich davon abbringen wollen, deine Befehle auszuführen, richtig?" fragte Elena. Ladonna sah sie genau an und nickte dann. "Ja, und wenn ich mich weigern würde, meine Verwandten umzubringen, würdest du sie töten oder denen, die meinen, Wölfinnen zu sein aber unter deiner Führung nur dumme Schafe sind, dazu anstiften, mich und meine Verwandten auszulöschen. Wie war denn das damals vor vierhundert Jahren mit den Pontevetros?" Nicht wenige der Einbestellten sahen Elena verwirrt an. Einigen schien eine Erkenntnis gekommen zu sein. Denn unvermittelt färbten sich deren Gesinnungsauren von goldbraun zu Hellrot und eine, die bis dahin von einer hellgrünen Aura umhüllt wurde, umfloss nun eine goldbraune Aura den Körper. Ladonna holte Luft, wodurch ihr üppiger Oberkörper mehr Raum einnahm. Die Hexen tuschelten immer noch leise. Dann rief Ladonna laut: "Die Pontevetros haben mit der Inquisition zusammengearbeitet und wollten alle Hexen die sie kannten an diese verraten, ja sogar sicherstellen, dass diese Hexen nicht durch Magie entkommen konnten. Natürlich konnte und durfte ich das nicht zulassen, als ich erfuhr, dass Giovanna und Giuliano Pontevetro bereits mit einem Handlanger der Vatikanbruderschaft gesprochen hatten. Ich hätte es auch dabei bewenden lassen, nur die beiden Abtrünnigen zu bestrafen. Aber deren ganze Familie, Hexen und Zauberer, haben sich mir und meinen beiden Schwestern entgegengestellt. Falls du deine Aufzeichnungen noch einmal nachprüfen oder gar vervollständigen möchtest, Elena, dann wirst du herausfinden, dass deine Vormutter Allessandra zu meinen Begleiterinnen gehörte und wir in einer gnadenlosen Zauberschlacht das eigene Leben wagen mussten, um diesen Verrat an allen Hexen zu verhindern. Ja, wir mussten die Pontevetros restlos töten. Aber das ist genau was ich gerade sagte: Wer nicht in Untätigkeit erleiden will, was andere tun, muss auch bereit sein, gnadenlos zu handeln. Deine Vormutter wusste und befolgte das, Elena. Sie fällte fünf der zehn uns entgegentretenden Pontevetros. Giovanna musste das Schicksal hinnehmen, das sie allen anderen Hexen zugedacht hatte, den Tod auf dem Scheiterhaufen. Die bei anderen Verfolgungen üblichen Folterungen reichten nicht daran heran, dass sie zusehen musste, wie ihre vier Söhne und zwei Töchter von mir und auch deiner Vormutter getötet wurden, Elena Pietrarossa."

Alle Hexen sahen erst sich und dann die Wiedererwachte an. Elena erzitterte. Dann stieß sie aus: "Ja, meine Vorfahrin hat mitgemordet, weil sie wusste, dass sonst ihre Familie sterben musste. Angst ist die schlimmste Form der Sklavenführung, schlimmer als Peitschenhiebe und schwere Eisenketten." Elenas Aura wurde nun hellrot, wie auch die von drei weiteren Hexen. Bei zweien, die bisher im satten Hellgrün erstrahlt waren, wechselte die Gesinnungsfarbe zu rotgolden, also noch nicht völlig feindselig, aber doch schon ablehnend.

"Mord ist, wenn ich mit Gift oder einem Fernfluch ohne Ankündigung das Leben eines Anderen beende. Wir hatten damals nur die Wahl, alle Hexen der heuchlerischen und auch aus Angst getriebenen Gefolgschaft des angeblichen Stellvertreters eines angeblichen Heilands auszuliefern oder dieses Übel mit Stumpf und Stiel auszurupfen, wie ein Gärtner das mit Unkraut tut, bevor es seinen Garten überwuchern kann. Deine Vormutter wusste das, Elena. Und wenn sie mir nicht geholfen hätte, wäre ihre Familie wirklich gestorben, aber nicht durch meine Hand oder auf mein Wort hin, sondern von den Schergen dieser patriarchalischen Frömmler und Hexenfeinde ohne eigene Zauberkraft. Sicher wird Alessandra nach meinem unbeabsichtigten Verschwinden behauptet haben, sie habe nur Befehle ausgeführt oder aus Angst vor Sippenstrrafe oder dergleichen gehandelt, vielleicht sogar behauptet, ich habe sie unter den Imperius-Fluch genommen, um sie dazu zu zwingen, mir zu gehorchen. Aber wahr ist, Elena, dass meine treue Mitschwester Alessandra genau wusste, dass sie im Körper einer Hexe nur die Wahl zwischen dem Kampf für die Wiedererlangung der mütterlichen Ordnung oder der in Leid und Demütigung bestehenden Untätigkeit hatte. Sie wählte den Kampf, was in letzter Folge auch dazu führte, dass es dich heute gibt, Elena Pietrarossa. Ja, und ihr anderen, die ihr nun meint, mich ablehnen oder gar bekämpfen zu wollen, überlegt vorher, was ihr sein und was ihr werden wollt, ob anerkannte und geachtete Lenkerinnen der euch anvertrauten, oder unterwürfige, gebärfreudige Dienstmägde. Wer sich von euch für den ersten Weg entscheidet, der reiche ich meine Hand zum neuen Bund der Feuerrose. Wer sich für den zweiten Weg entscheidet, die wird mir den Eid schwören, niemandem von dieser Höhle und diesem Treffen zu berichten oder für den Rest ihres Lebens schweigen.""

"Ich lehne dich ab, Ladonna Montefiori. Was du anbietest ist böse und genauso zerstörerisch wie das von dir als irrwitzig bezeichnete Treiben der Moggli. Und aufhalten kannst du mich nicht. Dein Antidisapparierzauber wirkt nicht auf mich", sagte Elena Pietrarossa, drehte sich blitzartig auf dem Absatz und verschwand mit lautem Knall. Dabei flogen weißblaue Funken um sie herum. Ladonna sah verblüfft auf den Punkt, wo Elena verschwunden war. Dann musste sie sich beherrschen, nicht laut loszulachen. Die Flucht würde Elena nicht länger als drei Atemzüge überleben. Denn mit der Gesinnungsaura hatte Ladonna jeder hier auch eine letzte Sicherung aufgeprägt, die nur erlosch, wenn sie ausnahmslos alle verabschiedet hatte.

"Bevor ihr fliehen wollt soviel, wer meinem Rückhaltezauber widerstehen kann und an einen Ort außerhalb der Höhle gelangt stirbt einen qualvollen Tod durch inneres Verbrennen. Nur wem ich erlaube, diesen Ort zu verlassen, die wird weiterleben. Haltet ihr alle mich bloß nicht für so weltfremd und unerfahren, dass ich derartige Widerstände nicht vorhergesehen und entsprechende Vorkehrungen getroffen habe! Also, ihr nachgeborenen Töchter treuer Mitschwestern: Wählt zwischen der Gefolgschaft oder dem Schweigen in fortgesetzter Untätigkeit!"

Jene, deren Gesinnungsauren weiterhin hellgrün glommen traten mit nach vorne gebeugten Oberkörpern auf das Podest zu. Ihre Zauberstäbe zeigten mit den leuchtenden Spitzen nach unten. Auch Celestina Quatroventi und Diana Camporosso traten auf das Podest zu. Celestina hatte ihren Oberkörper sogar noch tiefer gebeugt als die anderen, nur um nicht mehr größer als die größte hier anwesende Hexe zu sein. Bei einigen schlug die Gesinnungsfarbe von Goldbraun zu Hellgrün um. Sie traten ebenfalls an das Podest heran. Nur für Ladonna lesbar glommen ihre Namen über den Köpfen. Jene, deren Aurenfarbe goldbraun blieb traten einige Schritte zurück. Diejenigen, bei denen die Gesinnungsfarbe vollständig ins Hellrot umschlug blickten erst sich an und dann in die Umgebung, um zu prüfen, welche Aussichten sie hatten. Zwei der nur noch hellrot umstrahlten versuchten, zu disapparieren. Doch eine weißblaue Funkenwolke umflog sie. Laut aufschreiend fielen sie zu boden. Die Funken erloschen. "ich weiß nicht, wie Elena das gemacht hat. Aber ihr anderen bleibt hier, bis ich jede von euch mit der mir bekannten Abschiedsformel freispreche", lachte Ladonna.

"Dann stirb, schwarzes Geschmeiß!" brüllte Valeria Gottaclara, eine hagere, schwarzgelockte Hexe im hellblauen Seidenkleid. Sie wirbelte herum und zielte auf Ladonna. "Avad..." stieß sie noch aus. Da traf Ladonna sie mit einem violetten Blitz. Innerhalb von nur einer Sekunde wurde aus der hageren Hexe eine langstielige gelbe Rose mit vollständigem Wurzelwerk. Zwei andere hellrot umflossene Hexen rannten mit vor sich hin und herfegenden Zauberstabbewegungen auf den Höhlenausgang zu. Eine silberne Wand entstand vor ihnen. Doch zwei blaue Feuerbälle zerschlugen diese Wand. Die beiden Fliehenden rannten weiter, aus der Grotte hinaus. Ladonna ließ sie gewähren. Denn sie wusste, was ihnen nun passieren würde.

__________

Im Gastraum der Schenke zur Blutroten Fledermaus, zur selben Stunde

Alle Versammelten betrachteten die Neuankömmlinge argwöhnisch bis grundweg ablehnend. Vor allem die schwarzhaarige Frau strahlte eine unbändige Kraft aus, welche die Anwesenden sichtlich in Abwehrbereitschaft versetzte. Dann sprach dieses Geschöpf und zeigte dabei die für die Kinder der Nacht bezeichnenden Fangzähne.

"Ich, der Göttin höchste Botin, die erhabene Hohepriesterin Nyctodora, bin mit meinen Getreuen Risanoche und Argyraselenia zu euch allen gekommen, um im Namen meiner Göttin den Gesandten aller Völker der Kinder der Nacht ihren Gruß und ihre Botschaft zu überbringen. So höret was meine Herrin und Göttin euch verkündet!"

"Vergiss es, Weib, deine Götzin ist uns ein Ärgernis", entrüstete sich Hubertus Blutpfeil. Erythrina konnte ihm ansehen, dass er jetzt zu gerne seine Armbrust ergreifen und auf die Götzendienerin anlegen würde. Auch Magog starrte die Sprecherin sehr angriffslustig an. Nur der bisher geltende Status dieser Schenke hielt die beiden davon ab, auf die Unbekannte zuzugehen. Erythrina hoffte, dass die angebliche Göttin diesen Auftritt nicht inszenierte, um eine handfeste Auseinandersetzung zu stiften, um den Rang als heilige Zuflucht und Ort der Feindesruhe zu zerstören.

"Ah, der Jäger aus dem Spessart und der Schlachtmeister aus der Schweiz", erkannte Nyctodora die beiden. "Auch an euch richtet meine Herrin das Wort. So höret es oder erfahrt ihren Zorn!"

"Deine Göttin gibt's genausowenig wie den goldenen Brunnen des Blutes, Mädchen", entrüstete sich Magog. Daraufhin winkte Nyctodora ihre beiden Begleiterinnen, dass diese sich hinter ihr so aufstellten, dass sie ein Dreieck bildeten. Dann wandten sich die drei so, dass sie auf den Mittelpunkt dieses Dreiecks sahen. In dem Augenblick entstand dort eine Wolke aus blutroten Funken, die sich zu einer langsam kreiselnden Säule erhob, aus der dann innerhalb eines Wimpernschlages eine drei Meter hohe, unbekleidet wirkende Frauengestalt entstand. Diese blickte nun mit halboffenem Mund von oben herab und sog laut zischend Luft ein. Alle hier spürten eine ungeheuere Kraft, die von dieser Erscheinung ausging, eine beinahe greifbare Aura der Unbesiegbarkeit und Unverwüstlichkeit. Von dieser Erscheinung strahlte etwas aus, was die Kraft von fünfzig Nachtkindern auf einmal aufwog, wenn nicht sogar mehr. Ihr Leuchten tauchte den sonst stockdunkel gehaltenen Gastraum in einen dunkelroten Widerschein. Das machte die Erscheinung in ihrer Wirkung noch unheimlicher und übernatürlicher, als die hier sitzenden es gewohnt waren. Erythrina fürchtete, dass sie alle heute nacht ihre Freiheit oder ihr Leben verlieren würden, wenn ihr nichts einfiel, um dieses Überwesen da zu schwächen und/oder für immer aus diesem unterirdischen Gebäude zu vertreiben.

"Ich bin Gooriaimiria, die große Mutter der Nacht, euer aller Göttin", dröhnte eine mittelhohe Frauenstimme aus dem Mund der blutrot leuchtenden Erscheinung. "Es gibt mich, und ihr werdet alle mit eurem Blut und eurem Wort schwören, mir zu folgen, euch unter meinen Schild und Schutz zu begeben, für mich Augen, Ohren, Münder und Hände zu sein. Dann, so gelobe ich, werden Frieden und Schutzrecht weiterhin in dieser Schenke wohnen. Ihr wolltet nicht meiner Hohepriesterin zuhören. Aber mir müsst ihr zuhören. So gebiete ich nun meiner höchsten Botin, Hohepriesterin Nyctodora, die Zeremonie des Treueschwures durchzuführen! Wohl an, meine Hohepriesterin, walte deines Amtes!"

"Neh, is' klar, Mädels. Toller Illusionszauber", erwiderte Magog, obwohl der lange Nachhall der glockenartigen Stimme noch nicht verklungen war. "Ihr habt euch mit einem Zauberstabschwinger oder mit einer von diesen Gewitterhexen zusammengetan und diese große Dame aus reinem Licht aus dem Hut gezaubert. Doch die Geschichte von der Göttin ist eine Falschmeldung, sicher von diesen Zauberstabschwingern, die uns Kinder der Nacht am liebsten vernichten oder zumindest als Sklaven halten wollen. Bei der Mitwinternacht, hier wird keiner einer gefälschten Gottheit Folgen, schon gar nicht ich!"

"Du hast die große Mutter gehört, Magoog. Entweder schwörst du, ihr zu folgen und darfst dein Leben weiterführen, oder sie enthebt deine Seele dem Körper und macht sie zu einem winzigen Teil von sich selbst, mit allem, was du konntest und wusstest", drohte Nyctodora. Ihre beiden Begleiterinnen Risanoche und Argyraselenia standen unbeweglich auf ihren zuletzt eingenommenen Posten, so dass das von den späten und nicht eingeladenen Besucherinnen gebildete Dreieck unverändert blieb. Das bemerkte wohl auch Hubertus vom Spessart und meinte: "Genau, du schweizer Schlachtermeister. Deshalb müssen die im Dreieck stehen, um die Zauberkraft aufzubringen, um dieses rote Luder dort zu erschaffen und zu lenken, nicht wahr, Mädchen?"

"Meine treuen Schwestern, tretet neben mich hin!" befahl Nyctodora. Die zwei anderen Vampirinnen gehorchten unverzüglich. Das Dreieck wurde aufgelöst. Doch die Erscheinung blieb wie sie war. Mehr noch, sie trat nun von ihrem bisherigen Haltepunkt weg und wandte sich ohne sichtbare Fremdsteuerung zu Magog hin. Dieser grinste breit und zeigte seine beiden weißgelben Fangzähne in ganzer Länge.

"Na, Lichterfee, dann friss doch meine Seele auf und krieg davon Bauchweh", spottete Magog und machte einladende Handbewegungen. "Ich werde jedenfalls dieser Hure und ihren zwei Zofen da nicht die Gefolgschaft schwören."

"Du bittest mich darum, deine Seele in mich aufzunehmen? So erweise ich dir diese Ehre, Magog von Goldach. Doch sei dir gewiss, dass du dann mir für alle Zeit einverleibt und unterworfen sein wirst", sprach die blutrote Lichtgestalt. Erythrina sah, dass der Unterbauch der Erscheinung leicht vorgewölbt war, als trüge sie ein Kind aus. Wieso sah sie so aus? Wollte sie damit ihre Rolle als Mutter bekunden? Auf die Fragen bekam die Schankwirtin der blutroten Fledermaus keine Antwort. Dafür sahen sie alle, was weiter geschah.

Die blutrote Erscheinung trat wie auf unsichtbaren, geräuschlosen Sohlen auf Magog zu, der nun doch irgendwie merkte, dass dieses Etwas da nicht einfach nur ein magisches Lichterspiel war. Doch um noch was sagen zu können war es zu spät. Denn wie eine zuschnappende Fangheuschrecke schlang die Erscheinung beide Arme um den Körper des Vampirpatriarchen, riss diesen wie einen Sack Daunenfedern vom Boden hoch und schlug ihm ihre Fangzähne in den Hals, wie ausgehungerte Nachtkinder das bei vollblütigen Menschen häufiger taten. Magog zuckte zusammen und stieß einen lauten Schrei aus. Alle hier dachten erst, die Unheimliche würde ihm das Blut aussaugen. Doch es war kein Schlürfen oder Schmatzen zu hören. Statt dessen schrie Magog erst mit seiner körperlichen Stimme, bis sein Schrei mit einem krächzenden Röcheln endete. Doch alle meinten sie, ihn weiterschreien zu hören. Dann sahen sie, wie durch den Hals der blutroten Erscheinung etwas hellrotes, dunstartiges, mit Armen und Beinen um sich schlagendes drang und hörten Magogs Schrei wie aus einem hundert Meter tiefen Brunnenschacht. Sie konnten nun alle durch die blutrote Bauchdecke der Unheimlichen das vor Angst und Verzweiflung verzerrte Gesicht Magogs erkennen, als es auf Höhe des Magens durchschimmerte. Dann zerfloss es, und mit ihm verhallte auch sein letzter Aufschrei. Die Erscheinung aus blutrotem Licht zuckte einmal zusammen. Dann streckte sie sich und atmete hörbar ein und wieder aus. Dann ließ sie Magogs Körper einfach fallen. Er schlug auf dem Boden auf. Arme und Beine von sich gestreckt. Rein äußerlich war keine Verletzung zu sehen. Doch alle hier hatten gespürt, wie Magogs Leben erloschen war. "So muss ich dann wohl jedes seiner Kinder aufsuchen, um ihm die Wahl zu lassen, zu folgen oder zu vergehen", sprach die rote Lichterfrau. Erythrina war nicht die einzige, die entsetzt auf den entseelten Körper des Vampirpatriarchen Magog sah. Doch für Erythrina Lunescu bedeutete dessen Tod noch eine Menge mehr. In diesem Schankraum war ein Sohn der Nacht gewaltsam zu Tode gekommen. Ob die Erscheinung da die verstofflichte Anwesenheit der Göttin war oder nur ein besonderer Zaubertrick der drei Vampirinnen war egal. Sie hatten mitgeholfen, einen anderen Vampir umzubringen. Damit war das Gebot der heiligen Zuflucht und das unantastbare Schutzrecht der blutroten Fledermaus gebrochen.

"Expulseatur Nefariusa!" Rief Erythrina laut aus. Dieser ohne Zauberstab ausführbare Zauber war einer der Sicherungen, wenn jemand doch gegen das Gebot der Unantastbarkeit verstieß. Ein violettes Leuchten erhellte zwei Sekunden lang den ganzen Raum und erlosch wieder. Danach war alles wie davor. Die Erscheinung und die drei Vampirinnen waren noch da. Der Verstoßungszauber hatte keine von ihnen als Frevlerin erkannt und weit von hier entfernt versetzt. Da lachte die rote Lichterfrau hell und höhnisch, dass es in allen Ohren laut nachklirrte.

"Wirtin, er wollte sterben. Er wollte, dass ich seine Seele nehme. Deshalb wirkt dein Verstoßungszauber nicht auf mich. Wohl würde er auch nicht auf mich wirken, weil ich über alles aus Fleisch und Blut erhaben bin. So werdet ihr mir jetzt alle den Eid schwören oder Magog folgen. Ihr habt die Wahl. Ach ja, Wirtin, räume endlich die Sachen von den Tischen, damit meine Hohepriesterin die Zeremonienkrüge darauf abstellen kann! Danke!"

Erythrina sah die drei Ungeladenen Nachttöchter an und dann die von ihnen hergerufene Erscheinung. Sie fühlte, dass in den nächsten Sekunden das Schicksal zuschlagen würde, so als würde sie unter freiem Himmel ausgesetzt das Morgenrot sehen und wissen, dass gleich der erste Sonnenstrahl auf sie treffen würde. Die Patriarchen waren angespannt wie Stahlfedern. Megara blickte nur auf Nyctodora. Die zwei unterschiedlich alten Nachttöchter begannen, einander anzustarren. Erythrina erkannte, dass sie gerade noch die Möglichkeit hatte, sich davonzumachen. Sie hatte schließlich den Auftrag bekommen, alle blutverkrusteten Kelche und Krüge von den Tischen zu räumen. Das tat sie mit der für Nachtkinder bekannten Geschwindigkeit. Dabei meinte sie, die Luft um sie herum würde von unsichtbaren Funken erfüllt, die prickelnd und heiß auf ihrer ganzen Haut landeten. Mit beiden Armen voller leerer Krüge und Kelche eilte sie aus dem Gastraum hinaus in Richtung Küche. Dabei hoffte sie, dass die Erscheinung - Göttin wollte sie immer noch nicht dazu sagen - ihre Gedanken nicht lesen konnte.

"Bogdan, das blaue Tischtuch", schickte sie ihm eine schnelle Gedankenbotschaft zu, als sie ihren Mann in der Küche sah, wie der gerade leere Krüge in die Regale zurückstellte.

"Was ist da los, Erythrina?" schickte er ihr zurück.

"Gleich erstrahl die Sommermittagssonne und wird uns alle in Dampf und Asche verwandeln", erwiderte sie darauf nur und blickte sich um. Da hörten sie aus dem Schankraum Megaras entschlossene Stimme. Sie rief etwas auf Griechisch, dass Bogdan konnte. Er zuckte zusammen. Dann schnappte er mit der linken Hand nach einer Schublade, riss diese auf und zog ein Tischtuch aus blaugefärbter Spitze hervor. Er schüttelte es auseinander und schwang es so, dass seine Frau es mit einer Hand ergreifen konnte. "Los, festhalten und weg hier!" zischte er. Dann hörten sie das laute Aufbrüllen einer Frauenstimme wie von einer Riesin. Erythrina zuckte einen Moment zusammen. Doch dann rief sie geistesgegenwärtig: "Sonnenschlaf!"

__________

In Ladonnas Grotte, kurz nach Mitternacht des 6. Mai 2003

Die zwei fliehenden Hexen, Petra Buonigatti und Elisabeta Martinelli wähnten sich offenbar außer gefahr. Doch das war ein tödlicher Irrtum. Kaum waren sie aus Ladonnas Versammlungsgrotte heraus fühlten sie, wie es in ihren Eingeweiden immer heißer wurde. Der Atem blieb ihnen weg. Dann barsten aus ihren Unterleibern hellrote Flammen. Die zwei Hexen hatten nicht einmal mehr Luft, um ihren Todesschmerz in die weitläufigen Höhlen zu schreien. Es dauerte nur vier weitere Sekunden, da war von ihnen nur noch ein Haufen glimmender Asche übrig. Nicht wenige Hexen in der Grotte sahen diese grausame Vernichtung zweier Hexen, die sich offen geweigert hatten, der Wiedererwachten zu folgen.

"Ich habe euch gewarnt", brach Ladonnas eiskalte Stimme durch das entstandene Schweigen. "Also noch einmal: Wer mir folgen will schwört mir gefolgschaft. Wer nicht folgen will schwört mir Stillschweigen über dieses Treffen und wo es stattfindet! Anders kommt ihr hier nicht mehr weg."

"Da zog eine der von hellrotem Licht umflossenen eine merkwürdige Vorrichtung hervor, die im Licht der über hundert Laternen golden glänzte. Sie zielte auf Ladonna Montefiori, die ganz ruhig auf dem Tropfsteinsockel stand. Ein goldener Blitz entfuhr dem merkwürdigen Ding und raste auf die Wiedererwachte zu. Der Sockel bebte, als der Lichtblitz auf eine unsichtbare Wand prallte und schneller als ein Blinzeln in die Gegenrichtung schlug. Die Hexe, die mit dieser merkwürdigen Vorrichtung auf Ladonna gezielt hatte wurde in goldenes Licht gehüllt und davon aufgelöst. Es krachte, und eine Sekunde später lag nur ihre Kleidung und jenes goldene Gerät am Boden. Ein schwach hellrotes Glimmen drang durch die zusammengefallene Kleidung. Ein leises Wimmern ertönte. Ladonna starrte selbst verwundert auf die Kleidung und erkannte, dass etwas einen halben Meter großes darin eingehüllt sein musste, etwas, das sich bewegte. Aus der goldenen Vorrichtung sprühte für eine Sekunde eine Kaskade blauer Blitze unschädlich in die Decke. Dann war es vorbei.

"Ich stelle fest, dass euch die Maschinenspielerei der Moggli offenbar mehr beeindruckt als es anständigen Hexen ansteht", knurrte Ladonna. "Accio Zauberabschussvorrichtung!" Das goldene Gerät flog wie an einem zurückflitschenden Gummiband auf Ladonna zu und landete fanggerecht in ihrer linken Hand.

"Weiß eine von euch anderen, was das Ding hier soll?" fragte Ladonna. Da verschwand das Kleidungsbündel mit Inhalt in einer grünen Lichtspirale. Auch das verwunderte Ladonna Montefiori. Doch sie hatte nicht die Zeit, sich über diesen Vorgang zu wundern. Denn das goldene Gerät, dass sie an sich gebracht hatte, erhitzte sich schlagartig. Rote und gelbe Funken flogen daraus hervor. Ladonna fühlte, wie ihr magischer Ring dagegenzuhalten versuchte. Doch das immer stärker werdende Vibrieren gemahnte Ladonna, das erbeutete Gerät nicht länger festzuhalten. Sie warf es mit einem kräftigen Schwung nach oben und über die anderen Hexen hinweg. Im Flug verschwand es in einem gleißenden Feuerball, der das Licht der Laternen viermal so hell überstrahlte. Dann regneten gelbglühende Metalltropfen nach unten und brannten sich zischend in den Kalksteinboden ein. Keine andere Hexe war dabei verletzt worden.

"Hat noch jemand diese Frechheit in Gold bei sich, dann sollte sie das Ding besser gleich abgeben oder ich löse deren Selbstvernichtung aus, jetzt wo ich weiß, was ich treffen muss", sagte Ladonna, die im Augenblick nicht mehr so selbstsicher und überlegen wirkte. Viermal hatte wer ihre Sicherungen überwunden. Gut, Elena war sicher auch längst ein glühender Aschehaufen. Doch was die Hexe, die Loredana Montanera hieß da mit ihr versucht hatte gefiel ihr nicht. Sicher war die jetzt auch schon ... Nein, zum dreifach geschwänzten Basilisken, sie war leider nicht tot! Ladonna erkannte nun, was da versucht worden war. Jemand hatte es geschafft, den Rückverjüngungszauber Infanticorpore in einer Vorrichtung einzuspeichern und ihn unverzüglich, ohne die nötige Zauberformel sprechen zu müssen, auf das ausgewählte Opfer zu werfen. Sicher, die Schutzzauber hatten jeden Körperveränderungsfluch auf dessen Absenderin zurückgeworfen, und der von ihr getragene Ring, so wie die natürliche Resistenz der Veelas gegen Fremdverwandlungen hätte sie vor der ungewollten Wiederverjüngung zum sabbernden Säugling bewahrt. Loredana hatte ihr eigener Zauber getroffen und sie verjüngt. Dann hatte eine Weiterentwicklung des Portschlüsselzaubers sie fortgebracht. Ihr Vergeltungszauber galt aber nur für eigenständig handlungsfähige, erwachsene Hexen.

Ladonna musste sich sehr beherrschen, nicht laut loszuschreien. Sie stieß nur etwas lauter als vorhin ihre Frage von eben aus, ob noch wer diese Vorrichtung dabei hatte. Dann ließ sie mit "Autodestructus hostilifactus", ein blaues Flimmern in der Grotte erscheinen, dass die hellroten Auren der ihr ablehnend gegenüberstehenden violett und die grünen Auren türkis umfärbte. Drei Sekunden blieb das Flimmern. Dann war es auch schon wieder weg.

"Gut, wo ich jetzt weiß, dass nicht noch wer eine gegen mich ersonnene Spielerei mitführt noch einmal und diesmal endgültig: Wer mir folgen will schwört mir mit ihrem Wort und ihrem Blut Gefolgschaft. Wer mir nicht folgen will und keine weitere Feindseligkeit gegen mich oder die mir folgen wollenden Schwestern begeht, die schwört mir Schweigen über diese Zusammenkunft. Dann und nur dann werde ich euch alle aus dieser Zusammenkunft entlassen."

Zwei, deren Auren von Goldbraun zu Hellrot wechselten rissen ihre Zauberstäbe hoch und riefen Gleichzeitig: "Avada Kedavra!"

__________

Zur selben Zeit in der Schenke zur blutroten Fledermaus

"Es ist genug, Nyctodora, die du als Eleni Papadakis geboren wurdest! Lass von deinen Zielen ab, Nyctodora, die du als Eleni Papadakis geboren wurdest! Verschwinde mit deinen Zofen aus dieser entweihten Stätte, damit wir sie wieder weihen können, Nyctodora alias Eleni Papadakis!" rief Megara von Delphi auf Griechisch. Die vor ihr stehende Frau im langen Kleid zuckte jedesmal zusammen, wenn ihr Vampir- und ihr Menschenname in einem weiteren Befehl erklangen. Sie erzitterte. Alle hier anwesenden Vampirfürsten und -fürstinnen sahen Megara an. Die vom Balkan stammenden konnten sowohl alt- wie Neugriechisch und verstanden Megara deshalb. Sie kannten jetzt auch den Menschennanen der Hohepriesterin. Wer beide Namen kannte konnte einem Kind der Nacht jeden Befehl erteilen, außer den, sich selbst zu töten. Jeder mit beiden Namen verknüpfte Befehl musste wortgetreu und unverzüglich befolgt werden. Darüber hinaus war es für einen Vampir verheerend, wenn es mehrere Zeugen für die ihm erteilten Befehle gab.

Nyctodora machte Anstalten, sich umzudrehen. Doch die von ihr und ihren Begleiterinnen gerufene Erscheinung ihrer Göttin erstrahlte nun noch heller und breitete sich weiter im Schankraum aus. Dann stieß die überirdische Daseinsform ein lautstarkes Wutgebrüll aus, das die nun im roten Licht glimmenden Wände zum erzittern und die dazwischen wabernde Luft zum flimmern brachte. Allen hier anwesenden klirrten die Ohren. Dann zerbarst die blutrote Erscheinung ohne Knall. Doch die Folgen waren wesentlich verheerender. Denn wo das in den Raum hineinbrechende Leuchten einen Vampir berührte, verging dieser ohne Flammen und Rauch zu grauer Asche. Die lautlose Lichtexplosion brauchte keine zwei Sekunden, um alle hier versammelten Fürstinnen und Fürsten zu vernichten. Tische und Gefäße blieben davon unbetroffen. Doch dann sprangen krachend Risse in den Wänden auf. Dumpf grollend bebte der Boden, und von der etwa drei Meter hohen Decke bröckelten erst Staub und dann immer größere Gesteinsbrocken nieder. Derweil fraß sich das rote Licht schneller als offenes Feuer durch alle Gänge, füllte alle Ritzen und Nischen aus. Es drang in die Küche und erhellte diese. Es brach in den Gang zu den Stallungen. die wegen ihres Blutes gehaltenen Kälber und Schafe blökten und bähten in Todesangst. Doch das in ihre Stallungen hineinschießende Licht tat ihnen nichts. Es blieb drei Sekunden lang bestehen. Während dessen erschütterten immer heftigere Erdstöße die unterirdischen Höhlen unter der Nokturngasse. Weitere Steine brachen aus der Decke und krachten zu Boden. Dann zog sich das Licht noch schneller zurück als es vorgedrungen war. Als es nur noch den Schankraum erfüllte verdichtete es sich wieder zu Gooriaimirias für andere sichtbaren Erscheinungsform. Diese sah auf den bebenden Boden und die von ihr jeweils in eine rote Schutzaura gekleidete Hohepriesterin, ihre beiden Begleiterinnen und dem Vampir, den sie hier noch als Manoquinto gekannt hatten. Die roten Auren wirkten als Schilde gegen die herabprasselnden und -krachenden Steine aus der Decke und die aus den gebeutelten Wänden herausschnellenden Trümmerstücke. Dann verschwanden die vier übriggebliebenen Nachtkinder in jener nachtschwarzen Spirale aus Zauberkraft, mit der die Göttin ihre Anhänger von Ort zu Ort befördern konnte.

Laut knarzend gab die restliche Decke nach, bevor sie donnernd und dröhnend herabstürzte und alles zerschlug oder unter sich begrub, was einmal der Schankraum der blutroten Fledermaus war. Das Beben schwoll noch weiter an. Es klang wie ein Chor aus urwelthaften Riesen, der einen gemeinsamen Ton suchte. Die für Übertagungsgäste in den Felsen geschlagenen Höhlen brachen schlagartig zusammen. Da zur Zeit niemand darin wohnte starb kein weiterer Vampir. Allerdings pflanzte sich die Vernichtung der blutroten Fledermaus nun immer weiter nach oben fort. Wo Gesteinsmassen nach unten brachen rutschten andere nach, bis sie auch in die entstandenen Höhlen und Spalten schlugen. Das ursprüngliche Beben klang inzwischen wieder ab. Doch was es ausgelöst hatte dauerte noch an. Erst als mitten in der erzitternden Nokturngasse das dunkle Kopfsteinpflaster mit Krachen und Knacken aufbrach und meterbreite Spalten aufrissen wussten es endgültig alle, die hier wohnten, dass gerade etwas wahrhaft erschütterndes passiert war.

Als Nyctodora aus dem Schattenstrudel in ihrem Haus in Athen herausfiel hörte sie noch die Gedankenstimme der Göttin: "Ich musste alle töten, die nicht auf mich eingeschworen waren, meine Hohepriesterin. Niemand, der nicht in meinem Dienst steht, darf deinen Menschennamen wissen. So blieb mir nur, ihre Körper zu zerstören und ihre Seelen in mich aufzunehmen. Allerdings vermisse ich die Wirtsleute. Die habe ich mit dem Zorn der Vernichtung nicht erreicht. Auch wenn ich nicht weiß warum, sei auf der Hut vor ihnen!"

"Haben sie Nachkommen?" fragte Nyctodora rein gedanklich.

"Ja, haben sie. Soweit ich von den mir einverleibten weiß haben sie eine Bluttochter, Silver Gleam. Doch wo diese wohnt weiß keiner."

"Haben diese Leute einen Portschlüssel benutzt, oder sind sie vielleicht disappariert?" wollte Nyctodora wissen.

"Das ist durchaus möglich. Jedenfalls habe ich sie nicht zu mir genommen. Sei also auf der Hut vor ihnen! Wenn du oder einer deiner Untergebenen sie sehen, müssen diese Leute sterben, so bedauerlich es auch ist, jene Nachtkinder zu töten, die mir nicht offen getrotzt haben wie dieser Magog und diese sich für überschlau haltende griechische Matrone, deren alte Seele ich nun auch in mir habe, was nebenbei gar nicht so schlecht ist, weil ich nun nämlich auf alle ihre Abkömmlinge einwirken kann, erst durch deren Sinne, später durch meinen Willen. Es ist bedauerlich, dass die Schenke zerstört wurde. Aber dein Geheimnis musste gewahrt bleiben. Nur die in unsere Reihen geholten dürfen deinen Menschennamen kennen, weil sie es nie wagen können, ihn gegen dich zu benutzen, zumal du ja auch deren Menschennamen kennst und ihnen da zuvorkommen kannst."

"So war meine Entsendung doch erfolgreich, große Mutter und Göttin?" fragte Nyctodora.

"Das kann nur die Zukunft beantworten, meine Tochter und Hohepriesterin", erwiderte die Göttin, und sie klang dabei sehr unerfreut.

__________

In einer geheimen Niederlassung der Gesellschaft zur Wahrung und Vermehrung magischen Lebens, Vita Magica, kurz nach Mitternacht am 6. Mai 2003

Ein lauter Aufschrei alarmierte Claudia Montanera, die seit einer Stunde auf eine Nachricht ihrer älteren Schwester wartete. "Claudia, hilf mir bitte!" klang nun eine Gedankenstimme in ihr. Zeitgleich schrillte ein Schrei wie von einem hungrigen Säugling durch den Warteraum. Claudia Montanera sprang auf und ging in einen kleineren Raum nebenan. Dort lag ein Kleiderbündel, genau das, was ihre ältere Schwester Loredana vorhin getragen hatte. "Loredana, hat es dich erwischt?" fragte Claudia Montanera und bückte sich nach dem Kleiderbündel.

"Ja, hat es, zum vieräugigen Basilisken. Sie ist wirklich wieder aufgewacht, Claudia. Sie hat auch was gemacht, dass Hexen, die sie nicht persönlich verabschiedet, aus sich heraus verbrennen. Deshalb notiere bitte den Zeitpunkt meiner unfreiwilligen Wiederverjüngung, damit ich es euch noch erzählen kann, bevor ihr mich auf mein natürliches Alter zurückführt. Aber schon mal einen schönen Gruß an Perdy, dass sein grüner Portschlüssel zuverlässig funktioniert."

"Jede Hexe verbrennt aus sich selbst heraus, die nicht persönlich entlassen wurde?" fragte Claudia Montanera. Ihre zurückverjüngte Schwester, die sie mittlerweile aus den im Moment zu großen Kleidern hervorholte, mentiloquierte: "Ja, wohl jede körperlich erwachsene Hexe."

"Öhm, der Reinitiator ist nicht mitgekommen", mentiloquierte Claudia Montanera.

"Keine Sorge, wenn den eine andere Hexe als ich anfasst geht die mit dem drauf. Da dieses Weib ihn sich geangelt hat könnte sie schon geschichte sein. Aber ich fürchte, gegen Vernichtungszauber hat die genug Vorkehrungen getroffen.

"Gut, dann nehme ich mal den Zeitpunkt vom Auslösemitschreiber", sagte Claudia Montanera.

Mit einem Dexter-Cogison konnte Loredana auch ohne Zähne und geübten Stimmapparat alles berichten, was ihr widerfahren war, vor allem auch, dass außer zwei Hexen alle von Auren in drei verschiedenen und veränderlichen Farben umgeben gewesen waren. Als alle ihre Aussagen notiert waren vollzogen zwei Mitstreiter der Montaneras an Loredana den Umkehrzauber gegen Infanticorpore. Loredana fürchtete erst, gleich selbst zu verbrennen. Doch es geschah ihr nichts.

"Euch zwei süßen ist klar, dass ihr jetzt nicht mehr da draußen rumlaufen dürft", meinte die bei der Befragung anwesende Mater Decima Maris Nostri, Cassandra Montanera, die Mutter der beiden Schwestern.

"Klar, weil ich die einzige war, die so dämlich war, unbedingt bei deinem Bruder und seiner fetten Frau den Sickelhochzeitstag mitzufeiern, während du, Mamma und du, kleine Schwester unbedingt mit den anderen hier an einer Verbesserung von "Blauer Mond" aarbeiten wolltet. Wie läuft die Operation eigentlich?"

"Zum einen, ich habe dir nicht gesagt, zu Luigi und Monica hinzugehen. Aber du meinst ja noch, einen großen Haufen Gold zu erben, wenn du luigi um den Bart streichst. Zum zweiten hat Perdy nun genug Vorrichtungen losgeschickt, um auch die unregistrierten Werwauzis zu erwischen, die noch nicht vom Vollmond beschienen werden. Noch einmal entwischen uns diese Mondbrüder nicht so leicht."

"Immerhin das", grummelte Loredana. Dann sagte sie noch: "Zumindest ist der Bestrafungszauber wohl wegen der Rückverjüngung unschädlich verpufft. Sonst hätte ich doch echt noch mal bei dir trinken müssen, Mamma mia."

"Das hätte Claudia dann übernommen, weil sie als Amme üben will", sagte Cassandra Montanera.

"Wenn Ladonna die Selbstvernichtung von Loris Reinitiator überlebt hat wird sie auf ihre alte Grausamkeit zurückgreifen und einen Sippenfluch aussprechen, Mamma", sagte Claudia. "Mit anderen worten, du darfst dich auch nicht mehr nach draußen trauen, bis wir wissen, wie wir den Fluch brechen können. Hmm, wenn die echt alle da vereidigen will, die nicht wegen Angriffs- oder Fluchtversuchen draufgehen könnten wir sie noch einsacken", wandte Loredana ein."

"Gute Idee, ich gebe das weiter", sagte Cassandra Montanera. Sie beeilte sich, aus dem Befragungsraum zu kommen.

"Du hättest mich echt aus dir trinken lassen?" fragte Loredana ihre jetzt wieder zehn Jahre jüngere Schwester. "Nicht aus mir, sondern an mir, Lori. Aberr ja, hätte ich glatt gemacht." Darauf schüttelte sich Loredana. Dann sagte diese: "Notiere ich mir für später, dass ich einen Reinitiator niemals mehr direkt auf ein Ziel ausrichten soll, wenn ich nicht aus meiner eigenen Schwester trinken will." Claudia konnte darüber nur verächtlich grinsen.

_________

In Ladonnas Grotte, kurz nach Mitternacht am 6. Mai 2003

Die zwei geächteten Worte waren gesprochen. Doch in dem Moment, wo gleißendgrüne Blitze aus den auf Ladonna zielenden Zauberstäben sirrten stieß ein magischer Windstoß die beiden Hexen zu boden. Die tödlichen Flüche sirrten klirrend widerhallend in die Decke hinein. Laut krachend brachen zwei große Krater in die Höhlendecke. Die Mitternachtsglocke schwang und schlug ohne die nötige Stimulation laut scheppernd. Kalksteinbrocken regneten aus der Höhlendecke auf die versammelten Hexen hernieder. Doch in nur vier Metern Höhe zerstoben sie in silbernen Blitzen. Das war eine weitere Absicherung Ladonnas, falls es doch einer gelang, den Todesfluch vollständig auszurufen. Im Freien Duell hätte Ladonna sich nur auf ihre raubkatzenartige Reaktionsschnelligkeit verlassen können. Auch jetzt handelte sie sehr schnell. Sie wirkte ihren berüchtigten Verwandlungszauber als Wiederholung von eben. Die zwei sie ernsthaft bedrohenden Hexen wurden zu zwei roten Rosen. Da noch eine langstielige Rose in der Grotte lag beschwor Ladonna eine mit Wasser gefüllte Kupfervase herauf und ließ die drei Verwandelten zu sich hinfliegen und mit den Wurzeln nach unten in die Vase hineingleiten. "Möchte da noch jemand bei sein?" fragte Ladonna in die Reihen der hellrot umleuchteten Hexen. Keine wagte nun noch einenWiderstand oder Widerspruch. So konnte Ladonna die hellgrün umflossenen Hexen zu sich auf das Podest rufen, auch Celestina und Diana, die von keiner Aura umflossen wurden und auch keinen nur für Ladonna lesbaren Namen über ihren Köpfen schweben hatten.

Die Vereidigung folgte einem uralten dunkelmagischen Ritual, bei dem Dienstherrin und Dienerin durch die Opferung eigenen Blutes an einen schwarzen Stein die Bindung zueinander beschworen und die erwählte Dienerin geloben musste, bis zum Ende ihres Lebens für die Herrin und Königin zu kämpfen oder bei Verweigerung den eigenen Tod zu erleiden. Jene, die eine hellrote Gesinnungsfarbe zeigten, versuchten zwar, die zu vereidigenden mit Schlaf- oder Lähmzaubern zu treffen. Doch wer das Podest betrat stand unter demselben Schutz wie Ladonna selbst. Als eine der erklärten Feindinnen losrannte, um das Podest zu erstürmen flammte die sie umstrahlende Aura doppelt so hell auf, und da, wo die beherzte Hexe eben noch gestanden hatte, landete eine rosafarbene Rose auf dem Boden.

Ladonna vollendete die gerade stattfindende Vereidigung Rosanna Ponticellis. Dann ließ sie die neue Rose in die noch bereitstehende Vase hineinschweben. Ab da wagte es wirklich keine mehr, irgendwas zu unternehmen.

Die von einer goldbraunen Aura umleuchteten Hexen schworen, dass sie über die wahrhaftige Wiederkehr der Rosenkönigin und die Versammlung weder in Wort, Schrift, Bild oder Gedankensprechen berichteten oder den sofortigen Tod erleiden würden. Dann durften sie sich zurückziehen.

"Die, welche nicht darauf ausgehen, mich anzugreifen, können nun auch den Eid der Verschwiegenheit sprechen. Wer mich jedoch immer noch angreifen will wird mit denen, die das vorher schon versucht haben in meinem Garten wohnen. Ihr habt die Wahl. Verbannt jeden Angriffswunsch aus eurem Geist oder erblüht bis zum Ende meines Lebens zu meiner Freude und aller, die ich euch sehen lasse." stieß Ladonna aus.

Die ersten wollten gerade mit hängenden Köpfen das Podest besteigen, als es über Ladonna leise piffte. Sie blickte nach oben und sah einen hellgrünen, mit der Öffnung nach unten weisenden Sack, der genau über ihr in der Luft hing. Der Sack erzitterte wild und beulte sich ein und wieder aus. "Was wird das denn?" fragte Ladonna nicht ganz so erheitert, wie sie klang. Dann sah sie, wie der Sack sich immer tiefer über sie herabsenkte. Ihr war klar, was das sollte. Sie sollte wortwörtlich eingesackt werden. "Diffindo Sack!" rief sie mit nach oben stoßendem Zauberstab. Doch der Sack zerriss nicht. "Dann eben so", knurrte Ladonna und hob die beringte linke Hand. "Ignis invictus!" zischte sie leise. Die beiden rosenblütenförmigen Rubine erstrahlten in immer hellerem Licht. Zwei helle Strahlen fuhren in den über Ladonna hängenden Sack hinein. Dieser sprühte Funken. Dann schlugen rubinrote Flammen aus ihm heraus. Danach rieselte heiße Asche über Ladonna herunter. "So nicht!" blaffte die Hexe in Schwarz. Aber wie war der Sack hier hereingekommen? Woher wusste jemand, wo sie zu finden war? Die Antwort war klar: Die verschwundene Feindin, die sich selbst mit dieser Infanticorpore-Vorrichtung zum Säugling verjüngt hatte. Die musste wem auch immer gepetzt haben, wo die gesuchte Wiederkehrerin zu finden war. Im Grunde hatte Ladonna nur Glück gehabt, dass sie jede Form nicht von ihr bewirkter Bewegungszauber mit einem raumfüllenden Contramotus-Bann unterbunden hatte. Doch der Sack hätte sie trotzdem verschluckt und dann wohl mit diesem fremdartigen Portschlüssel verschleppt.

"Das war Vita Magica, o Königin Ladonna", sagte eine der gerade von ihr eingeschworenen. "Das haben die auch mit Vengor so gemacht, der kurz vor deinem Erwachen besiegt wurde."

"Wie, die waren das? Gut, die wollen Krieg. Dann sollen sie Krieg haben", schnaubte Ladonna Montefiori nun sehr wütend. Ihr war zwar klar, dass sie nicht an so vielen Fronten zugleich kämpfen konnte, wo sie schon gegen die Zaubereiministerien und die über Jahrhunderte bestehenden Hexensororitäten ankämfen musste. Aber diese Banditen, die meinten, Hexen dazu zwingen zu dürfen, nur noch Kinder zu bekommen und sie mit ihnen womöglich widerstrebenden Zauberern zusammenzutreiben wie Zuchtvieh gehörten bestraft. Die würden es bereuen, sich in ihren erhabenen Feldzug eingemischt zu haben.

Immer wieder darauf achtend, ob noch weitere Einfangsäcke über ihr auftauchen mochten vollzog sie mit den ihr nicht zu folgen bereiten den Verschwiegenheitseid. Als das erledigt war wandte sie sich noch einmal an die sie verweigernden: "Heute habe ich euch noch einmal das freie Leben gelassen, soweit ihr mich nicht anzugreifen oder zu fliehen versucht habt. Versucht jedoch nicht, mich oder die mir nun folgenden Schwestern anzugreifen! Gnade ist ein Geschenk, das nur einmal überreicht werden darf. Alles andere ist Schwäche." Danach sagte sie: "Dormite Hostes!" Unvermittelt erstrahlten die hellroten Auren der sie ablehnenden Hexen weiß auf. Dann fielen sie alle um. Die von goldbraunen Auren umflossenen sanken ebenso zu Boden, aber nicht so schlagartig.

"Bevor ich euch alle freigebe möchte ich euch vierzehn neuen Getreuen der Feuerrose eure Aufgaben zuweisen. Nehmt bitte an diesem Tisch platz!" Auf dem Tisch erschinen unvermittelt kleine Schiefertafeln mit den Namen von Regionen Italiens. Da nur sieben Stühle frei waren sollten sich nur die älteren Eingeschworenen setzen. Ladonna teilte diesen dann mit, dass sie ab dieser Nacht die sieben Regionalsprecherinnen des hohen Tisches der Feuerrose waren. Zum Zeichen des Wiedererstehens dieses Ordens ließ Ladonna über dem Tisch eine frei schwebende, einen Meter lange Rose aus hellrot loderndem Feuer erscheinen. "Im Namen der Feuerrose werdet ihr zunächst nach weiteren Hexen suchen, die den alten Schwesternschaften den Rücken kehren und sich mir anschließen wollen. Ich erwarte, dass ihr das bis zum Ende dieses Jahres hinbekommt, jeweils drei neue Schwestern zu werben. Ansonsten wird das mit unserem großen Feldzug nichts, was ich sehr bedauern müsste." Den sieben nicht zu Mitgliedern des hohen Tisches erklärten trug sie auf, ihr regelmäßig zu berichten, was es mit Vita Magica auf sich hatte und auch nach möglichen Schwestern in anderen Regionen Europas und des Doppelkontinentes Amerika zu suchen. Von Afrika und Asien wollte sie nichts wissen, zumal ihr die afrikanische Stammesmagie und die morgenländischen Zauber Arabiens und Persiens suspekt waren. Von den indischen, chinesischen und japanischen Zaubern wusste sie überhaupt nichts.

Als alle Aufgaben verteilt waren ließ Ladonna mit "Omnes surgite!" alle wieder aufwachen. Dann sprach sie die für Gefolgshexen, die nicht zu überzeugenden und die sie offen ablehnenden Hexen gültige Abschiedsformel: "In nomine imperii magarum, gehet alle fort von hier an jeder altvertrauten Ort." Es knisterte kurz. Dann erloschen die Gesinnungsauren. Die Eingeschworenen und die sie ablehnenden Hexen sahen einander an. Dann disapparierte die erste. Als alle sahen, dass es nun gelang folgten sie in schneller Abfolge ins scheinbare Nichts.

"Ich vertraue, dass meine Unortbarkeit mich außerhalb dieser Höhle vor diesen grünen Säcken schützt, sonst muss ich diese Bande dort bekämpfen, wo sie haust", dachte Ladonna. Zwar war sie froh, das gesteckte Ziel erreicht zu haben, mindestens sieben neue Helferinnen an sich gebunden zu haben. Doch was Vita Magica aufbieten konnte hatte sie erschreckt. Sie erkannte einmal mehr, dass über vierhundert Jahre Zauberschlaf eben über vierhundert Jahre verpasste Entwicklung bedeuteten. Das und der Umstand, dass die Moggli die Elektrizität gezähmt und ein weltweites Nachrichtenverbreitungsnetz erfunden hatten konnte ihr noch sehr übel aufstoßen.

Immerhin konnte sie im Schutz des Blutfeuernebels um Luigis Villa sicher sein, dort weder von ihr nachjagenden Hexen noch Zauberern behelligt zu werden. Nur was diese eigenständig herumfliegenden Säcke anging fühlte sie doch eine gewisse Verunsicherung. Dagegen half nur die Errichtung eines Contramotus-Zaubers, wie er in der Höhle aufgespannt worden war. Das erledigte sie unverzüglich. Jetzt war sie sich auch sicher, nicht im Schlaf eingesackt und per Portschlüssel fortgeschafft zu werden.

__________

Zur selben Zeit irgendwo in England

Auf den Ausruf "Sonnenschlaf!" wurden Erythrina und ihr Blutgatte in einen bunten Lichtwirbel hineingezogen, der sie mehrere Sekunden lang in einem unendlich erscheinenden Raum aus Farben und unbestimmbaren Geräuschen dahintrug. Dann fielen sie aus einigen Metern Höhe herunter, genau in eine dunkle, etwa zwanzig mal zwanzig Meter große Höhle hinein. In dieser Höhle war ein etwa zwei Mann langer und breiter Felsblock, über dem Erythrina die Luft flimmern sehen konnte, als sei der Felsen so heiß wie der Wüstensand am Mittag.

"Silvy, bist du hier in der Höhle mit dem rechteckigen Felsen!" rief Erythrina. Zur Antwort erschien aus dem Flimmern heraus ein Behälter aus einem grauen Metall mit einem Deckel oben. Erythrina verzog ihr Gesicht. Das war doch ein Sarg. Der Sarg klapte sich von alleine auf, und eine Frau entstieg ihm. Es war Silver Gleam.

"Ich habe es befürchtet, dass ihr irgendwann von der Fledermaus flüchten musstet, Vater und Mutter", begrüßte sie die beiden Neuankömmlinge. "Seid unbesorgt, meine Gönnerinnen haben mir nicht nur Portschlüssel gegeben, sondern auch einen Gegenstand, um deren Aufspüren zu verhindern. Niemand kann nachverfolgen, wo ihr jetzt seid."

"Die Versammlung war eine Katastrophe, Kind. Es könnte sein, dass die Fledermaus nicht mehr von uns betreten werden kann", seufzte Bogdan Lunescu. Seine Blutgattin nickte unwillig.

"Was ist genau passiert, Vater?" wollte Silver Gleam wissen. Bogdan Lunescu gab durch Blick die Frage an seine Gefährtin weiter. Diese berichtete ihrer Bluttochter nun, was geschehen war. Bogdan ergänzte dann noch, dass er eine alte Mitschwester auf Griechisch hatte rufen hören, dass Nyctodora alias Eleni Papadakis von ihrem Tun ablassen und mit ihren Zofen verschwinden solle.

Silver Gleam sog laut hörbar Luft zwischen ihren Vampirzähnen ein. "Und diese Erscheinung, Mutter, hat wirklich eine starke Ausstrahlung gehabt und sich selbstständig bewegt?" wollte sie wissen. Ihre Mutter bestätigte das.

"Dann ist diese Entität mächtiger geworden, wohl auch durch die Sache mit dieser siebenarmigen Ausgeburt, von der es hieß, dass sie sich in bis zu sieben ihrer Anhänger gleichzeitig einfühlen und ihre Sinne wahrnehmen konnte."

"Will sagen, wenn genug von dieser Göttin erfasste Nachtkinder zusammenkommen kann sie sich auch räumlich und körperlich zeigen?" wollte Bogdan wissen. "Hmm, das muss ich andere fragen, Vater. Am besten bleibt ihr erst mal hier. Wenn diese falsche Heilsbringerin der Nachtkinder wahrhaftig mitbekommen hat, dass jemand den Menschennamen ihrer Hohepriesterin gehört hat wird sie jeden töten, der das gehört hat

"Wenn sie alle in der Fledermaus tötet könnte die Rache der Erbauer sie treffen", erwiderte Bogdan Lunescu. Dann sagte er: "Die Tiere im Stall. So sehr wir sie auch ausgebeutet haben, sie müssen nicht qualvoll verschmachten."

"Vielleicht kann ich machen, dass nach ihnen gesehen wird und sie da rausgeholt werden, wenn sie noch leben", erwiderte Silver Gleam.

"Wer kann das machen, Mädchen?" schnaubte Bogdan unvermittelt verärgert. "Erzähl uns endlich, wer dich wieder aufgeweckt hat und mit wem diese Hexe bekannt ist!"

"Nein, Vater. Denn von mir wurde gewünscht, dass ich meiner Erweckerin nicht nach Blut oder Leben trachten darf, was auch heißt, sie keinem anderen Nachtgeborenen zu verraten. Also stell mir bitte nicht mehr diese Frage."

"Ich bin dein Vater, Silver Gleam. Ich habe dich mit deiner Mutter hier in die Nacht hineingerufen. Du musst ... mir ..." Eigentlich wollte er noch sagen, dass sie ihm bedingungslos gehorchen müsse. Doch da fühlten er und Erythrina, dass von Silver Gleam eine überstarke Ausstrahlung ausging, die ihn schwindelig machte und an seinem Körper rüttelte. Er erkannte, dass wohl eine sehr mächtige magische Junghexe seine Tochter aufgeweckt haben musste, das das von ihr freiwillig gegebene Blut in seiner Tochter so stark wirkte. Weil Silver Gleam das nun auc merkte sagte sie ganz ruhig: "Sie haben mir im Gegenzug versprochen, dass sie niemanden von meinen Angehörigen töten wollen, Vater. Also kannst du ganz beruhigt sein."

"Kind, wir haben wohl gerade unser Auskommen und unser Zuhause verloren und müssen wohl damit rechnen, von fanatischen Anhängern einer Abgöttin verfolgt und wohl auf sicht getötet zu werden. Da kann und will ich mich nicht beruhigen", stieß Bogdan Lunescu zornig aus.

"Ja, die blutrote Fledermaus, sie war auch mein Zuhause", warf Silver Gleam ein. "Viele von uns haben dort eine sichere Zuflucht gehabt, dank euch und der alten Magie, die von den Gründern dort eingewirkt wurde. Denkst du, mich ließe es unberührt, dass sie vielleicht nicht mehr da ist?!" entrüstete sich Silver Gleam. Sie dachte daran, ob sie nicht eine gewisse Mitschuld an dieser Katastrophe trug, wenn es denn eine Katastrophe gab. Dann verscheuchte sie die Anspannung und ihre Sorge um eine Mitschuld mit den Worten: "Ich sende meine geflügelten Briefboten. Meine Erweckerin soll weitergeben, das jemand nach der Schenke forscht und bei der Gelegenheit die dort eingestellten Blutspendetiere herausholt und wem anderen gibt. Aber ihr dürft mich nicht fragen, wer mich geweckt hat, Vater und Mutter. Ich bin dieser Jungfrau zu sehr verbunden, eben so wie euch. Zerreißt meine Seele nicht damit, dass ihr mich zwingt, zwischen ihr und euch zu entscheiden!" Ihre Mutter versprach es sofort, zumal sie diesen Handel schon früher eingegangen war. Bogdan knirschte erst mit den Zähnen. Dann nickte er und versprach es ebenfalls, nicht mehr zu fragen oder anders nachzuforschen, wer seine Bluttochter geweckt hatte.

"Aber warum du immer noch den silbernen Sarg benutzt, in dem dieser Zauberstabschwinger Grindelwald dich eingeschlossen hat, das darfst du uns doch sagen, Kind?" fragte Erythrina. Silver Gleam lächelte und nickte. "Weil ich ihn sehr praktisch und auch erhaben finde und er nach meiner Erweckung wieder die Tarnzauber bekommen hat, die ihn für Menschenaugen ganz unsichtbar machen. Für euch dürfte er als Luftflimmern zu sehen sein, weil er mit eurer Nachtkindausstrahlung wechselwirkt, meine einschließt und eure auszusperren trachtet, wenn der Deckel zu ist."

"Verstehe", grummelte Bogdan. Also gab es zumindest einen Vampir auf der Welt, der wie das Klischee der Zauberkraftlosen es verlangte tagsüber in einem Sarg ausharrte. Denn die wahrhaftigen Kinder der Nacht starben nicht und wurden nicht begraben, um zu Kindern der Nacht zu werden.

__________

In einer der Niederlassungen von Vita Magica, 6. Mai 2003, 02:40 Uhr Ortszeit

"Okay, der Bringbeutel wurde von einem raumfüllenden Contramotus-Zauber gehemmt und dann von einem Feuerzauber zerstört?" fragte Mater Vicesima den äußerlich zehn Jahre alten Perdy. Dieser deutete noch einmal auf die Aufzeichnung des Bringbeutelarbeitsprotokolls. Als letzter Satz stand da: "Achtung, Mischung zwischen Desintegrations- und Feuerzauber starker Bündelung. Ich gehe kaputt, Beutelsend!"

"Also sind unsere Bringbeutel gegen diesen Ring nicht gefeit, weil dessen Zerstörungszauber zu stark gebündelt wird", seufzte Mater Vicesima. "Außerdem dürfte sie durch ihre Veelaabstammung die natürliche Unortbarkeit dieser Wesen geerbt haben. Ihr also einen Schwarm Bringbeutel nachzujagen bringt auch nichts. Wahrscheinlich werden auch die Reinitiatoren an ihr versagen, da Veelas eine sehr hohe PTR haben und wir nicht genau wissen, wie viel Veelaanteil noch in ihr wirkt."

"Ja, und sie wird jetzt, wo wir ihr mehrmals auf die Nase getrommelt haben, dass wir ihre bekannten Zauber auskontern können den Rosenkrieg erklären", warf Perdy ein. Das konnte Mater Vicesima nicht bestreiten. Allerdings führte sie an, dass Ladonna wohl gerade einmal vierzehn neue Schwestern gewonnen haben konnte. Die von Loredana in ein Denkarium ausgelagerten Bilder der Szenerie mochten helfen, die Namen der neuen Getreuen herauszufinden. Zwei wusste sie aber jetzt schon: Diana Camporossa, eine Hexe, deren Großmutter eine Koboldin war und Celestina Quatroventi, die im Vita-Magica-eigenen Verzeichnis der Mischblütigen als Urenkelin der Riesin Megara aus Montenegro verzeichnet war.

"Krieg bitte raus, wie die Bringbeutel gegen Ladonnas Feuerring gesichert werden können und lass mindestens zwei übergroße Beutel machen, mit denen wir Celestina einsacken können", sagte Mater Vicesima.

"Hmm, diese schwarzhaarige Feuerfurie hat die garantiert mit einem Bluteid an sich gebunden. Wenn wir sie verhören macht sie vielleicht bumm und nimmt dabei alle mit, die im Umkreis von zehn Metern stehen. Anthelia hat das ja mit ihren Anhängerinnen genauso gemacht." Mater Vicesima hieb sich mit der flachen Hand vor die Stirn. "Nicht nur die Wiederverkörperung Anthelias, sondern auch der Nachahmer des Psychopathen Riddle hat seine Leute gegen unfreiwilligen Verrat und Gefangenschaft abgesichert", zähneknirschte sie.

"Ja, wenn der eigene Tod als Absicherung verstanden wird", musste Perdy dazu einwerfen. "Kommt ganz darauf an, wem die Absicherung dienen soll, Kleiner", knurrte Mater Vicesima. Dann kam sie auf ein anderes, auf ihren Nägeln brennendes Thema:

"Wir müssen auch herausfinden, was genau mit Sardonias Kuppel über Millemerveilles los ist. Am Ende saugt sie den darunter eingeschlossenen noch alle Lebensfreude aus oder treibt sie zu panischen Fluchtversuchen, sobald da wer stirbt."

"Hast du nicht erzählt, dass Catherine Brickston und ihre Mutter genug von den Goldblütenhonigphiolen reingeschafft haben, wenn die dir auch nicht verraten haben, wie genau?" fragte Perdy. "Und hat die Geburt von Jeannes Sohn Bertrand die Kuppel nicht schon etwas abgeschwächt?" fragte er weiter.

"Deshalb sagte ich ja, dass dort keiner mehr sterben darf, Perdy. Solange das nicht passiert besteht die Hoffnung, dass das dritte Kind von Mildrid und Julius Latierre die unerwünschte Kraft aus der Kuppel tilgt. Aber bis dahin sind es noch anderthalb Monate. Also sollten wir uns neben der Jagd auf die neuen Feuerrosenschwestern auch auf einen Weg konzentrieren, wie wir die Bevölkerung aus Millemerveilles evakuieren können. Es wäre eine unverzeihliche Unterlassung, so viele hochrangige und erfahrene Hexen und Zauberer von einem archaischen Dunkelzauber umbringen zu lassen."

"Och, wo wir jetzt wissen, dass Camille eine dieser legendären Ashtariatöchter ist und sie mit dieser alten Magie sowohl ihr Haus, dass ihrer ältesten Tochter und das von Julius Latierre abgeschirmt hatt blieben ein paar übrig", feixte Perdy.

"Auch wenn du damit recht haben solltest pass bitte jetzt einmal ganz gut auf", schnarrte Mater Vicesima sehr gefährlich: "Falls du uns nicht hilfst, das zu verhindern, dass die Leute da bis auf die wenigen Sterben, wächst du mit meinen zwei noch ankommenden Töchtern zusammen neu auf, allerdings nicht bei mir, sondern bei Cassandre Dumarte." perdy erbleichte. Er fand erst keine Worte. Dann seufzte er: "Öhm, Véronique, die hat jetzt schon Milchtüten so groß wie mein Kopf und steht drauf, ihre Ziehkinder zehn Minuten lang im eigenen Kack liegen zu lassen, um denen beizubiegen, wie toll das ist, in einen Pott oder eine Kloschüssel reinzumachen. Und die von der angenommenen Neuaufzöglinge kriegen die Münder ausgeratzeputzt, wenn die zu heftig kleckern. Die anderen sagen schon, dass die selbst endlich mal wiederverjüngt werden soll, um zu kapieren, wie grausam deren Methoden sind. Neh, der will ich nicht auf den Wickeltisch geworfen werden, schon gar nicht, weil ich dann noch mal das ganze Elend durchmachen muss."

"Das Nuckeln hat dir aber schon spaß gemacht, und dass du mit drei neu erreichten Jahren gerne alles mögliche unter Betten und anderen niedrigen Möbelstücken versteckt hast weiß ich auch noch ganz gut, auch wenn du damit Mater Decima Maris nostrae aufgewachsen bist. Und die ist immer noch sehr gut ausgestattet, genau wie Loredana und Claudia."

"Öhm, mir fällt da gerade was ein, das wir denen zuspielen können. Aber das kläre ich noch mit den Leuten aus der Alchemie-AG", sagte Perdy. Mater zur Zeit noch Vicesima fragte ihn, was er meine. Als er es ihr sagte musste sie laut loslachen. "Ja, das wäre durchaus sehr amüsant und zugleich sehr förderlich." Sie knuddelte den körperlich gerade etwas mehr als zehn Jahre alten Mitstreiter und schmatzte ihm einen Kuss auf jede Wange. Dann durfte er gehen.

__________

Britisches Zaubereiministerium, Die Nacht vom 5. zum 6. Mai 2003

Cephyrus Rockwell, der als Minister Shacklebolts Doppelgänger auftrat, solange dieser die von Vita Magica auferlegte Pflicht zu erfüllen hatte, wurde aus einem unruhigen Schlaf gerissen. Er hatte geträumt, von gleich zehn ins Riesenhafte vergrößerten Hexen verfolgt zu werden, die alle seine Kinder haben wollten. Insofern war er der knallroten Alarmglocke über seinem Bett dankbar, ihn vor derartigen Anstrengungen bewahrt zu haben.

"Was liegt an?" fragte Rockwell, nachdem er vorsorglich eine weitere Dosis Vielsaft-Trank geschluckt und sich in die Aurorenzentrale begeben hatte. Hier saß gerade Ernie MacMillan als Wachhabender. "Ich glaube, die blutrote Fledermaus wurde angegriffen, Minister Shacklebolt", sagte MacMillan. "Jedenfalls hat es eine starke magische Entladung gegeben, die fast alle auf London gestimmten Spürsteine zerlegt hat und ein mittelschweres Erdbeben, weshalb ich noch mit der Nachtwache von Tim Abrahams Abteilung kontaktgefeuert habe, dass da schnell alle denen bekannten Erdbebenwarten abgeklopft und abgestimmt werden sollten. Vom Standort her liegt der Erdbebenherd in der Nokturngasse, woo wir seit der dunklen Magiewelle sowieso mehr zu tun haben. Soweit ich von den Kollegen aus der Vampirüberwachung weiß soll da irgendwo ein Pub nur für Vampire sein, die blutrote Fledermaus."

"Sein oder gewesen sein, Ernie? Das ist hier die Frage", erwiderte der falsche Zaubereiminister.

"Nach dem Erdbeben und den Rissen im Straßenbelag ist der Pub wohl eingestürzt. Der soll unterirdisch gelegen haben, damit da keine Sonne reinscheint", sagte MacMillan. Der unechte Shacklebolt winkte ab. "Ich war mal selbst Auror, Mr. MacMillan. Deshalb kenne ich die Einzelheiten. Ja, da unter der Nokturngasse gibt oder gab es einen Pub ausschließlich für Vampire, welcher nicht nur von britischen Blutsaugern besucht wurde. Die konnten ihren Blutdurst da mit Kälber- und Lämmerblut stillen, mit Genehmigung der Vampirüberwachung. Die haben diesen Laden zum heiligen Boden und heilige Zuflucht erklärt, damit keine sich bekriegenden Vampire da einander in der Luft zerreißen. Also dürfte da kein Anschlag drauf stattfinden."

"Kann man da reinapparieren?" fragte MacMillan. Rockwell alias Shacklebolt schüttelte den blanken Schädel.

"Vielleicht waren es die Mondbrüder, weil die denken, dieser blaue Mond käme von den Blutsaugern", erwiderte MacMillan. Wieder schüttelte der falsche Minister den Kopf. "Öhm, die dürften gerade damit zu tun haben, sich vor dem Mond zu verstecken, weil der gerade wieder voll und rund am Himmel steht und diese Massentötungsvorrichtungen sicher wieder unterwegs sind. Nein, ich vermute, jemand von den Nachtschwärmern selbst hat gegen das Nichtangriffsgebot verstoßen. Tja, und da dürfen Sie raten, in wessen Auftrag."

"Brauche ich nicht zu raten, Sir. Das war sicher diese neue Götzin der Vampire, die angeblich als Geist in diesem Mitternachtsdiamanten festhängt und aus dem heraus alle Vampire steuert, die mal mit dem Stein in Berührung waren."

"Genau das vermute ich auch, Ernie. Öhm, wer außer Ihnen ist denn noch unterwegs?"

"Chesterfield, Greentower und Grassroot. Finch-Fletchley kommt in zwei Stunden, mich ablösen und Harry Potter ist ab neun wieder hier, Sir."

"Gut, ich geh in mein Büro. Wenn was reinkommt sofort als Memo an mich persönlich!" erwiderte der Doppelgänger Shacklebolts. MacMillan bestätigte diese Anweisung.

In Shacklebolts Büro überlegte der ehemalige Auror und Legilimentikgroßmeister, ob er seinen wahren Mitstreitern die Neuigkeit weitergeben sollte. Die interessierten sich natürlich auch für die Diener der selbsternannten schlafenden Göttin. außerdem musste er denen ja auch mitteilen, wie das britische Zaubereiministerium gegen die Operation "Blauer Mond" vorging, Rockwell hatte über seine Mentiloquismuspartner erfahren, dass die für Großbritannien gemachten Vorrichtungen weiterhin nur nach unregistrierten Werwölfen suchen und diese dann abtöten sollten. Mater Vicesima hatte sich zusammen mit anderen Hexen durchgesetzt, dass weiterhin nur nach unregistrierten Lykanthropen gesucht werden sollte. Wenn jetzt noch ein Krieg zwischen Vampirgruppen losbrach hatte das britische Zaubereiministerium einiges um die Ohren. Zumindest war er froh, dass er weitere Dosen Vielsaft-Trank bekommen konnte. So konnte er bis Juni durchhalten. Ob und wie genau dann Shacklebolt wieder in sein Leben zurückgeschickt wurde würde er dann erfahren.

Es dauerte noch eine Stunde. Dann hatte der gefälschte Zaubereiminister das verlangte Memo. Es sagte, dass wahrhaftig ein unterirdischer Pub durch starke Zauberkräfte zerstört worden war. Weder Lichtquellen noch Fenster waren dort gewesen. Dafür hatten die Auroren und die Unfallumkehrzauberer unterirdische Ställe mit vor Todesangst blökenden Kälbern und Lämmern gefunden und die Tiere vorsorglich mit Schlafdunst betäubt. Bei einigen Tieren waren Einstiche an den Hälsen gefunden worden, die nicht von scharfen Eckzähnen, aber Zapfvorrichtungen stammten. Also hatte jemand den Tieren Blut abgenommen. Damit stand fest, dass die heilige Zuflucht der Vampire in Europa nicht mehr existierte. Ob das eine Kriegserklärung der Vampire war oder bereits der erste Zug der Vampirgötzin wussten die Auroren nicht. Der Versuch, die Ereignisse mit der Rückschaubrille nachzubetrachten schlug fehl. Dort unten hatte ein starker Unortbarkeitszauber gewirkt.

"Dabei haben die Franzosen dieses Spielzeug als die Waffe bei Ermittlungen angepriesen", dachte Rockwell spöttisch.

__________

Aus der Fortsetzungsreportage "Unter der Dämmerkuppel" von Mildrid Ursuline Latierre

6. Mai 2003

Es ist nun erreicht, dass die wichtigsten Stellen bei uns in Millemerveilles einen Digeka haben, über den Briefe, Notizen oder ganze Berichte übermittelt werden können. Mein Mann Julius bekam gestern auch so eine Vorrichtung überstellt, mit dem er Berichte für das Büro von Nathalie Grandchapeau verfassen oder neue Mitteilungen zeitnah lesen konnte. Er meinte dazu, dass unsere Notlage dazu führen könnte, dass Posteulen eines Tages überflüssig sein könnten, sollten Florymont Dusoleil oder mein Onkel Otto herausbekommen, wie mit einem Digeka unterschiedliche Zielgeräte ausgewählt oder mehrere gleichzeitig angesprochen werden könnten, sowie es die elektrisch betriebenen Telefaxgeräte der magielosen Welt schon könnten. Als ich Florymont Dusoleil deshalb um eine Stellungnahme bat erwähnte er, dass es bisher noch nicht möglich sei, die Abstimmung zwischen zwei Vorrichtungen beliebig zu ändern, weil bei deren Herstellung eine die Entfernung überwindende Verbindung eingewirkt werden müsse, also Ausgangs- und Zielgerät einander "vorgestellt" wurden, um sie über tausende von Kilometern und durch Barrieren wie der über Millemerveilles hindurch zusammenwirken zu lassen. Bei einem Telefaxgerät der Magielosen wird ja ein Wahlverfahren benutzt, dass mit der Erfindung des elektrischen Fernsprechers, Telefon genannt, entwickelt worden sei. Ein solches Netzwerk für magische Fernkopiervorrichtungen einzurichten würde erst einmal lange dauern und sei wohl ebenso störanfällig wie das Flohnetz. Soweit Monsieur Dusoleils Stellungnahme.

Auf die erwähnte Weise wurde auch eine Verbindung zwischen Mademoiselle Laurentine Hellersdorf und der Grundschule von Millemerveilles hergestellt. So kann Mademoiselle Hellersdorf vorgearbeitete Texte für den sonst von ihr erteilten Unterricht an Madame Dumas oder einen ihrer Kollegen weiterschicken und von den Schülerinnen und Schülern gemachte Hausaufgaben überprüfen, ohne selbst hier zu sein. Ich habe Laurentine Hellersdorf zu ersten Eindrücken dieser neuen Art von Unterricht gebeten und hoffe, bald von ihr zu lesen. Falls sie ihren Bericht zum Druck freigibt können Sie ihn dann mit einem der kommenden Berichte von mir lesen.

Die Luftbrücke wurde eröffnet. Wir bekommen seit gestern die ersten Warensendungen, vor allem Stärkungstränke für Pflanzen und die so geniale Ambrosianus-Schokolade. Mein Mann Julius lies mich lesen, dass Monsieur Colbert nicht so begeistert ist, tausende von Galleonen für diese Versorgung abzuzweigen. Doch viele anderswo lebenden Angehörigen von uns hier in Millemerveilles haben den spontanen Aufruf bereitwillig aufgegriffen und in das von Madame Brickston in Paris eröffnete Unterstützungsverlies einbezahlt. Wie viel Gold dabei schon zusammengekommen ist weiß Dorfrat Charpentier noch nicht, weil er das erst morgen prüfen will. Ob ich es dann veröffentlichen darf möchte er mir auch erst morgen sagen. Jedenfalls klappt das mit den leeren Leiterwagen, wo die wiederverwendbaren Fallschirme hineingelegt werden können. Ein kräftiger Anschiebezauber reicht, um die Wagen durch die Kuppel zu treiben. Somit sind wir zumindest nicht mehr auf uns alleine angewiesen.

Die Stimmungslage ist hier immer noch angespannt, weil keiner weiß, wo die Hexe abgeblieben ist, welche am 2. Mai versucht hat, mit dem scheinbar eigenständig apparierfähigen Dolch auf Teilnehmer einer Geburtstagsfeier loszugehen und nur an der Absicherung des Grundstückes scheiterte. Das einzige, was feststeht ist, dass sie offenbar davon getrieben wird, im Auftrag Sardonias zu handeln. Madame Faucon und Madame Brickston vermuten, dass durch die magische Entladung vom 26. April auch bösartige Hinterlassenschaften Sardonias und anderer dunkler Magier aus ihrer Untätigkeit erweckt wurden. Madame Faucon bekräftigte in einer per Digeka übermittelten Bekanntmachung, dass dieser Dolch ein Einzelstück sei, also nicht zwei oder drei zugleich auftauchen könnten. Zumindest ist seit dem 2. Mai kein weiterer Anschlag auf einen von uns verzeichnet worden.

Mehr wieder demnächst, wenn es etwas berichtenswertes aufzuschreiben gibt.

MUL

__________

Im Haus von Theia und Selene Hemlock, 7. Mai 2003, 05:20 Uhr Ortszeit

Das Kratzen an ihrem Fenster war ihr schon so vertraut, dass sie nicht mehr davon erschreckt wurde. Selene Hemlock musste auch nicht mehr rufen, dass jemand das Fenster aufmachen sollte. Denn da kam schon ihre zweite Mutter Theia in ihr Kinderzimmer und öffnete das Fenster. Eine Fledermaus flatterte herein. "Nachtpost für Schlummerfeen", wisperte Theia, als sie merkte, dass ihre vaterlos empfangene Tochter wach war. "Endlich", flüsterte Selene. "Jetzt kriegen wir endlich mit, was bei den Vampiren los ist", bemerkte sie noch.

Beim Frühstück durfte Selene den Brief selbst laut vorlesen. "Meine liebe Blutspenderin und Wiedererweckerin. Ich hoffe, deiner Mutter und dir geht es weiterhin gut und ihr seid schön weit von dieser Abgöttin Gooriaimiria weg. Die hat nämlich zwei Stunden, bevor ich diesen Brief angefangen habe, das altehrwürdige Gasthaus zur blutroten Fledermaus heimgesucht und sich gegen die dort geltenden Nichtangriffszauber gestellt. Dabei ist das Gasthaus zerstört und jeder, der da gerade drin war getötet worden. Meine Bluteltern konnten aber noch Dank eures Portschlüssels wegkommen und sind jetzt bei mir. Ich habe ihnen das Versprechen abgenommen, dass sie mich nicht mehr fragen, wer meine Erweckerin ist.

Meine Eltern erzählten mir, dass diese selbsternannte Göttin sich als große, leuchtende, blutrote Geistererscheinung mit körperlichen Kräften gezeigt hat. Die ist also viel stärker geworden. Das liegt sicher an dieser unheimlichen Kraft, die vor zehn Nächten durch unser Land gebraust ist. Meine Eltern haben richtig Angst vor dieser blutroten Erscheinung und dass die mal eben alle Leute in der Schenke und dann die Schenke selbst zerstört hat. Wenn die echt so mächtig geworden ist, dann ist die sicher auch für euch gefährlich. Jedenfalls könnte sie auf die Idee kommen, andere Nachtkinder dazu zu zwingen, sie als ihre Göttin anzubeten und dann gegen euch Rotblütler aufzuhetzen. Sage das bitte deiner Mutter, dass deren nette Mitschwestern genau hinhören müssen, was über uns Nachtkinder so erzählt wird!

Ach ja, da wo die Schenke war wurden viele junge Rinder und Schafe in Ställen gehalten. Falls ihr das schnell hinkriegt lasst bitte wen danach sehen, was mit den Tieren ist und die rausbringen, die noch leben! Ich weiß, die haben meiner Familie und ihren Gästen als Blutvieh gedient. Aber ihr esst ja zwischendurch auch Fleisch von Rindern und Schweinen oder haltet Kühe an, jedes Jahr Kälber zu kriegen, damit die Kühe weiter Milch geben. Also bitte bitte keine Vorwürfe!

Im Moment möchte ich vermeiden, euch wieder direkt zu treffen, weil ich nicht weiß, was diese Blutgötzin so vorhat und wen sie wie zu ihren Dienern machen kann. Ich hoffe nur, dass wir, die wir mit euch ein friedliches Zusammenleben führen wollen, nicht bald in einen Krieg hineingerissen werden.

Mögen der Mond und die Sterne deine Nächte hüten und dir immer den rechten Weg weisen! Silver Gleam"

"Das war sicher ein sehr großer Schock für alle Blutsauger", meinte Selene eine halbe Minute, nachdem sie den Brief vorgelesen hatte. Theia Hemlock nickte. "Kriegserklärung und Zerstörung der bisherigen Ordnung trifft es eher", meinte Selenes Mutter. "Aber gut, ich werde das meinen Schwestern weitergeben, auch schon, um die Nutztiere aus den Trümmern dieser Schenke zu retten und die toten zumindest würdig zu verwerten und nicht den Maden zum Fraß vorzuwerfen", sagte Theia noch. Selene verzog kurz das Gesicht. Doch dann nickte sie. Silver Gleam hatte ja recht. Solange sie selbst noch Lebensmittel aus tierischen Erzeugnissen aß oder trank konnte sie nicht den moralischen Zeigefinger gegen Vampire erheben, die Rinder, Schweine und Schafe ihres Blutes wegen hielten.

__________

Im Haus der Familie Brickston, 8. Mai 2003, 19:30 Uhr Ortszeit

Julius musste es immer noch verdauen, wie er durch den Verschwindeschrank gereist war. Es hatte ihn gut durchgeschüttelt und kalt umweht. Doch die beiden Schränke blieben miteinander verbunden und schafften ihn aus Millemerveilles ins Sonnenblumenschloss. Dort hatten Catherine Brickston und Julius' Schwiegervater gewartet. Mit Albericus veilchenblauem Bus war es nach Paris in die Rue dee Liberation 13 gegangen. Julius sollte die vier kommenden Nächte bei den Brickstons wohnen, um die ausgehandelten Treffen zwischen den Ministerialzauberern aus Frankreich, England, Belgien und Deutschland mitzuerleben. Die Briten mochten zwar wissen, was gerade in Millemerveilles los war. Doch Julius hatte zu gute Beziehungen zu Mr. Abrahams, dass er unbedingt dabei sein sollte. Ähnliches galt für das Treffen mit dem deutschen Leiter des früheren Muggelkontaktbüros.

Beim Abendessen sprachen er und Laurentine über das Leben unter der Dämmerkuppel. Laurentine erklärte, dass die Schulaufgaben per Zauberfaxgerät zwar gut ausgetauscht werden konnten, sie aber die direkte Rückmeldung der Jungen und Mädchen vermisste, wenn sie dieses erklärte und jenes beschrieb.

"Ich will nicht ausschließen, dass in der magielosen Welt eines nicht mehr all zu fernen Tages ganze Schulklassen von zu Hause aus unterrichtet werden können. Aber zum einen müssten die Internetgeschwindigkeiten und Transferkapazitäten ausgebaut werden und jede Schule die nötige Ausstattung kriegen. Doch hier bei uns sehe ich, dass die Form Fernunterricht als Notlösung funktionieren kann. Madame Dumas hat ja meinen Vorschlag abgelehnt, ich könnte mich von Camille in euer Dorf unter der beinahe undurchsichtigen Käseglocke hineinbringen lassen. Sie meint ja, dass ich den Kontakt zur magielosen Welt nicht verlieren dürfe, da du ja im moment keine Möglichkeit hast, das zu tun." Julius nickte.

"Vielleicht kann Madame Grandchapeau hinkriegen, dass du am letzten Maiwochenende auch was wichtiges außerhalb zu erledigen hast." Julius wusste, worauf Laurentine anspielte. Doch im Moment wusste er nicht, mit welchem Grund er am Wochenende außerhalb zu tun haben sollte, damit er abends das Konzert von Alizée besuchen konnte. Da musste er wohl noch etliches schönes Wetter im Ministerium machen, um eine klare Begründung für seinen Freigang aus Millemerveilles zu rechtfertigen. Wie er schon für sich festgestellt hatte wollte er bloß nicht den Eindruck erwecken, Sonderleistungen beanspruchen zu können.

Bis zehn Uhr abends saßen Laurentine, Julius und die Brickstons im Salon zusammen und unterhielten sich über die bisherigen Ereignisse und ob es wirklich an einer Art magischer Explosion lag, was mit den Flohnetzverbindungen weltweit und mit Millemerveilles im besonderen passiert war. Da Claudine bei dieser Unterhaltung zuhörte ließen Catherine und Julius die besessene Hugette Maribeau und den scheinbar apparierfähigen Dolch aus dem Spiel.

"Ja, aber wenn das stimmt, dass die Geburt eines Kindes diese böse Kraft auflöst wäre das doch das geschichtliche Ereignis sowohl in Millemerveilles, als auch deiner Schwiegerverwandtschaft", meinte Laurentine dazu. Julius wollte sich dazu erst einmal nicht äußern.

Um nicht den Eindruck zu vermitteln, dass eine alleinstehende Hexe mit einem verheirateten Zauberer die Nacht in derselben Wohnung zubrachte bezog Julius in einem der zwei kleinen Gästezimmer sein vorübergehendes Nachtquartier. Er mentiloquierte noch einmal mit Millie, wobei er die verstärkende Kraft des Herzanhängers nutzte. "Ich bin dann am zwölften Mai abends wieder bei dir. Pass bitte solange auf dich auf. Dieser dunkle Dolch ist noch nicht wiedergefunden worden", schickte er ihr noch zu.

"Wir haben ja gesehen, dass das Ding nicht zwischen den Apfelbäumen durchkommt", erwiderte Millie. Dann wünschte sie ihrem Mann eine gute Nacht.

__________

Im Büro Nathalie Grandchapeaus, 9. Mai 2003, 10:00 Uhr Ortszeit

Julius traf sich mit Nathalie und Belle Grandchapeau, Tim Abrahams und dessen aus den Staaten zurückgekehrter Assistentin Pina Watermelon. Julius frühere Haus- und Klassenkameradin war wegen der Unterbrechung der Luftschiffverbindung mit der Schnellseglerlinie Fliegender Holländer von New York nach Bristol zurückgekehrt. Im Gegensatz zu Tim, der einen marineblauen Umhang mit gleichfarbigem Zaubererhut trug war sie mit einer himmelblauen Bluse, einem taubenblauen Rock und cremefarbenen Stiefeletten bekleidet und hatte ihr langes, strohblondes Haar in eine Dauerwelle gelegt. Nathalie trug wie üblich unter ihrem hellgrünen Umhang ihre fortdauernde Schwangerschaft verhüllende Unterkleidung. Belle war wie Pina in Rock und Bluse erschienen.

"Ich freue mich, dass das Flohnetz zwischen Ihrem und unserem Land wieder tadellos benutzbar ist", sagte Tim Abrahams nach der kurzen aber höflichen Begrüßung. "Ja, und ich bin sehr erleichtert, dass es auch bei Ihnen zu keinem tödlichen Unfall kam, als das Netz versagte", erwiderte Nathalie. Als diese Höflichkeiten ausgetauscht waren kamen sie gleich auf die Punkte, die beide besorgten, die Ausbreitung der Vampirsekte um die schlafende Göttin und die in Deutschland aufgetretenen Nachtschatten und deren Opfer, die Menschen ohne Schattenwurf. Es galt, ein internationales Warnsystem zu schaffen, das anschlug, sobald eine dieser Gruppen klar in einem Land erfasst wurde. Bei den Vampiren wussten sie mittlerweile, dass sie durch eine Form dunkler Portschlüsselzauber die Standorte wechseln konnten, während die Diener jener Nachtschattenriesin und wohl auch diese selbst ohne Zauberstab apparieren konnten, solange es an den Zielorten keine Sonnenlichteinstrahlung gab. Die Vampire, die eigentlich auch von Sonnenlicht verletzt bis zerstört werden konnten, hatten jene von US-amerikanischen Plastikfabrikanten erfundene Sonnenschutzfolie, die sie über ihren ganzen Körper ziehen und somit auch bei Tag handeln konnten.

Die Besprechung dauerte zwei Stunden, wobei Julius auch die mit Bärbel Weizengold aus Deutschland abgestimmten Punkte einbrachte. Tim erwähnte, dass er Weizengold am nächsten Tag aufsuchen wolle. Pina nickte bestätigend. Sie erwähnte in dem Zusammenhang, wie das Arkanet zur Erfassung und abgestimmten Bekämpfung der zwei menschenfeindlichen Gruppen eingesetzt werden konnte. Julius ergänzte, was ihm zu dieser Möglichkeit einfiel. Am Ende stand ein Protokoll, wie magische und nichtmagische Verständigungsmittel eingesetzt und ergänzt werden sollten. Die Besprechung endete pünktlich um zwölf Uhr Mittags. Nathalie lud die Gäste zum Mittagessen im ministeriumseigenen Speisesaal ein. Dabei konnten Pina und Julius sich über ihre Erlebnisse der letzten Monate unterhalten. Pina war nun dank Julius' Mutter und sorgfältig dosierter Einnahmen von Bicranius Mixtur der mannigfachen Merkfähigkeit eine ausgebildete Programmiererin, Netzwerktechnikerin und Systemintegratorin, wofür in der nichtmagischen Welt mindestens ein mehrere Jahre dauernder Studiengang erforderlich war. Doch sie wollte eher wissen, wie es Millie und dem bald dazukommenden Kind und den beiden schon geborenen Kindern ging. Immerhin hatte sie Mit Aurore zusammen Geburtstag, wenngleich achtzehn Jahre zwischen den beiden lagen.

"Gloria überlegt, ob sie nicht zur Unfallumkehrtruppe wechseln soll. Die dröge Bürokratie in der Handelsabteilung ist nicht so ihre Sache", meinte Pina. Julius musste grinsen. "Pina, was ich im Außendienst mache ist ähnlich. Aber ich muss immer wieder Berichte darüber schreiben. Wer im Ministerium arbeitet kommt ohne Bürokratie nicht aus." Beide wussten, dass Gloria eigentlich davon träumte, Mitglied im Marie-Laveau-Institut zu werden. Doch bisher hatte sie die entsprechende Bedingung nicht erfüllt. "Holly ist jetzt im Besenkontrollamt", erwähnte Pina. "Und meine Mutter überlegt, ob sie nicht bei der Hexenwoche einsteigen soll, als Gesellschaftsreporterin", erwähnte Pina. Julius erwähnte, dass seine Frau die Ausnahmelage in Millemerveilles als Fortsetzungsreportage veröffentlichen ließ. Darauf meinte Pina: "O, dann wird sie sicher irgendwann in den Geschichtsbüchern der Zaubererwelt erwähnt." Es klang nicht ironisch oder spöttisch, sondern anerkennend, fand Julius. Er wollte Pina nicht hier im Speisesaal erzählen, dass Millie wohl einen wesentlichen Beitrag zur Geschichte von Millemerveilles leisten würde, wenn sie die kleine Clarimonde auf die Welt brachte. Zumindest aber erwähnte er, dass Jeanne Dusoleil, die Pina ja auch noch gut kannte, mittlerweile einen zweiten Sohn und damit vier Kinder hatte.

Als dann am Nachmittag die zwei Besucher aus Großbritannien nach der Unterzeichnung des ausgehandelten Abkommens und des Besprechungsprotokolls per Flohnetz in ihre Heimat zurückreissten war Nathalie Grandchapeau mit Julius allein in ihrem Büro, wenn sie einmal von Demetrius absahen, der die ganze Unterredung nur durch Nathalies Gebärmutter und Bauchdecke hatte mithören können.

"Sie pflegen immer noch ein sehr freundschaftliches Verhältnis zu Mademoiselle Watermelon, richtig?" fragte sie Julius. Dieser nickte. "Dann können Sie sich ja mit ihr über die Vernetzung des Arkanet-Anteils der vereinbarten Frühwarnprotokolle abstimmen. Allerdings müssten Sie dafür jeden Tag aus Millemerveilles herauskommen und im ministeriumseigenem Rechenzentrum arbeiten. Mir ist bewusst, dass die derzeitige Lage in Millemerveilles und die voranschreitende Schwangerschaft Ihrer Gattin Ihnen große Sorgen bereiten und Sie natürlich so viel Zeit Sie können bei ihr verbringen möchten. Ich weiß auch von Madame Faucon, dass der dunklen Kraft, welche die vorhin so schützende Kuppel zum weitläufigen Kerker verfremdet hat, durch Geburtsvorgänge entgegengewirkt werden kann und Ihre Frau sich darauf eingestellt hat, durch die Geburt Ihrer dritten Tochter unter dieser Kuppel ihren Beitrag zum Erlöschen dieser dunklen Kraft zu leisten. Jetzt ist es ja so, dass Madame Camille Dusoleil nicht jeden Morgen und Abend aus Millemerveilles hinausfliegen und sie entweder hinausbringen oder zurückholen kann. Können Sie es irgendwie einrichten, dass Sie entweder gemeinsam außerhalb der Kuppel wohnen, solange die Arbeiten an der Arkanet-Abstimmung dauert? Ansonsten bitte ich Sie hiermit, bis zum Abschluss dieses Projektes alleine außerhalb der Kuppel zu wohnen, damit Sie möglichst ohne dauernde Reisehilfe und zu jeder Zeit verfügbar sind."

"Öhm, Sie verstehen, dass ich diese so schwere Entscheidung nicht alleine treffen will und darf", sagte Julius. Dazu möchte ich zunächst mit meiner Frau direkt und ohne dazwischenhängende magische Vorrichtungen sprechen. Natürlich möchte ich meinen Beitrag zur erfolgreichen Vernetzung Großbritanniens und Frankreichs, gegebenenfalls auch Deutschlands und den vereinigten Staaten leisten. Ich verstehe aber auch die Beweggründe meiner Frau, die Mitbürger in Millemerveilles nicht im Stich zu lassen, zumal sie in der Ihnen bekannten Fortsetzungsreportage eine sinnstiftende Betätigung sieht, solange unsere dritte Tochter nicht geboren ist."

"Deshalb gestatte ich Ihnen auch, jetzt schon nach Millemerveilles zurückzukehren und diese Angelegenheit mit Ihrer Frau zu klären", erwiderte Nathalie. Allerdings erwarte ich Sie morgen früh mit einer Entscheidung in meinem Büro." Julius bestätigte es und verabschiedete sich von Nathalie Grandchapeau.

"Ui, da setzt du den Jungen aber ganz schön unter Druck, Maman", hörte Nathalie Dank Cogison die Kinderstimme ihres weiterhin ungeboren bleibenden Sohnes Demetrius. "Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie lange mein Vater und du diskutiert haben, was wie zusammen zu erledigen war, als du mit meiner großen Schwester schwanger warst und wie oft er noch mit dir was ausdiskutieren musste, bevor er ging und ich in deinem Bauch aufgewacht bin."

"Ja, und die Latierres sind in der Angelegenheit noch gefühlsbetonter", erwiderte Nathalie. "Aber soweit ich die junge Dame Mildrid Latierre kennenlernen durfte hat sie sich nach den Wirrungen der Pubertät ganz schnell zu einer vernünftigen Hexe weiterentwickelt."

"Ja, aber sie hat gerade ein Kind im Bauch, und du selbst hast mit mir unterm Umhang auch schon manchen heftigen Gefühlsausbruch erlebt", widersprach Demetrius seiner Mutter in Wartestellung.

"Was willst du mir sagen, Kleiner?" gedankenknurrte Nathalie.

"Dass du Julius dazu verdonnert hast, sich zwischen Familie oder Arbeit zu entscheiden. Wenn du pech hast entscheidet er sich für die Familie und bleibt unter Sardonias dunkler Kuppel, bis seine Frau seine dritte Tochter rausgelassen hat", erwiderte Demetrius über den Cogison-Ohrring. Nathalie hörte wegen der ausgefeilten Gedankenübersetzungstechnik, dass Demetrius ein wenig wehmütig war, weil er jahrzehntelang im Mutterleib bleiben musste, während andere Kinder nur neun Monate brauchten, um auf die Welt zu kommen. Deshalb sagte sie: "Ja, nur dass die Kleine eben beide Eltern braucht, sobald sie auf der Welt ist und ich vorher gerne das Projekt beendet haben möchte. Soweit ich weiß liegt der Geburtstermin für die dritte Tochter ende Juni anfang Juli, zu- oder abzüglich der vierzehn Tage Toleeranz. Da Julius weiß, wie viel er für die Vernetzung und Einarbeitung der Rechnerbedienung braucht, kann und wird er das hoffentlich vor morgen früh ausgehandelt haben, wie er das macht. Und falls du recht hast und er sich für die Familie entscheidet kann und darf ich wenigstens von ihm verlangen, mir einen adäquaten Ersatz für ihn zu empfehlen."

"Du bist lustig, Maman, wo er der einzige ist, der diese Rechnerdinger von A bis Z versteht und jeden damit möglichen Fehler erkennen und verbessern kann, während die kleine Arno und die lebenslustige Devereaux die Dinger gerade mal mit Fragen und Antworten beschicken und in diesem Internet Sachen anwählen und auf Papier drucken können. Du weißt ja noch, wie das war, als meine große Schwester Belle das Lenken von Motorkraftwagen gelernt hat. Da ging es nur kurz darum, was an so einem Auto alles kaputtgehen kann. Sie könnte ihren kirschroten Dienstwagen nicht selbst reparieren, wenn an dem was kaputtgeht, nur weil sie gelernt hat, damit herumzufahren. Und weil dieses Arkanetzeugs für deine Abteilung immer wichtiger wird kann das nur wer in Gang halten, der auch die ganze Ahnung davon hat."

"Ja, und?" wollte Nathalie von ihrem gut verborgenen Zwiegesprächspartner wissen. "Er könnte kündigen, wenn er merkt, dass er nur die Wahl hat zwischen nur arbeiten oder viel Zeit mit der Familie", erwiderte Demetrius.

"Stimmt, das könnte er tun. Ich denke aber nicht, dass Mildrid ihm diese Entscheidung abverlangen wird, wo sie weiß, dass er diesen Beruf nicht nur des Goldes wegen ausübt."

"Wenn nicht der Instinkt der Schwangeren sagt, dass der Kindsvater sie jederzeit beschützen muss", konnte Demetrius darauf einwenden.

"Habe ich einen Beschützer nötig, obwohl ich mit dir noch an die vierzig Jahre schwanger gehen werde?" wollte Nathalie wissen. Darauf kam erst einmal keine Antwort. Sie dachte schon, ihren ehemaligen Ehemann, der irgendwann in den 2040ern zur Welt kommen und dann vielleicht auch Jahrzehnte lang ein Säugling bleiben musste, ausgekontert zu haben. Da erklang das Cogison: "Dich beschützt Euphrosynes Segen, solange ihre Tochter noch kein eigenes Kind bekommen hat, Maman." Dem konnte Nathalie nicht widersprechen.

__________

im Apfelhaus der Familie Latierre in Millemerveilles, 9. Mai 2003, 16:00 Uhr Ortszeit

"Brrr, das ist wie ein eiskalter Strudel", grummelte Julius, als er nach dem Durchgang durch den Verschwindeschrank vom Sonnenblumenschloss in sein Haus zurückkehrte. Millie knuddelte ihn. "Ich dachte, du bleibst bis Claudines Geburtstag bei den Brickstons", sagte sie ihrem Mann. "Nicht, dass ich dich nicht gerne wieder hier bei mir hätte, Monju. Aber was hat das wandelnde Komfortzimmer von Monsieur Demetrius Grandchapeau vor?"

"Sie möchte, dass ich bis zum Abschluss eines Computerprojektes, so etwa bis Ende Mai, außerhalb der Kuppel übernachte, damit ich jeden Tag ohne Camille ins Büro rüberfinde. Da ich ihr gesagt habe, dass ich das mit dir direkt besprechen möchte gab sie mir die Erlaubnis, noch einmal zu dir hinzureisen. Öhn, wo ist Camille gerade?"

"Die hat heute Mittag alle unsere Bäume mit der Lösung begossen. Sie haben es endlich raus, wie viel Rapicrescentus-Tropfen auf wieviel Drachenmist und klarem Wasser einschließlich weiteren Geheimzutaten gemischt werden müssen, um den Bäumen die nötige Kraft zu geben, die sie sonst von der Sonne kriegen", sagte Millie sehr erfreut. "Ich habe sie gefragt, ob ich das in die Temps reinsetzen darf. Sie meinte, dass ich nur reinschreiben darf, dass wir jetzt eine optimale Mischung haben, um unsere Pflanzen gesund zu halten. Die genaue Mischung will sie dann im Grünen Magier veröffentlichen, als Florafortis-Trank. Den Namen hat sie schon bei der herbologischen Gesellschaft Frankreich schützen lassen."

"Achso, dann ist sie jetzt unterwegs durch das Dorf, um die ausgehungerten Bäume zu füttern", erwiderte Julius. Millie bejahte es. Dann kam Millie auf den Grund für Julius' frühe Heimkehr zurück.

"So, und Nathalie will, dass du die nächsten Tage außerhalb der Kuppel wohnst?" fragte Millie ihren Mann, als er ihr das mit dem Arkanet-Projekt erzählt hatte. "Und du darfst mich fragen, ob du dafür länger draußen bleiben darfst wie ein Schüler? Das ist aber nett, Monju", erwiderte Millie belustigt. Julius wandte ein, dass er sie fragen durfte, ob sie und die Kinder mit ihm bis zum Abschluss des Projektes außerhalb der Kuppel wohnen mochten.

"Ach, und wie lange soll das dauern, Monju?"

"So bis Ende Mai, anfang Juni. Allerdings passen wir vier oder fünf dann nicht alle in das Gästezimmer von Catherine, sondern müssten wohl ins Schloss oder bei deinen Eltern unterkommen. Aber da weiß ich nicht, ob die drei das gerne hätten. Deine Mutter sah vorhin, wo ich spontan vor ihrem Haus appariert bin etwas erschöpft aus, meinte, dass sie wohl gestresst sei, wegen der anstehenden Weltmeisterschaft in Italien. Deshalb ist sie mit mir zusammen ins Sonnenblumenschloss rüber", erwähnte Julius.

"Tja, die ist eine Oma", feixte Millie, die wohl an ernste Gespräche dachte, wie viel Fleiß und Leistungsbereitschaft jemand zeigen müsse, der oder die es in der magischen Welt zu was bringen wollte.

"Wenn es was ernstes ist kriegen wir das garantiert von Tante Trice oder Oma Lutetia rübergedigekastelt", sagte Julius noch. Millie grinste. "Darf ich dieses Verb benutzen, Julius?" Dieser grinste und nickte. Bisher gab es nämlich noch kein Wort für die Verwendung des Distantigeminus-Kastens.

"Also, Tante Trice hat mir nach ihrem dritten Durchgang durch den Schrank klar angesagt, dass ich das nicht machen soll, ob mit Innertralisatus-Unterwäsche oder nicht. Das soll einem ziemlich kalt werden und noch heftiger wirbeln als Flohpulver, also nix für Umstandsbäuche", grummelte Millie. Damit war für Julius klar, dass sie und die Kinder nicht mit ihm mitkommen würden. Dann könnte er wirklich bei den Brickstons wohnen, wo er dann auch über Laurentines Rechner Zugang zum Internet hätte. "Ich weiß, dass das für dich und vor allem Rorie eine ziemlich blöde Lage ist, wenn Papa so lange wegbleibt. Aber unabhängig davon, dass Madame Grandchapeau mir Anweisungen erteilen darf, solange ich von ihrer Behörde Gold kriege, liegt mir was dran, dieses Projekt durchzuziehen, Mamille. Diese Vampire und Nachtschatten fahren offenbar Trittbrett beim Afghanistankrieg und könnten auch im Irak aufeinandertreffen, weil da mal eben hundert Tote mehr oder weniger nicht so heftig ins Gewicht fallen, denken die wohl."

"Monju, ich kann, will und darf dich nicht daran hindern, die Sachen durchzuziehen, an denen dir was liegt. Sicher ist das jetzt gerade blöd, weil ich merke, dass Clarimonde mich körperlich heftiger runterzieht als Chrysope und ich mit zwei schon laufenden Kindern und einem Baby im Bauch nicht überall zu gleich sein kann. Aber ich möchte auch nicht, dass du dir die Möglichkeiten versaust, was wirklich wichtiges zu machen, und Nathalie verlässt sich zu hundert Prozent auf dich. Wie lange kannst du bei mir bleiben, bis du zu den Brickstons zurückhüpfen musst?"

"Die wissen noch nicht, dass ich mal eben zu dir rüber bin. Ich sollte Catherine mal eben anmentiloquieren", sagte Julius und machte das auch sofort.

"Gut, da du eh vor Sonnenuntergang wieder aus Millemerveilles raus sein müsstest kommst du eben zum Abendessen", bekam er von Catherine zurückgeschickt.

"Okay, um sieben werde ich erwartet. Dann genieße ich das kleine bisschen Sonne, was die Kuppel durchlässt. Wer lange nicht mehr in der Muggelstadt war meint, die Leute wären jetzt endgültig wahnsinnig. Hupende Autos, Drängler, viele Leute auf den Bürgersteigen, wo du auch noch froh sein darfst, dass du diebstahlsichere Geldbeutel benutzen kannst. Gut dass das Flohnetz wieder geht", erwiderte Julius. Millie nickte ihm zu.

Sie verließen das Apfelhaus und setzten sich noch innerhalb der Apfelbaumgrenze an den runden Tisch, den sie für Essen im Freien hinausgestellt hatten. Aurore durfte auch dabei sein. Chrysope schlief. Das Wachsen der ersten Zähne war trotz der Schmerzstillungselixiere nicht ganz so angenehm für ein Kleinkind.

Im Moment tanzten die grünen und goldenen Lichter nicht zwischen den Apfelbäumen, weil die blassblaue Sonne offenbar genug Kraft auf die Kuppel brachte, um sie zu schwächen.

"Papa wohnt bei Claudines Maman und Papa? Darf ich auch da wohnen?" wollte Aurore wissen.

"Geht leider nicht, Rorie, weil Claudines Maman auch gerade ein Baby im Bauch herumträgt und ich den ganzen Tag bei Madame Grandchapeau arbeiten muss. Außerdem hast du hier viel mehr Kinder zum spielen und kannst herumlaufen, ohne von einem Auto umgefahren zu werden", sagte Julius. Er war froh, dass Aurore ein Findmich und eine nicht von wem anderen wegnehmbare Goldblütenhonigphiole trug. Dennoch hatten er und Millie vereinbart, dass Aurore nicht ohne Begleitung irgendwo außerhalb der Grundstücksgrenzen herumlaufen durfte, solange sie immer noch nach Hugette Mirabeau und den dämonischen Silberdolch suchten. Aurore fing an zu quängeln und zu grummeln, weil sie bei ihrem Papa bleiben wollte. Doch Millie und Julius sahen sie sehr streng an. Dann lächelte Julius: "Tante Camille bringt Maman und dich doch in drei Tagen zu Claudines Maman hin, damit wir mit Claudine ihren Geburtstag feiern."

"Siehst du, dann siehst du den Papa ja wieder früh und kannst dem dann ganz viel erzählen, was hier so ist", sagte Millie nun auch weniger Streng dreinschauen. Das beruhigte Aurore, zumindest für's erste.

Es war so gegen fünf Uhr, da passierte es. Unvermittelt bebte die Erde. Julius verzog das Gesicht und kämpfte darum, nicht aufzuschreien oder vor Schmerzen zusammenzuzucken. Die Apfelbäume erzitterten wie Pappeln im Wind. Dann schossen grüne und goldene Lichtkugeln zwischen ihnen hin und her, vermehrten sich und bildeten einen scheinbar lebendigen, fünfeckigen Schutzwall. Gleichzeitig konnte Julius sehen, wie die blassblau schimmernde Sonnenscheibe schlagartig dunkler wurde, bis sie stumpfgrau und nur noch halb so hell wie der Vollmond am Himmel stand. Durch die über dem Haus entstehenden Entladungen konnte Julius nur noch tiefe Schwärze am Himmel erkennen. Er fühlte, wie die Goldblütenhonigphiole in seiner Umhangtasche sich erwärmte. Dann ließ das Beben nach. Doch Himmel und Sonne blieben so dunkel wie sie gerade waren.

"Papa, wieso ist's wieder dunkel?" kreischte Aurore. Millie starrte auch in den nun nachtschwarzen Himmel und guckte sich an der stumpfgrauen Lichtscheibe fest, die scharf umrissen im Südwesten leuchtete.

"Das darf doch wohl nicht wahr sein", stieß Millie aus, während Aurore sich ihrem Vater in die Arme warf und hemmungslos loszuweinen begann. "Ist gut, Rorie. Papa und Maman sind bei dir", flüsterte Julius seiner Tochter ins Ohr. Dann durchfuhr ihn ein heißer Schreck. Vielleicht hatte jemand Jeanne und dem kleinen Bertrand was getan und damit die Aufhellung der Kuppel umgekehrt.

"Jeanne, ich bin schon wieder in Millemerveilles und sehe gerade die Verdunkelung. Geht es euch gut?!" mentiloquierte Julius mit Jeanne. "Hat meine Mutter mich auch gerade gefragt. Unser Haus steht im gleichen Licht wie sonst. Bertrand und ich liegen im Wöchnerinnenzimmer. Was ist passiert?" Julius teilte es ihr mit. "Oha, dann ist das passiert, was wir eigentlich um jeden Preis verhindern wollten, Julius. Irgendwer ist auf unnatürliche Weise gestorben", schickte Jeanne zurück. "Und ich dachte, mit Bertrands Geburt und der von deiner dritten Tochter bekämen wir diesen Spuk ausgetrieben." Julius erwiderte mentiloquistisch, dass er das auch gehofft hatte. Vor allem war die Kuppel jetzt noch lichtundurchlässiger als am 27. April.

"Weißt du, wie das passiert ist, Julius?" wollte Millie wissen."Wüsste ich gerne, auch wenn es mir nicht gefallen dürfte", antwortete Julius.

Die grün-goldenen Lichter tanzten ein wenig langsamer als sonst, erstrahlten aber eine Spur heller, so dass Julius die graue Sonnenscheibe nur sah, wenn gerade zwei oder drei der Lichter weiter nach oben schwebten, wo sie zu den bekannten Entladungen wurden.

"Ich hoffe, unser Schutz hält durch", unkte Millie. Julius, der seine immer noch weinende Tochter auf dem Schoß hatte konnte ihr da nur zustimmen. "Wenn es nicht anders geht müssen wir alle durch den Schrank, Mamille. Aber erst möchte ich von Camille wissen, ob sie noch rauskommen kann." So mentiloquierte er Camille an, die einerseits erstaunt war, dass Julius schon wieder in Millemerveilles war, andererseits aber auch erleichtert war, dass er es noch geschafft hatte, zurückzukommen.

"Ich mach die Florafortis-Runde noch zu ende. Wenn das jetzt so dunkel bleibt ist die Stärkung der Pflanzen wichtiger als sonst schon", mentiloquierte sie. "Jeanne und dem Kleinen ist übrigens nichts passiert. Ich rufe dann durch, wenn ich weiß, ob ich alleine durch die Kuppel raus und nach fünf Minuten wieder reinkommen kann."

"Das ist nett, Camille. Danke!" bestätigte Julius.

Um sicher zu sein, was mit ihrem Verschwindeschrank war eilten Millie und Julius in die Bibliothek. Sie öffneten den orangeroten Schrank. Sie sahen die übliche Schwärze. Doch zwischendurch flackerte ein dunkelrotes Leuchten wie ein weit weit entferntes Feuer auf. "Oha, das ist nicht so wie sonst", sprach Julius aus, was beide erkannten. Millie blickte in die fremdartig lebendige Schwärze hinein. Ja, da tauchte immer wieder ein rotes Blitzen auf und erlosch. Das war alles andere als normal. Entweder sahen sie nur Schwarz, wenn das Gegenstück verschlossen und somit empfangsbereit war, oder sie sahen die Schrankrückwand, wenn die Tür des Gegenstückes weit offenstand.

"Ich versuche Ma, du bitte Oma Line, weil ihre Kraft in dir drinsteckt", legte Millie fest. Julius nickte und konzentrierte sich. Es brauchte jedoch zwei Anläufe, bis er Ursulines leise Antwort wie aus großer Entfernung hörte. Er setzte die Botschaft ab: "Die Kuppel ist dunkler als vorher und unser Schrank irgendwie gestört." Diese Botschaft wieder holte er. Dann wartete er. Dann kam die Antwort: "Nur noch für Einzelleute möglich. Schick die Kleinen rüber und kommt dann nach!" Julius schickte zurück, dass er verstanden hatte.

"Gut, wir versenken die zwei in Schlaf und schicken sie durch. dann gehst du und dann ich", legte Julius fest. Doch Millie sah gerade, wie weitere, diesmal hellere Blitze im Schrank aufflammten. "Die Kraft ist zu groß, Monju. Gib an Oma Line weiter, dass wir die zwei da nicht reinschicken wollen!"

"Trice kommt rüber!" bekam Julius nach dreißig Sekunden die kaum vernehmbare Stimme seiner Schwiegergroßmutter zu hören. Er gab es an Millie weiter und schloss die Schranktür. Dann begann der Schrank wild zu wackeln und zu beben, als stehe er genau über einem Erdbebenherd der Stärke acht oder höher. Dieser unheimliche Vorgang dauerte eine Minute. Dann flog die Tür auf, und eine sichtlich zerzaust wirkende Béatrice Latierre flog von roten Blitzen umzuckt heraus und schaffte es gerade noch, auf beiden Füßen aufzukommen und durchzufedern. Dann knarzte es sehr bedrohlich. Dann krachte es, und der Schrank fiel rote Funken sprühend in sich zusammen. Nun lagen nur noch große, unregelmäßig geränderte Holzstücke auf dem Boden.

"Geht es dir gut, Trice?" fragte Julius, als er die wie vor Unterkühlung zitternde Schwiegertante ansah. Diese warf sich ihm in die Arme und drückte sich an ihn. "Brrr, k-k-k-kalt u-u-und f-f-für E-p-p-pi-l-leptiker v-v-völlig unz-zulässiges G-gef-fFlacker", bibberte Béatrice Latierre. Julius meinte auch, dass er eine Eispuppe in den Armen hielt und drückte sie noch enger an sich. Dann fiel ihm ein, vielleicht mit seiner Schwiegergroßmutter mentiloquieren zu müssen, dass Béatrice den Transport zwar geradeso überstanden, das Transportgerät danach aber seine Existenz beendet hatte.

Als er beim ersten Mal nicht durchkam wollte er einen zweiten Ruf losschicken. Da drückte ihm Béatrice ihr eiskaltes Gesicht auf seines und suchte Kontakt mit seinem Mund. Dabei hörte er ihre Stimme im Kopf: "Körperkontakt zweier mit ihrer Lebenskraft angereicherte verstärkt Melo. Wer schickt ihr die halbfrohe Botschaft?" Julius überließ es ihr, damit er nicht zu lange so innig mit ihr verbunden war. Millie, die erst auf den in Trümmer gegangenen Verschwindeschrank gestarrt hatte sah jetzt, dass ihre Tante ihren Mann in einer sehr innigen Umarmung hielt und küsste. Sie riss beide Fäuste hoch und holte aus. Doch dann hielt sie inne und öffnete ihre Hände wieder. Sie starrte zwar auf die beiden Verwandten, tat aber nichts gegen diese plötzliche Zweisamkeit.

"Nach einer Minute löste sich Béatrice von Julius und tätschelte ihm die Wange. Dann sah sie Millie abbittend an und sagte: "Ich wollte mir nichts rausnehmen. Aber eine intime Berührung zwischen zwei mit einem Empfänger gut vertrauten verstärkt die Mentiloquismuskraft."

"Habe ich auch gerade von Ma und Tine gehört, Tante Trice. Die sind im Sonnenblumenschloss und haben gesehen, wie der Schrank da in sich zusammengekracht ist. Sie wollten wissen, ob du in einem Stück bei uns angekommen bist. Ich habe es den beiden rüberschicken können."

"Ja, und die haben dir sicher erklärt, dass ich mir von deinem Mann nichts nehme, was dir zusteht", sagte Béatrice, die endlich wieder genug Eigenwärme hatte, um bibberfrei sprechen zu können.

"Mit anderen Worten, unser Notausgang nach draußen ist erledigt. Gut, dass wir nicht auf deine Mutter gehört haben, Tante Trice", sagte Julius. "Das wird sie da drüben wohl auch sehr erschreckt haben, ob ich noch durchgekommen bin und dass sie fast ihre Urenkel auf dem Gewissen gehabt hätte", erwiderte Béatrice darauf.

"wieso bist du eigentlich rübergekommen und nicht Opa Ferdinand?" fragte Julius seine Schwiegertante.

"Weil mein Stiefvater wegen des Flohnetzausfalls eine Anhörung vor der Verkehrsabteilung über sich ergehen lassen muss, vor allem, wieso andere Länder schneller wieder Flohnetz hatten als Frankreich und Hipp von mir heute als im zweiten Monat schwanger erkannt wurde. Tine hat eine kleine Tochter, die noch nicht ganz abgestillt ist, also blieb nur ich, die eiserne Jungfrau ohne Mutterpflichten."

"Nur, dass die dann keine residente Heilerin haben, weil der Weg zurück gerade krachend in Stücke zerbröselt ist", musste Julius darauf loslassen. Béatrice nickte zustimmend. "Im Zweifel will meine ganz große Schwester wohl wieder ihre Schwiegermutter als Hebamme, sollte diese leidige Sache länger als acht Monate dauern."

"Ich bin bisher davon ausgegangen, dass mit Clarimondes Geburt dieser Spuk aus und vorbei ist", grummelte Millie. "Aber irgendwas hat die Kuppel wieder dunkel gemacht."

"Und euer Haus ist noch geschützt?" fragte Béatrice. Julius nickte und sagte: "Noch."

"Julius, ich versuch gleich, alleine durch die Kuppel zu fliegen. Wenn das nicht geht, war es das mit zwei auf einmal", fing Julius Camilles lauthallende und glasklar verständliche Gedankenstimme auf. Er schickte zurück, dass er auf ihre Rückmeldung warte.

"Ma ist im zweiten Monat schwanger?" stieß Millie nach zehn Sekunden unvermittelt aus. "Warum erzählt die mir sowas nicht. Das merkt eine Hexe doch, wenn was mit ihrem Körper los ist."

"Sie hat erst vor einem Tag Übelkeit verspürt. Heute kam sie mit Tine zu mir, weil sie im Schloss auch schneller auf dem neusten Stand von euch gebracht werden wollte. Tja, offenbar haben deine Eltern es noch mal wissen wollen."

"Ja, aber die Monatsblutung, beziehungsweise das Ausbleiben derselben", warf Julius ein.

"Das habe ich sie auch gefragt. Aber die Antwort gehört nur ihr und mir", sagte Trice und sah Julius tadelnd an. "Nicht die Heilerdirektiven vergessen, Jungchen", mentiloquierte sie ihm noch zu. Er verstand, zeigte aber keine Regung, wie er es gelernt hatte.

"O Mann, dann kriegt das Kleine wohl mein Zimmer", erwiderte Millie. "Aber wichtiger ist, warum die Kuppel jetzt noch undurchlässiger geworden ist als vorher?"

"Tja, Reporterhexe, das ist dein Job", gab Julius zurück. Ihm gefiel die Lage auch nicht. Aber wenn er sie nicht verursacht hatte und nicht wusste, wie sie zu beenden war, brachten Angst und Wut nichts, hatte er schon lernen müssen.

"O Tante Trice da!" trällerte Aurore, die aus ihrem Zimmer herbeigewuselt war, weil ihre Eltern im Bücherraum waren. "O, der Zauberschrank ist kaputt", sagte sie dann und deutete auf die kläglichen Überreste des magischen Möbelstücks.

"Besser als anders herum", sagte Julius mit einem Anflug von bitterbösem Humor. Seine Schwiegertante lachte erleichtert und begrüßte ihre Großnichte. Dann fing auch noch Chrysope an zu schreien, wohl weil irgendwas passiert war. Julius holte seine zweite Tochter aus ihrem Kinderbettchen und hielt sie warm in den Armen. Da sie noch eine Wochenwindel trug brauchte er sich um irgendwelche unangenehmen Sachen gerade nicht zu kümmern.

"Ma sagt, wenn wir nicht mehr aus dem Dorf raus können sollen wir uns bloß nicht aus dem Haus wagen", sagte Millie, während Béatrice die von ihr in diesem Haus auf die Welt geholte kleine Hexe hochhob. "Ui, ja, du bekommst immer gut zu essen, Chrysie", sang sie auf Chrysope ein. Dann wandte sie sich an Julius. "Wir müssen noch mal", sagte sie und setzte Chrysope auf den Boden, bevor sie Julius noch einmal innig umarmte und ihren auf seinen Mund drückte. "Auch wenn Millie sauer werden könnte, weil Trice dich anschmust, Julius soviel: Sie bleibt bei euch, bis ihr einen Weg findet, wieder unter dieser Kuppel wegzukommen", hörte Julius Ursulines Gedankenstimme. Er schickte zurück: "Sie hat doch kein Zeug dabei außer dem, was sie anhat."

"Das würde mich wundern. Bis auf weiteres dann erst mal viel Glück euch allen!" hörte er Ursulines Stimme noch einmal im Kopf. Dann löste sich Béatrice Latierre wieder von ihm.

"Ich habe immer einen halben Haus- und Laborstand mit, weil ich als Hebamme manchmal mehr als einen Tag bei einer Patientin bin. Zum Glück ist außer meiner ganz großen Schwester ja nur Millie gerade schwanger", sagte Béatrice.

Unvermittelt leuchtete ein rotgoldenes Licht auf, formte eine Kugel, die sich zu einer drei Meter großen Gestalt aus Licht verdichtete. Julius erkannte die Erscheinung und sah auch, dass sie etwas in ihrem Bauch trug. "Ihr kommt so nicht mehr raus, Julius", hörte er in seinem Kopf die Stimme Ammayamirias. "Dieses waghalsige Hexenmädchen wäre fast in der Kuppel vergangen, wenn ich durch die Kraft der Formel nicht auf sie aufmerksam geworden wäre", gedankensprach Ammayamiria weiter. Dann spreizte sie ihre Beine, und wie bei einer blitzartigen Geburt entfiel Camille Dusoleil dem Astralkörper der Zwei-Seelen-Tochter Ashtarias. Sie schaffte es noch, unfallfrei auf allen Vieren zu landen, bevor Ammayamirias Erscheinung übergangslos verschwand.

"Ui, Béatrice? Öhm, o, der Schrank ist kaputt", waren Camilles erste Worte nach dieser überraschenden Wiedergeburt aus Ammayamirias Leib. Dann nickte sie und deutete auf ihren Heilsstern, der zu einem einzigen Eisklumpen gefroren war. "Irgendwer hat diese Kuppel mit noch mehr dunkler Kraft aufgeladen als vorher. Ich komme da so nicht mehr durch, und noch mal von einer, die mich mal ohne Kleidung und Zauberstab im Bauch hatte so ausgeschimpft werden will ich nicht", seufzte sie. Dann richtete sie sich wieder auf und ordnete ihre grüne Kleidung." Es ploppte, und Camilles Besen erschien aus dem Nichts und landete. Julius vermeinte noch ein rotgoldenes Aufblitzen gesehen zu haben. Doch das konnte auch eine Sinnestäuschung gewesen sein.

"Wieso hat sie mich bei euch abgesetzt?" fragte Camille. Dann nickte sie, als sei ihr die richtige Antwort eingefallen. "Natürlich, weil du ihr Zwillingsbruder bist und sie dich als Endpunkt besser nehmen konnte als Jeanne", grummelte sie. Dann deutete sie auf Trice: "Öhm, ihr habt eure Geheimnisse, Béatrice und wir Dusoleils haben unsere. Also bitte nicht weiterfragen, weder Millie, noch Julius, noch mich!"

"Verstehe ich, Camille", sagte Béatrice, wobei sie natürlich wusste, dass Camille ja eine Tochter Ashtarias war und ihr ja auch wie Julius von außen hatte zusehen müssen, wie Ashtaria sie beide in sich eingeschlossen hatte, um ihnen und ihren anderen noch lebenden Kindern den Tod eines ihrer nachgeborenen Söhne zu verkünden.

"Temmie, hörst du mich noch?" probierte Julius was anderes aus. Er bekam sofort antwort: "Ja, ich höre und sehe dich noch, Julius. Allerdings steht da zwischen uns jetzt eine flimmernde Wand. Aber ich kann noch mit dir gedankensprechen", hörte Julius Temmies celloartige Geistesstimme.

Als Camille, Millie, Béatrice und Julius sich mit der neuen Lage vertraut gemacht hatten sah Julius zuerst nach den Knieseln. Goldschweif erzählte ihm, dass sie erst einen lauten Knall gehört hatte und dann die böse Kraft noch tiefer und lauter zu singen angefangen habe und jetzt ein wenig Näher gekommen sei, aber noch weit genug, um ihr aus dem Weg zu bleiben. Camille bestätigte es nach Julius Übersetzung, dass sie schon ab hundertfünfzig Metern Flughöhe ein blaues Licht um sich herum gesehen hatte und ihr Heilsstern sehr heftig erbebt war. Deshalb habe sie ja die mächtige Formel ausgerufen, die seine ganze Kraft weckte. Doch das habe nicht ausgereicht, sie durch die Kuppel zu bringen. Sie sei hängengeblieben und dann von ihr, also Ammayamiria, eingehüllt und weggebracht worden.

Was die Ursache der plötzlichen Verdunkelung anging fanden die Sicherheitsleute heraus, dass Robin und Chuck mit Monsieur Renard und fünf im Ministerium beschäftigten Zauberern einen Blitzstart des wieder für eine Stunde flugfähigen Luftschiffes versucht hatten. Sie wollten wohl mit Überschall durch die Kuppel brechen. Dabei war das Luftschiff in Millionen Stücke geborsten und die in ihm mitfliegenden wie Jonà Contcrapauds als Eisblöcke auf den Boden zurückgestürzt und zersplittert. Damit hatte die dunkle Kraft, die sich aus dem Tod und der Dunkelheit speiste, auf einen Schlag acht Menschenleben vertilgt. Somit schien die Geburt von Bertrand Dusoleil nur eine schwache Hoffnung für die Eingeschlossenen zu sein.

Als die sowieso schon wieder verdunkelte Sonne versunken war umschloss ein abgrundtief schwarzer Himmel das magische Dorf in der Provence, und nur die von Hand entzündeten und in Gang gehaltenen Licht- und Feuerquellen spendeten eine gewisse Helligkeit. Immerhin ging das Feuermachen von Hand noch.

Madame Renard, die ihren Mann noch von diesem Ausbruchsversuch hatte abhalten wollen, weinte und schrie ihre Trauer in die viel zu frühe und viel zu dunkle Nacht hinaus. Hera Matine musste sie mit einem Beruhigungszauber belegen und auf einer Trage in das Entbindungsheim bringen, dass sie zusammen mit Camille und Florymont gegen dunkle Einflüsse abgesichert hatte, um die dort untergebrachten Schwangeren zu beschützen.

"Oha, das wird Caro ziemlich übel runterziehen", seufzte Millie, die nach Erhalt dieser bitteren Nachricht selbst einen Beruhigungstrank eingenommen hatte. Bis heute wusste niemand, wohin sich Caroline abgesetzt hatte und wie sie es anstellte, nicht gefunden zu werden. Julius konnte nur hoffen, dass sie noch lebte.

Zumindest funktionierten die Distantigeminus-Kästen noch. So konnten alle, die eine solche Vorrichtung zur Verfügung hatten Berichte an die Gegenstellen verschicken. Julius erwähnte, dass er in den kommenden Tagen ausführliche Programmcodes für das Arkanetprojekt senden würde. Millie sendete einen Eilartikel an Gilbert Latierre und kündigte einen ausführlichen Bericht im Rahmen ihrer Reportage an.

Was Julius etwas beruhigte war, dass die elektronischen Geräte in seinem Schuppen äußerlich unversehrt geblieben waren. Doch er wusste, dass gerade die batteriegepufferten Daten seines Laptops durch die ständige Einwirkung weißer und schwarzer Magie garantiert gelöscht worden waren, falls sein Rechner nicht gänzlich unbenutzbar geworden war, wenn der Akku restlos unterladen war und die zum Gerätestart nötigen Festspeicherdaten auch noch gelöscht worden waren. Doch irgendwie beruhigte es ihn, dass seine Ausrüstung zumindest so tat, als sei sie nur in einen Dornröschenschlaf gefallen und warte auf den technischen Prinzen, der sie wieder wachküssen konte.

"Verbindliche Mitteilung an alle! Ab sofort sind die an jeden ausgeteilten Goldblütenhonigphiolen zu jeder Zeit und überall am Körper zu tragen. Baderäume und andere Orte, wo ein Entkleiden nötig ist, werden von unseren Sicherheits- und Heilzauberexperten entsprechend bezaubert, dass dort keine Gefahrenlage auftreten kann. Alle Goldblütenhonigphiolen sind ab sofort jederzeit und überall am Körper zu tragen!" riefen die Feuerwehrzauberer und Monsieur Pierres zwanzig Sicherheitszauberer, die Julius immer als Debuty-Sheriffs bezeichnet hatte, vom fliegenden Besen herab über das ganze Dorf aus. Sie waren wie laute Rufer in einsamer Nacht, dachte Julius, bevor er die Schlafzimmerfenster zumachte. Einen Stock tiefer hatte sich Béatrice Latierre in einem der Gästezimmer eingerichtet. Julius hatte trotz seiner Erfahrungen mit Rauminhaltsvergrößerungszaubern gestaunt, wie die Heilerin aus einer kleinen Gürteltasche mehrere Kleidungsstücke einschließlich Schuhen, mehrere Zaubertrankkessel und eine Palette von Zutaten hervorgezogen hatte. Zumindest hatte sie auch mehrere Goldblütenhonigphiolen dabei, um sich und andere vor üblen Auswirkungen der dunklen Kuppel zu schützen.

"Tja, dann war es das wohl mit Miriams und Claudines Geburtstag", grummelte Millie, als sie neben Julius im Bett lag. "Tja, und mit Claudines großer Geburstagsüberraschung haben wir hier dann auch nichts mehr zu tun", erwiderte Julius. Er fand es schade, nicht auf das Alizée-Konzert im Olympia in Paris gehen zu können. Die Atmosphäre hätte seinen anstrengenden Alltag sicher aufgehellt. Dann dachte er daran, was heute alles auf ihn eingestürzt war. Seine Frau würde im Dezember wohl ein neues Geschwisterchen bekommen, die ganzen Vorsichtsmaßnahmen, um keine weiteren Todesopfer zuzulassen, waren von zwei vom Heimweh getriebenen Cowboys und sechs holzköpfigen Zauberern zerstört worden, und irgendwo im Dorf geisterte immer noch eine von Sardonias Willen besessene Hexe herum, die mit einem magischen Dolch auf Blutjagd gehen mochte. War es das vielleicht? Würden sie alle, die Jahrhundertelang auf den Schutz der magischen Kuppel über Millemerveilles vertraut hatten, den Preis für diese fragwürdige Sicherheit bezahlen, nur weil irgendwie eine Welle aus dunkler Kraft freigesetzt worden war? Er hoffte nur, dass die in Millies Bauch wachsende Clarimonde doch noch sowas wie ein Licht der Welt erblicken würde, wenn sie Ende Juni, anfang Juli geboren wurde. Zumindest konnte er bei ihrer Geburt dabei sein, weil kein Arbeitgeber ihn mal eben anderswohin kommandieren konnte.

__________

Aus der Fortsetzungsreportage "Unter der Dämmerkuppel" von Mildrid Ursuline Latierre

12. Mai 2003

Eigentlich hätte ich heute mit Julius zusammen gerne den Geburtstag meiner kleinen Schwester Miriam gefeiert und auch Catherine Brickstons Tochter Claudine beglückwünscht. Doch der im Nachhinein irrwitzige Fluchtversuch von acht Zauberern mit dem hier bei uns gestrandeten Überseeluftschiff aus den Staaten hat alle Pläne zu Staub zerblasen. Ich bin zumindest froh, dass wir hier in Millemerveilles gut versorgt sind. Die von meinem Mann und Catherine Brickston vorgeschlagene Luftbrücke funktioniert. Die Karren mit den Fallschirmen können wir auch noch durch die rabenfinstere Kuppel hinausfahren lassen, solange kein weiterer Zauber auf sie aufgeprägt wird. Wir bekommen seit drei Tagen Nachschub an magielosem Feuerzeug, einschließlich dieses übelstinkenden, leicht brennbaren Stoffes namens Benzin, um alle Licht und Feuerstellen in Gang zu halten. Auch wenn bei vielen die Frustration groß ist, dass das alles nichts helfen wird, sind die meisten hier noch sehr diszipliniert.

Ich bewundere immer wieder Madame Delamontagne um ihr geniales Talent, Reden zu halten. Sie hat heute Mittag, als die Sonne als stumpfgraue Scheibe am höchsten Punkt stand, gesagt, dass wir alle nur überleben, wenn wir durchhalten und dass Sardonia nicht am Ende über uns alle lachen soll, wenn ihre Hinterlassenschaften uns alle umgebracht haben könnten. Deshalb sollten wir alle darauf ausgehen, weiterzuleben.

Julius musste sich dazu durchringen, Goldschweif und Sternenstaub, unsere Kniesel, mit Schlafgas zu betäuben und dann in Zaubertiefschlaf versenken zu lassen. Goldschweif zeigte erste Anzeichen, durch die ständige dunkle Magie wahnsinnig zu werden, und Sternenstaub war ständig darauf aus, böse Wesen aus der Luft herunterzupflücken, bis auch er in Tiefschlaf versenkt werden konnte.

Die Kindergartengruppe und die Grundschule sind wegen der trüben, manchmal sehr gereizten Stimmung, geschlossen worden. Immerhin sind die Schülerinnen und Schüler bereit, Hausaufgaben zu machen, die Madame Dumas, ihre Kollegen und die in Paris lebende Laurentine Hellersdorf erteilen. Die Eltern, die wegen der Abschirmung nicht an ihre gewohnten Arbeitsplätze gehen können, sind nicht sonderlich begeistert, dass sie die Kinder jetzt auch noch betreuen sollen. Aber Hera Matine hat bei ihren Hausbesuchen klar angesagt, dass die Kinder nicht im Lernstoff zurückbleiben dürfen und dass die Eltern froh sein sollen, dass sie durch die Kinder einen Sinn in diesem trüben Hiersein behielten. Immerhin gibt es seit gestern eine Möglichkeit, dass die Kinder am Dorfteich spielen können, wo das große Feuer am brennen gehalten wird. Eine um das Feuer gezogene Alterslinie verhindert, dass die Kinder zu nahe an die Flammen kommen. Das war Julius' Idee, und ich bin verdammt stolz, dass ich so einen einfallsreichen Mann geheiratet habe und gerade sein drittes Kind erwarten darf.

Gut, ich wollte nicht zu gefühlsbetont berichten. Aber ich möchte Ihnen da draußen unter der Sonne und dem freien Himmel mitteilen, dass wir immer noch genug Lebensfreude und Beschäftigungsmöglichkeiten haben. Wir danken euch und Ihnen, die mithelfen, dass wir hier nicht verhungern oder in Dunkelheit und Kälte verderben müssen.

Es mag sein, das die nächsten Tage nicht viel berichtenswertes bringen. Zumindest werde ich mich ab heute alle fünf Tage melden, falls nicht was ganz wichtiges und erwähnenswertes passiert. Seid bedankt für eure Anteilnahme und Unterstützung!

MUL

__________

In Tyches Refugium, 10. Mai 2003, 16:30 Uhr Ortszeit

"Und, war dein Vorstoß erfolgreich, Schwester Albertrude?" fragte Anthelia/Naaneavargia. Albertrude sah ihre Gesinnungsschwester an und sagte dann:

"Ich habe jetzt einen, den ich mir als guten Erzeuger vorstellen kann. Ich könnte den auch mit meinen eigenen Kenntnissen dazu kriegen, mit mir das Lager zu teilen. Doch geht es mir auch um die Rezeptur dieses Befruchtungsförderungstrankes. Außerdem möchte ich nach Möglichkeit schon zwei auf einmal hervorbringen."

"Soso, zwei zum Preis von einem", spöttelte Anthelia. "Und was ist, wenn es nicht nur zwei, sondern drei sind und alle drei nur Jungen oder nur Mädchen?" fragte Anthelia weiter. Albertrude sah sie verwegen an. "Ich habe keine Probleme mehr mit dem Kinderkriegen an sich. Es geht mir um diesen kleinen runden Stein, der dir auch so wichtig ist, Schwester. Den kann ich laut meiner eigenen Verfügung aber nur erlangen, wenn ich in diesem Körper einen Jungen und ein Mädchen empfangen und aus ihm heraus in die Welt hineingeboren haben werde. Da wären neun Monate schneller als zwei Jahre, weil ich sicher nicht gleich nach der Niederkunft eine neue Empfängnis anstrebe. Aber wem sage ich das, einer Hexe, die gerne nascht, aber nicht dick werden will."

"Es kommt darauf an, von was ich nasche, Schwester", konterte Anthelia. "Abgesehen davon werde ich, sollte ich das wahrhaftig hinbekommen nicht auf einen alchemistischen Trick zurückgreifen, da mir nicht nur am Nachwuchs, sondern auch an dessen Erzeuger gelegen ist und ich sicher nicht wie die Hexe, die Dime geschwängert hat, den Catena-Sanguinis-Fluch auf ein Teil von mir selbst wirke, nur um dessen Erzeuger an mich zu binden. Oder würdest du das tun, Schwester Albertrude?"

"Sei du froh, dass ich weiß, dass ich dich nicht töten darf. Verwandeln geht ja auch nicht. Eine andere unserer Mitschwestern hätte eine derartige Frechheit auf jeden Fall gebüßt. Bei dir kann ich nur wiederholen, was ich schon gesagt habe: Wer gerne nascht, aber nicht dick werden will, muss mir nicht vorhalten, wie ich meinen Körper ausnutze. Achso, apropos Körperausnutzung: Auch wenn in mir jetzt viel von Gertrude steckt kann ich den Wonnen lesbischer Liebe immer noch einiges Abgewinnen. Möchtest du wissen, was mir meine Gespielin aus Monte Carlo so im Bett zugeflüstert hat?"

"Falls du die Tragödie von gestern meinst, weil acht vorschnelle Zauberer überschnell durch die Kuppel wollten und unverzüglich von dieser getötet wurden habe ich dies schon aus der Stimme des Westwindes und dem Kristallherold erfahren. Beide Zaubererzeitungen haben diesen Vorfall auf Seite eins herausgebracht", sagte Anthelia. Albertrude verzog enttäuscht das Gesicht. "Oder wolltest du mir erzählen, welch kunstfertige Geliebte du sein kannst, wenn eine Hexe dies von dir erbittet?" setzte Anthelia noch nach, wohl wissend, die neue Identität der einstmals rein homophil ausgerichteten Hexe zu verstimmen.

"Das weiß ich schon die ganze Zeit, dass ich in dieser Hinsicht sehr bewandert bin, Schwester Anthelia. Aber du hattest recht, Louisette wollte, dass ich es dir sofort mitteile, sobald ich Zeit habe, dich aufzusuchen. Ja, sie fürchten nun, dass ihre bisherigen Vorsichtsmaßnahmen nicht mehr ausreichen und sie womöglich noch mehr Tote zu beklagen haben, bevor das dritte Kind der Latierres geboren wird. Des weiteren muss es kurz vor der Verdunkelung der Kuppel der Heilerin Béatrice Latierre noch gelungen sein, nach Millemerveilles hineinzukommen, wohl auch mit Hilfe der Gartenhexe Camille Dusoleil. Tja, jetzt hängt sie auch unter der nachtdunklen Käseglocke fest. Und die suchen wohl immer noch nach Hugette Mirabeau, die einen Silberdolch Sardonias zu sich hinrufen kann."

"Sardonias Silberdolch? So ein leicht gekrümmter Damaszenerdolch mit einem berunten Griff aus dem Fingerknochen eines Trolles?" fragte Anthelia/Naaneavargia. Albertrude erwiderte, dass Louisette keine genaue Beschreibung bekommen hatte. Sie stütze sich da im wesentlichen auf die Fortsetzungsreportage von Mildrid Latierre. Anthelia nickte. Dann sagte die Führerin der Spinnenhexen: "Nicht diese offenbar durch Sardonias Erbfluch erwachte Gehilfin führt den Dolch, sondern dieser führt sie. Aber warum Sie sie nicht finden ist durchaus bedenkenswert."

"Kann auch sein, dass die im letzten Trimenon angekommene junge Dame längst nicht alles schreiben darf, was im Dorf geschieht, falls sie davon überhaupt viel mitbekommt. Soweit ich von meiner wonnigwarmen Nachtfee mitbekommen habe untersagt die dorfeigene Hebammenhexe hochschwangeren Patientinnen übermäßige Körperanstrengung und natürlich Aufregung. Aber du kennst den Dolch, Schwester Anthelia?"

"Sardonia hat ihn mir einmal gezeigt und gesagt, dass sie damit nicht nur Leben, sondern auch Seelen nehmen kann und wenn sie damit vergossenes Blut in ihre Tränke oder thaumaturgischen Prozesse einfügt die Wirkung um ein vielfaches größer sei. Ob sie den Dolch selbst gemacht oder ihn von wem anderem erhalten hat wollte sie mir damals nicht sagen. Sie meinte nur, dass sollte ich ihre Erbin werden, ich die Geheimnisse des Dolches von diesem selbst erfahren würde. Da war mir klar, dass sie den Dolch mit ihrer eigenen Seele verwoben haben muss, so wie Ladonna es mit ihrem Ring getan haben muss, um wieder aufzuwachen."

"Klingt nicht so, als wollte ich dieses Schneidwerkzeug in meiner Küche haben", erwiderte Albertrude. Anthelia wunderte sich, wo sie von Gertrude Steinbeißer geborene Rabenwald wusste, dass diese in ihrem ersten Leben alles andere als zimperlich und menschenfreundlich war. Wäre sie wohl hundertfünfzig Jahre früher geboren worden hätte sie eine brauchbare Kampfgefährtin oder Todfeindin Sardonias abgegeben."

"Wo du es von Ladonna hast, wie läuft es mit Schwester Donatella?"

"Tja, Lucibella liegt wie du mit deinen durchdringenden Augen sehen kannst unter einem Tarnzelt im Keller dieses Hauses und trägt den einen der zwei Ringe, die ich damals von Dairon geerbt habe. Ich selbst kann damit ja leider nichts mehr anfangen. Aber Donatella kommt damit gut zurecht, zumal er sie ja nicht groß verwandeln musste. Aber die Erinnerungen ihrer Schwester musste sie ja auch haben."

"Und was weißt du jetzt schon?" fragte Albertrude Steinbeißer.

"Das sieben Hexen seit dem 6. Mai nicht mehr aufzufinden sind und dass alle diese Hexen eine Gemeinsamkeit haben: Sie hatten alle weibliche Vorfahren, die erwiesene Mitstreiterinnen der Schwestern der Feuerrose waren. Jetzt suchen die Lichtbrigadiere nach weiteren Hexen, die derartige Vorfahren hatten. Ich denke jedoch, dass jene, die sich von Ladonna haben anwerben lassen einen Schweigsamkeits- oder Verratsunterdrückungszauber auferlegt bekommen haben. Ja, dann sicher auch jene, die der Neugründung beigewohnt haben, aber nicht beitreten wollten, sofern Ladonna ihnen über haupt die Wahl gelassen hat. Immerhin sind sieben Hexen seit dem 6. Mai nicht mehr auffindbar."

"Ja, und ihre Leichen wird man wohl nicht finden", grummelte Albertrude. Anthelia kicherte verächtlich. Dann sagte sie: "Leichen? Ladonna hat jede ihr missfallende Hexe in eine langstielige Rose verwandelt, hat Sardonia herausbekommen. Wenn die das immer noch als eine Form von Feindinnenvernichtung ansieht wachsen und gedeihen bei der in Italien jetzt sieben neue schlanke Rosen im Garten. Nur an den Garten werden wir nicht rankommen, womöglich auch ich in Spinnengestalt nicht. Die Italiener wissen, wo er sein muss, aber dass ein ziemlich übler Zauber ihn und seine Bewohner vor Feinden beschützt, hat mir Donatella vorgestern noch mitgeteilt. Seitdem sie in den Schuhen und Unterröcken ihrer achso menschenfreundlichen Schwester herumläuft ist sie mir gegenüber wesentlich mitteilsamer."

"Heißt es nicht bei den Amerikanern: Beurteile einen Mann nicht, bevor du nicht eine Meile in seinen Schuhen gegangen bist?" fragte Albertrude.

"Kann ich nicht sagen, mein Körper stammt aus Großbritannien und dem alten Reich, und meine Seele ist geprägt vom alten Reich und von Frankreich. Aber es könnte sein, dass mein ehemaliger Kundschafter Ben Calder alias Cecil Wellington sowas mal erwähnt hat."

"Und was machst du, wenn diese Ladonna wirklich eine eigene Schwesternschaft gegründet hat?" fragte Albertrude. "Zwei Sachen, Schwester, aufpassen, dass sie keine Spioninnen bei uns einschmuggelt und darauf hoffen, bei ihr jemanden von uns unterzubringen. Wenn sie jedoch Verratsunterdrückungszauber benutzt, wie ich das zu Beginn meines zweiten Lebens auch mit euch getan habe, dürfte das ein sehr unwahrscheinliches um nicht zu sagen unmögliches Vorhaben sein. Ja, und ich lege keinen Wert darauf, dass eine meiner Mitschwestern bei einem solchen Vorhaben gefangengenommen oder getötet wird oder sich bei ihrer Rückkehr zu uns wegen eines Verratsunterdrückungszaubers in weniger als fünf Sekunden selbstzerstört."

"Öhm, das kennst du?" fragte Albertrude erstaunt. Anthelia grinste und erwiderte, dass ihr damaliger Kundschafter mehrere der betreffenden Unterhaltungsfilme gesehen hatte. Das reichte Albertrude völlig als Erklärung aus.

"Noch mal wegen Millemerveilles: Können wir da echt nichts machen, dass diese dunkle Kuppel verschwindet oder die darunter festsitzenden den Ort verlassen können?"

"Ich bin im Moment mit mir im Zwiestreit, ob ich nicht nach Paris reisen und mich nicht der amtierenden Zaubereiministerin anvertrauen soll. Bisher komme ich aber immer zu dem Ergebnis, dass sie versuchen wird, mich festnehmen zu lassen und ich als Gefangene, Tote oder flüchtige Verbrecherin keine Hilfe für Millemerveilles sein kann."

"Du kannst doch wie ein Kobold ... Geht ja bei denen auch nicht", grummelte Albertrude. Anthelia/Naaneavargia nickte.

__________

Im Büro der Zaubereiministerin Frankreichs, 15. Mai 2003, 10:00 Uhr Ortszeit

Ministerin Ornelle Ventvit sah, dass alle von ihr eingeladenen erschienen waren. Auch Madame Faucon und Professeur Delamontagne aus Beauxbatons hatten sich freinehmen können.

"Es steht also fest, das die bisherige Hoffnung, durch zwei im Zeitraum Mai und Juni stattfindende Geburten die Lage in Millemerveilles zu bereinigen, völlig verfrüht war", sagte die Ministerin mit belegter Stimme. "Durch diesen unsinnigen Fluchtversuch am 9. Mai sind die Bewohner Millemerveilles noch stärker isoliert als vorher. Nur die noch rechtzeittig aus dem Dorf hinausgebrachten Distantigeminus-Kästen, die von Madame Mildrid Latierre als Digekas abgekürzt wurden, ermöglichen eine gegenseitige Verständigung. Die Frage ist nur, wielange noch und ob nicht der nächste Todesfall unter der mit dunkler Magie überladenen Kuppel auch diese Möglichkeit zunichte macht. Deshalb bitte ich jetzt schon um Vorschläge, wie den Eingeschlossenen in diesem Fall Beistand geleistet werden kann und wie diese selbst weiterleben können."

"Also, ich stehe zusammen mit Madame Champverd in einer zwar anstrengenden, aber für kurze Botschaften nutzbaren Mentiloquismusverbindung mit meinem Sohn und seiner Ehefrau in Millemerveilles. Die über die - Digekas? - in die Gemeinschaft übermittelten Nachrichten und Schulaufgaben helfen wirklich, die Trübsal fernzuhalten. Und die von Madame Faucon und meinen übrigen Kollegen der Liga gegen dunkle Künste erstellten Schutzartefakte haben bisher eine Massenpanik oder Ausbrüche von magisch angefachter Gewalt unterbinden können. Die Versorgung mit Pflanzenkräftigungstränken, die nicht durch zusätzliche Feuerzauber aktiviert werden müssen, verläuft ebenso zuverlässig. Alle nichtmagischen Vögel und Insekten haben das Dorf mittlerweile verlassen. Das bedroht die Obsternte. Monsieur Julius Latierres Vorschlag, entwässerten Fruchtsaft als Konzentratpulver abzuliefern, wurde bereits von den Landwirten der Umgebung angegangen. Soviel zu dem, was mein Sohn und seine Frau mir zurückmelden konnten."

"Das deckt sich vollständig mit den mir von meinem Mitarbeiter Julius Latierre übermittelten Zwischenberichten", ergänzte Madame Nathalie Grandchapeau. Madame Faucon bat ums Wort:

"Frau Zaubereiministerin, werte Damen und Herren Konferenzteilnehmer, die von mir zu Beginn der Kriese erwähnten Mittel, der dunklen Kraft über Millemerveilles beizukommen scheinen derzeitig unwirksam zu sein, da durch den abrupten Tod von gleich acht erwachsenen Zauberern die Quellen der dunklen Kraft bestärkt wurden. Soweit meine Tochter Catherine Brickston und ich erforscht haben galt für die dunkle Matriarchin Sardonia ein Hexenleben so viel wie drei Zaubererleben. Auch wenn ich wegen meiner beruflichen Verpflichtungen nicht dem in Millemerveilles bestehenden Kreis von Eingeweihten angehöre, der die dunklen Kraftquellen aus Sardonias Zeit kennt und überwacht, weiß ich mit ziemlicher Sicherheit, dass für jede Hexe, die innerhalb von Millemerveilles starb, drei Zauberer geboren werden mussten, um das Gleichgewicht der Kräfte von Leben und Tod aufrechtzuhalten. Eine Hexe ist durch die erweckte Dunkelkraft gestorben, ein Zauberer wurde in der Zeit neu geboren, neun Zauberer starben. Daraus ergibt sich, dass wenn es gelingen könnte, drei Hexen nach Millemerveilles hineinzubekommen, zumindest der Ausgleich der Kraftquellen möglich ist und wir die von mir vor mehreren Tagen erwähnten Kräfte wie Sonne, Lebensfreude und Liebe wirken lassen. Ich setze eine Hoffnung darauf, dass Ende Juni Anfang Juli eine weitere Hexe in Millemerveilles zur Welt kommen wird. Vorher dachte ich, dass dieses Ereignis ausreichen möge, um die dunkle Abschirmung aufzuheben. Es könnte auch sein, dass zwischen August und September noch weitere Hexenmädchen geboren werden. Madame Matine, die residente Hebamme von Millemerveilles, möchte mir in Berufung auf die zehn Heilerdirektiven keine Auskunft über diese Möglichkeit bei den von ihr betreuten Damen in anderen Umständen erteilen. Ich stehe derzeit zusammen mit Monsieur Odin in Kontakt mit Großheilerin Antoinette Eauvive, Madame Matine von dieser Schweigepflicht zu entbinden, wenngleich dies im Zusammenhang mit Schwangerenbetreuung als unangebrachtes Wortspiel anmuten könnte, es aber nicht tut, die Herrschaften. Vielleicht erfahren wir in den nächsten Tagen, ob durch Neugeburten im erwähnten Zeitraum eine neuerliche Möglichkeit besteht, die Abschirmung aufzuheben. Ich sagte vielleicht, weil ich mich ungerne auf solche vagen Hoffnungen verlassen möchte. Daher müssen wir den Eingeschlossenen womöglich eine sehr schwerwiegende und schmerzvolle Entscheidung abverlangen. Worum es geht möchte ich mit Rechercheergebnissen untermauern. Ich bitte Sie alle, diese Dokumente sorgfältig zu lesen und dann ihre Meinung zu äußern, welche der erwähnten Alternativen wir umsetzen und als Vorschlagsliste weitergeben sollen oder nicht." Mit diesen Worten holte die Schulleiterin von Beauxbatons mehrere Pergamentrollen aus ihrer Handtasche und gab sie an die anderen Teilnehmer weiter. Belesenes Schweigen breitete sich aus, nur gestört vom leisen Rascheln der Pergamente. Nach zehn Minuten eröffnete die Ministerin die Diskussion über die vorgelegten Angaben und Vorschläge.

Nach einer Stunde waren sich alle Teilnehmer einig, dass zunächst nur die Mitglieder des Dorfrates und der Kreis der Eingeweihten darüber befinden sollte, da die Aussichten für die Bewohner von Millemerveilles sehr gravierend sein würden. Ministerin Ventvit wollte es auf gar keinen Fall als ministerielle Entscheidung verfügen. In Millemerveilles wohnten viele einflussreiche Leute, die ihr wegen einer Entscheidung von oben herab alle Drachen der Welt auf den Hals hetzen würden. Zumindest aber lagen alle Alternativen auf dem Tisch, jede davon für die Bürgerinnen und Bürger Millemerveilles gleichermaßen schwerwiegend.

Um 13:00 Uhr konnte die Ministerin die Sitzung beenden und mit den Teilnehmern in eine verspätete Mittagspause gehen. Sie hoffte sehr darauf, dass sowohl die in Millemerveilles eingeschlossenen, als auch die im freien Land lebenden Hexen und Zauberer durchhielten. Allerdings hatte Midas Colbert angedeutet, dass eine über mehrere Monate durchgeführte Versorgung von knapp vierhundert Haushalten die ministerialen Goldreserven aufzehren konnten und es auch andere, nicht minder wichtige Aufgaben gebe, die Gold verschlangen.

__________

Beim Apfelhaus der Familie Latierre in Millemerveilles, 16. Mai 2003, 10:00 Uhr Ortszeit

Béatrice und Millie Latierre sahen Hera Matine, Geneviève Dumas und Julius dabei zu, wie sie das Grundstück innerhalb des Apfelbaumpentagramms abschritten. Vor einer Stunde hatte Hera Matine eine provisorische Alterslinie um den als großer Fligenpilz gestalteten Geräteschuppen gezogen, in dem Julius seine zur Zeit nicht benutzbaren Geräte aus der Muggelwelt hatte. Nun konnte bis auf weiteres keiner unter siebzehn erlebten Lebensjahren dort hineingehen. Wenn irgendwann doch ein Weg gefunden wurde, Sonnenlicht frei auf den Schuppen fallen und Feuerzauber anwendbar werden zu lassen wollte Hera die Linie wieder aufheben, damit der Schuppen frei von magischen Einflüssen war. Gerade eben guckte die Schuldirektrice von Millemerveilles auf eine Stelle, die knapp fünfzig Meter vom runden Haus entfernt war. Sie nickte. Da war also noch genug Platz für ein kleines Zelt.

"Meine alteingesessene Kollegin guckt mich immer noch ein wenig schräg an, weil ich es hingekriegt habe, doch noch bei dir sein und dir und der Kleinen helfen zu können", grinste Béatrice, als sie sah, dass Hera die aus sich heraus leuchtenden Apfelbäume mit ihrem Zauberstab abzirkelte. Millie lachte beinahe los, als sie sah, wie sich Heras Zauberstab wie von einer unsichtbaren Hand gepackt nach hinten bog. Nur weil Hera ihn schnell aus der Ausrichtung zog sprang er wieder in seine gerade Form zurück. "O, hätte es ihr fast den Stab zerbrochen?" fragte Béatrice mit ein wenig Spott in der Stimme. Millie erwiderte darauf: "Das sollte die liebe Tante Heilhexe langsam mal wissen, dass sie die von Camille gewirkten Zauber Ashtarias nicht durchdringen oder ausforschen kann. Und jetzt, wo Camille die Bäume bei uns und die bei Jeanne fast täglich mit dem Florafortis-Gemisch behandelt sind die noch stärker als vorher. Öhm, hat sie das Rezept schon im grünen Magier rausgegeben?"

"Frag mich sowas nicht, Millie. Ich bin genauso hier gestrandet wie du und muss mich drauf verlassen, dass die gedigekastelten Sachen alle stimmen. Wieso willst du das eigentlich wissen? Wolltest du den Trank nachbrauen?"

"Ich nicht. Aber Julius wird das sicher gerne wissen und nachbrauen wollen", erwiderte Millie. "Dann weiß der garantiert schon, was da reinkommt", erwiderte Béatrice sehr überzeugt.

"Ah, da passt auch eins hin, hat Geneviève gerade beschlossen", meinte Millie, als die Grundschuldirektrice von Millemerveilles eine andere freie Stelle innerhalb des Apfelbaumpentagons abnickte. Am Ende fand sie noch eine größere Fläche, auf der nur Wiese war und nickte heftig, wobei sie zwei Finger hochreckte, was für Béatrice und Millie hieß, dass sie da gleich zwei kleine Zelte hinstellen konnte. Ja, damit waren fünf Plätze bestimmt.

"Tja, dann wird das jetzt amtlich, Tante Trice. Aber ich schreibe das erst morgen in die Reportage rein."

"Ich finde es jedenfalls sehr gut, dass du meinen Einzug bei euch nicht in deine Reportage reingeschrieben hast, Millie. Die es wissen müssen wissen es, dass ich knapp vor der Nachdunkelung der Kuppel zu euch hingekommen bin, um dich zu untersuchen und nicht mehr weg konnte. Gut, dass Camille da mitgespielt hat."

"Weil du aus Versehen ihr Familiengeheimnis mitbekommen hast, Tante Trice", erwiderte Millie. Béatrice kniff ihr dafür kräftig in die Nase. "Na, mir unterstellen wollen, ich hätte Camille zu ihrer Aussage erpresst ist aber sehr sehr undankbar deiner Hausheilerin und Hebamme gegenüber. Aber ich unterstelle das mal Schwangerschaftswallungen."

"Ey, wenn du mir die Nase zuhältst kriegt die Kleine nicht mehr genug Sauerstoff und kommt mit einem Wichtelhirn zur Welt. Willst du nicht wirklich, Mademoiselle Hebamme", näselte Millie. Da ließ Béatrice ihre Nase wieder los. "Stimmt, würde deine Oma und meine Mutter mir nicht verzeihen, eine Urenkeltochter mit Wichtel- oder Trollverstand zu haben."

"Hallo, die Damen. Wir haben genug Platz innerhalb des Pentagons", verkündete Julius, als er mit Hera und Geneviève ins Apfelhaus zurückkam. "Das heißt, wir können das so durchziehen. Wir müssen nur die für alle gültige Nutzungsordnung aufstellen, damit der Dorfrat dir das absegnet, Geneviève", sagte Julius zu der Schulleiterin. Diese nickte und setzte sich. Die nächsten zwanzig Minuten klärten sie ab, wie es ab morgen losgehen und wann es offiziell beendet sein sollte. Julius' flotte Feder schrieb alles auf und hinterließ eine Pergamentrolle mit einem unterschriftsreifen Abkommen. Hera, Geneviève, Millie und Julius unterschrieben es. Dann wurden davon vier beständige Kopien gezaubert, von denen die Latierres eine behielten, dann die Grundschuldirektrice, Hera Matine als dorfeigene Heilerin und als Hebamme für die Geburten der meisten Kinder hier zuständig. Die letzte Kopie erhielt der Dorfrat für gesellschaftliche Angelegenheiten. Trotz der Ausnahmelage sollte alles seine bürokratische Ordnung haben, gemäß dem Gebot: Was nicht geschrieben steht ist auch nicht amtlich.

"Wenn du schon mal hier bist, Béatrice, ist das jetzt amtlich, dass wir die hier benötigten Trankzutaten aus dem Vorrat der Klinik erhalten?" fragte Hera Matine.

"Also, Antoinette hat es abgesegnet und die erste Großlieferung für morgen angekündigt. Die werden dir und dem Kollegen hier sicher noch die Liste und die Versandtbestätigung ins Postamt digekasteln", erwiderte Béatrice.

"Dann werde ich da hinfliegen und die bitten, mir die Bestätigung per Eule zu schicken, da ich ja noch ein paar werdende Mütter zu betreuen habe", grummelte Hera. Dann verließ sie das Haus.

"Burgfrieden oder nur Waffenpause?" fragte Geneviève Dumas die junge Heilerin aus dem Latierre-Clan.

"Ich habe mit deiner Nachbarin Hera Matine weder Streit noch Krieg. Dass sie mich so missmutig angeht liegt ausschließlich bei ihr. Dabei ist sie froh, dass ich zumindest eine der erwähnten Damen in freudigen Umständen betreue, dass sie sich um die anderen kümmern kann."

"Hera legt viel Wert darauf, dass sie jedes hier in Millemerveilles geborene Kind auf die Welt holt. Das ist eine reine Ansehensfrage, denke ich", äußerte Geneviève Dumas.

"Dem stimme ich zu, Geneviève. Nur wir Latierres legen wert auf innerfamiliären Zusammenhalt. Da meine Schwester wohl so oder so von ihrer Schwiegermutter betreut wird kümmere ich mich halt um meine Nichte. Da kann Hera sagen, tun oder andeuten was sie will. Außerdem bin ich wegen der Nachdunkelung der Kuppel genauso hier eingeschlossen wie du und alle anderen hier."

"Weiß ich doch alles", erwiderte Geneviève ein wenig verdrossen. Julius wandte ein, dass sie alle froh sein konnten, dass sie weder hungern noch frieren mussten. Die einzigen wirklich bedrückenden Sachen waren die magische Dunkelheit und Kälte, sowie die Ungewissheit, wo Hugette Mirabeau nach dem versuchten Angriff auf Bertrand Dusoleil abgeblieben war und wer vielleicht noch Sardonias heimliche Helfershelferin war. Um diese davon abzuhalten, sich an den hier lebenden Kindern zu vergreifen hatten sie ja überhaupt diese Idee gehabt, die ab morgen umgesetzt werden sollte.

__________

In Tarlahilias Schlafhöhle in der iranischen Wüste, am Mittag des 16. Mai christlicher Zeitrechnung

Die Tochter der schwarzen Mittagssonne fühlte in sich ein wildes Kribbeln und Prickeln, als habe ihr jemand statt ihres besonderen Blutes Sprudelwasser in die Adern gepumpt. Sie war jetzt wieder hellwach. Doch sie wusste nicht, wie lange sie ohne einen Erwecker geschlafen hatte. Als sie die geistige Nähe ihres in Schlaf gehaltenen Diners Sonnenläufer fühlte kam dieser auch gerade zur Besinnung.

"Meine Herrin, was hat uns da erwischt?" fragte er sie. Tarlahilia musste zugeben, das nicht zu wissen. Doch als sie nach einem Gedankenruf in das Raum-Zeit-Gefüge Antworten von Itoluhila und Ullituhilia bekam konnte sie die beiden Schwestern fragen, was geschehen war.

"Das wäre unfassbar", gedankenrief Tarlahilia. "Dann sind wir nur deshalb bewusstlos geworden, weil dieser Kraftstoß unsere Sinne überlastet hat? Aber jetzt fühle ich mich besser als davor. Ich werde gleich meinen Getreuen aussenden, seine Fähigkeiten zu erproben. Aber wenn Mutter wirklich in den Trieben dieser Riesenameise gefangen ist müssen wir sie sofort daraus befreien und hoffen, dass sie alle befruchteten Eier gelegt hat. Denn sie muss wieder sie selbst werden. Oder wollt ihr, dass wir das restliche Leben einer übergroßen roten Ameisenkönigin Futter bringen?"

"Meine sonnige Schwester, Itoluhila und ich haben es schon versucht, sie in Gedanken anzurufen. Aber sie hört uns nicht."

"Dann springt zu ihr hin und ruft sie körperlich!" blaffte Tarlahilia. Die Abneigung gegen Itoluhila war wie ihre Sinne besonders stark wiedererwacht.

"Ich denke, unsere die Dunkelheit liebende Schwester wird um Mitternacht aufwachen, weil sie wie du nur einen Abhängigen hat und die Mitternacht die Zeit ihrer größten Stärke ist, wie die Mittagsstunde deine, Schwester", gedankensprach Ullituhilia.

"Ach, und erst dann sollen wir Mutter aus den sie fesselnden Treiben der Ameisenausbrüterin herausrufen?" fragte Tarlahilia.

"Vier sind jedenfalls stärker als nur zwei", entgegnete Itoluhila darauf.

"Was du nicht sagst, Wassertreterin", gedankenknurrte Tarlahilia. Irgendwie war ihr so, als wenn doch noch was anderes mit ihr wäre. Doch das wollte sie später ergründen, wenn sie ihren Diener auf seine Fähigkeiten geprüft hatte.

"Ich weiß, dass du mir immer noch zürnst, weil ich dir Aldous Crowne vorenthalten habe, Schwester. Aber um Errithalaia zu bändigen sollten es mehr als nur drei wache Schwestern sein", wiederholte Itoluhila etwas, was sie schon einmal erwähnt hatte.

"Immerhin habe ich ihn hier dafür bekommen. Aber das gehörte sich nicht, einer Schwester ihren Auserwählten zu verderben und ihn dann noch von ihr wegzuholen, damit er von einer anderen unterworfen werden kann, Itoluhila", gedankenschnaubte Tarlahilia. Irgendwie fühlte sie körperlichen Hunger, nicht nach männlicher Lebenskraft, sondern nach mit Mund und Magen vertilgbarer Nahrung.

"Thurainilla sieht das ganz sicher anders", feixte Ullituhilia. Darauf hielt ihr Tarlahilia entgegen: "Ihr hättet für sie auch einen Träger unerweckter Kraft finden können, wo ihr doch so viel Zugriff auf die neuen Flugmaschinen der Kurzlebigen habt. Aber wie bereits gesagt habe ich ja ihn hier, Sonnenläufer, bekommen."

"Also, ist doch nicht so schlimm, Schwester. Wo bleibt dein sonniges Gemüt?" frotzelte Ullituhilia die gerade erst wieder aufgewachte Schwester.

"lege es nicht darauf an, dass die Sonne demnächst für neun Monde nicht mehr auf dich scheinen kann, Erdkneterin", schickte Tarlahilia eine halbherzige Drohung zurück. Denn sie wusste genau, dass keine Schwester einer anderen Gewalt antun oder sie gar töten durfte, ohne selbst dafür sehr bitter zu büßen. Außer Errithalaia wollte es keine darauf ankommen lassen, wie schmerzvoll die Buße sein würde.

"Gut, ich warte noch, bis Thurainilla aufgewacht ist. Dann suchen wir unsere Mutter direkt auf", beschloss Tarlahilia.

"Ja, warten wir noch", gab Ullituhilia über die Entfernung zurück. Dann meinte sie noch: "Jedenfalls sollten wir bald klarstellen, wie wir mit der sich ausbreitenden Blutsaugerpest umgehen. Wenn wir von dieser Kraft angereichert wurden, dann auch die. Das könnten die Langzähne als Auftrag missverstehen, sich die Welt zu unterwerfen. Da wir nur von unverdorbenen Menschen unsere besondere Nahrung beziehen können dürfen wir denen das auf keinen Fall durchgehen lassen."

"Das soll Mutter befinden, wenn sie wieder frei von den Trieben einer lebenden Eierlegevorrichtung denken kann, Schwestern", schickte Tarlahilia noch nach. Damit waren die beiden anderen wachen Schwestern einverstanden.

Nach diesem geistigen Ferngesprech mit ihren Schwestern öffnete Tarlahilia die Höhle und genoss die hereinflutende Sonne. Auch Sonnenläufer lud sich an den Strahlen des heißen Tagesgestirns spür- und sichtbar auf. Als beide lang genug die belebende Kraft der Sonne genossen hatten befahl Tarlahilia ihrem Abhängigen, seine Fähigkeiten zu üben. Sie sah ihm zu, wie er zehnmal schneller als ein Durchschnittsmensch über den Wüstensand rannte, mit Blick in die Sonne tonnenschwere Felsen bewegte und die in sich aufgenommene Sonnenkraft in Form blauer Strahlen aus den Augen gegen andere Felsen schleuderte und diese wie mit Hochleistungslasern durchbohrte oder schockerhitzte und sprengte. All diese Vorführungen erfreuten sowohl Sonnenläufer als auch dessen Gebieterin. Denn die Fähigkeiten von Tarlahilias Diener waren mindestens auf den doppelten, wenn nicht dreifachen Wert gestiegen. Aber irgendwie meinte Tarlahilia, es sei noch was anderes mit ihr geschehen. Sie fühlte sich irgendwie etwas schwerer und hatte diesen Heißhunger, den sie sehr schnell bekämpfen musste. Einer merkwürdigen Ahnung wegen ließ sie ihre Hände über sich selbst gleiten und ihren Körper erkunden. Das Ergebnis war ein kurzer Aufschrei, dem dann ein irgendwie merkwürdiges Lachen folgte. Sie beschloss, ihren Schwestern erst einmal nichts zu erzählen, bis sie wussten, wie es mit ihrer Mutter weiterging oder Errithalaia selbst ihnen wieder zusetzen mochte.

__________

In Thurainillas Schlafhöhle, genau um Mitternacht des 16. Mai 2003 christlicher Zeitrechnung

Sie war durch Landschaften aus Dunkelheit und silbernem Licht geglitten und hatte die Gesänge ihrer Mutter Lahilliota gehört. Dann, mit einem Mal, war sie in ihrem Höhlenversteck aufgewacht. Ein kurzes Umhertasten ihres Geistes verriet Thurainilla, dass es wohl gerade Mitternacht sein musste, also ihre machtvollste Tageszeit. Sofort wurde sie von den bereits anderen wachen Schwestern in Gedanken gerufen. Nur Errithalaia meldete sich nicht. Entweder war diese noch bewusstlos oder hielt sich verborgen.

"Was ihr von der Kraftwelle sagt ist sicher so geschehen, Schwestern. Ich weiß, dass der dunkle König über Jahre aus den Zaubern der ewigen Dunkelheit des Sternenraumes und dem Tod seiner Feinde viel Kraft eingesammelt hat. Wenn er die in seinem Machtgefäß, dass für seinen Geist zur eigentlich unentrinnbaren Heimstatt wurde, eingelagert hat, dann war das eine ganze Menge, die da auf uns und den Rest der Welt eingestürzt ist. Ja, wenn diese sich selbst wohl für eine Göttin haltende gefangene Blutsaugerin ihn wirklich aufgefangen und unterworfen hat, dann kennt die alles, was er kannte. Wir müssen Mutter aus diesem Ameisenzustand herausrufen, damit sie uns zeigen kann, wie wir gegen die Einfälle des dunklen Königs vorgehen können."

"Wann genau, Thurainilla?"

"Wenn ich mich erkundigt habe, was mit unserer anderen Feindin, besser meiner neuen Todfeindin, los ist. Sicher hat sie auch eine Menge der freigelassenen Dunkelkraft abbekommen. Das kann sie zerstört oder bestärkt haben. Erst wenn ich das weiß gehe ich mit euch zusammen zum Berg der ersten Empfängnis."

"Wir wollen da aber gleich hin", gedankensprach Tarlahilia.

"Ja, um dann am Tag darauf mitzubekommen, dass diese mir frech gekommene Schattenfrau in den Tagen, wo wir schliefen tausend oder zehntausend neue Diener um sich versammelt oder aus sich selbst ausgeschieden hat? nein, ich will erst wissen, womit wir es zu tun haben werden, Schwestern. Vorher lohnt es sich nicht, Mutter aufzusuchen."

"Wir haben das aber beschlossen, Mitternachtstänzerin", gedankenknurrte Tarlahilia. Ullituhilia bestätigte es.

"Ich sagte, wenn ich weiß, was mit meiner Todfeindin los ist. Vorher nicht. Denn solange ich nicht weiß, ob dieses fleischlose Weibsstück noch da draußen herumspukt weiß ich nicht, wie ich meinen Abhängigen in die Welt zurückschicken kann, ohne dass sie ihn gleich verschlingt, wie Riutillia."

"Och joh, dein Abhängiger", gedankenmurrte Tarlahilia. "Hätte Itoluhila ihn besser mir überlassen, wie es anständig und von Mutter vorgeschrieben war."

"Wissen wir schon", gedankenantworteten die anderen drei Schwestern gleichzeitig. Dann beendete Thurainilla die geistige Fernverständigung damit, dass sie mindestens noch eine Woche damit zubringen wollte, sich nach dieser Schattenfrau und auch nach den Blutsaugern umzuhören. Da keine von den anderen ihr einen Befehl erteilen konnte mussten sie unwillig einwilligen.

___________

Aus der Reportage "Unter der Dämmerkuppel" von Mildrid Ursuline Latierre

17. Mai 2003

Mein Mann Julius hat mit Madame Dumas zusammen eine Möglichkeit gefunden, wie wir zumindest den Unterricht für die Grundschüler etwas besser hinkriegen. Da unser Grundstück ja weitläufig genug ist und die Grenze unseres Schutzwalles weit genug verläuft, dass wir mehr als hundert Schüler und Lehrer auf der hinteren Wiese unterkriegen, haben wir fünf große Zelte aufgestellt, für jede Klasse eines und eines für die Lehrer, die gerade nicht unterrichten. Mit vielen Laternen haben wir den Platz so hell hinbekommen, dass keiner die stumpfgraue Sonne vermisst. Hera Matine hat nämlich angemerkt, dass Lichtmangel nicht nur Pflanzen zusetzen kann.

Julius wurde von Madame Grandchapeau für drei Stunden täglich freigestellt, um im Dorf mit seinem nichtmagischen Wissen auszuhelfen. Das nutzt Madame Dumas nun aus, um die von Laurentine Hellersdorf zugedigekastelten Erläuterungen und Aufgaben noch einmal erklären zu können. Das fand bei den Eltern der Schüler doch eine beruhigend hohe Zustimmung.

Immerhin besteht jetzt die Möglichkeit, die Übergangsklässler, die im kommenden Schuljahr nach Beauxbatons gehen sollen, gut genug vorzubereiten, vielleicht sogar besser, als es in anderen Schulen passiert.

Eine in Paris gelandete Eule brachte einen Brief aus Viento del Sol, dass die dort lebenden Hexen und Zauberer eine große Sammlung starteten, um uns mit dem nötigen Gold für die Beibehaltung der Luftbrücke zu versorgen. Damit zeigt sich nicht nur für uns hier eingeschlossenen, wie wichtig Partnerschaften zwischen Ansiedlungen sind. Inwieweit unser Zaubereiministerium damit zufrieden ist, nicht alles alleine bezahlen oder es von uns später als eine Art Notfallrückzahlung versteuern zu müssen ist noch nicht bekannt. Zwar haben die Angehörigen der hier zu Tode gekommenen Luftschiffzauberer Robin Jones und Chuck Peckwood sehr laut nach Entschädigung gerufen. Doch der Gemeinderat von Viento del Sol konnte ihnen nahelegen, auf eine Untersuchung zu warten, die nach dem Ende der gegenwärtigen Krise anberaumt werden soll. Für morgen ist in Paris ein Treffen zwischen dem US-Vicezaubereiminister Homer Waxpole und unserer Zaubereiministerin Ventvit angesetzt, auch um über eine weiterführende Verständigung über nichtmagische Rechner und Fernverständigungsmittel zu sprechen. Das Ergebnis dieser Unterredung werden Sie dann in der nächsten Ausgabe der Temps nachlesen können.

Das viele Leben, dass durch meinen Mann und Madame Dumas auf unserem Grundstück stattfindet, ist zwar für mich in meinem Zustand ein wenig anstrengend. Doch ich bin sehr froh, dass wir hier mithelfen können, dass die schulpflichtigen Kinder wegen dieser beschwerlichen Lage nicht im Lernstoff zurückfallen müssen. Zumindest können mein Mann, meine Kinder und ich genug Privatsphäre und Platz für unsere eigenen Tätigkeiten erhalten, da die Zelte schalldicht bezaubert sind und wir nur in den regelmäßigen Pausen, die von unserer verkleinerten Ausgabe des Uhrenturms von Viento del Sol eingeläutet werden, was von den Jungen und Mädchen mitbekommen.

Madame L'ordoux, die Imkereihexe von Millemerveilles, vermeldet, dass alle ihre Bienen in vorzeitige Winterruhe verfallen sind und somit kein einheimischer Honig zur Verfügung gestellt werden kann. Doch das Problem konnte durch eine Erweiterung der Lebensmittelbedarfsliste gelöst werden. Florymont Dusoleil arbeitet an der Fertigung von bis zu 1000 künstlichen Bestäubern, welche den Ausfall der Bienen ansatzweise wettmachen sollen. Mein Mann Julius meinte dazu, dass die magielose Menschheit in sehr große Schwierigkeiten käme, wenn keine lebenden Bienen mehr ausfliegen und Obstbäume und andere Nutzpflanzen bestäuben könnten. Da mit der notgedrungenen Schließung des Imkereibetriebes auch der Nachschub an Wachskerzen einbrechen wird haben Madame Hera Matine, Florymontt Dusoleil und Madame Delamontagne angeregt, Grubenlampen aus dem nichtmagischen Bergbau zu bestellen. Diese werden dann wie die zuverlässigen Fallschirme zur zerstörungsfreien Absetzung von Hilfsgütern in der magielosen Welt bestellt. Daher hat Madame Delamontagne auf dem Weg Digeka und Posteule in Viento del Sol angefragt, ob bei der dort zugesagten Spendenaktion hochwertige Edelsteine gesammelt werden können, die dann hier in Frankreich in die europäische Gemeinschaftswährung der nichtmagischen Welt eingewechselt werden können. Da es zwischen Viento del Sol und hier keine Digeka-Verbindung gibt müssen wir auf die Rückeule warten.

Die allgemeine Stimmung ist nach wie vor leicht eingetrübt, weil die hier lebenden Menschen das Tageslicht vermissen und bei Reisen durch das Dorf immer wieder nach möglichen Gefahren Ausschau halten. Immerhin sind die meisten hier vernünftig genug, die Goldblütenhonigphiolen am Körper zu tragen. Ich habe gestern drei unter die Kuppel geratene Sperlinge gesehen, die in wilder Panik herumflogen, weil es auf einmal so dunkel war. Einer von den Vögeln ist mit voller Wucht gegen einen Baumstamm geflogen. Ich musste ein paar Tropfen Beruhigungstrank einnehmen, um nicht zu sehr um den Vogel zu trauern. Ja, die meisten Vögel meiden das Dorf. Selbst die, die hier jedes Jahr ihre Nester bauen sind weggeflogen. die Tierwärter haben verlassene Nester mit angebrüteten, gefrorenen Eiern gefunden. Auch das ist sehr traurig. Aber wir hoffen weiter, dass wir diese bedrückende Lage überstehen und uns aus der Dunkelheit befreien können, in die wir aus uns bis heute unbekanntem Grund hineingeraten sind. Seid weiterhin bedankt, die ihr uns eure Hilfe und euren Beistand gebt.

MUL

__________

In einem schmalen Tal des Elbrusgebirges, am 18. Mai 2003, kurz vor Mitternacht

Aldous Crowne jagte auf seinem beseelten Schattenmotorrad Sharon auf den verabredeten Treffpunkt zu. Er hatte es tatsächlich geschafft, drei der von dieser Schattenkönigin beherrschten Ganzschatten anzulocken. Falls die Königin selbst gekommen wäre wäre er gleich zu seiner Gebieterin zurücknyctoportiert. So lieferte sich Sharon ein ihre mehr instinkthafte Eigenseele befriedigende Verfolgungsjagd, bei der sie knapp so schnell wie der Schall zwischen den Bergen hindurchjagte. Aldous, der sich wie Sharon in reiner Schattenform befand, kam sich vor wie Luke Skywalker bei der Verfolgungsjagd mit imperialen Sturmtruppen auf dem Waldmond Endor. Da für Sharon und ihn keine Massenträgheit galt konnte das selbstständig handelnde Motorrad die haarsträubendsten Kurven ausfliegen, ohne wie von einer Schleuder davongeschossen zu werden. Die drei angelockten Schatten waren wohl einen halben Kilometer hinter ihm. Er hätte sie mühelos abschütteln können. Doch seine Gebieterin und zweite Tante hatte eindeutig befohlen, ihr Diener ihrer gemeinsamen Todfeindin zu bringen. Genau das machte er jetzt.

"Gib auf, Bursche. lande dieses vertückte Metallteil und ergib dich unserer Mutter. Dann wird sie dich sehr gerne als ihren Ziehsohn annehmen", hörte Schattenreiter Aldous Crowne einen der ihm folgenden geisterhaft rufen. Doch Aldous dachte nicht daran, zu gehorchen oder gar zu antworten. Er fühlte bereits die Nähe seiner neuen Herrin. "Gas weg, Sharon, wir sind gleich da."

"Lass mich einen von denen fressen. Die riechen so lecker", hörte er Sharons metallisch klingende Geistesstimme. Seitdem sie einen dieser Dementoren vernascht hatte musste er aufpassen, dass Sharon nicht zu eigenständig wurde. "Wenn die Herrin dir das erlaubt ganz gerne", sagte Aldous Crowne.

Er fühlte, wie die anderen mit unverminderter Geschwindigkeit heranjagten, ja und unvermittelt mehrere hundert Meter vor ihm waren. Also konnten die auch nyctoportieren. "Spring, Sharon!" dachte Aldous. Sharon gehorchte und wechselte mit ihm zeitlos zum Treffpunkt über. Dort umschwirrten die drei geköderten Schatten, zwei Männer und eine Frau, einen in Lauerstellung auf einem Felsen hockenden Riesennachtfalter mit behaartem Körper und einem für diese Art von Falter sehr spitz zulaufenden Saugrüssel.

"Gib dich uns hin oder schenke dein Leben unserer Mutter, auf dass ihr beiden Schwestern in ihr wiedervereint werdet!" rief das weibliche Schattenwesen.

"Sharon, Hunger?" hörte Aldous die Gedankenstimme seiner Herrin. Sharon antwortete laut und wie in einem großen Stahltank hallend: "Ja, meine Herrin." "Dann verputz dieses freche Ding!" erwiderte die Gebieterin des Schattenreiters.

Sharon sprang mit einem geisterhaft verwaschen klingendem Aufröhren vorwärts. Gleichzeitig entstand vor ihr ein pechschwarzer Trichter, erzeugt von ihrem Unlichtscheinwerfer. Der Trichter erfasste die Schattenfrau. Diese ballte sich blitzschnell zu einer Kugel zusammen. Aldous sah trotz seiner Nachtsichtfähigkeit nur noch den dunklen Trichter. Dann hörte er den lauten Aufschrei einer Frau wie in einen Kochtopf hineinklingend. Die Stimme wurde immer höher und leiser. Dann erzitterte Sharon und gab ein Gedankenschnurren wie eine zufriedene Großkatze von sich. Dann zielte sie mit ihrem Unlichttrichter auf den zweiten Schatten. Doch der verschwand einfach im Nichts. Auch der dritte Schatten hatte sich wegnyctoportiert. "Die werden jetzt der großen Schattenkönigin Meldung machen, dass eine ihrer Mitschwestern von deinem Eisenpferd gefressen wurde und nichts dagegen machen konnte", sagte Thurainilla. "Du kehrst umgehend in meine Höhle zurück, bevor die meint, dich zur Vergeltung verschlingen zu dürfen." Aldous Crowne bestätigte den Befehl.

Gerade als er selbst in Thurainillas Höhle nyctoportieren wollte erschienen zwanzig andere Schatten und bildeten eine Art kuppel um ihn und den Nachtfalter herum. Dann erschien mit hörbarem Plopp die an die sieben Meter große Gestalt einer nachtdunklen Frau mit hüftlangen Haaren. Aldous versuchte, zu nyctoportieren. Doch die sonst so kräftigende Verbindung durch die Dunkelheit war zu schwach. Sharon erbebte, weil sie andere Schattenwesen wahrnahm, von denen sie nicht wusste, ob das Feinde oder noch mehr Beute waren.

"Schattenhexe, ich habe gehofft, dich doch noch zu treffen und das eindeutig zwischen uns zu klären. Dieser Planet ist zu klein für uns beide", stieß die eingetroffene Schattenriesin mit geisterhaftem Klang aus. Thurainilla blieb ganz ruhig auf ihrem Warteposten. "Wie ich sehe hat die Magie, die dich in die Welt brachte dich mit einem Zwischending zwischen Stechmücke und Nachtfalter vermischt. Wie nennt man sowas wie dich dann, Lepidopteranthrop, Werfalter oder einfach nur ein Monster?"

"Monster? Du meinst dich selbst, Verknäuelter Irrtum eines träumenden Riesengehirns", erwiderte Thurainilla mit einer auf tiefer Tonlage zirpenden Stimme, von der Aldous nicht wusste, wie das Schmetterlingswesen sie hervorbrachte. "Aber du hast recht, es wird Zeit, dass wir klären, wer auf dieser Welt weiter herumlaufen darf. Denn du hast meine Schwester einfach so in dich hineingeschlungen und dir was angeeignet, was dir nicht gehört. Dass deine Unterschatten mich nicht berühren können, weil ich im Mantel der Dunkelheit sicher vor ihnen bin haben dir die beiden, die ich zu dir zurückließ sicher mitgeteilt, Birgute Hinrichter."

"Du Mieses Ungeziefer. Das war dein Todesurteil", brüllte die Schattenriesin. Aldous war klar, dass seine Herrin verdammt viel riskierte. Aber dass sie die andere gleich im ersten Ansatz zur Weißglut reizte hatte er nicht gedacht. "So wirst du nicht meine Tochter, sondern bist der Nachschlag für deine leckere Schattenschwester, die meinte, mich verschlingen zu können und dann selbst in mir zerging wie ein Schneeball im Hochofen. So sei es, Mückenmotte!" klang die Stimme der Schattenfrau. "Danach wird mein Diner den Tod seiner Schwester rächen und deinen Gespielen da vertilgen."

"Wenn seine kleine Wunderstute den nicht vorher verschluckt. Die ist sicher noch hungrig", goss Thurainilla einen ganzen Benzinkanister ins bereits haushoch lodernde Feuer. Aldous wusste nicht, ob er einen direkten Kampf mit zwanzig Unterschatten überstehen würde. Am Ende bekamen sie ihn echt erledigt. "Bleib bloß in Schattenform, Aldous", hörte er nun Thurainillas Gedankenstimme. Dann sah Aldous, wie die andere sich zu einer nachtschwarzen Riesenkugel formte. Aldous hatte das schon mal gesehen. In der Gestalt konnte sie ihre Gegner vollständig umschließen, phagozytieren, wie eine Amöbe ein Nahrungsteilchen. Thurainilla wusste das. Warum machte die nichts dagegen?

"Jetzt habe ich dich gleich und ..." hörte Aldous die nun irgendwie wummerig klingende Stimme der Feindin. Dann wurde es noch dunkler. Er fühlte, wie eine starke Kraft ihn traf und durchflutete. Gleichzeitig hörte er einen vielstimmigen Aufschrei, der innerhalb einer Sekunde aus sehr weiter Ferne klang. Er hörte ein Schnauben und schmerzvolles Stöhnen, als müsse eine Walkuh gerade ihr Kalb gebären, dachte Aldous. Dann hörte er einen tierhaften, langgezogenen Aufschrei, der nicht so schnell wie die anderen Lärmquellen davongetrieben wurde. "Bei der Mittagssonne, meine Kraft durchdringt die nicht wie andere Schatten, sondern wirft die bis auf Reichweite von mir zurück", hörte er die Gedankenstimme seiner Gebieterin. "Wie immer du das machst, Schattenhexe. Wenn ich oder meine Diener deinen Bettwärmer noch mal wittern ist der fällig. Aarg!" ertönte die von Schmerzen gepeinigte Stimme einer Riesenfrau aus sehr großer Ferne, eindeutig jene der Schattenkönigin.

"Eins zu eins, Gebieterin", kommentierte Aldous Crowne den Ausgang dieser Runde.

"Ja, wohl wahr. Eine von denen hat dein heißer Ofen verbrannt, aber meine Schwester wiegt fünf dieser Unterschatten auf. Also führt diese Missgeburt der Nacht immer noch mit fünf zu eins. Solltest du ihr ohne meinen Schutz noch einmal begegnen verschwinde unverzüglich. Sie ist für Sharon zu stark. Sie würde sich in ihr ausbreiten und sie von sich absprengen", erwiderte Thurainilla, während immer noch die finstere Sphäre um sie wirkte, die aus der ewigen Dunkelheit zwischen den Sternen ihre Kraft bezog.

Im Schutze der Dunkelsphäre wechselten Thurainilla und Aldous zurück in Thurainillas Schlafhöhle. Dort verstofflichte sich Aldous zusammen mit Sharon im Licht des goldenen Kruges. Jetzt konnte er von Sharon absitzen.

"Riutillia hat dich mit ihrer Kraft angereichert. Ich denke, es ist besser, wenn ich dich auch mit ein wenig meiner Kraft anreichere, damit du zumindest vor deren Unterschatten sicher bist und ich dir womöglich noch etwas von meiner Macht über die Dunkelheit schicken kann", sagte Thurainilla. Dann befahl sie ihrem Abhängigen, sich vor ihr hinzulegen. Als sie sich dann über ihn hockte wollte er schon sagen, dass ihm diese Art von Liebesspiel nicht gefiel. Doch da wurde er von orangerotem Licht getroffen und umhüllt. Er sog es mit Mund und Nase in sich auf und fühlte, wie es ihm von innen her mehr Kraft gab. Dabei sprach seine Herrin eine für ihn unverständliche Zauberformel. Dann versiegte das über ihm ergossene Licht. "So, die kann dich jetzt auch nicht mehr so leicht einverleiben, wie sie das mit Riutillia noch geschafft hat. Außerdem bist du für sie jetzt auch nicht mehr genau zu erfassen, weil du auch meine Gabe in dir hast und nicht nur Riutillias Gabe. Ui, hat das Kraft gekostet. Am besten schlafen wir beide noch ein wenig", sagte Thurainilla. Aldous Crowne, der Schattenreiter, stimmte ihr wortlos zu.

__________

In Thurainillas Schlafhöhle, am Morgen des 19. Mai 2003 christlicher Zeitrechnung

"Ich weiß nun, meine Schwestern, warum die Nachtschattenriesin nicht von mir vertilgt oder unterworfen werden kann. In ihr steckt immer noch meine Schwester Riutillia. Sie kann zwar selbst nichts mehr tun, wirkt aber gegen mich an. Aber sie kann mich auch nicht vertilgen, weil das, was sie von meiner Schwester einverleibt hat, dagegen wirkt, dass sie mich auch noch verschlingen kann", erwähnte Thurainilla ihren wachen Schwestern gegenüber. Ullituhilia schickte zurück, ob das hieße, dass diese Nachtschattenkönigin unbesiegbar sei.

"Für dich, Ullituhilia, mag sie noch angreifbar sein, wenn es dir gelingt, sie in einem lichtlosen Raum einzuschließen, ohne dass sie daraus den kurzen Weg nehmen kann. Ich denke aber eher, dass Tarlahilia ihr beikommen kann, wenn sie genug Sonnenkraft eingesogen hat", erwiderte Thurainilla.

"Ach nein, auf einmal soll ich dunkle Wesen besser erledigen können als du, Nachtfalterschwester?" erwiderte Tarlahilia mit unüberhörbar gehässigem Unterton. Da wandte Itoluhila ein: "Vielleicht können wir beide sie einfrieren, wenn ich sie in dunklen Nebel einschließe und du diesen mit mehr Dunkelheit erfüllst. Ihre Unterschatten werden wir wohl auch so erledigen können."

"Ja, aber die sind sicher schon zu hunderten", warf Ullituhilia ein. Tarlahilia entgegnete darauf: "Nicht, wenn ihr mich mitnehmt. Dann kann ich die Unterschatten erledigen, während ihr deren Mutter bekämpft. Vorausgesetzt, unsere Nachttänzerin erkennt an, dass die Macht der Sonne größer ist als die der dunklen Leere zwischen den Sternen."

"Guck dir einfach den Himmel an, was größer ist, Tarlahilia", gedankenknurrte Thurainilla. Dass dieses Weib meine Schwester verschlungen und zu einem Teil von sich gemacht hat war ein Rückschlag. Aber es gibt sicher andere Wege, ihr den Garaus zu machen. Aber du kannst ja gerne zu ihr hin, Tarlahilia und versuchen, sie direkt anzugehen, wenn du wissen möchtest, welche Kraft größer ist."

"Eh, jetzt hört bitte damit auf!"" stieß Ullituhilia einen lauten Gedanken aus. "Sie ist unser aller Feindin, und wir sind immer noch die Töchter der großen Mutter. Wenn wir uns streiten, gewinnt dieses Schattenungeheuer. Wollt ihr das wirklich?"

"Dann wird es Zeit, dass wir Mutter aus ihrem Eierlegezustand zurückrufen, Schwestern", schickte Tarlahilia verächtlich zurück.

Thurainilla wollte antworten. Doch dann stutzte sie. Ein leises Brummen und Schnarren aus mehreren Quellen erklang, dass sie vorhin nicht gehört hatte. Sie kannte diese Art von Hintergrundgeräuschen. Die anderen hörten es wohl auch. Dann sandte Tarlahilia den zutreffenden Gedanken: "Ja, die anderen erwachen auch noch. Warten wir ab, bis sie wach sind?" Alle stimmten zu.

__________

In Birgutes Versteck, 19. Mai 2003, 05:30 Uhr Ortszeit

Sie konnte dieses dunkle Frauenzimmer nicht verschlingen oder als ihr Kind empfangen. Irgendwas in ihr wirkte dagegen. Dann wusste Birgute, was es war. Das Band der beiden Schwestern war mit der Auslöschung der Schattengleichen nicht zerrissen worden. Birgute hatte ein Teil der Schattenschwester in ihre eigene feinstoffliche Form verwandelt. Deshalb konnte sie der anderen nicht beikommen. Aber die konnte ihr auch nichts. Denn die Dunkelheit, mit der sie wohl andere Wesen durchdringen konnte, stieß sie nur zurück. Dann dachte sie, dass sie wohl eher diesen Motorradgeist vertilgen konnte, der von der Kraft der Schattengleichen erfüllt war. Doch das hatte sie versucht und nicht geschafft. Dieses tote Ding, auf dem er saß, war nicht so tot, aber auch nichts wirklich lebendiges. Deshalb konnte sie ihn nicht an sich reißen. Sie hoffte nur, dass dieser Bursche das nicht herausfand und sie ihn einmal ohne dieses Geistermotorrad treffen konnte.

Was Birgute nun ganz sicher wusste war, dass die andere noch Schwestern hatte, die verschiedene Kraftquellen nutzen konnten, darunter das Licht und die Hitze der Sonne. Diese eine Schwester konnte ihr vielleicht gefährlich werden. Doch wenn sie immer genug ihrer Kinder als Eskorte dabei hatte konnte sie diese als bewegliche Barriere zwischen sich und dieser Sonnenschwester hinstellen. Vielleicht gelang es ihr dadurch, diese zu entkräften und dann entweder von ihren Schattenkindern entseelen zu lassen oder sie selbst zu verschlingen oder sie dazu zu zwingen, ihr Kind zu werden, eine wahre Tochter der schwarzen Sonne. Ja, das mochte gelingen. Doch zunächst wollte sie genug neue Helfer haben, Schattenlose und weitere Kinder. Sicher, sie konnte jede Nacht sechs neue Kinder hervorbringen. Aber jedes davon konnte nur einen Schattenlosen zur Zeit lenken. Also galt, erst mal mehr Schattenkinder als Schattenlose zu haben und vor allem Unlichtkristalle.

__________

Im Apfelhaus der Latierres, In der Nacht vom 25. zum 26. Mai 2003

Julius sah die Sonne über sich. Sie strahlte hell und warm auf ihn herab. Er stand auf einer Blumenwiese, die er kannte. Ja, hierhin hatte Claire Dusoleils vom Körper gelöster Geist ihn geführt, um sich von ihm zu verabschieden und um ihm ihre möglichen Nachfolgerinnen zu zeigen. Was sollte er nun wieder hier? Er hatte doch eine Nachfolgerin gefunden.

Aus der Sonne selbst drang eine rotgoldene Lichtkugel hervor, die vor ihm niederschwebte und sich dabei in eine drei Meter große Frauengestalt aus Licht verwandelte, Ammayamiria. Julius konnte sehen, dass die Zwei-Seelen-Tochter Ashtarias genauso schwanger aussah wie seine Frau Millie. Dann hörte er Ammayamiria sprechen:

"Julius, ich habe Aurélies Tochter und Claires Mutter erneut in mich aufgenommen, damit ihr beide zeitgleich erfahrt, was ich euch mitzuteilen habe. Zum einen bin ich immer noch ein wenig wütend, dass Camille es riskiert hat, nach der Stärkung der dunklen Kraft durch die Kuppel brechen zu wollen. Deshalb steckt sie auch jetzt in mir, damit sie nicht auf andere solche Gedanken kommt. Gib Ruhe, Camille!" Julius konnte sehen, wie die Wölbung in Ammayamirias Körpermitte ausgebeult wurde. "Es kann nicht angehen, dass ausgerechnet die Trägerin von Darmirias Erbstück vorzeitig stirbt, auch wenn sie schon eine Tochter und zwei Enkeltöchter hat. Zudem ist es wichtig, dass ihr beide wisst, dass durch die dunkle Welle nicht nur Sardonias Kuppel verstärkt wurde, sondern auch andere dunkle Gegenstände und Wesen erweckt wurden. Darunter sind auch die bisher im Tiefschlaf gebannten Töchter Lahilliotas, sowie jene beiden, die wir damals in gemeinsamer Anrufung Ashtarias in einen unaufweckbaren Schlaf versenkt haben. Ilithulas Krug ist bei der dunklen Kraftwelle zerschlagen worden, wodurch ihr Körper mitzerstört wurde und somit ihre Seele und die in ihr ungezeugt verbliebene Seele Hallittis in einen nahebei befindlichen Körper einer ihrer Schwestern einkehrten, wo sie durch die dunkle Kraftwelle mehrere Wochen der Entwicklung von Ungeborenen übersprangen. Sie werden sich also bald wieder in der Welt befinden. Da brauchen wir, die Hüter der hellen Gefilde und Mächte, jeden lebenden Nachfahren aus Darxandrias und Ashtarias Blutlinie. Julius, du wirst natürlich fürchten, dass Hallitti sich für ihre erste Entkörperung rächen will und Ilithula weiterhin auf Ailanorars Stimme ausgehen wird. Dafür müssen sie aber erst einmal wieder zu erwachsenen Geschöpfen werden, was der Natur dieser wesen nach ein Jahr nach der Geburt vollendet sein wird. In dem Jahr solltet ihr beide, Camille und Julius, keine größeren Risiken wagen, ja am besten noch einmal Nachwuchs hervorbringen."

"Du bist lustig", hörte Julius Camilles Stimme wie aus einem verschlossenen Kellerraum. "Ich kann doch nicht Florymont dazu bringen, noch ein Kind großzuziehen, nachdem wir Chloé gerade sechs Jahre auf der Welt haben."

"Och doch, das kannst du, wenn Hippolyte Latierre dies kann", erwiderte Ammayamiria. Dann sah sie Julius von oben her an und sagte: "Du kennst Ashtarias Aufforderung. gehe darauf aus, einen Sohn zu zeugen, der mit dir zusammen die verlorene Blutlinie ersetzen soll! Sicher wirst du gerade erst auf eure dritte Tochter warten, die den schönen Namen Clarimonde bekommen soll. Doch in den nächsten Jahren solltest du auch einen männlichen Erben zeugen, der mit dir das verschobene Gleichgewicht wieder ausgleicht. Besonders dann, wenn es zum großen Krieg zwischen den Vampiren und Lahilliotas Töchtern kommen mag, will deine und meine zweite Mutter, dass genug Hüter und Widerstreiter leben, um ihren Vorstoß in die Welt zu vereiteln. Sicher, Julius, Lahilliota ist dir dankbar, dass du ihre Seele aus Errithalaias Gefangenschaft befreit hast. Das heißt aber nur, dass sie dich für sich einfordern möchte, wenn sie es für richtig hält."

"Bei aller Liebe, Ammayamiria, aber ich kann doch nicht, wo Millie gerade unser drittes Kind bekommen soll losziehen und eine andere dazu bringen, mit mir den von Ashtaria gewünschten Sohn hinzukriegen. Selbst wenn ich zu Vita Magica hinginge und mich denen als Zuchthengst anböte ..."

"Ihr, also du und die Hexe, die deinen Sohn empfangen soll, müsst es freiwillig und entschlossen angehen, nicht durch einen Liebestrank oder eine die Lust anregende Essenz oder einen magischen Zwang." Julius sah Ammayamiria an und sagte: "Sicher will Millie auch den einen oder anderen Sohn von mir haben. Aber bisher haben wir eben Töchter. Sage Ashtaria bitte, dass wir uns die Zeit nehmen, die wir nötig haben!" Als er das sagte entging ihm nicht, dass Ammayamiria ein merkwürdiges Gesicht machte, als wolle sie ihm unbedingt was wichtiges dazu sagen, dürfe es aber nicht von sich aus. Als sie merkte, dass er sie genau musterte verfiel sie in die Strenge Haltung, die dieser Traumbotschaft von ihr entsprach.

"Deine und meine zweite Mutter gibt dir gerade zwei Jahre Zeit, Julius. Sicher ist das sehr aufdringlich, was sie verlangt. Aber du hast bereits sehr viel von ihrer Kraft profitiert. Da sollte dir diese Gegenleistung leicht genug fallen. Ja, und bevor du es aussprichst, Juju, meine Mutterseele Claire ist damals für dich in mich eingeflossen, damit du dein Leben erfüllst, deine Aufgaben in der Welt erledigst und das mit der gebotenen Entschlossenheit, Lebensfreude und Zielstrebigkeit. Claire konnte dir dabei leider nicht helfen. Aber da sie ein Teil von mir ist achte ich darauf, dass du das vollbringst, wofür du dich aus Ashtarias warmem Schoß hinausgekämpft hast. Ich weiß, das ist leichter gesagt als getan. Doch ich vertraue darauf, dass du es mit der gebotenen Entschlossenheit, aber auch Freude, ja Leidenschaft und Zielstrebigkeit hinbekommst. Ja, und die Kleine da in mir drin, die meinte, mit zwei Enkeltöchtern ihren Lebenszweck schon erfüllt zu haben, hat auch eine wichtige Aufgabe. Sie muss das erfahren, was meine Mutterseele Aurélie ihr nicht mehr beibringen kontte. Der kurze Besuch in der Villa Binoche reichte dafür noch nicht aus. Sie muss den Weg fortsetzen, den sie durch den Besuch der Stadt Khalakatan betreten hat, um die dabei gewonnenen Dinge und Kenntnisse an Jeanne weitergeben zu können. Deshalb soviel zu dir, Camille. Erwische ich dich noch einmal dabei, wie du aus Überschätzung deines Erbstückes dein Leben riskierst, bleibst du für alle Zeiten da, wo du jetzt bist, genauso wie der, der seine Macht auf der Welt zurückgewinnen wollte und am Ende alle Macht und seine Freiheit verloren hat. So, und jetzt dürft ihr wieder jeder für sich weiterschlafen. Merkt euch aber ja gut, was ich euch gerade gesagt habe!"

Mit diesen Worten löste sich Ammayamiria auf, und eine völlig unbekleidete Camille Dusoleil lag auf der Blumenwiese und bibberte. Julius trat zu ihr hin und half ihr auf. "Dieses rotgoldene Frauenzimmer ist sowas von stur, klar, ein Teil von meiner Mutter, der andere aus mir selbst geboren", sagte Camille. Da erwachte Julius. Er fühlte, dass dieser Traum ihn sichtlich angestrengt hatte, als habe er einen 10000-Meter-Lauf bestritten.

"Hallo, Monju, schon wach!" grummelte Millie schlaftrunken. Julius sah auf seine Weltzeituhr, die trotz der verfinsterten Zauberkraftkuppel noch richtig ging. "Ja, ich hab wieder was geträumt, was ins Denkarium muss."

"Wie, Temmie kommt durch die Kuppel? Oder war es die Dame in Rotgold?" fragte Millie. Julius flüsterte: "Ja, die rotgoldene Dame war es. Sie hat mich daran erinnert, was Ashtaria von mir verlangt und dass ich ab heute nur noch zwei Jahre Zeit habe, das hinzukriegen, öhm, dass wir das hinkriegen, Mamille."

"Die ist echt süß", grummelte Millie. "Sicher sind da mindestens noch vier von deinen Kindern irgendwo in mir drin. Aber ich merke dass, dass es doch schwieriger ist, mit einer wuseligen Dreijährigen, einem langsam auf die Beine kommenden Kleinkind und noch einem Baby im Bauch. Gut, zwei Jahre von Clarimondes Geburt an könnte gehen. Solange Ammayamiria nicht von dir und Camille verlangt, dass sie deinen Sohn kriegen soll." Julius schluckte erst. Dann ritt ihn ein roter Frechheitswichtel. Er fragte: "Was würdest du denn machen, falls Ammayamiria Camille, dir und mir genau das empfehlen sollte?" "Ruf da bloß keinen großen Drachen, Monju. Denn sollte die das echt von dieser weißgoldenen Lichterfrau so zugeteilt kriegen, dass Camille und du ... Ich denke, Florymont hätte da sehr viel gegen und ich auch. Aber wenn die meint, in zwei Jahren bekämen wir einen Sohn, dann soll sie sehen, ob das was wird", sagte Millie noch. Julius erwähnte dann noch, dass er diesen Traum gerne in das Denkarium einfügen wollte. Millie brummelte nur, dass er das machen solle. Dann könne sie den Traum später vielleicht mal nachbetrachten.

Während Julius den Traum von Ammayamiria in das Denkarium einflößte dachte er, dass dieses mächtige Artefakt außerhalb der weißmagischen Abschirmung um das Apfelhaus wohl auch nicht funktionieren mochte.

Weil er schon mal auf den Beinen war ging er eben ins Badezimmer. Danach prüfte er so leise er konnte, ob Aurore und Chrysope friedlich schliefen. Die an ihren Betten befestigten Goldblütenhonigphiolen glommen in der Dunkelheit in einem warmen Rotgold, genauso wie das Licht, in dem Ammayamiria zu erscheinen pflegte.

Er wollte gerade ins Schlafzimmer zurückkehren, als ein Geräusch ihn zusammenfahren ließ. Es war eine Tür irgendwo im Haus! Dann dachte er, dass er doch sehr schreckhaft geworden war. Natürlich war es seine Schwiegertante Béatrice, die wohl auch noch mal ins Bad musste. So leise er konnte ging er in das Elternschlafzimmer zurück und schlüpfte neben Millie ins Bett. Diese ergriff seine Hand und legte sie behutsam auf ihren prallen Umstandsbauch. Er fühlte die Bewegungen der darin heranwachsenden Clarimonde. "Vielleicht kriegen wir drei das hin, dass sie bei ihrer Ankunft doch noch die freie Sonne sehen darf, auch wenn ihr das erst mal zu hell sein könnte", flüsterte Millie.

__________

Irgendwo im Amazonas-Urwald, am Morgen des 26. Mai Christlicher Zeitrechnung

Sie hatte sich so sehr in die verlangsamte Wahrnehmung eines majestätischen Urwaldbaumes hineinversetzt, dass sie den Ansturm belebender Kraft wie ein kurzes, erschütterndes Beben fühlte. Der in ihr gefangene, sie in der Welt haltende Geist ihres Schöpfers hatte danach kurz erheitert aufgeschrien, um dann wie von irgendwas eingeschrumpft immer höher und schwächer zu klingen. Sie fühlte, wie er von etwas umschlossen wurde, dass aus ihr selbst entstand, eine Frucht, ein Samenkorn oder dergleichen. Sie erkannte, dass sie während ihrer Wartezeit Besuch von bestäubenden Kleintieren bekommen hatte und fühlte, wie das Leben in jede Faser ihres Körpers strömte. Dann war sie wieder in der Wahrnehmungsgeschwindigkeit einer lebenden Frau angelangt, hatte mit den geistigen Sinnen um sich getastet und dabei bemerkt, dass nur eine ihrer Halbschwestern wach war. Das war die, welche schon mal versucht hatte, sie mit dunklen Wasserzaubern zu schwächen. Dann fühlte sie, wie auch anderswo immer mehr von ihren Halbschwestern aufwachten. Sie fühlte auch, dass diese trotz der großen Entfernung wesentlich stärker klangen als zuvor. Auch hörte sie einen Freudenschrei und ein lautes Lachen. "Ja, ich bin wieder groß. Danke dem edlen Spender, der mir die nötige Kraft gegeben hat!."

Die gerade in Gestalt eines großen Baumes ausharrende kannte die Stimme nicht. Offenbar war das eine von denen, die ihr noch nicht das Leben streitig gemacht hatten. So tastete sie sich behutsam an diese heran und schickte ihr ganz frei von Angst zu: "Du bist groß, meine liebe Halbschwester. Ich bin größer."

"Wer zu meiner Tante widerlichen Milchkugeln bist du denn? - Ah, du bist die falsche Schwester, die Itoluhila und Tarlahilia so schön zugesetzt hat. Stimmt, mich kennst du noch nicht. Ich bin dein Ende, Schmierblattgeschöpf."

"Und wie heißt mein Ende?" fragte jene, die gerade aus vielen Wochen Wartezustand erwacht war. "Errithalaia, die Tochter der fliehenden Zeit, du Hochstaplerin. Wenn du mir sagst, wo ich dich finde komme ich gerne vorbei und stelle mich dir richtig vor."

"Das ist die schwächste von denen, weil sie nur auf Menschen einwirken kann, in dem sie denen vorgaukelt, deren Lebenszeit schneller ablaufen zu lassen", hörte sie den in sich eingeschlossenen Geist ihres Schöpfers mit piepsiger Stimme sprechen.

"Kleiner, um mich zu belügen hast du zu viel von dir und meiner Mutter in mich hineingewirkt. Es gibt keine harmlosen von denen. Aber wenn die meint, sie könnte was, dass zwei ihrer wirklich starken Schwestern nicht machen konnten und nur diese Erdmeisterin mich fast erledigt hätte, dann soll sie ihr Glück versuchen", schickte sie ihrem gefangenen Schöpfer zurück. Dann tastete sie sich wieder vor zu jener, die sie gerade verächtlich angesprochen hatte. "Du denkst also, mit mir ohne eine deiner anderen Schwestern besiegen zu können? Dann verrate ich dir gerne, wo ich bin. Machen wir das unter uns aus, Schwester Errithalaia."

"Ich muss erst abwarten, bis meine anderen Schwestern wieder wach sind, weil ich danach zu denen hinn will", schickte Errithalaia zurück. "Ah, was immer uns gestärkt hat hat auch andere geweckt. Schön, die freie Auswahl!"

"Wusste ich es doch, dass du nur große Sprüche machst, Errithalaia", gedankenantwortete die Tochter der blühenden Leidenschaft. "Aber falls du möchtest, kann ich gerne zu dir kommen und es mit dir aushandeln, wer die stärkere ist. Was sagt denn eigentlich unsere gemeinsame Mutter dazu?"

"Die ist wohl gerade mit ihrem eigenen Kram beschäftigt. Aber die werde ich nach dir auch noch besuchen, um sie dorthin zurückzuholen, wo sie hingehört."

"Wenn ich dich nicht vorher aus der Welt verschwinden lasse, damit die ach so magische Quadratzahl wiederhergestellt ist", erwiderte jene, die ihr Schöpfer Alontrixhila genannt hatte.

"Das haben meine acht Schwestern schon versucht und nicht geschafft. Da wirst du nur durch einen kümmerlichen Menschen in die Welt gesetzter Farbklecks das auch nicht schaffen", gedankenprahlte Errithalaia. Ah, die anderen werden jetzt richtig wach. Ich melde mich wieder, wenn ich denen Guten Tag gewünscht habe."

"Gut, ich bin dann immer noch da, wenn du mich suchst", erwiderte Alontrixhila. Der in ihr gefangene Geist ihres Schöpfers kicherte belustigt. "Dauert sicher nicht lange, bis diese Zeitverdreherin dich findet und mich aus deiner Gefangenschaft befreit, damit ich endlich in die Nachwelt einkehren kann oder als freier Geist auf dieser Welt verbleiben und diese verruchten Weiber jagen kann, die mein Werk zerstört und mich dir zum Fraß überlassen haben, mein größter Fehler."

"Dafür, dass du von mir verschlungen wurdest geht es dir aber nun ganz gut. Sicher, du bist diesen leidigen kurzlebigen Körper losgeworden, der sozusagen zu einem kleinen Teil von mir wurde. Aber sonst kannst du dich doch über nichts beschweren. Du musst nicht mehr für irgendwelche merkwürdigen Leute Bilder malen und dich darum kümmern, woher du dein nächstes Essen bekommst. Das mach ich alles für dich. Also hör auf zu quängeln!"

"Ich habe dich geschaffen. Ich werde mitbekommen, wie du wieder verschwindest", entgegnete ihr der mit einer mausartigen Piepsstimme sprechende Geist ihres Gefangenen. Sie fühlte, dass er in ihrer Pflanzengestalt irgendwo an einem der gegen den Lauf der Jahreszeiten hängenden Früchte stecken musste.

__________

In Itoluhilas Schlafhöhle, am Nachmittag des 26. Mai 2003

Sie hatte erst gefürchtet mit der in ihr aufgekeimten Wiederverkörperung ihrer Dienerin und einer sich immer mehr als reine Ameisenkönigin fühlenden Mutter allein auf der Welt zu sein. Doch dann waren Immer mehr der ihr vertrauten Schwestern erwacht und hatten mit ihren Gedanken den Raum abgetastet. Dabei erfasste die Tochter des schwarzen Wassers, dass nicht nur die von ihr geweckten Schwestern wiedererwachten, sondern auch jene, die bis heute an unzugänglichen Orten und somit scheinbar unaufweckbar geschlafen hatten. Sie fühlte die Gedanken von Herintallia, der Schwester des dunklen Mondes, die irgendwo in einem Bergmassiv im Elbrusgebirge ihre Schlafhöhle besaß. Dann war da noch die Gedankenstimme von Eranilithanila, der Tochter der tödlichen Tiefen, einer ihr und Ullituhilia ebenbürtige, weil ähnlich begabte Schwester, die Itoluhilas Wissen nach mit ihrem Lebenskrug in die Tiefen des Mittelmeeres versenkt worden war, auf dass sie dort kein Mensch mehr erreichen konnte. Da sie damals versucht hatte, die Königin der Wasserleute zu werden, hatte es auch keiner der Wassermenschen gewagt, sie wieder an die Wasseroberfläche zu bringen. Ja, und sie hörte die Stimmen von Thurainilla und Tarlahilia wieder, wobei Tarlahilia ein wenig verwundert zu sein schien. Schließlich hörte Itoluhila wie in weiter Ferne die Gedankenstimme der falschen Schwester, wie sie mit Errithalaia darum wetteiferte, wer die stärkere von beiden war. Dann meldete sich Errithalaia bei den gerade wieder aufgewachten Schwestern.

"So, ich bin auch wieder da und habe meine volle Kraft und Größe zurück. Jetzt komme ich und hole euch alle zu mir, bis ich auch die Seele derer, die mich geboren hat, wieder in mich aufnehmen kann. Am besten nehmt ihr euch für die nächsten Tage nichts mehr vor. Denn ich finde euch sowieso. Dann werdet ihr alle wiedervereint sein, aber nicht mehr um mich wie damals, wo ihr diesen verdammenswürdigen Verschmelzungszauber gemacht habt, sondern in mir, wo ihr mir alle eure Kräfte überlassen werdet, damit ich dieser angeblichen Göttin der Blutschlürfer den Garaus machen kann. Ach ja, am besten fange ich dafür mit dir an, Thurainilla, weil ich deine Macht über Dunkelheit und deren Wesen ganz gut gebrauchen kann."

"Du warst und bist eine Prahlerin, Schwester Errithalaia", hielt ihr Ullituhilia entgegen. "Mit uns allen gleichzeitig kannst du es nicht aufnehmen."

"Wo ist mein Erwecker", hörte Itoluhila die ihr trotz der vielen Jahrhunderte gut vertraute Stimme Eramilithanilas. Wieso konnte ich erwachen, ohne einen Erwecker zu fühlen?"

"Die Frage wollte ich euch allen auch gerade stellen, Schwestern", erwiderte nun Herintallia.

"Ihr beide wurdet wach, weil irgendeine die Erde durchbrausende Kraft uns alle getroffen und sogar in unseren Schlafhöhlen durchdrungen hat", erwiderte Ullituhilia. Darauf gedankenlachte Errithalaia: "Ja, und die mich wieder auf meine wirkliche Größe zurückgebracht hat. Aber schön, dass ihr beide auch wieder wach seid. Dann kann ich mir auch die Kräfte von Mond und Meerestiefe einverleiben."

"Also ist diese Gierschwester auch wieder mit uns aufgewacht", grummelte Herintallia. "Ich spüre auch, dass Mutter wieder frei ist. Hat dir jemand das weggenommen, was dir nicht gehört, Errithalaia?"

"Ja, deine und meine Schwester des dunklen Wassers. Aber dafür habe ich dich bald selbst bei mir, Itoluhila. Warum sagst du nichts, Reue oder Angst?"

"Ich freue mich, dass wir alle wieder wach sind, bis auf Hallitti und Ilithula", erwiderte Itoluhila. "Ja, und wenn du genauer hinhörst, raffgierige Schwester, dann wirst du hören, dass Mutter sich offenbar mit ihrem Plan gründlich vertan hat. Sie hat wohl gemeint, eine übergroße Ameisenkönigin zu sein wäre sehr schlau, um die Blutschlürferbrut zu bekämpfen. Aber die wird immer mehr zu diesem Kerbtier, wenn wir keinen Weg finden, sie wieder zurückzuholen."

"Ja, und genau das werde ich erledigen", gedankenfauchte Errithalaia. Doch vorher werde ich das aus der Welt schaffen, was ein vorwitziger Malermeister uns aufgehalst hat. Dann ist das gleich noch leichter, eine nach der anderen von euch mit mir zu vereinigen."

"Ich habe sie gehört. Sie muss irgendwo im Urwald des südamerikanischen Erdteils sein, wo genug große Bäume herumstehen, zwischen denen sie sich vor uns verstecken konnte", erwiderte Itoluhila. Dann meldete sich Tarlahilia.

"Soll ich euch was sagen? Ich habe mich gerade abgetastet, weil ich meinen Körper anders fühlte. Offenbar hat die fremde Kraft was gemacht, dass ich gerade mit Kind bin oder gleich zwei davon in mir trage. Kann das sein, dass was immer die Welt durchrast hat auch die beiden in tiefen Schlaf gebannten aufgeweckt hat?"

"Aufgeweckt dann wohl nicht, sondern getötet und du warst näher dran als wir", vermutete Itoluhila. Ullituhilia fügte dem hinzu: "Ja, weil du meintest, in der Nähe von Ilithulas früherem Schlafplatz deine neue Höhle hinbauen zu müssen. Aber dann ist die Frage, ob du Ilithula oder Hallitti oder beide zugleich in dich reingelassen hast."

"Oh, da gratuliere ich doch mal herzlich", gedankenfeixte Errithalaia. "Mach dir um die Geburtswehen keinen Kopf, Sonnenanbeterin. Vorher sauge ich deine gesamte Lebenszeit ab und schluck eure drei Seelen runter, damit sie mit mir vereint werden."

"Sei dann froh, dass du dann nicht mehr bei mir einkehren kannst, wenn wir dich auslöschen, Errithalaia", gedankenknurrte die Tochter der schwarzen Mittagssonne. Die Aussicht, dass sie womöglich die beiden eigentlich bis in alle Ewigkeit schlafenden Schwestern Ilithula und Halliti in sich trug gefiel ihr irgendwie, meinte Itoluhila. Sollte sie den Schwestern verkünden, dass auch sie wen neues erwartete? Nein, das wollte sie dann doch noch für sich behalten.

"Wie gesagt, nehmt euch für die nächsten Tage nichts vor, meine Schwestern", gedankentönte Errithalaia noch einmal.

"Geh davon aus, dass wenn du eine angreifst auch alle anderen zu Hilfe kommen und dich endgültig erledigen", entgegnete Thurainilla.

"Grüß mir deine fleischlose Zwillingsschwester. Ihren kleinen Sohn werde ich vielleicht als meinen getreuen Helfer und Boten weiterleben lassen", entgegnete Errithalaia mit unüberhörbarem Spott. Womöglich wusste sie noch nicht, dass Riutillia nicht mehr existierte. Doch mit den nächsten Worten bewies die Tochter der fliehenden Zeit, dass ihr das bekannt war. "Ach nein, das geht ja nicht mehr, weil du sie an einen gefräßigen Nachtschatten verloren hast, Thurainilla. Tja, lange trauern musst du nicht mehr."

"Dass dich dieses Schattenweib frisst, Errithalaia", schleuderte Thurainilla eine bitterböse Gedankenantwort in den Raum hinaus. Darauf kam nur ein Lachen. Mehr war von Errithalaia nicht mehr zu hören. Dafür meldete sich die falsche Schwester bei ihnen allen. "Schön, dass ich euch alle gut verstehen kann, auch wenn ihr wohl verschiedene Sprachen sprecht. Also, Errithalaia wird mit euch im Verbund sicher eine herrliche Verstärkung für mich sein, wo sie es doch nicht alleine schaffen wird, mich zu besiegen."

"Häh? Wer zur verschlingenden Leere bist denn du?" wollte Herintallia wissen. Darauf erwiderte die falsche Schwester: "Alontrixhila, Tochter der blühenden Leidenschaft, Herrin der Pflanzen und Menschen", bekamen sie alle zur Antwort.

"Die mit viel dunkler Magie erschaffene Ausgeburt eines vorwitzigen Menschen, keine unserer wahren Schwestern", erwiderte Ullituhilia. "Ich kann sie vernichten, wenn ich rausfinde, wo sie sich aufhält. Gegen die Kräfte der Erde ist sie nicht stark genug."

"Nix da, die werde ich besiegen. Diese aus Farbklecksen bestehende Frechheit wird die erste sein, die ich mir hole. Dann seid ihr anderen fällig", tönte Errithalaia.

"Selber Frechheit", erwiderte darauf Tarlahilia. "Und selbst du kannst die nicht alleine schaffen."

"Genau, kleine Schwester. Eramilithanila und ich erledigen das. Wir versenken sie ganz tief im Boden und zerdrücken sie dann", warf Ullituhilia ein, nicht daran denkend, dass die falsche Schwester mithören mochte.

"Dann muss ich mich ja wirklich beeilen", erwiderte Errithalaia.

"Dann komm und finde dein Ende", schickte die falsche Schwester die zu erwartende Antwort. Errithalaia bestätigte es.

"Schwestern, wenn dieses falsche Geschöpf wirklich so stark ist könnte es Errithalaia vernichten und dabei ihre Kraft einverleiben", arggwöhnte Ullituhilia. "Wir müssen sie vor Errithalaia finden. Aber das geht nur, wenn wir unsere Mutter dazu bringen, unseren Richtungssinn zu verstärken."

"Dann müssen wir alle zu ihr hin", warf Tarlahilia ein. Wir treffen uns da, wo wir entstanden sind." Alle anderen bestätigten das bis auf Errithalaia, die offenbar gerade wieder in einer Gedankenzankerei mit der falschen Schwester steckte.

__________

In der großen Bruthöhle im Berg der ersten Empfängnis, gegen Abend des 26. Mai 2003

Außer Errithalaia waren sie alle gekommen. Itoluhila sah die blasshäutige, dunkelblonde Herintallia mit ihren mondlichtsilbernen Augen in demselben mitternachtsblauen Kleid mit weißen Sternchen, in dem sie sie vor der großen Jagd auf ihre Schwestern zum letzten mal gesehen hatte. Die ebenso gerade erst aufgewachte Schwester Eramilithanila sah dagegen ganz anders aus. Sie trug ein meergrünes Kleid, hatte etwas rosigere Haut als Herintallia und besaß dieselben wasserblauen Augen wie Itoluhila. Doch ihr in ausladenden Wellen bis auf den Rücken fallendes Haar war so Rot wie das verschiedener Korallen. Das Tarlahilia die gerade dazugestoßene Itoluhila ziemlich verstimmt musterte verstand die Tochter des schwarzen Wassers. Wenn stimmte, dass sie entweder mit Ilithula und/oder Hallitti schwanger ging hatte ihr Itoluhila eine ungewollte Zusatzlast aufgehalst, abgesehen davon, dass sie es gefingert hatte, dass der Erwecker Aldous Crowne nicht Tarlahilias Abhängiger geworden war, sondern von Thurainilla unterworfen wurde. Eigentlich hatte Itoluhila vorgehabt, den jungen Burschen, Claude Andrews' geheimgehaltenen Sohn, noch mit Herintallia zusammenzubringen, um auch diese früher aufzuwecken, um Errithalaias Erwachen doch noch zu verhindern. Doch das erwähnte sie besser nicht, solange nicht Tarlahilia oder die klein und zierlich gebaute Thurainilla davon anfingen. Rein äußerlich sahen sich die Schwestern überhaupt nicht ähnlich. Doch ihre Ausstrahlung, ihre körperlichen Bewegungen und ihr Mienenspiel zeigte deutlich, dass sie der selben Lebensquelle entsprungen waren.

"Eh, was habt ihr mit Mutter getan, ihr Irrsinnigen?" entrüstete sich Eramilithanila, als sie durch ein kleines Luftloch in die Bruthöhle hinuntersah, in der eine metergroße rote Ameisenkönigin über einer ausgepolsterten Mulde hockte und jede Minute ein durchschimmerndes weißes Ei aus sich hinausdrückte.

"Wir haben mit ihr nichts gemacht, Mondtänzerin", knurrte Tarlahilia. Sie deutete auf Itoluhila. "Wenn jemand ihr diesen Unsinn eingegeben hat dann wohl deine alle Jahre lang vor jedem Schergen verborgen gebliebene Schwester hier."

"Tarlahilia, ich verstehe deinen Unmut, weil du jetzt meinst, ich hätte dir Ilithula oder Hallitti in den Schoß gesteckt. Aber mit Mutters Verwandlung habe ich nichts zu tun. Das hat sie selbst unternommen, wohl, weil sie so werden wollte wie die Spinnenhexe, die Anthelias inneres Selbst in sich einverleibt hat."

"Ich will nicht abstreiten, dass eine Ameise schon ein sehr erhabenes Tier ist und als Staatenbildnerin sehr viel bewirken kann", wandte Ullituhilia ein, die der Riesenameisenkönigin beim Eierlegen zusah. Sie hofften alle, , dass in dieser noch irgendwo Wissen und Verstand ihrer gemeinsamen Mutter steckten. Sollte dieses Ungetüm von einer Kerbtierkönigin nur noch den tierhaften Trieben unterworfen sein, Mutter eines in die Tausend Einzelwesen gehenden Volkes zu werden, dann war Lahilliota womöglich unrettbar gefangen und würde es nicht einmal als Gefangenschaft empfinden.

"Vielleicht kannst du ja ihren Platz einnehmen und ihr deinen Körper überlassen, Erdwühlerin", knurrte Tarlahilia. Die wie eine afrikanische Ureinwohnerin aussehende Tochter der schwarzen Mitternachtssonne schien wirklich auf Streit auszugehen, dachte nicht nur Itoluhila.

"Hoffe darauf, dass sowas nicht nötig ist, meine nubische Sonnenprinzessin. Denn falls ja könnte es unserer Mutter einfallen, dich für deine zänkische Zunge zu züchtigen. Das willst du ganz sicher nicht erleben, vor allem, wenn du für Ilithula und vielleicht noch Halliti mitessen und -atmen musst."

"Das erheitert dich, dass du nicht von ihnen erwählt wurdest, wie, Ullituhilia?" fragte Tarlahilia. Da meldete sich Thurainilla zu Wort: "Anstatt uns hier zu zanken wie die Schwestern von Kurzlebigen sollten wir herausfinden, ob unsere Mutter noch in diesem gewaltigen Körper steckt. Vielleicht müssen wir ihr sogar helfen, wieder zur Besinnung zu kommen. Denn ich fühle im Moment nur die tierhaften Triebe, immer mehr Nachkommen auszustoßen."

"Warum habt ihr überhaupt zugelassen, dass sie so werden konnte?" fragte Eramilithanila. Sie dachte daran, was wäre, wenn sie nur noch in ihrer Tiergestalt leben konnte, einer viele Menschenlängen große Mischung aus Kopffüßler und behauste Schnecke.

"Ich sag's noch einmal, sie hat das von allein so hinbekommen. Wir konnten nichts machen, als ihren Wünschen zu folgen und ihr Männer zu beschaffen, die wir in ihre willigen Drohnen verwandelt haben, nicht wahr, Tarlahilia?" erwiderte Itoluhila und deutete auf ihre dunkelhäutige Schwester.

"Lohnt es sich nun, darüber zu streiten, wie die Sonne an den Himmel gekommen ist?" schnaubte Tarlahilia, die genau wusste, dass sie Itoluhila hier nicht widersprechen konnte. Dann sagte Thurainilla: "Rufen wir sie alle gemeinsam. Sicher merkt sie, dass wir hier sind." Dieser Vorschlag wurde von allen angenommen. So stellten sich die sechs Töchter Lahilliotas in einem Halbkreis um das Luftloch und sahen hinunter auf die Ameisenkönigin. Sie lauschten auf ihre gedanklichen Regungen. Ja, da war noch eine winzige Spur von Lahilliotas eigenen Gedanken unter all den überwältigenden Bedürfnissen. Itoluhila erkannte jedoch, dass etwas von Alison Andrews' Stimme in diesen Gedanken mitschwang, ebenso wie in den einfachen Geistesregungen der Ameisenkönigin. Wiso war deren Tonlage so deutlich? Oder vermeinte nur Itoluhila, diesen feinen Unterschied zu hören?

Die sechs Schwestern besannen sich darauf, ihre Mutter im Chor zu grüßen, wie sie es einzeln immer zu tun hatten, bevor Errithalaia geboren wurde. "Gruß dir, unsere erhabene Mutter, Geberin unseres Lebens", schickten sie gemeinsame Gedanken auf die Reise. "Gruß dir, erhabene Mutter, Herrin des Lebens!"

Zunächst erreichten sie nichts. Dann sahen sie, wie die riesenhafte Brutkönigin ihre haarigen Tastorgane nach oben streckte und sanft in der Luft kreisen ließ. Ihre sinneshaare erzitterten leicht. Dann hörten sie einen geistigen Ausruf: "Fremde über mir. Einfangen und mir bringen!"

Die sechs Abgrundstöchter erspürten, wie aus mehreren Richtungen noch teilweise menschlich denkfähige Mischwesen herankamen, jene Männer, die Itoluhila, Tarlahilia, Ullituhilia und Thurainilla im Auftrag ihrer Mutter gefangengenommen und durch eine Blutvermischung in befruchtungsfähige Drohnen verwandelt hatten. Außerdem kamen bereits fertigentwickelte Nachkommen hinter ihnen her, die weniger menschliche Gedanken ausstrahlten. Sie waren nur Dienerinnen, Soldatinnen im Volk ihrer roten Königin.

Eine der Drohnen schaffte es unterwegs, die Gestalt zu ändern und zu einem Mann zu werden, der in einem Umhang steckte und einen Holzstab in der rechten Hand hielt. "Achh, ihr seid das. Die Königin will nicht gestört werden. Sie muss Eier legen", sagte er und streckte den Holzstab in ihre Richtung.

"Arion, deine Königin ist unsere Mutter!" rief Itoluhila, bevor der erste ungesagt ausgerufene Fluch sie laut zischend am Bauch traf. In dem Moment dachte sie daran, dass dieser Wicht da, den sie persönlich überwältigt und hergeschafft hatte, ihre ungeborene Dienerin töten wollte. Sie konnte sich gerade noch beherrschen, ihn ihrerseits mit einem dunklen Eispfeil zu erledigen. Statt dessen ließ sie schwarzen Nebel aus ihren Händen aufwallen, der ihn um die Beine strich und ihn verlangsamte. Auch die anderen Drohnen gerieten in den schwarzen Dunst und konnten nicht mehr schneller laufen. Sie ließen klackernd ihre Beißzangen zuschnappen. Doch dann blieben sie im Nebel gefangen. Tarlahilia indes vollführte mit ihren Händen magische Bewegungen in Sonnenlaufrichtung. Dann deutete sie ruckartig von der Decke zum Boden. Mit leisem, tiefen Plopp entstand direkt zwischen ihr und den auf sie zurennenden Ameisenwesen eine Wand aus gleißendem goldenem Licht. Als die ersten Schlüpflinge der roten Königin dagegenstießen knisterte und zischte es. Die aus Licht gemachte Wand erzitterte, hielt jedoch Stand. "Diese Biester sind gegen meine Sonnenwand gefeit. Sie kann sie nicht lange aufhalten", knurrte Tarlahilia. Nur der schwarze Nebel Itoluhilas lähmte und bannte die Angreifer. Eramilithanila deutete auf den Boden zwischen sich und der gleißenden Lichtwand und brummte mit tiefer Stimme einige alte Worte der Erde und der bodenlosen Tiefe. Die inzwischen gegen die Lichtmauer anrennenden Ameisenwesen verstärkten ihren Sturmlaufversuch. Dann, mit einem mal, brach die Lichtwand zusammen. Tarlahilia gab einen kurzen Schmerzenslaut von sich. Die Ameisenwesen rannten mit nach hinten geklappten Fühlern voran, und sackten unvermittelt bis knapp zur Oberseite in den Boden. Sie versuchten sofort, sich aus dem schlagartig schlammartig gewordenen Untergrund freizustrampeln, blieben jedoch dadurch erst recht stecken. Allerdings reichte das immer noch nicht aus. Denn von hinten rannten noch mehr Ameisenwesen heran. Da beschwor Thurainilla eine nachtschwarze Kugel zwischen ihren Händen hervor, die auf die Angreifer zuflog und gerade noch rechtzeitig zu einer die ganze Raumbreite und Höhe ausfüllenden Zone aus undurchdringlicher Dunkelheit wurde. Doch die Ameisenwesen widerstanden offenbar dieser Macht und kamen wenn auch langsam daraus hervor, liefen über die Rücken der im Boden eingesunkenen Artgenossen hinweg und setzten ihren Vormarsch fort. So schickte Itoluhila noch einmal ihren schwarzen Nebel aus, um die Angreifer zu stoppen. Nebel und Dunkelzauber verschmolzen zu einem massiven Block aus völlig lichtschluckendem Eis. Wer dort hineingeriet saß fest. Zumindest konnten nun keine weiteren Angreifer mehr zu ihnen vordringen.

Die rote Ameisenkönigin erkannte wohl, dass jemand ihre Brut niederkämpfte, wenn auch nicht tötete. Sie stieß noch vier Eier auf einmal aus und flog dann mit lautem Gebrumm auf, um selbst die Eindringlinge anzugreifen.

Die sechs Schwestern strengten sich noch mehr an, ihre Mutter zu erreichen, bevor diese in den Nebel oder gegen den massiven dunklen Eisblock flog und vielleicht verletzt wurde. Endlich schafften sie es mit den Worten: "Erhabene Mutter, Höre und erkenne uns!", die tierhaften Regungen ihrer verwandelten Mutter zu durchbrechen und das zu erreichen, was in der roten Regentin noch an Lahilliotas Geist vorhanden war.

Zunächst verlangsamte die rote Regentin ihren Flug durch die Gänge hin zu den sechs Eindringlingen. Dann landete sie und lauschte mit ihren Gedankensinnen. Dann erwiderte sie in Gedanken: "Ich höre euch, meine Töchter. Ich erkenne euch. Ah, Eramilithanila und Herintallia, ihr seid auch erwacht? Schön. Doch wo ist die widerspenstige, meine jüngste Tochter. Ist sie zu feige, sich mir zu zeigen?"

"Sie sucht die falsche Schwester, erhabene Mutter. Du erinnerst dich sicher noch an diese Ausgeburt Pickmans, die es geschafft hat, in der Wirklichkeit zu verbleiben", erwiderte Itoluhila, während die anderen nur noch die Melodie der Anrufung summten, mit der sie ihre Mutter doch noch erreicht hatten. Dann sagte Herintallia:

"Etwas starkes und übermächtiges hat uns alle getroffen und durchflossen. Es war so stark, dass ich ohne einen Erwecker aufwachen konnte, erhabene Mutter. Dass du dich in eine übergroße Ameise verwandelt hast erfuhr ich erst bei meiner Ankunft hier."

"Ihr habt meine neuen Kinder, mein Hilfsvolk gelähmt. Warum?" wollte Lahilliota wissen. Itoluhila hätte fast gefragt, ob sie diese Frage wirklich ernstmeinte. Da antwortete Tarlahilia: "Dein anderes Ich hat sie uns entgegengeschickt, um uns zu fangen oder zu töten. Da mussten wir sie selbst fangen, was sehr schwierig war."

"Gut, dann macht, dass sie wieder frei laufen können! Ganz schnell!" Dröhnten Lahilliotas Gedanken in den Köpfen der sechs Schwestern. Da es ein unmittelbarer Befehl war konnten sie nicht anders als gehorchen. Denn der Gehorsam ihrer Mutter gegenüber war ihnen schon vor der Geburt ins Blut eingeflößt worden. Nur Errithalaia hatte ihn nicht aufgebracht, weil sie durch ihr eigenes Wachstum die Kräfte ihrer Mutter in sich aufgesogen hatte. Doch nun sprach da eine Willenskraft, die aus zwei vereinten Seelen stammte, erkannte Itoluhila.

Eramilithanila, Thurainilla und Itoluhila kehrten die Wirkung der von ihnen ausgeführten Elementarkräfte um. Die im Boden eingesunkenen Ameisen kamen wieder frei und richteten sich blitzartig auf die sechs äußerlich menschlichen Ziele aus. Die im Nebel feststeckenden gewannen langsam ihre Beweglichkeit zurück, und die im dunklen Eis eingefroreren erzitterten, um wieder aufzutauen. Ein nur per Duftstoffwolke erteilter Befehl ihrer Brutmutter ließ die ganzen Ameisenwesen zurückweichen. Nur der in menschlicher Gestalt verbliebene Arion Vendredi zielte mit seinem Zauberstab auf Itoluhila. "Du hast meine Königin angegriffen, mich und meine Mitgeschöpfe festgesetzt. Dafür stirbst du jetzt, Eishexe!"

"Einhalt!" hörten die Schwestern und wohl auch alle zu worten fähigen Wesen im Umkreis. Das war wieder Lahilliotas Stimme. "Keine meiner Töchter stirbt, schon gar nicht von deiner Hand, Arion. Steck deinen Zauberstab fort und werde wieder zum ergiebigen Befruchter!" Befahl Lahilliota rein geistig.

"Meine Königin, ich muss die da ...", wimmerte Arion mit hörbarer Stimme. "Die da hat dich zu mir geführt und dir die große Kraft ermöglicht, mein treuer Gefährte zu sein. Los, werde wieder mein ergiebiger Befruchter!" Arion Vendredi erzitterte unter der Kraft des ihm erteilten Befehls. Dann ließ er sich gehorsam auf Knie und Hände sinken und wand sich in Krämpfen, die seine Verwandlung begleiteten. Als er genauso wieder eine menschengroße Ameisendrohne mit Flügeln war zog er sich von alleine zurück. Denn die entsprechende Duftstoffbotschaft hing noch für die Verwandelten wahrnehmbar in der Luft.

"Die Kraft, die uns alle überflutet hat, muss mich in meiner neuen Körperform so heftig getroffen haben, dass ich nur noch davon berauscht war, weitere Nachkommen zu haben. Und euch, Herintallia und Eramilithanila hat sie aus dem langen Schlaf geweckt, ohne dass ein menschlicher Erwecker in eurer Nähe sein musste. Ah, ich erkenne, dass du Tarlahilia, mindestens eine meiner entkörperten Töchter in deinem Schoß trägst, vielleicht sogar beide von meiner besserwisserischen Schwester in den tiefen Schlaf versenkten Töchter. Fühl dich geehrt, sie wieder ans Licht bringen zu dürfen! - O und ich wittere, dass du, Itoluhila, meine Befreierin, ebenfalls ein neues Leben in dir trägst. Vielleicht ist es die zweite von meiner verwünschenswerten Schwester in Tiefschlaf gebannte Tochter. Dann fühl auch du dich geehrt, dass du ihr ein neues Leben geben darfst!"

"Wie, diese Fischfrau ist auch schwanger?" ereiferte sich Tarlahilia. Itoluhila fühlte, wie sie errötete. Offenbar hatte ihre Mutter die Gabe der Lebensausstrahlungssicht auch in ihrer Tiergestalt behalten oder konnte es mit ihren haarigen Fühlern aus der Luft auffangen, wenn eine Menschenfrau ein Kind in sich trug.

"Tja, diese starke Woge hat wohl alles an Leben aufkeimen lassen, was von unserer erhabenen Mutter erzeugt wurde", erwiderte Itoluhila nach einigen Sekunden entschlossen. Sollten die anderen doch denken, sie trüge Hallitti oder Ilithula neu aus. Dann würden sie ihr bis zur anstehenden Niederkunft nicht mehr so gehässig kommen.

"So seid alle bedankt, dass ihr den Weg zu mir gefunden habt. Doch geht schnell los und haltet Errithalaia auf, bevor sie etwas tut, was wir alle bereuen werden! Denn ich fühle, dass sie und die von diesem Frechling Pickman in die Welt gesetzte falsche Tochter schon einander nahen. Geht nun und sucht sie! Haltet sie davon ab, mit dieser zu kämpfen! Wie auch immer dieser Kampf ausgehen mag, es wird nicht zu unserer Freude sein."

"Und was wirst du tun, erhabene Mutter?" fragte Eramilithanila. "Ich werde weiterhin unser neues Hilfsvolk vermehren, solange ich noch viele befruchtete Eier in mir trage. Wenn diese alle ausgetrieben sind rufe ich euch noch einmal zu mir. Sollte dieser Ruf in drei Monden noch nicht erklingen kommt erneut zu mir und holt mich aus dem Rausch der Vermehrungslust zurück!" befahl ihrer aller Mutter. Dann hob diese wieder vom Boden ab. Der Lärm der wild wirbelnden Flügel hallte schmerzhaft in den Ohren der treuen Töchter wider.

"Also los, suchen wir die kleine Zeitverdreherin!" trieb Tarlahilia ihre Schwestern an. Itoluhila fühlte sich bei diesem Aufruf etwas zurückgestuft, wo sie doch die meisten hier erst wieder aus dem langen Schlaf zurückgeholt hatte. Doch offenbar empfand sich Tarlahilia wegen der ihr aufgeladenen Last als neue Sprecherin. Gut, ob das so blieb würde die nahe Zukunft zeigen. Itoluhila war jedoch besorgt, dass sie dann wirklich nach hinten gedrängt wurde, wenn die anderen wussten, dass sie keine der zwei vermissten Schwwestern austrug.

Auf zeitlosem Weg verließen die sechs den Berg der ersten Empfängnis und ließen ihrer aller Mutter mit sich und der von ihr erwählten Natur zurück. Jede für sich lauschte auf Regungen Errithalaias. Als sie endlich was von ihr verspürten, wussten sie, dass der Kampf schon begonnen hatte.

__________

Mitten im Urwald Südamerikas, am Mittag des 26. Mais 2003

Alontrixhila fühlte, wie sie nach ihr tastete, diese einfältige Kreatur, die Errithalaia genannt wurde. Sie wollte sie sicher nicht unterschätzen. Aber durch die Vorwarnung hatte sie, Alontrixhila, genug Zeit, sich auf die anstehende Auseinandersetzung vorzubereiten.

"Ja, du bist nicht mehr weit weg, meine Schwester", gedankensäuselte Alontrixhila. Sie hatte sich in ihre Menschliche Erscheinungsform zurückverwandelt, eine überirdisch schöne Frau mit dunkelbrauner Haut, ebenholzschwarzem Haar und blattgrünen Augen. Weil ihr Schöpfer sie unbekleidet gemalt hatte und sie wegen andauernder Flucht und Versteckspiele keine Zeit hatte, sich eine ihr gefallende Kleidung zuzulegen war sie froh, gerade in einem feuchtheißen Urwald zu sein.

"Ah, da bist du ja", hörte sie eine erfreute Gedankenstimme. Da erschien aus dem Nichts eine andere Frau in einem nachtschwarzen Kleid. Sie war hochgewachsen, hellhäutig und besaß hellblondes Haar. und smaragdgrüne Augen. Alontrixhila fühlte sofort, dass sie eine starke Ausstrahlung besaß, genau wie die anderen, die sie schon zu erledigen versucht hatten.

"O, schön hat der Pinselschwinger dich hingekriegt, wohl wwahr. Aber eine echte Schwester bist du nicht", sagte die aus dem Nichts erschienene auf Englisch.

"Stimmt, wir sehen uns nicht ähnlich genug. Aber ich bin jetzt eine von euch, ob dir und deinen anderen aus Lahilliota entkrochenen Schwestern das gefällt oder nicht. Ich bin hier und bleibe."

"In zwanzig Sekunden bist du entweder ganz weg oder ein kleiner Teil von mir selbst", erwiderte die blonde Frau. Sie konzentrierte sich schon. Alontrixhila fühlte, wie sich etwas um sie zusammenzog und versuchte, ihr Kraft zu entziehen. Der in ihr eingeschlossene Geist ihres Schöpfers quiekte mit seiner mausähnlichen Stimme: "Ja, tilge dieses Unweib um mich herum, damit ich wieder frei bin."

Alontrixhila blieb erst ganz ruhig stehen, während die andere sich sichtlich anstrengte, die von ihr ausgehende Kraft aufrechtzuhalten. Sie keuchte und erbebte. "Wieso kannst du sowas?" keuchte Errithalaia.

"Mädchen, ich habe die Eis- und die Sonnenschwester überstanden. Da bist du für mich keine Herausforderung", provozierte die künstlich entstandene Meisterin über Menschen und Pflanzen. Sie fühlte, wie ihr von den umstehenden Pflanzen wieder Kraft zufloss.

"Dann eben so!" hörte sie Errithalaia, als diese merkte, dass ihre Gegnerin nicht um Jahrzehnte alterte und verging. Sie richtete sich zur vollen Größe auf und konzentrierte sich wohl auf eine andere Kraft. Da verwandelte sie sich auch schon in einen großen schwarzen Käfer mit je vier goldenen Punkten auf jedem Flügel. Die behaarten Fühler des mehr als menschengroßen Kerbtieres richteten sich genau auf die Gegnerin. Diese fühlte, wie die Luft um sie erbebte und etwas sie zusamnenzudrücken versuchte. Aus dem Boden strömte ihr Hitze in den Körper. Der in ihr steckende Geist ihres Schöpfers quiekte: "Eh, was wird das jetzt. Oha!"

Um Alontrixhila herum begannen die ersten Bäume immer kleiner und dünner zu werden. Also machte dieser Riesenkäfer, dass von ihm betroffene immer jünger wurden, ob Pflanzen oder denkende Wesen. Eigentlich sollte das wohl sie betreffen. Doch weil sie ihre Lebenskraft mit den umstehenden Bäumen verbunden hatte leitete sie die ihr zugedachte Bezauberung auf diese um. Der vor ihr fliegende Käfer wippte im Fluge und schien mit der Auswirkung seines Angriffs nicht so recht klarzukommen.

"Mädchen, du hättest dich erkundigen sollen, wer ich bin. Andere sind schon daran gescheitert, dass sie mich derartig verkannt haben", sagte Alontrixhila.

"So, ich schaffe dich nicht? Dann eben auf blutige Weise", zischte ihr der vor ihr fliegende Käfer zu und stieg nach oben, um sich von dort auf die Feindin herabzustürzen. Doch diese sog mit einem Atemzug die Kraft der noch nicht vollständig in Samenkörner zurückverwandelten Schößlinge ein, sowie der noch unbetroffenen voll ausgewachsenen Bäume. Dann ließ sie diese Kraft regelrecht in sich auseinanderstreben. Sie wurde innerhalb von einer Sekunde mehr als drei Meter groß. In der nächsten schon sechs und dann zwölf, und dann mehr als dreißig Meter. Der über ihr zum Sturzflug ansetzende Riesenkäfer war nun gerade mal so groß wie ihr daumen. Mit einer schnellen Fangbewegung schnappte ihre rechte Hand zu und hielt den relativ kleinen Käfer fest umschlossen. Alontrixhila hörte die wütende Stimme der Gegnerin: "Verwünscht sei dieser Pickman! Wieso kannst du das auch noch?"

"Pass mal auf, was ich noch alles kann", erwiderte die zur Überriesin gewachsene Herrin der blühenden Leidenschaften, öffnete ihren Mund ganz weit und schnippte den gefangenen Käfer hinein. Sofort schloss sie ihren Mund wieder und beförderte das nun wild herumzappelnde Insekt in ihren Schlund. Sie musste sich sichtlich anstrengen, das um seine Freiheit und sein Leben kämpfende Kerbtier hinunterzuwürgen. Doch aus den umstehenden Bäumen gewann sie die nötige Kraft. Schließlich schaffte sie es, das gegen seine Vernichtung ankämpfende Insekt gänzlich hinunterzuschlucken. Sie hörte nun die lauten Aufschreie der von ihr einverleibten. "Nein, das ist nicht möglich. Schwestern helft mir!"

Als Alontrixhila fühlte, dass ihre Beute den Weg in ihren Magen vollendet hatte dachte sie ihr zu: "Warum sollten sie dir helfen, selbst wenn sie es könnten?"

"Das war dein Ende, Alontrixhila", hörte sie die Gedankennstimme der verschlungenen. Dann vergingen vier bange Sekunden. Dann erfolgte ein lauter Aufschrei. Alontrixhila fühlte, wie ihr unbändige Kräfte zuflossen, während die von ihr verschlungene Gegnerin nur noch vor Schmerzen schreien konnte. Dann spürte die Pflanzenherrin, dass sie nicht alleine war. Vor ihr, für sie gerade winzig klein, erschienen mehrere fliegende Wesen, die von der Ausstrahlung her wie Errithalaia sein mussten. Sie sah einen flachen Fisch mit flügelartigen Flossen, eine Fledermaus, einen schwarzen, behaarten Falter mit einem dünnen Rüssel und eine ebenso schwarze Heuschrecke mit stacheln an den beiden vordersten Beinen. Als die sie anfliegenden Geschöpfe sahen, dass ihre Gegnerin wesentlich größer als sie selbst war und ihre Hände zu einer rein körperlichen Abwehrbewegung hob fühlte Alontrixhila, wie der Boden unter ihren Füßen immer weicher wurde. Die fliegenden Angreifer zogen sich schnell zurück. Alontrixhila erkannte vor ihr auf dem Boden etwas wie eine Schnecke, die jedoch mehrere Fangarme besaß, auf denen sie sich spinnengleich fortbewegen konnte. Das Mischwesen aus Schnecke und Kopffüßler hatte seine Augen genau auf die Stelle gerichtet, wo Alontrixhilas Füße waren. Diese sanken immer tiefer in den Boden wie in Schlamm. Da war ihr klar, dass sie gerade in eine für sie unangenehme Lage geraten war. Zwar hatte sie Errithalaia wohl besiegt, weil diese es nicht vermocht hatte, aus ihrem Leib heraus zu verschwinden oder was anderes zu machen, um ihr noch einmal zu entkommen. Aber eine von denen, die da jetzt aufgetaucht waren, konnte den Boden aufweichen. So sank sie immer tiefer ein. Ihre Füße verschwanden bereits im Boden. Da hörte sie in sich das schrille Lachen Errithalaias. "Hach, jetzt wirst du doch erledigt, und ich werde deine überhebliche Seele in mich einsaugen, wenn dein Körper zerstört ist."

"Das wollen wir doch mal sehen", dachte Alontrixhila und bückte sich so schnell es bei ihrer Körpergröße ging. Die von ihr verdrängte Luft fegte als heftiger Windstoß in alle Richtungen und blies die fliegenden Angreifer aus der Bahn, bevor der schwarze Falter seinen langen Rüssel in ihre Haut bohren konnte. Mit einem Griff hatte sie das grüne Mischwesen aus Schnecke und Kopffüßler an einem Arm gepackt und hochgerissen. Sollte sie es auch noch verschlucken und den darin wohnenden Geist einer weiteren Halbschwester in sich einschließen? Nein, am Ende verschmolzen Errithalaias Seele und die ihrer Schwester und wurden ihr zu stark. Also holte sie weit aus und schleuderte das aufgelesene Tier weit nach oben und von sich fort. Sie hörte noch einen lauten Aufschrei. Im gleichen Moment fühlte sie, wie der weiche Boden hart wurde. Ihre Füße steckten zwar noch fest. Aber sie konnte sich immer noch mit Knien, Hüften und Oberkörper in verschiedene Richtungen bewegen und die sie anfliegenden Feindinnen bekämpfen. Den Nachtfalter hätte sie fast zwischen ihren zusammenschlagenden Händen zerdrückt, wenn der nicht im letzten Moment die Flügel angezogen und sich in die Tiefe hätte fallen lassen. Die Fledermaus war schier unzerstörbar. Das merkte Alontrixhila, als diese ihre Krallen in ihre Haut bohrte und ein fester Schlag der zur Überriesin gewordenen die Gegnerin nicht verletzen konnte. Sie atmete tief ein und sog damit aus den sie umstehenden Bäumen soviel Kraft heraus, dass sie damit die in sie gekrallte Fledermaus von sich lösen konnte und sie mit ganzer Kraft auf einen nahebei stehenden Baum zuschleuderte. Mit lautem knall schlug die Fledermaus in den Stamm des Baumes und drang bis zu ihren Hinterbeinen darin ein.

Der Falter flog inzwischen wieder schnell wie ein Pfeil auf sie zu. "Dann eben ich. Ich sauge dir deine Seele aus dem verbotenen Körper", hörte Alontrixhila eine sehr entschlossene Stimme. "Au ja, saug ihr das Leben aus und nimm mich in deinen Schoß auf, damit ich wieder einen Körper kriege, meine Schwester!" hörten sie beide wohl Errithalaias Stimme. Doch Alontrixhila dachte nicht daran, ihre Seele aufsaugen zu lassen. Sie veränderte einfach ihre Gestalt und wurde zu einem über dreißig Meter hohen Urwaldbaum. Der Rüssel des Nachtfalters kam nicht durch die um ein vielfaches härtere Rinde hindurch. Da bebte die Erde und bekam breite Risse. Alontrixhila fühlte, wie die zu Wurzeln gewordenen Füße wieder in den Boden einsanken und ihr Stamm bis zu einem bestimmten Maß folgte. Dann schloss sich um sie die Erde wieder, versuchte wohl, sie zu zerdrücken. Doch das gelang nicht, weil sie einfach zu groß und zu fest war. Da war ihr klar, wie sie in Zukunft gegen jede der Töchter Lahilliotas bestehen konnte. Sie würde einfach nur groß genug werden. Das ging aber nur dort, wo sie genügendgroße Pflanzen und freien Himmel über sich hatte. Also blieb ihr am Ende nur, in diesen Wäldern zu wohnen, ohne Aussicht, andere Länder und vor allem Menschen zu erkunden. Doch im Moment war für sie nur wichtig, diesen Kampf zu überleben. Denn die Gegnerinnen wollten nicht aufgeben. Also musste sie ihre Wartehaltung aufgeben. Doch wie kam sie wieder aus dem Erdspalt frei?. Da fiel ihr ein, dass die Töchter Lahilliotas sich durch Gedankenkraft in Nebel verwandeln konnten. Das würde aber nur was bringen, wenn sie gegen andere Gegner anging. Denn die mit Eis vertraute Tochter konnte sie dann sicher im Flug einfrieren. Nein, das musste anders gehen. Ja, so ging es vielleicht. Sie konzentrierte sich und ließ noch einmal die Kraft verschiedener Urwaldbäume in sich einschießen. Dann wünschte sie sich hundert Meilen von hier fort, auf eine andere Lichtung, die sie in den letzten Tagen erkundet hatte. Es gelang. Sie verschwand im ganzen und ließ die Luft mit einem solchen Getöse zusammenschlagen, dass es wie eine Sprengstoffexplosion klingen musste. Der Nachtfalter, der gerade wieder versuchte, seinen Rüssel durch ihre Rinde zu bohren wurde genauso wie der fliegende Fisch im Sog der zusammenschlagenden Luftmassen herumgerissen und aus der Bahn geworfen. Das bekam Alontrixhila schon nicht mehr mit.

Als sie am Zielort erschien fühlte sie, dass Errithalaias Geist in ihr Bewusstsein einzudringen versuchte. "Dein Körper ist mächtig und deine Zauberkraft überragend. Das werde ich mir jetzt alles ... Aarg!" Alontrixhila hatte nur einen konzentrierten Gedanken denken müssen, "Werde zum Samenkorn!" Dieser von Pickman in sie eingearbeitete Zauber machte, dass jeder fremde Geist, der in ihren Körper einzudringen versuchte oder wenn ein lebendes Wesen sich mit ihr geschlechtlich vereinigte, zu einem Samenkorn verdichtet wurde, dass sie bei sich behalten oder irgendwo aussäen konnte. Sie hörte noch, wie Errithalaia wieder laut aufschrie, bevor ihre Stimme winzig und leise klang.

"Bedauerlich, dass ich deine besonderen Kräfte nicht in mich einfügen kann, Mädchen. Aber du bist mir einfach zu frech. Dafür darfst du nachher wieder an die Luft und für mich wachsen und blühen", dachte Alontrixhila. Dann prüfte sie, ob die anderen ihren neuen Standort mitbekommen hatten. Im Augenblick suchten die wohl nach ihr. Sie fühlte die nach ihr tastenden Gedankenfühler. Deshalb beeilte sie sich, noch einmal den Standort zu wechseln. Genau zwischen fünf noch größeren Baumriesen fand sie genug Platz, um sich hinzustellen. Dann wurde sie wieder zur riesenhaften Menschenfrau.

"Das gibt es nicht. Das wusste ich nicht, dass ich das mit in das Bild ..."zeterte der von ihr beherbergte Geist Pickmans. "Werde zum Samenkorn, Hironimus Pickman!" dachte Alontrixhila. Der Gedankenbefehl erreichte Pickman und ließ ihn vor Schreck aufschreien. Dann klang seine Gedankenstimme nur noch winzig und leise.

Alontrixhila fühlte es unangenehm in ihrem Unterleib, als habe jemand dort einen festen Gegenstand hineingeschoben. Sie wusste jedoch, was das war und war nicht beunruhigt. Im Gegenteil. Sie ging zu einer kleinen, lichten Stelle zwischen den Urwaldbäumen und hantierte an sich selbst, bis sie erst ein rundes und dann noch ein längliches Samenkorn aus sich herausgezogen hatte. Mit in sie eingewirkter Übung pflanzte sie die zwei Samenkörner mehrere Schritte voneinander entfernt in den Boden und besang sie mit Zaubern des gesunden Wachstums. Dann verschwand sie von diesem Ort, um etwa zehn Kilometer von ihrem ersten Standort entfernt anzukommen. "So, ihr rauflustigen Schwestern. Den kleinen Mistkäfer habe ich sicher verstaut, wo er mir weiterhin den nötigen Halt in der Welt gibt. Das kann und das werde ich mit jeder anderen von euch auch machen, jetzt wo ich weiß, wie das geht. Also lasst mich in Ruhe leben. Der urwald und die Menschen an seinem Rand gehören ab heute mir, Alontrixhila, der Tochter der blühenden Leidenschaften. Erfasse ich noch einmal eine von euch anderen in diesem Urwald, geht sie denselben weg wie Errithalaia. Jeder neue Angriff bringt mindestens einer von Euch die ewige Gefangenschaft."

"Du hast unsere Schwester nicht getötet, sondern in dich eingeschlossen. Das heißt, du musst sie wie ein vom Mann empfangenes Kind austragen und wiedergebären, so unsere Gesetze", drang die Gedankenstimme einer der Schwestern an ihren Geist.

"Was du nicht sagst, Wassertreterin", erwiderte Alontrixhila. "Willst du es wirklich selbst erleben, wie ich deine Schwester verstaut habe? Entweder, ihr nehmt es hin, dass es mich gibt und ich nicht mehr weggehe, oder ich nehme euch hin und gebe jeder von euch eine neue Richtung!"

"Jetzt wissen wir, wo du bist und erledigen dich", hörte sie eine andere Abgrundstochter grummeln.

"Wie gesagt, Sonnenstrahlbiegerin. Jeder neue Angriff macht, dass von euch eine weniger da ist. Ich hätte mir zwar gerne eure Kräfte einverleibt, musste jedoch merken, dass eure Seelen zu stark sind, um sie länger als nötig zusammen zu lassen. Lebt euer Leben und lasst mich das meine leben."

"Ich habe dich gefunden", hörte sie die Stimme einer anderen. Da stand sie auch schon aus dem Nichts vor ihr, die mit der Begabung für Erdzauber. Alontrixhila schnellte unvermittelt wieder in die Höhe. Da sie gerade menschliche Gestalt hatte sah das schon sehr erschreckend aus. Sie warf sich vor und tauchte nach der gerade daumenlangen Gegnerin. Sie bekam sie gerade noch zu fassen, bevor unter ihr die Erde aufbrach. "So sei es noch eine von euch", zischte Alontrixhila und riss ihre Hand hoch, um die für sie gerade winzige Feindin ebenfalls lebendig zu verschlucken. Doch diese hatte das wohl mitbekommen und löste sich in weißen Dunst auf, der von einer Windböe erfasst und davongetragen wurde. Etliche Meter entfernt wurde die Feindin zu jener schwarzen Fangheuschrecke mit Flügeln. Als solche flog sie schneller als eine jagende Libelle davon, wobei sie wilde Haken schlug, um nicht angezielt zu werden.

"Noch eine, die es drauf anlegt?!" schickte Alontrixhila eine provokante Frage in den Raum hinaus. Doch es kam keine Antwort. Das deutete sie so, dass sie besser schnellstmöglich von hier verschwand und woanders Wurzeln schlug, und das wortwörtlich.

Immerhin hatte sie eine der achso unverwüstlichen Mitschwestern besiegt, ohne sie zu töten. Die anderen würden sich nun dreimal überlegen, sie noch einmal anzugreifen. Sie hoffte, dass sie jetzt erst einmal Ruhe hatte.

__________

Auf dem Berg der ersten Empfängnis, wenige Minuten nach dem Kampf im Amazonas-urwald

Die sechs Schwestern sahen einander an, als sie auf dem Gipfel des mächtigen Berges standen, in dessen Höhlen gerade ein vielzähliges Volk herangebrütet wurde. Ullituhilia zitterte noch ein wenig. Tarlahilia, die als menschengroße Fledermaus in einen Baumstamm eingeschlagen war, stierte ungläubig auf den Boden. Nur mit vereinten Kräften hatten ihre Schwestern sie aus dem Baum herausziehen können. Doch ihr Kopf brummte immer noch wie ein aufgescheuchtes Hornissennest. Die Sonne hier oben tat ihr jedoch gut. Ihre Strahlen waren für sie wie ein kräftigendes Essen.

"Wie kam dieser Malerknecht darauf, eine Gestaltwandlerin zu malen, die mal eben turmhoch werden kann und sich dabei immer noch sehr schnell bewegt. Und wieso konnte die als Baum den kurzen Weg gehen?"

"Aus demselben Grund, warum auch wir in unserer Zweitgestalt den kurzen Weg nehmen können", warf Eramilithanila ein. "Ich habe beim Aufprall auf dem Boden mindestens sechs in mich aufgenommene Leben verloren. Ich hatte nur noch sieben, zum dreimal verfluchten Schoß unserer Tante Ashtaria. Ich muss erst neue Leben erbeuten."

"Dürfte dir nicht schwerfallen, Korallenhaar", meinte Tarlahilia dazu. Ullituhilia keuchte noch: "Die hätte mich fast runtergeschluckt. Dann hätte ich wohl nicht mehr den kurzen Weg nehmen können."

"Sie wird in diesen Wäldern bleiben, Schwestern. Sie zieht die Kraft aus den Bäumen. Deshalb konnte sie sich so schnell vergrößern und sicher auch Errithalaias Kräften widerstehen. Ich dachte immer, dass niemand das könnte", seufzte Itoluhila. Die anderen nickten ihr zu. Bis heute hatten sie gedacht, die jüngste ihrer Schwestern sei die mächtigste und gefährlichste. Doch die hatte heute ihre Meisterin gefunden. Der einzige Trost war, dass dieses Baumweib sie nun neu austragen musste, und dass Errithalaia sicher noch vor der Geburt versuchen würde, ihrer Wiedergebärerin das Leben schwerzumachen. Da sagte Ullituhilia: "Die muss keine von uns neu austragen. Die hat unsere jüngste Schwester nicht mehr bei sich gehabt. Das konnte ich noch spüren, bevor ich machen musste, mich in Dunst aufzulösen, damit die mich nicht auch noch verschluckt."

"Moment, dann hat sie Errithalaia wirklich irgendwo hingestellt oder was?" wollte Tarlahilia wissen. Ullituhilia nickte.

"Sie hoffte wohl darauf, meine ... arg ... neunte Tochter werden zu dürfen. Aber das ... arg ... kann sie sofort wieder vergessen", keuchte Lahilliota unter den aufeinanderfolgenden Krämpfen des Eiablagevorgangs. "Wenn wir einen Weg ... mmpf .. Weg finden, sie doch noch zu besiegen ... aarg ... soll sie sterben und für alle Zeiten vergehen. Vielleicht werden das meine neuen Kinder erledigen, von denen ich gerade welche in die Welt setze", fügte Lahilliota noch hinzu. Dann verlangte sie von ihren wahren Töchtern, das weitere Vorgehen zu beschließen.

"Kümmern wir uns erst um die, die wir einschätzen und bekämpfen können, die Blutschlürfer und ihre Abgöttin", bestimmte Thurainilla. Alle anderen grinsten sie an. Thurainilla hatte bei den Langzähnen den Ruf der gnadenlosen Vertilgerin weg, weil sie mit Dunkelheit und den davon abhängigen Wesen herumwerkeln konnte. Sie bedauerte nur, dass sie die neuartigen Nachtschatten und deren Herrin nicht so leicht unterwerfen konnte.

Als Itoluhila in ihre Höhle zurückgekehrt war dachte sie an alles, was ihr in den letzten Tagen geschehen oder mitgeteilt worden war. Sie war als erste wieder aufgewacht, weil sie genug Abhängige hatte, deren Kraft sie wieder aufwecken konnte. Ähnlich war es Ullituhilia und Tarlahilia ergangen. Die dunkle Kraft hatte die bisher in ihr eingeschlossene Seele ihrer längstlebenden Dienerin mit einem neuen Körper umhüllt und gleich drei Schwangerschaftsmonate überspringen lassen. Ähnliches war Tarlahilia widerfahren. Die zwei bisher nicht erweckten Schwestern waren ohne Erwecker wiedererwacht. Dafür war ihre jüngste Schwester Errithalaia von einer falschen, aber ungleich mächtigeren Schwester besiegt worden. Was sollte sie von Alontrixhila halten. War sie jetzt die gefährlichste Feindin überhaupt, oder hatte die einfach nur dazugehören wollen? Wenigstens war die gierige Errithalaia eerst einmal außer Gefecht, wo und in welchem Zustand sie gerade war. Zumindest war sie nicht in eine der anderen Schwestern eingekehrt um von dieser neu ausgetragen zu werden. Ihre Rangstellung als Beschützerin der freien Prostituierten Sevillas und Granadas war noch sicher. Aber je weiter sich die da in ihrem Bauch entwickelte, desto unsicherer würde sie sein. Drohte dem schwarzen Engel die vorzeitige Abberufung? Nein, dafür hatte sie zu lange gearbeitet und zu viele Abhängige erschaffen, um diese von ihr aus verantwortungsvolle Stellung zu erreichen. Womöglich musste sie Maruja zu ihrer Statthalterin machen und ihr über Gedankenbotschaften oder Zauberkraftinfusion die nötige Macht geben, die Casa del Sol und die freischaffenden Straßendirnen zu beschützen. Immerhin hatten ihre neuen Kundschafter im Marinegeheimdienst die gewünschte Meldung gemacht, dass die drei notsüchtigen Burschen einfach nur desertiert waren und nun hofften, unerkannt im Ausland weiterzuleben. Mit Chris Maxwell, dem Motorradfahrer von damals, wollte sie in den nächsten Tagen Kontakt aufnehmen, bevor sie sich mehr mit der in ihr heranwachsenden Dienerin befassen wollte. Vielleicht, falls ihre Mutter nicht wieder zu sehr in tierischen Instinkten versank, konnte die es einrichten, dass ihre bisherige Dienerin als Ausgleich für Errithalaia aufwachsen konnte, als erste Enkelin der Meisterin des Lebens. Ja, das war doch auch eine interessante Vorstellung, fand Itoluhila.

__________

In Tyches Refugium, 27. Mai 2003, 19:30 Uhr Ortszeit

"Es ist wohl amtlich, dass die Abgrundstöchter bestärkt aus der dunklen Entladung hervorgegangen sind. Eine meiner neuen Kontakte in den Orient teilte mir vor drei Stunden mit, dass die vom blauen Morgenstern wohl versucht haben, diese dunkelhäutige Dämonin namens Tarlahilia festzunehmen, die jedoch mit ihrem magisch aufgeladenen Abhängigen der Festnahme entgangen sei. Einer der Morgensternbrüder sei dabei so schwer verletzt worden, dass sie ihn für mindestens eine Woche in einen Diptamtank einschließen mussten, damit seine verbrannten Körperteile sich wieder erholen können", berichtete Anthelia ihren Mitschwestern bei einer spontanen Versammlung im neuen Hauptquartier. Dann legte sie nach: "Ja, und wie mir Schwester Alicia vor fünf Stunden mitteilte soll es im brasilianischen Urwald einen Kampf zwischen weiblichen Dämonen gegeben haben. Schwester Alicia, erzählst du uns allen bitte, was du mir erzählt hast?"

Alicia erwähnte, was ihr Kontakt zu einem Ureinwohnerstamm dort berichtet hatte. Er erwähnte zwei Dämoninnen, die sich gegenseitig bekämpft hätten und eine von der anderen gefressen worden sei, worauf diese zur Herrin über alles grüne geworden sei, aber zwei jungen Kriegern auch als überragend schöne Frau begegnet und ihnen durch den Liebesakt die Besinnung geraubt haben soll. "Was heißt, dass diese falsche Tochter, die Pickman gemalt haben soll, eine der echten Abgrundstöchter im Kampf besiegt und sie dann mit Leib und Seele verschlungen hat. Will sagen, eine der echtenTöchter gibt es nicht mehr. Aber die anderen sind alle wach, weiß ich von meinem Kontakt zu den Töchtern des grünen Mondes. Ob diese vermaledeite Veelabrütige das echt so gewollt hat?"

"Ladonna oder wer?" fragte Alicia. Anthelia bestätigte, dass sie Ladonna Montefiori meinte. "Die hat mit was immer den Drachen mit dem Basilisken, ach was, einer Zenturie von Basilisken ausgetrieben. Der einzige Trost ist, dass diese Abgrundsdirnen sie genauso jagenund töten würden wie jeden anderen Widersacher." Aber das, so wussten sie hier alle, war ein sehr sehr schwacher Trost.

__________

Brief von Laurentine Hellersdorf an Millie und Julius Latierre vom 27. Mai 2003

Hallo Millie und Julius.

Madame L'eauvite, zu der ich gütigst auch Madeleine sagen möchte, möchte sich noch einmal für die Eintrittskarte zum Alizée-Konzert bedanken. Das war für sie eine ganz neue Erfahrung, zu sehen, wie junge Menschen der magielosen Welt ihre Unterhaltungsmusik verehren, sagt sie. Aber sie schickt euch sicher noch selbst eine Nachricht über einen der Digekas.

Wir hatten einen richtig schönen Mädelsabend aus drei Hexengenerationen. Ich stelle immer wieder fest, wie unterschiedlich Schwestern sein können, wenn ich mich erinnere, wie Madame Faucon so drauf ist und wie humorvoll Madeleine ist. Die konnte was die Energie und Freude angeht den jungen Küken wie mir noch glatt was vormachen, wahnsinn! Nur bei dem Stück "Mich ... Lolita" hat sie sehr ernst geguckt. Dafür hat sie dann beim Stück "Was ein junges Mädchen träumt" gestrahlt wie ein Honigkuchenpferd. Als das Stück "Ich hab's satt" lief bat sie mich, ihr hinterher den Text und falls möglich eine Erläuterung der in dem Stück erwähnten Bildnisse zu liefern.

Als wir die Künstlerin mit unseren VIP-Karten hinter der Bühne treffen konnten hat sich Madeleine auch ein Autogramm geben lassen. Alizée hat Madeleines Regenbogenkleid und den frühlingsgrünen Schal bewundert. Ich habe mir für dich und Millie auch eine Karte mitgeben lassen. Die möchte ich euch aber gerne persönlich geben, wenn das wieder geht.

Claudine war jedenfalls hin und weg, dass wir, die Oma im bunten Kleid, ich im Muggelmädchenkostüm und sie im schicken blauen Kleid so gut angekommen sind und war nachher total müde. Da hat mir Madeleine erklärt, dass sie bei dem Lolita-Lied deshalb so vergrätzt geguckt hat, weil die Magielosen das daran hängende Buch offenbar nicht gründlich genug gelesen hätten oder gar nicht kennen, dass sie immer noch jedes offen und entschlossen mit dem Erwachsenwerden umspringende Mädchen, das ältere Männer zu umgarnen versucht, als Lolita bezeichnen. Es sei eher so, dass die elfjährige Lolita eher das Opfer von fortgesetzter Kindesvergewaltigungen gewesen sei. Ich muss das Buch echt selbst lesen. Doch wenn das echt darum geht weiß ich jetzt, warum meine Mutter mich das nicht hat lesen lassen.

Ich hoffe, Julius, du bist nicht all zu traurig, dass du nicht mit dabei sein konntest. Ich hoffe vor allem, dass das mit der dunklen Kuppel behoben werden kann und eure dritte Tochter gleich nach der Geburt die warme Sonne genießen kann.

Noch einen schönen Tag euch allen

Laurentine

__________

Im Sonnenturm Worakashtaril in der Mojavewüste, 28. Mai christlicher Zeitrechnung, gegen fünf Uhr morgens

Dargarrian hatte die meiste Zeit verschlafen, obwohl Dardarias innere Geräusche so laut waren, dass er schon Angst hatte, nicht mehr hören zu können. Immerhin hatten sämtliche Sonnenkinder in Gedanken mit ihm gesprochen. Die, die dasselbe erlebt hatten wie er, machten ihm Mut, dass er das überstehen würde.

Irgendwie hatte er sich an diesen Zustand gewöhnt, immer gut umschlossen zu sein, nicht atmen und nicht essen zu müssen. Als es dann ruckartig immer enger wurde hatte er Angst, er könnte zerdrückt werden. Sie stöhnte. Das klang dort wo er war schon unheimlich. Sie merkte wohl auch, dass er Angst hatte. Deshalb gedankensprach sie zu ihm: "O, das wird dir gerade einen Schrecken eingejagt haben, Dargarrian, aber ich fühle, dass es jetzt losgeht. Wir stehen das jetzt zusammen mit Faidaria und deinem Vater Yantulian durch, und dann freuen wir uns alle, wenn du bei uns bbist."

"Warum haben unsere Ureltern das getan? Warum konnten wir nicht einfach über die Weltenbrücke zu den Vorausgegangenen hinüber?" gedankenfragte Dargarrian, während sich seine lebende, sehr enge Behausung wieder etwas entspannte.

"Damit das Wissen von ihnen und uns nicht zerstreut oder vernichtet wird", hörte er Dardarias Stimme. In wohl kurzer Zeit würde er sie nur noch Mami nennen dürfen, weil sie den Körper ausgetragen hatte, in dem er neu leben sollte.

Dann wurde es wirklich anstrengend, Eng, beängstigend, Laut und Schmerzhaft. Dardarias inneres Nest drückte ihn immer weiter hinaus, durch die viel zu enge Verbindung zwischen ihrem Körperinneren und der ganz großen Welt. Er betete in Gedanken zum großen Vater Himmelsfeuer, dass dies das letzte mal sein würde, dass er diese Qual durchlebte. Doch er wusste ja schon, dass er mit seiner Entstehung als Sonnensohn dazu bestimmt war, immer und immer wieder zurückzukommen, vielleicht selbst einmal der Sohn eines Mannes zu werden, den er irgendwann selbst mit einer Frau ins Leben rufen würde.

Es wurde heller um ihn, er fühlte auch eine gewisse Veränderung am Kopf. Gerade eben hatte er sich mühsam einmal halb gedreht, um irgendwie durchzukommen. Und dann passierte es. Dardarias inneres Nest stieß ihn kraftvoll weiter. Sein Kopf geriet in etwas kaltes aber leichtes hinein. Dann folgten seine Schultern. Dardaria schrie laut. Sie musste auch sehr große Schmerzen haben. Dann, mit einem letzten Ruck und einem letzten lauten Aufschrei Dardarias, kam er frei. weiche, ganz große warme Hände, stützten seinen Kopf und zogen ihn ganz frei. Brrrrr, war das kalt. Dass er dieses Gefühl schon kannte wusste er nur, weil er schon mal Hitze und Kälte erlebt hatte. Wäre er eine ganz neue Seele hätte er diesen Eindruck von dem, was alle die Welt nannten, wohl als ersten großen Schrecken erlebt. Der zweite große Schreck war, dass etwas in seiner Brust schmerzte. Er wusste nicht, was das sollte. Eher aus einem körpereigenen Bedürfnis stieß er was von der Flüssigkeit aus, die ihn bisher sicher umhüllt hatte. Dann sog er kräftig das leichte Zeug in sich ein, in das er hineingeraten war und stieß völlig ungewollt einen lauten, schrillen Schrei aus, den ersten Schrei seines zweiten Lebens. Die, die ihn hielt, lachte, zusammen mit der, aus deren Leib er gerade herausgedrückt worden war. Dann fühlte er, wie ihm jemand die letzte mit Dardaria gehaltene Verbindung einfach so zuband und dann einfach abtrennte. Ihm wurde einen Moment schwindelig. Er versuchte, das Schreien zu unterdrücken. Doch es gelang ihm nicht. Sein Körper wollte seinen Verdruss über das alles hinausschreien. So ließ er es sich gefallen, dass er hochgehoben wurde und dann auf etwas warmes, sich langsam hebendes und wieder senkendes abgelegt wurde. Ja, hier war es ihm wieder Warm genug und vor allem, es war etwas, was ihm gut tat. Er schaffte es, nicht mehr zu schreien und ruhiger ein- und wieder auszuatmen. Wie schnell würde er das Luftholen für einfach so ablaufend empfinden? Darüber wollte er nicht nachdenken. Im Moment war er froh, zu leben. Ja, er war froh, wieder da zu sein, Dargarrian, Yantulians und Dardarias erster Sohn.

ENDE

Nächste Story | Verzeichnis aller Stories | Zur Harry-Potter-Seite | Zu meinen Hobbies | Zurück zur Startseite

Seit ihrem Start am 31. Oktober 2020 besuchten 1510 Internetnutzer  diese Seite.