Von wahrem Frieden kann die Zaubererwelt auch fünf Jahre nach Voldemorts endgültiger Niederlage nicht wirklich sprechen. Vengors letzte Tat führte zur Entstehung einer aus zwei weiblichen Nachtschatten zu einem Übernachtschatten verschmolzenen Königin der Schattenwesen, die die Seelen ihrer Opfer als neue, dunkle Geisterkinder wiedergebiert und die Erzfeindin nicht nur der Menschen, sondern auch der Vampire unter der selbsternannten schlafenden Göttin Gooriaimiria wird. Gleichzeitig führt die obskure Gruppierung namens Vita Magica weiter ihre Pläne aus, magisch begabte Menschen zur Fortpflanzung zu treiben, um weitere Zaubererweltkinder in die Welt setzen zu lassen. Auch versucht Vita Magica, den US-amerikanischen Zaubereiminister zu kontrollieren, bis der Heilmagier Silvester Partridge diese Machenschaft durch einen äußerst gewagten Soloeinsatz zunichte macht und nach einem kurzen Aufenthalt in einem geheimen Stützpunkt von Vita Magica von einer überlebensgroßen Frau aus Gold in die verborgene Stadt Khalakatan gebracht wird, wo er von der Altmeisterin Ianshira zu sich genommen wird, bis alle Welt davon ausgeht, dass er nicht mehr lebt.
Die Unehrlichkeit des Baustreckenbegehers Henri Dubois löst eine Kette dunkler Ereignisse aus, welche die magische und nichtmagische Menschheit nachhaltig beeinträchtigen können. Sardonias einstige Erzrivalin Ladonna Montefiori, die je eine grüne Waldfrau und eine Veela in der Ahnenlinie hat, kann über den von ihr geschmiedeten Ring Besitz von Henri Dubois Verlobter Rose Britignier ergreifen und sie dazu bringen, ihren von Sardonia in Versteinerung gebannten Körper aus dem Meer zu bergen. Mit Roses jungfräulichem Blut kann der Bann gebrochen und Ladonnas Körper wiederbelebt werden. Die Wiedererwachte holt sich ihren Ring zurück und erfährt dadurch alles aus der Gegenwart der magielosen Menschen. Danach schafft sie sich ein Hauptquartier in Norditalien und nimmt Kontakt zu den Nachfahrern der früheren Hexenschwesternschaft der Feuerrose auf. Außerdem sinnt sie darauf, den durch Hydrablut zum übermächtigen Wesen verwandelten Vampir Heptachiron zu töten, um dessen Meister Iaxathan einen mächtigen Diener abzujagen. Doch weil zu dieser Zeit auch die aus vielen hundert Vampirseelen zu einem mächtigen Geisterwesen verbundene Gooriaimiria um die Vorherrschaft über die Vampire kämpft gelingt es dieser, den bei Heptachirons körperlichem Ende freiwerdenden Geist des Vampirs an sich zu reißen. Dabei versucht Iaxathan, der auf seinen schattenhaften Knecht Kaharnaantorian hofft, die Seele Heptachirons einzufangen und gerät dadurch selbst in Gooriaimirias Sog. Sie verleibt ihn sich ein, ohne dass er wie der Geist eines Vampirs in ihrem Seelenverbund zerfließt, aber nun ewig in ihr gefangenbleiben muss. Kaharnaantorian versucht, Iaxathans dunkles Artefakt, das Auge der Finsternis, zu übernehmen. Dabei löst er jedoch dessen Selbstvernichtungsvorkehrung aus. Bei dieser Selbstvernichtung wird eine Unmenge dunkler Magie frei, die als dunkle Entladungswelle um die ganze Welt brandet. Dadurch werden auch alle dunklen Zauber in den Ankerartefakten um Millemerveilles wiederbestärkt, welche Sardonia damals wirkte, um eine von ihren Feinden undurchdringliche Kuppel aus Zauberkraft zu errichten. Nun ist die Kuppel beinahe undurchlässig für Sonnenlicht und strahlt zudem eine Magie aus, die jeden Licht- und Feuerzauber blockiert. Die eingeschlossenen Bewohner sind auf magielose Mittel zum Feuermachen angewiesen. Nur Camille Dusoleil kann bis zu einer völlig überstürzten Aktion von acht Zauberern die Kuppel während der Tagesstunden verlassen. Doch als die acht Zauberer bei ihrem Fluchtversuch sterben und ihre Seelen in die Kraftquellen der Kuppel einfließen kommt auch die Hexe aus der Linie Ashtarias nicht mehr hinaus. Nur über magische Fernkopiervorrichtungen kann noch Kontakt mit der Außenwelt gehalten werden. Außerdem zeigt sich, dass die dunkle Entladungsfront auch schlummernde Horkruxe angeregt hat, darunter einen verschollen geglaubten Silberdolch Sardonias, der sich aussuchen kann, in wessen Händen er erscheint. Die Dorfbewohner hoffen, durch genug nichtmagisches Licht, sowie eine Beibehaltung ihres bisherigen Lebens der Kraft der Kuppel zu trotzen. Diese Hoffnung wächst, als sich zeigt, dass die Geburt eines Kindes im Schutz eines mächtigen weißmagischen Zaubers die Kuppel schwächt, als Jeannes und Brunos Sohn Bertrand geboren wird. Millie Latierre, die als Reporterin für die Temps de Liberté schreibt, berichtet in einer Fortsetzungsreportage über das Leben unter der schwarzmagischen Kuppel.
Bei einigen Bewohnern von Millemerveilles wächst das Misstrauen gegen die verordneten Schutzmaßnahmen, vor allem dem Tragen von Goldblütenhonigphiolen. Sie versuchen, die Mitbürger gegen den Dorfrat aufzuwiegeln und verweigern das Tragen von Goldblütenhonigphiolen. Deshalb werden sie die einzigen Opfer von Sardonias in den Kraftsteinen für die dunkle Kuppel gebannten Blutgeister, die versuchen, mehr Menschen zu töten, um die Kuppel undurchdringlich zu halten. Vita Magica nutzt die Gelegenheit, ein neuartiges Lustanregungsgas unter die Dämmerkuppel zu sprühen, dass die erwachsenen Bewohner über Tage zu aufeinanderfolgenden Liebesakten treibt, während die Kinder unter elf Jahren tief und fest schlafen. Camille Dusoleil und Hera Matine schaffen es, die von Sardonias Geist besessene Hugette Mirabeau aus der dunklen Abhängigkeit zu lösen und Sardonias Dolch zu entmachten, worauf Sardonias Geist Zuflucht in einem ihrer dunklen Machtzentren unter Millemerveilles findet. Als die Geburt von Julius' dritter Tochter beginnt ballt sich Sardonias Geist mit allen noch bestehenden Blutgeistern zu einer turmhohen Ungeheuerlichkeit zusammen und will die Ankunft Clarimondes verhindern. Nun wirken sowohl die Kräfte um das Haus von Jeanne und Bruno Dusoleil und der Schutzzauber rund um das Apfelhaus der Latierres zusammen. Mit Hilfe der Herzanhängerverbindung zu seiner Frau und der Macht von Camilles Heilsstern, die durch Millies gebärenden Leib auch in den werdenden Vater überspringt schafft er es, mit dem Fluchumkehrer aus Altaxarroi in Sardonias gigantischen Geisterkörper hineinzuwirken, worauf dieser zu einem Schwarm aus golden leuchtenden Lichtkugeln zerfällt, die die Macht der Kuppel endgültig auslöschen. Daraufhin stürzen alle unterirdischen Höhlen ein, in denen Sardonias dunkle Kraftquellen verborgen waren. Millemerveilles ist wieder frei. Sardonias Erbe ist vernichtet.
Während dieser dunklen Wochen schickt sich Ladonna Montefiori beinahe unbemerkt an, ihren eigenen großen Plan zur Beherrschung erst der Hexen und dann der ganzen Welt ins Werk zu setzen. Denn erst jetzt hat sie das Mittel zur Verfügung, um schier unbesiegbar zu werden.
Sie musste sich sehr stark beherrschen, ihre eigenen Lebensschwingungen nicht zu stark nach außen reichen zu lassen. Denn sonst spielte alles verrückt, was mit sogenanter Elektronik arbeitete, vor allem die von den Magieunfähigen so abgöttisch verehrten wie gefürchteten Rechnergeräte. Dank ihres von Rose Britignier erworbenen Wissens vor und nach der Wiedererweckung konnte sie diese von manchen für Zauberkästen gehaltenen Geräte spielend bedienen. Sie interessierte gerade, was sich auf Sizilien tat. Von Donna Gina, die seit dem brandheißen Verschwwinden ihres Stammsitzes in ihrem Garten blühte und gedieh hatte sie mehrere Adressen für Internetseiten, auf die sonst niemand zugreifen konnte. Mit den ebenfalls von Donna Gina erbeuteten Zugangspasswörtern wählte sie sich in die scheinbar sehr gut gehüteten Geheimdatenbanken der Cosa Nostra ein. Wie im wirklichen Leben gab es auch im verborgenen Internet, das als Dunkelnetz bezeichnet wurde, tote Briefkästen. Zonen, wo jemand Nachrichten hinterlegte und wer anderes die Nachrichten abholte, ohne dass Sender und Empfänger miteinander Kontakt erhielten. Einen solchen toten Briefkasten wählte sie nun an und fand dort vier Nachrichten, die ein selbsternannter Erbe Donna Ginas für drei Erfüllungsgehilfen deponiert hatte. Es ging da um einen Geldverlagerungsvorgang, um einer feindlichen Seite den Spielraum zu nehmen. Die Decknamen der Absender kannte sie auch von Donna Gina, sowie deren Handlanger Adelmo Roselli. "Sieh an, da wird es demnächst wohl noch ernsthaften Streit geben", dachte sie und las den kodierten Text, den sie nur verstand, weil sie Donna Gina nach ihrer Einbürgerung in ihrem ganz privaten Garten noch einmal genauer befragt hatte, als sie schon lange genug unter ihrem Zauber stand. Sie befand, dass sie sich da nicht einmischen wollte, auch wenn die Aussicht verlockend war, die Truppe Donna Ginas vollständig zu übernehmen, wenn sie erst die nötigen Grundsubstanzen in ausreichender Menge zur Verfügung hatte.
Unvermittelt fühlte sie die Annäherung besonders starker, eindeutig belauernder Lebensäußerungen. Das waren keine Unfähigen, sondern Leute mit Magie im Blut. Sie kamen ganz gemütlich von draußen herein, statt mal eben so mitten im Raum zu stehen. Was wollten die hier?
Um nicht beim Durchstöbern verbotener Seiten ertappt zu werden meldete sie sich schnell aus den betreffenden Konten ab, damit kein Rückverfolgungsprotokoll erzeugt wurde. Dann blickte sie vor sich. An der Wand hing ein Spiegel. Wie praktisch. Zunächst sah sie nur sich selbst, eine makellos schöne Frau unbestimmbaren Alters mit langem nachtschwarzem Haar, die in einem figurbetonten schwarzen Kurzkleid steckte. Dann sah sie drei Männer, die sicher mit den von ihr verspürten Lebenskraftschwingungen zusammenpassten. Sie trugen die übliche Sommeruniform junger leute, hielten aber ihre Hände ganz aufmerksam auf Höhe ihrer Hosennähte. Dann traten sie in das Internetcafé.
Sie fühlte, wie die drei sich förmlich an ihr festguckten. Wenn sie jetzt ihre besondere Ausstrahlung freigab würden nicht nur die Rechnergeräte durcheinanderkommen, sondern auch alle männlichen Besucher über zwölf Jahren. Noch hielt sie das nicht für nötig. Doch dann trat einer der drei vor und erkannte, dass sie ihn schon längst im Spiegel sah. Er beschleunigte seinen Schritt ein wenig. Seine Begleiter blickten sich aufmerksam um, als wollten sie seine Flanken sichern.
"Ladonna Montefiori, sie sind erkannt. heben Sie bitte Ihre Hände und stehen sie ganz langsam auf!"
"Wer soll das sein, Ladonna Montefiori. Ich bin Laura Venuti", erwiderte die Frau im schwarzen Kurzkleid und lächelte zuckersüß.
"Dann können Sie sich ganz sicher ausweisen", sagte der Mann, der sie so dreist angesprochen hatte, als habe er hier irgendwas zu melden.
"Sie zuerst, Signore", sagte die superschöne Cafébesucherin.
"Sie möchten keinen Ärger, Ladonna Montefiori. Wir wissen, wer sie sind, und sie merken sicher, das wir keine gewöhnlichen Ordnungshüter sind. Also heben sie die Hände so, dass ich sie sehen kann und stehen dann ganz langsam auf."
"Und was passiert dann?" wollte die Cafébesucherin wissen.
"Dann begleiten Sie uns zur Abteilung zur Verfolgung magischer Straftaten", flüsterte der vordere Mann. Die schwarzgekleidete Besucherin erkannte im Spiegel, dass die anderen beiden gerade ganz behutsam mit Zauberstäben in Richtung der anderen Gäste und der wenigen Bediensteten zielten. Offenbar machten sie was, dass die sich nachher nicht mehr an dieses Ereignis erinnern konnten.
"Lustig, was ihre zwei Begleiter da mit den langen Zahnstochern treiben", tat die Frau mit dem nachtschwarzen, seidigen Haarschopf erheitert, obwohl sie alles andere als erheitert war. Woher hatten diese drei Feiertagsschergen da ihren Aufenthaltsort?
"Okay, jetzt die Hände nach oben und so, dass ich sie sehen kann. Meine Kollegin wird gleich hier eintreffen und Sie durchsuchen. machen sie keine zu schnelle bewegung. Ich habe eine Pfeilschusswaffe auf sie gerichtet und werde davon Gebrauch machen", sagte der Mann hinter der Schwarzgekleideten. Diese hörte und fühlte, dass er nicht täuschte. Doch ihr zu drohen würde dieser Wurm gleich bitter bereuen. Offenbar wartete er noch darauf, dass seine Leute die Gäste ganz gleichgültig stimmten, womöglich mit dem Inducio-Apathiam-Zauber, der schon zu ihrer ersten langen Lebenszeit bekannt war.
"Sagen Sie mal, schämen Sie sich nicht, eine wehrlose Frau zu bedrohen?" ereiferte sich die Besucherin nun bewusst lauter sprechend. Doch die immer leiser werdenden Gäste reagierten schon nicht mehr darauf. "Wenn Sie noch lauter rufen sterben Sie, Signorina Montefiori", knurrte der Mann hinter ihr und zeigte mit der rechten Hand auf sie. Tatsächlich sah es so aus, als halte er was unsichtbares damit fest.
"Gut, acta est fabula, Junge. Wer hat dir verraten, dass ich hier bin?" fragte sie nun mit einer eindringichen, überirdisch klingenden Stimme. Dabei gab sie die bisher so verbissen niedergehaltenen Schwingungen frei, die als unsichtbare Aura der Betörung und Entrückung jedes humanoide Männchen durcheinanderbrachten. Unverzüglich irllichterten Fehlermeldungen und völlig chaotische bunte Bildfragmente über den Bildschirm ihres Rechners. Auch bei anderen Rechnern flackerten die Bildschirme und zeigten Systemfehler an. Jetzt flackerte sogar die dezente Beleuchtung, die so eingestellt war, dass die Besucher sich die Augen nicht überanstrengten. Der Mann hinter der Besucherin stand ruhig da, während die Gäste sich wie träge Wetterhähne in ihre Richtung drehten. Der Apathiezauber hielt sie zwar größtenteils teilnahmslos. Doch gegen die bewusst ausgestrahlte Kraft einer Veelastämmigen konnte selbst dieser Zauber nicht völlig immunisieren. Die beiden Männer, die die Besucherin wohl auch mitnehmen sollten verfielen in eine total glückselige Haltung. Da drehte sich die Besucherin blitzschnell um und kam im gleichen Moment auf die Füße. "Meine Hände, hier sind sie", zischte sie und hielt dem mann mit der unsichtbaren Schussvorrichtung die Linke Hand entgegen. Ein leises Pfeifen ertönte und mit einem leisen Tackern bohrte sich ein Loch in die bemalte Wandtäfelung, ohne dass das Geschoss zu erkennen war. Keine Sekunde später schlugen zwei nadelfeine, rubinrote Strahlen von der linken Hand der sich so rasch bewegenden Frau und trafen den, der hinter ihr gestanden hatte in die Brust. Der andere erstrahlte im selben rubinroten Licht und löste sich vollständig darin auf. Dabei behielt die Besucherin die zwei anderen noch im Blick, die gegen die sie überflutende Betörung ankämpften. "Ihr verweilt, wo ihr seid! Sonst sucht euch heim dasselbe Leid!" sang sie. Die zwei Männer drehten sich gerade so, dass sie mit ihren Zauberstäben auf die andere zielten. "Willensstärke ist manchmal echt tödlich", dachte die Frau im schwarzen Kleid und gab ihrem mächtigen Schmuckstück einen reinen Gedankenbefehl. Dabei hielt sie die linke Hand so, dass der goldene Ring mit den zwei rosenblütengleichen Rubinen zwischen den beiden Männern verhielt. Dann schlugen wieder rubinrote Strahlen heraus und fanden je ein Ziel. Da sich die mörderische Macht diesmal gegen zwei Opfer gleichzeitig richtete dauerte der schreckliche Auflösungsvorgang auch doppelt so lange, war dafür auch wesentlich grauenvoller. Denn die beiden Männer schrien noch ihre unsagbaren Schmerzen hinein in die von ihnen selbst zur Teilnahmslosigkeit behexte Gästeschar. Dann war ihr Kampf ebenso verloren wie der ihres Kameraden.
"Ihr Geschmeiß! Wie viele von euch muss ich zertreten, um euch fliegenhirnigen Idioten zu zeigen, dass ihr mich nicht verärgern sollt?!" stieß die unheimliche wie überirdisch schöne Frau im schwarzen Kurzkleid aus. Dann zog sie selbst unter dem Kleid einen Zauberstab hervor und schwenkte ihn einmal herum. "Inducio Somnium!" sang sie mehr als sie sprach. Die Anwesenden kippten langsam vorne über und landeten mit den Köpfen auf Tischen oder Computertastaturen. "Surgento in Lumine solis!" sprach sie noch, während sie ihren Zauberstab behutsam herumschwenkte. Dann drehte sie sich gewand auf der Stelle und verschwand mit leisem Plopp.
Keine Minute später stürmten mehrere Männer in grün-weiß-roten Umhängen das Internetcafé, in dem die durcheinandergeratenen Rechner gerade versuchten, wieder hochzufahren.
"Verdammt, was ist hier passiert", zischte einer. "Warum hat Silvio nicht gleich geschossen?" dachte er noch. Als er die drei verrußten Stellen auf dem Boden sah wusste er, dass Silvio ihm diese Frage nicht mehr beantworten würde. Außerdem stellten sie fest, dass sie nicht erkennen konnten, was in den letzten zwei Stunden hier vorgefallen war.
"Volltrolle, Totalanfänger, Flubberwurmhirne!" Mit diesen und noch übleren Schimpfworten empfing der Abteilungsleiter für magische Strafverfolgung die Verstärkung für Silvio und seine wirkungslose Rückendeckung.
"Verrate mir gütigst, was diese Männer zu mir geführt hat!" schickte die sichtlich verärgerte Ladonna Montefiori einen Gedankenruf an ihren von ihr unterworfenen Gehilfen. Dieser schickte zurück: "Die Tresolicellis sind Einfänger in der Moggliwelt, also Kopfgeldjäger. Sie arbeiten mit tragbaren Spürsteinen und suchen gezielt nach Leuten mit starker Magieausstrahlung in Städten", hörte sie die Gedankenstimme ihres Unterworfenen. "Sie arbeiten nicht direkt im Ministerium, aber oft genug für das Ministerium. Tut mir leid, dass ich das nicht früher mitbekommen habe."
"Ich lasse dich noch am Leben und in deiner angeborenen Gestalt, weil du für mich zu wichtig bist, Pontio Barbanera. Abgesehen davon gibt es diese drei Brüder nicht mehr. Sie fanden einen sehr schnellen Tod, weil sie es wagten, mich zu störenund zu beleidigen."
"Das wird dem Minister und dem Strafverfolgungsleiter Ventoforte gar nicht gefallen", bekam sie dafür zur Antwort.
"Ich erinnere dich, sterbe ich, stirbst auch du. Denn du wurdest mit meinem schlagenden Herzen und strömendem Blute vereint, wie ein Ungeborenes mit dem Herzschlag seiner Mutter. So zügel jeden Spott und gewahre alles Ungemach früh genug, das mir droht!" befahl die Herrin ihrem viele Meilen entfernten Diener.
"Dies werde ich tun, meine Königin", gedankenantwortete ihr Unterworfener sichtlich eingeschüchtert. Dann war die über viele Meilen reichende Unterhaltung vorbei.
"Immerhin habe ich euch drei zu eifrige Bluthunde abgejagt", dachte sie noch mit grimmigem Grinsen auf dem schönen Gesicht. Dann legte sie sich zu ihrem Lehnsmann und Liebesdiener. Sie genoss es, von ihm zu den Grenzen ihrer Lust getrieben zu werden und ihre ganze Wonne in die anbrechende Nacht hinauszuschreien. Ja, das machte sie frei. Und mit der Lösung gegen ungewollten Kinderwunsch in ihrem Schoß konnte sie sich unbesorgt bis in den höchsten Himmel lieben lassen.
Alle Mitglieder des Rates waren anwesend, 36 Hexen und 36 Zauberer. Sie alle waren durch mehr als acht Zeugungen oder Niederkünfte in diese hohen Ränge aufgestiegen und vertraten alle Regionen der Welt, welche den durch Forschung und Lehre ausgeübtenund weitergegebenen Zauberkünsten verbunden waren. Darunter waren neun afrikanischstämmige Mitglieder, welche ihre uralten Ritualzauber in den Wissensschatz der Gesellschaft zur Wahrung und Mehrung magischen Lebens einbrachten. Vor jedem Ratsmitglied stand auf dem langen, ovalen Konferenztisch ein silberner Kerzenleuchter mit zwei hell und flackerfrei brennenden Kerzen.
Perdy, der auf Grund seiner Verdienste für die Gesellschaft an den Sitzungen teilnehmen durfte, überflog die Zahl gerade schwangerer Hexen. Vor allem seine Mentorin und Fürsprecherin sah so aus, als könne sie jede Minute niederkommen. Doch das würde wohl erst Ende Juni Anfang Juli der Fall sein. Sie würde dann Mater Vicesima Secunda heißen und junge Mutter von zwei Mädchen sein, die ganz im Sinne der nicht mehr ganz so geheimen Gesellschaft heranwachsen würden. Das waren die von George Bluecastle im Karussell des neuen Lebens empfangenen Kinder. Perdy dachte einen Moment daran, dass er vielleicht in zwanzig Jahren eine der beiden dazukommenden Hexen zur Mutter seines achten Kindes machen würde. Doch wahrscheinlich würde er bei Wiedererreichen seiner Zeugungsfähigkeit eine andere Hexe zur Mutter seines nächsten Kindes machen. Immerhin hatte er mit der ihre künftige Mutterrolle stolz betonenden schon vor Jahrzehnten vier Kinder hinbekommen, die selbst schon Nachwuchs hervorgebracht hatten, teils innerhalb der Gesellschaft zur Wahrung und Mehrung magischen Lebens, teils zusammen mit nicht darin einbezogenen Hexen und Zauberern.
Über dem Konferenztisch erschien aus dem Nichts ein aus sich selbst im warmen weißgelben Licht leuchtender Würfel mit zwei Metern Kantenlänge. Auf jeder Seite stand in dunkelblauer Schrift die heutige Tagesordnung, so dass jeder und jede sie lesen und ständig überblicken konnte. Heute standen vier Themen zur Aussprache und verbindlichen Beschlussfassung. Nicht nur Perdy las die in der Ratssprache Latein verfassten Tagesordnungspunkte und übersetzte sie für sich selbst:
Tagesordnungspunkte der Vollversammlung des 15. Juni im Jahre 2003 europäischer Zeitrechnung
- Erste Einschätzungen und weiterführende Beratung zur Aktion "Neues Leben Millemerveilles
- Ausbau der Kinderhäuser in Mitteleuropa und Asien für die baldigen Neuzugänge
- Beratung und Beschlussfassung zu den Beobachtungen der wiedererweckten Dunkelhexe Ladonna Montefiori
- Rückführung der zur Einhaltung der Nachwuchsverpflichtungen in Gewahrsam genommenen Hexen und Zauberer ab 1. Juli 2003
Da Perdy maßgeblich für die Durchführung der Aktion "Neues Leben Millemerveilles" verantwortlich war kam er sehr früh zu Wort. Er konnte jedoch nur erwähnen, dass durch die angeregte Zeugungswoge die über Millemerveilles errichtete Kuppel in Aufruhr geraten sei und derzeit keine Informationen aus dem Ort zu erhalten waren. Die Messungen der die Kuppel umgebenden Luft hatten jedoch trotz Gefahr, von Ministeriumszauberern erwischt zu werden ergeben, dass selbst ein Zehntel der für Millemerveilles berechneten Anteile in der Luft ausreichen würden, weitere erwachsene Hexen und Zauberer in zeugungswillige Stimmung zu versetzen. Auf die zu erwartende Frage, ob die Ausführenden es nicht zu gut gemeint und das Mittel überdosiert hätten, so dass die Leute dort im Rausch der Fortpflanzungsdroge vor Erschöpfung starben oder gar verhungern mussten, sagte Perdy, dass er genau diesen Umstand mit den anderen Alchemisten berücksichtigt habe und der Flüssigkeitsbedarf durch die Atemluft selbst gedeckt würde. Außerdem würden überschüssige Fettreserven leichter verbrannt und Hungergefühle vom Fortpflanzungstrieb überlagert. Er schätzte, dass die Wirkung bei Unterschreitung von einem Zehntel des ausgebrachten Anteils in der Atemluft aufhören und die Betroffenen dann erst einmal in einen langen Schlaf verfallen würden, wie beim bereits bewährten Regenbogentänzer-Trank. "Im Grunde können wir sagen, dass die Potenzierung unserer Einstimmungsmixtur ausreicht, dass wir nur noch ein zehntel der Menge in die Nester unserer Karussells einblasen müssen, mit der wir den Regenbogenhauch dort einblasen müssen. Deshalb heißt unsere stärkere Mixtur ja auch Regenbogenwind. Ich gebe denen, die über das Wohl der Betroffenen und einem möglichen Fehlschlag wegen Überdosierung besorgten dahin recht, dass bei künftigen Aktionen kein tagelanger Rausch herbeigeführt werden sollte, zumal die Betroffenen ja auch wichtige Berufe haben, die für das Wohlergehen und den Frieden der magischen Menschheit genauso wichtig sind wie die regelmäßige Zeugung von Nachkommen."
"Ja, und wenn wie durchaus zu befürchten ist alle Betroffenen sterben und damit nicht nur keine weiteren magischen Nachkommen zur Welt kommen, sondern die Kuppel über Millemerveilles für alle Zeit undurchdringlich ist, weil sie sich aus den Toden der darunter gefangenen Menschen nährt?" wollte Mater Nona Germanica wissen, die Perdys Wissens nach drei Kinder des all zu neugierigen Burschens Gérard Dumas austrug und damit eine heimliche Konkurrentin von Mylène Lerouge war, die nur zwei Kinder von Gérard Dumas empfangen hatte.
"Dann wird es auch keine Meldung aus Millemerveilles geben, was denen geschehen ist", erwiderte Perdy scheinbar unbeeindruckt. Innerlich machte er sich aber schon sorgen, ob sie es nicht doch mit der Dosis übertrieben hatten. Am Ende würden nur noch die gerade schwangeren Hexen überleben und konnten nur noch von den verbliebenen Vorräten des Dorfes leben, falls die dunkle Kraft der Kuppel sie nicht wie die Aura von Dementoren in eine tiefe Trübsal und Schwermut stürzte, in der sie keinen Lebenswillen mehr hatten und dann auch starben.
"Besteht die Möglichkeit, dass auch dann keine neuen Informationen aus Millemerveilles hinausdringen, wenn die meistenBetroffenen dort überleben?" fragte ein anderes Ratsmitglied.
"Also, wenn der Aufruhr in der Kuppel nachlässt und sie wahrhaftig durchlässiger geworden ist, wonach es gerade aussieht, werden wir wohl wie alle anderen französischen Zaubererweltangehörigen erfahren, was die Bewohner dort erlebt haben und wie sie damit umgehen. Sicher wird die junge Madame Latierre ihre Reportagereihe fortsetzen. Wir sollten uns aber nicht einbilden, dass die uns dort danken werden, wenn sie wieder klar in den Köpfen sind", sagte Mater nicht-mehr-lange-Vicesima, bevor Perdy was erwidern konnte. "Die Zaubereiministerien Europas, der beiden Amerikas, Australiens und Afrikas halten uns eh schon für eine Verbrecherbande, die sich über die angeblich so wichtigen Freiheitsrechte hinwegsetzt. Auch müssen wir weiterhin mit Angriffen von Ministerialtrupps oder uns feindlich gesinnten Hexenbanden rechnen, die meinen, das Selbstbestimmungsrecht einer Hexe über ihren Körper verteidigen zu müssen. Aber dazu wohl besser bei der Erörterung von Tagesordnungspunkt drei."
Abschließend beschloss der Rat, das Projekt "1000 Quaffel" erst dann umzusetzen, wenn sie wussten, ob die Aktion "Neues Leben Millemerveilles" hauptsächlich neues Leben bewirkt hatte. Allerdings wurden Perdy und die mit ihm zusammenarbeitenden Alchemisten und Thaumaturgen, von denen vier im Rat vertreten waren, beauftragt, für die Nachfolgeaktion schon einmal ausreichend viel vom Regenbogenwindgebräu zu erstellen, um es zum geplanten Zeitpunkt freizusetzen. Allerdings sollte dann nicht ein tagelanger Rausch ausgelöst werden, sondern das Mittel zu unregelmäßigen Tageszeiten in wöchentlichen Abständen ausgebracht werden, um jede Woche eine wilde Nacht zu gewährleisten. Perdy warf ein, dass die Heilzauberer und -hexen dann bald herausbekommen würden, wie der Regenbogenwind wirkte und eine zuverlässige Frühwarnvorrichtung dagegen entwickeln mochten. Für den geplanten Zeitraum für die Aktion "1000 Quaffel" mochten derartige Gegenmaßnahmen noch nicht möglich sein. Es könnte nur sein, dass wenn die Heiler einmal merkten, dass auch sie davon betroffen wurden, dauerhaft mit Contraamorosus-Trank oder dem Devoluptus-Zauber hantierten, um sich der Wirkung zu entziehen. Aber alle in die Aktion eingeplanten Leute konnten die dann sicher nicht mit den entsprechenden Tränken und Zaubern behandeln. "Wird meinen Landsleuten nicht gefallen", sagte die aus der italienischen Niederlassung herübergekommene Mater Nona Italiana, die gerade mit zwei inoffiziellen Urenkeln von Eileithyia Greensporn schwanger war und deshalb von den Heilern weltweit geächtet worden war und seitdem in der italienischen Niederlassung verbleiben musste.
"Denen gefällt so vieles gerade nicht", warf Perdy ungefragt ein und machte schnell eine abbittende Geste. Danach deutete er auf die Zeile mit dem dritten Tagesordnungspunkt. Die anderen nickten beipflichtend.
Der zweite Tagesordnungspunkt war schnell abgehandelt. In Südafrika und in der argentinischen Pampa sollten zusammen fünf weitere Aufzuchthäuser gebaut werden, um die durch die drei auf der Erde betriebenen Karussells hervorgebrachten Neubürgerinnen und die zur Strafe wegen gewaltsamer Bekämpfung der Gesellschaft wiederverjüngten aufwachsen sollten. Der Rat wählte fünf Hexen und Zauberer aus den eigenen Reihen, welche diese Kinderhäuser betreuen durften. In diese sollten dann auch die gerade in den Stützpunkten und Forschungseinrichtungen untergebrachten Säuglinge und Kleinkinder mit ihren Eltern wohnen.
Beinahe nahtlos kamen sie damit auch zum dritten Tagesordnungspunkt, die wiedererweckte, veelastämmige Hexe Ladonna Montefiori, die ähnlich Sardonia ein dunkles Hexenmatriarchat auf der Erde errichten würde. Hierzu lieferte Mater Nona Italiana über einen Memorimaginus-Zauber die aus den Erinnerungen von Loredana Montanera abgerufenen Erscheinungsbilder der von ihr beobachteten Hexen. Vier der in frei schwebender räumlicher Darstellung gezeigten Hexen wurden von einer grünen, sieben von einer hellroten Aura umflossen. Die mit Eileithyias Urenkeln schwanger gehende Hexe mit den schwarzen Ringellöckchen wirkte sichtlich angestrengt, als sie die ganzen nichtstofflichen Abbilder heraufbeschwor. "Cassandra und Loredana konnten fünf von denen identifizieren, davon eine, die von der grünen Aura umgeben war. Soweit wir von Loredana wissen steht die Farbe Grün für eine unbedenkliche Zustimmung zu Ladonna Montefiori, während die Farbe Rot wohl eine sie ablehnende, feindliche Gesinnung visualisiert hat. Wie dieser Zauber gewirkt wird wissen wir bisher nicht. Aber Cassandra schlägt vor, die erkannte Hexe mit grüner Aura entweder zu beobachten oder gleich von einem Einsatztrupp in Gewahrsam nehmen zu lassen. Denn sie ist wohl mit der Sprecherin der Nachtfraktionsschwestern meiner Heimat verbunden und damit für Ladonna Montefiori äußerst wertvoll. Kommt Ladonna über diese Hexe, Federica Lupazzura, an die Nachtfraktion der sich als Schwestern der Verschwiegenheit bezeichnenden heran könnte sie diese auch noch auf ihre Seite ziehen, sofern sie sich an das Mittel erinnert, mit dem sie im Jahre 1512 mehrere hundert ihr feindlich entgegentretende Hexen auf einen Schlag unterworfen und bis zu ihrer Niederlage gegen Sardonia als getreue Helferinnen geführt hat, das was wir in Italien als "Duft der Feuerrose" bezeichnen."
"Öhm, dann frage ich mich aber gerade, wieso sie diese Methode nicht schon bei dieser obskuren Neugründungsversammlung benutzt hat", nahm einer der Ratszauberer aus Italien Perdy die Worte aus dem Mund. Mater Nona Italiana wiegte den Kopf und straffte sich dann. "Womöglich fehlten ihr dafür bestimmte Wirkstoffe."
"Und warum hat sie dann nicht gewartet, bis sie die zusammenbekommen hat?" fragte nun Perdy, nachdem er ordentlich um Sprecherlaubnis gebeten hatte. "Wohl der Glaube, dass die Nachfahrinnen der ehemaligen Mitschwestern auch ohne diese Methode auf ihre Seite wechseln oder der Drang, versäumtes nachzuholen oder was immer. Jedenfalls hat sie wohl das betreffende Mittel nicht verfügbar gehabt und wollte wohl auch nicht die von ihr verschickten Feuerrosen so gestalten, dass die von ihr einbestellten ihr durch magischen Zwang unterworfen waren, vermuten Cassandra und Loredana Montanera. Sie wollte wohl einen direkten Blutpakt mit den ihr zugetanen schließen. Ich gebe das nur so weiter."
"Wisst ihr mittlerweile, wie man zu Fuß in die Versammlungshöhle reinkommt?" fragte Perdys Mentorin, die nach ihrer freiwilligen Wiederverjüngung als Véronique aufgewachsen war.
"Loredana hat das betreffende Höhlensystem lokalisiert. Wenn der Rat es erlaubt können wir es von dem seine Jungenzeit neuerlebenden Ragazzino hier erfundenen Späh- und Ausforschkugeln besuchen lassen. Oder sollen wir einen Einsatztrupp aus kampferprobten Hexen da reinschicken, um einen weiteren Versuch zu wagen, Ladonna in Gewahrsam zu nehmen?"
"Öhm, besser erst mit den Fernlenksonden nachprüfen, ob in der Höhle nicht noch mehr Fallenzauber verbaut sind", sagte Perdy. "Diese Ladonna kennt sicher diverse nur Veelastämmigen mögliche Zauber, um Einsatzgruppen auf einen Schlag zu besiegen. Außerdem wollen die Alraunenzüchter bei uns ihre Ohrenschützer nicht rausrücken, die bei möglichen Veelazaubern sicher wichtig sind."
"Dann schick bitte deine Erkundungskugeln da rein!" sagte Mater bald-nicht-mehr-Vicesima. Diese Bitte wurde durch spontane Zustimmung aller zum Ratsbeschluss aufgewertet.
"Wird prompt erledigt, hochangesehene Ratsmitglieder", sagte Perdy.
Der vierte Tagesordnungspunkt betraf die in Gewahrsam genommenen, die im Karussell des neuen Lebens ihre vom Rat auferlegte Verpflichtung zu erfüllen hatten. Einer von denen war der britische Zaubereiminister Kingsley Shacklebolt, der eigentlich schon längst sein Amt an einen Nachfolger hatte abgeben wollen, nachdem herausgekommen war, dass es doch noch Dementoren auf der Welt gab, wo er im März letzten Jahres vollmundig behauptet hatte, sie seien restlos ausgerottet worden. Shacklebolts Doppelgänger Zephyrus Rockwell war bisher nicht enttarnt worden oder hatte etwas angestellt, dass ihn, also Shacklebolt in Misskredit gebracht hätte. Also sollten beide am 1. Juli wieder die Plätze tauschen und Rockwell als er selbst weiter der Gesellschaft Vita Magica helfen, vielleicht auch bei der Durchführung der Aktion "1000 Quaffel". Dafür musste der falsche Shacklebolt aber alle im Zeitraum des Austausches erworbenen Erinnerungen auslagern, damit der echte Shacklebolt sie ins Gehirn gepflanzt bekam, um davon überzeugt zu sein, nie aus dem Ministerium weggewesen zu sein und auch überhaupt nicht von Vita Magica behelligt worden zu sein. Immerhin stand fest, dass er siebzig nachwuchswilligen Hexen zu baldigen Kindern verholfen hatte, darunter jedoch dreißig europäischstämmigen und vier asiatischstämmigen Hexen, die wohl einiges erklären mussten, weil ihre Kinder wohl den dunklen Hautton des Afrobriten Shacklebolt abbekommen würden. Also galt es auch, entsprechende Legenden zu stricken oder die betreffenden Mütter aus dem Blick der weltweiten Zauberergemeinschaft verschwinden zu lassen. Das wiederum griff Mater Nona Italiana auf und brachte vor, dass die drei Montanera-Schwestern im Falle, dass sie jederzeit von Ladonna heimgesucht werden mochten, die Öffentlichkeit über ihren angeblichen Tod informieren mussten, um weiterhin unbehelligt im Schutz einer mehrfach abgesicherten Niederlassung bleiben zu können. Denn die ersten Vermisstenmeldungen seien bestimmt schon im Umlauf.
"Gut, dann sollen die betreffenden Hexen mit euch, die ihr für ihre Heimatländer zuständig seid, die entsprechenden Legenden ausarbeiten, da wir in unseren Statuten stehen haben, das wir nicht das Erbgut magischer Kinder pränatal verändern dürfen. Da brachte Perdy einen Vorschlag an, mit dem hier keiner gerechnet hatte und der ihm selbst vor einer Minute noch nicht in den Sinn gekommen war.
"Soweit wir wissen haben die Vampire um diese Nachtgöttin das von den Mugges beschaffte Wissen um hautfarbene Sonnenschutzfolien bewahrt, die als ganzkörperschutz direkt auf der Haut getragen werden. Was haltet ihr vom Rat davon, dass wir uns dieses Wissen auch aneignen, um ganzkörperverhüllungen für Kinder und Erwachsene zu erstellen, damit wir die Hautfarbe eines Kindes tarnen können?"
""Das darfst du getrost vergessen, Perdy, da wir ja wie du ganz sicher noch weißt am 20. Dezember bei der letzten Quartalssitzung 2002 beschlossen haben, die Fabrikationsstätten für diese Solexfolien zu zerstören, wenn wir sie entdecken, auch und vor allem, um den Blutsaugern die Tagesausflüge zu verderben", erinnerte Véronique ihren geistigen Zögling an eine verbindliche Übereinkunft, die mit einundsiebzig zu einer Stimme beschlossen worden war. Der eine Zauberer, der sich damals gegen diesen Radikalvernichtungsbeschluss ausgesprochen hatte ergriff auch sofort das Wort und erwähnte, dass es offenbar doch praktisch sei, das Wissen um diese als Sonnenschutzfolien erfundenen Überzüge zu bewahren und der Beschluss vom 20. Dezember 2002 noch einmal hinterfragt werden sollte. Das wurde dann auch gleich erledigt. Das Ergebnis war dasselbe wie am 20. Dezember. Die Begründung war jetzt sogar noch schwerwiegender, da die Anhänger der selbsternannten Nachtgöttin durch die dunkle Welle vom 26. April sicher noch stärker geworden waren und sich noch mehr berufen fühlten, ihre Vampirsaat und ihren Irrglauben weiterzuverbreiten. Falls es gelang, ihnen die Solexfolien abzujagen konnten sie dann eben nur wieder als reine Nachtwesen herumsuchen und mussten am Tag an bestimmten Orten bleiben, wo sie vielleicht von Vita Magica oder den Zaubereiministerien gefunden und eliminiert werden konnten. Somit stand fest, dass Shacklebolts Kinder ohne die ihren dunklen Hautton überdeckenden Folien aufwachsen mussten, was für diese sicher auch besser war, da sie sich über ihr natürliches Aussehen klar identifizieren konnten. Das sah auch Perdy ein, der das ganze bis dahin von der thaumaturgisch-alchemistischen Warte her betrachtet hatte.
Nachdem die vier ausgewiesenen Tagesordnungspunkte abgehandelt waren fragte Véronique in die Runde, ob noch jemand einen Punkt beisteuern wolle. Perdy meldete sich:
"Mir gefällt nicht, dass wir seit Februar nichts mehr von Phoebe Gildfork gehört haben und wir ihre Doppelgängerin nicht antasten durften. Ist sicher, dass durch den uns total überrumpelnden Zauber von Silvester Partridge der Zeitplan für die von ihr angetretene Schwangerschaft unverändert blieb und dass sie und ihre unfreiwillige Zwillingsschwester die beiden Kinder nicht längst abgetrieben haben?"
"Du meinst, dass sie sich nicht gegenseitig umgebracht haben?" fragte Véronique. "Falls Partridges Zauber nicht die von uns induzierte Fürsorgebereitschaft für die Ungeborenen umgekehrt hat gilt diese wohl auch für den zu Phoebes Zwillingsschwester gewordenen Chroesus Dime, ob er nun als eine "Sie" einen anderen Namen hat oder nicht. Zumindest sind sie bisher nicht an die Öffentlichkeit getreten, ebensowenig wie Silvester Partridge. Hast du wenigstens mehr über jenes weiblich ausgeprägte Automaton herausgefunden, dass Silvester Partridge in Gewahrsam genommen hat? Immerhin ist er ja seitdem auch nicht wieder aufgetaucht."
"Ich habe natürlich nachgeforscht, woher die goldene Riesenfrau gekommen sein kann. Aber weil sie den Feuersprung des Phönix benutzt hat konnte ich keine Spur finden, woher sie kam und wohin sie verschwand. Ich bleibe aber dabei, dass sie ein Relikt aus dem versunkenen Reich ist, dessen Magier selbst unserer Zivilisation um Jahrtausende voraus waren. Kann sein, dass die goldene Androidin ihn ihren Schöpfern abgeliefert hat. Die könnten ihn entweder in einen Tiefschlaf versenkt haben, bis keiner mehr was von ihm wissen will, ihn gerade zu einem neuen Agenten gegen uns ausbilden oder ihn der Einfachheit wegen getötet haben, damit sein überragendes Wissen nicht doch noch in unerwünschte Hände gerät. Wir wissen nur, dass seine Frau und seine Kinder unbehelligt geblieben sind, wohl auch, weil das US-Zaubereiministerium davon ausgeht, dass wir Partridge zusammen mit Dime gefangenhalten oder wiederverjüngt haben, wie es ja auch von uns so geplant war, nicht wahrr, Ve´ronique?"
"Streu bloß kein Salz in fast verheilte Wunden, Kleiner", grummelte Véronique. "Ich kann auch drei zur Zeit großfüttern", schickte sie noch nach. Perdy wusste zu gut, dass ihr Silvester Partridges Soloauftritt im Zaubereiministerium und in einer Niederlassung der Geheimgesellschaft mehr zugesetzt hatte als Perdy. Doch nach außen hin wollte sie das nicht breitwalzen.
"Also, wir bleiben bei der im März beschlossenen Haltung, die Partridges aus sicherer Entfernung zu beobachten, damit wir erfahren, ob und wenn ja wann Silvester Partridge Kontakt zu ihnen aufnimmt", sagte Véronique. Dass in diesem Moment der erwähnte über eine unvorstellbare Art mitbekam, was über ihn besprochen wurde konnten weder sie noch alle anderen Ratsmitglieder wissen.
Sie nannte ihn immer Tondaramammayan, wenn er nicht gerade träumte, irgendwo anders zu sein, sondern sich in ihrem warmen, schützenden Leib fand. Er wusste zwar, dass er eigentlich anders hieß, doch er hatte sich immer mehr darauf eingelassen, Ianshiras Kind zu werden, geboren mit einem bereits entwickelten Wissen. In seinen Träumen hatte er immer wieder andere große Leute gesehen und sie sprechen gehört, vor allem die, die er, wo er noch ein großer Mensch gewesen war, selbst zur Mutter gemacht hatte. Er hatte dann auch mal das höhnische Lachen von zwei anderen Frauen weit weg und sehr dumpf gehört. Doch Ianshira, die ihn in sich trug, hatte denen gesagt, dass sie ihn auf jeden Fall bekommen würde.
Gerade jetzt träumte er mal wieder, im Leib einer anderen werdenden Mutter zu sein, zwei kleinen, aus sich hellrot leuchtenden Mädchen beim langsamen Wachsen zuzusehen und zu hören, was die Trägerin der beiden mit ihren Mitstreitern besprach. So bekam er es nun auch im Traum mit, dass sie beschlossen hatten, die ihm angetraute Frau und die gemeinsamen Kinder weiterzubeobachten, ob er irgendwann zu denen hingehen würde. Als er wieder aufwachte und nur Ianshira um sich herum mitbekam hörte er sie leise sagen: "Dann wirst du die, die deine Kinder bekam wohl nicht mehr ansehen oder zu ihr sprechen dürfen, weil sie dann in Gefahr sind. Auch gut, dann behalte ich dich eben noch ein wenig bei mir. So bekommen wir gut mit, was deine Feinde so tun und wie wir dich auf die große Welt vorbereiten können." Der, den sie Tondarammayan, den ewigen Sohn nannte, ergab sich in diese Entscheidung. Im Grunde fühlte er sich eigentlich ganz wohl wo er war, weil er ja auch eine Menge mitbekam.
So geriet er bald darauf im Traum in das Haus von Phoebe Gildfork. Diese hatte ihre unfreiwillige Zwillingsschwester in den letzten Monaten davon überzeugen können, dass sie bei einem Selbstmord von nur einer alleine beide sterben und als ruhelose, dauerschwangere Geisterfrauen zurückbleiben würden. Phaetusa, wie sich der ehemalige Zaubereiminister Dime nun selbst nannte, ertrug wortwörtlich das ihm von Tondarammayan aufgezwungene Schicksal. Doch der in Ianshiras Leib wachsende fühlte, dass beide an Vergeltung dachten. Würde er in seiner früheren Daseinsform zurückkehren konnte das auch für die gefährlich werden, die er als großer Mann geliebt hatte. Wollte er dann wirklich wieder von Ianshira weg?
"Meisterin Phoebe und Meisterin Phaetusa sind ganz in Ordnung. Ihr könnt wohl am selben Tag die Kinder kriegen", quiekte die Hauselfe Witty, die Phoebe als persönliche Hebamme diente. "Dann bis zum zehnten Juli noch", grummelte Phaetusa. Phoebe nickte ihr zustimmend zu.
Wieder wechselte Tondarammayans Wahrnehmung. Jetzt hing er im Leib einer anderen über drei leuchtenden Ungeborenen, zwei Jungen und einem Mädchen und hörte die dumpf durch die Bauchdecke dringende Stimme einer anderen: "So wie die aussehen könnten Sie die drei schon am 20. Juni oder bis zum 25. Juni bekommen, Nancy. Die sind dafür, dass es Drillinge sind überdurchschnittlich schnell gewachsen."
"Oha, dann weiß ich nicht, ob ich die nicht doch per Kaiserschnitt bekommen will", hörte Tondarammayan die laut und dumpf dröhnende Stimme der Mutter, deren drei Kinder er gerade wachsen und sich in dem immer engeren Raum bewegen sah.
"Also, daran denken wir nicht einmal, solange Sie die drei auf natürliche Weise bekommen können, Nancy. Mrs. Merryweather konnte ihre drei auch bekommen, ohne dass wir ihr den Bauch aufgeschnitten haben", klang die Stimme von draußen, die einer gewissen Eulalia Goldfield gehörte.
"Ich bin immer noch nicht so wirklich begeistert", erwiderte die künftige Drillingsmutter.
"Das werden Sie wohl sein, wenn die drei ihnen nicht mehr in den Bauch treten oder meinen, ihnen die Blase auszuwringen", hörte Tondarammayan die andere scherzen.
"Erinnern Sie mich auch noch daran, dass ich deshalb selbst mit Inkontinenzeinlagen rumlaufen muss, damit ich mir nicht dauernd in die Hose mache", hörte er die Drillingsmutter knurren. Dann fand er sich wieder dort, wo er selbst auf seine Rückkehr ans Licht warten musste. Ja, er hatte es insofern doch noch gut getroffen, dass er Ianshiras Leib alleine bewohnte und dass sie ihn mit Freuden erwartete.
Sie waren fast alle da, außer denen, die im eingeschlossenen Millemerveilles wohnten. Und genau darum ging es. Denn seit einigen Tagen war von dort nichts mehr vermeldet worden. Deshalb hatten Cloto Villefort und Solange Fontier eine Vollversammlung aller Schwestern einberufen. Erst um diese Uhrzeit war es allen zusammen möglich, unauffällig hier zu erscheinen, wo das Becken der Klarheit aus der Zeit der Gründerin Rosmerta vor sich hinplätscherte.
Als alle anwesend waren die konnten erhob sich Solange Fontier, die älteste unter ihnen und ergriff das Wort. "Ich freue mich, Schwestern, dass ihr es noch zeitnah einrichten konntet. Denn Schwester Cloto Villefort möchte von euch allen wissen, wie ihr die Lage unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger in Millemerveilles einschätzt." Die anderen wussten noch weniger als Solange und Cloto. Deshalb entspann sich zunächst eine wilde Abfolge von Spekulationen, die durchaus der Wahrheit entsprechen konnten, angefangen von einem Berichterstattungsverbot für die junge Madame Latierre, über weitere Todesopfer über ein Projekt, alle dort lebenden Leute in magischen Tiefschlaf zu versenken, bis ein Weg gefunden war, die Kuppel Sardonias von außen zu öffnen. Ja, auch eine von Vita Magica ausgelöste Fortpflanzungsorgie erschien einigen vorstellbar, weil die junge Hexe Mildrid Latierre berichtet hatte, dass die Ankunft neuen Lebens und die Freude am Leben selbst die Kraft der verdorbenen Kuppel schwächte. Das erschien Cloto förmlich als Aufruf an Vita Magica, denen ihre Fortpflanzungstriebverstärker zu schicken. Doch es konnten auch alle tot sein, entweder vor Lebensunlust einfach so gestorben oder sich in einem letzten brutalen Kampf gegenseitig niedermetzelnd, weil die Macht der Kuppel sie zu solchen grausamen Taten getrieben hatte. Laut den bisher berichteten Ereignissen und der Kommentare von ranghohen Leuten wie Blanche Faucon oder Phoebus Delamontagne konnte die dunkle Kraft solche Auswüchse unter der Bevölkerung auslösen.
"Womöglich hält die Kuppel jede Form von magischer Botschaft zurück, so dass wir nicht wissen werden, wann unsere Mutter Vorsitzende Hera Matine den Tod gefunden hat", sagte Cloto Villefort. "Daher erbitte ich von euch allen die Zustimmung, eine neue Mutter aus unseren Reihen zu wählen." Das löste eine zu erwartende Debatte aus, wie Cloto darauf kommen konnte, dass Hera Matine schon tot war oder ob es nur darum ging, bis zur Gewissheit eine Stellvertreterin zu benennen. Da Rosmertas Ring wohl ebensowenig aus der Kuppel hinausgelangen konnte wie alles und jeder andere in Millemerveilles, konnten sie die übliche Auswahlzeremonie nicht durchführen. In anderen Ländern wurde durch eine geheime Auswahl die Nachfolgerin bestimmt. Cloto versuchte die Stimmung auf Neuwahl zu bringen. Doch da sagte Solange Fontier:
"Ich erinnere euch alle daran, dass die Gründermutter gesagt hat, dass wenn mehr als ein Monddurchlauf nach dem Verschwinden ihrer Nachfolgerin kein Lebenszeichen erfolgt muss noch ein Monat damit zugebracht werden, um den Tod der Nachfolgerin zu bestätigen, wenn der magische Ring der Rosmerta diesen nicht weitermelden und in das Becken der Klarheit zurückkehren konnte. "Da Mutter Hera seit gerade erst vier Tagen vermisst wird müssen wir noch bis zum 12. Juli auf ein Lebenszeichen von ihr hoffen. Bleibt dieses aus, Schwestern, müssen wir bis zum 12. August nach ihr suchen. Finden wir sie tot, dann können wir sicher sein, dass Rosmertas Ring auch ohne den Ruf nach einer neuen Mutter in diese erhabene Halle zurückgekehrt ist. Finden wir sie nicht, müssen die drei ältesten von uns in dieser Halle ihren Tod verkünden. Erst dann und nur dann darf ohne die heilige Ringzeremonie eine Nachfolgerin erwählt werden. Es wundert mich doch, dass es wohl vielen von euch nicht mehr bekannt ist, was unsere hochverehrte und in Frieden ruhende Gründermutter Rosmerta verfügt hat."
"Entschuldigung, Schwester Solange, aber unsere Gründermutter Rosmerta hat auch erwähnt, dass wir ihre Worte nicht als ehernes Gesetz sehen dürfen und uns immer neuen Gegebenheiten entsprechend verhalten sollten", warf Cloto Villefort ein, die seit zwei Jahren die Gruppe der Entschlossenen führte, was sowohl Hera als auch Solange nicht wirklich begeisterte.
"Natürlich streben einige von euch danach, Mutter Heras Platz einzunehmen und unsere altehrwürdige Schwesternschaft zu führen. Da spricht ja auch nichts gegen", erwiderte Solange Fontier. "Ich sage auch nicht, dass Rosmertas Wort ein Naturgesetz ist, dem wir alle dauerhaft unterworfen sind. Ich stelle nur fest, dass wir noch einige Wochen warten sollten, bis wir wissen, ob Sardonias Kuppel dauerhaft undurchlässig bleibt und wir somit nicht mehr erfahren, was darunter geschieht. Falls die Kuppel undurchlässig bleibt und keinerlei Botschaft hinein- und hinausgelangt können wir sowieso nicht nach ihr suchen, weil sie ja zuletzt unter der Kuppel war. Sie kann dort also tot sein oder lebendig. Jedenfalls wird sie uns dann nicht weiter führen können. Also gibt es doch keinen Grund, etwas zu überstürzen", sagte Solange Fontier noch.
"Die Muggel nennen das Schroedingers Katze", sagte Louisette Richelieu, die zu Cloto Villeforts Gruppe gehörte und eine Menge aus der Welt der magielosen Leute wusste. Natürlich wollten jetzt alle wissen, was Schroedingers Katze war. Luisette erklärte es allen, dass die lebend in eine Kiste gesperrte Katze durch einen von einem herumfligenden Strahlungsteilchen ausgelöste Giftgasvorrichtung getötet werden könnte und die Wahrscheinlichkeit, dass sie tot oder lebendig war so groß war, das für die Beobachter, die die Kiste nicht durchblicken konnten, die Katze zeitgleich tot und lebendig war. Erst das öffnen der Kiste würde klarstellen, welcher Zustand vorlag, so Louisette. Sie bemerkte noch, dass sie dieses interessante Paradoxon mit einem muggelstämmigen Apparierschüler vor zwanzig Jahren diskutiert habe, der ihr was von Quantenmechanik und Parallelwelten erzählt habe, die für die meisten Muggelwissenschaftler sehr unvorstellbar bis für nicht bestehend angesehen waren.
"Also ist Mutter Hera solch eine Schroedinger-Katze", wandte Solange ein. "Und sollte sich erweisen, dass es nur daran liegt, dass aus Millemerveilles nicht mehr berichtet werden darf ist die Wahrscheinlichkeit sogar größer, dass sie noch lebt. Deshalb stelle ich an euch alle die Frage: Wer meint unbedingt jetzt eine neue Mutter unserer Schwesternschaft erwählen zu müssen?" Außer Cloto und einigen ihrer Mitstreiterinnen hob keine die Hand. Um eine Gegenprobe zu machen fragte Solange, wer dafür stimmte, dass sie noch den von Gründermutter Rosmerta empfohlenen Monat warten sollten, ob ein Lebenszeichen kam. Hierauf hoben alle die die Hand, die vorher nicht zustimmen wollten. Cloto Villefort sah zwar, dass zwei ihrer Mitstreiterinnen die Hand unten behielten. Aber von denen, die vorher für eine ssofortige Neuwahl gestimmt hatten, stimmten nun drei auch für's warten. Offenbar hatte Solange mit ihrer zweiten Abstimmungsfrage gewisse Zweifel geweckt, ob sie nicht zu schnell vorpreschen würden. "Damit steht fest, meine geehrten Schwestern, dass wir noch bis zum 12. Juli warten werden, bis wir neu entscheiden, ob wir aus unseren Reihen eine neue Mutter wählen oder noch aus Respekt vor unseren Vorgängerinnen und Mutter Hera einen Monat warten, bis wir ziemlich sicher eine neue Mutter wählen können, also spätestens am 12. August dieses Jahres", stellte Solange als Älteste und somit legitime Stellvertreterin auf Zeit fest. Die anderen nickten, auch die, die ihre Abstimmung verloren hatten.
"So danke ich euch für euer kommen und eure rege Beteiligung an der Diskussion. Öhm, Schwester Louisette, bitte beschaffe für unsere Bibliothek eine ausführliche und für alle verständliche Erläuterung über das Phänomen "Schroedingers Katze"! Danke dir! Semper Sorores!"
"Semper Sorores!" erwiderten alle den althergebrachten Abschiedsgruß unter den schweigsamen Schwestern.
"Da bist du wohl krachend gegen die nächste Wand geflogen, Schwester Cloto", bemerkte Danielle Brochet, eine von Clotos Mitstreiterinnen, als sie diese nach der Vollversammlung in ihrem Haus traf. "Sagen wir es so, Schwwester Danielle, wir wissen jetzt, wie die anderen gestimmt sind. Die hoffen alle noch auf das Wunder unter der Dämmerkuppel. Warum hat man diesem aus einer aufmüpfigen Sippschaft stammendem Gör nicht gleich verboten, aus Sardonias Dorf zu berichten? Egal, die anderen wollen warten. Das heißt, dass die Zögerlichen bis zum 12. Juli ohne Führung sind oder besser sich selbst an die Kette gelegt haben. Das sollten wir ausnutzen, um vollendete Tatsachen zu schaffen", sagte Cloto Villefort.
"Du meinst, dass sie dann alle nur dich wählen können, weil sonst die ganze Schwesternschaft zerfällt?" fragte Danielle Brochet, die selbst gewisse Ambitionen auf die Würde der Mutter genannte Sprecherin der Entschlossenen gehegt hatte.
"Es heißt, am besten und längsten wirkt eine Idee, wenn sie nicht durch Zwang, sondern durch Überzeugung oder gar Liebe vermittelt wird. Wieviele Leute sind schon im Namen dieses nazarenischen Friedenspredigers gestorben? Dennoch wird er heute noch immer von so vielen als ihr Herr und Erlöser gepriesen, während gleich nach Sardonias abrupter Entkörperung fast alles umgestoßen wurde, was sie ein Jahrhundert lang aufgebaut hat. Warum meinst du, Schwester Danielle, warum die sich selbst als Sardonias Erbin sehende eher eine Zögerliche als eine Entschlossene ist? Weil sie aus Sardonias Ende gelernt hat, dass vergossenes Blut alle Errungenschaften überdeckt. Doch ich werde zusehen, dass die anderen mich zur neuen Mutter wählen. Denn so wie die Muggel sich aufführen darf es nicht bleiben, und nach Daianiras Ableben können wir uns auch nicht auf die Schwestern in den Staaten verlassen, wo diese so einfältige Beth McGuire für die schwarze Spinne und die dort wohnenden Entschlossenen arbeitet?" Danielle hatte darauf keine Antwort. "Es bleibt dabei, dass wir weiterhin klar geordnet sind und die Zögerlichen erst noch abwarten wollen. Sollte etwas wie die Vampirgötzin oder wahrhaftig Ladonna Montefiori über uns hereinbrechen wird es sich zeigen, dass eine entschlossene Schwesternschaft besser ist als abwartende und zögerliche Schwestern. Insofern habe ich den Besen nicht vor die nächste Wand geflogen, Schwester Danielle, sondern einen sicheren Ausgangspunkt bezogen." Dem konnte Danielle Brochet nicht widersprechen.
Als Danielle das Haus von Cloto Villefort verlassen hatte dachte diese an Philemon, ihren Neffen, den Sohn ihres viel zu früh verstorbenen Bruders. Was für Hera Matine galt galt leider auch für ihn. Aber diese gutmenschlichen Dusoleils hätten ihr ihn sowieso nicht überlassen, genau weil sie wussten, dass eine von Clotos Vorfahrinnen zu Sardonia gehört hatte. Das ärgerte sie mehr, als der Gedanke an einer geschlossenen Gruppe der Entschlossenen sie erheitert hatte.
Anthelia/Naaneavargia hatte alle die Bundesschwestern eingeladen, die um diese Zeit unauffällig zu ihr hinkommen konnten. Vor einer Stunde hatte sie über eine Kette von Mentiloquistinnen eine Botschaft von Louisette Richelieu erhalten, dass die schweigsamen Schwestern Frankreichs zu einer Vollversammlung zusammengekommen waren, um über die Gesamtführung zu beraten. Offenbar hatten es einige von denen sehr eilig, ihre Sprecherin neu zu wählen, da deren "Mutter" Hera Matine gerade unter der verfremdeten Kuppel Sardonias gefangen war und somit nicht wirklich die französische Gruppe der schweigsamen Schwestern anführen konnte. Auch wussten die französischen Schwestern nicht, ob sie überhaupt noch lebte. Louisette sollte weiterhin in Frankreich bleiben, weil sie Anthelia während der Zeit, die die Töchter des grünen Mondes beschlossen hatten, nicht in die Lebensaura Anthelias geraten durfte und dann womöglich in ein arabisches Land geschickt wurde. Das ärgerte beide Hexen. Doch Anthelia/Naaneavargia war fest entschlossen, den Pakt mit der grünen Mutter einzuhalten. Denn die verschollenen und vergessenen Schätze des alten Reiches, die im sogenannten Morgenland zu finden waren, musste sie irgendwann suchen, besonders wo es jetzt so viele Gegner auf der Welt gab.
Anthelia erzählte ihren Mitschwestern, was Louisette ihr berichtet hatte und was die französischen Schweigsamen so beredt beschlossen hatten. Dann wandte sie sich an Elisa Stellabianca aus Italien, die auch den Entschlossenen Schwestern dort angehörte und offiziell im Zaubereiministerium in der Strafverfolgungsabteilung arbeitete. "Wo du schon einmal hier bist, Schwester Elisa, was haben deine offiziellen Arbeitgeber in der Angelegenheit mit Ladonnas entdecktem Wohnsitz unternommen?"
"Nun, höchste Schwester, dass Ladonna in einer Villa bei Florenz untergekommen ist wissen sie im Ministerium schon seit Monaten. Aber sie kommen nicht an sie heran, weil sie den Blutfeuernebel von Rufus Vulpius Palatinus erschaffen hat, einen dunklen Schutzbann, der alle Feinde von innen her verkochen und aus sich heraus verbrennen lässt. Dieser Blutfeuernebel reicht bis zur Grenze des Grundstückes, einschließlich der Gartenanlagen", begann Elisa Stellabianca. Anthelia gebot allen anderen durch Handzeichen Ruhe. Sie nickte der Sprecherin zu, fortzufahren. "Weil keiner von Ladonnas erklärten Feinden also auf Zauberspruchreichweite an sie herankommt haben meine offiziellen Leute versucht, das Grundstück magisch abzuriegeln, dass niemand mehr auf welche Weise auch immer davon herunterkommt. Du kennst den Dom der Undurchdringlichkeit, höchste Schwester?" Anthelia nickte ihr zu und erwähnte, dass Sardonia ihn wohl als Grundlage für ihre mächtige Kuppel über Millemerveilles einbezogen hatte und dass der Zauber ein Gemisch aus Erd- und Luftmagie sei. Elisa nickte heftig. Dann sprach sie mit ausladenden Gesten weiter: "Ja, offenbar ist Ladonna Montefiori die Geschichte bekannt, dass Rufus Vulpius Palatinus von seinen damaligen Feinden mit dem Dom der Undurchdringlichkeit ausgehungert wurde. Seine Feinde damals haben ihn einfach verschmachten lassen. Der Blutfeuernebel hält solange vor, wie sein Beschwörer oder seine Beschwörerin lebt, also solange das Herz des Beschwörers Blut durch den Körper treibt. Ähm, ja, was unsere Ministeriumszauberer angeht kam heraus, dass kein wie auch immer wirkender Belagerungszauber in Kraft trat. Die Magie verflog in Entladungsblitzen oder räumlich begrenzten, sehr schwachen Erdstößen. Auch ein Locattractus-Zauber, um Ladonna beim Apparieren einzufangen, versagte, weil sein Wirkungskreis durch das Grundstück ging. Das Zentrum des Locattractus-Zaubers wurde mit einer lautstarken Entladung aus der Erde heraus zu einem kleinen Krater. Es steht also fest, höchste Schwester und meine anderen Schwestern, dass Ladonna Montefiori einen Zauber beherrscht, um ihr unangenehme Zauber zu vereiteln. Somit kann sie weiterhin unanfechtbar das Grundstück verlassen und wieder betreten."
"Und warum spannen sie den Dom der Undurchdringlichkeit nicht soweit aus, dass die von Ladonna gewirkten Vereitelungszauber ihn nicht berühren?" wollte Anthelia wissen. Elisa überlegte kurz und erwiderte: "Das Moggli-Kontaktbüro hat unabstreitbar nachgewiesen, dass ein Dom der Undurchdringlichkeit nicht nur mit magie begabte Wesen einschließt oder aussperrt, sondern auch metallische Körper abprallen lässt und Feuerquellen erlöschen lässt, sobald sie mit der unsichtbaren Kuppel in Berührung kommen. Da die Moggli, also die Magieunfähigen, mit von Verbrennungsantrieben bewegte Flugmaschinen größtenteils aus Metall benutzen würde es für diese lebensgefährlich, die mit der Kuppel überspannte Zone zu durchfliegen. Je höher sie ist, desto eher die Gefahr von tödlichen Flugzeugunglücken. Daher hat Minister Bernadotti mit sehr großem Unwillen verfügt, das Grundstück nur noch zu überwachen und gegebenenfalls davon herunterkommende Leute einzufangen", erwiderte Elisa. Anthelia nickte. Das hätte sie wohl auch so gemacht. Allerdings glaubte sie nicht, dass Ladonna sich das auf Dauer gefallen lassen würde, wenn sie wirklich weitere Helferinnen an sich band. Jedenfalls stand für Anthelia fest, dass auch sie nichts gegen den Blutfeuernebel ausrichten konnte. Denn ihre bei ähnlichen Festungen so bewährten Erdbebensteine, welche die im Boden wirkenden Zauber zerstörten, konnten hier nicht helfen. Blieb ihr dann noch das Schwert Yanxothars, das schädliche Feuerzauber von ihr abhielt. Doch ob es dauerhaft wirkte wusste sie nicht. So blieb dann wohl nur, Ladonna dabei zu ertappen, wenn sie außerhalb dieser Absicherung unterwegs war.
"Gut, Schwester Elisa. Ich danke dir für deine Erläuterung. Wir müssen erkennen, dass die von Sardonia gebannte sich sehr gut mit dunkler Elementarmagie auskennt und offenbar auch einen Zauber beherrscht, andere als ihre eigenen Zauber unwirksam zu machen. also kennt sie wahrhaftig die Geschichte von Rufus Vulpius Palatinus und wollte nicht so enden wie dieser. Auch ist es so, dass der Dom der Undurchdringlichkeit seine Größengrenze hat. Wer nicht wie Sardonia bereit ist, mehrere Dutzend Menschenleben zu opfern, um die eigene Zauberkraft zu steigern kann diesen Dom gerade einmal siebenhundert Manneslängen hoch und zweitausend Männerschritte durchmessend errichten. Womöglich kennen Bernadottis Leute diese Begrenzung ebenfalls", sagte Anthelia mit unüberhörbarem Unmut. "So bleibt uns nur, eine Gelegenheit zu finden, sie außerhalb der Kuppel anzutreffen", erwiderte die Oberste der Spinnenschwestern. Sie wollte sich noch einmal mit den Aufzeichnungen Sardonias befassen, was es mit einer mächtigen Waffe Ladonnas auf sich haben sollte, weshalb sie diese unbedingt zum Einzelduell herausfordern musste und nicht ein Heer treuer Schwestern gegen sie und ihre Schwesternschaft entsendet hatte. Sie ärgerte sich ein wenig, dass Sardonias im Denkarium enthaltenes Wissen ihr nicht mehr so bereitwillig offengelegt wurde, seitdem Anthelia und Naaneavargia miteinander verschmolzen waren. Doch sie würde es schon herausfinden und hoffte, dass es noch rechtzeitig sein würde.
"So kehrt wieder in eure Heimat zurück und teilt mir alles mit, was euch verdächtig vorkommt, meine Schwestern! befahl Anthelia/Naaneavargia.
Ihr tat der Unterbauch weh. Dennoch fühlte sie sich sehr überlegen. Denn sie konnte nun die letzte fehlende Zutat hervorbringen, um sich auf die Übernahme der Herrschaft über alle sogenannten Entschlossenen Europas vorzubereiten. Dafür ertrug sie die Krämpfe und das ihr entfließende Blut, dass sie in einer silbernen, berunten Schale auffing. Die Schmerzen veratmend sang sie mit glockenreiner Stimme eine Hexenlitanei, die den roten Fluss der bestehenden Fruchtbarkeit um Kraft bat. Wenn sie dieses Opfer gebracht und damit sechs gesammelte Mengen ihres Monatsblutes bei sammen hatte konnte Ladonna Montefiori es wagen, mit der Anführerin der Entschlossenen Schwestern Italiens in Verbindung zu treten, um sie dazu zu bringen, ihr die Namen der ranggleichen Mitschwestern aus anderen Ländern zu verraten. Nur wenn sie die kannte bestand die Möglichkeit, möglichst viele Hexenschwestern mit dem Duft der Feuerrose zu betören, der von ihr erfundenen Methode, die zum Teil auf einer von ihr erstellten Mixtur und dem von ihr erfundenen Feuerrosen-Zauber beruhte.
Luigi und die Dienerschaft schliefen tief und fest, während Ladonna ihr eigenes Monatsblut auffing, um damit ihren dunklen Zauber zu treiben. Zumindest hatte sie es bisher geschafft, nicht von Luigi schwanger zu werden. Außerdem wollte sie nur von einem starken Zauberer ein Kind bekommen. Wer der Glückliche sein sollte würde sie vielleicht bei der im Juli und August stattfindenden Quidditch-Weltmeisterschaft herausfinden. Luigi würde sie dann zwar als Liebessklaven behalten, aber dann sicher aucheinen Sohn oder besser eine Tochter bekommen, die sie in ihrem Sinne großziehen konnte.
Was Ladonna neben den monatlichen Unterleibsbeschwerden noch belastete war die Gewissheit, dass diese Zeugungserzwinger von Vita Magica drei ihrer erhofften Mitschwestern vorenthielten. Zu gerne hätte sie Loredana Montanera bei sich, um sie auszuforschen. Vielleicht musste die erst wieder neu aufwachsen, weil sie nicht mitbekommen hatte, wie alt sie bei ihrer ungewollten Wiederverjüngung gewesen war. Doch dass Loredanas Schwester Claudia und deren gemeinsame Mutter Cassandra nicht zu ihren treuen Mitschwestern geworden waren ärgerte Ladonna. Irgendwie musste sie herausbekommen, wie sie die drei doch noch zu fassen bekam. Am besten wendete sie dann an denen ihre mächtigste Waffe an, um sie doch noch zu treuen Schwestern zu machenund dann gegen diese Banditen von Vita Magica einzusetzen. Doch genau das wussten diese Schurken schon längst und würden ihr womöglich damit eine Falle stellen, wenn sie die Montaneras wieder frei herumlaufen ließ. Nein, sie wollte erst bis zum Beginn der Quidditch-Weltmeisterschaft die Herrschaft über die selbsternannten Entschlossenen sichern. Dann würde sie wohl zusehen, wie der Duft der Feuerrose auf mehr als hundert Leute zugleich wirkte und vielleicht bei der Weltmeisterschaft wichtige Handlanger ihrem Willen unterordnen. Dann und nur dann konnte sie es wagen, Vita Magica offen anzugreifen.
Aus grünen Lichtspiralen heraus erschienen vier frei fliegende Körper, die in der hier herrschenden Dunkelheit silbern schimmerten. Sie glichen den stacheligen Hüllen reifer Kastanien. Die vier Objekte fielen einen halben Meter, bevor sie die Erdschwerkraft vollständig ausglichen und auf der Stelle schwebten. Zwei von ihnen erstrahlten blitzartig in einem immer helleren Rotton und zerbarsten mit dumpfem Knall in orangeroten Flammenkugeln. Die beiden anderen Flugkörper drehten sich um ihre Hochachse und schienen mit den stachelartigen Auswüchsen auf der silbernen Oberfläche die Umgebung zu durchforschen. Dann umspannte eine der Kugeln für eine Viertelsekunde eine rosarote Leuchtblase. Diese glühte in einem erst bräunlichen und dann einem strahlendblauen Farbton, während die von ihr umschlossene Kugel mit Urgewalt gegen die nächste Wand geschleudert wurde und daran haften blieb. Die immer noch unbehelligte Kugel drehte sich dabei weiter und untersuchte wohl etwas. Schließlich trieb sie auf jenen Tisch zu, um den acht Stühle standen und berührte die Oberfläche mit drei der stachelartigen Auswüchse. Rote, grüne, blaue und violette Funken stoben wild aus der Kugel heraus. Sie schwankte und hüpfte, als könne sie ihren Flug nicht mehr steuern. Dann glomm die Kugel in einem dunklen Rotton. Mit einem befreienden Ruck sauste sie fünf Meter nach hinten und nach oben. Der glutrote Schimmer wechselte wieder zu einem silbernen Schimmer. Nun verging auch das blaue Leuchten der anderen Kugel. Sie löste sich von der Wand und schwirrte ohne erkennbare Flugorgane oder Antriebsvorrichtungen in die Mitte der Höhle. Daraufhin nahm sie Kurs auf den einzigen Zugang zur Höhle, vor dem nun noch eine fünfte Kugel auftauchte. Zwischen den zwei Flugkörpern zuckten grünliche Blitze hin und her, dann blaue Funken. Danach zog sich Kugel Nummer fünf vom Eingang zur Höhle zurück, während die von der Wand gelöste Kugel einige Meter in die Höhle zurückwich. Als sie ausreichend Anlauf hatte flitzte sie los, durch den Eingang hinaus, um keine Sekunde später in einem roten Feuerball zu explodieren. Als der Feuerball wieder zusammenfiel tauchte die vor dem Höhlenzugang schwebende Kugel wieder auf und vollführte mit ihren Auswüchsen Wischbewegungen in der Luft. Dabei leuchtete für einen Augenblick eine geisterhaft fahle Lichtwand zwischen Gang und Versammlungshöhle auf. Dann schnellte aus dem Boden eine grüne Lichtspirale, die Kugel fünf umschlang und mit ihr verschwand.
Jetzt war nur noch eine unversehrte Kugel in der Höhle. Sie stieg senkrecht nach oben bis zur Decke und tastete diese ab. Dann fuhren die unteren Stacheln zu armlangen, nadelfeinen Auswüchsen aus und machten Schwenkbewegungen. Daraufhin spannte sich eine die ganze Breite und Länge der Höhle ausfüllende, hellgrün leuchtende Fläche aus, welche die Höhle für mindestens drei Sekunden in ein fremdartiges Licht tauchte.
Ohne Vorwarnung tauchte Ladonna Montefiori persönlich neben dem Steintisch auf. Sie trug ein schwarzes Lederkleid und kniehohe schwarze Stiefel. Sie sah sich im grünen Schein der magischen Lichtfläche um und erkannte die unter der Decke schwebende Stachelkugel. Diese schien die unmittelbar hier aufgetauchte Hexe ebenfalls wahrgenommen zu haben. Denn das grüne Licht erlosch, und die Kugel sauste schneller als im freien Fall nieder, bis sie auf Kopfhöhe der hier herrschenden Hexe ebenso plötzlich abstoppte. Nun streckten sich die Ladonna zugewandten Stacheln zu filigranen Fühlern aus und machten hektische Schwenkbewegungen, wohl um die andere auf vielerlei Art zu erkunden. Ladonna selbst riss ihre linke Hand hoch und deutete mit abgespreitzten Fingern auf die vor ihr in der Luft hängende Konstruktion. Aus dem Ring schnellten zwei rubinrote Lichtstrahlen. Die Kugel wich jedoch ebenso blitzartig nach oben, rechts und hinten aus, wobei Steigungswinkel und Abweichungswinkel völlig unabhängig voneinander waren. So verfehlten die zwei roten Lichtstrahlen die Kugel um immerhin einen halben Meter und schlugen lautlos gegen die Wand, wo sie zwei kopfgroße Lichtflecken erzeugten.
Ladonna Montefiori führte in einer für Menschenaugen kaum nachverfolgbaren Geschwindigkeit die linke Hand nach, um das unerwünschte Objekt wieder direkt anzuzielen. Doch die Kugel schien den Versuch vorausgesehen zu haben und wechselte so abrupt die Position im Raum zwischen Boden und Decke, dass die zwei roten Lichtstrahlen wieder ins Leere gingen.
Nun entspann sich ein irrsinnig schnelles, jedoch sehr ernstes Spiel zwischen der Hexe in Schwarz und der silbern schimmernden Stachelkugel. Ladonna ließ ihre linke Hand durch die Luft sausen, während die Kugel offenbar die Bahn der Lichtstrahlen vorherberechnete und genau dann auswich, wenn diese sie zu treffen drohten. So ging das zehn Sekunden, bis es Ladonna zu viel wurde. Sie ließ die linke Hand sinken, um im nächsten Moment abzuheben. Die Stachelkugel war zu sehr auf die Kraftquelle der ihr geltenden Lichtstrahlen eingestimmt, dass sie in der ersten Sekunde nicht mitbekam, wie ihre Gegnerin auf sie zuflog, als habe sie unsichtbare Flügel. Als das, was die Kugel lenkte wohl erkannte, dass ein neuer Angriff auf sie ablief wich sie Ladonna sehr leicht aus. Doch Ladonna ließ sich davon nicht beeindrucken. Sie drängte die Kugel so, dass dieser nach fünf Sekunden nur der Weg nach oben blieb. Dann wisperte die Herrin dieser Höhle "Includo Objectum!" Die Kugel besaß offenbar auch die Fähigkeit, gesprochene Worte wahrzunehmen. Denn sie versuchte sogleich, nach unten auszubrechen. Doch da wurde sie von hellgrünem Licht aufgefangen und schlagartig in eine leuchtende Sphäre eingeschlossen, die den Durchmesser der Kugel verdreifachte. Ladonna rief laut "Hab' ich dich!" Doch die Dunkelhexe frohlockte zu früh. Ohne Vorankündigung stürzte die Kugel in sich zusammen, als habe eine Riesenhand sie mit einem entschlossenen Ruck zerdrückt. Dabei prallten winzige Bruchstücke auf die grüne Lichtsphäre und verglühten darin. Dann erlosch die grüne Sphäre.
Die Rosenkönigin ließ sich wieder auf den Boden hinabsinken und hob die ihr eigene Flugbezauberung wieder auf. Sie blickte sich um, ob noch mehr dieser Kugeln hier herumflogen. Doch dann hätten die anderen sich entweder sofort abgesetzt, sie angegriffen oder sich genauso selbstvernichtet wie die von ihr doch noch eingefangene Konstruktion. Sie atmete laut ein und aus, so anstrengend war es doch gewesen. Als sie einige Sekunden Ruhe hatte ließ sie ihren Zauberring in einem sanften roten Licht erstrahlen. In diesem Licht sah sie sich schnell aber aufmerksam um. Sie fühlte, dass alle ihre Schutzvorkehrungen hier beansprucht worden waren. Dieser Eindruck verstärkte sich, als sie einen ungesagten Zauber ausführte, mit dem sie ihre Schutz- und Abwehrzauber noch deutlicher wahrnehmen konnte. Als sie gerade feststellte, dass es mindestens zwei Zauberervernichtungs- und ein Fluchtvereitelungsfeuer gegeben hatte erkannte sie, dass die von ihr gestellte Vorrichtung eine von mindestens vier gewesen sein musste. Eigentlich hatte sie ja nur wegen der versuchten Bezauberung von Tisch und Höhlendecke reagiert und wissen wollen, wer da ohne ihre ausdrückliche Aufforderung die Höhle betreten hatte. Nun war ihr klar, dass die Versammlungshöhle von ihr völlig unbekannten Aufspürgeräten erkundet worden war. Ihr Wissen von Rose Britignier verriet ihr, dass es bei den Magielosen bereits viele solcher Geräte gab, die Raumsonden oder Roboterfahrzeuge genannt wurden. Also hatte jemand mit einem Hang zur Maschinenversessenheit der Moggli solche Geräte auf ihre Höhle losgelassen. Aber wie waren die hier hereingekommen? Apparieren konnten nur Elfen und magische Menschen. Portschlüssel wurden von den Schutzzaubern hier abgewiesen. Doch das stimmte so nicht, erkannte sie mit steigendem Unmut. Sowohl Loredana Montaneras Flucht als auch der ihr wenige Minuten später auf den Hals gehetzte Einfangsack hatten diese Barriere mühelos durchdrungen. Wenn an den wohl vier Kugeln solche Portschlüssel befestigt waren hatte Vita Magica ihr diese Dinger geschickt. Am Ende sollte sie noch froh sein, dass diese Stachelkugel keine Zerstörungsvorrichtung war, wie sie selbst eine bei der Vernichtung der Venuti-Villa eingesetzt hatte. Ja, wenn die Fortpflanzungserzwinger beschlossenhätten, sie auf Sicht zu töten, auch auf die Gefahr hin, dabei mehrere Unschuldige in den Tod zu reißen, hätte dieses Ding sie vielleicht ganz leicht aus der Welt brennen oder in Millionen Fetzen zerreißen können. Doch warum konnte diese Kugel überhaupt so wiselflink herumfliegen, wo hier doch ein Contramotus-Zauber wirkte. Offenbar hatte Vita Magica aus dem letzten Versuch gelernt und einen Zauber ähnlich wie bei der Unbezauberbarkeit von Quidditchbällen verwendet. Ein heißer Schreck durchfuhr Ladonna. Dann konnten die auch ihre Fangsäcke ... Sie blickte sofort nach oben. Doch da war kein auf sie niedersausender Einfangsack. Dennoch entschied sie, besser nicht länger hier zu bleiben, weil die anderen vielleicht noch was versuchen konnten. Sie disapparirte mit kaum widerhallendem Plopp.
Perdey schwitzte, als habe er gerade einen 10000-Meter-Lauf hinter sich gebracht oder drei wilde Liebesakte hintereinander vollzogen. Das war ja auch gerade noch mal gut ausgegangen, dass Ladonna die verbliebene Vielzwecksonde nicht erforschen konnte. Andererseits ärgerte er sich jetzt, dass er immer noch nicht wusste, wie ein Sprengschnatzer funktionierte oder wie dieses Weib in Schwarz die Mafia-Villa bei Catania in einen Krater verwandelt hatte. Denn dann wäre das Kapitel Ladonna Montefiori hier und jetzt beendet gewesen. Ebenso stieß ihm auf, dass die Hersteller der praktischen Bringb eutel noch keinen Aufhebungszauber gegen Contramotus in ihre früher so zuverlässigen Einfangvorrichtungen eingewirkt hatten. Denn dann hätten sie Ladonna vielleicht doch noch einsacken können. So wusste die Gegnerin nun, dass jemand es geschafft hatte, mindestens eine ihr unbekannte Vorrichtung in ihre heilige Höhle hineinzuschicken und dass diese Vorrichtung eingewirkte Selbstbewegungszauber besaß, die auch den die meisten Bewegungszauber hemmenden Contramotus-Zauber unterbanden. Natürlich würde sie sofort die passenden Schlüsse ziehen und seine Gesellschaft als Quelle dieser besonderen Spionagevorrichtung einstufen. Sicher war sie in dem Moment verschwunden, als sich Erkunderkugel drei im Würgegriff der veränderten Trümmer-Auffangbezauberung selbstvernichtet hatte. Warum hatte sie die Kugel überhaupt sehen können. Die Erkunder trugen doch einen mit Occamy-Silber überzogenen Außenschutz aus Tebo-Haut und waren durch einen ausnahmsweise nicht von Perdy erfundenen Dauerunsichtbarkeitszauber für normale Menschen völlig unsichtbar. Doch warum die Gegnerin die Kugel hatte sehen können bekam er schnell heraus, als er die alle zwei Sekunden übermittelten Warhrnehmungsprotokolle in einer Bild-Ton-Schrift-Darstellung abspielte.
"Véronique, ist es dir möglich, kurz zu mir in den Überwachungsraum für unsere Spionagekugeln zu kommen und die fünf besten unserer Thaumaturgen mitzubringen? Ich muss euch unbedingt was vorführen", mentiloquierte Perdy seine Mentoren und Mutter von vier seiner Kinder an.
"In Zehn Minuten können wir bei dir sein, Perdy. Nur schon mal zum anfüttern: Haben die Kugeln eine Lücke in der Abwehr der Höhle ergeben?" wollte Véronique wissen.
"Eher das Gegenteil, Véronique. Aber mehr dann, wenn ich euch alle mit eigener Stimme erreichen und euch die Aufzeichnungen so oft ihr braucht vorspielen kann", erwiderte der vielseitige Erfinder im Körper eines elfjährigen Jungen.
"Gut, ich rufe die anderen zu mir und komm dann mit einem Portschlüssel vor den Überwachungsraum", gedankenantwortete Véronique.
Perdy musste nicht ganz Zehn Minuten warten, bis Véronique eintraf. Sie trug ein besonderes Umstandskleid, das ihre beiden Ungeborenen noch besser gegen heftige Bewegungen abschirmte als das sie umgebende Fruchtwasser. Perdy nickte ihr zur Begrüßung zu. Dann führte sie die drei Zauberer und zwei Hexen herein, die als nach Perdy weltbeste Thaumaturgen der Geheimgesellschaft zur Wahrung und Mehrung magischen Lebens galten. Seiner altenglischen Erziehung folgend begrüßte er zuerst die ranghöchste Hexe, also Véronique, dann die zwei anderen Hexen und dann erst die drei mitgekommenen Zauberer, die nur rein äußerlich seine Großväter sein konnten, in Wirklichkeit vom echten Geburtsjahrgang her jedoch eher seine Söhne hätten sein können.
Als alle saßen ließ Perdy drei der vier Wände zu Darstellungsfenstern werden. Dann führte er den Kameraden und Fachleuten allels vor, was seine fünf Kugeln herausbekommen hatten. Vor allem was die außerhalb der Höhle angelandete Kugel aufgezeichnet und mit den in der Höhle verbliebenen Kugeln ausgetauscht hatte war interessant. Einige Punkte musste er mit verschiedenen Darstellungen erläutern. Dann sagte er zum Abschluss:
"Halten wir fest. Ein Einsatztrupp kommt nicht in Frage", begann Perdy und zählte dann die Gründe dagegen auf.
"Erstens tritt bei Eintritt in die Höhle eine Kombination von Zaubern in Kraft, die Träger männlichen Blutes unverzüglich verbrennen lässt und Trägerinnen weiblichen Blutes mit einer Vernichtungszauberei, einer Art aufhebbarem Situationsfluch, auflädt, der sie bei unerlaubter Entfernung aus der Höhle aus sich heraus verbrennen lässt." Die Anwesenden nickten bestätigend.
"Zweitens geht von dem Steintisch ein Zauber aus, der jeden in der Höhle aufgebauten Zauberschild mechanisch von sich wegstößt und damit den darin eingeschlossenen Körper. Nur der Umstand, dass in der davon betroffenen Spionagesonde ein bewegungsfreier Aufhebungszauber enthalten war, um den eingewirkten Amniosphara-Zauber wieder aufzuheben, gab der Kugel ihre Beweglichkeit zurück. Menschen in Zauberschilden würden womöglich gegen die nächstliegende Wand geworfenund dort so heftig angeklebt wie eine Fliege am Fliegenfänger, unfähig, nur einen Finger zu rühren, nicht mal um ihre Schilde aufzuheben. Dieser Effekt hätte jeden von uns, der oder die gleich in einem Zauberschild dort angekommen wäre außer Gefecht gesetzt, vielleicht sogar an einer der Wände zerdrückt wie eine lästige Fliege oder durch den Höhleneingang hinausgeschossen mit dem Ergebnis, dass er oder sie dann wegen des aufgehalsten Fluchtvereitelungszaubers verbrannt wäre, siehe Punkt eins", führte Perdy fort. Die hier anwesenden nickten schwerfällig.
"Zum dritten ist derselbe Zauber, der laut Signorina Montanera die Anwesenden in eine ihre Gesinnung darstellenden Aura gehüllt hat auch ein hervorragender Enttarnungszauber, besser als Discovobscurus, weil den ganzen Raum erfüllend und wohl auch mehrstufig wirksam. Jedenfalls erschienen die von mir ausgesandten Kugeln beim Eintreffen in einem schwach silbernenLicht, womöglich eine Umkehrung der Tarnung. Somit können wir auch vergessen, getarnte Fallen in die Höhle hineinzubringen, wie zum Beispiel eine Schlafgasfreisetzungsvorrichtung, die auf die Nähe lebender Menschen anspricht oder eine Sprengvorrichtung mit selbem Auslöser", sagte Perdy. Dann kam er zum entscheidenden Punkt:
"Auch wissen wir nun mit sicherheit, dass in Ladonna Montefiori die Anteile von Veelas und Sabberhexen vereint sind. Denn sie konnte ohne Zauberstabbewegung fliegen und strahlt die für Veela ttypische Aura von Betörung und Unortbarkeit aus und kann sich mindestens viermal so schnell bewegen wie ein gut trainierter Kampfsportler. Das haben wir ja alle sehen können, wie sie die verbliebene Kugel sehr heftig in Bedrängnis gebracht hat. Mit anderen Worten, Männer haben ohne einen wirksamen Veelakraft- Unterdrückungszauber keine Chance gegen sie und Hexen ohne biomaturgische Konditionierung wie Perseus Forester oder Agrippine Fourmier könnten keine Sekunde gegen dieses Weib bestehen, zumal zu befürchten ist, dass sie mit ihrer Stimme doppelt so gut Zauberlieder singen kann wie eine reinrassige Sabberhexe. Ich fürchte, die einzigen selbsttätig handlungsfähigen Gegner dieser Frau müssen magicomechanische Androiden sein, wie die, welche Silvester Partridge von uns weggeholt hat." Perdys Publikum nahm diese Aussagen mit unverkennbarem Unmut entgegen. Dann wandte sich Perdy noch an Véronique:
"Ach ja, an meine hochgeschätzte Mentorin Véronique: Ich denke, die Vorhaltungen gegen mein Interesse für die Weltraum- und Zukunftsphantasien der Muggel sind hiermit endgültig widerlegt. Denn ohne diese ganzen Vorstellungen, was in zweihundert Jahren bei denen technisch möglich sein könnte, hätte ich unsere Kugeln sicher nicht so gut ausstatten können. Abgesehen davon ziehe ich mal wieder meinen Hut vor dem Fachkollegen Quinn Hammersmith vom Laveau-Institut, wie der das hinbekommen hat, rein animierbezauberte Bestandteile mit bezauberten organischen Bestandteilen zu verbinden, um eine so große Bandbreite an Erfassungsfähigkeit und Handlungsgeschwindigkeit zu erreichen. Hat wer noch fragen?"
"Ja, warum haben wir keine bereits gegen einen raumfüllenden Contramotus-Zauber wirkenden Bringbeutel?" fragte Véronique. Die anderen Thaumaturgen wiegten verlegen ihre Köpfe. Dann sagte eine der beiden Hexen: "Aus dem ganz einfachen Grund, werte Mater Vicesima, weil wir nicht so hemmungslos mit organischen Bestandteilen herumzaubern wie dein Mentand hier, der sich wohl gerade wie ein Großmeister unter den Zauberschmieden vorkommt. Denn dein sich auf eine zweite Kindheit und Jugend einlassender Zögling hier hat ganz dezent unterschlagen, dass Hemmersmith und wohl auch er die organischen Bestandteile von magischen Wesen, womöglich sogar menschlichen Organen oder ungeborenen Kindern entnommen hat, weil dieser Fluchtvereitelungs- oder Zauberersofortvernichtungsfluch dann nicht auf die Kugeln gewirkt hätte. Hier sollte mal die Frage erlaubt sein, wie weit wir gehen dürfen, um unsere Ziele zu erreichen."
"Häh?!" machte einer der Zauberer und fügte hinzu: "Wenn du jetzt von moralischen oder gar Gewissensfragen anfängst können wir gleich alle Aktivitäten beenden, weil wir im Grunde schon so viel gegen die in den Zaubereiministerien gültigen Gesetze und Gewissensentscheidungen verstoßen haben und für unsere Ziele durchaus auf lebende magisch begabte Wesen Einfluss nehmen. Nur weil der rein äußerlich junge Mann hier die Herstellungsgeheimnisse für seine Spionagekugeln nicht jedem verraten möchte heißt das nicht, dass er verwerflicher handelt als du oder ich." Perdy nickte. Die anderen nickten auch. Gerade die Operation "Blauer Mond" oder die vor wenigen Tagen durchgeführte Aktion "Neues Leben Millemerveilles" ließen keinen Platz für nachträgliche Skrupel. Perdy genoss das betroffene Schweigen einige Sekunden. Dann sagte er: "Ich muss mich nicht fühlen wie ein Thaumaturgie-Großmeister, weil ich das schon seit über sechzig Jahren bin und immer noch neues dazulerne, wie ihr und ich gerade heute einmal mehr. Und trotzdem bin ich auch etwas verunsichert, weil Ladonna Montefiori als Einzelperson so viel gegen uns aufbieten kann und womöglich herausfindet, was meine Spionagesonden in ihrer Versammlungshöhle gemacht haben und wie sie in Zukunft gegen solche Besuche vorgehen muss. Es würde schon reichen, wenn sie Taranis' Riegel einrichtet, um Portschlüssel beim Erscheinen zu zerstören, sofern die in der Höhle vorhandene Materie noch einen solchen Zauber aufnehmen kann, was ich jedoch stark annehmen muss, weil das Ding mit der Mafia-Matriarchin von Catania eindeutig Pinkenbachs Grenzen gesprengt hat. Allein das, liebe Fachkolleginnen und -kollegen, sollte uns jede Gewissensfrage verbieten. Denn da müssen wir gegenhalten, ohne vor irgendwas zurückzuschrecken. Abgesehen davon habe ich auch meinen Eid auf die Gesellschaft geleistet, keinen magischen Menschen, ob geboren oder ungeboren, für irgendwelche Zwecke zu töten. In den Kugeln waren keine menschlichen Embryonen oder Föten verarbeitet, sondern künstlich durchblutete Gewebeanteile, um die Auswirkungen bestimmter auf Menschen wirksame Zauber zu erfassen. Dass dieser Vernichtungszauber so stark ist spricht dafür, dass Ladonna ihn über Stunden oder gar Tage mit magischer Kraft aufgeladen hat. Fragt ihr die, was und wen die dafür verwendet hat? Nein, das tut ihr nicht. Also hört bitte auf, mir unrichtiges Verhalten zu unterstellen."
"Du bist offenbar auch nur ein wenig neidisch, werte Enkeltochter, weil Perdy hier Sachen erfunden hat, an die du dein ganzes langes Leben nicht gedacht hast. Aber wie erwähnt lebt er schon erheblich länger als du, ja hat es wohl noch mitbekommen, dass meine Schwiegertochter dich im Bauch gehabt hat", schritt Véronique ein. Sie ließ es sich nicht anmerken. Doch Perdy vermutete stark, dass ihr seine Enthüllungen genauso zusetzten wie ihm. Am Ende schaffte es Ladonna noch, ihnen einen Gegenbesuch abzustatten, wenn sie einen von ihnen erwischte und ... Er erschrak und wandte sich an die zweite Hexe aus dem Trupp der Thaumaturgen: "Öhm, wolltest du nicht zusammen mit den Montaneras diese Federica Lupazzura einsacken?"
"Ja, um sie auszufragen, was Ladonna mit ihr angestellt hat und was sie der schon erzählt hat, um sie dann zu reinitieren. Mater Vicesima hat das gutgeheißen."
"Das lassen wir besser bleiben, weil wir uns nachher noch ein trojanisches Pferd in den eigenen Stall holen", sagte Perdy und sah Véronique an. Diese erbleichte und nickte dann sehr heftig. "Perdy hat Recht, sofort das Einsacken von Federica Lupazzura absagen", stieß sie aus. Dann fügte sie hinzu: "Wenn sie die mit einen Bluteid und einem Verratsunterdrückungsfluch belegt hat könnten wir einen Stützpunkt und womöglich mehrere Mitglieder unserer Gesellschaft einbüßen." Die Anwesenden nickten. "Aber beobachten müssen wir sie weiterhin", sagte Véronique. "Das sollen die bewährten Geräte tun, mit denen wir den Werwolfabtötungserreger verbreiten wollten." Dem stimmten alle zu. So wurde der Beschluss, Federica Lupazzura einzufangen, umgehend widerrufen.
Sie fühlte es, dass sie hier nicht willkommen war. Auch fühlte sie, dass Dana und Clayton sie all zu gerne wieder hinausgeschickt hätten. Doch sie beide hatten Angst vor ihr und wussten, dass niemand mit Verstand sich mit Erin O'Casy anlegte. Dieses Gefühl der Überlegenheit genoss sie immer, wenn es sich anbot.
Wie eine Königin saß die in himmelblauen Tweed gehüllte Hexe mit den feuerroten Haaren und kleeblattgrünen Augen auf dem bequemsten Stuhl im Salon der Malones und schwieg einige Sekunden. Dann sagte sie:
"Zunächst einmal möchte ich mich bei euch bedanken, dass ihr mir Einlass in euer Haus gewährt habt. Auch danke ich euch, dass ich auf eurem besten Stuhl sitzen darf. Doch ist der Grund meines Besuches nicht so erfreulich, weder für euch noch für mich." Sie war zumindest zufrieden, dass beide Eheleute noch genug Gälisch verstanden, um ihre Worte zu begreifen. Dann fuhr sie fort: "Der Rat der Familien Irlands hat getagt. Drei Jahre haben wir euch Zeit gelassen, vor allem, damit ihr eurem Sohn begreiflich macht, dass er seinen Irrtum bereinigt und zu uns zurückkehrt. Doch er hat seinen Irrtum nicht begriffen, ja wähnt sich sogar noch erfolgreich, weil er diese Flämin geheiratet und eine Tochter mit ihr gezeugt hat und womöglich noch weitere Kinder erhofft. Aber er untersteht dem Familiengesetz der Kilgores, deiner Urgroßeltern, Clayton. Deshalb gilt, dass er zwischen dem drei mal siebtem und zwei mal zwölftem Lebensjahre eine Hexe aus einer der zehn großen Familien dieses Landes ehelichen und zur Mutter seines ersten Kindes machen muss, falls er diese Verpflichtung nicht schon vorher erfüllt hat. Ihr hättet ihn nicht mit dieser Abordnung ins Land der Westfranken reisen lassen sollen, wo er gemeint hat, an diesem Drei-Schulen-Wettkampf teilnehmen zu wollen."
"Ich war immer gegen diese Ausländerin", sagte Clayton schnell, um nicht zu zeigen, wie heftig Erin O'Casys Worte ihn getroffen hatten. "Ich habe alles versucht, ihn davon abzubringen."
"Ja, mit bloßen Drohungen und einem Zaubertiefschlaf, der ihn wie ein unbedingt zu errettendes Opfer dargestellt hat, geschweige denn von diesem Wutbrüllbrief, der die Hüter dieser Froschfresseranstalt erst recht dazu bestärkt hat, Kevin zur Einhaltung der ihm durch eine alte Überlieferung aus früheren Zeiten auferlegten Pflicht zu drängen, ohne ihm mitzuteilen, dass seine Verpflichtungen hier bei euch wesentlich älter sind und er es als Ehre ansehen sollte, diese Pflichten zu erfüllen. Auch hättest du, Clayton Malone, deiner Schwestertochter Gwyneth sagen müssen, dass sie Kevin nicht hilft, wenn sie ihn von hier fortschafft. Es wundert mich sowieso, dass ihr ihr das habt durchgehen lassen."
"Mit welchem Recht maßregelst du uns jetzt, Zaubermeisterin Erin O'Casy?" traute sich Dana, eine Frage zu stellen. Erin hatte mit genau dieser Frage gerechnet und antwortete unverzüglich:
"Wie erwähnt sitze ich im Familienrat irischer Hexen und Zauberer und bin nach dem Tod meiner geliebten Schwester, deren Namen euer beider Nichte tragen darf, verpflichtet, die Familienangelegenheiten zu überwachen. Wie erwähnt haben wir Kevin drei Jahre gelassen, um die Einsicht zu gewinnen, dass er gegen seine Heimat und gegen die Ehre seiner Familie verstoßen hat und reumütig zurückkehrt. Ihr habt es versäumt, ihm bei diesem Schritt zu helfen."
"Kevin wollte sich von mir nichts mehr sagen lassen", warf Clayton ein. "Nachdem er bei diesen Froschfressern in Beauxbatons war hat er sich nur noch stur gestellt und nur das gemacht, was er für richtig gehalten hat. Ich habe ihm deshalb verboten, wieder nach Irland zu kommen. Es sei denn, er verlässt dieses junge Ding, dass ihn mal eben auf ihren Flugbesen gehoben und damit für sich erwählt hat."
"Du weißt, dass er das nicht mehr tun wird, Clay", hörte Erin Dana Malone ihrem Mann zuflüstern. Erin meinte dazu, dass sie auch laut sprechen könne. Darauf sagte Dana mit einer unerwarteten Entschlossenheit: "Kevin hat mit der jungen Hexe eine Familie gegründet. Dieser ist er nun verpflichtet. Er wird nicht von ihr und der gemeinsamen Tochter weggehen, und sie wird ihn nicht freigeben. Abgesehen davon, werte Schwiegergroßtante, wird Kevin dann, falls er sie verlässt, bei den meisten Hexen in Ungnade fallen, weil ein Zauberer nicht seine Angetraute und ein gemeinsames Kind zurücklassen darf. Also sind diese Forderungen nicht nur unangebracht, sie sind auch im höchsten Maße unverschämt." Erin O'Casy sah Dana Malone an, die ganz ruhig auf ihrem Stuhl saß. Dann sagte Erin:
"Einer von euch reist dorthin und spricht mit Kevin, dass er diesen beinahe unverzeihlichen Fehltritt wieder gutmachen muss und bietet der flämischen Hexe genug Gold an, damit sie das Mädchen ohne Sorge vor Kälte, Regen und Hunger aufziehen kann. Kevin soll dann aus den zehn wichtigsten Stämmen seine wahrhaftige Angetraute heraussuchen, wie es beschlossen war."
"Daran sehen wir, dass du nie Kinder hattest, Schwiegergroßtante. Du meinst ernsthaft, dass eine Hexe sich dazu bereiterklärt, den Mann freizugeben, mit dem sie ein Kind hat?" warf Dana nun ein. Erin O'Casy nickte. "Dann hast du wahrhaftig keine Ahnung. Außerdem leben wir nach der Anerkennung Irlands als eigenständiger Wohnraum in einem freien Land und die sogenannten zehn oberen Zaubererfamilien haben kein Recht zu bestimmen, wer mit wem verheiratet wird. Das mag vor zweihundert Jahren noch richtig gewesen sein. Aber in diesen Tagen ist es eine für viele ganz junge Leute lästige Überlieferung, gegen die sich jeder Halbwüchsige genüsslich auflehnt. Das ist dir alles nicht bekannt, Schwiegergroßtante Erin."
"An den alten Gesetzen hat sich nichts geändert, auch wenn manche Namen sich geändert haben mögen. Manche Familien sind in männlicher Linie erloschen. Andere haben ihren Platz in der Rangordnung der Familien erstritten. Also gelten die Gesetze immer noch. Clayton hätte sie Kevin nur wesentlich früher und umfassender erläutern müssen oder eine wie mich hinzubitten sollen. Ja, und er hätte nicht zulassen dürfen, dass er auch nur für einen Monat das Heimatland verlässt, und dann noch ausgerechnet in das westfränkische Land, von dem es heißt, dass dort schöne und elegante Mädchen gedeihen, die wissen, einem Knaben das Mannsein spüren zu lassen. Er hätte nicht dorthin reisen dürfen. Also tragt ihr die Schuld, vor allem du, Clayton, weil du ihm nicht erklärt hast, was die lange überlieferten Rechte und Verpflichtungen sind. Also seht zu, dass Kevin seinen Irrtum erkennt und berichtigt!"
"Hätte hätte Perlenkette", erwiderte Dana darauf, während ihr Mann offenbar schon darüber nachdachte, wie er Kevin aus dieser auch von ihm unerwünschten Eher herauslösen konnte.
"In einem Jahr verlassen die Töchter der Mahonys und O'Hara Hogwarts. Es sind jeweils sehr gut gewachsene junge Hexen und nach meinem Wissen auch sehr fleißige und gebildete Mädchen. Es dürfte einem nun erwachsen gewordenen jungen Zauberer nicht schwerfallen, eine für alle Seiten erfreuliche Wahl zu treffen. Ihr habt ein Jahr Zeit."
"Und was, wenn weder Kevin, noch Patrice noch wir das wollen?" fragte Dana nun unerwartet aufsässig. Erin O'Casy sah sie verdrossen an und erwiderte: "Dann wird alles, was er jemals erben wird an die geprellten Familien verteilt und er wird zum rechtlosen ausgerufen, der niemals mehr irische Erde betreten oder darauf leben darf."
"Gut, wir werden ihm das so weitergeben", sagte Dana unvermittelt kalt. Ihr Mann fühlte immer mehr Angst. Sicher, er hatte Kevin selbst schon angedroht, dass er niemals mehr die Heimat betreten dürfe, wenn er dieses flämische Mädchen Patrice heiraten oder gar schwängern sollte. Doch es jetzt quasi amtlich vorgehalten zu bekommen war doch was anderes. Dennoch begehrte er nicht auf, sondern sagte unterwürfig: "Wenn Kevin sich weigert wird er eben alles verlieren, was hier auf ihn wartet." Dana nickte. Erin O'Casy hatte den unangenehmen Eindruck, dass die Malones damit wunderbar leben konnten. Deshalb fügte sie hinzu: "Wenn ihr selbst darauf hinarbeitet, dass uns Kevin und damit dessen Blutlinie verwehrt bleibt verliert ihr womöglich auch alles, von diesem Haus hier über eure Goldvorräte bei Gringotts und müsst außerhalb von Irland eine neue Bleibe suchen. Wäre ja nicht das erste mal, dass ihr lieber ins Ausland flüchtet, statt eure Ehre zu verteidigen."
"Jetzt ist aber mal gut", entrüstete sich Dana Malone nun laut. "Was hast du denn gemacht, als der Unnennbare seine schwarzmagischen Fäden ausgeworfen und zum tödlichen Netz zusammengezogen hat? Es heißt von dir, du seist nach Ceridwen Barley oder Sophia Whitesand die mächtigste Hexe der britischen Inseln. Wo warst du dann bei der Schlacht um Hogwarts, um Irlands Eigenständigkeit und Ehre zu verteidigen?" Erin O'Casy schluckte mehrmals. Ihr war gerade danach, ihren Zauberstab freizuziehen und die freche junge Hexe da zu bestrafen. Doch irgendwas schien ihre Hände festzuhalten. Sie stutzte. Hatten die doch ernsthaft einen ihr unbekannten Schutzzauber aufgebaut, um fremden, die sich feindselig benahmen, die Möglichkeit zu nehmen, ihre Zauberstäbe zu benutzen. So sagte Erin:
"Nicht mehr fern ist der Tag, wo du hinter dich auf's meer zurücksehen wirst und dir bewusst wird, dass du dein Geburtsland und deine geliebten Anverwandten und Freunde nie mehr wiedersehen wirst, Dana Malone."
"Ich warte noch auf deine Antworten: Wo warst du, als Du-weißt-schon-Wer unser Land versklaven wollte?" beharrte Dana Malone auf ihre Frage.
"Ich habe mit vielen anderen Irland gegen ihn verteidigt, besser gegen seine unausgegorenen und deshalb tödlich gefährlichen Handlanger hier in Irland. Von der Schlacht in Hogwarts erfuhr ich erst am Tag darauf aus der Zeitung, sonst wäre ich dort selbstverständlich hingereist und hätte auf Seiten von Hogwarts mitgefochten", stieß Erin O'Casy aus. Die Malones konnten ihr ansehen, wie heftig sie Danas Frage in ihrer Seele erschüttert hatte.
"So ein Unglück, Zaubergroßmeisterin Erin O'Casy, dass du deshalb nicht auf den Säulen der Helden der Schlacht von Hogwarts verzeichnet bist", ätzte Dana Malone. Ihr Mann schrak zusammen. Erin sagte dann nur noch: "Wie erwähnt, in einem Jahr kommen die Töchter von gleich zwei angesehenen Familien aus Hogwarts heraus. Ich wünsche euch noch einen sonnigen Tag und dass jeder eurer Schritte auf festen Boden trifft und ihr immer genug frische Luft einatmen könnt." Sie stand behutsam auf und wandte sich der Salontür zu. Clayton sollte sie hinausgeleiten. Das tat er. Sie fühlte, dass er mit jedem Schritt, den sie richtung Ausgang tat erleichterter war. Als sie dann durch die Tür war und außerhalb der Grundstücksgrenze disapparierte meinte er zu Dana:
"Wir sollen das ausbaden, dass Kevin so ein unüberlegt handelnder und redender Bursche ist. Wieso der nach Ravenclaw kam weiß ich bis heute nicht."
"Vielleicht weil der Hut ihm Eigenschaften angesehen hat, die Kevin selbst nie wirklich ausgenutzt hat, oder weil er nicht nach Gryffindor oder Slytherin wollte", sagte Dana.
"Du kannst dir nicht aussuchen, wo du hinwillst", schnarrte Clayton. Da setzte seine Frau Dana ein überlegenes Grinsen auf und erwiderte: "O doch, geht wunderbar. Ich selbst habe dem Hut zugedacht, dass ich keinesfalls zu den Hufflepuffs hinwollte, obwohl der bei mir Fleiß gesehen haben will. Auch wollte ich nicht zu den überheblichen Slytherins hin, womöglich nicht, um von denen verdorben zu werden. Da hatte die geflickte Stofftüte nur noch zwei Häuser zur Wahl. Der hat mich dann nach Gryffindor geschickt, weil er wohl fand, dass meine Entschlossenheit größer sei als mein Streben nach mehr Wissen. So habe ich es verhindert, eine Hufflepuff oder Slytherin zu werden." Clayton seufzte. Dass jemand den alten, sprechenden Hut von Hogwarts um eine bestimmte Entscheidung bitten oder auffordern konnte hatte er nicht gewusst. Gut, er war auch ein Gryffindor gewesen. Aber das hatte er für ziemlich klar gehalten, wo sein Vater dort war, während seine Mutter eine Ravenclaw gewesen war. Vielleicht war es ihr Erbe, dass in Kevin aufgekeimt war und dem Hut die Entscheidung eingegeben hatte, ihn nach Ravenclaw zu schicken.
"Wie mächtig ist diese Erin O'Casy wirklich?" wollte Dana wissen. "Mächtig genug um uns alle beide und Kevin kräftig in den Hintern zu treten und uns damit von Irland herunterzuschießen. Deshalb dürfen wir sie nicht abfällig behandeln, Dana. Die hat sich alles gemerkt, was du ihr so ungestüm an den feuerroten Kopf geworfen hast. Geh davon aus, dass die schon die Sanduhr aufgestellt hat, die zeigt, wann wir Kevin ins Exil folgen müssen", seufzte Clayton Malone. "Ich hätte Gwyneth damals doch vor den Gamot zerren sollen, zum stinkenden Leprechan noch eins."
"Hättest du nicht, weil dann nämlich herausgekommen wäre, dass du Kevin in Tiefschlaf gezaubert hast und ich das willentlich in Kauf genommen habe, weil ich damals auch wollte, dass Kevin diese merkwürdige Verlobung auflöst. Aber jetzt ist er da unten bei den Flamen und wohnt bei seiner Schwiegerrfamilie, statt, wie es früher Sitte war, mit seiner Angetrauten bei uns zu wohnen. Wir müssen uns also überlegen, ob und wie wir Kevin dazu bekommen, Patrice und die kleine Shivaun zu verlassen? Nicht mit mir, Clayton. Ich habe die drei schon einigemale besucht, wie du Sturschädel weißt. Da gehe ich sicher nicht hin, um dem zu sagen, dass irgendwelche alten Hexen und Zauberer beschlossen haben, dass er wieder nach Hause ziehen und sich eine andere Frau suchen soll. Abgesehen davon würde er dann erst recht in Ungnade fallen, weil er eine Frau mit Kind sitzen gelassen hat und weil er nicht frei entscheiden durfte, wo er lebt oder nicht. Welche Hexe würde so einen Zauberer heiraten, frage ich dich?"
"Das hättest du vorher diese rothaarige Hexenfürstin fragen sollen", grummelte Clayton. Dana erwiderte darauf nur schnippisch: "Habe ich in gewisser Weise getan. Aber sie meinte ja, wweiterhin die mächtige Matriarchin geben zu müssen, obwohl sie keine eigenen Kinder und Enkelkinder hat. Vielleicht ist sie auch nur eifersüchtig, weil Kevin gegen alle Einwände durchgezogen hat, was ihm gerade wichtig war."
"Durchgezogen ist wohl das passende Wort, Dana. Der hat in Beauxbatons mitbekommen, wie gut junge Paare da leben, auch wenn die Hexen da schon den ersten Umstandsbauch vor sich hertrugen. Das hat ihn wohl mit was anderem denken lassen als mit seinem Kopf."
"Oder Patrice, die wohl was in ihm sah, was sie unbedingt für sich gewinnen wollte", erwiderte Dana. Da sie diese Diskussion vor drei Jahren schon einmal geführt hatten konnte Clayton dazu nur leise grummeln und nicken.
Der Ausschuss zur Beseitigung gefährlicher Geschöpfe war vollzählig um einen freigelegten Schacht versammelt, vier Hexen und vier Zauberer. Der Vorsitzende des Ausschusses war der kleine, sehr gut genährte Zauberer Ignatio Cordracone. Seine große Schwester Tifonia war im Vergleich zu ihm spindeldünn und war nach Vollendung ihres Wachstums glatte zehn Zentimeter größer als er. Ihr Haar war ein schulterlanger Schopf, der auf Nackenhöhe zu einem festen Knoten gewunden war. Seit nun schon vierzig Jahren waren sie das Führungsduo des Ausschusses zur Beseitigung gefährlicher Geschöpfe. Keiner der anderen hatte es bisher gewagt, diese Rangstellung in Frage zu stellen, zumal die Cordracone-Sippe seit neunhundert Jahren zu den führenden Zaubererfamilien zu gehören und als solche auch Verzweigungen in die mächtigsten Familien der damaligen italienischen einzelstaaten zu besitzen. Tifonia und Ignatio schürten die Legende, dass einer ihrer Vorfahren ein ilegitimer Sohn von Papst Alexander VI. aus der Familie der Borgia gewesen sein sollte, den der nicht ganz so sittentreue Katholikenführer mit einer als Hofdirne auftretenden Hexe namens Melanippa gezeugt haben soll. Auch wenn das den auch in Italien lebenden Reinblütigkeitsfanatikern aufstieß, dass in die Cordracone-Blutlinie der eine oder andere Mogglo eingegliedert war hatten sie doch nichts gegen die Macht der Cordracones ausrichten können und auf Heilsbringer wie den blonden Tyrannen Grindelwald, den englischen Irren mit dem unnennbaren Namen oder dessen nicht minder irren Nachfolgeberechtigten gehofft.
"Patricio, du hangelst dich runter und prüfst, ob das stimmt, dass vom Vesuv her eine Glutader bis zur Kaverne mit den hundert unausgebrüteten Eiern verlläuft!" befahl Ignatio Cordracone einem anderen Zauberer, der noch dünner als seine gertenschlanke Schwester war und der deshalb schon häufig als Spaghettikind verspottet worden war. Patricio Campodoro hatte diese Schmähungen aber gut wegzustecken gelernt. Er nickte und rückte die aufgesetzte Wärmesichtbrille zurecht. Dann prüfte er, ob sein feuerfester Anzug aus schwarzem Drachenleder richtig verschlossen war. Schließlich hakte er eine Rolle, dreimal so dick wie er selbst an drei Ösen am Rand des von einer niedrigen Steinmauer umfassten Schachtes ein und warf die Rolle in die gähnende Tiefe. Leise surrend entrollte sie sich und verschwand. Zurück blieb eine sich immer länger streckende Strickleiter mit fingerdicken Sprossen.
"Na, ob die Leiter lang genug ist, Spaghetto?" fragte ein kugelrunder Zauberer, der gerade ein Notizbuch durchblätterte.
"Die Leiter kann sich auf zwei Meilen verlängern, Hefeklumpen", erwiderte Campodoro. Dann sah er kurz noch zu Chiara Bonfiglio hinüber, die klein und Zierlich mit sechs dünnen, nachtschwarzen Zöpfen da stand und darauf wartete, was nun geschah. Dass die zwei seit zwei Jahren ein Paar waren und nur wegen einer altbackenen Bestimmung der Verwaltungsvorschriften nicht heiraten durften war schon fünfmal durch die italienische Zaubererweltpresse gereicht worden. Dass Chiara die Kontakterin zwischen den ausländischen Quidditchfunktionären war, was deren Maskottchen anging war im Corriere di Monte magico ausgiebig behandelt worden.
Okay, die Leiter ist auf Grund gestoßen", sagte Patricio Campodoro nach zehn Minuten. "Öhm, jawoll, einen Kilometer. Das wird schon so ziemlich warm da unten", fügte er noch hinzu. Dann klinkte er ein sehr dünnes Seil an seinem Gürtel ein und befestigte es mit einem Karabiner an einer der Halteösen für die Strickleiter. "Am besten holt ihr schon mal das Federleicht-Tragenetz her. Wenn's da unten mehr als doppelte Körpertemperatur eines Menschen ist müssen wir sicher umlagern oder alles kaputtfluchen."
"Das überlässt du bitte mir, das zu entscheiden, Patricio", grummelte Ignatio Cordracone. Danach sahen er und die anderen, wie Patricio schnell und gewandt wie ein Urwaldaffe in den Schacht hinabturnte.
"Du weißt, dass wenn auch nur ein Ei schon halb ausgebrütet wurde das zerstört werden muss, Ignatio", mentiloquierte Tifonia ihrem Bruder. Dieser schickte zurück: "Denkst du echt, ich will auch nur eine dieser Himmelsfackeln haben, mit denen der rote Speer vor hundertfünfzig Jahren noch den ganzen Stiefel und Sizilien in Angst und Schrecken gehalten hat?" Seine Schwester gedankenantwortete ohne eine sichtbare Regung: "Die Versuchung ist ja schon da, wo wir nicht wissen, ob wir nicht auch von diesen Entomanthropen oder den Wertigern heimgesucht werden. Das mit den Schlangenmenschen damals war ja hart an der Grenze." Dem konnte Ignatio nur beipflichten.
Als aus dem Schacht rote Funken heraufflogen wussten sie alle, dass der Brutverzögerungszauber nicht mehr wirkte. Also galt es, über denFortbestand von hundert kurz angebrüteten Dracheneiern zu beschließen. Ignatio kletterte nun selbst die Strickleiter hinunter, wobei er nicht einmal halb so geschmeidig aussah wie Patricio.
"Dreißig sind schon halb durch", begrüßte der dünne Kollege Ignatio Cordracones den Ausschussvorsitzenden, als dieser unter Hitze und Anstrengung keuchend den Grund des Schachtes erreichte. Ignatio besah sich den mehrere meter hohenund unten mindestens zwanzig Meter durchmessenden Haufen aus männerkopf großen, birnenförmigen Eiern mit dunkelblauen Schalen. Patricio ließ gerade noch einmal ein signalrotes Zauberstablicht über die am tiefsten liegenden Eier gleiten. Das Licht konnte die Schale wie Glas durchdringen und ließ den Inhalt der Eier aufleuchten. So konnte Ignatio sehen, dass in den Eiern bereits Embryonen mit stummelartigen Ansätzen von Körpergliedern schwammen. Andere Eier zeigten noch einen kleinen, kugelförmigen Ungeborenen ohne klare Merkmale, was aus dem mal werden mochte.
"Die, wo die Embryonen noch als Kugeln zu erkennen sind lagern wir um und machen den Brutverzögerungszauber drauf. Die anderen zerstören wir mit zwei Flaschen von Dottore Tempestinos Gewittersturmkondensat. Das sollte die dreißig Eier zerschlagen, ohne die Magmaader unter uns aufzureißen."
"Öhm, zwei Flaschen? Wir kriegen bei Bernadottis Goldglucke nicht mal eine Flasche genehmigt. Machen wir das lieber mit dem Confringus-Zauber."
"Neh, lass das besser! Wenn ich die Aufzeichnungen von damals richtig gelesen habe kann bei der Hitze hier unten ein Notschlupfreflex ausgelöst werden, wenn die angebrüteten Eier einzeln zerstört werden. Frag mich bitte nicht, wie diese Burschen das damals hinbekommen haben, dass deren Kampfbiester das können. Aber sicher ist, dass es wohl einer von deren Feinden bereut hat, das Gelege eines Himmelsfackel-Weibchens mit Sprengzaubern anzugehen."
"Ja, aber zwei Flaschen von Tempestinos Unwetterkondensat kriegen wir nicht von Aurelio Plutoni."
"Erstens braut der das Zeug nicht selbst, weil für Buchhalter zu gefährlich. Zweitens werde ich den nicht um einen Tropfen davon angehen, sondern einen Sonderposten anbrechen. Aber pssst, braucht außer dir, meiner Schwester und mir keiner zu wissen. Wir lagern erst mal alle Eier um, die noch nicht zu weit durch sind."
"Öhm, eines Tages kriegst du noch ein Einzelzimmer in der Festung der klagenden Seelen, Ignatio!"
"Ja, oder Minister Bernadotti ernnent mich zu seinem Nachfolger, weil ich verhindert habe, dass mal eben dreißig Himmelsfackeln aus der Zeit der Lancia Rossa ausschlüpfen und ohne darauf eingestimmte Hüter die italienische Halbinsel in Schutt und Asche legen", grummelte Cordracone. Er war nicht feige, konnte durchaus mal was riskieren, wo andere schon beim Gedanken schreiend davonliefen. Aber die berüchtigten Himmelsfackeln musste er nicht wirklich auf seine Landsleute loslassen, wo seine Schwester noch nicht die Geheimschrift übersetzt hatte, die darüber Auskunft gab, wie diese Biester zu zähmen waren.
"Netz ist unterwegs, kleiner Bruder", vernahm Ignatio nach nur zwei weiteren Minuten die Gedankenstimme seiner Schwester Tifonia. "Ach ja, und deineAnfrage wegen Dottore Tempestinos Gebräu ist bereits im Ausführungsvorgang. Wenn ihr da unten alle noch verwahrfähigen Blaubirnen eingesammelt habt können wir den Rest restlos wegputzen."
"Danke dir, große Schwester", schickte Ignatio eine Antwort zurück. Dann warteten er und Patricio in der großen Hitze.
Knapp drei Minuten später glitt ein leicht schimmerndes Netz aus silbernen Strängen herunter. Darüber schwebte Tifonia Cordracone, die sich einen saphirblauen Gürtel um die Taille geschnallt hatte. "Wunderbar, dieser Leviportgürtel aus Frankreich. kannst du Bernadottis Goldwächter gerne mitteilen, dass wir vom Ausschuss gerne für jeden einen solchen haben möchten", sagte Tifonia und blickte mit ihren dunkelgrünen Augen auf die aufgetürmten Eier. "Ah, so sehen also die Eier von aus den drei gefährlichsten Drachenarten zusammengekreuzten Kampfdrachen aus", sagte sie dann und ließ wie Patricio ein rotes Zauberstablicht aufleuchten.
"Ja, die hatten damals echt keine Hemmungen bei der Herumkreuzerei", sagte Ignatio. Vor seinem geistigen Auge sah er knapp vier Meter lange, pfeilschlanke Drachen mit himmelblauen Schuppen, die ähnlich wie die Kampfdrachen der legendären Elfenbeininsel sehr schnell unterwegs waren und ein weißblaues, bis zur vierfachen Länge weit fliegendes oder in gleißenden Glutbällen ausgespucktes Feuer speien konnten, das noch heißer als der Flammenatem eines schwedischen Kurzschnäuzlers war. Es konnte sogar Gestein in Flammen aufgehen lassen und Metallkörper innerhalb einer Sekunde in glühende Dampfwolken auflösen. Was von Menschen übrigblieb musste daher nicht überdacht werden.
Die anderen Ausschussmitglieder sammelten mit Behandschuhten Händen die noch umlagerfähigen Eier ein und legten sie in das Netz. Da Dracheneier nicht appariert oder geportschlüsselt werden konnten galt es, sie innerhalb kurzer Zeit an möglichst vielen Transportbesen hängend an den Zielort zu bringen. Da der Brutverzögerungszauber nur in der Nähe von tätigen Vulkanen gelang mussten sie die Eier über das Mittelmeer nach Sizilien bringen, wo sie diese in einer Höhle in der Nähe des Ätna deponieren wollten.
Als alle noch umlagerfähigen Eier im Netz lagen hievten vier Ausschussmitglieder es beinahe spielendleicht nach oben. Der Federleichtzauber im Netz wirkte also doch auch auf die Dracheneier. Das war längst nicht selbstverständlich, wo einige Dracheneier bereits gegen Elementarbezauberungen abgeschirmt waren.
"Patricio, bitte kletter voran. Ich bringe Ignatio mit dem Gürtel hoch", sagte Tifonia. Der Angesprochene sah Ignatio fragend an. Dieser nickte zustimmend. So kletterte Patricio mit derselben affengleichen Gewandtheit nach oben, mit der er vorhin hinuntergeturnt war.
"Du weißt, dass sie dafür eine Gegenleistung erwartet, kleiner Bruder", hörte Ignatio die Gedankenstimme seiner Schwester im Geiste.
"Solange sie mich nicht heiraten und/oder vier Kinder von mir kriegen will habe ich kein Problem", schickte Ignatio zurück.
"Oh, bring sie nicht auf Ideen! Federica ist die letzte lebende Hexe aus der Lupazzura-Sippe und könnte finden, endlich ihr Blut mit dem der Cordracones zu vereinen, auch wenn ihre Großmutter Lavinia ganz mit Grindelwald gehalten hat und ihr Vater diesem als Halbblüter entlarvten Emporkömmling aus England nachgejachert ist und zu gerne diese dicke Trulla Alecto Carrow geheiratet hätte."
"Wie erwähnt, geliebte Schwester, mach ich alles, außer Federica zu heiraten oder mit neuen Kindern aufzufüllen", erwiderte Ignatio nur für seine Schwester wahrnehmbar.
"Irgendwann finde ich dir die, mit der du unsere Linie verlängern wirst, falls du nicht willst, dass die Vita-Magica-Banditen das erledigen."
"Ich weiß, du und deine heimlichen Schwestern spekuliert immer auf guten Nachwuchs. Aber ich lasse mich sicher nicht verkuppeln, auch nicht von dir, Tifonia", schickte Ignatio zurück. Das entlockte seiner großen Schwester ein verächtliches Lächeln.
Tifonia verlängerte den Leviportgürtel soweit, dass sie damit auch die beine ihres Bruders umfassen konnte. Dann führte sie die Zauberstabgeste aus, die den Gürtel auf ein Zehntel Schwerkraftumkehr einstimmten. Dann stießen sich beide zusammen vom Boden ab und trieben den Schacht hinauf, schneller als wenn sie kletterten. Oben angekommen erläuterte Ignatio seinen Kollegen noch einmal, was er beschlossen hatte. Auch die anderen meinten, dass er das zerstörerische Gebräu von Dottore Tempestino niemals in der gewünschten Menge bekommen würde. Doch er machte nur eine abschätzige Geste und befahl, den Schacht bis zur geplanten Zerstörungsaktion mit dem magischenDeckel zu verschließen, der nur durch eine bestimmte Abfolge von Berührungen mit dem Zauberstab und insgesamt sechs Passwörtern zu bewegen war. In der kommenden Nacht wollten sie die verbliebenen Eier vernichten.
Véronique las Perdy und ihren französischen Mitstreitern gerade die neuste Folge aus Mildrid Latierres Reportage vor. Wie Véronique es erhofft hatte konnten sie auch auf diese Weise erfahren, was ihre Aktion "Neues Leben Millemerveilles" bewirkt hatte. "Das war klar, dass sie uns mal wieder und jetzt noch lauter als Erzschurken bezeichnen. Immerhin haben alle überlebt, die unserer Gabe erlegen sind. Ich sehe in der Beschimpfung und Anprangerung nicht das Problem. Allerdings bedauere ich, dass die Heilerinnen Matine und Latierre zusammen mit dem Thaumaturgen Dusoleil unsere Mixtur genauer erforschen. Damit könnte schon viel Früher eintreten, was du, Perdy, befürchtet hast. Sie könnten eine wirksame Vorwarnvorrichtung erfinden oder einen prophylaktischen Abwehrtrank ersinnen. Kann sein, dass wir die Aktion "1000 Quaffel" nicht im wöchentlichen, sondernhalbwöchentlichen Takt durchführen müssen, wenn wir wissen, wann die meisten davon erreichbaren am Einsatzort sind. Jedenfalls werden wir uns nicht davon abbringen lassen, diesem Wildwuchs der Muggel entgegenzuwirken, ob den achso moralischen Ministeriumsleuten das ge- oder missfällt. Die sollen froh sein, dass wir anders als Riddle und Nachfolger nicht danach trachten, die Muggel auszurotten, weil es unter denen doch noch gute Zauberkraftvererber geben kann."
"Na ja, aber so wie du das gerade vorgelesen hast darf keiner von uns erwischt werden, ohne gleich das ganze Vermögen an das Ministerium abzutreten oder mehrere Jahre im Tourresulatant-Gefängnis einzusitzen", antwortete eine Tochter Véroniques.
"Das ist schon seit der Operation "Blauer Mond" so, Muriel", sagte Véronique. "Doch wir haben unser Ziel erreicht. Von den zweihundert offiziellen Ehepaaren dürften mindestens siebzig bis hundert demnächst Nachwuchs erwarten, und dass es auch spontane Fortpflanzungspaare gab dürfte die Zahl der Zeugungen sogar noch über hundert bringen, wenn nicht sogar alle dort lebenden Paare erfolgreich den Regenbogenvogel rufen konnten."
"Ja, und die Kinder dürften gleich von Geburt an zur Feindschaft gegen uns erzogen werden, allein schon, damit der Rest der Zaubererwelt sie als gleichwertige Mitglieder anerkennt", sagte Muriel. Die anderen nickten beipflichtend, bis auf Perdy. Als dieser das Wort erhielt sagte er:
"Die werden sich genau überlegen, ob sie die mit unserer Hilfe entstandenen Kinder grundweg ablehnen oder sie als gleichwertig anerkennen. Denn wenn sie sie ablehnen und fortwährend diskriminieren riskieren sie den achso wichtigen Frieden in der Zaubererwelt. Ich will nicht sagen, dass die von uns ins Leben gerufenen Kinder uns dafür danken oder lieben werden, dass es sie gibt. Doch dieselbsternannten Anstandstreuen werden auch keinen Zaubererweltkrieg riskieren wollen. Was mir eher Sorgen macht ist, dass einige von uns freiwillig oder unfreiwillig ausplaudern, was sie über uns wissen, wenn eine weniger skrupelbehaftete Gruppe ihn oder sie zu fassen kriegt oder diese goldene Riesenfrau findet, wir hätten gefälligst kleinere Baguettes zu backen, nachdem sie Silvester Partridge von uns weggeholt hat. Nicht die am lautesten schreienden sind die gefährlichen, Leute, sondern die sich ganz heimlich wie wir absprechen und selbst nicht von den Ministeriumsleuten erwischt werden wollen. Insofern hat unsere immer runder werdende Sprecherin hier recht, dass wir nicht auf das Gekeif und Gebrüll um ihre kostbaren Freiheitsrechte gebrachter Zauberer hören müssen."
"Und wenn sie dich oder einen anderen, der so viel über uns weiß zu fassen kriegen, Perdy?" fragte Muriel.
"Dann sollte ich hoffen, dass meine Verratsunterdrückungsvorkehrung schneller greift als deren Beeinflussungszauber", seufzte Perdy. Wie genau er das meinte verriet er jedoch keinem hier, nicht einmal seiner Wegführerin und Mutter von vier seiner Kinder.
Loredana Montanera trat zusammen mit ihrer Schwester in den Besprechungsraum ein. Die drei Montaneras hatten die Einladung Véroniques angenommen, bis auf weiteres in Frankreich unterzukommen. Loredana deutete auf ihren Kopf und erwähnte, dass sie seit einigen Stunden dauernd ferne Rufe hörte, die mit vielen Echos verwischt würden. Sie sei sich aber sicher, dass es Ladonnas Stimme sei. Außerdem fühle sie bei diesen Rufen ihren ganzen Körper erbeben.
"Das wird was ähnliches sein wie dieser Zauber, der unseren Stützpunkt in Chile aufgedeckt hat", knurrte Perdy. "Aber gegen sowas sind wir doch mittlerweile abgeschottet, oder?"
"Wenn dem nicht so wäre hätte Ladonna Loredana schon längst am langen Gängelband, Kleiner", sagte Véronique. "Es stimmt also, dass sie zumindest mit einer Veela verwandt ist. Die können ihnen namentlich bekannte Leute ansingen, am besten Blutsverwandte oder solche, mit denen sie schon mal das Lager geteilt haben."
"Ich habe mit diesem schwarzen Biest nicht das Lager geteilt, Mater Vicesima", schnarrte Loredana Montanera.
"Ja, aber vielleicht einer deiner Vorfahren, Loredana. Da sie dich bei der Zusammenkunft gesehen hat konzentriert sie sich wohl gerade auf dich, weil sie deine Stimme und dein Gesicht kennt und ein wenig von deiner Lebensaura eingeatmet hat, bevor du sie zu reinitiieren versucht hast. Und wie erwähnt hätte sie dich sicher schon in deinen Träumen erreicht und somit für ihre Rufe gefügig gemacht, wenn wir nach der Sache mit Gérard Dumas nicht Vorkehrungen gegen blutgebundene Suchzauber gefunden hätten."
"Was machen wir, wenn sie mich trotz dieser Schutzvorkehrungen irgendwann findet?" wollte Loredana wissen.
"Das, was wir besprochen haben, Loredana. Dann sterben deine Mutter, du und deine Schwester und werdet irgendwo gefunden", sagte Véronique.
"Und ihr meint, die veelastämmige Furie lässt uns dann in Ruhe?" wollte Claudia Montanera wissen.
"Wenn ihr im Zaubertiefschlaf seid und sie euch nicht mehr anrufen kann ja", sagte Perdy. Seine Wegführerin nickte ihm zu und zwinkerte so, als fiele ihr da noch was besseres ein.
Ladonna hatte ihre geliebte schwarze Kleidung abgestreift und bewegte sich tanzend in einem Kreis aus eigenem Blut, in dem sie noch ein Pentagramm eingezeichnet hatte. Ihre Stimme klang glockenhell und weit reichend. Sie fühlte, dass irgendwo ein ganz schwaches Echo war. Doch es war zu schwach, um seinen Ursprung zu erfassen. Hoffentlich konnten diese Leute nicht herausfinden, was sie gerade machte. Aber gegen das Lied der Sucherin konnten nur Veelastämmige sich abschirmen, es sei denn, dort wo die Gesuchte war hatten sie eine Schutzvorkehrung aus geopfertem Blut errichtet, dass jeden Blutzauber störte oder völlig unterband.
Ladonna fühlte, dass der Gesang und der damit verbundene Tanz sie sehr anstrengten. Es gelang ihr nicht, Loredana Montanera zu erreichen. Da war wirklich ein Widerstand, der ihre Rufe schluckte. Zumindest war sich Ladonna sicher, dass Loredana wieder eine erwachsene Hexe war. Also hatten die von Vita Magica den Zeitpunkt der Verjüngung und ihr bis dahin erreichtes Alter sehr gut ermittelt oder bereits schon gekannt. Ihr war auch klar, dass sie Loredana nicht jeden Tag rufen konnte, weil sie sich dadurch selbst vielleicht ortbar machte. Wenn diese Lumpen heraushatten, dass sie Loredana mit einem besonderen Suchzauber aufspüren wollte mochten sie sie ihr als Köder anbieten, um sie an einen für diese Leute vorteilhaften Ort zu locken. Darauf wollte sie sich dann doch nicht einlassen. So sang sie Loredana Montanera noch zu, dass sie immer noch da war und auf sie wartete. Dann beendete sie den magischen Tanz und schlüpfte in ihre Kleidung.
Ladonna ging an die von ihr eingerichtete Feuerstelle. Wie gut, dass sie nun alles zusammen hatte. Zwar hatte es sie mehr Kraft gekostet, 49 einzelne Haare aus ihrem nachtschwarzen Schopf zu lösen und in voller Länge abzutrennen. Doch nun konnte sie mit den Haaren und dem seit gestern mit der aus vierzehn Zauberkräutern, ihrem sechs Monate gesammelten Monatsblut, Wildbienenwachs und dem Pulver aus getrockneten Eichenwurzeln jene magische Essenz erstellen, die sie all zu gerne bei der Wiederbelebung des Feuerrosenordens schon gehabt hätte, um die Feindinnen auch noch auf ihre Seite zu ziehen. Für die von ihr erhoffte Begegnung mit der italienischen Führerin der sich selbst die entschlossenen Schwestern nennenden Hexenvereinigung würde sie davon nichts verbrauchen. Denn was sie erstellt hatte war dazu da, große Mengen von Widersachern zu unterwerfen oder bereits ihr ergebene in eine für alle Befehle empfängliche Stimmung zu versetzen.
Für die versprochene Begegnung benötigte sie nur ein kleines Stück Holzkohle, wie es die italienischen Moggli zum Braten am offenen Feuer verwendeten. Sie horchte in sich hinein, ob sie noch genug Kraft für die letzte Vorbereitung hatte und stellte beruhigt fest, dass sie dafür auf jeden Fall noch genug Kraft hatte. So begann sie, das Kohlestück mit dem von ihr erfundenen Zauber zu belegen.
Wenn sie rief mussten alle erscheinen, falls sie keinen lebensnotwendigen Grund anführen konnten um fernzubleiben. Im Schein von tausend frei schwebenden Kerzen betraten an die zweihundert Hexen von heranwachsend bis betagt den großen, höhlenartigen Versammlungsort durch vier der fünf Türen, die hineinführten. Einige von ihnen blickten etwas angespannt umher und prüften die Anwesenden. Alle trugen sie mittelhelle Umhänge in allen Farben. Jede suchte sich einen der hochlehnigen, mit mintgrünen Kissen gepolsterten Stühle aus, setzte sich aber noch nicht hin.
Dann trat sie durch die fünfte Tür, die Tür mit dem goldenen Knauf, eine Hexe im langen hellblauen Umhang. Ihr Haar war blond mit einzelnen silbergrauen Strähnen und reichte fast ihren ganzen Rücken hinab. Ihre Stahlblauen Augen blickten durch eine goldgeränderte Brille mit halbmondförmigen Gläsern. Sich ihrer Würde und Rangstellung bewusst, eine spürbare Aura von Macht und Beherrschtheit ausstrahlend, schritt sie auf den Stuhl zu, der mit der Sitzfläche drei der fünf Türen zugekehrt war. Sie stellte sich neben den Stuhl und sah kurz in die Gesichter aller Anwesenden. Erwartungsvolles Schweigen erfüllte den großen Saal. Nur das leise Knistern von tausend flackerfrei brennenden Kerzenflammen war noch zu hören. Dann sprach die letzte hereingekommene Hexe raumfüllend aber nicht zu laut: "Salvete Sorores!" Im Cor grüßten alle anderen mit "Salve Mater nostra!" zurück. "Schön, dass ihr alle da seid. Ihr dürft euch setzen", sagte die oberste von ihnen leutselig und wartete ab, bis alle sich hingesetzt hatten. Dann nahm sie selbst Platz. Sie wies noch einmal auf alle Türen, die nun verschlossen waren. Dann ergriff sie wider das Wort:
"Ich habe euch alle heute aus drei Gründen zusammengerufen, Schwestern. Zunächst trug unsere Mitschwester Ursina eine Bitte an mich heran, über die ich trotz der mir von euch anvertrauten Rangstellung nicht allein befinden möchte, da es hierzu sicher den einen oder anderen Vorbehalt geben mag." Die anderen sahen Ursina Underwood an, die zusammen mit ihrer Nichte Proserpina und einigen anderen Hexen eine Gruppe innerhalb der Gemeinschaft bildete. Alle außer der Sprecherin wirkten etwas verhalten, als müssten sie sich schon überlegen, ob sie erst zuhören oder besser gleich widersprechen sollten. Besonders Proserpina schien argwöhnisch zu sein. Doch sie wagte es nicht, ihre Tante Ursina genau anzusehen. So sprach die Oberste von ihnen weiter.
"Schwester Ursina trat vor genau zwei Wochen an mich heran, um mir eine mögliche neue Mitschwester vorzustellen. Ich will nicht verhehlen, dass ich nicht damit gerechnet habe, dass mir diese junge Hexe irgendwann vorgestellt würde, hörte aber schon vor fünf Jahren, dass jemand aus unseren Reihen sie hier nicht willkommen heißen würde." Proserpina Drake blickte die Sprecherin nun mit einem Ausdruck großer Anspannung an. Sie hatte offenbar erkannt, um wen es ging. Auch zwei Hexen, die vom Aussehen her Mutter und Tochter waren, sahen Ursina Underwood an, wobei die Tochter verhalten grinste. Um kein Getuschel aufkommen zu lassen sagte die Oberste: "Es handelt sich um die junge Hexe Lea Epuna Drake, Tochter unserer Mitschwester Proserpina Drake und Großnichte von Schwester Ursina Underwood." Damit war es tatsächlich gesagt. Proserpina starrte nun ihre Tante an, als habe die ihr gerade was ganz übles angetan oder ihr aufgehalst, eine Fuhre Drachendung fortzuschaffen. Die Sprecherin der hiesigen Gruppe der schweigsamen Schwestern blickte Proserpina an, um sie nicht vorzeitig sprechen zu lassen. Proserpina nickte verhalten und entspannte sich. "So erhebe dich vor uns allen und trage deine Fürbitte vor, Schwester Ursina!"
Ursina Underwood erhob sich, warf einen Blick in die aufmerksamen Gesichter und das sehr verdrossene ihrer eigenen Nichte und sprach mit den Raum ausfüllender Stimme: "Meine geliebten Mitschwestern. Es steht jeder von uns zu, eine vollwertige Hexe, die das Alter für freie Entscheidungen erreicht hat, zu erkunden, ob sie eine würdige Mitschwester sein wird, ob sie die Weitsicht, die Entschlossenheit, den Mut und die Selbstbeherrschung aufbringt, dieser erhabenen Gemeinschaft zu dienen und von der vielfältigen Stärke der Gemeinschaft getragen zu werden, wenn sie Hilfe braucht. So habe ich meine eigene Großnichte Lea Epuna vor fünf Jahren nach der Schlacht gegen die Mördertruppen des Emporkömmlings Tom Riddle, der sich den Kampfnamen Lord Voldemort zugelegt hat, für eine würdige neue Schwester angesehen." Keine hier zuckte mit der Wimper, als sie den bei den meisten Hexen und Zauberern trotz der verstrichenen Zeit immer noch gefürchteten Kampfnamen aussprach. "Doch damals ging sie noch zur Schule und ihre Mutter, meine Nichte, unser aller Mitschwester Proserpina, widersprach meiner Einschätzung, weil Lea sich als leichtsinnig, übereifrig und vor allem ungehorsam ihrer Mutter gegenüber erwiesen haben soll. Leider sind das Eigenschaften, die nicht zu einer würdigen Mitschwester passen. Da wir hier auch viele junge Hexen sehen kann ein derartiger Makel nicht mit jugendlichem Leichtsinn und Aufmüpfigkeit alleine erklärt werden. Daher musste ich meiner Nichte zumindest beipflichten, dass sie zu dem Zeitpunkt noch nicht die Charaktereigenschaften besitzt, die sie zu einer verlässlichen und alle Zeit einsatzbereiten Mitschwester gemacht hätten. Ich erinnerte mich jedoch daran, dass nach einem Einspruch gegen die Aufnahme einer Hexe fünf Jahre verstreichen müssen, um diese Hexe erneut für die Mitgliedschaft unserer erhabenen Gemeinschaft zu gewinnen oder abzulehnen, dann aber für alle Zeit. Daher bin ich nach eingehender Beobachtung von Lea Drake über die fünf Jahre, beginnend am ersten Juni 1998 bis zum ersten Juni 2003, davon überzeugt, dass sie ihre ungestüme und aufsässige Natur beherrscht und der Größe, Erhabenheit und Wichtigkeit ihrer Stellung bewusst handeln wird, wenn jemand ihr das Recht zuspricht, eine unserer Mitschwestern zu sein." Ursina sah die anderen an, darunter die noch sehr junge, strohblonde Pina Watermelon, die bei Tim Abrahams im Büro arbeitete, sowie die beiden Hexen Ethel Tormentus und ihre älteste Tochter Loren Wiffle, deren Geschichte in der Schwesternschaft vor achtzehn Jahren gerne getuschelt wurde. Dann sah sie vier rothaarige Hexen an, Ceridwen Barley und ihre drei Töchter Megan, Brigid und Galatea, sowie die selbstherrliche Irin Erin O'Casy, die zusammen mit ihren zwei erwachsenen Nichten Shana und Maura bei den anderen irischen Mitschwestern saß und in Haltung und Minenspiel unzweideutig als deren Anführerin posierte. Dann sah Ursina ihre Nichte Proserpina an, die immer noch verdrossen dreinschaute. Die Sprecherin der Schwesternschaft fragte, ob Ursina weitere Gründe anführen konnte, die für die Aufnahme von Lea Drake sprachen. Diese Gelegenheit ließ sich Ursina nicht entgehen. Sie zählte auf, dass Lea sich nur deshalb nicht von Hogwarts hatte evakuieren lassen, weil sie den Ausgang der Schlacht und damit die Zukunft der Zaubererwelt verfolgen wollte, etwas, das für die Schwestern lebensnotwendig war. Dass sie ungestüm, ja leichtsinnig gewesen sein sollte führte Ursina darauf zurück, dass Lea sich im Schutze des Unsichtbarkeitstrankes sicher genug fühlte, um handeln zu können. "Wer unsichtbar agiert oder auch so nicht beobachtet wird nimmt sich immer irgendwann Dinge heraus, die ein beobachtbarer Mensch tunlichst vermeidet. Das war und ist die Gefahr der Unsichtbarkeit. Sie kann den mutigsten Menschen wie einen Feigling wirken lassen und den gehorsamen zum heimlichen Ungehorsam verleiten, weil ihm niemand bei der Missetat zusieht. Da hier genug Schwestern sitzen, die damals zustimmten, dass Lea Drake den Trank der Unsichtbarkeit erhält, um für uns alle in Hogwarts zu spionieren, sind also auch wir Schuld, dass Lea sich nicht an die klare, rein mentiloquierte Anweisung ihrer Mutter gehalten hat. Auch weil sie für uns dort ihre Freiheit ja auch Leib und Leben riskiert hat sollten wir ihr die Möglichkeit bieten, eine vollwertige Mitschwester zu werden. Nebenbei gilt der Vorwurf des Ungehorsams nur dann, wenn er für mindestens einen unbeteiligten wahrnehmbar geäußert wird, also jemand hört, wenn ein unbeteiligter einen Befehl erteilt und der damit beauftragte ihn verweigert." Proserpina funkelte ihre Tante erst wütend an. Doch dann funkelte diese warnend zurück. Proserpinas vor Ärger gerötetes Gesicht erbleichte schlagartig. Dann sprach Ursina weiter: "Ich ging damals auf die Ablehnung meiner Nichte ein, weil ihre Tochter Lea zu dem Zeitpunkt noch minderjährig war und daher nicht von sich aus entscheiden durfte, ob sie zu uns kommen will oder nicht. Da Schwester Proserpina ihre Ablehnung ihrer Tochter vor uns allen hier ausgesprochenund begründet hat und du, Mutter Sophia, ihr zugestimmt hast, begann die fünfjährige Bewährungsfrist. Lea Drake hat in dieser Zeit viel gelernt und sich weiterentwickelt. Sie konnte bei Zaubereiminister Shacklebolt eine Anstellung in der Abteilung für internationale magische Zusammenarbeit finden, da sie durch ihre Sprachbegabung und das erfolgreich verbrachte Jahr in der Beauxbatons-Akademie sehr gute Referenzen erworben hat. Wer in Beauxbatons lernt, ob für ein Jahr oder die gesamte siebenjährige Oberschulzeit, der oder die ist gehalten, Disziplin, Fleiß, Selbstbeherrschung und Verlässlichkeit zu äußern. Das gilt zwar auch für Hogwarts, ist aber durch die Traditionen und die auf den Einzelnen eingehende Beschulung in Beauxbatons deutlich ausgeprägter. Also hat sich Lea bewährt, als Schülerin und danach als junge Erwachsene und konnte so den Schritt in die Eigenständigkeit vollziehen, der ohne Disziplin und Ernsthaftigkeit nicht gelingt. Deshalb spreche ich heute zu euch und erbitte die Prüfung, ob Lea Epuna Drake würdig genug ist, dieser erhabenen Gemeinschaft von Schwestern beizutreten."
"Seit wann ist für dich ein Befehl nur gültig, wenn ihn mindestens ein unbeteiligter hören kann, Schwester Ursina?" zischte Proserpina ihrer Tante zu. Diese sah sie maßregelnd an. Dann hörten sie alle die Stimme ihrer Sprecherin Sophia Whitesand.
"Ja, es stimmt. Unsichtbarkeit ist eine jener Ausprägungen der Magie, die einen am meisten versuchen können, die damit verliehene Macht zu missbrauchen oder sich selbst zu überschätzen. Deshalb wird sie ja auch erst in den beiden UTZ-Klassen gelehrt. Aber, liebe Schwester Ursina, Gehorsam der Mutter gegenüber ist eine elementare Grundhaltung innerhalb unserer Schwesternschaft, weil sie bei Töchtern im Reifevorgang eben immer seltener vorhanden ist. Außerdem gilt ein Befehl als Befehl, wenn er von dem, der ihn erhält und zur Ausführung verpflichtet ist, klar verstanden wird und der ihn erteilende sicher weiß, dass der Befehl verstanden wurde. Wenn Schwester Proserpina ihrer Tochter Lea zur Durchführung des von uns gewährten Auftrages die Kunst des Mentiloquismus beigebracht hat, dann hat Lea genauso gelernt, einen damit erteilten Befehl zu verstehen, wie jemand einen auf Latein gesprochenen Befehl versteht, der die lateinische Sprache gelernt hat. Soviel zu deinem Argument gegen den Vorwurf des Ungehorsams, Schwester Ursina. Ich denke mal, dass Leas Mutter, die ja schon länger eine unserer Mitschwestern ist, nun ihren Standpunkt darlegen möchte. Bitte sprich, Schwester Proserpina!"
"Ursina setzte sich. Proserpina stand auf und wandte sich an alle Anwesenden. "Ja, es ist richtig, dass wir Schwestern Lea als unsichtbare Kundschafterin nach Hogwarts geschickt haben. Schwester Ceridwen hat dafür den Unsichtbarkeitstrank erstellt und ich selbst habe mich nach reiflicher Überlegung dazu bereiterklärt, der Zaubererwelt eine weitere Tochter zu gebären. Dass es dann zwei wurden erachten wir hier ja alle als unbestreitbare Pflichterfüllung. Insofern stimmt es, dass wir Lea gegenüber eine gewisse Verpflichtung übernommen haben. Aber das haben wir auch schon für andere, ohne sie gleich in unsere Gemeinschaft aufzunehmen, Schwester Ursina. Dass sie im Zaubereiministerium eine Anstellung fand weist sie als wichtige Ansprechpartnerin dorthin aus, wie es das auch bei anderen hier anwesenden Schwestern der Fall ist." Proserpina blickte zu Pina Watermelon, sowie zu Ceridwens jüngster Tochter Galatea Abrahams, die sichtbar in freudiger Erwartung war. "Aber ich bleibe bei meiner klaren Ablehnung, meiner Tochter Lea die Aufnahme in diese erhabene Schwesternschaft zu gewähren. Denn wie du sagtest, Mutter Sophia, der Gehorsam einer Tochter ihrer Mutter gegenüber ist für uns, die wir die Verantwortung der Hexen für alle Menschen schätzen, eine elementare, ja fundamentale Eigenschaft. Außerdem hat Lea ihre Anstrengungen, möglichst gut aus Hogwarts und Beauxbatons herauszukommen immer damit begründet, dass sie so schnell wie möglich auf eigenen Wegen wandeln kann. Ich weiß, dass du Zeugin warst, meine Tante und Mitschwester Ursina, dass sie mir nach der UTZ-Verkündung unverhohlen dreist erklärt hat, dass sie nun nicht mehr länger mit Zitat "Diesen lauten kleinen Quängelbälgern, die du als pure Gegenleistung für einen Zaubertrank ausgebrütet hast" Zitatende unter einem Dach leben müsse und sich schon was ausgesucht habe, wo sie erst einmal alleine leben könne. Als sie das sagte hast du sie nur verstimmt angesehen, aber nichts gesagt. Ich gehe deshalb davon aus, dass du diese Äußerung selbst nicht gutheißen wolltest. Denn wenn eine Hexe so abfällig über ihre Mutter und ihre leiblichen Schwestern spricht fehlt ihr meiner Meinung nach die nötige Eigenschaft, eine wichtige und verlässliche Mitschwester zu sein. Denn auch wenn wir hier alle selten einer Meinung sind und es Gruppen von Schwestern hier gibt, die anders denken als die anderen gilt für uns alle doch hier, dass wir im schwesterlichen Respekt und Aufopferung jeder anderen gegenüber vereint sind und dass uns so stark macht. Ich kann und werde es nicht befürworten, wenn eine junge Hexe in diese Gemeinschaft eingegliedert wird, die sich derartig abfällig über ihre eigene Mutter und ihre leiblichen Geschwister äußert, so fleißig sie in ihrem Beruf auch immer sein mag, Schwester Ursina."
Ursina sah Proserpina erst verstimmt an, fing sich aber selbst einen sehr zur Vorsicht gemahnenden Blick Sophia Whitesands ein, während Erin O'Casy hinter vorgehaltener Hand grinsen musste. Die anderen Schwestern, die selbst schon Mütter und Großmütter waren warfen Ursina fragende bis verunsicherte Blicke zu. Ursina erkannte, dass sie die Willensstärke ihrer Nichte unterschätzt hatte. Sie hatte ernsthaft geglaubt, Proserpina würde hier und heute zustimmen, weil sie, Ursina, die Fürsprecherin von Lea war. Doch offenbar schmerzte Proserpina die ungeschwächte Ablehnung Leas gegenüber ihren per Auftrag geborenen Schwestern Medea und Sarah, wohl auch, weil ihr Mann sich immer noch wie ein schlichter Deckhengst vorkam. Ursina erkannte, dass ihre Taktik, einfach so vorzupreschen, gerade mit lautem Getöse versagte. Denn alle anderen Schwestern begannen nun untereinander zu diskutieren und dabei immer wieder Ursina anzublicken, als habe die gerade vorgeschlagen, dass sie alle als Wonnefeen arbeiten sollten oder sich als Milchkühe auf dem Viehmarkt verkaufen lassen sollten. Sie hatte sich früher immer was auf ihre Menschenkenntnis und vor allem Durchsetzungskraft und Führungsstärke eingebildet. War das eine Selbstüberschätzung oder nur die Zerstörung einer von anderen aufrecht erhaltenen Illusion? Jetzt traf sich ihr Blick mit dem aus unverhohlen schadenfroh dreinblickenden Augen, die so grün wie frischer Klee waren. Dann durchschnitt ein lautes Wort das immer aufgeregter werdende Getuschel: "Silencium!" Sofort hörten alle Unterhaltungen auf. Wieder war nur das ganz leise Knistern der tausend abbrennenden Kerzen zu hören.
"Es ist Zeitvergeudung, wenn jede mit jeder redet, ohne dass alle anderen was mitbekommen, Schwestern. Also eröffne ich die Aussprache mit klaren Wortmeldungen und Rederechten", sagte Sophia Whitesand und bat um erste Wortmeldungen. So entspann sich eine kurze aber gefühlsreiche Abfolge von Für- und Gegenargumenten. Die meisten hatten sich aber wohl schon festgelegt, wie sie dazu standen. Auch wenn Sophia die Sprecherin aller Schwestern war musste sie diesen Punkt zur allgemeinen Abstimmung stellen. Was dann entschieden wurde war gültig.
Ursina erkannte, dass sie heute eine Abstimmung verlieren würde, die nicht wirklich nötig gewesen war. Denn als Sophia fragte, wer für die Aufnahme Lea Drakes war, hoben außer ihr nur sieben weitere Schwestern die Hand, alles Getreue ihrer Linie und wohl auch welche, die darauf hofften, eine entschlossene Schwester dazuzubekommen. Als dann gefragt wurde, wer gegen Leas Aufnahme stimmte flogen mehr als hundertfünfzig Arme in die Höhe. Nur die jüngsten Schwestern, darunter Pina Watermelon und Loren Wiffle enthielten sich der Abstimmung. "So verkünde ich als von euch erwählte und anerkannte Mutter dieser Gemeinschaft: Lea Epuna Drake, die Tochter unserer Mitschwester Proserpina und Großnichte unserer Mitschwester Ursina, darf weder heute noch für den Rest ihres Lebens Aufnahme in unsere Gemeinschaft finden. Da du ihre Fürbitterin bist, Schwester Ursina, ist es an dir, es ihr mitzuteilen. Hic est nuntiatum de momento ad aeternum!" Damit war es gültig. Ursina sah erneut die schadenfrohen Blicke aus der Gruppe um Erin O'Casy. DA musste und würde sie demnächst noch einmal ganz deutlich klarstellen, dass diese Niederlage nicht ihren Führungsanspruch schmälerte, dachte Ursina.
Als dann der nächste Tagesordnungspunkt besprochen wurde fand Ursina Zeit, sich etwas zu entspannen. Es ging um die Beziehung zu den französischen Schwestern, die dadurch, dass ihre Sprecherin derzeitig in Millemerveilles eingeschlossen war, quasi führungslos waren und dass es dort auch schon zu einer Anfrage gekommen war, ob sie sich nicht eine neue Sprecherin erwählen sollten. Doch mit der Rückgewinnung des Nachrichtenaustausches von und nach Millemerveilles war dieses Thema wohl hinfällig.
Der dritte Tagesordnungspunkt war wieder sehr bedeutsam. Denn es ging um die deutlichen Hinweise, dass Ladonna Montefiori, welche damals einen eigenen Hexenorden begründet hatte, mehr Einfluss auf die gegenwärtige Hexenwelt erringen wollte. Hierzu äußerten sich fünf Mitschwestern, die Kontakte mit italienischen Mitschwestern hatten. Einige der hier versammelten schlugen vor, mit Ladonna Montefiori in Kontakt zu treten, um eine blutige Auseinandersetzung zwischen ihrem Orden und der Schweigsamen Schwesternschaft zu verhindern, auch um der eigenen Familien wegen.
"ich widerspreche diesem Ansinnen, liebe Mitschwestern", sagte Ursina, die ums Wort gebeten hatte. "Wenn die Zaubereigeschichtlerin und Expertin für dunkle Hinterlassenschaften Catherine Brickston wahrhaftig das Tagebuch Ladonna Montefioris übersetzt hat und dabei keinen Missverständlichkeiten aufsaß hält Ladonna Montefiori nichts von einem friedlichen Nebeneinander oder gar einem Miteinander, wo sie mit ihr gleichgestellten unterhandelt. Sie hält sich für eine Königin, die gebietet, was die anderen zu tun haben. Mit ihr um Frieden zu verhandeln heißt nichts anderes als ihr die bedingungslose Unterwerfung zu bekunden. Oder um es für die nicht ganz so wortgewandten hier zu verdeutlichen: Wer mit Ladonna gut auskommen will hat immer und überall zu tun, was sie und nur sie sagt. Bedenkt das bitte alle, meine Mitschwestern." Sogar Erin O'Casy nickte Ursina zu und bat dann selbst ums Wort:
"Meine werten Mitschwestern, es ist euch allen bekannt und wird von mir nicht verhohlen, dass wir irischen Hexen sehr viel Wert auf Unabhängigkeit legen. Das hat auch in dieser erhabenen Gemeinschaft schon zu hitzigen Wortgefechten geführt, wenn es denn nur bei Worten geblieben ist. Ich bin dieser Gemeinschaft treu, weil sie mir und den Meinen erlaubt, diese so wertvolle Unabhängigkeit zu behalten, abgesehen von der einen oder anderen, die findet, dass England alles was Englisch spricht beherrschen soll. Aber wir sprechen auch und unter uns vor allem Gälisch, liebe Mitschwestern. Und wir werden uns nicht von einer aus jahrhunderte langem Zauberschlaf aufgewachten, die kein Gälisch beherrscht und weit im Süden Europas geboren wurde und daher nichts von der irischen Seele weiß regieren lassen. Daher kann ich nur jede hier verachten, die meint, mit dieser mittlerweile als veelastämmig erkannten Größenwahnsinnigen verhandeln zu wollen." Diese Äußerungen lösten hör- und sichtbaren Unmut unter den nicht aus Irland stammenden Schwestern aus. Denn Erin hatte hier gerade jede vor den Kopf gestoßen, die für eine friedliche Auseinandersetzung mit Ladonna Montefiori eintrat. Die Unmutsäußerungen und -gesten wurden immer erbitterter. Wie ein Fels in der von diesem Sturm aufgepeitschten Brandung saß Sophia Whitesand auf ihrem erhöhten Stuhl und ließ es eine volle Minute lang geschehen, dass die irischen und die nicht irischen Schwestern sich die Köpfe heißredeten. Ursina hätte Erin fast zugestimmt, wenn die nicht klargestellt hätte, dass sie nur die Interessen der irischen Schwestern verteidigen wollte und nicht die Interessen aller anderen. Dann erscholl aus Sophias Mund der fast schon gesungen klingende Befehl: "Silencium!" Wieder schwiegen alle. Deshalb sagte sie mit einem schalkhaften Augenzwinkern: "Soviel dazu, dass ein Befehl gilt, wenn er verstanden wird, liebe Mitschwestern. Aber ganz ernst: Schwestern! Wenn wir uns jetzt schon derartig an die Köpfe kriegen, ja fast schon wie unausgegorene Schulmädchen an den Haaren zu ziehen trachten, dann hat diese nicht nur von Veelas abstammende Dunkelhexe schon gewonnen, ohne ihren Zauberstab oder ihre sicher mit viel Magie erfüllte Stimme gegen uns zu erheben. Soviel dazu. Was deinen Standpunkt angeht, Schwester Erin, du bist alt genug, um zu wissen, wann es richtig ist, sich nicht mit allen gleichzeitig anzulegen und vor allem, wie wichtig es ist, deine Mitschwestern hier nicht zu beleidigen. Es ist durchaus richtig, zu fragen, ob eine friedliche Lösung dieses noch nicht offen ausgebrochenen Widerstreites möglich ist. Das macht die, die solche Lösungen suchen nicht verachtens-, sondern anerkennenswert. Auf welcher Grundlage und zu welchem Preis eine solche Lösung erzielt werden kann ist ein anderes Thema. Ja, und ich stimme jeder hier zu, die nicht um den Preis der Eigenständigkeit einem trügerischen Frieden zustimmen will. Ich schließe mich auch denen an, die nicht zulassen wollen, dass diese Dunkelhexe Ladonna sich zur neuen Tyrannin aller Hexen aufschwingt, noch schlimmer als Sardonia. Und wie Sardonia bis heute die Zaubererwelt gefährdet haben wir ja gerade am Beispiel Millemerveilles immer noch deutlich vor Augen. Keine hier will ernsthaft eine dunkle Lady an Stelle der verschiedenen selbsternannten dunklen Lords in der Welt haben. Auch wenn es einigen hier zu zögerlich und langsam anmutet, wie wir Schwestern die Vorherrschaft aller Hexen erringen möchten ist dieser Weg, so lang und kurvig er auch ist immer noch besser als ein mit den Leichen blutiger Kämpfe gepflasterter Weg, der nie endet, weil immer wieder Menschen sterben müssen, die einer Tyrannin missfallen. Vergesst das hier bitte nie, dass wir es nur deshalb nicht geschafft haben, die alte Ordnung der mütterlichen Vorherrschaft wiederherzustellen, weil es einige wenige gab, die Gewalt über Überzeugung gestellt haben und damit genauso unerträglich handelten wie vom Blutrausch befallene Männer. Ladonna geht den Weg der gewaltsamen Vorherrschaft, vielleicht nicht immer mit Mord und Totschlag, aber unverkennbar mit Angst und Unterdrückung. Diesen Weg dürfen wir nicht mitgehen, Schwestern. Solange ich euer aller anerkannte Sprecherin und Mutter bin werden wir Britinnen, einschließlich der irischen Schwestern, uns nicht unter das größenwahnsinnige Diktat dieser von Veelas, Waldfrauen und Menschen abstammenden Hexe fügen. Diejenigen, die eine friedliche Verständigung mit ihr suchen wollen müssen das immer klar bedenken, dass wir keine Lehnsfrauen dieser Hexe sein wollen und nicht sein dürfen. Sie setzt nicht auf Überzeugung und Anerkennung ihrer Ideen, sondern auf direkte Unterwerfung und bedingungslose Befolgung ihrer Befehle, wie einst Sardonia und ihre Nichte Anthelia. Deshalb weiß ich mich mit euch allen hier einig, dass wir nicht so enden dürfen. Denn wer aus Sorge um seine Familie auf ihre Eigenständigkeit verzichtet liefert ihre Familie erst recht aus. Wer mit Ladonna Montefiori zusammengeht, die gehört ihr mit Leib und Seele, wie es uns Hexen im Zusammenhang mit dieser gehörnten Schreckfigur der Eingottreligionen immer wieder unterstellt wird."
"Ja, und wer sagt, dass diese Schreckfigur unbedingt Hörner haben und ein Mann sein muss?" warf Loren Wiffle ein." Darauf mussten alle verhalten grinsen, ob jung oder alt. Denn alle hier wussten, dass Loren und ihr Mann Bruster in Hogwarts immer wieder heimlich mit Vielsaft-Trank die Körper und Rollen getauscht hatten.
Da hob Pina Watermelon die Hand. Sophia Whitesand erteilte ihr das Wort. Pina erhob sich und begann zu sprechen.
"Schwestern, wenn diese Lady Mad-, öhm, Ladonna wirklich auf Alleinherrschaft ausgeht wird sie herauskriegen wollen, wer ihr heute alles gefährlich ist, was heißt, dass sie auch uns auf ihre Liste der zu unterwerfenden Leute setzt. Ich erinnere mich an Geschichten, wo Organisationen konkurrierende Organisationen dadurch einverleibt haben, dass sie erst einmal Leute auf der Gegenseite von sich überzeugt haben. Im Geschäftsleben heißt das feindliche Übernahme, wenn ein Unternehmen die Geldanteilsmehrheit an einem Konkurrenzunternehmen zusammenkauft. Bei politischen Ereignissen läuft das über Spione und Verräter, die den Eroberern rechtzeitig die Türen aufmachen oder denen vorher sagen, wo sie wen oder was wichtiges finden können, um sofort alles zu beherrschen, wenn der große Angriff vorbei ist. Ein chinesischer Philosoph und Strategiefachmann namens Sunzi schrieb in einem Buch, das "Die Kunst des Krieges heißt", dass der Inbegriff des kriegerischen Könnens darin besteht, den Feind ohne Gefecht zu unterwerfen, was heißt, ihn in eine Lage zu bringen, wo ein offener Kampf ihm nichts mehr einbringt. Sowas wird diese Ladonna Montefiori damals schon gewusst haben und sich dran halten. Außerdem heißt es, dass sie von einer jungen Frau aus der nichtmagischen Welt aufgeweckt worden sein soll. Womöglich hat diese Hexe von der dann auch schon mal einiges über die heutige Zeit gelernt. Erinnerungen lassen sich ja beliebig von einem zum anderen weitergeben, habe ich gelernt." Viele Hexen nickten. "Also müssen wir fürchten, dass diese Ladonna eine Menge über die nichtmagische Welt gelernt hat, was hier viele bisher nicht für nötig hielten. Soll ich die von euch verachten, die das bisher nicht für nötig hielten oder denen Naivität vorhalten? Nein, will und muss ich nicht. Ich will nur sagen, dass diese Ladonna schon längst dabei ist, sich willige Helfer und Informanten zu sichern, die ihr helfen, gegen uns vorzugehen, ja uns sozusagen von innen her erledigen können. Deshalb müssen wir alle aufpassen, dass wir uns nicht gegenseitig misstrauen, aber auch aufpassen, dass wir nicht auf irgendwelche Angebote hereinfallen, die von dieser Lady Ladonna gemacht werden. Denn bei den erwähnten feindlichen Übernahmenläuft das immer so, dass die Firma A die Anteilsbesitzer von der zu übernehmenden Firma B fragen, ob die der Firma A nicht für den höheren Preis die Anteile von B verkaufen. Bei politischen Sachen läuft das meistens darüber, dass die Angesprochenen Leute mehr Einfluss oder Geld kriegen sollen, wenn sie dem Feind helfen, das eigene Land zu erobern oder einen ungewollten Regenten abzusetzen, bestenfalls damit geködert werden, dass es dann keinen Krieg geben muss."
"Wunderbar, junge Schwester. Du hast gerade hier bei jeder Mistrauen gesäht", warf Erin O'Casy ein. Doch Ceridwen widersprach ihr sofort und erwähnte auch, dass sie die kriegsweisheiten von Sunzi auch einmal gelesen hatte, seitdem sie den Sohn eines Kriegsschiffskommandanten als Schwiegersohn habe. Dabei sah sie ihre jüngste Tochter an, die verlegen zurückblickte. Dann übernahm Sophia Whitesand wieder das Wort und sagte:
"So halten wir fest, dass wir zunächst auf der Hut bleiben müssen, wo und wie sich Ladonna Montefiori betätigt und jede hier klar erkennt, dass es weder ihr noch ihren geliebten Freunden und Verwandten Vorteile bringt, sich mit ihr zu verbünden. Denn das stimmt schon, dass wer ihr folgt, die gehört ihr und kann nicht mehr einen eigenen Weg gehen. Auch wissen wir, dass die sich selbst als Wiedergeburt Anthelias bezeichnende genau so die eine oder andere von uns auf ihre Seite gezogen hat. Ich habe das sicher schon mal erwähnt, dass wir sicher längst ausgeforscht werden. Ebenso wird es Ladonna Montefiori tun, erst in Italien und dann anderswo. Sie sucht ja schon nach Gleichgesinnten oder Nachfahrinnen ehemaliger Mitschwestern von damals. Wenn sie auch nur eine erwischt, die ihr was über unsere Sororität verraten kann ist es für sie leicht, weitere Anlaufstellen zu finden, und dann haben wir ihre Helferinnen hier bei uns." Sie machte eine taktische Pause, um ihre letzten Worte wirken zu lassen. Tatsächlich sah Sophia Whitesand sehr viele verdrossene Gesichter und hörte viele durch die Zähne einatmen. "Glaubt mir, Schwestern, das gefällt mir genausowenig wie euch", fuhr die Sprecherin dann fort. "Doch wir können und sollten dem vorbeugen, indem jede von uns sich darüber klar wird, dass sie ihre körperliche und seelische Freiheit verliert, wenn sie sich auf Ladonna Montefiori einlässt. Doch die Gefahr besteht, dass sie nicht auf Überzeugung setzen wird, sondern auf Unterwerfung. Wie du, junge Schwester Pina, gerade sehr deutlich erwähnt hast, wird ein auf Eroberung und Herrschaft ausgehender Feind zusehen, genug Leute auf der anderen Seite zu haben. Ich stehe seit einigen Wochen mit der italienischen Sprecherin unserer Schwesternschaft in Briefkontakt. Es gibt da wohl einiges, was wir hier auf den Inseln noch nicht mitbekommen haben, über das ich unbedingt mehr wissen muss. Meine ranggleiche Mitschwester in Italien meinte sogar, dass wir alle womöglich mit Sardonia das kleinere Übel erlebt hätten und wir ihr mit Zähneknirschen danken müssten, dass sie eine Hexenkönigin Ladonna Montefiori verhindert habe."
"Und warum hat Sardonia die nicht gleich getötet, wo die es sonst mit jedem gefährlichen Feind so getan hat?" fragte Erin O'Casy. Da meldete sich Ceridwen Barley. Sophia Whitesand nickte ihr zu:
"Wenn sie wirklich von den Veelas abstammt ging das wohl nicht, weil Veelastämmige im Tod ihren Blutsverwandten als letzten Gedanken mitteilen, dass sie gerade sterbenund wer sie umbringt. Gegen den führen die Angehörigen dann Blutrache und nicht gegen den einen Menschen, sondern gleich gegen dessen Familie. Womöglich wollte Sardonia damals keinen Krieg mit den Veelas haben, wo sie da wohl selbst erst mit den reinrassigen Menschen um ihre Vorherrschaft kämpfen wollte." Erin verzog das Gesicht vor Verärgerung, weil ihr diese Erklärung bis dahin völlig unbekannt gewesen war.
"Kommen wir zum Abschluss, Schwestern", sagte Sophia, als klar war, dass es keine neuen Erkenntnisse mehr geben würde. "Wir müssen aufpassen, wo Ladonna sich äußert und auch jede für sich immer im Kopf behalten, dass es ihr und ihren Freunden und Verwandten keinen Vorteil bringt, sich auf sie einzulassen. Wenn sie versucht, mit Unterwerfungszaubern wie Imperius gegen eine oder mehrere von uns vorzugehen gilt es, dass diejenigen, bei denen ihr das gelingt, mit nichttödlichen Mitteln zurückgehalten werden, um ihr den Erfolg zu vereiteln. Außerdem rate ich jeder von euch, alle ihr bekannten Schutzzauber um das eigene Haus zu verstärken, auch und vor allem gegen auf Gegenständen lastende Flüche. Wer möchte, kann von denen, die ihn können demSanctuafugium-Zauber erhalten, sofern sie selbst keine dunklen Künste angewendet hat oder noch anwenden will. Es gibt hier in dieser Gemeinschaft zehn Schwestern, die ihn ausführen können. Wir können aber nicht überall und gleichzeitig handeln."
"Ich habe meine Schutzvorkehrungen getroffen. Da kommt kein wie auch immer gearteter Fluch zu mir durch", tönte Erin O'Casy.
Am Ende der Zusammenkunft bedankte sich Sophia Whitesand noch einmal bei allen für ihr Erscheinen und schloss mit dem jahrhundertealten Gruß: "Semper Sorores!" Dieser Gruß wurde im Chor von allen Schwestern erwidert.
Ursina und Erin warfen sich im Hinausgehen noch gehässige Blicke zu, während die anderen sich freundlich zuwinkten.
Ignatio Cordracone saß mit gemischten Gefühlen hinter seiner großen Schwester auf dem Amavento 14, dem vor der allgemeinen Einführung des Feuerblitz als europäischer Wettkampfbesen besten Renner der italienischen Halbinsel. Tifonia Cordracone genoss es sichtlich, ihren Bruder durch die sternenklare Nacht über dem Golf von Neapel zu befördern. Im Norden stieg eine dünne Rauchsäule aus dem brodelnden Schlot des Vesuvs und zerfaserte weit am Himmel zu kleinen wolken. Dann überflogen sie die Küste und sausten westlich am hell erleuchteten Neapel vorbei. Ignatio vermeinte, das hektische Warngetröte und -getute der vielen Moggli-Motorwagen zu hören. Doch das konnte auch eine Einbildung gewesen sein.
Achtung, wir landen", kündigte Tifonia an. Im nächsten Moment stieß der Besen im steilen Winkel nach unten wie ein auf Beutefang ausgehender Greifvogel. Der rasante Abstieg bereitete Ignatio ein Knacken in den Ohren. Er fand kaum die Zeit, sich auf den Bodenkontakt vorzubereiten, da setzten Tifonias Füße auch schon auf dem staubigen Boden auf. Keine Zwanzigstelsekunde später trafen auch seine in dicken Stiefeln steckenden füße auf festen Boden. Er schaffte sich ordentlich abzufangen. Sie waren gelandet. Als er sah, dass sie nur fünf Meter vom verschlossenen Schacht entfernt waren pfiff Ignatio leise durch die Zähne.
"Du musst wohl den Nachtsicht- mit dem Falkensichtzauber verschmolzen haben, wie?" fragte er seine Schwester. Diese nickte ihm zu. Dann schwang sie sich vom Besen. Er tat es ihr gleich.
Sie mussten nur zwei weitere Minuten warten, da flog ein weiterer Amavento 14 heran, auf dem eine kleine, drahtige Person saß. hinter dem Besen flog ein aus sich silbern leuchtendes Netz, in dem Ignatio ein Dunkles Etwas sehen konnte. Dann landete der Besen, nicht ganz so ungestüm wie die Geschwister Cordracone. "Sie ist da, Ignatio", sagte Tifonia leise und ging auf die andere Hexe zu, die gerade ihren knielangen Rock ausschüttelte, um ihn wieder glatt herunterhängen zu lassen.
Ignatio hatte Federica Lupazzura bisher noch nicht persönlich getroffen. Er wusste aber, dass sie eine begnadete Thaumaturgin und Braumeisterin war, wohin gegen seine Schwester sich mit Zauberwesen, magischen Tieren und Elementarzaubern sehr gut auskannte. Er hatte immer schon geahnt, dass Tifonia einer vielleicht nicht ganz so unbescholtenen Hexenschwesternschaft angehörte. Doch sie war und blieb seine große Schwester, und er hätte eher seinem Namen Ehre gemacht und gegen einen pyrenäischen Purpurpanzer oder einen ungarischen Hornschwanz gekämpft, als seine Schwester zu verdächtigen, etwas abwegiges bis ungesetzliches zu tun.
Er wartete einige Sekunden, bis die zwei Hexen sich begrüßt hatten. Dann winkten sie ihm, er solle auf Sprechweite herankommen. Jetzt konnte er Federica Lupazzura genauer ansehen. Sie war klein und zierlich, anders als er selbst. Sie trug ein Kostüm aus einer dunklen Bluse und einem mittelhellen Rock und hatte ihre Haare unter einem dunklen Kopftuch verborgen. Ihr Gesicht hatte irgendwie was von einer Wildkatze, bis auf das Fehlen der für Raubkatzen typischen Tasthaare. Da sie vereinbart hatten, möglichst kein zusätzliches Zauberstablicht zu entzünden konnte er nicht erkennen, ob ihre Augen braun, grün oder blau waren. Sie waren jedenfalls nicht so dunkel wie die von ihm und Tifonia.
"Sie sind also Signorina Cordracones kleiner Bruder", sagte Federica mit einer mittelhohen Stimme. "Das trifft zu, Signorina", erwiderte Ignatio. Dann deutete Federica auf das mittlerweile sanft gelandete Tragenetz. "Zwei Flaschen von Dottore Tempestinos Unwetterkondensat. Ich hoffe, wir werden uns über die Bezahlung einig", sagte die andere. Ignatio Cordracone überlegte kurz, was er darauf antworten sollte, was nicht argwöhnisch oder verunsichert rüberkam. Dann sagte er: "Ich bin mir sicher, dass wir uns handelseinig werden, Signorina Lupazzura."
Die andere Hexe nickte und ging zum gelandeten Netz. Behutsam wickelte sie zwei bauchige Gegenstände aus einer dunklen Decke aus. Ignatio kniff die Augen zusammen, als es unvermittelt vor ihm aufblitzte. Dann erkannte er, dass die Blitze innerhalb der bauchigen Glasflaschen zuckten. Das war wie ein lautloses Feuerwerk. Dann konnte er noch die nachtschwarze Flüssigkeit erkennen, die wild brodelte, als befinde sie sich nicht in einer Glasflasche, sondern in einem Kessel auf einer lodernden Feuerstelle. Zwei große Flaschen mit dieser befremdlich aussehenden Mixtur kamen zum Vorschein. Er sah, dass sie mit silbernen Korken verschlossen waren.
"Das ist die Arbeit von drei Wochen und Ausflügen in hohe Bergregionen, um die Essenz gewaltiger Unwetter einzusammeln und nach Dottore Tempestinos Vorgaben zu verdichten. Wenn sie den Korken herausziehen können sie ein örtlich begrenztes, aber sehr starkes Gewitter mit Hagel und hunderten von Blitzen heraufbeschwören, indem die Essenz die dafür nötige Kraft aus der Luft und dem darin gelösten Wasserdampf bezieht. Wer die Flasche jedoch ausschüttet beschwört eine stundenlange Unwetterlage auf einem Bereich von mehreren Dutzend Quadratkilometern herauf. Sie wollten aber die Sprengwirkung dieses Gebräus nutzen, wenn Signorina Cordracone mich richtig unterrichtet hat." Beide Geschwister nickten. "Dann reicht es völlig aus, die Flaschen vor Gebrauch ein paar mal zu schütteln und dann mit großer Wucht am Boden zu zerschmettern. Allerdings würde ich das nur empfehlen, wenn sie danach in tausende von Einzelstücken in den Himmel hinaufgewirbelt und von unbändigen Luftmassen und tausend rasch erfolgenden Entladungen in alle Richtungen verteilt werden wollen. Die Wucht der schlagartigen Elementarkraftfreisetzung wirkt so heftig wie hundert zeitgleich explodierende Erumpenthörner", sagte Federica.
"Gut, machen wir dem, was auf dem Schachtgrund ist, ein schnelles und endgültiges Ende", sagte Ignatio. Er wollte und durfte nicht mehr verraten als nötig. Allerdings argwöhnte er schon, dass seine Schwester dieser Hexe was verraten hatte. Doch er wollte keinen schlafenden Drachen kitzeln.
Ignatio und Tifonia hoben mit den einzig korrekten Entriegelungszaubern die Bronzeplatte vom Schacht. In der zeit schüttelte Federica die beiden Flaschen so heftig, dass die bis dahin vereinzelten Blitze zu einem wilden feurigen Flirren wurden und die Flaschen unheilvoll zu brummen begannen, als habe jemand einen Korb mit schlafenden Bienen getreten. "Da rein?" fragte Federica. Ignatio erschauerte, weil sie dabei eine der Flaschen so in seine Richtung hielt, dass er das unheilverkündende Gebrumm noch lauter hörte und im Schein der darin wirbelnden Lichtentladungen gebadet wurde. Er nickte. "Gut, Sie besteigen besser ihren Besen und warten auf meinen Ruf, sofort abzuheben", sagte Federica. Dann winkte sie mit ihrem Zauberstab, und das bis dahin ausgebreitete Netz und die dunkle Einschlagdecke rollten sich zusammen und flogen in eine am Besen befestigte Tasche. "Also, in zehn Sekunden werfe ich die Flaschen da runter. Wie tief geht es da runter?" Ignatio sagte ihr was von 1000 Metern. "Oh, dann könnten das bei dem zu erwartenden Luftwiderstand an die zwanzig Sekunden sein, bis die Flaschen unten aufschlagen. Wenn sie das tun sollten wir mindestens einen Kilometer zwischen denen und uns gebracht haben. Was da unten ist dürfte dann in einer glutheißen Windhose nach oben brechen, sofern nicht aus Versehen ein Seitenkanal vom Vesuv angebohrt wird. Könnte aber auch sein, dass der Schacht auseinandergesprengt wird und einstürzt."
"Da bin ich drauf gefasst. Ich kann einen Trupp Bauzauberer herrufen, die einen möglichen Krater sofort verfüllen."
"Dann in noch fünf - vier - drei - zwei - eins - Los!!" rief Federica und schleuderte die wild flirrenden Flaschen über die kleine Umfassung des Schachtes in die Tiefe. Dann winkte sie ihrem Besen, der aufstiegsgerecht zu ihr hinschwirrte. Keine zwei Sekunden später war sie mit höchster Fluchtstartgeschwindigkeit hinter den Geschwistern Cordracone her. Es ging im 45-Grad-Winkel nach oben, wobei die zwei Besen ihre Fluchtstartbeschleunigung ausspielten, die sie innerhalb von nur drei Sekunden auf 400 Stundenkilometer beschleunigten. Nach nur zehn Sekunden jagten sie bereits über 1000 meter über Grund dahin. "Bloß nicht runtersehen!" hörte Ignatio die andere Hexe hinter sich rufen. So sah er schnell in den schwach bewölkten Himmel. Die Sterne leuchteten beinahe flackerfrei am Himmel.
Plötzlich erglühte der Himmel in einem mittelhellen Blauton, und die vereinzelten Wolken strahlten so hell wie kleine Sonnen. Diese Leuchterscheinung dauerte vier volle Sekunden. Dann hieben zwei dumpfe Donnerschläge auf Ignatios Ohren und Bauchdecke ein, als habe jemand zwei schwere Kanonen gleich neben ihm abgefeuert. Gleichzeitig wurden die auf den Besen sitzenden von einer sengendheißen Druckwelle weiter vorangeschleudert. Über ein leichtes Ohrenklingeln hinweg hörte er noch ein urwelthaftes Tosen und Heulen. Die Sterne über ihm, die gerade erst wieder aus der Aufhellung des Himmels hervortraten, flackerten nun wild, als wenn sie kleine Kerzenflammen im Sturm wären. Die Druckwelle ebbte ein wenig ab. Sie wurde zu einer heißen Windböe und riss sie weiter nach oben und vorne. So ging es viele Dutzend Meter weit, bevor die aufgewühlte Luft sie vollständig passiert hatte. Es vergingen zehn stille Sekunden. Dann kam der Gegensog, der die verdrängten Luftmassen ausglich. Doch auch diesem widerstanden die zwei Besen, die jedoch immer wärmer wurden und bedenklich zu vibrieren begannen.
"Gut, wir können wieder auf Normalflug zurück. Die Hauptwucht ist durch!" rief Federica. Tifonia rief nach hinten, dass sie verstanden habe und hob die Fluchtbeschleunigung des Besens auf. Die ihn umströmende Luft bremste ihn nun auf eine Geschwindigkeit zurück, die er mit seiner üblichen, auch schon beachtlichen Kraft halten konnte. Dann hörten sie alle in der Ferne das laute Rumpeln, Poltern und Krachen, als wenn ein ganzer Berg in sich zusammenbräche. Ignatio sah nun wieder nach hinten und erkannte eine rot glühende Rauchspirale, die sich in wilder Drehbewegung in den Nachthimmel schraubte. Er sah vereinzelte bläuliche Blitze darin zucken. Die glühende Rauchsäule formte weiter oben eine pilzförmige Ausstülpung. Da, wo der Rauch herkam gähnte wahrhaftig ein Krater, der jedoch schon von nachrutschendem Gestein aufgefüllt wurde. Das hieß, dass der Schacht und die geheime Kammer darunter nicht mehr existierten. Das hieß auch, dass die bereits zu weit bebrüteten Dracheneier auf einen Schlag zerstört worden waren. Ignatio sah am Kratergrund ein rötliches Glosen und winzige blaue Flammen, die wie kleine Leuchtkäfer auf der roten Glut herumwuselten. War das Lava? Hatten sie mit der wuchtigen Explosion doch die vom Vesuv kommende Glutader angebohrt? Er konnte das nicht mehr ausschließen.
"Wir müssen das noch einmal besichtigen. Nicht, dass wir hier ein Glutnest des Vesuvs geöffnet haben und einen Minivulkan erschaffen haben", sagte er zu Tifonia. Diese bestätigte es und machte eine haarsträubende 180-Grad-Wende.
"Öhm, Sie wissen, dass das Ministerium keinenSpaß versteht, wenn jemand mit Magie einen Vulkanausbruch herbeiführt?" fragte Federica. Ignatio sagte erst mal nichts dazu. Ihn interessierte nur, ob die Glut im Krater noch von der Sprengung herrührte oder wirklich ein aufgebrochenes Glutnest war, dessen Inhalt nun ins Freie drang. Falls sie wirklich eine Glutader des Vesuv angebohrt und entleert hatten verlor der Schicksalsberg Neapels selbst an Druck. Vielleicht hatten sie auf diese Weise einen wirklich großen Ausbruch wie den von 79 christlicher Zählung bis auf weiteres abgewendet. Doch die aus der Erdkruste austretende Glut verteilte sich nur langsam im Krater und kühlte bereits ab. "Immerhin haben Sie wohl diesen Schacht erfolgreich gesprengt", sagte Tifonia mit unüberhörbarer Anerkennung. Dann landete sie mit ihrem Bruder knapp hundert Meter vom bröckelnden Kraterrand entfernt.
Sie standen nun da und sahen in den Krater hinunter. "Das war sicher bis Neapel zu sehen und zu hören, was wir hier gemacht haben", meinte Federica Lupazzura. Tifonia und ihr Bruder konnten das nicht abstreiten. Ignatio sagte dazu nur: "Ist alles mit Minister Bernadotti abgestimmt. Es wird als Meteoriteneinschlag dargestellt. Die Jungs von der Tarn- und Täuschbrigade aus dem Moggliverblödungsbüro sind gleich hier und werfen einen vorbehandelten Eisenerzbrocken rein. Ah, der Wolf in der Geschichte!" Als er das sagte deutete er nach oben, wo gerade vier auf Besen fliegende Menschen heranpreschten. an zwei Besen war ein Tragenetz befestigt, in dem etwas großes unförmiges lag.
"Seid ihr auch sicher, dass die Moggli uns das mit dem Himmelsstein abkaufen?" fragte Ignatio, als die ersten besen gelandet waren. "Wir haben echtes Meteoritenmaterial zusammengebacken, dass wir in den letzten 200 Jahren gesammelt haben. Die Moggli-Wissenschaftler werden das Ding als echten Eisenmeteoriten anerkennen", sagte der Anführer der Einsatztruppe und winkte seinen Begleitern, den betreffenden Brocken aus dem Tragenetz zu lösen.
Mit einem vereinten Fernlenkzauber wurde der eisenhaltige Brocken über die Kratermitte Bugsiert. Dann kam jedoch noch was wichtiges. Während zwei Zauberer den Stein magisch in der Schwebe hielten bezauberten die anderen beiden ihn mit dem Flagrantezauber so oft, bis der Stein weißglühend war. Erst dann beendeten die beiden Kollegen ihren Schwebezauber. Der grell glühende Gesteinsbrocken fiel in den Krater und verschwand in der immer noch rot glühenden Masse am Boden wie ein Stein im Wasser. Sie konnten kleine blaue Flammen sehen, die aus der aufgewühlten Glut herauszüngelten. "So, das Ei ist im Nest. Wir können wieder abrücken, Mädchen und Jungens!" tönte der Anführer der vier Besenreiter. Daraufhin bestiegen er und seine Leute wieder die Besen und schwirrten ohne weiteres Wort in den italienischen Nachthimmel hinauf. Das nahmen die Cordracones und Federica zum Anlass, ebenfalls von hier zu verschwinden.
Als Tifonia vor ihrem kleinen Haus bei Genua apparierte hatte sie sofort ein ganz leises regelmäßiges Geräusch wie fernes Glockenläuten in den ohren. Das war ein von ihr auf sie abgestimmter Meldezauber, dass jemand oder etwas versucht hatte, in ihr Haus einzudringen, es aber nicht geschafft hatte. Denn das leise Glockenläuten lag auf einer angenehm mittleren Tonlage und erklang jede Sekunde einmal. Bei einem erfolgreichen Einbruch würde der Meldezauber wie ein großer Wecker auf einer höheren Tonlage schrillen. Dennoch nahm Tifonia diese Meldung sehr ernst. In ihrer Rangstellung sowohl offiziell als auch inoffiziell hatte sie zu viele, die ihr gerne übel mitspielen wollten.
Mit einem auf drei nur zu denkende Passwörter bauenden Zauber ermittelte Tifonia, dass der Meldezauber von einer Posteule ausgelöst worden war, die wohl etwas magisch hochpotentes abzuliefern versucht hatte und deshalb nicht durch die für Eulen erlaubte Ein- und Ausflugluke gelangt war. Die so brisante Sendung lag an der Nordseite des hauses auf dem Boden. Es war ein kleiner Leinenbeutel, in dem Tifonia etwas hühnereigroßes, aber unförmiges erahnen konnte. "Wer immer das versucht hat wird sich noch umgucken", knurrte Tifonia. Denn sie argwöhnte einen verfluchten Gegenstand, der bei Berührung auslösen würde. Mit einem weiteren Erkundungszauber erfasste sie wahrhaftig, Dass drei auf der Elementarkraft Feuer basierende Flüche in dem Säckchen lauerten. Sie erkannte eine sekunde zu spät, dass sie damit die auf sie lauernde Falle ausgelöst hatte.
unvermittelt glühte es in dem Leinenbeutel rot auf, und das Leinenmaterial verbrannte wie ein trockenes Blatt. Aus den hellen Flammen schnellte eine einzige blutrote Flamme nach oben. Tifonia versuchte zu disapparieren, während ein neuer Meldezauber nun laut schrillend in ihren Ohren läutete. Doch sie kam nicht weg. Etwas hielt sie am Ort und umschlang sie wie ein Netz. Dann sah sie, wie sich die an die zwei Meter hohe Flamme zu einem Gebilde formte, von dem sie schon gelesen hatte, aber nie geglaubt hatte, es selbst erleben zu müssen. Es war eine brennende Rose mit Blütenkelch und dornigem Stengel, die aus einem in den letzten Flammen hell glühendem Stein- oder Kohlebrocken herauswuchs. Tifonia wusste, dass die Rose eine Botschaft übermitteln sollte. Sie hielt sich den Zauberstab an den Kopf und dachte "Echodomus!" Der Zauber diente dazu, gefährlich laute oder Zauber tragende Töne und Geräusche von den Ohren fernzuhalten. Tatsächlich umspannte eine rote Sphäre ihren Kopf, als die Rosenblüte sich in ihre Richtung neigte. Was immer die Botschaft war würde nun unschädlich in der Luft verwehen, ohne dass sie sie hörte.
Tifonia grinste schon überlegen, als der Blütenkelch sich wie ein nach Luft schnappender Fisch schloss und wieder öffnete. Gleich würde sie sicher ihre ganze Energie verbraucht haben und verlöschen, dachte Tifonia. Da schlug aus der gerade weit offenen Blüte eine blaue Stichflamme heraus und traf die rote Leuchtblase um Tifonias Kopf. Sie meinte, jemand habe ihr mit einem glühenden Hammer vor die Stirn geschlagen. Doch das schlimmste war nicht der Schmerz, sondern dass ihr Schutzzauber gegen schädlichen Schall und ausgerufene Flüche in einer roten Funkenwolke verging. Tifonia hörte ein lautes Knacken in beiden Ohren. Dann war ihr Kopf völlig ungeschützt. Die blaue Flamme war erloschen. Statt dessen klang nun mit der Macht einer nahebei läutenden Glocke hell und klar die Stimme einer Frau zu ihr:
"Erkenne mich, Ladonna, als deine Königin an oder stirb sofort!
sende mir eine Liste der mächtigsten Entschlossenen Schwestern Europas oder verdorre in nur einer Minute!
Verrate nicht in Schrift noch Wort, dass du meine Botschaft erhalten hast oder zerspringe in millionen Stücke!"
Jeder dieser Befehle und die daran angehängte Strafandrohung trafen Tifonia wie Stiche in den Kopf. Jedesmal, wenn einer der drei Befehle erklang meinte Tifonia, ein Brennen durch den ganzen Körper zu fühlen. Als die Feuerrose die Befehle der Königin übermittelt hatte schrumpfte sie in den glühenden Kohlebrocken zurück, der daraufhin in einer Flammenwolke zu Asche verging.
Tifonia wankte. Sie hatte eigentlich genug Schutzzauber gegen auf sie zielende Fernangriffe und auch die Feindesabwehrwälle um ihr Haus errichtet. Dennoch hatte Ladonna Montefiori es geschafft, sie zu überrumpeln. Denn die Feuerrose war kein aus der Ferne auf sie eindringender Zauber gewesen, und der Kohlebrocken war kein feindliches Lebewesen gewesen. Der Gefahrenmeldezauber hatte nicht übertönt, was Ladonna ihr durch die brennende Blume übermittelt hatte. Sie fühlte, wie jeder ablehnende Gedanke an diese offenbar wahrhaftig wiedererwachte Großhexe ihr körperliche Schmerzen bereitete. Der mit den magisch erzeugten Worten übermittelte Gehorsamszwang wirkte von Atemzug zu Atemzug stärker. Tifonia versuchte zwar noch, sich dagegen aufzulehnen. Doch dabei meinte sie, erst in lodernde Glut und sofort danach in eiskaltes Wasser zu fallen. Ihr Kopf begann wie eine Pauke zu wummern. Sie merkte, dass jeder Versuch, gegen die ihr erteilten Befehle zu verstoßen, sie wahrhaftig gnadenlos umbringen würde. Die Erkenntnis, dass sie Ladonna gehorchen musste, was immer sie ihr befahl, trieb ihr Tränen in die Augen. Wollte sie dieser Furie ... Ein lauter Schmerzensschrei entfuhr ihr, als sie so abfällig über die Rosenkönigin, ihre einzig wahre Herrscherin, dachte. Es war, als habe jemand ihr von innen mit glühenden Eisen den Unterleib traktiert. Nun schoss ein ganzer Strom aus Tränen aus ihren Augen. Schleim quoll unablässig aus ihrer Nase, und Tifonia fiel auf die Knie, als stehe ihre neue Herrin direkt vor ihr und verlange diese Demutsbezeugung. Eine halbe Minute lang kämpften Tifonias letzter Widerwille und die ihr eingefluchten Kräfte Ladonnas um ihren lebenden Körper und Geist. Dann gab Tifonia auf. Sie konnte sich nicht aus dem Bann der Königin lösen. Nur der Tod konnte das. Aber sie wollte nicht sterben. Der mächtige Wille, überleben zu wollen, rang Tifonias letzten Widerstand nieder. Ihr Herz klopfte gefährlich schnell, Aus allen Poren rann Schweiß, und ihre Augen brannten vor Überanstrengung. Die Tränen tränkten ihr Gesicht und ihre Kleidung und würden zu einer Salzkruste trocknen, wenn sie sich nicht wusch und neue Kleidung anzog. Tifonia Cordracone, die Sprecherin der entschlossenen Schwestern Italiens, ergab sich der Siegerin über ihr Leben, Ladonna Montefiori. Noch einmal hörte sie die ihr erteilten Befehle wie Echos von nahen Felswänden in ihrem Kopf. Davon wurde der zweite Befehl immer lauter: "sende mir eine Liste der mächtigsten Entschlossenen Schwestern Europas oder verdorre in nur einer Minute!" Sie fühlte, wie dieser Befehl ihren Mund austrocknete. Die letzten Tränen aus ihren Augen fielen zu Boden. Sie fühlte ein leichtes anspannen ihrer Haut. Sie hatte nicht mehr viel Zeit.
Hektisch holte sie Schreibzeug aus ihrer mitgeführten Handtasche und schrieb auf einem Zettel die Namen der ihr einmal vorgestellten mächtigsten Hexen der entschlossenen Schwestern Europas auf. Sieben Namen, die jeder für sich für eine sehr mächtige, seit Jahrzehnten unangefochtene Sprecherin der entschlossenen Hexen standen. Sie alle sollten ebenfalls zu treuen Untertanen der Rosenkönigin werden.
Als Tifonia den ersten Namen aufgeschriebenhatte verging das Gefühl, immer mehr auszudörren. Doch es würde wiederkommen, wenn sie die Liste nicht sofort weiterschickte. Doch wie? Sollte sie eine Eule zzu Ladonna hinschicken? Was passierte ihr, wenn der Vogel unterwegs abgefangen wurde? Doch wenn sie die aufgeschriebene Liste nicht so schnell sie konnte verschickte würde sie sterben. Also rief sie nach ihrer eigenen Posteule: "Divinetta!!"
Der laute Ruf eines Steinkauzes drang zu ihr herüber. Sie rief noch einmal "Divinetta!!" Da kamen gleich zwei Eulenvögel herangeflogen, ihr Steinkauzweibchen, dass sie ja gerufen hatte, sowie eine Waldohreule, die sie nicht kannte. Diese trug am rechten Bein einen offenen Umschlag. Tifonia erkannte, dass ihre neue Herrin, der sie nicht widerstreben durfte, an alles gedacht hatte. Mit einem wehmütigen Seufzer winkte sie die Waldohreule zu sich und steckte ihr den zusammengefalteten Zettel in den angebundenen Umschlag. Diesen verschloss sie mit klammen Fingern so gut es ging. Die Liste durfte auf keinen Fall herausfallen. Deshalb brachte sie vorsorglich noch einen Streifen aus Siegelwachs am Verschluss des Umschlages an. Dann trat sie zurück. Die Waldohreule hob ab und flog mit schnellen Flügelschlägen in die Nacht zurück. Tifonia sah noch eine Weile in die Richtung, in der Ladonnas wartender Postvogel verschwunden war. Dann fühlte sie, wie eine Last von ihr abfiel, und der immer noch in ihrem Kopf hallende Befehl, ihrer Herrin eine Liste der mächtigsten entschlossenen Schwestern Europas zu schicken, verklang. Jetzt hörte sie nur ganz leise den ersten und den dritten Befehl in ihrem Geist flüstern, Ladonna als Königin anzuerkennen und niemandem in Schrift noch Wort zu verraten, dass sie, Tifonia Cordracone, ihr nun diente. In Wort hieß auch, es keinem zu mentiloquieren, erkannte sie.
Zwar empfand sie keine Freude, dass sie nun Ladonnas Dienerin, ja Leibeigene geworden war. Doch sie war wenigstens beruhigt, dass sie erst einmal nicht mehr von ihr angegriffen werden würde. Mit diesem beruhigenden Gedanken im Kopf betrat sie nun endlich ihr Haus, um den Rest der Nacht zu schlafen. Wann und wo immer Ladonna Montefiori sie erneut benötigte, würde diese es ihre neue Dienerin wissen lassen.
Auf dem in Sonnenaufgangsrichtung ausgerichteten Balkon stand eine hochgewachsene Frau mit flammenrotem Haar und goldbraunen Augen. Sie badete im rosigen Licht der ersten Tagesglut und sang das Lied der wiedergeborenen Sonne in der Sprache ihrer dem Morgen- und Abendrot verbundenen Urgroßmutter. Sie genoss es, sich ohne ihren Körper zu verhüllen dem besonderen Licht der Morgenröte darzubringen. Ob sie Besuch hatte oder wie jetzt allein in ihrem Landhaus war störte sie nicht. Das Grußritual an die wiedergeborene Sonne musste sein, ebenso wie der Abschied an die in den Leib der Erde zurücksinkende und dabei verlöschende Sonne. So hatte es schon ihre seit vierzig Jahren entschlafene und ihrer Meinung nach in den unbegrenzten warmen Schoß ihrer Urmutter zurückgekehrte Urgroßmutter gehalten, die bei ihrem Volk Sonnenkuss geheißen hatte und bei den Menschen, mit denen sie einen Teil ihres Lebens zugebracht hatte, Aurora Renata geheißen hatte.
Espinela Flavia Bocafuego de Casillas, so hieß die das Morgenrot begrüßende, genoss diese Momente, wo sie und die noch unter dem Horizont verborgene Sonne zueinander hinfanden. Sie sog die frische Luft in sich ein und reckte sich so sehr, dass auch jeder Zentimeter ihres Körpers vom Morgenlicht berührt wurde. Behutsam drehte sie sich dreimal nach rechts um die eigene Achse, um auch die anderen Partien ihres Körpers von der Morgenröte bescheinen zu lassen. Dann stand sie wieder mit dem Gesicht nach Osten, breitete die Arme so weit aus wie sie konnte und holte langsam und sehr tief Atem. Sie fühlte, dass es gleich soweit war. Dann glomm der erste orangerote Strahl der sich nun über die Verbindung von Himmel und Erde tastenden Sonne. Mit der eingesaugten Luft stieß Espinela Flavia Bocafuego de Casillas die entscheidenden Zeilen in der Sprache ihrer Urgroßmutter aus, die der sich erhebenden Sonne dankten, dass sie neu gereift dem Schoß der Erde entstieg. Während sie diese so erhabenen Zeilen so laut sie konnte mit ihrer ererbten, glockenreinen, aber mittelhohen Stimme in den Raum hinaussang schob sich der obere Rand der Sonnenscheibe über den Horizont und begoss alles und jeden mit dem orangeroten Licht. Nicht mehr lange, und sie würde in ihrer vollen, weißgelb gleißenden Gestalt nach oben gleiten. Mit dem letzten Rest der eingeatmeten Luft brachte Espinela die Worte des Dankes an Sonne und Erde heraus. Dann verhielt sie einige Sekunden in völliger Stille und Reglosigkeit. Nun war nur noch der sich in den spärlichen Wäldern der Umgebung und an den Berghängen fangende Wind und die Lieder verschiedener Vögel zu hören. So blieb die rothaarige Morgenbegrüßerin ganz gerade durchgestreckt stehen. Sie fühlte zwar, dass ihre Lungen neue Luft begehrten. Doch ihr Wille hielt den Drang noch nieder. Sie musste diesen erhabenen Augenblick unbewegt in sich eindringen lassen. Erst als die Sonne zur Hälfte aufgegangen war atmete Espinela wieder ein, langsam aber bewusst und so leise sie konnte. Ebenso bewusst ließ sie die Atemluft nach einigen Sekunden wieder ausströmen. Sie hatte es wieder geschafft, sie und die Sonne waren wiedervereint. Sie blieb so stehen, bis die orangerote Feuerkugel von dunkleren Rottönen umflossen vollständig als glühender Ball über dem wie in flammenlosem Feuer glühenden Horizont stand. Dann verneigte sie sich ganz tief in Richtung des wiedergeborenen Tagesgestirns und wandte sich dann so leise sie konnte der weit offenstehenden Balkontür zu. Sie ging über die spiegelblank geschrubbten Holzdielen und betrat das Schlafzimmer, in dem sie die Nächte zubrachte, ob schlafend oder in wilder leiblicher Liebe mit einem von ihr erwählten Übernachtungsgast. Im Moment war sie alleine im Haus. Erst am 30. Juni würde sie ihre drei Töchter und deren Angetrauten und die sieben Enkelkinder hier beherbergen, um am 2. Juli mit allen zusammen einen Portschlüssel in die Nähe des Campo Miraculoso della Copa Mondo di Quidditch zu reisen. Da ihre Tochter Rufina Eleonora in der Sektion für magischen Personen- und Warenverkehr arbeitete hatte die mit ihren Verbindungen einen eigenen Portschlüssel für die Casa Bocafuego anfertigen lassen. Diesmal durfte sie mitreisen, ohne Angst davor zu haben, von einer die Bewohner des Austragungsortes angeblich feindlich gesinnte Leute abweisenden Kuppel verstoßen oder gar vernichtet zu werden. Tja, diese Einfältigen hatten sich zu sehr auf diese von der damaligen Königin Sardonia errichteten Kuppel in Sicherheit lullen lassen. Jetzt steckten die alle ohne Ausnahme darunter fest, weil eine hauptsächlich männlich angeregte Woge mitternächtiger Zauberkraft die wahre Bestimmung der Kuppel wiedererweckt hatte. Bei der Weltmeisterschaft in Italien würden zwar Schutzzauber gegen neugierige Magieunfähige und wohl auch einige Schutzzauber gegen Flüche errichtet, aber nicht sowas umfangreiches und verflochtenes wie Sardonias Schutzkuppel.
Espinela wollte gerade die Balkontür schließen, um nach dem Bad im Morgenlicht eine kurze Dusche zu nehmen, als ein Wüstenuhu auf die noch offene Tür zuflog und ohne groß abzubremsen hindurchsegelte. Mit einem fordernden "Wuuhuuh" umflog er den feuerroten Haarschopf Espinelas und landete auf dem linken Nachttisch. Die Hausbewohnerin sah den am linken Bein des Postvogels hängenden Umschlag und nahm diesen an sich. Der stattliche Eulenvogel sah sie noch einmal an, wobei er seinen Kopf um mehr als zweihundert Grad drehte. Dann spannte er seine weiten Flügel aus und stieß sich vom Nachttisch ab. Lautlos und geschmeidig umstrich er noch einmal die nackte Hausbewohnerin und schlüpfte im Flug durch die Balkontür, um dann mit schnellen Flügelschlägen davonzueilen, wohl zurück zu seiner Absenderin, Espinelas in Andalusien lebenden Tochter Almalucia Ignacia Bocafuego Buenaventura, deren Vater Annastasio vor fünfzig Jahren Zaubereiminister Spaniens gewesen war und nur wegen eines dummen Gerüchtes, er habe mit dem magielosen Alleinherrscher Francisco Franco paktieren wollen, um sich zum neuen Oberhofmagier aufzuschwingen, von aufgebrachten Zauberern getötet worden war, was beinahe zu einem Bürgerkrieg unter den spanischsprachigen Hexen und Zauberern geführt hatte.
Espinela löste sich aus der Erinnerung an die dunkle Zeit damals, wo Almalucia gerade erst zehn Jahre alt gewesen war und öffnete den von ihr geschickten Brief. Sie las:
Meine allseits und überall geliebte und verehrte Mutter,
Sicher hast du mitbekommen, dass die Leute in Millemerveilles wohl bis auf weiteres unter Sardonias Kuppel gefangenbleiben. Was du vielleicht noch nicht mitbekommen hast ist, dass diese Gauner, die sich anmaßen, zu entscheiden, wann eine Hexe Mutter werden soll und ihr nicht mal die Wahl lassen, von wem sie Kinder kriegt, ein ziemlich übles Gas unter die Kuppel geblasen haben, was die Leute da zu fortpflanzungstriebigen Geschöpfen gemacht hat. Ich habe erst gedacht, dass diese Leute mit der aus dem Stamm der Nachtgeborenen abstammenden Wiedererweckten zusammenarbeiten, weil die mit bestimmten Essenzen zu hantieren pflegte. Doch offenbar stehen diese Banditen selbst mit der, die Ladonna Montefiori heißt in Feindschaft. Ich hörte so um zwei oder drei Ecken, dass diese Wiedererweckte ihren damaligen Hexenorden wieder aufleben lassen wollte oder das wirklich auch gemacht hat und dabei wohl an eine aus der Fortpflanzungserzwingerbande geraten sein soll. kann sein, dass ich dir da nichts neues erzähle, weil deine Verbindungen noch vielfältiger sind als meine. Was du aber sicher noch nicht mitbekommen hast ist, dass ich nun weiß, dass Amanda Victoria Casaverde Riovivo eindeutig zu diesen Leuten gehört und wohl deshalb auch schon neun Kinder bekommen hat, um bei denen hoch angesehen zu sein. Ich will dich nicht zu was drängen, was du nicht machen willst. Aber wäre es nicht für uns Hexen sehr wichtig, mehr über diese Nachwuchserzwinger zu erfahren, allein schon, um uns gegen dieses üble Gas zu schützen, mit dem die Millemerveilles besprüht haben? Immerhin bist du noch besser gegen unerwünschte Fremdverwandlungen geschützt als ich, weil du noch mehr Erbanteile von Ururgroßmutter Aurora Renata im Körper hast.
Ich schreibe dir das deshalb jetzt, weil ich das nicht besprechen will, wenn Cecilia, Carmelita und ich mit unseren Familien bei dir zusammenkommen. Am Ende kommen diese Banditen noch darauf, dass sie das Zeug bei der Weltmeisterschaft loslassen, wo da so viele Hexen und Zauberer aus verschiedenen Ländern auf einem Haufen zusammen sind. Außerdem könnte die Wiedererweckte auch meinen, da aufzutauchen und nach weiteren Getreuen suchen. Wenn sie wie wir nur von den Kindern Mokushas abstammen würde könnte ich mir vorstellen, mit ihr friedlich zu verhandeln. Aber wenn stimmt, was du von Ururgroßmutter Aurora Renata gehört hast, dass sie aus dem Bauch einer grünen Waldfrauentochter herausgekrochen ist will ich mit der nichts zu schaffen haben. Ich weiß ja, dass du das genauso siehst wie ich. Aber Cecilia könnte um des lieben Friedens Willen versucht sein, mit dieser verdorbenen Ausgeburt Frieden zu machen. Ich habe keine Lust, gegen meine jüngste Schwester kämpfen zu müssen. Deshalb bitte ich dich, dir bis zu unserer Ankunft zu überlegen, wie du sie davon überzeugen kannst, dass sie mit der Nachfahrin von Cantanotte besser nicht zusammenkommt. Die giert doch sicher nach Hexen, die wie sie von einer Tochter aus Mokushas Volk abstammen. Sicher gehst du auch davon aus, dass die eher früher als später mitbekommt, wer da alles zugehört.
Entschuldige bitte, falls ich dich mit diesem Zeug verärgert haben sollte. Aber mir war das jetzt zu wichtig, um bis zu unserer Zusammenkunft zu warten.
Ich umarme dich und küsse dich mit ganzem Herzen
AlmaluciaP. S. Ich hoffe, dich nicht bei deinem täglichen Gruß an die aufgehende Sonne gestört zu haben.
Espinela Flavia Bocafuego de Casillas verzog das Gesicht, als sie den Brief zu Ende gelesen hatte. Natürlich hatte sie von Ladonna Montefiori gehört und dass die sicher da weitermachen würde, wo die reinrassig menschengeborene Sardonia sie mit einem Schlaf- oder Erstarrungsfluch aufgehalten und an einem angeblich unerreichbaren Ort versteckt hatte. Natürlich ärgerte sie sich auch über die Leute von Vita Magica, die sich anmaßten, dem kaninchengleichen Vermehrungsdrang der Magielosen durch mal gezielte und mal völlig ungezielte Verpaarungen von fruchtbaren Hexen und Zauberern entgegenzuwirken und Hexen, die sich entschlossen hatten, keine Kinder zu kriegen oder den ihnen rechten Partner dafür noch nicht gefunden hatten, mal eben zwei oder drei Kinder auf einmal aufzuladen. Wenn die dafür jetzt wirklich einen Zauberrauch erfunden hatten, der Leute dazu trieb, sich übereinander herzumachen, bis die davon betroffenen Hexen schwanger waren, dann konnten die das wirklich auch bei der Quidditchweltmeisterschaft machen, wo ja auch ganz viele Zauberer und Hexen auf einem Haufen zusammen waren. Woher wusste Almalucia von diesem Angriff auf Millemerveilles? Bisher hatte sie doch davon gehört, dass wegen der amerikanischen Luftschiffer und einiger Idioten da die Kuppel von beiden Seiten undurchdringlich war. Almalucia hatte aber einen Ansprechpartner in Frankreich. Vielleicht wussten die Franzosen da schon mehr als die Leute hier in Spanien. Womöglich sollte sie mal wieder in die Pyrenäen um wegen der Nähe der Französischen Grenze die da gehandelten Zaubererzeitungen zu lesen. Immerhin konnte sie das in den Kopf hineinsaugen von geschriebenen Texten, was alle Kinder Mokushas von ihren Eltern erlernt hattenund was auch sie ihren drei Töchtern beigebracht hatte, als diese richtig lesen und schreiben konnten.
Dass Espinela die spanische Gruppe entschlossener Hexen anführte, weil es in den letzten sechzig Jahren niemand gewagt oder gar geschafft hatte, sie zum Entmachtungskampf zu zwingen, ja sie seit zehn Jahren auch die gesamte spanische Gruppe der schweigsamen Schwestern führte erlegte ihr eine gewisse Verantwortung auf, sowohl was die neuen Vorhaben Ladonna Montefioris anging als auch die Machenschaften von Vita Magica betraf. Vielleicht sollte sie sich doch mal dazu herablassen, eine behutsame Anfrage an die ominöse Schwesternschaft der schwarzen Spinne zu senden, ob deren geheimnisvolle Anführerin, die laut vager Beschreibungen eine makellose Schönheit war, solange sie keine überlebensgroße schwarze Spinne war, ein Zweckbündnis gegen Ladonna eingehen würde. Am Ende mussten die freien Schwesternschaften sich noch zusammentun, um nicht eine nach der anderen von Ladonna Montefiori unterworfen zu werden. Andererseits hielt sie sich selbst für stark genug, alleine gegen diese teilweise von einer grünen Waldfrau abstammenden anzutreten. Aber wenn sie das noch nicht musste hatte sie genug Zeit, um sich darauf vorzubereiten. Oder sollte sie sich mit den anderen Kindern aus Mokushas Volk und deren teilweise menschengeborenen Nachkommen zusammensetzen. Immerhin wussten die im Osten, dass sie nach der Auswanderung ihrer Mutter Carabella Antonia nach Peru die älteste Tochter aus der Linie der sogenannten Tagesgrenzgänger war, die die Kräfte von Sonne und Erde vereinten. Nein, am Ende musste sie sich noch mit dem von diesem Ältestenrat auf Mokushas Insel erwählten Zauberer Julius Latierre befassen, der laut dieses Ältestenrates alle Abkömmlinge von Mokushas Kindern vor den rein menschengeborenen Zauberern und Hexen vertrat. Noch wusste der wohl nichts von ihr und ihren direkten Nachkommen. Aber wenn sie meinte, mehr mit anderen Stämmen zu tun zu haben würde sie wohl auch mit ihm zu tun bekommen. Nicht dass sie Angst vor ihm hätte, auch wenn er ein besonders begabter Zauberer sein sollte. Aber sich vorzustellen, von irgendwem anderem vertreten zu werden als von ihr alleine wirkte irgendwie erniedrigend.
Espinela schrieb erst an die ihr verbundenen Hexen Spaniens, dass sie vor dem 24. Juni noch einmal wegen Ladonna Montefiori zusammenkommen wollte. Dabei würde sie auch erwähnen, wer die von ihrer Tochter entlarvte Vita-Magica-Anhängerin war. Die wollten sie nach Möglichkeit gefangennehmen und ausforschen, sofern die sich nicht mit einem heimtückischen Zauber der Festnahme entzog. Vielleicht sollte sie dieses verlogene Weibsbild selbst ergreifen und im Namen aller Hexen verhören, wen sie noch von dieser Bande kannte und wie diesen Leuten klargemacht werden konnte, dass sie mit ihren Untaten aufhören sollten. Doch Ladonna Montefiori bereitete ihr im Moment mehr Sorgen. Sie erinnerte sich zu gut daran, dass diese vor über vierhundert Jahren schon einmal gegen eine Hundertschaft von ihr entgegenstürmenden Hexen gekämpft und alle zu willigen Helferinnen gemacht hatte. Später kam heraus, dass sie ihren berüchtigten Feuerrosenzauber mit etwas verstärkt hatte, das wie ein Wolgeruch in die Nasen und Köpfe der Betroffenen eindrang und diese für tief in sie eindringende Befehle und magische Bindungen empfänglich machte. Eine derartige Waffe hätte sicher auch die nur von Menschen abstammende Sardonia gerne benutzt oder der blonde Schönling Grindelwald, den eine Veela namens Morgenglanz zur Zeugung eines Sohnes verführt hatte oder den wahnsinnigen Engländer, der seinenKörper und seine eigene Seele derartig verstümmelt hatte, um nicht zu sterben und dann doch von einem gerade mal erwachsen gewordenen Burschen vor beider Anhängern niedergestreckt zu werden. Ja, wenn Ladonna immer noch alles wusste und konnte, was sie damals konnte und weshalb Sardonia sie unbedingt aus der Welt schaffen musste, ohne sie zu töten, standen den freien Hexen nur drei Möglichkeiten zur Verfügung: Sich freiwillig unterwerfen, sich durch Ladonnas Zauber zu ihren willigen Sklavinnen machen zu lassen oder sich vor ihr zu verstecken, bis bekannt war, wie Ladonnas Massenbehexung abgewehrt werden konnte. Vielleicht gab es aber auch eine vierte Möglichkeit, sie da zu stellen, wo sie nicht mehr disapparieren oder wegfligen konnte und sie dann mit dem Lied des fesselnden Schlafes zu besingen, bis sie so tief und unaufweckbar schlief, dass sie gefahrlos an einen sicheren Ort geschafft und eingeschlossen werden konnte, bis sie irgendwann in hundert oder zweihundert Jahren von selbst starb. Ja, das sollte es sein. Darauf wollte sie hinwirken. Aber das konnte sie nicht alleine tun.
"Der Papst ist leichter zu sprechen", grummelte ein auffallend kleiner Mann, als er in Minister Bernadottis Büro eintreten konnte. Der Zaubereiminister sah den Besucher ein wenig abschätzig an und sagte:
"Wollten Sie etwas erbitten oder mich nur beleidigen, Signore Pontidori?"
"Weder noch, Herr Zaubereiminister. Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass irgendwer von uns wohl gemeint hat, mal eben bei Neapel ein riesenloch in den Boden sprengen zu müssen und dabei ein kurzes aber mittelschweres Erdbeben mit zwei kurzen Stößen ausgelöst hat, dessen Wellen locker zum Vesuv hingelaufen sein können. Ich finde, dass Sie das durchaus interessieren dürfte, ob die Beschaffenheit des Vesuvs vielleicht darunter gelitten haben könnte. Also, sollte der in der nächsten Zeit etwas heftiger blubbern war das wohl davon."
"Und wie kommen Sie bitte darauf, dass einer von uns das gemacht hat?" fragte der Minister.
"Weil ich einen hervorragenden Erdbebenquellen- und Nachverfolgungsapparat zur Verfügung habe, der nicht nur Heftigkeit und Dauer von Erdstößen erfasst, sondern auch, ob sie durch Sprengstoff, zusammenbrechende Erdhöhlen oder Magie ausgelöst wurden. In dem Fall waren es zwei unmittelbar hintereinander folgende Wellen aus Luft-, Wasser- und Feuermagie, und mit der können eigentlich keine Erdbeben ausgelöst werden, es sei denn, jemand wirft ganz leichtsinnig eine bestimmte Menge von Dottore Tempestinos Unwetterkondensat in ein Loch runter. Wer nicht weiß, wie heftig sich die im Kondensat gefangene Energie entlädt hinterlässt nichts, was beerdigt werden kann. Genau deshalb ist das Gebräu ja auch nicht in jeder Apotheke oder von jedem Normalo zu kriegen. Für Ministerialbeamte ist das Kondensat jedoch auf Anfrage lieferbar. Also war das wer von uns. Was das solte weiß ich nicht. Aber wenn Sie rein zufällig mitbekommen, wer das warum gemacht hat dürfen Sie ihm oder Ihnen gerne freundliche Grüße vom Vulkanzwerg bestellen, dass solche Sachen leicht zu mittelschweren bis totalkatastrophalen Vulkanausbrüchen führen können und ob das solche Sprengungen wert sind. Kann auch sein, dass die, die das gemacht haben nicht mehr unter den Lebenden weilen und deren Angehörigen demnächst anfragen, wo ihre lieben Verwandten abgeblieben sind. Dann wissen Sie wenigstens, was denen passiert ist."
"Öhm, Sie haben sicher nicht ganz zufällig die Aufzeichnungen von diesem Erdbeben dabei, Anselmo?" fragte der Minister. Als habe er sie direkt in seiner rechten Hand verstofflicht hielt Pontidori eine mit einem silbernen Ring zusammengehaltene Pergamentrolle in der rechten hand. "Fünf Seiten mit allen Angaben und Kommentaren, was die Messgrößen angeht."
"Könnte das nicht auch wieder die Person gewesen sein, welche diesen supervervielfachten Feuerzauber freigesetzt hat?" wollte der Minister wissen.
"Bei dem habe ich zwar auch eine Erdbebenwelle gemessen, aber eine wesentlich länger dauernde und leichtere, als wenn etwas die Erde weggedrängt habe und sie danach wieder zu ihrem Ausgangszustand zurückgerutscht wäre. Ja, und da war ausschließlich Feuermagie am Werk, weshalb ich das Epizentrum ja selbst in Augenschein nehmen wollte. Das hier war anders. Aber Sie dürfen die Aufzeichnungen behalten. Meine Erdbebenkrake spuckt gleich zehn Kopien aus."
"Ihre was?" fragte der Minister. Pontidori grinste spitzbübisch. "Meine Erdbebenkrake, ein thaumaturgisches Aggregat aus mehr als fünfzig Erdstoßerfassungsvorrichtungen, die alle über ein Gespinnst aus hier nicht näher auszuführenden Bestandteilen miteinander verbunden sind und dabei nicht nur die rein mechanischen Wirkungen, sondern auch mitgeführte Reste aufgewandter Erd-, Feuer, Wasser- oder eben Luftmagie bestimmen können. Kann sogar sein, dass der Anteil an Luftmagie verhindert hat, dass das Erdbeben sich richtig heftig entfalten konnte. Aber ich bleibe bei meiner Vermutung, dass es durch eine mutwillig oder aus purer Idiotie zerbrochenen Flasche von Tempestinos Unwetterkondensat passiert ist. Mehr wollte ich Ihnen auch nicht mitteilen, weil ich in einer Stunde zu einem Kongress nach Wyoming reise, mit einem dieser lauten Düsenvögel. Wird sicher wieder ganz amüsant, wenngleich das Thema da nicht so lustig ist: Supervulkane und ihre mögliche Gefahr für die gesamte Menschheit. Außerdem hält da noch jemand einen Vortrag über den Krakatau-Ausbruch von 1883. Wird sicher auch spannend, welche neueren Erkenntnisse die nichtmagischen Kollegen vorweisen können. Angenehmen Tag noch, Herr Zaubereiminister!"
"Ja, Ihnen auch, Professore Pontidori", grummelte der Zaubereiminister. Pontidori wieselte aus dem Büro und schloss die Tür ganz leise.
"Die hätten echt mit weniger von dem Zeug hantieren können", dachte Bernadotti und rief ins Nichts: "Signore und Signorina Cordracone möchten bitte umgehend in mein Büro kommen. Danke!"
Drei Minuten später betrat Ignatio Cordracone die Amtsstube von Minister Bernadotti. Dieser fragte den Einbestellten, wo seine Schwester sei. "Meine Schwester Tifonia ist derzeitig in den Dolomiten. Dort ansessige Zwerge haben allen Ernstes einen zwanzig Meter langen Felsenwühler gezüchtet, der die Fundamente der Berge unterminiert. Sie ist mit dem Zwergenbeauftragten unterwegs, der auch mal froh ist, wieder aus seinem kleinen Büro herauszukommen, wo es für ihn nicht viel zu tun gab.
"Also, wo wir's von Zwergstämmigen haben, der Professore aus Neapel war gerade hier und hat mir freundlicherweise eine Ladung Pergamentzettel hiergelassen, auf denen festgehalten ist, dass es bei Neapel zu einer Explosion mit einem aus zwei ganz kurzen Erdstößen entfesseltem Erdbeben gekommen ist, von dem Professore Pontidori annimmt, dass es durch eine schlagartige Entladung von Tempestinos Unwetterkondensat herrührt. Öhm, wie viel von dem Gebräu haben Sie bitte aufgewandt, um das Drachennest unter der Erde zu vernichten?" Cordracone nannte dem Minister die Menge und auch, dass das Gebräu größtenteils privat bezahlt worden war. Der Minister machte eine abwehrende Geste. "Ignatio, mich interessiert erst einmal nicht, wer das Zeug bezahlt hat, sondern warum ihr so viel davon auf einen Schlag entladen habt. Hätte es nicht auch das eine oder andere Erumpenthorn getan?" Cordracone erwiderte darauf, dass sie eben gründlich sein wollten und das sei erreicht worden.
"Ich habe Ihnen erlaubt, die Lagerstätte zu zerstören und es als Meteoriteneinschlag hinzustellen. Ich habe jedoch nicht darum gebeten, einen möglichen Nachbarvulkan des Vesuvs zu erschaffen. Pontidori hat mir ziemlich deutlich vorgeworfen, dass das Zaubereiministerium Schuld sein könnte, wenn der Vesuv ausbricht. So einen dreisten wenn auch leider nicht ganz abzustreitenden Vorwurf kann ich nicht ignorieren. Also berichten Sie gütigst, wie viel von dem Unwettergebräu Sie eingesetzt haben und warum es nicht weniger getan hätte!"
Als Ignatio Cordracone das Büro des Ministers wieder verließ kam er sich vor wie ein Gattiverdi-Erstklässler, der dem Direktor hatte erzählen müssen, warum er die Stühle im Klassenzimmer mit Piekslack bestrichen habe. Er ärgerte sich sogar, dass er die ganze Wucht dieser Maßregelungen abbekommen hatte, wo der ganze Ausschuss mit drinhing. Aber das würde er weiterreichen, wenn seine Schwester wieder aus den Bergen zurück war.
"Dann wirst du dich wohl noch mal mit unserer werten Mitschwester Gundula Wellenkamm treffen müssen, wenn der das so wichtig ist, eine Gesamtsprecherin für den deutschsprachigen Raum zu finden", sagte Kunigunde vom Falkenturm zu der in Lindgrün gekleideten Hexe mit dem silbergrauen Zopf. Ewalda von Kreuzacker nickte ihrer Besucherin zustimmend zu und sagte: "Ich sehe das leider auch so. Diese Inselkönigin wird langsam sehr besitzergreifend. Offenbar wittert sie Morgenluft, nachdem klar ist, dass Sardonias Erbschaft doch nicht ganz verloren ist und es möglich ist, die in der Burg Katzenstein eingelagerten Artefakte dunkler Magie, darunter Sachen aus Sardonias Ära, ministeriell beschlagnahmen zu lassen. Aber das kann die Dame sich abschminken und mit ihren goldenen Haaren in die Nordsee werfen. Ihr habt mich zur Sprecherin der entschlossenen Schwestern von Österreich und ganz Tirol gewählt. Selbst die Zögerlichen respektieren die Wahl. außerdem habe ich den Zaubereiminister seit zwei Jahren sicher unter Kontrolle und kann jede nicht all zu drastische Forderung an ihn richten. Da soll mir diese Friesin bloß nicht querkommen. Abgesehen davon kann ich deren zögerlichen Gesamtsprecherin Gesine Feuerkiesel schreiben, dass die Deutschen sich in österreichische Angelegenheiten einmischen, noch dazu welche aus dem RanordHuZ, die keinen Schimmer von unseren Angelegenheiten haben. Aber nett, dass du mir das noch einmal mitgeteilt hast, Schwester Kunigunde."
"Dann bleibt es beim 24. Juni, Sardonias Gedenktag, am Feuersteig, um fünf in der Frühe?" wollte Kunigunde vom Falkenturm wissen. Ewalda bestätigte das. Es war nach Walpurgis die zweitwichtigste Zusammenkunft von Hexen, weil sie an diesem Tag das Ende der Ära Sardonias begingen, die einen mit Freude, die anderen mit Trauer.
"Öhm, Moment noch, Schwester Kunigunde, was will deine Tochter in der Angelegenheit mit meinem Urgroßneffen jetzt unternehmen?" fragte Ewalda noch.
"Der Bursche kriagt von mir a fesche Rechnung über den ganzen Gästestadl", knurrte Kunigunde. Dann flüsterte sie unnötigerweise: "Ja, und meine Gundel wird ihm wohl bald sagen können, ob die zwei Kleinen von ihm sind, die sie unter'm Herzen trägt. Wenn er sie nicht doch noch heiratet darf er sein ganzes Leben für die beiden zahlen."
"Und wenn sie nicht von ihm sind oder er behauptet, Vita Magica aufgesessen zu sein, Kunigunde?" wollte Ewalda wissen. Das ließ Kunigunde vom Falkenturm erstarren wie unter einem Versteinerungszauber. Ganze zehn Sekunden lang verblieb sie in dieser Haltung. Dann entspannte sie sich wieder. "Hat der das behauptet, Schwester Ewalda?"
"Bisher noch nicht", erwiderte Ewalda vom Kreuzacker mit verschmitztem Grinsen. "Wenn er das behauptet und recht kriegt kann meine Kleine niemals mehr heiraten, Kreuzotter und Hagelschlag!" schimpfte Kunigunde vom Falkenturm. Dann bat sie darum, wieder in ihren Stammsitz zurückzukehren, bevor sie da noch wer vermisste.
"Ach ja, die gute Kunigunde. Dabei ist der kleine das gar nicht wert, dass die den für ihre Tochter festlegen will", dachte Ewalda ganz für sich alleine.
Jede der zwanzig hier wohnenden Familien hatte ein erwachsenes Mitglied im Inselrat, dem Feenthing. Die unbestrittene Sprecherin des Rates, auch hinter vorgehaltener Hand als Inselkönigin bezeichnet, war Gundula Wellenkamm, eine bereits achtzig Sommer zählende Fachkundige der Zaubertrankbraukunst, Thaumaturgie und Zauberwesenkunde. Sie hatte gute Beziehungen zu den Zwergen unter dem Schwarzwald, aber auch zu denen in Skandinavien und der in der Nordsee versteckten Siedlung von Meermenschen. Es gab in Deutschland nur noch drei Hexen, die mehr Ansehen und Macht besaßen: Adalberta Gräfin Greifennest, deren Kollegin Magistra Gudrun Rauhfels und Gesine Feuerkiesel, welche offiziell als Leiterin der deutschen Thaumaturgenvereinigung arbeitete und inoffiziell schon seit fünfzig Jahren die Sprecherin der schweigsamen Schwestern Deutschlands war. Mit der musste sie sich in den drei nächsten Tagen noch treffen, weil sie wegen Sardonias Kuppel und den Machenschaften von Vita Magica eine klare Ausrichtung aller Schwestern vereinbaren musste. Außerdem hatte sie von ihren Kontakten zu den Zwergen, dass Albertine Steinbeißers Vater wohl von einer ausländischen Hexe entführt worden war und dessen Haar für einen Vielsaft-Trank zu stehlen, um mit seiner Hilfe in die Gringottszweigstelle Frankfurt am Main einzubrechen. Das amüsierte die Zwerge, weil das den Kobolden sehr sauer aufstieß. Aber die Zaubererwelt wusste offiziell noch nichts davon.
"Wer hat noch eine Frage oder einen Antrag zur heutigen Tagesordnung?" wollte Gundula Wellenkamm wissen. Ignatius Eschenwurz hob den Arm. Die Sprecherin des Feenthings nickte ihm zu.
"Ich wollte noch mal wegen der Gefahr durch diese von Wallenkron erschaffenen Nachtschattenkönigin anfragen, ob die Strandwachen wegen der neuen Schattenkönigin weitere Blitzgläser bekommen können. Ich weiß, die Dinger sind teuer. Aber wenn diese neue Nachtschattenkönigin, die Wallenkron kurz vor seiner Entführung durch Vita Magica erschaffen hat, auf die Idee kommt, uns hier heimzusuchen sollten unsere Leute mehr drauf haben als Sonnenspeerzauber oder Sonnenlichtkristalle."
"Wer ist dafür, dass wir für jeden der zwanzig Strandwächter zehn Blitzgläser anschaffen?" fragte Gundula Wellenkamm. Bis auf drei Ratsmitglieder stimmten alle dafür. Da hier eine einfache Mehrheit ausreichte stellte die Sprecherin fest, dass der Antrag angenommen worden war. Ignatius Eschenwurz, auf Feenland sowas wie der Inselhüter und Feuerwehrhauptmann in Personalunion, machte eine Dankesgeste zu allen Ratsmitgliedern. Weil danach niemand mehr was fragen oder erbitten wollte schloss Gundula Wellenkamm mit drei Hammerschlägen auf den Ratstisch die Sitzung. Die Nächste Sitzung sollte dann am 21. Juli stattfinden.
Ladonna besah sich die sieben großen Holzkohlestücke, die sie eines nach dem anderen mit sieben Zaubern belegt hatte, von denen jeder für sich anstrengend war und keinen Fehler duldete. Sie hatte jedes Kohlestück an allen sechs Seiten mit dem Zauberstab berührt und die nur ihr bekannte, für eine Himmelsrichtung oder die Richtung oben und unten bestimmten Bezauberung besprochen. Dann hatte sie als siebten, alle sechs anderen vereinenden Zauber wirksamen Zauber ausgeführt, worauf das gerade bezauberte Holzkohlestück blutrot erglüht war, jedoch ohne zu brennen und zu qualmen. Bei jedem dieser sieben vereinenden Zauber hatte sie die zu übermittelnde Botschaft in der jeweiligen Landessprache der Empfängerin ausgesprochen.
Sichtlich ermüdet von den insgesamt 49 auszuführenden Zaubern schaffte es Ladonna noch, die von ihr in den letzten drei Monaten abgerichteten Eulen anzuweisen, wem sie die in kleinen Leinensäcken steckenden Kohlestücke bringen sollten, und zwar so, dass sie diese in der Nacht erhielten. Denn da war die Wahrscheinlichkeit am größten, dass sie alleine an ihren Wohnorten waren und keiner die Übermittlung der Botschaft mithören konnte. Die Säckchen selbst hatte sie zusätzlich noch mit mehreren nur von ihr gekannten Zaubern belegt. . Als sie die sieben unterschiedlich großen Eulen mit den so wichtigen wie brisanten Postpäckchen betraut und losgeschickt hatte merkte sie, wie anstrengend es war, neue Getreue zu gewinnen, wenn diese von sich aus nicht ihrem Willen folgen würden. Sie hoffte nur, dass auch alle sieben Botschaften gehört und befolgt wurden. Sicher, Tifonia hatte sie trotz bestehender Schutzbanne erreichen und unterwerfen können. Sie hatte es sogar mitbekommen, wie Tifonia sich noch gegen das Hören der Botschaft abzuschotten versucht hatte. Doch den Echodomuszauber hatte Ladonna schon in ihrem früheren Leben gekannt und ihre ausgesandten Feuerrosen immer so bezaubert, dass sie erst dann die Botschaft preisgaben, wenn das Feuer unbedingter Aufmerksamkeit jeden in der Nähe befindlichen Echodomuszauber ausgelöscht hatte. Natürlich hatte Tifonia das nicht gewusst. Und der Ortsverharrungszauber, der bis zur vollständigen Übermittlung der eingewirkten Botschaft eine Flucht ob zu Fuß, durch die Luft oder durch Disapparieren unterband, würde die Empfängerinnen ihrer neuen Botschaften halten, bis sie gehört hatten, was sie hören sollten und das gehörte durch die Erfüllungsflüche befolgen mussten. Im Grunde hatte Ladonna dieselbe Botschaft verschickt, die sie auch Tifonia übermittelt hatte, nur dass sie keine Liste mächtiger Mitschwestern einforderte, sondern gleich, dass die Empfängerinnen mit zehn ihrer wichtigsten Mitschwestern am 24. Juni 2003 um drei Uhr Morgens am Turm der 1000 Tränen fünf Kilometer westlich der italienisch-französischen Grenze zusammenkommen sollten. Dort würde Ladonna ihren eigentlichen großen Einberufungs- und Unterwerfungsakt vollziehen. Bis dahin musste sie sich mit Außentätigkeiten zurückhalten und den Gegenstand herstellen, den sie dabei so dringend brauchte und für dessen Material sie mehrere Monatszyklen gebraucht hatte.
Um nicht von den Gelüsten Ihres Lehnsmannes behelligt zu werden hatte sie Luigi Girandelli in einen bis zum Morgen dauernden Zauberschlaf versenkt. Sie selbst schlief in ihrer als Kemenate bezeichneten Gemach. Am Morgen wollte sie noch einmal versuchen, den Aufenthaltsort von Loredana Montanera zu ergründen. Angreifen wollte sie sie jedoch erst, wenn ihr die Unterstützung der sieben neuen Helferinnen sicher war.
Das war schon ein ganz komisches gefühl, ganz ohne Kopfbehaarung zu sein, fand Cassandra Montanera. Sie hatte sich und ihren beiden Töchtern ganz ohne Magie die Haare abgeschnitten und die verbleibenden Stoppeln mit einem dieser muggelmäßigen Rasierwerkzeuge vom Kopf geschabt. Als sie sich dann im Spiegel ansah meinte sie: "Oha, das sieht ja richtig brutal aus." Ihre jüngere Tochter Claudia grinste. Denn auch sie hatte sich die Haare vom Kopf geschoren und zudem ihre Finger- und Fußnägel bis zu den Fingerkuppen abgeschnitten. Auch Loredana sah kahl sehr anders aus. "Okay, Ragazzine, legt bitte alle Kleidung ab, damit wir die euren Leichendubeln anziehen können", sagte eine der Mitstreiterinnen mit unverholener Schadenfreude.
"Moment mal, sollen wir dann ganz nackig hier rumlaufen?" begehrte Claudia auf. "Nein, natürlich nicht. Ihr kriegt dann was neues zum anziehen, wenn wir eure Scheinleichen hergestellt haben. Ich hoffe, ihr habt auch echt sauber eure Haare und Nägel getrennt eingesammelt."
"Pass auf, dass ich dich nicht nachher auch noch so gründlich rasiere", zischte Cassandra Montanera. Ihr gefiel der Plan jetzt gar nicht mehr so gut. Sicher, sie mussten sich totstellen,und zwar so, dass keiner an ihrem Ableben zweifeln würde. Deshalb mussten sie scheinbare Leichen von sich deponieren, und zwar so, dass jede Untersuchung keine verräterische Restmagie fand. Sowas ging nur, wenn an den Pseudoleichnamen anschließend noch Zerstörungszauber benutzt wurden. In dem Fall würde es ein Feuerstoß sein, den jede Scheinleiche abbekommen würde und sie teilweise verbrannte, aber nicht so gründlich, dass ihre wahre Identität nicht nachgewiesen werden konnte. Es sollte genau so dargestellt werden, als wenn jemand wollte, dass die drei gefunden wurden, als warnendes Beispiel für jemand anderen.
Mit gewissem Widerwillen legten die drei Hexen ihre gesamte Kleidung ab, auch ihren spärlichen Schmuck. Dann durften sie zusehen, wie drei ihrer Mitstreiterinnen, darunter eine gerade zum Ammendienst eingeteilte Hexe, mit dem Similicorpus-Zauber von den drei Lebenden zu den in einzelnen Zauberkreisen liegenden Haarbündeln und Nagelresten deuttend drei erschreckend gleich aussehende Abbilder von ihnen erschufen, allerdings vollkommen tote Körper. "Alles erledigt, die Damen. Geht bitte in den Nebenraum und wartet, bis wir euch neue Kleidung bringen. Keine Angst, es ist gut vorgeheizt", sagte die Ammenhexe, die lustigerweise Virginia mit Vornamen hieß und irgendwo in den Weiten der nordamerikanischen Prärie ihr Zuhause hatte.
"Beeilt euch aber mit den Sachen, bevor uns noch Lüstlinge wie Maurice oder Augustin hier so sehen", sagte Cassandra Montanera.
"Keine Sorge, ihr kriegt in nur zwei Minuten neue Kleidung", sagte Virginia. Dann winkte sie den anderen Helfern, um die scheinbar toten Montaneras aus dem Raum zu schaffen und dort wohl für die endgültige Platzierung vorzubereiten.
Im Nebenraum brannte ein munteres Feuer im Kamin. Der Boden war mit flauschigen Teppichen bedeckt. Doch sonst standen hier nur drei hochlehnige Stühle mit einer aus zwei Daunenkissen bestehenden Polsterung. Cassandra sah auf die drei Stühle und runzelte die Stirn. "Mädchen, ich habe da so ein komisches Gefühl", flüsterte sie leise zu Loredana und Claudia. Claudia sah ebenfalls die Stühle an und meinte: "Die sehen aus wie liegestühle. Aber ich sehe die Umklappvorrichtung nicht. Loredana, guckst du bitte mal nach den zwei Türen?"
"Loredana Montanera sah ihre jüngere Schwester an, als verstehe sie die Welt nicht. Doch weil Claudia sie sehr entschlossen ansah ging Loredana erst zu der Tür, durch die sie hereingekommen waren und prüfte sie. Die Tür ging auf und wieder zu. Das gleiche war mit der zweiten Tür.
"Mädchen, wir mussten unsere Zauberstäbe ablegen, damit die bei der Herstellung der falschen Leichen nicht im Weg waren. Hat eine gesehen, wer die wo hingetan hat?"
"Ja, habe ich, Mamma. Die sind im Büro der immer runder werdenden Dame, die sich demnächst Mater Vicesima secunda nennen lassen möchte", sagte Loredana, als sie auch die zweite Zugangstür geprüft und festgestellt hatte, dass sie verschlossen war. Von der Seite würde also keiner hereinkommen, und apparieren konnte nur, wer eine besondere Genehmigung hatte. Cassandra sah nun die Wände und die Decke an. Außer deinem Leuchtkristall, der gerade in warmem Gelbton leuchtete, war nichts auffälliges an der Decke. Die Wände waren ungeschmückt und glänzten Ockergelb, aber nicht so, wie ein provisorischer Klangkerker.
"Sollen wir uns setzen oder hier herumstehen, bis wir unsere neuen Sachen kriegen?" fragte Claudia missmutig. Ihre Mutter überlegte drei Sekunden und sagte: "Mir gefallen die Stühle nicht, Claudia. Du hast recht, dass das Liegestühle sein können. Wenn die ausklappen während wir drauf sitzen könnten irgendwelche Haltegurte herausschießen und uns fesseln." Darauf lachten Claudia und Loredana und sagten: "Gut, dann wsetzen wir uns hin. Wenn wir was auslösen kannst du uns ja helfen." Prompt setzte sich Loredana auf einen der drei Stühle. Sie lehnte sich bewusst nach hinten ... und es passierte ... nichts. Sie saß so frei wie die Natur sie gemacht hatte auf den weichen Kissen. "Die Kissen sind vorgewärmt", meinte Loredana. Claudia nickte und setzte sich neben ihre ältere Schwester. Cassandra beobachtete dreißig Sekunden lang, wie die beiden ruhig dasaßen. Dann meinte Claudia: "Die haben die Stühle deshalb so gebaut, damit hier unbekleidete Leute drauf sitzen können. Sind wohl untersuchungsstühle."
"Gut, es passiert offenbar nichts", grummelte Cassandra Montanera. Warum traute sie der Sache nicht? Bisher hatte sie in den Reihen von Vita Magica nichts erlebt, was ihr Misstrauen rechtfertigte. Doch irgendwie war ihr, als wollte jemand sie alle drei austricksen. Dass sie keine Kleidung trug störte sie nicht. Aber weil sie keinen Zauberstab zur Hand hatte fühlte sie sich nackt. Was blieb ihr? Sie ging zögerlich auf den dritten Stuhl zu, nahm behutsam darauf platz und lehnte sich nach hinten.
Zwar hatte Cassandra damit gerechnet. Doch als die Rückenlehne nach hinten wegsackte und sie damit in eine liegende Haltung gebracht wurde reagierte sie nicht. Auch ihre Töchter fanden sich unvermittelt auf dem Rücken liegend. Eine Sekunde verging, da sprangen in der Wand, die den Stühlen gegenüber lag drei kreisrunde Luken auf, und drei goldene Läufe fuhren blitzartig aus. Bevor Cassandra Montanera es so recht begriff umstrahlte sie goldenes Licht, sie fühlte sich auf einen Schlag vollkommen schwerelos. Dann fühlte sie ihren Körper wieder. Sie lag immer noch. Doch die Unterlage war offenbar größer geworden. Statt der Decke sah sie nur etwas nebelhaft graues weit über sich. Ihre Zunge tastete in ihrem Mund herum und fand keinen einzigen Zahn. Ihr Körper drückte in das zum Liegekissen gewordene Polster. Ihre Arme und Beine wurden von einer unbändigen Kraft niedergehalten. Sie versuchte zu sprechen. Doch ihre Zunge konnte keine klaren Bewegungen machen, und ohne Zähne konnte sie auch keine verständlichen Laute formen. Sie hörte sehr laut und hallend ein zweifaches Wimmern links neben sich, wo sie die zwei anderen Stühle gesehen hatte. Sie versuchte, ihren Kopf zu wenden. Doch der war auf einmal so schwer. Da war ihr klar, was passiert war. In dem Moment erklang in ihrem Kopf Loredanas Gedankenstimme:
"Diese Drachenkötel haben uns infanticorporisiert. Du hattest recht, Mamma!" Doch das war die letzte klare Botschaft, die Cassandra Montanera in diesem Leben noch empfing. Sie wollte noch drauf antworten, als ein Gewitter aus hellen Blitzen über sie hereinbrach und alles wegbrannte, was sie zu Cassandra Montanera gemacht hatte.
Nur zwanzig Sekunden später kamen Virginia und zwei andere Hexen in den Warteraum und entdeckten drei gerade aufwachende Säuglinge, die ihre Furcht, allein zu sein, in diesen Raum hinausschrien, der für sie gerade die ganze große Welt war.
"Öhm, ich werde denen nicht vorschlagen, mich für tot erklären zu lassen", meinte Virginias Kollegin Agatha, vom gesprochenen Akzent her Texanerin.
"Ja, besser ist das wohl, lieber noch was wichtiges für die Gesellschaft tun zu können", sagte Virginia und besah sich die drei äußerlich sehr ähnlichen, scheinbar gerade erst wenige Tage alten Menschenkinder. "Ich könnte die alle drei nehmen. Aber der Rat sagt, dass sie getrennt aufgezogen werden sollen."
"Okay, dann nehme ich die in der Mitte", erwiderte Agatha. Die dritte Mitstreiterin deutete auf den Liegestuhl ganz rechts. So bekam Virginia das nun lauthals schreiende Mädchen ganz links, ohne zu wissen, dass es Cassandra Montanera gewesen war. Sie hatte als Amme das Recht, ihr einen neuen Namen zuzuteilen und ihr auch ihren Nachnahmen zu geben. "So findet diese schwarze Furie uns auf jeden Fall nicht mehr", meinte Agatha grinsend, als sie das von ihr ausgesuchte Baby vom Stuhl nahm und behutsam wiegte. Virginia nickte. Dann mentiloquierte sie an eine bestimmte Empfängerin: "Wir haben uns entschieden, wer wen nimmt. Die Aktion Leichenschau kann anlaufen, Mémé!"!"
"In Ordnung, die Auslegung läuft schon", bekam sie zur Antwort.
"Loredana Montanera, verrate mir den Ort,
wo du von mir zu finden bist, Lautstark und sofort!"
Ladonna summte diese Zeilen, während sie im Schein eines Kreises aus blau flackernden Kerzen in einem mit Zauberzeichen versehenen Kreidekreis tanzte, die Arme weit ausgebreitet und die Finger jeder Hand so weit sie konnte abspreizend. Sie stellte sich das Gesicht der Gesuchten vor, die als zweitjüngste Nachfahrin ihrer ehemaligen Bundesschwester Eleonora Simona Cantafina lebte. Zwar hätte sie auch gerne deren Schwester Claudia und ihre Mutter Cassandra gerufen, doch nur Loredana konnte sie mit diesem Zauber rufen, weil sie sie gesehen hatte und für wenige Minuten in der Versammlungshöhle den hier wirkenden Zaubern ausgesetzt hatte. In den letzten Tagen hatte sie immer eine sehr schwache, wie ein fast verklungenes Echo wirkende Antwort erhalten. Sie hatte gerade so erkannt, dass Loredana weiter westlich sein musste als die Versammlungshöhle. Doch sie hatte sie nicht wirklich gefunden. Irgendwas schirmte sie gegen Ladonnas Suchzauber ab, das sie offenbar nicht durchdringen konnte. Dennoch wollte sie nicht aufgeben.
Die drei bisher üblichen Wiederholungen dieser Anrufung waren jetzt vollzogen. Doch diesmal erklang keine wie leise auch immer erfolgende Antwort. Auch beim vierten, fünften oder sechsten mal bekam Ladonna keine Rückmeldung, dass ihr Zauber die Gesuchte berührt hatte. Sie wusste, dass mit der Entfernung die Kraft des Zaubers schwand. Doch selbst wenn Loredana sich auf der anderen Seite der Weltkugel versteckt hatte würde sie sie mit ihrem Zauber doch irgendwann erreichen. Doch als sie nach der dreißigsten Wiederholung ihres magischen Rufes keine Rückmeldung bekommen hatte dachte Ladonna daran, dass Loredana Montanera womöglich nicht mehr leben mochte. Ja, so musste es sein. Ihre Kumpane hatten sie getötet, als sie denen verraten hatte, dass jemand auf magische Weise nach ihr suchte. Hatten sie das wirklich gewagt? Dann konnte Ladonna sie natürlich noch lange rufen. Allerdings widersprach das dem, was ihre neuen Schwestern vom Orden der Feuerrose berichtet hatten. Vita Magica tötete keinen magisch begabten Menschen, ob Freund oder Feind. Denen war magisches Blut zu wertvoll, um es sinnlos zu vergießen. Doch jedes Prinzip stieß irgendwann an eine Grenze, wo es in Frage gestellt werden musste, wusste sie auch. Zumindest hatte sie sich gegen erneute Überraschungsbesuche dieser Leute abgesichert. Wenn noch einmal solche Spionagegegenstände bei ihr auftauchen würden, so würde ihr nachträglich errichteter Portschlüsselzerstörungszauber diese unverzüglich vernichten. Dasselbe galt auch, wenn lebende Mitglieder dieser verruchten Bande es wagen mochten, sie hier in ihrer Versammlungshöhle zu belästigen. Die wussten das sicher und hatten deshalb ihrerseits die letzte Möglichkeit vereitelt, eines ihrer Verstecke zu finden.
"Nun gut, dann werde ich euch zu anderer Zeit auf andere Weise finden und heimsuchen", dachte Ladonna. Sie dachte auch daran, dass sie alleine ja eh nichts hätte tun können. Deshalb verließ sie die Versammlungshöhle wieder, um in ihrer vom Blutfeuernebel gesicherten Residenz auf das große Treffen am 24. Juni hinzuarbeiten.
"Das war dann wohl nichts mit der Thronfolge, Schwester Cloto", feixte Antigone Clopins Kopf, der gerade bei Cloto im Kaminfeuer hockte. Die Sprecherin der entschlossenen Schwestern Frankreichs verzog nur das Gesicht. "Dann hat sie dich auch angeschrieben, dass Schwester Solange uns am 24. Juni in der Versammlungshöhle treffen soll, um uns zu verkünden, wie es weitergeht?" fragte Cloto.
"Ja, wohl jede, die sie für wichtig genug hielt, das gleich zu wissen, dass sie noch lebt und dass sie einen Weg gefunden hat, unter dieser von diesen VM-Banditen doch sehr stark abgeschwächten Kuppel heraus etwas zu schreiben. Tja, Schwwester Cloto, da wirst du wohl weiter kleine Croissants backen müssen und hoffen, dass Solange Mutter Hera nicht verpetzt hat, dass du eine vorzeitige Neuwahl haben wolltest."
"Ich zieh dir gleich den Schürhaken über deinen Schädel, wenn du nicht augenblicklich respektvoller mit mir umspringst, Schwester Antigone", knurrte Cloto Villefort. Doch der Kopf mit den schwarzen Ringellöckchen verzog nur das Gesicht zu einem überlegenen Grinsen. "Du darfst keiner Schwester oder einem Angehörigen Leid antun, solange du nicht selbst angegriffen wirst, Schwester Cloto. Also lass bitte diese alberne Drohung! Ich wollte nur wissen, ob du's schon mitbekommen hast, dass Mutter Hera noch da ist und mit Hilfe dieser als Ashtaria-Tochter enthüllten wohl auch jederzeit aus Millemerveilles rausfliegen kann, falls sie das für nötig hält."
"Ja, aber nicht rausfliegt, weil da noch einige schwangere Hexen auf sie angewiesen sind, die ihr wohl noch helfen sollen, die Kuppel Sardonias gänzlich durchlässig zu kriegen, wenn geballte Liebeslust schon reicht, die Kuppel zu schwächen, auch wenn sie durch einen ganz miesen alchemistischen Trick entfacht wurde", knurrte Cloto Villefort. Zwar gehörte Antigone Clopin zu ihrer Gruppe der entschlossenen Schwestern, hatte aber nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie ebenfalls gerne deren Sprecherin geworden wäre. Aber sich offen zum Entmachtungsduell stellen wollte die dann auch wieder nicht. Und anderswo als in der eigenen Versammlungshalle durften sich Schwestern nicht tätlich angreifen.
"Ich habe ein reines Gewissen, was die Neuwahl angeht, Schwester Antigone. Außerdem hat Schwester Solange Fontier das ja auch befürwortet, darüber zu sprechen. Abgesehen davon kann es immer noch passieren, dass Sardonias Erbe doch noch die Oberhand gewinnt und dass Hera Matine wegen der nun wohl wieder auf den Weg gebrachten Hosenscheißerchen alle Hände voll zu tun hat und deshalb nicht von Millemerveilles wegkommt. Also werden wir uns am 24. Juni in der Versammlungshalle treffen, am Tag von Sardonias Untergang", grummelte Cloto Villefort. Antigones Kopf kippte einmal vor und zurück, was wohl ein Nicken sein sollte. "Bis dahin, Schwester Cloto! Semper Sorores!"
"Semper Sorores, Schwester Antigone!" grummelte Cloto Villefort. Daraufhin verschwand Antigones Kopf mit leisem Plopp aus dem Kaminfeuer.
Cloto Villefort ärgerte sich, weil Antigone recht hatte. Mit der "thronfolge" war es nun wohl lange nichts. Ja, und bei den zögerlichen musste sie wohl wirklich mehr Zurückhaltung üben, wenn sie nicht wollte, dass Hera Matine irgendwann andere Saiten aufzog und die heimlichen Anhängerinnen Sardonias nicht doch aus der Schwesternschaft verbannte. Das würde dann aber mit einem Gedächtnisverlust vom Zeitpunkt der Eingliederung her einhergehen. Das wollte Cloto auf gar keinen Fall riskieren, und selbst diese samtpfötigen Hexen wie Solange Fontier und eben Mutter Hera wussten das zu gut und konnten ganz geduldig abwarten, ob eine der Entschlossenen es wagen würde, sie offen anzugreifen.
Am frühen Abend wurde Cloto noch von Ossa Chermot vom Miroir Magique behelligt. Die Reporterin wollte unbedingt wissen, ob Cloto froh war, dass ihrem Neffen in Millemerveilles nichts geschehen war und ob sie nicht bei dessen Mutter Uranie Dusoleil anfragen wollte, ob sie ihn nicht doch einmal persönlich treffen konnte, falls die vom Konkurrenten Gilbert Latierre als Dämmerkuppel propagierte Abschottung aufzuheben sei.
"Sie dürfen ihren Leserinnen und Lesern von mir folgendes mitteilen, Madame Chermot: Seitdem Mademoiselle Uranie Dusoleil es vor fünf Jahren hinbekommen hat, mir den Umgang mit dem Sohn meines leider viel zu früh verstorbenen Bruders zu verbieten, bis Philemon volljährig ist, verschwende ich keine weitere Kraft darauf, mir vorzustellen, ihn jemals zu besuchen. Offenbar glauben viele in der Familienabteilung immer noch an diese Behauptungen, dass ich wegen meiner Vorfahren noch für Sardonias Weg eintrete und meinen Neffen womöglich verderben könnte. Das war damals eine schon sehr verleumderische Behauptung und wirkt bis heute noch nach. Leider konnten von dieser Frau, die meinen Bruder verführt hat, zu viele Beweise vorgelegt werden, dass der Junge in Millemerveilles und später Beauxbatons auch dann noch gut zurechtkäme, wenn er keinen Kontaktzu seiner Tante väterlicherseits habe. Ja, und weil diese unverheiratete Frau mit ihrem Bruder und dessen Frau im selben Haus wohnt haben die Beamten der Familienabteilung festgelegt, dass mein Neffe bei ihr besser aufwächst als bei einer alleinstehenden Hexe, die einen anstrengenden Beruf hat. Im Nachhinein stelle ich fest, dass ich damit im Moment besser reise, dass ich nicht weiter über diese Sachen nachdenke. Was soll also Ihre Fragerei, Madame Chermot?"
"Nun, immerhin haben viele magische Mitbürgerinnen und Mitbürger sehr erleichtert reagiert, als es wieder möglich wurde, Nachrichten aus Millemerveilles zu empfangen und dorthin zu schicken", erwiderte Ossa Chermot mit einem unschuldsvollen Lächeln. "Und da Sie damals ja angestrebt haben, den Sohn Ihres verstorbenen Bruders aufzunehmen war es nur verständlich, dass ich Sie auch frage, ob sie sich erleichtert fühlen."
"Weil Sie sonst keine Ruhe geben, Madame Chermot: Ja, ich bin erleichtert, dass der Sohn meines Bruders noch lebt und nicht durch die Machenschaften von Vita Magica verhungert ist, was durchaus hätte passieren können, wenn ich unter anderem Ihre Berichterstattung für bare Sickel nehmen soll."
"Na ja, im Grunde habe ich ja nur die Möglichkeit, die Reportagen von Madame Latierre aus Millemerveilles zu lesen, und mein Redakteur hat die klare Anweisung ausgegeben, alles was Millemerveilles angeht aus anderen Quellen zu schöpfen. Deshalb wollte ich wissen, ob Mademoiselle Dusoleil sie vielleicht angeschrieben hat, dass es dem kleinen Philemon gut geht."
"Ja, und am besten noch, dass er in neun Monaten ein oder zwei Halbgeschwisterchen kriegt, wie?!" stieß Cloto aus. Ossa Chermot war jedoch so eiskalt wie Gletschereis und zuckte mit keiner Wimper. "Wovon träumen Sie und Ihr Chefredakteur eigentlich nachts, wenn Sie am Tag schon derartige wirklichkeitsfremden Anwandlungen haben?" schickte Cloto noch hinterher. Ossa Chermot erwiderte darauf:
"Dann hoffen Sie also nicht, dass Sie Ihren Neffen eines Tages besuchen können?"
"Wie schon erwähnt gibt es eine klare Verfügung der Familienstandsabteilung des Zaubereiministeriums, dass ich Philemon Dusoleil nicht vor Vollendung seines siebzehnten Lebensjahres sehen, sprechen oder gar anschreiben darf. Insofern ist dieser Tag noch mehr als elf Jahre entfernt. In der Zeit kann so viel geschehen", sagte Cloto Villefort. Das nahm Ossa Chermot als ergiebige Ausbeute ihres Überfalls auf die alleinstehende Hexe. Sie verabschiedete sich höflich und flog auf ihrem Besen davon.
"Habe ich mich doch von dieser Sabberhexe zu einer Ausfälligkeit hinreißen lassen", knurrte Cloto, als sie sicher war, dass ihr keiner mehr zuhörte. Natürlich schmerzte es sie immer noch, dass diese ledige Hexe Uranie Dusoleil ihr den Umgang mit dem Sohn ihres Bruders verbot und dass Cloto nicht einmal persönlich nach Millemerveilles hatte reisen können, um sich mit ihr auszusprechen, bevor diese verflixte Verfügung erlassen wurde. Denn die Kuppel hätte sie schon damals nicht eingelassen, weil sie einen Zauberer getötet hatte, der im Begriff war, die entschlossenen Schwestern auffliegen zu lassen. Seitdem galt für sie Sardonias und ihrer Nachfolger Abwehrzauber gegen Feinde Millemerveilles. Natürlich ärgerte sie sich, dass Philemon von diesen Ablehnern Sardonias beeinflusst werden konnte. Ja und seitdem sie wusste, dass dessen Tante mütterlicherseits wohl auch zu diesen ominösen Kindern Ashtarias gehörte war ihr klar, dass Philemon niemals die wahre Vorherrschaft der Hexen anerkennen und sich fügen würde, wenn der Tag kam, an dem sie ihr Recht erhalten würde.
Um sich von den aufwühlenden Minuten der unerbetenen Befragung abzulenken wollte Cloto noch in einem Buch über skandinavische Hexen lesen, die zwischen der schamanistischen Magie der Nomadenvölker und den angeblich von Gott Odin erfahrenen Runenkunde pendelten.
Sie las gerade ein Kapitel über eine isländische Hexe namens Inga Marnesdottir, die im 17. Jahrhundert, also zu Sardonias Lebzeiten, einen Zauber entwickelt haben sollte, um bis zu 21 Trolle zu unterwerfen, um diese als persönliche Leibgarde einzusetzen, als ein Waldkauz vor ihrem Fenster rief. Sie dachte an ihre Mitschwestern, von denen vier einen Waldkauz als Posteule hatten. Deshalb ging sie an das verschlossene Fenster und öffnete es. Die Läden waren magisch verriegelt. Nur mit dem entsprechenden Zauber konnte Cloto sie aufspringen lassen. Da segelte ein Waldkauzweibchen herein und zeigte ihr einen kleinen Leinenbeutel, der an seinem rechten Bein angebunden war. Sofort umfloss den Leinenbeutel ein grünliches Licht. Das war ein Fluchabwehrzauber, den Cloto eingerichtet hatte, wenn doch mal wer versuchen wollte, sie mit einem verfluchten Gegenstand zu verwünschen. Der Waldkauz versuchte sofort, wieder hinauszufliegen. Doch das grüne Licht hielt den an ihm angebundenen Beutel fest umschlossen und hinderte den Vogel an der schnellen Flucht.
"Tja, Mademoiselle, da wirst du mir gleich mal verraten dürfen, wer dich zu mir geschickt hat", dachte Cloto und setzte an, die Eule zu legilimentieren, um aus ihrem Tiergedächtnis Bilder des Menschen zu finden, von dem die Eule losgeschickt worden war. Doch in dem Moment, wo sie "Legilimens", dachte glühte das grüne Licht um den Beutel noch heller auf. Dann zerfiel der Leinenbeutel in grünlichem Feuer. Ein unförmiger grün strahlender Brocken fiel heraus und landete auf dem Boden. Eine Kaskade grüner Blitze schoss an die Decke. Das Waldkauzweibchen schrie laut auf und schwirrte wie vom Katapult geschnellt an Clotos Kopf vorbei durchs Fenster davon.
Aus den grünen Blitzen wurde eine blutrote Flammengarbe, die bis zu zwei Metern aufragte und sich zu einer brennenden Rose verformte. Cloto erstarrte so heftig vor Schreck, dass sie nicht mehr rechtzeitig reagieren konnte. Ladonna Montefiori hatte ihr eine ihrer Feuerrosen geschickt, und die hatte den Flucheinschließungszauber Clotos gesprengt. Jetzt kippte der brennende Blütenkelch in Clotos richtung. Dann hörte sie die glockenreine Stimme einer Frau daraus zu ihr sprechen und wusste sofort, dass sie verloren war.
Die Sprecherin der entschlossenen Schwestern Großbritanniens einschließlich Irland prüfte noch einmal, ob die von ihrer nicht so hoch geschätzten aber immer noch anerkannten Gesamtsprecherin empfohlenen Schutzzauber wirkten. Sie brauchte keinen Sanctuafugium-Zauber. Sie hatte gegen verschiedene Flüche entsprechende Abwehrzauber errichtet. Feinde kamen nicht einmal auf hundert Meter an ihr Haus heran. Immer wieder gingen ihr die Worte dieser strohblonden Junghexe Pina Watermelon durch den Kopf, dass Ladonna sich Helfer auf der anderen Seite sichern wollte. Wenn die sich erst die Italiener vorknöpfte bekam die sicher bald heraus, wer in anderen Ländern wichtig war. Aber was immer sie ihr zuschicken würde, es kam nicht bis zu ihr durch, ohne vernichtet zu werden. Deshalb würde sie gleich ganz ruhig schlafen.
Sie wollte sich gerade zur Nacht umziehen, als sie ein leises Brummen hörte, dass immer lauter wurde. Es klang wie ein besonders tiefer Akkord, der von mindestens vier Kontrabässen gleichzeitig gespielt wurde. Das war nicht ihr üblicher Meldezauber. Das Brummen wurde noch lauter, ja fast schmerzhaft. Auch fühlte sie, wie es ihre Eingeweide durchwalkte. Sie ergriff ihren Zauberstab und führte einen Prüfzauber aus. Unter dessen Wirkung sah sie, wie um sie herum wild erzitternde Schlangen aus tiefblauem Licht durch die Luft glitten und dabei immer mehr und immer länger wurden, bis sie am Höhepunkt des unerträglichen Akkordes hundert von diesen blauen Lichtschlangen sah. Die Lichtschlangen standen für auf andere Zauber einwirkende Kraftströme. Doch diese Art von Zauber kannte sie noch nicht. Sie erschrak. Wenn das wirklich ein Angriff war ... Ihre Ohren, ihr Kopf und ihr Bauch schmerzten von der Schallfolter. Dann ebbte das unerträgliche Gebrumm wieder ab. Ursina fühlte, wie etwas aus der Luft verschwand. Sie fühlte sich irgendwie leichter an. Es vergingen zehn Sekunden wohltuender Stille. Dann fing es wieder an, erst nur als dumpfer Druck auf die Ohren und den Bauch, um dann wieder hörbar und unerträglich laut zu werden. Ursina vollführte noch einmal den Prüfzauber und erkannte jetzt, dass der magische Angriff über ihre eigenen Schutzzauber geführt wurde. Irgendwas entzog ihren Schutzbannen Kraft, um sie dann als Gegenkraft wie beim schwarzen Spiegel zurückzuwerfen. Die Sprecherin der entschlossenen Schwestern erkannte, dass jemand einen Weg gefunden hatte, ihre eigenen, aus den dunklen Künsten entlehnten Schutzbanne zu einem flächendeckenden Angriffszauber zu machen. Konnte das Ladonna Montefiori sein, oder war es ... Sie schrie gegen das ihren Kopf und ihre Eingeweide durchrüttelnde Getöse an. Kleine Blitze zuckten vor ihren Augen. Diesmal wurde das Brummen so laut, dass Ursina meinte, jemand zersprenge ihr den Kopf und breche ihr gleich alle Knochen. Dann ebbte diese Welle dunkler Töne wieder ab. Die Schmerzen ließen nach. Doch ein dumpfes Pochen in ihrem Kopf blieb. Ursina konnte durch die pulsierende Mauer aus Schmerzen erkennen, dass die dritte Welle sicher noch stärker würde. Wenn das so weiterging würde sie entweder wahnsinnig oder an inneren Verletzungen sterben. Wer immer sie so angriff konnte in aller Ruhe abwarten, bis sie tot war oder in Panik ihr Haus verließ. Ja, das waren ihre Möglichkeiten, verrecken oder flüchten, hinaus aus dem Schutzbereich, der ihr gerade zur gnadenlosen Foltervorrichtung geworden war. Was hatte sie beim Treffen der Schwestern getönt? Sie brauchte kein Sanctuafugium. Ja, auch Erin O'Casy hatte so getönt.
"Und du krigst mich nicht zu fassen", knurrte Ursina, als der Brummakkord schon wieder hörbar wurde. Sie schaffte es noch, sich auf dem Absatz zu drehen und zu disapparieren. Die sie einquetschende schwarze Enge war im Vergleich zu dem Gebrumm eine Wohltat. Als die Welt um sie herum wieder weit und mit ein wenig Licht erfüllt war atmete sie kurz auf. Doch sie war nicht dort, wo sie sein wollte. Sie stand nicht vor der kleinen Hütte, in der sie ab und an ihre Versuche mit Zauberpflanzen machte. Sie stand nur zweihundert Meter von ihrem Haus entfernt, außerhalb des Schutzbanns und neben einem Baum, in dessen Wipfel etwas hockte, dass unheimlich aussah.
Es war wie ein langer, schwarzer Rüssel, der unablässig vibrierte und der irgendwie aus der Astgabel hervorlugte. Ursina sah, dass das Ende des dicken schwarzen Schlauches oder Rüssels an ihrem Grundstück angrenzte und in einer Art Trichter auslief. Sie erkannte, dass sie unmittelbar bei der Quelle der sie peinigenden Kraft gelandet war. Sofort wollte sie wieder disapparieren. Doch da schlang sich etwas wie eine schwere, unsichtbare Decke um sie und hinderte sie, in den Transit zwischen Ausgangsort und Zielort einzudringen. Die Falle hatte doch noch zugeschnappt, erkannte Ursina, als aus dem Baum ein kleiner Leinenbeutel herabfiel und genau vor ihr auf dem Boden landete. In dem Moment verschwand auch der nachtschwarze Schlauch mit dem trichterförmigen Ende. Doch dafür schnellte unmittelbar vor ihr eine hellrote Flammensäule aus dem Leinenbeutel. Die Flammensäule wurde zu einer lodernden,überlebensgroßen Blume, einer einzelnen Rose, keinem Rosenstrauch. Damit hatte es Ursina nun gewissermaßen amtlich, dass Ladonna Montefiori, die sie auch Rosenkönigin nannten, hinter diesem Angriff steckte. Doch die Gedanken an sie verflogen erst einmal, als sich der brennende Blütenkelch Ursina zuneigte und weit öffnete. Dann hörte sie zum ersten mal in ihrem Leben die Stimme Ladonna Montefioris.
"Erkenne mich, Ladonna, als deine Königin an oder stirb sofort!
Erkunde den Ort des Turms der tausend Tränen und bring am vierundzwanzigsten dieses Monats zur dritten Stund' nach Mitternacht zehn deiner wichtigsten Mitschwestern dort hin oder zerplatze am befohlenen Tage!
Sage den zehn, die du auswählst, es gehe um eine Erbschaft Sardonias, die an der Nordseite des Turmes begraben ist oder sei selbst von der Erde verschlungen!
Verheiße ihnen einen Sieg über mich und eine Vormachtstellung in den Reihen aller Schwestern, wenn du das Erbe birgst und mit den Zehn davon bringst oder verwelke wie die Blume unter der Sommersonne!
Verrate nicht in Schrift noch Wort, dass du meine Botschaft erhalten hast oder zerspringe in millionen Stücke!
Ursina hörte die Botschaft, und der darin eingewirkte Erfüllungsfluch ließ ihren Kopf und ihren Körper erbeben. Allein der Gedanke daran, sich dagegen aufzulehnen ließ sie fühlen, dass es gleich mit ihr vorbei sein konnte. Doch sie wollte nicht sterben, nichthier und nicht auf so grauenvolle Weise. Das war die andere Seite des Erfüllungsfluches, dass er den Überlebenswunsch verstärkte. Beinahe wie im Traum sah sie, wie die brennende Rose in sich zusammenfiel und in einem glühenden Kohlestück im aufgerissenen Leinenbeutel verschwand. Das Kohlestück zerfiel in einer Flammenwolke zu Asche. Der Leinenbeutel zerfiel in rußige Fetzen.
Beinahe wie in Trance ging Ursina in ihr haus zurück. Die Befehle der neuen Königin klangen wie ein unheimliches Echo in ihren Gedanken nach. Sie sollte den Turm der 1000 Tränen finden und zehn ihrer wichtigsten Mitschwestern dorthinbringen, wohl gemerkt ihrer treuen Schwestern. Zu gerne würde sie Sophia Whitesand dorthin mitnehmen, auch wenn sie nicht wusste, warum überhaupt. Doch sie hatte den Befehl, ihre Getreuen zu wählen. Sie fühlte nun die Müdigkeit, die sie bis eben noch verdrängen konnte. So zog sie ihre Nachtbekleidung an und legte sich schlafen, nun sicher, dass sie in dieser Nacht nicht mehr behelligt würde.
Sie wähnte sich sicher, dass niemand ihr hier was anhaben konnte. Denn im Abstand von zweihundert Metern umstanden zwölf hohe Bäume das Haus, in denen durch verschiedene Blutopfer aus den Reihen dunkler Druidinnen und Druiden wirksame Feindes- und Waffenzerstörungsflüche eingewoben waren. Zudem umspannten mehrere auf Steine gewirkte Zauber das Haus, die ebenfalls gegen feindliche Zauber und Wesen wirkten.
Erin wollte sich gerade schlafenlegen, als sie ein dumpfes, mehrstimmiges Brummen hörte, das immer lauter wurde. Es drang in ihre Ohren und rüttelte an ihrem Bauch. Die ganze sie umgebende Luft erbebte. Erin stöhnte auf, als der unheilvolle Akkord so laut war, dass ihr Kopf und ihre inneren Organe schmerzten. Dann ebbte es wieder ab. Dabei schien die Luft von allem belastenden Staub gereinigt zu werden.
Erin erkannte, dass jemand sie mit magisch versetztem Schall oder dergleichen angriff. Sie pflückte schnell die unsichtbaren Ohrenschützer über ihrem Bett herunter, die sie für diesen Fall bereithielt. Sie wollte dann noch Kissen unter ihre Unterwäsche stopfen.
Wieder setzte das unheimliche Gebrumm ein, schien sogar noch um einen halben Ton tiefer zu sein als beim ersten mal. Denn Erin spürte es schon in Kopf und Bauch, bevor sie es hörte. Schnell zog sie die Ohrenschützer über. Damit waren ihre Ohren zwar sicher, aber das unheimliche Geräusch rüttelte immer noch an allen Hohlräumen in ihrem Körper.
Die Besitzerin dieses Hauses wusste, dass sie nicht die Zeit hatte, sich Kissen unter die Kleidung zu stopfen, um diese Folter früh genug abzuwehren. Ihr blieb nur eins, disapparieren. Sie wollte in eine der vielen Höhlen an der irischen Westküste flüchten. Doch als sie aus dem Transit zwischen Start- und Zielpunkt heraustrat stand sie nicht in einer Höhle, sondern gerade neben dem höchsten Eichenbaum, den ihre Vorfahren vor über siebenhundert Jahren gepflanzt und bezaubert hatten.
Erin wunderte sich, warum ihr magischer Sprung nicht ans gewünschte Ziel geführt hatte. Sie dachte erst an den Locattractus-Zauber. Doch den musste jemand auf den Boden selbst aufbringen, und das hätten ihre Meldezauber garantiert erspürt. Doch warum stand sie neben dem alten Eichenbaum?
Sie verdrängte die erste Regung, die Ohrenschützer abzunehmen, um zu hören, was hier los war. Sie wirkte statt dessen den Homenum-Revelius-Zauber. Doch im Umkreis von hundert Metern war kein anderes menschliches Wesen außer ihr. Dann sah sie, wie aus dem weit ausladenden Wipfel der Eiche etwas herausfiel. Sie erkannte den fallenden Gegenstand als kleinen Leinensack. Aus dem Sack ragte ein dicker, völlig schwarzer Schlauch, schon eher einem gigantischen Rüssel gleich heraus, dessen Ende als weit geöffneter Trichter in der Luft hing.
Erin sah noch einen Steinkauz, der im Eiltempo davonflog. Also hatte der diesen Beutel zu ihr geschafft, aber nicht zu ihr ans Haus bringen können. Das hieß, dass der Beutel und/oder sein Inhalt verflucht waren. Aber woher wusste dieser Vogel das? Und wieso war dieser schwarze Schlauch erschienen, der nun wieder ganz stark zitterte. Der arme Brandon hörte wohl wieder einen unerträglich lauten Brummakkord. Da begriff Erin, dass dieser Schlauch aus Magie seine Kraft bezog und Flächenzauber offenbar mit passenden Gegenzaubern in Schwingungen versetzte. Das war wie bei einer Violinensaite, die den Corpus des Instrumentes zum mitschwingen brachte. Diesen Zauber kannte sie noch nicht. Doch ihr war klar, dass der Beutel die eigentliche Gefahr war. Sie war gezielt hier an dieser Stelle erschienen, weil ein Locattractus-Zauber sie dorthingezogen hatte. Doch wer hatte den auf ihrem Grundstück einrichten können, ohne von den Feindesabwehrzaubern zurückgewiesen zu werden?
Sie dachte einen Moment daran, die Ohrenschützer abzunehmen, um zu lauschen, ob jemand in der Nähe lauerte. Doch dann fiel ihr siedendheiß ein, dass dies wohl verkehrt sein mochte. Was wenn in dem Beutel ein verfluchtes Ding war, dass über eine eingelagerte Botschaft einen Erfüllungsfluch auf sie legte? Sie ärgerte sich, dass sie mehr Fragen als Antworten hatte. Jedenfalls wollte sie den Beutel nicht behalten. Sie zielte mit dem Zauberstab darauf und versuchte, ihn einfach verschwinden zu lassen. Doch der Verschwindezauber zersprühte in grünen und weißen Funken. Auch ein Teleportationszauber misslang. Da erkannte Erin, dass jemand den Beutel mit einem Zauber gegen Fremdversetzungen oder Fernlenkungen belegt haben musste. Wenn dann auch noch eine Art schwacher Locattractus-Zauber darin eingewirkt war, der für eine kurze Zeit auf kleinem Raum einen Apparator einfing und womöglich nicht mehr disapparieren ließ blieb nur eines, sie musste das Ding aus gewisser Entfernung zerfluchen.
Erin tat einen Schritt zurück. Es gelang. Dann ging sie noch zwei Schritte zurück. Auch das klappte. So zog sie sich zwanzig Schritte weit zurück und zielte auf den Leinenbeutel, der gut und gerne zehn Meter von der Eiche entfernt gelandet war. Das war ausreichend weit weg für den Bollidius-Zauber. Da sie mit ihrem Blut eine Art Zauberberechtigung auf diesem Grundstück besaß würden die von Brandon und ihr errichteten Abwehrzauber sie nicht behelligen. "Bollidius!" rief sie, was sie nur daran merkte, dass sie ihren Mund bewegte und das Wort ganz dumpf in ihrem Kopf nachklingen hörte. Sie sah, wie ein blau-grüner Feuerball aus ihrem Zauberstab herausschoss, durch die Luft raste und punktgenau dort aufschlug, wo der Leinenbeutel lag. Jetzt müsste er explodieren, dachte Erin. Doch statt dessen schrumpfte der Feuerball innerhalb einer Sekunde in sich zusammen und erlosch. Das kannte sie noch nicht. Das wiederum ärgerte sie noch mehr. Denn sie hatte sich bisher immer viel auf ihre verschiedenen Zauberkenntnisse auch aus anderen Magiegebieten eingebildet. Wer konnte denn einen Feuerballzauber derartig schlucken? Wieder eine Frage mehr, die sie nicht beantworten konnte. Oder doch? Sie erschrak über die einfache Antwort: Ladonna Montefiori! Sie mochte wegen ihrer Veela- und Waldfrauenabstammung zu solchen Sachen fähig sein. "Reducto!" rief sie nun. Ihr Zauber schlug wie ein Blitz auf den Beutel über und sprühte in violetten und blauen Blitzen auseinander. Doch mehr geschah nicht. So versuchte sie es mit dem letzten Vernichtungsmittel überhaupt: "Avada Kedavra!" rief sie aus.
Aus ihrem Zauberstab schnellte ein greller grüner Blitz auf den Leinenbeutel zu. Doch in einem winzigen Bruchteil einer Sekunde vor dem Auftreffen verschwand der Beutel. Der Fluch schlug in den Boden ein. Erin fühlte einen kurzen Erdstoß und sah, wie an der Einschlagstelle eine Fontäne aus glühender und dampfender Erde herausschoss. Sie hatte mit ihrem Todesfluch eine mehr als zwei Meter lange, etwa einen Meter tiefe Furche gesprengt. Wo war der Leinenbeutel abgebliben?
Erin eilte schnell an die Stelle, wo ihr Todesfluch den Boden getroffen hatte und blickte in die noch qualmende Furche hinein. Dass der Todesfluch derartig wirkte hatte sie bisher nicht gewusst. Sie bückte sich und sah hinunter. Da schlug etwas von oben auf ihren Hinterkopf und rutschte ab. Erin erschrak und sprang einen Schritt zurück. Dann sah sie ihn.
Genau vor ihr lag der verdächtige Leinensack und schien sie regelrecht zu verhöhnen. Er lag ganz unversehrt und scheinbar völlig unschuldig, ein kleiner Leinenbeutel mit einer durchtrennten Schnur. Sie konnte nun sehen, dass in dem Beutel ein Gegenstand war, der eckig zu sein schien. Erin bückte sich ... und zuckte noch einmal zurück. Sie durfte dieses Ding auf gar keinen Fall anfassen, um keinen durch Berührung wirksamen Fluch abzubekommen. Doch Ihr Unglück war bereits angerichtet. Denn als sie gerade zurückwich, um zu überlegen, wie sie dem Beutel doch noch beikommen konnte, brach aus demselben eine blutrot leuchtende Flamme und schnellte zu einer knapp zwei Meter hohen Säule empor. Diese wurde zu einer überlebensgroßen Blume, Stengel und Blütenkelch nach eine Rose. Eine Rose? Was hatten ihre Mitschwestern erzählt? Ladonna Montefiori hatte damals einen Orden der Feuerrose gegründet und in den damaligen Kleinstaaten Italiens ein ähnlich dunkles Regime geführt wie Sardonia in Frankreich und anderswo. Also war das da vor ihr wahrhaftig von Ladonna Montefiori.
Der Blütenkelch kippte in ihre Richtung. Dann klappte er auff und zu, immer wieder, als müsse er Luft schnappen oder wolle ganz schnell irgendwas auffressen. Erin erkannte, dass dieses Ding da vor ihr wohl was zu ihr sagen wollte. Doch mit ihren Ohrenschützern hörte sie es nicht. Das ließ sie triumphieren. Denn so würde Ladonnas Angriff wortwörtlich unhörbar verpuffen. Doch die irische Hexenschwester frohlockte zu früh. Schlagartig schnellten zwei fingerdünne flammenzungen aus dem ihr zugeneigten Blütenkelch und trafen zielgenau die zwei aufgesetzten Ohrenschützer. Diese waren zwar gegen gewöhnliches Feuer gefeit. Doch das magische Feuer aus der brennenden Rose war wohl heiß wie Drachenfeuer. Denn es brannte sich in die gepolsterten Ohrenschützer hinein. Diese wurden unerträglich heiß. Erin erkannte, dass die zwei Flammen ihr gleich die Ohren und womöglich auch das Gehirn aus dem Schädel brennen würden. Ohne groß zu bedenken, was sie tat ließ sie mit dem Zauberstab ihre Ohrenschützer vom Kopf davonfliegen. Die beiden bis dahin so wichtigen Hilfsmittel trudelten wie schwach lodernde Feuerräder durch die Luft und landeten auf dem Boden. Noch ehe Erin erkannte, dass die beiden dünnen Flammenstrahlen nicht weiter in ihren Kopf hineindrangen öffnete sich der ihr immer noch zugeneigte Blütenkelch, und sie hörte die glockenreine Stimme jener, die unbedingt mit ihr in Verbindung treten wollte und es am Ende auch wirklich geschafft hatte.
Erin erstarrte, als Ladonnas mehrteilige Botschaft und die darin enthaltenen Todesandrohungen über sie hereinbrachen. Erst als sie die Botschaft wortwörtlich in sich aufgenommen hatte und die Feuerrose in sich zusammenfiel löste sich ihre Anspannung. Dafür durchdrang sie nun die Macht des Erfüllungsfluches. Sie musste alles befolgen, was ihr aufgetragen worden war. Sie musste zehn ihrer treuesten Schwestern zusammenbringen und diesen Turm der 1000 Tränen suchen. Denn dort sollte sie zur dritten Tagesstunde des 24. Juni sein, warum auch immer. Dass sie es musste stand nun außer Frage, ebenso dass Ladonna Montefiori eine mächtigere Hexe war als sie, die unbeirrbare Irin Erin O'Casy.
Espinela erwachte, weil irgendwas feindliches sich ihrem Haus näherte, etwas, das in etwas eingeschlossen war. Sofort sprang sie aus ihrem Bett. Mit drei Worten aus der Sprache der Veelas verstärkte sie die um ihr Haus aufgebauten Schutzzauber. Was sich ihr immer näherte würde den tanzenden Feuern anheimfallen, einer Art Dämonsfeuer, den nur jene Veelas und Veelastämmigen ausführen konnten, deren Ureltern im roten Schein der auf- oder untergehenden Sonne geboren worden waren. Da sie von solchen Veelas abstammte und zudem die magischen Fähigkeiten einer Hexe anwenden konnte war das für sie kein Akt, ihr Haus mit einer solchen unheimlichen Leibwache zu umstellen.
Sie lauschte. Ja, da fauchte und zischte es auch schon los. Dann hörte sie einen lauten Schmerzens- oder gar Todesschrei. Es war der Todesschrei eines qualvoll verendeten Vogels. Doch das feurige Fauchen draußen hörte nicht auf. Also war das feindliche, was die Flammen zerstören sollten noch da.
Die rothaarige Hexe mit den goldbraunen Augen schlüpfte in eine scharlachrote Drachenhautkombination, die wie eine zweite Haut anlag. Das war ihr persönlicher Kampfanzug. Dann ergriff sie ihren zwölf Zoll langen Eschenholzstab, in dem ein Haar ihrer Urgroßmutter verarbeitet war und eilte so leise sie konnte zu einem der großen Fenster. Da sah sie sie, die tanzenden Feuer. Es war, als würden die Geister brennender Menschen über ihr Grundstück huschen, blassgelb leuchtend und dort, wo sie etwas ihr feindliches erfassten grellblau aufzulodern und was immer zu verschlingen, auf dass es zu nichts als Asche verbrannte. Gerade eben schoss eine solche hellblaue Flamme auf. Espinela musste die Augen zusammenkneifen, um nicht vom grellen Schein geblendet zu werden. Die blaue Flamme stand auf der Stelle und schüttelte sich wie eine Pappel im Sturm. Dann dunkelte sie schlagartig wieder ab und fiel in sich zusammen. Dabei fiel etwas heraus, dass von einer violetten Sphäre umhüllt wurde. Gerade sprang eine weitere blassgelbe Flamme heran und überdeckte den fremden Gegenstand. Wieder loderte laut fauchend eine grellblaue Flamme auf. Wieder schwankte diese heftig hin und her, bevor sie abdunkelte und in sich zusammenfiel. Espinela fühlte, dass ihre aus reinem Zauberfeuer bestehende Schutztruppe gegen das unheimliche Mitbringsel des getöteten Vogels nicht ankam. Sie hatte sechsunddreißig solcher Flammen auf ihrem Grundstück verteilt. Wenn die alle erloschen war ihr Haus zur Hälfte schutzlos. Da half nur eines, sie musste dem Ding selbst zu Leibe rücken.
Mit den Worten der gebotenen Ruhe ließ Espinela die noch tanzenden Flammen im Boden verschwinden und erlöschen, aber so, dass sie sie jederzeit wieder hervorrufen konnte. Dann apparierte sie zielgenau neben dem Beutel. Sofort fühlte sie die Belauerung darin. Doch da war noch was, etwas wie ein Feuer, das auf einen kleinen Punkt verdichtet war und nun, da sie in seiner Nähe stand, immer stärker wurde. Also das hatte ihr Angreifer vor, dachte Espinela. Doch dem konnte sie beikommen. Sie zielte mit dem Zauberstab auf den vor ihr liegenden Leinenbeutel und zischte drei Worte aus der Sprache der Veela, wobei sie an eine lodernde Flamme dachte, die sich vor ihr in einen Eiskristall verwandelte. Tatsächlich erstarb das gerade seine Umhüllung durchdringende Feuer und gefror wie ein Wassertropfen, der auf winterkaltes Metall trifft. Espinela wiederholte diesen Zauber noch fünfmal, um alle Richtungen des Raumes abzudecken, damit das in dem Beutel eingesperrte Feuer keinen Ausweg finden konnte. Dann besah sie sich den Beutel. Der war mit nachtschwarzem Haar zugebunden. Sie fühlte sofort, dass es das Haar eines mächtigen Zauberwesens sein musste, wohl ähnlich wie sie selbst. Dann begriff sie, wer ihr diesen Überraschungsbeutel zugestellt hatte. "Willst du mir den Krieg erklären, wachgeküsste Prinzessin der Nacht?" fragte sie in Richtung des Leinenbeutels. "Gut! Kriegserklärung hier mit angenommen!" zischte sie dann noch. Dann trat sie einige Schritte zurück, zielte mit dem Zauberstab auf ihren Kehlkopf und murmelte "Sonorus!" Dann holte sie ganz tief Luft, dass jeder heißblütige Jünglin in ihrer Nähe Stielaugen bekommen hätte und summte dann einen ganz reinen Ton, der durch ihren Stimmverstärkerzauber noch lauter in der Umgebung erklang. Doch die Schallschwingungen trafen hauptsächlich auf den Leinenbeutel und dessen Inhalt. Sie hielt den klaren Ton, der beim Widerhall ein merkwürdiges Schwirren hervorrief. Dann stieß sie die restliche Atemluft in einem einzigen lauten schrillen Ton aus. Es krachte laut, als der Inhalt des Beutels zerbarst. Blaue Flammen schlugen aus dem Beutel und verwandelten sich in weißen Dampf. Der Leinenbeutel zerfiel dabei zu einem Geflecht aus verkohlten Fasern. Dann war es vorbei. Was immer ihr zusetzen sollte war wahrhaftig vernichtet. "Wie gesagt, Nachttgeborene, die Kriegserklärung ist angenommen", widerholte Espinela ihre Ankündigung, auch wenn sie nun sicher sein musste, dass sie niemand hörte. Denn sie fühlte keine feindliche Aura in der Nähe, und auch der Menschenfindezauber zeigte niemanden in einer Kugelzone mit einem Halbmesser von 100 Metern. Espinela hob den Sonorus-Zauber wieder auf und kehrte in ihr Haus zurück. Es galt, den Gegenschlag vorzubereiten, bevor ihre neue Gegnerin ihrerseits einen zweiten Angriff starten würde. Offenbar wollte die es so haben, dass eine Veelastämmige von einer anderen Veelastämmigen bekämpft wurde. Auch wenn sie sie nicht töten durfte. Hierfür würde sie jedenfalls all ihr Wissen und ihre eigenen Kinder einbeziehen. Denn sie wusste von ihren Vorfahren, dass die von einer Nachtveela abstammende Dunkelhexe, die zwei Mütter gehabt haben sollte, im Moment wohl nicht mit ihren lebenden Blutsverwandten in Verbindung stand. Sie wollte aber auch nicht auf die reinrassigen Veelas zugehen, um sich zu erkundigen. Sie wollte und würde das mit der Prinzessin der Nacht, wie sie Ladonna nannte, ausfechten. Falls Ladonna sie dabei tötete würde sie zum einen große Schmerzen erleiden und zum anderen zur Geächteten aller Veelas der Erde. Gleiches drohte zwar auch Espinela, wenn sie Ladonna tötete. Doch es gab so viele Möglichkeiten, jemanden zu bannen, ohne ihn oder sie gleich zu töten.
Ladonna hatte jeden Leinenbeutel, in dem eine Feuerrose eingelagert war, mit dem Zauber "Dunkler Ruf der Nacht" versehen, einem Zauber, der gezielt gegen jede Form dunkler Magie wirkte. Diesen Zauber hatte sie selbst erfunden und keiner ihrer Mitschwestern beigebracht. So konnte sie sicher sein, dass nur sie ihn kannte. Dieser Zauber wirkte wie ein Ansaugrohr für dunkle Zauber, die einen bestimmten Raum überspannten und Feinde oder verfluchte Dinge zerstören konnten. Wenn eine Eule fühlte, dass sie in einen Raum hineinflog, der mit dunklen Kräften aufgeladen war, würde sie sofort umkehrenund auf dem größten Baum landen. Dort würde dann durch die Kraft des Baumes und der Erde wie der Nachtdunkelheit der dunkle Ruf der Nacht erklingen, der das Gefüge aus dunkler Zauberkraft in tiefe Schwingungen versetzte. Sie wusste, dass niemand es mehr als vier Durchgänge lang aushielt, in diesem Zauber zu sein. Bei Versuchen mit Nagetieren hatte sie nach sieben Runden Blut aus Ohren und Nase laufen gesehen. Bei der Untersuchung der verendeten Tiere hatte sie ermittelt, dass sämtliche inneren Organe aufgeplatzt oder zerrissen worden waren und das Gehirn in einzelne Nervenfasern auseinandergerissen worden war. Entweder würde also die Empfängerin ihr sicheres Haus verlassen und in den kurzfristigen, nur fünfhundert Meter reichenden Locattractus-Zauber geraten und dann die Feuerrose mit der eigenen Lebensausstrahlung zum erblühen bringen, oder sie würde qualvoll in ihrem sicheren Versteck verenden und selbst nach dem Tod noch vom dunklen Ruf der Nacht innerlich zerrissen werden. Erst mit dem Morgen würde der gnadenlose Zauber abklingen. Wenn sie bis dahin nicht aus dem Haus gekommen war würde die Eule den Beutel wieder aufnehmen und davonfliegen.
Des weiteren hatte sie an jede Feuerrose eine Art Rückmeldezauber gekoppelt, der ihr zeigte, dass sie erblüht war und ihre Empfängerin auch ansprechen konnte. Um sicherzustellen, dass die Empfängerin auch hörte hatte sie zu ihrem üblichen Feuerrosenzauber noch einen Zauber eingewirkt, der Echodomus-Zauber oder tote Ohrbedeckungen auflöste. Immerhin kannte sie ja schon die sehr nützlichen Alraunen-Ohrschützer.
Auf diese Weise bekam sie mit, dass sechs der sieben von ihr ausgeschickten Botinnen ihre Empfängerinnen erreichten und ihnen hörbar die eingewirkten Botschaften zuriefen. Bei dreien hatte es ein wenig länger gedauert, auch weil wohl jemand meinte, den Leinenbeutel aus sicherer Entfernung mit allen möglichen Zerstörungszaubern behexen zu müssen. Allerdings hatte sie bei der nach Spanien geschickten Sendung eine Art lauten Todesschrei aus ihrer Feuerrose mitbekommen, sowie eine Welle aus Schmerzen, die wie glühende Nadeln durch ihren Kopf gejagt waren. Wie war das möglich? Feuerzauber konnten die Feuerrose nicht zerstören. Der Todesfluch machte, dass der Beutel selbst mehrere Dutzend Meter fortteleportiert wurde. Also was konnte ihre Sendung zerstört haben? Offenbar hatte sie nicht wirklich darauf gehört, was Tifonia Cordracone ihr über Espinela Flavia Bocafuego de Casillas erzählt hatte. Sie hatte erwähnt, dass die Spanierin eine unbestrittene Großmeisterin vieler Elementarzauber und Flüche war und dass ihr nachgesagt wurde, dass auch sie nicht nur von Menschen abstammte. Hatte das ihren Versuch vereitelt, sie zu erreichen und zu unterwerfen? Falls ja, konnte diese Rivalin nicht ergründen, woher die Feuerrose gekommen war. Dann waren es eben nur sieben Hexen, die sich am 24. Juni am Turm der 1000 Tränen treffen würden. 77 Hexen, die Ladonna ganz sicher unter ihre Herrschaft bringen würde. Das war auch schon ein guter Anfang, fand sie.
Es war nicht einfach gewesen. Denn es galt, Sardonias in ihr Denkarium eingewirkten Abwehrzauber gegen unerwünschte oder gar untreue Benutzer zu brechen, ohne dabei das darin enthaltene Wissen auf einen Schlag auszulöschen. Doch nach mehreren Tagen hatte Anthelia endlich herausgefunden, wie Sardonia das gemacht hatte. Es war im Grunde ein mit eigenem Blut aktivierter Seelenschlüssel Sardonias. Wer den mit Gewalt durchbrach hob den Erinnerungsaufbewahrungszauber des Denkariums auf und ließ die darin gesammelten Erlebnisse und Erinnerungen als silberne Fontäne entweichen und auf nimmer Wiedersehen in alle Winde verfliegen. Da die oberste der Spinnenhexen das nicht auslösen wollte musste sie einen Zauber finden, der ihr ungehinderten Zugang zu Sardonias Wissen bot, ohne dass der Seelenschlüssel dabei zerbrochen und somit die völlige Entleerung des Denkariums ausgelöst wurde. Am Ende hatte sie den richtigen Zauber gefunden, das Lied der lebendigen Freundschaft. Auch hierfür musste Blut geopfert werden und vor allem mussten freundschaftliche Erinnerungen an die eigene Lebenszeit ausgelagert und während des Anstimmens des Liedes in das betreffende Gefäß oder den verschlossenen Raum geopfert werden. So hatte sie mehrere Stunden damit zugebracht, die mit Sardonia erlebten Ereignisse so gut es ging zu erinnern und auszulagern, so dass klar wurde, dass sie und Sardonia eine Menge mehr verband als trennte. Dann hatte sie von ihrem eigenen Blut etwas in das Denkarium tropfen lassen und das Lied der lebendigen Freundschaft gesungen. Das Denkarium hatte sich daraufhin erst hellrot und dann blattgrün verfärbt, um dann wieder ein großes Granitgefäß mit darin silberweiß umhertreibender Substanz zu werden. Danach konnte Anthelia/Naaneavargia problemlos die gewünschten Erinnerungen hervorholen und darin eintauchen.
So stand sie nun scheinbar auf einer weiten Ebene. Gerade hatte Anthelia zwanzig ihrer treuen Schwestern losgeschickt, um Ladonna Montefiori einzufangen. Denn Anthelia wollte die so mächtige Hexe nicht töten. Da hatte diese eine kleine Kerze entzündet und einen violetten Rauch entströmen lassen, während zugleich eine brennende Blume, größer als ein Mensch, zwischen ihr und die sie umzingelnden Hexen wuchs. Sardonia hatte dieses Ereignis damals durch die Sinne ihrer Unterführerin Agnès Clopin mitverfolgt und war so Zeugin geworden, wie sich Ladonnas Zauberei auswirkte. Agnès hatte geistesgegenwärtig eine Kopfblase gezaubert, ebenso die anderen. Doch dann hatte die brennende Blume verlangt, sich der Königin mit allen Sinnen hinzugeben, ihren Duft zu atmen und ihr zu lauschen. Daraufhin hatten alle Hexen, die die Kopfblase gezaubert hatten, diese aufgehoben. Nun strömte ein wohltuender, ja anregender Duft in die Nase der überwachten Helferin Sardonias ein. Anthelia/Naaneavargia bekam es so mit, dass Agnès dabei wohl in eine entrückte Stimmung geriet, wie bei einer Dosis Rauschnebel oder unter dem Trancezauber. Mit jedem Atemzug sogen alle Hexen mehr von dem violetten Rauch in ihre Nasen und waren nun empfänglich für alles, was nun kommen sollte. Dann hatte sie laut und alles übertönend die Botschaft aus der brennenden Blume vernommen: "Sei der Königin verbunden, von jetzt an bis in alle Stunden!" Als diese Botschaft erklungen war erstrahlte ein hellroter Blitz, und Sardonia fand sich selbst auf einem bequemen Bett liegend. So sah sie Anthelia nun und hörte das Keuchen der einstigen Hexenkönigin.
Im nächsten Augenblick fand sich Anthelia zusammen mit Sardonia in einem erbitterten Kampf mit jenen Hexenschwestern, die eigentlich Ladonna Montefiori festnehmen sollten. Sardonia hatte sie alle töten müssen, weil diese versucht hatten, Sardonia zu töten. Als sie nur noch eine ihrer ehemaligen Mitschwestern vor sich hatte versuchte Sardonia es mit dem Imperius-Fluch. Darauf schrie die Hexe laut auf und zerfiel innerhalb von drei Sekunden zu grauer Asche, als habe Sardonia ihr einen furchtbar starken Feuerzauber aufgehalst.
Nun fand sich Anthelia neben Sardonia in deren Schreibstube. Sardonia sprach ins Nichts oder auch zu jener, für die sie diese Erinnerung aufbewahrte: "Ich erkannte, dass die schwarzhaarige Widersacherin von Veelas abstammte und wohl mit Hilfe deren besonderer Mächte einen Mittelweg aus reiner Zauberkunst und Alchemie fand, um mit einer von ihr selbst stammenden Essenz im Zusammenspiel mit ihrem bereits bekannten Feuerrosenzauber hunderte oder tausende Widersacher zu überrumpeln und sie wider jenen zu wenden, in dessen Namen diese wider Ladonna entsandt wurden. So erkannte ich, wie gefährlich dieses Unwesen nicht nur für meinen Weg der alles ordnenden Herrschaft der Hexen war, sondern für alle fühlenden und denkenden Wesen. Töten durfte ich sie nicht, dies war mir klar. Doch konnte ich sie nicht mit großem Gefolge bezwingen, sondern nur im Zweikampfe obsiegen oder sterben. Denn mir offenbarte sich, dass ich da selbst nimmer in Besitz und Herrschaft jener höchst wirksamen und mächtigen Zauberei gelangen konnte, da ich nicht den menschenähnlichen Wesen aus dem Volk der Veela entstamme."
Anthelia wartete, bis die von ihr beschworene Erinnerung endete und hob ihren Kopf aus dem Denkarium, das sich verdächtig warm anfühlte, als habe es über zwei Stunden in der Sommersonne gestanden. Offenbar durfte sie diesen Zugriff auf Sardonias geheimste Entdeckungen nicht all zu oft wagen, erkannte Anthelia/Nanneavargia.
Zu ihrer Beruhigung kühlte sich das Denkarium in den nächsten Minuten merklich ab, ohne dass dabei jene silberweiße Substanz entwich, die aus unzähligen Erinnerungen und Erkenntnissen bestand. Zumindest wusste Anthelia/Naaneavargia nun, wie mächtig Ladonna sein konnte. Es galt also, ein Mittel dagegen zu entsinnen. Doch sie fürchtete, dass ihr selbst dieses Mittel versagt bleiben mochte und andere es nur verwenden konnten, wenn sie selbst Veelastämmig waren.
Brigadiere Pietro Alberti genoss die Stille um diese nachtschlafende Zeit. Selbst die allgegenwärtigen Tauben hatten sich in ihre Nester zurückgezogen und würden wohl erst gegen vier Uhr wieder zum Vergnügen der Touristen und zum Graus für die Straßenreinigung herumfliegen. Alberti war froh, dass seine Dienststelle ihn für diese Schicht eingeteilt hatte. Sicher, seine Kollegen von der Stadtpolizei, die Tagesschicht hatten konnten jetzt die Kanäle und Tanzschuppen unsicher machen. Womöglich würde sein Freund und Kollege Vincenzo gerade wieder mit einer Kneipenbekanntschaft die Nacht verbringen und seinen Kollegen am Tag beide Ohren abkauen, wie doll oder wie enttäuschend das gewesen war, sofern er sich noch an Einzelheiten erinnern konnte.
Auch wenn es in Italien wie in vielen Ländern Europas immer mehr verpönt war zündete Pietro Alberti sich eine Zigarette an. Sein Onkel hatte mal gesagt, ohne Laster ist das Leben eine einzige Last und hatte sich mit siebzig Jahren beim Lakentanz mit einer vierzig Jahre jüngeren Gespielin den ersten und letzten Herzinfarkt geholt und war schnell und wohl auch äußerst glücklich der Welt entschwebt. Ob er jetzt im Schachclub von Luzifer Mitglied war oder doch in einem langweiligen Flöten- und Harfenorchester über den Wolken mitspielen musste wusste Alberti nicht. Eigentlich glaubte er auch nicht an diese ganzen Geschichten aus der Bibel. Er hatte die erste Kommunion und dann auch noch die Firmung erhalten, hatte vor zwanzig Jahren ganz groß geheiratet, nur um zehn Jahre später von einem Scheidungsrichter zur Abtretung des halben Erbteils seines Großonkels Flavio verknackt zu werden. Seitdem war er froh, dass er eine geniale Ausrede hatte, nicht auf Frauenjagd zu gehen. Außerdem hatte er mit der katholischen Kirche abgeschlossen, seitdem er einen jungen Mann festnehmen musste, der einen Priester erstochen hatte. Vor Gericht war dann herausgekommen, dass dieser achso fromme Gottesmann sich an dem Täter und zehn anderen damals gerade zehn- bis zwölfjährigen vergangen hatte. Ja, und Mamma Grande Chiesa Catholica und ihr Angetrauter Il Papa hatten die ganze unappetitliche Affäre unter den Teppich gekehrt. Womöglich hatte Alberti da auch nur die Spitze des Eisberges zu sehen bekommen. Wahrscheinlich kamen die Kirche und die drei großen Mafiaorganisationen auch deshalb so gut miteinander klar, weil sie ihre Untaten hinter einer Mauer des Schweigens verstecken konnten. Aber das war Pietros persönliche Meinung, die er tunlichst für sich behielt, wenn er diesen für ihn angenehm langweiligen Nachtjob weiter ausüben wollte.
Der Rauch der Zigarette kräuselte sich und verschmolz mit den Ausdünstungen der Kanäle. Irgendwo weiter weg sang ein Gondoliere, der wohl gerade ein verliebtes Paar über Venedigs Wasserstraßen schipperte.
alberti ging los, um eine weitere Runde über den Markusplatz zu machen. Gleich war es wieder Zeit, die Routinemeldung zu funken, damit ihn Lucia in der Zentrale nicht als vermisst meldete. Im Moment war im Polizeifunk auch nichts los. Venedig schlief oder hatte die Fensterläden zugeklappt.
Er hatte gerade die Hälfte seiner Runde geschafft, als ein merkwürdiges grünes Licht in der Mitte des Platzes aufleuchtete. Er blickte verdutzt auf die Stelle. Das grüne Licht wurde innerhalb einer Sekunde zu einer mehr als zwei Meter hohen Leuchtspirale, die wild kreiste und dann verschwand. Doch dafür standen da vier Leute, einfach so und blicktenin alle vier Himmelsrichtungen. Alberti meinte zu träumen. Die vier trugen helle, einteilige Anzüge, die ihn an Strampelanzüge von Babys erinnerten. Ja, und ihre Köpfe waren größer als bei gewöhnlichen Menschen, schimmerten im Spiel der Straßenlichter rot bis rosa, hatten keine Haare, aber große Augen. Alberti hatte mit zwanzig aufgehört, Geschichten von UFOs und Weltraumabenteuern in der Zukunft zu lesen oder im Fernsehen anzusehen. Doch wenn das da vor ihm normale Menschen waren, wie waren die einfach so erschienen. war das grüne Licht sowas wie ein Transporterstrahl gewesen, mit dem sie hierher gebeamt worden waren?
alberti griff zu seinem Funkgerät, um in der Zentrale anzurufen. Zwar waren am Markusplatz auch Videokameras installiert, doch wenn er diese unglaubliche Gruppe da meldete würden seine Kollegen schneller herkommen. Er wollte gerade die Sprechtaste an seinem Handfunkgerät drücken, als er noch was unglaublicheres sah. Drei der vier, die sich umgesehen hatten holten je ein kleines Etwas aus einer Umhängetasche. Es war ein Papiertütchen. Das allein wäre nicht weiter seltsam gewesen. Alberti hatte schon viele nachts noch aus einer Papiertüte essen sehen und sie an die ordentliche Müllbeseitigung erinnern müssen. Doch die drei holten aus den Papiertütchen etwas heraus, das aussah wie eine kleine Puppe, gerade zehn Zentimeter groß. Dann legten sie die Puppen hin. Alberti erschauerte. Die Puppen sahen aus wie nackte Frauen, deren Oberkörper und Gesichter noch in Ordnung waren, deren Unterleiber und Beine jedoch wie verkohlt aussahen. Dann zogen die drei noch lange Gegenstände frei, die wie dünne Holzstäbe aussahen, wie Zauberstäbe, schoss es durch Albertis Kopf. Das wurde ja immer verrückter. Und das verrückteste kam gerade erst. Denn soeben begannen die am Unterkörper verkohlt aussehenden Puppen zu wachsen, wurden innerhalb von zwei Sekunden zu menschengroßen Körpern. "Zentrale, hier Pietro, auf dem Markusplatz sind vier verdächtige Leute, die drei Leichen abgelegt haben. Schickt schnell wen her!" zischte er leise ins Funkgerät. Doch er hörte zur Antwort nur ein leises Rauschen und Knacken. Dann erkannte er, dass jener Babykopfmensch, der keine auf Menschengröße vergrößerte Leiche abgelegt hatte, genau auf ihn zukam. Alberti versuchte noch einmal, eine Funkmeldung abzusetzen. Doch da war der andere schon auf fünf Armlängen an ihn heran und zielte mit seinem Holzstab auf ihn. Alberti ließ das Sprechfunkgerät an seinem Riemen los und wollte seine Dienstwaffe ziehen. Da hörte er ein merkwürdiges Wort: "Obleviate!" Im nächsten Moment fegte eine unheimliche Macht seine Gedanken und den nächtlichen Markusplatz aus seinem Bewusstsein.
Als er wieder aufwachte lag er auf den Pflastersteinen des Markusplatzes. Über ihm leuchteten die Sterne. links und rechts neben ihm lag ein lebloser Körper. Alberti erschrak, als er sah, dass es tote Frauen waren, die sich vom Gesicht her ähnelten. Aber ihre Unterkörper schinen von einem Flammenwerfer zerstört worden zu sein. Dann erinnerte er sich. Er hatte diesen blauen Lieferwagen ankommen gesehenund es schon verdächtig gefunden, dass der Wagen keine Nummernschilder hatte. Er wollte das gerade melden, als er von hinten gepackt und mit einem blitzartig angebrachten Würgegriff überwältigt worden war. Jetzt lag er hier zwischen zwei Leichen. Die Kerle hatten ihn für tot gehalten und auch hier abgelegt. Dann sah er noch eine dritte Leiche, die ähnlich schwere Verbrennungen aufwies. Unter anderen Umständen hätte er sich gefreut, weil die Tote als lebende Frau einige Männer zum schwitzen gebracht haben mochte. Was ihm auffiel war, dass zwei der drei Toten sich so ähnelten, dass es wohl Schwestern waren, während sie beide der dritten, älteren Toten ähnelten, was heißen mochte, dass diese ihre Mutter gewesen war.
Pietro Alberti stand auf und wollte gerade sein schreckliches Erlebnis durchfunken, als fünf Leute in langen dreifarbigen Umhängen aus dem Nichts heraus erschienen. Gleichzeitig hörte er in der Ferne das Warnsignal eines näherkommenden Polizeiwagens. "Bleiben Sie besser so wie sie sind", sagte einer der Männer mit römischem Dialekt. Doch Alberti dachte nicht daran. Er sprang auf. Da traf ihn ein roter Blitz in den Bauch, und er verlor das Bewusstsein.
Als Pietro Alberti wieder zu sich kam lag er auf einer Trage in einem mit wilder Fahrt und lautem Warngeheul durch die Straßen und über die vielen Brücken Venedigs hinwegjagenden Krankenwagen. Ein Rettungssanitäter maß gerade wieder seinen Blutdruck und Herzschlag. "Ah, sie sind wieder wach, Brigadiere Alberti", sagte der Sanitäter mit erleichtertem Gesicht. "Können Sie sich erinnern, was passiert ist?"
"Ich weiß nur, dass ich auf dem Markusplatz war und noch eine Zigarette geraucht habe. Ab da fehlen mir die letzten Meter vom Film", grummelte Alberti.
"Wir wurden von Ihren Kollegen angerufen, dass sie sich nicht gemeldet haben und haben sie dann ohnmächtig auf dem Markusplatz gefunden, ganz allein. Wir bringen sie jetzt ins städtische Krankenhaus."
"Mir geht's wieder gut", knurrte Alberti und prüfte die Beweglichkeit von Armen und beinen.
"Tut mir leid, aber ich will das lieber von einem Arzt bestätigt kriegen und Ihr Commandante sicher auch", sagte der Sanitäter. "Das sie einfach so umfallen ist doch sicher nicht normal, oder?" Alberti musste eingestehen, dass das auf keinen Fall normal bei ihm war. Das war ja das unheimliche. So sah er ein, dass sie ihn zumindest gründlich untersuchen sollten, vor allem am Kopf. Er hoffte nur, dass ihm keiner was in die Tabakmischung getan hatte, um ihn aus den Schuhen zu hauen, so wie es in Agentenfilmen und phantasiereichen Krimis vorkam. Aber wozu das, wo der Platz Videoüberwacht war?
Einige Stunden und viele unangenehme Untersuchungen und Befragungen später durfte sich Alberti in einem Krankenhausbett ausruhen. Sie wollten ihn einen Tag zur Beobachtung dabehalten, weil sie keine körperlichen Anzeichen für seine plötzliche Ohnmacht gefunden hatten. Seine Zigaretten waren polizeilich eingezogen worden, um sie auf illegale Giftbeimischungen zu untersuchen.
Michele, und ihr habt keinen Hinweis darauf gefunden, wie die drei Toten dort abgelegt worden sind?" wollte der Zaubereiminister persönlich von Michele Ribaldo wissen, der seit zwei Jahren dieses Büro leitete, seitdem auch in Italien die Ansicht herrschte, dass die für Kontakte zu den Moggli zuständigen Zauberer und Hexen mit diesem Internetzeug bescheid wissen sollten und Ribaldo als Sohn eines Computerfachmanns aus Mailand die günstigere Ausgangsposition hatte als sein Vorgänger.
"Meine Mädels, öhm, ich meine, Chiara Donizetti und Paola Placido haben die Überwachungskameras überprüft und dabei zum fraglichen Zeitpunkt nur dunklen Nebel auf den Bildanzeigegeräten gesehen. Also hat wer immer das war die künstlichen Fernblickaugen mit was vernebelt. Dieser einsame Streifenpolizist war wohl gerade wieder zu sich gekommen, als die Eingreiftruppe gegen Zauberei in Mogglisiedlungen bei ihm ankam. Doch da war die Polizei schon im Anreiten, zum Glück mit Fanfaren und Signalfackel. Aber da blieb den Kollegen nur noch, dem wackeren Streifenpolizisten den Schocker zu verpassen und ihm einen Gedächtniszauber anzubringen, der ihn die letzten zwanzig Minuten vergessenlassen sollte. Deshalb konnten wir nicht ergründen, was dieser Mogglo mitgekriegt haben könnte. Wir mussten die drei Leichen mitnehmen. Denn die sahen zu sehr nach magischer Manipulation aus, dass wir sie nicht den Totenschnipplern der Moggli überlassen durften. Außerdem waren es drei Hexen, die Damen Montanera, Cassandra und ihre beiden Töchter Loredana und Claudia. Wer und wie die so zugerichtet und dann so offen auf den Markusplatz den Tauben zum Fraß und den Touristen zum Gruselspaß hingelegt hat konnten wir nicht rauskriegen."
"Konntet ihr nicht rauskriegen? Wozu habt ihr bitte zwei Rückschaubrillen aus Frankreich bekommen?" ereiferte sich der Zaubereiminister.
"Um festzustellen, dass wer immer das warwohl einen Incantivacuum-Kristall oder eine natürliche Unortbarkeit einsetzen konnte, um den Zeitraum der Platzierung und alles was in der Stunde um diesen Zeitraum passiert ist aus der Rückschau auszulöschen. Mittlerweile wissen es ja bald alle Kriminellen der Zaubererwelt, wie dieses Ding ausgetrickst werden kann", knurrte Ribaldo.
"Ja, aber nur wenige Verbrecher kommen an Incantivacuum-Kristalle heran", grummelte der Minister. Dann stutzte er und wiegte den Kopf. "Natürliche Unortbarkeit, wie bei dieser Vampirgöttin oder bei einer osteuropäischen Veela oder einer davon abstammenden?" fragte Minister Bernadotti sichtlich verunsichert klingend. Ribaldo sah ihn an. Dann hatte die Frage auch bei ihm den entsprechenden Hebel umgelegt. Er nickte und sagte: "Das würde auch zu den Zeichen passen, die den Toten auf die linke Brust, über dem Herzen eingebrannt worden sind und die nur sichtbar wurden, weil einer der Kollegen seinen Zauberfinder auf die Toten gewirkt hat, eine von einer Flammenaura umgebene Rose mit offenem Blütenkelch."
"Also war sie das, diese Halblingshure", knurrte der Minister bar jeder seines amtes gebührenden Wortwahl."
"Öhm, ich würde diese Person besser nicht so bezeichnen, wenn sie in Hörweite ist, Signore Ministre", erwiderte Ribaldo ängstlich. "Ach ja, weil sie mich auch noch abfackeln und irgendwo weithin sichtbar hinlegen will? Dann hätten wir ein Recht, sie in Notwehr zu töten, auch wenn deren Blutsverwandten dann nach Rache rufen würden", sagte Bernadotti. Dass er Ladonna Montefiori bereits zum töten freigegeben hatte musste er dem Mitarbeiter aus dem Moggli-Kontaktbüro nicht noch einmal auf die Nase binden.
"Gut, wir machen das jetzt so, wir setzen es in die Zeitung, dass unsere Mitbürger aufpassen sollen, ob sie dieses Flittchen sehen können", sagte der Zaubereiminister. "Natürlich warnen wir eindringlich davor, sie selbst zu stellen. Aber ab heute ist wohl klar, dass sie wieder da ist und meint, ihre Verbrechen von damals wieder begehen zu dürfen."
"Ja, und wir sollten dann auch erwähnen, dass sie wohl schon Komplizinnen hat", sagte Ribaldo. "Denn die wird ja wohl kaum so einfältig sein, drei Hexen im Alleingang zu erledigen und dann auch noch offen auszulegen."
"Ach, das konnte die damals ganz gut", grummelte Zaubereiminister Bernadotti. "Aber Sie haben sicher recht, dass sie schon nach neuen Getreuen sucht und da wohl auch schon welche gefunden hat. Womöglich war das mit den drei Montaneras ein Fememord oder eine Warnung an alle Hexen, sich ihr nicht zu widersetzen, wenn sie bei ihnen vorbeisieht. Das mit der magisch aufgemalten Rose war ihr Zeichen, wenn sie eine Abtrünnige oder einen Feind getötet hat." Ribaldo hätte fast mit "Was Sie nicht sagen" geantwortet. Doch gerade so beherrschte er sich und antwortete statt dessen: "Vielleicht ist ihre Aussicht doch nicht so groß, ihr bereitwillig folgende Anhängerinnen zu finden."
"Wie dem auch sei, wir können froh sein, dass wir die Toten noch vor den Moggli gefunden haben."
"Ja, aber wenn dieser Polizist den Leuten in die Quere kam, die die drei dort abgelegt haben oder wenn es wirklich die schwarze Rosenkönigin war, wie sie unser gemeinsamer Geschichtslehrer in Gattiverdi genannt hat, warum hat er dann überlebt?"
"Weil der oder die da gerade einen guten Tag hatten?" verkleidete der Minister eine reine Vermutung als Frage. Ribaldo nickte verhalten.
Ladonna genoss mit ihrem Gespielen das Frühstück. Seitdem ihr Blutfeuernebel mehrere der Nachfahren ihrer Großmutter vertilgt hatte, damit diese sie nicht einfangen und in Tiefschlaf singen konnten, ging in der Villa keine Elektrizität und kein ohne Zauberkraft brennendes Feuer mehr. Doch mit dem Erhitzungszauber und diversen bezauberten Kochttöpfen und Bratpfannen, die auf Ladonnas Wort hin von selbst heiß wurden, konnte sie für sich und Luigi jeden Morgen, mittag und Abend was warmes zubereiten. So tranken sie den heißen Kaffee und aßen selbstgebackene Panini mit Honig oder Marmelade.
"Was wirst du heute erreichen, meine Göttin der Nacht?" fragte Luigi seine Lehnsherrin.
"Ich werde mich darauf vorbereiten, bald an die Öffentlichkeit zu treten. Denn so, wie deine Leute mit unserer Erde umspringen darf es nicht weitergehen. Dafür fehlen mir aber noch genug Unterstützer und vor allem habe ich noch einige Konkurrenten, die meinen, ich hätte in eurer Zeit nichts mehr zu suchen. Bis das alles erledigt ist werde ich wohl noch einige Monate brauchen. Aber dann darfst du deinen Leuten in meinem Namen ihre neue Weltordnung verkünden und dass sie froh sein dürfen, von einer so vorausschauenden Herrscherin regiert werden zu dürfen", sagte Ladonna. Hätte wer anderes als Luigi sie so reden hören hätte er oder sie den klaren Beweis für Größenwahn gehabt. So hatte sie es im Moment nur dem von ihr magisch unterworfenen Ex-Lebemann Luigi Girandelli aufgetischt, der alles für die größte Weisheit des Universums hielt, was sie erzählte.
Nach dem Frühstück brachte eine Eule eine Zeitung mit Schwarz-weiß-Fotos, deren Motive sich wahrhaftig bewegten. Gleich auf Seite eins waren drei schwarzgerahmte Fotos mit je einer Hexe im mittelhellen Umhang. Darunter standen je hinter einem Kreuz die Namen Cassandra, Loredana und Claudia Montanera. Der in großen Buchstaben auf Seite eins abgedruckte Artikel titelte
RÜCKKEHR DER GNADENLOSEN
AUS LANGEM ZAUBERSCHLAF ERWACHTE ROSENKÖNIGIN RICHTET DREI HEXEN GRAUSAM HIN
Als Ladonna den mit weiteren starken Gefühlen gegen sie schürenden Worten so um sich werfenden Artikel zweimal durchgelesen hatte verzog sie erst das Gesicht. Dann musste sie laut loslachen, dass das Geschirr im Schrank nachklirrte. Sie hieb die Zeitung auf den Esszimmertisch, dass die Druckerschwärze als wirbelnde Wolke in alle Richtungen wehte. Sie brauchte noch eine halbe Minute, bis sie sich wieder soweit beherrschte, dass sie auf Luigis Frage antworten konnte, was sie erst so geärgert und dann so zum lachen gebracht hatte. "Da haben mir ein paar Leute, die meinen, mich dürfte es nicht geben, einen dreifachen Mord in die Schuhe geschoben, nur weil sie mit denen, die ermordet wurden nichts mehr anfangen können und Angst hatten, ich könnte sie über eine von den dreien doch noch finden. Jetzt flitzen alle wilden Kobolde in der Welt der Zauberer auf sämtliche Dächer und schreien "Alarm! Eine gaaaanz böse Hexe im Anmarsch!" Gut, ich wollte eigentlich noch nicht so früh mitteilen, dass ich wieder da bin. Aber da es die, die meinen, die Welt anständig zu regieren ja eh schon wissen tut's auch nichts mehr zur Sache, wenn es die unterdurchschnittlichen Leute mitbekommen, dass es mich immer noch gibt. Ist bestimmt auch eine gute Werbung für mich, wenn einige mit denen, die heute das Sagenhaben unzufrieden sind. Deshalb musste ich lachen. Geärgert habe ich mich erst darüber, dass jemand meine Warnmethode nachgemacht hat. Aber wenn die meinen, mich damit in die Enge treiben zu können sollten die sich schon mal eine Sanduhr aufstellen, die ihre letzten Stunden zählt, bevor sie auch auf diese Weise dargebracht werden. Spätestens wenn mir diese Sache keinen Spaß mehr macht werden die sich wünschen, sie hätten mich nicht derartig herausgefordert."
"Drei Morde? Wer denn?" wollte Luigi wissen.
"Kennst du sowieso nicht. Drei Hexen, die eigentlich von guten Getreuen von mir abstammen und deshalb meine Nachricht bekommen haben, ich möchte mit ihnen da weitermachen, wo ich mit ihren Vorfahren aufhören musste. Aber ... Drachendreck, dann ist diese Blutlinie endgültig ausgestorben!" schnaubte Ladonna und blickte nun wieder verärgert auf die auf den Tisch geknallte Zeitung. Diese Banditen von Vita Magica, zu denen Loredana Montanera gehört hatte, hatten die drei letzten Nachfahrinnen von Cornelia Buonavoce getötet, um sie abzuschütteln. Dabei hatte sie doch gehört, dass Vita Magica keine Hexe oder einen Zauberer einfach so umbrachte, weil die ja die Vermehrung magischer Menschen durchsetzen wollten und nicht deren vorzeitiges Ableben. Hatten die so viel Angst vor ihr, dass sie kein greifbares Ende hinterlassen durften, das sie fassen konnte? Natürlich, weil sie ja Loredana in den letzten Tagen immer wieder gesucht hatte, bis diese nicht mehr auf ihre Fernrufe ansprach. Dann hätte sie die drei ja wirklich auf dem nicht vorhandenen Gewissen, erkannte sie. Auch diese Erkenntnis ärgerte sie.
"Ich werde gleich losziehen und mir ein bestimmtes Haus ansehen, wo ich demnächst mit anderen zusammenkomme. Du bleibst schön hier und liest weiter in diesem großen Buch von diesem Napoléon und seinem Krieg gegen das russische Reich, was abgesehen von dieser Liebesgeschichte darin sehr lehrreich ist", trug Ladonna ihrem Gespielen auf. Sie hatte eine Kopie dieses umfangreichen Romans auf ihre ganz eigene Art innerhalb von nur einer Minute in ihr Gedächtnis aufgenommen, regelrecht verschlungen. Danach hatte sie zwar erst eine Weile Kopfschmerzen gehabt, weil die ganzen französischen und russischen Namen in ihrem Kopf herumgeschwirrt waren wie Bienen im Bienenstock. Aber am Ende war sie doch zufrieden gewesen, diesen Folianten durchgelesen zu haben.
Bevor sie die im altrömischen Stil erbaute Villa verließ schrieb sie ihrer Untergebenen Federica Lupazzura einen Dankesbrief, dass sie ihr sofort die Zeitung Il Giorno Magico zugeschickt hatte und erwähnte auch, dass nicht sie diese Tat begangen hatte, sondern andere sie ihr in die Schuhe geschoben hatten, um von sich abzulenken und den Rest der Zaubererwelt gegen sie aufzubringen. Dann verlies sie ihre vom Blutfeuernebel sicher umschlossene Residenz, um sich den Turm der 1000 Tränen anzusehen, von dem sie erst von ihren neuen Mitschwestern was gehört hatte.
Gerade hatte sie erfahren, dass ihre beiden Zwillingstöchter wohl doch schon vor dem ersten Juli zur Welt kommen würden. Das deckte sich auch mit ihrem Gefühl. Die beiden lagen schon fast ganz in ihrem Becken und ddrückten auf alles, was dort lag. Auch wenn sie es immer wieder als erhabenen Akt empfand, erst neues Leben in sich heranwachsen zu fühlen und es dann auch mit großen Schmerzen zur Welt kommen zu lassen war das Warten auf die Niederkunft die schlimmste Unannehmlichkeit. Denn in diesen entscheidenden Tagen konnte sie keine bewegungsintensiven Unternehmungen mehr mitmachen, auch nicht im Innertralisatus-Umstandskleid. Dabei gab es noch viel zu tun.
In Millemerveilles war offenbar wieder die Nachrichtenverbindung ausgefallen, zumindest was die Distantigeminus-Kästen anging. Allerdings hatte das Vollporträt von Claudine Rocher, dessen Gegenstück in Paris bei den Brickstons hing, vermeldet, dass Catherine wohl mit Julius Latierre mentiloquiert hatte. Demzufolge lebten alle noch. Doch was dort passierte hatte Catherine in Hörweite der gemalten Urgroßmutter nicht erzählt. Natürlich wusste sie, dass Claudine Rochers gemaltes Ich mit der erhabenen Gesellschaft zur Wahrung und Mehrung magischen Lebens in Verbindung stand. So bekamen Véronique und ihre Mitstreiter eben auch nur das, was sie von denen da draußen wissen durften. Na ja, irgendwann würde Véronique wohl selbst mit Catherine oder ihrer Mutter Blanche Faucon sprechen müssen, damit diese Anfeindungen endlich aufhörten. Denn ob sie wollte oder nicht, oder ob es mit ihrer Zwillingsschwangerschaft zu tun hatte oder nicht, war sie schon ein wenig betrübt, dass sie mit Blanche Faucons Familie keine friedliche Beziehung führen konnte.
"Die Italiener tanzen eine wilde Besentarantella, weil wir denen die drei Grazien Montanera auf den Markusplatz gebettet haben", scherzte Perdy, als er seine Mentorin besuchte. Er sah ihr auf den Unterbauch und meinte: "Ich könnte das wohl nicht aushalten, was du da jetzt schon wieder heranträgst, Véronique."
"Amanda Gildfork kann das bestimmt auch, wo sie zwei süße Kinder von diesem vorwitzigen Burschen trägt, der jetzt als Patience Moonrivers jüngster Zögling aufwächst", scherzte Véronique. Das verstand Perdy. Er nickte nur und meinte: "Die Doppelgängerin von unserer wackeren Besenkönigin hat gerade im amerikanischen Zauberradio verkündet, dass sie auch zur Quidditch-Weltmeisterschaft nach Italien reisen wird. Könnte lustig werden, auszuprobieren, ob dieser Igo Bokanowski damals auch wirklich alles eingebaut hat, was im Original steckt."
"Perdy, wer kuckt sich denn die ganzen Fernsehgeschichten mit Außerirdischen, elektrischen Automata und Sternenschiffen an? Du hast mir doch vor zehn Jahren, gerade wo du wieder alle Milchzähne im Mund hattest, schon was von Klonen erzählt, und dass Bokanowski auf dem Gebiet wohl schon allen voraus war. Der hat von Phoebe Gildfork eine intakte Körperzelle genommen und daraus eine zu hundert Prozent identische Replik erzeugt, einen Klon, wenn du das lieber hörst. Was das Original konnte kann die Kopie auch."
"Yep, dann wird's lustig, wenn die Operation "1000 Quaffel" anläuft", freute sich Perdy wie ein natürlicher Junge seines äußeren Alters.
"Falls die nicht doch noch einen Weg aus Millemerveilles finden, um die ganzen Aufzeichnungen über unseren Regenbogenwind weiterzugeben. Im Moment blockiert die Kuppel alle magischen Fernkontakte außer Melo. Das kann jetzt Monatelang so bleiben oder bei der Geburt von Clarimonde Latierre wieder behoben sein", mahnte Véronique.
"Drachenmist, dann könnten die echt was zu den Italienern bringen. Sollen wir das dann schon lassen oder durchziehen?"
"Wir ziehen es durch, wie du dich ausdrückst. Die können nicht alle mit Contramorosus-Trank oder dem Devoluptus-Zauber behandeln", schnarrte Véronique.
"Aber sie könnten die WM abbrechen, und ich will mitkriegen, ob Ginny Potter für England den Pokal holt."
"Du bist süß, Kleiner. Wenn wir die Operation "1000 Quaffel" durchziehen kommt sie vielleicht nicht mehr zum spielen", sagte Véronique.
"Öhm, echt? Stimmt! Mist!" knurrte Perdy. Dann hellte sich seine Mine wieder auf. "Dann machen wir das anders, nicht mit dem Wind, sondern mit unseren kleinen Mördermücken, die wir gegen die Wolfsbrut gezüchtet haben. Die werden dann nicht Todes- sondern Lebensboten. Die können wir dann so abrichten, dass sie keinen Quidditchspieler anfliegen."
"Wer hat da immer getönt, dass die Essenz hundertmal besser ist als der Cocktail? Die Mücken sind noch nicht mal halb so gut wie ein Cocktail, abgesehen davon dass das Mittel nicht direkt ins Blut gespritzt werden darf, weil es womöglich die Lust so schlagartig anheizt, dass der davon erregte Körper die Belastung nicht aushält, wie du auch ganz genau weißt, Jungchen", tadelte Véronique ihren einstigen Schützling.
"Okay, dann kläre ich das noch mal mit den Alchis bei uns und ob wir da nicht was drehen können, das nur die erwischt werden, die nicht um den Pokal spielen. Am Ende kriegt Ginny Potter noch was kleines von Gabriel Bocafuego alias G 6", erwiderte Perdy.
"Dann bekämen wir aber auf jeden Fall Ärger mit seiner Großtante aus Spanien, wenn die nicht sowieso schon gegen uns Front macht, weil wir ja solche Hexenfreiheitsräuber sind", erwiderte Véronique. Sie wirkte dabei aber nicht erheitert, sondern eher so, wie eine, die was weglachen will, was ihr unangenehm ist oder Angst macht. Auch Perdy wusste, dass da in Spanien eine mächtige Hexe wohnte, die man tunlichst nicht zur Feindin haben sollte. Andererseits hatte Véronique leider recht, dass sämtliche Dunkelhexenschwesternschaften ihre erhabene Gesellschaft zum Feind erklärt hatten, von den Nachtfraktionsschwestern Europas und den USA, über die im Orient herumhexenden Töchter des grünen Mondes, den Töchtern Susanoos in Japan und sicher auch dem Orden der Schwarzen Spinne. Tja, und jetzt ist auchnoch ein wie ein Phönix aus der Asche auferstandener Orden dazugekommen, dem du und deine Spießgesellen einen dreifachen Mord untergejubelt haben", erinnerte Véronique Perdy an die Sache mit den Montaneras.
"Ja, hast ja recht", grummelte Perdy. Manchmal konnte Véronique eine echte Spaßbremse sein. um sie wieder aufzuheitern fragte er sie, ob sie ihm die Namen der zwei neuen verraten wollte. Sie lächelte nur und sagte: "Hängt davon ab, wie die zwei sich geeinigt haben, wer zuerst ankommen darf." Perdy fragte, ob das bei zwei Mädchen nicht egal sei, wer da zuerst ankäme. "Kommt ganz darauf an, wer von den beiden Anne-Catherine heißen möchte und wer Berenice Sophie. Wenn die sich darüber geeinigt haben wird die erste Anne-Catherine und die zweite Berenice Sophie heißen", legte Véronique fest.
"Ach, und den Namen Claudine wolltest du nicht vergeben?" fragte Perdy keck.
"Wenn du wieder dazu fähig bist können wir beide sie ja ins Leben tanzen, mein Rephuhnprinz", säuselte Véronique. Perdy fühlte, dass ihre Tonlage und die mit dem Kosenamen auflodernden Erinnerungen ihm bereits eine wohlige Erregung bereiteten. Als echter Elfjähriger hätte er wohl nur gemerkt, dass da was war, dass bald schon mehr erleben wollte. Doch weil er bereits alle Höhen und Tiefen des Manneslebens erfahren hatte fühlte er die wohlige Erregung noch viel intensiver. Deshalb sagte er ohne weiter nachzudenken: "Gut, dann in drei Jahren, falls du da nicht gerade von wem anderes wen kleinen trägst, Véronique."
"Falls dem so sein sollte bringe ich dich ganz gerne mit meiner Enkeltochter Alouette zusammen. Die würde sich sicher auch freuen, was kleines von dir zu kriegen. Aber so habe ich noch einen Anlass, mindestens noch ein Kind zu kriegen. Aber dann müssen wir zwei Süßen wohl heiraten, für den Fall, dass die nächsten von dir nur Jungs werden. Weil das nehme ich jetzt als verbindliche Zusage, dass wir deine nächste Tochter zusammenkriegen und sie Claudine heißen soll, Perdix Vulcanus Diggle der dritte."
Eingeschlossen von vier hohen zerklüfteten Bergen lag ein Talkessel. Im Mittelpunkt dieses Talkessels stand ein sechseckiger Turm, an die sechzig Meter hoch und am Fuß sechs Meter breit. Seine Spitze war wie ein Stachel in den Himmel gerichtet. Das Bauwerk bestand aus einem dunklen Stein. Manche behaupteten, es sei Marmor, andere wiederum hielten das Material für Vulkangestein aus verschiedenen Gegenden der Welt. Neben seiner einzelnen Stellung in diesem Tal und der dunklen, ja bedrohlich düsteren Farbe war noch auffällig, dass das Gebäude kein einziges Fenster besaß, nur eine mattschwarz glänzende Flügeltür an der Südseite. Ob die Tür unverschlossen war oder verriegelt wusste niemand außer jener, die dieses Bauwerk damals mit hundert von ihr unterworfenen Zauberern und Hexen errichtet hatte. Niemand, der von diesem Turm wusste hätte es gewagt, die Tür zu öffnen um hineinzugehen. Denn Sardonia, die Bauherrin dieses Mahnmals ihrer Gnadenlosigkeit, hatte zwölf Inquisitoren Spaniens und Frankreichs sowie 48 von ihr abgefallene Hexen oder deren weibliche Angehörigen in diesem Turm eingemauert und mit einem Verharrungsfluch belegt, der sie zu Trägern einer dunklen Magie gemacht hatte. Dann hatte sie die Tür von außen geschlossen und einen letzten großen Fluch über das Gebäude gesprochen, der sinngemäß lautete, dass auch tausend Tränen die darin gefangenen Seelen nicht herausbringen würden und sie auf Ewig daran gebunden bleiben und alle Zauberer im Umkreis verschlingen sollten. Deshalb hieß dieses Bauwerk des Unheils seither Turm der 1000 Tränen.
Eine schwarze Störchin umflog die Turmspitze. Aus ihrem Gefider sprühten immer wieder grüne Funken, wenn sie über die gerade mal armdicke spitze hinwegglitt. Sie fühlte die unheilvolle Ausstrahlung und meinte, die Stimmen der im Turm lebendig eingemauerten und dann durch Sardonias Fluch zum Dasein als ewige Gefangene verurteilten Geister zu hören. 48 Hexen wehklagten und schluchzten, 12 Männer der Inquisition stöhnten und winselten. Die Störchin richtete immer wieder ihren Schnabel so aus, als wolle sie die Quelle dieser dunklen Magie orten und genau verstehen. Dabei überkamen sie Visionen von verschmachteten Menschen und deren gegen die vor ihnen stehenden Mauern klopfenden Skeletten. Sie fühlte, dass sie diesem Turm nicht zu lange nahekommen durfte. Denn sie fühlte auch eine ihr entgegenströmende Feindseligkeit. So flog die Störchin bis auf zweihundert Schritte Entfernung. Doch immer noch hörte sie in ihrem Geist das Weinen und Wehklagen der eingemauerten und als verwünschte Seelen gefangenen Hexen. So weit reichte die Ausstrahlung des Turmes. Vielleicht lag es auch daran, dass sie gerade in Tiergestalt unterwegs war und in dieser Gestalt empfindlicher auf magische Ausstrahlungen reagierte. So landete sie knapp dreihundert Schritte vom Turm der 1000 Tränen entfernt und horchte, ob irgendwo in der Gegend noch jemand sein mochte. Denn sie wollte auf keinen Fall hier und jetzt gesehen werden. Als sie mit ihrem Sinn für Lebensausstrahlungen erkannt hatte, dass kein Mensch und auch kein menschenförmiges Zauberwesen sie beobachtete wurde aus der Störchin eine überragendschöne Frau mit nachtschwarzem Haar, deren Federkleid zu einem nachtschwarzen Kurzkleid und deren rote Storchenbeine zu schlanken Frauenbeinen in wadenlangen Drachenhautstiefeln wurden.
Als Ladonna Montefiori wieder ihre angeborene Gestalt besaß zog sie ihren Zauberstab und vollführte einen höheren Erkundungszauber gegen Flüche. Dabei entdeckte sie, dass die Kraft der Ausstrahlung sich langsam schwächte und dann wieder anschwoll. Der Turm atmete Seelenkraft ein und aus. Immer wenn die Kraft am stärksten war hörte sie das leise, hallende Wimmern und Stöhnen der ewigen Gefangenen. Wenn die Kraft nachließ verklangen auch die Stimmen der Gequälten aus ihrem Geist. Sie fühlte jedoch eine ständige Belauerung, so als warteten die im Turm gefangenen Geister darauf, dass sie es wagte, in den Turm selbst hineinzugehen. Doch genau das würde sie nicht tun. Schließlich hatte sie von Federica Lupazzura und auch Tifonia Cordracone erfahren, dass der von ihrer Erzfeindin Sardonia gebaute Turm jedem und jeder, der oder die es wagte, lebendig in ihn hineinzugehen, sämtliche Lebenskraft aussaugte wie ein Schwarm ausgehungerter Vampire. Und wenn der Körper starb blieb die Seele als unerlöster Geist auf Ewig im Turm eingesperrt. Das könnte Sardonia also noch gefallen, dass ihre einstige Erzfeindin ihrem erst 1624 errichteten Todesturm zum Opfer fiel und mit anderen Einfältigen oder sich selbst überschätzenden darin herumspukte, um geben vom ständigen Gestöhne und Wehklagen der eingemauerten Opfer.
Sie fühlte es, bevor sie es sehen oder hören konnte. Die Ausstrahlung des Turmes veränderte sich, und aus mehr als zwei Kilometern entfernung kam etwas lebendiges durch die Luft, das kein Vogel war. Ladonna wirkte unverzüglich einen Unsichtbarkeitszauber, denn disapparieren konnte niemand im Umkreis von zwei Kilometern. Wer das versuchte fand sich selbst im Turm und erlitt jenes Schicksal, das Ladonna nicht erleiden wollte. Deshalb konnten sich Hexen und nur Hexen dem Turm auch nur zu Fuß oder durch die Luft nähern.
Ladonna lief eingehüllt in eine vollständige Unsichtbarkeit zur Nordseite. Dort konnte sie den Schatten des Turmes ebenso für sich nutzen, der jetzt um die Mittagszeit gerade einmal so lang wie der Turm hoch war.
Ladonna fühlte, dass es nur eine Hexe war, die auf einem Besen heranritt und nur zwanzig Schritte vom Turm entfernt landete. Sie fühlte auch, dass es eine von ihr unterworfene Hexe sein musste und wirkte wortlos den Zauber, mit dem sie in die Wahrnehmung einer von ihrer Feuerrose oder durch Bluteid unterworfenen Hexe hineintasten konnte. Jetzt erfasste sie, wer es war, Ursina Underwood, die Sprecherin der englischen Nachtfraktionsschwestern. Diese besah sich wohl gerade den Turm. Außer dem Namen konnte Ladonna keine Gedanken von ihr erfassen, solange sie nicht ihren Wahrnehmungszauber verstärkte. Doch dann würde die andere merken, dass sie mit ihr Kontakt aufnahm. Das wollte Ladonna im Moment nicht. So wartete sie ab, bis Ursina Underwood wohl auch die unsichtbare Aura des Turmes erspürt hatte. "Wahrlich, ein würdiger Triumph der Königin", hörte Ladonna Ursina flüstern. Ja, das würde ihr Triumph sein, im Schatten eines Bauwerks ihrer letzten Todfeindin einen weiteren großen Schritt zu tun, um Sardonias Vermächtnis verblassen zu lassen und eine neue Zeit einzuläuten.
Als Ursina auf ihrem Besen davonflog zog sich Ladonna behutsam aus ihrer Wahrnehmung zurück. Sie hatte eh genug mitbekommen. Bevor noch andere der von ihr einbestellten Hexen hier anfliegen würden wollte sie lieber selbst fort sein. Außerdem missfiel ihr irgendwie, wie feindselig die vom Turm ausgehende Aura auf Ursina reagiert hatte und auch, wie stark die Macht des Turmes auf Ladonna in Storchengestalt reagiert hatte. Womöglich würde diese Macht bei Nacht noch stärker wirken, dachte Ladonna. Doch jetzt hatte sie die "Einladung" ausgesprochen und musste ihren Plan ausführen, allein schon des Datums wegen.
Als Ursina weit genug fort war wurde Ladonna erst wieder sichtbar und nahm dann wieder Storchengestalt an. Schneller als ein natürlich geschlüpfter Schwarzstorch flog sie davon, zwwischen zwei der Berge hindurch, die den Talkessel einrahmten und mindestens fünf Kilometer weit. Dann landete sie, nahm ihre menschliche Gestalt an und apparierte im säulenumstandenen Innenhof ihrer Residenz bei Florenz.
Hallo Marga!
Jetzt, wo Sardonias Erbschaft sich in ganzer Macht geäußert hat sollten wir zusehen, sie für uns zu nutzen, auch um Revierstreitigkeiten mit den Österreicherinnen oder anderen Interessentinnen abzuwehren. Ich habe mich erkundigt, was Sardonia noch alles hinterlassen hat, das nicht der Rachsucht der Zauberer zum Opfer fiel. Dabei fand ich in alten Schriften aus unserer Bibliothek eine Beschreibung von Sardonias Kerkerturm, der ihre Feinde in sich gefangenhält, ob lebendig oder tot. In einer nur für anerkannte Sprecherinnen lesbaren Schrift stand etwas, dass die Kraft dieses Turmes, die keine Zauberer in weniger als fünfhundert Schritten duldet, einen mächtigen Gegenstand schützt, den nur getreue Schwestern Sardonias ergreifen und benutzen können. Laut dieser Schrift ist er nicht einschrumpfbar und muss von mindestens zehn Hexen an Besenstielen befördert werden. Womöglich ist es ein besonders großer Zauberkessel, in den mehrere erwachsene Menschen hineinsteigen können oder etwas besonders schweres, das von einer alleine und von keinem Bewegungszauber angehoben werden kann. Daher schreibe ich dich an, weil ich dir vertraue und auf jeden Fall dabei haben möchte, wenn ich diesen großen Schatz der großen Sardonia hebe. Ich werde noch andere Schwestern anschreiben. Doch ich befehle dir, keiner von unseren Schwestern und auch sonst niemandem in Schrift, Wort oder Gedanken zu verraten, dass ich dich angeschrieben habe. Denn sonst würden die Zögerlichen oder uns feindliche Orden uns zuvorkommen, was wir ja tunlichst verhüten wollen. Auch wissen wir ja nicht, wer vom Spinnenorden oder den anderen Gruppierungen unserer Schwesternschaft gute Freundinnen bei uns hat.
Du brauchst mir nicht zurückschreiben, sondern nur da zu sein, wenn es in der Nacht um zwölf Uhr mit einem Portschlüssel losgeht. Wir treffen uns am 23. Juni auf dem Gipfel des Blocksbergs um eine Minute vor Tagesende. Bring bitte deinen Besen mit und falls du hast Grabwerkzeuge. Denn ich weiß nicht, ob der Effodius-Zauber dort wirkt, wo wir hin wollen.
Semper Sorores!
S. G. W.
Die Nacht war angenehm kühl, verglichen mit der Tageshitze, die diesen Sommer besonders drückend werden konnte. Deshalb trugen sie, die gerade an diesem Ort versammelt waren, lange, aber leichte Umhänge.
Sie hatte einiges aufgeboten, um nicht von irgendwelchen Zaubererweltpatrouillen gefunden zu werden. In den letzten zwei Tagen hatte sie über ihre Mentiloquistinnenketten Anfragen von sechs ihrer Mitschwestern erhalten, ob sie einen Turm der 1000 Tränen kenne und ob dort außerhalb was von Sardonia begraben worden sei. Nun waren die sechs Fragerinnen alle bei ihr unter einem unsichtbaren Dom aus verbergender Erdmagie, per Gedankenbotschaften zu ihr hingeleitet.
Anthelia/Naaneavargia sah sie an, Albertrude Steinbeißer und Marga Eisenhut aus Deutschland, Arminia Polydora Freihexe von Wolkenfeld aus Österreich, Olga Gregorewna Danilowa aus Russland, Elaine Harrigan aus Irland und Faye Hilltop aus England. Eine, die ebenfalls bei ihr angefragt hatte war Louisette Richelieu. Doch die hatte Anthelia ausdrücklich aufgefordert, nicht in ihrer Nähe zu erscheinen. Sie würde ihr das Ergebnis der Unterredung direkt danach mitteieln. Diese würde auch ganz kurz sein, wusste Anthelia schon.
"Ihr, die ihr jetzt hier seid, habt alle einen Brief von eurer Sprecherin der sogenannten Entschlossenen bekommen, dass diese beim Turm der 1000 Tränen nach einem vergrabenen Artefakt aus Sardonias Zeit sucht, richtig?" fragte Anthelia in die Runde. Alle nickten. Alle konnten englisch verstehen. "Gut, dass meine Bindung zu euch stärker wirkt als die Bindung zu eurer offiziellen Schwesternschaft und ihr die Anweisung ohne Angst vor magischer Auswirkung übergehen konntet. Denn drei Sachen: Erstens hat Sardonia beim Turm der 1000 Tränen nichts vergraben, weil ich das aus ihren hinterlassenen Aufzeichnungen erfahren hätte. Denn als ihre Erbin hätte ich genau solche Dinge in Besitz nehmen sollen, um sie anderen vorzuenthalten. Zweitens ist es schon sehr merkwürdig, dass jede eurer Sprecherinnen behauptet, sie müsse mit mindestens drei, maximal zehn Hexen dort antreten, um das versteckte Erbe auszugraben und abzutransportieren. Denn wenn es tatsächlich so groß und unbezauberbar ist hätten ja auch zehn Hexen es dort hinbringen und eingraben müssen oder Sardonia hätte es mit dem Turm zusammen erschaffen müssen. Auch davon weiß ich aus ihren Aufzeichnungen nichts. Natürlich kenne ich den Turm der 1000 Tränen schon aus dem ersten körperlichen Leben und noch einmal gezielter aus Sardonias Aufzeichnungen. Darin warnt sie jede, die sich ihm nähert, innerhalb seiner Sichtweite apparieren zu wollen, da der Turm sie dann in sich hineinleitet und dann innerhalb weniger Sekunden alle Lebenskraft entreißt. Drittens, meine lieben Schwestern, ist es auch ein sehr seltsamer Zufall, dass ihr alle in den beiden letzten Tagen diesen Brief erhalten habt und der sich nach zweimaligem Lesen selbst vernichtet hat. Aus alledem folgt viertens: Diese Einladung ist eine Falle." Anthelia nahm mit ihrer besonderen Gabe wahr, wie ihr letzter Satz laut und lang in den Gedanken der anderen widerhallte. Sie wartete, ob eine dazu was sagen wollte. Dann legte sie nach: "Und ihr müsst nicht raten, von wem sie ursprünglich ersonnen und gestellt wurde." Darauf erklang in den Gedanken der anderen, die sich nicht durch Okklumentieren abzuschirmen verstanden ein einziger Name: Ladonna Montefiori. Albertrude, die vor den anderen Schwestern weiterhin Albertine genannt werden wollte stieß aus: "Quod erat expectandum!" Anthelia/Naaneavargia nickte ihr zu und fuhr fort: "Ich wundere mich, dass keine meiner Mitschwestern aus Italien sich bei mir gemeldet hat, dass sie einen solchen Brief erhalten hat. Elaine, was genau hat dir diese Erin O'Casy erzählt?"
"Als sie bei mir war, höchste Schwester? Sie meinte, wir könnten den Engländern und auch den Franzosen und vor allem dem Spinnenorden einen heftigen Schlag verpassen, wenn wir Sardonias Kessel der Unsterblichkeit bergen. Denn der würde, so Erin, jeder Hexe, die in dem Trank badet, dessen Rezept beigelegt sein soll, Unverwüstlichkeit gegen die meisten Zauber geben und sogar einmal gegen Avada Kedavra schützen. Sie sagte es so, als habe sie das in einem Buch gelesen, dass in der Bibliothek unter Tara sein soll, wo nur Blutsverwandte von ihr hin könnten."
"Soso, als wenn Sardonia vom Bitterwald vor ihrem Ablebenirgendwelche ganz genauen Einzelheiten über ein so mächtiges Artefakt in einer irischen Bibliothek hinterlegt hätte", grummelte Anthelia. Da sie ja schon erwähnt hatte, dass sie an eine Falle glaubte sah auch Elaine Harrigan ein, dass da irgendwas faul war. "Deshalb habe ich mich auch gleich an dich gewandt, höchste Schwester", sagte sie. Anthelia grinste verstehend.
"Gut, wie erwähnt weiß ich aus den Aufzeichnungen Sardonias nichts von irgendeiner Hinterlassenschaft, die derart groß und mächtig sein soll, dass mindestens drei bis zehn Hexen sie bergen müssen. Ich stelle fest, dass Ladonna einen noch größeren Hang zu theatralischen Auftritten und Symbolen hat als Sardonia oder ich selbst. Das könnte ein Schwachpunkt von ihr sein. Entweder hat sie selbst euren Sprecherinnen diese Informationen zugespielt, um sie persönlich zu werben oder hat sie sogar direkt unterworfen, so dass sie ihr gehorchen müssen. Aus Sardonias Aufzeichnungen weiß ich, dass Ladonna ihren Feuerrosenspuk um eine sehr machtvolle Komponente erweitern konnte, um mehr als hundert Feinde am selben Ort zu willigen Dienern zu machen. Ich war sichtlich erschüttert, als ich diesen Bericht Sardonias studiert hatte. Also will Ladonna aus jedem Land, dessen sogenante Sprecherin der Entschlossenen sie kennt elf Hexen zu sich hinlocken, um im Schatten des letzten großen Bauwerks Sardonias am Tage ihres abrupten Ablebens alle auf einen Schlag zu ihren willigen Kundschafterinnen und Helferinnen zu machen. Jetzt könntet ihr alle, die ihr hier sitzt euch geehrt fühlen, dass eure Sprecherinnen euch so viel Vertrauen schenken, dass ihr für sie so wichtig seid. Das solltet ihr aber nicht. Denn ich kann mir auch vorstellen, dass die Einladungen gezielt an jene gingen, die zwar mächtig sind, von denen die Sprecherinnen aber auch denken, dass sie nicht mehr all zu loyal sind. Sie setzen aber auf die Macht des schwesterlichen Eides, dass ihr es keinem weitererzählt, auch mir nicht. Dabei habe ich durch unseren Pakt und noch einmal durch die Macht in Tyches Refugium alle anderen magischen Eide unwirksam gemacht, was die Damen natürlich nicht wissen und auch Ladonna Montefiori nicht."
"Du meinst, Ladonna will uns dort mit ihrem Unterwerfungszauber an sich binden?" fragte Olga Danilowa. "Aber die Führerin unserer Schwesternschaft der alten Mütter ist eine wiedergeborene Baba Yaga und deshalb mächtiger als rein menschliche Hexen. Die kann selbst dem Imperius-Fluch widerstehen."
"Nur dass Ladonna nicht mit dem Imperius-Fluch angreifen wird. Allein schon dass sie den Turm der 1000 Tränen ausgesucht hat beweist, dass sie was machen will, wo schnelles disapparieren unmöglich sein muss", sagte Anthelia. Da fragte Marga sie, ob nicht auch jemand aus Spanien bei ihr angefragt hätte. Denn sicher musste Ladonna sich erst einmal erkundigt haben, wer in Europa wichtig war. Dem stimmte ihre Österreichische Mitschwester Arminia von Wolkenfeld zu. Anthelia nickte. Aus Spanien hatte keine ihrer dort lebenden Mitschwestern was geschrieben, aber das lag daran, dass keine davon bei den schweigsamen Schwestern war. Denn wer dort eintrat konnte sich gleich eine Tätowierung auf die Stirn machen lassen: "Eigentum von Espinela Flavia Bocafuego de Casillas.
"Sollen wir die anderen warnen?" fragte Faye Hilltop in die Runde. "Um euren Sprecherinnen zu verraten, dass ihr gegen ihre Anweisungen verstoßen konntet und dass wohl, weil ihr an mächtigere Eide gebunden seid?" fragte Anthelia. "In dem Moment würde mein Verratsunterdrückungsbann auf jeder von euch wirken. Ihr wollt das nicht wirklich", sagte sie. Dabei wussten Albertrude und sie schon längst, dass dieser bei der Fusion von Albertines Seele mit der ihrer Vorfahrin Gertrude restlos erloschen war.
"Aber wir müssen doch verhindern, dass unsere Mitschwestern dieser wiedererwachten Krawallhexe ins Netz gehen", sagte Marga Eisenhut. "Abgesehen davon weiß ich nicht, wen Gundula sonst noch angeschrieben hat. Wenn da Leute aus der Nähe von Heinrich Güldenberg bei sind könnten die nach diesem Ausflug zu Attentäterinnen werden."
"Ich weiß auch nicht, wen Ladonna alles angesprochen hat. Ich gehe davon aus, dass ihr zumindest die italienische Hexe Tifonia Cordracone schon gehört, und das meine ich so wie ich es sage", erwiderte Anthelia. Das glaubten ihr alle hier unbesehen. Denn im Grunde hatte Anthelia sie ja ebenfalls zu ihrem lebenden Eigentum mit einer ganz langen Laufleine gemacht. Dann sagte Anthelia: "Aber das bringt mich auf was. Jedenfalls geht ihr nicht dahin! Ich verbiete es euch. Statt dessen appariert ihr alle in Tyches Refugium und bleibt dort, bis ich selbst dort eintreffe. Dann werden wir einen Weg finden, die möglichen Abhängigen und Leibeigenen Ladonnas von den unbelasteten zu unterscheiden. Außerdem werden eure Sprecherinnen euch nach dem 24. Juni sicher zur Jagd freigeben, wenn ihr nicht auf ihre Einladung reagiert habt. Denn offenbar will Ladonna die jeweils zehn mächtigsten und wichtigsten Hexen eines Landes für besondere Ziele einsetzen, vielleicht wirklich als Attentäterinnen, um Chaos und Auflösung innerhalb der magischen Zivilisation zu schaffen. Sie kann dann als dunkle Königin oder womöglich auch als Kaiserin der Hexen hervortreten und das Chaos in ihre neue Ordnung umwandeln. Ähnliche Ideenhatte ich ja selbst, bevor ich eins mit der Magierin wurde, welche die schwarze Spinne ist. Ich habe dadurch aber erfahren, dass eine ins Chaos stürzende Weltordnung zu viele Menschenleben fordert, die für den Wiederaufbau wichtig wären. Deshalb bin ich davon abgekommen. Ladonna könnte diesen Traum immer noch träumen."
"Sie werden schon gewarnt sein, wenn wir nicht dort auftauchen", sagte Albertrude, und alle anderen nickten. "Allerdings weiß ich auch aus Aufzeichnungen meiner Vorfahrin, dass wer von Ladonna unterworfen wurde tun muss, was sie verlangt, bis der Zauber durch einen noch mächtigeren Zauber oder den Tod des einen oder der anderen gebrochen wird. Also werden unsere offenbar verwünschten Sprecherinnen auf jeden Fall dort hinreisen. Aber sie werden Ladonna warnen, wer die Abtrünnigen sind, höchste Schwester."
"Es ist bedauerlich, dass deine magischen Augen nicht beliebig nachzuahmen sind, Schwester Albertine", sagte Anthelia. Gut, dann schreibe ihr, dass du wegen deines vermissten Vaters gerade da bist, wo er verschwunden ist und deshalb nicht kommen kannst", sagte sie. Da grinste Albertrude und enthüllte Anthelia ihre Gedanken. Sie hatte schon längst eine Nachricht an Gundula geschrieben, dass sie wegen der Schattenkönigin zusammen mit Marga Eisenhut in der Nacht zum 24. Juni in den Kanälen von Hamburg zu tun habe, weil es anzeichen gab, dass diese Schattenkönigin sich dort aufhalte. Da sagte Anthelia zu Marga: "Ich vertraue darauf, dass deine Mitschwester Albertine eine günstige Ausrede kennt, um euch für den Termin eine wichtigere Aufgabe zu geben. Also bleibt beide fern. Die anderen hier überlassen mir für einige Minuten etwas von ihrem Haar und ihrem Blut, damit ich ein für drei Tage handlungsfähiges Simulakrum von ihnen erstellen kann. Selbst wenn dieses unterworfen werden sollte wird es eben nicht lange genug leben, um uns gefährlich zu werden, zumal es nur die Erinnerungen bekommt, die Ladonna kennen darf, falls sie es fragt." Damit waren alle einverstanden.
So dauerte es noch bis in die frühen Morgenstunden, bis die zu Anthelia geeilten Hexen ihre gerade schlafenden Doppelgängerinnen im Eingeschrumpften Zustand mitnahmen. "Hier, bring das bitte zu Louisette Richelieu, Schwester Albertine", sagte Anthelia und übergab Albertrude einen kleinen Lederbeutel. Dann verließen alle die unsichtbare Tarnkuppel und disaparierten außerhalb davon. Albertrude fragte Anthelia noch: "Und du bleibst noch hier in dieser Gegend, Schwester Anthelia?"
"Ja, bis das dritte Kind von Mildrid und Julius Latierre entweder geboren wurde oder von Sardonias Erbschaft doch noch getötet wurde. Allerdings ist das jetzt sehr unwahrscheinlich, weil die Latierres in einer sehr mächtigen Schutzzone wohnen. Doch Sardonias Erbschaft zehrt von über sechshundert gebannten Seelen. Da kann selbst ich nicht mit Sicherheit sagen, was genau geschieht. Deshalb muss ich es selbst beobachten um danach zu wissen, wie es weitergeht. Viel Spaß bei Louisette, mit euren ihrer von euch beiden aus der kleinen Lebensmatrix zu erschaffenden Doppelgängerin wird es dann sicher eine außergewöhnliche Restnacht."
"Manchmal frage ich mich, ob es nicht günstiger wäre, mich Ladonna anzuschließen", sagte Albertrude. "Doch dann stelle ich fest, dass ich dann niemals Gertrudes Erbe bekommen kann. Denn Ladonna will keine schwangeren Schwestern. Außerdem würde sie erkennen, wer ich jetzt bin und mich als eindeutig zu gefährliche Konkurrentin erledigen." Anthelia nickte. Das hatte sie auch aus Sardonias Aufzeichnungen. Sie wünschte ihrer Mitschwester Glück und dankte ihr für ihr Vertrauen. Danach verließ Albertrude den geschützten Bereich und disapparierte mit der Grundsubstanz, um mit Louisettes Haar und Blut eine Doppelgängerin von ihr zu erzeugen. Anthelia/Naaneavargia atmete auf. Was wäre gewesen, wenn keiner ihr was von diesem Treffen erzählt hätte?
Der Berg galt schon seit Urzeiten als Versammlungsplatz der Hexen. Angeblich zelebrierten sie in der Walpurgisnacht eine Orgie mit dem Teufel, und als Andenken bei den Muggeln waren an Fäden hängende Hexenfiguren auf Besen mit warziger krummer Nase sehr beliebt. Deshalb hatte das deutsche Zaubereinisterium im 19. Jahrhundert verfügt, dass zur Walpurgisnacht keine echten Hexen dort hindurften, weil zu viele nichtmagische Touristen die zwar wilden aber teufellosen Feiern beobachtet hatten. Dochjetzt, Mitte Juni, nachdem die Sommersonnenwende vorbei war, lag der Gipfel des Brockens fast friedlich da. die letzten Besucher verließen ihn gerade mit der dafür erbauten Bahn Richtung Talstation.
Wie zur Walpurgisnacht erschienen Hexen auf dem Gipfel. Doch sie ritten nicht auf den Besen, die sie dabei hatten, sondern sie apparierten, also tauchten auf magische weise aus dem Nichts auf.
"Danke Reinhild und auch dir, Isolde, dass ihr gekommen seid", sagte Gundula Wellenkamm zu zwei Hexen, die eine Minute vor Mitternacht apparierten. Gundula hätte Albertine und Marga gerne mit einem Fernfluch belegt. Doch sie durfte denen ja nicht verraten, warum sie wirklich zehn Hexen brauchte. Ja,und es wäre gerade bei den beiden aufgefallen, wenn sie von etwas betroffen worden wären. Sie hatte ihrer Königin ja nicht verraten, wen genau sie einladen wollte.
"Haltet euch bitte hier am alten Laken fest und seht zu, eure Besen sicher zu halten. Wir reisen gleich ab", sagte Gundula und sah vor allem die kleine, kugelrunde Isolde Roggenbäcker an, die sie sozusagen in letzter Minute noch dazugebeten hatte, nachdem sie ergründet hatte, dass Albertine und Marga wahrhaftig nach Spuren dieser verflixten Schattenkönigin suchten, wegen der sich der Inselrat von Feensand beinahe in den Bankrott gestürzt hatte. Isolde konnte sich als Zutrittsberechtigte zum ministeriellen Archiv für dunkle Artefakte, die nicht ohne Gefahr für die Umgebungzerstört werden konnten, sicher noch nützlich machen, sofern die Königin sie akzeptierte.
Als aus dem Tal die Turmuhren Mitternacht schlugen verschwanden die elf Hexen samt dem alten Bettlaken. Ziel der Reise war die Grenze von Südtirol. Von dort aus sollten sie auf ihren Besen fliegen, immerhinter Gundula her, die zum Schutz vor möglichen Angriffen ihre unsichtbare, hauchdünne Rüstung aus Zwergenfertigung unter ihrem taubenblauen Umhang trug. Denn sollte eine der anderen doch ein falsches Spiel treiben und versuchen, sie anzugreifen, würde die Rüstung sie schützen.
Es war, wie sie es vermutet hatte. In der Nacht wirkte die dem Turm in langsamen An- und Abschwellungen entströmende Kraft um ein vielfaches stärker als bei Tage. Ladonna meinte sogar, die unsichtbare Aura würde mit kalten Fingern über jeden Zentimeter ihrer Haut streichen. Das gefiel ihr nicht. Denn irgendwie hatte sie die Berichte über diesen Turm anders gedeutet. Dann erkannte sie, dass es im Grunde ihre Schuld war, wenn der Turm sich verändert hatte. Denn durch die Vernichtung von Heptachiron hatte sie ja die große dunkle Welle ausgelöst, die in der Nacht zum 26. April über die ganze Welt hinweggefegt war. Artefakte dunkler Zauberkunst waren davon verstärkt oder gar verfremdet worden, Millemerveilles lag seitdem unter einer schwer bis gar nicht mehr zu passierenden Kuppel, die selbst das Tageslicht filterte, und sicher war auch die von den Vampiren angebetete Nachtgötzin stärker geworden. Sie fragte sich, ob sie Heptachiron nicht besser hätte leben lassen sollen, um das alles zu vermeiden. Doch jetzt war der große Kessel umgestürzt und hatte seinen Inhalt unwiederbringlich über den Boden verteilt. Sie musste genauso damit leben wie alle anderen, nur dass sie wusste, warum es geschehen war.
Sie hörte das Wehklagen und Heulen der Eingemauerten Seelen und der diesen womöglich in all den Jahrhunderten in die Falle gegangenen Geister jener, die es gewagt hatten, den Turm zu betreten.
Im Moment stand Ladonna unsichtbar auf der Westseite des Turmes. Sie tätschelte die kleine Leinentasche, die auf der linken Seite baumelte. Darin steckte eine schmale, gerade mal eine handlange Kerze. Diese trug die Essenz ihrer ganzen Macht in sich. Heute Nacht würde diese Macht freigesetzt. Dann würde sie zumindest 77 ihr vollkommen unterwürfige Dienerinnen haben und mit diesen das Fundament ihres neuen Reiches auf Erden errichten. Tifonia hatte sie ja schon sicher, ebenso wie Gundula, Ewalda, Cloto, Erin, Ursina und Malenka. Je danach, wen sie ihr gleich zuführen würden kamen sicher noch sehr brauchbare Dienerinnen dazu. Sollte sie es schaffen, sich in die obersten Ränge dieser unerwünschten Überwachungsanstalten Namens Zaubereiministerien einzuschleichen, hatte sie einige Möglichkeiten, wie sie auf kurz oder Lang alles beherrschen konnte.
Das einzige, was ihr neben der sehr aufdringlichen Aura des Turmes Sorgen machte war die erfolgreiche Verweigerung der spanischen Hexe Espinela Flavia Bocafuego de Casillas. Nur gut, dass die dann nicht wusste, wo das große Treffen stattfinden würde. Nur wenn der einfiel, die sogenannten Zögerlichen anzuschreiben, dass Ladonna ihr einen verfluchten Gegenstand zugeschickt hatte konnten diese vielleicht noch was gegen sie unternehmen. Dann würde sie wohl bis zum Sonnenaufgang warten oder gleich mit einer großenArmee von Hexen aus allen Ländern zu rechnen haben. Vielleicht bot ihr das aber auch die Gelegenheit, die größtmögliche Anzahl von auf einen Schlag zu unterwerfenden herauszufinden.
Die Zeit verging. Ladonna hatte sich immer weiter vom Turm entfernt, weil sie dieses ständige Gefühl, von unsichtbaren kalten Fingern betastet zu werden nicht all zu lange aushielt. Immerhin konnte sie in fünfhundert Schritt Entfernung ruhiger warten. Hier klang das Wehklagen nicht mehr so laut, und das Gefühl unerwünschter Berührungen erlosch in dieser Entfernung.
"Na, wer wird zuerst eintreffen?" fragte sich Ladonna. Die Antwort darauf erhielt sie um fünf Minuten vor drei Uhr. Sie fühlte die Annäherung von mehr als fünf magischen Menschen in der Luft. Als die anderen näherkamen fühlte sie, dass es elf Hexen waren. Dann erspürte sie auch weitere aus einer anderen Richtung anfliegende Hexen. Jetzt galt es, nicht zu lange zu warten, aber auch nicht zu früh loszulegen. Denn wenn die verschiedenen Gruppen sich hier trafen mochte es zu einem Konkurrenzkampf kommen, womöglich eine regelrechte Schlacht ausbrechen. Nur die Anführerinnen würden wissen, warum sie wirklich hier waren und ihre eigenen Begleiterinnen zurückhalten.
Weitere Gruppen fliegender Hexen näherten sich. Die Gruppe aus Irland flog sogar über Ladonna hinweg. Jetzt waren bis auf die französische Gruppe alle da.
Es war anstrengend, zugleich unsichtbar zu sein und den Flugzauber der Waldfrauen zu nutzen, fand Ladonna. Doch die paar Bäume, die hhier standen gaben ihr etwas von ihrer Kraft ab. "Ja, was mocht's ihr Piafkes hier?!" rief eine Österreichische Hexe. Ladonna beschleunigte ihren Flug. Da kamen auch die Französinnen, angeführt von Cloto Villefort. Jetzt wurde es Zeit. Denn nun begannen auch die irischen Hexen ihre englischen Mitschwestern anzurufen. Die jeweiligen Gruppenführerinnen versuchten schon, das Aufeinandertreffen in geordnete Bahnen zu lenken. Da rief die russische Hexe Malenka Borodina: "Da ist sie schon!"
Ladonna flog noch einige Dutzend Meter und landete. Das nächste mal würde sie in Storchengestalt fliegen. Das strengte ohne Bäume nicht so an. Doch nun stand sie von mehreren Dutzend Zauberstäben angeleuchtet da. Nur Malenka hatte sie wohl wahrgenommen. Also stimmte die Behauptung, sie habe die Talente einer russischen Wald- und Gebirgshexe in sich vereint. Mit einem kurzen Zauberstabschlenker hob Ladonna ihre Unsichtbarkeit auf, während eine der Österreichischen Hexen versuchte, Gundula Wellenkamm mit einem Betäubungszauber zu treffen. Doch der Zauber prallte pfeifend von Gundula ab und traf dafür eine Hexe aus Irland. Ladonna nutzte das aufkommende Durcheinander und pflückte die handlange Kerze aus ihrer Tasche. Gerade erkannten einige, wer da unter sie getreten war und wollte schon was rufen, da flammte die Kerze auf. Aus der Flamme wuchs eine brennende, blutrote Rose heraus. Sie war größer als die Feuerrosen, die Ladonna bisher gezaubert hatte. Außerdem verbreitete die Kerze noch einen violett schimmernden Rauch, der sich ausbreitete. "Versucht nicht erst, zu disapparieren!" sang Ladonna mit der ganzen Kraft ihrer Stimme auf den Tönen, mit denen eine grüne Waldfrau ängstliche Kinder einlullen konnte. Zwei Hexen zielten auf sie und zauberten etwas. Doch Ladonna hatte blitzschnell ihre linke Hand erhoben, und zwischen ihr und den anderen stand ein blutroter Lichtwall. An diesem prallten die beiden Zauber laut krachend ab. Ladonna fühlte einen heftigen Stoß durch ihre linke Hand gehen. Doch sie hielt den Arm in der sicheren Stellung, um mögliche Folgeangriffe zurückzuschlagen. Dann sah sie, wie die ersten Hexen einen immer weltentrückteren Blick bekamen. Der violette Rauch breitete sich immer weiter aus. Ladonna atmete tief ein und wieder aus. Sie wurde durch den Rauch mit den anderen verbunden. Das war der Duft der Feuerrose, ihre mächtigste Waffe überhaupt.
Drei Hexen versuchten zu fliehen. Doch Ladonnas Befehl hielt sie zurück. Auch gab es keine weiteren Angriffe mehr. Statt dessen durchdrang sie alle die Kraft, die im violetten Rauch steckte. Die Essenz aus vierzehn verschiedenen Kräutern, Bienenwachs und Ladonnas eigenem Blut, verströmt durch einen Docht aus 49 zusammengedrehten Haaren, erfüllte sie alle. Als alle in einer völlig ruhigen, tranceartigen Stimmung waren schickte Ladonna einen Gedanken an ihre Feuerrose. Daraufhin erklang aus deren Blütenkelch Ladonnas magische Stimme und sprach:
"Dein leben gehört der einzig wahren Königin, Ladonna Montefiori!
Ihr allein bist du verbunden, von diesem Augenblick in allen Stunden.
Wagst du ihr zu widerstreben, flieht von dir dein ganzes Leben.
So höre auf der Königin' Wort, und sei ihr Untertan an jedem Ort!"
Diese Botschaft erklang insgesamt siebenmal, in allen Sprachen der hierhin einbestellten. während Ladonna im Rhythmus ihrer eigenen, eingewirkten Worte ein- und ausatmete. Sie selbst empfand den Duft der Feuerrose als eben solchen, den Duft einer Rose. Wie die anderen ihn empfanden wusste sie nicht und hatte sie auch nie danach gefragt.
Als die Wiederholung der Botschaft auf Italienisch verklungen war schrumpfte die Feuerrose in sich zusammen. Dabei schrumpfte auch die Kerze in sich zusammen und blies noch eine Woge des violetten Rauches aus, der mittlerweile mehr als hundert Meter Umkreis überdeckte. Immer noch davon ein- und ausatmend standen die Hexen alle da, verbunden durch den Erfüllungsfluch in der Feuerrose, sowie dem magischen Rauch, den Ladonna aus der Kerze hervorgerufen hatte. Nur Ladonna selbst wirkte nicht weltentrückt. Sie straffte sich und sprach mit weitreichender Stimme auf Englisch: "Nun, da ihr meine Untertanen geworden seid, Schwestern, werde ich euch gleich eure Aufgaben zuweisen." Auf Russisch sagte sie: "Malenka und ihre Schwestern, ich bedanke mich, dass ihr hergekommen seid und werde euch gleich erzählen, was ihr für mich tun sollt." So ähnlich fuhr sie mit den anderen Gruppen fort. Dann verlangte sie von den Hexen, dass sie sich mit Namen vorstellten. Bei jeder wiederholte Ladonna den Namenund den in der Muttersprache der Hexe gesprochenen Befehl: "Erwarte du deine nächsten Aufgaben und sei mir bis in den Tod verbunden."
Als sie alle noch einmal mit ihren Namen und der persönlichen Anweisung angesprochen hatte verflüchtigte sich der violette Rauch restlos. Doch sein Werk war getan und von keiner alchemistischen oder inkantatorischen Macht zu zerstören. Zumindest ging das nicht, solange nicht jemand die gleichen wichtigen Bestandteile bekam, die sie dafür verwendet hatte, und das würde sie ganz sicher verhindern.
Die von ihr beeinflussten Hexen erwachten aus dem tranceartigen Zustand. Sie sahen Ladonna Montefiori an, erwartungsvoll, hingebungsvoll, unterwürfig. Nur Malenka schien mit sich zu ringen, ob sie nicht doch widerstreben konnte. Sie wand sich unter Schmerzen. Dann gab sie den Kampf auf. Sie kniete sich vor ihrer neuen Königin hin. "Kniet alle nieder vor mir, eurer einzig wahren Herrscherin!" befahl Ladonna nun auf Englisch, weil sie wusste, dass die meisten die Sprache konnten. Die sie nicht konnten verstanden die Demutsbezeugung und ahmten sie eifrig nach. "Ihr alle seid dort wo ihr wohnt wichtig, wenn ich das richtig verstehe. Doch ihr seid noch zu wenige, um unser Reich groß und unangreifbar zu machen. Daher gebiete ich euch allen als erstes, mir in den nächsten Wochen je weitere zehn Hexen zu benennen, die euch oder dort wo ihr arbeitet wichtig genug sind, mit euch in meinem Reich zu dienen. Wenn ihr das getan habt sollt ihr sie einzeln zu mir an diesen Ort oder einen Ort bringen, den ich euch weisen werde." Dann wandte sie sich an jede einzelne der Anführerinnen. Sie wies jeder eine eigene Aufgabe zu. Bei Cloto angekommen sagte sie: "Bring jene, welche die Zögerlichen anführt auch zu mir, wenn du mir die zehn geforderten Hexen zugeführt hast. Falls nötig unterwirf sie dir mit dem Imperius-Fluch! Bis dahin aber verhalte dich unauffällig!"
"Ich komme nicht an die Mutter der Zögerlichen heran, weil sie unter Sardonias Kuppel festsitzt und ich nicht von außen hindurchdringen kann", sagte Cloto.
"Dann führe den Befehl aus, wenn sie es schafft, herauszukommen und zu euch allen hinkommen will, wenn du den ersten Befehl ausgeführt hast und es erreichst, mit ihr alleine zu sein!" legte Ladonna fest. Cloto bestätigte den Befehl mit eingepflanzter Demut vor ihrer neuen Königin, deren Ausstrahlung ihr trotz der Veelastämmigkeit keine Ablehnung, sondern Zuneigung bereitete.
Als Ladonna bei Malenka ankam und sie aufforderte, eine Generalversammlung aller russischen Hexen einzuberufen fühlte sie, dass irgendwas nicht stimmte. Ja, die Aura des Turmes war nun stärker und wirkte auf sie noch zudringlicher. Doch was sie wirklich alarmierte waren die nun im Chor flüsternden Geisterstimmen: "Feindin der Herrin, Frevlerin. Unsere Rache rafft euch alle dahin!"
Ladonna erkannte, dass sie wohl einen schwerwiegenden Fehler begangen hatte, ausgerechnet hier und zur Nachtzeit zusammenzukommen. Zwar hatte der Turm es zugelassen, dass sie ihre Unterwerfungszauberei ausführen konnte. Doch nun schien das Maß für die im Turm gebannten Geister voll zu sein. Zwar konnte sich Ladonna nicht vorstellen, dass die Geister persönlich den Turm verlassen konnten. Doch wenn diese lästige Ausstrahlung noch stärker wurde konnte sie ihr doch erheblich zusetzen.
"Meine Schwestern, die Macht Sardonias im Turm will uns alle töten. Fliegt davon und kehrt an eure Wohnorte zurück, schnell!" Doch Ladonnas Befehl kam zu spät. Die Besen der angereisten Hexen lagen festund schwer auf dem Boden und wollten nicht in die Aufstiegshaltung springen. Dann sah Ladonna, wie mächtig der Turm tatsächlich war.
Aus den dunklen Mauern drangen blutrote Lichter, die im freien Flug zu Lichtkugeln wurden. "Blutgeister!" rief Ursina Underwood. Auch Erin O'Casy rief das aus. "Na kommt's her, ihr Bluatgesindel!" rief Ewalda von Kreuzacker und zielte mit dem Zauberstab auf den Turm. ein silberner Feuerstrahl entfuhr dem Zauberstab, Mondfeuer. Auch andere Hexen erkannten den tödlichen Spuk. Ladonna ärgerte sich, dass dieser Zauber, den Ewalda verwendete, nur bei Hexen oder Zauberern gelang, die in ihrem jetzigen Leben aus sich heraus ein Kind erschaffen hatten, sei es durch Zeugung oder durch Geburt. Sie besaß die Seele ihrer eigenen Mutter, doch hatte aus ihrem Körper noch kein neues Leben hervorgebracht. Aber dafür konnte sie etwas anderes. Denn Blutgeister waren mit dunkler Magie aufgeladene Seelen, die an verfluchte Gegenstände gebunden waren und nur dafür freikamen, um andere Menschen die Wärme zu entreißen und deren Seele in ihresgleichen umzuwandeln.
"Ex doloribus nigrespeculum advoco!" dachte Ladonna die entscheidenden Worte. Unvermittelt stand zwischen ihr und dem Turm eine doppelt so hoch wie sie selbst und doppelt so breit wie hoch eine halbdurchsichtige schwarze Wand. Ladonna sah gleich, dass auch viele andere Hexen diesen Zauber benutzten, wohl weil Ursina und Ladonna ihn vorgemacht hatten. Die anderen, die schon Kinder bekommen hatten wirkten den Mondfeuerzauber. Die davon getroffenen Lichtkugeln prallten zurück und fielen kraftlos zu Boden und drangen darin ein. Sie würden sich nicht vor zwei Minuten von diesem Angriff erholen, wusste Ladonna. Sie indes rief schnell eine ähnlich dunkle Fläche über ihrem Kopf hervor, wie sie als Wand vor ihr stand. Denn gerade versuchten fünf Blutgeister auf einmal, von oben her anzugreifen. Die anderen Mordgespenster hatten auch begriffen, dass sie auf gleicher Höhe wie die Hexen anfliegend auf Widerstand stießn. Ursina ahmte Ladonna nach und errichtete auch über sich und dann ganz um sich herum eine magische Abwehr aus schwarzen Spiegeln. Ladonna wiederholzauberte den schwarzen Spiegel und merkte, dass es sie viel Kraft kostete, insgesamt fünf Spiegelflächen aufrecht zu halten. Sie konnte trotz der lichtfilternden Eigenschaft des Zaubers sehen, dass mehrere Hexen nicht rechtzeitig gegenhalten konnten und von herabsausenden Blutgeistern getroffen und durchdrungen wurden. Als die roten Lichtkugeln den Opfern entglitten waren sie zu zweit unterwegs, und die Körper der Opfer standen als glitzernde Eisstatuen da. So schnell ging das also, erkannte Ladonna. Und im Turm waren mindestens sechzig gebannte Seelen, die nun als Rachegeister umherjagten, jede Schwäche ihrer Opfer gnadenlos ausnutzend. Die dämonischen Wesen schienen zudem in einer ihnen eigenen Gedankenverbindung zu stehen. Denn wie auf einen unhörbaren Befehl jagten sie nach oben und wollten sich nur noch von oben auf ihre Feindinnen stürzen. Doch diese waren ebenfalls darauf gekommen, dass sie die Blutgeister auch von oben zu fürchten hatten.
Mit kanonendonnerartigen Knällen und ähnlichen Schwirrgereäuschen wie abgefeuerte Kanonenkugeln prallten die ersten Geister von den schwarzen Spiegeln ab und jagten mit der fünffachen Geschwindigkeit als sonnenaufgangsrote Sphären in die Gegenrichtung davon. Die meisten von diesen Abgeschmetterten Geisterwesen flogen zum Turm zurück und schlugen grell aufblitzend und laut krachend in die dunklen Mauern ein. Dann sah Ladonna, wie einer der Blutgeister in den körper der Hexe Louisette Richelieu eindrang und ihn rot aufleuchten ließ. Louisette erstarrte zu Eis. Doch der sie tötende Geist verließ den Körper nicht. Der wurde nun von einer blutroten Aura umhüllt. Genauso sah Ladonna, wie auch Arminia von Wolkenfeld auf diese Weise getroffen wurde. Der sie befallende Blutgeist kam nicht aus ihrem Körper heraus, sondern ließ diesen nur rot leuchten. Nur Ladonna schien das zu bemerken. Denn die anderen waren zu sehr damit beschäftigt, die sie angreifenden Geister zurückzutreiben. Da fiel Ladonna siedendheiß ein, dass sie auch einen Schutz in den Boden beschwören musste und holte das mit "Pro umbra animae prohibitus!" nach. Der Boden unter Ladonnas Füßen glühte in einem sanften blauen Licht. Kein Geist und kein Nachtschatten konnte da durch. Jetzt war sie wirklich solange sicher, solange sie und ihr Ring die schwarzen Spiegel aufrechthielten.
Bumm-bumm! Zwei Blutgeister knallten von oben gegen Ladonnas schwarze Spiegeldecke und sirrten schneller als ein Pfeil in den Nachthimmel hinauf. Ob sie diese Umkehr bewältigen konnten und zurückkehrten wusste Ladonna nicht. Sie sah nur, dass weitere Blutgeister in die Turmmauern einschlugen. Sie vergingen in grellen Blitzen. Da wo sie eingeschlagen waren klafften qualmende metergroße Löcher im Mauerwerk. Ladonna verstand und lächelte. Doch da waren schon die nächsten Blutgeister heran und wurden knallend von ihren schwarzen Spiegelflächen abgelenkt. Einer der Blutgeister knallte dabei gegen einen schwarzen Spiegel Clotos und traf die immer noch von einer blutroten Aura umflossene Eisstatue Luisettes. Mit einem lauten Klirren zerbarst die Eisstatue. Dafür flogen nun eine hellrote und eine mittelrote Sphäre im Hui davon. Cloto sah, was passiert war. Doch sie konnte jetzt nicht trauern. Sie hielt ihre schwarzen Spiegel mit Auffrischungszaubern in Form. Dasselbe taten auch die anderen, die bereits mit Blutgeistern zu tun bekommen hatten.
Wieder schlugen von der Macht der Schwarzen Spiegel fünfmal stärker aufgeladene Geisterwesen in die Turmmauern ein. Wieder blitzte es grell auf. eine Sekunde später erfolgten die Explosionsgeräusche.
Die Abwehrschlacht ging weiter. And die zwanzig Blutgeister waren entweder in den Himmel oder in andere Flugrichtungen abgeprellt oder vom Mondfeuer geschwächt worden. Doch die ersten davon niedergerungenen Geister glitten nun wieder aus dem Boden hervor, kleiner zwar als vorher aber durch die Dunkelheit und die Nähe atmender beseelter Menschen angetrieben, sich wieder ins Kampfgeschehen zu stürzen. einer davon traf Clotos aufgespannte schwarze Spiegeldecke und flog als hellrote Sphäre in einer Bahn zurück, deren Ende die Turmspitze war. Krachend zerbarst diese wie eine hell funkelnde Wunderkerze. Der Turm schwankte bedenklich hin und her. Jetzt klafften auch noch Risse im Mauerwerk, die immer länger und breiter wurden. Als dann gleich sechs von schwarzen Spiegeln abgewehrte Geister in die Turmmauer schlugen platzte ein Großteil davon unter hellen Blitzen als glutrote Staubwolke heraus. Der Turm erbebte nun noch stärker. Blitze zuckten aus der ramponierten Spitze wie orangerotes Elmsfeuer. Dann bog sich der Turm laut stöhnend und knirschend in die Richtung, in der die Hexen immer noch gegen ihre körperlosen Gegner fochten. Als ein weiterer Blutgeist als hellrote Sphäre in den bereits umkippenden Turm einschlug war dies der Todesstoß für das Gemäuer. Es brach laut donnernd, polternd und ächzend in sich zusammen. Rote Blitze und blaue Funken schossen aus den aufbrechenden Mauerabschnitten. Dann schien der Turm in violetten Flammen zu stehen, die schnell und weit ausgreifend über das zusammenkrachende Gebäude züngelten. Die dunkle Magie, die Sardonia im Jahre 1624 in diesem Turm konzentriert hatte, deflagrierte und pulverisierte das Gestein, in dem sie all die Jahrhunderte eingewirkt war. Mit einem letzten lauten, dumpfem Schlag, der den Boden erzittern ließ, zerschellte das obere Drittel des Turmes. In diesem Moment schrien mehrere Dutzend Stimmen, erst vor Schmerz und dann vor unbändiger Erleichterung und Euphorie. Die Schreie verebbten schlagartig. Im selben Moment erloschen die noch fliegenden Blutgeister wie vom Sturm ausgeblasene Kerzenflammen. Selbst jene Geister, die gerade als hellrote Lichtsphären dahinjagten zerbarsten in roten Funkenwolken. Mit der für die Entfernung bestehenden Verzögerung hörten sie es wie ein lautes knallen und knistern. Dann war der Kampf vorbei. Es gab keine Blutgeister mehr. Die unsichtbare Aura, die vom Turm ausgestrahlt hatte, war nicht mehr zu spüren. Ladonna hörte auch keine Geisterchöre mehr. Sie alle sahen zu Sardonias einstigem Kerkerturm. Der Turm der 1000 Tränen lag in Trümmern. Über ihm stand wie als letzter Gruß seines Bestehens eine mehr als einen halben Kilometer hohe Staubwolke.
Mit dem Ende des Turmes war auch der magische Bann gebrochen, der die Flugbesen am Boden gehalten hatte. Sie schnellten wie von Sprungfedern getrieben in Aufstiegsstellung. Ladonna überblickte das Ausmaß der kurzen aber heftigen Schlacht. Von den 77 Hexen, die hergekommen waren konnten sich nur noch 63 Hexen frei bewegen. Von denen, die von den Blutgeistern vereist und entseelt wurden waren fünf sogar regelrecht zersprengt worden, wohl auch von abgeprellten Blutgeistern. Ladonna fragte sich jetzt wieder, wie das überhaupt möglich war. Wenn ein Blutgeist durch sein Opfer gedrungen war und ihm alle Wärme und die Seele entrissenhatte flog er doch im Verbund mit der geraubten Seele weiter, um weitere Opfer zu finden. Waren einige der Blutgeister in den Opferkörpern hängengeblieben und von den abgelenkten Geistern aus diesen freigesprengt worden? Das war aber nur bei fünf Hexen passiert, darunter Louisette Richelieu und Arminia von Wolkenfeld.
"Setzt euch auf eure Besen und fliegt dorthin zurück, woher ihr gekommen seid, meine wackeren Schwestern und Untertanen!" sagte Ladonna mit einer Spur von Mitgefühl in der Stimme. Diesen Ausgang der Nacht hatte sie nicht gewollt. Doch ändern ließ es sich nicht mehr. Die anderen Hexen gehorchten ohne wenn und aber und flogen auf ihren Besen davon. Die Besen der getöteten und zerstörten Mitschwestern blieben zurück. Sie und neun aufrechtstehende, im Schrecken der letzten Sekunde erstarrte Eisstatuen bezeugten, was in dieser Nacht am Turm der 1000 Tränen geschehen war. Ladonna Montefiori überlegte, ob sie die Besen einsammeln und mitnehmen sollte. Doch dann dachte sie, dass der Abwehrschutz gegen feindselige Zauberer ebenso erloschen war. Also hieß es, ganz schnell das Weite zu suchen. Sie konnte sich ja später noch überlegen, was genau geschehen war.
Sie sah noch einmal auf den Trümmerhaufen, wo einst ein unheimlicher Turm gestanden hatte. Sie wagte es und disapparierte. Als sie sich keine fünfzig Schritte von einer im altrömischenStil erbauten Villa wiederfand atmete sie auf. Sie hatte es geschafft. Hier war sie im von ihr gesicherten Bereich. Falls ihr doch noch Feinde auf den Leib rücken wollten würden sie sich ebenso die Köpfe verbrennen wie alle anderen zuvor.
Als sie in ihrer Kemenate saß lachte sie befreit auf. Ihr war eine Idee gekommen, wie sie die ihr nachjagenden Landsleute ködern und dann mit der größten von vier Kerzen bedenken konnte. Wichtig war, dass sie am selben Ort war wie jene, gegen die sie ihre mächtigste Waffe führen wollte.
"Mein treuer Diener, höre mich an. Bringe es zu wege, dass der, der sich Zaubereiminister nennt, mit denen, die hinter mir herjagen in einem großen Raum zusammentrifft und verschaffe mir unauffälligen Zutritt zu diesem Ort, wenn du die günstigste Gelegeneit erkennst! verheiße ihm und den seinen einen Weg, mich doch noch zu ergreifen, am besten mit vielen meiner Untertanen zusammen! Ich werde Vorzeichen setzen, die ihn entsprechend gewogen stimmen." mentiloquierte sie an ihren an sich gebundenen Helfer, den zur Zeit einzigen Zauberer in ihren Reihen. Es würde diesem Minister Bernadotti sehr bald sehr leid tun, dass er erlaubt hatte, sie zu töten.
Es ploppte vernehmlich. da stand sie, Anthelia, die höchste der Spinnenschwestern, mitten im Empfangsraum des neuen Hauptquartiers. Sofort kamen die auf ihre Anweisung hin hierher geflüchteten Hexen zu ihr und fragten sie, was geschehen sei. "Sardonias letztes Bollwerk ist zerstört. Die Kuppel ist durch die Macht neuenLebens und einen uralten Zauber des Lebens ausgelöscht worden", sagte Anthelia/Naaneavargia. "Ich muss prüfen, ob ihre anderen Hinterlassenschaften noch vorhanden sind", sagte sie noch und verschwand mit leisem Plopp. Zwei Minuten später apparierte sie erneut. Sie lächelte erleichtert. "Es ist alles noch so wie es sein soll, Schwestern. Die Auslöschung betraf nur die Kuppel. Aber was ich sah ist höchst erstaunlich. Doch wie habt ihr geschlafen?"
"Ganz gut, diese Gästebetten sind hervorragend. Aber können wir unsere Doppelgängerinnen jetzt ablösen, höchste Schwester?" fragte Marga Eisenhut.
"Ich war nach der Vernichtung der Kuppel beim Turm der 1000 Tränen. Es muss dort eine unglaubliche Vernichtungsschlacht stattgefunden haben. Der Turm ist nur noch ein Trümmerhaufen. Seine Magie ist restlos in alle Winde zerstreut. Doch davor stehen neun zu Eis erstarrte Körper und es sind dort fünf große Laachen, die mir ganz nach von innen heraus zerrissene und in Millionen Stücke gesprengte Körper aussehen. Ich konnte nicht mehr erkennen, wessen Körper derartig zerstört wurden. Aber offenbar ist das ganz wichtig, es herauszufinden. Ich habe die anderen Schwestern, die nicht diese Einladung erhalten haben, schon damit beauftragt, dem nachzugehen, wer vermisst wird. Solange bleibt ihr bitte hier."
"Meine Königin und Göttin höre mich", empfing Ladonna den Anfang einer Gedankenbotschaft ihres Kundschafters in der Zaubererwelt. "Das Ministerium sucht fieberhaft nach dir wegen des Mordes an den Montanera-Hexen. Sie haben noch einmal alle magischen Mitbürger aufgefordert, verdächtige Sachen zu melden, aber nicht selbst einzugreifen. Ich denke, Bernadotti wird bald die von dir erhoffte Zusammenkunft einberufen. Ich werde dir verraten, wann die Zusammenkunft sein soll. Doch bist du sicher auch interessiert, dass die dunkle Kuppel Sardonias zerstört wurde. Eine mit den Franzosen in Verbindung stehende Kollegin hat mir das vor einer Stunde gesagt. Leider kann ich dir noch nicht mehr berichten."
Ladonna schickte zurück: "Bleibe weiter unauffällig, Pontio! Viel hängt davon ab, dass niemand vorher weiß, dass ich diesen Plan ersonnen habe. Und danke dir für die Kunde von Sardonias Kuppel!" Für sich selbst dachte sie: "Damit ist auch ihr letztes großes Erbe von der Welt getilgt. So kann meine neue Dienerin Cloto dann, wenn ich es ihr gebiete die Sprecherin der Zögerlichen für mich ergreifen. Doch erst Bernadotti und seine Kettenhunde."
Edmond Pierre beaufsichtigte die ersten Aufräumarbeiten nach dem Ende von Sardonias Kuppel. Jetzt, wo Millemerveilles nicht mehr gegen den Rest der Welt abgeschottet war, kamen Verwandte aus dem ganzen Land, um nach ihren Angehörigen zu sehen und die großen Löcher im Boden zu besichtigen, unter denen vor einem Tag noch die dunklen Quellen der Kuppel gewirkt hatten. Der Sicherheitschef von Millemerveilles war schlagartig nach dem Ende von Sardonias Macht aus seinem Delirium erwacht und hatte erst einmal erfahren müssen, was geschehen war. Wenn er sich das alles hier angesehen und die Aufräumarbeiten delegiert hatte würde er für eine längere Beobachtungs- und Genesungszeit in die Delourdesklinik gehen. Denn wie sich Sardonias böser Zauber, der von einer anderen böswilligen Macht verstärkt und auch verfremdet worden war, langfristig auswirkte wusste niemand.
"Hallo Edmond, wieder auf den Beinenoder dem Heiler davongelaufen?" fragte Florymont Dusoleil seinen Mitbürger.
"Will nur mit eigenen Augen sehen, was hier passiert ist und hoffen, dass es kein Traum ist. Dann geht's zur richtigen Erholung in die DK", sagte Monsieur Pierre.
"Du träumst nicht. Das ist gestern wirklich passiert, und nur wir eingeweihten sollen wissen, wie das passiert ist, sagt Hera", flüsterte Florymont. "Ja, schön, und ich kriege es dann erst mit, wenn ein Monat um ist, wie?" grummelte Edmond Pierre. Dann sah er Florymont mit einem verlegenen Blick an und räusperte sich. Dann fragte er: "Stimmt das, dass diese Verbrecherbande von Vita Magica uns ein Rammelrauschgas unter die Kuppel geblasen hat und die meisten Ehepaare hier jetzt darauf warten, ob sie Nachwuchs kriegen oder nicht?" Florymont sah seinen Nachbarn ebenso verlegen an und überlegte wohl, was er sagen sollte. Dann sagte er: "Ich denke mal, die werden dir alles erzählen, was hier passiert ist. Außerdem kannst du Millie Latierres Reportage lesen, falls die Heiler dich lassen."
"Das heißt also ja. Öhm, was war mit Estelle?"
"Das ist nicht meine Zuständigkeit", sagte Florymont. Edmond Pierre wurde darüber wütend und packte den Zauberschmied von Millemerveilles am Arm. "Also, in zwei Sätzen, was ist mit meiner Frau in der Zeit passiert?"
"Satz Nummer eins: Deine Frau hat sich wohl wen gesucht, weil du nicht da warst. Satz zwei: Ob und wen sie gefunden hat sagt dir Hera!" erwiderte Florymont und löste sich mit einer schnellen Hebelbewegung aus Edmonds Griff.
"Gut, aber dass die Latierres ihr drittes Kind bekommen haben darf ich noch wissen, oder?" schnarrte Edmond Pierre.
"Soweit ich von meiner Frau weiß hat Heilerin Béatrice Latierre ihn wegen der großen Anstrengungen mit Millie ins Wochenbett gelegt. Die Babypinkelparty für die kleine Clarimonde soll am 1. Juli sein, das Willkommensfest am 19. Juli, wie damals bei Aurore. Da bist du vielleicht wieder bei uns."
"Gut, ich erkenne, dass ich hier im Moment nicht mehr erfahren oder tun kann, Florymont. Falls du deine Frau erfolgreich mit eurem fünften Kind beladen hast grüß sie schön von einem womöglich unfreiwillig gehörnten Ehegatten. Und wenn die gute Hera die Runde macht, wer was kleines erwartet, dann schick sie bitte zu mir, damit ich zumindest erfahre, wessen Kind ich als mein eigenes großziehen soll und ob der Vater willens und fähig ist, mir dabei zu helfen."
"Ja, mach ich, Edmond. Gute Genesung!" wünschte Florymont und ging weiter, um zu prüfen, wo er was machen konnte oder musste.
"Hallo Al, was sagt die höchste Schwester?" fragte Louisette Richelieu ihre deutsche Geliebte, als diese in das mit Tarnzaubern umgebene Haus eintrat. "Ich habe schlechte Nachrichten für Sie, Mademoiselle Richelieu: Heute morgen um zehn Uhr hat die Führerin der sogenannten entschlossenen Schwestern in Frankreich vor allen zusammengerufenen berichtet, dass Sie in der Nacht zum 24. Juni, bei einer Schlacht gegen von Sardonias letztem Aufgebot freigelassenen Blutgeistern von gleich zwei dieser Mordgespenster erst zu Eis und dann zu winzigkleinen Scherben verwandelt wurden und somit gestorben sind. Hat sie wirklich gut hingekriegt, ihren verbotenen Ausflug zu Ladonna Montefiori als Angriff gegen eine Bastion von Sardonia auszugeben. Bei uns in Deutschland ist das auch so verkauft worden. Gut das Marga und ich uns dem haben entziehen können. Aber ich sage dir was, Lou, die Wellenkamm und auch die kleine, runde Roggenbäckerin sind sicher von Ladonna verwünscht worden. Ich konnte das mit dem Aurensichtmodus meiner besonderen Augen erkennen, dass irgendwas in deren Lebensaura verschoben wurde. Die höchste Schwester hatte zum Donnerkeil noch mal recht gehabt. Na gut, sie kannte dieses schwarzhaarige Dornröschen ja schon von den Aufzeichnungen, die sie selbst damals aus Millemerveilles stiebitzthat."
"Hat stiebitzen lassen, von seiner totalen Größenwahnsinnigkeit Tom Vorlost Riddle und seiner Herzenshexe Bellatrix Lestrange", wusste Louisette.
"Wie dem auch sei, du bist offiziell tot, Louisette. Die höchste Schwester wird dir hoffentlich eine neue Identität geben, weil dein Wissen zu groß ist, um dich wahrhaftig umzubringen", erwiderte die Hexe, die Louisette als ihre heißblütige Geliebte Albertine Steinbeißer ansah.
"Na ja, dann hätte ich ja viel Zeit. Schade, und ich dachte, wir könnten bei euch in Deutschland heiraten."
"O, da hast du aber eine Falschinformation bekommen. Die Lesbenehe ist bei uns in Deutschland noch nicht eingeführt worden, nur eine anerkannte Partnerschaft, die aber noch gewisse Beschränkungen hat. Abgesehen davon hinken die vom Zaubereiministerium den Muggeln oder Maglos, wie wir sie auch nennen, um mindestens zweihundert Jahre hinterher was das angeht", sagte die Hexe, die für den Großteil der Welt immer noch die alte Al Steinbeißer war. Innerlich war sie froh, diese Begründung anbringen zu können. Denn von Louisette konnte sie wohl kaum ein Kind bekommen.
"Wie bitte? Durch eine simple Geburt soll Sardonias Kuppel zusammengebrochen sein?" fragte Ladonna Federica Lupazzura, als diese auf Ladonnas klare Einberufung bei ihr in der Villa angekommen war. "So simpel war das wohl nicht, meine Königin. Es ist eher so, dass das Grundstück der Latierre-Familie mit einem alten hellen Zauber aus dem Wissen dieser Ashtaria gesichert wurde und diese Kraft sich durch jedes neue Familienmitglied verstärkt oder so. Jedenfalls hat die bei der Geburt von diesem Mädchen freigesetzte helle Kraft die Kuppel durchstoßen und damit eine Kettenreaktion ausgelöst. Angeblich soll Sardonias Geist als Riesengestalt vor dem Haus aufgetaucht und dann in viele glühende Lichtfragmente auseinandergefallen sein. Aber mehr konnte unsere neue Kundschafterin beim Miroir Magique nicht herausfinden, weil sie nicht auffallen durfte."
"Heißt das jetzt, dass du oder gar ich nun unangefochten nach Millemerveilles hinein können?" wollte Ladonna wissen und las bereits die Artikel aus dem Miroir Magique und der Temps de Liberté.
"Soweit es da steht ist das so. Allerdings haben viele da wohl ihre Häuser mit besonderen Zaubern umspannt, wegen der von Sardonias Geist angetriebenen Erbin, heißt es und zehn von den von Sardonias Macht unterworfenen Nachfahrinnen alter Mitschwestern sind in die Delourdesklinik verlegt worden, um zu prüfen, ob sie wieder ganz friedliche und mitmenschliche Bürgerinnen werden können."
"Wäre höchst interessant, die für mich zu gewinnen. Aber ich gehe davon aus, damit rechnen die in diesem Krankenhaus schon", grummelte Ladonna. Sicher, sie könnte die zweite Duftkerze verwenden, um das Personal zu verhexen. Doch für nur zehn vielleicht verfügbare Hexenschwestern einen offenen Kampf mit dem französischen Zaubereiministerium zu riskieren war ihr die Sache noch nicht wert. Deshalb sagte sie noch: "Aber dann kann zumindest meine wertvollste Agentin in Frankreich die von mir befohlene Arbeit machen."
"Welche Arbeit?" fragte Federica.
"Sie hat ihre Arbeit, du die deine, meine Schwester. Also kümmere dich nicht darum!" erwiderte Ladonna.
Ventoforte war es gewöhnt, sein Mittagessenohne die anderen Kollegen einzunehmen. Er behauptete immer, als Strafverfolgungsleiter müsse er allzeit erreichbar sein. Tatsächlich aber wollte er seine Ohren nicht mit dem eifrigen Geplapper und Geschnatter in der Ministeriumskantine essenden Kollegen überlasten.
"Achtung, Post!" plärrte eine koboldhafte Stimme aus dem Nichts. Dann landete mit leisem Piff eine Pergamentrolle mit grünlich flirrendem Ring auf seinem Schreibtisch. Ventoforte nahm die Rolle. Es pingelte einmal. Damit wusste die magische Nachrichtenverteilung, dass der richtige Empfänger die zugestellte Nachricht entgegengenommen hatte. Da waren sie hier in Rom stolz drauf, diese zeitersparende Anlage zu haben, wo ihnen und anderen Mittelmeervölkern doch unterstellt wurde, alles ganz langsam und ohne Beachtung der genauen Uhrzeit zu erledigen.
"Moment mal", schnarrte Ventoforte, als er die Rolle auseinandergerollt und den darauf stehenden Text zweimal gelesen hatte. Dann las er den Text noch einmal. Er hatte sich nicht verändert. Sofort griff Ventoforte nach einer kleinen, klöppellosen Silberglocke und schüttelte sie dreimal kräftig. Er hörte keinen Ton. Doch in den Bereitschaftsräumen seiner Abteilung rappelten nun die Warnglocken. So dauerte es keine halbe Minute, bis die Vorsteher der fünf Einsatzbrigaden bei ihm antraten. Ventoforte sah sie kurz nacheinander an. Dann las er ihnen den zugestellten text vor:
"Von Wachposten Genua an Leiter Straverfolgung Zaubereiministerium.
Haben vor zwei Stunden verdächtige Hexe observiert, die in einem unter Tarnzauber stehenden Gebäude am Hafen eintrat und dort längere Zeit mit einem Wandspiegel sprach. Unsere Wächter hörten Begriffe wie "Königin", "Versammlung der Getreuen" und "Tag der Entscheidung" heraus. Als wir die Verdächtige ergreifen wollten entzog sie sich der Festnahme durch einen vorbereiteten Fluchtzauber, der uns in eine rosarote Wolke einhüllte und uns laut Armbanduhren für zehn Minuten handlungsunfhäig in der Luft schweben ließ. Thaumaturgiefachkraft vermutet abrufbare version von Amatas Ruhestatt, jenem neumodischen Beruhigungszauber, der auch als Fallenzauber missbraucht werden kann. Jedenfalls steht zu befürchten, dass mit der Königin jene Unperson gemeint ist, die sich Ladonna Montefiori nennt und sich am 12. Juni erfolgreich der Festnahme entzog und höchst wahrscheinlich für den Tod der drei Hexen Cassandra, Claudia und Loredana Montanera verantwortlich ist. Erbitten weitere Anweisungen für den Fall erneuter Aktivitäten in diesem Zusammenhang!"
"Genua? Wohnt die nicht in einem von ihr mit diesem vertückten Blutfeuernebel verpesteten Haus bei Florenz?" fragte einer der fünf Brigadeführer. Ventoforte nickte ihm energisch zu und sagte dann: "Ja, nur dass sie schon vor über vierhundert Jahren die ganze italienische Halbinsel als ihr eigenes Revier angesehen hat. Und hier steht echt nichts, wer diese Hexe gewesen sein soll. Ich werde das gleich mit den Genuesen klären, wer da was mitbekommen oder nicht mitbekommen hat. Sie fünf instruieren Ihre Untergebenen, dass sie sich bereithalten sollen. Sollte Ladonna Montefiori ein Treffen der ihr folgenden Hexen planen, und wir erfahren davon, wo es ist, müssen wir sofort zuschlagen. Öhm, die Panne mit den Tresolicelli-Brüdern hat gelehrt, dass wir bei solchen Aktionen zum einen Hexen mitnehmen müssen, die wohl diesem widerlichen Veelacharme widerstehen und zum zweiten nicht mehr groß fackeln. Ladonna gilt als Feindin der obersten Ordnung und darf laut Minister Bernadotti auf Sicht getötet werden, falls sie eine unmittelbare Gefahr für die sie ergreifenden Beamten darstellt."
"Öhm, dieser generelle Hinrichtungsbefehl ist weiterhin sehr fragwürdig, Signore Ventoforte", warf ein weiterer Brigadeführer ein. "Wenn wir das machen darf die Zaubererwelt davon nichts mitbekommen. Sonst bekommt der Minister noch Ärger mit aufgebrachten Bürgern, die ihn dann mal wieder mit diesem Schreihals Mussolini vergleichen."
"Schon vor drei Monaten notiert, Brigadeführer Portorico", grummelte Ventoforte.
Wie auf Stichwort meldete die Nachrichtenzustellvorrichtung eine weitere Postsendung. Piff, landete diese unmittelbar nach der Ankündigung auf Ventofortes Schreibtisch.
"Aha, Pisa hat offenbar versucht, eine Hexe festzunehmen, die versucht hat, eine andere Hexe unter den Imperius-Fluch zu nehmen. Die Beamten wurden wie die in Genua in eine rosarote Schwebewolke gehüllt, die sie zehn Minuten lang eingelullt hat. Deshalb können sie auch nicht verraten, wer die beiden Hexen sind. Na wartet, das woll'n wir doch mal sehen", knurrte Ventoforte. Dann schickte er zwei der Brigadeführer los, nähere Informationen einzuholen. Er selbst wollte dem Minister persönlich berichten, auch wenn ihm das nicht gefiel. Denn Bernadotti fühlte sich wegen der Zeitungsmeldung über die drei Hexenleichen auf dem Markusplatz wie ein broelnder Kessel vor dem bersten.
"Wir müssen herausfinden, was mit dem Tag der Entscheidung gemeint ist, also wann er sein soll und was dann genau geschehen soll", sagte der Minister zu Ventoforte. "Am besten rufen Sie die Reservetruppen aus den anderen Abteilungen ab, damit wir im Zweifelsfall mit allen Mann eingreifen können."
"Signore Bernadotti, wir haben schon eintausend Leute beim Quidditchstadion postiert, um die letzten Vorbereitungen der Quidditch-Weltmeisterschaft zu vollenden. Da wir ja nicht den fragwürdigen Luxus haben, unter einer für echte Schwarzmagier und Dunkelhexen undurchdringlichen Kuppel spielen zu können brauchten wir ..."
"Ist mir alles bekannt, Albano, bitte was neues", schnitt der Minister Albano das Wort ab. Der sah seinen obersten Dienstherren kurz verdutzt an und nickte dann abbittend.
"Kann mir vorstellen, dass sie genau dort zuschlagen will, um uns und dem Rest der Welt zu zeigen, wie mächtig sie ist", sagte der Zaubereiminister. Tja, und Vita Magica könnte auch dort zuschlagen, nachdem, was ich aus Millemerveilles gehört habe", grummelte der Zaubereiminister. Ventoforte bejahte es.
Im Laufe des Nachmittages erhielt Ventoforte noch weitere Meldungen aus verschiedenen Regionen Italiens, darunter auch die direkte Umgebung des für die Weltmeisterschaft errichteten und abgesicherten Quidditchstadions und die umgebenden Lagerplätze. Alles verdichtete sich darauf, dass Ladonna Montefiori entweder am Eröffnungstag oder nicht lange danach ein Zeichen setzen wollte.
"Das haben du und meine treuen Statthalterinnen sehr gut gemacht, Pontio. Die Narren glauben nun, ich wolle sie bei der Weltmeisterschaft heimsuchen. Doch es fehlt noch die alles entscheidende Nachricht, die eine Ministerialkonferenz mit allen Sicherheitsleuten erzwingt. Ich werde sie gleich verschicken."
"Du befiehlst und ich gehorche", bekundete ihr einziger männlicher Diener in der Zaubererwelt seine Unterwürfigkeit. Ladonna hatte mit nichts anderem gerechnet. Dann musste sie sich sehr stark konzentrieren, um mit ihrer neuerworbenen Untertanin Gundula Wellenkamm in Verbindung zu treten.
"Wie steht es um die dir zugewiesene Aufgabe, Schwester Gundula?" wollte Ladonna wissen.
"Nach der Sache mit Wallenkron sind die im Ministerium sehr misstrauisch, meine Königin", quälte sich Gundula eine halbwegs demütige Antwort ab. Ladonna fühlte, dass die deutsche Mitstreiterin gegen das ihr aufgebürdete Joch anzukämpfen versuchte, aber immer unterlag. Sollte sie ernsthaft gegen ihre Königin aufbegehren würde sie sowieso sterben.
"Was ist mit dieser anderen, dieser Gesine Feuerkiesel? Besteht eine Möglichkeit sie dir zu unterwerfen und dann zu mir zu bringen?"
"Nicht heute und nicht in den nächsten Tagen. Gesine Feuerkiesel ist unterwegs in den vereinigtenStaaten von Amerika, um mit unserer dortigen Mitschwester zu sprechen, deren Namen ich bisher nicht erfahren konnte, weil die oberen sich darauf abgestimmt haben, ihre Namen nicht an die jeweiligen untergeordneten Schwestern weiterzugeben. Es soll aber wohl um dich gehenund ob es möglicherweise zu einem Machtkampf zwischen dir und uns kommt, weiß ich."
"Und du weißt nicht, wann sie wiederkommt?" wollte Ladonna wissen.
"Nein, meine Königin. Das weiß ich leider nicht", erwiderte Gundula Wellenkamm.
Nach dieser Unterredung über viele hundert Meilen nahm Ladonna Kontakt mit Cloto Villefort auf. Auch hier fühlte sie einen gewissen Widerstand. Doch dieser brach sofort, als sie die Verbindung vollendete. "Wie sieht es bei euch aus. Wwisst ihr, wie die Kuppel Sardonias zerstört wurde?"
"Es sind immer noch dieselben Gerüchte. Sicher ist nur, dass es in dem Moment geschah, als das dritte Kind der jungen Eheleute Julius und Mildrid Latierre geboren wurde. Mutter Hera wird bis auf weiteres in Millemerveilles bleiben, um alle dort anfallenden Aufräum- und Wiedereingliederungsaufgaben zu erfüllen, zumal Vita Magica ihr womöglich eine Hundertschaft oder mehr künftiger Patientinnen verschafft hat. Wenn ich jetzt zu ihr hingehe könnte es passieren, dass mich ihre eigenen Abwehrzauber zurückweisen und sie dann erst recht Verdacht schöpft, meine Königin."
"Sei beruhigt! Mein Auftrag an dich lautet, sie mir zuzuführen, wenn sie aus diesem Dorf herauskommt und ihr eine Gelegenheit habt, allein zu sein, sobald du mir die zehn befohlenen neuen Schwestern zugeführt hast, so wie es die anderen neun, die noch verblieben sind, auchzu tun haben. Das wird noch etliche Wochen dauern. Die Zeit weiß ich schon gut zu nutzen."
"Jawohl, meine Königin", erwiderte Cloto.
"Mal sehen, was diese aufmüpfige Rothaarige in Irland mir sagt", dachte Ladonna und stellte über die über die Feuerrose geknüpfte Magie eine Verbindung zu Erin O'Casy her. Diese zeigte sich wahrhaftig schwer in Zaum gehalten, wie eine unzugerittene Stute, di zu gerne um sich schlagen würde, aber weiß, dass ihr dann der Todesstoß widerfuhr. Ihr hatte Ladonna die Aufgabe zugewiesen, nach der Beschaffung von zehn weiteren Hexen die nicht nur aus der Schwesternschaft stammen mussten auch die beiden jungen Hexen Becky Mahony und Nynaeve O'Hara zuzuführen. Womöglich konnte sie Erin damit sogar einen Gefallen tun, wenn sie es dann auch mit Hilfe der französischen Untertanen schaffte, diesen des Landes entwischten Abkömmling der Kilgorelinie zu erwischen und zur Verlängerung und Verbreiterung seiner Blutlinie mit den einst mächtigstenHexenclans Irlands zu zwingen. Aber das war noch eine gewisse Zeit entfernt. Erst mal wollte sie die zweite Kerze entzünden.
Gemeinsam hatten sie den Sonnenuntergang beobachtet. Als das Tagesgestirn blutrot unter dem westlichen Horizont verschwunden war winkte Espinela ihre zwanzig Gäste in ihr Haus zurück. Im großen Salon flammte ein Kronleuchter auf und ergoss warmes, weißgoldenes Licht über die Versammelten, von denen zwölf dasselbe feuerrote Haar wie die Hausherrin trugen.
"Ich möchte jetzt hören, was du erfahren hast, Cecilia", sagte die Hausherrin die ersten Worte seit einer Stunde. Daraufhin stand eine der hier versammelten von ihrem Platz auf und wandte sich der Hausherrin und dann allen anderen zu.
"Geliebte Mutter, ebenso geliebte Schwestern im Blute und im Geiste, ich weiß nun, wo Ladonnas Haus liegt. Es ist eine Villa bei Florenz, die früher einem sehr verschwenderisch lebenden und liebenden Burschen Namens Luigi Girandelli gehörte. Er lebt zwar noch, aber wohl nur, um Ladonnas Alibi für die Magielosen zu sein und um ihr die einsamen Nächte zu versüßen." Viele der hier versammelten verzogen die Gesichter. Doch bei einigen glomm bereits das Feuer der Entschlossenheit in den Augen. "Leider können wir mit dieser Kenntnis nichts anfangen. Denn Ladonna Montefiori muss das Haus mit einem für ihre Feinde tödlichen Zauber umgeben haben, der macht, dass jeder als Feind erkannte erst aufglüht und dann aus sich heraus verbrennt. Soweit mir dieser italienische Zauberer, den ich besäuseln konnte verraten konnte reicht dieser Todeszauber an die zweihundert Meter weit vom Haus fort und stärkt sich mit jedem Opfer, das er findet. Das heißt selbst mit dem Sonorus-Zauber können wir nicht nahe genug, um unser Lied des fesselnden Schlafes zu singen." Viele der Blutsverwandten Cecilias schlugen die Hände vor ihre Gesichter. Espinela fragte noch einmal, wie dieser Zauber wirkte. Dann seufzte sie: "Der Blutfeuernebel von Rufus Vulpius Palatinus. Wohl wahr, der kann auch Veelastämmige töten. Dann stimmt auch, was ich von meiner Urgroßtante Feuergruß gehört habe, dass Ladonnas Blutsverwandten selbst einem von dieser aufgerufenem Todeszauber zum Opfer fielen. Ja, dann stimmt es. Dann können wir sie so nicht einkreisen und in den langen Schlaf bannen. Aber sie mag Helferinnen haben, die sie sich unterworfen hat. Diese müssen wir aufspüren und ihr wieder entwinden. Sicher können wir diese an ihrer Lebensausstrahlung erkennen. Ich beantrage eine Zusammenkunft aller von Mokushas Kindern abstammenden, ob reinrassig oder mit Menschen verbundenen in Europa. Wir müssen diese Gefah, die diese verdorbene Hexe darstellt aus der Welt schaffen. Wir dürfen uns auch nicht von irgendwelchen Zaubereiministern und ihren Beamten dreinreden lassen, wie es zu geschehen hat. Das ist nun eine Sache der aus Mokushas Schoß geborenen und von diesen abstammenden."
"Bei allem Respekt, Mutter, aber zürnen dir die Ältesten der Veelas nicht immer noch, weil du vor fünfzig Jahren diesen Rachefeldzug gegen eine Gruppe dunkler Zauberer geführt und dabei fast unsere eigene Vernichtung riskiert hast", wollte Carabella, eine andere Tochter Espinelas wissen. Espinela wiegte ihren Kopf und nickte dann. "Das ist der Grund, warum ich selbst diese Zusammenkunft nicht erbitten oder gar befehlen kann, meine Töchter. Wir müssen einen anderen oder eine andere finden, die das tun kann."
"Solange kann diese von einer Nachtgeborenen stammende Tochter machen was sie will?" stieß Carabella aus. "Mädchen, der Blutfeuernebel kann weder von gewöhnlichen Zauberern noch von uns durchschritten werden, weil wir eindeutig in feindlicher Absicht kommen. Auch schluckt er fernwirkende Zauber wie Sonorus, wie gewöhnlicher Nebel den Schall schluckt. Wenn er uns tötet hat dieses Weib auf ganzer Linie gewonnnen. Denn dann wird in diesem Nebel auch unsere Lebenskraft und Magie enthalten sein. Ich würde sie auch lieber gestern als morgen stellen und bestrafen, meine Töchter und Töchtertöchter. Aber wir sollten den Ort bestimmen, wo es geschieht. Wenn es nicht anders geht werde ich wohl vor den Ältesten Abbitte leisten und buße tun müssen. Aber soweit sind wir noch nicht", knurrte Espinela."
"Aber untätig abwarten gefährdet sicher Leben", warf Cecilia ein. Alle anderen nickten.
"Das werden wir auch nicht, meine Töchter und Töchtertöchter. Wir suchen jene, die Ladonna sich schon unterworfen hat. Können wir sie von ihr entwinden ist sie bald alleine und muss ihre sichere Festung verlassen. Dann hat sie die Wahl: Wieder schlafen oder endgültig sterben. Auch wenn ich mir sicher bin, dass sie nur mich angeschrieben hat müssen wir bei uns im Land beginnen und uns dann nach Osten durcharbeiten, eben ohne uns von einem Zaubereigesetz davon abhalten zu lassen."
"Was ist mit diesem jungen Zauberer, den die Ältesten zum Vermittler zwischen ihnen und den Menschen gewählt haben?" wollte Carabella wissen. "Wenn es sich machen lässt halten wir ihn aus dieser Angelegenheit heraus. Soweit ich mitbekommen habe erholt er sich gerade in Millemerveilles bei seiner Frau und seinen nun drei Töchtern. Nur wenn es nicht anders geht werden wir an ihn herantreten", bestimmte Espinela. Dagegen wagte keine hier zu widersprechen.
Sei uns allen gegrüßt, Mater Vicesima Secunda", hörte sie die Mitglieder des Rates durch die verschlossene Tür rufen, nachdem ihre ausgewählte Hebamme auch Berenice Sophies Nabelschnur durchschnitten hatte. Sie hatte es geschafft, sie war nun die Mutter mit den meisten Kindern der französischen Hexenwelt. Gut, sie hatte das durch eine zwischenzeitliche Rückverjüngung angestellt. Doch für sie und ihre Mitstreiter war sie nun die Mutter mit den meisten Kindern.
"Ich danke euch, meine Freunde und Weggefährten, dass ihr mir euren Beistand gewährt habt", keuchte Véronique. Nebenan hörte sie Amanda Gildfork. Die bekam gerade ihre allerersten Kinder. Das zauberte ein Lächeln auf Véroniques Gesicht. Amanda Gildfork bekam die Kinder von Gérard Dumas, der nun bei einer englischen Heilerin unter Beibehaltung seiner Erinnerungen neu aufwuchs.
"Bist du platt oder kannst du mir bitte was mitteilen, Véronique?" hörte sie Perdys Gedankenstimme, während sie Anne-Catherine auf den Bauch gelegt bekam und daneben Berenice Sophie.
"Bevor meine zwei neuen Mitbewohnerinnen mich nach der wilden Nacht müde saugen bitte, Perdy."
"Kennst du einen dunklen Schutzzauber namens Blutfeuernebel?" gedankenfragte Perdy.
""Der Blutfeuernebel von Rufus Vulpius Palatinus, Perdy? Ein mit mehreren in den Haupthimmelsrichtungen zu vollziehenden Menschenopfern ausgeführtes Ritual, dass das Blut von Feinden, die in den damit zu bezaubernden Bereich eindringen verkochen lässt und die davon durchströmten Feinde aus sich heraus verbrennen lässt. Sag jetzt nicht, dass diese schwarzhaarige Mischlingshexe diesen Zauber ausgeführt hat!"
"Öhm, wird wohl so sein, Véronique. Jedenfalls weiß ich von unseren anderen Kundschaftern, dass die Montefiori eine Villa bei Florenz mit diesem Nebel umgeben haben soll und die Ministeriumszauberer deshalb nicht an das Haus rankommen. Gibt es einen Gegenzauber oder einen Schildzauber?" wollte Perdy wissen.
"Verflixterweise nein. Das Ritual kann mit dem Antiscotergia-Zauber nicht aufgehoben werden, weil der Zauber sich aus Sonnenlicht, der Glut aus der Erde und dem Blut in seinem Schutzbereich lebenden immer regeneriert. Deshalb konnte dessen Erfinder nur durch eine längere Aushungerung dazu gebracht werden ... Aaaa!"
"Aa?" kam es von Perdy zurück.
"Anne-Catherine hat gerade gemerkt, dass Mamans Nippel fest angewachsen sind und ... also so, wie ich das gesagt habe, Perdy."
"Véronique, bitte nicht so ausdauernd Mentiloquieren. Die Nachgeburt ist noch nicht heraus", mahnte Véroniques Hebamme die gerade erst von zwei Töchtern entbundene.
"Nur soviel noch, Perdy: Wenn die alte Aushungertaktik noch ginge hätten die vom Ministerium das dann sicher gemacht", schickte Véronique noch an ihren Mentanten und Vater von vier ihrer nun zweiundzwanzig Kinder.
"Gut, dann reiten wir da besser nicht mit großem Orchester hin", gedankenseufzte Perdy. "Öhm, aber die Kugeln! Wenn die keine Blutanteile in ihrer Konstruktion haben könnten die doch ..."
"Perdy, kriegen wir später. Ich muss noch warten, bis die Nachgeburt ausgetrieben ist. Vorher lässt die wackere Henriette mich sicher nicht zu dir oder dich zu mir", schickte Véronique zurück und merkte, wie ihr der Kopf vibrierte. Dann überließ sie sich ganz der Fürsorge ihrer ausgewählten Hebamme und gab sich dem immer wieder erhabenen und beruhigenden Gefühl hin, neues Leben zu nähren.
"Wann wollen die sich treffen? Morgen nacht am Lago nero?" fragte Minister Bernadotti Strafverfolgungsleiter Ventoforte. Dieser nickte.
"Das sind die mit ihrem eigenen Blut aufgezeichneten und nur durch den Zauber "Sanguis passatum" wiederhergestellten Angaben", erwiderte Ventoforte. "Übrigens, der Kollege Montebianco hat uns davor gewarnt, dass Ladonna Montefiori veelastämmig ist und wohl auch Eigenschaften einer Sabberhexe geerbt hat. Es könnte also sein, dass sie mit ihrer Stimme Magie übermitteln kann."
"Ui, was für eine bombastisch neue Erkenntnis!" stieß Bernadotti aus. "Seitdem diese Französin, Catherine Brickston, Ladonnas Tagebuch übersetzt hat und der dortige Veelabeauftragte seiner obersten Dienstherrin berichtet hat, dass Ladonna eindeutig veelastämmig ist wissen wir das doch schon. Dann müssen wir eben für alle Einsatzgruppen Ohrenschützer ausgeben, notfalls aus allen Alraunenzuchtbetrieben des Landes requirieren."
"Öhm, dazu brauche ich aber dann eine entsprechende Vollmacht, Herr Minister", sagte Ventoforte. Der Minister grummelte. Da klopfte es an die Tür.
Herein trat Pontio Barbanera, der italienische Fachzauberer für dunkle Zauberwesen schlechthin. Er begrüßte den Minister und sagte ihm wie in großer Eile:
"Herr Minister, wenn Sie wissen, wo Ladonna Montefiori ihre neue Streitmacht oder auch ihren Kundschafterdienst einschwört hüten Sie sich vor ihrem Tanz! Damit kann sie die Veelakräfte ihrer Vorfahren verstärken! Aber vielleicht sollte ich noch einmal vor einer Schar von auf sie angesetzten referieren und anführen, welche nichttödlichen Mittel es gibt, ihrer habhaft zu werden."
"Ich weiß, sie kennen sich mit diesen Veelas aus. Eigentlich sollten sie der Veelabeauftragte Europas sein", sagte der Minister.
"Tja, wenn deren Ältestenrat mich dafür ausgewählt hätte. Aber sie vertrauen offenbar einem jungen Burschen, der gerade drei Jahre aus der Schule heraus ist. Offenbar meinen die, ihn besser kontrollieren zu können", grummelte Barbanera. Dann fragte er den Minister, ob er es einrichten könne, dass alle an einem möglichen Einsatz beteiligten Zauberer und Hexen für eine Konferenz zusammenkommen konnten. Der Minister gab die Frage sofort weiter und erhielt die Antwort, dass er am 30. Juni alle 500 Leute zusammenbekommen konnte, die sich dann im gesicherten Konferenzraum trafen. Barbanera fragte dann, ob das der Raum sei, in den niemand hineinapparieren könne und wohl auch kein Geist oder Kobold eindringen konnte. Der Minister nickte. "Der Zauberbunker, der Menschentresor von Adolfo Romulo Spalanzani", schwärmte der Minister. Er hatte sich einmal selbst in diesem Sonderraum verstecken müssen, der bei Bedarf auch Nachtgeschirr und hundert bequeme Betten für Einzelschläfer und Paare aus dem Nichts erschaffen konnte. Nur für Lebensmittel mussten sie Vorräte anlegen, was aber mit den fünf dauerhaft dort eingebauten Conservatempus-Schränken problemlos gelang, um drei Wochen am Stück durchzuhalten.
"Gut, denn wir müssen damit rechnen, dass Ladonna bereits versucht, andere Hexen für sich zu gewinnen und möglicherweise die eine oder andere Spionin bei uns unterbringen wird", sagte Barbanera mit hörbarem Unbehagen.
"Nur Hexen?" fragte der Minister verschmitzt grinsend, obwohl er es sehr ernst meinte.
"Zauberer sind für sie sowas wie Deckhengste oder Anschauungsobjekte", sagte Barbanera nach einigen Sekunden. "Sicher wird sie auch irgendwann Zauberer für sich einspannen. Aber wohl erst, wenn sie eine neue Dynastie gründen oder wichtige Blutlinien erhalten möchte", fügte er noch mit einem gewissen Unbehagen hinzu. Der Minister verstand. So ähnlich hatte ja auch Sardonia getickt und wohl deshalb die gefährliche Konkurrentin für mehr als vierhundert Jahre aus der Welt geschafft.
"Was raten Sie mir und denen, die versuchen, dieses Übel an der Wurzel zu packen?" wollte der Zaubereiminister wissen.
"Das, Signore Ministre, möchte ich Ihnen und jedem, den Sie dafür auswählen, in einem Vortrag mitteilen, amm besten alle zusammen, damit niemand behaupten kann, er oder sie hätte zu wenig erfahren oder könnte nur auf Grund von Kollegenmeinungen handeln. Deshalb finde ich es gut, dass Sie diese Zusammenkunft in Spalanzanis Menschentresor ermöglichen wollen."
"Nun, ob alle dort hinkommen, die sich dafür einteilen lassen wollen, Ladonna Montefioris großen Schlag abzufangen ... Aber glauben Sie echt, dass sie mit einem Großangriff vorgeht? Das passt doch nach allem, was ich von ihr erfahren habe nicht zu ihr."
"Das habe ich auch nicht behauptet, Minister Bernadotti. Doch wie die mir mitgeteilten Angaben nahelegen möchte sie offenbar ihre Gefolgschaft zusammenbringen, um alle miteinander auf sich und ihre Ziele einzuschwören. Das wäre die Möglichkeit, alle zu erwischen, die sich von ihren Ideen angezogen fühlen, ja schon mit ihr konspirieren", erwiderte Barbanera nach einigen Sekunden Nachdenken.
"Und Sie vermuten, dass wir das herausfinden, wann und wo das sein soll?" fragte der Minister ein wenig verhalten.
"Darauf möchte ich jetzt keine Antwort geben, weil ich nicht in Ladonnas Gedanken hineinsehen kann, Herr Minister", sagte Barbanera nach nur einer Sekunde Bedenkzeit. Der Minister nickte. Die Antwort erschien ihm seriös genug, um seinen Argwohn abzulegen. Dann meinte er: "Zu diesem Vortrag bringen Sie dann bitte nicht nur mit, was Sie über Ladonna Montefiori und ihre früheren Taten wissen, sondern auch alles, was über die Stärken und Schwächen der Veelas bekannt ist!"
"Nichts für ungut, Herr Minister, aber die Veelas haben bisher niemandem ihre Schwächen verraten, wenn man mal von ihrem Hang zur Selbstverliebtheit und der wegen ihres übermenschlich anziehenden Äußeren bedingten Abschätzigkeit gegenüber normalen Menschen absieht. Sicher werden sie auch natürliche Schwächen haben. Doch wie erwähnt haben sie es bisher tunlichst vermieden, Hexen oder Zauberer darüber zu informieren."
"Gut, Pontio, das dürfen Sie dann morgen abend im Spalanzani-Tresor wiederholen. Am besten finden wir zwei uns zeitig dort ein, um die Absicherungen auf uns abzustimmen. Denn ich kann mir vorstellen, dass die von Ihnen angedachten Spioninnen dieser Halblingshexe versuchen könnten, uns anzugreifen, wenn sie auf die eine oder andere Weise erfahren sollten, dass wir eine Versammlung abhalten wo alle wichtigen Abteilungsleiter und ihre Mitarbeiter anwesend sind. Deshalb werde ich natürlich auch einen Trupp Sicherheitswächter mit in den Besprechungsraum laden."
"Das ist mir völlig recht, Herr Minister. Ich kann mir sogar vorstellen, dass Ladonna Montefiori all zu gerne jene Zauberer und Hexen attackieren möchte, die sich mit der Natur der Veelas auskennen", sagte Barbanera mit sichtbarer Erleichterung. Der Minister nickte. "Gut, dann morgen abend um kurz nach acht. Die Versammlung soll möglichst um viertel nach Acht beginnen."
"Dann setzen Sie die Zeit, wo alle da sein sollen besser eine halbe Stunde früher an, Herr Minister", sagte Barbanera mit einem verwegenen Grinsen. Darauf blaffte Bernadotti: "Jetzt aber ganz schnell hier raus, Signore!" Barbanera deutete eine Verbeugung an und schlüpfte schnell und leise durch die Tür nach draußen.
"Okay, morgen abend die Sitzung und dann sofort zum Einsatz am Lago Nero!" befahl der Minister Ventoforte und Montebianco nach Barbaneras Besuch.
Er fühlte sich irgendwie schwindelig, weil sie ihn über diese Entfernung zu sich geholt hatte. Wie sie das konnte, einen lebenden Menschen zu teleportieren, war wohl eines ihrer Geheimnisse. Jedenfalls musste Pontio Barbanera erst einmal sein Gleichgewicht und seine Ruhe wiederfinden, als er aus dem mit Blut gezeichneten Pentagramm heraustrat, das auf dem felsigen Boden des Kellerraums gezeichnet war. Ladonna umarmte und küsste ihn wie einen nach langer Zeit heimgekehrten Geliebten. Das wärmte ihn sichtlich durch. Dann deutete sie auf einen freien Stuhl.
"Berichte ausführlich! Wir sind unbelauschbar und unbeobachtbar", sagte Ladonna. Pontio, der bereits bei ihrem Anblick dahinschmolz, konnte beim Klang dieser Stimme nicht anders, als alles zu erzählen, was er über den Spalanzani-Tresor, den sichersten Raum unter dem Zaubereiministerium, wusste. Ladonna hörte aufmerksam zu und nickte ein ums andere Mal. Mal verzog sie das Gesicht, wenn er von der Unmöglichkeit magischer Zutritte nach Schließung der Tür sprach und dass der Raum einen immer wieder wirkenden Lufterfrischungszauber besaß und somit keine Luftein- und -auslassöffnungen benötigte. "Alle fünf Minuten bei zweihundert bis sechshundert Personen wird die verbrauchte Luft durch Frischluft ausgetauscht. Befinden sich Rauchpartikel oder als giftig erkannte Bestandteile in der Luft wird sie sofort ausgetauscht und immer wieder, sobald eine bestimmte Menge von schädlichen Anteilen überschritten wird. Allerdings kann auf diese Weise ein Feuer dort ewig am brennen gehalten werden, weil sein Rauch sofort durch Frischluft ersetzt wird", erklärte Barbanera. Ladonna hörte es und dachte nach. Alle fünf Minuten für 200 bis 600 Personen. Ja, das musste reichen, dachte sie. "Alle Abteilungsleiter für Strafverfolgung, Zauberwesen, das sogenannte Kontaktbüro und wer noch, Pontio?"
"Internationale Zusammenarbeit und dann natürlich sämtliche mit dunklen Künsten und Zauberwesen befassten Beamten niedriger Rangstufen. Ich hatte sogar vorgeschlagen, die Quidditch-Schutzmannschaft dazuzurufen. Aber die sind da wo sie sind wirklich nötig. Sie wurden aber wohl darauf eingestimmt, morgen in der Nacht zum Lago Nera zu eilen, um dort ein konspiratives Treffen zwischen dir und deinen Anhängerinnen auszuheben, meine Königin."
"Genau da wollte ich sie auch haben. Wir müssen davon ausgehen, dass dein Herr Minister mir zutraut, dass diese ganzen Hinweise und Vorbereitungsandeutungen auch nur eine Falle von mir sein könnten, um zu prüfen, wie schnell und wie viele Einsatztruppen an einem Ort erscheinen können, um diese dann mit massiver magischer Gewalt anzugreifen. Doch wenn wir bis dahin den Führungskreis des Zaubereiministeriums haben ... Du hast deine Sache gut gemacht, mein Statthalter in Rom." Der Gelobte sah seine Herrin dankbar an und hoffte auf eine Belohnung. Ladonna sah ihn anund sagte: "Wenn das gelingt, was du für mich getan hast, dann gehören dir meine nächsten beiden Nächte und ich könnte mir vorstellen, das ich deine Saat in mich aufnehme und dir ein Königskind schenke, das durch unser beider Fleisch und Blut die Untrennbarkeit unserer Beziehung verkörpert", sagte Ladonna mit einer schwer unterdrückten Vorfreude. Barbarnera fiel fast vor ihr auf die Knie. Es wäre sein größter Erfolg, wenn Ladonna seine Kinder bekäme, die Königin aller Hexen, die seine Nachkommen hervorbrachte. So sehr war er ihr verfallen und an sie gebunden, dass er nicht im Traum daran dachte, dass er nur von ihr benutzt wurde und dass sie womöglich jemand besseren zum Vater ihrer eigenen Dynastie erwählen mochte.
"So komm her, damit ich dir anvertraue, wie du mich trotz all der von dir erwähnten Sicherheitsvorkehrungen zu euch in den Raum hinüberholen kannst, wenn du weißt, dass alle wichtigen da sind und die Tür verschlossen ist!" Er ging zu ihr hinüber. Dann vollzog sie an ihm mehrere Zauber, bei denen er einen Moment meinte, außerhalb seines eigenen Körpers zu schweben und dann wie in einen Eisblock eingefroren zu sein. Dann meinte er, etwas würde durch seinen Mund, seine Speiseröhre und den Magen direkt durch seine Eingeweide dringen, aber nicht als unangenehme Blähung oder peinliches Rühren aus ihm wieder hinausdrängen.
"Du bist mit meinem Blut verbunden, bis der Mond alle Phasen durchlaufen hat. Wenn alle da sind, die mir wichtig sind, denke dir einfach nur mein Bild vor dir und wünsche, ich sei leibhaftig dort!"
"Mentiloquieren geht in diesem Raum nicht", sagte Barbanera. Ladonna grinste. "Das ist was anderes als Mentiloquismus. Aber das musst du jetzt nicht verstehen. Sicher ist nur, dass es mich durch verschlossene Türen und unsichtbare Absperrungen bringt."
Als Barbanera das verstandenhatte fühlte er unvermittelt, wie ihn das zusammenquetschende Dunkel eines Appariersprungs einschnürte. Dann fand er sich in seinem eigenen Haus wieder. "Das geht auch anders herum. Wenn ich dich bei mir haben will kann ich dich auch so zu mir hinwünschen. Aber wenn ich bei euch sein soll dann nur, wwenn ich das selbst will", hörte er ihre Gedankenstimme in sich. Sie war keine Königin, sie war die neue Hecate, die Göttin der Hexen, dachte der von Ladonna vollständig beeinflusste Pontio Barbanera.
Tatsächlich waren Barbanera und der Zaubereiminister nicht die ersten, die den etwa dreißig mal dreißig Meter großen Raum mit der gerade einmal drei Meter hohen Decke betraten. Hier waren auch schon der leicht aufbrausende Montebianco und die spindeldürre Daniela Pratofresco aus der Abteilung für internationale Zusammenarbeit, so wie das Geschwisterpaar Tifonia und Ignatio Cordracone aus dem Ausschuss zur Beseitigung gefährlicher Geschöpfe. die sechs weiteren Mitglieder dieses Ausschusses stellten sich im Laufe der nächsten zehn Minuten ein, zusammen mit allen hauptamtlichen Außendienstmitarbeitern. Wenn sie mitbekommen hatten, worauf sie achten sollten und was sie tun konnten wollten sie das konspirative Treffen am Lago Nero in den Abrutzen ausheben und hofften, dass sie dabei Ladonna selbst ergreifen und in Gewahrsam nehmen konnten. Zur Not wollte man sie mit Schlafgas betäuben, bis sie einen Zauber gefundenhatten, um sie für lange Zeit außer Gefecht zu setzen.
Trotz der ministeriellen Vorgabe dauerte es doch bis halb neun abends, bis alle, die auf der Liste der vorgemerkten Teilnehmerinnen und Teilnehmer standen auch anwesend waren. Die schweren Türen des gesicherten Raumes fielen krachend zu und wurden vom Minister persönlich von innen verriegelt. Warmes Licht flammte an der Decke auf, und ein sanfter Luftzug spielte mit den Haupt- und Barthaaren der Anwesenden. Der Luftaustauschzauber war in Kraft.
Pontio Barbanera hatte die Zeit bis zum Eintreffen des letzten Teilnehmers genutzt, um seinenVortrag mit Bildern und an die Wand projizierbaren Texten zu unterfüttern. Ähnlich wie bei den Magielosen setzten sie hier im Zaubereiministerium auf möglichst vielfältige Elemente bei Vorträgen oder Einsatzbesprechungen. Das hier und heute sollte ja beides sein, erst der Vortrag, dann die Einsatzvorbereitung für den Sturm auf den Lago Nero. Gegen halb elf sollten sich die Truppen hundert Kilometer davon entfernt versammeln. Drei späher sollten dann auskundschaften, wann das Treffen stattfand und bestenfalls, wenn die Hauptfeindin persönlich dort anwesend war.
Pontio Barbanera zeigte erst Bilder von Ladonna, wie sie aus den alten Geschichten überliefert waren und erwähnte auch, wie sie ihr zu wider handelnde bestrafte. Dabei benutzte er auch eine Darstellung der drei in Venedig gefundenen Körper. Dann kam er auf die Veelas und erzählte das, was die Fachzauberer seit ungefähr siebenhundert Jahren über diese Wesen zusammengetragen hatten, vor allem, dass es keine im menschlichen Sinne hässlichen Einzelwesen gab und dass sich deren Eigenschaften trotz immer weiterer Ausdünnung über mehr als fünf Generationen erhielten, sowie es auch bei Zwergen, Kobolden oder in seltenen Fällen auch bei Riesen der Fall sei. Barbanera sprach dabei ruhig und sachlich, aber bewusst so, dass ihm die Leute zuhörten, ohne aufgeregt oder angespannt zu sein. Zwischendurch wurde immer wieder die veratmete Luft gegen frische Luft aus den höheren Gebirgslagen ausgetauscht.
"Da Ladonna Montefiori eine Veelastämmige ist, und alle bisherigen Berichte legen dies nahe, dann gehört sie einem Stamm an, der wenige Angehörige hat und durch dunkles Haar geprägt ist, während die meisten anderen Stämme helles bis mittelhelles Haar besitzen. Es heißt, Veelahaar sei der Quell ihrer Magie und die Kraft die es verleiht hinge von der Länge und von der Färbung ab. Hellhaarige Veelas sollen demnach den Elementen Feuer, Luft und Wasser zugetan sein, somit auch den Zaubern der Sonne, während die dunkelhaarigen den Kräften Erde, Mond und Dunkelheit zugetan sein sollen. Deshalb ist Ladonna Montefiori sicher eine dieser Nachtveela-Nachkommen", sagte Barbanera mit hörbarer Anstrengung, als müsse er nach nun schon einer halben Stunde Dauerreden bald eine Pause beantragen. Er projizierte noch einmal Ladonnas Bild in den Raum. Sie schwebte in einem langen schwarzen Kleid vor ihnen und schien sie alle anzulächeln, überlegen, siegessicher und vereinnahmend, ganz dem was sie glaubte zu sein. Das Bild drehte sich wie eine Ballerina zu einem sehr langsamen Ballettstück. Als es so ausgerichtet war, dass es den Minister ansah flimmerte es ein wenig. Dann meinten sie alle, es habe noch mehr lebendigkeit bekommen, ja als ströme von ihm eine alle und jeden durchdringende Kraft aus. Dabei sagte Barbanera mit zunehmend hingebungsvoller Stimme: "Und viele sagen, dass das Äußere einer Veela oder Veelastämmigen bereits betörend genug wirke, dass jemand meine, deren besondere Ausstrahlung mit Händen greifen zu können." Dabei machte die frei schwebende Abbildung eine sehr geschmeidige Handbewegung zu ihrem langen, schwarzen Seidenkleid mit einem verboten tiefen Ausschnitt und zog genau aus diesem Ausschnitt eine lange, rot schimmernde Kerze hervor. Dabei sagte Barbanera: "Und deshalb tragen Veelas und Veelastämmige immer ein Licht bei sich, damit ihre makellose Erscheinung immer sichtbar sein kann. Unsichtbarkeit vermeiden sie, anders als Kobolde und Zwerge. Wenn sie nicht auffallen wollen unterdrücken sie ihre Ausstrahlung oder verhüllen ihr Haar, das wie erwähnt als Quelle ihrer besonderen Kräfte gilt."
"Ganz zu schweigen von ihrem Blut", sagte das frei im Raum schwebende Abbild unvermittelt mit einer glockenreinen Stimme, die bei allen Männern sofort bis zum Grund ihres Bewusstseins und Unterbewusstseins hinabstieß. Die hier im Raum anwesenden Hexen hingegen erschraken und verfielen bis auf sehr wenige Ausnahmen in eine Abwehrhaltung. Daniela Pratofresco stieß aus: "Wie haben Sie diese widerliche Ausstrahlung einer Veela immitieren können, Barbanera? Und wie haben sie die Stimme in diesen Raum gezaubert?"
"Wirst du gleich wissen, meine Schwester", sagte das angebliche Abbild und landete auf beiden Füßen. Es stand nun sicher auf dem Boden. Alle sahen es an und vertaten damit eine Gelegenheit, sich zu wehren. Da flammte der Kerzendocht auf. Eine rote Flammensäule stieg bis einen halben Meter unter die Decke auf, und aus der Kerze strömte violetter Rauch. "Verharret alle in Ruhe! Rührt euch alle nicht!" hörten sie die angebliche Kopie Ladonnas mit einer sphärischen Stimme singen, die von den Wänden widerhallte. Dann summte sie etwas, weil mehrere Hexen Anstalten machten, nach ihren Zauberstäben zu greifen. Doch die Stimme wirkte wie eine Decke aus Blei, wie unsichtbare Ketten, welche die aufbegehrenden hemmten. Dann hatte sie alle der violette Rauch erreicht. Daniela wollte noch aufspringen. Doch eine Handgeste der scheinbaren Replik Ladonnas stoppte ihre Bewegung, der Erstarrungsbann der grünen Waldfrauen. "Atmet eure Zukunft, atmet eure Bestimmung! Gebt euch meiner Stimme hin!" summte die schwarzhaarige Erscheinung im langen Kleid. Keiner hier konnte noch was tun, außer tief ein- und wieder auszuatmen. Jetzt erfüllte der Rauch alle Ecken des Raumes. Doch der sonst gegen jeden schädlichen Qualm wirkende Lufterfrischer reagierte nicht. Das hatte einen ganz einfachen Grund, Barbanera hatte es geschafft, die Rauchabwehr auf ein Zehntel der Empfindlichkeit herunterzusetzen. Nun saßen sie alle im violett glimmenden Dunst, während sich aus der Kerze eine brennende, blutrote Blume entfaltete, die Feuerrose.
Immer entrückter dreinschauend nahmen die hier zusammensitzenden Zauberer und Hexen hin, wie sich die Feuerrose über sie alle herabbeugte und dann von oben her aus ihrem mehr als männerkopf großen Blütenkelch die eingelagerte Botschaft ertönte:
"Ich, Ladonna, bin deine Königin.
Sei mir Untertan oder welke dahin!
Mir allein bist du nun verbunden,
von diesem Augenblick in allen Lebensstunden.
Sei stets mir treu, verrat mich nicht!
Sonst gleich erlischt dein Lebenslicht!
Was immer auch mein Wille ist,
du stets auf meiner Seite bist.
Doch willst du mich mit Macht verderben,
so wirst statt meiner du gleich sterben.
So huldig' deiner Königin!
Ich bin dein wahrer Lebenssinn."
Diese Botschaft wurde fünfmal wiederholt, während der violett glimmende Rauch in die Atemwege der Hexen und Zauberer drang, ihre Lungen und ihr Blut erfüllte. So ging das insgesamt zwei Minuten lang, bis die Feuerrose ihre Botschaft oft genug verkündet hatte. Dann schrumpfte sie zurück. Dabei schrumpfte auch die Kerze. Ladonna stellte sie auf den mit Granitplatten ausgelegten Boden. Dann verpuffte die Kerze in einer letzten violetten Dampfwolke. Zurück blieb nur ein unförmiger schwarzer Klumpen.
Da sie alle immer noch den violetten Dunst einatmeten konnte Ladonna nun von sich aus mit der ganzen Macht ihrer Stimme weitere Befehle erteilen. Sie gebot, dass alle hier versammelten Hexen sich als ihre Schwestern bekannten, wobei sie eine nach der anderen ansah. Die Zauberer hier sollten ihre Arbeit fortsetzen, aber aufhören, sie und ihre Pläne zu stören. Als sie den Minister ansah funkelte sie kurz. Dann lächelte sie. "Eigentlich hätte ich dich dafür, dass du es gewagt hast, deinen Untergebenen meinen Tod zu befehlen, in einen großen Nachttopf verwandeln und mindestens fünf mal in dich hineinmachen sollen. Doch als lebender Mensch bist du für mich wichtiger. Als erstes nimmst du deinen Tötungsbefehl gegen mich zurück, mit der Begründung, dass du die Blutrache der Veelas nicht über dein Volk bringen willst. Das werden dir alle glauben, nachdem mein treuer Statthalter hier dir und allen anderen berichtet hat, wie meine Vorfahren die Welt sehen. Des weiteren wirst du in meinem Auftrag handeln, wenn du neue Erlasse verkündest und mit deinen Amtskollegen in anderen Ländern unterhandelst. Du bleibst weiterhin Minister, und ich bin deine Königin." Minister Bernadotti bekam einen flehenden Ausdruck im Gesicht. Dann kniete er vor Ladonna nieder und gelobte ihr seine unverbrüchliche Treue bis in seinen Tod.
"Du, meine neue, ungebärdige Schwester Daniela, du wirst in meinem Auftrage die Stimmung und Pläne wider mich erkunden, die ausländische Hexen und Zauberer wider mich ins Werk setzen wollen und mir darüber Auskunft geben, wer wann was vorhat. Verstanden?" Daniela erwiderte wie in tiefer Hypnose: "Ja, meine Königin. Ich bin dir verbunden."
"Du Ignatio, wirst mit deiner Schwester Tifonia und allen Mitgliedern dieser kleinen Truppe, die meint, bestimmen zu dürfen, wer leben und wer sterben muss, alle Veelastämmigen für unantastbar erklären und damit auch mich!" sagte Ladonna, während der violette Rauch sich immer noch fein im Raum verteilte. Dann sprach sie noch zu Albano Ventoforte, dem Strafverfolgungsleiter:
"Jede italienische Hexe, die im Zeichen der Feuerrose handelt, ist ab sofort unantastbar. Gewahren du und deine Leute, dass eine meiner Schwestern von hier oder anderswo in meinem Auftrag handeln, so lässt du sie gewähren oder bist ein Verräter." Ventoforte zuckte schmerzhaft zusammen, als er diese klare Anweisung und die Auswirkungen von Missachtung hörte. "Ihr alle gehört nun zum neuen Reich der Feuerrose. Doch bevor ich es offiziell ausrufe, so müsst ihr alle an den Plätzen wo ihr arbeitet das nötige tun, um es nicht von innen her zerstören zu lassen. Ihr seit mein Hofstaat, meine hohen Beamten, meine treuen Überwacher der magischen Welt. Und heute Nacht werden wir noch die Krieger dieses Reiches werben, die im einfachen Kampfe dienen sollen, nicht in der Verwaltung. So spreche ich, Ladonna Montefiori, ex gratia naturae regina mundi magici, und mein Wort ist eure Bestimmung", beendete Ladonna ihre kurze Ansprache.
Als habe sie genau die richtige Zeit abgepasst fegte der Luftaustauschzauber den Violetten Rauch aus dem Hochsicherheitssaal. Ladonna sah in die Runde. Alle erwachten aus der tiefen Trance. Doch alle sahen sie nun demütig und erwartungsvoll an. Sie zauberte sich aus leerer Luft einen hochlehnigen Stuhl, schon einem Königinnentrhon ähnlich. Doch einen richtigen Thron, so sagte sie, wolle sie sich anfertigen lassen, wenn die ganze restliche Welt reif genug dafür war, sie anzuerkennen.
Als wenn sie von Anfang an dabei gewesen wäre sprach sie nun mit den von ihr unterworfenen Hexen und Zauberern und plante die Eingemeindung der vom Quidditchstadion abgestellten Hexen und Zauberer. Ladonna erwähnte nicht, dass sie noch zwei Duftkerzen hatte. Eine davon wollte sie dann in der Nacht verwenden, um auch noch die kampfstarken Außentruppler zu unterwerfen. Falls doch der eine oder andere entkam konnte der Minister sie oder ihn dann als Deserteuer festnehmen lassen. Da unter den hier gebannten zwanzig Mitglieder des Zaubergerichts von Italien saßen mochte eine solche Anklage wahrhaftig durchkommen.
Gegen halb Elf öffnete der Minister die schweren Türen wieder. Geordnet, ohne Anflug von Hektik, verließen alle den bis zu diesem Abend sichersten Raum des italienischen Zaubereiministeriums. Und niemand würde eine Aufzeichnung der hier stattgefundenen Ungehörigkeit zu sehen bekommen. Denn wo Ladonna war und wenn sie ihre volle Ausstrahlung wirken ließ, herrschte eine Unortbarkeit vor, die jede Aufzeichnung und auch jede Rückschau verdarb.
Zwanzig Minuten später apparierte Ladonna mitten unter jenen, die ausgezogen waren, sie einzufangen. Sie hielt eine brennende Kerze hoch und summte das beruhigende Lied der grünen Waldfrau, mit dem sie in Angst oder Panik verfallende Wesen an der Flucht hinderte. Dann mussten sie alle den Duft der Feuerrose einatmen und sich die Botschaft der bedingungslosen Unterwerfung unter Ladonnas Befehl anhören, einmal, zweimal, dreimal. Dann konnte Ladonna auch denen ihre Befehle geben, die bis zu diesem Zeitpunkt darauf gebrannt hatten, sie zu fangen oder zu töten. Das Land auf der stiefelförmigen Halbinsel hatte nach vielen Jahrzehnten wieder eine Königin. Ob es einmal einen König und königliche Nachkommen geben würde wusste zu diesem Zeitpunkt noch keiner. Zumindest machte sich Pontio Barbanera große Hoffnungen darauf, der Auserwählte zu sein, als er fünf Sekunden nach Ladonna selbst in der Girandelli-Villa apparierte. Nun mehrfach von Ladonnas Macht durchdrungen und regelrecht davon ausgefüllt tat er alles, was sie wollte. Ihm gehörten die beiden kommenden Nächte mit ihr, so wie sie es ihm versprochen hatte.
Sie hatten ihn mit dem üblichen Schlafdunst betäubt und auf einer schwebenden Trage aus dem Karussell geholt. Er wirkte dünner, aber an Armen und Beinen auch muskulöser. Seit Dezember 2002 hatten sie ihn hier festgehalten und unter dem Einfluss des Anregungsgases Regenbogenhauch immer und immer wieder dazu getrieben, mit einer zufällig ausgewählten Hexe das Lager zu teilen, und das alles, weil der hohe Rat des Lebens ihn für den Träger eines unbedingt zu bewahrenen Erbgutes hielt. Ob das so gut war, dass er an die siebzig unverheiratete Hexen geschwängert hatte würde sich wohl erst in zwanzig Jahren erweisen. Doch der Rat hatte seine Prinzipien, und die vier Leute mit der Trage hatten zu viele Vorteile davon, für die Gesellschaft zu arbeiten, als dass sie es wagen würden, Sinn oder Rechtmäßigkeit dieser Vorgehensweise zu hinterfragen.
Sie ließen ihn in einen Raum hineinschweben, in dem ein hochlehniger Stuhl unter einer metallisch glänzenden Haube stand. Von der Haube gingen mehrere Schläuche zu einer geheimnisvollen Vorrichtung, an der auch durchsichtige Behälter angebracht waren. Gerade ging die zweite Tür auf, und ein dunkelhäutiger Mann mit haarlosem Kopf und einem goldenen Ohrring im linken Ohr trat ein. Er glich dem betäubten Mann auf der Trage wie ein Ei dem anderen. Dann sprach der Neuankömmling mit einer sonoren Bassstimme zu den vier Tragenträgern:
"Ach, ihr seid auch schon da. Will sie das selbst durchziehen oder macht's ihr wiederverjüngter Schützling?"
"Natürlich mache ich das, Zephyrus", sagte eine Frauenstimme. Eine Hexe im kurzen, über den noch gut gerundeten Körper fallendem Kleid betrat den Raum mit der geheimnisvollen Vorrichtung.
"Ist mir auch lieb, Véronique. Achso, noch einmal herzlichen Glückwunsch zu den zwei kleinen Prinzessinnen", sagte der Mann in einem grün-goldenen Umhang zu der rundlich wirkenden, sehr üppig gebauten Frau im kurzen Kleid.
"Danke, Zephyrus. Halten wir uns nicht zu lange mit Nettigkeiten auf. Setz dich und gib mir, was du ihm wiedergeben willst, aber sieh zu, dass er auch alles kriegt, um nicht aufzufallen!" sagte sie zu ihm.
Der hochgewachsene Mann nahm auf dem Stuhl unter der Haube Platz. Diese senkte sich auf seinen Kopf und zog sich soweit zusammen, dass sie jede Partie über den Augen bedeckte. "Ganz entspannt sein, nicht versuchen, mir bestimmte Sachen hinzuschieben, Zephyrus", erwiderte die andere.
Sie hatte es schon öfter getan, jemandem ein anderes Gedächtnis in den Kopf gepflanzt, um die wahren Ereignisse zu verbergen. Doch hier galt es nun, jede auch noch so belanglose Einzelheit genau abzuschöpfen, um sie dann dem schlafenden Mann auf der Trage ins Gehirn zurückzuspülen. Denn der solte dann in sein rechtmäßiges Leben zurückkehren, ohne dass denen, mit denen der unter der Haube sitzende Zephyrus in den letzten sechs Monaten Kontakt hatte, auffiel, dass etwas nicht stimmte. Das war nicht einfach nur "Altes raus, neues rein", sondern "Ausschöpfen, kopieren und einfügen."
Die Maschinerie trat in Tätigkeit. Der Mann unter der Haube verzog erst das Gesicht. Dann wirkte er, als träume er gerade einen sehr beeindruckenden Traum. So ging das eine Viertelstunde lang, da die Maschine so eingestellt war, dass sie jede Einzelheit der letzten sechs Monate besonders gründlich abschöpfte, ohne sie auszulöschen. Durch den durchsichtigen Schlauch huschten silberweiße Lichter, die sich in einem der angeschlossenen Glasbehälter zu einer aus sich selbst leuchtenden, silberweißen Substanz verdichteten. Leise surrend und klickend pumpte die geheimnisvolle Vorrichtung geistige Inhalte aus dem Kopf dessen, der an sie angeschlossen war. Deshalb hatten manche bösen Zungen diese magische Maschine auch mal als Gedächtnismelkmaschine bezeichnet. Seine Benutzerin zog jedoch den Ausdruck Erinnerungsschöpf- und -umwandlungshaube vor.
Die Hexe, die sich mit diesem Gerät so gut auskannte wie sonst keiner hier saß selbst auf einem Stuhl. Sie wirkte bleich und immer noch sehr erholungsbedürftig. Ihre Hebamme Henriette stand wachsam hinter ihr, bereit, sofort einzuspringen, wenn ihre Patientin Erschöpfungsanzeichen zeigte. Doch der ungeheuerliche Vorgang verlief ohne Störungen. Dann legte die nun zweiundzwanzigfache Mutter einen kleinen Hebel um. Mit einem letzten kurzen Surren sog die Maschine einen Schwall silbern leuchtender Substanz durch den Schlauch in den nun zu einem Zehntel vollen Behälter.
"Willst du dem wirklich auch meine feuchtenTräume ins Hirn pumpen, Mater Vicesima ... Secunda?" fragte Zephyrus, nachdem die sehr wirksame wie fragwürdige Vorrichtung gestoppt hatte und er wieder zu Bewusstsein kam.
"Ich gebe ihm nur das zurück, was unmittelbar mit den mit Sinnen wahrnehmbaren Kontakten zu tun hat. Das kann etwas länger dauern als die Entnahme, weil ich natürlich alle dich selbst betreffenden Erinnerungen, also auch deine leidenschaftlichen Träume, ausfiltern muss", sagte Mater Vicesima Secunda.
Sie weckten den auf der Trage liegenden, nachdem sie ihn auf dem Stuhl angebunden hatten und ihm die Haube auf dem kahlen Kopf saß. "Ah, wollen Sie mir jetzt das Gehirn von all dem Schmutz freispülen, den sie mich in den letzten Wochen haben miterleben lassen, gnädigste. ah, ich sehe, Sie haben ihren Beitrag für Führer, Volk und Zauberland geleistet. Gut, dass ich zumindest mit dem Wissen von hier wegkomme, das ich Sie nicht auch geschwängert habe, Sie ..."
"Sie werden sich an nichts von dem erinnern, was hier geschehen ist, Kingsley. Das haben Sie nach ihrem sturen Verhalten und dieser Unverschämtheit gerade jetzt überhaupt nicht verdient, dieses Wissen zu behalten", schnaubte die vielfache Mutter. Ihre meergrünen Augen funkelten einen Moment zu dem auf dem Stuhl gefesselten hinüber. Dann setzte sie ihre fragwürdige Vorrichtung in Gang. Diesmal lief ein anderer Behälter voll, während der auf dem Stuhl sitzende versuchte, sich gegen die Gedächtnisentnahme zu stemmen und nur eine Minute durchhielt. Als der zweite Behälter ein wenig voller war als der erste meinte der vorher mit der Maschine bearbeitete Doppelgänger: "Ui, der hat hier aber mehr erlebt als ich. Oder warum ist sein Erinnerungsauffänger voller als meiner?"
"Wie du sagtest, er hat mehr erlebt, dass alles gründlichst herausgeschöpft werden musste", sagte Mater Vicesima Secunda. Dann kehrte sie schnell den Vorgang um, damit der auf dem Stuhl sitzende nicht mitbekam, dass er hier war. Nun floss ganz behutsam die Essenz eines erinnerten Halbjahres aus dem ersten Behälter durch den Schlauch zurück in die Haube und durch jene geheimnisvollen Vorgänge, welche das Gerät zu so einem mächtigen Apparat machten, in das Gehirn des darunter sitzenden. Der nun wie im tiefen Traum mit schnellen Augenbewegungen auf dem Stuhl geschnallte wirkte bis auf wenige Augenblicke ganz entspannt.
"Habe ich auch gerade so ausgesehen, Véronique?" fragte Zephyrus, der gerade seine Kleidung ablegte und dafür von einem anderen frische Kleidung bekam und seine eigenen Sachen zurückerhielt.
"So sehen alle aus, bei dem der Gedächtnisextraktions- und Replantationsablauf so behutsam stattfindet", sagte Mater Vicesima Secunda.
Tatsächlich dauerte es eine halbe Stunde, bis der Mann unter der Haube vollständig mit dem Inhalt aus dem ersten Behälter beladen worden war. Dann hob sich die Haube von seinem Kopf. Noch ehe er dadurch wieder zu Bewusstsein kam traf ihn ein Betäubungszauber. Wieder wurde er auf eine Trage gelegt.
"Du warst im Hinterzimmer der drei Besen, richtig?" fragte Mater Vicesima Secunda.
"Offiziell bin ich da reingegangen, weil ich vor der Verabschidung der vier britischen Quidditchmannschaften noch mit einem Vertreter von Gringotts unterhandeln muss, wegen der Absicherung der Mannschaften gegen Machenschaften von Vita Magica." Als Zephyrus das sagte musste er grinsen.
"Der Rat hat beschlossen, dass wir die Quidditchmannschaften vor der Ausbringung des Regenbogenwindes gesondert sichern. Denn in dem Moment, wo Quidditchspieler betroffen werden brechen sie die Veranstaltung ab. Dann zerstreuen sich alle ganz schnell in alle Winde. Das wäre kontraproduktiv. Aber wie das genau läuft bekommst du von unseren Fachleuten, wenn er hier wieder da ist, wo er offiziell sein soll und du wieder der bist, der du von Natur her sein sollst. Öhm, Henriette hat übrigens eingewandt, dass du wegen der dauerhaften Benutzung von Vielsaft-Trank ein halbes Jahr lang nicht mit einer Hexe schlafen sollst, die deine Kinder kriegen soll", sagte Mater Vicesima Secunda. Ihre Hebamme nickte bestätigend und sagte schnell: "Durch den ausgiebigen und ununterbrochenen Gebrauch von Vielsaft-Trank sind deine Keimzellen gerade zu hundert Prozent identisch mit denen von ihm hier", wobei sie auf den nun wieder betäubten deutete, bevor dieser von vier Tragenträgern aus dem Raum mit der Gedächtnismaschine geschafft wurde.
"Verstehe. Würde seltsam aussehen. Aber ich hatte eh noch nicht vor, wieder in die Nachwuchsherstellung einzusteigen, wo meine zeitweilige Vorlage da so gut mitgemacht hat."
"Es könnte auch sein, dass deine Keimzellen dauerhaft verändert bleiben, auch wenn sie regelmäßig ersetzt werden", sagte Henriette.
"Öhm, tja, öhm, vier Kinder habe ich bei und mit euch schon hingekriegt. Dann reicht das vielleicht auch", sagte Zephyrus. "Oder meinst du, so im Namen der Wissenschaft, dass wir das in einem halben Jahr noch mal probieren sollten?" fragte er die Hebamme, die etwas jünger als Véronique war.
"Antrag angenommen. Wir treffen uns dann am ersten Februar 2004 wieder hier. wird sich dann zeigen, ob du dann wieder dein angeborenes Erbgut weitergeben kannst."
"Öhm, war nicht wirklich so gemeint", druckste Zephyrus. Doch Mater Vicesima Secunda sagte: "Tja, hättest du Henriette nicht so dreist anbieten sollen, dass sie das erste Kind von dir kriegen darf", grinste die vielfache Mutter ihren wackeren Langzeitaußenbeauftragten an.
"Okay, Ladies, ich geh dann besser auch mal in meine Unterkunft und warte, bis ich wieder ich selbst bin. Noch einen schönen Tag", wünschte Zephyrus mit derselben warmen Bassstimme, wie sie sein zeitweiliger Doppelgänger gehabt hatte oder besser, das endlich wieder an seinen zustehenden Platz zurückgeschickte Original.
"So, die Herrschaften und vor allem die jungen Messieurs", setzte Hippolyte Latierre noch zu einer Ansprache an: "Wir alle sind wohlbehalten in unserem Gastgeberland angekommen. Viele Fans in der Heimat und auch hier erwarten von Ihnen, dass Sie den Pokal mit Kraft, Können und auch Klugheit verteidigen und dabei immer fair sind, zu Ihren Gegnern, aber auch zueinander. Mir ist nicht entgangen, dass Monsieur Rocher und Monsieur Dusoleil sich während unserer Anreise immer wieder sehr abschätzig angesehen haben. Welche Gründe es dafür immer gab oder gibt, sehen Sie zu, dass dies niemand außerhalb der uns zugewiesenen Quartiere bemerkt und sie das über dem Quidditchfeld vollkommen vergessen. Denn während der Spiele - ich hoffe sehr, dass es mehr als zwei werden - sind Sie alle die Mannschaft der Weltmeister. Das werden Sie nur solange bleiben, bis eine andere Mannschaft den Pokal gewinnen sollte. Und noch etwas gerade die jungen Damen der Mannschaft und der Begleitung betreffend, achten Sie immer und überall darauf, dass sie empfängnisverhütende Mittel benutzen. Wir müssen nach der Sache in Millemerveilles jeden Tag mit einem neuen Angriff von Vita Magica rechnen. Falls Sie, meine Damen, nicht damit leben wollen, das Kind oder die Kinder eines Zauberers zu bekommen, den Sie nicht als Vater Ihrer Nachkommen wünschen, sorgen sie dafür, dass selbst dann, wenn sie doch die Selbstbeherrschung verlieren, keine langfristigen Verpflichtungen für sie entstehen und das im wahrsten Sinne des Wortes!" Alle sahen die hünenhafte, rotblonde Hexe in ihrem langen, blau-weiß-roten Kleid an und seufzten. Vor allem die Zwillingsschwestern Sabine und Sandra Montferre machten verdrossene Gesichter. Da sagte Hippolyte Latierre: "So, Leute, richten wir uns hier ein und sehen zu, dass wir den Pokal nach dem zwanzigsten August wieder mitnehmen!" Das brachte alle zum schmunzeln und sogar zum verhaltenen Jubeln.
Es war eine Tradition, dass der Vater eines neugeborenen Kindes Gold dafür ausgeben musste, um andere Männer mit ihm auf das neue Kind anstoßen zu lassen. Um den Grund für ein sinnloses Besäufnis zu beschönigen sagten sie dann eben, dass sie das Kind pinkeln lassen mussten. Da Julius Latierre für seine in Hogwarts erfundene und international patentierte Laterna Magica immer wieder Gold von den von ihm ausgewählten Lizenzwerkstätten bekam konnte er dreißig trinkwillige Zauberer aus seinem unmittelbaren Freundes- und Verwandtenkreis dazubitten, darunter auch Kevin Malone, der extra aus Belgien angereist war.
"Also, Whisky und Met sind immer noch meine Lieblingssachen", sagte Kevin schon gut beschwipst, als er mit Julius, Albericus Latierre und Brunos Vater, der in Vertretung für seinen Sohn dazugekommen war, einen Schluck Rotwein trank. "Aber an diesen vergorenen Traubensaft könnte ich mich echt gewöhnen." Dann trank er mit irischem Trinkspruch allen zu, die auf der großen Wiese vor dem Apfelhaus saßen. Florymont Dusoleil stieß mit Julius an und meinte: "Schon sehr erhaben, dass mein Enkel und deine dritte Tochter uns vor Sardonias Grausamkeit gerettet haben, Julius. Tja, und falls meine Gartenkönigin im nächsten März noch den einen oder anderen Prinzen ausliefert sollten wir uns auch freuen, dass das geht."
"Du gibst die Hoffnung auch nicht auf, wie, Florymont?" fragte Julius. Florymont grinste schon leicht berauscht und meinte, dass er diesen Banditen von Vita Magica keinen Dankesbrief schicken würde, aber zumindest nicht abgeneigt wäre, wenn zu den anderen noch ein kleiner Dusoleil dazukäme. Julius, der wegen Ursulines Lebenskraftspenderitual mehr trinken musste, um wirklich stark berauscht zu sein konnte noch darüber nachdenken, ob er Florymont auf die Nase binden sollte, dass Vita-Magica-Schwangerschaften meistens Mehrlingsschwangerschaften waren. Doch Florymont wusste das sicher schon. Also musste er ihn damit nicht ärgern.
"Tja, und wenn ich meine Pattie richtig verstehe könnte da auch bald der zweite kleine Malone zu uns kommen", sagte Kevin voller Stolz. "Allerdings zickt mein alter Herr jetzt rum, dass ich die alten Traditionen versaut habe und mir das sicher noch mal leid täte, weil die irischen Hexen mir böse seien, dass ich keine von denen genommen habe. Aber, wie heißt's so schön: Andere Mütter haben auch schöne Söhne."
Offenbar fanden die anderen Zauberer diesen Spruch nicht so wirklich passend oder meinten, dass Kevin sich gerade über die Anstandsgrenze hinweggetrunken hatte. Denn sie sahen ihn verknirscht an. Nur der kleine, weil halbzwergische Albericus Latierre grinste feist und meinte: "Ja, einige davon hat meine Frau Mutter ausgeliefert. Allerdings haben in Irland die Spitzohren Monopol. Da wird dann wohl keiner von meinen Brüdern oder Halbbrüdern herumwuseln."
"Ja, und auf dass die kleine Clarimonde auch mal so groß und stark wie ihre Mutter wird", sagte Julius, um die Stimmung hochzuhalten. Darauf tranken sie dann alle.
Einige Zeit später mussten Julius und Béatrice Kevin in eines der freien Gästezimmer tragen und bettfertig umziehen. Der hatte doch echt gedacht, mit Albericus ein Wetttrinken veranstalten zu müssen und hatte sich nach zehn Gläsern guten Rotweins unter dem Tisch wiedergefunden, während Albericus siegesfreudig sein leeres Glas gehoben und gerufen hatte: "Das Erbgut echter Zechbrüder hat mal wieder gewonnen, Leute!"
"Wenn der Bursche morgen ffrüh meint, er bräuche Schmerzmittel sage ihm bitte, dass ich die nur an echt kranke Leute rausrücke und nicht an Jungs, die ihre Grenzen überschreiten müssen", meinte Béatrice, nachdem sie Kevin noch einen Nachttopf und einen Eimer ans Bett gestellt hatte.
"Ich hoffe, ich kriege von Patrice keinen Heuler, dass ich das zugelassen habe, dass ein halber Zwerg ihren Mann unter den Tisch gesoffen hat", grinste Julius, der doch schon einige Umdrehungen mehr fühlte als für ihn normal war. Er schluckte im Badezimmer noch einen Trank, der seine Fahne verwehen ließ und putzte sich extralang die Zähne. Als er dann zu seiner Frau ins Bett stieg meinte diese: "Dass Tante trice dich das hat durchziehen lassen wundert mich. Aber geh davon aus, dass sie dich morgen nicht so viel machen lässt, Monju."
"Ich fürchte, du hast recht, Mamille", sang Julius.
Immerhin hatten sich die gründliche Mundspülung und das Zähneputzen gelohnt. Denn seine Frau ließ es sich gefallen, dass er sie innig zur guten Nacht küsste.
Hallo Millie und Julius. Erst einmal Gratulation von Titonus und mir zur Ankunft eurer dritten Tochter. Wann ich die erste habe will ich noch nicht sagen. Aber mein frisch Angetrauter und ich sind gerade auf Hawaii und hoffen, bei allem, was hier so abgeht noch die nötige Zeit für die sog. ehelichen Pflichten zu haben.
Ach ja, auch unseren herzlichsten Glückwunsch, dass ihr wieder frei in der ganzen weiten Welt herumlaufen dürft. Britt wollte ja unbedingt mit ihrem kleinen Leo und Myrna bei euch vorbeischauen, wenn ihr Clarimondes Ankunft feiert. Oder seid ihr vorher in Italien bei dieser Freizeitbesenhüpfer-Weltmeisterschaft. Phoebe Gildfork will auf jeden Fall mit einem eurer Übersee-Luftschiffe dahin, um zu sichern, dass unsere Freizeitmannschaft doch mal mehr als ein Spiel da gewinnt.
Wir sollen euch auch schön von meinem ganzen mitgeheirateten Anhang grüßen. Meine asiatischstämmigen Schwiegercousinen sind ja immer noch hin und weg von der Unterhaltung mit dir, Julius.
Ich hoffe, jetzt wo bei euch diese Dämmerkuppel weg ist könnt ihr schnell einen Ersatz schaffen, dass euch nicht alle Unholde der Welt auf den Leib rücken. Gut, euer Haus ist ja schon sicher. Aber die anderen möchten sicher auch ruhig schlafen können.
Schreibe Brittany bitte über diese Elektropostanschrift, weil die normalen Posteulen zu lange brauchen, um bis zu uns hinzufinden, zumal wir jeden Tag anderswo auf den Inseln sind. Brittany kann uns euren Brief dann in unseren Reiserucksack verschicken. Schon praktisch, dieser Dexter-Reise-Verschickungsrucksack. Wenn du Gold brauchst, verschickst du eine Nachricht nach Hause. Keine zwei Stunden später liegt das Gold bei dir im Verschickungsfach vom Rucksack.
So, und bevor ich mir von den Dexter-Geschwistern die Kosten für die kurze Werbung abhole noch weiterhin mehr Spaß als Verdruss mit der dritten Latierre!
Melanie ChimersP.S. Wir feiern unsere Hochzeitsfete für die, die nicht dabei waren nach.
Um diese Uhrzeit war es schon ziemlich heiß. Wenn heute nicht die Sommerferien anfingen und die aus Beauxbatons ebenfalls zurückkehrten würde hier in der Grundschule sicher Hitzefrei ausgerufen, dachte Julius, obwohl er wusste, dass es in den französischen Zaubererschulen kein Hitzefrei gab.
Julius hatte sich nicht lange bitten lassen müssen. Zwar war er nur für wenige Wochen Aushilfs- oder besser Vertretungslehrer gewesen, um Laurentines Job zu machen. Doch sowohl die Damen Dumas als auch die am 30. Juni per Flohpulver aus Paris ins Apfelhaus gerauschte Laurentine Hellersdorf hatten ihn überzeugt, dass er bei der alljährlichen Schuljahresendveranstaltung dabei sein sollte. Immerhin hatten Millie und er mitgeholfen, dass der Schulbetrieb beinahe ununterbrochen stattfinden konnte.
"Also, der Kleine von Catherine will wohl so um den siebten bis zwanzigsten Juli ankommen", wisperte Laurentine Julius zu, während sich alle Schulklassen vor dem offiziellen Schulgebäude versammelten und wie es bei Kindernzwischen sechs und elf Jahren üblich war viel Lärm machten, während ihre Eltern ganz stolz auf für sie hingestellten Stühlen saßen und die Lehrer sich auf einer auf den Schulhof hingestellten kleinen Bühne aufstellten. In der Bühnenmitte stand ein Podest mit drei Stufen. Darauf würde Geneviève Dumas gleich hinaufsteigen, um die Abschlussrede zu halten. Vor zehn Minuten hatten alle Schülerinnen und Schüler ihre Zeugnisse bekommen. Julius würde wohl auch noch ein Zeugnis für seine kurzfristige aber wichtige Mitarbeit erhalten, das er zu seinen anderen schulischen und beruflichen Dokumenten legen wollte. Niemand konnte heute wissen, ob er nicht irgendwann mit dieser Bestätigung was wichtiges machen konnte.
"Am neunzehnten ist Clarimondes Willkommensfeier. Falls Hera Catherine das erlaubt kann sie gerne dabei sein, ob sie den Kleinen noch in sich oder auf den Schultern trägt", wisperte Julius. Laurentine nickte. Sie wirkte irgendwie nachdenklich. Lag es daran, dass sie alle dieses Jahr hatten erleben müssen, wie schnell sich vertraute und liebgewonnene Lebensweisen ändern konnten? Oder lag es daran, dass Laurentine bei den Brickstons und jetzt hier wiedder damit konfrontiert wurde, wie glücklich junge Mütter sein konnten und sie nicht zu diesem Club dazugehörte? Julius wusste es nicht und hütete sich, Laurentine gezielt zu fragen. Was sie tat und dachte war ihre Sache. Er hatte mit sich und seiner nun wieder größer gewordenen Familie zu tun. Immerhin hatte Béatrice ihm erlaubt, an dieser Veranstaltung teilzunehmen. Goldschweif hatte sich nach dem langen Zauberschlaf auch wieder gut erholt. Sie hatte ihm gesagt, dass sie wohl bald wieder in Stimmung für neue Junge sein würde. Das würde sich der Katzanova Sternenstaub sicher nicht entgehen lassen.
Die Direktrice der Grundschule von Millemerveilles betrat das Podest. Sie trug zur Feier des Tages ein sonnengelbes Kleid mit goldenen Verzierungen, die Julius an alte Runen erinnerten. Tatsächlich vermeinte er die Runen für "das kommende" und "Leben" zu erkennen. Die Leiterin der von den meisten anderen Zaubererkindern als Dorfschule verspotteten Lehranstalt stellte sich in eine erhabene, Aufmerksamkeit erheischende Pose. Sie hob eine Hand und rief laut: "Bitte hört mir alle ein paar Minuten zu!" Wie mit einem Schweigezauber belegt verstummten sämtliche eben noch herumlärmenden Kinder. Alle sahen sie nun aufmerksam an, die ältesten wohl zum letzten Mal, bevor sie nach den Ferien nach Beauxbatons wechselten.
"Sehr verehrte Mitbürgerinnen und Mitbürger, geschätzte Kolleginnen und Kollegen, meine lieben Kinder", eröffnete Geneviève ihre Schuljahresabschlussrede. "Wieder ist ein ganzes Schuljahr vorbei, und wir alle wissen nicht, warum das wieder so schnell ging." Einige grinsten. "In dem Jahr ist aber auch viel passiert, draußen in der ganz großen Welt, aber auch und vor allem hier bei uns in Millemerveilles. Liebe Kinder, die wildesten Tage davon habt ihr zwar unschuldig verschlafen, aber glaubt mir, das waren wilde Tage." Die Erwachsenen blickten sie teils verlegen, teils vorwurfsvoll an. Doch die Schulleiterin blieb ruhig und sprach weiter. "Auf jeden Fall freut es mich, dass wir alle es geschafft haben, euch, liebe Kinder, durch die dunklen Wochen zu begleiten, euch einen sicheren Halt zu geben und vor allem, euch all das Wissen und Können zu geben, mit dem ihr euer eigenes Leben als Erwachsene so leben könnt, wie ihr es wollt und nicht nur das glauben müsst, was andere euch erzählen. Denn, das hat sich in diesem Jahr wieder deutlich gezeigt: Eine Schule ist keine Kinderverwahranstalt und auch keine Miesmacheranstalt, wo alles was Spaß macht verboten ist. Ja, es ist richtig, dass jeder hier in Frankreich mit frühestens fünf, spätestens sieben Jahren in die Schule gehen muss und es von vielen Eltern als "Der ernst des Lebens" bezeichnet wird. Aber geschätzte Eltern, der fängt schon im Säuglingsalter an, wenn ein Kind lernt, dass es atmen muss, um weiterzuleben, wie es hinbekommt, nicht zu verhungern und dass es seine Eltern braucht, um gut beschützt zu sein. Wir von den Lehrern hier helfen den Kindern, die ganze Große Welt noch besser zu verstehen. Und das ist etwas, was uns die dunklen Wochen über Millemerveilles, ob Erwachsene oder Kinder, so streng und doch so hoffnungsvoll beigebracht haben: Zu lernen ist nicht nur Pflicht, nicht nur tun, was andere sagen, sondern vor allem ein Geschenk. Lernen zu dürfen und nicht nur für andere zu arbeiten, was neues mitzubekommen und dabei immer gescheiter zu werden sind Vorrechte, die vielen von uns erst bewusst werden, wenn wir das gelernte brauchen. In anderen Ländern können Kinder nicht so frei und friedlich Lesen, schreiben, Rechnen und andere Dinge lernen. Ja, und auch wir hier in Millemerveilles mussten in den dunklen Wochen zwischen April und Mitte Juni Angst haben, dass wir von einer bösen Kraft davon abgehalten werden, uns frei zu bewegen, nicht nur irgendwo hinzugehen, sondern auch neue Sachen zu lernen. Ihr, liebe Kinder, habt das von uns Eltern immer wieder zu gewährende Recht, das zu lernen, was euch zu großen Hexen und Zauberern macht, die wegen dem was sie wissen und können frei entscheiden können, wo und wie und für was sie leben wollen, nicht nur für die Arbeit, sondern auch für die Freizeit. Ich hörte vor drei Monaten von unserem dankenswerterweise für Mademoiselle Hellersdorf eingesprungenen Monsieur Latierre hier den Spruch "Wer lesen kann ist klar im Vorteil und wer rechnen kann wird nicht so oft betrogen." Ich hörte von ihm, dass der erste Satz immer wieder von Leuten gesagt wird, die finden, dass jemand erst lesen soll, was zu etwas geschrieben steht, statt zu fragen. Allerdings sehe ich als Schulleiterin das ein wenig anders als jene, auf die sich Monsieur Latierre bezog und weiß, dass er es genauso meint wie ich. Wer lesen, Schreiben, Rechnen und Dinge einander zuordnen kann ist im Vorteil denen gegenüber, die das alles nicht können. Doch zum lernen gehören auch Fragen. Mademoiselle Hellersdorf hier hat auf einer Lehrerkonferenz vor einem Jahr aus dem Titellied einer für Kinder erschaffenen Veranstaltung im Fernsehen übersetzt: "Wieso, weshalb, warum? Wer nicht fragt bleibt dumm." Sicher, lesen zu können ist ein Vorteil. Aber ihr habt hier von uns Lehrern auch das Nachfragen gelernt um das zu lernen, was hinter den Fragen steckt. Auch das ist sehr wichtig für euch, nicht nur in der Schule, sondern überhaupt. Deshalb bin ich immer noch sehr froh, dass ich die große Ehre habe, euch Kindern hier die Sachen zu zeigen und euch beizubringen, die ihr braucht, um weiterzukommen. Vor allem weil ihr alle als Hexen und Zauberer geboren seid ist das sehr wichtig, immer an neuem interessiert zu sein und zu wissen, wie es verstanden wird. Auch dafür lernt ihr hier. Das ist nicht nur eine Pflicht, sondern auch und vor allem ein Recht, das längst nicht für alle selbstverständlich ist. Wir durften oder mussten das dieses Jahr deutlich lernen, Kinder und Eltern, Schüler und Lehrer. Deshalb bin ich ja besonders froh und auch stolz, dass wir alle heute hier zusammen sein können und sagen können, dass niemand von euch Mädchen und Jungen zurückgefallen ist. Jede und jeder hier hat das gelernt, was für das nächste Jahr und alles danach wichtig ist. Keine und keiner von euch muss die Klasse noch mal machen. Das war am Anfang der dunklen Wochen nicht wirklich so sicher.
Ich möchte nun auch was zu euch sagen, die ihr nach den Sommerferien nach Beauxbatons gehen dürft. Sicher, ihr denkt, dass ihr das müsst, weil eure Eltern da waren und eure Großeltern und überhaupt die andere Schule viel unfreundlicher und strenger sein wird und was auch sonst. Ja, stimmt alles, das kann ich nicht bestreiten", sagte die Direktrice. Die Anderen sahen sie verdutzt bis verwundert an. Die Kinder verzogen ihre Gesichter. "Doch wie hier in der Grundschule ist auch das lernen in Beauxbatons ein Vorrecht, nicht nur eine immer weitergegebene Pflicht. Ihr dürft da all das lernen, was wir erwachsenen können. Ihr dürft die weite Welt von Zaubern und Zaubertränken erlernen, Wissen und Können, das anderswo nicht möglich ist. Ihr Mädchen und Jungen, die ihr dieses Jahr das letzte Grundschuljahr mitbekommen habt, durftet schon einmal mitbekommen, wie groß und eigenständig es einen machen kann, wenn er oder sie mit dem Zauberstab Dinge tun kann, die andere Leute nicht können. Ihr habt aber auch gelernt, dass die anderen, die das nicht können und die deshalb meist mit gewissem herablassenden Ton als Muggel bezeichnet werden, trotzdem keine dümmeren oder unfähigeren Leute sind. Auch das ist eine Aufgabe der Schule, einem zu zeigen, dass es nicht nur die Sachen gibt, die im Haus der Eltern gesagt und getan werden. Auch mit diesem Wissen könnt ihr viel mehr machen, als einfach nur das zu tun, was die anderen euch sagen. Ich bin stolz, dass wir in Millemerveilles den bei anderen nicht so guten Ruf einer Hinterweltlergemeinschaft losgeworden sind, auch weil ihr Mädchen und Jungen fleißig mitgeholfen habt, weil ihr gelernt habt, was wir Lehrerinnen und Lehrer euch gezeigt haben. Ich bin stolz, dass ihr, die ihr nach den Sommerferien nach Beauxbatons geht, nicht mit gesenkten Köpfen dort hingehen müsst, weil die anderen Mitschüler alle mehr oder besser gelernt haben. Ihr seid mindestens so gut wie die, ja in einigenDingen wohl auch besser. Denn ihr habt dieses Jahr gelernt, das Kameradschaft nicht nur ein Wort ist, sondern eine Sicherheit und auch etwas, das Spaß machen kann, wenn es sonst nichts zu lachen gibt." Einige der älteren Schüler verzogen wieder ihre Gesichter. "Ihr habt das Recht, stolz darauf zu sein, dass ihr alle hier in Millemerveilles, in einer größtenteils friedlichen Umgebung all die Sachen lernen dürft und durftet, die für euch alleine wichtig sind, nicht nur für all die anderen, die einem erzählen, was ihr zu sagen und zu wissen habt. Vielleicht versteht ihr das jetzt noch nicht. Doch wenn ihr das jetzt schon versteht liegt das auch daran, dass ihr neue Sachen wisst und könnt, die ihr vor einem Jahr noch nicht konntet. Die jüngsten von euch konnten vor einem Jahr noch kein Wort lesen, wussten nicht, was zwei und zwei ist oder haben nur gemalt statt zu schreiben. Die, die nach den Sommerferien in den Ausgangskreis für Beauxbatons eintreten, kennen schon viele Sachen mehr, weil sie es in Büchern lesen konnten und immer dann die richtigen Fragen gestellt haben, wenn etwas zu lesen alleine nicht alle Antworten gebracht hat. Sicher stimmt, dass es in Beauxbatons strenger zugeht. Da wird von jedem mehr verlangt, als einfach nur das zu lernen, was jemand von sich aus lernen will. Aber wie gesagt, es ist mehr ein Recht als eine Pflicht. Ich kann das nicht oft genug wiederholen.
So freuen wir uns alle, dass wir uns alle noch in die Arme nehmen können. Danke, dass ihr fleißig wart und danke, dass wir Großen von euch kleinen lernen dürfen, wie schön und abwechslungsreich diese Welt ist!" Madame Dumas verbeugte sich kurz, was hieß, dass sie mit ihrer Rede durch war. Die Eltern klatschten alle. Die Kinder schinen noch über ihre Worte nachzudenken. Doch dann klatschten sie auch. Ja, sie erkannten, dass sie glücklich sein sollten, dass sie nicht in irgendwelchen finsteren Kellern eingesperrt wurden, um dumm gehalten zu werden oder weil irgendwer sagte, dass sie vor bösen Ungeheuern geschützt werden mussten. Als diese Erkenntnis bei allen Kindern von sechs bis elf Jahren angekommen war klatschten sie alle. Dann liefen sie zu ihren Eltern und umarmten sie.
Madame Dumas bedankte sich noch einmal bei ihren Kolleginnen und Kollegen. Die Hexen umarmte sie kurz und innig. Die Zauberer küsste sie sogar auf jede Wange. Als sie dieses bei Julius tat hauchte sie ihm zu: "Und sollten die im Ministerium dich doch mal nicht mehr nötig haben, was ich persönlich für sehr unbedacht halten würde, kkannst du immer bei uns hier anfangen. Du hast denen da unten in diesem Jahr eine Menge mehr gegeben, als die es gerade verstehen. Und noch einmal sehr vielen Dank an Millie und dich, dass ihr uns eure große Wiese geliehen habt, damit wir in Sicherheit Unterricht geben konnten."
"Dafür, dass ich fast der Vater deines dritten Enkelkindes geworden wäre, Geneviève", scherzte Julius.
"Abgesehen davon, dass Millie wohl darauf bestandenhätte, dass Sandrine zu euch zieht, damit sie und du mitbekommt, was das dann für ein Kind oder für Kinder wären wären mein Mann und ich zumindest beruhigt gewesen, dass Sandrine nicht von einem verantwortungslosenBurschen unfreiwillig zur Mutter gemacht worden wäre", wisperte Sandrines Mutter.
Die Feier zum Schuljahresabschluss war nach der ernsthaften Rede Madame Dumas' doch noch eine fröhliche Veranstaltung. Auch die Kinder, die erst in zwei bis drei Jahren eingeschult würden durften mitfeiern. So konnten Aurore und Chloé mit gleichalten Kindern spielen. Chrysope, die schon tapsige Schritte tun konnte blieb entweder bei ihrer Mutter oder bei Julius, als er zu seiner Familie zurückgehen durfte. Sie alle waren froh, dass sie dieses Schuljahr und was so alles passiert war überstanden hatten. Im Moment waren die immer noch bestehenden Gefahren weit weg, auch wenn die vorher so schützende Kuppel nicht mehr über dem Dorf stand. Alles in allem, so hatten es die Mitglieder des Dorfrates beschlossen, war es besser, ohne Sardonias sehr fragwürdige Gnade zu leben, als die Leibeigenen ihres rachsüchtigen Geistes zu sein. Da nun bekannt war, dass Camille zu Ashtarias Kindern gehörte hatte sie den anderen hier angeboten, ihnen bei der Absicherung der eigenen Grundstücke zu helfen. Statt einer großen Kuppel aus dunkler Magie sollten eben alle Grundstücke zu von weißmagischen Wällen umfriedeten Inseln des Schutzes werden.
Als Julius mit seiner Familie ins Apfelhaus zurückkehrte hielt er die schriftliche Bestätigung in der Hand, dass er zwischen Mai und Juni sehr erfolgreich als Aushilfslehrer für Rechenkunst und Muggelweltmaschinen mitgearbeitet hatte. Madame Dumas hatte ihm dafür sogar dreihundert Galleonen gegeben. Die lagen nun in der für die kleine Clarimonde gebauten Wandelraumtruhe in der Gringottsfiliale von Millemerveilles. Die dort arbeitenden Kobolde wirkten nicht wirklich glücklich, dass ihre Vorgesetzten sie dazu verdonnert hatten, weiter in Millemerveilles zu bleiben. Doch das war Julius erst einmal egal.
Am Abend kehrten alle die Schüler aus Beauxbatons zurück, die hier in Millemerveilles geboren und aufgewachsen waren. Julius Latierre durfte Dénise und Melanie begrüßen, weil die Dusoleils darauf bestanden, dass die Latierres zu ihnen herüberkamen. So konnten Dénise und Melanie auch die kleine Clarimonde und den kleinen Bertrand Dusoleil kennenlernen.
"Ich bin froh, dass Grandbois und seine Ignoranten nicht den befürchteten Dauerschaden bei unseren Nachbarn angerichtet haben. Wahrscheinlich haben Sardonias Blutgeister und ihr Auftritt vor eurem Haus denen auch gezeigt, dass sie gut daran getan haben, auf den Dorfrat und die Leute von der Liga zu hören", sagte Camille, während alle hier versammelten Kinder unter Jeannes Aufsicht spielen durften. Uranie Dusoleil wirkte ernster als sonst schon. Offenbar lauschte sie darauf, ob die wilden Tage, wie Madame Dumas sie genannt hatte, sie wieder zur ledigen Mutter gemacht hatten. Camille schien deshalb nicht so besorgt zu sein. Sicher, wenn sie auch wieder Nachwuchs zu erwarten hatte würde sie sich wohl auch mehr darüber freuen als ärgern.
"Wisst ihr schon, wie das Eröffnungsspiel ausgegangen ist?" wollte Julius von Jeanne wissen, nachdem die Kinder in mitgebrachten Betten verstaut waren, damit die Erwachsenen noch ein wenig feiern konnten.
"Da die Italiener gegen die Schweizer spielen geht es für Bruno und die Montferre-Mädchen erst übermorgen um was. Denke mal, dein Schwiegeronkel Gilbert wird das rechtzeitig berichten, wo er es hinbekommen hat, im Geleitzug deiner Schwiegermutter mitzureisen." Julius konnte dem nicht widersprechen. Er dachte jedoch an die Wochen vor vier Jahren, wo er die Quidditch-WM hautnahe miterlebt und dabei mitgeholfen hatte, dass sie zu einem unverwechselbaren Erlebnis wurde, für ihn und für ganz viele andere auch. In dieser Zeit war Aurore Béatrice gezeugt worden. Doch jetzt musste er daran denken, dass Leute wie Vita Magica dieses Großereignis ausnutzen mochten, um ähnlich wie in Millemerveilles ihr tückisches Gas zu verbreiten. Er dachte an die klare Ansage von Madame Hippolyte Latierre: "Wird auch nur einer aus der französischen Mannschaft von diesem heimtückischen Zeug zu Sachen getrieben, die er oder sie bei klarem Verstand unterlassen würde, so war es das mit der Titelverteidigung. Die anderen Mannschaftsführer und Spiele-und-Sport-Behördenleiter sind mit mir da einer Meinung." Vielleicht war diese Ansage die Garantie, dass Vita Magica sich zurückhielt. Aber andere könnten versucht sein, da Unheil zu stiften: Die Vampire der schlafenden Göttin, die neue Nachtschattenkönigin, vielleicht die Spinnenschwestern und vor allem jene unheimliche wie wohl überragend schöne wie mächtige Dunkelhexe Ladonna Montefiori. Immerhin war Italien ihr Heimatland. Julius hoffte, dass die Weltmeisterschaft friedlich und fair verlief und keinem da was passierte, der oder die ihm wichtig war. Er hoffte es wohl auch, weil seine Schwiegermutter ihm versprochen hatte, dass Millie, er und alle drei Kinder zum Halbfinale und Finale anreisen durften, sollte Frankreich nicht vorzeitig aus dem Turnier ausscheiden. Immerhin hatten viele andere Mannschaften in den letzten vier Jahren Aurora Dawns Doppelachsentechnik gelernt und durften sie bei internationalen Veranstaltungen benutzen. Damit war der Vorteil aufgehoben, den Frankreich, England und Australien vor vier Jahren noch hatten. So war eben Profisport. Gute und erfolgreiche Sachen verbreiteten sich, bis alle sie hatten oder konnten, wusste Julius nicht erst vom Quidditch.
Nachdem er seiner dritten Tochter frische Windeln umgelegt hatte und sie ihrer Mutter in die Arme gelegt hatte saß er noch eine Weile in der Wohnküche und dachte an alles, was im letzten Jahr gelaufen war. Zu Weihnachten und im Sommer brauchte er diese Ruhe, um zurückzuschauen. Er war jedenfalls froh, dass sie alle noch lebten und Sardonias böser Geist ein für alle mal aus Millemerveilles vertrieben war. Das Camille, Millie, er und sogar die noch klitzekleine Clarimonde einen großen Anteil daran hatten freute ihn, auch wenn er es außer den Dusoleils und seinen Schwiegerverwandten nicht erzählen durfte. Das er gerade keine E-Mails verschicken oder im Internet surfen konnte war zwar ärgerlich, aber im Vergleich dazu, dass Clarimonde zu ihm und Millie gekommen war ein wirklich ganz und gar vernachlässigbares Ding.
"Möchtest du noch nicht ins Bett, Julius?" holte ihn die leise sprechende Stimme seiner Schwiegertante Béatrice aus seinen Gedanken zurück. Er sah sie an und sagte, dass er gleich zu Millie hingehen würde, wenn Clarimonde ihren letzten Schluck Milch des Tages genossen hatte. "ich darf noch hierbleiben, hat meine Mutter erlaubt. Ich wurde von Hera gefragt, ob ich ihr in diesem Jahr nicht assistieren könnte, falls alle von diesen Verbrechern zusammengetriebenen Paare erfolgreich Kinder gezeugt haben."
"Ja, und Célestine Rocher sich mit ihrer großen Schwester Sylvie darüber hatte, dass ihr gemeinsamer großer Bruder César ohne Hochzeitsglocken Vater würde, woher die das immer haben, dass er mit Stines Namensvetterin Célestine Chevallier zusammengeraten ist."
"Ja, wir hier können froh sein, wenn wir uns nur darüber aufregen müssen, wer welche Verpflichtungen für neue Kinder hat, Julius", seufzte Béatrice Latierre. "Ach ja, zu Clarimondes Willkommensfeier kriegt ihr den zweiten Schrank, der eigentlich für mich gemacht wurde. Mein Bruder Otto meinte zwar, dass ich den ganz bezahlen solle, weil ich euren ersten ja kaputt gemacht habe. Da habe ich dem gesagt, dass er froh sein könnte, dass er nicht alleine durch den Schrank gekommen sei, weil der dann sicher seine Frau mit einer lustigen Witwe wie Hera Matine betrogen hätte. Das traf und saß", erwiderte Béatrice grinsend. Julius wurde immer noch nicht so recht schlau aus seiner jungen Schwiegertante. Mal konnte sie fröhlich sein wie ein unschuldiges Kind, mal so bierernst sein wie eine Kinderfrau zur Zeit von Königin Victoria. Aber irgendwie faszinierte ihn das auch, ja zog ihn an. Er ertappte sich einmal mehr dabei, was gewesen wäre, wenn Béatrices Schwester Hippolyte nicht darauf bestanden hätte, ihn mit Martine oder Millie über die gläserne Brücke gehen zu lassen. Doch das wollte er tunlichst für sich behalten, schon für seine Frau, die dieses Jahr viel mitgemacht hatte, um sein drittes Kind sicher ins Leben zu tragen.
Er sprach noch einige Minuten leise mit Béatrice. Dabei ging es auch um die Sonnenkinder, die ihn als Kontaktperson ausgesucht hatten. Er erwähnte jedoch nicht, dass er mit Faidaria den Pokal der Verbundenheit benutzt hatte. Denn das wollte er auch Millie nicht sagen, weil er Angst hatte, dass sie ihm dann doch böse sein könnte. Doch er erwähnte das große Vertrauen, dass die für tot erklärte Ex-Spinnenschwester Patricia Straton ihm erwiesen hatte und dasss Jane Porter mittlerweile zumindest für ihre Kollegen im Laveau-Institut von den Toten auferstanden war. Die wollte es aber erst dann Gloria und ihren Eltern mitteilen, wenn sie es für nötig hielt.
"Ja, und weil Gloria und Pina am neunzehnten wieder zu euch herüberkommen piesackt dich dein Gewissen, weil sie immer noch traurig ist?" fragte Béatrice scheinbar beiläufig. Doch die Frage war alles andere als das. Julius musste erst einige Sekunden überlegen, wie er darauf antworten sollte. Dann sagte er: "Ich verstehe, dass Jane Porter sich für Gloria totstellt, um sie zu beschützen, Trice. Deshalb möchte ich das nicht gefährden. Deshalb habe ich damit nicht das wirklich große Problem wie damals, wo ich mitbekam, dass sie noch lebt und uns alle irgendwie verschaukelt hat."
"Dann wollen wir hoffen, dass du oder ich nicht eines Tages diese verdamt schwere Entscheidung treffen müssen, unseren Verwandten nicht alles zu sagen, damit sie nicht in tödliche Gefahr geraten", erwiderte Béatrice. Dann deutete sie auf die Tür Richtung Schlafzimmer. "Clarimonde ist sicher satt, und deine Frau wird besser einschlafen, wenn du neben ihr liegst. Abgesehen davon bist du bei mir ja immer noch auf Wochenbettbewährung", meinte Béatrice Latierre nun ganz im Modus der gestrengen Heilerin. Julius nickte nur. Sich darüber zu ärgern wie sie ihn mal eben herumkommandierte brachte bei ihr eh nichts. Also umarmte er sie kurz zur guten Nacht und dachte einen winzigen Augenblick an die eine Stunde im Sonnenblumenschloss, in der sie beide auf sehr verwegenem Weg den Fluch von Orion dem wilden ausgetrieben hatten.
"Na, hat meine Hebamme dich zu mir ins Bett befohlen", grüßte Millie ihn, während sie mit der rechten hand die kleine Wiege schaukelte, in der Clarimonde schlief. Julius bestätigte das. "Dann kuschel dich mal an mich, damit wir zwei friedlich einschlafen", meinte Millie. "Gut, dass das Apfelhaus eine eigene Temperaturkontrolle hat. Draußen vor der Tür ist es sicher noch ziemlich drückend", meinte Julius. "Ja, ist wohl so", erwiderte Millie darauf. Dann lagen beide Eheleute nebeneinander und gaben sich Wärme, fühlten jeden Atemzug und glitten behutsam und friedlich in den Schlaf hinüber.
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