UNTER DER DÄMMERKUPPEL

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

E-Mail: hpfan@thorsten-oberbossel.de
http://www.thorsten-oberbossel.de

Copyright © 2020 by Thorsten Oberbossel

__________

P R O L O G

Die Unehrlichkeit des Baustreckenbegehers Henri Dubois löst eine Kette dunkler Ereignisse aus, welche die magische und nichtmagische Menschheit nachhaltig beeinträchtigen können. Sardonias einstige Erzrivalin Ladonna Montefiori, die je eine grüne Waldfrau und eine Veela in der Ahnenlinie hat, kann über den von ihr geschmiedeten Ring Besitz von Henri Dubois Verlobter Rose Britignier ergreifen und sie dazu bringen, ihren von Sardonia in Versteinerung gebannten Körper aus dem Meer zu bergen. Mit Roses jungfräulichem Blut kann der Bann gebrochen und Ladonnas Körper wiederbelebt werden. Die Wiedererwachte holt sich ihren Ring zurück und erfährt dadurch alles aus der Gegenwart der magielosen Menschen. Danach schafft sie sich ein Hauptquartier in Norditalien und nimmt Kontakt zu den Nachfahrern der früheren Hexenschwesternschaft der Feuerrose auf. Außerdem sinnt sie darauf, den durch Hydrablut zum übermächtigen Wesen verwandelten Vampir Heptachiron zu töten, um dessen Meister Iaxathan einen mächtigen Diener abzujagen. Doch weil zu dieser Zeit auch die aus vielen hundert Vampirseelen zu einem mächtigen Geisterwesen verbundene Gooriaimiria um die Vorherrschaft über die Vampire kämpft gelingt es dieser, den bei Heptachirons körperlichem Ende freiwerdenden Geist des Vampirs an sich zu reißen. Dabei versucht Iaxathan, der auf seinen schattenhaften Knecht Kaharnaantorian hofft, die Seele Heptachirons einzufangen und gerät dadurch selbst in Gooriaimirias Sog. Sie verleibt ihn sich ein, ohne dass er wie der Geist eines Vampirs in ihrem Seelenverbund zerfließt, aber nun ewig in ihr gefangenbleiben muss. Kaharnaantorian versucht, Iaxathans dunkles Artefakt, das Auge der Finsternis, zu übernehmen. Dabei löst er jedoch dessen Selbstvernichtungsvorkehrung aus. Bei dieser Selbstvernichtung wird eine Unmenge dunkler Magie frei, die als dunkle Entladungswelle um die ganze Welt brandet. Dadurch werden auch alle dunklen Zauber in den Ankerartefakten um Millemerveilles wiederbestärkt, welche Sardonia damals wirkte, um eine von ihren Feinden undurchdringliche Kuppel aus Zauberkraft zu errichten. Nun ist die Kuppel beinahe undurchlässig für Sonnenlicht und strahlt zudem eine Magie aus, die jeden Licht- und Feuerzauber blockiert. Die eingeschlossenen Bewohner sind auf magielose Mittel zum Feuermachen angewiesen. Nur Camille Dusoleil kann bis zu einer völlig überstürzten Aktion von acht Zauberern die Kuppel während der Tagesstunden verlassen. Doch als die acht Zauberer bei ihrem Fluchtversuch sterben und ihre Seelen in die Kraftquellen der Kuppel einfließen kommt auch die Hexe aus der Linie Ashtarias nicht mehr hinaus. Nur über magische Fernkopiervorrichtungen kann noch Kontakt mit der Außenwelt gehalten werden. Außerdem zeigt sich, dass die dunkle Entladungsfront auch schlummernde Horkruxe angeregt hat, darunter einen verschollen geglaubten Silberdolch Sardonias, der sich aussuchen kann, in wessen Händen er erscheint. Die Dorfbewohner hoffen, durch genug nichtmagisches Licht, sowie eine Beibehaltung ihres bisherigen Lebens der Kraft der Kuppel zu trotzen. Millie Latierre, die als Reporterin für die Temps de Liberté schreibt, berichtet in einer Fortsetzungsreportage über das Leben unter der schwarzmagischen Kuppel. Die bange Frage lautet: Wie lange können die Eingeschlossenen die Lage durchstehen, und welche dunklen Erbschaften Sardonias warten noch auf ihre Enthüllung?

__________

Paris am Morgen des 30. Mai 2003

Im Zaubereiministerium Frankreichs tagte der von Ministerin Ventvit begründete Kriesenstab "Dämmerkuppel". Sie hatte diesen Namen gewählt, weil ihr der Titel von Mildrid Latierres Fortsetzungsreportage so griffig und passend erschien. Dem Krisenstab gehörten außer ihr noch Ausbildungsleiter Descartes, Familienstandsverwalter Lagrange, der durch die Verdunkelung der Kuppel von seiner Familie abgeschnittene Strafverfolgungsleiter Chevaillier, Finanz- und Handelsabteilungsleiter Colbert und der Gesamtleiter der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe Beaubois an. Zudem hatte sich Ornelle Ventvit dazu bereitgefunden, Nathalie Grandchapeau als Vermittlerin zwischen magieloser und magischer Welt in diesen Krisenstab einzuberufen. Denn Nathalies Mitarbeiterinnen konnten über die angeschafften Computer zu anderen Fachkräften für dunkle Zauberei, besonders das US-amerikanische Marie-Laveau-Institut, schneller Kontakt halten als über Posteulen. Das war zumindest die offizielle Begründung. Inoffiziell ging es Ornelle und Nathalie eher darum, die in Millemerveilles eingeschlossenen Fachkräfte aus ihrer misslichen Lage zu befreien.

Als die protokollgemäßen Förmlichkeiten ausgetauscht waren und die aus vier Punkten bestehende Tagesordnung vorgelesen worden war hob Midas Colbert seinen Arm zu einer Wortmeldung. Ornelle sah ihn an und nickte ihm zu.

"Bevor wir die hier dargelegten offiziellen Punkte einzeln besprechen möchte ich Ihnen allen mitteilen, dass ich mich zu meinem größten Bedauern dazu veranlasst fühle, Ihnen mitzuteilen, dass die Finanzabteilung unseres Zaubereiministeriums eine fortgesetzte Unterstützung der Einwohnerschaft Millemerveilles nur noch bis zum 30. Juni dieses Jahres gewährleisten wird. Diese zeitliche Beschränkung, so sehr Sie alle diese auch zurückweisen mögen, begründet sich aus der Notwendigkeit, andere, nicht minder wichtige und notwendige Vorhaben und laufende Ausgaben weiterhin unterstützen zu können, ohne die Goldvorräte des Ministeriums unverantwortbar zu erschöpfen. Ich wies bereits vor zwei Wochen auf diese Möglichkeit hin und erinnerte Sie alle daran, dass wir bei allen bereits beschlossenen Tätigkeiten und weiteren Vorhaben darauf abzielen müssen, diese möglichst kostenarm und möglichst zeitnah zu verwirklichen. Soweit ich mich erinnern kann bestätigten Sie alle meinen Einwand und stimmten darin überein, dass eine möglicherweise monate- oder jahrelange Unterstützung Millemerveilles nicht möglich sein würde. Nach eingehenden Beratungen mit meinen Mitarbeitern steht fest, dass die bisherige Finanzierung der Hilfsmaßnahmen eben nur noch bis zum 30. Juni 2003 aufrechterhalten werden kann. Bitte haben Sie dafür Verständnis!"

"Moment, Midas", begann Familienstandsabteilungsleiter Lagrange, "wir haben aus den begüterten Zaubererfamilien Frankreichs und nicht nur Frankreichs eine großzügige Unterstützung erhalten. Inwieweit wurde diese in Ihre Finanzplanung einbezogen?"

"Insofern, dass sie half, unseren Anteil auf ein zur Deckung aller anderen nicht minder notwendigen Ausgaben vertretbares Maß senken zu können. Allerdings ist auch unter der Annahme, dass die von Privatseite erfolgenden Zuwendungen in gleicher höhe fortgesetzt werden unstrittig, dass wir diese Unterstützung nicht über einen weiteren Monat hinaus aufrechterhalten können", entgegnete der Finanzleiter. Er sah in die verdrossenen und zum Teil sehr besorgten Gesichter seiner Kollegen. Dann legte er noch nach: "Außerdem können wir nicht garantieren, dass die privaten Zuwendungen in der gleichen Höhe fortgesetzt werden und wir mögliche Engpässe ausgleichen müssen. Das könnte sogar zu einer vorzeitigen Einstellung der bisherigen Zahlungen führen. Da Ministerin Ventvit keine Veranlassung sieht, die vom Handel und den Dienstleistern erhaltenen Gewinnanteile zu erhöhen und zudem eine Art Verpflichtung zur Unterstützung auszusprechen bleibt mir als für die Verwaltung und Verwendung ministerieller Einkünfte zuständigen Abteilungsleiter eben nur, die Zahlungsdauer zu begrenzen. Wenn uns bis dahin nicht gelingt, entweder eine von Madame Faucons Maßnahmen durchzuführen stehen wir Ende Juni an einem Punkt, wo wir uns entscheiden müssen, ob wir Millemerveilles aufgeben oder lieber das Gesamtgefüge der französischen zaubereiverwaltung gefährden. Im Moment ist es ja so, dass durch die am 9. Mai versuchte Flucht von acht Eingeschlossenen die magische Kuppel über Millemerveilles noch undurchlässiger geworden ist. Es steht zu befürchten, dass weitere Todesfälle in deren Wirkungsbereich die Undurchlässigkeit derart verstärken, dass auch die in den letzten Wochen so gepriesenen Fernverständigungsmittel versagen werden."

"Midas, nichts für ungut, aber wie wir die Gefahr der Kuppel werten liegt in der Zuständigkeit der Strafverfolgungsabteilung", musste sich Belenus Chevallier einschalten. Sein Kollege Lagrange bat ums Wort und wandte ein, dass eine offizielle Aufgabe Millemerveilles das schlechteste aller Signale sein würde, da in jenem Dorf viele Verwandte von französischen Hexen und Zauberern lebten. Solange dort noch ein Mensch am leben war musste alles getan werden, um diese Menschen am Leben zu halten. Belenus Chevallier nickte sehr heftig.

"Wie erwähnt, ich bin mir absolut im klaren, dass Ihnen meine Feststellung nicht behagt", ergriff Colbert wieder das Wort. "Aber wenn wir jetzt dauerhaft ein Gutteil unserer Einkünfte in die Aufrechterhaltung dieser sogenannten Luftbrücke und die Ausgleichszahlungen an die privatwirtschaftlichen Unternehmen leisten, in denen Hexen und Zauberer arbeiten, die derzeit nicht ihre übliche Arbeit verrichten können, dann bricht uns am Monatsende die gesamte Haushaltsführung dieses Jahres zusammen. Von den Auswirkungen auf den Haushalt 2004 möchte ich gar nicht erst anfangen. Und bevor Sie es sagen, Kollege Beaubois: Wir haben bereits eine Million Galleonen mehr Schulden bei den Kobolden von Gringotts, dass wenn wir noch mehr Gold von ihnen leihen müssen, die nächsten zehn Jahre mehr Rückzahlungen leisten müssen, als Jahreseinkünfte erzielt werden. Die Herren Kobolde sind sich ihrer Machtstellung durchaus bewusst und haben mir die Zusage der einen Million Galleonen zusätzlicher Goldmittel nur bewilligt, wenn ich die Tilgung mit zwei Zehnteln des geliehenen Goldes Zinsen vollziehe. Je mehr wir uns von denen leihen steigt dieser Zinswert. Ich möchte nicht wissen, Wie Sie alle reagieren, wenn ich Ihnen vorrechnen muss, was durch die Tilgung der Schuldenlast an Mitteln entgeht."

"Wo Sie es von den Familien haben, Kollege Colbert", setzte Ausbildungsleiter Descartes an, "so haben Madame Faucon und Ich es mit Hilfe von Miroir Magique und Temps de Liberté hinbekommen, dass alle für Beauxbatons anfallenden Mittel ausschließlich aus privater Hand bezahlt werden und der ministerielle Anteil zur Finanzierung des Schuljahres 2003/2004 auf null gesenkt werden kann. Gut, jetzt werden Sie garantiert sagen, dass dieser Anteil sowieso bei nur einem Tausendstel des Jahreseinkommens aus allen Handels- und Dienstleistungsabgaben lag. Aber immerhin waren das soweit ich nachrechnen durfte im letzten Jahr an die hunderttausend Galleonen, zumal sich Beauxbatons bereits vor mehr als zweihundert Jahren damit durchgesetzt hat, den überwiegenden Anteil der eigenen Finanzierung aus privaten Mitteln zu bestreiten, um seine Unabhängigkeit von den Zaubereiministerien der französischsprachigen Zaubererwelt zu wahren. Abgesehen davon besteht demnächst, wenn das Schuljahr beendet ist, die Notwendigkeit, die aus Millemerveilles Stammenden Schülerinnen und Schüler bei lebenden Verwandten unterzubringen, die derzeitig noch nicht auf die Versorgung zusätzlicher Kinder und Jugendlicher eingerichtet sind. Wollen Sie diesen Leuten dann sagen, dass sie ihre Nichten, Neffen oder Enkel unbekleidet hungern lassen sollen?" wollte Lagrange wissen.

"Das war mir sofort klar, dass vor allem Sie mir damit kommen, ich wollte die betroffenen Kinder und Jugendlichen verhungern lassen, Lucian", entgegnete Midas Colbert. "Doch dann möchte ich Sie auch gerne daran erinnern, wie viele hier tätige Mitarbeiter keinen Lohn mehr erhalten, uns hier eingeschlossen, wenn meine Abteilung keine ausreichenden Goldmengen mehr vorhalten kann. Dann verhungern nicht nur die aus Millemerveilles stammenden Kinder und Jugendlichen, sondern auch alle anderen in Beauxbatons lernenden Kinder und Jugendlichen, einschließlich jener Eltern und Anverwandter, die von uns ihren Lohn erhalten und daher von uns abhängig sind. Das wollen Sie garantiert nicht wirklich, Monsieur Lagrange."

"Messieurs, bevor wir uns hier in einer unüberschaubaren Gefühlswallung verlieren bedanke ich mich bei Monsieur Colbert für seine klare, wenn auch sehr schmerzhafte Feststellung", schritt die Ministerin ein, bevor Colbert sich weiter mit Lagrange und anderen streiten konnte. "Wir sollten also unsere Anstrengungen verstärken, die Unterstützung Millemerveilles aus Privatmitteln zu fördern. Ich denke, es ist angebracht, jenen, die in den von Madame Faucon und Ihnen, Lucian und Cicero, begründeten Fond zur Unterstützung Millemerveilles einzahlen, weiterführende Anreize zu bieten, um die Spendenbereitschaft aufrechtzuerhalten. Außerdem müssen die Spenden nicht notwendigerweise in Gold und Silber erfolgen, sondern können auch in Sachleistungen oder zur Abstimmung der Maßnahmen nötigen Arbeiten geleistet werden. In diesen Punkten hoffe ich da vor allem auf sie beide, Cicero und Lucian, dass Sie mit Hilfe Ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine solche Förderung vermitteln und umsetzen können. Was die von Monsieur Colbert dargelegte Frist angeht wäre es augenblicklich höchst unzuträglich, wenn die Öffentlichkeit davon erführe. Denn das hieße, dass die französische Zaubererschaft davon ausgeht, dass wir Millemerveilles bereits verlorengeben, nicht erst nach Ablauf der erwähnten Frist. Wie sich diese Auffassung auswirkt muss ich Ihnen allen sicher nicht erklären."

"ja, das würde nämlich heißen, nichts mehr für Millemerveilles auszugeben, weil das ja hieße, gutes Gold schlechtem hinterherzuwerfen", brachte es Nathalie Grandchapeau auf den Punkt. "Oder auch, Gold in einen bodenlosen Schacht hineinzuwerfen, ohne zu hören, wie es auf dem Grund landet. Deshalb sollten wir die offiziellen Tagesordnungspunkte auch so klären, dass in der Öffentlichkeit nicht der Eindruck aufkommt, wir könnten nichts mehr für Millemerveilles tun. Ich darf in diesem Zusammenhang noch einmal daran erinnern, dass eine vorzeitig eingestandene Niederlage fast zur Machtübernahme durch wahnhafte Elemente wie den sogenannten Unnennbaren geführt hätte und auch Sardonias Vorherrschaft über ein ganzes Jahrhundert ermöglicht hat. Wenn durch die uns alle betreffende Entladungsfront dunkler Zauberkraft Sardonias Kuppel ihre ganze, finstere Ursprungskraft zurückgewonnen, ja sogar verstärkt hat, dann warne ich davor, so zu tun, als sei das nur ein Problem von Millemerveilles. Also sollten wir alles daransetzen, die Einwohnerschaft Millemerveilles' so lange mit allen nötigen Mitteln zu unterstützen, bis wir entweder eine Möglichkeit umsetzen können, die dunkle Kraft aus der Kuppel zu vertreiben oder die Bewohner Millemerveilles zu evakuieren oder in einen langfristigen Zauberschlaf zu versenken, den wir jedoch irgendwann wieder beenden können sollten."

"Nathalie, ich habe mit Ihrem Mann schon einige heftige Diskussionen um das Für und wider dieser oder jener Goldaufwendungen geführt", grummelte Colbert. "Aber was ich ausgeführt habe ist keine bloße Festlegung, sondern gründet auf einer ausführlichen Untersuchung. Das heißt, am 1. Juli 2003 stehen wir vor der Entscheidung, weiterhin die Firmen zu bezahlen, bei denen Bürger aus Millemerveilles arbeiten und damit andere Ausgaben versiegen zu lassen oder klarstellen, dass von unserer Seite keine weitere Unterstützung mehr geleistet werden kann. Das heißt doch nicht, dass es nicht genug freiwillige Initiativen gibt, um die Bewohner Millemerveilles zu unterstützen."

"Madame Grandchapeau erwähnte es bereits, Midas: Wenn wir auch nur im Ansatz die Auffassung schüren, wir gäben Millemerveilles auf oder hielten eine Unterstützung der dort eingeschlossenen nicht mehr für möglich oder gar sinnvoll, dann werden auch andere so zu denken und zu handeln beginnen. So bleiben eben nur die Umsetzung mindestens eines Vorschlages von Madame Faucon oder die vollständige Evakuierung der Gemeinde Millemerveilles bis zum 30. Juni 2003. Können wir uns darauf verständigen?" sprach die Ministerin zu den Mitgliedern ihres Krisenstabes. Sie erhielt von allen ein zustimmendes Nicken.

Die vier weiteren Tagesordnungspunkte betrafen die Zusammenfassung der Ereignisse nach Verstärkung der dunklen Kraft in der einstmals reinen Schutzkuppel, sowie die Lieferung weiterer Hilfsgüter über die eingerichtete Luftbrücke, als auch die Einrichtung von Fernarbeitsplätzen mit Hilfe von Distantigeminus-Kästen und abschließend noch die Verlesung von Anfragen und Anregungen, wie die in Beauxbatons lernenden Kinder und Jugendlichen aus Millemerveilles nach dem laufenden Schuljahr die Ferien verbringen konnten. Hierfür sollte aufgestellt werden, welche Verwandte die Unterbringung von einem zusätzlichen Mitbewohner aus eigener Tasche bezahlen konnten und bei welchen eine dringende Unterstützung angeraten war. Colbert und Lagrange wandten ein, dass es bedauerlicherweise auch Hexen und Zauberer gebe, welche es ausnutzen wollten, sich zusätzliches Gold zu verschaffen, wenn sie damit drohen konnten, ihre offiziellen Anverwandten aus Beauxbatons nicht altersgerecht und mit der gebotenen Fürsorge unterzubringen. Bei einigen wirkte es abschreckend, dass Madame Faucon und Bildungsabteilungsleiter Descartes eine regelmäßige Überprüfung der Lebens- und Unterbringungsverhältnisse forderten, zumal gerade bei jenen, die gerade das erste Schuljahr überstanden, Heimweh und Sorgen um die in Millemerveilles verbliebenen Anverwandten zu unbeherrschbaren Angst- und Wutausbrüchen führen konnten, die deren Verwandte nicht überblicken oder möglichst gewaltlos bewältigen könnten. Hier habe sich jedoch die psychomorphologische Abteilung der Delourdesklinik bereiterklärt, ambulante Hilfe zu leisten, ohne das Ministerium um Gold bitten zu müssen, brachte Lucian Lagrange ein. "Wir dürfen es nicht unterschätzen, dass Kinder und auch in den Wallungen der Pubertät lebende Jugendliche sehr große Angst haben, entweder allein zu bleiben oder sich als unerwünschte Last zu sehen. Daher gilt es, diesen jungen Mitgliedern unserer Gemeinschaft die nötigen Hilfen zu geben, wobei die betroffenen Menschen jedoch eine gewisse Entscheidungsfreiheit behalten sollten, welche Hilfe sie von wem für wielange beanspruchen. Ebenso gilt es, deren Verwandte darauf vorzubereiten, dass sie auch die nötige Zeit aufwenden, mit ihren minderjährigen Verwanten über deren Sorgen und Bedürfnisse zu sprechen. Ich weiß von mindestens drei älteren Ehepaaren, deren eigene Kinder schon längst aus dem Haus sind oder die bisher auf eigenen Nachwuchs verzichtet haben und daher keinerlei Erfahrungen mit Kindern und Jugendlichen besitzen. Es klingt leider einfacher als es ist, einen jungen Menschen bei sich aufzunehmen. Essen und ein warmes Bett alleine reichen nicht aus. Aber das kann und werde ich innerhalb meiner Abteilung abstimmen", sagte Lucian Lagrange. Ministerin Ventvit sah ihm an, dass er sehr betrübt war. Sie erinnerte sich auch daran, dass er im dunklen Jahr unter Pétains Imperius-Fluch gestanden und dessen höchst widerwärtigen Vorhaben unterstützt hatte, auch und vor allem die Unterbringungen ganzer Familien in jenen Gefangenenlagern, die Didier euphemistisch als Friedenslager bezeichnet hatte. Von der Schuld an viel Leid hatten sich die zu diesen Maßnahmen gezwungenen nie wirklich erholt. Daher konnte sie sehr gut verstehen, dass Lucian Lagrange nicht noch einmal den Vorwurf riskieren wollte, Kinder in grausame Verhältnisse geraten zu lassen. Wie heftig musste ihn also Colberts Ultimatum getroffen haben?

Als die Fürs und Widers der von Madame Faucon erwogenen Maßnahmen diskutiert worden waren und noch einmal vereinbart wurde, dass die magische Öffentlichkeit nichts von Colberts Ultimatum erfuhr wandte sich Madame Grandchapeau noch einmal an Colbert. "Da wir jetzt erörtert haben, wie wir weitere Fernarbeitsplätze einrichten können besteht durchaus die Gelegenheit, den Arbeitgebern zu vermitteln, dass sie die bisher gewährte Ausgleichszahlung für nicht geleistete Arbeit nicht mehr in voller Höhe beanspruchen sollten. Das dürfte dem von Ihnen errechneten Restbudget doch noch eine gewisse Reserve verschaffen, Midas. Klären Sie das mit den Unternehmerinnen und Unternehmern, dass nur noch die Löhne bezahlt werden, deren Empfängerinnen und Empfänger wegen der unfreiwilligen Abwesenheit nicht arbeiten können. Für alle, die in Büros arbeiten besteht durch die zusätzlichen Distantigeminus-Kästen sehr zeitnah die Möglichkeit, ihre Aufgaben wahrzunehmen." Die Ministerin sah Nathalie Grandchapeau erst verdrossen an, weil diese sich anmaßte, eindeutige und weitreichende Anweisungen zu erteilen. Doch dann nickte sie ihr und Colbert zu. "Auch wenn Sie ein wenig Voreilig waren, Nathalie, erkenne ich Ihren Vorschlag an und erhebe ihn zu einer direkten Anweisung von mir persönlich, Midas. Machen Sie den Arbeitgebern bitte begreiflich, dass unsere Unterstützung nur noch für jene gilt, deren Arbeitskraft durch die erzwungene Abwesenheit nicht zur Verfügung steht und wir auch nicht bereit sind, grundsätzlich die Löhne von privatwirtschaftlichen Arbeitnehmern zu bezahlen, sondern dies nur wegen der bestehenden Notlage tun und sofort beenden, wenn diese Notlage beendet ist!"

"Öhm, die werten Damen, ich muss wohl noch einmal daran erinnern, wie anstrengend es war, die Inhaber von magischen Handwerks- und Dienstleistungsbetrieben davon zu überzeugen, ihre Mitarbeiter weiterhin zu bezahlen, auch wenn sie nicht persönlich anwesend sein können. Nur wenn wir die dabei entstehenden Umsatzeinbußen ausgleichen werden die Löhne weiterbezahlt", sagte Colbert.

"Ja, und damit haben Sie jenen unter den Betriebsinhabern einen Freibrief zur fortgesetztenErpressung in die Hände gelegt", warf Madame Grandchapeau ein. Colbert sah die Schwiegermutter seines Sohnes verstimmt an und stieß aus, dass er sich diese Anschuldigung verbitte. Doch sie blieb dabei. "Wenn jemand droht: Zahle mir Gold oder ich nehme jemandem die Lebensgrundlage, dann ist das Erpressung, werter Kollege. Ich habe ja auch nicht behauptet, dass es alle betreffenden Unternehmer so halten, ja dass es mehr als genug von ihnen gibt, die wirklich Angst um die eigene Existenz und/oder die Existenz ihrer vor Ort tätigen Mitarbeiter haben müssen. Doch ich weiß zum Beispiel von den Ganymed-Werken, dass sie von Ihnen Midas die Goldmengen für die Unterstützung der Millemerveilles Mercurios an die Bedingung geknüpft haben, dass Sie diese Goldmenge ausgleichen und dass die Mitarbeiter der Ganymedwerke nur solange uneingeschränkt dort arbeiten können, solange es eine monatliche Sonderzahlung an die Ganymedwerke gibt. Daher wundere ich mich doch, dass Madame Latierre aus der Spiele-und-Sport-Abteilung nicht zu dieser Gesprächsrunde hinzugebeten wurde. Die fragte mich nämlich, ob wir uns das auf Dauer gefallen lassen müssen, nur um sicherzustellen, dass Ganymed niemanden vorzeitig entlässt und ob wir uns nicht im selben Gewirr von Versprechungen und Begehrlichkeiten verfangen, in dem sich die Politikerinnen und Politiker der magielosen Welt verstrickt haben. Gerade im Bezug auf die von Ihnen erwähnten Ausgaben für andere Dinge müssen wir aufpassen, dass wir uns nicht zum Gewinngarantieunternehmen der magischen Wirtschaft machen lassen, will sagen, dass diese keinerlei Verluste mehr machen können, ohne dass wir diese vollständig ausgleichen.""

"Ihre Abteilung hat derartige Probleme ja nicht", grummelte Colbert. "Sie haben Ihre Zuständigkeiten, ich meine", fügte er noch sehr verdrossen hinzu. Ornelle Ventvit stimmte seiner Äußerung zu. Deshalb ließ es Nathalie bei ihrem Einwand. Sie dachte nur für sich, dass ihr vom Rest der Welt für tot gehaltener Ehemann vor zehn Jahren genau vor derselben Lage stand, wann und wie ein von der Zahlungsunfähigkeit betroffenes Unternehmen sich selbst überlassen bleiben sollte oder vom Ministerium weitergetragen wurde. Da hatte der Leiter der Cyrano-Werke doch offen damit gedroht, zwanzig Drechsler und Reisigbinder zu entlassen, wenn das Zaubereiministerium nicht die durch den Verkaufsvorsprung der Ganymed-Werke entstandenen Verluste ausgleiche. Damals hatte Armand Grandchapeau ganz nüchtern gesagt, dass in dem Moment, wo der Leiter der Cyrano-Werke die ersten Mitarbeiter wegen angeblicher Unbezahlbarkeit der Löhne entlassen würde, dieser sich selbst wegen Erpressung von Ministerialbeamten vor dem Gamot wiederfinden würde. Die Folge war, dass der Leiter der Werke vom Rat der Anteilseigner zum Rücktritt gedrängt wurde und seitdem die ehemalige Quidditchspielerin Vanessa Clairmont die Geschäftsführung der Cyrano-Werke innehatte. Zwar besaß Cyrano seit dem nur ein Drittel des Marctanteils französischer Rennbesen, hatte aber durch Clairmonts Kontakte in andere Quidditchvereine ausländische Absatzmärkte erschlossen, weil die Mannschaften sich nicht die teureren Ganymedbesen leisten konnten oder nicht auf die eigenen Fabrikate vertrauten, wenn es nicht gerade Feuerblitz oder Donnerkeil war.

"Dann sind wir jetzt mit allem soweit durch", beschloss Ministerin Ventvit die Sitzung vom 30. Mai 2003. Das Sitzungsprotokoll wurde als Geheimsache S3 eingestuft. Alle Mitglieder des Kriesenstabes "Dämmerkuppel" würden eine Kopie davon erhalten. "Wir treffen uns dann in einer Woche hier wieder, um die von uns beschlossenen Maßnahmen zu überprüfen. Ich danke Ihnen allen für Ihre fortbestehende Einsatzbereitschaft."

Als Ornelle Ventvit in ihrem Büro alleine war überlegte sie schon, wie es bei den Bewohnern von Millemerveilles ankommen würde, wenn sie die Alternative: "Schlaf oder auswandern" vorgelegt bekamen. Außerdem dachte sie immer noch darüber nach, wie genau diese dunkle Entladungsfront entstanden war und ob dieses Ereignis einmalig war oder jederzeit wiederholt werden konnte. Denn in einem hatte Colbert all zu recht, durch die dunkle Entladungsfront waren mehr verfluchte Dinge zur Gefahr geworden als davor, was hieß, genug Personal vorzuhalten, um diesen Artefakten Einhalt zu gebieten. Was kümmerten da am Ende 600 Menschen unter einer magischen Glocke, wenn über 100000 Leute bedroht sein könnten?

__________

In einer der geheimen Niederlassungen der Vereinigung Vita Magica, am frühen Nachmittag des 30. Mai 2003

Perdy holte tief Luft, blies seine Backen auf und pustete dann kräftig. Elf kleine Flammen bogen sich im Luftstrom und verloschen. Zehn Leute klatschten laut Beifall. Perdy streckte sich so weit er das in diesem wieder im Wachstum befindlichen Körper konnte und lächelte jeden und jede einzeln an. Als er die Hexe sah, die ihn damals vor elf Jahren zu sich genommen hatte und rein offiziell immer noch für ihn zuständig war sagte er: "Danke noch einmal, Mum Cheresa, dass du es bisher mit mir ausgehalten hast." Die erwähnte lächelte zurück und sagte: "Abgesehen davon, dass du dich nicht so leicht mit deiner neuen Rolle abfinden wolltest warst du eines der pflegeleichtesten Kinder, die ich je angelegt und saubergehalten habe." Alle anderen grinsten, auch die bereits in sehr guter Hoffnung gerundete Mater Vicesima. Im Juli würde sie zu zwei kleinen, selbst ausgetragenen Töchtern noch einen neuen Amtsnamen erhalten und dann die Hexe mit den meisten selbstgeborenen Kindern überhaupt sein, weit vor Messaline Lesauvage und Ursuline Latierre. Sie deutete auf die regenbogenfarbige Geburtstagstorte mit den zu einem Viertel niedergebrannten Kerzen. Perdy nickte und ergriff das zur Feier des Tages bereitgelegte silberne Messer.

Während die elf Feiernden die von Mater Vicesima gebackene Torte genossen sprachen sie nicht von ihrer Arbeit für die Geheimgesellschaft. Das war so üblich, wenn jemandes Geburtstag oder auch Wiedergeburtstag anstand. Dafür hatte Perdy mit seiner Mentorin, die sich derzeitig Véronique nannte, am Morgen die letzten Einzelheiten des anstehenden Projektes besprochen. Ab morgen würde noch einmal getestet, ob alles so lief wie es sollte. Spätestens ab dem 4. Juni sollte das eigentliche Vorhaben umgesetzt werden.

__________

Aus Mildrid Ursulines Reportage "Unter der Dämmerkuppel"

30. Mai 2003

Heute trat noch einmal der Dorfrat zusammen. Ich habe die Erlaubnis, folgende Beschlüsse zu erwähnen:

Soweit die amtliche Bekanntmachung des Dorfrates von Millemerveilles. Wir alle, die wir mittlerweile mehr als einen Monat unter Sardonias veränderter Kuppel ausharren, hoffen natürlich darauf, dass wir oder unsere Freunde und Verwandten im ganzen Land einen Weg finden, dass zumindest unsere Helden von 1999 die Möglichkeit bekommen, den Weltmeistertitel zu verteidigen. Immerhin haben wir über die Digeka-Verbindung den Spielplan und den Wegeplan für das in der Poebene eingerichtete Quidditchstadion erhalten. Anders als 1999 wird es keine parallelen Begegnungen geben, da die Pläne für drei Stadien im Lande wegen uns nicht bekannt gemachter Unwägbarkeiten aufgegeben wurden. Deshalb wird das Finale wohl am 30. August 2003 stattfinden. Von Mme. Hippolyte Latierre erfuhr ich, dass zumindest die Unterbringung der Zuschauer und Mannschaftsbetreuer endlich sicher ist, und das nicht nur im Sinne von, dass jeder anreisen und einen Platz in den bereitstehenden Unterbringungen finden kann, sondern auch dass die Besucher vor gewaltsamen Übergriffen geschützt werden, da die Endrunde der Weltmeisterschaft ja diesmal nicht unter einer feindliche Wesen abweisenden Kuppel stattfindet. Trotzdem ich an die Wochen im Sommer 1999 überragend schöne Erinnerungen habe überkommt mich doch ein gewisses Frösteln, wenn ich daran denke, dass wir damals im Schutze jener Kuppel überwiegend friedliche Tage verbrachten, die uns heute so sehr bedrückt und unsere Bewegungsfreiheit so grausam unterdrückt.

Grundschuldirektrice Dumas hat meinem Mann und mir angeboten, eine Miete für die von der Grundschule derzeitig beanspruchte Fläche zu erstatten. Julius und ich haben jedoch erwähnt, darauf zu verzichten, weil wir zum einen wollen, dass es den schulpflichtigen Kindern so gut wie möglich geht und wir ja auch froh sind, dass die Kinder der ersten vier Schulklassen nicht im Lernstoff zurückfallen und die Übergangsklasse mit dem nötigen Grundwissen nach Beauxbatons verabschiedet werden kann, ohne das laufende Jahr wiederholen zu müssen. M. Cicero Descartes von der Abteilung für magische Ausbildung und Studien, sowie Mme. Annemarie Lagrange als derzeitige Sprecherin des Schulrates von Beauxbatons erboten sich ebenfalls, die Flächennutzung zu bezahlen. Julius und ich haben bereits dankend abgelehnt. Sicher ist es anstrengend, mehr als dreißig Kinder zwischen sechs und zehn Jahren auf unserem Grundstück herumlaufen zu haben. Aber wir kommen bisher gut damit zurecht, und unsere beiden bereits geborenen Kinder Aurore und Chrysope empfinden die vielen anderen Kinder auch noch nicht als lästig.

Mir persönlich geht es zwar gut, ich werde jedoch auf unnötige Ausflüge ins Dorf verzichten, bis ich unser drittes Kind geboren haben werde. Das Schreiben dieser Reportage und das Warten auf den glücklichen Tag, dass unsere Familie um ein Mitglied reicher sein wird, halten mich wunderbar in guter Stimmung.

Ich melde mich dann am 3. Juni wieder, sofern vorher nichts erwähnenswertes geschieht.

MUL

__________

Im Hauss Tyches Refugium, am späten Nachmittag des 1. Juni 2003

Im Schein von Dutzenden von Pechfackeln stand sie in einer unterirdischen Kammer vor einem rotbraun gesprenkelten Block aus schwarzem Marmor, der wie ein menschliches Herz geformt war. Auf dem Stein lag ein nackter, an Händenund Füßen gefesselter Mann, der um sein Leben flehte. "Deine Mutter hätte sich mir nicht widersetzen dürfen. Dein Blut wird mir helfen, sie als eine meiner Feindinnen zu strafen und gleichzeitig die Vollendung schaffen, um jeden meiner Feinde von meiner Festung fernzuhalten", sagte die hochgewachsene Frau im schwarzen Samtkleid mit Rotfuchsbesatz an Saum und Ärmeln. Dann hob die blassgesichtige Frau mit den hüftlangen, dunkelbraunen Haaren den leicht gekrümmten silbernen Dolch an, den sie in der rechten Hand hielt.

"Dein Tag wird kommen, wo du für all deine Grausamkeiten zahlen wirst, Sardonia vom Bitterwald", stieß der Gefesselte aus. "Selbst wenn es Jahrzehnte dauern wird, wird Satan dich doch in sein Reich holen, wo du hingehörst."

"Satan, wie niedlich", erwiderte die Hexe in Schwarz mit unüberhörbarer Verachtung. "Deshalb sind deine Mutter und du so überängstlich, was diese magieunfähigen Leute angeht, weil ihr deren erfundene Geschichte glaubt, dass dieser jüdische Zimmermannssohn ein Erlöser gewesen sein soll. Ich glaube weder an den Gott der Juden und deren Nachfolger, der Christen und Mohammedaner, noch an dessen angeblichen Gegenspieler Satanael, Lucifer oder Sheitan. Wir Hexen dienen diesem Ziegenbock auf zwei Beinen nicht. Wir werden die Schmach abschütteln, überhaupt je einem männlichen Wesen gedient zu haben. Denn wir sind die, die das Leben bestimmen. Wir bringen es zur Welt, wir nähren es und wir sollen entscheiden, wie es verläuft und wann es endet. Und heute bestimme ich, dass dein diesem selbsternannten Gotteslamm gewidmetes Leben endet. Dein Blut und deine Seele werden mir helfen, den Pfad zur Vollendung unserer Vorherrschaft zu festigen. So nimm dein Ende hin, Louis Grandbois und wähne dich stolz, dass du dein Leben für mich geben darfst!"

"Mit diesen Worten ließ die Hexe in Schwarz die Klinge ihres Dolches vorschnellen. Unter altdruidischen Anrufungen fügte sie dem Gefesselten tödliche Verwundungen zu, überhörte seine letzten Schmerzensschreie und Verwünschungen und besang in keltischen Formeln die Kraft von Blut und Geist, die das Band zwischen den Lebenden und Toten flocht. Als ihr Opfer unter letzten Zuckungen sein Leben aushauchte sang sie unbeirrt weiter, bis der von ihr getötete vollkommen ausgeblutet war. Ein Teil des Blutes rann über den Steinblock und verstärkte die rotbraunen Flecken darauf. Doch der Großteil wurde vom Stein selbst wie von einem Schwamm aufgesaugt. Der Stein begann nun ganz sacht und langsam zu pulsieren, als sei es ein außerhalb eines Riesenkörpers zum Leben erwachtes Herz. Für einen Moment wurde der blutgesprenkelte Stein halbdurchsichtig. Jetzt zeigten sich die nebelhaften, aus sich heraus blutrot glimmenden Formen einst menschlicher Wesen, die in stummer Qual zuckten und sich wanden. Eine besonders hell leuchtende Erscheinung sah aus wie der gerade getötete Sohn von Laure Grandbois, der Schwester von Adrastée Grandbois, welche schon vor zwei Jahren Sardonias Getreue geworden war. Noch einmal blickte das rot leuchtende Gesicht von Louis Grandbois die Ritualmörderin anklagend an. Dann verschwanden die Erscheinungen im wieder undurchsichtig werdenden Stein. Der Stein der Vollendung hatte die einhundertneunundsechzigste Seele aufgenommen. Die Vollendung war vollzogen. Jetzt brauchte Sardonia nur noch ihren Eichenholzzauberstab mit dem schwarzblauen Haar eines bretonischen Nachtmars auf den Stein zu richten und die geächtete Anrufung zu singen, die es einem Magiekundigen erlaubte, einen Teil der eigenen Seele an ein beliebiges Objekt zu binden, sobald er oder sie durch einen gewaltsam zugefügten Tod die nötige Kraft erhalten hatte.

Gerade als Sardonia ihren Zauberstab auf den pulsierenden Stein richtete wallte tiefblauer Dunst auf, und die Umgebung verschwamm zu konturlosen Schatten und verwaschenen Lichtflecken. Die Worte der dunklen Matriarchin zerflossen in einem an- und abschwellenden Rauschen und Grummeln. Dann blitzte es grell auf.

Wie von einer unsichtbaren Faust an der Stirn getroffen wurde Anthelia/Naaneavargia zurückgeschleudert. Zwar hatte sie es geschafft, die im Denkarium Sardonias verwobenen Erinnerungssperren zeitweilig zu durchbrechen. Doch offenbar hatte dieser Zauber nicht lange genug gewirkt. Immerhin wusste die Führerin des Spinnenordens nun, dass es dreizehn Quellsteine in Millemerveilles gab und wie Sardonia sie einzeln bezaubert hatte, damit sie mit den Kräften der Elemente, einschließlich der Dunkelheit der Nacht, sowie der Quadratzahl an Lebensopfern in Aufsteigender Reihe bestärkt worden waren. Das Erste Opfer dass sie gebracht hatte war für den Stein des verwehrten Lebens, auf dem sie eine besonders füllige Feindin qualvoll hatte verschmachten lassen und ihr jeden Tag die für das Ritual nötigen Zauber auferlegt hatte, bis ihr Fleisch und Blut zusammen mit der innewohnenden Seele im ovalen Stein eingesaugt wurde und ihr Skelett übrig blieb, das nach der letzten Bezauberung selbst noch zu Staub zerfiel. Anthelia wusste, dass Sardonia auch gerne Ladonna Montefiori oder eine der ihr entgegenstehenden Abgrundstöchter in das dunkle Geflecht ihrer Feindesabwehrzauber eingebunden hätte. Doch dagegen hatten eben Gestanden, dass Ladonna eine Veela zur Vorfahrin hatte und Sardonia es nicht schaffte, eine der Abgrundstöchter im Kampf zu besiegen. An drei der dreizehn Steine hatte Sardonia Bruchstücke der eigenen Seele gebunden, den Stein des neuen Lebens, den sie mit den Leben von 49 ihren Müttern entrissener Föten verstärkt hatte, dem Stein der stetigen Fruchtbarkeit, auf den sie und zwanzig andere erst ihr Monatsblut vergossen hatten und den sie dann noch mit den Leben von 25 Jungfrauen bestärkt hatte, sowie den gerade erst nachbetrachteten Stein der Vollendung, der das Gespinnst dunkler Feindesabwehrzauber vervollständigt hatte. Den, so wusste Anthelia aus den spärlichen Erwähnungen ihrer Tante, würde eine wahre Erbin besuchen und ihr von ihrem eigenen Blut abgeben müssen, wollte sie auch Sardonias Zauberstab und den Opferdolch erwerben. Doch seitdem Anthelia mit Naaneavargia eins geworden war hielt diese nicht mehr viel davon, Sardonia vollständig zu beerben. Sicher, sie hatte das Denkarium, den Mantel und den Entomolithen in Besitz genommen und damit einen Gutteil von Sardonias Macht. Doch aus der Geschichte auch des alten Reiches wusste sie, dass ein Pfad, der mit tausenden von Leichnamen gepflastert war, nicht unbedingt in eine bessere Welt führte, sondern auch in einem bodenlosen Abgrund enden konnte. Daher war ihr Weg nicht mehr der gnadenlosen Brutalität, wie Sardonia sie gegen ihre Feinde ausgeübt hatte, sondern der Überredung und Überzeugung gewidmet. Sicher wendete Anthelia auch noch Unterwerfungs- oder Tötungszauber an, doch immer gegen solche, die ihr unmittelbar gefährlich zu werden drohten oder ihr auf ihrem Weg nützlich sein mochten. Deshalb hatte das Denkarium sie wohl trotz ihrer Unterdrückungsbanne der Erde zurückgewiesen, als sie die Grausamkeiten Sardonias vollständig nachbetrachtet hatte. Zumindest wusste Anthelia/Naaneavargia jetzt, was sie wissen musste. Ob sie es wissen wollte wusste sie nun nicht mehr so genau. Früher, wo sie nur von Anthelias Willen und Erinnerungen erfüllt gewesen war, hätte sie sich sehr gefreut, die Prozedur zu kennen, mit der eine undurchdringliche Abwehrkuppel erschaffen werden konnte. Sie konnte auch nicht ganz abstreiten, dass sie sowas irgendwann in der Zukunft wieder ausführen mochte, wenn es mehr gefährliche Feinde gab als treue Anhänger oder gar schicksalsergebene Mitläufer und von eigener Angst gehemmte Erdulder.

"Da habt ihr aber eine Menge ganz übler Zauber um euch herum", dachte Anthelia/Naaneavargia mit verächtlichem Lächeln. Denn sie musste daran denken, dass viele Dutzend Generationen von Hexen und Zauberern unter Sardonias Kuppel gelebt hatten und sich gefreut hatten, dass ihnen kein böser Feind zu nahe kommen konnte. Sie wusste aber dank der Fortsetzungsreportage der schwangeren Mildrid Latierre, dass es durchaus Leute in Millemerveilles gab, die in das Gefüge der dreizehn Quellsteine eingeweiht waren, es aber keinem Uneingeweihten weitersagen durften, was sie wussten. "Euch wird nichts anderes bleiben, als die Bezauberung der Quellsteine zu brechen, wenn ihr da wieder rauskommen wollt. Das könnte ziemlich übel ausgehen, wenn deren Magie ungerichtet entladen wird", dachte Anthelia/Naaneavargia weiter. Sie kannte zwar drei Zauber, mit denen die Steine entzaubert werden konnten. Doch sie selbst konnte wegen Anthelias früherer Vorgehensweisen nicht durch die Kuppel hindurchgelangen. Der einzige Weg wäre gewesen, ein Kind unter dem Herzen zu tragen und es zur Welt zu bringen, um den im Stein des neuen Lebens enthaltenen Schutz der jungen Mutter zu genießen. Das war bisher die einzige wirkliche Schwachstelle der Kuppel gewesen. Doch diese Schwachstelle durfte wohl nun auch vergangen sein. Denn sie hatte auch erfahren, dass kein durch die Erde eilender Kobold aus Millemerveilles hinausgelangte. Das hieß, dass die Kuppel zur schwarzmagischen Blase geworden war, deren unterer Scheitelpunkt wohl genausotief unter der Erde lag, wie der obere Scheitelpunkt über der Erdoberfläche. Sie wusste aber auch, dass Julius Latierre zum Vertrauten der alten Erdmagier geworden war. Madrashmironda, die Mutter von Naaneavargias Vater, hatte ihn wohl in diesen erlauchten Kreis der Wissenden hineingeholt. Aber Julius Latierre gehörte ganz sicher nicht zum Zwölferkreis der Eingeweihten. Dafür wohnte er noch zu kurz in Millemerveilles. Welche sonstigen Grundvoraussetzungen jemand vorweisen musste, um diesem erlauchten Kreis anzugehören wusste Anthelia nicht. Das musste wohl irgendwann nach Sardonias gewaltsamem Ende im Jahre 1642 beschlossen worden sein.

__________

Millemerveilles, 2. Juni 2003

Julius Latierre saß zusammen mit Hera Matine, Monsieur Charpentier und den Eheleuten Camille und Florymont Dusoleil zusammen im Salon der Dusoleils. Charpentier holte ein Stück Pergament aus seinem antrazitfarbenen Umhang und las, was darauf stand:

"Hiermit lege ich offiziellen Protest gegen die bisher geltenden Beschlüsse und Verordnungen ein, denen nach jeder zur Mitführung von Goldblütenhonig angehalten ist. Diese Maßnahme erscheint mir und den Unterzeichnenden als überzogen, bevormundend und obendrein fragwürdig. Denn Sie haben es in Ihren bisherigen Verlautbarungen weder für richtig gehalten, die Quelle dieser Phiolen zu benennen, noch darauf hinzuweisen, dass der Goldblütenhonig nicht nur unheilabwehrende Wirkungen hat. Je nach Menge und Aufbewahrungszeitraum zehrt er nämlich von der Lebenskraft derer, die ihn trinken oder am Körper tragen. Sie können doch nicht im Ernst verlangen, dass gerade ältere Mitbürgerinnen und Mitbürger diesen Stoff in jeder Tagesminute am Körper zu tragen haben. Sie behaupten zwar ständig und haben dies mit den Begründungen von übervorsichtigen oder aus blutigen Erfahrungen überempfindlichen Leuten wie Blanche Faucon unterfüttert, dass dieser Wirkstoff uns vor den Nebenwirkungen der Verdunkelnden Kraft in der Kuppel schützen soll. Aber wie wir alle mal in Beauxbatons gelernt haben gilt auch in der Magie, dass von nichts nichts kommt und die meisten Dinge ihren Preis haben, sei er in Galleonen oder anderen Materialien oder durch Opferung eigener Körper- und Geisteskräfte zu erbringen. Zum einen trübt die andauernde Dunkelheit weiterhin meine Stimmung ein, ob ich die mir zugeteilte Goldblütenhonigphiole am Körper trage oder nicht. Zum anderen ist es doch nur eine Frage von Selbstbeherrschung, ob ich mich einer dunklen Stimmung völlig wehrlos hingebe oder ihr durch Entschlossenheit und Zielstrebigkeit widerstehe. Das Tragen von Goldblütenhonigphiolen kann und wird dazu führen, dass diese Entschlossenheit und Willenskraft erlahmt und die Menschen hier verlernen, sich gegen ihre Stimmung betreffende Einflüsse zu wehren, weil sie fälschlich davon ausgehen, dass nur eine kleine Glasflasche mit einer magischen Essenz darin reicht, um sie vor allem Übel dieser Welt zu schützen. Deshalb fordern wir, die Unterzeichnenden, dass die vom Dorfrat am 10. Mai 2003 ausgegebene Verordnung zur ständigen körpernahen Mitführung von Goldblütenhonig widerrufen wird. Wer meint, dass er oder sie ruhig ein oder zwei lebensjahre opfern kann, nur um einen fragwürdigen Beruhigungseffekt zu erleben, der oder die kann das gerne machen. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass die Welt nicht den Überängstlichen, Zögerlichen und viel zu rücksichtsvoll auftretenden Menschen gehört, sondern jenen, die bereit sind, mit Mut, Entschlossenheit und Zielstrebigkeit die Welt zu gestalten. Sollten Sie trotz meiner klaren Einwände gegen das Mitführen von Goldblütenhonig auf die Einhaltung Ihrer Verordnung beharren werden Sie mindestens eine Generation geistiger Schwächlinge auf dem Gewissen haben und zudem jedem, der die Phiole am Körper trägt mit jedem Tag seines Lebens zwei Tage zukünftiger Lebenszeit entreißen. Wenn Sie das mit Ihrem Gewissen vereinbaren können, dann bestehen Sie weiter auf diese höchst fragwürdige Verordnung. Ich gehe jedoch davon aus, dass die Mehrheit des Dorfrates das Wohlergehen der Bürgerinnen und Bürger achten und die unbestreitbaren Nebenwirkungen von Goldblütenhonig anerkennen wird. Ich gehe zuversichtlich davon aus, dass wir morgen schon erfahren dürfen, dass die Verpflichtung zum Tragen von Goldblütenhonigphiolen aufgehoben sein wird. Mit freundlichen Grüßen, Louis Grandbois und weitere Befürworter."

"Öhm, woher hat Louis das, dass Goldblütenhonig die eigene Lebenszeit verkürzt?" wollte Hera Matine wissen. Julius nickte ihr zu. Denn genau die Frage hatte er sich beim Zuhören auch gestellt.

"Ja, das ist durchaus ein Punkt, den Louis Grandbois nicht klar dargelegt hat", sagte Monsieur Charpentier. Darauf sagte Heiler Delourdes: "Ich schließe mich meiner Kollegin an und möchte gerne wissen, aus welcher Quelle er das mit der Vitalabsorbtion, öhm, der Lebenskraftabsaugung hat. Denn wenn Grandbois und die anderen Unterzeichner diese Behauptung weiterverbreiten werden möglicherweise ängstliche Mitbürger zwischen dem Einfluss der Kuppel und der angeblichen Lebenskrafteinbuße durch Goldblütenhonigphiolen wählen und die Phiolen nicht mehr tragen."

"Ich erlaube euch beiden, diese Frage an den werten Louis Grandbois zu stellen", erwiederte Monsieur Charpentier.

"Wer hat denn da alles unterschrieben?" wollte Camille Dusoleil wissen. Charpentier gab ihr den Pergamentbogen. Camille las und zählte durch Kopfnicken. "zwölf Leute, alles Zauberer über sechzig Lebensjahre, davon zehn, die hier geboren wurden", fasste Camille die Liste zusammen. "Öhm, du hast aber vergessen vorzulesen, dass diese Leute zwischen den Zeilen behaupten, dass die mir vererbte Gunst Ashtarias verdächtig sei und ich gütigst darzulegen hätte, was genau ich von dieser Ashtaria weiß und was ich machen konnte, um die Kuppel zu verlassen. Louis oder einer seiner Mitstreiter behauptet, ich hätte womöglich meine eigenen Kinder an Sardonia verpfändet, um tagsüber durch die Kuppel hinein- und hinauszufliegen, so wie ihre damaligen Mitschwestern das gemacht haben, bevor nach Sardonias Tod die stärksten Auswirkungen ihrer Kuppel in gutartige Zauber umgewandelt werden konnten. Das ist schlicht und ergreifend eine verletzende Behauptung und obendrein völlig erstunken und erlogen. Wenn die das rumgehen lassen sollten kann ich Chloé und Philemon nicht mehr unbeaufsichtigt herumlaufen lassen. Denn dann könnte jemand von denen auf die Idee kommen, sie umzubringen, um meinen Pakt mit Sardonias Hinterlassenschaften zu brechen." Julius nickte ihr zustimmend zu. Er fragte sie dann noch, ob da auch was wegen ihm und der Beziehung zu den Kindern Ashtarias stehe. Camille überflog noch einmal den Brief und sagte: "Jetzt, beim dritten Lesen, lese ich da was zwischen den Zeilen, dass deine Kenntnisse von Ashtarias Zaubern ebenfalls auf Grund einer irgendwie oder irgendwann zu erbringenen Gegenleistung beruhen und du das natürlich niemandem sagen darfst, was du mir genau zu zahlen hast. Ich denke, dass ist auf Bernard Hautecollines Drachenmist gewachsen. Der hat schon vor drei Jahren in der Schenke behauptet, du dürftest nur deshalb kostenfrei in Millemerveilles wohnen, weil jemand deine wertvollen Ruster-Simonowsky-Erbanlagen in die eigene Familie einfügen möchte. Bruno hat das mitbekommen und dem Burschen, der das behauptet hat gefragt, ob er eifersüchtig sei, weil seine unverheiratete Schwester zu gerne einen supertollen Zauberer als Vater ihrer Kinder haben wollte."

"Das ist jetzt nicht wahr, oder?" fragte Julius und kniff sich demonstrativ in den linken Arm. "Ticken die hier langsam aus, weil wir schon mehr als einen Monat unter dieser dunklen Kuppel festhängen? Gut, dass es immer noch Idioten gibt, die meinen, die Latierres hätten mich mit Millie verbandelt, damit bei denen besonderes Zaubererblut in die Ahnenreihe einfließt, damit haben Millie und ich uns mittlerweile abgefunden. Aber dass jetzt wer behauptet, ich hätte dir, Camille ..." Camille schüttelte den Kopf und verwies darauf, dass es keine klar geschriebene Behauptung sei, sondern eine Andeutung und dass Bruno damals eben nur gehört habe, dass Leute in Millemerveilles ihn, Julius, deshalb unbedingt hier wohnen haben wollten, weil er eben besondere Eigenschaften vererben könne. Julius wusste auch, dass das Camille deshalb sehr weh tun mochte, weil er ja eigentlich mit Claire zusammen gewesen war und ohne die Brüder des blauen Morgensterns heute ihr Schwiegersohn und Vater ihrer Enkelkinder hätte sein können.

"Mich interessiert, woher Grandbois & Co. das mit der Lebenszeitverkürzung von Goldblütenhonig haben", griff Julius den ersten Abschnitt des vorgelesenen Briefes noch einmal auf. "Ich habe meine Goldblütenhonigphiole von Blanche Faucon bekommen, weil diese wollte, dass mir nichts böses zustößt. Dass mir dieser Alterungsfluch Hallittis passiert ist lag wohl auch daran, dass ich die Phiole nicht immer frei am Körper trug, sondern sie in einen magischen Brustbeutel aufbewahrt habe, wo sie keine Wirkung zeigen kann."

Als bis auf Julius und Hera Matine alle bei Camille und Florymont zusammengekommenen das Grundstück Jardin du Soleil wieder verlassenhatten meinte Camille zu Julius: "Ich hätte nicht gedacht, dass nur ein Monat nötig ist, um das Vertrauen jeder in jeden hier zu gefährden. Ich hoffe mal, Heiler Delourdes und die Dorfräte können es denen wieder beibringen, dass wir hier alle eine Gemeinschaft sind, wo gegenseitige Unterstellungen und Verdächtigungen genauso gefährlich sind wie ein tödliches Gift."

"Ja, und dabei leben wir hier noch relativ sicher, von der Dunkelheit und der Feuerzauberunterdrückung abgesehen", meinte Julius. "Im Mittelalter haben sie Menschen aus anderen Städten gleich als Pestbringer verteufelt und aus reiner Angst, die könnten ihnen die Seuche anhängen, umgebracht. DA meinen wir Menschen, wir hätten sowas wie rein instinkthafte Fremdenangst im Griff. Ist es echt so, dass eine Notlage reicht, um zivilisierte Menschen wieder in Neandertaler zu verwandeln, die nur nach ihren Instinkten handeln? Echt glauben will ich das nicht. Aber ich sollte es zumindest für vorstellbar halten", seufzte Julius. Camille fragte, wer denn die Neandertaler waren. Julius entschuldigte sich, dass er was erwähnt hatte, das sie noch nicht kannte und erwähnte das, was er vor Hogwarts über die ersten Menschen gelernt hatte. "Oh, und ich dachte, die hätte der von den Juden und Christen angebetete Schöpfergott nach sechs Tagen Arbeit aus Lehm so gemacht, wie sie bis heute vorkommen", meinte Camille grinsend. Julius grinste auch und erwiderte, dass es in einigen Ländern, darunter den sehr religionstoleranten USA, immer noch eine gewisse Menge Leute gebe, die eben nur das glaubten, was in Büchern wie der Bibel über die Menschenerschaffung drinstand und jede naturwissenschaftliche Erklärung als böse und Gotteslästerung abtaten. "Da haben wir es doch, dass ein einmal eingeschliffener Glaube ähnlich unausrottbar ist wie unerwünschtes Wildkraut", sagte Camille. Julius erwiderte darauf: "Tja, weil sich immer die Frage stellt, was für den einen Nutzkraut und für den anderen Unkraut ist." Dem konnte Camille nicht widersprechen. Immerhin galten Sardonias Ansichten, dass nur die Hexen zu bestimmen hatten, ebenfalls noch in einigen Kreisen, und was Leute wie Grindelwald, Voldemort und Vengor angerichtet hatten mochte auch noch Verehrer haben.

"Also, sollte Millie deiner doch mal überdrüssig sein kläre ich das mit Uranie, dass sie auch ein oder zwei Kinder von dir bekommt", scherzte Florymont. Julius schluckte erst, musste dann aber genauso schulbübisch grinsen wie sein Beinahe-Schwiegervater Florymont. Camille sah die beiden sehr tadelnd an, sagte aber nichts. Männer waren ja irgendwo immer noch kleine Jungen, dachte sie nur.

Als Julius wieder im Apfelhaus war schrieb er einen Brief an Melanie Redlief, die am 20. Juni Titonus Chimer heiraten wollte. Ihm war nämlich siedendheiß eingefallen, dass er ihr noch nicht offiziell abgesagt hatte. Sicher wussten die in den Staaten, was in Millemerveilles passiert war. Doch er und Millie mussten Klarstellen, dass sie auf jeden Fall zur Hochzeitsfeier gekommen wären, wenn das mit der Kuppel nicht passiert wäre.

Als er den Brief mit "Ich hoffe, dass ihr trotzdem den schönsten Tag im ganzen Leben haben werdet", beendet hatte meinte seine Schwiegertante Béatrice: "Ich glaube, weder Hera noch ich hätten Millie am 20. Juni verreisen lassen, ohne dass eine von uns mitgeflogen wäre. Tja, und mit schnellen Tänzen auf einer Hochzeit wäre es zumindest für Millie erst einmal nichts mehr gewesen."

"Na ja, Tante Trice, aber Melanie und Titonus haben uns schon sehr deutlich eingeladen. Allerdings hat Mel Redlief da schon eingeräumt, dass sie uns das verzeihen würde, falls wir an dem Tag was unaufschiebbares und wichtiges zu erledigen hätten. Gut, sie ging wohl von Clarimondes Geburt aus, wo wir noch nicht wussten, dass es Clarimonde sein wird, die zu uns kommt", sagte Millie. Julius fügte dem noch hinzu: "Wollen zumindest hoffen, dass wir zur Willkommensfeier von Mels erstem Kind hinkönnen, wann immer die sein wird." Darauf konnten Béatrice und Millie erst einmal nichts antworten.

Draußen wurde es laut, denn die Kinder, die Nachmittagsunterricht gehabt hatten tollten über die freigehaltenen Wiesenstücke und vertrieben sich so die Zeit, bis ihre Eltern sie abholen kamen. Aurore hibbelte herum, weil sie zu gerne rauslaufen und mit den größeren Kindern toben wollte. Doch Béatrice meinte, dass sie nicht unbedingt dazwischenhängen müsse, wo sich der junge Antoine Boulanger mit Claude Dulac herumkäbbelte. So warteten sie ruhig im Haus, bis die Lehrer die Grundschüler an die auf Besen herangeflogenen Elternteile übergeben hatten.

Zum Nachmittagskaffee kamen neben Madame Dumas auch Sandrine und ihre Zwillinge herüber. Das war so ein neues Ritual, dass sie seit dem 18. Mai pflegten. Julius hätte zu gerne über Louis Grandbois und seine Ansichten über die Goldblütenhonigphiolen geredet. Doch er wollte das nicht, wo drei kleine und ein noch kleineres Kind dabei waren. Immerhin konnte die kleine Chrysope schon auf einem hohen, fünfbeinigen Kinderstuhl sitzen, wenngleich sie einen kleinen Einzeltisch vor sich hatte und einen Schlabberlatz trug. Zumindest hatte Millie sie weitestgehend entwöhnt, so dass Clarimonde uneingeschränkt bei ihrer Mutter würde trinken können, wenn sie zwischen dem 20. Juni und 4. Juli auf die Welt gekommen sein würde.

Beim Kaffeetrinken ging es um kindgerechte Themen wie die Ausrichtung mehrerer anstehender Kindergeburtstage. Immerhin würden in den kommenden zwei Wochen noch vier Kinder das sechste Lebensjahr vollenden und dann im September zur Schule gehen. Aurore konnte bereits ihren Namen in Druckbuchstaben malen, was Geneviève Dumas dazu brachte, sie zu fragen, ob sie schon mit vier Jahren bei ihr zur Schule gehen wollte. Millie sagte dazu erst mal nichts. Aurore sagte nur, dass sie keine Lust hatte sich mit bösen Jungen, die größer als sie waren rumzukloppen. Da meinte Julius: "Stimmt, wenn wir bei Tante Camille und Onkel Florymont sind reicht Philemon völlig aus." Geneviève Dumas räusperte sich und meinte: "Der lernt gerade, dass nur draufzuhauen und mit den Füßen zu stampfen ihm auch nicht alles bringt, Julius. Abgesehen davon ist es für ihn schwer, ohne eigenen Vater groß zu werden. Egal was Florymont ihm als männliches Vorbild bietet, er ist nicht sein Vater. Außerdem tritt er im Bedarfsfall eher für Chloé ein als für ihn. Kinder in dem Alter merken schon, bei wem sie was machen oder besser nicht machen können."

"Du meinst mit wem, Geneviève", berichtigte Millie die Grundschuldirektrice. Sandrine sah Millie dafür erst verdrossen an, musste dann aber zustimmend nicken.

Als die Dumas' nach zwei Stunden wieder in ihr eigenes Haus zurückkehrten lud Julius seine Schwiegertante und Millie zu einer Besprechung in das zum Dauerklangkerker bezauberte Arbeitszimmer, das sowohl er als auch Millie für Interviews oder eben geheime Beratungen nutzen konnten. Dort erzählte er seiner Schwiegertante, was die vertrauliche Besprechung mit Hera, François Delourdes und den anderen ergeben hatte. "Achso, und du möchtest jetzt wissen, woher Louis Grandbois das hat, dass eine Goldblütenhonigphiole Lebenszeit aufzehrt? Der wird wohl das Buch von Saxifragus Elsternfuß gelesen haben, der sich vor zweihundert Jahren darüber verbreitet hat, dass die Ernte von Goldblütenhonig mit einem Fluch belegt sei und der Goldblütenhonig deshalb andere Flüche verdränge und eigene Schildzauber stärke, weil er den lebenden Träger je nach Menge mehr oder weniger Lebenszeit absaugen würde. Das sei eine Auswirkung des alten Hexenfluches der Züchterin der Goldblüten, die wegen dieser Pflanzen von ihren eifersüchtigen Mithexen getötet worden sei. Offenbar hängt Grandbois dieser mittlerweile als gefährlicher Unsinn entlarvten Behauptung an, weil er meint, dass Goldblütenhonig meistens von Hexen geerntet und mit dem entsprechenden Zauber aktiviert wird, da die Bienen, welche den Honig herstellen, keine männlichen Säugetiere uns Menschen eingeschlossen, näher als zehn Schritte an ihre Nester heranließen. Das sei angeblich auch auf dem Drachenmist jener bitterbösen Hexe gewachsen, welche den Honig da selbst mit einem dauerhaften Fluch belegt haben soll. Aber glaub es mir, Julius, dass du von Madame Faucon garantiert keinen Goldblütenhonig bekommen hättest, wenn das nicht schon doppelt und dreifach widerlegt worden wäre. Und ich als Heilerin hätte weder Millie, noch Aurore noch dir erlaubt, auch nur einen Fingerhut voll dieses Honigs im Haus zu haben, wenn an dieser höchst obskuren These auch nur ein Fünkchen Wahrheit wäre. Der beste Beweis dafür, dass Elsternfußes Behauptung Unfug ist besteht in der Absicherung eures Hauses und dass wir im Château Tournesol auch mehrere kleine Fässer Goldblütenhonig haben. Wäre der nämlich wirklich verflucht, hätten wir ihn weder bei euch ins Apfelhaus bringen, noch bei uns im Sonnenblumenschloss lagern können."

"Na ja, aber wenn einmal so ein Gerücht im Umlauf ist ist es schwer wieder einzufangen", seufzte Julius. "In der magielosen Welt wurden und werden andauernd irgendwelche Behauptungen verzapft, wer oder was für Menschen gefährlich oder unbedingt anzuschaffen ist. Das halbe Fernsehprogramm ist voll mit vielen vielen bunten Werbefilmen, die einem einreden wollen, dass sie dieses oder jenes unbedingt brauchen, und in diktatorischen Staaten wurden immer wieder Hasspredigten gegen Andersdenkende gehalten und Lügen über die Charaktereigenschaften der einen oder anderen Menschengruppe abgesondert. Du sagst selbst, dass diese Behauptung vom verfluchten Goldblütenhonig gefährlicher Unsinn ist. So'n Unsinn wird dann gefährlich, wenn Leute ihn glauben und sich oder andere deshalb in Gefahr für Leib und Leben bringen. Die Geheimhaltung der Zaubererwelt gibt es ja auch nur, weil die Nichtmagier sich haben einreden lassen, dass alle hexen und Zauberer brandgefährlich sind und unbedingt getötet werden müssen, und was Leute wie Sardonia, Grindelwald, Riddle und Vengor angestellt haben macht auch deutlich, wie leicht sich Leute dazu bequatschen lassen, erst Angst und dann Hass andersdenkenden Leuten gegenüber zu haben. Ich hoffe nur, dass die meisten Leute hier diesen Quatsch mit dem verfluchten Goldblütenhonig nicht schlucken, sonst haben wir hier demnächst einen echten Glaubenskrieg. Und den wollen echt nur Sardonias selbsternannte Erbinnen wie Hugette Mirabeau oder Yvette Bouvier und wer sonst noch dabei ist", fügte Julius hinzu.

"Wenn diese in die Welt gestreute Behauptung von Grandbois nicht genau daher kommt, dass eine dieser heimlichen Sardonianerinnen ihm die Verbreitung dieser Falschmeldung ins Hirn gesetzt hat", warf Béatrice eine gewagte, weil nicht nachgewiesene Behauptung ein. Millie fragte deshalb, ob dieses Buch von diesem Saxifragus Elsternfuß in der frei zugänglichen Bibliothek von Beauxbatons und Millemerveilles zu finden sei. Béatrice wusste das nicht. Sie hatte erst von diesem Buch "Schöner Schein und liebliche Lügen" von Saxifragus Elsternfuß gehört, als sie in der Heilerausbildung war. "Es steht zumindest nicht auf der Liste geistesschädigender Schriften", meinte Béatrice dazu. Julius nickte. Er kannte zwar die magische Entsprechung des katholischen Index librorum prohibitorum nicht auswendig, wusste aber seit den Gerichtsprozessen nach Voldemorts endgültigem Ende, dass es auch in der magischen Welt ein Verzeichnis für gefährlich gehaltener Bücher gab, die nicht frei verkäuflich waren, aber in bestimmten Bibliotheken leihweise ausgegeben wurden, um eben zu forschen, was deren Schreiber so verzapft hatten und was gegen wirklich finstere Zauberei getan werden konnte. Béatrice bot an, in ihrer Reisebibliothek nachzusehen, ob sie das betreffende Buch dabei hatte. Julius fragte dann, ob dieser Monsieur Elsternfuß nicht vielleicht seine Leserinnen und Leser voll verschaukeln wollte, indem er aufzeigte, wie schnell jemand davon überzeugt werden konnte, bestimmte Sachen seien gefährlich oder bösartig. Béatrice schüttelte den Kopf. "Nein, der hat den Titel so gewählt, weil er damit ausdrücken wollte, dass Hexen und Zauberer ihren Mitmenschen was einreden wollten, nicht weil er selbst irgendwen verladen wollte. Allerdings gibt es mehrere eindeutig satirische Schriften, die seine kruden Behauptungen so richtig zerpflücken. Das hat aber im 19. Jahrhundert dazu geführt, dass die Originalschrift von Elsternfuß bekannter wurde als sie es verdient hat, gemäß dem auch bei den Nichtmagiern beliebtem Grundsatz: Worüber immer mehr Leute reden, das muss irgendwo auch wichtig und vielleicht auch richtig sein."

"Tja, oder hundertmal die selbe Lüge ergibt eine Wahrheit", warf Julius dazu ein. Dem konnte Béatrice nicht widersprechen. "Gut, im Grunde funktioniert die Zaubereigeheimhaltung trotz Internet auch nur noch, weil wir die ins Netz gestellten Augenzeugenberichte als haarsträubende Falschmeldungen hinstellen und das im Internet bei vielen Sachen so abläuft. Aber wenn die Leute hier jetzt am großen Rad drehen, dass alle Schutzmaßnahmen entweder sinnlos oder selbst gefährlich sein sollen ... Brauchen wir echt nicht auch noch, uns mit so Leuten herumzuschlagen." Dem konnten Millie und Béatrice nur zustimmen.

Tatsächlich hatte Béatrice Latierre in ihrer einschrumpfbaren Reisebibliothek nicht nur das Buch "Schöner Schein und liebliche Lügen" dabei, sondern auch "Potentia Matrium - Die wahre Macht der Hexenmütter". Das erwähnte Millies hauptamtliche Hebamme deshalb, weil sie wie andere Heilerinnen auch befürchtete, dass Sardonias Ansichten von einer Hexengeneration zur nächsten weitervererbt worden seien und dabei auch auf verbotene Zauber aus diesem Buch zurückgegriffen worden sein mochte. Zumindest erlaubte sie Julius, den betreffenden Abschnitt über die angebliche Schädlichkeit von Goldblütenhonig zu lesen. Als Julius die auf vier Buchseiten dargelegte Hypothese zweimal gelesen hatte meinte er: "Klar, weil der Typ wohl eine tiefsitzende Abneigung gegen Hexen hat und deshalb meinte, die wollten ihn an die lange Leine legen, wenn sie ihm Goldblütenhonigphiolen gaben. Er behauptet ja auch, dass Sardonia die Züchterin der Goldblütenpflanze persönlich gekannt haben soll. Das kann aber nicht sein, weil die Goldblüte meines herbologischen Wissens nach schon im 13. Jahrhundert erwähnt wurde, und zwar im Index plantarum et fungorum miraculosorum, also dem Verzeichnis wundertätiger Pflanzen und Pilze, an dem mehrere Hexen und auch Zauberer mitgeschrieben haben und das bis heute erweitert wird."

"Eben deshalb kann Sardonia die Züchterin der Goldblüte nicht gekannt haben, denn das war Melissa Mondenquell, die Mitgründerin von Burg Greifennest", sagte Béatrice Latierre. Julius prüfte das nach, wo er das ganze Verzeichnis über wundertätige Pflanzen und Pilze von Sophia Whitesand geschenkt bekommen hatte. Tatsächlich fand er unter dem Stichwort Goldblüte, damals als Chrysantus" eingetragen als Züchterin die Greifennestmitbegründerin Melissa Mondenquell vor, die das gleichnamige Schulhaus aufgebaut hatte. Im Zuge einer umfangreichen Systematisierung von Lebewesen und Wettererscheinungen wurde die Goldblüte als Chrysantus bonifloscens bezeichnet. Er las bei der Gelegenheit noch einmal die bekannten Eigenschaften durch und auch, dass der Goldblütenhonig in der Ambrosianus-Schokolade verwendet wurde, die gegen magische oder natürliche Stimmungstrübungen half. Dann konnte er den betreffenden Band des Gesamtverzeichnisses wieder fortpacken. Béatrice und Millie hatten mitlesen können.

"Wenn Grandbois das auch weiß, dass unsere Wunderschokolade Goldblütenhonig enthält hetzt der noch dagegen, dass die Kinder was davon bekommen", unkte Millie. Béatrice nickte schwerfällig.

Hera Matine erschien eine Stunde vor dem Abendessen und bat selbst um eine Kurze Unterredung. Sie hatte den von Florymont entwickelten Lauschabwehrpfropfen dabei, der auch im Freien ein natürliches oder magisches Abhören vereiteln konnte.

"Also, wir wissen jetzt, dass Louis Grandbois die Erwähnungen eines gewissen Saxifragus Elsternfuß aus Österreich als Quelle seiner Behauptung angegeben hat und gleich vorgeprescht ist, dass die von diesem aufgeschriebenen Behauptungen auf Erfahrungen des Schreibers beruhen sollen. Er hat dem Kollegen Delourdes auch vorgehalten, er sei als Heiler sehr leichtgläubig, dass er so mächtige, noch dazu aus Lebendprodukten gemachte Artefakte wie die Phiolen ungeprüft an Minderjährige weitergebe, ja diesen sogar vorschreibe, sie immer und überall am Körper zu tragen. Alle gegenteiligen Argumente meines Kollegens hat er mit "Zaubererunterdrückungspropaganda" abgetan. Er will den Gamot in Paris dazu bringen, eine Verhandlung in Abwesenheit abzuhalten, deren Ziel sein soll, die Verordnungen des Dorfrates zu widerrufen, weil das Mitführen hochwirksamer Zauberutensilien mit fragwürdiger Auswirkung einen Eingriff in die Selbstbestimmung magischer Menschen sei, wie sie seit 1723 im internationalen Vertrag zum Schutz magischer Menschen festgelegt ist. Offenbar macht diese verwünschte Verdunkelung nicht nur trübsinnig sondern auch noch paranoid."

"Moment, genau das Gesetz sagt aber auch, dass bei Gerichtsverhandlungen nur Aussagen von anwesenden Zeugen und Beklagten zuzulassen sind, damit niemand Falschbehauptungen als Tatsachen vorlegen kann", widersprach Julius, der sich in seiner Jugend häufig mit den Gesetzen der Zaubererwelt und vor allem deren Anwendung auf sogenannte Muggelweltgeborenen beschäftigt hatte.

"Genau deshalb wird der Gamotssprecher diesen Antrag als unzulässig abweisen", erwiderte Hera Matine. "Außerdem sind im Gamot mindestens zehn aprobierte Heiler, die die Behauptungen Elsternfußes kennen und deren herbologische und thaumaturgische Widerlegung kennen. Ich fürchte nur, dass Grandboises abwegige Vorstellung dadurch bestärkt werden wird und er sich als einsamer Kämpfer gegen ein Heer von Ungläubigen und Einfältigen sehen mag."

"So ganz einsam wird er ja nicht sein, wo der mehrere Leute dazu bekommen hat, seine Forderung mitzuunterschreiben", gab Julius eine unüberhörbar gehässige Antwort. Hera nnickte. Julius erwähnte, dass er die Behauptungen von Saxifragus Elsternfuß auch gelesen habe und schon die Behauptung, dass Sardonia mit der Züchterin bekannt gewesen sei, als Unwahrheit entlarvt hatte. Abgesehen davon hatte Melissa Mondenquell sicher nichts mit dunklen Hexen am Hut, wo sie dann ja selbst eine eigene Hexenschule hätte aufmachen können und sich nicht auf ein Zweckbündnis mit drei Zauberern und nur einer weiteren Hexe eingelassen hätte. Das bestätigte Hera Matine.

Auch wenn es wie üblich schwierig war, Aurore und Chrysope zum hinlegen und Einschlafen zu kriegen empfand Julius dieses allabendliche Familienritual als wesentlich entspannender als die Vorstellung, sich demnächst mit möglicherweise paranoiden Verbreitern von Halb- und Unwahrheiten auseinandersetzen zu müssen. Zwar war es rein lohnmäßig sein Job, bestimmte Aussagen für die nichtmagische Welt hinnehmbar aufzubereiten. Aber wenn er hier in Millemerveilles mit Anhängern abgedrehter Ansichten zu tun hatte gefiel ihm das überhaupt nicht. Denn bisher hatte er Millemerveilles als sehr angenehmen und friedlichen Rückzugsort empfunden. Hatte empfunden? Nein! Er wollte sich nicht auch noch von diesem Geistesvirus anstecken lassen, er dürfe seinen Nachbarn nicht mehr trauen.

__________

Millemerveilles, 3. Juni 2003

Sie ärgerte sich, dass sie seit Wochen in diesem trüben Teich ausharren musste. Aber seitdem die Leute hier diese verflixten Goldblütenhonigphiolen am Körper trugen konnte sie nicht mehr spüren, wer von denen gerade wo war. Beinahe hätte jemand sie erwischtt, als sie nur nach ihrer Wohnung sehen wollte. Diese achso scheinheiligen Dorfräte hatten doch wirklich mehrere Wachposten um ihr Grundstück aufgestellt, um sie zu erwischen. Ihr war nur die Flucht zum Dorfteich geblieben. Immerhin wusste niemand hier im Dorf, dass sie seit ihrem neunzehnten Lebensjahr eine unregistrierte Animaga war. Deshalb konnte sie sich im Dorfteich verstecken und von den kleinen Fischen ernähren, die dort zur Zierde und zur Reinhaltung des Wassers gehalten wurden. Doch irgendwann mochte einer der noch elf Leute, die sich mit den Quellsteinen auskannten, auf die Idee kommen, den Stein der Vollendung zu überprüfen. Wer diesen sehen wollte musste im Zentralteich auf den Grund tauchen und mit den nur den Eingeweihten bekannten Zaubern die wasserdichte Zugangsluke öffnen und den Wasserrückhaltezauber aufbauen, damit der Inhalt des Teiches nicht in die unterirdischen Gänge abfloss. Wenn jemand das versuchte würde sie ihn oder sie angreifen und töten müssen. Immerhin erlaubte ihre Animagusgestalt, dass sie mit normalgroßen Menschen unter Wasser fertig werden konnte, zumal sie dann gleich versuchen würde, ihnen in die Kehle zu beißen. Sicher, das würde auffallen. Aber dann gab es mindestens einen der Eingeweihten weniger. Außerdem konnte sie sich auf dem Grund des Teiches wunderbar zwischen den hier trotz der Verdunkelung noch gedeihenden Wasserpflanzen verstecken, und der Lebensaurenanzeigezauber klappte wegen der Feuerverbundenheit nicht.

Auch in ihrer gewählten Tiergestalt konnte sie fühlen, wie einige Leute offenbar die ihre Lebensaura überlagernde Kraft der Goldblütenhonigessenz aufgaben. Glaubten die da oben denn, Sardonias dunkles Erbe sei verflogen? Das wusste sie besser, sie, wo Sardonias Geist zu ihr gesprochen hatte und sie jederzeit damit rechnete, dass der von diesem bewohnte Dolch sich wieder bei ihr einfand. Wenn das passierte, so wusste sie, würde sie endlich jemanden töten können, um die Kraft der Kuppel weiter zu verstärken. Wenn sie schon nicht an das Balg der Dusoleils herankam und im Moment auch nicht durch die magische Barriere um das apfelförmige Haus der Latierres konnte würde sie mindestens einen der hier lebenden der großen Mutter Sardonia opfern, damit ihr Geist vollends erwachte und die längst fällige Vergeltung für die Jahrhunderte der Unterdrückung nahm.

Als habe sie mit ihren Gedanken nach ihm gerufen verstofflichte sich rechts von ihr der leicht gekrümmte Silberdolch mit dem Griff aus dem Knochen eines bretonischen Blauen. Die kalte Klinge berührte ihren gerade nackten, haarlosen Körper. Dann hörte sie die eindringliche Stimme in ihren Gedanken: "Meine treue Schwester und Vollstreckerin meines Willens, ergreife den Dolch, gib ihm vom Blute eines Abtrünnigen zu trinken und suche jene Töchter meiner früheren Schwestern auf, die wie du das alte Erbe in sich tragen und meinen Willen erfüllen sollen. Bring sie dazu, die widerwärtigen Brenngebräuvorräte fortzuschaffen, damit dieses widerwärtige Hantieren mit Feuer und Licht aufhört."

"Mater Magnaa Sardonia, Magistra Maxima magarum, sollen wir die Brennstoffvorräte abbrennen lassen? Dann sind sie vernichtet", fragte sie im Geiste und fühlte, dass Sardonias im Dolch wohnender Geist sie verstand.

"Nein, auf keinen Fall. Jedes weitere Feuer ist eines zu viel. Schaff diese widerlichen Brenngebräuvorräte an einen Ort, an den niemand gelangen kann, am besten zum Stein der langen Nacht oder zum Stein der stetigen Fruchtbarkeit, wo nur eine Hexe hingelangen kann! Hütet euch davor, auch nur einen Fingerhut voll dieses Brenngebräus zu entflammen! Jedes Feuer und Licht ist eines zu viel. Die Dunkelheit muss vollkommen sein, damit mein Geist die Gedanken aller erreichen kann und ich jenen meine Bedingungen auferlegen kann, die mir dienen wollen und jene, die mich zurückweisen bestrafen kann, indem ich ihnen die schlimmsten Träume sende."

"Gebieterin, es wird nicht bei allen gelingen. Mindestens um drei Häuser liegt eine aus Kräften des Lichtes geschöpfte Barriere, die ich nicht durchdringen konnte", widersprach die Animaga am Grunde des Zentralteiches.

"Sag mir nicht, was ich schon weiß! Immerhin habe ich die Schmerzen gefühlt, als die von mir zur Heimstatt gewählte Waffe nicht durch die Mauer aus lebenden Lichtern dringen konnte, hinter der sich die Frevler verstecken, die meine Macht ablehnen und danach trachten, mein Vermächtnis zu zerstören. Aber nicht jeder hier im Ort kann hinter einer solchen Mauer leben. Finde jene, die für mich erreichbar sind und gib meinem Dolch ihr Blut zu trinken, damit mein darin wirkender Geist endlich Verbindung zu seinen übrigen Bestandteilen knüpfen kann!"

"Dein Wille geschehe, o Mater Magna und Magistra maxima magarum", bestätigte die in Tiergestalt ausharrende Erbin der dunklen Matriarchin.

__________

Paris, 3. Juni, 20:30 Uhr Ortszeit

Laurentine Hellersdorf gab Catherine Brickston und Nathalie Grandchapeau je eine Kopie eines Schreibens, das sie von Julius Latierre über den Distantigeminus-Kasten erhalten hatte. Darin äußerte er sich besorgt, dass es in Millemerveilles Leute gebe, die die Wirksamkeit von Goldblütenhonigphiolen nicht nur bestritten, sondern die damit verbundenen Anweisungen ablehnten. Catherine las ihre Kopie des Schreibens und sagte dann: "Hätte nicht gedacht, dass die Irrlehren von Elsternfuß immer noch auf fruchtbaren Boden fallen können. Aber offenbar ist die Angst vor einem dunklen Erbe Sardonias größer als Vernunft und vermittelte Erkenntnisse. Na gut, Louis Grandbois lebt seit dem frühen Tod seiner Frau größtenteils allein in Millemerveilles. Das er nirgendwo anders hinziehen wollte liegt daran, dass er sich unter der Kuppel bisher vor Nachstellungen sicherfühlt und im Dorf noch zwei Söhne und deren Kinder wohnen. Aber wenn der genauso auf Abwege gerät wie Bromélie Bleulac oder Yvette Bouvier und ihre Nichte hugette Mirabeau könnte er durchaus ein ernstes Problem für die Disziplin und den Zusammenhalt in Millemerveilles werden. Tja, und wir kommen nicht mehr durch die Kuppel."

"Wenn der echt so paranoid drauf ist könnte dem einfallen, die nächsten Abwurflieferungen zu stehlen oder gleich am Abwurfort unbrauchbar zu machen. Zumindest wollt ihr ja im Moment keine Goldblütenhonigphiolen hinschicken, richtig?" fragte Laurentine Hellersdorf.

"Im Moment haben alle dort wohnenden Hexen und Zauberer von null bis über hundert Lebensjahren mindestens eine Phiole", erwiderte Catherine. Nathalie Grandchapeau bestätigte es durch ein Nicken.

"Ja, aber Brennstoffe müssen in spätestens zwei Wochen nachgeliefert werden. Da wir diese ungern aus der Luft abwerfen wollen müssen wir sie wohl auf Leiterwagen durch die Barriere stoßen, ohne dabei selbst gefährdet zu werden. Es könnte also sein, dass Grandbois und seine angeblichen Mitstreiter oder auch die von Sardonias erwachtem Erbe erfüllten Hexen die Warenlieferung abfangen und verschwinden lassen", sagte Catherine.

"Ja, bei Benzin und Spiritus könnten die gleich alles abfackeln", grummelte Laurentine. Catherine schüttelte den Kopf. "Nein, das genau werden sie nicht tun, zumindest nicht unter der Kuppel. Jede Wärme- und Feuerquelle mehr könnte die Kuppel abschwächen. Eigentlich hoffen wir darauf, dass die immer längeren Sonnenscheinphasen ausreichen, die dunkle Kraft zu schwächen. Aber darauf verlassen dürfen wir uns nicht, wie der gescheiterte Fluchtversuch von acht Zauberern überdeutlich gezeigt hat."

"Apropos acht Zauberer, Catherine. Ich habe die Leute aus Carolines ehemaligem Schulsaal angeschrieben, dass sie diese bitte erreichen möchten, da sie das garantiert nicht kalt lässt, dass ihr Vater bei diesem Fluchtversuch gestorben ist. Léonie und apollo wollten deshalb noch mal nachfragen, was genau passiert ist und warum Caroline seit Anfang April nicht mehr in Millemerveilles ist."

"Selbst, wenn die beiden sie erreichen, wo ihre Eltern sie schon über mehrere Verbindungsleute haben suchen lassen, kann sie nicht mal eben nach Millemerveilles zurück, solange die Kuppel nicht von den überstarken Dunkelzaubern gereinigt wird", wandte Catherine Brickston ein.

"Auch leider richtig", erwiderte Laurentine darauf.

"Ja, aber wie wir die nächste Lieferung so zustellen, dass sie nicht zerstört oder der Allgemeinheit vorenthalten wird müssen wir noch klären, Catherine", sagte Nathalie Grandchapeau. "Vielleicht müssen wir wahrhaftig einen Code ausformulieren, mit dem wir die Übergabepunkte verschlüsseln, ohne dass jemand unbefugtes sie entdecken kann. Geht sowas?"

"Du meinst so, dass nur bestimmte Leute verstehen, was gemeint ist, Nathalie? Natürlich geht sowas. Ich könnte so formulieren, dass außer Julius und vielleicht noch Jeanne oder Millie kapieren, was gemeint ist", sagte Laurentine. Darauf bat Catherine sie, eine derartige Mitteilung zu verfassen, damit die nächsten Brennstofflieferungen auch dorthin kamen, wo sie ankommen sollten. Catherine, die in Millemerveilles aufgewachsen war und da jeden über drei Jahren kannte ärgerte sich, dass sie derartig misstrauisch gegen wen von dort sein musste. Doch sie als Expertin für dunkle Magie wusste, wie schnell Angst und Misstrauen zu unbedachten, ja brandgefährlichen Handlungen führen konnten. Wenn wer behauptete, dass Goldblütenhonigphiolen gefährlich waren und es doch ach so gut meinte, mochte versuchen, sie anderen abzunehmen und zu zerstören. Dann konnte die mit der Verdunkelung der Kuppel zusammenwirkende Stimmungseintrübung ungehindert wirken und die Menschen dort zur Verzweiflung oder in eine tödliche Panik hineinstürzen. Beides würde nur der von Sardonia eingewirkten Magie dienen. Sie wusste auch, wie trügerisch der Frieden unter der Kuppel gewesen war. Sie wollte sich nicht ausmalen, was gewesen wäre, wenn die unheilvolle Entladungswelle während der Quidditchweltmeisterschaft 1999 durch Millemerveilles gefegt wäre. Immerhin wusste sie durch ihre Vernetzung mit der Liga gegen dunkle Künste, dass die Entladungsfront die Folge der Vernichtung des siebenarmigen Vampirs Heptachiron gewesen sein musste, und Julius hatte dem stillen Dienst seinen Klartraum von Temmie und der möglichen Vernichtung von Iaxathans Ankerartefakt berichtet. Das hätte also schon vor drei Jahren passieren können. Sie hatten damals eben ein mächtiges Stück Glück gehabt.

__________

Millemerveilles in der Nacht vom 3. zum 4. Juni 2003

Sie hatte kurz den Kopf aus dem Wasser gesteckt und in das von zwei Zauberern in Gang gehaltene Feuer geblickt. Abgesehen von den hellen Flammen, die ihren gerade besessenen Augen weh taten ärgerte sie sich, dass sie nicht ungesehen aus dem Teich steigen konnte. Denn um zaubern zu können musste sie sich erst wieder in ihre menschliche Gestalt verwandeln. Solange war sie angreifbar. Also zog sie sich wieder auf den Grund des Teiches zurück und überlegte, wie sie an den Feuerwächtern vorbeikam. Dass sie sich nicht zu viel Zeit lassen durfte wusste sie. Sardonia war sicher sehr in Eile. Es blieb ihr offenbar nur eins. Sie musste sich unter Wasser in ihre menschliche Erscheinungsform zurückverwandeln. Aber dabei würde die mitverstofflichte Kleidung völlig nass und schwer. Damit zu apparieren, noch dazu unter Wasser, war sicher sehr schwer. Dann kam ihr die Idee, den Dolch zu ergreifen und Sardonias Geist zu bitten, sie weit genug vom Teich entfernt abzusetzen. Dass der Dolch nicht nur selbst beliebig apparieren konnte wusste sie schon. So schwamm sie auf den Griff der auf dem Teichgrund liegenden Klingenwaffe zu, schnappte mit ihrem Maul nach dem Griff und dachte: "Bitte hilf mir ungesehen und trocken in den Wald um das Dorf zu kommen!"

"Ich soll dich tragen, Schwester?" hörte sie Sardonias Gedankenstimme. Sie bestätigte es. "Gut, weil du sonst nicht unbemerkt bleiben kannst werde ich dich tragen, aber nur, wenn du mir nach dieser Nacht deine endgültige Treue beweisen wirst", erwiderte Sardonias Gedankenstimme. Dann durchfuhr die Animaga ein schmerzhafter Hitzestoß. Im nächsten Augenblick lag sie auf dem Boden und rang nach Atem. Doch weil sie im Moment Kiemen hatte drohte ihr der nötige Sauerstoff auszugehen. Nur unter großer Anstrengung schlüpfte sie in ihre menschliche Gestalt zurück und atmete schnell und Hektisch. Der Dolch, den sie vorher noch in ihrem Fischmaul gehalten hatte, hing mit dem Griff zwischen ihren Zhänen. Doch nun konnte sie in trockenen Kleidern und mit dem Dolch in der Hand ihre Aufgabe erfüllen.

Sie verwünschte einmal mehr, dass die Leute hier diese Goldblütenhonigphiolen trugen. Deshalb konnte sie nicht fühlen, wer wo war und wer gerade noch wach war oder schon schlief. Da sie mit ihrem Zauberstab wegen des Einflusses der Kuppel kein Zauberlicht leuchten lassen konnte musste sie zudem in völliger Dunkelheit herumlaufen. Denn auch eine Laterne hätte ihr nichts genützt. Die hätte nur verraten, wo sie gerade war. Aber sie konnte den Strigoculus-Zauber anwenden, weil der kein leuchtendes Licht und kein Feuer hervorrief. Nun war sie nachtsichtig und sah in der Entfernung die wie an einer dünnen Perlenschnur aufgereiht leuchtenden Laternen. Das war auch so eine Abartigkeit, den Leuchtkram aus der Muggelwelt einzuführen. Egal! Solange sie den Dolch unter ihrer Kleidung verbergen und ihr Gesicht unter der Kapuze verstecken konnte würde sie nicht so leicht gesehen werden.

Auf den mit der Rückverwandlung wiederverstofflichten Lautloslaufschuhen konnte sie ohne all zu vorsichtig auftreten zu müssen laufen, ohne ein Geräusch zu machen. Sie musste nur ihren Atem unter Kontrolle halten, damit sie nicht loskeuchte wie eine Abraxanerstute bei der Paarung. Ihr Ziel war das Haus der Hautecollines. Sie fühlte mit den durch die Auswahl des Dolches geschärften Sinnen für lebende Wesen, dass dessen Bewohner keine Goldblütenhonigphiolen trugen. Sehr gut. So konnte und würde sie alle im Schlaf überraschen, die Eheleute, die Tochter, den Schwiegersohn und wenn sie ganz leise machte auch die zwei Mädchen. Als sie das dachte dröhnte Sardonias Gedankenstimme in ihrem Kopf: "Die Mutter lass leben, denn in ihr fließt das Blut einer treuen Mitschwester!" Einen Moment musste die heimliche Helferin Sardonias stehenbleiben, um den Schock der überstarken Anweisung zu verkraften. Dann eilte sie lautlos und dunkel wie ihr eigener Schatten auf das Haus zu, das von einem halbe Manneshohe aufragenden Bambuszaun umfriedet war. Das Tor war sicher mit besonderen Schutz- und Meldezaubern gespickt. Also musste sie wohl über den Zaun klettern. Doch halt! Sie prüfte besser erst, ob auch im Zaun irgendwelche gemeinen Meldezauber eingeflochten waren. Einer wortlosen Eingebung folgend nahm sie zur Prüfung nicht den Zauberstab, sondern den Opferdolch der großen Mutter und führte die Spitze ganz behutsam an die Kreuzung zweier Zaunlatten heran. Der Dolch erwärmte sich und begann zu vibrieren. Dann pochte der Griff wie ein kräftiges Herz in ihrer Hand. Also stand der Zaun ebenfalls unter einem Zauber. Dann erkannte sie auch, dass es kein schnöder Meldezauber war, sondern ein Eindringlings-Festhaltezauber. Wenn sie ihn übersteigen wollte würde sie darauf festkleben wie eine Fliege im Spinnennetz. Sie verwünschte den Umstand, dass sie ihren Besen im Zentralteich zurückgelassen hatte.

Sie wollte gerade umdrehen und sich ein anderes Ziel suchen, als ihre Finger wie von einem Magneten angezogen um den Dolchgriff zusammenkrampften und die Spitze der silbernen Klinge zielgenau zwischen die Bambuspfähle stieß. Es knisterte. Dann flimmerte ein silbernes Licht, heller als der Mond, aber noch nicht halb so hell wie die unverhüllte Sonne. Durch den Zaun lief ein kurzes Zittern. Dann knackte es, und die zwei benachbarten Zaunlatten zerbrachen. Noch einmal zitterte der Zaun. Dann erlosch das silberne Licht. Ein Gefühl der Überlegenheit und Genugtuung durchflutete die heimliche Helferin Sardonias. Sie hatte den Zaun mit der Kraft des Blutdolches entzaubert, ohne dass drinnen jemand aufmerksam werden konnte. Sich nun völlig sicher, dass ihr nichts mehr zustoßen konnte berührte sie den Zaun, zog sich daran hoch und schwang ihre Beine hinüber. Federnd landete sie auf ihren Füßen. Die Lautloslaufschuhe schluckten das Aufprallgeräusch. Nun umrundete sie das Haus und freute sich, dass hier draußen kein Licht brannte. Dann fühlte sie, wo erwachsene Menschen waren. Wenn sie die Mutter nicht töten durfte durfte sie die Mädchen auch nicht töten, weil diese sicher auch das Blut einer treuen Sardonianerin in sich hatten. Also musste sie nur den Patriarchen der Hautecollines und dessen Schwiegersohn erdolchen. Dann fiel ihr ein, dass sie das nicht gleich tun durfte, sondern ihn zu einem der zwölf außen liegenden Quellsteine schaffen musste, damit dessen Blut den Stein tränkte und seine Seele in sich aufsog. Das würde der Kuppel die höchste Verstärkung verschaffen.

Wie beim Zaun prüfte sie bei den geschlossenen Fensterläden, ob irgendwelche Fang- oder Meldezauber eingewirkt waren. Ja, auch hier wirkte offenbar ein Zauber, allerdings spürte sie statt des Pulsierens nun ein wildes Zittern im Dolchgriff. Sie hielt den Dolch bereit, ihn zwischen die Fensterläden zu stoßen, als vor den Fensterläden ein silberner Lichtvorhang niederfiel und ein unerträglich lautes Wimmern aus dem Haus erklang. Das war der Katzenjammerzauber. Unvermittelt schienen die Fensterläden zu verschwinden, und ein kalter Schauer durchflutete ihren Körper. Der Dolch in ihrer Hand flackerte in einer Mischung aus Silber und Orangerot. Dann fühlte sie, wie unter ihr der Boden nachgab und sie versank, als habe jemand den Boden in Treibsand verwandelt. "Kapuze runter, Hexe! Sonst verschwindest du für immer in Maman Erdes Bauch und kommst da nur noch als Skelett wieder raus!" hörte sie von drinnen eine entschlossene Männerstimme. Dann knallte es dumpf, jemand stöhnte kurz auf. Dann rumpelte es. "Finite Alertum!" hörte sie nun eine Frauenstimme rufen. Das laute Wimmern erstarb. "Mamie Genie, ist da wer?" hörte sie die Stimme eines gerade acht Jahre alten Mädchens, sicher Eudore, die ältere Enkeltochter der Hautecollines.

"Eine späte Eule, die direkt zu uns reinfliegen wollte und dabei den Einbrecheralarm ausgelöst hat, Dorie. Schlaf ruhig weiter. Ich denke, der Katzenjammer geht nicht nochmal los", sagte die ältere Hexenstimme. Dann hörte die bis zu den Knien eingesunkene das Geräusch sich entriegelnder Fensterläden. Als diese aufklappten wurden sie auch wieder sichtbar. Nun konnte die Helferin das Gesicht von Eugenie Hautecolline sehen und auch, dass sie einen Zauberstab in der Hand hielt. "Trans vestitem video!" hörte sie ein leises Flüstern. "Ach neh, da bist du ja endlich. Ich hatte schon gedacht, die hätten dich doch erwischt oder das Erbe unserer verehrten Vormutter hätte dich zur Selbstentleibung gezwungen."

"Du hast auf mich gewartet?" flüsterte die bis zu den Knien eingesunkene. "Nicht nur ich. Es war nur eine Frage der Zeit, dass du oder jemand anderes das erwachte Erbe annimmt und vollendet. Ich muss echt zugeben, dass ich gehofft habe, dass ich es sein würde, der ihren Opferdolch bekommt. Aber du bist als alleinlebende schon eher fähig, heimlich zu handeln. Reliberato ex Terra!" zischte die Hexe im Schlafzimmer. Sofort wurde die heimliche Helferin Sardonias aus dem Boden herausgestoßen und musste aufpassen, nicht vom Schwung nach oben geworfen zu werden. "Ich soll ihr ein weiteres Blutopfer bringen, einen, der ihr nicht treu ist. Hilf mir, deinen Bettwärmer an einen dafür vorgesehenen Ort zu bringen", flüsterte die Helferin. Eugenie Hautecolline nickte und wandte sich wieder dem Inneren ihres Schlafzimmers zu. Sie vollführte einen ungesagten Zauber, den die Helferin nur als solchen fühlte, weil dabei ein Kraftfluss durch ein lebendes Wesen erfolgte und dessen Aura räumlich und von der Stärke her auf einen winzigen Bruchteil verringert wurde. Gerade wollte sich Eugenie wieder dem Fenster zuwenden, da traf diese selbst was am Kopf. Sie keuchte auf und fiel um. Dann stand ein gerade mal dreißig Jahre alter Zauberer im kurzen Schlafanzug am Fenster und zielte mit seinem Zauberstab auf die davor wartende Hexe. "Petripugnus!" hörte die Helferin ihn zischen. Da umstrahlte sie silbernes Licht, und sie stand keine Zehn Meter von einer anderen Hexe entfernt, die aus blankem Eis zu bestehen schien. Sie fühlte und hörte, dass hier mächtige Zauberkräfte wirkten. Es war wie über ihre Haut laufende Ameisen und das Gebrumm eines von Bégonie L'ordouxes Bienenvölkern in den Ohren. Offenbar hatte die Macht des Dolches sie vor dem Steinfaustzauber gerettet. "Gegen diesen hättest du erst den großen Schild zaubern müssen, treue Schwester. Jetzt wird Eugenie wohl betäubt und in Gewahrsam genommen. So kommst du nicht mehr an die Hautecollines heran. Such dir wen anderen aus, und ich bringe dich hin. Aber bedenke, dafür, dass ich dich an den gewünschten Ort trage schuldest du mir deinen eigenen Körper, wenn weiteres Blut geopfert wurde", hörte sie Sardonias fordernde Gedankenstimme. Die Helferin überlegte, wen sie statt der Hautecollines heimsuchen sollte. Da überstrich sie etwas wie eine unsichtbare Hand. Sie hörte ihren wahren Namen in beiden Ohren gleichzeitig und ffühlte, wie der von ihr gehaltene Dolch erzitterte. "Drachenrotz! dieser übereifrige Bursche hat dich trotz meiner Verhüllung gefunden. Zurück in dein Versteck!" Wider blitzte es um sie silbern auf, und unvermittelt fand sie sich in kaltem Wasser wieder. Sie ließ den Dolch aus der Hand fallen und konzentrierte sich. Das sie umgebende Wasser und dessen Kälte halfen ihr, innerhalb von einer Sekunde in ihre Tiergestalt zu wechseln. Nun konnte sie frei durch die ihr gewachsenen Kiemen Atmen. Neben ihrem nackten, schuppenlosen Körper lag Sardonias Opferdolch. Sie hörte die Stimme ihrer toten Herrin: "verweile einen weiteren Tag in deinem Versteck. Der unwürdige, der das Blut der Bouviers mit seiner Saat verwässert hat, wird dich jagen lassen. Erst wenn sie dich nicht finden und zurück in ihre Häuser eilen kannst du ein weiteres Ziel auswählen."

"Was wird mit Eugenie Hautecolline?" wollte die Helferin wissen. "Diese Lebensanbeter werden sie nicht töten. Sie werden sie wohl wie deine Tante in tiefen Schlaf betten, den selbst ich nicht von ihnen nehmen kann, solange wir nicht wissen, wo sie versteckt wird. Aber sei frohen Mutes, dass es noch Töchter einstiger Getreuer von mir gibt, die darauf warten, mit dir zusammen mein Erbe zu voller Kraft zu führen."

"Sie werden mich diesmal länger suchen. Woran merke ich, dass sie die Suche aufgeben, große Mutter?" wollte die Helferin wissen. "In der nächsten Nacht werden wir es wissen, ob sie dich noch suchen oder nicht", hörte sie die Antwort ihrer wahren Herrin. Damit musste sich die Helferin erst einmal abfinden.

__________

Aus Mildrid Ursulines Reportage "Unter der Dämmerkuppel"

4. Juni 2003

Gestern nacht hat die von unseren Sicherheitsleuten schon seit Wochen gesuchte Helferin Sardonias versucht, die Familie Hautecolline zu überfallen. Dabei kam heraus, dass Eugenie Hautecolline, geborene Bouvier offenbar eine heimliche Unterstützerin der dunklen Matriarchin Sardonia war. Denn anders konnte sich Auguste Beaumot nicht erklären, dass die Gesuchte über den mit Melde- und Festhaltezaubern gespickten Gartenzaun gelangen und sein Schwiegervater vom Schlag mit einem hölzernen Nachttopf betäubt werden konnte, bevor der Meldezauber für einen unmittelbar bevorstehenden Einbruchsversuch ausgelöst wurde. Auguste Beaumot versuchte zwar, die ungebetene Besucherin mit einem der wenigen nicht auf der Elementarkraft Feuer gründenden Betäubungszauber handlungsunfähig zu machen, aber sie entkam. Seiner Aussage nach benutzte sie eine ihm noch unbekannte Form von Portschlüssel. Er schickte zwar einen wirksamen Personensuchzauber aus, der die namentlich bekannte Zielperson bis zwanzig Kilometer Umkreis aufspüren konnte und erfasste das Ziel fast am Rand der Dämmerkuppel, doch das Ziel verschwand genauso plötzlich, wie die Einbrecherin vom Haus der Hautecollines entkommen konnte. Jeder weitere Suchzauber blieb ohne Erfolg.

Auguste Beaumot suchte seinen Vater und fand ihn erst, nachdem er den Mansiordinifacta-Zauber verwendete. Die eigene Frau, Mme. Eugenie Hautecolline, Modeexpertin der Monde des Sorcières, hatte ihren Mann in etwas kleines, tragbares verwandelt. Offenbar war nicht geplant, ihn im eigenen Haus zu foltern oder zu töten. Jedenfalls konnte Auguste Beaumot ihn wieder in seine natürliche Gestalt zurückverwandeln. Was statt dessen mit der Hausherrin geschah wollte mir M. Latour, der immer noch zuständige Leiter der Sicherheitstruppen Millemerveilles, nicht verraten. Er sagte nur: "Da wir jetzt sicher davon ausgehen müssen, dass Sardonias dunkles Erbe noch weitere Nachfahren ehemaliger Komplizinnen angestiftet hat ist es unbedingt wichtig, dass diese nicht wissen, wo und wie die erkannten und ergriffenen Kumpaninnen verwahrt werden, um diese nicht befreien zu können. So und nicht anders dürfen Sie das weitergeben." Das habe ich hiermit getan.

Es ist schon unheimlich, dass die gesuchte Helferin und womöglich auch Sardonias magischer Opferdolch immer noch frei beweglich unterwegs sind, ja und dass sie sich so verstecken kann, dass kein bekannter Suchzauber sie finden kann. Da die Kuppel schon vor ihrer Verdunkelung keinen Apparator hinein- oder hinausließ gilt sicher, dass sie das jetzt erst recht nicht tut. Auch bei Portschlüsseln mussten damals im Jahr von Didiers Angstherrschaft besondere Maßnahmen ergriffen werden, um die direkte Ankunft eines Portschlüssels unter der Kuppel zu ermöglichen. Welche Maßnahmen das sind ist ein Geheimnis derer, die sich mit der Beschaffenheit der Kuppel auskennen und darf der Öffentlichkeit nicht mitgeteilt werden. Ich respektiere das deshalb, weil ich und die zwei oder besser drei Töchter von mir zumindest noch in einer gewissen Sicherheit bleiben können.

Mir und meinem ungeborenen Kind geht es noch gut, wenn ich auch merke, dass es meiner dritten Tochter schon ziemlich ungemütlich wird. Meine Hebamme hat jedoch auch ohne den so praktischen Einblickspiegel herausbekommen, dass sich meine dritte Tochter schon in die für eine natürliche Geburt günstige Lage gedreht hat. Das freut meine Hebamme, meinen Mann und natürlich auch mich. Auch wenn ich das jetzt schon zum dritten mal erleben werde ist das doch immer noch eine Mischung aus Vorfreude und Sorge, ob das alles so abläuft wie es soll und ob es mir sehr heftig weh tut oder nur wenig. Wenn dann noch eine da draußen herumläuft, die am liebsten jede Geburt verhindern möchte, um die Kuppel ihrer längst zu Staub Zerfallenen Herrin zu verstärken gilt für mich, dass ich nun nicht mehr hinausgehen werde. Zumindest bekomme ich durch die auf unserem Grundstück lernenden Schulkinder und deren Eltern genug Abwechslung und Kontakte. Daher konnte ich Augustes Bericht, zumindest das für die Öffentlichkeit erlaubte, erfahren und an Sie da draußen weitergeben.

Falls wieder was erwähnenswertes geschieht melde ich mich direkt danach, falls nicht am zehnten Juni. Ich möchte jedoch die Gelegenheit ausnutzen, mich im Namen aller Mitbürgerinnen und Mitbürger Millemerveilles für Ihre weitere Unterstützung zu bedanken. wir werden durchhalten.

MUL

__________

Zaubereiministerium Frankreich, 5. Juni 2003, 10:00 Uhr Ortszeit

Auch wenn hier fast alle die Temps de Liberté bezogen, auch und vor allem wegen der Fortsetzungsreportage "Unter der Dämmerkuppel", verlas Nathalie Grandchapeau das Kapitel vom Vortag vor ihren Innen -und Außendienstmitarbeitern. Das tat sie offiziell, um alle zeitgleich auf den gleichen Wissensstand zu bringen. Inoffiziell tat sie es vor allem, um den in ihrem Leib verborgenen Demetrius Vettius über den neuesten Stand in Millemerveilles zu unterrichten. Als sie den Artikel mit Mildrids Dank und Zuversicht beendet hatte legte sie die aktuelle Ausgabe von Gilbert Latierres freier Zeitung auf den Konferenztisch. Belle sah ihre Mutter und Vorgesetzte fragend an und erhielt durch ein Nicken das Wort.

"Madame Latierre darf oder will den Namen der gesuchten Hexe nicht aussprechen, Madame Grandchapeau?"

"Offenbar hat sie eine Übereinkunft mit den Sicherheitstruppen, dass ertappte Störenfriede oder eindeutige Verbrecher innerhalb der Gemeinde erst dann beim Namen genannt werden dürfen, wenn eine ordentliche Gerichtsverhandlung möglich ist. Das dient wohl auch dazu, diese Leute nicht als Märtyrer hinzustellen, die irgendwo in Millemerveilles und auch bei uns irgendwelche schlafenden Drachen kitzeln und weitere Sardonianerinnen zum Handeln treiben könnten. Wer weiß, wer gesucht wird kann ihm oder besser ihr womöglich auch aus der Ferne beistehen. Dass Madame Latierre den Namen von Eugenie Hautecolline erwähnt hat liegt daran, dass es wohl im Dorf herum ist, dass sie der Gesuchten helfen wollte, ihren eigenen Ehemann verschwinden zu lassen, ja womöglich bei dessen ritueller Ermordung mithelfen sollte. Ob sie das freiwillig getan hätte oder einem über die Jahrhunderte vererbten Gehorsamkeitszwangzauber unterworfen war muss noch geklärt werden. Auch deshalb wird der Name der Hauptverdächtigen nicht in der Reportage erwähnt", erwiderte Nathalie Grandchapeau. In ihrem Geist erklang Demetrius Kleinjungenstimme: "Nur, dass die in Millemerveilles festhängenden Sardonianerinnen sicher wissen, wer ihre flüchtige Mitschwester ist, Maman." Diesen ihr eingeflößten Gedanken sprach Nathalie dann auch für alle hörbar aus. Dann fügte sie noch hinzu: "Aber wir hier draußen dürfen es wohl erst wissen, wenn es möglich ist, Sardonias Macht zu brechen."

"Wenn es überhaupt Sardonias Macht ist, Madame Grandchapeau", wandte Rose Devereaux ein. "Meine Kontakte in den Mittelmeerraum haben was verlautbart, dass möglicherweise Ladonna Montefiori durch eine uns noch unbekannte Aktion die dunkle Entladungsfront ausgelöst hat, ob absichtlich oder nicht. Jedenfalls könnte was unter der Kuppel von Millemerveilles geschieht auch das Werk eines anderen Geistes als dem Sardonias sein, und Sardonias Erbe reagiert darauf wegen der Afinität zur dunklen Magie."

"Das kann uns wohl nur die wiedererwachte Montefiori oder die vor ihr schon als Wiedergeburt von Anthelia aufgetretene erzählen", warf Primula Arno unaufgefordert ein. Nathalie räusperte sich und sah sie tadelnd an. Das beeindruckte die Halbzwergin jedoch nicht.

"Das heißt im Klartext, dass wir unsere Hilfslieferungen nicht mehr zuverlässig zustellen können, wenn außer den Anhängern der Elsternfuß-Hypothese noch aufgewachte Sardonianerinnen den Gemeindefrieden stören, Madame Grandchapeau", wandte der sehr gut genährt aussehende Zauberer Blaise Lepont ein. Nathalie Grandchapeau nickte und sah dann ihre Mitarbeiterin und Erstgeborene an, die bereits die Hand zur Wortmeldung erhoben hatte.

"Da wir festgestellt haben, dass unsere Hilfslieferungen nicht mit einem Zauber belegt werden dürfen, wenn sie unversehrt durch die kompromittierte Kuppel dringen sollen, haben wir, die wir Zugang zu Rechnergeräten der magielosen Welt haben, einen für Monsieur Julius Latierre allein verständlichen Wortcode vereinbart, den er an die für die Annahme der Lieferungen zuständigen Sicherheitszauberer weitergeben soll. Es tut mir, die ich als Hexe geboren wurde, in der Seele weh, einräumen zu müssen, dass wir im Moment keiner anderen Hexe außer den Dusoleils und Julius Familienangehörigen uneingeschränkt vertrauen dürfen. Das gab es in den USA im Jahr von Didiers Angstregime auch, und wir wissen, wie das ausgegangen ist. Aber in diesem Fall muss ich eingestehen, dass wir keine andere Wahl haben. Madame Faucon, mit der ich kurz vor dieser Zusammenkunft noch einmal direkt kontaktgefeuert habe, verdächtigt zwanzig Hexen, die von ihrer Ahnenlinie her für Sardonias Ideen empfänglich gemacht worden sein können. Sie betont, und ich gebe das genauso deutlich weiter, dass diese Hexen nicht von sich aus Sardonias Weg beschreiten wollten, sondern durch vererbte Verhaltensregeln, die unter Einwirkung verbotener Zauber in ihren Geist eingeprägt wurden, auf bestimmte Signale reagieren, sowie die in der Reportage als "Gesuchte" bezeichnete Hexe, Hugette Mirabeau. Über die Unauffindbarkeit derselben vermutet Madame Faucon, dass diese höchstwahrscheinlich eine unregistrierte Animaga ist und wegen der ohnehin bestehenden Zauberbeschränkungen unter der Kuppel nicht von allen Suchzaubern erfasst werden kann, sobald sie in Tiergestalt unterwegs ist. Sie hat sogar den Verdacht, dass Hugette Mirabeau eine unter Wasser lebensfähige Tiergestalt annehmen kann, also die eines Fisches, einer Wasserschnecke oder eines Meeressäugetieres, wenngleich letzteres am unwahrscheinlichsten ist, da Meeressäuger eben im Meer im Salzwasser leben müssen und Süßwasser für sie dauerhaft schädlich sein kann."

"Da kommt Königin Blanche aber sehr früh drauf", knurrte Rose Devereaux verdrossen. Nathalie räusperte sich nun so laut, dass ihr weiterhin ungeborener Sohn ihr vor Schreck beide Füße in den Bauch stieß. Gerade soeben verhinderte sie noch einen schmerzhaften Aufschrei. "'tschuldigung, Maman", hörte sie Demetrius' Gedankenstimme in ihrem Geist.

"Öhm, Mademoiselle Devereaux, Sie möchten doch keinen Eintrag in Ihrer Personalakte riskieren, indem Sie zum einen völlig ungebeten und zum anderen sehr abfällig sprechen?" Rose sah ihre Vorgesetzte abbittend an und schüttelte den Kopf. "Dann gewähre ich Ihnen die Gelegenheit, Ihre Verfehlung einzugestehen", sagte Nathalie. Das tat Rose Devereaux nun und bat um Entschuldigung. Diese wurde ihr von Nathalie erteilt. So würde es dann auch im Protokoll stehen.

"Wenn die Dame sich als Fisch ausgibt, Madame Grandchapeau, dann brauchen da doch nur alle Sportfischer über den Farbensee zu fahren oder mit den Meerleuten zu sprechen, dass sie nach diesem Fisch suchen. Oder sie pumpen den Teich in der Dorfmitte leer, um alle darin schwimmenden Fische auf einmal an Land zu holen. Wenn da dann einer bei ist, der sich verdächtig bewegt, haben Sie die Gesuchte doch", meinte Blaise Lepont, der in seiner Freizeit gerne an den Nebenflüssen von Rhone und Loire angelte, da, wo die Muggel noch nicht alles mögliche an giftigem Abfall reingelassen hatten.

"Es gibt Fische, die ziehst du nicht mal so eben aus dem Wasser", meinte einer der Beauvieu-Zwillinge, nachdem er anständig ums Wort gebeten hatte. "Öhm, Sie haben sicher von dem Angler gehört oder gelesen, der fast von einem Stör ersäuft wurde, weil der Angler den Fisch nicht loslassen wollte und der Fisch den geschluckten Köder nicht mehr ausspucken wollte. Und in der Normandie hatten sie vor hundert Jahren einen durch Wachstumstrank sieben Meter groß aufgeblasenen Wels, der den Anglern und Speisefischern alles weggefressen hat, bis es endlich gelang, ihn mit besonders stabilen Netzen einzufangen."

"Das mit dem Stör war Anglerlatein. Es war ein Kelpi, mit dem sich der Fischer angelegt hat. Den Wels habe ich vor zehn Jahren als ausgestopftes Paradestück im Fischereimuseum im zaubererviertel von Lehavre besichtigt", sagte Lepont. "Aber wenn wir den Teich leerpumpen kriegen wir jeden Fisch da rausgeholt, egal ob Stichling oder Walhai."

"Ich gebe das mal weiter", sagte Nathalie Grandchapeau. "Allerdings dürfte es den unschuldigen Fischen sehr übel bekommen, wegen eines möglichen Eindringlings derartig zu leiden. Aber ich werde zumindest Madame Faucons Verdacht weitergeben."

"Und wenn dieser schuldige Fisch im Farbensee herumschwimmt?" wollte Blaise Lepont wissen. Da meldete sich Rose Devereaux ganz ordentlich zu Wort: "Dann muss sie wohl aufpassen, nicht von den dort lebenden Wassermenschen durch deren Gabe, kaltblütige Wirbeltiere zu beherrschen, unterworfen zu werden." Darauf meldete sich Primula Arno zu Wort und sagte: "Das gilt nur bei natürlichen Fischen. Animagi, die sich in kaltblütige Wirbeltiere oder gar Wirbellose verwandeln können unterliegen nicht dieser Kraft der Wassermenschen. Ich erinnere da an das Buch von Ponthophilos Cousteau von vor 120 Jahren, der auf Anregung aus dem Roman "20000 Meilen unter dem Meer" beschlossen hat, als Blauhai-Animagus die Tiefen der Meere zu erforschen, um die dort auffindbaren magischen Wasserpflanzen und Zaubertiere zu erforschen. Einige seiner Berichte fanden Eingang in die entsprechenden Fachpublikationen wie "Wasserpflanzen des Mittelmeeres" oder "Die Geschwister unter dem Meer", wo er genau erwähnte, dass die im Mittelmeer wohnenden Wassermenschen ihn erst als natürlichen Haifisch gesehen und mit ihren Stimmen zu unterwerfen getrachtet hätten, er sich aber mit seiner menschlichen Intelligenz diesen Versuchen erfolgreich widersetzen konnte. Immerhin durfte er dann noch zwei Jahre bei den Wassermenschen zubringen und ihre Lebensgewohnheiten studieren, bevor er merkte, das er doch mal wieder an Land gehen sollte, nachdem er mit mehreren Blauhaiweibchen hundert Nachkommen gezeugt hat, deren Nachkommen heute noch irgendwo im Mittelmeer und dem Atlantik herumschwimmen sollen."

"Oh, dann muss ich das Buch doch mal lesen", sagte Rose Devereaux. "Meine jüngere Schwester ist ja ganz hin und weg von den Berichten von Ponthophilos Cousteau."

"Hmm, steht in den Werken dieses beachtlichen Forschers auch, wie Unterwasser-Animagi von natürlichen Wassertieren unterschieden werden können, wenn Zauber wie der Umbroriginis-Zauber wegen ihrer Lichtentwicklung nicht gelingen?" fragte Nathalie Grandchapeau. Primula Arno wiegte ihren Kopf und erwiderte dann: "Davon steht da leider nichts in den von mir gelesenen Büchern. Ich möchte jedoch anmerken, dass Ponthophilos Cousteau dreißig Bücher und hundert Fachartikel veröffentlicht hat. Von den Büchern habe ich nur fünfzehn gelesen, und das nur, weil mich deren Titel interessiert haben. Die fünfzehn anderen Bücher hatten mir zu akademische Namen und drehten sich wohl auch eher um Zählungen und Vergleiche von Lebensformen in verschiedenen Meerestiefen. Das war mir damals zu dröges, öhm, eben akademisches Zeug."

"Es mag auch sein, dass er genau das erforscht hat, wie andere Zauberer jemanden wie ihn unter den ganzen echten Fischen herauspicken können, ohne den Originalgestaltanzeiger zu wirken. Immerhin wissen alle Animagi, dass in Tiergestalt alles mögliche vom harmlosen Streich bis zum schlimmsten Verbrechen angestellt werden kann", sagte Belle Grandchapeau nach anständiger Wortmeldung. Nathalie nickte und zitierte die entsprechende Passage aus dem Gesetz zur Erkennung, Genehmigung und Überwachung von magisch begabten Menschen, die willentlich in Tiergestalt wechseln können, auch als Animagus-Richtlinie bekannt. Dafür wurde sie ganz sacht von innen in den Unterbauch gestupst. Denn immerhin hatten sie und Armand Grandchapeau sich beim Studium von Verwandlungsgesetzen richtig kennen gelernt und später daraus eine langjährige Ehe, eine erwachsene Tochter und jetzt einen dauerhaft ungeborenen Sohn hinbekommen.

"Ich möchte vorschlagen, das wir das mit den Kollegen aus der Tierwesenüberwachung klären, denen die Animagus-Registratur untersteht", brachte Belle Grandchapeau vor. Ihre Mutter und direkte Vorgesetzte genehmigte diesen Vorschlag und machte ihn damit zur amtlichen Anwweisung.

"Und wie läuft das nun mit den Lieferungen weiter?" kam Primula Arno auf das eigentliche Thema zurück.

"Wie erwähnt erarbeite ich mit unserer ehemaligen Kollegin Mademoiselle Hellersdorf einen nur für Monsieur Latierre verständlichen Schlüssel, den er verwenden kann, um die Lieferungen ungefährdet zustellen und entgegennehmen zu können", sagte Demetrius' große Schwester.

"Gut, dann erteile Ich Ihnen auch den Auftrag, den Kollegen von der Animagus-Registratur mitzuteilen, dass wir von diesen gerne erfahren möchten, ob es Methoden gibt, durch Kimen atmende Animagi von natürlichen Wassertieren zu unterscheiden, ohne den Originalanzeigezauber verwenden zu können", sagte Madame Grandchapeau. Da klang Demetrius' Gedankenstimme in ihrem Geist: "Neh, Maman, lass das besser bleiben, weil in der Animagus-Registratur mindestens eine Hexe mit einer Sardonianerin als Vorfahrin sitzt, Muriel Troismonts, geborene Villefort."

"Öhm, Madame Grandchapeau, wir sollten jedoch vermeiden, dass bekannt wird, dass wir eine unregistrierte Animaga in Millemerveilles suchen. Nicht, dass wir die Gesuchte nicht ganz unbeabsichtigt vorwarnen. Am besten formulieren Sie die Anfrage so, dass Monsieur Lepont und Monsieur Charles Beauvieu darüber diskutiert haben, dass Angler einen in einen Fisch verzauberten Menschen nicht von natürlichen Fischen unterscheiden können und ob es da entsprechende Mittel gibt, es doch zu können." Belle nickte verstehend. Dann ging es wieder um den zu findenden Schlüssel. Offenbar gehörte die für Bewohner des violetten Saales bezeichnende Strebsamkeit immer noch zu Belles Arbeitshaltung. Denn sie präsentierte mit einem verhaltenen Lächeln eine Tabelle aus Zahlen und Buchstaben. "Diese Tabelle stellt dar, wie ein elektrischer Rechner, auch Computer genannt, aus bestimmten Zahlen sichtbare Buchstaben auf dem Bildanzeigegerät darstellt. Das System heißt ASCII und gilt bis heute als Standard der Umrechnung von Laufnummern in Buchstaben, Zahlen und Sonderzeichen, einschließlich der französischen Akzentzeichen. Mademoiselle Hellersdorf gab mir diese Tabelle mit, um sie als mögliche Verschlüsselungsgrundlage vorzuschlagen."

"Natürlich, ASCII-Zeichen", grinste Primula Arno und sah ihre Vorgesetzte abbittend an, weil sie ungebeten gesprochen hatte. Diese nickte ihre Abbitte ab. "Wie viele dieser Zeichen gibt es noch mal, Madame Grandchapeau?" "255, Madame Grandchapeau", erwiderte Belle. "Hmm, dann können wir die relativen Gradzahlen also nicht in dieser Form verschlüsseln, um Nord- oder Südrichtungen zu vermitteln." Belle nickte. Dann strahlte sie ihre Mutter an und sagte: "Zahlen können aber addiert werden, also 255 plus 105 gleich 360 und so weiter." Nathalie verzog das Gesicht, während jemand für die anderen unsichtbares eine sie von innen kitzelnde Bewegung machte. "Gut, entwickeln Sie bitte auf Grundlage dieser Tabelle den nötigen Schlüssel für Bezugspunkte oder Himmelsrichtungsangaben am Rand der Kuppel! Ich danke für diesen sehr praktischen Ansatz, Madame Grandchapeau."

Als dieser Punkt geklärt war ging es noch um die sonstigen Themen dieser Konferenz, wie die Aufrechterhaltung des Kontaktes mit irakischen Zauberern, die nach dem offiziellen Ende des US-amerikanisch geführten Krieges die Beziehungen zu den westlichen Staaten wiederherstellen wollten. Hier erwies es sich als günstig, dass Frankreich sich nicht am Kriegszug beteiligt hatte. Außerdem ging es um die Genehmigung der internationalen Zusammenarbeit im Bezug auf die Nachtschattenkönigin, die durch Wallenkrons Verschmelzungszauber entstanden war. Dieses Abkommen musste von den zuständigen Abteilungsleitern, also auch der Strafverfolgung, der Abteilung für internationale magische Zusammenarbeit und der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe bestätigt und damit in Kraft gesetzt werden. Insgesamt arbeiteten nun Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Belgien, Luxemburg, die Schweiz, Österreich, Italien und Spanien in diesem Verbund namens "Schattennetz" zusammen. Bei der Gelegenheit wurden auch so die Aktivitäten der sogenannten schlafenden Göttin mit überwacht. Nathalie würde Ende Juni noch in die USA reisen, wenn sie heraus hatte, wie sie ihre Hebamme austricksen konnte, dass diese ihr die Reise nicht verwehren konnte. Wenn es gelang, über die Nordamerikaner auch andere amerikanische Zaubereiministerien einzubinden, bestand die Möglichkeit, ein weltweites Überwachungsnetzwerk gegen die sehr beweglichen Nachtschatten und die Dienerschaft der Vampirgötzin zu errichten. Allerdings wusste keiner, ob die Lage in den vereinigten Staaten nach der Sache mit Minister Dime endlich stabil war und ob dort nicht noch mehr Agenten von Vita Magica tätig waren. Was diese Möglichkeit anging wussten sie ja in Paris auch nicht, wie viele Agenten von Vita Magica bei ihnen herumliefen. Das war schon eine ganz unangenehme Lage für Ministerin Ventvit und ihre Abteilungsleiterinnen und Abteilungsleiter.

Als die Konferenz vorbei war kehrte Nathalie Grandchapeau zu ihrer Büroarbeit zurück. Durch die zunehmende Verbreitung des Internets wuchs die Gefahr für die Zaubereigeheimhaltung immer weiter an. Sie hatte vor einem Monat den Antrag auf Vergrößerung ihres Außendienstmitarbeiterstabes gestellt und zudem in Beauxbatons einen Aushang in den Sälen verbreiten lassen, dass ihre Abteilung sowohl geduldige, wie geistig flexible und vorabkundige Anwärter für die Aufgaben im Büro für friedliche Koexistenz suchte. Immerhin gab es in der Akademie derzeitig einhundert Schüler aus nichtmagischen Familien im ZAG-Jahrgang und vierzig im UTZ-Jahrgang. Wenn da der eine oder die andere sich bereiterklärte, für ihre Abteilung zu arbeiten war das sicher sehr nützlich. Innerlich grollte sie immer noch Laurentine Hellersdorf. Das Mädchen hatte die idealen Voraussetzungen mitgebracht, um es in dieser Abteilung weit zu bringen und war in den ersten Monaten auch eine sehr große Hilfe gewesen. Allerdings hatte sie quittiert, weil sie nicht mithelfen wollte, unschuldige Elternpaare um ihre Kinder zu bringen, wobei die Elternpaare selbst es doch in der Hand hatten, ob sie die natürliche Begabung ihrer Kinder förderten oder sie mit allen ihnen möglichen Mitteln zu unterdrücken trachteten. Gut, Laurentine hatte das Recht, vorzeitig zu kündigen und hatte dieses Recht genutzt. Dafür hatte sie indirekt Julius Latierre für ihre Abteilung eingehandelt, auch wenn dieser sich eher für Zauberwesen interessierte. Tja, und jetzt sah es ganz so aus, als wenn Belle, ihre Tochter, Laurentine Hellersdorf durch eine heimliche Hintertür zur auswärtigen Mitarbeiterin gemacht hatte. Sicher war sich Laurentine bewusst, dass sie indirekt für Nathalies Abteilung arbeitete, wenn sie mithalf, die Lage der Bürger in Millemerveilles zu erleichtern. Aber vielleicht entschied sie sich doch noch einmal, bei ihr im Büro für friedliche Koexistenz anzufangen, quasi noch einmal von ganz vorne zu beginnen.

"Worüber grübelst du jetzt nach, Maman?" fragte sie Demetrius mentiloquistisch. Sie hängte sich den Cogison-Ohrring ans linke Ohr, damit die geistige Verständigung nicht zu anstrengend wurde. Dann dachte sie zurück: "Ich merke gerade, dass dieses Büro zur Schlüsselbehörde des Zaubereiministeriums werden kann, wenn das mit diesem Internet in den nächsten Jahren immer weiter explodiert. Dann werde ich womöglich 50 Leute brauchen, um allein die dort herumschwirrenden Nachrichten und Ereignisaufzeichnungen sichten und falls nötig abändern oder ins Lächerliche ziehen zu lassen. Ich merke nur, dass ich im Moment gerade zu wenige Außendienstmitarbeiter habe."

"Ich merke nur, dass dein Herz heftiger pumpt und die sonst so weiche Gebärmutterwand ein wenig härter geworden ist. Nicht, dass du mich aus Versehen in dir zerdrückst, Maman", erwiderte Demetrius nun über die Cogison-Verbindung.

"Das ist Armands Mutter sicher auch oft passiert, als sie deinen Vater im Bauch hatte, Demetrius. Trotzdem kam er unzerdrückt auf die Welt", erwiderte Nathalie rein gedanklich. "Ich lese mich jetzt auch durch die eingegangene Eulenpost, das sollte mich entspannen und dir damit wieder ein kuscheliges Nest machen, in dem du schlafen kannst. Wenn ich Mittagesse wirst du dann eben wieder wach."

"Du hast dich wohl wieder gefragt, was du verkehrt gemacht hast, dass die junge Mademoiselle Hellersdorf ihre Arbeit bei dir hingeworfen hat, richtig?" wollte Demetrius wissen.

"Natürlich frage ich mich immer, was ich hätte anders machen können. Das Problem ist eben nur, dass sie auf Grund des Verhaltens ihrer Eltern vorgeprägt ist und sich zu sehr mit den Fällen identifiziert hat, wo eine Gedächtnisbezauberung von Magielosen nötig wurde. Besonders die Sache mit Louis Vignier hat sie sehr schmerzvoll an ihre eigene Lage damals erinnert. Da hätte ich nichts anderes machen können. Immerhin durften die Eltern ihr Gedächtnis und die Erinnerung an ihren Sohn noch behalten. Bei den Eheleuten Armand, deren Sohn Marc im UTZ-Jahr ist, weiß ich nicht, ob das auch so gehandhabt werden kann. Da hätte ich zu gerne eine, die vermitteln kann, wie das ist, als junger Mensch zwischen den Interessen der Eltern und der Ausbildung und Lebensgestaltung auf Grund der eigenen Fähigkeiten."

"Armand? Achso, die Eltern von dem Jungen, den sich die junge Patricia Latierre auserwählt hat. Oder habe ich da wieder einige wichtige Sachen im fötalen Dämmerschlaf verpasst?"

"Da ich im Moment niemanden in Beauxbatons habe, der oder die mir das sagen kann weiß ich das auch nicht. Und ich bin die Schwangere und nicht der Fötus", erwiderte Nathalie. Dafür wurde sie spürbar in den Bauch getreten. "Ja, und deine Reaktion macht mir das spürbar klar. Aber jetzt schlaf bitte noch. Das ist das beste, was du während meiner Dienststunden machen kannst. Nachher können wir zwei noch mal unsichtbar über die Provence fliegen."

"Au ja, durch die Lavendelfelder. Die beruhigen dich immer so gut und mich dann garantiert auch", erwiderte Demetrius. Dann fühlte Nathalie, wie sich ihr ungeborenes Kind entspannte, wohl in die ihm bequemste Schlafhaltung zusammenrollte. Sie nahm den Ohrring wieder ab. Danach vertiefte sie sich in die ihr als "Entspannend" vorkommende Post.

__________

Millemerveilles, 5. Juni 2003

"Dreh mal hier dran!" sagte Julius zu Jean Fontchamp, einem Jungen der fünften Klasse, der eigentlich nach den Sommerferien nach Beauxbatons gehen sollte. Gerade hatte er den Fünftklässlern auf Grundlage von Laurentines Vorgaben erklärt, wie elektrischer Strom gemacht wurde und hatte dafür aus seiner Spielzeugkiste einen kleinen Dynamo hervorgeholt, der noch funktionierte.

Jean drehte erst zögerlich und dann entschlossen an dem Kranz aus Spulen, wobei er einen Finger an die Kontakte hielt. "Autsch! Eh, ist ja fies!" grummelte Jean, als er tatsächlich einen spürbaren Stromschlag abbekommen hatte. "Ja, stimmt, kann echt weh tun. Aber wenn dieses Ding, Dynamo genannt, in einer von Händen oder Füßen betriebenen Drehvorrichtung gedreht wird kommt da so viel Strom raus, dass damit eine Glühbirnenlampe zum Leuchten gebracht wird. Es gibt sogar heute Lampen, die haben keine Glühfäden, sondern sogenannte Leuchtdioden, und die brauchen noch weniger elektrischen Strom als die Glühbirnen", erklärte Julius und verwünschte den Umstand, dass er seine Erklärungen nicht mit in die Luft projizierten Darstellungen unterlegen konnte. Aber die Lichtzauber klappten im Moment nicht. Zumindest hatte Laurentine ihm aus Physikbüchern und von Internetseiten anschauliche Bilder zugedigekastelt, die er zumindest mit dem Engorgius-Zauber auf Tischgröße aufblasen konnte. So konnte er den vier Jungen und fünf Mädchen mit einfachen und lockerflockigen Worten erklären, wieso Strom da entstand, wo Magneten sich bewegten und dass damit nicht nur Strom gemacht wurde, sondern auch umgekehrt aus starkem Strom Bewegungen gemacht werden konnten. In der Zeit ging der Dynamo von Hand zu Hand, damit jeder und jede mal ausprobierte, was passierte, wenn daran gedreht wurde. Mit höherer Elektrizitätslehre mit Ohm'schen Gesetzen, den Maxwell'schen Gleichungen und anderen rein zahlenmäßig beschriebenen Eigenschaften hielt sich Julius nicht auf. Er erklärte bis zum Stundenende, wieso elektrischer Strom für die magielose Welt heute so wichtig war wie die Magie für Hexen und Zauberer. Er erwähnte aber auch, dass mittlerweile große Angst herrschte, dass die Stromerzeugungsmaschinen viel zu viel Abgase machten oder mit gefährlicher AtomspaltungsKraft arbeiteten. Er sagte aber auch, dass Sonne und Wind genug Kraft hergaben, um die ganzen Verbrennungsgeneratoren und Atomöfen nach und nach zu ersetzen, wenn es genug Leute gab, die das ernsthaft wollten. Dann wurde er von Thalie Dupont gefragt, ob ein Laserstrahler auch mit Elektrostrom lief. Julius bejahte das und fragte zurück, woher sie von diesem Gerät wisse. "Mademoiselle Hellersdorf hat uns das mal erzählt, dass die Muggels Licht so dünn und stark bündeln können, dass sie damit entweder durch die dicksten Metalldinger bohren können oder ganz feine Löcher entweder brennen oder abtasten können und dass in den Löchern Musik drin sein soll, wie das auch immer geht."

"Okay, Thalie. Das können wir dann gerne in der nächsten Stunde sachkunde ohne Zaubern kriegen. Das kann ich euch dann zumindest zeigen. Vorführen geht leider nicht, weil wegen dieser fiesen Verdunkelung nicht genug Sonne durchkommt, um einen CD-Abspieler zum laufen zu kriegen. Aber ich kann euch eine alte CD zeigen und die vielleicht genauso großzaubern wie ich das mit den Bildern von Mademoiselle Hellersdorf gemacht habe. Oder wollt ihr noch mehr über das wissen, was so alles mit elektrischem Strom geht?"

"Ich will wissen, wie das mit dem Fliegen zum Mond ist. Stimmt das, dass die Muggels da ohne Magie hingeflogen sind?" antwortete Jean Fontchamp.

"Okay, das gebe ich an Mademoiselle Hellersdorf weiter. Deren Papa baut solche Raketen, die in den Weltraum fliegen können. Kann sein, dass sie da noch was zu erzählt hat. Ich kenne das zwar auch, weiß aber nicht, ob ich das so erklären kann, dass es für euch nicht zu anstrengend ist oder ihr meint, ich würde euch für Kindergartenkinder halten oder sowas."

"Das brauchen die hier eh nicht zu wissen. Unfug ist das, denen diesen Muggelkram überhaupt erklären zu wollen!" gröhlte ein Mann von außerhalb des Zeltes. Julius tat erst so, als habe er das nicht gehört. Doch weil die Klasse nur noch nach draußen guckte, um zu sehen, wer das war öffnete Julius das Zelt und sah auch hinaus. Draußen stand Monsieur Louis Grandbois, ein hagerer Mensch mit dunkelbraunem Haarschopf und dito Spitzbart. "Einen schönen guten Tag, Monsieur Grandbois! Möchten Sie jetzt den Unterricht machen? Dann sprechen Sie bitte erst mit Madame Dumas. Die erzählt ihnen dann, was sie alles unterrichtet haben möchte", sagte Julius.

"Wenn ihr nicht unsere Dorfruhe mit eurem neumodischen Zeug gestört hättet wäre Sardonias Geist sicher nicht aufgewacht", polterte Grandbois. Julius musste erst schlucken. Diese unverschämte Lüge musste er verdauen. Aber er hatte genug Übung im Angepöbelt werden und hatte seine Selbstbeherrschung in mehr als einem Fall bewahren müssen. So fragte er ganz ruhig: "Wer hat Ihnen denn sowas erzählt, Sardonia Persönlich?" Die Kinder sahen ihren Aushilfslehrer erst verstört an, weil er es wagte, die ganz böse Hexe von Millemerveilles beim Namen zu nennen. Dann mussten die ersten grinsen, weil sie verstanden, was Julius mit der Frage meinte.

"Ich dachte, ihr SChl...- öhm, Muggelweltabkömmlinge hättet das achso vernünftige Denken gelernt, weil ihr keine Magie könnt und deshalb alles mit Maschinen machen müsst. Dann sollte es dir doch ganz offensichtlich sein, dass nur weil die Brickstons und jetzt du hier herumwerkelt Sardonias Geist aus dem Dauerschlaf aufgewacht sein muss, weil sonst die Kuppel noch für alle durchlässig wäre", sagte Grandbois.

"Das dürfen Sie gerne mit Leuten diskutieren, die sich mit Sardonias Hinterlassenschaften wesentlich besser auskennen als ich, unter anderem Madame Faucon. Soweit ich weiß sind die zehn öffentlichen Distantigeminus-Kästen, übrigens auch eine Anregung aus der achso bösen Muggelwelt, jetzt für alle zugänglich, und Sie brauchen nicht mal was für eine Postsendung zu bezahlen, weil der Dorfrat beschlossen hat, dass jede Kontaktmöglichkeit anderswohin so lebenswichtig ist wie die Luft zum atmen. Und die kostet ja auch nichts. Aber was den Unterricht hier angeht, da reden Sie bitte mit Madame Dumas und den hauptamtlichen Lehrern, was die für richtig und wichtig halten und stören bitte nicht den laufenden Unterricht. Danke schön und schönen Tag noch!" Julius schloss das Zelt von innen. Grandbois schimpfte noch, kam aber nicht durch die Lichter zwischen den Apfelbäumen. Offenbar war er darauf aus, den Bewohnern des Hauses was zu tun, weil er ja sonst wie die Kinder und die Lehrer freien Zugang in das Apfelbaumpentagon bekommen hätte. Vielleicht stand er aber auch schon unter einem Einfluss der Kuppel, weil er sich weigerte, die Goldblütenhonigphiole zu tragen.

"Also, die jungen Herrschaften, ich mache das hier, weil mich Mademoiselle Hellersdorf darum gebeten hat, euch die Sachen zu erklären, die sie sonst selbst erklärt hätte. Sie macht das, weil Madame Dumas sie dafür bezahlt und weil sie findet, dass das wichtig genug ist, dass auch Zaubererkinder zumindest mal davon gehört haben, wie es bei den Maschinenverehrern so zugeht", brachte Julius die Unterrichtsstunde mit einer Grundsatzerklärung zu Ende. Die Kinder nickten und bedankten sich bei ihm für das Erzählen vom Strom.

"Jetzt ist aber gut, Louis!" scholl Madame Dumas' Stimme über das Grundstück. "der junge Monsieur Latierre ist hier, weil meine Kollegen und Ich ihn gebeten haben, für Mademoiselle Hellersdorf einzuspringen, und die macht hier die Arbeit, die wir für richtig und wichtig halten. Da Sie selbst kein Kind und auch keinen Neffen hier wohnen haben steht es Ihnen nicht zu, unseren Lehrplan zu kritisieren. Und jetzt ganz schnell runter vom Grundstück, bevor sie noch die Eltern der Kinder mit ihrem äffischen Getue verschrecken!"

"Sie werden das noch bereuen, wenn Sardonias Geist genug Kraft gesammelt hat, um alle die umzubringen, die ihr lästig sind", erwiderte Grandbois.

"Tja, da stehen Sie wohl höher auf der Liste als ich, weil Sie ein eigenbrödlerischer Zauberer sind und somit nicht in ihr Gefolge aufgenommen werden", erwiderte Madame Dumas. Julius überlegte, ob das jetzt so gut war. Da antwortete Grandbois: "Aha, also gilt dieser ganze Unfug, den Sie Schule nennen dem Zweck, auszuloten, wer für Sardonias Erben geeignet ist oder nicht?"

"Wenn Sie das auch nur denken sollten Sie mal über eine psychomorphologische Rückschau Ihres Lebens nachdenken, wo da bei Ihnen irgendwas verkehrt gelaufen ist", knurrte Madame Dumas. Dann hörten sie und Julius die heranfliegenden Familienbesen. Die Eltern kamen, um ihre Kinder abzuholen.

"Ach, der Goldblütenhonigallergiker ist auch da. Na, Muggelweltkunde mitgehört, Louis?" fragte Nicholas Septétoiles den Störer.

"Du frisst auch alles, was dir 'ne Hexe auf den Teller legt, du Flubberwurm ohne Rückgrat", blaffte Grandbois.

"Nich 'ne Hexe, sondern meine Holde, du eifersüchtiger Motzkopf. Du bist ja froh, dass die Schenke wieder offen hat und du da wieder was gutes essen kannst. Siehst ja richtig abgemagert aus", trieb Nicholas Septétoiles den Spott an Grandbois weiter.

"Ach ja, und vielleicht pinkelt deine Holde dir in die Suppe, damit du auch schön brav machst, was sie will."

"Jetzt ist aber mal gut, hier sind Kinder!" rief Madame Dumas. Julius trat aus dem Zelt und sagte: "Ja, und hier wohnen meine Familie und ich, und ich verbiete Ihnen so derbes Zeug zu reden, Monsieur Grandbois. Sie dürfen gerne in die Schenke gehen und da Mittagessen. Wenn Madame Renard solchen Wortunrat duldet ist das ihre Sache. Aber hier reden Sie gütigst wie ein erwachsener Mann und nicht wie ein verzogenes Kind. Und jetzt ab!" Er starrte Grandbois sehr entschlossen an. Die ganzen Kinder der Grundschulklassen bauten sich um ihn herum auf und verfolgten mit, wie Julius und Grandbois das jetzt zu Ende brachten. Der Zauberer, der dem Dorfrat vorgeworfen hatte, er würde den Leuten hier Lebenszeit klauen, wenn sie Goldblütenhonigphiolen trügen starrte zurück. Doch gegen Julius' unerbittlichen Blick hatte er keine Chance. Außerdem maß Julius zwanzig Zentimeter mehr und war anderthalbmal so breit wie Grandbois. So war die Sache nach nur zehn Sekunden entschieden. Grandbois wandte sich verdrossen ab und disapparierte.

Nun landeten die verschiedenen Elternteile auf der großen Wiese vor dem Apfelhaus und winkten ihre Kinder zu sich hin. Diese verabschiedeten sich von den Lehrern und Julius. Einige von denenwürden nach dem Mittagessen noch einmal hergebracht, aber mit denen hatte Julius dann nichts zu tun.

"Gut, dass ich das nicht mitgekriegt habe, was dieser Motzkopf da abgelassen hat und dass Aurore und Chrysie da gerade mit Tante Trice im Spielzimmer waren. Ich hätte den nicht ohne was fieses anzuhängen wegknallen lassen", grummelte Millie, als Julius ihr in Kurzfassung mitgeteilt hatte, was Grandbois sich da geleistet hatte. "Der verfolgt eine Strategie, alles hinterfragen, allem widersprechen, um dann groß ansagen zu können, was denn seiner Meinung nach richtig ist. Das dürfen wir dem so nicht durchgehen lassen. Und der Alte Hautecolline meckert auch schon rum, dass der Dorfrat es zulässt, dass anständige Zauberer von ihrer eigenen Frau eins übergebraten kriegen dürfen. Jetzt weiß er auch nicht, ob seine Schwiegertochter nicht ähnlich drauf ist. Ich glaube, jetzt kommt doch Bunkerkoller auf."

"Haben Hera, Tante Trice und du ja schon vor zwei Wochen befürchtet", sagte Millie. "Deshalb ist es ja gut, dass wir jetzt die zehn freien Digekas in der Post haben. Dann können die ganzen Leute endlich mit ihren Verwandten Briefe austauschen. Die Posteulen hier bringen denen ja immer noch die Briefe."

"Es ist wirklich ein Unterschied, ob ich mich einschließe und sage, alle sollen draußen bleiben, oder ob mich wer einsperrt und keinen mehr zu mir reinlassen will", sagte Julius. "Es ist aber auch totaler Unsinn, wenn diejenigen, die einem helfen wollten, die Zeit zu überstehen und noch ein einigermaßen sinnvolles Leben führen zu können beschimpft und verachtet werden. Wir hängen hier alle unter dieser Kuppel, und Grandbois kann eigentlich sagen was er will. Der kommt dadurch nicht eher von hier weg als du oder ich."

"Weiß du, weiß ich und die meisten anderen Erwachsenen hier auch", sagte Millie. Ihre Tante Béatrice fügte dem noch hinzu: "Der soll froh sein, dass ihm von draußen keiner auf die Bude rückt. Wie haben die damals das Didier-Jahr überstanden? Ich weiß noch, dass wir im Château gesessen haben und genau wussten, wenn wir da rausgehen kassieren uns Didiers Marionetten ein. Da haben wir zwar auch manchmal lauter geredet als gut war. Aber wir wussten immer, dass wir uns gegenseitig brauchen, um diesen gefährlichen Unfug zu überstehen. Und was Grandbois macht ist gefährlicher Unfug, weil er sich keine Sorgen darum macht, was seine Worte und sein Auftreten mit anderen Leuten hier anstellen. Wenn er dann auch noch keinen Goldblütenhonig bei sich tragen will könnte er sogar wirklich von der Kraft aus der Kuppel unterworfen, aber zumindest seelisch vergiftet werden, dass er am Ende nicht mehr weiß, was er tut."

"Ich denke, Madame Dumas hat auf dem Nachhauseweg noch schnell eine Eule zu Eleonore Delamontagne geschickt, um ihr die Störung anzuzeigen. Aber mir macht im Moment eher Sorgen, was mit den heimlichen Sardonianerinnen ist, wie lange die noch heimlich sein wollen. Ich habe da so'n mieses Gefühl, dass die auf eine Art Weckruf warten, wie damals die Todesser nach dem Umbridge-Jahr."

"Oha, oha, da rufst du aber jetzt einen ganz großen Drachen, Julius", unkte Béatrice. Damit gab sie ihm indirekt recht, und das machte ihm noch mehr Unbehagen.

"Öhm, dass Patricia Marc auf den Besen geholt hat wusstest du schon, Julius?" fragte Millie ihren Mann. Dieser schüttelte den Kopf. Denn ohne Pappostillon und Auroras Gegenstück in Beauxbatons bekam er von dort keine tagesaktuellen Nachrichten mehr. "Hat Oma Line gerade über Onkel Gilberts Digeka durchgeschickt, dass sie wohl im August einen neuen Schwiegersohn bekommt. Jetzt muss das nur noch geklärt werden, wie Marcs Eltern damit klarkommen."

"Ja, und im August ist auch die Hochzeit von Pierre und Gabrielle. Wenn ich bis dahin nicht unter dieser Kuppel wegkomme könnte Gabrielles Mutter sich beleidigt fühlen", grummelte Julius. Damit hatte er indirekt eingeworfen, dass auch Millie und Béatrice gerade nicht zu irgendeiner Hochzeit konnten, solange er das nicht konnte. dann fragte Julius, wieso das jetzt erst bei Oma Line angekommen war, dass ihre Tochter Patricia Marc Armand auf ihren Besen gehoben hatte. "Weil die das erst gestern durchgezogen haben. Diesmal haben sie länger gewartet, weil im Mai zu viel Regen über Beaux runtergekommen ist. Da wollten die jungen Hexen nicht ihre Sonntagsumhänge voll Wasser kriegen. Aber jetzt, wo es auch bei denen so aussieht, als gebe das einen besonders sonnigen Sommer ... Immerhin kriegen die einen ..." Julius nickte. Dass es in Südfrankreich schon wesentlich wärmer war als in den letzten beiden Sommern wusste er durch die Zeitungen und auch von Laurentine, die ihm jeden Abend neben den abzuhandelnden Schulsachen auch die Nachrichten aus der magielosen Welt digekastelte. Vielleicht half die zunehmende Sonnenkraft, die Verdunkelung der Kuppel aufzulösen und sie ebenso vielleicht auch wieder für alle Leute hier durchfliegbar zu machen. dann würde das verlogene Geschwätz von wegen, er und alle anderen Muggelstämmigen würden Sardonias Zorn erregen hoffentlich auch aus der Welt verschwinden.

Nach dem Mittagessen übergab Béatrice die Aufsicht über die zwei bereits geborenen Großnichten an Millie und winkte Julius, ihr in das mit Dauerklangkerker bezauberte Arbeitszimmer zu folgen.

"Ich wollte nicht zu heftig auftreten, weil Aurore und Chrysie mit am Tisch saßen, Julius. Aber was du über einen Weckruf an die Sardonianerinnen gesagt hast hat mich sehr erschreckt und deshalb auch ziemlich wütend gemacht. Ich will dir nicht vorwerfen, dass du das nicht hättest sagen dürfen, Julius. Aber ich möchte dich doch als für euch alle gerade zuständige Heilerin bitten, nichts einfach so zu sagen, von dem du weißt, dass es Millie, Aurore oder Chrysope Angst machen kann. Millie gibt sich zwar sehr gefasst und entschlossen. Aber ich habe schon mitbekommen, dass sie immer wieder sehr verängstigt zum Himmel hochsieht, als erwarte sie jeden Moment von einem daraus niederfahrenden Blitz getroffen zu werden. Du möchtest genauso wie ich, dass Clarimonde nicht zu früh auf die Welt kommt und auch nicht, dass Millie ihr Gefühlsgleichgewicht verliert. Was Menschen anstellen könnten, die wegen unablegbarer Angst wütend werden wissen du und ich zu gut. Deshalb noch mal die Bitte: Überlege dir bitte gut, was Millie und den beiden Kleinen Mut oder noch mehr Angst macht! Das ist keine Anweisung, sondern eine Bitte."

"Ich kapier was du meinst, Tante Trice. Ich fürchte nur, dass Millie dir da ganz heftig widersprechen würde, wenn es darum geht, was sie von mir mitkriegen darf oder nicht. Außerdem ist sie jetzt genauso vorgewarnt, was mögliche Aktionen von Hugette Mirabeau oder anderen heimlichen Sardonianerinnen angeht. Es geht ja schon damit los, dass wir die zwei schon laufenden Prinzessinnen nicht mehr unbeaufsichtigt herumtoben lassen. Und der Auftritt von Grandbois hat mir ehrlich gesagt auch ein wenig Angst gemacht. Vielleicht war ich deshalb auch so wütend auf den. Denn in der Muggelwelt sind Leute, die vor Schulen rumhängen und Kindern irgendwas ein- oder auszureden versuchen nicht selten krankhafte Typen, Pädophile oder andere Psychopathen, die sich dran auf-, öhm, ergötzen, wenn sie Macht über Kinder ausleben können. Ich habe es Madame Dumas überlassen, diesen Auftritt anzuzeigen. Andererseits werde ich diesem Herren beim nächsten mal einen nachhaltigen Platzverweis aussprechen und seinen Gesinnungsgenossen gleich mit. Nochmals lass ich mir von so einem nicht meinen Hausfrieden verderben."

"Ich denke nicht, dass Grandbois sich eine Form von Befriedigung verschaffen wollte, indem er die Kinder hier von ihrem Lernen abzubringen versucht. Der glaubt, was er sagt. Glaube es mir, dass ich mittlerweile genug in den Augen anderer lesen kann, um zu verstehen, was sie umtreibt. Im Zweifelsfall würde ich ihn sogar legilimentieren, um zu ergründen, ob er für sich und/oder andere eine Gefahr darstellt. Aber mein Psychomorphologielehrer in der Delourdesklinik hat uns damals gewarnt, dass wer zu tief in einen Abgrund hineinsieht leicht auch in den Abgrund hineinfallen kann."

"So einen ähnlichen Spruch habe ich anderswo schon gehört. Blickst du lange genug in einen Abgrund, blickt der Abgrund auch in dich", erwiderte Julius darauf. Béatrice nickte. "Damit wollte unser Psymolehrer andeuten, dass unvorbereitete Geister von wilden Wahnvorstellungen eines wirklichen Geisteskranken selbst in den Wahnsinn gestürzt werden können. Und vielleicht ist das die Gefahr, in der Grandbois und dieseine Ansichten teilenden Zauberer schweben und womöglich eine Auswirkung der bösen Kraft, die von der Kuppel ausgeht. Der hat irgendwann die Elsternfuß-Hypothese gelesen und hat Angst bekommen, dass sein Frieden nur zum Preis eines verkürzten Lebens zu haben sein soll. Jetzt glaubt er wohl, eine Art Mission zu haben, uns alle von diesem fragwürdigen Schicksal erlösen zu müssen. Und genau das macht ihn und seine Gesinnungsgenossen für uns alle so gefährlich. Aber das darfst du ihm nie offen zeigen, weil er sonst entweder dich als unmittelbare Bedrohung einstuft oder sich dann tatsächlich daran befriedigt, dir und anderen Angst machen zu können. Aber das hast du durch die Begegnungen mit Bokanowsky, den Abgrundstöchtern und diesem Dämonen Otschungu sicher schon schmerzhaft genug gelernt, dass Angst den Gegner nur noch stärker macht. Auch deshalb bitte ich dich, Millie keinen Grund zu liefern, Angst vor ihren eigenen Nachbarn zu bekommen, sofern die es nicht wirklich darauf anlegen, ihr Angst einzujagen. Sie würde nicht nach außen zeigen, dass sie Angst hat, aber glaube es einer Latierre, dass sie dann von Angespannt auf stinksauer umspringt und dann was anstellt, was dem anderen nicht bekommt und ihr selbst irgendwann bitter leid tut."

"Oha, und ich habe die damals im dunklen Jahr mit meinen Gefühlen überladen", seufzte Julius. "Ja, aber auch nur, weil Madame Rossignol und ich euch zwei für fähig gehalten haben, das durchzustehen", bemerkte Béatrice Latierre knochentrocken. Dem konnte Julius nicht widersprechen.

"Ich habe gerade noch meine Eule zu Thalos Latour geschickt, dass wir Monsieur Grandbois bis auf weiteres nicht mehr auf unserem Grundstück haben wollen", offenbarte Millie, als Béatrice und Julius nach ihrer Unterredung aus dem Arbeitszimmer zurückamen. "Ich lasse den nicht mehr näher als hundert Meter an unsere Kinder heran, Monju", sagte sie noch. Julius nickte ihr heftig zu. "Wenn der hier noch einmal Ärger machen will spreche ich einen sehr wirksamen Platzverweis gegen den und alle die so denken wie er aus. Den kann dann nur wer knacken, der die alten Lieder der Erde kann, und der kann nicht zu Anthelia hinlaufen, um sie zu bitten, die für ihn zu singen", sagte Julius sehr entschlossen.

"Mach dir bitte nicht zu viele Gedanken um diesen eher bedauernswerten Menschen, Millie! Wenn er es zu doll treibt kommt er sicher bei dem Kollegen Delourdes unter, wie Edmond Pierre", sagte Béatrice. Julius nickte bestätigend.

In seinem Arbeitszimmer sah Julius, dass sein Distantigeminus-Kasten eine neue Botschaft eingefangenhatte. Er musste sie nur noch verstofflichen lassen. So bekam er einen mehrseitigen Brief von Nathalie Grandchapeau, unter anderem mit einer Anregung von Madame Faucon, dass Hugette Mirabeau möglicherweise eine Wassertier-Animaga war und sich entweder im Farbensee oder dem Zentralteich versteckte. Das leuchtete Julius irgendwie ein. Denn durch die Kuppel hinaus konnte keiner, was Bromélie Bleulac ja all zu deutlich bewiesen hatte. Also musste sich Hugette ja noch im Dorf verstecken. Natürlich war die Idee, dass sie sich in einem der beiden Gewässer versteckte schon sehr realistisch. Doch wie bekamen sie sie dann zu fassen, wenn sie wieder unterwegs war?

"Hmm, die Figuren um den Teich sind gegen nachträgliche Bezauberung abgesichert, weil sonst der Aufspürzauber bei bestimmten Leuten helfen würde, mit dem Ceridwen Barley Rita Kimmkorn festgesetzt hat. Aber ich könnte was versuchen, zumindest was den Teich angeht. Beim Farbensee ginge das so nicht." Milie sah ihren Mann an und wartete, ob er was sagte. Doch er überlegte, ob das in einem nicht abgeschirmten Raum so gut war. Dann mentiloquierte er ihr: "Das Lied vom Rufenden Stein. Das ist ein Aufstöberungszauber, mit dem ein bildlich oder namentlich bekanntes Lebewesen aus einem mit der Erde verbundenen Versteck herausgetrieben werden kann, sofern es keinen Abschirmzauber gegen Erdzauber errichtet hat wie das Lied der tragenden Erde oder das Lied der Schützenden Erdmutter."

"Dann versuch das. Aber nimm bitte ein paar Leute von der Sicherheit mit, falls die Mirabeau echt als Molch oder Karpfen im Teich herumschwimmt", schickte Millie zurück.

So kam es, dass Julius zusammen mit Thalos Latour und drei weiteren Sicherheitsbeamten den Zentralteich aufsuchte. Julius hatte ihnen was von einem Rufzauber der Kinder Ashtarias erzählt, der in einen Stein eingeschrieben und mit dem Namen des zu rufenden besprochen werden musste erzählt. So nahm er den bereits vorbehandelten Stein, in dem er ein Bild der Gesuchten, darunter einen stilisierten Fisch und viermal im 90-Grad-Winkel zueinander gedrehtem Namenszug Hugette Mirabeau beschrieben hatte. Dann wisperte er so leise er konnte:"Dartu madrash Kandur
Hugette Mirabeau naankandur!"

Der Stein glühte grün auf und vibrierte. Dann warf Julius ihn aus dem Handgelenk heraus in den Teich. Sofort schlug er die üblichen Wellen. Dann glomm von unten her das grüne Licht. Julius fühlte ein kurzes Zittern im Boden. Dann sah er erst ein hellgrünes Leuchten, das von einem silbernen Lichtblitz gefolgt wurde. Dann spritzte eine an die fünf Meter hohe Wasserfontäne aus dem Teich heraus und regnete laut prasselnd wieder dort hin zurück. "Oha, die hat schneller reagiert als ich gedacht habe", knurrte Julius. "Offenbar hat die sich auf einen ähnlichen zauber vorbereitet und ist in dem Moment, wo mein Zauber sie getroffen hat mit einer anderen Magie geflüchtet, vielleicht zum Farbensee. Auf jeden Fall hat sie bis jetzt in dem Teich gesteckt und wohl auch als Fisch, weil mein Zauber sonst nicht so heftig aufgeleuchtet hätte. Die Fontäne ist eine ungerichtete Magieentladung gewesen, weil der Zauber zwar das gewünschte Ziel getroffen hat, dann aber förmlich ins Leere hineingeschlagen ist. Üblicherweise hätte sie nämlich sonst auftauchen und sich mir als Auslöser des Zaubers zeigen müssen."

"Das sah ja schon heftig aus. Welchem Element ist dieser Zauber verbunden?" fragte Thalos. Julius erwähnte, dass es ein zauber der Erde war und den betroffenen nicht schadete, aber ihn dazu trieb, sein oder ihr Versteck zu verlassen, also beim Versteckenspielen ein ganz gemeiner Vorteil war.

"Mit anderen Worten, wir haben sie jetzt verjagt und wissen nicht wohin", grummelte einer der drei mitgekommenen Sicherheitszauberer. Julius konnte das leider nicht abstreiten. "Zumindest wissen wir jetzt, dass sie eine Fisch-Animaga ist, obwohl sie nicht im Register steht. Aber wie kann ein Fisch einen Portschlüssel oder sowas auslösen?"

"Mit Sardonias Hilfe vielleicht", vermutete ein anderer der drei mitgenommenen Sicherheitszauberer. "Das Silberlicht eben könnte die Macht des Opferdolches gewesen sein. Dann steht sie mit dem in geistiger Verbindung. Der hat sie dann mit sich mitgezogen. Öhm, ist sie dann trotzdem unfähig, irgendwas anzustellen?"

"Sagen wir es so, sie darf jetzt erst mal nicht mehr an den Teich heran, weil der sie verpetzt, sobald sie dort hinein will. Aber das hält leider nur eine Erdumdrehung vor, und ich möchte diesen Zauber nicht jeden Tag machen, weil der die unschöne Nebenwirkung hat, dass er die natürlichen Zauberkraftströme der Erde auf den Ort bündelt und dadurch anderswo ein Erdmagiegefälle auslöst, dass zu einem örtlich begrenzten Erdbeben führen kann, wenn es länger als zwei Erdumdrehungen andauert. Wo dieses Gefälle ist kann ich nicht vorhersehen und deshalb auch nicht riskieren, dass es dort wackelt. Also lasse ich es lieber sein, jeden Tag den Zauber zu machen."

"Toll, und was bringt dieser achso geheime Zauber dann?" knurrte der dritte Sicherheitszauberer.

"Dass sie ohne Sardonias Dolch jetzt in Gewahrsam wäre", sagte Thalos. "Also ist der Dolch bei ihr und bleibt bei ihr. Das ist für uns auch wichtig zu wissen, dass dieses Geisterding nicht frei herumspukt und sich selbst seine Opfer sucht. Dann stimmt auch, dass dieser Opferdolch eine Art Psychosymbiont ist, der auf einen lebenden, beseelten Wirt angewiesen ist. Will sagen, der Dolch bleibt solange bei Hugette, bis diese körperlich oder seelisch so stark geschwächt ist, dass sie ihn nicht mehr halten kann. Das heißt aber leider, dass wir sie nicht wie die beiden anderen Hexen in Zauberschlaf bannen können, weil der Dolch dann wieder auf die Suche nach einem neuen Wirt geht."

"Psychosymbiont, klingt echt überirdisch", grummelte einer von Latours Mitstreitern. Julius nickte. Aber den Begriff fand er selbst sehr passend für einen Gegenstand, der sich mit einem denkfähigen Wesen verband. Allerdings bezeichnete der Begriff "Symbiont" ein lebendes Wesen, keinen bezauberten Gegenstand. Das erwähnte Julius. "Häh, ich dachte, Blanche hätte dich mit einem O durch die ZAGs und Phoebus mit einem anderen O durch die UTZs gekriegt. Dann müsstest du eigentlich wissen, dass ein magisch beseeltes Ding sich auch wie ein lebendes Wesen verhält, sowie ein Mensch, der durch Selbstverwandlung noch in gewissen Grenzen bewegungsfähig ist. Julius nickte. Dann erwiderte er: "Ja, und wie ein natürlich lebender Symbiont wird der Dolch seiner Wirtin beistehen, damit sie ihm nicht abhanden kommt." Alle nickten, denn ihnen war klar, was dies hieß. Der Dolch würde seine ganze Macht ausspielen, um Hugettes Freiheit und Leben zu schützen.

__________

Hugette schnappte nach Luft. Dann schaffte sie es, sich in ihre menschliche Form zurückzuverwandeln. Dieser Zauber, den dieser Bengel Julius Latierre in einen Stein gewirkt hatte, hätte sie fast wie auf einem Luftkissen zur Oberfläche hinaufgetragen. Nur ihre Angst vor Entdeckung und die Kraft des Silberdolches hatten sie gerettet. Doch wo war sie hier? "Du bist in der Höhle mit dem Stein der neuen Leben", hörte sie Sardonias Gedankenstimme. "Hier wirken die Kraft des Dolches und des Steines zusammen, so dass dich nicht erneut ein vermaledeiter Erdzauber aus uralter Zeit enthüllen kann, wenn wir das nicht wollen. . Aber ich fürchte, dein Versteckspiel ist beendet. Wenn du meine Erbin sein willst, dann musst du mir deinen Körper darbringen. Keine Furcht, du wirst nicht sterben. Aber du wirst mich in dich einkehren lassen, damit ich endlich wieder frei Magie ausüben und deine heimlichen Mitschwestern zu meinem Dienst rufen kann. Doch die Reihenfolge muss gewahrt sein. Deshalb beginnen wir am Stein des neuen Lebens. Vollführe nun, was ich dir auftrage!"

Hugette wusste, dass sie nun keine Wahl mehr hatte. Sie gehörte Sardonia. Ob sie dem Geist der großen Mutter gestattete, in ihren Körper einzufahren und diesen als lebendes Werkzeug zu benutzen oder sie der Macht des Dolches selbst ausgeliefert blieb war dasselbe. So trat sie an den wie eine menschliche Gebärmutter geformten, im schwachen Silberlicht des Dolches hellgrau schimmernden Stein heran, der kaum merklich doppelt so schnell pulsierte wie das Herz eines erwachsenen Menschen. Jetzt konnte sie auch leise und dumpf das Wummern hören, wenn der Stein sich zusammenzog und wieder ausdehnte. Ja, das klang fast so, wie es bei ihrer Tante geklungen hatte, als Hugette ihren Bauch abgehört hatte, um zu lauschen, wie es ihrem damals noch ungeborenen Cousin Didier erging. Was hatte sie erfahren? Sardonia hatte damals auch ungeborenes Leben ihrer Macht unterworfen. Hier konzentrierte sich also diese Macht.

Behutsam schnitt sie sich eine X-förmige Wunde in den Zauberstabarm und presste die Wunde auf den sanft aber schnell pulsierenden Stein. Sofort fühlte sie, wie dieser sich erhitzte und meinte, das schnelle Pochen ungeborener Herzen noch lauter und vielstimmiger zu hören. Dann hörte sie ein vielstimmiges Wimmern wie von quängelnden Säuglingen hinter einer dicken Wand. Dabei merkte sie, wie etwas ihr mit jedem Pulsieren etwas aus dem Arm saugte. Der Stein trank ihr Blut. Sie merkte, wie ihr immer schwummeriger wurde. Dann durchfuhr sie ein Hitzeschauer, der sie zurückzucken ließ. Ein letzter Blutstropfen landete auf dem Stein und wurde wie von einem Schwamm aufgesaugt. Dann hörte die Blutung auf. "Die Bindung ist geschlossen. Der Stein und der Dolch sind mit dir vereint", hörte sie Sardonias Geistesstimme mit einem merkwürdigen Echo, als sprächen da zwei Sardonias gleichzeitig. "Ergreife den Dolch ganz fest und lasse dich von mir zum nächsten Steine tragen, dem Stein der stetigen Fruchtbarkeit!" Kaum hatte die irgendwie zweistimmig klingende Gedankenstimme dies gesagt, umfloss Hugette wieder jenes Silberlicht, mit dem der Dolch sich und andere an einen anderen Ort versetzte.

Der Stein der stetigen Fruchtbarkeit, in den Sardonia mit zwanzig Mitschwestern etwas von ihrem Monatsblut eingelagert hatte und dem dann noch fünfundzwanzig blutjunge Hexenleben geopfert worden waren, sah aus wie eine Schale, deren einer Rand etwas höher aufragte. Hugette entblößte sich und nahm auf dem Stein Platz. Dann brachte sie sich mit dem Dolch eine Wunde zwischen Geschlecht und Bauchnabel bei und lehnte sich nach vorne, um es in die Aushöhlung hineintropfen zu lassen. Jetzt war ihr, als bewege sich etwas in ihrem Unterleib. Sie erschauerte. Fühlte sich das bei schwangeren Hexen genauso an? Sie fühlte, dass wieder etwas an ihrer Kraft sog und meinte, nicht nur aus der Bauchwunde zu bluten. Sie keuchte, weil ihr die Prozedur doch sichtlich weh tat und sie dabei auch immer schwächer wurde. Doch sie ließ es über sich ergehen, bis ein weiterer Hitzestoß durch ihr Gesäß und ihren Schoß jagte und sie wie von einer Sprungfeder geschnellt aufsprang. "Auch diese Bindung ist vollzogen, meine treue Schwester Hugette. So bringe ich dich nun zum Stein der Vollendung, dem Zentrum meiner Macht, auf dass du deinen Teil des Paktes vollenden wirst!" sprach Sardonias Gedankenstimme. Doch nun klang sie noch lauter und irgendwie dreistimmig. Es stimmte also. Mit jeder Blutgabe verband sie sich mehr und mehr mit der großen Anführerin, der Magna Mater der mediteranen Hexenheit, der Magistra maxima magarum.

Nun stand sie vor dem Stein der Vollendung. Er sah aus wie ein schwarzes Herz, so groß wie ein ganzer Mensch. Er musste vor langer Zeit aus einem einzigen Marmorblock herausgeschlagen worden sein. Und er pulsierte, jedoch nicht so schnell wie ein menschliches Herz, sondern langsam und dafür deutlich sichtbar. Es war, als atme der Stein die hier zusammenfließenden dunklen Kräfte ein und wieder aus. Auch Hugette Mirabeau fühlte die hier zusammenfließenden Ströme dunkler Magie. Hier war das Zentrum von Sardonias magischer Kuppel, der ihre Vorfahren und auch sie jahrelangen Schutz verdankt hatten. "Gib dem Stein von deinem Blut zu trinken, bis er dich angenommen hat!" befahl die nun dreifach klingende Geistesstimme Sardonias. Doch Hugette sah zur etwa zehn Meter über ihr liegenden Felsendecke. Sie konnte eine kreisrunde Rinne erkennen und wusste, dass dies die Zugangsluke war. Ja, und sie sah auch das in die Decke eingezogene Ende einer Strickleiter. Sie fühlte, dass etwas in der Decke sie anzog, sie wie mit einem unhörbaren Ruf dazu bringen wollte, den Zauberstab zu heben und die Leiter herabfallen zu lassen. Sie erinnerte sich, dass der Stein der Vollendung tief unter dem Zentralteich von Millemerveilles liegen sollte. "Wirst du wohl gehorchen?! Hör nicht auf den vermaledeiten Ruf der Erde, der dich unseren Feinden in die Arme treiben soll!" dröhnte die dreistimmige Gedankenstimme ihrer Herrin so schmerzhaft in ihrem Geist, dass sie sofort den unhörbaren Ruf und den Drang, nach oben zu klettern vergaß. Sofort sah sie wieder auf den langsam pulsierenden Steinblock und trat heran.

Diesmal brachte sie sich eine X-förmige Wunde am linken Arm bei und drückte die Wunde auf den Stein. Sie fühlte, wie der Stein an der Wunde saugte und ihr Blut in sich aufnahm. Wieder musste sie warten, bis ein kurzer Hitzeschauer sie vom Stein zurücktrieb. "Und nun vollende, was du mir schuldest, Hugette!" klang nun die irgendwie vierfache Geistesstimme Sardonias in Hugettes Geist. "Lege dich vollkommen unverhüllt auf den Stein, Gesicht, Brust und Bauch dem Himmel zugekehrt! Dann stoße dir den Opferdolch in deinen Bauch und vollende die Vereinigung mit mir in Schmerz und Freude, wie eine kreißende Mutter. Werden wir eins, Fleisch, Blut und Geist!"

Hugette wusste, dass es nun kein Zurück mehr gab. Die sie bestreichenden und durchfließenden Ströme der dunklen Magie erfrischten und bestärkten sie. Unbefugte mochten an diesem Ort dem Wahnsinn verfallen oder qualvoll sterben. sie war jedoch höchstwillkommen, ja ausdrücklich einbestellt worden. Sie fühlte, dass der Dolch in ihrer Hand sich dem langsamen Pulsieren des Steines anpasste. Dolch und Stein wurden eins. Und sie sollte mit beidem vereint werden.

Hugette legte ihre Kleidung ab und legte sich rücklings auf den sanft an- und abschwellenden Stein. Dieser war nicht kalt, sondern genauso warm wie ihr Körper. Ja er war auch nicht hart wie Marmor, sondern weich wie ein Daunenlager. Sie fühlte, wie ihr Körper sich dem Rhythmus des Steines anglich. Ihr Atem ging mit derselben Geschwindigkeit wie das Pulsieren des Steines. Ihr Herzschlag verlangsamte sich. Dann verspürte sie eine wilde Entschlossenheit, sich die in der beinahe völligen Dunkelheit matt schimmernde Silberklinge in den Bauch zu rammen. Sie holte kurz aus und stieß zu.

Der Schmerz, der sie durchraste war fast unerträglich. Die Klinge drang in ihren Leib ein wie ein heißes Messer in ein Stück Butter. Sofort fühlte sie, wie etwas ihr Kraft entriss. Doch sofort stürzte neue Kraft wie ein Schauer heißen Wassers auf sie nieder und durchflutete sie. Sie schrie in diesem Gewitter aus Schmerz und wohltuender Hitze, trieb zwischen unerträglicher Qual und grenzenloser Glückseligkeit auf und ab. Ihre Lungen brannten unter der Anstrengung, ihr Leid und ihre Freude in diese Höhle hineinzuschreien. Dann fühlte sie, wie etwas in ihr aufstieg, kein weiterer Schmerz, sondern Erinnerungen, Erinnerungen einer anderen Hexe, Sardonias Erinnerungen.

Das scheinbar selbstmörderische Opfer entfaltete Sardonias verborgenes Wissen in ihr, Hugette. Sie fühlte, wie der Geist der großen Mutter sich in ihr vereinte, aus den drei bisher gebrachten Blutopfern drei mächtige Bruchstücke des gefangenen Geistes der mächtigen Hexe zusammenführte und in ihr zusammenfügte. Sie begann, Sardonias Gedanken zu denken, ihre Freude zu erleben, dass sie endlich wieder einen lebenden, atmenden Körper bekam. Sie kehrte zurück, im Leib der einzig wahren Erbin. Deren Seele wich immer mehr zurück, überließ der wiedererwachenden Hexenkönigin den gepeinigten Leib. Jetzt durchfuhr die auf dem Stein liegende Hexe ein letzter Schmerz. Dann war die Wiederbeseelung vollendet. Hugette erfasste wie in einem Traum, dass sie sich den Dolch aus dem Bauch zog. Leise schmatzend schloss sich die zugefügte Wunde und verheilte im Bad aus belebender Magie, die in diesem Stein ein- und wieder ausströmte. Dann bekam Hugette mit, wie ihr Körper sich die abgelegten Kleidungsstücke nahm. Sie betrachtete den Zauberstab Hugettes und warf ihn in eine Ecke. Sie bückte sich und kitzelte mit der Klinge des Dolches eine bestimmte Stelle des Steines. In einem weltentrückten, singenden Tonfall säuselte Hugette die Worte:

"Geh ich aus der Welt,
dieser Stein mein Erbe hält.
Tret ich wieder ein,
ist es wieder mein."

Ein leises Knarzen erfüllte den immer noch pulsierenden Stein. Dann glitt etwas längliches heraus und fiel klappernd zu boden. Hugette/Sardonia lachte lauthals. Sie hatten es nicht geschafft, ihn ihr zu verwehren. Er war nach ihrem Tod in diesen Stein eingedrungen und dort verwahrt worden, im Schutz ihres dort bereits wirkenden Seelenfragmentes und der in ihm pulsierenden Kraft der zwölf anderen Quellsteine. Sie hob ihn hoch und dachte "Lumos!" Da leuchtete seine Spitze auf. Ihr treuer Zauberstab aus dem Ast einer Galgeneiche und dem Haar ihres bretonischen Nachtmars war zu seiner rechtmäßigen Besitzerin zurückgekehrt.

"So sei bedankt, meine Schwester, dass du mir Eintritt in deinen leib gewährt hast. Ich werde ihn und damit dich ehrenund dich tief in mir bergen, wie eine hoffnungsvolle Hexe ihr ungeborenes Kind. Doch gilt es nun, die anderen zu wecken, die durch die Jahrhunderte darauf geprägt wurden, meinen Weckruf zu vernehmen, auf dass wir die Schänder meiner Heimstatt bestrafen und jene, die sich bisher teilnahmslos verhielten, dazu bringen, sich für oder gegen mich zu entscheiden. Ah, ich erfasse aus deinen Erinnerungen, dass da eine sein soll, die sich für eine Wiederkehrerin meiner sehr mächtigen Nichte Anthelia ausgibt. Auch weiß ich nun durch dich, dass meine Erzfeindin Ladonna Montefiori wiedererweckt wurde, wohl durch das Blut einer unwissenden Maid. Nun denn, erst werde ich die Grenzen meiner Heimat Millemerveilles sichern. Dann werde ich die ungebundenen Hexen vor die Wahl stellen, mir zu folgen oder mit ihren Erwählten zu sterben. Ich werde die Brut der Abtrünnigen Latierres aus Millemerveilles vertreiben oder abtöten und auch die in Millemerveilles eingesickerte Pest der Gutmenschlichkeit jener legendenhaften Königin Ashtaria mit Stumpf und Stiel ausrotten. Dann werde ich die angebliche Wiedergeburt Anthelias aufsuchen und sie prüfen. Ist sie wahrhaftig, so gilt für sie dasselbe wie für alle Hexen: Zu meinen Füßen oder darunter. Ist sie eine Hochstaplerin, so zertrete ich sie zu Staub. Dann werde ich Ladonna Montefiori suchen oder sie dazu bringen, zu mir zu kommen und beenden, was ich damals nicht vollendet habe. Denn nur weil sie Veelablut im Leibe trägt bewahrt sie dies nicht mehr vor der völligen Vernichtung. Denn wenn Millemerveilles endlich wieder eine starke Festung ist, so werden sich die Rachedurstigen Langhaare an ihr brechen wie die Meeresbrandung an der Steilküste."

Hugette hörte und fühlte die Worte der in ihr wiedererwachten. Sie konnte nichts mehr tun. Ihr Körper gehörte ihr nicht mehr. Sie konnte nur noch beobachten und hören, was um ihn herum vorging. Doch sie fühlte sich nicht gefangen. Sie war überglücklich, im Schutz der großen Mutter zu ruhen. Sie war stolz, ihr auf die Welt zurückgeholfen zu haben, wo alle behauptet hatten, sie sei von Dementoren entseelt und getötet worden. Doch irgendwas war noch nicht so, wie es sein sollte. Sardonia lauschte in die Ströme der sie umgebenden Magie hinaus. Sie klangen nicht gleichmäßig und rein, sondern verwaschen und arhythmisch, als durchwühle etwas großes, mächtiges die Kraftströme. "Vermalledeites Sonnenlicht. Hat es jemand gewagt, die Steine von Mittag und Mitternacht zu verfremden, dass die Sonne meine Macht schwächt? Dies muss ich ergründen", hörte Hugette Sardonia denken. Dann fühlte sie, wie die in ihrem Körper steckende Hexe mit ihr zusammen apparierte und in einem Gang stand, aus dem ein kalter Hauch drang. "Ich verstehe, die Macht der schwarzen Sonne. Jetzt ist mir bewusst, was mich entfesseln konnte."

Wieder apparierte Sardonia mit Hugettes eingeschlossener Seele. Sie erkundete den Stein der langen Nacht und erkannte, dass auch dieser von einer von außen eingeströmten Kraft durchwirkt worden war. Zumindest aber wusste sie nun, dass alle Schwächungen ihrer Macht, die nach dem Tod ihres Körpers vorgenommen worden waren, von diesem überstarken Zauber ausgelöscht oder umgekehrt worden waren. Sie wusste aber auch, dass sie der Gnade dieser fremden Bezauberung ausgeliefert war, wenn sie keinen Weg fand, sie in ihre ganz eigene Bezauberung zurückzuwandeln. Denn diese Bezauberung speiste sich aus weiteren Toden und schwächte sich ab, wenn neues Leben auf die Welt drängte. Sie prüfte den Stein und erkannte, dass sie den Zauber nur unter Verlust der Kuppel und zum Preis der Zerstörung Millemerveilles hinaustreiben konnte. Also beschloss sie, ihn ihrem Willen zu unterwerfen. Jetzt, wo es noch Tag war, kämpfte die andere Kraft um ihren Halt in den Steinen. Das musste sie ausnutzen.

Sie legte erneut ihre Kleidung ab und legte sich auf den nun eiskalten Stein. Dass er sie nicht gleich gefror lag wohl daran, dass sie ihm vierundsechzig Menschenseelen geopfert hatte. Sie überlegte, wie die alle geheißen hatten. Es dauerte eine geraume Zeit, bis ihr sämtliche Namen wieder einfielen. Dann besang sie jeden einzelnen in der Reihenfolge seines oder ihres Todes und beschwor die immer noch gültige Verbundenheit mit ihr, Sardonia.

So verging die Zeit. Sardonia beschwor jeden in diesem Stein gefangenen Geist und erinnerte ihn an die Verbundenheit mit ihr. Sie fühlte, dass die hier gebannten Seelen sich wehrten. Doch es nutzte ihnen nichts. Sie verloren ihren Widerstand und sanken zurück in die Untätigkeit. Dadurch konnte sie den hier eingedrungenen Zauber immer mehr an sich selbst binden. Ja, jetzt hatte sie es geschafft. Die vierundsechzig eingeschlossenen Seelen schwangen nun in ihrem Takt. Die letzten Spuren des unbekannten Magus verklangen im Chor ihrer neu geschlossenen Bindung. Doch sie wusste auch, dass sie das gleiche mit dem Stein der Mittagssonne tun musste. Den durfte sie aber nicht direkt ansehen oder berühren. Denn so viel wusste sie vom Hauch der schwarzen Sonne: Er sog Körper- und Seelenwärme in sich ein und gab sie als vereisende Strahlen wieder ab. Doch nun, wo sie die Kraft der Nachtdunkelheit in ihren Dienst zurückgezwungen hatte, konnte sie sich in einen wirksamen Schutzmantel hüllen und dann in der Halle die Namen der einhundertvierundvierzig gebannten Menschen besingen, die sie im Licht der sengenden Mittagssonne hatte verdorren lassen. Dann würde ihr die Kraft der Mittagssonne wieder dienen, auch wenn sie vom Hauch der schwarzen Sonne durchdrungen wurde.

"Wer hat diese mächtige Kraft auf Millemerveilles geworfen, meine Tochter Hugette?" fragte Sardonia in Gedanken. Doch die Erinnerungen Hugettes gaben keine befriedigende Antwort. Denn Hugette gehörte nicht zu den Eingeweihten der dreizehn Quellsteine und wusste auch nichts von der alten Zeit oder gar, dass der einst mächtigste Dunkelmagier des alten Reiches besiegt worden war und sein Machtartefakt sich selbst vernichtet hatte. So konnte sie nur davon ausgehen, dass ihr feindliche Bruderschaften sich zusammengeschlossen hatten, um die Kuppel um Millemerveilles niederzureißen. Dann jedoch schöpfte sie aus Hugettes Erinnerungen, dass es seit ihrem Ende keine solche Bruderschaft mehr versucht hatte, es aber einen gegeben hatte, der mit Hilfe jener Dunkelheit und Verzweiflung verbreitenden Wesen in das Dorf eingedrungen war, ein Zauberer, der sich selbst Lord Voldemort genannt hatte. Sicher, er war nicht selbst eingedrungen, weil er eindeutig ein Feind gewesen war. Aber er hatte eine ihm bedingungslos treue Hexe hineingeschmuggelt, die sich ihrer Hinterlassenschaften bemächtigt hatte. Also konnte es gut sein, dass Nachfolger jenes angeblich größten Magiers aller Zeiten einen Vergeltungsschlag gegen Millemerveilles geführt hatten, weil von hier aus der Kampf gegen seine Handlanger geführt und gewonnen worden war. Mit dieser Vermutung musste sie sich zunächst abgeben, bis sie einen der Eingeweihten zu fassen bekommen würde, um ihn auszuhorchen. Vielleicht sollte sie jenen jungen Zauberer, der sich darauf eingelassen hatte, mit einer der geächteten Latierres in ihrem Dorf Nachwuchs zu haben, unterwerfen und ihn ausfragen. Denn von ihm hieß es, dass er besonders hohe Zauberkräfte hatte und dass er in Geheimnisse der Kinder Ashtarias eingeweiht worden war. Diese würde er ihr verraten, wenn sie erst einmal die Macht der schwarzen Sonne unter ihre Herrschaft gezwungen hatte.

So wartete sie darauf, dass es dunkel wurde. Um Zeit zu haben wollte sie die ihr zustehenden Schwestern aus der erzwungenen Untätigkeit wecken und sie am alten Versammlungsort zusammenrufen. Dort würde sie ihnen den Auftrag geben, alle Brennstoffvorräte verschwinden zu lassen, wie sie es schon erwogen hatte. Denn nur wenn die Kuppel frei von unmagischem Licht und Feuer war konnte sie die Macht der schwarzen Sonne vollständig unterwerfen.

Endlich fühlte sie, dass der Stein der langen Nacht sich neu aufzuladen begann. Die Sonne war also unter den Horizont gesunken. Sie apparierte an die Erdoberfläche zurück.

__________

Julius Latierre sah die tanzenden Lichter zwischen den Apfelbäumen, die das Pentagon um sein Haus bildeten. Jetzt zuckten auch schwarze Schlieren in Bodennähe. Hieß das, dass die Kraft der fünf gesegneten Bäume nachließ? Nein, das war etwas anderes. Er fühlte, dass etwas im Boden arbeitete, eine die Erde durchflutende Magie, die im bisherigen Spiel der dunklen Kräfte einen neuen Takt angab. Er erwähnte es Millie und Béatrice gegenüber. Béatrice nutzte die Gelegenheit, mit den mitgebrachten Dunkelkraftmessern außerhhalb des schützenden Pentagons auszuloten, was passierte. "Irgendwo in exakter Nordrichtung bündelt sich eine starke Kraft und saugt die anderen Kraftströme aus der Kuppel zu sich hin. Aber um das ganz genau zu bestimmen fehlen mir die Präzisionsgeräte. Das soll Florymont Dusoleil prüfen", sagte sie. Julius mentiloquierte mit Camille und kündigte Béatrices Ankunft an. Er selbst sollte bei seiner Frau bleiben um aufzupassen, falls Clarimonde doch vor dem berechneten Zeitraum zur Welt kommen wollte.

"Das ist keine Erdmagie, was da im Norden läuft. Das muss dunkle Magie von Leben oder Tod sein", sagte Julius zu Millie. Diese fragte ihn, was das bedeuten mochte. "Ich fürchte, wir, beziehungsweise ich, habe heute Nachmittag den entscheidenden Anstoß geliefert, dass Sardonias Erbe ganz aufwacht. Kann sein, dass Hugette im Norden irgendwas anstellt, um die Kraft der Nachtzauber zu bündeln. Was sie damit vorhat weiß wohl nur Sardonias Geist, sofern der echt im Dolch eingekerkert ist."

"Will sagen, die macht jetzt erst ernst?" fragte Millie und sagte sofort: "Vergiss das, mich zu schonen! Ja oder nein, Monju?" Er sah sie entschlossen an und sagte: "Ich vermute, dass sie jetzt erst die nötige Kraft hat, um was auch immer Sardonia zurückgelassen hat zu aktivieren, also ja, Mamille. Aber das ist eben nur meine persönliche Vermutung, nichts nachweisbares."

"Und du fühlst dich schuldig?" fragte Millie sehr ernst. Julius überlegte, was er darauf antworten sollte. "Ich will das mal so sagen: Vielleicht habe ich mit dem Versuch, Hugette aus dem Teich zu treiben, einen schlafenden Drachen gekitzelt. Wenn jemand sich frontal angegriffen fühlt haut der oder die mit allem zu, was möglich ist."

"Monju, ob du das heute echt hingekriegt hättest oder nicht, die hätte irgendwann auch so damit angefangen, Sardonias Willen zu erfüllen. Was du mir von diesen ausgelagerten Seelensplittern erzählt hast verrät mir, dass sie so oder so von Sardonias bösem Willen übernommen worden wäre, bis sie wie von einem Dibbuk besessen gehandelt hätte. Ob sie das heute Nacht schon macht oder erst in einem Monat ist egal, solange wir die Kuppel nicht verlassen können. Also fühl dich bitte nicht schuldig, sondern warte drauf, dass du dein besonderes Wissen gegen sie anwenden kannst! Dann ist es am Ende egal, wann du was gemacht hast", sagte Millie.

"Na ja, ich habe darauf gehofft, dass Clarimondes Geburt diesem Spuk doch noch den Garaus macht. Im Moment sieht es aber nicht danach aus", seufzte Julius.

"Ja, weil Caros Vater und sieben andere Zauberer unbedingt mit dem Kopf durch eine hundert Meter dicke Wand krachen wollten, Monju. Sonst bräuchten wir echt nur drauf zu warten, bis Clarimonde aus mir rausschlüpft. Aber es heißt nicht, dass wir jetzt komplett erledigt sind, Monju. Das hast du damals nicht geglaubt, als die Schlangenmenschen Beauxbatons gestürmt haben, das haben wir nicht hingenommen, als dieser Irre mit dem unnennbaren Namen angeblich Harry Potter getötet hat, dass habe ich nicht geglaubt, als du von dieser Semiramis Bitterling entführt wurdest, und wir zwei haben es nicht geglaubt, als wir gehört haben, dass dieser Spinner Wallenkron alias Vengor kurz davor stand, die Welt zu erobern. Wir kriegen das hin, dass auch das hier keine Chance kriegt, uns zu erledigen. Außerdem sind wir zwei nicht alleine hier."

Wie auf's Stichwort erklang das Glockenspiel "Wie leuchtet mir der Apfelbaum". Béatrice Latierre stand vor der Haustür und sah sehr besorgt aus.

"Offenbar macht jemand was, dass die Grundschwingungen der bösen Magie verändert, sie sozusagen auf sich abstimmt. Da Florymont ein Zauberer und ich eine Hexe sind konnten wir durch ein wenig Blut die Schwingungsart ausloten. Es ist eine mächtige Hexe, die wohl unter Verwendung alter Anrufungen oder ihr bekannter Bindungszauber das Geflecht der dunklen Kräfte auf sich abstimmt. Florymont fürchtet, dass Hugette sich darauf eingelassen hat, Sardonias Seelenbruchstück aus dem Dolch in sich einzulagern und damit Sardonias Wissen zu erhalten. Dann wollte er noch was sagen, aber verkniff es sich. Er meinte, dass sie wohl dadurch noch mehr über die Kuppel und deren Quellen erfahren habe und er das gleich dem Kreis der Eingeweihten weitermelden müsse, falls noch was getan werden könne, Sardonias Wiederkehr zu verhindern."

"Drachenmist!" grummelte Julius. "Es besteht immer noch Hoffnung, dass die Kuppel derartig verfremdet wurde, dass auch eine wiedererwachte Sardonia das nicht mal eben zu ihren Gunsten umdrehen kann."

"Das ist verdammt viel Zeug, was ihr da gerade erzählt", meinte Millie, die sich vorsorglich in ihren Umstandssessel gesetzt hatte. "Was schreibe ich denn jetzt für die Reportage? Sardonias Erbe wiedererwacht, Millemerveilles wird erneut Zentrum der dunklen Künste?"

"Du schreibst, dass wir fürchten, dass das Erbe Sardonias immer stärker wird und wir nicht wissen, wann, wo und wie es sich äußert. Das ist so nahe an der Wahrheit, ohne Einzelheiten zu verraten", sagte Julius. "Zumindest werde ich Nathalie andigekasteln, dass sie bitte mit der Liga gegen dunkle Künste ausknobelt, was im Fall X zu tun ist, wenn Sardonia echt wieder die Weltherrschaft an sich reißen will. Ich meine, das kennen wir ja mittlerweile schon von ihrer wiederverkörperten Nichte und der schlafenden Göttin."

"Moment mal, wenn ich überhaupt schreibe, dass Sardonias Erbschaft wieder aufwacht könnten die für die Spinnenfrau arbeitenden Hexen ihr das zuspielen. Was macht die dann?"

"Tja, drei Möglichkeiten. Sie wartet ab, bis Sardonia ihre Fühler ausstreckt, um zu lauschen, wer in ihrer Abwesenheit die Hexenwelt beherrscht hat. Oder sie geht in Deckung und hofft, dass Sardonia nicht mitbekommt, dass ihre Nichte schon längst wieder auf der Welt herumläuft. Immerhin ist Anthelia damals über den Ärmelkanal gehüpft, weil das Festland für sie und Sardonia zu klein war. Oder sie kommt her und prüft nach, was an der Behauptung dran ist. Falls Sardonia sie dann hier oder draußen treffen soll hat sie immer noch die Möglichkeit, sie im Duell zu besiegen oder sich ihr freiwillig zu unterwwerfen. Aber die, mit der Anthelia verschmolzen ist würde sich garantiert keinem Geist unterwerfen, der fremde Körper als Ausführungswerkzeuge braucht. Die würde Sardonia womöglich ganz eiskalt abservieren. Sardonia weiß nämlich nicht, was die Spinnenlady so drauf hat, und auch nicht, dass sie die besser nicht tötet."

"Warum darf sie nicht getötet werden?" fragte Béatrice Latierre. Julius erzählte es ihr. "Ja, das sollte sie dann besser lassen", erwiderte Béatrice Latierre mit einer gewissen Verwegenheit im Tonfall."

__________

Sardonia/Hugette apparierte nicht in der Dorfmitte, sondern auf der höchsten Anhöhe, dem Hügel der schönen Aussicht im Norden von Millemerveilles. Hier stand eine alte Eiche, die schon zu Sardonias Zeit stattlich gewesen war. Auf diese kletterte die Wiedererwachte nun auch noch hinauf. Dann blickte sie sich mit einer Kombination aus Falkensicht und Eulensicht um. Niemand hatte sie hier erwartet und keiner war unterwegs zu ihr. Sie prüfte, ob sie wieder ihre geistigen Kräfte hatte, stoffliche Dinge durch bloße Gedankenkraft zu bewegen oder zu verformen. Ja, sie konnte einen Stein anheben und immer höher heben. Doch es ging nicht so gut wie zu ihrer ersten Lebzeit. Das konnte daran liegen, dass sie nicht allein in diesem Körper steckte. Es konnte aber auch sein, dass ihr wirklich noch ein wichtiges Bruchstück ihrer Seele fehlte. An und für sich hätte ihre Vorkehrung sie auch nach dem Tod ihres Körpers in der Welt halten müssen. Doch die in Hugette wieder zusammengesetzten Bruchstücke konnten nur Erinnerungen bis drei Jahre vor Sardonias Tod im Jahre 1642 christlicher Zeitrechnung zurückrufen. Somit wusste sie nicht, ob ihr größter Seelenanteil nicht doch restlos erloschen war. Etwas frustriert ließ sie den bis auf halbe Höhe der Eiche gehobenen Stein wieder los. Sie würde sich also damit begnügen müssen, wichtige Dinge aus Sardonias letzten Lebensjahren nicht zu wissen. Doch die wirklich wichtigen Dinge kannte und konnte sie noch.

Sie zog den silbernen Dolch mit dem Griff aus dem Knochen eines bretonischen Blauen und hielt die Klinge kerzengerade nach oben. Sofort fühlte sie, wie zwischen dem Baum, ihr und der Kuppel eine sanft vibrierende Verbindung entstand. Sie hob ihren Zauberstab und berührte damit den Griff des Dolches. "Surgite Sorores!" rief sie. Durch den Zauberstab floss starke Magie. Diese verband sich mit einer Kraft des Dolches zu einem orangeroten Lichtstrahl, der direkt in die Kuppel hineinstieß und diese zum Schwingen brachte. "Roter Morgen bringt die Kraft!" rief sie nun so laut sie konnte. Der orangerote Lichtstrahl verbreiterte sich und erzeugte blutrote Lichtblitze, die sich kreisförmig über die Kuppel ausbreiteten und unter dem Scheitelpunkt genau über dem Zentralteich als lautlose Entladungen niederfuhren. Die Worte und ihre Macht drangen nun in alle Köpfe von Hexen, ob schlafend oder wachend. Die einzigen, die sie wohl nicht hören würden waren wohl diese Nachfahrin der Latierres, die in ihrem Dorf eine Tochter geboren hatte und jetzt schon auf die nächste wartete und diese widerwärtige Nachfahrin jener Licht- und Liebe predigenden Weichlingshexe Ashtaria. "Roter Morgen bringt die Kraft!" rief sie erneut und löste eine neue Kaskade roter Blitze aus. Ihre Stimme wurde zu einer Art Echo, das nur in ihren Gedanken nachhallte. Doch das hieß nur, dass ihre Stimme in noch mehr Hexenköpfen erklungen war. "Roter Morgen bringt die Kraft!" beschwor sie abermals. Wieder zuckten blutrote Blitze über den Himmel und schlugen über dem Zentralteich nieder. Wieder wurde das Echo ihres Rufes vielfältiger und Nachhaltiger. "Roter Morgen bringt die Kraft!" rief sie noch einmal aus. Nun meinte sie, in einem weitläufigen Saal zu stehen, aus dessen Ecken ihre eigenen Worte von hunderten von Mündern zurückgerufen wurden. "Roter Morgen bringt die Kraft!" rief sie erneut. Doch diesmal gab es weder Blitze noch Echos. Offenbar hatte sie alle Hexen im Dorf erreicht, die ihren Ruf vernehmen konnten. Jetzt würde es sich zeigen, wer darauf hörte und noch wusste, wohin sie zu kommen hatte.

Es vergingen nur zwei Minuten, da trafen die ersten fliegenden Besen ein. Auf ihnen saßen nur einzelne Hexen. Dann ploppte und krachte es noch, und weitere Hexen apparierten um den Stamm der Eiche herum. Sardonia wartete noch eine Minute. Doch mehr als zehn Hexen trafen nicht ein. Das waren alle verbliebenen Trägerinnen des alten Bluterbes? Gut, damit musste und würde sie leben. Sie senkte den immer noch gen Himmel gereckten Dolch, steckte diesen fort und ließ sich einfach vom Baum fallen. Mit ihrer eigenen telekinetischen Kraft bremste sie ihren Fall. Doch so locker und sicher wie früher ging das nicht. Erst einen Meter vor dem Aufprall hatte sie ihren Körper auf eine erträgliche Landegeschwindigkeit verzögert. Sie kam auf ihre Füße und reckte den wiedergewonnenen Zauberstab über ihren Kopf. "Zu meinen Füßen oder darunter, Schwestern. Semper Sorores!"

"Semper Sorores!" riefen die eingetroffenen Hexen wie in Trance. Dann schienen sie endgültig aufzuwachen und erkannten, wo sie waren und was sie gerade taten. Sardonia fühlte, dass einige wohl überlegten, ob sie nicht schnellstmöglich wieder verschwanden. Doch dann beruhigten sie sich. Sie hätten wohl keine Ruhe mehr gehabt. "Eure Mütter, Großmütter, Urgroßmütter und alle deren Vormütter haben mich also nicht vergessen. Sie haben euch zehn mit den Worten meiner Wiederkehr geprägt, damit ihr eines Tages, wenn ich einen neuen Körper angenommen habe, an meine Seite zurückkehren könnt. Es ist bedauerlich, dass hier in Millemerveilles nur zehn von euch leben und ich im Moment noch abwarten muss, ob jene, die mich weckten, nicht nach meinem Ende trachten, bevor ich die Kuppel wieder öffnen kann, um euch in die Welt hinauszusendenund die noch da draußen lebenden Schwestern zu mir hinzurufen. Doch damit wir bald wieder hinausgehen können werdet ihr für mich drei Dinge tun. Zum einen müsst ihr die hochwirksamen Brennstoffe verschwinden lassen, ohne sie zu entzünden. Denn Feuer und Wärme gefährdet die Sicherheit der Kuppel. Dann werdet ihr ergründen, wie ihr jene unerlaubt errichteten Bollwerke einer abartigen Magie niederreißen könnt, die sich vor allem eine Nachfahrin der Latierres und eine gewisse Familie Dusoleil, deren älteste Tochter da selbst von so einem Bollwerk umschlossen ist, anzueignen erdreistet haben. Drittens und wichtigstens werdet ihr mir all jene Hexen bringen, die den Ruf nicht befolgt haben. Sie sollen mir Gefolgschaft schwören oder den Quellen meiner Macht geopfert werden. Die Zauberer sollen sich entschließen, euch als ihre Herrinnen anzuerkennen oder ebenfalls sterben. Wer findet, dass ihr Anvertrauter leben soll darf diesen mit dem Imperius-Fluch unterwerfen. Ach ja, ich weiß von zwei Schwestern, die von den Schergen der falschen Herren von Millemerveilles eingesperrt und in Zauberschlaf versenkt wurden. Findet sie und bringt sie mir, damit ich sie wieder aufwecken kann. Denn dann sind wir wenigstens dreizehn, die Mutter und zwölf ergebene Töchter. Die anmaßenden Zauberer und diesen schändlich unterworfenen Hexen sollen euch verraten, wo die Versteckten Schwestern sind. Hierfür dürft ihr den Peinigungszauber Cruciatus verwenden, wenn sie euch nicht unter dem Imperius-Fluch zu Willen sein wollen.""

"Öhm, Du bist Sardonia, die große Mutter. Du siehst aus wie die verdrehte Hugette Mirabeau, die seit Tagen gesucht wird", sagte eine der Hexen, Fabienne Dubois.

"Meine treue Tochter Hugette Mirabeau hat sich erboten, mir ihren Leib als Heimstatt meiner Seele zu überlassen. Sie wohnt noch in mir. Aber ich herrsche fortan", sagte Sardonia. "Gut, du hast uns mit deinem Ruf echt ziemlich übel zu fassen gekriegt, Hugette. Aber du bist garantiert nicht Sardonia. Die ist von Dementoren gefressen worden. Und wem die die Seele aussaugen ist echt tot", sagte Fabienne Dubois aufsässig. Sardonia hatte damit gerechnet, dass nicht jede einfach so hinnahm, dass sie wieder da war. Es waren zu viele Jahrhunderte vergangen. Deshalb sagte sie: "Womit kann und muss ich dir beweisen, dass ich deine wahre Königin und große Mutter bin, Fabienne Dubois?"

"Meine Mutter sagte mir, dass Sardonia ihren alten Zauberstab wiederbekommen würde, der bei ihrem Tod verschwunden sei." Sardonia lächelte und zeigte den Eichenholzzauberstab vor. "Ja, und dass sie die Kraft der Telekinese ausüben könnte, auch wenn sie einen neuen Körper finden würde." Als Fabienne das sagte steckte Sardonia ihren Zauberstab fort und blickte die Hexe konzentriert an. Da verlor Fabienne den Bodenunter den Füßen und stieg immer höher empor. Als sie auf halber Höhe der Eiche schwebte rief Fabienne: "Ja, ich glaube es jetzt. Bitte lass mich wieder langsam runter, große Mutter!" Sardonia tat ihr den Gefallen, ließ sie jedoch nicht auf die Füße kommen, sondern warf sie flach auf ihr gesicht. Dann trat sie vor und stellte ihren rechten Fuß neben Fabiennes rechte Wange. "Zu meinen Füßen oder darunter, meine Tochter Fabienne. Entscheide dich!" Fabienne rief dem Boden zugewandt. "Ich bin deine Dienerin, große Mutter, Magistra maxima magarum!"

"Dann steh auf und wisch dir Dreck und Staub von der Kleidung! Ich mag keine schmutzigen Töchter um mich sehen!" Fabienne erhob sich und vollführte mit dem Ratzeputzzauber die befohlene Reinigung. Als das erledigt war und nun jede hier sicher war, die einzig wahre, wiedergekehrte Königin vor sich zu haben, wiederholte Sardonia ihre Befehle noch einmal. Erst sollten die Brennstoffvorräte verschwinden, aber nicht abgefackelt werden. Dann sollten die weißmagischen Barrieren um die Häuser der Familie Latierre und den Familien Dusoleil niedergerissen werden. Außerdem sollten die gefangenen Mitschwestern aufgespürt und zu Sardonia hingebracht werden. Sie teilte die zehn erschienenen Hexen in zwei Gruppen. Jene, die mit Sicherheitstrupplern verwandt waren sollten diese zwingen, den Aufenthaltsort der gefangenen Mitschwestern preiszugeben. Vier der zehn sollten die bei der Feuerwehr gelagerten Brennstoffvorräte stehlen und auf einem Leiterwagen durch die Kuppelbegrenzung schieben.

"So gilt es nun, die Kraft der schwarzen Sonne unter meine Herrschaft zu bringen. Nur dann kann ich die Kuppel öffnen", dachte Sardonia.

Als sie dann unbehelligt von den üblichen Sperrzaubern vor den Kammern ihrer Quellsteine im Saal des Sonnenkristalls apparierte und sofort die Augen niederschlug, weil ihr schmerzhafte Eiseskälte von oben entgegenschlug erkannte sie jedoch, dass es mit der Unterwerfung der im Kristall gefangenen Seelen alleine nicht getan war. Was immer die Macht der schwarzen Sonne geweckt hatte hatte sich bereits in die Wände und den Boden hineingefressen. Somit musste sie offenbar doch darauf warten, dass die natürliche Sonne wieder aufging und damit die eigentliche Kraft des Kristalls anregte. Außerdem fühlte sie, dass sie hier trotz ihrer vorsorglichen Schutzmagie gegen Kälte und Dunkelzauber nicht zu lange bleiben durfte. Die Wiederverkörperung hatte zu viel Kraft gekostet, und die Rückeroberung des Steins der langen Nacht hatte ihrem Körper zusätzlich Kraft entzogen. In einer der Kammern der Quellsteine durfte sie nicht einschlafen. Also was blieb ihr dann noch? In den Teich konnte sie wohl nicht mehr zurückkehren, weil dieser vertückte Erdzauber ihn ... für Hugette ... unzuträglich gemacht hatte. Sie probierte es und apparierte genau auf dem Grund des Teiches. Zunächst fühlte sie, wie die dort wirkende Magie sie nach oben zu drängen trachtete, doch dann wie ein Strom aus unsichtbaren Luftblasen um sie herumgelenkt und nach oben abgeleitet wurde. Sie schaffte es Dank Hugettes Erinnerungen und körperlicher Erfahrung noch, in die von dieser gewählte Tiergestalt zurückzukehren und sich am Grund des Teiches zu verstecken. Ja, sie konnte sich als Sardonia hier verstecken und abwarten. Da sie das Band zu ihren Schwestern geknüpft hatte würde sie fühlen, wenn eine von ihnen Erfolg oder Misserfolg hatte.

__________

Eleonore Delamontagne erwachte aus einem verstörenden Traum. Sie meinte, durch eine unendlich große Halle zu rasen, umflossen von blutroten und orangen Lichtern. Dabei hörte sie immer wieder die vierstimmige Anrufung "Roter Morgen bringt die Kraft!" Das Echo dieses Rufes hallte noch in ihrem Geist nach, als sie ganz erwachte. Sie blickte sich um. Nur die halb abgeblendete Laterne an der Wand gab ein schwaches, orangerotes Licht ab. Sie fühlte das wilde Pochen unterhalb ihrer rechten Brust. Dort trug sie die Goldblütenhonigphiole. Warum reagierte die gerade so stark? Sie setzte sich behutsam auf, damit ihr Mann Edouard nicht aufwachte. Sie zog die Phiole aus der weichen Tasche ihres Nachthemdes hervor und sah, dass sie in einem honigfarbenen Licht glomm und in ihr immer wieder kleine Lichter aufleuchteten und wieder erloschen. Offenbar wirkte gerade eine starke Magie darauf ein. "Roter Morgen bringt die Kraft!" hörte sie ganz leise in ihrem Geist. Sie erschrak. Also war es kein Traum gewesen, sondern eine magische Gedankenbotschaft. Die Phiole flackerte auch genau in diesem Moment heller auf, als müsse sie die geistigen Wellen von ihr fernhalten. Da begriff Eleonore Delamontagne. Jemand hatte es geschafft, Sardonias verborgenes Wissen freizulegen und sich anzueignen oder besser, sich ihm auszuliefern. Das war sicher Hugette gewesen, weil der Opferdolch Sardonias sie als seine Ausführungsgehilfin ausgesucht hatte. Dann war diese Botschaft wohl ein Weckruf an Sardoniatreue Hexen. Sie ärgerte sich einmal mehr, dass weder Blanche Faucon noch sie es trotz jahrelangen Bemühungen nicht herausbekommen hatten, welche der noch im Dorf lebenden Nachfahren von Sardonias treuen Dienerinnen immer noch auf diese Massenmörderin geprägt waren. Zwar empfand sie eine gewisse Mitsprache der Hexen in wichtigen Angelegenheiten als richtig, hielt jedoch nichts von einer Macht, die sich auf Bergen von Leichen und Flüssen aus Blut gründete. Sardonias Weg mochte zu Beginn einer ehrenvollen Idee gefolgt sein, hatte sich dann aber in einen irrsinnigen Feldzug aus Rachewahn und Weltherrschaftssucht verwandelt. Es stimmte schon, dass gleiches mit gleichem zu vergelten immer noch ungleich war. Nur weil Sardonia behauptet hatte, dem Hexenhass in der Muggelwelt entgegenwirken zu müssen, hätte sie diesen nicht durch gnadenlose Brutalität, Zwietracht, Unterdrückung und Zerstörung noch bestärken dürfen. Es war am Ende wie ein Kampf zwischen zwei Hydras gelaufen. Für jeden abgebissenen Kopf waren zwei Köpfe nachgewachsen. Am Ende hatten die Dementoren Sardonias Irrsinnsmarsch um die Welt gestoppt. Doch hatten sie das wirklich? Sämtliche Magiehistoriker und die Mitglieder der Liga gegen dunkle Künste hatten seit Jahrhunderten gewarnt, dass eine so mächtige Dunkelhexe wie Sardonia genug Hinterlassenschaften ausgestreut hatte, um auch nach dem körperlichen Tod weiterzuwirken. Die Kuppel über Millemerveilles war eine dieser Hinterlassenschaften. Dann musste es noch eine gegeben haben, für die sich der nicht minder psychopathische Engländer Tom Riddle alias Lord Voldemort interessiert hatte und die er sich von seinen dämonischen Handlangern, den Dementoren, hatte beschaffen lassen. Er hatte sie aber wohl nicht behalten können, weil er eben keine Hexe war. Es stand zu befürchten, dass jene, die sich als Anthelias Wiedergeburt ausgab, diese Hinterlassenschaft angeeignet hatte. Und jetzt war nach der unheimlichen Verfremdung der Kuppel auch noch Sardonias Opferdolch wieder aufgetaucht, von dem es hieß, dass Sardonia einen Teil ihrer Seele daran gebunden haben sollte. Und welche Hinterlassenschaft hatte Hugette nun reaktiviert? Einen Hexenruf, der die heimlichen Helferinnen zu einem bestimmten Treffpunkt rief? Das erschien der Dorfrätin am wahrscheinlichsten. Sie hatte den Ruf wohl auch nur deshalb gehört, weil auch sie eine starke Hexe war. Hatte die Goldblütenhonigphiole sie vor dem Zwang dieses Rufes bewahrt, oder wirkte er deshalb nicht auf sie, weil sie keine Vorfahrin in Sardonias Reihen besessen hatte?. Dann fiel ihr ein, dass zu Sardonias Zeit eine Vorfahrin namens Liliane Malvoisin Sardonias Mitschwester oder treue Tochter gewesen war. Doch die hatte nur Söhne geboren, die wiederum erst nur Söhne gezeugt hatten. Erst dann waren weibliche Nachfahren zur Welt gekommen. Wenn es eine Art Bluterbe gab, dann war es ihr wegen zu vieler männlicher Zwischengenerationen erspart geblieben. Also galt es, herauszufinden, wer von den gerade jetzt hier lebenden Hexen eine vollständig matrilineare Ahnenreihe besaß, die bis zu einer Getreuen Sardonias zurückverfolgt werden konnte. Diese musste sie ergründen, um zu wissen, wem dieser geistige Weckruf gegolten hatte. Diese Hexen mussten umgehend in Gewahrsam genommen werden. Denn sicher waren sie entweder schon im Mutterleib oder während der Stillzeit auf Sardonias Vorherrschaft eingestimmt worden, wie ihre Mütter und Großmütter.

Eleonore Delamontagne stand auf und ging so leise sie konnte durch das Haus. Sie sah kurz nach ihren beiden spät geborenen Kindern Baudouin und Giselle. Giselle schlief tief und fest, gut beschirmt durch an ihrem Bett angebrachte Goldblütenhonigphiolen. Auch Baudouin schlief im Schutz dieser nützlichen Artefakte. Sie musste wieder an die Behauptung von Louis Grandbois denken, dass die Phiolen ihren Trägern Lebenskraft rauben sollten. Immerhin hatte es bisher außer ihm und den seine Tirade mitunterzeichnenden keine Nachahmer gegeben. Doch die auf Sardonias Weckruf geprägten Hexen mochten trotz der Phiolen dem Ruf gefolgt sein, oder vielleicht doch nicht? Egal, die Verdächtigen mussten zur Sicherheit in Gewahrsam genommen werden. Das würde zwar viel Staub aufwirbeln. Aber besser Staub als Blut, dachte Eleonore Delamontagne. Dann ging sie in ihr Arbeitszimmer und holte die ihr zur Verfügung stehenden Bände mit den gegenwärtigen Einwohnern und wenn verfügbar deren Stammbäumen hervor. Sie wusste, dass es eine längere Nacht werden mochte. Zum Glück hatten ihr Schwiegervater und Florymont bereits vor vier Jahren wirksame Feindesabwehrzauber um das Haus und den Schachgarten gespannt, weil sie sich nicht all zu sehr auf die magische Kuppel verlassen wollten. Sie würde also in Ruhe nachlesen können, wer zu den möglichen Dienerinnen Sardonias gehören würde, wenn diese wahrhaftig durch Hugette eine Art Wiedergeburt erlebt hatte.

__________

Aus Mildrid Ursulines Reportage "Unter der Dämmerkuppel"

5. Juni 2003

Vielleicht war heute ein Schicksalstag für Millemerveilles. Einer Vermutung Madame Faucons nach könnte die gesuchte Hexe, welche davon getrieben wird, für Sardonia zu handeln, eine unter Wasser lebensfähige Animaga sein, also einen Fisch oder ein anderes durch Kimen atmendes Tier verkörpern. Dieser Vermutung folgend versuchten Sicherheitszauberer, sie mit einem Aufstöberungszauber aus dem Bereich der Erddmagie aus dem Zierteich in der genauen Mitte von Millemerveilles herauszuscheuchen. Der Zauber schien einen Moment lang das gewünschte Ergebnis zu zeigen. Doch die Gesuchte entzog sich ihm durch eine besondere Flucht. Dabei hat der amtierende Sicherheitstruppenleiter Thalos Latour eingeräumt, dass die Gesuchte eine geistige Verbindung mit Sardonias eigenständig handelndem Dolch hat und der Dolch sich und sie zusammen vor der Entdeckung gerettet und an einen anderen sicheren Ort gebracht hat. Doch offenbar war der Versuch, sie aufzustöbern sowas wie eine Herausforderung für diese und den sie wohl beeinflussenden Opferdolch Sardonias. Denn wenige Zeit später konnten die für die Messung magischer Kraftflüsse ausgerüsteten Mitbürger von Millemerveilles eine sich im Norden des Dorfes bündelnde Magie anmessen, welche die Kraftströme in der Kuppel veränderte. Mir wurde erlaubt, öffentlich mitzuteilen, dass die Sicherheitstruppen besorgt sind, dass die von uns gesuchte Helferin Sardonias mehr Wissen der dunklen Hexenführerin erhalten hat und versucht hat, die Magie, die in den Quellen der Kuppel steckt, neu zu ordnen und sich zu unterwerfen. Wir, also alle, die für die Sicherheit und Nachrichtenweitergabe in Millemerveilles zuständig sind, befürchten, dass Sardonia auf diese Weise eine neue, lebende Erbin erwählt hat und durch die Veränderung der Magie in der Kuppel mehr Macht und damit quasi Körperlichkeit gewonnen hat. Alle Bürgerinnen und Bürger werden gebeten, die Empfehlung des Dorfrates einzuhalten und jeden Ihnen bekannten Schutzzauber um ihr Grundstück zu legen und/oder sich bei den damit vertrauten Hilfe zu holen, sowie mindestens eine Goldblütenhonigphiole immer und überall dabei zu haben. Allerdings finden die Vorbehalte unseres Mitbürgers Louis Grandbois immer mehr Anhänger. Zwar haben alle hier wohnenden Experten für Schutz- und Heilzauber sowie die über Digeka befragten Fachleute außerhalb der Kuppel einhellig erklärt und begründet, dass die Annahme falsch ist, die Goldblütenhonigphiolen würden Lebenskraft von ihren Trägern absaugen. Doch offenbar halten Grandbois und die ihm glaubenden Zauberer und Hexen nichts von dieser Beweisführung, ja beschuldigen sogar den Dorfrat, uns alle hier um unsere Lebenskraft bringen zu wollen, weil sie wollen, dass wir noch leichter von Sardonia oder ihren Erben überwältigt und unterworfen werden können. Der Dorfrat, vor allem die Dorfräte für Sicherheit, gesellschaftliche Angelegenheiten und die residenten Heiler, weisen diese Anschuldigungen als böswillige und unnötige Angst und Zwietracht schürende Lügen zurück. Ich persönlich habe gute Gründe, denen zu vertrauen, die sagen, dass der Goldblütenhonig nur heilende oder schützende Kräfte hat. Denn diese Personen, darunter meine hauptamtliche Hebamme, sowie die Leiterin der Beauxbatons-Akademie, Madame Faucon, sowie der derzeitige Fachlehrer zum Schutz vor zerstörerischem Zauberwerk, Professeur Phoebus Delamontagne, würden mit ihrer Fachkenntnis sicher nicht die Gesundheit oder das Leben von eigenen Verwandten oder ihnen wichtiger Menschen gefährden. Ebenso trifft es nicht immer zu, dass ein Schutzzauber auf der anderen Seite mit Ausdauer oder Lebenskraft gespeist werden muss. Was Sie, die sie meine Reportage lesen, davon halten, dürfen Sie gerne selbst beurteilen. Im Anhang dieses Abschnittes finden Sie die Titel der Bücher, die sich mit dem Goldblütenhonig befassen.

Wir sorgen uns jetzt darum, dass Sardonias Erbin noch mehr Hilfe und Wissen bekommen wird, weil sie auf Sardonias ausgelagerte Erinnerungen zurückgreifen kann. Sie kann also durchaus auch hier lebende Menschen heimsuchen, die Nachfahren früherer Gefolgshexen Sardonias sind. Ob diese Nachfahren ihr freiwillig folgen oder durch dunkle Zauber dazu gezwungen werden, der Erbin zu dienen ist nur rechtlich wichtig. Praktisch müssen wir anderen darauf aufpassen, uns von diesen möglichen Helferinnen nicht dazu treiben zu lassen, unsere bisher durchgehaltene Zuversicht und Selbstbeherrschung zu verlieren.

Wir, die wir Kinder haben, machen uns natürlich auch Sorgen, dass diesen nichts zustößt und müssen die hier noch möglichen Arbeiten einschränken, um unsere Kinder zu beaufsichtigen oder zur Kindertagesstätte oder der Grundschule hinzubringen und wieder abzuholen. Immerhin konnten um die Kindertagesstätte weitere Schutzzauber errichtet werden, die bei Zutrittsversuchen nicht registrierter Personen die Sicherheitstruppen alarmieren. Da die Grundschule ja auf dem von meinem Mann und mir erhaltenen Grundstück stattfindet stehen die Kinder und Lehrer während der Unterrichtsstunden unter demselben starken Schutz, den meine Familie und ich genießen dürfen. Aber die Vorstellung, dass auf der einen Seite eine möglicherweise vergeltungssüchtige Hexe mit ihr unterworfenen oder ihr freiwillig folgenden Helferinnen unsere Sicherheit gefährdet und auf der anderen Seite eine zwar kleine aber unüberhörbare Gruppe von Schutzmaßnahmenablehnern den bisherigen Zusammenhalt in Frage stellt, zerht natürlich an unseren Nerven. Dennoch geben wir nicht auf. Wenn wir die Kuppel wieder durchlässig bekommen können, dann hoffe nicht nur ich darauf, dass sich alle Meinungsverschiedenheiten erledigen und dass wir auch die Gefahr durch eine von Sardonias Hinterlassenschaft getriebene Erfüllungsgehilfin ergreifen können, ohne dass sie dabei stirbt. Denn wie schon einmal hier erwähnt würde jeder weitere Tote unter der Dämmerkuppel die darin fließende böse Zauberkraft verstärken. Inwieweit mit der neuen Lage umgegangen wird liegt beim Dorfrat. Was davon die Öffentlichkeit erfahren darf bekomme ich dann mitgeteilt, wenn eine solche Entscheidung getroffen wurde.

MUL

__________

Tyches Refugium bei Boston, Am Abend des 6. Juni 2003

"Ach, das ist sehr aufmerksam von dir, Schwester Albertrude, dass du mir die neueste Ausgabe der rebellischen Zeitung der Latierres persönlich vorbeibringst. Hat die von Julius Latierre mit seinem dritten Kind Schwangere also was für uns sehr wichtiges vermeldet?" wandte sich Anthelia/Naaneavargia an die deutsche Hexe mit den biomaturgischen Augen. "Ja, ich finde ja, Schwester Anthelia. Offenbar gibt es nun noch eine Hexe, die sich als Erbin Sardonias bezeichnen darf."

"Danke!" sagte Anthelia und pflückte Albertrude Steinbeißer die Zeitung telekinetisch aus der Hand. Als sie das neueste Kapitel der Fortsetzungsreportage aus Millemerveilles gelesen hatte sagte sie: "Ich habe es befürchtet, seitdem ich weiß, dass Sardonias Opferdolch wieder aufgetaucht ist. An ihm ist ein Teil von Sardonias Seele gebunden. Wie wir ja alle wissen führt die ständige Mitführung solcher Gegenstände zur schleichenden Inbesitznahme des Trägers durch das ausgelagerte Seelenfragment. Die junge Madame Latierre verzichtet immer noch darauf, die Betreffende beim Namen zu nennen. Offenbar sieht sie und die ihr die Nachrichten zutragenden die Trägerin des Dolches nicht als bewusst und freiwillig handelnde an, sondern als Sardonias Opfer. Deshalb passt die Bezeichnung "Sardonias Erbin" wohl nicht richtig. "Sardonias Werkzeug" oder "Sardonias Marionette" trifft es dann eher. Aber sie könnte insoweit recht haben, dass Sardonias Seelenbruchstück sich nicht damit begnügen wird, die lebende Wirtin zu steuern, sondern vollständig zu besitzen, ihren Körper auszufüllen und dessen Sinne wahrzunehmen und mit dessen Gliedern eigenständig handeln zu können. Deshalb teile ich die Befürchtung Millie Latierres und der, die ihr wichtig sind, dass sich Sardonias Geist in der gesuchten Hexe einnistet oder dies schon getan hat und jetzt die fremde Kraft, die in den Quellen der Kuppel steckt, zu ihren Gunsten umwandelt. Dabei hat sie sicher bemerkt, dass diese dunkle Kraft nicht von einer Hexe stammt, was Sardonia ganz sicher verstimmen wird. Die Frage ist jetzt nur, ob sie sich damit abfinden wird, unter der Kuppel zu bleiben und die Hexen und Zauberer von Millemerveilles zu unterwerfen und zu beherrschen, oder ob sie einen Weg findet, die Kuppel zu verlassen und da weiterzumachen, wo sie von den Dementoren aufgehalten wurde. Immerhin jährt sich ihr körperlicher Todestag in achtzehn Tagen zum dreihunderteinundsechzigsten Mal."

"Ja, genau. Und dann wird sie wohl alle Rivalinnen vor die Wahl stellen, sich ihr anzuschließen oder zu sterben, darunter Ladonna, die Stuhlmeisterinnen der zögerlichen und entschlossenen Schwestern, du und dann wohl auch ich. Sie wird herausfinden, dass mittlerweile fast alle Abgrundstöchter wieder wach sind und sich fragen, wie sie mit diesen umspringen kann und wird sicher auch nicht begeistert sein, dass es die Blutgötzin der Vampire und diese Schattenkönigin von Wallenkrons Einfalt gibt. Was wird sie also am ehesten tun?"

"À mes pies ou sous mes pies, Schwester Albertrude. Um die wirklich großen Gegner zu bekämpfen wird sie sich den Rücken freihalten wollen und deshalb die scheinbar kleineren Gegnerinnen zu treuen Dienerinnen machen oder töten, unter Umständen also auch dich und/oder mich. Nur wenn sie mich umbringt wird Sardonias Erbschaft endgültig zerstört werden, wie du ja weißt. Und von einer Marionette, auch wenn sie von Sardonia selbst gelenkt wird, werde ich mich sicher nicht selbst wie eine solche führen und spielen lassen, auch das darfst du ruhig wissen. Ich muss davon ausgehen, dass unsere neue Gegenspielerin Ladonna ebenso die Gefolgschaft verweigern wird. Ladonna wird auf jeden Fall nicht noch mal so unbedacht sein, sich ihren Ring vom Finger telekinieren zu lassen. Ob sich die Marionette Sardonias dann mit einem Rudel rachsüchtiger Veelas anlegen will weiß ich nicht, kann es mir aber vorstellen. Denn wenn Sardonias Geist seine Marionette nach Belieben opfern kann und sich eine neue Hexe als ihr lebendes Werkzeug nehmen kann können die Veelas die jetzt wohl entstandene Marionette ruhig töten, wenn das heißt, dass Ladonna damit endgültig aus der Welt geschafft ist."

"Moment mal, du meinst, sie kann nun beliebig den Körper wechseln?" fragte Albertrude verdrossen. Anthelia nickte und sagte: "Wie ein abgetragenes Kleid, Schwester Albertrude."

"Das würde also nicht reichen, diesen Körper umzubringen, weil sie ihn noch vor Todeseintritt wie ein Dibbuk verlassen und sich einen anderen Körper nehmen kann", grummelte Albertrude. Immerhin wusste die ganz gut, wovon hier gesprochen wurde. Denn Gertrudes Seele hatte sich mit der Seele Albertines verschmolzen, um in deren Körper weiterzuleben.

"Es sei denn, jemand entmachtet und/oder zerstört das Ankerartefakt, an das Sardonias Seele gebunden ist, weil ihre im eigenen Körper steckende Seele ja von Dementoren aufgezehrt wurde. Ist das Ankerartefakt, also der Dolch, entzaubert oder restlos zerstört, stirbt auch Sardonias verbliebenes Seelenfragment. Doch sie hat mindestens vier davon ausgelagert und ... Oha, das wird sie wohl tun, um die volle Gewalt über den Körper der Helferin zu erlangen", raunte Anthelia. Albertrude wollte wissen, was genau. Anthelia sah sie nur verdrossen an und sagte: "Das, was ihr die Macht über die sogenannte Dämmerkuppel zurückgeben und ihre seelische Beschaffenheit im Körper der Helferin verstärken kann. Dennoch dürfte es nötig sein, den Opferdolch Sardonias zu entmachten oder zu zerstören, weil er der einzige bewegliche Gegenstand ist, an den Sardonia Bruchstücke ihrer eigenen Seele gebunden hat."

"Natürlich, du meinst, sie könnte sich durch Opferung ihrer Lebenskraft in Form von Blut an die betreffenden Gegenstände binden und dadurch Sardonias ausgelagerte Seelenfragmente in sich einlassen, dass diese zu einer vollständigen Seele verschmelzen, Schwester Anthelia", erkannte Albertrude. Anthelia nickte und fügte hinzu: "Jedes Seelenbruchstück an sich ist eigentlich eine vollständige, wenn auch magisch abgeschwächte Form der ganzen Seele, sowie mit durchsichtiger Farbe auf dünnes Glas gemalte Bilder, die dasselbe Motiv zeigen, jedes für sich ein ganzes Bild sind, aber durch deckungsgleiches übereinanderlegen zu einem konturscharfen, undurchsichtigen Bild vereingt werden können." Albertrude nickte verstehend.

"Und was machen wir, wenn das so passiert, Schwester Anthelia?" wollte Albertrude wissen. Anthelia wiegte kurz den Kopf und antwortete: "Das kann und werde ich erst wissen, wenn wir direkt von Sardonias Marionette bedroht werden." Albertrude sah die von ihr für ranggleich gehaltene Anführerin der schwarzen Spinne verdrossen an, wusste aber nichts besseres dazu zu sagen. "Außerdem darfst du davon ausgehen, dass die junge Madame Latierre längst nicht alles erzählt, was sie mitbekommt und dass sie auch nicht alles mitbekommt, was andere herausfinden. Sie kann im Grunde nur von Glück reden, dass ihr Ehemann in viele Sachen eingeweiht und womöglich auch um Unterstützung gebeten wird. So lese ich es auch aus der taufrischen Fortsetzung ihrer Reportage." Albertrude wollte wissen, was genau Anthelia meinte. Sie zitierte noch einmal den Abschnitt mit dem Aufstöberungszauber. "Es gibt einen sehr probaten Zauber der Erdmagie, mit dem ein namentlich bekannter Gegner aus seinem Versteck herausgetrieben werden kann. Ich gehe davon aus, dass Julius Latierre diesen Zauber erlernt hat und in Millemerveilles benutzt hat. Offenbar hat Sardonias Dolch jedoch eine schnelle Flucht ermöglicht, bevor der Zauber seine Wirkung vollendet hat, weil sie ja sonst die Gesuchte ergriffen hätten." Das erkannte auch Albertrude. "Es kann sogar sein, dass Mildrid Latierre genau diesen Abschnitt geschrieben hat, damit ich das erkenne", sagte Anthelia noch.

"Damit du das liest, Schwester Anthelia?" fragte Albertrude.

"Ja, weil sie und vor allem die ihr die neuen Kenntnisse zuspielen zum einen wissen, dass ich mich als wahre Erbin Sardonias verstehe und Mildrids Ehemann im besonderen weiß, dass mir die alten Zauber der Erde bekannt sind, unter anderem wohl auch der Hervorrufungszauber, der einen namentlich bekannten Gegner aus seinem Versteck treibt, wenn er oder sie keinen der Erde verbundenen Schutzzauber verwendet. Das Ding hier ist also an meine Adresse gerichtet. Die Frage ist, wollen sie mich dazu verleiten, ihnen zu helfen oder darauf hoffen, dass ich die angebliche oder wahrhaftige Rivalin dann erledige, weil sie dann ja auch meine Feindin sein wird. Jedenfalls gilt, dass keiner von uns im Moment durch die dunkle Kuppel nach Millemerveilles hinein kann. Also kann ich denen dort auch nicht helfen, ob freiwillig oder unbeabsichtigt. Sie wollen eben nur mitteilen, dass da jemand ist, die sich als wahre Erbin Sardonias verstehen könnte, weil sie von Sardonias Geist beseelt ist. Insofern gilt diese Aussage dann auch den Mitschwestern in Frankreich, also auch deiner Gespielin Louisette Richelieu. Ich offe mal nicht, dass die Eheleute Latierre meinen, unsere Schwesternschaft durcheinanderwirbeln zu wollen, weil sie auf irgendwelche Opportunistinnen spekulieren, die ganz schnell von mir abrücken, wenn sie die einzig wahre Erbin Sardonias zur Anführerin haben können. Das würde mich ziemlich verstimmen. Es reicht schon ... Na ja, ich will mich nicht zu sehr erregen, weil das sicher auch eine Absicht hinter dieser Reportage sein könnte." Albertrude verstand auch so. Immerhin war sie das jüngste Beispiel dafür, wie gut ein Abfall von Anthelias Führung gelingen konnte. Ein anderes Beispiel war Patricia Straton, die jetzt zu den legendären Sonnenkindern gehörte und auch Beth McGuire, die ihre Freiheit und ihre Erinnerungen der Gnade der zögerlichen Schwestern verdankte, dass sie denen weiterhin berichtete, was im Spinnenorden geschah, sofern Anthelia das nicht als geheim vermerkte.

"Wirst du die anderen Schwestern wegen dieser Sache noch mal zusammenrufen?" fragte Albertrude. "Ich bin noch dabei, jene mit diesem Haus zu verbinden, die vor einem Monat nicht dabei sein konnten, Schwester Albertrude. Außerdem möchte ich erst einmal abwarten, wie sich die Dinge weiterentwickeln, bevor ich irgendwas plane. Sardonias Marionette kommt im Moment genausowenig durch die Kuppel hindurch wie alle anderen. Sie ist also dort ganz gut verwahrt und kann uns hier draußen nichts anhaben. Also muss ich keine übereilte Aktion beschließen oder die gesamte Schwesternschaft deshalb in Aufruhr versetzen. Kümmert euch ruhig weiter um die erkannten und frei beweglichen Gegner. Öhm, bei der Gelegenheit, was ist mit dieser Nachtschattenkönigin. Sie hat sich wohl lange nicht mehr bei euch herumgetrieben."

"Was meinst du, was das meinem direkten Vorgesetzten und dem Zaubereiminister für Bauchschmerzen macht, dass die offenbar das Revier gewechselt hat oder sich totstellt, um dann noch brutaler zuzuschlagen als in diesem modernen Tanzpalast für junges Volk", grummelte Albertrude. "Aber von den Spitzohren habe ich läuten hören, dass die immer noch nach den beiden suchen, die Gringotts aufgemischt und dabei ganz frech was geklaut haben. Finanzleiter Heller macht sich in den letzten Tagen sehr rar. Er hat seinen Stellvertreter Silberschärf die meisten Aufgaben übergeben, weil er ein ganz geheimes Projekt betreuen muss, dass bis auf ihn nur noch den unmittelbaren Mitarbeitern und dem Minister persönlich bekannt sein darf. Ich vermute eher, dass er herausfinden will, wer ihm die drei Magielosen stiebitzt hat, die er der Schattenkönigin als Wolfsfleisch vorwerfen wollte. Öhm, ja, und es ist jetzt amtlich, dass die Blutgötzin der Vampire als eine Art Übergeist erscheinen kann, wenn mindestens zwei ihrer Jünger am selben Ort zusammen sind. Ihr Gefolge wächts fast täglich beziehungsweise nächtlich. Es gibt aber immer noch viele Vampirpatriarchen und -matriarchinnen, die dem Kult der neuen Göttin nicht folgen wollen. Das könnte, ach was, das wird demnächst noch einen ausgewachsenen Glaubenskrieg geben. Den dreißigjährigen Krieg hast du im ersten Leben ja noch mitbekommen oder?"

"Dieser wahnwitzige Exzess von Gewalt wegen unterschiedlicher Ansichten zu der einen, von irgendwelchen Patriarchen erfundenen Gottheit musste ich leider zur Kenntnis nehmen, weil dabei auch viele Zauberer und Hexen mitgemischt haben, die entweder das Joch der Vatikansekte abwerfen wollten oder sich durch die Unterstützung der Kriegsparteien noch mehr Reichtum und Macht erhofft haben. Und dazwischen schlug der Hexenwahn der Unfähigen mit blutigem Schwert und verzehrenden Feuern."

"Tja, dann nimm diese Gräuel mal fünf oder sechs, und du kannst dir vorstellen, was ein Glaubenskrieg der Vampire anrichten kann, noch dazu, wenn die Blutsauger sich nicht zu schade sind, auch die modernen Waffen der Magielosen anzuwenden."

"Oha, da rufst du aber gleich ein Rudel gefräßiger Drachen, Schwester Albertrude", schnarrte Anthelia. Doch sie erkannte, dass ihre nun nicht mehr so fügsame Mitschwester leider recht hatte. Wenn es den Vampiren nicht nur möglich war, die magielose Alchemie der Magieunfähigen zu nutzen, um neue Artgenossen zu erbrüten, sondern auch deren Feuerwaffen zu bedienen ... Diese selbsternannte Mutter der Nacht musste unter allen Umständen aus der Welt verschwinden.

"Sage deinem Vorgesetzten Herrn Weizengold am besten, er täte gut daran, bei den bewaffneten Streitkräften der Magielosen weitere Kundschafter und Missionsagenten einzuschleusen, die verhindern sollen, dass die Blutsauger an die Kriegswaffen der Magieunfähigen kommen!"

"Schwester Anthelia, das steht schon im internationalen Abkommen zur Erkundung und Eindämmung nichtmenschlicher Feinde der Menschheit vom 12. Mai 2003, wie es Armin Weizengold, Nathalie Grandchapeau und Tim Abrahams ausgearbeitet und unterschrieben haben und wie es derzeit von den Kollegen aus Österreich, der Schweiz, Liechtenstein, den Beneluxländern und Dänemark, womöglich dann auch noch Schwweden und Norwegen mitgetragen wird. Da steht auch, ich zitiere wörtlich: "Des gleichen verpflichten sich die Unterzeichner dieser Übereinkunft, mit allen ihnen zugänglichen und anwendbaren Mitteln zu verhindern, dass menschenfeindliche Wesen menschenförmiger Gestalt in den Besitz und die Kenntnis der Benutzung magieloser Kriegswaffen von der kleinsten Handfeuerwaffe bis zu schlagkräftigen Waffensystemen wie gepanzerten Gefechtsfahrzeugen, bewaffneten Flugzeugen, über und unter Wasser einsetzbaren Kriegsschiffen oder Flugzeugträgern gelangen. Insbesondere ist darauf zu achten, dass die weiter oben klar benannten Gefahrenherde nicht gebrauchsfertige Kernspaltungs- und Kernverschmelzungsbomben erbeuten und nach ihrem Gutdünken einsetzen können. Hierzu ist eine Aufstockung der betreffenden Überwachungsfachleute in den betreffenden Behörden und Lagerstätten vorrangig zu betreiben." Das war das, was diesen Punkt angeht. Soweit ich weiß hat auf französischer Seite Julius Latierre an der Formulierung mitgearbeitet, bevor er wie alle anderen Bewohner Millemerveilles unter der verfremdeten Kuppel gefangen blieb. Auf Seiten der Briten hat wohl Tim Abrahams, ein Sohn magieloser Eltern, an der Ausarbeitung mitgewirkt. Dessen Vater dient in der britischen Kriegsmarine auf einem solchen Flugzeugträger."

"Dann bin ich sehr beruhigt, dass dieser so neuralgische Punkt bereits beachtet wurde. Öhm, dann müssen aber auch die Länder mit einbezogen werden, in denen die meisten dieser übergefährlichen Kernwaffen hergestellt und gelagert werden", erwiderte Anthelia. Dazu konnte Albertrude derzeit nichts sagen, musste ihr aber recht geben. Ohne die drei weiteren Atommächte China, Russland und USA hatten die Nachtschatten oder die Jünger der Vampirgötzin noch zu viele Möglichkeiten.

"Gut, dann bedanke ich mich noch einmal für deine prompte Berichterstattung und die kurze Unterredung unter gleichrangigen Schwestern, Schwester Albertrude. In fünf Minuten werden drei Bundesschwestern aus Australien bei mir eintreffen, die ich noch mit diesem Haus verbinden möchte. Sie müssen nicht wissen, dass du hier warst und warum." Albertrude verstand und verabschiedete sich von der Führerin der Spinnenschwestern. Dann disapparierte sie unangefochten. Anthelia fühlte eine gewisse Eifersucht, weil Albertrude mit nur einem Sprung über den Atlantik nach Deutschland überwechseln konnte. Durch die Verschmelzung mit Gertrudes Seele war die früher rein homophile Gesinnungsschwester erheblich besser in der Kunst des Apparierens geworden.

__________

Millemerveilles, 6. Juni 2003

Um die möglichen Gegner innerhalb der Dorfgrenzen nicht darauf zu bringen, wo die nichtöffentliche Sitzung des Dorfrates und von diesem dazugebetener Bürgerinnen und Gäste stattfand hatten alle Mitglieder und Dazugebetenen kleine Strohsterne zugeschickt bekommen. Die Sternchen waren Portschlüssel. Da Béatrice Latierre derzeit in Millemerveilles festsaß war sie von den residenten Heilern als Hinzuziehbar eingestuft worden, auch wenn sie natürlich hauptsächlich wegen Millies Schwangerschaft im Apfelhaus wohnte. So trug es sich zu, dass Julius sich mit seiner Schwiegertante an dem ihnen beiden zugestellten Strohstern festhielt, kurz bevor die verkleinerte Version der Turmuhr von Viento del Sol drei Uhr Nachmittags schlug.

"nicht so verkrampft, Julius, wir müssen nicht vor den Zeremonienmagier", sagte Béatrice mit mädchenhaftem Grinsen zu Julius. Dieser grinste zurück und meinte: "Ich glaube nicht, dass du dich mit Millie duellieren möchtest, um mich zum Zeremonienmagier zu führen. Aber gleich geht's los. Hoffentlich fallen wir beim Landen nicht übereinander."

"Käme dann darauf an, wer oben liegt", trieb Béatrice den Scherz zur Derbheit.

Es klickte leise im Uhrentürmchen, dann schlug die Viertelstundenglocke zum ersten Mal. Noch ehe ihr Schlag in der Ferne verhallte stürzten Béatrice und Julius in jene bunte, rauschende Unendlichkeit hinein, die ein Portschlüssel mit seinen Passagieren durchflog. Als sie nach nur wenigen Sekunden mitten in einem knapp drei Meter breiten Gang landeten, der links und rechts von wasserdichten Polsterwänden und ovalen Fenstern flankiert wurde, schafften sie es, durch eine halbe Umarmung und geschickt gesetzte Füße, nicht hinzufallen. Julius blickte sich um und prüfte, ob er sich nicht vertat. Nein, es stimmte soweit alles, bis auf das Fehlen der links und rechts üblichen Zweierreihen wasserabweisender Polstersessel.

"Hui, die Nautilus! Wer kam denn auf die Idee?" fragte er.

"Ich, Julius", sagte Eleonore Delamontagne. "Zum einen hat Florymont das Unterseefahrzeug schon vor zwei Jahren zum Dauerklangkerker bezaubert, nachdem sich die im Farbensee wohnenden Wasserleute über zu viel schiefen Gesang und Getröte beklagt haben. Zum zweiten wirkt die komprimittierte Kraft der Kuppel nicht bis mehr als zehn Meter Wassertiefe, hat Florymont festgestellt. Deshalb gelingen auch hier wieder Licht- und Feuerzauber und auch die Abbildungsgerätschaften wie der Einblickspiegel und die Rückschaubrillen."

"Gewusst wie. Öhm, wo liegt das gelbe U-Boot denn nun, nicht, dass die anderen Portschlüssel voll im See landen?"

"Wir liegen ohne Fahrt in dreißig Metern auf dem Seegrund, knapp einen halben Kilometer von dem eurem Haus zugekehrten Ufer entfernt", sagte Florymont und schwang sich wie ein altgedienter U-Boot-Matrose durch die runde Luke zwischen Zentrale und Fahrgastkabine.

"Und, ihr seid sicher, dass die Elsternfußler und Sardonias Marionette uns hier nicht suchen oder behelligen können?" fragte Béatrice. Eleonore sah die zeitweilig zugewanderte Heilerin verkniffen an und nickte Florymont zu. "Zum einen müssten die genau wissen, wo sie apparieren müssten oder die Kenntnisse über die in Millemerveilles funktionierenden Portschlüssel haben. Zum zweiten habe ich einen Locorefusus-Zauber auf eine Brotbüchse gelegt, die im Imbisraum liegt. Wer zu apparieren versucht klatscht einen Kilometer weit in den See oder landet einen halben Kilometer vom See entfernt auf festem Land. Der Lebensaurenanzeigezauber klappt oberhalb der Wasseroberfläche überhaupt nicht, und der Menschenfinder klappt auch nicht, weil ich da was gedreht habe, dass der nur geht, wenn ich das will. Das heißt, uns kann von oben keiner anpeilen und durch den Dauerklangkerker in jeder Abteilung auch nicht abhören. Madame Neirides ist übrigens bei den Wasserleuten und bespricht mit ihnen die Lage, inwieweit wir sie aus allem heraushalten können, was auch heißt, sie vor möglichen Behelligungen Hugette Mirabeaus zu schützen, wo jetzt erwiesen ist, dass sie wohl eine Fisch-Animaga ist."

"Setzt euch bitte an den Konferenztisch im Hinteren Teil der Kabine, damit die anderen nicht über euch fallen", sagte Eleonore. Béatrice deutete auf ein buntes Armband am linken Arm. "Falls bei meiner Patientin überstarke Vorwehen einsetzen hoffe ich, dass mir das Verlassen der Sitzung ermöglicht wird", sagte sie. Da stiegen blaue Lichtspiralen aus dem Kabinenboden und spien weitere Gruppen von Portschlüsselreisenden aus. Julius erkannte Sandrine an der Hand ihrer Mutter. Die war auch eingeladen worden? Auch trafen Thalos Latour und zwei seiner Sicherheitstruppler ein. Dann traf noch ein Portschlüssel mit Roseanne Lumière und zwei weiteren Dorfratsmitgliedern ein. Camille landete zusammen mit Hera Matine und Bruno Dusoleil weiter achtern in der Passagierkabine. Insgesamt wurden es am Ende zwanzig Leute, die in der auf Grund liegenden Nautilus ankamen.

Mittschiffs war ein langer Konferenztisch mit zwanzig der sonst an den Fenstern aufgestellten Polstersessel bereitgestellt worden. Den Vorsitz hatte heute Monsieur Thalos Latour, der Feuerwehrhauptmann und derzeitige Sicherheitstruppenleiter.

"Die Tagesordnung ist kurz aber heftig, Leute. Gestern ist klar geworden, dass die von uns wegen verschiedener Angriffe gesuchte Hugette Mirabeau wohl eine Fisch-Animaga ist und dass sie mit dem Opferdolch Sardonias in einer geistigen Symbiose verbunden ist, was leider heißt, dass Sardonias Vermächtnis sie im Sinn der verstorbenen Dunkelhexe steuert aber auch vor Zugriffsversuchen unsererseits beschützt. Darüber hinaus haben wir von der Sicherheitstruppe die von uns ausgeteilten Goldblütenhonigphiolen von dreißig Mitbürgern zurückgeschickt bekommen, mit der Begründung "diese heuchlerischen Lebenskraftdiebe" entweder an die Hersteller zurückzusenden oder im Feuer auf dem Zentralplatz zu verbrennen. Sollte wir die Rücksender noch einmal damit ausstatten würden die die Phiolen zerstören und den Dorfrat bei der Gelegenheit wegen fortgesetzter magischer Körperverletzung in Tateinheit mit versuchtem Mord anklagen. - Leute, ich seh's euch an, dass ihr darüber genausowenig lacht wie ich", grummelte Latour. "Ja und noch unlustiger ist, dass die Rücksender verlangen, größere Mengen der eingelagerten Brennstoffe zugeteilt zu bekommen, damit sie nicht ständig um Nachschub "betteln" müssen. Es waren mal zehn Leute, die diesen Unsinn vom Lebenskraftraub durch Goldblütenhonigphiolen geglaubt haben. Jetzt sind es zwanzig alleinstehende Zauberer und zehn verheiratete Hexen."

"Die Namensliste bekommen wir doch gleich, oder Thalos?" fragte Eleonore, ohne ums Wort gebeten zu haben. Thalos Latour sah sie beruhigend an und förderte aus seinem Umhang eine Pergamentrolle in einem weißen Holzring. "Fünf Abschriften für euch anderen, zwei habe ich für mich und den Sicherheitstruppführer gezaubert."

"Will sagen, wir müssen jetzt davon ausgehen, dass Sardonias heimliche Helferin die Anweisungen Sardonias schneller ausführt und womöglich auf Mithelferinnen ausgeht", sagte Eleonore und pflückte eines der Pergamente aus der Rolle heraus. Sie entrollte es und überflog die Liste. "Zum beispiel die zehn hier aufgeführten Hexen, Thalos. Die habe ich in einer gewissen Vorahnung schon als mögliche Unterstützerinnen Hugettes eingestuft."

"Öhm, was?" fragte Latour. Eleonore erwähnte, dass sie davon ausging, dass Hugette Mirabeau die Nachfahrinnen früherer Mitstreiterinnen Sardonias als Komplizinnen anwerben würde, ob durch Überredung oder magischen Zwang, ähnlich wie Millie Latierre es in der neuesten Fortsetzung ihrer Reportage angedeutet hatte. Dann führte Eleonore Delamontagne aus, was ihr in der letzten Nacht passiert war. Sandrine und ihre Mutter nickten. Sie hatten diesen geistigen Ruf auch vernommen, sich davon aber nicht zu irgendwas getrieben gefühlt. Darauf meinte die korpulente Dorfrätin, dass die beiden wohl auch nicht gemeint waren, da Geneviève Dumas damals mit ihrem Mann zugewandert war und keine Vorfahrin aus Sardonias Schwesternschaft habe, was dann natürlich auch für Sandrine gelte.

"Hmm, ich habe diesen Ruf nicht gehört. Offenbar hat die Bezauberung von Millies und Julius' Haus ihn vollständig geschluckt", sagte Béatrice. Hera Matine und Camille nickten beipflichtend. "Bei uns ist auch nichts dergleichen vorgefallen", sagte Camille. Hera wandte ein, dass sie entsprechende Schutzzauber gegen geistige Fernflüche bei sich eingerichtet habe, seitdem sie zum Kreis der Eingeweihten gehörte und wusste, wie Sardonia die Kraftquellen der magischen Kuppel bezaubert hatte. Daher sei der Ruf wohl auch bei ihr ungehört verpufft.

"Also hat sie wohl einige oder alle Nachfahrinnen von Sardonias Mitschwestern in direkter matrilinearer Blutlinie angerufen und wohl auch erreicht. Ich gehe davon aus, dass diese einem alten Familienvermächtnis gemäß auf diesen Ruf hin an einen bestimmten Punkt zu eilen hatten, um die Ruferin zu treffen und ihre Anweisungen zu empfangen", sagte Eleonore Delamontagne. Julius nickte. Er konnte sich das sofort vorstellen, wie die Helferinnen Sardonias ihren Töchtern mit Zaubern aus dem Buch "Potentia Matrium - die Macht der Hexenmütter" geimpft hatten, auf bestimmte Signale zu reagieren und vor allem, dieses Programm brav an jede nachgeborene Tochter weiterzureichen. Offenbar konnten sich bis auf Sandrine alle Anwesenden das gleiche denken. Sandrine fragte jedoch, ob ein Fluch vererbt werden konnte, dass Träger von bestimmtem Blut bei bestimmten Auslösern vorgegebene Handlungen ausführen mussten und wollte wissen, was mit dem Begriff "matrilineare Abstammung" gemeint war. Eleonore erklärte den Begriff, dass damit eine rein weibliche, ununterbrochene Ahnenlinie gemeint war, was für Hexen besonders wichtig war, während bei Zauberern eine durchgängig männliche Ahnenlinie als Patrilinear bezeichnet wurde. Julius nickte ansatzweise. Dann bat sie Hera, "ihrer Pflegehelferin" zu erklären, wie sich bestimmte Verhaltenszwänge weitergeben ließen. Hera nickte und bat darum, das nach der Sitzung zu tun, da sie gerne so schnell wie möglich zu den von ihr betreuten Schwangeren zurückwollte. Béatrice nickte der älteren Berufskollegin beipflichtend zu.

"Kommen wir zu den - wie nannten Sie sie, Mademoiselle Latierre? - Elsternfußlern", sagte Eleonore und sah den derzeitigen Sicherheitsbeauftragten an. Dieser bedankte sich für die Rückgabe des Wortes und führte kurz aus, dass er gewisse Absicherungen vorgenommen habe, sowohl gegen die möglichen Helfershelferinnen von Sardonias Hinterlassenschaft als auch gegen Grandbois und seine Mitverschwörer. Als er gefragt wurde, wie er auf die Bezeichnung "Mitverschwörer" gekommen war erwiderte Thalos Latour, dass er das paranoide Verhalten und die böswillige Behauptung, die Goldblütenhonigphiolen seien schädlich und der indirekte Aufruf zur Verweigerung der Schutzmaßnahmen als eine Verschwörung gegen den Gemeindefrieden auffassen müsse und dass Edmond Pierre die namentlich bekannten Anstifter und Mitläufer sicher schon längst in Gewahrsam genommen hätte. Da er jedoch alles was er tat mit dem Dorfrat abstimmte wollte er diesen Schritt noch nicht tun. Roseanne Lumière, die Dorfrätin für kulturelle Veranstaltungen und öffentliche Treffpunkte bat ums Wort und sagte, dass es wohl ein falsches Signal an die überwiegend friedliche und bereitwillige Gemeinde sei, wenn Leute nur wegen einer anderen Meinung festgenommen würden. Julius spielte kurz mit dem Gedanken, sich zu melden, weil er gerade was irgendwelche Behauptungen, die zu Zwietracht oder Paranoia führen konnten, einiges gelesen hatte. Doch er wartete noch auf eine Reaktiion Madame Delamontagnes.

"Da unter den dreißig Rücksendern von Goldblütenhonigphiolen zehn Hexen meiner persönlichen Verdächtigenliste sind könnte es auch sein, dass die anderen durch Zauber wie Imperius oder andere Zauber dazu getrieben wurden, so zu handeln, wie sie handeln, um allgemeine Missstimmung und Verwirrung zu stiften, um so der Helferin Sardonias mehr Handlungsfreiraum zu verschaffen. Insofern, sollten mir die hier anwesenden Heiler nicht widersprechen, wäre es zumindest zu erwägen, die betreffenden Zauberer zu einem Gespräch einzuladen, bei dem ihre Beweggründe erforscht werden, notfalls legilimentisch. Falls ein magischer Zwang ausgeübt wurde besteht sogar die Möglichkeit, diesen zu brechen und den Betroffenen ihre Willensfreiheit zurückzugeben." Dabei sah sie Hera Matine an, auch wenn Julius wusste, dass er sich den gleichen Schuh anziehen konnte.

"Das heißt, ich werde offiziell gebeten, die auf der Liste aufgeführten Herren zu einer Unterredung zu bitten?" fragte Latour klar und deutlich, damit es alle mitbekamen, einschließlich der auf der Tischmitte über ein Pergament flitzenden Flotte-Schreibe-Feder. "Wer stimmt mir noch zu?" fragte Eleonore in die Runde. Da Julius kein Stimmrecht im Dorfrat hatte hielt er sich zurück. Roseanne stimmte als einzige dagegen und begründete ihr Nein damit, dass auch eine Vorladung zu einer Unterredung als Einschüchterungsversuch aufgefasst und weiterverbreitet werden mochte. Sie verwies auf die Gemeindeordnung, dernach nur dann jemand von den Sicherheitsleuten vorgeladen oder in Gewahrsam genommen werden durfte, wenn er oder sie widerholt den Gemeindefrieden gestört oder durch Gewalt gegen Körper und Eigentum von Bürgerinnen und Bürgern schwerwiegende Friedensbrüche begangen habe. Julius nickte. Er hatte die als lokales Gesetz ausgelegte Gemeindeordnung von Millemerveilles gründlich gelesen, bevor er sie damals unterschrieben hatte, um mit Millie hier leben zu dürfen.

"Will sagen, die können sogar mich anzeigen, wenn ich die ganz höflich bitte, mal auf eine Tasse Kaffee oder einen Schluck guten Weines vorbeizukommen?" wollte Thalos Latour wissen. Julius hätte fast geantwortet, dass eine Einladung zum Kaffee in der Muggelwelt was ganz anderes andeutete und die zwanzig alleinlebenden Zauberer das sicher als schwere Belästigung auslegen würden. Doch er beherrschte sich. Allerdings sah ihn Dorfrätin Delamontagne an und bat ums Wort.

"du wohnst jetzt mit deiner Frau und den beiden Töchtern schon bald fünf Jahre hier bei uns, Julius. Wenn du irgendwas im Dorfrat vorzubringen wünschst darfst du das tun, sobald wir dich als Sitzungsteilnehmer dazubitten. Was möchtest du zu dieser Lage sagen, wo du dich ja auch mit den Verschwörungsideen der magielosen Welt befasst hast?" Julius fragte sich, ob sie ihn legilimentiert habe. Vielleicht hätte er das Lied des inneren Friedens anstimmen sollen. Doch nun wollte sie was von ihm hören. So straffte er sich und wandte sich den anderen zu:

"Gut, ich wurde eingeladen, wohl weil ich zu den Pflegehelfern gehöre und weil mir die Kinder Ashtarias einige Zauber anvertraut haben, mit denen ich bereits einiges hier ausrichten konnte. Was die Verschwörungsanhänger angeht - ich nenne sie lieber so, weil das in der magielosen Welt auch so genannt wird - hänge ich jetzt genau zwischen Roseannes Einwand und Eleonores Aufforderung fest. Ich sehe logische Gründe für eine Vorladung, erkenne aber auch, dass es psychologisch sehr heikel wäre, die betreffenden Zauberer jetzt schon vorzuladen, solange sie nichts anderes gemacht haben als ihre Goldblütenhonigphiolen zurückzuschicken. Allerdings habe ich mit euch, Geneviève und Thalos schon darüber gesprochen, dass mir Grandbois' Auftritt gestern beim Unterricht für Fünftklässler absolut nicht gefiel und ich nur deshalb keinen Gebrauch von meinem Hausrecht gemacht habe, weil ich den Kindern nicht den Eindruck eines wilden Knarls bieten wollte. Aber ich könnte ihn beim nächsten Mal, wenn er mein Grundstück ungefragt betritt und sich als einzig gescheiter Mitbürger aufspielt wegen Belästigung anzeigen, was nach der Gemeindeordnung eine mittelschwere Störung des Nachbarschaftsfriedens ist. Dann darfst du ihn gerne vorladen, um zu klären, warum er das macht, Thalos."

"Ich hätte ihn nach Genevièves Anzeige gestern schon gerne vorgeladen. Aber Geneviève hat wie du eingeräumt, dass sie ihn nicht als von uns schikanierten Andersdenkenden hinstellen will, Roseanne. Sie meinte aber auch, dass sie ihn beim nächsten Mal anzeigen würde, wenn er ihren Unterricht störte." Sandrines Mutter nickte bestätigend.

"Mit anderen Worten, die Leute können sagen und machen was sie wollen, solange sie keinem den Rasen zertrampeln oder ihn oder ein Familienmitglied übel beschimpfen oder körperlich angreifen?" fragte Charpentier. Darauf antwortete Latour, dass er im Zweifelsfall durch die zeitweiligen Befugnisse das Gesamthausrecht in Millemerveilles ausüben könne und jemanden, der fortgesetzt den Gemeindefrieden störe des Ortes verweisen könne. Da dies jedoch derzeit nicht ginge bliebe dann nur der Gewahrsam bis zu einer möglichen Verhandlung vor dem Dorftribunal oder gleich dem Zaubergamot in Paris. Er sah Roseanne an und sagte: "Ich begreife deinen Einwand, Roseanne, weil du nicht möchtest, dass die Gedankenfreiheit in Millemerveilles in Frage gestellt wird. Aber wenn Grandbois bis übermorgen noch mehr Goldblütenhonigverweigerer zusammenbekommt lade ich den vor. Und wenn der nicht unter Imperius oder einem Fügsamkeitstrank aus Sardonias Giftküche steht, dann fährt der bis zum Monatsende mit allen ein, die seiner Meinung sind, weil ich ihn nämlich dann wegen mittelschwerer Gefährdung der allgemeinen Unversehrtheit belangen werde. Das gebe ich hiermit zu Protokoll." Die Dorfräte ausgenommen Roseanne Lumière bestätigten es für die Feder mitschreibbar. Nach einigen Sekunden sprach auch Roseanne sich dafür aus, dass eine fortgesetzte Ablehnung von Schutzmaßnahmen, ja die Anstiftung zum Bruch der Schutzregeln ein durchaus gefährlicher Akt gegen die Gemeinde Millemerveilles sei. Das war ihre Form der Zustimmung. Julius hob seine Hand und erhielt das Wort:

"Ihr müsst nur aufpassen, dass sich Grandbois und die ihm zustimmenden nicht als Märtyrer darstellen, die im Namen einer übergeordneten Macht des Dorfrates schikaniert werden. Es gibt Verschwörungsideenanhänger, die wurden dadurch schon zu Helden, weil jemand sie für irre oder zumindest falsch informiert und für potentiell gefährlich gehalten hat."

"Notiert", sagte Thalos Latour, froh, dass er einen gewissen Rückhalt bekommen hatte. Dann fügte er hinzu: "Wenn ich dem jedoch nachweisen kann, dass er bewusst und aus freiem Willen gegen die Gemeindeordnung verstoßen hat, die wir hier ja alle gut genug kennen, dann buchte ich ihn und seine Nachschwätzer bis zum ersten Juli ein. Dann können wir gerne das Dorftribunal einberufen." Auch das wurde von den Dorfräten bestätigt, wenngleich Eleonore darum bat, eine amtlich korrekte Sprechweise zu pflegen. Da Latour aber gerade den Vorsitz innehatte zuckte der nur mit den Schultern. Dann sprachen sie noch darüber, welche Maßnahmen Latour für neuralgische Punkte wie das Brennstofflager, die Bauernhöfe für Milch- und Federviehhaltung und die grüne Gasse getroffen hatte. Hier kam Camille zu Wort, die erwähnte, dass sie bereits vor drei Wochen das Gewächshaus für besonders gefährliche Pflanzen dreifach verriegelt habe und sämtliche Springschnapper unter Zuhilfenahme von vier Galleonen aus ihrem Beet ausgegraben und in einem Kellerraum in Bronzekisten verstaut habe, um sie vor dem Zugriff möglicher Mordlustiger oder Selbstmordkandidaten zu verschließen. "Ein fast gefressener Hogwarts-Schüler hat mir gereicht", sagte Camille dazu noch.

Latour wollte gerade noch ausführen, dass jedem Feuerwehrzauberer ein Sicherheitstruppler beigeordnet war, als es in seiner linken Umhangtasche laut und metallisch bimmelte wie ein alter Aufziehwecker. "Ui, Die Maus hat ihren Namen gehört und ist gekommen", sagte er dann. "Matthieu, Charles, zu den Brennstofflagern. Ich folge in fünf Minuten."

"Geht klar, Thalos", sagte einer der Sicherheitstruppler und disapparierte. Der zweite sah auf den nun leeren Platz seines Kollegen, bekam ein drängendes Kopfnicken seines Vorgesetzten und verschwand ebenfalls mit leisem Knall.

"Hast du alle Namen auf der Liste als unbefugte eingetragen, Thalos? wollte Eleonore Delamontagne wissen."

"Die und noch zehn mehr, die aber nicht auf der Liste stehen, weil sie sich bisher nicht entsprechend verdächtig gemacht haben, sagte Thalos Latour. "Öhm, wen auch immer wir da demnächst haben, gilt die bisherige Vorgehensweise?"

"Ja, die gilt", sagte Charpentier und erhielt von den Ratsmitgliedern die Bestätigung. "Gut, dann bin ich auch schon weg. Eleonore, du darfst weitermachen, falls noch was zu besprechen ist. Das Protokoll dann bitte mit üblicher Verschlüsselung zu mir! Danke!" Sprach's und verschwand mit einem scharfen Knall in leerer Luft.

"Julius, Hera, Camille, falls wir von diesen Verschwörungsanhängern welche festsetzen müssen haltet euch bitte bereit, sie zu entfluchen oder zumindest zu prüfen, ob sie unter Imperius stehen!" sagte Eleonore. "Und was die Hexen angeht, so könnte sich Grandbois' Haltung auch auf andere Hexen ausweiten und diese dann auch dem Ruf folgen, wenn die Goldblütenhonigphiole sie bisher noch davon abgehalten hat. Spätestens dann können wir ihn wegen Beihilfe eines schwerwiegenden gefährlichen Bruchs des Gemeindefriedens inhaftieren und womöglich bis zu seiner Verhandlung vor dem Gamot in Zauberschlaf versenken, ob er dafür für seine Gleichgesinnten zum Märtyrer wird oder nicht." Julius nickte. Schließlich mussten Verbrecher gestoppt oder an ihren Taten gehindert werden, ob sie im Namen des Geldes, der Machtgier oder eines von ihnen falsch aufgefassten Glaubens handelten. Vielleicht würde Bush Junior auch Bin Laden hinrichten lassen, wenn seine Leute ihn doch noch aufspürten.

Nachdem die zwei anstehenden Themen besprochen waren diktierte Eleonore Julius, was er Millie für ihre Reportage mitgeben durfte. Dann sagte sie noch: "Sandrine, du wunderst dich, dass du auch bei dieser Sitzung warst. Du und Julius seid als zertifizierte und bereits ortsweit anerkannte Pflegehelfer dazu beauftragt, Hera und François bei allem zu helfen, was heilkundlich anliegt, also Schokolade und Heiltränke verteilen, für genug magieloses Licht sorgen und alles, was unsere Stimmung aufrechterhält, ohne übermäßige Stimmungsaufhellungsmittel zu verabreichen oder einzunehmen. Das gilt natürlich auch für Sie, Mademoiselle Latierre." Die angesprochenen nickten verstehend. Dann beendete die füllige Dorfrätin die nichtöffentliche Ratssitzung. Die Teilnehmer konnten von hier aus nun aus eigener Kraft in ihre Häuser apparieren. Julius hielt Béatrice jetzt richtig bei der Hand und versetzte sich mit ihr an die Grenze des eigenen Grundstücks.

Wieder zurück im Apfelhaus übergab Julius Millie die von Eleonore diktierte Verlautbarung. "Ups, hier steht der 5. Juni als Sitzungsdatum. Öhm, wieso denn das?" fragte Millie.

"Damit es bei einem möglichen Gegenschlag gegen Sardonias Helferin so rüberkommt, dass wir schon einen Tag vorher alles rechtlich relevante geregelt haben", sagte Julius. "Ach ja und hier steht, dass es darum geht, zu überprüfen, ob jemand, der sich offen gegen die Schutzmaßnahmen ausspricht, aus eigenem Willen oder unter magischem Zwang gehandelt hat. Aber hier steht nichts, was Thalos Latour machen soll, wenn jemand ganz freiwillig gegen die Schutzbestimmungen oder den Gemeindefrieden verstößt, Monju. Soll ich mir da jetzt wie eine Klatschreporterin was ausdenken oder was?"

"Ich denke, es ist so gemeint, dass es erst geprüft wird. Sollte rauskommen, dass jemand wie Grandbois oder Hugette Mirabeau aus ganz eigenem Antrieb was angestellt hat kriegst du sicher eine entsprechende Bekanntmachung, was Thalos dann mit ihm oder ihr gemacht hat", sagte Julius.

__________

Er nannte diese Abwandlung eines Alarmzaubers "Geist des Elefantenkönigs". So klang es auch, wie das aufgeregte Trompeten eines besonders großen Elefanten. Als Tahlos es hörte sah er auch schon, dass jemand die von ihm und seinen Leuten errichteten Einfangzauber mit irgendwas beharkt hatte, dass diese als wild herumschwingende grüne Lichtschnüre in alle Richtungen austeilten. Dann sah er noch was. Zwei Frauen standen vor der Luke zum Brennstofflager, umtobt von den grünen Lichtschnüren. Die Frauen maßen jedoch an die drei Meter. Das waren unmöglich Mademoiselle Maximes Geschwister, dachte Thalos Latour. Dann sah er, dass die zwei mit zaunlattengroßen Zauberstäben herumfuhrwerkten und immer wieder silberne Lichtkugeln daraus verschossen. Wo die Lichtkugeln in die grünen Lichtschnüre einschlugen zerstoben diese und löschten die getroffenen Lichtfäden. Thalos stampfte wütend auf. Also hatten diese Frauen da wahrhaftig einen Weg gefunden, die von ihm und seinen Leuten errichteten Captaranea-Zauber nicht nur zu erkennen, sondern sie gleich auch zu zerpflücken, wie ein Adler ein Spinnenetz zerreißen konnte. So kämpften sich die beiden übergroßen Frauenzimmer immer weiter vorwärts. Wieso funktionierten eigentlich diese silbernen Lichtkugeln, wo sonst kein Lichtzauber klappte? Die Frage war zu leicht zu beantworten, dass es ihm schon weh tat. Das Licht war keine ursprüngliche Auswirkung, sondern eine Nebenwirkung, die durch das Auftreffen auf den Captaranea-Zauber entstand. Zumindest wirkte er.

"Achtung, Thalos!" rief Charles, bevor er versuchte, eine von rechts oben niederstoßende Hexe auf einem Ganymed 8 mit einem Zauber zu treffen. Doch die Hexe lachte nur, als sie für eine Sekunde von einem silbernen Licht umflossen wurde. Dann umfloss Charles ein weißer Nebel, der jedoch sofort von goldenen Blitzen zerfetzt wurde. " Jetzt lachte Charles. Doch das Lachen verging ihm, als die Luft um ihn bläulich flirrte und er unvermittelt in einem saphirblauen Zylinder stand. "Öi!" hörte Thalos noch Charles rufen. Doch dann krachte es laut, weil eine der beiden Riesenhexen versuchte, die Wand zum Lagerhaus der Feuerwehr einzureißen. Doch der betreffende Zauber schlug laut pfeifend und schwirrend als Kaskade goldener Blitze davon. "Tja, Mädel, so knackst du keine Wand von meiner Firma", knurrte Thalos und rief "Reverso Mutatus!". Der Zauber traf die Riesin und ließ sie innerhalb einer Sekunde auf nur anderthalb Meter zusammenschrumpfen. Er hatte also den richtigen Gedanken gehabt. Bevor die auf ihre natürliche Größe zurückgeschrumpfte noch was neues versuchte umschnürten sie grüne Lichtfäden und woben sie ein. Doch Dann passierte was ganz unerwartetes. Die Eingeschnürte schrumpfte noch weiter und verschwand dann, bevor die grünen Lichtschnüre nachfassen konnten. Die andere Scheinriesin zielte auf Thalos und zishte was, dass er nicht hören konnte. Goldenes Licht umstrahlte ihn. Er fürchtete erst, sie habe ihm den Infanticorpore-Fluch übergebraten. Doch als das Licht wieder erlosch war er noch ein erwachsener Mann mit allen gesunden Zähnen im Mund. Seine vier Goldblütenhonigphiolen hatten ihm wohl was auch immer vom Hals gehalten. Er wollte gerade die zweite Scheinriesin mit dem Verwandlungsumkehrer bezaubern, als etwas ihm in den Nacken stach. Schlagartig fiel ein schwarzer Vorhang vor seinen Augen nieder. Er hörte noch ein immer lauter werdendes Rauschen in den Ohren, dann umgab ihn ein Nichts aus Dunkelheit und Stille.

__________

"Morgauses Tränen gehen, Schwester!" rief Rosalie Troisbois ihrer noch in doppelter Größe gegen die Fangzauber kämpfenden Schwester Émiliane Ferremaine zu. Diese nickte nur und versuchte wieder, die Wand einzureißen. "Célestrias Säule geht auch, Schwestern!" rief ihre auf dem Besen sitzende Cousine Cécilie Bleuchamp nach unten. Der in der blauen Säule eingeschlossene Sicherheitszauberer, Charles Deroubin versuchte immer noch, sich aus dieser Falle zu befreien. Rosalie legte bereits einen neuen Pfeil auf ihre sich selbst spannende Miniaturarmbrust, um dem nächsten Sicherheitszauberer eine Dosis des stärksten sowohl über den Magen wie durch direkten Blutkontakt wirkenden Betäubungstrankes zu verabreichen. Da tauchte neben ihr Épunia Boulanger auf und griff wortlos nach Rosalies Arm. "Auf doppelte Größe mit Goldblütenhonig kommen wir durch. Nur die Wände sind mit Härtezauber belegt."

"Geht rein und seht zu, die ganzen Brennflüssigkeiten abtransportbar zu machen. Ich halte euch die Wächter vom Hals", sagte Rosalie und blickte sich um, ob noch weitere Wächter eintrudelten. Da tauchten sie auch schon auf, aus dem Nichts heraus, zwanzig Sicherheitsleute, jedoch nicht in Umhängen, sondern im Schein der mitgeführten Fackeln hellblau glänzenden Ganzkörperschutzanzügen. Ihre Köpfe wurden von bläulich leuchtenden Sphären umschlossen. Rosalie drückte ab. Fast unhörbar pfiff der Pfeil auf den ihr nächsten Wächter zu und prallte von seiner Brust ab. Da war Rosalie klar, dass sie gerade auf eine Übermacht getroffen waren. Einer der herbeiapparierten in den Schutzanzügen holte mit der linken Hand aus und schleuderte etwas silbernes nach oben in Richtung Cécilie Bleuchamp. Diese versuchte wohl noch einmal Célestrias Säule, doch diesmal zerfloss das blaue Licht in grellen Blitzen um den Körper des Angezielten. Dafür flitzte der ihr zugeworfene Silbergegenstand genau auf das Besenende zu und schlug das Hintere Ende glatt ab. Das Reisigbündel wurde davongewirbelt. Der getroffene Besen sprühte silberne Funken und Blitze, während er immer wilder schlingernd zu Boden sackte. Die neben Rosalie stehende Mitschwester wuchs unvermittelt auf drei Meter Größe an. Doch keine Sekunde später traf sie der Reverso-Mutatus-Zauber und schrumpfte sie auf ihre Ausgangsgröße zurück. Die mit ihrem Besen vom Himmel fallende Mitschwester wurde bereits von fünf Männern in blauen Anzügen erwartet, die ein silbern schimmerndes Netz zwischen sich aufspannten und die Fallende gekonnt damit auffingen. Sobald sie im Netz hing zog dieses sich zu einem mondlichtfarbenen Kokon zusammen. Dann traf Rosalie ein eisblauer Lichtstrahl, der sie heftig frieren ließ. Sie fühlte, wie ihr die Körperwärme entrissen wurde und verlor die Armbrust. Dann tauchte einer der Männer in Blau direkt neben ihr auf und zog ihr einen pechschwarzen Leinensack über den Kopf, der sich sofort um sie zusammenschnürte. Jetzt war auch sie gefangen.

"Eh, macht diese mistige Hexenwalze von mir weg! Wieso macht die Phiole die nicht weg?!" hörte Rosalie noch Charles Deroubin wie aus einem umgedrehten Kessel schimpfen.

"Is' gleich, Charlie!" hörte Rosalie einen der Männer wie aus einem verschlossenen Holzkasten antworten. Dann wurde sie selbst von zwei Männern zugleich aufgehoben und auf deren Schultern geladen. Sie fühlte das einquetschende Dunkel eines Appariersprungs. Dann roch sie etwas, hörte ein immer lauteres Rauschen in den Ohren und verlor selbst die Besinnung.

__________

"Vier haben wir erwischt. Aber wir mussten mit dem ganzen Orchester anrücken, und der Dirigent ist von einem Pfeil getroffen worden, dessen bitterböses Anhängsel wir erst noch rausfinden müssen", sagte Charles Deroubin wenige Minuten später zu Dorfrätin Delamontagne. "Prüft auf Morgauses Tränen. Falls positiv habt ihr Zeit gespart", sagte die füllige blonde Dorfrätin verächtlich. "Ich dachte, Thalos hätte Captaranea-Zauber und Ventimurus-Zauber um das Lager gelegt."

"Ja, und die vier Schwestern haben genau das vermutet und mit entsprechenden Gegenflüchen draufgehalten. Zwei waren sogar so schlau, sich selbst zu vergrößern. Mit zunehmender Größe greift der Zauber nicht mehr so gut wie bei menschengroßen Gegnern, wie du sicher weißt, Eleonore."

"Vertückt", knurrte sie darauf. "Ja, und als Thalos die Möchtegernriesin auf ihre echte Größe runtergezaubert hat ist die noch kleiner geworden und disappariert. Aber die war so überheblich, gleich danach wieder aufzutauchen. Ihre Schwester mit der kleinen Armbrust haben die Feuerwehrleute mit dem Brandlöschzauber beharkt. Wusste nicht, dass der Menschen erstarren lässt. Jedenfalls hat sie die Armbrust und ihren Zauberstab losgelassen und konnte von uns eingesackt und zum Verwahrplatz appariert werden. War schon eine gute Idee von Thalos, von Florymont eine Zenturie dieser Schutzanzüge zu ordern. Die sind ihr Gold wert, vor allem in der Nähe von Feuer und giftigem Rauch."

"Und wer hat Célestrias Säule auf dich geworfen, Charles?" wollte Eleonore wissen.

"Das war die, der Jacques den Besen kastriert hat", grinste Charles Deroubin. "Aber das sollte Florymont nicht wissen, dass wir von Otto Latierre diese neuen Besentöter gekriegt haben. Florymont ist in der Hinsicht zu gutmütig eingestellt."

"Die Dinger sind auch Mordwaffen, Charles. Wenn du nicht sofort wen zum Auffangen hinstellst oder den Fallbremsezauber oder die Wolkenwiege ausführst töten diese Schweifabschneider nicht nur den Besen", schnaubte Eleonore. "Öhm, jedenfalls haben sie die darauf sitzende, Cécilie Bleuchamp, gleich zu mir hingetragen, damit die mit ihrem Körper diese drachemistige blaue Säule berührt. Wusste nicht, dass die dann von selbst in nichts als blaue Funken und kalte Luft zerfällt."

"Soso, und du bist Sicherheitszauberer? Falls wir die Kuppel wieder durchlässig bekommen rege ich an, dass Blanche euch Burschen in den Sommerferien die gemeinsten Hexenzauber und ihre Verhinderung beibringt. Célestrias Säule ist ein Luftzauber, der bei Kontakt mit einem Luftatmer diesen in eine unzerbrechliche Säule einschließt, durch die er zwar atmen, aber nicht mehr zaubern kann. Ist ähnlich dem Incapsovulus-Zauber, nur dass den jede Hexe durch Handauflegen lösen kann. Wurde von der Hexe Célestria Barnard erfunden, weil der schneller geht als der Incapsovulus-Zauber und nicht wie dieser durch eine Selbstbetäubung gebrochen werden kann, da er sich aus der Umgebungsluft aufrechterhält."

"Die hat mich mit einem Windgefrierzauber eingefangen? Wie krass ist das denn?" polterte Charles. "Und warum haben meine Phiolen das nicht abgewehrt?"

"Weil es ein reiner Luftzauber ohne dunkle Komponente ist", knurrte die Dorfrätin, die es nun doch leid war, einem hauptamtlichen Sicherheitstruppler Nachhilfe in Fangzaubern zu erteilen.

Eine halbe Stunde später wusste Eleonore, dass es wahrhaftig der tückische Betäubungstrank Morgauses Tränen war, der Thalos Latour per Giftpfeil verabreicht worden war. Jetzt wussten die Feuerwehr- und Sicherheitszauberer wenigstens, dass sie bei ihren Einsätzen Duotectus-Anzüge zu tragen hatten.

__________

Millie erwachte gegen halb zwölf. Clarimonde regte sich deutlich spürbar in ihrem Unterbauch. Sie lag schon fast so tief im ihrem Becken, dass es jeden Tag zur Geburt kommen mochte. "Mann, Clarimonde, lass mich noch schlafen. Du brauchst meinen Schlaf noch mehr als ich", Murrte Millie. Julius, der neben ihr lag wachte auf und fragte, was sei. "Die kleine da drin weiß nicht mehr genau, wie sie sich drehen soll, ohne anzustoßen, Monju. Schlaf weiter!"

"Wie hast du vorhin gesagt? Wir sollen froh sein, wenn sie noch nicht schreien kann?" erwiderte Julius.

"So wie die sich gerade räkelt könnte die jede Sekunde losbrüllen. Na ja, aber das heißt auch, dass sie stark genug ist und ... mmmprrps!" Die letzte Lautäußerung war ein krampfhaft unterdrückter Rülpser.

"Schlaf noch ein wenig, Clarimonde. Deine Maman möchte dich heute noch nicht auf den Wickeltisch packen", scherzte Julius und tätschelte Millies großen Kugelbauch.

"Maman, draußen drei Hexen, Was machen die?!" schrillte Aurores Stimme durch das Apfelhaus. Julius war sofort aus dem Bett. "Rorie, ganz ruhig. Bleib im Zimmer. Papa guckt nach!" rief er.

"Wenn die mir hier und jetzt rausrutscht kriegt ihr zwei Süßen einen Monat Wickeldienst am Stück", schnaubte Millie, weil Clarimonde wegen Julius' lauter Antwort regelrecht austrat. "Heh, du bist kein Fohlen und ich keine Stute", schnaubte Millie an die Adresse ihrer noch ungeborenen Tochter. Wieso ging ihr das gerade so auf die Nerven, dass Clarimonde sich so kräftig regte? In den letzten Monaten hatte sie sich immer gefreut, auf diese Weise von ihrer dritten Tochter gegrüßt zu werden, ihr Werden zu spüren und dass sie wahrhaftig gerne Mutter wurde. Dabei vergaß sie manchmal, dass sie eine schon aufgeweckte und wuselige Tochter hatte und noch eine, die gerade erst richtig laufen konnte und noch Schmerzbetäubungscreme für die sich langsam einstellenden Zähnchen brauchte. Dann wusste sie, was sie gerade an Clarimondes wilden Bewegungen störte, dasselbe, was wohl auch die kleine Untermieterin störte. Jemand griff sie unhörbar an. Ja, das musste es sein. Es lag etwas in der Luft, dass die sonstige Friedfertigkeit des Hauses erschütterte.

"Eh, ihr Marionetten einer Toten. Macht ihr wohl, dass ihr da wegkommt!" hörte sie Julius rufen. "Avada Kedavra!" erscholl eine entschlossene Frauenstimme. Gleichzeitig hörte sie Julius' "Katashari!" rufen. Dann erfolgte ein leiser Knall und ein schmerzhaftes Wimmern. Noch einmal rief Julius "Katashari!" Dann hörte sie ihn noch eine Anrufung aus Altaxarroi ausstoßen, die sie als "Danur Madrash Kazur!" verstand. Sie fühlte ein leichtes Erdbeben. Sie verstand die alte Sprache Dank ihres Trainings mit Kailishaia und wusste, dass Julius gerade "Greife Mutter und bewahre!" gerufen hatte. Dann hörte sie noch drei Frauenstimmen aufschreien und verstummen. "Okay, Mädels, alles doch noch gerettet!" rief Julius. Millie fühlte, wie das Unbehagen, dieses Gefühl der Belauerung, von ihr abfiel. Auch Clarimonde beruhigte sich wieder. Deshalb summte Millie ein Schlaflied, mit dem sie auch ohne Magie schon Aurore, Chrysope und Clarimonde in den Schlaf gelullt hatte. Sie bewegte dabei ihren Unterleib behutsam im Takt der melodie.

"So, fünf auf einmal. Zwei vor dem Haus und drei wohl außer Sichtweite. Die haben wohl gehofft, ich käme raus zu denen. Eine hat eine Axt aus blauem Licht gezaubert, die von selbst auf die Bäume eindreschen wollte. Doch die haben die Schläge mit grünen Blitzen pariert. Aber gewackelt haben alle fünf Bäume schon wie im Sturm. Die eine wollte mir doch echt den Todesfluch aufbraten. Aber der Tötungsabwehrzauber ist doch schneller, Danke an Ianshira!"

"Monju, ich habe schon gedacht, die erledigt dich", seufzte Millie. "War auch wieder ganz knapp, wenn ich nicht den Felix-Trank genommen und deshalb gespürt hätte, dass die mich erledigen wollte. Na ja, aber jetzt stecken die erst mal mit den Füßen fest und sind auf ein Hundertstel Ausgangsgeschwindigkeit runtergebremst. Aber ich bin jetzt wieder komplett müde. Ich gebe nur weiter, dass die Sicherheitstruppe hier fünf böse Hexen einsammeln kann. Wenn die schnell genug sind kann ich den Festhalter noch vor Sonnenaufgang ausrufen. Sonst werden die bei ... Oha!" erwiderte Julius.

"Was sagt Rorie immer, wenn es regnet oder grau ist: Keine Sonne da!" grinste Millie. Aurore kam gerade herein und fiel ihrem Papa um die Beine. Der konnte sich gerade noch hinsetzen, sonst wäre er von ihrem Schwung glatt von den Beinen gerissen worden. "Stimmt nur liebe Lichter draußen. Wer waren die Frauen?" fragte Aurore ihren Vater, der sie sich gerade richtig auf den Schoß hob.

"Böse Frauen, aber nur böse, weil sie von wem ganz böses dazu gemacht wurden, Rorie. Aber gleich kommen die netten Onkel von der Schutztruppe und bringen die weg. Aber dafür muss Papa die erst mal herrufen."

"Julius, ich habe die Truppe schon über die kleine Dose gerufen, die Hera mir gelassen hat", rief Béatrice. Da wachte nun auch Chrysope auf und schrie, weil sie jemand wohl erschreckt hatte."

"Na, wie viele Kinder wolltest du haben, meine wohlgerundete Muttergöttin?" fragte Julius.

"Die da in Millies molligem Mutterschoß und dann noch den von Ashtaria bestellten Sohn und dann irgendwann noch drei, aber diesmal nicht so schnell hintereinander", grummelte Millie. Da kam Béatrice herein. "Was für einen Versteinerungsbann hast du da gewirkt, Julius?" wollte die Heilerin wissen.

"Ein Zauber gegen sehr gefährliche Angreifer, wirkt auch eben nur bei solchen, je gefährlicher, desto heftiger. Die Damen da draußen spielen jetzt solange Statue, bis ich den Zauber vom Frieden und der Freiheit der Erde ausspreche, aber erst wenn die netten Onkels die eingetütet haben und wegbringen wollen."

"Da, guck du nach deinem zweiten Kind und nimm deine Kronprinzessin mit! Ich möchte sehen, ob meine Großnichte noch Zeit hat", sagte Béatrice und machte entsprechende Handbewegungen in Richtung tür.

Julius eilte mit Aurore in den Armen hinüber und sprach auf die in ihrem Kinderbett schreiende und quängelnde Chrysope ein. Endlich schaffte er es, sie wieder zu beruhigen und flüsterte Aurore ins Ohr, dass sie beide ihr ein Gutenachtlied singen wollten. "Neh, kein Gunachtlied, böses Lied!" quängelte nun Aurore.

"Komm, Rorie, ein Gutenachtlied ist nicht böse. Die Frauen da draußen wollten was böses tun. Also welches Lied singen wir?"

"Das Lied vom Mondlicht", kiekste Aurore. Julius tätschelte ihren Kopf und zählte vor. Dann sangen sie beide ganz ruhig und klar. Chrysope lauschte, hörte zu wimmern auf und schloss ihre Augen. Als das Lied vorbei war lag sie ganz ruhig atmend. Ihr Vater deckte sie ganz vorsichtig wieder zu und trug Aurore auf leisen Sohlen zurück ins Elternzimmer.

"Also, den Monat Windeldienst haben wir noch mal verpasst, Julius", flüsterte Béatrice. "Auch ohne Einblickspiegel konnte ich fühlen, dass Millies Tochter sicher liegt und noch nicht zu uns an die Luft will. Millie meinte, sie hätte wohl den Angriff auf das Haus gespürt."

"Dieser Axtzauber sah echt heftig aus. Yvette hat zumindest noch versucht, mit einer echten Axt an einen der Bäume zu gehen. Aber diese Lichtaxt hätte glatt aus Darth Vaders Waffenschmiede kommen können, nur dass die nicht rot war sondern eben blau, wie Luke Skywalkers erstes Lichtschwert."

"Was der von seinem Vater geerbt hat", sagte Béatrice unerwartet. Julius stutzte. Dann nickte er. Dann fragte er, woher sie die Geschichte kannte.

"Du weißt, dass Marc Armand über das Osterwochenende bei uns im Schloss war, nachdem er endlich selbst apparieren darf. Da bin ich mit ihm und Patricia in ein kleines Kino bei Avignon gegangen, wo sie die drei ersten Filme dieser Geschichte hintereinander weg gezeigt haben. Zwischen jeden Film gab es zehn Minuten für Essen und Toilettengänge. Meine Mutter, sonst keine Kostverderberin, hat mich gebeten, sicherzustellen, dass Patricia nicht wegen zu früher Erfahrungen noch die UTZ-Prüfung verschieben muss. Jetzt weiß ich, wer Luke Skywalker war und wer dessen Vater war", berichtete Béatrice Latierre. Julius nickte. Natürlich wusste sie dann über die Beziehungen der Gegenspieler bescheid.

"Die Lichtaxt ist übrigens von Sardonia erfunden worden: Magnasecuris Arborimortis. Damit kannst du Urwaldbäume mit einem Streich umhauen lassen. Den hat die dunkle Patriarchin erfunden, um gegen eine andere Hexe, die sich auf Schnellwachszauber verstand, bestehen zu können. Offenbar hat die dunkle Dame ihre Zauberkenntnisse gleichmäßig an ihre damaligen Schwestern verteilt", erwähnte Béatrice noch, weil sie wusste, dass Julius alles über von ihm mitbekommene Zauber wissen wollte.

"Hallo, noch wer auf. Hier stehen zehn müde Zauberer vor fünf versteinerten Hexen und möchten die gerne mitnehmen, klang es blechern aus der kleinen umgehängten Silberdose, die Béatrice an einer feingliederigen Halskette hängen hatte.

"Darf ich mal an .. öhm Antworten?" sagte Julius, dem gerade noch einfiel, dass seine eigentliche Frage ziemlich missverständlich geklungen hätte. Béatrice nickte grinsend und hielt ihm die offene Silberdose reinsprechbereit vor den Mund. "Bin gleich unten und spreche die fünf los. Dann habt ihr neun von zehn", sagte er und hörte, wie seine Stimme dumpf nachhallte.

"Neh, Burschi, zehn von zehn. Die eine hat versucht, bei Camille und Florymont aufs Grundstück zu kommen. Dabei muss sie wohl einen Meldezauber gekitzelt haben. Jedenfalls hat Camille sie mit einem Zauber in blaues Eis eingeschlossen. Aber deine fünf Trophäen stehen hier rum wie mit dem Boden verwachsen. Woher könnt ihr sowas?"

"Könnte ich dir sagen, aber dann müsste ich dich töten und dürfte hier nicht mehr wohnen", sprach Julius in die Dose. Dann apparierte er einfach vor die Tür und aus dem Schutzbereich der fünf mittlerweile kräftigen Apfelbäume. Er konzentrierte sich, nachdem Charles und seine Leute, die in Duotectus-Anzügen steckten, die fünf mit Zauberseilen fest verschnürt hatten. "Alur Madrash Padaori a Wanaori", summte er so leise er konnte. Dabei hielt er seinen Zauberstab auf die Erde gerichtet. "Gewähre Mutter Erde Frieden und Freiheit", bedeutete die Anrufung, die einen vom selben Zauberkundigen gewirkten Bann wieder aufhob. Die fünf gefangenen Hexen regten sich und versuchten, sich aus den Stricken zu lösen. Doch da hatten die Sicherheitstruppler ihnen schon die Zauberstäbe abgenommen. "Hoffentlich haben wir die echt alle, die ..."

"Seid alle verflucht!" rief eine andere wütende Frauenstimme. Da fegte eine Walze aus silbernem Licht heran. Julius rief der Walze zugewandt: "Axur Madrash Ardaru!" Schlagartig baute sich eine grün-goldene Wand zwischen ihm und der heranrollenden Silberwalze auf. Mit einem vernehmlichen Ploing-Laut krachte die Walze auf den Wall, zog sich auseinander und zerbarst in Millionen Silberfunken, die in Richtung Himmel davonstoben. Dann zielte Julius in die Dunkelheit und rief "Katashari!" Zur Antwort sah er eine helle, silberne Lichtspirale, die eine Frauengestalt einschloss, die in einer Hand einen hell leuchtenden Dolch und in der anderen einen Funken sprühenden Zauberstab hielt. Dann verschwand die Fremde in der Lichtspirale. Diese löste sich sofort danach in Nichts auf. Julius sah noch einmal auf den Punkt. Dann grinste er. "Schön, jetzt hat sie sich offiziell zu meiner Feindin erklärt. Dann mach ich gleich noch was, dass die nicht mehr näher als meine Rufweite an das Haus rankommt."

"Und was genau?" fragte Charles.

"Darf ich nicht laut sagen, sonst wirkt der Zauber erst wieder in einem Erdtag. Mann, Leute, ich helfe euch gerne. Aber ihr wisst, dass ich einen Eid geleistet habe, niemandem außer den von Ashtarias Kindern, nicht nur Camille, genehmigten Leuten was beizubringen. Ich weiß, dass ihr das alles gerne auch können wollt. Ich wäre ja in der Lage nicht weniger neugierig. Aber wenn ich euch weiter respektieren soll möchte ich bitte bitte bitte auch ein wenig Rücksicht von euch."

"Komm, sonst kriegen wir noch Ärger mit der blonden Schachkönigin, Charlie. Du weißt, die hat uns klargemacht, dass Julius und Camille was können, was sie keinem beibringen dürfen. Dafür können wir wohl noch Sachen, die die nicht können. Außerdem haben wir fünf Pakete, die wir schnellstens zum Ziel bringen müssen, bevor die Dame mit dem Dolch uns noch mal niederwalzen will."

"Dafür, dass du es so eilig hast, Jacques hast du aber jetzt lange geredet", konterte Charles, dem Julius im Licht des Apfelbaumpentagons ansah, wie verbittert der war, weil Julius ihm nichts verraten wollte oder durfte. Doch dann nahmen er und seine Kollegen die fünf verschnürten Hexen und disapparierten mit diesen.

"Aknur Madrash Ardaruni!" wisperte Julius und deutete dabei auf die grün-goldene Lichtwand, einen Schutzwall der Erde, der die meisten Flüche und bezauberten Wurfgeschosse aus der festgelegten Himmelsrichtung abfing und zerstreute. Jetzt durfte die Magie in die Erde zurückfließen, um das ohnehin schon wieder gut durchgeschüttelte Gleichgewicht von Erdkräften zu beruhigen.

Julius prüfte schnell, ob sie vielleicht einen Mithörzaubergegenstand hier zurückgelassen hatten, fand keinen und wirkte dann das Lied der verbotenen Seele, der einen namentlich bekannten Feind, auch wenn er oder sie einen Aliasnamen hatte, bis auf Rufweite von einem im Kreis abgeschritttenen Ort fernhielt. Damit konnte Hugette Mirabeau alias Sardonia auch keinen Fernfluch auf sie ausüben.

"Das könnte noch mal ziemlich bitter werden", grummelte Julius zu Béatrice, als er so leise er konnte in der Wohnküche des obersten Stockwerks appariert war. "Die Jungs sind an sich wohl in Ordnung, Julius. Aber die mussten heute lernen, dass es Zauber gibt, die ihnen selbst noch übel zusetzen können. Das steckt kein Junge weg, dass ein anderer Junge was besser kann oder stärker ist."

"Erzähl mir mal was neues, Tante Trice", grummelte Julius. Doch statt dessen knuddelte ihn seine Schwiegertante und wisperte: "Falls die dich deshalb nicht mehr hier wohnen haben wollen hat Maman immer noch genug Platz für euren kleinen Lebensapfel und euch alle darin." Julius schluckte. Wieso sagte Béatrice ihm das hier und jetzt? Ja, und wie abwegig war das, dass sie ihn hier nicht mehr wohnen haben wollen könnten? Das wollte er lieber nicht weiter durchdenken. Deshalb gab er seiner Schwiegertante die unter Freunden und Verwandten üblichen beiden Wangenküsse und ging zu Millie und Aurore ins Elternzimmer zurück. Aurore lag auf seiner Seite und hatte sich fast so weit zusammengerollt wie ihre ungeborene Schwester wohl gerade lag. "Ich habe ihr erlaubt, dass sie zwischen uns schlafen darf, weil es vorhin so aufregend und laut war", wisperte Millie. Julius überlegte, ob er da jetzt was gegen sagen sollte. Er hatte sich schon sehr früh mit Millie geeinigt, jedem Kind von Ihnen einig gegenüberzutreten, damit es nicht sagen konnte: "Aber Maman hat gesagt ..." oder "Papa sagt aber, dass ..." Deshalb schlüpfte er behutsam ins Bett, legte die schon tief und selig schlummernde Aurore so, dass sie nicht von ihm erdrückt werden konnte und drehte sich so, dass auch er schnell wieder einschlief. Immerhin hatten sie die zehn möglichen Helfershelferinnen auf Nummer sicher und er hatte Hugette Mirabeau und womöglich die mit ihr verwobene Seele Sardonias zur unerwünschten Person erklären können.

__________

Sie hatte es gesehen und gespürt, dass dieser hünenhafte blonde Bursche die Kräfte der Erde bändigen konnte. Der grün-goldene Wall hatte ihre Woge der Vergeltung mühelos in ihre Bestandteile aus Magie und aufgewühlter Luftfeuchtigkeit zerstreut und in die dunkle Kuppel abgeleitet. Dann hatte der wohl noch einen Lähmzauber versucht. Zumindest hatte sie es aus seiner Entschlossenheit gespürt. Die Macht des Dolches hatte sie gerade noch vor dem Treffer fortgerissen. Jetzt fühlte sie auch, dass da noch was gegen sie gezaubert wurde, wieder was die Erde durchdringendes und ausschöpfendes. Wahrscheinlich war das ein Bann, der sie entweder fernhalten oder zu Stein werden lassen sollte, wenn sie in dessen Wirkungsbereich geriet. Ein junger Zauberer, gerade erst drei mal sieben Jahre alt, hatte sie, die große Sardonia, mit ihr völlig fremden Zaubern verjagt und ihre fünf noch freien Schwestern erstarren lassen. Also stimmte es, dass er Zugriff auf die Macht aus alter Zeit hatte. Der Junge kannte die mächtigen Anrufungen aus Atlantis. Und dessen Balg stand kurz vor der Geburt, welche ihre Kuppel wegen der von diesem fremden Dunkelmagier eingewirkten Kraft erschüttern oder gar zerstören mochte. Sie wusste, dass sie nun ganz allein war, keine Helferinnen. Wenn sie nicht herausfand, wo ihre Schwestern gefangengehalten wurden würde sie selbst unter dieser Kuppel gefangenbleiben. Denn sie wusste nun, dass der verfremdete Sonnenkristall wohl erst am Sommerende wieder seine volle Kraft habenund den Hauch der schwarzen Sonne abschütteln konnte. Dabei fiel ihr ein, dass eben dieser dunkle Zauber auch ein Erbe aus Atlantis sein mochte, weil die Ägypter ihn schon gekannt hatten. Aber deren Hexenfeindlichkeit hatte ihr den Zugang zu den Grotten der großen Erkenntnisse verwährt, wo angeblich die mächtigsten Zauber des versunkenen Reiches gelagert wurden, die nur die Hohepriester der Pharaonen hatten kennen und anwenden dürfen. Sie erinnerte sich, dass der Hauch der schwarzen Sonne auch als Lied der längsten Nacht bezeichnet worden war und die mächtigste Waffe der Priester des Gottes Seth gewesen sein sollte, Kraftquelle, Folterzauber und Todesmagie in einem. Das also hatte den im Dolch wohnenden Teil ihres Geistes geweckt und die Kuppel für alle undurchlässig gemacht. Sie erkannte, dass sie so eine Gefangene bleiben würde. Doch dann musste sie innerlich grinsen. Dann würde sie, Sardonia, eben den großen Vergeltungsschlag führen müssen, den sie damals diesen vatikanhörigen Brüdern von der Weißen Taube angedroht hatte, wenn diese ihr weiterhin nachstellten. Doch dazu brauchte sie mindestens einen Tag und eine Nacht, um die nötige Kraft zu sammeln. Vor allem musste sie sich auf alle Namen ihrer 819 Opfer besinnen. Wenn sie auch nur einen vergaß oder falsch aussprach, würde ihr großer Plan misslingen.

__________

Aus Mildrid Ursulines Reportage "Unter der Dämmerkuppel"

7. Juni 2003

In einer gemeinschaftlichen Aktion gelang es, alle sich offenbarenden Helfershelferinnen von Sardonias Nachlass zu besiegen und in Zauberschlaf an einem sicheren Ort zu verstecken. Wir wissen zwar jetzt, dass die bisher gesuchte Mitbürgerin wahrhaftig mit Sardonias Hinterlassenschaft verschmolzen sein muss, aber wir hoffen, dass sie genauso mit uns anderen hier festsitzt und die Sicherheitstruppen sie spätestens dann ergreifen können, wenn der Hunger und der Durst sie aus dem Versteck treiben. Mein Mann ist da leider nicht so zuversichtlich wie der Dorfrat oder ich. Er sagt, dass wenn sie immer noch eine Fisch-Animaga sein kann, sie im Farbensee genug zu fressen finden und auch jede Menge Wasser um sich herum haben kann und vielleicht monatelang warten kann, bis sie wieder was anstellen wird. Das hat er mir auch nur gesagt, weil ich darauf bestanden habe, dass er mir nichts vorenthält, nur weil ich kurz davor bin, das dritte Kind zu bekommen. Meine Hebamme hat es ihm auch nicht übelgenommen, zumal sie dann zuversichtlich gesagt hat, dass ein Animagus oder eine Animaga, der/die über Wochen in Tiergestalt von Menschen entfernt lebt, immer mehr die Instinkte des verkörperten Tieres annimmt. Sollte Sardonias Helferin also finden, monatelang als Fisch im See herumzuschwimmen, würde sie vielleicht alles vergessen und dann nur noch ein Fisch sein, welcher auch immer. Also wird sie das wohl bald wieder zu uns treiben. Das ist zwar gefährlich, weil diese Hexe nichts mehr zu verlieren hat. Aber es ist auch die Möglichkeit, sie endlich festzunehmen und hoffentlich von Sardonias Einfluss befreien zu können.

Wie erwähnt dauert es nicht mehr lange, bis Julius' und meine dritte Tochter geboren wird. Ich fühle jedenfalls, dass sie sehr kräftig ist, was heißt, dass es ihr gut geht und ich die letzten neun Monate gut für sie mitgegessen habe. Ich will mich nicht in für viele von ihnen unwichtigen Einzelheiten über meine Schwangerschaft auslassen. Doch ich hoffe immer noch, dass Clarimondes Geburt die Kuppel, die immer noch eine Nachtkuppel ist, wieder Lichtdurchlässiger macht, sofern die zuständigen Zauberer und Hexen nicht herausbekommen, wie sie zu öffnen ist.

Immerhin haben die Verwandten von Schülerinnen und Schülern aus Beauxbatons jetzt alles soweit geregelt, dass sie ihre Verwandten solange bei sich aufnehmen können, bis die Ferien vorbei sind oder, was wir hier alle hoffen, die dunkle Kuppel wieder durchlässig ist.

Ich bin zumindest froh, dass Sie da draußen immer noch mit uns durchhalten und uns helfen.

MUL

__________

Millemerveilles, 8. Juni 2003

Madame Dumas bat in der zweiten Unterrichtsstunde, wo Julius keine Muggelweltsachkunde an Laurentines Stelle vertreten sollte um eine Unterredung im Apfelhaus. Im Dauerklangkerker-Arbeitszimmer holte sie mit einem Ausdruck schwer unterdrückter Verärgerung einen Pergamentbogen hervor und breitete ihn auf dem Tisch aus. Dann führte sie den Scriptorvista-Zauber aus. Der ging nur im Schutz von Ashtarias Kraft gesegnetem Apfelbaumfünfeck.

"Werte Madame Dumas,

Leider gelang es Janus Didier damals nicht, die französische Zaubererwelt wieder auf den rechtschaffenen Weg zu bringen, weil übertolerante Leute wie unter anderem Madame Faucon, sowie Madame Delamontagne und ihr Schwiegervater sich zu einem Widerstand gegen die dringend erforderlichen Umordnungsmaßnahmen erhoben haben. Er hat schon gewusst, dass wir in Frankreich nur dann stark gegen äußere und innere Feinde sind, wenn all zu viel Hinnahme neumodischer Ansichten untersagt wird. Dass ich damals nicht für ihn eintreten konnte liegt daran, dass ich meine Heimat Millemerveilles nicht verlassen wollte, und genau das hätten mir die unter den Delamontagnes und Madame Faucon organisierten Widerständler sicher auferlegt, wenn ich auch nur ein Wort darüber verloren hätte, dass wir die Chance hatten, unsere magische Weltordnung auf den rechtschaffenen Weg zurückzubringen. Damals habe nicht nur ich um des lieben Friedens willen den Mund gehalten. Doch jetzt, wo wir alle von Sardonias später Rache bedroht sind, will nicht nur ich nicht mehr schweigen. Deshalb diese klare Aufforderung an Sie, Madame Dumas.

ich begreife nicht, wie Sie, die Sie das Wohl unserer Kinder zu wahren haben, weiterhin auf diesen völlig durchschaubaren Plan des Dorfrates von Millemerveilles eingehen und darauf bestehen, dass die Kinder zum einen diese tückischen Glasphiolen bei sich tragen müssen, die bei andauernder Berieselung mit fremder Magie die Kraft und die Lebenszeit der sie berührenden Menschen absaugen und zum anderen fanatisch darauf bestehen, dass die in unserer Gemeinde aufwachsenden Kinder vor der Zeit in Beauxbatons über die unzulänglichen, ja auch zum teil allgemeingefährlichen Gerätschaften und Ansichten der magieunfähigen Leute unterrichtet werden sollen. Soweit mir aus meiner Schulzeit bekannt ist konnten sich Schüler vor Beginn der dritten Schulklasse aussuchen, ob sie diesen haltlosen Unfug lernen wolten oder nicht. Sie hier und vor allem weit genug fort von diesen Umweltverpestern und Zaubererfeinden dazu zu zwingen, deren Lebensweise kennenzulernen, stellt einen Missbrauch ihrer Rangstellung dar. Gute bekannte von mir und ich müssen uns seit Monaten anhören, dass wir, die Zauberer und Hexen, in nicht mehr ferner Zeit entscheiden müssen, ob wir uns ganz und gar von allen Muggeln abschirmen und die zufällig mit Zauberkraft geborenen Kinder von denen nicht mehr beachten oder ob wir uns mit diesen Maschinenknechten und Hexenverbrennern und Zauberertotschlägern auf ein friedliches Zusammenleben in gegenseitiger Kenntnis und Anerkenntnis einlassen sollen. Sicher, diese junge Hexe Laurentine Hellersdorf meint, irgendwem von unserer Welt die Arbeit zurückzuerstatten, die man sich mit ihr gemacht hat und die sie und ihre ignoranten Eltern jahrelang behindert haben. Doch dann soll die endlich entscheiden, ob sie wahrhaftig als Hexe lebt und ihre Muggelsachen vergessen oder nach Beauxbatons gehen, wo die Kinder das eben am Ende von Klasse 2 entscheiden dürfen, ob sie diesen Unrat und die verdorbenen Ansichten der Muggel lernen wollen oder ihrem Zaubererstolz gerecht ihre Zeit mit wichtigeren Unterrichtsthemen verbringen.

Meine Freunde und ich, die Sie über ihre Sprechpuppe Mildrid Latierre als Lügner und Irrdenker abgetan haben, haben eine Eingabe beim Dorfrat eingereicht, dass mit sofortiger Wirkung der Unterricht nur noch zu zaubererweltwichtigen Themen zu erfolgen hat. Da Sie mir persönlich ja angedroht haben, mich beim Zaubereiministerium als Störer des geordneten Unterrichtes zu denunzieren werde ich den Eltern der unschuldigen Kinder, deren Verstand Sie zu vergiften trachten, nahelegen, ihre Kinder im Namen der Zaubererehre nicht mehr zu ihnen hinzuschicken und ihnen die für den Einstieg in Beauxbatons wirklich wichtigen Dinge selbst beizubringen. Da wir gerade wegen unter anderem dem Treiben von Muggelstämmigen und muggelfreundlichen Leuten wie Ihnen, Laurentine Hellersdorf und Julius Latierre von Sardonias später Strafe betroffen sind gilt die für den französischen Sprachraum bestehende Pflicht zum Schulbesuch nicht mehr, gemäß Ausnahmeregel des allgemeinen Zaubereigesetzbuches, wonach bei bestehender Notlage und/oder drohender oder bestehender Gefahr für Leib und Leben von Eltern und Kindern der Unterricht von Grundfähigkeiten wie Lesen, Schreiben, Zeichnen, Ordnunghalten und Konzentrationsübungen auch von den Eltern selbst erteilt werden kann und die in der Notlage oder Gefahr lebenden Kinder das Elternhaus nicht verlassen müssen oder dürfen. Ich berufe mich auf diesen Ausnahmeparagraphen und verbiete mangels klarer Verantwortungsübernahme durch den Dorfrat den Schulbesuch all der Kinder, die Sie zusammen mit diesem wegen überragender Zauberkräfte von so vielen hofierten Muggelgeborenen Julius Latierre. Der soll sich mit seiner Frau darauf besinnen, ob er ein echter Zauberer ist oder seinen Zauberstab abgeben und die von ihm offenbar immer noch hochverehrte Maschinenspielerei weiterbetreiben, welche die Muggel technischen Fortschritt nennen. Andernfalls sehe ich in seinen Tätigkeiten eine fortgesetzte Gefährdung des Gemeindefriedens, da seine mit Ihrer Billigung und der des Dorfrates an unschuldige Jungen und Mädchen weitergereichten Gedanken und Scheinbehauptungen unsere Kinder entfremden und zu ihrer Identität und Würde beraubten Geschöpfen verderben. Stoppen Sie sofort diesen Unfug, die Maschinen der Muggel seien ebenso zu respektierende Errungenschaften wie die magischen Errungenschaften! Falls sie das nicht tun werden meine Mitstreiter und ich, die wir nach jahrelanger Einlullung und des lieben Friedens wegen hingenommener erduldung des viel zu toleranten Dorfrats erwachten, im Namen der Zaubererweltehre und zur Widerherstellung unserer Bewegungs- und Willensfreiheit die Eltern der Ihnen unbedacht anvertrauten Mädchen und Jungen auffordern, ihre Kinder nicht mehr in ihre höchst fragwürdige Obhut zu geben.

An die Eheleute Latierre ergeht mein Aufruf, damit aufzuhören, sich in unsere friedliche Ordnung einzumischen und damit die postmortale Rache Sardonias weiter anzuheizen. Wenn sie finden, hier nicht mehr hinzugehören steht es ihnen frei, sich selbst und ihre Kinder in Zaubertiefschlaf zu versenken, bis Sardonias Zorn verraucht ist und wir endlich wieder unsere Bewegungsfreiheit haben, wenn wir alle genug für die Hingabe an den Irrglauben gebüßt haben, mit den Maschinenspielern und Hexenbrennern friedlich zusammenleben zu können. Was sie angeht, Madame Dumas, sollten Sie erwägen, das Ihnen von einer leichtgläubigen Mehrheit der Dorfbewohner anvertraute Amt der Grundschuldirektrice zur Verfügung zu stellen. Sie sind seiner nicht würdig.

Sie haben bis morgen früh acht Uhr zeit, eine offizielle, magisch beeidete Erklärung abzugeben, dass Sie unsere Forderungen erfüllen. Bis dahin verbleibe ich

grüßend, Louis Henri Grandbois"

"Wie viele Kinder oder Enkel hat der Typ?" fragte Julius, nachdem Geneviève Dumas das Abbild des Briefschreibers wieder hatte verschwinden lassen. "Weder Kinder, noch Neffen, noch Enkel oder Großneffen, Julius", sagte Sandrines Mutter. Julius sah auf den immer noch ausgerollten Brief und sagte verächtlich: "Das haben wir gerne, Regeln für ein Spiel diktieren, bei dem sie selbst nicht mitmachen oder für das sie sogar gesperrt sind. Aber wenn der echt meint, diese Verdunkelung der Kuppel wäre passiert, weil Laurentine oder ich einen magischen Auslöser gedrückt haben, dass hier zu viele Muggelweltfreunde herumlaufen, dann könnte der mit dieser Behauptung echt weitere Anhänger angeln. Dann ist das echt eine Störung des Gemeindefriedens, Leute!"

"Hat der Kerl mich als Sprechpuppe bezeichnet, Julius?" fragte Millie sehr verärgert. Julius brauchte den getragenen Herzanhänger nicht, um zu erkennen, dass Millie wie ein kleiner Vulkan kurz vor dem Ausbruch war. Deshalb sagte er: "Millie, Leute wie der haben Reporter, die nicht seiner Ansicht sind immer schon als Sprachrohre oder Plapperpuppen der Gruppen oder Behörden bezeichnet, gegen die sie, die einzig durchblickenden, so viel haben. Insofern hat er dich zwar beleidigt, aber gleichzeitig auch seine Schwäche eingestanden, weil du nach außen berichten kannst und er nicht." Millie machte "Häh?!" Béatrice sah Julius anerkennend an und bedeutete ihrer Nichte, nicht mehr zu sagen. Julius erklärte dann, dass Grandbois, der offenbar den Gedanken nicht mehr aus dem Kopf bekam, die Verdunkelung sei eine Folge der Annäherung an die Muggelwelt, auch wenn er das so gar nicht nachweisen konnte, all zu gerne seine Angst und seine Vermutungen in die Außenwelt hinausrufen würde. "Aber er kennt keinen bei einer Zeitung, der seine Behauptungen verbreiten würde. Deshalb macht er dich blöd an, weil du sozusagen unsere Stimme nach draußen bist und dann noch mit einem verheiratet bist, der seinen Mitmenschen zeigen möchte, dass die sogenannten Muggel wohl viele Sachen machen, die Zauberern und Hexen komisch vorkommen oder ihnen Angst machen, aber sie doch auch Menschen sind, die Respekt und Verständnis haben dürfen", beendete er seine kurze Erklärung.

"Es steht außer Frage, dass ich nach Absprache mit allen Kollegen dieses unbestreitbar unangebrachte und unglaublich unverschämte Ultimatum unmöglich hinnehmen werde", schnaubte Madame Dumas. "Ich wollte euch, weil dieser wohl von einem Schwarm tollwütiger Doxys gebissene Mensch euch auch angegriffen hat diesen Brief nicht vorenthalten, auch wenn du mich jetzt so kritisch ansiehst, Béatrice, weil ich deine Patientin unnötig aufgeregt habe. Ich musste mir während meiner Schwangerschaften mit Sandrine und Véronique auch schon unverschämte Vorhaltungen anhören, ich würde die bei uns lernenden Zaubererjungen in meinen Schulstunden so hinstellen, als hätten die keinen Sinn für Ordnung und Anstand. Und die Kollegin Troisponts, die damals allgemeine Rechenkunst unterrichtete, wurde doch glatt von einigen Elternpaaren aufgefordert, ihr Fach mit einem männlichen Kollegen zu tauschen, weil Hexen mit Rechnerei nicht viel am Hut hätten und sie daher nicht richtig unterrichten könnten. Insofern sind wir Lehrer genauso die Angriffsziele unzufriedener Mitmenschen wie Heilerinnen und Reporter, Béatrice und Mildrid."

"Natürlich, Lehrer sind an allem Schuld. Wenn ein Kind nicht die von den Eltern gewünschten Noten kriegt liegt's nur am Lehrer. Wenn es nach der Schule nicht den von den Eltern erträumten Karrierestart hinkriegt ist die Schule in Schuld und so weiter", ätzte Julius.

"Ich hätte nicht übel Lust, diesen Dreckbrief so wie er steht in die Temps reinzusetzen und dem hinten was dranzuhängen, wo es bei diesem Typen im Kopf geklemmt hat, dass er dieses oder jenes behauptet", knurrte Millie.

"Gilbert hat Humor, das könnte er echt bringen und sich dann genüsslich drüber auslassen, wohin Angst jemanden treibt", erwiderte Julius. "Öhm, ich bin auch wütend, Millie, dass er meintt, Didier hätte eigentlich an einer Wiederherstellung der rechtschaffenen Zaubererweltordnung gearbeitet. Der hat doch sicher mitgekriegt, was nach Didiers Entmachtung alles ans Licht gekommen ist. Dass der jetzt behauptet, er hätte damals nur um des lieben Friedens Willen den Mund gehalten, um nicht hier wegziehen zu müssen, könnte ich als billige Ausrede sehen, wenn Didier damals nicht versucht hätte, mich an die Umbridge-Kommission auszuliefern, auch aus Angst, die Todesser oder die Dementoren könnten ihm sonst das Land umpflügen. Das kam damals bei den Gamotsitzungen auch raus und dass Didier noch des Mordes an seinem Bruder überführt wurde. Wie kann jemand, der die gleichen frei zugänglichen Quellen nutzen kann wie jeder andere, so abgedrehte Ansichten haben? Verstehst du das, Geneviève?" Er sah Sandrines Mutter an.

"Ich weiß auch nicht, wie er darauf kommt, Didier hätte was eigentlich richtiges gemacht", grummelte Geneviève Dumas. "In dem Jahr, wo Millemerveilles die Festung gegen Didiers Angst- und Unrechtsherrschaft war, hat sich Grandbois tatsächlich schön still verhalten. Allerdings hat die Kuppel damals auch schon erklärte Feinde der Bewohner Millemerveilles abgewiesen. Wenn er also behauptet, er hätte damals eigentlich zu Didier gehalten, dann ist das auch eine Lüge. Denn die Magie der Kuppel geht nicht nach gesprochenen Worten, sondern nach Geisteshaltung, soweit ich von dem Kreis der Eingeweihten erfahren durfte. Aufgefallen ist er auf jeden Fall nicht, weder im guten noch im schlechten. Er saß nur immer gerne mit seinen Freunden, darunter den älteren Monsieur Hautecolline, im Chapeau du Magicien und hat mit dem leider nicht mehr lebenden Vater von Caroline über dessen Onkel und dessen Vater geplaudert, mit denen Grandbois und Hautecolline in Beauxbatons im roten Saal gewohnt haben."

"Echt, der war ein Roter?" fragte Millie. "Öhm, dann kennt Oma Line den sicher auch noch von der Schule. Gut, dann eben sorum. Ich haue den Brief von ihm ungekürzt in die Temps raus, lasse den von Leuten wie meinem Onkel Gilbert und meiner Oma Line, vielleicht, wenn sie möchte auch Madame Faucon kommentieren und zerpflücken und guck dann, was er davon hat."

"Mildrid, bei allem Respekt, das könnte einen noch schlafenden Drachen kitzeln", sagte Béatrice Latierre. "Stell dir vor, von deinen Lesern da draußen glauben noch viele an die Richtigkeit von Didiers Vorgehen, haben sich aber sehr schlau zurückgehalten. Die könnten durch diesen Brief und wenn der auf seine Unwahrheiten und seine Unrichtigkeit hin zerlegt wird finden, es stehe ein Umschwenken der Zaubererwelt bevor, dass diese sich den Magielosen ausliefert oder auch, dass wir hier von Sardonias später Hinterlassenschaft dazu gezwungen werden, die Zaubererwelt in ihrem Sinne zu verändern und Hexen gegen Zauberer und Zauberer gegen Hexen aufzuhetzen." Millie sah ihre Tante und Hebamme verdrossen an, wiegte den Kopf und nickte dann. Doch sie bestand darauf, zumindest zu klären, dass das mit den Goldblütenhonigphiolen kein Angriff auf die Leute hier war und dass ihr Mann und Laurentine Hellersdorf keinen Situationsfluch ausgelöst hatten, weil sie den Kindern hier zeigten, dass magielose Leute auch Menschen waren, die eben nur deshalb viele Maschinen erfanden und benutzten, weil sie genauso ein Recht auf ein glückliches Leben hatten wie die Hexen und Zauberer. Geneviève Dumas nahm den Brief wieder an sich und sagte: "Ich möchte nicht, dass du den Brief in eure Zeitung sezt, Mildrid. Das will ich nicht, weil ich dir nicht traue oder dir nicht die Genugtuung gönne, die darin hingeschriebenen Unverschämtheiten zu erwidern, sondern weil ich diesem Menschen zeigen will, dass seine Ansichten von denen, die er vielleicht noch respektiert, weder geteilt noch unterstützt werden. Deshalb soll Madame Faucon, sowie Monsieur Descartes, sowie Madame Grandchapeau, ja vielleicht auch die Ministerin selbst den Brief lesen und dann damit zu den Zeitungen hingehen."

"Ja, und mein Onkel fragt mich, warum wir den ungekürzten Brief nicht in die Zeitung reingesetzt haben, eben auch um zu klären, was an den ganzen Vorwürfen überhaupt dran ist oder nicht. Und, Tante Trice, ich weiß, dass da draußen immer noch Leute leben, die heimlich Beifall geklatscht haben, als Didier das Ministerium in seinem Sinn umgebaut hat. Aber die haben mittlerweile doch genug mitkriegen können, wie viele unschuldige Leute er in diese Friedenslager gesteckt hat und welchen Schaden er damit angerichtet hat. Sonst wäre ja auch nicht Mademoiselle Ventvit zur Zaubereiministerin gewählt worden, sondern Louvois." Dann wandte sich Millie noch an Geneviève Dumas: "Aber gut, du hast den Brief bekommen und nicht ich. Also entscheidest du, wer den noch lesen darf." Sie nickte Sandrines Mutter verdrossen zu. Diese nickte erleichtert dreinschauend zurück. Dann wandte sie sich der verschlossenen Tür zu: "Öhm, Julius, nach der Mittagspause machst du bitte bei den Drittklässlern mit diesem Dezimalrechnen weiter. Solange mir weder Monsieur Descartes noch Madame Faucon befiehlt, meinen Unterricht umzuändern oder gar meinen Rücktritt fordert läuft alles so weiter wie besprochen. Danke!" Damit öffnete sie die Tür und ging hinaus.

Julius begleitete sie noch zur Haustür und sagte: "Am besten schreibst du selbst noch Briefe an die Eltern, dass sie keine Angst haben möchten, dass du und ich ihre Kinder verderben wollen, bevor dieser Elsternfußler die mit ähnlichen Falschmeldungen zuschüttet."

"Ja, und sage deiner Frau bitte, dass ich ihr vertraue, dass sie die von eurem Schreibtisch angefertigte Kopie des Briefes nicht ohne meine Genehmigung veröffentlicht", grummelte Sandrines Mutter. Julius setzte sein unschuldigstes Gesicht auf. Dafür zog sie ihm kurz am linken Ohr und sagte: "Julius, ich habe genau gesehen, dass in eurem Schreibtisch die Runen für erfassen und verbreiten sowie unter dem Tisch die Machtrune für vermehre eingeschrieben sind. Ich war und bin immer noch Lehrerin und kenne sehr viele Tricks. Der Trick war schon bei meinen Urgroßeltern Alt, als sie in Beauxbatons waren. Aber wie gesagt, ich vertraue euch beiden, dass ihr die Kopie nicht ohne meine ausdrückliche Genehmigung in die Temps setzt. Bitte vertraue du mir, dass ich das nicht untätig hinnehme, was dieser von Angst oder Verfolgungswahn getriebene Mensch da abgesondert hat!" Julius nickte seiner derzeitigen inoffiziellen Vorgesetzten zu. Diese lächelte und knuddelte ihn kurz. Dann verließ sie das Haus.

Als Julius wieder ins Arbeitszimmer eintrat und die Tür schloss grinste Millie. "Könnte sein, dass die gute Geneviève sich morgen wundert, wenn alle Welt über Grandbois Geschreibsel herzieht." Damit öffnete sie eine der drei Schubladen und zog einen beschriebenen Pergamentbogen hervor. Béatrice starrte auf den Pergamentbogen. "Scriptocopia?" fragte sie die beiden Anverwandten. Millie und Julius nickten. "Haben wir in den Schreibtisch eingewirkt, damit Orginaldokumente nicht andauernd mit dem Zauberstab vervielfältigt werden müssen."

"Ich habe es ihr nicht gesagt, Millie. Aber Geneviève hat die Zaubererhaltungsrunen erkannt und daraus geschlossen, dass der Brief vom Tisch kopiert wurde, als er darauf lag. Sie vertraut dir, dass du ihn nicht ohne ihre ausdrückliche Erlaubnis veröffentlichst."

"Neh, is' nich' wahr", knurrte Millie und sah Julius vorwurfsvoll an. Doch der blieb ganz ruhig. Wohl aus seinem Gesicht, vielleicht auch über die Herzanhängerverbindung wusste sie, dass er sich nichts vorwerfen musste. "Die ist 'ne Lehrerin, was erwartest du, Millie", sagte Béatrice. "Das erste, was eine Lehrerin lernt ist, wie Schüler was vortäuschen oder abschreiben können, genauso wie wir heiler lernen, wie ein Mensch aussieht und was in ihm so arbeitet."

"Drachendreck!" zischte Millie. "Das heißt, die könnte mir voll ans Bein pullern, wenn ich den Brief raushaue, weil ich ihn ihr geklaut habe, obwohl sie den Brief ja vor Zeugen zurückbekommen hat?"

"Anatomisch könnte sie dir höchstens auf die Füße pullern, oder du müsstest ihr ein ausgestrecktes bein uriniergerecht hinhalten", sagte Béatrice verwegen grinsend. Julius bewunderte einmal mehr, wie wandlungsfähig Béatrices Verhalten war. Offenbar genoss die es gerade, dass ihre Nichte sich nicht alles erlauben konnte, was ihr so einfiel. So sagte Julius: "Wir schicken die Kopie zu Gilbert und schreiben dabei, dass wir diese Kopie erhalten haben, unter dem Vorbehalt, sie nur dann zu veröffentlichen, wenn Madame Dumas dies für richtig hält und offiziell genehmigt. Mit Freigabeeinschränkungen kommt er bisher doch noch gut klar, wie ich aus der Kiste mit den abgezweigten Freudenspenderakten weiß."

"Ja, machen wir das so", brummelte Millie.

Julius schaffte es bis nach der Mittagspause, die Wut und das Unverständnis über Grandbois' Brief gänzlich abzulegen und die von Laurentine eingereichten Unterrichtsvorgaben mit den Drittklässlerinnen durchzugehen. Auf die Frage, warum das mit der Dezimalrechnung sich bei den Muggeln so durchgesetzt habe, wo doch in der Magie Zahlen wie die Drei, die Vier, die Fünf, die Sieben und die Zwölf so wichtig seien erwähnte er, dass das Dezimalsystem wegen der zehn Finger eines Menschen so gut angekommen sei. Darauf brachte einer der Jungen den uralten Witz, dass ein Mensch doch elf Finger habe. Julius fragte ihn, wer ihm den Trick beigebracht habe. "Mademoiselle Hellersdorf hat uns das vorgeführt, um zu zeigen, wie richtig gezählt und zusammengerechnet werden muss. Sie meinte auch, dass ihr Großvater das schon gekannt hatte", bekam Julius zur Antwort.

Dann wurde Julius gefragt, warum denn dann die Zeiteinteilungen nicht rein zehnerbezogen seien, also eine Stunde hundert Minuten und eine Minute nicht zehn oder hundert Sekunden habe. Daraufhin führte Julius vor, warum die Zeiteinteilung in Stunden zu je sechzig Minuten zu je sechzig Sekunden immer noch benutzt würde. "Die Babylonier, die die sechzig, also fünf mal die Zwölf, als Grundlage für die Messungen eingeführt hatten, bezogen sich da auf eine einfache Rechenmethode. Er zählte mit dem Daumen die Einzelglieder jedes der vier anderen Finger ab. Die Schüler machten es ihm nach und kamen wie er auf zwölf nachzählbare Fingerglieder an einer Hand. Da an jeder Hand fünf Finger waren kam das mit fünf mal zwölf gleich sechzig hin. "Zudem kann die Zahl sechzig durch zwölf ganze Zahlen ohne Rest geteilt werden und konnte somit wunderbar in kleinere Abschnitte eingeteilt werden." Dann kam er zum Dezimalsystem zurück und erwähnte, dass dies wegen der Nachkommaschreibweise so praktisch sei. Er hätte den Schülern hier auch erzählen können, dass die Dezimal- und die duodezimalrechnung im alten Reich gleichberechtigt nebeneinander bestanden hatten, wobei die Altaxarroin keine Nachkommastellen sondern echte Brüche benutzt hatten, aber durch deren Version der Null auch leichter mit zehn gerechnet werden konte, wenn es um Handel und Bauwesen ging. Aber das alte Reich war eines seiner persönlichen Geheimnisse und vor allem, dass in seinem Kopf das mehr als neunzehn Jahre dauernde Leben des jungen Madrashainorian gespeichert war.

"Ja, aber wie schreibe ich dann in diesen Dezimalpunktzahlen, wenn ich wem ein Viertel von was verkaufe?" fragte die junge Eudore Beaumot.

"Gut, Mademoiselle Hellersdorf hat euch erklärt, dass ein Viertel weniger als ein drittel ist, lese ich hier. Aber was ist ein viertel von hundert?" fragte Julius. Die Schüler guckten ihn betrübt an. Julius wusste, dass sie gerade erst mit dem großen Einmaleins bis 20 zu tun hatten und deshalb wohl noch nicht wussten, was ein Viertel von hundert war. Deshalb schrieb er kurz das Einmaleins mit 25 bis 25 * 25 an die Tafel. "also, vier mal fünfundzwanzig sind hundert. Also sind fünfundzwanzig ein Viertel von hundert. Bei den Kommazahlen kommen nach dem Komma oder Dezimalpunkt erst alle zehntel, dann alle Hundertstel. Also ist ein Viertel fünfundzwanzig Hundertstel, und schreibt sich in Dezimalschreibweise null komma zwei fünf." Er schrib neben das Ergebnis von vier mal fünfundzwanzig noch die umkehrung und dann die Dezimalzahl 0,25 hin.

"So, und das macht ihr alle jetzt bis zur nächsten Rechenstunde mit folgenden Brüchen", sagte Julius und schrieb mit roter Kreide das Wort "HAUSAUFGABE" und dann darunter eine Reihe echter Brüche, wobei er schon darauf achtete, dass die Schüler nur bis zu drei Nachkommastellen ausrechnen mussten. Er beaufsichtigte, dass die ihm anvertrauten Schüler die Hausaufgabe alle abschrieben. Dann läutete auch schon die Direktrice zum Lehrerwechsel. "So, bitte die Tafel abwischen, bevor ich Monsieur Morel noch erklären soll, warum ein Viertel mit einem Dezimalpunkt geschrieben werden soll. Danke und bis zum nächsten mal!" Die Schüler verabschiedeten sich artig im Chor und bedankten sich auch für die Stunde.

Nachmittags erfuhr Julius von Millie, dass Gilbert bereits Kommentare von Madame Faucon und Monsieur Descartes bekommen habe und einen Brief an Madame Dumas geschickt habe, ob er den Brief, von dem ihm Millie "berichtet" habe, erhalten und mit den entsprechenden Kommentaren zusammen abdrucken durfte. Außerdem möge Millie mit eigenen Worten erwähnen, was sie davon mitbekommen habe.

Am Abend, als Aurore und Chrysope schon im bett waren spannte Julius außerhalb des Apfelbaumfünfecks mehrere Meldezauber auf, die auf Grandbois oder Eudores Großvater abgestimmt waren. Sollten die beiden am nächsten Tag den Unterricht stören würde er ihnen Platzverweis erteilen, dass sie bis auf weiteres nicht mehr in die Nähe des Apfelhausgrundstückes kommen konnten.

__________

Aus Mildrid Ursulines Reportage "Unter der Dämmerkuppel"

9. Juni 2003

Die Sache mit Monsieur Grandbois ist jetzt bei Ausbildungsleiter Descartes. Nachdem ich ja gestern darüber berichten musste, dass Grandbois der Meinung sei, die Verdunkelung und Undurchlässigkeit der Kuppel sei eine von Sardonia vor ihrem Tod eingewirkte Vergeltungsaktion gegen zu große Annäherung an die magielose Welt, hat er doch allen Ernstes versucht, mit den ihm beistehenden Zauberern das Grundstück von uns zu versperren, damit die Eltern der Grundschüler ihre Kinder hier nicht hinbringen konnten. Julius hat dann von unserem Hausrecht gebrauch gemacht und alle, die nicht mit schulpflichtigen Kindern verwandt waren, bis zu einem Widerruf von unserem Grundstück fernzubleiben haben. Sicher, Eudore Beaumots Großvater könnte sie immer noch hier hinbringen. Doch mit dem wird sich wohl Monsieur Descartes über Digeka und hier im Dorf flugfähigen Eulen austauschen. Ich finde es immer noch sehr traurig und auch ärgerlich, dass jemand einfach was behaupten kann, ohne es beweisen zu müssen und damit schon eine Menge Angst und Ablehnung machen kann. Sicher, seit Sardonias Zeit gilt in Frankreich größtenteils freie Meinungsäußerung, aber nur, wenn dadurch kein Mensch in seiner Lebensführung behindert oder gar gefährdet wird. Jemandem Schulbildung vorzuenthalten wird zumindest von Madame Dumas als eine solche Behinderung oder Gefährdung der Lebensführung angesehen. Zumindest haben wir von den Eltern und anderen Erziehungsberechtigten die Rückmeldung, dass sie Madame Dumas und ihren Kollegen weiterhin vertrauen und ihre Kinder, Neffen oder Enkel bei ihr zur Schule gehen lassen, zumal viele nach der stärkeren Verdunkelung der Kuppel froh sind, dass ihre Kinder wenigstens sechs Stunden am Tag in einer besonderen Schutzzone lernen dürfen. Was die Behauptung von Monsieur Grandbois angeht, mein Mann würde den Gemeindefrieden stören und möge sich doch entscheiden, ob er ein ganzer Zauberer oder ein ganzer Nichtzauberer sein wolle, so wurde ihm von Madame Dumas und dem Dorfrat Charpentier unmissverständlich mitgeteilt, dass er die von ihm eingegangenen Verpflichtungen erfüllen möge, auch und gerade was seine Fähigkeiten und Kenntnisse anginge. Der Dorfrat will für die morgige öffentliche Sitzung eine Befragung ansetzen, wie das hier weitergehen soll. Monsieur Grandbois und seine Leute, die sich selbst die Erwachten nennen, sind ausdrücklich eingeladen.

Ich bin erleichtert, dass wir, also mein Mann und ich, von den allermeisten Nachbarn und Mitbürgern hier immer noch als willkommen angesehen werden und höre es auch gerne, dass sich die Leute, die wegen der Verdunkelung der Kuppel keine Feuer- oder Lichtzauber wirken können, mit Brennstoff, Kerzen oder Laternen ausrüsten können. Das hilft uns, weiter durchzuhalten. Wir hoffen aber auch weiter auf die Sommersonne, dass diese die dunkle Kraft aus der magischen Kuppel herausbrennt.

MUL

__________

Aus Mildrid Ursulines Reportage "Unter der Dämmerkuppel"

10. Juni 2003

Die öffentliche Sitzung des Dorfrates zu den Einteilungen anstehender Arbeiten verlief schnell und zur allgemeinen Zustimmung. Madame Renard erhält aus dem Gemeindeverlies von Gringotts einen Verdienstausfall für die letzten drei Wochen. Fünf junge Zauberer haben sich bereitgefunden, ihr zu helfen, darunter auch Laurent Beaufond, der hauptberuflich Zauberkoch werden möchte. Er sagte mir persönlich, dass er es als großartige Möglichkeit sähe, seine bisherigen Fertigkeiten und neue Ideen in Millemerveilles Gasthaus auszuprobieren und hoffe, nicht wie verbrecherische Braumeister und unfähige Köche im eigenen Kessel gesotten zu werden, wie es im 12. bis 14. Jahrhundert all zu häufig vorkam. Gut, Julius und ich haben in Beauxbatons auch sehr gerne am Freizeitkurs Kochen mit Zauberkraft teilgenommen und können unserer Familie so eine Menge verschiedener Sachen zusammenkochuspokussen. Das hat uns aber auch gezeigt, wie hoch die französische Küche ihre Ansprüche stellt. Daher wünschen wir Laurent Beaufond eine erfolgreiche Zeit im Chapeau du Magicien.

Ebenso haben sich viele Zauberer und vor allem Hexen, die sonst in Paris, Lyon oder anderswo arbeiten, bereiterklärt, Camille Dusoleil bei der Pflege aller Pflanzen zu helfen, die durch die Verdunkelung der Kuppel nichts von der Vorsommersonne haben. Da Julius auf ausdrückliche Anforderung von Mme. Dumas und der Sicherheitsbeauftragten dazu eingeteilt ist, die Versorgung mit Licht und Brennstoff und die Weiterführung der Rechenstunden an der Grundschule zu sichern, konnte er nicht auch noch bei Mme. Dusoleils Gärtnertruppe mitmachen.

Was den schwereren Tagesordnungspunkt angeht, dass M. Grandbois Mme. Dumas und meinem Ehemann vorwirft, Sardonias späte Rache heraufbeschworen zu haben und durch die Beibehaltung des Unterrichts Magielose Sachkunde die Verdunkelung der Kuppel und damit die Gefährdung des Gemeindefriedens verursacht zu haben, so ging es damit los, dass M. Grandbois gar nicht erst zur öffentlichen Befragung erschienen war. Auch die auf der Liste ihm beipflichtender aufgeführten Zauberer blieben der Versammlung fern. Somit konnte Sicherheitsbeauftragter M. Latour nicht die Frage stellen, woher M. Grandbois die Annahme hat, dass eine Sardonia missfallende Annäherung an die magielose Welt stattfände und deshalb die von ihr errichtete Kuppel zum gnadenlosen Gefängnis geworden sei. Natürlich gab es bei den Anwesenden auch Leute, die bange fragten, woher wir genau wüssten, dass die Kuppel nicht durch einen von Sardonia vorbestimmten Auslöser verändert wurde. Doch M. Dupont, der Sprecher der Millemerveilles Mercurios, brachte den entscheidenden Punkt. "Wenn die Kuppel alleine verfremdet worden wäre müssten wir uns wirklich fragen, ob das mit Sardonia und einer Art Rachezauber zu tun hat. Aber im ganzen Land ist das Flohnetz ausgefallen und auch in anderen Ländern fiel das Flohnetz aus. Das kann dann ja nicht allein wegen Millemerveilles und was hier getan oder nicht getan wird geschehen sein. Wir hatten wohl Pech, dass von der immer noch unbekannten Dunkelkraftwelle zu viel in Sardonias Kuppel hängengeblieben ist und sollten froh sein, dass wir wen hier haben, der sich mit nichtmagischem Feuer auskennt, anstatt ihn für einen Unruhestifter oder gar Friedensgefährder zu halten. Wenn Louis Grandbois Beweise hat, dass die Kuppel nur wegen einer von Sardonia festgelegten Vergeltung verfremdet wurde, dann soll er herkommen und dem Sicherheitsleiter diese Beweise vorlegen, damit der entscheidet, ob deshalb jemand belangt werden kann oder nicht! Aber wenn er das könnte wäre der ja hergekommen."

Diese für einen Sportfunktionär sehr klare politische und rechtliche Aussage wurde von allen Anwesenden mit Beifall und Zustimmung bestätigt. Deshalb hat M. Latour zum Schluss gesagt, dass M. Grandbois bis zum 12. Juni klare und ungefälschte Beweise für seine Behauptungen vorlegen solle. Andernfalls würde er selbst dann wegen fortgesetzter Störung und Gefährdung des Gemeindefriedens angeklagt werden. Auch müsse er sofort damit aufhören, Eltern und anderen Erziehungsberechtigten schulpflichtiger Kinder zuzureden, ihre Schutzbefohlenen im eigenen Haus zu halten. Denn der von Grandbois erwähnte Notfallparagraph beträfe ganz eindeutig Gefahren auf dem Weg zur Schulstätte oder dort wirkende Dunkelmagier, die das Leben und die seelische Unversehrtheit der Schüler bedrohten, wie es beispielsweise in der britischen Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei im Schuljahr 1997-1998 der Fall war. Doch damals hätte das Ministerium ja ebenfalls unter der Kontrolle der Verbrecherorganisation des sogenannten Dunklen Lords gestanden und daher seien alle vernünftigen und menschenachtenden Gesetze außer Kraft gesetzt gewesen. Zum Abschluss sagte Dorfrätin Delamontagne: "Monsieur Grandbois oder einer seiner Befürworter hat die Gelegenheit versäumt, sich hier frei und für alle hörbar zu erklären. Deshalb wird er keine weitere Chance erhalten, sich öffentlich zu äußern, außer vor Gericht." Nach dieser klaren Ansage haben alle erst mal kein Wort mehr gesagt. Doch dann haben sie alle genickt und sind ganz friedlich nach Hause gegangen, geflogen oder appariert. Meine hauptamtliche Hebamme hat danach angeordnet, dass ich bis zur Geburt meiner dritten Tochter nur noch im Haus bleiben soll, auch um sicherzustellen, dass weder Sardonias Helferin noch Leute, die die Arbeit meines Mannes verhindern wollen eine Möglichkeit haben, mich oder meine Kinder an Leib und Leben zu bedrohen. Denn in unser Haus kommt nur hinein, der absolut keine feindlichen Absichten hat. Deshalb werde ich ab heute nur noch die Ereignisse berichten, die mir in Form von übergebenen Protokollen oder von Augen- und Ohrenzeugen persönlich berichtet werden. Ich bin jedoch sehr zuversichtlich, dass mir die Mitbürger von Millemerveilles helfen, Ihnen weiterhin zuverlässige Berichte über unser Fortbestehen unter der Dämmerkuppel zu liefern.

MUL

__________

Millemerveilles, die Nacht vom 10. zum 11. Juni 2003

Huch, schon wieder zehn Uhr. Dann muss ich aber schnell nach Hause, bevor meine Mutter die Sicherheitstruppen losschickt", sagte Sandrine Dumas. Sie hatte diesen Tag mit den Zwillingen bei den Latierres zugebracht und mit ihnen zusammen gespielt und ein mehrgängiges Abendessen mit ihnen eingenommen, das Millie und Béatrice Latierre gekochuspokust hatten. Dafür würde sich Sandrine demnächst revanchieren, hatte sie nach drei Gläsern Met aus Madame L'ordouxes Beständen zugesagt.

"Gut, ich bring dich und die beiden Wuselwichtel nach Hause. Es gefällt mir nicht, dass Hugette sich bisher nicht mehr gezeigt hat. Aber jetzt, wo wir wissen, dass sie unter Wasser sein kann kann die wieder Wochen wegbleiben", sagte Julius. Sandrine ging auf sein Angebot ein. Denn sie fühlte die Wirkung von drei Gläsern Met und musste ja noch einen Familienbesen steuern. Da war es gut, wenn jemand mit ihr mitflog. So holte sie ihre zwei Kinder aus Aurores Zimmer, wo die doch glatt auf der großen Luftmatratze eingeschlafen waren, auf der Aurore tagsüber gerne herumhüpfte oder auch mal schlief.

"Wann kommen du, Stellie und Roro wieder, Sandrine?" fragte Aurore leise.

"Wenn deine Maman und dein Papa wieder genug zu Essen im Haus haben, kleine Besenprinzessin. Nacht!" flüsterte Sandrine und trug ihre beiden Kinder behutsam nach unten. "Ui, die werden echt immer schwerer", grummelte sie leise, musste dabei aber lächeln. Julius erbot sich, ihr einen der Zwillinge abzunehmen. Doch sie schüttelte den Kopf. "Ich kann die noch tragen. Die Übungszeit ist ja noch nicht so lange her", scherzte sie. Julius verstand. "Ja, aber da waren die noch kleiner, leichter und sicherer verpackt", erwiderte er. Dem konnte Sandrine nicht widersprechen. Sie merkte auch, dass sie mal wieder zu heftig die beiden an sich hielt. Das war sicher immer noch die Wirkung dieses verflixten Cocktails auf Martinique. Würde sie es irgendwann schaffen, die zwei mal länger als eine halbe Stunde aus den Augen zu lassen und nicht sofort loszuspringen, wenn irgendwas war? Zumindest fand sie es sehr schön, dass Millie und Julius ihr mit den beiden halfen. Das Verhältnis zu Millie war seit der gemeinsamen Zeit im Wochenbettzimmer sowieso wesentlich besser als davor, wo sie sich gegenseitig wegen ihrer unterschiedlichen Charaktere belauert oder bespöttelt hatten.

Bis zum Haus der Dumas' waren es bei dem gemächlichen Tempo fünfzehn Minuten. Sandrine hatte ihre Ankunft schon mentiloquistisch angekündigt. Julius behielt die Umgegend im Blick. Sein Orichalkarmband hatte er angelegt. Außerdem trug er seit gestern eine eigene Apfelkernhalskette von Camille, damit auch er dem Einfluss dunkler Zauber besser widerstehen konnte, wie sie selbst und Florymont. Er sog die Luft ein. Sie roch angenehm nach frischen Kräutern und ... Lakritze? Eer sog noch einmal Luft in seine Nase ein. Ja, da waren fünf klar erriechbare Kräuter und das unverkennbare Aroma von Lakritz. Wie kam denn das zu Stande? Jetzt fühlte er auch eine merkwürdige Erwärmung in sich, vor allem im Unterleib. Und dann war da noch ein sanftes Prickeln unter seiner Schädeldecke. Er wollte die Luft anhalten, weil er dachte, etwas gefährliches läge darin. Doch er konnte nicht aufhören, diesen fremdartigen, schönen Duft in seine Nasenflügel hineinzusaugen, gierig, immer begehrender. Dann merkte er, dass es nicht allein die Luft war, die ihn erregte. Es war auch Sandrines Lieblingsparfüm, der Duft ihrer Haut und ihrer Haare, ihr frischer Schweiß unter den Armen und ... ja, auch ihre Bereitschaft zur Liebe. Er fühlte, dass ihn das auch erregte. Er erkannte zwar, dass da etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Doch im Moment empfand er weder Angst noch Argwohn, sondern nur ein immer stärker glühendes Verlangen, mit der Hexe hinter sich ein weiches Lager zu finden und sich darauf mit ihr auszutoben. Dass er verheiratet war und sie schon zwei Kinder von einem anderen Mann hatte interessierte ihn im Moment nicht mehr. Er war ein Mann, der es nötig hatte, und sie war eine Frau, die ihn sicher wollte, wenn er ihr deutlich, aber nicht ruppig zeigte, dass sie ihn haben konnte und er sie dafür besitzen durfte.

"Julius, so ging das damals los, als wir den Regenbogentänzer getrunken haben", sagte Sandrine mit einer Spur unterdrückten Verlangens in der Stimme. Irgendwer macht, dass ich gerade richtig heiß auf dich werde. Mach 'ne Kopfblase. Ich versuche das auch, bevor ich noch ganz wuschig werde."

Julius hörte ihre Worte und fragte sich, warum sie das sagte. Dann drang doch noch sowas wie ein vernünftiger Gedanke durch die immer stärker auflodernde Begierde. Auch schmerzte es ihm bereits im Schritt, weil da was war, was keinen Platz mehr hatte.

Er schaffte es noch, ohne nach hinten an Sandrines verheißungsvolle Oberweite zu langen seinen Zauberstab zu ziehen und die Kopfblase zu zaubern. Jetzt war der herrliche, ihn derartig aufheizende Geruch zwar weg. Doch das Gefühl, Sandrine gleich unbedingt nehmen und wild lieben zu müssen ging nicht weg. Auch Sandrine schien nicht mehr so recht bei Sinnen zu sein. Er fühlte, wie sie immer wieder nach seinem Rücken tastete, über die beiden schlafenden Kinder hinweg. Ihre Berührung elektrisierte ihn regelrecht. Beinahe schrie er auf, weil ihr Streicheln ihn regelrecht in Brand setzte. Aber es war kein vernichtender, nur verzehrernder Brand. Sowas hatte er das letzte Mal gespürt, als Millie und er im Bucheckernhaus das Gästebett so richtig doll ausgewuchtet hatten. Millie, wo war Millie? Nein, hinter ihm saß Sandrine. Sandrine wollte ihn. Er wollte Sandrine, Millie war weit weg, nicht nur räumlich. Er fühlte, dass er jetzt landen musste. Sandrine hielt sich schon an seinen Schultern fest, wollte ihn an ihre prallen Brüste ziehen, ihn für sich alleine haben. Er landete, ohne groß zu fragen, ob er das sollte. Gerade soeben schaffte er es noch, außerhalb der Lichthöfe der Straßenlaternen zu landen. Die Laternen. Er musste die Laternen ausmachen, damit ihnen keiner zusah und das rumerzählte. Das wollte er Sandrine nicht antun, die merkte, dass er landete. Offenbar fühlte sie nun genauso wie er. Sie wollte nach mehr als drei Jahren wieder einen Mann, ihn mit sich vereinigen, mit ihm gemeinsam zum höchsten Glück finden, dass zwei sich liebende Menschen einander geben konnten. Er wollte sie, die Frau, die er auf einer Blumenwiese gesehen hatte, wo auch Millie, Martine, Belisama, die Montferres und Béatrice zu sehen gewesen waren. Claire hatte ihm die ganzen jungen Frauen gezeigt, weil sie wollte, dass er eine davon nahm und mit ihr glücklich wurde. Claire, Camilles mittlere Tochter. Camille! Ja, er begehrte Sandrine gerade so, wie er Camille im unterirdischen Garten der Villa Binoche begehrt hatte. Da hatte er sich noch zurückhalten können, weil sie verheiratet war und er sie nicht entehren wollte. Doch Sandrine war offiziell Witwe, weil ihr Mann, der Idiot, lieber irgendwelchen Gangstern hinterhergejagt hatte, als diese wundervoll duftende, liebevolle Frau zu behüten und bei ihr zu bleiben.

Jetzt hatten sie beide festen Boden unter den Füßen. Sofort schlang Sandrine ihre Arme um ihn und zog ihn an sich. Doch ihre und seine magische Kopfblase verhinderten, dass sie ihre Lippen zusammenbringen konnten. Er sah im Licht der Laternen die Erregung, die Begierde, die Lust in ihren Augen lodern und wusste, er sah genauso aus. Doch jetzt konnte und würde er sie nehmen und sich von ihr nehmen lassen. Er löste seine Kopfblase auf. Sofort drang ihm wieder der verheißungsvolle Duft von fünf Kräutern und Lakritze in die Nase. Das in ihm aufwallende Verlangen wurde immer größer. Auch Sandrine hatte ihre Kopfblase wieder aufgelöst. Jetzt konnten sie sich endlich richtig küssen, sich gegenseitig schmecken und ..."

"Inducio Devoluptum!" hörte er eine Frauenstimme rufen. Da traf ihn etwas eiskaltes am Körper. In seinem Kopf schien etwas zu zerspringen. Aber vor allem meinte er, eine Ladung Trockeneis im Schritt zu fühlen, die in seinen Unterleib hineinschoss und bis zum Hals hinaufjagte. Er keuchte. Wieder hörte er "Inducio Devoluptum!" Sandrine, die er bis eben noch in einer leidenschaftlichen Umklammerung gehalten hatte, zuckte zusammen. Alle Begierde und Leidenschaft war aus ihrem Gesicht gewichen. Sie starrten einander an. Dann drangen die Gedanken durch sein wieder zur Ruhe gekommenes Gehirn. Jede Begierde war regelrecht weggewischt worden. Dann erkannte er, dass er und Sandrine gerade kurz davorgestanden hatten, etwas unverzeihliches zu tun. Doch er empfand keine Scham, sondern nur, dass jemand ihn gerade noch davor bewahrt hatte, diese verbotene Tat zu begehen, seine eigene Frau, die sein drittes Kind im Bauch hatte, derartig zu betrügen, ja sich sogar darauf gefreut zu haben.

Sandrine ließ von ihm ab. Er gab sie auch frei und sah sie abbittend an. Sie schüttelte bedächtig den Kopf. Dann sahen beide die Hexe, die ihnen in letzter Sekunde das verbotene Feuer ausgeblasen hatte, Béatrice Latierre, die in einer Hand eine Laterne und in der anderen ihren Zauberstab hielt. Er hatte nicht mitbekommen, dass sie ihm gefolgt war. Oder war sie appariert? Er hatte gelernt, dass das auch ganz leise gehen konnte, nur ein vernehmliches Plopp, ohne lauten und langen Nachhall. Das hatte er nicht gehört.

"Haua, so fühlt das sich also an, wenn einer den Zauber abkriegt. Danke Béatrice", sagte Julius, der nun wieder klar denken konnte, aber im Moment offenbar keine starken Gefühle empfinden konnte. Außerdem war da ein Taubheitsgefühl im Unterleib. Seine Beine konnte er aber noch bewegen. Er war nicht gelähmt.

"Das glaubst du aber, dass ich Millie mitbekommen lasse, wie du sie aus einer ganz gemeinen Benebeltheit heraus betrügst. Sie meinte sowas, dass du gerade so gestimmt seist, dass du gleich mit der nächsten willigen Frau in die Büsche oder ins Bett springen würdest. Da habe ich über den Herzanhänger einen Ortungszauber gemacht, um zu merken, wo du runterkommst. Millie hat sogar noch versucht, dich anzumentiloquieren. Aber offenbar war dein Gehirn da leider schon mit anderen Sachen beschäftigt."

"Verdammt, ich hab's doch gemerkt. Aber das war doch zu stark, um das wieder wegzudenken", grummelte Sandrine. Julius hätte jetzt gedacht, dass sie erröten würde. Doch sie sah nur verdrossen drein.

"Öhm, du hast keine Kopfblase. Hast du keine Angst, du könntest gleich rasiermesserscharf auf mich werden?" fragte Julius, als ihm auffiel, wie gefasst, ja in sich ruhend Béatrice sie beide ansah.

"Als Millie mir sagte, was los war und ich auch schon merkte, dass ich einen gewissen Hunger bekam und mir ein wenig schwindelig wurde habe ich den Contramorosus-Trank geschluckt, den ich seit der Sauerei auf Martinique immer bei mir habe, wenn ich doch mal so einen Cocktail abbekommen sollte. Der wirkt ähnlich wie der Devoluptus, nur nicht so drastisch."

"Ich fühle meinen Unterleib gerade nicht. Ist so, als wäre da nichts", sagte Sandrine und berührte sich ohne Scham im Schritt. "Hallo, bleibt das jetzt so?"

"Madame Pflegehelferin, das solltest du aber mal gelernt haben", erwiderte Béatrice streng.

"Das hat mir Monsieur Delourdes nicht erklärt, weil der mit mir nicht über zu intime Sachen und welche Zauber es gibt reden wollte. ich habe da erst was drüber gelernt, als Constance Dornier mit Cythera schwanger war."

"Monsieur Pflegehelfer, da Sie bei meiner geschätzten Kollegin Matine unterwiesen wurden gehe ich davon aus, dass diese Sie in der Hinsicht besser aufgeklärt hat", sagte Béatrice. Julius nickte und sagte nur: "je nach Stärke des Zauberkundigen und Grad der ungewünschten Begierde zwischen vier Stunden und einem ganzen Tag. Oha, einen Tag lang nicht merken, was da unten abgeht. Öhm, hmm, ich glaube, wir zwei müssen große Windeln anziehen, sonst bemachen wir uns noch, Sandrine."

"Was? Och nöh! Echt?" Béatrice nickte. Da ploppte es neben ihr und Hera Matine stand da. "Oh, du hast hier zu tun gehabt, Béatrice. Irgendwer der mit V anfängt hat offenbar den Schlag des jungen Jahrtausends gelandet. Die Patientinnen von mir beklagen sich, dass ihre Ungeborenen immer schwerer werden und meinten, die gleich verlieren zu müssen. Dann habe ich es gefühlt, dass ich Lust auf ein Beilager bekam und habe die fremdartige Essenz in der Luft gerochen. Ich konnte da gerade noch den Contramorosus-Trank einnehmen, um nicht in einer lange zurückliegenden Leidenschaft zu verfallen. Und ihr zwei, hat es euch fast erwischt?" Sandrine und Julius nickten nur, empfanden aber immer noch keine richtige Scham. "Ich bringe dich nach Hause, Sandrine und sehe gleich bei deinen Eltern vorbei, ob die noch wach und wenn ja ob noch einigermaßen bei klarem Verstand sind. Du nimmst deinen Schützling bitte wieder mit ins Apfelhaus, wo deine Patientin sicher wartet!" Sie deutete auf Béatrice und Julius.

"Das machen wir doch ganz gerne. Komm her zu mir, Julius! Keine Sorge, ich habe keinen Hunger auf dich, und mein kleiner Hexenkelch ist auch ganz friedlich", bemerkte Béatrice dazu und winkte Julius zu sich hin.

"Hömm-ömm", räusperte sich Hera. Béatrice sah sie an und fragte, ob es bei ihr etwa anders sei. Das verneinte Hera Matine entschieden. Dann schwang sie sich auf den Besen, winkte Sandrine, sich hinter den Zwillingskindersitz aufzusetzen und startete mit ihr unverzüglich.

Seit an seit reapparierten Julius und Béatrice vor dem Apfelhaus bereits im magischen Apfelbaumpentagon. Millie erwartete die beiden in der Wohnküche im dritten Stockwerk.

"Wie, jemand hat was in die Luft geblasen, das so reinhaut wie das, was Gérard und Sandrine erwischt hat oder Belle-Maman Martha und Lucky? Ja, sind die denn jetzt total irrsinnig geworden?" schimpfte Millie und hielt sich den Unterbauch. "Meine Gebärmutter scheint immer schwerer zu werden, Tante Trice. Ich hoffe, die Kleine fällt mir nicht doch noch gleich hier und jetzt raus."

"Eine nebenwirkung dieses Aerosols, Millie", vermutete Julius. "Das ist ein klarer Verstoß gegen die Genfer Konvention und gegen die internationale Ächtung von Chemiwaffen, was wer auch immer da auf uns abgefeuert hat. Ich hätte Sandrine ja fast durch die Klamotten genommen, verdammt noch mal. Das ist doch total gemein", sprudelte es aus Julius heraus.

Béatrice sprach auf Millies Bauch den Uterocalmus-Zauber. Danach ging es ihr gleich wieder besser. Sie fühlte zwar noch Clarimondes Bewegungen, aber nicht mehr so, als müsse sie jeden Moment aus ihr hinausfallen.

"Wenn du es echt mit Sandrine gemacht hättest, Burschi ..." setzte Millie an. Julius wartete bange drei Sekunden darauf, was sie noch sagen wollte. Dann sagte sie: "Dann hätten wir ihr hier im Apfelhaus ein Zimmer zuweisen müssen, damit wir zwei süßen auch ja alles mitkriegen, wenn du ihr was Kleines zugesteckt hättest. Und wenn das wirklich eine erweiterte Drachensch...", Béatrice räusperte sich sehr laut. "Eine bodenlose Gemeinheit. Am Ende hättest du Sandrine drei oder vier auf einmal zu tragen gegeben, wo die mit zweien schon genug zu tun hatte und immer noch hat. Öhm, die zwei von ihr, haben die sich nicht gewundert?" fragte Millie. "Die haben selig geschlummert, als wenn sie nicht auf einem Besen, sondern in der Wiege gelegen hätten. Hast deinen Mann gut ausgebildet im Kleine-Kinder-Fliegen", erwiderte Béatrice Latierre und zwinkerte Julius zu, der sich wiederholt zwischen die Beine griff. "Was da sein soll ist noch dran, Julius", sagte Béatrice dazu. Millie grinste und prüfte selbst nach, ob das auch stimmte. Julius zuckte nicht mal, obwohl er sah, wie ihre Hand dahin glitt, wo eine Dame einen Mann nur in besonderen und ganz privaten Momenten berühren durfte.

"Öhm, Devoluptus, Tante Trice?" Die gefragte nickte bestätigend. "Oha, dann merkst du wohl nicht mal, wenn du auf's Klo musst, Monju", fiel es Millie ein.

"Gutes Stichwort. Mal sehen ..." sagte Béatrice und zog ihre Winztasche mit Rauminhaltsvergrößerungszauber hervor. Sie tastete konzentriert hinein und zog dann ein weißes Paket hervor. "Okay, Julius, ich habe dir das aufgeladen, dann bring ich's auch zu Ende. Hosen Runter, Beine auseinander!" Julius verzog kurz das Gesicht. Doch dann sah er ein, dass es die weniger peinliche Alternative war. Außerdem hatte Trice sehr viel Übung und schaffte es mit schnellen, abgestimmten Handgriffen, ihn für mindestens einen Tag vor peinlichen Erlebnissen zu bewahren. "Sollte es länger dauern macht es auch nichts. Diese Version hält vier Tage durch. Habe ich meiner Mutter auch mal verpasst, weil die nicht hören wollte, als meine vier ganz kleinen Geschwister unterwegs waren. Seitdem hört die wesentlich besser auf ihre selbstgeborene Heilerin", sagte Béatrice. "So, und am besten gleich ins Bett!"

"Öhm, Rorie und Chrysie?" wollte Julius wissen.

"Schlafen wortwörtlich wie die Babys", erwiderte Millie. "Was immer Erwachsene rattendoll macht ist für kleine Kinder offenbar ein Schlummertrunk, nur nicht für Ungeborene. Aber das liegt wohl daran, dass bei mir und wohl auch anderen Schwangeren der Körper mit sich selbst kämpft, was nun ansteht."

"Ich gehe noch einmal raus und ziehe Luftproben und auch Wasser aus der Regentonne. Vielleicht kriege ich raus, was für eine Mixtur dieses, wie nanntest du es, Julius?"

"A-e-ro-sol", erwiderte Julius. Dann ritt ihn der Frechheitswichtel und er fragte: "Kennen die Heiler dieses Wort für eine in der Luft gelöste Mischung aus Flüssigkeiten oder Staubpartikeln nicht?"

"Ätherische Essenz, Monsieur Pflegehelfer. Dürfte aber dem entsprechen, was du meinst", sagte Béatrice.

"Gekauft und verbucht", sagte Julius darauf. Mit seiner Schwiegertante konnte er sich immer irgendwie käbbeln und gleich wieder scherzen, aber auch ganz ernste Gespräche führen.

Gut verpackt in der ihm umgelegten 4-Tage-Windel lag Julius nun neben seiner Frau im Bett und wusste nicht, ob er sich ankuscheln oder besser von ihr wegbleiben sollte. Beinahe hätte er sie betrogen, nicht absichtlich, aber immerhin bei vollem Bewusstsein. Das musste er mal wieder verdauen. Er hatte eigentlich gedacht, nach der Sache mit Camille in ihrem Elternhaus sowas besser von sich wegdrängen zu können. Wenn wirklich jemand mit V am Anfang diese Gemeinheit losgelassen hatte bekamen die demnächst noch Ärger, schwor er sich.

_________

Die zwanzig Gestalten standen in gleichen Abständen um die vor ihnen dunkel und bedrohlich wabernde Begrenzungskuppel herum. Sie prüften jeder für sich, ob der mitgebrachte große Tank die schnell verdampfende Flüssigkeit restlos ausgeströmt hatte. Sie trugen ihre übliche Außeneinsatzuniform. Allerdings trugen sie darunter noch eine leichte Abwandlung jener Ganzkörperanzüge, die Florymont Dusoleil erfunden hatte. Denn was da aus den bei Mondschein silbernen Tanks mit den grinsenden Babygesichtern drauf verströmte wirkte nicht nur über die Atemwege, sondern durchdrang auch die Haut und ging direkt ins Blut. "Mit allerfreundlichsten Grüßen an Marion Zimmer Bradley", spottete einer der zwanzig mit der für die Verkleidung passenden Kleinjungenstimme. Körperlich sah der jedoch aus wie ein Baby, dass nach zehn Jahren Tragzeit geboren worden war.

"Die Hexe kenne ich nicht, Scherzkeks. War die eine von uns?" fragte ein anderer der Zwanzig über den ihnen eigenen Vocamicus-Zauber.

"Nein, die war eine Schriftstellerin der Muggel. Ist vor fast vier Jahren gestorben. Die schrieb Geschichten, die in anderen Welten spielen. Auf einem von ihr erwähnten Planeten kam mit dem Frühlingswind immer eine besondere Mischung, die Menschen richtig angeheizt und alle Hemmungen wortwörtlich verblasen hat. Da musste ich dran denken, als unser neuer Freudenzauber fertig war."

"Ich dachte, die Mixtur heißt "Flügel des Regenbogenvogels", wunderte sich einer der zwanzig nächtlichen Belagerer von Millemerveilles. Der etwas kleiner geratene Mitstreiter grinste und erwiderte: "Stimmt. Wer könnte schon was mit "Wind von Darkover" anfangen. Den bunten Vogel kennen sie bei uns ja dann doch alle. Also, wenn wir Millemerveilles damit richtig in Schwung bringen können wir das Zeug auch bei jeder Zaubererweltparty loslassen."

"Bis sie einen von uns dabei erwischen, wie er oder sie das Gebräu in die Luft ablässt."

"Falls die dann an was anderes denken, als mit dem nächsten nicht-blutsverwandten empfängnis- oder zeugungsfähigen Menschen mit Magie im Blut das Lager zu teilen. Könnten wir glatt bei Halloween anbringen, wo die Yankees uns trotz Friedensvertrag immer noch wegen angeblicher Mehrkosten verklagen möchten", sagte der kleinste der zwanzig.

"Yankees, die sicher. Die aus meiner Heimat würden uns am liebsten kastrieren und dann zum Trokcnen in die Sonne hängen", grummelte einer mit unverkennbar texanischem Akzent. Das trieb den Kleinsten von ihnen zu einem lauten "Jiiiiiiiihaah!!!"

"Ich glaube, ich lass das mit dem Noch mal groß werden, wenn ich dabei auch wieder so kleinkindmäßig drauf bin", knurrte der texanische Mitstreiter.

"Also, Knaben und Männer, wie lange hält unsere Gabe eigentlich bei der Größe des Ortes in der Verdünnung?" wollte jemand mit einer Kleinmädchenstimme wissen.

"Bei der Menge, die in jedem Tank mit Rauminhaltsvergrößerung und zehn Atmosphären Überdruck enthalten war und bei der gerade herrschenden Windschwäche ... drei bis vier Tage, vielleicht sogar fünf. Das Zeug ist absichtlich ein Hundertstel schwerer als Luft", erwähnte der körperlich kleinste der Gruppe.

"Und die können dann nur ... Kriegen die keinen Hunger und Durst?" fragte die mit der Kleinmädchenstimme.

"Hmm, wir sollten das Zeugs so früh wie möglich bei denen rausblasen. Langzeitstudien wurden nicht gefordert", rechtfertigte der Kleinste der zwanzig. Dann sagte er noch: "Aber nach dem Zwei-Tage-Test der hier und heute losgeschickten Endversion steht fest, dass die Probanden zwischendurch schlafen und dann ohne Hunger und durst wieder zur Sache kommen. Das ist die zwanzigfache Dröhnung unserer Karrussellmischung."

"Ihr seid voll lustig. Die sollen sich vermehren und nicht tot... - lieben", sagte die mit der Kleinmädchenstimme. "Abgesehen davon, was ist mit deren schon geborenen Kindern?"

"Nachts schlafen die tief und fest und unaufweckbar. Tagsüber dämmern die dann wohl dahin. Da aber gerade unter der Kuppel keine Sonne zu sehen ist ... werden die Kinder zumindest weiterschlafen."

"Okay, das soll der Rat klären. Und wehe, da drinnen sterben welche wegen unserer Nachtparty, dann kriegen wir aber wohl alle neue Namen, auch du, kleiner Wichtelschlucker."

"Die krepieren nicht. Das Zeug macht, dass die das Wasser aus der Luft wie getrunken verwerten und die Wirkstoffe geben beim langsamen Zerfall genug Nährstoffe ab, damit die nicht verhungern, weder die Großen noch die Kleinen. Aber wenn unsere Gabe nachlässt kommen die wieder auf normale Gedanken."

"Ja, und dann sollten wir spätestens einen Ozean zwischen denen und uns haben", unkte einer der Zwanzig. Dann sagte der Texaner: "Okay, Lady und Gents, mein Tank ist jetzt ganz leergelaufen. Was immer jetzt da hinter der nachtschwarzen Glocke läutet, wir sollten gleich weiterziehen."

"Wer seinen Tank schon leergekriegt hat kann den Heimatschlüssel nutzen", sagte die mit der Kleinmädchenstimme. Es war nicht Mater Vicesima. Denn diese wollte nicht mit dickem Umstandsbauch bei einer vielleicht gefährlichen Aktion dabei sein.

Als jeder der zwanzig den verbotenen Inhalt des mitgebrachten Tanks in die Luft entlassen hatteverschwanden sie in grünen Lichtspiralen.

__________

Millemerveilles, 11. Juni 2003

"Ich spüre immer noch nichts von meinem Unterleib", maulte Julius. Millie meinte, sie könne ihm ja ihren abgeben, dann wüsste er, wie gut er es hätte. Er meinte dann, dass sie das niemals machen würde. Das bestätigte sie sofort.

"Diese Biester haben doch allen Ernstes eine Mixtur entwickelt, die durch die Haut eindringen kann und im Blut die aphrodisierende Kraft freisetzt. Außerdem scheint das Gebräu mit dem natürlichen Schlafanreger im Körper verbunden zu sein. Je stärker der ins Blut strömt, desto mehr Lust bekommt der betroffene Erwachsene. Ja, und Kinder schlafen so tief, dass sie nur das Sonnenlicht wieder aufwecken kann", sagte Béatrice nach dem Frühstück, als feststand, dass Aurore und Chrysope immer noch tief und ruhig schliefen. Béatrice hatte den beiden vorsorglich Wochenwindeln umgelegt, falls sie im Schlaf Wasser lassen mussten. Julius sollte, wenn er wieder ein Gefühl im Unterleib hatte, auf jeden Fall eine Dosis Contramorosus-Trank einnehmen, um nicht noch mal in eine unbeherrschbare Lust zu geraten.

"Ich gehe davon aus, dass Aurore und Chrysope noch zwei stunden mindestens schlafen. Ob sie durch künstliches Licht wach werden prüfen wir dann gerne. Aber erst möchte ich mir ansehen, wie es im restlichen Dorf zugeht. Ich möchte, dass du mich begleitest, Julius. Millie, du passt bitte auf dich und die zwei Dornröschen auf."

"Wenn die zwei Dornröschen sind, wer bist du dann, die Fee Nummer dreizehn?" fragte Julius verwegen.

"Neh, die Dornenhecke, Julius. Kommst du?" Julius nickte und folgte seiner Schwiegertante. Da er Pflegehelfer war musste er einer eindeutigen Heileraufforderung folgen.

"Na klar, und ich bin das ganze Königsschloss, in dem noch wer feiern möchte, bevor der Ernst des Lebens los geht", grummelte Millie und winkte ihren beiden erwachsenen Mitbewohnern nach. Sie würde sich schon mal Notizen für ihre Reportage machen und hoffte, dass die nächsten Stunden von ihr ausgewertet werden durften.

Auf ihrer Rundreise durch Millemerveilles zog Béatrice zusammen mit Julius weitere Luftproben. Im Moment empfand er die berauschende Beimischung als pappsüß und nicht mehr so anregend wie in der Nacht, auch wenn der Himmel über ihnen immer noch fast schwarz war. Julius mentiloquierte mit Hera Matine. Die war mit Hilfe von Wachhaltetrank schon einmal herumgeflogen und hatte in jedem Haus mit Ehepaar eindeutige Handlungen gesehen. Bei einem älteren Paar hatte sie den Devoluptus-Zauber benutzt, nur um zu erleben, dass der Mann und die Frau danach ohnmächtig waren und sie den beiden erst mit Kreislaufanregungszaubern und -tränken wieder aufhelfen musste. Da sie von den betreffenden Tränken gerade nur wenig vorrätig hatte hatte sie beschlossen, die anderen Paare gewähren zu lassen. Dass die Kinder dort eingeschlafen waren, wo sie bei Beginn der alchemistischen Attacke gesessen oder gelegen hatten empfand die Hebammenhexe als einerseits bedenklich, andererseits zumindest in der Hinsicht beruhigend, dass die Kinder nicht unbeaufsichtigt im Dorf herumirren konnten.

Als Béatrice und Julius in der Nähe von Blanche Faucons Haus waren hörten sie aus dem Nachbarhaus die unzweideutigen Geräusche wilder Liebe. Béatrice versuchte, durch die geschlossenen Fensterläden zu sehen, konnte aber nur sich rhythmisch bewegende Schatten an der das Laternenlicht wiederscheinenden Wand sehen. Julius lauschte und hörte zumindest Antoine Castellos Stimme heraus. Wer die Dame bei ihm war wusste er im Moment nicht. Es war aber kein junges Mädchen. Als sie dann am Haus von Louiselle Fontchamp vorbeikamen wusste er, mit wem Castello das Lager teilte. Denn die Tür zum Haus stand weit offen, und der Menschenfinder von Béatrice zeigte nur sie beide im Umkreis von hundert Metern.

"Ui, ich glaube, Vita Magica sollte ein Raumschiff zum Alpha-Centauri bauen und mit allen Bundesgenossen darin losfliegen. Wenn Louiselle Fontchamp von diesem Zeug wieder runter ist und merkt, wer ihren sehr wohlerzogenen Verstand ausgeknipst hat wird sie sicher sehr ungehalten sein", sagte Julius.

"Wenn das wirklich von dieser Bande stammt, was hier wirkt und nicht von Sardonia ... Öhm, die Kuppel!" Julius sah nach obenund sah die vielen violetten Blitze, die über die Kuppel zuckten. Jetzt, wo seit drei Stunden die Sonne am Himmel stand, schien die Kuppel wieder schwächer zu werden. Diese Reaktion kannte er nämlich von der Walpurgisnachtfeier, auch wenn es da um ein vielfaches gesitteter zugegangen war als jetzt. "Die ganzen Liebeswonnen entladen die dunkle Kraft, Tante Trice. Womöglich hat VM genau das beabsichtigt, weil wir ja über Millie mitgeteilt haben, dass wir unsere Lebensfreude aufrechterhalten wollen. Das haben die als inoffizielle Aufforderung verstanden, da kräftig dran zu kurbeln."

"Haben die wohl. Bei der Gelegenheit haben sie dann wohl eine hochkonzentrierte Abwandlung jenes Aphrodisiakums ausprobiert, mit dem Gérard Dumas und Eileithyias Enkelsohn es in deren Parungskarussell zu tun bekamen. Die Frage ist nur, wie lange die uns zugedachte Menge vorhält."

"Sie ist auf jeden Fall etwas schwerer als Luft, damit sie nicht nach oben entweichen kann. Da die Kuppel auch ein Windfang geworden zu sein scheint verweht das Zeug auch nicht so locker", sagte Julius. Béatrice wollte wissen, wie er darauf kam, dass die Kuppel den Wind abhielt. "Außerhalb der Kuppel sind es schon bald zwanzig Grad mehr als darunter. Die dichtere, schwerere, kältere Luft müsste also nach außen abfließen, weil die Warme Luft außen nach oben steigt. Dann würde hier ein Tiefdruckgebiet entstehen, was wiederrum dazu führt, dass nicht mehr so warme Luft von oben zu uns hineingesaugt wird, also immer ein starker Wind weht oder wir immer weniger Luft zum Atmen haben. Wir leben aber schon seit Wochen unter dieser finsteren Kuppel, nur mit genug Licht und Nahrungsergänzungsstoffen auskommend."

"Da hast du wohl recht, Julius. Stimmt, seitdem die Kuppel für jeden undurchlässig ist, bis auf unmagische tote Gegenstände, hätten wir hier schon wegen der unterschiedlichen Temperaturen einen wilden Sturm haben oder im immer größeren Vakuum ersticken müssen." Als wenn sie damit ein Stich- oder Zauberwort genannt hätte ffühlten sie, wie eine kurze Windböe sie erfasste, nicht zu stark, dass der Besen das hätte ausgleichen müssen, aber spürbar. "Das spricht dafür, dass die Kuppel durchlässiger wird", vermutete Julius und sah noch einmal nach oben. Wieder schossen violette Blitze vom Scheitelpunkt zum Horizont, jedoch ohne Donnergrollen.

"Am Ende entlädt der Sexrausch die Kuppel komplett", sagte Julius.

"Hoffen wir mal besser, dass uns dieser Sexrausch nicht übergangslos erwischt und ich dann Millies Cousins und Cousinen von dir austragen darf."

"Darf?" fragte Julius verwundert.

"Ich denke mal, dass meine Frau Mutter deiner Ehefrau, ihrer Enkeltochter, eindeutig klarmachen würde, dass es besser sei, wenn ich deine Kinder bekäme, sobald dieser Liebesrausch uns echt überfallen sollte, statt dass du mit Sandrine, ihrer Mutter oder meiner geschätzten Kollegin Hera Matine Nachwuchs hervorbringst." Julius wusste erst nicht, was er dazu sagen sollte. Dann sagte er: "Was hat Millie gestern gesagt, dann müssten wir Sandrine ein Zimmer zuweisen, damit wir, also Millie und ich, auch alles mitbekämen, was Sandrine und wer auch immer dann dazugekommen wäre so erleben."

"Ja, und ihr habt trotz zwei und einem dreiviertelkind noch genug Platz übrig", erwiderte Béatrice. Julius wollte da besser erst mal nichts zu sagen. Denn die Vorstellung, neben Millie noch eine andere Hexe zur Mutter seiner Kinder zu machen konnte er nicht einordnen. Das lag vielleicht an dem noch immer wirkenden Devoluptus-Zauber.

Als die beiden bei Camille und Florymont vorbeiflogen schienen die beiden gerade zu schlafen. Als Julius dann zusammen mit Béatrice vor dem Haus landete klappte weiter oben ein Fenster auf und Camille sah sie sehr zerzaust aber auch irgendwie sehr glücklich an. "Oh, hat es euch auch erwischt, ihr zwei? Hoffentlich gibt das keinen Ärger mit Millie."

"Öhm, nein, Béatrice konnte mich noch gerade so von Sandrine wegreißen und mir den Devoluptus-Zauber auferlegen. Aber dich scheint die Nacht sehr verwöhntzu haben!" Rief Julius nach oben. "Ja, mich und Florymont, bis wir nebeneinander eingeschlafen sind. Als ich wieder wach wurde schlief er noch. Uranie ist seit zehn Stunden nicht im Haus. Ich fürchte, was uns auch immer heimgesucht hat könnte sie auch zu irgendwem getrieben haben."

"Wo wollte sie denn hin? Und vor allem, wieso bist du im Moment ganz ruhig, wo wir bisher nur wilde Liebesakte mitbekommen haben?" fragte Julius.

"Na ja, ich merke noch, dass ich jemanden ganz doll liebhaben möchte, Julius. Aber weil mein Mann noch schläft kann ich das wohl noch unterdrücken. Jedenfalls hilft mein Silberstern mir nicht dagegen."

"Weil es ein rein alchemistischer Angriff ist, Camille. Ich kann dir und Florymont Contramorosus-Trank geben, wenn er wieder aufwacht."

"Stimmt, wir brauchen Leute, die das erforschen. Aber er ist kein Alchemist."

"Ja, aber die Kuppel über uns blitzt und scheint auch ein wenig Lichtdurchlässiger geworden zu sein. Wäre günstig, wenn jemand das mal mit thaumaturgischen Messgeräten nachprüft", sagte Julius. Camille nickte und hielt ihren Silberstern nach oben. "Stimmt, irgendwas verändert die Kuppel. Ob das echt diese aufgezwungene Liebeslust ist?"

"Tja, genau deshalb brauchen wir das amtlich", sagte Béatrice. "Dann bring mir bitte was von deinem Lusthemmungstrank hoch. Julius, du bleibst bitte unten. Nicht dass ich dich als Pausenfrühstück vernasche", sagte Camille. Julius nickte. Offenbar war Camille zum Schulmädchen verjüngt worden, dass sie noch lockerer und mädchenhafter sprach als sonst.

Nachdem Béatrice wieder aus dem Dusoleil-Haus kam empfing Julius eine Gedankenbotschaft von Hera Matine.

"Ich habe gerade den jungen Quidditchspieler Bernard Fontchamp mit Florymonts Schwester ertappt. Allerdings sind die derartig berauscht, dass sie mich nicht zur Kenntnis nehmen. Außerdem scheint die Essenz zusätzliche Kräfte zu verleihen. Ich musste aufpassen, dass ich nicht zwischen die beiden geriet. Falls Camille und Florymont auch nicht ansprechbar sein sollten teile ihnen das bitte auch nicht mit. Das möchte ich dann tun oder es Uranie überlassen."

"Camille ist gerade wach und ansprechbar. Sie hat von Béatrice den Contramorosus-Trank erhalten, damit Florymont die Kuppel überprüfen kann."

"Gut, dann bin ich gleich bei euch. Ich kriege die zwei gerade sowieso nicht getrennt. Die schütteln selbst kaltes Wasser ab, und ich möchte bei Uranie keine abrupte Bewusstlosigkeit riskieren. Im Zweifelsfall muss ich eben die blaue Lösung ausgeben, solange meine Vorräte reichen."

"Was ist los, Julius?" fragte Béatrice. Er nickte ihr zu und mentiloquierte: "Uranie und Bernard Fontchamp haben sich gefunden. Bitte erst mal kein Wort zu Camille, weil Hera das ihnen mitteilen möchte.""

"Dann sei froh, dass du und Sandrine nicht auch zu den Glücklichen gehört. Apropos, Hera möchte sie bitte besuchen und gegebenenfalls mitnehmen, damit sie unter Heileraufsicht ist." Julius gab es an Hera weiter.

Nach der Rundreise wussten die Heiler und Pflegehelfer, dass es mehrere außereheliche Paare gab und die Kinder unter sieben Jahren tief und fest schliefen. Die Kinder über sieben Jahren wirkten so, als hätten sie einen langen Dauerlauf hinter sich gebracht. Auch wussten sie von Hera, dass die als Elsternfußler benannten, und sich selbst die Erwachten nennenden Goldblütenhonigskeptiker ebenfalls Partnerinnen gesucht und gefunden hatten. Wer da mit wem wollte Hera nicht verraten, weil es keinen von Julius' Verwandten betraf. Jeanne hatte Bruno wohl noch rechtzeitig den Devoluptus-Zauber übergebraaten, weil sie in der Wochenbettphase zwar schon gewisse Gefühle fühlte, aber auch Schmerzen im Unterleib, als wenn sie noch einmal gebären müsse. Erst als sie sich eine Wochenwindel und einen Duotectus-Anzug übergezogen hatte sei es ihr wieder besser gegangen. Deshalb hatten auch Florymont und Camille solche Anzüge angelegt, Camille, weil sie als Heilssternträgerin bereit sein wollte, wenn Hugette unter Sardonias Einfluss die Gunst der Stunde ausnutzen würde und Florymont, weil er so in Ruhe die Entladungen der Kuppel messen und auswerten konnte. Da Julius Pflegehelfer war verdonnerte ihn Béatrice dazu, ebenfalls in einem Duotectus-Anzug zu Florymont zu gehen und parallel zu dessen Messungen weitere Luft- und Wasserproben zu ziehen.

Über dem Zentralteich entluden sich die meisten violetten Blitze. Florymonts tragbare Maledictometer und Incantimeter drohten dabei zu zerspringen. Jedenfalls trieben an der Oberfläche Eisklumpen. Julius erkannte jedoch, dass es tote Fische waren, die von der unheilvollen Kraft schockgefroren worden sein mussten. Also konnte in dem Teich im Moment nichts anderes leben, und selbst dort einzutauchen war im Moment tödlich gefährlich. Julius konnte mit einem Experiment mit einem freischwebenden Reagenzglas voll Süßwasser nachweisen, dass jeder Blitz die Wassertemperatur für eine Sekunde auf weit unter null Celsius absenkte.

Was Julius einerseits eine gewisse Schadenfreude bereitete, ihn aber dann sehr betrübte war, dass Jeannes Schwiegermutter Célestine Albertine Chevallier offenbar auch einen Mann für den wilden Liebesrausch gefunden hatte. Bruno hatte es herausgefunden, als er aus Sorge um seine Mutter das Elternhaus besucht hatte und da seine Mutter in wohliger Anstrengung hatte keuchen und stöhnen hören konnte. Allerdings sei er nicht ins Schlafzimmer hineingelangt, weil seine Mutter wohl den Kinderaussperrzauber davor gemacht hatte, mit dem sie und ihr Mann wohl Bruno immer wieder daran gehindert hatten, sie beim ehelichen Liebesspiel zu stören. Er konnte nicht einmal in das Schlafzimmer hineinapparieren, um den ungewollten Ehebruch zu beenden. Bruno konnte aus den Geräuschen hören, dass niemand anderes als sein Klassen-, Schulhaus- und Quidditchkamerad César Rocher der zweifelhaft glückliche war. klopfen und Rufen hatten die zwei nicht von ihrem Tun abbringen können. Weil der Eindringlingsschutzzauber jeden Fremdapparator zwanzig Meter vor der Haustür ankommen ließ konnte auch Hera Matine nicht dazwischengehen. "Sag's Millie bitte nicht, solange ihr das nicht von Bruno oder dessen Eltern irgendwie gesagt wird, Julius!" bat Jeanne ihn mentiloquistisch um Verschwiegenheit. Er bestätigte das. Hoffentlich blieb es bei César und Célestine nur beim ungewollten Beischlaf.

"Im Bett behältst du den Anzug nicht an, Monju. Die dicke Windel reicht sicher schon als zusätzliche Nachtwäsche", sagte Millie am Abend, als Julius nicht wusste, ob er es wagen konnte, aus dem magischen Schutzanzug zu schlüpfen. Er bekam zur Nacht eine für acht Stunden ausreichende Dosis Contramorosus-Trank. Unter dessen Einfluss schlief Julius genauso tief und fest wie seine beiden geborenen Töchter.

__________

Als sie fühlte, dass irgendwas mit ihr passierte flüchtete sie sofort in den Zentralteich von Millemerveilles und nahm ihre Fischgestalt an. Dann schlugen die Entladungsblitze ein und kühlten das Wasser ab. Wo sie die unter der Oberfläche schwimmenden Fische trafen gefroren diese augenblicklich. Deshalb wechselte Sardonia/Hugette unverzüglich in die Kammer des Steins der stetigen Fruchtbarkeit. Hier konnte sie als Frau frei atmen, und der sie vorhin fast überwältigende Drang, mit einem Mann das Lager zu teilen, kam hier nicht noch einmal auf. Sie fragte sich, was das überhaupt war. Dann fiel ihr aus Hugettes Erinnerungen ein, dass es diese Organisation Vita Magica gab, die dafür berüchtigt war, erwachsene Hexen und Zauberer mit Zaubern und alchemistischen Mitteln zur Fortpflanzung zu treiben, um die Zahl magischer Menschen nach oben zu treiben. Wenn diese Verächter der körperlichen Selbstbestimmung einer Hexe Millemerveilles wahrhaftig mit einer solchen Mixtur verseucht hatten hieß das, dass die dunkle Kraft, die sich aus Leid und Tod speiste, durch die aufgeschaukelten Liebeswonnen wieder nachließ. Sie wog alle dafür und dagegen sprechenden Auswirkungen ab und kam zu dem Schluss, dass sie nicht zulassen durfte, dass die dunkle Kraft die Kuppel restlos verließ und diese dadurch womöglich zusammenbrach. Denn genauso sah es nun aus, als die Entladungen in den Zentralteich eingeschlagen waren.

Sie wollte unbedingt neue Helfer haben, um die ihr weggenommenen Helferinnen wiederzubekommen. Hierzu musste sie zu einem Mittel greifen, dass sie für den Fall eines Großangriffes auf ihre Festung Millemerveilles vorbereitet hatte, die Mobilmachung der geopferten Seelen. Doch um dies zu machen mussten die in den Quellsteinen fließenden Kräfte wieder eine gewisse Gleichmäßigkeit haben, sonst konnte es ihr passieren, dass die von ihr aus diesen hervorgerufenen Seelen aus ihrer Kontrolle entkamen und den ihnen seit mehr als dreihundert Jahren verwehrten Übertritt in die Nachtodwelt zu vollziehen. Das würde die Kraftquellen noch mehr schwächen als die durch die vertückte Mixtur ausgelöste Massenwollust. Doch wie lange würde dieser Sturm der erzwungenen Leidenschaften toben? Wenn es mehr als eine Mondphase dauerte konnte ihr die Macht über die Quellsteine auch durch die ständig auflodernden Liebeswonnen entgleiten. Also was sollte sie und musste sie tun?

Wieder erschütterte den Stein der stetigen Fruchtbarkeit eine Woge aus Lebenslust. Dieser Stein war besonders gut für die bei Liebesakten freiwerdenden Kräfte empfänglich, wie das Ohr eines Musikers für eine schöne Melodie. Sie sah Gesichter von Hexen in höchster Wonne und vermeinte sogar die Lustschreie von Hexen zu hören. Sie ärgerte sich, dass sie nicht schon vor Wochen die Verschmelzung mit diesem Körper erzwungen hatte. Falls diese Schurken von Vita Magica nun ihr Unwesen da oben weitertrieben konnte sie sich gleich den Dolch an die Kehle setzen und ihre in Hugettes Leib eingefahrene Seele an die drei Quellsteine und den Dolch zurückgeben. Doch wer würde es dann noch einmal wagen, ihre Kraft zu wecken. Würden die Quellsteine nicht unter der Entkräftung der Kuppel selbst vergehen? Nein, sie durfte sich nicht entleiben. Sie musste warten, Sie apportierte schnell Vorräte aus dem Schankhaus von Millemerveilles, um zumindest eine volle Woche zu überstehen. Danach würde sie wissen, wie sie vorgehen sollte.

__________

Aus Mildrid Ursulines Reportage "Unter der Dämmerkuppel"

13. Juni 2003

Dieser von den Verbrechern von Vita Magica ausgelöste Liebesrausch hat die Kuppel derartig durcheinandergebracht, dass die Digekas seit dem 11. Juni nicht mehr gehen. Deshalb schreibe ich diese Fortsetzung in der Hoffnung, dass ich sie irgendwann als eine Art für alle lesbares Tagebuch weitergeben kann.

Der von Florymont Dusoleil erfundene Leviportgürtel ist mit Gold nicht aufzuwiegen. Er hilft mir, trotz der von dieser tückischen Essenz beschwerten Gebärmutter, ohne Atemnot und Angst vor einer vorzeitigen Geburt die Tage durchzustehen. Mein Mann ist mit den Heilern und den Eheleuten Camille und Florymont Dusoleil ständig unterwegs. Sie haben Vorkehrungen getroffen, dass sie der künstliche Liebesrausch nicht noch einmal trifft. Auch wenn ich im Moment keine Möglichkeit habe, den Bericht nach draußen zu schicken möchte ich nicht genau sagen, wie sie das machen. Aber es geht. Hera Matine hat allen anderen Schwangeren Leviportgürtel gegeben, ihnen aber befohlen, im Entbindungshaus zu bleiben, da dies gegen dunkle Zauber abgesichert sei. Sie fürchtet, das Sardonias Helferin die Gunst der Stunde nutzen könnte, um weitere Angriffe auf die wehrlosen Leute durchzuführen. Deshalb wurden um die Häuser der im Liebesrausch gefangenen Erwachsenen erweiterte Schutzzauber eingerichtet, auch welche, die gezielt auf Sardonias Opferdolch abzielen. Welche das genau sind erwähne ich besser auch nicht, um nicht irgendwann irgendwelche Nachahmer drauf zu bringen, diese Zauber zu umgehen.

Die Heiler und gerade nicht schwangeren Pflegehelfer haben festgestellt, dass nicht nur wir Menschen von der hinterhältigen Essenz betroffen sind, sondern jede Säugetierart. Das mussten mein Mann und meine Hebamme herausfinden, als sie den Milchviehhof vonM. Augias Leblanc besuchten. Ihnen fiel nämlich ein, dass die dort gehaltenen Kühe nicht gemolken würden, solange die Erwachsenen im Fortpflanzungsrausch und die Kinder im Tiefschlaf liegen. Dabei haben sie die acht Bullen, die M. Leblanc hält, mit Devoluptus-Zaubern belegen müssen. Die Tiere sind dabei zwar ohnmächtig geworden. Aber dann konnten Julius und meine Hebamme die unter hohem Milchdruck stehenden Kühe anmelken und an die magicomechanischen Melkvorrichtungen hängen. Die Kühe suchten zwar immer wieder nach paarungswilligen Bullen, ließen es sich aber dann doch gefallen, von ihrer Milch erleichtert zu werden.

Julius meinte nach der erfolgreichen Melkaktion, bei der er auch gleich mehrere Fässer frischer Milch für die Kinder eingehandelt hatte, dass wir demnächst wohl auch viele neue Mäuse, Ratten, Kaninchen und Katzen in Millemerveilles begrüßen dürften. Die Kniesel im Dorf sind ja seit dem 10. Mai alle im Zaubertiefschlaf, sonst hätten unsere beiden Kniesel sicher auch "die Stimmung" ausgelebt.

Camille Dusoleil kam während des Ausfluges meines Mannes über die Viehhöfe zu mir und versorgte den Garten. Zwar ist durch die Kraftentladung der letzten Tage die Kuppel wieder eine Dämmerkuppel und keine Dunkelkuppel. Aber die Bäume sollen weiterhin gedeihen, wo sie eigentlich die Sonne nötig haben. Weil die Bienen jedoch im Moment nicht schwärmen werden wir aber wohl dieses Jahr keine Früchte ernten, sagt Camille Dusoleil. Bei den Gärten von Grandbois und anderen, die sich offen gegen das Tragen von Goldblütenhonigphiolen weigern, haben die ersten Bäume schon ihr Laub abgeworfen, weil deren innenleben die Dunkelheit als Wintereinbruch empfindet. Doch Grandbois und seine Mitstreiter haben auf ihr Hausrecht gepocht, demnach sie nur ihnen genehme Leute auf ihre Grundstücke lassen wollten. Deshalb wissen auch nur die Heiler, ob die Zauberer den uns alle betreffenden Fortpflanzungsrausch irgendwie von sich fernhalten können oder ihn genauso ausleben müssen wie alle anderen, die nicht rechtzeitig die wirksamen Mittel dagegen anwenden konnten.

Ich kann nicht zu lange nach oben sehen, weil die vielen violetten Blitze in der Kuppel und die Lichtblitze unserer hauseigenen Dunkelkraftabwehr ein irritierendes Lichterspiel am Himmel machen. Ich genieße jedoch, dass die vor drei Tagen noch aschgrau schimmernde Sonne wieder zu einer hellblauen Scheibe fünfmal so hell wie der Vollmond geworden ist und der Himmel nicht mehr schwarz, sondern dblau wie bei einer Abenddämmerung ist. Immerhin ist es draußen etwas windiger geworden. Florymont Dusoleil vermutet, dass durch die Abschwächung der dunklen Kraft die Luft wieder schneller ausgetauscht wird. Mein Mann hält das für sehr wahrscheinlich. Wir haben sogar schon darüber spekuliert, ob der Angriff von Vita Magica die dunkle Kraft restlos aus der Kuppel entfernt. Sollte das so sein, dann ist das aber kein Grund, diesen Leuten für ihren Angriff zu danken, sondern sie weiterhin wegen hochgradiger Beeinträchtigung der freien Lebensführung und unseres Gemeindefriedens abzulehnen. Vor allem, wenn ich mir vorstelle, wer da demnächst von wem alles Kinder bekommen wird dürften die Leute von Vita Magica, sofern sie wirklich hinter diesem Angriff stecken sollten, zu unerwünschten Personen erklärt werden, nicht nur in Millemerveilles.

So, ich höre mal hier auf. Ich melde mich dann, wenn es was neues erwähnenswertes gibt.

MUL

__________

Zaubereiministerium Frankreich, 14. Juni 2003, 10:00 Ortszeit

Der Krisenstab "Dämmerkuppel" tagte, weil seit nun drei Tagen keine Distantigeminus-Verbindung mehr mit Millemerveilles bestand. Überflüge über die verfremdete Kuppel hatten ergeben, dass in der vorher so schützenden und nun alle Mitbürger einschließenden Kuppel mehr oder weniger starke Entladungen tobten, die selbst die über der Kuppel errichtete Tarnung durchdrangenund als violette, blaue, goldene oder silberne Blitze zu sehen waren. Die Desinformationsabteilung hatte auf Vorschlag von Madame Belle Grandchapeau alle Aufzeichnungen von künstlichen Sattelliten dahingehend verändert, dass die Bilder immer wieder aufkommende Sommergewitter zeigten. Die steigenden Temperaturen rechtfertigten derartige Wetterwallungen. Eigentlich stand für heute eine aus zwanzig großen Leiterwagen bestehende Nachschublieferung an. Doch ohne Abstimmung per Distantigeminus-Kasten oder auch Digeka war das eine sehr gewagte Aktion.

Die Mitglieder des Krisenstabes diskutierten, ob die drei in den letzten Tagen offenkundig gewordenen Interessengruppen, die sich selbst als Erwachte bezeichnenden, die von allen Anderen als Elsternfußler bezeichnet wurden, sowie die von Sardonias Vermächtnis getriebene Hugette Mirabeau und der Dorfrat von Millemerveilles in einer magischen Auseinandersetzung verstrickt waren, welche wegen der Emotionen und möglicher Schäden an Leib und Leben die Kuppel aufwühlten.

Gegen halb elf kam der Bericht herein, dass eine bodennahe Überprüfung der Kuppel ergeben habe, dass dort ein stärkerer Luftaustausch stattfand und die Kuppel etwas lichtdurchlässiger geworden sei. Gegen viertel nach Elf kam eine Meldung aus der Delourdesklinik, dass ein für das Desinformationsamt tätiger Zauberer beim Aufbau von weiteren Tarnzaubern am Boden von einem unbändigen Fortpflanzungsdrang befallen worden sei und direkt in das Haus seiner Schwägerin appariert sei, die zur Zeit alleine sei. Diese habe ihn nur mit dem Devoluptus-Zauber davon abhalten können, sie gegen ihren Willen zu beschlafen. Doch sie habe später, als er von den Heilern abgeholt worden sei, auch eine gewisse Lust zur Fortpflanzung verspürt. Daher wurden fünf Leute in Duotectus-Schutzanzügen zur Kuppelgrenze geschickt, die eine alchemistische und thaumaturgische Untersuchung am Boden vornahmen. Eine Stunde später stand fest, dass irgend jemand ein gasförmiges Agens unter die Kuppel geblasen hatte, welches einen steigenden und ab einem bestimmten Punkt unstillbaren Fortpflanzungsdrang auslöste, ein Hyperaphrodisiakum. Das schürte den starken Verdacht, dass die Gruppierung Vita Magica die Lage der Bürgerinnen und Bürger Millemerveilles schamlos ausgenutzt hatte, um diesen eines ihrer ätherischen Lustanreger zu verabreichen. Madame Faucon, die gegen zwölf Uhr kurz herüberkam, um die neuen Berichte mit eigenen Augen zu lesen, vermutete, dass Vita Magica wohl beabsichtigt habe, die in der Kuppel wirkende Kraft zu schwächen und gleichzeitig ihr Hauptziel, die Vermehrung magischer Menschen, voranzutreiben. Wann die verwerfliche Mixtur unter die Kuppel gelangt sei und wie lange ihre Wirkung dauere könne sie nicht sagen. Sie bat jedoch um eine reine Probe für ihre Kollegin Fixus und den Kollegen Trifolio. Ihr war anzusehen, wie wütend sie war. Doch sie beherrschte sich gerade so noch, dass sie in Würde und Ruhe nach Beauxbatons zurückkehren konnte.

Um die aus der Tarnung herauskommenden Blitze zu erklären wurde über der Tarnung von Millemerveilles noch die Illusion eines vorsommerlichen Gewitters mit grellen Blitzen erschaffen, dass in einer sich drehenden Tiefdruckzone eingeschlossen zu sein schien und sich deshalb über derselben Stelle entlud.

"Also, ab heute ist Vita Magica die unerwünschteste Gruppierung der französischen Zaubererwelt", stellte die Zaubereiministerin nach der Mittagspause fest. "Falls wir ein Mitglied dieser Vereinigung entlarven können wird es stellvertretend für alle noch nicht erkannten vor den Gamot gebracht und in der Summe der nachweisbaren Straftaten bis zur lebenslänglichen Haft verurteilt, nur abzuwehren durch eine Offenlegung der dieser Person bekannten Mitglieder, wobei hier die Anwendung von Veritaserum unbedingt geboten ist."

__________

Aus Mildrid Ursulines Reportage "Unter der Dämmerkuppel"

16. Juni 2003

Eigentlich müsste ich jetzt Entwarnung ausrufen. Denn seit sieben Uhr Morgens steht fest, dass die unseren Fortpflanzungsdrang übersteigernde Mixtur nicht mehr in wirksamer Stärke vorhanden ist. Allerdings schlafen die von ihrer Wirkung berauschten Erwachsenen nun tief und fest, wohl um die verbrauchte Kraft wieder zurückzugewinnen. Aus dem Bericht von Pflegehelferin Sandrine Dumas über die Weltmeisterschaftsfeier 1999 auf Martinique weiß ich, dass bei einer ähnlichen Mixtur die davon betroffenen einen vollen Tag verschliefen. Heilerin Matine fürchtet sogar, dass wegen der vielen Tage bereits bei vielen Hexen eine Empfängnis stattgefunden haben kann. Die Heilerdirektiven verbieten die Tötung ungeborener Kinder in jeder Phase, ob als gerade befruchtete Eizelle, Zygote genannt, als sich noch entwickelnder Embryo oder als nur noch wachsender und die ersten Lebensfunktionen ausbildender Fötus. Sie hat bereits einen Untersuchungsplan aufgestellt, der erst die unverheirateten Hexen auf mögliche Empfängnis prüfen soll und dann die Ehepaare. Außerdem können noch Mehrfachschwangerschaften angefangen haben, sowie bei Pflegehelferin Sandrine Dumas damals und wie bei verschiedenen Ministerialmitarbeiterinnen in den vereinigten Staaten bei einem Neujahrsfest 2001 und einer Halloweenfeier am 31. Oktober 2002.

Da die meisten Mitglieder des Dorfrates zu den Betroffenen gehören müssen wir abwarten, bis der Dorfrat Verhandlungsfähig ist, um die Ereignisse und deren Auswirkungen zu besprechen.

Ich weiß, dass es bei dieser wilden, völlig unerwünschten Verkupplungsorgie auch ganz junge Hexen mit älteren Zauberern zusammengebracht hat und umgekehrt. Dies dürfte für unser friedliches Gemeindeleben sehr anstrengende Zeiten bedeuten, denn nicht jeder Zauberer wird freiwillig eine Hexe heiraten, die er bei nüchternem Bewusstsein nicht einmal küssen würde, nur weil sie auf Grund einer ihnen beiden zugeführten Fortpflanzungsanregungsmixtur ein oder mehrere Kinder von ihm empfangen hat. Pflegehelferin Sandrine Dumas erlaubte mir, Ihnen da draußen mitzuteilen, dass sie heilfroh ist, dass meine Hebamme ihr und ihrem Begleiter auf dem Heimweg noch rechtzeitig mit einem wirksamen Lustunterdrückungszauber die Auswirkungen der übermächtigen Liebesdroge erspart hat. "Zwei nicht wirklich zu der Zeit schon geplante Kinder reichen mir. Außerdem hätte ich unfreiwillig mitgeholfen, eine gute Nachbarin und ehemalige Schulkameradin zu hintergehen, wenn ihr Ehemann mit mir geschlafen hätte."

"Die, welche es geschafft haben, die Tage der unerwünschten Geschlechtsorgie bei klarem Verstand zu überstehen, pflegen die Pflanzen und Tiere im Dorf. Die durch die Droge in Tiefschlaf verfallenen Kinder erhalten Aufpäppeltränke eingeflößt. Doch die Heiler sind zuversichtlich, dass unsere Kinder wieder völlig erwachen und unbeschwert sein werden.

Eigentlich wollte ich die wieder benutzbare Digeka-Verbindung für eine Stellungnahme zu diesem Vorfall nutzen. Doch Heilerin Matine bat mich darum, dies dem Dorfrat zu überlassen, der bestimmt sehr dankbar die Möglichkeit nutzen wird. Nur so viel: Wir leben noch, ja haben in den letzten Tagen ohne es zu wollen neue Leben auf den Weg in die Welt gebracht, und wir sitzen unter einer nicht mehr ganz so dunklen Kuppel, durch die sogar wieder etwas Sonnenwärme dringt. Die Sonne selbst ist jetzt halb so hell wie üblich und jene, die bereits durch die Kuppel dringen konnten, sind unterwegs, um neue Vorräte für Zaubertränke einzukaufen, die sicher gebraucht werden. Weiteres dann, wenn der Dorfrat eine offizielle Stellungnahme verlautbaren möchte.

MUL

__________

Millemerveilles, Nach Einbruch der Nacht am 16. Juni 2003

Endlich hatte diese wilde Lustorgie aufgehört. Sie fühlte durch den Stein der stetigen Fruchtbarkeit, dass die allermeisten Menschen unter der Kuppel jetzt wohl schliefen. Sardonia wusste, dass sie nun nicht mehr warten durfte. Diese Banditen und Hexenschänder von Vita Magica hatten ihren ganzen Zeitplan verdorben. Wenn sie nicht jetzt das große Aufgebot erweckte mochte die in den letzten Tagen wieder stärker durchdringende Sonne den Rest der dunklen Kraft aufzehren, der noch in der Kuppel steckte. Wenn die dann wieder durchlässig wurde konnten die Menschen hier vermutlich auf die Idee kommen, Millemerveilles zu verlassen und den Ort zum geächteten Land erklären, auf dem nie wieder ein magischer Mensch siedeln durfte. Also musste sie die Kuppel wieder verstärken, um ihre Bedingungen zu diktieren, ohne dass ihre Feinde von außen hereinkommen und die von ihr zu regierenden Untertanen nach außen entkommen konnten.

Sie suchte den Mittelpunkt der zur Blase gewordenen Schutzkuppel beim Stein der Vollendung. Sie fühlte, wie viel Kraft aus der Kuppel entwichen war. Wenn sie noch das Aufgebot hervorbeschwor mochte die Kraft noch weiter abnehmen. Doch wenn das Aufgebot erst einmal erwacht und versammelt war konnte sie mindestens alle älteren Zauberer des Ortes opfern, um die Kuppel wieder zu verdunkeln.

Sie wusste, dass sie 770 Namen aufsagen musste, Namen geborener und von ihr geopferter Menschenseelen, eingeschlossen in den dreizehn Quellsteinen. Insgesamt hatte sie 819 Seelen in diesen Steinen eingekerkert. Doch die namenlosen Seelen von 49 vorzeitig dem Mutterleib entrissenen Föten brachten sowieso nichts, weil Ungeborene nicht fähig waren, klare Befehle auszuführen. Doch mit 770 eingekerkerten Seelen ließ sich eine beachtliche Streitmacht aufstellen. Sicher hatte Sardonia im ersten Leben mehr als tausend willige Geister in einer gewaltigen Armee befehligt. Doch die waren mit Sardonias körperlichem Ende blitzartig in die Nachtodgefilde übergewechselt.

Behutsam lotete sie aus, wo sich die Kraftströme der magischen Blase überschnitten. Die Außenschale war wie die Oberfläche eines Merkuriumtropfens angespannt und bildete die undurchdringliche Grenze. Doch darunter flossen bereits Kräfte. Da die Kuppel an sich keine Kugelschale bildete stand fest, dass die Blase ebenso eher einem etwas dickeren Eierkuchen als einer Kugel glich. So brauchte sie einige Minuten, bis sie wusste, dass sie noch zwanzig Meter unter den Stein der Vollendung hinabsteigen musste, um genau im Kreuzungspunkt aller Kraftströme zu stehen. Der Stein hier bündelte zwar die Kräfte und richtete sie aus, war aber wegen der vielen Veränderungen der letzten drei Jahrhunderte nicht mehr der stoffliche Mittelpunkt.

Zumindest kam sie mit dem behutsamen Ausgrabungszauber Excavatus schnell durch die Gesteinsschichten unter der Kammer ihres letzten Quellsteins. Ja, jetzt fühlte sie die Kraft, es war wie ein Bad in einem viele wwinzige Blasen werfenden Sprudelbecken, in dem noch dazu viele tausend winzige Fische um sie herumschwammen. Hier und jetzt konnte sie ihr großes Werk beginnen.

Mit altkeltischen Formeln rief sie die Macht über gefangene Geister an. Dann sang sie sibenhundertsiebzig ihr noch bekannte Namen, immer in der Reihenfolge, an welchen Stein die betreffende Seele gebunden war, Beginnend am nördlichsten Punkt, dann gegen die Sonnenlaufrichtung, erst nach Westen, dann nach Süden, wo der Sonnenkristall hing, dann nach Osten und den letzten zwischen Osten und Norden, bevor sie den ersten Gefangenen aus dem Stein der Vollendung herausrief. Hinter jedem Namen sprach sie die Beschwörungsformel: "Der, der du hörst erwache und erscheine mir!"

So ging es immer weiter im Kreis der Quellsteine, bis wieder der mittlere Stein betroffen war. Immer weiter, wie ein umgekehrter Sonnenlauf, der kurz vor Mitternacht kurz senkrecht über der Erde zwischenhielt. Sie fühlte bereits, dass ihre Beschwörungen wirkten. Die in der magischen Blase fließenden Kräfte änderten ihre Auslenkung und Richtung. die mächtige Kuppel Sardonias schied nach und nach die sie erhaltenen Seelen ab, ohne sie ganz abzustoßen. Sie blieben im Gefüge der kreisenden Magie und hingen an den unsichtbaren Kraftlinien wie Fliegen an den Fäden eines Spinnennetzes. Doch sie näherten sich einem gemeinsamen Zielpunkt.

Da Sardonia/Hugette keine Uhr bei sich trug und unter der Erde auch keine Wahrnehmung der Tageszeit hatte wusste sie nicht, wie viel Zeit vergangen war. Sie fühlte nur, dass sie ohne die sie umsprudelnde Magie längst vor Entkräftung ohnmächtig geworden wäre. Dann hörte sie das langsam lauter werdende Heulen und Stöhnen, Seufzen und Wimmern gequälter Wesen. Die von ihr geopferten Seelen waren aus den Quellsteinen entschlüpft und erwacht. Doch sie waren und blieben ihre Gefangenen. Sie beschwor nun die letzten vier Seelen, deren Namen sie kannte. Dann konnte sie die ersten Geister sehen, die sie gerufen hatte.

Aus er Ferne glommen blutrote Lichtpunkte. Diese kamen näher und sahen nun aus wie schwebende birnenförmige Gebilde. Als sie noch näher kamen wuchsen sie zu leicht wabernden, menschenförmigen Gestalten, die aus blutrot leuchtendem Dunst zu bestehen schienen. Es waren keine perlweißen Erscheinungen wie aus Angst vor dem Tod oder von großer Schuld, eine wichtige Aufgabe unerfüllt zurückzulassen in der Welt verbliebene Gespenster. Es waren auch keine abgrundtiefschwarzen Schatten mit blau leuchtenden Augen, wie es die durch eigenen Willen oder einen bösen Fluch vom Leben zum direkten Nachtschatten verwandelte Menschen waren. Es waren ganz eigentümliche Erscheinungen, Spukgestalten, die durch grausame Opferrituale und eine gnadenlos bindende Magie entstanden waren. Sardonias großes Aufgebot von Blutseelen versammelte sich.

Immer mehr der blutroten Leuchtgestalten schwebten wimmernd, stöhnend, schluchzend, heulend und auch schreiend heran, bekundeten die andauernde Qual, die ihr Tod nicht beendet hatte. Sie hatten Jahrhunderte als Kraftspender in den aufeinander abgestimmten Quellsteinen geschlummert. Nun wurden sie erneut an alle Pein und alles Leid der letzten Lebensminuten erinnert. Sie umkreisten Sardonia/Hugette, die vorsorglich eine orangerote Aura um sich erschaffen hatte, die von keinem bösen Gedanken und keiner Geisterkraft durchdrungen werden konnte. Der Dolch in ihrer linken glomm im selben blutroten Schein wie die bemitleidenswerten Erscheinungen. Dann sah die wiederverkörperte Hexenführerin zehn Nachzügler, die nicht blutrot leuchteten, sondern im gleichen orangeroten Licht erstrahlten wie die Geisterschutzaura der dunklen Matriarchin. Sardonia erkannte eine Frauengestalt und neun Männer. Da wusste sie, dass dies jene waren, die nach der Veränderung der magischen Kuppel den Tod bei Berührung der Außengrenze gefunden hatten. Ihre Namen kannte sie auch alle, denn Hugettes Erinnerung hatte sie für sie aufbewahrt.

Sie rief die zehn Nachzügler bei ihren Namen und befahl auch ihnen, ihr zu dienen. Doch sie merkte, dass diese Geisterwesen ihr nicht so bereitwillig gehorchen würden. Sicher, die Frauengestalt, die Seele Bromélie Bleulacs, unterwarf sich ihr sofort, weil sie die Herrin erkannte. Doch die anderen weigerten sich erst. Die zwei aus Nordamerika wagten sogar, sich von ihr abzuwenden und nach oben zu steigen, um durch das massive Gestein zu entkommen. "Robin Jones und Chuck Peckwood, bleibt hier und seid mir untertan!" befahl Sardonia. Doch die zwei versuchten weiter, ihr zu entwischen. Da schickte sie aus dem zauberstab eine Kaskade orangeroter Blitze aus, die die ihr zu entgleiten trachtenden Geister durchrüttelten, mal in die Länge zogen und dann wieder zusammenquetschten, dass die beiden nur noch laut schreien konnten. Das ging so einige Dutzend Sekunden. Dann gaben die zwei rebellischen Erscheinungen auf, sanken kraftlos nach unten und blieben zwischen den bereits erschienenen Geisterwesen in der Luft hängen.

"Ich bin eure Herrin, eure Gebieterin, die Herrscherin eures Daseins", stieß Sardonia aus. Dann erteilte sie den von ihr herbeigezwungenen ihre Befehle: "Fliegt um Mitternacht hinaus in das Dorf und ergreift die Seelen schlafender Zauberer. Lasst die Kinder und Hexen leben. Sie sollen mir sagen, ob sie mir folgen werden oder nicht, und deren Kinder sind ein Unterpfand. Fliegt los, blutrote Jagd!"

Die beschworenen Geisterwesen schrien auf, weil Sardonia noch einmal orangerote Blitze durch den Raum schleuderte. Dann jagten sie nach oben und in alle Himmelsrichtungen davon. Sardonia wartete, ob die von ihr ausgeschickten Geister bald Beute machten. Doch was war das? Die von ihr losgeschickten Spukwesen kamen in rasendem Tempo zurück. Sardonia meinte erst, die blutrote Jagd habe sich ihr doch entreißen können und würde nun über sie herfallen. Doch die roten Geisterwesen, die je nach Todesart mehr oder weniger verstümmelt und entstellt aussahen, verharrten um sie herum. Die Erscheinung von Bromélie Bleulac sagte: "Große Mutter, draußen ist es Tag. Die Sonne scheint als blaues Licht vom Himmel. Wir wären fast davon verbrannt worden."

"Was?!" schrillte Sardonia und disapparierte einfach aus der von ihr geschaffenen Höhle. Tatsächlich empfing sie eine Sonne, so gefärbt wie der natürliche Tageshimmel, aber doppelt so hell wie dieser unter einem hierorts dämmerblauen Himmel. Sie fühlte sogar die wenige Wärme, die von dem hellblauen Lichtball ausging. Sie lotete den Sonnenstand aus und knirschte mit den Zähnen. Ihre Beschwörung hatte die ganze Nacht gedauert. Es war die Hälfte zwischen Sonnenaufgang und Mittag. Sie wusste jetzt auch, dass ihre blutrote Jagd genauso die Sonne floh wie die Vampire oder die Nachtschatten. Nur die Abschwächung in der Kuppel hatte die Geister vor dem augenblicklichen vergehen bewahrt. Sardonia malte sich aus, was das bedeutet hätte. Die Blutgeister wären dann zu von aller Last erleichterten Seelen gewordenund dann wohl übergangslos in die Nachtodgefilde gewechselt. Das hätte den Zusammenbruch der Kraftquellen bedeutet. Sie erschauderte, welchen fatalen Fehler sie beinahe begangen hätte. Sie hätte zunächst einen der Geister auf Erkundung schicken müssen, um dann alle loszuschicken, wenn ihnen die Sonne nichts mehr anhaben konnte.

Schnell apparierte sie wieder unter den Stein der Vollendung und befahl den Geistern, auf ihren fernen Ruf hin den Befehl zu befolgen, den sie erteilt hatte. Dann verschwand sie wieder und landete bei dem Stein der stetigen Fruchtbarkeit. Dieser fühlte sich nun kalt und hart an, da die ihn speisenden Seelen entzogen waren. Doch er vibrierte noch sanft, weil er die Nähe der einen erfasste, die ihn erschaffen und mit eigenem Monatsblut getränkt hatte. Hier hatte sie Hugettes Taschenuhr hingelegt. Diese hatte eine Weckfunktion, die durch ein Stimmkommando eingestellt werden konnte, eine Spielerei, die sie vor dreihundert Jahren schon gekannt hatte. "Wecker auf halb zwölf nachts stellen!" befahl sie. Es surrte leise. Dann sprach eine quäkige Männerstimme: "Der Wecker für elf Uhr dreißig Abends ist gestellt. Schlaf gut, Hugette!"

"Sard... Ach was, muss du nicht wissen, einfältiges Uhrwerk", grummelte Sardonia/Hugette. Sie ging zu den Zugängen und beschwor einen orangeroten Geisterschutzwall. Nicht, dass ihr die Blutgeister und vor allem die nur mit der Geistergeißel gezüchtigten Erscheinungen noch das Leben aussaugten, während sie schlief. Sie prüfte noch einmal, ob alles sicher war und breitete ihre dicke Daunendecke aus. Dann legte sie sich hin und schlief sofort ein.

__________

Aus Mildrid Ursulines Reportage "Unter der Dämmerkuppel"

17. Juni 2003

Es hat wahrhaftig einen vollen Tag gedauert, bis die vom Rausch der Wollustdroge betroffenen Hexen und Zauberer wieder aufgewacht sind. Von den Grandbois haben wir nicht gehört, da diese ihre Grundstücke mit eigenen Schutzzaubern umgeben haben. Der Dorfrat musste erst einmal verstehen, wie viel Zeit vergangen war und vor allem ordentlich frühstücken. Das taten die Mitglieder in der Schenke Chapeau du Magicien. Dort berieten sie dann auch gleich, was sie auf diese Aktion zu antworten gedachten. Wie bereits angekündigt übermittel ich die abgestimmte Verlautbarung:

"Wir, der Rat der magischen Gemeinde Millemerveilles, erfuhren vor wenigen Stunden, dass zwischen dem 10. Juni 22:00 Uhr und dem 16. Juni 07:00, eine unbekannte, höchst unzulässige ätherische Essenz in Millemerveilles freigesetzt wurde, welche bei über 90 % aller erwachsenen Hexen und Zauberer einen weit überhöhten Fortpflanzungsdrang hervorrief, den die davon befallenen mit den ihnen nächsten, andersgeschlechtlichen Mitmenschen auslebten. Hierbei kam es nicht nur zu einem einzigen, sondern einer Kette unfreiwilliger und somit nicht einvernehmlicher Beilager. Diese fanden zwar überwiegend zwischen einander angetrauten Hexen und Zauberern statt, geschahen aber auch zwischen sich durch Zufall begegnenden oder im Rausch der überhöhten Begierden zueinander hinstrebenden Hexen und Zauberer, die nicht verheiratet sind. Da hierbei auch Verbindungen zwischen ganz jungen Hexen und älteren Zauberern sowie älteren Hexen und ganz jungen Zauberern erzwungen wurden stellt dies einen vielfachen Akt magisch herbeigeführter Vergewaltigungen dar. Auch wenn die sich beschlafenden Paare die intimen Begegnungen genossen handelten sie unter einem fremden, böswilligen Einfluss. In Anbetracht der Umstände, dass wir Bürgerinnen und Bürger von Millemerveilles derzeitig nicht im Stande sind, unsere Ansiedlung zu verlassen und somit auch nicht aus dem Wirkungsbereich des tückischen Toxikons entfliehen konnten, stellt dessen Einsatz sogar eine Form von Körperverletzung in Tateinheit mit mehrfacher Freiheitsberaubung dar. Deshalb stellen wir, der Dorfrat von Millemerveilles, beim obersten Strafverfolgungsbeamten des Zaubereiministeriums Frankreich Strafantrag gegen den oder die unbekannten Täter, welche uns alle nicht nur entwürdigend, sondern auch bewusst gefährdend diesem Einfluss aussetzten. Gefährdend deshalb, weil durchaus die Möglichkeit bestand, dass Mitbürger auf Grund der aufgezwungenen Belastung körperlich zu Grunde gehen konnten und obendrein immer noch eine unüberschaubare Gefahrenlage besteht, der wir uns während der Wirkungsdauer jener unzulässigen Essenz nicht hätten erwehren können. Wir haben zwar niemanden aus unserer Gemeinde zu betrauern - was dann auch eine Mordanklage bedeutet hätte -, weisen aber mit allerhöchstem Nachdruck darauf hin, dass wir keine Zuchttiere sind, die nach Gutdünken einer Person oder Personengruppe zusammen und zur Paarung getrieben werden dürfen. Wir sind und bleiben menschliche Wesen, die gemäß der allgemeinen Zaubereigesetze, sowie der Gemeindeordnung von Millemerveilles, wie auch gemäß den Strafgesetzen bei unzulässiger Anwendung von thaumaturgischer oder alchemistischer Zauberei in unseren Rechten angegriffen wurden. Sollte sich erweisen, dass uns dieses üble Ungemach von jener Gruppierung zugefügt wurde, die sich als Gesellschaft zur Wahrung und Mehrung magischen Lebens Vita Magica bezeichnet, so erheben wir Anklage gegen die gesamte Gruppierung, sofern ihr wenn auch illegaler Status als Voraussetzung zur Anerkennung als juristische Person gemäß allgemeines Zaubereigesetz §3 (Personenbestimmung) anerkannt wird. Sollte dies der Fall sein so gilt weiterhin, dass jedes Mitglied dieser Gruppierung, das auf dem Grund und Boden der magischen Gemeinde Millemerveilles erkannt und ergriffen wird als unerwünschte Person dauerhaftes Verweil- und Geschäftsverbot erhält. Das heißt, dass erkannte Mitglieder dieser Gruppierung alle geplanten oder bereits abgeschlossenen Geschäfte umgehend rückgängig zu machen haben beziehungsweise jeden Anspruch auf eine geschäftliche Gegenleistung verwirken.

Wir, der Rat der magischen Gemeinde Millemerveilles, weisen jede Begründung für diese ungefragt und unzulässig verabreichte Essenz als nichtig ab, da kein Verbrechen einem guten Zweck dient, vor allem, wenn es unter Missbrauch der Magie verübt wurde, gemäß allgemeines Zaubereigesetz §300 (Unterscheidung von magischen Wohltaten und magischen Untaten). Deshalb dürfen jene, die uns diese sehr feige ausgeführte Falle gestellt haben keinen Dank von uns erwarten, unerheblich, welche gutartigen Auswirkungen Ihr Vorgehen für den einen oder die andere von uns haben sollte.

Beschlossen und Verkündet am Tage siebzehn des Juni 2003 um elf Uhr dreißig vormittags zu Millemerveilles, Republik Frankreich, Region Provence."

Wir, die wir diese wilden Tage und das bange Warten auf das Wiedererwachen unserer Nachbarn und Familienangehörigen durchgestanden haben schließen uns dieser rechtskräftigen Formulierung des Dorfrates von Millemerveilles an. Nur weil die Kuppel nun lichtdurchlässiger geworden ist sind wir keine niederen Tiere, die nach Bedarf zur Fortpflanzung getrieben werden dürfen.

Das offizielle Schreiben ist wohl schon bei Strafverfolgungsleiter Chevallier und wird den Mitgliedern des Gamots zur Prüfung vorgelegt. Ansonsten erholen sich die Hexen und Zauberer von den wilden Tagen. Den Kindern hier geht es gut. Die über die fünf ganzen Tage andauernde Versorgung durch die Heiler und Pflegehelfer hat ihnen geholfen, nicht wegen Unterernährung krank zu werden. Allerdings wird die Nachuntersuchung dieses Vorfalls sicher noch einige Tage dauern, vor allem was mögliche Zeugungsakte angeht und wie die davon betroffenen Paare damit umgehen werden. Dass wir immer noch von Sardonias Erbin bedroht werden haben die Leute, die uns das eingebrockt haben offenbar nicht bedacht oder es war ihnen egal, weil es ihhnen nur darum ging, diese Fortpflanzungszwangdroge auf uns loszulassen. Falls es wirklich Vita Magica zu verantworten hatte dürfen wir hier in Millemerveilles weder mit einer Entschuldigung noch mit Reue von denen rechnen. Wer das Mondlicht mit magischen Gerätschaften zu für Werwölfe tödlichen Strahlen abwandelt dürfte kein Gewissen haben.

Ich hoffe, dass wir jetzt, wo wir die Sonne wieder heller scheinen sehen können, etwas Ruhe haben werden, um uns darauf vorzubereiten, was uns sicher noch heimsuchen wird. Denn solange wir die Kuppel nicht ohne sehr starke Schutzzauber durchdringen können sind wir weiterhin jeder Bedrohung von innen und leider auch von außen ausgeliefert. Das gefällt nicht nur mir nicht.

MUL

__________

Millemerveilles, die Nacht vom 17. zum 18. Juni 2003

"Die sagen es war Vita Magica, die uns zu überdrehten Rammlern gemacht hat. Aber lasst euch von Delamontagne, Matine und den anderen nicht einwickeln! Sardonias verfluchte Kuppel lässt nichts mehr von draußen rein. Die haben uns alle damit hier berieselt, um genug Zeit zu haben, irgendwas gegen uns zu machen, nur dass die wohl die Dosis zu hoch gedreht haben", ereiferte sich Louis Grandbois vor den neunzehn anderen älteren Zauberern, die in sein Haus gekommen waren. "Das haben die gemacht, weil die Kuppel offenbar die beim Vögeln rausgehende Gefühlskraft schluckt. Deshalb ist die jetzt wieder durchlässiger. Die haben rausgekriegt, wie diese angeblichen Töchter des Abgrundes das mit ihren Opfern machen und ziehen das jetzt bei uns ab, um zu testen, wie viel Kraft sie dabei von uns absaugen können. Wir gehen morgen zu denen hin und stellen die zur Rede. Aber passt auf, dass ihr nicht von Feuerwehrmann Thalos und seinen Unterbütteln kassiert werdet! Wir kriegen das raus, wie die das gemacht haben. Dann werden es endlich alle Schafe hier in Millemerveilles kapieren, dass der Dorfrat und die Leute, die uns den Muggeln ausliefern wollen weg müssen."

"Ey, Louis, wenn das stimmt, dass der Dorfrat das mit dem Rammelzeug gemacht hat, warum sind wir dann jetzt noch hier, wo du uns gerade zu deren Feinden erklärt hast?"

"Tja, auch 'ne Lüge von denen, oder weil Sardonias Helfershelferinnen fruchtbare Zauberer hier haben wollen, um sich mit neuen Sardonia-Töchtern schwängern zu lassen", erwiderte Louis Grandbois auf die Frage seines Mitstreiters Aron Rivolis.

"Ey, stimmt, wir alle haben weit zurückreichende Stammbäume großer Zauberer. Eh mann, dann haben die mich echt deshalb mit diesem jungen Ding zusammengetrieben, weil die von 'ner Schwester aus Sardonias Orden abstammt. Wenn ich die jetzt angefüllt habe verpasse ich der persönlich den Trank der folgenlosen Freuden, damit die Bälger aus der rausfallen, wie's sich für Kackhaufen gehört."

"Großmaul!" bedachte ein anderer der selbsternannten Erwachten Aron Rivolis. "Weißt ja nich' mal, wie der Trank überhaupt geht."

"Kriege ich raus, wenn's nötig ist", blaffte Rivolis. Sie alle hier hatten gedacht, die Schutzzauber hätten sie beschützt. Aber das tückische Gas hatte sie erwischt und herumsuchen lassen, bis sie ebenfalls auf der Suche nach einem Geschlechtspartner herumfliegende Hexen gefunden hatten. Grandbois hatte insofern noch Glück gehabt, dass er nicht groß hatte suchen müssen, sondern die Witwe Matinbleu ihn vor seinem Haus erwischt und ihn in sein Schlafzimmer zurückbebleitet hatte. Daran erinnerten sich die Betroffenen wie an einen wilden, endlosen Traum.

"Ich habe das Buch, wo der Trank drin erwähnt wird, Aron. Am besten brauen wir den gleich für alle von uns zusammen und kriegen die, mit denen wir zusammengetrieben wurden dazu, den zu schlucken, ob sie was von uns drin haben oder nicht", sagte Louis Grandbois. "Ich will ja schließlich auch keine Bälger von der alten Matinbleu großfüttern. Moment, ich hole das Buch mal eben aus meinem Schrank und diktiere euch das Rezept. Dann kann jeder von euch das selbst nachbrauen."

"Ja, und wenn da sachen reinkommen, die wir im Moment nicht haben kriegen wir die nicht, weil die keine Bestellungen von uns rausschicken werden, wo die wegen deines blöden Briefes an die Dumas jetzt jeden von uns für einen gefährlichen Spinner halten", sagte Rivolis an Grandbois' Adresse. Ein anderer Mitstreiter setzte dem noch einen drauf und sagte: "Ja, und deshalb schreibe ich mir das Rezept aus meinen eigenen Büchern ab. Ich habe den Trank da auch drinstehen. Im Zweifel finde ich Tränke, wo dieselben Sachen reinkommen und kann das über die Apotheke ordern lassen."

"Haha, selten so gelacht, Lionel, wo Graminis voll mit dem Dorfrat hält, zumal bei dem die Kronprinzessin von den Dusoleils schafft."

"Ja, aber der Brief war echt ein totaler Schlag ins Wasser, Louis. War doch klar, dass die ihre kaputte Ansicht nicht aufgeben. Abgesehen davon hast du die Backen größer aufgeblasen als ein Breitmaulfrosch, Louis, weil du geschrieben hast, dass du im Namen aller anständigen Bürger redest. Jetzt haben wir den Drachendreck an den Schuhen, dass die uns für ihre Feinde halten und nur deshalb noch nicht kassieren konnten, weil wir uns vorsorglich mit eigenen Schutzzaubern gegen alle abgesichert haben, die uns nicht mehr als gute Nachbarn sehen. Deshalb fallen bei meinen Obstbäumen die Blätter runter, weil das für die zu dunkel war und die grüne Gartenhexe vom Dorfrat gegen uns aufgehetzt wurde. Aber bei deinen dicken ulmen ist ja auch schon Spätherbst, Louis."

"Ich habe diesen Brief geschrieben, weil es echt Zeit ist, diesen ganzen Quatsch endlich zu beenden. Sardonias Fluch wirkt deshalb, weil die alte Dreckdose damals was gemacht hat, dass Ihr Dorf muggelfrei bleiben soll. Wenn wir das drehen kriegen wir das hin, deren Spuk auch wieder zu beenden", meinte Grandbois.

"Ja klar, und das mit dem Flohnetz?" warf der bisherige Mitstreiter Claude Montfroid ein.

"Leute, ihr glaubt echt diesen Drachenmist, den die uns zu lesen geben? Dabei hatte ich euch eigentlich für gescheiter und aufgeweckter gehalten. Ihr wart echt in den Sälen Violett, Blau und Grün? Wahrscheinlich war bei den Zitronengelben kein Platz mehr frei", grummelte Grandbois. "Die Zeitungen werden vom Postamt ausgeliefert. Da Eulen nicht durch die Kuppel kommen haben sie die von Zauberschmied Dusoleil gebauten Fernvervielfältigungskästen als angebliche Verbindung nach draußen. Aber wenn das Flohnetz und der Reisesphärenkreis nicht gehen und wir auch nicht mit unseren Blutsverwandten außerhalb von Millemerveilles meloen können, zumal ich da eh immer Probleme mit hatte, können wir nicht klären, ob das echt alles stimmt, was die uns hier andrehen, dass das Flohnetz außerhalb von Millemerveilles auch für Tage ausgefallen sein soll. Die sagen das nur, weil sie nicht rausrücken wollen, dass wir hier alle unter einem Fluch Sardonias leiden und der nur deshalb jetzt erst voll durchschlägt, weil zu viele Muggelweltfreunde hier herumlaufen. Die können und werden nicht zugeben, dass sie sich da einen ganz üblen Fehler geleistet haben, diese achso gutmeinenden, elitären Damen und Herren vom Dorfrat. Also haben sie dieses grüne Einhorn in die Welt gesetzt, dass das Flohnetz im ganzen Land, ja überall auf der Welt wegen einer die ganze Welt umlaufenden Welle aus Zauberkraft ausgefallen sein soll. Das kommt bei denen, die alles fressen, was ihnen hingehalten wird, wunderbar an, dass sie ja nicht schuld sind, dass wir in diesem Haufen Drachenscheiße festsitzen und unser geliebtes Dorf wegen denen bald von Sardonias späten Schwestern unterworfen wird. Vielleicht haben die Delamontagne, die grüne Gartenhexe und die Kinderpflückerin Matine mit Sardonias Erbin sogar schon einen Handel gemacht, die Leute hier ruhig zu halten, bis Sardonias Saat ganz aufgeht. Deine Frau hätte dich ja glatt ausgeliefert", sagte Grandbois zu Bernard Hautecolline, der seiner Tochter und dem Schwiegersohn aufgetischt hatte, er müsse wegen Brenstoffnachschub noch mal zu Latour hin.

"Deshalb darfst du froh sein, dass dieser Rammelsuchtnebel dich nicht noch dazu getrieben hat, der noch mit siebzig was kleines reinzuschupsen, weil Sardonianerinnen Zauber kennen sollen, mit denen sie über ungeborene Kinder deren Väter an die Kette legen können", erwähnte Rivolis.

"Dafür habe ich dann Augustes Schwester besprungen und mich von der einverleiben lassen müssen", knurrte Bernard Hautcolline. "Wenn die auch eine Sardonianerin ist kann die mich auch an diese fiese Blutkette legen und ..." Bernard Hautecolline sah den Hausherren fragend an. Dann fühlten sie alle den zunehmenden Druck in den Ohren und meinten, ein ganz leises Brummen und Grummeln zu hören. "Hast du einen Luftaustauschzauber gemacht, Louis?" fragte Bernard Hautecolline. Der Hausherr schüttelte den Kopf. Dann straffte er sich und stieß aus: "Leute, wir werden angegriffen. Jemand versucht, meine Schutzzauber gegen feindliche Seelen zu knacken. Aua, das geht auf die Ohren. Wusste nicht, dass der Wind des Widerstandes, der auch Geister abwehrt, diese miese Nebenwirkung hat, wenn dagegen ge... autsch!" Nicht nur Grandbois zuckte schmerzhaft zusammen, sondern auch alle anderen. Jeder hielt sich die Ohren und schüttelte wild den Kopf, weil darin stechende Schmerzen wüteten. Dann sahen sie es.

Durch die verschlossenen Fensterläden drang blutrotes Licht. Erst war es nur eine Art Gluthauch. Doch je heller es wurde, desto mehr teilte es sich in größere Leuchtflecken, die in den großen Salon hineintrieben. Der Ohrendruck und die stechenden Schmerzen wurden immer größer. Trotz des dabei mitklingenden Gebrumms hörten sie das Stöhnen und wimmern von gequälten Seelen. "Wehrt euch nicht gegen uns. Die Herrin will euch. Die Herrin bekommt euch auch!" drang eine sehr wütende, aber wie selbst unter großen Schmerzen hervorgepresste Frauenstimme. Dann sahen die im Salon sitzenden fünf, nein sechs blutrot leuchtende, dunstig wirkende Erscheinungen wie eine Mischung aus glühender Kohle, Rauch und Gespenst. Grandbois zwang sich, die Hände von den schmerzenden Ohren zu reißen und seinen Zauberstab freizuziehen. "Re-pul-so Larvitiosae-autsch!" Ein Plopp gefolgt von einem Pfeifen wie durch Türritzen blasender Sturmwind war die einzige Folge dieses versuchten Gegenzaubers. Doch Grandbois hatte offenbar zu große Schmerzen, um den direkten Abwehrzauber gegen böswillige Geisterwesen zu vollbringen. Dafür trieben nun vier weitere Spukerscheinungen durch die Wände, die in rötlichem Flimmerlicht glommen, als würden sie von dahinter liegender Glut aufgeheizt. "Ihr habt hier nichts verloren!" Raus aus meinem Haus!" rief Grandbois den gemächlich oder gegen einen letzten Widerstand ankämpfenden Erscheinungen zu. Die anderen Gäste sprangen auf und rannten zur Salontür. "Nich' aufmachen, sonst ist der Geisterzauber ...!" stieß Grandbois aus. Doch da hatte Aron Rivolis die Türklinke gedrückt und die Tür aufgestoßen. Sofort erlosch das rötliche Flimmern in den Wänden. Sogleich quollen weitere Leuchterscheinungen in den Salon, auch durch die nun offene Tür. Rivolis wollte seinen Zauberstab ziehen um zu disapparieren. Da berührte ihn eine der Erscheinungen mit einem Arm, von dem die untere Hälfte fehlte und drang in ihn ein. Rivolis erglühte nun selbst im blutroten Licht. Dann drang ein hellblauer Lichtschein aus seinem Rücken hervor, gefolgt von einer blutroten Nebelwolke. Sein Körper hörte zu leuchten auf. Doch nun stand er da wie eine Statue. Grandbois und die Gäste, die sich in der Mitte des Salons zusammenstellten, weil die blutroten Leuchtgespenster von allen Seiten durch die nun flimmerfreien Wände schlüpften, erkannte, dass das blaue Licht zu einer geisterhaften Nachbildung Rivolis wurde, die von dem anderthalbarmigen Gespenst umklammert wurde. Er hörte noch Rivolis wie aus weiter Ferne dringenden Angstschrei. Dann drang die doppelte Geistererscheinung in die Wand und verschwand. Grandbois sah nun mit vor Entsetzen geweiteten Augen, wie zwei weitere seiner nun noch siebzehn Mitstreiter von den roten Geistern berührt und durchdrungen wurden. Jedesmal entstanden dabei blau leuchtende Abbilder der Berührten, die dann in der Umklammerung der roten Geisterwesen davongetragen wurden. Grandbois hörte nun ein lautes Knacken und merkte, dass der schmerzhafte Druck auf die Ohren verschwunden war. Er konnte wieder frei und unbeschwert hören. Deshalb konnte er auch das triumphgeschrei von draußen hereindrängender Wesen hören und sah, wie weitere seiner Mitstreiter nun blitzartig durchflogen und dann als ihre eigenen blau leuchtenden Geistererscheinungen entführt wurden. Wie bei Rivolis blieben die durch drungenen und entseelten Körper völlig erstarrt zurück. "Notausgang Feuersturm!" rief Grandbois. Es knisterte kurz. Jetzt konnten alle von hier disapparieren, nicht nur er selbst. Doch dazu kam es nicht mehr. Wo alle Widerstände gebrochen waren fielen die roten Phantome über sie her wie hungrige Raubtiere. Grandbois sah gerade noch, wie eine blutrote Frauengestalt ihn von oben her ansprang und dabei laut lachte. Dann fühlte er sein Blut zu Eis werden und wie alle seine Organe erstarrten. Im nächsten Moment war ihm, als sei er völlig schwerelos. Dann erkannte er, dass ihn jemand mit prickelnden Armen und Beinen umklammerte, so wie es bis vorgestern die Witwe Matinbleu oft mit ihm getan hatte. "Wehre dich nicht. Du bist tot und gehörst der Herrin!" zischte die ihn umschlingende, während sie mit ihm wie eine Silvesterrakete nach oben und durch alle Decken, das Dachgebälk und die Dachpfannen in den nun nachtschwarzen Himmel hinaufjagte. Grandbois sah den tiefgrauen Schemen des Mondes. Er sah, wie sie über das von Straßenlaternen erleuchtete Dorf dahinjagten, schneller als auf dem schnellsten Rennbesen. Dann überflogen sie das große Lagerfeuer, das von mehreren Dutzend roten Geistern umschwirrt und verwüstet wurde. Er sahes, ohne es zu fühlen, wie sie in den von den roten Lichtern erhellten Teich eindrangen. Keine halbe Sekunde später durchdrangen sie den Grund und stürzten durch völlige Dunkelheit bis hinein in eine Grotte, in deren Zentrum ein großer, pulsierender Block aus schwarzem Gestein lag. "Rein da!" knurrte die Unheimliche, die Grandbois aus dem eigenen Körper gerissen hatte und stieß ihn so kräftig von sich, dass er nichts mehr sagen oder tun konnte. Er fühlte den Sog, der von dem Stein ausging und merkte, wie er hineingezogen wurde. Dann froren seine Sinne und Gedanken ein.

__________

Im ganzen Dorf wimmerten und tröteten Alarmzauber los. Die Feuerwehrpatrouille läutete die mitgeführten Warnglocken. Thalos Latour, der diesmal selbst zur Nachtwache gehörte, starrte mit Schrecken auf das, was da unter ihm ablief.

Aus dem Boden schnellten rote Lichtkugeln wie Kugelblitze und sausten genau wie solche über dem Dorf herum. Eine Menge von denen raste von allen Seiten auf die große Feuerstelle in der Dorfmitte zu und fuhr in die munter auflodernden Flammen hinein. Diese brachen zusammen wie unter dem Brandlöschzauber. Auch Straßenlaternen erloschen. Nun waren nur noch die blutroten Leuchterscheinungen zu sehen, die in kleinen Gruppen oder großen Rudeln über dem Dorf dahinjagten. Latour läutete selbst die Warnglocke, auch wenn er wusste, dass dieser plötzliche Spuk aus allen Richtungen zugleich kam. Dann sah er drei der roten Leuchterscheinungen auf sich zujagen. Sie waren erst wie etwas längere Eier geformt. Doch beim Näherkommen formten sie sich zu dunsthaften, glühenden Gestalten, Männerund Frauen. Latour sah mit grauen, dass einer der Gestalten beide Arme fehlten und einer anderen die linke Hälfte des unteren Körpers von der Hüfte an. Er hörte das siegessichere Gejohle wie aus einem tiefen Schacht. Dann waren sie bei ihm. Eines der blutroten Leuchtgespenster drang in die Laterne am vorderen Besenende ein und löschte sie damit. Die zweite Unheilsgestalt versuchte, ihn selbst von vorne zu rammen. Der Besenstiel durchdrang die Spukerscheinung wie Luft. Dann prallte sie auf ein unsichtbares Hindernis. Thalos Latour fühlte die zwei mitgeführten Goldblütenhonigphiolen in seinen Brusttaschen zittern. Er sah vor sich eine goldene nach innen gewölbte Wand, an der sich der ihn angreifende Spuk regelrecht plattdrückte. Er hörte das in sehr schneller Folge lauter und leiser werdende Schmerzgeheul des Angreifers von vorne. Dann hörte er es auch von hinten. Der Feuerwehrzauberer und derzeitige Sicherheitsleiter wandte den Kopf und sah einen weiteren roten Spuk, der versuchte, ihn von hinten zu ergreifen. "Aauuuauuuuiii!" heulte das Geisterwesen vor Schmerz und Wut. Latour riss die hinter der goldenen Wand sicher liegende Hand vom Besen, um seinen Zauberstab zu ziehen. Zwar hatte er mehr Ahnung von Rettungs- und Feuerbekämpfungszaubern. Doch als er einer der ersten Schüler Professeur Faucons gewesen war hatte die ihm und allen anderen eingebläut, wie sie böswillige Geister zurückschlagen konnten. "Repulso Larvitiosae!" rief er frei von Bedrängnis. Um ihn herum leuchtete nun eine goldene Aura, die seinen Körper nachzeichnete. Dann schlug aus seinem Zauberstab eine silberweiße Lichtkugel heraus, die die zwei vor ihm auf dem Besen um ihn kämpfenden Spukerscheinungen mit voller Wucht traf und schneller als ein Blinzeln davonschleuderte. Mit dem Wiederholzauber schaffte er sich auch die zwei von hinten gegen ihn drängenden Blutgeister vom Hals. Einen Moment hörte das Zittern seiner Goldblütenhonigphiolen auf. Das goldene Licht um seinen Körper erlosch. Doch er sah schon die nächsten roten Unheilslichter auf sich zukommen. "Durato Repulso Larvitiosae!" rief er. nun ploppte jede halbe Sekunde eine silberne Lichtkugel aus seinem Zauberstab und traf ein ausgesuchtes Ziel. Innerhalb von fünf Sekunden hatte er die ihn umschwirrenden Geisterwesen verjagt. Die würden nun bis auf zehnfache Rufweite von ihm weggeschleudert und konnten eine Stunde lang nicht näher als die halbe Rufweite an ihn heran. Er merkte, dass ihn dieser Dauerzauber gut auszehrte. Doch er hatte vorsorglich einen großen Schluck Wachhaltetrank eingenommen, um die Nacht und den kommenden Tag mit einer sicher sehr aufwühlenden Ratssitzung zu überstehen.

Latour sah, wie auch andere gegen die blutrote Geisterflut den Verscheucher böser Geister zauberten. Professeur Faucon hatte ihm damals erzählt, dass der Zauber nur noch von drei Zaubern übertroffen werden konnte, dem Patronus, der auch gegen Nachtschatten nötig war, dem Mondfeuerzauber, der Geisterwesen aller Art dauerhaft zurücktreiben konnte, aber nur von Hexen und Zauberern mit eigenen Kindern gewirkt werden konnte, sowie der große Exorzismus, mit dem ein klar umgrenzter Raum von allen körperlosen Erscheinungsformen geräumt und dauerhaft für Geisterwesen unbetretbar gemacht wurde.

Als Latour einen Blick nach oben wagte sah er, dass der gerade vorhin noch als dunkelgrauer Schemen sichtbare Mond wieder von völliger Schwärze verdeckt wurde. Das hieß, die böse Kraft in der Kuppel hatte sich durch etwas aufgefrischt, nachdem der tagelange Fortpflanzungsrausch sie abgeschwächt hatte. Hieß das, das diese Erscheinungen wen getötet hatten, um damit die Kuppel wieder zu verdunkeln?

Ein grün-goldenes Blitzgewitter in Richtung des Farbensees zog Latours Aufmerksamkeit auf sich. Er flog schnell darauf zu, wobei er drei ihm nachjagende Blutgeister von sich abschütteln musste. Er sah, wie kleine, goldene Funken in den Himmel jagten und konnte ein kurzes violettes Aufblitzen in der undurchdringlichen Schwärze sehen.

"Falcoculus!" Dachte Latur mit auf seine Augen zielendem Zauberstab. Er kniff die Augen zu und wartete, bis die kurze Erwärmung und Vibration in den Augen abklang. Jetzt hatte er den Fernblick eines Greifvogels. Damit konnte er nun erkennen, was passierte.

__________

Julius erwachte, weil Millie zusammenzuckte. "Autsch! Nein, nicht jetzt schon", hörte er seine Frau aufseufzen. "Wehen?" fragte er. Doch dann sagte Millie. "Neh, die Kleine ist wieder von irgendwas aufgeweckt worden und ... Mpppf! Schon blöd, dass die mit den Füßen nach oben liegt und ... Nnnk!" Millie presste schnell Zähne und Lippen zusammen und schluckte dann. Danach gab sie einen halbunterdrückten Rülpser von sich. "O Mann, gemischter Salat mit Jogurtsoße zum Abend war wohl doch nicht das richtige für mich und die Kleine", grummelte sie. Dann deutete sie auf das Fenster. "Hörst du das auch da draußen?!" Julius lauschte, während Millie wohl unter weiteren Tritten und Schlägen der noch gut verstauten Clarimonde litt. Jetzt hörte er auch das wilde Geheul und Geschrei wie von heranstürmenden Kriegern. Er zog schnell den Schnarchfängervorhang zur Seite und öffnete den Vorhang vor den Fenstern. Dann griff er schnell nach der auf seinem Nachttisch liegenden Goldblütenhonigphiole und legte sie zwischen Millies ausladenden Brüsten und dem nicht minder vorgetriebenen Bauch, der sich immer noch hier und da ausbeulte. Die Phiole erglühte in einem warmen Licht, zitterte aber nicht. "Danke, schon besser. Offenbar wirkt wieder was auf unsere Bäume ein", grummelte Millie, die froh war, dass die Phiole offenbar das ungeborene Mädchen beruhigte. Da rief Aurore aus ihrem Zimmer: "Papa , rote Monster kämpfen gegen die lieben Lichter!"

"Ja, sehe ich!" rief Julius und bekam dafür von Millie einen Kniff in die rechte Wange. "Wenn sie mir deshalb rausfällt, weil du so laut brüllst gilt dasselbe wie bei der Sache mit den Sardonianerinnen!" schnaubte sie. Doch dann fand sie, dass sie das auch sehen musste.

Sie sahen beide, dass eine Gruppe aus blutroten Leuchterscheinungen, die sich zu großen, quallenartigen Nebelwesen auswuchsen, gegen die zwischen den Apfelbäumen tanzenden grün-goldenen Lichter flogen. Dabei prallten sie jedoch ab und verfärbten sich zu goldenen Lichtkugeln, die im nächsten Moment wie umgekehrte Blitze in den Himmel hinaufzuckten. Wütendes und auch schmerzhaftes Geschrei drang von der Grundstücksgrenze her zu ihnen durch. Dann krachte etwas irgendwo, und Julius ahnte, dass da gerade was kaputtgegangen war. Er fürchtete schon, dass einer der fünf Bäume dem Ansturm nicht mehr standgehalten hatte. Doch als er das Fenster öffnete und den Kopf hinaushielt sah er, dass die Bäume noch alle standen und die Wand aus tanzenden Lichtern aufrechthielten. Wieder prallten zwei rote Spukerscheinungen auf die weißmagische Barriere und wurden zurückgeworfen. Dann wurden auch diese zu goldenen Kugeln, die wie umgekehrte Blitze in den Himmel einschlugen. Jetzt konnte Julius trotz des über dem Haus tobenden Elmsfeuers einen violetten Blitzstrahl sehen, der die gerade wieder völlig schwarze Kuppel durchschnitt. Mittlerweile wusste er, dass das bedeutete, dass ein Teil der dunklen Kraft unschädlich entladen wurde.

"Die werden von unseren Bäumen in Gegenladungen zur dunklen Kraft umgepolt", stellte Julius mit einer kindlichen Mischung aus Staunen und Freude fest. Millie, die sich auf ihn stützend aus dem Fenster sah erkannte nun auch, wie zwei der roten Erscheinungen voll mit grün-goldenen Lichtern zusammenstießen und dadurch zu goldenen Kugelblitzen wurden.

"Weg mit der Mauer!" brüllten mehrere Stimmen, die von wohl fliegenden Menschenwesen stammten. Dann schrie eines davon erst schmerzhaft und dann in heller Freude auf, bevor ein weiterer goldener Blitz in den Himmel zuckte. Jetzt konnte Julius auch sehen, wie von den Zweigen der Bäume grüne und goldene Blitze in die heranbrausende Wolke blutroter Leuchterscheinungen schlugen. Wo die Blitze trafen wurden die roten Erscheinungen davongeschleudert. Ob sie dabei zu diesen goldenen Entladungen wurden konnte Julius nicht mehr sehen. Als nun eine zusammenballung aus mehreren roten Spuklichtern zwischen den Bäumen in die Lichtwand schlug sah es für eine Sekunde so aus, als könnten sie diese durchbrechen. Doch dann schlug die weiße Magie in den Apfelbäumen um so heftiger zurück. In einem grellen goldenen Licht verloschen die zusammengeknäuelten Erscheinungen. Julius fühlte eine Erschütterung der Erdkräfte. Offenbar hatte dieser Befreiungsschlag die Bäume einiges an Kraft gekostet. Hoffentlich hatten diese Geisterwesen nicht genau die richtige Taktik gewählt, dachte Julius nun nicht mehr so siegessicher.

Zwei weitere Leuchtwolken aus mehr als zehn Erscheinungen prallten auf die Lichtwand und drückten sie nach innen. Dann entlud sich erneut das goldene Licht. Julius fühlte seine Augen schmerzen. Ganz gesund war das nicht für die Augen. Auch fühlte er wieder einen kurzen Aufruhr in der Erde. Dann jedoch verstummten die gerade noch gehörten Schmerz- und Wutschreie. Er lauschte und sah, trotz der kleinen schwarzen Punkte vor den Augen, wie sich das tanzende Licht zwischen den Apfelbäumen wieder beruhigte. Ja, die Lichter wurden zu einer sanft leuchtenden, grün-goldenen Wand vereint, die sich nach oben hin zu einer fünfeckigen, über dem Apfelstiel verjüngenden Säule ausformte. "Hmm, die Kleine hat heftig gestrampelt, als die zwei grellen Blitze waren, Monju. Die hat die bestimmt durch mein Nachthemd und meinen dicken Bauch gesehen. Hoffentlich hat sie dabei nichts an den Augen abbekommen."

"Ui, so ganz gesund war das auch nicht, wie hell das war. Aber wenn meine Augen jetzt nicht komplett durch den Wind sind kann ich durch die grüne wand den Mond heller sehen als vorher, halb so hell wie"vor der Entladungswelle."

"Seid ihr in Ordnung? Ich bin in Aurores Zimmer", hörten sie Béatrice.

"Kann nur sein, dass wir überreizte Augen haben, Tante Trice. Die Entladungen waren gerade sehr hell", erwiderte Millie."

"Ich gebe Aurore Augentrosttropfen und euch auch", antwortete Béatrice Latierre. "Julius, kommst du bitte einmal herüber?" Julius bestätigte es und ging mit seiner auf ihn gestützten Frau ins Zimmer ihrer beider ersten Tochter.

"Ich fürchte, Julius, deine ganze elektrische Nachrichtenausrüstung ist zerstört", sagte Béatrice, während sie Aurore eine dünne Augenbinde umlegte. "Ganz ruhig, Rorie, nur Heiltropfen für die Augen, damit du morgen wieder alles ohne Aua sehen kannst", sagte sie. Dann sah sie Julius und Millie an. "Ich zeige dir mal eben, was ich meine, Julius. Dann bekommt ihr auch die Augentrosttropfen und schlaft am besten mit Augenbinden, damit sich eure Augen erholen. Diese beiden grellen Entladungen waren heller als die Sommermittaggssonne."

"Da hast du wohl recht", sagte Julius. Millie wandte noch ein, dass Clarimonde von den beiden Lichtern wohl auch was abbekommen haben konnte. "Da brauchst du keine Angst haben, Millie. Das Gewebe von Bauchdecke und Gebärmutter dürften das heftigste abgehalten haben. Sie hat aber sicher ein helles Licht aufblitzen sehen können, was sie sicher erschreckt hat, wo es in dir drin sonst so dunkel ist. Aber ich gebe dir gleich noch einen Trank, der über die Nabelschnur die Regeneration verletzter Gewebe und Sinneszellen anregt, nur zur Sicherheit, wo die sicher wieder heftig in deinem dicken Ranzen tanzen wollte."

"Auch du Kessel bekommst irgendwann deinen Deckel und kannst richtig zum quellen gebracht werden", grummelte Millie. Béatrice zwinkerte sie an und sah dann Julius so an, als bezöge sie Millies Antwort auf ihn. Das löste bei Millie ein verärgertes Grummeln aus: "Neh, der ist meiner!"

Als Julius durch das Fenster von Béatrices zeitweilligem Schlafzimmer hinaussah erkannte er mit einem Blick, dass sein heißer Draht zur technischen Welt gekappt war. Da, wo der pilzförmige Geräteschuppen gestanden hatte, lag ein qualmender Trümmerhaufen. Der Schuppen war nicht explodiert, aber schlagartig in Brand geraten und ebenso plötzlich wieder vom Feuer befreit worden, vermutete Julius. Béatrice erzählte ihm, dass sie mit angesehen hatte, wie gleich drei der roten Irrlichtwesen in den Pilz eingedrungen waren und darin dann ein greller Blitz aufgestrahlt war, aber nicht so grell wie die beiden heftigen goldenen Entladungen. Für zwei Sekunden hatte der Schuppen in lodernden Flammen gestanden. Dann hätten sich zehn rote Unheilslichter gleichzeitig auf die Flammen gestürzt und sie erstickt. Allerdings sei der Schuppen dann zusammengekracht.

"Soviel dazu, was außerhalb unserer kleinen Oase der weißen Magie passieren kann", sagte Julius mit einem schwer zu unterdrückenden Unwohlsein. Wenn Béatrice ihn nicht anflunkerte hatten die roten Leuchtdämonen erst den Laptopakku durch ihre Magie zur plötzlichen Entladung getrieben und dann wie der Brandlöschzauber die Flammen erstickt. Hieß das, dass sie eisige Kälte übermittelten und/oder Sauerstoff entzogen? Dann waren diese roten Leuchterscheinungen eiskalte Killer, dachte Julius. Damit stand auch fest, was diese blutroten Irrlichter für einen Auftrag hatten: Finden und töten. Ihm lief es eiskalt den Rücken herunter, sich vorzustellen, wie viele Menschen diesen Leuchtdämonen vielleicht schon zum Opfer gefallen waren.

"Da könnte noch giftiger Qualm rauskommen. Diese Plastikteile brennen mit üblen Dämpfen ab", sagte Julius zu Béatrice.

"Gehst du davon aus, dass du irgendwas davon noch benutzen kannst?" wollte Béatrice wissen. Julius überlegte und erwähnte die Solaranlage mit den Feuerperlen. Die war sicher noch übrig. "Gut, dann hol ich die da raus und räume den giftigen Schutt weg", erwiderte Béatrice.

Die junge Heilerin und Hebamme zielte mit ihrem Zauberstab auf den Trümmerhaufen und bewegte ihn sachte. da hob sich ein stark verrusster, verbeulter Metallkasten aus dem Trümmerhaufen heraus und schwebte durch die Luft, langsam aber zielsicher. Béatrice ließ ihn durch die Barriere aus grün-goldenem Licht gleiten und dann auf den Boden aufkommen, und das machte sie alles ohne ein einziges gesagtes Wort. Dann zielte sie erneut auf den Trümmerhaufen. "Quod destructum video vanesco totalum!" rief die Heilerin so laut sie konnte, dass es von den Bäumen auf dem Grundstück schwach widerhallte. Ein blaues Licht flimmerte dort, wo der qualmende Trümmerhaufen lag. Das Licht wurde gleichmäßig und heller. Dann erlosch es übergangslos. Der qualmende Trümmerhaufen war restlos verschwunden. Nur verbrannte Erde und ebensolche Grasbüschel zeigten, wo vor wenigen Minuten noch ein pilzförmiger Geräteschuppen gestanden hatte. Julius erkannte wieder, dass es immer noch stärkere und kundigere Zauberer und Hexen als ihn gab. Denn das hätte er trotz Ruster-Simonowsky-Begabung so nicht mal eben machen können. Abgesehen davon kannte er den abgewandelten Verschwindezauber noch nicht, den sie benutzt hatte. Damit war sie aber noch nicht durch. Sie streckte ihren Zauberstab kerzengerade nach oben und wisperte: "Locus Solis indicato!" Daraufhin erschien ein schwacher blau leuchtender Fleck dnordnordöstlich des Apfelhauses, wie Julius durch das ihm antrainierte Gespür für das Erdmagnetfeld sofort erfasste. Béatrice wiegte den Kopf, weil sie wohl eine andere Reaktion erwartet hatte. Doch dann nickte sie und zielte mit dem Zauberstab erst auf den Lichtfleck und von da aus auf das verbrannte Erdreich. "Cum sole iuvante terram herbamque crematm purgato!" Ein flimmernder blauer Lichtbogen spannte sich zwischen dem immer noch sichtbaren blauen Lichtfleck auf dem Boden und der verbrannten Stelle. Dann stieg weißer Rauch auf, und die Verrußungen und Aschereste stiegen in kleinen Wolken nach oben, um im freien Flug im Nichts zu verschwinden. Dieser Vorgang dauerte zehn Sekunden. Dann erlosch der Lichtbogen. "Finis indicatum!" wisperte Béatrice Latierre. Der blaue Lichtfleck im Nordnordosten erlosch.

"Wo hast du denn diese Zauber her, Trice?" Staunte Julius.

"Also, den Sonnenstandsanzeiger habe ich aus einem altrömischen Buch über Zauber der Sterne und Planeten von einer gewissen Diana Flavia Amaluna, von der es heißt, sie habe die machtvollsten Zauber von der Göttin Hecate selbst erlernt, die ja als Urmutter aller griechisch-römischen Hexen angebetet wurde. Den Zauber, um verbranntes Erd- und Pflanzenreich zu säubern habe ich aus dem Handbuch für Entgiftungszauber und Reinigung von Unglücksstellen von María del Carmen Gotapura, einer südspanischen Hexe aus dem 15. Jahrhundert. Aber den dürfen auch Zauberer können."

"Du hast eben so geguckt, als wäre dir einer der Zauber nicht so gelungen", erinnerte Julius sich und sie daran, dass sie bei dem Sonnenstandsanzeiger erst verdutzt den Kopf gewiegt hatte. "Ja, weil der sonst einen hellen goldenen Lichtfleck erscheinen lässt. Liegt aber sicher daran, dass wir noch in einer die Gestierne schwächenden Blase stecken. Jedenfalls kannst du ab morgen auf dem verbrannten Grund was neues hinbauen. Die Kiste mit der Solaranlage lasse ich mal da liegen, damit sie abkühlt. Feuerperlen neigen dazu, überschüssige Hitze noch über Stunden abzugeben, wie die elektrischen Herdplatten, die deine Mutter mir mal gezeigt hat."

"Verstehe", sagte Julius, obwohl er die Kiste nicht hatte glühen sehen können. Das konnte aber an der grün-goldenen Lichtwand und an seinen leicht angegriffenen Augen liegen.

"Diese Geisterwesen sollen töten, Béatrice", fiel es Julius wieder ein, was er gerade eben noch gedacht hatte.

"Deshalb wurden sie wohl auch von eurer Barriere in reine Lebensenergie umgeformt und in die Kuppel hinaufgeschleudert", sagte Béatrice. "Lebensenergie?" fragte Julius. "Das vermute ich, weil die Kuppel jetzt wesentlich lichtdurchlässiger ist als vor dem Lichterspuk."

"Wenn da noch welche draußen rumgeistern sind Leute in Gefahr", grummelte Julius, weil er erkannte, dass er den Leuten helfen musste.

"Hier spricht Thalos Latour. Ist da noch wer im Apfelhaus?" hörten die wachen Bewohner des runden Hauses die Stimme des Feuerwehrhauptmanns und derzeitigem Sicherheitswächters. Alle winkten zum offenen Fenster hinaus. Thalos flog auf die grün-goldene Lichtwand zu und durchdrang diese. Dabei umstrahlte ihn für eine Sekunde honigfarbenes Licht. "Ui, schön heiß, eure Lichtmauer", stellte der Feuerwehrzauberer fest. "Öhm, was waren das bitte gerade für heftige Leuchterscheinungen?"

"Die roten sind wohl Mordgeister, die Feuer ausdrücken und Menschen töten können", sagte Béatrice Latierre. "Die grünen bei uns sind die Kräfte, mit denen wir unser Grundstück bezaubert haben, eine Magie Ashtarias", sagte Julius.

"Ja, und die goldenen Lichtentladungen waren eine Wechselwirkung zwischen diesen beiden Magieformen", sagte Béatrice. "Da die Kuppel jetzt noch lichtdurchlässiger ist als vor dieser Nacht haben diese wohl einen Teil der in ihr fließenden Kraft ausgelöscht."

"Das habe ich auch mitbekommen. Achso, das mit den roten Geistern kann ich bestätigen", rief der Feuerwehrzauberer und flog mit seinem Ganymed 12 soweit nach oben, dass er auf gleicher Augenhöhe mit den Latierres war. "Aber zwei Goldblütenhonigphiolen auf einmal halten die sicher ab. Die haben aber das große Feuer und die Laternen ausgepustet. Offenbar brauchen die Dunkelheit. Ich konnte sie aber mit dem Abwehrzauber gegen böswillige Geisterwesen zurückscheuchen. Meine Leute können den alle."

"Hast du auch in die grellen Entladungen reingeguckt?" fragte Béatrice und sah die leicht veränderten Augen des vor ihnen fliegenden.

"Ich habe mir den Falkensichtzauber aufgeladen. Im Moment habe ich vor jedem Auge einen schwarzen Punkt, als wenn ich zu lange ohne Gleitlichtbrille in die Sonne geguckt hätte. - Ich habe aber Augentrost- und andere Heiltränke und -tonika mit, Mademoiselle Latierre", fügte er gleich hinzu. Béatrice erwiderte, dass er dann bitte unverzüglich die Augentrosttropfen einträufeln sollte.

"Ich bin Feuerwehrzauberer, ich habe genau wie Ihr Schwiegerneffe und ihre Nichte einen Ersthelferkurs abgelegt", grummelte Latour. "Ich meine ja nur, bevor meine Kollegen mit Ihnen Schimpfen, Monsieur Latour, auch und gerade weil Sie als Ersthelfer ausgebildet sind und da vor allem gilt, die eigene Gesundheit wiederherzustellen, wenn eine Rettungsaktion diese beeinträchtigt hat."

"Hera muss ein verfluchter Dibbuk sein", knurrte Latour. Julius griff dieses Stichwort auf und rief: "Apropos böse Geister und besessene Leute, die Biester könnten andere töten, und die von Sardonias Geist getriebene könnte auch noch irgendwo auftauchen."

"Was du nicht sagst, Jungchen. Deshalb muss ich auch gleich weiter, die Abwehr gegen diese roten Todeslichter abstimmen. Hinter eurer Lichtmauer seid ihr ja sicher. Öhm, dein Elektrogerätepilz, was ist mit dem, Julius?"

"Von den bösen roten Geistern kaputtgemacht, Thalos. Besser der als wir", erwiderte Julius so, als ginge ihm der Verlust seiner Muggelweltausrüstung nicht so nahe.

"Na ja, dann brauchst du dich ja wegen Grandbois' Empfehlung nicht mehr zu verbiegen, ob Muggeltechnik oder Magie", scherzte Latour.

"Öhm, den solltet ihr mit Hypergeschwindigkeit absichern, weil der ja keine Goldblütenhonigphiolen bei sich haben will", sagte Julius und bekam ein beipflichtendes Knuddeln von Béatrice.

"Nichts für ungut, aber ich fliege nicht herum, weil ich die tolle Nachtluft genieße, Monsieur Latierre. Meine Leute sind schon längst zu dem und den anderen neunzehn Elsternfußlern hin. Aber die haben sich noch nicht gemeldet. Aber jetzt muss ich weiter, zusehen, dass wir diese roten Mordfunzeln zurückscheuchen, dass die nicht doch noch wen unschuldigen erledigen."

"Gute Jagd!" wünschte Julius. Der Feuerwehrzauberer und Sicherheitsleiter bedankte sich und schwirrte wieder davon.

"Wer hat noch mal gesagt, dass Ärzte oder Heiler die schwierigsten Patienten sind?" fragte Julius seine Schwiegertante. "Weiß heute keiner mehr, weil das schon seit Jahrtausenden bekannt ist", erwiderte Béatrice.

"Julius, gibt es euch noch?" hörte Julius' Camilles Stimme im Kopf. Er schickte ihr unverzüglich eine Antwort. "Wir hatten ungebetene Gäste aus rotem Licht. Aber die mit der Erweiterung des Friedensraumzaubers, den ich von Ianshira lernen durfte, und der auf zwölf im Kreis verteilte Steine mit Goldeinschluss gesprochen werden muss konnten wir die diese Wesen abwehren. Das sind Blut- oder Opfergeister, Julius."

"So heißen die?" wollte er wissen. "Florymont vermutet, dass Sardonia oder ihre Gehilfin sie aus den Kraftquellen der Kuppel heraufbeschworen hat, um ihr schnell wieder neue Leben zu erbeuten. Florymont hat schnell mit seiner Silberdose durchgerufen, dass vor allem die Elsternfußler beschützt werden müssen. Darauf kam eine ziemlich knurrige Antwort unseres Feuerwehr- und Sicherheitshüters, dass er seine Leute schon zu denen hingeschickt hat."

"Hat er auch gerade von uns gehört", schickte Julius zurück. Mit Camille konnte er trotz der verfremdeten Kuppel noch ganz klar und ohne Anstrengung mentiloquieren. "Die können nur nachts jagen", erwiderte Camille nur für ihn vernehmbar. Da traf ihn ein kalter Wasserstrahl voll am Kopf. "Du weißt, dass du das abkriegst, wenn du mehr als zwei Melorunden hintereinander durchziehst, wenn ich dabei bin?" fragte Béatrice ihn sehr verknirscht. Er schüttelte sich wie ein begossener Hund und sagte: "Camille wollte nur wissen, ob es uns noch gibt und wie wir das mit diesen Geistern mitbekommen haben. Mehr nicht."

"Mehr nicht war schon viel genug", sagte Béatrice unerbittlich.

"Tante Trice, er kann mit Camille genauso locker meloen wie er mit ihr sprechen kann, wo die zwei Ashtarias Kinder sind", grummelte Millie.

"Trotzdem ist das sehr anstrengend für den Kopf, sich schnell über die fünf Stufen durchzukonzentrieren und dann eine längere Botschaft abzusetzen, Mildrid. Aber jetzt kriegt ihr auch besser die Augentrosttropfen und schlaft. Die roten Geister sollten jetzt wissen, dass sie nicht zu euch durchkommen."

Wenige Minuten später lagen Julius und Millie wieder nebeneinander im Bett. Sie trugen beide leichte aber lichtundurchlässige Augenbinden. So konnten sie die Nacht erholsam schlafen.

__________

Sie spürte die machtvollen Entladungen wie wuchtige Schläge. Zwar hatte sie es wie ein großes Labsal empfunden, dass die ausgeschickten Geister ihr gleich zwanzig Seelen auf einmal gebracht hatten. Doch dann waren im Gegenzug erst langsam und dann mit vier großen Schlägen an die hundert ausgeschickte Geister entrissen und die Kraft der Kuppel geschwächt worden. Dafür kamen aber keine neuen Seelen von Zauberern. Das konnten nur diese Goldblütenphiolen sein, welche Blanche Faucon und ihre Kumpane von der sogenannten Liga gegen dunkle Künste hergestellt hatten. Also kamen die Blutgeister nicht gegen diese vertückten Schutzgegenstände an.

Sie quälte jedoch eher die Frage, welch ein Zauber es vollbrachte, so viele versklavte Seelen auf einmal zu befreien und ihr auf nimmer Wiedersehen in die Nachtodgefilde entwischen zu lassen. Hatte sie die falsche Vorgehensweise gewählt?

Sardonia/Hugette wartete noch bis zur Morgendämmerungszeit. Dann befahl sie ihre Geister wieder zurück. Nun konnte sie die ausgesandten Seelen befragen, was ihnen widerfahren war. Dabei erfuhr sie mit wachsendem Unmut, dass die Geister die mit Goldblütenhonig geschützten Menschen nicht durchdringen und somit entleiben konnten und dass sie an drei Orten keinen Durchlass gefunden hatten, ja bei zwei Orten viele Leidens- und Artgenossen verloren hatten, alles Orte, die mit dem Namen Dusoleil oder Latierre verbunden waren. "Es sind diese Apfelbäume. Die hat eine Zauberkraft des Lebens aus Atlantis in diese Bäume hineingetrieben, die sich mit den Bäumen und der sonne weiterentwickelten. Doch eigentlich hätten die Bäume gar keine Kraft mehr haben dürfen, wo sie in den letzten Wochen keine Sonne mehr bekommen hatten. Also musste sie was machen, um die Kraft aus den Bäumen zu nehmen, ja sie so bald sie konnte abtöten.

_________

Julius schlief trotz der Aufregungen der Nacht gut ein. Doch dann träumte er, er sei zusammen mit zwei in grün gekleideten Männern in einem tropischen Dschungel unterwegs. "Bodentrupp Delta Zulu neuner sieben, Rückzug auf sichere Position Bravo Echo zwo eins fünfer. Wiederhole, Rückzug auf sichere Position Bravo echo zwo eins fünfer", quäkte eine befehlsgemäße Stimme aus dem Funkgerät.

"Hey, was soll'n der Quatsch jetzt?" fragte einer der Männer in Grün. Julius erkannte, dass es zwei Soldaten der amerikanischen Armee waren.

"Kann sein, dass die das Gebiet mit Agent Orange begießen. Dann möchtest du nicht gerade unter einem Baum stehen, Fred. Also Rückzug. Hey, Private, nicht einschlafen!" Julius schrak zusammen, als ihn der eine Soldat am Arm griff. Da wachte er auf. Was sollte denn das jetzt? Hatte er echt geträumt, dass er bei einer kleinen Einheit US-Soldaten in Vietnam unterwegs war? Dabei war das schon zehn Jahre her, wo er auf Drängen seines Vaters einen Artikel über die Gefährlichkeit von Dioxinen gelesen hatte, weil einer seiner Freunde jungenhaft rumgewitzelt hatte, dass sie ja einen ziemlich verwilderten Wald bei Reding mit Agent Orange benebeln sollten, um da ein neues Sportzentrum hinzusetzen. Ja, stimmt, da hatte er auch geträumt, wie heftig das Zeug auf Leute am Boden gewirkt hat.

"O Mist, wenn die meint ... Okay, Mädchen, klären wir", dachte Julius und schlüpfte leise aus dem Bett, um Millie nicht zu wecken.

__________

Aus Mildrid Ursulines Reportage "Unter der Dämmerkuppel"

18. Juni 2003

Ich bin froh, dass unsere Digekas noch arbeiten, obwohl letzte Nacht einiges los war. Das liegt aber auch sicher daran, dass wir nun unter einer Morgendämmerungskuppel wohnen. Warum das so ist später.

Die letzte Nacht war für uns sehr aufregend und für zwanzig von uns leider tödlich. Unsere Hauptfeindin, Sardonias Gehilfin, hat eine Armee von roten Todesgeistern heraufbeschworen, die durch unsere Gemeinde gejagt sind uns den Auftrag hatten, möglichst viele Leute umzubringen. Noch einmal unser aller aufrichtigen Dank an Madame Faucon und die Liga gegen dunkle Künste für die schnell und vielzähligen Goldblütenhonigphiolen. Die haben die meisten von uns vor den roten Mordgeistern geschützt. Leider konnten unsere Sicherheitstruppen nicht schnell genug vor Ort sein, um Monsieur Grandbois und den anderen selbsternannten Erwachten zu helfen. Sie konnten um halb ein Uhr nachts nur noch als aufrechtstehende Eisstatuen im Haus von Louis Grandbois gefunden werden. Auf Beschluss der Heiler und der Dorfrätin für gesellschaftliche Angelegenheiten wurden die vereisten Körper bis auf weiteres in einem fensterlosen und mit zusätzlichen Schutzzaubern verschlossenen Haus eingelagert. Wir müssen erst wissen, was die Angehörigen sagen und ob die Betroffenen dann hier in Millemerveilles begraben werden oder verbrannt werden sollen. Zumindest konnten die roten Mordgeister "nur" diese zwanzig Zauberer töten. Doch das waren eindeutig zwanzig zu viele. Allerdings verstärkte sich die dunkle Macht in der Kuppel dadurch nur für wenige Minuten. Denn die herumjagenden Geister prallten auf wirksame Schutzzauber bei verschiedenen Grundstücken. Einige davon waren so stark, dass sie die roten Geistererscheinungen mit einer Form von Lebenskraft aufluden und sie dadurch aus dem Bann Sardonias befreiten. Die so umgeformten Geister entwichen nach obenund entluden ihre Kraft in der Kuppel. Ihre Seelen sind dadurch aber wohl endgültig befreit und zum Übergang in die Nachtodgefilde befähigt worden. Jedenfalls war am Ende dieser Nacht die Kuppel deutlich lichtdurchlässiger als vorher. Das spricht dafür, dass die Vorgehensweise unserer Feindin ein nach hinten losgehender Zauberstab war. Der Dorfrat fürchtet jedoch, dass unsere Feindin die kommenden Nächte für neue Versuche nutzen wird. Es wurden weitere Sicherheitsmaßnahmen getroffen, über die ich hier erst einmal nichts schreiben darf, um Anhängerinnen der von Sardonia getriebenen nicht auf unschöne Ideen zu bringen.

Wir haben jetzt eine hellgrüne Sonne am Himmel, der mittags wie ein tiefblauer See gefärbt ist. Die Sonne gibt auch mehr Wärme ab. Die Sternenkundler in Millemerveilles haben die Einzelfarben des Sonnenlichtes abgebildet und tatsächlich neben dem bisherigen Blau und Violett jetzt auch schwach leuchtendes Gelb gefunden und sehr dunkles Rot. Die von der Sonne kommende Wärme ist laut Berechnungen der in Millemerveilles lebenden Sternenkundler und Thaumaturgen gerade ein zwanzigstel so stark wie um diese Jahreszeit üblich. Aber immerhin haben wir im Moment wieder Wärme. Es gelingt sogar, mit fünf Goldblütenhonigphiolen zugleich die Kuppel zu verlassen, haben drei Sicherheitsbeauftragte herausgefunden. Sie konnten neue Brennstoffe einkaufen und auch wichtige Materialien beschaffen, um unser Weiterleben so angenehm wie möglich zu gestalten. Allerdings verheizten sich die Goldblütenhonigphiolen regelrecht, als die Ausgeschickten wieder zurückkamen. Daher müssen wir auf weitere Lieferungen warten. Das dürfte jetzt wegen der Lichtdurchlässigkeit aber leichter sein.

MUL

__________

In der französischen Niederlassung von Vita Magica, 19. Juni 2003, 10:15 Uhr Ortszeit

"Jetzt haben wir es amtlich, Leute. Wir sind die meistunerwünschten von ganz Europa", flötete Perdy, als er mit einem Stapel Zeitungen in den Besprechungsraum kam. "Die Franzleute haben keinen Humor, und vor allem haben die nicht kapiert, wie sehr wir denen geholfen haben."

"Vorsicht mit der Wortwahl", mahnte ihn Mater Im-Moment-Noch-Vicesima. "Aber Dankbarkeit hätten wir von denen eeh nicht erwarten können, wo wir ihnen klargemacht haben, dass wir jetzt großräumig stimulierende Mittel einsetzen können. Selbst schuld, wenn sie bisher diese Nachwuchsverweigerungshaltung gepflegt haben."

"Ja, und die Werwölfe haben jetzt doch was gefunden, um sich vor dem blauen Mond zu verstecken, Leute. Die haben sich wohl von den Langzähnen sagen lassen, wie die ihre besondere Ausstrahlung und ihre Gerüche abschirmen können. Jedenfalls kriegen wir außer den registrierten Mondheulern keinen mehr erfasst", schnaubte einer der Mitglieder des Rates des Lebens. "Wer hat noch mal gesagt, Blauer Mond sei todsicher?"

"Derselbe Mensch, der euch allen gesagt hat, dass wir das nur dreimal durchziehen können und deshalb erst einmal möglichst viele Mondlichtglocken bauen sollten, bevor wir das groß aufziehen", sagte Perdy. "Aber eine nicht unbedeutende Mehrheit von euch hat darauf bestanden, die Operation "Blauer Mond" schnellstmöglich durchzuziehen. Abgesehen davon haben wir zumindest das Ziel erreicht, dass die Zauberer und Hexen jetzt wieder verstärkt hinter den Mondgeschwistern herjagen, weil die vor Vergeltungsaktionen sicher sein wollen", sagte Perdy.

"Ja, und wir wissen, dass wir wohl mit unseren mehrfach gestaffelten Schildzaubern in den Außeneinsatzmonturen durch die abgeschwächte Kuppel von Millemerveilles brechen können. Vielleicht machen wir das doch mit den Incantivacuum-Kristallen, was die Ratskollegin Mater Vicesima vorgeschlagen hat", sagte Pater Duodecimus Canadensis.

"Ja, aber nur, wenn wir endlich herausfinden, wie genau diese Kraftquellen verteilt sind und worauf ihre andauernde Magie beruht", stellte Mater Vicesima klar. "Wenn wir an der falschen Stelle ein Magievakuum erzeugen könnte das alle Quellen zugleich entladen und dann ganz Millemerveilles zerstören. Will ich nicht wirklich und ihr auch nicht. Weil wenn das Dorf zerstört wird sterben auch mehr als 700 Hexen und Zauberer und womöglich fünfzig bis hundert gerade erst gezeugte Zaubererweltkinder."

"Vor allem wenn wir nicht wissen, ob jede Kraftquelle von einem Incantivacuum-Kristall vollständig erfasst werden kann, ihr Scherzbolde", meinte Perdy. "Deren Wirkungskreis hat nur zwölf Meter Radius."

"Deshalb müssen wir ja auch erst herausfinden, wie diese Quellen beschaffen sind", wiederholte Mater Vicesima.

"Ja, und wie geht's weiter mit Shacklebolt?" wollte Perdy wissen.

"Ab dem ersten Juli wird er wieder nach London gelassen, mit neuem Gedächtnis, dass er all das erlebt hat, was Rockwell in der Zeit an seiner Stelle erlebt hat. Immerhin hat er wahrhaftig hundertzwanzig erfolgreiche Zeugungen hinbekommen", sagte ein anderer vom Rat des Lebens. "Und wir suchen immer noch nach Phoebe Gildfork beziehungsweise der, die sie jetzt ist. Offenbar hat die sich mit ihrer unverhofften Zwillingsschwester sehr gut einigeln können, dafür, dass beide schwanger sind", sagte Mater Vicesima.

"Und Ladonna Montefiori sucht uns auch, Leute. Wir haben wie gesagt gerade jede Menge sehr guter Feinde in Europa", sagte Perdy. Dem konnte keiner widersprechen.

__________

Millemerveilles, am Abend des 19. Juni 2003

Ob die diese Nacht wieder spuken, Monju?" fragte Millie ihren Mann. Dieser wusste es nicht so richtig. Vom 18. zum 19. Juni waren einige der roten Geister im Ort herumgeflogen. Ich denke aber mal, das macht die, damit wir denken, dass ihr nichts besseres einfällt, Mamille. Aber ich fürchte, die hat schon den nächsten Schlag auf lager. Die wird jetzt gegen die Bäume vorgehen, weil sie weiß, dass die die Quellen unserer Schutzzauber sind. Aber da wird sie sich auch umgucken. Camille und Florymont haben verdammt schnell und gründlich geschaltet", sagte Julius.

Mitten in der Nacht wurden die Latierres durch eine Serie durch die Vorhänge leuchtender grüner und goldener Blitze geweckt. Julius wagte es, durch ein rußgeschwärztes Glas nach draußen zu sehen. Die Bäume standen wieder hell leuchtend da, während von weiter oben kleine Objekte über ihnen herunterfielen. Diese zersprangen auf Wipfelhöhe und ergossen einen Schwall Flüssigkeit über die Bäume. Doch genau da griffen die erweiterten Schutzmaßnahmen. Denn die Flüssigkeit traf nicht auf die Baumwipfel, sondern wurde von einer silbernen Halbkugelschale aus Licht aufgefangen, bis kein Tropfen mehr von oben kam. Dann schlossen sich die silbernen Schalen zu kompakten Kugeln und verschwanden. So ging das mehrmals innerhalb von zwei Stunden. Den Bäumen passierte dabei nichts.

"Ui, das klappt echt, was Uranie und Florymont vorgeschlagen haben. Die Flüssigkeiten können zwar nicht durch die Kuppel durchgeschleust werden, aber immerhin in den gegen Feuer- und Säuren abgesicherten Tank, der inwändig mit Gold beschichtet ist. Abgesehen davon dürfte ihr bald die Grundsubstanz ausgehen, was immer sie da über uns runterwirft. Sie benutzt die roten Geister als Bomber. Aber das Material muss sie irgendwo herkriegen. Bin gespannt, wo die das zuerst versucht."

"Und die Blitze, Julius?" wollte Millie wissen.

"Sie testet wohl, ob ihre roten Killerfunzeln nach dem bösen Gießen schon durchkommen. Florymont meint aber, dass sie auch nicht unendlich viele hat, höchstens 819. Wie er auf die Zahl kommt wollte ich wissen, aber er wollte es mir nicht sagen.

"Ja, sie könnte nur meinen, dann selbst mit einem Todesgas zu hantieren, weil VM uns zu deutlich gezeigt haben, dass ätherische Essenzen was anrichten können", unkte Millie.

"Hera meint, dass sie das erst macht, wenn ihr die Geister ausgehen sollten, weil sie dann die Kuppel nicht mehr über uns halten kann. Aber ich denke, die spekuliert immer noch darauf, alle hier wohnenden Hexen zu neuen Schwestern machen zu können", erwiderte Julius.

"Das kann die bei mir voll vergessen", schnaubte Millie. Wie zur Bestätigung wurde ihr Bauch von innen her ausgebeult. "Ja, Clarimonde, du willst auch nicht bei dieser Mordfurie mitmachen", bemerkte Millie dazu.

__________

Sie ärgerte sich beinahe grün und blau, als sie erfuhr, dass ihr Vorhaben misslungen war, die Bäume des Dorfes mit Grünbrandregentrank zu zerstören. Diese verdammten Muggelfreunde hatten das vorausgesehen und eine ihr unbekannte Form von Auffangzauber für jeden Baum eingerichtet. Weil die Kuppel jetzt wieder mehr Licht durchließ konnten die sogar Astralzauber dafür nehmen.

"So werde ich denn morgen das Übel bei den Wurzeln packen und die mir entgegenhandelnden persönlich heimsuchen", dachte Sardonia/Hugette.

__________

Millemerveilles, Miternacht des 20. Juni 2003

Als Sardonia/Hugette auf ihrem Besen in Richtung des Latierre-Hauses flog wurde sie von zehn ihrer Blutgeister begleitet. Sie wollte diesen verwünschten Bäumen um das runde Apfelhaus mit eigenen Zaubern zu Leibe rücken und dann die Latierre-Brut mit ihrem Lied der bösen Träume herauslocken, um sie dann mit ihrem Opferdolch einzeln abzuschlachten. O war sie wütend.

Als sie sich dem Haus näherte fühlte sie bereits dessen abwehr gegen sie, eine erklärte Feindin. Sie fühlte vor allem, dass in der Erde irgendwas lauerte, dass sie bekämpfen wollte. Musste sie also im Flug die mächtige Zauberaxt schwingen? Sie näherte sich bis auf fünfzig Meter dem leuchtenden Pentagon, dessen Ecken von je einem magisch erstrahlenden Apfelbaum gebildet wurden. "Magnasecuris Arborimortis!" zischte sie mit ausgestrecktem Zauberstab. In der Luft tanzten blaue Funken, die immer dichter zusammen flogen und dann zu einer mehr als drei Meter langen Axt aus purem Licht wurden. Gerade bekamen zwei der sie flankierenden Opfergeister grüne Blitze aus den dicken Ästen der Bäume ab und verwandelten sich in goldene Lichtkugeln. Nun konnte sie selbst hören, wie die gewaltsam erhaltene Unterwürfigkeit in grenzenlose Glückseligkeit umschlug, während die verwandelten Geister als goldene Kraftstöße in die Kuppel hinaufjagten. Wieder wurde diese dadurch ein wenig abgeschwächt. Jetzt hatte sie eben nur noch sechshundertfünfundsechzig Geister zur Verfügung, die 49 unentwickelten Seelen der geopferten Föten nicht mitgezählt.

Die Axt aus licht holte aus, schwang durch und krachte auf einen der Bäume. Doch der blieb stehen, spie nur grüne und goldene Entladungsblitze aus. Einer traf die orangerote Aura der anfliegenden Sardonia. Sie hörte einen lauten inneren Aufschrei der Freude. "Nichts da, du schläfst weiter", knurrte sie in Gedanken. Fehlte noch, dass Hugette wieder aufwachte und sich gegen die Fremdbenutzung ihres Körpers wehrte.

Als die Axt ein zweites Mal zuschlagen wollte schoss vom runden Haus her ein blauer Lichtball zwischen den Bäumen hervor und traf die ausholende Axt an der leuchtenden Klinge. das aus Luftzaubern entstandene Werkzeug zerbarst mit lautem Prasseln und pfeifen. Sardonia fühlte, dass ihr das Kraft absaugte. Wer konnte denn da so einen guten Zerstörungszauber? Dann sah sie die junge Hexe in einem der Fenster stehen. Das war nicht Mildrid Latierre. Die war gerade hochschwanger. Also konnte das nur deren Schwester Martine oder deren Tante Béatrice sein. "Katashari!" hörte sie unvermittelt aus dem Haus und sah gerade noch einen jungen, großen Mann mit hellen Haaren, der mit einem Zauberstab auf sie zielte. Da traf sie ein silberweißer Strahl voll am Brustkorb. Schlagartig verging ihr alle Angriffslust und schlug in Verunsicherung um. Warum war sie hier? Warum wollte sie .... Dann traf sie noch ein weißer Lichtstrahl, der sie augenblicklich von diesem Ort fortriss. Als sie wieder eine Welt um sich gewahrte war sie genau dort, wo sie die letzten Tage zugebracht hatte, im Raum des Steines der stetigen Fruchtbarkeit, wo nur Hexen hingelangen konnten. Und genau da wartete schon jemand auf sie.

__________

"Ui, diese Zauberaxt ist echt stark", flüsterte Julius Béatrice zu. Gerade eben hatten sie die durch Meldezauber angekündigte Feindin mit dem Feindesvertreibezauber aus Altaxarroi für mindestens eine Stunde von diesem Ort verbannt. Julius war froh, dass ihm noch eingefallen war, dass er diesen Zauber auch noch verwenden konnte, wenn Sardonia nicht auf der Erde landete und von seinem Lied der verbotenen Seele auf zehnfache Rufweite zurückgeworfen wurde.

"Der ist heftig. Aber er ist eben nur eine Zusammenballung aus gefrorener Luft, Julius. Mit der Sphäre der freien Luft ist der so locker zu kontern, dass ich mich frage, was Sardonias Gehilfin sich davon versprochen hat, den zu bringen."

"Weil Zauberfeuer immer noch nicht die volle Kraft haben, Tante Trice", sagte Julius. "Wollen nur hoffen, dass die andere Aktion gelingt, solange dieses Weib sich auf uns besinnt."

__________

Da stand eine Hexe in Grün, die eine unverkennbare Aura ausstrahlte, wie sie Sardonia gerade eben erst bei dem Apfelhaus der Latierres empfunden hatte. Dann stand da noch eine Hexe in einem rosaroten Umhang, die etliche Jahre älter war. Sie kannte beide, Camille Dusoleil und Hera Matine. Auch Hera trug etwas bei sich, dass eine starke Abwehrmagie ausstrahlte.

"Wer hat euch erlaubt, hier hereinzukommen?" Schnarrte Sardonia/Hugette. "Dieser Raum ist nur für die Schwestern der einzig wahren Herrin zu betreten, und ihr seid keine solchen."

"Es wird Zeit, Hugette, dass du den bösen Geist aus deinem Leib verbannst, der dich nur quält", sagte Hera Matine. "Wir, der Rat der rechtschaffenen Hexen Millemerveilles, haben gestern in unserer geheimen Sitzung beschlossen, Sardonias Erbe zu vernichten. Es hat schon wieder zu viel Leid und Tod gebracht."

"Du glaubst doch wohl nicht, alte Kinderpflückerin, dass ich mich von euch um meinen Triumph bringen lasse", zischte Sardonia/Hugette. "So werden meine Helfer euch beide vertilgen, sowie ihr das ja offenbar wollt. Herbei, meine Getreuen!" rief Sardonia/Hugette. Gleichzeitig zog sie den Opferdolch. "Ich werde euer Blut diesem Stein darbringen, auf dass ihr mir helft, mein Erbe wiederzubeleben, ihr einfältigen Weiber."

Durch die Wände drangen blutrote Leuchterscheinungen. "Haltet sie fest und saugt ihnen gerade soviel Kraft ab, dass sie sich nicht mehr regen können", schnaubte Sardonia/Hugette. Dann trat sie vor. Da umstrahlte Camille eine blau-goldene Aura, während um Heras Körper eine rosarote Aura erstrahlte. Die auf sie zufliegenden Geister prallten darauf. Die zwei, die Camille festhalten sollten glitten unter lauten Schreien zurück und verschwanden als goldene Schemen in der Wand. Die, welche Hera festhalten sollten wurden als blutrote Lichtkugeln durch die Decke geschossen. Weitere Geister flogen nach vorne. da zog Camille ihren silbernen Stern frei, der sofort weißgolden erstrahlte. Die Geister prallten wie auf eine Mauer und wurden von der Kraft seines Leuchtens davongeschleudert. Sardonia erstarrte und hörte in sich das gequälte Stöhnen der von ihr versklavten Seele Hugettes.

"Wir haben beschlossen, dass dieser Stein, der uns Hexen als Kraftquell gedient hat, nicht länger sein darf. Hexenblut erschuf ihn, Hexenblut soll ihn vertilgen", sagte Hera Matine. Sardonia sah, wie die Heilerin einen Gegnstand aus ihrem Umhang zog, ein großes, rotes Taschentuch. Sardonia fühlte sofort, dass darin eine starke Magie schlummerte. Dann warf die Hebamme das Tuch genau auf den Stein der stetigen Fruchtbarkeit. "Monatsblut einer bereits Mutter gewordenen Hexe, Tränen aus Freude und Leid vergossen. Frage Sardonia, was das bedeutet!" rief Hera Matine. Sardonia/Hugette wollte das auf den Stein treffende Taschentuch telekinetisch abfangen. Da trat Camille mit dem gezogenen Silberstern voll in ihr Blickfeld. Sie schaffte es nicht, das Taschentuch mit ihren Gedanken zu fassen, weil die Kraft des Silbersternes ihre Konzentration trübte. Wieder hörte sie das innere Wimmern. Dann hörte sie, wie das von Hera geworfene Tuch auf den Stein traf. "Ihr tollen Weiber. Wenn der Stein zerstört wird reißt er euch mit ins Verderben. Dann sei es eben so!" rief Sardonia/Hugette. Da warf sich Camille unvermittelt nach vorne und schlug den leuchtenden Silberstern gegen die Klinge des nun selbst orangerot erstrahlenden Dolches. Es klirte. Dann blitzte es grell auf, dann fühlte Sardonia, wie unvermittelt ein Teil ihrer Kraft entwich und hörte einen Chor aus umgekehrt widerhallenden Schmerzensschreien. Sie sah Funken aus dem Dolch sprühen. Gleichzeitig stiegen blutrote Wolken aus dem Stein der stetigen Fruchtbarkeit, in dem gerade keiner der früher eingekerkerten Geister steckte. Der Stein begann, Blasen zu werfen und Risse zu bekommen. Dann knisterten Rote Funken heraus. Zur selben Zeit entstiegen dem silbernen Dolch nebelhafte Gestalten, die Echos der Seelen, die mit seiner Hilfe ihren Körpern entrissen worden waren. Jede aus dem Dolch befreite Seelenessenz blieb gerade zwei Sekunden bestehen. Dann verschwand sie übergangslos. Sardonia blickte auf Camilles Heilsstern. Dieser leuchtete, berührte den Dolch aber nicht mehr. Sein Licht alleine reichte nun aus, ihn Stück für Stück zu entkräften.

Währenddessen lief die Vernichtung des großen Steines der stetigen Fruchtbarkeit weiter. Immer mehr rote Dunstwolken und glutrote Funken entfuhren ihm. Jedesmal schrumpfte der Stein ein wenig mehr. "Zurück in den Stein!" befahl Sardonia ihren Geistern rein gedanklich. Doch die ihr hier beistehenden Geister wurden durch das Licht des Silbersterns gebannt. Hugettes Körper erzitterte. Dann fühlte Sardonia, wie sie die Gewalt über diesen Körper verlor.< "Hugette, kämpfe gegen sie an, treibe sie aus dir hinaus!" rief Hera.

__________

"Es gab vier bekannte Seelenanker Sardonias. Einer war der Dolch. Einer war der Stein der stetigen Fruchtbarkeit, zu dem nur Hexen gelangten. Der dritte war der Stein der neuen Leben. Der vierte war der Stein der Vollendung. Ihn durften sie noch nicht zerstören, wusste Florymont Dusoleil, als er sich von seiner Frau an der ihr über Erinnerungsauslagerung übermittelten Standort hatte hinapparieren lassen. Ihr Heilsstern konnte die mächtigen Zauber durchdringen, die diese Art von Zutritt für unerlaubte verwehrte. Jetzt stand Florymont alleine vor dem Stein der neuen Leben und sah den wie ein aus dem Körper einer Riesin genommenen und versteinerten Uterus beschaffenen Stein an. Er vermeinte, die darin wohl noch gefangenen Seelen ungeborener Kinder wimmern zu hören. Er fühlte die ihn bedrängende dunkle Kraft. Doch er trug seine Apfelkernkette und fünf Goldblütenhonigphiolen. Seine Frau war gerade mit Hera in einer anderen Kammer zu gange. Was er tun musste musste zeitgleich mit dem anderen Vorhaben ablaufen, sonst bestand die Gefahr, dass alle Kraft auf einmal freigesetzt wurde.

Seit dem ersten Auftauchen jener Geisterwesen vor drei Tagen hatte er sich mit seiner Familie darauf vorbereitet. Das ganze war nur zwischen den Eingeweihten und dem sogenannten Stillen Dienst abgelaufen, ohne den Rest der Bevölkerung einzubeziehen. Jetzt trug er vier kleine Silberfläschchen bei sich, jedes mit knapp einem Viertelliter Blut gefüllt, eines von Camille, seiner Frau, eines von Uranie, seiner Schwester, eines von Jeanne, seiner ältesten Tochter und eines von ihm selbst. Es galt, die eingesperrten Seelen ungeborener Kinder den Ausgang in die Erlösung zu öffnen. Camille hatte ihm diesen Weg eröffnet. Doch er durfte ihn nur dann beschreiten, wenn sie die Herrin dieses Steines von ihm ablenken konnte. Als er ihre mentiloquierte Botschaft empfing, dass sie beim Stein der stetigen Fruchtbarkeit warr, begann er die vorberunten Fläschchen der Reihenfolge nach zu platzieren. Das erste von seiner Schwester im Osten. Dabei berührte er die kleine Flasche mit dem Zauberstab und sprach:

"Blut meiner Schwester, vor mir geboren,
nähre die Kinder, die einst verloren!"

"Leg los, wir sind auch dabei!" hörte er die Gedankenstimme seiner Frau. So eilte er zur Südseite des Steines und berührte die Phiole mit seinem eigenen Blut:

"Blute von meinen, als zweiter geboren,
selbst Vater geworden, dem Leben verschworen."

Als er diesen Vers ausgesprochen hatte stellte er die zweite Flasche an den Stein. Unvermittelt begann dieser zu erbeben. Schnell ging er auf die Westseite und besang die kleine Flasche mit dem Blut seiner Frau mit den Worten:

"Blute vom Weibe, das schenkte vier Leben
als liebende Mutter, soll Hoffnung euch geben!" Als er die kleine Flasche gegen den Stein lehnte erzitterte dieser und glühte rot auf. Nun konnte er die darin eingeschlossenen, zusammengerollten Geschöpfe sehen, wie sie selbst blutrot leuchteten, die eingesperrten Seelen monate vor dem ersten Atemzug getöteter Kinder. Dann eilte er nach norden und besang die vierte und letzte Flasche mit den Worten:

"Blute der Tochter, selbst mutter geworden,
befreie die Opfer von grausamen Morden!"

Jetzt glomm der Stein noch heller. Dann zielte Florymont mit seinem Zauberstab auf die Mitte des Steines und rief laut: "Im Dunkeln gefangen, weit vor eurer Zeit,
so seid durch vier Liebende gänzlich befreit!"

Ein blutroter Blitz schoss aus seinem Zauberstab und traf den Stein. Im selben Moment erstrahlten auch die vier in Sonnenlaufrichtung und vom Lebensalter her absteigend angebrachten Phiolen im blutroten Licht. Der ganze Stein glühte nun noch heller. Dann bildete sich an der Schmalseite des birnenförmigen Gebildes eine dunkelrote kreisrunde Fläche. Florymont konnte nun einen kleinen Kopf erkennen, der aus dieser kreisrunden Stelle hervordrängte. Dann folgte der kleine, noch nicht fertigentwickelte Körper eines Ungeborenen. Als der Körper ganz freigekommen war hörte Florymont den leisen, geisterhaften Schrei, erst Freude, dann Verzückung. Dann verschwand die Erscheinung. Durch die rote Kreisfläche presste sich die nächste ungeborene Seele ins freie, um dann kurz aufzuschreien und zu vergehen. Dieser geisterhafte Geburtsakt beschleunigte sich nun. Florymont konnte zwischenzeitlich zwei oder drei auf einmal in die Welt drängende Menschenföten erkennen, die dann ohne Weg über ein langes Leben aus der Welt verschwanden. Der Stein der Neuen Leben pulsierte dabei und erbebte immer, wenn mehr als zwei der in ihm gefangenen Seelen zugleich austraten. 49 dieser armen Seelen galt es freizubekommen. Wie lange das dauern würde wusste Florymont nicht. Er wusste nur, dass wenn der Akt vollendet war, dass er ganz schnell aus dem Raum verschwinden musste. Doch solange die 49 fötalen Seelen nicht befreit waren musste er mit seinem Zauberstab den Vorgang aufrechterhalten. Er zählte nicht mehr die bereits vollendeten Geistergeburten, sondern besah sich die im durchsichtig geworrdenen Stein feststeckenden Seelen. Er spürte auch, dass der Ausstoß der Seelen die Beständigkeit des Steines erheblich anknackste. Dann waren es nur noch fünf, dann nur noch zwei Seelen. Die letzten beiden entsprangen dem jahrhundertealten Gefängnis zusammen. Florymont tippte sich an das linke Handgelenk. "Tempus Fugit!" rief er. Ein Kraftstoß durchfuhr ihn heiß und Kalt. Dann drehte er sich schnell um und lief aus dem Raum mit dem Stein der neuen Leben hinaus. Die Luft fühlte sich etwas dichter und träger an als sonst. Doch diese Wirkung kannte er. Ihm war nur wichtig, dass er durch die Gänge lief, die zum nächsten Ausgang aus den dunklen Katakomben unter Millemerveilles führten. Da hörte er bereits ein sehr dumpfes Rumpeln und fühlte in langsamer Folge durch den Boden laufende Erschütterungswellen. Dann endlich stand er vor einem völlig glatten Stein. Das Rumpeln und Poltern hinter ihm wurde lauter. Er tippte sich noch einmal an das linke Handgelenk, sagte jedoch kein Wort. Da überkam ihn ein kurzer Schwindel, und er hörte hinter sich ein lautes Dröhnen und Krachen.

Florymont legte die Hand auf die Tür und rief: "Das Leben und das Licht, mehr will ich nicht!" Die Tür sprang auf. Florymont tauchte durch die öffnung. Gleichzeitig krachten hinter ihm die ersten größeren Steine von der Decke. der Teil, wo der Stein des neuen Lebens aufbewahrt worden war, brach mit dumpfem Getöse und lautem Bersten in sich zusammen. Doch Florymont schaffte es, die Wendeltreppe nach oben zu betreten und hastete immer weiter nach oben, während der Gang unten vollständig zusammenbrach. Den Stein des neuen Lebens gab es nicht mehr. Damit war ein Teil von Sardonias Seele ebenso vernichtet. Doch die Kuppel war nun nicht mehr gleichmäßig. Die Kräfte würden einige Zeit brauchen, sich neu auszupendeln.

__________

Camille, die Hugette mit dem Heilsstern in Schach hielt, sah, wie ein orangerotes Leuchten aus ihrem Unterleib drang. Dann brach ein erst kleines, geisterhaftes Etwas aus ihr hervor, das sich im freien Schweben als ein drittel so große Erscheinung einer erwachsenen Frau erwies. "Du verfluchtes Weib. Das sollst du mir büßen!" schrillte das orangerot leuchtende Geisterwesen und versuchte, auf Camille loszugehen. Doch dabei prallte es nur zwei Meter von ihr entfernt zurück. Dann besann es sich und wirbelte herum. "Ihr Geister mir nach! Mir nach!" plärrte es laut und in den Ohren klirrend. die blutroten Geisterwesen, die noch nicht durch die Kraft des Heilssterns befreit worden waren, fegten als einzige Woge aus Licht in den Gang hinein, in den die orangerote Geistererscheinung verschwunden war.

Camille sah sich um. Der Stein der stetigen Fruchtbarkeit war nun ein einziges Inferno aus blutroten Wolken und hellen Entladungen. Wo die Blitze blanken Stein trafen glasierte diser. Wo sie auf Heras rosarote Aura trafen wurden sie zu blauem, rotem und violettem Elmsfeuer. Wo sie in das Licht des Heilssterns gerieten verloschen sie mit leisem Piff.

"Wenn der Stein ganz aufgezehrt ist kommt uns alles herunter, Camille. Wir müssen ... Häh!" Hera hatte ihren Satz nicht beendet. Sie staunte, weil vor ihnen beiden keine ältere Hexe mehr auf dem Boden lag, sondern ein gerade einmal zwölf Jahre altes Mädchen. Dieses hatte jedoch bereits die klaren Merkmale von Hugette Mirabeau, und auch die Haarfarbe war dieselbe. Camille bückte sich und ergriff die Hexe, die noch mehr Kind als schon Frau war unter den Armen. Die Verjüngte wimmerte vor Angst. Dann kam Hera dazu: "Wie das möglich ist, ohne dass wir den Fluchumkehrer oder ähnliches gesprochen haben weiß ich nicht. Aber ich weiß, wir haben nur noch eine halbe Minute. Gleich ist der Stein von Hecates Tränen restlos zersetzt. Dann bricht hier alles zusammen", zischte Hera und half Camille, die Verjüngte festzuhalten. Camille bot ihr ein Ende ihres Silbersterns zum Festhalten. Sie drückte der Verjüngten den Stern auf den nur zart gewölbten Brustkorb. Dann rief sie jene Formel, die ihr alle magischen Barrieren öffneten, die das Apparieren verwehrten. Als sie die Formel gesprochen hatte strahlte um sie drei ein silbernes Licht. Camille hielt die beiden anderen Hexen in einer halben Umarmung und drehte sich mit ihnen. Es krachte laut. Nun leuchtete nur noch der immer schneller zersprüende Stein der stetigen Fruchtbarkeit. Dann zerplatzten seine letzten Reste in einer blutroten Glutwolke. Keine Sekunde danach erzitterte die Kaverne und brach krachend und polternd zusammen. Das über der Decke liegende Gestein rutschte knarzend und knirschend nach, prasselte auf den Boden. Der Raum füllte sich innerhalb von wenigen Sekunden mit Schutt und Geröll. Auch den Stein der stetigen Fruchtbarkeit gab es nicht mehr.

Camille und Hera apparierten innerhalb eines Apfelbaumfünfecks, dessen Eckbäume noch größer waren als die um das Apfelhaus der Latierres. Auch hier zogen sich grün-goldene Lichtwände von einem leuchtenden Baum zum anderen und bildeten eine über dem Dach des eckigen Hauses geschlossene Konstruktion. Es ploppte, und ein Zauberer im blauen Umhang stand neben ihnen. "Komm in die Aura des Heilssterns. Wenn stimmt, was du mir vor vier Stunden gebeichtet hast müssten wir noch mindestens eine Stunde ausharren, bis klar ist, ob wir ..." rief Camille. Da hörten sie ein leises Sirren, das aus der Richtung kam, in der der Stein der stetigen Fruchtbarkeit gewesen war. Nun konnten sie alle eine blutrote Sphäre sehen, die im Hui auf sie zuflog. Camille hob den Heilsstern über ihren Kopf und rief die Segensformel Ashtarias:

"Alaishadui Siri,
Alaishaduan a sogaharan Iri.
U Alaishaduim Godiri,
san Arwoxaran Laishandan Miri!"

weißgoldenes Licht strahlte von dem Silberstern aus. Es traf auf die nächste der grün-goldenen Lichtwände. Diese erstrahlte nun in hellem Goldlicht. Dann krachte die blutrote Sphäre auf die Barriere. Ein vielstimmiges Wutgeschrei erklang, während mehrere geisterhafte Erscheinungen aus der Sphäre brachen und dann in roten Funken zersprühten. Der Spuk dauerte nur zehn Sekunden. Doch allen hier war klar, dass sie außerhalb dieser mächtigen Umfriedung und ohne die freigesetzte Kraft der Kinder Ashtarias ein grausames Schicksal hätten hinnehmen müssen, zumindest jene Hexen, die es gewagt und vollbracht hatten, Sardonias heiligen Hexenblutstein zu zerstören. So erreichten die von den wie Rachegeistern aussehenden Erscheinungen ausgestoßenen Worte nicht ihr Ziel, und die sonst von ihnen ausgehende Kraft zerstob an der machtvollen Barriere aus Liebe und Lebensfreude.

"Deshalb konnten meine Vorfahrinnen diesen Stein nicht mal eben zerstören, obwohl wir schon das Mittel kannten, wie er sich selbst aufzehren und somit keine schlagartige Zerstörung freisetzen konnte", sagte Hera, nachdem der letzte Funken des Vergeltungszaubers Sardonias verpufft war und auch der Heilsstern wieder seinen gewohnten Silberglanz angenommen hatte.

"Bleibt die Frage, warum wir das nicht schon vor Jahren gemacht haben, wo diese dunkle Kraft noch nicht in die Quellen eingeflossen ist?" fragte Camille.

"Es ist noch nicht vorbei, oder?" fragte Florymont, der nun nach oben sah. Wellen aus blauem, grünem, rotem, violettem und zitronengelbem Licht wogten durch den Nachthimmel. Die Kraftquellen mussten sich nun neu auspendeln. Wie lange das dauern würde wussten nicht einmal die zwölf Eingeweihten.

"Achtung, Achtung! Bleibt ja alle in euren Häusern! Irgendwas hat Sardonias Kuppel jetzt komplett aus dem Tritt gebracht!" hörten sie die Stimmen der Nachtpatrouille rufen. Florymont grinste.

"Maman, wart ihr das? Was habt ihr angestellt?" hörte Camille Jeannes Gedankenstimme. Sie antwortete: "Ja, wir waren das und nein, das willst du in deinem Zustand noch nicht wissen."

"Ich kann den kleinen nicht mehr aus mir rausfallen lassen, Maman. Also was haben Papa und du mit meinem Blut angestellt, dass davon die Kuppel wilde Wellen wirft?"

"Wir mussten Sardonias ausgelagerten Geist schwächen. Aber Sie ist uns entwischt, wohl in ihre letzte Zuflucht", gedankenantwortete Camille. Dann stellte sie Florymont das nun hemmungslos weinende Mädchen vor. "Ich werde sie zu mir mitnehmen und bis auf weiteres in Schlaf versenken. Kann sein, dass sie sich nicht mehr an alles ab dem zwölften Lebensjahr erinnern kann, dann müssen wir entscheiden, wie wir sie wieder ganz großziehen können und sollen", sagte Hera Matine. Mit diesen Worten nahm sie die wild weinende Junghexe in einen Arm und disapparierte mit ihr.

"Öhm, muss ich verstehen, warum Hugette zur Junghexe zurückverjüngt wurde?" fragte Florymont. Camille schüttelte den Kopf. Dann teilte sie Julius Latierre mit, dass ihre Aktion erfolgreich beendet war.

"Wo immer ihr euch verkriecht, die wahren Schwestern werden euch heimsuchen und für euren Verrat bestrafen, Camille und Hera!" brüllte eine sehr wütende, geisterhafte Frauenstimme aus allen Richtungen zugleich.

"OHa, da habt ihr aber mehr als zehn Drachen auf einmal wütend gemacht", kam bei Camille eine Gedankenbotschaft von Julius an.

"Sie ist angeschlagen und deshalb immer noch sehr gefährlich, Julius. Aber euch ist nichts passiert, hoffe ich."

"Sie hat versucht, einen der Bäume mit einer blauen Lichtaxt umzuhauen. Aber die Bäume sind stärker gewesen", empfing Camille Julius' Antwort.

"Maman, Papa, steht nicht draußen rum. Kommtzu uns rein und bleibt bis zum Sonnenaufgang bei uns!" rief Jeanne mit körperlicher Stimme. Gleich darauf begann ein gerade erst anderthalb Monate alter Säugling zu schreien.

__________

Aus Mildrid Ursulines Reportage "Unter der Dämmerkuppel"

21. Juni 2003

Eigentlich müssten wir heute den Sommeranfang feiern. Immerhin haben wir jetzt wieder mehr Sonnenlicht. Aber so richtige Feierlaune will bei keinem hier aufkommen. Dafür ist die Lage noch zu unsicher.

Die Digekas können wir im Moment ebenso vergessen wie Flohnetz oder Reisesphären. Der Grund dafür liegt darin, dass eine von den Eingeweihten der Kraftquellen der Kuppel ausgeführte Aktion die Kuppel zwar geschwächt, aber auch zu einem Wellen werfenden Gebilde gemacht hat. Hatten wir erst gedacht, die Wellen würden sich totlaufen steht nun fest, dass jede Minute drei bis vier farbige Lichtentladungen quer über die Kuppel ziehen. Sie ist dadurch erst einmal unberechenbar. Selbst jene, die bei ihrer Abschwächung mit besondrem Schutz hindurchkamen wagen es nicht, sich dieser wogenden Gewalt auszuliefern.

Abgesehen davon, dass die Kuppel über uns gerade immer wieder verschieden farbige Wellen wirft gelang es den Teilnehmern und Teilnehmerinnen an dieser Aktion, die seit Wochen gesuchte und für von Sardonia fremdbestimmt eingestufte Hexe zu finden und sie aus Sardonias Zugriff und Einfluss zu lösen. Da das Erbe der dunklen Hexenkönigin trotz des gewaltigen Schlages von letzter Nacht, von dem ich nur erfuhr, dass er zwei der Kraftquellen ausgeschaltet hat, mit der wogenden Kuppel zusammen noch immer besteht, gilt es, ihr die ersehnten lebenden Helferinnen weiterhin vorzuenthalten, so Heilerin Matine auf meine Befragung nach dem Zustand der Aufgegriffenen.

Ich stelle fest, dass die Wellenbewegungen in der Kuppel nicht nur die Digekaverbindung stören, sondern auf schwangere Hexen wie mich eine stimmungsverfremdende Wirkung haben. Ich bin heute kurz hinaus aus der sicheren Zuflucht, um die nun in einem eirkuchenfarbenen Goldgelb und noch etwas wärmer als gestern strahlende Sonne zu genießen. Jede in der Zeit über uns weglaufende Welle hat mich anders gestimmt. Eine blaue Welle machte mich traurig, weil ich meine Eltern nicht herrufen kann, wenn die Kleine da sein wird. Dann rollte eine rote Welle über uns weg. Da wurde ich sehr wütend auf Sardonia und ihre damaligen Hexenschwestern, die meine Vorfahren drangsaliert und gequält haben, weil die nicht bei ihr mitmachen wollten. Dann schwappte mir eine grüne Welle die Hoffnung in den Geist, dass ich mein drittes Kind schon bald aus Millemerveilles hinausbringen und ihm die große weite Welt zeigen kann. Tja, und eine Violette Welle hat mir Angst gemacht, die Kleine könnte wegen der ganzen Sachen der letzten Wochen missgebildet oder als seelisches Ungeheuer zur Welt kommen. Da bin ich freiwillig wieder in unser Haus gegangen. Dort wirken die farbigen Wellen in der Kuppel nicht mehr auf mich. Dafür kann ich die Sonnenwärme auch da genießen.

Der eilig zusammengetretene Gemeinderat hat von den Teilnehmern der Aktion, bei der auch zwei Mitglieder eben jenes Rates beteiligt waren, eine klare Stellungnahme erhalten, was sie getan haben und welche Auswirkungen es zur Zeit hat. Dieses Protokoll wurde zur obersten Geheimsache erklärt. Nur die Ministerin und der Strafverfolgungsleiter und Madame Faucon als Fachhexe für dunkle Künste werden es zu lesen bekommen. Für die Öffentlichkeit und daher auch hier verlautbarte:

"In der Nacht des 20. Juni 2003 kam es zu einer weiteren Auseinandersetzung mit Sardonias Erbe, bei dem ein weiterer stofflicher Anteil desselben zerstört wurde. Dies hatte jedoch Auswirkungen auf die immer noch über uns gespannte Zauberkraftkuppel, dass allen leicht von Stimmungseinflüssen erfassbaren Mitbürgern empfohlen wird, nicht all zu lange unter dem, was früher mal freier Himmel war, auszuharren und keine Besenflüge oberhalb fünfzig Meter zu unternehmen, da die Auslenkungen der Kuppel bis zu sechzig Meter über dem Grund hinabreichen können. Wir sind zwar zuversichtlich, dass sich die Kräfte im Laufe der beiden nächsten Tage wieder ausgleichen und wir dann womöglich den Zustand vor dem 26. April erreichen werden, so dass alle die Kuppel wieder passieren können. Doch kann dabei nicht ausgeschlossen werden, dass die Kuppel an sich nicht mehr ihren früheren Zweck erfüllt, nämlich uns vor feindlichen Eindringlingen zu schützen oder die von Professeur Fixus eingerichtete Abwehr gegen gefährliche Strahlen aussendenden Stoffen zu gewährleisten. Deshalb überlegt der Gemeinderat, ob es nicht sinnvoll sei, die Kuppel vollständig zu neutralisieren, sofern ein Weg bekannt ist, wie dies ohne schwerwiegende Zerstörungen stattfinden kann. Bitte vertrauen Sie uns weiter dahin, dass wir zu keinem Zeitpunkt darauf ausgehen, Ihrer aller Leben mutwillig zu gefährden."

Ob morgen die Digekaverbindung wieder klappt weiß ich nicht. Ich werde aber jetzt jeden Tag einen kurzen Bericht schreiben, bis meine eigenen anstehenden Mutterpflichten mich vorerst davon abhalten werden.

MUL

__________

Aus Mildrid Ursulines Reportage "Unter der Dämmerkuppel"

23. Juni 2003

Die Kuppel hat sich nun beruhigt. Sie schimmert abends in einem dunkelvioletten Farbton, der das Licht des Mondes und der hellsten Sterne merkwürdig verfremdet, aber nicht unheimlich aussieht. Allerdings gehen die Digekas immer noch nicht. Jede Sendung, die hinausgelangen soll wird als zu empfangende Sendung mit zehnfacher Kopie wieder ausgeworfen. Deshalb wissen sie da draußen wohl noch nicht, was bei uns los ist. Was aber auf jeden Fall wieder geht ist das Mentiloquieren mit guten Bekannten oder Blutsverwandten. So konnten mein Mann und ich wieder mit unseren Verwandten im Sonnenblumenschloss Gedanken austauschen, Sowie Julius mit Catherine Brickston in Paris eine kurze Mentiloquismusrunde durchhalten, dabei jedoch beaufsichtigt von meiner Hebamme, die ihre Aufgaben nicht nur darin sieht, mich und mein drittes Kind sicher durch den schmerzvollen Geburtsvorgang zu begleiten, sondern auch klarzustellen, dass dieses Kind einen gesunden Vater hat, mit dem es aufwächst.

Leider steht fest, dass die Kuppel gerade nur noch für Licht und Luft durchlässig ist. Selbst mit entsprechenden Schutzzaubern prallten alle, die es versuchten auf eine unnachgiebige, vibrierende Wand. Magielose Leiterwagen von außen prallten ebenso gegen eine feste Barriere. Julius bezeichnet diesen Zustand als klassischen Energieschirm, wie er in den Zukunfts- und Weltraumgeschichten der Muggelwelt vorkommt. Allerdings habe bei unserem jemand den Ausschalter versteckt. So haben wir noch Vorräte für die nächsten drei Wochen. Bis dahin müssen wir wissen, wie wir die von außen benötigten Lebensmittel erhalten. Die Mitbürger, die an der Aktion teilnahmen, welche die Kuppel dahin veränderte, wie sie jetzt ist, mussten sich einer Befragung des Gemeinderates stellen. Dazu kamen auch alle die nicht dem Rat angehörenden Eingeweihten, die Sardonias Kuppel und ihre Kraftquellen kennen. Zwar wurde auch diese Befragung zur obersten Geheimsache erklärt. Ich konnte jedoch bei einigen, von denen ich weiß, dass sie zumindest über die Sache wissen sehen, wie betrübt sie sind, weil keiner weiß, wie Sardonias Erbe getilgt und die Kuppel entweder wieder durchquerbar gemacht werden kann oder ohne Schaden für alle anderen ausgelöscht werden kann. Auf die Frage, was den Bürgerinnen und Bürgern lieber sei antworteten sechzig von hundert, dass sie langsam die Nase voll hätten von Sardonias großzügigen Errungenschaften und lieber ohne die "verfluchte Kuppel" weiterleben wollten, auch wenn das hieße, dass wir dann genau wie der Rest des Landes unerwünschten Eindringlingen und gefährlichen Zauberwesen ausgeliefert sein werden. Ich zitiere hier was, dass unser Nationalhüter César Rocher geantwortet hat: "Ich will zur Weltmeisterschaft. Diese blöde Kuppel versaut mir das." Dem kann ich nichts hinzufügen.

MUL

__________

Millemerveilles, 24. Juni 2003

Julius war sofort wach. Béatrice stand sofort im Elternschlafzimmer. Millies Aufschrei hatte alle geweckt. Julius war fast aufgeregter als Millie, wohl weil die schon seit Tagen darauf gefasst war, dass es nun losging.

Die Vorbereitungen waren schnell getroffen. Millie würde wieder in der blitzblank und keimfrei geputzten Wohnküche niederkommen. Da Aurore dieses mal nicht in das Sonnenblumenschloss oder zu ihren Eltern geschickt werden konnte rang sich Julius durch, sie und Chrysope zu Jeanne ins Haus zu bringen, wo sie ebenfalls von einem Apfelbaumfünfeck beschützt sein würden. Aurore wollte zwar sehen, wie die ganz kleine Schwester ankam. Doch Millie sagte ihr, dass sie das sicher noch sehen würde, wenn ihr kleiner Bruder ankommen würde, aber nur, wenn sie jetzt ganz brav mit Papa zu Tante Jeanne ginge. Julius und Millie hatten sich darauf geeinigt, dass Aurore erst dann bei einer Geburt zusehen durfte, wenn sie kurz vor der Grundschule war oder bereits zur Schule ging.

"Na, vielleicht kann eure Kronprinzessin ja in neun Monaten mehreren Hexen beim Kinderkriegen zusehen", gedankensprach Jeanne, als es ihr gelungen war, Aurore mit Viviane, Janine und Belenus zusammen in ein Spielzimmer zu schicken. Bertrand lag friedlich schlummernd in seiner Wiege, die von Jeannes Vater Bruno in eigener Handarbeit gezimmert worden und nach Bertrands Geburt mit Ashtarias Segen versehen worden war. Dadurch mochte das Apfelbaumfünfeck um Jeannes und Brunos Haus um ein vielfaches mächtiger sein als das um das Apfelhaus der Latierres. Doch Julius war nicht eifersüchtig. Er ging davon aus, dass auch die Latierre-Familie mindestens vier Kinder haben würden. Dass Ammayamiria beziehungsweise Ashtaria ihm nur zwei JahreZeit ließ, um den ersten Sohn zu haben, erzählte er Jeanne nicht. Wenn Ammayamiria wollte, dass Claires große Schwester das wusste, dann würde Jeanne das auch mitkriegen, sofern das nicht hieß, dass sie Julius' ersten Sohn bekommen sollte.

Schnell kehrte Julius zum Apfelhaus zurück, wo gerade auch Camille Dusoleil mit ihrer grünen Umhängetasche eingetrudelt war. "Die da lässt mich nicht in Ruhe. Andauernd geht sie auf und spuckt dieses Mithörrohr aus, mit dem Hebammen die Herztöne ungeborener mithören", knurrte Camille und klopfte auf ihre Umhängetasche. Dass sie von einer anderen Geneviève den Auftrag bekommen hatte, ihr Erbe zu würdigen und bei den Geburten von Kindern in ihrem Bekanntenkreis zu helfen hatte Camille schon einige male als Hilfshebamme auftreten lassen. Julius empfand seltsamerweise eine große Beruhigung, dass Camille mithalf, seine dritte Tochter auf die Welt zu bringen.

Es war gegen elf Uhr, als die Fruchtblase sprang. Jetzt konnte es eine Sache von einer Stunde bis zu drei Stunden sein, wussten die bereits zweifachen Eltern. Millie stöhnte und schrie zwischendurch. Doch immer wieder lächelte sie, wenn die schlimmsten Wehen überstanden waren. Julius lächelte zurück. Keine Dienststelle, keine Reiseverpflichtung hatten ihn davon abgebracht, hierbei wieder zuzusehen. Er wollte sich gerade wieder neben seiner gerade pustenden Frau hinsetzen, um ihre Hand zu halten, als die Luft erbebte, und Julius einen Schauer aufgewühlter Erdmagie durch den Boden jagen fühlte. Dann hörte er eine dröhnende Stimme, von der er nicht sagen konnte, ob sie männlich oder weiblich war: "Ihr verräterische Brut. Ihr werdet euch nicht vermehren! Ich werde euch hinwegtilgen, eure verdorbenen und alle unschuldigen Seelen verschlingen und meine Vergeltung bekommen."

"Nein, das darf nicht wahr sein, Monju. Bitte sag, dass das nur ein blöder Albtraum ist", wimmerte Millie. Julius wollte das sehr gerne tun. Doch er fühlte sich so hellwach, dass er es leider nicht wirklich glauben würde. Er sagte: "Die kommt hier nicht rein, wie immer die auf einmal so klingt wie ein weiblicher Tyrannosaurus Rex."

"Julius, geh raus und gib mir bescheid, wenn ich dir damit helfen soll. Falls wir es tun müssen bringen wir diese Spukgeschichte endlich zu Ende", sagte Camille und deutete auf ihren Silberstern.

"Hier, umhängen", sagte Béatrice und hängte Julius die von Camille geschenkte Apfelkernkette um. Ebenso steckte er sich noch drei Goldblütenhonigphiolen ein. "Hier, das auch noch", sagte Béatrice und hielt ihm eine kleine Flasche mit einem goldenen, sprudelnden Gebräu unter die Nase. Julius fragte nicht nach ob nötig oder wie viel, sondern kippte einen großen Schluck in sich hinein. Dann sollte Camille noch davon trinken. Julius begriff, dass Felix ihnen beiden helfen sollte, den richtigen Zeitpunkt für die bestmögliche Aktion zu liefern.

Wieder krachte es in der Luft und der Boden erzitterte. "Eure mickrigen, mit huriger Lebenskraft aufgeladenen Bäumchen werde ich einen nach dem anderen zerbrechen!" brülte die Donnerwetterstimme von draußen. Da disapparierte Julius aus dem Geburtszimmer.

__________

Sie hatte sich wie eine Gefangene im eigenen Kerker gefühlt. Als die Kuppel endlich zur Ruhe gekommen war hatte sie erst nicht gewusst, was sie tun konnte. In keine Richtung erschien ihr ein Ausgang. Als dann noch eine immer stärkere Strömung vom Boden ausging und von jenen ihr bereits bekannten fünf Lichtbäumen verstärkt wurde wusste sie, wenn sie jetzt nicht handelte würde es ihr Ende sein, das Ende aller Hoffnung für die Freiheit und die Vorherrschaft aller Hexen auf der Welt.

Ihr blieb nur eines. Sie musste alle im magischen Mittelpunkt treibenden Seelen, die sie aus den Quellsteinen gerufen hatte, in sich selbst einsaugen. Nur das würde ihr die Freiheit geben, gegen das Ungemach zu kämpfen, dass ihr in Gestalt eines neuen Menschenlebens drohte. Auch die Schmach, dass die Nachfahrin der Latierre-Sippe ihr den Garaus machen konnte, indem die einfach so ein neues Balg auf ihren Grund und Boden warf gehörte verhindert.

Sie rief sämtliche frei wartenden Geister. Sie fühlte über den fast vom Hauch der schwarzen Sonne befreiten Kristall der Mittagssonne, dass über den Katakomben die Sonne schien und den Kristall auflud. Dennoch musste sie ihre Opfergeister herbeirufen. Sie zwang sie, sich mit ihr im Stein der Vollendung zu vereinen. Sie schlang jeden von ihnen in sich hinein wie ein gieriger Schwamm das Wasser. Dabei wuchs sie und wurde immer gieriger. Dann hatte sie sämtliche sechshundert Opfergeister in sich eingesogen. Sie fühlte, dass sie sich regten und zwang sie zusammenzuhalten. Dann brach sie aus dem Stein der Vollendung heraus. Doch diese Belastung war zu viel für ihn. Er zerbarst laut krachend in Millionen Splitter und einer gewaltigen schwarzen Staubwolke.

Sardonia fühlte sich auf einmal ganz leicht und frei. Doch sie fühlte auch, dass sie nicht lange ohne einen festen Anker würde bleiben können. Sie beschloss, dass das neue Menschenkind ihre Seele aufnehmen würde und alle anderen dafür im Rest der Blutgeister aufgehen sollten.

Ein Gedanke reichte nun, um sie an die Oberfläche und direkt vor die magische Begrenzung um das orangerote Apfelhaus zu bringen. Sie berührte die Barriere und fühlte, dass sie stark war. Sie holte aus und schlug zwischen die Bäume. Es blitzte. Dann rief sie in das Haus hinein, dass sie nun alle töten würde. Niemand würde sie jetzt noch einmal aufhalten. Sie war zu groß, zu stark, zu viel, um von einem oder zwei alleine besiegt werden zu können. Jetzt wollte sie einen der für sie gerade kleinen Apfelbäumchen packen und ihn mitten durchbrechen, da fühlte sie, dass jemand vor ihr auf dem Boden stand, für sie gerade mal so groß wie eine Küchenschabe. Sie erkannte ihn trotzdem an den von ihm ausgehenden Lebensschwingungen.

"Also willst du für das Balg dein Leben geben, Julius Latierre geborener Andrews. Dann sei die Geburtstunde deines dritten Görs deine Todesstunde!" brüllte sie ihn von weit oben her an. Er schien nicht darauf zu reagieren. Womöglich musste er erst einmal den heftigen Schrecken verdauen, den ihre Erscheinung ihm bot. Er stand jedoch noch im Schutz der Barriere, sonst hätte sie ihn entweder zertreten oder mit den Fingerspitzen aufgelesen und sich wie ein Bonbon in den aus reiner Geisterkraft bestehenden Mund gesteckt. Aber auch so würde er die nächsten Minuten nicht mehr überleben.

__________

Sie war einfach nur groß, größer als jeder ihm untergekommene Riese, ja womöglich höher als die höchsten Türme von Notre Dame oder St. Pauls, vielleicht sogar höher als die eingestürzten Türme des Welthandelszentrums in Manhattan. Nicht mal der Abenteuerheld Gulliver hatte sich im Land der Riesen so winzig gefühlt wie er jetzt und hier. Für dieses turmhohe Ungetüm da vor ihm, das am ganzen Körper orangerot leuchtete, war er nur eine Ameise, die sie achtlos und beiläufig zertreten konnte. Dennoch empfand Julius keine Angst. Er wusste, diese Erscheinung da vor ihm bestand nicht mehr aus Fleisch und Blut. Sie war nur ein Geist, wohl aus hunderten anderer Geister zusammengesetzt. Er überlegte, ob er das Lied des inneren Friedens anwenden sollte, falls die ganz weit da oben geistige Kräfte gegen ihn anwenden wollte. Doch dann fiel ihm ein, das er ja mit Camille mentiloquieren musste. Sie brüllte ihn so laut an, dass er schon meinte, dass gleich sein Gehirn zerquirlt würde. Doch immer noch fühlte er keine Angst, keine wirkliche Hilflosigkeit, nur ungemeines Erstaunen.

"Wie ist denn das Wetter da oben, Hexenkönigin. Ich sehe, du hast nichts passendes zum Anziehen finden können. Tja, das Problem der langen Leute. Kenne ich seit 1998 auch", rief Julius nach oben. Jetzt wurde ihm klar, dass dieses Ungetüm gerade so groß war, dass es mit seinem orangeroten Schopf mit den gartenschlauchdicken Haaren nicht gegen die zartviolette Kuppel stoßen konnte, also war sie gerade einmal zweihundert Meter hoch.

"Du hast die wahl, Julius Latierre, zu meinen Füßen, darunter oder in meinem Bauch, bevor dein Balg aus der Nachgeborenen der Verräterin entschlüpft ist."

"Und dann, Hexenturm, dann bringst du alle anderen um, bis keiner mehr da ist und bist ganz allein auf dieser Welt, oder wie?"

"Ich werde mir einen neuen Körper nehmen, und diesen Leib als meinen Leibwächter in den Hintergrund schicken. Ich werde die von euch verdorbene Kuppel wieder bestärken und für meine treuen Schwestern durchlässig machen." Julius meinte aus dem Apfelhaus hinter sich Millies Schmerzensschrei zu hören. Offenbar durchlief sie eine neue Presswehe. Merkwürdigerweise fühlte er nichts in seinem Herzanhänger. Wurde dieser von der magischen Barriere oder dieser Titanin da vor ihm überlagert?

"Einen neuen Körper? Wer will dich denn noch haben, Sardonia. Du hast es dir mit allen verscherzt, mit den Zauberern, mit den Muggeln, mit den allermeisten Hexen. Selbst Anthelia ist mittlerweile auf einem ganz eigenen Dampfer unterwegs."

"Ich werde gleich wissen, was du von ihr weißt, Winzling. Ich werde dich lebend hinunterschlingen, damit deine Seele in meinem gewaltigen Körper aufgeht", schnaubte die turmhohe Geisterfrau.

"du hast dir die falsche Zeit ausgesucht, um die große Übermutter zu geben, Sardonia. Im Moment leben zu viele Leute, die dir ganz locker das Licht ausknipsen werden, wenn sie wissen, dass du wieder unterwegs bist. Hat dir die Sache mit dem dolch nicht gereicht, den Camille zerstört hat?!" fragte Julius bewusst provokant.

"Ich wähne, dass sie dort in deinem lächerlichen Haus steckt. Erst vertilge ich dich, dann breche ich alle Bäume weg, die mich aufhalten wollen. Dann werde ich dieses Haus ergreifen und auf dem Boden zerschmettern. Es sei denn, die dort drinnen erfüllen meine Bedingungen, weil es alles Hexen sind, zu meinen Füßen oder darunter", donnerwetterte die Geisterriesin."

"Den Spruch hast du schon gebracht, Sardonia. Öhm, wieso strahlst du eigentlich wie der Sonnenuntergang? Das ist doch kein Vorzeichen für deinen eigenen Untergang oder?!" rief Julius. DAS klang sehr verwegen, ja gefährlich. Aber irgendwas sagte ihm, dass diese Riesenfrau da nicht mehr viel Zeit hatte, aber offenbar gerne ihre Übermacht auskostete. Würde er um Gnade winseln, würde sie ihn wohl gleich zertreten. So musste sie ihn erst einmal geistig brechen. Kleinkriegen musste sie ihn ja nicht.

"Du siehst mich im Osten, wo die Sonne aufgeht, du Wurm. Genauso gehe ich auf und werde alle und jeden mit meinem Licht erleuchten oder in meinen Strahlen zu Asche verbrennen, genau wie die Sonne", tönte Sardonias gigantische Geistererscheinung wohl bis fünf Kilometer weit hörbar.

"Jetzt wird sie vollkommen größenwahnsinnig", dachte Julius und brachte einen Spruch, von dem ihm jemand, vielleicht Felix Felicis, eingab, dass er ihr gut zusetzte: "Größenwahn, werte Lady Sardonia, ist die Krankheit aller Zwerge! Dann müsste ich ja im Vergleich zu dir den dicken Maxen machen."

"Ich glaube, der Worte sind genug gewechselt. Ich gebe dir eine Chance, meine Gnade zu erhalten. Gib dein Leben in meine Obhut. Sonst zertrete ich dich wie einen stinkenden Kakerlak."

"Und was würde mir passieren, wenn ich mich dir ausliefere?"

"Was ich dir gesagt habe. Ich würde dich in mich aufnehmen und zu einem Teil meines großen Ganzen machen, eine Ehre, die kein Zauberer erfahren hat und nie mehr erfahren wird. Du würdest, wenn ich meinen neuen Körper angenommen habe, Teil meines Leibwächters sein."

"Du hast mich eben als Kakerlake bezeichnet. Ich denke, da hast du was ganz wichtiges nicht mitbekommen", setzte Julius an. Die Überriesin blickte auf ihn nieder und lachte ein Lachen, hinter dem sich jeder Gewitterdonner vor Angst verkriechen mochte. Julius sah, dass die Barriere ein wenig wackelte. Womöglich waren das magisch aufgeladene Infraschallwelen, die dieses Superdupergigamonstrum da absonderte. Es dauerte wohl eine Minute. Erst als Julius nur noch die Schmerzensschreie seiner Frau hörte sagte er: "Warum haben Menschen wie du und ich so viel Angst vor Kerbtieren oder auch Insekten? Weil sie trotz oder gerade wegen ihrer Winzigkeit schwer zu fassen und zähe Geschöpfe sind, vor allem die, die fliegen können", stieß Julius nun aus. Felix oder sein eigener Verstand hatten ihm die Idee gegeben. Von hier unten und außen konnte er ihr nicht beikommen. Das Lied der reinigenden Erde würde nicht den gesamten von ihr ausgefüllten Raum einnehmen. Also blieb nur eins. Die Überriesin sah ihn erheitert an und sagte leise, aber dennoch so laut wie ein Tubaquartett:

"Willst du um mich herumfliegen und ausprobieren, wie ich dich aus der Luft fangen kann? Diese Bäumchen da sind dicker als jeder Besen, und ich zeige dir gerne, wie ich die einzeln umknicken werde."

"Besen werden überbewertet. Sie gehen zu schnell kaputt, brauchen Platz und brennen zu leicht ab, wenn jemand an einem Drachen vorbeifliegt", sagte Julius. Dabei peilte er in die Richtung, die ihm am schnellsten und sichersten schien. Dann zielte er mit dem Zauberstab auf einen der anderen Obstbäume, keinen Kirsch- und keinen Apfelbaum. "Die Bäume hier werden auch überbewertet", sagte er und dachte: "Originis in imaginem vanesco!" Dabei dachte er sich einen lichterloh brennenden Baum. Es knisterte kurz. Dann stand der von ihm angezielte Birnbaum in hellen Flammen. Sardonia sah es und lachte. "Niedlich, ein Illusionsspieler! Denkst du, mich beeindruckt sowas?" Sie führte ihre linke Hand mit einer für ihre verhältnisse sachten Bewegung über den Wipfel des angeblich brennenden Baumes. Das scheinbare Feuer erstickte sofort. Der Baum war natürlich unversehrt. "Jetzt, Camille!" mentiloquierte Julius in dem Moment, wo er mit einer perfekten Handbewegung ein geflochtenes Halsband aus dem Brustbeutel zog und es sich um den Hals schlang. Er hörte eine Frauenstimme von drinnen etwas rufen und verstand es nur, weil er diese und keine anderen Worte erwartete. Dann sprach er sie selbst leise aber entschlossen, wobei er den Zauberstab auf sich selbst richtete:

"Alaishadui Siri,
Alaishaduan a sogaharan Iri.
U Alaishaduim Godiri,
san Arwoxaran Laishandan Miri!"

Um ihn herum leuchtete unvermittelt eine smaragdgrüne Aura mit goldenen Schlieren. Dann erstrahlte die Barriere vor ihm in goldenem Licht. Gleichzeitig durchpulste ihn über den Herzanhänger eine unbändige Kraft. Sein Körper schien nun selbst immer größer zu werden, ein Wesen aus smaragdgrünem Licht, in dem die goldenen Schlieren immer zahlreicher und leuchtkräftiger wurden. . Doch das war nicht das eigentliche Ziel dieser Zauberei. Julius dachte schnell die fünf entscheidenden Worte des freien Fluges. Dann Stieß er sich so kräftig ab wie er konnte und schoss als zzwölfmal so groß wie üblich erscheinendes Abbild seiner Selbst durch die Barriere und hinauf in Richtung Unterleib der Überriesin, die durch die zeitgleichen Zauber abgelenkt war. Julius überlegte, ob er noch eine Kopfblase machen sollte, dachte aber daran, dass er die wegen seiner ausgedehnten Aura nicht mehr brauchte und schlug wie eine nun überwiegend goldene Leuchtkugel in den Geisterkörper der Risin ein. Die Überriesin schrie auf, ob vor Schmerz oder Verzückung wusste Julius nicht. Er wusste nur, dass er gerade in einem unendlich großen Ozean aus orangeroter Farbe zu treiben schien. Doch er war immer noch nicht fertig. Er richtete seinen Zauberstab nach oben, hinein in dieses orangerote Meer, aus dem ihm durchsichtige Gesichter und Hände entgegentrieben und rief eine weitere Formel laut aus: "Angarte Kasanballan Iandasu Janasar!"

Ein armdicker, weißer Strahl schoss aus dem Zauberstab und bohrte sich in das orangerote Gebilde, das von außen wie ein wandelnder Wolkenkratzer in Frauengestalt aussah. Julius fühlte sich leicht wie eine Feder in der Luft. Er hörte nichts um sich herum. War er taub, oder war er vielleicht schon tot, weil er seine ganze Kraft auf einen Schlag verbraucht hatte? Doch er sah, wie sich das weiße Licht immer weiter ausdehnte, dabei auf geisterhafte Gesichter traf und diese golden aufleuchten ließ. Immer mehr goldene Lichtkugeln entstanden. Wo sie auf andere Geistergesichter trafen erzeugten sie weitere goldene Lichtkugeln. Jetzt hörte Julius einen wie aus der tiefsten Tiefe der Erde aufsteigenden, alles um sich herum erzittern lassenden Laut, wie ein in Zeitlupe abgespielter Aufschrei. Zumindest vermutete er, dass es ein Aufschrei sein musste. Denn er sah, wie sich die Verwandlung der Geister in goldene Lichtkugeln weiter fortsetzte. Es sah so aus, als wenn jede Sekunde eines der umhertreibenden Geistergesichter in eine goldene Sphäre gehüllt wurde. Doch war das wirklich so? Julius traute hier und jetzt seinem Zeitgefühl nicht mehr. Der weiße Lichtstrahl tastete noch eine kurze Zeit umher. Dann erlosch er. Fünf goldene Gebilde zugleich rasten nun von vorne oder oben auf ihn zu. Sie trafen seine weit ausgedehnte mehr golden als smaragdgrün erstrahlende Aura. Das versetzte ihm einen heftigen Stoß, der ihn zurückwarf. Von der Woge der immer mehr werdenden goldenen Kugeln getragen wurde er durch die Oberfläche jenes orangeroten Ozeans hinausgeschwemmt und sah, dass er genau in der Körpermitte der nun wild erbebenden und zuckenden Riesengestalt herauskam, gefolgt von den goldenen Lichtkugeln. Er wirbelte in der Luft herum, konnte seinen Flug nicht steuern, bis er vor sich diese gewaltige, grün-goldene Lichtsäule sah, die ihn auffing und immer weiter nach oben trug. Er merkte, dass er gleich gegen die Kuppel krachen mochte und konzentrierte sich, nach links wegzuziehen. Das gelang. Da kam ihm der Gedanke, blitzschnell nach unten wegzutauchen. Als er das tat fegte eine orangerote Riesenhand über ihn hinweg. Die hätte ihn glatt erwischt, wenn er nicht sofort nach unten gezogen hätte. Die Hand knallte dumpf donnernd gegen die grün-goldene Lichtsäule, die nun durch die violette Kuppel brach und grüne, goldene und weiße Blitze erzeugte.

Julius wandte sich um neunzig Grad nach links. Er sah die orangerote Riesin, wie sie wieder ausholte und tauchte erneut unter ihrem Schlag weg. Doch ihre Bewegungen wurden immer unkoordinierter. Sie bebte und schwankte wie ein Turm bei Erdbebenstärke zehn. Ihr gigantischer Geisterleib warf Wellen und beulte sich an immer mehr stellen aus. Julius hörte, wie die übergroß erscheinende Sardonia immer lauter aufstöhnte und sah ihr vor Wut und immer größeren Schmerzen verzerrtes Gesicht. Dann zuckte sie wie vom Blitz getroffen zusammen und stieß einen kurzen Aufschrei aus, der wie aus zwanzig Drachenmäulern gleichzeitig klang. Dann geschah etwas, das Julius zum einen faszinierte, aber ebenso erschauerte.

Aus Bauch und Brustkorb der Überriesin quollen wie kleine Blasen aus brennendem Fett die ersten goldenen Lichtkugeln. Die Riesin schrie laut und in tiefsten Tönen. Julius fühlte die Schallwellen aufprallen. Doch seine nun goldene Aura mit smaragdgrünen Schlieren, verstärkt von einer Kette aus Apfelbaumkernen, zwei Goldblütenhonigphiolen, der ganzen heilsamen durch dem Herzanhänger übermittelten Segenskraft der Kinder Ashtarias und seinem Lebensauraverstärkungshalsband, dämpfte alle magischen Kräfte, die seinen Körper oder seinen Geist erschüttern wollten. Er sah, wie die Riesin langsam schrumpfte, wie ihr nun auch aus dem gewaltigen Schlund goldene Lichtkugeln entsprangen und wie die anderen davonflogen. Julius blickte dem immer stärker werdenden Strom der goldenen Lichtkugeln nach und sah dabei etwas, mit dem er überhaupt nicht gerechnet hatte.

In einiger Entfernung, da wo Jeannes und Brunos Haus sein musste, ragte eine andere Lichtsäule auf, allerdings eine aus rotgoldenem Licht. Julius vermeinte für zwei Sekunden ein nicht minder gigantisches Gesicht zu sehen wie das der orangeroten Geisterriesin. Er kannte das Gesicht, er hätte zu gerne mit jener, die es früher einmal besessen hatte, ein langes, schönes, interessantes Leben geführt. Jetzt war sie kein Mensch mehr, aber mehr als ein Geist, eine transvitale Entität, die dafür existierte, jene zu schützen, die ihre lebenden Ursprünge gekannt und geliebt hatten: Ammayamiria, die Jungfrau und Mutter in einer einzigen Erscheinung. Dann verschwand die rotgoldene Erscheinung und machte einer grün-goldenen Lichtsäule platz, die wie jene, die um Julius aufragte durch die Kuppel über Millemerveilles brach und irgendwie weiter nach oben führte.

Hinter der grün-goldenen Barriere wähnte sich Julius sicher. Gerade krachte wieder die linke Riesenfaust Sardonias gegen die magische Lichtwand. zugleich spritzten mehrere Dutzend goldene Lichtkugeln aus der Erscheinung und flogen von der Säule weg. "Nein, bleibt hier. Ihr gehört zu mir!" hörte Julius die immer weiter schrumpfende Riesin unvermittelt flehend brüllen. Da begriff er, was sein tolldreister Einfall ausgelöst hatte.

Als er den Fluchumkehrer rief hatte er damit die in seiner Ausrichtung fliegenden Geister von Mordgeistern zu Lebenskraftladungen umgewandelt. Verstärkt vom Segen Ashtarias und allen anderen Hilfsmitteln hatte er einen Schneeballeffekt ausgelöst, ein besonderes Feuer angezündet. Die in Sardonias Geisterleib vereinten Blutgeister - nur um die konnte es sich handeln - verwandelten sich und verließen den aufgezwungenen Verbund. Sardonias riesenhafter Geisterkörper schwankte immer mehr wie ein mächtiger Baum in einem schweren Sturm. Die wiedergekehrte dunkle Hexenkönigin taumelte, und versuchte, mit ihren immer noch viele dutzend Meter großen Füßen Halt zu finden. Das rief jedesmal leichte Erdbeben hervor, weil der von Julius vor Tagen gewirkte Verdrängungszauber gegen die unerwünschte Seele ankämpfte. Wieder spritzten mehrere Dutzend goldene Lichtkugeln aus ihr heraus. Sie verlor dabei mehrere Meter Körpergröße.

Julius erkannte, dass er besser so niedrig wie möglich über dem Boden schweben sollte. Doch richtig landen wollte er nicht. Irgendwas riet ihm davon ab, vielleicht wieder Felix Felicis. Vielleicht war es auch die als Madrashainorian gemachte Erfahrung, dass er bei aufgewühlten Erdzaubern besser keine Bodenberührung haben sollte.

Der höchst erstaunliche Vorgang lief weiter. Es war eine nun nicht mehr aufzuhaltende Kettenreaktion. Julius blickte durch die immer noch nach oben ragende Säule hindurch und sah, wie die goldenen Lichtkugeln auf einen gemeinsamen Zielpunkt zujagten. Es war eine frei in der Luft liegende Stelle zwischen den grün-goldenen Lichtsäulen. Julius sah nach oben zur Kuppel. Diese schwang auf und ab und bekam dabei immer wieder Risse. Allerdings leuchtete sie nun nicht mehr violett, sondern erstrahlte in einem goldgelben Licht, durch das ab und an weitere bunte Blitze zuckten. Die Kuppel wurde dadurch immer durchsichtiger. Er hörte, wie die orangerote Riesin mit langsam immer höherer Stimme die ihr entspringenden Geister rief, sie sollten bei ihr bleiben. Jetzt konnte Julius durch die immer schwächer sichtbare Kuppel hindurch den blauen Himmel sehen und dass die beiden Säulen scheinbar gleich hoch waren. Sie bildeten die Säulen eines gewaltigen Torbogens, dessen obere Rundung der Himmel selbst war. Durch dieses mächtige Tor verschwanden die goldenen Lichtkugeln. Je kleiner die Risin wurde, je durchlässiger die Kuppel wurde, desto schneller entflohen ihr die gefangenen Geister und verschwanden als goldene Lichtblitze aus der stofflichen Welt, in der sie so lange gefangengehalten worden waren. Jetzt war Sardonia nur noch hundert Meter groß. Fünf Sekunden später mochte sie nur noch siebzig Meter messen. Ihre Schrumpfung ging immer schneller. In den nächsten fünf Sekunden verlor sie gar dreißig Meter Körpergröße. Als sie nur noch zehn Meter groß war leuchtete sie aus sich heraus golden. Dann wurden die letzten von ihr gehaltenen Geister von ihr abgesprengt und flitzten wie der sprichwörtliche geölte Blitz in die Mitte des mächtigen Tores. Julius fühlte, wie seine Kräfte schwanden. Doch noch sah er, wie Sardonia nun als durchsichtige, goldene Frauengestalt in der Luft hing und ihr Gesicht verzog. "Ihr Verräter am magischen Blut habt euch diesem Pack aus magielosen Kreaturen ausgeliefert. Ihr Narren hättet mit mir diesem Irrsinn dieser niederen Kreaturen entgegenwirken können. Aber ihr wolltet das nicht. Ihr habt alles zerstört, was die Welt hätte retten können. So vergeht mit ihr, wie ich vergehen muss!" Kaum hatte sie diese Worte ausgerufen konnte Julius mit gewissem Unbehagen und Erstaunen sehen, wie ihr goldener Geisterkörper in vier gleichgroße Teile zeerfiel, die sich innerhalb von einer Sekunde in die letzten frei fliegenden Lichtkugeln verwandelten. Allerdings waren diese Leuchtkugeln gerade ein Achtel so groß wie jene, die bis dahin aus Sardonias Geisterriesenkörper entflogen waren. Dann jagte das, was von der einst so gefürchteten dunklen Hexenkönigin des Mittelmeerraumes übrig war nach oben davon, hinauf zur Mitte des Tores. Julius sah ihren Seelensplittern nachdenklich hinterher. Sardonia hatte bis zur letzten Sekunde keine Reue gezeigt, anders als der Vater von Luke Skywalker. Er sah, wie das, was aus Sardonia geworden war, im Licht der Sonne zerfloss. Er hörte ihre Worte noch in seinem Geiste. Dann war alles vorbei. Er sah noch, wie die grün-goldene Barriere immer durchsichtiger wurde und dann ohne letztes Aufbäumen verschwand und über ihm ein buntes Lichtgewitter tobte. Er hörte einen langgezogenen Schrei, den Schrei eines soeben geborenen Kindes, seiner dritten Tochter. Er fühlte, wie ihm die ganze Anstrengung der letzten Minuten alle Kraft nahm. Gerade so konnte er die letzten drei Meter bis zum Boden sicher absinken und landen. Da fiel ein schwarzer Vorhang vor seine Augen. Er stürzte ohne Halt in ein Meer aus Dunkelheit und Stille.

_________

Sie saß über dem bunten Lichtermeer auf ihrem Harvey 5, unsichtbar für alle natürlichen Wesen. Gerade sah sie, wie die letzten goldenen Lichtkugeln unter ihr im Nichts verschwanden.

Seit anderthalb Tagen war sie jetzt hier in der Nähe, hatte die Kuppel beobachtet und heimliche Versuche damit angestellt, um ihre Natur zu ergründen. Dann hatte sie mit angesehen, wie Sardonia vom Bitterwald als orangerotes Überwesen vor der fünfeckigen Säule aus grün-goldenem Licht erschienen war und wie sie von einem im Vergleich zu ihr ameisengroß erscheinenden Menschen mit hellen Haaren gestellt wurde. Sie konnte beobachten, wie dieser unvermittelt in eine smaragdgrüne Aura gehüllt wurde und mitten hinein in die orangerote Riesengestalt flog. Sie erkannte die Farbe der Aura als jene von Naaneavargias Großmutter väterlicherseits wieder und hatte die Bestätigung, dass Julius sehr innigen Kontakt mit dieser gehabt hatte. Als Sardonias turmhoher Geisterkörper wie ein sein Auftriebsgas verlierender Ballon zusammenschrumpfte fühlte sie, wie die Kuppel von kurzen Entladungen aus purer Lebensfreude aufgeweicht und immer mehr zersetzt wurde. Die letzten Worte Sardonias hörte sie nur, weil ihre Stimme durch die letzten Kraftstränge der Kuppel übertragen wurde. Sie beobachtete mit großem Unbehagen, wie der golden leuchtende Geisterkörper der dunklen Hexenkönigin in vier kleinere Leuchtkugeln zerfiel und diese ebenfalls zwischen den turmhohen Lichtsäulen verschwanden. Dann waren Sardonia und die Kuppel vergangen. Die unsichtbare Beobachterin konnte sehen, wie ringsum das weitläufige Dorf Erdfontänen emporschossen oder ganze Stellen wegsackten. Aus einem Loch quoll eine dunkle Wolke und zerfaserte, sobald die Strahlen der nun wieder unversperrten Sommersonne sie verbrannten. Aus einem anderen Loch jagte eine Feuersäule in den Himmel und verpuffte nach nur vier Sekunden zu einer Wolke aus Rauch und glühendem Staub. Der in der Mitte des Dorfes angebrachte Teich brodelte kurz. Dann verschwand sein Wasser in einem gurgelnden Strudel in der Tiefe.

"Soll ich jetzt mal da runter und denen einen guten Tag wünschen?" fragte sich die unsichtbare Beobachterin. Sie überlegte auch, dass sie bei dem Apfelhaus landen konnte, um das nun keine magische Lichtsäule mehr stand. Würde sie schaffen, was die am Ende viel zu groß geratene Sardonia nicht geschafft hatte? Nein, sie würde es nicht schaffen. Denn dieses Haus wurde von den Mächten der Lichtfolger beschützt. Auch wenn sie Sardonias direkten Weg verlassen hatte, seitdem sie mit Naaneavargia eins war, würde der Schutz um das Apfelhaus sie immer noch als Feindin seiner Bewohner abweisen. Sie würde erfahren, was sich dort unten abgespielthatte und wie Sardonias Hinterlassenschaft am Ende zerstört worden war, nicht ganz, wie sie am besten wusste. Oder würde sie noch alles vorfinden, was Sardonia einst für ihre Erbin geschaffen hatte? Das würde sie in aller nächster Zeit prüfen.

Etwas war ihr bewusst, nachdem sie mit angesehen hatte, wie Sardonia geendet hatte: So wollte sie selbst nicht enden, dass ihre Seele in vier handlungsunfähige Teile auseinanderfiel und aus der Welt verschwand, ohne etwas mehr zu hinterlassen als eine unliebsame Erinnerung. Das, was in der Führerin der Spinnenschwestern Anthelia war, erkannte, dass auch sie so hätte enden müssen, wenn jemand das Seelenmedaillon Dairons zerstört hätte, ohne ihr einen neuen Körper zu verschaffen. Das, was in ihr Naaneavargia war, erinnerte sich an Iaxathans körperliches Ende und dachte daran, dass auch der dunkle Erzmagier des alten Reiches einen viel zu hohen Preis für all die Macht und all sein Schaffen bezahlt hatte. Denn der steckte nun handlungsunfähig und für alle Zeiten im geistigen Kerker im Seelenkollektiv Gooriaimirias fest, wie der legendäre Lichtfolger Madrashtargayan dreihundert Sonnenkreise im Leib seiner Mutter eingeschlossen war. Nein, so wollte sie nicht enden. Sicher würde sie weiterhin auf eine Vorherrschaft der Hexen in der Welt hinwirken. Doch eine auf Bergen aus Leichen und Strömen aus Blut errichtete Weltherrschaft war der falsche Weg. Sardonias unrühmliches Ende gemahnte sie, ihre Ziele klar zu bestimmen und nicht nur zu glauben, etwas gutes zu tun, sondern darauf hinzuwirken, dass es richtig getan wurde, ob mit oder ohne Anwendung magischer Gewalt.

Anthelia/Naaneavargia drehte auf ihrem Tarnbesen ab und flog davon, unbemerkt und unbehelligt. Dass sie hier gewesen war wollte sie erst einmal keinem erzählen. Sie war jedoch gespannt auf den nächsten Bericht aus der Reihe "Unter der Dämmerkuppel".

___________

Zaubereiministerium Frankreich, 24. Juni 2003, gegen 12:00 Uhr

"Alle Spürsteine? Was war das denn, was unsere Spürsteine erledigt hat?" wolte Strafverfolgungsleiter Chevallier wissen. Er bekam von seinen Kollegen keine befriedigende Antwort.

Als er in die Mittagspause ging hörte er, dass die Distantigeminus-Kästen wieder gingen, die mit Millemerveilles verbunden waren. Er beeilte sich mit dem Essen und fragte nach, was durchgekommen sei. "Monsieur Chevallier, soweit sich alle Nachrichten aus Millemerveilles decken wurde zwischen halb elf und zwölf Uhr mittags die magische Kuppel Sardonias vollständig entladen und zerstört. Das hat den Ausfall unserer Spürsteine verursacht."

"Öhm, haben Sie was von meiner Familie oder aus dem Quidditchbüro oder was?" fragte Belenus Chevallier besorgt.

"Nein, Monsieur, nur Nachrichten von Leuten aus dem Dorfrat und von Privatleuten, die ausprobieren wollen, ihre eigenen Posteulen zu verschicken. Aber soweit wir nun wissen ist es wohl möglich, in die Ansiedlung Millemerveilles hineinzuapparieren. Die dort gemeldeten Flohnetzanschlüsse sollen jedoch erst noch geprüft und gegebenenfalls neu eingerichtet werden", sagte Chevalliers Mitarbeiter Justin Champverd, ein Vetter von Eleonore Delamontagne.

"Gut, klären Sie alles, waszu klären ist. Ich treffe mich gleich mit dem Krisenstab "Dämmerkuppel"!" erwiderte Belenus Chevallier.

__________

Millemerveilles, 24. Juni 2003

Heiler Delourdes bekam mit, wie die Kuppel über dem Zaubererdorf erst golden aufleuchtete und dann unter vielen bunten Blitzen immer durchlässiger wurde, bis sie restlos verschwand. Beinahe geblendet vom nun wieder ungefiltert durchdringenden Licht der Frühsommersonne kniff er die Augen zusammen. Dann hörte er die lauten schreie aus dem Keller, wo die tiefgefroren wirkenden Körper von Louis Grandbois und seinen Gesinnungsgenossen aufbewahrt wurden. Doch die Schreie klangen nicht nach erwachsenen Männern. Es waren die Schreie von Säuglingen, womöglich neugeborener Kinder.

Von großen Sorgen getrieben eilte Heiler Delourdes in die fensterlosen Räume hinunter, die mit verstärkten Schutzbannen gegen fremde Eindringlinge bezaubert worden waren. Hatte Sardonias Fluch doch noch hindurchdringen können? Als er im Schein seiner Laterne den Raum betrat sah er sie am boden liegen und mit kurzen Armen und Beinen wild und verzweifelt um sich schlagen und aus ihren zahnlosen Mündern laut und angstvoll schreiend, zwanzig Säuglinge, gerade einmal neu geboren. Die hier verwahrten Körper der Elsternfußler fehlten jedoch. Da begriff Delourdes, dass die Vernichtung der Kuppel eine Art Umkehrung bewirkt hatte. Die von ihr getöteten waren zu Neugeborenen zurückverjüngt worden. Doch waren die Körper mit den rechtmäßigen Seelen wiedervereint worden?

"Hera, ich habe hier im Verwahrungskeller zwanzig neugeborene Jungen, wo vorher die aufbewahrten Körper von Granddbois und seinen Spießgesellen lagen. Kommst du bitte, wenn du gerade nichts anderes zu tun hast?" rief Delourdes in die kleine Silberdose an der dünnen Halskette. Hera Matines Stimme klang zwanzig Sekunden Später daraus zurück: "Zwanzig Neugeborene? Ich bin gleich da. Ich habe gerade die Lebenskraftanzeiger von mir aufkehren müssen. Die sind alle mit einem Schlag zersprungen. Wahrscheinlich ist das mit deinen auch passiert."

"Was immer die Kuppel zerstört hat muss eine immense Entladung freigesetzt haben, aber eine Art Lebenskraftessenz", vermutete Heiler Delourdes.

"Deckt sich mit den von mir und anderen beobachteten Erscheinungen", erwiderte Heras Stimme aus der Silberdose. "Du hast die Grundlagen der Säuglingspflege gelernt. Kümmer dich bitte um die zwanzig Kinder, bis ich da bin. Vielleicht kriegen wir raus, ob sie vollständig wiederverjüngt wurden oder nur die Körper zurückverjüngt wurden", hörte Delourdes seine Kollegin noch sagen. Er bestätigte das.

Fünf Minuten später stand Hera Matine in eigener Person mit ihm zusammen vor zwanzig gepolsterten Tischen, auf denen die immer noch schreienden Neugeborenen lagen. Hera legte noch ein wild quängelndes Wesen auf einen Tisch, ein äußerlich gerade erst einen Tag altes Mädchen, die Wiederverjüngte Bromélie Bleulac.

Legilimentische Überprüfungen ergaben, dass die einundzwanzig Menschenwesen keine klaren Gedanken dachten und ihre Erinnerungen wie in einem undurchdringlichen goldenen Nebel eingehüllt waren. "Diese goldenen Lichtkugeln waren von Sardonias Fluch gereinigte und wohl mit zusätzlicher Lebenskraft angereicherte Blutgeister, die als reine Seelen aus der Welt verschwunden sind. Doch offenbar galt das nicht für jene, deren Körper noch intakt waren", sagte Hera Matine, nachdem sie festgestellt hatte, dass sie nur die vorgeburtlichen Erinnerungen Bromélie Bleulacs erkunden konnte.

"Will sagen, alles, was die einundzwanzig Patienten bisher erlebt haben ist verschüttet oder ausgelöscht worden?" fragte François Delourdes sicherheitshalber. Hera Matine verwies darauf, dass die Kollegen in der Delourdesklinik das genauer herausfinden konnten. Möglicherweise kehrten die Erinnerungen wieder zurück, vielleicht auch nur im Verhältnis zur gerade erreichten Phase des körperlichen Wiederaufwachsens.

"Dann klären wir das mit den anderen Kollegen vom Dorfrat, ob die anderen was davon mitbekommen sollen oder besser nicht", sagte Heiler Delourdes. Hera Matine stimmte ihm zu. Dann fragte er noch, was die beiden Lichtsäulen hervorgerufen hatte. Seine als Hebamme tätige Kollegin vermutete, dass durch die Geburt von Julius' und Millies dritter Tochter im Zusammenspiel mit der Magie Ashtarias sowohl bei den Latierres als auch Jeanne Dusoleil die wirkenden Schutzzauber so sehr verstärkt wurden, dass sie die Kuppel durchbrechen und mit der Sonne zusammen zersetzen konnten. Näheres würde sie dann mit ihrer noch im Dorf wohnenden Kollegin Béatrice Latierre abklären müssen.

Da die Kuppel nicht mehr vorhanden war konnten die beiden Heiler auch ohne Flohpulver und Reisesphäre die einundzwanzig Neugeborenen heimlich aus dem Dorf hinaus in die Mutter-Kind-Station der Delourdesklinik überführen. Inwieweit sie als therapierbare Patienten oder völlig neue Mitmenschen betrachtet wurden sollten die Kollegen nach mehr als zwei Wochen Beobachtung feststellen. Sollten die wiederverjüngten ihre Erinnerungen zurückgewinnen musste geklärt werden, ob sie vor dem Zaubergamot angeklagt werden konnten, zumindest Louis Grandbois, weil er als Anstifter der Friedensstörer galt und somit mitgeholfen hatte, Sardonias Fluch zu verstärken. Wurde jedoch festgestellt, dass sie sich völlig neu entwickeln mussten sollten sie gemäß der geltenden Regeln für elternlose Kinder und den Gesetzen für magisch wiederverjüngte bei Pflegefamilien unterkommen, die nicht in Millemerveilles lebten und nicht mit den Betroffenen verwandt waren.

Als die beiden Heiler ihre Kollegen vom Dorfrat die unglaubliche Begebenheit berichtet hatten wurde vereinbart, die Angelegenheit bis auf weiteres zur obersten Geheimsache zu erklären. Keiner der anderen Mitbürger sollte was davon erfahren und erst recht nicht die magische Öffentlichkeit, womit auch Mildrid Latierre gemeint war, die sich von der Geburt ihrer dritten Tochter erholen sollte.

__________

Jeanne prüfte noch einmal, ob die für diese Nacht bei ihr untergebrachten Mädchen Aurore und Chrysope sicher schliefen. Aurore hatte abends noch Stress gemacht, weil sie eigentlich nach Hause wollte, um ihre Eltern zu sehen. Doch ihre Großtante Béatrice hatte ihr gesagt, dass die beiden und die Kleine erst einmal tief schlafen müssten. Jetzt konnte auch Jeanne ins Bett. Sie dachte daran, dass gegen Mittag eine grün-goldene Säule um ihr Grundstück nach oben gestiegen und durch die magische Kuppel gebrochen war. Jeanne hatte für einige Sekunden die riesenhaft vergrößerte Erscheinung von Ammayamiria gesehen. Sie hatte gefürchtet, dass sich die aus ihrer Großmutter Aurélie und ihrer ersten Schwester Claire vereinigte Daseinsform bei dieser Aktion selbst ausgelöscht hatte. Doch sie konnte das nicht nachprüfen, und ihre Mutter Camille hatte sie damit vertröstet, dass Ammayamiria dann sicher ganz in die Gefilde der Vorausgegangenen eingetreten sein mochte.

Als Jeanne endlich schlief träumte sie, auf einer bunten Blumenwiese unter einer unverhüllten, strahlenden Mittagssonne zu stehen. Irgendwie kannte sie diese Wiese von irgendwoher. Sie sah sich um. Im Moment war sie alleine. Doch sie hatte das Gefühl, dass da noch wer sein musste, jemand unsichtbares. Dieses Gefühl machte ihr jedoch keine Angst. Es war eher ein Gefühl von Geborgenheit. Dann hörte sie das fröhliche Lachen, dass sie sehr gut kannte. So hatte nur eine gelacht, ihre erste Schwester Claire. Jeanne drehte sich um und suchte nach ihrer entkörperten Schwester. Nun konnte sie eine Blume sehen, die halb so lang wie ihre Beine war. Sie betrachtete sie genau. Dabei meinte sie, dass die Blume immer größer und größer wurde, bis sie genausogroß wie Jeanne war und mit ihrem rotgoldenen Blütenkelch in ihre Richtung blickte. Dann erstrahlte die fremde Blume in einem rotgoldenen Licht und wurde zu jener überirdischen Erscheinungsform, die Jeanne schon kurz nach Claires körperlichem Tod im Traum gesehen hatte.

"Ich freue mich, dass ihr, deine Mutter und du, euch so um mich gesorgt habt. Es war auch sehr anstrengend für mich, was ich getan habe", sagte Ammayamiria mit ihrer Verschmelzung aus Oma Aurélies und Claires Stimme. "Aber die Apfelbäume und euer Wille, Julius beizustehen, haben mir geholfen. Als deine Mutter die mächtige Formel Ashtarias ausrief wurde ich gerufen. Ich nutzte die Gelegenheit, bei dir und mit der Kraft der von mir erfüllten Bäume die zweite Torsäule zu machen, damit das Tor der freien Seelen entsteht und auch wirklich alle aus Sardonia herausgelösten Seelen unschuldiger Leute endlich in ihren Frieden hinübergehen konnten."

"Das Tor der freien Seelen?" fragte Jeanne. Ammayarmiria nickte ihr zu und erwiderte: "Das ist eine Kraft, die nur von einem gerade neu zur Welt kommenden Menschen und einem bereits vorausgegangenen zugleich erweckt werden kann, um eine in der stofflichen Welt festgehaltene Seele von dem zu lösen, was sie festhält, damit sie gedankenschnell über die Weltenbrücke in den Zustand der Vorausgegangenen wechseln kann. Da ich die ganze Zeit auf dieser Weltenbrücke stehe, um euch zu beobachten und zu beschützen, wenn eine für euch allein zu große Gefahr besteht, konnte ich zusammen mit der von Julius gezeugten Clarimonde und der um dein Haus und um Julius' Haus bestehenden Apfelbaumgruppe dieses Tor weit auftun. Den Rest hat dann Julius mit der mächtigen Fluchumkehrformel ausgerichtet. Aber bitte erwähne das nicht öffentlich, dass das so abgelaufen ist! Ich sage es dir nur, weil du dir um mich Sorgen gemacht hast. Sage das so, dass die beiden von deiner Mutter geschaffenen Schutzbereiche durch Bertrands Geburt und Clarimondes Geburt miteinander verbunden wurden und so die Kuppel durchbrechen konnten!" Jeanne versprach, es so und nicht anders zu sagen. Dann fragte sie, ob Julius sie auch im Schlaf sehen würde. "Wenn ich finde, dass er wieder erholt genug ist werde ich und nur ich ihm das auch so erklären, wie ich es dir erklärt habe. Lasst ihn noch schlafen und vor allem, haltet ihm bitte die ganzen Nachfragen vom Hals, ob er das gemacht hat oder nicht! Es ist eben die Geburt zweier neuer Menschen gewesen, die Sardonias verfluchtes Gefängnis durchbrochen und zerstört hat." Jeanne bestätigte das. "Dann überlasse ich dich deinem wichtigen Schlaf, Jeanne. Ich bin weiterhin für euch da." Mit diesen Worten wurde Ammayamiria wieder zu jener Blume mit dem rotgoldenen Blütenkelch. Jeanne fühlte, dass sie nun beruhigt weiterschlafen konnte.

__________

Im Haus von Aurora Dawn bei Sydney, 25. Juni 2003, 06.00 Uhr Ortszeit

"Hallo Aurora, bist du wach?" hörte die aus England nach Australien übergesiedelte Heilerin Aurora Dawn ihre Eigene Stimme aus dem Behandlungszimmer. Sie rief zurück: "Ja, weißt du doch, Aurora! Rosey hat doch schon um fünf Uhr gerufen, dass sie was braucht!" Das äußerlich gerade acht Monate alte Hexenmädchen kniff Aurora kurz in den Bauch und räkelte sich genüsslich in den Armen seiner zweiten Mutter.

"Gut, die Bilderverbindung nach Millemerveilles klappt wieder. Mein Gegenstück war vorhin bei mir und hat berichtet, dass die kleine Clarimonde in nur zehn Minuten nach der ersten Eröffnungswehe entbunden war. Camilles Heilsstern hat Millie eine sehr schmerzarme und schnelle Niederkunft verschafft. Beinahe hätten die Latierres die Geburt der Kleinen nicht miterlebt, weil dieses dunkle Hexenweib Sardonia einen letzten Versuch gemacht hat, das Apfelhaus und seine Bewohner zu vernichten. Willst du die Vollversion haben oder reicht das für dich erst mal?"

"Wenn ich die Kleine wieder in ihr Bett gepackt habe erzählst du mir in gesitteter Lautstärke, was dein Gegenstück in Millemerveilles mitbekommen hat!" rief die natürliche Aurora Dawn ihrer gemalten Ausgabe zurück. "Mann, Mum, will ich auch wissen, was da los war", hörte sie eine Kleinmädchenstimme in ihrem Kopf. "Nix da, du bist ein Baby und musst dich noch nicht mit allem Ballast der Erwachsenen herumschlagen", schickte Aurora zurück.

"Ey, geistig bin ich älter als du", gedankenknurrte die kleine Rosey Dawn. "Ja, aber ich habe dich ausgetragen, geboren und gerade wieder an mir trinken lassen. Du bist mein Baby. Das hatten wir doch längst vor deiner Geburt geklärt, damit die Kobolde nicht doch noch meinen, dich als Erbin von Heathers Mann belangen zu können. Also genieße es, noch klein und unschuldig zu sein!" Darauf kam nur ein unwilliges Quängeln der gerade umsorgten.

Als Aurora sich von ihrer gemalten Ausgabe alles hatte erzählen lassen, was diese von Béatrice mitbekommen hatte sagte sie: "Dann hätte es ihn fast in Erfüllung seiner Vaterpflicht aus der Welt abberufen. Dann soll die nette Trice Latierre ihn wieder auf die Beine bringen, bevor ich über dich oder direkt über das Armband mit ihm rede."

"Aber schon heftig, was Sardonias und Ashtarias Magie für eine Kraft freigesetzt haben", erwiderte Auroras gemalte Ausgabe. Ihre Vorlage konnte dem nicht widersprechen.

__________

Millemerveilles, 25. Juni 2003

Hatte er geträumt? Hatte er das alles nicht wirklich erlebt? Er lag im Bett. Es war dunkel. Welches Bett war das denn? Am Ende hatte er die ganze Geschichte nur geträumt, dass er ein Zauberer war und nach Hogwarts gehen sollte, wo er dann erst viele abgefahrene Sachen erlebt hatte und dann dieses Mädchen Claire Dusoleil getroffen hatte, in einem Dorf namens Millemerveilles, das unter einer magischen Energieglocke stand. Dann das Claire starb und doch nicht tot war, dass er mit einer rotblonden Rassehexe namens Mildrid Latierre in einer Burg von Mondlichthexen zum ersten Mal Sex hatte, sie dann deshalb geheiratet hatte und mit ihr dann in dieses Dorf unter der Kuppel gezogen war. Er drehte sich um. Etwas warmes, weiches lag neben ihm. Er sog einen Duft in seine Nase ein, den er kannte. Ja, er wusste jetzt, dass er das alles nicht geträumt hatte. Aber dann hatte es auch diesen abgefahrenen Kampf mit einer orangeroten Geisterriesin gegeben.

"Hallo großer Sonnenschein, schön dass du wieder erwacht bist", säuselte die warme, weiche, wohlvertraute Gestalt neben ihm und tätschelte ihm die Wangen. Er öffnete die Augen und sah sie, seine Frau, Mildrid Ursuline Latierre ... Er erschrak. Was war mit Clarimonde Esperance? "Kuck mal, Clarimonde, da ist der feine Mensch, zu dem du Papa sagen darfst. Gehört hast du den ja schon häufig, und gestreichelt hat er dich auch schon. Aber jetzt kann er dich auch hören und ansehen", flötete Milie und drehte sich zu ihm um. Dabei hielt sie ein kleines, zerbrechlich wirkendes Bündel mit einem großen Kopf in den Händen. Auf dem Kopf des kleinen Wesens wuchsen rotblonde Stoppeln, und es hatte richtig knuffige Pausbäckchen und eine niedliche Stupsnase. Julius Latierre griff behutsam nach dem ihm hingehaltenen Bündel Menschenleben, seiner dritten Tochter Clarimonde. "Na hallo, kleine Lichterfee. Da bist du ja schon bei uns. Und ich Depp habe nicht mitbekommen, wie du zu uns ans neue Licht der Welt gekommen bist, Clarimonde Esperance Latierre. Schön, dass du da bist", summte Julius und merkte, dass die kleine, noch sehr hellhäutige Hexe sich freute, dass er sie mit seinen großen Händen streichelte. Er legte sie auf seinen Bauch. Sie sah das wohl als Einladung, bei ihm nach was zu trinken zu suchen. Doch natürlich war da nichts. "Ui, gleich beim ersten Kennenlernen die erste Enttäuschung des Lebens", grinste Julius, als seine ganz neue Tochter sich vergeblich an ihm festsaugen wollte.

"Sie möchte was? Na klar, ist ja auch erst anderthalb Stunden her, dass du bei Maman Millie was bekommen hast", grinste Millie und pflückte das kleine Menschenwesen von seinem Erzeuger herunter. "Dann komm mal her und hilf Maman, die dreißig Kilo Übergepäck wieder runterzukriegen", bemerkte Millie, während sie sich das kleine Mädchen zurechtlegte.

"Wie lang war ich weggetreten?" fragte Julius seine Frau. "Seit gestern mittag zwölf Uhr, wo mir Camille ihren Silberstern an den Herzanhänger gehalten und ihre Superzauberformel gerufen hat, um durch mich und offenbar auch Clarimonde Kraft an dich weiterzuleiten. Jetzt haben wir schon den 25. Juni neun Uhr Morgens. Tante Trice hat mir noch einen Wickeltrick gezeigt, den ich noch nicht kannte und dir noch mal was umgelegt, damit du sorglos durchschlafen kannst. Sie sagte übrigens ganz deutlich, wenn du versuchst, ohne ihre Genehmigung aufzustehen, würde sie dich am Bett festbinden und dich mit der Flasche ernähren, bis die Kleine hier eine Woche alt ist. Wenn du schön brav im Bett bleibst darfst du vielleicht schon übermorgen aufstehen."

"Reise nach Babel, Schlussszene", grummelte Julius. Millie fragte "Wie, Baby, nicht Babel. Oder meintest du Babette. Die hat übrigens schon eine Eule geschickt und um die ersten Bilder von Clarimonde gebeten."

"Nein, ich meinte echt eine Folge aus einer Fernsehserie, die so hieß", erwiderte Julius. Dann sprach er weiter: "Eulen? Dann habe ich den Quatsch echt erlebt. Die Kuppel hat sich in bunte Lichter aufgelöst."

"Ob das Quatsch ist, dass die Kuppel weg ist diskutieren die vom Dorfrat gerade. Weil jetzt, wo du Sardonia zusammen mit Camille, mir und der kleinen hier endgültig aus der Welt geschossen hast fragen sich wieder viele, ob das wirklich sein musste, dass die Kuppel aufgelöst wurde. Abgesehen von den zwölf Kratern und dem fünfzig Meter tiefen Loch, wo früher ein Dorfteich war haben jetzt wieder viele Angst, weil Leute wie Vita Magica, die Vampirgöttin oder deine zweitliebste Freundin die Spinnenlady auch wieder zu uns reinkommen können. Hera und Tante Trice haben dich mit mir ins Wochenbett gelegt und dich wegen der heftigen Freisetzung verschidener Zauberkräfte um unserem Haus für die nächste Woche vernehmungsunfähig geschrieben. So kannst du uns beide auch schön warmhalten, wenn wir frieren."

"Frieren? Ist es draußen kalt?" fragte Julius. "Gestern nachmittag hatten wir stolze fünfundzwanzig Grad im Schatten. Für die, die lange keine Sonne mehr abbekommen haben war das die Gelegenheit, sich voll den Sonnenbrand zu holen", erwiderte seine Frau.

"Öhm, wenn wir hier eine Woche herumliegen und Clarimonde beim Windelnfüllen und Nuckeln zusehen, Mamille, wie sieht es denn dann mit deiner Reportage aus?" erkundigte sich Julius. "Stimmt, da war noch was. Moment." Millie langte aus dem Bett auf ihren Nachttisch. "Extragenehmigung von meiner hauptamtlichen Hebamme, weil die Welt draußen ja erfahren soll, dass es uns auch wieder gibt. Bitte schön!" Damit klatschte sie Julius eine Tageszeitung auf den Bauch. Er nahm sie und las:

Aus Mildrid Ursulines Reportage "Unter der Dämmerkuppel"

24. Juni 2003

Dies ist das Letzte Kapitel. Die Dämmerkuppel ist Geschichte. Sardonias letzte große Hinterlassenschaft wurde heute Mittag um zwölf Uhr durch eine Verkettung magischer Ereignisse, die ich selbst nicht mitverfolgen konnte, und über die mir die Augenzeugen die abgedrehtesten Sachen berichtet haben, vollständig aufgelöst. Ich konnte es auch nicht glauben, bis mir eine Eule in das Zimmer flatterte, in dem ich laut Anweisung meiner Hebamme die nächsten zwei Wochen zubringen soll, um mich von der erfolgreichen Geburt von Clarimonde Esperance Latierre zu erholen. Deshalb bekam ich ja nicht mit, was die Kuppel ausgelöscht hat. Einige wollen eine orangerote Risenfrau vor unserem Grundstück gesehen haben, aus der unvermittelt goldene Lichtkugeln geflogen sind. Andere behaupten, dass zwei grüne Lichtsäulen entstanden sind, zwischen denen goldene Lichtentladungen wie durch ein Tor geflogen sind. Andere machen die Kinder Ashtarias dafür verantwortlich. Jedenfalls ist die Kuppel weg und wir wieder eine Siedlung unter so vielen anderen in Frankreich.

Ich selbst hatte wie erwähnt damit zu tun, Julius' und meine Tochter Nummer drei zur Welt zu bringen. Das war die mit abstand schnellste und dennoch schmerzärmste Geburt, die ich bisher überstanden habe. Von den ersten Eröffnungswehen bis zur Entbindung sind nur zehn Minuten vergangen. Danach wurde mir erzählt, dass in dem Moment, wo meine Tochter vollständig an die Luft gelangt ist, die Sonne wieder unversperrt zu uns durchdrang. Wenn das echt stimmt, dann freut mich das. Ich kann zwar verstehen, dass viele Leute jetzt denken, dass das mit der Kuppel doch nicht so übel war und die doch bitte bitte hätte so bleiben sollen, wie vor dem 26. April 2003. Ich denke aber da wie meine Tochter Clarimonde: So schön warm und geborgen es im Mutterbauch ist, wenn es einem zu eng wird kommt man besser irgendwie raus und freut sich über die ganze weite Welt, auch wenn da längst nicht alles nett und friedlich ist. Ich freue mich auch, dass wir jetzt wieder ganz normal mit allen reden, schreiben, uns besuchen und Sachen verschicken können. ich habe doch meine Leute vermisst, auch meine große Schwester, die mich und die Kleine gleich nach der Dorfrätin für Gartengestaltung Camille Dusoleil beglückwünscht hat. Meinem Mann Julius geht es den Umständen entsprechend gut, obwohl ihn die um unser Haus aufgespannten Zauber und die Vernichtung der Kuppel laut der Dorfheiler heftig zugesetzt haben, so dass er vorübergehend wie ich Bettruhe zu halten hat. Offenbar, so Heilerin Matine, hat die Abwehrkraft um unser Haus seinen Spürsinn für Magie überlastet und ihn deshalb ohnmächtig gemacht. Ich bin aber sehr zuversichtlich, dass er sich bald wieder auf seine Büroarbeit wirft. Wie gesagt, die Welt ist schön groß und hat eine Menge zu bieten. Freuen wir uns also alle, dass wir es geschafft haben.

Unsere Thaumaturgen haben mitgeteilt, dass der durch die verfremdete Kuppel blockierte Reisesphärenkreis wieder anfängt, sich mit frei auftreffenden Sonnenstrahlen aufzuladen. Sie hoffen, dass unsere in Beauxbatons lernenden Mitbürger zum Sommerferienbeginn am ersten Juli ungefährdet nach Millemerveilles zurückkehren können. Die Flohnetzverbindungen werden in den kommenden Tagen überprüft und falls nötig neu eingerichtet.

So, das war's mit der Dämmerkuppel. Ich bedanke mich bei allen, die es mit meinen Berichten und mit uns allen durchgehalten und überstanden haben. Wir haben es geschafft!

MUL

"Das ist voll krass. Den Leuten die Wahrheit so zu servieren, dass sie sie nicht glauben können", grummelte Julius. Dann sagte er mit einem verwegenen Grinsen: "Hat irgendwie was von Weihnachten. Die Geburt eines neuen Menschen bringt eine neue Zeitrechnung." "Ja, stimmt, Monju", hat irgendwie was von Weihnachten. Dabei sind es bis da noch sechs Monate hin", bemerkte Millie dazu.

"Und was ist mit Rorie und Chrysie?" fragte Julius. "Die zwei sind noch bei Jeanne. Tante Trice hat ihnen erzählt, dass es uns beiden gut geht. Morgen soll einer von Opa Ferdis Flohnetzbeauftragten durch Millemerveilles und die verzeichneten Anschlüsse wieder einrenken, damit wir auch wieder mit Flohpulver reisen oder Kontaktfeuern können. Ob Tante Trice dich dafür aus dem Bett lässt weiß ich noch nicht. Sie hat mir nur gesagt, dass sie solange bei uns bleibt, bis wir zwei wieder erholt genug sind, unbeaufsichtigt weiterzuleben." Julius grummelte darüber nur. "Onkel Gilbert zankt schon mit Tante Trice, dass er unbedingt eine Nachfolgereportage von mir haben will, was so alles hier abgeht, zumal er mit dem Westwind in den Staaten einen Vertrag gemacht hat, die ganze Reportage zu übersetzen. Da ich laut Vertrag keine Mitsprache mehr habe, sobald ich die Texte zur Redaktion geschickt habe, kann ich das nicht mal abblocken. Na ja, werden Britt, Venus, Mel und Myrna das eben auch lesen, wenn die gescheit übersetzen", sagte Millie. Julius fragte, was sonst noch passiert war. "Dass der Dorfrat den 24. Juni zum Befreiungstag ausgerufen hat und überall an öffentlichen Plätzen Freudenfeuer entzündet wurden. Jetzt, wo das auch wieder mit Feuerzaubern geht, freuen sich alle, dass sie wieder alles machen können. Die ersten hatten auch schon Besuch von ihren Verwandten. Catherine wird wohl mit Claudine und Babette rüberkommen, wenn in Beaux die Sommerferien angefangen haben. Ansonsten wüsste ich jetzt nichts, was noch wichtig sein soll", erwiderte Millie.

"Oh, dann gehen die Bilderverbindungen auch wieder. Dann schicke ich Aurora Dawn gleich mal eine Grußbotschaft, dass es uns noch gibt", sagte Julius. "Hat Tante Trice schon erledigt, von Heilerin zu Heilerin sozusagen", antwortete Millie, während die kleine Clarimonde leise schmatzend und glucksend ihren Hunger stillte.

"Hast du was von Jeanne gehört, wie die das mit der grün-goldenen Lichtersäule mitbekommen hat?" fragte Julius. "Wurde auch von Tante Trice erledigt. Jeanne wünscht dir gute Besserung und die nötige Erholung und hofft, dass wir uns in den nächsten Tagen treffen, um die zwei neuen Erdenbürger einander vorzustellen. Rorie und Chrysie kommen schon heute Nachmittag zu uns zurück, damit die zwei ihr neues Schwesterchen kennenlernen können", sagte Millie. "Bruno hat nichts gesagt, wann er Clarimonde mit dir pinkeln lassen will. Das sollst du wohl festlegen", meinte sie noch. Julius verbiss sich eine Bemerkung darüber, dass Bruno wohl im Moment andere Sorgen haben mochte, jetzt, wo auch sein Vater wieder nach Millemerveilles zurückgekehrt sein mochte. Doch was Brunos Mutter mit César angestellt hatte sollte Millie nicht wissen.

"Was ist mit der Schule?" wollte Julius noch wissen. "Vorgezogener Ferienbeginn, Monju. Die Kinder sollen mit ihren Eltern und Verwandten von außerhalb die wiedergewonnene Freiheit feiern. Laurentine kommt zur Zeugnisübergabezeremonie herüber, wenn entweder die Flohnetz- oder die Reisesphärenverbindung wieder klappt. Aber das habe ich nicht in die Reportage reingeschrieben, weil Tante Trice von Sandrines Mutter gesagt bekommen hat, dass das eine ganz inoffizielle Absprache mit Madame Faucon und dem Ausbildungsleiter im Zaubereiministerium ist", erwähnte die nun dreifache Mutter. "Dann werden die Zelte wohl bald wieder abgebaut", erwiderte Julius. Millie stimmte ihm zu.

Von unten klangen Schritte auf der Wendeltreppe. "Sicher Tante Trice, die mitgekriegt hat, dass wir zwei miteinander reden", vermutete Millie. Julius nickte.

Béatrice Latierre betrat das Elternschlafzimmer. Sie sah Julius an, der sich gerade aufsetzte und merkte, wie geschlaucht er noch war. Er sagte deshalb: "Tante Trice, schön dass du kommst. Gib mir bitte einen Aufpäppeltrank, dann kann ich auf meinen Posten zurückkehren." Béatrice sah ihn sehr entschlossen an und erwiderte: "Du bist auf deinem Posten, Julius. Wenn du ganz artig die Anordnungen deiner netten Tante Heilerin befolgst darfst du zum Essen leichter Speisen und zum Absetzen unverdaulicher Reste aufstehen. Dann kann ich dich frühestens nach drei Tagen wieder für arbeits- und verhandlungsfähig erklären. Meinst du gleich wieder alles auf einmal errledigen zu müssen binde ich dich zwei Wochen im Bett fest und flöße dir Flüssignahrung über die große Babyflasche ein, die ich für meine Frau Mutter gemacht habe."

"Du genießt das richtig, Tante Trice", grummelte Julius. "Eben nicht, weil ich ganz gerne wieder die anderen treffen und sprechen möchte. Zwar will meine Mutter nachher noch vorbeikommen und sich ihre neue Urenkelin ansehen. Aber wenn ich dann noch mit einem unvernünftigen Patienten zu tun habe kann ich wohl erst wieder ins Schloss, wenn ich ihn für genesen erklärt habe", sagte Béatrice sehr unerbittlich.

"Und was ist, wenn ich mich von dir nicht ans Bett festbinden und andauernd neu wickeln lassen will, Tante Trice?" wollte Julius wissen. "Dann ziehe ich dir die Ohren lang und erzähle, dass das die Nachwirkung der magischen Entladungen ist, die vor eurem Haus stattfanden", erwiderte Béatrice, wobei sie jetzt ein eher lausbübisches Grinsen zeigte. Deshalb erwiderte Julius darauf: "Die Vorstellung wäre wohl irgendwie faszinierend", wobei er die rechte Augenbraue anhob.

ENDE

Nächste Story |

Verzeichnis aller Stories | Zur Harry-Potter-Seite | Zu meinen Hobbies | Zurück zur Startseite

Seit ihrem Start am 1. Dezember 2020 besuchten 1324 Internetnutzer  diese Seite.