DIE VERGESSENEN VIER (1 von 3)

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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P R O L O G

Die Welt ist noch unsicherer geworden als am Ende des 20. Jahrhunderts zu befürchten stand. Während die Streitkräfte der USA zusammen mit den Streitkräften verbündeter Staaten den von ihrem Präsidenten ausgerufenen Krieg gegen den Terrorismus erst in Afghanistan und dann auch im Irak führen kämpfen in der magischen Welt verschiedene Machtgruppen darum, die Welt nach ihren Vorstellungen zu ordnen.

Die Auswirkungen des Kampfes zwischen Gooriaimiria und Iaxathan haben eine über die ganze Welt brandende, mächtige Welle dunkler Zauberkraft ausgelöst, die bis dahin schlummernde Dinge und Orte mit dunkler Magie verstärkt. Dadurch wurde Gooriaimiria befähigt, als nunmehr erwachte Göttin der Nacht überall dort zu erscheinen, wo mindestens zwei ihrer eingeschworenen Diener vor Ort sind.

Die aus jahrhundertelangem Zauberbann erwachte Ladonna Montefiori begründet ihren dunklen Hexenorden der Feuerrose neu und schafft es auf ihre einzigartige Weise, den italienischen Zaubereiminister und seine wichtigsten Mitarbeiter unter ihren Willen zu zwingen. Allerdings gelingt es ihr nicht, den durch die dunkle Zauberkraftwelle verstärkten Zauberkessel der britischen Hexe Morgause zu erobern. Hierbei trifft sie zum ersten Mal auf ihre Widersacherin Anthelia/Naaneavargia. Morgauses im Kessel steckende Seele wird durch die Zerstörung desselben als Nachtschatten freigesetzt und unterrliegt wenig später der Nachtschattenkönigin Birgute.

Die fast überall in der Welt als kriminelle Vereinigung erklärte Geheimgesellschaft Vita Magica treibt ihr skrupelloses Vorhaben voran, dass sehr viel mehr magische Menschen geboren werden als sonst. Davon sind nicht nur die Zuschauerinnen und Zuschauer der Quidditchweltmeisterschaft in Italien betroffen, sondern vor allem die Bewohner von Millemerveilles, die als erste Opfer einer neuartigen Fortpflanzungsanregungsdroge dieser Gruppierung viele hundert neue Kinder erwarten müssen. Außerdem gerät Vita Magica in einen blutigen Konflikt mit Ladonnas neuem Orden, da Ladonna es strickt ablehnt, dass Hexen gegen ihren Willen Kinder bekommen sollen. Ihr gelingt es mit Hilfe eines von ihr bezauberten Ministeriumsmitarbeiters, einen Stützpunkt Vita Magicas in einer gar höllischen Feuersbrunst zu vernichten. Dabei verliert die nun Mater Vicesima Secunda genannte ranghohe Mitstreiterin VMS eine ihrer Töchter und drei gerade erst geborene Enkel und schwört Ladonna gnadenlose Vergeltung.

Die aus ihrer jahrtausendelangen Gefangenschaft befreite Mutter der neun Abgrundstöchter verliert sich wegen der dunklen Zauberkraftwelle beinahe unrettbar in der Natur, eine riesenhafte Ameisenkönigin zu sein, die nur dafür lebt, möglichst viele Nachkommen zu haben. Diese könnten zu einer noch schlimmeren Bedrohung werden als die Vampire und Abgrundstöchter oder die Gruppierungen dunkler Hexen und Zauberer. Zudem tragen zwei der Abgrundstöchter neue, vaterlos empfangene Kinder aus. Itoluhila wird eine frühere Dienerin als ihre erste Tochter bekommen, während die mit Sonnenzaubern verbundene Tarlahilia die aus Ashtarias Bann gelösten Seelen ihrer Schwestern Halitti und Ilithula als neue Töchter zur Welt bringen wird. Alle von Lahilliota geborenen Schwestern hadern damit, dass es eine angebliche zehnte Schwester gibt, die eigentlich nur die Ausgeburt eines schwarzmagischen Zauberbildmalers ist, sich jedoch durch die Einverleibung natürlicher Leben unter anderem dem der jüngsten Abgrundstochter Errithalaia zu einer schier unbezwingbaren Daseinsform entwickelt hat.

Als wenn das nicht schon ausreicht erschüttert ein heftiger Skandal die internationale Quidditchwelt. Denn die Mannschaft der USA hat sich auf Betreiben ihrer Hauptsponsorin Phoebe Gildfork auf ein höchst unerwünschtes Ritual der Inkazeit eingelassen, um bei allen wichtigen Entscheidungen und Kämpfen größtmöglichen Erfolg zu haben. Damit schafft die Mannschaft es sogar, den Titelverteidiger Frankreich aus dem Turnier zu werfen. Allerdings wird der Spieler Donovan Maveric von Gewissensbissen geplagt und fürchtet sich davor, irgendwann den hohen Preis für die Teilnahme am Ritual zu zahlen. Er vertraut sich der wegen Meinungsverschiedenheiten mit Phoebe Gildfork aus der Mannschaft gedrängten Venus Partridge an und gewinnt sie dafür, sich aus dem Ritualzauber zu lösen, wodurch er am Ende mithelfen kann, dass der von keinem bekannten Zauber enthüllbare Betrug doch noch aufgedeckt wird. Weil keiner weiß, wie weit die Machenschaften Gildforks reichen wird die Weltmeisterschaft gegen die Stimmen der Gastgeber und der USA abgebrochen und soll im nächsten Frühjahr noch einmal begonnen werden. Weil Ladonna Montefiori mehr über das so mächtige Ritual wissen will veranlasst sie einen ihrer neuen Unterworfenen, Phoebe Gildfork in die Nähe ihrer magischen Festung bei Florenz zu bringen. Sie will sie mit der Kraft der Feuerrose fügsam stimmen. Doch in Phoebe Gildfork wirkt bereits ein anderer Unterwerfungszauber, der zugleich auch ihre Vernichtung auslöst, wenn er bekämpft wird. Dass es sich nur um eine Doppelgängerin handelt weiß Ladonna nicht. Sie ist jedoch beunruhigt über Phoebes letzten Ausruf, dass sie einem Igor Bokanowski diene.

Als Bürger Millemerveilles hilft Julius Latierre dabei mit, sich auf die Zeit mit den vielen neuen Kindern vorzubereiten. Außerdem werden er, seine Frau Mildrid und die im Dorf weilenden Kinder Ashtarias von der in einem Zwischenreich zwischen Leben und Tod weilenden Ammayamiria beauftragt, einen neuen, diesmal rein weißmagischen Schutz über ganz Millemerveilles auszubreiten. Um diesen Zauber vorzubereiten brauchen sie einen ganzen Monat. In dieser Zeit erlebt Julius mehrere Hochzeitsfeiern mit. Bei jener von Pierre Marceau und Gabrielle Delacour ist er sogar persönlicher Ausführungsbevollmächtigter. Die Feier findet in einem in dichten Wäldern verstecktem Jagdschlösschen bei Amien statt. . Weil Millie beim Anblick ausgedörrter Bäume und der Sommerhitze um die Sicherheit bei Waldbränden fürchtet enthüllt ihr Mann Julius beim Besuch der Sicherheitszentrale, dass das Schloss ein Spionagenest ist, von dem aus arglose, gutbetuchte Gäste überwacht und ausgekundschaftet werden. Mit Hilfe des Glückstrankes Felix Felicis kann er die für vierfarbsichtige Benutzer angelegten Zugangscodes knacken und die Überwachung der Hochzeitsfeier unterbinden. Um das Geheimnis der Zaubererwelt weiterhin zu wahren nutzt er eine Funktion, die das Schloss bei drohender Enthüllung selbstvernichtet. Bei der Gelegenheit finden er und das hinzugezogene Zaubereiministerium auch die Hinterleute heraus und wo weitere Spionagenester betrieben werden. Die Hochzeit findet wie gewünscht statt, ohne dass die Gäste erfahren, dass sie ausspioniert werden sollten.

Am 29. August vollzieht Julius mit dem Wissen Madrashainorians das Ritual der starken Mutter Erde. Dabei wird er fast von einer Truppe aufgebrachter Kobolde gestört, die nur durch ein von Adrian Moonriver benutztes Bannwort zurückgetrieben werden können. Mit den drei Heilssternträgern Maribel Valdez, Camille Dusoleil und Adrian Moonriver vollführen Millie und Julius nach dem Erdmagieritual noch Zauber des Feuers, des Wassers und den als Focus Amoris bekannten Vereinigungszauber aller anwesenden Heilssterne. Dadurch rufen sie eine überlebensgroße Erscheinung der transvitalen Entität Ammayamiria hervor, die alle Beteiligten in sich aufnimmt. Anthelia/Naaneavargia, die durch Julius' Erdritual angelockt wurde, beobachtet, wie die titanischgroße Erscheinung ein Netz aus glühenden Strängen reiner Lebensmagie zwischen den von Camille mit Ashtarias Segen bezauberten Bäumen spannt, welches ganz Millemerveilles überdeckt und damit Sardonias erloschene Kuppel ersetzt. Allerdings haben die am großen Zauber beteiligten durch die vereinte Kraft von Ashtarias Heilssymbolen einen erheblichen Ausdauerschub erhalten, der sie dazu zwingt, die nächsten Tage auszuschlafen, um die vorweggenommene Kraft wieder aufzufrischen. In der Zeit kann so viel passieren. Doch es passiert nicht in Frankreich, sondern auf der anderen Seite der Welt.

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Im Land mit dem glutheißen Herzen, am 3. Tag des zweiten Blühzeitmondes im fünften Jahr des großen Krieges

"Sei mir verbunden! - Sei mir verbunden!" Die Stimme des Erhabenen klang in jedem mächtigen Krieger. Ashlohuganar, der erste Gesandte des Erhabenen, lauschte auch auf die geistigen Regungen jener, die er und seine drei Gefährten in diesem Land mit dem glühenden Herzen in die Reihen des Erhabenen, ihres Herrn und Gebieters, hineingeküsst hatten. Hier, wo der verwünschte Windkönig Ailanorar einen uralten mit Erd- und Windzaubern erfüllten Berg zu seiner erhabenen Festung gemacht hatte, würde eben dieser seine erste große Niederlage erfahren, nachdem dessen nicht minder verwünschenswürdige gefiederte Brut auf den großen Landmassen in Mitternachtsrichtung gewütet hatte. Die hier lebenden Geisteranbeter würden bald willige und wertvolle Getreue des Stabträgers und ersten Dieners des dunklen Hochkönigs werden. Wenn Ailanorar dann in dieses Land kam, um in seiner roten Festung zu weilen, würden ihm tausende von Kriegern seines Erzfeindes entgegeneielen.

Ishgildaria, die wegen ihrer Hautfarbe eines von vielen Wolken erfüllten Himmels Wolkenlicht hieß, trat neben Ashlohuganar, dessen Haut in der erhabenen Erscheinungsform wie klares Wasser und frisches Wiesengras gefärbt war. "Wir haben schon hundert neue Krieger für den Erhabenen gewonnen, Ashlohuganar", gedankenzischte Ishgildaria ihrem Mitstreiter und durch Befehl des Erhabenen vorgesetzten Anführer zu. Dieser sah die im grauen und bläulichen Ton eines verhangenen Himmels gefärbte Mitkämpferin an und erwiderte auf die nur für sie vernehmbare Weise:

"Der Erhabene hat mir verkündet, dass die geflügelten Vernichter aus dem Gefolge des verhassten Windkönigs weitere Truppen von uns ausgelöscht haben. Der Erhabene will deshalb mehrere von uns in einer geschützten unterirdischen Höhle einschließen und so verbergen, dass die Todesblitze speihenden Vernichter sie nicht mehr erfassen können. Wenn der Windkönig erkennt, dass auf den großen landmassen keiner mehr von uns weilt wird er seine gefiderten Vollstrecker sicher wieder in die für uns unerreichbare Himmelsfestung zurückrufen, weil das wohl ein Übereinkommen mit den anderen Widersachern unseres Meisters und unseres obersten Herrschers so verlangt. Die anderen fürchten diese geflügelten Vernichter wohl genauso wie wir."

"Und du fürchtest nicht, dass die Geflügelten auch zu uns auf diesen Erdteil finden, wo der Windkönig da selbst diesen roten Berg zu seiner eigenen Festung gemacht hat und davor ein Zugang zu den schnellen Wegen sein soll, die wir nicht beschreiten können?" fragte Ishgildaria.

"Sicher wird er irgendwann erkennen, dass wir auch hier auf diesem Erdteil auf der Mittagshälfte der großen Mutter sind. Doch bevor er die in seine Himmelsfestung zurückgerufenen Vernichtervögel wieder herbeirufen kann werden wir ihn töten und damit seine Macht brechen. Dann werden wir den Willen des Erhabenen vollstrecken und dieses Land und danach wieder alle anderen Erdteile zu Besitzungen des Hochkönigs aller Mitternächtigen machen", erwiderte Ashlohuganar mit einer schier unerschütterlichen Zuversicht.

"Soll ich Gooramashta dann weitergeben, dass sie die von ihr Einberufenen Schwestern zu deren Leibesgefährten und Blutsverwandten schicken soll?" wollte Ishgildaria wissen.

"Ich weiß, dass sie und du euch über noch größere Entfernungen in Gedanken rufen könnt, Ishgildaria. Doch der Erhabene will erst nur männliche Streiter, die von mir und Sholalgondan den Kuss der Verbundenheit erhalten haben. Der Erhabene erwähnte bei der letzten Verbindung, dass sein König, also unser höchster Herrscher, nur männliche Krieger haben will. Ihr Weiblichen sollt erst dann mehr werden, wenn der erhabene die Erlaubnis erhält, in diesem Land sein neues Reich auf dieser Welt zu führen, als Fürst der mächtigen, Bezwinger des verhassten Windkönigs und des Feuerklingenschwingers."

"Erster Bote, mein in Abendlichtrichtung voranstürmender Trupp wird von einem geflügelten Vernichter Ailanorars angegriffen!" ertönte ein lauter Schreckensruf von Sholalgondan durch Ashlohuganars und Ishgildarias Geist. Der erste Bote des Erhabenen auf diesem kleinen Erdteil auf der mittagsseitigen Hälfte der Welt erkannte, dass der große Plan des Erhabenen gerade ins Wanken geriet.

"Wie kann dies sein? Der Erhabene hat unseren Feind doch stark genug beschäftigt", fragte Ashlohuganar den ausgesandten Truppenführer.

"Ich weiß es nicht. Dieser vernichter stieß wie ein Blitz aus dem Himmel nieder und riss einen meiner neuen Krieger vom Boden fort. Vielleicht ist es nur ein Späher, der dieses Land überqueren sollte."

"Dann tötet den Späher. Jagt ihm die mit der Kraft des Erhabenen getränkten Wurfspieße in den Körper, bevor er seinen verwünschenswürdigen Artgenossen vermeldet, dass es auch hier im Land mit dem glutheißen Herzen welche von uns gibt!" befahl Ashlohuganar.

"Dein Wort ist das Wort des Erhabenen. So soll es geschehen", erwiderte Sholalgondans Gedankenstimme, während im Hintergrund aller Gedanken die ständige Anweisung des Erhabenen erklang: "Sei mir verbunden! - Sei mir verbunden!"

"Wenn der Späher stirbt könnten seine gefiderten Arrtgenossen nach ihm suchen, Ashlohuganar", zischte Ishgildaria. Doch der erste Bote des Erhabenen auf diesem Erdteil zuckte nur mit den Schultern und stieß aus: "Und wenn er noch mehr von uns aufliest und tötet wird er zu seinem Herren zurückkehren und ihm auch verkünden, dass wir hier sind. Nein, er muss getötet werden, bevor er dies tun kann." Ishgildaria nickte mit ihrem flachen Kopf. Dann sagte Ashlohuganar noch: "Gebiete deiner Blutsschwester Gooramashta, die von ihr in unsere Gemeinschaft hineingeküssten Schwestern so tief sie können unter die Erde zu schicken, wo sie auf das Wort des Erhabenen selbst warten sollen! Wir werden indes weitere neue Krieger in unsere Reihen hineinholen."

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Sholalgondan, der Schreckensbote, war ausgeschickt worden, um die neue Streitmacht des Erhabenen zu vergrößern. Er starrte mit seinen Bleichen Augen auf den gerade wieder niederstoßenden Feind, der durch die Macht des Windkönigs aus harmlosen Vögeln entstanden und zu einem riesenhaften Unheilsbringer gewachsen war. Sholalgondan, der in seiner erhabenen Form von Schuppen mit der Farbe von frischem Blut und feuchtem Erdreich verziert war, hörte den Todesschrei seines neuen Artgenossens, eines Kriegers der wenigen in einen alten Geisterglauben lebenden Stämme mit dunkler Hautfarbe. Der gerade erst einen Viertelmond alte Krieger des Erhabenen war in einem dieser hellblauen Todeslichter verbrannt, welche die geflügelten Vernichter aus ihren Schnäbeln schleudern konnten. Doch nun warteten zehn halb im Boden vergrabene Krieger mit von ihrem eigenen Wandelgift getränkten Speeren. Das Holz der Waffen hatte sich durch das Wandelgift in eine hoffentlich tödliche Form gewandelt, härter als jedes andere Holz und jedes der großen Mutter entrungene im Feuer geschmiedete Erz. Da stieß der geflügelte Feind auch schon wieder hernieder. Die kampfbereiten Krieger schleuderten die Speere im selben Augenblick nach oben. Der Vernichter konnte vielleicht einem davon ausweichen oder zwei auf einmal mit einem seiner Todesblitze zerstören. Doch zehn auf einmal konnte er nicht bekämpfen.

"Sieg dem Erhabenen zum Ruhme unseres großen Königs!" rief Sholalgondan, als die Speere genau in die Sturzbahn des Feindes hinaufjagten. Da umschloss den Geflügelten mit den überschnell schwingenden Flügeln eine Kugelschale aus himmelsfarbenem Licht, als sei er da selbst aus diesem Licht gemacht worden. Die zehn mit Gift getränkten Speere prallten auf die Lichtkugel und zersprangen in grün-blauen Flammenwolken. "Nein!" stieß Sholalgondan aus. Der Angriff war vollständig abgewehrt worden. Statt dessen pickte der ungebremst niederfahrende Riesenvogel nun einen der halb im Boden steckenden Krieger auf und riss ihn mit gnadenloser Entschlossenheit nach oben. Er würde ihn weit über der kraftspendenden Erde loslassen und im freien Fall mit seinem Todesblitz verbrennen. Doch Sholalgondan hatte eine weitere Eingebung: Er besann sich auf den Geist des soeben ergriffenen und dachte ihm das Lied des ehrenvollen Opfertodes zu, eine vom Erhabenen selbst ersonnene Fertigkeit, um mehrere Feinde zugleich zu töten, wenn sie nicht durch den Blick der Unterwerfung und den Kuss der Einberufung besiegt werden konnten. "Glühe für den Herrscher, brenne fort, was uns missfällt!" befahl Sholalgondan dem gerade noch in den Himmel entführten Krieger. Dieser zögerte nicht. Alles langsam brennende Feuer in seinem Körper, das ihn am Leben hielt, wurde mit einem einzigen Schlag entfacht und zu einem sonnenaufgangsfarbenen Glutball. Der Kopf des Spähers barst in roter Glut, und der Körper des Gefiederten geriet in eine trudelnde Abwärtsbewegung. Also ging es nur so, erkannte Sholalgondan.

Nun schlugen auch Flammen aus dem kopflosen Körper des gefällten Feindes. Das Lied des ehrenvollen opfertodes hatte wohl auch dessen inneres Lebensfeuer zu einer schlagartigen Entfesselung getrieben, erkannte der Schreckensbote.

"Der Späher ist besiegt, Erster Verkünder des Erhabenen", dachte Sholalgondan seinem vom Erhabenen selbst bestimmten Anführer zu. Dieser bestätigte es und befahl, die Ausbreitung der mächtigen Krieger fortzuführen.

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Zur selben Zeit in der Burg, die niemand finden kann

Viergoldschwingenträger und Allvater der Diener des Schöpfers Xanturack blickte in die vor ihm in der Luft schwebende Kugel aus Fernblickglas, das von den Feuer- und Windmeistern des erhabenen Reiches gefertigt worden war. Gerade sah er, wie einer seiner über die Lande der kugelrunden Hartwelt ausgesandten Späher in einer Flammenwolke verging, nachdem dieser mit der Kugelschale der alles abprellenden Kraft zehn ihm entgegengeschleuderte Spieße zerstört hatte. Der König der geflügelten Diener des Schöpfers sah seinen Hauptlenker, Zweigoldschwingenträger Arankumsan an. Dieser nickte seinem Herrscher zu. "Das war der letzte Fehler dieser Giftbrut des Kriechers Skyllian", krächzte Arankumsan. Denn die Schlupfgeschwister des Getöteten wissen jetzt, wo sie die Giftbrut zu finden haben."

"Nicht nur der Handlanger des Mitternachtskönigs weiß seine Geschöpfe im Geist zu verbinden", grummelte Xanturack verdrossen. Seine Gefährtin Aviara machte eine zustimmende Kopfbewegung. "Die Giftbrut Skyllians auf den Landmassen in der mitternächtigen Hälfte der Rundwelt sind beinahe besiegt. Skyllian hat wohl gehofft, ausgerechnet dort noch seine Krieger zu verstecken, wo unser Schöpfer seine erhabene rote Festung begründet hat."

"Der Schöpfer wird dies nicht dulden. So er will werden unsere geflügelten Vollstrecker diese Brut vom Boden tilgen", bekräftigte Xanturack. "Ach ja, Arakumsan, gebiete den von dir gelenkten, dass sie die aufgepickten Träger der Vergiftung unverzüglich nach dem Aufpicken totbeißen sollen, bevor die sich selbst in reines Feuer aufzulösen vermögen!"

"Wie du befiehlst, Unser aller Vater", erwiderte Arankumsan.

Xanturack konnte nun durch die Fernblickkugel beobachten, wie die damit verbundenen Späher weitere Nester der Brut Skyllians fanden und diesmal noch schneller und gründlicher alle als Umgewandelt erkannten töteten. Die große Schlacht zwischen den Schlangenkriegern und den Wolkenhütern war so gut wie geschlagen. Skyllians schuppige Seuche war auf allen Landmassen auf dem Rückzug. Doch wo war deren Schöpfer, der kriecherische Diener des mitternächtigen Hochkönigs. Wurde er nicht ergriffen würde er irgendwann wieder im Namen seines Herren solches Gezücht auf die zu schützenden Flügellosen loslassen. Dann vernahm Xanturack das vom Schöpfer selbst mit dessen mächtiger Stimme vorgetragene Lied des Herbeirufens. Unverzüglich griffen die in der Burg, die niemand von dort unten finden konnte verankerten Kräfte und setzten sie in Bewegung. "Der Schöpfer ruft uns zu sich hin, meine getreuen Kinder", bestätigte Xanturack und fühlte mit seinem Sinn für die Eisenfangkräfte der Erde, wohin die Burg reiste. Es ging wahrhaftig zum kleinen Erdteil auf der mittagsseitigen Hälfte der runden Hartwelt, dem Land mit dem glutheißen Herzen, wie es die Flügellosen nannten. Offenbar hatte der Schöpfer in seiner Allwissenheit erkannt, dass dort wohl noch vom Wandlungsgift Skyllians verseuchte Diener zu finden waren. Also stand der letzte Kampf mit dem Träger des Schlangenstabes unmittelbar bevor.

Die Burg eilte in Höhe von über vierzigtausend Manneslängen über dem harten Grund und den wogenden, das Licht des unteren Himmels widerspiegelnden Wassern dahin, bis sie wahrhaftig über dem rotbraunen Ödland in der Mitte des kleinen Erdteils verhielt. Im Herrschersaal glomm nun eine himmelslichtfarbene Säule auf. Es säuselte wie Wind, der durch schmale Felsspalten weht. Dann stand der Schöpfer da selbst in eigener Gestalt auf der silbernen Erhebung, die sonst nur dem Viergoldschwingenträger zustand, wenn er da selbst die ewig über dem Grund treibende Burg lenken wollte. Die geflügelten Diener des Schöpfers warfen sich in bedingungsloser Demut zu Boden und erwarteten die Worte ihres Herren.

"Ich habe vernommen, dass auch in meinem Schutzgebiet nahe dem Eisland des mitagsseitigen Drehpunktes Skyllians schuppiges Geschmeiß wütet", sagte der Schöpfer, dessen wahren Namen niemand hier nennen durfte. In seiner rechten Hand hielt er sein mondlichtfarbenes Machtmittel, die Stimme des Schöpfers, mit der er die Winde und die ihm verbundenen Geschöpfe lenken konnte. Xanturack und die anderen verharrten weiterhin in völliger Unterwerfungshaltung. "Xanturack, mein treuer Diener und oberster meiner mächtigen Krieger, sende einen Trupp von Cuarviri zur Lenkung der Wolkenhüter aus, um meine rote Festung zu beschützen. Denn wenn dieses Geschmeiß Skyllians schon auf meinem Schutzgebiet herumkriecht werden die auch wissen, dass der rote Felsenberg meine eigene Festung ist. Ich habe mit den Geisteranbetern dort unten eine Übereinkunft, den von starker Kraft von Erde, Feuer, Wasser und Wind erfüllten Berg zu verteidigen, wenn ich schon dort meine Festung errichtet habe."

"So soll es dann sein, mein Schöpfer", bestätigte der Viergoldschwingenträger. "Das und nichts anderes erwarte ich von euch", erwiderte der Schöpfer. "Es ist schon schlimm genug, dass dieser Mitternachtsanbeter meine eigene Schwester verschleppen konnte und wohl danach trachtet, mich mit ihrer Unversehrtheit zu erpressen. Da werde ich seine vergifteten Helfer nicht länger dulden."

"O mein Schöpfer, wie können wir dir beistehen, um deine Schwester zurückzugewinnen?" wollte Xanturack wissen.

"Dazu muss ich erst einmal wissen, wo die dunkle Festung liegt, die der Mitternächtige erbaut hat. Doch sie liegt unter starken Kräften der Verhüllung, die ich nicht durchblicken kann. Doch wenn ich dies vollbringe, so werde ich euch sicher zu Hilfe rufen", erwiderte der Schöpfer. "Bis dahin säubert die Welt von Skyllians giftigem Unrat!" befahl er noch. Dann verschwand er in einer mondlichtfarbenen Lichtsäule von der Erhebung der Lenkung.

"Ihr habt die Weisung des Schöpfers vernommen, meine Kinder. So weilen wir hier und erfüllen seinen Willen!" sprach der Allvater der geflügelten Diener des Schöpfers. Dann rief er mit der Kraft der Überallworte nach dem Truppenführer der Cuarviri. Aarkarrax, der Viersilberschwingenträger, eilte auf diesen Ruf in den Turm des Herrschers und verbeugte sich vor seinem König und Vater der drei Völker des Schöpfers.

"Aarkarrax, wähle zwanzig deiner stärksten und kundigsten Bodenkämpfer aus und bewaffne sie mit Sonnenkeulen und Mondlichtschilden. Sie sollen den roten Sandsteinberg bewachen, den unser aller Schöpfer zu seiner Festung und hiesigen Herrschaftsstatt erwählt hat. Denn wir müssen damit rechnen, dass Skyllians verdorbene Brut diese Festung bestürmen will."

"So sollen die vergifteten Umsichbeißer fallen und vergehen", krächzte der schwarzgefiderte Cuarvir mit den vier silbernen Flügeln auf seinem dunkelblauen Einsatzumhang.

"So will es der Schöpfer", sagte Xanturack. Wir werden noch zwanzig Wolkenhüter hinabsenden, sobald wir die schuppige Brut von den anderen Landmassen getilgt haben", sprach der Viergoldschwingenträger weiter. Aarkarrax bestätigte es. Dann durfte der oberste Bodentruppenführer der Kriegerkaste aus der Burg, die niemand findet den Herrschersaal wieder verlassen.

"Glaubst du, dass der Krieg noch lange währen wird, mein Anvertrauter und Vater unseres Volkes?" fragte Aviara ihren Ehemann, nachdem alle seine Untergebenen ihre Befehle erhalten hatten und diese an die ihnen unterstellten weitergaben.

"Die Saat der Mitternacht wuchert schon so stark, dass nur der Schöpfer und die seinen wissen, ob sie noch ausgerottet werden kann und ob dies überhaupt der rechte Weg ist. Wir dürfen und müssen nur tun, was der Schöpfer uns sagt, meine Anvertraute", erwiderte Xanturack. Das musste ihr als Antwort genügen, dachte er. Denn er selbst würde es nie wagen, das Ende dieses schon seit mehreren Sonnenkreisen andauernden Krieges vorherzusehen. Auch wusste er nicht, ob das Volk, dem sein Schöpfer entstammte, diesen Krieg gewinnen oder darin vergehen würde, so dass am Ende nur sie hier oben übrigbleiben mochten, Hüter eines erhabenen Erbes, dessen Macht am Ende dessen Untergang wurde. Auch Aviara hütete sich vor irgendeiner laut ausgesprochenen Vermutung oder gar einem Zweifel am Denken und Handeln des Schöpfers. Doch sie bangte, was ihrem Volk noch bleiben mochte, wenn dieser selbst vergehen musste. Würden sie dann alle mit ihm sterben? Wozu sollte es dann noch lohnen, Xanturacks Kinder zu bekommen? Doch halt, diese verwerfliche Frage war schon fast Verrat am allwissenden Schöpfer. Sie musste diesen Gedanken sofort wieder aus ihrem Geist verbannen und darauf achten, ihn nie wieder dort einzulassen.

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Im Land mit dem glutheißen Herzen, am zwölften Tag des zweiten Blühzeitmondes im fünften Jahr des großen Krieges

Ashlohuganar hatte gehofft, dass mit dem Tod des Spähers die Gefahr für seine Artgenossen lange genug gebannt war, um diese über das ganze Land zu verbreiten. Doch als am frühen Morgen gleich fünf der geflügelten Vernichter über einer von den Kriegern des Erhabenen bewohnten Ansiedlung hinwegbrausten und unverzüglich jeden dort aufpickten, der nicht schnell genug unter die Erdoberfläche gelangte war dem ersten Verkünder des Erhabenen bewusst, dass die große Schlacht um dieses Land begonnen hatte. Zumindest gab es dank der Fähigkeit, schnell durch die Gefilde der Erde zu reisen, mittlerweile eintausend neue Krieger des Erhabenen. Doch einer der Blitze schleudernden Todesboten dessen, dessen Name verhasst war, reichte aus, um zehn von ihnen nacheinander zu erledigen. Die mit dem Wandlungsgift der Krieger veränderten Speere kamen nicht durch die blauen Lichtkugeln hindurch, und wenn einer der geflügelten einen der Krieger ergriff riss er ihn so schnell so weit nach oben, dass er fast aus der Reichweite von Ashlohuganars Stimme war. Auch konnten die so ergriffenen nicht mehr den ehrenvollen Opfertod sterben, weil die Gefiderten ihnen zu schnell das Leben entrissen. Auch erfuhr der erste Verkünder, dass der Erhabene selbst hundert seiner Krieger in ein sicheres Versteck geschafft hatte, um sie dort auf den Tag der Vergeltung warten zu lassen, wann auch immer dieser anbrechen mochte. Dies hatte dem ersten Verkünder schon zu denken gegeben. Denn die Krieger Sharanagots, der auch Skyllian hieß und von seinen Geschöpfen nur als "Erhabener" angesprochen werden durfte, waren nicht dazu gemacht, sich vor dem Feind zu verstecken oder gar zu warten. Doch der Erhabene mochte seine Gründe haben, warum er hundert seiner treuesten Krieger vor den Feinden verbarg. Es war nicht Ashlohuganars Recht, die Gedanken des Erhabenen zu hinterfragen oder gar für unrichtig zu halten.

"Lass mich unsere Schwestern aussenden, um ihre Blutsverwandten zu küssen, Ashlohuganar", sprach Ishgildaria zu ihrem Mitstreiter, als dieser sich mit ihr und den beiden anderen ersten Bodenbereitern des Erhabenen in einer Höhle am mitternächtigen Meeresstrand traf.

"Der Erhabene sagte mir und auch dir, dass unsere Schwestern noch in ihrem Versteck warten sollen, bis er weiß, wie wir diesen geflügelten Vernichtern widerstehen können. Um so größer wird dann seine überlegenheit erscheinen", erwiderte Ashlohuganar. Gooramashta, was in der Sprache des Erhabenen Große Streiterin hieß sah den ersten Verkünder verdrossen an. "Der Erhabene weiß um unsere Macht, nicht nur zu kämpfen, sondern auch die Sinne der eingestaltlichen Männer zu verwirren, damit wir sie um so leichter in unsere Reihen hineinküssen können. Warum lehnt er es ab, dass wir diese Macht in seinem Namen ausüben?"

"Er würde es wohl gerne tun. Doch unser aller König, der höchste Diener der alles endenden Nacht, verbietet das. Weibliche sollen der Vermehrung dienen, Männliche dem Kampfe, so die Worte des höchsten Königs."

"So soll es denn mein Schicksal sein, dass ich unsere Art weitervermehre, während ihr Männer die Feinde bekämpft und vernichtet", sagte Gooramashta. Im Moment erschien sie als scheinbar reine Menschenfrau mit goldbrauner Hautfarbe und bis auf die Schultern herabreichendem schwarzem Ringelhaar. Ashlohuganar machte eine verneinende Kopfbewegung. Auch er erschien gerade in seiner scheinbar harmlosen Menschengestalt.

"Niemand zweifelt die Befehle des Erhabenen oder gar den Willen des Königs aller Mitternächtigen an, Gooramashta. Hoffe, dass der Erhabene deine Auflehnung nicht aus der Ferne vernimmt und dich dafür straft!" zischte der erste Verkünder. Sholalgondan, der nicht in die reine Menschenform gewechselt war deutete nur nach oben. "Womöglich wird unsere starke Schwester schon sehr bald dazu beauftragt werden, unsere Daseinsart zu verbreiten, wenn diese schneller als jeder Laut durch die Luft jagenden Riesenvögel uns weiterhin derartig niedermachen. Denn schließlich hörst du wie ich die Schreie der Sterbenden, wenn wieder einer dieser Geflügelten eine Zuflucht von uns gefunden hat."

"Wahrlich höre ich die Schreie der Sterbenden, mein Kampfesbruder. Doch es gilt, den großen Schlag zu führen, die Vernichtung des Feindes selbst. Dann, wenn er sich am sichersten fühlt, werden wir ihn überwältigen und töten, bevor er seine gefiederten Vernichtungsboten herbeirufen kann."

"Ruf den Erhabenen und erbitte die Erlaubnis, dass wir nach neuen Gefährten suchen sollen", sagte Ishgildaria. Doch Ashlohuganar bedachte sie dafür nur mit einem warnenden Blick. "Ich werde mich hüten, den Erhabenen um etwas zu bitten, was er uns schon zweimal verboten hat."

Vier geistige Aufschreie gleichzeitig erschütterten die vier hier versammelten Krieger Skyllians. Vier der ihren waren soeben gestorben. "Sie greifen nicht mehr einzeln an", stellte Sholalgondan fest. Ashlohuganar bejahte es. Ebenso bestätigte ein neuerlicher vielfacher Todesschrei, dass die geflügelten Vernichter nun in großer Zahl über das Land mit dem glutheißen Herzen hinwegjagten.

"Warum können unsere Krieger nicht durch die Gefilde der großen Mutter entfliehen?" fragte Ishgildaria, als sie ebenfalls mitbekam, wie drei bei den männlichen Mitstreitern ausharrende Artgenossinnen starben, obwohl sie noch versuchten, durch die Erde zu entwischen.

"Das ewige Feuer im Schoß der Erde verdirbt das Gestein in der Tiefe. Nur durch festes Gestein können wir entkommen. Diese fliegenden Vernichter haben offenbar gelernt, dass sie das Gestein mit ihren Todesblitzen so heiß machen müssen wie das glutflüssige Zeug aus den Feuer und Glut ausspuckenden Bergen, um uns an der schnellen Flucht zu hindern", argwöhnte Ashlohuganar. Sholalgondan ballte seine Fäuste. "Dann muss diesem Windmacher jemand verraten haben, was wir können, bei der verzehrenden Glut des großen Himmelsfeuers."

Nein, muss keiner ihm verraten haben. Die gefiederten Vernichter hatten genug Zeit und Gelegenheit, unsere Stärken und Schwächen zu erkunden", schnaubte Ashlohuganar sehr verdrossen.

"Aber wie können wir dann gegen diese Brut gewinnen?" wollte Ishgildaria wissen.

"Indem wir so tun, als hätten die gegen uns gewonnen und warten, bis wir ..." Es krachte laut über ihnen. In dem Augenblick fühlten sie auch, wie etwas sie belauerndes über sie hinwegstrich. Es war, als taste etwas nach ihnen, versuchte sie zu ergreifen. Da wussten die vier, dass sie selbst gerade entdeckt worden waren. Diese geflügelten Todbringer vermochten also, sie aus der Ferne aufzuspüren. "Unter die Erde und ins neue Versteck!" befahl Ashlohuganar. Er ging mit bestem Beispiel voran, stampfte kurz auf den Boden und versank im festen Felsgestein. Die drei anderen ersten Krieger des erhabenen folgten keinen Atemzug später. Ishgildaria sah noch, wie die Decke über ihr immer heller erglühte. Dann versank sie selbst unter der harten Oberfläche des Felsenbodens.

Mit der Schnelle der im festen Gestein eilenden Stoßwellen jagten die flüchtenden erst immer tiefer und fühlten, wie um sie herum der Boden verformt und verdorben wurde. Auch merkten sie, dass sie, je tiefer sie in den Leib der Erde eindrangen, immer mehr von dessen innerem Feuer berührt wurden. Sie hatten schon längst herausgefunden, dass sie gerade einmal zweihundert eigene Körperlängen tief in die steinernen Gefilde der Erde hinabtauchen konnten, ohne verzögert zu werden. Noch tiefer zu tauchen würde sie immer langsamer machen und sie schwerfälliger die Kraft der großen Mutter einsaugen lassen. Ja und der Erhabene selbst hatte ihnen gesagt, dass sie nicht in die Bereiche eintauchen durften, wo es nur noch zähflüssiges oder gar flüssiges Gestein gab. Denn dann konnten sie sich nicht mehr bewegen und würden sehr schnell verbrennen, zusammengequetscht werden und ersticken.

Immerhin gelang es den Fliehenden, hoch genug für schnelle Reisen und tief genug um nicht entdeckt zu werden dahinzueilen, bis sie den abendlichen Meeresstrand erreichten und dort in einer anderen Höhle unterkamen. "Euch ist sicher bewusst, dass wir erst dann nicht mehr gejagt werden, wenn wir den Lenker dieser geflügelten Brut das Leben entrissen oder ihn zu einem von uns gemacht haben", sagte Ashlohuganar zu seinen Gefährten. Diese bejahten es. Dann rief Ashlohuganar nach dem Erhabenen, um weitere Anweisungen zu erfragen.

"Ich erwarte die Worte unseres Königs", war die Antwort, die der erhabene über viele tausend Tausendschritte hinweg übermittelte. "Wartet solange!"

"Deine Diener sterben in schneller Folge, erhabener. Sollen wir sie sterben lassen, um die Feinde in das Gefühl eines errungenen Sieges verfallen zu lassen?" fragte Ashlohuganar. "Ja, genau dies sollt ihr tun. Ach ja, befiehl denen, die noch nicht ergriffen wurden, den roten Berg anzugreifen. Unser Feind soll glauben, dass wir in einem letzten großen Aufgebot seine Festung erstürmen wollen!"

"So möge es sein", erwiderte Ashlohuganar gehorsam und gab diesen Befehl an die von ihm selbst in die Gemeinschaft des Erhabenen hineingeküssten Truppführer weiter. Sie mussten die Entscheidung erzwingen, so oder so.

Die nächsten Zwölfteltage vergingen mit Schreckensmeldungen und den Schreien weiterer Sterbender. Die geflügelten Vernichter waren nicht alleine. Um die rote Festung hatten sich Halblinge aus Vogel und Mensch aufgestellt, die mit Lanzen aus vielfacher Sonnenglut den Boden verflüssigten, um die sie angreifenden Diener des Erhabenen zu hindern, auf sie zuzugehen. Den rest erledigten die riesenhaften Vögel, auf denen weitere dieser geflügelten Halbmenschen ritten.

Als dann noch das Versteck der in die Gemeinschaft hineingeküssten Mitschwestern entdeckt wurde fühlte Ashlohuganar die Mischung aus Enttäuschung, Wut und Todesangst, die Ishgildaria und Gooramashta durchflutete. Zweihundert in Erwartungsschlaf erstarrte Schwestern starben, noch ehe sie wach genug waren, um zu entwischen. Andererseits schufen die noch auf der Oberfläche herumlaufenden durch den Kuss der Eingemeindung weitere neue Krieger. Doch weil das Land mit dem glutheißen Herzen so dünn bevölkert war und viele der hier lebenden Menschen von denen, die selbst die erhabene Kraft nutzen konnten, frühzeitig gewarnt wurden und sich auf in reißenden Strömen treibenden Flößen versteckten war es unmöglich, alle Menschen dieses Landes zu ihren Artgenossen zu machen.

Sieg! Ich habe einem der Halbvögel ... Aarg!" hörte Ashlohuganar die geistige Stimme von Shargurdan, einem seiner Truppenführer, bevor sein Freudenschrei zum Todesschrei wurde.

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zur selben Zeit an der erhabenen Festung Ailanorars

Aarkarrax' Leute umflogen mit eigenen Flügeln den roten Sandsteinberg, der von den hier lebenden Menschen als steinernes Vermächtnis ihrer Schöpfer verehrt wurde, wohl weil dieser Stein eine Menge der in der Erde und der Luft fließenden Ströme der erhabenen Kraft aufsaugen und in sich verdichten konnte. Ihr Schöpfer hatte diese Eigenschaft des roten Berges, den die ihn anbetenden Uluru nannten vor einigen Jahren entdeckt und mit einem anderen Träger der erhabenen Kraft, welcher der harten Erde verbunden war, ausgenutzt, um seine ganz eigene Festung zu bauen. Jetzt waren die Cuarviri und die Wolkenhüter hier, um diese von der uralten Schöpfungskraft und den Trägern der Kraft gemeinsam errichtete Festung zu verteidigen. Allerdings durften sie dabei nicht zulassen, dass die aufeinanderprallenden Kräfte den roten Felsen beschädigten. Obwohl einige der mit der erhabenen Kraft begüterten Flügellosen es missbilligten, dass Aarkarrax mit seinen vier Untertruppführern auf dem höchsten Punkt des roten Berges Stellung bezogen hatte gehorchte der Cuarvir dem Befehl seines Schöpfers. So konnte er aus etwa einhundertachtzig seiner Körperlängen höhe beobachten, wie immer wieder Schlangenkrieger Skyllians aus dem Boden fuhren. Allerdings kamen sie dabei nie näher als hundert Mannesschritte an den roten Felsen heran, als wenn dessen mächtige Kraft jeden durch die feste Erde eilenden abwies. Dadurch war es für die um den roten Berg aufgestellten Krieger ein leichtes, den Schlangenkriegern den Vormarsch zu verlegen und den Boden um sie herum in rotglühende Flüssigkeit zu verwandeln. Allerdings würden die Sonnenkeulen nicht für immer ihre volle Kraft entfalten. Doch das mussten sie auch nicht. Denn nun beschossen die Wolkenhüter den Boden um den Uluru mit ihren tödlichen Blitzen, die je nach Befehl ihrer Lenker alle Wärme aus einem getroffenen Ding oder Wesen entreißen oder es schlagartig bis zum zerkochen und verdampfen erhitzen konnten. Die Cuarviri hatten nur die Aufgabe, die Schlangenkrieger am Vormarsch zu hindern.

Unvermittelt ploppte es, und neben Aarkarrax erschien der Schöpfer selbst. Sofort ließ sich der schwarzgefiederte Truppenführer flach auf den Boden fallen, wobei er sich seinen spitzen Schnabel anstieß. Doch das musste er ertragen. Denn vor dem Schöpfer musste jeder seiner Art niedersinken.

"Steh wieder auf, schwarzgefiederter. Du bist zu wichtig, um nur herumzuliegen", sagte der Schöpfer, der in seiner hellblauen Kleidung und mit dem silbernen Dreifachrohr in der linken Hand dastand und die Gegend überblickte. "Ich wusste, dass jemand es dem Schlangenbändiger verraten hat, wo meine Festung ist. Er meint jetzt, mich damit zu beeindrucken, dass er einen Sturmangriff darauf andeutet. Gut, damit die mächtigen Zeichen und Kraftlinien im Felsen nicht beschädigt oder gar zerstört werden müssen wir auf dieses Spiel eingehen und hoffen, dass nicht anderswo neue vom Gift Skyllians verdorbene entstehen. Doch warum ich jetzt und hier vor dir stehe, Cuarvir Aarkarrax, ich weiß jetzt, wo meine geliebte, wenn auch unmäßig liebeshungrige Schwester ist. Es ist ihr etwas sehr schlimmes widerfahren, und ich hoffe, wir finden sie noch rechtzeitig, um sie vor allen Schrecken ihres neuen Schicksals zu bewahren. Da wir selbst hier zu tun haben befehle ich dir, mit einem der Wolkenhüter loszufliegen und dort zu suchen, wo ich dich hinschicke."

"Dein Wort ist mein Gebot, O mein Schöpfer", krächzte Aarkarrax, der zwar wieder auf seinen Füßen stand, aber sehr genau darauf achtete, nicht in ganzer Länge vor seinem Schöpfer aufzuragen.

"So rufe ich dir einen der Wolkenhüter, der dich dorthin tragen soll und ..." ssagte der Schöpfer. Da schlug ein fingerdünner Glutstrahl laut zischend auf Aarkarrax über und traf den gerade nicht im Schutz seines Mondschildes stehenden Truppenführer. Der tödliche Strahl durchdrang den Oberkörper des Cuarvirs und trat von Qualm und Dampf umweht aus dem Rücken des Truppführers aus. Dann zuckte ein weiterer Strahl durch die Luft. Der Schöpfer selbst war das Ziel. Doch der Strahl durchschlug die Gestalt des Schöpfers, ohne sie zu verletzen und erlosch. Keine zwei Herzschläge später stieß ein Wolkenhüter von oben herab und pickte etwas vom Boden auf. Die Gestalt des Schöpfers blickte sich um. Der graue Riesenvogel trug schneller als ein Stein fiel einen Schlangenkrieger nach oben, der im Flug zu einem kleinwüchsigen, dunkelhäutigen Mann wurde. Dann klappte der Schnabel des Vogels zweimal auf und zu, und der vom Boden gepickte fiel in mehrere Stücke zerhackt zu Boden. Da löste sich die Gestalt des Schöpfers in Nichts auf.

Ailanorar, der die Macht des falschen Standortes benutzt hatte, um sein Abbild anderswo erscheinen zu lassen als er selbst stand, kehrte im Schutze seines Tarnzaubers durch die nur von ihm zu öffnende Pforte in den Felsenberg zurück. Er wusste jetzt, was er noch zu tun hatte, bevor er seine eigene Schwester in diesem Berg einsperren würde. Denn töten durfte er sie genausowenig, wie jemand anderes ihn töten durfte.

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Zur gleichen Zeit am Ufer eines großen Sees im abendrichtungsteil des Landes der Rosahäutigen

Sharanagot, was dem Tod trotzender hieß, oder Skyllian, was Schlangenlenker hieß, hielt den von ihm selbst gefertigten Stab mit den aufgewickelten Schlangenkörpern sicher in einer Hand. Er rief in Gedanken nach seinem Herren, dem Diener der alles endenden Nacht. Denn genau jenen hatte er vor nicht einmal einem zwölfteltag laut aufschreien hören können. Endlich erhielt er über eine unbekannte Entfernung hinweg eine in seinem eigenen Geist hallende Antwort.

"Skyllian, mein treuer Diener. Hat mein kurzer Aufschrei dich so sehr erschreckt? Oder hast du gar gehofft, jemand hätte mich aus dieser Welt gestoßen und du könntest mich beerben?"

"Ich habe gehofft, mit euch weiterhin gegen unsere Feinde kämpfen zu können, mein König", erwiderte Skyllian mit schwer aufrechterhaltener Demut.

"Ich war gezwungen, meinen zerbrechlichen, dahinwelkenden Leib jetzt schon von mir abzuwerfen, um unseren Feinden den Sieg über mich zu verwehren", erwiderte die gedankliche Stimme des mächtigsten Königs der Mitternächtigen. "Doch nun bin ich mächtiger als jeder sterblicher. Denn ich habe meine machtvolle Heimstatt bezogen, aus der heraus ich mein Werk vollenden werde, und du sollst weiterhin meine Hand und meine Waffe sein, um dieses Ziel zu erreichen."

"Was gebietet Ihr, mein König?" fragte Skyllian.

"Verbreite deine nützlichen Krieger weiter über die Welt und verbünde sie mit meinen eigenen Dienern, den Kindern der Nacht. Aber hüte dich vor einer menschengroßen schwarzen Spinne. Sie kann nicht durch das Gift deiner Krieger gewandelt werden und würde dich gnadenlos verschlingen."

"Mein König, deine Erbfeinde haben zur letzten großen Schlacht gerufen. Das Land der Rosahäutigen ist bereits von meinen Kriegern ledig, und auch das zweigeteilte Land am abendrichtungsrand des Heimatmeeres wurde schon von dieser gefiederten Seuche überzogen."

"Wie, sowas wagst du mir zu sagen, wo ich gerade beschlossen habe, dass meine Macht nun unumschränkt die Welt umfangen soll? Du wagst es, mir zu verkünden, dass dein Versagen bevorsteht?" dröhnte die geistige Stimme des Königs in unbändiger Wut in Skyllians Bewusstsein.

"Nein, mein König. Mein Versagen steht nicht bevor. Denn ich habe eine Hundertschaft meiner mächtigen Krieger in Behältern der Überdauerung eingeschlossen, damit sie auf den Tag warten, an dem unsere Feinde vor falscher Siegesfreude trunken unaufmerksam sind", teilte Skyllian über die magische Geistesbrücke mit.

"Soso, vor falscher Siegesgewissheit trunken ..." lachte die Stimme des mächtigen Meisters. "Du sollst meine Vergeltung jetzt vollstrecken, nicht erst in Tagen oder gar Monden oder gar Sonnenkreisen. Wenn ich da selbst meine mächtige Heimstatt verlasse, um in anderer Gestalt auf meinen Herrschersitz zurückzukehren, will ich haben, dass die ganze Welt mir unterworfen ist. Einen Teil werden meine Kinder der nacht erfüllen, wenn eines von denen so treu ist, den Stein der Beherrschung länger bei sich zu tragen, damit mein darin wohnendes Selbst ihm Anweisungen erteilt. Den anderen Teil musst du erledigen, Skyllian. Wo die Nachtkinder die Nacht beherrschen, soll dein Hoheitsgebiet der Tag sein."

"So wird es geschehen, mein König", erwiderte Skyllian. Doch er wusste, dass es gerade nicht gut um seine Krieger stand. Denn auch das Land mit dem glutheißen Herzen wurde von den Riesenvögeln Ailanorars bestürmt. Womöglich musste er die hundert in Schlaf versenkten Krieger bald schon wieder aufwecken. Aber ganz sicher wollte er zusehen, dass seine nicht umgewandelten Helfer sich bereit hielten, den letzten großen Vergeltungsschlag zu führen. Was hatte ihm der König damals schon befohlen: "Und sollte mir die völlige Herrschaft über unser erhabenes Land verwehrt bleiben, so möge es mit allen seinen Völkern zu Grunde gehen!"

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Im Land mit dem glutheißen Herzen, am 20. Tag des zweiten Blühzeitmondes im fünften Jahr des großen Krieges

Es hatte ihm und Agolar im inneren Selbst weh getan. Doch er hatte es tun müssen. Immerhin würde sie nun keine Gefahr mehr für andere Menschen darstellen, auch wenn er sie genausowenig töten durfte, wie er selbst getötet werden durfte. Nun konnte er sich darauf konzentrieren, zumindest Iaxathans späte Rache zu vereiteln. Er wusste, dass der Handlanger des von Hass und Weltvernichtungswünschen verdorbenen irgendwo auf der Welt herumwanderte. Leider konnten seine Wolkenhüter ihn nicht so zuverlässig aufspüren wie dessen Geschöpfe, die sich immer wieder vermehrten wie die Köpfe der von Skyllians Vorgänger gezüchteten Vielköpfflerschlangen. Zumindest waren sie nicht mehr auf dem Erdteil der rosahäutigen Menschen und auch nicht auf dem der dunkelhäutigen Menschen. Sicher konnten alle Wolkenhüter nun herbeigerufen werden und würden sicher alle Schlangenmenschen töten. Doch Ailanorar musste sicherstellen, dass diese nicht von wo anders wiederkamen. Denn er traute Skyllian zu, dass er neue Krieger erschuf. Dieses Land mit seinen Bewohnern, die seit vielen zehntausend Sonnenkreisen hier wohnten beherbergte eine Menge uralter Zauberkraft, die von der Schöpfungskraft als solcher in die Welt gebracht worden war. Es gab unter den hier lebenden Volksgruppen mächtige Leute, Männer und Frauen, die diese uralten Kraftquellen erfassen und nutzen konnten. Sicher, Ströme von Erde, Feuer, Wind und Wasser flossen auch durch die anderen Erdteile und wechselwirkten mit dem Himmelsberg im Zentrum des erhabenen Landes der Großmächtigen. Doch mit diesem Land und seiner einzigartigen Tier- und Pflanzenwelt verband Ailanorar soetwas wie eine innige Liebe. Außerdem war dieser Erdteil von den anderen Hochkönigen zu seinem alleinigen Schutzgebiet erklärt worden. Also musste er es von der schuppigen Seuche Skyllians befreien und gegen neuerliche Übergriffe schützen.

Durch ein langes Gespräch mit Agolar, seinem Vater, wusste er, wie er die im roten Berge fließenden Ströme lenken konnte, um dieses so wichtige Ziel zu erreichen. Also ging er es an, jetzt, wo das Geschöpf, in dem seine geliebte Schwester Naaneavargia nun für alle Zeit gefangen sein würde, im tiefen Schlaf ruhte, trotz der ihm eigenen Unverwüstlichkeit gegen mächtige Zauber.

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Im Land mit dem glutheißen Herzen, am 21. Tag des zweiten Blühzeitmondes im fünften Jahr des großen Krieges

Ashlohuganar und seine drei Gefährten sahen einander an. Gerade eben waren wieder fünfzig ihrer Artgenossen getötet worden. Sicher, es gab noch an die eintausend von ihnen. Doch ihnen war klar, dass es nur noch eine Frage von wenigen Monden sein würde, bis die geflügelten Vernichter jeden Diener Skyllians in diesem Land getötet haben würden, der von den Kriegern des Erhabenen in ihre Reihen hineingeküsst worden war. Der Erhabene selbst hatte befohlen, nicht aufzugeben. Allerdings sollten die ersten vier versteckt bleiben, als nie verlöschender Funke der späten Rache.

"Wenn wir nicht herausfinden, wie wir die geflügelten Todbringer töten können werden wir die Schlacht um dieses Land genauso verlieren wie die Schlachten um die anderen Landmassen", sagte Ishgildaria. Ashlohuganar wusste, dass sie recht hatte. Doch offen aussprechen durfte er das auf gar keinen Fall, und sie auch nicht. Deshalb schlug er sie mit der flachen Hand ins Gesicht und brüllte sie an, dass sie Verrat beging, wenn sie den Erfolg ihres erhabenen Herren verleugnete. Allerdings hatte sich seine Hoffnung auch nicht erfüllt, dass die geflügelten Vernichter irgendwann davon ausgingen, alle Krieger des Erhabenen getötet zu haben und sich wieder dahin zurückzogen, von wo sie gekommen waren. Sie waren unerbittlich und jagten die Krieger des Erhabenen weiter.

"Seid mir ergeben, ein ganzes Leben!" klang unvermittelt eine sehr eindringliche, alle Winkel seines Geistes zum Widerhall bringende Gedankenstimme in Ashlohuganars Bewusstsein. Das war nicht die Stimme des Erhabenen. Oder doch? Er hörte nun nicht mehr nur "Sei mir verbunden!" sondern diese Botschaft. "Sei mir ergeben, dein ganzes Leben!" Ja, und diese Stimme verhieß neue Kraft und Zuversicht, wenn er sich ihr hingab. Auch die anderen hörten wohl diese Stimme, welche die bisherige im Hintergrund erklingende Stimme überlagerte. Die Forderung und Verlockung wurde immer stärker. So blieb ihnen nur, dorthin zu gehen, wo sie die Erfüllung finden würden.

Sie gingen davon aus, dass der Erhabene einen neuen Weg gefunden hatte, seine mächtigen Krieger zu rufen. Womöglich hatte er fern ab vom Land mit dem glutheißen Herzen einen großen Sieg errungen, vielleicht sogar mit Hilfe des ihnen allen gebietenden Königs der alles endenden Nacht.

Ohne sich groß abzusprechen tauchten die vier ersten Gesandten Skyllians auf diesem Erdteil unter den steinharten Boden jener Höhle, in der sie ausgeharrt hatten. Mit der im festen Gestein möglichen Stoßwellengeschwindigkeit jagten sie hundert ihrer Körperlängen unter der Oberfläche dahin. Die ihnen zuflüsternde Stimme wurde dabei immer lauter, ließ sich nun auch räumlich orten. Sie berichtigten ihren Reiseweg und hielten genau auf die Quelle der mächtigen Einflüsterung zu. "Sei mir ergeben, dein ganzes Leben!!" scholl die Stimme lauter und lauter in jedem der vier.

Sie fühlten die Nähe ihrer Artgenossen, die gerade in einem verbissenen, aussichtslosen Kampf versuchten, näher an die Festung Ailanorars heranzukommen. Dann gerieten sie in eine weitläufige Ansammlung unterirdischer Höhlen hinein. Sie fühlten, dass in den Wänden eine starke Kraft aus den tiefen der Erde floss und fühlten sich gleich davon erfrischt. "Er hat einen Weg gefunden, wie wir unter den Berg gelangen, meine Mitkämpfer", lachte Ashlohuganar, als er mit seinem Sinn für Standorte erfasste, dass sie nun genau unter dem roten Felsenberg sein mussten. Ashlohuganar rief den Erhabenen, um weitere Anweisungen zu erbitten. Doch seine Gedankenstimme hallte verzerrt aus allen Richtungen wider. Das durfte nicht sein. Der Erhabene musste erreicht werden.

"Sei mir ergeben, dein ganzes Leben!" klang die sie lockende Stimme noch lauter. Jetzt erkannte Ashlohuganar, dass es nicht die Stimme des Erhabenen sein konnte. Jemand anderes hatte ihn und die drei Gefährten hergelockt, wohl in eine vorbereitete Falle. Doch als er das dachte fühlte er schon, wie er sich vom Boden abstieß und mit der ihm eigenen Kraft in die rote Sandsteindecke eindrang und darin verschwand. Seine Gefährten folgten ihm unverzüglich. Er fühlte sie neben sich, während mit jeder wiederholten Aufforderung, ergeben zu sein, ein immer stärkerer Sog auf ihn wirkte. Er konnte seinen eigenen Weg nicht mehr bestimmen. Wie ein Stück Treibgut in einer starken Strömung wurde er dahingezogen, weiter nach oben. Dann prallte er auf etwas nachgiebiges, das ihn sofort völlig umschloss und vom Kopf bis zu den Füßen einschnürte und regelrecht zusammenfaltete. Er wollte noch den Erhabenen um Hilfe rufen. Doch er konnte nicht gegen die seine Gedanken überlagernde Stimme ankämpfen. "Sei mir ergeben, dein ganzes Leben!"

Ashlohuganar fühlte, wie die Verbindung zu seinen Gefährten abriss. Was ihn umschloss sperrte auch alle Gedanken aus, die von außen zu ihm durchdrangen. Selbst jene verhängnisvolle Botschaft wurde nun leiser, aber auch schneller und stieg in der Tonhöhe an. Er schaffte es gerade noch, einen letzten Atemzug zu tun. Dann konnte er nur noch ein schlagartig ansteigendes Schwirren im Kopf hören, bevor seine Sinne versagten. War das sein Tod? Er wusste es nicht.

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Zur Selben Zeit im verborgenen Haus Skyllians

Sein Herrscherstab erzitterte wie wild und sprühte blaue und grüne Funken. Skyllian oder auch Sharanagot ergriff den Stab, um im nächsten Moment von heftigen Kopfschmerzen gepeinigt zu werden. Es war, als bohre jemand ihm glühende Nadeln durch die Schädeldecke. Er musste den Stab loslassen. Dieser fiel auf den Boden. Noch einmal sprühte er blaue und grüne Funken. Dann lag er still da. Der Meister der Schlangenkrieger und treueste Diener Iaxathans blickte auf den von ihm geschaffenen Herrscherstab. Wieso hatte der sich ihm gerade verweigert? Niemand konnte diesen Stab gegen den Willen seines Schöpfers beeinflussen. Selbst Iaxathan, der mächtigste Hochkönig der Mitternächtigen, hatte es nicht geschafft, weil er, Skyllian, in den Stab einen Teil seines inneren Selbst eingewirkt hatte. Doch was war dann mit dem Stab geschehen?

Behutsam griff er wieder nach dem Stab, darauf gefasst, gleich wieder von unerträglichen Schmerzen gepeinigt zu werden. Doch diesmal geschah ihm nichts. Sein Schlangenstab erbebte leicht und erwärmte sich ein wenig. Das tat er immer, wenn er seinen Herrn und Schöpfer fühlte, wusste Skyllian. Er hob den Stab an und dachte einige der in der zauberkräftigen Sprache der Schlangen ersonnenen Befehle, um verschiedene Eigenschaften des Stabes zu prüfen. Es gelang ihm, alles damit zu bewirken, was er ihm eingeprägt hatte. Nur als er den Stab dazu bringen wollte, ihm die noch lebenden Schlangenkrieger zu zeigen blieb die gewünschte Wirkung aus. Er befahl erneut: "Verbinde mich mit dem nächsten der Krieger!" Doch offenbar gab es keinen solchen mehr, zumindest keinen, der noch wach war oder gar lebte. Er befahl: "Ertaste die Schlafenden Krieger!" Diesmal war es, als streichele er eine dieser hinterhältigen vierbeinigen Biester, die durch ihr Anschmiegeverhalten und ihr Geschnurre viele Menschen dazu verleiteten, sie zu mögen und ihnen zu Willen zu sein. Doch für ihn bedeutete es nichts anderes, als dass er die von ihm selbst in tiefen Schlaf gebannten Krieger ertastete. Dieses beruhigende Gefühl war vor allem dort so stark, als er den Stab in die Richtung hielt, in der jene zwei verbundenen Gewässer lagen, in deren Nähe er den alten versteinerten Wald entdeckt und in mehreren Monden langer Mühen als Versteck für hundert schlafende Krieger vorbereitet hatte. Doch sonst fand er keine schlafenden Krieger. Waren sie also alle tot, bis auf jene, die er vorsorglich in tiefen Schlaf versenkt hatte? Also hatte Ailanorars geflügelte Brut doch noch alle seine wachen Krieger gefunden und getötet. Das ängstigte und ärgerte ihn gleichermaßen. Denn das hieß, dass einer der geflügelten Vernichter hundert oder mehr seiner sich selbst vermehrenden Krieger aufwog. Nun, dann konnte er warten, bis sie nicht mehr daran dachten, dass es noch schlafende Krieger gab.

"O mein Herr und König, höchster Diener der alles endenden Nacht, dein demütiger Diener Skyllian ruft nach dir!" schickte Skyllian über den Schlangenstab einen Ruf an seinen Gebieter. Es dauerte mehr als zwanzig Atemzüge. Dann erfolgte die über Raum und Zeit hinwegklingende Antwort in seinem Bewusstsein:

"Willst du mir dein endgültiges Versagen eingestehen, Skyllian, den letzten deiner Fehler bereuen?"

"Mein Herr und König, nein, ich möchte euch verkünden, dass wir nun die große Schlacht beendet haben. In aufopferungsvollem Pflichtbewusstsein haben meine mächtigen Krieger die Feinde so sehr geschwächt, dass sie sich nicht mehr erholen können. Außerdem glauben diese nun, eine Erholung sei auch nicht mehr nötig, weil sie da selbst alle meine Krieger vernichtet zu haben glauben."

"So, tun sie das?" gedankenzischte Iaxathan. "Dann geh hin und erledige sie endgültig oder wage es niemals mehr, mich zu rufen. Ich habe noch andere treue Diener."

"Ich werde unsere Feinde erledigen, allen voran Ailanorar und seine Brut. Doch um dies zu tun müssen mindestens zwei Monde vergehen. Denn dann erst kann ich das verborgene Tor wieder aufstoßen, um die dahinter verborgenen Krieger in die Welt zurückzuschicken", erwiderte Skyllian und hoffte, dass sein Herr nicht mitbekam, wie hilflos er sich gerade fühlte und vor allem, dass er ihn aus lauter Hilflosigkeit heraus belog.

"Zwei Monde? Wieso zwei Monde?" fragte Iaxathan. Skyllian erwähnte einen Zauber, der diese Zeit brauchte, um sich wieder aufzufrischen, bevor er damit das erwähnte Tor auftun konnte.

"So seien dir diese zwei Monde gewährt. Doch sei erfolgreich, oder dein Geist wird nach dem Tod deines Leibes in mein Dasein einfließen und dort für alle Zeit gefangen und gefesselt weilen", drohte der oberste Herr der Mitternächtigen.

"Ich werde erfolgreich sein", versprach Skyllian und beendete die Verbindung. Dann legte er den Schlangenstab fort. Ein verkniffenes Grinsen überzog sein Gesicht. Er würde ganz sicher nicht von Iaxathans mächtigem Auge der Finsternis ergriffen werden. Dafür hatte er gesorgt, indem er den Schlangenstab so bezaubert hatte, dass dieser sein inneres Selbst in sich aufnahm, wenn sein Herz zu schlagen aufhörte. Dann würde der Stab zu Ogonar versetzt, Skyllians Schwestersohn und gelehrigem Schüler, dem er vieles, aber längst nicht alles seiner eigenen Künste beigebracht hatte. Ogonar würde dann sein Erbe sein und warten, bis einer kam, der die Sprache der Schlangen von Geburt an konnte. Diesem und nur diesem sollte Ogonar oder dessen Nachfahre den Stab dann aushändigen, damit dieser zusammen mit ihm, Skyllian, die schlafenden Krieger wieder aufwecken mochte, und zwar ohne vorher mit dem König der alles endenden Nacht in Verbindung getreten zu sein. Als lebender Mann war Skyllian der Macht Iaxathans fast schutzlos ausgeliefert. Doch wenn er einst durch seinen Tod die Macht seines Stabes vervielfachte und sein eigener Geist darin Halt fand konnte ihm keiner von Iaxathans Dienern etwas antun. Im Gegenteil, er konnte jeden, der ihm nicht genehm war, an seiner Stelle in Iaxathans Gefangenschaft verbannen. Zudem hatte er mittlerweile auch erfahren, dass der großmächtige König sich wohl eine gefährliche Feindin herangezogen hatte, die ihre Gunst genutzt und seinen Körper getötet hatte. Das mochte die Abneigung gegen machtvolle Frauen und weibliche Wesen noch verstärkt haben. Doch davon kam er auch nicht mehr aus seinem selbstgewählten Kerker frei. Ihm, Skyllian, würde die Zukunft gehören, so dachte er mit einer unverhohlenen Selbstsicherheit.

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In der Burg, die niemand finden kann, am 4. Tag des Eiszeitmondes 140 Jahre nach dem Untergang des erhabenen Landes Altaxarroi

Die letzten siebzig Sonnenkreise hatte Ailanorar damit zugebracht, das Erbe seines Volkes so behutsam er konnte in der Welt zu verbreiten. Auch andere, die die hinterhältige Zerstörung seiner Heimat überlebt und sich unter die Menschen der anderen Erdteile gemischt hatten, gaben ihr mächtiges Wissen so behutsam sie konnten weiter. Er wusste, dass mächtige Gegenstände in die Welt gebracht worden waren, wie Yanxothars Klinge oder der unleerbare Krug Aiondaras. Doch ebenso wusste er, dass auch Iaxathans Machtgegenstand irgendwo auf dieser erhabenen runden Welt versteckt war. Nicht wenige unverbesserliche Anhänger der Mitternächtigen hatten danach gesucht. Nur seine Wolkenhüter hatten verhindert, dass diese Unheilsjäger Erfolg hatten.

Als er dann vor zwanzig Sonnenkreisen erfahren hatte, dass Skyllian selbst bei einem Kampf mit einem gegnerischen Mitternachtsfolger getötet worden war hatte ihm das nur ein kurzes Lächeln abgerungen. Denn Skyllians mächtiger Schlangenstab war nicht aufzufinden gewesen. Offenbar hatte jener dunkle Zaubermeister darauf gehofft, diesen Stab für sich zu erbeuten. Tja, und dann hatte Ailanorar noch erfahren, dass Skyllian wohl noch mehr als fünfzig Krieger vor seinen Wolkenhütern verbergen konnte und diese irgendwo tief unter der Erde schliefen, bis jemand durch Zufall oder auf Grund einer Überlieferung dahinterkam, wie diese wieder aufzuwecken waren. Die Gefahr der beißwütigen Bestien war nicht getilgt, zumal diese den ebenso in der Welt umherjagenden Blutsaugern sicher ebenbürtig sein mochten.

Er fühlte es, dieses Stechen in seinen Lungen. Er wusste, dass die Gefilde der Luft bald seinen allerletzten Atemzug empfangen würden. Vielleicht hatte er noch einen ganzen Mond zeit, vielleicht auch nur noch einen Zwölfteltag. Wie dem auch sei, er war auf den Übergang vorbereitet. Er würde nicht über die Weltenbrücke gehen, sondern sein inneres Selbst mit seiner eigenen größten Schöpfungverschmelzen, dem Klangkunstwerkzeug, dass Ailanorars Stimme hieß.

"Wo immer die schlafenden Krieger sind, in das Land mit dem glutheißen Herzen gelangen sie nicht hinein, dafür habe ich gesorgt", dachte Ailanorar, während er teils belustigt, teils wehmütig an alles zurückdachte, was er in seinem langen Leben erreicht und erfahren hatte. Er dachte an seine Eltern, vor allem an Aimartia, die Tochter eines Meisters der Winde, deren Weg er gewählt hatte, während seine jüngere Schwester den Weg der Erdvertrauten gewählt hatte. Mit einem Gefühl aus Reue und Wollust dachte er daran, dass er sich darauf eingelassen hatte, mit ihr, Naaneavargia, immer wieder das Lager zu teilen. Dabei hatten sie natürlich darauf geachtet, dass dabei kein gemeinsames Kind entstand, denn das wäre unverzeihliche Blutschande gewesen. Er war damals sehr wütend gewesen, als er gehört hatte, was Iaxathan mit ihr angestellt hatte und hatte es diesem Finsterling mehr als gegönnt, dass er das Opfer seiner eigenen Machenschaften geworden war. Er dachte daran, dass er vier Krieger Skyllians in seiner ehemaligen roten Festung eingesperrt hatte. Deren Kraft verwob sich mit der machtvollen Kraft des besonderen Berges und hielt alle ihresgleichen davon ab, das Land mit dem glutheißen Herzen zu betreten. Das allein sah er als seinen größten Sieg über Iaxathan und dessen Handlanger Skyllian an, dass er herausgefunden hatte, wie er die Erdzauber der Schlangenkrieger in die Erdzauber des erhabenen Berges einflechten konnte. Zudem wurde der Berg von immer mehr Windgebundenen bewacht, die versucht hatten, in die verschlossenen Räume einzudringen, in denen seine Schwester im Überdauerungsschlaf ausharrte, solange niemand anderes diese Räume betrat. Wenn er seinen letzten Atemzug getan haben würde, so würde seine mächtige Flöte, die Stimme Ailanorars, in jenen Raum im inneren des Berges versetzt, in dem er selbst viele Tagesviertel seines Lebens mit Klangkunst und neuen Liedern des Windes zugebracht hatte. Naaneavargia würde kurz erwachen, wenn sein Selbst mit der silbernen Flöte dort eintraf. Doch er hatte ihr schon geraten, dass sie darauf aufpassen sollte, wollte sie nicht dauerhaft und dann unaufweckbar weiterschlafen, wenn sie schon nicht zu töten war.

"Mein Schöpfer, meine Kundschafter haben einen Diener jenes Kundigen ergriffen, der einst die Schlangenkrieger befehligt hat", sprach der Viergoldschwingenträger Garuschat der zweite zu ihm. Nur der Viergoldschwingenträger und seine Angetraute durften die Gemächer des Schöpfers betreten, ohne von ihm gerufen zu werden. Ailanorar setzte sich auf und fragte, was der Gefangene zu berichten wusste.

"Er erwähnte einen Blutsverwandten Skyllians, der den Herrscherstab von ihm erhalten haben soll, lange bevor er selbst starb, o mein Schöpfer", sagte der erst seit zehn Jahren als Vater der Himmelsburg herrschende Augilar, der bereits der zweite seines Namens war, seitdem der Schöpfer selbst geboten hatte, dass die Herrscher als "Bewahrer" und "Gewährer" benannt zu werden hatten, um das große Vermächtnis ihres Herrn und Schöpfers nicht zu vergessen.

"Hat der Gefangene den Namen des Blutsverwandten preisgegeben, Garuschat?" wollte Ailanorar wissen.

"Nein, hat er nicht. Als meine Angetraute ihn mit dem Blick der Durchdringung erforschen wollte setzte sein Herz aus und sein inneres Selbst entsprang dem Körper zu schnell, um es noch zu halten. Offenbar war er durch einen mächtigen Todesbann vor Verrat geschützt."

"Was sich so Schutz nennt", knurrte Ailanorar. Dann sagte er: "So befolgt mein Vermächtnis. Wenn ich von euch gegangen sein werde übergebt meine fleischliche Hülle der grünen Umhüllung, auf dass sie zu neuer Luft verwandelt wird! Meine Stimme wird auf meinen letzten Befehl hin an einen Ort reisen, an dem sie bleiben soll, bis jemand aus Furcht, die alten Krieger seien wiedererwacht, danach sucht und sie trotz aller Gefahren bergen kann, die dem Suchenden auflauern. Ihr werdet dann wohl von ihm oder ihr gerufen werden. Wer meine Stimme besitzt und ihre Lieder zu spielen vermag vertritt mich selbst und hat Befehlsgewalt, solange er oder sie euch nicht die Selbstvernichtung befiehlt. Meinen Nachkommen, die ich auf der Welt zurücklasse kündet nur, dass meine Stimme an einem sicheren Ort ist. Sie sollen ihre Lieder denen beibringen, die dafür aufnahmefähig sind. Doch meine Stimme selbst soll nur erhalten, wer euch benötigt, um die Schlangenkrieger zu bekämpfen."

"Ich höre und gehorche, o mein Schöpfer", sagte Garuschat der dritte.

"Wacht über die Welt. Falls noch wer wie dieser Skyllian erscheint oder gar der dunkle Hochkönig da selbst einen neuen Knecht gewinnt helft jenen, die gegen diese Bedrohung ankämpfen und beschützt meine Nachkommen, vor allem jene, die ich mit Yanxothars Sohnestochter gezeugt habe! Sie haben sein und mein Vermächtnis erhalten, die weiße Flamme der Rechtschaffenheit. Es könnte der Tag kommen, da sie entzündet wird. Dann ist euch geboten, dem Entfacher der Flamme zu helfen."

"Auch dies gelobe ich im Namen deines Volkes, o mein Schöpfer", sagte Garuschat. Ailanorar lächelte über sein vom hohen Alter zerfurchtes Gesicht. "Dann gebiete ich dir und deiner Gefährtin nun, mich alleine zu lassen. Ich wünsche, die nächsten Zwölfteltage all die Lieder nachzuspielen, die mich mein ganzes langes Leben lang erfreut und beschwingt haben. Wenn ihr keinen Ton mehr von mir hört, wartet einen halben Tag. Sollte ich euch in dieser Zeitspanne nicht rufen, so prüft nach, ob ich noch lebe oder nicht!"

"Ich befolge deine Gebote, o Mein Schöpfer, mein Leben für dich, o mein Schöpfer!" bekundete der König der geflügelten Diener.

"Ich danke dir für deine unverbrüchliche Treue und Gefolgschaft, mein treuer Gefährte", sagte Ailanorar. Dann sah er zu, wie Garuschat den Wohnraum verließ. Ailanorar nahm seinen Kraftausrichter und belegte die Tür mit einem Bann der Unaufsperrbarkeit, bis ein halber Tag nach seinem letzten Atemzug vergangen sein würde. Er kannte sehr viele Lieder, die er alle noch einmal spielen wollte und dabei in alle seine früheren Erlebnisse zurückwandern wollte. Nur das Lied des Herbeirufens würde er nicht noch einmal spielen.

So rein wie im Feuer geformtes Klangerz, weil der Zauber der klaren Töne dies bewirkte, ertönten seine Klangbilder, auch wenn er fühlte, dass er für manche Teile nicht mehr die nötige Kraft aufbringen konnte. Doch er spielte und dachte dabei an sein Leben, die Menschen, mit denen er es geteilt hatte, seine Geschöpfe, die er zum Nutzen aller Menschen hervorgebracht hatte, seine eigenen Kinder und Kindeskinder, die sein Wissen weitergeben und die Erhabenheit des alten Reiches in der Welt halten würden, auch ohne die in ihrem Turm eingeschlossenen Altmeister. Er dachte an Naaneavargia, seine leibliche Schwester und die Geliebte, die am besten gewusst hatte, wie sie ihm die größten Freuden bereiten konnte, wohl auch deshalb, weil er sich nicht immer gegen ihre Gabe des Gedankenhörens hatte verschließen können. Er spielte all die hundert langen Lieder, die ihn durch sein Leben begleitet hatten, bis er fühlte, wie sein Herz mit einem Rumpeln seinen Dienst versagte. Er schaffte es noch, die drei letzten Töne der gerade gespielten Weise herauszubringen. Dann war es vorbei. Er hatte mit wunderschönen Tönen all die letzte Atemluft in die Gefilde der Winde zurückgegeben. Er fühlte sich leicht und losgelöst, bis er einen blauen Lichtstrahl vor sich sah, der aus der bezauberten Flöte drang und ihn leitete. Er glitt ohne Schmerzen hinüber in jene von ihm selbst ersonnene Daseinsebene, in der er eins mit seiner silbernen Flöte wurde. Dies vollzog sich innerhalb eines Lidschlages. Als es vollbracht war verschwand die silberne Flöte aus den nun erkaltenden, schlaffen Händen ihres Erschaffers und Besitzers, um ohne Zeitverlust dorthin zu wechseln, wo sie verbleiben sollte, bis doch der Tag kommen mochte, an dem die Brut Skyllians wiedererwachen mochte. Er fühlte noch die geistige Nähe seiner Schwester, wie diese auch ihn fühlte. Sie würde ihn von nun an bewachen und jeden von ihm fernhalten, der oder die es nicht wert war, an ihn heranzukommen, ebenso wie die windgebundenen Daseinsformen, die den roten Berg von außen umkreisten.

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Vor dem Berg Uluru, viele hundert Sommer nach der großen Schlacht aus alter Zeit

"Und der Herr der Winde hat seine gefiderten Kämpfer hier versammelt, um gegen die Diener eines Schlangengottes zu kämpfen, Großvater Ilanuru?" fragte der kleine Junge, der bis dahin ganz aufmerksam den Geschichten seines Großvaters zugehört hatte. Dieser sah ihn an und deutete auf die hinter ihm in den roten Sandstein eingegrabenen Zeichnungen, die den Kampf von Eidechsenmännern mit geflügelten Kriegern zeigten. "Ja, mein kleiner Uruganu. So hat es mein Großvater mir einmal gesagt, als ich gerade so alt wie du war. Ob dieser Kampf zu den Schlachten der Mala und Cunia gehörte und so in der Schöpfungszeit selbst gekämpft wurde oder eine Folge von Streitigkeiten zwischen den Göttern war wusste er nicht mehr. Er wollte mir nur damit sagen, dass der Uluru nicht nur der mächtigste Berg unseres Landes ist, sondern dass er auch immer von den großen Mächten umlagert wird, den Schöpfern wie den Vernichtern. Doch solange er hier steht und über das Land wacht wird es auch uns geben, denn die letzten Eidechsenkrieger sind darin vergraben und halten die ab, die wie sie sind."

"Und was ist mit dem Windgott und den von ihm hier hingeschickten Geistern?" wollte der kleine Junge wissen.

"Es heißt, sie wachen darüber, das niemand unerwünschtes in die Höhlen des Uluru hineinfindet. Wer es doch wagt stirbt und wird dann selbst zu einem der Wächter des Windes und muss den anderen bei ihrer Wache helfen. Also komm niemals auf den Gedanken, an der verbotenen Wand hinaufzusteigen. Die Windgeister würden dich töten und zu einem der ihren machen", drohte der alte Mann und deutete in die Richtung, wo die verbotene Wand lag.

"Ja, und wer in die verbotenen Höhlen hineingeht den frisst die Götterspinne auf, richtig?" fragte der Junge seinen Großvater. Dieser machte eine bejahende Kopfbewegung. "Es heißt, es ist die wegen ihrer Unersättlichkeit in eine Spinne verwandelte Schwester des mächtigen Windkönigs selbst, die dazu verflucht ist, auf dessen geheimste Sachen aufzupassen. Ihr Name ist Naaneavargia, das in der Sprache der Geister und Götter "Die unersättliche" heißt. Doch sprich diesen Namen nicht in ihrer Nähe aus, willst du nicht ein schlimmes Schicksal erleiden, mein Junge! Als Spinne muss sie die Stimme des Windkönigs hüten, bis das Ende der Zeit gekommen ist oder ein Suchender, der sich von den Göttern die Erlaubnis geben ließ, in die Höhle vordringen muss, um die Stimme zum klingen zu bringen. Doch die Spinne wird auch ihn belauern und zu töten versuchen. Sie ist Ulurus Fluch. Auch deshalb darfst du niemals versuchen, in die verbotenen Höhlen hineinzugehen, Uruganu."

"Ich verspreche dir das, dass ich da nicht hochsteige, Großvater Ilinaru", erwiderte der gerade sieben Sommer alte Junge aus dem Stamm der Anangu.

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Tief im Massiv des Uluru, Ende April 2003 christlicher Zeitrechnung

Es war wie ein greller Blitz, der nicht von oben einschlug, sondern von einer Seite durch ihn hindurchschlug. Er fühlte ein schmerzhaftes Brennen im ganzen Körper und erkannte, dass er sich nicht bewegen konnte. So schnell wie der Schmerz ihn durchflutet hatte verklang dieser auch wieder. Nun fühlte er, dass er sich ein wenig bewegen konnte. Ja, und er hörte sogar ein schwaches Flüstern in seiner Nähe. Ja, er kannte die Stimmen. Es waren drei Stimmen, die wie er offenbar damit zu tun hatten, dass irgendwas schmerzvolles geschehen war. Je genauer er auf die anderen Stimmen hörte desto mehr fühlte er, wie neue Kraft in seinen Körper einströmte. Gleichzeitig meinte er, dass etwas ihn von oben niederdrückte und der Boden unter ihm langsam nachgab. Etwas schob ihn langsam nach unten. Er versuchte, sich zu bewegen, schaffte es nur sehr mühsam, seine Arme und Beine zu regen und seinen Kopf zu drehen. Langsam kehrten auch die letzten Gedanken und Erinnerungen zurück. Er war in eine Falle geraten. Jemand hatte ihn und seine Gefährten in den roten Sandsteinberg hineingelockt und dann ... irgendwie ... darin eingeschlossen. Das durfte doch eigentlich nicht gehen, wo er einer der unverwüstlichen Krieger war, die durch die Erde selbst unerschöpfliche Kraft bekamen. Doch wer immer das getan hatte musste mächtiger als sein erhabener Herr gewesen sein.

Er lauschte in sich und in die Ferne. Wo war die ständig in seinem Geist wispernde Stimme? Wo war der ständig wiederholte Befehl "Sei mir verbunden!" Er hörte ihn nicht. Hieß das, dass der Erhabene selbst entmachtet oder gar getötet war? Dann war er allein. Nein, die anderen drei waren noch da. Sie waren in seiner Nähe, dachten wie er daran, dass sie gerade in Gefangenschaft geraten waren. Doch offenbar hatte der Zauber, der sie hier festgesetzt hatte, nur wenige Augenblicke gehalten. In dieser kurzen Zeit konnte der erhabene Meister unmöglich erloschen sein. Außerdem wusste er, dass dessen Herrscherstab unzerstörbar war. Der würde auch noch in vielen tausend Sonnenkreisen seine Kraft haben. Doch er hörte nicht das ihn und alle die wie er waren bindende Gebot: "Sei mir verbunden!" Außer den langsam immer deutlicher werdenden Geistesregungen seiner Gefährten war nichts zu vernehmen, nicht einmal das Gefühl fremder Zauberei, wie er es kurz vor seiner Bewusstlosigkeit überdeutlich gespürt hatte. Es gab nur ihn und die drei anderen, Sholalgondan, Ishgildaria und Gooramashta

"Meine gefährten, hört ihr mich auch?" dachte er, denn sprechen konnte er wegen der sein Gesicht umschließenden Masse nicht.

"Ashlohuganar? Du bist auch wach? Was ist uns zugestoßen?" hörte er die Gedankenstimme von Ishgildaria.

"Wir wurden verraten und gefangengenommen, Ishgildaria. Jemand mächtiges hat mit unserem Feind einen Weg gefunden, uns festzusetzen", erwiderte Ashlohuganar. Darauf erwiederte Gooramashta:

"Ich höre kein Leben außer unserem. Wir sind hier ganz alleine. Die Kämpfer von uns und von ihm, der die Windmacht beherrscht hat, sind fort oder tot. Ich höre auch keine fremden Leben. Wer immer uns festsetzte hat alles Leben von uns fortgerissen, das wir an uns bringen könnten." Ashlohuganar zweifelte nicht an, dass die beiden Gefährtinnen richtig fühlten. Denn es war schon immer so gewesen, dass die weiblichen Daseinsgefährten fremdes Leben wesentlich besser erspüren konnten, wohl weil sie dazu da waren, es mit der eigenen Daseinsform zu verbinden.

"Ich kann mich nur schwer bewegen. Ich stecke in etwas fest, das nicht so hart ist aber sehr schwer zu bewegen ist", beklagte sich Sholalgondan.

"Dies empfinde ich genauso", bestätigte Ashlohuganar. "Aber ich höre auch die Stimme des Erhabenen nicht mehr. Sie ist verstummt. Wer immer uns einfing hat ihn zum schweigen gebracht, damit er uns nicht zurückrufen konnte. Tod dem, der dies vollbracht hat!"

"Sehr entschlossen", erwiderte die Gedankenstimme Ishgildarias mit einer Spur von Aufsässigkeit.

"Der Bann fällt von uns ab. Wir sind zu stark. Also müssen wir nur hier herauskriechen und können dann nach den Feinden suchen", gedankenknurrte Ashlohuganar. Gooramashta pflichtete ihm bei. "Wer immer das war hat unsere Mitgeschwister ausgelöscht. Vielleicht sind wir die einzigen, die noch auf der Welt sind."

"Was?" entfuhr es Ishgildaria. "Wir sind die vier letzten auf der Welt? Das ist schlimmer als von den grauen Todbringern des Windmeisters aufgepickt und zerhackt zu werden."

"Gemach, meine Schwester, lass uns erst mal aus diesem halbfesten Zeug freikommen. Immerhin sind wir noch mit der großen Mutter verbunden", erwiderte Gooramashta darauf.

"Ja, wir müssen freikommen. Nicht dass der Unhold, der uns festsetzte den Zauber noch einmal wirken kann", gedankenknurrte Ashlohuganar und strengte sich nun an, die ihn umschließende Masse zu durchdringen. Dabei fühlte er, wie er immer weiter nach unten geschoben wurde. Die starke Anziehung, die von der Erde selbst ausging, zog ihn immer weiter durch die zähe Masse. Immerhin fühlte er keinen Erstickungsanfall. Das hieß, seine Lebensvorgänge wurden aufrechterhalten.

"Kann einer von euch spüren, wo genau wir sind?" wollte Sholalgondan wissen. Ashlohuganar spannte seine Sinne an. Doch statt einer gleichförmigen Kraftausrichtung durch die Eisenweisekraft der Erde fühlte er ein ständiges Drehen und wabern, als würde jemand ihn im inneren einer in mehrere Richtungen zugleich schwingenden Kugel herumkullern. Er schaffte es nicht, die genaue Ausrichtung zu fühlen um seinen Standort zu erkennen.

"Alles dreht sich und wankt um mich, als wenn die mächtige Mutter Erde selbst von starken Kräften herumgestoßen würde."

"Ja, oder unsere eigene Wahrnehmung wurde gestört, um uns zu verwirren", erwiderte Ishgildaria. Das mochte durchaus sein. Die, welche sie hier eingesperrt hielten mochten ihnen damit jedes Orts- und Zeitgefühl rauben, um sie wehrlos zu halten oder für Befehle empfänglich zu machen. Deshalb gedankensprach Ashlohuganar: "Lasst euch nicht von den falschen Eindrücken verwirren. Wer immer uns festhält will uns schwächen. Wir dürfen nicht schwach werden."

"Wie du gebietest, erster Verkünder des Erhabenen", erwiderte Sholalgondan. Die zwei Mitschwestern antworteten nicht darauf.

"Ich will hier heraus. Beim alles verzehrenden Glutinneren des Himmelsfeuers. Ich muss frei sein. Ich will frei sein!" stemmte sich Ashlohuganar körperlich wie geistig gegen seine unerträgliche Lage. Tatsächlich schaffte er es, sich weiter durch die ihn umschließende Masse zu bewegen. Er fürchtete zwar einmal, ganz ganz tief im Bauch der Erde zu sein, wo nur noch halbflüssiges oder ganz flüssiges Gestein waren. Doch dann hätte er auch das Prickeln des ewigen Feuers spüren müssen, das versuchte, mit all seiner Hitze in ihn einzudringen. Aber wenn er schon die allgegenwärrtige Eisenweisekraft nicht so spürte wie es sein sollte, was war dann wirklich um ihn herum?

"Es gelingt, meine Gefährten. Wir können uns aus dem uns festhaltenden Zeug herauswinden", frohlockte Ashlohuganar. Er wusste zwar nicht, wie viel von diesem Zeug ihn weiterhin umschloss. Doch er war entschlossen, sich notfalls aus den tiefsten Höhlen unter der Erdoberfläche herauszuarbeiten.

"Wieso hören wir den Erhabenen und seinen Herrscherstab nicht mehr?" wollte Sholalgondan wissen.

"Das ist eine Frage, die ich zu gerne selbst beantwortet bekommen möchte. Doch wenn wir wirklich die letzten vier Geschöpfe dieser Welt sind, so werden wir wohl niemanden mehr finden, der uns diese Frage beantworten kann", gedankenknurrte Ashlohuganar.

"Dann ist erst einmal wichtig, dass wir uns befreien, um zu erkunden, ob es unsere Welt noch gibt", wandte Ishgildaria ein. Ashlohuganar bestätigte es murrend, denn diesen Vorschlag hätte eigentlich nur er machen dürfen. Offenbar empfand Wolkenlicht die vom Erhabenen bestimmte Rangordnung nicht mehr als bindend, weil sie alle ihn nicht mehr hörten. Falls er wahrhaftig erloschen war und sie nun die letzten ihrer Art oder überhaupt auf dieser Welt waren galt die Rangordnung auch nicht mehr. Dann würden es körperliche Stärke, Gewandtheit, Geistesfähigkeiten und Erfahrung bestimmen, wer sie anführte. Im Moment war er sich nicht sicher, ob er dann wirklich noch der Anführer bleiben würde, wo er wusste, wie schnell Gooramashta sein konnte und wie rege und willensstark Ishgildaria sein konnte. Im Grunde war er vom Erhabenen nur zum Anführer bestimmt worden, weil dieser im Namen des dunklen Königs keinem weiblichen Wesen die Befehlsgewalt zusprechen durfte. Der finstere König. Sollten sie ihn anrufen? Falls die Erzählungen von ihm stimmten konnte dieser nicht getötet werden und würde selbst im Tod noch mächtiger als jeder seiner Feinde sein. Doch den finsteren König durfte bis heute nur der Erhabene rufen und auch nur dann, wenn etwas wirklich bedeutsames anlag. Einfachen Dienern, niederen Kriegsknechten wie ihm würde der König kein Gehör schenken, im Gegenteil, er würde ihn womöglich von der Erde tilgen lassen, wenn er es wagte, ihn zu rufen. Bevor er starb wollte er aber noch aus dieser unerträglichen Masse freikommen.

So arbeitete er sich Stück für Stück weiter. Ein wenig half der von oben auf ihm liegende Druck. Was immer ihn umgab stieß ihn langsam weiter nach unten in Richtung der wirkenden Erdanziehungskraft. Er konnte nur hoffen, dass er nicht gleich in einem unterirdischen Feuermeer herauskommen und darin vergehen würde. Einem der Artgenossen, Sharkhaulantian, Todessänger, war genau das geschehen, als er im Land der vielen heißen Quellen und gelben Steine versucht hatte, wie tief er hinabstoßen konnte und dann unvermittelt in einer Kammer voller feuerflüssigem Gestein gelandet war. Ashlohuganar hatte seine gedanklichen Angs- und Todesschreie gehört. Deshalb wusste er, dass sie nicht beliebig tief in die Erde eindringen konnten. Womöglich hatte der Erhabene Sharkhaulantian auch deshalb zu diesem tödlichen Vorstoß getrieben, um den anderen zu zeigen, wie gefährlich es war, immer tiefer in die Erde einzutauchen. Falls der Erhabene noch lebte wollte Ashlohuganar ihn auch nicht fragen, weil dies unangebrachte Neugier und Vermessenheit war.

Immer weiter schob er sich nach unten, meinte, in einer Mischung aus Sand und Wasser zu schwimmen, sich durch einen Sumpf zu bewegen, nur nicht nach vorne, sondern immer weiter nach unten. Das um ihn herum taumelnde und kullernde Kräftefeld der irdischen Eisenfangkraft tat sein übriges, ihn Raum- und Zeit vergessen zu lassen. Draußen konnte es Tag oder Nacht sein, Blühzeit oder Kaltzeit. Er wusste es nicht mehr zu sagen, und auch diese Ungewissheit trieb ihn, sich noch entschlossener aus dieser Masse herauszuarbeiten. Wenn er den erwischte, der ihn dort hineingestopft und ohnmächtig gemacht hatte würde er ihm nicht den Kuss der Einberufung geben, sondern ihn Glied für Glied auseinandernehmen oder ihn kopfüber selbst in eine zähe Masse stopfen, auch wenn er oder sie dann ersticken würde.

Die Verbissenheit, die Anstrengung und die Wut auf den oder die, welcher ihn in diese Lage gebracht hatte waren so groß, dass er vom plötzlichen Nachlassen des Widerstandes überrascht wurde und erschrak. Er fühlte, wie etwas ihn mit einem letzten Ruck in eine Leere hineinstieß und hörte ein steinartiges Knirschen und rasseln, dann ploppte es, und er fiel in die Tiefe. Der Schreck über den so unverhofften Fall lähmte ihn. So landete er ziemlich unsanft auf hartem Boden, federte davon zurück und landete noch einmal federnd. Dann blieb er liegen. In einigen dutzend Schritten entfernung knirschte es erst. Dann ploppte es. Er hörte einen kurzen Aufschrei. Dann plumpste etwas hinter ihm auf den Boden. "Bei der verzehrenden Glut im Bauch von Himmelsfeuer!" hörte er Sholalgondan fluchen. Dann knirschte, rasselte und ploppte es noch einmal, und mit einem kurzen Kiekser landete Ishgildaria in dieser unterirdischen Kammer oder Höhle. Schließlich entfiel auch noch Gooramashta der unerträglichen Masse und landete wohl hundert Schritte von Ashlohuganar entfernt auf dem Boden.

"Heh, das ist ja eine große Höhle und .... Brrrrrrr!!" Ashlohuganar wollte die Gefährtin schon fragen, was sie meinte, als er es auch fühlte. Es war wie ein durch alle seine Glieder und inneren Körperteile jagendes Gemisch aus Feuer und Eis. Gleichzeitig meinte er, dass das bis dahin um ihn herum trudelnde und kullernde Kräftefeld erbebte und dann völlig starr um ihn herum verharrte. Jetzt fühlte es sich wieder an wie die allgegenwärtige Eisenweisekraft, welche die Erde umfloss und die eisernen Wegezeiger der Schiffsleute auf Mitternacht oder Mittag ausrichtete.

"Wir sind unter dem roten Berg", stellte Ashlohuganar fest. Dann fühlte er, wie die drei anderen auf ihn zukamen. Seine in dieser Gestalt gespaltene Zunge glitt aus seinem spitzzähnigen Mund und schmeckte die ihn umgebende Luft. Sofort strömten die Eindrücke von altem Gestein und Wasserdampf in sein Gehirn. Doch da war noch was, der Geschmack von lebenden Körpern und was, das er so bisher noch nicht empfunden hatte.

"Was uns in die Falle hineingerissen hat musste uns wieder freigeben. Wir sind zu stark dafür gewesen", freute sich Sholalgondan, als er den bisherigen Anführer erreichte. Dann schien auch er irgendwie von was gefesselt zu sein, das nicht seinen Körper festhielt.

"Ja, wir sind stark", säuselte Ishgildaria. Sie stand gerade nahe bei Ashlohuganar. Er sah, dass auch ihre Zunge die Umgebung schmeckte. Dabei fühlte er eine bis dahin unbekannte Hingezogenheit zu ihr. Er wollte sie berühren, schmecken, umschlingen und mit ihr eins sein. Wahrscheinlich hatte sie seine unbekannten Wünsche gehört. Denn sie glitt mit sehr einladend ausladenden Bewegungen an ihn heran, streckte ihre biegsamen starken Arme nach ihm aus ... Dann verloren beide den Sinn für ihre Umgebung.

Dass auch Gooramashta und Sholalgondan aufeinandergetroffen waren vermutete der in Wogen unbekannter aber sehr willkommener Gefühle treibende Ashlohuganar nur, weil er trotz der immer leidenschaftlicheren Bewegungen, Geräusche und Gerüche seiner ihn umschlingenden und an sich haltenden Gefährtin Geräusche von Anstrengung aber auch immer stärkerer Lust hörte. Doch weil er selbst sich immer tiefer im wild wogenden Meer zweier sich umschlingender Körper und miteinander verschmelzender Sinne verlor achtete er nicht darauf. Kein Erhabener, keine Stimme des Meisters brachte ihn und sie auseinander. Uralte, durch die Wandlung zu Kriegern des Erhabenen unterdrückte Begierden brachen nun um ein vielfaches stärker hervor und ließn die vier gerade erst aus ihrer Gefangenschaft entkommenen alles um sich her vergessen.

Wie viel Zeit vergangen war wusste keiner der vier nachher zu sagen. Sicher war nur, dass Ishgildaria und Ashlohuganar sich nebeneinander auf dem Boden liegend wiederfanden und nur die aus dem Boden in sie einfließende Kraft die völlige Erschöpfung verdrängte, die er kurz nach der Loslösung von ihr gefühlt hatte. Er erinnerte sich, dass er als einfacher junger Mann schon einmal dieses so herrliche Erlebnis mit einer jungen Frau gehabt hatte. Doch gegen das gerade erlebte war diese erste Beilagererfahrung ein völlig langweiliges Spiel kleiner Kinder gewesen. Außerdem kam er nicht dazu, sich noch mehr Gedanken um das gerade überstandene zu machen. Denn unvermittelt warf sich etwas großes, geschmeidiges über ihn und klammerte sich mit biegsamen Armen an ihm fest. Dann fühlte und schmeckte er, dass es Gooramashta war, die ihn nun an sich gezogen hatte. Er dachte keinen Augenblick daran, dass er gerade erst mit Ishgildaria vereint gewesen war. Denn Gooramashta forderte nun von ihm, was Ishgildaria schon von ihm bekommen hatte. Das einzige, was er noch von seiner Umgebung mitbekam war, dass Ishgildaria sich wohl Sholalgondan zugewandt und sich mit ihm zusammengetan hatte.

Erneut wusste keiner, wie viel Zeit vergangen war, bis die zweite Vereinigung beendet war. Endlich konnten sie alle wieder klar denken. Gooramashta fand als erste Worte: "Offenbar hatten wir vier es sehr nötig, miteinander eins zu werden. Wusste nicht, dass das in dieser Gestalt so überwältigend schön ist."

"O ja, meine liebe Mitschwester, und du hast den, den ich als zweiten hatte sehr gut eingestimmt", hörte Ashlohuganar Ishgildaria schnurren. Dann hörte er ein eher albernes Kichern der beiden Mitschwestern, während er darüber nachdachte, was das gerade eben sollte. Sicher, sie waren zwei männliche und zwei weibliche Artgenossen. Doch hatte der Erhabene ihnen nicht gesagt, dass es nur eine Form der Vermehrung für sie gab, den Kuss der Einberufung? Wieso war das hier dann gerade geschehen?

"Irgendwie fühle ich mich jetzt sehr satt, als wenn ich dabei ein halbes Schwein aufgegessen hätte", meinte Ishgildaria. "Das fühl ich genauso, Schwester Ishgildaria. Kann sein, dass wir jetzt Kinder in uns tragen, die ganz schnell ausreifen und dann hier in dieser Höhle aus uns rausgedrückt werden müssen."

"Das kann nicht sein. Wir können keine eigenen Kinder machen", erregte sich Sholalgondan. "Der erhabene hat uns gesagt, dass wir nur noch durch den Kuss der Einberufung neue von uns machen können und das am besten geht, wenn jeder Krieger nur Männer und Jungen küsst und jede Kriegerin nur Frauen und Mädchen."

"Sholi, so wie wir zwei und dann du und Ishi es miteinander getrieben haben können wir sicher auch kleine Krabbelkinder machen", sagte Gooramashta, die immer noch neben Ashlohuganar lag.

"Vielleicht ist das auch gut so, wenn wir die einzigen noch denkenden Wesen auf der Welt sind", sagte der bisherige Truppführer, der jedoch jede Vorrangstellung verloren hatte, seitdem Ishgildaria sich über ihn hergemachtund er sie an sich gezogen hatte.

"Vielleicht kriegen wir keine lebenden Kinder, sondern legen Eier wie denkunfähige beinlose Kriechtiere", vermutete Ishgildaria. Sholalgondan sagte dann: "Aber ich fütter keine plärrigen Kleinlinge durch, dass das mal verstanden ist."

"Gefährten, es ist nicht zu verdrängen, dass wir gerade die ersten unserer Art waren, die sich gepaart haben wie niedere Tiere. Das mag daran liegen, dass wir den erhabenen Meister nicht hören können, der uns davon abgehalten hätte. Denn eines sollte vor allem euch beiden klar sein, Ishgildaria und Gooramashta: Wenn Sholalgondan und ich euch befruchtet haben, dann seid ihr durch die in euch aufkeimende Brut so oder so erst einmal eingeschränkt, ob ihr lebende Junge in euch herantragt oder einen Haufen harter oder weicher Eier ausstoßen müsst. Ich empfinde zwar eine gewisse Verwirrtheit wegen dem, was wir gerade miteinander getan haben. Aber ich kann es seltsamerweise nicht bereuen, weil das einfach zu gut getan hat und weil ich in mir das Gefühl habe, dass das von mir verlangt wurde."

"Wie auch immer, wir müssen uns ernähren, ob die zwei Schwestern jetzt unsere Jungen kriegen oder nicht", sagte Sholalgondan. Die zwei Weiblichen bejahten es. Doch dann meinte Ishgildaria: "Vielleicht wirkt die Kraft der Erde noch auf uns, dass wir durch die Kraft durch sie fließender Leben satt werden. Oder hat einer oder eine von euch schon was mit dem Mund gegessen wie gewöhnliche Eingestaltler?" Die beiden Männlichen verneinten es. Unverzüglich probierte es Ashlohuganar aus, indem er die Zunge an eine Wand legte. Sofort fühlte er, wie neue Lebenskraft in ihn hineinschoss, bis es ihn so sehr schmerzte, dass er seine Zunge von der Wand lösen musste. Jedenfalls fühlte er sich nicht hungrig oder schwach. Er bekam noch mit, wie die zwei Mitschwestern sich ebenfalls am scheinbar leblosen Stein mit neuer Kraft aufluden. Dann meinte Ishgildaria: "O, ich fühle, dass etwas in mir immer schwerer nach unten drückt. Ich muss einen kleinen Raum suchen." Sprach's und eilte mit weit ausgreifenden Schritten an den anderen vorbei zu einem Abzweig. Wegen ihrer Nacht- und Wärmesichtfähigkeit war die völlig dunkle Höhle für sie kein Hindernis. Auch Gooramashta fühlte wohl ein wachsendes Drängen und suchte ebenfalls einen kleineren Raum auf. Dann hörten die beiden Männlichen, die sich verstört ansahen, ein wiederkehrendes Keuchen und Schmatzen, Ächzen und Klatschen.

"Die legen wirklich Eier", stöhnte Sholalgondan. "wäre dir ein lautstark plärrender Kleinling lieber, der einen halben Tag lang den Schoß seiner Mutter aufspanntt, um herauszukommen?" fragte Ashlohuganar. Sein Gefährte verneinte das.

"Ui, wusste nicht, dass wir zwei so derartig fruchtbar sind", keuchte Gooramashta nach einer ungewissen Zeit. "Jede von uns hat dreißig glibberige weiße Kugeln aus sich rausgedrückt, aus denen vielleicht mal kleine Skyllianri werden, wenn wir auch noch wissen, wie wir die ausbrüten müssen."

"Vielleicht sollten wir diese Brut auch einfach verderben lassen, um weiter frei im Namen des Erhabenen zu handeln", brummelte Ashlohuganar. Da schoss eine schlanke Gestalt auf ihn zu. Im nächsten Augenblick traf ihn eine mit großer Kraft geschwungene flache Hand voll im Gesicht. "Das sind meine und auch deine Kinder, Ashlohuganar. Wenn ich weiß, was die brauchen, kriegen die das. Und wenn ich dich an die verfüttern muss, damit sie richtig leben können", fauchte Gooramashta, und Ishgildaria stand auch so dicht vor ihm, dass sie ihn ebenfalls mit einem heftigen Schlag treffen konnte, wenn sie das wollte. Ashlohuganar starrte die zwei Mitschwestern an, zwischen deren beinen noch ein Rest einer schleimigen Flüssigkeit klebte. Dann sagte er: "Wenn wir nicht wissen, wie wir die Brut am Leben halten war das gerade ein Verrat gegen den Befehl des Erhabenen, mich als euren Anführer zu wertschätzen und anzuerkennen", stieß er aus. Darauf stießen die zwei Mitschwestern jenes kehlige Fauchen aus, das bei gewöhnlichen Menschen ein Lachen sein mochte. Dann zischte Ishgildaria in der Sprache der beinlosen Wesen: "Etwas von dir ist in mich hineingelangt und auch in Gooramashta und wurde gerade von uns wieder herausgedrückt. Deine Wertschätzung liegt nun in der kleinen Steinkammer auf den zusammengelegten Steinen."

"Wir sollten uns umsehen, ob wir wirklich alleine hier sind. Wenn Feinde in der Nähe sind wird eure Brut nicht überleben", sagte Ashlohuganar.

"Ich fühle keine Feindschaft in der Nähe. Aber ich höre auch den Erhabenen nicht mehr. Er ist wirklich nicht da oder nicht mehr da", erwiderte Ishgildaria. Dann fuhr sie erneut ihre Zunge aus und schmeckte die Umgebung. "Einige Hundertschritt von hier ist ein weiterer Abzweig, von da aus weht ein wenig Wind von draußen. Kann sein, dass es dort an die Oberfläche geht. Ihr zwei geht zuerst und erkundet das, wir bewachen unsere Eier!"

"Hier bin immer noch ich ..." Klatsch, Ashlohuganar bekam noch einmal einen heftigen Schlag ins Gesicht, diesmal aber mit der geballten Faust. "Ihr geht da raus und erkundet das, oder ich verfütter dich wirklich an deine und meine Kinder", zischte Gooramashta.

"Mütter sind die gefährlichsten Raubtiere auf der ganzen Welt", gedankensprach Sholalgondan. Die zwei Mitschwestern zischten mit hörbaren Stimmen: "Das habe ich gehört." So blieb den zwei möglichen Kindsvätern nichts anderes, als die Umgebung zu erkunden, um sicherzustellen, dass nichts und niemand dem so unverhofft entstandenen Gelege zu nahe kam, der oder die nicht selbst daran verfüttert werden sollte.

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In der Halle der Altmeister von Altaxarroi, zur Zeit des Erwachens der vier Gefangenen

Iaighedona lachte laut, als sie erfasste, was sich weit von Khalakatan entfernt zutrug. Ihre Zwillingsschwester wollte wissen, was es so erheiterndes zu sehen und zu hören gebe. Als sie es dann wusste musste auch sie lachen. "Das wird ganz sicher sehr erheiternd, wenn diese vier in dieser Zeit gestranddeten Kriechlinge Skyllians ergründen, dass es sie eigentlich nicht mehr geben dürfte und dass Iaxathans Wasserträger längst mit seinem Herrscherstab in den tiefen des Weltmeeres zerflossen ist. Na, meine liebe Wurfschwester, sollen wir mit den anderen Mitternächtigen eine Wette machen, ob die vier aus ihrer Zeit herausgefallenen diese Welt doch noch in ein großes Schlangennest verwandeln, sich wieder einbuddeln und lieber weiterschlafen oder sich den heute lebenden Mitternächtigen als Diener anbiedern, weil sie das Dienen nicht lassen können?"

Kaliamadra, meine geliebte Zwillingsschwester, da die beiden Weibchen mal eben im Vorbeigehen die zwei Männchen vollständig um ihren Samen erleichtert haben und mal eben sechzig frische Eier gelegt haben biete ich an, dass sie eine ganz eigene Volksgruppe ohne Unterwerfung unter einen neuen Lenker bilden und die jetztzeitigen Wesen erleben werden, wie mächtig selbstständig handelnde Skyllianri sind, noch dazu, wenn die aus sich selbst heraus Nachkommen kriegen. Am Ende teilen die sich die Welt mit der sehr erheiternden Schattenkönigin und bedrohen die selbsternannte Göttin der Langzähne nach der Losung: "Gebt ab oder lebt ab!" Ich nehme deine Wette an, Iaighedona."

"Und es wird ganz sicher sehr aufregend, wie die sich bereits als Herren und Herrinnen der Welt darstellenden mit dieser neuen Macht zurechtkommen", sagte Iaighedona. "Aber in Ordnung, die Wette gilt. Worum geht es eigentlich?"

"Wer gewinnt darf den ersten Suchenden, der nach wahrer Erkenntnis strebt, auf ihr Lager locken. Wer verliert muss ihn sogar als eigenes Kind neu austragen, wie es Madrashmironda oder Ianshira meinten, tun zu müssen."

"Gut, gilt! Ich wette dann, dass die vier Gestrandeten sich einen neuen Meister suchen, weil es in ihrem Blut strömt, jemandem zu dienen", sagte Kaliamadra. Iaighedona grinste ihre Zwillingsschwester nur an.

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In den Höhlen unter Ailanorars früherer Festung, wenige Tagesviertel nach dem Erwachen der letzten Skyllianri

Ashlohuganar staunte, dass sie in einem Geflecht aus so vielen Kammern und Gängen herausgekommen waren. Hier unten ließen sich ganze Kriegstruppen verbergen, ohne dass der Feind was davon mitbekam. Die der Erde verbundenen Geschöpfe fühlten sogleich, dass in einigen Gängen Ströme aus überirdischer Kraft durch die Wände und den Boden flossen. Anderswo waren die Gänge und Kammern völlig unbelebt. Womöglich hatte hier unten noch kein Mensch und auch kein Wesen wie die zwei Skyllianri einen Fuß hingesetzt. Ihr Richtungssinn als auch der überempfindliche Geschmacksinn ihrer gespaltenen Zungen verrieten ihnen, wo sie hingehen mussten, wenn sie der Erdoberfläche nahekommen wollten. Dabei fühlten sie auch, dass weiter über ihnen die unhörbaren Regungen fühlender Wesen abliefen. Sie waren also nicht die letzten lebenden Wesen auf der Welt. Da sie nicht die Gedanken von üblichen Menschen hören konnten wussten die beiden Erkunder nur, dass dort oben Menschen oder menschengleiche Wesen lebten. Sie gingen davon aus, dass diese womöglich wussten, dass unter dem roten Berg vier Gefangene versteckt waren. Also war es günstiger, jetzt noch nicht hinaufzugehen. Denn am Ende mochten jene Feinde auf sie warten, welche die geflügelten Todbringer lenkten. Außerdem würden die zwei von ihnen befruchteten Weiblichen darauf bestehen, die ausgelegte Brut zu schützen. Wenn die zwei Männlichen beim Versuch starben, die Außenwelt zu erforschen, dann waren die zwei Weiblichen der Vergeltung der eingestaltlichen Menschen ausgeliefert, auch wenn die Skyllianri an sich sehr widerstandsfähig und wehrhaft waren und zwei Mütter noch gefährlicher sein mochten als zehn männliche Krieger.

"Denkst du, dass unsere Überwinder es mitbekommen haben, dass wir entkommen sind?" wollte Sholalgondan wissen. Ashlohuganar deutete nach oben und sagte: "Dann hätten sie längst einen Trupp von Kämpfern zu uns hinuntergeschickt oder warten mit den grauen Todbringervögeln dort oben auf uns. So oder so sollten wir nicht von uns aus da hinaufgehen. Wir warten ab, ob von denen welche zu uns herunterkommen."

"Ja, das erscheint mir schlau", sagte Sholalgondan.

Da der Boden für sie gut zu durchdringen war eilten sie auf ihre schnellste Weise zurück in den Höhlenbereich, wo die zwei Mitschwestern die ausgelegten Eier bewachten. "Also, wir haben fünf schmale Durchlässe gefunden, die wir nutzen könnten, um hinauszugelangen. Doch dort oben sind zu viele denkende Wesen. Womöglich ist es dort gerade Tag."

"Wieso sind da oben denkende Wesen? Ich dachte, wir hätten nichts von dort gespürt", erwiderte Ishgildaria. Dann lauschte sie angestrengt und reckte ihren rechten Arm nach oben. "Ja, dort oben sind eingestaltliche Wesen. Es kann eine Truppe Feinde sein, die uns bewachen und bei einem Fluchtversuch vernichten sollen. Es können aber auch arglose Einwohner einer Siedlung sein, die um den roten Berg herum gegründet wurde. Denn mittlerweile denke ich, dass wir nicht nur einen Tag hier unten eingesperrt waren."

"Augenblick mal. Wir sind von dieser vertückten Zauberkraft in den Stein hineingesaugt und dort erstarrt worden. Dann kam jener unsichtbare Weckblitz und wir konnten uns mit Mühe aus dem Stein herauswinden", sagte Sholalgondan. Gooramashta sah den einen ihrer zwei Begatter an und sagte:

"Ishi und ich haben während ihr durch die Gänge und Kammern gezogen seid einige Untersuchungen gemacht. Dabei haben wir erkannt, dass der rote Berg uns mehr oder weniger von sich aus wieder ausgespien hat. Wir haben es nur durch unsere Körperbewegungen beschleunigt, wie ein sich aus dem Mutterleib herausdrehendes Kind seine Geburt erleichtern kann. Doch wenn wir erst in den Stein eingesaugt und darin verbacken wurden, ohne zu ersticken, so ging dies nur, wenn unsere Körpervorgänge ebenfalls erstarrten. Das kann einen Tag vorgehalten haben oder mehrere tausend Sonnen bestanden haben. Dann ist etwas durch unseren Kerker gefahren, dass uns aufgeweckt und die Fesseln in ihr Gegenteil umgekehrt hat oder besser, uns zu gegen die festhaltende Kraft entgegenwirkenden Kraftquellen gemacht hat."

"Soso, und das erzählt eine, die bis vor einem halben Sonnenkreis nicht einmal wusste, wie die Ströme von Erde und Wind erspürt und gelenkt werden können", sagte Sholalgondan. Gooramashta bedachte ihn dafür mit einem sehr warnenden Blick. "Denke daran, dass ein Teil von dir nun in meinen Kindern heranwächst und du somit mir deine Arterhaltung zu verdanken hast. Bevor ich eine der Kriegerinnen des Erhabenen wurde wuchs ich auf einem Viehhof am Meeresstrand der Abendrichtungsküste auf. Doch in der Sammlung hoher Schriften gab es auch eine Darstellung von Fessel- und Schlafzaubern. Wir sind sicher einem Erstarrungsbann mit Festhaltewirkung unterworfen worden. Doch als dieser schmerzhafte Blitz uns durchschlagen hat wurden wir langsam daraus freigegeben. Und was die Erleichterung von Geburten angeht habe ich als älteste von drei Töchtern zusehen dürfen, wie meine Mutter meine zwei jüngeren Schwestern und drei Brüder bekommen hat. Auch deshalb solltest du, Sholalgondan, mich mit mehr Wertschätzung bedenken. Also, Ishi und ich bleiben dabei, dass wir durchaus viele tausend Sonnenkreise in unserem Kerker gesteckt haben können, vielleicht sogar mehr als zehntausend Sonnenkreise."

"Halt einmal. Falls das stimmt lebt niemand mehr, der uns noch kennt, ja wir könnten wie das alte Reich da selbst nur noch als Geschichte aus einer unerfassbaren Vorzeit bestehen, vielleicht sogar zwei oder drei Weltreiche verschlafen haben, die sich am Ende selbstvernichtet haben. Aber dann lebt der Erhabene auch nicht mehr und seine Erben haben sein großes Werk abgelehnt und es ebenso in den tiefgrauen Dunst des Vergessens verstoßen wie uns. Das heißt, wir haben keinen Lenker mehr", sagte Ashlohuganar. Ihm ging nämlich jetzt auf, dass die anderen drei ihn nicht mehr als ihren Anführer anerkennen mussten, ja dass die zwei Schwestern ihn schon nicht mehr als ihren Anführer, sondern nur als verfügbaren Begatter anerkannt hatten.

"Wenn unser erhabener Lenker nicht mehr ist und niemand sein Erbe angetreten hat, immer vorausgesetzt, dass dort oben wirklich viele hundert oder tausend Sonnenkreise vollzogen wurden, dann lebenunsere Feinde auch nicht mehr oder sind wie wir ins Reich der Bedeutungslosigkeit und Vergessenheit geraten", sagte Sholalgondan. Die zwei Gefährtinnen bejahten es. "Dann könnten wir, wenn wir es genau wissen, das Erbe des Erhabenen antreten und sein Werk auf Erden vollenden", sagte Ashlohuganar. ">Ja, wenn wir es genau wissen", wiederholte Gooramashta. "Doch vorher sollten wir erkunden, ob wir noch alles können, was wir vorher konnten. Viele tausend Sonnenkreise können uns verändert haben, und was für ein schmerzhafter und doch zugleich wohltuender Kraftstoß das war, der uns geweckt hat, wissen wir auch nicht." Dem konnten die zwei männlichen nicht widersprechen.

"Vielleicht finden wir weiter von hier fort noch Durchlässe, durch die wir hinausschlüpfen können", vermutete Sholalgondan. "Da draußen wird uns dann keiner vermuten", fügte er hinzu. Ashlohuganar stimmte zu. "Erkunden wir also diese Gänge und Kammern noch weiter", legte er fest.

Da in den Höhlen die Zeit keine Bedeutung hatte und sie die einzigen lebenden Geschöpfe waren konnten sie das von der großen Mutter selbst hervorgebrachte Gefüge aus langen Gängen, kleinen und großen Räumen und die in die Tiefe des unter Mutter Erdes Haut weit ausgedehnten Berges in aller Ruhe erkunden. Dabei wachte immer eine der Weiblichen bei dem Gelege.

Als Ashlohuganar einen von leichtem Wind durchwehten Gang entdeckte folgte er diesem bis zu einem steil aufwärts führenden Hang. Als Wesen der Erde und dazu eines der stärksten und gewandtesten Geschöpfe überhaupt war es für den Diener des Erhabenen nicht schwer, den Hang hinaufzusteigen und durch eine schmale Spalte im Boden die weitläufigen Höhlen und Gänge unter dem Berg Ailanorars zu verlassen. Gerade glühte es in Morgenrichtung. Der große Vater Himmelsfeuer, den der Erhabene und alle seine Artgenossen als Mitschöpfer der Welt verehrten, stand kurz vor dem Erwachen.

Ashlohuganar gedankensprach zu seinen drei Mitgeschöpfen und übermittelte ihnen die Bilder der im rötlichen Morgenlicht immer mehr verschwindenden Nachtgestirne. Er erspürte auch durch die von der großen Mutter ausgeübten Richtungsweisekraft, dass er mehrere Tausendschritte vom roten Berg Ailanorars entfernt war. Er drehte sich in die Richtung, wo das über die Oberfläche hinausragende des einzelnen Berges sichtbar war und bestaunte die Erhabenheit, die der Berg im Vorlicht des großen Himmelsfeuers bot. Dann war es soweit. Das große Himmelsfeuer sandte die ersten hellen und heißen Strahlen seiner Kraft in die Welt.

Ashlohuganar hatte, wo er noch für die Truppen des Erhabenen gekämpft hatte, gerne und oft im Licht des Himmelsfeuers gebadet, sich an dessen Wärme erfreut. Doch als die ersten Strahlen ihn trafen fühlte er einen stechenden Schmerz, als stoße ihm jemand eine dünne, weißglühende Klinge durch die unverwüstliche Haut in den Leib. Ashlohuganar fühlte, wie seine eigene Kraft unter den nun immer zahlreicher werdenden Strahlen des Himmelsfeuers schwand. Zwar flossen die heilenden und stärkenden Ströme aus dem Leib der großen Mutter ungehindert weiter durch seinen Körper. Doch irgendwie merkte der Skyllianri, dass es nicht reichte, dass er offenbar den Unmut des großen, hellen Vaters Himmelsfeuer erregt hatte. Denn je mehr von dessen Licht und Wärme ihn traf, desto mehr eigene Kraft ging ihm verloren. Er fühlte, wie sein unverwüstlicher Körper sich unter Schmerzen in die Gestalt eines Unwürdigen verwandelte. Seine gegen alle Verletzungen mit und ohne die hohe Kraft unempfindliche Haut zog sich unter eine helle, dem Sonnenlicht ähnlich gefärbte, viel zu dünne und weiche Haut zurück. Seine starken, biegsamen Arme wurden ein wenig kürzer und dicker. Er fühlte, wie deren Beweglichkeit schwand, als habe ihn jemand gefesselt. So war es auch mit seinen Beinenund seinem Körper. Doch am qualvollsten war es, wie sich sein Kopf veränderte. Bohrende Schmerzen machten, dass er kleine helle Blitze vor den Augen sah, die ebenso brannten, als würden sie vom Licht des Himmelsfeuers zerfressen. Ashlohuganar keuchte und wand sich. Er fühlte, wie die Kraft der großen Mutter in ihn einströmte. Doch sie reichte nicht mehr, ihn zu schützen und zu stärken. Ein Gefühl, dass er nur beim Anblick der grauen, geflügelten Vernichter des Windkönigs Ailanorar empfunden hatte, breitete sich in seinem Geist aus: Angst!

"Meine Schwestern, mein Bruder, der große Vater Himmelsfeuer peinigt mich. Er verbrennt meine Kraft und hat mich wieder in den Körper eines schwächlichen Unwürdigen zurückversetzt. Wieso das so ist weiß ich nicht", gedankensprach Ashlohuganar und fühlte, wie jedes von ihm versandte Wort in seinem Kopf schmerzte, als wolle es seinen Schädel aufbrechen, um daraus zu entschlüpfen, wie ein Schlüpfling, der aus dem schützenden Ei entkriechen will. Sehr schwach hörte er die Gedankenstimme von Sholalgondan antworten:

"Das kann nicht sein. Der Vater Himmelsfeuer tut uns nicht weh. Wir sind nicht wie die Nachtkrieger des höchsten Dieners der alles endenden Finsternis, die bei seinem Licht verbrennen müssen."

"Du fühlst, dass es mir schlecht ergeht, Sholalgondan. Wieso zweifelst du an meinen Worten?" schickte Ashlohuganar unter beinahe unerträglichen Qualen zurück. "Ich fühle nicht, wie es dir ergeht. Das ist sehr seltsam", war die immer schwächer klingende Antwort Sholalgondans. Dann hörte Ashlohuganar noch die Gedankenstimme Ishgildarias: "Ich fühle es, dass du immer weiter von uns wegtreibst oder immer schwächer wirst. Aber Sholalgondan hat recht. Der große Vater Himmelsfeuer tut uns nichts an, wenn wir in seinem Licht baden."

"Dann kommt dorthin, wo ich gerade stehe und erfahrt am eigenen Leib, was mir geschieht", stieß Ashlohuganar aus. Er fühlte, wie seine Körperkräfte immer weiter schwanden, meinte, die Strahlen des Tagesgestirns wie immer heißere Pfeilspitzen in ihn einschlagen zu spüren und kämpfte darum, nicht loszuschreien. Zumindest war er im Augenblick alleine hier oben. Kein anderes Geschöpf, auch kein Unberufener, konnte ihm dabei zusehen, wie er sich im Licht des hellen Tagessterns wandt.

Nur zehn Atemzüge später entfuhren zwei seiner Art dem Boden. Es waren Ishgildaria und Sholalgondan. Gooramashta behütete die von ihr und Ishgildaria gelegten Eier. Mit einer gewissen Genugtuung sah Ashlohuganar zu, wie seine Mitstreiter wie von glühenden Strafstricken getroffen zusammenfuhren und sich die Hände vor die Augen hielten. Auch ihre unverwüstliche Haut verschwand und machte einer einfarbigen Haut Platz. Bei Ishgildaria schwollen die sanften Wölbungen vor dem Brustkorb zu jenen Milchkugeln an, wie sie die weiblichen Unberufenen trugen und aus denen sie ihre in ihren Bäuchen herangewachsenen und qualvoll daraus entschlüpften Jungen nährten, solange die keine eigenen Zähne hatten. Keuchend, wimmernd, stöhnend wanden sich die beiden Mitstreiter Ashlohuganars im Licht der Sonne, ihrer aller großem Vater Himmelsfeuer und meinten, immer mehr zu verbrennen. Doch nun konnte Ashlohuganar sehen, dass sie nicht wirklich verbrannten. Aber die unübersehbare Schwächung und die erzwungene Verwandlung in Unberufene ohne die Macht, andere Diener des Erhabenen zu erschaffen, reichte völlig aus, um zu wissen, dass das Sonnenlicht ihr Feind geworden war.

"Wieso geschieht das? Warum ist Vater Himmelsfeuer böse mit uns?" wollte Ishgildaria wissen. Sholalgondan, der versuchte, die ihn peinigenden Strahlen und die von ihnen bewirkte Schwäche zu ertragen, stieß aus: "Womöglich ist es ein Rachewort desWindkönigs gewesen, dass wir, wenn wir seinem Kerker doch noch mal entfliehen, nicht mehr im Blick des großen Vaters Himmelsfeuers herumlaufen und darin auch keine neuen Diener erschaffen können. Er wollte uns wohl dazu verdammen, nur noch im Leib der großen Mutter zu bleiben, wie unschlüpfbare Junge. Doch wir können wohl noch in den dunklen Stunden herumlaufen, wenn das Licht der kleinen Himmelsschwester uns nicht auch so ... Aaarg!" Er konnte es nicht mehr unterdrückenund stieß einen Schmerzenslaut aus, weil ihn gerade die voll über den Rand der Welt tauchende Sonne beschien.

"Das müssen wir ergründen. Hoffentlich können wir im Leib der großen Mutter wieder so werden wie der Erhabene uns schuf", seufzte Ashlohuganar und deutete auf die Felsenspalte, durch die er herausgeschlüpft war. Seine beiden Mitstreiter folgten ihm auf wackeligen Beinen.

Beinahe wäre Ashlohuganar den steilen Hang hinuntergestürzt. Doch gerade so konnte er sich am Rand der Felsenspalte festhalten. Kaum waren er und die beiden Anderen aus dem unmittelbaren Sonnenlicht heraus fühlten sie, wie die weiterhin in sie einströmende Kraft der großen Mutter sie bestärkte und unter gewissen Schmerzen umgestaltete. Doch diesmal hielten sie die Schmerzen aus, weil sie aneinander sahen, wie sie wieder wurden, was sie sein sollten, machtvolle Boten und Kämpfer des Erhabenen. Als die erhoffte Rückverwandlung vollendet war konnten sie nun wieder so gewandt und stark wie vorher den Steilhang hinunterklettern, bis sie wieder in jenen tiefen Höhlen waren, in denen sie aus der langen Verbannung erwacht waren. Hier unten tat ihnen die Sonne nichts mehr.

"Wir warten auf die Nacht. Dann werde ich erneut nach oben steigen und erkunden, ob die schwächeren Himmelslichter mir ebenso feindlich gesinnt sind", beschloss Ashlohuganar.

Dadurch, dass sich die für Unberufene unspürbare und unsichtbare Richtungsweisekraft der großen Mutter um ein weniges veränderte, sobald der Ort, an dem jemand war aus dem Schein des Himmelsfeuers hinausgeriet, wusste Ashlohuganar, wann die dunklen Stunden angebrochen waren. Während Ishgildaria nun das Gelege behütete kletterten er und Gooramashta den Steilhang hinauf und verließen die weitläufigen Höhlen. Draußen empfing sie ein dunkler Himmel, an dem die vielen tausend kleinen Lichter hingen, die in der Sprache des Volkes des Erhabenen Tarin hießen und die in verschiedenen Anordnungen und Farben ebenfalls mithalfen, eine bestimmte Richtung einzuhalten und den eigenen Standort zu erkennen. Auch die kleine Himmelsschwester war bereits über den Rand der Welt gestiegen und ließ ihr wesentlich kälteres dunkleres Licht auf die Welt fallen. Einen Moment lang fürchteten die beiden Skyllianri, dass auch das Licht der ewigen Begleiterin der großen Mutter ihnen Schmerzen zufügte. Doch dann erkannten sie mit übergroßer Erleichterung, dass ihnen nichts geschah.

"Also hat uns der verwünschenswürdige Windkönig dazu verurteilt, nur noch im Dunkeln zu wandeln, wenn wir neue Diener des Erhabenen einberufen wollen. Schlimm genug, dass die ewige Stimme des Erhabenen verstummt ist. Doch wie die Blut trinkenden Krieger des dunklen Hochkönigs nur in den Nachtstunden frei und ungefährdet herumzulaufen ist eine unerträgliche Einschränkung.

"Ja, und wir wissen nicht, ob wir neue Mitstreiter einberufen können, die dann nicht auch von dieser Verwünschung betroffen sind", sagte Gooramashta. "Dies können wir nur ergründen, wenn wir nun losziehen, um neue Mitstreiter zu gewinnen", erwiderte Ashlohuganar. "Wir kennen dieses Land doch. Viel verändert kann es sich nicht haben, auch wenn viele Zehner- oder Hundertersonnenkreise vergangen sind."

"Gut, du hast recht. Wir müssen das wissen. Aber die von Ishgildaria und mir gelegten Eier müssen beschützt werden. Deshalb dürfen wir nicht weiter von hier fort, als dass wir nicht in zehn Atemzügen in unser neues Heim zurückkehren können."

"Verstanden und gewährt", erwiderte Ashlohuganar. Dann stampfte er mit dem rechten Fuß auf, um durch die Gnade der großen Mutter in ihren ewig schützenden Leib zurückzutauchen, um darin schneller als jeder Windstoß und auch jeder Laut dahinzueilen.

"Nur die küssen, die dein Geschlecht haben, Gooramashta! Der Fortpflanzungsrausch nach unserem Erwachen hat gefährlich viel Zeit gekostet", gedankensprach Ashlohuganar, während er bereits viele dutzend seiner Längen unter der Erdoberfläche dahinjagte.

"Verrr-verr-Staaa..." Die Antwort seiner Mitstreiterin und im Rausche der neuen Gefühle begatteten Fortpflanzungspartnerin klang wie von mehreren schief singenden Stimmen und verlor sich in seinen Gedanken. Auch fühlte er, wie ihm der Kopf schmerzte. Er verlor beinahe die Berührung der unsichtbaren Kraftlinien, die ihm Richtung und Standort verrieten. Dann merkte er, wie er immer langsamer wurde, etwas in ihm bremste seine Reise ab und machte, dass er wieder Angst fühlte. "Nein, was ist los? Große Mutter, warum zürnst du mir nun auch?" Dann fühlte er, dass er für immer allein sein würde, wenn er nicht sofort zurückkehrte. Er schaffte es noch, sich umzudrehen und konnte nun auch wieder beschleunigen, je näher er den Höhlen unter dem Festungsberg Ailanorars kam. Wie ein kurz vor dem Ertrinken stehender Unberufener stieß er nach Atem Ringend aus dem Boden neben Sholalgondan. Dann fühlte er auch, wie Gooramashta zurückkehrte und ebenfalls neben ihm aus dem Boden fuhr.

"Die Verwünschung ist noch schlimmer. Sie zwingt uns, beieinander zu bleiben. Wenn wir das missachten vergehen wir oder verlieren für immer den Halt miteinander", keuchte Gooramashta.

"So will der verdammenswerte Windkönig - möge ihn die alles endende Finsternis verzehrt haben, dass wir keine neuen Mitstreiter gewinnen. Doch noch gebe ich nicht auf. Wir warten, bis jemand den Weg zu uns findet und hüten bis dahin die von dir und Ishgildaria abgelegte Brut. Vielleicht ist dies der Weg, den wir in der Wirdzeit gehen müssen", schnaubte Ashlohuganar.

"Du willst wirklich warten, bis sich jemand in diese für Unberufene karge und nahrungslosen Höhlen verirrt?" fragte Gooramashta. Sholalgondan machte eine zustimmende Geste.

"Der Grund, warum es uns gibt ist auch, dass es im Wesen der Unberufenen liegt, neugierig und besitzstrebend zu sein. Die Neugier wird uns unsere neuen Helfer zuführen, irgendwann", erwiderte Ashlohuganar zuversichtlich. Da Gooramashta, die große Kämpferin, am eigenen Körper und Geist mitbekommen hatte, dass es keine Möglichkeit gab, von hier aus nach neuen Mitstreitern zu suchen, noch dazu welchen, die ihr Geschlecht hatten, fügte sie sich in den Beschluss Ashlohuganars, auch wenn dessen Führungsanspruch mit dem Ende der ewigen Stimme des Erhabenen erloschen sein mochte. Doch er hatte recht, dass neugier und vielleicht das Streben nach Besitz innerhalb dieser Höhlen die Unberufenen zu ihnen führen konnten. Sie brauchten nur auf sie zu warten, wie die Spinne in ihrem Netz auf arglose Kerbtiere warten konnte.

Auch Ishgildaria erkannte Ashlohuganars Beschluss an. Denn sie hatte ebenfalls gespürt, wie die zwei nach draußen gegangenen ihr immer mehr entrissen wurden. Beinahe wären sie wohl unrettbar von ihr losgelöst worden. Diese schlimme Erfahrung hatte ihre anfängliche Aufsässigkeit gegen Ashlohuganar gebändigt, zumindest solange, wie sie hier unten noch gelegte Eier zu hüten hatte.

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Zur gleichen Zeit in der Halle der Altmeister in Khalakatan

"Höchst lehrsam und anregend", meinte Kaliamadra zu ihrer Zwillingsschwester Iaighedona. Hast du es mitbekommen, dass Alainorar die vier Überbleibsel Sharanagots mit einem Bann belegt hat, nicht mehr ohne einander sein zu dürfen?"

"Nicht als es geschah. Aber wo du es fragst können wir zwei es gerne nachbetrachten, Schwester", erwiderte Iaighedona und ergriff die Hand ihrer Zwillingsschwester.

Sie ließen sich in der Zeit zurücktreiben, hangelten sich dabei an den im gesamten Raum-Zeit-Gefüge nachklingenden Echos von Erlebnissen und Sinneseindrücken entlang, bis sie jene Zeit erblickten, in der Ailanorar gelebt hatte. Sie verfolgten sein Leben vom Ungeborenen bis zum Ende seines Körpers nach. So bekamen sie wirklich mit, wie er die vier ranghöchsten Diener Sharanagots mit einem von seinem Vater Agolar abgeschauten Ruf an die Erdgebundenen immer näher an seine Festung heranlockte, um sie dann darin einzuschließen. Hierdurch hatte er nun auch die Macht, deren vom Wandelgift der Skyllianri veränderten niederzuringen, sie an seine grauen Vollstrecker auszuliefern, wo immer sie waren. Doch von einer Verwünschung, dass die vier nicht mehr im Sonnenlicht wandeln oder sich nicht weiter als hundert Tausendschritte voneinander entfernen durften bekamen die zwei Mitternachtsfolgerinnen nichts mit, und sie kannten wirklich sehr viele Arten, lebende Wesen oder dem Körper entschlüpfte Seelen zu verwünschen.

Als sie sich wieder in die Jetztzeit zurückgezogen hatten sagte Iaighedona: "Diese sehr gebärfähige Gooramashta irrt sich wohl. Nicht dieser Windmacher hat die vier verdammt, nur noch bei Nacht unter freiem Himmel zu sein und dabei nicht zu weit voneinander entfernt zu reisen, sondern der Vernichtungsstoß des Mitternachtsauges Iaxathans, der viele der Mitternachtskraft verbundene Dinge und Wesen bestärkt hat. Wahrscheinlich ist in denen der Hauch des Liedes der längsten Nacht zu einem Teil ihres Wesens geworden, so dass sie genauso im Sonnenlicht geschwächt werden wie die blutsaugenden Langzähne oder wie es diese höchst vielversprechende Kugelschale der nicht minder sehr verheißungsvollen Sardonia war."

"Da magst du recht haben, meine geliebte Schwester", stimmte Kaliamadra zu. "Aber das wissen die nicht, und weil die ganz sicher niemals zu uns in die Halle der Altmeister gelangen werden kann ihnen das auch keiner verraten. O, dann wird es wirklich sehr spannend, ob die sich wirklich wie früher neue Mitstreiter heranziehen können oder ihr restliches langes Leben nur noch zwischen Eiern und Schlüpflingen zubringen werden. Was für ein schmachvolles Los für ach so mächtige Krieger." Der letzte Satz war purer Spott. Denn die zwei hatten immer verachtet, was Iaxathans Geist entsprungen war, ja wie groß seine Angst vor Frauen war, und dass sich seine Befürchtungen zum Schluss bewahrheitet hatten. Eine Frau hatte ihn geboren, eine andere ihn mit ihrer Milch ihren Willen eingeflößt, ausgerechnet die von ihm veränderte Schwester Ailanorars hatte ihn aus seinem Körper vertrieben, und jetzt musste er als ewig ungebärbarer im rein aus hoher Kraft bestehenden Leib einer anderen, aus seinen machtstrebenden Einfällen entstammenden Frau bleiben, bis Vater Himmelsfeuer im Tode seine Kinder fraß, falls nicht vorher wer den Haltestein der Blutsaugergöttin fand und es wagte, ihn zu vernichten. Was bis dahin und danach geschah war sicher genauso spannend wie die bisherigen Auswirkungen der mitternächtigen Kraftwoge.

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In einer tiefen Tropfsteinhöhle in Dalmatien, 30. August 2003, zwei Stunden nach Ende der Abenddämmerung

Sie war drei und doch eine einzige. Nein, sie war sogar eine, die aus ehemalig vieren zusammengefügt war. Denn seitdem sie jene ihr artverwandte Seele einer alten britischen Hexe in sich aufgesaugt und zu einem Teil von sich gemacht hatte war auch die von ihr bis dahin niedergehaltene Daseinsform Riutillia für einen erschreckend langen Augenblick wiedererwacht, hatte sich mit dem verschlungenen Geist der alten Hexe zusammengeschlossen und wollte die Hoheit über ihr Sein und Denken übernehmen. Doch dann hatte sie sich wieder durchgesetzt und die zu einem starken Geist vereinten Seelen magischer Frauenzimmer in sich aufgehen lassen, endgültig alles Wissen und Können beider zum eigenen Wissen und Können gemacht. Sie war immer noch Birgute Hinrichter, die Königin der Nacht, Mutter der Schattenwesen. Doch nun war sie mehr als nur ein aus zwei Frauenseelen vereinter Dunkelgeist. Sie war nun wahrhaftig eine höhere Daseinsform, dass was der aus ihr heraus wiedergeborene Ganor Reeko als höheren Dämon bezeichnete. Ja, im Grunde war sie genau das, was ihre frühere Einzelidentität Birgit Hinrichs als völlig unsinnig oder auch als "gefährlichen Unsinn" abgetan hatte. Gefährlich war sie schon nach der von diesem Kristallsklaven bewirkten Verschmelzung mit der früher so aufsässigen Ute Richter gewesen. Doch nun war sie das, was sie nach dem Erwachen der Gemeinsamen Identität von sich angenommen hatte. Mit jedem einem Körper entrissenen und von ihr aufgenommenen und aus ihrem steinernen Uterus wiedergeborenen Kind wurde sie noch mächtiger. Mit jedem gereiften Geist, den sie direkt in sich hineinschlang und in ihrer gefrierkalten, nichtstofflichen Substanz auflöste, gewann sie auch mehr Handlungsmöglichkeiten. Nun war sie durch zwei magisch begabte Seelen im Stande, nicht nur ihre Form zu verändern, zeitlos zwischen zwei Orten zu wechseln oder ihre Ausgeburten durch Gedanken aus der Ferne zu überwachen und zu lenken, sondern konnte auch die sie nährende Nachtdunkelheit oder die ewige Dunkelheit in tiefen Höhlen nutzen, um berührungslos Dinge zu bewegen oder, was sie von der einverleibten Daseinsform Morgauses erhalten hatte, Gegenstände aus der Dunkelheit formen, die sie und jedes ihrer Schattenkinder ergreifen und benutzen konnte, solange sie wollte, dass dieser Gegenstand bestand. Sie musste jetzt auch keine Angst mehr vor offenem Feuer haben. Ein altdruidisches Zauberwort aus Morgauses Wissen und durch die verstärkte Magie in ihrem dunklen Körper genügte, um Feuer niederzukämpfen und zu löschen. Kryokinese hätte das wohl einer von Utes esoterisch orientierten Teilzeitfreunden genannt.

Durch den Machtzuwachs konnte sie auch spüren, wenn in ihrer Umgebung andere magische Wesen waren oder solche, die sich von der reinen Dunkelheit der Nacht ernährten. Zuerst war das anstrengend gewesen, als wenn jemand aus einem stockdunklen Zimmer in eine von Lichtern, Farben und Bewegungsbildern übersättigte Umgebung hinaustrat und lernen musste, auf bestimmte Farben oder Einzelbewegungen zu achten. So hatte sie eine Zeit lang gebraucht, bis sie es erlernt hatte, auf sie einströmende Regungen zu bestimmen und zu verstehen, als wenn sie ein altes Kurzwellenradio auf eine ganz bestimmte Frequenz einstellte, auf der ein weit entfernter, sehr schwach hörbarer Sender arbeitete. Sie hatte es fast einmal geschafft, den räumlichen Standort jenes Wesens zu finden, mit dem Riutillia verbunden gewesen war, Thurainilla, die angebliche Meisterin der kosmischen Dunkelheit. Ihrer beider Gedanken hatten sich für eine kurze Zeit berührt und versucht zu unterwerfen. Dann hatte sich Thurainilla erschrocken zurückgezogen, ihre eigene Ausstrahlung so sehr abgeschwächt, dass Birgute sie nicht mehr orten konnte. Offenbar hatte das vaterlos entstandene Mädchen erkannt, dass sie, Birgute Hinrichter, mehr Geisteskraft und wohl auch Zauberkraft aufbieten konnte. Jetzt wussten beide voneinander, dass sie gefährliche Todfeindinnen waren. Trafen sie sich einmal im physischen Raum, würde eine von beiden sicher draufgehen.

Doch noch eine andere, ebenfalls weibliche Daseinsform spürte Birgute. Diese Geistesquelle hallte aus unzähligen anderen Wesen wider, als seien diese über die Welt verteilte Lautsprecher, die dasselbe Radioprogramm wiedergaben. Dann wusste sie, dass es die Herrin der grauen Vampire war, die sie bei ihrer Entstehung im Himalaya mit den von Kanoras befreiten Artgenossen bekämpft hatte. Ja, sie war mächtig, strahlte so starke Gedankenkraft aus, dass Birgute fast dachte, nur die Hand nach ihr ausstrecken zu müssen. Dann hatte sie gefühlt, wie diese eine starke Quelle gezielt nach ihr suchte. Weil sie beide unterschiedlicher Art waren gelang der anderen das nicht sofort. Doch Birgute war nicht so einfältig, dass sie nicht damit rechnen musste, bald schon genau geortet zu werden, wenn sie nicht lernte, ihre eigenen Gedanken für fremde Geister abzublocken. Sie fühlte nun auch, dass die Suchbewegungen von verschiedenen Seiten erfolgten. Ja, diese Vampirlenkerin benutzte ihre Untertanen, um sie mit Hilfe von Triangulation zu orten. Das war ziemlich aussichtsreich, erkannte Birgute. Dagegen musste sie was unternehmen.

Sie selbst rief nach zehn ihrer bereits erstarkten Kinder, die schon mehr als zehn Seelen lebender Menschen in sich aufgesogen hatten. Sie erschienen augenblicklich bei ihr in der Höhle unter den Bergen Dalmatiens. Dann befahl sie ihnen, einander bei den Händen zu nehmen und einen Kreis um sie zu bilden. Dann breitete sie ihre Arme aus und berührte zwei der nun miteinander verbundenen. Einen Augenblick später verschwanden alle. Ein deutliches Plopp erklang, weil Birgute ihren feststofflichen, für gezielte Nachkommenschaft in sich eingelagerten Uterus mit in den Raumsprung nahm.

Dort wo sie ankamen schien der Mond vom Himmel. Sofort sahen die zusammen erschienenen Schatten drei Frauen, die jedoch nichtmenschliche Lebensschwingungen ausstrahlten. Es waren drei Vampirinnen. Birgute erkannte sofort, dass sie miteinander in Verbindung standen, um sie zu suchen. Als sie erkannten, dass die Gesuchte mal eben bei ihnen aufgetaucht war schickten sie einen simultanen Hilferuf an ihre Herrin, die sie als erwachte Göttin der Nacht anriefen.

"Körper töten, Seelen freisetzen!" befahl Birgute ihren Kindern durch reine Gedankenkraft. Blitzartig schwärmten die zehn Schatten aus und stürzten sich auf die drei Nachtwesen. Diese hielten einander bei den Händen. Birgute fühlte, wie die nicht ganz vollkommene Nachtdunkelheit um die drei Vampirinnen zu kreisen begann und sich zu einem den Raum verändernden Strudel formte. Ihre Schattenkinder wurden von dieser Kraft bei Seite gefegt. Doch das war wohl nicht der Sinn dieses Strudels. Birgute fühlte, dass die drei Vampirinnen wohl darin verschwinden und ihr so entzogen werden sollten. Dagegen hatte sie was. Sie sprang vor, konzentrierte sich auf ihre rechte Hand, die darauf nur für Wesen ihrer Art in weißem Licht zu strahlen schien und hieb in den für sie bläulich-silbern funkelnden Strudel aus gesammelter Dunkelheit. Es blitzte auf, Sie fühlte, wie der Strudel auch sie zurückprellen wollte. Doch sie bekam einen Arm der wild kreisenden Spirale zu fassen und zog ihn mit einer gewissen Anstrengung zu sich heran. Dadurch verlangsamte sich die schnelle Drehung des Strudels, er taumelte und zerfiel dann in einer Wolke aus blauen und silbernen Funken. Die drei Vampirinnen, die fast schon aus dem gewohnten Raum-Zeit-Gefüge verschwunden waren, fielen mit lautem Knall in das Hier und jetzt zurück und zuckten vor Schmerzen. Birgute vermeinte einen lauten Schrei zu hören, ob aus Wut oder Schmerzen oder beidem wusste sie nicht. Jedenfalls brauchte sie jede der drei nur mit ihrer besonders aufgeladenen Hand zu berühren, um augenblicklich alles Leben aus ihnen zu entreißen. Dannn fühlte sie, wie die in den sterbenden Körpern gebetteten Seelen der drei Vampire von etwas fernem angezogen wurden. Doch birgute hielt dagegen, hielt zwei der freigesetzten Seelen mit ihren Händen, als wären sie aus fester Substanz. Sie leuchteten für die Augen der Nachtschattenkönigin in einem grünlichen Licht. Birgute spreizte ihre aus verstofflichter Dunkelheit bestehenden Beine und ballte die grünlichen Essenzen zu kompakten Kugeln, die sie sich unter einer gewissen Anstrengung in den eigenen Unterleib hineinstopfte. Sie hörte den Widerstand und das Aufbegehren der gefangenen Seelen. Dann fühlte sie, wie diese in ihrem kristallinen Schoß eingelagert wurden. "Kommt zu mir, wachst in mir!" befahl Birgute und fühlte, wie die zwei gefangenen Seelen immer mehr von ihrer Kraft durchdrungen wurden. Doch sie fühlte auch, dass da noch eine Verbindung mit etwas anderem, größeren war. Sie fühlte, dass diese Gegenstelle nun versuchte, die eingeschlossenen zu befreien. Deshalb konnte Birgute nun zwei haardünne, grünliche Lichtfäden erkennen, die immer mehr pulsierten und sich dabei wie sich anspannende Muskelstränge zusammenzogen. Sie konnte jedoch nicht das Ende der Lichtfäden erkennen. Sie fühlte nur, dass die von ihr einverleibten Vampirseelen beinahe viel zu weit vor der Ausreifung ihren dunklen Schoß verlassen wollten. "Das sind meine Kinder, nicht deine, Miststück!" keifte eine sichtlich erzürnte Frauenstimme mit vielfachem Echo in Birgutes Geist. "Nein, jetzt sind es meine", erwiderte Birgute darauf. Sie erinnerte sich auch, dass Kanoras in seinen letzten Daseinssekunden was von ihm entrissener Schatten und einen ihn selbst mitreißenden Sog gedacht hatte. Ja, diese selbsternannte Göttin würde sie mit sich reißen, wenn sie nicht aufpasste. "Dann nehme ich dich eben auch zu mir, Schattenflittchen", drohte die Vampirlenkerin der Schattenkönigin an. Diese lud noch einmal ihre Hände mit den Worten dunklen Lebens auf, mit denen eine dunkle Druidin wie Morgause durch reine Berührung lähmen bis töten konnte. Dann holte sie aus und schlug mit für ihre Augen weißblau glühenden Handkanten auf die pulsierenden Lichtstränge ein. Diese erzitterten, dann rissen sie durch. Grüne Funken flogen aus Birgutes Bauch heraus. Gleichzeitig fühlte sie, wie die ihr fast wieder entwundenen Seelen regelrecht in sie zurücksprangen und einen kurzen Aufschrei von sich gaben. Die Lichtstränge jedenfalls waren erloschen. "Bleibt in mir, wachst in mir!" befahl Birgute und streichelte sich mit nun wieder in ihrer rotgoldenen Grundfarbe schimmernden Händen über den Unterleib. Der Widerstand der darin eingebetteten Seelen bröckelte bei jeder Streichelbewegung, schmolz mit jedem beschwörenden Befehl, in ihr zu wachsen. Nur eine der drei Vampirinnen war nach ihrem körperlichen Ende von der selbsternannten Göttin der Nacht ergriffen und in deren eigenen nichtstofflichen Verbund eingefügt worden. Doch zwei hatte Birgute entrissen.

Birgute und die anderen Nachtschatten fühlten, wie nicht weit von ihnen fort aus einem winzigen Punkt ein größerer, in umgekehrter Richtung kreisender Strudel wuchs. Als dieser sich in reine Dunkelheit auflöste spie er zwölf sich bei den Händen haltende Vampire aus, sechs Männer und sechs Frauen. Birgute erkannte, dass die andere es hier und jetzt wissen wollte. Das kam ihr sehr entgegen, denn genau das wollte sie auch.

In Gedanken rief sie zwei weitere ihrer Kinder zu sich hin, die schon stark genug waren, um zeitlos den Ort zu wechseln und noch keine schattenlosen Menschen fernsteuerten. Keine sekunde später waren die beiden Hinzugerufenen bei ihr. "Auf die zwölf Feinde. Leben nehmen, Seelen freisetzen!" befahl Birgute, als die zwölf sich an den Händen haltenden Vampire in ihre Richtung sahen. Funken stoben aus ihnen heraus und ballten sich im Mittelpunkt des von ihnen gebildeten Kreises zusammen. Da flogen bereits die von Birgute gerufenen Schatten auf die zwölf Feinde zu und fielen über sie her. Doch die ausgewählten Gegner ließen so schnell voneinander ab und warfen sich zu boden, dass die auf sie losgehenden Schatten über sie hinwegschossen. Die von den zwölf Vampiren gerufene Kraft bündelte sich jedoch weiter. Eine leuchtende Kugel entstand, die sich wie ein mit Pressluft aufgeblasener Ballon aufblähte und die auf sie zufliegenden Nachtschatten förmlich hinwegfegte, so dass sie selbst zu kleinen Kugeln geballt wie abgefeuerte Kanonenkugeln davonschwirrten. Birgute musste anerkennen, dass dieses Manöver nicht übel war. Dann sah sie, wie die mehr als zwanzig Meter große Kugel sich in eine hell leuchtende Frauengestalt verwandelte, die makellos proportioniert war. Warum sie so aussah, als sei sie im zweiten Drittel Schwanger konnte sich Birgute nur damit erklären, dass die andere ihre Rolle als Mutter der Vampire hervorheben wollte. Während dessen verwandelten sich die sechs männlichen und sechs weiblichen Vampire in menschengroße Fledermäuse, wohl weil sie sich dann für beweglicher hielten.

"Du bist mir zu klein und zu lästig, wie eine sirrende Stechmücke, die einem die Nacht versauen will", dröhnte die weit über den freien Platz hallende Stimme der neuen Erscheinung. "Du hast meine Kinder vertrieben oder getötet. Und jetzt hast du es gewagt, dir zwei von ihnen einzuverleiben und meinst, sie als deine Kinder wiedergebären zu dürfen. Dafür zerquetsche ich dich wie eine lästige Fliege an der Wand. Geh tot!!"

"Was denn jetzt, Mücke oder Fliege?" fragte Birgute provokant, auch wenn sie fühlte, dass die andere wesentlich stärker war als sie, mindestens zehn oder zwanzig Einzelseelen in sich beherbergte.

"Wanze!!" bellte die andere. Birgute erkannte, dass die Gegnerin ihr auch räumlich überlegen war. Sie war mindestens zwanzig Meter groß, wohingegen sie gerade einmal zehn Meter maß. Dann schritt die feindliche Erscheinung auch schon auf sie zu. "Vielleicht gewähre ich dir die Gnade, in mir weiterzubestehen, als Teil der wahren Göttin der Nacht, wenn du dich mir freiwillig hingibst", sagte die Feindin Birgutes. Die Schattenkönigin blieb ruhig. Denn sie hatte erkannt, worin die Macht der anderen bestand. Sie bestand nicht aus zwanzig freien Seelen, sondern aus der gebündelten und unter einen Willen gebrachten Kraft der zwölf hier angelandeten Vampire. "So, du hältst dich für die einzig wahre, unsterbliche Herrin der Nacht? Du willst dir meine Energie einverleiben, weil du es nicht verträgst, dass da eine ist, die deinen Fledermäusen die Tour vermasselt? Dann sei es eben so", sagte Birgute und führte ihre Hände zusammen.

Mit drei gesummten Worten formte sie aus einem winzigen Teil der Nachtdunkelheit ein meterlanges, an den beiden Schneiden bläulich flimmerndes Schwert, dessen Griff sie mit beiden Händen umfasste. "Dann sei es so, Vampirgötzin. Es kann nur eine geben." Nur für ihre zwölf gerade wieder die Beherrschung ihrer Flugbahn zurückgewinnenden Schattenkämpfer befahl sie: reißt das Leben aus den zwölf Fledermäusen!"

Schneller als Menschenaugen es verfolgen konnten fielen die zwei riesenhaften Geistererscheinungen nun übereinander her. Die beschworene Erscheinung der erwachtenGöttin wollte mit bloßen Händen vorgehen. Birgute hieb und stieß mit ihrem aus Dunkelheit geformten Schwert zu und traf immer wieder. Jeder Treffer war wie der Anschlag einer mehr als eine Tonne schweren Glocke, metallisch und lange nachhallend. Weil Birgute innerhalb von drei Sekunden zwölf Schläge anbrachte und die andere dadurch davon abhielt, ihr die übergroßen Hände um den Hals zu legen, klang es wie ein auf Zeitlupe gestellter alter Wecker.

"Du kannst nicht siegen. Ich bin so viele in einer, dass du gnadenlos in mir vergehst", tönte die sich gegen die Schwerttstreiche behauptende Entität. "Nettes Spiel eigentlich, aber doch zu schwach gegen mich und ... Nein, so nicht!" stieß sie noch aus, erstarrte für einen Moment und bekam die Schwertklinge voll gegen den zur Abwehr erhobenen Arm. Dieser erzitterte nur. Birgute fühlte, dass sie die Materialisation nicht mehr all zu lange aufrechterhalten konnte. Die andere atmete genauso die umgebende Dunkelheit wie sie und entzog ihr damit die nötige Kraft. Dann hörte sie zwölf tierhaft schrille Schreie und das Wutgebrüll der feindlichen Entität. Diese begann unvermittelt zu flackern. Birgute erkannte ihre Chance und stieg von der Schwerkraft gelöst so weit auf, dass sie den rituellen Enthauptungsschlag anbringen konnte, mit dem sich in den von Ute Richter als "langweiliges Metzelmärchen" bezeichneten Highlanderfilmen die Unsterblichen gegenseitig massakrierten, um die dabei freigesetzte Lebensenergie des Besiegten aufzusaugen. Genau das wollte nun Birgute.

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Zur selben Zeit tief unter dem Golfstrom

Ja, diese lästige Kreatur, die sich als Mutter der Nachtschatten verstand, hatte den Köder geschluckt und ihr Versteck verlassen, um gegen die nach ihr suchenden Nachtkinder zu kämpfen. Sicher, drei von ihnen hatte sie getötet. Zwei davon sogar in ihren eigenen widerwärtigen Leib hineingesaugt, wohl um sie dort zu ihren treuen Sklavenkindern auszureifen. Auch hatte sie die mit den Nachtkindern verbundenenSeelenstränge zerschlagen wie dünne Fäden mit einer Axt. Ein Teil davon war zu Gooriaimiria zurückgeschnellt, doch ein winziger Teil davon war bei der anderen geblieben. Wieso konnte die sowas? Kanoras hatte sie an genau diesen Seelensträngen an sich reißen und in sich selbst hineinsaugen können. Kannte die andere also noch andere Magie, die sie in ihrem schattenhaften Zustand benutzen konnte?

Gooriaimiria erinnerte sich aus den ihr eingegliederten Erfahrungen der vielen anderen an eine der neun vaterlosen Töchter, welche als die wahre Schreckliche bei den Vampiren galt. Diese konnte die Dunkelheit selbst formen und damit Körper und Seelen schwächen. Was, wenn dieses Schattenweib mit jener gefährlichen Kreatur verbündet war? Auch gefiel es der selbsternannten Göttin aller Nachtkinder nicht, dass dieses Schattenungetüm die sonst unsichtbaren und unertastbaren Seelenstränge durchschlagen konnte, obwohl Gooriaimiria aus mehr als 900 Einzelseelen bestand und dadurch eigentlich jedem einzelnen Geist berghoch überlegen war. Dann fiel ihr jedoch ein, dass die Verbindung zu den anderen ja über tausende von Kilometern reichen musste und dabei eben ausdünnte. Wusste die andere das? Falls ja, von wem? Es würde also nicht reichen, dieses freche Nachtgespenst auszulöschen. Am Ende hinterließ es ein für die Göttin der Nachtkinder unliebsames Erbe.

Sie hatte zwölf über die Welt verteilte Nachtkinder an einen Ort zusammengebracht und in einem einzigen Schattenstrudel zu dieser Kreatur und ihren Unterschatten hinversetzt. Die Nachtkinder hatten sofort die Erscheinung der erwachten Göttin beschworen, die dann mit der geballten Kraft von zwölf Vampirseelen gegen die Schattendämonin und Möchtegernnachtkönigin vorrückte. Die hatte doch echt ein Zweihandschwert aus reiner Dunkelheit beschworen und Gooriaimirias Avatari damit angegriffen. Offenbar stand der der Sinn nach Kinostunts, dachte Gooriaimiria.

Dank der von Heptachiron übernommenen Gabe, mehrere mit ihr verbundene zugleich überwachen und lenken zu können behielt sie auch ihre zwölf Untertanen unter Aufsicht. Deshalb bekam sie mit, wie die von ihrer Avatari fortgeschleuderten Schattensklaven als kleine kompakte Kugeln zurückgesaust kamen und auf die zwölf als Fledermäuse fliegenden Nachtkinder losgingen. Gooriaimiria befahl allen, schnellstmöglich auszuweichen. Doch da drangen die kleinen dunklen Schattenkugeln ihnen bereits durch die Münder in die Körper. Gooriaimiria fühlte, wie den zwölfen das Leben ausgesaugt wurde. Sie versuchte noch, sie mit weiterer Kraft aufzuladen. Doch die wie Dämonen in sie eingefahrenen Feinde saugten die zusätzliche Kraft schneller auf als die zwölf befallenen Nachtkinder. Und mit dem Leben der zwölf wich auch die Kraft aus der Avatari der erwachten Göttin. Diese sah noch, wie die zehn Meter große Schattenfrau wie eine Rakete vom Boden schnellte und im Steigflug mit ihrem lächerlichen Schwert ausholte und zuschlug. Gooriaimiria wollte schon spotten, dass das nichts brachte, als der Schlag ihrer Projektion wahrhaftig den Kopf vom Rumpf trennte. Schlagartig verlor sie die Gewalt über die gebündelten Kräfte. Sie fühlte jedoch noch, wie die andere einen Teil davon begierig in sich einsaugte. Gooriaimiria spürte einen reißenden Schmerz in ihrem Dasein und fühlte, wie gleich zehn mit ihr verschmolzene Seelen von ihr weggerissen wurden und mit einem erst erschreckten und dann erfreuten Aufschrei in Raum und Zeit vergingen. Sie fühlte auch, wie zwölf mit ihr verbundene Seelen freigesetzt wurden. Diese wollte sie sich zurückholen, die geschlagene Wunde vollständig heilen. doch dann fühlte sie, wie die feindlichen Schattenwesen die ihren Körpern entrissenen Seelen in sich selbst einsaugten. Das war deren Fehler. Jetzt konnte sie die zwölf einfältigen Schatten an den immer noch bestehenden Seelensträngen zu sich hinziehenund in sich einfließen lassen wie diesen Narren Kanoras und Iaxathans Knecht Heptachiron.

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Zur gleichen Zeit auf einer freifläche in der Steppe Kasachstans

Der Schwertstreich traf die flackernde Erscheinung und trennte ihr tatsächlich den Kopf vom Rumpf. Birgute fühlte, wie dadurch all die in der Feindin angesammelte Kraft frei wurde. Sie holte tief Atem und fühlte, wie dabei ein Teil dieser Kraft in sie einströmte. Deshalb atmete sie nun noch schneller, sog die auf sie zuströmende Kraft in sich ein. Ein Gutteil der freigewordenen Kraft verflog zwar. Doch Birgute wusste nun, was sie wissen wollte. Sie wusste jedoch auch, dass sie nicht die eigentliche Feindin vernichtet hatte, sondern nur eine Projektion, eine scheinbar selbstständig handelnde Avatari, die solange bestand, wie genug Anhänger der angeblichen Göttin am selben Ort versammelt waren. Ja, und die zwölf, die sie hier beschworen hatten, wurden gerade von ihren Schattenkindern ausgelöscht. Allerdings fühlte sie, wie die Schattenkinder mit den Seelen der Besiegten auch die Verbindung zu deren Herrscherin hinunterschluckten. Wie Fische an der Angel hingen sie nun selbst an diesen für lebende Menschen unsichtbaren Halteleinen. Da begannen sie auch schon, mit immer größerer Geschwindigkeit in eine bestimmte Richtung davonzufliegen. Birgute Hinrichter erkannte, dass wenn die andere ihre Kinder in sich einverleiben konnte, sie dieses Duell doch noch gewonnen haben würde. Nichts da!

Innerhalb einer Sekunde erschien die Königin der Nachtschatten in der Flugbahn der zwölf gefangenen Kinder. Sie erkannte die grünlichen Haltefäden, die sich einander annäherten, wohl um ein starkes, unzerreißbares Band zu bilden. Sie hielt auch immer noch das aus Dunkelheit verstofflichte Schwert. In dieses jagte sie Morgauses Kraft des dunklen Lebens hinein, dass es weißglühend aufstrahlte. Dann hieb sie die sich bedrohlich zusammenfügenden Stränge durch, immer die drei am nächsten beieinanderliegenden. Grüne Funkenfontänen sprühten auf. Sie brauchte nur vier Sekunden, bis sie den letzten grünlichen Faden gekappt hatte. Dann sah sie mit überlegenem Lächeln, wie ihre zwölf bereits mit Überschall durch die Luft jagenden Kinder in die Gegenrichtung davongeschleudert wurden. Der Angelversuch der dunklen Göttin war misslungen. Birgute schaffte es noch, vereinzelte Funken der fremden Kraft in sich einzusaugen, noch ein wenig mehr der feindlichen Lebenskraft. Dann beschloss sie, sich in ihr Versteck zurückzuziehen und sich gegen weitere Suchzauber der Pseudogottheit abzuschirmen. Denn nun, wo sie einen kleinen Teil von ihrer Kraft in sich aufgenommen hatte wusste sie, wie sie weitere Suchstrahlen oder Suchfelder ebenso schlucken konnte und damit für die Gegnerin unortbar wurde. "Zurück mit euch, von wo ich euch rief!" befahl Birgute ihren Schattenkindern. Sie gönnte ihnen die erbeuteten Seelen. Sicher würde sie die zwölf zu ihrer neuen Leibgarde ernennen. Denn auch diese Schattenkinder wussten nun sicher, wie sie weitere Suchstrahlen der Vampirgötzin absorbieren konnten. Heute nacht hatte die Königin gegen die Göttin der Nacht gewonnen. Doch Birgute verstieg sich nicht in trügerischer Glückseligkeit. Sie hatte eine Schlacht gewonnen. Doch wie lange der Krieg dauern und wie hart er werden würde wusste sie deshalb noch nicht. Denn auch die Gegnerin mochte ihre Lehren aus diesem ersten Duell gezogen haben. Wie sie diese umsetzte würde Birgute früher als ihr lieb war erfahren.

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Zur selben Zeit unter dem Golfstrom

Der Kampf um die zwölf ausgesandten Nachtkinder war verloren. Er hatte sie noch sechs weitere Seelen aus ihrem Verbund gekostet, die freudig aufschreiend aus der Welt verschwanden. Dann war auch noch Giriainanaansirian aus dem ewigen Schlaf aufgewacht und versuchte, sich gegen seinen Zustand zu wehren. "Dirne, lass mich raus! Gib mich frei! Ich befehle es dir!" drangen die wie schrille Schreie klingenden Gedanken des einstmals so gefürchteten Erzdunkelmagiers Iaxathan in ihren aus immer noch mehr als 900 Seelen bestehenden Geistesverbund. Doch Gooriaimiria gab ihn nicht frei. Sie schaffte es, ihn wieder in jenen Zustand eines dauerhaften Tiefschlafes zu versenken, bis er wieder ganz unterworfen in ihr ruhte. "Fehlte mir noch, dass ich dich verliere, nur weil dieses Schattenbiest mich überrumpelt hat. Ich krieg raus, wieso die das konnte. Ich kriege dieses Unweib zu fassen und mache die zu meiner ewig ungeborenen Tochter, wenn ich ihre gesamte Kraft nicht in mich einsaugen kann", dachte sie. Allerdings war sie nur halb so zuversichtlich wie sie tat. Denn diese Schattenkönigin hatte bereits eine Menge Helfer, und sie konnte ebenfalls Seelen anderer in sich aufsaugen. Sie konnte entscheiden, ob diese Seelen als neue Nachtschatten aus ihr geboren wurden oder zum Teil ihres eigenen Daseins wurden. Außerdem konnte sie noch schneller ihre Helfer herbeirufen als sie eine Hundertschaft von Nachtkindern an einen Ort bringen konnte. Sie musste überlegen, wie sie diese Nachteile ausgleichen konnte. Teleportation, also die direkte zeitlose Ortsversetzung, war doch wesentlich schneller als der Transport mit Hilfe des Schattenstrudels. Ja, den konnte dieses aus verstofflichter Nachtdunkelheit bestehende Frauenzimmer mit bloßen Händen aufbrechen und zerreißen. Auch wie sie das konnte musste Gooriaimiria erst einmal herausfinden. Sie wusste nur, dass sie doch noch nicht allmächtig und unbesiegbar war, wie sie es nach Heptachirons und Iaxathans Einverleibung eine Zeit lang geglaubt hatte.

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An der Rosemarie-Hazelwood-Akademie für höhere Töchter, nordöstlich von Port Lincoln in Südaustralien, 01.09.2003, 17:00 Uhr Ortszeit

Amelia und Jonathan Rutherford wollten es sich nicht anmerken lassen, wie betrübt sie selbst waren, als sie zusahen, wie ihre gerade erst zehn Jahre alte Tochter Laura zwischen den ein Jahr älteren neuen Mitschülerinnen in der Aula der exklusiven Mädchenschule saß. Wie alle anderen hier trug sie die fliederfarbene Schuluniform für Erst- und Zweitklässlerinnen und sah immer wieder zu ihren Eltern und den Eltern der anderen herüber.

Gemäß den strengen Regeln dieser Lehranstalt durfte eine neue Schülerin ab fünf Uhr nachmittags, wenn die im sogenannten Turm des Wissens verbaute Uhr die volle Stunde schlug, nicht mehr näher als drei Meter zu ihren Eltern, bis diese sie in die Ferien abholen wollten. Jetzt war es fünf Uhr nachmittags. Also galt diese harte Regel. Doch wo Amelia Rutherford selbst gegen aufsteigende Tränen anzwinkerte, um bloß nicht vor den ganzen anderen wichtigen Leuten hier als überbehütsame und überbesorgte Mutter aufzufallen, blickte Laura sehr entschlossen zurück. Das sie mit gerade einmal zehn Jahren in dieses Internat durfte, wo die meisten anderen elf oder schon zwölf Jahre alt waren, empfand Laura wohl als Herausforderung, etwas, dass spannend war, nicht traurig.

Amelia Rutherford hörte wie alle anderen Elternpaare noch die Ansprache der Schulleiterin, Professor Rebecca Hazelwood, Enkelin der Schulgründerin und damit sowas wie eine Thronerbin. Ja, und wie eine Fürstin oder gar Königin war auch ihr ganzer Auftritt. Die Körpersprache und die unerbittlich betonende Stimme, der Text ihrer Ansprache, all das verhießen, dass hier nur zwei Gesetze galten: Unverbrüchliche Einsatzbereitschaft und Gehorsam den Worten der Lehrerinnen gegenüber. Amelias Mutter war selbst hier Schülerin gewesen und hatte diese damals schon ehernen Regeln befolgen müssen. Sie hatte dann Amelia in eine städtische Privatschule geschickt, wo auch Jungen lernen durften. Doch auch wenn sie dabei mehr Freude als Verdruss erlebt hatte war ihr, Amelia, im Laufe ihres Lebens immer klarer geworden, dass ihre einzige Tochter Laura, sofern sie die Aufnahmeprüfung schaffen sollte, nicht in eine koedukative Schule gehen und sich voll auf das Lernen konzentrieren sollte. Denn sonst brachte ihr die mit fünf Jahren festgestellte Hochbegabung für Sprachen, Rechnen und kreatives Arbeiten nicht viel, wenn sie ihrer Mutter nachschlug und zwei Ehrenrunden fuhr, nur weil sie meinte, sich eines Jungen wegen im Lernstoff zurückfallen zu lassen.

"So bleibt mir, der Leiterin dieser traditionsbewussten und hohe Ansprüche an sich und alle hier lernenden stellenden Lehranstalt, Ihnen allen zu versichern, dass wir, meine Kolleginnen und ich, die uns von Ihnen anvertrauten Mädchen zu verantwortungsvollen, fleißigen und ihren Weg findenden Frauen erziehen werden, in loco parentis, in Ihrem Namen und zum Wohle Ihrer Töchter. Mit dieser Zuversicht wünsche ich Ihnen allen einen beschwernislosen Heimweg und jeden Erfolg, den Sie sich mit Ihrer Arbeit und ihrem Fleiß erwerben können, so wie Sie darauf hoffen dürfen, dass auch die uns anvertrauten Mädchen erfolgreich bei uns lernen werden. Bis dann zu den Weihnachtsferien!" beschloss Rebecca Hazelwood ihre Ansprache und nahm den pflichtgemäßen Applaus der Zuhörer hin. Sie verbeugte sich und nahm wieder auf dem Stuhl auf der Empore der Aula platz, der sie gleichermaßen räumlich genauso zur Höchsten machte, wie es die Rangordnung der Akademie tat.

Amelia und Jonathan winkten ihrer Tochter noch einmal zu, die lächelnd zurückwinkte. Mit den anderen Elternpaaren und mitgereisten Geschwistern der hier nun beinahe vom Rest der Welt abgeschotteten Mädchen verließen sie die Aula. Amelia wusste, dass sie diesen exklusiven Schulplatz sowohl dem Erbe ihrer Mutter als auch der hohen Stellung ihres Mannes bei der australischen Land- und Viehzüchterbank verdankte.

"Und sieh bitte zu, dass keine von deinen neuen Mitschülerinnen mitbekommt, was du kannst, Laura", hatte Amelia ihrer Tochter auf dem Flug mit dem Privatjet von Perth nach Port Lincoln klargemacht. Laura hatte ihr versprochen, nichts mit dem anzustellen, was sie und ihre Mutter als ihr ganz persönliches Geheimnis hüteten. Denn wenn das doch herauskam, noch dazu in dieser Schule, dann würden sie ihnen Laura sicher wegnehmen und als Gefangene halten, weil die einen sie als Monstrum ansehen mochten und die anderen von ihrem besonderen Können profitieren wollten.

Mit einem der hier gelandeten zehn Hubschrauber kehrten die Rutherfords nach Port Lincoln zurück, wo ihr grün-weißer Privatjet wartete. Rick, der Pilot des zweistrahligen Flugzeuges, begrüßte die Rutherfords dienstbeflissen und erwähnte, dass die Maschine aufgetankt und gründlich durchgecheckt war und auch das Wetter einen angenehmen Rückflug zulassen würde.

"Ich will auch das beste für unsere Kleine", sagte Jonathan, als er mit Amelia in einer kleinen, schalldichten Kabine saß, nachdem das Flugzeug abgehoben hatte. "Ich frage mich nur, ob diese kasernenartige Grundhaltung und das Standesdenken der anderen Mädchen wirklich gut für Laura sind."

"Das fragst du dich? Meine Mutter war in dieser Schule, als die noch von Regina Hazelwood geführt wurde. Sicher hatte sie da auch mehr Last als Lust gehabt. Aber am Ende, so meinte sie, habe sie zumindest genug gelernt, um nicht auf biegen und brechen heiraten zu müssen."

"Na klar, weil sie erst die ganzen Freiheiten austesten musste, die sie nach dieser Akademie hatte. Ich habe dir ja auch nur zugestimmt, Laura dorthin zu schicken, weil sie dort nicht von dummen Vorstadtpimpfen angemacht wird, die ihr ihre superhohe Auffassungsgabe und Gelehrigkeit neiden könnten. Sicher, bei den ganzen Kronprinzessinnen da wird sie es nicht leicht haben. Aber keine von denen wird ihr mit Gewaltandrohungen das Lernen vermiesen. Das werden die Eltern von denen ihren Töchtern sicher genauso beigebogen haben, wie wir Laura klargemacht haben, dass sie eine ganze Menge lernen kann, wenn sie sich voll auf alles konzentrieren kann. Überleg mal: Konntest du mit zehn schon fließend Französisch oder die ersten Kapitel des "De Bello Gallico" übersetzen?"

"Nein, das nicht. Aber auch nur deshalb, weil die Lehrer und Lehrerinnen an der Schule wo ich war wegen der anderen zu gestresst waren. Die Klassen waren auch einfach viel zu groß."

"Ich hoffe nur, dass wir nicht bald bereuen, dass wir Laura in diese Schule gesteckt haben, Amy. Ich war im Internat, mein Vater auch. Dem und auch mir haben sie später immer nachgesagt, wir hätten uns zu arroganten Säcken ohne Familiensinn entwickelt. Ich habe da einige dieser Klassenkameradinnen von ihr gesehen. Die tragen ihre Nasen schon viel zu hoch, um noch den Boden unter den Füßen wahrzunehmen. Am Ende wird Laura genau eine von denen, getreu dem Motto: Das Chamäleon passt sich dem Baum an, nicht der Baum dem Chamäleon."

"Bitte Jonathan, wir haben das alles schon dreimal besprochen. Ich bin der Meinung, dass Laura ihrer Begabung folgen sollte, um ein nach ihrer Meinung erfülltes Leben führen zu können. Also hoffen wir beide besser, dass wir die richtige Entscheidung getroffen haben", erwiderte Amelia. In Gedanken hoffte sie vor allem, dass Laura lernte, ihre Gefühle gut genug zu beherrschen, um nicht aus überstarken Emotionen heraus etwas anzustellen, was sehr unangenehme Fragen aufwarf.

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Im ehemaligen Wohnhaus von Tyche Lennox bei Boston, 01.09.2003, 00:05 Uhr Ortszeit

Der genau in der Mitte des Hauses hingelegte, kreisrunde Granitbrocken pulsierte rot-grün. Ein vierstimmiges Brummen erfüllte Decke, Wände und Boden. Sie fühlte, wie sie im Mittelpunkt geweckter Kräfte stand. Sie zielte mit ihrem silbergrauen Zauberstab Lotrecht von oben auf den an den Seiten und an der Oberfläche mit wirkmächtigen Zeichen aus der alten Sprache beschriebenen Stein. Dann sang sie die Zeilen von der Rückkehr in den ewigen Schoß der großen Mutter, vom letzten Abschied von allen unter dem Himmel atmenden und dem Frieden und der Hoffnung, ein Teil des ewigen Lebenskreises zu sein, aus dem immer wieder neues Leben wächst und nach seiner Vollendung in den stillen Schoß der großen Mutter zurückkehrt. Der bezauberte Stein glühte heller auf. Das vierstimmige Brummen schwoll zu einem Chor aus vier tiefen Bassstimmen an, der einen bestimmten Akkord wie in Wellen lauter und leiser sang, ohne Atem holen zu müssen. Dann blitzte der ausgelegte Granitbrocken noch einmal rot-grün auf. Für einen Moment meinte sie, alles um sich herum auf sie zurasen zu sehen. Dann war auch dieser Eindruck vorbei. Der in den Kellerboden eingelegte Granitblock leuchtete nicht mehr. Doch sie fühltte die von ihr geweckte Kraft sanft aber stetig an- und abschwellen. Ja, sie hatte es geschafft. Nun umgab der machtvolle Zauber der starken Mutter Erde diesen Ort, ihr neues Reich und Hauptquartier, Tyches Refugium.

Anthelia/Naaneavargia blieb noch einige Sekunden mit lotrecht über dem Granitblock ausgerichtetem Zauberstab stehen und genoss diesen Augenblick. Sie konnte es also auch noch, die machtvollen Kräfte der großen Mutter beschwören. Dabei hatte sie bei Sonnenuntergang, als sie den westlich des Hauses ausgelegten Rosenquarzbrocken bezaubert hatte, fast die geistige Balance verloren, weil sie sich fast zu sehr in Erinnerungen an vergangene Liebesakte versenkt hatte. Dafür musste sie sich um Mitternacht sehr gut konzentrieren, an werdendes Leben zu denken. Anthelia hatte in ihrem ersten körperlichen Leben mehrfach neues Leben getragen, es aber nie bis zur Geburt ausgereift, weil sie mit den empfangenen Leibesfrüchten dunkles Zauberwerk getrieben hatte. Einen Moment lang hatte sie echte Reue gefühlt, dass sie die Gelegenheit nie genutzt hatte, wirklich Mutter zu werden, es zu fühlen, wie aus ihr entstandenes Leben heranwuchs und zu ihrem körperlichen Erbe wurde. Doch der Wille, diesen Zauber erfolgreich zu vollziehen, hatte diese störenden Gefühle verdrängt. Nun, wo sie auch den fünften und letzten Teil des Zaubers ausgeführt hatte, dachte sie daran, dass Julius Latierre bei dem um Mitternacht zu sprechenden Zauber überhaupt keine Schwierigkeiten gehabt hatte, weil er sich völlig ohne Reue und Anflug von Schuldgefühlen auf Gedanken an die von ihm gezeugten Kinder einlassen konnte. Immerhin hatten seine kraftstrotzende Angetraute und er drei gesunde Töchter in diese Welt gesetzt. Sicher, sie würden die drei dazu erziehen, Orden wie den der schwarzen Spinne abzulehnen, ihn sozusagen pfui bah zu finden. Doch mit jedem neuen Sonnenaufgang gebar die große Mutter auch neue Hoffnungen, dachte sie, die eine Verschmelzung aus zwei mächtigen Zauberkundigen aus alter und neuer Zeit war.

Im Augenblick war nur wichtig, dass Tyches Refugium nun von diesem starken Zauber umgeben wurde und sie zu den bereits auf die Wände, den Boden und die Decke des Hauses geprägten Zaubern noch weitere Schutzzauber aufbringen konnte, die es vor Entdeckung, Angriffen und Zerstörungen schützen konnte. Zumindest hatte sie, bevor sie das Lied der starken Mutter Erde angestimmt hatte, einen Steinkreis mit Unaufspürbarkeitszaubern ausgelegt, um nicht wie Julius jedes der Erdmagie verbundene Wesen darauf zu bringen, mal nachzusehen, wer da was anstellte. Auch wenn sie keine Probleme damit hatte, ein Rudel Kobolde mal eben totzufluchen, musste sie diesen Spitzohren hier in den Staaten nicht auch noch zeigen, wo sie gerade wohnte und Ullituhilia, die Tochter des schwarzen Felsens, musste nicht auch noch zu ihr hin, wo die garantiert noch eine Rechnung mit der obersten Hexe der schwarzen Spinne offenhatte. Auch war es praktisch, dass die Zauberkraftabschirmung wirkte. Denn selbst wenn sie noch Verhüllungszauber um das Haus errichtete und es unangreifbar machte mussten die selbsternannten Ordnungshüter der US-amerikanischen Zaubererwelt nicht mitbekommen, wenn hier im Haus was mächtiges gezaubert wurde. Wenn sie auch noch Feuerschutzzauber in den im Mittelpunkt des Hauses ausgelegten Stein aufbrachte konnte auch kein Blitzschlag dem Haus was anhaben.

Beruhigt und zufrieden, dass sie nun die sichere Festung errichtet hatte, die sie bei der Daggers-Villa nicht errichten konnte, zog sich die höchste Schwester des Spinnenordens in ihr Schlafzimmer zurück. Louisette, die wegen Ladonnas Umtrieben für den Rest der Welt für tot und Begraben gehalten werden musste, schlief schon seit mehreren Stunden, weil Anthelia ihr einen zeitverzögerten Schlaftrunk ins Essen gemischt hatte, um freie Hand zu haben.

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Sitzungssaal des Dorfrates von Millemerveilles, 02.09.2003, 15:30 Uhr Ortszeit

Die von Vita Magica aufgezwungene Drillingsschwangerschaft strengte sie mehr an als jede der vorausgegangenen Einzelschwangerschaften. Doch ihre eiserne Disziplin trieb sie, sich die körperliche und geistige Belastung nicht anmerken zu lassen, schon gar nicht, wo bis auf die Heilerin Hera Matine alle Hexen des Dorfrates in der gleichen Lage waren wie sie. Eleonore Delamontagne hatte die Sondersitzung des Dorfrates einberufen, nachdem am Vortag, dem ersten September, herausgekommen war, dass offenbar eine neue Apparierabwehr um Millemerveilles entstanden war. Diese wies jeden zurück, der nicht hier in Millemerveilles geboren worden war oder da selbst ein Kind gezeugt oder ausgetragen hatte, das hier in Millemerveilles geboren worden war. Sicher, zu Fuß oder auf fliegendem Besen konnte jeder und jede noch herein, wobei jeder und jede einen kurzen Wärmeschauer und ein leichtes Kribbeln im Kopf verspürt hatte. Als dann Madame Faucon und Agrippine Fourmier aus Beauxbatons nach zehn Uhr abends erst einzeln und dann zusammen die Reisesphäre ausprobiert hatten stand fest, dass das neue Schutznetz über Millemerveilles offenbar seine volle Kraft erreicht hatte. Denn Agrippine, die nicht in Millemerveilles geboren worden war, wurde bei einer alleinigen Reise gleich nach der Ankunft wieder zurückgeschickt, wobei die Reisesphäre laut Madame Faucon in einem grün-goldenen Licht geleuchtet haben sollte. Professeur Fourmier hatte überdies berichtet, alle bisherigen Ereignisse ihres Lebens in Umgekehrter Reihenfolge bis unmittelbar vor ihrer Geburt nacherlebt zu haben. Das erklärte auch die Fötushaltung, in der sie laut Madame Faucon bei ihrer Ankunft auf dem Boden liegend verharrt hatte, bevor ihre Wahrnehmung wieder im Hier und Jetzt angekommen war. Als Madame Faucon die Reisesphäre benutzte hatte sie kein Problem, außer, dass sie einen starken Wärmeschauer durch die Füße in den Unterleib hinein verspürt hatte. Dann waren beide zusammen von Beauxbatons abgereist und unangefochten in Millemerveilles gelandet. Zwar war Madame Faucon auch nicht in Millemerveilles geboren worden, aber ihr Vater und ihre Großmutter väterlicherseits. Auch hatte sie hier ihre Tochter Catherine zur Welt gebracht. Offenbar reichte das alles als Zutrittsberechtigung. Es musste also geklärt werden, ob Millemerveilles grundsätzlich für außenstehende auf magische Weise betretbar war oder nicht. Bei Flohpulverreisen war es zu keinen Zurückweisungen gekommen. Allerdings hatten alle, die durch die Kamine nach Millemerveilles einreisten einen den ganzen Körper durchflutenden Wärmestoß erlebt.

Diese Beobachtungen und Einzelerfahrungen waren Gegenstand der Sondersitzung am 2. September des Jahres 2003. Hera Matine erhielt die Möglichkeit, über den von Camille Dusoleil, Maria Valdez, Adrian Moonriver, Mildrid und Julius Latierre ausgeführten Kombinationszauber zu referieren, sofern sie über dessen Durchführung unterrichtet worden war und vor allem, über was sie ohne die Vertraulichkeit zwischen ihr als Heilerin und Camille als ihre derzeitige Schutzbefohlene zu verletzen berichten durfte. Hera hatte ihren von der Protokollfeder mitgeschriebenen Vortrag damit beendet, dass trotz der nun offenbarten Nebenwirkungen, die jedoch verkraftbar und somit harmlos waren, alle hier wieder in Sicherheit vor böswilligen Zauberwesen leben konnten und sogar mit einem reinen Gewissen, dass dieser neue Schutzzauber ausschließlich aus Bejahung des Lebens an sich seine Kraft bezog und nicht aus vielhundertfachen Gräueltaten, wie es bei Sardonias Kuppel der Fall gewesen war.

Dann durfte noch der stellvertreter des Dorfrates für Sicherheit eine Beschwerde des Filialleiters von Gringotts Millemerveilles verlesen. Die Kobolde hatten nach einem Tag totaler Berauschtheit und Glückseligkeit herausgefunden, dass sie auf ihre übliche Weise nicht mehr aus Millemerveilles hinauskamen. Sie schafften es nicht in den Erdboden einzutauchen, als sei der Boden von Millemerveilles eine einzige Platte geschmiedeten Eisens. Erst jene, die es geschafft hätten, zu Fuß über die Dorfgrenze zu gelangen, hätten den üblichen Weg der Kobolde nutzen können. Dies sei eine Zumutung, so der Filialleiter von Gringotts Millemerveilles. Er forderte bei der Gelegenheit, diese Bezauberung umgehend wieder aufzuheben oder eine von allen Verliesinhabern eine jährliche Aufwandsentschädigung vor allem von jenen, die den Zauber gewirkt hätten. Ansonsten würden die Kobolde alle Zwischentüren in Gringotts fest verschließen und Gringotts verlassen, was hieße, dass die dort eingelagerten Münzen und Wertgegenstände für ihre Eigentümer unerreichbar wurden. Millemerveilles habe eine Woche Zeit, diese Aufwandsentschädigung zuzusagen und dem, der "diesen unsäglichen Zauber" durchgeführt habe, zu ersuchen, alle in Gringotts eingelagerten Vermögenswerte den Kobolden zu überschreiben und weiterhin auf die Nutzung eines Verlieses in jeder Gringottsfiliale auf der ganzen Welt zu verzichten.

Heras Bericht und das Ultimatum des Filialleiters von Gringotts Millemerveilles entfachten eine lebhafte, wenn auch in geordneten Bahnen verlaufende Diskussion, ob der neue Schutzzauber wirklich nötig sei und ob es nicht sogar ein Verstoß gegen die Gemeinschaftsregeln sei, da keiner der Mitbürger darum gebeten habe, einen neuen Abschirmzauber zu erhalten, bevor nicht klar sei, welche Auswirkungen er habe. Dem widersprachen Eleonore, Hera und Thalos. Denn bei den Sitzungen nach dem Erlöschen der Sardonianischen Kuppel hätten so viele im Dorfrat auch im Namen ihrer Familien einen adäquaten Schutz für Millemerveilles verlangt und dabei immer wieder Camille Dusoleil aufgefordert, ihr Wissen und Können als eine von Ashtarias Töchtern zum Wohl aller anderen zu nutzen. Dies habe sie nun getan, und somit genau dem entsprochen, was alle gefordert und somit auch erlaubt hätten. Außerdem rief Eleonore Delamontagne dazu auf, sich nicht von dreißig Kobolden einschüchtern zu lassen und auf keine ihrer Forderungen einzugehen, da die Gringottsmitarbeiter weiterhin kommen und gehen konnten, auch wenn sie nicht unter der Erdoberfläche dahinrasen konnten, solange sie im Schutzbereich des neuen Zaubers unterwegs waren. "Wenn wir es zulassen, dass einer von uns seine Ersparnisse und Wertgegenstände verliert, nur weil er oder sie in unser aller Auftrag und zu unser aller Schutz gewirkt hat, dann taugen die Gemeinderegeln nicht mehr viel. Dann gilt Nachbarschaftshilfe nicht mehr als selbstverständliches und kostenfreies Gut, sondern ist nur noch eine Frage von Leistung und Bezahlung. Ich bin mir ganz sicher, dass ihr das genausowenig haben wollt wie ich. Wahrscheinlich gehen die Kobolde darauf aus, dass wir von Millemerveilles ein vielfaches der bisherigen Verliesgebüren bezahlen, damit sie unsere Barschaften und Wertgegenstände weiterhüten. Ich denke nicht, dass auch nur ein ranghoher Kobold es riskiert, eingestehen zu müssen, dass die Zeit, wo wir Hexen und Zauberer den Kobolden unsere Wertsachen und Goldvorräte anvertrauen, vorbei ist. Denn sollte Millemerveilles heute geschlossen werden, dann ist es morgen Paris, übermorgen London, Frankfurt, Rom und Brüssel. Tja, und dann? Dann haben wir eine Menge arbeitsloser Kobolde, die dann mit Ihresgleichen und mit uns hadern, warum sie keine gutbezahlten Wertverlieshüter mehr sein dürfen. Ich hoffe, ihr anderen könnt das nachvollziehen."

Natürlich stimmten alle Eleonores Einschätzung und Aufforderung zu. Weil der derzeitige Rat für Sicherheit auch der hiesige Ansprechpartner der Gringotts-Kobolde war sollte Thalos Latour die schriftlich festgehaltene Entscheidung des Dorfrates mit einer klaren Gegendrohung weitergeben. Diese besagte, dass wenn jemand, der einen rechtmäßig erworbenen Schlüssel für ein Verlies in Gringotts Millemerveilles habe, etwas von den Kobolden daraus entwendet oder vorenthalten würde, sämtliche Bürgerinnenund Bürger ihre Wertsachen aus Gringotts herausholen und anderswo unterbringen würden, jetzt, wo es sich ja erwiesen habe, dass Millemerveilles von böswilligen Wesen nicht mehr betreten werden könne. Außerdem würde das Verhalten der Kobolde in allen Zaubererzeitungen bekanntgegeben und damit auch, dass ihnen nicht mehr zu trauen sei. Daher sei es für die Kobolde günstiger, wenn sie sich daran gewöhnten, oberhalb der Erdoberfläche aus Millemerveilles hinauszugelangen oder von draußen hereinzukommen.

Nach der Sondersitzung traf sich Eleonore noch einmal mit Hera Matine und Béatrice Latierre in Heras Haus. Sie unterhielt sich mit den beiden Heilerinnen darüber, wie lange Mildrid und Julius noch schlafen mussten, um die durch ihren Zauber vorweggenommene Ausdauer wieder hereinzuholen. Als Eleonore das erfuhr sagte sie: "Dann hoffe ich, dass sie danach ohne körperliche und geistige Schäden weiterleben können. Auch wenn ich einige vom Dorfrat verstehen kann, dass sie gerne vorher mehr über Aufwand und Auswirkungen des neuen Schutzzaubers erfahren hätten, so fühle ich mich doch sehr viel sicherer, auch für die drei Kinder, die ich erwarte."

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Irgendwo und irgendwann zwischen den Welten

Mal wusste er, wo und wer er war. Mal wusste er nur eines von beiden. Mal war er Madrashainorian als Ungeborener oder Kleinkind, mal Julius Andrews in den ersten Schuljahren. Dann war er Belle Grandchapeaus Zwillingsschwester Laetitia, dazu verwünscht, ein Lebenlang nicht weiter als zehn Schritte von Belle entfernt zu sein, weil er als Laetitia die Gunst der Stunde genutzt hatte, mit Adrian Colbert die erste körperliche Liebe zu erleben und somit das Dasein als Frau willkommen geheißen hatte. Dann wieder fand er sich in der gemalten Welt von Hogwarts und musste mit ansehen, wie Lady Medea das auf ihn abgestimmte Intrakulum zerstörte und ihm somit den Rückweg in seine Wirklichkeit versperrte, weil sie beschlossen hatte, dass er mit einer ihrer drei jungen Dienerinnen zusammenleben sollte. Dann fand er sich neben seinem zum Neugeborenen zurückverwandelten Vater in der Mojavewüste, weil die Anthelia dienende Hexe Patricia Straton ihn ebenfalls mit dem Infanticorpore-Fluch belegt hatte, jedoch ohne die Gnade, dass er sein bisheriges Leben vergaß. Somit hatte er nicht verhindern können, dass die Schlangenkrieger sich über ganz Europa und Asien ausbreiteten und sogar Wege fanden, nach Amerika und Australien vorzudringen.

Weil die Kraft, die ihn durch diese Welten trieb wohl gerade entsprechend gestimmt war fand er sich in der nächsten Abfolge von Ereignissen als Béatrice Latierres Doppelgängerin wieder und wusste, dass er mit ihr, die wie er gestaltet war, Orions Fluch ausgetrieben hatte. Doch Orion hatte noch einen gemeinen Joker im Ärmel. Als er sich gerade dem erschienenen Buch zuwandte, das der Fokus von Orions Fluch war, schlug ein roter Blitz aus dem Buch in seinen gerade weiblichen Unterleib ein, und eine laut dröhnende Stimme ließ seinen gerade besessenen Körper erbeben: "So, du wolltest, dass ich ein Hexenweib bleibe. So bleibe du jetzt so, wie du bist und krieg mich als das Kind eures verdrehten Lakentanzes. Erst wenn du mich als deinen Sohn gekriegt hast und ich meinen ersten Sohn gezeugt habe könnte mir einfallen, dass du auch wieder ein Mann sein darfst. Aber womöglich gefällt dir das ja bis dahin, andauernd von kräftigen Burschen wie mir durchgewalkt und aufgefüllt zu werden, dass du bis zum Sterben mit Hexenkesselchen und Milchtüten herumlaufen möchtest. Und wag es ja nicht, mich abzutreiben. Dann bleibst du auf jeden Fall ein Weib. So!"

Und weil Orions Racheschlag ihn getroffen hatte und er deshalb nicht mehr nach Beauxbatons zurückkehren oder gar Claires Verlobter werden konnte, blieb er, der sich dann selbst Messaline nannte, weil er ja schon geboren war, im Sonnenblumenschloss und ließ sich von Béatrice dabei helfen, ihren gemeinsamen Sohn Orion II. auszutragen und zur Welt zu bringen. Doch kaum das Orion II. seinen Leib verlassen hatte und mit lautem Jubelschrei sein neues Leben begrüßte, stürzte er selbst in einen hell erleuchteten Schacht und schwebte durch einen rotgoldenen Raum. Zwei Stimmen, eine weiblich und eine Männlich verhießen ihm, dass er sich der Folgen seines verwegenen Handelns aufrichtig und entschlossen gestellt habe und deshalb jetzt die Wahl habe, ob er als neuer Zauberer oder neue Hexe auf die Welt zurückkehren oder in die Welt der vorausgegangenen hinübergehen wollte, wo bereits Claires Urgroßmutter selben Namens auf ihn warte. Er entschied sich, als neuer Zauberer zurückzukehren und wurde unter großer Anstrengung als Pinas Neffe James T. Fielding wiedergeboren. Als solcher bekam er auch als säugling mit, dass die Schlangenmenscheninvasion dadurch gestoppt werden konnte, dass Anthelias Entomanthropen zu tausenden über die Welt hergefallen seien und mit der Gabe des Apparierens immer dort erscheinen konnten, wo Schlangenmenschen waren und was machen konnten, um sie am Abtauchen unter die Erde zu hindern. Dafür hatte sich Anthelia jedoch zur Dunklen Königin ausgerufen und durch die Verschmelzung mit Naaneavargia die zweite Amtszeit einer dunklen Imperatrix begründet.

Weil er offenbar das Rad der Zeit zurückdrehen wollte, was durch ein golden glänzendes Rad mit Jahreszahlen dargestellt wurde, landete er wieder in jenem Flur von Beauxbatons, wo ihn dieser grün-schwarz geschuppte Schlangenmensch gebissen hatte. Madame Rossignol hatte versucht, ihm die Nadeln für den Blutaustausch zu setzen. Doch seine Haut war schon zu fest und metallabweisend dafür. Deshalb kamen die Heilerin, Madame Maxime und er auf die Idee, er könne sich selbst mit dem Infanticorpore-Fluch belegen, damit er zumindest kein einsatzfähiger Schlangenmensch würde. Das gelang jedoch nicht. Da schlug Madame Maxime vor, dass er den Fluch gegen einen schwarzen Spiegel schleudern sollte, damit er fünfmal so stark auf ihn zurückfiel. Julius hatte erst eingewandt, dass er dann womöglich zum Ungeborenen zurückverjüngt würde und sterben müsse. Doch die Heilerin hatte angemerkt, dass seine eigene Zauberkraft schon geschwächt war und das Gift seinen Körper schon gegen ein gewisses Maß an Zauberkraft abgeschirmt habe. So waren sie in den Duellraum gegangen und er hatte im Schutz der Abgrenzung Madame Maxime mit dem Verjüngungsfluch angegriffen. Die hatte vor den beiden letzten Worten einen schwarzen Spiegel heraufbeschworen, und so prallte der Fluch als weißer Lichtblitz auf ihn zurück. Wie er befürchtet hatte, fand er sich dann als ungeborenes Kind wieder, allerdings nicht lebensunfähig an der frischen Luft, sondern in Madame Maximes Gebärmutter, ordentlich von Fruchtwasser umgeben, über eine Nabelschnur und Plazenta mit ihrem Kreislauf verbunden. Fünf Monate später, so die, die sich auf dieses Experiment eingelassen hatte, kam er dann als ihrer beider gemeinsamer Sohn Richard René auf die Welt zurück. Wie er dann aufwuchs bekam er jedoch nicht mehr mit, weil er da schon wieder in eine andere Traumhandlung überwechselte.

Einmal fand er sich mit der durch Vielsaft-Trank in ihre eigene Tochter Claudine verwandelten Catherine Brickston zusammen im Leib der letzten großen Schlange Skyllians und schaffte es, den übergroßen Nachtschatten zu vernichten, der ihn hindern wollte, die dort eingeschlossenen zu befreien. Allerdings führte dies dann dazu, dass der Geist von Iaxathan sich einen anderen Handlanger erwählte, der dann Jahre nach dem elften September den durch die vielen gewaltsam verstorbenen entstandenen Unlichtkristall barg und ganz heimlich als Iaxathans neuer Spiegelknecht aufstieg. Diese Folge im Traum erlebter Ereignisse endete damit, dass er, Julius Latierre, vor dem Eingang zu einer tiefen Höhle auf den neuen Spiegelknecht traf und der seine grüne Schlangenkopfmaske vor ihm lüftete. Es war Kevin Malone. "Jetzt nimm hin, was dir dein unterwürfiges Getue all die Jahre eingetragen hat, Schlammblut", hatte Kevin noch gerufen, bevor er "Avada Kedavra" rief und Julius in eine neue Folge von Ereignissen hinüberstürzte.

Sich erst darüber klarwerdend, dass der grüne Blitz ihn nicht vollkommen aus der Welt geschleudert, sondern in etwas gespenstartiges verwandelt hatte, fand er sich in einer weiten Halle schweben. Die Halle war nach seiner Wahrnehmung oval, maß in Längsrichtung hundert Schritte und war zwanzig seiner eigenen Körperlängen hoch. Der Boden war mit stumpfgrauen Platten ausgelegt, in die kleine, glitzernde Kristallkörper eingefügt waren. Von seinem Körper konnte er nichts sehen oder spüren. Er war einfach da, und seine Gedanken reichten aus, ihn durch den Raum zu tragen.

Das Licht innerhalb des Raumes stammte von aus sich heraus schwach silber-blau leuchtenden Kugeln, die doppelt so groß wie sein Kopf sein mochten, hätte er noch einen solchen auf den Schultern. In den leuchtenden Kugelschalen schwebten halbdurchsichtige Frauengesichter, denen er ein hohes Alter ansah. Er dachte zuerst an die Halle der Altmeister von Khalakatan. Doch die war größer, und die dort überdauernden Geisterwesen steckten in gläsernen Zylindern, nicht in Kugelschalen. Dann hörte er das leise Flüstern, das von den Kugelschalen ausging. Er sah, dass die darin schwebenden Gesichter ihre Lippen bewegten. Wo war er und was war hier los?

"Die lebendigen haben im Augenblick keine Verbindung mit den ganz jungen, mit dem Träger hoher Kraft und der Erbin des Drachenbezwingers, der Übergroßen und der Kleinwüchsigen. Offenbar wurden sie in einen tiefen Schlaf gezwungen oder sind durch etwas sehr starkes niedergerungen worden wie im Kampf gegen den Gierigen Vielgeist, dessen Kern das böse Ich Sardonias war", hörte er eines der altehrwürdig aussehenden Frauengesichter flüstern. Darauf erwiderte ein anderes:

"Sie leben noch. Denn wären sie gestorben hätte das die Totenglocke unserer Mutter zum läuten gebracht. Doch ich habe euch anderen ja schon erzählt, dass er, der sich von ihr über unsere Brücke hat tragen lassen, sich den Sonnenkindern zugewandt hat. Er hat es noch nicht gewagt, einer der ihren zu werden, wohl weil er weiß, dass er dann alles bisher erreichte aufgeben müsste. Aber vielleicht können wir ihn deshalb nicht mehr so klar erspüren, weil sie eine Saat in ihm gelegt haben, die heranreift.""

"Das wäre ein Akt des groben Undanks gegenüber unserer die Nacht hütenden Mutter, Schwester Silberstimme", erwiderte die eine darauf. Dazu bemerkte eine dritte in einer Leuchtkugel schwebende:

"Er hat doch schon drei Töchter gezeugt und wird wohl nicht die Geduld aufbringen, drei Jahre und drei mal die Zahl bisheriger Töchter an Jahren zu warten, um auch einen Sohn zu zeugen. Die mit ihm gesegnete wird das schon nicht abwarten wollen."

"Schwester Abendgruß, du hörtest doch auch durch das Gefüge der freien Gedanken, dass jene, die auf der großen Brücke zwischen den Lebendigen und hinübergegangenen wacht einen Sohn von ihm fordert, weil sie ihn aus sich heraus neu geboren hat, bevor er mit der Nachgeborenen des Drachenbezwingers, der Übergroßen und der geflüchteten Kleinwüchsigen den Segen unserer nächtlichen Mutter erbat. Ihr habt es sicher auch noch in Erinnerung, dass bei ihrem gemeinsamen Eintritt in unser Haus eine für die Lebenden unerkennbare weibliche Daseinsform mitgekommen war, die mit ihm zusammen neu zur Welt gebracht wurde. Sie vermittelt zwischen der starken, von Liebe und Leben ihrer Kinder und Nachgeborenen erhaltenen und ihm. Wenn sie wirklich einen Sohn von ihm verlangt, weil sie seine zweite Mutter ist, dann wird er zusehen, ihr zu gehorchen."

"Nur kann er ihr diesen Wunsch nicht erfüllen, nicht mit der, mit der er zusammengesprochen wurde, solange sie beide nicht die Zeit abwarten, die sie durch die Geburt der dritten Tochter zu warten haben, einhundertvierundvierzig Durchläufe unserer nächtlichen Mutter", sagte die eine, die mit Silberstimme angesprochen worden war.

"Ach, sie könnten auch eine der bereits geborenen Töchter zu unseren lebenden Schwestern bringen, damit die sie der großen Mutter anvertrauen und sie so zu einer unmittelbaren Tochter von ihr und einer Fügsamen und treuen Mitschwester von uns machen", flüsterte eine Stimme, die Julius nicht zuordnen konnte. "Das könnt ihr wohl vergessen, meine Schwestern. Denn die Blutsbande und die anerkannte Verpflichtung, für jedes der geborenen Kinder zu sorgen, wird sie davon abhalten, eine ihrer Töchter an unsere lebenden Schwestern zu übergeben. So bleibt uns nur, darauf zu warten, bis eine der von ihnen in die Welt geborenen Töchter den Weg zu uns findet und aus eigenem Willen bei uns bleibt oder eben die nun einhundertvierundvierzig Kreise unserer großen Mutter vollendet sind, bevor sie an einen eigenen Sohn denken dürfen, gleich was diese auf der großen Brücke stehende von ihm verlangen mag."

"Und wenn seine Dankbarkeit ihr gegenüber größer ist als die gegenüber unserer silbern glänzenden Mutter? Er könnte dann doch versucht sein, sich den Kindern des Himmelsfeuers zuzuwenden und einer ihrer Mitbrüder zu werden. Aber dann werden sie ihn wohl nicht mehr zurück zu den anderen lassen, weil sie mit seinem frischen Blut ihre eigenen Reihen verstärken wollen, so wenige es von ihnen sind."

"Das weiß er doch nicht", flüsterte darauf jene, die Abendgruß genannt wurde. Dann erstrahlten die Sphären alle in einem kalten, blauen Licht. "Jemand hat die Seelenmauer überwunden, die um unsere Heimstatt errichtet ist", riefen unvermittelt mehrere Frauenstimmen. dann fühlte er, wie das Licht ihn erst festhielt und dann mit einem grellen Blitz und dem Ausruf "Fort mit dir!" in einen unendlich weiten, sternenlosen Raum hinausschleuderte. Er schrie laut auf. Seine Stimme hallte als hundertfaches Echo nach, wie ein Geisterchor, der seine Höllenfahrt beklagte. Dann fühlte er, wie er unerbittlich in einen engen Raum hineingestoßen wurde und merkte, dass er einen Körper hatte. Doch einmal mehr war er ein ungeborenes Kind. Er hörte sein kleines Herz schnell wummern, sowie den laut fauchenden Atem der Mutter und ihren dumpf dröhnenden Herzschlag. Außerdem hörte er Stimmen von außerhalb. "Jetzt schlafen die zwei schon mehr als vier Tage, Hipp. Ich wage es nicht, sie von mir aus aufzuwecken, weil ich nicht weiß, ob sie dann ausreichend geschlafen haben." Darauf erklang dumpf und laut die Stimme der ihn tragenden Mutter:

"Gut, du kümmerst dich auch weiter um die ganz kleine, Trice. Millie muss ja nicht wissen, dass du sie morgens und abends selbst anlegst, damit sie die für ihre kleine Seele genausowichtige Körperwärme und Geborgenheit empfindet. Aber sag mir bitte bescheid, wenn sie wieder aufwachen oder besser, sie möchten mir das bitte über den Schmetterling zuschicken!"

"Ich bin ja froh, dass ich zu den nicht in Millemerveilles geborenen gehöre, die unbehelligt durch den Schrank gehen können", hörte er die außerhalb des von ihm bewohnten Leibes stehende antworten.

"Tja, das ist der Preis der Sicherheit. Gut, Ma kommt ja auch noch zu dir durch, ohne in Flammen aufzugehen oder zu Stein zu erstarren. Ist wohl nur wegen des Apparierens ein Problem."

"Hat Tine auch gesagt. Immerhin ist sie nicht nackig an ihren Ausgangsort zurückgeworfen worden wie damals Cassiopeia Odin."

"Ja, das ist wohl richtig. Ganz sicher komme ich mit deinem kleinen Neffen unter meinem Umhang auch noch gut nach Millemerveilles rein, kann eben nur nicht direkt apparieren. Gut, das hatten wir zur Zeit von Sardonias Kuppel ja auch", erwiderte die werdende Mutter und bewegte ihren Körper, dass er, der gerade in ihr heranwuchs, in seiner warmen dunklen Behausung geschaukelt wurde. "Dann bin ich mal wieder rüber ins Apfelhaus, Hipp. Grüß mmir Lutetia, wenn sie wieder an deinem Bauch herumknetet um zu prüfen, ob Alain wirklich keine melpomene wird."

"Komm, hör bitte auf. Die meinte schon, dass er dann sicher nicht viel größer als Beri werden würde. Na ja, würde ihm und mir die Geburt erleichtern, wenn er dann auch so winzig aus mir hinausfindet wie sein Vater damals war."

"Nur, dass Lutetia eine reinrassige Zwergin ist und du und ich Gauroshas winzigen Erbanteil noch im Erbgut haben, dass Kinder von uns etwas größer und stärker geraten als die von anderen Menschen, und wer weiß, ob Orion der Wilde damals nicht unsere Urahnen mit einer ähnlich großen Dame gezeugt hat. Du kennst ja die Gerüchte."

"Ja, und dass wir deshalb keine Messaline haben wollen, weil von ihr gesagt wird, sie geistere irgendwo zwischen Diesseits und Totenwelt herum und lauere auf jemanden, der seine oder ihre Tochter nach ihr benennen wolle, um dann in diese einzufahren um in ihr neu zur Welt zu kommen."

"Du hast dich bisher an diese Beschränkung gehalten, Hipp", sagte die da draußen.

"Nach allem, was sonst über Messaline erzählt wird kann ich das nicht ausschließen", erwiderte seine künftige Mutter. Dann verabschiedete sie sich von der anderen und bewegte sich gemütlich aber spürbar in wiegenden Schritten irgendwo hin.

Er bekam dann noch einiges mit, was sie anderen sagte, wie sie aß und welche Geräusche sie machte, als das von ihr gegessene erst über ihm im Magen und dann an ihm vorbei in den Gedärmen durchverdaut wurde. Dann schlief er ein.

Als nächstes fand er sich in inniger Vereinigung mit Ruashanormiria im großen Schwimmbecken ihres Hauses, die erste Liebeserfahrung von Madrashainorian und wie er jetzt wusste, die erfolgreiche Zeugung der Zwillingstöchter Gisirdaria und Madrakalia. Gerade erreichte er den Gipfel seiner Lust, als seine Liebeskunstmeisterin sich in reines Wasser auflöste und er laut keuchend nach Atem rang.

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Im Apfelhaus von Millemerveilles, 05.09.2003, 09:20 Uhr Ortszeit

Julius fand sich neben Millie im Bett liegen. Zwischen seinen Beinen fühlte er den Stoff der bezauberten Windel, die er vorsorglich hatte anlegen lassen. Diese Erkenntnis beruhigte ihn. Denn er erinnerte sich an mindestens drei liebesakte, mal als Mann, mal als Frau. Da er die letzten Monate sehr zurückhaltend gelebt hatte ... Gut, was immer aus seinem Körper gedrängt hatte war jetzt in der Wochenwindel versickert und für alle Zeit darin begraben, selbst wenn es Millionen ungezeugter Kinder von ihm waren.

Er dachte über die Träume nach, an die er sich noch erinnern konnte. Das mit der Halle und den Leuchtkugeln beunruhigte ihn, obwohl es kein Albtraum war. Hingegen war die Vorstellung, dass er Béatrices oder Belles Zwillingsschwester geblieben war eher lustig bis faszinierend. Ja, und dass er eine Zeit lang die Sinne seines ungeborenen Schwagers mitgefühlt hatte hielt er für durchaus möglich. Denn er hatte schon häufiger die Erlebnisse von Ungeborenen oder Geburtsvorgänge mitgeträumt. Als er zu Madrashainorian geworden war hatte er das sogar bei mehreren mit ihm in Verbindung stehenden erlebt, vor allem jenen, die anschließend als Daisirin zur Welt gekommen waren. Bevor er alle Träume vergaß wollte er möglichst viele davon in das gemeinsame Denkarium auslagern. Dann wollte er sich erst damit beschäftigen, was alles in der Zeit geschehen war, die Millie und er verschlafen hatten.

"Morgen Monju, auch schon wach?" grüßte ihn Millie, als er sich aufsetzte. Er beantwortete ihre Frage mit einem innigen Kuss. "Hast du auch so viel abgedrehtes Zeug geträumt, Monju? Na klar hast du das, was du schon in echt alles erlebt hast", grinste Millie.

"Bevor ich den Tag richtig anfange lager ich die Träume aus, die mir noch im Gedächtnis sind", sagte Julius. Millie bat ihn, das Denkarium auch für sie hinzustellen, weil sie ja auch wusste, wie sie Erinnerungen hineinkopieren konnte. "Können wir uns später mal angucken, was wir so alles durcheinandergeträumt haben", meinte sie. Julius überlegte kurz, ob das wirklich so gut war, wenn Millie alle seine Träume nachbetrachtete. Vor allem wunderte er sich, dass er sich an mehrere erinnern konnte, wo es hieß, dass die allermeisten davon unerinnert blieben, wenn jemand gleich danach weiterschlief. "Es war wirklich sehr beeindruckend, was ihr beide in euren Träumen erlebt und vollbracht habt", hörte er die celloartig klingende Gedankenstimme Temmies. Da wusste er, warum er sich an seine Träume erinnern konnte und dass es auf jeden Fall besser war, sie ins Denkarium auszulagern, statt dass Millie von Temmie erzählt bekam ..."Na, so redselig bin ich nun wirklich nicht, Julius, auch wenn ich gerade sehr innig mit deinem Geist verbunden bin."

"Weißt du denn, wie viele Tage wir in diesem Langzeitschlaf gelegen haben?" fragte Julius. "Das kann dir Babsies Schwester erzählen, wenn sie euch zwei untersucht hat, ob noch alles an und in euch in Ordnung ist", gedankenantwortete Temmie. Julius fand diese Antwort ein wenig beunruhigend. Doch dann fragte er, was Temmie gerade tat. "Mein Frühstück wiederkäuen. Ich liege hier mit den anderen auf der großen Wiese und genieße die Morgensonne. Clarabella ist auch bei mir und spielt mit den anderen neuen Kindern von uns. Sonst gibt es gerade nichts für mich zu tun."

"Will heißen, dir ist langweilig", schickte Julius zurück.

"O nein, durch Clarabellas lebhaftes Spielen und eure Träume wurde mir nicht langweilig. Ich helfe dir dabei, deine Träume auszulagern. Da waren einige bei, die im Wachleben sicher noch einmal angesehen werden sollten." Auch diese Antwort Temmies beunruhigte Julius ein wenig. Was hatte er so alles geträumt, was Temmie über die geistige Verbindung zu ihm mitbekommen hatte. Immerhin konnte sie nicht nur in sein Wachbewusstsein hineinblicken, sondern auch in sein Unterbewusstsein, seine Träume, ja diese sogar beeinflussen, wenn sie es für richtig hielt. Also wollte er schnellstmöglich alles ins Denkarium auslagern und dann auch Millie helfen, falls die ebenfalls merkwürdige Träume gehabt hatte.

Wie mit Béatrice abgestimmt ging die Schlafzimmertür auf, als Julius die Türklinke herunterdrückte. Gleichzeitig vernahm er ein Fröhliches Glockenspiel irgendwo im runden Haus: "Neuer Tag, ich grüße dich." Das war eines der vielen Aufwecklieder, wie sie das Glockenspiel des Abraxaner-Turms des Sonnenblumenschlosses morgens um sieben erklingen ließ. Offenbar hatte die derzeitige Mitbewohnerin einen Meldezauber gewirkt, wenn jemand die Tür von innen aufmachte.

Da kam auch schon Béatrice Latierre über die Wendeltreppe herauf. Sie trug ihre Heilerinnentracht, was deutlich machte, was sie nun vorhatte. Ebenso sah Julius ihr an, dass sie offenbar mehr Oberweite hatte. Also hatte sie sich doch den Nutrilactus-Trank genehmigt. Oh, das würde Millie sicher verärgern.

"Erst mal einen wunderschönen guten Morgen, Julius und zweitens, noch mal kehrtmarsch zurück ins Bett. Bevor du für was immer durch das Haus läufst ordne ich eine gründliche Untersuchung an, ob bei dir und Millie noch alles so ist wie es sein soll. Keine Widerrede!"

"Öhm, ich wollte mein persönliches Traumtagebuch ergänzen, bevor mir alles, was ich in den ... wie vielen Nächten? ... so dahingeträumt habe wieder vergesse", kündigte Julius unachtsamerweise an.

"Denkarium, anstrengende geistige Arbeit mit sehr hoher Konzentration. Erlaube ich dir erst, wenn ich weiß, dass dein Gehirn sich auch wirklich wieder erholt hat, Julius Latierre. Husch!"erwiderte Béatrice im gestrengen Heilerinnentonfall.

Julius wusste, dass er sich mit seiner Schwiegertante nicht auf endlose Diskussionen einlassen wollte. Wenn die ihn untersuchen wollte, weil sie als Millies auch seine Hausheilerin war, könnte er höchstens Widerspruch bei der Heilerzunft einreichen. Andererseits war er Pflegehelfer und somit noch mehr weisungsgebunden als als gewöhnlicher Patient.

Er überstand zusammen mit Millie die Untersuchung, wobei Béatrice auch den Einblickspiegel benutzte. "Gegen den gestauten Stuhl kriegt ihr gleich noch Abführtropfen, solange ihr die Windeln anhabt. Die Blase ist auf jeden fall regelmäßig leergelaufen. Auch gut zu wissen, dass ein diesbezüglicher Tiefschlaf ohne auferlegten Zauber oder eine ausreichend vorhaltende Dosis Tiefschlaftrank entsprechende Auswirkungen hat." Julius fühlte ein warmes Kribbeln an seinen privatesten Stellen. "Offenbar hattest du, Julius, auch ein paar sehr erotische Träume, zumindest wenn ich von den bekannten Durchschnittswerten und deinen gemessenen Werten ausgehen darf. Die kannst du dann ja auch auslagern, falls du erlauben möchtest, dass Millie sie ebenfalls nachbetrachtet."

"Oh, jetzt wieder den geschluckten Wichtel?" fragte Millie ihre Tante.

"Ich stelle nur sachlich fest, dass dein Mann sich gut überlegen möchte, was er von seinen Träumen für dich nachbetrachtbar auslagern möchte oder nicht", erwiderte Béatrice. Millie grummelte nur was, das jedoch unverstanden blieb. Das war vielleicht auch ganz gut so, dachte Julius.

Tatsächlich bekamen sie beide nach der gründlichen Untersuchung eine winzige Dosis Kreislaufbelebungstrank und einen widerlich schmeckenden Trank, der die noch widerlichere Wirkung hatte, dass er direkt durch den Magen in das Gedärm durchlief und dort mit lautem und unangenehmen Geräuschen alles löste, was in den letzten Tagen und Nächten darin angestaut worden war. Julius war froh, gewindelt zu sein, so dass die angestauten Mengen geräuscharm und vor allem geruchlos verschluckt wurden. Der Purgatorius-perfectus-Trank war heftiger als Rizinusöl. Aber er hatte den Vorteil, dass außer den kurzen Krämpfen wegen der schnellen Darmbewegungen keine inneren Verletzungen wegen zu harten Inhaltes entstanden. Endlich war die Tortur für die Eingeweide überstanden.

"Madame Rossignol hat den Trank auch in ihrem Sortiment, seitdem Forcas' diesen Du-scheißt-niemehr-Trank aus London in seinem Sortiment hat. Dass der und dieser tragisch um ein Ohr gebrachte Frechdachs aus der Weasleysippe das nicht begreifen wollen, dass eine schwere Verstopfung kein harmloser Streich ist verstehen wir Heiler nicht."

Es rumpelte noch einmal laut bei Millie und dann bei Julius. "Kann die Windel auch heiße Luft absorbieren, Mademoiselle Heilerin?" fragte Julius.

"Ja, weshalb sie auch gerne von Zeitgenossen getragen wird, die sich ein Zwiebelkuchenwettessen leisten und danach mehrere Tage verreisen müssen, Monsieur Pflegehelfer. Aber jetzt dürft ihr euch tagesfertig machen. Ich schicke die Bestätigung raus, dass ihr zwei wieder tages-und arbeitsfähig seid."

"Apropos, Tante Trice. Wenn du von dem Nutrilactus-Trank noch was übrig hast, den du dir eingeworfen hast, hätte ich auch gerne ein paar Tropfen davon und das dazu gehörige kleine Wesen, das eigentlich nur von mir trinken sollte", grummelte Millie.

"Das besagte wesen hat vorhin noch mal sehr ausgiebig zu trinken gehabt. Bis es wieder Hunger hat hast du durch ein hoffentlich sehr ausgiebiges Frühstück und viel Trinken genug selbst nachgelegt, Mildrid Ursuline Latierre", erwiderte Béatrice unverdrossen. Julius beschloss, dass die zwei sich besser allein über den Sinn und Unsinn von Patientinnenwünschen im Bezug auf Säuglingsernährung unterhalten sollten und verließ das Schlafzimmer.

Nachdem er auf Heilerinnenanweisung hin die nun ausgiebig genutzte Wochenwindel losgeworden war und sich geduscht und angezogen hatte ging er in die Bibliothek, um seinem Denkarium die noch erinnerbaren Träume anzuvertrauen.

Tatsächlich half ihm Temmie, indem sie durch Bildhafte Gedanken bestimmte Erinnerungen an die Oberfläche seines Bewusstseins zurückspülte. So konnte er alles in allem zwölf Träume auslagern. Ob Millie das echt sehen sollte, dass er Béatrices Zwillingsschwester geblieben war und als Nachwirkung von Orions Fluch dessen Geist in einem anderen Körper wiedergeboren hatte wusste er nicht so richtig. "Ist doch nicht passiert", meinte Temmie rein gedanklich dazu. Ja, passiert war das nicht, wie auch einiges andere, das er geträumt hatte. Doch dass er eine Zeit lang Alain Durin Latierres Wahrnehmung mitbekommen hatte mochte wirklich so passiert sein, zumal er bei der Sicherheitskopie seiner Träume ja auch daran dachte, dass Béatrice ihrer Schwester gesagt hatte, dass sie gerade deren Enkelin stillte. Sicher, er hatte Millies Geburt aus Millies tiefsten Erinnerungen heraus nacherlebt. Dennoch war es schon merkwürdig, wie stark er mit Hippolyte Latierre verbunden war. "Wieso merkwürdig? Du hast von ihrer Mutter einen Anteil Lebenskraft eingeflößt bekommen und mit ihrer Tochter drei gesunde Töchter gezeugt, die somit auch Anteile von Hippolytes Fleisch und Blut sind. Außerdem hast du doch damals in eurem letzten Lehrjahr auch davon geträumt, einer der vier späten Kinder Ursulines zu sein, richtig?" Julius musste seiner Gedankengesprächspartnerin und Traumaufbereiterin zustimmen. Traumaufbereiterin! Ein schön griffiges Wort für jemanden, die half, die eigenen Träume geordnet nachzubetrachten und zu verstehen.

"Oh, wir sollten Oma Line zum Geburtstag gratulieren", meinte Julius, als er auf den Kalender in der Wohnküche sah. Millie nickte, sie war dabei, sich schon ein drittes großes Käsebrötchen zuzuführen. "mmpff,mmjampf", erwiderte Millie darauf.

"Bist du dir sicher, dass du die Mutter bist und nicht eure zweite Tochter?" fragte Béatrice ihre Nichte. Millie knurrte darauf nur was, was wegen der Menge durchgekauten Brotteiges und Käses gerade unverständlich blieb.

Nach dem Frühstück durfte auch Millie das Denkarium mit den ihr noch in Erinnerung verbliebenen Träumen füllen. Sicher hatte Temmie auch ihre Träume mitgeschnitten, dachte Julius. Er nutzte die Zeit, um aus den Zeitungen die neusten Entwicklungen zu erfahren.

"Gilbert schreibt, dass "die neue große Abschirmung" offenbar jetzt so stark ist, dass jetzt doch keiner mehr rein- oder rausapparieren kann, der nicht hier geboren wurde oder wen gezeugt oder ausgetragen hat, der oder die hier geboren wurde", bemerkte Julius. Béatrice ergänzte: "Oder die nicht während des Zaubers in einem davon besonders erfüllten Bereich weilte. Aber das hat Gilbert auf Hipps und Mamans Geheiß hin nicht in die Zeitung gesetzt. Muss ja echt niemand wissen, wielange ich schon bei euch wohne."

"Dann kannst du hier locker wegdisapparieren und knallst nicht gegen die neue Abschirmung?" fragte Julius.

"Nein, tu ich nicht. Nur dass ich beim apparieren erst mal einen Hitzeschauer fühle, nichts unangenehmes, aber spürbares." Mentiloquistisch fügte sie hinzu: "Könnte auch daran liegen, dass ich Clarimonde mehrere Tage lang immer wieder angelegt habe und ich so einer hier geborenen als Lebenserhalterin gedient habe." Julius unterdrückte den Reflex zu nicken und erwiderte ebenso rein gedanklich: "Das war mir schon klar, als ich dich gesehen habe." Dass er davon geträumt hatte, ein Gespräch zwischen ihr und Hippolyte mitgehört zu haben, verschwieg er ihr lieber. Am Ende meinte sie noch, ihn von ihren Kollegen in der seelenkundlichen Abteilung der Delourdesklinik therapieren zu lassen, falls es nicht stimmte und falls er echt unfreiwillig durch Alains Ohren mitgehört hatte konnte sie selbst vielleicht paranoid werden. ER würde das vielleicht, wenn ihm jemand wie Anthelia oder eine von den Abgrundstöchtern erzählen würde, dass sie jederzeit über ein ungeborenes Kind bei ihm und Millie zuhören könnte. Aber die beiden bedachten kamen jetzt zumindest nicht hier herein.

"Oh, und Eleonore hat ein Ultimatum der Kobolde mit einem Gegenultimatum beantwortet, dass wenn die ihre Forderungen nicht zurückziehen zusehen dürfen, wie wir unsere Sachen aus den Verliesen rausholen und den Zwergen zur Verwahrung geben und das auch noch groß in alle Zeitungen setzen? Nicht ganz ungefährlich. Aber besser, als sich von diesen Spitzohren am goldenen Nasenring herumführen lassen", grummelte Julius. Sollte Millie das lesen, dass die Kobolde von Gringotts Millemerveilles verlangt hatten, dass ihrer beider Goldvorrat im Familienverlies von den Kobolden als Lastenausgleich eingesackt werden sollte, weil die nicht mehr unter der Erde wegflitzen konnten?

"Na ja, ob die Kobolde Eleonores Ultimatum fürchten oder es darauf anlegen, dass sie ihre Gegendrohung wahrmachen muss weiß ich nicht, Julius. Ja, und weil Adrian Moonriver verschwunden ist haben wir auch keinen, der sie wieder zur Raison bringen kann wie in der Nacht, als sie dir auf die Pelle rücken wollten."

"Ich habe meinen Schlüssel. Sollte ich in zwei Tagen Gold brauchen und nicht an mein Verlies können wissen wir's. Aber dann kriegen die Herren Kobolde mehr Ärger als nur einen Zeitungsartikel", grummelte Julius.

"Öhm, du hast das Wort genauso gehört wie Millie, was Adrian benutzt hat, richtig?" fragte Béatrice. Julius nickte und grinste dann breiter als der Kühlergrill eines LKWs. "Bicranius?" fragte er dann noch. "Bicranius", antwortete Béatrice Latierre.

Als Vivianes Porträt-Ich mitteilte, dass auch Camille wach und wohlauf war nutzte Julius die Gelegenheit, sie anzumentiloquieren. Beim letzten Mal hatte er gedacht, ihre Gedankenstimme sei wie eine große Kirchenglocke direkt unter seiner Schädeldecke. Doch diesmal war der Kontakt wieder so wie vor dem Zauber, wenngleich fast schon wie direktes mit der Stimme ansprechen und mit den Ohren hören. Als beide nun beruhigt waren, dass sie sich auch wieder aus der Ferne was zusprechen konnten lehnte sich Julius erst einmal entspannt zurück, bis seine Frau aus der Bibliothek zurückkam.

"Uuh, war das anstrengend. Dass du das immer im Vorbeigehen machst, Julius", keuchte Millie. Dann deutete sie von Béatrice auf sich. "Ich übernehme meine Tochter wieder von dir, Heilerin Béatrice Latierre."

"Da ich dich für gesund genug befunden habe, sie wieder vollumfänglich zu versorgen bestätige ich die Rückgabe deiner Tochter, Mildrid Ursuline Latierre." Mit diesen Worten stand Béatrice auf und ging in ihr Schlafzimmer. Von dort trug sie die Wiege mit der gerade selig schlafenden Clarimonde zurück ins Elternschlafzimmer.

Per Kontaktfeuer gratulierten erst Julius und dann Millie Ursuline zum Geburtstag. Die Zwillinge Félicité und Esperance waren ja gerade in der Schule, wo alle Zaubererweltkinder aus der Loiregegend hingingen. Damit Aurore und Chrysope ihre Eltern früh genug wiedersahen wechselten gleich alle vier derzeitigen Bewohner des Apfelhauses per direkter Verschwindeschrankverbindung ins Château Tournesol hinüber.

Wie Millie und Julius erhofft hatten wurden sie von Aurore und Chrysope stürmisch begrüßt. Sie mussten versprechen, dass sie jetzt nicht mehr solange von ihnen weggingen.

"Wenn euch die Kobolde dummkommen, Millie und Julius, dann sagt mir bitte, was ihr in eurem Verlies habt, und ich stelle euch eine Goldüberweisung aus einem von unseren Verliesen aus, damit die kleinen bloß nicht hungern müssen", stellte Ursuline klar. Millie meinte dazu: "Die werden sich nicht trauen, eine solche Welle loszulassen, dass keine Zaubererfamilie Frankreichs mehr was bei denen unterbringen will. Abgesehen davon gilt immer noch das Übereinkommen nach dem letzten Koboldaufstand, dass im Falle, dass die Kobolde einen Grund erfinden, warum sie Inhabern von Verliesschlüsseln den Zutritt verweigern oder gar den Inhalt eines Verlieses einbehalten, das Zugeständnis der Wertverwahrung widerrufen wird. das Zaubereiministerium kann dann gegen die Widerstände der Kobolde die Übernahme von Gringotts durchsetzen. Was immer die da an Fallen- und Sperrzaubern aufbieten, mit IVKs knackst du die alle weg, und die Kobolde wissen das womöglich schon", meinte Millie.

"Und vor allem dürfte ihnen aus dem dunklen Jahr noch gut bekannt sein, wie durchsetzungsstark Zauberer sein können, denen das Leben von Kobolden nicht mehr so wichtig ist", ergänzte Ferdinand Latierre, Millies Stiefgroßvater.

"Millie und Julius sahen ihn ein wenig verunsichert an. Dann sagte Julius: "Ich nehme euer Angebot an, sollte es nicht möglich sein, ohne großen Krieg an unsere Sachen heranzukommen, Oma Line, Opa Ferdinand. Aber noch sind genug Figuren auf dem Brett, um denen immer wieder Schach zu bieten."

"Das hoffe ich doch mal. Apropos, Julius, da wir ja diesen Sommer nicht spielen konnten erbitte ich von dir die Zusage, dass wir uns an einem der drei kommenden Samstage zusammensetzen und herauskriegen, ob einer von uns den goldenen Hut gekriegt hätte", sagte Ursuline Latierre.

"Hmm, dann müsste ich erst mal gegen Patricia, gegen Eleonore Delamontagne, Blanche Faucon und meine Mutter spielen, um einen belastbaren Vergleich zu erhalten."

"Patricia und Marc haben seit drei Tagen nichts mehr übermittelt, Eleonore wird wohl genug damit zu tun haben, sich auf die Rolle als Drillingsmutter vorzubereiten, Blanche wird wohl für ein inoffizielles Schachturnier nicht aus Beauxbatons herauskommen und die gute Martha lernt mit den dreien, die sie vor knapp einem Jahr bekommen hat neu laufen, denke ich mal", grinste Ursuline Latierre. "Aber grüßen darfst du sie von mir", fügte sie noch für alle hörbar hinzu.

Am Nachmittag trafen noch alle anderen kleinen und großen Geburtstagsgäste aus der Familie und dem Bekanntenkreis der sechzehnfachen Mutter ein. Damit es den Kindern nicht zu langweilig wurde, nur bei Erwachsenen zu sitzen und damit die Erwachsenen auch mal in Ruhe die Themen der großen Welt besprechen und dem Wein oder Met zusprechen konnten waren die Feiern aufgeteilt und es bestand eine fliegende Aufsicht, die von den Eltern der Kinder ohne große Absprache aufrechterhalten wurde. Nur beim Geschenkeauspacken und bei einigen Rate- und Geschicklichkeitsspielen waren alle im grünen Salon des Sonnenblumenschlosses zusammen. Hippolyte wiederholte Millie und Julius gegenüber, was ihre Mutter schon angeboten hatte, wenn die Kobolde wahrhaftig Streit suchten.

Es wurde zehn Uhr abends, als alle Gäste, die noch einigermaßen geradeaussprechen und -gehen konnten das Schloss durch die Schränke verließen. Nur Bruno Latierre, der sich mit Ferdinand mal wieder ein Met-Wetttrinken geliefert hatte, wurde auf ausdrückliche Heileranweisung von Béatrice Latierre in eines der vielen freien Gästezimmer verfrachtet, mit Ausscheidungsauffangeimer am Bett. Jeanne, die mal wieder einen Grund hatte, sich für ihren Mann zu schämen, nahm Ursulines Angebot an, bis zum morgen um sieben Uhr im Sonnenblumenschloss zu übernachten, wo sie und die von ihr mitgebrachten Kinder genauso sicher seien wie in Millemerveilles.

Millie und Julius wechselten mit ihren drei Kindern ins Apfelhaus zurück. Dann kam noch Béatrice herüber. "Auch wenn ich diese beiden wandelnden Sufflöcher beaufsichtigen müsste habe ich hier mehr Ruhe als im Schloss", sagte sie. "Außerdem wollen wir ja morgen die Kobolde friedlichstimmen." Den letzten Satz sprach sie mit einem überlegenen Grinsen, das auf Millie und Julius übersprang.

__________

In der Schalterhalle von Gringotts Millemerveilles, 06.09.2003, 11:30 Uhr Ortszeit

Alles hier war ein Viertel so groß wie in Paris oder London, und die Sicherheitsverliese lagen wegen Sardonias ausgelöschter Abwehrkuppel nicht viele hundert Meter tief unter der Erde, sondern gerade einmal einhundert Meter tief, aber dafür an den Enden kilometerlanger Gänge, die wie die Gänge gigantischer Regenwürmer beschaffen und mit koboldeigenen Steinhärtungszaubern ausgekleidet waren. Die Schalterhalle wirkte ohne die von Paris her bekannten Säulen eher wie die Wartehalle eines Bahnhofes mit kleineren Fahrkartenverkaufsschaltern. Insgesamt gab es zehn Pulte, hinter denen je einer der Kobolde saß. Soviel Millie und Julius wussten wuselten noch einmal zwanzig Kobolde in den Schreibstuben und den Gängen mit den Verliesenherum. Die Sicherheitskobolde trugen Schwerter oder Armbrüste bei sich, mit denen unbewaffnete Menschen besser keinen Kontakt bekommen wollten, da die Klingen und Pfeilspitzen selbst Drachenhautpanzer durchschlagen konnten und laut Thalos Latour mit einer koboldischen Entsprechung von Morgauses Tränen imprägniert sein sollten. . Außerdem warteten immer noch etliche Fallen auf all zu habgierige Besucher, hinter denen sich die Schutzvorrichtungen in ägyptischen Grabmälern locker verstecken konnten, sofern dort kein Magier Zauberhand angelegt hatte.

"Dann wollen wir mal", mentiloquierte Julius an seine Frau. Das würde noch gehen, wenn sie in die Gänge hinabfuhren, weil die Kobolde es bis heute nicht herausbekommen hatten, wie sie das Gedankensprechen unterbinden konnten, auch wenn sie immer mal wieder behaupteten, alle Fernverständigungszauber in den Gängen unwirksam zu halten.

Julius trat mit seinem kleinen goldenen Verliesschlüssel vor und guckte sich einen der ranghöheren Kobolde aus. Auf dem Platzschildchen stand in goldenen Buchstaben:

BOGNAC, CHEFKASSIERER
Bitte nur bei Transaktionen der Sicherheitsstufe 4 oder höher aufsuchen

Guten Morgen, Monsieur Bongnac", grüßte Julius in der hier angebrachten gedämpften Lautstärke, obwohl außer Millie und ihm gerade kein Kunde in der Schalterhalle war. "Ah, der Koboldvergrämungszauberer Monsieur Latierre persönlich", grummelte Bognac. Julius blieb ob der unwirschen Erwiederung ruhig und sagte:

"Nun, wenn es unser aller Vorhaben gewesen wäre, Sie und Ihre Kollegen aus Millemerveilles zu vertreiben wäre uns dies fraglos gelungen. Deshalb muss ich mich wundern, dass ein höhergestellter Mitarbeiter von Gringotts Millemerveilles sich zu einer derartig unpassenden weil unhöflichen wie unlogischen Behauptung hinreißen lassen kann. Denn da Sie ja zweifellos noch hier sind lag und liegt es nicht in meinem persönlichen Interesse als Ihr Kunde, noch im Sicherheitsinteresse der Gemeinde Millemerveilles, Sie und ihre Kollegen zu vertreiben. Im Gegenteil, ich möchte gerne das zwischen Ihnen und mir entstandene Missverständnis bereinigen, das in der Nacht zum 30. August diesen Jahres entstanden ist."

"Was bitte sollte der Unrat, dass Sie und dieser ... Nnrrgs ... dass Sie einen Zauber gewirkt haben, der die Bewegungsfreiheit meiner Kollegen und mir deutlich beeinträchtigt?" knurrte Bognac. Doch dann kapierte er, dass eine weitere Konfrontation seiner Anstellung wirklich nicht anstand. So sagte er schnell: "Was daran sehen Sie bitte als Missverständnis und wie möchten Sie es gerne bereinigen?"

"Das Missverständnis liegt darin begründet, dass die von mir und anderen geschätzten Mitbürgern Millemerveilles, deren Namen ich hier nicht erwähnen werde, ausgeführten Zauber dazu bestimmt sind, die Freiheit, Sicherheit und körperlich-geistige Unversehrtheit aller Einwohner der Gemeinde Millemerveilles zu wahren. Da Sie und Ihre Kollegen ja auch zu dieser Gemeinde gehören richtete sich der Zauber nicht gegen Sie. Dass sie durch dessen grundsätzliche Schutzwirkung daran gehindert werden, ihre schnellstmögliche Art der Fortbewegung außerhalb von Gringotts anzuwenden, solange sie die Grenzen von Millemerveilles nicht überschritten haben bedauere ich und wollte sie und Ihre Kollegen durch eine einmalige Aufwandsentschädigung von 100 Galleonen um Vergebung bitten. Den Zauber zurücknehmen kann und will ich jedoch nicht, zumal er wie erwähnt nicht allein von mir ausgeführt wurde und auch unsere Bewegungsfreiheiten eingeschränkt wurden, wie Sie möglicherweise von Madame Delamontagne, die vor zwei Tagen bei Ihrem Vorgesetzten vorsprach, erfahren haben dürften. Da ich in den letzten Tagen auch auf Grund der zum Schutz von Millemerveilles ausgeführten Zauberei nicht aus dem Haus gehen konnte ergibt sich erst jetzt die Gelegenheit, Sie und Ihren Vorgesetzten, Monsieur Pierroche, über Grund und Auswirkung des Zaubers aufzuklären."

"Monsieur Pierroche ist sehr ungehalten, weil die dick..., öhm ... sehr reichlich genährte Dame damit drohte, alle unsere hiesigenKunden dazu zu überreden, ihre hier eingelagerten Werte diesen ... zipfelbemützten, mit völlig untragbar ungepflegten Bärten herumlaufenden Zechbrüdern anzuvertrauen, was eine sehr unerhörte Anmutung ist. Wir hier in Gringotts fühlen uns durch die von Ihnen eingestandene und durch unsere Sicherheitsbeauftragten bezeugten Vorgehensweise dazu ermächtigt und verpflichtet, unsere entstandene Mehrbelastung ausreichend vergüten zu lassen und jeden an der beeinträchtigung beteiligten Zauberer aufzufordern, die von uns bezifferte Aufwandsentschädigung zu entrichten, was im Höchstfall die Einbehaltung der gesamten Einlage seines Verlieses bedeuten kann, falls die von uns bezifferte Entschädigungssumme nicht wesentlich höher liegt und er des weiteren für die Abtragung der dadurch entstandenen Schuld zu arbeiten hat."

"Oh, der Herr scheint unsere Kinder verhungern lassen zu wollen, Julius", erwiderte Millie nun ganz ruhig. Julius entgegnete es ebenso für den Kobold hörbar: "Ja, das klingt wirklich so. Ich hoffe, das ist auch nur ein Missverständnis."

"Nein, Monsieur und Madame, dies ist kein Missverständnis, sondern eine von Monsieur Pierroche persönlich klargestellte Forderung. Falls Sie maßgeblich an der Beeinträchtigung beteiligt sind darf ich um Ihren Schlüssel bitten. Wahrscheinlich sind sie ja auch deshalb zu mir gekommen."

"Ui, Millie, er meint es wirklich so", erwiderte Julius nur rein mentiloquistisch. Laut sagte er noch: "Ich fürchte, da sind Sie einem weiteren Missverständnis aufgesessen und Monsieur Pierroche leider ebenso. Denn ich habe weder die Absicht, meine gesamte Habe an Sie auszuhändigen, was durch eine Abgabe des Schlüssels stattfinden würde, noch einen Streit um Ihnen und uns zustehende Rechte auszufechten, sondern nur klarzustellen, dass die unter anderem von mir ausgeführte Schutzbezauberung zur Sicherheit allen denkenden und fühlenden Wesen innerhalb der Ortsgrenzen von Millemerveilles zu gute kommen soll und wir mit den sich daraus ergebenden Einschränkungen durchaus leben können, wenn wir es denn wollen."

"In zwei Tagen läuft die von Monsieur Pierroche, einem weiteren Kollegen und mir in Absprache mit Gringotts Paris verhängte Frist aus. Sollten die anderen Kunden bis dahin nicht wissen, wohin mit ihren Einlagen, da Gringotts Paris schon vermeldet hat, dass es keine Verliese in der hier angemieteten Menge und Größe vorhalten kann, so werden Ihre hier gelagerten Werte hier verbleiben, bis die Sonne gefriert und die Erde den Mond frisst. Es sei denn, Sie erbringen den von uns bezifferten Lastenausgleich, die Gemeinde Millemerveilles stimmt der von uns festgelegten Erhöhung der Nutzungsgebühren für die Verliese zu oder die Beeinträchtigung wird aufgehoben. die Androhung, Ihre Werte den ... Langbartträgern zu überlassen, erachten wir als hilflosen Versuch, Stärke vorzutäuschen."

"Wir hätten jetzt noch zwei Tage Zeit, hier alles rauszuholen, was hier eingelagert ist?" fragte Millie nun sichtlich angespannt. Der Kobold sah sie verdrossen an und deutete eine wegscheuchende Handbewegung an. "Ich spreche gerade mit diesem Monsieur, Madame. Bitte bewahren Sie derweil Ruhe", sagte der Chefkassierer. Millie deutete von sich auf Julius als sie sagte: "Der Monsieur ist mein Ehemann und wir führen ein Familienverlies in ehelicher Gütergemeinschaft. Dies erlaubt mir, zu den darin gelagerten Werten ebenso Stellung zu nehmen wie mein Mann. Also bitte noch einmal: Was ist, wenn wir alle unsere Wertsachen und Goldvorräte in den nächsten zwei Tagen hier herausholen?"

"Ohne die unserem Hause eigene Diskretion zu gefährden kann und muss ich Ihnen verbindlich versichern, dass es wegen der von Paris aus zugeteilten Personaldecke hier nicht möglich ist, innerhalb von zwei Tagen jeden Kunden in vollkommener Weise zu dienen. Außerdem wurde wie Sie eben mit ihren runden Ohren hören durften von mir mitgeteilt, dass der Inhalt des von Monsieur Latierre und Ihnen angemieteten Verlieses vollständig in die Begleichung der durch ihn verschuldeten Beeinträchtigungslastenentschädigung einfließt. Also übergeben Sie mir nun den Schlüssel."

"Bor, der will echt unsere Kinder verhungern lassen", flötete Millie. Julius nickte und sah dann Bognac an. "Ich weiß nicht, wie entschlossen Koboldmütter die Unversehrtheit ihrer eigenen Kinder schützen, Monsieur Bognac, doch bei Hexen gilt, dass der, der ihre Kinder gefährdet, mit allen Mitteln zu bekämpfen ist. Da Sie gerade trotz meines Angebotes, Ihre Äußerung als Missverständnis zu enthüllen, Ihre Forderung noch deutlicher bekräftigt haben besteht ein gewisser Grund zur Besorgnis, dass die Sache vor dem Koboldverbindungsbüro und dem Büro für Zauberwesen in Paris landen wird und ich den Abteilungsleiter für magische Wesen kenne, zudem wir auch sehr gute Beziehungen zu den Zaubererweltmedien unterhalten, wie übrigens auch Madame Delamontagne. Abgesehen davon bieten Sie mit Ihrem Vorhaben, unsere Werteinlagen zu beschlagnahmen leider einen sehr guten Anlass, Sie als Feinde unserer Familie und somit auch als Feinde der Bürgerinnen und Bürger Millemerveilles einzuordnen, was den von mir und anderen durchgeführten Zauber dazu anregen dürfte, Sie wirklich und wahrhaftig aus den Ortsgrenzen von Millemerveilles zu verjagen, noch bevor Sie hier alle Türen verriegelt haben werden. Der Zauber wirkt nämlich derart, dass erwiesene oder erklärte Feinde unverzüglich über die Ortsgrenzen hinwegversetzt werden. Natürlich mochte Ihnen Madame Delamontagne dies nicht vorher mitteilen, da sie eigentlich davon ausging, Sie weiterhin als respektable Geschäftspartner zu betrachten und Sie für vernünftig genug zu halten, nicht auf ein hässliches Gegeneinander von Drohungen und Gegendrohungen zu beharren. Da ich im Moment befürchten muss, dass Sie mir meinen Schlüssel nicht mehr aushändigen werden, wenn ich mit Ihnen oder einem Ihrer Mitarbeiter das von meiner Frau und mir gemietete Verlies aufsuche muss ich mein Angebot, Ihnen allen 100 Galleonen Aufwandsentschädigung zu zahlen, mit dem Ausdruck höchsten Bedauerns widerrufen. Allerdings besteht vor meiner Unterredung mit Madame Delamontagne noch die Gelegenheit, dieses für uns beide unschöne Gebaren zu beenden und zu einer Übereinkunft in gegenseitigem Respekt und Vertrauen zu kommen."

"Respekt? Sie und die anderen Zauberstabträger hatten doch nie wirklich Respekt vor uns!" entgleiste Bognacs Stimme. "In dem Jahr, wo der rotäugige Tod in London herrschte sind fünfzig von uns grausam zu Tode gefoltert worden, obwohl wir alles versucht haben, den Frieden zwischen euch Zauberstabträgern und uns zu wahren. Hier in Frankreich wurden hundert von uns von eurem Handelsabteilungsleiter in Haft genommen, damit deren Angehörige und Kollegen weiterhin spurten. Das ist kein Respekt! Und was das Vertrauen angeht, so steht im allgemeinen Geschäftsbetriebsvertrag zwischen uns und der Gemeinde von Millemerveilles, dass wir, die wir Gringotts betreiben, zu keiner Zeit in unserer eigenständigen Lebensweise beeinträchtigt oder bevormundet werden. Und dieser Zauber, Monsieur Latierre, der beeinträchtigt uns genauso wie diese üble dunkle Kuppel, die vier meiner Kollegen getötet hat. Das ist keine Vertrauensgrundlage mehr. Entweder, Sie geben nun Ihren Schlüssel ab und sehen zu, wie Sie an weiteres Gold kommen, um Ihre Brut zu füttern ..."

"Bloß nicht persönlich werden!" schnitt Millies Stimme in die schrille Tirade Bognacs hinein. Sie zückte ihren Zauberstab. Julius stellte sich demonstrativ zwischen sie und Bognac, was sie laut fauchen ließ. Die anderen Kobolde starrten nun herüber. Da schwang Millie ihren Zauberstab an Julius vorbei und zischte "Yanzaidorgush!" Mit einem schon metallisch klingenden Plopplaut gefolgt von einem schwirrenden Säuseln baute sich entlang aller Schalter eine violette Feuerwand auf. Die Kobolde schraken zurück und hielten sich so gut sie konnten Augen und Ohren zu. Nur der Schalter, vor dem Julius stand war frei von der Flammenwand. Doch offenbar wirkte sie auch auf den Chefkassierer. Denn er blinzelte immer wieder, als blende ihn gespiegeltes Sonnenlicht. Er machte eine Zaubergeste. Da stürzte Wasser von oben herunter, das aus sichh heraus silbern glitzerte und auf die Flammenwand prallte. Laut spotzend und silberne Funken sprühend verdampfte der Wasservorhang mehr und mehr. Die Koboldde wandten sich ab, während es andauernd knackte und fauchte.

"Das Feuer der Zurückweisung kann mit bezaubertem Wasser nicht gelöscht werden, weil es seine Kraft aus der Glut des Erdinneren selbst bezieht, die ja auch nicht mit Wasser oder Eis gelöscht werden kann", sagte Millie ganz ruhig. Bobnac stierte an Julius vorbei zu den immer weniger fallenden Wassertropfen, die ausschließlich dorthin fielen, wo das magische Feuer loderte. "Das ist unmöglich. Ihr seid auch welche wie die, die unsere Kollegen in ... Nein, das ist unmöglich", zeterte Bognac. Dann warf er sich über den Schalter und wollte nach Julius' Schlüssel langen. Doch der warf ihn weit in die Luft, dass nur Millie ihn mit einem geschmeidigen Sprung herunterpflücken konnte. Sie trat einige Schritte zurück, als wenn sie davon ausging, dass ihr nun keiner mehr was tun konnte. Da rief Bognac in Koboldogack: "Wachen zu mir! Wir werden angegriffen. Wachen zu mir!"

Unvermittelt flogen mehrere Türen auf, und mit Schwertern und Armbrüsten bewaffnete Kobolde stürmten in die Schalterhalle. Millie blieb ganz ruhig und machte eine schnelle Zauberstabbewegung von der Feuerwand zu sich. Was sie jetzt flüsterte bekamen wohl die Kobolde mit, aber nicht Julius. Er sah nur die Auswirkung, nämlich dass eine Flamme aus der violetten Feuerwand auf Millie überschlug und sie scheinbar wie ein stück trockenes Holz auflodern ließ. Doch offenbar machte ihr das nichts. Ja, die auf ihrem Körper und in ihren schulterlangen Haaren tanzenden violetten Flammen taten ihr nichts. Doch die hereindrängenden Kobolde schinen davon beeinträchtigt zu werden. Einer rief: "Wo bleibt das Unfeuerwasser?" auf Koboldogack. Bognac machte nur eine hilflose Geste zur Decke und schüttelte den Kopf. "Ist schon aufgebraucht und muss erst neu gemacht werden. Die zwei da können ganz kackige Zauber."

Julius erkannte, dass mehrere Kobolde auf ihn zurannten und kurz vor ihm zurückwichen. Also stimmte doch noch, was Millie erwähnt hatte, dass Adrian Moonriver den Kobolden befohlen hatte, ihm kein Leid anzutun. Sie zitterten regelrecht und wanden sich. Dann senkten sie die Waffen und wichen mit hängenden Köpfen zurück. Nur einer wagte es, einen Armbrustbolzen auf Millie abzuschießen. Der silberne Pfeil sirrte innerhalb einer Zehntelsekunde durch die Halle, traf die von Millie ausgehenden Flammen und prallte davon ab. Wimmernd trudelte der an der Spitze violett glimmende Pfeil davon und klirrte knapp neben einem der Kobolde zu boden.

"Die durchschlagen sonst Drachenhaut und mit Prellzaubern belegte Drachenhautkleidung", stieß einer der Kobolde aus. Dann kamen noch mehr Kobolde aus den Gängen.

"Ich bitte Sie alle noch einmal, Ihre Konfrontationshaltung gegen uns aufzugeben", versuchte es Julius noch einmal mit Worten. "Der von mir und anderen gewirkte Schutzzauber schützt auch Sie, zum Beispiel vor der Erbin jener, die uns alle unter ihrer dunklen Kuppel eingeschlossen hat und einem Geschöpf, dass alle Formen der Erdmagie in Vollendung beherrscht. Damit uns genau diese Wesen nichts anhaben können haben wir diesen Schutzzauber gewirkt."

"Alles Lüge! Sie arbeiten mit dieser Widerwärtigen zusammen, um uns endgültig zu unterdrücken", knurrte Bognac.

"Julius, der Herr will dir nicht zuhören und erst recht nicht glauben!" rief Millie ihrem Mann zu, während noch ein Armbrustpfeil von den violetten Flammen abgeprellt wurde.

"Ich habe gehofft, ohne das auszukommen, Mamille. Aber muss wohl doch so sein. Rufen wir's in fünf Sekunden", dachte Julius seiner Frau zu. Diese schickte ein "Verstanden " zurück.

Gerade trat der Zweigstellenleiter von Millemerveilles ein, erkennbar an der blau-goldenen Uniform. "Was geht hier vor, Leute!" rief er, während Julius und Millie so unauffällig sie konnten die große goldene Wanduhr mit vier Zeigern im Blick behielten, die ähnlich funktionierte wie Julius' Armbanduhr. Sie zählten beide fünf Sekunden. Dann riefen sie zeitgleich ein Wort, dass Bicranius' Mixtur der mannigfachen Merkfähigkeit in ihre Bewusstseine zurückgeholt hatte und dass sie am Morgen noch im Schutze eines Klangkerkerraumes so häufig gesprochen hatten, bis sie sicher waren, dass sie es fehlerfrei aussprechen und an den richtigen Silben betonen konnten: "Habblalgirnosh!"

Wie vom Blitz getroffen standen sämtliche Kobolde da. Jene, die noch erhobene Waffen hielten ließen diese schlagartig sinken. Dann sagte Julius dank des an seinem Ohr hängenden Allversteherringes in astreinem Koboldogack: "Hört auf unser Wort und befolgt es immerfort. Alles bleibt wie es vorher war. Sie vergessen die Drohungen und die Frist gegen uns. jede Hexe und jeder Zauberer, welcher ein Verlies angemietet hat, zahlt im Jahr ein Zehntel mehr für den Aufwand. Es wird niemandem Gold oder anderes Wertvolle weggenommen." Millie übernahm dann: "Dennunsere Kinder brauchen unsere ganze Zuwendung. Wenn sie wegen euch in Gefahr geraten oder einer von Euch wieder einem von uns was wegnehmen oder antun will soll er oder sie an Ort und Stelle umfallen und fünfzig Jahre unaufweckbar schlafen." Julius ergänzte dann noch: "Und wenn ihr uns euren Dienst verweigert oder untätig zuseht, wie wir und unsere Kinder hungern müssen, müsst ihr ebenfalls fünfzig Jahre unaufweckbar schlafen." Zusammen sagten sie dann noch: "So achtet unser aller Leben, wie ihr das eure achtet! Habblalgirnosh!"

Als das machtvolle Wort erneut gesprochen war rührten sich die Kobolde wieder. Die Bewaffneten torkelten wie volltrunkene durch die Türen in die Gänge zurück.

Pierroche kam auf wackeligen Beinen an den Schalter, hinter dem Bobnac wie ein getretener Hund hockte, während alle anderen Kobolde sich schon fast wie Zombies über den Boden schlurfend auf ihre Posten zurückzogen. Julius erkannte nicht zum ersten mal, wie verführerisch Macht sein konnte und wie bedrückend es war, zu erleben, wie sie auf lebende Wesen wirkte, wenn sie gnadenlos ausgeübt wurde. Millie schien dagegen sehr zufrieden zu sein. Mit einem Zauberstabwink und dem Wort: "Onkatayandorgushi!" ließ sie die violetten Flammen auf ihrem Körper und die Feuerwand mit einem umgekehrten Plopplaut im Boden verschwinden. Julius sah den Zweigstellenleiter an und sagte immer noch auf Koboldogack: "Wir wollten Ihnen allen nichts antun. Doch wir schützen das Leben aller unserer Kinder. Und uns das dafür nötige wegnehmen zu wollen mussten wir verhindern. Bitte melden Sie in Paris, dass sie und wir uns darauf geeinigt haben, dass wir von Millemerveilles wegen der undurchdringlichen Erde jeder ein Zehntel des bisherigen Mietpreises auf die bisherige Miete drauflegen werden. Sie bekommen dafür noch die Unterlagen von Madame Delamontagne und dem Koboldverbindungszauberer in Paris unterschrieben. Wenn sie Ihren Vorgesetzten verraten, was hier geschehen ist und dass es neben dem einen noch zwei gibt, die das Bannwort Ihres Königs kennen, ist das wie ein unmittelbarer Angriff auf unser Leben. Bitte denken sie daran, bevor sie finden, dass Sie Ihre Leute alarmieren müssen. Und wenn uns was passiert, ein ganz dummer Unfall oder eine weltweite Katastrophe, werden überall dort, wo wir unsere Aufzeichnungen versteckt haben, alle sie findenden das Wort erfahren und wie es zu sprechen und zu gebrauchen ist. Dann wird auch die, die Kollegen von Ihnen offenbar sehr übel mitgespielt hat es kennen und benutzen, wann und wo sie will. Das wollen wir nicht wirklich und Sie ganz bestimmt noch weniger als wir."

"Dieser .... Nngrrrrgs ... Der graue Eisentroll selbst hat ihm das Wort verraten", zischte Pierroche.

"Wenn der das Wort kennen würde gäb's euch schon lange nicht mehr", erwiderte Millie trocken und legte nach: "Denn dann bräuchte er es nur laut zu rufen, wenn er Hunger auf Koboldfleisch hat und könnte euch ganz einfach zu sich hinrufen."

"Millie, bitte ein wenig mehr Respekt. Mit Monsieur Pierroche möchten wir keinen Krach und auch keine Feindschaft", sagte Julius laut genug, dass alle es hörten, die in der Nähe hinter ihren Schaltern bibberten.

"Was soll denn der Quatsch jetzt, Monju", gedankenrief Millie ihrem Mann zu. "Der Quatsch soll, dass der Zweigstellenleiter nicht meint, sich und alle hier arbeitenden Kobolde aus lauter Frust, weil er uns nichts tun kann umzubringen, womit Gringotts dann auch für uns zu wäre", schickte Julius zurück. Einerseits liebte er das heiße Temperament seiner Frau und dass sie immer offen und ehrlich aussprach, was ihr passte oder nicht passte. Doch hier und jetzt war es leider unangebracht.

"Natürlich möchten wir alle weiterhin Frieden mit Ihnen und Ihren Mitarbeitern, Monsieur Pierroche", sagte Millie nach einigen Sekunden bedrückten Schweigens. "Denn wie Sie sicher wissen müssen wir hier alle viele Kinder versorgen. Weil demnächst noch viele dazukommen müssen wir sicher sein, dass wir immer an das nötige Gold für sie herankommen, wenn wir es ehrlich verdient haben. Nur weil Sie jetzt wie wir anderen auf der Erde langlaufen müssen, statt darunter durchzureisen sind Sie nicht weniger eingeschränkt als wir, die wir nicht mal eben von hier disapparieren können." Der Zweigstellenleiter sah sie mit einem Ausdruck des Erstaunens und einer gewissen Verunsicherung an, weil sie gerade eben noch so abfällig über sein Volk geredet hatte.

"Sie haben das wort benutzt und damit klargestellt, dass Sie die Macht des höchsten Herrschers besitzen. Ich kann mich dem nicht entziehen", seufzte Pierroche. Bognac nickte beipflichtend. Bei der Erwähnung des höchsten Herrschers hatte sich Pierroche sogar tief verbeugt, als stehe er eben diesem Herrscher direkt gegenüber.

"Ja, und wir wissen auch, dass es ein sehr mächtiges Bannwort ist, das längst nicht jeder kennen darf. Daher halten Sie sich bitte an die in dessen Klang erteilten Anweisungen und vor allem, halten Sie Gringotts für unser aller Leben am laufen! Wie erwähnt wollen wir keinen Streit und keine dauernde Feindschaft mit Ihnen. Aber wenn unsere Kinder bedroht sind dürfen und müssen wir uns wehren. Das ist das Gesetz des Lebens", sagte Julius. "Bitte sagen Sie Bognac noch, wenn sie hier was möchten oder schicken Sie bitte Madame Delamontagne mit der neuen Übereinkunft, damit wir nicht zu lange darauf warten müssen", sagte der Zweigstellenleiter. Julius und Millie blickten einander an, eine Hexe und ein Zauberer, größer als die meisten anderen hier lebenden.

Julius erbat sich von Millie den Verliesschlüssel zurück und folgte Bognac in die unterirdischen Gänge. Sie wartete oben und behielt die hier wieder an ihren Schreibpulten sitzenden Kobolde im Blick. "Das Wort ist wie der Imperiusfluch, Monju. Kein Wunder, dass die Kobolde es keinem auf die Nase binden. Denen könntest du so ja echt alles abverlangen", mentiloquierte Millie, während sie weiterhin die Kobolde ansah, die sie wie ein drohendes Gewitter betrachteten, von dem sie nicht wussten, ob es vorbeizog oder sich mit voller Macht über ihnen entladen würde. Jetzt kapierte Millie, warum Julius sie vorhin wie ein kleines Kind gemaßregelt hatte. Wenn sie die hier alle ansah verstand sie, weshalb viele Menschen im dunklen Jahr lieber freiwillig den Todessern oder Didiers Marionetten geholfen hatten.

Als Julius aus den unterirdischen Gängen zurückkam trug er einen klimpernden Lederbeutel bei sich. er winkte seiner Frau. Sie verabschiedeten sich von den hier arbeitenden Kobolden. Diese verbeugten sich kurz vor den beiden Latierres. Dann durchschritten diese die zwei Türflügel und verließen das Gringottsgebäude.

"Auch wenn mir das erst nicht gepasst hat, dass du mich vor diesem Spitzohr berichtigt hast, Monju, jetzt kapiere ich, warum du das gemacht hast. Die sahen alle so aus, als wollte ich denen im nächsten Augenblick den Todesfluch überbraten oder sie dazu bringen, sich gegenseitig abzuschlachten. Das war auch nicht das, was ich wollte. Mir ging's und geht's um die Kinder und dass wir wegen den Kobolden keine Probleme mit dem Gold haben", sagte Millie.

"Ich wollte das nicht so. Eigentlich habe ich gehofft, dass unsere Argumente zum Schluss ausreichen würden, ohne dieses Bannwort zu benutzen. Die müssen doch jetzt davon ausgehen, dass jeder hier in Millemerveilles es kennt und sie damit zu allem möglichen treiben kann, auch zum Angriff auf ihre eigenen Leute. Und wenn die echt Probleme mit der schwarzen Spinne gekriegt haben, dann wohl auch deshalb, weil die mit ihren Erdzaubern locker gegen die ankam. Das kennen die nicht mehr, dass jemand mehr draufhaben könnte als die. Besser ist es, wenn wir Eleonore nur sagen, dass wir nach einer Debatte mit Pierroche klargestellt haben, dass wir unsere eigenen Kinder verteidigen müssen, was auch heißt, sie nicht von jemandem aushungern zu lassen. Der Sänger Sting hat 1986 gesungen, dass er hofft, dass auch die Russen ihre Kinder lieben, ein Lied gegen die Angst vor dem weltweiten Atomkrieg. Mum hat mir den Text erklären müssen, weil da noch einige Begriffe waren, die ich als vierjähriger Ströpp noch nicht kannte. Aber ich hoffe auch, dass die Kobolde ihre Kinder lieben."

"Monju, vergiss es bitte, so leid mir das jetzt tut, dich berichtigen zu müssen", seufzte Millie. "Koboldmänner schwängern Koboldfrauen, damit was von denen weiterlebt. Wie es dann weiterlebt ist dann Sache der Frauen. Ist fast so wie bei den Zwergen, nur dass die Koboldmütter ihren Kindern die Ehepartner aussuchen, nicht die Väter. Die gehen dabei nach Gold und Zauberhandwerksfertigkeiten. Das kann aber dann auch dazu führen, dass sie ihre Kinder denen geben, die ihnen das meiste bieten, sie also verkaufen. Mit Liebe hat das leider nicht so viel zu tun. Das ist auch der Grund, warum viele Kobolde so durchtrieben sind und überall ihren Vorteil nutzen."

"Ja, und dann kommen dann so drei wie Adrian, du und ich daher und ziehen denen mal eben den Boden unter den Füßen weg oder machen, dass sie nicht mal eben im Boden verschwinden können und schaffen es dann sogar noch, sie davon abzuhalten, sich gegen uns zu wehren. Das war der schlimmste Schock, den ihnen wer verpassen konnte. Deshalb möchte ich das auch nicht breittreten. Wenn du und ich das Wort nicht gehört hätten würden die jetzt schon die Sanduhren aufstellen, auf denen "Laden schließt in ..." drauf steht."

"Ja, und dann hätten wir alle, vor allem die Hexen mit Umstandsbäuchen, darauf gedrängt, dass wir unsere Sachen aus Gringotts herausholen können. Dabei hätte es sicher Verletzte oder Tote auf beiden Seiten gegeben, wie es gerade bei den Nichtmagiern in Afghanistan und dem Irak abläuft." Julius musste ihr da zustimmen. Sogesehen hatten sie beide gerade sowas wie einen neuen Krieg der Zaubererwelt mit den Kobolden verhindert, sofern Pierroche nicht auf die Idee kam, für sich und seine Leute um Versetzung zu bitten. Aber das käme ja schon einer willentlichen Dienstverweigerung gleich, dachte er. Denn genau um sowas auszuschließen hatte er ja befohlen, dass sie sich den hier lebenden Menschen nicht verweigern durften.

Um möglichst vollendete Tatsachen zu schaffen sagten die Latierres Eleonore Delamontagne bescheid, was sie "ausgehandelt" hatten. Eleonore sah den beiden an, dass sie über den Ausgang nicht so glücklich waren, nickte aber und flog in eigener Person zu Gringotts Millemerveilles hin.

Wieder im Apfelhaus erstatteten Millie und Julius Bericht bei ihrer Tante Béatrice. Diese nickte ihnen zu und sagte: "Ich möchte es mir nicht vorstellen, ob es auch für uns Menschen so ein Bannwort gibt, das noch stärker wirkt als der Imperius-Fluch. Aber wie du schon sagtest, Julius, es war offenbar nötig, davon Gebrauch zu machen. Wollen wir es dabei bewenden lassen. Ihr beide kennt dieses Wort von Adrian und konntet es fehlerfrei aussprechen. Camille kennt es auch, wenngleich sie es wohl nicht üben wird, es auszusprechen, bis die vier neuen Kinder geboren sind. Wo wir dabei sind, Millie, Heute Mittag und heute Abend stille ich Clarimonde noch einmal, bis die letzten Spuren des Gedächtnistrankes aus deinem Körper heraussind. Einverstanden?"

"Das war mir kklar, Tante Trice. Okay, dann darf die kleine noch mal jungfräuliche Ammenmilch genießen. Dann sieht sie halt mit elf schon aus wie mit dreizehn und mit dreizehn wie mit siebzehn, wie Belisama Lagrange."

"Ach ja, das Gerücht gab es ja bei euch im Roten Saal und bei den Blauen", grinste Béatrice. Millie nickte entschlossen.

"Wo du Belisama erwähnst, Millie, sie hat schon was für Chrysope zu Weihnachten gefunden, will es dir aber noch zeigen, bevor sie es einpackt", sagte Béatrice noch. Millie nickte.

So blieb Julius am Nachmittag bei den Kindern und Béatrice und sah seiner Schwiegertante zu, wie sie Clarimonde stillte. Wieder einmal fragte er sich, ob er nicht auch mit ihr zusammengekommen wäre, von der einen Stunde im Sonnenblumenschloss ganz abgesehen. Er dachte auch an ihren Scherz, er möge sich einen Namen für einen gemeinsamen Sohn aussuchen. Wieder spukten ihm die Träume im 5-Tages-Schlaf durch den Kopf, wo er einmal als ihre Zwillingsschwester Orion neu zur Welt gebracht hatte und zum anderen die mitgehörte Unterhaltung in dieser ovalen Halle mit den Leuchtsphären, in denen offenbar die Seelen ehemaliger Hexen eingelagert waren. Falls das die Mondtöchter waren konnte da was dran sein, dass die ihm und Millie was aufgeladen hatten, dass sie nur dann einen Sohn haben konnten, wenn sie drei Jahre und drei mal die Zahl der schon geborenen Töchter Jahre warteten? Doch Ammayamiria hatte gefordert, dass sie beide schon in zwei Jahren einen Jungen hinkriegen sollten. Vielleicht spielte seine Vorstellungskraft ein wenig verrückt und er dachte sich im Traum Erklärungen aus, warum er bisher keinen Jungen hinbekommen hatte. Denn das hatte er ja schon vor dem Pflegehelferkurs gelernt, der Vater legte das Geschlecht des Kindes fest, nicht die Mutter. Es hing also wirklich an ihm, falls er nicht auf irgendwelche Zaubermittelchen zurückgreifen wollte, wie es Lea Drakes Mutter wohl getan hatte, um ganz sicher ein Mädchen zu bekommen.

Dann dachte er an die Hinterlassenschaften aus dem alten Reich, den goldenen Wächter, Ashtardarmirias neue Erscheinungsform, die Sonnenkinder, Darxandrias Haube, Kailishaias Kleid, das Feuerschwert, den unleerbaren Wasserkrug und die silberne Flöte. Das alles waren Verpflichtungen, die er eingegangen war und von denen er nicht wusste, was sie ihm und allen, denen er wichtig war, noch abverlangen würden. Womöglich gehörte Ashtarias Forderung auch dazu.

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französisches Zaubereiministerium in Paris, 07.09.2003, 08:30 Uhr Ortszeit

Julius Latierre ahnte es schon, dass mal wieder ein großer Aktenstapel auf ihn wartete. Deshalb nahm er den Berg aus Pergamentrollen auf seinem Schreibtisch als zu erwarten hin, als er nach mehr als einer Woche Abwesenheit sein Büro betrat. Er dachte, dass es schon heftig war, dass heute schon der 7. September 2003 war und er bald sechs Tage verschlafen hatte. Das gleiche war Camille Dusoleil und Maribel Valdez widerfahren. Immerhin hatte sich die Wachstumsgeschwindigkeit von Camilles ungeborenen Kindern wieder auf das übliche Maß verringert. Dennoch rechnete Hera Matine damit, dass Camilles Vierlinge zwischen dem 15. und 29. Februar 2004 zur Welt kommen würden. Wäre schon was besonderes, Vierlinge ausgerechnet am 29. Februar im Leben zu begrüßen, dachte nicht nur Julius. Doch wichtig war natürlich, dass sie gesund zur Welt kamen und weiterhin gut versorgt werden konnten.

Ein rosaroter Zettel auf dem Gipfel des Aktenberges stach Julius in die Augen. Wer schickte ihm denn solche Zettel? Er pflückte den Zettel vom Pergamentrollenstapel und las:

Guten Morgen M. Latierre,

ich hoffe sehr, dass die von den Bürgerinnen und Bürgern Millemerveilles erbetene Auszeit zu einem erfolgreichen Abschluss führte und Sie sich von dem, was von Ihnen erbeten wurde gut bis ausgezeichnet erholen konnten.

Ich nahm zur Kenntnis, dass es eine vorübergehende Unstimmigkeit mit den in Millemerveilles arbeitenden Kobolden gegeben hat und bin erfreut, erfahren zu haben, dass diese ohne Aufsehen oder gar handgreifliche Auseinandersetzung beendet werden konnte.

Da wie zu vermuten steht eine Menge aufgeschobene Arbeit auf Sie wartet möchte ich von mir aus um einen Vorschlag bitten, wann wir uns zu einer Besprechung wegen der Lage in Millemerveilles und den Folgen für Institutionen wie die Beauxbatons-Akademie zusammensetzen können. Ich würde dazu gerne M. Descartes von der Abteilung für magische Ausbildung und Studien hinzubitten, sowie Großheilerin Mme. Eauvive und Mme. Laporte. Die erwähnten Damen und Herren bekundeten bereits mögliche Freiräume, um der von mir erwünschten Zusammenkunft beiwohnen zu können. Bitte antworten Sie auf diese Anfrage erst dann, wenn Sie für sich selbst einen Überblick über die aufzuarbeitenden Vorgänge haben, bzw. wie lange Sie für deren Bearbeitung ungefähr einräumen müssen!

Schön, dass Sie wieder in unserer Mitte weilen!

ZM Melle. Ornelle Ventvit

"Es wird sicher um die Verteilung der ganzen neuen Kinder gehen, also um 2014 bis 2015", dachte Julius. Er drehte den Zettel um und schrieb mit der gleichen dunkelblauen Zaubertinte eine kurze Mitteilung, dass er die Nachricht erhalten habe und wie gewünscht einen Terminvorschlag machen werde, wenn er die Übersicht über die zu erledigende Arbeit habe. Dann griff er einen der schillernd bunten Memoflieger, zwengte den nach Trocknen der Tinte mehrfach zusammengefalteten Zettel zwischen dessen Flügel und befahl: "An Zaubereiministerin Ventvit persönlich zustellen!" Dann warf er den Memoflieger in Richtung Wand. Der magische Nachrichtenüberbringungsgegenstand schwirrte los, durch die vor ihm selbsttätig aufschwingende Luke hindurch und verschwand. Der Flieger würde sich nun seinen Weg durch das Ministerium suchen und die Nachricht zustellen.

Der überwiegende Teil der abzuarbeitenden Vorgänge bezog sich auf die Veelastämmigen Hexen und ihre Familien. Da die Familienstandsabteilung seit der dunklen Ära Didier/Pétain mit der Ausbildungsabteilung verbunden war und Grandchapeau und Ventvit diese Zusammenlegung weiterhin guthießen hatten die ihm mal eben alles was Anfragen oder Rückmeldungen der Veelastämmigen anging auf den Tisch geworfen. Tja, soviel zur Furcht, vor einem leeren Schreibtisch geparkt zu sein, dachte Julius. Die meisten Sachen würde er wohl in den kommenden drei Arbeitstagen abgehandelt bekommen. Bei einigen Sachen musste er sich beeilen, da Monsieur Lagrange aus der Familienstandssektion gerne noch persönliche Einschätzungen von ihm haben wollte, ob das Verhältnis zwischen den nun verschwägerten Familien Delacour und Marceau ein sogenanntes Beobachtungsobjekt sei, also dauerhaft von Ministeriumszauberern überwacht und betreut werden müsse, oder ob sich nach der beinahe in einen Geheimhaltungs-Supergau ausgearteten Spionageaktion keine weiteren Gründe ergeben, die Familie Marceau ministerial zu überwachen. Diese Anfrage von Belisama Lagranges Großvater konnte nicht mal eben durch einen Stempel und eine Unterschrift abgefertigt werden, wusste Julius. Denn über die Frage, inwieweit sich die Marceaus, vor allem die weiteren Verwandten mit den Delacours vertrugen und ob das die internationalen Geheimhaltungsregeln verletzte konnte er im Moment nicht sagen. Er fühlte sich nur ein wenig unbehaglich, wenn er daran dachte, dass seine eigenen Eltern und er solch ein "Beobachtungsobjekt" gewesen sein mochten, ja dass Professor McGonagall damals diese Einstufung beantragt oder angefordert hatte, um sicherzustellen, dass er auch wirklich nach Hogwarts kam und seine Eltern keine unerwarteten Schwierigkeiten machen konnten. In letzter Konsequenz verdankte seine Mutter wohl dieser Einstufung ihre geistige Gesundheit und ihre Freiheit. Sollte er, Julius Latierre geborener Andrews, nun darüber entscheiden, ob eine eigentlich unbescholtene Familie dauerhaft beobachtet und wegen der Zaubereigesetze auch in bestimmte Bahnen gelenkt werden sollte? Sagte er "ja", machte er sich mitschuldig, dass eine arglose Familie andauernd von unsichtbaren Leuten beobachtet wurde und kein wirklich freies Leben mehr führen durfte. Sagte er "nein", und die Beobachtung wurde beendet, machte er sich womöglich mitschuldig, falls die Marceaus doch irgendwas anstellten, um die Geheimhaltung der Zauberei zu gefährden. Wie sollte er auf diese Frage antworten?

Da er gelernt hatte, dass es nichts brachte, an etwas zu lange herumzugrübeln nahm er sich weitere Vorgänge zur Hand, die er schneller abarbeiten konnte. Am Ende würde er hoffentlich wissen, wie er Monsieur Lagrange antworten wollte. Dieser erwartete seine Antwort ja auch erst morgen bis Dienstschluss.

Gleich drei verschiedene Anschrheiben verkündeten ihm, dass Meglamoras am 16. Mai geborenen Töchter nun unter den Namen Rhéa und Clymène in der Zaubererwelt aufwuchsen. Die Rothaarige war Rhéa, die schwarzhaarige mit den grünen Augen Clymène. Mit diesen Namen würden sie also in Beauxbatons eingeschult, wenn sie ausreichend starke Zauberkräfte entwickeln sollten, dachte Julius.

Eine mit "Dringlichkeitsstufe 4" gekennzeichnete Rolle enthielt eine Zusammenfassung der Nachwirkungen der aufgedeckten Spionageaktion im mittlerweile niedergebrannten Schloss bei Amien. Er sollte, sobald er diese Zusammenfassung gelesen hatte, seine eigene Einschätzung mitteilen, ob Familienfeste künftig ausschließlich an vom Zaubereiministerium für unbedenklich erklärten Orten gefeiert werden dürften oder weiterhin riskiert werden dürfe, dass bei solchen Feiern das eine oder andere enthüllt wurde. Diese Anfrage kam von Primula Arno aus dem Büro für friedliche Koexistenz. Warum sie die zweithöchste Dringlichkeitsstufe ausgerufen hatte wusste Julius erst, als er die Zusammenfassung und eine beigefügte Liste anstehender Hochzeiten zwischen magischen und nichtmagischen Partnern durchgelesen hatte. Natürlich wollte die zwergstämmige Kollegin, die zugleich auch seine Schwiegertante war, von seiner Erfahrung profitieren. Immerhin hatte sie das unter dem Kennwort "Goldfischglas" erwähnte Spionageschloss ja selbst besichtigt. So räumte er die noch zu lesenden Rollen weit genug zur Seite, um auf zwei langen Pergamentbögen eine ausführliche Einschätzung der gesonderten Lage und der sich daraus ergebenden Gesamtbetrachtung zu schreiben. Er war froh, dass er hier mit einer Korrekturfeder arbeiten durfte, anders als bei Schulprüfungen. Denn erst der dritte Entwurf gefiel ihm von Länge und Informationsdichte her und passte auch von der Schreibweise her. Wie erbeten machte er vier Kopien davon, eine für sich, eine für Primula Arno, eine für ihre Chefin Grandchapeau und eine für das amt für nichtmagische Erklärbarkeit, was vor Didiers Machtübernahme Amt für muggeltaugliche Entschuldigung und Amt für Desinformation geheißen hatte und nun im Zuge einer respektableren Umgangsform mit den Menschen ohne eigene Zauberkraft entsprechend umbenannt war. Er wusste, dass in besagtem Amt für nichtmagische Erklärbarkeit Verbindungsleute zu den Inlands- und Auslandsgeheimdiensten saßen, die wegen der Affäre "Goldfischglas" wild herumgewuselt waren.

"Entschuldigung, Monsieur Latierre, Ihr Kaffee",piepste eine hohe Stimme von hinten. Hatte er schon wieder die Zeit runtergeschrieben, ohne zu merken, wie schnell sie verging!

Julius bedankte sich bei der Hauselfe, die ihm den Viertel-vor-Zehn-Kaffee gebracht hatte. Wieso hatte er sie nicht apparieren gehört? Das fragte er sie. "Crescence ist eine Leisespringerin. Kann viel leiser apparieren als andere Elfen. Guten Appetit und weiterhin erbauliches Schaffen, Monsieur Latierre!" Mit diesen Worten verschwand die in einem geschirrtuchartigen Kleidungsstück mit dem Wappen des französischen Zaubereiministeriums gekleidete Elfe mit den goldbraunen Tennisballaugen mit einem kaum vernehmlichen Piff in leerer Luft. "Ui, leiser als mancher Furz", dachte Julius für sich alleine. Dann erkannte er, dass solche Hauselfen geniale Geheimagenten waren. Die konnten mal eben wo reinspringen, was klauen, abfotografieren, hinlegen, verändern oder kaputtmachenund ebenso leise wieder verschwinden. Er selbst hatte gelernt, möglichst geräuscharm zu apparieren. Aber ein vernehmliches Plopp wie ein aus der Flasche herausspringender Korken war immer noch zu hören. Dann fiel ihm auch ein, dass die Abgrundstöchter völlig lautlos den Standort wechseln konnten. Also konnten manche Hauselfen das fast genausogut.

Nach der von höchster Stelle festgelegten Kaffeepause setzte Julius seine Büroarbeit fort. Er hoffte, bis zur Mittagspause zumindest ein Viertel der ihm zugeschusterten Vorgänge abgehandelt zu haben. Um elf Uhr konnte er der Ministerin seine Einschätzung mitteilen, ab dem 10. September jederzeit für das von ihr erbetene Gespräch zur Verfügung zu stehen.

Während der Mittagspause unterhielt er sich mit seiner Schwiegermutter aus der Spiele-und-Sport-Abteilung über neue Schwierigkeiten, die Weltmeisterschaft im Frühling zu wiederholen. Die Ligavereine Frankreichs, sowie die Ligasprecher anderer europäischer Länder hatten Einspruch gegen den Wiederholungstermin eingelegt und forderten eine Nachzahlung aus der US-amerikanischen Quidditchliga, weil die Hauptverantwortliche, Phoebe Gildfork, seit der Enthüllung des gigantischen Betrugsmanövers verschwunden war. Italiens Zaubereiministerium stritt jede Kenntnis vom Verbleib der Hauptsponsorin der US-Mannschaft ab. Allerdings hatte Linda Knowles, die nach ihrer Flucht ins Sonnenblumenschloss wieder in den Staaten weilte, herausgebracht, dass Phoebe Gildfork von den Italienern festgenommen worden war. Somit stand Aussage gegen Aussage. Das wiederum brachte einige wichtige Leute auf die Idee, dass das italienische Zaubereiministerium schon längst unterwandert sei, ob von Vita Magica, Ladonna Montefiori oder einer anderen magischen Gruppierung.

"Das ist jetzt echt heftig", erwiderte Julius auf diesen nacherzählten Vorwurf. "Ja, und wie du dir sicher denken kannst ist das italienische Zaubereiministerium darüber sehr ungehalten."

"Zumal ein solcher Vorwurf, sollte er echt zutreffen, die Hinterleute warnt, bloß nicht weiter aufzufallen. Abgesehen davon dürfte Linda Knowles in den Staaten gerade durch ein großes Drachengehege laufen, weil da viele sind, die ihr übelnehmen, dass sie das mit Phoebe Gildfork ausgeplaudert hat, dass das Ministerium möglicherweise bei den Italienern Druck machen muss, ob an der Sache was dran ist und falls ja, wo Phoebe Gildfork abgeblieben ist."

"Na ja, Julius, aber das richtige Drachengehege mit eingebauten Falltüren hat wohl Donovan Maveric um sich herum, weil er diese unsägliche Sache aufgedeckt hat. Die hätten nach dem Spiel doch locker nach Hause fliegen können, ohne dass wer ihnen da noch in den Besenschweif reinkracht", erwiderte Hippolyte.

"Hätten die garantiert auch gerne so gemacht. Nur dann wäre Don Maveric ganz schnell verschwunden, weil denen klar war, dass er denen den großen Coup verdorben hat. Wie bei Gangstern üblich leben die Aussteiger und Verräter nicht lange genug, um sich an der Reinheit ihres Gewissens zu erfreuen", erwiderte Julius. "Dem blieb also nur die Flucht in die Selbstanzeige. Ja, und wenn das Ministerium unterwandert wäre ... Ui, wenn Lino das nicht rausgetrötet hätte, dass Maveric zum Ministerium gegangen ist und die Mannschaft nicht so dämlich gewesen wäre, ausgerechnet nach Millemerveilles zu flüchten ..."

"Hätte das italienische Zaubereiministerium so getan, als sei alles in Ordnung, die Mannschaft wäre ohne Maveric abgereist, und auch die Amerikaner hätten keinen Wind darum gemacht, wo ihr Erfolgssucher abgeblieben sei. Italiens Zaubereiministerium hätte sogar ein wunderbares Erpressungsmittel in Händen gehabt", erwiderte Hippolyte. Julius nickte.

"Jedenfalls muss ich demnächst, sofern er da unten drin keine anderen Pläne mit mir hat, nach Lausanne, wo der Weltquidditchverband seinen Sitz hat."

"Hat deine Hebamme was diesbezügliches gesagt, dass er da unten drin was anderes plant?" fragte Julius und deutete flüchtig auf den Unterbauch seiner Schwiegermutter.

"Wenn es nach ihr geht kann ich sogar während der Niederkunft weiterarbeiten, weißt du doch. Aber psst, das bitte nicht an meine überfürsorgliche Schwester weitergeben und auch bitte nicht an deine Frau weitergeben."

"Versprochen, Belle-Maman", sagte Julius. Dann sprachen sie über erfreulichere Sachen, die nicht geheim genug waren, um sie nicht am Mittagstisch zu erwähnen.

Nach der Pause fand Julius die Antwort auf sein Memo an Ministerin Ventvit vor. Darin bestätigte sie einen Termin am 10.09.2003, 10:00 Uhr, also gleich nach der Kaffeepause. Als er den bestätigt hatte setzte er seine Arbeit bis fünf Uhr fort.

Den restlichen Abend verbrachte er mit seiner Frau und seinen Kindern, die froh waren, dass ihr Papa wieder bei ihnen sein konnte.

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Im Mondlichtungshaus auf einer Insel mitten im Amazonasstrom, 08.09.2003, 15:20 Uhr Ortszeit

Lunera Tinerfeño starrte voller Wut und Hass auf den unförmigen Klumpen aus geschmolzenem Silber. Das war mal eine Schallverpflanzungsdose gewesen, die sie mit ihren Mitbrüdern in Australien verbunden hatte. Als dort der Vollmond aufgegangen war war dessen Licht ganz plötzlich zu einer hellen, blauen Strahlung geworden. Auch wenn ihre Mitbrüder die Order hatten, sofort zu verschwinden, wenn dieses tödlich gefährliche Licht aufleuchtete, hatten sie es nicht geschafft. Diese Bastarde, die die Kraft des Mondes derartig verändern konnten, dass es auf Träger der Lykanthropie wie ein Entzündungszauber wirkte, hatten ihr massenmörderisches Machwerk verbessert und wohl eine Antiportschlüsselvorrichtung eingebaut, die jede Absetzbewegung mit Portschlüsseln unterband. Weil die im Buschland Australiens lebenden Mitbrüder keine Hexen und Zauberer waren oder das blaue Mondlicht ihre Selbstbeherrschung und Konzentrationsfähigkeit beeinträchtigte konnten sie auch nicht disapparieren. So hatten diese Schwerverbrecher, die sich heuchlerisch Gesellschaft zur Wahrung und Mehrung magischen Lebens nannten, wieder zwanzig treue Mondbrüder und mindestens hundert befreundete Werwölfe ausgelöscht, einfach so, ohne ihnen dabei in die Augen zu sehen, ohne ihre Todesqualen mithören zu müssen. Diese feigen Halunken, die sich anmaßten, bestimmen zu dürfen, wer ein Recht auf Leben hatte und wer nicht, würden genauso weitermachen, bei jedem Vollmond, irgendwo auf der Welt oder überall dort, wo viele unregistrierte Lykanthropen zu finden waren. Immerhin wussten sie nun, dass die alten Inkazauber der Mondgöttin Mama Killa die Kraft des Mondes stark genug abschirmen konnten, um eine durch den Vollmond bedingte Verwandlung zu unterbinden und auch das blaue Mondlicht von den dafür anfälligen Mitgeschwistern abzuhalten. Ansonsten gab es ja noch die Zufluchtsorte Glenfield Brooks bei Brighton, wo keine Fernortungszauber hinreichten, das Mondlichtungshaus auf einer Insel im brasilianischen Teil des Amazonasstroms und die Reina de las Mareas, das mehrere hundert Meter unter Wasser auf Grund liegende Tauchschiff in Form eines Blauwals, wo die Kraft des Mondes nicht hinreichte. Demnächst würden sie noch einen Stützpunkt bei Mexiko-Stadt bekommen, auf dem neben den bewährten Inkazaubern des Mondes auch solche der Sonne aufgebaut wurden, um die Jünger der mittlerweile sehr lästigen Vampirgötzin abzuhalten. Dass es nun auch in Australien zu Toten gekommen war lag einfach daran, dass die dort wohnenden Werwölfe vom Wagga-Wagga-Club der Meinung waren, keine ausländischen Schutzzauber nötig zu haben. Weil die Mondbruderschaft beschlossen hatte, mit anderen Lykanthropievereinen friedlich zusammenzuarbeiten, ja Verbundnetze zu pflegen, konnte Lunera denen nicht aufdrücken, die Schutzzauber aus dem Inkareich zu benutzen, vor allem auch, weil die australischen Werwölfe alles ablehnten, was ausschließlich von Hexen gewirkt werden konnte.

"Hallo, Lunetta, grübelst du wieder darüber, dass die Aussis nicht hören wollten?" fragte ihr de facto Ehemann und Vater der gemeinsamen Tochter Lykomeda. Dass er hereingekommen war hatte sie durchaus gehört und gerochen. Doch ihre ohnmächtige Wut und ihre Hassgefühle gegen die Verbrecher von Vita Magica hatten sie davon abgehalten, Valentino zu begrüßen. Sie wandte sich um und sah ihn an. Ja, er war immer noch sehr attraktiv, und der von ihm ausgehende Geruch regte sie wohlig an. Sicher würde sie ihn bald dazu bringen, ihr noch ein Kind in den Bauch zu stoßen, womöglich den von ihm erhofften kleinen Valentino.

"Ich habe deren Chefs zweimal geraten, doch zumindest zu prüfen, ob wer entsprechende Zauber kennt, wie Patanegra und Madrugadiña sie kennen", knurrte Lunera. "Ich bin mir ganz sicher, dass die Buschneger da unten auch starke Sonnen- und Mondrituale kennen, solange deren Magier schon die Kräfte der Natur erforschen."

"Öhm, Buschneger?" fragte Valentino, der sich im Internet immer noch Turboimpulso nannte.

"Komm mir jetzt bitte bitte nicht mit politischer Korrektheit, Tino", schnaubte Lunera. "Du weißt genau, was ich meine."

"Nicht mit politischer sondern geografischer Korrektheit, Neriña. Neger wurden früher die Ureinwohner Afrikas und deren nach Amerika verschleppten Nachfahren genannt", erwiderte Valentino.

"Gut, wie immer sie früher genannt wurden und heute von allen Gutmenschen dieser Welt ob mit oder ohne Zauberkraft, ein- oder wergestaltlich genannt werden, die Ureinwohner Australiens haben mindestens zehntausend Jahre Erfahrung im Umgang mit den Kräften von Natur und Magie und kennen garantiert auch Rituale, die Sonne und Mond besänftigen oder als Kraftquelle nutzen können."

"Aber von denen ist wohl keiner ein Lykanthrop, und ich fürchte, Lykanthropen werden von den Ureinwohnern als schwerkranke, gefährliche Leute angesehen, von denen sich alle fernzuhalten haben oder die auf Sicht zu terminieren sind. Die würden diesen Mondscheinmördern von Vita Magica sicher noch Tipps geben, wie sie uns noch gründlicher vom Teller putzen können, am besten noch so, dass von uns überhaupt nichts mehr übrigbleibt. Ich fürchte, das mit den Aboriginals können wir dann also voll vergessen", seufzte Valentino.

"Was sagen unsere Freunde mit den Streifen?" fragte Lunera.

"Ich habe mit Neubeginner noch mal gechattet. Seine Leute haben zwar jetzt ein paar Agenten in den chinesischen Triaden und natürlich auch bei den indischen Organisationen, müssen aber vor dieser Spinnenhexe in Deckung bleiben. Die Königin von den Gestreiften fürchtet, dass ihr Reich von den Bundesschwestern dieser Hexe unter Überwachung gehalten wird. Wenn die weiter als bis zur Küste des indischen Ozeans vordringen könnte die Spinnendame das als neuen Ausbreitungsversuch auslegen und mit Feuer und Eis zurückschlagen."

"Wie, die hat so viel Schiss vor dieser Spinnenschlampe, dass die ihre Leute nicht mehr rausschickt", schnaubte Lunera. "Dann sind die für uns total wertlos, Tino. Das kannst du diesem Burschen, den die Tigerkönigin zu ihrem Mann genommen hat gerne so aufs Brot schmieren. Denn wenn die nur noch in Indien oder Asien unterwegs sein dürfen nützen die uns in Europa oder den beiden Amerikas nichts."

"Also, soweit mir Neubeginner das vermittelt hat ist das mit der Spinnendame deshalb so, weil die damals wegen irgendwelcher Schlangenmenschen, die sie als Erbfeinde angesehen haben, Leute nach europa geschickt haben und die Spinnenhexe das wohl als Bedrohung ihrer Mitschwestern ausgelegt hat. Dann haben wir auch noch einige von denen dazu gekriegt, mit uns Erntemond durchzuziehen und damit die eingestaltlichen Zauberer und vor allem Hexen gefährdet haben sollen. Gut, das war nichts neues. Aber neu ist, dass dieses Weib offenbar Mittel kennt, mit denen ein größerer Landstrich mal eben abgefackelt werden kann wie mit einer Tonne Napalm. Öhm, das ist ein von Soldaten nutzbarer Brennstoff, der an getroffenen Zielen haftet und ziemlich heftig abbrennt ..."

"Weiß ich", unterbrach Lunera Valentinos spontane Erklärung. "Schließlich hat jemand einen der ersten Massenmorde an unseren Mitstreitern mit einem Angriff mit diesem Teufelszeug verglichen." Valentino nickte. Dann fragte er, ob dann echt alle Verbindungen zum Wagga-Wagga-Club aufgekündigt werden sollten. Das rang Lunera ein lautes, gehässiges Lachen ab.

"Das haben die von Vita Magica mit der Aktion beim letzten Vollmond klar und zuverlässig besorgt. Wir hatten da nur die zwanzig Mitbrüder, weil die in ihrem Machoclub ja keine Schwestern mögen", ätzte die Anführerin der Mondgeschwister und fügte hinzu: "Da sind die in Australien genauso altmodisch wie die Greybackianer, die uns Frauen nur als schmückendes Beiwerk oder lebendes Spielzeug oder wandelndes Beet für ihre doch mal nötigen Nachkommen ansehen.".

"Abgesehen von den Inkabräuten, die in unseren eigenen Club eingetreten sind haben wir in Südamerika aber auch viele Patriarchen, die all zu gerne mit dem Irren Rabioso das Weltreich der Werwölfe hochgezogen hätten", wusste Valentino. Dann fragte er noch einmal, ob Lunera einen neuen Anlauf nehmen wollte, mit den australischen Werwölfen ein Bündnis zu schließen. Darauf sagte sie: "Die hatten ihre Chance. Die wollten nicht hören. Dann sollen die zusehen, wie sie ohne uns klarkommen. Gut, ich werde noch einmal klarstellen, dass wir uns das nicht bieten lassen werden und Vergeltung üben. Das muss ich machen, damit genug Druck auf die achso anständigen Hexen und Zauberer ausgeübt wird, diese Verbrecher zu verfolgen."

"Ja, auch wenn du damit genauso zum Präventiv- oder gar Präemptivschlag aufrufst, Lunera. Aber das habe ich euch bei der letzten Zusammenkunft schon mal gesagt und muss mir das Getöse von Fino nicht noch mal antun, dass wir unseren Daseinszweck verraten, wenn wir uns wie niederes Ungezifer abtöten lassen, ohne uns dagegen zu wehren", sagte Valentino. Lunera wollte ihm schon entgegenhalten, dass diese Einstellung aber sehr unmännlich sei. Doch innerlich wusste sie, dass er leider recht hatte und sie im Grunde auf einer immer heißer werdenden Rasierklinge balancierten, wenn sie jeden weiteren Massenmord mit einer Drohung beantworteten. Im Moment blieb ihnen nur, die sicheren Verstecke auszubauen und ein Gegenmittel gegen die tödliche blaue Strahlung zu erfinden, sowas ähnliches wie den Schildzauber, den jeder für sich aufbauen konnte.

"Was haben unsere Drohnen über die Götzinnenanbeter vermeldet?" fragte Valentino und meinte damit die wie kleine Singvögel und Tauben aussehenden Erkunder, die Fino entwickelt hatte. Die waren auf die typischen Lebensschwingungen und Ausdünstungen von Vampiren eingestimmt worden und selbst mit immitierten Lebensäußerungen versehen worden, um von den Blutsaugern nicht als falsche Vögel erkannt zu werden.

"Ach, hat Fino den neuen Mondruf über die Blutschlürfer noch nicht rausgeschickt?" fragte Lunera. "Gut, hier das neueste für uns wichtige. Offenbar können die Anhänger dieser Götzin ein räumliches und teilweise physisch handlungsfähiges Abbild von ihrer neuen Göttin beschwören. Unsere Erkunder haben das bei drei Gelegenheiten mitbekommen, dass mindestens zwei von denen das machen, es aber bei drei oder mehr Leuten noch besser klappt. Dann erscheint eine aus sich blutrot leuchtende Frauengestalt mit leicht vorgewölbtem Unterbauch, als sei die gerade schwanger und kann sogar was mit ihren Händen greifen oder mit einer imposanten Stimme sprechen. Fino vermutet diese heftige Welle dunkler Magie als Verstärker, die uns im April aus den Schuhen gehauen und dann wie mit mehreren Litern Kaffee abgefüllt wieder aufgerichtet hat. Außerdem scheinen Kundschafter von denen nach Orten zu suchen, die schön weit abgelegen liegen. Womöglich wollen sie Stützpunkte bauen, vielleicht sogar sowas wie Gebetsstätten, Kathedralen, Tempel oder wie das dann auch immer bei denen heißen soll. Die zweite wichtige neue Sache ist, dass die Blutsauger sich an Verbrecherbanden heranmachen, um die wohl als deren Helfershelfer zu nutzen, ähnlich wie wir das mit der sizilianischen Mafia versucht haben und die feuerängstlichen Streifenkatzen es mit den Tiraden hingebogen haben. Was dann noch echt wichtig ist, so Fino, ist die Sache mit einer angeblich mächtigen Schattendämonin, die bei der Kiste mit diesem Lord Vengor entstanden sein soll. Die soll sich als Königin oder Kaiserin, vielleicht auch Muttergöttin der als Nachtschatten bezeichneten Geisterwesen verstehen und wohl selbst ein eigenes Reich aufbauen wollen. Dabei sind von der welche mit welchen von dieser Vampirgötzin aneinandergeraten. Könnte also sein, dass die jetzt Krieg führen und wir heftigst aufpassen sollten, da nicht mit reingezogen zu werden. Ach ja, diese grauen Blutsauger gibt es offenbar immer noch. wo die herkommen wissen wir nicht. Lustig ist, dass ein schreiendes Baby ausreicht, einen oder mehrere von denen sterben zu lassen und die dann zu Staub zerfallen, als wenn die wer in die Mittagssonne gehalten hätte. Ja, und weil es noch viele Blutsauger gibt, die sich nicht von einer angeblichen Göttin herumkommandieren lassen wollen wurde vor drei Tagen in einer von den Menschen vergessenen Niederlassung des berühmten Wlad Dracul die Liga freier Nachtkinder gegründet. Nachdem, was die von Fino um dieses Schlösschen aufgepflanzten Spatzen so gepfiffen haben, als sie weit genug von denen weg waren wollen die eine Armee aus magischen und nichtmagischen Soldaten aufstellen, um die Götzinnenanbeter zu besiegen. Anführer dieser neuen Vampirvereinigung ist ein gewisser Ursus Blutbart, Vampirsohn eines berüchtigten Straßenräubers namens Robur Blutbart. Fino und ich haben beschlossen, uns die Aktivitäten dieser Gegenbewegung erst mal ein paar Vollmonde lang anzusehen, ob es Sinn macht, mit denen Kontakt aufzunehmen, wo Vampire und Werwölfe ja so lange in Dauerfehde liegen. Nicht, dass die uns für Schwächlinge halten, weil die sicher auch die Sauerei mit dem blauen Mondlicht mitbekommen haben oder noch schlimmer, uns für Handlanger dieser Vampirgötzin halten. Wie erwähnt steht das alles noch formvollendeter im neuen Mondruf, den Fino gestern mit mir verfasst hat.""

"Gut, dann nehme ich das was du gesagt hast zur Kenntnis, Mutter meiner Tochter", sagte Valentino. Dann machte er eine Denkpause. Danach fragte er: "Das mit dieser Schattendämonin, Lunera, sollte uns das nicht echt Sorgen machen, ob es die gibt und was die mit uns anstellt, wenn wir der oder deren Dienern in die Quere kommen?"

"Also, diese Schattendämonin gibt es wohl, wohl ein besonders mächtiger, aus mehreren ehemaligen Frauen zusammengebackener Geist aus dunklem Ektoplasma, das auch als Nyktoplasma bezeichnet wird. Ja, steht auch in dem neuen Mondruf, dass wir uns auch vor der hüten sollten, weil Nachtschatten die üble Angewohnheit haben, lebenden Wesen die Lebenskraft und die Seelen auszusaugen und tiefgefrorene Leichen zurückzulassen. Die machen da keine Unterschiede zwischen Eingestaltlern und uns. Im Gegenteil, die könnten sogar auf den Geschmack kommen, unsere besondere Natur in sich aufzusaugen und dadurch besser gegen die Kraft von hellem Mondlicht geschützt zu sein. Die Sonne ist deren tödlicher Feind, wie auch für die Blutsauger. Also hilft gegen die wohl alles, was aus Sonnenkraft gewonnen wird, wie unsere speziellen Vampirzerstörungsbolzen."

"Gut, das soll Fino mit den anderen Zauberstabdirigenten rauskriegen, ob und was gegen lebende Schatten oder anderes Dämonengefleuch hilft", grummelte Valentino. Lunera wusste, dass ihr Auserwählter zwischendurch doch eifersüchtig war, weil er nicht zaubern konnte. Doch weil die anderen sich dafür nicht mit elektrischen oder elektronischen Geräten auskannten fand er immer wieder zurück in die Spur. Jeder konnte was und war deshalb gleichwichtig, das verkündete sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit.

"Also, wir werden nachher eine kurze Andacht für die zwanzig australischen Brüder halten und deren Namen mit entsprechenden Sternchen an unsere Wand der gefallenen Helden schreiben", sagte Lunera. "Dann schickst du bitte einen an die Australier gerichteten Protestbrief los, dass wir uns das nicht bieten lassen, wie niederes Ungezifer abgetötet zu werden und jeder weitere Mord an einem von uns eine sehr unangenehme Reaktion von uns nach sich ziehen wird!" fügte sie hinzu.

"Klar, wo deren Internetjockeys mittlerweile so fit sind, dass die unsere Aufrufe gleich nach Erscheinen mit entsprechenden Unsinnskommentaren beantworten, damit die magieunkundigen Nutzer denken, dass sei mal wieder ein Hoaks, also eine bewusste Falschmeldung. Mehr brauchen die im Moment ja nicht zu tun. Oder willst du jetzt wie Rabioso eine Beißkompanie losschicken, die sich in Säuglingsstationen von Krankenhäusern austobt?"

"So sehr mich das auch anwidert, sowas anzudrohen, Tino, wäre das zumindest eine Möglichkeit, diesen trägen Trollen kräftig in die selbstherrlichen Hinterteile zu treten", grummelte Lunera.

"Ja, gut, dann haue ich gleich die geforderte Botschaft an die Welt raus, auf Spanisch, Englisch und Französisch. Wollen dann hoffen, dass die sich dann nicht mit diesen Banditen von Vita Magica zusammentun und erst recht jeden von uns abmurksen. Denn eines solltest du nicht vergessen, Lunera: Wenn die rauskriegen, wie sie die blauen Todesstrahlen auch ohne Vollmond nachbauen können brauchen die ihre Wolfsjäger nur mit entsprechenden Abschussgeräten auszustatten oder geben denen vielleicht Schlagwaffen ähnlich wie Luke Skywalkers erstes Lichtschwert. Tja, spätestens dann putzen die uns gnadenlos von der Platte. Wie gesagt, vergiss das bitte nicht, Lunera!"

"Was die Magie und magische Gerätschaften angeht ist das Finos Bereich, Tino. Mach dir da also bitte keinen Kopf drum, was die anderen machen könnten!" fauchte Lunera. Wieso musste dieser verdammt gut gebaute Typ, der sie mehr als einmal in die höchsten Höhen der Lust getrieben hatte, derartig pessimistisch daherreden? Ja, und leider könnte der mit seinen Unheilsaussichten auch noch recht kriegen, wenn es den eingestaltlichen Zauberstabschwingern zu bunt wurde. Keine wirklich sonnigen Aussichten.

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Im Haus Tyches Refugium bei Boston, 09.09.2003, 09:09 Uhr Ortszeit

Tyche hatte es ihr damals erzählt, dass sie am neunten September um neun Minuten nach neun Uhr morgens im Kreißsaal des St.-Mary-Grace-Krankenhauses in Boston geboren worden war. Deshalb hatte Anthelia/Naaneavargia genau zu diesem Zeitpunkt acht besonders ausgezeichnete Mitschwestern zu sich eingeladen, darunter die japanische Mitkämpferin Izanami Kanisaga und Marga Eisenhut. Louisette Richelieu, die wegen Ladonnas Machenschaften für den Rest der Welt tot und begraben war, gehörte ebenso dazu wie die Mitschwester, die von allen anderen immer noch Albertine Steinbeißer genannt wurde.

Genau zu der Uhrzeit, zu der vor nun 45 Jahren die von allen für tot und begraben gehaltene Tyche Lennox das Licht der Welt erblickt hatte, stieß Anthelia mit ihren Mitschwestern an. "Dank sei dir für alles, was du für uns Schwestern geleistet und gegeben hast, Tyche", brachte die höchste Spinnenschwester einen Trinkspruch aus. Sie tranken vom eichenfassgereiften Met, den ihre englische Mitschwester besorgt hatte. Beth McGuire, die ebenfalls dabei war, hatte ihren Honigwein mit viel Traubensaft verdünnt, da sie zwei Töchter stillen musste.

"Wie stehen die Dinge in euren Heimatorten, Schwestern?" fragte Anthelia, nachdem alle ihre Kelche halb geleert hatten.

"Meine offiziellen Kollegen und ich haben seit der dunklen Welle viel mit Yokai zu tun, die von mächtigen Zauberern, den Taijiyas, in Steine gebannt worden sind oder in anderen Kerkern eingesperrt wurden", erwähnte die japanische Mitschwester Izanami Kanisaga. Nach einer kurzen Atempause fügte sie hinzu: "Auch kommt es bei den zwischen Yokai und Menschen entstandenen Mischformen immer mehr zur Entfaltung der dunklen Erbanlagen des dämonischen Elternteils. Gestern konnten wir gerade noch eine Gruppe Tengus davon abhalten, eine vollbesetzte Düsenflugmaschine von Tokio nach Hongkong zu zerstören. Wir wissen noch nicht, wer diese Vogelwesen derartig kontrolliert. Außerdem, höchste Schwester, behauptet ein junger Zauberer aus Kobe, den Gesang des Schwertes gehört zu haben. Du weißt, was das heißt?"

"Leider zu gut. Die von uns zu früh gerissene Schwester Pandora hat ja oft genug mit dir über die Artefakte des dunklen Wächters gesprochen", erwiderte Anthelia. Sie dachte mit dem Wissen Naaneavargias, dass der dunkle Wächter auch ein Daisirian gewesen sein musste. Denn er sollte einer leidenschaftlichen Liebesnacht zwischen einer Yamauba und einem auf dem Weg zu seinem Herren befindlichen Ninja entstammen, wobei die Yamauba ihrer Natur gemäß den Liebhaber am Morgen nach der leidenschaftlichen Nacht bei lebendigem Leib aufgefressen haben sollte. Weil sie da aber schon von ihm ein Kind empfangen hatte sei die Seele des Ninjas in diese Leibesfrucht übergetreten und von der japanischen Berghexe neu geboren worden. Einige Artefakte gingen auf diesen auch als Sohn, der nirgends sein darf zurück, darunter Anthelias silbergrauer Zauberstab, dessen besondere Kraft durch ein Bad in Einhornblut entstanden war.

"Nun, das Schwert was aus dem Japanischen mit Drachenzahn übersetzt werden kann, liegt seit zweihundert Jahren in einem gesicherten Lager der Hände Amaterasus. Wenn der Sohn, der nirgends sein darf auch an dieses einen Teil seiner Seele gebunden hat, so kann er nun nach dem Durchlauf der dunklen Woge wohl nach neuen Wirtskörpern rufen", meinte Izanami. Anthelia nickte. Immerhin hatte sie aus dem ihr gebrachten Zauberstab den Geist des dunklen Wächters ausgetrieben, um ihn zu ihrem alleinigen Eigentum zu machen. Wer das Schwert anfasste mochte durch eine magisch aufgezwungene Symbiose zum Diener des dunklen Wächters werden. Es hieß auch, dass das Schwert jede Frau tötete, die es an Klinge oder Griff zu berühren wagte oder von dem Schwert selbst berührt wurde.

"Habt ihr geprüft, ob das Versteck des Schwertes noch sicher ist?" fragte Anthelia/Naaneavargia. Izanami Kanisaga nickte. "Da wo es liegt - ich werde euch nicht sagen wo - ist es noch sicher. Doch wir müssen aufpassen, dass niemand seinem verlockenden Gesang erliegt und alles unternimmt, es aus seinem Kerker zu befreien und damit dem dunklen Wächter einen neuen Körper darbringt."

Anthelia und auch Albertrude sahen einander an. Sie beide wussten, wie leicht eine Legende zur Wirklichkeit werden konnte und ihren Tod in der stofflichen Welt überdauernde Seelen einen neuen Körper in Besitz nehmen konnten.

Als sich Anthelia mit der aus dem australischen Neusüdwales herübergekommenen Mitschwester Gwendolyn Curby über die dort stattfindenden Aktivitäten dunkler Wesen oder Vita Magica unterhielt erzählte diese, dass die Stammeszauberer der Ureinwohner weiterhin rastlose Geister jagten, die durch Gewalttaten entstanden waren und nach vielen Jahrhunderten Verbannung auf Rache an den Nachkommen ihrer Mörder ausgingen.

"Ich vermute, dass der Tag nicht mehr all zu fern ist, wo die selbsternannten Hüter der friedlichen Zaubererwelt entscheiden müssen, wie und zu welchem Preis sie die Geheimhaltung der Magie aufrechterhalten können oder wollen", sagte Anthelia, nachdem sie alle Neuigkeiten gehört hatte. "Wenn immer mehr dunkle Zauber- und Geisterwesen auftauchen und weitere verfluchte Artefakte wie dieser Silberkessel Morgauses ihr Eigenleben entwickeln werden die Ministeriumsleute nicht mehr mit dem Verheimlichen nachkommen, auch und vor allem, wo dieses Internet immer weiter verbreitet ist und die Geräte, mit denen die Magieunfähigen es nutzen immer kleiner und überall einsetzbar werden. Das mit dem Schloss bei Amien, das von den Nordamerikanern als Späh- und Horchposten verwendet wurde habe ich euch ja erzählt. Offenbar hat nur die Angst um einen verheerenden Brand den Zauberer Julius Latierre veranlasst, die Sicherheitsüberwachungsräume zu untersuchen, wobei er den Machenschaften der US-amerikanischen Spionageagentur CIA auf die Schliche kam. Hätte er nicht nachgeforscht, wüssten die Spione und Auftragsattentäter dieser Behörde heute, dass es echte Veelas und echte Zauberei gibt." Albertrude nickte. Immerhin hatte sie Anthelia die aus Frankreich übermittelten Berichte weitergeleitet.

"Was wäre dir lieb, höchste Schwester, wenn die Magielosen von uns wissen?" wollte Beth McGuire wissen.

"Ich sage es einmal mehr, dass wir es ihnen eines Tages enthüllen müssen, wollen wir sie davon abbringen, unser aller Welt zu zerstören. Aber wann wir das ihnen mitteilen sollten wir bestimmen und nicht ein immer noch an Vita Magicas Leine laufender Minister Buggles oder eine von Veelakräften langlebig gemachte Ornelle Ventvit oder ein hinter allen Ecken Nachlässe des Waisenknabens Riddle vermutender Minister Shacklebolt. Also bleibt bitte weiterhin unauffällig! Unsere Zeit kommt sicher", gab Anthelia ihren acht geladenen Schwestern noch mit auf denWeg.

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Vor dem Südhang des Uluru, 10.09.2003, 16:40 Uhr Ortszeit

"Da dürfen Sie nicht hingehen, Sir", sagte eine für US-amerikanische verhältnisse kleine, zierliche Frau mit dunkler Haut und hellgrauem Schopf. Sean O'Shaye sah sie erst ein wenig verdutzt an. Doch dann verstand er. Denn vor ihm lag eine Nische, an deren Innenseite er Einkerbungen oder richtige Gravierungen erkannte, jedoch nicht, was sie darstellten. "Oh, ist das die Wand, zu der nur Frauen Ihres Stammes hindürfen?" fragte er behutsam.

"So ist es, junger Mann. Nur wir weisen Frauen dürfen sehen, was die Wand zu erzählen hat. Bitte achten Sie diesen Brauch!"

"Ich habe nicht vor, Ihre Traditionen zu missachten, Ma'am", sagte Sean und winkte hinter sich. Da kam seine gertenschlanke, feuerrot gelockte Frau Ashton, die gerade aus größerer Entfernung Fotos vom Uluru gemacht hatte. Die kleinwüchsige Ureinwohnerin sah die sie um fast zwei Köpfe überragende Ausländerin verdrossen an und sagte: wollten Sie die sprechende Wand mit ihrer Kamera aufnehmen? Dann zerstören Sie diese Bilder bitte sofort wieder, bevor ein Uneingeweihter und ein Mann noch dazu die Geschichten zu sehen bekommt, die die Wand uns Frauen der Anangu erzählt! Außerdem sind diese Geschichten nur hier wahrhaftig. "

"Oh, natürlich", sagte Ashton unverzüglich und hantierte an ihrer Kamera. "So, die Bilder verschwinden gerade und können nicht mehr zurückgeholt werden. Also ist das die für Frauen erlaubte Seite des Eyers ... öhm, Uluru?"

"Das ist sie, junge Frau", sagte die ältere Eingeborene. "Doch auch wenn Sie eine Frau sind fürchte ich, dass unsere Ahnen es nicht wünschen, dass Sie ihre Geschichten erfahren, nachdem Sie schon mit einer Fotografierkamera darauf gezielt haben."

"Wir wollten den Berg nicht aus der Nähe fotografieren, sondern nur erkunden, von wo aus es um ihn herumgeht", sagte Ashton ruhig. Sean nickte. Dann erblickte er seine Kollegen Shania und Cecil Sharidan, mit denen er und seine Frau vor einer Woche aus New York herübergekommen waren und bis vorgestern in Alice Springs logiert hatten, um sich der hier geltenden Ortszeit anzugleichen. "Ah, da seid ihr. Oha, einen schönen guten Tag, Ma'am", sagte Cecil. Anders als Sean sprach er den typischen Manhattan-Dialekt und nicht den irisch eingefärbten melodischen Dialekt.

"Ich möchte Sie alle im Namen unseres Volkes der Anangu bitten, nicht an Dinge zu rühren oder sie anzusehen, die nicht für Sie bestimmt sind, junger Mann. Wenn die Frau an Ihrer Seite die Geschichte unserer Ahnen sehen möchte darf sie mich zur Wand der Geschichten begleiten. Doch für Männer sind diese Bilder nicht erlaubt."

"Soweit ich weiß gilt dies nur für die Angehörigen Ihres Volkes und nicht für fremde Besucher, Ma'am", warf Cecil Sharidan ein.

"Sie sind nicht hier, um sich an der Erhabenheit unseres heiligen Berges zu erfreuen, sondern wollen seine großen Geheimnisse ergründen", erwiderte die Ureinwohnerin mit einer unerwarteten Zielstrebigkeit. Ashton O'Shaye sah ihren Mann vorwurfsvoll an, als habe der eine großartige Überraschung verdorben oder ein Familiengeheimnis ausgeplaudert. Doch Sean machte eine unschuldige Miene und deutete auf den vor ihnen aufragenden Südhang des Uluru.

"Wer sagt Ihnen, dass wir nicht nur hier sind, um um den Berg herumzulaufen und seine uralten Malereien anzusehen?" wollte Sean wissen. Darauf deutete die Anangu-Frau in Richtung des Verwaltungsgebäudes des Uluru-Catatjuta-Nationalparkes. Sean zuckte die Achseln und nickte seiner Frau zu. Diese errötete an den Ohren. Denn sie war es, die bei der Parkverwaltung die Expedition in das unter dem Berg liegende Höhlensystem angemeldet hatte. Offenbar hatte die kleine aber sehr entschlossen auftretende Frau mit den Leuten von der Verwaltung gesprochen und dabei wohl auch Bilder der Forscher zu sehen bekommen.

"Was dürfen wir Männer denn angucken, Ma'am?" fragte Cecil unangebracht locker.

"Dort hinten sitzt mein Stammesbruder Waranguru. Wenn dieser findet, dass die Ahnen es erlauben wird er Ihnen die für Männer zulässigen Geschichten zeigen und auch erzählen, wenn Sie wirklich ein ehrliches Interesse an unserer Vergangenheit haben."

"Deshalb sind wir doch hier, weil wir ein Interesse an der Vergangenheit und Erhabenheit dieses Ortes haben", sagte Cecil. Seine Frau Shania, die eine afroamerikanische Großmutter hatte, nickte und ging ganz behutsam auf die vor ihnen liegende Nische zu, in der die nur für Frauen erlaubte Gemäldewand aufragte.

"Komm, Cecil, wir erkundigen uns nach dem, was wir uns ansehen dürfen", sagte Sean und dachte nur: "Aber lass mich bitte den Abo fragen, damit du's nicht mit deinem Bronx-Gerede versaust.

"Gut, dass wir der kleinen Schamanin nicht gesteckt haben, dass Sheila und Simon sich in die letzte Klettergruppe reingeschmuggelt haben", sagte Cecil, als sie mehr als hundert Meter von der kleinen Frau entfernt waren.

"Bist du ruhig. Die können fast so gut hören wie Jaime Sommers mit frisch durchgespülten Ohren", zischte Sean dem Kollegen zu. Eigentlich waren sie beide Speläologen und wollten den australischen Winter dazu nutzen, sich das sehr weit und vielstöckig verzweigte Höhlensystem unter dem früher Eyers Rock genannten Sandsteinmonolithen anzusehen und es kartografieren, während ihre Frauen, Shania als Biologin und Ashton als Geologin, weitere Forschungsarbeiten ausführten. Zu den vieren hatte sich noch das Ehegattenteam Sheila und Simon Waxman aus Dallas, Texas hinzugesellt, das im Rahmen eines Universitätsprojektes die Entstehungsgeschichte des Uluru erforschen wollte und von Seans Professor an der Columbia-Universität empfohlen worden war, weil die beiden neben ausgebildeten Höhlenkundlern auch approbierte Mediziner waren, denen die Arbeit mit Patienten aber offenbar zu stressig erscheinen mochte. Aber im Zweifelsfall war es immer gut, einen echten Arzt in der Nähe zu haben, hatte Shania außerhalb der Hörweite erwähnt. Simon kokettierte ganz mit dem Cowboy-Image eines Texaners, während seine Frau so eine Art Lara Croft darstellen wollte, allerdings ohne die überbordende Oberweite der Computerspielheldin.

"Du weißt noch, was Simon gesagt hat, als er das Schild gelesen hat, dass bitte auf den Aufstieg auf den Uluru verzichtet werden möge?" fragte Cecil Sean.

"Wenn's noch erlaubt ist und der Klotz schon mal da ist geh ich da auch rauf", zitierte Sean im ziemlich gut nachgemachten Texasakzent. Cecil nickte und lachte. "Ja, und seine Frau muss natürlich dabei sein, damit die bösen Buschgeister ihn da oben nicht auffressen."

"Cecil, bei aller Freundschaft und Kollegialität, ein wenig mehr Respekt vor den Traditionen und Glaubensansichten anderer Völker täte dir sicher gut, vor allem wenn du mit mir nächstes Jahr nach Marokko willst."

"Entschuldigung, das mit den bösen Buschgespenstern habe nicht ich losgelassen, sondern der Cowboy selbst", erwiderte Cecil mit einem Gesicht, als sei er beim Wildpinkeln an die Schulhofmauer erwischt worden.

"Ja, aber ... gut, lassen wir's. Ich bin kein Oberlehrer und du schon seit zehn Jahren aus der Schule raus", grummelte Sean. "Aber was die grauhaarige Dame eben angeht, wenn die wirklich eine Schamanin, Medizinfrau oder schlaue Frau ist muss sie das kulturelle Erbe ihres Volkes bewahren und dabei auch die Achtung der überlieferten Gesetze einfordern. Ich denke jedoch eher, sie ist vom hiesigen Volk, also den Anangu, dazu beauftragt worden, den ausländischen Besuchern, also uns, klar zu machen, dass der Uluru keine Disney-Land-Attraktion ist, sondern ähnlich wie eine christliche Kirche oder muslimische Moschee ein zu respektierendes Heiligtum, auf dem nicht beliebig herumgeklettert werden sollte, nur weil es da ist. Abgesehen davon habe ich vorhin mit Ash den Schatten des Berges und die geniale Akustik seines Echos genossen, was Simon und Sheila garantiert nicht mitkriegen, wenn die es echt bis ganz nach oben schaffen. Aber wir sind ja auch wegen der Höhlen unter dem Berg hier."

"Das sagst du besser nicht zu laut. Am Ende denken die Traditionsbewahrer hier, wir wollten irgendwelche da unten schlafenden Dämonen aufwecken oder fangenund sezieren, um unsere wissenschaftlichen Theorien zu untermauern", sagte Cecil. "Abgesehen davon bist du als Nachfahre irischer Einwanderer ja doch eher für sowas wie Elfen, Banshys, Poocas und Nebelhexen zu haben als ich."

"Das diskutieren wir gerne, falls wir da unten einen Regenbogen finden und an dessen Ende einen Topf mit Leprechangold ausbuddeln", konterte Sean O'Shaye. "Ja, und insofern gebe ich dir recht, dass ich wohl wegen der mir beigebrachten und nacherzählten Geschichten eher darauf achte, woran andere Leute so glauben, auch wenn ich eben auch wegen meiner irischen Abkunft dem Papst in Rom zugeteilt worden bin."

"Halleluja", musste Cecil darauf unbedingt antworten.

Die zwei Höhlenkundler umgingen den beeindruckenden Berg und genossen die verschiedenen Rotschattierungen beim Sonnenuntergang. Dann trafen sie auf Sheila und Simon Waxman, die erschöpft aber ebenso zufrieden von der letzten hinaufgelassenen Klettergruppe zurückkehrten. "Die Aussicht ist genial. Ich habe auch die weit entfernten Bergkämme mit dem Teleobjektiv eingefangen", schwärmte Simon."

"Nur, dass du in keiner Richtung die Erhabenheit des Uluru gesehen hast", meinte Sean dazu. Simon stutzte erst und musste dann grinsen. "Die fange ich morgen ein. Dann kriege ich sicher auch auf den Schirm, was Sheila und ich heute geleistet haben, da raufzuklettern, obwohl es nur achthundertdreiundsechzig Meter sein sollen."

"Okay, ich glaube, das diskutieren wir besser erst wieder in den Staaten weiter aus", meinte Ashton O'Shaye. Dann sah sie Simons sandverkrustete Wanderstiefel an. "Öhm, besser ist das, wenn Sie den Sand hier abklopfen und abschlagen, Doktor Waxman. Meine Schwester hat letztes Jahr heftig Stress bekommen, weil die am Flughafen Sydney allen Ernstes das Gepäck geprüft haben, ob nicht doch ein Fitzel Gestein oder Sand vom Uluru mit eingepackt worden ist."

"Also, Radioaktiv ist der nicht, hat meine Süße gemessen", sagte Simon Waxman und deutete auf seine athletisch gebaute, wasserstoffblondierte Frau Sheila.

"Die sehen in dem Berg einen magischen Ort, und das Messgerät für Magie wurde noch nicht erfunden", meinte Cecil dazu. "Ui, das würde dann bei Schwiegergranny Ethel ziemlich heftig ausschlagen oder gleich wegen Überlastung in die Binsen gehen", scherzte Simon. "Das sagst du sicher nicht, wenn sie dabei ist, knurrte Sheila. "Wieso, die behauptet doch von sich, sie wäre 'ne Hexe, ich nich'", verteidigte sich Simon. Sheila errötete an den Ohren. "War klar, dass du das nicht einfach so überhören konntest", stöhnte sie. Dann wandte sie sich an die O'Shayes: "Und, wissen wir schon, wo wir in die Katakomben von Catatjuta einsteigen können?"

"Ich habe mir den Berg noch mal von außen angesehen. Irgendwann muss es auf der vom Klettersteig abgewandten Seite mal den Eingang zu einer Höhle gegeben haben. Aber der ist wohl eingestürzt. Aber zwei Kilometer von hier in Südsüdwestrichtung habe ich einen schmalen Durchgang gefunden. Allerdings sollten wir da voll angeseilt rein, wenn es gleich nach dem Durchschlupf hundert Meter tief runtergehen sollte", sagte Sean O'Shaye. Seine Frau nickte und erwähnte, dass sie auf jeden Fall die mitgebrachten Positionssender prüfen mussten, weil da unten sicher kein GPS-Empfang möglich war und es bei möglichen Eisenerzeinlagerungen in den Wenden auch zu Kompassmissweisungen kommen mochte.

"Wir markieren mit schwarzlichtreaktiver Leuchtfarbe. Die ist für Normalaugen unsichtbar", sagte Ceecil Sharidan. Doch seine Frau meinte noch, dass es mit den neueren Relativpeilsendern schon genauer war, vor allem, um auf den mitgenommenen PDAs eine grobe Kartierung auszuführen. So ergaben sich die sechs US-amerikanischen Forscher in einer regen Fachdiskussion über die Vor- und Nachteile bestimmter Ausrüstungsgüter. Simon Waxman hörte dem ganzen nur zu. Er war eigentlich Kletterer, also für oben rauf und nicht für drunter durch. Dennoch reizte ihn die Vorstellung, dass der Uluru, den er heute so schnöde mit Füßen getreten hatte, in seinen Eingeweiden noch wesentlich spannendere Ansichten zu bieten hatte. Denn laut den beiden Höhlenforschern O'Shaye und Sharidan konnte es unter dem Uluru noch an die fünf Kilometer weit hinuntergehen. Allerdings würden sie das garantiert nicht machen, weil sie dort unten dann nur noch als Mutter Erdes Naturgrillgut herauskamen. Doch jed danach, wie viel Proviant sie mitnehmen konnten und wie lange die Hochleistungsakkus an den Relativsendern und den LED-Taschenlampen durchhielten konnten sie an die acht Tage da unten herumlaufen und neben der angemeldeten Forschungsarbeit auch ein Gefühl von Abenteuer erleben, nach dem Motto: "Wo nie ein Mensch zuvor gewesen ist."

Die sechs Forscher wollten gerade in den Bus klettern, der sie zum Hotel in der Nähe des Parkes zurückbrachte, als die grauhaarige Ureinwohnerin, die Sean vorhin von der Frauenwand verscheucht hatte angelaufen kam und auf die zünftigen Kletterstiefel Simons deutete: "Wenn Sie schon keine Achtung vor der Erhabenheit unseres Heiligtums empfinden, Sir, nehmen Sie bitte nicht auch noch was davon weg und bringen es wohin, wo es nicht hingehört!"

"Öhm, in meiner Heimat sagt ein Mensch erst seinen oder ihren Namen, bevor er oder sie was erbittet oder fordert, Ma'am", sagte Simon Waxman ungerührt. "Und was den Sand an meinen Schuhen angeht, so wurde ich schon von den anderen Herrschaften hier darauf hingewiesen, dass ich den nicht mit nach Hause nehmen soll. Aber ich habe leider keine Schuhputzbürste hier. Die gibt's sicher im Hotel. Ich denke auch, dass das Personal da auf die Einhaltung Ihrer Traditionen bedacht ist und jedes Sandkorn einzeln aufliest, um es hierher zurückzubringen."

"Gut, auch wenn mein Name für Sie vielleicht schwirig auszusprechen ist möchte ich mich vorstellen", sagte die kleine Frau und nannte einen wirklich zungenbrecherischen Namen mit einer sehr exotischen Betonung. "Sie können mich aber auch Morgennebel nennen, weil ein Teil meines Namens das bedeutet. Und ja, die Leute hier haben es langsam erkannt, wie wichtig es für unser Volk ist, dass unser heiliger Berg geachtet wird und sein Sand nicht über die ganze Welt verteilt werden darf, und ja, ich bin in meinem Volk auch sowas wie eine Medizinfrau, Schamanin oder wie auch immer Sie es nennen möchten. Ich bin sehr duldsam, was die Unwissenheit der Besucher angeht. Ich habe acht Kinder geboren und bin Großmutter von dreißig Enkeln. Da konnte ich viel über das Gleichgewicht von Nachsicht und Strenge lernen. Ich hoffe, Sie können diese so lebensbejahende Erfahrung auch noch machen."

"Öhm, Sheila, wie stehen die Aktien, dass das in den nächsten Monaten schon was wird?" fragte Simon. Seine Frau errötete an den Ohren und warf ihrem mann einen tadelnden Blick zu. "Also nicht gleich in diesem Jahr", sagte Simon Waxman. Die Frau namens Morgennebel sah ihn sehr streng an. Da erstarrte er regelrecht wie Lots Frau, als sie die brennenden Städte Sodom und Gomorra angesehen hatte. Dann sagte die Ureinwohnerin: "Dies ist eine Unterweisung in Strenge, da Sie meine Nachsicht nicht gewürdigt haben, junger Mann. Noch einen angenehmen Abend und Mrs. Sharidan, vielleicht sollten Sie es Ihrem Ehemann erklären, dass es besser ist, die in den Höhlen schlafenden Kräfte unberührt zu lassen. Wir Anangu wissen schon seit vielen Tausend Jahren, warum wir dort nicht hinuntersteigen. Sie haben die Geschichten gesehen, die unsere Ahninnen aufgemalt und in den Stein geschrieben haben. Ich gestatte als die heute zuständige Wissende, dass Sie Ihren Gefährten zumindest das weitergeben, was auch die Männer wissen dürfen. Ich hoffe, ich konnte Ihnen helfen." Mit diesen Worten ging sie davon, ohne einen lauten Schritt zu tun.

"Simon, die ist weg. du kannst dich wieder bewegen", sagte Cecil. Doch Simon Waxman saß wirklich wie ein leibhaftiger Mann aus Wachs auf seinem Stuhl. Sheila berührte ihn am rechten Arm und versuchte, diesen zu bewegen. Doch es gelang nicht. Schnell tastete sie nach dem Puls und blickte auf ihre kleine Armbanduhr. "Öhm, nettes Schauspiel, Simon. Aber jetzt hör bitte damit auf. Dein Puls ist ganz normal. Du bist wach." Er reagierte jedoch nicht. Da gab sie ihm ansatzlos eine Ohrfeige auf die linke Wange und verzog das Gesicht. Es zeigte sich kein Handabdruck auf der getroffenen Wange. "Öhm, hat die den echt versteinern lassen wie die Medusa aus dem alten Griechenland?" fragte Cecil und berührte den texanischen Reisegefährten. "Normale Körperwärme, aber total angespannte Wangen. Aber kriegen wir gleich. Er nahm seine leuchtstarke LED-Taschenlampe hervor und schaltete sie voll aufgeblendet ein. Simon zuckte zusammen, als der Lichtstrahl ihm voll in die Augen stach. Dann schüttelte er sich wie ein nasser Hund, keuchte laut hörbar und rang um Atem. "mann, das gibt's nich'. Die hat mich echt mit ihrem Blick einzementiert oder was. Das kann's nich' geben. da war diese Macumba-Priesterin aus dem Amazonas ja noch echt witzig gegen, und das war schon eine Gruselhexe."

"Vielleicht bist du ein gutes Medium für archaische Magie", scherzte Cecil Sharidan. Sheila sah den Mann aus der Bronx verstört an und sagte: "Auch wenn vieles was angeblich übernatürlich oder transzendent anmutet durch Suggestionen, Drogenrausch und psychologische Effekte wie Placebo und Nocebo erklärt werden können gibt es im Bereich der Ethnomedizinforschung doch noch sehr viele offene Fragen. Gut, ich deute das gerade eben als eine Form von Suggestion. Aber eine derartig heftige Reaktion auf diesen strengen Blick hätte es so auch nicht geben müssen, Simon."

"Liebes, ich konnte mich echt nicht bewegen und hatte auch keinen Drang, einzuatmen, ohne gleich blau anzulaufen. Ich weiß nicht, wie die alte das gedreht hat. Vielleicht hat die mein Hirn mit einem uralten Auslöser konfrontiert, der mich sozusagen auf Bereitschaftsmodus geschaltet hat. Die kriegen sowas vielleicht beigebracht, um wilde Tiere in Schach zu halten und machen das schon seit fünf- oder zehntausend Jahren so. Aber das mal zu erleben war jetzt ziemlich abgedreht."

"Kannst dir ja überlegen, ob du die graue Nebelhexe dafür bei den hiesigen Cops anzeigst", meinte Cecil darauf.

"Komm, am Ende hat die da noch 'nen Vetter oder 'ne Nichte und ich werde wegen übler Nachrede verknackt. Besser als in Texas eingelocht werden ist's hier vielleicht, aber ausprobieren will ich's nichh'", erwiderte Simon.

"Leute, es ist vielleicht besser, du klopfst dir hier den Sand von den Schuhen, bevor die im Hotel auch noch einen Aufstand machen", sagteSheila ihrem Mann und ging mit gutem Beispiel voran. Bei der Gelegenheit wollte Cecil von seiner Frau wissen, was sie denn so unheilvolles erfahren habe. sie schüttelte den Kopf und deutete in Richtung Hotel.

Als Sean mit seiner Frau alleine im gemeinsamen Hotelzimmer war meinte Ashton: "Die beklagen sich immer, dass wir zu wenig Respekt für ihre Kultur haben. Aber wenn wir nichts von denen lernen dürfen können wir ja nicht einfach alles hinnehmen. Jedenfalls kann sich Jeff diese für Frauen alleine bestimmte Nische schon auf seinem Rechner ansehen. Ich konnte mit der Schnellaufnahme bei guter Restlichtausbeute und 30er-Zoom alles aufnehmen, was auf der Wand war und habe das gleich mit der Bluetoothfunktion und dem Satellitentelefon weitergereicht, ausreichend fortgeschrittene Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden."

"Jeff, der Ethnologe, der dich angespitzt hat, möglichst alles an echter Ureinwohnerkunst abzufotografieren. Na, der wird sich dann freuen. Aber das Ding mit Simon war schon eine Nummer für sich. So ähnlich sollen Leute reagieren, die das Klagen einer Todesfee hören oder davon überzeugt sind, ihre Nachbarin könne hexen. Aber das mit dem im Gehirn steckenden Auslöser ist schon interessant."

"Sagen wir mal so, dass außer dir und mir keiner wissen muss, dass ich diese Wand abfotografiert habe", sagte Ashton. Sean bestätigte es.

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Besprechungszimmer der französischen Zaubereiministerin, 10.09.2003, 10:00 Uhr Ortszeit

Nach einer kurzen Begrüßungsrunde erörterten Ministerin Ventvit, Heilzunftsprecherin Eauvive, so wie die von ihr mitgebrachte Geburtsstationsleiterin Alouette Laporte mit den für Familienstand, Ausbildung und Angelegenheiten von Millemerveilles die Lage im südfranzösischen Zaubererdorf. Hera Matine war ebenfalls anwesend, wobei sie zu Beginn erwähnte, dass sie jederzeit die Runde verlassen müsse, wenn mit den so vielen werdenden Müttern etwas anliege. Julius durfte noch einmal was zu seinen Vorschlägen bezüglich der Einschulungsfristen äußern und auch, dass Madame Dumas, die wegen ihrer eigenen Tätigkeit nicht anwesend sein konnte, den Ausbau der Schule und eine Aufstockung des Lehrkörpers beantragt habe. Darauf meinte Lucian Lagrange, dass über einen solchen Antrag erst entschieden werden könnte, wenn die Gesamtzahl aller neugeborenen Kinder feststehe. Immerhin könnte es ja bei der einen oder anderen noch Veränderungen geben, beispielsweise ein Umzug in eine andere Gemeinde oder unrettbare Frühgeburten. Bei Mehrlingsschwangerschaften sei diese Gefahr größer als sonst schon. Das brachte natürlich die zwei altehrwürdigen Hebammenhexen gegen ihn auf, weil er ihnen unterstellte, ungeborene Kinder zu gefährden, was Monsieur Lagrange wiederum als eine Unterstellung gegen ihn ansah. Er wies jedoch darauf hin, dass gerade bei Hausgeburten in den letzten zwanzig Jahren zehn Kinder unter der Geburt verstorben waren und seine Abteilung deshalb alle für deren Ankunft vorgesehenen Anliegen zurückstellen musste. Damit provozierte er eine sehr verärgerte Entgegnung von Heilerin Laporte, dass die erwähnten fälle eben nicht in gesicherten Geburtsräumen stattgefunden hätten, sondern die betreffenden Mütter der Meinung waren, noch kurz vor der Niederkunft durch die Weltgeschichte zu reisen und die sie betreuenden Hebammenhexen erst einmal suchen mussten, wo sie waren. Von allen unter heilmagischer Aufsicht stattgefundenen Geburten seien alle 900 erfolgreich und zum besten Wohle für Mütter und Kinder ausgeführt worden. Hera Matine erwähnte, dass von den zehn unter der Geburt verstorbenen Kinder sieben auf das Konto der Zwergin Lutetia Arno gingen, weil diese zum einen keine ausgebildete Hexe sei und deshalb nicht apparieren könne und zum anderen ihren Patientinnen zugebilligt habe, bis zur Niederkunft weiter ihren Tätigkeiten und Freizeitbeschäftigungen nachkommen zu dürfen. Julius, der sich sehr stark zurückhalten musste, weil Lutetia eine seiner Schwiegergroßmütter war, hörte dem Geplänkel zu, bis Hera Matine ihn ansah und ihn Fragte: "Könnte es sein, dass Sie sich bei diesem Thema nicht zuständig fühlen und sich hier gerade für nicht benötigt einschätzen, Monsieur Latierre?" Julius sah die Ministerin an und dann die Heilerin von Millemerveilles. "Solange Ministerin Ventvit der Meinung ist, ich sei hier richtig und wichtig nehme ich jede Äußerung als wichtig zur Kenntnis. Aber in einen Kompetenzenstreit möchte ich mich nicht einmischen."

"Kompetenzenstreit?" fragte die Ministerin. Julius erwähnte, dass es im Moment wohl darum ginge, ob bereits für alle künftigen Kinder geplant werden solle oder erst einmal abgewartet werden sollte, wie viele Kinder am Ende geboren sein würden.

"Sollte dieser Eindruck bei Ihnen als nicht der Heilzunft angehörig und nicht im Familienstandsbüro eingesetzten Mitarbeiter entstanden sein möchte ich diese Debatte durch die Beantwortung folgender Frage an Madame Matine abkürzen: Können Sie sicherstellen, dass alle von Ihnen und Ihrer derzeitig koresidenten Kollegin Mademoiselle Latierre erkannten Kinder lebend und lebensfähig geboren werden?" sprach die Ministerin. Offenbar hatte Julius ihr den entscheidenen Ball zugeworfen, um das verfahrene Gespräch zu beenden.

"Wenn alle von mir erbetenen Kolleginnen aus der Heilzunft und den in Frankreich wohnhaften Pflegehelferinnen und Pflegehelfer der Jahrgänge 1970 bis 1994 kurz vor dem errechneten Zeitraum bis kurz nach der letzten vollendeten Geburt mithelfen kann und will ich das garantieren, dass kein erwartetes Kind unter der Geburt oder danach verstirbt. Mein Antrag liegt der Großheilerin Eauvive vor, so dass sie sicher befinden kann, wer von den im Ministerium tätigen Pflegehelferinnen und Pflegehelfern für diese Hilfsmaßnahme freigestellt wird." Julius nickte. Damit hatte er jetzt echt rechnen müssen, dass Hera ihn und andere Pflegehelfer aus ihren bisherigen Tätigkeiten herausholen würde, also auch Martine Latierre, Deborah Flaubert oder Francine Delourdes. Andererseits konnte kein Arzt und auch kein Heilmagier echt garantieren, dass ein Patient einen schweren Eingriff überlebte. Denn auch so schon bestand die Möglichkeit, ihn oder sie bei einem tödlichen Ausgang der Behandlung zu verklagen. Mit anderen Worten, starb auch nur eines der über 500 Kinder bei der Geburt, konnte Hera Matine ihren Abschied einreichen. Sollte er sie jetzt für ihren Mut bewundern oder bangen, dass sie am Ende zu hoch pokerte. Da sagte Heilerin Laporte:

"Zu den Anforderungen meiner niedergelassenen Kollegin gehört ja auch, eine magische direktverbindung zwischen meiner Abteilung in der Delourdesklinik und Millemerveilles zu errichten, die entweder als Nottransport der Gebärenden zu uns oder als Personalverstärkung in Richtung Millemerveilles genutzt werden kann. Falls Großheilerin Eauvive die von mir diesbezüglich erarbeiteten Personal- und Kostenpunkte genehmigt wird sie wohl eine entsprechende Aufstellung an die zuständigen Ministeriumsabteilungen für Familienstand und magischen Personenverkehr senden. Sollte das gelingen möchte ich meiner niedergelassenen Kollegin beipflichten, dass unter heilmagischer Aufsicht betreute Geburten ohne Todesfall höchstwahrscheinlich sind. Allerdings besteht meiner Auffassung nach die Möglichkeit, dass einige oder viele betroffene Hexen nicht länger in Millemerveilles bleiben möchten, da sie nicht in ehelichem Beischlaf empfangen haben, sondern Opfer von zufällig entstandenen Zusammenführungen wurden. Ich räume das hier nur ein, Hera, nicht dass ich das für angezeigt oder erwünscht halte." Hera Matine nickte.

Es ging dann weiterhin um die Fürsorgesicherheit und Ausbildung der vielen Kinder. Hier hörte die Ministerin ganz ruhig zu. Julius konnte einige Fragen beantworten, die er auch schon dem Dorfrat beantwortet hatte. Nach mehr als zwei Stunden endete die Zusammenkunft mit der Zusage Lagranges und Descartes', die entsprechenden Vorhaben zu unterstützen und bei Handels- und Finanzleiter Colbert um die benötigten Mittel zu werben, zumal ja bereits eine vom Dorfrat aus Millemerveilles eingebrachte Initiative, alle entlarvten Mitglieder von Vita Magica vollständig zu enteignen, um den Aufwand auszugleichen, auf sehr interessierte Ohren getroffen war. Dabei fühlte sich Julius ein wenig mulmig. Denn genau das hatten die Kobolde von Gringotts ja auch mit ihm versucht. Da zu befürchten war, dass VM bereits Agenten im Zaubereiministerium hatte wussten die schon, was denen blühen sollte, die erwischt wurden. Was würde denen dann passieren. Verschwanden die dann mit ihrem Gold spurlos, bevor die Strafverfolgung bei denen anklopfte? Das würde ein ziemlich langes und übles Katz-und-Maus-Spiel werden, dachte Julius.

Nach der Unterredung, die unter Vertraulichkeitsstufe C5 eingestuft wurde, freute sich Julius wieder auf sein einsames Büro. Da er alle Vorgänge der letzten Woche abgearbeitet hatte konnte er sich jetzt für jeden neuen Antrag oder ein Ersuchen freihalten.

Bei seiner Rückkehr ins Apfelhaus erwarteten ihn nicht nur zwei quirlige Kinder und ein laut schreiendes Baby, sondern auch eine schon amtlich zu nennende Einladung, am 10. November zu einer Versammlung ehemaliger Pflegehelfer, sowie aller von Antoinette Eauvive freistellbaren Heilerinnen zu erscheinen. Millie hatte dieselbe Einladung erhalten, ebenso Béatrice Latierre. "Wird bestimmt interessant, wer so vor und nach meiner Zeit in Beaux so in die Truppe eingetreten ist", sagte Béatrice. Julius meinte dazu, dass er ja schon einmal gefragt worden sei, ob sich nicht mal alle treffen sollten, die mindestens ein Jahr zusammen in der Pflegehelfertruppe gewesen waren. Das würde wohl jetzt passieren. Er fragte Béatrice, wen sie von früher her kannte und wie viele von denen selbst Heiler oder Heilerinnen geworden seien. Weil Aurore und Chrysope zwischendurch mit ihrem Vater draußen toben wollten verflogen die Stunden bis zum Abendessen auch ganz schnell.

Nachdem die Kinder nach dem üblichen Quängeln und Nölen in die Betten verfrachtet waren und Julius für jede noch eine Gutenachtgeschichte aus dem Leben des Madrashainorian erzählt hatte saßen Millie, Béatrice und er noch in der Wohnküche und sprachen leise darüber, dass Florymont Dusoleil gerne mit Julius' Mutter über die Einrichtung eines neuen Computerarbeitsplatzes mit Internetanschluss sprechen wollte. Nach der großen Zauberei und der Errichtung des Schutznetzes wurde das Grundstück um das Apfelhaus alle zwei Minuten von einer unsichtbaren und unhörbaren Woge aus Zauberkraft überflutet, die gerade erträglich genug für die hier lebenden Kniesel war, aber jede Elektronik außer Gefecht setzte, die während der Ausdehnung des weißmagischen Hauches in Betrieb war. Julius hatte schon überlegt, sich bei Laurentine Hellersdorf in der Wohnung einen Annschluss legen zu lassen, über den er dann mit einem neuen auf das Arkanet eingerichteten Rechner auch in der Freizeit im Internet surfen konnte. Doch offenbar hatten Millie und Florymont, Camille und auch Béatrice andere Pläne. "Sofern das Netz über Millemerveilles nun so bleibt, also keine Streuung, die diese Computerdinger verrückt macht, sind Camille und Florymont mit mir dran, dass wir ein unbebautes Grundstück im Dorfwald erst mal anmieten, vielleicht später kaufen, wo wir nochmal so einen Fliegenpilz draufstellen, oder vielleicht doch einen anders aussehenden Schuppen, wo der Sonnenlichtumwandler und mindestens ein kleiner Elektrorechner reinpassen und benutzt werden können, Julius", sagte Millie. "Auch wenn du da natürlich das letzte Wort hast möchte ich dich auch im Namen von Camille, Florymont, ja und auch Tante Trice bitten, zumindest drüber nachzudenken, ob es echt Sinn macht, wenn du für diese Computersachen dauernd zu Catherine oder besser Laurentine hinflohpulverst oder gleich nach dem Dienst da hinflohpulverst und wir dich dann erst zum Abendessen wiedersehen, falls du da nicht auch noch die Zeit vergisst und die Kinder dich erst am Morgen beim Frühstück wiedersehen", sagte Millie. "Dieser Massenmordanschlag vor zwei Jahren hat mir zumindest klargemacht, wie wichtig das für dich und damit auch mich ist, dass wir mit denen, die solche Computergeräte benutzen, in schneller Verbindung sind, wenn keine magischen Fernverständigungsmittel in Reichweite sind oder wegen der ganzen nichtmagischen Leute nicht benutzt werden dürfen. Ich kriege das doch mit, dass du immer wieder mit diesem Armband von Camille mit deiner Mutter redest. Aber die kann das nicht überall benutzen, auch wenn sie eine voll ausgebildete Hexe ist. Was Camille dazu meint soll sie dir selbst erzählen. Wenn ihr melot fliegen euch ja nicht mehr die Gehirne aus den Köpfen."

"Was wegen der überdosierten Tagesausdauer war", schaltete sich Béatrice Latierre ein. Julius nickte. Dann sagte sie noch: "Und wo wir es von Camille und ihrer derzeitigen Mitbewohnerin haben, auch sie fragte an, ob es eine Möglichkeit gebe, dass sie mit uns auch ohne Zauberfeuer und Bilderboten in Verbindung bleiben könnte. Mehr kann dir dann wirklich Camille erzählen." Julius nickte erneut. Natürlich wollte Maribel Valdez nach der ganzen Sache mit großen Zauber weiterhin in Verbindung mit den anderen Kindern Ashtarias bleiben.

Ich wollte Mum morgen eh zum zweiten Geburtstag gratulieren. Da werde ich wohl noch einmal das Armband nehmen und hoffen, dass sie bei sich zu Hause in Santa Barbara ist oder in der Nähe davon." Millie meinte dazu, dass er dann wohl erst am späten Abend mit ihr sprechen könne, wenn sie auch einen Büroberuf habe, wo sie nicht während der Dienstzeit private Fernsprechzauber anwenden dürfe. Julius überlegte kurz und bejahte es. Also nicht vor - "elf Uhr abends?" Alle sahen ihn erst erstaunt an. Doch dann nickten sie. "Falls sie mich nicht vorher über das Armband anruft. Ihr habt echt recht. Ich brauche auch für mich selbst eine Internetverbindung. Außerdem war ich ja wegen der nachzuarbeitenden Sachen lange nicht mehr im Computerraum. Ich weiß ja nicht mal, ob die Newbys, öhm, die Amtsanwärter gut damit klarkommen. Aber ich wollte wegen der ganzen aufgetürmten Sachen erst mal nicht dahin, weil das garantiert wieder eine Menge Zeit gefressen hätte."

"Und damit sind wir wieder bei der Computersache hier in Millemerveilles", fing Millie den von Julius ganz unbeabsichtigt gespielten Ball auf. "Auch deshalb, weil diese Dinger einen vergessen machen, wie die Zeit vergeht solltest du so ein Computergerät hier in Millemerveilles haben, wo ich zur Not noch hinapparieren kann, wo das bei Catherine nur über Flohpulver geht und da beide Kamine gesperrt sein könnten." Julius erkannte, dass sie recht hatte. Der Vorschlag von Laurentine war ja im Grunde eher eine Behelfslösung. Natürlich musste Millie denken, dass er sie früher oder später wegen so eines Computers vernachlässigen würde, jetzt wo sie drei Kinder hatten und dieses Ultimatum von Ashtaria und Ammayamiria im Raum stand. So stimmte er zu, sich mit Camille und Florymont noch einmal darüber zu unterhalten, wo sie so einen Computer hinstellen konnten. Dabei fiel ihm ein, dass er wen fragen konnte, der ein ähnliches Problem gehabt hatte.

Als sie schon im Bett lagen konzentrierte sich Julius auf Faidarias goldbraunes Gesicht, stellte sich ihre Augen vor und sendete ihr einen in der alten Sprache gedachten Gruß zu. Die Verbindung war einwandfrei, was er am leisen aber langen Nachhall in seinem Kopf merkte.

"Sei gegrüßt, Vertrauter der Erde", erhielt er ihre Antwort. "Wir haben lange nichts mehr von dir gehört. Geht es dir gut?" Er bejahte es und erwähnte kurz, was in den Monaten zwischen Frühling und Sommer geshehen war. Er fühlte keine Erhitzung oder Kopfschmerzen. "Dann habt ihr nun einen wirksamen starken Schutz, der so wirkt wie die Macht der Lebensfreude und Liebe, die bereits um euer Haus errichtet war." Julius bestätigte das. Dann kam er auf den Grund seines Anrufes. Dies führte dazu, dass er nun mit Gwendartammaya und ihrer zweitgeborenen Tochter Olarammaya alias Phoenix Straton einen regen Gedankenaustausch führte. So erfuhr er, wie die Sonnenkinder den eigenen Rechner gegen ihre Ausstrahlung abgeschirmt hatten. Allerdings erschien ihm die Anwendung schwarzer Magie zur Herstellung einer Schutzhülle sehr abwegig, zumal er den betreffenden Zauber eh nicht kannte. Dazu meinte Gwendartammaya:

"Wir mussten damals einen Weg finden, einen tragbaren Rechner gegen unsere eigene Ausstrahlung abzuschirmen. Einen Raum so auszukleiden, dass keine äußere Magie in ihn eindringt ist laut Faidaria kein Ding. Das können die Erd- und die Feuervertrauten, die einen, weil sie die Erde als Kraftquelle nutzen, die anderen, weil sie die Sonne und ihren Tageslauf als Kraftquelle nutzen können. Wenn du nichts dabei hast, was eigene Magie ausstrahlt oder du selbst als magisches Leuchtfeuer herumläufst könnte der sicher alle von außen kommenden Zauberkraftströme um den zu sichernden Raum herumlenken." Julius hätte fast laut "Autsch!" geschrien, so weh tat diese Erkenntnis. Natürlich hatte Madrashainorian den Zauber "Lied des unberührbaren Ortes" erlernt, ein sechsstufiges Ritual, bei dem gediegenes Metall, von Eisen aufwärts, bestenfalls Gold, in vorgeschriebenen Mengen an vorgeschriebenen Punkten platziert werden musste, um alle vier Haupthimmelsrichtungen und die Richtungen oben und unten zu bezaubern, dass keine ungerichtete Kraft von außen durchdrang, ob gut- oder bösartig. Damit konnten von anderer Magie freigehaltene Räume erschaffen werden, sowas wie ein Kraftkerker, der magische Kräfte in einem bestimmten Raum festhielt oder ein Farraday'scher Käfig, der elektrische und magnetische Einflüsse aussperrte, genau das, was er eigentlich suchte. So schickte er schnell zurück:

"Ich kenne echt so ein Ritual. Habe aber bisher gedacht, es störe auch elektronische Vorgänge. Aber ihr habt recht, dass dieser Zauber jede magische Kraft von draußen in der Wand, dem Boden und der Decke abfedert, solange der Raum ganz geschlossen ist. Danke euch dreien und von hier aus noch einen schönen sonnigen Tag."

"Du darfst uns gerne wieder einmal besuchen, Julius. Wir können schon frei laufen", hörte er noch Gerannammaya mentiloquieren. Olarammaya bestätigte das.

"Seit wie lange schon?" wollte er noch wissen. "Seit einem Vierteljahr", erwiderten die beiden zwiegeborenen Töchter Gwendartammayas im Duett. Julius erkannte einmal mehr, wie schnell sich Kinder auch körperlich entwickeln konnten, wenn der Geist schon viele Jahre weit voraus war. Er musste sich selbst eingestehen, dass es ihn schon interessierte, wie weit die zwei Mädchen, von denen eines im früheren Leben ein Junge wie er gewesen war, vorangekommen waren. Dann verabschiedete er sich von allen Sonnenkindern auf ihrer kleinen Privatinsel, die er vor fast genau acht Monaten zum ersten Mal besucht hatte.

Als er wieder für sich alleine war dachte er daran, ob in diesen Schutzraum hineinmentiloquiert werden konnte oder nicht und ob die zwischen ihm und Millie bestehende Herzanhängerverbindung gestört würde. Dabei fiel ihm beziehungsweise Madrashainorian ein, dass der bezauberte Raum so abgestimmt werden konnte, dass bestimmte Zauber, wie der, mit dem Anthelia/Naaneavargia ihm nach Vollendung des Liedes der beständigen Mutter Erde beehrt hatte, durchgelassen wurden. Sie mussten nur im Geiste beim Namen genannt und ihre Funktion durchdacht werden. Dann konnte das gehen, aber nur für bis zu drei Verständigungszauber. Außerdem war das Mentiloquieren zwischen Millie und ihm oder Camille und ihm so einfach, dass eine gewisse Abschwächung nicht viel ausmachen würde. Im Zweifelsfall konnte er ja dann auch über die Herzanhängerverbindung mit seiner Frau mentiloquieren, wenn er diese als den hauptsächlichen Verständigungszauber festlegte. Die hatte bisher keine Störung der Geräte verursacht. Ja, es tat schon weh, dass er von wem anderen auf diese doch brauchbare Möglichkeit gestoßen wurde, wo er doch jeden Tag im Leben Madrashainorians jederzeit in sein Bewusstsein rufen konnte, von den ersten Regungen in Madrashmirondas Leib bis zur Rückkehr von Julius Latierre. Ja, so mochte es wahrscheinlich gehen.

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Im Apfelhaus der Familie Latierre, 11.09.2003, 17:30 Uhr Ortszeit

Julius berichtete Florymont, Camille, seiner Frau und seiner Schwiegertante Béatrice, was ihm zwischen Bettgehzeit und Einschlafen noch durch den Kopf gegangen war und beschrieb jenes Lied des unberührbaren Ortes und auch, dass er diesen so abstimmen konnte, dass die Herzanhängerverbindung und das Gedankensprechen in ihn hinein und aus ihm heraus gelang. Er schob diese späte Erkenntnis darauf, dass er ja sozusagen zzwanzig Jahre Lebenszeit in dieser Halle der Altmeister verbracht hatte. Béatrice und Florymont wussten ja, was damit gemeint war.

"Hast du auch sowas wie eine Tabelle, wi viel von was benötigt wird?" fragte Florymont. Julius nickte und diktierte einer Flotte-Schreibe-Feder die auf moderne Maßeinheiten umgerechneten Bezugswerte, wie viel Eisen, wie viel Silber oder Gold gebraucht wurde. Bei Gold war die Menge für jeden Verknüpfungspunkt am größten, weil es das mit Abstand am schwersten zu bezaubernde Material war. "Schön, vom teuersten das meiste", bemerkte Millie dazu. Julius nickte. Dann sagte er: "Dafür konnte aber mit der erwähnten Menge Gold eine ganz große Halle entsprechend bezaubert werden, so der Lehrmeister für Verbindungen zwischen räumlichen Bezauberungen. Mit Eisen geht nur eine Kammer von umgerechnet vier mal vier mal vier Meter, also vierundsechzig Kubikmeter. Öhm, was für einen Computerraum mit einem oder zwei Geräten völlig genügen würde. Der Sonnenlichtumwandler kann ja dann wieder aufs Dach. Die einzige Frage, die ich noch klären muss ist, wie das mit Funkwellen ist, ob die dann auch nicht durchgelassen werden, weil dann müssten alle Antennen aufs Dach."

"Dann baue ich für dich einen Proberaum, aus Holz oder aus Stein, Julius?" erkundigte sich Florymont. "Es geht nur um den Kontakt der sechs Ankergegenstände mit der zu sichernden Außenhülle. Die kann aus allem nichtmetallischem sein." Florymont nickte. Damit stand fest, dass sie zumindest ausprobieren wollten, ob ein derartiger Raum ausreichte, um die magischen Kraftströme um das Apfelhaus um empfindliche Geräte herumzulenken. "Gut, der Fliegenpilz enthielt wohl auch Metall, soweit ich mitbekommen durfte. Aber ein klassischer Gartenschuppen oder ein Haus wie meine Werkstatt würde ja auch gehen."

"Wenn ich das vor sechs Monaten schon überlegt hätte wäre mir das mit Sardonias Blutgeistern wohl nicht passiert", dachte Julius. "Oder dann gerade, weil die Kräfte sich gegenseitig entladen hätten, Julius", erwiderte Temmie auf seine reinen Gedanken.

Nachdem nun beschlossen war, dass ein neuer Gartenschuppen gebaut werden sollte, in dem dann vielleicht ein neuer Computer eingerichtet werden konnte, war wieder Spielzeit für die Kinder, zu denen nun auch Claudine Brickston und Chloé dazugekommen waren. Nach dem Abendessen unterhielt sich Julius über die Armbandverbindung mit seiner Mutter, die heute Besuch von Brittany und dem kleinen Leonidas Andronicus hatte. "Ich habe mir heute freigenommen, um diesen besonderen Tag zumindest in Andacht zu verbringen, wenn ich ihn aus Rücksicht auf die Leute in der Nachbarschaft nicht als zweiten Geburtstag feiern kann. Mittlerweile weiß ich, dass zwei Familien davon Opfer im Welthandelszentrum zu betrauern haben, von denen eine Tochter genau da gekellnert hat, wo Lucky und ich frühstücken wollten. Die war eben immer pünktlich gewesen", seufzte Julius' Mutter. Julius meinte dazu: "Oha, kann sein, dass sie dich dann immer komisch anguckt, wenn du ihr den Rücken zudrehst."

"Neh, Julius, so vorsichtig war ich dann doch, das den betreffenden Leuten nicht aufs Butterbrot geschmiert zu haben, dass Lucky und ich in dem Restaurant "Fenster zur Welt" essen wollten. Ich habe nur erwähnt, dass Lucky und ich da gerade auf Hochzeitsreise in New York waren und das fast direkt vor Ort mitbekommen haben. Da können und werden die uns keinen Strick draus drehen, und das meine ich verdammt wörtlich. Es hat hier in der Stadt Gewalt gegen arabischstämmige Leute gegeben, nur weil so'n Waffennarr gemeint hat, er müsse ganz allein die bösen Terroristen aus dem Orient abwehren. Wenn Lucky und seine ganze Familie nicht wären, glaub mir bitte, ich wäre schon längst wieder in Europa. Aber wegen ihnen weiß ich noch, dass Freiheit und gegenseitige Toleranz doch noch nicht ganz aus den Staaten verdrängt wurden."

"Gut, du wohnst und arbeitest ja auch nicht direkt in Santa Barbara oder gar Los Angeles. In diesem Moloch von Stadt will ich dann ja auch nicht wohnen. Da sind London und Paris ja echt friedliche Dörfer gegen, was ich so aus den Nachrichten mitkriege", erwiderte Julius.

"Ja, und die Nachrichten beschreiben nur das wichtigste, nicht das alltägliche", antwortete seine Mutter. Millie zeigte ihr dann noch die kleine Clarimonde, wie weit die sich seit dem Besuch ihrer Oma aus Übersee schon entwickelt hatte.

"Dann sei Béatrice bitte nicht mehr so böse, weil sie dich beim Stillen vertreten hat, Mildrid", bemerkte Martha Merryweather und erntete ein leises Lachen von Brittany.

"Wer bitte hat dir das gesteckt, Martha?" fragte Millie leicht angenervt. Die Antwort bekam sie von Vivianes Bild-Ich. "Clarimondes Großmutter hatte ein Recht darauf, zu wissen, dass es ihrer Enkeltochter weiterhin gut geht."

"Pass auf, dass ich dich nicht abhäng und als Wickeltischauflage benutze", knurrte Millie dem Vollporträt von Viviane Eauvive zu. "Oh, das könnte Ärger mit Antoinette geben, wenn du so mit den von ihr überreichten Gaben umgehst", erwiderte Viviane, während der mit ihr gemalte Kniesel Goldschweif Nummer eins bereits das Weite in anderen Bildern suchte. Bevor Millie noch was dazu sagen konnte sagte Martha Merryweather: "Sei froh, Mildrid, dass wir diese gute Verständigungsmöglichkeit haben, ich meine die Bilderverbindung. Du kannst nicht wissen, wofür die demnächst wieder dringend gebraucht wird." Millie wollte wohl was garstiges entgegnen, überlegte es sich jedoch anders und nickte der räumlichen Abbildung ihrer Schwiegermutter zu. Dann verabschiedeten sich alle voneinander, denn Millie und Julius wollten ihren gewohnten Tag-Nacht-Rhythmus einhalten, zumal morgens um halb vier oder etwas später Clarimonde um Zuwendung schreien würde.

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Im Uluru-Catatjuta-Nationalpark in der australischen Wüste, 12.09.2003, 07:20 Uhr Ortszeit

Die Sonne ließ den zwei Kilometer entfernt aufragenden Uluru wie in flammenlosem Feuer glühen. Die sechs Höhlenforscher aus den Staaten standen mit vollgepackten Rucksäcken und daran befestigter Kletterausrüstung vor einem sandverkrusteten Felsenspalt, der in die unterirdischen Gefilde des Parkes hineinführte. Gerade machte Ashton, die als Navigatorin der Expedition auftrat, eine letzte Standortbestimmung mit dem GPS-Empfänger. "Fünfundzwanzig Grad, zwanzig Minuten und dreiundvierzig Sekunden Süd und einhunderteinunddreißig Grad, zwei Minuten und fünf Sekunden Ost", las sie laut vor und überspielte den Standort auf ihren persönlichen digitalen Assistenten, von dem aus wiederum per Spezialsoftware der erste von dreißig auf alle sechs verteilte Relativpositionssender eingestellt wurde. Sean knipste derweil den ausgesuchten Einstieg mit seiner Kamera, die er wahlweise auf Blitzlicht oder Infrarotaufnahme umstellen konnte, je danach, ob er nur Detailbilder oder fröhliche Farbfotos machen wollte. "Ich messe mal mit dem Lidar das Gefälle und die Tiefe aus", sagte er, als er seine an strapazierfähigen Riemen hängende Kamera losließ und einen kleinen Gegenstand wie einen dickeren Bleistift aus der grauen, wasser und staubabweisenden Jacke zog. "Ja, aber halt das Ding schön ruhig, sonst verzählt es sich um einen Meter", meinte Cecil darauf. Sean hörte nicht darauf. Für ihn war es mittlerweile eine Routine, mit dem lasergestützten Abstandsmessgerät unsichtbare Hindernisse oder lauernde Abgründe auszumessen. So dauerte es auch nur eine halbe Minute, bis sein auf den tragbaren Lidar kalibrierter PDA drei kurze Pieptöne von sich gab, weil der Schwenk mit dem Messgerät von einem Hindernis zum anderen erfolgt war.

"Gefälle schnuckelige achtzig Grad, breite nach Lidar 4,62 Meter, maximale Höhe 3,55 Meter, Länge des Gefälles bis zu einem soliden Grund stolze 134,67 Meter. Soviel zum Frühsport, Ladies and Gentlemen."

"Öhm, und die lassen diesen Spalt hier ungesichert aufklaffen, wo jeder Touri da locker auf nimmer Wiedersehen drin verschwinden kann?" fragte Cecil Sharidan.

"Konntest du mit dem Lidar Unebenheiten auf dem Boden erfassen, die auf dort verwitternde Überreste von Menschen oder Tieren hinweisen?" wollte Ashton wissen. Ihr Mann schüttelte den Kopf.

"Wahrscheinlich ist der Einstieg zu weit vom roten Felsen weg, um für die Fotojäger interessant und damit gefährlich genug zu sein. Gut, Ich gehe mit meiner Ausrüstung zuerst da runter und schlage ein paar Sicherheitshaken ein", sagte Simon.

"Denke bitte daran, dass wir nicht unendlich viele davon mithaben", sagte Sheila.

Gut, alle zwanzig Meter einen", erwiderte Simon und machte sein Kletterzeug einsatzbereit.

Sean beneidete den Texaner, der sich gelenkig wie ein Aal in den gefundenen Erdspalt hineinschlängelte und behutsam in der Dunkelheit verschwand. Nur die eingeschaltete Helmlampe zeigte den oben wartenden, dass er sich weiter von ihnen entfernte.

Sobald wir da unten sind stellen wir Heimrufer eins auf, der Verbindung mit dem GPS-Empfänger hier oben hält", sagte Sean seiner Frau. Diese nickte bestätigend.

Simon Waxman tastete jeden Quadratmeter des schroffen Steilhanges ab, suchte und fand mit seinen kundigen Augen all die Vorsprünge und Vertiefungen, die er zum klettern brauchte. Dabei ließ er das am Einstieg festgemachte Seil behutsam abrollen und schlug alle 20 Meter einen Karabiner ein, in dem er das Stück Seil einhängte. Dass Sean ihn als ersten in diese jahrmillionenalte Unterwelt hinabsteigen ließ wunderte ihn zwar. Doch er wollte es nicht hinterfragen, warum der große Dr. Sean O'Shaye ihm den Vortritt ließ. Erst als er feststellte, dass der Abstieg auf den letzten vierzig Metern wesentlich anstrengender als ein gemütlicher Bergaufstieg war und ihm kleinere Sand- und Geröllwolken entgegenwehten, wenn er mit den Kletterstiefeln abrutschte, war ihm klar, warum Sean ihm, dem größten Klettermaxen aus Dallas, diesen Teil des Einstiegs überlassen hatte.

Endlich trafen seine profilstarken Stiefelsohlen auf den Grund des Steilhangs. Simon drehte sich behutsam von der Wand fort und leuchtete mit seiner Helmlampe den Schachtgrund aus. Er spürte es eher als es zu sehen, dass von hier mindestens drei Gänge abzweigten, durch welche die Luft strich. Also wurde dieser Teil der Höhle dynamisch bewettert. Das war insofern beruhigend, dass sie nicht mit Sauerstoffknappheit rechnen mussten. Zwar hatten sie Atemschutzgeräte mitgenommen, doch hofften sie alle, dass sie diese nur für kurze Tauchgänge brauchten, sollte es hier unten überflutete Räume geben. Dennoch nahm Simon seinen Luftprüfapparat zur Hand und maß die Zusammensetzung. Der Sauerstoffgehalt hier unten betrug 19,3 Prozent. Das war noch nicht gefährlich aber zumindest zu beachten, wo unter freiem Himmel 21 Prozent Sauerstoff üblich waren.

Simon musste mal wieder an seine Jugendzeit denken, wo er die Romane Jules Vernes verschlungen hatte. Das hier war ähnlich dem Auftakt zur Reise zum Mittelpunkt der Erde.

Wegen der Behauptung von eben, hier unten könnten abgestürtzte Tiere oder Menschen herumliegen bestrich er mit einer Kopfbewegung den Boden mit dem Lichtkegel der Helmlampe. Doch er sah nichts, was auf verwesende oder bereits skelettierte Körper hindeutete. Hier unten gab es nur Sand und lose aufliegendes Geröll. Er bückte sich schnell und las einen etwa faustgroßen Stein auf, den er in einen Probenbeutel steckte. "Armstrong an Houston, Zufallsprobe genommen!" sprach er leise und lauschte dem Echo seiner Stimme. Dann nahm er das kleine von Sean erhaltene Funkgerät und drückte die Sprechtaste. "So, der Zuweg ist sicher. Ihr könnt jetzt runterkommen", meldete er. "Alles klar, Simon. ich komme als nächster runter", klang Seans Stimme aus dem kleinen Lautsprecher.

Wenige Minuten später stand Sean mit eingeschalteter Helmlampe neben Simon und zog einen kleinen, robusten Kasten aus seiner Jacke.

"Wenn die anderen unten sind schalte ich den Sender ein, damit wir im Zweifelsfall hierher zurückfinden. Der sendet alle zwanzig Sekunden einen Markierungsping von 0,02 Sekunden aus, der von allen anderen Sendern angemessen und weitergeleitet werden kann. Wir haben insgesamt acht Tage Strom für die Geräte. Um länger hier unten zu bleiben markieren wir auf jeden Fall die Gänge."

Nach sean kam Ashton am Steilhang heruntergeklettert und präsentierte bereits einige Bodenproben. "Das wird nicht einfach sein, die außer Landes zu bringen, wo die schon jedes Sandkorn einbehalten", sagte Ashton. "Aber wir wollen ja eher kartografieren als Proben sammeln", sagte sie noch.

Shania und Sheila waren die nächsten, die herunterkamen. Dann folgte noch Cecil, der wohl auf dem Weg nach unten alle Sicherheitshaken wieder einsammelte. "Dann schalte unseren Heimrufer eins an. Der müsste von hier noch den Draht mit dem GPS-Empfänger kriegen", sagte Cecil zu Sean. Dieser nickte und gab seiner Frau den kleinen Sender. Diese prüfte ihn, wartete, bis er ein kurzes Piepen und ein grünes Blinken von sich gab und stellte ihn an der dem Steilhang gegenüberliegenden Wand auf. Der Sender konnte über einen leistungsschwachen, bis fünfhundert Meter weit reichenden Infrarotlaserstrahl Verbindung mit dem oben befestigten GPS-Empfänger halten und würde im Verbund mit den anderen noch auszubringenden Sendern eine relative Standortbestimmung auf den Meter genau bieten, als hätten sie hier unten noch klaren Satellitenempfang.

Die Expedition prüfte, ob alle mitgeführten Empfänger und Umrechnungsprogramme zuverlässig arbeiteten und begaben sich dann hinein in das unterirdische Reich unter dem Uluru.

Wo sie einen Abzweig fanden markierten sie ihren gewählten Weg mit einem Pfeil aus besonderer Leuchtfarbe und der von den Peilempfängern umgerechneten Position. Den zweiten Relativsender bauten sie in einer Halle auf, aus der fünf schmale Gänge führten. Als der zweite Sender Kontakt mit dem ersten bekam und somit ein weiteres unsichtbares Leitfeuer gesetzt war blieb Ashton in der Halle und sah zu, wie ihre fünf Begleiter in die fünf anderen Gänge eindrangen. Es galt, diese bis zum nächsten Abzweig zu begehen und die dabei zurückgelegten Meter elektronisch aufzuzeichnen. Aus den Aufzeichnungen würden sie in zwei Tagen eine vollständige Karte mit Längen, Richtungen und Höhenstufen zusammenrechnen. Ashton musste daran denken, was die Anangu-Frau behauptet hatte. Die Angehörigen ihres Volkes trauten sich nicht hier hinunter. Gut, wohl auch weil es dauernd dunkel war. Aber fürchteten sie ernsthaft noch böse Geister, die sich hier unten versteckt hielten? Als New Yorker Stadtkind glaubte sie schon lange nicht mehr an Gespenster oder Dämonen. Sonst hätte sie garantiert was anderes als Höhlenkunde und Geologie studiert. Denn die Mythen aller Völker strotzten mit Schreckensgeschichten der Unterwelt, in die Sterbliche bloß nicht hinabsteigen durften. Diese Erzählungen stammten sicher noch aus jenen Tagen, als die ersten Menschen Höhlen sowohl als Schutzort wie auch Verstecke gefährlicher Raubtiere kennengelernt hatten. Shania war die Biologin der Truppe. Die würde sich sicher dafür begeistern, Knochen von Höhlenbären oder anderen Urzeittieren ausgraben zu können. Womöglich fanden sie hier jedoch eher Zeugnisse aus jener Zeit der Erdgeschichte, als die Gegend um den Uluru von einem Binnenmeer bedeckt gewesen war. Da fanden sich sicher Fossilien von Korallen, Muscheln und anderen Weichtieren.

"Hier Simon, habe Ende meines Ganges erreicht. Der Gang ist eine Sackgasse", hörte Ashton die Stimme Simon Waxmans aus dem Funkgerät. Immerhin klappte das mit den Kurzwellensignalen hier unten noch, solange sie nicht um zwei oder drei Ecken bogen.

"Hier Shania. Habe gerade die Wände des von mir begangenen Weges fotografiert. Eindeutige Überbleibsel paleoozeanischer Ablagerungen. Aber ich habe irgendwie das Gefühl, ich könnte jetzt hundert Kilometer weit laufen, ohne einen weiteren Abzweig zu finden. Der Gang ist breit genug für zwei Menschen und hoch genug, um aufrecht darin zu laufen. Aber mein Lidar trifft auf kein Ende."

"Wie weit reicht das noch mal, Shania?" wollte Simon Waxman wissen. Er erfuhr, dass das nützliche Abstandsmessgerät bis zu zwei Kilometern weit reichte. Zumindest hieß es, dass der Gang länger als diese zwei Kilometer war. Ob er sich wohin verzweigte konnte Shania erst erfassen, wenn sie eine Stelle erreichte, wo der Laserstrahl des Lidars in gerader Linie auf Hindernisse oder Abgründe treffen konnte.

Shania Sharidan bestaunte den scheinbar unendlich langen Durchgang. Sie war froh, dass sie das Signal des zweiten Senders, die Funkstimmen ihrer Kameraden und die Messdaten des Lidars hatte. Denn nur so wusste sie, dass sie nicht auf der Stelle trat, sondern wirklich mehr als zwei Kilometer in dem Gang entlang lief. Sie fand kleinere Spalten in Wänden und Boden, aber zu klein, um dort hindurchzuschlüpfen. Bei einem Riss im Boden war sie auch ganz froh. Denn ihr Lidar verriet ihr, dass der Spalt stolze 1456,23 Meter tief hinabreichte. Offenbar hatte es in der Vergangenheit mal ein starkes Beben gegeben, das diesen höllisch tiefen Spalt erschaffen hatte. Vielleicht war es auch ein Überbleibsel der Kontinentalverschiebungen der letzten fünfhundert Millionen Jahre. Das konnte Ash dann mal genauer prüfen. Die hatte eine Kamerasonde mit, die im Bedarfsfall bis zwei Kilometer nach unten abgeseilt werden konnte. Shania speicherte die Lidardaten genauso sorgfältig wie die bereits zurückgelegten Meter Wegstrecke, um später beim Zusammenrechnen aller Einzelaufnahmen eine möglichst präzise Karte zu erhalten.

Der Gang setzte sich noch weiter fort. Shania gab alle 200 Meter eine kurze Standardmeldung durch. In gerader Linie konnte sie mit dem Funkgerät fünf Kilometer weit von den anderen fort, ohne es auf Notfallstärke hochregeln zu müssen. Die neuen Geräte waren echte Hochempfindlichkeits- und Energiesparwunder, weil sie keine beim Sprechen dauerhaften Trägerwellen erzeugten, sondern erst nach loslassen der Sprechtaste das Gesagte zu einem gerade ein Sechzigstel der Sprechdauer langen Signal zusammenrafften. Cecil hatte diese Sprechgeräte vor vier Jahren in einem Laden für angeblichen Spionagebedarf entdeckt und sofort zehn davon geordert. Tatsächlich hatte ihn der Verkäufer gefragt, ob er Privatdetektiv oder sowas sei. Er hatte dann erklärt, dass sein Beruf wahrhaftig die Aufklärung alter Geheimnisse im Dunkeln der Erde betraf.

"Ich erreiche gleich die Entfernung, bei der ich sicherheitshalber einen weiteren Relativtransmitter einrichten muss", meldete Shania, nachdem sie dem von ihr gewählten Gang schon vier Kilometer weit gefolgt war. Er fiel um fünf Prozent ab. Das machte sich langsam in der Funkverbindung bemerkbar. Wenn sie noch weiter ging würde sie das Gerät auf die dreifache Stärke hochschalten müssen. Dann reichte sein Akku jedoch nur noch für anderthalb betriebsstunden. Also galt es, jemanden anderen als Zwischenstelle zur großen Ausgangshalle zu beordern.

"Shania, ich bin in deinen Gang rein und mach das Relais für dich, wenn du die fünf Kilometer fvoll hast", meldete Simon Waxman. Shania atmete auf. Ihr Expeditionskamerad hatte also ähnlich gedacht wie sie.

"Ashton, was sagst du als Steineklopferin dazu, dass ich einen geradlinigen, nur von kleineren Spalten durchzogenen Gang von mehr als vier Kilometern Länge ablaufen kann, ohne um eine Kurve zu müssen oder gegen eine Wand zu laufen?" fragte Shania.

"Das du in einem ehemaligen Lavakanal herumläufst oder in einem unterirdischen, längst ausgetrockneten Flussbett", erwiderte Ashton. "Ich glaube, ich postiere Simon hier in der Halle und guck mir das selbst an, wo du gerade lang läufst."

"Ich habe hier schon Spuren von Sedimenten und 300 Millionen Jahre alten Fossillien in den Wänden gesehen und ... Häh?!" Shania stand urplötzlich still. Sie meinte, etwas gehört zu haben, das nicht hinter ihr geklungen war, sondern weiter vor ihr. Es war kein Wassertropfen oder ein zufällig von der Decke fallender Steinbrocken gewesen, sondern ein kurzes, ganz leises Schaben, als habe jemand unbedacht mit einem Fuß den Sand aufgewirbelt. "Shania, was ist los?" wollte Cecil wissen, der offenbar wieder in der Ausgangshöhle angekommen war.

"Ich habe was gehört, das nicht meine eigenen Schritte gewesen sein können", sagte Shania ins Mikrofon.

"Wassertropfen?" wollte Cecil wissen.

"Nein, ein ganz leises, kurzes Scharren", erwiderte Shania und lauschte. Sie konzentrierte alle ihre Sinne. Vielleicht hatte auch ein Luftzug ihr einen Streich gespielt. Sie kannte Berichte über Auswirkungen von Infraschall, der in langen Gängen oder Schächten durch Luftbewegungen entstehen konnte. Doch hier gab es im Moment keinen Luftzug. Abgesehen davon hatte sie genau für derlei Phänomene ein Gerät dabei, um sich eben nicht davon bange machen zu lassen. Sie lauschte weiter und zielte nun mit dem Lidar in den Gang. Tatsächlich traf der Laserstrahl auf ein entferntes Hindernis und wurde zum Sender zurückgeworfen. "In fünfhundert Metern Gangende", meldete Shania. "Außerdem kriege ich hier eine Abzweigung nach südosten. Ich denke, ich stelle den nächsten Relativtransmitter auf", sprach sie in das Funkgerät. Sie erwartete eine Antwort. Doch es kam keine. Sie fragte nach, ob ihre Nachricht verstanden worden sei. Doch es kam wieder keine Antwort. Das Kontrolllicht des Funkgerätes zeigte Grün. Dann prüfte sie, ob der Empfand des zweiten Peilsenders noch möglich war. Sie blickte auf ihren PDA und verzog ihr Gesicht. Der Markierungspunkt, der zeigte, wie weit sie vom zweiten Relativsender entfernt war leuchtete nicht. Hatte sie ohne es mitzubekommen die Reichweite verlassen oder doch eine ganz sachte, aber ausreichend starke Kurve durchlaufen? Sie wollte sich gerade umdrehen und zurücklaufen, um zu prüfen, ob sie in den Empfangsbereich zurückfand, als sie im Schein ihrer Helmlampe einen Schatten vor sich heranjagen sah. Trotz ihrer jahrelangen Erfahrung in tiefen Höhlen überkam sie ein solcher Schreck, dass sie wie angewurzelt stehen blieb. Dann sah sie zwei im Licht ihrer Lampe glänzende Kreise auf sich zujagen. Dann erkannte sie ein Gesicht, dass unmöglich einer ihr bekannten Höhlentierart gehören mochte. Noch bevor sie erfasste, was sich ihr gerade entgegenstürzte war es auch schon bei ihr.

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"Shania! Melde dich bitte", sprach Simon ins Funkgerät. Er hatte jetzt seit zwanzig Sekunden nichts mehr von ihr gehört. Er ging noch einige Meter weiter nach vorne. Noch bekam er das Signal des aufgebauten Relativpositionssenders klar herein. Wo immer Cecil diese elektronischen Wunderdinge aufgetan hatte, das war einfach genial, fast besser als an einem dünnen Faden langzulaufen.

"Shania, bitte sag was!" Rief Simon ins Funkgerät. Seine Stimme klang lange nachhallend aus dem langen Gang zurück.

"Wie weit bist du im Gang, Simon?" wollte Cecil wissen. "So knapp zwei Kilometer. Schon heftig, dass dieser Gang fast schnurgerade ist wie ein Profistollen. Am Ende haben hier noch Bergleute aus grauer Vorzeit geschuftet."

"Die Leute von Mu oder Orichalksucher aus Atlantis, oder was?" fragte Cecil. "Aber was ist mit Shania? Stell dein Gerät auf volle Stärke. Das geht an dem kleinen Drehregler rechts über dem Lautstärkeregler."

"Okay, mach ich und ..." Simon erschrak. Er lauschte. Das war doch eben ein kurzer aber sehr heftiger Schrei gewesen, der Schrei einer Frau!

"Mist! Shania!" rief er und rannte los. Cecil wollte wissen, was war. Simon erwähntte, dass er meinte, sie schreien gehört zu haben. Cecil erschrak darüber hörbar und sagte, dass er sofort nachkomme. Simon hörte noch, wie Cecil nach Sean rief, der sich bis dahin auch regelmäßig aus einem der Seitengänge gemeldet hatte und gerade vor einer dreifachen Abzweigung angekommen war. Doch Sean meldete sich auch nicht. Das machte es für Simon noch unheimlicher. Er lief los und übersah dabei fast den die ganze Gangbreite durchziehenden, gerade einmal fünf Zentimeter breiten Spalt im Boden. Gerade so schaffte er es noch, nicht darin hängen zu bleiben. "Oha, die alte Bärenfalle hätte mir aber fast den Tag versaut", knurrte der texanische Kletter- und Höhlenspezialist. Dann fiel ihm ein, dass Shania in so einen Spalt hineingeraten sein mochte, vielleicht einen, der von Sand verdeckt worden war. Diese Schreckensvorstellung setzte die Höchstmenge von Adrenalin in seinem Blut frei. Er rannte weiter und rief nach Shania. Hoffentlich hörte sie ihn noch. Selbst darauf achtend, nicht doch noch in einer dieser Spalten hängenzubleiben oder gar in eine ungeahnte Tiefe hinabzustürzen jagte Simon weiter. Dann hörte er ein kurzes Piepen seines PDAs. Er sah, dass der Markierungspunkt erloschen war, der seinen Standort im Bezug zum nächsten aufgebauten Sender darstellte. Also musste er unbemerkt aus der graden Ausrichtung hinausgeraten sein. Dann war dieser Gang doch nicht so gerade wie er aussah. Simon dachte daran, wie er in der Oberschule mit seiner Physikklasse einen Teilchenbeschleuniger besichtigt hatte. Diese supergroßen Maschinen bestanden im wesentlichen aus einem viele Kilometer durchmessenden Ring, der einem vorgaukeln konnte, in einem unendlich langen, geraden Tunnel entlangzulaufen. Waren sie hier diesem Phänomen aufgesessen? Und wo war Shania. Wenn die auch aus der Sendererfassung geraten war hätte sie doch zurücklaufen müssen ... Ja, und da war ihr was passiert. Sie antwortete nicht mehr. Ihm ging der kurze, durch den viel zu langen Gang hallende Schrei an die Nieren. ihr war was passiert. Aber dann müsste er sie gleich erreichen und ...

Sie lehnte an einer Wand und wirkte bewusstlos. Es war Shania. Ihre Augen waren offen. Doch sie schien nichts und niemanden zu sehen. Dann fielen Simon die zwei roten Punkte in ihrer linken Wange auf. Der erste Eindruck war, dass etwas sie dort gebissen hatte. Er hatte schon Patienten mit Schlangenbissen behandelt und auch solche, die sich mit einem Puma angelegt hatten. Falls wirklich was Shania gebissen hatte konnte das Tier noch in der Gegend sein und ihn als nächsten angreifen. ER vertraute darauf ,dass die meisten Tiere menschliche Nähe flohen, egal ob Geruch oder laute Stimme. Vielleicht hatte Shania das unbekannte Tier aufgeschreckt, und es hatte in seiner Panik nach ihr geschnappt, bevor es selbst geflüchtet war. Aber was bitte war das für ein Tier gewesen?

"Hier Simon, habe Shania gefunden. Irgendwas hat sie verletzt. Sieht wie größere Bisswunden aus. Sie scheint bewusstlos zu sein. Untersuche sie!" sagte Simon, der unverzüglich in den Arztmodus wechselte. Was immer Shania erwischt hatte konnte zwar noch in der Nähe sein. Doch wenn es sie ernsthaft hätte töten wollen hätte er sie bei den Bissmarken sicher nur noch tot gefunden und vor allem noch sehen müssen, wem oder was sie zum Opfer gefallen war.

Simon löste die mit drei Lenyards am Rucksack festgehakte Arzttasche und holte zuerst den beleuchtbaren Augenspiegel hervor. Er fragte sich, warum Cecil noch nicht geantwortet hatte. Der war doch sicher auch schon im Gang unterwegs. "Shania, hörst du mich?" fragte er. Die Expeditionskameradin reagierte nicht. Er leuchtete ihr in die Augen, prüfte die Pupillenreaktion. Diese reagierten schwerfälliger als bei nüchternen, hellwachen Menschen. Außerdem wurde er das Gefühl nicht los, dass Shania unter Schock stand, womöglich auch durch die Beißattacke. Am Ende gab es hier unten giftige Tiere, die im Dunkeln jagen konnten. Darauf war er zwar immer wieder ausgegangen, so einem der Wissenschaft unbekannten Geschöpf zu begegnen. Aber wenn das Tier derartig gefährlich war ... "Shania! Sag was!" befahl Simon und griff nach ihrem Handgelenk. Da rutschte sie völlig schlaff zu Boden. Sie machte nicht den geringsten Versuch, den Fall abzuwehren.

Cecil, Ash, Sheila, Sean! Wer mich hört bitte melden!" sprach Simon in sein Funkgerät. Doch er bekam keine Antwort. So setzte er seine Untersuchung und nötige Behandlung fort. Es galt, die Bissverletzung auszuwaschen. Am Ende hatte ihr das unbekannte Tier nicht nur ein Gift, sondern tödliche Bakterien ins Blut getrieben. Von den Comodowaranen wusste er, dass die auf diese Weise ihre Beute töteten, ihnen eine tödliche Verletzung zufügten und dann einfach hinterherliefen, bis das ausgesuchte Opfer an Blutvergiftung verendete. War das hier auch so. Dann war dieses Ungeheuer noch in der Nähe. Simon erschauderte, dass er sich dann in derselben tödlichen Gefahr befand. Doch er musste Schania behandeln, oder besser, er musste sie erst hier herausschaffen und hoffen, dass dieses Tier, dass sie angefallen hatte, nicht wirklich in der Nähe lauerte und auf den Tod seiner Beute wartete. Aber dann war er ja gerade eine Konkurrenz, wenn er Shania jetzt fortschaffte. Ja, dann musste das was auch immer reagieren, wenn es noch in der Nähe war.

"Hallo, hört mich wer. Hier unten läuft was gefährliches rum, das Shania gebissen hat und vielleicht vergiftet hat. Cecil, komm mir bitte entgegen und hilf mir, deine Frau rauszutragen, bevor es mich auch noch ..." rief Simon noch ins Funkgerät. Dann sah er, wie seine Befürchtung zur grausamen Wahrheit wurde. Er konnte gerade noch eine hand in die Richtung seines langen Messers führen, als zwei leuchtende Augen aus der Dunkelheit auf ihn zurasten. Er erstarrte. Dann umschlang ihn etwas blitzschnell mit zwei erbarmungslos zupackenden Armen. Das nächste, was er fühlte war ein zweifacher brennender Schmerz in der Halsgegend. Er konnte für eine Sekunde ein schuppiges, flaches Gesicht ohne erkennbare Nase sehen, bevor es auch schon wieder zurückschnellte. Simon versuchte, sich zu bewegen. Doch irgendwas im Leuchten dieser zwei bleichen Augen hatte ihn gelähmt, ähnlich wie der magische Blick dieser grauhaarigen Anangu-Frau gestern. Er konnte sich nicht mehr regen, nichts mehr sagen. Er fühlte jedoch, wie etwas aus den ihm zugefügten Wunden Pulsschlag für Pulsschlag in seine Adern eindrang, sich unaufhaltsam darin ausbreitete. Er dachte einen Moment daran, dass es verrückt sein mochte und kein Wissenschaftler ihm glauben würde, dass er gerade von einer Abart von Vampir angefallen worden war. Jeder Versuch, zu schreien oder geordnet um Hilfe zu rufen misslang. Es war, als habe ihm jemand den magischen Befehl erteilt, starr und reglos zu verharren, so ähnlich wie diese grauhaarige Hexe Morgennebel es wohl irgendwie geschafft hatte. Ja, jetzt wusste er, was Shania passiert war. Doch er wusste auch, dass er es wohl niemandem weitererzählen konnte. Wie lange würde es dauern, bis er starb? Oder noch schlimmer, würden die anderen auf der Suche nach ihm in dieselbe Falle geraten und diesem Monster zum Opfer fallen? Was würde dann mit ihnen passieren. Würde dieses Geschöpf sie auffressen oder einfach nur tot liegen lassen.

"Shania, Simon!" Er hörte die Rufe aus der Ferne wie die Rufe eines rastlosen Geistes. Er erkannte die Stimme. Das war Cecil. Aber er konnte ihm nicht antworten. Cecil würde wie er in diese schreckliche Falle tappen. Denn nun wusste Simon, dass das Ungeheuer noch nicht genug hatte. Das Ungeheuer? Was, wenn es von dieser Unheilsspezies mehr als das eine gab? Ja, am Ende jagten diese Biester im Rudel wie Wölfe oder die durch den Film Jurassic Park berühmt gewordenen Velociraptoren. Ja, konnte es sein, dass irgendwas aus der Urzeit in den Höhlen unter dem Uluru überdauert hatte? Wie war das noch einnmal mit der Reise zum Mittelpunkt der Erde?

Während er die fernen Rufe seines nichts ahnenden, aber höchst beunruhigten Kameraden hörte fühlte er, wie das tückische Gift immer mehr in seinem Blut zirkulierte. Bisher fühlte er keine Schmerzen, nur dieses untrügliche, unheilverkündende Pulsieren, das sich von der Bisswunde in seinen Körper ausdehnte.

"Shania, Simon! meldet euch!" hörte er Cecils Stimme, nun näher als vorher. "Shania, Si...", Dann hörte er noch einen kurzen Aufschrei. Danach Stille. Da wurde Simon klar, dass was Shania und ihn erwischt hatte nicht in den Gang zurückgelaufen war, aus dem es gekommen war, sondern nach seinem Angriff an Simon vorbeigehuscht sein musste, um in die Richtung weiterzulaufen, aus der er selbst gekommen war. Also jagte dieses Untier weiter, überfiel jeden, der in den Gang vordrang. Wen oder was hatten sie da bloß aufgescheucht?

Er hörte ein leises Zischen in seinem Kopf, als wenn eine kleine Schlange unter seiner Schädeldecke aufgestöbert worden war. Das war sicher eine Halluzination, verbunden mit dem ihm beigebrachten Gift und der Vorstellung, etwas ähnliches wie einen Schlangenkopf gesehen zu haben. Das Zischen klang nun regelmäßiger und schien in jeden Winkel seines Geistes zu dringen. Ja, und in dem Maße, wie das in ihm immer mehr wirkende Gift seinen Körper ausfüllte meinte er, aus dem leisen Zischen und Fauchen einen Rhythmus herauszuhören, als höre er den geflüsterten Text eines Liedes in einer ihm unbekannten Sprache. Auch wenn es ihm nichts mehr bringen mochte dachte er abbittend an die Warnungen der grauhaarigen Anangufrau. Am Ende hatten sie wirklich was uraltes, für Menschen schädliches hier unten aufgestöbert, dass die Ureinwohner schon kannten und wussten, dass sie sich davor hüten mussten. Er hatte nie an Dämonen oder andere Schreckgestalten aus Märchen und Mythen geglaubt. Er konnte jedoch nicht abstreiten, dass in jeder Legende ein winziger Funken Wahrheit stecken mochte, Überlieferungen von natürlichen Vorgängen, die nicht erklärt werden konnten, aber dennoch wirklich waren. Falls das stimmte lauerte hier unten eine tödliche Gefahr, nicht nur für die Expedition, sondern für alle Menschen. Er konnte nur hoffen, dass das Untier, dass ihn erwischt und gelähmt hatte nicht aus dem Höhlensystem hinauslief. Dann bestand die Gefahr wirklich nur für die, welche so dämlich waren, hier hinunterzuklettern.

Das in seinem Kopf klingende Zischen und Fauchen wurde immer lauter. Er fühlte, wie etwas mit ihm geschah, wie nicht nur sein Blut verändert wurde, sondern auch etwas mit seiner Haut passierte, als würde sie von etwas zusammengezogen und verformt. War das wie die Geräuschhhalluzinationen eine weitere Wirkung des ihm eingetriebenen Giftes? Für einen Arzt wie ihn war es sicher spannend, alle Symptome dieser exotischen Vergiftung zu erkunden. Doch dass er das Opfer dieser Vergiftung war machte es unmöglich, irgendwem davon zu erzählen. Ja, und offenbar hatte das Tier oder die Tiere schon drei Opfer gefunden.

Er meinte, noch einer Halluzination aufzusitzen, als er zwei bleiche Kreise aus der Dunkelheit vor sich auftauchen sah und dann eine geschmeidig auf ihn und Shania zugleitende Gestalt zu erkennen, die wie eine Mischung aus einer aufgerichteten Schlange und einer Menschenfrau aussah. Dann hörte er auch noch eine fauchende Stimme etwas flüstern, das mit dem Gezische unter seiner Schädeldecke zusammenfiel. Er sah einen Moment lang die aufrechte Gestalt mit den biegsamen Armen, die ihre bleichen Augen erst auf Shania und dann auf ihn richtete. Dann sah er, wie aus dem maulartigen Schlund der Kreatur eine gespaltene Zunge hervorglitt und in sachten Tastbewegungen vor dem Schlangengesicht umherwischte. Ja, dieses Biest schmeckte die Umgebung, wie es Schlangen taten. Dann erfasste es sicher, dass er ihm gerade ausgeliefert war. Dann sah er noch ein zweites Unwesen ähnlicher Beschaffenheit, allerdings eines ohne erkennbare weibliche Brüste. Er dachte daran, dass dieses Wesen womöglich ein Männchen wie er selbst sein mochte. Er hörte, wie die beiden Geschöpfe sich gegenseitig was zuzischten. Dann lief das Mischwesen zwischen Frau und Schlange lautlos davon, zurück in die Richtung, aus der Simon gekommen war. Das Männchen indes bedachte Simon mit einem konzentrierten Blick. Er meinte dessen Stimme mit den Ohren und direkt in seinem Geist zu hören. Es war eine entschlossene, gnadenlose Stimme. Doch er verstand die Sprache nicht. Das schlangenähnliche Wesen wandte sich von ihm ab und lief dann ebenfalls in die Richtung, aus der Simon gekommen war. Er hatte eine sehr üble Vorahnung, dass die beiden Monster sich nun auch die anderen Teilnehmer der Expedition holen würden, ja und dass die Schlangenfrau - er fand keine wissenschaftlich korrektere Bezeichnung, Shania angefallen hatte und nun hinter Sheila und Ashton her war, während der Schlangenmann ihn, sowie Cecil erwischt hatte und jetzt noch hinter Sean her war, falls dieser der Kreatur nicht schon längst zur Beute gefallen war. Wieder fragte er sich, was ihm passieren würde, wenn er starb. Dann sah er an Shania, was er an sich selbst schon verspürte.

Er konnte im scheinbar immer helleren Licht seiner immer noch leuchtenden Helmlampe sehen, wie an Schanias Hals grüne und braune Schuppen entstanden, die sich wie ein Krebsgeschwür im Zeitraffer immer weiter über ihren Hals und ihr Gesicht ausbreiteten. Sofort wusste er, dass ihm dasselbe passierte, wenn wohl auch mit einigen Minuten Verzögerung, weil Shania vor ihm gebissen worden war. Dann begriff er, ob aus Logik oder einer durch Angst getriebenen Phantasie, dass sie gerade drauf und dran war, selbst zu einem dieser Schlangenbiester zu mutieren und ihm genau dasselbe widerfuhr. Die Vorstellung war grauenvoll. Doch dann dachte er an die Horrorgeschichten, die er als Jugendlicher verschlungen hatte. Hieß es da nicht von Vampiren, dass deren Opfer es am Ende selbst sehr genossen, Vampire zu werden? Gab es nicht Geschichten von Werwölfen, die den Fluch der Wolfsgestalt als wahres Leben empfanden, sobald sie sich einmal verwandelt hatten. Konnte es echt sein, dass all diese die Angstlust von Lesern und Filmzuschauern bedienenden Geschichten auf wahren Begebenheiten beruhten, einem mutagenen Virus, das seine Wirte dazu trieb, es gezielt weiterzugeben? Nein, kein Virus, sondern eine Art Parasit, der durch die Blutbahn ins Gehirn seiner Opfer eindrang und sich dort ausbreitete und die Wirte zu völlig aberwitzigen Handlungen trieb. Dass es sowas gab war der modernen Medizin bekannt. Dass ein solcher Organismus aber auch eine äußerliche Verunstaltung herbeiführte war für den Arzt und Abenteurer neu.

Wie viele Minuten oder Stunden würde er noch Herr seines eigenen Verstandes sein? Sein Wille war ja offenbar schon ausgeschaltet. Er dachte an Sheila, die womöglich gerade jetzt auch von einem dieser mutierten Geschöpfe angefallen wurde, um den Keim dieser Existenz in sich auszubrüten und dann ... wie er ... und Shania .... selbst auf Jagd nach unbefallenen zu gehen, sowie Lucy Vestenra, nachdem Dracula sie zu einer Vampirin gemacht hatte. Der einzige Gedanke, wie er diesem Schicksal entgehen konnte war der schnelle Suizid. Er hatte Drogen dabei, mit denen er sich ganz locker aus der Welt schießen konnte. Doch er konnte sich ja nicht bewegen. So blieb ihm nur die ganz schwache Hoffnung, dass er dem in ihn eingepflanzten Parasiten lange genug widerstehen konnte, um nach Wiedergewinnung seiner Bewegungsfreiheit eine tödliche Spritze aufziehen zu können, für sich, aber auch für Shania und die anderen.

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Zur gleichen Zeit in einem Dorf der Anangu in der Nähe des Berges Uluru

Ihre Enkeltochter Frühlingslied erzitterte unter dem lähmenden Blick. Sie kämpfte dagegen an, bot ihren ganzen Willen auf. Das gerade erst neun Sommer alte Mädchen kämpfte gegen die Kraft der Großmutter an und verlor nach dreißig keuchenden Atemzügen. Sie erstarrte wie versteinert. So ließ ihre Großmutter sie einige weitere Atemzüge. Dann summte sie leise einige Töne, die Frühlingslied aus der Lähmung lösten. "Du bist schon sehr stark, Frühlingslied", sagte die Frau, die in der Sprache der Weißen Landnehmer Über den weiten des Landes aufsteigender Morgennebel hieß und eine der wenigen wirklich starken Trägerinnen der alten Kräfte ihres Volkes war. "Du kannst den lähmenden Blick schon länger abwehren als die, in deren Blut nicht die Kraft der Götter fließt. Sei nicht traurig, dass du es noch nicht schaffst, mir völlig zu widerstehen. Immerhin habe ich dir über siebzig Sommer voraus."

"Was sagen die ältesten von uns. darf ich dann hier wohnen bleiben, oder soll ich wie Tante Sonnenlichtrufer in ein anderes Dorf ziehen, wenn die ganze Kraft der Götter in mir richtig stark ist, Großmutter?"

"Erst einmal wirst du, so haben wir von den Bewahrern der großen Kraft es beschlossen, in das Lehrhaus der Weißen gehen, in dem ihre Kinder, die die großen Kräfte in sich haben, die ganzen damit möglichen Handlungen lernen. Du sollst bei und mit denen lernen, unsere und deren Handlungsweise zu vergleichen und als mögliche Sprecherin von uns bei denen anerkannt werden, Frühlingslied. Doch wenn du bei denen alles gelernt hast, was die meinen, was die großen Kräfte machen können, werde ich deine Unterweisung beenden und dir alles beibringen, was wir mächtigen Frauen vom Volk der Anangu über all die vielen tausend Sommer gelernt und verwendet haben, damit du da, wo du dann deine eigenen Kinder bekommst, als machtvolle Frau leben und wirken kannst."

"Vater will nicht, dass ich zu den weißen Holzstabschwingern hingehe. Der sagt, die seien auch nur Landstehler und Landzerstörer wie die ohne die großen Kräfte und würden glauben, besser und stärker als wir zu sein."

"Das ist seine Angst, du könntest verlernen, was uns vom Volk der Anangu am Leben hält und wichtig ist", sagte Morgennebel mit sanfter Stimme. "Doch ich weiß auch, dass er weiß, dass wir und die anderen nicht so weiter nebeneinander herleben dürfen. Die Hellhäuter missachten uns, halten uns für dumme kleine Kinder, die die Welt nicht begreifen können, obwohl sie genau wissen, dass wir im Einklang mit dem Land und den darauf lebenden Pflanzen und Tieren leben und vieles wissen, was darin steckt, das sie wohl nie herausbekommen, weil sie meinen, Land und Leben nach ihrem eigenen Willen umändern zu müssen. Doch der Rat der Mächtigen hat es beschlossen und ich habe es bestimmt, dass du in das Lernhaus gehst, das die Hellhäuter in einer unwissenden Verulkung Lernhaus des roten Felsens nennen, wohl als eine ungeschickte Würdigung des erhabenen Berges Uluru. Dein Vater kann mit aller Angst nicht gegen mein Wort ankämpfen. Weil du als Mädchen geboren bist bestimme ich, was du wissen und können musst. Er soll deinen Brüdern die Jagd und die Suche nach den richtigen Pflanzen beibringen, während du in den Fertigkeiten und Kenntnissen der überlieferten Kräfte unterwiesen wirst, seitdem du gezeigt hast, dass mein Erbe in deinem Blut wirkt." Frühlingslied wusste natürlich, dass ihre mächtige Großmutter recht hatte. Immerhin hatte sie ihren Namen daher, dass sie mit ihrer Stimme einmal einen fast verdorrten Busch zum aufblühen gebracht hatte, wohl weil sie ohne zu wissen wie genug Wasser in dessen Wurzeln hineingeschickt hatte.

"Wirst du mir dann auch die Wand der Geschichten zeigen, Großmutter Morgennebel?" fragte Frühlingslied. Ihre Großmutter bejahte es sofort. "Sobald du zur jungen Frau geworden bist und eigene Kinder bekommen kannst wirst du von mir alles gezeigt und erzählt bekommen, was wir mächtigen Frauen der Anangu wissen dürfen und wissen müssen, Frühlingslied." Frühlingslied strahlte ihre Großmutter an. Da sie schon zählen konnte wusste sie, dass sie wohl noch drei oder vier Sommer warten musste, bis ihr Körper mehr Frau als Kind war. Einige Mädchen wurden mit vierzehn Sommern mit Männern zusammengebracht, deren Kinder sie dann bekamen. Also musste sie nicht so lange warten. Doch vorher würde sie wohl zu den hellhäutigen Holzstabschwingern gehen, um deren Zauberkraft kennen zu lernen. Das würde sicher ein sehr anstrengender, ja auch Angst machender Weg sein.

"Für heute soll es das mit den Übungen gewesen sein, Frühlingslied. Dem lähmenden Blick zu widerstehen ist genauso anstrengend wie einem Beutetier nachzulaufen", sagte Morgennebel. Das Mädchen Frühlingslied sah sie erleichtert an. Die Übungen mit ihrer Großmutter waren wirklich sehr anstrengend. Aber immerhin konnte sie nun zwischen ihren Händen kleine Flammen machen oder auf feindliche Gedanken hören, wenn die näher als hundert Schritte waren.

Morgennebel wartete, bis ihre Enkeltochter das aus Ästen und Erde gebaute Haus verlassen hatte. Dann besann sie sich wieder auf das, was sie seit einigen Tagen beschäftigte.

Morgennebel war in Sorge. Die unhörbaren Klänge, die vom Uluru ausgingen, hatten ihre Art und Stärke verändert. Irgendwas hatte den Berg berührt, etwas starkes, oder es war dem Berg entzogen worden, so dass die in ihm fließende Kraft im Ungleichgewicht war. Sie hatte es damals mitbekommen, wie mehrere Träger der Kraft nicht nur ihres Volkes den Tanz des landesweiten Wissens und Fühlens um den Uluru getanzt hatten, um die aus diesem entkommene Götterspinne zu finden, die zum Schrecken aller Schlangen, Panzerechsen und Wildhunde geworden war. Damals hatten die Stammesangehörigen zusammen mit den Ahnengeistern den Berg derartig gestärkt, dass er regelrecht gebrüllt und geschrien hatte, bevor alle mit ihm verwobenen Kraftstränge verbunden waren. Danach hatte der Berg noch stärker geklungen als vorher. Doch nun schwankte die für Menschenohren unhörbare Stimme des Berges, mal lauter, mal leiser, mal ein wenig höher und dann wieder tiefer. Jede Veränderung weckte auch ein anderes Gefühl in Morgennebel. Einmal meinte sie, ein sie jagendes Tier zu hören, dann wieder meinte sie, ein vor seinem Jäger fliehendes Wild vor Angst aufschreien zu hören. Mal meinte sie, das Feuer der Menschenformung in sich zu fühlen, was die Hellhäuter Wollust oder Liebe nannten, dann wieder meinte sie, dass jemand sie von hier verjagen wollte, weil er oder sie das Land für sich haben wollte. Irgendwas war anders, seitdem jener dunkle Schrei erklungen war, der in den Monden vom Sommer zum Winter durch die Erde und die Luft vom Ort des Sonnenuntergangs her das Land durchdrungen hatte und dann ebenso verstummt war wie er aufgeklungen war. Seitdem war der Uluru anders, wusste wohl nicht mehr, ob er gut oder böse, bewahrend oder vernichtend sein wollte.

Zwei Monde waren vergangen, ohne dass sie und ihr männlicher Gefährte im Umgang mit den erhabenen Kräften ergründet hatten, was den Uluru verändert hatte. Über die Fernrufverbindung zu ihren begabten Kindern hatte sie nur erfahren, dass der dunkle Schrei auch bei den Hellhäutern etwas verändert hatte. Die konnten das Feuer dazu bringen, sie von einem Ort zu einem anderen zu tragen, was durch den dunklen Schrei mehrere Tage lang nicht mehr gelang, weil das dafür geknüpfte Netz zerrissen worden war. Auch hieß es, dass böse Zauber stärker wurden und von Hass und Gier getriebene Ahnengeister noch stärker geworden seien als vorher. Doch betraf das auch den Uluru?

Natürlich hatte sie wie alle mit der hohen Kraft begüterten gelernt, dass um den Berg nicht nur die Schlacht der Schöpfungszeit geführt worden war, sondern auch ein Kampf zwischen im Himmel selbst wohnenden Dienern des Windkönigs und Schlangen- oder Eidechsenmenschen geschlagen wurde, bei dem vier Eidechsenmenschen von der Kraft des Windkönigs im Uluru selbst eingeschlossen wurden, um ihre Brüder und Schwestern aus dem Land zu verdrängen. Diese Eidechsen- oder Schlangenleute hatten einem mächtigen dunklen Gott gedient, dem Herrn der Nacht, der die ganze Welt in dauernde Dunkelheit stoßen wollte. Vielleicht hatte der dunkle Aufschrei, der durch Erde und Luft gedrungen war, die vier im Berg erstarrten wecken sollen, weil der dunkle Gott die Zeit für gekommen hielt, seinen Willen zu erfüllen. Doch bisher hatte nichts darauf hingedeutet, dass die Schlangenmenschen erwacht waren, falls sie es überhaupt noch konnten.

Doch seit zwei Tagen meinte Morgennebel, dass noch etwas im Uluru anders geworden war. Sie hatte sich in den Zustand zwischen Sein und werden hineingesungen, um die auf Land, Tier und Geist wirkenden Kräfte genauer zu spüren. Dabei hatte sie das Gefühl gehabt, der Uluru müsse eine schwere Last von sich abwerfen, nicht mal eben so, sondern mit einer einem Stein gebührenden, sehr langsamen Geschwindigkeit. Etwas war innerhalb des Berges immer weiter nach unten gesunken und hatte die darin fließenden Kräfte verändert, bis ein kurzes Zittern durch den Berg gegangen war und sich die in ihm fließenden Kräfte auf einer Art unhörbarem Ton mehrerer Stimmen eingeordnet hatten. Ab da klang der Berg mit einem gleichbleibenden, vielstimmigen Summen und säuseln, das Morgennebel jedoch irgendwie bedrohlich fand, als warne der erhabene Berg die, die ihn hören konnten, vor einer drohenden Gefahr. Immerhin hatte sich die Reichweite der von ihm ausgehenden Kraft auf die frühere Stärke eingestimmt. Das konnte also nur heißen, dass die in ihm bewirkte Veränderung vollendet war, ob zum guten oder zum bösen, das würden die kommenden Tage und Monde zeigen. Doch Morgennebel fürchtete den Hauch der Zerstörung, der Kraft, die aus Gier, Hass und Tötungslust floss wie ein Fluss, in den hunderte von Schlangen ihr tödliches Gift hineintropften. Auch wenn sie die über eintausend Menschenleben weitergereichte Überlieferung achtete sorgte sie sich nun, weil sie fühlte, dass etwas, das ihr als wissender Frau beigebracht worden war, nicht ausreichte, um das warnende Lied des Uluru zu verstehen. Es mochte sein, dass die wissenden Männer ihres Volkes das Geheimnis kannten. Doch würden die es ihr nicht verraten, und sie durfte sie auch nicht danach fragen, so die seit Beginn ihres Volkes verkündeten Gesetze. Sie konnte nur warten und hoffen, dass sie dann, wenn wirklich etwas gefährliches in ihr Land eindrang, rechtzeitig wusste, was sie dagegen tun konnte. Von dem allen durfte sie den unschuldigen Seelen ihres Volkes nichts erzählen, auch nicht Frühlingslied, ihrer Lieblingsenkeltochter, die sie deshalb so verehrte, weil in ihr die alte Kraft am stärksten erwacht war. Eines Tages würde Frühlingslied Morgennebels Platz im Rat der Stammesältesten einnehmen. Morgennebel hoffte, dass sie bis dahin die unbekannte Gefahr erkannt und überwunden haben würde, vor der der unhörbare Chor der Kraft im Uluru warnte.

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In ihrer kleinen Versammlungsgrotte tief unter dem ehemaligen Festungsberg Ailanorars, einen halben Zwölfteltag nach dem Zusammentreffen mit den Jetztzeitmenschen

Ashlohuganar und Ishgildaria lauschten auf die neuen Gedanken. Ja, die von ihnen geküssten erfuhren die sowohl schmerzvolle wie erweckende Wirkung ihres wandelnden Kusses. Sie erfassten sogar, dass irgendwie die Wandlung in kürzerer Zeit verlief als früher. War ihr mächtiger Kuss stärker geworden? Oder lag es daran, dass die mit dem Kuss der Einberufung beehrten in der Nähe ihrer Einberufer waren. In nicht einmal einem Viertel der früheren Zeit fühlten Ishgildaria und die drei anderen verbliebenen Diener des Erhabenen, wie in den sechs geküssten die unbändige Glückseligkeit entflammte, endlich vollendet zu sein, das neue Dasein mit weit offenen Armen anzunehmen, es mit jedem Atemzug einzusaugen und es in ihrem Blut fließen zu lassen. So hatten sie es damals auch empfunden, als der Erhabene sie mit seinem Herrscherstab berührt und ihnen damit den Urstoff der Verwandlung in die Körper getrieben hatte.

"So können wir uns noch schneller ausbreiten", frohlockte Ashlohuganar. Die anderen stimmten ihm zu.

"Ja, aber dafür können wir gerade noch auf neunzig statt hundert unserer Körperlängen in den Leib der großen Mutter hinuntersinken. Ihr feuriges Inneres verlangsamt uns, je tiefer wir dann sind, und sicher ist die Grenze, wo wir von der großen Mutter selbst unrrettbar in ihrem Schoße selbst vergehen müssen ebenso in Richtung ihrer festen Haut verändert worden."

"Dann wollen wir abwarten, was unsere neuerschaffenen Mitstreiter vermögen!" sagte Ishgildaria, die während des Gespräches mit ihren drei Mitkämpfern die ersten Gedanken mit den von ihr geküssten Weiblichen ausgetauscht hatte.

"Ihr seid uns verbunden, durch alle Zeiten bis in den Tod", stieß der erste Verkünder des Erhabenen in Gedanken aus. Er fühlte die Glückseligkeit der ihm zugefallenen Macht. Er war nun der Lenker, wie es vorhin der Erhabene selbst gewesen war.

"Wer oder was seid ihr?" hörte er einen der Geküssten denken. "Das was ihr nun auch seid, Diener des großen erhabenen, Erben und Vollstrecker seiner Werke", schickte Ashlohuganar zurück. Da hörte er die Gedankenstimme einer der drei Frauen: "Wir sind Vampire, Blutsaugende Ungeheuer?" Darauf antwortete Ishgildaria: "Wir haben es nicht nötig, Blut zu saugen, wenn wir es durch den Kuss der Einberufung dazu bringen, uns zu vermehren. Wir sind das Volk des Erhabenen, seine Getreuen, doch weil er nicht mehr da ist sind wir sein lebendes Erbe, seine Vollendung in dieser Welt. Findet euch damit ab, dass ihr nun mit uns verbunden seid. Nur der gewaltsame Tod kann das beenden, und wir sind zu stark, um mal eben so getötet zu werden."

Wir sind dir verbunden", klangen die drei willenlosen Stimmen der neuen Daseinsschwestern. Ashlohuganar sah Ishgildaria an, die in ihrer harmlosen Menschengestalt wie ein junges Mädchen mit goldbrauner Hautfarbe aussah. Ishgildaria lächelte überlegen. Sie hatte seine Gedanken gehört. Denn sowie die Männer ihm allein gehorsam waren befehligte sie die drei Frauen, und das nur, weil Gooramashta auf die sechzig langsam an- und abschwellenden Eier aufgepasst hatte, während sie und Ashlohuganar die neuen Gefährten erschaffen hatten. Er wusste, dass sie ihm die Gefolgschaft der drei Umgewandelten zuführen oder entziehen konnte und dass er über sie keine Macht mehr hatte, weil die einende Stimme des Erhabenen verstummt war.

"Folgt unseren Stimmen in die Höhle der neuen Quelle der Macht. Dann vereint eure Gedanken mit unseren, auf dass wir erfahren, was ihr wisst und wir euch künden, was ihr nun vermögt und zu tun ist!" befahl Ashlohuganar. Ishgildaria bekräftigte diesen Befehl. Es dauerte weniger als fünfzig Atemzüge, bis die sechs neuen Gefährten eintrafen. Anders als die vier Wiedererwachten trugen diese noch die Kleidung ihrer Menschenzeit. Doch das blieb nur wenige Atemzüge so. Denn kaum dass die sechs neuen Gefährten, drei männliche und drei weibliche, sich in unmittelbarer Nähe zueinander befanden, überkam sie alle jener unbändige Drang, übereinander herzufallen und sich miteinander zu verpaaren. Ishgildaria und Gooramashta kamen zu spät auf den Gedanken, die von Ishgildaria gemachten Gefährtinnen zu befehligen, diesem Trieb zu widerstehen. So mussten die ersten vier zusehen, wie die neuen sechs jede Paarung aus einem männlichen und einem weiblichen Gefährten vollzogen, die möglich war. Hatte es bei den ersten Vieren nur zwei Wahlmöglichkeiten gegeben so waren es bei drei Paaren aus männlichen und weiblichen neun mögliche Paarungen. So dauerte es eine für den wieder auf seine Vorrangstellung hoffenden Skyllianri unerträglich lange, bis jede neue Schwester einmal mit jedem neuen Mitbruder den unbändigen Fortpflanzungsrausch ausgelebt hatte. Das hob den Vorsprung wieder auf, den die erheblich verkürzte Umwandlungszeit gebracht hatte. Ja, und dann dauerte es noch, bis die drei auf diese Weise mehr als ausreichend begatteten Schwestern je fünfzig runde weiße Eier mit hauchdünner Schale in eine der kleinen Nebengrotten abgelegt hatten. Erst als die drei neuen Mitschwestern unter Keuchen und Stöhnen die in ihnen aufgekeimte Last ausgetrieben hatten konnten sie endlich wieder klare Gedanken fassen, wenngleich diese nun eben die Gedanken körperlich und geistig umgewandelter Wesen waren, die ihre neue Daseinsform als die einzig richtige und wahre Daseinsform angenommen hatten und verehrten.

Erst als endlich jeder Gedanke an die körperliche Fortpflanzung ausgetrieben war konnten sie alle miteinander einen geistigen Verbund knüpfen, in dem jeder von jedem und jeder anderen alles erfuhr. So lernten die vier wiedererwachten Skyllianri, dass es keine Spuren von Altaxarroi mehr gab und die Geschichte des Kampfes nur noch als Vorstellung einer Glaubenswelt bestand. Allerdings erfuhren die vier Wiedererwachten neben der Sprache der Verwandelten auch, dass es zumindest unter den hier lebenden Urvölkern noch Trägerinnen der hohen Kräfte gab. Denn eine von denen hatte den, der früher Simon Waxman geheißen hatte, erstarren lassen, so wie er es mit ihm getan hatte, bevor er ihm den Kuss der Einberufung gegeben hatte. Diese Frau, Morgennebel, war sicher eine gefährliche Feindin. Doch keiner der neuen Gefährten wusste, wo sie lebte. Außerdem erkannten die vier Wiedererwachten, dass es nicht ratsam war, in der Nähe der alten Festung Ailanorars neue Gefährten zu erschaffen, da es für deren Feinde zu einfach sein würde, sie alle auf einmal anzugreifen.

Um zu ergründen, ob die sechs Neuen ebenso unter dem hellen Licht des großen Himmelsfeuers litten verließen die zehn Skyllianri die unterirdischen Höhlen und schlüpften durch den Zugang, den auch die sechs ehemaligen Höhlenforscher genommen hatten. Sofort fühlte Ashlohuganar, wie ihm das Licht der Sonne zusetzte, ihn schwächte und zwwang, die menschliche Gestalt anzunehmen, die er vor der Einberufung besessen hatte. Ebenso erging es seinen Gefährtinnen Ishgildaria und Gooramashta, sowie Sholalgondan. Die neuen Einberufenen jedoch blieben in ihren neuen Gestalten, ja sie konnten sich der in dieser Jahreszeit nicht ganz so starken Wärme des Himmelsfeuers genüsslich hingeben. Unangenehm war, dass die vier Wiedererwachten fühlten, wie die geistige Verbindung zu ihren Einberufenen mit jedem pieksenden Strahl der Sonne schwächer und schwächer wurde. Sie schafften es gerade noch, den sechs neuen zu befehlen, mit ihnen in die schützende Dunkelheit der Höhlen zurückzukehren.

Alle zehn zogen sich nun wieder unter den Felsenberg zurück, dorthin, wo nun 210 weiße Eier darauf warteten, dass neues Leben aus ihnen schlüpfte. Beim Anblick der ganz sachte an- und abschwellenden weißen Brutkugeln fühlte Ashlohuganar, wie sich die drei neuen Gefährtinnen darauf einstimmten. Sie würden diese Brut bewachen und verteidigen. Als auch Ishgildaria merkte, dass die von ihr erschaffenen Schwestern und Dienerinnen sich darum stritten, wer auf die Brut achten sollte sagte sie: "Ihr seid die einzigen, die noch hinausgehen und unser Werk vollenden können. Gooramashta und ich werden eure und auch unsere Brut bewachen und dafür sorgen, dass unser aller durch den Tanz des neuen Lebens entstandenen Nachkommen sicher beschützt heranwachsen können. Ihr drei geht mit den dreien, die euch befruchtet haben hinaus in sechs verschiedene Richtungen, weit genug fort von uns. Jede Schwester küsst neue Frauen in unsere Gemeinschaft. Jeder Bruder küsst neue Männer in unsere Gemeinschaft. Sie müssen weit genug voneinander fort sein, um nicht wie ihr und wir zunächst nur den Ruf nach dem Lebenstanz zu erliegen. Habt ihr das vernommen und verstanden?" Die drei gerade wie kleine Mädchen um etwas was jede haben will zankenden erstarrten. Dann nickten sie und bestätigten, den Befehl ihrer Daseinsmutter und Mitschwester verstanden zu haben. "Dann geht jetzt alle hinaus und mehret euch! Wir, die Verkünder des Erhabenen, behüten eure und unsere Brut."

"Ihr habt gehört, was meine Gefährtin Ishgildaria unseren Schwestern befahl. Geht auch ihr jeder in eine eigene Richtung hinaus und beruft neue Brüder in unsere erhabene Gemeinschaft, damit dieses Land des Windkönigs bald ein Land des Erhabenen sein wird!" bekräftigte Ashlohuganar den Befehl, den Ishgildaria ihren Gefährtinnen erteilt hatte. Die sechs neuen Gefährten schafften es nicht, sich gegen den ihnen eingepflanzten Gehorsam ihren Erschaffern gegenüber aufzulehnen. Sie murrten nicht einmal, sondern überlegten nur, wer in welche Richtung davongehen sollte. Da meinte die, die früher Shania Sharidan geheißen hatte und wegen ihrer glockenreinen Menschenstimme nun den Namen Sharikhaulaia (Todeslied) trug: "Die, die uns als Menschen kannten werden uns vermissen und suchen. Das wird auffallen, wenn wir einzeln in verschiedenen Richtungen laufen."

"Das ist uns ganz gleich. Ihr habt eure Anweisungen. Befolgt also unsere Befehle, die Befehle aus der Quelle der neuen Erhabenheit", erwiderte Ashlohuganar und freute sich über die neue Benennung seiner Gefährten. Niemand anderes widersprach. Und so zogen die sechs neuen Diener des Erhabenen kurz nach Sonnenuntergang aus, um jeder und jede für sich in einer ausgewählten Richtung das Land zu durchstreifen, darauf achtend, nicht aufzufallen und dennoch gleichgeschlechtliche Menschen mit dem Kuss der Einberufung zu Ihresgleichen zu machen, bis irgendwann ganz Australien, wie das Inselland mit dem glutheißen Herzen von den Istzeitlern genannt wurde, nur noch den Skyllianri gehörte. Hatten sie erst einmal dieses Land, so würden sie sich über die ganze Welt verbreiten, ob da noch genug Träger der hohen Kräfte lebten oder nicht. Der Auftrag des Erhabenen blieb bestehen und würde erfüllt.

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Zentrale der deutschen Lichtwache, 12.09.2003, 11:15 Uhr Ortszeit

Lichtwachengeneral Andronicus Eisenhut war seit dem 26. April wie ein randvoller Kessel, den jemand auf einer Feuerstelle vergessenhatte. Mal loderte das Feuer auf, dann wurde es wieder zu einer schwachen Glut. Je danach brodelte es in ihm oder gluckerte unheilverheißend. Heute war wieder ein Brodeltag.

Der Oberkommandierende der Lichtwache, der Sondertruppe zur Bekämpfung dunkler Magie und böswilliger Hexen, Zauberer und Zauberwesen, zählte mit einem Blick durch, ob alle Regionalkommandanten anwesend waren. Als er feststellte, dass sie alle da waren sah er die ausgewiesenen Spezialisten, die er hier und heute dazugebeten hatte, ebenso wie aus dem Büro für friedliche Koexistenz von Zauberern und Magielosen die Hexe Albertine Steinbeißer. Er begrüßte alle Anwesenden und deutete zur Decke, von der eine langstielige weiße Rose herabbaumelte. "Gemäß der allgemeinen Bedeutung dieses Raumschmuckes ist Ihnen allen klar, dass kein Wort dieser Besprechung aus diesen Raum dringen darf." Alle nickten Eisenhut zu. "Gut, der Minister hat mir schriftlich und mündlich noch einmal die volle Eigenentscheidungsgewalt zugesichert, dass wir Lichtwachen alle aufkommenden Nachwirkungen dieser ungeheuren Woge dunkler Zauberkraft bekämpfen dürfen, ohne jedesmal bei ihm oder der Strafverfolgungsabteilung anzuklopfen. Mit anderen Worten, wir sind reaktionsschneller und können auch Maßnahmen durchführen, die nicht immer im Einklang mit freiheitsliebenden Hexen und Zauberern stehen. Minister Güldenberg vertraut mir und damit auch Ihnen, werte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, dass wir die Auswirkungen dieser dunklen Welle von allen redlichen Mitbürgerinnenund Mitbürgern fernhalten, ohne einen reinen Überwachungs- und Vollstreckerstaat zu führen. Soviel zu Ihrer aller Kenntnis. Was die Anwesenheit der nicht zu uns Lichtwächtern gehörenden Damenund Herren angeht, so habe ich Sie deshalb zu dieser nicht öffentlichen Besprechung hinzugebeten, weil Sie besondere Kenntnisse, Erfahrungen und Befähigungen mitbringen, die wir für einen erfolgreichen Kampf gegen dunkles Zauberwerk und böswillige Magiekundige benötigen. Das auch vor allem für die Kollegen von den Lichtwachen zur klaren Kenntnis. Ich hoffe, das Vertrauen Ihrer Vorgesetzten rechtfertigt es, dass ich Ihnen dahingehend vertrauen kann, dass Sie nicht auf einen Eidesstein schwören müssen." Die nicht zur Lichtwache gehörenden Ministeriumshexen und -zauberer nickten zustimmend, wenngleich Albertine Steinbeißer immer wieder zu Sektionsleiter Lichtwachenoberst Keno Grasbrook hinübersah, als habe sie mit dem noch was abzurechnen. Eisenhut ahnte, was das sein mochte, wollte aber im Moment nicht darüber reden.

Es ging um drei Themen. Da waren die immer noch in Freiheit befindlichen Anhänger Wallenkrons, der als Lord Vengor versucht hatte, die internationale Zauberergemeinschaft aus den Angeln zu hheben. Mittlerweile kannten sie von vier weiteren die Namen. Doch die Verdächtigen waren unauffindbar. Eisenhut bestand darauf, diese Männer zur internationalen Fahndung auszuschreiben und erwähnte, dass er sich mit den gleichwertigen Schutztruppen Großbritanniens, Frankreichs, Belgiens, Österreichs und der Schweiz abstimmen würde. Da meldete sich der Bereichsleiter für Berlin-Brandenburg, Oberst Horst Pappenstiel und wandte ein, dass die Verdächtigen sicher nach Russland rübergemacht hätten, wo genau da und auf dem Balkan noch einige "maglofresser" herumliefen.

"An der Sache soll laut Minister Güldenberg schon der Ansprechpartner Osteuropa der Abteilung für internationale Zusammenarbeit dran sein. Mehr dann, wenn er was mehr als handwarmes für uns hat", sagte Eisenhut.

Der zweite Punkt betraf die immer aufdringlicher werdenden Unternehmungen von Vita Magica und anderen nichtministeriellen Organisationen, die keinen Vertrag mit den geltenden Zaubereigesetzen hatten. "Was den Franzosen passiert ist und was bei der ziemlich übel abgewürgten Weltmeisterschaft angestellt wurde ist ja allen hier bekannt. Wir müssen also davon ausgehen, dass auch bei uns dieses Paarungstriebgas freigesetzt wird. Darum kümmern sich die Strafverfolgung und die Heilerzunft. Wir sollen rauskriegen, mit wem Vita Magica bei uns so Kontakt hat, vielleicht auch aktive Mitglieder dieser Bande ermitteln und die in eine unbefristete Klausur mit Staatsverpflegung schicken. Zumindest offiziell. Inoffiziell sollen wir aber rausfinden, wen von denen wir dazu kriegen, auf die dauerhafte Logie auf Staatskosten zu verzichten, wenn wir dafür wichtige Namen und Treffpunkte kriegen. Auch wenn es für mich als Lichtwächter sehr unerträglich ist, sowas auch nur anzudeuten, wir müssen wohl auch damit rechnen, dass auch wir schon unterwandert werden, sei es von den Fortpflanzungsfetischisten von Vita Magica, Anhängern Wallenkrons oder dieser Spinnenhexen. Ich will bloß kein gegenseitiges Misstrauen säen. Aber ich will früh genug darauf hingewiesen haben, dass auch wir nicht ganz vor Verrat sicher sein können und keiner einen tödlichen Schrecken kriegt, wenn wirklich sowas ans Licht kommen sollte - was ich absolut nicht hoffe", legte Andronicus Eisenhut dar.

"Die Yankees haben mit denen von VM einen Kuhhandel aufgezogen", meinte Keno Grasbrook dazu. Darauf erwiderte die hessische Sektionsleiterin Thekla Haselstrauch: "Ja, mit uns Hexen als Zuchtkühen, Keno." Darauf entgegnete der norddeutsche Lichtwächter: "Genau deshalb hab' ich das so gesagt, Frau Haselstrauch."

"Gut, ich gebe noch einmal alle von unseren Mitarbeitern recherchierten Sachen herum und erwarte Vorschläge zum weiteren Vorgehen unter Berücksichtigung der Sub-Rosa-Verschwiegenheit", sagte Eisenhut.

Die Diskussion über die Vorgehensweise von Vita magica oder ob der Spinnenorden immer noch neue Mitglieder fand oder wie ihm Mitglieder abspenstig gemacht werden konnten zog sich über anderthalb Stunden hin. Dann kamen sie zu Punkt drei.

"Die Außentruppen sind da schon längst dran. Ich will jedoch die Bereichsleitung und die Gasthörerinnen und -hörer zeitgleich informieren, dass es in der Nacht zu heute mehrere Zwischenfälle mit mehreren Toten gab, vor allem in dunklen Räumen. Einige Zeugen aus der magielosen Welt mussten gedächtnisbezaubert werden, weil sie mit angesehen hatten, wie sich zwei wegen ihrer bleichen Haut und schnellen Bewegungen als Vampire entpuppende Männer mit drei frei im Raum beweglichen Schatten mit blauen Augen duelliert haben und die Schatten den Vampiren schwarze Dolche in die Körper getrieben haben, worauf die Vampire innerhalb von Sekunden tiefgefroren wurden. Daraufhin sei ein schwarzer Strudel entstanden, aus dem sich beinahe weitere lebende Wesen gelöst hätten, wenn die Schatten nicht mit langen Klingen in diesen Strudel hineingestoßen hätten. Danach sind die Schatten einfach verschwunden. Aus dem Strudel seien nur die zerstückelten und zu Eisklumpen gefrorenen Überreste der darin beförderten herausgefallen."

"Will sagen, die Götzenanbetervampire und die neuen Nachtschatten liegen im Krieg", seufzte Thekla Haselstrauch, nachdem sie ums Wort gebeten hatte. Eisenhut bestätigte das. Dann bat er Albertine Steinbeißer um ihre Mitteilung. Sie erwähnte, was sie von den Verbindungsleuten zu Polizeibehörden mitbekommen hatte und eine Kombieinheit aus Lichtwächtern und Koexistenzbüromitarbeitern die Tatorte untersucht hatten. Es sei nun völlig klar, dass die neuen Nachtschatten und die Vampire gegeneinander kämpften, also nicht das von vielen hier befürchtete Bündnis zwischen Vampiren und Schattenwesen entstanden sei. Albertine erwähnte auch, dass es den Nachtschatten nun möglich sei, einen entstehenden Transportstrudel zu durchbrechen. Damit verlöre die Vampirgötzin eines ihrer wesentlichen Machtmittel. Dies würde sie sich garantiert nicht gefallen lassen. Dann erwähnte sie noch, dass in Bremen ein weiterer Mann ohne Schattenwurf entdeckt worden war. Weil nach einem katastrophal ausgegangenen Festnahmeversuch eines solchen Menschens die Weisung galt, derartig betroffene nur zu beobachten, bis eine Möglichkeit bestand, sie gewissermaßen zu entschärfen, konnte beobachtet werden, wie der Schattenlose in eine Fabrik eindrang, um wohl dort Sabotage zu betreiben. Dabei sei er von vier Männern mit auffallend langen Eckzähnen umstellt worden. Dann war das passiert, was den Lichtwächtern auch schon widerfahren war. Der schattenlose Mann war in einer nachtschwarzen Wolke explodiert. Als die herumfliegenden Splitter in Wände und Maschinen eingeschlagen hatten konnte Albertine sehen, dass auch die vier Männer mit Vampirzähnen regelrecht durchsiebt waren. Die Spurenbereinigungstruppen und Vergissmichs seien noch bei der Arbeit, um alles zu bereinigen.

"Ja, und wenn wir das so wie es uns hier und jetzt aufgedeckt wurde rumgehen oder gar in alle Zeitungen reinschreiben lassen haben wir zum einen eine halbe Panik, gekoppelt mit Paranoia und großer Angst vor Dunkelheit quer durch alle Schichten der Zaubererwelt und zum zweiten mal wieder die Diskussion, ob der friedfertige Kurs des Zaubereiministeriums noch vertretbar sei und ob die Lichtwachen noch das Gold wert seien, dass die Steuerzahler für sie ablieferten", sagte Eisenhut. "Daher gilt ab jetzt und bis zur Aufhebung durch mich oder den Zaubereiminister, dass alle registrierten Vampire auf deutschsprachigem Gebiet unter Überwachung gestellt und notfalls interniert werden müssen. Denn wir müssen auch davon ausgehen, dass die selbsternannte Göttin weitere Mitglieder "anwerben" wird. Außerdem muss die Entwicklung einer Explosionshemmungswaffe beschleunigt werden, deshalb auch die nicht zur Lichtwache gehörenden Spezialisten. Wir müssen diese Schattenlosen festnehmen und verhören können, falls möglich entfluchen, also den irgendwie an ihnen ausgeführten Cleptumbra-Zauber rückgängig machen. Nur müssen wir dann damit rechnen, dass die apparierfähigen Nachtschatten auftauchen. Und bevor hier wieder wer ganz schlau was von Incantivacuum-Kristallen erzählen möchte weise ich darauf hin, dass wir nicht diejenigen sein sollten, die von dunkler Magie veränderte Menschen töten wollen, solange es sich vermeiden lässt. Keiner weiß, ob die sonst gerne als probates Mittel benutzten Kristalle schattenlose Menschen überleben lassen oder töten. Also erst mal alles andere, bevor wir die Herstellung von IVKs ankurbeln. Danke!" sagte Eisenhut. Dann ging es um weitere Möglichkeiten, Nachtschatten oder Vampire an einem Ort festzuhalten. Diese Diskussion dauerte bis halb drei. Dann hatten sie alle mehr als genug Hunger, um möglichst in ihren zuständigkeitsbereichen zu essen.

Eisenhut konnte nicht wissen, dass seine Sub-Rosa-Vorkehrung schon in dem Moment unwirksam war, als er den Raum betreten hatte. Denn Albertrude, die von allen anderen noch Albertine genannt wurde, hatte alle hier besprochenen Einzelheiten schon kurz nach dem Geschehen an ihre gleichrangige Mitschwester in den Staaten weitergereicht. Auch Anthelia war sofort von einem offenen Krieg zwischen Nachtschatten und Vampiren ausgegangen und dass für diesen Krieg unschuldige Menschen auf der einen oder der anderen Seite angeworben werden würden.

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15 Kilometer östlich des Berges Uluru in Australien, 13.09.2003, 22:32 Uhr Ortszeit

Lissy Thornhill genoss den Blick in den südwinterlichen Sternenhimmel über dem Uluru-Catatjuta-Nationalpark. Eigentlich hatte sie den heiligen Berg der Anangu schon an diesem Tag erreichen wollen, aber ihre Mitfahrgelegenheit aus Alice Springs hatte sich um vier Stunden verspätet. Da sie es genießen wollte, auf den Berg zuzuwandern und seine immer imposantere Ansicht langsam immer mehr auf sich wirken zu lassen hatte sie beschlossen, sich bis an die gerade noch zulässige Grenze für ein einzelnes Zelt bringen zu lassen. Mit ihrer an das beachtlich gute Teleskop anschließbaren Digitalkamera mit sehr hoher Lichtausbeute nahm sie die wichtigsten Sternbilder auf, und zwar ohne auf den Bildern selbst sichtbares Datum. Bei Astrofotos ließ sie diese die Gesamtoptik verderbende Einfügung weg, zumal die Digitalfotos ja eh mit einem internen Zeitstempel abgespeichert wurden.

Als sie alle für sie und den Mann ihrer nordamerikanischen Internetfreundin Joan Carson interessanten Eindrücke eingefangen hatte zielte sie mit dem Fernrohr auf den Uluru, der nun, wo die Abenddämmerung verglüht war, als stumpfgraues Monument aus Jahrmillionen in der Landschaft aufragte. Sie konnte verstehen, dass der Berg den nomadisch lebenden Ureinwohnern wie ein natürliches Weltwunder und somit göttliches Werk erscheinen musste, das nicht nach belieben erklettert werden sollte wie eine aufblasbare Hüpfburg. Sicher, ihre Freundin Alice Widewater aus Sydney hatte vor vier Jahren mit einer Touristengruppe eine Klettertour mitgemacht und von oben viele beeindruckende Fotos und Videos gemacht, die sie stolz wie ein siegreicher Feldherr auf der Internetseite www.trecking-chicks.com veröffentlicht hatte. Damit hatte sie Joan Carsons Bilderreise durch den Grand Canyon glatt ausgestochen. So musste die 23 Jahre junge Lissy nicht auch noch die hier lebenden Ureinwohner ärgern und da hinaufklettern. Ihr ging es darum, die Annäherung an den Berg in Fotos und kurzen Videofilmen zu erfassen, bis sie in nicht einmal hundert Metern davon entfernt einen Videoschwenk von unten nach oben und zurück ausführen wollte, um die wahre Erhabenheit des Berges darzustellen. Abgesehen davon würde sie in einem Jahr in den Semesterferien mit einem Tauchboot zum Grunde des Großen Barriere-Riffs hinuntertauchen und dort ganz sicher wirklich spektakuläre Aufnahmen machen, mit denen sie Alices Rundblick vom Gipfel des Uluru entthronen würde.

Weil es hier im Gebiet um den Uluru herum in den Wintermonaten ziemlich kalt wurde brach Lissy ihre Sternenbeobachtungsmission ab und zog sich in das für Wüsteneinsätze ausgelegte Zelt mit den zwei thermoplanen zurück. Hier wollte sie sich in den gut gefütterten Schlafsack eindrehen und bis morgens kurz vor Sonnenaufgang schlafen. Dann wollte sie von osten her auf den Uluru zugehen und das Farbenspiel der aufgehenden Sonne dokumentieren und dabei auf einem Weg an den Berg herangehen, dass sie bei höchstem Sonnenstand den Uluru vom Süden her ansehen und mit ihrer vielseitigen Kamera aufnehmen konnte. Nachmittags würde sie dann wohl die nächste Nähe zum roten Sandsteinberg erreichen, die erhoffte Erhabenheit seiner herausragenden Erscheinung erfahren und dann kurz vor Sonnenuntergang wieder weit genug von ihm fort sein, um ihn vom Westen her in seiner ganzen Pracht sehen und aufzeichnen zu können.

Lissy hatte sich nach Ablegen ihrer angestaubten Tagesbekleidung mit Wasser aus dem für Waschzwecke gedachten Kanister Gesicht und Körper gewaschen und wollte gerade ihren Winterpyjama überziehen, als sie ein Geräusch hörte, das nicht zum allabendlichen Konzert der hier lebenden Tiere gehörte. Es war ein leises Rascheln draußen vor dem Zelt. Lissy lauschte, ob sie genauer hören konnte, wer oder was sie da umschlich. Wenn es ein hier lebendes Raubtier war hoffte sie, dass die äußere der beiden Planen wirklich so dingo- und känguruhsicher war wie der Mensch in dem Laden für Expeditionsbedarf es behauptet hatte. Abgesehen davon wollte Lissy nicht in die Lage geraten, ihre für Frauenhände eigentlich zu klobige Armeepistole einzusetzen. Die Ranger des Parkes würden es ihr sicher übelnehmen, wenn sie eines der hier lebenden Tiere abschießen musste, nur um nicht selbst von einem wütenden Känguruh totgeschlagen oder von einem Dingo mit einem Beutetier verwechselt zu werden.

Lissy horchte weiter auf die Geräusche, die durch die doppelte Zeltplane gedämpft zu ihr hereindrangen. Sie hatte die kleinen Fieberglasbullaugen mit den zuknöpfbaren Klappen verschlossen, falls sie nachts noch einmal licht machen musste und kein Nachtgetier damit zu irritieren. So konnte sie nur auf ihr Gehör vertrauen. Doch im Moment hörte sie nichts verdächtiges. Was immer da draußen geraschelt hatte war entweder weitergewandert oder lauschte ebenfalls, ob etwas unerwartetes in der Nähe war. Eine gefühlte Minute lang tat sich nichts. Dann drang eine mittelhohe Frauenstimme mit eindeutig nordamerikanischem Akzent zu ihr durch: "Entschuldigung, ist jemand in dem Zelt?" Lissy erschrak erst. Doch dann fing sie sich wieder. Womöglich hatte sich eine weitere Abenteurerin in diese Gegend gewagt. Aber wieso war die dann bei ihr? Hoffentlich wollte die nicht mit in das Zelt, weil sie nicht wusste, wo sie die Nacht verbringen sollte.

Lissy argwöhnte, dass wer auch immer die Fremde war vor der von ihnen mit drei Vorhängeschlössern gesicherten Zeltklappe ausharren würde, bis sie entweder eine Antwort bekam, jemand ihr das Zelt aufmachte oder von draußen ins Zelt hineinschlüpfen wollte. Es war schon irgendwie seltsam, dass noch wer außer ihr in dieser Nacht herumwanderte. Andererseits galt für Lissy auch der Grundsatz, das Weltreisende vor allem abseits der Zivilisation einander helfen sollten, gemäß dem Grundsatz: Was du gewährt, wird dir beschert oder auch, was rumgeht kommt zurück. Also antwortete Lissy Thornhill:

"Ja, hier ist jemand. Mit wem spreche ich bitte?"

"Ich bin Shania Sharidan. Mein Mann und ich haben hier in der Nähe ein Lager aufgeschlagen und festgestellt, öhm, dass wir für bestimmte Geschäfte nicht mehr das nötige Papier haben."

"Sie sind aus den Staaten, richtig?" fragte Lissy immer noch durch beide Zeltplanen hindurch. "Yep", kam die Antwort. "Ich kann Ihnen mit genug Toilettenpapier aushelfen, um die nacht und den nächsten Tag durchzuhalten, Mrs. Sharidan."

Lissy Thornhill holte eine volle Rolle mehrlagiges Toilettenpapier aus ihrem Rucksack und dachte, dass auch hier im australischen Busch dieselben Nachbarschaftsanliegen auftreten konnten wie in Perth, Sydney oder eben New York. Um nicht im Schlafanzug nach draußen zu gehen schlüpfte sie noch einmal in die Wanderkleidung und dachte daran, sich gleich noch einmal waschen zu müssen. Dann öffnete sie die innere Zeltklappe. Sie zwengte sich in den kleinen Zwischenraum zwischen Innen- und Außenplane. Wie eine Astronautin, die aus der schützenden Raumstation ausgeschleust wurde, dachte Lissy und sicherte, dass die innere Klappe sorgfältig verschlossen war. Dann entsperrte sie jedes der drei Vorhängeschlösser, die am großen Reißverschluss der Außenklappe angebracht waren und öffnete die Außenklappe.

Vor dem Zelt stand eine Frau wohl Mitte dreißig, deren Hautton im Licht von Lissys Taschenlampe mitelhell getönt war. Sie trug eine Kombination, die für Klettertouren geeignet war. Doch was Lissy unmittelbar und mit ganzer Wirkung auffiel waren die dunklen Augen der nächtlichen Besucherin. Sie wirkten so, als wollten sie durch alles hindurchdringen wie Röntgengeräte. Lissy fühlte, wie der Blick dieser Augen sich in ihren hineinfraß und dachte sofort an einen Versuch, sie zu hypnotisieren. Da sprach die Fremde auch schon: "O, du bist sehr stark und gut genährt. Ich denke, du kannst mir noch mehr helfen als mit einer Rolle Klopapier", sang die andere mit ihrer unglaublich glockenreinen Stimme. Lissy fühlte, wie die Fremde ihr mit jedem Wort und mit ihren Augen jeden Arg austrieb, ja jedes Gefühl aus ihrem Kopf verjagte. Dann hörte sie die andere sagen: "Ich möchte zu dir hereinkommen, bevor uns zwei noch wer anderes sieht." Lissy nahm das als unumstößlichen Befehl hin. Sie wich vor der anderen ins Zelt zurück. Diese schlüpfte zu ihr in die Zwischenkammer zwischen Außen- und Innenhülle. Ohne dazu was sagen zu können ließ Lissy es geschehen, dass die unerwartete und sie regelrecht überrumpelnde den Reißverschluss wieder zuzog. Dabei drückte sie sich an Lissy heran. Sie strahlte keine Körperwärme aus. Lissy versuchte in einem letzten Widerstand, sich aus dem sie bannenden Blick zu lösen. Doch die andere erkannte das und hielt Lissy mit der linken Hand sicher. "Wir gehen da rein, und dann werden wir alles regeln, was du für uns noch tun kannst", säuselte die Fremde und deutete mit der freien Hand auf die innere Zeltklappe. Lissy gehorchte ohne weiteres Wort und öffnete auch den Innenbereich.

Sie schlüpfte rückwärts in das 1-Personen-Zelt und ließ die andere nachdrängen. Was immer jetzt auch passierte würde von draußen keiner mitbekommen, wenn sie nicht laut schrie. Doch sie schaffte es nicht im Ansatz, einen laut von sich zu geben.

"Ach, so ein Zelt hatten mein Mann und ich vor drei Jahren auch, als wir in der Wüste Gobi unterwegs waren. Schon praktisch", streute die unheimliche Besucherin ein. "Wie heißt du eigentlich, Mädchen?" fragte sie noch. Lissy fühlte, dass sie jetzt was sagen konnte. Sollte sie jetzt laut schreien? Aber im Umkreis von mehr als zehn Kilometern würden nur nachtaktive Tiere sie hören. Den Gedanken, die Armeepistole zu nehmen verwarf sie, weil die Waffe unter dem Schlafsack war und sie sich dafür bücken und der anderen den Rücken und Hinterkopf darbieten würde. So sagte sie nur leise: "Ich bin Lissy Thornhill."

"Du bist Australierin, richtig? Wo genau kommst du her?" wollte die Frau wissen, die behauptete, Shania Sharidan zu heißen. Lissy erwähnte ihren Heimatort im westen Australiens. "Auch ein schön weiter Weg", sagte die unerwartete Besucherin erheitert. Dann nagelte sie Lissy regelrecht mit ihrem Blick fest. "Dann kannst und wirst du uns sehr gut helfen, den Auftrag der Erben des Erhabenen zu erfüllen", sagte die andere. Dabei öffnete sie das Oberteil ihrer Expeditionskleidung und streifte es mit einer lässigen Körperdrehung ab. Bevor Lissy fragen konnte, was das sollte sah sie, wie die andere sich auf unheilvolle Art veränderte. Ihre mittelhelle Haut, wohl ein Erbe eines afrikanischstämmigen Vorfahren, bekam blitzartig grüne und braune Schuppen wie bei einer großen Echse oder einer Schlange. Ebenso verformte sich das Gesicht, und die langen leicht gekräuselten Haare schrumpften wie von der Kopfhaut eingesaugt zusammen und verschwanden im Schädel, der immer mehr dem einer aufgerichteten Schlange glich. Die Augen wurden dabei größer und vor allem heller. Ihre besondere Kraft nahm im gleichen Maße zu wie die unheilvolle Umwandlung. Lissy fühlte, dass sie im Moment keinen Finger rühren konnte. Das unheimliche Wesen, dem sie die Tür geöffnet hatte, verharrte ruhig auf dem Punkt, bis es sich vollständig in ein ungeheurliches Geschöpf mit schlankem Körper, flachem Kopf und biegsamen Armen mit messerscharfen Krallenhänden verwandelt hatte. Dann hörte sie die Unheimliche mit einer völlig unmenschlichen Stimme zischen: "Du wirst es gut überstehen, so wie ich, meine neue Schwester. Bin gespannt, welche Musterung du kriegst."

Lissy ahnte, nein wusste, was die andere damit sagen wollte. Zwischendurch las oder sah sie doch die ein oder andere Horrorgeschichte mit bitterbösen Außerirdischen oder Vampiren, die ihre Gestalt verändern konnten, um unerkannt und unbeachtet zwischen arglosen Menschen zu leben und nur dann zu abscheulichen Monstern wurden, wenn sie ein sicheres Opfer vor sich hatten. Als ihr das bewusst wurde sah sie nur noch, wie die unheimliche Schlangenfrau ihren Kopf vorschnellen ließ und fühlte den doppelten Einstich in ihrem Hals. Würde die andere jetzt ihr Blut trinken? Doch die Unheimliche zog ihren Kopf genauso schnell wieder zurück wie sie ihn vorgeschnellt hatte. Lissy fühlte jedoch, dass der ihr zugefügte Biss alles andere als harmlos war. Dieses Unwesen da hatte sie vergiftet. Womöglich würde sie qualvoll sterben und dann, wenn das üble Zeug sich ganz und gar in ihrem Körper ausgebreitet hatte, als eine von denen wiedererwachen, denn nur so hatte die andere das wohl gemeint, als sie von ihr als ihrer neuen Schwester gesprochen oder gezischt hatte.

Lissy fühlte das in ihr Blut eindringende Übel und wusste, dass sie gerade nichts dagegen tun konnte. Was für ein Zeug machte aus Menschen solche Ungeheuer? Am Ende würde sie ähnlich wie einer der Borg aus den Star-Trek-Serien sogar froh sein, genauso zu sein wie dieses Geschöpf da. Sie versuchte, gegen den ihr aufgezwungenen Bewegungsbann anzukämpfen. Doch die andere hielt sie mit dem Blick ihrer nun aus sich heraus glimmenden Augen so sicher wie mit um ihren Körper geschlungenen und dreifach verschlossenen Eisenketten. Lissy hörte ihr Herz gegen das ihm zugefügte Verhängnis anpochen, keuchte, weil die in ihr wirkende Vergiftung ihren Körper stresste. Ihre Beine wurden immer weicher, bis sie fast ohne Widerstand vor der anderen auf die Knie fiel, als sei diese ihre Göttin oder eine Königin, der sie huldigen musste. Immer noch verstärkte sich die Wirkung des in sie eingespritzten Giftes. Sie fühlte ein Kribbeln auf der Haut, erst am Hals und dann auch auf Gesicht und Schultern. Da wusste sie es ganz sicher, dass sie sich selbst in diese Abscheulichkeit verwandelte, die sie heimgesucht hatte.

Die unheilvolle Schlangenfrau kniete sich nun ebenfalls vor Lissy nieder, nicht aus Hilfsbereitschaft oder Gleichrangigkeitsgefühlen, sondern nur, um nicht von oben auf die Kniennde hinabsehen zu müssen. Denn ihr hypnotischer Blick war die einzige Garantie, die andere unbeweglich und zu keinem unerwünschten Laut fähig zu halten.

Ob Minuten oder Stunden vergingen bekam Lissy nicht mehr mit, und es wäre ihr sicher auch völlig unwichtig gewesen. Denn mit jedem Herzschlag schritt ihre Veränderung voran. Sie konnte immer deutlicher vier Stimmen in ihrem Verstand hören, erst wie aufgeregte Schlangen zischend, dann immer deutlicher verständlich: "Du bist eins mit uns. Folge unserem Willen!" Als diese von vier Stimmen geäußerte Botschaft immer klarer in ihrem Geist klang und sie zwei Männer- und zwei Frauenstimmen heraushören konnte, vollzog sich die Verwandlung ihres Körpers noch schneller. Jeder in ihren Gedanken klingende Befehl der vier Unheimlichen schien die Wirkung des in ihr aufgekeimten Übels voranzutreiben. Am Ende fühlte sie, wie ihr Körper unter heftigen Wellen aus Schmerzen und Hitze vollständig verwandelt wurde. Ihre Wahrnehmung verstärkte sich um ein vielfaches. So empfand sie das Taschenlampenlicht als gleißendes Mittagssonnenlicht. Einem ihr bis dahin unbekannten Trieb folgend streckte sie die wie von einem heißen Messer gespaltene Zunge aus dem verformten Mund und fing damit die Umgebungsluft und die von ihr getragenen Geruchsstoffe auf. Sofort empfand sie alle Geruchs- und Geschmackseindrücke zehnmal so stark wie sonst. Bei der, die ihr das zugefügt hatte, erkannte sie auf diese Weise, dass diese ihr überlegen aber zugleich auch wohlgesinnt war. Wie von einem unsichtbaren Blitz getroffen durchzuckte sie von unten nach oben neue Kraft und ließ sie aus der Kniestellung heraus bis an die gerade mal 1,80 Meter hohe Zeltplane springen. Ja, fast durchschlug sie diese, so heftig hatte sie der in sie eingeschossene Kraftstoß abspringen lassen. Sie fühlte, wie zwei biegsame Arme sie auffingen und dann solange festhielten, bis sie ihre eigenen Füße wider auf dem isolierten Boden hatte. Das, was vorhin noch die junge Einzelwanderin Lissy Thornhill gewesen war, fühlte bei der Berührung mit dem Isomaterial, dass etwas von unten in sie einsickerte, aber irgendwie nicht gleichmäßig strömte, sondern mal stärker und mal schwächer in ihren Körper drang.

"Willkommen in den Reihen der Erben des Erhabenen", sagte die, die sich vorhin noch Shania Sharidan genannt hatte. Ihre veränderte Stimme klang für die neue Schlangenfrau nun wieder glockenrein und zugleich sehr raumfüllend. Dann fühlte sie, wie sie sich wieder eigenständig bewegen konnte. Sie fühlte eine immer größere Glückseligkeit in sich. Sie war jetzt stärker und schneller als jeder andere Mensch, ja wohl auch stärker und schneller als die Tiere des australischen Buschlandes.

"Interessant, ich dachte schon, du würdes wie ich aussehen. Aber dein neuer Körper ist einfarbig hellgrün. Wie heißt diese Farbe in der Sprache des Erhabenen?" Lissy wusste nicht, ob sie gemeint war. Doch dann hörte sie eine der vier Stimmen, die sie bis dahin die sich wiederholende Botschaft hatte murmeln hören mit einem Echo wie mit zwei Mündern sagen: "Fuionkriash, Blattesgrün oder Aobulinkriash, Waldesgrün. So sei dein Name von jetzt an bis zum Ende der Welt Sisufuinkriasha, junges Blattgrün oder junges Blatt, die, die du vor dem erhabenen Kuss der Einberufung Elizabeth Thornhill geheißen hast." Die nun Sisufuinkriasha heißende erkannte, dass dies die Stimme einer ihrer beiden obersten Herrinnen war. Die drei anderen Stimmen bestätigten diese Namensgebung. "Sisufuinkriasha, so ist dein Name, neue Schwester im Bunde des Erhabenen."

"Es gilt, dich auf die große Aufgabe vorzubereiten, die wir alle zu erfüllen haben, die wie wir sind", sagte die grün-braun geschuppte Schlangenfrau und stellte sich nun mit dem Namen Shahrikhaulaia vor. "Unsere Bestimmung ist es, unsere Art über dieses Land auszubreiten, bevor wir über die Ozeane auf die anderen Kontinente gehen und da noch mehr von uns erschaffen. Wir zwei werden weiterhin starke Frauen und Mädchen über sechzehn Jahren mit dem Kuss der Einberufung in unsere Reihen holen, während unsere Daseinsbrüder Männer und Jungen über sechzehn zu ihren und unseren neuen Daseinsbrüdern machen. Vor allem musst du von mir lernen, wie wir uns unter der Erde bewegen können. Wir können da nämlich schneller als der Schall reisen, wenn wir das lange genug geübt haben, wie wir ohne uns zu verlaufen unter der Erde reisen können. Aber dieses doppelte Zelt stört mich irgendwie. Wenn du dich wieder stark genug fühlst, Schwester Sisufuinkriasha, dann gehen wir besser raus, auch wenn es draußen Kalt ist. Aber wir brauchen keine Wärme wie gewöhnliche Kriechtiere, sondern brauchen nur die in der Erde selbst wirkende Energie, was die Erben des Erhabenen als hohe Kraft bezeichnen und eigentlich nichts anderes als Erdmagie ist."

"Also seid ihr nicht von einem anderen Stern, sondern aus einer anderen Dimension, wo Magie wirkt?" fragte die Umgewandelte und empfand ihre Stimme als völlig normal. Sharikhaulaia erwähnte, dass sie das nicht wusste und die vier Erben des Erhabenen es ihr auch nicht verraten wollten. Wie zur Bestätigung drangen die nun wieder den dauernden Befehl murmelnden Stimmen noch lauter in Sisufuinkriashas Bewusstsein ein und trieben ihr jede Neugier auf die Herkunft ihrer neuen Daseinsart aus. Dass sie und die anderen nur wissen durften, dass ein Erhabener sie erschaffen hatte nahm sie als ausreichend hin.

Die beiden nun wie eine Mischung aus Menschenfrau und Schlange aussehenden Geschöpfe verließen das Zelt. Erst dachte Sisufuinkriasha, dass die kalte Luft sie lähmen würde. Doch kaum dass sie mit ihren Füßen den freien Boden berührte durchflutete sie eine unbändige Kraft, als wenn jemand ihr ständig eine aufputschende Droge in die Blutbahn jagte und diese vor dem Einspritzen sogar noch auf über 40 ° vorheizte. Sie fühlte überhaupt keine Kälte mehr. Dann sah sie, wie Sharikhaulaia ihre robusten Wanderschuhe auszog und sich mit nackten Füßen auf den sandigen Boden stellte. Die neue Dienerin des längst vergangenen Erhabenen zögerte nicht und streifte auch ihre Schuhe ab. Jetzt empfand sie die in sie hineinjagende Energie wie einen elektrischen Strom, der jede Ader und jede Nervenzelle durchraste, aber nicht schmerzhaft sondern im höchsten Maße belebend wirkte. Sie wusste nun, dass sie, wenn sie auf freiem Boden stand, unbesiegbar und unverwundbar sein musste. Denn mit so viel immer nachfließender Energie konnte sie einfach nicht verlieren oder sterben. "Nun, wo du auch eine von uns bist sollst du wissen, dass du mir und meiner Einberuferin Ishgildaria aufs Wort zu gehorchen hast", hörte sie die Stimme der Daseinsschwester direkt in ihrem Kopf klingen. Also standen sie nun auch durch Gedankenübertragung in Verbindung, das was die Leute als Telepathie bezeichneten. "Wir nennen es die Stimme des inneren Selbst", hörte sie aus dem leise im Hintergrund murmelnden Chor der vier Stimmen die ihrer offenkundigen Vorgesetzten Ishgildaria denken. Dann verfielen die vier wwieder in jenes mantrenartige Wiederholen der Botschaft: "Du bist eins mit uns. Folge unserem Willen!"

"Ich denke, ihr solltet noch einmal in dieses tragbare Haus hineingehen, auch wenn ihr dort nicht die ganze Kraft der großen Mutter in euch einströmen lasst", hörte Sisufuinkriasha zwischen den Wiederholungen die Stimme Ishgildarias wispern. So traten die beiden wieder in das Zelt. Die neue Schlangenfrau fühlte sofort, wie sie schwächer wurde, weil die ihr zufließende Erdkraft nachließ. Doch sie war stark genug, um nicht umzufallen.

"Offenbar isoliert dieses Plastikzeug im Boden nicht nur gegen Hitze oder Kälte, sondern auch gegen die frei fließenden Kräfte der Erde", gedankenmurrte Sharikhaulaia, die wohl auch den so belebenden Energieschub vermisste. Dann teilte sie ihrer neuen Daseinsschwester mit, was sie vorhatten. Sisufuinkriasha sollte morgen ganz wie geplant den Uluru ansteuern, auch um zu fühlen, wie nahe sie ihm noch kommen konnte. Denn die Erben des Erhabenen fühlten, dass von diesem Berg eine sie abweisende Kraft ausging, weshalb sie nicht direkt an ihm sein konnten. Wenn die Neue das herausgefunden hatte sollte sie alle die aufsuchen, die die neue Daseinsform weitergeben konnten, aber eben nur Frauen. Sisufuinkriasha erwähnte, dass zwei von denen auf diesem Kontinent wohnten, eine in Sydney, die andere in Brisbane, sie aber noch hundert andere weibliche Bekannte auf der ganzen Welt hatte. "Dann suche nach den nötigen Übungen mit mir die in Sydney auf, diese Alice Widewater! Vielleicht färbt die sich sogar so wie sie heißt", meinte Sharikhaulaia mit einer gewissen Erheiterung. Sisufuinkriasha konnte und wollte dazu nichts sagen.

Es stellte sich heraus, dass der doppelt isolierende Zeltboden die schnelle Art des Reisens der Erben des Erhabenen vereitelte. Eigentlich sollte es gehen, durch eine bestimmte Bewegung und den Willen, in die Erde einzutauchen wie in klares Wasser, durch die unversehrt bleibende Erdoberfläche zu stoßen und dann wie Fische im Wasser unter der Erde dahinzugleiten und dabei immer schneller voranzukommen, bis am Ende die Geschwindigkeit von Erdstößen im Gestein erreicht werden konnte. Die neue Daseinsschwester Sharikhaulaias wusste, dass Erdbebenwellen mit mehr als 4000 Metern pro Sekunde durch festes Gestein rasen konnten, das entsprach der zwölffachen Schallgeschwindigkeit in freier Luft, in bestimmten Gesteinsschichten ging das sogar noch schneller. Vier Kilometer in einer Sekunde zurückzulegen empfand die neue Schlangenfrau ähnlich wie im luftleeren Weltraum zu fliegen. "Ja, nur dass wir nicht beliebig tief in die Erde hinuntertauchen können. Wenn das Gestein durch die innere Hitze der Erde immer weicher wird bremst uns das. Meine Daseinsschwester MadrashTurria hat es versucht und wäre fast in den halbfesten Gesteinsschichten hängengeblieben. Auch hat das da unten wirkende Erdfeuer ihr dabei immer mehr Kraft aus dem Körper gezogen. Unsere Einberufer haben es erwähnt, dass wenn die Kraft des Feuers die der Erde überwiegt können wir nicht unter der Erde überstehen. Ja, und wie wir an diesem Zeltboden gemerkt haben dürfen wir auch nicht auf zu dickem Plastikzeug herumlaufen oder gar frei in der Luft herumfliegen oder ohne festen Halt mit der Erde auf dem Wasser herumschippern. Dann müssen wir in unserer Menschenform bleiben und sind zu schwach, um gegen andere zu kämpfen."

"O, das wird dann aber sehr schwierig, mal eben nach Amerika oder auch nur nach Tasmanien zu kommen", sagte Sisufuinkriasha. Sharikhaulaia bejahte es. Sie beide kannten die technischen Möglichkeiten der Gegenwart. Mal eben um die Welt fliegen war heute kein Ding mehr. Aber für sie stand der Himmel wohl nicht so weit offen wie für jeden Fluggast aus Perth oder New York. Deshalb galt es erst einmal, nur in Australien zu bleiben und dort möglichst viele neue Daseinsgeschwister zu erschaffen.

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In der Nähe des Dorfes Kulawarra, 200 Kilometer nordnordwestlich vom Uluru entfernt, 13.09.2003, 23:10 Uhr Ortszeit

Ashlohuganar, sein Daseinsvater und Mitbruder, hatte ihm noch einmal befohlen, möglichst weit von seiner früheren Gefährtin fortzubleiben. Immerhin konnte Haschlalian, der früher Cecil Sharidan geheißen hatte, mittlerweile schneller als der Schall in der Luft durch die Erde jagen, wobei er bis zu einhundert Meter unter der Oberfläche blieb. Denn wenn er tiefer hinabglitt wurde er zum einen immer langsamer und zum anderen konnte er die sonst so bestärkenden Kräfte der Erde nicht mehr richtig in sich einsaugen. Ashlohuganar hatte ihm erklärt, dass mit zunehmender Tiefe unter der Erde das glühende innere die Kraft in den Gesteinen immer mehr überwiegen und ab einer Tiefe von mehr als zzweihundert Menschenlängen womöglich der Erstickungstod, wenn nicht das sofortige vergehen im Leib der Erde drohte.

Hashlalians Auftrag war es, nicht zu nahe am mächtigen roten Berg neue Artgenossen zu erschaffen, nur Männer und Jungen über sechzehn, und da auch nur die, die körperlich und geistig stark waren. So hatte er in den wenigen Stunden, die er nun einer der Vollstrecker des Erhabenen war, darauf zu hören gelernt, welche Lebensschwingungen erwachsene Männer oder jugendliche Burschen ausstrahlten. Diese Ausstrahlung führte ihn wie das Licht eines Leuchtturmes oder der ständig wiederholte Ruf eines bekannten Menschen auf etwas zu, in dem viele starke Männer und wohl schon als Männer geltende Jünglinge wohnten.

Wie ein unspürbarer Erdstoß unterquerte er die Quelle der von ihm gesuchten Schwingungen, wobei er sich darauf besann, abzubremsen. Er wusste von Ashlohuganar, dass geübte Erdreisende nicht nur schnell wie ein Erdbebenstoß reisen konnten, sondern auch mal eben auf der Stelle anhalten konnten. Doch er war nicht so geübt. Er brauchte für das Abbremsen mehrere Sekunden. Dabei ließ er den Ort um mehr als zehn Kilometer hinter sich. Also musste er umkehren und wesentlich langsamer zurückgleiten, bis er endlich unter dem Mittelpunkt des gefundenen Ortes anhielt und behutsam nach oben stieg, wie ein Taucher, der aus großer Wassertiefe an die Oberfläche zurückkehrt und dabei darauf achtet, genug Zeit für den langsamen Druckausgleich zu haben. Endlich durchdrang er die Erdoberfläche. Das ihn umfließende Gefüge der Erdkräfte beschränkte sich nun auf seinen Rumpf allein. Cecil dachte daran, dass er damals gerne zu den Elitekämpfern der Marine gegangen wäre, wenn der Musterungsarzt der Navy nicht diese leichte Verkrümmung seines Lendenwirbels festgestellt hätte. Von den SEALs wusste er, dass diese so leise aus dem Wasser steigen konnten, dass kein Spritzer oder Plätschern zu hören war. Natürlich, für ein Vollstreckungskommando war Unhörbarkeit eine Lebensversicherung. Für ihn zählte es auch, dass er in diesem nun um ihn aufragenden Dorf aus primitiven Hütten nicht zu früh gehört wurde. Er dachte daran, dass die Ureinwohner meistens besser hören konnten als die vom Stadtlärm betroffenen Europäer.

Da er für seine Aufgabe keinen Fetzen Kleidung brauchte würden zufällige Beobachter nur ein unnatürliches Geschöpf mit einer dreifach gemusterten Schuppenhaut zu sehen kriegen, wusste Haschlalian, was Schreckensschleicher hieß, wohl weil er eben gelernt hatte, sich möglichst unhörbar auf Land oder im Wasser zu bewegen, wenn er wollte oder musste.

Der Vollstrecker des Erhabenen blickte sich mit seinen bleichen Augen um, die durch Dunkelheit und Nebel dringen konnten. Für ihn lag das aus zwanzig Hütten bestehende Dorf wie im Licht der Mittagssonne. Er sah sogar die Spuren von Menschen und Säugetieren, die als schwach leuchtende Abdrücke auf dem Boden verliefen. Also konnte er in der erhabenen Gestalt auch infrarotes Licht also Wärmestrahlung sehen, erkannte er. Er war der perfekte Nah- und Einzelkämpfer, auch weil er mit seinem Blick andere Wesen bannen konnte, so wie diese Aboriginal-Hexe das mit Simon Waxman gemacht hatte, bevor der zu Tarisharudan wurde, was Sternentöter hieß. Doch im Moment konnte er niemanden sehen, den er sich unterwerfen konnte. Behutsam streckte er seine gespaltene Zunge aus und las damit die in der Luft umhertreibenden Duftstoffe auf wie mit einem Besen das Laub. Dabei fing er die Spuren von verbranntem Holz, gebratenem Fleisch, aber auch Schweiß und Blut auf, schmeckte die umherschwebenden Pollen der hier wachsenden Pflanzen und die winzigen Bestandteile aus dem Lehm der Hütten gelöster Erde. Dann schaffte er es, aus dem vielfältigen Angebot von Geruchs- und Geschmacksstoffen solche herauszufiltern, die auf starke, gesunde Männer und fast ausgewachsene Jungen schließen ließen. Zwar hätte ihn der Geruch eines jungen Mädchens fast in einen neuerlichen Fortpflanzungsrausch getrieben. Doch gerade so erkannte er, dass er nur mit den fruchtbaren Mitschwestern echte Kinder haben konnte. Er schaffte es, sich wieder auf seine eigentliche Aufgabe zu besinnen und erkannte endgültig, wie vorausschauend es war, dass er nur Männer mit dem in seinen Giftzähnen sacht pochenden Gift der Einberufung erwischen durfte. Würde er eine hier lebende Frau damit erwischen würde die sofort mit ihm wilden Sex haben wollen, sobald sie sich verwandelt hatte. Doch was war, wenn er einen homosexuellen Mann erwischte? Würde der dann nicht auch mit ihm wilde Liebe machen? Da fiel ihm ein, dass der Trieb eben nur bei denen wirkte, die sich gegenseitig befruchten konnten, nicht nur miteinander schlafen konnten. Abgesehen davon würde ihm jeder Mann gehorchen, den er mit seinem Gift umgewandelt hatte, so wie er Ashlohuganar gehorchen musste.

Haschlalian näherte sich völlig geräuschlos einem Haus, in dem der Stammesführer, Häuptling, Chef, Bürgermeister oder was auch immer wohnte. Der hatte eine Frau und drei Söhne, von denen der ältere schon sechzehn Jahre alt sein musste. Also würde er hier anfangen.

Da er nicht auffallen durfte unterließ Haschlalian es, anzuklopfen oder ein Fenster einzuschlagen. Er ließ sich einfach wieder unter die Erdoberfläche sinken und unterquerte so die Tür. Er empfand es als sehr angenehm, dass in der Hütte kein Holzboden war, sondern nur Matten aus Gras, die ihm keinen Widerstand boten. Als er wie ein der Hölle entfahrender Teufel direkt neben dem Besitzer der Hütte aus der Erde schnellte hatte der auf seinem mit Fellen bespannten Bett liegende Mann nur noch eine halbe Sekunde, um zu reagieren. Dies tat er sogar. Denn er zog blitzartig ein Messer mit einer Klinge aus sehr sorgfältig geschliffenem Knochen und stieß es zielgenau in Haschlalians Richtung. Die Klinge prallte auf den geschuppten Brustkorb des ungebetenen Eindringlings und zerbrach mit lautem Knacken. Dann war Haschlalian auch schon über dem von seinem Bett hochfahrenden und biss ihm kräftig in die linke Wange. Dann fing er den nun wild flatternden Blick des von ihm heimgesuchten ein und schaffte es, den aus Angst entfachten Kampfeswillen niederzuringen und dem von ihm erwischten in Gedanken zu befehlen, sich nicht mehr zu bewegen. So sank der andere auf sein Bett zurück. Haschlalian hatte sein erstes Opfer gefunden, von dem er erst nach dessen Verwandlung erfahren würde, wie es hieß. Doch solange wollte der Schlangenmann nicht warten.

Innerhalb von nur einer Minute verabreichte er allen männlichen Bewohnern dieses Hauses sein tückisches Gift. Allerdings merkte er, dass jeder Biss weniger davon ins Blut des ausgesuchten Opfers einspritzte. "Du kannst in hundert Atemzügen nur fünf Menschen mit dem Kuss der Einberufung an uns binden. Dann musst du hzweihundert Atemzüge warten, bis du wieder genug des machtvollen Saftes hast, um weitere fünf Menschen zu küssen", hörte er Ashlohuganars Gedankenstimme aus dem Quartett der immer im Hintergrund seiner Gedanken wispernden Diener des Erhabenen flüstern.

"Ich habe jeden in diesem Haus geküsst, mein Herr", schickte Haschlalian, der früher Cecil Sharidan geheißen hatte, zurück. "Dann zieh dich in den Schoß der großen Mutter zurück und warte, bis du wieder genug des erhabenen Saftes in den Zähnen fühlst, um die nächsten fünf zu küssen!" befahl Ashlohuganar. Unverzüglich verschwand Haschlalian wieder unter der Erde. Sein Auftrag war noch nicht beendet. Diese Nacht würde dieses Dorf nur noch von solchen seiner neuen Daseinsart bevölkert sein. Aber was war mit den Kindernund Frauen? Sollten die dann sterben oder auch zu Dienern des Erhabenen werden.

"Die Kinder werden getötet und vergraben, wenn die Eltern unsere Mitbrüder sind. Die Männer sollen ihre Frauen und halbwüchsigen Töchter küssen, wenn du schon wieder weit genug von ihnen entfernt bist", erfolgte die klare Anweisung Ashlohuganars. Haschlalian empfand bei der gnadenlosigkeit dieser Anweisung weder Bedenken noch Schuldgefühle. Er war ein Vollstrecker des Erhabenen und führte dessen Befehle aus. Mehr galt für ihn nicht mehr. Was er früher war und dachte war vom Gift der wiedererwachten Skyllianri ausgebrannt worden.

Wie ein seelenloser Kampfroboter führte Haschlalian seinen Auftrag aus. Meistens schaffte er es, unbemerkt an die ausgesuchten Opfer heranzukommen und sie zu beißen, ohne die anderen zu wecken. Doch einige von ihnen hatten einen Instinkt für Gefahr, erwachten und versuchten, sich zu wehren. Einmal musste er einen dreizehnjährigen Jungen mit für Menschen brutaler Gewalt zum Schweigen bringen. Auch hierbei empfand der Vollstrecker des Erhabenen weder Reue noch Gnade. Innerhalb von nur zwei Stunden hatte er schon sechzig Opfer gefunden, weil er es nun heraushatte, nicht in zu kurzen Abständen zu beißen und somit genug Zeit für eine Teilauffrischung seiner gefährlichen Giftmenge zu haben. Er fühlte, wie die ersten von ihm heimgesuchten bereits im zweiten Abschnitt der Umwandlung waren, dem, wo sie lernten, die in ihren Gedanken immer lauter klingenden Stimmen zu verstehen. Jetzt fühlte er auch, wie sich die verabreichte Menge auf die Verwandlung auswirkte. Die ersten drei Opfer wurden schneller verändert als die nächsten beiden. Also gab es eine Beziehung zur Giftmenge und der Umwandlungszeit. Da er nicht wusste, wie schnell die von ihm auserwählten Opfer sich verwandeln sollten unterließ er es, möglichst viele in kürzester Zeit zu beißen, wenn das hieß, dass diese dann doppelt oder dreimal so lange brauchten, bis sie sich verwandelten. Am Ende gab es noch eine Untergrenze, welche Giftmenge noch vom Körper des Opfers abgebaut werden konnte, ohne dass er davon verändert wurde. Das sollte dann Iaitaria alias Sheila Waxman oder ihr früherer Ehemann Simon, der jetzt Tarisharudan hieß, genauer untersuchen, falls die vier Erben des Erhabenen dies wollten.

Als er sicher war, alle zugeteilten Opfer mit dem sogenannten Kuss der Einberufung beehrt zu haben kehrte Haschlalian in das Haus des Dorfsprechers, Häuptlings oder was auch immer zurück, um diesem die Anweisungen der vier Erben weiterzugeben. Zumindest war sich Haschlalian sicher, dass die Diener des Erhabenen einen ersten großen Sieg errungen hatten. Wenn es so weiterging würde bald ganz Australien ein Land der Schlangenkrieger sein.

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in der Nähe des Uluru, Australien, 14.09.2003, Mittagszeit

Sie hatte einige Anläufe gebraucht, um zu lernen, sich beliebig in ihre frühere Gestalt zurückzuverwandeln und rein willentlich die andere Gestalt anzunehmen. Ihre direkte Einberuferin hatte ihr erklärt, dass es um so leichter war, als gewöhnliche Menschenfrau herumzulaufen, je weiter das nächste Daseinsgeschwister entfernt war. Dafür war es auch mit nackten Füßen auf freiem Naturboden schwerer, sich in die erhabene Form zu verwandeln, wenn in Sicht- und Hörweite kein anderes Daseinsgeschwister zu finden war. Trotzdem hatte die nun wieder als Lissy Thornhill unter den Besuchern des Uluru herumlaufende diesen belebenden Kraftstrom verspürt, als sie auch in Menschengestalt mit Sack und Pack unterwegs war, wie sie es am Abend vorher eingeplant hatte. Allerdings fühlte sie in nicht einmal einem Kilometer Entfernung, dass der rote Sandsteinberg etwas ausstrahlte, dass sie abwies. Erst war es wie ein gleichbleibender kalter Wind, der ihr immer stärker entgegenwehte, je näher sie dem Uluru kam. Dann, in nicht einmal mehr dreihundert Metern vom Felsgrund entfernt, fühlte sie etwas wie eine unangenehm vibrierende Gummiwand und zugleich etwas, dass ihr ständig durch die Schuhsohlen in die Füße stach, als wären ihr beide Füße eingeschlafen. Sie begann zu taumeln und fühlte, wie ihr Körper Anstalten machte, sich aus der einwirkenden Schwächung heraus zu verwandeln. Nur mit eisernem Willen, so zu bleiben, wie sie gerade war, schaffte sie es, für die anderen Besucher unauffällig noch näher an den Berg heranzukommen. Doch bei nur noch zweihundert Schritten entfernung meinte sie, jemand ramme ihr wild bebende Metallspitzen in die Füße. Sie biss die Zähne aufeinander, um nicht loszuschreien. Zugleich meinte sie, von einem unsichtbaren Stahlklotz zurückgedrückt zu werden. Sie schaffte es einfach nicht, dem Berg noch näher zu kommen. Etwas in ihm und bis zu seinen tief in die Erde reichenden Wurzeln hinab wies sie ab. Sie konnte nicht herantreten, sie durfte hier nicht sein.

Um nicht doch noch einen Schmerzensschrei auszustoßen oder mit ihrem gerade merkwürdig anmutenden Laufstil unerwünschte Fragen herauszufordern zog sie sich wieder zurück, bis sie aus dem Bereich der unmittelbaren Abweisung heraus war. Nun fühlte sie das leichte Stechen in den Sohlen und den ihr fast mit Sturmstärke entgegenwehenden Wind. Dann war es nur der wie vom Berg selbst ausgehende Windstoß ohne das Kribbeln und Pieksen in den Sohlen. Nun war sie wieder in der Entfernung, wo sie vom Berg nichts mehr fühlte. Doch weil sie nun wusste, dass der monolithisch aufragende Sandsteinberg sie nicht bei sich haben wollte meinte sie auch, dass sein Anblick ihr in den Augen brannte wie zu helles Licht. So ähnlich mochten sich die Vampire aus den Gruselgeschichten fühlen, wenn sie ein christliches Kreuz sahen oder Knoblauchstränge an einem Fenster zu sehen bekamen. Im Grunde war sie ja jetzt sowas wie ein Vampir, nur dass sie kein Menschenblut trinken musste, um den unnatürlichen Keim weiterzugeben. Sicher, sie konnte Tiere und Menschen auffressen, wenn ihr danach war. Aber wenn sie jemanden in die neue Gemeinschaft hinüberholen sollte durfte der außer der Bissverletzung keinen Schaden abbekommen.

Um die Erhabenheit des Uluru zu würdigen umschritt sie den Berg wie geplant, nur erheblich weiter von ihm fort als geplant. Immerhin konnte sie Fotos machen. Zumindest glaubte sie das, bis sie erkannte, dass irgendwas die Bildaufnahme ihrer Kamera störte, dass sie nur dunkelgrauen Schnee auf den Videofilmen und eine graue Fläche mit vereinzelten weißen Punkten auf den Einzelbildern zu sehen bekam. Sie rief in Gedanken nach ihrer Einberuferin. "Achso, habe ich dir nicht gesagt, dass elektronische Geräte durch unsere neue Aura oder Beschaffenheit austicken und entweder total verrücktspielen oder gleich ganz den Geist aufgeben. Ist auch nicht unwichtig, wenn wir doch mal auf eine Weise über das Meer reisen wollen", schickte ihr Sharikhaulaia zurück.

"Super, dann kann ich das mit dem Internet und die Mobiltelefoniererei auch gleich vergessen", gedankenschnaubte die gerade wieder als Lissy Thornhill herumlaufende.

"Wenn wir bald alle hier zu unseren Mitbrüdern und -schwestern gemacht haben ist das Internet sowieso abgemeldet, weil wir dann ein weltweites Gedankenverständigungsnetz haben, in dem wir sogar ganze Blöcke bilden können, so wie unsere Einberufer", erwiderte Sharikhaulaia.

"Ja, nur dass wir dann auch nicht beliebig in heutigen Städten herumlaufen können, weil die voller Computer und Fernseher, Telefone und elektronisch gesteuerter Haushaltsgeräte sind."

"Nicht wenn wir solange die einfache Form behalten, bis wir ein lohnendes Ziel gefunden haben. Das mit deiner Kamera und unseren Mobiltelefonen und Funkgeräten ist nur deshalb so drastisch, weil wir die Dinger in die Hände nehmen und damit was von uns einstrahlen. Aber ich habe schon mit unserer Daseinsschwester gesprochen, die in Südrichtung unterwegs ist. Die hat herausgefunden, dass anderthalb Meter Abstandreichen, wenn wir in der einfachen Menschenform sind. Wenn wir in der Form des Erhabenen sind müssen das aber schon zehn Meter sein, je danach, wie kraftführend die Erde unter den Füßen ist. Madrashturria findet das faszinierend, das alles herauszufinden."

"Dann wird das aber schwierig mit meiner Bekannten in Sydney, weil in deren Haus mindestens zwanzig Leute einen eigenen Rechner haben. Wenn die alle auf einmal ausflippen ist das nichts mit der Unauffälligkeit. Und sie anrufen geht ja auch nicht mehr."

"Du kennst sie, du hast den Auftrag, sie zu unserer neuen Schwester zu machen, du machst sie zu unserer neuen Schwester", wiederholte Sharikhaulaia alias Shania Sharidan den Befehl der Einberufer. Sisufuinkriasha alias Lissy Thornhill bestätigte den Auftrag. Sie hatte ja keine andere Wahl, wo Ishgildarias Gift in ihrem Körper wirkte.

Sie zog sich nach der mehrmaligen Umwanderung des Uluru zurück und suchte denselben Platz auf, an dem sie die letzte Nacht zugebracht hatte. Allerdings wollte sie ihr Thermozelt mit der doppelten Umhüllung nicht mehr aufbauen. Sie wollte auf die völlige Dunkelheit warten und dann unter der Erde dahinjagen, Richtung Sydney. Allerdings war sie noch nicht so weit, schneller als der durch die Luft fliegende Schall zu reisen. Doch sie würde immer weiter üben, bis sie ihre Sinne für die unterirdische Reise weit genug entwickelt hatte.

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In der Burg, die niemand finden kann, 6. Zwölftel des 10. Tages im 5. Mond des 107. Sonnenkreises von Allvater Garuschat dem fünfzehnten

"Nimm es bitte nicht leicht, mein Herrscher und Vater unserer Kinder!" warnte Pteranda ihren Angetrauten, den Viergoldschwingenträger und Herrscher in der Burg, die niemand findet. Er hatte gerade eine geschriebene Aufforderung von den Brüdern Gnarrdanarr und Raganzarr erhalten, bis zum Ende des derzeitigen Monddurchlaufes zu verkünden, wann seine Herrschaft endete.

"Die zwei Schlüpflinge des Verräters Garrandarr denken, eine reine Aufforderung würde mich dazu bringen, das vom Schöpfer zugewiesene Amt niederzulegen? Da haben die zwei sich aber gründlich im Geiste verflogen. Offenbar trauern sie nicht mehr ihrem verräterischen Erzeuger nach, sondern wollen nur aufbegehren, sich meinen Weisungen verweigern, weil ich Acropsat und Garrandarr lebendig an die heilige Umhüllung übergeben habe. Eigentlich hätte dieser kleine Sangeswicht Iwinghir auch dort enden müssen. Doch meine Angetraute war ja der Ansicht, dass er dem Erwecker der Stimme beigestanden hat und diesem ermöglichte, die Stimme des Schöpfers zurückzugewinnen."

"Ja, weshalb die Cuantari dir seitdem nicht nur ergeben, sondern dankbar sind, vor allem, wo wir jetzt wissen, dass nicht nur in uns Augiliari starke Kräfte über der stofflichen Welt wirken, sondern auch die Frauen der Cuantari solche Kräfte gewinnen und benutzen können", sagte Pteranda.

"Immerhin konnte ich den Augiliari den Eid des ttreuen Blutes abverlangen. Das hätte ich eigentlich schon vor einer Hundertersonne machen sollen, als du mich vor der Verschwörung innerhalb des Hofstaates gewarnt hast und ich ausgerechnet mit Acropsats Hilfe die Keimzelle des gegen mich gerichteten Umsturzversuches ausrotten konnte. Doch was glauben die Schlüpflinge des Verräters Garrandarr, dass sie mir androhen können? Ich habe alle Sonnenkeulen, Sonnenrammen und Mondschildgürtel fortschließen lassen und nur mein Blut oder das eines meiner Söhne kann die eherne Kammer der Verhüllung öffnen. Sicher, die paar Kämpfe zwischen Garrandarrs Nachläufern und den mir treuen Cuarviri haben an die fünfzig Cuarviri ums Leben gebracht, weil ich den Cuarviri nicht die ehernen Pfeile nehmen wollte, sollte doch noch wer vom Angesicht der großen Mutter zu uns hinauffinden und gegen den Willen des Schöpfers unsere Unterwerfung oder Vernichtung anstreben. Aber diese kleineren Kämpfe reichen sicher nicht aus, um mich ernsthaft zu bedrängen, wie du, meine Holde, ganz sicher weißt."

"Ich bitte dich erneut, nimm die Aufforderung nicht leicht, mein Herrscher und Vater unserer Kinder!" wiederholte Pteranda ihre Warnung. "Bedenke, dass die Cuarviri vieles von Acropsat erzählt bekommen haben mochten, was die Vorrichtungen und Möglichkeiten der Burg angeht. Auch wenn du den Schlüssel der ewigen Reisen sicher verwahrst und auch wenn du weiterhin die Quelle des Tausendsonnenfeuers hütest, mit dem du die Burg zerstören kannst, wenn sie erneut in unwürdige Hände fällt, so kann und wird es nicht der Wille des Schöpfers sein, dass wir uns langsam gegenseitig umbringen."

"So, ist er das nicht, Pteranda. Ich erstaune, dass ich dich einmal mehr daran erinnern muss, dass die Stimme des Schöpfers die drei Verräter gegen uns aufgehetzt hat und damit willentlich unser aller Tod herbeigerufen hätte, wenn der Erwecker der Stimme dem Verräter Acropsat nicht den Schlüssel der ewigen Reisen abgenommen und mir zurückgegeben hätte. Außerdem hättest du ihn früher festhalten müssen, wo du bereits von ihm spürtest, dass er eine kleine Vorrichtung am Körper trug, die einen Wirbel schneller Reisen hervorrufen konnte, mit dem er sich meinem Gebot entzogen hat, nachdem er mir diesen erniedrigenden Schwur abverlangt hat, keinem auf der runden Welt lebenden Flügellosen mehr ein Leid anzutun. Er hätte mit der Stimme des Schöpfers hierbleiben müssen. Ich hätte seine Gefährtin zu ihm heraufholen lassen können. Aber er wagte es, sich uns zu entwinden."

"Der Erwecker der Stimme ist der Vertreter des Schöpfers selbst, Garuschat. Und dass er eine Vorrichtung zur schnellen Reise bei sich hatte erkannte ich auch erst, als er sie durch das Wort für innere Wirkkraft in Tätigkeit setzte. Ich wollte ihn ja noch festhalten, ja mit ihm dort ankommen, wohin ihn der himmelsfarbene Wirbel trug. Doch ich war einen Zehntelaugenblick zu langsam."

"Wer es glaubt, meine Angetraute", krächzte Garuschat. "Aber wenn du meinst, mir raten zu müssen, was ich mit dieser Aufforderung hier zu tun habe, dann rate mir auch, warum ich das tun soll und erwarte danach meine Entscheidung!"

"Gib mir bitte die Gelegenheit, zu erforschen, was die Brüder Gnarrdanarr und Raganzarr die Sicherheit gibt, Forderungen an dich stellen zu können!" erwiderte Pteranda. Ihr Angetrauter machte eine bejahende Kopfbewegung. Pteranda sicherte sich deshalb in ihrem frei schwingenden Herrscherinnensitz, dass sie nicht von diesem herunterfallen konnte, wenn sie die von ihrer Mutter erlernte Fertigkeit der Trennung von äußerem und innerem Selbst vollzog. Denn ihr reiner Gedanken- und Gefühlswahrnehmungssinn würde bei den Cuarviri nicht reichen, da die meisten immer ein Grundgefühl der Angriffsbereitschaft und Belauerung ausstrahlten.

Mit nur ihr mitgeteilten und nur in ihrem Geist erklingenden Worten versenkte sich Pteranda in einen Zustand, in dem ihre Körpertätigkeiten immer langsamer und schwächer abliefen. Atemzug für Atemzug löste sie behutsam das innere Selbst aus der stofflichen Hülle, bis diese wie tot in den Sicherungsgurten des Herrscherinnensitzes hing. Pteranda fühlte die Losgelöstheit von ihrem Leib und schwebte einige Sekunden für Augen unsichtbar und für Ohren unhörbar neben ihrem Gemahl. Mit einem Gedanken berührte sie sein inneres Selbst, damit er fühlte, dass sie noch bestand. Danach ließ sie sich unbehelligt von Luft und Baustoffen im Turm der Herrschaft hinabsinken und durchdrang den besonders dicken Sockel des Turmes, um in die für die drei Völker frei zugänglichen Räume und Gänge einzudringen. Erst hier konnte sie tun, was sie in diesem Zustand am besten konnte. Denn im Turm selbst hätte die Umhüllung es wohl vereitelt.

Nun dachte sie mit ganzer Kraft daran, zehn Schritte von Gnadanarrs Wohnstatt zu sein. Denn im Zustand der Körperlosigkeit konnte sie sich an jeden Ort wünschen, der nicht weiter als zehntausend Schritte von ihrem Körper entfernt war. Womöglich hätte sie auch noch weiter davon fortreisen können. Doch ihre Mutter hatte sie immer gewarnt, dass mit zunehmender Entfernung von Körper und innerem Sein die Wiedervereinigung um so schmerzvoller bis tödlich sein konnte. Auch deshalb wandte sie diese Fertigkeit höchst selten an, wenn sie mit ihren anderen außersinnlichen Fähigkeiten nicht genug erfahren konnte.

Wie vorausschauend es war, sich nicht unmittelbar in Gnadanarrs Wohnstatt zu wünschen zeigte sich der gerade körperlosen Königin, als sie keine drei Schritte von einer ihr wohlvertrauten grünen, durchsichtigen Lichtwand ankam. Woher hatte Gnadanarr die Quelle für die frühlingsfarbene Schutzkraft? Sie wusste, dass die in dem Licht wirkende Abwehrkraft nicht nur körperliche Angriffe und sonnenheiße Kraftbündel abweisen konnte, sondern auch der ihr inneres Selbst zusammenhaltenden Kraft entgegenwirken konnte, wenn sie versuchte, sich mit einem gezielten Wunsch hindurchzudrängen. Sie fühlte trotz ihrer Körperlosigkeit die sanfte Verdrängung, die von der grünen Lichtwand ausging. Immerhin konnten Gedanken diese Wand durchdringen, so dass sie fühlte, dass Gnadanarr in seinen Räumen weilte und sein zwei Sonnenkreise nach ihm geschlüpfter Bruder Raganzarr bei ihm war. Weil sie als körperloses Selbst vor der Türe schwebte konnte sie die Gedanken der beiden Brüder noch deutlicher hören als wenn diese bei ihrem Körper selbst erschinen wären. Dabei erfuhr sie drei für sie und den Herrscher erschütternde Dinge.

"Garuschat und seine Bruthenne werden uns den Schlüssel und das Gefäß mit dem Zerstörungsfeuer übergeben oder miterleben, wie wir unseren entflügelten und in die frühlingsfarbene Umhüllung gestürzten Vater rächen werden. Dieser einfältige Krummschnabel hat doch ernsthaft gedacht, unser Vater hätte nicht erfahren, wo die Niederschriften zur Herstellung künstlichen Feuerbläseratems zu finden sind, weil die schneller zu nutzen sind als leergebrannte Sonnenkeulen", sagte Gnadanarr gerade. Sein Bruder dachte höchst erfreut, dass er es war, der die gläsernen Steine der Rückendeckung gefunden hatte und es einfach gereicht hatte, sich vorzustellen, wie eine Horde Skyllianri mit aufblitzenden Sonnenkeulen ihn jagte und dabei alle Wände zerschmolz. Das waren schon einmal zwei Sachen, die der vor der Tür schwebenden Pteranda zusetzten. Doch das dritte kam nun von Raganzarr selbst:

"Und wenn das nicht reicht, Bruder, dass wir die Schlappflügler mit künstlichem Feuerbläseratem wegfegen können, dann können wir uns immer noch die Schutzkleidung für eine Reise außerhalb der Umhüllung anziehen und mit den Steinen der Rückendeckung die Umhüllung um die Burg zertrümmern, so dass sie der halben Leere über dieser Welt schutzlos ausgeliefert ist. Das will Garuschat sicher nicht, dass seine ach so sehr geliebten Untertanen aus der Burg hinausgeblasen werden oder wegen der entschwindenden Atemluft ersticken müssen."

"Rag, dir ist klar, dass der Schöpfer uns dafür in den schwarzen Wirbelsturm der eewigen Verwirrung schleudert", erwiderte Gnadanar ähnlich verängstigt wie Pteranda. Denn dass sein Bruder die Steine der Rückendeckung nicht nur verwendete, um die eigenen Wohnräume vor unerwünschtem Zutritt zu versperren, hatte den erstgeschlüpften Sohn Garrandarrs kalt erwischt.

"Der Schöpfer ist vergangen. Seine Stimme ist mit diesem flügellosen Lebensbettler in einer himmelsfarbenen Verwirbelung verschwunden und seit dem Tod unseres Vaters nicht mehr erklungen. Also ist das Erbe des Schöpfers endgültig fort. Wir müssen endlich unsere eigene Bestimmung finden, Bruder. Wir sind die letzten Hüter des alten Wissens und der alten Künste. Wir haben das Recht, über alle jetztzeitigen Geschöpfe zu herrschen, vor allem, wo die flügellosen entarteten Nachfahren des Schöpfervolkes immer aufdringlicher werden und mit Gift und Unrat speienden Gerätschaften die Luft und die Meere verseuchen. Am Ende rotten die sich da unten ganz alleine aus, auch ohne die Diener des nächtigen Königs. Dann sind wir hier oben auf ewig gefangen zwischen den Welten. Willst du das, Bruder?!"

"Es hat fünf Sonnenkreise gedauert, bis wir alle Hindernisse umgehen konnten, um an die Niederschriften für die anderen Waffen zu kommen. Du selbst hast fast vier Sonnenkreise gesucht, bis du die von Acropsat verrätselten Hinweise auf die Steine der Rückendeckung verstanden und die Steine selbst gefunden hast. In der Zeit hätten die da unten schon zwanzig oder dreißigmal mit ihren dem Tausendsonnenfeuer ähnelnden Glutballwaffen die Welt verbrennen können. In der Zeit haben die mit ihren feuergetriebenen Himmelspfeilen immer mehr Einzelteile für eine eigene Himmelsburg weit über unserer in die Leere um die Welt geschossen und von deren in schützenden Rüstungen gegen die Leere steckenden Knechten zusammenbauen lassen. Dieses mit das Licht des Vaters Himmelsfeuer sammelnden Flügeln bestückte Haus ist die blanke Verhöhnung unseres Seins und der Ahnen, sowie des Schöpfervolkes. Von den anderen Gerätschaften, die sie als künstliche Monde um unsere Welt kreisen lassen rede ich nicht mehr, seitdem ich damals ausgelacht wurde, weil ich gesagt habe, dass diese Monde dazu dienen sollen, uns zu finden und von unserem Platz zu stoßen."

"Ja, mein Bruder, und genau deshalb müssen wir dieser Tatenlosigkeit eines alten Krummschnabels und seiner all zu gütigen Bruthenne ein Ende machen. Wir drohen, unseren Platz in dieser Welt zu verlieren, wenn wir den Flügellosen da unten weiter alles durchgehen lassen, um uns zu übertreffen. Dann soll es lieber sein, dass wir beim Versuch, ihnen Einhalt zu gebieten sterben. Und deshalb wirst du, mein großer Bruder, gleich mit unseren Mitkämpfern zum Turm der Herrscher gehen und den da herumstehenden Wächtern das künstliche Feuerbläserfeuer entgegenblasen, während ich mit einem der gläsernen Steine der Rückendeckung den schützenden Wall um den Turm niederreiße, sobald ich die eigenschwingungszahl des den Turm umschließenden Walles herausgefunden habe."

"O, das wird den alten Krummschnabel ganz sicher erschrecken, dass wir dann jederzeit mit allen aufrechten Mitkämpfern in sein letztes Bollwerk hineinstürmen können. Aber wir müssen uns vor Pteranda hüten. Sie kann unausgesprochene Gedanken hören und auch in einem Zustand zwischen Wachen und Träumen Dinge in der Ferne oder noch in den Nebeln der Wirdzeit verborgene Ereignisse erkennen. Sicher versucht sie gerade, unsere Gedanken zu hören. Aber der kleine Schutzstein vor der Tür dürfte sie davon abhalten."

"Gut, dann ist es beschlossen, Bruder. Du verkündest dem alten Krummschnabel, dass er uns die ganze Macht aushändigt oder mit seinem Volk sterben muss, ob er das mit dem Tausendsonnenfeuer anstellt oder wir die halbe Leere über der Welt in die Burg hineindrängen lassen."

"Jaa, es ist beschlossen", krächzte Gnadanarr entschlossen und so laut, dass es Pterandas vor der grünen Abwehrmauer schwebendes Selbst mit den gerade nicht vorhandenen Ohren aus der Luft schöpfen konnte.

Sie wünschte sich in die Nähe der Waffen, die die zwei verräterischen Brüder erwähnt hatten. Auch hier achtete sie darauf, nicht unmittelbar an deren Verwahrungsort zu sein. Tatsächlich hatten die Verrätersöhne den Raum in alle Sonnenstandsrichtungen mit der grün leuchtenden Kraft umschlossen. Pteranda blieb jedoch ein Weg. Sie sank einige Stockwerke tiefer, schwebte dann durch reine Gedanken, durch die Luft zu gleiten bis dorthin, wo der Aufbewahrungsraum war und drang von unten durch die dicke Trennschicht zwischen den Stockwerken. Nun schwebte sie in einer Halle, in der auf metallischen Ständern armlange Rohre mit daran angesetzten Griffen und Schulterstützen aufgereiht waren. Sie konnte die blauen Steine sehen, die wohl die Geschosse dieser Waffen sein sollten oder ähnlich wie bei den Sonnenkeulen die Kraft enthielten, die aus diesen Waffen auf erwählte Feinde geschleudert werden sollte. Sie wusste, dass die Feuer- und die Windhüter, zu denen ihr aller Schöpfer gehörte, Wege gesucht und gefunden hatten, den Feueratem der geschuppten und geflügelten Feuerbläser in besonders harte Steine einzuschließen oder diese Steine dazu zu bringen, den Feueratem künstlich hervorzurufen. Acropsat hatte es ihr und Garuschat berichtet, dass es neben den Sonnenkeulen und Sonnenrammen auch solche Vorrichtungen gab. Ein Feuerstoß konnte vier oder fünf Feinde auf einmal treffen, wenn diese keine tragbaren Mondschilde oder die als grünes Leuchten erkennbare Abwehrkraft nutzen konnten. Pteranda konnte leider keine Gedankenhände einsetzen, wie es ihre Mutter konnte, die damit auch im körperlosen Zustand Dinge ergreifen und bewegen konnte. Deshalb blieb ihr nur, sich alles genau anzusehen. Sie fühlte, wie die über ihr und um sie herum bestehenden Schutzwände aus höherer Kraft ihr körperloses Ich bedrängten, es förmlich verlangsamten und sacht aber unnachgiebig zusammendrücken wollten. Also durfte sie hier nicht länger verweilen. Sie prägte sich alles ein. Die Lagerung der Waffen, die ganz heimlich erbaut worden waren. Dann ließ sie sich wieder durch den Boden absinken und glitt weit genug von der Waffenhalle fort.

Ein einziger Gedanke reichte, um sie unter den Sockel des Turmes der Herrscher zu versetzen. Wieder stieg sie durch eigenen Willen gelenkt nach oben und glitt innerhalb des Turmes hinauf bis zum Herrschersaal. Dort berührte sie kurz Garuschats inneres Selbst, um ihm zu zeigen, dass sie wieder da war, bevor sie behutsam auf ihren eigenen starren Körper niedersank und in ihn hineinglitt. Sie fühlte einen kurzen Stoß durch ihren Körper gehen und riss ihren Schnabel weit auf, um Luft einzusaugen. Dann bewegte sie Arme und Flügel, um ihre Beweglichkeit zu prüfen.

"Acropsat hat uns schlimmer hintergangen als wir ahnen konnten, mein Angetrauter", setzte die Königin an. Dann suchte sie Blickkontakt mit ihrem Mann. "Gestatte mir, mein erinnertes in dein Gedächtnis zu übermitteln, mein Angetrauter", sagte sie. Garuschat versuchte erst, seine eigenen Gedanken vor ihr zu verschließen. Doch dann schwang er verdrossen mit den Flügeln und öffnete seinen Geist so weit er konnte.

"Was ich weiß weißt nun auch du. Was ich weiß weißt nun auch du!" sang Pteranda in der erhabenen Sprache des Schöpfers. Dabei dachte sie an alle Bilder und Worte, die sie in den letzten hundert Atemzügen in ihr Gedächtnis aufgenommen hatte. Garuschat erzitterte unter der ihm zufließenden Kraft. Dann war die Übermittlung vorbei, schneller als wenn Pteranda ihrem Angetrauten alles mit gesprochenen Worten beschrieben hätte. So konnte Garuschat nun verächtlich mit den Flügeln flattern und nach einem unsichtbaren Feind hacken, bevor er sagte: "So, die spitzschnäbeligen Krächzlinge wollen mich also entmachten, weil sie Herren aller Völker mit und ohne Flügel sein wollen. Ich fürchte mit sehr großem Zorn, dass sie genug Verbündete ffinden werden, sobald sie mir ihre Macht bewiesen haben. Dann wird auch meine Drohung, die Burg zu zerstören nicht viel bringen."

"Aber was willst du unternehmen. Du hast den Eid geschworen, keinem Geschöpf dort unten was anzutun. Außerdem gebietet der Schöpfer, dass wir seinen Artgenossen dienen und nicht über sie herrschen sollen", sagte Pteranda.

"Ja, aber wie du gehört und mir übermittelt hast haben sich die zwei Verräter vom Schöpfer losgesagt und sind nicht dafür bestraft worden. Also müssen und werden sie davon ausgehen, dass der Schöpfer und sein Gesetz vergangen sind. Dieser flügellose Bursche hätte mit der Stimme des Schöpfers hier bei uns bleiben müssen."

"Hast du immer und immer wieder beteuert, mein Angetrauter", erwiderte Pteranda. "Doch was willst du nun tun? Willst du die Burg vernichten und damit unsere eigenen Kinder töten?"

"Ja, das werde ich tun. Eher vernichte ich die Burg, als dass zwei verräterische Krächzlinge sie als ihr persönliches Machtwerkzeug einsetzen. Denn so oder so werden unschuldige von uns sterben. Und wenn dieser Raganzarr wahrhaftig die gläsernen Steine der Rückendeckung gefunden hat,wie deine körperlose Reise zum Unwillen des Schöpfers erwiesen hat, so kann und wird er den beschützten Turm damit entblößen und uns töten, bevor wir das Tausendsonnenfeuer losgelassen haben. So ist es besser, ich lasse es von mir aus frei und beende unser wertlos gewordenes Dasein. Denn mit einem haben die zwei Verräterschlüpflinge leider recht, ohne den Willen des Schöpfers und ohne noch lebende Feinde aus der alten Zeit können wir nur ohnmächtig zusehen, wie die unbegüterten Nachkommen des Schöpfervolkes sich immer mehr vom Himmel über uns unterwerfen, die Meere mit ihren segel- und ruderlosen Schiffen verschmutzen oder mit ihren von Feuerstrahlen getriebenen Starrflügelvögeln aus Erz unsere erhabene Daseinsform verhöhnen oder wirklich eine eigene Himmelsburg errichten, von der aus sie ihre und unsere Welt beherrschen können. Den Tag will ich nicht erleben, an dem wir uns diesen fehlentwickelten Nachfahren des Schöpfers unterwerfen müssen."

"Dieses geflügelte Haus dort oben ist keine Burg, mein Angetrauter. Ich habe es mir mit der Gabe der Fernsicht und Fernempfindung schon mehrmals angesehen. Es ist unbewaffnet. Es soll wohl nur ein Aussichtsort sein, der durch ein sehr gutes Gleichgewicht von Anziehungskraft und Fliehkraft im Fluge gehalten wird, solange es nicht von der Luft gebremst wird und dann unaufhaltsam herunterfällt", sagte Pteranda. Doch sie fühlte sogleich, dass ihr Angetrauter von der angst der Brüder Gnadanarr und Raganzarr angesteckt worden war. Sollte es also wirklich darauf hinauslaufen, dass die Burg, die niemand finden kann zerstört werden musste? Da fiel ihr etwas ein, was sie bis dahin nicht im Ansatz gewusst hatte. Offenbar hatte ihre eigene Mutter es ihr mit Worten der Versiegelung ins Gedächtnis gelegt, dass nur das sichere Gefühl, demnächst zu sterben freigeben konnte.

"Wir müssen nicht sterben, mein Angetrauter. Es gibt einen Weg, den unsere Vorfahren bisher nicht genutzt haben, obwohl sie zeitweilig sehr nahe an der eigenen Aufgabe waren, der Schlaf der Erwartung."

"Der was, meine Angetraute?" erwiderte Garuschat. Pteranda bat ihn erneut, ihm ihr Wissen direkt in sein Gedächtnis übertragen zu dürfen. Dann dachte sie an die Berichte ihrer Mutter, das bei drohendem Verfall der Ordnung und einem blutigen Bruderkrieg nur zwei Wege blieben, die Zerstörung der Burg oder der Schlaf der Erwartung, der solange währen sollte, bis die Stimme des Schöpfers erneut erklang, weil sie gebraucht wurden. Warum ihr das nicht schon bei dem Aufstand eingefallen war ... Ach ja, weil die Stimme des Schöpfers und ihr Erwecker ja da gerade in der Burg waren. Nur wenn beide weit fort waren konnte es ihr einfallen, was ihre Mutter ihr mitgeteilt hatte.

"So sei es dies. Ich werde die Burg noch zwanzigtausend Körperlängen weiter nach oben bewegen, fast an die Grenze zur Sternenwelt. Dort soll sie ähnlich der kleinen Himmelsschwester unsere Welt umkreisen, genährt von den Kräften der großen Mutter, der kleinen Himmelsschwester und dem Himmelsfeuer unseres leuchtenden Vaters, bis die Stimme des Schöpfers erneut erklingt. So soll dieser flügellose Jüngling entscheiden, ob und wann wir erwachen oder einer seiner Nachfahren."

"So soll es sein", sagte Pteranda.

Die Vorbereitungen waren innerhalb von einem zwölftel Zwölfteltag abgeschlossen. Gerade wollten sie die von einem Herrscher und seiner Angetrauten gemeinsam zu sprechenden Worte aussprechen, als sie unten bereits die lauten Rufe der Wächter und das angriffslustige Gekrächze von Cuarviri auf dem Kriegsflug hörten. Zugleich fühlte Pteranda mit ihren Sinnen für übernatürliche Kräfte, wie die schützende Umhüllung um den Turm erbebte und dann immer mehr flackerte. "Letzte Waaarnung! Gebt alle Dinge der Macht an uns heraus oder werdet von uns wegefeeeegt!" krächzte Gnadanarr.

"So sei es, meine Angetraute, Mutter unserer Kinder", sagte Garuschat mit einem gewissen Ingrimm. Sie bejahte es. Dann sprachen sie die fünf verschütteten Worte aus, die nur in der Sprache der geflügelten Diener des Schöpfers einen Sinn ergaben. Die bereitgemachten Ohren der kraft nahmen die Worte auf und übermittelten sie an die in der Burg verborgenen Vorrichtungen, die vom Anbeginn der Zeit an auf diesen einen Augenblick gewartet hatten, dem Augenblick, wenn nur noch die Wahl zwischen einem Bruderkrieg oder der Vernichtung der Burg, die keiner findet, verbleiben würde.

"Gebt endlich auf. Gleich ist die Umhüllung eures Türmchens weg, und dann ...!" krächzte Raganzarrs Stimme. Doch was dann sein würde konnte er schon nicht mehr aussprechen.

Es war, als umschlinge jeden Geflügelten eine immer dicker werdende Decke, die im Ablauf ihrer Atemzüge mitschwang. Zuerst konnte sich niemand mehr bewegen. Dann schwanden erst den größten und dann den immer kleineren die Sinne. Die wenigen in ihren Stallungen gehaltenen Wolkenhüter erstarrten vollständig wie versteinert. Die anderen verfielen ebenfalls einer sie an Körper und Geist lähmenden Starre. Es war, als sei die zeit selbst eingefroren worden. Das bedrohliche Flackern der grünen Umhüllung des Turmes endete mit einem grellen Blitz. Die schützende Umhüllung zerbarst. Doch mehr geschah nicht, und es bekam auch niemand mehr mit, dass Raganzarrs Angriff auf die Abwehrwand erfolgreich verlaufen war. Denn Raganzarr stand neben seinem Bruder Gnadanarr und nahm nichts mehr wahr. Währenddessen vollendete die Steuerung der Burg den letzten gedanklich erteilten Auftrag. In einer Höhe, die mehr als achtzigtausend Körperlängen eines Menschens über Grund lag, trat die Burg, die niemand finden kann in eine Bahn ein, die ähnlich verlief wie die des Mondes, allerdings so, dass sie zu keiner Zeit das Licht der kleinen Himmelsschwester versperren konnte. Die äußere grüne Umhüllung zog sich zu einer sich vollständig an alle Erhebungen und Formen anschmiegenden Panzerung aus grünblauem Licht zusammen, um die schlafende Burg gegen alle unerwünschten Einflüsse zu schützen. So bekamen die Bewohner der Burg nicht mit, was sich weit unter ihnen auf der runden Welt zutrug, und dass sie durchaus noch einmal ihren eigentlichen Daseinszweck erfüllen mochten.

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Auf dem Grundstück der Familie Latierre in Millemerveilles, 14.09.2003, 16:30 Uhr Ortszeit

Millie beaufsichtigte zusammen mit Claudine Brickston ihre drei Kinder und den kleinen Justin James, den Catherine vor zehn Minuten mitgebracht hatte. Er schlief unter dem Einfluss eines schwachen Schlummertrankes, um die Flohnetzreise zu überstehen. Catherine wollte mitverfolgen, was Florymont und Julius nun ausheckten. Béatrice stand ebenfalls bei den zwei Vätern von je drei Töchtern.

Florymont stellte eine sprudelkastengroße Holzkiste auf den Boden. Dann öffnete er eine ihrer Seitenwände und hob behutsam etwas wie ein kleines, grünes Haus mit braunem Dach heraus. Julius hatte nämlich die Idee gehabt, das neue Computerhäuschen als Baumhaus einzurichten, falls der Probezauber, den er zunächst ohne die Dauerhaftigkeitsanteile der Formel, die sich alle zwei Minuten über das ganze Grundstück ausdehnende Aura des neuen Schutznetzzaubers aussperren konnte, ohne diese zu irgendwelchen unerwünschten Entladungen zu bringen. Weil in den Schuppen ja ein Sonnenlichtumwandler eingebaut werden sollte brauchten sie ja keine Verlängerungsschnur zu einem Stromanschluss zu verlegen. Nun schloss Florymont die Kiste wieder. Dies führte dazu, dass das kleine grüne Haus innerhalb von drei Sekunden zu einem drei mal drei Meter großen Holzhaus wurde. Julius sah sofort, dass nichts metallisches an dem Haus mit der oben abgerundeten Tür war. Er erkannte ganz dünne Luftschlitze, die unter dem vorspringenden Dachrand eingearbeitet waren. Die kleinen Spitzbogenfenster besaßen grüne Holzläden, hinter denen sie verschwinden konnten. Die Tür besaß kein Schloss, sondern drei von außen vorlegbare Riegel, die ohne weiteres als Körperspeicher bezaubert werden konnten, so Monsieur Lachaise, bei dem Florymont und Julius den kleinen Schuppen bestellt hatten. In Dach, Wänden und Boden, Fenstern und Tür war somit nichts aus Metall verbaut.

"Also, ihr macht erst den provisorischen Zauber, um zu prüfen, ob die Abschirmung klappt, wenn die pulsierende Aura das Haus umgibt und durchdringt. Gelingt die Abschirmung wirst du den Zauber durch Berunung der Fokusgegenstände dauerhaft und mit ganzer Stärke wirksam machen, Julius", fasste Catherine noch einmal zusammen, was Julius ihr gestern erklärt hatte. Er nickte. "Ich will auch wissen, ob Dinge wie Radios und Handys in dem Haus noch gehen, wenn die provisorische Bezauberung klappt. Ich kann bei der Zauberei bis zu drei Einflüsse durchlassen und habe mir schon was überlegt, wie ich das mit Funkwellen mache. Die kannten sie damals im alten Reich nicht. Aber wenn ich an unsichtbares Licht mit einer Schwingungszahl von bis denke könnte es gehen. Sichtbares Licht kommt jedenfalls bei der Vollversion durch eingebaute Fenster. Sonst säßen die Leute im Schutzbereich ja im Dunkeln."

"Dann lasse ich euch jetzt mal in Ruhe und sehe mit Béatrice zu, ob es geht", sagte Catherine.

Julius und Florymont gingen nun in die kleine Hütte. Sie hatte nur diesen einen Raum und war unmöbliert. "Wenn wir die als Baumhaus hinkriegen können wäre das ein guter Ersatz für den Pilz", sagte Julius, während er sechs kreisrunde und glattpolierte Eisenstücke hervorholte, die Florymont in seiner Werkstatt angefertigt aber nicht bezaubert hatte. Wichtig war, dass sie aus reinem Eisen bestanden. Wenn der Probezauber gelang wollte Julius in jedes Eisenstück Machtrunen für die betreffende Richtung und Bewahrung und der Erde eingravieren, damit der dauerhafte Zauber fest daran gebunden blieb und nicht versiegte.

Florymont prüfte noch einmal, ob in den Wänden, dem Boden und den Dachbalken keine Restmagie wirkte. Dann ging er hinaus und machte die Tür zu. Julius konzentrierte sich nun auf die Himmelsrichtungen und begann mit dem Eisenstück für den Boden. Er umzirkelte es und sprach die dafür bestimmten Zauberworte, wobei er dachte "Über Fern von Geist zu Geist gesprochenes, von Herzanhänger zu Herzanhänger geteiltes und Unsichtbares Licht mit Schwingungen zwischen 90 Millionenund fünf Milliarden in der Sekunde sei erwünscht." Als er die entscheidenden Worte gesprochen hatte glomm der auf dem Bodenliegende Stein in einem goldbraunen Licht auf. Dann legte Julius den zweiten Stein so gegen die Wand, dass er genau nach osten wies. Dann bezauberte er ihn, wobei er ebenfalls daran dachte, dass von Geist zu Geist gesprochenes, von Herzanhänger zu Herzanhänger geteiltes und unsichtbare Wellen von einer unteren zu einer oberen Schwingzahlengrenze durchgelassen werden sollten. Dann kam der südliche Teil dran, gleich neben der Zugangstür. Dann der westliche und der nördliche. Jetzt reckte sich Julius zu den Deckenbalken hoch, drückte mit der linken Hand das sechste Eisenstück dagegen und machte denselben Zauber, nur dass er dabei die Wörter für oben und dem Himmel zugekehrt benutzte. Auch hier dachte er an die bestimmten Ausnahmen. Nun erglühten alle sechs Gegenstände im goldbraunen Licht. Julius fühlte die Kraft, die ihn durchströmte, als sich das Eisenstück auf dem Boden über die vier anderen mit dem Eisenstück an der Decke verband. Das goldbraune Licht breitete sich aus wie das ockergelbe Klangkerkerlicht und kleidete innerhalb von vier Atemzügen alle Oberflächen aus. Dann erzitterte alles kurz, und das Licht erlosch. Julius ließ das an die Decke gehaltene Eisenstück los. es blieb wie an einem starken Magneten an der Holzdecke haften.

Nun holte Julius das bis jetzt in einer eisenkiste aufbewahrte Mobiltelefon herein, legte den Akku ein und probierte aus, ob es hochgefahren werden konnte. Als er erleichtert sah, wie sich die üblichen Startbilder und -texte abspulten und er durch seine Persönliche Identifikationsnummer den Zugang zum Mobilnetz angewählt hatte wartete er fünf Sekunden, dann sieben. Dann sah er, dass er tatsächlich ein Netz hatte, wenn auch nur mit zwei von sieben möglichen Balken. Mehr hatte seine Mutter von hier aus auch nie gehabt, wusste er. Der nächste Mobilfunkmast war ja auch mehr als 20 Kilometer entfernt. Der Verbindungsaufbau fraß entsprechend schon einen ganzen Balken vom Ladestand. Aber damit konnte Julius leben. Er probierte aus, ob er Catherine anrufen konnte und wartete einige Sekunden, bis er ein Freizeichen hörte. Ja, er hatte Verbindung. Er hörte draußen vor der Tür Catherines Handy die Instrumentalfassung eines französischen Chansons trällern und wartete, ob Catherine das Gespräch annehmen konnte.

"Hallo Julius, hörst du mich?" hörte er ihre Stimme aus dem kleinen Lautsprecher. Sie klang ein wenig abgehackt, doch er verstand sie. Er bestätigte es und war erfreut, dass sie ihn auch hörte. Dann sprachen sie beide die nächste Minute über irgendwas, um zu testen, was bei Ausdehnung der Schutzaura passierte.

Goldenes Licht glomm außerhalb der Fenster auf, nicht hell und nicht alles überlagernd, aber sichtbar. Julius meinte auch, ein ganz leises Summen in den Wänden zu hören und achtete besonders auf die angebrachten Fokusgegenstände. Diese schimmerten wieder in jenem goldbraunen Licht, wenn auch nicht so hell wie bei der Einrichtung des Zaubers. Also wechselwirkten sie mit dem magischen Einfluss. Dann passierte es.

Der Fokusgegenstand an der Decke sprühte goldene Funken gegen jenen auf den Boden. Dann erzitterten die sechs Gegenstände. Julius konnte es gerade noch spüren, dass da was erdelementares freigesetzt wurde. Er stellte sich so, dass er nicht im Schnittpunkt der sechs Gegenstände stand. Da flogen diese auch schon wie von Katapulten geschnellt aufeinander zu, klirrten gegeneinander und flogen wieder gegen die Wände. Dann kullerten sie auf den Boden und schleuderten rot-grüne Funken von sich.

"Hallo, Julius, bist du noch da. Habe gerade so ein seltsames Tuten und Knistern gehört", sagte Catherines Stimme.

"Ja, ich bin noch da. Aber der Abschirmzauber ist gerade zerstreut worden. Entweder weil er nur provisorisch war oder weil die pulsierende Aura auch mit Erdmagie angereichert war und sich sozusagen am Abschirmzauber aufgestaut hat, statt von ihm umgelenkt zu werden. Hätte ich mit rechnen sollen", grummelte Julius. Damit brauchten sie nicht erst zu prüfen, ob die pulsierende Aura der fünf Apfelbäume aus dieser Hütte ausgesperrt wurde. Jedenfalls hatte das Mobiltelefon diese magische Entladung überstanden, wohl auch deshalb, weil die Hauptwucht dorthin geflossen war, woher sie gerufen worden war, direkt in die Erde.

"Ich teste mal eben, ob der Zauber aus allen sechs Gegenständen raus ist. Dafür muss ich die Telefonverbindung trennen, Catherine", sagte Julius und legte auf, als Catherine es bestätigt hatte.

Als Julius wieder aus der Hütte kam hielt er alle sechs Gegenstände in der Hand. "Die haben sich voll in den Erdboden entladen, Florymont", sagte Julius. "Ichkönnte zwar noch versuchen, ob die vollwirksame Bezauberung klappt. Aber ich fürchte, die Aura und die Abschirmung sind miteinander zu verwandt und schaukeln sich zu einer irgendwann unkontrollierten Entladung auf. Dann möchte ich nicht in der Hütte sein. Am Ende verschwindet sie im ganzen in der Erde."

"Gut, dann baue ich dir die Hütte wohin, wo diese pulsierende Aura nicht hinreicht. Dann können wir das auch so absichern, dass du und vielleicht noch Millie, wenn sie will in die Hütte rein kann", sagte Florymont.

"Ja, und meine Mutter, wenn mal was neu zu installieren und zu konfigurieren ist", antwortete Julius. Ein wenig war er enttäuscht, dass die Idee mit dem kleinen Abschirmzauber doch nicht geklappt hatte. Doch andererseits hatten sie dafür ein ganz Millemerveilles überspannendes Schutznetz und somit mehr Sicherheit für die Kinder, dass sie weiterhin frei und ohne Angst hier aufwachsen konnten. Das war wichtiger als ein Computer mit Internetbetrieb. Andererseits wollte er auch auf Millie eingehen und nicht bei Laurentine einen eigenen Rechner hinstellen. Er müsste ja dann immer nach Paris und wieder zurück, um Mails und Neuigkeiten aus dem Internet abzuholen. Da konnte er ja gleich in ein Internetcafé gehen. Doch das lag eben nicht in einem magischen Schutzbereich.

Da Catherine mit Claudine und Justin zum Abendessen eingeladen war konnten sie sich mit ihr noch über die Neuigkeiten aus der Zaubererwelt unterhalten. Claudine konnte schon "Ich heiße Claudine und gehe in Millemerveilles zur Schule", schreiben, wenn auch noch mit sehr großen Buchstaben. Doch der Anfang war gemacht.

Um neun reiste Catherine mit Claudine und Justin ins Haus in der Rue de Liberation 13 zurück.

"Dann bauen wir eben doch ein richtiges Computerhaus auf und nicht nur einen kleinen Posten", sagte Millie. "Ja, und ich kann dann auch mit einem Satellitenmodem und -telefon weitermachen, wobei ich das irgendwie hinkriegen muss, dass der Nachrichtenspeicher meiner bisherigen Nummer angewählt werden kann. Vielleicht sind da schon mehrere Anrufe gelandet."

"Wie viele Leute außer Martha kennen deine Nummer?" fragte Millie. Julius nickte. Dann fiel ihm ein, dass Lahilliota alias Tante Alison irgendwoher seine Telefonnummer herausbekommen hatte, vielleicht über Itoluhila, die Schutzherrin der freischaffenden Huren von Sevilla. Am Ende hatte die wieder was aufgesprochen, wenngleich sie wohl gerade damit zu tun hatte, ihr Ding mit den Ameisenmenschen durchzuzihen. Doch das erwähnte Julius nicht, weil er Millie nicht noch mehr beunruhigen wollte. So sagte er nur: "Britt hat meine Telefonnummer, genauso Aurora Dawn und die Watermelons und Prudence und Mike Whitesand. Denen habe ich ja noch nicht erzählt, warum ich solange abgemeldet war."

"Wobei die sicher eher über Eulen und Zauberbilder mit uns Verbindung halten, Monju", entgegnete Millie darauf. Das wollte er nicht abstreiten.

Ende des 1. Teils

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