SPÄTE SAAT (2 von 3)

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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P R O L O G

Während in der nichtmagischen Welt der von den USA ausgerufene weltweite Krieg gegen den Terrorismus in Afghanistan und dem Irak geführt wird streiten sich weiterhin verschiedene Interessengruppen um Einfluss in der magischen Welt. Die von der Gruppe Vita Magica durch eine Fortpflanzungsanregungsmixtur ausgelöste Massenzeugung treib die Bewohner Millemerveilles um, für die über siebenhundert im Frühling 2004 erwarteten Kinder vorzusorgen. Dabei sollen auch die ausgebildeten Pflegehelfer Julius und Mildrid Latierre assistieren, sowie die zur Zeit von Sardonias dunkler Kuppel in Millemerveilles untergekommene Heilerin Béatrice Latierre.

Durch die im April über die Welt gebrandete Woge dunkler Magie wird ein alter Silberkessel der Hexenmeisterin Morgause verstärkt. Um ihn kämpfen die wiedererwachte Teilveelastämmige Ladonna Montefiori und die Führerin der schwarzen Spinne Anthelia. Der Kessel wird dabei zerstört und der darin eingebettete Geist Morgauses als weiblicher Nachtschatten freigesetzt. Doch Morgauses ungewollte Freiheit endet schon bald, weil sie von der aus mehreren Seelen zusammengefügten Nachtschattenmatriarchin Birgute Hinrichter aufgespürt und vertilgt wird. Dadurch gewinnt Birgute noch mehr Kraft, als die dunkle Zauberkraftwoge ihr ohnehin schon zugeführt hat. Deshalb kann diese sich auch in ersten direkten Begegnungen gegen die von Gooriaimiria gelenkten und verstärkten Vampire behaupten.

Die transvitale Entität Ammayamiria erbittet in den Träumen der für sie erreichbaren, dass diese mit dem Wissen Madrashainorians und den vereinten Kräften der Kinder Ashtarias ein Ritual durchführen, um Millemerveilles mit einer neuen, diesmal aus reiner Lebensbejahungsmagie erzeugten Absicherung zu schützen. Hierzu lassen Camille und Julius einen Monat lang neue Bäume mit Ashtarias Segenszauber belegt heranwachsen. Während der Zeit nimmt Julius an mehreren Hochzeitsfeiern teil. Jene für den muggelstämmigen Pierre Marceau und die Viertelveela Gabrielle Delacour wird beinahe zum Supergau für die Zaubereigeheimhaltung. Denn das kleine Schloss bei Amien, wo die Hochzeit stattfindet, entpuppt sich als Spionagenest, von dem aus wohlhabende oder wichtige Gäste überwacht und ausgeforscht werden. Nur Millies mütterliche Sorge vor einem drohenden Waldbrand bringt Julius darauf, die Sicherheitszentrale zu besuchen und dabei die heimliche Überwachung aufzudecken und zu beenden.

Als die Latierres zusammen mit den in Millemerveilles anwesenden Kindern Ashtarias das Ritual der starken Mutter Erde mit Schutzbannen des Feuers, des Wassers und der vereinten Kraft von drei Heilssymbolen Ashtarias vollenden entsteht eine riesenhafte Erscheinungsform Ammayamirias, welche die Ritualausführenden in sich aufnimmt und mit der von allen aufgerufenen Kraft ein dichtes Netz aus Lebensmagie zwischen den vorbehandelten Bäumen spinnt, das ganz Millemerveilles überdeckt. Dabei bekommen die Beteiligten einen Ausdauervorwegschub von mehr als vier Tagen. Deshalb müssen sie mehrere Tage am Stück schlafen, um die vorweggenommene Kraft auszugleichen.

Spät nach Durchzug der Woge dunkler Magie, Ende August 2003, entsteigen vier im Felsenberg Uluru eingekerkerte Schlangenmenschen ihrem steinernen Gefängnis. Weil die Stimme ihres Meisters nicht zu hören ist erwachen sie zu eigenständigen Wesen mit nach langer Unterdrückung auflodernden Trieben. So kommt es zunächst zu einer wilden Paarungsorgie, wo jeder der Männlichen mit jeder der Weiblichen zusammenfindet. Die beiden weiblichen Skyllianri legen darauf sechzig kugelrunde Eier in einer kleinen Höhle ab. Da die Auffrischung mit dunkler Magie sie jedoch gegen Sonnenlicht empfindlich gemacht hat und sie obendrein nicht all zu weit voneinander entfernt sein dürfen, ohne sich zu verlieren, können sie ihrer eingeprägten Bestimmung erst folgen, als drei Frauen und drei Männer auf Erkundungsgang in die Höhlen der vier Wiedererwachten Skyllianri vordringen. Die sechs "Einberufenen" sollen das Erbe des Erhabenen Skyllian über das Land verbreiten. Doch wie ihre Einberufer erliegen sie ebenfalls zunächst einem unbändigen Fortpflanzungstrieb und produzieren dadurch 150 neue Eier. Was sich daraus entwickeln wird weiß keiner der alten und Neuen Skyllianri. Ihre Erzfeinde, die grauen Wolkenhüter, bekommen davon nichts mit, weil es in der Himmelsburg Ailanorars fast zu einem neuen Bruderkrieg kommt, den der König der Vogelmenschen nur durch einen alle betreffenden Schlafzauber verhindern kann. Erst wer das Lied des Herbeirufens spielt soll diesen Zauber beenden. In der Zeit finden die ausgeschickten neuen Schlangenmenschen ihre ersten Opfer. Skyllians späte Saat drängt in die Welt und droht, sie zu einem Hort der Schlangenmenschen zu machen.

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In einem Hochhaus im nördlichen Teil Sydneys, 15.09.2003, 13:10 Uhr Ortszeit

Seit zehn Jahren wohnte Alice Widewater in dieser geräumigen Wohnung im zwölften Stock eines äußerlich eher unansehnlichen Hochhauses, das von seinen Bewohnern und Nachbarn abfällig als Schlafbunker bezeichnet wurde. Alice Widewater machte jedoch das beste aus dieser Lage. Hier konnte sie zumindest unbehelligt leben, wo ihr keiner über den Weg lief, der oder die sie damit aufzog, dass sie zu schwach oder zu unfähig war. Selbst die so duldsamen und entschlossenen Leute in der Redrock-Akademie hatten nach dem dritten Jahr aufgegeben, ihr was beibringen zu wollen. Obwohl Alice eine reinblütige Hexe in neunter Generation war, also quasi zu den Gründerfamilien der australischen Zaubererwelt gehörte, war es ihr bis zum Ende des dritten Schuljahres nicht gelungen, mehr als einen Lichtzauber zu wirken und nur durch theoretisches Wissen und gute Kräuterkunde und Zaubertranknoten lernberechtigt zu bleiben. Doch dann hatte der Lehrkörper getagt und sich dem Willen der Schulräte gebeugt, die damals von den Shadelakes dazu gedrängt worden waren, "die Totalunfähige" nicht länger durchzufüttern und ihr lieber eine Ausbildung in einer Muggelschule zu empfehlen, wo ja nun feststand, dass sie garantiert nicht aus Versehen zaubern würde, ob aus einer starken Emotion heraus oder mit voller Konzentration. Wie es die Schulregeln vorsahen wurde ihr bei der vorzeitigen Entlassung der Zauberstab fortgenommen. Dann hatte sie tatsächlich die letzten Schuljahre in einem Internat für Muggelkinder gelernt, zumindest mit Unterstützung von Gedächtnistränken, weil ihre Eltern wichtige Leute im Zaubereiministerium waren und darauf bestanden hatten, dass ihre magiegehemmte Tochter zumindest bei den Magielosen nicht als Schwächling oder zu bemitleidender Sonderfall gelten musste. Immerhin hatte Alice diesen Makel damit ausgeglichen, dass sie neben den nichtmagischen Lehrstoffen auch drei Fremdsprachen erlernt hatte und sich als eine der ersten überhaupt mit dieser neuen Informationsverbreitungssache namens Internet auskannte. Wohl auch um ihre Magieunfähigkeit zu überspielen war sie davon überzeugt, dass die Muggel durch ihre elektronischen Erfindungen wahrhaftig drauf und dran waren, zumindest bei Wissensspeicherung und -weitergabe den Hexen und Zauberern bald um längen davonzuziehen. Auch die Raumfahrt und die Kernteilchennforschung verhießen ungeahnte Durchbrüche ohne einen Funken Magie, auch wenn die dafür gebrauchten Gerätschaften viel elektrischen Strom brauchten und der mit besorgniserregenden Mitteln erzeugt werden musste. Doch Alice, die in den letzten Jahren viel auf der Welt herumgekommen war, hoffte auf die späte Einsicht der Menschen, irgendwann vom Glauben an ein ewiges Wachstum in allen Dingen abzukommen und sich darauf besannen, einen für alle künftigen Generationen lebenswerten Planeten zu kultivieren. Allerdings dachte Alice nicht selten daran, dass die Geheimhaltungsklauseln der Zaubererwelt einer frühen Abkehr von umweltverderbenden Erfindungen im Weg standen und dass es eigentlich die Pflicht der magischen Menschen war, diese Gefahren für alle Menschen zu beseitigen. Doch dann hörte sie immer ihren Vater, einen Fachzauberer für australische Zaubertiere: "Wenn wir anfangen, uns in Muggelsachen einzumischen, wo sollen wir anfangen und wie sollen wir denen erklären, die wir noch nicht unterstützen, warum wir erst andere Sachen machen? Am Ende machen wir noch alles schlimmer, weil sich alle darum zanken, wer wie von unserer Zauberei profitieren soll, und mit den Mordwaffen, die die Muggel in den letzten hundert Jahren erfunden haben können die sich und uns locker von der Erdoberfläche runterputzen. Willst du nicht wirklich, mein Kind."

"Der Winter holt noch mal Schwung. Für morgen muss in den Bergen mit starken Regenfällen gerechnet werden. Das Wetteramt von Neusüdwales warnt vor ansteigenden Wasserpegeln", vermeldete der Nachrichtensprecher auf Alices Lieblingssender, der Popmusik aus den 1980ern bis heute ausstrahlte. Wenn das Mittagessen fertig war konnte Alice ihre Lieblingsmoderatorin genießen, die vor allem junge australische Künstler und Bands vorstellte. Dass die schon im Studio war hörte Alice daran, dass sie im Hintergrund mit dem Techniker flüsterte, während der Nachrichtenmann den Hörerinnen und Hörern noch einen angenehmen Mittag wünschte.

"Im Winter Regen, im Sommer Buschfeuer und Sandstürme. Man muss das Land echt lieben, um hier freiwillig zu wohnen", dachte Alice und prüfte, ob das von ihr gemachte Hühnerfrikassee gar genug war. Dazu hatte sie noch einen Salat aus Paprika, Mais, Möhren, Gurken und Weißkohl angerichtet. Ihre Mutter konnte sowas mit drei Zauberstabschwüngen zusammenkriegen. Doch es in einer Stunde mit eigenen Händen hinzukriegen war irgendwie auch erhaben, dachte Alice.

Sie wollte gerade den Topf vom Herd nehmen, als die Türklingel trällerte. In dieser Woche hatte Alice die Klingel auf die Melodie von La Cucaracha eingestellt.

"Moment bitte!" rief Alice und schaltete den Herd aus. Sie legte den Deckel auf den noch brodelnden Topf und ging zur Tür. Durch den Spion im Türblatt erkannte sie ihre auf einer Reise durch Mexiko kennengelernte Bekannte Lissy Thornhill.

"Lustig, das Lied von der Küchenschabe, Alice. Hi, grüß dich!" waren die ersten Worte Lissys, als Alice ihr die Tür aufgemacht hatte. "Letzte Woche war es der Radetzky-Marsch, und nächste Woche werde ich wohl "Ich singe im Regen" nehmen, wenn das mit diesem Winterwetter so weitergeht", sagte Alice. Dann fragte sie ihre noch in Abenteuerkleidung steckende Reisefreundin: "Wolltest du nicht zum Uluru, dessen besonderen Zauber einfangen?"

"Habe ich gemacht. Ich wollte dir gleich die Bilder davon zeigen, weil du mir ja besonders die Blickwinkel bei betreffendem Sonnenstand empfohlen hast", sagte Lissy. Alice nickte. Doch irgendwie hatte sie den Eindruck, dass irgendwas mit Lissy los war. Sie empfannd ein ungewisses Gefühl von Belauerung, als warte Lissy auf eine Gelegenheit, irgendwas bei oder mit ihr anzustellen. Vor allem fühlte sie den silbernen Ring im linken Ohr vibrieren, als sei dieser eine ständig angezupfte Gitarrensaite. Das war ein Geschenk ihrer Mutter zum Abschluss der Muggelschulzeit. "Damit du keine Angst vor der Welt haben musst", hatte ihre Mutter gesagt. Es war ihr nicht verboten, magische Gegenstände bei sich zu haben, wenn diese nicht als solche auffielen. Ja, und zweimal hatte dieser kleine Ohrring ihr echt rechtzeitig mitgeteilt, dass jemand ihr an Leib oder Leben wollte, als sie in San Salvador von der Hauptstraße abgekommen und in einer finsteren Gasse gelandet war, in der sie als Gringa fast schon ein Schild mit "Naives Mädchen, macht mit mir was ihr wollt" hätte hochhalten können.

"Was ist mit dir, Alice. Du siehst mich so an, als hätte ich was an mir", rief Lissy Alice in die Gegenwart zurück.

"Bist du dir sicher, dass mit dir alles in Ordnung ist, Lissy. Am Ende hast du dir bei der Reise zum Uluru was eingehandelt."

"Eingehandelt?" fragte Lissy argwöhnisch. Sie sah Alice nun selbst so an, als wolle diese ihr gleich was tun.

"Krankheiten, Parasiten. Rucksacktouris stehen ja voll auf der Liste von Tropenkrankheiten", scherzte Alice.

"Du meinst wegen Jessie, die vier Jahre nach ihrer Afrikareise Malariasymptome geäußert hat und das nicht glauben wollte, dass diese Parasiten Schläferstadien ausbilden können, die auch Jahre nach der Infektion zuschlagen können?" fragte Lissy Thornhill verhalten grinsend. Alice nickte. Das Vibrieren ihres Ohrrings war kein Scherz. Immerhin hatte sie nur deshalb ihre Unversehrtheit, ja auch ihre Jungfernschaft aus den dunklen Gassen von San Salvador retten können, weil sie den Banditen da früh genug ausweichen konnte, bevor die sie sehen konnten.

"Du kuckst mich so an, als wenn ich echt was an mir habe", grummelte Lissy. Es klang nicht erheitert, sondern wirklich verdrossen, ja schon selbst abweisend.

"Na ja, womöglich ist das noch von der Nachrichtensendung eben. Die haben erwähnt, dass hier in der Gegend ein aus der Psychiatrie ausgebrochener Gewaltverbrecher herumläuft. Dann hast du geklingelt. Ich muss wohl noch von dieser Alarmstimmung runterkommen", behauptete Lissy. Doch in den Nachrichten war von keinem geisteskranken Verbrecher die Rede gewesen.

"Achso, weil ich da gerade geklingelt habe, wo die was von einem entsprungenen Irren erzählt haben? verstehe ich. Aber wer sich durch den Dschungel von Mexiko schlagen kann und sogar die Seitenstraßen von San Salvador heil überstanden hat hat doch keine Angst vor irgendwelchen Psychopatehn."

"Wo uns schon manche Leute für verrückt gehalten haben, weil wir nur mit Rucksäckenund Zelten in Mexiko herumgelaufen sind?" antwortete Alice mit einer Gegenfrage. Lissy nickte und schnupperte. "Jamm, Hühnerfrikassee?" Sie streckte ihre Zunge ein wenig heraus, als wolle sie das Essen aus der Luft herausschmecken.

"Jau, habe ich mir heute gegönnt, weil meine Großtante meinte, das sei zu viel Aufwand, um sich dafür Stunden in die Küche zu stellen, um alleine zu essen und ich mir heute freigenommen habe."

"Haha, freigenommen, wo du doch eh von zu Hause aus schaffst", grinste Lissy und schmeckte erneut die sie umgebende Luft ab. Alices Ohrring bebte förmlich. Mochte es sein, dass Lissy nichts ahnend einem australischen Magier auf die Füße getreten und sich von dem einen Fluch eingefangen hatte? Wie würde der sich dann äußern? Musste sie dann nicht das Bild erwähnter Großtante ansehen und nach Beistand rufen?

"Ich habe genug für zwei gemacht. Wenn du möchtest kannst du mitessen", sagte Alice, Lissys Bemerkung von eben übergehend. Lissy sagte nicht nein.

"Ich könnte nicht in so einem grauen Wohnturm leben, selbst wenn du hier genug Platz und einen guten Rundblick über das nördliche Sydney hast", meinte Lissy.

"Für die Häuser in Sichtweite der Oper oder der Hafenbrücke reicht mein Internetbastlerinnengehalt noch nicht aus. Da müsste mich schon einer von den ganz großen entdecken. Aber nach dem lauten Knall der Internetblase an allen Börsen der Welt sind die jetzt erst mal vorsichtig mit zu früher Firmenerweiterung", sagte Alice.

"Ja, und rennen hinter dem australischen Gold her, als wäre das Hühnerfrikassee", scherzte Lissy. Wieder streckte sie die Zunge aus, als könne sie damit schon alles aus der Luft fischen, was Alice ins Essen getan hatte. Alice überlegte, wann Lissy sowas mal gemacht hatte. Das sah ja fast so aus wie eine züngelnde Eidechse oder Schlange, die auf Beutefang war. Unheimlicherweise regte der Gedanke sie nicht zum grinsen an, sondern verstärkte die mit dem Vibrieren ihres Ohrringes einhergehende Beklemmung. Doch wenn sie Lissy helfen wollte musste sie erst einmal herausfinden, was genau passiert war. Am Ende durfte Lissy nicht laut aussprechen, was ihr passiert war. Es sollte Flüche geben, die bei worthafter Beschreibung ihrer Natur wie ein Virus von einem auf jeden gerade davon hörenden übersprangen. Also war es wohl besser, nicht gezielt danach zu fragen, sondern sich erst einmal erzählen zu lassen, was Lissy erlebt hatte. Im Zweifelsfall konnte sie dann immer noch um Hilfe rufen und hoffen, dass Tante Lavinias Bekannte im Zaubereiministerium ganz schnell bei ihr waren. Sie hoffte, dass sie noch genug Zeit haben würde.

"Erzähl doch mal, was du alles mitbekommen hast, Lissy. Durftest du auch an die Wand ran, die nur Männer sehen dürfen?"

"Also, mich hat zumindest keiner zurückgehalten, mir den Brocken bei Sonnenaufgang, Mittag und Sonnenuntergang anzusehen. Wenn ich dabei was gesehen habe, was nur die Ureinwohner da sehen dürfen sind die es selbst in Schuld, wenn sie kein Hinweisschild hinstellen."

"Klar, wo unsereins ja auch so doll darauf achtet, was die Ureinwohner möchten", grummelte Alice Widewater.

"Kann ich mal vorher bei dir ins Bad. Nicht, dass ich gleich beim Essen noch Sand vom Uluru im Frikassee habe", sagte Lissy Thornhill. Alice nickte nur. Früher hätte sie über so eine Bemerkung gelacht oder einen Spruch gebracht, dass bei ihr keiner mit Fingern essen musste, der nicht wollte. Aber irgendwas in der Frage hatte die Alarmstimmung ihres Ohrringes noch mehr verstärkt. Sie fürchtete, dass Lissy es sehen konnte, dass sie einen immer wilder bebenden Anhänger am Ohr hatte. Dann würde die fragen, und dann musste Alice irgendwas erzählen, was sie bisher nicht erzählen musste. So von wegen, Versuchsanordnung um drahtlose Informationen zu kriegen oder ähnliches. Das käme der Wahrheit zumindest nahe genug. Aber die Frage nach dem Badezimmer war nicht verkehrt. Wenn Lissy in das geräumige Gästebad ging war sie wenigstens zehn Meter von Alice weg. Falls ihr zitternder und bebender Ohrring was mit Lissys Anwesenheit zu tun hatte würde das wilde Beben dann wohl nachlassen. Dann hatte sie zumindest Gewissheit. Gefahr erkannt, Gefahr gebannt? Wohl noch nicht.

Lissy verschwand durch die Tür mit der wasserblauen Aufschrift "Gästebad für Männlein und Weiblein." Tatsächlich ließ das wilde Beben von Alices Ohrring nach. Diese nutzte die kurze Zeit und trat vor das Bild ihrer Großtante Lavinia. Das Vollporträt wirkte wie jedes beliebige Gemälde, starr und unbekümmert von der Umgebung. "Irgendwas stimmt mit Lissy nicht", wisperte Alice dem Bild zu. Da war ihr, als zuckten die Lippen der Dame im blauen Rüschenkleid mit silbergrauen Locken. Also hörte die gemalte Nachbildung ihrer Großtante wirklich zu. Es würde also ein lauter Ruf mit dem für Notfälle vereinbarten Codewort reichen", dachte Alice. Da merkte sie, wie der Ohrring wieder stärker zitterte. Gleichzeitig meinte sie, dass ihr Gehör empfindlicher wurde. Das gerade im Radio laufende Lied wurde lauter. Sie meinte, Lissy im Badezimmer atmen, ja regelrecht keuchen zu hören. Alice wollte schon fragen, ob was war. Doch irgendwie war ihr, als dürfe sie hier und jetzt auf gar keinen Fall laut sprechen. Was war das denn gerade? Sie eilte zum Radio und würgte das für die Mittagszeit geeignete Musikstück mit einem Knopfdruck ab. Dann war ihr, als müsse sie sich der Badezimmertür zudrehen. Als sie das tat brummte ihr Ohrring wie eine am Fliegenfänger hängende Hornisse. Alice fürchtete, dass Lissy das hören würde. Doch von der hörte sie nun auch was. Erst ein Keuchen, als müsse sie eine Verstopfung loswerden. Aus dem Keuchen wurde ein immer tierhafteres Schnaufen und fauchen. Im gleichen Maße verstärkte sich auch der Brummton ihres Ohrringes. Also passierte da gerade was mit Lissy, etwas schlimmes, furchtbares, böses. "Mädchen, zu mir hin, ganz schnell!" hörte sie wie aus dem Nichts die Stimme ihrer Großtante zischen. Auch hörte sie ein verhaltenes Zischen aus dem Badezimmer, als habe sich dort gerade eine Schlange aus dem australischen Hinterland eingeschlichen und wollte prüfen, wer sie mitbekam. Das trieb Alice, ganz schnell zum Bild ihrer Großtante hinzulaufen. Die gemalte Dame hielt ihre Hand so, als wenn sie Alices Hand ergreifen wollte. Und ein irrsinniger Gedanke kam Alice: Sie sollte die Hand ihrer Großtante ergreifen und sich von ihr ziehen lassen.

In dem Moment ging die Badezimmertür auf, und eine menschengroße Unggeheuerlichkeit im blattgrünen Schuppenkleid sprang heraus. Alice erschrak erst, als sie erkannte, was mit Lissy passiert war. Doch in dem Augenblick fühlte sie eine große, weiche Hand nach ihrer greifen. Das Ungetüm im grünen Schuppenkleid versuchte Alice mit bleichen Augen festzunageln. Da war Alice, als jage ihr der silberne Ohrring einen gehörigen Stromschlag durch den Kopf. Doch sie verlor nicht die Besinnung, sondern widerstand nur dem bannenden Blick der reptiliengleichen Augen mit den senkrechten Pupillen, die aus dem schlangenhaften Gesicht zu ihr herüberstarrten. Dann sprang das Ungeheuer los. In dem Moment umgab Alice ein weißgoldener Strahlenkranz. Im selben Augenblick wurde sie von einer energischen Zugbewegung in Richtung Bilderrahmen gewuchtet. Sie kam nicht mehr dazu, aufzuschreien. Denn ihr Kopf verschwand im Bild. Wie von einem gewaltigen Staubsauger eingefangen flutschte auch ihr restlicher Körper durch das nun im weißgoldenen Lichtgewitter glühende Viereck des Bilderrahmens. Sie fühlte noch, wie etwas sie an der Fußsohle berührte und hörte ein wütendes Fauchen wie von einem kleinen Drachen. Dann schlidderte sie durch einen Tunnel aus kreisenden weißgoldenen Lichtringen, bis sie über einer roten Wüstenlandschaft unter heißer Sonne herauskam. Dann sah sie vor sich etwas wie ein Fenster mitten in der Luft, flog darauf zu und durch die entstandene Öffnung in der Wüstenlandschaft, um verdutzt auf einem weichen Teppich zu landen.

Ein dreistimmiges Glockengebimmel setzte ein. Alice erkannte, dass sie durch ein besonderes Tor gezogen worden war, dessen Ein- und Ausgang je ein Bild ihrer Großtante Lavinia war. Nur das ihre gemalte Großtante auf dieser Seite in einer zentralaustralischen Wüstenlandschaft stand und entsprechend expeditionsmäßig angezogen war. Links neben ihr landete gerade ein grasgrünes Riesenkänguruh.

"Alice, Kind! Was ist passiert?" hörte Alice die Stimme ihrer Großtante von der gerade aufschwingenden Tür her rufen. "'ne Freundin von mir ist wohl zu einer Art Werschlange geworden. Was immer du mit den Bildern gemacht hast, Tante Lavinia, es hat mir offenbar das Leben gerettet. Oder kommt das Biest auch noch durch?"

"Eine Werschlange? Moment mal, eine Schlangenfrau?!" fragte Lavinia Benchwood, Alices Groß- und Patentante, eine begnadete Thaumaturgin und approbierte Heilerin im Sana-Novodies-Krankenhaus. "Hat dich das Wesen noch gebissen?"

"Ich fühle nichts dergleichen, Tante Vinny. Dein Super-Expressversandt-Zauber mit den Bildern hat mir wohl den Tag gerettet."

"Das will ich lieber prüfen. Halt bitte still, sonst fällst du vor Lachen um!" sagte Lavinia Benchwood. Dann hob sie ihren zwölf Zoll langen Zauberstab aus Weidenholz mit Einhornschweifkern und vollzog damit eine schnelle Abfolge von magischen Bewegungen. Alice meinte, etwas würde ihr mit flinken Fingern überall hinlangen, ja sogar in sämtliche Körperöffnungen hineingleiten. Sie hätte gerne "Ey, lass das!" gerufen, wenn da nicht gerade eine unsichtbare Hand durch ihre Mundhöhle gefuhrwerkt hätte. Sie fürchtete schon zu ersticken. Da ließ das Gefühl der an ihr herumfingernden und in sie eindringenden Finger wieder nach. "Vinny drei, Lagebericht Vinny zwei!" rief Lavinia Benchwood.

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Die Reise nach Sydney war anstrengend aber auch sehr lehrreich gewesen. Als sie herausbekommen hatte, dass sie gerade mal so an die 200 Meter unter die Erde hinabtauchen konnte, ohne wieder langsamer und schwächer zu werden, hatte sie solange geübt, bis sie schnell genug vorankam, immer jenen unsichtbaren Linien volgend, die aus der Erde selbst hervortraten und anderswo wieder in sie zurückkehrten. Da Lissy sich mit Physik gut genug auskannte begriff sie, dass sie einen Sinn für das Erdmagnetfeld und seinen Verlauf bekommen hatte. Das war für welche wie sie, die unter der Erde dahinjagen konnten, verdammt wichtig, um sich nicht zu verirren.

Als sie nun heraushatte, wie sie dem eigenen Richtungssinn vfolgen konnte war sie losgebraust, schneller als die legendäre Concorde, um nach Sydney zu kommen. Unter der Millionenstadt an der australischen Pazifikküste angekommen waren viele überstarke Eindrücke auf sie eingestürmt. Da waren die vielen Stromleitungen, die mit einem unerträglichen Gebrumm direkt in ihrem Kopf den Sinn für das natürliche Magnetfeld überreitzten. Da waren die Lebensausstrahlungen unzähliger Menschen, die wie ein Fußballstadion voller zwanzig oder dreißig Lieder gleichzeitig gröhlender Fans auf sie einhieben. Auch konnte sie nicht mal eben aus einer der vielen Straßen herausfahren, um sich umzusehen, weil sie zumindest die vielen über ihr dahingleitenden elektrischen Felder fahrender Autos spüren konnte. Überfahren werden wollte sie dann doch nicht. Ja, und die vielen vielen anderen Leitungen hier unten stellten sich als tückische Hindernisse heraus, vor allem die Plastikrohre. Einmal war sie gegen ein solches geprallt und schmerzvoll davon zurückgeprellt worden. Sie hatte dann einige Sekunden gebraucht, um sich wieder zu orientieren. Also so konnte sie nicht an das Haus ihrer Bekannten heran. Sie musste es auf die altgewohnte Weise tun.

So war sie erst einmal wieder weit genug von Sydney fortgeeilt, um unbeobachtet aus einem unbebauten Stück Land herauszuschlüpfen. Sie hatte dann die nächste Straße gesucht und war per Anhalter bis zum Stadtrand von Sydney gefahren. Von hhier aus konnte sie mit den noch besessenen Geldscheinen ein Taxi nehmen, um zum Haus von Alice Widewater zu fahren. Hinein kam sie durch den Hintereingang.

Sie hatte es sofort gemerkt, dass Alice was an sich hatte, das sofort versuchte, sie zurückzudrängen. Sie konnte nicht sagen, was genau das war, eine besondere Aura oder etwas riechbares. Auch störte sie das in den Wänden und den ganzen Elektrogeräten tönende Gebrumm, als stehe sie in einem voll hochgefahrenen Transformatorhäuschen. Dann hatte sie nur zur Probe eine Luftprobe mit ihrer Zunge genommen. Doch in ihrer angeborenen Gestalt war ihre Zunge nicht so hochempfindlich. Aber dieses Gefühl der Abweisung, als wenn um Alice unsichtbare Geister herumflogen, die sie, die Dienerin des Erhabenen, verscheuchen wollten, gefiel ihr gar nicht. Eigentlich hatte sie auf den Abend warten wollen, um Alice die größte Überraschung ihres Lebens zu bereiten. Doch dieses Gefühl, zurückgedrängt zu werden und dieses lästige Wechselstromgebrumm trieb sie, die Sache so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.

In Gedanken verwünschte sie dieses Hochhaus mit seinen mit Plastikschichten belegten Böden. Die Kraft der Erde, die sie kurz nach ihrer Einberufung so belebend gespürt hatte, kam nur in schwachen Impulsen bei ihr an. Erst als sie sich in dem fensterlosen Badezimmer mit beiden Händen an den Wänden abstützte bekam sie über die Außenwände und das Fundament genug Kraft aus der Erde, um in die Verwandlung einzutreten. Dabei merkte sie jedoch trotz der unangenehmen Begleiterscheinungen der langsamer ablaufenden Veränderung, dass aus Alices Esszimmer etwas wie ein Windstoß gegen sie blies. Sie sah um sich herum blaue und rote Funken in der Luft tanzen. Da wusste sie, dass etwas von Alice gegen den Zauber des Erhabenen wirkte und davon abgewehrt wurde. "Wenn ich das spüre spürt die mich auch. Verdammt, das war die Sache, warum die so komisch drauf war", dachte Lissy, die nun wieder Sisufuinkriasha war. Sie musste verhindern, dass Alice um Hilfe rief oder aus der Wohnung flüchtete.

Was ihr noch mehr zusetzte war, dass mit der Verwandlung in eine Dienerin des Erhabenen auch das in Wänden und angeschlossenen Geräten tönende Gebrumm unerträglich laut wurde. Es dröhnte in ihrem Kopf, als sei dieser selbst ein Hochspannungstransformator. Ohne es bewusst zu wollen wehrten sich ihr Körper und Geist gegen dieses auf derselben tiefen Tonhöhe bleibende Gedröhn und versuchte es zurückzudrängen. Dabei schwankte die Tonhöhe und die Lautstärke immer mehr. Doch es half nichts. Sie musste jetzt raus und Alice den Kuss der Einberufung geben, bevor deren Schutzzauber das unmöglich machte.

Die Schlangenfrau sprang aus dem Badezimmerund sah gerade noch, wie Alice förmlich in das hohe Bild an der Wand hineinsprang. Sie streckte ihre mit Krallen bewehrten schuppigen Hände vor, versuchte noch, Alices Füße zu packen. Doch schneller als ein Lidschlag verschwand Alices Körper in der Leinwand des gerahmten Bildes. Also hatte Alice auch was mit Magie zu tun. Die Erkenntnis kam Sisufuinkriasha die eine berühmte Sekunde zu spät. Und es sollte noch ärger werden.

"Wag dich, Auswurf einer perversen Züchtung!" schrillte sie die Stimme der gemalten Frau im blauen Kleid an, während im Bildhintergrund ein immer kleinerer Punkt von weißgoldenen Wirbeln umkreist verschwand. Sisufuinkriasha riss beide Schuppenpranken hoch und wollte nach dem Bild greifen. Dabei prallten ihre Krallen auf einen plötzlich entstandenen Widerstand aus silbernen Funken. Sie schaffte es nicht, das Bild anzufassen. "Gib den Weg für mich frei, Hexenposter!" zischte Sisufuinkriasha und starrte das Bild mit ihren bleichen Schlangenaugen an. Doch das silberne Funkenspiel verwirrte ihre Sicht. Doch das war nicht das ärgste.

Das in ihrem Kopf unerträglich laut dröhnende Wechselstrombrummen schwankte in der Lautstärke. Als es für einen Moment so laut wurde, dass Sisufuinkriasha kleine rote Kreise vor ihren Augen zu sehen meinte fühlte sie, wie ihr Geist eine Art Befreiungsschlag ausführte. Doch das war nicht so gut.

Es knisterte erst, brummte einmal kurz laut auf der Tonhöhe des in den Leitungen fließenden Wechselstromes. Dann schlugen mit dumpfem Knall Flammen und Rauch aus den Steckdosen und allen gerade angeschlossenen Geräten. Sisufuinkriasha wurde von den Ausläufern der Flammen getroffen. Doch das machte ihr nichts. Auch der giftige Qualm verschmorender Elektronik konnte ihr nichts anhaben. Allerdings stand Alices Wohnung nun in Brand. Wo die aus den Kurzschlüssen oder Überspannungen entstandenen Funken und Flammen brennbares Zeug trafen loderte dieses sogleich auf. Auch der an der Decke angebrachte Rauchmelder, eigentlich dafür da, bei Rauch und Feuer laut loszuheulen, sprühte in wilden Funken. Nur sein feuerfestes Gehäuse blieb standhaft. Sisufuinkriasha starrte auf das offenbar bezauberte Bild an der Wand. Die silbernen Funken hatten sich zu einer aus sich heraus leuchtenden Spiegelfläche verdichtet, hinter der das Vollporträt einer Frau im blauen Rüschenkleid, das Alice ihr mal als ihre Patentante Vinny vorgestellt hatte, in einer angespannten Haltung verharrte. Jetzt konnte Sisufuinkriasha genau sehen, dass die Augen der gemalten Dame jede ihrer Bewegungen verfolgten. Hätte ihr jemand vor zwei Tagen erzählt, dass Alice ein echt bezaubertes Bild bei sich in der Wohnung hängen hatte, sie hätte schallend losgelacht.

"Ich kriege dich, Mistschinken!" zischte Sisufuinkriasha und hieb nach dem hinter leuchtendem Spiegelglas verborgenen Porträt. Doch wieder prallte ihre Faust von der silbernen Fläche ab, während um sie herum immer dichterer Qualm und wild lodernde Flammen das Esszimmer ausfüllten. Nun konnte sie das alarmierende Gefiepe eines Rauchmelders in der Nachbarwohnung hören. Also musste der Rauch schon so dicht oder so giftig sein, dass er andere Warngeräte auslöste. "Also gibt es immer noch welche von euch", schnarrte die gemalte Dame im Rüschenkleid. "Wie niederes Unkraut oder besser, äußerst gefährliches Ungezifer", stieß die gemalte Frau noch aus. Dann ploppte es laut, und das verzauberte Bild war verschwunden. Sisufuinkriasha stand nun in einer brennenden Wohnung voller zerstörter Elektrogeräte und wusste, dass sie gerade die erste Niederlage ihres neuen Lebens eingesteckt hatte. Sie musste hier raus, möglichst noch unbeobachtet. Ihre Kleidung lag im Badezimmer, weil sie sie bei der Verwandlung nicht zerreißen wollte. Doch vor dem Badezimmer tanzten schon die Flammen. Die Schlangenfrau kümmerte es nicht. Die Badezimmertür stand noch offen. Deshalb war der Rauch auch schon bis dort hinein gedrungen und suchte sich seinen Weg durch die Entlüftung. Dann würden noch weitere Rauchmelder losgehen. Die Feuerwehr war sicher schon alarmiert. Sisufuinkriasha überlegte, ob sie die Gunst der Stunde nicht nutzen und die hier gleich eintreffenden Helfer beißen und damit in ihre Reihen hineinholen sollte. Doch dann fiel ihr ein, dass die Feuerwehrleute garantiert reißfeste Schutzkleidung und natürlich Helme und Gasmasken trugen. Konnte sie durch das alles durchbeißen? Besser war es, wenn sie von hier verschwand. Sie stampfte mit den nackten Füßen auf die Erde. Doch es gelang ihr nicht, durch das PVC im Boden hindurchzudringen. Durch die Wohnungstür wollte sie nicht flüchten, weil garantiert alle Aufzüge angehalten wurden, um die Leute nicht voll in die Feuerfalle hineingeraten zu lassen. Immerhin hatte das sie beeinträchtigende Dauerbrummen im Kopf aufgehört.

Weitere Rauchmelder plärrten ihre unüberhörbare Warnung hinaus. Aber sie hörte keine Menschen, die laut oder weniger laut die Flucht ergriffen oder "Feuer!" riefen. War sie gerade die einzige hier auf diesem Stockwerk? Natürlich, denn die meisten anderen Bewohnerinnen und Bewohner arbeiteten anderswo. Also konnte sie doch unbeobachtet aus der Wohnung verschwinden ... "Mach ein Fenster auf und spring runter!" drang unvermittelt Sharikhaulaias Gedankenstimme in Sisufuinkriashas Bewusstsein ein. Woher wusste die, wo sie gerade war. "Problem von später, Sisu, also raus mit dir!"

"Zwölf Stockwerke da runter?" fragte Sisufuinkriasha. "Sobald du auf festem Erdboden aufschlägst sind alle Verletzungen verheilt, die du dir dabei einfangen könntest", hörte sie die Stimme ihrer Einberuferin. So nahm Sisufuinkriasha anlauf und sprang durch eines der Panoramafenster, das wegen der angestauten Hitze sowieso schon sehr in Mitleidenschaft gezogen worden war. Dass hinter der Schlangenfrau der in die Wohnung einströmende Sauerstoff mit dem Qualm eine höchst explosive Mischung einging und mit lautem Knall durchzündete nahm die nun in die Tiefe rasende Schlangenfrau nur am Rande war. Der Erdboden kam unaufhaltsam auf sie zugerast. Doch sie hatte überhaupt keine Angst. Dann kam der Aufprall. Sie meinte, alle Knochen im Körper gleichzeitig brechen zu fühlen. Doch dann federte sie vom Boden zurück wie von einem Trampolin. Danach landete sie mit den Füßen und fühlte sofort die belebende Kraft unmittelbaren Bodenkontaktes in sie einschießen. Ohne noch auf eine weitere Anweisung zu warten stampfte sie schnell mit einem Fuß auf und verschwand unter der Erdoberfläche wie ein Taucher unter Wasser. Der Boden selbst blieb unversehrt. Hinter und über ihr schlugen nun meterlange Flammen aus Alices Wohnung und nicht nur aus ihrer. Dass die Ausstrahlung der Schlangenfrau nicht nur die Stromversorgung von Alice Widewater, sondern auch die der daran hängenden Nachbarwohnungen überlastet hatte würden andere bald feststellen. Für die gerade immer tiefer in die Erde hinabjagende Schlangenfrau war es nun völlig unwichtig. Sie hatte ein sicher geglaubtes Opfer verfehlt. Auch wusste sie nun, dass sie sich tatsächlich nicht in der Nähe von elektrischen Geräten in die erhabene Form verwandeln durfte. Zumindest das war eine wichtige und hilfreiche Erkenntnis. Das hieß aber auch, dass sie ihre gleichgeschlechtlichen Verwandten nicht in deren Wohnungen küssen durfte, wollte sie deren Wohnungen nicht abfackeln. Sie musste also anders vorgehen.

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"Oha, Alices Wohnung brennt gerade lichterloh. Offenbar wurden wegen dieser Schlangenfrau alle mit Elektrostrom betriebenen Geräte überlastet und zu Brandherden", vermeldete Vinny drei ihrem Original. "Achtung, Vinny zwei wird aus Wohnung transportiert", fügte die gemalte Ausgabe von Lavinia Benchwood noch hinzu. Dann ploppte es, und ein Bild im silbernen Rahmen schwebte frei in der Luft. Die Oberfläche schimmerte silbern wie Spiegelglas, allerdings auch so, als leuchte es von innen. Das silberne Licht zersprühte zu wild davonstiebenden Funken. Dann landete das aus dem Nichts aufgetauchte Vollporträt mit der Bilderseite nach oben auf dem Teppich.

"Tja, Mädchen, ich fürchte, da werden deine Eltern wohl mit der guten Mrs. Rockridge und ihren Leuten was drehen müssen, dass du zur Brandzeit nicht in der Wohnung warst und dass du wohl eine neue Wohnung kriegst, aber diessmal doch besser eine mit genug schützendem Zauberwerk", bemerkte Lavinia Benchwood.

"Das mit dem Ohrring kapiere ich ja noch, sowas wie ein Gefahrenmelder. Aber das mit dem Bild kannte ich noch nicht, Tante Vinny."

"Eigentlich ein uralter Hexenhut. Transpiktoralportal. Du kannst, wenn du genug Zeit und noch mehr Talent hast, zwei Bilder so bezaubern, dass sie in einem bestimmten Fall eine direkte Verbindung zwischen zwei räumlich voneinander getrennten Orten schaffen. Bild eins hilft dann einem oder mehreren Menschen, in diesen Durchgang zu kommen. Herausfallen tun die zu transportierenden dann von selbst. Dein Vater war zwar stocksauer, als ich ihn damit genervt habe, dass du in einer Muggelwohnung nicht der technologie der zauberunfähigen Welt ausgeliefert bleiben sollst und kam mir mit Sonderberechtigungsanfragen und dergleichen. Aber ich kenne die gute Latona Rockridge schon von der Zeit, als ihre Mutter sie mir als Wickelhexlein in die Arme gelegt hat und konnte da einen ähnlich schnellen Dienstweg nehmen wie die beiden Bilder, die dir das Lebenund deine Unversehrtheit bewahrt haben. Tja, und das mit dem Ohrring heißt Curattentius. Dieser Zauber schlägt bei böswilligen Leuten oder von dunkler Magie erfüllten Dingen oder Wesen an. In diesem Fall war ja beides gegeben. Aber woher dieses Schlangenweib kam macht mir wirklich Angst. Am Ende haben diese beißwütigen Biester sich vor mehreren Jahren noch bei uns im Land unten drunter eingenistet. Das muss ich unverzüglich weitergeben, sofern Vinny vier und fünf das nicht schon erledigt haben", sagte Lavinia Benchwood.

"Und wo soll ich jetzt hin, wenn bei mir alles in Flammen aufgeht?" fragte Alice Widewater.

"Wie erwähnt ist das jetzt ein Ding für das Ministerium. Das Schlangenbiest wird sicher über alle Berge sein, wenn die Feuerwehr da ankommt. Es sei denn, das Monster ist so dreist und lauert in lodernden Flammen auf weitere Opfer. Ich klär das eben." Mit diesen Worten hängte sie das bei ihr erschienene Vollporträt von sich neben jenes, aus dem Alice gerade herausgefallen war. Dann ordnete sie an: "Vinny zwei, du informierst bitte das Einsatzkommando gegen gefährliche Zauberwesen. Vinny drei, du sagst meinem Neffen Cuthbert vom Muggelverbindungsbüro bescheid, dass er sich für einen Vergissmicheinsatz bereithalten soll. Falls Latona was wegen irgendwelcher Dienstwege zu meckern hat darf die mich gerne bei Madam Morehead treffen. Zu der bin ich nämlich jetzt hin."

"Und wo bleibe ich jetzt?" wollte Alice Widewater wissen.

"Da wo du gerade stehst oder auf einem der Stühle da am Tisch oder auf der Couch in der Ecke da hinten, such's dir aus, Alice!"

"Das mit den Bildern geht mir immer noch nicht aus dem Kopf. Ich dachte, sowas ginge nur mit Spiegeln", erwiderte Alice Widewater.

"Haben die früher oft versucht. Aber entweder sind die Leute, die das ausprobiert haben auf weiß-roten Schachbrettern gelandet oder haben sich zwischen Spiegelglas und Rückwand eingeklemmt als plattgedrückte, aber dennoch lebendige Spiegelbilder ihrer Selbst wiedergefunden."

"Schachbretter? Lustig, Tantchen", grummelte Alice Widewater.

"Ja, und die da gewohnt haben sprachen so ein total verwirrendes Kauderwelsch oder sind vor Schreck von einer Mauer gefallen und in tausend Stücke zerplatzt", legte ihre Großtante nach.

"Gut, ich weiß, ich habe mit dem Unfug angefangen", grummelte Alice Widewater.

"Wieso solltest ausgerechnet du nicht fragen, ob Spiegel für Reisen in andere Gegenden nicht besser geeignet sind als Bilder?" fragte Lavinia Benchwood. Dann deutete sie auf einen der freien Stühle an dem mit einer weißen Spitzendecke überzogenen Tisch. "Ich bin in zehn Minuten wieder hier. Dann essen wir erst mal was. Dein Hühnerfrikassee ist ja wohl gerade verdorben." Alice Widewater knurrte verdrossen. Dann sah sie noch, wie ihre Großtante mit leisem Plopp verschwand. Das hatte sie immer am meisten gestört, dass vollwertige Hexen und Zauberer nicht nur auf Besen fliegen lernen konnten, sondern auch apparieren lernten. Diese verdammte Schlangenfrau hatte ihr gerade wieder mit Urgewalt ihre Unfähigkeiten ins Hirn zurückgeklopft. Dann fiel ihr ein, dass die verdammte Schlangenfrau Lissy Thornhill war. Wieso war die zu so einem Monster geworden? Was hatte ihre Großtante erwähnt? Irgendwas von beißwütigen Biestern. Wurden die etwa auch durch einen Biss zu diesen Ungeheuern, wie Vampire oder Werwölfe? Dann hieß das, dass Lissy womöglich schon andere aus ihrem Bekanntenkreis mit diesem Virus oder Fluch oder was immer angesteckt hatte. Das mussten die Heiler wissen. Doch im Moment waren die zwei Vollporträts von Lavinia Benchwood fort, unterwegs irgendwohin. Also musste sie warten. Denn als verdammte Squib konnte sie das Flohpulver vergessen.

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Im Büro der australischen Heilzunftsprecherin Laura Morehead, 15.09.2003, 13:40 Ortszeit

Das klingt alles andere als erfreulich", war der Kommentar der Großheilerin Laura Morehead, als sie ihre Kollegin Lavinia Benchwood über den Vorfall mit ihrer höchst unterdurchschnittlich magiebegabten Großnichte erzählt hatte. "Also muss diese Elizabeth Thornhill auf der Reise zum oder vom Uluru von einem dieser gefährlichen Wesen angefallen worden sein. Dann könnte sie bereits mehrere andere Menschen infiziert und umgewandelt haben. Aber deine Großnichte ist unversehrt entwischt. Im Grunde ist es Glück im Unglück, dass wir durch diesen Vorfall mitbekommen haben, dass es eine neuerliche Ausbreitung dieser Wergestaltigen gibt. Dabei gingen wir davon aus, dass diese grauen Riesenvögel alle Exemplare dieser Unwesen getötet haben, als es zum Sturmlauf auf Paris und Beauxbatons kam. Wir gingen auch davon aus, dass keines dieser Unwesen es bis zu uns nach Australien geschafft hat."

"Laura, soweit ich mich erinnere hat der Kollege Vineyard einmal eine Geschichte von einem Kampf zwischen Eidechsenmenschen und Vogelmenschen beim Uluru erzählt. Könnte es sein, dass es dort am Uluru noch tief vergrabene Einzelwesen dieser gefährlichen Brut gab?"

"Wir haben das immer für eine von vielen Geschichten aus der vielfältigen Mythologie der Ureinwohner gehalten", grummelte Laura Morehead. "Die Frage ist jedoch, warum diese Geschöpfe jetzt erst wieder aufgetaucht sind?"

"Moment, diese Schlangenmenschen sollen in der Gegend vom Uluru gewütet haben? Was ist dann mit denen passiert?" wollte Lavinia Benchwood wissen.

"Laut der Geschichte, die der Kollege Vineyard erzählt hat müssen die Schlangenkrieger beim Uluru von ihren Gegnern derartig geschwächt worden sein, dass sie im Gestein des roten Berges erstarrt sind und die natureigene Magie des Steines sie scheinbar auf ewig dort festgehalten hat."

"Dann frage ich mich, warum die nicht schon seit dem 26. April wieder neue Opfer gesucht haben", schnaubte Lavinia Benchwood. Laura Morehead sah sie erst verdutzt an und nickte dann heftig. "Natürlich, diese Welle dunkler Zauberkraft, die uns hier unten mehrere Menschenleben gekostet hat, weil dabei das Flohnetz ausgefallen ist und diverse Rachegeister der Ureinwohner noch stärker geworden sind, dass es für die einheimischen Magier sehr gefährlich wurde, sie zu findenund unschädlich zu machen. Ja, das war wohl der Auslöser. Ja, und was den verzögerten Zeitpunkt angeht, so könnte es sein, dass die eingeschlossenen Schlangenmenschen sich erst wieder dem natürlichen Zeitablauf anpassen mussten, ähnlich wie jemand, der über Wochen einem dreifachen Lentavita-Zauber unterworfen war. Ich hoffe nur, dass die in Frankreich und anderswo angewendeten Mittel auch bei uns funktionieren und vor allem, dass wir diese Pest noch früh genug erkannt haben, um eine Pandemie zu verhindern. Am Ende sind diese überlebenden Schlangenmenschen ein größeres Übel als die, die 1997 und 1998 über Europa hergefallen sind."

"Wurden die damals nicht von dem Psychopathen mit dem unnennbaren Namen befehligt?" fragte Lavinia Benchwood. Laura Morehead nickte. Dann erbleichte sie: "Falls diese Wesen gerade keinen Lenker haben könnten sie darauf ausgehen, einen Meister zu finden und dabei alles und jeden schädigen, der oder die ihnen in den Weg gerät. Oder noch schlimmer, wenn sie merken, dass keiner sie aus der Ferne kontrollieren kann könnten sie dem Urtrieb aller Tiere verfallen."

"Ja, die eigene Art zu erhalten, um so mehr, je höher der Feindruck ist", erwiderte Lavinia Benchwood sehr beklommen. Laura Morehead musste das zu ihrem größten Bedauern bestätigen.

"Öhm, übrigens, Lavinia, falls sie will, und nur falls sie will, bin ich bereit, deiner Großnichte ein einmaliges Angebot zu machen, das ihr hilft, wieder tritt zu fassen. Denn so wie sich das darstellt wird sie in der magielosen Welt nach diesem Wohnungsbrand wohl monatelang auf fremde Hilfe angewiesen sein. Falls sie zustimmt und eben nur dann, könnten wir zwei mit der guten Latona was aushandeln, dass Alice doch noch ihren Einstieg in unsere Welt schafft. Wäre schließlich nicht das erste mal."

"Was genau hast du vor?" wollte Lavinia wissen. Laura Morehead erklärte es ihr. Auch wenn sie selbst nicht dazu fähig war, da sie nur drei Kinder geboren hatte, kannte Laura Morehead eine Kollegin, die das entsprechende Ritual durchführen konnte und nicht zu nahe mit Alice Widewater verwandt war, anders als Lavinia Benchwood. Als Lavinia verstand meinte sie nur: "Ich weiß nicht, ob Alice sich darauf einlassen wird, wenngleich ich auch weiß, dass sie bis vor fünf Jahren noch jeden Tag verwünscht hat, an dem ihr vor den Kopf geknallt wurde, dass sie keine richtige Hexe sein soll. Wenn das Grundpotential stimmt, und Licht zaubern konnte sie immerhin, dann hängt es von ihrer Entscheidung ab. Aber die Kollegin Sunnydale muss das nicht machen. Ihre andere Großtante Gladia hat fünf Kinder bekommen. Außerdem dürfte es für eine Verwandte sicher leichter fallen."

"Ja, sie aus Versehen zum Säugling zurückschrumpfen oder gleich in ihrem Uterus verschwinden zu lassen, wie bei dem Fall mit der Schwester, die ihrem Bruder bei einem üblen Fluch helfen wollte."

"Ja, und dessen "Abenteuerbericht" bei uns Heilern in der Schattenbibliothek ausliegt, während alle anderen Hexenund Zauberer die Geschichte aufgetischt bekamen, er habe alle Erinnerungen an sein früheres leben eingebüßt."

"Aber du verstehst zumindest, warum Gladia das besser nicht tun sollte, zumal sie die Schwester von Alices Großmutter mütterlicherseits ist. Da spielt dann also eine noch stärkere Blutsbindung mit hinein. Neh, komm, wenn du Gladia nicht zusehen möchtest, wie sie ihre und deine Großnichte als sechstes Kind neu zur Welt bringt frage ich die Kollegin Sunnydale. Außerdem können wir das als eine heilmagische Aufbesserungstherapie begründen." Lavinia nickte. Also galt es, Alice von ihrem möglichen Glück zu berichtenund zu warten, wie sie sich entschied. Falls sie einwilligte konnten und würden sie wohl was drehen, dass sie nie bei den Muggeln gelebt hatte oder sich mit der guten Antoinette Eauvive in Frankreich unterhalten, wie die es mit ihrer Adoptivtochter hinbekommen hatte, sie zu einer vollwertig anerkannten Hexe zu machen. Bei der Gelegenheit konnten sie auch gleich weitermelden, dass es in Australien noch eine weitere Sorte besonders gefährlicher Giftschlangen gab und dass jede Hilfe willkommen war, diese gefährlichen Wesen an einer unaufhaltsamen Ausbreitung zu hindern.

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Büro der australischen Zaubereiministerin, 15.09.2003, 14:20 Uhr Ortszeit

Und dein Original ist jetzt bei der guten Laura Morehead, Vinny?" fragte Latona Rockridge das im blauen Rüschenkleid gemalte Porträt einer guten Freundin ihrer Mutter. "Ja, sie klärt jetzt ab, wie wir von der Heilerzunft damit umgehen, dass echt diese obskuren Schlangenmenschen bei uns aufgetaucht sind, die 1997 bis 1998 Europa heimgesucht haben, Tony. Kann sein, dass an den Gerüchten über diese Eidechsenmenschen im Eyers Rock doch was dran ist und die Welle aus dunkler Zauberkraft diese Biester aus ihrem Zauberschlaf geweckt hat."

"Du kennst das Abkommen von Kulluwarra von 1953, demnach wir uns nicht mehr in Angelegenheiten der magisch begabten und ausgebildeten Ureinwohner einmischen dürfen, sofern die nicht welche von sich in die Redrock-Akademie schicken, um unsere Art zu zaubern zu lernen, Vinny. Die könnten uns also die kalte Schulter zeigen, wenn wir da mehr drüber wissen oder gar nachforschen wollen", sagte Latona Rockridge.

"Ja, doch Ausnahmen bestätigen die Regel. Immerhin haben wir bei uns zwei Heiler und drei Heilerinnen, die sowohl die uns vertrauten Zauber können als auch die traditionelle Zauberei der Ureinwohner kennen. Wie viele von denen habt ihr bei euch im Ministerium?"

"Im Moment nur die Schwestern Beryl, Amber und Ruby Kannalarra, deren Mütter weise Frauen der Ureinwohner sind. Ich werde die gleich mal kontaktfeuern, dass sie bitte herüberkommen. Kriege ich von der netten Laura Morehead deinen schriftlichen Bericht oder schickst du mir den per Blitzeule selbst, ohne dass Laura ihren Segen drauf sprechen muss?"

"Das kann ich dir erst sagen, wenn meine Vorlage bei ihr war. Weil die noch nicht so eine berühmte Heilerin ist, dass von ihr ein Bild in der Galerie der Großen hängt muss ich warten, bis sie wieder zu Hause ist."

"Ach ja, wie geht es deiner Großnichte?"

"Meine Vorkehrungen haben sie vor einer Karriere als Schlangenfrau bewahrt, Tony. Das war ein reiner Glücksfall. Könnte sein, dass andere dieser Biester schon mehrere Leute gebissen haben. Denke bitte daran, was diese "Botschafterin" der Mondgeschwister vor zwei Monaten angedroht hat!"

"Obwohl wir hier in Ausiland überhaupt keinen blauen Mond hatten, der mal eben alle Werwölfe zergrillt hat, Vinny."

"Ja, genau deshalb will diese - wie heißt die noch mal? - dass wir den Pelzwechslern Asyl und eigene Ansiedlungen bei uns gewähren, weil die denken, dass das verfremdete Vollmondlicht hier nicht hinkommt und wenn doch, dass wir das bereuen, wenn Sydney, Melbourne oder Canberra zu Werwolfstädten werden. Die Schlangenbiester sind da noch mindestens zehnmal schlimmer, obwohl es ja wohl Methoden gibt, sie zu bekämpfen", erwiderte Vinnys Vollporträt.

"Das werde ich wortwörtlich an die zuständigen Abteilungen weiterreichen. Öhm, Falls die gute Laura es deinem Original nicht vorschlägt möchte deine Originalversion bitte einen inoffiziellen Bericht direkt zu meinen Händen schicken. Danke!"

"Gebe ich weiter, Tony", erwiderte die im blauen Rüschenkleid gemalte Frau im silbernen Bilderrahmen."

Latona Rockridge wollte noch etwas darauf erwidern, als ihre Untersekretärin über Durchruftrichter meldete, dass Quinlahalla, der Sprecher der Bruderschaft australischer Zauberkundiger im Vorzimmer gelandet sei, um mit ihr zu sprechen.

"Schön, dann muss ich nicht den langen Weg nehmen, um ihn und seine Mitbrüder und -schwestern zu erreichen", erwiderte die Zaubereiministerin. Innerlich war sie jedoch nun alarmiert. Denn dass Quinlahalla, der Sprecher der magisch begabten Ureinwohner aus allen Volksgruppen, nach bald vierzig Jahren unaufgefordert zu ihr hinkam bedeutete nichts erfreuliches.

Leise rasselnd entsperrten sich die in der Tür versteckten Riegel. Die Tür schwang auf, und ein hagerer Mann, mindestens einen Kopf kleiner als die Zaubereiministerin, betrat das Büro. Er war in mit Lederbändern verschnürte Felle gehüllt und trug einen Halsschmuck aus kleinen Steinen. Sein dunkelhäutiges Gesicht wies viele Altersfalten auf. Sein Haar fiel hellgrau auf seine Schultern herab.

"Erste der hellhäutigen Neuvölker. Ich weiß, meine Brüder, Schwestern und ich leben für uns und sprechen dich und die deinen nicht wegen Dingen an, die unsere Sache sind. Doch es ist etwas geschehen, das mich dazu treibt, dich selbst zu sprechen", begrüßte der Ureinwohner die Ministerin mit einer vom hohen Alter angerauhten Stimme, schon beinahe flüsternd. Die Ministerin verbarg ihr Staunen, dass Quinlahalla immer noch so fließend Englisch sprechen konnte, wo er doch seit über fünfzig Jahren von allen europäischstämmigen Ansiedlungen fernblieb. Quinlahalla schüttelte schnell den Kopf und deutete auf seine Füße. "Meine Füße sind noch kräftig genug, dass ich darauf stehen kann, um zu dir zu sprechen, Latona Rockridge", sagte er noch. Die Ministerin nahm es als zu erwartende Erwiderung hin. Denn von Quinlahalla wusste sie, dass er sich nur hinsetzte oder hinlegte, wenn er krank war. Trotz seines Alters von angeblich neunzig Jahren schwor der magisch begabte Ureinwohner auf seine körperliche Ausdauer und Kraft. Womöglich bezog er aber auch Ausdauer aus elementaren Zaubern, die in seinem Halsschmuck verarbeitet waren, dachte die Ministerin. Sie selbst trug den seit sechzig Jahren bestehenden Stein der Unangreifbarkeit an einer Lederschnur um ihren Hals, der von Minister zu Minister weitergegeben wurde und machte, dass kein bannender Blick, kein Feuerfluch und ähnliche Ureinwohnermagie sie behindern oder gar verletzen konnte. Quinlahalla spürte das sicher auch, denn der Stein vibrierte, als der Ureinwohner die Ministerin genauer ansah. Latona hatte den nicht ganz damenhaften Gedanken, dass der kleine alte Zauberer wohl versuchte, sie mit einem Blick auszuziehen. Laut sagte sie: "Du bist einen ganz weiten Weg gelaufen, um zu mir zu kommen. Geht es um die gefährlichen Eidechsenmänner, die in eurem heiligen Berg Uluru eingesperrt und im tiefen Schlaf gefangen waren?" Der Ureinwohner zuckte kurz mit einer Wimper, blieb ansonsten jedoch ruhig vor ihr stehen. Dann sagte er:

"So wurde es dir schon von anderen erzählt, dass die vier Eidechsenmenschen im Uluru erwacht sein könnten, um ihren alten Kampf weiterzukämpfen und ihr Sein durch einen Biss auf andere Menschen zu übertragen?" Latona beherrschte sich, nicht auf das hinter ihr hängende Vollporträt Lavinia Benchwoods zu deuten und sagte: "Ja, mir hat es schon jemand gesagt, Quinlahalla. Doch wo du schon diesen weiten Weg gekommen bist, möchte ich dich bitten, mir zu sagen, was du darüber gehört hast."

Quinlahalla erzählte nun in einfachen Worten, was eine Zauberkundige vom Stamm der Anangu ihm und einigen anderen über die mögliche Rückkehr der vergessenen vier Eidechsenmenschen erzählt hatte und dass der heilige Berg Uluru seine lautlose Stimme verändert hatte, was wohl hieß, dass die in ihm gebündelten Kräfte verändert worden waren. Das war schon eine Menge dafür, dass solche Sachen nicht an die zugereisten, Zauberstäbe schwingenden Neubewohner dieses Inselkontinentes weitergegeben wurden. Denn die Magier der Ureinwohner unterstellten denen der Nachfahren europäischer Kolonisten, dass diese kein Gespür für in den Steinen und Pflanzen wirkenden Kräfte hätten.

"Eine von uns wurde fast von einer Schlangenfrau im einfarbig blattgrünen Schuppenkleid angegriffen und konnte nur mit Hilfe eines von uns erfundenen Reisezaubers entkommen. Gehört eine solche grüne Schlangenfrau zu den vergessenen Vieren?" wollte Latona wissen. Der Magier der Ureinwohner, der von allen Zauberkundigen zum Sprecher ihres Bundes gewählt worden war, verneinte das. Sein dunkler Hautton ging in ein mittleres Braun über. Womöglich war ihm sämtliches Blut aus dem Gesicht gewichen. Doch Quinlahalla zeigte keine sonstigen Zeichen von Schrecken oder gar Angst. Doch als er antwortete wusste die Ministerin, dass er wohl sehr nahe an einer Panik entlangtrieb. "Dann haben sie schon neue von sich gemacht. Dann wollen die euch alle zu welchen von sich machen. O, dann machen die auch schon welche von uns zu welchen von sich. Sie sind also wirklich frei."

"Kennt ihr Wege, sie zu besiegen, wenn sie freigekommen sind?" fragte die Ministerin nun ganz ruhig, obwohl sie wusste, dass die Lage sehr bedrohlich war.

"Vor den vielen Zeiten haben mächtige, tödliches Licht aus ihren Schnäbeln schleudernde Himmelsjägervögel die Eidechsenmänner und -frauen gejagt und getötet. Der Windkönig hat sie damals wohl mit seiner Mondflöte gerufen, seiner mächtigen Stimme, die mit der Götterspinne im Uluru versteckt war, bis die Götterspinne freikam."

"Ja, diese Affäre, öhm, die Sache kenne ich auch noch ganz gut. Also muss jemand, der die alte Stimme zum singen bringen kann herkommen und die mächtigen Vögel aus dem Himmel herunterrufen, richtig."

"Ja, so ist das, Latona Rockridge", erwiderte Quinlahalla. "Nur die großen Vögel die tödliches Licht aus ihren Schnäbeln schleudern können können die Eidechsenmenschen töten. Aber ihr müsst jetzt ganz schnell sein, allen weiterzusagen, dass die bösen Eidechsenmenschen wieder wach und auf der Jagd sind, bevor eure lauten, viel zu hellen Siedlungen von ihnen angegriffen und zu ihren eigenen Siedlungen gemacht werden", trieb der Magier der Ureinwohner zur Eile. Latona beteuerte, dass es für sie und ihre Volksangehörigen auch sehr wichtig war, dass sie so schnell wie der schnellste Sturmwind allen die was gegen diese Unheilsbringer machen konnten sagte, dass die Schlangenmenschen wieder da waren. Dann fragte sie, was sie für Quinlahalla tun könnte, um seine Leute zu schützen.

"Wir werden tun, was nur wir tun können. Tut ihr das, was nur ihr tun könnt. Wenn du den kennst, der die Stimme des Windkönigs aus dem Uluru geholt hat, dann sage ihm, er soll ganz schnell die großen Himmelsvögel rufen, damit sie die vier Eidechsenmenschen und ihre Opfer besiegen können!"

"Ja, das werden wir tun, wenn wir ihn kennen", sagte Latona. Eigentlich hätte sie noch ein "Bitte" von Quinlahalla erwartet. Doch sie wollte sich nicht auch noch auf eine Benimmdiskussion einlassen.

Quinlahalla verabschiedete sich von der Zaubereiministerin und verließ lautlos wie eine Katze auf dickem Teppichboden das Büro der Zaubereiministerin.

"Damit haben wir es amtlich, dass diese Brut unterwegs ist, Tony", meinte die gemalte Lavinia Benchwood. Die Ministerin erwiderte darauf: "Ja, und ich werde wohl eine Blitzeule nach Paris schicken, um bei den Kollegenin Frankreich anzufragen, ob die wissen, wer damals die Riesenvögel gerufen hat und wie das genau ging. Außerdem werde ich mir beschreiben lassen, wie die damals in Millemerveilles diese Pest aufgehalten haben, von dieser obskuren Schutzglocke über ihrem Dorf abgesehen."

"Die es mittlerweile nicht mehr gibt, Tony", erwiderte Lavinia Benchwood.

"Die es mittlerweile nicht mehr gibt", echote die Zaubereiministerin.

"Gut, Tony. Erledige du deine Aufgaben! Wir Heiler erledigen unsere", sagte die gemalte Lavinia Benchwood noch. "Natürlich, Vinny", erwiderte die Ministerin mit unüberhörbarem Unbehagen.

Die Zaubereiministerin griff nach einem silbernen Gefäß, dass wie ein Aschenbecher aussah und rief hinein: "Warnstufe vier! Gefahr im Verzug! Sämtliche Mitarbeiter der Abteilungen für magische Wesen, Strafverfolgung und Verbindung zwischen Menschen mit und ohne Magie im großen Konferenzraum einfinden. Ich wiederhole: Warnstufe vier! Gefahr im Verzug! Sämtliche Mitarbeiter aus den Abteilungen für magische Wesen, Strafverfolgung und Verbindungen zwischen Menschen mit und ohne Magie umgehend im großen Konferenzraum einfinden. Zwei Feuerflöhe! Zwei Feuerflöhe!"

"Ui, die denken jetzt, die wegen dieser blauen Todesmondstrahlen aus Europa nach Yankeeland und uns unten drunter geflüchteten Pelzwechsler hätten den Krieg gegen uns ausgerufen", scherzte das Vollporträt eines kleinen, kugelrunden Zauberers im grün-golden längsgestreiften Umhang und einem bis auf die Brust herabfallenden, feuerroten Spitzbart.

"Erst wenn Australien unter unser aller Füßen explodiert geht dir wohl die Frechheit aus, Terry", grummelte die Ministerin an die Adresse des scheinbar nicht ganz so ernsthaften Zauberers.

"Dann sieh mal zu, dass das nicht auch noch passiert, wenn schon die alten Ledertaschen aus Atlantis ihre längst überholte Mode unters Volk bringen wollen", erwiderte der kleine, rotbärtige Zauberer.

Die Ministerin nutzte ihr Privileg, direkt aus ihrem Büro in den ausgesuchten Konferenzraum zu apparieren. Von dort aus sah sie, wie alle von ihr einbestellten dort eintrafen, an die fünfzig Hexen und Zauberer, darunter Lawrence McBane von der Strafverfolgung, Tharalkoo Flatfoot von der Abteilung für alle Zauberwesenkategorien und Nigel Bridgegate vom Verbindungsbüro zwischen Menschen mit und ohne magische Kräfte. Die Ministerin wartete, bis sie sicher war, dass sämtliche gerade im Verwaltungsgebäude anwesenden Außendienstmitarbeiter ihrem Ruf gefolgt waren. Dann begrüßte sie die Anwesenden und wies sie an, sich zu setzen.

In den folgenden Minuten beschrieb sie die von der Heilerin Benchwood geschilderte Lage und erwähnte, dass sie die offizielle Mitschrift der Unterhaltung zwischen Morehead und Benchwood per Memo zugestellt bekommen würde.

"So besteht ein schwerwiegender Grund zur Besorgnis, dass diese Schlangenmenschen, die vor fünf Jahren in Europa aufgetaucht sind und am Ende mehr als zehntausend Artgenossen geschaffen haben, nicht ganz ausgerottet wurden. Ich wollte Sie alle zeitgleich darüber in Kenntnis setzen, welche Gefahr droht und einen koordinierten Einsatzplan ausarbeiten, der nicht zu kompliziert sein sollte, weil möglicherweise weitere Außendienstmitarbeiter darin einbezogen werden müssen."

"Sie haben das Codewort Feuerfloh für eine von lebenden Wirten gezielt übertragbare magische Verseuchung zweimal erwähnt, Ministerin Rockridge. Also nehmen Sie die Lage sehr ernst", sagte McBane.

"Ich war versucht, drei Feuerflöhe auszurufen, Larry. Denn wie bekannt ist suchen sich die Schlangenmenschen ihre Opfer ebenso gezielt aus wie Vampire und Wertiger. Falls deren Vermehrungsrate sogar noch höher ist als bei letztgenannten Geschöpfen müsste ich fünf Feuerflöhe ausrufen, die höchste für magische Verseuchungen mittels Zaubertieren oder -wesen angesetzte Warnstufe", sagte die Ministerin. Aber die von mir erwogene Gefahrenstufe ist sowieso schon sehr besorgniserregend."

"Und dieses Mädchen, Lissy Thornhill, hat einen Wohnungsbrand in einem nichtmagischen Wohnhaus ausgelöst?" wollte Nigel Bridgegate, ein Zauberer mit hellblonder Igelfrisur und gleichfarbigem Schnurrbart wissen. Die Ministerin nickte. "Hmm, die in Europa haben auch in magielosen Häusern gewütet und da keine Brände ausgelöst. Sind es also neue Schlangenmenschen?"

"Neu in dem Sinne, dass sie wohl gerade erst zu einer Schlangenfrau wurde und womöglich noch nicht weiß, ob und wie sie ihre Ausstrahlung regeln kann", sagte die Ministerin und bekam ein beipflichtendes Nicken von Tharalkoo Flatfoot. "Kann sein, dass sie diese auf elektrische Gerätschaften zerstörerisch wirkende Kraft weiterhin einsetzt oder lernt, sie zu unterdrücken, um nicht sofort aufzufallen. Was aber auf jeden Fall ansteht: Prüfen und überwachen Sie alle mit Elizabeth alias Lissy Thornhill befreundeten und verwandten Menschen aus der nichtmagischen Welt und sichern Sie, falls es nicht schon zu spät ist, dass diese Menschen nicht zu Opfern dieser verfluchten Kreatur werden. Des weiteren arbeiten Sie Methoden aus, diese Wesen aus sicherer entfernung zu entdecken und handlungsunfähig zu machen. Nur falls es nicht gelingt, einen Schlangenmenschen handlungsunfähig zu machen ist dessen Tötung zu erwägen. Doch hierbei müsste das Subjekt auf nichtmagische Weise mehr als drei Sekunden lang vom Kontakt mit festem Erdboden getrennt werden. Die Heilerinnenund Heiler wollen nach Mitteln suchen, den gerade gebissenen zu helfen, nicht vollends verwandelt zu werden oder sogar ein Mittel finden oder erfinden, mit dem bereits vollständig verwandelte Schlangenmenschen wieder zu harmlosen Menschen werden können."

"Ich bin zwar keine Heilerin, Ministerin Rockridge. Aber wenn es gegen die vollständig entfaltete Werwut und die vollständige Vampirverwandlung kein Mittel gibt dürfte es gegen die Schlangenmenschen auch nur das eine Mittel geben: Auf Sicht töten", erwiderte Flatfoot darauf. Alle stimmten ihr wortlos zu, bis auf zwei Zauberer, die laut ihrer Personalakte mit Heilern verwandt waren. Dann sagte McBane:

"Wenn Sie die Tötung dieser Wesen als gerechtfertigt ansehen, Ministerin Rockridge, dann sprechen Sie den Schlangenmenschen jedes Recht eines Menschen ab, richtig?" Die Ministerin überlegte kurz, nickte dann aber schwerfällig. "Dann kläre ich das mit der Kollegin Flatfoot, als was genau diese Kreaturen dann eingestuft werden", sagte McBane. Die erwähnte Kollegin nickte ihm bestätigend zu.

"Wie kriegen wir die Angaben über diese eindeutig identifizierte Schlangenfrau?" wollte Flatfoot wissen. Bridgegate McBane in die Runde. Bridgegate erbat sich das Wort und entgegnete: "Meine Frau hat unsere Computerabteilung jetzt auf die dreifache Kapazität ausgebaut und Dank internationaler Amtshilfe auch die nötigen Anwendungen bekommen, um auch in für Zivilisten unzugänglichen Bereichen nach Personenangaben zu suchen. Das dürfte also nicht das Problem sein. Ich sehe das Problem eher darin, dass Schlangenmenschen tageszeitunabhängig auftreten, anders als Vampire und Werwölfe. Also könnte es sein, dass wir dieser Verwandelten einen oder zwei Schritte hinterherhinken."

"Dann sehen Sie zu, dass wir es auf einen Schritt vor ihr schaffen, Nigel!" befahl die Ministerin sehr harsch.

Unter Einbeziehung des Handels- und Finanzleiters Phodopus Bathurst wurde dann abgestimmt, wie sich das Ministerium an einer Jagd auf die Schlangenmenschen und/oder den Schutz der möglichen Opfer einstimmen konnte. Es galt, erst einmal einen Weg zu finden, diese Wesen zu entdecken und unbeweglich zu machen. Bridgegate schlug vor, die Schlangenmenschen mit magielosen Flugmaschinen zu verfolgen und möglicherweise vom Boden wegzureißen. Da hierfür keine schnellen Feuerstrahlflugzeuge in Frage kamen ging es um Drehflügelapparate, auch Hubschrauber genannt, sowie mit Brennstoffmotoren angetriebene Luftschiffe mit Helium- oder Wasserstoff-Auftriebszellen. Solche Maschinen konnten gemietet werden, mit oder ohne Steuerleute. Das brachte Bathurst schon ziemlich ins schwitzen. Offenbar hielt ihn nur der Gedanke an eine unbeherrschbare Ausbreitung der Schlangenmenschen von einem Veto ab.

"Wenn wir mit solchen Dingern herumfliegen könnten die Schlangenmenschen auch sowas benutzen, zumal die neuen ja aus der magielosenWelt stammen und da mit Motorkraftwagen, Flugmaschinen oder sowas zurechtkommen. Die könnten dann finden, sich mit nichtmagischen Feuerwaffen zur Wehr zu setzen", sagte ein Außendienstmitarbeiter aus Bridgegates Abteilung. Darauf wurde die Frage gestellt, wie umständlich eine Bezauberung der Flugmaschinen mit Schutzzaubern sei, die solche Waffen abwehren konnten und ob das deren Einsetzbarkeit beeinträchtigte. Als feststand, dass nur der direkte Versuch es zeigen konnte ordnete die Ministerin an, zwei dieser Hubschrauber zu bezaubern, sofern es mit deren Besitzern keine Schwierigkeiten gab, diese Maschinen anzumieten.

"Notfalls müssen wir eben alle Maschinen kaufen und die Steuerleute dafür über eine Phantomfirma engagieren und entlohnen", sagte McBane. Bathurst sprang von seinem Stuhl auf und rief in den Saal: "Falls Sie alle sowas erwägen kann ich Ihnen hier und jetzt verbindlich sagen, dass dieses Projekt das Ministerium in die Zahlungsunfähigkeit hineinstürzt. Zahlungsunfähigkeit ist gleich handlungsunfähigkeit, ist gleich Ohnmacht und auch Bedeutungslosigkeit, Ladies and Gentlemen. Wir mögen in Australien ja einen ergiebigen Goldvorrat im Boden haben, müssen uns diesen jedoch bei allem Respekt immer noch mit den nichtmagischen Leuten teilen, und zwar so, dass die nichts davon mitbekommen. Was Sie vorhaben könnte uns in die sehr heikle Lage bringen, den Magielosen vier- bis fünfmal so viel Gold abzuringen als bisher. Abgesehen davon, dass die Kobolde von Gringotts versucht werden, unsere Lage schamlos auszunutzen und uns unerträgliche Konditionen diktieren. Auch das möchten Sie bitte bedenken, bevor Sie hier mit einer Flotte magieloser Flugmaschinen aufkreuzen wollen."

"Danke für Ihren sehr wichtigen Einwand, Phodopus. Bitte setzen Sie sich wieder hin! - Es gilt also, zwischen dem machbaren und dem notwendigen abzuwägen. Erstellen Sie, die sie die nötige Fachkenntnis und Zuständigkeit haben, die möglichen Aufwendungen! Danke!" beschloss die Ministerin die Konferenz.

"Ich beuge mich der Gefahrenlage, die keine weitere Verzögerung erlaubt", knurrte Phodopus Bathurst. "Doch wenn diese Krise überstanden ist werde ich Sie alle, die Sie hier sitzen, einschließlich Ihnen, Frau Zaubereiministerin, mit unausweichlichen Einschränkungen konfrontieren müssen. Soweit von mir an Sie", stieß er noch eine Drohung aus, von der keiner hier wusste, ob sie hilflos oder begründet war. Doch die hier anwesenden Hexen und Zauberer nahmen diese Ankündigung nur zur Kenntnis und verließen auf das Wort der Ministerin hin den Konferenzraum. Auch die Ministerin ging ohne ein weiteres Wort an Bathurst zu verschwenden hinaus.

"Denkt er nicht, ich wüsste nicht, wie viele Tonnen Rohdiamanten Bathurst eingekauft hat und dass er in den letzten Jahren mehr Gold aus der Förderung an den Kobolden vorbei gebunkert hat?" dachte die Ministerin nur für sich, als sie auf dem Weg zurück in ihr Büro war. Dann fragte sie sich, wie viele unschuldige Menschen in der Zeit, wo sie allen die Lage erklären und über Maßnahmen diskutieren musste, zu neuen Schlangenmenschen geworden sein mochten. Im Grunde hatten sie nur Glück gehabt, dass diese junge Frau Lissy Thornhill sich ausgerechnet die Tochter einer Zaubererfamilie ausgeguckt hatte, die wegen ihrer eingeschränkten Zauberfertigkeiten in der magielosen Welt lebte. Nur so wussten sie überhaupt, wer eine neue Schlangenfrau war. Die Artgenossen von ihr konnten unerkannt zwischen den Menschen herumlaufen und auf ihre Gelegenheit warten.

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Vor Lissy Thornhills eigener Wohnung im Nordosten von Perth, fünfzehn Minuten nach der Flucht aus Alice Widewaters Wohnung

Sisufuinkriasha wusste gleich nach ihrer Flucht aus Alices Wohnung, was die Stunde geschlagen hatte. Wenn Alice mit echten Hexen oder Magiern in Verbindung stand und von denen sowohl einen Warn- als auch einen Fluchthilfegegenstand bekommen hatte, dann war sie sicher gerade bei einem von denen und tischte auf, was ihr passiert war. Wenn sich diese Leute auch noch organisierten, womöglich auch über die als Gedankenrufen bezeichnete form der Telepathie verfügten, war das in einer halben Stunde in ganz Australien herum, dass es da eine blattgrüne Schlangenfrau gab. Was würden die dann machen? Richtig, sie würden ihr da auflauern, wo Lissys Freunde oder Verwandte wohnten. Also konnte sie ihren geplanten Besuch bei ihrer Cousine Betsy Landers vergessen. Doch wenn die noch nicht wussten, wen Lissy so gekannt hatte, und Alice hatte von ihr längst nicht alles erzählt bekommen, dann konnte sie wohl schnell weitermachen. Zumindest musste sie klären, dass keiner bei ihr was fand, was verriet, wen sie noch alles kannte.

Sisufuinkriasha hatte mittlerweile Übung darin, unter der Erde zu reisen, sich an den unsichtbaren Kraftlinien entlangzuhangeln, die das Erdmagnetfeld aufbaute. Dann war sie mit mehr als viertausend Metern pro Sekunde quer durch den australischen Kontinent gerast, um in ihre Wahlheimat Perth zu gelangen. Das Gefühl, den Kontinent in nur einer Viertelstunde durchqueren zu können, wo Flugzeuge mindestens vier Stunden brauchten, flößte ihr ein sehr wohliges Überlegenheitsgefühl ein.

Weil sie mittlerweile wusste, wie schwierig es war, unter einer mit Strom- und Gasleitungen, Kanälen und Wasserrohren unterlegten Stadt herumzusuchen glitt sie möglichst nahe an die von ihrem Magnetsinn als richtig erkannte Stelle heran, wo das Appartmenthaus stand, in dem sie eine 40-Quadratmeter-Wohnung gemietet hatte. Ganz langsam, bloß nicht gegen eine der darunter verlaufenden Leitungen stoßend oder aus Versehen in ein Kanalrohr hineinfallend stieg sie nach oben. Sie lauschte auf ihre Umgebung. Sie hörte wieder dieses eintönige Brummen in ihrem Kopf und nahm die sie sehr peinigenden Lebensausstrahlungen von viel zu vielen Menschen war. Sie fühlte keine anderen Kräfte. "Was hast du vor?" wurde sie von Ishgildaria selbst gefragt. "Die Spuren von Lissy Thornhills Leben auslöschen, höchste Einberuferin", schickte sie zurück. "Ja, das ist wohl richtig. Tu es!"

Um nicht von hunderten von Menschen als Außerirdische oder Monster aus der Gruselwelt erkannt zu werden entfuhr sie knapp hundert Meter vom Haus entfernt dem Boden. Der mit Steinplatten ausgelegte Hinterhof bot keinen Widerstand. Sie wollte gerade in die Rückverwandlung zu Lissy Thornhill eintreten, als ihr einfiel, dass sie nichts mehr anhatte und ihre Sachen alle in Alices Wohnung verbrannten. Dann konnte sie auch gleich in der erhabenen Gestalt bleiben und unter dem Haus selbst aus dem Boden fahren und in der erhabenen Gestalt versuchen, direkte Begegnungen zu vermeiden.

"Unsichtbar machen können wir uns nicht, oder?" fragte sie Ishgildaria.

"Mit dieser Gabe hat uns der Erhabene nicht versehen", erwiederte Ishgildaria, der Sisufuinkriasha eine gewisse Verärgerung anhören konnte. Dann musste es eben so gehen.

Innerhalb von zehn Sekunden wechselte Sisufuinkriasha vom Hinterhof durch den Erdboden hinüber zum Appartmenthaus und entstieg dem festen Betonboden im unteren Kellergeschoss. Hier war gerade niemand, sonst hätte sie gleich wen mal eben im vorbeigehen "geküsst". Dann fiel ihr ein, dass sie ja Normalmenschen mit ihrem Blick lähmen konnte. Vielleicht konnte sie auch Leute zu Stein werden lassen, wie die schlangenhaarige Medusa aus den griechischen Sagen. Hmm, gab es die vielleicht sogar auch, wenn's schon Werschlangen und echte Verschwindezauber gab? Egal! Sie eilte die aus Beton geformten Treppenstufen nach oben, weil sie nicht noch einmal in einem aus mit Plastik ausgekleideten Aufzug eingesperrt sein wollte. Überhaupt, dass chemischer Kunststoff sie derartig beeinträchtigte war sehr beunruhigend. Wehe, die eingestaltlichen Normalos kriegten das raus und bauten einen meterdicken Plastikcontainer, um sie oder andere einzubunkern.

Bis zum ersten Stockwerk traf sie keinen Menschen. Sie bewegte sich so leise wie eine Katze, die sich an ein Mäusenest heranschlich und eilte dabei doch mit mindestens der doppelten Laufgeschwindigkeit der früheren Lissy Thornhill aufwärts. Hier wirkte noch die belebende Kraft aus der Erde selbst. So erreichte sie den zweiten und dritten Stock ohne eine Begegnung. Viele der Bewohner waren entweder gerade bei der Arbeit oder beim Mittagessen. Sie widerstand der Versuchung, das in ihrem Kopf klingende Wechselstromgebrumm zurückzudrängen. Zwar wollte da immer wieder was in ihr gegen diese lästige Kraft ankämpfen. Doch sie wusste jetzt, dass dadurch nur ein weiteres Feuer ausbrechen würde. Doch das brauchte sie nicht hier draußen, sondern ausschließlich in ihrer Wohnung.

Als sie auf der vierten Etage von der Treppe trat fühlte sie, wie der hier auf dem Boden ausgelegte PVC-Belag einen Gutteil der Erdkräfte schluckte. Das und das fast unerträglich laute Dröhnen des in den Wänden fließenden Wechselstroms setzten ihrer Selbstsicherheit zu. Dies wurde noch mehr erschüttert, als ihr aufging, dass sie ohne ihren Türschlüssel nicht ohne lauten Krach in ihre Wohnung reingehen konnte. Gut, sie wollte ihre Wohnung ja sowieso unrettbar zerlegen, ja womöglich auch so abbrennen wie die von Alice Widewater. Aber dazu wollte sie zumindest hinein. Im Zweifel konnte sie dann wieder aus einem der Fenster springen.

Angenervt vom Wechselstromgebrumm und dass sie gerade auf einem mit gut abwaschbarem PVC belegten Boden herumlief schlich sie sich zur Tür. Einige Sekunden lang sah sie das Schloss an. Das war aus Metall, nicht aus Plastik. Sicher, ein kurzer Anlauf, Rums, und die Tür war offen. Doch die Leute, die in den Nachbarwohnungen gerade beim Mittagessen saßen würden dann gleich die Köpfe aus den Türen stecken. Wie viele Leute konnte sie auf einmal bannen oder beißen?

"Wie ist die Tür verschlossen?" fragte sie Ishgildaria. Ohne was zurückzudenken berührte Sisufuinkriasha das Türschloss. Ja, das waren zwei Metallarten, womöglich verchromter Stahl. "Halt dich an einer Wand und mit der anderen Hand eine Kralle dahin, wo die Verriegelung die Tür festhält!" wurde ihr über die schlangenmenscheneigene Telepathie mitgegeben. Die blattgrüne Dienerin des Erhabenen gehorchte. Sie drückte ihre linke Hand gegen eine Wand und fühlte sofort das sanfte Kribbeln, das so war wie der in ihrem Kopf brummende Wechselstromton. Konnte sie also Stromleitungen ertasten, wie ein Stromleitungsprüfgerät für Handwerker. Praktisch! Weil ihr das Kribbeln nicht gefiel schob sie ihre Hand noch ein wenig weiter nach unten. Ja, jetzt hatte sie nur noch die hinter Rauhfaser und Putz liegende Betonwand unter der Hand. Ja, sie fühlte die durch das Haus bestehende Verbindung zur Erde und die belebende Kraft. Nun schob sie auf Anraten ihrer obersten Einberuferin einen der krallenartigen Fingernägel ihrer rechten Schuppenhand in die schmale Ritze zwischen Tür und Türrahmen. Sie schaffte es, den Verschluss des Sicherheitsschlosses zu ertasten und die Kralle sogar mit einer ihr völlig unbekannten Geschicklichkeit so zu drehen, dass sie den Schließmechanismus bewegen konnte. Dann ein Ruck und ein unüberhörbarer Klacklaut. Der Schließmechanismus war um eine Stufe zurückgedrückt. Noch ein Ruck, noch ein Klacklaut. Immerhin war das nicht so laut wie das Auftreten der Tür. Beim dritten, nun leisen Klick, drückte sie den Riegel einfach in die Tür und die Tür nach innen. Der Weg war frei. Sie ließ die Wand los und fühlte sofort wieder, dass ihr Kraft verlorenging. Mistiges PVC!

Schnell huschte sie in den Flur ihrer Wohnung und schloss die Tür von innen. Offenbar hatte sie das Schloss kaputtgemacht. Denn die Tür schloss nicht mehr. Das war ihr jetzt auch egal. Sie wollte mit übermenschlicher Geschwindigkeit laufen. Doch wegen des PVC-Bodens hatte sie gerade mal die Kraft eines gewöhnlichen Menschenmädchens. Die Tücken der modernen Technik, erkannte die blattgrüne Schlangenfrau.

In ihrem Appartment erkannte sie, dass die Wände ganz still blieben. Klar, wo sie vor ihrer Reise zum Uluru die hier verbauten Sicherungen rausgedrückt hatte, um bloß nichts angelassen zu haben, was ihre Wohnung abfackeln mochte. Also konnte sie nun völlig entspannt in das kleine Wohnzimmer und das für sie alleine gerade mal ausreichend große Schlafzimmer rein und sehr schnell und gezielt alle Unterlagen und Fotoalben zusammenraffen, die was über Lissys Leben erzählten, von ihrer Kleinkindzeit, die Grundschuljahre, die sieben von ihr meistgehassten Jahre in der Rosemarie-Hazelwood-Akademie für höhere Töchter, die sie als einfaches Arbeiterkind nur auf Grund eines von ihrem Vater mitgemachten Lotteriespiels gekriegt hatte, weil ein exzentrischer Millionär ohne eigene Kinder unbedingt anderen Kindern eine gute Ausbildung zuschanzen wollte und sie das angebliche Glückslos abbekommen hatte. Dann die kurze aber interessante Studienzeit in Melbourne, schön weit weg von den eigenen Eltern, wo sie mindestens drei weitere Sprachen gelernt und ihre ersten Erfahrungen als körperlich aktive Frau gemacht hatte. All das musste verschwinden, für immer vernichtet werden. Sie war froh, dass sie ihre Eltern davon hatte überzeugen können, dass alles sie betreffende auch bei ihr zu sein hatte, also auch Geburtsurkunden und Zeugnisse. Tja, ihr achso gutmeinender Daddy verstand es bis heute nicht, warum seine Tochter, der er doch nur eine bessere Zukunft als sich selbst verschaffen wollte, nach Hazelwood keine Lust mehr auf heile Familie und immer wieder zu den Eltern hinfahren hatte. Irgendso'n Psychoheini hatte ihrer Mutter wohl aufgetischt, dass Lissy wohl wegen in der Schulzeit erlittener Traumata alle diese verursachenden Orte und Begebenheiten mied. Das mochte vielleicht stimmen, dachte Sisufuinkriasha. Schon komisch, dass vielleicht Direktrice Hazelwood, ihre Untergebenenund vor allem die eingebildeten und bösartigen Hühner und Gänse aus Millionärs- und Politikerfamilien ihr das eingebrockt hatten, dass sie nun Sisufuinkriasha war, statt brav in einem Büro als Fachkraft für was auch immer zu schaffen und jeden Monat einmal Mummy und Daddy zu besuchen oder von denen besucht zu werden.

Als sie innerhalb von nur fünf Minuten alle Lissys Leben betreffenden Dokumente und Gegenstände auf einem Haufen zusammengetragen hatte holte sie aus dem fensterlosen Badezimmer noch Reinigungsalkohol und bisher nicht benötigten Nagellackentferner. Aus der Minibar in ihrem Wohnzimmer nahm sie die aus verschiedenen Ländern als Andenken mitgebrachten Spirituosen. Schnell und gründlich kippte sie alle brennbaren Flüssigkeiten über dem aufgeschichteten Stapel aus. Dann öffnete sie das große Wohnzimmerfenster und auch das kleine Schlafzimmerfenster, damit hier gut durchgelüftet wurde. Danach drückte sie eine Sicherung nach der anderen wieder rein. Mit jedem geschlossenen Stromkreis brummte es lauter in den Wänden. Der Kühlschrank in der Küche sprang rumpelnd und dann gleichmäßig brummend an. Jetzt war überall wieder strom.

Sie konzentrierte sich noch mehr. Jetzt übersprang der fließende Strom die zulässige Stärke. Zwar sprangen mit lautem Knall alle Sicherungen heraus. Doch in den Geräten Selbst traten schon Kurzschlüsse auf. Funken flogen durch die Luft, Qualm waberte aus den angeschlossenen Geräten. Ein Funke kam den aufgeschichteten Dokumenten nahe genug, um eine kleine Flamme zu entzünden. Aus der kleinen Flamme wurden innerhalb einer Sekunde zehn, dann hundert, die immer weiter um sich griffen. Es waren keine fünf Sekunden vergangen, da loderte ein helles, heißes Feuer im Wohnzimmer, durch den leichten Durchzug weiter angefacht. Sisufuinkriasha fühltte ein Kribbeln auf ihrer grünen Haut. Machte ihr Hitze was aus? Drachen waren immun gegen jedes Feuer, hieß es in den entsprechenden Geschichten. Die konnten sich gegenseitig nur mit Klauen und Zähnen verletzen. Doch sie war kein Feuerdrache. Zumindest tat ihr der nun durch die Räume wabernde Rauch nichs.

Als die blattgrüne Schlangenfrau sah, wie der ganze von ihr aufgeschichtete Stapel Unterlagen, Fotos und Erinnerungsstücke lichterloh brannte nickte sie dem von ihr beschworenen Feuer zu, sprang durch die den ganzen Raum vereinnahmenden Flammen und flog durch das weit offene Fenster hinaus. Sie ging in eine Fallschirmspringerstellung, um sich beim Aufprall abzurollen. Das ihr dabei Leute aus den unteren Wohnungen zusahen störte sie jetzt nicht mehr. Sollten die doch ihre Geschichten erzählen. Da kam der Boden schon auf sie zu. Sie prallte mit den Füßen darauf und meinte einen Moment, ihr würden gleich die Knochen brechen. Doch dann federte sie zurück wie von einer dick aufgeblasenen Luftmatratze, kam wieder auf und stand sicher. Sofort fühlte sie die belebende Erdkraft in ihren Körper hineinjagen. Sie hörte noch, wie über ihr Fenster aufgingen und wie einer "Feuer!" rief. Und bei dem einen blieb es nicht. Hier hatte sie alles erledigt, was sie noch an Lissys Leben erinnerte. Ihr nächstes Ziel stand fest, heute Nacht würde sie nach sieben Jahren wieder einen Fuß auf das Gelände der Hazelwood-Akademie setzen. Die lag zwar bei Port Lincoln im Süden Australiens, , doch für sie, die mit Überschall durch die Erde rasenkonnte, war das kein Weg mehr.

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Australisches Zaubereiministerium, 15.09.2003, 13:20 Uhr Ortszeit

"Die Adresse hier ist es, Charlie. Dann schicken wir gleich einen Trupp von Leuten hin, alle noch verfügbaren Unterlagen einsammeln", sagte Nigel Bridgegate, als er die beiden Adressen von Lissy Thornhill vorgelegt bekam. Immerhin hatte der Suchvorgang keine Viertelstunde gedauert. Seit der Meldung der Heiler über die Schlangenfrau waren jedoch schon dreißig Minuten vergangen. Sie konnten über Wohl und Wehe entscheiden, wusste Bridgegate.

Vier Außendienstmitarbeiter landeten erst mit einem Portschlüssel zehn Kilometer östlich von Perth. Dann apparierten sie an unterschiedlichen Punkten rund um die Zieladresse. Doch sie kamen offenbar zu spät. Genau auf dem Stockwerk, auf dem Lissys Wohnung lag, schlugen meterlange Flammen durch die Fenster. Feuerwehrleute waren dabei, über Leitern Schläuche nach oben zu verlegen, um das Feuer von außen zu bekämpfen, während wohl auch einige ihrer Kollegen schon von innen her den Flammen zu Leibe rückten.

"Ist das da, wo die Zielperson wohnt. Es brennt in drei Wohnungen auf demselben Stockwerk. Oha, und die darüberliegenden hat es auch schon erwischt. Hoffentlich war da keiner drin."

"Einsatzzielbezogenheit, Leute. Wir wollten hier Unterlagenund sonstige Informationsträger suchen und nicht Feuerwehr spielen", sagte Will Stockton. Darauf meinte Pete Buckley: "Obwohl wir das garantiert besser hinkriegten als die Jungs mit den Schweinerüsselmasken und den langen Schläuchen."

"Ja, aber das müssen wir denen hier nicht aufs Butterbrot schmieren", zischte Stockton. "Hmm, Buckley und Jones, prüfen Sie nach, ob von diesen Gentlemen schon welche in der Zielwohnung sind. Falls ja ziehen wir uns zurück. Wir dürfen und wollen nicht in deren so wichtige Arbeit hineinfuhrwerken."

"Sofern der Brand nicht durch Magie ausbrach", erwiderte Buckley, den es wohl in den Fingern juckte, die ganzen Brände da mit fünf Brandlöschzaubern auszupusten.

"Dann hätten unsere Spürvorrichtungen für Perth das wohl angezeigt", zischte Stockton. Doch so sicher war er sich da nicht.

Buckley und Jones versuchten, sich an das brennende Haus heranzupirschen. Doch da lauerten schon zu viele Schaulustige, abgesehen von der Polizeiabsperrung und den Einsatzleitern der Feuerwehr, welche wohl die Evakuierung der Bewohner überwachten. Wesley Jones, ein drahtiger Bursche, der für diesen Einsatz einen muggelmäßigen Straßenanzug über dem Drachenhautpanzerunterhemd trug, schnappte die vor Aufregung abgehackten Schilderungen zweier Hausbewohner auf, die ein grünes, offenbar außerirdisches Wesen an ihrem Fenster hatten vorbeistürzen und dann völlig unbekümmert auf der Straße hatten landen sehen können.

"Öhm, eine Rauchvergiftung kann zu Halluzinationen führen", sagte einer der Polizisten gerade. Doch weil noch weitere Hausbewohner dieses grüne, fast reptilienartige Geschöpf in die Tiefe stürzen oder springen gesehen hatten kamen die Ordnungshüter nicht darum herum, die Zeugen alle für eine Fortsetzung des Gespräches in verschiedene Wagen zu verfrachten, damit sie sich nicht weiter absprechen konnten. Am Ende war das eine bewusste Irreführung der Polizei, um vom wahren Brandhergang abzulenken.

"Charlie, sind noch Menschen auf dem betreffenden Stockwerk?" fragte einer der Feuerwehrkommandanten in sein Funkgerät.

"Zum Glück keine, Captain Reed", quäkte es zur Antwort. "Aber eine der Wohnungstüren war nur angelehnt und das Schloss ist beschädigt. Wir müssen den Brand noch löschen. Dann können wir mehr sagen."

"Gut, Charlie, Eigenschutz beachten", erwiderte der Einsatzleiter.

"Leute, wir können da nicht rein. Die Feuerwehr ist da gerade drin, sagte Jones. Stockton, der sich hinter einem grauen Abfallbehälter niedergehockt hatte und mit einem unverdächtig kleinen Fernglas hinaufsah meinte: "Ja, das ist genau die Wohnung, wo wir reinwollten. Fünf Feuerbekämpfer sind da gerade mit Löschgeräten zu Gange. Sieht danach aus, als wenn im Wohnzimmer das heftigste Feuer brennt. Ich fürchte, wir sollten erst in einem Tag wieder anrücken, wenn die Wohnung leer ist und wir mit der Rückschaubrille reinschauen können", seufzte Stockton.

"Da wird ein Tag Abstand nicht reichen, Will. Wenn die da oben was merkwürdiges finden wird die Wohnung von der Polizei untersucht."

"Haben wir hier in Perth wen bei den Ordnungshütern?" wollte Stockton wissen. Seine Leute wiegten die Köpfe, als müssten sie die Antwort auf die Frage zurechtrücken. Dann sagte Jones: "Perth? Neh, wüsste keinen oder keine, wer hier für uns die Fäden zu den Polizeileuten in den Händen hält." Stockton sah ihn verdrossen an und fragte, weshalb nicht. "Da müssen Sie unseren Dienstvorgesetzten Mr. Bridgegate fragen, Will", erwiderte Jones. Stockton machte eine missgestimmte Miene, atmete er tief durch.

"Okay, Jungs, wenn hier nichts zu holen ist Rückzug in alle zugeteilten Richtungen. Nachbesprechung in zehn Minuten bei Mr. Bridgegate!" befahl Stockton. Die anderen nickten ihm zu. Zwar wusste jeder hier, dass es überaus wichtig war, mehr über Lissy Thornhill zu wissen. Aber die Kollegen vom Einsatztrupp zwei waren ja schon in Ballarat unterwegs, um Lissys Elternhaus zu besuchen.

Sie kehrten zu der alten Regentonne mit mindestens hundert Löchern zurück, die ihnen als Portschlüssel diente und lösten den Rückkehrzauber aus, um wieder in das tausende von Kilometern entfernte Zaubereiministerium zu kommen.

"Wie kann die so schnell von Sydney nach Perth, ohne zu apparieren?" wollte Buckley als erstes wissen, als sie zur Nachbesprechung im Ministerium zusammenkamen.

"Eddie, Sie sind als Heiler am besten mit der Natur dieser Wesen vertraut. Erklären Sie es bitte dem Kollegen Buckley!" gab Stockton die Frage an Eddie Springfield weiter, der als Außeneinsatzheiler dabei gewesen war.

"Soweit wir von den Vorkommnissen von 1997 und 1998 wissen können die Schlangenmenschen ähnlich wie Kobolde unter der Erdoberfläche dahinjagen. Dabei können sie die Kräfte der Erde wie Atemluft und Nahrung in sich aufsaugen und als Antrieb verwenden. Hierbei erreichten die, von denen wir es sicher wissen, mindestens drei Viertel der in entsprechenden Gesteinsschichten möglichen Geschwindigkeit seismischer Wellen, was dem sieben- bis achtfachen der Schallgeschwindigkeit in der Luft entspricht. Wer mit so einer Geschwindigkeit unterwegs ist kommt in weniger als zwanzig Minuten von Sydney nach Perth, sofern er oder sie keine Umwege nehmen muss. Denn was sie unterirdisch beschleunigen oder abbremsen kann wissen wir nicht zuverlässig. Nur eines wissen wir, geschmolzenes Gestein ist für sie undurchdringlich, ja hält sie an einem Ort fest, wenn sie schlagartig hineingeraten. Das wiederum, so vermutet die Kollegin Herbregis, deutet darauf hin, dass die Schlangenwesen nicht beliebig tief in die Erde eindringen und auch nicht durch die Magmavorräte tätiger oder ruhender Vulkane hindurch können. Der Umstand, dass Zeugen eine grüne, menschenähnliche Kreatur aus einem der Fenster haben springen sehen können deutet darauf hin, dass Lissy Thornhill oder wie sie sich in ihrer neuen Erscheinungsform auch immer nennt, genug Ahnung hat, um unversehrt nach Perth zu reisen."

"Öhm, wie orientieren die sich denn, wenn sie tief unter der Erde entlangsausen?" wollte Jones wissen. Eddie las am Nicken des Einsatzgruppenleiters ab, dass er auch diese Frage beantworten sollte.

"Wir wissen von vielen flug-, Schwimm- und tauchfähigen Zauberwesen und -tieren, dass sie einen natürlichen Sinn für die Magnetfeldlinien der Erde haben. Da Kobolde immer dort hingelangen, wo sie hin wollen, sobald sie eine genaue Adresse haben, steht stark zu vermuten, dass auch sie einen solchen Magnetliniensinn haben. Kann sein, dass die Schlangenkrieger, die ja eine Beziehung zur Elementarkraft Erde haben, ebenso einen solchen Sinn besitzen. Anders lässt sich eine so zielführende Reise ohne Sichtkontakt zum Ziel oder zwischen Ausgangs- und Zielort sichtbaren Landmarken nicht erklären."

"Magnetlinien? Öhm, Die sagen einem aber nicht, wo genau es nach Perth oder Alice Springs oder Brisbane geht", wandte Buckley ein.

"Das nicht. Aber wer sozusagen eine Magnetlinienkarte hat oder sowas im Kopf behält kann sich vor dem Losrasen klarmachen, wie die Feldlinien am Zielort aussehen", erwiderte Stockton. "Außerdem gibt es Wesen, die intuitiv jeden Zielort ansteuern können, auch wenn sie dort noch nie waren, wie die Thestrale zum Beispiel oder die grasgrünen Wächter oder die Wollawangas."

"Gekauft", grummelte Buckley. "Dann konnte die in der Zeit, wo wir noch mit Mrs. Rockridge konferiert haben, locker von Sydney nach Perth durchsausen und da vielleicht ihre eigene Wohnung abfackeln, natürlich mit allen sie betreffenden Unterlagen drin. Dann hoffe ich mal, dass die Kollegen bei den Eltern von ihr mehr Erfolg haben.

"Noch eine Frage", wandte sich Pete Windsloe an Eddie Springfield: "Ist von den Kollegen aus Frankreich oder von denen aus dem alten England herausgefunden worden, warum die Schlangenmenschen gegen verschiedene Zauber immun sind?"

"Aus demselben Grund, warum sie bei Schwächung oder vollständiger Unterbrechung des Kontaktes zur Erde in ihre Menschengestalt zurückverwandelt werden und zumindest im freien Flug verwundet oder getötet werden können, sofern sie nicht in weniger als drei Sekunden nach dem tödlichen Schlag wieder mit der Erde in Berührung kommen", setzte Eddie Springfield an. "Diese Wesen haben wie erwähnt eine besondere Beziehung zur Elementarkraft Erde. Diese gibt ihnen Kraft und hält sie unverwundbar. Zauber, die nicht eindeutig die gleichen Kräfte nutzen fließen um sie herum oder verpuffen beim Auftreffen. Womöglich werden die Angriffszauber wie bei einem Blitzauffangzauber oder einem nichtmagischen Blitzableiter in die Erde abgeleitet und in dieser zerstreut, so dass sie dem Getroffenen selbst nichts anhaben können. Nur eindeutig der Erde verbundene, nicht direkt auf die Körper der Wesen gerichtete Zauber können sie zumindest zurückhalten, wie der Sturmlauf auf die französische Zauberschule Beauxbatons eindrucksvoll bestätigt hat. Wie genau Beauxbatons sich vor den durch die Erde beweglichen Angreifern geschützt hat gehört wohl zum Geheimnisvorrat der Akademie selbst. Unsere Zunftsprecherin hat bereits ein kollegiales Unterstützungsgesuch an die in Beauxbatons tätige Kollegin Rossignol geschickt. Vielleicht kann diese eine Erläuterung der verwendeten Erdzauber erwirken. Doch darauf hoffen sollten wir nicht. Die gegenwärtige Schulleiterin von Beauxbatons könnte bei ihrer Amtseinführung geschworen haben, alle ihr zugehenden Kenntnisse über die Schutz- und Hilfszauber ihrer Schule zu verschweigen, ebenso die dort residente Heilerin. Ich sage das deshalb, weil ich das von der Redrock-Akademie für Magie in ganz Ozeanien mit sicherheit weiß."

"Ja, und weil sie alle direkt auf ihre Körper treffenden Zauber in die Erde umlenken können sie eben nicht mit magischen Fluggeräten hochgehoben werden, sondern von eigenständig flugfähigen Wesen oder von unmagisch angetriebenen und in der Luft gehaltenen Fluggeräten", grummelte Bridgegate. Alle nickten.

Eine Viertelstunde später erfuhren alle in die Bewältigung dieser Gefahrenlage einbezogenen Hexen und Zauberer, dass Lissy Thornhills Eltern vor drei Wochen mit irgendwelchen Bekannten verreist waren, aber kein Nachbar wusste, wohin und für wie lange genau. Irgendeiner hatte was von einem indischen Guru behauptet, dem sich Mrs. Thornhill anvertraut haben sollte.

"Das fehlte noch, dass die Eltern von der erkannten Schlangenfrau in eine vom Rest der Welt abgeschirmten Meditationsgruppe verschwunden sind", knurrte Nigel Bridgegate. Obwohl die meisten Muggel nicht an Magie glaubten wendeten sich doch einige von denen obskuren Heilslehren zu, opferten dafür ihren materiellen Besitz und ihre Freiheiten. Das Phänomen gab es in unangenehmer Form auch in der Zaubererwelt. Leute, die ernsthaft an alte Götter oder seit Urzeiten existierende Geisterwesen glaubten und sich deren Gunst erwerben wollten, ob im guten, und dann sehr übereifrig, oder im bösen mit zerstörerischen Mitteln.

"Öhm, und in der Wohnung von den Eltern war kein Hinweis auf ihre Tochter, Geburtsdokumente, unmagische Fotos, Videoaufnahmen oder sowas?" wollte Bridgegate wissen. Die von ihm losgeschickten Mitarbeiter schüttelten die Köpfe. "Es sah bei denen echt so aus, als hätten die nie eine Tochter gehabt, abgesehen von einem Zimmer, in dem wohl mal ein junges Mädchen gewohnt haben könnte."

"Mit anderen Worten, wir wissennicht, wen sie als nächstes heimsuchen wird, richtig?"

"Unser Computerbändiger ist schon dran, nach Spuren von ihr zu suchen und dabei auch nichtöffentliche Einträge zu finden, Strafakten, Studienbelege, digitale Bilder, Sir", sagte Hannah Watkins, die selbst von nichtmagischen Eltern abstammte.

"Will sagen, der Glücksfaktor, dass diese Lissy Thornhill sich ausgerechnet Alice Widewater ausgesucht hat, ist gerade wieder zunichte gemacht, weil wir absolut nicht wissen, mit wem diese bedauernswerte junge Dame sonst noch bekannt war", grummelte Bridgegate.

"Benson ist dran, Sir", versuchte ihn Hannah Watkins zu beschwichtigen.

"Da kann ich auch gleich meine Frau fragen, die hat auch so'n Rechner bei uns zu Hause", grummelte Nigel Bridgegate.

"Mit Arkanetausstattung, Sir?" fragte Hannah Watkins. Er schüttelte den Kopf. Da seine Frau trotz ihrer Abstammung von nichtmagischen Eltern nicht im Zaubereiministerium anfangen wollte und lieber für Mansio Magica Veröffentlichungen über die nichtmagische Technologie rezensierte und korrigierte hatte sie keinen dieser ominösen Arkanetzugänge, mit denen Rechner unbemerkt durch fremde Datenspeicher wühlen und sich ebenso unbemerkt untereinander austauschen konnten. Und vor allem jetzt, wo die Geburt von Zwillingen anstand, wollte er sie garantiert nicht mit einer derartig brisanten Nachfrage belasten. Nein, das mussten seine direkten Mitarbeiter selbst erledigen. Hoffentlich schafften sie es, die Spur der grünen Schlangenfrau wieder aufzunehmen, bevor sie erneut zuschlug.

"Gestatten Sie mir bitte noch eine Frage", wandte sich Stockton an seinen Dienstvorgesetzten. Dieser nickte. "Wieso haben wir keinen Vermittler bei den Gesetzeshütern in Perth?" stellte Stockton seine Frage.

"Aus drei Gründen", setzte Bridgegate zu seiner Antwort an. "Zum ersten bewilligt uns die Finanzabteilung gerade einmal zehn Innen- und dreißig Außendienstmitarbeiter, weil wir angeblich nur magische Unfälle korrigieren oder die Bewegung nicht ganz zu verbergender Zauberwesen von einem zum anderen Ort mit den nichtmagischen Verwaltungsorganen abzustimmen haben. Zweitens ist unser Büro auch bei den Anwärtern mit nichtmagischen Wurzeln eher zweite oder dritte Wahl, weil die anderen Abteilungen mehr Auslastung und Bezahlung verheißen, weshalb wir die bei uns tätigen nicht in dauerhafte Außenposten versetzen können. Drittens wird der Bedarf an Vermittlern an die Anzahl magischer Menschen im Einzugsbereich gekoppelt. Auf zehntausend Leute ohne magische Begabung muss mindestens eine Hexe oder ein Zauberer kommen, um die Postierung eines direkten Überwachers und Vermittlers zu gerechtfertigen. Derzeit liegen die magischen Siedlungen außerhalb der großen Städte, mit Ausnahme von Sydney, Melbourne, Adelaide, Canberra und Alice Springs. Letzterer Ort ist deshalb wichtig, weil er nicht weit vom Uluru entfernt liegt und damit im Interesse der magisch begabten Ureinwohner ist. In Perth wohnt derzeitig keine Hexe und kein Zauberer."

"Dann haben wir wohl demnächst einige Schwierigkeiten, wenn da, wo keiner von uns wohnt, magische Unwesen herumlaufen, Sir", erwiderte Stockton. Bridgegate nickte verdrossen und fragte zurück: "Ja, und was gibt es neues?" Allen hier war klar, dass es sehr schwer werden würde, schnellstmöglich auf Sichtungen und Übergriffe der Schlangenmenschen zu reagieren.

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Im Haus von Lavinia Benchwood, 15.09.2003, 15:30 Uhr Ortszeit

Mittlerweile waren auch Alice Widewaters Eltern im Haus ihrer Großtante eingetroffen. Ebenso hatte sich die Heilzunftsprecherin Laura Morehead wieder dazugesellt, nachdem sie wohl der Zaubereiministerin und anderen wichtigen Leuten Alices unheimliche Begegnung mit der verwandelten Lissy Thornhill erzählt hatte. Sie sprachen über die Bedeutung dieses Vorfalls und dass es womöglich schon viele dieser Kreaturen mehr gab, die unterwegs waren, um arglose Leute zu ihresgleichen zu machen, wie es die Mondbrüder oder die Anhänger der selbsternannten schlafenden Göttin vorhatten. "Jedenfalls denke ich, dass du besser nicht mehr in dein Haus in Sydney zurückkehrst, bis wir geklärt haben, ob du in dem Feuer gestorben bist oder nicht", sagte Laura Morehead. "Ich habe mir übrigens überlegt, dir, Alice, ein Angebot zu machen, von dem ich vor fünf Jahren noch nicht wusste, dass es möglich ist. Amanda, Ronin, würdet ihr uns beide bitte mal alleine lassen, damit Alice mein Angebot hörenund frei von Blicken oder Einwänden entscheiden kann, ob sie es annimmt?" wandte sich Laura an die Widewaters. Diese tauschten verunsicherte Blicke aus. Dann winkte Lavinia ihrer Nichte und ihrem Schwiegerneffen zu und deutete auf die Wohnzimmertür. Alices Eltern nickten und verließen mit der Heilerin das Wohnzimmer.

Als sie durch die Tür waren baute Laura Morehead einen Klangkerker auf und sprach ganz ruhig zu Alice. Was sie ihr anbot klang so unglaublich, selbst dafür, dass in der magischen Welt fast nichts unmöglich war. Doch dass Alice nun fünf Jahre nach dem vorzeitigen Abschied aus Redrock doch noch eine vollwertige Hexe werden könnte war so abgedreht. Doch als Laura ihr genau beschrieb, dass es bei mittlerweile drei Fällen zu einer nachgeburtlichen Magieerweckung bei vorher eindeutig unmagischen Menschen gekommen war, ohne deren Namen zu nennen, begriff Alice, warum ihre Eltern das nicht mitbekommen sollten. Denn wenn sie sich entschied, sich auf das Angebot der Heilhexen einzulassen, könnte sie wieder ganz in die Zaubererwelt zurückkehren, die ZAGs und UTZs nachholen und dann was für sie sicher einträglicheres machen als was sie in der Muggelwelt gemacht hatte. Entschied sie sich jedoch dagegen, weil sie mittlerweile mit diesem Leben in der Muggelwelt gut zurechtkam und da ja auch neue Freundinnen und Freunde hatte, mussten ihre Eltern nicht wissen, dass es diese Möglichkeit gab. Allerdings fragte Alice, zu welchen Bedingungen sie dieses Angebot bekam.

"Aus dem ganz einfachen Grund, dass ich sehr viel von deiner Großtante Lavinia halte und möchte, dass jemand sie in welcher Weise auch immer nach deinen Eltern würdig vertreten kann, wo sie selbst nur einen Sohn hat. Du wärest der Kollegin Sunnydale zwar in gewisser weise körperlich verbunden, aber ich denke, sie wird auf jeden Anspruch verzichten, der sich daraus ergibt, abgesehen davon, dass du alles nachholst, was sie dir in Redrock nicht beibringen konnten oder wollten. Aber die Theorie hast du ja gut gelernt, und in Kräuterkunde warst du dort ja auch immer sehr herausragend. Also, du hast die Wahl, nimm an oder lass es!"

"So singt Kylie Minogue", entschlüpfte es Alice Widewater.

"Diese Sängerin ist mir nicht bekannt", erwiderte Laura Morehead. Dann sah sie, wie Alice sich straffte und dabei sehr vorfreudig lächelte. "Sagen Sie Ihrer Kollegin Alma Sunnydale bitte, dass ich ihr angebot annehme", sagte Alice Widewater laut und deutlich.

Zehn Minuten später traf eine hellblonde Hexe im wasserblauen Umhang ein. Sie war vom Aussehen her nur zwanzig Jahre älter als Alice Widewater. Diese dachte nur daran, dass die Hexe mit den wachen, hellbraunen Augen schon fünf Kinder zur Welt gebracht hatte. Alices Eltern fragten die hinzugekommene Heilerin, was genau sie tun würde. Diese sah Alice an und meinte, dass nur ihr das erlaubt sei, es ihren Eltern mitzuteilen, da sie bei der angesetzten Magieaufbesserungsbehandlung nicht sterben würde und die Eltern somit nicht das Recht der zu unterrichtenden Angehörigen in Anspruch nehmen dürften. Alice nahm den gespielten Quaffel dankbar an und sagte: "Wenn ich in einer halben Stunde nicht wieder aus Tante Vinnys Arbeitszimmer komme möchte Heilerin Sunnydale es euch erzählen, nur dann." Alices Eltern sahen erst sie und dann einander an. Doch dann nickten sie beide einverstanden.

Als das Arbeitszimmer von Großtante Lavinia mit dem zeitweiligen Klangkerkerlicht ausgekleidet war sprach Heilerin Sunnydale mit Alice über das Vorgehen. "Ich kann mir vorstellen, dass die gute Laura Morehead oder Ihre Großtante Lavinia dieses Ritual gerne selbst durchgeführt hätten. Aber aus einem bis heute nicht erkannten Grund kann es nur von Hexen ausgeführt werden, die mindestens vier Kinder geboren haben. Ich selbst brachte zwei Söhne und drei Töchter auf die Welt, von denen die jüngste vor einem Jahr die ZAG-Prüfungen gemacht hat. Natürlich kenne ich das Ritual aus meinen Ausbildungsjahren und weiß auch, dass es in den letzten Jahren mehrere nachgeburtliche Erweckungen von Nichtmagiern zu vollwertigen Hexen und Zauberern gab, auch wenn hierbei klar erwähnt werden muss, dass diese drei Personen bereits ein knapp unter der Wirksamkeitsschwelle liegendes Grundpotenzial aufwiesen. Da Ihr Potenzial bereits hoch genug ist, um wenn auch sehr mühsam die einfachsten Zauber zu wirken besteht also eine an die hundert Prozent reichende Wahrscheinlichkeit, dass Sie nach der gemeinsamen Ausführung des Rituals voll und dauerhaft wirksame Zauberkräfte entfalten können, Ms. Widewater."

Alice sah auf den wasserblauen Umhang der Hexe, besonders dort, wo er die Körpermitte überdeckte. "Und ich muss meine nackten Füße in Ihren Schoß legen, als wenn ich einer Art umgekehrten Geburtsvorgang erleben will?" fragte Alice die hinzugezogene Heilerin. Diese nickte bestätigend. "Die Quelle menschlichen Lebens verbunden mit der großen Fähigkeit des Menschen, aufrecht zu gehen ist der körperliche Bestandteil dieses Rituals. Rein geistig und gefühlsmäßig muss ich mich darauf einlassen, etwas von meiner Lebenskraft auf sie zu übertragen und Sie bereit sein, diese zu empfangen."

"Dann hätte meine Großtante mütterlicherseits das auch machen können?" fragte Alice Widewater. Alma Sunnydale schüttelte den Kopf. "Es wird auf Grund von Vorkommnissen aus früheren Jahrhunderten dringend empfohlen, dass die beiden am Ritual beteiligten nicht zu nahe Blutsverwandt sein dürfen. Ein Zauberer, der sich von seiner Schwester auf diese Weise hat helfen lassen, wurde durch ihre Hingabe nicht nur bestärkt, sondern derartig verjüngt, dass er tatsächlich eine Umkehrung des Geburtsvorgangs erleben und von seiner eigenen Schwester neu zur Welt gebracht werden musste. Das kann bei uns beiden nicht eintreten, da wir nicht miteinander Blutsverwandt sind." Alice sah die Heilerin einen Moment verunsichert an. Wollte sie es wirklich wagen? Doch dann gab sie sich einen Ruck und sagte, dass sie ihre Entscheidung aufrechthielt.

Die nächsten Minuten vollzogen Alma Sunnydale und Alice Widewater das Ritual, bei dem die Heilerin zwölfmal die Worte "Vita mea Vita tua", aussprach. Bei jeder Wiederholung fühlte Alice, wie ein belebender Wärmestrom immer weiter in ihrem Körper hinaufstieg und sich dann durch Kopf und Arme in alle Fasern ihres Körpers ausbreitete. Dann war es überstanden. Alice war nicht zum Säugling oder gar zur Ungeborenen zurückverjüngt worden. Sie fühlte sich wach und stark, als habe sie einen großen Schluck Wachhaltetrank getrunken.

Nachdem sie beide sich wieder öffentlichkeitstauglich bekleidet hatten öffnete Alice die Tür und beendete damit den Klangkerkerzauber. "Mum, Dad, Tante Vinny, Madam Morehead, mich gibt es noch", sagte sie mit einem erfreuten Lächeln im Gesicht.

"Dann müssen wir noch den Unterschied im magischen Ruhepotenzial messen", sagte Laura Morehead. "Vorher war es was mit 0,42 oder sowas", erwiderte Alice. Da gerade drei Heilerinnen hier waren konnten auch drei Heilerinnen mit ihren jeweiligen Ruhekraftmessgeräten prüfen, ob das Ritual die gewünschte Wirkung zeigte. Eine Minute Später stand fest, dass Alice Widewater ein magisches Ruhepotential von 0,89 hatte und somit regelmäßig ausführbare Zauberkräfte besaß. Das prüfte Alices Mutter nach, indem sie ihrer Tochter ihren eigenen Eukalyptuszauberstab in die Hand drückte. Alice schwang diesen einige Male und fühlte wahrhaftig eine Wechselwirkung. Dann sagte sie "Lumos Maxima!" Unverzüglich glomm ein sehr helles Licht an der Spitze des Zauberstabes. "Nox!" wisperte Alice. Das Licht erlosch. Dann versuchte sie den Schwebezauber auf einen der Untersetzer auf Tante Lavinias Tisch. Schon nach dem zweiten mal gelang es ihr, den Untersetzer kerzengerade bis zur Decke steigen zu lassen.

"Das hast du mit deinem eigenen Zauberstab erst im zweiten Jahr hinbekommen, und dann nur sehr schwerfällig", wusste Alices Vater, der im Moment so aussah, als wisse er nicht, was er jetzt davon halten sollte, dass seine Tochter nun doch eine ganze Hexe war. Ganz sicher dachte er an die vergebenen Jahre, die Alice nicht mit ihren Schulkameradinnen mithalten konnte. Denn er fragte: "Warum jetzt erst, Madam Morehead, Tante Lavinia? Was immer Sie mit Alice durchgezogen haben, warum jetzt erst und nicht schon bei ihrer Einschulung?"

"Weil wir es erst seit wenigen Jahren wissen, dass sowas geht, aber auch, dass es eben nicht bei jedem geht. Da mussten erst bestimmte Vergleichsuntersuchungen laufen", sagte Laura Morehead.

"Ja, und das bleibt jetzt so, oder muss was auch immer jetzt regelmäßig wiederholt werden?" wollte Alices Mutter Amanda wissen.

"Wenn Alice jetzt regelmäßig übt und sich dabei steigert nicht. Denn dann steigert sich auch das Ruhepotential, genauso wie beim Laufen oder Schwimmen."

"Und Sie möchten uns nicht verraten, wie genau Sie das geschafft haben?" fragte Alices Vater. Alma Sunnydale deutete auf Alice und sagte: "Dieses Vorgehen geschah in einer Heilerin-Patientin-Beziehung. Ob und was Alice darüber erzählen möchte überlasse ich ihr. Mir war nur wichtig, dass sie frei von äußeren Anstößen oder Einwänden entschied, ob sie sich darauf einlässt oder nicht. Hätte sie abgelehnt, hätte ich dies akzeptiert, und für sie hätte sich nichts geändert." Darauf ergänzte Laura Morehead: "Außer, dass sie womöglich in eine andere Stadt hätte ziehen müssen, wo sie keiner kennt, weil die Sache mit dieser Schlangenfrau ein heftiges Bebenin der Zaubererwelt verursacht hat und sicher noch das eine oder andere schwere Beben hervorrufen mag."

"Ich bedanke mich bei Ihnen, Heilerin Sunnydale und auch Großheilerin Morehead und hoffe, dass ich den damit in mich gesetzten Ansprüchen gerecht werde", sagte Alice und sah dann ihre Eltern an. "Für euch ist nur wichtig, dass ich von heute an alles nachhole, was ich versäumt habe. Heilerin Sunnydale hat mir erklärt, dass es bei den Heilern eine häufig bewährte Wiedereingliederungs- oder Wiedererstarkungstherapie gibt, wo durch böse Zauber, Krankheiten oder Unfälle geschwächte Zauberkräfte wieder eingeübt werden können. Ich werde dieses Angebot wahrnehmen."

"Ja, und die ganzen Muggels, mit denen du befreundet bist? Wenn du jetzt vollständig zaubern kannst werden die vielleicht was davon mitkriegen", wandte Alices Vater ein.

"Es gibt so viele Hexenund Zauberer, die zwischen Nichtmagiern wohnen und mit welchen befreundet sind, Ronin, sagte Lavinia Benchwood ihrem Schwiegerneffen zugewandt. "Sie kann aber jetzt aussuchen, ob sie in einer Zauberersiedlung arbeiten will oder das weitermacht, was sie außerhalb von Redrock gelernt hat. Ich würde jedoch rein gefühlsmäßig anraten, deinen ehemaligen Mitschülerinnen und Mitschülern in Redrock nicht aufs Brot zu schmieren, dass du weit nach deiner Volljährigkeit doch noch vollständige Zauberkräfte bekommen hast. Die Shadelaker blasen immer noch die selbe düstere Melodie auf den dunklen Didgeredoos, dass es keine echten Muggelweltgeborenen Zauberer und Hexen gibt und alle, die trotz nichtmagischer Eltern zaubern konnten es durch Diebstahl von anderen Hexen und Zauberern geschafft haben, selbst wenn der eine ganz konkrete Fall, der nach dem Ende der Schlangenmenschenplage in Frankreich in den Zeitungen erwähnt wurde, einer ausreichend großen Öffentlichkeit bekannt ist. Aber Verleumdungen und üble Gerüchte sind wie Unkraut. Egal wie oft es ausgerissen wird kommt es doch immer wieder durch."

"Da ist was dran", grummelte Alice Widewater. Sie konnte sich noch zu gut an Malvine Hailcloud erinnern, die im Haus Shadelake von Redrock gewohnt hatte und es immer und immer wieder genossen hatte, Alice wegen ihrer fast nicht vorhandenen Zauberkräfte dumm anzusprechen. Doch seitdem Perdita Shadelake und ihr Bruder Grendel vor neun Jahren einem grausamen Vergeltungsakt zum Opfer gefallen waren hielten sich die Anhänger der Familie Shadelake sehr bedeckt.

"Es dürfte schwierig sein, meinen Freunden aus der nichtmagischen Welt zu erklären, warum ich jetzt an die zwei Jahre eine Fortbildung mache, über die ich keinem was erzählen darf", sagte Alice nach einigen Sekunden nachdenklichen Schweigens. Dann sagte sie: "Vielleicht können wir es so drehen, dass ich mit Leuten aneinandergeraten bin, die mich und meine Familie gerne umbringen würden und ich deshalb von der Polizei in ein sogenanntes Zeugenschutzprogramm übernommen wurde, was heißt, dass ich weit außerhalb meines bisherigen Wohngebietes unter ganz neuem Namen weiterleben soll." Lavinia Benchwood und Laura Morehead tauschten einen fragenden Blick aus. Dann sagte Alices Vater Ronin: "Stimmt, sowas ähnliches haben wir bei der Strafverfolgungsabteilung auch schon einige male gemacht, wenn jemand wem dunkles auf die Füße getreten ist und für unbestimmte Zeit unsichtbar und unauffindbar bleiben musste. Bei den Muggeln geht das ja insofern einfacher, dass wir da Gedächtniszauber anwenden dürfen und Unterlagen von denen problemlos umändern können."

"Gut, da ich in dem fall die behandelnde Heilerin bin bitte ich nur darum, über das genaue Vorhaben und dessen Umsetzung und Ausgang informiert zu werden", merkte Alma Sunnydale an und bekam ein Nicken von ihrer Vorgesetzten Morehead. Diese wandte sich an Alices Großtante und sagte: "Lavinia, ich denke, da kann ich dir vertrauen." Lavinia Benchwood nickte bestätigend.

"Es geht ja im Grunde damitt los, ob du zur Zeit des Brandes zu Hause warst oder nicht. Falls ja, könnten wir es so hinstellen, dass du nicht überlebt hast. Falls nicht ist das der Aufhänger, um eine Verfolgungsgeschichte zu konstruieren, dass du großes Glück hattest, beim Anschlag auf deine Wohnung gerade woanders gewesen zu sein. Abgesehen davon müssen wir ja auch das Auftauchen dieser grünen Schlangenfrau verbergen, bevor da noch wer von die Welt bedrohenden oder gar schon beherrschenden Reptiloiden Außerirdischen faselt", meinte Ronin Widewater.

"Ronin, ich hoffe für uns alle, dass wir nicht in nächster Zukunft genau in diese Lage geraten, dass diese Schlangenbiester die Weltherrschaft übernehmen. In Menschengestalt können sie genauso unauffällig herumlaufen und handeln wie Werwölfe", antwortete Lavinia. Ronin Widewater verzog das Gesicht und schnarrte: "Für 'ne Heilerin haust du aber sehr gern in bereits schmerzende Wunden rein, Tante Lavinia. Was meinst du, was gerade bei uns im Ministerium los ist. McBane hat mit den oberen der Zauberwesen, Muggelverbindung und anderen einen Sonderstab gegründet. Noch dürfen die anderen von uns nicht wissen, dass es diese Schlangenbrut hier bei uns gibt. Aber wenn so ein Monster in einer Zauberersiedlung auftaucht fliegt der Deckel von Klingsors schwarzem Höllenkessel."

"Ja, und genau deshalb gemahne ich, dass wir aufpassen müssen, nicht von diesen Schlangenkreaturen unterworfen zu werden. Dass sich die Vampire jetzt was auf ihre Abgöttin einbilden, nachdem in London und anderswo Leute die echt gesehen haben wollen oder die Machenschaften von Vita Magica uns an den Rand des totalen Misstrauens getrieben haben ist schon mehr als genug." Das sah Lavinias Schwiegerneffe ein.

So sprachen sie noch darüber, wie Alices Wiedereingliederung in die Zaubererwelt für beide Zivilisationen so lautlos und ungestört wie möglich vollzogen werden konnte. Alice war jedenfalls froh, dass sie wieder dazugehören durfte. Denn als Squib war sie eine bemitleidete Unfähige gewesen und für die Muggel war sie trotz aller Bildung eine, die irgendwie nicht so recht dazugehörte. Sicher, sie hatte hier und heute etwas sehr bedrohliches erlebt. Doch ohne das wäre womöglich keiner darauf gekommen, ihre unzureichenden Zauberkräfte zu verstärken, damit sie sie ganz ausnutzen konnte. Manchmal entspross der bösen Tat doch was gutes, auch wenn die Lehrer in Redrock das immer anders sahen. Doch das wollte Alice nicht laut sagen, wo ihr Vater dabei war, der tagtäglich mit bösen Taten und deren Folgen zu tun hatte.

"Ich habe euch ja von diesem Krisenstab erzählt, den Rockridge mit McBane, Flatfoot und Bridgegate gebildet hat, deshalb muss ich mich bereithalten, um bei Außeneinsätzen mitzumachen", sagte Ronin Widewater. Darauf erwiderte seine Schwiegertante: "Dann sieh zu, dass du nicht in den Bann der suggestiven Augen dieser Schlangenmenschen gerätst und auch nicht von ihnen gebissen wirst, Ronin. Oder stell sicher, dass du unmittelbar nach der Vergiftung an einen frei auf dem Wasser schwimmenden Ort versetzt wirst. Denn soweit wir wissen können diese Wesen nur dort ihre ganze Macht aufwenden, wo sie mit festem Erdboden in Berührung stehen."

"Danke für den Rat, Tante Lavinia", sagte Ronin Widewater. "Ich hoffe nur, ich kann dann noch disapparieren, wenn mich so ein Ungeheuer angebissen hat." Amanda und Alice Widewater sahen ihren Verwandten sichtlich beklommen an. Doch sie wagten nicht, irgendwas darauf zu antworten.

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Auf dem Gelände der Rosemarie-Hazelwood-Akademie für höhere Töchter nordöstlich von Port Lincoln, Südaustralien, 15.09.2003, 21:58 Uhr Ortszeit

Professor Rebecca Hazelwood, in Dritter Generation Leiterin der renommierten Oberschule für höhere Töchter Australiens, tippte gerade die Tageszusammenfassung in ihren Rechner, ihr Computerlogbuch, wie es die junge, etwas zu nachsichtige Untergebene Claudia Watson mal genannt hatte, als sie bei einer Lehrerinnenkonferenz erwähnt hatte, dass sie alle beachtenswerten Vorkommnisse eines Tages niederschrieb, um falls nötig damit argumentieren zu können, falls ein Elternpaar mal wieder meinte, das eigene Kind sei falsch behandelt worden.

Sie beendete den für heute geltenden Eintrag mit den Worten:

Es steht zu befürchten, dass ich mit den Eltern der Erstklässlerin Laura Rutherford noch einmal gesondert verhandeln muss, ob ihre Tochter den hier geltenden Anforderungen was Lernstoff und Disziplin angeht wirklich gewachsen ist. Ich werde es auf jeden Fall nicht mehr länger dulden, dass dieses Mädchen die Richtigkeit von Anweisungen hinterfragt oder nach ihrem Gutdünken auslegt. Das könnte einen abträglichen Einfluss auf ihre Mitschülerinnen und daraus resultierende Konflikte verursachen.

Ende des Eintrages

Sie beendete die Sitzung durch Abmelden von ihrem Benutzerkonto und fuhr den Rechner herunter. Was war das vor zehn Jahren für ein Akt, als sie sich mit diesem neumodischenund die Jugend verderbenden Zeug vertraut machen musste, weil ohne diese Dinger und dieses die Welt überwuchernde Internet angeblich nichts mehr ging. Ihre eigene Tochter Ruth hatte ihr schon erzählt, was da so alles möglich war. Viel zu viel Wissen für alle, auch die, die nicht genug Selbstbeherrschung und Kenntnis hatten, damit richtig umzugehen. Freiheiten, die die nicht in schützenden Umgebungen wie der Hazelwood-Akademie heranwachsenden Jugendlichen die Sinne verwirrten und Begehrlichkeiten weckten, die unstatthaft waren oder noch schlimmer, sie selbst zu Objekten unstatthafter Ansinnen machten. Da mussten sie und Ihre Kolleginnen gegenhalten, auch auf die altbekannte Gefahr hin, dass Warnungen und Verbote erst recht zur verbotenen Tat verführten, wie es Homers Illias verdeutlicht hatte.

Sie lauschte, ob noch welche von den Schülerinnen draußen herumliefen oder ob ihre Hausmütter sie alle rechtzeitig in die zugewiesenen Häuser zurückgeholt hatten. Gleich würde die schuleigene Turmuhr zehn schlagen, dann hatten alle in ihren Häusern zu sein. Die jüngsten Mädchen sollten dann auch bettfertig auf ihren Zimmern sein und die Oberstuflerinnen sollten bis elf sicherstellen, dass auch alles wohlgeordnet war.

Einer der wenigen wirklichen Vorzüge ihres Postens war es, dass ihr Arbeitszimmer im zweithöchsten Stockwerk des Turms des Wissens lag und sie aus vier Fenstern über das ihr unterstellte Schulgelände blicken konnte. Zehn Meter weiter oben tickte und rasselte die Uhr, die laut genug war, jedem die Stunde zu verkünden und leise genug, nicht weiter als eine Meile gehört zu werden. Direktrice Hazelwood prüfte die Wanduhr, die durch ein Funksignal ferngestellt wurde und somit angeblich immer die offizielle Zeit anzeigte. Ihre Schwägerin hatte ihr dazu geraten, so eine Uhr im Haus zu haben, falls die altehrwürdige Turmuhr doch mal den Dienst versagen würde. Es fehlten noch zwanzig Sekunden bis zur vollen Stunde.

Als der Sekundenzeiger die Zwölf berührte schlug die mittelhohe Stundenglocke zehn mal unüberhörbar. Wer jetzt nicht im zugewiesenenHaus war riskierte zwanzig Minuspunkte und einen vor allen Schülerinnen erfolgenden Tadel von der Direktrice bei der allschultäglichen Morgenversammlung.

Professor Hazelwood wollte gerade ihr höchst eigenes Abendritual beginnen, erst eine Stunde lesen, um vom anstrengenden Tag abzuschalten, dann in ihre Dienstwohnung hinuntersteigen, sichin Ruhe waschen, zur Nacht kleiden und dann um elf uhr, wenn die Turmuhr das letzte mal bis sechs Uhr morgens schlug, schlafen gehen.

Sie zog die Vorhänge vor die vier Aussichtsfenster. Da hörte sie es.

Es war, als wäre ein sachter Wind durch die unteren Turmräume gestrichen. Bei der gerade vorherrschenden Stille war das schon bemerkenswert. Dann vernahm die Direktrice ein regelmäßiges Patschen, als wenn jemand mit bloßen Händen an die Wand klopfte oder barfuß die Treppen heraufstieg. Ja, das genau war es. Jemand kam barfuß die Treppen zu ihr hoch. Doch um die Zeit durfte niemand im Turm sein. Sie selbst hatte um halb zehn alle Zugänge von innen verschlossen, nachdem die Zutrittszeit zur Schulbücherei abgelaufen war. Hatte sich trotz der üblichen Kontrolle doch wer in der Bücherei versteckt, um ihr einen Streich zu spielen? Das würde derjenigen aber sehr übel bekommen. Denn das war ein Verstoß gegen gleich vier Kardinalregeln dieser Lehranstalt: Nach der erlaubten Zeit in der Bibliothek sein, sich nicht auf eindeutige Rufe nach Anwesenheit zu melden, die Privatsphäre der Schulleiterin stören und nach der vorgeschriebenen Uhrzeit außerhalb des zugewiesenen Hauses zu sein. Und wenn es eine ihrer Kolleginnen war? Dann galt dasselbe wie für eine missfällige Schülerin: Schriftliche Abmahnung mit Aussicht auf fristlose Entlassung bei neuerlichem groben Fehlverhalten.

Das Patschen nackter Füße klang immer lauter. Wer immer das war, sie würde ihr entschlossen entgegentreten und sie hier und jetzt zurechtweisen.

Rebecca Hazelwood öffnete leise die neben dem kleinen Nordseitenfenster in der Wand verbaute Tür, die sie notfalls auch von innen absperren konnte. Einen winzigen Moment dachte sie, ob sie nicht genau dies tun sollte, statt hinauszugehen und nachzusehen, wer da zu ihr hinaufkam. Doch ihre Autorität verlangte, den Vorfall zu klären und zu ahnden.

Sie verharrte noch einige Sekunden, bis sie ganz sicher war, dass die unerlaubt im Treppenhaus herumlaufende Person weit genug zu ihr hinaufgestiegen war. Dann schaltete sie die Treppenhausbeleuchtung an. Und was sie dann sah verschlug ihr den Atem.

Da stand eine noch junge Frau, die Rebecca Hazelwood noch in Jahrzehnten erkennen würde. Sie stand auf der Treppe und blinzelte im Licht der plötzlich aufleuchtenden Treppenhausbeleuchtung. Sie stand da und hatte nichts am Leib, keinen Fetzen Stoff, keinen Schuh, nichts. Sie sah die direktrice mit spöttischen Augen an und grinste überlegen.

"Na, werte Professor Hazelwood, Tochter der Regina Hazelwood, Tochter der ewig bedankten Rosemarie Hazelwood? Gegen wie viele Regeln habe ich gerade verstoßen?"

"Wie kommen Sie hier herein, Thornhill? Was fällt Ihnen ein, sich Zugang zu meinen Räumen zu verschaffen?" presste die Schulleiterin der Hazelwood-Akademie hervor. Ihre ganze Autorität, ihre Besonnenheit, ja allem hier überlegene Art kämpfte mit der Erschütterung, dass hier eine nackte junge Frau stand, die ohne jede Erlaubnis auf das Schulgelände vorgedrungen, ja unbemerkt im Turm eingeschlossen worden sein musste, um nun irgendeine Missetat zu verüben.

"Wie viele der ehernen oder gern auch goldenen Regeln habe ich gerade gebrochen, Madam Direktrice?" wiederholte Lissy Thornhill ihre Frage und patschte dabei mit dem rechten Fuß eine Treppenstufe weiter nach oben. Die Schulleiterin rang damit, dieser Person, die mit Mehr Ach als Krach die sieben Jahre in ihrer Lehranstalt zugebracht hatte, einen lautstarken Tadel entgegenzuschmettern, ihr mit der Polizei zu drohen, den schuleigenen Sicherheitsdienst zu rufen, der vor allem wegen der Familienhintergründe der hier lernenden Schülerinnen Tag und Nacht aufpasste. Doch an dem musste dieses undankbare Mädchen, dem eine seltene Gnade zu Teil geworden war, irgendwie vorbeigeschlüpft sein. Das würde Konsequenzen haben, schwor sich die Schulleiterin.

"Gut, dann zähl ich mal durch, ob ich das noch drauf habe. Also, nach zehn Uhr abends aus dem zugewiesenen Haus, nach Schließen der Bücherei im Wissensturm, Störung der Privatsphäre der Schulleiterin, ach ja, unstatthafte Bekleidung, beziehungsweise das Fehlen derselben. War da noch eine?"

"Sie sind keine Schülerin mehr. Damit sind Sie ohne Erlaubnis eingedrungen, was den Straftatbestand des vollendeten Einbruchs erfüllt und gemäß des Ausbildungsvertrages mit den Eltern auch eine Gefährdung der uns Lehrerinnen anvertrauten jungen Damen darstellt. Bevor ich den Sicherheitsdienst hole will ich von Ihnen wissen, wie Sie hier hereingekommen sind und was Ihr höchst undamenhafter Auftritt bedeuten soll."

"Reingekommen bin ich durch den Boden im Keller des Turmes, wo die von Ihrer Oma angehäuften Sündenregister lagern. Ihre Walkürentruppe kann gleich gerne herkommen. Doch bis dahin habe ich schon erledigt, was ich erledigen wollte."

Die Schulleiterin überlegte schnell. Sie hatten doch Alarmpläne gegen Einbrecher und mögliche Kidnapper. Sie wollte gerade in ihr Arbeitszimmerzurück, als sie sah, wie die ungebetene Besucherin sichunter Zuckungen und Windungen zu verändern begann. Auf ihrer Haut wuchsen grüne Schuppen, ihr Kopfund ihr Gesicht veränderten sich. Ihre Arme und Beine verformten sich. Ihr Körper wurde in die Länge gezogen. Dieser Vorgang fesselte die Aufmerksamkeit der Direktrice derartig, dass sie gerade nicht an irgendwelche Alarmpläne dachte. Da vor ihr verwandelte sich eine ehemalige Schülerin, die, wenn sie länger geblieben wäre, sicher eine eigene Abteilung im Sündenregister der Schule bekommen hätte, in eine Ausgeburt des Grauens. Sowas konnte es doch nicht geben, dachte die Schulleiterin. Sowas war biologisch unmöglich.

Als sich unter Schnauben und Stöhnen aus Elizabeth Thornhill ein Geschöpf halb Mensch halb Schlange gebildet hatte wollte Rebecca Hazelwood sofort in ihr Zimmer, es zuschließen. Die Tür war einbruchssicher. Dann würde sie den Vollalarm auslösen und einen Durchuf machen, dass alle Schülerinnen in ihren Zimmern zu bleiben hatten. Die schweren Schutztüren in den Korridoren aller Häuser würden schließen und somit jeden Eindringling sicher aussperren. Doch dazu kam es schon nicht mehr.

Ohne sichtbaren Ansatz sprang das blattgrüne Ungeheuer auf Rebecca Hazelwood zu und erwischte sie mit spitzen, ausgehöhlten Zähnen am Hals. Die Schulleiterin spürte sofort, dass es nicht nur eine Verletzung war, sondern eine Vergiftung. Denn es begann durch ihren Hals in den Rest ihres Körpers auszustrahlen und zu pochen. "Hab ich dich, du miese doppelmoralische Gewitterhexe", zischte das Schlangenwesen mit einer unheilvollen Stimme, die gerade nichts mit Lissy Thornhill, dem Gnadenkind, der Glückslosbeehrten, zu tun hatte. Rebecca Hazelwood versuchte laut zu schreien. Doch die Verwundung am Hals lähmte bereits ihre Stimme, und das tückische Gift breitete sich weiter aus. Vor ihren Augen begann alles zu verwischen wie in immer dichterem Nebel, und die Treppe geriet in sanfte Schaukelbewegungen. Dazu gesellten sich erst einzelne und dann immer mehr rote Funken, die in ihrem Blickfeld aufglühten und wieder erloschen.

"Achso, bevor du noch alle hier ins Gelände scheuchst, Becky H., die große Hoffnung ihrer achso fürsorglichen Großmutter, knipse ich besser mal alles aus", hörte Hazelwood die blattgrüne Bestie zischen. Dann knisterte es. Funken stoben aus den Anschlüssen der Deckenleuchte. Dann machte es Piff, und es wurde wieder dunkel. Doch die roten Funken, die jetzt schon zu roten Blitzen und Kreisen wurden blieben.

"Mal sehen, ob es bei dir im Zimmer brennt", hörte sie die Verwandelte und fühlte, wie etwas an ihr vorbeihuschte. "Nöh, Glück gehabt. Diesmal hab ich besser dosiert", fauchte die höchst ungebetene Besucherin. Wieder wischte etwas an Rebecca Hazelwood vorbei. "So, falls du es schaffst, kannst du gerne das Walkürenkommando rufen. Solange suche ich mir mal deine treuesten Kolleginnen raus, bevor du sie dir noch treuer machst", zischte Thornhill, oder was immer aus ihr geworden war. Rebecca Hazelwood geriet ins taumeln. War es der Bodenunter ihren immer mehr kribbelnden Füßen oder ihr von etwas bösartigem vergifteter Körper? Und was war das für ein unheimliches Zischenund Fauchen in ihrem Kopf? Womöglich war es ihr Herz, das nun immer wilder pochte und ihr das Blut durch den Kopf presste. Sie wollte erneut nach Lissy Thornhill rufen. Doch irgendwie fühlte sie, dass sie schon fort war. Noch konnte sie laufen. Sie hangelte sich an der Wand entlang und schaffte es, in ihr Arbeitszimmer zu kommen. Sofort roch sie den unangenehmen Gestank verschmorter Stromleitungen und Elektronik. Aus ihrer Zeit als Physiklehrerin wusste sie noch, wie überlastete Elektronik roch. Sie erinnerte sich an die Versuche, einen Elektrolytkondensator bei verkehrt angelegtem Strom aufzuladen und wie er dabei mit lautem Knall zerplatzt war. Sowas ähnliches musste hier auch passiert sein. Doch die Alarmanlage hatte mehrere Stromkreise. Auch wenn der aus Port Lincoln kommende Strom unterbrochen war konnte die Alarmanlage immer noch arbeiten. Außerdem war sicher gleich der Notstrom da. Sie beugte sich über ihren Schreibtisch. Sie hatte in unzähligen Übungen verinnerlicht, denAlarm Blind auszulösen, falls jemand ihr doch mal mit Pfefferspray die Augen verbrennen mochte. Sie betätigte die nötigen Schalter - Keine Reaktion. Jetzt roch sie, das auch die kleine Schaltvorrichtung ein Opfer der Überlastung geworden sein musste. Das hieß aber in jedem Fall, dass der Alarm an die Polizei rausging und alle Außentore des Geländes dreifach verriegelt wurden. Sicher mochte es Entführer geben, die mit einem Hubschrauber aufwarten konnten, aber den würde die bei Alarm eingeschaltete Radaranlage sofort an den nächsten Polizeistützpunkt mit eigenem Helikopter weitermelden. Außerdem würden Blend- und Lärmgeschosse auf den Hubschrauber abgefeuert. Darauf hatte ihre Mutter schon bestanden, als klar war, dass Töchter reicher Eltern auch von ebenso reichen Verbrechern bedroht werden könnten. Doch bei einer Geiselnahme half nur der totale Verschlusszustand, damit der oder die Kriminelle weder alle Mädchen als Geiseln nehmen noch flüchten konnte. Sie hoffte, dass der Alarm wirklich ausgelöst worden war. Etwas weit beunruhigenderes war dieses Fauchen in ihremKopf und die immer dichter werdende rote Funkenwolke vor ihren Augen. Was geschah da mit ihr? Würde sie sterben, am unbekannten Gift einer völlig unbekannten Species? Dann fiel ihr wieder ein, was die derartig entartete Lissy Thornhill noch gezischt hatte, etwas davon, dass sie sich ihre treuesten Kolleginnen holen wollte, bevor sie diese selbst zu noch treueren Untergebenen machen konnte.

"Ffschsch msscht fnsss Ffffgsch nsss.r.m Wschscsch!" vernahm sie das immer klarer in ihre Gedanken dringende Fauchen und meinte, Wörter herauszuhören. Gleichzeitig war ihr, als stehe sie an Deck eines durch einen Zyklon fahrenden Schiffes. Sie konnte sich gerade noch mit einer Hand am Schreibtisch festhalten. Ihr Hals brannte und pochte. Die Schmerzen streuten immer weiter in ihren restlichen Körper. Sie versuchte noch einmal, laut zu rufen. Doch es gelang nicht. Sie musste die Polizei rufen. Aber mit zugeschnürter Kehle war das unmöglich. Sie wunderte sich sowieso, dass die Polizei noch nicht anrief, weil der Alarm losgegangen war. Dann fiel ihr ein, dass sie ja noch einen Leuchtstab hatte, eben für einen Fall, wo jemand tatsächlich allen Strom ausgeschaltet hatte. Mit zitternden und bebenden Händen fummelte sie an einer der Schreibtischschubladen herum. Einer der Väter ihrer Schutzbefohlenen hatte mal erwähnt, dass sie besser eine Waffe im Schreibtisch aufbewahren sollte. Doch das hatte sie energisch abgelehnt. Schusswaffen riefen immer nach möglichen Opfern, so hatte ihre Großmutter ihr eingetrichtert. Sicherheitsgeräte ja, Nahkampfausbildung auch ja, aber Feuerwaffen absolut nein.

Endlich hielt sie den Leuchtstab in den immer unbeherrschbareren Händen. Gleichzeittig verstand sie jenes Fauchen und Zischen in ihrem Kopf: "Du bist eins mit uns. Folge unserem Willen! - Du bist eins mit uns. Folge unserem Willen!" Sie knickte den Leuchtstab. Das kleine Glasröhrchen darin brach durch. Jetzt vermischten sich die beiden Stoffe, die ein hitzeloses Licht erzeugten. Rebecca Hazelwood schüttelte den Stab, um die Reaktanden schneller zu vermischen. Im grünen Licht des Stabes konnte sie nun das Arbeitszimmer überblicken. Doch es verschwamm in einem diffusen Nebel, der durch das hellgrüne Leuchten noch gespenstischer wirkte als die vier Stimmen von zwei Männern und zwei Frauen in ihrem Kopf. Dann hatte sie eine ganz schlimme Vorahnung. Dieses Gift war kein tödliches Toxin, es war ein Mutagen. Es bewirkte eine voranschreitende Körperveränderung und wohl auch eines ihres Geistes. Denn sie hörte Stimmen, die vorher nicht da waren. Sie fühlte sogar, dass von diesen Stimmen eine Macht ausging, der sie, die selbst gerne Macht ausübte, nicht lange widerstehen konnte, weil sie nun verstand, was ihr ins Gehirn geflüstert wurde. "Du bist eins mit uns. Folge unserem Willen!" Mit jeder Wiederholung dieses vierstimmigen Befehls fühlte sie, wie die Wirkung des in ihr kreisenden Giftes stärker voranschritt. Sie griff sich mit einer Hand an den Halsund erschrak. Sie fühlte keine vom mittleren Alter faltig gewordene Haut, sondern Hautlappen, wie die Schuppen eines Reptils. Von der Bisswunde fühlte sie gerade nichts. Doch sie spürte sie und ihre Auswirkung. Ihre Befürchtung stand davor, sich zu bewahrheiten. Doch sie musste Gewissheit haben.

Mühevoll, wie auf einem Schiff im schwerenSeegang schwankend und torkelnd verließ die Schulleiterin ihr Arbeitszimmer und stieg die Treppe hinunter. Sie hörte nichts außer diesen vier Stimmen in ihrem Kopf und ihr wild gegen die Giftwirkung anhämmerndes Herz. Dann erreichte sie ohne hinzuschlagen ihren Privattrakt. Sie drehte den Türknauf und drückte die Tür auf. Jetzt stand sie im Flur ihres Wohnbereiches, der drei Zimmer enthielt, ein Bad, eine kleine Wohnstube und ein Schlafzimmer. Sie stolperte ins Schlafzimmer, vor den zweitürigen Kleiderschrank. Eine Tür besaß einen menschenhohen Spiegel. Sie hob mit wild bebendem Arm den Leuchtstab, den sie gerade so noch haltenkonnte und blickte in den Spiegel. Was sie darin sah traf sie mit einer eiskalten Keule der schrecklichen Gewissheit.

Ihre linke Gesichtshälfte war bereits von im Stablicht geisterhaft gelb-grün leuchtenden Schuppen bedeckt. Ihre Haare wurden immer kürzer und schrumpften förmlich in ihren Kopf hinein. Die Schuppen wuchsen zusehens weiter, bedeckten nun auch ihre rechte Gesichtshälfte. Je deutlicher sie den Befehl "Du bist eins mit uns. Folge unserem Willen!" hörte, desto schneller schritt die verheerende Verwandlung voran. Rebecca Hazelwood ging in die Knie. Alles um sie drehte sich. Sie verlor den Stab aus der Hand. So sah sie nicht weiter, wie sie sich immer mehr veränderte. Doch sie wusste, dass sie bald genauso aussehen würde wie Lissy Thornhill. Sie hatte sich eine Art Virus eingefangen, ähnlich dem Tollwutvirus. Irgendwas nicht von dieser Welt stammendes hatte erst Lissy befallen und jetzt sie. Sie würde zu einer von der Sorte, wie Lissy eine war. Das war entsetzlich. Vor allem ahnte sie nun, dass sie nach der völligen Umwandlung wohl willentlich die Gestalt ändern konnte und in dieser Monstergestalt selbst nach Opfern suchen musste wie ein Vampir aus dem Horrorfilm. Ja, sowas ähnliches wurde da gerade aus ihr, ein Herpetanthrop, eine Werschlange. Früher hatte sie solche Geschichten als blanken Unsinn und moralische Wirrsal stiftenden Eskapismus abgetan. Doch jetzt geschah genau das mit ihr. Konnte sie sich dem noch widersetzen oder musste sie sich töten? Wollte sie sich überhaupt töten? Konnte sie sich überhaupt töten? In den triviale Angstlust bedienenden Werwolffilmen war Silber, mal einfach gediegen, mal von einem Priester geweiht oder aus dem Silber eines geweihten Kreuzes gegossen, das einzige Mittel gegen Werwölfe. Vampire hingegen mussten mit Eichenholzpflöcken, geweiht oder ungeweiht, gepfählt und laut Bram Stoker auch enthauptet werden. Würde ihr ein solches Ende drohen? Würde sie es als Vernichtung oder Erlösung empfinden?

"Du bist eins mit uns. Folge unserem Willen!" drangen die vier immer und immer wiederholenden Stimmen lauter und lauter in ihre Gedanken, drängten sie immer mehr zurück. Da begriff Rebecca Hazelwood, dass sie nicht nur zu einem gleichartigen Ungetüm wie ihre aufsässige Ex-Schülerin Thornhill wurde, sondern dabei noch mit einer fremden Macht verbunden wurde, die in diesen vier Stimmen zu ihr sprach. Alleine dieser Gedanke löste einen heftigen Schub aus, der sie fast aufschreien ließ, wenn sie es denn gekonnt hätte. Sie würde zu einem Bestandteil von was größerem, einer Gruppe miteinander verbundener Wesen. Darin bestand der Zweck der Vergiftung, die Daseinsform weiterzuverbreiten und zugleich das Netzwerk zusammengekoppelter Gehirne zu vergrößern und mehr zu lernen und zu verstehen. Sie hieb auf den dicken Teppichboden in ihrem Schlafzimmer. Sie wollte nicht eines von diesen Scheusalen werden, nicht sowas, was sich die unbehütet aufwachsenden Jugendlichen zum reinen Vergnügen immer und immer wieder im Kino ansahen oder in Schundromanen lasen. Nein, nicht nur Schundromane. Über das Thema Verwandlung hatten namenhafte Autoren wie Ovid, Robert Louis Stevenson oder Franz Kafka Erzählungen und Romane veröffentlicht, wie die Geschichte von Dr. Jeckyll und Mr. Hyde. Da war es auch um ein obskures Elixier gegangen, welches das in jedem Menschen schlummernde Böse nach außen kehrte und ihm Gestalt gab. Ja, und Polydoris "Der Vampir" und natürlich Bram Stokers "Dracula" standen in den Literaturkursen auf dem Stundenplan als Analyse menschlicher Ängste und Begierden, die sich in den Gestalten der Vampirfiguren darstellten. Doch dass ihr hier und jetzt genau sowas widerfuhr hätte sie selbst in einem kühnen Albtraum nicht für möglich gehalten.

Die vier Stimmen klangen fast so laut wie die schuleigene Turmuhr. Sie hörte ein leises Knacken und Reißen. Da begriff sie, dass ihre Kleidung der Verwandlung ihres Körpers nicht mehr widerstehen konnte. Gleich würde ihr alle Kleidung vom Leib platzen, und auch sie würde dann unstatthaft unbekleidet herumlaufen. Bei dem Gedanken fühlte sie jedoch keine Scham, sondern eine irrwitzige Vorfreude, endlich bald die erhabene Gestalt zu haben. Es schritt voran, die geistige Umwandlung von einer überstrengen Schuldirektrice hin zu einem unheimlichen Geschöpf, dessen Daseinszweck es war, seine eigene Art über die ganze Welt auszubreiten.

Wie lange es dauerte hatte die Schulleiterin nicht im Blick. Jedenfalls überkamen sie unvermittelt vier lodernde Schmerzwellen hintereinander. Ihre Stimme war gerade nicht zu gebrauchen, sonst hätte sie wohl erst vor Schmerzen und dann vor überschwenglicher Glückseligkeit losgeschrien. Unvermittelt durchströmten sie neue Kräfte, warfen sie förmlich in die senkrechte Haltung. Sie stand vor dem Spiegel und sah hinein. Trotzdem der Leuchtstab auf dem Boden lag erkannte sie ihr neues, erhabenes Gesicht. Es war von hellen, einfarbigen Schuppen bedeckt. Ihr Kopf war haarlos und glich nun dem einer aufgerichteten Schlange. Ihr Körper sprengte gerade alle Kleidung von ihr ab. So konnte sie sehen, dass ihr Oberkörper von einem dicken Schuppenpanzer bedeckt wurde, ihre Arme und Beine wie sehr bewegliche Schlangen mit prankenartigen Händen statt Köpfen aussahen und ihre Beine ähnlich beschaffen waren. Dann hörte sie Lissys Stimme in ihrem Kopf: "Ach, du bist schon bei uns, Becky Hazelwood. Schön! Da habe ich dir doch die richtige Menge verpasst. Sei mir willkommen und mir unterworfen, Becky Hazelwood, mir, Sisufuinkriasha. Ich habe dich erwählt und in unsere Gemeinschaft rübergeholt. Also bist du mir unmittelbar gehorsam. Hast du das verstanden?"

"Ja, nur dir gehorsam", erwiderte die ehemalige Schulleiterin der Rosemarie-Hazelwood-Akademie. Oder würde sie weiterhin die Schulleiterin bleiben, die Herrin einer Schule voller neuer Lebewesen?

"Unter mir", hörte sie Lissys Stimme. "Und unter mir", drang aus dem Chor der Vier Stimmen die einer entschlossenen Frau hervor. "Sei uns willkommen, neue Mitschwester im Dienste des Erhabenen!"

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Zur gleichen Zeit, als sich Rebecca Hazelwood in eine ihrer neuen Artgenossinnen verwandelte jagte Sisufuinkriasha die Lehrerinnen. Sie kannte es noch von ihrer eigenen Schulmädchenzeit, dass sich vier von denen immer für zwei Stunden auf den Balkonen des südlich vom Wohn- und Bücherturm gelegenen Haus aufzuhalten hatten, um von innen nach außen die vier von A bis D durchbuchstabierten Schülerinnenhäuser zu beobachten. Diese durften sie nicht bemerken, bevor sie nicht die Stromversorgung des Hauses unterbrochen hatte.

Das in ihrem Kopf dröhnende Wechselstromgebrumm des schuleigenen Transformators lotste sie zielsicher durch den Stahlbetonboden unter den dicken Wänden durch in den Versorgungskeller, wo alle für die größtenteils unabhängige Infrastruktur nötigen Maschinen und Vorratstanks enthalten waren. Sie wusste, dass der Strom für die Schule von einer Überlandleitung aus Port Lincoln kam, die von edlen Spendern bezahlt und betrieben wurde. Außerdem konnte im Falle eines Ausfalls der Stromversorgung von außen ein Netz von Notstromaggregaten für eine Woche Strom erzeugen und damit auch die Wasseraufbereitungsanlage steuern, die das aus einem arthesischen Brunnen gepumpte Grundwasser trinkbar machte.

Ihre gerade von grünen Schuppen überwachsenen Ohren zuzuhalten brachte nichts. Denn das gleichförmige Gebrumm dröhnte auch direkt in ihrem Kopf. Sie wusste jetzt, woran das lag. Denn mit ihrem Sinn für Magnetfelder bekam sie eben auch die wechselnden Magnetfelder fließenden Stroms zu spüren. Aber gleich hatte es sich ausgebrummt. Sie eilte in einer Mischung zwischen Laufen und Krabbeln auf die Anschlüsse des vibrierenden Transformators zu. Dann konzentrierte sie sich, dieses ihr zusetzende Brummen aus dem Kopf und ihrem restlichen Körper zu treiben. Sie fühlte einen greifbaren Widerstand, als müsse sie ihren Körper gegen einen ständigen starken Wind stemmen. Dann brach der Widerstand. Ein schmerzhaftes Krachen in Ohren und Magnetsinn zeigte ihr, dass sie es geschafft hatte, den Transformator zu überlasten. Blaue Flammen schlugen aus der Umspannvorrichtung meterweit in den Raum. Dann erloschen sie. Da in diesem Raum nichts brennbares war richtete das kurze Auflodern keinen weiteren Schaden an. Nun war es fast still. Doch Sisufuinkriasha fühlte, wie das Wegbrechen der Hauptstromversorgung die batteriegepufferten Notschaltungen kitzelte, die mit Dieselöl betriebenen Notstromaggregate anzufahren. Soweit sie sich erinnerte sprangen diese spätestens fünf Sekunden nach Ausfall der Hauptversorgung an. Doch nun fühlte die blattgrüne Jägerin des Erhabenen, wo die Ersatzgeneratoren standen. Sie tauchte kurz einmal in den Boden, unterquerte die dicke, feuerfeste Trennwand zwischen Traforaum und Notstromanlagen und stand den gerade mit grünen Lichtern und anlaufenden Spulenkränzen hochfahrenden Generatoren gegenüber. "Euch knips' ich auch aus", dachte die ehemalige Hazelwood-Schülerin und konzentrierte sich darauf, die nun spürbaren Magnetfelder vor sich abzustoßen. Es knisterte, krachte und knirschte, als die Spulenkränze erst vom Rückstau des erzeugten Stroms überhitzt und dann wegen der gegen sie wirkenden Magnetkraft gebremst wurden, obwohl ihr Antrieb noch lief. Dann knallte es laut, und alles was Sisufuinkriasha hören und fühlen konnte waren die irgendwo leerlaufenden Dieselmotoren. Doch Strom lieferten die jetzt keinen mehr.

Zum Schluss suchte sie noch die mit Batteriestrom gespeisten Notfallsysteme auf, die bereits wegen des ersten Stromausfalls eine stille Alarmmeldung rausgeschickt hatten. Also mochten in wenigen Minuten Hilfstruppen hier eintreffen. Da sie nur die hier wohnenden Lehrerinnen und Schülerinnen küssen sollte musste sie sich beeilen.

Schnell wie ein Blitz wechselte sie durch die Erde aus dem Notversorgunstrakt in den Wohnbereich der Lehrer. Vom sogenannten Kreuzgang aus erreichte sie leise die Balkontüren. Hinter jeder davon saß eine der hier unterrichtenden auf Wachposten. Sisufuinkriasha vertat keine Zeit mit Vorstellung oder Rechtfertigung. Wie eine zuschlagende Königskobra fiel sie eine nach der anderen an und biss ihr kräftig in den Hals, um jede Lautäußerung zu ersticken. Dann machte sie sich auf, die übrigen Lehrerinnen heimzusuchen und hoffte, dass diese den Stromausfall noch nicht bemerkt oder sich hinter ihren einbruchssicheren Türen verschanzt hatten.

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Hier würde sie wohl doch nicht alt. Auch wenn das Gehalt das zehnfache einer stätischen Oberschullehrerin betrug wusste Claudia Watson, Lehrerin für Physik und Chemie, dass die Art, wie diese Schule geführt wurde und die Hochnäsigkeit der Schülerinnen nicht ihrer Auffassung von moderner Pädagogik entsprachen. Sie kam sich vor wie in einer Schule zur Zeit der Königin Victoria, nur dass die hier lernenden Mädchen Eltern in den Bereichen Schwerindustrie, Informationstechnologie, Finanzwesen, Politik und Pharmaproduktion hatten. Sie war sich jedoch auch sicher, dass die wie eine gestrenge Feldherrin agierende Direktrice ihr spätestens am Ende des Semesters einen Stellungswechsel nahelegen mochte, so oft wie sie sich in den wenigen Tagen schon zu liberal für die Grundregeln verhalten hatte.

Gerade hatte die schuleigene Turmuhr zehn Uhr geschlagen. Dass da keiner auf den Turm stieg und Zapfenstreich blies war der einzige Unterschied zu einer Armeekaserne. Denn um zehn hatten sämtliche Schülerinnen in ihren Wohnhäusern zu sein. Wehe derjenigen, die sich von den Oberstuflerinnen, der auf der zehn Meter hohen Mauer patrouillierenden Sicherheitsmannschaft oder den vier das Gelände überwachenden Kolleginnen erwischen ließ. Claudia Watson gestand sich selbst ein, dass sie eine Regelbrecherin womöglich auch melden würde, sollte sie demnächst die Aufsicht haben. Immerhin hatte sie unterschrieben, die Sicherheit der ihr anvertrauten Schülerinnen zu gewährleisten, und dass diese um zehn Uhr abends in den Häusern zu sein hatten erhöhte deren eigene Sicherheit. Immerhin wäre jedes Mädchen hier eine lohnende Geisel.

Claudia Watson blickte bei abgeschaltetem Licht noch einmal durch das Fenster ihres Wohn- und Arbeitszimmers im Appartmenthaus des Lehrkörpers. Die kalte Winterluft umfloss ihr rosiges Gesicht mit den nachtschwarzen Haaren. Vom Fenster aus konnte sie den mittleren Turm sehen, den Turm des Wissens, wie es in der Beschreibung hieß. Dort war die Schulbücherei samt Kartenraum untergebracht. Auf den oberen zwei Stockwerken residierte die Direktrice. Gerade erlosch das Licht auf den beiden oberen Stockwerken. Das war merkwürdig. Denn die Direktrice pflegte jeden Abend bis zum letzten Stundenschlag des Tages aufzubleiben. Na ja, womöglich hatte sie heute einen stressigen Tag gehabt, dachte die junge Lehrerin. Dann stutzte sie. War das gerade eben ein Aufschrei? Bei der hier herrschenden Stille wäre selbst das Piepsen einer Beutelmaus zu hören gewesen. Jetzt war es auch wieder still. Hatte Claudia sich den Schrei nur eingebildet? Falls der Direktrice oder sonst wem was passiert war mochte gleich der Alarm losgehen. Sie hatte kurz vor Ende der großen Ferien mit allen anderen an verschiedenen Sicherheitsübungen teilgenommen. Dabei war es auch darum gegangen, wann und wie schulweiter lauter oder stiller Alarm ausgelöst wurde. Außerdem hatten fast alle Lehrerinnen hier eine waffenlose Kampfkunst erlernt.

Die jetzt herrschende Stille wirkte wie im Inneren einer Gruft, unheimlich und bedrückend. Claudia Watson peilte in die Richtung, wo sie Professor Amelia Taylor wähnte, die auf dem Balkon ihres Appartments postiert war und die Nordseite des Geländes mit einem Nachtsichtgerät unter Beobachtung hielt. Tatsächlich konnte sie die zwanzig Jahre ältere Kollegin, die Englisch und Geografie unterrichtete als Schattenriss vor der bei Tage strahlendweißen Mauer erkennen. Sicher sah die sie nun auch ganz deutlich. Doch sie würde sich nicht dazu verleiten lassen, herüberzurufen.

Ein Geräusch aus dem Haus selbst ließ Claudia Watson den Kopf ins Zimmer zurückziehen und dort weiterlauschen. Sicher war eine der achso gestrengen Damen gerade unterwegs zur Toilette. Doch dann konnte sie hören, wie die Tür zwei Appartments weiter aufgestoßen wurde und die dort wohnende Kollegin Summerset laut ausrief: "Was, wer?!" Dann erfolgte ein kurzer Aufschrei. Jetzt war sich Claudia Watson sicher, dass irgendwas absolut unerwünschtes vorging. Sofort schossen ihr die Richtlinien für einen Notfall durch den Kopf. Wenn sie oder eine Kollegin von einer schulfremden Person bedroht oder angegriffen wurden sollten sie den kleinen Alarmsender auslösen, den jede bei Tag am Körper zu tragen hatte und bei Nacht in allernächste Griffweite zu legen hatte. Offenbar war die Kollegin nicht dazu gekommen, diesen Sender zu betätigen. War der oder die unerlaubte Fremde eine der Schülerinnen? Nein, dann hätte Professor Summerset sofort laut losgezetert. Also war es eine unerlaubt auf dem Gelände befindliche Person. Claudias Hand schnellte zu dem streichholzschachtelgroßen Gegenstand, den sie in der rechten Rocktasche trug und drückte mit drei Fingern zugleich die vorgesehenen Kontakte. Wenn der Sender taugte löste der gerade den Vollalarm aus. Das hieß, alle Türen wurden verschlossen und mehrfach verriegelt, eine alle drei Sekunden ertönende Warnglocke bimmelte los und die hinter Wandspiegeln versteckten Überwachungskameras nahmen alles und jeden auf, der sich in den Gängen und allgemeinen Räumen aufhielt. Außerdem würde über die hauseigene Glasfaserleitung, über die auch die zehn exklusiven Internetrouter an die restliche Welt angeschlossen waren, ein Hilferuf an die Sicherheitstruppe bei Port Lincoln erfolgen, die mit Hubschraubern innerhalb von zehn und mit schnellen Autos innerhalb von dreißig Minuten hier eintreffen konnte. Doch es kam nichts dergleichen, kein Glockenton, keine automatisch zuschlagenden und sich verriegelnden Türen. Der Alarm blieb stumm.

Konnte es sein, dass die Direktrice die Programmierung der Alarmanlage geändert hatte, um einen zu voreilig ausgelösten Alarm zu verhindern und nur sie die Anlage auslösen konnte? Jedenfalls wollte Claudia Watson nicht warten, bis wer immer ihr Appartment betrat. Sie eilte zur bruchsicheren, mit einer dicken Stahlplatte verstärkten Tür und drehte die drei gleichmäßig am Türrahmen angebrachten Verriegelungen zu. Da müsste jetzt jemand mit der Kraft eines Cyborgs oder eines unglaublichen Hulks anrücken, um die Tür wieder aufzukriegen. Schnell eilte sie zum Fenster, um die gerade Wache schiebende Kollegin Taylor zu rufen, dass bei der Kollegin Summerset was passiert war, als sie auch schon den kurzen Aufschrei aus einem anderen Appartment hörte und sah, wie etwas oder jemand die wachende Kollegin niederwarf, sich kurz bei ihr aufhielt und dann durch die Balkontür verschwand.

Wieso geht der Alarm nicht los?" fragte sich Claudia Watson und schloss das Fenster, das sie ebenso mehrfach verriegeln konnte wie die Tür. Da die Fensterscheiben einbruchssicher waren musste da wohl jemand mit einer Panzerfaust draufhalten, um es aus dem Rahmen zu putzen. Eigentlich müsste sie noch die schwere Stahljalousie herunterlassen, die im Alarmfall ebenfalls automatisch herunterschnellte. Doch als sie den entsprechenden Schalter drückte geschah nichts. War der Strom weg? Claudia Watson prüfte es, indem sie die Leselampe über ihrem Schreibtisch einzuschalten versuchte. Weil diese dunkel blieb hatte sie die Gewissheit. Jemand hatte den Strom ausgeschaltet und zwar so, dass keines der erwähnten drei Ersatzsysteme ansprang. Damit blieben nur die rein manuell durchführbaren Absicherungen.

Claudia verriegelte im schnellen Lauf noch die beiden anderen Fenster. Sie ärgerte sich, dass sie die Jalousien nicht auch ohne Elektromotor herablassen konnte. Denn das hätte den Einbruchsschutz erheblich verbessert. Als alle Fenster zu waren nahm sie ihr Mobiltelefon, um die Direktrice anzurufen. Zwar war es auch den Lehrerinnen verboten, Mobiltelefone im Haus zu haben. Doch Claudia hatte sich nicht daran gehaltenund nur beschlossen, es im Vibrationsmodus und nur zwischen acht Uhr Abends und sechs Uhr Morgens auf Empfang zu haben. Immerhin gab es einen schuleigenen Sendemast, natürlich nur für die Direktrice und den Sicherheitsdienst, die Leibgarde von Hazelwood. Doch auch dieser Sendemast schien außer Betrieb zu sein. Sie hörte einen weiteren kurzen Aufschrei. Dann hörte sie, wie mehrere Kolleginnen auf den Fluren auftauchten und wohl im Dunkeln nach dem Grund für den Tumult suchten. Das war sicher das dümmste, was die nun machen konnten.

Jetzt hörte sie, wie etwas zwei Appartments von ihr gegen eine Tür schlug, als habe jemand dagegengehauen oder -getreten. Also hatte die Kollegin Rushmore auch ihre Tür verriegelt. Wieder bollerte es gegen die Tür. Keine Reaktion. Dann krachte etwas gegen Claudias Tür, so laut, als wäre jemand dagegengesprungen. "Ah, alles zu, wie! Bringt euch aber nichts, ihr vertrockneten Schleifhexen. Ich kriege euch doch!" hörte Claudia durch die verriegelte Tür eine höchst fremdartig klingende Stimme fauchen. Dann krachte es wieder eine Tür weiter. Claudia Watson atmete kurz durch. Falls wer auch immer feststellte, dass sämtliche Türen versperrt waren musste wer auch immer sich eine neue Taktik überlegen.

Bei der nach Hazelwood ranghöchsten Kollegin Evilyn Turner, die seit Claudias Dienstantritt immer sehr misstrauisch auf die junge Lehrerin gestarrt hatte, knallte es nicht nur einmal dumpf, sondern dreimal. Dann erfolgte ein lautes Krachenund Knirschen, als wenn jemand Holz zerschlug und Metall verbog. Darunter mischte sich Professor Turners höchst erschreckter Aufschrei. Claudia Watson und wohl alle anderen wussten nun, was die Stunde geschlagen hatte. Der oder die Unbekannte konnte die eigentlich einbruchssicheren Türen aufbrechen. Damit waren sie fast alle dem unbekannten Eindringling auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Eine Flucht aus dem Appartment war fast unmöglich, es sei denn, jemand wagte es, über die Balkons zu flüchten. Doch wenn der Unbekannte Helfer im Freien hatte, die mit Infrarotzielvorrichtungen auf Feuerwaffen lauerten?

Sie musste es riskieren, bevor der oder die Unbekannte auch bei ihr die Tür aus den Angeln drückte.

Claudia Watson eilte ins Wohnzimmer und entriegelte schnell die Balkontür. Jetzt war sie froh, dass die Sicherheitsjalousie nicht heruntergelassen worden war. So wie sie War huschte sie auf den Balkon und zog die Tür zu. Dann peilte sie durch die Dunkelheit in die für sie günstigste Richtung. Die Kollegin Taylor hatte es erwischt, soviel stand fest. Doch wen anderen konnte sie in der Dunkelheit nicht sehen. Sie wartete, ob jemand sie gezielt anrief oder gar einen Schuss auf sie abfeuerte. Nichts dergleichen passierte. So sah sie zum Nachbarbalkon hinüber und schwang sich über das Geländer, um mit einem schnellen Griff das Geländer des Nachbarbalkons zu ergreifen. Sie dankte der harten Ausbildung ihres Karatelehrers, dass sie von der Kraft wie Gelenkigkeit her fast mühelos diesen Überstieg schaffte. Sie lief schnell weiter, sah, dass hinter der geschlossenen Tür die Kollegin Carrington stand und wohl hoffte, dass ihr niemand was tat. Dann stieg sie auf den nächsten Balkon hinüber. In dem Moment hörte sie, wie bei ihr gegen die Tür geschlagen wurde. Offenbar wollte wer auch immer jetzt zu ihr. Die Angst, einem offenbar superstarken Gegner ausgeliefert zu sein trieb sie an, noch schneller zu klettern. Sie wusste, dass sie auf der zweiten Etage keine Chance hatte. Also musste sie beim nächsten Balkon nach unten und dann noch weiter runter, bis auf den Boden. Und dann? Egal!

Gerade hatte sie in Todesverachtung den Sprung auf den Nachbarbalkon weiter unten gewagt, als sie hörte, wie eine Tür mit Getöse aus den Verriegelungen und den Angeln gebrochen wurde. Also war der oder die Unbekannte jetzt wohl bei ihr im Appartment. Dann würde sie gleich wissen, dass die sicher geglaubte Beute das Nest verlassen hatte.

Claudia sprang noch einen Balkon weiter nach unten. Dann setzte sie mit einem filmreifen Sprung zum Innenhof über. Die Kolleginnen, die Wache hatten mochten sie jetzt sehen und fragen, was sie draußen suchte. Denn die mochten noch nicht mitbekommen haben, was passiert war.

Sie blickte zum Turm hinüber. Dort brannte kein Licht. Kein Fenster war geöffnet. Dann sah und hörte sie drei aufgeregte Mädchenstimmen. Eine rief laut: "Rutherford, eh, bist du irrsinnig?!" Doch darauf erfolgte keine antwort. Eine andere rief: "Das gibt gnadenlos hundert Minuspunkte und zwei Wochen Putzdienst und Strafarbeit." Das war Paula Saunders, eine Sechstklässlerin, die sich was darauf einbildete, dass ihr Vater Mitglied im australischen Parlament war. Die dritte Stimme gehörte Jennifer Lewis, Tochter eines hochrangigen Bankangestellten. "Ey, Rutherford, komm wieder, bevor Professor Taylor oder Professor Warner dich sehen!"

"Haben wir schon, Ms. Lewis", schnarrte eine Stimme zur Antwort. Doch die Stimme klang irgendwie gequält, als müsse die Kollegin Warner heftige Schmerzen unterdrücken. Claudia Watson wusste nun, dass sie nicht unbeobachtet über die offene Fläche zwischen Lehrerinnenhaus und den vier Wohnhäusern der Schülerinnen laufen konnte. Außerdem hatte sie das sehr unangenehme Gefühl, dass mit der Kollegin Warner was passiert war, dass ihnen allen Ärger machen konnte.

"Öhm, wo ist sie hin, Professor Warner?" wollte Jennifer Lewis wissen.

"Die ungehörige Dame ist in Richtung Sportanlagen. Ich wollte sie gerade anrufen. Aber da kamen Sie heraus. Greifen Sie sie auf und bringen Sie sie ins C-Haus zurück! Über ihre Bestrafung entscheidet die Schulleiterin", quetschte Professor Mathilda Warner hervor und stöhnte dann auf, als müsse sie einen besonders starken Schmerz durchleiden.

"Was will die bei den Sportanlagen?" fragte sich Claudia Watson. Dann beschloss sie, die drei zum Rückzug ins Haus aufzufordern. Denn wer immer gerade bei den Lehrerinnenunterwegs war konnte danach die Schülerinnen heimsuchen. So rannte sie offen sichtbar über die Freifläche, vorbei an den sorgfältig gepflegten Blumen- und Kräuterbeeten. Dabei rief sie nach oben: "Kollegin Warner, jemand unbefugtes ist im Wohnhaus des Lehrkörpers. Alarm und Strom außer Funktion. Besser ist es, wenn die Mädchen in den Schutzraum ihres Hauses gehen. Ich hole die Bettflüchtige zurück!"

"Wie, warum sind Sie draußen, Kollegin Watson?! Sie haben doch erst zwischen Vier und sieben Wachdienst", stieß Warner aus und wimmerte, als wenn ihr gerade was weh tat. Claudia Watson sah zu der Kollegin hoch und erkannte, dass sie sich gerade auf ihrem Balkonstuhl wand wie unter Krämpfen. Was genau ihr zusetzte sah sie nicht.

"Die Damen Kellerman, Saunders und Lewis unverzüglich den gesicherten Raum in Ihrem Haus aufsuchen. Ich suche die Regelbrecherin!" rief Claudia Watson.

"Professor Watson? Öhm, was heißt das, unbekannter Eindringling. Wieso ist der Alarm dann nicht losgegangen?" rief Jennifer Lewis zurück. Die junge Lehrerin wollte jetzt nicht diskutieren. Sie rief, dass sie vor jemanden flüchten musste und es hier draußen nicht sicher sei. Also sollten alle in die Schutzräume."

"Nein, da geht ihr nicht hin!" schnarrte Warners Stimme, die nun eher fauchte als klang. Dann stieß sie einen kurzen Aufschrei aus, als habe ihr nun doch wer mehr Schmerzen zugefügt als sie vertragen konnte. Das irritierte die drei Oberstuflerinnen. Claudia Watson selbst nahm das als irgendwie zu befürchten hin. So ergriff sie die Initiative und rannte an den drei verdutzten Mädchen vorbei, die wohl gerade so einen Mantel über ihr Nachtzeug gezogen und ihre festen Schuhe angezogen hatten. Sie lief genau auf die Sportanlagen zu, zu denen eine Turnhalle, eine ovale 400-Meter-Laufbahn, eine Tennisanlage mit sieben Plätzen für Einzel- und Doppelspiele und eine Schwimmhalle mit drei Becken gehörten. Eigentlich waren die Türen zu den Gebäuden von der amazonengleichen Hausmeisterin Jefferson nach Unterrichtsende verschlossen worden. Also was wollte Laura Rutherford da?

"Heh, Kollegin ... Aarg! ...urück!" hörte sie die Kollegin Warner schnarrend hinterherrufen. Ihre Stimme klang immer fremdartiger. Auch die Mädchen schinen was zu argwöhnen. Denn sie liefen der Lehrerin nicht hinterher. Aber wo waren die Sicherheitsleute? Die mussten bei dem Tumult doch auch aufmerksam geworden sein, vor allem, wo der Strom weg war.

Vor der Turnhalle war niemand, auch nicht an der Hinterseite. Die Türen waren Verschlossen. Irgendwie vermied es Claudia Watson, "Alarm!" oder "Gefahr!" zu rufen. Allein schon das merkwürdige Verhalten der Sicherheitsleute und das der Kollegin Warner sagten ihr, dass wer immer die Schule heimsuchte schon was angestellt hatte, was jeden Alarmplan zunichte machte. Denn sonst wären ja wirklich schon mehrere Sicherheitsfachfrauen unterwegs.

"Koll... Wat... Arrg!" hörte sie noch Warners Stimme und dann einen dreistimmigen Entsetzensschrei. Die sonst so überlegen tuenden Mädchen mussten irgendwas oder irgendwen gesehen haben, das ihnen einen heftigen Schreck eingejagt hatte. Das widerum bestätigte Claudias unerklärliches Gefühl, dass bereits mehr im argen lag als zunächst zu erkennen war.

Die junge Lehrerin passierte die Laufbahn und stand nun vor der hinteren bruchsicheren Tür der Schwimmhalle. Sie stieß die Tür an. Sie gab nach. Aber wieso? Egal! Offenbar hatte jemand vergessen abzuschließen. Dann konnte Laura Rutherford wirklich hier reingerannt sein. So lief Claudia Watson ebenfalls in das völlig dunkle Gebäude.

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Jennifer Lewis starrte auf den Balkon, von dem Professor Warner heruntergerufen hatte. Sie wusste nicht, was das ständige Stöhnenund Aufjammern sollte. Dann sah sie im Mondlicht, wie sich etwas auf dem Balkon erhob, dass keine Ähnlichkeit mehr mit ihrer Klassenlehrerin und Professorin für Geschichte und Politikwissenschaften hatte.

Jennifer Lewis dachte an ein außerirdisches Lebewesen, denn das da oben war kein Mensch und auch kein irdisches Tier. Es war irgendwie eine Mischung aus Echsenwesenund Mensch mit langen, biegsamen Armen. Bleiche, reptilienartige Augen schimmerten aus einem schlangenartigen Gesicht auf die drei Mädchen herab. Eine gespaltene Zunge flatterte einige Male aus dem mit spitzen Zähnen bewehrten Maul. Dann trat das Fremdwesen an die Brüstung heran. Alle drei Mädchen schrien, als es mit einem wohlgezielten Sprung genau in ihre Richtung vom Balkon herabflog. Nach dem Aufschrei standen die drei Schülerinnen wie erstarrt da und vergaben so die Gelegenheit, davonzulaufen. So sahen sie, wie das unheimliche Mensch-Reptil-Hybridwesen auf dem Boden aufkam, den Aufprall abfederte und dann genau in ihre Richtung loslief. Jennifer Lewis erkannte mit Schrecken, dass sie die erste war, auf die das unheimliche Wesen zurannte. Sie warf sich herum, lief nun los. Doch da umschlangen sie zwei übermenschlich starke Arme um Brustkorb und Taille. Sie schrie auf. Dann fühlte sie den Schmerz an ihrer linken Halsseite. Sie dachte einen Moment an Vampirgeschichten, die ihr Freund Raymond all zu gerne las oder im Kino sah. So ähnlich musste sich das anfühlen, von so einem Nachtmonster gebissen zu werden. Dann ließen die sie umschlingenden Arme auch schon von ihr ab. Wenn dieses Monster ein Vampir war, warum hatte es sie nur gebissen und nicht versucht, ihr Blut zu saugen? Die Antwort darauf fühlte sie nun immer deutlicher. Es brannte und pochte in ihrem Hals und breitete sich von dort aus immer weiter in ihren Körper aus. Dann dachte sie an Geschichten von Werwölfen, auch was, das ihrem Freund gefiel. Die konnten Menschen entweder zerreißen oder mit einem Biss mit ihrem üblen Fluch anstecken. War ihr das passiert?

Auch wenn der Boden unter ihr immer mehr in Bewegung zu geraten begann drehte sie sich um und sah, dass das schuppige Scheusal gerade Paula Saunders anfiel und ihr gezielt in die rechte Wange biss. Dann hetzte sie Jennifers Klassenkameradin Ronda nach, die schon auf dem halben Weg zum C-Haus war. Jennifer wollte ihrer Kameradin eine Warnung nachrufen. Doch das wilde Pochen im Hals blockierte ihre Stimmbänder. Sie brachte nur ein unverständliches Röcheln hervor. Dann hörte sie vom Lehrerinnenhaus her eine sehr wütende, fauchende Stimme:

"Was fällt dir ein. Die Mädchen sind für mich!" Jennifer, die immer mehr das in sie vordringende Gift fühlte, sah nun eine zweite reptilienartige Abscheulichkeit. Doch anders als das, was von Professor Warners Balkon heruntergesprungen war, hatte dieses Ungeheuer eine einfarbige Haut, auch wenn bei Mondlicht nicht zu erkennen war, welche Farbe genau.

Das Etwas, das Jennifer und Paula gebissen hatte stoppte und blickte nach oben. Dann zog sich das andere Geschöpf in das Zimmer hinter dem Balkon zurück, auf dem es erschienen war.

Ronda rannte weiter. Sie erreichte den offenen Eingang vom C-Haus und stürmte durch die Tür. Sicher würde sie in den Schutzraum laufen. Doch ob der überhaupt offen war und ob der so sicher verschlossen werden konnte ohne Strom?

Jennifer lief zu Paula, die sich die rechte Wange hielt und wimmerte. Der Boden schwankte wie ein Schiffsdeck im aufkommenden Sturm. "Los, wir gehen auch rein, schnell, bevor noch welche hier auftauchen", brachte sie röchelnd hervor. Paula Saunders wimmerte nur. Doch dann ließ sie es sich gefallen, dass Jennifer ihren Arm ergriff und sie mit sich zog, zurück zum C-Haus.

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Es war unheimlich, im dunklen Schwimmsportgebäude herumzulaufen. Jeder Schritt hallte von den gekachelten Wänden wider. Doch sonst herrschte hier totale Stille. Normalerweise müsste Sie doch das Säuseln und Rumoren der Umwälzanlage und der Belüftung hören. Doch es blieb still. Nur der typische Chlorgeruch hing in der Luft.

Claudia Watson argwöhnte, gleich von irgendwem angesprungen und gepackt zu werden. Sie gab sich alle Mühe, so leise wie möglich zu bleiben. Da! Ein leises Plätschern in der Hauptschwimmhalle, da wo das wettkampfbecken und das Sprungbecken mit dem Einer, dem dreier und dem fünfer, sowie das Sprungbecken mit dem Zehner lagen. Irgendwer oder was war da im Wasser.

Die junge Lehrerin wollte schon rufen, ob Laura Rutherford in der Schwimmhalle war. Doch eine innere Stimme warnte sie, nicht so laut zu sein. Am Ende schlich hier auch jemand herum, der zu diesem Eindringling gehörte. Andererseits trieb es sie an, nachzusehen und bei der Gelegenheit vielleicht ein Versteck zu finden, in dem sie diese Leute nicht finden würden.

So leise sie konnte ging sie über den mit rutschfesten rauhen Fliesen belegten Boden zur Tür in die Schwimmhalle, die eigentlich auch einbruchssicher war und eigentlich auch verschlossen sein sollte. Doch wie bei der Eingangstür stellte die junge Lehrerin fest, dass die Tür eben nicht verschlossen war. Ganz leise öffnete sie sie. Da hörte sie, wie die Tür zum Schwimmsportgebäude aufgestoßen wurde. "Ichchch krieg euchchch beide!" hörte sie eine alles andere als menschliche Stimme zischen. Vielleicht waren es die Worte oder Claudias angestrengte Sinne, die ihr jetzt einen Streich spielten. Doch sie vermeinte aus der Stimme Triumph und eine unverhohlene Vorfreude zu hören.

Schnell betrat Claudia Watson ungeachtet der hier geltenden Bekleidungsordnung die Schwimmhalle und sah sich um. Der Mond schien durch die hohen Fenster und das aus dicken Milchglasrosetten gebildete Hallendach. Keine Lampe brannte, weder die Neonbeleuchtung über, noch die großen runden Scheinwerfer unter Wasser. Der Hauch von Chlor war hier am stärksten. Dann sah sie das große, Kreisrunde Etwas, dass genau in der Mitte des für Strecken- und Geschwindigkeitsübungen gebauten Beckens trieb. Auch Tauchen mit und ohne Pressluftflaschen konnten die Schülerinnen hier lernen. Das Runde Etwas war eine aufblasbare Rettungsinsel, dafür gedacht, direkt in der Beckenmitte bis zum fünf Meter tiefen Grund hinabzutauchen. Auf der ruhig auf dem unbewegten, das Mondlicht spiegelndem Wasser treibenden Insel saß eine Gestalt, die nicht größer war als ein zehnjähriges Kind. Die junge Lehrerin wusste sofort, wer es war. Da hörte sie den leisen Ruf: "Schnell ins Wasser, sie kommt!"

"Ja, ichchch komme, du kleinesss frechchchesss Biesssst!" hörte Claudia von hinten eine sehr unheilvoll zischende Stimme. Sie drehte sich nicht um, sondern rannte zum Beckenrand und sprang in voller Bekleidung ins Wasser.

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Zur gleichen Zeit in der Überwachungszentrale von Bowman & Chandler Wach- und Schutzdienst Port Lincoln, Südaustralien

Kevin Stansfield dachte immer wieder daran, dass er keinen langweiligen Job hatte, sondern einen sehr verantwortungsvollen Posten. Er betreute zwischen 21:00 und 03:00 Uhr die Alarmmonitore der fünfzig exklusiven Kunden, die ihre Anwesen gegen unliebsame Besucher sichern mussten. Darunter war auch eine für Töchter reicher Leute gebaute Internatsschule im Nordosten. Allein dieser Kunde zahlte eine monatliche Summe, die Stansfields schon ansprechendes Gehalt um das dreifache überstieg, damit seine Firma sofort reagierte, wenn dort Alarm ausgelöst wurde. Denn die Mädchen von Hazelwood, die sich niemals in Port Lincoln sehen ließen, waren sicher lohnende Ziele von Entführern und anderen Gangstern.

Als kurz nach 22:00 Uhr ein Alarmpiepen erklang sah Kevin Stansfield sofort auf seinen Hauptkontrollmonitor. Dieser zeigte die Meldung: "Alarm Objekt 23. Alarmursache 14. Hilfsmannschaft 07 und 08 verständigen!"

Stansfield prüfte erst, ob der Alarm kein Fehlalarm war. Tatsächlich meldete die Überwachung von Objekt 23 den Ausfall der Primär- und Sekundärstromversorgung innerhalb einer Minute. Das sprach eindeutig für einen gezielten Sabotageakt, der wohl ein weiteres Verbrechen decken sollte. Aber die alle zehn Sekunden ausgetauschten und jetzt ausbleibenden Statusmeldungen zwischen den eingebundenen Überwachungssystemen hier und an Objekt 23, der Hazelwood-Akademie, ließ sich durch einen örtlichen Stromausfall nicht austricksen.

Kevin Stansfield klickte auf seinem Rechner den Ordner mit der Beschriftung "Alarmprotokoll" an und wählte die Funktion "Letzte 5 Minuten ausdrucken". Dann klickte er auf ein Megaphonsymbol in seiner Werkzeugleiste und nahm das an den Rechner angeschlossene Mikrofon. Er klickte die in roten Kreisen stehenden Zahlen 07 und 08 an und rief: " "HazelwoodAkademie durch gezielten Stromausfall an allen Versorgungen angreifbar. Unverzügliche Unterstützung gemäß Einsatzplan E und K gewährleisten!" Er widerholte die Alarmmeldung. Jetzt würden sich zwei Gruppen ausgebildeter Spezialisten für Schwerkriminalität und Terrorismus in Marsch setzen, bestehend aus je zwei Hubschraubern und vier Panzerwagen. In den Panzerwagen saßen zudem auch Experten für Elektrizität und wasserversorgung.

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Auf dem Weg zur Hazelwood-Akademie, 15.09.2003, 21:10 Uhr Ortszeit

Insgesamt fünfzig Außendienstmitarbeiter aus allen für Außeneinsätze zuständigen Abteilungen flogen auf den neuesten Feuerblitzen richtung Südaustralien. Dabei galt es, nicht über Ansiedlungen oder Fernstraßen und Eisenbahnschienen zu fliegen, um möglichst nicht von irgendwelchen Muggeln gesehen zu werden. In jeder Hinsicht erschwerend hinzu kam, dass bis auf die ausgeloste Einsatzleiterin nur Gespanne aus je sieben Besen flogen, die wegen ihrer dazwischen aufgespannten Netze mit mehreren Zentnern schweren Transportgütern nicht die volle Wendigkeit der neuesten Feuerblitze ausspielen konnten. Nur die ausgeloste Einsatzleiterin Tharalkoo Flatfoot aus der Abteilung für magische Lebewesen genoss das Privileg, auf ihrem Besen alleine und ungebunden zu fliegen. Das nutzte sie auch aus, um mal vorne und mal hinten zu prüfen, ob die sieben Gespanne in der abgestimmten Formation flogen und sicher außerhalb möglicher Sichtweiten blieben. Da sie in mehr als dreitausend Metern über Grund flogen war die Luft auch so dünn, dass ein Zurufen ohne entsprechende zauber sehr anstrengend war. Um mit der empfohlenen Vorhut und der hoffentlich nicht benötigten Verstärkung in Verbindung zu bleiben trug Tharalkoo Flatfoot drei kleine verschließbare Silberdosen an einer Kette um den Hals.

"Es bleibt bei der in der Einsatzvorbesprechung beschlossenen Vorgehensweise. Erst wird die Torricelli-Blase erzeugt, weil deren Errichtung weniger Zeit und Aufwand erfordert. Können die womöglich anzutreffenden Schlangenmenschen diese durchdringen muss der erweiterte Arrestdom in erddurchdringender Blasenkonfiguration errichtet werden. Hierzu muss dann aber ein Trägertrupp den betreffenden Ausrichtungsstein direkt über der Mitte des zu umfassenden Bereiches herunterlassen", sagte die per Los bestimmte Einsatzgruppenleiterin. Sie fühlte sich nicht sonderlich wohl in dieser Rolle. Sie war eher die Organisatorin, die Vermittlerin. Dieser Trupp hier mochte in Kampfhandlungen verwickelt werden. Sie war zumindest froh, dass die Ministerin allen zusammengezogenen Truppen befohlen hatte, nicht unmittelbar an den Einsatzort zu gehen oder dort zu landen, sondern aus sicherer Höhe und Warteposition zu beobachten und alle Beobachtungen unverzüglich weiterzumelden.

"Wie lange brauchen wir noch", wollte Flatfoot vom Anführer des vordersten Gespanns, Logan Bridgewood wissen.

"Laut Start-Ziel-Karte noch eine Stunde und zwanzig Minuten, wenn wir keinen Gegenwind kriegen, Madam Flatfoot", erwiderte Bridgewood. Sein im Verband mitfliegender Kamerad Bruce Straker fügte dem hinzu: "Mit den letzten Willy-Willys bräuchten wir anderthalb mal so lang".

"Komm, über Tote nichts, wenn nichts gutes, Bruce", entgegnete Bridgewood. Die für ihre sechzig Lebensjahre noch sehr attraktiv aussehende, schlanke Tharalkoo nickte. Seitdem die Eigentümer von Willy-Willy beim Test ihres neuesten Besens verunglückt waren hatte Finanzleiter Bathurst die einstige Vorzeigemanufaktur ganz schnell an Konkurrenten weiterverkauft, um die Gläubiger von Willy-Willy abfinden zu können. Feuerblitz und die japanische Besenfirma Kazeyama hatten die Besenbauer und -zureiter übernommen und es sogar geschafft, die Einheimsung aller Baupläne durch die Kobolde von Gringotts Sydney abzuwehren.

"Da Sie sich mit sowas besser auskennen verlasse ich mich darauf, dass Sie am Einsatzort keine weiteren Anweisungen von mir benötigen", sagte Tharalkoo Flatfoot zu Bridgewood und Straker. Die beiden nickten zustimmend. Womöglich nahmen sie die bei Tageslicht goldblonde Abteilungsleiterin mit den seegrünen Augen nicht wirklich für voll, um sie als Einsatztruppenführerin anzuerkennen. Aber da sich sowohl McBane, Bridgegate als auch Riverdale aus der Einsatzgruppe gegen verunglückte Magie um diesen Posten beworben hatten war gelost worden.

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An Bord eines Hubschraubers der Sicherheitsfirma Bowman & Chandler auf dem Weg zur Rosemarie-Hazelwood-Akademie, 15.09.2003, 22:06 Uhr Ortszeit

"Drei Minuten. Beim nächsten mal muss das schneller gehen", hatte Clint Pears die verärgerte Bemerkung des Gruppenführers im Ohr. Drei Minuten hatte es gebraucht, die vier Helis anzulassen, die Mannschaften einzuladen und zu starten. Der Pilot des Führungshubschraubers musste dann nur noch bei der Flugsicherung Südaustralien den Flugweg anmelden und auf Notfallstatus Alpha drei verweisen. Offiziell war sein Flug eine Such- und Rettungsmission. In Wirklichkeit konnte daraus aber jederzeit eine Finden-und-Vernichten-Mission werden. Denn wenn er und seine Kollegen ausrückten ging es um die Sicherheit wichtiger Leute, eine drohende oder bereits stattfindende Geiselnahme einschließlich Geiselverschleppung. In diesem konkreten Fall sollten sie einen Zuchtstall goldener Hühnchen aufsuchen und sicherstellen, dass denen keine ihrer superwertvollen Federn gekrümmt wurde. So dachte Pears zumindest über den Einsatzort. Laut aussprechen würde er sowas niemals.

"Geschätzte Ankunftszeit an Zielort in zwei Minuten. Eigenschutz tritt in Kraft", bekam der Pilot vom Truppenführer das Kommando, alle zum Schutz des Fluggerätes nötigen Vorrichtungen einzuschalten. Dazu gehörte ein gegen Boden-Luft-Raketen mit Hitze- und Radarlenkvorrichtung abwehrendes System, wie auch eine Abschussvorrichtung für Blend- und Tränengasgranaten. Wirklich scharfe Waffen wie Bord-MGS oder Raketenwerfer durften sie nicht mitführen oder gar einsetzen. Das galt jedoch nicht für die zugestiegenen Einsatztruppler. Die waren mit Sturmgewehren und 9-Millimeter-Pistolen, sowie Nahkampfdolchen bewaffnet und trugen neben kugelsicherer Schutzausrüstung auch feuerfeste Gasmasken, falls jemand ihnen was übles entgegenblasen würde.

Zielobjekt völlig dunkel. Was sagen die Infrarotgeräte?" wollte Pears' direkter Vorgesetzter wissen. Pears sah auf den kleinen LCD-Bildschirm, der die Aufnahmen der im Bug und zwischen den Kufen verbauten Infrarotkameras wiedergab. "Ich habe dreißig frei bewegliche Wärmequellen in der Erfassung. Weil die Gebäude wärmeisoliert sind kann ich nichts von drinnen erfassen", meldete Pears. "Fremdfahrzeuge?" wollte sein Kommandant wissen. "Negativ. Keine unbefugten Fahrzeuge auf dem Gelände und auch keine Resthitze ausstrahlende Fahrzeuge im gemeldeten Fuhrpark. Moment, ich bekomme noch die Erfassungen von zusammenstehenden Wärmequellen. Identifikation: Die Quellen sind dreißig Pferde auf einer Koppel", gab Pears weiter, was die Infrarotortung ihm zeigte. Ein kurzer Klick auf den Bildabschnitt hatte ihm die aus sich heraus grün leuchtenden Körper der Pferde gezeigt. Deshalb konnte er schnell wieder auf Gesamtübersicht zurückschalten.

"Okay, Landung auf zugewiesenem Feld und Absitzen der Wartungstruppe plus Sicherheitsmannschaft!" erfolgte der zu erwartende Befehl.

"Vorhut von Rückgrat, wirklich keine unbefugten zu sehen?"

"Nicht außerhalb der Gebäude. Im Alarmfall schließen sich deren äußere und innere Türen selbsttätig", sagte der Einsatzgruppenführer.

"Nicht, wenn alle Stromversorgungseinheiten ausgefallen sind, bevor die Türen verschlossen waren", warf einer der mitfliegenden Elektriker ein, der unterwegs die Bau- und Schaltpläne der Zielgebäude studiert hatte. "Der Alarm erfolgte auf Grund des Stromausfalls, nicht durch klare Eindringlingswarnung", fügte der Mann noch hinzu.

"Pears, Verteilung der Wärmequellen?" wollte der Truppführer wissen. Pears sah noch mal auf die Anzeige. "Zwanzig Quellen verteilt auf den Mauern", meldete er. "Ah, noch zehn auf freiem Gelände, nicht in Formation, sondern einzeln", meldete Pears.

"Gut, die auf der Mauer sind die hauseigene Schutzmannschaft. Anfunken auf Kanal Grün zwei und Verschlüsselung Bravo Lima!" befahl der Kommandant. Pears bestätigte und stellte die entsprechenden Funkparameter ein. Dann schaltete er das zweite Bordfunkgerät auf das Sprechbesteck seines Vorgesetzten und hörte mit.

"Unsere Hausmeisterin ist mit dreien von uns im betroffenen Bereich und prüft Art und Ursache des Ausfalls. Lage unter Kontrolle", hörten die Männer eine militärisch geübte Frauenstimme.

"Wir sind da, um mögliche Reparaturen möglichst schnell auszuführen. Erbitten Genehmigung für Landung und Einsatz unserer Reparaturtruppe."

"Einsatz genehmigt. Landen Sie wie vereinbart auf den Feldern eins bis vier im Grünsektor. Ich schicke Mitarbeiterinnen mit ausreichend starken Handleuchten", kam die Frauenstimme aus den Kopfhörern. Das wurde bestätigt.

Weil die Hubschrauber über starke Suchscheinwerfer und Infrarotkameras verfügten war es kein Problem, das angewiesene Landefeld zu finden. Weil ja gerade keine Stromversorgung bestand konnten die üblichen Landefeuer nicht gesetzt werden. Doch die vier angekündigten Sicherheitstruppfrauen hielten beachtlich starke Handscheinwerfer hoch, neben denen eine Taschenlampe winzig und leuchtschwach wirkte. So landeten die vier Helikopter zügig. Da keine verdächtigen Aktivitäten erkannt oder gemeldet worden waren wurden die Turbinen ausgeschaltet. Die Rotorblätter drehten sich immer langsamer, während die an Bord befindlichen Einsatztruppen bereits ausstiegen. Nur Pears blieb vorschriftsmäßig an Bord seiner Maschine. So bekam er nicht mit, in welche Falle sie alle hineingeraten waren.

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Im Wohnturm der Schulleiterin Rebecca Hazelwood, eine Minute vor Ankunft der Alarmtruppe

"Carla Winwood, die von den meisten Schülerinnen und auch wohl etlichen Kolleginnen Madam General genannt wurde, gehörte jetzt auch zu der machtvollen Truppe des Erhabenen. Die, welche vorhin noch Direktrice Hazelwood gewesen war, gewöhnte sich schnell daran, dass sie mit den neuen Artgenossinnen in direktem Gedankenkontakt stand. Winwood hatte auch als erste herausgefunden, dass es sinnvoll war, nicht alle Schutztrupplerinnen auf einmal einzuberufen. Denn als Winwood ein Funkgerät und eine Taschenlampe nehmen wollte hatte sich herausgestellt, dass sie diese Geräte offenbar störte. So hatte die Einberuferin Sisufuinkriasha befohlen, nur jede zweite Sicherheitstrupplerin einzuberufen und die nicht "geküssten" mit der Macht ihres Blickes zu zwingen, den Anschein einer gefahrlosen Lage aufrechtzuhalten, wenn die durch den stillen Alarm aufgescheuchten Leute kamen. "Wenn Frauen dabei sind werden sie einberufen. Falls nicht, werden die Männer nur durch Zwingblick dazu veranlasst, ihren Vorgesetzten eine beruhigende meldung zu übermitteln und dass sie bis zum Ende des Stromausfalls alle bei uns bleiben", hatte Sisufuinkriasha angeordnet. Die neue Untergebene der blattgrünen Schlangenfrau wagte es nicht, den Grund zu erfragen, warum sie nur die Frauen einberufen durften, wo Männer doch sicher auch brauchbare Mitstreiter waren.

Dann bekam die von Sisufuinkriasha einberufene Ex-Schulleiterin über die direkte Gedankenverbindung mit, wie erst die Besatzungen der vier Hubschrauber durch den besonderen Hypnoseblick willenlos gemacht wurden und diese dann in der Aula der Schule, die auch als Notfallbunker eingesetzt werden konnte, eingeschlossen wurden. Die Männer in den Panzerwagen würden ebenso überrumpelt werden. An die Hubschrauber traute sich jedoch keine heran. Sie spürten, dass diese Maschinen ihnen gefährlich werden konnten, sobald sie abhoben. Dennoch würden sie wohl nicht vermeiden, die Piloten der Helikopter zu unterwerfen.

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In der Schwimmhalle der Hazelwood-Akademie bei Port Lincoln, 15.09.2003, 22:10 Uhr Ortszeit

Es war über sie gekommen wie ein Albtraum im hellwachen Zustand. Sie hatte sich nicht dagegen wehren können. Plötzlich hatte sie von allen Seiten meterlange Giftschlangen mit menschlichen Köpfen herankriechen gesehen. Dabei hatte sie sich doch gerade ins Bett gelegt. Sie war aufgesprungen, hatte sich ihren Morgenrock übergeworfen und war einfach aus dem Schlafsaal gerannt. Ihre Kameradinnen riefen ihr nach, wo sie denn hinwollte. Peggy Custer lachte sogar, dass sie wohl den flotten Otto habe und deshalb morgen sicher von "Könign Rebecca" vor aller Mannschaft runtergemacht würde. Doch das war ihr gerade total egal. Diese Angstbilder von auf sie losgehenden Schlangen mit Menschenköpfen trieben sie an, alle Regeln von Hazelwood zu vergessen. Irgendwas ging gerade vor.

Sie war gerade aus dem Haus, als diese eingebildete Pute Paula Saunders ihr hinterherrief, sie solle wieder ins Haus rein, wenn sie nicht zweihundert Minuspunkte und die erste Abmahnung kassieren wolle. Doch auch das war ihr egal gewesen. Auch dass Saunders mit ihren nicht minder eingebildeten Klassenkameradinnen Kellerman und Lewis hinter ihr hergelaufen war machte ihr nichts.

Warum sie so schnell laufen konnte wusste sie nicht. Eine Läuferin war sie eigentlich bisher nie so recht gewesen. Jedenfalls schaffte sie es, ohne aufgehalten zu werden zum Sportplatz zu kommen. Wieso sie ausgerechnet die Schwimmhalle aussuchte wusste sie nicht wirklich. Doch als sie vor der verschlossenen Tür stand überkam sie die Angst, gleich von den Schlangen aus diesen Albtraumbildern erwischt zu werden. Sie drückte ihre Hand gegen das Türschloss. Dieses erzitterte. Dann sprang die Tür klackend auf. Sie lief in die dunkle Halle. "Im Wasser bin ich sicher", dachte sie. "Nur im Wasser bin ich vor ihnen sicher."

So leise sie konnte war Laura Rutherford bis zur großen Halle mit den Becken für die fortgeschrittenen Schwimmübungen gelangt. Dass die anderen ihr hinterherliefen hatte sie nur am Rand mitbekommen. Dann war sie in allen Sachen ins Wasser gesprungen. Sofort hatten sich ihr Morgenrock und ihr Nachthemd mit Wasser vollgesogen. Doch das störte sie nicht. Sie streifte das einfach ab und ließ es im Wasser treiben. Dann schwamm sie schnell zur über der Beckenmitte verankerten Absprunginsel für Tauchübungen. Irgendwie wusste sie, dass sie die Insel losmachen musste. Also hatte sie ganz tief Luft geholt und war untergetaucht. Sie spürte es, wie das Wasser auf ihre Trommelfelle drückte. Doch das störte sie nicht. Sie fand die vier Karabinerhaken, mit denen die drei Meter große Insel am Beckenboden befestigt war und löste diese mit einer Geschicklichkeit, die ihr bisher selbst nicht bekannt gewesen war. Dann tauchte sie an den nun herunterhängenden und mit Gewichten beschwerten Schnüren nach oben und zog sich auf die Insel hoch. Diese trieb einige Meter weit richtung anderes Beckenende. Doch sie musste in der Mitte bleiben. So bremste sie den Vortrieb mit den Beinen und schaffte es, die Insel wieder in die Beckenmitte zurückzusteuern. Der Beckenrand war jeweils drei Meter entfernt. Die Schmalseiten jeweils fünfundzwanzig Meter. Endlich konnte sie aufatmen.

Doch die Ruhe dauerte nicht lange. Gerade hörte sie, wie jemand etwas fauchte, was durch die Größe der Halle unverständlich verzerrt wurde. Dann sah sie eine Frau in Tagesbekleidung in die Schwimmhalle kommen. An den hellen Haaren erkannte sie die neue Lehrerin Claudia Watson, die sozusagen mit ihr in Hazelwood angefangen hatte. Dann sah sie irgendwie durch die halboffene tür ein leicht flimmerndes grün-blaues Leuchten und wusste, dasss es eine von denen sein musste, vor denen sie sich retten wollte. Sie rief Professor Watson zu, dass sie ins Wasser musste. Diese hörte die Antwort der Verfolgerin und sprang ins Wasser.

"So nichchcht! Zzzzzurück mit dirrrr!" schnarrte das unheimliche Wesen, das am Beckenrand stand und nicht wusste, ob es hinterherspringen sollte. Denn dieses Becken war ein Wettkampfbecken, das keinen fflachen Zugang hatte. Laura hoffte, dass dieses Wesen nicht schwimmen konnte. Doch eher dachte sie, dass dieses Wesen Angst vor tiefem Wasser hatte.

Claudia Watson selbst war offenbar sehr gut darin, in Kleidung zu schwimmen, wenngleich ihre festen Schuhe störten. Laura winkte ihr, während das am Beckenrand stehende Ungeheuer wütend zischte und die gespaltene Zunge immer wieder vorschnellen ließ, als könne sie die beiden Schwimmer damit wieder einfangen.

"Laura Rutherford! Was machst du hier im Becken!" stieß Claudia Watson aus und zog sich mühsam an der dick aufgeblasenen Absprunginsel hoch. Hier war das Becken am tiefsten, gut genug für Tauchübungen mit und ohne Pressluftflasche.

"Das was Sie machen, Professor Watson. Ich hoffe, dass diese Monster nicht ins Wasser springen", zischte Laura leise.

"Das hab' ich gehört", schnaubte das schlangenartige Ungeheuer am Beckenrand. Claudia Watson blickte sich um und sah, vor wem sie hatte fliehen müssen und erbleichte sichtlich.

"Ich glaube, ich träum das gerade", seufzte die Lehrerin für Physik und Chemie. Die Gestalt am Beckenrand lief derweil um das Becken herum, suchte offenbar einen Punkt, von dem aus es gefahrlos zu den beiden Gummiinsulanerinnen hingelangen konnte. "Nicht in die Augen sehen. Die kann Hypnose", flüsterte Laura ihrer Lehrerin ins rechte Ohr. Diese hatte schon Anstalten gemacht, dem Ungeheuer in die bleichen Augen zu sehen. "Sieh mich gefälligst an, junges Ding!" schnarrte die Ausgeburt welcher Hölle auch immer. Offenbar peilte sie, ob sie mit einem Sprung auf der Insel landen konnte. Denn es machte Schritte vor und zurück.

"Laura, woher zum Teufel weißt du das?" zischte Professor Watson, die nun aufpasste, der Kreatur nicht in die das Mondlicht spiegelnden Augen zu sehen. Offenbar scheute das Unwesen wirklich den Sprung ins Wasser. Doch drei Meter bis zum Beckenrand waren selbst für einen nicht ganz so sportlichen Erwachsenen kein Akt, wusste Claudia Watson, die sogar schon vier Meter geschafft hatte. Aber was hatte Laura gesagt? Offenbar wollte dieses Geschöpf da nicht in tiefes Wasser. Aber wenn es die Insel mit einem sicheren Sprung erreichte ...

"Ichchch kriege euchchch jetzzzzt", zischte das unheimliche Geschöpf und lief einige Schritte zurück. Dann preschte es vor und sprang los.

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Zur gleichen Zeit auf der Straße Richtung Hazelwood-Akademie

Glenn Brownloe saß am Steuer der Kolonne aus zehn schwer gepanzerten Wagen, die im Bedarfsfall auch gegen bewaffnete Truppen eingesetzt werden konnten. Gerade hatten er und seine Kollegen über Funk die Meldung erhalten, dass es auf dem angesteuerten Gelände nur einen massiven Ausfall aller Stromversorgungssysteme gegeben hatte. Laut Vertrag musste die Hälfte der alarmierten Hilfstruppen bis zur Wiederherstellung der Stromversorgung und damit einhergehenden Sicherheitssysteme die Außenbereiche des Objektes sichern. Weil es zu den Statuten von Hazelwood gehörte, dass nur zu Elternsprechtagen Männer und mit den Schülerinnen verwandte Jungen die Gebäude betreten durften konnten sich die in den Panzerwagen sitzenden überlegen, wer von ihnen auf der hohen Mauer mit den hauseigenen Sicherheitsleuten wachen sollte.

"Wir sind in einer halben Stunde da. Routinemeldungen wie festgelegt!" sagte Brownloes Beifahrer Martinson, der als Kolonnenführer eingesetzt war.

"Vielleicht haben wir die Aggregate bis dahin wieder flott", erwiderte eine Männerstimme aus dem Funk. Sie gehörte wohl einem der Hubschrauberpiloten, die weisungsgemäß die Maschinen bewachen und die Fernverständigung mit den nachrückenden Bodenkräften gewährleisten sollten.

"Das soll Custer uns selbst melden", erwiderte Martinson.

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Zur gleichen Zeit im Wohnturm der Schulleiterin der Hazelwood-Akademie

"Mist, sind alles nur Männer. Warum dürfen wir die nicht zu welchen von uns machen", hörte die von Sisufuinkriasha einberufene Schulleiterin die Gedankenstimme der einberufenen Schülerin Jennifer Lewis.

"Weil Männer uns ablenken, sobald sie zu uns gehören", erwiderte Sisufuinkriasha. "Aber keine Sorge, Süße, wir schwärmen bald aus und suchen weitere Ziele."

"Die Rutherford und Ms. Watson sind noch in der Schwimmhalle", gedankensprach Jennifer Lewis.

"Warner kümmert sich um die zwei", bekam Jennifer die Antwort ihrer Klassenkameradin Emilia Hudson.

"Wenn die in den Luftquirlen was peilen fliegen wir auf", gedankengrummelte Liza Summerfield, eine ehemalige Fünftklässlerin.

"Okay, dann gilt ab jetzt, auch alle anderen von euch einberufen, für den Fall, dass wir eine ganze Kampftruppe abwehren müssen!" befahl die frühere Schulleiterin von Hazelwood. Zunächst war es ihr untersagt gewesen, Mädchen unter dreizehn Jahren einzuberufen. Doch wenn die da draußen doch was mitbekamen und mit großem Orchester aufspielten, wie es bei Bowman & Chandler genannt wurde, würden sie jede brauchen, die erfolgreich um sich beißen konnte. Zumindest legte Sisufuinkriasha kein Veto gegen diese Anweisung ein.

Die ehemalige Schulleiterin der Hazelwood-Akademie dachte an Claudia Watson, die erst in diesem Schuljahr angefangen hatte und vielleicht nur dieses eine Jahr durchhalten mochte. Wieso war die nicht unter den Einberufenen, und warum war dieses ihr wegen seiner Hochbegabtheit vor der eigentlichen Hazelwood-Reife zugeschusterte Mädchen Laura Rutherford aus ihrem Haus gelaufen und hatte sich so zielsicher im Schwimmbad verkrochen? Dann hörte sie einen kurzen Aufschrei und wusste, dass es die Kollegin Warner war.

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Erst hatte sie wie alle anderen gezittert und gejammert, als sie von diesen Schlangenfrauen gebissen worden war. Doch jetzt fand sie sich richtig stark. Ihr ganzer Körper war von nachtschwarzen Schuppen bedeckt. Nur ihre neuen Augen leuchteten wie kleine Monde. So hatte sie fast zwei Minuten vor dem Spiegel in dem Vierbettzimmer gestanden, dass sie mit Lindsey Bancroft, Tonya Fuller und Monica Landers bewohnte. Alberta alias Berty Hoskins empfand sich in dieser neuen Gestalt richtig schön und großartig, irgendwie die Shöne und das Biest in Personalunion. Zusammen mit den anderen, die zwei- oder sogar dreifarbige Schuppenhäute gekriegt hatten, war sie losgezogen, die anderen über dreizehn zu beißen, als sie fühlte, dass in ihren neugewachsenen Giftzähnen genug Druck war. Innerhalb von fünf Minuten hatte sie alleine zwei Vierbettzimmer im D-Haus angebissen. Das ganze war so schnell und superleise abgegangen, dass die meisten von denen unter sechzehn nicht mal mitbekommen hatten, dass jemand sie derartig geküsst hatte. Nur die kleinen zwischen elf und dreizehn Jahren sollten sie lassen wie sie waren, höchstens einschüchtern oder unterwerfen, dass die nichts anstellten.

Gerade lief das völlig schwarze Schlangenmädchen über den Hof. Sie hielt sich den linken Arm vor die Augen, damit die nicht im Mond leuchteten. Sie hatte das mitbekommen, dass vier Hubschrauber gelandet waren. Ihr Vater hatte selbst drei Helis und einen Privatjet. Deshalb wollte sie wissen, was für Maschinen es genau waren und die Piloten interviewen. Doch halt, so wie sie jetzt aussah würden die glatt ausrasten, um Hilfe rufen oder mit irgendwas auf sie ballern, von dem sie nicht wusste, ob sie das aushalten konnte. Dann musste sie sich eben wieder zurückverwandeln. Aber wie ging das? Egal, dann machte sie eben einen von den Helikutschern zu ihrem ersten eigenen Einberufenen, auch wenn Königin Rebecca das anders sah.

Lautlos und wegen ihrer schwarzen Schuppenhaut im dunkeln nicht zu erkennen erreichte sie einen der Hubschrauber. Sie fühlte irgendwie, dass von der Maschine was für sie gefährliches ausging. Doch das war ein Hubschrauber. Mit sowas war sie schon als Zweijährige herumgeflogen, und den Learjet ihres Vaters hatte sie vor zwei Monaten erst für zehn Minuten steuern dürfen, als sie einen ausgedehnten Urlaub auf Hawaii gemacht hatten. Also was sollte an einem gelandeten Hubschrauber mit ausgeschaltetem Motor gefährlich sein, außer dem Piloten. Aber den würde sie gleich mal eben im Vorbeigehen anknabbern und sich ansehen, was aus dem für einer wurde.

Während die schwarzgeschuppte sich dem Hubschrauber näherte hörte sie das hektische Gedankentuscheln der neu dazugekommenen und der beiden ältesten, die wohl gerade neue Generalanweisungen ausgaben. Es durften keine Männer gebissen werden, weil die sie alle ablenken würden. Aber warum? Wurden sie alle dann rammeldoll aufeinander? Wäre doch sicher mal was ganz krasses, wie sie und die anderen mit umgepolten Mannsbildern wilden Gruppensex hatten.

"Pangiaimmaya, wo willst du hin?" hörte sie die Stimme dieser Sisufuinkriasha, die sich als ihrer aller obere Einberuferin vorgestellt hatte. Wer bitte war Pangiaimmaya? Dann fiel ihr ein, dass sie sich instinktiv gegen die ganzen Gedankenstimmen abschotten konnte. Ob sie das alleine konnte oder alle anderen auch war ihr gerade völlig egal. Sie machte zu. Wer immer diese Pangiaimmaya sein sollte, sie fühlte sich nicht angesprochen.

Jetzt erreichte das Schlangenmädchen Alberta Hoskins den angepeilten Hubschrauber. Die Verwandelte schlich sich von der Backbordseite her an, immer die Dunkelheit und die Schatten ausnutzend. Dann sah sie den Piloten, der sich hinter der verschlossenen Tür zurückgelehnt hatte und wohl auf den Funkverkehr lauschte. Mit einem schnellen Griff riss das Schlangenmädchen die Tür auf und warf sich auf den völlig überraschten Piloten. Keine Sekunde später schlug sie ihm im Draculastil ihre neuen Zähne in den Hals. . Doch sie vermied es, sein Blut zu trinken. Das sollte ja umgewandelt werden. Der Pilot röchelte. Dann kam sein Gegenstoß in Form eines wuchtigen hiebes gegen Bertys Kopf. Sie prallte zurück und sah den von ihr verletzten verächtlich an. "Freu dich, Süßer, in fünf Minuten hast du's hinter dir", zischte sie. Da fühlte sie, wie etwas mit einer starken Ausstrahlung von rechts heranjagte und in einem Moment eine andere einfarbige Mitschwester aus dem Boden fuhr. "Dummes Balg, was hast du gemacht?" zischte die andere. Dann wollte sie in die Kabine hineinspringen. Da knallte die massive Stahltür zu, es fauchte wild, als eine unter den Rotorblättern verbaute Vorrichtung die Flügel in schnelle Drehungen versetzte. Gleich danach heulte die Turbine in rasch aufsteigender Tonlage auf. Die Rotorblätter kreisten immer schneller. Die dazugekommene Schlangenfrau versuchte noch einmal, die Tür aufzureißen. Doch die war jetzt wortwörtlich bombensicher verschlossen. Dann erbebte die Maschine und hüpfte nach oben. Als wenn die andere Schlangenfrau einen elektrischen Schlag abbekommen hätte ließ sie von der Tür ab und landete federnd auf den Füßen. Mit wildem Wirbelwind und in den Gehörgängen schmerzendem Turbinengeheul stieg der Helikopter nach oben, immer schneller, als habe jemand unter ihm eine Rakete gezündet.

Das schwarze Schlangenmädchen sah dem aufsteigenden Hubschrauber nach und fühlte Angst, dass dieses laute Fluggerät sie aufpicken und wegtragen würde. Dann bekam sie unvermittelt einen heftigen Schlag auf die rechte Gesichtshälfte, der sie fast auf den Boden warf, wenn in ihr nicht die so mächtigen Ströme aus der tiefen Erde wirkten.

"Du seltendämliches Ding hast meine klare Anweisung missachtet und damit die ganze Sache unnötig gefährdet. Ich habe dich gerufen und gerufen, Pangiaimmaya. Aber du hast mir nicht zugehört. Das ist sehr böse. Dann hast du den Piloten gebissen, dass der jetzt einer von uns wird. Aber die Piloten sollen keine von uns werden, weil die mit ihren Leuten reden müssen, dass hier alles gut ist. Jetzt fliegt der weg und kriegt vielleicht noch eine Alarmmeldung rausgeschickt, dass eben nicht alles gut ist, du saublödes Stück. Dafür ziehst du gleich los und kriegst es hin, dass deine Mutter und wer sonst noch bei dir Mädchen über dreizehn ist einberufen werden. Ich will dich hier nicht mehr sehen. Los, ab!"

"Eh, wer bist du, dass du mich so anmachen darfst und wieso heiße ich jetzt Pangaigimaya oder so?" begehrte Berty Hoskins auf.

"Erstens, ich bin Sisufuinkriasha, deine zweitoberste Einberuferin. Zweitens heißt du Pangiaimmaya, weil die, welche dich einberufen hat, durch deine Augen gesehen hat, wie du in der erhabenen Form aussiehst und die, die mich zu den Kriegerinnen des Erhabenen gerufen haben mir gesagt haben, dass du deshalb starke Tochter der Nacht, also Pangiaimmaya heißen sollst. Und weil ich das jetzt klar und deutlich zu dir gesagt habe gilt, dass du nur noch das machst, was ich dir sage. Und ich sage dir: Schwirr ab und berufe alle die Frauen und Mädchen über dreizehn ein, die du kennst und die dir früher mal wichtig waren. Hier will ich dich nicht mehr sehen, bis wir alle von hier abrücken."

"Ja, aber ohne Auto und Hubi komme ich doch nicht nach Ballarat, ey!"

"Aber sowas von, verwöhntes Balg. Du stampfst kurz auf den Boden und lässt dich einfach in die Erde runtersausen. Keine Panik, das ist unsere echte Art zu reisen. Dann kannst du dich auf leichte Schwingungen einhören. Das ist das Magnetfeld von der Erde. Dessen Kraftlinien kannst du dann folgen. Wenn du dich nicht genauso blöd anstellst wie gerade mit dem Hubschrauberpiloten ... Ich muss wieder zurück. Das Wegfliegen von dem hat echt alles aufgescheucht. Wir müssen uns ranhalten. Also ab mit dir. Sehe oder spüre ich dich in den nächsten zehn Minuten hier noch irgendwo, mach ich dich eigenhändig tot, auch wenn die Einberufer sagen, dass wir das nicht können."

"Ist ja gut", knurrte Pangiaimmaya, die fühlte, dass sie der anderen da wirklich unterworfen war. Das passte ihr ebensowenig wie die ständige Bezeichnung "Dummes Balg". Also lief sie los, während auch die anderen Hubschrauber im Alarmstart vom Boden abhoben, wohl um ihre Kollegen zu warnen.

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Er hatte nicht richtig gesehen, was ihn da so urplötzlich angefallen hatte. Es war was schwarzes mit mondlichtfarbenen Glotzaugen. Dann hatte er nur diesen höllisch stechenden Schmerz am Hals gefühlt und auch, wie etwas sehr übles in ihn hineingeraten war. Seine Kampfinstinkte hatten ihn erst den Angreifer zurückschlagen und dann die Tür schließen lassen. Mit dem Knopf für Alarmstart warf er nicht nur die Turbine an, sondern verriegelte die Türen so fest, dass nicht einmal eine Panzerfaus sie knacken konnte. Als die Maschine dann ruckelnd vom Boden loskam fühlte er, wie das Zeug, dass in seinen Hals gespritzt worden war, sich immer weiter in seinem Körper ausbreitete. Doch dann hatte Pears eine merkwürdige Empfindung. Je höher sein im Alarmstartmodus steigender Hubschrauber aufstieg, desto weniger pochte das unheimliche Zeug in ihm. Jetzt fühlte er nur noch, wie eine Wunde am Hals pochte und fühlte daraus in seine Fliegerkombination sickerndes Blut. Doch das Gefühl, dass etwas ganz gemeines sich in ihm ausbreitete, war erst einmal weg.

"Leute, hier Pears! Alarmstufe Violett! wurde gerade von dunkel gekleideter Person mit Giftspritzen am Hals verletzt. Konnte gerade noch starten. Versuche noch zur Basis zu kommen. Alarmstufe Violett!" röchelte Pears. Seine Kollegen reagierten, indem sie vorsorglich selbst den Alarmstart durchführten. Gleichzeitig riefen sie nach ihren Kameraden, bekamen jedoch keine Antwort mehr. Da war allen klar, dass sie hier in eine Falle gelaufen waren und nur das blitzschnelle Handeln von Pears die auf dem Boden anrückende Mannschaft früh genug gewarnt hatte.

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Zur gleichen Zeit in der Schwimmhalle der Hazelwood-Akademie

Claudia Watson sah die unheimliche Gestalt auf sich zufliegen. Da fühlte sie, wie Laura Rutherford ins Wasser sprang und der Insel dabei einen gehörigen Schups richtung gegenüberliegenden Beckenrand versetzte. Mit lautem Klatschen landete das echsenartige Fremdwesen im Wasser, knapp einen Meter zu weit rechts und mindestens zwei meter zu weit hinter der schwimmenden Insel. Das war eigentlich keine Entfernung für eine mittelmäßige Schwimmerin. Laura schien unter die Insel getaucht zu sein. Wieso? Glaubte sie irgendwoher, da sicher zu sein? Dann schob sich die unheilvolle Kreatur an die heftig schaukelnde Absprunginsel heran. Claudia Watson fühlte, dass ihre Kleidung für einen Kampf zu voll mit Wasser war. Sie riss an ihrer Bluse, bis diese aufklaffte und warf sie von sich. Dann zerrte sie an ihrem Rock, bis er von selbst fiel. Jetzt stand sie nur in nasser Unterwäsche da und sah, wie die Echsenfrau ihre Arme ausstreckte. Gleich war sie auf der Insel und dann? Da sah Claudia Watson, wie das Wesen immer schlaffer wurde und sich dabei verwandelte. Es bekam zunehmend menschliche Formen und ein von mittleren Jahren gezeichnetes Gesicht. Dunkle Haare wuchsen aus dem bis dahin schuppigen Kopf. Dann schwamm vor ihr laut prustend die Kollegin Mathilda Warner. Wie war die zu so einem unheimlichen Wesen geworden? Doch Claudia ahnte, dass die Rückverwandlung nur passiert war, weil die andere im Wasser gelandet war. Sie wusste nicht, warum das so war. Aber sie wusste, dass sie nicht zulassen durfte, dass die veränderte Kollegin ihr was antun würde.

"Verdammtes Mistbalg, elendiges!" prustete Mathilda Warner und versuchte, sich auf die Insel hochzuziehen. Als sie mit dem Kopf über den Gummiwulst kam trat Claudia Watson kräftig zu. Sie hoffte, die andere nicht zu töten. Doch sie wollte sicher sein, dass sie zunächst nichts gegen sie machen konnte. Ihr tritt traf voll. Mathilda Warner erschlaffte ganz und rutschte ins Wasser zurück.

Laura Rutherford tauchte neben der Insel auf und hielt drei der vier Halteschnüre hoch, mit denen die Insel in der Beckenmitte verankert wurde, wenn gerade kein Wettschwimmen auf sechs Bahnen gleichzeitig vorgesehen war.

"Was willst du bitte damit, Mädchen?" fragte Claudia Watson. "Sie auf die Insel ziehenund dann damit festschnüren und einhaken, dass sie sich nicht bewegen kann. Die Insel muss dann immer in der Beckenmitte sein", sagte die Zehnjährige, die in den ersten Tagen des Schuljahres durch ständiges Hinterfragen und Trotzverhalten aufgefallen war, aber wegen einer unverkennbaren Intelligenz als hochbegabte Schülerin eingestuft worden war, was Direktrice Hazelwood natürlich ebenso angesprochen hatte wie das extrahohe Schulgeld, dass Lauras Eltern zahlen wollten.

"Öhm, hoffentlich ist sie nicht tot", meinte Claudia Watson, der nun doch leid tat, die andere mit einem mittelstark dosierten Karatetritt bewusstlos gemacht zu haben.

"Neh, das Böse ist noch in der wach. Die will wieder aus dem Wasser, um wieder zum Monster zu werden", sagte Laura. Claudia fragte erst mal nicht, wie die Schülerin darauf kam und warum sie überhaupt hier im Schwimmbecken war. Sie zog die noch ohnmächtige aus dem Wasser und hoffte, nicht gleich einen verdienten Revancheschlag von ihr abzukriegen. Laura schob die füße nach. Dabei wickelte sie bereits zwei der drei Schnüre so um die Beine der bewusstlosen Lehrerin, dass diese sie beim Aufwachen nicht so leicht bewegen konnte. Claudia sah mit einer Mischung aus Verwunderung und Anerkennung, wie Laura innerhalb von einer Minute ein handliches Paket aus der ohnmächtigen Lehrerin machte. Jetzt holte sie noch die vierte Schnur ein, die durch Bleibewichte am unteren Ende nach unten hingen, wenn sie nicht verankert wurden. Die Gewichte machte sie ab, vollendete die Fesselung der Ohnmächtigen und hakte dann alle losen Enden mit den Karabinern ein, und zwar so, dass die andere keinen Finger daranbekam.

"Ich merke, dass die anderen gerade gegen wen anderes kämpfen, jemand, der was machen kann, dass die nicht rauskommen. Wir bleiben besser hier", sagte Laura Rutherford mit einer für eine Zehnjährige unerwarteten Entschlossenheit und Bestimmtheit, die keinen Widerspruch duldete. Claudia Watson lauschte. Sie hörte jedoch nur das leise gegen die Gummiwülste der schwimmenden Insel plätschernde Wasser.

"Bevor meine bedauernswerte Kollegin wieder wach wird und merkt, dass du sie an die Insel gefesselt hast möchte ich zu gerne wissen, warum du jetzt hier bist und woher du so sicher weißt, was draußen passiert", wisperte Claudia Watson. Denn der Anblick der sich aus einer Echsenkreatur in eine Menschenfrau zurückverwandelnden hatte sie für viele Erklärungen empfänglich gemacht, selbst die, dass Laura in Wirklichkeit eine Außerirdische war, die mal mitkriegen wollte, wie die Töchter reicher Leute unterrichtet wurden.

"Ich weiß nicht, warum ich das weiß oder wieso ich dann, wennn ich große Angst habe machen kann, dass eine Tür aufgeht. Ich habe nur bevor ich ins Bett wollte sowas wie einen Albtraum ohne Einschlafen gehabt, dass wir von Schlangen mit Menschenköpfen angegriffen werden. Deshalb bin ich ja überhaupt wieder aus dem C-Haus. Dass ich hier im Becken irgendwie sicher vor denen bin wusste ich nicht, habe das aber irgendwie gefühlt. Ja, und seitdem ich sie hier hinter ihnen gespürt habe kriege ich auch mit, was draußen los ist, dass es immer mehr von denen werden, alles Mädchen von uns und Ihre Kolleginnen. Die große Direktrice ist wohl auch schon eine von denen. Denn das ist nur logisch, dass die, die das mit ihr hier gemacht haben, erst die Schulleiterin erwischen."

"Du hast die Schwimmhallentür aufgemacht, die eigentlich zu war. Wie ging das? Hast du das gewollt, dass sie aufging und Klick? Oder hast du irgendwie am Schloss herumgefummelt, bis es aufging?"

"Ich habe die Hand draufgelegt und vor lauter Angst, dass ich gleich erwischt werde gewollt, dass ich da reinkomme. Dann ging die Tür auf. Ist echt wie Zauberei."

"Oder das, was die Parapsychologen Telekinese nennen, also das Bewegen von Dingen durch reine Gedankenkraft", erwiderte Claudia Watson. Mit Magie wollte sie es hier und jetzt nicht erklären, auch wenn die Echsenfrau da echt wie ein Wesen aus dem Dämonenland ausgesehen hatte. Aus ihren eigenen Kindertagen wusste sie, dass Dämonen Angst vor natürlichem Feuer hatten. Vampire fürchteten Sonnenlicht und ... fließendes Wasser. Doch das Wasser hier im Becken floss gerade nicht, weil der Strom weg war. Nein, sie wollte sich nicht auf das Niveau einlassen, Geister, Dämonen und schwarze Magie als Erklärung hinzunehmen. Parapsychische Fähigkeiten, außersinnliche Wahrnehmung, irgendeine mutagene Substanz, die Menschen in absonderliche Wesen verwandeln konnte, das wollte sie hinnehmen.

"O, ich fühle, dass Leute ganz große Schmerzen haben", wimmerte Laura Rutherford. Gleichzeitig meinte Claudia Watson, den Beckenrand beben zu sehen. Tatsächlich kamen kleine Wellen auf, als wenn auch der Beckengrund erschüttert wurde.

"Du kannst aber nicht meine Gedanken lesen, oder?" fragte Claudia Watson.

"Habe ich bisher nicht gemerkt, ob ich das kann. Ich kann nur so komische Sachen machen, wenn ich ganz wütend bin oder ganz viel Angst habe", sagte Laura nun wieder eher wie ein kleines Mädchen redend. Da wachte Mathilda Warner auff.

"Verdammt, was habt ihr zwei ... Ey, sofort wieder losmachen. Ich bin eine wichtige Dienerin des Erhabenen. Macht das sofort ab von mir und bringt mich aus dem verdammten Pinkelbecken raus!" zeterte sie los, dass sie sicher über mehrere hundert Meter hinweg gehört werden konnte. Claudia Watson brauchte keinen Ratschlag von Laura Rutherford. Sie verpasste der veränderten Kollegin einen Karateschlag an die Schläfe und nahm ihr so wieder das Bewusstsein.

"Wer ist dieser Erhabene?" fragte Claudia, während sie aus ihrer Rocktasche ein Stofftaschentuch nahm und es der Kollegin so in den Mund stopfte, dass sie zwar noch durch die Nase Luft bekam aber nicht mehr laut schreien konnte. Dabei sah sie, dass die andere normale Menschenzähne hatte. Doch das Ungeheuer vorhin hatte mehrere spitze Fangzähne gehabt.

"Ich weiß das nicht. Vielleicht ist das ein verrückter Wissenschaftler, der diese Monster machen kann oder ein Außerirdischer, der mit einem Verwandlungsserum diese Wesen machen kann oder doch sowas wie ein Vampirlord", vermutete Laura Rutherford.

"Klingt alles abgedreht, Miss Rutherford. Aber das ist die ganze Situation sowieso", grummelte Claudia Watson und erzählte nun, warum sie aus ihrer Wohnung im Lehrerinnenhaus geflüchtet war.

"Dann hat jemand, der oder die stärker als die Stahltüren ist die Türen aufgedrückt. Dann sind die eigentlich noch stärker als die hier", sagte Laura Rutherford.

"Dann hätte die ansatzlos auf diesem Gummifloß landen und unns beide mit einem Rundschlag abfrühstücken können", verfiel Claudia Watson in eine eher jugendliche Sprechweise.

"Ja, aber die können das nur auf festem Boden, nicht im tiefen Wasser. Dann brauchen die wohl Verbindung mit der Erde, so wie japanische Wasserkobolde immer einen Schluck Wasser in der Mulde auf ihrem Kopf herumtragen müssen, um nicht schwach zu werden", vermutete laura.

"Auch wenn das wieder sehr nach Tolkien und den Gebrüdern Grimm klingt kann ich diese Vermutung nicht abstreiten. Immerhin wollte sie hier sofort wieder aus dem Wasser. Das klang schon richtig ängstlich, als würde sie immer schwächer, je länger sie hier ist. Aber dir ist klar, dass wir im Moment nicht von hier weg können, wenn da draußen noch mehr von denen rumlaufen und das alles ..." Claudia Watson lauschte. Ja, da waren Stimmen, die tuschelten. Dann ging die Tür zur Halle auf, und fünf von denen standen im Mondlicht und blickten zum Becken herüber. "Nicht in die Augen sehen", zischte Laura. "Eh, ihr da. Macht unsere Schwester sofort los und kommt da raus!" zischte eine der fünf.

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Auf dem Weg zur Hazelwood-Akademie, knapp eine Minute nach dem Alarmruf von Hubschrauberpilot Pears

"Können Sie den Angreifer oder die Angreiferin nicht genauer beschreiben, Pears?" fragte Martinson, der nach dem Ausbleiben einer Meldung Custers die Gesamtleitung übernommen hatte. Pears, der hörbar mit starken Halsschmerzen rang, röchelte über Funk: "Von der Größe her war es ein Kind oder Teenager, vielleicht eine von den Schülerinnen. Die war ganz in Schwarz, so dass ich die nur als Schatten gesehen habe. Ich will's nicht beschwören, aber ich glaube, die hat mir mit eingesetzten Giftzähnen in den Hals gebissen, wie ein Vampir aus den Horrorgeschichten. Ich mache keinen Witz, Kollegen!"

"Fühlen Sie weitere Auswirkungen des Angriffs?" wollte Martinson wissen.

"Nur Wundschmerzen und einen leicht eingeschnürten Hals. Aber sonst bin ich einsatzfähig."

"Gut, dann versuchen Sie zur Basis zurückzukehren, Notfallprozedur Alpha eins einschließlich Quarantäne. Wer weiß, was ihnen der Angreifer oder die Angreiferin da verpasst hat."

"Verstanden, versuche von Hand Rückflug zur Basis", sagte Pears.

"Ich begleite dich, Pears", sagte Willes, einer der drei anderen Piloten. Martinson genehmigte den Geleitschutz, forderte aber die anderen Helikopter an, über dem Gelände zu kreisen und Lichtunterstützung zu leisten, wenn die Bodenmannschaft ankam. Außerdem würden sie noch Verstärkung anfordern.

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Über dem Gelände der Rosemarie-Hazelwood-Akademie, 15.09.2003, ungefähr 22:30 Uhr Ortszeit

Sie waren angekommen. Die sieben aus je sieben bestehenden Besengespanne und deren per Losentscheid bestimmte Anführerin auf ihrem Einzelbesen. Die Hexen und Zauberer hörten noch das hektische Flappen von schnell kreisenden Drehflügeln mindestens eines Hubschraubers. Außerdem sahen die in großer Höhe fliegenden durch die mitgebrachten Nachtsichtferngläser, wie auf dem von halbhohen Büschen gesäumten Platz vor dem in Dunkelheit liegendem Schulgebäude immer mehr menschenähnliche Wesen zusammentrafen, die jedoch nicht annähernd ein Viertel der für Menschen üblichen Eigenwärme ausstrahlten. Tharalkoo Flatfoot nutzte ihre eigene Manövrierfreiheit, um adlergleich aus der Anflughöhe niederzustoßen, um ganze zweitausend Meter in nur einer Minute hinabzusinken. Sie blickte durch das Okular ihres magischen Fernglases und erschauerte. Dort unten versammelten sich bereits voll verwandelte Schlangenmenschen, den Wölbungen im Brustbereich nach Weibliche, junge Mädchen, die wie in magischer Trance oder unter Fügsamkeitsdrogen Aufstellung nahmen. Die dunkle Saat aus ferner Vorzeit war also schon aufgegangen. "Ich will nicht behaupten, dass wir die berühmten fünf Minuten zu spät gekommen sind, Ladies and Gentlemen. Aber wenn wir nicht gleich alles hier absperren sind wir eindeutig zu spät dran", sprach Tharalkoo Flatfoot in eine der umgehängten Sonoportus-Fernsprechdosen, die wohl nicht von ungefähr als Antwort auf das elektrische Telefon der Muggelwelt erfunden worden waren.

"Okay, Torricellis Feuerdom geht schneller. In der Zeit können wir schon die Steine für einen stärkeren Dom auslegen", hörte sie Logan Bridgewoods Stimme antworten. Tharalkoo Flatfoot bestätigte es und stieg schnell wieder nach oben.

"Die versammeln da unten alle. Kann sein, dass dort gleich eine Ansprache jener erfolgt, die vorhin Lissy Thornhill gewesen ist", sagte die Leiterin der Abteilung für magische Lebewesen.

"Dann hoffe ich mal, dass wir sie gleich mitfangen", sagte Bruce Straker, der in Bridgewoods Besenverband mitflog.

"Gut, dann werfen wir Torricellis Gaben über der Versammlung ab", meinte Bridgewood. Ein Kollege von ihm fragte, ob der Turm der räumliche Mittelpunkt war. Darauf sagte Bruce Straker, der eine aus sich heraus bernsteingelb leuchtende Karte in Händen hielt: "Ja, der Turm ist der exakte Überschneidungspunkt der quadratischen Anordnung. Das ist wie bei uns in Redrock: Das Wissen muss im Mittelpunkt stehen und weithin und aus jeder Richtung sichtbar sein. Deshalb stecken im Turm alle Schulbücher, Karten, Globen und Zaichnungen, sicher auch Computerdatenträger. In den oberen zwei Stockwerken wohnt und arbeitet die amtierende Schulleiterin, wenn sie nicht selbst unterrichtet."

"Ui, wie in Redrock, wo der Schulleiter im Auge der Weisheit wohnt?" wollte Bridgewood wissen. Straker nickte.

"Vertun Sie bitte keine Zeit mehr, die Hausaufgaben der anderen zu erledigen, Mr. Straker. Formieren sie sich so, dass sie die Torricelli-Anker auswerfen können!" wies Tharalkoo Flatfoot Bruce Straker an.

Die sieben Besenverbände schwärmten nun aus, einer bezog Stellung über dem Turm, die sechs anderen verteilten sich im gleichen Abstand zum zentralen Verband bleibend zu einer Kreisformation, die wie das Zifferblatt einer Uhr aussah, auf dem die ungeraden Zahlen weggelassen worden waren. Als die Verteilung erfolgt war zählte Tharalkoo Flatfoot, die über dem Zentralverband flog, per Fernsprechdose zehn Sekunden herunter. Dann begannen die sechs äußeren Besenverbände im kreis zu fliegen, wobei sie sich am australischen Sonnenlauf orientierten, also nicht im klassischen Uhrzeigersinn manövrierten. Der zentrale Besenverband drehte sich ebenfalls gegen den klassischen Uhrzeigersinn. In Europa, wo der Zauber erfunden worden war, musste natürlich der dortige Sonnenlauf eingehalten werden.

Nun warfen die sieben Besenverbände je vier kopfgroße, glimmende Steine nach unten, die die Drehbewegung beibehielten. Je tiefer die Steine fielen, desto heller glühten sie. Dabei zogen sie schimmernde Spiralen aus blutrotem Licht durch die Luft. Sicher würden die da unten es sehen oder wohl auch die fremde Magie spüren. Doch so schnell wie die Steine nach unten fielen war es vielleicht schon zu spät für eine Flucht. Denn die Torricelli-Blase bestand ab dem Moment, wo die Ankersteine vollständig frei fielen. Doch sie würde ihre Volle Wirkung haben, wenn alle Steine auf der Erde zersprühten.

Die roten Spiralen wurden heller und breiter, auch ein sicheres Zeichen, dass der Zauber wunschgemäß in Kraft trat. Tatsächlich konnte Flatfoot durch ihr Nachtglas sehen, wie die unten versammelten Schlangenfrauen unruhig umherblickten und die älteren von ihnen ausschwärmten, die Lage zu erkunden. Im Turm ging ein Fenster auf, und der bereits schlangenförmige Kopf einer weiteren Kreatur schob sich nach draußen. Er leuchtete im magischen Orangelicht ein wenig heller, ja schon eher golden, wie Dotterblumen bei Sonnenaufgang. Eine schuppige Pranke schnellte in Richtung eines auf den Turmzusausenden und dabei immer weiter rotierenden Steines. Doch das war nur eine hilflose Geste ohne Auswirkung. Denn gerade zersprühten die zuerst abgeworfenen Ankersteine auf dem Boden zu orangeroten Flammenbällen, die sich blitzartig im orangen Licht der nun kuppelartigen Leuchterscheinung verloren. Diese wurde dadurch vollkommen, noch heller und ohne sichtbare Linien oder Leerstellen. Jetzt zersprühten die zweiten Ankersteine auf Turm und Boden. Der orangerote Dom wurde noch heller. Nun war es nicht mehr möglich, ihn mit einem Nachtglas zu durchblicken, weil er zu hell war. Die dritte und die vierte Gruppe Ankersteine traf auf festen Boden und verfestigte die an sich erhaben leuchtende Kuppel, die anders als der etwas aufwendigere Arrestdom, der auch das Apparieren und Portschlüssel unterband, in einem einheitlichen Farbton erstrahlte., Die Torricelli-Blase blockierte nur die sich im Raum bewegenden Körper lebender Wesen, weil er mit deren auf Feuer und Wind basierenden Lebensessenzen Atmung und Ernährung wechselwirkte. Ob er den Schlangenmenschen standhielt war eine der hier und jetzt zu klärenden Fragen.

"Die Torricelli-Filter vor die Objektive setzen!" befahl Flatfoot und ging mit gutem Beispiel voran. Nun konnten sie die von der Kuppel erleuchteten Gebäude und Anpflanzungen wieder klar erkennen.

"Die mit der hellen Schuppenhaut rennt gerade aus dem Turm raus und läuft zu den anderen. Die sehen gerade nicht sonderlich überlegen aus", meinte Bridgewood.

"Dann kuck richtig hin, Logan. Die formieren sich gerade. Oha, die älteren beißen die ganz jungen Mädchen auch noch", stieß Straker aus. Flatfoot sah es mit großer Bestürzung, wie die älteren Schlangenfrauen und ehemaligen Oberstufenschulmädchen die ganz jungen, gerade elf bis dreizehn Jahre alten Mädchen in Arme oder Hälse bissen, um ihnen die schreckliche Saat ihres Daseins ins Blut zu pflanzen.

"Ist das jetzt eine Panikreaktion oder ein verzweifelter Versuch?" fragte Straker. Doch auf die Frage konnte ihm im Moment keiner antworten. Zunächst sah er, wie mehrere Schlangenfrauen auf den leuchtenden Grenzbereich zuliefen und in orange Funken gehüllt zurückfederten. Dann fuhr in eine orangerote Funkenwolke gehüllt eine weitere einfarbige Schlangenfrau aus dem Boden. Das musste Lissy Thornhill sein. Jedenfalls wirkte sie sichtlich verärgert.

"So wie es gerade aussieht haben wir sie sicher", erging sich Straker in einer gewissen Vorfreude. Doch Tharalkoo Flatfoot wollte diese Vorfreude nicht teilen. Zu wenig wussten sie über diese Wesen, die vor sechs Jahren ganz plötzlich in Europa aufgetaucht waren und von denen keiner gedacht hatte, dass sie schlimmer sein mochten als Vampire, Werwölfe oder Nachtschatten. Es gingen nur Gerüchte, dass sie Überbleibsel aus dem versunkenen Reich Atlantis sein mochten, an dessen Existenz auch nicht jeder Zauberkundige glaubte.

"Also, sie wissen jetzt, dass sie so wohl nicht rauskommen", sagte Bridgewood. "Gut, wir warten noch fünf Minuten. Dann rufen wir die von Ministerin Rockridge und Bridgegate angemieteten Großraumhubschrauber her."

"Apropos Hubschrauber, Ms. Flatfoot, während die Torricelli-Barriere aufgebaut wurde habe ich kurz eine Rückschau gemacht und gesehen, dass aus süden her vier dieser Drehflügelapparate herangeflogen und da auf dem mit vielen Lichtpfählen bestückten Platz gelandet sind. Die haben hier Männer in dichten Rüstungen rausgelassen und gewartet. Dann hat eine von den neuen Schlangenfrauen, eine ganz dunkle, einen der Steuermänner angefallen. Der hat sich dann nicht anders zu helfen gewusst und ist mit seinem Drehflügler ganz schnell losgeflogen. Die anderen sind ihm dann hinterher, Herdentrieb", meldete Dara Lonnigan, der auch im Zentralseptett über dem Turm mitflog.

"Und wie haben die Schlangenwesen auf diese Flucht reagiert?" wollte Tharalkoo Flatfoot wissen.

"Die dunklere einfarbige da unten ist neben der ganz schwarzen aus dem Boden geschossen, hat ihr wohl was gesagt oder befohlen, worauf die ganz dunkle losgezogen und hundert meter weiter im Boden verschwunden ist. Dann sind wohl auch dreißig andere eher jüngere Schlangenmädchen in alle Richtungen ausgeschwärmt und ... O, Drachenmist!" Lonnigan erkannte bei seinem Nachbetrachtungsbericht, was er da beobachtet hatte.

"Wir sind wirklich die berühmten fünf Minuten zu spät gekommen", schnaubte Tharalkoo Flatfoot und griff eine der Fernsprechdosen an der Kette um ihren Hals. "Hier Flatfoot am Einsatzort Hazelwood-Shule bei Port Lincoln. Melde möglichen Massenausbruch von neuen Schlangenmenschen weiblichen Geschlechts nach versuchter Übernahme von vier Drehflügelmaschinen. Haben noch auf Gelände anwesende Individuen mit Torricelli-Dom eingefangen und warten noch, ob diese daraus entkommen können. Es steht jedoch zu befürchten, dass die bereits vorher entkommenen Einzelwesen nach eigenen Blutsverwandten und freunden suchen sollen."

"Ms. Flatfoot, die ganz jungen Mädchen bilden Schuppen aus. Offenbar beschleunigt sich die Verwandlung, je mehr Artgenossen in unmittelbarer Nähe sind", sagte Bridgewood.

"Ich habe da ein ganz mieses Gefühl", erwiderte die Einsatzgruppenleiterin darauf.

"Anfrage, konnte bei Rückschau gesehen werden, um welche jungen Mädchen es sich genau handelte?" wurde Flatfoot aus der gerade benutzten Fernsprechdose befragt. "Nein, weil schon in vollständiger Verwandlung", erwiderte sie verbittert. Denn wenn das Ministerium wusste, wen sie suchen mussten wusste es auch, wer gerade in großer Gefahr schwebte.

"Ich schlage Wachposten bei den direkten Angehörigen aller namentlich bekannten Schulmädchen und Lehrerinnen vor", sagte Flatfoot.

"Da freut sich Bathurst", erwiderte die Stimme aus der Fernsprechdose.

"Ach ja, dann teilen Sie ihm von mir bitte mit, dass eine gleichzeitig in allen Städten Australiens ausbrechende Schlangenmenschenepidemie den Untergang unserer Zivilisation bedeutet und dann alles Gold in Gringotts Sydney nichts mehr wert ist", entgegnete Tharalkoo Flatfoot.

Achtung, es wird wohl sehr wichtig. Die ganz jungen Mädchen haben die Verwandlung durchlebt. Wir hätten doch schon mit den gemieteten Fluggeräten herkommen müssen", grummelte Logan Bridgewood, der sich vor allem an einem jungen Mädchen festgeguckt hatte, das seiner eigenen Tochter Arista sehr ähnlich gesehen hatte. Ohne unmagische Hebevorrichtungen konnten sie diese Brut nicht vom Boden reißen. Statt dessen würden sie selbst Opfer dieser Ungeheuer.

Nun schwärmten die soeben umgewandelten aus, je fünf in eine der sechs Hauptrichtungen, die durch die fallenden Ankersteine bezeichnet worden waren. Sie rannten auf ihren nackten Füßen, doppelt so schnell wie gleichaltrige Menschenkinder. "Sie ziehen immer noch Kraft aus der Erde", stellte Straker fest. Nun prallten die dreißig Mädchen gegen die orange Barriere und wurden davon zurückgefedert. Allerdings beulte sich der Scheitelpunkt der Kuppel um einige Meter ein, zitterte und sprang dann wieder in die gewünschte Form zurück.

"Die wollen die Mädchen verheizen, diese Saubiester", knurrte Logan Bridgewood. Tharalkoo Flatfoot konnte ihm ansehen, wie wütend er war.

"Bitte um Erlaubnis, mit Torricelli-Schlüssel da runterzugehen und zu versuchen, die vom Boden hochzureißen", sagte Bridgewood. Flatfoot schüttelte heftig den Kopf und schnarrte: "Erlaubnis verweigert. Mit einem mit Flugzaubern aufgeladenen Besen kriegen Sie keinen von denen einen Millimeter vom Boden weg, Mr. Bridgewood. Flugzauber werden von denen neutralisiert. Mann! Mich macht dieses Manöver da unten auch wütend. Aber wir müssen hoffen, dass die Mädchen nicht dabei umkommen und dass die Blase standhält, bis unsere eigenen Flugmaschinen eintreffen."

"Da hoffen Sie mal schön, Ms. Flatfoot", knurrte Bridgewood. Denn gerade eben liefen weitere dreißig Mädchen los, um die Standfestigkeit der Kuppel zu testen. Wieder prallten sie ab und wurden zurückgefedert. Gerade sahen alle mit Ferngläsern ausgestatteten, wie die zwei einfarbigen Schlangenfrauen im Turm verschwanden. Wieder wurde der Scheitelpunkt der Kuppel eingebeult. Als er aber wieder in seine Ausgangsform zurücksprang schossen orangerote Blitze in den Himmel und knapp am darüber fliegenden Besenverband vorbei. "Die entladen die Kuppel", argwöhnte Straker. Flatfoot hätte ihm fast gesagt, solche düsteren Vermutungen zu unterlassen. Doch sie hatte denselben Eindruck wie der Kollege.

Jetzt verschwanden sämtliche ganz jungen und die halbwüchsigen Mädchen im Boden, als wäre der aus reiner Luft. Dann passierte es.

Die orange Kuppel oder Blase erzitterte wild und sprühte Blitze und Funken. Die außen fliegenden Besenverbände schafften es gerade, den freigesetzten Entladungen auszuweichen und mehr Abstand zu nehmen. "Auf zweitausend Meter Höhe gehen, sofort!" befahl Flatfoot, als mit lautem Prasseln einer der Entladungsblitze an ihrem Besen vorbeizuckte und sich weiter oben in eine wild wirbelnde Funkenwolke auflöste.

"Wie machen die das?" wollte Bridgewood wissen, während sein Besengespann waagerecht nach oben stieg. Dann klafften die ersten Risse in der Kuppel. Weiße Blitze schlugen laut krachend und fauchend in den Himmel und in alle Richtungen davon. Dann sahen die Ministeriumsbeamten, wie ein kleines Mädchen in einer weißen Funkenwolke aus dem Boden schoss und im Flug zu Asche zerfiel.

"Die verheizen die wirklich", stellte Tharalkoo Flatfoot fest, als sie das im weißen Funkenwirbel zerfallende Kindergesicht sah. Würde sie diesen Anblick, diesen letzten Schmerz eines jungen Menschen, je überwinden?

Plötzlich zerbarst der Torricelli-Dom in einer einzigen Entladung aus weißen und gelben Blitzen. Es krachte wie mehrere Dutzend gleichzeitig abgefeuerte Kanonen. Dann zersprühte der traurige Rest der magischen Absperrung in sieben orangeroten Funkenfontänen. Nach weiteren vier Sekunden lag das Gelände der Hazelwood-Schule wieder frei unter ihnen.

"Was sagte Torricelli über seinen Absperrzauber?" fragte Flatfoot.

"Nur Geister und der Tod haben ungehinderten Ein- und Ausgang", erwiderte Bridgewood. "Ja, und in diesem Fall hat der Tod dieser unschuldigen Kinder die Absperrung nicht nur beliebig betreten und verlassen, sondern die Barriere für alle anderen geöffnet."

"Achtung, vermelde weiteren Exodus von Schlangenwesen. Es sind nun noch fünfzig von denen auf dem Versammlungsplatz", schnarrte Bridgewood. Dann löste er die Halterungen an seinem Besen, wedelte nach links und oben weg und stürzte sich in die Tiefe. "Verdammt, Logan, was soll das?" rief Straker und löste schnell seine Halterungen am Netz. "Haltet das bitte so gerade es geht, Leute!" stieß er noch aus und folgte Bridgewood. Flatfoot, die dieses Absetzmanöver genauso erschreckt hatte wie ihre Kollegen konnte den beiden offenbar unbeherrschten Kollegen erst zwei Sekunden später folgen.

"Brechen Sie ab und kehren Sie auf sichere Höhe zurück!" befahl die Einsatzgruppenleiterin. Doch trotz der rasanten Abwärtsbeschleunigung konnte sie den gleichwertigen Besen nicht nahe genug kommen, um ihren Befehl verständlich zu übermitteln. Dann sah sie, wie Bridgewood seinen Zauberstab schwang. Aus einem der angepflanzten Bäume brach ein Ast und wurde im Flug zu einem dünnen Speer. Dieser jagte auf die etwas dunkler gefärbte Schlangenfrau zu. Diese erkannte wohl die Gefahr und ließ sich einfach nach hinten auf den Boden fallen. Das ihr geltende Geschoss zischte schnell aber harmlos über sie hinweg und schlug zitternd in den Stamm einer gepflanzten Buche ein. Dann federte die am Boden liegende mit allen vier Gliedmaßen kräftig durch, schnellte nach oben, geriet dabei in die Senkrechtlage und bekam Bridgewoods Besenstiel zu fassen. Dessen Benutzer wollte wohl die Gunst der Stunde nutzen und durchstarten. Da verpasste ihm die Schlangenfrau einen Handkantenschlag in den Nacken. Bridgewood kippte vom Besen. Die Schlangenfrau fing ihn mit ihren Armen ein und ließ sich mit ihm fallen, während der Feuerblitz nun völlig führungslos in der leeren Luft herumwirbelte und ausschlug. Straker wollte gerade seinem Kameraden beistehen, als gleich drei der Schlangenfrauen von unten auf ihn zusprangen, den Besen zu fassen bekamen und von ihren Artgenossinnen an den Füßen gepackt wurden. Augenblicklich verlor der hochgezüchtete Rennbesen alle Kraft und sackte mit seinem Reiter durch. Allerdings wurde er sicher von sechs biegsamen Armen aufgefangen. Doch das war kein Glücksfall für ihn. Denn sofort wurden Straker und Bridgewood von den unten versammelten Schlangenfrauen aufgeladen und im Geschwindschritt davongetragen.

"Die sehen wir nicht mehr als menschen wieder", unkte einer der im Besenverband von Bridgewood und Straker mitgeflogenen Zauberer.

"Sofort die Aktion "Sperling" anlaufen lassen! Erweiterten Dom errichten! Schnellstmögliche Ausführung!" befahl Flatfoot, die gerade noch rechtzeitig durchstartete, um drei weiteren ihr entgegenspringenden Schlangenfrauen zu entgehen, die, wie sie sah, von drei weiteren Kameradinnen an den Füßen gehalten wurden, um den lebenswichtigen Kontakt zur Erde zu behalten.

Sogleich formierten sich die sieben Besengespanne. Um den wahren Arrestdom aufzubauen musste Tharalkoo Flatfoot sich mit dem Gespann von Bridgewood und Straker zusammenschließen, um zumindest sechs von sieben Träger zu vereinen. Das war auch nötig. Denn die eigentlichen Arrestdom-Ankersteine wogen zehnmal so viel wie jene, die den Torricelli-Dom aus Feuer- und Windmagie erzeugt hatten. Es galt, die Steine präzise zu verteilen. Vierundzwanzig mehr als zehn Zentner große Steine mit stark magnetischem Eisenkern, jeweils über zwei Stunden vorbezaubert, mussten abgesetzt werden.

Anders als bei Torricelli mussten die Steine nur am Außenrand, jedoch in der einzig korrekten Ausrichtung zueinander abgelegt werden. Üblicherweise wurde sowas von Bodentruppen besorgt. Doch der Boden war gerade ihr tödlichster Feind. Dennoch schafften sie es, die sieben Besenseptette so auszubalancieren, dass die von diesen getragenen Steine in genau die vorgesehene Ausrichtung zueinander kamen. Dabei beobachtete Tharalkoo Flatfoot etwas interessantes, dass später noch zu überdenken sein würde. Auch wenn die Steine noch nicht auf dem Boden lagen und auch wenn die darin schlummernden Einzelzauber noch nicht zu einem großen ganzen vereint waren wichen die auf die sieben Besengespanne zurennenden Schlangenwesen den Netzen aus, als fürchteten sie, dass sie gleich damit aufgefischt und fortgeschleppt werden würden. Ja, mehr noch: Die bei hellem Licht blattgrüne Schlangenfrau, die an vorderster Stelle rannte, prallte wie von einem unsichtbaren Hindernis ab und flog, zwei kunstvoll anmutende Rückwärtssalti schlagend mindestens zehn Meter zurück. Als sie wieder aufkam sprang sie schnell auf und stampfte mit ihrem rechten Fuß auf. Sofort verschwand sie im Boden. Die anderen Schlangenfrauen versuchten weiterhin, auf der Erdoberfläche zu entkommen. Doch die nun einer nach dem anderen abgelegten Steine schienen sie von sich wegzustoßen. Dann lagen alle Steine aus. Aus den Verbänden lösten sich vierundzwanzig Zauberer und Hexen, bezogen in ausreichender Höhe über den Steinen Stellung und wirkten auf ein Lichtsignal der Anführerin zeitgleich die Auslösezauber. Blaue und weiße Lichtstrahlen schlugen von oben nach unten, ließen die Steine erglühen. Dann schnellten weiße und blaue Lichtfäden heraus, verknoteten sich über der Mitte des umfassten Bereiches und bildeten nach und nach ein immer dichteres Netz. Anders als beim Torricellidom dauerte dieser Vorgang jedoch mehr als eine Minute, weil das zu umfriedende Gelände wesentlich größer war als nur ein Haus oder ein Turm. Aus dem oberen Turmfenster blickte wieder jene hellgefärbte Schlangenfrau heraus und machte wilde Gesten. Dann ließ sie sich wie in selbstmörderischer Absicht aus dem Fenster fallen und flog nach unten. Ihrem Beispiel folgten alle hier noch versammelten Schlangenfrauen. Sie zogen sich in die Erde zurück. Als die hellgefärbte Turmspringerin auf dem Boden Aufschlug federte sie wie von einem Trampolin zurück. Dann stampfte sie auf und stürzte wie in einen bis dahin verdeckten Schacht hinab. Doch über ihr blieb nur fester, unversehrter Boden, als habe sie dort nicht gestanden.

"Ich fürchte, den Dom hätten wir gleich bauen sollen, Leute", stöhnte Tharalkoo Flatfoot. Denn diese hastige Flucht unter die Erdoberfläche konnte nur bedeuten, dass der wirkliche Arrestdom den Schlangenfrauen richtig zusetzte. "Wir brauchen die Hubschrauber nicht mehr. Wenn der Dom hält kommen die da unten erst wieder raus, wenn an der Stelle ein Vulkan ausbrechen sollte."

"Von der Größe her hält die Blase einen vollen Monat. Aber wenn die doch noch was finden, um sie zu durchbrechen -", musste Cassy Tinspoon dazu bemerken. Nun, da sämtliche Besenverbände aufgelöst waren und die Tragenetze gerade noch zwischen zwei Besen gehalten wurden konnte sich die Zaubertierwesenexpertin aus Flatfoots Abteilung ihrer offiziellen Vorgesetzten nähern.

"Ja, aber da unten sind noch Bridgewood und Straker und die Leute, die Lonnigan in der Rückschau gesehen hatte. Überhaupt, könnte sein, dass die entwischten Hubschrauberpiloten noch Verstärkung rufen. Die brauchen wir hier jetzt sicher nicht mehr", sagte Tharalkoo Flatfoot. Dann betrachtete sie noch einmal den Arrestdom.

"Ms. Flatfoot, die Auroskopen haben außer den Schlangenfrauen noch zwanzig männliche Menschen und zwei weibliche Menschen erfasst", meldete einer der mit entsprechenden Spürgeräten ausgestatteten Zauberer.

"Zwei unverwandelte Frauen?" fragte Tharalkoo Flatfoot

"Ja, zwei Frauen in dem Gebäude da hinten", sagte der Kollege und deutete auf den weitläufigen Sportplatz mit der Pferdekoppel, zwei zu einem L zusammengestellten Stallgebäuden, einem Tennisplatz mit vier Rasen- und drei Sandplätzen, einer Halle für an Land ausübbare Sportarten, an die sich eine ovale Laufbahn und eine 200 Meter lange Sprintlaufbahn anschlossen. Als Ms. Flatfoot sah, dass ihr Kollege auf die Halle mit dem Glasdach deutete sah sie, dass dieses Gebäude ein Schwimmsporthaus war. Sie musste grinsen. Offenbar hatten die zwei unveränderten Frauen ganz unbeabsichtigt den einzigen sicheren Ort gefunden, um nicht behelligt zu werden.

"Interessant, eine der beiden unverwandelten Frauen, könnte auch ein junges Mädchen sein, strahlt unverkennbare Grundpotentialschwingungen aus. Ich kann die nicht genau bestimmen. Aber wenn ich die aus mehr als 500 Metern Abstand als solche erkennen kann ist dieses Mädchen eine Hexe."

"Moment mal, Jeff. Das kann nicht sein. Die Ausbildungsabteilung überwacht alle durch eigene Magie aufgefallene Kinder aus Muggelfamilien. Die kann dann unmöglich hier in dieser Schule sein", erwiderte Flatfoot. Doch ihr Kollege Jeff Goodwin bestätigte noch einmal seine Fernvermessung.

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Logan Bridgewood hatte in zornige Augen geblickt. Dann hatte er den unverkennbaren Biss am rechten Arm gefühlt. "Dir werde ich helfen, uns einfangen zu wollen, Hexenknecht", hatte ihm dieses mittelhell geschuppte Ungeheuer zugezischt. "Legt ihn in den Kartoffelkeller. Wenn er durch ist soll er seine eigenen Leute einberufen. Wagt euch nicht mehr an ihn ran, wenn er durch ist!" hörte er noch die Befehle der Unheimlichen, die er eigentlich aufhalten wollte und die nun ihn auf den Weg in den Abgrund gestoßen hatte.

Die Anwesenheit so vieler voll verwandelter trieb die Wirkung des Giftes, das in ihm pulsierte, noch schneller an. Während die anderen ihn durch eine Tür in eines der Wohnhäuser trugen fühlte er, wie über und um ihn herum starke Kräfte wogten, sich suchten und ausrichteten. Er erinnerte sich, dass sie da oben noch den erweiterten Arrestdom aufbauen wollten. Hoffentlich stand der, bevor er verwandelt war und loszog, andere Menschen zu beißen, um sie auch zu Monstern zu machen, wie das, was er selbst bald sein würde.

"So, da warten. Und wenn du dich wieder stark fühlst ziehst du sofort los, um deine wichtigsten Mitstreiter einzuberufen", zischte eine der anderen Schlangenfrauen.

Von den Wesen ging ein starker anregender Geruch aus. Oder war es eine unsichtbare Ausstrahlung wie bei Veelas und Harmonovons? Jedenfalls fühlte er, wie diese anregende Essenz in ihn einströmte und ihn mit jedem Atemzug und jedem Herzschlag mehr und mehr veränderte. Er fühlte starke Schmerzen. Doch er empfand keine Qual, sondern Vorfreude. Was da mit ihm passierte war seine Wiedergeburt. Verdammt! Er wollte sich doch nicht so einfach von denen vereinnahmen lassen. Er musste sich wehren. Doch er konnte es schon nicht mehr. Als einer von nur zwei Männern außerhalb des Schulbunkers regte ihn die Nähe so vieler auch noch junger Weibchen immer mehr an und förderte den Übergang vom Menschen zum Diener des Erhabenen. Des erhabenen? Wer bei allen Gorgonen war das? Dann erinnerte er sich, dass es von den Schlangenmenschen hieß, sie würden von einem Meister gelenkt, der dazu einen bestimmten Stab benutzte. Er wusste, dass Tom Riddle alias Lord Voldemort diesen Stab besessen hatte, bis die in Europa aufgetauchten Schlangenkrieger von den grauen Riesenvögeln, den Wolkenhütern des verhassten Windkönigs, niedergemacht worden waren. Diese grauen Riesenvögel waren seine Todfeinde. Er erkannte, dass sie ihn erledigen würden, wenn jemand es schaffte, sie zu rufen. Verflucht! Die Verwandlung seines Geistes ging zu schnell. Er konnte sich nicht mehr gegen all die neuen Gedanken wehren, die in ihn einströmten.

"Genieße den Übergang, Kleiner. Das ist das beste, was du machen kannst", hörte er eine verächtlich klingende Stimme in seinem Geist. Gleichzeitig drangen die von vier Stimmen gleichzeitig gesprochenen Worte: "Du bist eins mit uns. Folge unserem Willen!" immer tiefer in sein Bewusstsein ein, dessen natürliche Persönlichkeit immer mehr vom Einberufungsstoff der Diener des Erhabenen umgeformt wurde, so wie es mit seinem Körper geschah.

Sie hatten ihn gerade durch eine massive Eisentür in einen Keller getragen, als mit zwei letzten heftigen Schmerzwellen die Verwandlung des Körpers vollendet wurde. Keinen Atemzug später durchfluteten ihn schon die Gedanken, der Einberuferin zu gehorchen. Doch er fühlte auch, dass er Lust auf ein Weibchen hatte. Er wollte sich paaren, einfach so wie ein Kaninchen im Frühling. Doch die anderen liefen gerade in sechs verschiedene Richtungen davon, so dass er nicht wusste, welcher er nachjagen sollte. "Du gehst gleich raus und suchst nach denen, die dich zu uns geschickt haben!" hörte er den Befehl einer einzelnen Frauenstimme. "Verdammt, die anderen von euch machen was ganz fieses. Mädels, alle unter die Erde, bevor die euch plattmachen! Ich führe unseren Auftrag weiter aus."

"Ich will eine von euch. Ich will alle von euch!" rief der Umgewandelte. "Kommt zu mir. Ich will jede von euch."

"Ihr bleibt in den Verstecken!" drang eine andere Frauenstimme zu ihm durch. Gleichzeitig riefen die vier, die schon in seinem Kopf erklungen waren: "Folge deinem Auftrag: Geh hinaus und berufe die ein, die dir am wichtigsten und uns am gefährlichsten sind! Das befehlen wir, die Verkünder des Erhabenen!"

Der Umgewandelte fühlte, dass irgendwas von verschiedenen Seiten auf ihn eindrang. Doch nach unten war noch Platz. Er wusste nicht, warum es ging. Doch er hatte es bei den anderen ja schon mehrmals gesehen. So stampfte er mit dem rechten Fuß auf und fühlte, wie er in den Boden hineinstürzte. Er ließ sich fallen, tiefer und tiefer. Er fühlte dabei, wie er gerade so noch zwischen zwei ihn zusammendrückenden Kräften hindurchschlüpfte. Dann war er mindestens schon mehr als hundert seiner Längen tief im Boden. Wie bremste man das ab? Wenn er nicht anhalten konnte würde er in den brennenden Kern der großen Mutter hineingeratenund darin vergehen, wieder eins mit der großen Mutter selbst werden. Doch das ging jetzt noch nicht. Er musste seinen Auftrag erfüllen. Also wünschte er sich, langsamer zu werden. Es gelang. Dann wünschte er sich nach vorne zu gleiten. Es ging erst langsam und dann immer schneller. Er spürte sie, die unsichtbaren Linien und Felder jener Kraft, die im inneren der Erde selbst entstand und sie und alles was darauf lebte einhüllte. Diese Kraft wies jedem, der sie nutzen konnte die Richtung. Also konnte er das auch, wenn er ganz tief im Boden war. So machte er sich auf die Suche nach der richtigen Richtung, dahin, wo die waren, die er für die wichtigsten und zugleich für seine neuen Artgenossen am gefährlichsten hielt.

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In der Schwimmhalle der Hazelwood-Akademie für höhere Töchter bei Port Lincoln, 15.09.2003, 22:40 Uhr Ortszeit

Fünf aufrechtgehende Schlangenkreaturen standen an der türseitigen Schmalseite der Schwimmhalle. Sie starrten verdrossen auf die Gummiinsel, auf der Claudia und Laura mit ihrer Gefangenen ausharrten. Also griff die unheimliche Verwandlung immer weiter um sich, dachte Claudia, während sie die fünf behutsam ansah, die wohl überlegten, wie sie an die drei auf der dümpelnden Insel herankamen. Claudia fragte sich, warum die fünf da nicht ins Becken sprangen, um zu ihnen hinzuschwimmen? Hatten sie wirklich Angst vor tiefem Wasser? Sicher, die würden sich dann wohl wieder in Menschen zurückverwandeln. Doch als solche waren sie dann doch immer noch handlungsfähig, wie die gefesselte Mathilda Warner deutlich zeigte.

Claudia Watson überlegte, wer die fünf waren. Drei von denen sahen sehr trainiert aus. Eine überragte die anderen um zwanzig Zentimeter und wirkte trotz des in die länge gezogenen Körpers breiter als die anderen. Sie kannte nur eine derartige Walküre: Mrs. Jefferson, die Hausmeisterin von Hazelwood, die von den Schülerinnen wohl auch Herrin der Schlüssel und Schalter genannt wurde. Dass es ausnahmslos weibliche Wesen waren sahen die zwei Gummiinsulanerinnen an den deutlichen Wölbungen an jedem Brustkorb.

Die fünf standen erst einmal so da und starrten auf die sachte schaukelnde Gummiinsel, die eigentlich nur als Tauchübungsplattform diente. Nach etwa einer Minute Reglosigkeit teilten sich die fünf auf. Je eine von ihnen stellte sich an eine Seite des fünfzig Meter langen und neun Meter breiten Beckens auf. Die eine, die Claudia für die Hausmeisterin hielt, blieb mit der die türseitige Schmalseite abdeckenden stehen. Offenbar wollten sie warten, bis die drei auf der Gummiinsel aufgaben und von selbst aus dem Wasser kamen. So begannen angespannte Minuten.

Zwischendurch hörten sie die Geräusche landender Hubschrauber. Claudia Watson hegte erst die Hoffnung, dass es alarmierte Einsatztruppen waren, die ihnen helfen würden. Doch dann sagte eine der Schlangenfrauen: "Diese Vollidioten sind voll auf uns eingestiegen. Und euch kriegen wir auch noch." Dann hörten sie erst einen und dann alle gelandeten Hubschrauber mit irrsinnigem Geheul davonfliegen. Laura Rutherford verzog ihr Gesicht. Claudia konnte es ihr nachempfinden, dass sie genauso enttäuscht war wie sie. Offenbar hatten die Hilfstruppen sich einen erzählen lassen, dass hier nur der Strom ausgefallen war und sonst alles in Ordnung war. Doch warum die dann so laut wieder abgehoben hatten wusste Claudia Watson nicht.

Was die Lehrerin jetzt aber sicher erkannte war, dass die fünf Schlangenfrauen nicht nur ungeduldig wurden, sondern regelrecht unter Druck standen, als wenn sie gerade gesagt bekommen hätten, dass gleich alles in die Luft flöge. Allerdings hörten weder sie noch Laura von den anderen ein Wort.

Claudia sah einer der Kreaturen in die bleichen Augen. Lauras Warnung kam einen Moment zu spät bei ihr an. Sofort meinte sie, in einen unsichtbaren Strudel zu geraten und eine weit entfernte, zischende Stimme zu hören: "Komm aus dem Wasser! Komm aus dem Wasser!" Claudia Watson erkannte jedoch, dass sie gerade auf eine sehr heftige Weise hypnotisiert wurde. Sie erkannte auch, dass sie sich dieser Kreatur ausliefern würde, wenn sie gehorchte. Also kämpfte sie gegen den in ihren Geist eindringenden Befehl an. Sie musste nur ihren Blick von diesen bleichen, leicht aus sich heraus glühenden Augen ... "Aaauutsch!" Ein heftiger Schmerz erwischte sie am linken Arm. Der Schmerz riss sie gänzlich aus dem Bann der bleichen Augen. Sie wandte ihren Kopf ab und sah auf den schmerzenden Arm, auf dem eine bogenförmige, gezackte Wunde klaffte. "'tschuldigung, aber ich musste das tun, Professor Watson", sagte Laura mit einer sehr schuldbewussten und abbittenden Miene.

"Dafür werfe ich dich eigenhändig von der Schule, Mädchen", erwiderte Claudia Watson und überlegte, wie sie die ihr zugefügte Bissverletzung behandeln konnte. Hier um sie herum war genug chloriertes Wasser. Im Zweifelsfall musste sie sich damit desinfizieren. Aber woher hatte dieses Mädchen gewusst, dass die bleichen Augen diese Macht hatten? "Ich wasch mir die Wunde mit dem Wasser hier und hoffe, nachher noch an Verbandszeug zu kommen", grummelte Claudia Watson. Dann sah sie Laura an und lächelte gequält. "Aber trotzdem, danke dir, Laura! Ich wäre ffast von der Insel gehüpft."

Ein wildes, wütendes Zischen und Schnauben wehte von der mehr als fünfundzwanzig Meter entfernten Schmalseite herüber. Dann lief die übergroße, muskelbeladene Kreatur aus der Halle, während die vier anderen sich so aufstellten, dass jede von ihnen eine Seite unter Kontrolle hatte. Claudia ahnte, was das sollte. Doch sie wollte es noch nicht laut aussprechen. Das übernahm Laura: "Die wollen das Becken leerlaufen lassen. Die ganz große war sicher vorher Hausmeisterin Jefferson, flüsterte sie ihrer Lehrerin ins Ohr und besah sich die Wunde, die sie ihr zugefügt hatte. Dann machte sie was, was Claudia trotz aller Sachen, die sie in den letzten Minuten mitbekommen hatte, immer noch verblüffte. Sie schöpfte erst von dem Wasser aus dem Becken und besprenkelte die Wunde. Das gechlorte Wasser brannte wie Feuer in der Bisswunde. Doch Claudia nahm es hin. Dann legte Laura ihre noch nassen Hände genau auf die Verletzung und summte etwas, was Claudia nicht verstand. Allerdings fühlte und sah sie die Wirkung. Es kribbelte auf ihrer Haut. Dann sah sie, wie sich die Wunde schloss und ohne Kruste oder Narbenbildung verheilte. Es dauerte nur vier Sekunden, da war die Bissverletzung vollständig von heiler Haut überdeckt.

"Woher kannst du sowas, Mädchen. Das ist nicht natürlich", zischte Claudia Watson, während sie die vier sie belauernden Schlangenmenschen im Blick behielt, ohne jedoch noch einmal in die bleichen Augen von einem davon zu sehen. Da antwortete das Mädchen:

"Ich weiß das nicht. Ich fühle nur, wie das gehen soll und mache das dann einfach."

"Wenn wir das hier unversehrt und unverwandelt überleben dürfen wir das keinem erzählen, dass du sowas kannst. Die Geheimdienste aller Länder würden sich um dich reißen", bemerkte Professor Watson dazu.

"Hat meine Mum auch gesagt, als ich das von eben mal bei ihr gemacht habe, als sie sich wegen mir mit einem Gemüsemesser in die Hand geschnitten hat. Aber ich weiß nicht, ob wir nicht was machen müssen, damit die uns nicht kriegen", sagte Laura.

"Vergiss es, Mädchen. Auch wenn du die hohen Kräfte hast, die unser Schöpfer und sein Volk hatten kriegen wir euch beide. Pangamashta lässt gleich das ganze Wasser raus, und dann haben wir euch. Die Frau wird zu uns gehören und du stirbst", fauchte eine der vier lauernden Schlangenfrauen.

"Neh, tut ihr nicht!" quiekte Laura Rutherford und ließ sich ohne Ankündigung von der Gummiinsel ins Wasser plumpsen. Claudia Watson wollte ihr noch was nachrufen. Doch da war das Mädchen schon untergetaucht. Sollte sie ihr hinterher? Aber dann konnte es ihrer veränderten Kollegin gelingen, die Insel durch reine Schaukelbewegungen an den Beckenrand zu schiben.

Die geknebelte Professor Warner versuchte wieder was zu sagen. Doch es war nicht zu verstehen.

"Die Kleine will sich ersäufen. Schön. Dann komm besser freiwillig zu uns. Mach unsere Schwester los und lass sie wieder die erhabene Form annehmen. Lass dir von ihr den Einberufungskuss geben. Dann wird die blattgrüne Einberuferin dir deinen Widerstand verzeihen", sprach die an der hinteren Schmalseite lauernde Schlangenfrau auf Claudia Watson ein.

"Warum glaubt ihr Ausgeburten welcher Hölle auch immer, dass Laura sich ertränken will. Das hätte sie schon längst machen können", begehrte Claudia Watson auf und staunte, dass sie sowas wie "Ausgeburt der Hölle" in den Mund genommen hatte. Sie war zwar anglikanisch getauft, hatte aber diesem Glauben schon als junges Mädchen abgeschworen, wo es so viele Widersprüche zwischen den Geschichten der Bibel und den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen gab und im Namen von Jesus Christus fast mehr Blut vergossen wurde als für andere Gottesprediger davor oder danach.

"Kuck, sie treibt ganz unten im Becken. Sie braucht nur noch tief einzuatmen und das war es", zischte die an der türseitigen Schmalseite wartende Schlangenfrau und erhielt eine unverständliche aber wohl zustimmende Antwort von der gefesselten Daseinsgenossin auf dem runden Gummifloß.

Für mich sieht das so aus, als wenn sie sich auf irgendwas konzentriert und ..." sagte Claudia, die Laura unter Wasser sah. Dann sah sie, wie eine Stelle im Beckenboden erst blau und dann silbern aufglühte. Sie erkannte, dass dort der Hauptabfluss sein musste. Dieser wurde von diesem silbernen Licht regelrecht zerschmolzen. Nein, jetzt zog sich das Silberlicht zusammen, flackerte und erlosch. Dann schoss die bis dahin mit vorgestreckten Händen nach unten zeigende Laura wieder nach oben. Claudia Watson sah nun, das um ihren Kopf eine durchsichtige Kugel lag, wie eine schützende Sphäre, ja und dass Laura innerhalb dieser Kugel atmen konnte. Jetzt wollte Claudia es nicht mehr so einfach ausschließen, dass die kleine, gegen die harten Schulregeln aufbegehrende Laura, die wegen einer erwiesenen Hochbegabtheit ein Jahr vor dem üblichen Eintrittsalter aufgenommen worden war, sowas wie Zauberkräfte hatte. jedenfalls tauchte sie jetzt aus dem Wasser. Die durchsichtige, über Wasser leicht bläuliche Sphäre zerfloss, und Laura griff nach dem Rand der runden Gummiinsel. Claudia Watson half ihr schnell, weil sie sah, dass das Mädchen ziemlich erschöpft aussah. Doch die Erstklässlerin strahlte sie an, als wenn ihr gerade der Streich des noch jungen Jahrtausends gelungen sei.

"Wir können jetzt warten", sagte Laura leise.

"Wir kriegen euch gleich. Gleich geht das Wasser weg und dann haben wir euch beide. Und du freches Gör wirst sterben! Hörst du? Sterben wirst du!"

"Ist das eine Marotte von Dämonen, dass sie eine Drohung wiederholen müssen?" fragte sich Claudia und wunderte sich erneut, dass sie die Schlangenwesen als Dämonen ansah. Doch in gewisser Weise waren sie sowas wie Werwölfe, die ihre verfluchte Natur auf arglose Menschen übertragen konnten. Vielleicht hätte sie sich die von ihrem Jugendfreund Henry heiß geliebten Horrorgeschichten mit mehr Anerkennung als Verachtung antun sollen, dachte sie. Henry hätte das, was sie gerade erlebte, mit Begeisterung genossen. Aber selbst sowas erleben hätte er sicher auch nicht wollen.

"Gleich ..." setzte eine der Schlangenfrauen an. Doch was immer gleich passieren sollte passierte nicht. Die vier um das Becken postierten Ungeheuer blickten auf das Wasser, als könnten sie dieses auch hypnotisieren. Laura hielt ihrer Lehrerin die Augen zu, weil sie fast in die Spiegelung der bleichen Augen hineinsah. Doch dann ließ sie sie wieder los. "Die warten, dass das Wasser weggeht", flüsterte Laura ihrer Lehrerin zu. Diese deutete auf die an der von der Zugangstür aus rechten Längsseite des Beckens auf- und abtigernde Schlangenfrau und sah, dass sie hilflose Gesten machte. Dann verfielen auch die anderen drei in eine gewisse Hektik und liefen noch schneller auf und ab. Dabei blickten sie sich immer wieder um, als erwarteten sie von irgendwoher Hilfe oder einen Angriff. Auch die gefesselte Professor Warner erbebte, als läge sie auf einer wild ruckelnden Unterlage. Ihre gerade rein menschlichen Augen zuckten hin und her, als müsse sie ein im Zeitraffer ablaufendes Tennisspiel verfolgen.

"Spürst du, was die gerade haben, Laura?" fragte Claudia Watson, die nun fest davon überzeugt war, dass Laura sowas wie eine Mutantin war, die übersinnliche Fähigkeiten hatte.

"Irgendwas fließt weit weg ganz um uns herum. Jetzt ist es fest. Ich weiß nicht, was das ist", wisperte Laura.

Claudia sah, wie die vier Schlangenfrauen einander ansahen und dann immer wieder um das Becken herumliefen, als seien sie Zirkustiere in einer Manege. Sie verstand dieses Verhalten nicht. Doch sie vermutete, dass irgendwer draußen irgendwas gemacht hatte, vielleicht auch jemand, der solche übersinnlichen Dinge konnte wie Laura, ja diese womöglich sogar noch besser und noch gezielter anwenden konnte. Dann musste sie doch allen Ernstes an Magie denken. Oder waren diese Monster und was sie antrieb außerirdischen Ursprungs, einer Lebensform und Technik entstammt, die für die armen kleinen Erdmenschen zu hoch war?

Die Schlangenfrauen umkreisten das Becken mindestens zwanzigmal. Dann trafen sie sich an der Schmalseite, die der Zugangstür am nächsten lag. Sie blickten sich immer noch hektisch um, als würde gleich etwas oder jemand von irgendwoher auftauchen. Dann taten sie etwas, mit dem Claudia jetzt überhaupt nicht gerechnet hatte. Sie stampften mit ihren rechten Füßen auf und versanken blitzartig im gefliesten Boden. Claudia starrte auf die Stellen, an denen die vier verschwunden waren. Die Fliesen waren völlig unbeschädigt.

"Oha, hoffentlich kommen die nicht auf die Idee, auf die Weise unter uns wieder aufzutauchen", unkte die Lehrerin.

"Dann hätten die das schon so gemacht, als ich hier alleine war. Neh, die sind weg, weil die was anderes machen müssen. Deshalb lassen die uns in Ruhe. Aber wenn wir wieder rausgehen könnten die uns kriegen."

"Dann hängen wir hier fest", erwiderte Claudia Watson. Wielange konnten sie das durchhalten? Dann fragte sie Laura, ob sie echt den Abfluss verschlossen hatte. Sie nickte nur.

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Über dem Arrestdom um die Hazelwood-Akademie, 15.09.2003, 22:45 Uhr Ortszeit

Tharalkoo Flatfoot musste diese Nachricht verdauen, da unten war eine Hexe, die noch nicht registriert gewesen war und die deshalb nicht von der Ausbildungsabteilung zum Besuch in der Redrock-Akademie veranlasst worden war.

"Wir müssen da runter und die unverwandelten befreien, ohne selbst angegriffen zu werden", sagte die Leiterin der Einsatzgruppe. So flogen sechs von ihren Kollegen mit Schlüsselsteinen in den nördlichen Bereich des Arrestdomes, der immer wieder von goldenen Schlieren durchzogen wurde. "Da genau müssen wir rein und dann zusehen, ohne zu landen in dieses Schwimmbeckenhaus reinzukommen", sagte Tharalkoo Flatfoot. Dann fiel ihr wieder ein, was sie beobachtet hatte. "Es kann sein, dass die Schlangenmenschen empfindlich auf starke Magnete ansprechen. Immerhin sind sie unseren Ankersteinen ausgewichen oder von diesen wahrhaftig zurückgedrängt worden. Wir sollten wen mit einem der Ersatz-Ankersteine mitnehmen, weil darin Dauermagnete mit Verstärkungsbezauberung eingefügt sind."

"Magnetkraft? Öhm, diese Biester lenken Zauberkraft von sich ab, wenn sie davon berührt werden, richtig?" wollte Cassy Tinspoon wissen. Tharalkoo Flatfoot bejahte es. "Wenn sie körperlich von einem Zauber berührt werden oder einen bezauberten Gegenstand anfassen", fügte die Leiterin der Abteilung für magische Wesen hinzu. "Allerdings gilt das nicht für Barrierenfelder, wie wir gerade eines erzeugt haben, so die Erkenntnisse aus Europa."

"Dann reicht es doch völlig, die Wände der Häuser da magnetisch zu machen", sagte Cassy Tinspoon. Die Einsatzgruppenleiterin fragte, wie sie das meine, wo der ihr bekannte Ferrattractus-Zauber nur auf eisenhaltige Gegenstände oder Bauteile wirke. "Eben, weil wir beim Anfliegen mit den Störquellensuchzaubern rausgefunden haben, dass in den Gebäuden Stahlgerippe in der Betonmasse eingebettet sind und in den offenbar der Sicherheit dienenden Bereichen sogar noch Stahlplatten eingemauert wurden, wohl um Angriffe mit Sprengkörpern abzuwehren. Stahl enthält hauptsächlich Eisen und ist deshalb magnetisierbar." Tharalkoo Flatfoot nickte und strahlte dann ihre Kollegin an, die eigentlich Zaubertierexpertin war, sich aber auch in einer Abhandlung über "Die Sinne für das unsichtbare" zu zusätzlichen Wahrnehmungen von magischen Wesen geäußert hatte. "Gut, dann gehen Sie, Lenny und ich zusammen mit zwei Kollegen durch die Absperrung und belegen alle Gebäude mit dem Ferrattractus-Zauber. Falls meine Einschätzung stimmt müssten die dabei entstehenden Magnetfelder die Schlangenmenschen zumindest desorientieren", legte Tharalkoo Flatfoot fest.

Zunächst öffneten sechs Kollegen mit den vorher auf den Arrestdom abgestimmten Schlüsselsteinen einen kreisrunden, am Rand golden flackernden Durchlass in den Arrestdom, mehr als dreißig Meter über dem Boden. Durch diesen flog erst das Magnetkommando, wie Tharalkoo die für die Magnetbezauberung der Stahlbetonmauern ausgewählten Kollegen nannte. Danach flog sie zusammen mit Cassy Tinspoon und der Kollegin Lenny Plains. . Sie hatte sich eines der Auroskope ausgeborgt, mit dem magische oder aus Lebenskraft entstehende Ausstrahlungsquellen erfasst und bestimmt werden konnten. Damit fanden sie zielsicher den Weg zum Schwimmbadhaus. Die vorausgeschickten Magnetzauberer vermeldeten, dass sie wahrhaftig eisenhaltige Bauelemente bezaubern und damit unterschiedlich starke, aber das Erdmagnetfeld weit übertreffende Kraftfelder erzeugt hatten. Da innerhalb des Arrestdoms appariert werden konnte wagten es die Zauberer sogar, in Gebäude einzudringen und deren Böden und Decken mit dem Ferrattractus-Zauber zu belegen. Einer meinte dazu: "Also meine grasgrüne Lady kriegte jetzt die Totalkrise, weil sie nicht mehr wüsste, wo Norden und Süden ist." Der Kollege Maxwell Coppernail meldete sogar einmal, dden Kopf eines Schlangenmenschen aus der Erde fahren gesehen zu haben, bevor sein den Boden treffender Zauber diesen wie mit einem heftigen Hammerschlag in die Erde "zurückgedroschen" habe. Also stimmte diese Vermutung. Dies wiederum stimmte Tharalkoo Flatfoot zuversichtlich, der Plage der Schlangenmenschen doch irgendwie beikommen zu können, jetzt, wo sie offenbar eine weitere Schwäche dieser Wesen entdeckt hatten.

Tatsächlich versuchten die Schlangenfrauen außerhalb der Gebäude anzugreifen und sprangen dabei gefährlich weit hoch. Nur die überragende Manövrierfähigkeit der Feuerblitze bewahrte das in den Dom eingedrungene Kommando vor ähnlichem Ungemach wie die Kollegen Bridgewood und Straker. Allerdings verzögerten diese Angriffsversuche den direkten Flug zum ausgewählten Ziel.

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Die vorhin hier lauernden Schlangenfrauen kamen nicht wieder. Dafür trat eine ein, die eine hellgraue Schuppenhaut zu haben schien. Doch das war sicher nur, weil das durch die Fenster hereinfallende und von der Wasseroberfläche im Becken gespiegelte Mondlicht keine Farben leuchten ließ.

"Ms. Watson, sie machen die Kollegin Warner los und kommen unverzüglich aus dem Becken. Rutherford, Sie haben die Wahl, Selbsttötung durch Ertrinken oder Tod durch Strangulation von meiner Hand", zischte die einfarbige Schlangenfrau. Claudia vermeinte trotz der fauchenden, zischenden Stimme eine Spur von Direktrice Hazelwoods Stimme zu hören. Vom Auftritt und der Wortwahl her passte es wenigstens.

"Sie werden weder mich in eine dieser obskuren Kreaturen verwandeln, noch diesem Mädchen hier was antun, Professor Hazelwood", preschte Claudia Watson vor. Laura Rutherford verhielt sich erstaunlich ruhig.

"Professor Hazelwood gibt es nicht mehr, ich bin Sharashtara", zischte die hellgeschuppte Schlangenfrau und versuchte Claudias Blick mit ihren mondbleichen Augen einzufangen, wohl um sie auf parapsychische Weise zu unterwerfen.

"Jetzt mit "Angenehm" zu antworten wäre pure Heuchelei", erwiderte die junge Lehrerin unerwartet mutig. "Aber sie waren vorher noch Professor Hazelwood, richtig?" legte sie nach.

"Ich sage nur, das es Professor Hazelwood nicht mehr gibt", zischte die Schlangenfrau und starrte verärgert auf die Gummiinsel in der Beckenmitte. "Los, Machen Sie meine Mitstreiterin los und lassen Sie sie an Land zurück, Ms. Watson!"

"Oder sonst?" versetzte Claudia weiterhin im rebellischen Tonfall.

"Sonst werden meine Mitstreiterinnen und ich auch Sie töten, wegen grober Aufsässigkeit. Sie kommen hier nur noch als eine von uns oder als zerstückelter Leichnam raus. Gleich kommen die treuen Mitschwestern vom ehemaligen Schutzdienst hier rein und zerstören die Insel und alles was nicht zu uns gehört. Also, letzte Gelegenheit, das eigene Leben zu retten, Claudia", zischte die Schlangenfrau.

"Oh, offenbar ist was passiert, dass Sie sehr beunruhigt und unter Druck setzt, wie, Gnädigste", bemerkte Claudia Watson, während Laura Rutherford scheinbar uninteressiert und teilnahmslos auf ihrer Seite der schwimmenden Insel saß und die Hände vor den Augen hielt, wohl auch, um nicht selbst in den Bann der bleichen Augen zu geraten.

"Du willst also heute noch sterben, dein junges Leben wegwerfen, Claudia?" schnarrte die einfarbig geschuppte Schlangenfrau sehr unheilvoll.

"Besser zu sterben als so zu sein wie Sie, Professor Hazelwood", erwiderte Claudia Watson. Allein schon, dass die Schlangenfrau den Eindruck großer Eile machte verriet ihr, dass die unheimlichen Wesen von irgendwas oder irgendwem bedrängt wurden.

Gerade wollte die hellhäutige Schlangenfrau, die wahrscheinlich Rebecca Hazelwood war, noch was sagen, als sie erstarrte und erst mal keine Regung zeigte. Dann schnaubte sie etwas, dass Claudia Watson und Laura Rutherford nicht verstanden. Dann stampfte sie mit dem rechten Fuß auf und verschwand wie in einen Schacht hinabstürzend. Wieder hinterließ sie keine Spur im gefliesten Boden.

"Irgendwer macht was, dass denen nicht schmeckt", vermutete Laura Rutherford, die aus ihrer scheinbaren Teilnahmslosigkeit erwacht war. Ihre Lehrerin wollte was dazu sagen. Doch die außerhalb der Fensterfront heranhuschenden Schatten brachten sie davon ab. Dann sahen sie beide, wie drei grüne Flimmerlichter über die Fensterfront glitten. Die wohl einbruchssicheren Milchglasfenster bekamen leise knackend immer längere Risse. Dann brachen einzelne Stücke aus den Scheiben, die noch im fallen zu Staub zerfielen. Innerhalb von nur zehn Sekunden klaffte eine mehr als zehn Meter breite Öffnung in der Fensterfront. Und nun musste es Claudia Watson einsehen, dass es doch echte Magie sein musste. Denn die drei auf Reisigbesen reitenden Gestalten konnten nur den Märchenbüchern ihrer Kindheit entstiegen sein, zwei echte Hexen und ein Zauberer, nur ohne die typischen Spitzhüte, aber dafür mit offenbar funktionsfähigen Zauberstäben. "Bitte keine Angst kriegen, die Damen. Wir sind die guten", sagte der Zauberer, während seine zwei Begleiterinnen auf das Schwimmbecken zuflogen. Laura winkte den beiden Frauen, während Claudia Watson endgültig mit ihrer Überzeugung als Naturwissenschaftlerin haderte. Das hielt sie davon ab, irgendwas zu tun, was den zwei Hexen wie ein Angriff erscheinen mochte. Als erst Laura und dann sie von der schlanken Besenspitze aufgegabelt wurde und die drei Besenflieger dann mit ihnen zusammen durch die aufgebrochene Fensterfront hinausflogen konnte Claudia Watson noch zwei der Schlangenkreaturen sehen, die blitzartig außerhalb des Schwimmbeckens aus der Erde fuhren und versuchten, die ihr entgehende Beute mit den schuppigen Händen zu packen. Doch eine unbändige Kraft schlug unvermittelt auf die beiden ein und stieß sie ebenso schnell in den Boden zurück, wie sie daraus entfahren waren. Die Besenflieger und ihre besonderen Fluggeräte flogen unbeeindruckt weiter. Dann waren die drei mit den beiden geretteten aus dem Gebäude heraus. "Hau den Magnetzauber noch auf die Mauer, Quen! Die ist sicher auch mit Armierstahl gefüllt!" rief die Hexe, welche Claudia Watson nun sicher auf ihrem Besen hielt.,

"Aber sicher doch, Cassy", sagte der Zauberer und schwang seinen schlanken Holzstab gegen die Mauer der Schwimmhalle. Diese glomm kurz blau auf, veränderte sich aber äußerlich nicht weiter.

"Keine Sorge, Sie erfahren alles, was Sie wissen müssen und dürfen", sagte die Claudia auf dem Besen balancierende und nun ungestüm mit ihr davonjagende Hexe. "Werde ich das?" fragte Claudia Watson. "Oder werden Sie nicht gehalten sein, mich zu blitzdingsen, damit ich Sie und alles von heute Abend wieder vergesse?" fragte Claudia Watson. Sie erinnerte sich an die Science-Fiction-Kommödie mit den Männern in Schwarz, die nach straffälligen Außerirdischen suchten und die Zeugen ihrer Aktionen mit Gedächtnislöschblitzen beharkten. Offenbar kannte die Hexe, die sie gerade auf ihrem Besen flog diesen Film auch und erwiderte: "Falls ja, werden Sie das nicht mehr wissen." Damit stand es für die junge Lehrerin des von einer unheimlichen Macht heimgesuchten Internates fest, dass sie sich wohl bald nicht mehr an all das hier erinnern würde. Sie fand das sogar ganz in Ordnung so. Denn wer würde ihr glauben, dass sie gefährliche Schlangenmenschen und echte Hexen und Zauberer zu sehen bekommen hatte. Doch nun war ihr auch klar, dass sie wohl auch vergessen würde, dass Laura Rutherford hier eingeschult worden war. Denn nun war klar, dass sie wohl eine von denen war und entsprechend unterwiesen werden würde, so wie die jungen Jediritter im Gebrauch der Macht. Auch das empfand sie als völlig richtig. Denn wozu eine solche Begabung führen konnte hatte sie ja schon mitbekommen.

Als sie dann den weißblauen Lichtdom über sich sah dachte sie zunächst wieder an weit vorauseilende Technologie, die Energieschirme hervorgebracht hatte. Dann erinnerte sie sich an das dritte Clarke'sche Gesetz, das sagte, dass weit genug fortgeschrittene Technologie nicht von Magie zu unterscheiden war. Mathematisch gesehen ließ sich diese Formulierung auch umkehren. Magie war jeder Technologie weit voraus.

Als sie durch eine von goldenem Licht umrandete Öffnung im Energiedom hinausflogen wusste Claudia Watson zumindest, dass sie den Schlangenmenschen entkommen waren. Doch was geschah mit diesen? Oder besser, wie würden die sich nun verhalten?

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"Die machen was, dass uns abstößt und das Richtungsspüren verwirrt!" rief Sharashtara ihrer Einberuferin in Gedanken zu. Diese erwiderte auf dieselbe Weise: "Ihr könnt diesen Zauberkäfig nicht verlassen? Dann versteckt euch tief genug in der Erde und bleibt da, bis wir euch wen zur Hilfe schicken werden!" rief Ishgildaria der neuen Dienerin in Gedanken zu.

"Wir sollen hier unten bleiben, uns verstecken wie ängstliche Tiere bei Gewitter?" entrüstete sich Sharashtara. "Nein, wir wollen hier raus. Dieser Ort, diese Häuser gehören uns allein. Wenn die anderen das nicht begreifen wollen müssen sie wie wir werden oder sterben."

"Die haben erkannt, wie sie euch einsperrenund verwirren können, Sharashtara. Ihr kommt da so nicht raus, bis wir einen Weg gefunden haben, diese widerliche Kraft von außen zu zerstreuen."

"Dann machen wir die anderen auch zu welchen von uns, auch wenn Sisufuinkriasha gesagt hat, dass wir keine Männer so wie wir sind machen dürfen", erwiderte die ehemalige Schulleiterin von Hazelwood.

"Dann werdet ihr und sie einem unbändigen Fortpflanzungsrausch verfallenund den solange auszuleben haben, bis jede von euch mit jedem von denen einmal verpaart wurde. Dabei könnt ihr dann nichts wirklich wichtiges für uns tun."

"Wir können uns mit denen paaren, echte Nachkommen zeugen? Das ist das wichtigste überhaupt. Das ist doch das, wofür wir da sind", erwiderte Sharashtara. Schwestern, gehen wir zu den Eingesperrten und küssen die, bis die sind wie wir!" rief Sharashtara den bei ihr gebliebenen Artgenossinnen zu.

"Wir verbieten es euch!" gedankenschrillten die weiblichen Teile der Verkünder des Erhabenen. Doch diese Macht der Unterwerfung, die Sisufuinkriasha vorhin noch auf ihre neuen Artgenossinnen ausgeübt hatte, ja die sie selbst auf die ganz jungen Mädchen ausüben konnten, um deren Überlebenswillen zu brechen und sie dazu zu zwingen, sich in die erste Barriere hineinzuwerfen und dabei ihre eigene Lebenskraft darin zu entladen, diese Macht wirkte gerade nicht auf Sharashtara. Doch ihr Aufruf, die Männer zu ihren Mitgeschöpfen zu machen und dann Nachkommen von diesen zu kriegen wirkte auf die anderen, wohl auch, weil sie dabei dieselbe Lust verspürten, Nachkommen zu haben.

"Wir verbieten euch das!" riefen jene, die sich als Ishgildaria und Gooramashta bezeichneten. Doch die unter der Erde steckenden Schlangenfrauen überhörten das.

Sie entstiegen der festen Erde, als sei es ein Bad aus Luft und Wasser. Doch kaum waren sie durch die feste Oberfläche gedrungen fühlten sie auch, dass von den Häusern eine abweisende Kraft ausging, sogar vom Turm des Wissens, Sharashtaras Haus. Es war unmöglich, darauf zuzulaufen. Es wirkte wie ein ständiger Sturmwind, der gegen sie anblies und sie immer mehr bremste und dann sogar zurückdrängte. Auch der Versuch, unter der Erde in die Gebäude einzudringen missglückte, weil bereits der Boden der Häuser sie irgendwie zurückdrängte. So gelang es ihnen nicht, in den Bunker einzudringen, in dem die Männer des Hilfstrupps eingeschlossen waren. Also waren die Gefangenen für sie gerade unerreichbar. Ja, sie mussten sogar miterleben, wie innerhalb der Häuser fremde Menschen plötzlich da waren wie hingezaubert. Ja, das war wohl genau das richtige Wort für die Art, wie die Fremden so urplötzlich in den Häusern auftauchten und dann völlig unbehelligt weil unerreichbar darin herumliefen. Einige fanden wohl den Bunker und machten was, dass die darin gefangenen auf einmal anders waren, keine Lebenskraft ausstrahlten und dann mit den fremden aus den Häusern verschwanden. Nun konnten Sharashtara und die anderen der Erde entschlüpften die Fremden sehen, wie sie auf fliegenden Besen durch ein goldumrandetes Loch in der weißblauen Kuppel über ihnen wegflogen und das mindestens zehn Meter große Loch innerhalb weniger Sekunden unter wilden goldenen Blitzen zusammenschrumpfte und die weißblaue Kuppel völlig geschlossen über ihnen stand. Die Schlangenfrauen hatten es nicht geschafft, die Fremden aufzuhalten. Nun waren sie alle aus den Häusern ausgesperrt und unter der Kuppel eingesperrt. Sie konnten nicht hinaus. Doch mit der endgültigen Abwesenheit der Männer verebbte auch die Lust auf Nachkommenschaft. Die hier verbliebenen Schlangenfrauen erkannten, dass sie fast ihre neue Existenz riskiert hatten, um sich fortzupflanzen. Bei den meisten von ihnen, vor allem den dienstälteren kam die lange eingeprägte Scham auf, sich fast den eigenen Gelüsten ausgeliefert zu haben.

Weil Sisufuinkriasha und die von ihr befehligte Sharashtara befohlen hatten, dass alle Mädchen zwischen dreizehn und achtzehn Jahren ausschwärmen sollten, um ihre Verwandten und Freundinnen einzuberufen waren nur noch die ehemaligen Lehrerinnen der Hazelwood-Akademie hier, eingeschlossen von einer nicht zu durchbrechenden Blase aus einer fremdartigen Energie und eingepfercht in ihren früheren Verhaltensweisen, abgeschnitten vom Rest der Welt und auch von denen, zu deren Art sie geworden waren.

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In der Nähe des Militärstützpunktes Robertson, südöstlich von Darwin in Nordaustralien, 15.09.2003, 23:50 Uhr Ortszeit

Hier war es fast Mitternacht. Naaiginrashuan, der früher Sean O'Shaye geheißen hatte, pirschte sich knapp zwanzig Meter unter der Erdoberfläche an den mit viertausend Soldatinnen und Soldaten besetzten Militärstützpunkt heran, von dem ein Freund bei den Marines ihm mal erzählt hatte. George hatte damals ein Jahr dort zugebracht, um im Kampf bei tropischen Bedingungen ausgebildet zu werden. Wenn er es schaffte, sämtliche Truppenangehörigen hier in die Reihen des Erhabenen einzuberufen war das ein großer Schlag gegen die heute lebenden Menschen. Denn eine Armee aus unverwüstlichen Kriegern mit allen Kenntnissen und Waffen der modernen Armee konnte jedes Land der Welt erobern.

Naaiginrashuan, was in der Sprache des Erhabenen Feindestäuscher oder Feindesverwirrer hieß, glitt weit unter Schallgeschwindigkeit auf die Militärbasis zu. Er fühlte die vielen Lebensschwingungen der dort stationierten Männer und Frauen. Er fühlte aber auch das auf niedriger Schwingungszahl wechselnde Kraftfeld einer Starkstromleitung. Dass er in der Nähe von elektrischen Leitungen deren Wechselstrom nicht nur als Brummen hören, sondern richtungsgenau erspüren konnte hatte er schon auf seinem Weg hierher herausgefunden. Ebenso hatte ihm sein Einberufer Ashlohuganar verraten, dass Sisufuinkriasha unabsichtlich herausbekommen hatte, wie sie elektrische Geräte in ihrer Nähe zerstören konnte, ohne sie anzufassen. Das durfte er hier nicht tun. Denn wenn die ganzen Soldatinnen und Soldaten einberufen waren sollten sie ja für den Erhabenen kämpfen.

Er suchte mit dem neuen Gespür für menschliches Leben nach eindeutig männlicher Ausstrahlung. Denn der Befehl war klar, nur Männer in die Reihen des Erhabenen hinüberholen. Was passierte, wenn sowohl Männer als auch Frauen zu Streitern des Erhabenen wurden hatte er ja am eigenen Leib mitbekommen.

Er unterquerte die Starkstromabsperrung der Basis und glitt unbemerkt unter den Wachgebäuden hindurch. Er erzeugte auch keine Bodenerschütterungen, die empfindliche Sensoren hätten feststellen können. Nun war er unter einem Gebäude, in denen mehrere Schlafsäle für einfache Soldaten waren. Sicher konnte er hier gleich viele Männer einberufen. Doch er wollte die höheren Offiziere erwischen, bevor die merkten, was die Stunde geschlagen hatte und sich mit Hubschraubern oder sonstigen Fahrzeugen absetzen konnten. Denn hatte er die Führungsoffiziere sicher, konnte er ohne Angst vor Flucht und Verrat alle Soldaten angehen. Denen musste er dann nur klarmachen, dass die Soldatinnen nur dann einberufen werden durften, wenn sie den übermächtigen Fortpflanzungsrausch unterdrücken konnten. Noch mal wollte er sich nicht mit allen weiblichen Artgenossen paaren, die in seiner unmittelbaren Umgebung entstanden waren. Das kostete Zeit und Kraft, wussten auch die vier Verkünder des Erhabenen, deren ständige Anweisung, ihrem Willen zu folgen, er wie ein beruhigendes, immergleiches Bereitschaftssignal in seinen Gedanken hören konnte.

Gerade unterquerte er einen Ort, an dem nur zwanzig Leute waren, davon fünf Frauen. Das konnten Offiziere sein oder Küchenpersonal. Wenn er hier aus dem Boden fuhr wie der Teufel im Kasperlestück musste er die richtigen erwischen, sonst waren die anderen gewarnt. Also horchte er, wer hier wohl die meiste Willenskraft aufbot.

Schließlich fand er einen Ort, an dem gerade mal ein Mann zu finden war. Dieser schlief wohl gerade. Denn seine Ausstrahlung war schwach, aber gleichmäßig. Naaiginrashuan beschloss, diesen Mann zu besuchen.

Wie ein Korken aus einer geschüttelten Champagnerflasche schnellte er zwischen zwei brummenden Stromleitungen hindurch und durchstieß laut raschend einen Bodenbelag aus PVC. Einen Moment lang hing der von ihm aufgeworfene Kunststoffbelag wie ein besonders schwerer Mantel an ihm. Dann schälte er sich knisternd und knackend daraus heraus. Allerdings war das alles andere als ein lautloses Eindringen. Er sah, dass der Steinboden unter dem Kunststoff zwar unversehrt war, aber der Bodenbelag nun in weit ausladenden Falten und Hubbeln ausgebreitet lag. Dann hörte er das metallische Klicken von einer Pistole, die gerade entsichert wurde.

"Okay, wer immer Sie sind, Mister, Hände hoch und stillgestanden!" drang ein harscher Befehl an Naaiginrashuans gerade unter seinen Schuppen versteckte Ohren. Doch die Aufforderung trieb den Krieger des Erhabenen noch eher, sein ausgewähltes Ziel anzugehen. Er sprang über eine Falte des aufgeworfenen Kunststoffbelages und warf sich gegen den auf ihn zielenden Mann. Dieser feuerte seine Waffe ab. Es krachte. Naaiginrashuan fühlte den kurzen Anprall der Kugel gegen seinen Brustkorb und hörte im Nachhall des Schusses, wie das Geschoss genau auf dessen Absender zurückgeprellt wurde. Der Diener des Erhabenen fühlte, wie der von ihm ausgewählte von einer Sekunde zur anderen zu leben aufhörte. Naaiginrashuan sah mit seinen bleichen Augen, dass der Auserwählte nach hinten umfiel und auf den Boden schlug. Der Diener des Erhabenen fluchte innerlich. Das hatte er auf keinen Fall gewollt. Außerdem ging jetzt auch noch der Alarm los, weil irgendwelche Sensoren mitbekommen hatten, dass innerhalb des Stützpunktes geschossen worden war. Dann würden die gleich mit noch mehr schießwütigen Leuten anrücken und ihn einkreisen. Ihn selbst konnten sie nicht erschießen. Aber wenn sein Panzer alle Kugeln voll zurückprellte brachten sie sich gegenseitig um. Das war nicht, was er hier wollte. Jetzt blitzte es auch noch mehrmals. Er fühlte kurze Schwingungswellen aus den Wänden. Offenbar waren da elektronische Geräte tätig geworden, Fotoapparate, die ein Bild von dem Eindringling machten.

Jetzt fühlte er die von allen Seiten heranstürmenden Lebensquellen, nicht nur Männer, sondern drei Frauen waren auch dabei. Wollte er hier kein Gemetzel anrichten musste er sich schnell wieder in den Boden zurückziehen. Doch da, wo er aufstampfte blockierte der PVC-Belag die Kraft, mit der er eins mit der Erde werden konnte. Also schnell zurück zum Riss in der Kunststoffschicht. Da flog eine Tür auf und er sah zwei auf ihn zielende MP-Läufe und die behelmten Köpfe der Männer, die diese Waffen hielten. "Okay, Mister! Hände hoch und ganz langsam umdrehen!" donnerte ihm durch das geschlossene Helmvisier ein Befehl entgegen.

Naaiginrashuan dachte kurz nach. Er konnte vielleicht die zwei Männer mit seinem besonderen Blick fesseln und dann hintereinander einberufen. So befolgte er die ihm erteilte Anweisung und hob seine biegsamen Arme. Dann machte er eine behutsame Drehung und sah dem ersten Behelmten durch das Visier in die Augen. Doch seine bleichen Augen spiegelten sich im Visier des Mannes. Er fühlte einen dumpfen Druck auf seinen Kopf und schaffte es nicht, seinen Befehl an den anderen weiterzudenken. Wieso ging das nicht?

"Was immer Sie darstellen wollen, Sie sind festgenommen!" blaffte der zweite Mann. Auch der trug einen Helm mit verspiegeltem Visier, das den fesselnden Blick Naaiginrashuans blockierte. Doch die Schulter des mannes war in Reichweite. Also galt es. Er warf sich vorwärts. Sogleich ratterte eine der Maschinenpistolen los. Er fühlte die gegen ihn anschwirrenden Geschosse wie auf ihn trommelnde Finger und hörte das vielstimmige und wilde Schwirren der Querschläger. Doch diesmal starb keiner beim Rückprall. Statt dessen versuchte Naaiginrashuan, seine mit dem Saft der Einberufung getränkten Zähne durch das Schulterpolster des Mannes zu schlagen und stieß die Zähne in etwas zähes, das keine lebende Haut war, sondern ein Kohlenstoffverbundpanzer gegen Kugeln bis zu einem Kaliber bis 9 Millimeter. Doch das wusste der Schlangenmann nicht. Er erfuhr nur, dass er seine holen Fangzähne gerade einmal bis zu einem Viertel in das Material hineinschlagen konnte und dass der dadurch ausgelöste Giftausstoß nicht im Blut des Auserwählten ankam. Weil er zu allem Verdruss auch noch auf PVC-Boden stand bekam er nicht die volle Kraft der Erde zurück, um seine ganze Kraft anzuwenden. So verstrickte er sich mit dem Gegner in eine wilde Rangelei. Er brauchte mehrere Sekunden, um seine Giftzähne wieder freizubekommen. Der andere war ein geübter Nahkämpfer. Wenn die Macht des Erhabenen ihn nicht mit einem unverwüstlichen Körper ausgestattet hätte wäre Naaginrashuan sicher schon vom Kniestoß, dem Handkantenschlag oder einem Fingerstoß außer Gefecht gesetzt worden. So versuchte er dem anderen den Helm vom Kopf zu ziehen oder zumindest das Visier hochzuklappen, um ihm in die Nase oder eine Wange zu beißen. Der Helm war mit Kunststoff überzogen und das Visier wohl aus bruchsicherem Glas und irgendwie mehrfach verriegelt wie der Raumhelm eines Astronauten. So schaffte es Naaiginrashuan nicht, seinen Gegner zu besiegen. Der konnte ihm jedoch auch keine Verletzung beibringen. So zog sich der Kampf lange genug hin, dass noch weitere Sicherheitsleute dazukamen und den Eindringling mit ihren behandschuhten Händen zu fassen schafften. Doch er entwand sich ihnen, erkannte, dass er gegen diese Männer nichts ausrichten konnte und sprang an die Stelle des Bodens, die er vorhin durchbrochen hatte. Schnell stampfte er mit dem rechten Fuß auf und stürzte in den Boden, begleitet von gleich drei auf ihn einhämmernden MP-Salven.

Wieder in sicherer, fester Erde wusste er zwei Dinge. Die Böden in diesem Stützpunkt waren mit Plastik überzogen, das er seltsamerweise nicht so durchdringen konnte wie Gestein und Holz. Außerdem trugen die Sicherheitsleute Rüstungen, die nicht aus reinem Metall oder Leder waren. Er konnte da nicht durchbeißen. In seinem Oberkiefer pochte es noch von dem heftigen Widerstand und weil das Gift in seinen Zähnen nachgebildet wurde. Immerhin war kein Zahn abgebrochen. Doch er hatte eine wertvolle Ladung Einberufungsgift vergeben. Zudem war auch noch das Überraschungsmoment vorbei. Je danach, wen er da eigentlich hätte einberufen wollen und der sich aus Versehen selbst erschossen hatte würden sie nun alle wichtigen Leute hier absichern. Also blieb ihm nur der Angriff auf die vielen einfachen Soldaten. Die sollten es dann besorgen, auch die Führungsoffiziere einzuberufen, falls die sich nicht wie befürchtet absetzten. Hmm, aber wenn er denen die Fluchtmöglichkeiten vereitelte? Falls hier Hubschrauber oder Flugzeuge standen brauchte er die nur so gründlich zu beschädigen, dass keiner mehr damit wegfliegen konnte. Bodenfahrzeuge konnte er mühelos verfolgen, falls da wer wichtiges drinsaß. Also galt es, die Fluggeräte der Gegner zu erledigen. Ebensowichtig war es, dass die keinen Hilferuf losschicken konnten. Also zuerst zu den Funkgeräten.

Naaiginrashuan glitt mit Gewehrkugelgeschwindigkeit quer durch die Basis bis zu dem Ort, wo viel Strom gebraucht wurde. Er entfuhr dem Boden und musste erneut eine dicke PVC-Schicht durchstoßen. Doch dann stand er in einer Halle, in der mindestens drei Generatoren liefen. Gut, dann eben doch den Vernichtungsschlag gegen Elektrogeräte.

Er fühlte, wie die Magnetfelder der sich drehenden Spulen seinen Richtungssinn verwirrten. Aber gleich hatte es sich ausgedreht. Er stemmte sich gegen die auf ihn einwirkenden Stromquellen. Er versuchte, sie immer weiter zurückzudrängen, bis es mit lauten Knällen und Blitzen den ersten Generator erwischte. Dann fiel auch der zweite Generator aus und schließlich auch der dritte. War das eine Wohltat, mal keinen Starkstrom um sich herum fließen zu hören oder zu spüren. Auch die Spulenkränze in den Generatoren drehten sich nicht mehr. Er bekam wieder ein Gefühl für die natürliche Ausrichtung des Erdmagnetfeldes. Nun wusste er wieder, wo Norden und Süden waren. Allerdings war sein Großangriff auf die Stromversorgung der Basis nicht ganz so erfolgreich verlaufen. Denn er fühlte wie weiter fort neue Stromerzeuger ansprangen und die Leitungen sich wieder mit Wechselstrom füllten. Natürlich hatte eine Militäranlage mehrere Notfallsysteme, erkannte Naaiginrashuan. Aber zumindest hatte er ein wirksames Ablenkungsmanöver durchgezogen. Denn jetzt würden sie ihn hier bei den Generatoren suchen. Er konnte also zu den einfachen Soldaten hin.

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In der australischen Niederlassung der geheimen Gruppierung Vita Magica, 16.09.2003, 00:25 Uhr Ortszeit

Norman Riverdale verwünschte diese Nachtwachen. Aber was sollte er machen? Pater Duodecimus Australianus alias Milton Springwater, sein eigener Großvater, hatte ihm die Wahl gelassen, lieber drei Jahre Innendienst mit fünf Nachtwachen pro Woche zu schieben oder aus der Gemeinschaft geworfen zu werden, was gleichbedeutend war mit einer vollständigen Wiederverjüngung ohne Beibehaltung der bisherigen Erinnerungen. Und das nur, weil sein Großvater ihn dabei erwischt hatte, wie er nützliche Kenntnisse aus der Geheimgesellschaft über Schleichwege an interessierte Kunden weiterreichen wollte, um damit eine Menge Galleonen zu machen. Selbst das freiwillige Angebot, in eines der drei Lebenskarussells zu steigen und hundert willige Mitstreiterinnen mit seinem Fleisch und Blut zu ehren hatte den alten nicht beruhigen können. Außerdem hielt der sich für eine Art Landesfürst, der bestimmen wollte, wer seine Blutsverwandten werden durften und wer nicht. Das Karussell legte sich bekanntermaßen nicht fest, sondern war wie ein Roullettespiel. "Keine Chinahexe soll meine Urenkel kriegen", hatte der alte sogar getönt, wohl weil er was gegen Nichtweiße hatte. Dabei gab es gerade mal fünf Hexen aus Ostasien, die noch dazu Japanerinnen waren.

Norman Riverdale saß also seine Zeit in der Überwachungskammer der australischen Niederlassung ab. Hier gab es viel neumodisches Zeug, von diesem freiwillig zum Plärrbaby zurückverjüngten Übervater der britischen Thaumaturgen eingebaut. Sicher, Bilddarstellungswände, die über Bildverpflanzungszauber oder dem Leuchtkartenzauber ferne Dinge oder Landschaftsaufzeichnungen darstellen konnten waren schon alte Hüte. Die Griechen behaupteten seit Jahrtausenden, sie hätten diese Zauber erfunden oder noch besser, von ihrem Abgott Hermes Trismegistos persönlich erlernt. Doch für gestandene Traditionalisten wie ihn waren solche Zauber thaumaturgischer Spielkram, überflüssiges, leicht zu verdrehendes Zeugs. Aber dieser gerade erst wieder elf Jahre alt aussehende Bengel hatte den Rat davon überzeugt, dass sowas die eigene Sicherheit und Überwachungsfähigkeit der Niederlassungen steigern würde. So blickte Riverdale mit einer Mischung aus Unmut und Verachtung auf die Bildwände, auf denen die Abschnitte der Niederlassung zu sehen waren, die als grün pulsierende Kugelkammer dargestellte Sicherheitszentrale, in der er selbst gerade saß und die im Gefahrenfall gegen jede bekannte Form der Magie abgeschottet werden konnte, die vielen rot blinkenden Zonen mit verschiedenen gerade ruhenden Absperrzaubern, die durch einen simplen Hebeldruck - wie muggelmäßig - in Kraft gesetzt werden konnten, die verschiedenfarbigen Wohnabschnitte, wobei es schon irgendwie lachhaft wirkte, den Mutter-Kind-Bereich als flauschig rosaroten Bereich abzubilden. Laut der von Perdy als Statuswand bezeichneten Darstellung waren alle dreißig jungen Mütter und Ziehmütter mit den insgesamt sechzig zu betreuenden Säuglingen und Kleinkindern dort. Norman hatte mehrere Jahre lang für die Gesellschaft mitgeholfen, dass Hexen und Zauberer, die aufzufliegen drohten, aus ihrem früheren Leben verschwinden und zu Dauerbewohnerinnen und -bewohnern der Niederlassung werden konnten. Er wusste aber auch, dass da draußen im guten alten Land unten drunter noch hundert Mütter wohnten, die auch für die geheime Gesellschaft zur Wahrung und mehrung des magischen Lebens eintraten und ihren Beitrag leisteten, in dem sie regelmäßig Kinder bekamen.

Unvermittelt flirrte ein blaues Licht über einem der ihm gerade mal vorgestelllten aber nicht verständlichen Instrumente auf. Eine weiblich klingende Stimme aus leerer Luft sagte: "Achtung, Annäherung starken Erdmagibündels aus Südsüdwest!"

"Erdmagie. Mist, Schwarzfelsler?!" rief Riverdale. Er kannte die durch Uranerz veränderten Kobolde, die sich für den anderen Kobolden und natürlich allen Menschen überlegene Geschöpfe hielten. Die konnten auch durch die Erde wie die üblichen Kobolde. Aber Blei war für die der totale Krafträuber. Deshalb verliefen im Boden und den Wänden bleiumkleidete Versorgungsrohre, an denen diese Biester sich die Köpfe plattrammen mussten. So ließ sich Norman Riverdale ganz gelassen das Bild der heranjagenden Erdmagiebündelung in einem kleineren Bilddarstellungsfenster zeigen. Wahrscheinlich war der Schwarzfelsler von seiner üblichen Route abgekommen und würde unter der Niederlassung einfach hindurchzischen und dabei wohl nur die auf Erdmagie abgestimmten Messgeräte kitzeln. Doch das Bündel Erdkraft bremste ab. Flirrte es bisher, blinkte es nun, um dann mit der Rate eines ruhig schlagenden Herzens zu pulsieren. Über dem betreffenden Instrument tauchte der gelbe Schriftzug: "Alarmstufe Gelb empfohlen!" auf. Norman grinste. Dieser Perdy mit seiner Fixierung auf die Zukunftsphantasien der Muggel. Sollte er echt die Abwehrbereitschaft gegen einen einzelnen Schwarzfelsler einrichten? Der würde doch gleich volles Rohr gegen die Bleileitungen knallenund sich wünschen, mal besser langsamer auf seiner üblichen Route zwischen den Uranlagerstätten herumgesaust zu sein.

Unvermittelt bimmelte eines der Instrumente wild los wie ein überdrehter Wecker. In roter Schrift glomm darüber "Warnung, unbekannter Eindringling!" Tatsächlich sah Norman, wie aus dem reinen Erdmagiebündel eine Lebensaurenanzeige wurde, und in dem von Perdy aufgehängten Feindglas - immerhin diese altehrwürdige Vorrichtung - löste sich einer der vielen Schatten aus der Menge und trat ein wenig nach vorne, wobei er in zwei Hälften zerfiel, aus denen sich eine sich windende Schlange und der Schatten eines Menschen mit hell flackernden Augen formte. Norman erschrak dermaßen, dass er zwei Sekunden lang nicht wusste, was er tun sollte. Doch dann hieb er den roten Hebel rechts von seinem drehbaren Wachsessel nach vorne. Sofort plärrte der Katzenjammerzauber los - immerhin wieder dieser gute alte Alarmzauber - und die auf der Bildwand angezeigten Bereiche für Abwehrzauber blinkten hellrot. Jetzt konnte er auch viele Sachen mit der Stimme aufrufen, wie es sich für Zauberer eigentlich gehörte. "Eindringling verfolgen!" rief Norman und hoffte, dass der Unbekannte, der im Feindglas als merkwürdige Aufteilung gezeigt wurde, nicht gleich in der Überwachungszentrale ankommen würde. Der freiwillig wiederverjüngte Übervater der Commonwealth-Thaumaturgen hatte zwar behauptet, dass bei Alarmstufe Rot keiner ohne vorherige Abstimmung in die Zentrale kommen konnte, aber bei diesen Schlangenmenschen wusste ja echt keiner richtig, was die konnten oder nicht konnten.

"Hi, Norman, was ist bei euch los. Hier blinkt gerade die Alarmleuchte!" hörte er von rechts die leicht nachklirrende Stimme Perdys.

"Bei uns ist einer dieser neuerweckten Schlangenmenschen drin, Perdy. Habe fast zu spät alles zugemacht. Aber der ist gerade auf der unteren Etage und lläuft locker durch Amatas Ruhestatt durch. Jetzt sollte er vom Festhaltezauber eingefangen werden - was auch nicht geklappt hat. Der schluckt oder verdrängt das einfach. Ich lasse jetzt noch die Türen zufallen, wenn alle Wachen unterwegs und alle Bewohner in den sicheren Unterkünften sind."

"Okay, bevor du alles ganz zumachst komm ich noch rüber. Ich will das selbst sehen, was der anstellt."

"Dann beeil dich! Der Eindringling ist gerade am Treppenhaus angekommen und überlegt wohl, wen er jetzt zuerst angreifen soll."

"Nur drei Sekunden", erhielt Norman zur Antwort.

"Heh, Normy, was soll der Krach?! Wollte gerade schlafen", blaffte ihn aus leerer Luft die Stimme seines Großvaters und Hausherren dieser Niederlassung an.

"Pater Duodecimus Australianus, melde Eindringen eines Schlangenmenschen. Wiederhole, Schlangenmensch in unserer Niederlassung!" erwiderte Norman.

"Was? Ich dachte, das sei nur eine billige Propaganda von Rockridge, um weitere Überwachungsmaßnahmen zu rechtfertigen und die Abo-Zauberer unter Kontrolle zu halten", polterte Pater Duodecimus Australianus. "Ich komme auch rüber. Vorher machst du die Zentrale nicht zu."

"Gut, aber mach schnell. In vier Sekunden will ich alle Türen zumachen. Der Schlangenmensch läuft durch alle Zauber durch", sagte Norman. Da ploppte es, und ein Zauberer im blauen Warmwollschlafanzug stand im kreisrunden Überwachungsraum. Dann rotierte auch noch eine grüne Lichtspirale links vom Überwachungssessel und spie den äußerlich gerade elf Jahre alten Perdy aus."

"Tach zusammen", grüßte Perdy scheinbar lässig und deutete dann auf den Sessel. "Lass mich da drauf, Norman!" sagte er mit für einen elfjährigen Jungen unerwarteter Entschlossenheit.

"Moment, Norman ist von mir eingeteilt worden. Du hast hier kein Hausrecht, Burschi!" schnaubte der ältere Zauberer im Schlafanzug.

"Lies bitte die Protokolle der letzten zehn Ratssitzungen, Milton. Bei einer davon wurde beschlossen, dass ich die von mir eingebauten Überwachungsanlagen jederzeit eigenhändig übernehmen darf, wenn was außergewöhnliches passiert", erwiderte Perdy und setzte sich schnell in den freigewordenen Sessel. "Hier Perdy an alle Wachenund Bewohner. Schlangenmann in Niederlassung! Mache alles zu, was zugeht. Keiner geht raus, der oder die nicht zur Abwehrtruppe gehört!" rief Perdy einem silbernen Gegenstand zu, der wie ein auf dreifache Größe gewachsenes Menschenohr aussah.

"Wer kommandiert hier?" knurrte Pater Duodecimus Australianus. Doch Perdy beeindruckte es nicht. Er rief einem goldfarbenen, ebenfalls ohrenförmigen Gegenstand zu: "Vollverschluss. Alle Sperren zu!"

Auf der großen Übersichtsdarstellung blinkten nun rote Türsymbole auf, und alle vorher noch grün gestrichelten Gänge wurden zu roten, glatt durchgezogenen Linien.

"Ui, unser ungebetener Gast steht im Treppenhaus und weiß nicht, wohin. Liegt wohl daran, dass die Melosperre in Kraft getreten ist."

Sie sahen den von einer flackernden, blutroten Aura umflossenen Eindringling. Eine aufrechtgehende Mischung aus Mensch und Schlange mit dreifarbiger Schuppenhaut in Grün, Rot und Braun. Das Wesen wendete den auf einem biegsamen Hals sitzenden Kopf in alle Richtungen. Die bleichen Augen sprühten rote Funken. Zumindest sah es so aus.

"Rote Funken? Dann kann der mit den Augen bei direktem Blickkontakt was anstellen, wohl Lebewesen lähmen oder seinem Geist unterwerfen", grummelte Perdy. "Gut, dass zwischen dem und uns mehrere Zauber wirken, um den zu sehen."

"Wie kam der hier rein, Norman, und woher wusste der, wo wir zu finden sind?" fragte Pater Duodecimus Australianus.

"Der kam von unten, durch die Erde. Erst war es nur eine Anzeige sich nähernder Erdmagie. Dann war der auf einmal im Untergeschoss und hat die Eindringlingswarnung ausgelöst", sagte Norman. "Woher der wusste, wo wir sind weiß ich nicht."

"Ich fürchte, das ist einer von uns, der mit einem dieser Schlangenmenschen zusammengeraten ist und jetzt den Auftrag hat, uns zu seinen Artgenossen zu machen", sagte Perdy mit deutlicher Beklommenheit. "Ich hoffe nur, der hat nicht noch Mitbrüder von sich im Schlepptau."

"Einer von uns? Das meinst du hoffentlich nicht ernst", schnaubte Milton Springwater. Norman nickte seinem Großvater zu.

"Leute, ich bin zwar gerade erst wieder elf geworden. Aber ich weiß verdammt noch eins zu gut, wann ich was ernst meinen muss und wann nicht. Und die einzige Erklärung, warum der genau wusste, wo wir sind ist die, dass er einer von uns ist. Denn einer von uns kann keinem anderen freiwillig verraten, wo wir sind, haben wir alle durchgezogen. Also muss der von sich aus wissen, wo wir sind. Also ist das einer von uns. Passt mir selbst nicht, Leute!" bellte der knabenhaft aussehende Thaumaturg sehr wütend.

"Dann darfst du ihn nicht töten, Perdy. Wir dürfen keinen von uns töten", sagte Pater Duodecimus Australianus nun sehr entschlossen.

"Solange er mir die Wahl lässt will ich ihn auch leben lassen, egal, ob er einer von uns ist oder nicht. Denn wir müssen mehr über diese Biester wissen. Véronique hat damals versucht, an die Geheimakten über deren Auftritt in Frankreich zu kommen. Hätte ohne sehr unangenehme Rückfragen nicht geklappt. Und unser zeitweiliger Topagent in London hat auch nur rausgefunden, dass die Schlangenmenschen durch die Erde reisen können, bei erzwungenem Abstand von mehr als doppelter Körperlänge von fester Erde wieder rein menschlich aussehen und keine Überkräfte mehr haben und dann auch für körperliche Angriffe und Zauber anfällig sind und dass diese Biester von einem Lenker geistig angeleitet werden, der einen ominösen Schlangenstab in der Hand habenund wohl auch Parsel sprechen können muss, wie der Psychopath Riddle das konnte. Ob wer jetzt diesen Schlangenstab geerbt hatoder nicht, konnte Rockwell nicht rauskriegen, zumal die Gefahr dieser Wesen zu seiner Zeit schon lange als überstanden galt."

Gerade zeigte die Verfolgungsansicht, dass der Schlangenmensch vor der nun verschlossenen Stahltür zum nächsthöheren Stockwerk stand. Sie konnten sehen, wie er eine seiner leicht gekrümmten Echsenkrallen in die Ritze zwischen Tür und Türrahmen schob und dann zitternd und bebend versuchte, die Tür aufzuziehen. Dann flogen blaue Blitze aus der Tür, umtanzten den Eindringling und schlugen in den Boden ein. Keine Viertelsekunde danach zog der Eindringling die schwere Tür auf, die sonst nur von zwei Männern bewegt werden konnte.

"Der hat alle Schließ- und Abwehrzauber entladen und die Tür mal eben aufgehebelt", zischte Milton Springwater. Sein von vielen Falten geziertes, bartloses Gesicht erbleichte sichtbar.

"Ja, und laut meinem Erdzaubermessgerät hier hat er dafür Kraft aus der Erde selbst gezogen und die Abwehrzauber als für ihn unschädliche Entladungen in die Erde selbst abfließen lassen wie ein Blitzableiter", sagte Perdy, dessen Gesicht zwischen Unbehagen und Faszination eingefroren schien.

"Dann reißt der alle Türen aus den Angeln, ob mit dreifachem Colloportus und Fortifermazauber belegt oder nicht", stöhnte Milton Springwater. Seine Beine zitterten.

"Ja, aber einfach durchdringen kann er Türen auch nicht. Schon mal wichtig, dass er zwar wie ein Kobold durch die Erde kann, aber offenbar nicht wie diese Wände passieren kann. Liegt wohl auch am drei Zentimeter starken Stahl mit Occamysilberüberzug", meinte Perdy.

"Das ist Bridgewood", stieß Norman Riverdale unvermittelt aus und deutete auf das Feindglas. Gerade war ein in eine grün-blau-braune Aura gehüllter nackter Mann im Vordergrund des magischen Spiegels zu erkennen, dessen Kopf und beine nun von der schattengleich wirkenden Schlange umschnürt wurde. Die beiden anderen sahen nun auch, was Norman gesehen hatte. "Soviel zur Bestätigung, dass es einer von uns sein musste", seufzte Perdy. Denn jetzt, wo der Feind ein Gesicht hatte und eigentlich kein Feind sein durfte, mochte es noch schwerer fallen, ihn gewaltsam zu stoppen.

Die Fang- und Lähmzauber lässt er auch wortwörtlich abblitzen", bemerkte Perdy und wandte sich wieder dem goldenen, ohrenförmigen Gegenstand zu: "Im Fall Exodus unverzügliche Kopie aller laufenden Aufzeichnungen an alle Hauptniederlassungen!" befahl Perdy.

"Moment, Exodus? Warum sollen wir hier alle raus?" wollte Milton Springwater wissen.

"Kuck hin, dann weißt du's", erwiderte Perdy abfällig. Denn gerade schlängelte sich der als Logan Bridgewood erkannte Schlangenmann durch das flimmernde Absperrgitter, das eigentlich nichts und niemanden näher als zehn Zentimeter an sich heranließ. Jetzt sahen sie, wie der Schlangenmann seine gespaltene Zunge ausstreckte und damit die Luft prüfte. "Gleich erfolgt der Kontakt mit Posten eins Grün", meinte Norman und deutete auf die Gesamtübersicht, wo seit dem Alarmzustand auch die eingeteilten Wachposten angezeigt wurden.

"Die Reeinitiatoren werden wohl genauso versagen wie Stupor und Avada Kedavra", raunte Perdy. "Aber wenn wir das genau wissen mach ich die große Trickkiste auf."

"Hier Lewis, Sichtkontakt mit Eindringling! Erlaubnis für Reinitiatoren?" klang eine Kleinjungenstimme aus der linken Hälfte des Überwachungsraumes. Perdy wandte sich dem silbernen Ohrenmodell zu und bestätigte mit: "Voll draufhalten! Bei Unwirksamkeit sofort in verschiedene Richtungen flüchten!"

Drei Sekunden später beschleunigte der Schlangenmann seine Schritte. Nun sahen sie auf der Feindverfolgungsdarstellung, wie er sich vier Männern in der Außeneinsatzuniform der Geheimgesellschaft näherte, hellblaue Strampelanzüge und rosarote Riesenbabyköpfe mit großen, blauen Augen. Die vier streckten dem Feind goldene Gegenstände entgegen. Dann wurde der Schlangenmann in goldenes Licht gebadet. Daraus schlug ein goldener Blitz auf einen der Wächter zurück, dessen Ausrüstung schlagartig in sich zusammenfiel. Der Eindringling überstand jedoch den geballten Angriff, ebenso wie den Beschuss mit den blauen Flimmerstrahlen, die eine völlige Gedächtnisauslöschung bewirkten. Allerdings schien das den Schlangenmann erst recht anzuregen, seinen angriff fortzusetzen. Er sprang nach vorne und umschlang einen der vier so schnell, dass er nicht mehr ausweichen konnte. Die zwei verbliebenen rannten befehlsgemäß in zwei verschiedene Richtungen davon. Jetzt konnten sie sehen, wie der Angreifer von grünen und roten Blitzen umtost seinen gräßlichen Kopf vorschnellte und dem Umschlungenen voll in die rechte Schulter biss. Dabei sprühten noch einmal grüne und rote Funken auf. Der Angefallene zuckte wie vom Blitz getroffen zusammen und wankte dann in der unheimlichen Umarmung. Der Schlangenmann Bridgewood wartete zwei Sekunden, dann ließ er sein Opfer wieder los und schlüpfte daran vorbei, um die Verfolgung der Geflohenen aufzunehmen.

"Rogers wurde selbst körperlich reinitiiert, aber nicht geistig", vermeldete Perdy. "Willes offenbar mit Schlangenmenschengift intoxiziert. Lyndon Willes, wehre dich gegen jeden Drang, irgendwen zu beißen. Oder besser, reinitiiere dich selbst körperlich", rief Milton Springwater dem silbernen Ohr zu.

"Mist, der hat alle Schildzauber durchdrungen. Verdammtes Zeug!" hörten sie eine zwischen Kleinkind- und Männerstimme schwankende Antwort. "Reinitiiere dich selbst, Lyndon Willes!" befahl Pater Duodecimus Australianus.

"Hast du sie noch alle?! Soll ich dann bei deiner Enkelin groß werden oder was?" kam eine sehr erboste Erwiderung.

"Oder bei der Amme deiner Wahl, aber mach gefälligst, was ich sage, bevor dieses finstere Sekret dich auch beißwütig macht", polterte Milton Springwater.

"Auf deine Verantwortung, Milton", blaffte die zwischen Kleinkind und Erwachsenen wechselnde Stimme.

"Achtung Achtung! Hier Perdy im Auftrag des hohen Rates des Lebens. Die Australische Niederlassung wird von einem unaufhaltsamen Feind bedroht. Alle Bewohner, die nicht zur Wachtruppe gehören, betreten unverzüglich die Notfluchtkammern. Fall Exodus! Ich wiederhole: Die Niederlassung Australien wird von unaufhaltsamen Feind bedroht. Alle nicht zur Abwehrmannschaft gehörigen Bewohner bitte unverzüglich in die Notfluchtkammern. Fall Exodus!" rief Perdy, nachdem er mit dem Zauberstab das silberne Ohrenmodell an der oberen Hälfte berührt hatte.

"Hier Pater Duodecimus Australianus an alle. Fall Exodus bestätigt!" rief Milton Springwater noch.

"Dann musst du aber den Vollverschluss öffnen, Perdy", sagte Norman Riverdale. Perdy zischte: "Mach ich, wenn ich das Ping von allen Kammern habe." Tatsächlich setzte nun eine an der Decke hängende Silberglocke ein, in unregelmäßigen Abständen zu schlagen. Ein schönes, klares Ping erfüllte den Überwachungsraum.

"Ich bleibe auf jeden Fall hier", schnaubte Milton Springwater. Perdy nickte, als habe er mit nichts anderem gerechnet.

"Hier Groover, stehe vor verschlossener Trenntür in Abschnitt eins L eins. Wenn der hinter mir her ist bitte schnell durchlassen!" klang eine Kleinjungenstimme aus der linken Raumhälfte.

"Eins L Eins Abtrennung eins, Tür auf!" befahl Perdy wieder zum goldenen Ohrenmodell hinsprechend. "Okay, bin durch", vermeldete Groover keine zwei Sekunden später. "Eins L eins Abtrennung eins, Tür zu!" befahl Perdy.

"Wo willst du hin, Jack Groover?" fragte Milton.

"Zur Wasseraufbereitung. Vielleicht verträgt der Echsenmensch kein Chlorgas",. erwiderte Groover.

"Ich bezweifel das, Jack. Die Biester sind gegen alle Formen von Gift immun, solange die auf festem Boden rumlaufen, sonst hätte unsere Betäubungsgasdusche den doch schon längst umgeworfen", dämpfte Perdy den Enthusiasmus seines Mitstreiters.

"Echt, ist schon Gas in den Gängen? Drachenmist, stimmt ja. Toll, mit eingebautem Kopfblasenzauber krieg ich das nicht mit", erwiderte Groover.

"Aber Wasser und Chlor ist doch 'ne Idee, Jack. versuch ihn, in den Tauchtank zu locken. Aber du musst flott auf den Beinen sein. Ich gebe dir das Stimmkommando für die Zwischentüren frei", sagte Perdy und wartete, bis ein weiteres Ping der Silberglocke verhallte. "Achtung Zuordnungsbefehl: Stimmgesteuerte Verschlusszauber für Wachmann Jack Groover freigeben!"

"Warum gibst du die Steuerung nicht grundsätzlich für jeden Wachenden frei?" wollte Milton Springwater wissen.

"Weil die Steuerung gerade mal vier Stimmen als Zugangsberechtigt akzeptiert und deine, meine und Rollins Stimme schon als verbindliche Befehlsberechtigte festgelegt sind", erwiderte Perdy. Wieder pingte die Silberglocke. Perdy blickte schnell auf ein uhrenartiges Ablesegerät und nickte. "Sieben von neun Kammern besetzt. Gleich kann ich alle unbeteiligten rausschicken und dann zum großen Tanz aufspielen."

"Öhm, bitte versuche, ihn nicht zu töten, Perdy. Ich kriege sonst Ärger mit seiner Tante", knurrte Milton Springwater. Perdy grinste. "Ach, wollt ihr zwei es noch versuchen, Nummer Dreizehn zu veröffentlichen?" fragte Perdy.

"Behalt das ja für dich, falls deine gebärfreudige Mentorin dich nicht mit ihren zwei jüngsten neu großziehen soll", schnaubte Milton und sah dann Norman an. "Und du hältst auch die Klappe, wenn dir dein erwachsener Körper lieb ist!" zischte er.

"Oha, Feindmelder zeigt, dass der nur noch zwanzig Meter hinter mir ist. Kann der durch zue Türen?" klang Groovers abgehetzte Stimme. "Ja, wenn er sie vorher aufmacht", erwiderte Perdy. "Der kann alle Sperrzauber in den Türen entladen und dann einfach aufmachen, Jack. Also sieh zu, dass du im Becken bist, bevor der dich von hinten kriegt!"

"Was meinst du, was ich gerade mache. Bin im Tiefflugmodus unterwegs, falls du gerade nicht auf mich guckst."

"Verstanden und bestätigt", sagte Perdy mit gewisser Beruhigung. Diese Leviportgürtel von Florymont Dusoleil waren schon eine geniale Erfindung. Kombiniert mit einem unsichtbaren Rückstoßantrieb nach Art der nichtmagischen Strahltriebwerke, nur ohne Verbrennungsantrieb und nur ein Hundertstel so laut wie ein solches, konnten Wachen auch ohne Besen schnell durch die Luft fliegen. Das hatte er nach der Sache mit Silvester Partridge und der ihn hoppnehmenden goldenen Riesendame eingeführt, um Wachen möglichst schnell an andere Stellen zu bringen, wenn das Apparieren und Portschlüssel unterbunden wurde. Das hatte ihm zwar mal wieder Hohn und Verachtung eingebrockt, dass er sich zu sehr auf die Technikphantasien der Muggel einließ, aber jetzt würde wohl keiner mehr spotten.

"Drachenmist, der holt langsam auf, obwohl ich mit vierfacher Laufgeschwindigkeit unterwegs ... Tür auf! - Tür zu! Öhm, gerade im Schwimmbad angekommen bin", sprach Groover. Dann fragte er, was mit Rogers, Willes und Sanderson passierte. Perdy erwähnte es kurz. "Hoffen wir, dass Bridgewood echt wieder klar wird, wenn der ins Becken muss."

"Negativ, Jack. Der hat gerade gemerkt, was du vorhast. Hat sich wohl erinnert, dass es da zum Schwimm- und Tauchübungsraum geht und erkannt, dass er da mindestens drei Meter vom festen Grund weg sein kann, wenn er dir weiter nachläuft. Der wechselt gerade die Richtung und läuft durch die von ihm geknackten Türen zurück. Nimmt neue Witterung auf und sucht. Oha, der will wohl zu Wohntrakt eins Rechts, wo Sanderson hingelaufen ist. Hat offenbar noch eine Duft- oder Geschmackspur von dem in der Luft."

"Und ich?" wollte Groover wissen.

"Du bleibst im Bad. Wenn wir ihn da doch noch hinkriegen bbrauchen wir wen lebenden, der ihn im Wasser hält."

"Anruf von Eindringling!" trällerte eine weiblich klingende Zauberstimme, die einer fröhlichen Waldnymphe entlehnt sein mochte.

"Anruf durchstellen!" befahl Perdy an das goldene Ohr gewandt. "Hey, Pater Duodecimus und wer sonst noch im Überwachungsbunker ist. Ihr könnt mich nicht aufhalten, und das Babyfizieren von Wachleuten bringt euch nichts. Auch die Melosperre macht mir nicht viel, weil meine Auftraggeber mehr als einer zugleich sind. Also gebt besser auf. Denn ich kriege euch doch alle!"

"Logan, hier Pater Duodecimus, wehr dich gegen alles, was die dir in den Kopf gesetzt haben! Du bist nichtunser Feind, und du willst uns auch nicht angreifen", versuchte es Pater Duodecimus.

"Ich bin nicht mehr Logan Bridgewood, dieser kleine schwache Zauberstabschwinger. Ich bin Giargullsharian, Krieger des Erhabenen. Also gebt auf und werdet meine Mitstreiter!"

"Erst wenn ich mein dreizehntes Kind selbst ausgetragen und geboren haben werde, Logan", erwiderte Milton Springwater.

"Eure Spielereien sind nett. Aber sie halten mich nicht auf", erwiderte der Eindringling mit seiner schnarrenden, fauchenden Stimme.

"Wir haben noch nicht richtig angefangen", sprach nun Perdy. "Ah, der Liebling der französischen Vielfachgebärerin ist auch da. Dann komm besser gleich aus eurem Wachraum raus, bevor ich selbst reinkomme."

"Sag deinem Erhabenen, du bist schon einer zu viel", sagte Perdy nicht so wild entschlossen wie sonst klingend.

"Im Gegenteil, ich werde euch alle einberufen und dann mit euch dieses Land nach den Wünschen der Verkünder des Erhabenen neu aufbauen. Also gebt besser auf und . Eh, lasst das!" Perdy hatte wohl was gemacht, das dem anderen missfiel. Norman konnte jetzt auch sehen, was genau. Vor dem durch den Gang laufenden Schlangenmann stand eine Wand aus vielen weißblauen Blitzen, die irrisierend hin- und herzuckten. "Ach, ich dachte, du bist gegen alles immun", sagte Perdy. Dann sahen sie, wie der Eindringling im schnellen Lauf durch die Barriere drang. Dabei strahlte von ihm eine im selber Heftigkeit wie die Blitze schwingende blaue Aura auf, welche die ganze Gangbreite ausfüllte. Von irgendwo in der Niederlassung erscholl ein scharfer, sehr häufig widerhallender Knall. Ein quäkiges: "Ausfall des Blitzfeldes auf Stockwerk eins", bestätigte, was hier im Wachraum alle ahnten.

"Mich mit Elektrizität anzugreifen, wie unwürdig und sinnlos", schnarrte der Eindringling.

"Meinst du", schnarrte Perdy leise genug, dass keines der Ohrenmodelle es als Fernverständigung oder Stimmbefehl aufnehmen würde.

Die Silberglocke pingte. Gleichzeitig erklang ein Dreiklang von dem uhrenartigen Ablesegerät, auf das Perdy vorhin gesehen hatte. "Alle Notfluchtkammern besetzt. Verschluss gegen Portierzauber pausieren! Notfallplan Exodus ausführen!" befahl Perdy dem goldenen Ohrenmodell zugewandt. Sofort darauf drang aus unsichtbarer Quelle und wohl überall in der Niederlassung hörbar: "Achtung, Notfallplan Exodus wird ausgeführt."

Im nächsten Moment erklang die Silberglocke erneut. Doch ihr Klang begann leise und endete mit einem lauten, abrupt und ohne Nachhall endenden Ton, als klänge die Glocke Rückwärts. Dieser befremdliche Klang erfolgte in den nächsten zwanzig Sekunden noch acht mal.

"Oi! Das büßt ihr mir!" schnarrte die Stimme des Eindringlings aus unsichtbarer Quelle. "Hast du nicht gewusst, dass wir alle im Zweifelsfall ganz schnell aus der Niederlassung raus sind. Ich mach jetzt die Selbstvernichtung scharf, dann kann hier alles in die Luft fliegen", sagte Perdy nun sehr überlegen klingend. "Deine Wachtruppe ist noch da. Ich schmecke ihre Angst und ihre Hoffnungslosigkeit. Wenn ihr alle freiwillig zu mir kommt werden die Verkünder des Erhabenen euch sehr gnädig aufnehmen."

"Nein, danke! Wir werden nicht die Sklaven eines längst toten Herrschers oder seines selbsternannten Nachfolgers", erwiderte Perdy darauf.

"Du willst nicht wirklich alles hochjagen, oder?" fragte Norman. "Sagen wir so, ich hoffte, er würde dann ganz schnell wieder ins Untergeschoss absteigen. Da sind meine heftigsten Gegenmaßnahmen."

"Der könnte jetzt direktzu uns hin", meinte Milton Springwater.

"Wundere mich, dass er das nicht von vorne herein versucht hat", sagte Norman. "Der weiß doch, wo der Überwachungsraum ist."

"Ja, aber er weiß auch, dass der Raum mit mehr Abwehrzaubern gespickt ist, die er alle erst mal hätte knacken müssen. In der Zeit hätten alle flüchten können. Also wollte und will er erst möglichst viele anbeißen, um seinem neuen Herren zu dienen", sagte Perdy.

"Aber die Melosperre. Was meint er damit, dass es mehr als einer zugleich ist?" Perdy überlegte. Dann hatte er wohl die Lösung. "Dass die Fernlenkung dieser Wesen weltweit und wohl auch bis in die glutflüssigen Bereiche der Erde aufrechterhalten sein muss und wohl deshalb eine Meloverstärkung wie von drei, vier oder fünf gleichzeitig denselben Empfänger mit derselben Botschaft andenkenden benutzt wird oder wurde. Immerhin hat Julius Latierre im Vorgang der Umwandlung zum Schlangenmenschen auch eine mentiloquistische Anweisung gehört, obwohl die Beauxbatons-Akademie mit einem melosperrzauber umgeben ist."

"Will sagen, der kann auch verraten, wo er ist oder von denen ferngeortet werden?" wollte Pater Duodecimus Australianus wissen. Perdy nickte betrübt und erwiderte, dass er das nun befürchtete. Denn dann konnten sie sich echt warm anziehen oder besser gleich den großen, weiten Abflug machen. Offenbar war genau diese Aussicht für Perdy sowas wie ein Trompetensignal zum Angriff. Denn unvermittelt straffte er sich und sagte: "Gut, mit Kuschelkissen nach ihm werfen bringt es nicht mehr. Dann starte ich mal die Versuchsreihe. Jungs und Mädchen vom Abwehrtrupp, zieht euch in eure Bunker zurück!" rief er noch dem silbernen Ohr zugewandt.

"Wir haben ihn schon in der Feindeserfassung und er ist hinter uns her", schrillte eine Kleinjungenstimme aus der linken Raumhälfte. Nun konnte Norman Riverdale sehen, wie die mit Abwehrtruppen bezeichneten Punkte auf der Gesamtübersicht in großer Eile in verschiedene Richtungen eilten. Ein rot blinkender Punkt mit der Bezeichnung "Feindlicher Eindringling" hatte die Verfolgung eines der grün markierten Abwehrtruppler.

"Vollverschluss wieder herstellen. Melosperre modulieren. Überwachungszentrum Abwehr Stufe zehn. Fall Dunkler Kerker!" sprach Perdy zum goldenen Ohrenmodell.

"Fall Dunkler Kerker", erwiderte eine magische Stimme, diesmal die eines Mannes, der von der Betonung her gerne Geistergeschichten zum besten Gab. Unvermittelt änderte sich die Deckenbeleuchtung von warmem Gelb zu gespenstischem Blau mit einem leichten Flackern wie von einer unregelmäßig abbrennenden Kerze. Außerdem meinte Norman, dass die Wände, der Boden und die Decke vibrierten.

"Was wird das jetzt genau, Perdy?" wollte Pater Duodecimus Australianus wissen.

"Eine Versuchsreihe. Die kann für unseren abtrünnigen Mitstreiter übel enden. Aber wenn er meint, jeden hier angreifen zu können wehren wir uns halt. Ich will jedenfalls nicht assimiliert werden, um einem längst zu Staub zerfallenen Herren zu dienen und auch nicht einem wie Riddle nachlaufen", versetzte Perdy.

Norman sah, dass der Schlangenmann unruhig wurde. Die schnelle Absetzbewegung der unbeteiligten Mitbewohner hatte ihn wohl aus dem Konzept gebracht. Einige Sekunden lang sahen sie nur, wie der Schlangenmann mit seiner Zunge die Umgebung untersuchte. Dann lief er zu einer Wand, hielt sich mit einer Hand daran fest und sprang dann nach oben, wobei er tunlichst beide Prankenhände an der Wand hielt. Innerhalb von zwei Sekunden hatte er sich bis zur Decke gehangelt. Dann hieb er mit der rechten Faust in die Decke und stieß seinen Kopf nach. Sofort wurde er vollständig in die Decke hineingezogen und verschwand darin. Die Ansicht wechselte und zeigte den Feind nun aus dem Boden herausfahren wie der Teufel aus den Muggelgeschichten seinem unterirdischen Reich. Auf dem Flur leuchtete dasselbe blaue Flimmerlicht. Perdy berührte mit drei Fingern der linken Hand eine silberne Deckplatte unter den drei hufeisenförmig beschaffenen Stufen, auf denen seine besonderen Überwachungs- und Steuervorrichtungen angeordnet waren. Die Platte klappte auf und enthüllte mehrere kleine Dinge, darunter ein Dutzend Armbänder. "Hier, Milton und Norman, zieht die Dinger an. Das sind Aurasuppressoren und gleichzeitig Antimentiloquismusvorrichtungen. Wenn meine Vorkehrungen volle Stärke erreichen und euch wer anmentiloquieren will könnte das für eure Köpfe sehr schmerzvoll werden", sagte Perdy. Dann fischte er drei Armbänder heraus und legte sie offen zur Ansicht hinn. Dann schloss er die Abdeckplatte wieder.

Norman sah nun, wie aus Decke und Boden hinter und vor dem Schlangenmann gangbreite Platten herabglitten, die das blaue Geisterlicht vollständig spiegelten. Der Eindringling, der vorher noch Logan Bridgewood war ließ seinen flachen Kopf auf dem biegsamen Hals kreisen. Als seine bleichen Augen die spiegelnde Fläche anvisierten konnten die drei im Überwachungsraum eine Folge roter Blitze sehen, die zwischen dem Eindringling und der Spiegelwand zuckten. Der Verwandelte pendelte wie ein Grashalm im Sturmwind hin und her, vor und zurück. Dann schaffte er es, den Blick von der Wand zu lösen. Norman fühlte, wie das flauschige Band um seinem linken Handgelenk erzitterte. Gleichzeitig hielt sich Bridgewood die schuppigen Pranken an den flachen Kopf und streckte seine gespaltene Zunge ganz weit aus. Dann erbebte er. Seine Lungen dehnten sich schlagartig weiter aus als vorher. Doch nach nur einer Sekunde schrumpften sie wieder auf das übliche Maß. Über der Bilddarstellung glomm der dunkelrote Schriftzug: "WARNUNG! ABSCHNITT GANG 1 L 1 IN ABSCHNITT B VOLLSTÄNDIG LUFTLEER!"

"Du hast ihm die Luft genommen?" fragte Milton Springwater. "Yep!" stieß Perdy aus und blickte trotzig auf das magische Fenster, dass den bedrängten Feind zeigte.

Der Körper des Schlangenmenschen wirkte, als bliese etwas ihn von innen auf. Perdy nickte. "Wenn er jetzt keinen Trick bringt, um im Vakuum zu überleben wird's sehr unappetitlich."

"Mach da sofort wieder luft rein, bevor Logan zerplatzt!" stieß Pater Duodecimus Australianus aus und versuchte Perdy zu packen. Doch wie vorhin wehrte die Bezauberung des Überwachungssessels den Angriff ab.

"Wenn es ihn zermatscht haben wir's amtlich, dass diese Wesen nicht im Vakuum ..." Da stampfte der Schlangenmann kräftig mit dem rechten Fuß auf und stürzte in den Boden zurück. "Bringt ihm nichts. Ich habe Stufe Zehn befohlen. Das heißt alle Räume, wo keiner unserer Abwehrleute ist sind in jeder Bedeutung evakuiert."

"Mann, mach da wieder Luft rein! Du bringst ihn sonst um", erwiderte Springwater.

"Wir müssen wissen, was diese Wesen schwächt, Milton. Wenn wir das nicht rauskriegen haben wir bald keine unbefallenen Mitstreiter mehr", stieß Perdy aus. Norman verstand beide. Doch wie skrupellos Perdy vorging erschreckte ihn doch. Sicher, der hatte ja auch die Himmelsglocken manipuliert, dass sie das Vollmondlicht in eine für Werwölfe tödliche Strahlung umwandelten.

Kaum ein Stockwerk tiefer gelandet merkte Bridgewood wohl, dass hier auch keine Atemluft war. Da ließ er sich einfach fallenund streckte Arme und Beine so weit es ging von sich. Augenblicklich zuckten grüne und rote Blitze über seinen Körper, vereinten sich zu einem ins Braun gehenden Flackern, dass den Körper umspannte. Dabei konnten sie alle sehen, wie der Schlangenmann wieder regelmäßig atmete. Dann stand das unheimliche Geschöpf wieder auf. Die nun eher braun flirrende Aura blieb erhalten.

"Der tankt jetzt Erdmagie, wie wir Luft atmen", grummelte Perdy. "Klar, die Biester sollten im Bedarfsfall ja auch auf die höchsten Berge der Welt raufklettern können", vermutete er mit gewissem Ingrimm. "Probieren wir das mal", sagte er den beiden Mitstreitern und wandte sich wieder dem goldenen Ohrenmodell zu: "Feind levitieren!" befahl er. Nun zuckten auch noch blaue und violette Blitze um den Schlangenmann herum. Der Eindringling erbebte sichtbar. Dann tat er einen Schritt weiter nach vorne und schien ihn mit Kraft nach unten zu stoßen. "Okay, der leitet den Antigravitationszauber um sich herum. Wäre ja auch wieder zu einfach gewesen", schnarrte Perdy und widerrief den Levitationsbefehl. Die blauen und violetten Blitze erloschen. Einen winzigen Moment lang schien der Eindringling zusammenzuklappen. Doch dann straffte er sich wieder und prüfte seine Beweglichkeit. Als er erkannte, dass er wieder normal laufen konnte trat er mehrere Meter zurück und rannte los. Kurz vor der ihm nächsten Spiegelplatte warf er sich nach vorne und knallte mit dem Kopf dagegen. Eine Vierersalve silberner Blitze jagte über seinen Körper hinweg in den Boden hinein. Bridgewood oder wie er sich jetzt auch immer genannt hatte richtete sich wieder auf und trat einige Schritte zurück. Dann rannte er wieder los.

"Könnte es sein, dass der die aus Occamysilber und Meteoriteneisen gebauten Mondspiegel entlädt, die angeblich gegen jede körperliche und magische Gewalt immun sind?" wollte Springwater wissen. Perdy antwortete ihm nicht darauf. Das übernahm der Schlangenmann. Er rannte wieder gegen die spiegelnde Fläche an und löste die nächste Silberblitzsalve aus. Jetzt konnten sie sehen, dass in der das blaue Geisterlicht spiegelnden Fläche Risse klafften. Beim nächsten Anprall schossen mehr als vier Blitze aus der Fläche heraus, und die Wand zersprang unhörbar in eine Wolke aus Millionen kugelförmige Bruchstücke. Diese wirbelten in alle Richtungen davon, schlugen wohl hier und da gegen Boden, Wand und Decke und schlenkerten als Querschläger zurück.

Drei Anläufe, um einen Mondspiegel zu entladen und zu zerstören", bemerkte Perdy. "Also mit in Materie eingelagerter Magie ist denen wirklich nicht beizukommen, solange die Bodenberührung halten."

"Was passiert, wenn du jetzt wieder alle Luft zu ihm reinlässt, Perdy?" wollte Norman wissen.

"Gute Idee", sagte Perdy und gab das entsprechende Kommando an das goldene Ohrenmodell weiter. Das blaue Flimmerlicht verwischte kurz. Dann zersprühte die braun flirrende Aura wieder zu grünen und roten Blitzen, die in die Erde schlugen. Dem Angreifer geschah nichts, außer, dass er jetzt wieder frei atmete.

Perdy gab nun einen Befehl, den Norman nicht begriff. Er sah, wie etwas zwischen Wasser und Dampf aus der Decke herabfiel und den Eindringling einschloss. Dieser blieb stehen und erstarrte. Norman sah, wie sich auf dem Körper des Schlangenkriegers eine immer dickere Eisschicht bildete. Er bewegte sich jedoch nicht weiter. Er wurde zu einer immer dickeren und höheren Eisskulptur.

"Das könnte es gewesen sein, Leute. Flüssigen Stickstoff kannten die in Atlantis wohl noch nicht, wo die sooooo weit in allem voraus gewesen sein wollen."

"ist er jetzt tot, Perdy?" fragte Norman Riverdale.

"Öhm, nein, seine Lebensaura hat sich nur auf einen winzigen Bruchteil abgeschwächt, pulsiert langsam, ist aber noch nicht erloschen", stellte Perdy nach einem kurzen Ablesen seiner Instrumente fest. Auch stand Bridgewood immer noch im Vordergrund des Feindglases, wenngleich von grauen Schlieren durchzogen, als wolle der Zauberspiegel das Bild auswischen. "Könnte sein, dass er jetzt in einem Überdauerungszustand ist, der solange hält, wie er eingefroren bleibt, sowie im Film "Das Ding aus einer anderen Welt oder der lustigen Geschichte vom Urmel aus dem Eis. Könnte aber auch noch einige Minuten dauern, bis seine Lebensfunktionen vollständig erlöschen."

"Willst du das abwarten oder das hier abbrechen?" wollte Milton Springwater wissen. Er klang überaus verärgert.

"Weil wir nicht wissen, ob wir abwarten können breche ich das ab. Falls er sich erholt müssen wir wissen, wielange er dafür braucht", sagte Perdy und gab einen anderen Befehl. Unvermittelt schossen weißblaue Flammen aus einer Wand, konserviertes Drachenfeuer. Doch selbst dieses brauchte mehr als drei Sekunden, den viele Zentimeter dicken Eispanzer zu schmelzen. Als das geschehen war erlosch das Feuer wieder. Ein Beben ging durch den Schlangenmenschen. Es wurde immer stärker. Dann bewegte das Wesen erst die Schultern und dann die Arme, wendete seinen Hals und hob den rechten und danach den linken Fuß kurz an. Dann, als hätte jemand die Kreatur mit einem Hebel eingeschaltet, sprang sie vor und lief wild mit den Armen fuchtelnd auf die nächste Spiegelwand zu, um sich den weiteren Weg freizurammen. "Öhm, nur sieben Sekunden", kommentierte Perdy den Vorgang. "Dieser Schöpfer von denen hat echt viel bedacht. Bleibt also echt nur das Loslösen vom Erdboden, um die angreifbar zu machen", grummelte er. Denn gerade sah er, wie der aufgetaute Gegner mit nur einem kräftigen Kopfstoß die Spiegelwand aus dem Weg sprengte. "Nette Versuche, mir Luft und Wärme zu nehmen, Leute. Aber ich bin nicht tot. Und irgendwann werden meine Quellen mich auch wieder erreichen."

"Was ist mit Lyndon Willes?" fragte Norman, als er auf der Gesamtdarstellung den Punkt suchte, der mit dem Abwehrtruppler verknüpft war. Dieser flackerte bedenklich auf, wechselte dabei immer häufiger von Grün zu Gelb.

"Oha, offenbar bekämpfen sich das in ihm wirkende Gift und der Infanticorporezauber ziemlich stark", vermutete Normans Großvater.

"Okay, du bist als Heilhelfer ausgebildet, Milton. Beobachte du ihn bitte über Fenster drei!" sagte Perdy und machte mit dem Zauberstab eine entsprechende Zeigebewegung. Norman sah auch schnell auf die Darstellung des Abwehrtrupplers, in dessen Körperzwei Verwandlungszauber gegeneinander ankämpften. Beide sahen, wie der säuglingsgroße Körper unter schnellen und heftigen Schmerzwellen zuckte. Schweiß schoss ihm dabei aus allen Poren und er schrie aus Leibeskräften. Norman dankte der Überwachungseinstellung, dass diese gerade keine Geräusche übertrug.

Spiegel um Spiegel wurde von dem dreifarbigen Schlangenmann aus dem Weg gerammt. Perdy ließ zwischendurch weitere Flammenstöße aus den Wänden schlagen. Doch außer dass die gegenüberliegende Wand gelbglühend wurde und eine Art Schattenabdruck des an der Stelle gewesenen Schlangenmannes zeigte geschah nichts. Der Gegner rannte einfach weiter und schmetterte mit einem einzigen Kopfstoß die erst einmal letzte Spiegelwand weg.

Der Versuch, ihn mit einem der bewährten Bringbeutel einzusacken misslang, weil der Gegner sich blitzartig gegen den ihn zusammenschnürenden Sack stemmte und ihn zerriss, bevor dieser ihn weit genug angehoben hatte. "Flugbezauberungen fließen sofort ab, Festigkeitsverstärker sowieso", fauchte Perdy. Die Bringbeutel waren nicht gerade billig, aber immer noch billiger als die in schneller Folge zertrümmerten Spiegelwände. Deshalb veranlasste Perdy, die auf den anderen Stockwerken herabgesenkten Wände wieder einzurollen wie seidendünne Jalousien. Immerhin standen noch verschlossene Türen und herabgefahrene Gitter im Weg.

Verflixt. Lyndon ist besinnungslos geworden. Er schreit nicht mehr", vermeldete Normans Großvater.

"Ey, hört ihr mich. Eure Gitter und Türen halten mich nicht auf. Ich kann auch in luftlosen Räumen weitermachen. Gebt also auf und lasst euch einberufen!" hörten sie Bridgewoods veränderte Stimme.

"Komm und hol uns doch!" provozierte Perdy das unheimliche Wesen. Dieses ging darauf ein und prüfte mit der Zunge, wo sein Feind sein mochte. "Meinst wohl, weil du die Richtungsweisekraft durcheinanderbringst, ich fände euch nicht, wie? Aber ich kenne den Weg. Gleich bin ich bei euch."

"Glaubst aber nur du", zischte Perdy so leise, dass es der andere wohl nicht gehört hatte. Dann befahl er "Fließende Zugänge!" Jetzt rumpelte und ruckelte es außerhalb des Überwachungsraumes. "So, durch die zufällig verändernden Gänge zu uns hinfinden könnte dauern, Logan!" rief Perdy. Diesen Trick hatte er nach dem Verschwinden von Silvester Partridge in allen englischsprachigen Niederlassungen und auch der Französischen einbauen lassen. Was in Schulen wie Hogwarts und Beauxbatons üblich war taugte auch hier was, nur dass die Gänge und Treppenaufgänge jede Minute ihre Ausrichtung änderten und nicht nur jeden Tag. Perdy hatte jedoch noch was auf Lager, was die Orientierung eines Angreifers deutlich verderben konnte. Alle zehn Meter war eine vorbehandelte Stahlplatte im dicken Boden verbaut. Wenn ein bestimmter Zauber durch die Gänge geschickt wurde erwachte in den Platten ein regulierbarer Magnetzauber. Wer sich an magnetischen Feldlinien ausrichtete bekam so eine völlig verwirrende Wahrnehmung. Die Wirkung war sofort zu sehen.

Bridgewood blieb plötzlich wie vom Schlag getroffen stehen. Er erbebte und blickte sich hektisch um. Dann versuchte er, weiterzugehen. Doch als wenn er gerade in ein Schwimmbecken voller Honig hineingefallen wäre kam er nur langsam voran. Selbst der Versuch, durch Aufstampfen in der Erde zu versinken misslang, weil sein Fuß nicht mit der nötigen Wucht auftraf. Die bleichen Augen des Schlangenkriegers flatterten wild. Der Gegner keuchte wie nach einem Marathonlauf. Er ließ sich fallen und versuchte, kriechend weiterzukommen, wohl weil er bei großflächigem Bodenkontakt mehr Erdmagie in sich aufnehmen konnte. Dann war er genau über einer der nun tätigen Magnetplatten. Da hob derSchlangenmann vom Boden ab, als läge er auf einer unsichtbaren Plattform, die nach oben fuhr. "Nein, wieso ... Aarg! Neeeiiin!" schrillte der gerade aufsteigende und versuchte, durch nach untenstoßen seiner Hände den rettenden Bodenkontakt zurückzugewinnen. Doch seine Arme kamen nicht gegen die ihn anhebende Kraft an.

Der Aufstieg bis zur zweieinhalb Meter hohen Decke verlief in zehn Sekunden. Dabei wurde aus dem Schlangenmann der unbekleidete Logan Bridgewood, der nun, wo er wieder ein Mensch war, mit seiner angeborenen Stimme fluchte und klagte. Dann schlug er gegen die Decke und blieb daran haften. Dabei durchlief er wieder die Verwandlung zum Schlangenmenschen. Denn die Decke war über die Wände und das Fundament mit der Erde verbunden.

"Wieso ist dasss sooo! Ich will wieder unten sssein!" zischte und fauchte Bridgewood. Ihr Quellen, hört michch dochchch. Hört michchch!!"

"Faszinierend", freute sich Perdy. Dann klatschte er höchst vergnügt in die Hände und meinte: "Da hätten wir echt schon gleich drauf kommen können, es mit künstlicher Magnetkraft zu versuchen."

"Du zerquetschst ihn, Perdy", mahnte Milton Springwater an. "Öhm, wo ich den im Vakuum, unter einer Flüssigstickstoffdusche und durch vier gespeicherte Drachenfeuerstöße gejagt habe sorgt dich das jetzt?" wollte Perdy wissen. Doch dann sah er, dass Bridgewood seine Arme so bewegte, dass er den Trick mit dem Durchschlüpfen der Decke ausführen konnte. Der Schlangenmann wurde förmlich von der Decke eingesaugt und verschwand. Sofort wechselte die Bildansicht wieder. Der Gegner entfuhr dem Boden wie ein Korken aus einer Champagnerflasche und stieg weiter nach oben, bis er wieder an eine Decke stieß. Diesmal schaffte er es, schneller den Durchstoßzauber zu bringen. "Wohl ein wenig zu früh gefreut, wie?" schnarrte Milton Springwater. Doch dann sah er, dass der Schlangenmann diesmal nicht ganz so schnell nach oben stieß wie eben noch. Zwar schaffte er es noch, durch die nächste Decke zu schlüpfen, ohne diese zu beschädigen. Aber das entfahren aus dem Boden zog sich nun über zehn volle Sekunden hin. "Magnetplatte in Höhe vier Abschnitt L eins um dreifachen Wert verstärken!" befahl Perdy, als er sah, wie der Schlangenmann mit einem kräftigen Sprung zur Decke hochwollte, aber auf halber Höhe abgebremst wurde und wie eine Feder zurück auf den Boden fiel. Dann hieb ihn etwas förmlich zu Boden. Er blieb erst einmal ausgestreckt liegen. Doch dann schaffte er es mit einem energischen Tritt gegen den Boden, den Durchschlüpfzauber nach unten auszuführen. Er stürzte nun aus der Decke einen Stock tiefer und prallte auf den Boden. Wieder trat er gegen den Bodenund wechselte so durch die feste Decke ein Stockwerk weiter nach unten. Diesmal schlug er aber nicht sofort auf den Boden, sondern wurde erheblich gebremst und berührte fast den Boden. Perdy befahl schnell, den zwei Etagen tiefer wirkenden Magneten auf doppelten Wert zu verstärken. Da wurde Bridgewood wieder nach oben gehoben und glitt langsam bis auf halbe Höhe des Ganges. Schnell korrigierte Perdy den magneten weiter oben, das bewirkte, dass Bridgewood nun in der Luft anhielt und sich gerade wieder in seine Ausgangsgestalt zurückverwandelte. "So, da kommst du jetzt nicht mehr raus!" blaffte Perdy überlegen grinsend. Diesmal stimmte es auch. Denn Bridgewood blieb wie in der Luft fest eingebacken auf der gerade erreichten Höhe und bebte nur. Er konnte keines seiner Glieder rühren, und in seinem nun wieder menschlichen Körper war er auch nicht mehr so gelenkig wie in Schlangenmenschengestalt. "Ey, macht das sofort weg! Hebt diesen verdammten Zauber wieder auf und dann macht das wilde Surren in meinem Kopf weg, damit ich meine Quellen erreichen kann!" presste der nun doch gefangene Gegner mühevoll hervor.

"Logan, werde vernünftig. Wir wissen doch, dass du uns nichts tun willst. Nur dieses verdammte Gift treibt dich dazu", sprach Springwater. Dann sah er auf das Fenster, durch das er Lyndon Willes sehen konnte. Dieser regte sich nicht mehr. Dann erklang ein trauriger Dreiklang aus leerer Luft, und eine betrübt klingende Zauberstimme sagte: "Mitstreiter Lyndon Willes ist soeben gestorben."" Diese belastende Botschaft wurde durch den einheitlich dunkelrot leuchtenden Punkt mit Willes Namen bestätigt.

"War das nötig?" fragte Springwater sehr betroffen.

"Nötig war es nicht", sagte Perdy mit angemessener Betonung. "Ich hoffe aber, dass es wenigstens nicht sinnlos war. Ich weiß nicht, warum Lyndon gestorben ist. Das müssen die Heiler klären, wenn wir Bridgewood sicher verwahrt haben."

"Und wie genau willst du ihn jetzt wegschaffen, mit dem Bringbeutel?" fragte Springwater.

"Könnte klappen, wenn ich den Vollverschluss wieder aufhebe, aber die Magneten solange aktiv lasse, bis der Sack ihn sicher eingeschnürt hat", sagte Perdy. Er sollte es dann tun. Perdy hob die Apparier- und Portschlüsselsperre auf und ließ einen weiteren Bringbeutel direkt über Bridgewood erscheinen. Nun konnte er problemlos darin eingeschnürt werden. Der Bringbeutel trug ihn dann im freien Flug durch die nun wieder freien Gänge zum Tieftauchübungsbecken. Hier erwarteten ihn zwei Abwehrtruppler und warteten, bis der Bringbeutel sich löste. Bridgewoods nackter Körper fiel aus mehr als zwei Metern nach unten. Der Betäubungszauber traf ihn noch im Fallen. Dann ließen ihn die Schutztruppler von Vita Magica auf einem drei Meter großen Holzbrett landen, das genau in der Mitte des Tauchbeckens auf dem Wasser trieb. Nach unten waren es nun zwanzig Meter bis zum Grund. Sie fesselten Bridgewood sorgfältig, auch wenn sie davon ausgingen, dass der Betäubungszauber nun vorhielt.

Was Lyndon Willes anging stellten die Heiler fest, dass der Widerstreit zwischen Schlangenmenschengift und Infanticorpore den Mitstreiter all seiner Lebenskraft beraubt hatte. Das hatte Perdy offenbar nicht einkalkuliert und war entsprechend bestürzt. "Na ja, jetzt wissen wir, dass Infanticorpore bei im Verwandlungsvorgang steckenden tödlich wirkt, was heißt, dass wir keine weiteren von uns mehr reinitiieren", sagte Pater Duodecimus Australianus, nachdem sie beide das Untersuchungsergebnis erhalten hatten. Zumindest konnten die Heiler und Heilerinnen nun Haar-, Haut- und Blutproben des gefangenen Schlangenmannes nehmen, um herauszubekommen, wie das Gift wirkte. Außerdem wurde eine Dringlichkeissitzung des hohen Rates des Lebens einberufen, aber nicht in Australien. Es sollte erörtert werden, ob die Schlangenmenschen als zu heilbare Kranke oder unrettbar veränderte Wesen eingestuft werden sollten und ob es nach der Erkenntnis, dass sie offenbar mit starken Magnetfeldern wechselwirkten, eine Möglichkeit gab, sie in Massen einzufangen oder, falls das nicht ging, ähnlich flächendeckend zu töten wie die kriminellen Werwölfe der Mondbruderschaft. Sicher war gerade nur eines, dass ihnen die Zeit davonlief.

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Im australischen Zaubereiministerium, 16.09.2003, 00:20 Uhr Ortszeit

Zaubereiministerin Rockridge erhielt über Verbindungshexen und -zauberer laufend Meldungen über die Schlangenmenschengruppe an einer reinen Mädchenschule bei Port Lincoln und auch, dass sowohl eine unzweifelhaft magiebegabte Schülerin, als auch eine vom Kontakt mit fester Erde abgeschnittene und somit stark geschwächte Schlangenfrau geborgen werden konnten. Vier Zauberer hatten jene Gummiinsel, auf der die Schlangenfrau gefesselt war, durch die mit dem behutsamen Hindernisbeseitigungszauber Excavatus geschaffene Öffnung in der Fensterfront nach draußen gebracht. Den Besen war keine Magie entzogen worden. Das würde also erst wieder passieren, wenn die Schlangenfrau Bodenberührung hatte. Doch das würden sie ihr nicht erlauben. Die vier Zauberer würden sie zwischen ihren Besen durch die Luft tragen und auf ein vor der australischen Südküste wartendes, nicht vor anker liegendes Schiff bringen. Diesen Vorschlag hatte Heilzunftsprecherin Morehead gemacht. "Sollte es Ihnen gelingen, eine oder mehrere dieser gefährlichen Wesen lebend zu fangen verfrachten sie jedes davon auf ein frei schwimmendes Wasserfahrzeug, ob in der Mitte eines Flusses oder im Mehr, wenn dort mehr als zwei Meter Wassertiefe vorherrschen! Es könnte sich als sehr nützlich erweisen, die Gefangenen auf ihre Natur hin zu untersuchen, um vielleicht weitere Möglichkeiten der Heilung zu entwickeln." So hatte Laura Morehead noch vor sieben Stunden gesagt. So hatte die Ministerin es neben der zeitweiligen Beschaffung von Motorfluggeräten auch hinbekommen, zehn Frachtschiffe und mehrere große Rettungsflöße aus Kunststoff anzumieten. Laura Morehead wollte dann ihre Fachkräfte für Flüche, Verwandlungszauber und Gifte dorthin schicken.

Im Kamin der Ministerin ploppte es. Nigel Bridgegates Kopf erschien. Der Leiter des Kontaktbüros zwischen Menschen mit und ohne Zauberkräfte sprach aufgeregt: "Ministerin Rockridge, bei Darwin ist auch einer von denen aufgetaucht. Er will wohl einen Stützpunkt der australischen Streitkräfte heimsuchen. Ich bekam gerade von meinem Beobachter dort die Meldung mit der Dringlichkeitskennung "Vier Feuerfflöhe". Ich erbitte die Genehmigung zum Einsatz von Arrestbrigade zwei, um diesen Stützpunkt abzusichern, bevor dessen Besatzung umgewandelt wurde und dann in alle Richtungen ausschwärmen kann."

"Ui, wenn das so weiter geht sind wir in dieser Nacht schon komplett ausgelastet", grummelte die Ministerin. Dann sagte sie: "Eilgenehmigung für Arrestbrigade zwei erteilt. Sehen Sie zu, dass von da keiner der Schlangenkrieger entkommt! Nicht mit Torricelli-Barriere arbeiten! Die kann von denen überwunden werden. Nur den Arrestdom nach Vangard, Greendale und Woodford einsetzen!"

"Danke, Ministerin Rockridge!" bestätigte Bridgegates Kopf und verschwand mit leisem Plopp aus dem Kamin. Die Ministerin wusste jedoch, dass es mindestens zwei Stunden dauern mochte, bis die wirklich stabile Arrestblase um ein großes Gelände errichtet werden konnte. In der Zeit konnten Dutzende von diesen Ungeheuern entwischen und ihre Saat zu anderen Orten tragen. Hinzu kam dann noch, dass Angehörige der Muggelstreitkräfte mit den zur Verfügung gestellten Waffen noch mehr Terror und Tod in die Welt tragen konnten, wenn der Lenker dieser Kreaturen es befahl. Es war schon beunruhigend genug, dass während des Einsatzes bei der Mädchenschule mehrere Dutzend Umgewandelter entkommen waren. Deren Angehörigen mussten dringend überwacht und notfalls vor den sie heimsuchenden Töchtern, Schwestern oder Nichten in Sicherheit gebracht werden. Immerhin arbeiteten Bridgegates Computerfachleute schon daran, eine vollständige Liste der in Hazelwoods Akademie untergekommenen Schülerinnen zu bekommen.

Latona Rockridge griff nach einer von vier Fernsprechdosen und klappte den Deckel auf. "Tharalkoo, wie steht es bei euch?"

"Wir haben sie unter die Erde getrieben. Aber unsere Thaumaturgen vermuten, dass die Kraftströme der Arrestaura sie wieder nach obenspülen könnten. Die Erkenntnis, dass diese Wesen offenbar mit ausreichend starken, dauerhaften Magnetfeldern wechselwirken war sehr aufschlussreich. Unsere Leute haben alle Häuser und den Turm mit Ferrattractus-Zauber belegt, sofern darin stählerne Bauelemente vorhanden sind. Deshalb sind alle Gebäude gerade frei von den gesuchten Wesen."

"Wie viele Gefangene habt ihr gemacht?" wollte die Ministerin von ihrer Einsatzgruppenleiterin vor Ort wissen.

"Wir haben bisher nur die eine, die von den zwei unverändert gebliebenen Bewohnerinnen im Schwimmübungshaus überwältigt werden konnte. Bei der Gelegenheit sollten Bridgegate und der Kollege von der Ausbildung wegen dieser voreilig in eine Muggelschule geschickten Junghexe dringend über eine Nachbesserung der Überwachungs- und Kontaktaufnahmerichtlinien nachdenken", erwiderte Tharalkoo Flatfoots Stimme aus der Silberdose.

"Ja, das wird die beiden garantiert freuen", erwiderte die Ministerin. "Aber wie schätzt du jetzt die Möglichkeiten ein, diese Pest an ungehemmter Ausbreitung zu hindern?"

"Jetzt wo wir wissen, dass die offenbar von starken Magnetfeldern beeinträchtigt werden dürfte es sogar reichen, alle eisen- und stahlhaltigen Bauelemente in deren Nähe mit Ferrattractus-Zauber zu belegen, auch wenn dabei andere Einrichtungen beschädigt werden sollten. Außerdem schlägt mein Kollege Silvernail vor, eine Vorrichtung zu bauen, die aus einem Kranz mit langen, schwenkbaren Stahlarmen besteht, an deren Enden je zwei voneinander abgespreitzte starke Magneten befestigt werden, deren Kraft mindestens 400 Meter weit reicht, auch in den Erdboden hinein. Die äußeren Magneten sollen dann eine Barriere gegen eine Flucht über Land bilden, die inneren Magneten sollen so ausgerichtet sein, dass deren Kräfte sich an einem Punkt unter der Erde berühren und somit die unter die Erde abtauchenden Schlangenwesen aufhalten. Er schlägt vor, diese Konstruktion auf einer mit Levitationszauber belegten Plattform zu befestigen und den einer dieser Drehflügelluftschrauben nachempfundenen Kranz durch Rotationszauber in beliebig hohe Drehgeschwindigkeiten zu versetzen, um möglichst schnell alle entstehenden Zwischenräume zu überstreichen. . Je mehr Magnete auf einem solchen Drehkranz befestigt werden, desto schneller können entstandene Zwischenräume überstrichen werden. Er vermutet, dass eine solche Konstruktion die Schlangenmenschen daran hindern könnte, einen bestimmten Bereich zu verlassen , auch nicht durch die Erde. Es wäre halt nur wichtig, dass diese Magneten den bestimmten Bereich so schnell wie möglich überstreichen. Dann brauchen wir womöglich keinen Arrestdom mehr, um die zu lähmen oder einzukerkern", vermutete Tharalkoo Flatfoot.

"Das hilft uns wohl gerade jetzt auch, wo der Kollege Nigel Bridgegate eine Dringlichkeitsmeldung "vier Feuerflöhe" erhalten hat, dass es bei einer Armeeniederlassung wohl auch zum Ausbruch dieser besonderen Werwut gekommen ist beziehungsweise diese dort gerade grassiert", entgegnete die Zaubereiministerin Australiens.

"Oha, und wir machten uns schon Sorgen wegen der entkommenen Mädchen. Öhm, deren Angehörigen werden hoffentlich überwacht", erwiderte die Zauberwesenabteilungsleiterin.

"Unser Rechenmaschinenwart ist schon dran, an die geheime Schülerliste zu kommen. Da dieses Internat ja eine exklusive Privatschule für Töchter hochrangiger oder sehr wohlhabender Familien ist liegt die Liste natürlich nicht in jedem Schulamt offen herum. Aber Nigel ist dran an der Sache. Wie viele Leute mit Reservesteinen kannst du entbehren?"

"Also, es sieht so aus, dass der Dom stabil ist und nicht geschwächt wird. Zwischendurch guckt zwar eine von denen aus dem Boden wie ein Regenwurm, der nach dem Wetter sehen will, aber der Arrestdom selbst steht unerschüttert, Latona."

"Kannst du dann alle gerade nicht gebrauchten Außentruppler losschicken, denen zu helfen, die denArmeestützpunkt anfliegen?"

"Wo genau soll der sein?" wollte die Stimme aus der Fernsprechdose wissen. Die Ministerin erwähnte den Standort.

"Oha, einmal aus dem Spätwinter in die Tropenhitze. Aber geht auf jeden Fall klar, Latona. Ich kann die Magnetbande, wie ich meine Truppe genant habe, locker dahinverlegen. Die können dann sogar Apparieren. Die Bezauberung der Gebäude hier ist stabil."

"Gut, stimme das bitte mit Nigel ab!" sprach die Ministerin in die Fernsprechdose. In ihrem Gesicht leuchtete eine gewisse Zuversicht, den Schlangenmenschen doch noch beizukommen, ohne gleich alle zu töten.

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Auf dem Gelände des Robertson-Stützpunktes bei Darwin, 16.09.2003, 00:30 Uhr Ortszeit

Naaiginrashuan lauschte, wo er Stromschwingungen mit hoher Schwingungszahl fühlen konnte. Als er es wusste eilte er innerhalb von drei Sekunden dorthin. Zuerst tauchte er unter dem örtlichen Radarturm auf und merkte sofort, dass die davon ausgehende Strahlung ihm körperlich zusetzte. Er fühlte Hitzewallungen und ein lautes, schrilles Kreischen im Kopf. Er krümmte sich vor Schmerzen zusammen. Das hatte ihm niemand gesagt, dass Radarstrahlen ihm weh tun konnten. Das durfte auch bloß keiner wissen. Er musste sich schnell konzentrieren, die Stromzufuhr zu unterbrechen. Aarg! Wieder überstrahlte ihn die kreisende Antenne in mehr als dreißig Metern höhe mit einem kurzen aber äußerst schmerzhaften Signal. Naaiginrashuan schrie innerlich auf und meinte, gleich in Flammen aufzugehen oder innerlich zu zerkochen. Dann hatte er die Hauptleitung dieser Anlage erfasst und konzentrierte sich mit ganzer Kraft darauf, den darin fließenden Strom zurückzudrängen. Noch einmal traf ihn ein kurzer Radarstrahlenstoß. Beinahe verlor er deswegen die Stromleitung aus der Erfassung. Dann endlich überlastete diese und fiel aus. Keine weitere Radarstrahlenfolter erfolgte. Er hatte den Turm lahmgelegt. Doch für wie lange? Nun ging er noch die Funkstation der Basis an. Hier musste er sogar einen eigenen Generator außer Gefecht setzen, der selbst dann noch Strom liefern sollte, wenn alle anderen Stromerzeuger ausgefallen waren. Ob die Besatzung des Stützpunktes noch Hilfe angefordert hatte wusste er nicht. Doch nun hatte er die Basis fast für sich. Er musste nur noch die Flugzeuge lahmlegen oder wortwörtlich am Boden zerstören. Dann und erst dann konnte er seinen wahren Auftrag ausführen.

Da er allen ihn jagenden Sicherheitstruppen mühelos ausweichen und mehrere Meter in einer Sekunde überwinden konnte, wenn er eins mit der Erde war erreichte er die Hangare weit vor den ihm nachsetzenden Mannschaften. Allerdings wurden die hier stehenden Kampfhubschrauber von bewaffneten Männern geschützt. Er hoffte jedoch, dass sie nicht mehr auf ihn schossen, sobald er in der Nähe der Hubschrauber herumlief. Taten sie es doch, würden sie ihm damit helfen, die Maschinen flugunfähig zu kriegen.

Als er vor dem ersten Hubschrauber stand meldete er seine Einsatzbereitschaft an Ashlohuganar. Dieser rief ihm zu: "Vernichte die Fluggeräte! Sie sind sehr gefährlich für uns." Naaiginrashuan fragte nicht nach, was an den Hubschraubern so gefährlich war. Er würde den Befehl auf jeden Fall befolgen. Am Besten war es, er schlug Lecks in die Treibstofftanks und zündete das herauslaufende Zeug an. Das würde völlig reichen. Feuer konnte ihm nichts anhaben, solange er auf festem Boden stand.

"Halt, stehenbleiben!" rief ihn eine sehr erregte Männerstimme an. Er sah zu seinem Verdruss, dass der Rufer dieselbe Ausrüstung trug wie die Wachleute, die ihn bei dem einen Mann gestellt hatten, der sich aus Versehen selbst erschossen hatte.

Im Vertrauen darauf, dass ihm Kugeln sowieso nichts anhaben konnten beachtete er den Befehl zum stehenbleiben nicht, sondern ging unbekümmert auf den ersten Hubschrauber zu. Wo der Treibstofftank war wusste er von seinem Kumpel, der ja mal als Austauschsoldat hier gedient hatte. "Ey, stehenbleiben hab ich gesagt!" brüllte ihn der Wächter von eben an. "Du schießt hier eh nicht", zischte Naaiginrashuan und griff nach oben an den Tankstutzen. Tatsächlich schoss der Wächter nicht auf ihn. Dafür rannten er und ein Kollege mit gezückten Schlagstöcken zu ihm hin. Wollten die ihn echt damit aufhalten?

"Schön, kann ich gut gebrauchen, eure Stecken", zischte Naaiginrashuan und wartete, bis der erste Wächter gegen ihn ausholte. Er stemmte seine Füße gegen den soliden Stahlbetonboden, wartete bis der Schlag auf ihn niedersauste und fing den Hartholzstock mit einer Hand ab. Eine schnelle Drehung aus dem Handgelenk, und der Schlagstock gehörte ihm. Dann setzte er ihn wie einen Stoßspeer an und rammte ihn voll durch den Einfüllstutzen der Maschine. Da krachte der Schlagstock des zweiten Wächters auf seinen Kopf nieder. Als Mensch hätte ihm der Schlag sicher das Licht ausgeblasen, womöglich sogar für alle Zeiten, so wuchtig hatte der andere zugeschlagen. Doch so zerbrach der Schlagstock wegen der in ihm strömenden Kräfte der Erde auf seinem schuppigen Schädel. Naaiginrashuan riss den im Tankstutzen steckenden Schlagstock zurück und wischte einmal kurz damit um sich herum. Der zweite Wächter bekam den Schlag voll gegen die gepanzerte Brust. Das vordere Ende des Schlagstockes splitterte. Mehr passierte nicht. Da sah Naaiginrashuan, wie der erste einen Dolch mit dreißig Zentimeter langer Klinge freizog und damit zustach. Er fühlte den Anprall des soliden Stahls zwischen Brustkorb und Bauch. Der andere wollte ihn also töten. Doch der Dolch drang nicht durch die Schlangenschuppen, die selbst wie eine superharte Stahlrüstung wirkten. Die Spitze des Dolches klappte sich knirschend ein. . Offenbar hatte der Gegner diese Waffe sicher und fest in der Hand.

Naaiginrashuan hieb seinerseits mit der rechten Schuppenpranke zu und traf das Visier seines Gegners. Diesmal behielt er die Oberhand. Das Visier brach mit hässlichem Knacklaut auf. Der Krieger des Erhabenen riss eines der Bruchstücke aus dem Helm und warf es von sich. Im nächsten Moment warf er sich vor, um dem anderen seine nun wieder randvollen Giftzähne ins Gesicht zu schlagen. Doch der andere hatte offenbar mit einer solchen Attacke gerechnet, ließ sich hinten überfallen, riss dabei beide Knie hoch und hebelte Naaignrashuan über sich hinweg. Für eine bange Sekunde lang war der Krieger des Erhabenen völlig ohne sicheren Bodenkontakt. Er fühlte, wie ihm schon Kraft abfloss. Dann schlug er der Länge nach auf den Boden auf und bekam sofort alle Kraft zurück, die er brauchte. Er sah, wie es aus dem von ihm angegriffenen Hubschrauber tropfte. Ja, seine Aktion hatte den gewünschten Erfolg. Jetzt musste er nur noch ...

Wächter Nummer zwei griff ihn nun mit seinem Dolch an. Diesmal prallte die Klinge von ihm ab, weil der andere die Waffe nicht so festhielt wie sein Kollege. Der Dolch schepperte zu boden. Naaiginrashuan schnellte wieder auf die Füße und versetzte dem neuen Gegner einen Hieb, der jedoch nicht das Visier, sondern den Helm erwischte. Dieser wurde jedoch eingebeult, und der daruntersteckende Mensch aus dem Gleichgewicht geworfen. Doch der Mann war ein Profikämpfer. Er schaffte es, sein Gleichgewicht auf einem Bein zurückzugewinnen und wollte nach seinem entfallenen Nahkampfdolch tauchen. Das erlaubte ihm Naaiginrashuan jedoch nicht. Er trat mit ganzer Kraft gegen den Kopf des anderen. Der Helm beulte sich dabei so heftig ein, dass der Kunststoffbezug aufriss. Doch was für den Schlangenmann wichtiger war. Offenbar hatte er den Gegner so erwischt, dass die Wucht und Kraftrichtung seines Trittes ihm zwei Halswirbel brach. Naaiginrashuan fühlte nun zum zweiten Mal, wie das Leben aus einem Menschen verschwand. Also hatte er nur noch einen Gegner. Der wollte sich den entfallenen Dolch holen. Wieder traf ihn Naaiginrashuan. Diesmal flog der Andere vom Tritt zwei Meter zurück. Der Schlangenmann griff sich den Dolch und rieb dessen Spitze so schnell und stark gegen den Rand des beschädigten Einfüllstutzens, dass Funken flogen und den bereits auslaufenden Treibstoff entzündeten. Naaiginrashuan wusste nicht, was eine spontane Entzündung allen Treibstoffs mit ihm anstellte. Deshalb verschwand er blitzartig durch den festen Boden bis unter das Stahlbetonfundament des Hangars. Keine Sekunde später zerriss eine tödliche Explosion den Hubschrauber und blies eine Wolke brennender Trümmer durch den Hangar. Zwei benachbarte Helikopter wurden getroffen und wurden schwer beschädigt. Ein metergroßer Feuerball verschlang die zwei Wachmänner, die versucht hatten, einen übermächtigen Feind zu stoppen. Aus einem reinen Sabotageakt wurde somit ein zweifacher Mord. Also hatte Naaiginrashuan schon drei Menschenleben auf dem Gewissen, auch wenn er dieses in seiner neuen Gestalt nicht mehr fühlte.

Nach zehn Sekunden tauchte der Kopf des Eindringlings aus dem festen Boden auf und besah sich das Zerstörungswerk. Ja, zwei Hubschrauber brannten, einer war explodiert. Drei standen noch weit genug fort, um nicht bei dieser ersten Attacke beschädigt zu werden.

Naaiginrashuan fühlte einen Kraftstoß aus der Luft und hörte einen scharfen Knall. Dann sah er einen weiteren Mann im Raum stehen. Er trug einen hellblauen Ganzkörperanzug und auf dem Hals eine Art kugelförmigen Helm aus Glas. Im Schein der Flammen richtete der Fremde seinen hölzernen Stab aus und zielte auf den Boden. "Inducio Ferrattractum!" hörte Naaiginrashuan. Er wollte auf den anderen losstürmen, ihm zumindest den Stab wegreißen. Da fühlte er, wie ihm der Boden unter den Füßen wegglitt. Er triebg vom eigenen Schwung durch die Luft. Der andere verschwand mit scharfem Knall, um sogleich zwanzig Meter weiter fort wieder aufzutauchen. Also konnte der sich beamen oder teleportieren. Das störte Naaiginrashuan nicht so sehr wie die unvermittelte Abstoßungskraft, die ihn immer weiter vom Boden hob. Und jetzt machte der Zauberer dasselbe mit dem Stück Boden, auf dem er stand. Dann knallte er in einer hundertstelsekunde noch einmal zwanzig Meter weiter und zielte wieder auf den Boden. "Inducio Ferrattractum!" hörte der frühere Geologe Sean O'Shaye den unverhofften Gegner durch den gläsernen Helm rufen. Wieder blitzte der Boden auf einer Fläche von zehn mal zehn Metern auf. Gerade trieb Naaiginrashuan auf diese Stelle zu und wurde von einer davon ausgehenden Kraft zurückgedrängt. Er fühlte, wie seine übernatürliche Kraft schwand. mit Schmerz- und Hitzewellen fühlte er, wie er sich veränderte. Er stöhnte auf und sah, wie der andere nun noch einmal zwei Stellen im Boden verhexte. Dann zielte der sogar nach oben und ließ die Stahlbetondecke blau aufleuchten. Jetzt meinte der gerade wieder zum irischstämmigen Amerikaner zurückverwandelte, dass auch von der Decke eine Kraft gegen ihn drückte, bis er zwischen zwei ihn bewegenden Kräften eingezwengt wurde.

"Stupor!" hörte er den anderen noch rufen. Dann traf ihn ein Stoß wie mit einem glühenden Speer. Das raubte ihm die Sinne.

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Wenige Minuten nach dem Vorfall im Hubschrauberhangar im Büro von Nigel Bridgegate

"Eindringling in Militärstützpunkt durch einander kreuzende Magnetzauber ausgeschaltet. Erbitte Bergungstrupp mit Fangnetz. Keine weiteren Schlangenmenschen feststellbar. Gelegtes Feuer in Flugmaschinenwartehalle gelöscht."

"Ausgezeichnet, Rollin. Danke für den schnellen Einsatz!" sprach Bridgegate in eine kleine Silberdose. "McBanes Truppe kommt aber zur Absicherung vorbei, falls der Feind schon neue Artgenossen erzeugt hat."

"Verstanden, Mr. Bridgegate. Gut, dass ich den Duotectus-Anzug anhatte. Hier brannte es schon wie in Dantes Inferno. Hätte nicht viel gefehlt,und zwei weitere von diesen Heliflugdingern wären zerstört worden. Aber dass diese Biester lebende Gegenpolmagneten sind war neu. Hätten die Kollegen in Frankreich und England ganz sicher ganz gerne auch schon früher wissen wollen."

"Freuen Sie sich bitte bitte nicht zu früh, Rollin. Diese Schlangenmenschen können ihr Dasein wie einen hochaggressiven Krankheitskeim weitergeben, schneller noch als Vampire und Werwölfe. Und wir haben gerade mal wenige von denen lebend erwischt, aber mehrere von denen nicht gekriegt. Das kann noch sehr lange dauern, wenn wir denen überhaupt beikommen können", seufzte Bridgegate.

"Da haben Sie sicher recht, Sir, aber zumindest stehen wir nicht so hilflos da wie die Kollegen damals in Frankreich und England. Und womöglich kommen diese grauen Riesenvögel ja auch wieder, die damals die ganzen Schlangenkrieger erledigt haben."

"Ja, zehntausend arglose Opfer dieser Pest", erwiderte Bridgegate. Auch er hatte den Bericht vom Ansturm der Schlangenmenschen vor fünf Jahren gelesen. Immerhin konnte er Arrestbrigade zwei wieder zurückbeordern und Flatfoots sogenannte Magnetbande den Stützpunkt absichern lassen. Denn dort waren viertausend Kämpfer der nichtmagischen Streitkräfte untergebracht. Das wäre ein Sieg für die Schlangenbrut geworden, der vergleichbar mit drei hintereinander gewonnenen Quidditchweltmeisterschaften gewesen wäre. Aber auch der Anschlag auf diese Schule sogenannter höherer Töchter bei Port Lincoln zeigte überdeutlich, wie ernst die Lage war. Und wer wusste, ob diese beiden Ziele keine Ablenkungsmanöver waren, um anderswo ganz heimlich weitere Schlangenmenschen zu erschaffen, die dann still und heimlich weitere Artgenossen machten, bis dann wieder mehr als zehntausend von ihnen existierten.

"Wir brauchen unbedingt ein verlässliches Aufspürverfahren für diese gefährlichen Wesen und noch wirksamere Methoden, sie zu bändigen, wenn wir nicht auch am Tod von vielen tausend ehemals unschuldigen Leuten schuld sein wollen", seufzte Bridgegate. Dann erkannte er, dass er der Ministerin die frohe Kunde weitergeben sollte, dass es auf dem Robertson-Stützpunkt bei Darwin wohl keine Schlangenmenscheninvasion geben würde.

Er wollte gerade eine Flohpulverprise in den Kamin werfen, als es an seiner Tür klopfte.

"Herein, wenn's nicht der Wollu Boogu ist!" rief Bridgegate. Die Tür ging auf, und ein schmächtiger junger Zauberer mit blondem Haar und Schnauzbart trat ein. "Ah, Kyle, Sie sind's. Und, Erfolg oder Niederlage?"

"Erfolg. Der Tipp von Mrs. Merryweather war mindestens tausend Galleonen wert. Die Suchbots, wie sie die heimlichen Suchprogramme nannte, konnten alle öffentlich zugänglichen Schülerlisten prüfen und im Vergleich mit den gemeldeten Elternpaaren von Töchtern ermitteln, welche Mädchen nicht an frei zugänglichen Schulen unterkamen. Zudem war das Filterkriterium, dass die Eltern sich ein Schulgeld von fünfzigtausend australischen Dollar pro Schuljahr leisten können, was den Krokodilsanteil der gemeldeten Elternpaare schon mal ausgeschlossen hat. Jedenfalls können wir nun ohne die geheime Datei gefunden zu haben sagen, welche Mädchen mit mindestens neunzig Prozent Wahrscheinlichkeit ..."

"In dieser Schule bei Port Lincoln unterkamen, Kyle. Auch wenn Sie das sehr fasziniert, was mit diesen Elektrostromrechnern angestellt werden kann hätte ein einfaches "Ja" oder "nein" und die Übergabe der erstellten Unterlagen völlig gereicht. Ich bin kein Arithmantiklehrer, der den Lösungsweg wissen will, um das Ergebnis zu prüfen, sondern nur an Ergebnissen interessiert. - Danke!" Nigel Bridgegate nahm den Packen Papier.

"Wohl gemerkt, wir wissen es nicht zu hundert Prozent, dass die auf der Liste stehenden Mädchen da zur Schule gehen oder gingen. Aber eine Laura Rutherford ist dabei. Da hat's bei mir geklingelt, weil Joan Springwater mir vor einem Jahr gesagt hat, dass wir aufpassen müssen, dass die nicht in den Muggelnachrichten auftaucht. Wer hat denn da nicht aufgepasst, ey!"

"Falscher Ort für diese Frage, Kyle. Danke für die schnelle Arbeit. Ich gebe die Liste an die zuständigen Leute weiter, um die Familien dieser Mädchen zu überwachen, falls es dafür nicht schon zu spät ist."

"Gut, ich bin dann wieder in meinem Spielzimmer, Sir", sagte Kyle Benson, Sohn einer Hexe und eines Flugzeugingenieurs.

Innerhalb von zwei Minuten hatte Bridgegate die bereits zwanzig Kopien der an die 250 Schülerinnen mit Alter und Elternpaaren noch einmal mit zehn multipliziert und jeden gerade frei verfügbaren Auroren, Vergissmich, Unfallumkehrer, Zaubertierexperten und Apparierüberwacher in Marsch gesetzt, die betreffenden Adressen zu überwachen, möglichst vom fliegenden Besen aus. Für den Fall, dass an einem Ort bereits wer von dieser Schlangenbrut zugeschlagen hatte sollte eine Meldung "grünes Buschfeuer" erfolgen. Hoffentlich waren das nicht gleich zehn oder zwanzig Meldungen auf einmal, dachte Bridgegate.

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Auf dem Anwesen Golden Hill bei Canberra, 16.09.2003, 01:20 Uhr Ortszeit

Das war schon genial, wie sie mal ebenunter der Erde dahingesaust war und die Strecke von Port Lincoln bis Canberra in nicht mal einer halben Stunde runtergerissen hatte. Alberta Hoskins, die von der grünen Einberuferin Pangiaimmaya genannt worden war, streckte ihren nachtschwarzen, gerade völlig haarlosen Kopf aus dem Boden. Sie hörte es und fühlte es sogar, das bedrohliche Summen des Starkstromzaunes, der als weitere Hürde auf der sowieso schon acht Meter hohen Mauer errichtet worden war. Ja, ihr Vater war schon ein wenig paranoid. Die unverhoffte und ebenso unheimliche Besucherin zog ihren nachtschwarz geschuppten Kopf wieder unter die Erde, ohne eine Spur zu hinterlassen. Mit einer geschmeidigenSchwimmbewegung und dem Gedanken, hundert Meter nach vorne zu kommen, war sie innerhalb einer Drittelsekunde unter der mit Starkstromzaun gekrönten Mauer, dem zweiten, über einen unabhängigen Generator laufenden Elektrozaun und der dem vergitterten Laufweg für die bissigen Fünf hindurch, wie die scharfgemachten Wachhunde von ihr und ihrem Vetter Leonard immer genannt wurden und an die sie sich nur im beiß- und reißfesten Schutzanzug mit Elektroschocker herantrauen konnte. Wer nicht durch die Sicherheitsschleusen gelassen wurde hatte also ziemlich üble Karten, wenn er auf das von einem eigenen Park umgebene Anwesen der Hoskins wollte.

Berta Hoskins alias Pangiaimmaya fand es richtig lustig, dass die bissigen Fünf offenbar mitbekommen hatten, dass sie da war und jetzt totale Angst schoben, weil sie garantiert was ausstrahlte, was selbst diese Hunde verschreckte. Sie tauchte noch einmal aus dem Boden aufund hörte das Gekleff und Geheule der fünf Hunde, die wohl mit eingeklemmten Schwänzen in ihre Zwinger gelaufen waren. Wahrscheinlich waren Smith, Mason und Joiner, die drei Multifunktionsbediensteten, die Butler, Leibwächter oder Haustechniker sein konnten, gerade dran, was die Hunde so plötzlich erschreckt hatte. Angeblich hätten die nicht mal vor Dingos oder Krokodilen angst, und Giftschlangen würden sie gezielt totbeißen. Na ja, gegen die gerade in ihr Revier hereingerutschte würden sie wohl alt aussehen.

"Ey, Hump, Jock, Bow, Vick, Arch, aus!!" tönte die Stimme von Fred Joiner aus dem Südfenster im Untergeschoss der dreistöckigen Villa. Berta fühlte das leise Kribbeln, dass irgendwas in der Nähe war, das nicht lebte. Sie dachte an die Batterie der Überwachungskameras, die im Bedarfsfall das ganze Grundstück aufnehmen konnten und Nachts auch im Infrarotmodus arbeiteten. Schnell tauchte sie wieder unter die Erde. Falls eines der Fernsehaugen sie gesehen hatte war die Überraschung völlig hinüber. Dann dachte sie, ob sie nicht unfotografier- und unvideofilmbar geworden war. Immerhin war sie ja durch sowas wie Magie verändert worden. Doch dann besann sie sich und glitt noch einmal fünfzig Meter weiter, bis sie unter dem Keller herauskam. Hier konnte sie völlig unbehelligt von gläsernen Glotzaugen aus dem Boden steigen. Sie schüttelte ihre langen, biegsamen Arme aus und streckte ihre gespaltene Schlangenzunge aus. Ja, das war supercool, dass sie damit jetzt schmecken konnte, wo ihre ausgesuchte Beute war. Sie erfasste sieben Geruchs- oder besser Geschmacksquellen, fünf männliche und zwei weibliche. Also waren sie alle da, wo Albertas Erzeuger Titus Hoskins immer mal wieder im Stadthaus von Canberra übernachtete, wenn am nächsten Tag was ganz wichtiges anstand.

Das Gebell von den Hunden hatte sicher alle aufgeweckt. Zumindest meinte das schwarzgeschuppte Schlangenmädchen, dass alle hier im Haus aufgeregt waren, Mrs. Mahony, die Köchin, die drei Multifunktionsdienstboten, sowie Luft- und Wagenkutscher Griffith und natürlich Mr. und Mrs. Titus Hoskins. Das mit dem leisen von Zimmer zu Zimmer schleichen fiel also schon flach. Dann musste sie sich auch nicht um die Quietschfallen in den Treppenstufen und den Fußböden vom Untergeschoss und dem Erdgeschoss sorgen.

Was ihr gerade auf die Nerven ging war das um sie herum klingende Brummenin den Wänden. Sie fühlte auch ein Kribbeln mit derselben Schwingungszahl. Da sie in Physik immer gut aufgepasst hatte wusste sie, dass es der in den Leitungen fließende Wechselstrom war. Warum ärgerte der sie? Klar, der störte ihren brandneuen Magnetsinn. Sie versuchte, das fiese Gekribbel aus Kopf und Körper zu verdrängen, merkte, dass der Strom in den Leitungen das irgendwie ausgleichen wollte und stemmte sich noch mehr dagegen. Da fühlte sie, wie ein kurzer Stoß durch das ganze Haus ging. Irgendwo unten meinte sie es knallen zu hören. Das waren sicher alle Sicherungen. Denn vom Strom fühlte sie gerade nichts mehr. Auch gut, sie brauchte keinen Strom. Sie konnte im Dunkeln so gut sehen wie im hellen.

"Mist!" klang die rauhe, tiefe Stimme von Fred Joiner aus der Richtung, wo der Überwachungsraum war, in dem er, Smith und Mason alle drei Stunden Wache saßen.

Das Schlangenmädchen wartete, bis eine Tür aufklappte und drückte sich an die dunkle wand. Sie hielt sich den Arm vor die Augen, damit diese sie nicht verrieten. Da kam Fred Joiner, ein Mann, so breit wie ein Schrank und hielt tatsächlich eine Pistole in der Hand. Das Schlangenmädchen bangte, dass der Leibwächter gleich Alarm rufen würde. Oder würde er auf sie schießen?

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In der Einsatzzentrale der Sicherheitsfirma Bowman & Chandler in Port Lincoln, 16.09.2003, 01:25 Uhr Ortszeit

Es war alles so schnell gegangen, dass die hier postierten Überwacher nicht rechtzeitig reagieren konnten. Auf einmal waren diese zwanzig Männer in langen Umhängen aufgetaucht, regelrecht materialisiert. Dieser Umstand alleine hatte gereicht, um die Zeugen dieses Vorganges mit echten Zauberstäben in eine Art Schockstarre zu versetzen. Dann hatten die so plötzlich eingedrungenen schnell nachgesehen, wo die Hilfstruppe für die Hazelwood-Akademie gerade war. Daraufhin waren weitere Ministeriumszauberer losgeschickt worden, um die Fahrzeugkolonne aufzuhalten und deren Besatzungen mit Gedächtniszaubern zu belegen. Als das schnelle Einsatzkommando erfuhr, dass alle vier ausgeschickten Hubschrauber des Vorauskommandos schon wieder gestartet waren, weil einer der Piloten den Überfall durch einen beißwütigen Angreifer gemeldet hatte, mussten die besensichersten Außeneinsatztruppler hinter den Maschinen herfliegen. Diese konnten mehr als 250 Stundenkilometer fliegen und waren den Besen in Sachen Wendigkeit mindestens fast ebenbürtig. Doch die neuesten Feuerblitze konnten im Reiseflug 350 Stundenkilometer und im Extremfall über 20 Kilometer sogar 600 Stundenkilometer schnell fliegen. So war es dann doch kein so großer Akt, erst die Funkgeräte der Maschinen mit Unfunksteinen zu neutralisieren und dann zu je drei Mann aus drei Richtungen die Maschinen anzufliegen. Die Piloten wurden mit Schockzaubern belegt. Drei erwiesen sich als leicht zu behandeln. Doch der vierte war wesentlich gewandter und besaß zudem eine für Menschen untypische Ausstrahlung. Ein mitgeführtes Maledictometer gab sogar Warnsignale, dass dem Piloten eine dunkle Magie anhaftete. Dann stimmte es, dass einer der Piloten von diesen Schlangenbestien vergiftet worden war. Nur der Umstand, dass er schnell in die Luft aufgestiegen war und flog hatte wohl die Verwandlung unterbunden, wenn auch nicht gänzlich abgewendet. So war den Zauberern und Hexen vom schnellen Eingreiftrupp nur geblieben, den Piloten Pears aus der fliegenden Maschine herauszuholen, zu betäuben und dann zu einem der Quarantäneflöße zu bringen.

"Öhm, vier schnittige Hubschrauber mit eingebauten Geschossabwehrvorrichtungen. Was spricht dagegen, dass wir die uns auch noch ausleihen", wollte Roderic Banes wissen, der für die Strafverfolgung arbeitete.

"Dass diese Maschinen das Eigentum von jemandem sind und wir die nicht einfach so stiebitzen dürfen", erwiderte McBanes Stimme aus der silbernen Fernsprechdose von Banes. "Wo wir gerade formvollendete Piratenüberfälle begangen haben, Sir? Der gleiche Notfall, der uns das erlaubt hat rechtfertigt auch, dass wir diese Maschinen ausleihen. Wir können sie ja wieder zurückgeben, wenn die Gefahr vorbei ist", erwiderte Banes.

"Sehen Sie zu, dass sie die Dinger landen, ohne sie kaputtzumachen oder von denen kaputtgemacht zu werden! Ich kläre das auf Dienstweg null mit ganz oben", erwiderte McBane.

"Aye, Sir!" erwiderte Roderic Banes und teilte zwei seiner Leute ein, die Motoren der Hubschrauber auszustellen und die Maschinen dann mit einem vereinten Fallbremsezauber zu Boden zu bringen. Da sie ja noch die Unfunksteine benutzten waren die im Moment auch nicht von Radargeräten zu orten.

"Ganz oben sendet grüne Funken. Wenn Sie die Maschinen sicher gelandet bekommen einschrumpfen und in die Sammelstelle für temporär benutzte Muggelfortbewegungsmittel bringen. Alle Piloten wie Bodentruppen die Erinnerung geben, dass keine Hubschrauber unterwegs waren, ja dass die Firma keinen einzigen davon hatte. Kann dann später, wann auch immer, korrigiert werden, so unsere oberste Dienstherrin."

"Yoho, Captain McBane, und 'ne Buddel Rum!" erwiderte Banes. "Das könnte Ihnen so passen", war McBanes ungehaltene Antwort. Doch Banes wollte aus ihr einen winzigen Anflug Belustigung herausgehört haben. So erhielt das australische Zaubereiministerium ganz inoffiziell vier relativ neue Hubschrauber, die im Bedarfsfall auch als Schlangenmenschenfanggeräte eingesetzt werden konnten. Der bereits gebissene Pilot war ja mit der vorhin schon in Gewahrsam genommenen Lehrerin unterwegs zum Quarantänefloß. Alle hofften, dass sie mithelfen konnten, diese neue, jedoch uralte Bedrohung zu beseitigen.

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Auf dem Anwesen Golden Hill bei Canberra, wenige Minuten nach Pangiaimmayas Eintreffen

Joiner zielte auf die unheimliche, höchst unbefugte Gestalt mit den bleichen Augen. Da traf ihn der Blick eben dieser Augen und nagelte ihn regelrecht fest. "Knarre weg und zurück auf deinen Posten, Freddy Joiner!" hörte er eine sehr entschlossen klingende, halb schnarrende Mädchenstimme in seinem Kopf. Der Blick der bleichen Augen drängte jeden Gedanken an Gegenwehr oder Alarm zurück. Als der Befehl dann noch mal in seinem Kopf erklang drehte Joiner sich um und kehrte auf seinen Posten zurück, obwohl der gerade wegen Strommangel unbenutzbar war.

"Cool, ich hab den vollen Hypnoblick", dachte Berty Hoskins, als sie sah, wie Joiner zurückwich und dann ohne lautes Wort in seinen Raum zurückkehrte. Nun konnte das Schlangenmädchen die nächste Treppe hinauf, wieder darauf achtend, die Quietschstufen auszulassen. So gelangte sie schließlich bis auf das zweite Obergeschoss , wo der Wohn- und Arbeitsbereich ihrer Eltern war. Hier war auch der große Festsaal mit echtem Parkettboden und goldenen Kerzenleuchtern und Kronleuchtern, wo fast alle Erwachsenengeburtstage des Jahres gefeiert wurden, sofern es Familienangehörige der Hausherren waren. An den Ort hatte Berty so viele teils erfreuliche und teils unerfreuliche Erinnerungen. Ihre Mutter hatte mal behauptet, dass sie wohl in diesem Tanzsaal Verlobung und Hochzeit feiern sollte. Tja, daraus würde wohl nichts mehr, dachte das schwarzgeschuppte Schlangenmädchen.

Auch ohne Spürsinn für Magnetfelder oder den aus der Luft geschmeckten Geruch ihrer Eltern wusste Berty Hoskins, wo sie hin musste. Vor dem Schlafzimmer stand kein Wächter. Doch dafür lauerten hier die einzigen Quietschfallen dieses Stockwerkes auf uneingeweihte Eindringlinge. Doch die umging Berty Hoskins sehr gekonnt. Das einzige, was sie gerade ärgerte, war der zweifache Feuerschutzbelag auf dem Boden, kein proletarisches PVC, sondern eine neuartige Polyäthylenverbindung mit eingebauten Stickstoffanteilen, die angeblich nicht so giftig war wie das andere Zeugs. Na ja, könnte sie ja bald selbst rauskriegen, woraus der Boden war. Was ihr daran nicht gefiel war, dass der ihr die bisher so herrlich aufmunternden und stärkenden Ströme aus der Erde abspenstig machte. Sie fühlte zwar ein wenig davon, aber nicht die volle Dosis. Also konnte sie vielleicht nicht mal eben durch den Boden abtauchen, wenn es doch ziemlich finster kam.

Sie stand einige Sekunden vor der Tür und horrchte mit allen alten und neuen Sinnen. Ja, ihre Eltern waren beide wach. Dass ihr Vater eine geladene Pistole auf dem Nachttisch hatte wusste sie. Konnte er ihr damit was? Sie fühlte, dass sie nicht zu lange warten durfte. Denn ihr floss ganz langsam Kraft ab. Nachher wurde sie wieder zu einer nackten Berty Hoskins ohne die neuen Zähne.

Jetzt stieß sie blitzschnell die Tür auf, machte einen weiten Schritt ins Schlafzimmerund sah, wie der Mann, der gestern noch ihr Vater gewesen war, hochschnellte und nach dem Gegenstand auf dem Nachttisch langte. Doch das schwarze Schlangenmädchen war schnell. Es warf sich vor und schnappte mit ihren tückischen Giftzähnen nach dem auslangenden Arm. Volltreffer! Alle Schlangenzähne gruben sich tief in das gut durchtrainierte Muskelfleisch und gaben ihr gefährliches Gift ab. Diesmal würde ihr Opfer nicht mit einem Hubschrauber davonschwirren.

Bevor Albertas Mutter begriff, dass sie gerade überfallen wurden war Pangiaimmaya bei ihr und biss ihr entschlossen in die linke Schulter. Dann blickte sie erst die Mutter und dann den Vater an, wobei sie nur dachte: "Bleibt ganz still, bis ich wiederkomme! Bleibt ganz still, bis ich wiederkomme!"

Sicher, dass sie mit ihrem neuen Hypnoseblick und dem darüber weitergereichten Gedankenbefehl ihr Zwischenziel erreicht hatte zog sich Pangiaimmaya aus dem Elternschlafzimmer zurück. Dieser Boden hier war immer noch ein Graus. Doch was ihr nun ebensowenig gefiel war, dass sie wohl warten musste, bis wieder genug Druck in ihren Giftzähnen war. Wie lange musste sie warten, bis sie wieder wen mit voller Ladung anbeißen konnte?

Sie lief schnell zur Treppe zurück und eilte hinunter, wobei sie wieder auf die Quietschstufen achtete. Ihr Ziel war jetzt das kabuffartige Schlafzimmer von Mrs. Mahony, der Köchin und Staubsaugerdomptöse.

Brandschutzimprägniertes Holz machte ihr nichts aus. Sie fühlte sofort, wie die volle Kraft aus der guten alten Erde in sie hineinschoss. Das war fast wie ein Kaffeelikörrausch, den sie sich in den letzten Weihnachtsferien mit Wanda Borrows gegeben hatte, als die um sie herumhelikopternde Außendienstleibwächterin Finnigan vor der Tür stand und nicht mitbekam, was die zwei bösen Kronprinzessinnen ihren hochwertvollen Körpern eingaben. Allerdings war die Standpauke danach heftiger als der Kater am nächsten Morgen. Ihr Erzeuger und Finanzminister hatte sogar damit gedroht sie im Sommer von Hazelwoods Akademie runterzunehmen und sie in eine Stadtschule zu schicken, wo sie als Versagerin von Hazelwood sicher ziemlich viele Fans haben mochte. Doch wie es mit so vielen Drohungen ist, der Drohende traute sich am Ende nicht, die Folgen der eigenen Drohung zu erleben. Vielleicht hätte sie sogar gejubelt, aus dieser Strammsteherpüppchenfabrik raus zu sein. Andererseits hatte sie da auch gute Freundinnen gefunden, die alle mal wichtige Sachen machen konnten und sie da sicher gerne von profitieren würde. Das war jetzt wohl alles Schnee von vorgestern, und sie konnte jetzt alles hier übernehmen, ohne Schulabschluss und ohne Abhängigkeit von Daddys Dollars. Denn sie war Pangiaimmaya, die starke Tochter der Nacht. Das war doch wirklich ein herrlicher Kampfname, wo sie ja jetzt sowas wie eine Vampirin oder Werwölfin war. Apropos Werwolf? War da was dran an der Kiste mit den Silberkugeln? Nicht, dass ihr einer der drei Multifunktionsdiener damit das Licht ausblies.

Hier stand sie nun vor dem gerade mal zehn Quadratmeter großen Zimmerchen von Mrs. Melanie Mahony, was für eine schöne Aliteration. Hieß Melanie nicht "Die schwarze"? Vielleicht wurde die dann ja auch so wie Pangiaimmaya. Langsam gefiel ihr dieser fremdländische Name immer besser.

Wie bei den Eltern stieß sie einfach die Tür auf, wobei diese offenbar fest verriegelt gewesen war. Denn es knackte ziemlich laut und metallisch, und etwas fiel klirrend zu Boden. Erst einmal verdutzt über diese Superkraftleistung stand das Schlangenmädchen vor dem Bett, in dem die Mittfünfzigerin gerade aufschreckte und wohl laut um Hilfe rufen wollte. Doch die nachtschwarze Kriegerin des Erhabenen brauchte sie nur mit ihrem neuen Hypnoseblick anzusehen und damit regelrecht ruhig zu stimmen. Dann warf sie sich vor und erwischte die Haushaltshilfe mit ihren nun wieder einsatzbereiten Giftzähnen am Hals. "Ichchch komm gleichchch wieder und kuck mir an, wie du ausssiehssst", zischte Pangiaimmaya. Dieser Glücksrausch, als sie spürte, wie das Gift aus ihren Zähnen sich mit dem Blut der Köchin verband, das war herrlich. Sie kapierte nun, warum viele Altersgenossinnen so scharf auf Vampirgeschichten waren, nur dass sie hier kein Blut aussaugte, sondern was darin einspritzte. Dann war sie doch eher eine Form von Werwolf, eine Werschlange, eine Ophidanthropin, wenn die Altgriechischstunden ihr da nichts falsches ins Hirn gespült hatten. Ja, mit dieser Bezeichnung konnte sie auch supergut leben und weitermachen.

Wieder zurück im Flur trat sie nun ganz gezielt auf eine der Quietschstellen im Boden. Sofort war der hochgewachsene Dustin Smith da, auch mit einer Pistole in der Hand. Pangiaimmaya wollte ihn genauso hypnosemäßig anflirten wie den Kollegen Joiner. Doch irgendwie kam sie bei ihm nicht richtig ins Hirn. Der Multifunktionsdiener schaffte es doch glatt, seine Pistole auf sie einzuschwenken und abzudrücken. Es knallte laut. Sie sah die Feuerblume vor der Mündung aufblitzen und fühlte, wie etwas sie mit Wucht am Brustkorb traf. Doch gleichzeitig hörte sie, wie etwas laut schwirrend in die Gegenrichtung davonflog und sah ein plötzlich in der Stirn von Smith aufgehendes Loch. Dann fühlte sie regelrecht, wie Dustin Smiths Leben erlosch, als wenn sie einer Kerzenflamme beim ausgehen zusah oder den Ausschalter einer Stereoanlage drückte. Sie merkte, dass der Wächter schon tot war, noch ehe er auf dem Teppichboden aufschlug. Das hatte sie so nicht gewollt.

Der Schuss hatte natürlich Mason alarmiert, weil Joiner ja noch unter Hypnose stand. Als der drahtige Mann, der nicht nur gut im waffenlosen Kampf war, sondern sich auch genial mit Computern auskannte in ihr Blickfeld sprang schaffte sie es, ihn mit ihrem Hypnoseblick zu bannen. Diesmal war es kein Problem. Deshalb fragte sie sich, warum es bei Smith nicht geklappt hatte. So konnte sie ihn zumindest beißen.

Sie fühlte wieder dieses herrliche Gefühl, als ihr Gift in sein Blut eindrang und darin verteilt wurde. Danach ging sie zu Fred Joiner in den dunklen Überwachungsraum und pflanzte ihm ebenso ihr gefährliches Gift ins Blut. Blieb nur noch Griffith. Der wohnte aber nicht in der Villa, sondern in einem kleinen Haus östlich der Villa, von wo aus er auch schnellen Zugang zu den in einem Hangar mit aufklappbaren Dach geparkten Hubschraubern oder den drei Autos, dem Rolls Royce, dem BMW Z3 oder dem VW Passat hatte. Letzterer Wagen war der motorisierte Einkaufswagen für Mrs. Mahony. Tja, den würde sie bald nicht mehr nötig haben, wenn sie auch mal eben mit Überschall durch die Erde flitzen konnte.

Pangiaimmaya peilte über ihren gerade ungestört arbeitenden Magnetsinn die richtige Himmelsrichtung an und verschwand dann unter der Erde. Die von ihr gebissenen überließ sie der Wirkung des Giftes. Sie würde es sicher spüren, wenn es ihre Eltern, Mrs. Mahony und die beiden Leibwächter verwandelt hatte.

"Pangiaimmaya, ich spüre, dass du deine erstenEinberufungen vollzogen hast. Mach weiter!" hörte sie die Stimme der grünen Schlangenfrau, Sisufuinkriasha in ihrem Kopf. "Doch pass auf echte Hexenund Zauberer auf fliegenden Besen auf oder solche, die sich mit lautem Knall zu dir hinzaubern können. Die sind gefährlich."

"Hexen auf Besen und teleportierende Zauberer? Cool! Ja, ich pass auf, dass die mich nicht kriegen", schickte Pangiaimmaya zurück.

Als wenn sie selbst in Griffiths kleines Pilotenhäuschen teleportiert wäre brauchte sie von der Villa nur eine Sekunde, um im Keller des kleinen Hauses mit vier Zimmern zu erscheinen. Wieder fühlte sie dieses auf tiefer Tonlage brummende Kribbeln in den Wänden. Wieder stemmte sie sich dagegen und drängte den auf sie einbrummenden Stromfluss immer mehr zurück, bis es irgendwo knallte und das Stromnetzgebrumm weg war. "Ey, cool. Ich kann Stromleitungen ausknipsen, ohne die anzufassen.

Griffith hielt sein Mobiltelefon in der Hand und sprach wohl gerade mit wem. "Und jetzt ist der Strom bei mir weg. Kommen Sie unverzüglich her!" rief er noch. Dann sah er die unheimliche Besucherin. Natürlich erkannte er nicht, wer es war, aber die bleichen Augen in einem schattenhaft dunklem Gesicht erkannte er und guckte sich daran fest. Das war sein Verhängnis. Pangiaimmaya nahm ihm das Mobiltelefon aus der Hand. Dieses vibrierte kurz heftig. Funken sprühten heraus. Dann war Ruhe. "Ups! Jetzt habe ich das Ding doch glatt kaputtgemacht", dachte Pangiaimmaya. Dann besann sie sich, dass sie noch einen Auftrag hatte. Den erledigte sie. Nun waren alle lebenden auf dem Anwesen bedient. Dass Smith tot war bedauerte sie ein wenig. Doch dann fiel ihr ein, dass der ja auf sie geschossen hatte und sich die eigene Kugel in den Kopf geballert hatte. Hätte echt nicht sein müssen, dachte das Schlangenmädchen.

Sie wollte gerade vom Grundstück herunter, als sie eine fremde Kraft fühlte, die über ihr herankam. Das war weder magnetisch noch elektrisch, ein fliegendes Wesen, ein fliegender Mensch! Sofort fiel ihr die Warnung ihrer Einberuferin ein. Sie sollte auf fliegende Hexen und Zauberer achten. Zumindest konnte sie fühlen, wo einer von denen war. War der alleine oder in Begleitung. Falls das ein Kundschafter war, der die Eltern aller Schülerinnen von Hazelwood überprüfen sollte, ja sich vielleicht auf die Lauer legen sollte, ob sie oder eine andere von da hinwollte? - Tja, der kam ein wenig spät. Aber er flog in der Luft und landete nicht. Das passte ihr nicht. Das war wie vorhin mit den Hubschraubern. Irgendwie hatte sie den Eindruck, dass es ihr übel bekam, wenn sie mit sowas wegflog. Vielleicht sollte sie besser weg von hier, die nächste Station anfahren, ihre Cousine Gertrude Vandenberg in Sydney, die voll neidisch war, dass ihre Eltern ihr nicht die Hazelwood-Schule bezahlen wollten. Na ja, fünfzigtausend australische Dollars jährlich waren ja auch kein Kleingeld, das einer in der Hosentasche herumtrug.

Sie bekam mit, wie der fliegende Mensch über ihr genau auf der Stelle herabsank, wo sie gerade stand. Dann wusste der, wo sie war. Aber wenn er sie kriegen wollte musste er wohl landen. Dann konnte sie aber auch ihn kriegen. Sicher wusste er das oder war zumindest schlau genug, das für möglich zu halten. Doch wenn der da oben weitermeldete, dass sie hier war kamen wohl noch mehr von seiner Sorte, und dann wurde es für sie womöglich ziemlich finster. Also blieb doch nur der ganz schnelle Abgang. Schade, sie hätte zu gerne gesehen, wie ihre Eltern in der erhabenen Gestalt ausgesehen hätten oder ob Mrs. Mahony wirklich eine schwarze Schlangenfrau wurde. Doch Sie hatte einen Auftrag, möglichst alle zu kriegen, die sie kannte, hauptsächlich Frauenund Mädchen.

Sie stampfte mit dem rechten Fuß auf und verschwand im Boden, landete im Keller, dann noch mal aufstampfen. Jetzt war sie unter der Erde und unterwegs.

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Australisches Zaubereiministerium, 16.09.2003, 01:40 Uhr Ortszeit

"Grünes Buschfeuer bei Adresse fünfunddreißig! Grünes Buschfeuer bei Adresse fünfunddreißig!" schepperte es laut und dringend aus einer der zehn aufgereihten Silberdosen, die im Büro von McBane bereitstanden. Der Leiter der Strafverfolgungsbehörde nahm die betreffende Dose und rief hinein, wie groß das Feuer war. "Hauptbrandherd bei Annäherung verschwunden, wohl unter die Erde abgetaucht. Hat wohl meine über ihm fliegende Lebensaura verspürt. Aber ich habe hier sechs weitere Quellen, bei denen wohl gerade die Zündtemperatur erreicht wird. Schick bitte alles hin, was möglich ist!"

"Fünfunddreißig sagst du, Ty? Gut, Feuerwehr rückt aus", erwiderte McBane. Dann blickte er auf die vergrößert gezauberte Liste mit den ersten hundert Adressen an der Wand und verzog das Gesicht. Dann nahm er den kleinen, silbernen Aschenbecher, der eigentlich keiner war und sich lautstark beschwerte, wenn er doch mal als solcher benutzt wurde und rief hinein: "Trupp Canberra ausrücken zu folgender Adresse und grünes Buschfeuer bekämpfen!" Er nannte die Adresse und nahm die Bestätigung entgegen. Dann rief er per Flohpulver die Ministerin.

"Den Einschlag hätten wir eigentlich spüren müssen, so nahe wie der bei uns gelandet ist", waren McBanes erste Worte, als die Ministerin zusammen mit einem sehr übernächtigt und gereizt aussehenden Phodopus Bathurst im Schlepptau hereinkam. "Hier, bitte. Offenbar hat die Familie einer gewissen Alberta Hoskins Besuch von unseren neuen Feinden oder besser Feindinnen bekommen. Tylor Sanddigger hat dort sechs Gebissene Menschen geortet, die noch nicht ganz verwandelt sind. Er hat sogar noch die Urheberin geortet, sie ihn aber auch, weshalb sie noch wortwörtlich abgetaucht ist. Es greift also schon um sich."

"Das ist unglaublich, wie schnell die sind", knurrte Bathurst. "Wenn wir das nicht in den nächsten Stunden eindämmen haben wir wirklich ein Buschfeuer, das uns alle fressen wird."

"Gut, dass Sie es andeuten, Phodopus, deshalb benötigen wir unbedingt eine Blancovollmacht zum Ausschöpfen von Personen und Material. Dieser Gefahr können wir nicht mit einer einzigen Truppe beikommen", sagte McBane.

"Ich weiß, dass ich vorhin noch erwähnt habe, dass die magischen Mitbürger sehr verärgert sein werden, falls wir deshalbhöhere Abgaben einfordern müssen. Aber offenbar bleibt mir keine andere Wahl", seufzte Bathurst.

"Nun, wir wissen jetzt, dass wir denen mit starken Magneten die Bewegungsfreiheit nehmen können. Eisen ist immer noch billiger als Gold, und wir haben eigene Goldminen", stellte die Ministerin klar. "Ja, und Kobolde, die darauf aufpassen, was dort herausgebracht wird und sie davon einen gewissen Anteil abbekommen, um unsere Münzgeld- und Wertgegenstandsaufbewahrung zu garantieren", grummelte der Leiter der Handelsabteilung. "Ich kläre das persönlich mit Mugback von Gringotts Sydney", sagte die Ministerin. "Gleiche Augenhöhe, ohne Unterhändler. Gegebenenfalls leihen wir uns das Gold der nächsten zwei Jahre aus und fahren dann die Förderung so hoch es geht."

"Zwei Jahre? Je nach Fördermenge können das über fünfzig Millionen Galleonen Schulden werden, und das ist verdammt optimistisch geschätzt", stieß Bathurst sichtlich erschüttert aus und erbleichte.

"Optimistisch wäre ein Rückzahlungsbetrag von hundert Millionen, weil die Garantieabgabe ja nach der Fördermenge berechnet wird", sagte die Ministerin. McBane musste über diese trockene Antwort grinsen. "Ich weiß nicht, was es da so schuljungenhaft zu grinsen gibt, Mr. McBane", blaffte Bathurst. Darauf sagte Lawrence McBane: "Mr. Bathurst, da Sie sich in meinem Büro befinden gilt hier mein Hausrecht. Also darf im Moment nur ich hier herumbelfern. Danke!"

"Gentlemen, der Kindergarten macht erst morgen Früh wieder auf. Jetzt brauche ich erwachsene Zauberer und Hexen, die dieser gezielt verbreiteten Seuche entschlossen und eisern entgegenwirken. - Was gibt es nun wieder zu grinsen, Larry?" beendete die Ministerin ihr Machtwort mit einer Frage.

"Weil eisern in dem Fall wohl das Schlüsselwort ist, Frau Ministerin", sagte McBane. Die Ministerin konnte darüber nur mit den Schultern zucken, sagte jedoch nicht mehr dazu, weil die Zeit drängte.

"Wir sollten das Ministerium gegen ungebetenen Besuch sichern, Frau Ministerin. Immerhin haben die Schlangenmenschen die Kollegen Bridgewood und Straker erwischt. Die wissen, wo das Zaubereiministerium ist", brachte McBane einen wirklich ernst gemeinten Einwand an.

"Wir sprechen die ganze Zeit von Magneten", sagte Bathurst. "Würde es nicht auch reichen, an den Orten, die gefährdet sind, geschmiedetes Eisen zu vergraben, wie es gegen Kobolde hilft. Dann hätten wir hier zumindest schon die richtige Absicherung, weil wir gegen Schwarzfelskobolde abgesichert sind."

"Stimmt, unter der Erde gibt es kein im Feuer geschmiedetes Eisen, sondern Erz, und das meistens eher Rost. Abgesehen davon wissen wir, dass nicht nur Schmiedeeisen gegen Kobolde hilft, sondern aus Erdöl hergestellter Kunststoff. Den können Kobolde auch nicht beliebig durchdringen, sofern er dick und starr genug ist, nicht von bloßen Händen zerrissen zu werden."

"Wenn wir Schmiedeeisen im Boden haben reicht es völlig, die betreffenen Stellen mit dem Ferrattractus-Zauber zu belegen, um die Eisenstücke zu Magneten zu machen. Ich schicke sofort die Zentralverwaltungszauberer und -hexen los, die Nachtschicht haben. Es reichen ja die untersten Etagen", sagte die Ministerin.

Es klopfte hektisch an der Tür. Hereintraten Mr. Bridgegate und sein Mitarbeiter Kyle Benson. Der wedelte wild mit einem dicken Packen dünnen Papiers mit gezähnten Seitenrändern. "Gefahr im Verzug, Ministerin, Gentlemen! Fünf mögliche Zieladressen für verwandelte Alberta Hoskins ermittelt. Empfehle dringend alle fünf Adressen zugleich zu überprüfen", sagte Kyle, nachdem ihm Bridgegate zugenickt hatte

"Wer, wo, was?" fragte McBane über dieses Vorpreschen.

"Ich will Ihnen das gerne erklären, wenn Sie vorher Einsatzkräfte an die fünf Zielorte schicken. Vielleicht sind wir noch früh genug", erwiderte Kyle Benson und übergab McBane einen losen Zettel. "Nett, dass wir das schon jetzt erfahren, dass dieses ... Verstehe." McBane nahm einen jener silbernen Aschenbecher, die eigentlich Fernrufartefakte waren und rief hinein: "Alarmstufe Drachenfeuer! Trupp sieben, neun, elf, sechzehn und neunzehn für Soforteinsatz bereithalten!" Dann gab er jeder Truppe die Zieladresse und die Weisung, starke Dauermagneten mitzunehmen, da Schlangenkrieger ja auf sowas empfindlich reagierten.

"Die Erklärung bitte!" schnarrte McBane, als er die fünf Einsatzgruppen in Marsch gesetzt hatte. Benson sah auf die drei freien Stühle, blieb jedoch stehen. "Okay, bitte setzen Sie sich erst hin!" knurrte McBane. Der Fachzauberer für nichtmagische Rechengeräte und Nachrichtensysteme bedankte sich und setzte sich. Dann erwähnte er, dass er nach dem Durchlauf aller Adresssuchen wegen der entflohenen Hazelwood-Schülerinnen auch nach möglichen Verwandten von denen geforscht hatte und Alberta Hoskins als Priorität eins eingetragen hatte. Darauf hätten seine Rechner nach zwei Minuten die fünf Adressen ausgegeben, an denen jüngere Verwante, wie zwei Cousins und Cousinen und ein kinderlos gebliebener Onkel von dreißig Jahren wohnten. "Ich hatte die Rechner wie bei einer doppelten Alterslinie auf die Suche nach Verwandten zwischen vierzehn und sechzig Jahren angesetzt. Ich könnte ihnen das jetzt genau erklären, möchte Sie aber nicht mit für Sie unnötigen Einzelheiten behelligen. Wichtig für uns alle ist nur, dass davon auszugehen ist, dass die Schlangenkrieger aus der Vorzeit keine Kinder oder altersgeschwächte Menschen in ihre Reihen holen wollen. Außerdem bin ich davon ausgegangen, dass die möglichen Ziele nicht in dicht bevölkerten Innenstädten wohnen, weil dort eben mehr als 300.000 Menschen wohnen. Für Lebensformen, die sich an den Lebensauren ihrer Opfer ausrichten wäre das ein unverträgliches Input, öhm, eine Überreizung des besonderen Sinnes. Dazu kommen noch die unterirdisch verlegten Versorgungssysteme wie Frischwasserleitungen, Abwasserkanäle, Strom- und Gasleitungen, sowie Untergrundbahnröhren, in denen auch stromführende Leitungen verlegt sind. Sie können sich das dann wie die Suche nach einer Ihnen bekannten Person in tausendstimmigem Lärm und vielen verwirrenden Leuchterscheinungen vorstellen. Wenn sie nicht ganz genau wissen, wo die von Ihnen gesuchte Person steckt und welcher Weg sie am schnellsten zu ihr hinführt könnten Sie sich in dieser Flut von Sinnesreizen verlieren. Daher gehe ich im Moment davon aus, dass diese neuen Schlangenmenschen nur die Orte ansteuern möchten, bei denen sie nicht mit Sinnesüberflutungen zu kämpfen haben. Ja, und wenn Sie jetzt zurecht einwenden, dass die gesuchte Lissy Thornhill erst in Sydney und dann in Perth aufgetaucht ist, die ja eindeutig Großstädte sind, so lautet die Erklärung, dass sie in Sydney in Menschengestalt unauffällig zwischen den anderen herumlaufen und so die Zieladresse auf einem ihr vertrauten Weg ansteuern konnte. In Perth musste sie nur an die Standortkoordinaten, auf denen ihr Wohnhaus stand. Die Rückschau hat ja gezeigt, wie sie in das Haus gelangte. Ich hoffe jedoch, dass diese Wesen nicht wie Thestralpferde oder grasgrüne Wächter ihnen zugerufene Ziele präzise ansteuern, ohne sie jemals zuvor aufgesucht zu haben."

"wie kommen Sie bitte darauf, dass Einzelheiten unnötig sein sollen, Mister? Als Strafverfolgungsleiter und früherer Auror gehören Einzelheiten zu meinem Beruf", maßregelte McBane den jungen Mitarbeiter aus Bridgegates Abteilung.

"Larry, glauben Sie es mir, dass Sie das wirklich nicht zu wissen brauchen um zu erkennen, dass es funktioniert oder nicht funktioniert", raunte Bridgegate. McBane wollte gerade was dazu einwenden, da klapperten vier der zehn bei ihm auf dem Tisch stehenden Silberdosen. Aus jeder erfolgte die Meldung, dass der jeweilige Trupp die zugewiesene Adresse erreicht hatte. Allerdings vermeldete Trupp Elf unter Quickley den Fall "Grünes Buschfeuer".

"Genaue Einzelheiten, Quickley", sagte McBane und klappte die anderen drei Dosen zu und verriegelte auch den Deckel einer weiteren Dose.

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Auf dem Anwesen der Vandenbergs, 100 km westlich von Sydney, 16.09.2003, 02:20 Uhr Ortszeit

Zuerst war Pangiaimmaya nach Sydney gebraust. Die rasante Reise unter der Erde hatte ihr sichtlich Spaß gemacht. Weniger lustig war es, als sie erkannte, dass sie innerhalb von Sydney wohl nichts und niemanden gezielt ansteuern konnte. Allein schon die vielen in ihrem Kopf dröhnenden Stromleitungen und die Unmenge an menschlichen Lebensausstrahlungen verwirrten sie fast so sehr, dass sie fast gegen eine der Erdgasleitungen geprallt wäre. Da sie schon wusste, dass Plastik für ihre neue Lebensform schwer bis gar nicht zu durchdringen war hatte sie nur vorsichtig an die Leitung geklopft und war dann wieder tief unter die Erde getaucht, um den Kopf wieder freizukriegen. Dann hatte sie sich nach Westen ausgerichtet und war innerhalb von nur dreißig Sekunden mindestens hundert Kilometer weit gereist. Hier hatte sie dann in zwei Minuten Suche die kleine Ansiedlung gefunden, in der ihre Cousine Gertrude wohnte. Sie verwünschte den Umstand, dass sie unter der Erde keine Spuren von Lebewesen wittern und auch keine Gedanken anderer Menschen lesen konnte. Dennoch war sie sich sicher gewesen, dass das auf einer großen freien Fläche stehende Haus mit den drei Menschen darin das richtige war. Zur Sicherheit hatte sie kurz den Kopf aus dem Boden gesteckt und gesehen, dass sie hier richtig war. Nun tauchte sie unter das Haus, durchstieß den Betonboden im Keller und orientierte sich. Da sie im dunkeln so gut wie mit einem starken Nachtsichtgerät sehen konnte war es kein Akt, die richtige Ausgangstür zu finden. Allerdings war diese verschlossen. So tauchte sie kurzerhand in die Erde, glitt behutsam zehn Meter weiter und entstieg der Erde wieder. Dass sie dabei einen Bewegungsmelder auslöste bekam sie erst mit, als ein schriller Heulton durch das Haus klang. Sie konzentrierte sich und drängte alles elektrische zurück, bis mit lautem Piff aller Strom ausfiel. Auch die Alarmsirene gab nur noch ein kurzes schrilles Kieksen von sich, bevor es wieder still war.

Sich sicher, dass die Hausbewohner nun auf einen Angriff gefasst waren beeilte sie sich. Sie rannte nach oben, wo gerade die Schlafzimmertür aufflog. Sie sah ihren Onkel Matthew mit einer schussbereiten Pistole. Sie sah ihm in die Augen, wollte ihn mit ihrem magischen Hypnoseblick unterwerfen. Doch wie bei Joiner misslang das. Statt dessen feuerte er seine Waffe ab. Ein Schuss prallte von ihrem schwarzgeschuppten Bauch ab und peitschte quer durch den Flur und schlug in die mit Seidentapete verhüllte Wand ein, dass der Putz herausspritzte. Der zweite Schuss sollte sie wohl zwischen den Augen treffen, prallte aber laut sirrend von ihrer Stirn ab und bohrte sich in Onkel Matthews linke Brustseite. Sie fühlte wieder, wie ein Leben erlosch, doch diesmal nicht sofort, sondern nach mehreren Sekunden. Diese Zeit nutzte Pangiaimmaya, um in das Zimmer ihrer Cousine Gertrude zu stürmen. Gertrude war gerade dabei, im Nachtzeug aus dem Fenster zu klettern, um über das flache Garagendach zu entwischen. Sie sprang vor und umschlang Bertys Cousine mit den gelenkigen und kräftigen Armen. Ehe Gertrude noch schreien oder sonst was machen konnte grub sie ihr die bis zum Rand gefüllten Giftzähne in den Hals. Dann drehte sie Gertrude herum und sah ihr in die angstgeweiteten Augen. "Sei ruhig und nimm es hin. Geht schnell vorbei, wenn du mich lässt!" dachte sie ihrer vergifteten Cousine zu. Dann ließ sie von ihr ab und rannte aus Gertrudes Zimmer. Mit ihrer Tante Wilma hatte sie keine Schwierigkeiten.

"Diesmal nehme ich die mit", dachte Pangiaimmaya. Dann holte sie ihre bereits unter den Auswirkungen des Giftes zuckende und sich windende Cousine aus dem Mädchenzimmer heraus und brachte sie dazu, sich neben ihre unter Hypnosewirkung stehenden Mutter zu legen.

Warum sie das für eine gute Idee hielt, ihnen beiden ihre Schuppenhände auf die Körper zu legen wusste sie nicht. Doch irgendwie kam es ihr so vor, als würde das den Vorgang beschleunigen. Dabei dachte sie: "Meine Kraft zu eurer Kraft, mein Wille zu eurem Willen." Tatsächlich fühlte sie, wie durch ihre Füße mehr Erdkraft in sie einströmte und durch ihre Hände in die sich unter unerträglichen Schmerzen windenden Körper überging. Sie fühlte, wie diese Verbindung sie alle drei immer mehr durchströmte. Ja, jetzt sah sie, wie Gertrudes Körper von einer einheitlich violetten Schuppenhaut überzogen wurde, während ihre langen, blonden Haare immer kürzer wurden. Auch Gertrudes Mutter Wilma veränderte sich. Sie bekam eine goldbraune Schuppenhaut, allerdings mit rubinroten ovalen Flecken. Dieser Vorgang berauschte Pangiaimmaya wie mehrere Gläser Wein auf einmal. Sie atmete Luft und Erdkraft in sich ein und ließ diese Kraft durch ihre Hände in die anderen überfließen, deren Körper durch das nun immer schneller wirkende Gift begierig aufnahmen, was ihnen zugeführt wurde. So dauerte es nur eine weitere Minute, bis beide Vandenbergs zum letzten mal heftig zuckten und mit einem Laut, der zwischen Schmerz und Glücksgefühl schwang, ihre neuen Körper hatten. Dabei bekam Pangiaimmaya auch schon eine reine Gedankenverbindung zu den Beiden. "Ihr beide gehört jetzt zu den Dienern des Erhabenen, der uns erschaffen hat. Ich, Pangiaimmaya, bin eure Herrin und Beschützerin. Ihr müsst mir gehorchen!" befahl das schwarze Schlangenmädchen zweimal. Dann befahl sie, ihr in den Keller zu folgen und ihr alles nachzutun, was sie tat.

Im Keller angekommen fühlte Pangiaimmaya, wie um das Haus herum zehn weitere Menschen da waren und auch, dass sie was mithatten, dass sie von allen Seiten zu umklammern ansetzte. Sofort stampfte sie mit dem rechten Fuß auf den Boden und schaffte es, durch den Beton in die Erde abzutauchen. Sie fühlte noch, wie es Wilma und Gertrude Vandenberg mit großer Anstrengung schafften, ihr zu folgen. Dann war ihr, als schlüge über ihr eine Welle zusammen, die sie in die Tiefe drückte. Das nutzte sie aus, um sich ganz auf den schnellen Abstieg unter die Erde zu konzentrieren. Was immer die zehn plötzlich aufgetauchten da machten, sie war ihnen gerade so noch entwischt. Eine halbe Minute früher, und sie hätten sie und ihre beiden neuen Daseinsschwestern, ihre ganz persönlichen Dienerinnen, festgeklemmt und sicher verhindert, dass sie unter der Erde verschwanden. So konnten sie nun unter ihrer Anleitung erst ganz langsam und allmählich schneller werdend von hier weggleiten. Doch für Pangiaimmaya war das eine deutliche Warnung. Ja, die anderen, die Zauberer und Hexen, wussten, wo sie hingewollt hatte, und sie würden sie ab jetzt überall da erwarten, wo ihre nächsten Verwandten wohnten. Das konnte sie also erst einmal vergessen. Aber sie hatte was sie wollte. Gertrude war jetzt wie sie. Dass ihr Onkel Matthew sich genauso selbst erschossen hatte wie Fred Joiner bei Bertys Eltern war nicht mehr so tragisch. Womöglich hätte der nach seiner Verwandlung mit allen dreien Sex haben wollen, ob sie sich dem hätte verweigern können wusste sie nicht. Doch warum sie ihn nicht hypnotisieren konnte wollte sie gerne wissen. Vielleicht konnten ihr die Einberuferinnen oder die Verkünder des Erhabenen das sagen.

"Wir tauchen erst mal weit genug ab und bleiben für alle anderen unsichtbar, bis die aufhören, nach uns zu suchen", entschied sie. Die beiden anderen fügten sich ihrer Anweisung.

"Gut, Mädchen, du hast dir zwei eigene Dienerinnen geschaffen. Aber dein Auftrag lautet immer noch, neue Mitstreiterinnen zu erschaffen", hörte sie Sisufuinkriashas Gedankenstimme. Doch sie empfand sie nicht als verbindlich, eindringlich, zwingend. Deshalb gab sie zurück: "Ja, das werden wir auch. Doch die anderen müssen erst wieder zur Ruhe kommen."

"Gut, weil die anderen Mitschwestern gerade ihre ersten Ziele angehen gewähre ich dir und deinen neuen Mitstreiterinnen eine Pause. Ich muss ja selbst zusehen, nicht da aufzutauchen, wo die mich sicher schon suchen. Aber in fünf Tagen wirst du wieder losziehen!" "In zehn Tagen", erwiderte Pangiaimmaya. "Ich sagte fünf", klang Sisufuinkriashas Gedankenstimme in ihrem Geist. Doch sie war nur lauter, nicht eindringlicher.

"Und ich sagte zehn. Die machen was mit Magneten, Sisufuinkriasha. Die bringen das Magnetfeld der Erde durcheinander und machen, dass mich die Kraft zurückdrängt. Wenn das von allen Seiten kommt klemmt das mich ein. Dann kann ich mich nicht bewegen, und du ganz sicher auch nicht mehr", widersprach Pangiaimmaya ihrer Einberuferin.

"In fünf Tag.." setzte Sisufuinkriasha an, wurde aber von Pangiaimmaya regelrecht aus ihrem Kopf hinausgedrängt. "Sisufuinkriasha ist meine Einberuferin. Doch sie ist zu schwach, sie kann nicht wirklich führen. Also hört ihr nur auf mich, verstanden?"

"Wir hören nur auf dich", erwiderte Gertrude, die noch einen neuen Kampfnamen brauchte, und auch Wilma versprach ihr zu gehorchen.

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Im Büro von Strafverfolgungsleiter McBane, 16.09.2003, 02:50 Uhr Ortszeit

"Das klingt schlimmer als ich befürchtet habe", sagte McBane, nachdem ihm Quickley alle Einzelheiten der von ihm durch eine Rückschaubrille nachbetrachteten Vorgänge berichtet hatte. "Dann kann dieses schwarze Schlangenmädchen durch Handauflegen die Verwandlung derartig beschleunigen, dass das oder die Opfer innerhalb einer Minute vollständig verwandelt sind. Wenn sich das bei denen herumspricht wird das ein verdammt schlangenlastiger Frühling in Australien. Die sind dann hundertmal schlimmer als die Mondbrüder oder die Jünger dieser Vampirgöttin."

"Sollen wir noch Spuren sichern oder es der Polizei überlassen, was hier passiert ist?" fragte Quickley.

"Bergt den Toten und bringt ihn in unsere thanatologische Abteilung. Die Polizei muss davon nichts mitbekommen. Vertilgt alle verräterischen Spuren, bevor sie eintrifft und gedächtnismodifiziert die Nachbarn, dass die Vandenbergs bis auf weiteres verreist sind!"."

"Machen wir, Mr. McBane."

"Öhm, diese Gertrude geht noch zur Schule. Da werden sie sie vermissen", wandte Kyle Benson ein.

"Dann klären sie das, dass die keine Unterlagen mehr von ihr haben oder dass sie eine Sondergenehmigung erhalten hat, wegen was auch immer", knurrte McBane, dem das nicht passte, wie schwer das mittlerweile war, einen Muggel verschwinden zu lassen. Die Zaubereiministerin ergänzte: "Am besten gibt es an der Adresse keine Vandenbergs und somit auch keine Schülerin Gertrude Vandenberg." Kyle Benson nickte.

"Ich möchte schon einmal ankündigen, dass ich gerne an einer Gesamtstrategie für dieses Problem arbeiten möchte", sagte Kyle. Sein direkter Vorgesetzter sah ihn an und fragte, worauf er genau hinauswollte: "Es betrifft die frühzeitige Ortung der Schlangenmenschen und die Unterbrechung ihrer Gedankenverständigung. Aber hierzu muss ich noch einiges nachforschen und erarbeiten. Bitte haben Sie dafür verständnis!"

"Ja, haben wir", sagte Bridgegate, bevor McBane irgendwas sagen konnte.

Eine halbe Stunde später meldeten die bei den Elternhäusern der anderen Mädchen wartenden, dass es ihnen gelungen sei, die in Schlangenwesen verwandelten Mädchen mit Hilfe des vom Thaumaturgen Silvernail ersonnenen Magnetstrahlrotors bewegungsunfähig zu machen und noch dazu mit einem von unten wirkenden Magneten anzuheben, dass sie sich im freien Schweben in ihre menschlichen Gestalten zurückverwandelten und sie schnell mit Besengespannen abzutransportieren. Zwar spielten die Naviskope verrückt, die im Wesentlichen das Erdmagnetfeld als Ausrichtungsgrundlage nutzten. Doch das war zu vernachlässigen, so der Einsatztruppenleiter vor Ort. Wenn die Einsatzkräfte wieder frei wurden konnten sie neue Adressen ansteuern. So gelang es dem Ministerium, an die 70 der Mädchen festzusetzen. Was mit den fünfzig weiteren war, die älter als vierzehn Jahre waren wussten sie nicht. Bridgegate vermutete nur, dass sein Mitarbeiter Kyle Benson recht hatte und sich die Gesuchten in der elektrischen Unterwelt der Großstädte rettungslos verirrt hatten und dann doch lieber den Rückzug in ein sicheres Versteck angetreten hatten. Auch vermutete McBane, dass viele von ihnen zur Hazelwood-Akademie zurückkehren würden, um ihren dort gefangenen Kameradinnen beizustehen. Jedenfalls musste dort eine kleine Wachmannschaft auf ständig fliegenden Besen bleiben.

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Unter dem Uluru, vier zwölfteltage nach dem Angriff auf die Mädchenschule

Ashlohuganar und Ishgildaria sahen einander an und tauschten dadurch innerhalb eines halben Augenblickes alle Kenntnisse aus, die sie erhalten hatten.

"Sie haben einen Weg gefunden, unsere Diener einzufangen oder an ihren Aufgaben zu hindern. Das ist widerlich. Woher können die sowas? Der Erhabene hätte uns das sicher gesagt, dass wir darauf vorbereitet sein müssen", sagte Ishgildaria, die sich offenbar eine Menge von Sisufuinkriashas Vorstoß versprochen hatte. Zwar war Sisufuinkriasha rechtzeitig weitergezogen und suchte nun nach neuen Zielen. Doch der große Schlag war zum halben Rückschlag geworden. Denn die von ihr angeworbenen Kriegerinnen waren gefangen.

"Die Jetztzeitigen haben sehr viel von den Kräften der unbelebten Welt erfahren. Sie können selbst etwas ähnliches wie das Tausendsonnenfeuer zünden, das der Erhabene als gefährlichste Vernichtungswaffe überhaupt beschrieben hat", erwiderte Ashlohuganar, bevor er mit Ishgildaria, Gooramashta und Sholalgondan wieder in den leisen Chor der vereinenden Botschaft einstimmte, die alle neuen Artgenossen an die Verkünder des Erhabenen band. Gooramashta erwiderte noch, dass es den Jetztzeitigen zwar möglich sei, ihre Diener zu fangen oder am Vorrücken zu hindern, sie diese ihnen aber nicht entreißen konnten, weshalb sie früher oder später erkennen müssten, dass sie den Dienern des Erhabenen unterlegen waren. Denn die Vorgehensweise, kleine, unbedeutende Ansiedlungen mit eigenen Artgenossen zu bevölkern, würde am Ende den Sieg bringen. Dem wollten die drei anderen nicht widersprechen.

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In der französischen Niederlassung der Geheimgesellschaft Vita Magica, 16.09.2003, 21:30 Uhr Ortszeit

Dass sie vor kurzem Zwillinge bekommenhatte war Véronique alias Mater Vicesima Secunda immer noch anzusehen. Dass es in der französischen Niederlassung, in der sie die meiste Zeit des Jahres wohnte schon halb zehn Abends war konnte Perdy ihr auch ansehen. Dennoch wollte die wegen nun 22 geborenen Kindern ranghöchste Hexe aus dem hohen Rat des Lebens alles neue in ihrer Stammresidenz besprechen, was mit Logan Bridgewood passiert war. Dass Lyndon Willes gestorben war betrübte zwar alle. Doch sie alle waren jetzt wesentlich zuversichtlicher, dass sie einen neuen Angriff der Schlangenmenschen sicher abwehren konnten, zumal die Agentin in den Reihen der Strafverfolgungsabteilung mitbekommen hatte, dass auch die Einsatzkräfte des Zaubereiministeriums herausgefunden hatten, dass die Schlangenleute von starken Magnetfeldern bewegt oder festgehalten werden konnten.

"Ihr habt Logan doch sicher Blut zur Untersuchung entnommen?" wandte sich Mater Vicesima Secunda an die australischen Mitstreiter.

"Aber sofort, Blut, Haare, Fingernägel und Hautproben", sagte Valerie Dorkin, eine australischstämmige Heilerin, deren Ururgroßmutter noch mit den ersten Sträflingen aus Großbritannien herübergeschafft worden war. "Wir sind dabei, das Gift als solches zu isolieren und genug Proben für reine Reaktionstests zu gewinnen. Was wir jedoch jetzt schon wissen: Die Haare des Betroffenen sind glatt, nicht mehr geschuppt, wie es üblich ist. Und sie besitzen einen höheren Anteil Eisen, statt Hornmaterial. Und dieses Eisen ist wahrhaftig ferromagnetisch. Wie auch immer die Urzeugung dieser Wesenart erfolgte, magnetisierbares Eisen muss dabei eine wesentliche Rolle gespielt haben. Das geht auch aus den ersten Blutuntersuchungen hervor. Das Gift enthält Bestandteile, die den roten und weißen Blutkörperchen von uns Menschen bis zu einem bestimmten Teil ähneln. Allerdings enthalten die wie weiße Blutkörperchen wirkenden Bestandteile winzige Kristalle, die wie beim Hämoglobin um einen Eisenkern herum gebildet sind. Ja, und diese Kristallkörper wechselwirken mit unbelastetem Blut. Wir müssen da noch einige Versuche anstellen. Aber ich würde mich nicht wundern, wenn das Schlangenmenschengift im wesentlichen einen Blutaustausch bewirkt, der wiederum alles andere Gewebe umformt und auch die Blutbildung in den Knochen verändert. Doch da sind wie erwähnt noch einige Untersuchungen nötig."

"Ja, und diese Kristallkörper, die Val meint sind auf eine mineralische Form lebendig. Sie nehmen nämlich auch die mnineralischen Spurenstoffe im Blut und dem davon durchflossenen Gewebe auf. Die Eiweiße in dem Gift, die eine gewisse thaumaturgische Eigenschwingung haben, können ohne erkennbare Fortbewegungsorgane nach Menschenblutanteilen suchen und fressen die auf, wie die üblichen Fresszellen im Menschenblut", sagte Perdy. "Da ich mich, wie hier jeder und jede weiß, für Zukunftsfiktionen und technische Utopien interessiere wollte ich rein thaumaturgisch rausfinden, ob diese Giftanteile vergleichbar mit mikroskopisch kleinen Maschinen sind, die die Mensch-Maschinen-Hybridform namens Borg verwendet, um neue Artgenossen zu erzeugen. Diese Kristallkörper erzeugen wohl eine Grundschwingung, die das mit ihnen infizierte Opfer für die Verwandlung einstimmt, bauen aber nicht selbst an den neuen Körpern mit, sondern vertilgen nur das in den anderen Blutanteilen enthaltene Eisen, um sich selbst zu teilen. Aber ich stimme der Mitstreiterin Valerie Dorkin zu, das magnetisches Eisen bei der Urzeugung dieser Wesen eine wichtige Rolle gespielt hat, wohl auch, um ihnen die Fähigkeit zu verleihen, ohne Beschädigung des festen Mediums Erde und Gestein unter der Erde zu reisen, ähnlich wie die Kobolde. Am Ende sind die beiden Wesensarten verwandt. Aber das zu klären überlasse ich dann doch unseren Experten für humanoide Zauberwesen. Was ich auf jeden Fall jetzt sicher sagen kann ist, dass ein vollständig zum Schlangenmenschen umgewandelter Mensch gegen jedes Magnetfeld von mehr als der fünfzigfachen Stärke des Erdmagnetfeldes eine Gegenkraft erzeugt, unabhängig von der Ausrichtung des Magneten. Das führt dann dazu, dass der Betroffene von einem solchen Magneten gebremst, abgestoßen oder gar angehoben oder niedergedrückt wird, je danach, aus welcher Richtung das äußere Magnetfeld wirkt. Ich wollte Valerie fragen, ob ich Reaktionstests machen kann, wie hoch die Reaktionszeit ist, wie schnell sich die verwandelten auf bewegliche oder ihre Polung ändernde Magnetquellen abstimmen. Aber die gute Valerie hier mahnt an, dass sie als Heilerin den Probanden als Patienten behandelt und nicht als reine Versuchsobjekte, mit denen "wir Thaumaturgiefixierten" beliebig herumhokuspokussen dürfen. Ob sie dem immer noch zustimmt, wenn es mehr als zehntausend von diesen Schlangenkriegern gibt lasse ich mal dahingestellt." Valerie sah Perdy tadelnd an und wandte sich dann an Mater Vicesima Secunda.

"Pater Duodecimus und Pater undecimus Australianus stimmen dem seine zweite Kindheit und Jugend genießenden Gentleman hier zu, dass alle Stärken und Schwächen dieser Wesen ermittelt und genutzt werden sollten, auch jene, die zum Tod dieser Wesen führen. Deshalb wollten die schon anweisen, nach tödlichen Auswirkungen dieser vollständig Kontramagnetischen Konstitution zu suchen, um ähnlich wie bei Blauer Mond eine flächendeckende Dezimationsmethode zu erfinden. Doch bevor nicht klar ist, dass es für die Patienten keine vollständige Rückverwandlung gibt lehnen wir tätigen Heiler sowas ab, damit das mal klar ist."

"Ja, "Blauer Mond", der ja vor zwölf Tagen auch bei euch in Australien durchgeführt wurde, hat schwerwiegende Kollateralschäden verursacht, Valerie und Perdy. Aber, bei allen Kopf- und Bauchschmerzen, die diese Operation uns bereitet, sie hat ihr Ziel erreicht. Die Werwütigen trauen sich nicht mehr bei Vollmond aus ihren fidelius-bezauberten Verstecken oder halten sich an Orten auf, wo noch tag ist. Und ja, Valerie, wenn wir mehr als zehntausend über euren Kontinent verteilte Artgenossen dieser Wesen zu befürchten haben, sollten wir es zumindest wissen, wie wir dieser Pest beikommen können, ohne eigene Leute zu gefährden. Zum beispiel würde ich zu gerne wissen, wo sich unser eigener Mitstreiter das Gift eingehandelt hat", sagte Mater Vicesima Secunda.

"Das können wir dir klar bestätigen, Véronique", sagte Perdy. "Logan gehörte zu den Einsatzkräften, die eine Mädchenschule der Muggels von den Auswirkungen dieser "Pest" befreien wollte. Eine ehemalige Schülerin von da hat sich entschlossen oder die Aufgabe angenommen, ihren ehemaligen Lehrerinnen und den jetzigen Schülerinnen da ihren fragwürdigen Daseinszweck mitzugeben. Dabei hat es Logan erwischt, als der die bereits verwandelten Wesen aufhalten wollte. Die können sogar durch Drachenhautpanzer beißen, wohl wegen der Zauberabsorbtion bei direkter Berührung. Also das ist schon geklärt."

"Nett, dass ihr mir das erst sagt, wo dieser unliebsame Vorfall schon mehr als einen Tag her ist", schnarrte Mater Vicesima Secunda. "Aber dann wissen diese Schlangenbiester jetzt, wo die australische Niederlassung ist und könnten uns dort angreifen."

"Hätten sie schon längst gemacht, wenn meine Kollegen und ich nicht gleich nach der großartigen Erkenntnis, dass diese Biester von ausreichend starken Magneten abgestoßen werden, großflächige Dauermagnete gebaut und im Boden und an den Wänden unserer Niederlassung hingesetzt hätten. Tatsächlich wurden die mehrmals zum hüpfen und beben gebracht, was heißt, dass einige von diesen Schlangenmenschen es echt versucht haben, bei uns reinzukommen. Wir bauen noch mehr Magneten, um die Dichte der Abstoßungskörper zu verdoppeln. Jedenfalls ist die Niederlassung wohl im Augenblick die einzige Festung gegen diese Form der Wergestaltigen. Und wenn ich das rauskriegen darf, wie wir die großflächig schwächen oder töten können wird diese Festung sogar unangreifbar", sagte Perdy.

"Perdy, ich sage es dir gerne noch einmal und ich sehe es deiner Mentorin an, dass sie mir da zustimmen mag, dass diese Wesen lebende Menschen sind, die Opfer einer bösen Mutation wurden, keine deiner Mord- und Kriegsautomata aus diesen Zukunftsmärchen. Wir dürfen nicht einfach so töten, schon gar nicht magisches Leben, solange wir die kleinste Hoffnung haben, den Verwandlungsvorgang umzukehren, also sie von dem Übel zu heilen, statt sie im Namen eines größeren Wohls wie lästiges Ungezifer abzutöten", sagte Valerie Dorkin. Véronique nickte heftig und sagte: "Die Fälle hier in Frankreich, wo durch ausgelagertes Schlangenmenschengift verwandelte wieder rückverwandelt wurden, wenn sie lange genug vom Erdboden gelöst waren, sowie die durch Olympe Maximes Blutübertragung vollzogene Heilung des Jungzauberers Julius Latierre beweisen, dass es eine vollständige Rückverwandlung gibt, anders als bei Vampiren und Werwölfen, wo das gesamte Erbgut dauerhaft verändert wird, wie du, Perdy, selbst vor einem Jahr klargestellt hast. Abgesehen davon könnten diese grauen Riesenvögel auch wieder auftauchen, wenn die Anzahl dieser Schlangenwesen eine kritische Zahl übersteigt. Wir wissen von denen nur, dass sie wohl in einer frei fliegenden Festung gehalten werden, die von uns aus nicht zu erreichen ist. Wer wie und wann Verbindung zu ihnen aufnehmen kann oder diese Tiere durch eben eine kritische Anzahl zum Handeln getrieben werden ist uns bisher nicht bekannt. Ich bin mir zwar sicher, dass das französische Zaubereiministerium das weiß, aber unsere Agenten dort bisher nicht an die Unterlagen gekommen sind, was wohl daran liegt, dass es uns bis heute nicht gelang, Mitglieder innerhalb des engsten Mitarbeiterstabes des Zaubereiministeriums zu gewinnen."

"Ja, und die Engländer wissen das auch nicht, weil unser zeitweiliger Topagent das sonst herausbekommen hätte. Der weiß nur, dass der letzte Auslöser der Sturm auf Beauxbatons war, also jemand dort diese Piepmätze gerufen haben könnte", ergänzte Perdy. Mater Vicesima Secunda nickte. Sie wollte ihren Mitstreitern nicht alles verraten, was sie darüber wusste. Das lag daran, dass eine bestimmte Familie mit diesem Vorgang zu tun hatte und sie sich vorbehielt, zu entscheiden, ob und wann dieses Wissen weitergegeben werden sollte. Es mochte sein, dass sie bald über ihre Verbindung nach Frankreich eine Anfrage weiterleiten würde, ob das, was damals die Riesenvögel mit den glutheißen Blitzstrahlen herbeigerufen hatte, noch einmal durchgeführt wurde, auch wenn das hieß, dass viele magisch begabte Menschen getötet würden. Denn die Riesenvögel machten keinen Unterschied zwischen Magiern und Muggeln. Die jagten und töteten Schlangenmenschen. Genau auch deshalb wollte sie erst bei einer unbeherrschbaren Menge dieser Schlangenwesen diese grauen Riesenvögel aufscheuchen lassen.

"Was sagen eigentlich unsere Leute im australischen Zaubereiministerium zu dieser Schlangenmenschenepidemie?" wollte Pater Duodecimus Australianus wissen.

"Tja, das mit der Magnetfeldabstoßung haben die auch schnell rausgekriegt und deshalb die ganzen Schlangenfrauen und -mädchen in dieser Eliteschule bei Port Lincoln gründlich festgesetzt. Soweit wir wissen forschen die offenbar auch an einer Möglichkeit großflächiger Massenvernichtung", sagte Perdy. Valerie wandte ein: "Ich war gestern auf einer Notstandssitzung der Heilerzunft. Laura Morehead hat uns eindeutig darauf eingeschworen, erst nach einer Prophylaxe oder einer Heilung gegen dieses Übel zu suchen und uns nicht vom Zaubereiministerium einreden zu lassen, dass die Verwandelten zum größeren Wohl getötet werden sollten. Immerhin würden Vampire und Werwölfe auch vom magischen Gesetz geschützt, sofern Individuen oder kleinere Gruppen davon nicht straffällig werden. Ich gehe stark davon aus, dass Laura Morehead schon bei den Kollegen in Frankreich und Russland angefragt hat, ob wir in Australien auch Blutproben von halb- und Vollriesen bekommen, um nachzuvollziehen, wie die Genesung des Jungzauberers Julius Latierre eingeleitet und vollendet wurde. Vielleicht, nur vielleicht, besteht für mich und die zwei anderen Kollegen hier die Möglichkeit, eine winzige Menge solchen Blutes für unsere Forschungen abzuzweigen. Allerdings können die damit möglichen Versuche nur in Vitro erfolgen, also nur unmittelbare Reaktionen von Riesenblut auf Schlangenmenschenblut, keine nachvollziehbaren Überwachungen erkrankter Menschen, die mit Riesenblut behandelt wurden. Immerhin erhielt Julius Latierre fünf Liter aus dem Blut der Halbriesin Olympe Maxime und musste drei Monate lang in deren unmittelbarer Nähe verbleiben, weil die Blutübertragung sein Gefühlsleben durcheinandergebracht und seine Selbstbeherrschung stark geschwächt hat. Somit empfiehlt sich eine Wiederholung der Therapie der Kollegin Rossignol aus Beauxbatons nicht für viele Befallene zugleich."

"Ja, und dann werden die vom Ministerium genau da ankommen, wo ihr nicht hinwollt, Valerie, nämlich bei der Erkenntnis, dass eine massenhafte Rückverwandlung nicht möglich ist und um das Übel auszurotten oder auf beherrschbarem Niveau zu halten eine großflächige Dezimierung der gefundenen Schlangenkrieger stattfinden soll. Könnte denen sogar einfallen, uns zu fragen, ob wir das nicht für die erledigen können, wo wir nachweislich Erfahrung im Abtöten unerwünschter Zauberwesen haben, die unsere Blutreinheit bedrohen", ätzte Perdy.

"Wovon träumst du nachts, kleiner?" zischte Valerie Dorkin. "Von einer heißen Liebesnacht mit deiner Tochter, Valerie", konterte Perdy. "Lustig, wo ich nur drei Söhne habe und derzeit keine weiteren Kinder einplane", erwiderte Valerie darauf. "Deshalb kann ich ja auch nur davon träumen, Valerie", erwiderte Perdy und blickte auf Valeries flachen Unterbauch, als sähe er darin die erwähnte Traumgeliebte.

"Genieße deine zweite Pubertät, Perdy", knurrte Valerie, deren Ohren leicht errötet waren. Véronique musste innerlich grinsen. Wenn sie wollte könnte sie veranlassen, dass Valerie schon morgen in eines der drei Karussells steigen musste. Doch im Moment bestand dazu kein Anlass.

"Halten wir fest: In Australien grassiert die gleiche Schlangenmenschenseuche wie vor fünf Jahren in Europa. Wir wissen nicht, woher die neuen Überträger gekommen sind, wie viele es gibt und wo deren neue Handlanger unterwegs sind. Wir wissen, dass sie auf magische oder auch durch Elektrizität erzeugte Magnetfelder mit Abstoßungskräften reagieren, ansonsten wie Kobolde durch festes Gestein reisen können, womöglich mit der Geschwindigkeit von Erdbebenwellen und dass sie wie die Schlangenmenschen vor fünf Jahren bei Loslösung von der Erde in ihre Menschengestalt zurückkehren, allerdings nicht von der Wirkung des Giftes geheilt werden, sondern eben nur geschwächt sind. Sie brauchen eine gegenseitige geistige Verbindung mit jemanden. Wird diese geschwächt oder vollends unterbunden verfallen sie in eine komaähnliche Schockstarre", zählte Mater Vicesima Secunda auf.

"Ja, und wir wissen nicht, wie die grauen Riesenvögel gerufen wurden, die diese Schlangenkrieger damals getötet haben, Véronique. Aber ich wage mal die Vermutung, dass sich die in Indien lebenden Wertiger auch für die Schlangenkrieger interessieren. Immerhin haben die damals genau wie die superschnellen Drachen und die wieder aufgelegten Insektenmenschen gegen die Schlangenkrieger gekämpft, bis die grauen Riesenvögel den totalen Vernichtungsangriff geflogen haben", sagte Perdy. Mater Vicesima Secunda nickte. Dass die Schlangenmenschen die natürlichen Feinde der Wertiger waren hatte sie nicht bedacht. Doch falls diese auch noch in Australien auftauchen würden drohte allen Menschen dort zweifaches übel. Denn die Wertiger würden, um mit den sich vermehrenden Schlangenkriegern mitzuhalten, ebenfalls unschuldige Menschen mit ihrem verfluchten Dasein anstecken. Vielleicht war es doch vorteilhafter, eine Massenvernichtungswaffe gegen die Schlangenkrieger zu entwickeln. Doch noch wollte sie die Hoffnung nicht aufgeben. Sie schlug vor, möglichst magiearme bis magielos bedienbare Eis- und Feuerschusswaffen zu bauen, um gegen die Wertiger vorgehen zu können, sofern diese wirklich auf eine ihnen eigene Weise von der neuen Schlangenmenschenausbreitung erfuhren.

"Wie geht es eigentlich in Europa, Mater Vicesima Secunda?" wollte Valerie Dorkin wissen. "Ich hörte sowas, dass sich die Vampire dieser angeblichen Nachtgöttin mit diesen neuartigen Nachtschatten eine Art Partisanenkrieg liefern."

"Meine letzte diesbezügliche Information, die ich deshalb mit Vorsicht genießen muss, weil die Quelle weiß, dass Informationen an uns weitergelangen können lautet, dass die Vampire wohl versucht haben, die sich als Königin und Stammesmutter der neuen Nachtschatten verstehende Entität zu findenund dabei an die zweihundert Mitstreiter, darunter zwanzig dieser unsäglichen grauen Vampire eingebüßt haben", berichtete Mater Vicesima Secunda.

"Wissen wir mittlerweile, wie genau diese grauen Vampire entstehen?" wollte Pater Duodecimus Australianus wissen. Darauf antwortete Véronique:

Ich hatte ja die zweifelhafte Ehre, den selbsternannten Erben Riddles intensiv zu befragen. Zwar hat er viele Kenntnisse durch Divitiae-Mentis-Zauber unzugänglich in seinem Gedächtnis verschlossen. Doch was die grauen Vampire angeht erfuhr er wohl, dass sie durch in ihr Blut eingespritzten Unlichtkristallstaub mutierten und somit vom direkten Tod anderer Wesen leben. Offenbar unterhält die Neuauflage von Nocturnia sowas wie Hinrichtungsfabriken, in denen Menschen als Energiespender für diese Kristallform ihr Leben lassen müssen. Zumindest hat Wallenkron es ja auch so gemacht, wie wir von unseren Tschechichen und brasilianischen Mitstreitern erfahren durften oder mussten. Es ist aber auch sehr wahrscheinlich, dass die selbsternannte schlafende Göttin ihre neuen Übervampire dort entstehen lässt, wo derzeit sowieso viel Krieg und Terror an der Tagesordnung sind, also in Afghanistan und jetzt wohl auch im heutigen Irak, womöglich sogar noch an anderen Orten, wo es leider zur Tagesordnung gehört, wenn hunderte Menschen verschwinden oder sterben."

"Gegen die grauen Vampire gibt es doch ein sehr wirksames Mittel", sagte Perdy. Seine Mentorin nickte und erwiderte: "Ja, aber die ministeriumseigenen Vampirjäger und auch die Mitglieder der Liga gegen dunkle Künste werden nicht ständig mit schreienden und weinenden Säuglingen auf Armen oder Rücken herumapparieren, um die grauen Vampire zu vernichten. Aber weil du, Valerie, mich eben gefragt hast, was in Europa sonst noch ist: Es steht zu befürchten, dass Ladonna Montefiori nun das ganze italienische Zaubereiministerium unterworfen hat und Italien somit ein sicheres Rückzugsgebiet für ihre neue Schwesternschaft ist, so wie wir eigentlich die USA als unseren Rückzugsraum kultivieren wollten."

"Was heißt hier wollten?" fragte Perdy. "Noch denken die, der zwischen uns und denen geschlossene Vertrag sei weiterhin intakt und gültig."

"Da bist du nicht mehr auf dem neuesten Stand, Perdy", seufzte Mater Vicesima Secunda. "Nancy Unittamo geborene Gordon, durch unsere großzügige Mithilfe Mutter von einer Tochter und zwei Söhnen, hat mit der ebenfalls durch unsere großzügige Mithilfe zu dreifacher Mutterschaft gelangten Martha Merryweather und anderen sogenannten Müttern aus VMs gnaden und dieser Interessensgemeinschaft später Väter ohne ausdrücklichen Kinderwunsch eine Überprüfung des Vertrages verlangt. Irgendwer hat behauptet, dass Silvester Partridge bei seinem Soloeinsatz gegen uns das Original außer Kraft gesetzt hat. Falls die herausfinden, das es so ist war es das mit unserem sicheren Rückzugsort in den Staaten, abgesehen davon, dass unsere neue Mitstreiterin Eartha Dime dann wohl als dringend Tatverdächtig ergriffen und weggesperrt wird, ja womöglich nach der Geburt ihrer Kinder in Doomcastle landet."

"Ein wort von Eartha, und die kann sofort in einer unserer Niederlassungen einziehen", sagte Perdy. Alle anderen nickten ihm zu. "Und Buggles gleich mit. Immerhin hängt er ja auch mit in der Sache mit dem Friedensvertrag."

"Das wird ihn freuen", grummelte Mater Vicesima Secunda.

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Im Apfelhaus der Latierres, 17.09.2003, 07:30 Uhr Ortszeit

Julius hatte schon so ein komisches Gefühl verspürt, als er und Millie am Abend des 16. Septembers eine Anfrage von Aurora Dawns Bild-Ich bekommen hatten, ob er am nächsten Morgen seiner Zeit zwanzig Minuten für sie freischaufeln konnte. Da er problemlos von hier aus ins Ministeriumsfoyer hineinapparieren konnte konnte er um eine Minute vor acht aufbrechen. Also hatte er jetzt diese zwanzig Minuten. Doch was ihm Auroras durch das Armband aus der Villa Binoche erzeugtes Abbild erzählte erschütterte ihn. Sie erwähnte, dass in Australien Schlangenmenschen aufgetaucht waren, von der Sorte, die auch in Europa gewütet und sich vermehrt hatten. Genau das taten die aufgetauchten Wesen jetzt im Land unten drunter. Die mit den Mythen und Kenntnissen der Ureinwohner vertrauten Kollegen Auroras gingen davon aus, dass es jene vier sogenannten Eidechsenmenschen waren, die im Uluru selbst überdauert haben sollten, seitdem der letzte große Krieg zwischen ihnen und den Vogelmenschen und den grauen Riesenvögeln getobt hatte. Julius hatte sich dann mit immer blasserem Gesicht angehört, was diese aufgewachten Schlangenmenschen schon angestellt hatten. Er hatte dann bestätigt, dass sie sich sicher am Erdmagnetfeld ausrichteten, wenn sie unter der Erde reisten. das taten ja auch die Kobolde. Er erwähnte nicht, dass er das ja nicht anders machte, wenn er den Weg durch die Erde gehen wollte. Er vermutete auch, dass die Schlangenmenschen diamagnetisch beschaffen waren und zwar so, dass sie einem in sie eindringenden Magnetfeld ein mindestens halb so starkes Gegenfeld entgegensetzten, was den Erfolg der Ministeriumszauberer an der überfallenen und besetzten Mädchenschule erklärte. Dann erinnerte er sich noch, dass die Schlangenmenschen nur vereinzelt in große Städte eingefallen waren, obwohl sie sicher den Auftrag hatten, sich zu vermehren und die grauenvolle Armee Voldemorts zu verstärken. Aurora erwähnte den Bericht einer rechtzeitig entkommenen, deren Namen sie nicht nannte, dass das sie angreifende Schlangenwesen wohl einen Brand in ihrer Wohnung ausgelöst hatte, weil alle elektrischen Geräte überlastet wurden. Das bestärkte Julius in seiner Annahme, dass die Schlangenmenschen diamagnetisch beschaffen sein mochten. Auf die natürlich erwartete Frage, was das genau heiße schlug er vor, ihr das betreffende Kapitel aus seinem Physikbuch von damals abzuschreiben und per Eule zu ihr hinzuschicken, sofern es nicht ganz dringend war, dass er zu ihnen nach Australien reiste, entweder als offizieller Abgesandter des Zaubereiministeriums oder ganz heimlich durch die Bildverbindung zwischen hier und Auroras Haus in Sydney. Aurora bat ihn darum, sich für weitere Anfragen bereit zu halten und falls möglich von zu Hause aus zu arbeiten, wo das Vollporträt der Heilerin in Rufweite war. Er versprach es.

"Was wollte Aurora von dir, Monju?" fragte Millie.

"Will ich jetzt nicht noch mal breittreten, Millie. Ich schreibe es dir auf, wenn ich eine Leerlaufphase im Büro habe. Ist auf jeden Fall ziemlich übles Zeug", seufzte Julius.

"Ja, und warum betrifft dich das genau, wo wir hier sind und Aurora in Australien ist?"

"Millie, ich schreibe dir das auf, geordnet und verständlich", grummelte Julius.

"Mann, du wurdest durch irgendwas total runtergezogen und bist gerade so drauf, als wenn dich jederzeit wer angreifen will. Da werde ich wohl mal fragen dürfen, was ist, oder?" schnaubte Millie zurück. "Ja, hast du auch getan, und ja, darfst du auch. Aber ich will das nicht zwischen Wickeltisch und Sprung zur Arbeit ausbreiten. Versteh mich bitte. Du kriegst das auf jeden Fall von mir mit, wenn ich das in Ruhe zusammenschreiben kann. Vielleicht muss ich das auch für meine Vorgesetzten. Aber ich mach es auf jeden Fall. Hab bitte Geduld!"

"Also, ich soll jetzt die Große in den Kindergarten bringen und dann selbst zwischen Aufsicht über die Mittelgroße und Versorgung der Kleinen und meiner eigenen Arbeit darauf hoffen, dass du Zeit findest, mir einen Brief zu schicken, was dich gerade so runterzieht, richtig?" Julius nickte heftig. Millies enervierendes Getue machte das, was auf seiner Seele lag nicht leichter. Aber es fehlten nur noch zwei Minuten bis acht Uhr.

"Okay, ein Satz, Monju, damit ich nicht so wie vom Besenstiel aufgespiest drauf bin wie du", grummelte Millie.

"Wenn du damit bis zu meinem vollständigen Bericht herumgrübeln willst bitte: In Australien sind genau solche Schlangenmenschen aufgetaucht wie damals bei uns. Das war dein Satz. Ich hoffe, du kannst auf die Vollversion warten, ich muss jetzt los." Millie wollte noch was entgegnen, da drückte ihr Julius seine Lippen auf ihre und küsste sie wie jeden Morgen, wenn er zur Arbeit aufbrach. Sie wollte danach noch was sagen, doch da disapparierte er auch schon.

"Ich hoffe, du wolltest mich nicht verschaukeln, Julius Latierre", fing er im Foyer ihre sichtlich verärgert klingende Gedankenbotschaft auf. Er schickte zurück, dass er mit sowas keinen Scherz trieb. Dann suchte er sich einen der Aufzüge aus, um auf das Stockwerk mit seinem Büro zu fahren. Zu seiner Erleichterung waren die meisten wohl schon an ihren Arbeitsplätzen.

"Sie wird sich weiter sorgen, aber nicht mehr wütend auf dich sein", fing er Temmies celloartig klingende Gedankenstimme auf. Er schickte zurück, dass sie ja fühlte, was ihn umtrieb und er das ja nicht vor ihr verheimlichen konnte.

In seinem Büro fand er einen Brief von Gabrielles Schwiegervater vor. Der wollte von ihm wissen, ob es stimme, dass das Ministerium ihn und seine Familie unter Fernüberwachung halte, weil sein Sohn eine Veelastämmige geheiratet habe. Auch das noch, dachte Julius. Laut Dienstanweisung durfte er den Marceaus nicht bestätigen, dass ihre Familie bis zum ersten Oktober noch beaufsichtigt wurde, bis Gabrielle und Pierre aus den Flitterwochen zurückgekehrt waren. Andererseits konnte er ihn auch verstehen und wollte ihn nicht grundweg belügen. So schrieb er zur Antwort, dass er selbst keine Veranlassung sehe, ihn und seine Familie unter Überwachung zu halten und das jederzeit beurkunden würde, wenn er danach gefragt würde. Als er den Brief fertig hatte schrieb er den Millie versprochenen Bericht, wobei er aufpassen musste, sich nicht in seinen Träumen des Fünf-Tage-Schlafes zu verlieren, die mit den Schlangenmenschen zu tun hatten und sich auch nicht zu sehr davon betrüben zu lassen, was in Australien geschah. Er dachte nur einmal, das Unkraut eben doch nicht verging und fragte sich, was er von hier aus tun konnte oder tun durfte.

Um zehn Uhr klopfte es an seiner Tür. Simon Beaubois und Nathalie Grandchapeau wollten zu ihm. Er schluckte das "Oh, gleich beide Vorgesetzten, welche Ehre!" rechtzeitig hinunter und begrüßte sie statt dessen mit: "Oh, mit Ihrer Beider Besuch habe ich nicht gerechnet. Bitte setzen Sie sich!"

Nun erfuhr er, dass das französische Zaubereiministerium per Blitzboten davon in Kenntnis gesetzt worden sei, dass in Australien die gleichen Schlangenmenschen aufgetaucht waren, wie sie in Europa gewütet hatten. Dabei hatte Beaubois es von seiner australischen Kollegin Tharalkoo Flatfoot und Nathalie es von ihrem Kollegen Nigel Bridgegate erfahren, was in den beiden vergangenen Tagen geschehen war und dass sich die Schlangenmenschen offenbar daranmachten, das ganze Land zu befallen. Julius sollte dann erwähnen, was er noch von seiner beinahen Verwandlung wusste und ob er glaubte, dass die Schlangenmenschen einen neuen Herren hatten, dem sie folgen mussten.

"Da Sie mich beide nach meiner Einschätzung fragen, so viel: Damals hatte Tom Riddle alias Lord Voldemort ... Bitte nicht immer noch" Simon Beaubois war bei Nennung des immer noch gefürchteten Namens zusammengezuckt wie vom Schlag getroffen. Nur Nathalie war ruhig geblieben. "Also, dass der Verbrecher, der Großbritannien unterjocht hat diese Wesen ferngesteuert hat. Das Mittel dafür ist verschollen, womöglich mit den in Europa wütenden Schlangenmenschen vernichtet worden. Falls die in Australien aufgetauchten Wesen also frei handeln können können die eigene Pläne umsetzen oder niederen Instinkten folgen, beispielsweise sich hemmungslos fortpflanzen, auf die eine oder andere Weise."

"Die eine oder die andere Weise?" echote Simon Beaubois. Nathalie sah den gleichranigen Kollegen verdrossen an, als habe er die dümmste Frage überhaupt gestellt. Julius sagte jedoch ganz ruhig: "Damals wurden die Schlangenmenschen durch die geistige Dauerberiselung mit Verbundenheitsparolen oder den Befehlen des selbsternannten dunklen Lords in Zaum gehalten. Ich vermute jedoch, dass sie auch einen Fortpflanzungstrieb besitzen, der nicht durch das Beißen argloser Menschen befriedigt wird, sondern durch Geschlechtsverkehr, Sex, Paarung, wie immer Sie dies nennen möchten, Madame Grandchapeau und Monsieur Beaubois. Falls ihre Körper fähig sind, Nachwuchs aus sich heraus zu erzeugen, könnten sie sich auch dadurch vermehren. Das würde die Sache sogar noch schlimmer machen als sie auch so schon ist, weil keiner weiß, was für Nachkommen das werden, wie viele es pro Zeugungsakt werden können und wie schnell sie sich zu erwachsenen Einzelwesen entwickeln oder ob sie auch eine Art Larvenstadium durchlaufen, wie Engerlinge, Raupen oder Maaden. Vielleicht gebären weibliche Schlangenmenschen auch lebende Nachkommen wie andere humanoide Wesen. Da ich das leider nicht weiß kann ich nicht mehr dazu sagen. Was die aufgewachten Schlangenmenschen sonst noch an- oder umtreiben mag kann ich auch nicht sagen. Ich fürchte nur, dass sie eben nicht mehr fernüberwacht und ferngesteuert werden."

"Unsere entsprechenden Untersektionen haben sich bereits zusammengefunden und erörtern das Thema. Aber danke, dass Sie uns das mit der Fernüberwachung und -kontrolle noch einmal verdeutlicht haben, Julius", sagte Monsieur Beaubois. "Ich werde das den damit befassten Kollegen so weitergeben."

"Öhm, Monsieur Beaubois, eines kann ich Ihnen aber sicher sagen: Da Schlangenmenschen sich unterirdisch bewegen können besitzen sie sicher einen Spürsinn für das Erdmagnetfeld, und zwar nicht nur dafür, wo Norden und Süden liegt, sondern auch, wie weit es noch bis zu einem der Magnetpole der Erde ist und somit auch ein Standortempfinden. Das ist sicher so, weil sie ja unter der Erde keine Wegmarkierungen benutzen können und zudem sehr schnell unterwegs sein können."

"Was können wir mit dieser Einschätzung anfangen?" fragte Simon Beaubois Julius. Er wirkte nicht gerade erfreut. Julius sah Nathalie an, die nach außen hin ganz ruhig blieb. Auch Demetrius schien sich gerade nicht zu regen, zumal Nathalie ihre Umstandsverhüllungskleidung trug.

"Dass Schlangenmenschen zum einen durch künstliche Magnetfelder, magisch oder elektrisch erzeugt, die Orientierung verlieren können und zum anderen vielleicht körperlich auf sie berührende Magnetfelder ansprechen. Sie könnten vielleicht in einem aus starken Magneten und unterirdisch angebrachten Magneten festgehalten werden, weil sie keine Richtung erspüren können oder immer im Kreis laufen oder kriechen. Vielleicht fühlen sie sich in Räumen, aus denen das Erdmagnetfeld ausgesperrt werden kann auch unsicher, weil ihnen jemand ihren Richtungssinn nimmt, vergleichbar einer dicken Augenbinde und zugestopften Ohren bei uns. Das wurde damals nicht nachgeprüft, weil Didier und Pétain es nicht für nötig hielten, diese Wesen zu erforschen."

"Und halten Sie diese Wesen, sofern es bereits vom Gift veränderte Wesen sind, für heilbar?" fragte Nathalie Grandchapeau.

"Ich wurde damals mit Hilfe von Madame Maximes Halbriesinnenblut zurückverwandelt und immunisiert. Rauschgiftsüchtige, die ausgelagertes Schlangenmenschengift in ihre Blutbahn gespritzt haben konnten durch Anheben und mehrere Sekunden über der Erde halten restlos von der Verwandlung kuriert werden, sofern sie nicht Opfer der pfeilschnellen Kampfdrachen von der Elfenbeininsel, den Insektenmenschen Anthelias oder der grauen Riesenvögel wurden, die nur auf Finden und Töten abgerichtet waren. Deshalb sage ich als glücklicherweise geheilter wie als Pflegehelfer, dass bitte alles mögliche unternommen werden möge, um die Opfer dieser Wesen zu heilen und die Tötung nur das letzte Mittel sein sollte, wenn ihre Anzahl schon zu groß ist, um sie noch zu kontrollieren."

"Das war es, was wir gerne von Ihnen hören wollten, eine klare Einschätzung der Konsequenzen", sagte Monsieur Beaubois. "Ich fürchte nur, dass der Punkt schon bald erreicht ist, wo eine Erforschung der Heilmöglichkeiten zu lange dauern würde und daher eine Dezimierung dieser Wesen angeraten ist, um schlimmeres zu verhindern. Öhm, das könnten jene, von denen die grauen Riesenvögel geschickt wurden, ebenso sehen, wenn sie davon erfahren."

"Ja, Monsieur Beaubois, das verstehe ich", antwortete Julius auf die nicht gerade hoffnungsvolle Einschätzung seines einen Vorgesetzten.

"Danke noch einmal für Ihre Aussage, was die Erfahrungen mit diesen Wesen angeht und Ihre Einschätzung, wie sie zumindest in ihrer Beweglichkeit eingeschränkt werden können", sagte Nathalie Grandchapeau. Simon Beaubois, der früher das Geisterbüro geleitet hatte, nickte bestätigend. Dann verließen beide Julius' Büro.

"Gut, dass du Ihnen nicht erzählt hast, dass du damals die Wolkenhüter gerufen hast", gedankensprach Temmie. Julius schickte die Frage zurück: "Wie, hältst du mich jetzt den ganzen Morgen unter Beobachtung?"

"Nicht den ganzen Morgen. Aber wo du Millie auf dieses neue Erwachen hingewiesen hast muss ich fürchten, dass dir vielleicht keine andere Wahl bleibt, als die Wolkenhüter erneut zu rufen. Bedenke, dass ein Feuer, das nicht mehr in einem festgelegten Bereich bleibt und sich auszubreiten trachtet gelöscht werden muss, soll nicht alles verbrennen. Auch mir als einer, die das denkfähige Leben hoch achtet fällt es schwer, dies einzugestehen. Wenn ihr keine Heilung für die Betroffenen findet ist ihr Tod eine Erlösung, für sie und für euch anderen."

"Du machst mir echt Mut, Artemis vom grünen Rain", gedankenknurrte Julius. "Aber zumindest darf ich jetzt offiziell niederschreiben, was mir zu den Skyllianri einfällt", gedankensprach Julius. Die Vorstellung, dass er bald wieder die magische Flöte Ailanorars hervorholen und das Ruflied der Wolkenhüter spielen musste gefiel ihm gar nicht. Denn außer dass die Schlangenmenschen dann bis auf den letzten getötet wurden würde auch Anthelia/Naaneavargia mitbekommen, wo die Zauberflöte war und womöglich dort hinkommen. Das wollte er nicht wirklich. Ja, und am Ende würden noch einmal mehr als tausend Leute sterben, weil er die Wolkenhüter gerufen hatte. Doch was hatte Madame Maxime ihm damals gesagt, als diese Erkenntnis ihn in ein Loch aus Selbstvorwürfen und Schuldgefühlen gestürzt hatte? Ohne den Ruf nach den Wolkenhütern wären es vielleicht zehntausend oder hunderttausend Schlangenmenschen geworden. Sie hatten ja dieses Jahr erlebt, wie heftig ausgedehnte Waldbrände wüten konnten. Auch hatte es in den Staaten schon wieder Hurrikans gegeben und würde es wohl noch einige geben. Nichts zu tun würde also die Katastrophe nur verschlimmern, nicht beseitigen.

Zur Mittagspause lud ihn Nathalie in ihr Büro ein. Womöglich war Demetrius aufgewacht und wollte mithören, was außerhalb seiner sicheren Behausung so los war, dass viele sich wieder Sorgen machen mussten, auch wenn Australien rein räumlich so weit weg war. Doch mit Flohpulver schrumpfte die Welt auf einen Schritt zusammen.

Während des gemeinsamen Mittagessens verriet ihm Nathalie, was ihr der Kollege aus Australien von sich aus mitgeteilt hatte und dass sie im Land auf der Südhalbkugel versuchten, möglichst viele Schlangenmenschen mit nichtmagischen Flugmaschinen vom Boden aufzuheben und dann an Bord von frei fahrenden Schiffen in Quarantäne zu halten, denn ohne mit der Erde in Berührung zu stehen wurden die Befallenen wieder zu Menschen und konnten ihr verheerendes Gift nicht weitergeben.

"Wenn die für Schokczauber wieder empfänglich sind, Nathalie, vielleicht geht dann auch Einschrumpfen. Oder haben die das schon ausprobiert?" fragte Julius.

"Hmm, das weiß ich jetzt nicht. Könnte auch sein, dass dies die Befallenen tötet. Aber einen Versuch wäre es wert, mehr Raum zu schaffen, um sie unterzubringen. Didier hat damals verdammt nachlässig und fahrlässig gehandelt, als er diese Wesen ignoriert hat und dadurch selbst zu einem davon wurde", schnaubte Nathalie, und über den an Julius ausgeliehenen Cogison-Ohrring kommentierte Demetrius noch: "Wenn er auf dieselbe Idee gekommen wäre, nichtmagische Fluggeräte zu benutzen, Maman. Aber der hielt absolut nichts von Muggelmaschinen."

"Das kommt noch dazu. Nur die Eigeninitiative der Bürgerinnen und Bürger von Millemerveilles hat gezeigt, wie diesen Kreaturen beizukommen ist", fügte Nathalie hinzu.

"Ja, und was ist, wenn die grauen Riesenvögel nicht mehr kommen können, weil sie ihren Daseinszweck erfüllt haben und selbst vergangen sind?" fragte Demetrius über die Cogisonverbindung.

"Dann bleibt die Eindämmung dieser geschuppten Pest an uns hängen", meinte Nathalie dazu. Julius hätte fast gesagt, dass er die Wolkenhüter hoffentlich noch rufen konnte. Doch das wollte er lieber mit Aurora Dawn bereden. Vielleicht hatten die Heiler ja doch schon einen Ansatz, die Ausbreitung ohne Massentötung zu stoppen.

"Julius, wenn die in Aussiland diese Biester nicht mehr überblicken können mach das, was Madame Maxime und du damals gemacht habt und hoffe, dass die grauen Vögel noch leben und erfassen, was in Australien los ist!" drang Demetrius' deutliche Aufforderung direkt in Julius' Bewusstsein ein. Über die vom Cogison mitübertragenen Körpergeräusche Nathalies hinweg klang das wie der Ruf aus einer Welt, die dem Untergang geweiht war, dachte Julius einen Moment. Dann erkannte er, dass Demetrius leider recht hatte. Wenn er das noch konnte, musste er die Wolkenhüter rufen. Aber das ging dann nur da, wo die Schlangenmenschen auch wüteten, in Australien. Irgendwer wollte ihm mal wieder die Verantwortung für zigtausend Menschen auf einmal auf die Schultern packen, und das gefiel ihm nicht. Doch er dachte an Demetrius' Adresse: "Soweit ich weiß ist das immer noch ein Ministeriumsgeheimnis, wer die Vögel damals auf die Erde runtergerufen hat. Falls Ministerin Ventvit findet, es an ihre australische Amtskollegin weiterzugeben kann meine Frau gleich einen längeren Artikel darüber schreiben. Dann darf ich mich aber nirgendwo mehr sehen lassen, weil auch viele Hexen und Zauberer Angehörige an diese Riesenvögel verloren haben."

"Ja, und weil die gute Ornelle genau das weiß und genau das verhüten will wird sie es Latona Rockridge oder einem ihrer Abteilungsleiter nicht aufs Mittagsbaguette streichen. Aber du kannst, wenn sowas anstehen sollte, nach Australien hin, ohne dass das einer von uns mitkriegt und da diesen Rufzauber machen, wo diese Wesen sich aufhalten. Dann bekommt es keiner mit."

"Außer der, über die ich die besagte heimliche Reisemöglichkeit habe, Demetrius", entgegnete Julius. Ein Gluckern aus Nathalies Magen, ein Schluckgeräusch von ihr und dann kam Demetrius' Antwort: "Sie ist Heilerin. Sie wird nicht wollen, dass du deshalb um deine Freiheit und dein Leben fürchten musst."

"Wenn ich nicht wüsste, wer das sagt würde ich behaupten, dass du keine Ahnung hast. Aber so wie du untergebracht bist würde ich mich dann auch fühlen, nur nicht so geliebt und behütet wie du." Nathalie hatte ihm erst einen warnenden Blick zugeworfen. Doch dann hatte sie wohlwollend gelächelt.

"Das hast du aber schön gesagt", erwiderte Demetrius' Cogisonstimme in Julius Ohren. Nathalie konnte dem nur beipflichten.

Als Julius wieder bei seiner Frau im Apfelhaus war las sie das, was er für sie und in Abänderung der Anrede auch für die betreffenden Büros geschrieben hatte. "Und das heißt, weil eine von den Gebissenen in dieser Mädchenschule gewesen ist müssen die jetzt alle als Schlangenfrauen und Schlangenmädchen leben, darauf aus, jeden zu beißen, der nicht so ist wie sie?" fragte Millie. Julius konnte das leider nur bestätigen.

"Schon ziemlich übel, sich vorzustellen, dass eines Tages wer nach Beauxbatons geht und da wegen was auch immer alle angreift, weil er oder sie wegen Beaux aus der Spur geflogen ist."

"Hat es in der magielosen Welt leider schon oft gegeben, dass Schüler oder ehemalige Schüler in ihrer Schule amokgelaufen sind und ohne groß zu wählen jeden angegriffen haben", seufzte Julius. "Und der, vor dessen Kampfnahmen gestandene Geisterjäger wie Beaubois immer noch zusammenfahren hat das mit Hogwarts ja auch nicht anders gehalten wie dieses Mädchen, dass ihre ehemalige Schule heimgesucht hat."

"Vielleicht durfte sie auch nur Mädchen und Frauen beißen, Monju. Nachdem, was du da hingeschrieben hast könnten sich Schlangenmenschen ja auch paaren oder geschlechtlich fortpflanzen. Vielleicht können die den Trieb nicht unterdrücken. Will sagen, Frau sieht Mann, sie lässt ihn ran."

"Ui, könnte auch sein. Aber dann denken diese Biester ja immer hin noch nach. Das macht sie aber noch gefährlicher", unkte Julius. "Ja, oder sie werden wieder von irgendwem ferngesteurt, wie es der Irre aus deiner Heimat mit den von ihm geweckten Schlangenmenschen und dir vorhatte", erwiderte Millie. "Was diesen unbekannten Fernüberwacher dann wieder sehr gefährlich für uns macht, wo wir nicht wissen, wer das ist. Wallenkron als Voldys Nachfolger ist ja von VM vom Brett genommen worden. Aber wenn das echt jahrtausendelang überdauernde Schlangenwesen waren, Millie, und die sind durch dieselbe dunkle Welle aufgeweckt worden, die Sardonias Kuppel verdunkelt hat, dann könnte was in dieser Welle mitschwang auch sowas wie ein neuer Auftrag für die sein, sozusagen in ihre Gehirne eingeflößt."

"Schon fies genug, dass diese Giftbiester wieder aufgetaucht sind", knurrte Millie. Das konnte Julius nicht abstreiten.

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Im Büro von Zaubereiministerin Rockridge, 18.09.2003, 10:20 Uhr Ortszeit

Die Ministerin wirkte zwar immer noch angespannt, lächelte aber alle mit der Angelegenheit der wiedererwachten Schlangenmenschen vertrauten Abteilungsleiterinnen und Abteilungsleiter an. "Zunächst einmal möchte ich mich bei Ihnen und vor allem Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sehr herzlich bedanken, dass es gelungen ist, siebzig der aus der Schule bei Port Lincoln entwischten Schlangenmädchen zu ergreifen und ohne aufzufallen auf die um unseren Heimatkontinent verteilten, frei schwimmenden Schiffe und flöße zu verteilen. Auch dass trotz der Gefahr des Verrates durch den Kollegen Straker jederzeit ein Angriff auf das Ministerium drohen könnte wurde von Ihnen allen schnell und gründlich unterbunden. Dass die anderen ehemaligen Schülerinnen immer noch verschwunden sind und bisher weder bei ihren Angehörigen noch bei ihren Freunden aufgetaucht sind deutet sehr stark darauf hin, dass sich die Schlangenmenschen untereinander verständigen, auch wenn sie tausende Meilen voneinander entfernt sind. Zu dieser Annahme und was wir daraus für Schlüsse ziehen und Maßnahmen durchführen mögen hat der junge Mitarbeiter Mr. Bridgegates nachgeforscht und ist bereit, uns an seinen Ergebnissen teilhaben zu lassen. Bitte, Mr. Benson!" Damit übergab sie Kyle Benson aus der Computerabteilung das Wort.

"Die Ausbreitung erfolgte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vom Uluru aus. Es wurde erwähnt, dass es dort wohl vier überlebende, im Langzeitzauberschlaf gebannte Exemplare geben sollte, die jetzt erst wieder aufgewacht sind, womöglich durch jene dunkle Welle, die im April unser Flohnetz gestört und etliche dunklen Gegenstände reaktiviert oder in der Auswirkung verstärkt hat. Gehen wir also davon aus, diese Schlangenmenschen wurden durch diese dunkle Welle aufgeweckt. Warum sind sie nicht gleich nach dem Durchlauf dieser schwarzmagischen Welle über uns hergefallen? - Eine mit einer Wahrscheinlichkeit von sechsundachtzig Prozent zutreffende Antwort: Sie brauchten Zeit, um wieder aufzuwachen. Dieses könnte daher kommen, dass der sie im Zauberschlaf haltende Bann auf einer Zeitverzögerung beruhte, die erst nach und nach aufgehoben wurde, Herzschlag für Herzschlag sozusagen. Gut, das löst unser Problem noch nicht. Aber jetzt kommt's: Diese Schlangenmenschen mussten auch warten, bis jemand den Weg zu ihnen findet, weil sie ja sonst direkt nach dem Wiedererwachen in vier Richtungenhätten losschlagen können. Das könnte heißen, dass sie sich nicht all zu weit voneinander entfernen dürfen, was wiederum damit zusammenhängt, dass sie wohl untereinander mentiloquieren, eine Art geistiges Halteseil aufgespannt haben, das nicht belibig lang sein kann. Ebenso halten sie dann wohl auch ununterbrochenen Kontakt zu ihren Opfern, die nun ihre Diener sind. Würden wir diese Verbindung trennen, wären die Schlangenmenschen dieser Angriffsfront führungs- ja vielleicht sogar antriebslos."

"Wenn Sie jetzt vorschlagen wollen, dass wir den Uluru mit einem großräumigen Antimentiloquismus-Zauber umschließen vergessen Sie das bitte sofort", sagte die Ministerin. "Die Ureinwohner betrachten uns schon seit der Kolonisation mit sehr großem Argwohn, und Uluru ist einer der wichtigsten natürlichen Kraftorte. Wenn wir an dem herumzaubern, noch dazu großflächig, hätten wir die alle gegen uns, und ich kann Ihnen allen verbindlichst versichern, dass Sie das genausowenig wollen wie ich."

"Hmm, da waren Sie leider ein wenig zu voreilig, was meine Idee angeht, Ministerin Rockridge", erwiderte Kyle Benson. "Mir ging und geht es darum, die Verbindung zwischen den Urschlangenmenschen und ihren Dienern zu unterbrechen, soweit richtig. Doch ich werde jeden Teufel einer Religion und hundert Dämonen dazu tun, am Uluru selbst herumzuzaubern, gerade weil ich weiß, wozu einige Magier der Ureinwohner fähig sind. Das wollen wir wirklich nicht. Mir geht es um eine Art Unterbrechervorrichtung, was die Nichtmagier auch als Störsender bezeichnen, um die Verbindung zu den frei herumlaufenden Schlangenmenschen zu schwächen oder zu zerstören. Diese Störvorrichtungen könnten je nach möglicher Flächenabdeckung auf flugfähigen Plattformen mit Unsichtbarkeitszauber angebracht werden und ständig Verzerrungsfelder erzeugen. Immerhin kennen wir doch Antimentiloquismuszauber. Gesetzt den Fall, Sie halten meinen Vorschlag für durchführbar könnten dann hunderte von Plattformen aus preisgünstigen Materialien mit entsprechenden Verstärkerkristallen ein ständig auf- und abbauendes Antimelofeld erzeugen, dass jede gesendete oder empfangene Gedankenbotschaft derartig verzerrt, dass sie unverständlich bleibt. Sicher, wir müssten dann solange auf den Komfort verzichten, mit denen zu mentiloquieren, auf die wir abgestimmt sind und ..."

"Was uns auch mit den Ureinwohnern in einen heftigen Interessenskonflikt stürzt, weil die lange lange vor unserer sogenannten Zivilisation das Mentiloquieren entdeckt und vervollkommnet haben. Sie nennen es nur anders", sagte die Ministerin. Kyle Benson verzog das Gesicht. Offenbar hatte er daran nicht gedacht. Doch dann fragte er: "Wohnen diese urwüchsigen Mentiloquisten alle in Großstädten?"

"Da ich dies nicht sicher bejahen oder verneinen kann stelle ich diese Frage als unbeantwortbar zurück", erwiderte die Ministerin. Offenbar drohte die Idee des Computerfachzauberers gerade an vielen Hindernissen zugleich zu scheitern. Dann sagte er: "Gut, ich erkenne an, dass zum Erhalt des gegenseitigen Respekts nichts getan werden darf, was den Ureinwohnern missfällt oder sie sogar körperlich oder seelisch verletzt. Dann reduziere ich meinen Vorschlag darauf, ein fliegendes Ortungssystem zu erschaffen, dass auf die besonderen Ausstrahlungen von Schlangenmenschen anspricht und bei Ortung einen örtlich begrenzten Antimelo-Störangriff ausführt, also nicht das ganze Land rund um die Uhr, sondern nur da und dann, wenn ein Schlangenmensch erfasst wird oder eine Gruppe von ihnen."

"Hmm, das sollte ich aber dem Vertreter der magisch begabten Ureinwohner lange genug vorher mitteilen", sagte die Ministerin nach einigen Sekunden. "So wie Sie das hier gerade dargelegt haben, Mr. Benson, denke ich doch, dass Sie auch schon eine umsetzbare Vorstellung haben, wie diese - wie nannten Sie es? - Störsender zu fertigen und zu montieren sind."

"Ich stehe deshalb schon mit Mr. Bridgegates Genehmigung im Kontakt mit den Thaumaturgen unserer Abteilung. Einer von denen kam sogar auf die Idee, ähnlich wie das mit dem Magnetfeldrotor schon geht, rotierende Strahlenquellen zu bauen, die das bestimmte Gebiet mit einem sich schnell kreisenden Strahlenbündel überstreichen und vor allem, dass die Störquellen abwechselnd in Kraft gesetzt und wieder unterbrochen werden können. Das würde bildlich erklärt einen unsichtbaren Kegel ergeben, in dem auf mentalmagische Kräfte abgestimmte Kraftstöße wirken. Wie die entsprechenden Parameter, also die einzelnen Mess- und Wirkungswerte zusammenspielen können wir gerne ermitteln, wenn wir von Ihnen die Erlaubnis haben."

"Dann hätte ich als Leiter der Handels- und Finanzabteilung sehr gerne und bitte sehr zeitnahe eine schriftliche Aufstellung, wie viele dieser neumodischen Vorrichtungen angedacht sind und aus welchen Materialien sie bestehen und wie viel Arbeitszeit für ihre Herstellung ..." erwiderte Phodopus Bathurst. Da zauberte Kyle Benson im Stil eines nichtmagischen Illusionisten einen Packen Papier aus dem linken Ärmel und winkte dem Finanzverwalter damit zu. "Ich denke, diese Unterlagen beantworten alle für Ihre Abteilung, sowie die an der Fertigung beteiligten aufkommenden Fragen so ausführlich es nötig ist. Das Deckblatt ist eine Stichwortsammlung, das zweite Blatt eine Inhaltsangabe, auf welcher Seite welches Thema behandelt wird. Ich habe erst mal nur zehn Kopien ausgedruckt. Ich kann aber gerne belibig viele davon ausdrucken lassen."

"Wie bitte?! Gut, bitte übergeben Sie mir das ... Danke!" sagte Bathurst perplex und übernahm den ihm hingehaltenen Packen. Dann las er und stutzte: "Hier auf dem Deckblatt stehen die Namen Julius Latierre, Florymont Dusoleil und Aurora Dawn. Was haben zwei französische ...? Natürlich, Laura Morehead ist auch mit an dieser Aktion beteiligt", grummelte Bathurst. Die Ministerin ließ sich eine der Kopien gebenund las kurz das Deckblatt und die Stichwortsammlung. "Ich werde mich zu gegebener Zeit noch einmal ganz gerne mit der netten Heilhexe Laura Morehead unterhaltten, was Kompetenzen und einträgliches Miteinander von Institutionen angeht. Nun gut, falls hier wirklich sämtliche von Mr. Bathurst angefragten Punkte dargelegt werden bin ich bereit, wegen der Schwere der Bedrohung eine Vollzugsgenehmigung gemäß gestriger Absprache zu erteilen. Da Sie ja offenbar mit dem französischen Ministeriumsmitarbeiter Latierre in Computerverbindung stehen grüßen Sie ihn bitte von mir und bedanken sich für seine internationale Solidarität, wenngleich die gute Laura ihn über ihre Kollegin Aurora Dawn auf Verpflichtungen hingewiesen haben soll, die ein zertifizierter Ersthelfer hat, wenn an ihn berechtigte Anfragen aus der Heilerzunft herangetragen werden. Gut, ich darf auch nicht außer Acht lassen, dass er selbst ein sehr fundamentales Interesse daran hat, dass dieser Schlangenmenschenepidemie Einhalt geboten wird. Wie erwähnt, wenn in den Papieren keine Fragen offenbleiben und die Umsetzung verwirklicht werden kann genehmige ich dieses Vorhaben. Die Heiler an sich trachten ja danach, die Betroffenen am Leben zu lassenund auf eine Umkehr ihrer Verwandlung hinzuwirken. Somit kriegen wir hier hoffentlich keine Abwandlung jener Vernichtungswaffe, die VM gegen Werwölfe entwickelt hat."

"Stimmt, wir könnten wen von denen fragen, ob die uns nicht eine Schlangenmenschenabtötungswaffe bauen können, wo die so um die Gesunderhaltung von Hexen und Zauberern besorgt sind", sagte McBane.

"Lawrence, diese Art von Spott ist in dieser Lage nicht hilfreich", maßregelte die Ministerin den Untergebenen.

"Gut, da wir es mit den kreiselnden Dauermagneten schon mehrmals geschafft haben, Schlangenmenschen an der Flucht durch die Erde zu hindern könnten wir einen solchen Antimelo-Strahlenkreisel auch bauen", meinte Bridgegate, während McBane schmollte.

"Wie erwähnt dürfen Sie Julius Latierre bei Ihrer nächsten Sitzung mit diesem Rechner grüßen", sagte die Zaubereiministerin noch. Danach sprachen sie über die einen und dann über die anderen Sachen. Schließlich wurde entschieden, dass sie erst einmal diese Störvorrichtung bauen wollten, um die bereits gefangenen Schlangenmenschen damit zu prüfen. Wirkte das Gerät auf sie ein, stimmte die Theorie, und die Großproduktion konnte anlaufen. Zwar warf Tharalkoo Flatfoot ein, dass in der Zwischenzeit viele tausend dieser Wesen entstehen konnten und sie dann nicht mehr Herr der Lage sein würden. Doch die Ministerin bestand auf Versuche, am besten so, dass keine anderen denkenden wesen beeinträchtigt wurden. So durfte Kyle Benson nach dem Versprechen, die Ausdrucke in erwünschter Anzahl vorzulegen, wieder an seinen Arbeitsplatz zurück.

"Falls Sie heute noch einen Termin bei Laura Morehead bekommen, Frau Ministerin, bitten Sie sie darum, dass ich ebenso dabei sein möchte", grummelte McBane. Doch die Ministerin lehnte es ab. "Laura ist da sehr eigen, was die Anzahl von nicht-heilmagisch gebildeten Diskussionsteilnehmern angeht. Außerdem möchte ich ihr nicht den Eindruck vermitteln, sie vor ein Tribunal geladen zu haben", sagte Mrs. Rockridge. Das musste McBane anerkennen.

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Abteilung für experimentelle Magie im australischen Zaubereiministerium, 19.09.2003, 09:09 Uhr Ortszeit

"Ich möchte noch einmal betonen, dass ich berechtigte Bedenken gegen dieses Experiment habe, sagte Großheilerin Laura Morehead zu den Ministeriumszauberern MCBane von der Strafverfolgung und Firefloor von der Abteilung für experimentelle Magie. Die beiden Ministeriumsbeamten hatten die Heilzunftsprecherin eingeladen, um mit ihr zusammen zu erleben, was passierte, wenn die gefangenen Schlangenfrauen und sieben Schlangenmänner verschiedenen berührungslos wirksamen Einflüssen unterzogen wurden. Gift, offenes Feuer, Eiseskälte und auch völliger Luftentzug konnten ihnen nichts anhaben, solange sie mit dem Erdboden in Berührung waren. Nur vier starke Magnete, die aus allen vier Haupthimmelsrichtungen auf sie gerichtet waren, hielten sie unbeweglich. Heute wollten sie wissen, wie weit die Eigenschaft, mit Magnetkräften in Wechselwirkung zu stehen, genutzt werden konnte, um die Schlangenmenschen nicht nur zu fesseln oder von einem Ort fernzuhalten, sondern auch, ob ausreichend hohe Kräfte sie töten konnten. Immerhin wussten die Ministeriumszauberer auch, dass das Tragen von Gedankensprechunterbindungsarmbändern sie geistig fesselte, als könnten sie nur im ständigen Gedankenaustausch mit ihren Erzeugern handeln.

"Wir wissen nicht, wie viele es von diesen Wesen schon wieder gibt, Laura. Die Ministerin sagt, wir haben nur einen winzigen Würfel Eis aus einem Eisberg erwischt, was wohl heißt, dass wir mit wesentlich mehr dieser Wesen rechnen müssen. Sie forschen an den zehn Ihrer Zunft überlassenen Individuen nach einer Heilung, wir müssen eine großflächige und durchschlagende Abwehr entwickeln. Auch wenn Ihnen dies sehr missfällt", sagte McBane.

"Sie und Ihre stillschweigenden Befürworter von der australischen Sektion der Liga gegen dunkle Künste wollen diese Wesen auslöschen. Sie sehen dies als Teil Ihres beeideten Auftrages, Schaden von Ihren Mitbürgern fernzuhalten, Lawrence. Aber ich habe immer wieder betont, dass diese Wesen nicht unheilbar verloren sind. Wie Sie und Ihre Kollegin Flatfoot wissen untersuchen wir bereits die Wechselwirkung zwischen deren Blut und dem Blut von halb- oder Reinriesen und hoffen, die In-Vitro-Untersuchungen als Ausgangsbasis für erfolgreiche Heilbehandlungen nutzen zu können. Dass Sie mich jetzt hergebeten haben, um mir vorzuführen, ob und wie sie die Ihnen anvertrauten Schlangenmenschen trotz ihrer Verwandlung töten können missfällt mir in der Tat. Ich bin auch nur deshalb hier, um dabei zu lernen, was wir bei der Suche nach Heilung auf keinen Fall tun dürfen", sagte Laura Morehead.

"Was so viel heißt wie, Ich mach mir nicht die Hände schmutzig, aber will schon wissen, wie diese Pest zu beseitigen ist", sagte McBane. Firefloor, ein blassgesichtiger, leicht untersetzter Zauberer Mitte fünfzig, blickte die Heilzunftsprecherin und McBane fragend an. So richtig wohl war ihm bei der Sache auch nicht. Dann sagte er: "Wenn wir die Wahl haben, hundert von denen zu töten oder hunderttausend von ihnen im Land herumlaufen zu lassen kann ich sicher besser schlafen, wenn ich weiß, dass wir was gegen die machen können, außer die einfangen und auf Schiffen auslagern. Irgendwann haben wir keine eigenen Schiffe mehr. Und wir haben schon hundert von denen festgesetzt, Mrs. Morehead. Einschrumpfen lassen die sich auch im geschwächten Zustand nicht, weil deren PTR ähnlich hoch wie bei Kobolden, Riesen und Zwergen liegt. Das heißt, dass wir irgendwann keinen sicheren Aufbewahrungsplatz mehr vorhalten können. Also machen wir das jetzt, um zu wissen, ob wir die Flut stoppen können, bevor sie uns alle wegspült."

"Ich habe meine Einwände formuliert und habe keine Vollmacht, Sie von Ihrer Arbeit abzuhalten, sofern ich keine brauchbare Lösung anbieten kann", seufzte Laura Morehead resignierend. Dann deutete sie auf das die ganze Raumbreite ausfüllende Fenster, hinter dem zwei zwischen vier Dauermagneten feststeckende Schlangenkrieger standen.

"Gut, fangen wir an", sagte McBane. Firefloor nickte seinen Mitarbeitern zu, die hinter verschiedenen Vorrichtungen saßen. "Nachdem wir Luftentzug, Giftgas, Säureladungen und Kühlmittel erfolglos getestet haben werden wir jetzt die Wirkung beweglicher und in der Stärke und Ausrichtung veränderlicher Magnetquellen einsetzen", sprach Firefloor in Richtung einer mitschreibenden Flotte-Schreibe-Feder und diktierte gleich Ort und Uhrzeit mit. Dann begannen die Versuche.

Bei von unten wirkenden Magneten wurden die Versuchswesen mal mehr und mal weniger schnell in die Höhe gehoben, wobei sie sich zurückverwandelten. Da sie in ihrer Menschenform ohne Erdkontakt von allen körperschwächenden Zaubern einschließlich Avada Kedavra zu treffen waren galt es nun, einen Weg zu finden, sie ohne sie anzuheben bekämpfen zu können, bestenfalls großflächig, wie es Vita Magica mit ihren Vorrichtungen zur Verfremdung der Vollmondstrahlen erreicht hatte.

Bei um die Gefangenen herumschwebenden Magneten gerieten diese in eine gegenläufige Drehbewegung, drängten aber auch die sie anzielenden Magneten ab. Dann wurden durch magische Runen beliebig ein- und aussetzbare Magneten mit veränderlicher Kraft in immer schnellere Schwingungen versetzt. Dabei schwankten die Gefangenen immer mehr hin und her, bis die Kraftwechsel mehr als zwanzigmal in der Sekunde erfolgten. Doch die Schwingungszahl konnte weiter gesteigert werden. bei fünfzigfacher Geschwindigkeit sprühten blaue und rote Funken um die Gefangenen herum, die sich mit zunehmender Schwingungszahl verdichteten und immer heller wurden. "Raumtemperatur steigt leicht an", vermeldete einer der Experimentatoren kühl und unbekümmert, dass er hier mit lebenden Wesen arbeitete. Dann stieg die Anzahl der Kraftwechsel weiter. Um die Gefangenen glühte nun eine sich immer mehr ausdehnende blau-weiße Aura, und durch die Glaswand war ein leises Prasseln und Knattern zu hören. Blitze schlugen nun zwischen den Gefangenen und den sie bedrängenden magneten hin und her. Doch noch standen die Gefangenen da, und die Lebensquellenanzeigevorrichtung glomm ebenfalls noch im satten Grün. "Die Antimelobänder geraten in Brand", stellte einer der Experimentatoren fest. Jetzt konnten die Gefangenen wohl wieder erwachen und ihre Artgenossen rufen. Tatsächlich bewegten sie ihre Augen, während sie weiterhin von grellen Blitzen umtost wurden.

"Wir erreichen die Höchstgeschwindigkeit der Kraftwechsel", sagte Firefloor. In dem Moment entstand im Raum der Schlangenmenschen eine einzige weißblaue Wand hinter der Glasscheibe. Alle kniffen geblendet die Augen zu. Es schrillte laut und eindringlich. Dann krachte es jenseits der Glaswand, und die Vorrichtungen implodierten in wilden Funkenschauern.

Die zwei Experimentatoren schrien vor Schmerzen auf. Ihre umhänge brannten, und es knisterte höchst bedrohlich in der unzerbrechlich gezauberten Glaswand. Da alle gerade mit dem grellen Lichtschock zu ringen hatten konnte niemand sehen, dass die Glaswand gelbglühend war. Ein weiterer schriller Alarmton und eine magische Frauenstimme stachen in die Ohren der Beobachter: "Warnung, Hitzewert zu hoch. Schutzglas vor Zerbersten! Warnung! Hitzebelastung der Schutzwand!"

"Notflucht!" rief Laura Morehead über das Schrillen und die Warnung. Blaue Lichtspiralen umschlossen die Beobachter und die brennenden Versuchsleiter und verschwanden mit diesen. Zehn Sekunden später zersprang die Glasscheibe zu einer Wolke aus gelbglühenden Trümmern, die jeden Winkel des Beobachtungsraumes durchsiebten. Die gefangenen Schlangenmenschen indes bewegten sich ungeachtet der sie umtosenden Gewalten, erkannten, dass sie körperlich und geistig frei waren und verschwanden in der rotglühenden, aber noch nicht völlig aufgeweichten Erde.

In der Heilersektion des Ministeriums landeten die zu Portschlüsseln gemachten Stühle mit den Beobachtern und Versuchsleitern. Laura Morehead rief sogleich ihre hier bereitstehenden Kollegen und wies sie an, Augen- und Hautschäden zu ermitteln und zu behandeln. Eine Stunde später konnten alle die Heilerabteilung wieder verlassen. Sie hatten sich keine bleibenden Augenschäden eingehandelt, und die Drachentrostsalbe, die von Laura Morehead vor fünfzig Jahren erfunden worden war, behob alle schweren Verbrennungen. Den rest kurierte ein Schluck Blutauffrischungs- und Organheilungstrank.

"Laut den Aufzeichnungen sind die Schlangenkreaturen unverzüglich geflohen, als die Überlastung der Magnete sie befreit hat. Die kommen zwar nicht mehr in andere Abteilungen hinein, weil dort Abwehrmagnete in Stellung sind, können aber wohl das Ministerium verlassen und neue Artgenossen erzeugen", meinte McBane über diesen Fehlschlag.

"Nun, jetzt wissen wir, dass sie eine sehr schnell ansprechende Gegenwehr gegen wechselhafte Magnetfelder besitzen und dass diese sich bei zu hoher Schwingungszahl in ungebändigte Elektrizität verwandelt, die wiederum wie eine Reihe am selben Ort einschlagender Gewitterblitze wirkt", stellte Laura Morehead fest.

"So geht es also nicht", grummelte McBane. "Außerdem waren die veränderlichen Magneten an der obersten Grenze der Kraftwechsel pro Sekunde. Schneller geht es damit nicht."

"Ja, und selbst wenn es gelänge, sie noch schneller schwingen zu lassen hätten wir ein ähnliches Ergebnis hinnehmen müssen", sagte Laura Morehead.

Sie wollte gerade in ihr eigenes Büro zurückkehren, als sie von einer Botin aus dem Sana-Novodies-Krankenhaus aufgesucht wurde. Diese sagte: "Laura, Bethesda und die Kollegen für kurative Zauberkunst haben etwas sehr entscheidendes herausgefunden. Das isolierte Gift der Schlangenmenschen zersetzt sich, sobald es mit reinem Gold in fester Form in Kontakt gerät. Darauf aufbauend haben sie es mit verschiedenen goldhaltigen Lösungen zusammengemischt. Dabei hat sich das Gemisch bis auf Wassergefriertemperatur abgekühlt, und das Gift hat sich in seine Grundstoffe aufgelöst. Offenbar verträgt es kein Gold."

"Höchst aufschlussreich, Nireen", sagte Laura Morehead. "Ich komme gleich bei euch vorbei und werde mir die Aufzeichnungen ansehen. Auf jeden Fall hat die gute Bethesda gute Arbeit geleistet."

"Sie war es nicht alleine. Die Kollegin Aurora Dawn hat ihr wohl den Tipp gegeben, die Reaktion von Schlangenmenschengift auf Edelmetalle wie Silber und Gold zu prüfen. Aurora bezog sich auf die nichtmagische Frau, die vor einem Tag in einen Sturmangriff aus dem Boden schnellender Schlangenmenschen geriet und verschont wurde. Sie trug goldene Ketten und Armbänder am Körper."

"Achso, und Aurora meinte, dass dieser protzige Goldschmuck die Schlangenwesen davon abhielt, diese Frau zu beißen?" wollte Laura Morehead wissen.

"Wohl eher, dass sie sie womöglich nicht wahrgenommen haben, Laura. Jedenfalls sind sie um sie herumgelaufen und haben jeden anderen erwischt, bevor sie wieder in der Erde verschwunden sind. Nur weil die Unbefallene dann um Hilfe telefoniert hat kamen wir ja darauf, sie und die Opfer des Angriffes aufzusuchen."

"Wie erwähnt komme ich gleich zu euch rüber, Nireen", sagte Laura Morehead. Ihr Gesicht hellte sich regelrecht auf. Sollte es sein, dass sie doch ein nicht ganz so zerstörerisches Mittel gefunden hatten, die Schlangenmenschenplage einzudämmen?

"Wenn Sie nachher der Ministerin vorschlagen sollten, dass unsere Einsatztruppen in Rüstungen aus purem Gold herumfliegen, Laura, dürften ihnen mindestens vier Heuler von Bathurst und seinen Buchhaltern sicher sein", sagte McBane.

"Soweit sind wir noch lange nicht. Wir wissen nur, dass das Gift bei Kontakt mit Gold oder goldhaltiger Lösung zerfällt. Warum das so ist und was wir damit anfangen können werde ich hier und jetzt nicht andeuten", antwortete die Heilzunftsprecherin Australiens.

"Gut, jeder an seinem Platz", grummelte McBane. Firefloor nickte dem Kollegen zustimmend zu.

Ende des 2. Teils

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