TAGE DER ENTSCHEIDUNG (3 von 3)

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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P R O L O G

Während in der nichtmagischen Welt der von den USA ausgerufene weltweite Krieg gegen den Terrorismus in Afghanistan und dem Irak geführt wird streiten sich weiterhin verschiedene Interessengruppen um Einfluss in der magischen Welt. Die von der Gruppe Vita Magica durch eine Fortpflanzungsanregungsmixtur ausgelöste Massenzeugung treib die Bewohner Millemerveilles um, für die über siebenhundert im Frühling 2004 erwarteten Kinder vorzusorgen. Dabei sollen auch die ausgebildeten Pflegehelfer Julius und Mildrid Latierre assistieren, sowie die zur Zeit von Sardonias dunkler Kuppel in Millemerveilles untergekommene Heilerin Béatrice Latierre.

Durch die im April über die Welt gebrandete Woge dunkler Magie wird ein alter Silberkessel der Hexenmeisterin Morgause verstärkt. Um ihn kämpfen die wiedererwachte Teilveelastämmige Ladonna Montefiori und die Führerin der schwarzen Spinne Anthelia. Der Kessel wird dabei zerstört und der darin eingebettete Geist Morgauses als weiblicher Nachtschatten freigesetzt. Doch Morgauses ungewollte Freiheit endet schon bald, weil sie von der aus mehreren Seelen zusammengefügten Nachtschattenmatriarchin Birgute Hinrichter aufgespürt und vertilgt wird. Dadurch gewinnt Birgute noch mehr Kraft, als die dunkle Zauberkraftwoge ihr ohnehin schon zugeführt hat. Deshalb kann diese sich auch in ersten direkten Begegnungen gegen die von Gooriaimiria gelenkten und verstärkten Vampire behaupten.

Die transvitale Entität Ammayamiria erbittet in den Träumen der für sie erreichbaren, dass diese mit dem Wissen Madrashainorians und den vereinten Kräften der Kinder Ashtarias ein Ritual durchführen, um Millemerveilles mit einer neuen, diesmal aus reiner Lebensbejahungsmagie erzeugten Absicherung zu schützen. Hierzu lassen Camille und Julius einen Monat lang neue Bäume mit Ashtarias Segenszauber belegt heranwachsen. Während der Zeit nimmt Julius an mehreren Hochzeitsfeiern teil. Jene für den muggelstämmigen Pierre Marceau und die Viertelveela Gabrielle Delacour wird beinahe zum Supergau für die Zaubereigeheimhaltung. Denn das kleine Schloss bei Amien, wo die Hochzeit stattfindet, entpuppt sich als Spionagenest, von dem aus wohlhabende oder wichtige Gäste überwacht und ausgeforscht werden. Nur Millies mütterliche Sorge vor einem drohenden Waldbrand bringt Julius darauf, die Sicherheitszentrale zu besuchen und dabei die heimliche Überwachung aufzudecken und zu beenden.

Als die Latierres zusammen mit den in Millemerveilles anwesenden Kindern Ashtarias das Ritual der starken Mutter Erde mit Schutzbannen des Feuers, des Wassers und der vereinten Kraft von drei Heilssymbolen Ashtarias vollenden entsteht eine riesenhafte Erscheinungsform Ammayamirias, welche die Ritualausführenden in sich aufnimmt und mit der von allen aufgerufenen Kraft ein dichtes Netz aus Lebensmagie zwischen den vorbehandelten Bäumen spinnt, das ganz Millemerveilles überdeckt. Dabei bekommen die Beteiligten einen Ausdauervorwegschub von mehr als vier Tagen. Deshalb müssen sie mehrere Tage am Stück schlafen, um die vorweggenommene Kraft auszugleichen.

Spät nach Durchzug der Woge dunkler Magie, Ende August 2003, entsteigen vier im Felsenberg Uluru eingekerkerte Schlangenmenschen ihrem steinernen Gefängnis. Weil die Stimme ihres Meisters nicht zu hören ist erwachen sie zu eigenständigen Wesen mit nach langer Unterdrückung auflodernden Trieben. So kommt es zunächst zu einer wilden Paarungsorgie, wo jeder der Männlichen mit jeder der Weiblichen zusammenfindet. Die beiden weiblichen Skyllianri legen darauf sechzig kugelrunde Eier in einer kleinen Höhle ab. Da die Auffrischung mit dunkler Magie sie jedoch gegen Sonnenlicht empfindlich gemacht hat und sie obendrein nicht all zu weit voneinander entfernt sein dürfen, ohne sich zu verlieren, können sie ihrer eingeprägten Bestimmung erst folgen, als drei Frauen und drei Männer auf Erkundungsgang in die Höhlen der vier Wiedererwachten Skyllianri vordringen. Die sechs "Einberufenen" sollen das Erbe des Erhabenen Skyllian über das Land verbreiten. Doch wie ihre Einberufer erliegen sie ebenfalls zunächst einem unbändigen Fortpflanzungstrieb und produzieren dadurch 150 neue Eier. Was sich daraus entwickeln wird weiß keiner der alten und Neuen Skyllianri. Ihre Erzfeinde, die grauen Wolkenhüter, bekommen davon nichts mit, weil es in der Himmelsburg Ailanorars fast zu einem neuen Bruderkrieg kommt, den der König der Vogelmenschen nur durch einen alle betreffenden Schlafzauber verhindern kann. Erst wer das Lied des Herbeirufens spielt soll diesen Zauber beenden. In der Zeit finden die ausgeschickten neuen Schlangenmenschen ihre ersten Opfer. Skyllians späte Saat drängt in die Welt und droht sie zu einem Hort der Schlangenmenschen zu machen.

Die einfarbige Schlangenfrau Lissy Thornhill überfällt jenes Mädcheninternat, in dem sie als Oberschülerin gelebt hat und macht Lehrerinnen und Schülerinnen zu ihren Artgenossinnen. Ein männlicher Einberufener sucht kleine Siedlungen der Ureinwohner heim. Ein anderer dringt in einen Armeestützpunkt im Norden des Kontinentes vor und will dort alle Soldaten zu seinesgleichen machen. Allerdings ist das Zaubereiministerium durch die Begegnung der beinahe Zauberunfähigen Alice Widewater mit ihrer zur Schlangenfrau mutierten Freundin Lissy Thornhill in Alarmbereitschaft und kann viele der im Mädcheninternat Rosemarie-Hazelwood-Akademie am Ausschwärmen hindern. Die Ministeriumszauberer und die Heilerzunft finden heraus, dass Schlangenmenschen empfindlich auf Magnetfelder reagieren. Davon können sie gefesselt oder von der sie stärkenden Erde losgelöst und in ihre Menschenform zurückverwandelt werden. Dennoch droht die rasante Ausbreitung der Schlangenmenschen, die Menschen Australiens vollständig zu überrollen. Die Hexen und Zauberer Australiens sind im Wettlauf mit der Ausbreitung von Skyllians später Saat auch auf auswärtige Hilfe angewiesen. Doch von wem sollen und wollen sie sich helfen lassen?

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In einer Höhle im süden des Landes aus der Schöpfungszeit, zwei Tage vor der gleichen Länge von Tag und Nacht, nach Sonnenaufgang

Quinlahalla, der von allen Stammeszauberern und klugen Frauen anerkannte Sprecher der magisch begabten, hatte über mehrere Boten nach denen rufen lassen, die wie er die hohen Gaben aus der Schöpfungszeit im Blut hatten. Er blickte auf die immer zahlreicher herbeikommenden Männer und Frauen von gerade erst in ihre Aufgaben eingeweiht bis mehr als sechzig Sommer alt. Auch Morgennebel, eine der klugen Frauen der Anangu, war dabei. Sie war in Gestalt eines weißen Kakaduhs herbeigeflogen und hatte sich erst bei der Bodenberührung in ihre menschliche Form zurückverwandelt.

"So freue ich mich, auch wenn der Anlass kein fröhlicher ist, dass ihr meine Bitte um diese Versammlung erfüllt, sagte Quinlahalla und verbeugte sich vor den fast hundert Männern und Frauen aus allen Ecken des großen Landes mit dem heißen Herzen. Es kam selten vor, dass sie sich trafen. Das letzte Mal war es wegen der dem Uluru entsprungenen schwarzen Götterspinne gewesen. Nun bedrohte eine noch gefährlichere Plage ihre Siedlungen, Freunde und Verwandte. Zwanzig eigentlich gut verborgene kleine Siedlungen waren im Lauf der letzten Tage zu Brutstätten der aus viele Tausend Sommer langem Schlaf erwachten Schlangenmenschen geworden. Es war jedem hier klar, dass diese Wesen in ihrer Gier und Vermehrungswut unersättlich waren, so unersättlich wie die schwarze Spinne, aber eben sehr viele mehr und mit der Macht, immer mehr von sich zu erschaffen.

"Die Hellhäutigen Neueinwanderer, die in den großen, lauten, grauen und stinkenden Sidlungen wohnen und Dinge aus einer toten, den Ahnen missfallenden Magie nutzen, können mit ihren Eisenvögeln diese Brut einfangenund wegtragen, solange die Vollstrecker des Windkönigs aus dem Uluru nicht wiederkommen, um die Schlangenkrieger zu bekämpfen. Je länger wir warten müssen, um so schwerer wird es sein, die Plage zu besiegen, meine Brüder und Schwestern im Geiste der hohen Kräfte der Ahnen", sagte der von allen hier anerkannte Sprecher der magisch begabten Ureinwohner Australiens. "Ich möchte nicht länger warten. Denn meine Träume ängstigen mich mit Bildern von großen Siedlungen der Hellhäutigen, die alle zur Brut der Wiedererwachten wurden. Wir haben damals das Netz aufgespannt, um die schwarze Spinne zu finden, wo immer sie auf der Erde unserer Länder erschien. Dieses Netz können wir verändern, dass es die Eidechsenmenschen findet und verrät, wo sie sind. Die Hellhäutigen können dann ihre brummenden Eisenvögel hinschicken, um sie einzufangen und fortzutragen. Doch dafür brauche ich jeden und jede von euch. Seid ihr bereit, mir zu helfen?" Alle hier anwesenden Magierinnen und Magier waren dazu bereit. So stand es fest, dass das immer noch bestehende Netz, mit dem einst die schwarze Spinne gefunden werden konnte umgeformt werden sollte. Doch dazu mussten an jedem wichtigen Ort welche sein, die genau wussten, wie die Eidechsenmenschen aussahen. So wurde ein genauer Verteilungsplan besprochen, um in den kommenden Tagen das Aufspürnetz zu erschaffen, um zumindest zu wissen, wo die Eidechsenmenschen waren, wenn sie, die ersten Bewohner dieses weiten Landes mit dem heißen Herzen, sie nicht mit ihren Zaubern bekämpfen oder mit ihren Waffen töten konnten.

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In einer abgelegenen Region der französischen Alpen, 19.09.2003, 11:00 Uhr Ortszeit

Ihm war nicht ganz wohl bei der Sache, auf die ihn Aurora Dawn und ihre älteren Kolleginnen Laura Morehead und Bethesda Herbregis gebracht hatten. Nachdem er mit einem australischen Kollegen namens Kyle Benson über die Bewegungseinschränkungen von Schlangenmenschen korrespondiert hatte und sich seine Anregung, sich schnell bewegende Magnetfelder zu benutzen, als hilfreich erwiesen hatte, wollten die Heiler gänzlich ohne Absprache mit dem Ministerium, dass er Mademoiselle Maxime und ihre Tante Meglamora aufsuchte und, sofern er das behutsam genug vermitteln konnte, Proben ihres besonderen Blutes nahm, um diese klammheimlich nach Australien zu bringen.

Julius Latierre hatte die neue Wohngegend von Meglamora und ihren nun drei Kindern noch nicht persönlich besucht. Doch Mademoiselle Maxime, die immer noch deren Fürsprecherin und Betreuerin war, hatte ihm die Entfernung und Richtung von Paris aus so genau mitgegeben und dabei auch von ihr und Meglamora gebildete Sichtmarken beschrieben, dass er nach nur einem Appariersprung vor der großen Hütte ankam, in der Olympe Maxime wohnte.

Mademoiselle Maxime verließ ihre selbst errichtete Wohnstatt. Sie trug einen für ihre frühere Eleganz untypischen Arbeitsanzug bestehend aus einer blauen Drachenhauthose, einem weißblauen Hemd und darüber eine nachtschwarze Jacke aus zweilagiger Drachenhaut. Ihre Beine steckten von den Füßen bis zu den Kniegelenken in ebenso schwarzen, dreilagigen Drachenhautstiefeln mit matt glänzenden Metallverschlüssen wie die von Abfahrtsskiläufern. Julius dachte einen Moment, das noch ein breitkrempiger Cowboyhut fehlte, um die ehemalige Schulleiterin zur Hüterin einer sehr unberechenbaren Gruppe von superstarken Wesen zu machen. Doch das schulterlange schwarze Haar war nur mit einem handbreiten dunklen Lederband befestigt. Die früher so gerne getragenen Opalringe hatte Mademoiselle Maxime schon bei Übernahme der Betreuung ihrer Tante in einem fest verschließbaren Schmuckkasten verschwinden lassen.

"Ah, Monsieur Latierre. Ich grüße Sie und hoffe, dass sie sich wieder gut eingewöhnt haben", begrüßte Olympe Maxime den jungen Zauberer, der trotz seiner Größe von knapp 1,95 Metern wie ein Kleinkind gegenüber der drei Meter aufragenden Halbriesin wirkte.

"Ja, ich konnte den Rückstau gut bewältigen und mir wieder jene nötigenFreiräume schaffen, um alle an mich herangetragenen Aufgaben mit der nötigen Gründlichkeit und Konzentration zu erledigen", erwiderte Julius Latierre darauf. "Auch habe ich erfahren, dass Ihre beiden Cousinen jetzt unter den Namen Rhéa und Clymène ordentlich in allen Registern zaubererweltlicher Bürgerinnen und Bürger verzeichnet sind. Da ich ja von Monsieur Beaubois als Verbindungszauberer zu Ihnen und Ihren Verwandten aus dem Osten erklärt wurde bekam ich nicht nur Ihre diesbezügliche Mitteilung, sondern auch die von Madame Faucon aus Beauxbatons und aus der Familienstandsabteilung des Zaubereiministeriums. Jetzt ergibt sich für mich die Gelegenheit, die beiden jungen Mädchen selbst anzusehen", erwiderte Julius.

"Meine Frau Tante freut sich bereits darauf", erwiderte Mademoiselle Maxime mit einem schwer unterdrückten Unbehagen. Vielleicht dachte Julius es auch nur, weil ihm eben selbst nicht wohl bei der Sache war.

Zusammen mit der früheren Schulleiterin von Beauxbatons suchte er das aus tonnenschweren Natursteinen zusammengebaute Haus der reinrassigen Riesin Meglamora auf. Dabei konnte Julius gerade so noch einem Angriff Ragnars entgehen, der es wohl spaßig fand, seine Jagdfähigkeiten an einem kleineren Menschenwesen auszuprobieren. Doch Mademoiselle Maxime und Julius konnten den Riesenjungen, der vor fünf Jahren in Frankreich geboren worden war, mit zwei lauten Knall- und drei grellen Lichtzaubern zurücktreiben. Wütend Heulend rannte Ragnar davon, um seinen Unmut an etwas auszulassen, dass nicht laut krachte und blitzte. "Er will es jetzt wissen, wie stark er im Vergleich zu mir ist. Da kommen Sie gerade recht, weil sie noch kleiner sind und damit schon auf seiner Augenhöhe sind", bemerkte Olympe Maxime zum Abgeschlagenen Angriff ihres Vetters. Dann deutete sie auf den von vollständigen Rindsledervorhängen verhüllten Zugang zum Riesenhaus. Der Vorhang teilte sich in der Mitte. Die zwei Hälften wurden ungestüm zur Seite gezogen. Dann trat sie aus dem Haus, Meglamora, Olympes vollständig riesenstämmige Tante aus dem Uralgebirge.

Julius hatte sie schon oft genug gesehen und ihre leichte Beben verursachenden Schritte gehört. Die behaarten Beine mit der hornartigen gelben Haut, ebenso die Arme und der eher tonnenartige Körper der Riesin mochten zunächst abstoßend auf Menschen wirken. Doch Julius erkannte, dass die Riesin offenbar Wert auf gute Fuß- und Handpflege und eine ordentliche Frisur legte. Warum sie allerdings in einer Art Bikini aus roter Drachenhaut steckte, wo es in dieser Gegend nachts schon sehr kalt werden konnte, konnte er nicht ergründen.

"Ah, Julius, der, der mir die beiden Guiguis hat in den Bauch legen lassen. Willst du sie jetzt sehen", dröhnte Meglamoras Stimme wie das Reviergebrüll eines Löwens. Julius sah an der bald zehn Meter hohen Erscheinung hinauf, um ihr in die Augen zu sehen. Dann rief er zurück, dass er es sehr beruhigend fand, dass sie sich so gut erholt hatte. "Das war richtig schön, sie groß werden zu fühlen und hat nicht so weh getan, sie aus mir rauszudrücken wie bei Raggnar. Sind zwar irgendwie klein und schwächlich, aber wenn Ramantes Tochter gut kämpfen und jagen lernen konnte können die das auch", dröhnte Meglamoras Stimme von oben herab, während sie noch näher an Julius herantrat. Dann winkte sie mit ihrer rechten, mit gleichmäßigen Fingernägeln besetzten Hand und deutete auf das innere des Hauses. Julius ging an der Seite Mademoiselle maximes hinein. Die Halbriesin nahm eine gertenlange Fackel und zündete sie mit einem Streichholz an. So hatten sie in der einer natürlichen Höhle nachempfundenen Heimstatt genug Licht. Julius sah die aus starken Ästen und Lederstücken gemachten Vorrichtungen, die zugleich Wiegen und Tragehilfen waren. In jeder der beiden Vorrichtungen lag eines der beiden hneuen Halbriesenmädchen, bereits größer als ein siebenjähriges Kind, aber immer noch mit einem im Verhältnis zum restlichen Körper größeren Kopf. Julius dachte daran, dass seine Idee diese beiden Mädchen ermöglicht hatte und dass Meglamora es erfahren hatte, dass sie ihr einen künstlichen Befruchter geschickt hatten, weil kein natürlicher Mann sich mit ihr einlassen wollte. Er wusste auch, dass Meglamora deshalb darauf beharrte, dass ihr nächstes Kind von ihm sein sollte. Wie bei den ganzen Frauen, die schon von ihm Kinder hatten haben wollen sollte er sich eigentlich vorkommen wie ein Rockstar oder ein Supersportler, dachte Julius. Doch die Vorstellung, mit dieser Riesenfrau noch ein Kind haben zu sollen gruselte ihn eher als die Vorstellung von zwanzig anderen Frauen, die vor seinem Schlafzimmer schlangestanden und darauf lauerten, dass er eine von ihnen erhörte. Gut, dass Millie immer so gut auf ihn aufpasste.

"Die sind zusammen in meinem Bauch dringewesen. Aber die sind nicht vom gleichen Kleinling gemacht worden", sagte Meglamora unerwartet ruhig, dass ihre raumfüllende Stimme nur kurz von den Wänden widerhallte und nicht in den Ohren schmerzte. "Wenn die da hingehen, wo Ramantes Guigui das Zaubern gelernt hat werden die Kleinlingskinder alle daherreden, dass die keine Schwestern sein können."

"Das stand bei uns in den Blättern, die erzählen, was in der Welt geschieht", sagte Julius darauf scheinbar völlig unbekümmert. Immerhin hätte die von Louvois angestiftete Enthüllung der Aktion Freudenspender fast Ornelles und seine Laufbahn beendet. Doch nun war es wohl gut, dass die meisten wussten, dass Meglamoras Kinder von verschiedenen Vätern stammten, die ihre Identität nicht preisgeben mussten, so die Absprache. Allerdings würden die Haare und Augen der Mädchen Rückschlüsse auf deren Erzeuger geben, dachte er.

"Es ist ganz wichtig, dass sie gut sprechen lernen und rausfinden, wie sie was ohne zu kämpfen bekommen können, durch Bitten und Beraten, wer wem was gibt und von wem was kriegt", sagte Julius. Mademoiselle Maxime nickte sehr entschlossen. Immerhin hatte sie ihrer Tante das wohl auch schon erzählt.

"Ja, damit ihr Kleinlinge keine Angst vor meinen Guiguis kriegt", sagte Meglamora mit die Bauchdecke massierendem Bass. "Aber eins sage ich schon hierund jetzt: Die zwei lernen auch alles, was die können, die nur von uns großen sind, also auch Jagen, Steine und Bäume behauen und zersägen und Kämpfen, damit sie nicht als schwache Halbkleinlinge umgebracht werden, wenn sie mal wen von den anderen ganz großen treffen. Sonst gebe ich die nicht weg, klar?!"

"Das darf ich nicht entscheiden, Meglamora. Ich werde das aber allen Sagen, die das entscheiden dürfen, damit die das wissen", erwiderte Julius. Dann sollte er auf Meglamoras Wink hin eines der Mädchen aus der Wiege heben, um zu fühlen, wie schwer es war. Olympe Maxime nickte ihm aufmunternd zu. So nahm er die rothaarige Rhéa aus ihrer Wiege und fühlte, dass sie schon schwerer als Aurore und Chrysope zusammen war. Er wiegte sie einige Sekunden in seinen Armen und hörte ihr zufriedenes Glucksen. Doch dann musste er schnell den Kopf wegziehen, weil sie mit ihrer rechten rosigen Faust nach ihm schlug. Der Schlag ging daneben. Julius konnte den Arm mit seiner Hand umfassenund spürte, dass darin schon eine beachtliche Kraft steckte. "Oh, die ist aber schon stark, Meglamora. Du gibst ihr wohl immer gut zu trinken oder?"

"Ja, das mach ich. Deshalb ist Rhéa schon so stark. Muss sie auch, wo ihr Bruder ja von zwei großen ist und irgendwann Angst kriegt, dass sie ihm alles wegessen will", sagte Meglamora mit unüberhörbarem mütterlichen Stolz. Julius dachte an die Berichte, dass Riesinnen nie so recht behütsame Mütter waren und ihre Kinder nur während Schwangerschaft und Stillzeit umsorgten. Waren sie entwöhnt, bekamen sie gerade genug zu essen, um schnell zu wachsen, bis sie selbst jagen konnten. Meistens durften sie dann aber nicht näher als drei Schritte an ihre Mutter herankommen.

"Die andere ist auch so stark?" fragte Julius, als er Rhéa in ihr einfaches Schlafmöbel zurückgebettet hatte. "Ja, ist die auch. Aber vor allem kann die gut im Wasser schwimmen. Deshalb hat Olympe mir gesagt, dass die auch Clymène heißen soll, wie eine ganz große, die im Meer gewohnt hat und von der in Frankreich wohl auch eine Nachfolgerreihe ist, die es heute noch gibt", sagte Meglamora und kam Julius fast unangenehm nahe. Er hatte einen Moment die Befürchtung, dass er gleich zwischen ihren wie junge Bäume beschaffenen Beinen stehen würde. Ihre Ausdünstungen hielt er bereits durch kleine Filterstopfen in den Nasenlöchern von sich fern, wie sie bei Drachenhütern und anderen Großtierpflegerinnen und -pflegern gebräuchlich waren.

"Du siehst also, ich kann von euch kleinlingen auch gute Guiguis kriegen. Aber das nächste will ich von einem, der echt ist und nicht so gemacht ist, dass er so aussieht oder riecht wie echt. Sag das denen, die dir sagen, was du machen darfst und was nicht", brummte Meglamora wie eine Bärin, die einen Nahrungskonkurrenten warnen will. Julius hatte mit einer ähnlichen Ankündigung gerechnet und beließ es nur bei einem leichten Nicken. Vielleicht ergab sich ja doch die Möglichkeit, den Fruchtbarkeitskreislauf der Riesin abzuschwächen, dass sie nach den nun drei Kindern keine große Lust auf weitere Kinder mehr hatte. Zumindest arbeiteten die Zauberwesenexperten und Alchemisttten des Zaubereiministeriums daran, wusste er. Denn eine Überbevölkerung von Riesenstämmigen wollte das Zaubereiministerium den Bürgerinnen und Bürgern nicht zumuten.

"Ich werde also allen Sagen, die es wissen sollen, wie es euch geht, dass du die beiden neuen Mädchen sehr gut satt hältst und dass sie bei dir gut wachsen. Dann lassen sie dich auch mit ihnen in Ruhe", sagte Julius noch. Meglamora schien davon nicht wirklich beeindruckt zu sein. Sie erwiderte, dass sie ihre Guiguis nicht eher weggeben würde, bis die groß und stark genug waren, für sich selbst zu jagen und zu kämpfen, so wie Ragnar. Aber jetzt, wo sie es wusste, wie schön es sich für sie angefühlt hatte, "Kleinlingskinder" zu bekommen, würde sie sicher noch mehrere von denen haben und dass die da, wo Julius für seine Nahrung kämpfte - ein besseres Wort für Arbeit wollte die Riesin nicht kennen - schon mal auskämpfen sollten, wer ihr das nächste Guigui in den Bauch legte. Aber schön wäre es für sie sicher, wenn er, Julius, weil er mit dem Blut von Ramantes Tochter gestärkt wurde, sicher auch ein starkes Kind mit Ramantes überlebender Schwester hinbekäme, nach dem der, mit dem diese gelebt hatte, ja von Kleinlingen totgezaubert worden war.

"Du hast mehr als ein Jahr auf deine beiden Töchter warten müssen, Meglamora. Du wirst sie mindestens fünf oder sechs Jahre umsorgen. Deshalb ist das jetzt zu früh, von den nächsten Kindern zu sprechen", sagte Mademoiselle Maxime mit der für sie typischen Betonung einer altgedienten Lehrerin. Meglamora grummelte nur, sagte aber nichts dazu. "Aber was du und die beiden brauchen muss ich mit ihm hier noch bereden, damit dann, wenn die kalte Jahreszeit kommt, keiner von euch frieren muss", sagte sie noch. Meglamora grummelte wieder und nickte. Dann ließ sie es zu, dass ihre Nichte den Besucher um die Schultern fasste und mit ihm das Riesenhaus verließ. Kaum draußen vor der Tür verstärkte sie die halbe Umarmung, drehte sich mit Julius auf der Stelle und disapparierte. Julius hatte keine Zeit, sich darauf einzustimmen. Doch offenbar reichte Olympe Maximes Wille aus, ihn in einem Stück mit sich an einen anderen Ort zu versetzen, in dem Fall vor ein von hohen Fichten umstelltes Haus mit einer mehr als zwei Meter hohen Eingangstür.

"Sie werden diesen abrupten Ortswechsel sicher billigen, wenn Sie erfahren, was ich Ihnen zu sagen habe", setzte Mademoiselle Maxime an, während sie mit drei Zauberstabstupsern die Tür aufspringen ließ. Julius schwieg.

Im für die Größenverhältnisse der ehemaligen Schulleiterin abgestimmten Wohnzimmer erklärte sie ihm: "Meine Tante Meglamora ist wesentlich intelligenter, als es einem Exemplar ihrer Art bisher zugestanden wurde. Das ist auch eine sehr wichtige Erkenntnis der längeren Betreuung von ihr. Sie weiß, dass die meisten normalgroßen Menschen, die sie Kleinlinge nennt, Angst vor ihren Kindern bekommen würden, wenn es davon sehr viele gibt. Daher ist sie bereit, dass ihre beiden Töchter alle wichtigen Dinge lernen, die sie in unserer Welt akzeptabel machen. Als sie erfuhr, dass sie von einem künstlichen Besamer befruchtet wurde war sie erst wütend, dass ihr jemand schwächliche, nicht lange lebende Kinder in den Leib praktiziert haben könnte. Doch dann erkannte sie, dass kein sein Leben liebender Menschenmann freiwillig mit ihr zusammenkommen würde, um Nachwuchs zu zeugen. Deshalb und weil sie durch die Schwangerschaft eine starke Bindung zu den empfangenen Kindern geknüpft hat, erkennt sie sie an. Doch wenn sie wieder ein Kind haben will, dann wird sie darauf bestehen, dass es von einem natürlich entstandenen Mann gezeugt wird. Damit dieses Kind oder diese Kinder möglichst gut in beiden Lebenswelten zurechtkommen können geht sie auf einen Erzeuger aus, der die nötigen Erbanlagen weitergeben kann." Sie machte eine kurze Pause. Julius ahnte schon, was sie noch sagen würde, blieb jedoch ruhig. "Tja, und sie weiß, dass Sie, Monsieur Latierre, nicht nur sehr klug und begabt sind, sondern auch, dass Sie durch mein Blut stärker wurden als viele anderen Zauberer und Hexen, von Ihren Schwiegerverwanten aus Barbara Latierres Abstammung abgesehen. Ich will mich nicht in romantisches Gefasel verlieren, dass sich Meglamora in Sie verliebt hat und davon träumt, als baumhohe Braut im strahlendweißen Kleid neben Ihnen zur Trauung zu gehen. Ich erinnere Sie jedoch daran, dass Meglamora bereits angedeutet hat, das nächste Kind von Ihnen empfangen zu wollen. Dass sie sich heute noch zurückhielt liegt an ihren Mutterinstinkten und dass sie eben so intelligent ist, dass sie weiß, dass Sie Ihnen keineAngst machen darf, wenn sie nicht andauernd vor ihr disapparieren wollen. Deshalb verfolgt sie nun den beruhigenden Weg, sich Ihnen gegenüber als annehmbare, ja anerkennenswerte Geschlechtspartnerin zu präsentieren. Mich hat sie sogar schon gefragt, ob ich ihr beibringen kann, wie sie mit einem kleineren Mann zusammensein kann, ohne ihn dabei umzubringen. Auch wenn mir dieses Anliegen einen ziemlich schmerzhaften Stich in eine schwer verheilte Wunde darstellt muss ich ihr Ansinnen zumindest ernstnehmen. Deshalb erwähnte ich vorhin auch, dass sie ja noch fünf bis sechs Jahre Zeit habe. Aber nach Ragnars Geburt hat es nicht halb so lange gedauert, bis sie es nicht mehr unterdrücken konnte. Sie haben mir damals, wo Sie unter dem Einfluss meines Blutes in sehr aufwühlelnde Gefühlswallungen gerieten beschrieben, wie sich die fiktiven Humanoiden vom Planeten Vulkan gebärden, wenn sie alle sieben Jahre der Drang nach Fortpflanzung überkommt und ihre ansonsten geheiligte Logik unterdrückt. Meglamora dürfte ähnlich gestimmt sein. Solange sie es unterdrücken kann wird sie es tun. Aber wenn sie es nicht mehr beherrschen kann wird sie ihren Fortpflanzungstrieb um so stärker ausleben. Ich weiß, das ängstigt Sie und besorgt sicher alle, die mit Ihnen um das Wohlergehen meiner Tante bemüht sind. Doch ich durfte Ihnen diese Einschätzung nicht vorenthalten."

"Und wenn ich ihr sage, dass nur die Frau, die mit mir zusammengesprochen wurde meine Kinder bekommen darf, weil unsere Gesetze das vorschreiben", sagte Julius. "Oh, hüten Sie sich um dess Lebens Ihrer Frau und Ihrer Kinder Willen davor, dies nur anzudeuten, Monsieur Latierre. Meglamora hat mir mehrmals berichtet, dass andere Riesinnen um den Auserwählten gekämpft haben, auch wenn der mit einer der beiden schon mehrere Kinder hatte. Sie nannte dies Das Recht der Kämpferin. Wer siegt, der kriegt, so hat sie es genannt. Will heißen, dass sie Ihre Frau Mildrid als unbedingt zu beseitigende Feindin betrachten wird, sollte sie weiterhin darauf bestehen, von Ihnen ein Kind zu bekommen. Ja, sie könnte Mildrid zum Zweikampf fordern und töten und würde dann danach handeln, dass ihr Gesetz ihr erlaubt, sie als Preis für den Sieg zu bekommen. Ich habe das mal nachrecherchiert, Monsieur Latierre. Es hat vor den letzten Riesenkriegen tatsächlich glaubhafte Zeugenberichte gegeben, dass Riesinnen um das Empfängnisrecht von einem Auserwählten auf Leben und Tod gekämpft haben, ähnlich wie in dem deutschsprachigen Märchen vom tapferen Schneiderlein. Diese Wesen leben nach dem einfachen Gesetz: Der oder die Stärkere hat immer recht."

"Abgesehen davon, dass sich Millie mit ihrem Zauberstab ganz gut wehren kann und wir von Ms. Drake mitbekommen haben, wie ein ausgewachsener Riese von einer Hexe besiegt werden kann will ich die zwei auch gar nicht zusammenkommen lassen, dass sie sich um mich streiten können", sagte Julius. Doch dabei dachte er schon, dass seine wahre Mission schon gescheitert war. Denn wenn Meglamora wirklich so intelligent war, nicht jedem ihrer Triebe einfach so nachzugeben, dann würde sie seine Anfrage sicher nutzen, um Bedingungen zu stellen, an die er sich zu halten hätte. Dennoch musste er hier und jetzt erwähnen, was ihn eigentlich zu Meglamora geführt hatte.

Julius berichtete Mademoiselle Maxime, was Aurora Dawn und seine Vorgesetzten im Ministerium erwähnt und geschildert hatten. "Ja, und die Heiler wären sehr einfältig, wenn sie nicht bedächten, wie wir beide das tückische Gift aus Ihrem Körper ausgetrieben haben", seufzte diese verstehend. "Sie hatten beziehungsweise haben also auch den geheimen Auftrag der Heilzunft, ausreichend große Proben von Meglamoras oder meinem Blut zu erhalten, auf das dessen Wirkung auf vergiftete Menschen geprüft werden kann. Doch nach dem, was ich Ihnen soeben enthüllt habe sollten Sie auch nicht im Ansatz daran denken, meine Tante um Blut zu bitten. Sie könnte es entweder als Angriff auf sie auslegen oder, was schlimmer wäre, von Ihnen verlangen, ihr eine Gegenleistung dafür zu entrichten. Worin die sich erschöpfen könnte haben wir ja gerade erörtert. Aber ich erkenne durchaus die Notwendigkeit, gegen die neu ausgebrochene Schlangenmenschenplage anzukämpfen. Daher werde ich Ihnen von meinem Blut genug zur Verfügung stellen, dass ich nicht dadurch geschwächt werde, aber ausreichend viel vorhanden ist, um die nötigen Untersuchungen zu machen. Gleichermaßen sollten Sie jedoch von Großheilerin Eauvive erbitten, dass Madame Rossignol die während der Entgiftungszeit angefertigten Protokolle an ihre australischen Kollegen herausgibt. Hierfür ist jedoch auch Ihr schriftlich bekundetes Einverständnis nötig, dass die Sie betreffenden Passagen der australischen Heilzunft bekannt werden. Ich gehe zwar davon aus, dass Sie mit dieser Unannehmlichkeit gerechnet haben, muss es aber der Ordnung halber offen aussprechen. Wenn Sie also den australischen Heilern helfen möchten, die Möglichkeiten einer Entgiftung und vollständigen Heilung zu erforschen, werden Sie sich wohl in gewisserweise ausliefern."

Julius überlegte, was er darauf sagen wollte. Dann nickte er und bestätigte, dass ihm wichtiger war, dass die Schlangenmenschen aufgehalten wurden und ihre Opfer eine Chance auf Heilung bekommen sollten. Als Mademoiselle Maxime dies hörte sagte sie, dass sie in zwei Stunden bei Madame Eauvive in der Delourdesklinik sein würde, um dort mindestens einen Liter ihres Blutes zu spenden. Er müsse dann jedoch die erwähnte schriftliche Freigabeerlaubnis beibringen und auch von Madame Rossignol eine entsprechende Mitteilung beschaffen, dass sie die ihn betreffenden Protokolle freigab. "Da diese Angelegenheit garantiert auf einer der drei höchsten Geheimhaltungsstufen eingeordnet wird dürfen Sie dafür nicht den offiziellen Zugang nach Beauxbatons oder Kontaktfeuer nutzen. Sie verstehen?" Julius verstand sehr wohl. Denn alles, was er in Beauxbatons zum Wohle der unbescholtenen Zaubererweltbürger angestellt hatte war der Halbriesin bekannt.

"Gut, ich appariere nun wieder zu Meglamora, damit sie nicht denkt, ich hätte die Gunst der Stunde genutzt, von Ihnen zu empfangen", sagte Mademoiselle Maxime, und Julius dachte erst, sich verhört zu haben. Doch sie legte gleich nach: "Es könnte das ohnehin sehr anstrengende und sehr empfindliche Verhältnis zwischen ihr und mir nachhaltig schädigen."

Julius verabschiedete sich von seiner "Blutsschwester" Olympe Maxime und ließ sich von ihr weit genug vor das Haus bringen, dass er ungefährdet disapparieren konnte.

Zwei stunden später traf er mit den erforderlichen Dokumenten über Vivianes Vollporträt im Büro von Großheilerin Eauvive ein. Das Intrakulum funktionierte immer noch so, wie er es damals zum ersten Mal benutzt hatte, um Slytherins grauenvolle Gemäldesammlung zu bekämpfen. Nur fünf Minuten später bekam er von der Heilerin eine kleine, silberne Flasche, ähnlich der, welche Albericus Latierre besaß, nur das darin nun anderthalb Liter von Mademoiselle Maximes Blut eingefüllt waren und durch einen Gerinnungshemmzauber flüssig gehalten wurden. Der durfte aber nicht zu lange wirken, weil sonst alle anderen magischen Eigenschaften der Blutprobe verfremdet werden mochten, so die Leiterin der Klinik und Sprecherin der französischen Heilzunft. Julius verbarg die silberne Flasche unter seiner Kleidung, steckte auch die von Antoinette Eauvive kopierten Protokolle Madame Rossignols und die von ihm selbst verfasste Einverständniserklärung zur Freigabe seiner Patientenakte unter seinem lindgrünen Umhang und wandte sich wieder Viviane Eauvives Vollporträt zu.

"Per Intraculum Transcedo!" rief er, während er die flache Metallscheibe mit der sein eigenes Abbild zeigenden Seite gegen Vivianes Bild drückte. Eine die Farben wechselnde Lichtspirale umfing ihn und ließ ihn vorübergehend aus der Welt verschwinden. Antoinette Eauvive sah noch, wie ein scheinbar gemalter Julius Latierre Vivianes Hand ergriff und sich von ihr durch den linken Bilderrahmen aus dem Bild ziehen ließ und vollständig verschwand.

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Wohnhaus und Praxis der australischen Heilmagierin Aurora Dawn bei Sydney, 20.09.2003, 01:20 Uhr Ortszeit

"Ist ja nicht die erste klammheimliche Aktion, die wir zwei durchziehen", sagte die echte Aurora Dawn, als Julius Latierre von ihrer gemalten Ausgabe in deren Stammbild geführt worden war und sich mit Hilfe des machtvollen Intrakulums aus der Bilderwelt in ihr Behandlungszimmer hinüberversetzt hatte.

"Ja, nur, dass diesmal mehr von deinen Koleginnen wissen, was wir hier anstellen", erwiderte Julius im Flüsterton, nachdem er Aurora Dawn zur Begrüßung leicht umarmt hatte. "Ich bin auch gleich wieder weg. Außer meiner Frau und Antoinette Eauvive habe ich keinem gesteckt, dass ich mal eben den Kontinent gewechselt habe. Aber ich sollte wieder zurück in Antoinettes Büro sein, bevor mich jemand ernsthaft vermisst. Immerhin geht es ja um sowas wie Amtshilfe zwischen den französischen und australischen Heilern", wisperte er und übergab Aurora die Dokumente und die silberne Flasche, die er am Körper versteckt hatte, damit sie beim Übergang zwischen den Welten nicht gesehen werden konnten.

"Bevor du wieder zu meiner gemalten Ausgabe ins Bild zurückschlüpfst erst mal vielen Dank für deine Einsatzbereitschaft und Mithilfe, dass wir zumindest nicht ganz so hilflos herumfuhrwerken müssen, Julius", flüsterte Aurora Dawn. Dann fragte sie: "Besteht weiterhin die Möglichkeit, diese großen Vögel zu rufen, oder kommen die von selbst, wenn die Anzahl der Befallenen eine bestimmte Größe übersteigt?"

"Die Möglichkeit besteht, Aurora. Aber die würden gnadenlos töten, weil die Schlangenmenschen ihre Todfeinde sind und sie ausdrücklich zu deren Vernichtung erschaffen wurden."

"Ich musste das fragen, weil sowohl Großheilerin Morehead als auch meine Kontakte in die Ministeriumsabteilungen anklingen lassen, dass irgendwann die Zahl der Betroffenen zu groß ist, um sie alle noch in Quarantäne zu stecken."

"Öhm, aus meiner besonderen Ausbildung ist mir noch was eingefallen, Aurora. Die Schlangenmenschen sind vom direkten Kontakt zur festen Erdoberfläche abhängig. Nimmt man ihnen den weg, sind sie nicht nur für Betäubungs oder Todeszauber angreifbar. Wenn ihr sie in Zauberschlaf versenken könnt, dann könnt ihr sie auch auf ein Zehntel der Ausgangsgröße einschrumpfen, also gerade mal so groß wie die bei nichtmagischen Mädchen so beliebten Barbiepuppen. Das könnte einiges an Platz freischaufeln. Aber wie gesagt, ihr müsst sie unbedingt vom Kontakt mit der festen Erdoberfläche abhalten."

"Oh, das haben wir schon versucht. Aber die scheinen eine riesen- oder zwerggleiche PTR zu haben", erwiderte Aurora Dawn. Julius verzog das Gesicht. Es wäre ja auch zu schön gewesen, dachte er verdrossen. "Großheilerin Morehead hat es mit den uns überstellten Patienten versucht. Deren Körper haben nur kurz gebebt. Mehr war dann nicht", fuhr Aurora fort und beendete ihre Antwort mit: "Aber du hast recht. Die bereits von uns untersuchten sind bei Entzug der Verbindung zur festen Erde für alle nichttödlichen Zauber empfänglich. Wer immer sie erschaffen hat konnte oder wollte sie nicht auch bei Verlust des Bodenkontaktes gegen Fremdzauber immunisieren."

"Konnte nicht, Aurora. Diese Wesen sind ausgesprochen der Elementarkraft Erde verbunden. Sonst könnten sie nicht auch durch festen Erdboden reisen. Deshalb fließen alle Angriffe direkt in den Boden ab wie von einer Batterie Blitzableiter aufgefangen", erwiderte Julius.

"Öhm, aber wenn es mehr als zehntausend Befallene sind, Julius, kommen diese Vögel dann von sich aus?" wollte Aurora wissen. Julius schüttelte den Kopf. "Die müssen ausdrücklich dort gerufen werden, wo die Feinde gerade sind. Ich hoffe nur, dass ich das nicht machen muss. damals hat völlig gereicht."

"Ich weiß, was du meinst und teile dein Unbehagen, Julius. Gerade als Heilerin will ich Menschenleben schützen und nicht auslöschen. Doch falls wir in den nächsten Tagen und Wochen keine andere Möglichkeit haben, als die wenigen von uns erwischten Befallenen auf Quarantäneschiffe zu verladen und solange durchzufüttern, bis wir eine Behandlungsmöglichkeit haben, wird unsere Zunftsprecherin nicht mehr umhin kommen, eine endgültige Eindämmung der Ansteckung zu befürworten."

"Gut, es weiß außer einzelnen im Ministerium bei uns keiner, das ich mit diesen Riesenvögeln zu tun hatte."

"Ja, aber die, die es wissen könnten im Rahmen der geheimen Aktion "Brennendes Nachbarhaus" verfügen, dass du diese Möglichkeit anwendest oder dich öffentlich anklagen, weil du trotz dir verfügbarer Mittel die Hilfe für die magische Bevölkerung verweigert hast. Laura könnte sogar über Antoinette und Hera geltend machen, dass es eine Heileranweisung an einen zertifizierten Ersthelfer war, die dich dazu verpflichtet, die Ansteckung wirksam einzudämmen."

"So, könnten die drei das?" fragte Julius verdrossen zurück. Aurora nickte schwerfällig. Ihr gemaltes Ich meinte dazu leise: "Ich habe das mit Viviane schon mehrmals beredet, wenn Millie und du nicht in Hörweite wart, Julius. Antoinette weiß von Madame Rossignol, dass du die Riesenvögel gerufen hast und wie das ging. Sie weiß auch, dass du diese Silberflöte bei dir versteckst, damit sie nicht in die falschen Hände gerät. Wenn diese Schlangenmenschen es rauskriegen, wie sie ihr Gift auslagern und von menschlichen Kurieren befördern lassen können besteht leider die Gefahr, dass dieses Gift mal wieder als illegales Rauschgift getarnt nach Europa und Amerika gelangt. Darauf will Antoinette nicht warten. Da sie auch weiß, dass Armand Grandchapeau die betreffenden Unterlagen in seinem früheren Familienhaus versteckt hat könnte sie Nathalie dazu bewegen, diese Unterlagen hervorzuholen, sollte der Fall "Brennendes Nachbarhaus" die zweithöchste Dringlichkeitsstufe erreichen."

"Drachenmist! Da habe ich nicht dran gedacht", erwiderte Julius. Außerdem wusste er, dass es im Zweifelsfall besser war, die ehemals unschuldigen Opfer der Schlangenmenschen von ihrem verfluchten Dasein zu erlösen, als zuzulassen, dass sie ihr verfluchtes Dasein immer weiterverbreiteten. Denn anders als bei Viren oder Bakterien war es mit dem Gift der Skyllianri so, dass die davon befallenen und damit ausgestatteten es gezielt weitergaben und somit selbst zu sowas wie eigenständig handelnden Makroviren wurden. Früher hatte er das von Vampiren gedacht, bis er über die wahre Natur der nächtlichen Blutsauger unterrichtet worden war. Die Borg im Star-Trek-Universum verhielten sich ja auch so, dass sie alles und jeden in ihre Daseinsform hineinassimilierten. Am Ende musste er wohl doch wieder die silberne Flöte Ailanorars aus dem Schrank holen, damit wie jetzt durch die Bilderwelt nach Australien überwechseln, sich da hinstellen, wo Schlangenmenschen in der Nähe waren und hoffen, dass er das Ruflied noch gut genug konnte, um die Wolkenhüter aus ihrer fliegenden Burg herunterzuflöten und dass die Schlangenmenschen ihn in der Zeit nicht zu fassen bekamen. Keine echt angenehmen Aussichten.

"Ich hoffe, das Halbriesenblut hilft euch, was wirksames zu finden", sagte Julius leise.

"Von dieser reinrassigen Riesin durftest du wohl kein Blut nehmen, weil sie gerade in der Stillzeit ist, richtig?" fragte Aurora Dawn. Julius stutzte erst. Dann bejahte er es. Das war doch eine geniale Flanke, die er nur noch ins Tor verlängern musste.

"Öhm, mal eine Frage, Julius", setzte Aurora Dawn an. Julius nickte ihr zu. "Hat damals irgendwer von den Ministerialzauberern oder Heilkundigen irgendwas über eine Aversion gegen Gold erwähnt?"

"Gold? Nicht, dass ich wüsste", antwortete Julius. "Aber die haben damals eh so gut wie gar nichts erforscht, was die Schlangenmenschen anging, Aurora. Das ist es ja, was mich im Nachhinein immer noch ärgert." Er unterließ es gerade noch, davon zu reden, dass ihn die erste Schlangenmenscheninvasion immer noch in seinen Träumen heimsuchte und ihm Was-wäre-Wenn-Szenen vorgaukelte. Aurora erwähnte dann, was sie herausgefunden hatte und erwähnte auch, dass sie es später noch genauer darlegen würde, wenn weitere Versuche stattgefunden hatten. Julius überlegte, inwieweit Gold oder Silber die Schlangenmenschen beeinflussen konnte. Doch hier und jetzt wollte er das nicht weiter durchdenken, weil er offiziell nicht hier sein durfte.

"Gut, ich bedanke mich für die Probe und die Unterlagen und hoffe, dass wir nicht schon bald wieder auf dich zurückkommen müssen, Julius", sagte Aurora Dawn. Julius hoffte das auch. Dann umarmte er sie kurz und wünschte ihr und Rosey noch eine ruhige Zeit. Aurora bedankte sich und sah zu, wie er das Intrakulum mit der sein Abbild zeigenden Seite an das von ihrer Großmutter Regan gemalte Bild von ihr drückte und die Übertrittsformel murmelte.

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In der australischen Niederlassung von Vita Magica, 20.09.2003, 12:30 Uhr Ortszeit

"Und was genau macht dieses kugelförmige Ding da, Perdy?" wollte Pater Duodecimus Australianus wissen und deutete auf eine kopfgroße, an einer schwarzen Schnur von der Decke hängende Kugel. Unter der Kugel schwebte eine junge nackte Frau in der Luft, als sei sie völlig schwerelos.

"Die Kugel ist ein Sender für elektromagnetische Strahlen, sowas wie der Elektrofunk der Muggel. Elektromagnetische Strahlen sind wie ihr Name verrät schnell abwechselnde, sich mit Lichtgeschwindigkeit ausbreitende Magnetfelder, die auf Gegenstände oder Lebewesen Energie wie zum Beispiel Wärme übertragen können", sagte Perdy. "Das Mädchen da, das unsere Patrouille bei dieser Schule bei Port Lincoln angegriffen hat, kriegt gleich von mir verschieden starke und schnell schwingende Elektromagnetische Strahlung ab. Dafür mache ich jetzt auch das Schutzfenster runter, dass die freiwerdenden Strahlen von uns abhält. Denn wenn ich bei der Schwingungszahl von Radar und Mikrowellen bin könnte das für uns ziemlich übel werden. Mir geht es darum, die Reaktionsgeschwindigkeit der Gegenkraft zu ermitteln. Vielleicht finden wir was, dass diese Brut erledigt, so wie es bei den Mondheulern die veränderte Mondstrahlung macht."

"Wissen deine Mentorin und Valerie davon, was du hier machst, Perdy?" wollte Pater Duodecimus Australianus wissen.

"Ich hatte nicht vor, denen das zu sagen, bevor ich nichts handfestes vorlegen kann", sagte Perdy verdrossen. Dann ließ er eine mehrere zentimeter dicke Scheibe heruntergleiten, in der ein feines Gespinnst von Drähten zu erkennen war. "Die Muggel nutzen Mikrowellen zum Erhitzen von Lebensmitteln. Das geschieht, weil Wasser von diesen Wellen in immer stärkere Eigenschwingungen versetzt wird, bis flüssiges Wasser kocht. Da in den Schlangenmenschen auch eine Menge Wasser drinsteckt will ich wissen, was dann passiert. Vielleicht baut sich um die ein Schutzschild auf, der die Strahlung ablenkt, oder sie werden erhitzt. Könnte sein, dass wir gleich was sehr unappetitliches zu sehen kriegen. Aber das riskiere ich, wenn ich dann weiß, ob wir dieser Pest beikommen können oder nicht", dozierte Perdy.

"Und wenn dieses Mädchen stirbt, Perdy. Wer ist sie eigentlich?" fragte Pater Duodecimus Australianus.

"sie muss eine der entwischten Schülerinnen sein, die nachsehen wollten, was mit ihren Kameradinnen passiert ist. Sie ist auf jeden Fall keine Hexe", sagte Perdy.

"Ja, und jetzt eine Schlangenfrau", grummelte Pater Duodecimus Australianus. Perdy bestätigte das. Dann drückte er einen kleinen Hebel an einer Vorrichtung. "Wir sollten uns wirklich viel mehr mit den elektrischen Geräten der Muggel befassen", sagte Perdy. "Nachher kriegen die ganz ohne uns raus, wie sie diese Plage eindämmen können. Also, im Namen der Wissenschaft und der unbelasteten Zaubererwelt."

"Fang an!" sagte der Herr der australischen Niederlassung.

Perdy schob den Hebel ein wenig weiter vor. Die an einem schwarzen Kabel hängende Kugel begann zu vibrieren. Die darunter in der Luft schwebende junge Frau zuckte zusammen und erbebte. Perdy regelte die Schwingungszahl der ausgestoßenen Strahlung weiter nach oben, bis er sie bei dem Wert hatte, den die magielosen Radargeräte aussandten. Da passierte es.

Das junge Mädchen wurde von einem auf den anderen Moment in eine Wolke aus weißglühendem Licht eingehüllt, schrie auf, was durch die heruntergelassene Scheibe nicht zu hören war und explodierte in einem weißblauen Feuerball. Nichts blieb von ihr, außer einer Wolke aus glühenden Gasen.

"Okay, soweit bei Loslösung von der Erde. Wenn das bei einem mit der Erde verbundenen Schlangenmonster auch passiert haben wir gerade die Abwandlung von "Blauer Mond" für die Schlangenmenschen erfunden", bemerkte Perdy knochentrocken.

"Die ist aus sich heraus explodiert, Perdy. Das war heftig. Aber warum hat uns das nicht die Augen verbrannt?"

"Weil in der Schutzscheibe eine ähnliche Bezauberung steckt wie in den Gleitlichtbrillen von Florymont Dusoleil. Okay, wir fangen uns noch zwei von denen und probieren es aus, wenn die festen Kontakt zum Boden habn. Erst dann kriegt meine Mentorin das Ergebnis. Ich fürchte nur, dass sie darüber sehr ungehalten sein wird, und von den Heilerschwestern und -brüdern will ich besser gar nicht erst anfangen", sagte Perdy. Keiner merkte ihm an, ob ihn der Ausgang des Versuches beunruhigt, erfreut oder erschüttert hatte. Er hatte nur getan, was in seiner Macht stand, ein immer weiter um sich greifendes Übel einzudämmen, das noch schlimmer war als die Werwölfe und Vampire.

Zwei Stunden später wussten sie es endgültig. Schlangenmenschen wechselwirkten mit Mikrowellenstrahlung, sobald diese eine bestimmte Stärke überschritt. Messungen ergaben, dass sie für einige Sekunden die Strahlung zehnmal so stark spiegelten, wie sie ihnen zugefügt wurde. Das wiederum legte Perdy so aus, dass ein stark damit bestrahlter Schlangenmensch nicht nur Daseinsgenossen in seiner Nähe beeinflusste, sondern auch, dass dieses Mittel nicht in Gruppen von unbelasteten Menschen eingesetzt werden durfte, da deren Haut und Nervenzellen durch den Mikrowellenstoß geschädigt werden würden.

"Ja, euch alte Pest lassen wir nicht mehr in unser Jahrhundert rein", stieß Perdy aus, als der zweite gefangene Schlangenmensch, ein unschuldiger Muggel aus dem Hinterland, in einem ähnlichen weißblauen Glutball vergangen war wie das ebenso unschuldige junge Mädchen, das nur das Pech gehabt hatte, in derselben Schule gelernt zu haben wie die ebenfalls durch einen unglücklichen Zufall mit den Schlangenkriegern zusammengeratene Lissy Thornhill.

Wie Perdy vorhergesehen hatte war Mater Vicesima Secunda sehr wütend, als sie von dem Experiment erfuhr. Auch Pater Duodecimus Australianus konnte sie nicht beschwichtigen, als er sagte, dass er "dem Jungen" den klaren Befehl erteilt hatte, die Versuche zu machen.

"Leute, wir brauchen unsere Mitstreiter aus der Heilzunft. Die wollen ein Heilmittel gegen diese Plage finden. Wenn die jetzt hören, dass wir gegen deren Einwand eine Massenabtötungsmethode gefunden haben verweigern die uns die Unterstützung. Abgesehen davon, Perdy hast du mit diesem jungen Mädchen jemanden umgebracht, die ihr ganzes Leben noch vor sich hatte. Die hieß übrigens Suzanne Fender aus Melbourne, Erstgeborene von drei Kindern."

"Véronique, das ist genau die gleiche Sache wie beim blauen Mond. Wenn die Wergestaltigen sich ungehindert vermehren müssen wir sie aufhalten, und bevor die Heiler was gegen das Gift zusammenrühren haben sich diese Ungeheuer schon verzehntausendfacht. Und ich werde mir nicht von dir ein schlechtes Gewissen einreden lassen, dass ich ein meiner Meinung nach unheilbar geschädigtes, für uns alle gefährliches Wesen getötet habe, nur weil es früher ein junges Mädchen war. Die hätte dich und deine Töchter, überhaupt alle dir lieben Mitmenschen locker zu neuen Schlangenwesen gemacht, wenn wir sie nicht kassiert hätten. Abgesehen davon hast du uns bis heute nicht erzählt, was du mit diesem Burschen angestellt hast, der sich Mr. Superior nannte. Du hast nur gesagt: "Überlasst ihn mir." Das haben wir gemacht, und weg war er. Also komm mir bitte nicht mit Moralpredigten! Dafür hängen wir beide schon zu lange und zu tief in allem drin, was unsere Gesellschaft unternommen hat. Und deine Erinnerungseinsaughaube hast du sicher auch nicht ohne Rückschläge und Verluste von Menschenleben hingekriegt, richtig?! Abgesehen davon müssen wir es den Heilern noch nicht aufs Brot schmieren, dass wir jetzt was haben, um den finalen Schlag zu landen, wenn, ich sage wenn er die einzig verbleibende Möglichkeit ist. Zumindest bin ich jetzt beruhigt, dass wir es können, und das sollte dich auch beruhigen, wenn du die zwei Süßen, die du geboren hast, noch als erwachsene Hexen miterleben möchtest."

"Perdy, ich will nur, dass du Menschen nicht als Spielzeug siehst, nur weil sie nicht zaubern können. Deine Ideen in Ehren und deine Vorlieben. Aber wir sind keine Massenmörder wie Riddle und Wallenkron", erwiderte Véronique. Ihr geistiger Zögling sah sie dafür trotzig an und versetzte: "Ach ja, sind wir das nicht, Véronique. Ich erinnere mich zu gut an die Debatten nach der ersten Durchführung von "Blauer Mond". Der Rat hat die Durchführung genehmigt und besteht darauf, sie jederzeit zu wiederholen, wenn die Werwölfe wieder frech werden. Diese Schlangenmonster sind noch gefährlicher, weil noch beweglicher, untereinander verbunden, was heißt, dass sie schneller aus ihren Rückschlägen lernen als wir neue Ansätze finden können. Hätte dieses Mädchen kein Antimeloarmband getragen wüssten die Schlangenbiester jetzt wohl schon, dass wir ihnen doch noch beikommen können."

"Ja, und dann hätten sie vielleicht auf eine ungehemmte Verbreitung ihrer Art verzichtet, so wie es die Lykanthropen nach "Blauer Mond" auch zugesagt haben", erwiderte Mater Vicesima Secunda. "Und was diesen Superior angeht: Er hat mir sehr wichtige Menschen bedroht und erweist sich nun als sehr nützlich für andere Menschen, die ich sehr liebe. Mehr musst du nicht wissen, wenn du weiterhin gut schlafen willst, sofern das nach deinem Experiment heute noch geht."

"Öhm, ja, will ich dann lieber doch nicht wissen", erwiderte Perdy und erbleichte. Er kannte seine Mentorin und wusste, wie zaubermächtig sie war. Außerdem hatte er mehr als genug Phantasie, durch die zweite Kindheit noch verstärkt, um keine weiteren Fragen stellen zu wollen.

Eine halbe Stunde später vermeldete Valerie Dorkin, dass den Heilern im Sana-Novodies-Krankenhaus gelungen sei, das Schlangenmenschengift unschädlich zu machen und jetzt daran geforscht würde, seine Auswirkungen auf Menschen umzukehren. "Somit besteht die Hoffnung, diese Seuche doch noch einzudämmen, bevor sie uns alle überrollt", frohlockte Valerie.

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Aus der australischen Zaubererzeitung Stern des Südens vom 21.09.2003

SCHWERE LAGE DURCH HERUMSCHLEICHENDE SHLANGENMENSCHEN?

WAS WEIß UND WAS VERHEIMLICHT ROCKRIDGES MINISTERIUM?

Was bis vor wenigen Tagen nur eine Legende der Aboriginals vom Stamme der Anangu war scheint in unsere Wirklichkeit einzudringen. Über Jahrhunderte hinweg erzählten sich die Angehörigen jenes Stammes, der den roten Sandsteinberg Eyers Rock als ihren heiligen Berg Uluru betrachtet, dass dort selbst neben einer unbekannten Anzahl von Windgeistern auch vier Eidechsenmenschen eingeschlossen sein sollten, die aus einem die Welt erschütternden Krieg magischer Wesen übrigbliebenund dort in ewiger Gefangenschaft eingeschlossen wurden. Jetzt sieht es ganz danach aus, als wenn jene vier Echsenmenschen freigekommen sind und Jagd auf arglose Menschen machen, um sie zu fressen oder durch ihr Gift in Wesen wie sie zu verwandeln, ähnlich den Werwölfen und Vampiren.

Wann genau diese Wesen ihrem steinernen Gefängnis entkommen sind ist unbekannt. Denn offenbar hielten es sowohl die Sprecher der Magier der Ureinwohner, wie auch unser aller Wohl und Ordnung schützendes Zaubereiministerium bisher nicht für nötig, die Öffentlichkeit darüber zu unterrichten, dass die im April über unser Land hinweggefegte Welle dunkler Zauberkraft, die zahlreiche Unfalltote bei Flohpulverreisen forderte, wohl auch Wesen aus grauer Vorzeit aufgeweckt hat, die nun finden, das sie ihr altes Leben fortsetzen dürfen.

Wahrscheinlich hat Rockridges Ministerium darauf gehofft, dass diese für Menschen sehr gefährlichen Wesen eher auf unmagische Menschen treffen als auf Bürgerinnen und Bürger der magischen Gemeinschaft Australiens und Neuseelands. Sie ging wohl davon aus, dass es von diesen mehr gibt, somit mehr lohnende Beute für die Ungeheuer aus der Vorzeit, welche bereits in Europa verheerend in der magielosen Welt wüteten.

Offenbar hoffte die Ministerin darauf, ihr würde niemand den Bruch des großzügigen Versprechens nachweisen, nach den Umtrieben dessen, der nicht beim Namen genannt werden darf und seines selbsternannten Nachfolgers in Europa, ein friedliches Miteinander der Menschen mit und ohne eigene Zauberkraft zu gewährleisten. Ebenso mag sie darauf gehofft haben, dass die wieder aufgewachten Schlangenkreaturen sich ausschließlich an Menschen ohne Magie halten würden und dass von uns magischen Menschen keiner etwas von ihrer Existenz mitbekommt. Zwei Hoffnungen, zwei Trugschlüsse. Denn zum einen gab es in den letzten Tagen vermehrte Sichtungen von Wesen, auf die die Beschreibung der in Europa wütenden Ungeheuer passt. Zum anderen wurden magische Mitbürger wie der im Außentrupp zur Behebung magischer Unfälle tätige Bruce Straker, sowie Logan Bridgewood offenbar in Ausübung ihrer gefährlichen Arbeit von solchen Wesen angefallen und mit deren Gift verseucht, so dass sie sich in gleichartige Wesen verwandelten und nun von eigenen Trieben oder äußerer Anleitung gelenkt auf Beute ausgehen. Ähnlich wie bei Vampiren wählten die neuen Schlangenmenschen ihre nächsten Angehörigen und engsten Freunde als erste Ziele aus. Dies steht nach dem Verschwinden der Familie Straker aus Adelaide und der Sichtung von fünf männlichen und weiblichen Schlangenmenschen fest. Einer gerade noch auf dem eigenen Besen entkommenen Hexe, die nicht mit Namen genannt werden will, gelangen mehrere Fotos von den sie und ihre Familie angreifenden Monstern. Das Ministerium von Latona Rockridge hat über seine Pressesprecherin Ginger Fleetwood jede Stellungnahme zum jetzigen Zeitpunkt verweigert. Deshalb können und müssen wir auf uns alleingestellt fragen, seit wann das Ministerium die neue, uralte Gefahr kannte? Ob und wie es dagegen vorgehen kann und inwieweit es der Meinung ist, dass wir, die magische Öffentlichkeit, davon nichts erfahren dürfen. Nun, selbst wenn die nach vielen Jahrtausenden aus dem Grau des Vergessens ans Licht der Wahrhaftigkeit gelangten Krieger der Vorzeit sich an die Hoffnung der Ministerin halten sollten, nur magielose Menschen anzugreifen, so werden wir eines Tages aufwachen und feststellen, dass es außer uns nur noch diese Wesen gibt. Wir vom Stern des Südens hegen jedoch die Zuversicht, dass uns Ministerin Rockridge früh genug darüber informiert, wie groß die Bedrohung ist. Womöglich macht sie das an einer bestimmten, im Moment nur ihr und ihren treuen Mitarbeitern allein bekannten Anzahl von Opfern fest. So lange diese nicht erreicht ist wird sich das Ministerium also in Schweigen hüllen. Also sollten wir darauf hoffen, dass wir nicht eines Tages doch noch über die Gefahr der Schlangenmenschen informiert werden. Denn das würde bedeuten, dass die vom Ministerium festgelegte Zahl an Opfern erreicht oder überschritten wurde.

"Gilt diese Anzahl hinnehmbarer Opfer aber auch für magische Mitbürger? Wie viele unmagische Mitbürger ist eine Hexe oder ein Zauberer wert? Haben unsere mit Abwehrzaubern vertrauten Mütter und Väter das Recht, sich gegen die sie und ihre Familien bedrohenden Schlangenwesen zu wehren? Oder müssen sie abwarten, bis das Ministerium offiziell bestätigt, dass diese Gefahr besteht und wie ihr beizukommen ist?

Vielleicht steht das Ministerium aber auch schon in Verhandlungen mit anderen Organisationen, damit diese das aufgekommene Problem lösen. Immerhin haben die in den letzten Monaten ausgeführten Massentötungen von Lykanthropen bewiesen, dass es entschlossene wie auch gewissensfreie Gruppierungen gibt, die Träger einer magischen Verseuchung nicht unbegrenzt ihr verfluchtes Sein weitergeben lassen. Natürlich wird das Ministerium jede Anmutung zurückweisen, mit derartigen Gruppierungen zusammenzuarbeiten, hieße es ja nichts anderes, solche Gruppen anzuerkennen, deren Ziele nachträglich für zulässig zu erklären oder sie zumindest gewähren zu lassen, bis eine außer Kontrolle geratene Bedrohung beseitigt ist. Mit dieser Methode der Verantwortungsauslagerung vergibt das Ministerium jedoch die Berechtigung seiner eigenen Existenz. Daher steht zu hoffen, dass die dort tätigen Hexen und Zauberer aus berechtigter Sorge um einen Wegfall ihres Arbeitsplatzes nicht auf die Selbstvernichtung des Zaubereiministeriums durch Verantwortungsauslagerung hinwirken.

Sollte sich Ministerin Rockridge oder einer ihrer Mitarbeiter vom eigenen Gewissen getrieben fühlen, die bisher geschehenen Übergriffe zum Anlass zu nehmen, von der gerne gepflegten Geheimniskrämerei abzulassen und alle zu warnenund mit nötigen Mitteln zum Schutz von Heim und Familie auszustatten, so besteht doch noch eine gewisse Hoffnung unsererseits, dass wir nicht eines Morgens aufwachen und uns entscheiden müssen, ob wir weiterhin Menschen bleiben dürfen oder Schlangenmenschen werden sollen.

ZAP

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Pressesaal des australischen Zaubereiministeriums, 21.09.2003, 10:30 Uhr Ortszeit

in ihrem schillerndbunten Kleid, den bis auf die Schultern reichenden hellblonden Locken, den großen, graugrünen Augen und der niedlichen Stupsnase wirkte Ginger Fleetwood wie ein kleines Mädchen. Doch ihre Figur, so wie ihr alles und jeden sehr genau erfassender Blick verrieten, dass sie die Mädchenzeit schon lange hinter sich gelassen hatte. Die vor dreißig Jahren als Chefredakteurin des Mode- und Freizeitmagazins "Regenbogenhexe" tätige Fleetwood geborene Craft war früher gerne unterschätzt worden, weil sie eigentlich nichts mit Sicherheits- oder Handelspolitik zu schaffen hatte. Doch sie hatte nur ein Jahr gebraucht, um diese Fehleinschätzungen aufzuklären. Heute war sie Gesicht und Stimme der Öffentlichkeitsarbeit des Zaubereiministeriums. Lag was an, war sie die erste Ansprechperson. Viele Reporter, vor allem der beim Stern des Südens für seine spitze Feder bekannte Zebulon Archibald Peppermill, hatten lernen müssen, dass Fleetwood gute Verbindungen haben musste und Sachen im Voraus wusste, an die Leute wie er nur unter sehr großen Mühen oder sehr spät herankamen, geschweige denn, dass Fleetwood mit der Ministerin eine Übereinkunft hatte, über alle für ihr Fach relevant werdenden Dinge unterrichtet zu werden, auch wenn sie in den zuständigen Abteilungen nur wenige Mitarbeiter wissen durften. Ebenso hielt sie ihr Familienleben tunlichst vor der magischen Öffentlichkeit fern, wohl auch, weil es in ihrer früheren Arbeitsstelle genug Leute gab, die das Privatleben öffentlicher Leute gerne selbst zum öffentlichen Eigentum machen wollten. Zumindest wussten die nun zusammenkommenden Nachrichtenverbreiter, dass Ginger Fleetwood drei Jungen und drei Mädchen geboren hatte, von denen die beiden jüngsten vor drei und zwei Jahren die Redrock-Akademie für englischsprachige Hexen und Zauberer Ozeaniens erfolgreich abgeschlossen hatten und dass Ginger schon drei Enkelkinder hatte, über die jedoch nur bekannt war, dass es sie gab.

"Ah, Conny, sie sind auch da, und oh, Heilerin Greenleaf, Sie auch? Willkommen!" begrüßte die Pressesprecherin der Ministerin die gerade eingetroffenen. Dann sah sie Zebulon Peppermill an, einen kleinwüchsigen Zauberer mit leicht angespitzten Ohren, die er seinem reinrassig koboldischen Großvater verdankte. "Hallo, Zeb, gut durch den großen Schwarm bissiger Billywichs gekommen, den sie aufgescheucht haben?" fragte Ginger den Reporter mit unverkennbarer Ironie.

"Wenn das hilft, dass auch nur hundert unschuldige Mitbürger vor den Folgen fahrlässiger Untätigkeit bewahrt werden jederzeit", erwiderte Peppermill schlagfertig. Zwar wusste er sehr wohl, was für eine schwere Unterstellung er da aussprach, scherte sich aber nicht darum, ob jemand ihm deshalb Vorwürfe machte oder es toll fand, wie er auftrat.

"Ob das Ministerium untätig war oder ist werden Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen gleich erfahren. Denn ich bin heute nicht als Heroldin des Ministeriums unterwegs, sondern als Gesprächsleiterin dieser Konferenz. Ladies and Gentlemen, Die Zaubereiministerin Australiens!"

Es sah so aus, als würde die Ministerin von links nach rechts aus dem Nichts heraus erscheinen. Tatsächlich aber wurde nur ein tarnbezauberter Vorhang zur Seite geschoben. Jetzt stand die Ministerin im hellblauen Umhang mit Stehkragen da, einen blütenweißen kleinen Hexenhut mit goldener Sonnenscheibe auf dem Kopf. Sofort wisperten die acht versammelten Reporter, auch die vom Heilerherold dazugekommene Lyra Greenleaf etwas zu schreibbereiten Flotte-Schreibe-Federn oder in tragbare Schallansaug- und -verpflanzungstrichter. Die Ministerin wartete ab, bis alle ihre Anwesenheit notiert oder weitergemeldet hatten. Dann sprach sie zu den Vertretern der Nachrichtenbranche.

Sie erwähnte in kurzen Sätzen die ersten Anzeichen für eine neuerliche Schlangenmenschenausbreitung und die Bestätigung der uralten Legenden der Anangu, dass im Uluru wohl vier vor Jahrtausenden dort eingekerkerte Geschöpfe aufgewacht waren. Sie erwähnte die ersten Übergriffe dieser Wesenund auch, dass das Ministerium sehr zeitnah erkannt hatte, auf wen es zu achten hatte und wie den gefährlichen Wesen begegnet werden konnte. Dann erwähnte sie die bisherigen Erfolge und merkte an, dass die Gefahr erst behoben sei, wenn sämtliche Schlangenmenschen ergriffen oder getötet worden seien. Mit Blick auf die für den Heilerherold mitschreibende Hexe Greenleaf erwähnte sie, dass die Heilerzunft das Ministerium ausdrücklich darum gebeten habe, die Schlangenmenschen möglichst lebend zu ergreifen und lediglich handlungsunfähig zu machen und sie an Orten zu verwahren, an denen ihnen der Zugang zu anderen Menschen und zu ihrer Hauptkraftquelle verwehrt sei. Wo diese Orte seien bliebe weiterhin ein Ministeriumsgeheimnis. Dann sagte sie vor allem an den koboldstämmigen Zebulon Peppermill gewandt: "Sie dürfen froh sein, Mr. Peppermill, dass die mir und meinen Mitarbeitern unterstellten Beamten gerade voll und ganz damit beschäftigt sind, die australischen Mitbürger mit und ohne magische Begabung, europäischstämmig oder indigen, vor weiteren Angriffen dieser Wesen zu schützen. Ansonsten hätte Mr. McBane, da bin ich sehr sicher, bereits bei ihrem Chefredakteur angefragt, ob sich Ihre Zeitung eine Anklage wegen mutwilliger Panikmache und Aufhetzung gegen das Ministerium wünscht. Denn uns vorzuhalten, wir würden willentlich Menschen sterben oder sich in für andere Menschen gefährliche Geschöpfe verwandeln lassen, ja eine bestimmte Anzahl von Opfern zulassen, bevor wir überhaupt tätig werden, ist und bleibt eine Unverschämtheit. auch der Vorwurf der fahrlässigen Untätigkeit könnte auf strafrechtliche Verfolgung geprüft werden, Mr. Peppermill. Denn das war eine haltlose Unterstellung. Ich ging auf Ihren sehr hetzerischen und bar jedes Tatsachennachweises veröffentlichten Artikel nicht ein, weil Sie meinen, mich unter Zug- und Handlungszwang gesetzt zu haben, sondern weil Sie unsere Bemühung, dem Übel ohne unnötige Panik und Paranoia wirksam entgegenwirken zu können zum Scheitern verurteilt haben. Deshalb und nur deshalb sahen meine Mitarbeiter und ich uns veranlasst, die von Ihnen erhobenen Vorwürfe und Anschuldigungen hier und jetzt zu widerlegen. Das zaubereiministerium ist dafür da, Ihrer aller Sicherheit und Wohlergehen zu schützen. Das geht nicht, wenn andauernd ein Pressefotograf oder ein Mitschreiber neben uns herläuft und jede Bewegung, jedes Wort und jeden Beschluss gleich weitertrötet. Die meisten von Ihnen hier wissen sehr wohl, dass die öffentliche Sicherheit und die Freiheits- und Unversehrtheitsrechte des Einzelnen nur dann gewährleistet werden können, wenn Sie alle in der gebotenen Geduld und Besonnenheit darauf vertrauen, dass alles, was die Öffentlichkeit betrifft, früh genug öffentlich bekanntgegeben wird. Haben Sie alle sich bei Erscheinen des betreffenden Artikels nicht gleich gefragt, ob das wirklich so gut ist, wenn die ganze Welt erfährt, was hier vorgeht? Können Sie sich keinen Moment lang vorstellen, dass es durchaus auch Gruppierungen oder Einzelpersonen gibt, die ein Interesse daran haben, die aufgewachten Schlangenmenschen für ihre ganz eigenen Vorhaben zu gewinnen oder, wie Sie es offenbar in Absprache mit Ihrem Chefredakteur anstoßen wollten, Mr. Peppermill, jeder Zauberer gegen jeden anderen Zauberer kämpft, weil er ihn für einen neuen Schlangenmenschen hält? Ebenso könnten ausländische Gruppierungen versucht sein, uns armen Australiern, die mit dieser Zauberwesenart ach so überfordert scheinen, zu Hilfe kommen zu müssen, wobei deren Hilfe dann darin besteht, die vom Schlangenmenschengift verwandelten zu finden und sofort und ohne Versuch einer Heilung zu töten. Ich Sage das nicht von ungefähr, denn sicher haben Sie in Ihren Archiven alle noch die Berichte von vor fünf Jahren, in denen nicht minder gefährliche Ungeheuer erwähnt wurden, welche das Ziel hatten, die Schlangenmenschen in Europa zu töten, davon die allermeisten völlig unschuldige Männer, Frauen und Halbwüchsige. Zehntausend Schlangenmenschen sind damals gestorben, weil alte und neue Gruppierungen und Wesen befanden, sie einfach so umzubringen. Sie, Mr. Peppermill, haben diese Gruppierungen sehr lautstark eingeladen, ihre fragwürdigen Hilfsleistungen nun hier in Australien auszuführen. Und wo sie eben meiner Kollegin vorhielten, dass Ihnen das die aufgescheuchten Billywichs wert war, wenn hundert Mitbürger gerettet würden, so frage ich jetzt Sie und Ihre Kollegen, wie viele tausend bisher arglose Menschen, Muggel oder Zaubererweltbürger, sterben sollen, weil Sie meinten, die Öffentlichkeit hier und anderswo mit der Nase darauf zu stoßen, was hier los ist?"

"Moment, Sie machen mich jetzt dafür verantwortlich, wenn diese Monster von anderen Monstern, die von wem auch immer gelenkt werden, umgebracht werden?" fragte Peppermill. Darauf erbat sich Heilerin Greenleaf das Wort und stand auf:

"Öhm, das sind keine Monster, die Damen und Herren, sondern kranke Menschen, die auf Grund eines in die Körper gedrungenen Erregers wegen dessen Natur weitergeben müssen. Dies zur Wortwahl, meine werten Kolleginnen und Kollegen. Zum anderen stimmen meine Zunftsprecherin Laura Morehead und die Ministerin dahingehend überein, dass alles unternommen werden soll, die betroffenen Menschen zu heilen, und Großheilerin Morehead lehnt derzeit jeden Ansatz einer massenhaften Tötung der Befallenen ab. Zum dritten haben auch wir von der Heilerzunft ein fundamentales Interesse daran, möglichst alle Mitmenschen vor Schaden zu bewahren. Das geht nur, wenn es keine Panikstimmung und keine aus Verfolgungswahn und Eifer entstehenden Auseinandersetzungen gibt. Und ganz wichtig: Die, welche damals die Schlangenmenschenepidemie in Europa durch massenweises Töten der Befallenen beendet haben, handelten und handeln nicht im Interesse des friedlichen Miteinanders von Menschen, sondern nur auf Grund eigener Machtinteressen, oder weil sie ausdrücklich zum Töten der Schlangenmenschen erschaffen wurden. Falls diese Wesen oder Menschengruppen jetzt finden, hier in Australien "aufzuräumen", dann wohl deshalb, weil einige von uns der Meinung sind, es der ganzen Welt erzählen zu müssen, dass es diese Epidemie bei uns gibt und noch behaupten, wir wollten nichts dagegen tun. Das bringt niemandem was, außer wieder einer Unmenge unschuldiger toter Menschen. Falls Ihre Zeitung genau darauf ausging, Kollege Peppermill, dann vergessen Sie, was die Ministerin und ich gerade eingeworfen haben. Danke!"

"Nichts für Ungut, Ministerin Rockridge, aber um Millionen zu schützen sollten Sie zumindest nicht ausschließen, dass es nötig sein könnte, zehntausend unheilbar betroffene Menschen zu töten. Immerhin gibt es gegen Vampirismus und Lykanthropie kein Mittel, den Zustand wieder umzukehren. Und es gab immer wieder auch vom Ministerium angeordnete Aktionen, gefährliche Vampire und Kriminelle Werwölfe zu beseitigen, wenn sie sich nicht fangen lassen wollten", wandte Claude Holloway vom Melbourner Zauberboten ein. Darauf ergriff Ginger Fleetwood das Wort und sagte:

"Werte Anwesenden, diese Pressekonferenz dient der Klärung von Fragen und ist kein Diskussionsforum. Ich bitte Sie daher alle, ausdrücklich Fragen an die Ministerin oder mich zu richten. Das erspart Ihnen auch wertvolle Zeit und hilft der von Ihnen so gewertschätzten Öffentlichkeit, die Vorkommnisse und Vorhaben einzuordnen. Danke schön! Ah, Vanny, bitte."

Vanessa Sweetwind von der Regenbogenhexe wollte wissen, ob es stimme, dass die einzige nicht dem Schlangenmenschengift zum Opfer gefallene Schülerin des Mädcheninternates bei Port Lincoln eine Magiebegabte sei und warum dies den Eltern nicht früh genug mitgeteilt worden sei. Die Ministerin sah ihre Pressesprecherin an und übergab ihr damit das Wort, weil Fleetwood ja selbst früher bei der Regenbogenhexe gearbeitet hatte. Sie bestätigte dann, dass tatsächlich eine der Schülerinnen als magisch hochbegabt erkannt wurde und dass diese wegen einer ihrem Alter von zehn Jahren vorauseilenden Intelligenz von ihren Eltern auf dieses Internat geschickt worden sei, weit bevor die übliche Aufklärung und Anleitung der Ausbildungsabteilung erfolgt war. Mit den Eltern werde gerade besprochen, was die Ereignisse bedeuteten und dass es für das Mädchen, dessen Namen sie hier und jetzt nicht nennen wolle, besser sei, wenn sie noch bis zur offiziellen Einschulung in Redrock in einer anderen Stadt leben würde, wo sie keine Bekannten habe. Da bedauerlicherweise fünfzig jüngere Mädchen bei dem ersten Ausbruchsversuch der Schlangenmenschen in den Tod getrieben worden seien gelte es ohnehin, deren Tod vor der nichtmagischen Öffentlichkeit entweder zu erklären oder es so hinzustellen, dass sie nicht in diese Schule gegangen wären.

Danach wollte Zebulon Peppermill noch einmal was wissen, nämlich woher die Ministerin sicher sei, dass noch keiner außer dem Ministerium und den Schlangenmenschen selbst wisse, dass sie wieder da seien und ob nicht schon längst wer unterwegs sei, sie zu töten, mit oder ohne Einverständnis des Ministeriums.

"Wenn Sie darauf anspielen, dass Mitarbeiter unseres Ministeriums möglicherweise absichtlich oder völlig unbewusst für fragwürdige Gruppierungen arbeiten sage ich nur: Solange ich keinen klaren Hinweis auf offenen Verrat oder Spionage habe, sind alle meine Mitarbeiterinnen und ich unschuldig. Sicher besteht die Gefahr, dass die frei umhersuchenden Schlangenmenschen das Interesse anderer Gruppierungen geweckt haben. Doch welche Gruppierungen das sind und welche Vorhaben sie gerade ausarbeiten oder gar umsetzen unterliegt der Zuständigkeit der Strafverfolgungsbehörde."

"Was tun Sie, wenn sich herausstellt, dass die Schlangenmenschen, die Sie schon festsetzen konnten, nicht mehr zurückverwandelt werden können?" wollte ein Radioreporter von Australiens letzte Neuigkeiten (A.L.N.) wissen.

"Dann müssen wir entscheiden, wo sie für den Rest der Welt unschädlich verwahrt werden und ja, ebenso darauf gefasst sein, den einen oder die andere zu töten, sollte er oder sie aus dem Gewahrsam zu flüchten versuchen. Diese Vorstellung missfällt mir ebenso wie die, von einer Legion von Schlangenmenschen überrannt zu werden", sagte die Ministerin.

Weitere Fragen bezogen sich auf die entwickelten Gegenmaßnahmen, zu denen die Ministerin nur so viel sagte, dass sie diese Vorkehrungen nach Studium der Natur der Schlangenmenschen entwickelt hatten und wenn es sich erweise, dass ein gefahrloser Umgang damit und keine Möglichkeit des Missbrauchs dieser Vorkehrungen bestehe, ausgewählte Manufakturen den Bürgerinnen und Bürgern entsprechende Vorrichtungen oder Verhaltensweisen anbieten würden.

"Sie sagten eben, Sie stehen mit Frankreich in Verbindung. Setzen Sie dann nicht doch darauf, dass diese grauen Riesenvögel wiederkommen, die damals die Schlangenmenschen ausgelöscht haben?" fragte Zebulon Peppermill. Die Ministerin erwähnte dazu nur, dass es um die Sicherung der Menschen gehe und die Methoden der Franzosen als Erfahrungsgrundlage dienten. Was die grauen Riesenvögel anging unterstellte sie diesen, aus eigenem Antrieb eingegriffen zu haben und dies jederzeit wieder geschehen könne, sofern die Schlangenmenschenzahl eine kritische Größe erreicht habe. "Dann, Mr. Peppermill und Sie anderen, können Sie die Hüter und Lenker dieser Vögel fragen, ob die eine bestimmte Anzahl unschuldiger Opfer abwarten wollten, bevor sie zum vernichtenden Gegenschlag bereit waren."

"Eine Andere Frage", setzte Vanessa Sweetwater von der Regenbogenhexe an, "Wenn die bisherigen Opfer dieser Wesen Muggel, also nichtmagische Menschen sind, wie gehen sie mit deren Angehörigen um, die ja sicher die nächsten ausgewählten Opfer sind?"

"Das Büro für friedliche Koexistenz zwischen den Menschengruppen und die Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe haben eine gemeinsame Einsatzgruppe gebildet, die vorrangig die Angehörigen eindeutig identifizierter Schlangenmenschen überwachen und bei unmittelbar drohender Heimsuchung durch einen Schlangenmenschen in Sicherheit bringen. Diese zu schützen, ja vor dem Eintreffen ihrer umgewandelten Freunde oder Verwandten in Sicherheit zu bringen galt und gilt auch die von Ihnen allen kritisierte Geheimhaltung. Auf diese Weise haben wir womöglich schon mehr als eintausend Umwandlungen verhindert. Denn ganz sicher können Sie alle sich vorstellen, dass sich die Schlangenmenschen wie ein Flächenbrand ausbreiten, wenn nicht früh genug bekannt ist, wen sie angreifen wollen."

"Gut, Ministerin Rockridge. Das heißt, neben den Gebissenenund Umgewandelten verschwinden dann noch weitere Menschen, die wiederum Freunde oder Verwandte haben, die sich fragen, wo ihre vertrauten Mitmenschen abgeblieben sind", sagte Vanessa Sweetwater. Zebulon Peppermill witterte eine neue Gelegenheit, der Ministerin richtig zuzusetzen. Er warf der Kollegin von der Regenbogenhexe einen überlegenen Blick zu und sah die Ministerin an, die gerade auf Vanessas neuen Einwand antwortete, dass im Zweifelsfall eine nichtmagische Erklärung für das Verschwinden der Gebissenen oder deren mögliche Opfer erstellt und verbreitet würde, wie es ja schon bei den ersten bekannt gewordenen Fällen getan wurde. Dann bat er ums Wort.

"Will sagen, Ministerin Rockridge, je mehr nichtmagische Menschen zu Schlangenmenschen werden, desto mehr bedrohte Angehörige müssen Sie und alle Ihnen unterstellten Beamten in Schutzhaft nehmen, desto mehr rosaroten Dunst müssen sie aus allen Kesseln verbreiten, dass diese verschwundenen Leute mal eben fröhlich "Waltzing Mathilda" singend auf eine längere Urlaubsreise nach Unbekannt gegangen sind." Ginger mahnte an, nur Fragen zu stellen. "Also gut, hier die Preisfrage dieses Tages", nahm Peppermill den Anreiz auf. "Wann stellen Sie neben jeden Muggel einen Aufpasser oder eine Aufpasserin, um alle zu bezaubern, dass in ihrem Land nichts aber auch gar nichts merkwürdiges vorfällt?"

"Sehen Sie, genau deshalb legen wir Wert darauf, möglichst leise und unbedrängt vorzugehen", setzte die Ministerin an und sagte Peppermill zugewandt: "Wenn es darauf wirklich ankommt, kann ein Vergissmich hundert Personen mit neuen Erinnerungen versehen. Außerdem nutzen wir seit einiger Zeit auch die Nachrichtenübermittlungsvorrichtungen der nichtmagischen Welt. Falls es zu einem gehäuften Auftreten von Schlangenmenschen in einem bestimmten Gebiet kommt wird einfach verbreitet, dass das Gebiet wegen einer grassierenden Seuche unter Quarantäne gestellt werden musste. Ich bin jedoch für jeden Vorschlag zu haben, der die Effizienz einer massenhaften Erinnerungskorrektur verbessert."

"Ja, nur wenn einer von denen mit einem Informationsübermittlungsgerät Bilder oder Berichte in das ominöse Elektrorechnernetzwerk einstreut wissen das in wenigen Sekunden tausende von Leuten, bevor die Vergissmichs deren Adressen haben", warf der Reporter des australischen Zauberradios ein und deutete auf seine Schallübertragungsvorrichtung.

"Wie erwähnt nutzen auch wir diese Nachrichtenübermittlungsvorrichtungen", wiederholte die Zaubereiministerin. "Im erwähnten Netzwerk schwirren tausende verschiedene Nachrichten umher, dass es für die Endabnehmer schwierig ist, die echten von erlogenen oder auch nur stark übertriebenen Berichten zu unterscheiden. Diese Methode haben die US-Amerikaner, Britenund Franzosen schon seit mehr als zwei Jahren im Gebrauch, um magische Vorkommnisse, über die in diesem Internet-Rechnerverbund berichtet wird, als mutwillige Falschmeldung auszugeben oder durch gezielte Übertreibungen den Glauben an die Echtheit der durchgedrungenen Beschreibung magischer Vorkommnisse zu zerstören. Bisher reisen wir alle damit ganz gut, dass die magielosen Mitbürger weiterhin davon überzeugt sind, dass es Zauberei und Hexerei, Zaubertiere und magische Geschöpfe nicht wirklich gibt. Und bevor Sie mir damit zu kommen wagen sollten, Mr. Peppermill, dass die Schlangenmenschen diese Vorgehensweise bereits ad absurdum geführt haben könnten oder dies in naher Zukunft tun werden wiederhole ich erneut, dass wir vom Zaubereiministerium genau deshalb die Ruhe brauchten, um uns genau auf diese Lage bestmöglich vorzubereiten. Spekulationen, was wann passiert und wie blockieren wichtige Denkansätze und kosten Zeit, die auch Sie nicht haben. Weitere Fragen?"

"Ja, was tun Sie, sollte Ihre Vorgehensweise nicht funktionieren?" wollte Peppermill wissen. Die Ministerin ahnte, worauf er hinaus wollte und sagte: "Das, Mr. Peppermill, Ladies and Gentlemen, werden Sie dann und erst dann erfahren, wenn genau diese von Ihnen wie von uns anderen nicht erwünschte Lage eingetreten sein sollte. Noch eine Frage?"

"Was geschieht, wenn sie und/oder die Heilerzunft die bereits Verwandelten tatsächlich zurückverwandeln können?" fragte Lyra Greenleaf die Ministerin.

"In Übereinstimmung mit Heilzunftsprecherin Morehead werden wir dann mit unseren Verbindungsleuten zu den einzelnen Regionalregierungen und der australischen Gesamtregierung abstimmen, wie und unter welchen Voraussetzungen die erfolgreich zurückverwandelten Menschen in ihr bisheriges Leben zurückkehren können oder eine neue Identität erhalten. Pläne dazu liegen schon seit zwanzig Jahren vor und können jederzeit umgesetzt werden", sagte die Ministerin beruhigt, mal nicht auf eine gehässige Unterstellung reagieren zu müssen.

"Was im Klartext soviel heißt, dass die Gebissenen offiziell tot sind, weil sie, egal wie lange sie verwandelt bleiben, schon zu viel Schaden angerichtet haben, um ihr bisheriges Leben fortsetzen zu dürfen", kommentierte Zebulon Peppermill ohne Sprecherlaubnis.

"Dies zu beurteilen oder gar festzulegen liegt außerhalb Ihrer Kenntnisse und Befugnisse, Mr. Peppermill", erwiderte die Zaubereiministerin sehr verbissen. Sie konnte sich gerade so noch zusammenreißen, nicht laut loszukeifen. Denn irgendwie hatte dieser Sensationsjäger da schon recht. Was blieb den Ministeriumsleuten übrig, wenn die Betroffenen in ihrer Verwandlung zu viel anrichteten. Allein die Vorfälle an der Hazelwood-Akademie und dem Haus der Hoskins' und Vandenbergs reichten schon für ein schweres Seelentrauma aus.

"Falls Ministerin Rockridge dies erlaubt kann ich gerne die nicht als Vertraulich oder geheim eingestuften Aktionspläne kopieren und Ihnen zur journalistischen Auswertung übergeben, damit Sie alle hier den nötigen Einblick bekommen, wie wir mit Vorfällen in der nichtmagischen Welt umgehen", sagte Ginger Fleetwood. Alle anwesenden Presse- und Rundfunkleute nickten eifrig. Die Ministerin sah ihre Pressevertreterin erst verdutzt an, nickte dann aber gleichfalls und sagte laut, dass die betreffenden Abteilungen die nicht geheimen Einzelheiten der Wiedereingliederung von nichtmagischen Menschen nach Behebung einer magischen Beeinträchtigung weitergeben durften. Das genügte nun allen hier, um diesen Punkt für zumindest ausreichend besprochen abzuhaken.

"Sie erwähnten vorhin, dass die erkannten Schlangenmenschen mit nichtmagischen Fluggeräten aufgegriffen werden müssen, um sie kampfunfähig zu machen", setzte der Radioreporter an. "Wer bedient diese doch sehr komplizierten Flugapparate?"

"Die von Mr. Nigel Bridgegate geführte Behörde für friedliche Koexistenz hat bis auf weiteres mit Bewilligung der Handels- und Finanzabteilung mehrere Rotorfluggeräte der nichtmagischen Welt samt damit vertrauten Steuerleuten, Piloten genannt, angemietet. In jeder dieser Maschinen fliegen je ein Vergissmich und zwei Außeneinsatztruppler mit. Die Steuerleute wurden in den Glauben versetzt, an einer Reihe von Bergungsübungen teilzunehmen. Einige von ihnen haben wir sogar damit für uns gewonnen, dass sie mithelfen sollten, bei der Herstellung sogenannter Horrorfilme mitzuwirken, in denen grausame, wandlungsfähige Monster mitspielen, die aus einem unterirdischen Reich emporgefahren sind, um die Menschheit zu versklaven. Das ist schon wieder so nah an der Wahrheit, dass die nach Abschluss der Aaktion anstehenden Gedächtnisbezauberungen nicht so intensiv erfolgen müssen", antwortete die Ministerin darauf. "Diese nichtmagischen Hilfskräfte, also die Piloten, arbeiten also im vollen Bewusstsein, an etwas außergewöhnlichem mitzuwirken und das auf der Grundlage von Leistung und Gegenleistung. Wir haben es also absolut nicht nötig, Unterwerfungszauber auszuführen. Nebenbei erlernen die mitfliegenden Truppenangehörigen mit Hilfe von Gedächtnisverstärkungselixieren die Handhabung jener Fluggeräte, sollte sich erweisen, dass die bisher angemieteten Flugmaschinen nicht ausreichen und wir die Legende vom aufwühlenden Monsterfilm nicht jedem Piloten glaubhaft genug verkaufen können." Ministerin Rockridge sah es Peppermill an, dass er wohl gerne gefragt hätte, ob für diesen Ausnahmezustand nicht zumindest das Imperius-Verbot aufgehoben sei, um sich mit nichtmagischen Flugapparaten vertraute Leute gefügig zu machen.

"Stimmt, diese Filme mit ganz gefährlichen Ungeheuern erfreuen sich ja in der magielosen Welt einer fragwürdigen Beliebtheit", warf ein Reporter von der Insel Tasmanien ein.

Die Ministerin war froh, als nach einer knappen Stunde alle Fragen soweit beantwortet waren, wie sie es nach dem Stand der Dinge und der Notwendigkeit weiterer Geheimhaltung verantworten konnte.

"Ich danke Ihnen, Ginger, dass Sie diese hungrige Meute wieder so gut im Zaum gehalten haben", sagte die Ministerin zu Ginger Fleetwood, nachdem sie den Pressesaal verlassen hatten und im Büro der Ministerin saßen.

"Zeb wollte Sie als die vorführen, die hilf- und tatenlos zusieht, wie diese Ungeheuer aus der Vorzeit unser Land unterwerfen. Er hat sich wohl an die Affäre um diesen in den USA aufgetauchten Succubus erinnert, dessen Aktivitäten der damalige Zaubereiminister Pole um jeden Preis geheimhalten wollte, weil er eben hilflos war."

"Der war wirklich nur ängstlich, dass dieses Wesen seine eigenen Sicherheitsverfügungen unterlaufen konnte. Hier geht es aber konkret um immer mehr betroffene Menschen, nicht um einzelne Opfer aus einem ganz bestimmten Lebensbereich", erwiderte die Ministerin.

"Ja, und dann wollte er Sie als Hilflos hinstellen, dass sie eine mögliche Verbreitung von Gerüchten oder Tatsachen nicht bewältigen können", sagte Ginger Fleetwood. "Dem haben Sie und ich ja durch die Zusage, die üblichen Pläne für eine Wiedereingliederung zu erhalten, den Wind aus den Segeln genommen", erwiderte die Ministerin darauf.

"Jetzt frage ich doch mal als eine, die schon seit dem Anfang dieser Affäre mitbekommen hat, was los ist: Wann hätten Sie denn die Öffentlichkeit informiert, Ministerin Rockridge?" wandte sich Ginger Fleetwood an ihre oberste Dienstherrin.

"Seltsam, dass keiner Ihrer ehemaligen Kollegen diese Frage gestellt hat", holte die Ministerin aus. "nach der Meinung der beteiligten Abteilungsleiter stehen wir kurz davor, mit den Ureinwohnern eine Übereinkunft zu treffen, dass diese uns helfen, diese Wesen noch besser zu orten. Die Herstellung dieser Magnetrotoren und der Mentiloquismusunterbrecherkreisel läuft in den betreffenden Manufakturen unter höchster Geheimhaltungsstufe auf Hochtouren. Ich denke, am 25. September hätte ich sehr gerne verkündet, dass wir der neuerlichen Gefahr bewusst sind und ihr begegnen und sie ohne großes Getöse eindämmen konnten. Ob das jetzt noch zu halten ist weiß ich leider nicht."

"Oh, das wäre genau in den Vier-Wochen-Zeitraum gefallen, den Heilerin Fairfax vorausberechnet hat", sagte Ginger Fleetwood. Dann öffnete sie ihr buntes Kleid. Unter diesem trug sie ein rosarotes Mieder. Auch dieses öffnete sie behutsam. Ihre Gestalt schien für einen Moment zu zerfließen. Dann stand sie wieder da, um Unterbauch und Brustkorb wesentlich rundlicher als vorhin. Die Ministerin sah die Kollegin erstaunt an, während diese sie mit einem ebenfalls fülliger aussehenden Gesicht anstrahlte. "Habe ich bis heute vor allen, die es nicht wissen müssen verbergen können, dass ich nach der Geburt von Robby vor zwei Jahren zwei eigene Kinder unter dem Herzen trage, Latona", sagte Ginger Fleetwood und schnürte ihr magisches Mieder wieder sorgfältig zu. Sofort flimmerte ihre Gestalt wieder, und die Pressesprecherin stand wieder gertenschlank, nur mit der für eine gesunde, erwachsenen Frau nötigen Oberweite vor der Ministerin. Sie schloss ihr Kleid wieder und meinte: "Ich bin wohl die erste in Australien registrierte Großmutter, die freiwillig noch einmal Mutter wird, ganz ohne Überredungskunst von Vita Magica."

"Da werden sich sicher alle freuen, wenn ... die Zwillinge? ... da sind", sagte die Ministerin, die jetzt erst begriff, dass ihre Mitarbeiterin nicht nur ein Kindheimlich austrug.

"Vor allem meine Tante väterlicherseits in England. Die freut sich immer über neue Familienmitglieder."

"Ach, das ist die Verwandlungslehrerin in Hogwarts, Heilerin Dawn hat mir vor zwei Tagen im Zusammenhang mit dem Erfahrungsaustausch auch Neuigkeiten aus ihrer alten Schule erzählt. Ginger Fleetwood nickte.

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Im Apfelhaus der Familie Latierre in Millemerveilles, 21.09.2003, 22:00 Uhr Ortszeit

Aurora Dawns räumliches Abbild entstand, nachdem Julius eine bestimmte Stelle an seinem neuen Verbindungsarmband berührte. Aurora begrüßte ihn, Béatrice und Millie und sagte: "Erst einmal darf ich dir im Namen der australischen Heilerzunft für die übergebene Probe und dein Einverständnis danken, dass die Kollegin die über die Zeit mit Mademoiselle Maximes Blut in den Adern verfassten Berichte freigeben durfte. Das hat zwar einige von unseren Körperkundlern und Zaubertrankbrauern sehr frustriert, aber auch den nötigen Ansporn gegeben, alternative Heilbehandlungen zu finden. Ohne die Probe würde das wohl nicht gehen."

"Dann habt ihr schon damit experimentiert?" fragte Julius. Auroras räumliches Abbild nickte und erwiderte: "Mein in der Sano arbeitender Kollege Goldwater hat in insgesamt sechs Versuchen je einen winzigen Tropfen davon mit einem Tropfen des isoliertenGiftes zusammengebracht und damit jedesmal einen silbrigblauen Feuerball gezündet, der nur deshalb keinen Schaden angerichtet hat, weil Goldwater alle Vorkehrungen für eine Clamp'sche Kommotion eingehalten hat."

"Ups! Öhm, ist Radioaktivität ausgetreten?" wollte Julius wissen. "Wie beim US-Zaubereiministerium?" wollte Aurora wissen. "Nein, keine Strahlung. Goldwater vermutet auch keine Clamp'sche Kommotion im üblichen Sinn, sondern den Copperwing-Dumbledore-Effekt, den Gratus Copperwing 1809 beim Vermischen von Drachenblut und Greifenblut ausgelöst und der in Frieden ruhende Professor Dumbledore 1902 in einer seiner Abhandlungen über die Verwendungsarten von Drachenblut im Bezug zwischen den Elementarverbundenheiten Feuer, Luft, Erde und Wasser als Abscheidung der einander aufschaukelnden Elementarkräfte aus den alchemistischen Agentien erläutert und eine sinnvolle Anwendung dieses Effektes beschrieben hat, der, wie ihr das ja alle gelernt habt, auch du werte Béatrice Latierre, im Warmhaltetrank Nummer 4 seine Anwendung findet, um die Körperwärme auf ein Drittel Wassersiedetemperatur zu halten, ohne ein steigendes Nahrungsbedürfnis zu erzeugen."

"Stimmt, der CD-Effekt, wo ich gegrinst habe, als ich diese Abkürzung gelesen habe", erwiderte Julius. "Will sagen, Riesen und Schlangenmenschen haben zwei sich einander widersetzende Elementarverbundenheiten?"

"Da Schlangenmenschen dem Element Erde verbunden, ja in gewisser Weise in Erdmagie eingelegt sind hätte es eine Aversion zwischen Erd- und Luftelementarkraft sein können. Aber laut dem Kollegen Goldwater hätte es dann eine Kaskade grüner und blauer Blitze geben müssen, und die beiden Stoffe hätten sich in Wasserdampf und Staub auftrennen müssen. Die Reaktion deutet aber auf einen Erd- und einen Feuerzauber hin, wobei der Feuerzauber nicht aus dem glutflüssigen Erdinneren stammt, weil sonst die beiden Agentien ohne Lichtfreisetzung verdampft wären oder als Mischung fortbestanden hätten. Sonnenfeuer kann es auch nicht sein, weil laut Goldwater der Feuerball dann weißgelb hätte leuchten müssen und eine starke Erhitzung der Umgebung bewirkt hätte. Daher vermutet mein auf Tränke spezialisierter Kollege gespiegelte Sonnenmagie, also Mondmagie."

"Häh, Riesenblut enthält eingelagerte Mondmagie?" wollte Millie wissen.

"Interessant, diese Reaktion kam auch von mir auf diese Erkenntnis. "Da Silber das Mondmetall schlechthin ist hat der Kollege Goldwater es mit dem Gift in Berührung gebracht. Das Gift hat die Silberprobe aufgelöst und zu einem Bestandteil von sich gemacht, wodurch es zum die Blutgerinnung verstärkenden Stoff mutierte. Will sagen, wer das Gift-Silber-Gemisch in die Blutbahn bekommt stirbt an einer Unzahl von Blutgerinnseln", führte Aurora Dawn aus. Dann wartete sie mit der wohl heftigsten Erkenntnis der bisherigen Forschungen auf.

"Wenn man Halbriesenblut mit Gold in Berührung bringt, leuchtet es im Dunkeln schwach rot auf. Das brachte meinen Kollegen Goldwater auf die Idee, eine Probe des Schlangenmenschengiftes mit Gold in Berührung zu bringen: Ergebnis, Die Probe gefror innerhalb von vier Sekunden zu eis, als wenn etwas dem Goldstück und dem Gift die Wärme ausgesaugt hätte. Und das Gift selbst war danach neutralisiert, will sagen, die bereits durch andere Versuche bestätigten Effekte ließen sich nicht mit der von Gold berührten Probe wiederholen. Es gibt nur wenige Reaktionen in der Alchemie, bei denen die Temperatur der Reaktanden so schlagartig absinkt wie bei diesem Versuch. Auf jeden Fall hat uns das einen neuen Ansatz geliefert, den wir verfolgen."

"Ui, heißt das, dass Schlangenmenschen, denen jemand Gold auf den Körper legt einfrieren?" wollte Millie wissen. Julius vermutete was anderes:

"Das in dem Fall gilt, das Gold, das sonst für Zauberstabmagie schwer zu bezaubern ist, aber dafür die höchste Aufnahme von Zauberkraft überhaupt hat, dem Gift seine Wirkung entzogen hat und dabei ihm innewohnende Sonnenlichtkraft aufgebraucht hat, die ja die Quelle von Mondlicht ist, was sich in einer endothermen Reaktion geäußert hat, vielleicht."

"Endotherm?" wollte Millie wissen.

"Das ist das, was bei Zaubertränken als thermophage Reaktion bezeichnet wird, Millie", sagte Béatrice. "Nichtmagische Alchemisten oder Chemiker, wie dein nicht mehr unter uns weilender Schwiegervater, haben zurecht angenommen, dass manche Verbindungsreaktionen nur unter Aufnahme von Wärme von außen ablaufen können. Insofern hat das Gold dem Gift die Kraft entzogen, wobei es seine eigene innewohnende Sonnenkraft aufgebraucht hat. Abwesenheit von Sonnenlicht und -wärme ist ..."

"Kälte und Dunkelheit", grummelte Millie.

"Jedenfalls machen wir jetzt erst noch einige Reaktionsreihen, bevor wir mit Blutproben von Verwandelten hantieren", sagte Auroras Bild-Ich. "Ich wollte euch das auch nur sagen, damit ihr wisst, wie bei uns der Stand der Dinge ist."

"Ja, das mit den Magnetfeldrotoren habe ich ja schon mitbekommen", sagte Julius dazu. "Die funktionieren ganz gut, Julius. Noch einmal vielen Dank für diese Anregung."

"Ich wünsche euch noch eine gute Nacht", sagte Auroras räumliches Abbild. "Sollte noch was neues zu mir hinfinden kriegt ihr das über die Porträtverbindung, wenn die drei Prinzessinnen schlafen oder draußen im Garten spielen."

Julius dachte daran, dass mit dieser Erkenntnis eine neue Hoffnung bestand, Skyllianri unschädlich zu machen oder Menschen gegen ihr Gift zu behandeln, ohne mehrere Liter Halbriesenblut zu benötigen. Er dachte vor allem daran, dass er dann die Zauberflöte Ailanorars nicht herausholen und Anthelia/Naaneavargia deren Standort verraten musste.

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Am heiligen Berg Uluru, Sonnenuntergang am Abend der Tagundnachtgleiche

Sie musste die Ungeduld aus ihrem Herzen vertreiben, die Verachtung aus ihren Gedanken verscheuchen. Diese unwissenden Besucher, die um den Berg herumliefen, seine erhabene Erscheinung mit ihren Bildfangvorrichtungen bannten oder ganz vermessen auf ihm herumkletterten wie Ameisen auf einem Stück toten Fleisches, wollten nicht gehen. Doch sie mussten gehen. Denn nur wenn hier niemand ohne die uralten Kräfte in Körper und Geist war konnte sie sich über das Gedankenrufen mit den anderen abstimmen und jeder und jede für sich das bereits von hier aus geknüpfte Netz ertasten und auf etwas anderes einstimmen.

Die kluge Frau der Anangu, die von den hellhäutigen Landnehmern nur Morgennebel genannt werden sollte, fühlte die dunkle Kraft tief unter ihren Füßen. die gnadenreiche und auch gestrenge Mutter Erde hatte tatsächlich die vier vom alten Windkönig in den Berg gesperrten und in unweckbaren Schlaf versenkten Eidechsenmenschen wiedergeboren. Ja, und sie fühlte, dass aus deren unreinen Leibern ebenso die Saat neuen Lebens gequollen war. Wenn diese Saat aufging, so wusste Morgennebel, mochte das Ende der Menschenzeit gekommen sein. Doch wenn sie und alle, mit denen sie sich vor zwei Tagen getroffen hatte, das über das ganze große Land gewobene Netz umstimmen konnten, dass es statt nach der dem Berg entschlüpften unersättlichen Götterspinne nach den vier Wiedererwachten und ihren Durch unheiligen Kuss oder dunkle Empfängnis entstandenen Nachkommen suchte, würden sie hoffentlich noch früh genug die Gefahr aus der Vergangenheit erkennen und sie bezähmen, wenn es sein musste mit Hilfe der hellhäutigen, die einen ganz anderen Weg zu den hohen Kräften gefunden hattenund ihre Zauber mit den Mischungen aus starken Hölzern und kraftvollen Tierwesen wirkten.

Endlich schlossen die hellhäutigen Hüter der Besucherstätte den Zuweg zum Uluru. Die letzten Besucher wurden in den langen, auf runden Beinen dahingleitenden Häusern, die sie Busse nannten, davongetragen. Der letzte Wächter sah die ältere Frau aus dem Stamm der Anangu. Er wusste, wer sie war und vor allem, welche Macht sie hatte und begegnete ihr mit der ihr zustehenden Achtung und auch Unterwürfigkeit. Er kam zu ihr herüber und sagte: "Ich weiß, kluge Frau Morgennebel, dass ihr das nicht mögt, wenn Leute von überall her auf eurem heiligen Berg herumkrabbeln. Ihr und wir arbeiten ja daran, dass es ganz verboten wird."

"Will, Sohn des Marvin, ich freue mich sehr, dass immer mehr der fremden Menschen, die unseren Berg besuchen möchten, seine Erhabenheit würdigen und nicht auf ihm herumklettern. Die, die meinen, jeden Berg ersteigen zu müssen, um das Vorrecht der Götter für sich in Anspruch zu nehmen, von dort oben herunterzusehen, werden weder von den Ahnen noch von den Göttern vergessen und nach dem Tod erfahren, welche Missetaten sie begangen haben. Auch wenn ich sie immer wieder verachte, so muss ich am Ende doch Mitleid mit denen haben, die die Götter in dieser Weise herausfordern", sagte Morgennebel. "Du wirst jetzt in dein Haus zurückgehen und darauf hoffen, dass die dir zugesprochene Gefährtin mit dir eine erfreuliche Nacht verbringt, weil heute der Tag eures gemeinsamen Wortes ist, richtig?"

"Öhm, woher weißt du ... Öhm, ja, v-v-vielleicht. Aber Nur dann, wenn sie das auch will. Öhm, deshalb muss ich noch etwas für sie besorgen, um ihr einen schönen Abend zu bieten", sagte Will Dunning, der Aufseher des Uluru-Catatjuta-Parkes mit leicht geröteten Ohren. Morgennebel verstand die Hellhäutigen nicht. Sie wünschten sich häufig das leidenschaftliche Verschmelzen zwischen Mann und Frau, hielten es aber für unangenehm, darüber zu reden. Sicher, in ihrem Stamm galt die fleischliche und seelische Vereinigung auch als heilige Handlung und durfte nur zwischen einander zugesprochenen vollzogen werden. Doch darüber zu sprechen war ihr nie unangenehm gewesen, solange sie das wilde Feuer brennender Begierden verspürt hatte und mit dem, mit dem sie das gemeinsame Wort gesprochen und sich ihm damit verbunden hatte, ihre Kinder ins Leben gerufen hatte.

Will verabschiedete sich von der ihm unheimlichen Frau, die manche seiner Kollegen als "Buschhexe" bezeichneten, was Morgennebel erst als Beleidigung gesehenhatte, bis ihr einer der Besucher erklärt hatte, dass eine Hexe in frühen Zeiten nicht nur als Dienerin der dunklen Kräfte, sondern als weise, die Kräfte der Schöpfung und der hohen Mächte gleichermaßen kennende und für gutes wie böses verwendende Frau war. Seitdem konnte sie mit diesem Wort leben.

Endlich war jeder fort, der ihre Kräfte an der Entfaltung hindern konnte. Anders als vor mehreren Jahren, als sie sich hier getroffen hatten, um den Berg zu bitten, ihnen die Kraft zu geben, die entkommene Götterspinne zu finden, wo immer sie war, brauchte sie heute nur ein kleines Feuer zu machen und dieses zu umtanzen und zu singen, dass das unsichtbare Netz die vier Wiedererwachten erspüren konnte, wo immer sie waren. Ihr selbst würde dabei helfen, dass sie die Nähe dieser Geschöpfe spürte. Sie lauerten in der Tiefe, in der ewigen Dunkelheit im Leib des heiligen Berges. Irgendwo dort unten lenkten sie ihre Getreuen. Weil sie das spüren konnte würde sie die Wegweiserin sein, jene, die den anderen half, das Netz umzuändern.

Zunächst schnitt sie sich mit einem kleinen Messer in die Haut ihrer rechten Hand und berührte damit behutsam die Wand des heiligen Berges und summte in ihrer Sprache: "Mein Blut gebe ich dir, deine Gnade wirkt in mir!" Als sie fühlte, dass Uluru ihre Opfergabe angenommen hatte und sie winzige Körnchen seines mächtigen Leibes in der frischen Wunde brennen fühlte, entzündete sie einen kleinen Holzstoß in einem Ring aus Steinen mit den Rufbewegungen des Feuers. Zwischen ihren Händen sprühten sonnenaufgangsrote Funken. Dann schlugen diese auf die dünnen Zweige über, die zwischen längeren Holzstücken herausragten. Unvermittelt entsprangen erst kleine und dann richtig groß auflodernde Flammen und begannen knisternd, knackend und prasselnd das ihnen dargebrachte Holz zu verzehren.

Das Licht der tanzenden Flammen vereinte sich mit dem letzten Glühen des Tages und schuf einen wilden Tanz von Lichtern und Schatten auf der westlichen wand des Uluru. Nun begann Morgennebel aus den Tiefen des eigenen Leibes heraus zu singen. Die Töne klangen zum Knisternund Knacken der im Feuer zerfallenden Holzstücke. Mit zwei Klanghölzern begann die weise Frau der Anangu einen Takt zu schlagen, während sie das machtvolle Lied mit einer tiefen Stimme sang. Sie fühlte, wie die Kraft der Erde in ihre nun nackten Füße einfloss und durch ihren Unterleib nach oben stieg, in ihren Kopf kroch und von da mit den gesungenen Tönen zurück in die Luft entwich. Jetzt begann die Anangu-Zauberin zu tanzen, mit klaren, seit alten Zeiten überlieferten Schritten, welche die Erde, das lebende Fleisch und die von ihr ein und ausgeatmete Luft miteinander vereinten. Jeder Schritt entsprach auch einem Wort. Jede Silbe wurde von einer bestimmten Bewegung von Füßen, knien, Unterleib, Armen oder Händen begleitet. die vom Feuer erhitzte Luft einatmend und im Gesang die Kraft der Erde ausatmend war sie gerade die Verbindung zu Feuer, Wind und Erde, den Kräften, aus denen sie gemacht war. Und in ihr floss das Blut, das sie dem heiligen Berg geopfert hatte und so mit diesem verbunden war, als Wasser des Lebens, als Quelle von Leben, Leid und Tod zugleich. Sie fühlte, wie der uralte Atem des heiligen Berges sie berührte, in sie eindrang, sie ausfüllte und dann leicht verändert von ihr selbst wieder ausgestoßen wurde, von den Tönen getragen, die das uralte Lied der großen Kräfte bildeten.

Morgennebel fühlte, wie sie und Uluru miteinander klangen. Doch sie fühlte auch, wie die darunter wohnenden Geschöpfe dunkler Mächte es verspürten, dass nach ihnen gesucht wurde. Sie fühlte, wie zwei davon sich unter dem Berg entlangwanden und sich von ihr entfernten. Ihr Schatten auf der Felswand wurde von den munteren Flammen umschlossen, ohne den Schatten zu zerstören. Nur wenn sie dem Licht des Feuers freie Bahn zur Wand gab sah sie die sich jagenden Lichter und Schatten, fressen und gefressen werden. Die ewigen Gesetze allen Lebens, sie wurden im Licht der Flammen auf dem heiligen Berg selbst nacherzählt. Sie war und blieb die Verbindung zwischen allem hier, die Vermittlerin, die Erbittende und die Erfüllende.

Dann fühlte sie, wie die beiden aus dem tiefen Grund unter dem Berg entschlüpften versuchten, sich ihm von oben her zu nähern. Sie fühlte, wie die Töne ihres Liedes gerade so noch zu ihnen vordrangen und um sie herumflossen, zurück in die Erde. Dabei fühlte sie, wie die unheilvollen Wesen ihr immer deutlicher wurden. Sie fühlte nun auch die Verbindung zu den anderen weisen Männern und Frauen, die weit über das große Land in allen ihren Völkern an den ihnen heiligen Orten und Wegkreuzungen der Kräfte tanzten. Das Netz wurde fühlbar, und die beiden Geschöpfe, die versuchten, näherzukommen und doch von der Kraft des Berges zurückgewiesen wurden, verrieten den jeden für sich doch alle miteinander tanzenden ihre Beschaffenheit, ihre Lebenskraft, ihr inneres Wesen. Diese Erkenntnis, dieses gefühlte Wissen, floss in die gesungenen Worte der Macht und in die getanzten Formen der hohen Kraft ein und wurde mit dem bereits bestehenden Netz verwoben, das durch Bäume, Sträucher, Gräser und Steine gewirkt war. Sie knüpfte durch die Erde eine Verbindung zu jenen, die immer wilder versuchten, zu ihr hinzugelangen, sie zum Schweigen zu bringen und dadurch genau das taten, was ihr half, um ihr Lied noch mächtiger wirken zu lassen.

Für Menschenohren unhörbar drangen tiefe Töne aus dem Berg, flossen durch ihn hindurch zu der Sängerin und Tänzerin und den beiden Eidechsenmenschen, einem Mann und einer Frau, die mit unverkennbarer Verärgerung auf das Feuer und die es umtanzende nur mit einem Leder um den Unterleib bekleidete Frau blickten. Sie erfasste, wie die beiden Widersacher sie ansahen. Doch sie hatte sich schon so tief in den Fluss der hohen Kräfte hineingetanzt und gesungen, dass sie weder Angst noch Abscheu fühlen konnte. Sie fühlte, wie die bleichen Augen ihr aus sicherer Entfernung zusahen, sie zu ergreifen versuchten und dann von der Helligkeit des Feuers geblendet von ihr abließen. Jetzt hatte sie die Lebensschwingungen der anderen vollends erfasst und durch Tanz und Gesang in das bereits gewobene Netz übertragen, das immer mehr auf deren einzelnen Lebensschwingungen erzitterte. Immer stärker und fester wurde diese neue Kraft, verteilte und vereinte sich in allem, was sie durchdrang. Als Morgennebel merkte, dass die hohen Kräfte nicht weiter gesteigert werden konnten, sang sie die Töne und Silben des behutsamen Endes, blickte in das von ihr umtanzte Feuer, sog mit Augen und Nase die Kraft des leuchtenden Elementes in sich ein und gab sie durch den Tanz an den Boden und durch die gesungenen Töne an die Luft zurück.

Langsamer und langsamer umtanzte Morgennebel das Feuer. Dann, als sie mit dem Rücken zum heiligen Berg Uluru stand und ihr Schatten zwischen den darauf widerscheinenden Flammen stand, sang sie den letzten, von ihrem Alter leicht angerauhten, aber nicht schwankenden Ton, der sich ausbreitete und die Wand hinter ihr, den Boden unter ihr und die Luft um sie herum berührte. Sie fühlte, wie dieser klare Ton die Verbindung mit dem unsichtbaren Netz vollendete. Wenn einer der Eidechsenmenschen es nun berührte würde es ihn verraten, ob sein Strang von ihm kurzzeitig durchtrennt oder nur angestoßen wurde. Wo immer einer von denen jetzt auftauchte, sofern es das weite, unberührte Land mit seinen Steinen, Bäumen, Sträuchern, Gräsern und Tieren war, würde jeder von diesen Wesen geküsste und in eines ihrer Art verwandelte erkannt und konnte von den mächtigen Männern und Frauen gefunden werden.

Offenbar wurden sich die sie vergeblich anstarrenden Eidechsenmenschen dieser neuen Lage bewusst. Denn sie liefen davon, um weit von ihr fort in den Boden zurückzusinken. Sie fühlte, wie die Mutter Erde diese ungeratenen Kinder in sich aufnahm und ihnen erlaubte, in ihrem Leib zurück zum Berg zu kriechen. Sie fühlte, wie Uluru sie nach unten zurückstieß, in seinen Tiefen einschloss. Sie konnten nicht bei ihr herauskommen. Ulurus ewiger Atem umfloss und durchdrang sie, schützte sie vor diesen Kindern dunkler Träume aus weit zurückliegenden Zeiten.

Morgennebel umtanzte das Feuer nun ohne Worte. Denn sie wollte dessen Wärme und Kraft weiterhin in sich fühlen, sie mit der Erde teilen, durch ruhiges, tonloses Atmen mit der Luft verbinden, derselben Luft, aus der die Flammen ihre Kraft zogen, um das von ihnen bevölkerte Holz restlos zu verzehren, so dass am Ende nur noch glühende Asche im steinernen Ring zurückblieb. Erst als die letzten Flammen ihr Dasein aushauchten und in sich zusammensanken und als schwach glimmende Glut in der Feuerstelle vergingen, beendete Morgennebel ihren machtvollen Tanz. Nun mit dem Rücken zum niedergebrannten Feuer stehend betrachtete sie den ebenso nur noch von den Nachtgestirnen schwach erleuchteten Berg und verneigte sich vor dessen Erhabenheit. Dann ging sie in die Hocke, breitete ihre Arme aus und dachte die Worte und die alten Namen ihres Seelentieres. Sie fühlte, wie ihr Kopf und ihre Arme sich veränderten, fühlte, wie ihrem Körper Federn entwuchsen, spürte, wie ihre Füße sich wandelten. Um sich herum schien alles zu wachsen. Wer nun auf sie sah konnte sehen, wie die hellen Federn aus ihrer Haut immer dichter wurden, wie ihre Arme und Hände zu Flügeln wurden und ihr Kopf zu einem Vogelkopf verformt wurde, und das alles, ohne dass sie Schmerzen fühlte. Auch dauerte der magische Vorgang nur drei Atemzüge. Dann flog ein Kakaduh auf, schraubte sich nach oben und schwebte unterhalb der höchsten Stelle Ulurus bleibend davon. Mit weit durchschwingenden Flügeln flog die Verwandelte Zauberin der Anangu davon, unbemerkbar von den unter ihr eingeschlossenen Widersachern, weil sie für diese schon zu hoch flog. So erfuhren diese nicht, wo sie wohnte.

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Zur selben Zeit unter dem alten Festungsberg des Windkönigs

Ashlohuganar war wütend, ebenso die mit ihm zusammen an die Oberfläche gereiste Gooramashta. Sie hatten gefühlt, wie der Berg über ihnen von einer fremden Kraft zum sanften Schwingen gebracht wurde. Doch sie konnten nicht hinaufsteigen, um zu erkennen, wer das tat und warum. Sie mussten dafür erst mehrere hundert Schritte weit aus den Höhlen unter dem Berg hinaus und durch einen der Zugänge hinaus. Sie waren dann gerade bis auf hundert ihrer Schritte an den Berg herangekommen, ohne von dessen Kraft zurückgestoßen zu werden und hatten die Tänzerin gesehen, die mit ihrem Tanz und ihrem Lied was machte, was das von ihr gemachte Feuer, den alle umwehenden Wind und den mächtigen Berg vereinte, gegen sie, die Skyllianri. "Ich kann sie nicht ergreifen, nicht ihr inneres Selbst lähmen", hatte Gooramashta geknurrt. Ashlohuganar hatte darauf erwidert, dass die Kraft des Windkönigs doch noch stärker war als ihre eigenen Kräfte. Dann hatte er gesagt: "Sie will uns wohl von hier verjagen. Doch das gelingt nicht. Diese Närrin ist zu schwach. Aber dass ihr der Berg zuhört gefällt mir nicht. Wir müssen was machen, um den Berg ganz für uns zu haben, die alte Kraft des Windkönigs aus ihm vertreiben, notfalls durch die Kraft des letzten Opfers."

"Ja, das werden wir. Doch erst dann, wenn unsere Brut geschlüpft ist, Ashlohuganar. Und erst dann, wenn wir wieder so viele sind wie damals, wo wir dieses Land fast schon für uns hatten, bevor der verwünschte Windkönig seine grauen Todesvögel zu uns heruntergeschickt hat", hatte Gooramashta gesagt. Dann waren sie beide wieder in ihr Versteck weit unter dem roten Festungsberg zurückgekehrt. Doch sie fühlten, wie der den Winden preisgegebene obere Teil des Berges über ihnen weiterzitterte, für Menschen ohne die hohe Kraft unspürbar. Doch sie wussten, dass der Berg sie nun bewachte, ihre bewegungen erfühlte und weiterhin vereitelte, dass sie in seiner Nähe aus der Erde dringen konnten. Ja, sie mussten erst viel mehr werden, um ihn endgültig zu erobern, damit die Zeit des alten Windkönigs endgültig vergangen war. Vielleicht würde die von ihnen und den sechs ersten Einberufenen gelegte Brut ihnen dabei helfen.

Die vier Verkünder des Erhabenen ergriffen sich bei ihren schuppigen Händen und erzählten ihren Einberufenen, dass der Berg von einer Tänzerin der Dunkelhäutigen gegen sie aufgebracht wurde. Sie übermittelten das Bild der Tänzerin und befahlen, dass jeder und jede, der oder die sie sah, sie nicht einberufen, sondern töten sollte. Denn die vier Wiedererwachten dachten, dass dann die Wachsamkeit des Berges erlahmte, ja der Berg selbst in tiefen Schlaf fiel, so dass sie ihn ohne Widerstand erobern konnten. Sie wussten ja nicht, was der magische Tanz und das mit ihm zusammen gesungene Lied für einen Zweck hatten, woher auch?

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500 km westlich der australischen Botanikerbucht, 22.09.2003, 04:10 Uhr Ortszeit

Sie wusste, dass hier womöglich noch jenes von den Ureinwohnern aufgespannte Netz aus magischen Strängen wirkte, mit dem Naaneavargia damals auf diesem Erdteil gesucht wurde. Deshalb galt es, unerwünschte Beobachter oder gar Störenfriede aus den Eingeborenenstämmen abzuhalten. Erst wenn sie alle Vorbereitungen getroffen hatte, um ihren Einsatz gegen die Schlangenmenschen zu beginnen, wollte sie das australische Zaubereiministerium zumindest vorwarnen, dass sie ebenfalls tätig werden würde.

Da sie auch davon ausging, dass die Wertiger von den wiedererwachten Schlangenmenschen erfahren mochten, hatte sie über deren ermittelten Wohnrevieren im südindischen Urwald weitere Beobachtungsposten eingerichtet. Sollten die Wergestaltigen Anstalten machen, ihr zugebilligtes Wohngebiet zu verlassen, würde sie wohl deren neuen Tempel in Schutt und Asche legen müssen, wie sie es der Königin der Tigermenschen angedroht hatte. Doch bisher sah es nicht danach aus, als ob die gestreiften Todesboten aus Südasien Wind von der Neuerstarkung ihrer Erzfeinde bekommen hätten.

Als sie in jede Himmelsrichtung und den genau halbierenden Richtungen einen schon in den Staaten bezauberten Stein ausgelegt und mit den für die gewählte Richtung nötigen Worten der Erde aktiviert hatte konnte sie nun einen weiteren Kreis bilden, der im wesentlichen aus einer in drei Windungen verlaufenden Spirale bestand, die wiederum von acht speichenartigen Linien durchschnitten wurde. Diese besondere magische Spirale durchmaß zwölf lange Schritte der mächtigen Hexenmeisterin. Im gemeinsamen Mittelpunkt von Spirale und Speichenlinien legte jene, die im Moment eher Naaneavargia war, eine fünfzig Zentimeter durchmessende Granitscheibe aus. Am Außenrand der dreiarmigen Spirale begrub sie an jedem Ausgangspunkt einer der acht Linien einen weiteren Stein. Es waren acht verschiedene: Ein hellroter Rubin für Morgenröte und Sonnenaufgang, ein Topas für den Vormittag, ein mit Goldeinschlüssen gesprenkelter Stein für die Mittagsstunde, ein Bernstein für den Nachmittag, ein Spinell für Sonnenuntergang und Abendrot, ein blauer Saphirsplitter für die Zeit zwischen Abenddämmerung und Mitternacht, ein mit Silbererz durchsetzter Stein für die Mitternachtsstunde und ein Mondstein für die Zeit zwischen Mitternacht und Morgenrot. Wichtig war dabei, dass die für Vormittag, Mittag und Nachmittag stehenden Steine von Nordost- bis Nordwestrichtung auszulegen waren, wohingegen die Steine für die Nachtstunden von Südwest bis Südost auszulegen waren, da sie hier ja auf der Südhalbkugel war.

Als sie alle vorbehandelten Steine in der von ihr als richtig erlernten Weise ausgebracht hatte wirkte sie auf diese die Verknüpfungszauber, wobei sie jeden Stein mit einem gleichartigen Stein erwähnte, der viel weiter nördlich und westlich bereitgelegt worden war. Als sie mit den Worten "Madra Faianxarin Kadonoi!" die Verknüpfung vollendete, glühten die ausgelegten Steine von innen heraus in ihren jeweiligen Farbtönen. Acht Säulen stiegen auf, die auf doppelter Höhe des Spiraldurchmessers zum Mittelpunkt hinstrebten und dann acht sich an den Schenkeln berührende Rundbögen bildeten, deren innere Enden in der Granitplatte verschwanden. Anthelia/Naaneavargia umschritt in hier geltender Sonnenlaufrichtung im genauer Folge der noch zu sprechenden Zauberwörter das nun leuchtende Gefüge mit darauf deutendem Zauberstab, wobei sie in einer fast monotonen, tiefen Stimmlage die Zauberwörter sang, welche dieses magische Gebilde mit der nötigen Kraft aus Himmel und Erde erfüllte. Das ging vierundzwanzig Runden lang. Dann erstrahlten sämtliche Rundbögen in einem weißgoldenen Licht und begannen, um den gemeinsamen Mittelpunkt zu kreisen, wurden schneller und Schneller, bis sie zu weißgoldenen Doppelsäulen verschmolzen. Diese blieben eine volle Minute lang erkennbar. Dann versanken sie innerhalb eines ausgedehnten Atemzuges im Boden. Ein kurzes Zittern durchlief den Boden. Dann waren nur noch die Granitplatte und eine ebene Fläche darum herum sichtbar. Das Lied des freien Tores war verklungen. Ob der alte Zauber auch so wirkte wie die Altvertraute der Erdzauber und Erbin Sardonias hoffte würde sie erst am nächsten Tag in der Frühe erleben, wenn Sonne, Mond und Sterne einen vollen Tageskreis durchlaufen hatten.

Die höchste Schwester des Spinnenordens besah ihr Werk. Außer ihr und denen, die sie namentlich mit den ganz außen ausgelegten Unstörsteinen verbunden hatte, würde nichts und niemand dieses Gefüge körperlich oder magisch berühren können. Davon ausgehende Zauber flossen nach verlassen des Wirkungskreises unaufspürbar in den Boden ab. Anthelia/Naaneavargia legte keinen Wert darauf, die Tochter des schwarzen Felsens anzulocken. Daher würde die von ihr selbst erzeugte Erdmagie fast senkrecht im Gestein der tiefen Erde versickern und nicht wie Julius Latierres Lied der starken Mutter Erde verräterische Streukräfte hervorrufen.

Nachdem sie noch einmal die nun auf ihren Einsatz hinwachsenden Zauber überprüft hatte flog sie auf ihrem eigenen Harvey-5-Besen weiter nach westen, Richtung zentralaustralische Wüste. Dort würde sie einen ähnlichen Kreis aus Steinen und Zaubern errichten, dessen Bestandteile mit anderen Steinen vorverknüpft worden waren. Danach galt es noch, einen solchen Steinkreis an der Westküste zu errichten. Wenn die alle einen vollen Tag von den frei über sie ziehenden Himmelskörpern beleuchtet und bestärkt worden waren konnte sie ihr Vorhaben umsetzen, etwas, von dem sie bisher keiner ihrer Mitschwestern etwas erzählt hatte.

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In der Nähe der australischen Stadt Golden Coast, 22.09.2003, 22:30 Uhr Ortszeit

Sisufuinkriasha ärgerte sich. Überall wo sie hinkam und nicht durch eine von vielen unterirdischen Leitungen unterquerte Großstadt musste, traf sie keinen an, den sie auch finden wollte. Es sah verdammt noch mal danach aus, als wenn jemand alle ihre Freundinnen und Verwandten vor ihr gewarnt und gleich noch in Sicherheit gebracht hätte. So konnte sie ihren eigenen Feldzug im Auftrag der Verkünder des Erhabenen nicht fortsetzen.

Ihre ganzen Einberufenen wurden gleich beim ersten Einsatz erwartet und irgendwie außer Gefecht gesetzt. Sie hörte zwar zwischendurch immer wieder was von herabfallenden Netzen. Aber dann riss die Verbindung ab. Diese Hexen und Zauberer hatten sich voll auf die Krieger des Erhabenen eingestellt und benutzten wohl auch gewöhnliche Hubschrauber oder Gasballons.

Sie mied weiterhin große Städte, weil die dort verlaufenden Leitungen ihre Orientierung verwirrten. Auch wäre sie fast in einen Trupp dieser Zauberstabschwinger und Besenreiterinnen reingeraten, als sie selbst eine Cousine von ihr aufsuchen wollte. Das hatte ihr immerhin verraten, wer die Schuld an den bisherigen Fehlschlägen trug.

Eine ihrer letzten Hoffnungen, doch noch wen zu finden, die ihr treu diente, ohne so aufsässig zu sein wie Pangiaimmaya, stand sicher nicht auf der Liste der vor ihr zu schützenden. hier, in einer der Stadt Golden Coast vorgelagerten Kleinstadt, wohnte keine Verwandte von ihr, die jemand nachrecherchieren konnte. Hier wohnte Wendy Patton, mit der sie vor fünf Jahren eine der ersten Wanderungen auf dem Kontinent gemacht hatte. Über diese Wanderungen gab es ihres Wissens nach keine offiziellen Akten, und was sie selbst darüber zusammengetragen hatte war ja mit allen anderen Unterlagen in ihrer Wohnung verbrannt. Sisufuinkriasha hoffte nur, dass Wendy nicht ein genauso faules Ei war wie Alice Widewater.

Auch hier verliefen zwar elektrische Leitungen, sogar eine unterirdische Hochspannungsleitung, die ein alle Sinne und ihren Körper erschütterndes Gedröhn von sich gab. Doch Sisufuinkriasha schaffte es, weit genug von dieser nicht für Ohren peinigenden Lärmquelle entfernt ihren Weg zu nehmen. Wenn sie ihrem neuen Richtungssinn trauen durfte war sie nur noch einen halben Kilometer von Wendy Pattons Haus weg. Um sicher zu sein, das richtige Haus zu erwischen, tauchte die blattgrüne Schlangenfrau durch die festen Gesteinschichten nach oben, umging ein Kanalrohr und glitt östlich davon durch die asphaltierte Oberfläche, als sie sicher war, dass keinAuto sie überfahren würde.

Die blattgrüne Schlangenfrau beeilte sich, aus dem Lichthof der nächsten Straßenlaterne zu kommen. Einen Moment spielte sie mit dem Gedanken, den elektrischen Strom in dieser Straße durch konzentriertes Zurückdrängen auszuknipsen. Doch das wäre wie eine Anmeldung. Abgesehen davon würden dann die Stromfirma und vielleicht auch Polizisten in die Straße kommen. Am Ende hatten die noch offizielle oder heimliche Verbindungen zu diesen Spitzhüten und Besenhockerinnen mit den Zauberstäben. Also ließ sie den Strom weiterfließen.

Sie sah das Haus, in dem die Pattons wohnten. Wendy lebte in einem zweigeschossigen kleinen Haus über der Wohnung ihrer Eltern. Angeblich tat sie das, um Geld zu sparen. Doch Sisufuinkriasha vermutete stark, dass sie nur verhindern wollte, dass ihre Eltern das Haus verkauften, weil es für sie alleine zu groß war und sie wohl keine Miter bei sich unterbringen wollten.

Vor den Fenstern waren die Rollläden heruntergelassen. Sie sah die hauchdünnen Lichtstreifen, die aus den beleuchteten Zimmern kamen. Behutsam und völlig lautlos umschlich Sisufuinkriasha das Grundstück. Sie fühlte das leichte Kribbeln aufgebauter Elektronik, womöglich Bewegungsmelder, die entweder Alarm auslösten oder einfach nur die Außenbeleuchtung einschalteten. Sollte sie dann wirklich unter der Erde entlang zum Haus hinüber und dann riskieren, von Wendys Eltern erwischt zu werden, wenn sie durch deren Wohnetage musste? Nein, musste sie nicht. Sie konnte auch wie eine Spinne oder Flige an einer glatten Wand hochklettern, wenn das Ziel nicht zu hoch war und sie nicht von wem dabei beobachtet wurde.

Endlich hatte sie heraus, wie sie sich vor den Bewegungsmeldern verbergen konnte. Die Dinger arbeiteten auf Infrarotbasis. Wenn sie möglichst am Boden entlangkroch konnte sie den Sensoren entgehen. Denn ihr neuer Körper strahlte nur noch einen Bruchteil der früheren Eigenwärme aus.

Wahrhaftig schlangenhaft kriechend, fast schon schwimmend, schlüpfte sie unter dem Zaun durch, blieb auf den Steinplatten zwischen den gepflegten Blumen- und Gemüsebeeten und erreichte das Backsteinhaus von der Rückseite her. Dann legte sie ihre Hände flach gegen die Wand und wünschte sich, daran festzuhaften. Das gelang. Mit einem anderen Wunsch schaffte sie es, je nur eine Hand oder einen Fuß fest anhaften zu lassen. So kletterte sie leise und unbeobachtet wie eine übergroße Fliege an der Wand hoch und erreichte das von Wendy bewohnte Stockwerk. In einem Zimmer brannte Licht, hatte sie von unten her gesehen. Außerdem spürte sie die Lebensausstrahlung einer erwachsenen Frau. Also war Wendy da. Die Jalousie war aus Plastik und irgendwie unten und oben eingehakt. Mit Plastik hatten die Krieger des Erhabenen Schwierigkeiten, weil es kein Naturstoff war. Durch Wände gehen wie ein Geist konnten die Krieger des Erhabenen auch nicht. Also hing sie gerade hier oben und wusste nicht, wie sie möglichst leise eindringen sollte. Blieb ihr am Ende doch der direkte Vorstoß durch die Wohnung der Eheleute Patton? Nein, die Gefahr war zu groß, dass einer der beiden laut rief und Wendy warnte.

Vorsichtig führte sie ihre rechte Hand an die Jalousie. Da fühlte sie die ganz schwache Kraft in den einzelnen Lamellen. Die Rollläden standen unter sehr schwachem Strom. Also waren sie wohl mit Alarmsensoren gespickt. Gut, dass sie noch kein Stück angefasst hatte. .

In großer Ferne hörte sie einen Knall ähnlich wie eine abgefeuerte Pistole. War das echt ein Schuss? Falls ja, dann sollte sie zusehen, schnell hier fertig zu werden, bevor die Polizei anrückte. Da rasselte es in der Jalousie vor ihr. Der Rollladen glitt sich zusammenfaltend nach oben. Jetzt konnte sie Wendys Gesicht von warmem Lampenschein umleuchtet erkennen. Vielleicht wollte Wendy nachsehen, was da gerade geknallt hatte, wenngleich das ziemlich dämlich erschien, ausgerechnet dann die Nase aus dem Fenster zu stecken, wenn irgendwo geschossen worden war. Tatsächlich machte Wendy das Fenster jetzt auch noch auf und wollte wohl in die Nacht hinausblicken. Das war doch die geniale Gelegenheit für Sisufuinkriasha, in das Zimmer hineinzuspringen und Wendy den Kuss der Einberufung zu geben. Danach konnte sie einfach wieder verschwinden und Wendy sich selbst überlassen, bis sie durch die Verwandlung war.

Sisufuinkriasha wartete noch eine Sekunde, bis das Fenster ganz geöffnet war und von drinnen ein Gemisch aus Essensgeruch und Schnittblumen warm herauswehte. Aus dem Schatten kommend warf sich die blattgrüne Schlangenfrau vor und schlug ihre Zähne in Wendys Gesicht. Da war ihr, als explodiere etwas direkt unter ihrer Nase. Sie fühlte unvermittelt, wie aus Wendys Körper jede Kraft wich und wie die junge Frau, die sie hier antreffen wollte, schlagartig zusammenschrumpfte. Der Schwung ihres Angriffs warf Sisufuinkriasha in das Wohnzimmer hinein. Dabei fiel sie über das, was aus Wendy geworrden war, ein simpler Gartenstuhl. Sie wollte sich abfangen und schaffte es noch, ihre Hand auf den Boden zu kriegen. Der Boden gab ein wenig nach. Dann sah sie, dass unter dem Teppich dick aufgeblasene Luftmatratzen lagen. Als sie auf dieser Vorkehrung landete merkte sie, dass ihr gerade ein Gutteil der bisher zufließenden Erdkraft fehlte. Dass sie in eine Falle geraten war bestätigte sich, als dann auch noch über ihr etwas raschelndes von der Decke fiel. Wütend, derartig ausgetrickst worden zu sein wälzte sie sich herum und versuchte, die auf sie niedergefallene Plastikfolie abzuschütteln. Doch das geriet zum Fehlschlag. Denn mit jeder Bewegung zog sie noch mehr mehrlagigen Kunststoff von der Decke herunter, der sie immer mehr überdeckte und einwickelte. Gleichzeitig zischte es in den unter ihr ausgelegten Luftmatratzen. Sie bliesen sich noch mehr auf, so dass sie immer mehr federnde Bewegungen machte und gleichzeitig immer weniger Verbindung zur festen Erde hatte. Sie fühlte zwar noch genug Erdkraft durch ihren Körper fließen, um nicht in ihre Menschenform zurückverwandelt zu werden. Doch dieses ganze Plastikzeug behinderte sie doch sichtlich. Dann fühlte sie auch noch, wie statt der zwei Lebewesen im unteren Stockwerk fünf weitere Wesen aus dem Nichts erschinen. Dabei knallte es wie fünf fast gleichzeitig abgefeuerte Pistolen. Also das war der Knall eben gewesen. Also steckten diese Hexen und Zauberer hinter diesem gemeinen Trick. Das hieß für sie, sie musste ganz schnell von hier weg.

Sich windend und immer wieder anspannend wollte sie die dicke Folie von sich abwerfen. Sie fühlte bereits, wie ihr die Luft knapp wurde. Wollten die sie etwa ersticken lassen? Zuzutrauen war es denen.

Endlich schaffte sie es, einen Teil der sie einschnürenden Umhüllung aufzureißen. Frische Luft drang zu ihr durch. Doch das reichte nicht. Sie musste zum Fenster und ganz schnell wieder hinaus, in die Tiefe springen und dann unter die Erde. Sie rief Sharikhaulaia um Hilfe, dass sie gerade von den anderen in eine Falle gelockt worden war. Immerhin das ging noch.

"Ich habe dir gesagt, nicht mehr die anzugreifen, die dich kennen", war die Antwort. "Aber ich kann dir zwanzig neue Schwestern schicken, wenn du mir verrätst, wo genau du bist."

Sisufuinkriasha wollte gerade verraten, wo genau sie war, als sie fühlte, dass irgendwas über ihr und um sie herum aufgespannt wurde, das die direkte Gedankenverbindung störte. Es war ähnlich dem Gebrumm der Elektrischen Leitungen und doch nichts elektrisches. Immer stärker wurde das Störgeräusch in ihrem Kopf. Dann kam noch eines dazu, auf einer etwas anderen Schwingung. Sie versuchte noch einmal um Hilfe zu rufen. Doch ihre eigenen Gedanken wehten ihr als wild verzerrte Echos in den Kopf zurück. Also hatten die auch rausgekriegt, wie sie ihre Verbindung zu den anderen unterbrechen konnten und einen Telepathiestörsender gebaut, diese Huren und Hurensöhne aus dem Märchenland. Die Wut über diesen Angriff auf sie machte sie doppelt so stark und wendig. Sie schaffte es endlich, die sie um schnürenden Plastikfolien loszuwerden, trotzdem ihr ein Gutteil der Erdkraft fehlte. Jetzt war sie wieder frei. Nichts wie hinaus und unter die Erde!

Sie hüpfte auf der straff aufgeblasenen Luftmatratzenkonstruktion zum offenen Fenster, trat dabei den Gartenstuhl fort, der eine zugegebenermaßen geniale Simulation von Wendy Patton gewesen war und sprang durch das Fenster hinaus. Erst als wie frei fiel merkte sie, dass sie endgültig in die Falle gegangen war. Denn direkt unter ihr stapelten sich zehn bis zwanzig dieser vermaledeiten Plastikluftmatratzen übereinander. Sie landete auf der obersten und fühlte, wie die beim hinausspringen getrennte Verbindung zur Erde sie schwächte. Diese Dinger da unter ihr schluckten den größten Anteil der Kraft. Sie fühlte, dass ihr Körper immer mehr verändert wurde. Es ging langsam. Um so mehr tat es ihr weh. Sie stieß schmerzvolle Zisch- und Fauchlaute aus, biss verzweifelt in den Stoff unter sich und schaffte es fast, die oberste Matratze zu durchlöchern. Doch die Kunstfaser war fester als Leinenstoff und gummiartiger als Naturgummi. Sie fühlte nur, wie das eigentlich für Wendy bestimmte Gift aus ihren Zähnen spritzte und sich unter ihrem Gesicht verteilte, bis sie an starken Kopf- und Zahnschmerzen und einem sehr unangenehmen Gefühl in ihrer Zunge merkte, dass die sie noch erreichende Erdkraft zu wenig war, sie in der erhabenen Gestalt zu halten. Dann fühlte sie, wie ihr Schuppenkleid in die Haut zurückwich. Und immer noch umgab sie jenes schwirrende, überlaute Getöse, das sie am direkten Geistrufen hinderte. Dann wurde sie mit einem letzten Ruck wieder Lissy Thornhill, die Abenteurerin und Weltreisende. Allerdings trug sie gerade keinen Faden Stoff am Körper.

"Joh, ihr Drecksäcke und 20-Dollar-Nutten, ihr habt mich erwischt. Aber ergeben werde ich mich nicht. Wir werden euch am Ende kriegen!" rief sie trotzig in die Nacht hinaus. Sie versuchte, von dem Stapel Luftmatratzen wieder runterzukommen. Das gelang ihr auch bis zur vierzehnten. Hier fühlte sie, wie die Erdkräfte wieder etwas stärker wurden. Doch als sie schon ansetzte, aus dieser Höhe hinunterzuspringen erschien neben ihr ein Mann im dunklen Umhang und hielt ihr einen Holzstab an den Kopf. Erst meinte sie, starke Kopfschmerzen zu haben. Dann konnte sie sich nicht mehr bewegen. Sie fühlte nur ein wildes Prickeln.

Der andere verschwand mit scharfem knall. Ihr war, als kämpften zwei Sachen in ihr, um sie entweder weiter bewegungsunfähig zu halten oder wieder ganz beweglich zu kriegen. Dann merkte sie, wie von unten jemand den ganzen Stapel mit den Luftmatratzen und ihr darauf immer höher nach oben hob, bis die gerade noch wieder aufkommenden Erdkräfte wieder von ihr abließen und sie nur noch völlig bewegungsunfähig dalag.

"Ja, Jungs, so halten, sonst kommt die doch noch nahe genug an den Boden ran", hörte sie einen mittelalten Mann mit Sydney-Dialekt sprechen.

"Die Kollegen könnten echt langsam mit dem lauten Luftzerquirler anrücken. Die schluckt trotz der vielen Matratzen einen Teil vom gemeinsamen Schwebezauber."

"Nicht so brüllen, Tim. Davon kommt dieses lautstarke Fluggerät auch nicht schneller her", antwortete eine ältere, eindeutig befehlsgewohnte Frauenstimme. Sisufuinkriasha alias Lissy Thornhill konnte im Moment nichts machen. Die hatten sie voll verarscht, ganz fies in eine hundsgemeine Falle reinlaufen lassen. Die hatten doch gecheckt, dass Wendy Patton mit ihr was zu tun hatte und diese Nummer mit den vielen Matratzen gebracht und wollten sie jetzt wohl mit einem Hubschrauber aufpicken. Sie wusste, was das hieß. Doch sie konnte nicht mehr telepathisch um Hilfe rufen, weil da in ihrem Kopf dieses ganz hinterhältige mehrstimmige Störgeräusch war. Dann ploppte es, und wieder war wer neben ihr. "Gleich bist du wieder im Warmen, Mädchen", hörte sie die Frauenstimme von eben. Dann merkte sie, wie ihr jemand den linken Arm vom Körper wegzog und irgendwas darum herumband. Da meinte sie, dass etwas ihren Kopf mit einer eiskalten Zange zusammendrückte, sich durch die Schädelknochen direkt zum Gehirn vorarbeitete und es mit einem grellen Lichtblitz auslöschte.

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"Die ist echt Mutig", dachte Lawrence McBane, als er sah, wie die Großheilerin Bethesda Herbregis persönlich neben der gerade in der Gestalt einer noch jungen, völlig nackten Frau apparierte und ihr das Antimentiloquismusarmband umlegte, dass sie nach der Meldung von den Unterbrechungssteinen angelegt hatten, um den von Bethesdas Kollegen Stonebell erfundenen Antimentiloquismusdom zu errichten. Wer kein Armband gegen erwünschtes und unerwünschtes Mentiloquieren trug, so Stonebell, würde ein vielstimmiges Gesumm im Kopf haben, das die eigenen Gedanken überlagern und bei zu langer Behandlung in den Wahnsinn treiben konnte. Doch dieses Verfahren hatte sich bereits gegen Dutzende erkannter Schlangenmenschen bewährt, um sie einstweilen von ihrem Lenker abzuschneiden.

Jetzt hatte die Leiterin der Sana-Novodies-Klinik auch noch der Gefangenen ein Antimeloarmband umgelegt. Doch das wirkte offenbar wie ein Schockzauber.

Mit einem leisen Plopp apparierte die silberblonde Großheilerin neben dem Leiter der magischen Strafverfolgung Australiens. "So, Verdächtige für Abtransport gesichert. In dem Zustand kann sie hoffentlich solange bleiben, bis unsere Heilmittelstudien ein für Menschen vertretbares Ergebnis erbracht haben werden", bekundete die Heilerin.

"Woran liegt es, dass die da oben jetzt bewusstlos ist? Ist es die Trennung der Meloverbindung oder die Zusammensetzung des Armbandes, weil da neben Grünstaudenfasern auch Gold und Silber drin verwoben sind?" wollte McBane wissen.

"Also, wie Sie ja mitbekommen haben konnten unsere Untersuchungen des Giftes zeigen, dass Gold es zersetzt, wobei das Reaktionsgefäß merklich abkühlt. In den Antimentiloquismusbändern ist nur ein wenig Gold verwoben, das nicht direkten Hautkontakt bekommt. Ich denke deshalb eher, dass es ausdrücklich die vollständige Abtrennung von der geistigen Führungsleine ist, an der diese armen Geschöpfe laufen. Zwar streiten sich meine Kollegen aus der psychomorphologischen Abteilung, ob diese Trennung bei zu langer Dauer in den Wahnsinn führt oder durch das Anlegen des Armbandes ein ähnlicher Zustand herbeigeführt wird wie beim Schockzauber. Doch dann gilt, dass der Körper auf Dauer mit direkt ins Blut gespritzten Nährstoffen versorgt werden muss, um nicht zu verhungern. Doch andere Methoden wie der Zauberschlaf oder der Trank des tiefen Heilschlafes schlagen bei gefangenen Schlangenmenschen nicht an, auch wenn sie zur Rückverwandlung gezwungen wurden ... Ah, dieses motorgetriebene Schwirrflügelgerät geruht doch noch einzutreffen."

Tatsächlich war das für Hubschrauber unverkennbare schnelle Flappen der Rotorblätter zu hören, noch bevor das immer lauter werdende Singen der Antriebsturbine zu hören war. Mit Zauberstablichtern wiesen die gerade nicht am Schwebezauber mitwirkenden Ministeriumszauberer und Heiler die Flugmaschine ein, das sie genau über der Gefangenen herabsank und ein engmaschiges Netz über ihr auswarf. in dieses wurde die bewusstlose Schlangenfrau eingewickelt und über die Winde des Hubschraubers nach oben gezogen. Falls sie doch noch irgendwelche Zauberkräfte gehabt hatte wirkten die jetzt auf keinen Fall mehr. McBane sah zusammen mit Herbregis zu, wie die nackte Schlangenfrau durch eine Luke im Boden der Maschine hineingezogen wurde. Dann drehte die Maschine ab und flog mit wild heulender Turbine und noch schneller flappenden Rotorblättern davon.

"Glauben Sie, dass gleich noch mehr von denen hier auftauchen, Bethesda?" fragte Lawrence McBane.

"Falls es ihr vor der Errichtung der Mentiloquismusblockade gelungen ist, um Hilfe zu rufen ja."

"Gut, alles wieder auf Ausgangspositionen!" rief McBane in eine kleine Silberdose. Schlagartig verschwand die Luft aus sämtlichen vor dem Haus und im Haus gestapelten Luftmatratzen. Die Hexen und Zauberer disapparirten, um mindestens zwei Kilometer entfernt oder zwei Kilometer über dem Boden zu warten.

Tatsächlich erschinen zwanzig weitere Schlangenmenschen und umliefen das Haus. Sie drangen sogar darin ein und suchten ihre Mitschwester. Doch weder sie noch sonst wer war aufzufinden. Dafür merkten sie, wie ihnen die überstarke Störung der Gedankenverbindung zu schaffen machte. Am Rande der Orientierungslosigkeit schafften sie es, wieder unter der Erde zu verschwinden. McBane, der das Treiben aus sicherer Flughöhe mitverfolgt hatte, meldete weiter, dass es am ende zwanzig Schlangenmenschen waren, die wohl nach der Gefangenen gesucht hatten. Die würden außerhalb der Mentiloquismussperre weitermelden, dass da was war, dass ihre geistigen Verbindungen gestört hatte. Somit waren die Schlangenmenschen gewarnt. Doch auch das nahmen die Ministeriumszauberer in Kauf, um der drohenden Invasion dieser Wesen entgegenzuwirken.

Lissy Thornhill wurde im bewusstlosen Zustand auf ein vor der australischen Küste im Kreis fahrendes Schiff mit Unfunkstein gegen Radarstrahlortung gebracht und sofort an eine Vorrichtung angeschlossen, die ihr Blut reinigte und mit frischen Nährstoffen versorgte. Denn womöglich mussten die Ergriffenen über Monate oder Jahre in diesem Zustand gehalten werden.

Wer genau die Idee gehabt hatte, gefangene Schlangenmenschen mit dicken Eisenschellen an Armen und Beinen auf einem Bett mit Eisengestell festzumachen und die Fesseln dann mit starken Magneten selbst magnetisch zu machen wusste McBane nicht. Er argwöhnte, dass es ein Muggelstämmiger Heiler sein musste. Immerhin wussten sie ja mittlerweile, dass starke Magnete mit ihren Kraftfeldern Schlangenmenschen zurückdrängen, anheben, niederdrücken oder bei Einflüssen aus allen Richtungen des Raumes bewegungsunfähig machen konnten. Auf diese Tatsache baute ein Verfahren, bei dem je ein Schlangenmann und eine Schlangenfrau auf einer schwimmenden Plattform gefesselt wurden, die unter einem Antimentiloquismuszauber stand. Wurde die Plattform mit dem Festland verbunden, strömte genug Erdmagie in die Gefangenen, dass sie sich in ihre gefährliche Fremdform verwandelten. Dabei zeigte sich, dass die ihnen angelegten Fesseln sie wahrhaftig bewegungslos hielten, die wild um sich schnappenden Mäuler konnten von Heilern in unmagischen Schutzausrüstungen kurzzeitig festgeklemmt werden und das bei jedem Zubeißen ausströmende Gift aufgefangen werden, so dass die Heilerzunft immer mehr von diesem tückischen Stoff gewann, um es mit dem Blut der Verwandelten vergleichen und mögliche Gegengifte entwickeln zu können.

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Australisches Zaubereiministerium, 23.09.2003, 09:30 Uhr Ortszeit

Die Zaubereiministerin saß gerade über einigen Schriftstücken, die vor zehn Uhr noch an die zuständigen Abteilungen weitergeschickt werden sollten. Da klingelte es melodisch aus leerer Luft heraus, und aus einem Briefschlitz in der Wand rutschte ein blassblauer Umschlag. Die Ministerin griff nach einer Leselupe, die zugleich ein Flucherkenner war und begutachtete den Umschlag damit. Sie meinte noch, einen violetten Nebel zu erkennen, aus dem sie ein Frauengesicht ansah. Da schlugen grüne Flammen aus dem Pergament heraus. Der Umschlag zerfiel, und aus dem grünlichen Rauch formte sich eine knapp 60 Zentimeter große Erscheinung, die immer mehr die Gestalt einer unbekleideten Frau mit blassgoldener Hautfarbe und dunkelblonden Haaren annahm. Neben der überragend anziehenden Figur der Frau fielen der Ministerin die kreisrunden, grünblauen Augen auf, die ähnlich wie bei Ginger Fleetwood etwas größer waren, aber sehr entschlossen und durchdringend auf sie blickten. Die Ministerin wollte schon einen Alarmzauber auslösen, als die aus dem verbrannten Umschlag entschlüpfte Erscheinung mit sphärischer, wie aus großer Ferne dringender Stimme sprach:

"Meine liebe Schwester der Hexenheit, Latona Rockridge, ich, die höchste Schwester des weltweit tätigen Ordens der schwarzen Spinne, spreche zu dir, sofern dein Fluchwarnartefakt diesen Mitteilungszauber auslöst. Ich kündige dir an, dass ich von dem Unrat, der deine Heimat verseucht, erfahren habe und auch ohne deine ausdrückliche Bitte allen bei dir lebenden Schwestern und ihren Angehörigen beistehen werde, so gut ich dies kann, und das ist nicht wenig. Womöglich wirst du in den nächsten Tagenoder Wochen über Vorkommnisse unterrichtet, die dein Mitmenschlichkeitsgefühl erschüttern mögen. Doch anders als die Heilerinnen deiner Heimat, die auf Geduld und beharrliches Forschen hoffen, kann und muss ich der Brut aus längst vergangener Zeit jetzt schon Einhalt gebieten, bevor sie unbeherrschbar wird. Dies wird solange geschehen, bis ich aus den mir verfügbaren Quellen erfahre, dass ihr diese Pest im Griff habt oder, was natürlich sehr erfreulich wäre, ein wahrhaft wirksames Heilmittel gegen die davon befallenen habt. Ich muss nicht auf dein Einverständnis oder gar deine Anfrage warten. Ich will dir nur sagen, dass jeder Versuch, mich zu hindern mindestens zwanzig oder dreißig weitere Schlangenmenschen mehr bedeutet. Das werden dann auch unschuldige Menschen sein, die du dann womöglich töten lassen musst, wenn die Heiler unter der Führung von Laura Morehead kein gefahrenarmes Heilmittel herstellen können. Nur soviel, damit du weißt, dass wir nicht untätig bleiben. Denn wenn die Träger dieser Seuche genug Fachleute in ihren Reihen haben, das von ihnen verspritzte Gift auszulagern und mit den Fluggeräten der Magielosen über die Meere zu schaffen, wird die Seuche sich auch auf andere Erdteile ausdehnen. Meine Schwesternund ich werden daher nicht abwarten, bis diese Plage auch bei uns vor der Tür wütet. Soweit meine schwesterliche Mitteilungspflicht dir gegenüber."

Ohne weiteren Gruß zerfloss die Erscheinung über dem Schreibtisch zu grünem Rauch, der innerhalb weniger Sekunden restlos verwehte.

"Das war zu erwarten, dass ausgerechnet die sich einmischt", knurrte die Ministerin. Dann rief sie McBane zu sich hin und erzählte ihm von dieser höchst unwillkommenen und durch alle Sicherheitsprüfungen geschlüpften Mitteilung.

"Ein auf einen Breitbandflucherkenner abgestimmter Mitteilungszauber in Bild und gesprochenen Worten? Der ist mir total neu", sagte McBane.

"Ja, weil dieses Weib wohl über die mit ihr fusionierte Spinnenfrau, die bei uns aus dem Uluru gekrabbelt ist, Sachen gelernt hat, die Redrock nicht im Lehrplan hat, Larry. Ich behaupte sogar, dass sie genau weiß, wie sie die Schlangenmenschen orten kann und dann gezielt gegen sie vorgehen wird, wobei ich eher denke, dass ihre treuen Mitschwestern das tun, sofern diese Hexe nicht Sardonias Insektenmonster nachgezüchtet hat. Falls ja, dann erteile ich hiermit die Erlaubnis, jedes Insekt größer als zehn Zentimeter im Flug abzuschießen, ob mit Armbrustbolzen, Feuerbällen oder dem Todesfluch."

"Verstanden, Ministerin Rockridge. Öhm, Geben Sie das auch an die Kollegin Flatfoot weiter?"

"Hmm, wenn bestätigt ist, dass diese Riesenbrummer wieder da sein sollten. Solange ist das nur Ihr Aufgabengebiet", sagte die Ministerin.

Als McBane wieder gegangen war ließ sich Quinlahalla bei ihr melden. Der von den anderen Zauberern der Ureinwohner gewählte Verbindungsmann zum Zaubereiministerium strahlte ungeschwächte Macht und Würde aus, als er hereinkam.

"Ich bin hergekommen, Sprecherin der hellhäutigen Träger hoher Kräfte, um dir zu sagen, dass wir, die Vermittler zwischen den Ahnen, der Schöpfung und den Menschen, das über alle Landstriche reichende Netz auf die Nachkommen der Eidechsenmenschen eingestimmt haben. Wir können sie nun finden, wo immer sie sich zeigen. Benenne uns einen Vermittler, der unsere Sitten anerkennt und euer Wissen hat, mit dem meine Brüder und Schwestern sprechen können, wenn sie die Kinder dunkler Träume erspüren.

"Gib mir Zeit bis zum nächsten Sonnenaufgang, Quinlahalla, dann werde ich dir einen Mann und eine Frau aus meinem Volk nennen, welche mit deinen Brüdern und Schwestern vereint nach den für uns alle gefährlichen Geschöpfen suchen werden", sagte die Ministerin. Dann überlegte sie kurz und sprach weiter: "Ich erhielt vorhin eine Botschaft einer Frau, die mächtig und entschlossen ist, aber sich nicht an die für unser friedliches Leben geltenden Gesetze gebunden fühlt. Auch sie sieht die Schlangenmenschen als Bedrohung und will diese mit ihren Mitteln beseitigen. Ich sehe die Schlangenmenschen, die von den vier im Berg versteckten erschaffen wurden, als Opfer, nicht als von sich aus böses wollende Unheilsbringer. Deshalb bitte ich dich und deine Brüder und Schwestern, darauf zu achten, ob fremde Frauen auf fliegenden Holzstäben über die Lande ziehen und dort, wo ihr die Kinder der vier Schlangenmenschen erfühlen könnt, etwas anstellen. Ich möchte dann meine Helfer dort hinschicken, um sie aufzuhalten."

"Welche Frau ist es? Wie heißt sie und wo kommt sie her?" wollte Quinlahalla wissen.

"Sie ist eine körperliche Vereinigung aus einer Angehörigen meines Stammes und jener, die mal eine schöne Frau und mal eine gefräßige Spinne sein kann. Offenbar hat sie dadurch das Wissen und das Können beider in sich verstärkt und sieht sich nun als Anführerin anderer zauberkundiger Frauen, die nicht mit den Gesetzen friedlichen Zusammenlebens einverstanden sind oder dieses nur zu ihren eigenen Bedingungen erlauben wollen. Wo genau sie herkommt weiß ich nicht, ob sie Anthelia heißt oder durch die leibliche Verschmelzung aus zwei magischen Frauen auch einen neuen Namen bekommen hat weiß ich auch nicht. Sie bezeichnet sich selbst als höchste Schwester vom Orden der Spinne. Ein Orden ist eine Vereinigung von Menschen, die im Namen eines Gottes oder eines Gedankens handeln."

"Ich kenne dieses Wort und seine Bedeutung, Latona Rockridge. Doch wie damals, wo wir die dem Uluru entstiegene Spinne gesucht haben gilt weiterhin, dass sie nicht getötet werden darf. Denn sie ist die Erbin mächtiger Windgeister und wird durch den Tod ihres Körpers selbst zu einem solchen mit sehr viel Macht. Bitte gib dies an alle, die dir beistehen, sie zu jagen. Sie darf nicht getötet werden", sagte Quinlahalla. Latona Rockridge bestätigte es. Aber was für die schwarze Spinne galt galt nicht für ihre Helferinnen oder gar Züchtungen. Immerhin würden die Ureinwohner ihr helfen, diese selbsternannte Erbin Sardonias oder Anthelias daran zu hindern, alle Schlangenmenschen umzubringen. Sicher, wenn sie auch die grauen Vögel rufen konnte - und Quinlahallas Worte deuteten sowas an, dann konnten sie diese nicht davon abbringen, ihren Daseinszweck zu erfüllen und die Schlangenmenschen zu töten. Doch noch wollte und durfte sie die Hoffnung nicht aufgeben und musste darauf hinwirken, dass die gefundenen Schlangenmenschen lebend gefangen wurden. Das erwähnte sie auch Quinlahalla gegenüber. Dieser verstand, was die Ministerin bewegte. Sie hoffte darauf, den Keim des bösen Daseins aus den Körpern der davon vergifteten auszutreiben. Doch ob das ging wussten weder er noch sie.

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500 km westlich der australischen Botanikerbucht, 23.09.2003, 23:05 Uhr Ortszeit

"Aun madrash a faianur Katokuri Oranduin!" rief die zwischen Außenabgrenzung und magischem Wirkungskreis stehende Hexe und zielte mit ihrem Zauberstab auf die gerade so erkennbare Granitfläche. Diese glomm in einem blutroten Licht. Dieses dehnte sich aus, formte jene dreiarmige Spirale, die die Beschwörerin gestern in den Boden eingegraben und bezaubert hatte. Dann flimmerte die Luft über dem Kreis, und drei Dutzend übergroße Gürtel mit glitzernden Anhängseln erschienen mit vernehmlichem Knallen und Ploppen. Die Beschwörerin atmete erleichtert auf. Sie konnte es also immer noch. Damals, wo sie selbst zur Erdvertrauten ausgebildet wurde, hatte sie genau diesen Zauber als ihre Weiheprüfung abgelegt. Er war die erste aber sehr ansprechende Stufe jener Zauber, die das Wegenetz der Erdvertrauten bildeten, das auf dem im Meer versunkenen Erdteil bestanden hatte und bot ebenso die Grundlage für das die ganze Weltkugel umspannende Netz der alten, fast vergessenen Straßen Altaxarrois. Über die nun neu geschaffene Verbindung hatte sie die wichtige Ausrüstung für jene geholt, die sie gleich vom Startpunkt der herbeigerufenen Gegenstände losschicken würde, nach dem sie ihnen die letzten, unmissverständlichen Anweisungen erteilt hatte. Sie hoffte, dass ihre gehorsamen Diener noch immer die besonderen Lebensschwingungen der Schlangenmenschen wittern konnten.

Sie prüfte noch, ob auch die zwei anderen Zauberspiralen in Tätigkeit traten. Zufrieden mit dem Ergebnis benutzte sie ihren auf Hin- und Rückreise bezauberten, für Ministeriumszauberer unortbar gemachten Portschlüssel, um in ihre Wahlheimat zurückzukehren.

Wäre jemand im Stande gewesen, näher als hundert Meter an die glühende Spirale heranzutreten oder hätte den von den Unstörsteinen errichteten Sperrzauber mit Fernbeobachtungszaubern durchblicken können, er oder sie hätte sicherlich beim Anblick der nächsten Ereignisse das kalte Grauen empfunden.

Es begann erst damit, dass die nun schwach glimmende Spirale erneut blutrot aufleuchtete, ja sogar noch eine Spur heller als bei der Herbeirufung der drei Dutzend übergroßen Gürtel. Wieder flimmerte die Luft über der dreiarmigen Spirale und der im Zentrum liegenden Granitscheibe. Dann krachte es dumpf und weit hallend. Danach brummte und summte es vielfältig. Innerhalb der Spiralwindungen waren sechsunddreißig Geschöpfe erschienen, die es laut der Lehrmeinung der magielosen Naturkunde gar nicht geben durfte. Menschengroße, vierflügelige Wesen mit dem Körper eines Insektes, aber mit den Köpfen von Menschen, nur dass den Köpfen noch armlange, haarige Antennen entsprossen. Kaum auf diese unheimliche Weise an diesen Ort gelangt griffen die Insektenmenschen nach den für sie abgelegten Gürteln und befestigten sie zwischen dem hinteren Armpaar und den spindeldünnen, aber sicher sehr starken Beinen um ihre Leiber, wobei sie genau wussten, wie sie ihre durchsichtigen, ab und an wild und brummend zitternden Flügel freihielten. Als sie alle die ihnen hingelegten Gürtel trugen richteten sie ihre haarigen Fühler in alle Richtungen aus und verharrten auf der Stelle. Dann, auf ein unhörbares Zeichen hin, stießen sich die nun eindeutig drei Dutzend Insektenmenschen vom Boden ab und jagten mit laut hallendem Gebrumm davon, immer in Gruppen zu sechs Einzelwesen. Die Lichtspirale, welche sie an diesen Ort gebracht hatte, glomm noch einige Sekunden lang. Dann erlosch das magische Leuchten. Nur noch das sich entfernende Gebrumm der ausschwärmenden Insektenmenschen verriet, was hier gerade geschehen war. Hier und an zwei anderen Stellen des australischen Erdteils erschienen zusammen 108 dieser unheilvollen Ungetüme. Anthelias alte Streitmacht war wieder im Einsatz.

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Unter dem Uluru ,24 Tage nach dem Wiedererwachen der vergessenen vier, zwischen Abenddämmerung und Mitternacht

"Sie tun irgendwas, um uns zu töten oder wieder in die schwächliche Ausgangsform zu zwingen", hörte Ishgildaria Sharikhaulaias wütende Gedankenstimme. "Jetzt haben sie auch Sisufuinkriasha erwischt.""

"Was sagt dir, dass sie euch töten können. Ich meine, wenn sie diese Fluggeräte benutzen, um euch hochzuziehen bekommen wir das ja alle mit. Deshalb bleiben wir ja bei Tag in der Erde und schlagen nur noch in der Nacht zu", erwiderte Ishgildaria.

"Ich verliere immer wieder die Verbindung zu denen, die unsere Mitstreiter oder ich selbst einberufen haben. Sicher, wir sind schon über zehntausend übers Land verteilt. Aber zwischendurch verschwindet der eine oder die andere. Gestern hätte mich fast ein Hubschrauber mit einem Wurfnetz aufgefischt, wenn ich nicht schnell genug unter die Erde geschlüpft wäre und mal eben fünfhundert Kilometer weitergereist wäre. Wenn sie uns auflesen können sie uns töten, weiß ich mittlerweile."

"Das ist wohl wahr, Sharikhaulaia. Aber wir werden siegen. unser Mitstreiter Tarisharudan hat es nun heraus, wie wir den machtvollen Stoff in unseren Zähnen so auslagern können, dass er auch nach Tagen noch wirksam bleibt, sobald er in das Blut eines gewöhnlichen Menschen hineingerät. Auch wenn wir nicht von diesem Erdteil herunterkönnen, weil zu langes Loslösen von der starken Mutter Erde uns immer mehr schwächt und auszehrt, so werden wir doch noch unser Dasein über die ganze Welt verbreiten, und die uns gefährlichen Fluggeräte werden die Verbreiter unserer erhabenen Daseinsform sein", freute sich Ishgildaria.

"Vielleicht kommen wir doch noch selbst von Australien runter. Wenn wir es schaffen, so stark zu erstarren, dass wir Tage lang überdauern können, ohne Luft zu brauchen ..." gedankensprach Sharikhaulaia.

"Das geht nur, solange wir mit der Erde in Berührung sind. Je weiter wir von ihrer Haut entfernt sind, desto schneller verschwinden unsere Kräfte. Vor allem, wenn wir in freier Luft gehalten werden. Nur unsere große Anzahl kann uns vor dem endgültigen Verschwinden schützen und dann auch nur, wenn unsere gefährlichsten Feinde nicht doch noch aus dem Himmel herunterstoßen und uns jagen", gedankensprach Ishgildaria.

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Im Büro von Nathalie Grandchapeau, 25.09.2003, 09:20 Uhr Ortszeit

Julius Latierre hatte zunächst zwei Briefe beantwortet, die er von Léto und von Églée Blériot erhalten hatte. Euphrosynes Mutter hatte angekündigt, mit ihrem Mann in eines der Überseegebiete Frankreichs überzusiedeln, da sie wegen der Sache mit ihrer Tochter und ihrer Enkeltochter nicht mehr länger als nötig in Frankreich bleiben wollte. Léto hatte erwähnt, dass sie wegen Ladonna Montefiori Kontakt mit anderen Veelastämmigen aufgenommen habe und noch vor der alljährlich im Herbst stattfindenden Zusammenkunft der ältesten lebenden Veelas zumindest mit den europäischen Abkömmlingen sprechen würde. Sie hatte ausdrücklich darum gebeten, dass er ihr alle bisherigen bekannten Tatsachen zur Rückkehr der veelastämmigen Dunkelhexe senden sollte und zwar auf Französisch und Englisch. Dafür hatte er in den letzten Arbeitstagen die entsprechenden Dokumente mit Hilfe seiner Flotte-Schreibe-Feder abgeschrieben und auch aus Catherines Buch über Ladonna zitiert. Da Veelas eine zerstörerische Form des Lesens benutzten, um aufgeschriebene Sachen unvergesslich in ihr Gedächtnis aufzunehmen durfte er keine Originaldokumente verschicken. Jetzt hatte er die Briefe fertig und wollte sie persönlich in die ministeriumseigene Eulerei bringen, als ein Memoflieger zu ihm hereinschwirrte und sehr schwungvoll auf seinem Schreibtisch landete. Er brachte die Aufforderung, unmittelbar nach Erhalt der Mitteilung bei Nathalie im Büro zu erscheinen. Deshalb saß er nun der Leiterin des Büros für friedliche Koexistenz von Menschen mit und ohne Magie gegenüber. Sie hatte soeben einen provisorischen Klangkerker gezaubert, so dass niemand von draußen mithören konnte. Das tat sie höchst selten.

"Erst mal gut, dass du sofort gekommen bist, Julius. Zum zweiten wollen wir es nicht zu lange machen. Daher bitte erst zuhören", begann die ehemalige Ministergattin und noch mehr als vierzig Jahre lang Trägerin seines spät gezeugten Sohnes.

"Ich habe Post aus den Staaten bekommen. Keine Sorge, deiner Mutter geht es gut. Ich weiß nur jetzt, wer möglicherweise den wiedererwachten Schlangenmenschen zum Opfer gefallen ist", setzte Nathalie an und beschrieb die sechs Forscher, die die unter dem Fuß des Uluru liegenden Höhlen untersuchen wollten und sich seit zwölf Tagen nicht mehr gemeldet hatten. Da wegen der Schlangenmenschenausbreitung in Australien alle Datenzugriffsrechner des Arkanets auf Stichworte wie "Uluru", "Verschwunden" oder "Gesucht" im gleichen Text reagierten hatten die Kollegen in Washington sechs Treffer überprüft. Zwei von den Forschern waren ausgebildete Ärzte, einer davon Fachmann für Giftkunde und Notfallchirurgie. "Daraus folgt, dass wenn diese sechs wirklich zu Schlangenmenschen geworden sind, dass sie ihr Gift haltbar auslagern und versenden können oder es sogar schon über die Welt verteilen. Das wiederum bedeutet, dass es urplötzlich zu einem Massenaufkommen dieser Wesen kommen kann, bevor wir auch nur ahnen, wo und wie genau. Der Kollege in den Staaten hat diese Bekanntmachung auch schon an den Ihnen bekannten Mr. Kyle Benson weitergereicht. Kann sein, dass Ministerin Rockridge nun doch eine Massentötung der frei herumlaufenden Schlangenmenschen anordnet oder auch nur die möglichen Transportwege für Arzneivorräte gesondert überwachen lässt. Doch wenn das Gift schon im haltbaren Zustand auf dem Weg ist werden wir der Gefahr möglicherweise nicht mehr Herr. Und das ist der Grund, warum ich dich direkt anspreche und das in einem Klangkerker, Julius. Wenn du noch Zugang zu dem Mittel hast, mit dem die grauen Riesenvögel gerufen werden können, reise bitte so schnell du kannst zu denen hinunter und lass dir zeigen, wo noch frei herumlaufende Schlangenmenschen sind. Dort rufe nach diesen Vögeln, damit sie die bestehende Population vernichten und zugleich auf der Hut vor weiteren dieser Wesen weltweit sind! Ich kann und will das nicht offiziell machen, da du offiziell nichts mit diesen Riesenvögeln zu tun hattest. Ich weiß auch, dass du seit damals ein schlechtes Gewissen hast, weil deshalb eintausend Menschen starben. Doch hunderttausendmal so viele Opfer willst du sicher genausowenig wie Demetrius und ich. Die Ministerin weiß noch nichts davon, was du damals mit Blanche Faucon und Madame Maxime ausgeführt hast. Deshalb kann ich es dir auch nicht befehlen. Doch denke bitte an all die vielen unschuldigen Menschen, die in den nächsten Wochen von dieser geschuppten Pest befallen werden könnten. Wir müssen das Übel jetzt auslöschen, bevor es zum Weltbrand wird."

"Zum einen, Zugang zu diesem Mittel habe ich noch. Zum zweiten, wie sollen wir das Ministerin Rockridge verkaufen, dass ich in Australien herumreisen soll, wenn ich dort auf dem mir schnellsten Wege hinreise? Abgesehen davon können die Giftproben geortet werden. Immerhin konnten damals viele solcher Giftproben rechtzeitig abgefangen und zerstört werden. Ich gehe davon aus, dass Ministerin Rockridge die entsprechenden Unterlagen bekommen hat. So geheim war das ja nicht."

"Du reist nach Australien und lässt dich von der unmittelbar am Ankunftsort lebenden Bürgerin Aurora Dawn zu einem der Plätze bringen, wo diese Wesen zu orten sind. Ich weiß, dass die Heiler und Ministeriumszauberer mittlerweile entsprechende Aufspürverfahren haben, zumal eine Vertrauensperson dort erwähnt hat, dass die Ureinwohner ein Feindessuchnetz über das Land ausgespannt haben, das auf diese Wesen reagiert. Du fliegst auf deinem Besen und bleibst in der Luft!"

"Ich muss erst prüfen, ob ich die nötigen Kenntnisse noch abrufen kann, Nathalie. Ich habe das vor fünf Jahren gemacht und danach nie wieder machen müssen. Wenn ich auch nur einen winzigen Teil davon falsch mache kann es zu einer Katastrophe kommen. Ich überlege schon seit Tagen, wie das ging, seitdem ich das mit den Schlangenmenschen mitbekommen habe, Nathalie. Aber ich muss wohl Bicranius Gedächtnistrank nehmen, um alles zusammenzukriegen."

"Hast du welchen bei dir zu Hause?" wollte Nathalie wissen. Julius wiegte den Kopf und sagte, dass seine Schwiegertante, die ja seit der Verdunkelung von Sardonias Kuppel bei ihnen wohnte und wegen der vielen ungewollten Schwangerschaften Heras Coheilerin war, weiter bei ihnen wohnte, diesen Trank in ihrem Sortiment haben mochte.

"Sie weiß, dass du damals diese Riesenvögel gerufen hast, Julius?" fragte Nathalie. Julius bejahte es und schob sofort nach, dass es auch ein Latierre-Geheimnis war, das er nur aus freien Stücken verraten und nicht aus dem Kopf legilimentiert bekommen konnte.

"Gut, dann schicke ich dich mit einem offiziellen Rechercheauftrag nach Bayonne, ob in einer dort betriebenen Tanzhalle für junge Leute echte Hexen einen Club für unzufriedene Mädchen begründet haben. Das mag dich einen vollen Tag beschäftigen, so dass dich keiner vermisst", sagte Nathalie.

Als er aus dem Foyer heraus disapparierte war es schon zwanzig vor zehn am Morgen des 25. Septembers.

Da er unangefochten durch das neue Schutznetz und die Familieneinschränkung in sein Haus apparieren konnte bekam keiner mit, dass er in seinem Arbeitszimmer appariert war. Zuerst lauschte er. Wenn er jetzt rausging mochten seine Töchter ihn treffen. Ja, für die beiden schon selbst laufenden und die kleine Clarimonde musste er das tun, was nur er tun konnte. Doch er wollte erst Ailanorars Stimme aus dem Schrank und der Conservatempus-Schatulle nehmen, wenn er sich ganz sicher war, alle nötigen Töne darauf spielen zu können. Er überlegte schon, welche das waren. Doch irgendwie glitten seine Erinnerungen dabei zu Ruashanormiria, Madrashainorians Gefährtin und wie sie mit ihm zusammen Musik gemacht hatte. So bekam er das sicher nicht mehr zusammen, was er auf der Silberflöte spielen sollte.

"Millie, ich musste wegen eines klammheimlichen Auftrages zu uns zurück. Soll jetzt doch machen, dass die Schlangenmenschen erledigt werden. Wo seid ihr?" mentiloquierte er.

"Im Sonnenblumenschloss bei Onkel Gilbert. Er hat was läuten gehört, dass vor der Normandieküste eine neue Meermenschenkolonie entstanden sein soll. Wahrscheinlich wird er Fleurs und Gabrielles Papa deshalb demnächst noch einmal ansprechen. Unsere drei Prinzessinnen sind auch im Schloss."

"Und wo ist Tante Trice?" fragte Julius, der nicht einfach im Haus herumrufen wollte.

"Macht wohl die Runde zu den Hexen, die ihr erlaubt haben, ihre neuen Kinder auf die Welt zu holen. Aber wenn was wegen der Schlangenmenschen oder was gesundheitliches ist dürfen wir sie anmeloen", schickte Millie zurück.

"Gut, ich brauche wohl noch mal den Bicranius-Trank, um die alte Melodie zu erinnern, die ich damals auf der Silberflöte gespielt habe."

"Ja, verstehe ich", erwiderte Millie aus der Ferne.

Béatrice hatte gerade Pause. So konnte sie zumindest vor der Tür apparieren und mit dem von Florymont ausgehändigten Schlüssel die Tür aufsperren.

"Für welche Wirkungsdauer brauchst du den Trank?" fragte Béatrice ihren Schwiegerneffen. "Eine halbe Stunde. Ich will diese Melodie mindestens zehnmal durch den Kopf gehen lassen, dass ich die auch ja richtig nachspielen kann", erwiderte Julius.

Es war wie immer, wenn er Bicranius Mixtur der mannigfachen Merkfähigkeit einnahm. Erst wirbelten viele Farben durch seinen Kopf, dann fühlte er sich wacher als sonst, wenn auch ohne jedes störende Gefühl. Denn die Nebenwirkung des Trankes war, dass er Gefühle jeder Art unterdrückte und nur die bild-Wort- und erlebnishaften Erinnerungen frei aufrufbar vorbereitete. Doch als Julius sich gezielt an die nächtlichen Sitzungen mit Darxandria, dem australischen und dem Inuitschamanen erinnern wollte, glitt er unvermittelt in die Erinnerungen, wie Madrashmironda ihm leise und beruhigend ein altaxarroisches Wiegenlied vorsumte, während sie ihn mit ganz sacht wiegenden Bewegungen in ihrem warmen Schoß schaukelte. Er erkannte, dass er noch zwei Monde in ihr wachsen sollte. Doch warum erinnerte er sich nicht an das Lied? Er versuchte es erneut. Er dachte wieder an Darxandrias nächtliche Lehrstunden. Doch je konzentrierter er sie zu erinnern versuchte, desto stärker fühlte er sich in Madrashainorians fötale Entwicklungsphase zurückversetzt. "Ruhe wohl, mein Wunderschatz", hörte er Madrashmironda dumpf um sich herum dröhnen, im Takt ihres Herzens, das gerade auch für ihn mitschlug. Erst als Béatrice ihm gezielt in die Wange kniff kam er aus dieser Erinnerung frei. "Ich kann die betreffende Erinnerung nicht aufrufen. Ich meine dann, wieder in Madrashmirondas Unterbau zu schwimmen", sagte Julius ohne Anflug von Frustration oder Verzweiflung in der Stimme. "Höchst interessant. Du denkst aber an das, was dir dieses ominöse Zauberlied vermittelt hat?" fragte Béatrice. Julius bestätigte es. Dann versuchte er, sich an das Lied am Steinkreis in Spanien zu erinnern. Er versuchte sich zu denken, wie er mit der Flöte in der Hand ... Ein lauter Schmerzensschrei, das Gefühl beklemmender Enge und Dunkelheit. Er steckte in etwas fest. Nicht in etwas, in jemandem, in Madrashmirondas Geburtskanal. Sie brachte Madrashainorian zur Welt, ließ ihn bei vollem Bewusstsein miterleben, wie es war, geboren zu werden. Doch das Lied wollte ihm nicht einfallen. Er kannte es nicht mehr. Er konnte es nicht mehr. Er erinnerte sich nur daran, wie er Stück um Stück aus Madrashmirondas Leib hinausgepresst wurde, bis erst sein Kopf, dann seine Schultern und dann der Rest seines Körpers freikamen. Wieder verlor er sich dabei in der nachbetrachteten Erinnerung. Wieder kniff ihm Béatrice in die Wange, um ihn in die Gegenwart zurückzuholen. Dann sagte er nur: "Ich weiß nicht, wie sie es angestellt hat. Aber die Altmeisterin, der ich mich anvertraut habe, hat alle Erinnerungen an das magische Lied aus meinem Gedächtnis gelöscht und es so angestellt, dass ich nur noch an Madrashainorians Entstehung und Geburt erinnert werde, wenn ich die gesuchten Erlebnisse erinnern will."

"Darf ich dich legilimentieren, um zu überwachen, was in dir vorgeht, wenn du das gesuchte zu erinnern versuchst, Julius?" fragte Béatrice. Julius überlegte sachlich und ohne Anflug von Argwohn. Er hatte ihr gegenüber so gut wie keine Geheimnisse. Also ließ er es zu. Wieder versuchte er, sich an das Ruflied zu erinnern. Wieder geriet er dabei in Madrashainorians vorgeburtliche Empfindungen hinein oder musste dessen Geburt noch einmal überstehen. Er konnte sich jedoch daran erinnern, wie er in die Himmelsburg geflogen war, was er dort erlebt hatte und dass er dort ein zweites Mal gewesen war, um die Silberflöte wieder herauszuholen.

"Ich muss dir rechtgeben, Julius. Selbst ich konnte keine Erinnerungen an ein von dir ausdrücklich magisches Lied finden. Dein in dich eingelagertes Alter-Ego Madrashainorian empfand da immer die letzten Tage oder Minuten vor seiner Geburt. Wenn ich das mit mir selbst nicht schon mal gemacht hätte würde ich sagen, dass es schon faszinierend ist, wie viel ein Mensch schon vor der Geburt wahrnimmt und je danach, wie er auf die Welt findet gute oder schlechte Erinnerungen unbewusst durchs neue Leben trägt. Aber was dir passiert ist ist leicht zu erklären. Du hast völlig recht. Diese Erdmutter, auf die du dich einlassen musstest, damit du und Millie und Camille in diese versunkene Stadt gelassen werdet, hat während ihrer geistigen Verbindung mit dir alles aus deinem tiefen Gedächtnis entfernt, was nicht zu ihrem Wirkungsgebiet gehört. Ja, dass du dich in ihren Uterus zurückerinnerst oder gerade von ihr neu geboren wirst sind klare Ersatzverknüpfungen, die das von ihr aus dir entfernte Wissen ausgleichen. Gut zu wissen, dass sie einem nicht nur Wissen geben können, sondern es auch nach belieben ändern oder auslöschen können. Am Ende kriegen wir unseren jungen Silbersternträger auch mit komplett überarbeiteter Identität zurück."

"Stimmt, diese beiden Dunkelschwestern in der Halle der Altmeister haben mir angeboten, alle schlechten Erinnerungen loszuwerden, wenn ich mich auf sie einließe. Ich hätte gewarnt sein sollen", erwiderte Julius im Stil eines vulkanischen Wissenschaftlers, der gerade mit eiskalter Logik verkündet, dass in zehn Tagen, drei Stunden, dreiundzwanzig Minuten und 18,233 Sekunden ein 101,599 Kilometer durchmessender Asteroid auf seiner Heimatwelt einschlagen und dabei zu 99,99999418 % alles Leben auslöschen würde.

Julius spulte jetzt noch einmal alle Erinnerungen an die Ausflüge zur Himmelsburg durch. Dann wusste er, dass Béatrice recht hatte. Madrashmironda hatte ihn das Ruflied für die Himmelsburg vergessen lassen. Das war wie bei dem Tom-und-Jerry-Computervirus, das eine Zeit lang durch öffentliche Rechnernetze gespukt hatte und überall Katz-und-Maus-Textfragmente abgelagert und Tom-und-Jerry-Videos an Stelle anderer Videos gespeichert hatte. Zumindest hatte er noch alles was er mit Claire und Millie verband und auch die eine körpervertauschte Stunde mit Béatrice, die ihn gerade nicht erregte, sondern nur in allen Einzelheiten vor dem inneren Auge und Ohr stand.

"Wie kann ich das begründen, dass ich doch nicht mehr die Riesenvögel rufen kann?" fragte Julius. Da fielen ihm als wenn es gerade erst gestern gewesen wäre die Rollenspieltreffen mit Moira, Malcolm und Lester ein und wie sich Lester mal wieder beklagte, dass er als schwarzer Magier die echt heftigsten Zaubersprüche nur einmal aussprechen konnte, wenn er dem Kerkermeister Malcolm nicht zu beginn eines gespielten Tages ansagte, dass er Seelenwürger dreimal oder viermal lernen wollte, aber dafür Dämonenfeuer nicht mehr lernen durfte. Ja, so konnte und würde er es begründen. Das Lied hatte seine Schuldigkeit getan und war aus einer magischen Sicherheitsvorkehrung heraus aus seinem Gedächtnis verschwunden. Denn dass in ihm das Leben Madrashainorians steckte war eines seiner größten Geheimnisse, dass er nur mit den unmittelbaren Verwandten, mit Camille und Catherine geteilt hatte. Nur die mit Anthelia zusammengebackene Naaneavargia wusste es, dass er sich Madrashmironda anvertraut hatte.

Als die Wirkung des Gedächtnistrankes nachließ mentiloquierte Temmie: "Ich könnte dir das Lied wohl zusammen mit dem nordländischen Ritualmeister noch einmal beibringen. Aber das geht nur im Schlafleben. Doch dafür könntest du dann andere wichtige Kenntnisse verlieren. Die Träger der blutroten Gewänder sind sehr eigen, was die Zuständigkeiten angeht."

"So, Monsieur Latierre. Sie legen sich jetzt erst einmal eine ganze Stunde hin und denken an nichts. Dann gibt es Mittagessen, und dann dürfen Sie der dauerhaft schwangeren Dame in Paris verkünden, dass sie das Wissen um den Zugriff auf die Riesenvögel verloren haben."

"Sehr wohl, Mademoiselle Latierre", erwiderte Julius. Unzählige Empfindungen wogten nun in ihm auf und ab. Madrashmironda hatte ihn teilweise umkonfiguriert. Sicher, das meiste kannte und konnte er noch, darunter auch die vier von Ianshira erlernten Abwehrzauber. Aber offenbar war das Lied des Rufens ein derartig spezieller Windzauber, dass ein Erdvertrauter den nicht können durfte, wenngleich er genau wusste, dass Anthelia/Naaneavargia sicher auch Windzauber konnte, weil ihr Bruder sie ihr beigebracht hatte. Sicher konnte er das Lied neu lernen. Doch dann mochte ihm bestenfalls was aus der Ausbildung Madrashainorians wegfallen und schlimmstenfalls Ashtardarmiria bei ihm erscheinen, ihn mal eben in ihren goldenen Wunderwanst stopfen und auf nimmer Wiedersehen mit ihm verschwinden, weil er sich gegen die Beschlüsse einer Altmeisterin vergangen hatte. Ja, jetzt hatten die in Khalakatan eine Botin und Vollstreckerin, wo sie vorhin nur tatenlos zusehen konnten, was in der Welt passierte. Und er hatte ihnen diese Vollstreckerin verschafft, weil er unbedingt in die versteckte Stadt Garumitan hineingewollt und da die Brutstätte des Grauens gefunden hatte. Auch das durfte keiner außerhalb der geschützten Gemeinschaft wissen. Selbst Camille Dusoleil, die er sonst in vieles einweihte,wusste das nicht. Womöglich war Silvester Partridge auch genau deshalb verschwunden, weil er von irgendwoher Zauber aus dem alten Reich kannte. Wenn die wollten konnten die ihn für hunderte von echten Jahren festhalten, in einer Art Superzeitlupe und Zauberschlaf gefangen.

Was Julius jetzt aber am deutlichsten klar wurde war, dass die in seinem Schrank liegende Silberflöte Ailanorars für ihn wertlos geworden war. Denn er hatte nur dieses eine wirklich magische Lied darauf spielen sollen, und die anderen Lieder aus dem alten Reich waren keine Zauberlieder oder würden auf der Flöte des Windkönigs irgendwas auslösen, was er sicher nicht wollte: Tornados, Hurrikans, Schneestürme oder eine Salve aus dem Himmel niederzuckender Blitze oder dass er selbst wie eine Rakete vom Boden abhob und unrettbar ins All davonschwirrte. In der Magie, vor allem der aus Altaxarroi, war alles möglich.

Nach der verordneten Ruhepause und einem ausgiebigen Mittagessen durfte Julius wieder ins Zaubereiministerium zurück, wo er Nathalie die Begründung für den Verlust der so wichtigen Kenntnis auftischte. Er durfte wieder den Cogison-Ohrring tragen, um auch Demetrius' Kommentare mitzubekommen.

"Das heißt, sobald du das Lied einmal richtig und mit dem gewünschten Erfolg auf der Flöte gespielt hast ist es dir gleichermaßen aus dem Hirn entwichen?" fragte der zum Dasein als Ungeborener mit erwachsenem Bewusstsein verurteilte ihn. Julius bestätigte es. Er war sich auch sicher, dass selbst Veritaserum ihn nicht zu einer anderen Aussage bringen würde. Denn Madrashainorian war eines der Latierre-Geheimnisse, und was er bei den Altmeistern gelernt hatte konnte ihm auch kein Legilimentor gegen seinen Willen aus dem Kopf ziehen.

"Dann können wir nur hoffen, dass unsere Giftaufspürer die Zusammensetzung dieses Verwandlungsgiftes noch in den Akten haben und die Aufspürgeräte darauf abstimmen können", gedankenseufzte Demetrius. "Sonst sind wir, Maman und Belle am Ende noch die einzigen, die als Menschen herumlaufen können."

"Es gibt noch eine Möglichkeit, viele Schlangenmenschen auf einmal zu schwächen", fiel es Julius ein. "Wenn die auf alle Formen von magnetischen Wellen empfindlich reagieren, dann könnten breitflächig wirkende Mikrowellen, wie sie in Radargeräten und Mikrowellenöfen erzeugt werden, die Schlangenbiester aufhalten, wenn es nicht anders geht."

"Mikrowellen?" fragte Nathalie und bekam dafür einen Stupser gegen ihre Bauchdecke. "Maman, das haben mein Vater und du doch von Martha gezeigt bekommen, welche Magieersatzgeräte es gibt. Gib das also bitte weiter, was Julius gesagt hat, aber bring es so an, als wenn dir und deinen Technikfachleuten das eingefallen sei, ohne Einzelnamen zu nennen!"

"Danke dir, Bauchboxer. Ich muss da echt nicht erwähnt werden, wenn die in Australien mit breitfächernden Mikrowellenkanonen auf die Schlangenmenschen schießen", antwortete Julius.

Abends erzählte er Millie noch einmal, was ihm offenbar passiert war und meinte: "Könnte sein, dass Kailishaia ähnlich gepolt ist und dir Sachen aus dem Hirn stiebitzt, die eine Feuermagierin nicht braucht."

"Dafür müsste die mich wohl auch als ihr Baby neu tragen und zur Welt bringen, Monju. Denn ich habe da so eine Ahnung, und Tante Trice stimmt mir da garantiert zu. Die hat dich deshalb Madrashainorians Wachstum im Mutterbauch, die Geburt und alles danach so deutlich und nachvollziehbar erinnern lassen, weil sie dadurch eine besonders tiefe Verbindung mit dir geknüpft hat. Da konnte sie dann auch festlegen, was du als ihr neuer Sohn können und kennen darfst. Und wenn du dich nicht wie von dir erzählt irgendwann auf diese neue Empfindung eingelassenhättest wärest du vielleicht immer noch bei ihr und dürftest dir die Wiegenlieder aus dem alten Reich durch ihre Bauchdecke und badewannenwarmes Fruchtwasser anhören. Apropos Badewanne, die Toberei mit den ganzen Kindern heute hat mich voll geschlaucht. Ich bade noch mal. Wenn du schon vor mir ins Bett willst sage ich schon mal gute Nacht", sagte Millie und küsste ihren Mann.

"Sie hat dieselbe Angst wie ich, dass diese Schlangenmonster wiederkommen. Selbst wenn Millemerveilles jetzt wieder sicher ist und diese Biester noch besser zurückweisen kann, weil keiner durch die Erde flitzen kann sind wir am Ende die einzigen unverdorbenen Menschen in einem Land voll mit diesen armen Kreaturen", seufzte Julius.

"Lass dir das ja nicht einreden oder rede es dir selbst ein, dass es nur an dir hängt, ob diese Geschöpfe sich wieder ausbreiten oder nicht, Julius. Sicher ist das schrecklich, dass es sie wieder gibt. Aber die Leute um dich herum, auch die, die mit dir Mutter und Kind gespielt hat, haben kein Recht, dir alle Verantwortung für die ganze Welt aufzuladen", sagte Béatrice Latierre. Julius wusste, dass sie recht hatte.

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Im Ureinwohnerdorf Kulawarra 200 km nordnordwestlich des Uluru, am zwölften Tag nach Hashlalians Heimsuchung

Tief unter der Erde stapelten sich gewaltige Mengen weißer, halbfest wirkender Kugeln. Sie waren von den Dienerinnen des Erhabenen hier zusammengetragen worden, weil es in den Häusern keinen Platz gab, wo sie bleiben konnten und vor allem, damit sie nicht von Sonnenstrahlen getroffen werden konnten. Jeden Tag seit der ersten Einberufung waren viele dieser weißen Kugeln dazu gebracht worden. Erst an diesem Tag hörte das unermüdliche Gelege auf. Denn nun hatte hier jeder Mann mit jeder fruchtbaren Frau einen wilden Paarungsakt vollzogen. Nun konnten sich die ehemals harmlosen Einwohner von Kulawarra darauf besinnen, was deren Einberufer von ihnen wollten. Wann genau die ersten dieser Eier ausgebrütet sein würden wusste keiner. Dafür hatten sie je fünf Frauen alle sechs Stunden eingeteilt, die gestapelten Eier zu bewachen. Die Wächterinnen fühlten, dass da wahrhaftig neues Leben heranwuchs, für Menschensinne noch unbemerkbar. Doch die leichten Schwingungen aus den vielen hundert Eiern zeigten, dass sich die tagelange Verpaarungswut jeder mit jeder tatsächlich auszahlte. Wie die Schlüpflinge aussehen würden und was sie nach dem Schlüpfen brauchten wussten die Einberufenen des Erhabenen noch nicht. Doch die Frauen waren sich sicher, dass es in ihren Urtrieben festlag, was sie wann zu tun hatten.

Die Männer indes arbeiteten daran, ihren Ort noch größer zu machen, Bäume der Umgebung zu fällen und Steine und Erdreich zusammenzubringen, um die vielen neuen Nachkommen sicher unterzubringen. Deshalb ging von diesem Ort gerade keine Gefahr aus, solange niemand unbeabsichtigt näher als zweitausend Schritte an die Ortsgrenze herankam.

Gerade wechselten sich die Wächterinnen ab, welche die gelegten Eier bewachten. Die Ablösung erzählte ihrer Vorgängerin, dass eine Erkundergruppe in die Nähe eines Fahrweges für die von einer lärmigen, stinkenden Antriebskraft vorangetriebenen Rundbeiner dahinliefen, die von den Fremden aus einem fernen Land benutzt wurden, um sie schnell irgendwo hinzubringen. Vielleicht sollten sie diesen Fahrweg belauern und sich solche Rundbeinläufer einfangen, weil die sicher stark genug waren, größere Mengen Baustoffe zu tragen. Denn obwohl die Skyllianri schneller als ein Laut unter der Erde dahinrasen konnten schafften sie es nicht, dabei mehr mitzunehmen als sie gerade am oder im Körper tragen konnten. Doch die Verkünder des Erhabenen hatten sofort widersprochen. Kulawarra sollte solange unentdeckt bleiben, bis die Verkünder zu einem großen Ausbreitungszug rufen würden. Solange sollten sie, wenn sie schon mal auf direkte Art Nachkommen hatten, diese erst einmal schlüpfen lassen. Lange konnte das aber nicht mehr dauern, erkannten die Brutwächterinnen. Die von den vielen hundert Eiern ausgehende Lebensschwingung wurde immer stärker. Sie fühlten, wie in den Eiern kleine Wesen mit schlagenden Herzen heranwuchsen. Wie würden diese Schlüpflinge sein? Diese Frage stellte sich jede Wächterin.

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In der Halle der Altmeister von Altaxarroi, 25 Tage nach dem Erwachen der vergessenen vier

"Na, meine liebe Wurfschwester, jetzt wird es sehr bedeutsam. Können Skyllians Geschöpfe aus sich selbst erbrütete Nachkommen haben?" fragte Iaighedona ihre Schwester Kaliamadra.

"Ach, dann hast du es auch mitbekommen, dass die ersten sechzig Eier mit genug Erdkraft angefüllt sind und in nicht einmal einem Viertelzwölfteltag aufbrechen?" wollte Kaliamadra wissen. Ihre Zwillingsschwester beantwortete ihr diese Frage mit einer Verbindung mit dem, was sie gerade betrachtete. Durch die Augen der Skyllianra Ishgildaria sahen sie auf die in völliger Dunkelheit ruhenden Eier. Von diesen ging ein in langsamer Folge an- und wieder abschwellendes blutrotes Leuchten aus, als würden die kugelförmigen Eier selbst atmen. "Jetzt finde ich es bedauerlich, dass wir keine klare Voraussicht anwenden, sondern nur die bestehenden Wahrscheinlichkeiten der Wirdzeit erkennen können", sagte Kaliamadra dazu. Auch sie wollte nun wissen, ob Skyllians wahrhaftige Saat aufging und ob dabei brauchbare Geschöpfe entstanden oder die Vernichter der Welt geboren wurden, jene Vernichter, vor denen sie und alle anderen Mitternachtsfolgenden immer wieder von den überbehütsamen und übernachsichtigen Lichtfolgern gewarnt wurden. Die behaupteten immer, dass irgendwann einer der nur den mitternächtigen Pfaden folge, die Brut der Vernichtung zeugen und davon selbst gefressen werden würde. Damit meinten die aber wohl eher, dass einer, der mit Macht nicht umgehen konnte, bei zu viel errungener Macht über seine eigene Unzulänglichkeit stolpern und daran zerbrechen würde. Oder meinten die es doch ganz wörtlich?

"Unsere Wette gilt doch noch, Schwester?" fragte Iaighedona.

"ja, sie gilt noch, meine Schwester", erwiderte Kaliamadra mit unüberhörbarer Verbissenheit. So richtig gefiel ihr die bisherige Entwicklung nicht. Sie hatte ja gewettet, dass die Skyllianri sich einen neuen Meister erwählen und diesem dienen würden. Ihre Schwester hielt dagegen, dass die Schlangenmenschen ein eigenständiges Volk werdenund mit ihren auf die eine oder andere Art gezeugten Nachkommen den Erdteil mit dem glutheißen Herzen für sich erobern würden. So wie es gerade aussah mochte Iaighedona recht bekommen. Die konnte dann mit dem nächsten männlichen Sucher nach Erkenntnis der wahren Macht das Wonnelager teilen, während sie ihn danach in sich herantragen und neu gebären sollte, wie es Madrashmironda und Ianshira mit denen getan hatten, die von ihnen lernen wollten.

"Obacht, Schwester, die ersten Eier brechen auf", sagte Iaighedona mit steigender Erregung. Tatsächlich konnten sie beide durch Ishgildarias Augen sehen, wie zehn der sechzig kugelrunden Eier rote Funken sprühten und erste Risse bekamen. Der große Augenblick stand unmittelbar bevor. die dem mitternächtigen Pfad verbundenen Zwillinge fühlten die Erregung mit, die Ishgildaria durchdrang.

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In den Höhlen unter Ailanorars ehemaliger Festung, 25 Tage nach dem Erwachen der vier letzten Diener Skyllians, einen Zwölfteltag nach Sonnenaufgang

Ishgildaria hatte Brutwache. Sie stand in dem Raum, in dem die sechzig von ihr und Gooramashta gelegten Eier von der reinen Erdkraft ausgebrütet wurden. Sie spürte das neue Leben, das darin atmete. Sie fühlte, wie es sich regte. Was für Nachkommen würden da schlüpfen? Würden es Wesen sein, die wie sie zwischen Menschenform und Schlangenmenschenform wechseln konnten oder würden sie in einer einzigen Gestalt bleiben müssen? Würden sie womöglich mächtiger sein als die Erben des Erhabenen und ihre neu einberufenen? Konnte sie ihre Kinder lieben? Merkwürdig, dass sie an dieses Gefühl dachte, das für Wesen wie sie doch keine Bedeutung mehr hatte. Doch weil sie nun aus eigenem Leib Kinder bekommen würde musste sie es wissen, ob sie diese Kinder hegen und umsorgen oder sie sich selbst überlassen würde. Denn sicher würden die Schlüpflinge Hunger und Durst haben. Dann mussten sie und Gooramashta ihnen Nahrung beschaffen. Viel konnten sie aber nicht mit sich tragen, wenn sie durch die Erde reisten, schon gar nicht irgendwelche lebenden Tiere ... oder Menschen.

Sie konnte die vielen winzigen Herzen förmlich beben hören, die da in den Eiern zum Leben erwacht waren. Ja, gleich war es soweit. Sie fühlte, wie das neue Leben erwachte.

Die ersten Eier begannen zu zittern, beulten sich aus und schwollen wieder ab. Sie hörte ein leises kurzes Glucksen und Schmatzen. Die in noch in den Eiern eingeschlossenen Nachkommen gaben die ersten Laute ihres Lebens von sich. Dann beulte sich eine der weißen Kugeln deutlicher aus, bis sie mit einem lauten Ratschen zerriss und in vielen hundert kleinen Bruchstücken durch den Raum wirbelte. Zum Vorschein kam ein sich windendes, eher wurmartiges Wesen mit einem spitz zulaufenden Vorderende. In der hier herrschenden Dunkelheit konnte Ishgildaria nur erkennen, dass es völlig nackt war, nur von einer dünnen Schleimschicht bedeckt. Dann platzten gleich zehn weitere Eier ohne Vorankündigung auseinander, die lederartigen Schalen flogen wie welkes Herbstlaub im Sturm umher und klatschten an alles, was im Weg stand. So bekam Ishgildaria ebenfalls einige der herumwirbelnden Fetzen gegen den Körper. Zehn weitere eher wurmartige Wesen krochen nun aus dem immer wilber bebenden Gelege. Dann zersprangen fast alle restlichen Eier auf einen Schlag mit lautem Knall und Ratschen. Ishgildaria riss in blitzartiger Abwehr ihre Hände vor die Augen, um die ihr entgegenschlagenden Überreste abzuwehren. So konnte sie nicht sofort sehen, was die so schlagartig freigekommenen Schlüpflinge taten. Sie hörte nur ein leises, vielstimmiges Quieken und Schnarren. Sie fühlte die einfachen Regungen der soeben auf die Welt gekommenen Nachkommen. Dann zerbarsten auch die letzten Eier.

Als Ishgildaria ihre Augen wieder öffnete sah sie sämtliche ausgeschlüpften Nachkommen auf dem Boden herumkriechen und aus den kleinen, runden Mäulern, in denen bereits zwei Reihen spitzer Zähne zu sehen waren, kurze Quiek und Schnarrlaute ausstießen. Sie erkannte, dass die Schlüpflinge im Verhältnis zu ihren Köpfen winzige Augen hatten, die eher wie senkrechte Schlitze aussahen. Ob sie damit schon was sehen konnten wusste sie nicht. Doch sie spürte, dass die neuentstandenen Wesen sich gegenseitig wahrnehmen mussten. Ja, auch sie wurde wohl von den Schlüpflingen wahrgenommen. Kleine Zungen flatterten Kurz vor den auf- und zuschnappenden Mäulchen. Immer lauter wurde das Quieken, das schon in ein wildes Kreischen überging. Sechzig winzige Wesen schrien der Welt zu, dass sie da waren, ja und sie schrien wohl um Nahrung.

Das wilde Gekreisch der Schlüpflinge weckte in Ishgildaria nicht das Gefühl, diese da alle zu umsorgen, sondern eher eine unangenehme Unsicherheit, wie sie diese von ihr miterschaffene Brut füttern sollte. Bei dem Gedanken, was diese Winzlinge, die gerade einmal halb so lang wie ein Arm von ihr waren zum Leben brauchten verstärkte sich ihre Unsicherheit zur Furcht. Was, wenn sie diese Winzlinge nicht ausreichend füttern konnte? Was, wenn diese Winzlinge nur lebendes Futter wollten? Was, wenn diese Winzlinge, die von vier verschiedenen Elternpaaren stammten, aber auch Halbgeschwister waren nichts totes annahmen? Als sie sah, wie die sechzig neu geschlüpften Nachkommen ihre Vorderkörper aufrichteten und die Köpfe in ihre Richtung hielten wurde die ungewisse Furcht zur blanken Angst. Ishgildaria wusste, dass diese Wesen keine toten Sachen fressen wollten. Sie wollten lebendige Nahrung, die sie selbst töten konnten, und dass sie im Moment die einzig lebende Nahrungsgrundlage war. Die Angst, sowie ein ebenso starker Trieb, die Brut nicht sich selbst überlassen oder gar verhungern lassen zu dürfen lähmte ihren Körper. Sie stand da, gefangen zwischen Todesangst und Hegeinstinkt. Doch als sie sah, wie die zwanzig ersten sich zu kurzen, aber hochgespannten Spiralen zusammenzogen erwachte der Überlebenswille in ihr. Mit einem schnellen Aufstampfen stürzte sie förmlich unter die Erde. Sie meinte noch, dass zehn der sie anspringenden Schlüpflinge ihr gerade so über den Kopf strichen. Doch dann war sie in Sicherheit, sofern die Brut nicht schon in die Erde eindringen und ihr folgen konnte. Sie ließ sich fallen, bis sie knapp fünfzig ihrer Längen tiefer aus der Decke einer anderen Kammer herausfiel. Sie lauschte, ob von oben etwas mit übergroßem Hunger zu ihr herunterkam. Doch hier unten war es ganz still, und sie erfasste auch keine Lebensschwingungen, die auf einen Verfolger schließen ließen.

"Die wollten mich echt fressen", dachte Ishgildaria. Dann schickte sie eine Gedankenbotschaft an die drei anderen:

"Mitstreiter des Erhabenen, unsere Brut wird unser Untergang, wenn wir sie sich frei bewegen lassen." Sie erwähnte, was sie mitbekommen hatte und was ihr fast widerfahren wäre.

"Dann müssen wir die Kammern noch fester verschließen und hoffen, dass sie nicht schon längst durch die Erde gleiten können", stellte Ashlohuganar fest.

Ishgildaria erwähnte, dass sie im Moment wohl nicht dazu im Stande waren.

Sogleich gingen die drei anderen daran, erst die eine Bruthöhle zu verschließen, aus der es ihnen schon lauthals entgegenschrie. Dann wurden auch noch die anderen Brutkammern fester verschlossen. Falls es nötig war konnten sie sogar die wenigen Luftschlitze verschließen, wenn sie im Viererverbund beschlossen, ob ihre eigene Brut überleben durfte oder sterben sollte.

In der Kammer, in der Ishgildaria zuflucht gesucht hatte, trafen sich die Wiedererwachten zu einer kurzen Beratung von Angesicht zu Angesicht. Denn sie fürchteten, dass die geschlüpften Jungen frei umherfliegende Gedanken spüren mochten.

"Ich habe gefühlt, dass sie erst sehr viel Hunger und Angriffslust hatten und dann immer weniger Angriffslust und Hunger vermittelten", sagte Gooramashta, die große Streiterin, die sichtlich mit ihren Gefühlen rang, ob sie da gerade ihren eigenen Tod im Leben begrüßt hatten oder doch noch eine Möglichkeit fanden, ihre Schlüpflinge zu versorgen.

"Sie fressen sich gegenseitig auf", erwiderte Sholalgondan ohne jede Anteilnahme in der Stimme. "Wenn du, Kampfesschwester Ishgildaria, nicht sofort im schützenden Leib unserer großen Mutter verschwunden wärest, so hättest du das größte aller Opfer einer Mutter erbringen müssen, das eigene Leben für die von dir hervorgebrachten Leben zu geben. So haben sie im Augenblick nichts und niemanden, der ihnen Nahrung bieten kann. Also fressen sie einander auf. Vielleicht ist dies der uns vom Erhabenen in das Erbgut gepflanzte Weg, den unsere Kinder gehen müssen, um die notwendige Gnadenlosigkeit und Schnelligkeit zu erlernen."

"Ja, oder der Erhabene wollte grundsätzlich nicht, dass wir uns gegenseitig begatten", knurrte Gooramashta, die wohl sehr verärgert war, dass sie nicht wusste, ob die eigenen Kinder ihre schlimmsten Feinde waren.

"Hier unten spüren sie uns nicht, weil diese Kammer keinen Luftdurchlass hat. Wir können aus der Erde frische Kraft einsaugen. Sie können das noch nicht", sagte Ashlohuganar.

"Ja, noch nicht, Ashlohuganar", schnarrte Sholalgondan. Darauf antwortete Gooramashta: "Und was werden wir tun, wenn die wenigen, die das große Bruder- und Schwesterfressen überleben lernen, wie wir durch den festen Leib der großen Mutter zu reisen? Sie werden dann selbstverständlich Jagd auf alles machen, was sie aufspüren können. Wenn wir es nicht schaffen, uns ihnen gegenüber als ihre Eltern und Vordenker durchzusetzen könnte es erst uns ereilen und dann alle noch nicht einberufenen Menschen."

"Dann müssen wir wissen, wie wir unsere eigenen Nachkommen töten können", erwiderte Sholalgondan. Ashlohuganar bestätigte das. Er dachte schon wesentlich weiter. Denn in den anderen Brutkammern ruhten noch die 150 Eier von den sechs ersten einberufenen. Brachen diese auf würden sich 150 Schlüpflinge aufeinander stürzen und gegenseitig töten, bis die schnellsten und stärksten von ihnen übrigblieben. Wie viele das dann sein würden wusste hier unten keiner.

"Wir müssen unseren Einberufenen befehlen, nicht in unsere Festung zurückzukehren, bis wir wissen, ob wir die Brut beherrschen können oder nicht", sagte Ashlohuganar. Die sonst so aufsässige Ishgildaria bejahte es. Dann wandte sie ein, dass es in den vollständig übernommenen kleinen Ansiedlungen mittlerweile auch kugelförmige Eier der Skyllianri gab. Was geschah, wenn diese aufbrachen und die Schlüpflinge ihre eigenen Eltern fraßen und dann ungestüm und hungrig in alle Windrichtungen losstürzten, um sich an allem was lebte größer und stärker zu fressen?

"Der Einfall, dass unsere Einberufenen nur gleichgeschlechtliche Menschen über einem bestimmten Lebensalter einberufen hat sich wahrhaftig als einzig richtig erwiesen", stellte Gooramashta fest, während sie in das Gefüge geistiger Regungen hineinlauschte und mitbekam, wie weit genug über ihr die ausgeschlüpften Jungen immer weniger wurden. Am Ende blieb von sechzig nur eines übrig, das dann aber unvergleichbar schnell, stark und wohl auch groß sein mochte. Ja, die Frage blieb: Hatten sie vier sich ihren eigenen Tod herangebrütet?

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Zur selben Zeit in der Halle der Altmeister von Khalakatan

"Sie hatten in ihrem fleischlichen Leben viele Grausamkeiten ersonnen, begangenund beobachtet. Doch mit anzusehen, wie sich die aus den kugelförmigen Skyllianri-Eiern befreiten Schlüpflinge durch die enge Brutkammer jagtenund dabei wild um sich schnappend alles in sich hineinfraßen, was gerade essbar war, erfüllte die den mitternächtigen Kräften verbundenen Zwillingsschwestern mit einer gewissen Besorgnis. Sie wussten, dass es bei den zauberkraftlos entstandenen Tieren Bruder- und Schwestertötungen, ja auch Muttertötungen gab. Doch so blitzartig und gnadenlos, wie die neu geschlüpften Skyllianri ihre Geschwister und Halbgeschwister jagten hieß das, dass die, welche dieses gnadenlose Fressen überlebten, selbst zu höchst gefährlichen Jägern würden.

"Ich denke, das mit der eigenen Brut könnte ein sehr übler Fehler gewesen sein, geliebte Wurfschwester", sagte Iaighedona, die darauf gewettet hatte, dass die Skyllianri ohne einen neuen Meister eine eigene Rasse auf der Erde begründeten.

"Tja, meine liebe Wurfschwester, am Ende teilen sich die gerade tief und fest schlafenden Vogelmenschen, die Brut der Skyllianri und die in den Meeren lebenden Tiere und Wasserbewohner die Erde, obwohl, womöglich werden die Skyllianrischlüpflinge nur Ailanorars ehemaliges Herrschaftsgebiet bevölkgern und dort gefangen bleiben. Schlechte Nachrichten für die vielen Beutelbäuchler, Vögel, Schlangen und anderen Kriechtiere", sagte Kaliamadra mit einer gewissen Verbitterung in der Stimme. Sicher, sie hatte gewettet, dass die Skyllianri sich einen neuen Meister suchten. Doch wenn die eigene Brut sie auffraß ging das auch nicht mehr. Also konnte sie ihrer Schwester gegenüber keinen Spott aufbringen.

"Erkennt ihr nun, was wir Lichtgeleiteten euch Mitternächtigen immer und immer wieder sagten: Wer ständig die Kräfte der Unterwerfung und Zerstörung nährt, der schafft sich selbst die eigene Vernichtung", hörten die beiden aus der Ferne Ianshiras Stimme predigen. Das vereinte die zwei nicht immer derselben Ansicht huldigenden Schwestern wieder. So rief Iaighedona: "Schere dichnicht um Skyllians Erbschaft und stille dein vaterlos in den Leib gezogenes Balg, Ianshira!" "Oder kann es dir schon deine Milchknubbel abbeißen, Ianshira?" legte Kaliamadra nach.

"Ich nähre ihn mit allem, was er braucht, um bei seiner Heimkehr genug Kraft und Wissen zu haben, jedes dunkle Erbe unserer Zeit zu bekämpfen. Aber das wisst ihr ja, sonst würdet ihr nicht so verächtlich sprechen", erwiderte Ianshira.

"Euer ängstliches Gerede vom eigenen Vernichter verstimmt uns eben", sagte Kaliamadra.

"Hofft besser darauf, dass die Istzeitmenschen einen Weg finden, Skyllians letztes Vermächtnis zu unterwerfen oder aus der Welt zu tilgen. Denn wer soll euch zwei dann noch um Wissen aus dem Reich der Mitternacht fragen?" Iaighedona und Kaliamadra erschütterte diese Frage. Denn falls die Skyllianribrut sich über das Land mit dem glutheißen Herzen hinaus vermehren konnte starben alle Menschen mit und ohne die hohen Kräfte. Die Bewohner der Burg, die niemand findet würden dann entweder Jagd auf die neue Gefahr machen, sofern sie jemals wieder von selbst erwachten, oder es war dann eben so, dass die Wassermenschen die einzigen denkfähigen Wesen waren, die diese schöne runde Welt, die große Mutter Erde, bevölkerten, bis Skyllianris Brut sich selbst vollständig ausgerottet haben würde. Kaliamadra meinte dann zu ihrer Schwester und der in der Ferne ebenso den Lauf der Dinge mitverfolgenden Ianshira:

"Vielleicht täte es der großen Mutter sogar gut, wenn vor allem die alles mögliche verbrennenden Maschinenanbeter vertilgt würden. Außerdem gibt es dann ja immer noch diese neue Dienerin, Ashtardarmiria, die wir losschicken können, um auserwählte, unser würdige Menschen nach Khalakatan zu holen."

"Vor allem ihr", mischte sich nun die Stimme des Erdvertrauten Agolar ein und bekam Zuspruch von der Feuervertrauten Kailishaia. "Ashtardarmiria ist uns verbunden, den Trägerinnen und Trägern der Sonnengelben und blutroten Gewänder. Weil ihr ja sonst schon längst diesen fehlgeleiteten Hagen Wallenkron auf euer Lager gelockt hättet, um ihn mit euren Liebkosungen auch das machtvolle Wissen der Mitternächtigen darzubringen."

"Womit du zum Abgrund zwischen allen Sternen leider recht hast", schnaubte Iaighedona. Denn die große, goldene Dienerin, in der das innere Selbst der Feuervertrauten Ashtardarmiria nach der Flucht aus Garumitan einen neuen Halt gefunden hatte, war kein menschenförmiges Werkzeug, das jeder nach Belieben ergreifen und nach seinem oder ihrem Willen benutzen konnte, sondern folgte dem Willen derer, die ihrer früheren Ausrichtung folgten und tat auch dann nur das, was ihr geboten wurde, wenn sie das Gebot mit ihrer eigenen Wertvorstellung übereinbringen konnte. Denn sonst wäre es ja wirklich leicht, sich die aussichtsreichen dunklen Hexen und Zauberer der Welt zu suchen und herzuholen.

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Unter dem Golfstrom, 26.09.2003 christlicher Zeitrechnung, irgendwann zwischen Abend und Mitternacht

Sie hatte gedacht, mit zwanzig Kristallstaubvampiren ein Brutnest der Schattenförmigen ausheben und zerstören zu können. Doch dieses Nachtgespenst hatte unverzüglich hundert seiner Unterschatten hinbeordert, und die hatten die zwanzig Kristallstaubkrieger blitzschnell ergriffen und wahrhaftig in der Luft zerrissen, bevor sie eine Projektion der erwachten Göttin hervorrufen konnten. Dann hatte sie mitbekommen, wie die Seelen der Krieger in diesen Unterschatten verschwanden und hatte versucht, diese zu sich hinzureißen. Doch irgendwas hatte die für Menschen unsichtbaren Kraftstränge durchgerissen und ihr die sichergeglaubten Seelen und zehn aus dem eigenen Gesamtverbund entrissen. Dabei hatte sie gar nicht gesehen, wie diese Schattenriesin überhaupt aufgetaucht war, die das schon vorgeführt hatte.

Sie hatte es dann riskiert, noch mal drei ihrer männlichen Anhänger hinzuschicken. Durch deren Augen hatte sie sehen können, dass die Unterschatten lange, flimmernde Schwerter in ihren Händen hielten. Noch ehe sie recht begriff, dass dies die Erklärung war hatten die Klingen auch schon genau dort hingeschlagen, wo die Verbindungsstränge zu ihr verliefen. Nur rein magische, aus Geisteskraft geformte Sachen konnten diese Stränge überhaupt treffen. Das erkannte sie, als sie innerhalb weniger Sekunden die Verbindung zu zwei Vampiren verlor, bevor die erneut versuchen konnten, ihr räumliches Abbild, ihre Avatari, aufzurufen. Die dritte Verbindung hielt noch. Doch das war wohl nur deshalb, damit Gooriaimiria sehen und hören konnte, was geschah. Denn nun erschien mit leisem Plopp die riesenhafte Schattenkreatur selbst. Ihre Ausstrahlung durchdrang den mit Gooriaimiria verbundenen Blutsauger und ließ ihn erbeben. "Also, noch einmal für alle selbsternanten Göttinnen. Halt dich von mir und meinen Kindern und deren Helfern fern. Sobald deine fangzähnigen Erfüllungsgehilfen merken, dass einer oder eine von uns in der Nähe ist, verschwindet er oder wird verschwunden. Jeder deiner Jünger, der meinen Kindern oder fleischlichen Helfern dumm kommt kommt um. Dass meine Seelenklingen die Verbindung zwischen denen und dir kappen können hast du ja jetzt sicher begriffen. Ach ja, wenn du meinst, noch einen dieser Transportwirbel anrühren zu müssen kriege ich raus, von wo du ihn losgeschickt hast. Ich weiß nämlich von den beiden, die jetzt meine gehorsamen Kinder sind, dass sie beim Dadurchgewirbeltwerden immer an einer Leuchtprojektion von dir vorbeirauschen, egal von wo nach wo es geht. Das wird mir helfen, deinen echten Standort zu finden, Vampirgötzin. Finde ich den, Kriege ich auch raus, wie ich dir weitere Energie absaugen kann. Du warst nicht, bist nichtund wirst nicht die Herrin der Nacht. Das kann nur die sein, die sich auch frei bewegen kann und ihre Helfer in Gedankenschnelle ausschicken kann. Also sieh zu, dass du deine Leute weit genug von mir und den meinen fernhältst! Ach ja, danke für die drei neuen Kinder!"

Gooriaimiria versuchte, einen Schattenstrudel aufzubauen, der den noch mit ihr verbundenen Gefolgsvampir forttragen sollte. Doch da wurde auch die Verbindung zu diesem gekappt. Sie wusste nun, dass sie die drei Seelen der Ausgeschickten verloren hatte. Doch diesmal büßte sie dafür keine weitere Kraft ein.

"Die Nacht wird kommen, die deine Vernichtung und meinen endgültigen Sieg sehen wird", dachte Gooriaimiria. Sie dachte daran, dass sie einen entscheidenden Vorsprung hatte. Ihre Helfer konnten bei Tageslicht herumlaufen. Nachtschatten konnten keine Solexfolien überziehen. Also musste und würde sie, so sehr es auch gegen ihre Ehre als Nachtgeborene ging, ihre Unternehmungen auf die Tagesstunden beschränken. Und noch etwas musste sie bedenken, diese Schattenfrau war nicht nur ihre Feindin. Wenn sie der US-amerikanischen Militärdoktrin folgte konnten deren Feinde ihre Freunde sein. Doch Menschen würde sie garantiert nicht um ein solches Bündnis bitten. Mit den Werwölfen lag sie ebenfalls im Streit. Doch wenn die wussten, dass diese Schattenbrütige auch ihnen gefährlich werden konnte, vielleicht ging da ja was. Sie musste es sich genau überlegenund vor allem die Welt im Blick behalten, wann sie eine Gelegenheit bekam, das von ihr angedachte Bündnis zu schließen, das wohl nur ein Zweckbündnis war, eine Allianz der gemeinsam bedrohten. Das klang nicht gut als Name für eine solche Zweckgemeinschaft. Dann durchflutete sie eine große Erheiterung. Warum nicht ein internationales Bündnis aller feststofflichen Nachttwesen? Ja, die vereinten Nationen der Nacht. Das war doch ein schön griffiger Titel. Eine Organisation, die gegen alle die Existenz von lebenden Nachtwesen bedrohenden Mächte vorging, ob Menschen oder Schattenspukwesen.

"Meine Hohepriesterin, erwarte in den nächsten Nächten eine klare Aufgabe von mir, die dein Ehrgefühl bedrücken mag, aber für unser aller Fortbestehen unausweichlich ist. Wie und was, wo und mit wem werde ich dir künden, wenn ich es genau beschlossen habe", schickte Gooriaimiria an ihre Hohepriesterin Nyctodora alias Eleni Papadakis. Diese bestätigte umgehend den Erhalt der göttlichen Eingebung.

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Unter der ehemaligen Festung Ailanorars, 29 Tage nach dem Erwachen der letzten vier Skyllianri, der letzte Zwölfteltag vor der ersten Tageshälfte

Die Kraft der großen Mutter nährte sie mit allem, was wichtig war. Sie mussten nicht mit dem Mund essen und trinken. Sie mussten nicht ständig frische Luft atmen. Es reichte, sich flach auf Rücken oder Bauch zu legen und die Ströme von Kraft und Leben in sich einfließen zu lassen. So verharrten die vier letzten Streiter des Erhabenen, die Verkünder seines Erbes, tief unter den bisher bewohnten Höhlen. Wenn sie ihre Hände zusammenlegten konnten sie sechzehnmal so stark fühlen, was in ihrer Umgebung vorging. Sie fühlten die immer noch arglosen Menschen, die den Berg bewunderten, ja ihn sogar ohne Rücksicht auf die Glaubensvorstellung der Urbewohner erkletterten. Sie dachten immer wieder jene Anweisung an ihre Einberufenen, die eins mit ihnen waren. Doch vor allem spürten sie, wie die erst sechzig Schlüpflinge sich bis auf nur noch vier verringerten. Die vier, je zwei weibliche und zwei Männliche, mochten nun überleben oder sich einander belauern, bis wieder einer von ihnen sterben musste. Durch die Massive Wand aus Felstrümmern konnten sie noch nicht hinaus. Denn auch wenn sie durch das große Geschwisterfressen schon auf das dreifache der Schlupfgröße angewachsen waren, so wwaren sie immer noch unerfahrene, unfähige Jungtiere. Würden sie überhaupt sowas wie eigenes Denken ausbilden oder sich unter der Knechtschaft rein tierischer Triebe gegenseitig auslöschen?

Wieder stieß eines der geschlüpften Wesen, ein Weibchen, gegen die aufgebaute Wand und biss hinein. Doch gelang ihm nicht, ein Stück herauszubeißen. Eher musste es sich schnell in Sicherheit bringen, weil die drei anderen Geschwister darauf ausgingen, es von hinten zu packen und was von ihm abzubeißen. So ging die gegenseitige Belauerung weiter, ohne Schlaf, ohne Unterlass. Denn wer doch einschlief war eine ganz sichere Beute für die wachbleibenden.

"Es wird so kommen, dass nur eines von ihnen überleben wird", vermutete Ishgildaria, die fast von der gerade geschlüpften Brut gefressen worden wäre.

"Ja, und die zweite, größere Brut wird nicht anders sein", fügte Gooramashta hinzu. Ihr missfiel es, von den eigenen Sprösslingen belagert zu sein. Auch wenn diese noch nicht durch die Absperrung konnten, so würden sie es irgendwann schaffen, und dann?"

"Das kann so nicht andauern", schnarrte Ashlohuganar. "Wir wollen schließlich unseren Einberufungssaft über die ganze Welt verteilen. Aber wir müssen auch dafür sorgen, dass die von den anderen Einberufenen gelegte Brut nicht alles wegfrisst, was dem Erhabenen dienen sollte."

"Dann bleibt nur eins, wir müssenunsere eigenen Kinder und die der sechs ersten von uns einberufenen Streiter töten", sagte Gooramashta.

"Unsere Kinder töten, Gooramashta?! Eher füttere ich sie mit deinem Fleisch, als sie zu töten", zischte Ishgildaria. Ashlohuganar erkannte, dass Ishgildaria noch eher bereit war, die Brut großzuziehen als Gooramashta. Deshalb sagte er: "Wenn du sie füttern wilsst wirst du selbst von ihnen gefressen, Ishgildaria. Also drohe nichts an, was dir selbst widerfahren wird! Wenn ich, der vom Erhabenen selbst als euer Sprecher und Kampfesführer bestimmt wurde, beschließe, dass wir diese Brut als Fehler unseres Seins, als Unbedachtsamkeit wegen der fehlenden Führung durch den Erhabenen, zu töten haben, dann tun wir das. Denn wenn einer von uns vieren der Brut selbst zum Fraß verfällt, werden die von ihr oder ihm einberufenen von allen Bindungen zum Wort des Erhabenen ledig und werden sich den Verbliebenen verweigern und ihren ganz eigenen Weg gehen, wie es die von Sisufuinkriasha einberufene Pangiaimmaya bereits ahnen lässt."

"Was ist mit diesem Mädchen? Warum konnte sie sich sowohl ihrer Einberuferin, als auch mir, der obersten Einberuferin ihres Daseinszweiges, derartig verwehren?" zischte Ishgildaria. Denn bis jetzt hatte sie keine neue Verbindung mit der unter die Erde geflüchteten Pangiaimmaya, vor allem, wo zwischen Sharikhaulaia und ihr die Verbindung abgerissen war, seitdem Sisufuinkriasha entweder getötet oder in einen Raum der völligen Geistesstille verschleppt worden war.

"Wahrscheinlich ist sie eine Unbezwingsteinseele, eine, die durch keine äußere Geistesmacht gelenkt oder geformt werden kann", erwiderte Gooramashta. "Die Muttermutter meiner früheren Daseinsform war auch so eine. Ihr konnten die Worte der Unterwerfung nichts abverlangen, sie konnte den Blick in das innere sein verwehren und auch gegen Gedankenhörende und Gedankensehende verschließen."

"Ja, aber deine Muttermutter trug die hohe Kraft in sich, anders als dein Muttervater", erwiderte Sholalgondan. "Dieses Mädchen, dass Pangiaimmaya genannt wurde, weil wir sie durch Sisufuinkriashas Augen sahen, ist keine Begüterte, anders als die, die mit einer der Lehrenden im Schwimmübungshaus Zuflucht gefunden hat und wohl von dort gerettet wurde, weil die Begüterten der Istzeit die Richtungskraft der großen Mutter gegen uns aufgebracht haben."

"Und doch ist sie wohl eine Unzwingsteinseele. Denn nur eine Solche kann der festen Rangordnung unseres Seins so erfolgreich widerstreben", beharrte Gooramashta und fügte noch hinzu: "Und die, welche von ihr einberufen wurden, gehorchen nur ihr." Ishgildaria bestätigte es mit großem Widerwillen.

"Überhaupt, deine Einberufenen in dieser Schule nur für Mädchen sollten endlich den sie umschließenden Käfig aufbrechen und entfliehen oder die darum herum aufgestellten einberufen, damit wir endlich die Wurzel des uns entgegenwirkenden Widerstandes ausreißen können. Jetzt, wo Sisufuinkriasha nicht mehr selbst verfügen kann liegt es an Sharikhaulaia und dir, es zu befehlen, Ishgildaria."

"Ja, du hast recht, Ashlohuganar. Bevor unsere eigene Brut uns doch noch fressen mag sollten wir den letzten Willen des Erhabenen vollenden und unsere Einberufenen frei und ungebunden weitermachen lassen", erwiderte Ishgildaria. Sogleich nahm sie die über alle Landesgrenzen hinweg reichende Verbindung zu Sharikhaulaia auf, die mittlerweile eine beachtliche Streitmacht von weiblichen Kriegern um sich geschart hatte. Befiehl denen, die deine verlorengegangene Einberufene Sisufuinkriasha zuerst einberief, ihr Gefängnis zu zerstören und den ihnen eingepflanzten Auftrag zu erfüllen, notfalls durch die Kraft des letzten Opfers."

"So wie die kleinen Mädchen, die den ersten Käfig durch ihr eigenes Leben aufgebrochen haben?" wollte Sharikhaulaia wissen. Ishgildaria vermeinte, eine gewisse Unsicherheit aus dieser Frage herauszuhören.

"Genauso, Sharikhaulaia. Gebiete dies in den nächsten zwei eurer Stunden, was einen Zwölfteltag unserer erhabenen Zeiteinteilung entspricht! kannst oder tust du es nicht, so werde ich dieses Gebot an die oberste der dort eingesperrten weitergeben."

"Dein Wort ist mein Wille", erwiderte Sharikhaulaia.

"Es klang nicht so, als wenn sie dir bedingungslos folgen würde", argwöhnte Gooramashta zu ihrer Kampfesschwester.

"Sicher wollte sie wissen, ob der einmal erfolgreiche Weg auch wieder gelingt", sagte Ishgildaria.

Sie wollten sich nun auf die männlichen Einberufenen besinnen, wie sie weiter vorgingen. Da empfingen Ashlohuganar und Sholalgondan verzweifelte, in höchster Todesangst ausgestoßene Hilferufe:

"Obere Einberufer, gewaltige Insekten mit Menschenköpfen greifen uns an. Wir können nicht unnter die Erde fliehen, weil die was machen, dass uns oben hält und .... Sie haben mich!! Sie reißen mich ...." Dann verstummte die Stimme des Rufers, und ein anderer rief: "Agosharudan wird von Riesenbienen mit Menschenköpfen hochgerissen und ... Sie haben ihn totgestochen und greifen nun uns andere an. Wir können nicht durch die Erde und .... Aarg!" Auch die zweite Stimme verstummte in einem jähen aufschrei.

"Was sind das, Insekten und Bienen?" fragte Ashlohuganar. Ishgildaria erwähnte, dass die Bezeichnung aus einer Gelehrtensprache stammte und die kleinen, mal nützlichen, mal lästigen Kerbtiere bezeichnete und Biene die Bezeichnung für eine Süßgoldsammlerin sei, die ähnnlich wie räuberische Stechsummer giftige Stacheln hätten, aber eben nur einmal damit einen größeren Feind stechen konnten und dann sterben mussten.

"Aber die sind so winzig und können unmöglich einen von uns hoch in die Luft reißen", rief Ashlohuganar. Sofort versuchte er, durch die Augen eines anderen Einberufenen zu sehen, der in der Nähe der beiden gerade verlorengegangenen war. Dieser eilte den zwei Kampfesbrüdern zu Hilfe, bis er gegen eine wandernde Absperrung in der Erde prallte. Er vermeldete, drei sehr große Bienen mit Menschenarmen und Menschenköpfen zu sehen und einen rot-grün flirrrenden Lichtstrahl, der von einem silbernen Gürtel ausging, den die drei zwischen den beiden Armpaaren und den Beinen trugen. Dann hatten ihn zwei der Geschöpfe wohl bemerkt. Der Einberufene versuchte noch, unter die Erde zurückzukehren, doch da berührte einer der Lichtstrahlen die Erde um ihn herum und machte sie für ihn so fest wie für alle anderen auch. Das letzte, was Ashlohuganar nun noch sah waren zwei schnell und gezielt zupackende Armpaare. Das letzte, was er hörte war das laute tosende Gebrumm der wild wirbelnden Flügel. Dann zerfielen Bilder und Geräusche in einem letzten Geistigen Aufschrei zu Funken und Stille.

"Wir haben neue Feinde", stellte Sholalgondan fest. "Offenbar haben die Istzeitmenschen wweitere Verbündete gegen uns gefunden, die aus eigener Kraft fliegen können und erspüren, wo unsere Streiter sind. Wenn sie ebenso schnell fliegen können wie die Wolkenhüter des verwünschten Windkönigs tönt das Horn des nahen Untergangs für unsere Daseinsform auf der Oberfläche."

"Dann werden wir zusehen, die bösen geflügelten Feinde zu töten, wenn sie welche von uns ergreifen. Dann werden die Ergriffenen als letzten Dienst an uns und dem Erhabenen eben den Tod des letzten großen Opfers sterben müssen", sagte Ishgildaria. "So müssen wir diesen Befehl an alle unsere Einberufenen aussprechen, dass wer ergriffen und in die Höhe gerissen wird dieses Opfer bringt. Das hätten wir auch schon längst machen können, als wir wussten, dass unsere Feinde unbezauberte Fluggeräte gegen uns benutzten. So werden wir eben unsere Feinde vernichten, wenn sie meinen, uns zu vernichten."

"Vergiss nicht, dass die grauen Wolkenhüter sehr schnell lernten, wie schnell und hoch sie unsere Krieger in die Luft reißen mussten. Außerdem können wir den letzten Opfertod nicht als allgemeinen Befehl aussprechen", sagte Sholalgondan. Ishgildaria fragte warum nicht. "Weil dieser Opfertod immer mit dem Namen des todgeweihten Kriegers verknüpft werden muss, sobald er weiß, dass er sterben wird. Erst dann und nur dann können die ihn einberufenden diesen Befehl geben."

"Warum dies?" schnaubte Ishgildaria, die eine sehr erfolgreiche Gelegenheit schwinden sah, ihre fliegenden Feinde zu besiegen.

"Weiß ich, warum der Erhabene dies uns so eingegeben hat? Doch ich wage auf Grund dessen, dass er selbst es mir nicht mehr verbieten kann, zu vermuten, dass er dies so und nicht anders gebot, damit niemand, der seinen Stab der Lenkung in die Hand bekommt, allen von uns auf einen Schlag den letzten Opfertod befehlen kann. Denn das wäre die endgültige Niederlage des Erhabenen gewesen."

"Das ist so verständlich, dass es durchaus der Wille des Erhabenen gewesen sein kann", sagte Gooramashta. Ishgildaria stimmte dem verbittert zu. "So bleibt uns nur, uns all die Namen derer zu merken, die wir einberiefen oder die unsere Einberufenen selbst in den Dienst des Erhabenen riefen. Wie viele sind das noch?"

"Es dürften nun über zehntausend von ihnen sein, Ashlohuganar. Also fangen wir an, sie zu zählen, um dann, wenn auch sie bedroht werden, unsere Rache an den Feinden vollziehen zu können", erwiderte Ishgildaria. Ashlohuganar stimmte ihr zu.

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Australisches Zaubereiministerium, 27.09.2003, 10:20 Uhr Ortszeit

Die Zaubereiministerin und die für die Bewältigung der Schlangenmenschenausbreitung zuständigen Abteilungsleiterinnen und Abteilungsleiter saßen sich im kleinen Konferenzzimmer des Zaubereiministeriums gegenüber. Weil das Zimmer ein Dauerklangkerker war, aus dem keine Laute hinausdringen konnten funktionierten die in den letzten beiden Jahren weltweit bewährten Schallverpflanzungs-Silberdosen hier nicht. Deshalb wunderte sich die amtierende Zaubereiministerin überhaupt nicht, dass Bridgegate, Flatfoot und McBane sichtlich angespannt wirkten, als erwarteten sie etwas ganz dringendes, durften es sich aber nicht anmerken lassen. Doch am angespanntesten war Handels- und Finanzabteilungsleiter Phodopus Bathurst.

"Sie haben es von Mr. mcBane sicherlich erfahren, dass jene, die sich als höchste Schwester des Spinnenordens ausgibt, eine als Drohung zu verstehende Ankündigung gemacht hat, alle auf unserem Hoheitsgebiet existierenden Schlangenmenschen zu beseitigen", kam die Ministerin unverzüglich auf den Grund der Konferenz. "Ich wies Mr. McBane an, zunächst ausschließlich mit seinen Leuten gegen mögliche Angreiferinnen aus den Reihen dieser obskuren Sororität vorzugehen. Es stellte sich jedoch heraus, dass der Spinnenorden oder deren Anführerin auf Sardonias schwarzmagische Hybriden zwischen Menschen und Bienen zurückgreifen kann. Jedenfalls konnten an die fünfzig dieser Kreaturen über verschiedenen Orten Australiens gesichtet werden. Versuche, sie im Flug zu bekämpfen scheiterten daran, dass sie von unsichtbaren Leibwächterinnen begleitet werden, die unsere Leute mit Brems- und Fangzaubern am Vorstoß hinderten. Der einzige Versuch, eines der Insektenwesen mit dem Todesfluch zu eliminieren missglückte, da diese Wesen offenbar über einen Dislocimaginus-Zauber verfügten, der ihr Erscheinungsbild an einen anderen Ort verpflanzt als sie wahrhaftig sind. Selbst das unüberhörbare Geräusch ihrer Flügel wurde auf diese Weise verschoben. Ein weiterer Versuch scheiterte an erwähnten Leibwächterinnen. Lawrence McBane und ich gehen jedenfalls davon aus, dass es Hexen sind, die den Tross der Insektenwesen begleiten und für diese wohl auch die Zielerfassung ausführen. Die selbsternannte Erbin Sardonias und Anthelias hat sich sehr gut daran erinnert, wie die Entomanthropen, wie die französische Dunkelhexe Sardonia diese Züchtungen nannte, bei ihrem Einsatz über Frankreich bekämpft wurden. Zumindest hat die schwarze Spinne niemanden unserer Leute getötet oder töten lassen. Sie wachten eben erst auf, als die Entomanthropen schon weitergezogen waren. Eine Rückschau zeigte immerhin, dass die Insektenwesen nach Tötung mehrerer Schlangenmenschen zu einem Sammelpunkt flogen, an dem sie durch ein Teleportal verschwanden. Versuche, das magische Ferntor erneut zu aktivieren scheiterten, weil die Gegenstelle offenbar magisch unwirksam gemacht wurde. Soweit der Grund, weshalb ich Sie alle herbat."

"Ja, und meine Leute sind drachengallensauer, weil an die fünfzig von denen so derartig ausgetrickst wurden. Illusionszerstreuungszauber versagten nämlich, nachdem sie erkannten, dass die Insektenmonster offenbar anderswo zu sein schienen, als Bild und Geräusche sie erwarten ließen", grummelte McBane. "Des weiteren war da sicher nicht nur eine Wächterin bei denen. Außerdem haben meine Leute auch dreihundert Kilometer weiter westlich eine Gruppe aus mindestens zwanzig geflügelten Riesenbrummern gefunden. Das Ergebnis war, dass meine Leute bei unterschreiten eines Mindestabstandes von mehreren unsichtbaren Fangzaubern bewegungsunfähig gemacht und dann mit einem ihnen und mir bisher unbekannten Schlafbann betäubt wurden. Sie wachten dann am Boden wieder auf und erkannten, dass sie ganze vier Stunden verschlafen hatten und die Schau der schwarzen Schwestern schon längst über die Bühne gegangen war. Bei den toten Ex-Schlangenmenschen handelte es sich zwar ausnahmslos um Ureinwohner. Doch ich will das nicht auf mir sitzen lassen, dass diese Sardonianerin oder wie die sich selbst auch immer bezeichnet, auf meinem Spielplatz die Schaukeln, die Rutschen und das Klettergerüst benutzen kann und danach alles mit dem Sand aus der Sandkiste zuschüttet. Gibt es irgendwas, was wir gegen die Entomanthropen machen können, außer denen Flüche aufzubrennen?"

"Sie sind kälteempfindlich und orientieren sich wie Zugvögel, Wale und gut ausgebildete Ureinwohner Australiens, sowie die Schlangenmenschen, an der Beschaffenheit des irdischen Magnetfeldes. Wie erwähnt setzt ihnen große Kälte zu. Das macht sie langsamer bis unbeweglich", sagte Tharalkoo Flatfoot, ohne auf irgendwelche Notizen angewiesen zu sein.

"Das erklärt, warum diese Brummbiester gerade mal hundert Meter über Grund dahingesurrt sind", brummelte McBane. "Gut, dann werde ich meine Leute mit entsprechenden Waffen ausstatten, die eine Zone von hundert Metern im Umkreis des erfassten Ziels für einige Sekunden mit Vereisungsnebel erfüllt. Sie alle kennen diese alchemistische Flächenwaffe?" Alle anwesenden nickten, auch der Handelsabteilungsleiter. Doch genau dieser straffte sich dann und sagte: "Soweit ich orientiert bin kostet eine Flüssigpinte dieses Elixiers 100 Galleonen und die Herstellung dieser höchst fragwürdigen Mixtur benötigt 100 Mannstunden hochbezahlter alchemistischer Fachkräfte pro Pinte. Wie viele Flüssigpinten dieses Gebräus haben Sie vorrätig, Mr. McBane?"

"Öhm, zehn, und die wollten wir an und für sich für die Feuerbekämpfungstruppen bei den zu erwartenden Waldbränden im Hochsommer vorhalten, wenn die Feuer mal wieder zu nahe an unsere Zauberersiedlungen in Victoria oder im Nordgebiet heranrücken. Brandlöschzauber alleine kommen einer ... Wissen Sie ja", grummelte McBane, der verstand, worauf der Finanzabteilungsleiter hinauswollte. "Somit dürften sie bis auf den gesetzlich festgelegten Mindestvorrat von sechs Flüssigpinten Vereisungsnebelelixier nur vier Pinten zur freien Verfügung haben, was umgerechnet dreihundert Galleonen pro Pinte gleich zwölfhundert Galleonen für vier Pinten sind. Wenn die aufgebraucht sind, und es erweist sich, dass es noch weitere dieser Insektenhybriden gibt, wie viele Galleonen wünschen Sie von weiteren Unternehmungen Ihrer Abteilung abzuziehen?"

"'tschuldigung, Ministerin Rockridge, wie war das noch mit dem Notfalldekret zur Bekämpfung gefährlicher Zauberwesen auf australisch-tasmanischem Hoheitsgebiet?" fragte McBane.

"Die Unterredung mit dem Chefkobold von Gringotts Sydney erbrachte, dass wir eine Wertschöpfung von einhundert Millionen Galleonen für die nächsten drei Jahre tätigen können, bevor die Kobolde den mit uns vereinbarten Förderbonus beanspruchen. Der Leiter von Gringotts hat zwar versucht, mich noch auf die ihm angeblich zustehende Restzahlung der Willy-Willy-Insolvenz festzunageln, aber ich habe dann die Diamantkeule mit Goldkern geschwungen, dass diese Übereinkunft nur solange gilt, wie ein friedliches, auf gegenseitigem Vertrauen fußendes Verhältnis möglich ist und irgendwelche längst für unberechtigt erkannte Forderungen als Vertrauensbruch seitens der Kobolde gewertet würde. Hat dem grauhaarigen Herren mit den leicht ausgefransten Spitzohren zwar nicht behagt. Doch er ist dann auf die Bedingungen eingegangen."

"Mit anderen Worten, ich könnte mehr als zehntausend Eisnebelpinten machen lassen, falls das nötig ist", meinte McBane.

"Moooment, diese Vorausentnahme ohne Förderabschlag für die Kobolde besagt nur, dass wir dieses Gold entnehmen und in Münzgold oder Manufakturrohlinge umarbeiten lassen dürfen, wenn dazu die Notwendigkeit besteht. Besteht sie nicht, sparen wir Gold und damit nachträglich erstattete Förderbeteiligungen", sagte Bathurst.

"Ach wissen Sie, Mr. Bathurst", setzte McBane an. "In Mutter Erdes alteherwürdigem Bauch liegt das ganze nicht essbare Gold sowieso besser als in irgendwelchen Koboldtresoren. Machen wir es doch ganz einfach so und überlassen den Schlangenmenschen und Insektenmonstern und vielleicht den Wertigern, den langzähnigen Nachtgötzinnenanbetern und wem noch sonst alles das Feld. Ach ja, vielleicht laden wir die Muggels ein, über den von uns erkannten Orten von Schlangenmenschen ihre brandgefährlichen Atombomben auszuprobieren. Land genug haben wir ja, und das Uran für die Dinger können wir denen dann frei haus liefern", ereiferte sich McBane. "Das spart dann nicht nur Gold, sondern bringt sogar noch was ein, wenn wir klar haben, in welcher Währung uns die Beteiligten bezahlen, damit sie in Ruhe ausfechten, wem Australien zukünftig gehört."

"Ich verstehe nicht, was diese alberne Trotzreaktion jetzt soll", schnaubte der Finanzleiter. "Ich will nur sicherstellen, dass wir uns in Zukunft nicht von Kobolden gängeln lassen müssen, weil die finden, wir schuldeten ihnen eine Menge Gold. Die Zaubererweltbürger haben ein Recht darauf, dass die von ihnen getätigten Abgaben für Handel und erbrachte Dienstleistungen nicht im hohen Bogen in den Pazifik geschleudert werden."

"wie gesagt, Gold kann man nicht essen, Mr. Bathurst, und die von Ihnen erwähnten Mitbürgerinnen und Mitbürger werden es Ihnen sicher danken, wenn sie als Schlangenmenschen, Wertiger, Vampire oder Geister weiterexistieren, falls sie nicht ganz sterben und darauf warten, dass Sie aus lauter Angst vor unnötigen Ausgaben kein Essen mehr für sich kaufen", versetzte McBane.

"Jungs, is' gut jetzt", stieß die Ministerin mit einer im Moment völlig unerwarteten Lautstärke dazwischen. "Larry, Sie stocken die Vorräte an Vereisungsnebelelixier auf und buchen die Ausgaben entsprechend! Phodopus, Sie weisen Ihre Untergebenen an, diese Ausgaben unter dem Titel "Schlangenmenschenbekämpfung 2003" zu verbuchen und die erforderlichen Ausgaben zu genehmigen, ohne Ach und weh und sonst welches Gejammer und Gezeter. Am Ende finde ich doch noch heraus, wie diese goldenen Babymachergeräte von VM gehen und schicke euch zwei damit in Wiege und Windeln zurück, wäre im Moment nur eine körperliche Verwandlung."

"Moment, Latona, Sie werden mir nicht in den Rücken fallen und meine berechtigten Einwände gegen übereifrig getätigte Ausgaben ..." setzte Phodopus Bathurst zu einem Protest an.

"Sie haben es gerade gehört, dass diese Insektenwesen durch Dislocimaginus-Zauber nicht genau angezielt werden können. Sie erfuhren von mir persönlich, dass diese Pulks von unsichtbaren Beschützerinnen begleitet werden. Um dieser neuen Plage beizukommen und die Schlangenmenschen lebend zu fangen müssen wir uns dieser neuen Gefahr erwehren, wenn wir wissen, wie das geht. Über die dafür nötigen Ausgaben wird erst ganz am Schluss diskutiert, und Schluss ist, wenn weder ein Entomanthrop noch ein Schlangenmensch frei auf australischem Boden herumspukt. Haben Sie das verstanden, Mr. Bathurst?" herrschte ihn die Ministerin mit stark verengten Augen an.

"Ich behalte mir vor, Ihre aus gewisser Panik erwachsene Überreaktion zu einem späteren zeitpunkt vor dem Rat der Ministeriumsmitarbeiter und dem Gamot erörtern zu lassen, Frau Ministerin", sagte Bathurst verdrossen. Er wusste, dass er diese Runde gegen McBane verloren hatte und dass die Ministerin ihn jetzt jahrelang hinhalten und Unsummen von ihm fordern konnte, solange die Schlangenmenschen auf australischem Boden herumliefen. Dann bekamen er und alle anderen mit, wie sich die Ministerin wieder an McBane wandte.

"Was ich eben bezüglich Ihres Verhaltens sagte halte ich aufrecht, Larry. Der Leiter der wichtigsten Abteilung des Zaubereiministeriums muss sich selbst am besten beherrschen, wenn er erwarten, ja verlangen darf, dass die ihm unterstellten Hexen und Zauberer sich beherrschen können. Deshalb muss ich Ihnen eine mündliche Rüge erteilen: Sie gefährden das Vertrauen, dass ich in Sie setze und gefährden gleichermaßen die Einsatzfähigkeit der Strafverfolgungsbehörde und aller Sicherheitstruppen. Das können wir uns derzeit überhaupt nicht leisten, genau aus den Gründen, die Sie in ihrem schon an präpubertären Trotz erinnerndem Ausbruch darlegten. Wir haben zu viele heimliche und klar benannte Feinde. Die würden sich sehr über Ihren völligen Ausfall freuen. Also gehen Sie unverzüglich daran, die beiden verfeindeten Gruppen voneinander zu trennen, bevor Sie und wir alle wieder tausende von Toten zu beklagen haben werden! Tharalkoo, gibt es außer der Vereisung noch weitere anwendbare Schwächen?"

"Eine von der ich hoffe, dass die Spinnenhexe sie wieder einsetzen musste, um diese Wesen zu führen, nämlich diesen ominösen Stein, von dem die US-Amerikaner berichteten, dass Sardonias angebliche Erbin damit die über den USA und Europa aufgetauchten Entomanthropen gesteuert hat, sofern es nicht die Nachkommen der ungewollten Züchtung Valerie Saunders waren. Es wäre also von Vorteil, das Lenkartefakt zu erbeuten und damit die bestehenden Kreaturen zu einem massenhaften Suizid zu veranlassen, da diese Züchtungen eindeutig unrückwandelbar sind."

"Dir ist klar, Tharalkoo, dass die Spinnenhexe dir den Stein nicht geben wird?" fragte McBane. Darauf erwiderte Tharalkoo Flatfoot. "Natürlich ist mir das klar, Larry. Doch die Ministerin wollte wissen, welche Schwäche diese Insektenwesen sonst noch haben. Nur das habe ich erwähnt."

"Dann sind der Worte jetzt wirklich genug gewechselt", bestimmte die Ministerin und entließ ihre Mitarbeiter, um die besprochenen Schritte durchführen zu lassen.

Über Melchior Vineyard aus der Delourdesklinik und die teilweise von einem der Aboriginalvölker abstammende Hexe Zoe Sweetwater erfuhr sie weiterhin, wo Schlangenmenschen im Buschland auftauchten. Zwar wurden die Schlangenmenschen nicht punktgenau geortet, wenn sie einen der magischen Fäden berührten. Eher unterbrachen sie die Verbindung kurzzeitig. Doch das reichte immerhin, um zwischen den zwei benachbarten Verbindungsstellen zu suchen. Meistens wurden die ausgeschickten Hexen und Zauberer fündig. Und der Magnetstrahlrotor auf einer sich zum Drehausgleich entgegengesetzt drehenden Plattform warf den oder die georteten dann zu boden, heizte sie beinahe zur Rotglut auf und hielt sie dann bewegungsunfähig. So konnten sie immer weitere Gefangene machen. Doch irgendwann würden die Plätze auf den Schiffen voll besetzt sein. Was dann?

Die Heiler hatten immer wieder Giftproben entnehmen können und wussten nun, dass nicht nur das Gift bei Vermischung mit Goldstaub zerfiel, sondern gefangene Schlangenmenschen schon bei der geringsten Berührung mit purem, unlegiertem Gold erheblich geschwächt wurden. Allerdings warnte Großheilerin Morehead davor, die Schlangenmenschenlänger als zehn Sekunden mit reinem Gold in Berührung kommen zu lassen, weil die Möglichkeit bestand, dass die Schlangenmenschen dann starben. Gemäß Laura Moreheads klarer Äußerung war Tötung keine Heilung. Doch die Ministerin hielt sich die Möglichkeit offen, dass sie vielleicht mit goldenen Armbrustbolzen oder anderen Waffen gegen eine Übermacht von Schlangenkriegern vorgehen musste, ja und dass es auch bei den eher respektablen Heilerinnen und Heilern Spione Vita Magicas geben mochte, die es ihren Mitverschwörern weitermeldeten, welche Schwächen die Schlangenmenschen hatten.

Gegen elf Uhr ließ sich der Heiler Meelchior Vineyard bei der Ministerin melden. Der im Sana-Novodies-Krankenhaus arbeitende Heilmagier kannte sich sehr gut mit den Zaubern und Ritualen vieler Ureinwohnerstämme aus und konnte deshalb mit einigen Magiern von denen etwas ähnliches wie mentiloquieren, wobei er auch Bilder empfangen oder übermitteln konnte. Daher ließ sie sich sogleich von seiner offen sichtbaren Alarmstimmung anstecken.

"Ich hoffe, wir sind noch früh genug dran, Ministerin Rockridge. Das Schlangenmenschenaufspürnetz erzittert bei mehreren Ureinwohnersiedlungen so stark, als wenn die Schlangenmenschen mit riesigen Bögen herumspielten wie auf einer Flotte Kontrabässe. Das ist anders als die zeitweiligen Unterbrechungen, die durch die Fäden laufende Schlangenmenschen auslösen. Meine Kontakte in den betreffenden Gebieten fürchten, dass dort noch unfertige Schlangenmenschen zusammengezogen werden oder wortwörtlich ausgebrütet werden."

"Wie bitte?! Die kriegen eigene Kinder?!" stieß die Ministerin aus.

"Schlimmer, ich fürchte, die legen dutzende von Eiern ab und lassen die von der Sonne oder der Erde ausreifen. Das wussten wir bisher nicht, dass die sowas können. Deshalb wissen wir auch nicht, was aus diesen Eiern schlüpft und ob das für die Schlangenmenschen gut oder schlecht ist. Für uns ist es sicher eine Horrormeldung, wenn diese Geschöpfe sich miteinander fortpflanzen. Das heißt nämlich, dass wir so viele von denen gebissene einfangen können wie wir wollen und diese Geschöpfe trotzdem nicht eindämmen können."

"Wo genau ist dieses von Ihnen erwähnte Kontrabasskonzert am lautesten, Mel?"

"Hat mich meine direkte und unser aller oberste Chefin auch schon gefragt. Deshalb habe ich hier die Ausschnittskarten mit den markierten Stellen, alles kleine, von uns größtenteils noch unregistrierte Ortschaften, Eingeborenendörfer, wenn Sie diesen Begriff eher schätzen", sagte Vineyard und holte aus seiner Heilertasche mehrere zusammengefaltete Landkarten aus Pergament. "Die Karten sind so bezaubert, dass sie mit einem dazu passenden Wandspiegel vergrößert dargestellt werden können, darf ich Ihnen von unserem Chefthaumaturgen Goldfire ausrichten", sagte Vineyard.

"Sollte es jetzt nötig sein, Leute zu den betreffenden Ortenhinzuschicken, sagen Sie mir das besser jetzt! Dafür sind Sie doch persönlich hergekommen", erwiderte die Ministerin. Vineyard nickte und entfaltete zwei der mitgebrachten Karten. "Hier, das Dorf heißt Kulawarra und liegt so 200 Kilometer nordwestlich vom Uluru. Da surrt und brummt es am heftigsten. Aber hier bei dem Dorf etwa hundert Kilometer abseits der Muggelfernstraße zwischen Adelaide und Canberra ist auch so eine heftige Quelle, Nrugangarri, soweit mein Verbindungsmann es mir aufgeschrieben hat."

"Wie viele Orte sind es genau?" wollte die Ministerin wissen. Melchior Vineyard zählte zwanzig Ortschaften auf. "Genau das, was wir befürchtet haben. Diese Geschöpfe haben sich in abgelegenen Dörfern eingenistet, deren Bewohner sich nicht ansatzweise gegen sie wehren konnten. Wenn da alle auf die Suche nach neuen Opfern gehen sterben die Ureinwohner schneller aus als wir Europäischstämmigen es in den letzten zwei Jahrhunderten hinbekommen haben", grummelte sie. "Gut, ich bedanke mich für die Karten und hoffe, dass wir noch rechtzeitig was gegen diese neue Gefahr machen können. Nicht auszudenken, wenn da wirklich selbstgezeugte Nachkommen von denen aus mehreren hundert Eiern schlüpfen."

"Och, eine kleine Hoffnung gibt's, dass die sich dann erst mal selbst gegenseitig auffressen, wie bei den Bundabundos, wo die Jungtiere schon im Mutterleib einander fressen, bis nur zwei von denen geboren werden", sagte Vineyard.

"Sie sind vielleicht drauf, Mr. Vineyard", schnarrte die Ministerin. Doch ihr viel ein, dass auch bei nichtmagischen Tieren der Geschwistermord zur natürlichen Auslese gehörte und kannte aus ihrer Leidenschaft für Meerestiere auch Berichte vom intrauterinen Kannibalismus bei verschiedenen lebendgebärenden Haiarten. Es galt auch als gesichert, dass die großen Seeschlangen mit den Pferdeköpfen vor ihrer Geburt zu töten lernten, um selbst nicht getötet zu werden. Auch eine Art, als vollendeter Mörder geboren zu werden, dachte sie dabei. Dann sagte sie: "Ja, oder die frisch geschlüpfte Brut schwärmt sofort aus und fällt alles und jeden An, der das Pech hat, in Riech- und kriechweite zu geraten. Wollen wir zwei nicht wirklich."

"Auch wieder richtig", sagte Vineyard. "Genau deshalb ist es um so wichtiger, das übel gleich an der Wurzel zu packen." Dem wollte und konnte die Ministerin nicht widersprechen.

Sie ließ wiederum mehrere Außeneinsatztruppler zu sich hinkommen und zeigte ihnen mit Hilfe eines Vergrößerungsspiegels, der die ihm vorgehaltenen Karten als die halbe Raumbreite ausfüllende Erscheinungen schweben ließ, wo sie hin sollten. Als sie dann noch erwähnte, dass sie es hier womöglich mit vor dem Schlüpfen stehender Gelege zu tun haben würden warf einer der Außentruppler ein: "Oha, dann werden die Eier aber sicher von deren Müttern verteidigt. Vielleicht brauchen wir doch sowas wie diese Atomsprengbomben der Muggel."

"Diese Waffen sind ausdrücklich verboten", sagte die Ministerin. "Aber sie können sonst gerne alles anwenden, was gegen Menschen untersagt ist, Brenngebräu, Drachengallengas, Clamp'sche Kommotionen."

"Öhm, Ministerin Rockridge, bei Clamp'schen Koomotionen wird eine Menge Gift freigesetzt. Außerdem haben die Kollegen bei den Yankees damals, wo deren Ministerium in die Luft geflogen ist, auch die Radioaktivstrahlung gemessen, die hier in Aussiland aus Uranminen kommt und von Herbregis und Dawn entdeckt und erstmalig behandelt wurde."

"Gut, Clamp'sche Kommotionen sind auch gestrichen", erwiderte die Ministerin. Der Übereifer, eine anstehende Flut von Unheil abzuwehren, hatte sie doch verleitet.

"Öhm, diese Eisnebelladungen, die wir gegen die Insektenmonster einsetzen sollen, können wir die auch gegen die erwarteten Brutnester bringen?" fragte ein noch junger Außeneinsatztruppler. Die Ministerin überlegte kurz. "Wenn sie damit zerstört werden können sind sie genauso zulässig wie Brenngebräu und Drachengallengas oder Sprengstoff, der keine Radioaktivstrahlung freisetzt. Ich will weder Krach mit den Ureinwohnern noch mit den Heilern kriegen", sagte sie noch.

"Ministerin Rockridge, wir haben Feindberührung mit einer halben Zenturie Entomanthropen, wenden besprochene Maßnahme an", hörte die Ministerin aus einer aufgeklappten Schallverpflanzungsdose die Stimme von McBane. "Und hepp!" rief die Stimme dann noch in einer Art Vorfreude oder Überlegenheitsgefühl. Aus der Dose drang ein lautes Gebrumm und Gesumm wie von Millionen darin schwirrender Hornissen. Alle bei der Ministerin sitzenden Hexen und Zauberer warteten, ob das Gebrumm verebbte. Rockridge meinte, ein leises Ploppen zu hören. Dann stieß McBane einen sehr wüsten Ausdruck aus und rief dann: "Rückzug, schnell weg zurück und neu formieren und ..." Dann wurden seine Worte vom lauten Getöse der von ihm erwähnten Entomanthropen übertönt. Dann klickte es leise. Dann war für einige Momente Stille. Dann klickte es erneut. Doch es folgte kein Gebrumm, sondern eine mit ausländischem Akzent englisch sprechende Hexenstimme:

"An wen auch immer, der oder die mithört. Danke für die Eisnebelkugel. Können wir sicher gut brauchen, wenn gegen echte Feinde gekämpft wird. Es grüßt die schwarze Spinne." Latona Rockridge erkannte, dass es nicht die Stimme der Erscheinung war, die ihr das Eingreifen des Spinnenordens angekündigt hatte.

"Was ist mit meinem Außenmitarbeiter?" rief die Ministerin in die Dose zurück.

"Schläft und wird erst wieder wach, wenn wir weit genug weg sind", erwiderte die fremde Hexenstimme nur. Dann klickte es wieder aus der Dose. Die Ministerin prüfte, ob sie noch was hineinrufen konnte. Doch es hallte nur hohl aus der Dose zurück. "Diese Weiber haben die Nebelbombe abgefangen, wie auch immer. Das werden die weitermelden und dann überall da machen, wo sie ihr übergroß aufgeblähtes Ungeziefer hinschicken."

"Wie kann die eine geworfene Eisnebelladung abfangen?" wollte ein junger Einsatztruppler wissen. Darauf erwiderte eine ältere Hexe: "Amniosphaera-Zauber gekoppelt mit einem Unzerbrechlichkeitszauber für alle darauf prallenden Objekte. Damit habe ich auch schon mal einen tückischen Gasbombennangriff auf mich und mir anvertraute Kollegen abgewehrt. Die Ladung konnte dann nämlich nicht freigesetzt werden und ist in ihrem Hohlgeschoss geblieben, bis jemand es in einem gesicherten Raum entzaubert und die Ladung unschädlich in entsprechende Entsorgungsrohre abgelassen hat."

"Wird sich der Handelsabteilungsleiter freuen, dass diese Methode schon im Ansatz versagt und daher nicht weiter benutzt werden muss", schnaubte die Ministerin. Doch dann dachte sie für sich, dass es schon merkwürdig war, wie gut die Gegenseite auf die neue Abwehrmaßnahme vorbereitet gewesen war. Denn schließlich hatte sie diese Einsatzmöglichkeit doch erst vor sehr kurzer Zeit genehmigt.

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Über dem Ureinwohnerdorf Kulawarra nordwestlich des Uluru, 27.09.2003, 17:30 Uhr Ortszeit

Also, wenn hier auch noch diese Brummdinger auftauchen nur noch mit Todesflüchen oder Feuerzaubern draufhalten, hat die Ministerin gesagt", tönte Ross Hedgeroot, der für den Einsatz über dem Dorf, von dem er bis heute nichts gehört hatte, eingeteilt war.

"Ross, ich kriege hier voll die auf die Schlangenmenschen abgestimmte Erfassung. Hier sind wir richtig. Ui, da unten ist echt was, dass wie ein riesenhaufen schlafender oder unterentwickelter Wesen ist. Landen?"

"Nur, wenn Sie heute abend selbst im Schuppenkleid herumlaufen wollen, Duncan", knurrte Hedgeroot. "Nein, wir beharken die aus nicht niedriger als fünfzig Metern. Also, zielen, werfen, weg!" sagte der Truppenleiter und machte seinen Kollegen vor, wie er es meinte.

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Die Bewohner des Dorfes erkannten die Feinde daran, dass sie eine Kraft ausstrahlten, die kein Vogel oder ein anderes Tier ausstrahlte. Dann sah eine der neuen Brutmütter, wie einer der Fremden auf seinem fliegenden Ast mit dünnen Enden hinten wie ein Beutefangvogel herunterstieß, dabei etwas kopfrundes auf das Haus mit dem Gelege richtete und das dann einfach runterfallen ließ. Keinen Wimpernschlag später jagte der Fremde auf seinem Flugspeer wieder nach oben, bevor die Krieger des Dorfes ihre mit eigenem Gift getränkten Speere nach ihm warfen.

Das kopfrunde Etwas schlug laut durch das Trockengrasdach in die Hütte, in der und unter der die gelegten Eier lagen und schon sichtbar pulsierten. Noch während die geworfenen Speere um den Fremden herumsirrten und einer davon gerade von einem silbernen Licht zurückgeschlagen wurde brach ein gewaltiger weißblauer Feuerball aus der Hütte, blies sie als Wolke aus Staub und Asche in alle Winde davon. Das Feuer wuchs innerhalb von einem Atemzug auf vierfache, dann zehnfache Größe des getroffenen Hauses an. Sie alle hörten die lauten Todesschreie nun für immer ungeschlüpft bleibender Nachkommen. Ihnen selbst machte das Feuer nichts aus. Es prickelte nur auf ihrer Schuppenhaut. Die gerade wieder herunterfallenden Speere gerieten in die Flammenund zerplatzten darin. Was übrigblieb zerfiel zu glühender Asche.

Der Feuerball blieb sechs weitere Atemzüge bestehen. Dann fiel er schneller zusammen als er entstanden war. Von der Brut war nur ein großer, rotglühender Haufen aus unbestimmbarem Zeug übrig.

"Das bereut ihr noch!" rief eine der umgewandelten Bewohnerinnen. "Unsere Kinder! Ihr habt unsere Kinder umgebracht! Dafür fressen wir eure Kinder auf!"

Unvermittelt ertönte lautes Gebrumm aus der Luft. Dann sahen die Bewohner des Ortes die neue Bedrohung. Sie alle kannten Kerbtiere, die mal lästig, mal schön anzusehenund mal tödlich giftig sein konnten. Doch diese übergroßen Geschöpfe, die mit wild schwirrenden Flügeln herabstießen und dabei ohne Bedenken durch die Reihen der Feinde auf den fliegenden Speeren brachen waren keine von den alten Göttern in die Welt geschickten Tiere, sondern böse Geister, die sich in diese übergroßen Tiere verwandelt haben mussten, so wie sie ja selbst verwandelt worden waren. Dann empfing der Dorfälteste von seinem Einberufer eine Warnung: "Geflügelte Krieger. Die wollen uns vom Bodenziehen. Schnell runter!" rief er seinen Mitbewohnern zu. Doch da traf ein rot-grün flimmerndes Licht auf den Boden. Sofort fühlten sie, wie die Erde sie regelrecht zurückstieß, ja fast schon selbst in die Luft warf. Außerdem wurde ihnen heiß am ganzen Körper. Sie konnten nicht mehr flüchten.

Der Dorfsprecher wurde als erster gepackt und vom Boden weggerissen. Die anderen, die im Flirren des bösen Lichtes versuchten, wieder festen Halt auf der Erde zu finden mussten zusehen, wie er im Aufwärtsflug wieder zu einem einfachen Menschen mit dunkler Haut wurde. Dann wurde auch schon der nächste der Bewohner gepackt. Die anderen konnten sich wegen des sie umtosenden Lichtes nicht von der Stelle bewegen oder festen Halt finden. Sie schlingerten und verfingen sich in den Lichtstrahlen.

So wurden sie nacheinander hochgerissen, wobei sie alle wieder zu den Männern und Frauen wurden, die sie vor einem Mond noch waren. Doch sie überlebten diese Rückverwandlung nicht lange genug, um sich darüber zu freuen oder zu ärgern. Denn die sie fortschleppenden Brummflügelkrieger ließen sie mehr als dreißig Manneshöhen über dem Boden fallen und jagten ihnen aus ihren Hinterleibern speerartige stacheln in die Körper, spießten sie darauf auf und schüttelten sie, bis sie leblos davon herunterrutschten und auf den Boden zurückfielen.

Jetzt wussten alle, dass sie diesen Tag nicht mehr überleben würden. Die Geister der Ahnen hatten geflügelte Rächer gesandt, um die Macht der Verkünder des Erhabenen zu beenden, ihre Auflehnung gegen die Schöpfung zu bestrafen, indem sie ihre Einberufenen töteten.

Viele hunderte von Sommern und Wintern hatte es Kulawarra gegeben. Doch die meisten Bewohner des Landes hatten nie was davon gehört. Jetzt verschwanden seine Bewohner, und niemand außerhalb des Dorfes würde es erfahren, dass es Kulawarra je gegeben hatte.

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"Schießt die Biester ab!" rief Hedgeroot seinen Leuten zu, als er sah, wie die ersten zehn Schlangenmenschen von je zwei Entomanthropen gepackt wurden. Er zielte auf ein Paar dieser Wesen und rief die zwei gegen Menschen verbotenen Worte: "Avada Kedavra!" In dem Moment wirbelten die beiden Insektengeschöpfe herum, so dass der gleißende grüne Blitz die gerade zu einer jungen Ureinwohnerin zurückverwandelte Schlangenfrau am nackten Bauch traf und ihr augenblicklich das Leben entriss. Die Insektenwesen ließen von ihr ab und flogen laut brummend in zwei unterschiedliche Richtungen davon, wohl auch um sich ein neues Opfer zu greifen. Hedgeroot wollte gerade wieder die geächteten Worte rufen, als ihm unvermittelt ein rosaroter Riesenschnuller zwischen den Zähnen steckte und ihm wortwörtlich den Mund stopfte. Er bekam die Silben des Todesfluches nicht im Ansatz formuliert. Auch sah er, dass seine Mitstreiter ähnliche äußerlich kuriose Knebel in den Mündern hatten und versuchten, diese herauszuziehen. Doch wie er selbst merkten die anderen, dass sie die übergroßen Babyberuhigungsteile nicht loswurden. Die Zähne steckten darin fest wie in erstarrtem Wachs, und der Rest haftete wie angewachsen auf den Lippen. Nur durch die Nase war das Atmen noch möglich. Weil der Todesfluch nur laut gerufen wirkte versuchte es Hedgeroot nun mit ungesagt wirksamen Fang- und Lähmzaubern. Doch auch die misslangen. Immerhin konnte er sehen, dass die geflügelten Feinde nicht jeden sofort töteten, den sie ergriffen, sondern weiter davontrugen. Womöglich sammelte deren Herrin Exemplare für eigene Forschungen. Doch das mit den Riesenschnullern war kein schwarzmagischer Zauber. Er hatte das einmal mitbekommen, wie seine Tante, eine Heilerin und Berufsamme, ihm und seinem Vetter solche Schnuller in die Münder gehext hatte, weil sie sich lautstark um etwas gezankt hatten. Erst als sie durch Handzeichen und Nicken versprochen hatten, wieder leise und friedlich zu sein hatte sie gerufen: "Kind, spuck deinen Schnuller aus!" Dann hatten sich die beschworenen Teile von selbst gelöst und waren im Fallen zu Staub zerfallen. Also kannte die Begleiterin dieser Mordbrummer diesen Zauber auch.

Er versuchte sich abzusetzen. Tatsächlich kam er mehr als zweihundert Meter weit, ohne dass der Schnuller aus seinem Mund verschwand. Doch wenn er den nicht von sich aus los wurde brachte es nichts, wegzufliegen. Sicher konnte er disapparieren. Dann war ihm, als pralle er gegen einen erst nachgiebigen und dann stahlhart werdenden Widerstand, wurde wie von unsichtbarer Riesenhand herumgedreht und in die Gegenrichtung zurückgestoßen. Er versuchte es noch einmal. Doch diesmal kam er auf seinem Besen gerade mal zehn Meter weit, bevor ihn wieder diese Riesenhand umschloss und umdrehte. Landen durfte er auf gar keinen Fall, weil da unten trotz des rot-grünen Flimmerlichtes noch erwachsene Schlangenmenschen waren, denen er auch nicht in die Hände geraten wollte. Also blieb ihm nur die Rückkehr und der Versuch, das weitere Töten zu erschweren.

Als er wieder bei seinen Leuten war, die trotz der ihnen in die Münder gestopften Riesenschnuller mit ungesagten Zaubern herumversuchten sah er viele Leichen, vor allem von älteren Männernund Frauen. Die jüngeren wurden offenbar von den Insektenmonstern weggetragen. Zwischendurch tauchten weitere dieser geflügelten Ungetüme auf, die wie metergroße Bienen mit braun- oder schwarzhaarigen Frauenköpfen aussahen. Lohnte es, mit diesen Ausgeburten eines skrupellosen Schaffensdrangs zu reden? Nein, die wurden von einem fremden Willen ferngelenkt. Doch wo war die Hexe, die diesen Schnullerzauber mit ihm und den anderen gemacht hatte?

Jetzt sah er, wie weitere junge Männer und Frauen nach der zeitweiligen oder dauerhaften Rückverwandlung fortgetragen wurden. Zwei ältere Männer wurden regelrecht abgestochen und dann als weitere Opfer dieser Ausgeburten fallen gelassen. Über zweihundert Männerund Frauen lagen bereits tot auf dem Boden, als noch ein junges Mädchen, gerade fünfzehn Jahre alt, in ihre Menschenform zurückverwandelt und von den Insektenmenschen davongetragen wurde. Dann flogen die brummenden Bestien alle davon. Hedgeroot wollte ihnen nachsetzen, es riskieren, mit einer davon zusammenzuprallen und dann doch was zu zaubern. Doch da wurde er wie vorher beim Absetzversuch von einer unsichtbaren Riesenhand umgriffen, nicht zu fest, um Schmerz zu fühlen, aber fest genug, um sich nicht mehr bewegen zu können. Er musste zusehen, wie die Entomanthropen alle davonflogen. Seine Leute schinen in ähnlichen Umklammerungen zu hängen. Welcher Zauber machte das?

"Die hütende Hand", drang eine erregend tief klingende Frauenstimme in seinen Kopf ein. Wer mentiloquierte ihn denn da an? Vor allem, wer hatte ihn da mal eben im vorbeigehen legilimentiert?

"Ich bin Ministeriumsbeamter. Sofort mich und meine Leute freilassen", dachte er konzentriert, ohne zu wissen, in wessen Richtung. Wie er erwarten musste geschah erst einmal nichts. Dann ertönte ein klarer Befehl jener tiefen Altstimme, die er gerade in seinem Geist vernommen hatte: "Kinder, spuckt eure Schnuller aus!" Unverzüglich löste sich der in seinem Mund steckende Riesenschnuller, fiel an seinem Besen vorbei und verging noch im Flug. Doch die ihn haltende Geisterhand hatte ihn nicht losgelassen.

"Für eure Ministerin: Danke für den Tipp mit den Eingeborenendörfern, es war schon sehr wichtig, sie zu finden und der Brut der Skyllianri dort den Garaus zu machen. Ihr kehrt zurück in euer Ministerium oder sucht das nächste Dorf auf, sofern meine Helfer nicht bald selbst dort erscheinen. Versucht nicht weiter, sie aufzuhalten! Sonst verliere ich meine Nachsicht mit euch. Und versucht auch nicht herauszufinden, wer meine hiesigen Mitschwestern sind. Ich erfahre das und strafe den oder die, welcher oder welche dies herauszufinden trachtet, egal wer es ist. Wie ihr merkt muss ich nicht töten, um zu bekommen, was ich will. Die alten da unten haben ihr Leben gelebt. Bei den Jungen werde ich mit meinen heilkundigen Schwestern versuchen, sie von dem üblen Gift Skyllians zu befreien. Falls mir das gelingt werden sie hierher zurückgeschicktund können weiterleben. Falls nicht bin ich um eine wichtige Erkenntnis reicher." Ich verschwinde jetzt auch. Die hütenden Hände werden euch noch eine Minute lang halten. Dann könnt ihr fliegen, wohin ihr wollt."

Hedgeroot fühlte, wie etwas an ihm vorbeischwirrte, ohne dass er sah, was es war. Tatsächlich ließ der Griff der unsichtbaren Riesenhände eine Minute später von ihm ab.

"Das war sie selbst, die schwarze Spinne", vermutete einer von Hedgeroots jüngeren Begleitern. "Was Sie nicht sagen, Moonfield", spie Hedgerroot ihm entgegen.

Einige Minuten später apparierten sie in die Nähe des nächsten Eingeborenendorfes. Allerdings sahen sie, dass die Insektenmonster auch schon hier ihr rot-grünes Leuchten aussandten, von dem Moonfield jetzt behauptete, dass es das irdische Magnetfeld örtlich begrenzt umpolte und wieder in seine Ausgangsform zurückspringen ließ und das so schnell, dass es erst einmal über die ursprüngliche Ausrichtung hinausschnurrte. Das also hinderte die Schlangenmenschen daran, in die Sicherheit der tieferen Erdschichten abzutauchen. Woher wusste diese Hexe das? Und wie machte sie das?

Anders als vorher kamen sie nicht einmal in die Nähe der Insektenmonster,um den Todesfluch auszurufen. Denn ihre Besen blieben mitten in der Luft stehen, und sie selbst blieben mit Beinen und Händen daran kleben und konnten nichts tun, bis die Insektenbestien zehn weiße Kugeln in einem Netz davontrugen und dann wie bei Kulawarra alle älteren Männer und Frauen töteten und die jüngeren davontrugen. Erst als das rot-grüne Flirren erloschen war und kein weiteres Insektenmonster mehr in Sicht war hörte auch der Besenfesthaltezauber auf.

"Was bitte war das jetzt?" wollte Hedgeroot wissen.

"Könnte ein auf Besen abgestimmter Impersecutio-Zauber gewesen sein", sagte der mitgereiste Zauberkunstspezialist Moonfield. "Auf jeden Fall sehr effektiv", fügte der noch hinzu.

"Wieso haben die den vorhin nicht schon bei uns gemacht?" fragte Hedgeroot. Darauf erwiderte Moonfield: "Weil diese Gruppe Monsterbienen keine Geleitschützerin hatte. Mein Aurograph zeigt, dass hier nur hybridwesen waren, Schlangenmenschen und insektenmenschen. Und ein auf Flugbesen zielender Fesselzauber macht auch nur da Sinn, wo kein eigener Flugbesen in seine Wirkungszone geraten kann."

"Die Brut da unten, ist noch was am Leben?" wollte Hedgeroot wissen.

"Jetzt nicht mehr", sagte Moonfield und deutete auf drei Häuser, in denen wohl die Gelege der Schlangenmenschen aufbewahrt worden waren. "Das Flackerlicht hat die Embryos oder die Embryonen in den Eiern abgetötet. Der wilde Wechsel von Magnetkräften hat wohl deren unausgereiften Gehirne überlastet. Auch eine Form von Abtreibung", meinte Moonfield.

"Warum kann die das alles? Woher weiß die das alles so genau?" schrie Hedgeroot und wollte schon zu seiner Fernsprechdose greifen, um die zwei missliebigen Begegnungen zu melden, als aus der Luft heraus vier grüne Säcke über sie herunterfielen. Einer der Säcke steuerte Hedgeroot an. Der reagierte zu spät, um noch vom Besen zu springen. Der ihm geltende Fangsack umschlang ihn, pflückte ihn vom Besen und umschloss ihn ganz. Dann stürzte er in einen wilden Farbenstrudel hinein und meinte, jemand zöge ihn an einem Haken im Bauchnabel voran. Dann landete er, immer noch im Fangsack, auf einer harten Unterlage.

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Im Zaubereiministerium Australiens, fünf Minuten nach Hedgeroots Entführung

"Die Ministerin und McBane hörten den Kurzbericht von Clark Woodworth, einem der sechs den Fangsäcken entgangenen. "Das ist jetzt wohl nicht wahr. Sind wir echt so heftig unterwandert, dass diese Spinnenhure und die Babymacher uns mal eben im Vorbeigehen abräumen können?!" brüllte McBane. Woodworth sah ihn verängstigt an. "Natürlich waren diese Fangsäcke von Vita Magica. Die sind mittlerweile dafür berühmt, so ihre lohnenden Opfer zu kassieren, und wir haben noch keinen Dunst, wie die diese Dreckbeutel auf ihre Ziele ansetzen oder wie wir diese Dinger von uns fernhalten. Aber am schlimmsten ist, dass die jetzt alles aus unseren Leutenherausholen können und die dann mal eben in ihre Zuchtställe einpferchen, falls sie die nicht noch einmal ganz von vorne groß werden lassen. Das ist glatt ein Notstand der Stufe "Mitternachtssturm". Sie gehen sofort zu unserem Ereigniskonservator und lagern die Erinnerungen der letzten zwei Stunden bei ihm aus! Das ist ein Befehl."

"Verstanden, Mr. McBane", erwiderte Woodworth und war in vieler Hinsicht ffroh. Er hatte den einsatz gegen die von Schlangenmenschen verseuchten Dörfer unversehrt überstanden, ohne einer von denen zu werden, ohne von den Insektenmenschen getötet zu werden, ohne von der sie begleitenden Hexe verwünscht oder getötet worden zu sein und am Ende wohl auch zu unwichtig gewesen zu sein, um von den VM-Banditen wortwörtlich eingesackt worden zu sein.

McBane starrte auf die vor ihm auf dem Tisch stehenden zehn Fernsprechdosen. Eine von denen war so bezaubert, dass sie seine Anrufe an alle Außeneinsatzartefakte weitergab. Von denen hatte VM nun eine erwischt und konnte mithören, wenn er eine Generalanweisung aussprach. Also musste er in jede einzelne Dose hineinrufen, dass seine Leute auf vom Himmel fallende Säcke achten mussten. Die Wut, die er deshalb fühlte, mochte aus Angst entstanden sein. Denn die Vorstellung, dass Vita Maagica nach den Entführungen mit Portschlüsseln nun diese fliegenden und offenbar mit Portschlüsselzauber belegten Säcke benutzte bedeutete für ihn, dass sie sich jederzeit jemanden einfangen konnten, wenn sie nicht klärten, wie diese hinterhältigen Behälter abgewehrt werden konnten. Dann fiel ihm ein, dass Hedgeroot, Moonfield, Marchbanks und Pointer die einzigen Junggesellen in seiner Truppe gewesen waren, die seit ihrer Schulzeit in Redrock noch keine Ehefrau gefunden hatten, falls sie überhaupt danach gesucht hatten. Also standen die bei denen von VM ganz weit oben auf der Liste jener, die "gefälligst" Nachwuchs zeugen sollten. Sollte er ihnen dabei Spaß wünschen? Sicher würden sie unter diese Paarungsrauschdroge gesetzt, mit der sie schon die Quidditchweltmeisterschaft benebelt hatten. Aber was dann?

Er warnte durch Ruf in jede einzelne Fernsprechdose vor den Insektenwesen und vor vom Himmel fallenden und dann wegportschlüsselnden Säcken. Dann schloss er die Dosen sorgfältig und bat die Ministerin in sein Büro. Er zauberte einen zeitweiligen Klangkerker und berichtete ihr, was geschehen war.

"Gut, damit haben wir zwei Sachen quasi amtlich", schnarrte Latona Rockridge: "Auch wir haben Spione der schwarzen Spinne bei uns und ebenso mindestens einen Agenten von Vita Magica. Denn ein derartig gezielter Entführungsakt konnte nur durch genaue Weitergabe der Einsatzorte erfolgen. Sollen wir zwei jetzt noch paranoider werden als unsere Berufe das eh schon bewirken?"

"Es ist ein zum Himmel stinkender Haufen Drachenscheiße, dass diese Verbrecherbanden uns förmlich am langen Gängelband führen und uns nach belieben beharken können, Latona. Ja, und die Antwort auf Ihre Frage: Das sollten wir unter Verschluss halten, dass wir derartig unterwandert sind, bis wir einen Hinweis haben, wer der Helfershelfer oder die Helfershelferin der einen oder anderen Gangsterbande ist. Denn wenn hier jeder jeden verdächtigt atomisiert das unsere ganze Organisation."

"Genauso ist es. Nur ist es auch sehr bedrückend, dass wir davon ausgehen müssen, dass unsere Aktionen gegen die eine oder andere Gruppierung gleich nach der Planung weitergemeldet werden kann und damit schon gescheitert ist, bevor die eingeteilten Leute ausgerückt sind, wie bei den Insektenwesen erlebt.

"Wem sagen Sie das, Latona. Die einzige kleine Hoffnung ist, dass sich VM und die Spinnennschwestern - öhm, spinnefeind sind, um sich gegen uns zusammenzuschließen."

"Ja, eindeutig, Larry", erwiderte Rockridge.

"Öhm, dieser Schnullerzauber, das ist doch ein Hebammen- oder Ammenzauber, richtig?" wollte McBane wissen.

"Den jede Berufsheilerin lernen kann. Außerdem ist er schon fünfhundert Jahre lang bekannt, habe ich von Laura Morehead."

"Also war die Geleitschützerin auf diesem unsichtbaren Besen eine Heilerin?" wollte McBane wissen. "Ja, oder sie hat ihn von einer Mitschwester erlernt, die Heilerin ist, Larry. Denken Sie bitte nicht, über diesen Umstand was herauszufinden. Aber der andere Zauber, den Woodworth erwähnt hat, der war mir bisher auch unbekannt. Der könnte tatsächlich aus jener Quelle stammen, aus der die Spinnenhexe ihr Wissen geschöpft hat."

"Schön, erst die Riesenbrummer, dann die Einsacker von VM und jetzt noch eine Hexe aus Atlantis. Was kriegen wir morgen?"

"Da wage ich jetzt besser keine Antwort drauf, Larry", erwiderte die Ministerin.

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Unter der ehemaligen Festung des Windkönigs, einen zwölfteltag nach dem Angriff auf Kulawarra

Jetzt sind es nur noch ein Männchen und ein Weibchen da oben", seufzte Ishgildaria, die immer wieder auf die Regungen der von ihr und Gooramashta ausgelegten Brut horchte. "Ja, und sie ffangen an, die ihre Kammer verschließenden Steine aufzubrechen. Dann werden sie ungestört in den Höhlen herumkriechen und nach neuer Beute jagen."

"Ja, und wir müssen hier unten bleiben", knurrte Ashlohuganar. Dann sagte er: "Und draußen töten die geflügelten Krieger unsere Einberufenen und zerstören die Brut anderer Einberufenen. Gut, dass Sharikhaulaia und die fünf anderen noch jeder für sich unterwegs sind. Doch ich wage nicht zu hoffen, dass sie noch lange frei herumsuchen können, wo sie Sisufuinkriasha eingefangen haben und die eingeschlossenen in dieser Lehrstätte nicht einmal einen Schritt an die sie haltende Barriere herankönnen, um sie durch ihre eigene Lebenskraft zu sprengen. Der Erhabene wird uns zürnen, wenn wir auch noch versagen. Unsere einzige Hoffnung bleiben die ausgelagerten Mengen unseres Einberufungssaftes."

"Ja, die werden am nächsten Tag zu einem der Flugmaschinensammelstätten gebracht und einem übergeben, der sie fortbringen soll. Nur dann werden wir weiter hoffen dürfen, dass das Erbe des Erhabenen siegt."

"Nur dann", sagte Sholalgondan.

Einige Zeit später hörten die beiden Schlangenfrauen, wie die zwei verbliebenen Schlüpflinge aus dem ersten Gelege die Kammer verließen und schneller als ein Mensch laufen konnte durch die Höhlen eilten. Offenbar konnten sie die Kammer wittern, in der die ganz vielen Eier lagen, in denen sich ebenfalls neues Leben regte.

"Falls sie die zweite Brut fressen werden sie wohl unbesiegbar stark werden", fürchtete Ashlohuganar.

Dann lauschten sie mit zusammengelegten Händen, wie die zwei verbliebenen Schlüpflinge sich an die sicher versperrte Kammer der zweiten Brut heranwagten. Unvermittelt fühlten sie, wie ihnen allen die kräftigenden Ströme aus der Erde entzogen wurden. Sie fingen an zu keuchen. Keiner von ihnen wusste, was das bedeutete. Denn bisher hatte es sowas noch nicht gegeben.

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Zur selben Zeit in Khalakatan in der Halle der Altmeister

Die Zwillingsschwestern Iaighedona und Kaliamadra hatten abwechselnd die Ereignisse um die letzten Schlangenkrieger nachverfolgt und mitbekommen, dass die mit Naaneavargia verschmolzene wohl den Zauber der hütenden Hand aus den Reihen der Windmagier erlernt hatte, obwohl sie eine Erdvertraute war. Kaliamadra meinte dazu, dass Ailanorar wohl sehr glücklich mit seiner Schwester gewesen war, dass er ihr diesen eher für Windvertraute Frauen üblichen Zauber beigebracht hatte. Auch dass die Hexen und Zauberer, die sich Gesellschaft zur Wahrung und Mehrung magischen Lebens nannten vier Spione im australischen Zaubereiministerium hatten, davon jemanden in sehr hoher Stellung, amüsierte sie. Dann beobachteten sie beide wieder die Brut der wiedererwachten vier. Ein Männchen und ein Weibchen hatten das Geschwisterfressen überlebt. Beide waren Halbgeschwister, und sie fingen an, erste einfache Gedanken zu denken.

"Könnte es sein, dass wir hier ein neues Geschlecht jener übergroßen Schlangen mitbekommen, gegen die die mit Naaneavargia verschmolzene und dieser von Ianshira und Madrashmironda gegängelte Bursche gekämpft haben?" fragte Iaighedona ihre Schwester.

"Möchtest du wetten?" fragte Kaliamadra, die immer noch hoffte, dass die Schlangenkrieger sich einen neuen Meister suchten.

"Besser nicht", schnarrte Iaighedona, die ihrerseits fürchtete, dass auch ihre Vorstellung unverwirklicht bleiben würde. "Am Ende stellt sich heraus, dass Iaxathans Schlangenbändiger damals nur ein Gelege seiner zweigestaltlichen Krieger brauchte, um eine der großen Schlangen zu erschaffen."

"Hmm, Schwester, vielleicht wusste er das sogar schon und wollte verhindern, dass solche Geschöpfe entstehen, die er dann aber nicht mit seinem giftigen Stab beherrschen konnte", meinte Kaliamadra dazu. die Seelen der direkt von ihm mit dem Giftstab getöteten waren ja an ihn gebunden und somit auch die damit genährten Geschöpfe. Sowas wie die Brut da im roten Felsenberg unterliegt keiner Herrschaft."

"So sieht es aus", erwiderte Iaighedona darauf.

"Oha, sie haben die zweite Brut gefunden. Jetzt geht das große Brüder- und Schwesternfressen weiter", spottete Kaliamadra.

"Sei froh, dass ich dich damals nicht gefressen habe, als wir zwei in Mamis innerem Nest gewohnt haben", erwiderte Iaighedona.

"Dann wärest du zu dick geworden und hättest dich und Mami bei der Geburt umgebracht", erwiderte Kaliamadra unbeeindruckt von dieser Entgegnung. "So habe ich für uns zwei Mamis engen Lebenskelch weit genug geöffnet, dass du fast ohne Widerstand hinausgerutscht bist."

"Ja, haben wir zwei ja einmal nacherlebt, wie das war", grummelte Iaighedona. Dann wies sie darauf hin, dass in der zweiten Brutkammer gerade etwas erstaunliches geschah.

"Oh, wieso wachsen die Eier auf einmal so schnell. Oh, die Schlüpflinge saugen mehr Kraft aus der Erde heraus und wachsen schneller. Jetzt brechen sie aus ihren Eiern heraus", bemerkte Kaliamadra. Dann verfolgten beide durch die Augen des von der ersten Brut übriggebliebenen Weibchens mit, wie die zweite Brut sich auf die älteren Artgenossen stürzte. Innerhalb von nur einem Zwölftelzwölfteltag waren die beiden größeren Schlüpflinge restlos in den freigekommenen Schlüpflingen der zweiten Brut verschwunden. Diese hatten nun erst recht Appetit bekommen und griffen sich nun gegenseitig an. Das Geschwistertöten ging nun noch heftiger, noch gnadenloser weiter als beim ersten Mal.

"Also, das mit der eigenen Rasse wird nichts mehr, geliebte Schwester", sagte Kaliamadra dazu. "Deshalb ist es ganz gut, dass Naaneavargia die anderen Gelege zerstört. Aber das mit der Neuauflage der großen fünf könnte noch eintreten."

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Im Haus der klugen Frau namens Morgennebel, 28.09.2003 christlicher Zeitrechnung, kurz vor Sonnenaufgang

Morgennebel hatte einen sehr beunruhigenden Traum. Sie sah sich mit tausend anderen Menschen vor aus dem Boden hervorkriechenden Wesen flüchten, die wie entweder übergroße Bodenwürmer oder besonders gelenkige Schlangen mit einer weißen Schleimhaut statt gemusterter Schuppen aussahen und mit Panzerechsenartigen Schnauzen nach allem schnappten, was zu langsam war. Sie jagten die Besucher, die in mehr als hundert Schritten Abstand vom Uluru herumliefen. Es sah zuerst so aus, als wenn die neu aus dem Boden gebrochenen Wesen nicht in diesen heiligen Schutzbereich eindringen konnten. Doch dann wurden die Jäger selbst zur Beute, und zwar ihrer eigenen, größeren Artgenossen. Morgennebel hatte mit großer Beunruhigung gesehen, wie gleich zwei sie jagende Wesen von einem größeren Geschöpf derselben Form und Beschaffenheit verschlungen wurden. Dann war das größere Wesen hinter ihr her. Von Blitzen und wilden Beben umtobt stieß es immer wieder in den heiligen Schutzbereich des Uluru vor. Doch noch war es wohl zu schwach, um sich die nun am Berg bangenden Menschen zu holen. Auch musste es wohl auf der Hut vor eigenen Artgenossen sein, die ihm zusetzen wollten. Denn sie konnte in der Umgebung weitere gejagte arm- und beinlose Jäger sehen, die den eigenen Geschwistern oder Gefährten zum Fraß fielen.

Der Traum hatte sie daran erinnert, dass die unter dem Uluru lauernden Eidechsenmmenschen durchaus auch aus sich heraus Nachkommen haben mochten. Das musste sie umgehend herausfinden. Deshalb beschwor sie die Kraft ihres Seelentieres, dem weißen Kakaduh und flog auf dessen Flügeln von ihrer Heimatsiedlung hinüber zum heiligen Berg. Sie vermied es, höher als dieser selbst zu fliegen und landete hundert Männerschritte vor der dem Sonnenuntergang zugekehrten Wand. Als sie sicher war, dass um diese Zeit noch niemand sie hier sah wurde sie wieder zur kleinen, viele Jahre alten Frau und stimmte mit tiefen Tönen ein Lied der Frage an die Geister der Erde an. Dann fühlte sie, dass ihr Traum zur bösen Wirklichkeit werden konnte. Denn weit unter ihr, weit genug außerhalb des Schutzbereiches des Berges, tobte eine wilde Schlacht zwischen Gleichen, jungen wesen, die einander bekämpften, um zu überleben. Es mussten viele Dutzend sein. Doch mit jedem zehnten Atemzug wurden es weniger. Am Ende mochten es nur zwei oder drei sein, die am Leben blieben. Die würden dann so stark und schnell sein, dass sie kein Mensch aufhalten konnte.

Auch wenn sie wusste, dass die hellhäutigen Menschen nicht viel von den Erzählungen ihrer Vorfahren hielten und die uralte Zauberkraft des Landes und der machtvollen Männer und Frauen für schöne, aufregende aber eben nur ausgedachte Geschichten hielten, musste sie die Menschen hier beschützen. Sie wusste nicht, ob der Schutzbereich um Uluru die geschlüpften Sprösslinge der Eidechsenmenschen aufhalten konnte. Sicher war auf jeden Fall, dass sie außerhalb des Schutzbereiches jagen und töten konnten. Da die meisten Besucher in diesen rollenden langen Häusern herkamen konnten die nicht mal eben so schnell fliehen wie die Zauberkraftträger, die mit Hilfe ihrer kurzen, astartigen Kraftausrichter den Weg des Augenblicks gehen konnten oder sie, die sie ihr Seelentier erwecken und seine Gestalt annehmen konnte, einfach so wegfliegen konnte. Sie musste etwas tun. Sie lief zu jener Wand hinüber, die nur von Frauen ihres Volkes angesehen werden durfte. Dort wurden in Bildern die rechten Worte gezeigt, die sie aussprechen musste, um in Verbindung mit dem Berg und ihren Vormüttern zu treten.

Sie sang leise und bedächtig die von den Bildern vorgegebenen Töne und Worte nach. Sie fühlte die Kraft der Erde unter den Füßen, atmete die Kraft des Windes ein und gab sie mit jedem gesungenen Ton wieder frei. Die nun aufgehende Sonne lieferte ihr aus der unermesslichen Höhe des Himmels die Kraft des Feuers, das Leben nährte und Leben fressen konnte. Der Berg strahlte seine starke Kraft aus. Sie fühlte die bereits vor vielen Tagen erkannte Veränderung der im erhabenen Berg ruhenden Kräfte und wie sie versuchten, etwas unerwünschtes zu verdrängen, doch dafür zu schwach waren. Dann meinte sie, dass ihr Unterleib und ihre Beine immer schwerer wurden. Sie ging mit zitternden Beinen in die Hocke. Sie atmete ein, wobei sie zwei wichtige Töne hervorbrachte. Dann sang sie klar und deutlich weitere Silben, machtvolle Laute des Lebens und der Verbundenheit. Da fühlte sie, wie etwas aus ihrem Inneren nach außen drängte, als müsse sie innerhalb zweier Atemzüge ein Kind gebären. Sie hörte ein leises Seufzen. Dann sah sie, wie zwischen ihr und der Wand ein durchsichtiges Etwas emporstieg und erkannte es als sichtbar gewordenen Ahnengeist. Doch es war keine ihrer Vormütter und überhaupt keine Ahnin, sondern der bereits in die Ahnengefilde eingelassene Geist ihres Vorgängers als Hüter des Uluru, Yati Wullayata. Er streckte sich und zog das rechte Bein an, wobei sie meinte, etwas würde sanft aus ihrem Unterleib gezogen. "Oha, Kannali Mulladunangawatuya", seufzte er. "Auf diese Weise aus der Ahnenwelt ans Sonnenlicht zurückgerufen zu werden kannte ich bisher noch nicht. Doch es muss wichtig sein, dass du diese mächtige Anrufung gemacht hast."

"Ich wollte eine meiner Ahnmütter fragen, wie ich die Brut der dunklen Erdkraft besiegen kann, die unter uns in den Wurzeln des Uluru aufkeimt und sich gegenseitig frisst."

"Und Dafür rufst du mich erst in deinen Schoß hinein und stößt mich dann in diese für mich fremdgewordene Welt zurück, nachdem wir damals die Götterspinne, deren Namen ich nicht nennen darf, vertrieben haben?"

"Das ich dich auf diese Weise zu mir rufe wusste ich nicht. Aber wo du schon einmal da bist, Yati, du warst hier länger Hüter als alle anderen. Du kanntest meine Muttermutter noch als kleines Mädchen, hast mit meinem Muttervater gejagt. Du weißt sicher den nötigen Rat", sagte die Frau, die von den hellhäutigen Landnehmern nur Morgennebel genannt werden sollte.

"Ich spüre, dass der Berg geschwächt wurde. Er besitzt zwar noch die Kraft, die dunklen Wesen auf Abstand zu halten, konnte aber die vier Schlafenden offenbar nicht mehr festhalten und hat sie in seine tiefen Höhlen hinabgesenkt und erwachen lassen." Der Geist des ehemaligen Hüters Yati Wullayata erfuhr durch einen entschlossenen Blickaustausch, was geschehen war. "Und diese Ausgeburten der dunklen Kräfte haben es gewagt, aus sich Nachkommen zu erbrüten. Doch diese jagen und fressen sich gegenseitig auf. Das wird die, die am Ende bleiben stark und schnell und um so gnadenloser machen. Ich spüre auch, dass die vier Eidechsen- oder Schlangenmenschen weiter in die Tiefe gestiegen sind, um vor der eigenen Brut in Sicherheit zu bleiben. Doch das wird nicht helfen, wenn die Schlüpflinge lernen, durch die feste Erde zu kriechen. Sollten die dann ihre eigenen Eltern finden und fressen werden sie unbezwingbar und werden die Kenntnisse ihrer Eltern in sich aufnehmen. Ihr müsst das Lied der großen Reinigung singen und vorher möglichst viele Ahnen rufen, die bereit sind, euch zu helfen, den Uluru von der dunklen Kraft zu reinigen, die ihn schwächt und dann, wenn er davon frei ist, die ganze alte Kraft erweckt, die hilft, das in ihm eingedrungene Unheil zu tilgen und nur noch Heil walten zu lassen. Ihr müsst es singen, solange die Sonne scheint, die Quelle des ewigen Feuers. Aber schafft die Fremden aus der Hörweite und vor allem, lasst keinen da raufklettern! Keiner weiß, wie genau der Berg die ihm aufgezwungenen Kräfte abschüttelt und was ihm entfährt, wenn die alten Kräfte in ihm wieder aufwachen."

"Ich werde Quinlahalla in Gedanken rufen, dass wir erneut den großen Gesang und Tanz ausführen müssen", erwiderte Morgennebel.

"Beeil dich!" sagte der herbeigerufene Ahnengeist und ehemalige Hüter dieses Berges.

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"Dr. Lindsey Fleet las wie jeden Morgen die neuesten Wetterdaten ab. Irgendwie fühlte sie sich belauert, als sei etwas da draußen, was sie jeden Moment angreifen wollte. Als dann noch ein Anruf kam, dass die Schamanin oder Medizinfrau der Gegend warnte, hungrige Geister und Raubtiere aus der Traumzeit seien erwacht und gierten nach den Seelen der lebenden hätte sie fast losgelacht. Die magische Welt der Ureinwohner war zwar interessant und sehr phantasievoll, aber eben nur eine uralte Mythologie, entstanden vor vielen Jahrtausenden, weit vor der der Ägypter, Griechen und Römer.

"Das heißt im Klartext, dass wir den Aufstieg zum Gipfel zulassen und alle Touristen nach Hause schicken müssen?" fragte Dr. Fleet etwas verstimmt.

"habe ich schon veranlasst. Ich möchte Sie nur bitten, entsprechende Wettermeldungen rauszugeben, dass wir einen Sturm erwarten."

"Öhm, Mr. Jones, Sie haben mich nicht gerade gebeten, gefälschte Wettermeldungen rauszugeben?" fragte die diensthabende Meteorologin. "Ich sagte, dass wir heute einen Sturm kriegen, den Sie vorangekündigt haben und dies bitte früh genug rausgeben, damit wir alle hier eintreffenden Touristen früh genug zurückschicken und angemeldete Reisegesellschaften auf den nächstmöglichen Termin verschieben können", erwiderte Parkdirektor Jones. Dr. Fleet nahm dies als Antwort auf ihre Frage hin und fragte, was ihr widerführe, wenn sie nicht tat, was er von ihr wollte. "Tja, dann kriegen Sie und ich denselben Ärger, wenn unschuldige Besucher verletzt oder getötet werden. Glauben Sie mir bitte, dass ich dieser Dame absolut vertrauen muss. Die weiß, wovon sie spricht, mehr als Ihre Wettermessgeräte."

"Sie lassen sich von einer Buschhexe ins Bockshorn jagen?" schnarrte Dr. Fleet. "Wenn Sie wüssten, was die drauf hat würden Sie nicht so abfällig über sie reden und vor allen fragen, wie hoch sie springen sollen, wenn sie "Hopp!" ruft. Also, ich mache den Park jetzt dicht und lasse alles Personal abrücken, Sie eingeschlossen. Die können Erdbeben und Stürme spüren, wo unsere Geräte nichts wahrnehmen."

"Erdbeben? Das bekäme ich hier aber auch angezeigt", erwiderte die Wetterkundlerin. Da summte der Türmelder. Sie blickte kurz auf den Bildschirm für die Türüberwachung und sah eine kleine, dunkelhäutige Frau mit hellen Haaren, die sicher schon an die siebzig Jahre alt sein mochte. Sie trug einfache Kleidung. Dr. Fleet beschrieb Jones die vor der Tür wartende. "Das ist jene welche", bekam sie zur Antwort. Jetzt wurde sie neugierig.

"Ich bin gekommen, um dir und allen zu sagen, dass es gerade sehr gefährlich am Berg ist. Unter ihm sind dunkle Kräfte erwacht, die ihn erschüttern werden. Wer auch immer auf ihn hinaufsteigen will könnte abstürzen und sterben und damit unseren heiligen Berg besudeln. Also komm bitte mit mir hinaus, Frau, die den Wind belauscht und die Sonne betrachtet."

"Nichts für ungut, aber wenn Sie auf die Weise durchbringen wollen, dass hier keiner mehr hinkommt müssen Sie es schon anders anstellen, Madam", sagte die Wetterkundlerin unerschüttert, obwohl sie fühlte, dass von der kleinen Frau eine unerklärliche Kraft ausging. Da wurde aus der alten Frau innerhalb von zwei Sekunden ein schneeweißer Kakaduh, der laut rufend aufflog, über ihr herumschwirrte und zur Krönung seiner Darbietung etwas auf eines der Messgeräte fallen ließ. Dr. Fleet sah den weißen Vogel und dessen unappetitliche Hinterlassenschaft mit übergroßen Augen an. Dann landete das Tier auch noch auf ihrer rechten Schulter und sprach mit einer leicht krächzigen Stimme in ihr rechtes Ohr: "Muss ein Mädchen immer mit Stock und lautem Wort in die richtige Richtung getrieben werden? Ich hoffe, du wirst nun tun, was ich gesagt habe." Mit diesen Worten flog der Kakaduh wieder auf, landete neben Fleet auf einem der Stühle und verwandelte sich innerhalb von zwei Sekunden wieder in die kleine,dunkelhäutige Frau zurück. Dr. Fleet fielen nun keine Worte mehr ein. Das was sie gesehen hatte war kein Zirkustrick Á la David Copperfield. "Du solltest das, was mir entfiel besser von dieser Vorrichtung abwaschen, bevor es sich dort hineingefressen hat", sagte die Ureinwohnerin mit einer Spur von Schadenfreude in der Stimme. Dr. Fleet nickte nur und holte für Elektronik verträgliches Reinigungsmittel, um das unerwünschte Andenken des Zauberkakaduhs zu beseitigen. Dann folgte sie der anderen ohne weiteren Widerspruch aus der Wetterwarte, nachdem sie die angewiesene Sturmwarnung ausgegeben und sich ordentlich abgemeldet hatte.

Innerhalb einer halben Stunde waren sämtliche Parkaufseher und Angestellte abgerückt.

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Es dauerte bis fast zur Mittagsstellung der Sonne, bis sämtliche mächtigen Männer und Frauen aus allen Teilen des großen Landes eintrafen. Einige hatten von den hellhäutigen Zauberern den Weg des Augenblicks gelernt, um zwischen zwei entfernten Orten zu wechseln. Doch die meisten reisten in Gestalt ihrer Totem- oder Seelentiere an, meistens größere oder kleinere Vögel. Dann erschienen auch noch Ahnengeister, die über die hier versammelten wachten, vorausgegangene Männerund Frauen, die aus den Gefilden der Ahnen zurückgekommen waren. Darunter war auch Yati Wullayatas Geist, der ein wenig verunsichert auf seine Nachfolgerin am Uluru blickte, als hinge sein Bestehen von ihrem Überleben ab.

"So wollen wir uns beeilen, das Lied der großen Reinigung zu singen, bevor die Brut der dunklen Kräfte der Erde ans Licht drängt und dieses Land und dann die Welt verdirbt", sagte Quinlahalla, der Sprecher der Stammeszauberer und -hexen Australiens.

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Tief unter dem Berg der alten Festung, Zur Mittagsstunde des Tages nach dem Schlüpfen der zweiten Brut

Tarisharudan, der früher Simon Waxman hieß, hatte gerade fünfzig kleine Glasflaschen voller reinem Gift aus seinen, Sharikhaulaias und anderer Krieger des Erhabenen Zähnen in einen stoßfesten Behälter gepackt. Er wollte ihn zum Flughafen bringen, wo er die zuständigen Leute mit seinem Hypnoseblick zwingen wollte, die Ladung nach Los Angeles zu schicken. Sein Kurier sollte, mit einem posthypnotischen Befehl betraut, das Zeug in der Drogenszene weiterverkaufen, als neueste Kreativ- und Aufputschdroge. Ob er dafür von einem dort residierenden Drogenhändler getötet wurde war Tarisharudan egal. Hauptsache seine Gabe erreichte lebende Menschen und wurde ganz und gar freiwillig injiziert. Den rest erledigte die Kraft des Erhabenen.

"Bleibt von uns fern. Unsere Brut ist gefräßiger als wir erahnen durften. Sie wird auch euch auffressen, wenn ihr zu nahe kommt", hörte Tarisharudan die Stimmen der Verkünder, die nicht mehr den üblichen Generalbefehl dachten, sondern eher eine Warnung in alle Himmelsrichtungen ausstrahlten. Da er im Moment eh nicht zum Uluru zurückkehren wollte nahm er diese Warnung als veränderte Lage hin, aber nicht als Grund, sein Vorhaben zu überdenken.

Tarisharudan wollte gerade los, um an der von ihm georteten Autobahn einen Fahrer mit möglichst unauffälligem Wagen anzuhalten und auf der Fahrt nach Sydney seinen Hypnosezauber durchführen, als er sie fühlte, die Feinde aus der Luft. Er hatte sie bisher nicht selbst gesehen. Doch er wusste, dass seine Artgenossen von überlebensgroßen Insektenwesen angegriffen worden sein sollten. Woher wussten die, wo er war? Egal! Er musste schnell unter die Erde und dann nach Sydney, um sein Paket abzuliefern, bevor ihn doch wer erwischte. Er stampfte mit dem rechten Fuß auf. Da umspielte ihn rot-grünes Licht, wie eine wildgewordene Formation von Polarlichtern. Die Wirkung war, dass er schlagartig von der Erde ausgespuckt wurde, noch bevor sein Kopf darin verschwunden war. Er fühlte, wie die schnell aufeinander folgenden Lichtblitze seinen Sinn für Richtungen und die Kraft, mit der Erde in Verbindung zu stehen beeinträchtigten. Dann hörte er sie kommen, fünf geflügelte Ungeheuer, menschengroße Bienen mit Frauenköpfen, von denen armlange haarige Antennen auf ihn einschwenkten. Er versuchte, auf der wie ein wild wogendes Meer mit hunderten von aufsteigenden Luftblasen wirkenden Erde Halt zu finden. Doch es gelang ihm nicht mehr. Dann waren sie genau über ihm. Gleich acht Arme packten ihn und rissen ihn nach oben weg. Jetzt verflog auch der Rest der ihn stärkenden Erdkraft. Tarisharudan wurde unter heftigen Krämpfen und feurigen Schmerzen wieder zu Simon Waxman. Er sah eines der vor ihm fliegenden Insektenmonster, die es genausowenig geben durfte wie ihn selbst, allein schon, dass sie in der Größe richtig fliegen konnten, wo es hieß, dass alles was größer als 40 Zentimeter war anständige Vogelflügel zum Fliegen brauchte. Doch diese Biester waren genauso wirklich wie er. Das rot-grüne Licht um ihn erlosch, als die weiteren Flugungeheuer wohl erkannt hatten, dass hier kein anderer wie er war. Dann trug ihn eine der beiden Bienenfrauen, die ihn hochgerissen hatten, locker zwischen ihren Armen davon.

"Meine Leute werden mich finden und euch töten", versuchte es der Gefangene. Er hatte schon versucht, einen Hilferuf abzusetzen. Doch er hatte nur ein leises vielstimmiges Schwirren gehört, als sprächen viele Dutzend Leute auf genau den telepathischen Kanälen, die den Dienern des Erhabenen vorbehalten waren.

"Du kannst froh sein, weil unsere Lenkerin befohlen hat, nach den ersten Unterworfenen zu suchen und wir das riechen können, ob jemand erster oder zweiter Unterworfener ist", schnarrte die ihn durch die Luft tragende Bienenfrau. Simon Waxman fühlte, wie der Abstand von der Erde ihn immer mehr schwächte. Mochte er vielleicht sogar sterben, wenn sie ihn über mehr als eine Stunde durch die Luft trug?

"Wer seid ihr?" wollte Simon Waxman wissen. "Ich bin neunzehnte von hundert, Tochter der obersten Dienerin unserer Lenkerin. Mehr musst du jetzt nicht wwissen, Träger feindlichen Blutes. Sie wird bestimmen, ob du leben oder sterben wirst, ob du nützlich oder wertlos bist."

"euch darf es genausowenig geben wie mich", stieß Simon Waxman vor lauter Angst aus. "Ja, aber dich und uns gibt es", erwiderte die Insektenfrau mit einer unbestreitbaren Gewissheit.

Der Flug ging weiter. Simon wurde immer schwächer und müder. Wenn die nicht bald landeten würde er sicher vor Erschöpfung sterben. Dann nützte er denen bestimmt nichts mehr.

Sie erreichten einen Fluss. Auf dem Fluss trieb ein großes Floß. Auf dieses ließen sie ihn hinunter. Er wurde dort mit Eisenfesseln an die Planken gebunden. Er fühlte, dass der Fluss an dieser Stelle mehr als seine doppelte Länge tief sein musste. Denn er fühlte keine Kräfte der Erde in ihn zurückkehren. Allerdings war die bis dahin auf ihn wirkende Erschöpfung abgeschwächt.

In der Luft über ihm tauchte ein fliegender Besen auf. Auf diesem saß eine Frau in einem scharlachroten, hautengen Kostüm, das mehr ent- als verhüllte. Diese Frau mit der blassgoldenen Hautfarbe und dem dunkelblonden Haar mochte für unbelastete Männer eine Traumgeliebte sein. Für den Diener des Erhabenen war sie die oberste Feindin. Denn er fühlte sofort, dass ihre Lebensschwingungen mächtiger als bei einfachen Menschen waren.

"Wen habt ihr da?" hörte er die Frau fragen. Dann traf sein Blick ihren. Er versuchte, sie zu unterwerfen. Doch in seiner Menschengestalt gelang das nicht. Statt dessen erfuhr sie alles über ihn, was sie wissen wollte. "Soso, ihr wolltet euer tückisches Toxin wieder exportieren, unschuldigen Menschen als Muntermacher oder sowas andrehen, wie? Gut, dass meine Helfer dich noch rechtzeitig abgegriffen haben."

"Wir sind schon zu viele für euch. Wir werden dieses Land unterwerfen. Dann kommt der Rest der Welt."

"Ja, das habe ich auch mal geglaubt, dass dass so einfach geht. Doch mittlerweile bin ich da vorsichtiger, Simon Waxman. Von dir will ich jetzt wissen, wer die anderen Erstverwandelten sind, um meine Suchzauber genauer auf sie einzurichten."

"Nur über meine Leiche", erwiderte Simon Waxman.

"Hmm, vielleicht geht das auch ohne dich zu töten", sagte die andere und zog etwas aus einer kleinen Umhängetasche. Es waren Nadeln mit goldenen Spitzen. Von denen nahm sie eine und stach sie Simon in den Arm. Sofort meinte er, sein Arm würde von innen her einfrieren. Die Nadel vibrierte immer wilder und sprühte Funken. Da stach die andere ihn mit der zweiten Nadel und verstärkte die Wirkung. "Eh, mann, was ist das?" stieß Simon Waxman aus und merkte, wie Kälte und Kribbeln nun bis in seine Schulter emporstiegen. "Nadeln mit 24karätiger Goldspitze, nicht billig zu kriegen", sagte die andere. "Aber sie sind mehrfach verwendbar."

"Gold? Das ist echtes Gold? Warum quält mich das so?"

"Weil es womöglich deine eingelagerte Magie schluckt? Die magischen Heiler wissen bisher nur, dass euer widerliches Gift mit reinem Gold in Fester oder Pulverform reagiert. Ich will nun prüfen, ob es auch am lebenden Objekt eine Wirkung zeigt. Dem ist so", erwiderte die andere und steckte die dritte Goldnadel in Simons linken Arm, als praktiziere sie eine bisher unbekannte Form von Akkupunktur. Simon fühlte, wie ihm die Kräfte schwanden. Ihm wurde immer kälter und kälter. Er begann zu bibbern. Doch es geschah auch was anderes. Die in seinem Kopf eingelagerten Gedanken wurden schwächer. Er erkannte immer mehr, dass er kein überragender Krieger war, sondern nur ein willenloser Sklave. Als ihm die superschön aussehende Hexe oder was sie war noch eine goldene Nadel ins rechte Bein stach und dieses sofort kälter wurde wirbelten die ersten roten Kreise vor Simons Augen. Er konnte nur noch daran denken, dass er nur Befehle ausgeführt hatte, Finde und töte! Befehle, die irgendein unbekannter selbsternannter Erhabener vor Jahrhunderten gegeben hatte, ein Erhabener, der wohl selbst nicht mehr lebte, ja vielleicht nie wirklich gelebt hatte. Dann hörte er nur noch sein immer heftiger pochendes Herz und fühlte die sich in seinem Körper ausbreitende Kälte. Das Bibbern war bereits vorbei. Er erinnerte sich an sein Medizinstudium und an die Vorlesungen zum Thema Hypothermie. Das erste der drei Stadien hatte er hinter sich gelassen, jetzt trieb sein Körper im zweiten Stadium. Würde es in ihm noch kälter dämmerte er ganz weg und erfror, obwohl die Sonne hell und heiß vom Himmel schien. Was für ein merkwürdiger Tod!

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Zur selben Zeit unter der alten Festung des Windkönigs

Ashlohuganar und seine drei Gefährten fühlten den wilden Kampf der neuen Brut ums Überleben. Die Schlüpflinge jagten sich, trauten sich jedoch nicht aus den Höhlen hinaus. Offenbar störte sie das Sonnenlicht, schmerzte sie womöglich. So blieb den ausgeschlüpften Sprösslingen der ersten sechs Einberufenen nur, sich in den Höhlen zu suchen, zu bekämpfen und gegenseitig aufzufressen. Wie viele von über hundert Schlüpflingen würden am Ende dieser gnadenlosen Geschwisterjagd übrigbleiben?

Als wenn dies nicht schon betrüblich genug für die auf ihre Arterhaltung bedachten Skyllianri gewesen wäre fühlten sie, dass weiter oben, am aus der Erde herausragenden Teil des mächtigen Berges, irgendetwas vorging, das die Kräfte der Erde in eine bestimmte Richtung leitete und sie in veränderter Form wieder zurückschickte. Der mächtige Berg, in dessen oberem Teil der Windkönig seine Festung errichtet hatte, begann regelrecht zu atmen.

Als die nächste Welle veränderter Erdkraft zu ihnen hinunterdrang fühlten sie, dass sie eine neue Kraft in sich trug, die auf sie drückte, sich in den anderen Teilen des viele tausend Längen nach unten ragenden Unterbaus des Berges ausbreitete und dabei verdrängte, was nicht mit ihr artverwandt war. Ashlohuganar und seine Gefährten bekamen mit, wie die sich gegenseitig jagende und fressende Brut vor Angst erstarrte, bis die ersten Schlüpflinge, die am weitesten oben in den Höhlen herumkrochen, regelrecht auf den Boden gedrückt wurden. Dann atmete der Berg wieder ein, so dass die vier Skyllianri fühlten, wie ihnen die Kräfte entzogen wurden. Etwas oder jemand flößte der alten Festung ein neues, sie abweisendes Leben ein. Jetzt fühlten sie, dass es dieselbe Kraft war, die verhinderte, dass sie an der Oberfläche näher als hundert Schritte an den Berg herankommen konnten. Diese Kraft nährte sich nicht allein von der Macht der großen Mutter, sondern erfrischte sich an der Kraft des Himmelsfeuers.

Jetzt atmete der Berg erneut die eingesaugte Kraft nach allen Seiten aber vor allem nach unten aus. Jetzt war es, als stießen unsichtbare Riesenhände alles nach unten, was sie erreichen konnten. Die sich gegenseitig jagende Brut stieß rein geistige Angstschreie aus. Kein Schlüpfling konnte sich mehr bewegen. Nun begann der Berg auch ganz leise, für Menschenohren unhörbar zu brummen. Die Richtungsweisekraft der Erde glich sich hier diesem Gebrumm an. Es war nicht wie das künstlich erzeugte Gebrumm in den Elektroleitungen der Istzeitmenschen. Es war mindestens eine Tonlage tiefer, doch dafür nicht in zwei, sondern drei Abschnitte unterteilt. Und mit jedem weiteren Kraftstoß nach unten schwoll das unheimliche Brummen an, schmerzte in den Köpfen der dafür empfänglichen Wesen, also den vier überdauerten Skyllianri und ihrer hungrigen Sprösslinge.

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Zur selben Zeit am Uluru

Kannali Mulladunangawatuya und Quinlahalla Gunnakurwala, die zwei Vorsänger und Vortänzer der am heiligen Berg versammelten Frauen und Männer, spürten, dass Uluru auf ihre Gesänge und Tänze antwortete. Die sowieso schon in ihm wirkenden Kräfte begannen, sich langsam auszudehnen und dann in den Berg hinein zurückzuziehen, sich dort zu bündeln. Je mehr die hier tanzenden und singenden Vermittler zwischen den Ahnen und der Welt der Lebenden ihre eigenen Kräfte vereinten, um so mehr steigerte sich die Kraft im Berg. Das Lied der großen Reinigung half dem Berg, die von irgendwem oder irgendwas aufgezwungene Schwäche immer mehr abzuschütteln. Jedesmal, wenn die vor ihm tanzenden und singenden die von ihm ausgehende Kraft in sich einatmeten fühlten sie, dass da etwas war, das versuchte, die im Berg wohnenden Kräfte klein zu halten. Doch die Sonne, die gesungene Lebensfreude und die getanzte Entschlossenheit der nun zu einer vielstimmigen Einheit verbundenen klugen Männer und Frauen halfen Uluru, die in über viele Jahrzehntausende in ihm gewachsenen Kräfte neu zu entfalten. Hatte der rote Berg bis dahin nur oberhalb der Oberfläche mit Hilfe des auf ihn treffenden Sonnenlichtes verhindert, dass sich die in ihm erwachten Kinder dunkler Erdkräfte auf der Oberfläche nähern oder ihn erklettern konnten, so floss die ihm zugefügte Lähmung nun nach oben ab, entlud sich in Form von blauen und goldenen Blitzen und Funken über dem Uluru in den Himmel. In der Gegenbewegung floss nun immer mehr Kraft aus dem oberen, eigentlich winzigen Teil des Berges in den tief in die Erde hinabreichenden Hauptteil. Jedesmal, wenn diese befreiende, durch den ganzen Berg fließende Kraft die Wurzeln des Berges erreichte fühlte es sich für die Tänzer an, als strahle mehr Lebenskraft und Lebensfreude aus ihm heraus. Diese wiederum erfüllte die Tanzenden mit neuer Kraft, machte sie ausdauernder, bewegungsfreudiger, ließ ihren Gesang noch lauter und dabei doch klar vom roten Sandsteinberg widerhallen. Gesang und Widerhall flossen zu einer sich verstärkenden Klangeinheit zusammen. Mit jedem Ton sprühten aus dem Gipfel Ulurus weitere Entladungsblitze in den Himmel. Mit jeder vollendeten Tanzfigur atmete der Berg die um ihn fließenden Kräfte der Erde ein, um sie in sich zu bündeln.

Weiter und weiter sangen und tanzten die hier versammelten Zauberkundigen aller Völker des südlichen Erdteils. Ihr Gesang bewirkte nicht nur, dass sie und Uluru zu einer einzigen wogenden Kraft wurden, sondern auch, dass immer mehr Ahnengeister dazukamen, die in Folge und Bewegungsrichtungen der Tänzer ihre Kreise um den Berg zogen. Darunter war auch der ehemalige Hüter des Berges, Yati Wullayata, der damals mitgeholfen hatte, das die Stimme des Windkönigs den Berg verlassen hatte, dem es jedoch nicht gelungen war, die auf diese Stimme aufpassende Spinne in den Berg zurückzutreiben, der jedoch mitgeholfen hatte, dass die Spinne die Heimat der tanzenden und singenden Zauberkundigen verlassen hatte. Zumindest gingen die lebenden Tänzerinnen und Tänzer davon aus, dass die Spinne durch das über das ganze Land gewobene Netz der Auffindung zum Verlassen des Landes gedrängt worden war. Yati und die anderen herbeigerufenen Ahnengeister wussten jedoch, dass etwas anderes stattgefunden hatte. Die Götterspinne war nicht von sich aus verschwunden, sondern hatte sich ohne eigenen Willen mit einer anderen Zauberkundigen vereint, war mit ihr zu einem Geist in einem Körper verschmolzen, wie zwei Feuer, die sich aufeinander zubewegten und dann als ein großes Feuer weiterbrannte. Dadurch, dass Yatis Geist von Morgennebel aus den Zwischenweltgefilden zurückgerufen worden war hatte er nun die Möglichkeit, mit anderen Ahnengeistern die alte Kraft des Uluru wiederzuerwecken, die dunkle Last, die eine in weiter Ferne entstandene Woge aus Hass, Vernichtungswillen und Angst dem Berg auferlegt hatte und die dabei die vier in ihm eingesperrten Eidechsenmenschen befreit hatte, weil diese von der dunklen Kraft genährt und gestärkt wurden. Nun konnten sie alle, die Lebenden und die Geister, diese dunkle Last vom Berg abtragen, ihn wieder zu dem machen, was er seit Anbeginn der Zeiten gewesen war, ein Ort der Verbundenheit zwischen allen Kräften der Welt, Mittler zwischen Lebendigem und totem, Himmel und Erde. Dafür lohnte es sich, die eigene Kraft einzusetzen, sich selbst mit der Macht der Tänzerinnen und Tänzer zu verbinden.

Mehr und mehr gewann Uluru seine eigentlichen Kräfte zurück. Immer mehr spülte er die dunklen Kräfte aus sich heraus, schleuderte sie als Blitze in den Himmel, wo das Licht der Sonne sie schluckte oder stieß sie in die Erde hinunter, wo sie mit allen anderen Kraftströmen zusammenflossen und fortgetragen wurden wie Treibholz im reißenden Strom. Doch Yati wusste, um den letzten Anteil der dunklen Kraft aus dem Berg zu verdrängen mussten er und viele andere Ahnengeister das große Opfer bringen. Das große Lied der Reinigung würde nur dann eine dauerhafte Wirkung haben, wenn er und andere ihn begleitende Ahnengeister sich freiwillig in den Berg hineinstürzten um ihre Kraft an ihn abzugeben, in ihm aufzugehen und dadurch die Beschwörung der Lebenden zu verwirklichen. Doch hierfür musste erst ein ganz bestimmter Punkt erreicht sein. So tanzten sie mit den anderen mit und fühlten die Macht des Gesanges, der vom Uluru widerhallte.

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Zur selben Zeit unter dem Berg der alten Festung

Es wurde immer unerträglicher. Erst wurde ihnen die Kraft abgesaugt, die aus der Erde in sie einfloss. Dann wurde sie von oben her durch den ganzen Berg immer weiter nach unten zurückgestoßen, wobei sie die vier Skyllianri immer stärker zusammendrückte. Schlimmer erging es den Schlüpflingen. Die aus den oberen in die unteren Teile des Berges einströmende Kraft schwächte sie immer mehr. Die vier merkten, dass da oben jemand sein musste, der mit unerträglicher Macht gegen sie anging. Sie wollten hinauf, diese Gegner bekämpfen, sie davon abbringen, diese unerträglichen Kraftwellen zu machen. Doch wenn ihnen die Erdkräfte abgesaugt wurden konnten sie nicht in festes Gestein eindringen, und wenn die Kraft von oben wieder auf sie niederdrückte wehrte sie das Gestein ab, drückte sie eher nach unten. Da sie vor ihrer eigenen Brut in eine unterirdische Kammer ohne Ein- und Ausgang geflüchtet waren saßen sie nun wieder fest, wie damals, als sie in die Falle des Windkönigs gelockt worden waren und er sie in vier Kerkern eingeschlossen hatte.

"Das müssen diese Ureinwohner sein, von denen Sharikhaulaia und Tarisharudan gesprochen haben", stöhnte Ishgildaria. Ashlohuganar fügte hinzu: "Sie müssen über die vielen Tage, die wir ihre Siedlungen erobert haben einen Bund aus mit der Kraft begüterten geschlossen haben und kämpfen nun alle gemeinsam gegen uns. Sie machen, dass der Berg uns immer mehr niederdrückt."

"Die Brut, die überlebenden der zweiten Brut", stöhnte Gooramashta, die immer noch auf die Lebensäußerungen der Schlüpflinge hörte. Dann vernahmen sie alle den vereinten, letzten Aufschrei der Sprösslinge. Es war ein langer, schriller, alles Weh und Leid tragender Schrei, der sich in der Unendlichkeit der Gedanken verlor. Gleichzeitig stieß die nun wieder nach unten wirkende Kraft sie alle so kräftig auf den Boden, dass die ihnen innewohnende Gegenwirkung sie in das feste Gestein im Berg hineingleiten ließ. In weniger als zwei Atemzügen ging es mehr als fünfzig ihrer Längen weiter nach unten. Dabei landeten sie nicht in einer weiteren Aushöhlung, sondern blieben nun im festen Gestein, konnten gerade so noch die Kraft der Erde ein- und ausatmen. Dann sog der Berg wieder an den Kräften der Erde. Ashlohuganar und seine drei Gefährten fühlten, wie der Sog sie wieder nach oben zog und mit Schwung durch die kleine Kammer, in der sie vor der eigenen Brut in Sicherheit gewesen waren, hindurch in die Decke hineinriss. Ashlohuganar sah seine drei Gefährten nicht mehr als feste Körper, sondern als wie Abendlicht leuchtende Gebilde, deren Gestalten nicht mehr so klar und abgegrenzt erschienen wie im körperlichen Zustand. Er wusste, dass sie ihn genauso sahen. Dann waren sie von der sie einsaugenden Kraft in jene Höhle hinaufgerissen worden, in der bis vor wenigen Atemzügen noch die zweite Brut um ihr Überleben gekämpft hatte. Jetzt ließ der Sog nach. Aus den unklar erkennbaren Lichtgebilden wurden wieder feste Körper. Allerdings hatten die vier letzten Diener des aus der Zeit des Erhabenen keine Zeit, sich darüber zu wundern. Ohne Vorwarnung kam die Gegenwelle von oben, trieb sie erneut nach unten in die Erde, durch die bisherige Zuflucht und weiter nach unten, mehr als hundert ihrer Längen tief in das feste Gestein. Ashlohuganar ahnte, was ihm und den seinen nun bevorstand. Sie würden bei jeder weiteren Atmung des Berges immer mehr nach oben und unten bewegt. Der Restschwung der sie tragenden Welle drückte sie noch tiefer hinunter, bevor der neuerliche Sog sie abbremste und fast bis unter die kleine Zufluchtshöhle hinaufzog. Mindestens zehn Längen darunter blieben sie im Gestein stecken, unfähig mehr Kraft einzuatmen, um ganz in die Höhle zurückzukehren. Da kam auch schon der Abwärtsdruck über sie, trieb sie noch schneller als beim letzten mal in die Tiefe. Ashlohuganar sah, wie er von seinen Gefährten weggetrieben wurde, fort von der Mitte des Berges in vier verschiedene Richtungen. Da erkannte der einstige erste Verkünder des Erhabenen, dass er allein sterben würde, weit ab seiner Gefährten, irgendwo da unten, tief im untersten Teil des Berges, dessen über die Erdoberfläche hinausragende Erhebung einst die Festung des Windkönigs gewesen war. Er fragte sich, ob die grauen Riesenvögel deshalb nicht zurückgekommen waren, weil deren Hüter wussten, dass die Nachfahren der Eingeweihten des Windkönigs diese Kraft wecken würden, wenn die Skyllianri sich erneut über das Land ausbreiten wollten. Er versuchte, seine Gefährten im Geiste zu rufen. Doch seine Rufe blieben ungehört. Seine Kraft reichte nicht mehr aus, um gegen die Wirkung der an- und abschwellenden Wogen zu rufen. Er wusste nun auch, dass alle Einberufenen da draußen nichts mehr von ihm hörten. Sie würden wohl auch Gooramashta, Sholalgondan und Ishgildaria nicht mehr in ihren Gedanken hören. Was würde mit ihnen geschehen, wenn dieser Halt verlorenging? Würden sie führungslos herumsuchen oder sich wie in höchster Todesangst verhalten und unbedacht in jede ihnen auflauernde Gefahrr hineinrennen?

Er dachte an die, die er selbst in seinem von einem langen, unfreiwilligen Schlaf unterbrochenem Leben einberufen hatte. Vorher war da die gleichbleibende, alles ordnende und tragende Stimme des Erhabenen gewesen: "Sei mir verbunden!" Doch diese Stimme fehlte. Sie war verstummt, als der Herrscherstab des Erhabenen mit den letzten Kriegern vernichtet worden war. Ashlohuganar dachte, während er wieder nach oben gezogen wurde, dass ohne diesen festen Halt im Geist aller Einberufenen jedes Vorhaben scheitern musste, den Willen des Erhabenen zu erfüllen.

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Zur gleichen Zeit am Uluru

Der Punkt war gleich erreicht. Nur noch einmal musste der Berg tief einatmen, um dann den Verbund von Sonnenkraft, Wind- und Erdkraft durch alle seine steinernen Adern und Glieder zu verströmen. Yati Wullayata fühlte, dass gleich der große Moment gekommen war. Er würde sein Dasein opfern, um eins mit Uluru zu werden, ihm die Macht zurückzugeben, sich selbst von allem dunklen Zauberwerk freizumachen. Er fühlte die Nähe anderer Ahnengeister und sah den roten Berg ein wenig heller leuchten als das Licht der Sonne ihn beschien. Wieder flogen Blitze aus seinem Gipfel in den Himmel, Entladungen dunkler Kräfte, die unschädlich für Geist und Lebewesen in die unerreichbaren Höhen des Himmels entwichen. Dann war es soweit.

"Für die Reinheit Ulurus!" rief Yati im Gleichklang der weiter unten vor dem Berg gesungenen Worte der Kraft und der Reinigung. Dann stürzte er sich mit seinen körperlosen Gefährten in die aufstrahlende Wand hinein. Helles Licht umfing ihn, durchdrang ihn und machte ihn zu einem Teil von sich. Er fühlte noch, wie er und mehrere hundert andere Ahnengeister seinem Ruf folgten und sich als letzte freiwillige Opfer für die Reinheit Ulurus darbrachten. Einen Moment lang fühlte er sie alle mit ihm eins werden. Dann wurden sie alle eins mit Uluru, mit den in ihm wohnenden Kräften aus dem Anbeginn der Zeit. Der letzte Widerstand der dunklen Kraft zerbrach und wurde unverzüglich in die Tiefe hinabgeschleudert, um aus der Unterseite des Berges wieder auszutreten. Das war der letzte eigenständige Gedanke, den Yati Wullayata dachte. Er hatte sein Schicksal erfüllt.

Gleichzeitig fühlten auch die lebenden Zauberkundigen, die vor dem Berg tanzten und sangen, wie die Geister ihrer Ahnen mit dem Berg verschmolzen und ihn damit endgültig aus den Fesseln dunkler Kräfte lösten. Alle spürten sie die unbändige Macht, die sich im Berg ausdehnte und mit doppelter Erdstoßgeschwindigkeit alles hinwegfegte, was unrein war.

Morgennebel fühlte die Verbundenheit mit allen hier, den Lebenden, den im Berg aufgehenden Geistern und dem Berg selbst. Es war wie gerade geboren zu werden und doch schon wieder zu sterben. Mit einem letzten langen Ton und einem letzten gewaltigen Sprung aller Tanzenden beendeten sie ihr zauberisches Werk. Als sie alle auf dem Boden landeten fielen sie hin, gaben dabei einen Gutteil ihrer letzten Körperkraft an den wiedererweckten Berg ab. Morgennebel bangte, dass sie sterben musste. Doch dann dachte sie, dass ihr Tod ihren Kindern und Kindeskindern helfen würde, die Plage der Eidechsenmenschen zu beenden.

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Zur selben Zeit im Berg der alten Festung

Fast dachte er, dass er nun ganz durch den Berg hindurch nach oben und aus ihm hinaus gesogen würde. Doch dann kam der Gegenstoß. Schneller als er sich je im Erdreich bewegt hatte wurde Ashlohuganar in die Tiefe gestoßen, Sein Sinn für Richtung und Geschwindigkeit wurde hoffnungslos überreizt. Er fühlte nur noch, wie ein weißes, grelles Licht ihn mit sich riss, ihn immer tiefer in den Leib der Erde presste. Er fühlte, dass er die für ihn verträgliche Tiefe weit unterschritt. Er spürte es erst nicht, weil die ihn mit sich reißende Kraft seine Sinne überlagerte. Erst als sie sich immer weiter verstreute fühlte er, dass er eindeutig zu tief im Schoß der Erde steckte. Die große Mutter, Quelle seiner Kräfte, umschlang ihn nun mit gnadenloser Kraft, nahm ihm den letzten Atem. Er fühlte, wie sein Körper mehr und mehr zerging, sich im Gefüge des tiefen Gesteins auflöste. Er dachte nur noch daran, dass er versagt hatte. Er hatte den Willen des Erhabenen nicht mehr erfüllt, ja hatte wohl sogar mitgewirkt, dass dessen Werk endgültig aus der Welt verschwand. Dann erlöste ihn die ganze Macht der Erde von allen seinen Selbstzweifeln. Körper und Geist des einstigen Kriegsführers zerstoben im weiten Meer der uralten Kräfte der Erde.

Wie Ashlohuganar erging es auch Gooramashta, Sholalgondan und Ishgildaria. Jene, die sich als Einberuferin der ersten Weiblichen der Istzeit zu gleicher Macht wie Ashlohuganar berufen gefühlt hatte, dachte ganz zum Schluss daran, dass alle ihre Einberufenen nun ohne Führung sein würden, Sharikhaulaia und die beiden anderen, die sie nach dem Erwachen geküsst hatte, Sharashtara, die von der mittlerweile selbst verschwundenen Sisufuinkriasha einberufen worden war, Pangiaimmaya und die immer noch in einer unaufbrechbaren Blase eingeschlossenen Frauen und Mädchen bei Port Lincoln. Sie alle würden nicht mehr wissen, wofür sie lebten. Vielleicht starben sie auch, wenn sie verging. Mit dieser Hoffnung verging Ishgildarias Geist im Gefüge der Erdkräfte. Damit vergingen auch die vier letzten von Sharanagot selbst erschaffenen Diener.

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Zur selben Zeit in ganz Australien

Erst hörten die von den vier letzten Dienern des Erhabenen einberufenen nur den langen geistigen Aufschrei der vier. Dann überrollte sie die gleißendhelle, laut donnernde Welle, die das ganze Land durcheilte. Für Menschen ohne Magie war sie nicht spürbar. Für Tiere war es wie ein unsichtbar niedergehender Blitz in nächster Nähe, der sie aufschrekcte und durcheinanderlaufen und krakehlen ließ. Wellensittiche schwirrten wild zeternd und Federn lassend umher. Dingos, die gerade eine Beute hetzten jaulten auf, weil etwas durch ihre Läufe in die Köpfe schoss und aus allen Körperöffnungen wieder entwich. Känguruhs sprangen vorwärts, weil sie etwas wie einen sie bedrängenden Feind empfanden. Fische, die nahe von Fluss- und Seegründen schwammen spürten ein wildes Pochen in ihren Köpfen und verloren einen Moment den Sinn für Richtung und Geschwindigkeit. Dabei prallten einige von ihnen gegen den Grund ihres Gewässers oder gegen die Uferböschungen.

Für Menschen und Tiere mit magischen Sinnen war es wie ein unter ihren Füßen dahinjagender lauter Ton und ein wildes Kribbeln, dass durch ihre Beine und Körper in ihre Köpfe fuhr und dort wie ein Spiel aus hellen Farben und ein merkwürdig angenehmer, wenn auch lauter Vielklang einige Sekunden lang tönte.

Hochempfindliche Erdmagnetfelddetektoren und Seismometer verzeichneten eine unerklärliche Stoßwellenfront, die unmittelbar im Uluru-Catatjuta-Massiv entstanden war und sich schneller als eine natürliche Erdbebenwelle in alle Richtungen ausbreitete. Sie überschritt dabei jedoch gerade einmal die Stufe zwei auf der nach oben offenen Richterskala. Dafür dauerte es eine Minute, bis die Wellenfront verebbte. Dann erfolgte ein schwacher aber messbarer Gegensog, als sei das feste Gestein Luft, die in ein entstandenes Vakuum zurückstürzte, jedoch nur mit einem Viertel der Geschwindigkeit, mit der die Stoßwellenfront sich ausgebreitet hatte. Es entstand ein Ausgleich. Die magnetischen Feldlinien ordneten sich wieder so wie eine Minute zuvor. Die Wissenschaftler in den Erdbebenwarten konnten diese Messungen nicht einordnen. Kurze Absprachen untereinander klärten, dass es auch keine Fehlfunktion in einzelnen Messstellen gewesen war. Telefonanrufe nach Übersee ergaben, dass diese merkwürdige Stoßwellenfront und der sie wieder ausgleichende Gegensog die ganze Welt umlief und eine für wenige Sekunden bestehende, winzige Veränderung des Magnetfeldes hervorrief. Der die Stoßwelle ausgleichende Sog bewirkte, das im Indischen Ozean bei Sumatra zwei winzige Steine in einer tiefgelegenen Aushöhlung um einige Millimeter weiter nach unten rutschten und dass in Neuseeland ein Stück der tiefen Erdschichten um eine Winzigkeit verschoben wurde. Für den Augenblick war das unbedeutend. Doch wie sich diese winzigen Veränderungen in der Erde in Jahren oder Jahrzehnten auswirken mochten konnte niemand vorhersehen.

Die zuständigen Stellen des australischen Zaubereiministeriums waren vollauf damit beschäftigt, eine muggeltaugliche Erklärung für diesen Vorgang zu erfinden und internettauglich aufzubereiten. Gleichzeitig musste die Ministerin am Abend des 28. Septembers vor der Zaubererweltpresse erklären, dass wohl ein großes Reinigungsritual der Ureinwohner eine landesweit wirksame Kraftwoge ausgelöst hatte, die einerseits die auf dem Kontinent aufgetauchten Schlangenmenschen beeinträchtigt hatte und andererseits das Gefüge von Erdkräften um den Uluru verändert hatte. Für die sogenannten Muggel wurde eine Geschichte verfasst und verbreitet, dass tief unter dem Ulurumassiv, in etwa 20 Kilometern Tiefe, eine Gasblase geplatzt sei und dadurch erst ein Erdstoß ausgelöst wurde, um dann den vom Gasdruck erleichterten Hohlraum vom plastischen Erdinneren immer mehr zusammendrücken zu lassen.

Gegen Abend berichteten die Wächter über der Hazelwood-Akademie, dass sämtliche im Boden verborgenen Schlangenfrauen nach oben gespült worden waren und völlig orientierungslos auf dem Gelände herumgelaufen waren, bis zwanzig mit Piloten gemietete Hubschrauber durch künstlich geschaffene Öffnungen im Arrestdom eingeflogen waren und die gerade völlig konfusen Frauen mit Netzen eingefangen hatten. Zwar hatte sich die einfarbig sonnengelb geschuppte Direktrice noch zu wehren versucht, hatte immer wieder was von wegen Ishgildaria gerufen. Doch dann hatte man auch sie einfangen und vom Boden hochreißen können. Einer Eingebung Nigel Bridgegates folgend wurden alle brennbaren Gasvorräte der Chemikaliensammlung sowie die Brennstoffvorräte unterhalb der Wohngebäude zur Explosion gebracht, so dass giftige Gaswolken über den lichterloh brennenden Gebäuden trieben, die eine sofortige Evakuierung der Lehrerinnen und Schülerinnen erforderlich machten. Zumindest würden sie es so erklären, wenn es gelang, die immer noch unter dem Einfluss des Skyllianrigiftes stehenden Frauen und Mädchen zu entgiften.

Dass bei der von den vereinten Zauberkundigen der Ureinwohner freigesetzten Kraft sämtliche Spürsteine von Australien und Neuseeland zerstört worden waren verschwieg das Zaubereiministerium jedoch tunlichst, man wollte schließlich nicht irgendwelche schlafenden Dingos und hungrigen Krokodile kitzeln.

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Im Haus zwei Mühlen bei Santa Barbara, Kalifornien, 27.09.2003, 16:00 Uhr Ortszeit

Millie hatte ihrer Schwiegermutter Komplimente gemacht, dass die drei damals so winzigen Wesen sich in dem einen Jahr so prächtig entwickelt hatten. Aurore freute sich, ihre beiden Tanten Hillary Camille und Linda Estrella und ihren Onkel Eurypides wiederzusehen. Überhaupt war diese seit zwei Tagen geplante Geburtstagsfete ein herrliches Wiedersehen mit vielen Bekannten aus den Staaten. Auch die Eheleute Chimer waren zusammen mit Myrna Redlief eingetroffen, sowie die Eheleute Brocklehurst mit Söhnchen Leonidas Andronicus. Auch wenn die Vorstellung, drei eher unfreiwillige Halbgeschwister zu haben immer noch ein wenig zwickte gönnte Julius seiner Mutter all die Freude, die diese drei ihr bereiten konnten. Die Eheleute Madeleine und François L'eauvite waren ebenso mit den Latierres angereist wie Ursuline Latierre. Die beiden älteren Hexen scherzten darüber, dass der Club der noch einmal Mutter gewordenen Großmütter im nächsten Frühling um etliche neue Mitglieder reicher würde. Niemand hier sprach von den neu aufgetauchten Schlangenmenschen oder von den Machenschaften Vita Magicas, obwohl die drei Gründe für diese Feier unmittelbar auf deren Konto gingen. Julius wagte es auch nicht, nach Eartha Dime zu fragen, die sich mit zwei Babys im Bauch sehr schnell aus der Zaubererwelt ausgeblendet hatte, nachdem sie angeblich solange in der Gefangenschaft der schwarzen Spinne ausgeharrt hatte. Es ging aber auch um die Schummelbande, wie die US-Quidditchnationalmannschaft in vielen Zeitungen auch in den Staaten genannt wurde. Alle von denen waren sehr schnell nach ihrer Rückkehr in der Versenkung verschwunden. Julius' Mutter vermutete hinter vorgehaltener Hand, dass die noch immer unter dem Segen des unschuldigen Glückes stehenden garantiert zur besonderen Verwendung im Ministerium eingezogen worden waren, so wie der mit bionischen Superkräften ausgestattete Ex-Astronaut Steve Austin aus dem Fernsehprogramm der 1970er Jahre oder das A-Team, ebenfalls eine beliebte Heldentruppe aus der guten alten Flimmerkiste.

"Ich bin gespannt, wie wir von Millemerveilles aufgenommen werden", sagte Julius' Mutter, als er und Millie mit ihr über ganz private Familienangelegenheiten reden wollten. "Ich denke, du wirst nur einen leichten Wärmeschauer fühlen, wie alle, die von außen reinkommen und noch nicht registriert sind. Außerdem bist du die Großmutter von zwei unmittelbar in Millemerveilles geborenen Kindern", meinte Julius. Millie deutete auf Clarimondes Reisebettchen und meinte: "Aber hallo, sowas von unmittelbar."

Melanie Chimer erwähnte Millie Latierre gegenüber, dass sie bisher noch nichts kleines in Aussicht habe, aber schon mal geübt habe, wie sowas hinbekommen wurde.

Zwischendurch schaute auch Eileithyia Greensporn bei den Merryweathers herein und beglückwünschte erst die stolzen Drillingseltern und dann die Latierres aus Millemerveilles, weil sie so eine gesunde und sonnige Tochter bekommen hatten. Die Heilzunftsprecherin zwinkerte kurz Julius und Millie zu, als wolle sie noch mehr sagen. Doch dann wandte sie sich an die anderen ihr bekannten Gäste. Gegen halb acht abends ging sie jedoch wieder.

"Kann sein, dass die mitbekommen hat, was in Australien läuft und dass du ihren Heilerkollegen da geholfen hast", gedankenflüsterte Millie. Julius erwiderte auf dieselbe Weise: "Das war zu erwarten. Die Zunftsprecher sind sicher über Bilder wie das von Vivie Eauvive miteinander verbunden." Das dachte auch Millie.

Gegen halb neun Abends Meinte Julius, etwas warmes, prickelndes jage genau unter ihm hindurch. Er fühlte ein starkes Kribbeln in den Füßen und meinte, einen Bassdreiklang auf heranjagenden und sich in Richtung Osten entfernenden Flöten zu hören. Alle, die gerade bei ihm saßen bekamen mit, dass irgendwas war. Doch er sagte erst einmal nur, dass irgendwas im Boden entlanglief, was vielleicht eine Erdbebenwelle war. In Kalifornien waren kleinere Erdbeben keine Seltenheit. Mel Chimer fragte ihn, ob er im Ministerium höhere Erdzauber studiert habe, dass er sich quasi auf den Takt der Erde einstimmen könne. Er erwähnte, dass für Interessenten Kurse für höhere Elementarzauber angeboten würden, vor allem für jene, die lernen wollten, ohne vorherige Zielbeschreibung an bestimmten Koordinaten zu apparieren. Damit hatte er den wahren Grund für seine Empfindlichkeit verschwiegen, ohne lügen oder abwiegeln zu müssen. Als er dann noch einen in langsam wimmernden Tönen zurückkehrenden Dreiklang hörte und das Kribbeln in den Füßen noch einmal und diesmal wie ein unter den Sohlen dahinstreichen empfand mentiloquierte er Millie: "Irgendwo im Westen von hier ist was passiert, kein Erdbeben, weil ich keine Verdrängung von Erde gefühlt habe. Aber Erdmagie war dabei."

"Im Westen von uns? Was liegt denn da so?" schickte Millie zurück. Julius überlegte noch einmal, was er genau gefühlt hatte und berichtigte sich dann, "Südwesten von uns, also auch Südhalbkugel möglich, Australien, Neuseeland. Oha!" mentiloquierte er. Millie verzog ihr Gesicht, sagte aber nichts mit hörbarer Stimme. Beide dachten daran, was und wer in Australien gerade unterwegs war.

Weil nichts sonstiges geschah, auch kein Erdbeben, fanden die Latierres wieder in die lockere Stimmung zurück. Julius konnte wieder keinen Tanz auslassen, zumal Myrna offenbar zeigen wollte, dass sie nicht wegen fehlender Tanzkünste unverheiratet geblieben war. Gegen halb zwölf Pazifikstandardzeit fanden die Gäste in die vorbereiteten Betten, wobei sich die Latierres und Brocklehursts ein großes Zimmer teilten. Das Luftschiff würde die europäischen Gäste und Martha Merryweather morgen früh um halb zehn abholen und zwei Stunden später in Millemerveilles landen, was dort schon wieder halb neun am Abend war.

Während Julius im Gästebett lag dachte er an seine merkwürdige Wahrnehmung vom Abend. Was für eine Erdmagie war das, eine gutartige, eine Streuung zweier aufeinanderprallender Zauber oder eine neuerliche dunkle Zauberkraftwelle? Dem musste er so bald es ging nachgehen.

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über der zentralaustralischen Wüste, 28.09.2003, 13:00 Uhr Ortszeit

Sie hatte es seit Stunden gespürt, wie aus Richtung des Uluru immer mehr Kraft strömte. Die in diesem Berg gelagerte Magie war ihr, Naaneavargia/Anthelia, sowas von vertraut, dass sie sie selbst vom Mond aus hätte erkennen können, wenn sie derartig aufgestrahlt hätte wie jetzt. Gerade hatte sie ihre gegen Zauberangriffe und Metallgeschosse abgesicherten Entomanthropen über einem weiteren Schlangenmenschennest niedergehen lassen, als die immer stärker pulsierende Kraft ihren Höhepunkt erreichte. Die Verschmelzung zwischen Anthelia und Naaneavargia verglich die unvermittelt freiwerdende Kraft mit dem Höhepunkt eines leidenschaftlichen Liebesaktes. Nur dass diese wilde Wallung ihr keine Freude, sondern Schmerzen bereitete. Sie schrie auf. Blitze tobten unter ihren Füßen entlang. Donnerschläge krachten unter ihrer Schädeldecke. Sie schaffte es gerade noch, den Notstart ihres Harvey-5-Besens auszulösen und in einer Sekunde mehr als dreißig Meter aufzusteigen. Da meinte sie, dass unter ihr der Boden in weißen Feuerstößen wegschmolz. Sie meinte, mit Beinenund Unterleib in einem wilden Fluss aus heißem Wasser zu stecken. Dann war der Besen noch höher aufgestiegen. Das weiße Inferno unter ihr und das Gefühl, in einem immer heißeren Fluss dahinzutreiben verebbten schlagartig. Jetzt lag nur noch die karge Wüstenlandschaft unter ihr. Doch sie fühlte, dass sich die ihr so zusetzende Magie nur wenige Meter weiter unter ihr entlud. Sie hörte die aufgelesenen vier Schlangenmenschen laut aufschreien und konnte dank ihrer Gedankenhörfähigkeit mitbekommen, dass sie einen geistigen Todesschrei empfingen, der sie noch mehr peinigte. Da war ihr klar, dass die Aktion am Uluru diese Wesen treffen sollte, wo immer sie sich aufhielten. Sie konnte nicht verhehlen, dass es sie beeindruckte. Sie flog keuchend immer weiter nach oben, bis sie in dreihundert Metern höhe verhielt. Sie vernahm die Aufregung der hier lebenden Tiere als aufflammende Angst. Also betraf die von wem auch immer ausgeführte Magiefreisetzung auch niedere Lebensformen.

Eine Viertelstunde später sank sie auf ihrem Besen nieder, um zu prüfen, ob ihr noch Gefahr drohte. Erst als sie nur noch fünf Meter über dem Boden war fühlte sie das sanfte Pulsieren aus der Erde. Als sie dann mit ihren Füßen aufkam meinte sie, von erst warmen und dann kalten Schauern durchflutet zu werden und hörte ein an- und abschwellendes Summen unter ihrer Schädeldecke. Sie zog ihren Zauberstab und sang im Takt dieser nachhallenden Magie eine Formel, die ihr verraten konnte, was da passiert war. Das erstaunte sie.

"Diese Buschtänzer haben doch allen Ernstes eine Form des Liedes der reinigenden Kraft erlernt und mit vielen von sich zusammen angestimmt, um den roten Berg zu dieser heftigen Entladung zu treiben. Offenbar ist von den alten Kenntnissen doch nicht alles in Khalakatan verschüttet worden. Oder diese Südlandnomaden haben ganz ohne gezielte Unterrichtsgestaltung einen Weg gefunden, dieselbe Magie, nur wesentlich stärker, aufzuwecken und dieses Wissen über Jahrtausende an die Magiefähigen ihrer Stämme weitergegeben. Offenbar haben wir euch alle unterschätzt", dachte Anthelia, während sie fühlte, dass die unter ihr nachhalende Kraft immer schwächer wurde. Doch sie war sich nun sicher, dass sie nicht völlig verklingen, sondern sich auf einem bestimmten, für sie als Erdvertraute immer wieder nachprüfbaren Wert halten würde.

Um ihre Vermutung zu prüfen flog sie auf dem Harvey-Besen in Richtung Uluru. Als sie den Felsenberg schon sehen konnte fühlte sie dessen ruhig atmende Kraft. Gleichzeitig wusste sie, dass sie ihm nicht ansatzweise nahekommen konnte. Denn die von ihm ausstrahlende Kraft wirkte wie ein wüstenheißer Gegenwind, je näher sie an ihn heranzukommen versuchte. Sie wusste auch, dass der Sandsteinberg wesentlich höher war als die 340 Meter, die er aus dem Boden herausragte. Also betraf die Bezauberung ihn im ganzen.

Anthelia/Naaneavargia wagte einen Landeversuch. Doch kaum stand sie mit den Füßen auf dem Boden durchbrauste sie eine unbändige Kraft, die in ihrem Kopf ein lautes Dröhnen verursachte und weiße Blitze vor ihren Augen aufleuchten ließ. Sie fühlte nicht, wie sie sich verwandelte. Innerhalb von nur zwei Sekunden wurde sie zur menschengroßen schwarzen Spinne. In dieser Form lief sie schnell und noch schneller vom Uluru weg, der für sie gerade wie eine explodierende weiße Riesensonne wirkte, deren tödliche Ausbrüche ihr hinterherjagten. Wie weit sie rennen musste wusste sie hinterher nicht mehr. Jedenfalls wurde das wilde Brummen in ihrem Kopf leiser und leiser. Erst als es unterhalb der Erträglichkeitsschwelle klang konnte sie wieder einen klaren Gedanken fassen.

Zuerst erkannte sie, dass sie sich verwandelt hatte. Das machte sie schnell wieder rückgängig. Denn sie ging davon aus, ihren Zauberstab gebrauchen zu müssen. Dann holte sie mit "Accio Harvey-Besen" ihren Flugbesen zu sich hin. Anschließend vollführte sie noch einmal Zauber aus dem mächtigen Bereich der Erdmagie und fand ihre Befürchtungen und Wahrnehmungen bestätigt. Uluru, der rote Felsenberg, in dem Naaneavargia viele Jahrtausende gefangen gewesen war, war für sie zur unbetretbaren Zone, zur Terra prohibita geworden. Die Buschtrommler und Heilstänzer hatten den Berg nicht nur von jeder in ihn eingeschossenen dunklen Kraft freigespült sondern die sowieso schon in ihm schlummernden Abweisungskräfte, die Ailanorar in ihm verankert hatte, um mindestens eine Zehnergröße verstärkt, sodass auch Träger dunkler Magie ihn nicht mehr ansteuern konnten. Die Schlangenmenschen waren nun ohne Führung, wusste sie. Sie mussten nur noch eingesammelt und dank des Wissens aus der australischen Heilerzunft kuriert werden. Doch von dem Gift und von den gelegten Eiern musste sie einige in Sicherheit bringen. Denn die Neugier der Forscherin trieb sie, nicht alles sofort zu vernichten, nur weil es für wen gefährlich geworden war.

Nachdem sie sich von ihrem beinahe tödlichen Landeversuch am Uluru erholt hatte flog sie auf ihrem Besen unsichtbar dorthin zurück, wo ihre Entomanthropen ihrer Anweisung gemäß weitere Schlangenmenschen auflasen und die über sechzig jahre alten Männer und Frauen töteten. Bisher hatte sich keiner von den australischen Ministeriumszauberern hier blicken lassen. So konnte sie ihre selbstgewählte Mission zu Ende bringen.

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Sana-Novodies-Krankenhaus für magische Krankheiten und Verletzungen, 29.09.2003, 04:30 Uhr Ortszeit

Drei Hexen in weißer Tracht trugen einen Mann durch die nur für Zaubererweltbürger passierbare Tür in das Foyer des australischen Krankenhauses. Sie legten den scheinbar toten Mann einfach vor die Rezeption hin, ohne was zu sagen. Die diensthabende Rezeptionistin betätigte unverzüglich den geheimen Kontakt für einen stillen Sicherheitsalarm. Da sagte eine der drei mit Kapuzen vermummten: "Wenn ihr nicht eure eigenen Patienten werden wollt lasst uns ohne Umstände wieder ziehen. Der hier gehörte zu den Skyllianri. Aber wir haben ihn geheilt. Er ist nur sehr, sehr stark unterkühlt. Erfolgreichen Tag noch." Da apparierten mehrere Sicherheitszauberer im Foyer. Doch die eine der drei weißgekleideten Hexen winkte mit einem silbergrauen Zauberstab. Unvermittelt bevölkerten dreißig weitere Hexen in Weiß das Foyer und schickten ein Gewitter aus blauen und grünen Blitzen durch den Raum. Noch ehe die Sicherheitszauberer die Illusionszauberei aufheben konnten gelang den drei Verkleideten die Flucht durch einen der Notausgänge und dann durch Disapparieren.

"Die sind voll dreist. Das waren garantiert diese Spinnenhexen, die mit ihren Riesenbrummern die Schlangenmenschen dezimiert haben", knurrte einer der Sicherheitsleute. Dann besah er sich den hereingetragenen Mann, einen Weißen, der nur in eine Decke gewickelt war. Sofort wurde er zur Untersuchung in ein Isolierzimmer gebracht und zur Sicherheit auf einem frei schwimmenden Luftbett abgelegt. Die von Bethesda Herbregis persönlich durchgeführte Untersuchung ergab, dass der Mann tatsächlich unter einer starken Unterkühlung litt, als sei er Stunden oder Tage lang in eisiger Kälte unterwegs gewesen. Bei der Untersuchung seines Körpers fand sich im Enddarm des Mannes eine verkleinerte Kupferrolle, in der wiederum luft- und wasserdicht verpackt drei aufgerollte Pergamentbögen steckten. Nachdem diese auf ihre eigentliche Größe zurückvergrößert worden waren konnten die Heiler von Sana Novodies nachlesen, dass der Mann ursprünglich Simon Waxman hieß, wohl einer der ersten neuen Schlangenmenschen gewesen war und durch eine massive Goldinfusion mittels in seine Arme und Beine gesteckter Nadeln restlos vom Schlangenmenschenagens gereinigt worden war. Er musste zweimal mit Herzstimulationszaubern behandelt werden. Doch jetzt, so die Verfasser des Berichtes, sei er vollständig von dem Gift frei und könne für weitere Befragungen durch das Zaubereiministerium vorbereitet werden.

"Nur, dass die ihm wohl auch das Gedächtnis verändert haben", knurrte Bethesda Herbregis. Eine Analyse der Körper- und Kopfbehaarung zeigte, dass der Mann wahrhaftig bis vor wenigen Tagen noch ein hartnäckiges Gift im Körper hatte. Eine genauere Untersuchung ergab, dass er wirklich unter dem Einfluss des Schlangenmenschengiftes gestanden hatte und durch die sehr gewagte Goldnadeln-Akkupunktur restlos davon befreit worden war. Die Hexenschwestern von der Schwarzen Spinne zeichneten für diesen Fall verantwortlich. Ihre Anführerin hatte auf Pergament Nummer drei geschrieben, dass der von ihr "behandelte" noch einmal Glück hatte, nicht in einem Pulk von Schlangenmenschen aufgegriffen worden zu sein. Ebenso habe er deshalb Glück gehabt, weil die höchste Schwester selbst erkannt habe, dass es auch ihr zu wissen nützte, wie die Vergiftungskette nach dem Erwachen der vier im Uluru gefangenen Schlangenmenschen entstanden war.

"Wir behalten ihn solange hier, bis wir wissen, mit wem er zusammen war und ob diese Aussagen sich mit Berichten aus der Muggelwelt decken", verfügte Bethesda Herbregis.

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Konferenzzimmer des Büros für friedliche Koexistenz im französischen Zaubereiministerium, 29.09.2003, 10:00 Uhr Ortszeit

Der Mirroir, die Temps und verschiedene andere Nachrichtenverbreiter der Zaubererwelt hatten es berichtet, dass auf dem australischen Kontinent eine spürbare Welle aus Erdmagie freigesetzt worden war, die die dortigen Tiere sichtlich irritiert hatte. Dann war über verschiedene schnelle Kanäle durchgedrungen, dass die Ureinwohner einen starken Zauber am Uluru gemacht hatten, der den Berg von allen dunklen Kräften freigespült hatte. Dabei seien auch die im Land umgehenden Schlangenmenschen orientierungslos geworden. Also war es das, was Julius gefühlt hatte. Er war froh, dass er zu diesem Zeitpunkt nicht auf dem australischen Kontinent gewesen war. Womöglich hätte ihn die freigesetzte Erdmagie derartig überwältigt, dass er die Besinnung verloren hätte.

"Das mit den Entomanthropen haben Sie auch gelesen, gehe ich von aus", sagte Nathalie Grandchapeau, als sie die bisherigen Tatsachen sortiert zusammengefasst hatte. "Wir haben also Gewissheit, dass jene, die sich die schwarze Spinne nennt, die Ungeheuer Sardonias nicht nur weiterkultiviert, sondern sie innerhalb von wenigen Stunden an jedem Ort der Welt einsetzen und ebenso heimlich von dort wieder abberufen kann. Sicher, die Schlangenmenschen waren eine sehr ernste Bedrohung. Ob sie diesmal endgültig von der Erde verschwunden sind wissen wir nicht. Doch zu wissen, dass Sardonias Entomanthropen immer noch existieren sollte uns Sorgen machen. Denn wenn diese Person findet, eine Gruppe von Feinden auslöschen zu müssen, stellen diese bedauernswerten wie gemeingefährlichen Geschöpfe einen beachtlichen Machtfaktor dar, auch gegen uns. Da sie nun davon ausgeht, dass wir ihr Treiben diskutieren, könnte ich mir vorstellen, dass sie demnächst irgendwem auf der Welt Forderungen stellen mag. Wir sollten uns darüber klarwerden, dass wir immer noch in sehr unsicheren Zeiten leben. Was für uns gilt betrifft auch die nichtmagischen Mitbürgerinnen und Mitbürger."

Nach der Konferenz, die im wesentlichen aus Faktensammlung und einer Diskussion über weitere Altlasten der Vorzeit bestanden hatte tauschte Julius ein paar E-Mails mit seiner Mutter aus. Sie hatte zusammen mit Millie und Florymont das grüne Lachaise-Haus in seiner Baumhausbeschaffenheit eingeweiht. Julius musste schmunzeln, als er las, dass er sicher den Akku des Satellitentelefons von 100 auf unter 10 bringen würde, wenn er wohl alle in den letzten sieben Monaten aufgelaufenen Nachrichten abhören würde.

Nachmittags konnte sich Julius sein neues elektronisches Fenster zur nichtmagischen Welt selbst ansehen. Neben einem modernen PC, der über einen sparsameren Lüfter verfügte, hatte Julius' Mutter noch ein kleines Radio mit Teleskopantenne und ein neues Satellitentelefon hingestellt, es aber über die Betreiberfirma hinbekommen, dass er damit die auf ihn angemeldete Nummer nutzen konnte. Julius hörte die Nachrichtenbox ab und sah erleichtert, dass es nur vier Nachrichten waren, zwei von Pina, die mit ihrer Mutter bei Melissa Whitesand ihre Rückkehr aus Hidden Grove gefeiert hatte und zwei von irgendwelchen Anbietern von Geldanlagemöglichkeiten. Julius war erleichtert, dass er keinen Anruf von seiner Tante Alison bekommen hatte. Doch konnte er wirklich beruhigt sein? Jedenfalls hatte er wieder seinen heißen Draht zur Welt, und sogar ein schnelleres Modem als zuletzt. Da das Baumhaus mit Feuerschutzelixieren imprägniert war mochte es diesmal ein wenig länger halten als der Gerätepilz auf dem Apfelhausgrundstück.

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Auf dem Landgut Jolly Jumbock 500 km westlich von Sydney, 02.10.2003, 21:00 Uhr Ortszeit

Diese kleine runde dame, die sich Gladia Silvergate genannt hatte, wollte haben, dass Amelia und Jonathan Rutherford bis auf weiteres in eine andere Stadt umzogen. Doch warum sollten sie das tun, wo sie bei Sydney ein herrschaftliches Landgut mit eigener Eukalyptusplantage und 1000 Quadratkilometer Weideland für Rinder und Schafe hatten, wo sogar eine betonierte Start- und Landebahn nebst bombensicherem Stahlbetonbunker für den Privatjet und zwei geländetaugliche Autos verfügbar waren? So hatten die Rutherfords, nachdem ihnen ihre hochbegabte Tochter Laura aus der Hazelwood-Akademie zurückgebracht worden war, ihren Wohnsitz aus der Stadt auf das Land verlegt. Laura, die nun absolut sicher wusste, dass sie keine Mutantin oder sonstige Absonderlichkeit war, sondern eine ganz echte Hexe, die wegen der ganz gefährlichen Sachen in ihrer Schule voll und ganz erwachte Zauberkräfte hatte, sollte bis zu den nächsten großen Ferien von zwei hochbezahlten Privatlehrern unterrichtet werden und dann, falls sie bis dahin nicht zu viel Unsinn mit ihren neuen Kräften angestellt hatte, auf die von Mrs. Silvergate vertretene Redrock-Akademie gehen. Zwar missfiel es Mrs. Rutherford, dass nun andere, die nicht minder merkwürdige Fähigkeiten wie ihre Tochter hatten, bestimmen wollten, was für diese gut und richtig war. Doch Mrs. Silvergate hatte einen lückenlosen Stammbaum beider Familien vorweisen können, den sie auch von jedem anderen Genialogen erstellen lassen konnten. Diese beiden Stammbäume, die in Laura vereint wurden, reichten zehn Generationen zurück. Dabei sollten angeblich in Jonathans und Amelias Ahnenlinie echte Zauberer gewesen sein, darunter ein echter Drachenhüter aus Südwales. Nachdem sie zumindest die Sache mit der von bösen Wesen belagerten Mädchenschule geschluckt hatten waren die Rutherfords mit ihrem Privatjet und fünf Mann Dienstpersonal nach Jolly Jumbock umgezogen. Jonathan Rutherford, der sich eigentlich nicht um Geld sorgen musste, hatte jedoch angefragt, ob der nötige Aufwand, vor allem die Diskretion der Dienerschaft, von wem auch immer erstattet würde. Darauf hatte ihm Mrs. Silvergate geantwortet, dass er diese Frage mit einem Vertreter der Handels- und Finanzabteilung eines angeblichen oder wahrhaftigen Zaubereiministeriums in Canberra ausdiskutieren möge. Bestenfalls würde er dann wohl einen Beutel Goldmünzen bekommen, die er entweder nur in der Sonnenstrahlstraße von Sydney in Australdollars umtauschen konnte. Schlimmstenfalls könnte das Ministerium beschließen, dass Laura in die Obhut von rein zaubererweltlichen Pflegeeltern gegeben würde und sie, also die leiblichen Eltern, jede Erinnerung an ihre einzige Tochter aus dem Gedächtnis gestrichen bekämen, sowie alle die, die sich ebenfalls an Laura erinnern konnten. Diese Aussicht reichte Amelia und Jonathan Rutherford, erst einmal in Deckung zu bleiben und abzuwarten, wie es weiterging.

Jetzt saßen die Rutherfords im hauseigenen Fernsehraum, der schon eher ein kleines Kino war. Ein Videoprojektor, der an einen Satellitenempfänger angeschlossen war, sowie für Augen unsichtbar unter der Decke verbaute Stereolautsprecher und ein hinter einer Wandverkleidung versteckter Basslautsprecher konnten bei heruntergelassener Leinwand jeden Fernsehabend zum Kinoabend machen. Der Projektor konnte auch mit einem Laptop verbunden werden, über den DVDs abgespielt werden konnten.

Mit der üblichen fanfarenartigen Titelmelodie und den Bildern aus dem Nachrichtenstudio begann die Hauptnachrichtensendung des Satellitensenders, den die Rutherfords am liebsten sahen. Eine dezent gekleidete Moderatorin begrüßte die Zuschauer innerhalb ganz Australiens und stellte ihre Kollegen von Sport und Wetter vor. Dann ging es um die Innenpolitik Australiens, vor allem aber auch darum, ob nach dem superheißen Sommer auf der Nordhalbkugel ein ähnlich hitzeträchtiger Sommer in Australien zu erwarten sei und wie die einzelnen Territorien sich darauf vorbereiten würden. Dann ging es um den Fortgang des Afghanistankrieges. Danach ging es um besondere Vorfälle. Hier horchten die Rutherfords besonders auf.

"Wie wir erst heute erfuhren kam es auf dem Gelände der hochexklusiven Rosemarie-Hazelwood-Akademie in den Tagen zwischen dem fünfzehnten und neunundzwanzigsten September zu einer Tragödie bisher ungeahnten Ausmaßes. In der für ausschließlich für Töchter aus hochbegüterten Familien eingerichteten Schule landete ein Kommando, dessen Ziel es war, die Mädchen als Geiseln zu nehmen und deren Eltern mit deren Leben zu erpressen. Die Regionalregierung von Südaustralien schaltete eine in solchen Fällen bereits erfolgreich tätige Unterhändlerin ein, die unmittelbar mit den Geiselnehmern verhandeln sollte. Da die Eltern sowie die Regierung nicht auf eine Lösegeldzahlung eingehen wollten galt es, die Geiselnehmer lange genug hinzuhalten, um ein Entsatzkommando mit Flüsterhubschraubern auf dem Schulgelände landen zu lassen. Leider verfügten die Geiselnehmer über Radargeräte und Boden-Luft-Raketen, so dass das Befreiungskommando an der Landung gehindert wurde. Zudem machten die Geiselnehmer, die nach Berichten der Augenzeugen in gruseliger Verkleidung als Echsenmenschen herumliefen, ihre Drohung wahr und töteten die jüngsten Schülerinnen, bevor das im Windschatten des Hubschraubereinsatzes angerückte Bodenkommando das Gelände stürmen und besetzen konnte. Dabei schafften es vier Geiselnehmer, sich selbst in die Luft zu sprengen und dabei zehn Einsatzkräfte mit sich in den Tod zu reißen. Die Überlebenden Lehrerinnen und Schülerinnen konnten in Sicherheit gebracht werden und befinden sich derzeit an geheimgehaltenen Orten zur psychologischen Aufarbeitung der Ereignisse. Ob und wann die Schule wiedereröffnen kann liegt nun bei der südaustralischen Schulbehörde, sowie den Eltern der dort unterrichteten Mädchen. Wer die Geiselnehmer waren und ob sie im Zusammenhang mit zwei verheerenden Bränden in Sydney und Perth stehen wurde uns nicht mitgeteilt", sagte die Moderatorin, während hinter ihr Bilder der Schulgebäude und der Direktrice Hazelwood eingeblendet wurden.

"Tja, Laura, da haben wir es. Ihr wurdet von Terroristen heimgesucht, die alle als Geiseln nehmen wollten", sagte Jonathan Rutherford. Amelia starrte auf die Leinwand, auf die die Fernsehbilder projiziert wurden. "Das mussten die so erzählen, Mum, weil ja keiner das mit den Schlangenmenschen geglaubt hätte", sagte Laura mit einer für ihr Alter vorauseilenden Erkenntnis. Jonathan Rutherford meinte dazu: "Wenn ich das nicht selbst gesehen hätte, wie diese kleine runde Lady Silvergate mit ihrem Zauberstab aus meinen Freizeitsocken quietschlebendige Meerschweinchen gemacht hätte und nach ihrer Ansprache mit leisem Knall ins Nichts verschwunden ist würde ich das mit der Zaubererwelt für eine perfide Veralberung halten, Laura. Aber jetzt wissen wir es halt besser als der Rest der Welt."

"Ob Professor Watson da wieder anfängt, wenn die die Schule wieder aufmachen?" fragte Laura ihre Mutter, die immer noch damit haderte, dass ihre kleine Laura nicht in der wohlbehüteten und strengen Hazelwood-Schule lernen sollte. "Wenn stimmt, was diese Silvergate behauptet hat, dann können die jedem vorgaukeln, etwas erlebtes ganz anders erlebt zu haben. Womöglich kann die junge Dame dann auch wieder in Hazelwood unterrichten, wenn die Eltern der anderen Mädchen der Schulleitung ihr Vertrauen aussprechen."

"Ja, wird wohl so sein, Amelia, Laura", grummelte Jonathan Hazelwood. Dass er an die vorabbezahlten 50.000 Australdollar dachte, die er für das laufende Schuljahr bezahlt hatte, konnten sich Amelia und Laura denken, wagten aber nicht, ihn darauf anzusprechen.

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Residenz der australischen Heilerin Aurora Dawn bei Sydney, 05.10.2003, 23:30 Uhr Ortszeit

Mittlerweile hatten sich beide daran gewöhnt, dass Julius mit dem Intrakulum zwischen seinem und ihrem Haus überwechseln konnte, ohne dass die Einreisebehörden des Zaubereiministeriums davon was mitbekamen. Diesmal brachte Julius eine unter seinem Umhang versteckte Ledertasche mit Rauminhaltsbezauberung mit, der er hundert dünne Arm- oder Fußbänder entnahm.

"Das sind die von Ministerin Ventvit unter Geheimstufe S8 genehmigten Antiportschlüssel für alle unverheirateten Heilerinnen und Heiler oder Zaubereiministeriumsmitarbeiter", flüsterte Julius seiner australischen Bekannten und ersten Helferin auf seinem Weg in die Zaubererwelt zu. "Ihr könnt die Bänder um eure Arme legen oder um die Beine. Sie haben einen Körperspeicherverschluss, dass nur die sie wieder abnehmen können, die sie auch anlegen."

"Und was ist mit Diebstahlschutz?" fragte Aurora. Julius erwähnte, dass jeder Benutzer das für sie oder ihn ausgegebene Antiportschlüsselbändchen eigenständig mit dem Mihisolus-Zauber belegen konnte. Der ginge bei der bisher aufgewandten Bezauberung noch. So konnte Aurora Dawn als eine der ersten in Australien ein wirksames Antiportschlüsselband um ihr linkes Fußgelenk binden und tatsächlich mit dem Mihisolus-Zauber diebstahlsicher bezaubern, dass nur sie es abnehmen und damit hantieren konnte. Auch wenn sie beide hier für sich waren mentiloquierte sie Julius zu: "Jedenfalls vielen Dank, dass du Florymont gezeigt hast, wie diese Schutzzauber gehen. Ich habe in den letzten Tagen immer wider nach oben gesehen, ob nicht auch über mir ein grüner Fangsack herunterfällt. Aber offenbar bin ich den Verbrechern von Vita Magica da wo ich bin und mit dem was ich mache noch zu wichtig, als dass sie mich in ihr obskures Fortpflanzungskarussell stecken wollen. Aber darauf verlassen möchte ich mich nicht."

"Mir ist jetzt auch wohler, dass ich weiß, dass du nicht von diesen Gangstern eingesackt werden kannst, Aurora. Die Legende, woher du die Antiportschlüssel hast steht ja."

"Ja, heimliche Boten, die auf unterschiedlichen Wegen die Sano und die Zunftverwaltung angesteuert und die Bänder verteilt haben", erwiderte Aurora Dawn rein mentiloquistisch.

"Ich bin dann wieder weg. Feierst du Halloween mit der Kleinen?" fragte er noch.

"Wir hatten hier in den letzten Wochen wohl mehr Grusel als nötig für drei Halloweenfeste. Hoffentlich sehen das auch die üblichen Scherzbolde ein, die bei uns an Halloween immer irgendwelche Gemeinheiten unters Volk bringen", erwiderte Aurora Dawn. Julius nickte. Dann umarmte er die bei Sydney niedergelassene Heilerin und unverhofft zur Mutter gewordene Brieffreundin und Weggefährtin und intrakulierte sich zurück in das Bild mit ihrem lebenden Vollporträt. Dieses trug ihn dann in die bei ihm im Apfelhaus hängende kopie zurück.

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In einer Höhle in den Rocky Mountains, 04.10.2003, 23:00 Uhr Ortszeit

Ihr Meldezauber hatte angeschlagen. Die zwölf von ihr gesicherten Eier echter Schlangenmenschen bewegten sich und pulsierten. Anthelia fühlte es sofort, dass die darin ausgereiften Schlüpfflinge endlich herauskommen wollten. Sie spürte aber auch, dass sie einen unbändigen Hunger hatten. Worthafte Gedanken wie bei Menschen fühlte sie nicht. Natürlich. Das waren ja erst Jungtiere. Doch ihr wurde klar, wie gefährlich diese Jungtiere ihr und allen anderen werden konnten.

Erfahrungen mit gefährlichen Wesen oder ihr Sinn für fremde Gedanken und Gefühle trieben sie, die Höhle der abgelegten Eier sofort zu verlassen. Sie disapparierte und landete auf dem Gipfel des Berges, unter dem sie das erbeutete Gelege versteckt hatte. Sie setzte eine Brille mit silbernen Rändern und dicken Gläsern auf und dachte "Oculi remoti vidento!"

Jetzt sah es für sie so aus, als stehe sie selbst wieder in der Bruthöhle. Dank einer Modifikation ihres Fernbeobachtungszaubers konnte sie die in den immer mehr pulsierenden Eierschalen steckenden Schlüpflinge als grüne Leuchterscheinungen erkennen. Dann zerbarsten die ersten Eier. Dies war wie ein Signalruf an den Rest des Geleges. Die Eierschalen flogen als eine einzige Wolke umher. Mit einem kalten Schauer erkannte Anthelia, wie überlebenswichtig es gewesen war, noch vor dem ersten Schlüpfen in Sicherheit appariert zu sein. Denn sofort begannen die Geschlüpften, nach fressbarem zu suchen. Da sie nur ihre Artgenossen witterten oder sahen, wurde es innerhalb von nur zehn Sekunden ein einziges wildes, blutiges Treiben aus fressen und gefressen werden. Nach nur einer weiteren Minute jagten sich nur noch vier erheblich größer gewordene Schlüpflinge durch die Höhlen unter dem berg. Gut, dass die Oberste der Spinnenschwestern alle Zugänge mit gehärteten Felsbrocken verschlossen hatte. Denn ihr war klar, dass die Brut der Schlangenmenschen unter gar keinen Umständen ins Freie gelangen durfte. Was da geschlüpft war war der Inbegriff erbarmungsloser Ungeheuer, die weder Bruder noch Schwester kannten und alles vertilgen würden, was sie wachsen ließ. Nicht auszudenken, wenn hunderte oder tausende von denen ungesichert ausgeschlüpft wären. Es hätte das Ende allen höheren Lebens auf der Erde bedeuten können.

"Dann weiß ich das jetzt auch", dachte Anthelia/Naaneavargia und zog ein kleines Kupferstück hervor. Daran hielt sie ihren Zauberstab und sprach "Letzter Vorhang!" Das Kupferstück vibrierte. Anthelia ließ es zu Boden fallen und entfernte sich einige Meter weiter. Dann verglühte die Kupfermünze. Dafür sah Anthelia durch die wieder aufgesetzte Fernbeobachtungsbrille, wie aus den Zugängen zur Bruthöhle nachtschwarze Flammen schlugen. Eine davon erwischte einen der zwischen Jäger und Gejagten pendelnden Schlüpflinge. Dieser loderte sofort in diesem dunklen Feuer auf. Anthelia verschloss ihren Geist. Sie wusste, was dort unten nun geschah. Sie wollte die letzten geistigen Äußerungen dieser Wesen nicht mehr mitbekommen.

Das dunkle Feuer dehnte sich blitzartig in alle Richtungen aus. Wo es Magie, Metall oder tierisches Leben berührte vermehrte es sich. So wurden die vier verbliebenen Schlüpflinge zu Brandverstärkern und vergingen genauso wie die in den zugängen zur Bruthöhle angebrachten Fernbeobachtungsartefakte. Für Anthelia äußerte sich das in einem kurzen, hellgrauen Flimmern. Dann sah sie nur die milchigtrüben Brillengläser. Sie fühlte, wie sich weiter unter ihr die zerstörerische Zauberkraft totlief. Dabei hatte sie wohl einiges an Metallspuren aus den Wänden gebrannt. Denn irgendwie wirkten die Höhlen nicht mehr so stabil wie zuvor. Mit einem letzten kurzen Ausstoß von Magie verlosch das dunkle Feuer, die nach dem Tausendsonnenfeuer gefährlichste und weitreichendste Zerstörungsgewalt, die magisch begabte Menschen jemals entdeckt und weiterentwickelt hatten. Der letzte Vorhang im Kapitel der Schlangenmenschen war gefallen. Anthelia würde nun zurückkehren und die erbeuteten Giftvorräte vernichten, damit nicht doch noch aus Versehen jemand diese Wesen in die Welt setzte, schlimmstenfalls sie selbst. Dass die Tränen der Ewigkeit in ihrem Körper sie vor dem Gift bewahrt hätten, wohl auch, weil sie unverwandelbar war, hatte sie schon herausgefunden. Das und die Ergebnisse der Versuche vor fünf bis sechs Jahren reichten aus, um von weiteren Versuchen abzusehen. Allerdings wollte sie nicht ausschließen, dass irgendwo in Australien, ja vielleicht auch schon anderswo auf der Welt, solche Heiler und Heilerinnen, die es all zu gut meinten, mit gesicherten Giftproben herumexperimentierten. Doch das sollten die dann selber ausbaden.

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Vor einem kleinen Krankenhaus am Stadtrand von Adelaide, 12.10.2003, 23:20 Uhr Ortszeit

Die zwei in dunkle Kleidung gehüllten Frauen traten von verschiedenen Seiten an die Nebentür des Hauses heran, in dem ihres Wissens nach vor allem Schwangere und junge Mütter mit ihren Neugeborenen betreut und falls nötig behandelt wurden. Eine der beiden Frauen trug einen großen Weidenkorb am linken Arm.

"Und Sie sind sicher, dass dieser Zugang unüberwacht ist, Edwina?" fragte die Frau mit dem Weidenkorb.

"Ich bin schon seit einer halben Stunde hier und habe alle uns bekannten Aufspürmittel für Abhör- und Ausspähvorrichtungen benutzt. Kein elektrisches Überwachungsauge und auch keine mit Lichtstrahlunterbrechungsauslösung versehene Annäherungsweitermeldung. Die einzige Alarmvorrichtung steckt in diesem Fach dort neben der Tür." Die Kollegin mit dem Korb betrachtete die in derselben Farbe wie die Wand gehaltene Klappe, die gut und gerne siebzig Zentimeter breit war. "Wenn die Klappe aufgestoßen und nach mehr als zwei Sekunden wieder geschlossen wird erfolgt ein leises Signal im Inneren dieses Mutter-Kind-Hauses. Dann sollten wir schnell unsere Aufgabe erledigen und bestenfalls ganz schnell verschwinden, bevor von denen dort drinnen wer nachsieht, wer die Klappe betätigt hat", flüsterte Edwina Sandgold. Ihre Kollegin mit dem Korb, Adelia Woodbridge, nickte und stellte den großen Korb ab.

Während Edwina die Umgebung unter Beobachtung hielt öffnete Adelia den Korb und griff mit beiden Händen hinein. Behutsam nahm sie den Inhalt aus dem Korb. Sie sah noch einmal, was sie hier abliefern sollte. "Hoffentlich hast du ein schöneres und interessanteres Leben als bisher", sagte Adelia ein wenig wehmütig. Dann trat sie an die bezeichnete Klappe in der Wand und drückte diese mit den Unterarmen nach innen auf. Ab jetzt lief wohl die Zeit, bis jemand nachsehen kam. Schnell schob sie den warmen, langsam pulsierenden Körper eines scheinbar gerade erst wenige Tage alten Säuglings in das geräumige, auf einer angenehmen Temperatur gehaltene Fach hinein, tastete sich vor bis zu einer kleinen vorgewärmten Matratze und legte das aus dem Korb genommene Wesen darauf ab. Schnell zog sie beide Hände zurück und ließ die Klappe wieder zufallen.

Edwina hatte inzwischen den Korb ergriffen. "Spätestens in einer Minute dürften sie sie finden", sagte Edwina und drehte sich mit dem Korb in der Linkenund ihrem Zauberstab in der Rechten auf der Stelle. Mit leisem Plopp verschwand sie. Adelia sah noch einmal auf die wieder geschlossene Klappe. So einfach war das also für die Muggelfrauen, die ihre ungewollten Babys nicht behalten wollten, dachte sie. Dann besann sie sich, dass sie ja sonst nur die Wahl gehabt hätten, das nun abgegebene Wesen zu töten und eine echte Leiche zu platzieren.

Adelia lauschte einen kurzen Moment. Natürlich gab das von ihr in das Fach hinter der Klappe abgelegte Baby keinen Laut von sich. Es würde erst in vier Stunden aufwachen, wenn der schwache, nicht mit den Mitteln der unmagischen Arzneikunde nachweisbare Schlaftrank seine Wirkung verloren haben würde. Wie Edwina drehte sich Adelia Woodbridge mit hochgestrecktem Zauberstab auf der Stelle und verschwand ebenso lautlos.

Um 23:23 Uhr öffnete die diensthabende Nachtschwester der Säuglingsstation auf der Innenseite des Hauses eine andere Klappe und sah im hellen Flackerlicht der Neonbeleuchtung hinein. Sie erkannte ein offenbar tief schlafendes Baby in einem geblümten Strampelanzug, an dem einer dieser kleinen, in letzter Zeit so oft benutzten Klebezettel angepappt war. Die Pflegerin verzog nur kurz das Gesicht, als sie in das Mikrofon einer Gegensprechanlage sprach: "Dr. Livingston, wir haben wieder ein unerwünschtes Kind zugestellt bekommen."

"Geschlecht und ungefähres Alter des Findlings?" wurde die Pflegerin von einer Frauenstimme aus dem Lautsprecher gefragt. "Der Kleidung nach ein Mädchen, kann aber bei genauer Untersuchung festgestellt werden. Alter ungefähr vier bis sieben Tage, wurde also offenbar nicht gleich nach der Geburt hier abgegeben."

"Was für Kleidung trägt das Mädchen?" wurde die Pflegerin gefragt. "Buntgeblümter Strampelanzug mittlerer Preislage, also nicht wie beim letzten Fund, wo eine zurechtgeschnittene Jutetasche herhalten musste. Auf dem Brustteil klebt ein gelber Haftzettel mit aus Druckbuchstaben bestehendem Text: "Dies ist Elizabeth, die fleischgewordene Erinnerung an meine größte Dummheit. Bitte Sorgen Sie für sie!""

"Bitte bringen Sie das Kind zur Erstuntersuchung in Raum drei! Ich bin gleich dort", befahl die Stimme aus dem Lautsprecher der diensthabenden Nachtschwester. Diese bestätigte den Erhalt der Anweisung und trug den ihrem Krankenhaus übergebenen Findling in den Untersuchungsraum Nummer drei.

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Büro der Zaubereiministerin Australiens, 12.10.2003, 23:30 Uhr Ortszeit

Die Ministerin, so wie der Leiter des Büros für friedliche Koexistenz zwischen Menschen mit und ohne Magie nickten Adelia Woodbridges kurzen Bericht ab. Da ihre Kollegin Edwina Sandgold die Ausführung der heimlichen Anweisung bestätigte notierte sich Nigel Bridgegate die Ausführung des Auftrages. "Das ist dann Nummer dreiunddreißig", sagte Bridgegate mit einem gewissen Seufzer.

"Ja, und eine von zweitausend, die der Schlangenmenschenausbreitung zum Opfer fielen und nicht mehr in ihr altes Leben zurückkehren konnten", bemerkte die Ministerin dazu. Immerhin würden australische Muggelweltpolizisten morgen früh in der Nähe von Perth eine halb im Waldboden verbuddelte Leiche finden und diese als Elizabeth Thornhill identifizieren. Im Grunde war es viel zu einfach, einen bis vor wenigen Wochen noch lebenden Menschen mal eben verschwinden oder für tot erklären zu lassen, dachte die Ministerin. Doch in Fällen wie diesem mussten die nichtmagischen Leute getäuscht werden. Sie beruhigte ihr Gewissen damit, dass die echte Lissy Thornhill zumindest mit ihrem Vornamen ein neues Leben anfangen konnte und dass es für ihre Angehörigen und Freunde zwar traurig war, aber immer noch eine gewisse Beruhigung war, zu wissen, was aus ihrer verschwundenen Angehörigen oder Freundin geworden war.

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Australisches Zaubereiministerium, 13.10.2003, 15:20 Uhr Ortszeit

Viele der hier zusammengekommenen Rundfunk- und Zeitungsreporter waren wohl zum ersten mal in Australien. Doch die weltweite Einladung des australischen Zaubereiministeriums, näheres zu einer soeben noch abgewendeten weltweiten Katastrophe zu erfahren, hatte sie alle im großen Versammlungsraum im Zaubereiministerium zusammengebracht.

Das Getuschel ebbte ab, als Ginger Fleetwood die versammelten Nachrichtenvertreter aus mehreren Ländern begrüßte und die Einleitung sprach. Es ging um eine für alle wichtige und auch erfreuliche Bekanntmachung, die Laura Morehead von der Heilzunft und die Zaubereiministerin verkünden wollten. Dass Ginger ein wenig angespannt wirkte schoben die meisten Anwesenden auf die Anzahl der interessierten Zuhörer. Nur Linda Knowles von der US-amerikanischen Zeitung "Stimme des Westwindes" konnte hören, was wortwörtlich in Ginger vorging. Deshalb lächelte sie auch, als Ginger Fleetwood nach Anmoderation der Ministerin persönlich den Raum verließ. Sie stupste ihren Sitznachbarn an, den mit einer rotblonden Igelfrisur verzierten Gilbert Latierre.

"Ich bitte unsere großartige Pressesprecherin für einige Zeit zu entschuldigen. Doch sie sind ja alle hergekommen, um zu erfahren, was wir, Heilzunftsprecherin Laura Morehead und ich, Ihnen wichtiges mitzuteilen haben", begann eine sehr erleichtert aussehende Latona Rockridge zu sprechen. Dann beschrieb sie in einfachen Sätzen, was seit dem wohl 31. August diesen Jahres in Australien vorgefallen war, warum das Ministerium die Angelegenheit zunächst geheimhalten musste und wie am Ende die gemeinsamen Anstrengungen von europäischstämmigen und aboriginalen Zauberkundigen gegen die drohende Schlangenmenscheninvasion, die Großheilerin Morehead eher als drohende Pandemie betrachtete, zum vollen Erfolg geführt hatten. Sie erwähnte, dass der Herd der Ausbreitung, vier im Uluru gefangene Schlangenmenschen, durch ein Reinigungsritual in Verbindung mit den im Uluru schon vorhandenen Grundkräften beseitigt werden konnte. die von diesen vier Schlangenmenschen vergifteten Wissenschaftler und andere Opfer seien in den Tagen nach der großen Reinigung Dank der Aufspürvorrichtungen für Befallene gefunden und in Gewahrsam genommen worden. Beinahe hätten die verfügbaren Unterbringungsmöglichkeiten auf Flüssen, Seen oder dem Ozean nicht mehr ausgereicht. Einige überbesorgte Ministeriumsbeamten hatten daraufhin angedeutet, die nicht zu behandelnden Schlangenmenschopfer zu töten, was fast einen vollständigen und wohl sehr lange ireparablen Bruch mit der Heilerzunft verursacht hätte. Hierzu wollte sich die Heilzunftsprecherin gleich noch äußern. Jedenfalls habe es keine weiteren Befallenen mehr gegeben, so dass es insgesamt "nur" bei 12.000 Befallenen geblieben wäre, von denen bedauerlicherweise 2000 unter dem Einfluss der Vergiftung gestorben seien, davon die meisten durch die Einmischung einer ausländischen Gruppierung, die wohl keine Skrupel besaß, denkende Wesen zu töten, wenn sie fand, dass diese zur allgemeinen Gefahr geworden wären. "Ich bedanke mich an dieser Stelle bei allen Ministeriumsbeamten, die mithalfen, dass diese unliebsame angelegenheit doch noch ohne große Erschütterung der Geheimhaltung vor Nichtmagiern und zum Schutze aller Mitbürgerinnen und Mitbürger mit und ohne Zauberkräfte behoben werden konnte", setzte die Ministerin zum Schlussspurt ihrer Erklärung an und wartete den dafür aufbrandenden Beifall ab. Dann sah sie Laura Morehead an und sagte: "Wir gehen sehr zuversichtlich davon aus, dass das Kapitel der vergessenen Vier, wie sie Mr. Peppermill am 23. September bezeichnete, bis zum fünften November abgeschlossen sein wird. Bis dahin wird, so Großheilerin Morehead, die Heilbehandlung der Befallenen andauern. Näheres dazu darf und möchte Sie Ihnen allen nun selbst erzählen. Ich bedanke mich bei den Vertretern der australischen Nachrichtenverbreiter für die nach anfänglicher Verstimmtheit aufgebrachte Geduld und Mithilfe bei der Suche nach den umherirrenden Schlangenmenschen. Damit übergebe ich das Wort an Großheilerin Dr. Laura Morehead." Applaus brandete durch den Pressesaal. Fotografen nutzten die Gelegenheit, die Ministerin und die Großheilerin zusammen aufzunehmen. Dann zog sich die Ministerin zu ihren Abteilungsleitern zurück.

"Ladies and Gentlemen, Messieursdames, Eine Vergiftung ist eine Erkrankung. Demzufolge ist alles, was sie im Körper und Geist des oder der davon betroffenen bewirkt nicht grundsetzlich als Verbrechen zu werten, auf das die Todesstrafe steht, zumal wir in Australien wie in den meisten anderen westlich zivilisierten Zauberergemeinden schon lange keine Todesstrafe mehr im Gesetzbuch stehen haben. Daher ging es mir und meinen Kolleginnen und Kollegen von Anfang an darum, die Ausbreitung der Verwandlungsvergiftung einzudämmen und die davon betroffenen Männer, Frauen und Halbwüchsigen davon abzuhalten, weitere Menschen anzustecken. Zum zweiten ging es darum, ein wirksames Heilmittel gegen die Vergiftung zu finden und dieses in benötigter Menge herzustellen. Hierbei galt anders als bei der von Ministerin Rockridge erwähnten Aktion jener Gruppierung, die eine Hybridform von Insekten und Menschen nachzüchtete, die Befallenen nicht durch die Versuche selbst sterben zu lassen, wo es sich vermeiden ließ. Soweit zur von mir und meinen Kollegen vertretenen Grundhaltung in dieser Angelegenheit", eröffnete Laura Morehead ihre eigene Stellungnahme. Hinter ihr wurden Bilder von Skyllianri gezeigt, darunter das einer einfarbig gelben Schlangenfrau und eines einfarbig nachtschwarzen Mädchens, dass mit zwei anderen weiblichen Schlangenmenschen am 29. September in der Nähe von Melbourne gerade noch rechtzeitig vor eintreffenden Insektenmenschen aufgegriffen werden konnte. Sie erwähnte auch, dass Dank ausländischer Unterstützung die Natur des Giftes erforscht werden konnte und ein zunächst das isolierte Gift zersetzendes Mittel gefunden wurde, und zwar reines, unbezaubertes Gold. Danach galt es, eine Heilbehandlung zu entwickeln, die ähnlich wie die Wirkung von Halbriesenblut vor fünf Jahren einen Vergifteten vollständig und ohne Rückfallgefahr zurückzuverwandeln vermochte. Das Gold ein natürlicher Gegenspieler zum Schlangenmenschengift sei sei darauf zurückzuführen, dass in ihm verstofflichte Feuerelementarkraft stecke, ähnlich wie sie im von französischen und Russischen Kollegen beigebrachten Riesenblutproben nachgewiesen werden konnte. Gemäß dem Grundsatz, dass die Dosis das Gift mache musste erst herausgefunden werden, wie die Betroffenen oder besser deren Blut mit reinem Gold in Berührung gebracht werden durften und für wie lange genau. Am Ende seien die Heilerinnen und Heiler auf eine Methode gestoßen, die dem ähnelte, was in der nichtmagischen Heilbehandlung Blutwäsche oder Dialyse genannt wurde. Damit sei es möglich geworden, die Patienten auf schonende Weise immer mehr vom eingeflößten Gift zu befreien, wobei auch winzige Anteile des von den australischen Heilern entwickelten Breitbandgegengiftes AD 999 eine förderliche Wirkung gezeigt hatten. Somit wurden nun die in Gewahrsam genommenen Schlangenmenschen auf den Quarantäneflößen und -schiffen über mehrere Tage an eine Vorrichtung angeschlossen, die ihr Blut durch Filterung durch feinmaschige Goldnetze vom Gift reinigte und gleichzeitig die körperlichen Auswirkungen behob. Zwar stünden im Moment nur zweihundert solcher Vorrichtungen bereit und die feinmaschigen Goldfilter müssten jeden Tag ersetzt werden, da das verwendete Edelmetall mit der im Gift wirkenden Magie gesättigt wurde, doch wie die Ministerin erwähnte hofften die Heilerinnen und Heiler Australiens, alle Betroffenen bis zum fünften November Giftfrei und Rückfallfrei zu bekommen. Sie erwähnte in dem Zusammenhang auch, dass sie den Kobolden von Gringotts Sydney danke, dass diese der Heilzunft ohne Aufforderung mehrere Tonnen Rohgold zur Verfügung gestellt hätten und auch bei der Herstellung der filigranen Filtereinsetze mithalfen, ohne dafür einen Lohn zu beanspruchen. Zwar gebe es derzeit keine Weiterverwendung der Blutpumpvorrichtungen nach Abschluss der Heilbehandlung. Doch schon jetzt müssten sie und ihre Kollegen zugeben, dass die in Ermangelung von Zauberkraft gemachten Erfindungen der Muggelweltheilkundigen doch eine gewisse Anregung bei ähnlichen Vorfällen böten und sie selbst ihre vorherige Einstellung zur Unzulänglichkeit der magielosen Heilkunst aufgegeben habe und jedem hier empfehle, ebenfalls die eigenen Vorstellungen und Vorurteile im Bezug zur magielosen Welt zu überprüfen. In dem Zusammenhang erwähnte sie dann auch, dass eine wirkliche Pandemie wohl nur deshalb verhindert werden konnte, weil die unter den Städten der Nichtmagier verlaufenden Versorgungsleitungen die Schlangenmenschen daran gehindert hätten, gezielt in von Nichtmagiern besiedelten Städten zu wüten. "Dann hätten wir innerhalb von einer Woche mehrere Millionen Schlangenmenschen in Australien gehabt", bemerkte sie dazu und bedauerte, dass die Geheimhaltungsklauseln verböten, den sogenannten Muggeln für diese Barriere gegen die Schlangenmenschenausbreitung zu danken. Einige im Saal, vor allem jene, die im Schulhaus Shadelake gewohnt hatten, rümpften bei dieser indirekten Belehrung die Nase. Deshalb sagte Laura Morehead noch: "Ich zitiere meine junge Kollegin Monica Riddley: "Nicht alles was die Muggel sich zusammenbrauen und zusammenbauen ist Drachenmist", Zitat Ende. Heilerin Riddley bewohnte zu ihrer Schulzeit in Redrock das Haus Shadelake, das sich selbst zu gute Hält, ausdrücklich zauberische Errungenschaften und Erbanlagen zu schützen."

Abschließend dankte sie allen Kolleginnen und Kollegen, die in vollendeter Eintracht mitgewirkt hatten, dass die neue Schlangenmenschenausbreitung rechtzeitig eingedämmt werden konnte und die Betroffenen bald schon wieder ihr eigenes Leben fortsetzen konnten, wenn auch mit entsprechend korrigierten Erinnerungen.

Nach Laura Moreheads Erläuterung war die Befragungsrunde. Tharalkoo Flatfoot erteilte den Fragenden das Wort, da Ginger Fleetwood bisher nicht wieder zurückgekehrt war.

Auf die Frage nach der Internatsschule bei Port Lincoln erwähnte Nigel Bridgegate vom Muggelkontaktbüro, dass die betreffenden Lehrerinnen dahingehend "informiert" würden, dass sie die halbwüchsigen noch rechtzeitig vom Gelände geschafft hätten. Was die beim ersten Ausbruchsversuch regelrecht verheizten Mädchen anging so griff hier die Generalanweisung: "Wessen Leben durch Magie beendet wurde, ohne eine glaubhafte nichtmagische Erklärung zu benennen, dessen Leben hat leider auch nicht stattgefunden. Eltern und Verwandte werden seit diesem Vorfall bereits von meiner Abteilung und der Strafverfolgungs- und Zauberwesenabteilung entsprechend eingestimmt."

"Was ist mit diesem Mädchen, dass sich als Hexe erwisen hat?" wollte eine Reporterin des Melbourner Zauberbotens wissen. "Ihre Eltern und Sie wurden von der Ausbildungsabteilung dazu bewogen, in eine andere Stadt zu ziehen. Dass das Mädchen schon mit zehn auf eine höhere Schule geschickt wurde erachten die Kollegen von der Ausbildungsabteilung als Verwaltungspanne und erarbeiten eine entsprechende Änderung der Kontaktaufnahme- und Einführungsbestimmungen. Womöglich wird diese Novelle dann auch in anderen Zaubereiministerien eingeführt, da es ja doch einige Jungen und Mädchen gibt, die eine ihrem Lebensalter vorauseilende Intelligenz entwickeln und deshalb schon vor den üblichen Zeiten auf höhere Schulen geschickt werden können", sagte Bridgegate und nickte dem Kollegen von der Ausbildungsabteilung zu, der dankbar zurückblickte, weil er so um eine direkte Stellungnahme herumkam.

"Noch einmal zu den Insektenmenschen. Wir wissen, dass die Hexenschwesternschaft der schwarzen Spinne diese Wesen eingesetzt hat. Konnten Sie herausfinden, wann und wie diese Wesen ins Land gelangten und vor allem, wo sie nun abgeblieben sind?" fragte Gilbert Latierre.

"Da müssen Sie wohl riskieren, sich dem Wohlwollen jener Hexenschwesternschaft auszuliefern, um diese Fragen zu klären", grummelte McBane und gab damit sehr unwillig zu, dass seine Behörde nicht herausgefunden hatte, wann und wie die Entomanthropen ins Land gekommen waren. Auch konnte er nicht beantworten, was für ein flirrendes Licht diese Wesen benutzt hatten, um die Schlangenmenschen an der Flucht zu hindern, wie es einige Zeugen mitbekommen hatten.

"Meine Abteilung und alle anderen mit magischen Neuerungen befassten Abteilungen arbeiten daran, all das herauszufinden. Ob und was wir dann dazu öffentlich mitteilen können oder dürfen unterliegt den entsprechenden Dienstvorschriften", sagte McBane noch.

Weitere Fragen drehten sich um den aufgewandten Goldwert und die Arbeitsstunden und ob die australischen Zauberer und Hexen eine Abgabenerhöhung zu erwarten hätten. Das konnte Finanzabteilungsleiter Bathurst zu seiner eigenen großen Erleichterung ausschließen, da der Notfallfond des Ministeriums den Aufwand hatte ausgleichen können. Ebenso wurde noch nach weiteren Hinterlassenschaften aus der Vorzeit gefragt, ob die Schulbücher im Bezug auf Atlantis und andere vorägyptischen Reiche umgeschrieben werden müssten und ob die Schlangenmenschenaffäre trotz ihrer schlimmen Auswirkungen auch zur Bekämpfung anderer magischer Seuchen beitragen könne. Hierzu äußerte sich Laura Morehead, dass die vage Hoffnung, auch Vampirismus zu behandeln oder Werwölfe weit nach dem 5-Minuten-Zeitfenster zu kurieren bis auf weiteres unerfüllt bliebe.

Ganz zum Schluss winkte die Ministerin den Sprecher der Zauberkundigen Ureinwohner Australiens Quinlahalla zu sich heran und verkündete, dass sie und er eine neue, gedeihliche Übereinkunft getroffen hätten, was auch hieß, dass die von den Ureinwohnern als heilig oder unbetretbar erachteten Landstriche oder Naturgebilde gegen auf besen Fliegende oder apparierende Hexen und Zauberer abgesichert wurden und dass Quinlahalla und drei von ihm allein bestimmte Zauberkundige beiderlei Geschlechts zu ordentlichen Mitgliedern im Rat für landesweite Zaubereiverwaltung berufen wurden und bei bestimmten Entscheidungen sogar Vetorecht besaßen. "Es hat sich erwiesen, dass nur im Zusammenspiel des traditionellen und des Fortschrittlichen die Lösungen für alle gemeinsam betreffenden Bedrohungen gefunden werden können, vor allem dann, wenn die Gefahrenquellen aus von uns als graue Vorzeit bezeichneten Epochen stammen", sagte die Ministerin. Mit diesem Schlusswort endete die Pressekonferenz zur Bewältigung der Schlangenmenschenepidemie.

Während die Reporterinnen und Reporter den Pressesaal verließen hakte sich Linda Knowles bei Gilbert Latierre einund fragte ihn, ob er mit ihr kurz das Zentrum der ganzen Sache, den Sandsteinberg Uluru besuchen wolle, wo sie schon mal hier waren. Gilbert erwähnte, dass er ja noch einen Tag in Australien bleiben wolle, um mit den hier lebenden fernen Verwandten der Latierresippe Interviews zu führen.

So reisten die beiden durch die Flohpulverkamine in den Zaubererweltpub zum wirbelnden Wombat in Alice Springs. Von da aus flogen sie auf Lindas Bronco Millennium weit genug über dem Land dahin zum in der Sonne leuchtenden Uluru. Als sie nur noch zwei Kilometer von ihm entfernt waren erschien über dem Gipfel des Berges eine himmelblaue, sich beharrlich um die Senkrechtachse drehende Leuchtschrift, die von unten her wohl im üblichen Himmelblau verschwand:

LIEBE BESUCHERIN, LIEBER BESUCHER AUS DER WUNDERVOLLEN WELT DER ZAUBEREI!
DIES IST ULURU, DER HEILIGE BERG DER ANANGU!!
BITTE ACHTE SEINE NATÜRLICHE SCHÖNHEIT!
BITTE WÜRDIGE SEINE URALTE ERHABENHEIT!
BITTE ERKENNE SEINEN WERT FÜR DIE ERSTEN VÖLKER DIESES LANDES AN!
SO VERMEIDE ES BITTE, SEINEN GIPFEL MIT DEINEN HÄNDEN UND FÜßEN ZU BERÜHREN.

DAS VOLK DER ANANGU DANKT DIR FÜR DEIN VERSTÄNDNIS UND DEINEN RESPEKT

Linda und Gilbert machten von der Leuchtschrift je zwei Fotos, bevor sie so tief sanken, dass die Schrift über ihnen war und verschwand. "Ui, genau 352 Meter über Grund", stellte Linda fest, die einen Höhenmesser am Besenstiel hatte.

Sie landeten weit genug fort von den nichtmagischen Touristen und schoben Lindas Besen in das Rocktaschenfutteral, eine Erfindung der Geschwister Samantha und Ruben Dexter, so dass Linda den Besen nun wie eine kleine Geldrolle in ihrem hellen Rock verstauen konnte. So konnten sie den Berg mit den anderen umwandern.

Sie sahen, dass es doch noch Leute gab, die dort hinaufkletterten, aber auch Menschen, die lang- und kurzärmelige Überziehhemden trugen, auf denen "Ich bin nicht hinaufgeklettert" stand, zusammen mit einem Foto des Uluru bei Mittag. Nach zwei Stunden des Bewunderns und würdigens dieses Naturdenkmals kehrten sie nach Sydney zurück, von wo aus Linda am nächsten Tag nach Kalifornien zurückfahren wollte, da sie "gute Gründe habe", nicht im internationalen Flohnetz zu verreisen. Als sie dann mit Gilbert in ihrem Zimmer in der Sonnenstrahlstraße saß baute sie einen provisorischen Klangkerker auf und stimmte Gilbert auf die Empfindlichkeit ihrer Ohren ein. Erst dachte er, irgendwas sei verkehrt, weil er von irgendwoher ein ganz schwaches schnelles Wummern hören konnte. Als er Linda darauf ansprach sagte sie: "Das kommt aus mir selbst und ist von uns beiden." Dann legte sie behutsam seine Hand auf ihren gerade noch flachen Unterbauch und strahlte ihn an. Er sah sie sehr verdutzt an und nickte dann. "Ja, klar, wer im Sonnenblumenschloss die Früchte der Liebe genießt kann leicht dick werden, wenn es ein Mädchen ist", grummelte er dann. Linda grinste wirklich mädchenhaft und sagte dann: "Wir haben wohl noch genug Zeit, und wie du heute sehen konntest muss das auch nicht jeder mitbekommen, dass ich unser Baby austrage. Die goldgelockte Mrs. Fleetwood konnte sogar zwei voll ausgetragene Zwillinge unter einem Bergemieder tragen. Du musst dir nur überlegen, ob ich ein uneheliches Kind großziehen soll oder ob du und ich einen Ort finden, wo wir zusammen wohnen können."

"Öhm, ich weiß nicht, ob meine Mutter dich noch mal aus Frankreich rauslässt, wenn sie mitbekommt, dass du ihren dritten Enkel im Bauch hast. Andererseits kann ich auch verstehen, dass du nicht aus den Staaten rauss möchtest, wo da gerade wieder so viel los ist."

"Wie erwähnt, ich will dich nicht zur Heirat zwingen. Aber wenn der oder die da in Lindas warmer Leibeshöhle heranwachsende weit genug ist, dass ich es vielleicht doch einigen mehr erzählen sollte, will ich Gewissheit haben, ob er oder sie mit einem im gleichen Haus lebenden Vater unter gleichem Namen aufwächst oder nicht. Du hast noch ein wenig Zeit."

"Und Ginger Fleetwood hatte Zwillinge unterm Umhang? Habe ich echt nicht gesehen. Aber die ist doch schon mehrfache Großmutter, obwohl sie viel jünger aussieht", sagte Gilbert.

"Tja, da wird sie vielleicht Anwärterin des von Madame L'eauvite gegründeten Clubs noch einmal Mutter gewordener Großmütter sein", grinste Linda. "Ich denke aber, sie wird die zwei vor der Öffentlichkeit abgeschirmt großziehen und nur die direkten Verwandten darüber unterrichten. Dass meine Ohren das doch aufgefangen haben muss ich keinem auf die Nase binden."

"Das ist die Nichte von Grace Craft, die in Hogwarts Verwandlung gibt. Die wurde garantiert informiert, weil die eine ähnliche Familienhexe wie Tante Line ist", sagte Gilbert Latierre. Dann sickerte die volle Erkenntnis bei ihm durch, dass sein Status als eiserner Junggeselle gehörig ins Wanken geraten war. Aber die wunderschönen Stunden mit Linda waren das Risiko wert, und wer wusste heute schon, ob das, was da im Moment mit einem ganz winzigen Herzschlag zu hören war, nicht eines Tages Zaubereigeschichte schreiben würde, wie es Tradition bei den Latierres war.

"Die Bezeichnung "erste Völker" klingt sehr schön und vor allem respektvoller als "Aborigines", sagte Linda. "Das ist sicher auch eine sehr anerkennende Bezeichnung für die Ureinwohner meiner Heimat." Dem konnte und wollte Gilbert ohne Zaudern zustimmen.

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In der australischen Niederlassung der Geheimgesellschaft Vita Magica, 13.10.2003, 19:20 Uhr Ortszeit

"Sie hat zwei Mädchen bekommen, Norman, eine Hope und eine Dawn, wohl auch, weil die englischstämmige Heilerin Aurora Dawn ihr bei der Entbindung half", meinte Pater Duodecimus Australianus. Sein Enkelsohn Norman Riverdale sagte dazu: "So geht's auch, schön heimlich und ohne, dass jemand sich darüber aufregt, dass eine Hexe über sechzig noch mal Mutter wird. Öhm, dann ist sie ja eine Mater Octavia Australiana. Du weißt, was das heißt, Opa Milton?"

"Nur wenn Sie bei uns um Aufnahme in den hohen Rat des Lebens bitten sollte, mein Enkel. Nur dann kann sie so genannt werden."

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Aus dem Tagebuch Aurora Dawns

13. Oktober 2003

Hallo Wendy!

Es ist immer wieder erhaben, neues Leben in der Welt zu begrüßen. Diesmal durfte ich der ministeriellen Pressesprecherin Ginger Fleetwood bei der Geburt von Zwillingen helfen. Während ihre Kollegen und meine oberste Vorgesetzte Laura Morehead sich den Fragen der Zaubererweltpresse stellten, konnte ich die kleine Hope und die kleine Dawn ohne Komplikationen auf die Welt holen. Du hörst richtig, Wendy. Ginger benannte ihre zweitgeborene Zwillingstochter nach mir, weil ich ihr so diskret und zuverlässig geholfen habe. Einmal mehr zahlt sich das aus, dass mich Bethesda so heftig in Geburtshilfe getrietzt hat und ich gleich drei Kinder bei meinem ersten freien Hebammeneinsatz auf die Welt geholt habe. Es war aber auch insofern was anderes, weil ich jetzt weiß, wie es sich anfühlt, ein Kind zu bekommen. Ob ich Rosey noch dafür danken soll weiß ich im Moment nicht. Sie will unbedingt schon vor dem ersten Wiedergeburtstag alles können, was Kinder eigentlich erst mit vier oder fünf Jahren können müssen. Heute morgen habe ich sie dabei erwischt, wie sie sich einen Hocker aus dem Haushaltsraum stiebitzt hat, um unsere Toilette zu benutzen. Dass sie schon frei laufen kann habe ich dir ja schon vor fünf Wochen erzählt. Ich habe ihr dann leise aber unmissverständlich erklärt, dass ich sie sofort in die Mutter-Kind-Abteilung der Sano einweisen würde, wenn sie nicht damit aufhört, schneller groß werden zu wollen. Ich finde es schön, dass sie mir ihre Pflege erleichtern will. Aber ich finde es auch schön und wichtig, dass ich mit ihr zusammen groß werde, was heißt, sie wie ein natürlich geborenes Kind aufwachsen zu lassen. Wenn stimmt, was sie mir schon vor ihrer Geburt zumentiloquiert hat muss sie, wenn sie erwachsen ist, eine Schuld abtragen, die sie einer Nargun gegenüber eingegangen ist. Falls ihr von übereifrigen Kollegen das Gedächtnis verändert werden sollte könnte sie diesen Auftrag vergessen und dann ganz unvorbereitet von dieser australischen Naturgötzin vereinnahmt werden. Das hat sie wenigstens eingesehen. Ich habe jetzt mit ihr die Absprache, dass sie bei Feiern mit mehr als drei Personen immer noch Windeln trägt und erst an ihrem ersten offiziellen Geburtstag frei zu laufen vorführen soll. Ich habe ihr angeboten, nur die Leute dazu einzuladen, mit denen sie gut klarkommt. So hoffe ich, wenn nicht wieder sowas wie die Schlangenmenschenseuche dazwischenkommt, dass die Latierres mit ihren drei Kindern, meine Eltern, meine Cousinen Philippa und Arcadia, sowie Laura Morehead und Bethesda Herbregis zusammenkommen können.

Die gute Laura Morehead hat mir in Aussicht gestellt, mich für die Ausfertigung der Untersuchungs- und Versuchsprotokolle zur Wechselwirkung von Schlangenmenschengift, Gold und Menschenblut in den Stand einer "gelehrten Heilerin" zu erheben. Dann darf ich auch die Voranstellung Dr. für Doktor in meinem Namen führen. Ich hoffe nur, dass Laura und Bethesda das nicht ausgeheckt haben, um mich aus meiner Niederlassung in die Sano rüberholen zu können. Ich hörte über diverse Flüsterfeuer, dass deren Zaubertrankabteilungsleiter Goldwater in fünf Jahren in den Ruhestand gehen möchte, um die von ihm angestrebte mehrjährige Weltreise zu machen, bei der er alle seine Verwandten auf allen Kontinenten besuchen und bei der Gelegenheit noch mit ranghohen Braumeistern und Braumeisterinnen sprechen möchte. Sicher werde ich dann nicht gleich seinen Posten in der Sano kriegen. Aber bei den dann anstehenden Beförderungen könnte ein Platz frei werden, den Bethesda ganz sicher ausfüllen möchte. Gut, das soll erst in fünf Jahren passieren. In der Zeit kann noch viel geschehen. Doch die Vorstellung, das hier in Sydney aufgeben zu müssen gefällt mir irgendwie nicht so richtig. Mit den Leuten hier komme ich sehr gut aus, meine zeitweilige Stellvertreterin Flora hat die Niederlassung bei Adelaide angeboten bekommen, weil deren residenter Heiler zu viele werdende Mütter in seinem Einzugsbereich hat und dringend eine niedergelassene Hebamme braucht.

Noch was, bevor ich dir deine wohlverdiente Ruhe gebe, damit du diese ganzen Neuigkeiten wohlverdauen kannst, Wendy. Mel Vineyard wurde von Morgennebel einer ihrer drei unverheirateten Enkeltöchter im heiratsfähigen Alter vorgestellt. Offenbar möchte die Hüterin des nun wieder zu seiner wahren Stärke erweckten Berges Uluru ihn als Schwiegerenkel kultivieren. Tja, ob er das weiß und wenn ja, ob ihm das gefällt oder nicht, wird die Zukunft zeigen.

So, jetzt hör ich besser auf. Bis morgen dann, Wendy!

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Im Apfelhaus der Familie Latierre in Millemerveilles, 13.10.2003, 23:30 Uhr Ortszeit

Millie und Julius lagen in ihren Betten. Sie beide hatten am Nachmittag mit Camille, die nun sichtbar gerundet aussah, über die anstehenden Gartenarbeiten geredet, bevor es ungemütlich werden mochte. Dabei hatten sie auch von der vor einem Jahr hier im Apfelhaus stattgefundenen Zwillingsgeburt gesprochen. Julius hatte angedeutet, dass er der glücklichen Mutter wohl eine Eule schicken würde, um den beiden zum ersten Geburtstag zu gratulieren. Das würde er dann wohl morgen früh machen.

Julius fühlte, wie die Anstrengungen des langen Tages ihren Tribut einforderten. Er war kurz davor, einzuschlafen, als eine sanfte Gedankenstimme in seinem Bewusstsein erklang: "Hallo Julius, bist du noch wach?" Er erkannte die Gedankenstimme als die von Faidaria, der Matriarchin der Sonnenkinder. So schickte er zurück: "Gerade soeben noch, Faidaria. Ich musste daran denken, wie Camille, meine Schwiegertante Béatrice und ich Gwendartammaya dabei geholfen haben, die zwei wiederverkörperten zur Welt zu bringen. Sicher habt ihr heute groß gefeiert, nehme ich an."

"Oja, vor allem die Zwiegeborenen haben sich an diesem Tag gefreut, dass sie einen so schönen hellen Tag erleben konnten. Ich gebe dich mal weiter an die beiden."

"Hallo Julius. Wir konnten heute eine schöne weiße Kerze auf einer großen Torte ausblasen", mentiloquierte ihm Olarammaya. "Schon abgedreht, dass wir schon ein ganzes Jahr wiedergeboren sind. Manchmal träume ich noch davon, bei Patricia oder Gwendartammaya im dunklen, engen, aber auch warmen und behaglichen Bauch zu stecken. Sie hat mir und meiner großen Schwester heute noch mal von ihrer Milch gegeben. Aber wer ffrei und ohne hinzuplumpsen laufen kann soll ab jetzt nur noch anderes Essen kriegen, hat sie danach gesagt."

"Hat die sich also daran erinnert, was mein früheres Dasein ihr damals gesagt hat, als sie selbst laufen konnte", klinkte sich Genararammaya in die über viele tausend Kilometer reichende Verbindung ein. "Zumindest sind meine kleine Schwester und ich froh, dass die Aussisdas mit den Schlangenmenschen beheben konnten, wenn wohl auch mit Unterstützung Anthelias, der ich es zu verdanken habe, meine eigene Enkeltochter geworden zu sein. Eigentlich wollte ich dich heute auch bei uns haben, damit du mitbekommst, dass Olarammaya und ich schon sehr flink unterwegs sind. Aber Faidaria hat gesagt, dass du gerade und auch wohl wegen der Angst vor dunklen Hinterlassenschaften nicht mal eben auf unsere Insel kommen kannst. Na ja, aber sicher findest du mal einen halben Tag, um uns zu besuchen. Oder wir kommen zu euch und testen aus, was es mit eurer neuen Schutzkuppel auf sich hat, ob die uns noch zu euch reinlässt. Aber ihr habt ja bei euch gerade viele Hexen mit anschwellenden Babybäuchen herumlaufen, und die haben dich sicher schon längst verplant, denen zu helfen, wenn die kleinen neuen Seelen ans Licht wollen, nicht wahr?"

"Ja, haben sie, Geranammaya", gedankenseufzte Julius. "Gut, das sehe ich ein, wo du das vor einem Jahr so gut hingekriegt hast, mir und der Kleinen aus Mom Gwen herauszuhelfen. Aber pass bitte auf, dass dich diese VM-Leute nicht vorher kriegen, um dich für ihre eigene Zucht einzuspannen!"

"Die hätten mich schon längst hoppgenommen, wenn da nicht eine von denen für mich eintreten würde, dass ich da, wo ich bin, nicht besser für die sich vermehrende Zaubererwelt aufgestellt bin", schickte Julius zurück.

"Ja, und pass auch gut auf, dass diese neue Vampirgötzin dich und deine Liebsten nicht heimsucht", schickte Gwendartammaya zurück. "Faidaria fürchtet, dass es in nicht all zu ferner Zukunft zu einem Sturmlauf dieser Nachtbrut und ihrer fleischlosen Widersacher, den Nachtschatten, kommen wird. Im Moment können wir nicht losziehen, um diese Gefahr zu beheben. Deshalb seht zu, dass ihr vor allem gut mit Sonnenzaubern belegte Dinge bei euch tragt!"

"Ist euer Dunkelkraftanzeigependel wieder ganz?" wollte Julius wissen. "Nein, noch nicht. Das wird auch erst wieder repariert werden, wenn der, der sich damit auskennt, ein volles Jahr erlebt hat und seine Hände gebrauchen und verständliche Worte aussprechen kann", erwiderte Faidaria darauf. "Solange sind wir genau wie ihr darauf angewiesen, rechtzeitig zu erfahren, wo die dunklen Bedrohungen sich auswirken."

"Und was macht der goldene Wächter? Habt ihr noch die Mithörvorrichtung, um ihn und seine Untergebenen abzuhören?" wollte Julius wissen.

"Im Augenblick erhalten wir nur die Tagesmeldungen von ihm und seinen fünf Untergebenen. Wir wissen, dass er etwas vorbereitet, aber die schnelle Beendigung der Kampfhandlungen im Irak haben seine Planung durchkreuzt. Er wollte wohl von dort aus einen Umsturz der bestehenden Weltordnung ausführen. Doch das misslang. Geht aber bitte davon aus, dass der Wächter nicht von euch beeinflusst werden kann! Er folgt nun nur noch seinen eingeprägten Daseinsvorgaben und eingeprägten Verhaltensmustern. Sein Ziel war und bleibt die Wiederherstellung der Vorherrschaft mit der hohen Kraft begüteter Könige und Königinnen", antwortete Faidaria. Julius verstand. Der ehemalige Wächter von Garumitan würde einen Weg suchen, die Verhältnisse zwischen Menschen mit und ohne Magie umzustoßen, um die magiebegabten Menschen wieder zur Herrenrasse zu erheben, wie damals auf dem Kontinent Altaxarroi. Dass die Sonnenkinder das scheinbar nicht guthießen wunderte ihn zwar ein wenig, wo ja auch sie als Ausführer königlicher Vorhaben von damals erzeugt worden waren. Dann fiel ihm ein, dass Faidaria und die ihren wohl Dinge über den Wächter wussten, die ihnen nicht gefielen, sie davon aber keinem Außenstehenden was erzählen wollten oder durften. Das wiederum beunruhigte ihn. Offenbar bemerkte Faidaria es und gedankensprach:

"Der Wächter wird hoffentlich früh genug bekunden, worauf er ausgeht. Er hat keine Kenntnis davon, dass wir die raumübergreifenden Mitteilungen zwischen ihm und seinen fünf Beigeordneten belauschen können. Wenn was für uns und euch gleichermaßen bedenkenswertes oder zum sofortigen Handeln aufforderndes geschieht wirst du, gleich wo du gerade bist und was du gerade tust von mir davon erfahren."

"Vielleicht wird es nötig sein, den Wächter zu vernichten", gedankensprach Julius Latierre.

"Tja, falls seine Schöpfer ihn nicht mit etwas ausgestattet haben, dass die Welt verheeren wird, sobald jemand ihn zu zerstören vermag", schickte Faidaria zurück. Julius konnte das nicht ganz ausschließen. Er kannte das Tausendsonnenfeuer. Würde der Wächter vor der Vernichtung stehen mochte er diese Zerstörungskraft freisetzen oder was noch schlimmeres, was die ganze Welt oder auch nur die Menschheit vernichtete. Ihm blieb nur, darauf zu hoffen, dass sie früh genug erfuhren, was der Wächter vorhatte und dass sie dann sowohl genug Zeit hatten, als auch die richtigen Informationen bekamen, um den Plan des goldenen Riesens von Garumitan zu durchkreuzen.

Die Sonnentöchter verabschiedeten sich dann noch von Julius und wünschten ihm einen guten Schlaf. Er widersprach, dass nach ihrem Anruf wohl an einem ruhigen Schlaf nicht zu denken war. Da fingen Faidaria, Gwendartammaya und ihre Zwillinge rein gedanklich zu singen an. Es war ein Wiegenlied, dass Madrashmironda ihrem Sohn Madrashainorian weit vor und lange nach seiner Geburt immer wieder vorgesungen hatte. Auf den Tönen und Worten dieses alten Schlafliedes glitt Julius in den verdienten Schlaf hinüber.

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Im Haus Tyches Refugium, 14.10.2003, 11:00 Uhr Ortszeit

Anthelia bedankte sich bei Gwendolyn Curby für die Ausgaben der Zeitungen aus Australien. Dort war die Pressekonferenz der Ministerin und der mit den Schlangenmenschen befassten Abteilungsleiterabgedruckt. Dass ihr mal wieder skrupelloser Mord an unschuldigen Wesen vorgeworfen wurde kannte sie schon zur Genüge, als dass sie sich noch einmal darüber aufregen würde. Sie nahm auch zur Kenntnis, dass die letzten Schlangenmenschen wohl am 5. November aus der Verwahrung entlassen werden konnten. 12000 Befallene, von denen 2000 hatten sterben müssen, um diese alte Seuche einzudämmen. Ihr war klar, dass die Schlangenmenschen nur eines von vielen dunklen Hinterlassenschaften waren, die durch die Woge dunkler Magie am 26. April 2003 bestärkt und erweckt wurden. Die Schlangenmenschen hatten lange gebraucht, um sich neu zu erheben, wohl weil ihr Zeitablauf sich erst einmal wieder auf die übliche Geschwindigkeit beschleunigen musste. Anderswo mochten noch genauso gefährliche Hinterlassenschaften lauern, die wie aufgespannte Spinnennetze oder aufgestellte Mausefallen darauf warteten, bis sich was in ihnen fing. Sicher, sie selbst war keine Unschuldshexe und wollte es auch nicht sein. Doch sie erkannte, dass sie mehr Verantwortung für die Zukunft der Menschen mit und ohne Magie hatte, als nur zu bestimmen, wie sie geführt wurde. Julius hatte es mit seinen Verbündeten richtig gemacht, Millemerveilles abzusichern. Sie hatte ihr Haus ebenfalls mit dem Lied der starken Mutter Erde und darauf aufbauenden Feindesabwehrzaubern gesichert, dass nur noch sie und ihre Hexenschwestern, womöglich noch von diesen an der Hand gehaltene Gäste zu ihr hingelangen konnten. Uluru war ab dem 28. September auch eine unangreifbare Festung gegen dunkle Wesen.

Ihre Mitschwester Portia riss sie aus ihren Gedanken, als sie ihr die neuesten Ausgaben der US-amerikanischen Zaubererzeitungen brachte. Anthelia las den Artikel von Linda Knowles in der Stimme des Westwindes. Diesem war auch ein Schwarz-weiß-Foto von einer über dem Uluru schwebenden Mitteilung beigefügt. darunter stand: "Nur Hexen und Zauberer können das lesen. Ehren wir die heimlichen aber wahren Helden dieser unheimlichen Geschichte, die ersten Völker Australiens! Rrespektieren wir ihre Heiligtümer!"

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auf einem geheimen Flugplatz bei Buenos Aires, Argentinien, 16.10.2003, 14:30 Uhr Ortszeit

Seit der gescheiterten Übernahme der versteckten Bibliothek aller Nachtkinder und der Vernichtung des Bergklosters in Griechenland stand sie auf jeder Fahndungsliste der Menschen mit magischen Kräften. Das nervte sie sichtlich an. Auch dass sie nicht von der ganzen Kraft der nun erwachten Göttin durchdrungen werden konnte störte sie. Hinzu kam noch, dass sie nicht wusste, wo die Besitzer der blutroten Fledermaus abgeblieben waren. Wenn die mitgehört hatten, wie dieses vermoderte Frauenzimmer Megara von Delphi ihren Menschen- und ihren Nachtkindnamen ausgerufen hatte, konnten die damit gegen sie vorgehen, sobald sie versuchte, die noch vielen Unbekehrten in die Reihen der Göttin zu holen. Solange dieses Damoklesschwert über ihr hing konnte sie nur mit denen verkehren, die bereits unter der Herrschaft der Göttin standen. Immerhin hatte sie mit den ihr durch das Blut der Feuerhexe Vesta Moran eingeströmten Zauberkräfte einen Tarnzauber um den Flughafen aufgebaut, den sie nun als ihren Rückzugsort nutzte.

"Hohepriesterin Nyctodora, unsere geflügelten Kundschafter haben ein Haus gefunden, in dem diese Pelzwechsler wohnen, ganz wie die Göttin es durch dich befohlen hat", flüsterte einer ihrer Kuriere.

"Gut, dann werden ich und zwei gewöhnliche Krieger diesen Leuten am Halloweentag unsere Aufwartung machen und die Botschaft der Göttin verkünden", erwiderte Nyctodora darauf. "Wenn wir Glück haben, können wir zumindest die ständige Beharkung mit den Werwölfen ausräumen. Wenn wir Pech haben wird dieser Ausflug die letzte Nacht in unserem Leben sein."

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Ein von Menschen verlassenes Gehöft 200 km südlich von Mexiko-Stadt, 31.10.2003, 22:30 Uhr Ortszeit

Früher hatte er nur Feliciano Torres geheißen. Doch weil er gerne mit einer schulterlangen Mähne und einem bis zur Unterkante Brustkorb wallenden Vollbart in flammenroter Färbung herumlief hieß er für seine Mitbrüder und -schwestern nur León del Fuego, Feuerlöwe. Das lag wohl auch daran, dass er bei Vollmond zu einem fuchsroten, struppigen Wolf wurde.

Weil er auf einer von ihren eingestaltlichen Vorbesitzern heruntergewirtschafteten und einfach so im Stich gelassenen Hacienda wohnte hatten diese blonde Spanierin, die eine wunderschöne, mondhelle Wölfin werden konnte und ein von der geführter Rat der Mondgeschwister vor einem Monat beschlossen, dass die Hacienda südlich von Mexiko-Stadt zum mexikanischen Bereichsstützpunkt der Mondgeschwister wurde. Und er hatte dem zugestimmt, nachdem vor zwei Monaten alle ungemeldeten Brüder des Wolfsblutes in Kanada und den USA von diesem blauen Mordlicht getötet worden waren und es wohl nur Glück war, dass diese Massenmörder nicht genug von ihren Vorrichtungen hatten, um auch südlich des Rio Bravo, den die Gringos Rio Grande nannten, auf Wolfsjagd zu gehen. Wie feige waren die, dass die es nicht einmal versuchten, ihre ausgewählten Gegner im direkten Kampf zu töten? Deshalb ärgerte es ihn ja auch, dass er dem Beschluss zustimmen musste, seine Hacienda zur blaumondsicheren Festung umzubauen. Denn von Feiglingen aus großer Entfernung mal soeben ausgelöscht zu werden wäre der peinlichste Tod, den ein Mann wie er sterben konnte.

Zwei der bei ihm eingezogenen Frauen waren Halbindios oder Inkastämmige, wie die sich selbst lieber nennen ließen. Er hatte es mal versucht, eine von denen für sich zu gewinnen. Das hatte ihm einen ziemlich üblen Zauber eingebrockt, der seine Geschlechtsteile zu gefühllosen Anhängseln gemacht hatte. Patanegra, dieses schwarzblauhaarige Wunderwesen, hatte ihm dann gesagt, dass sie diesen Zustand dauerhaft machen konnte, wenn er seine Finger und was sonst noch nicht bei sich zu behalten lernte. Ihre Mitschwester, die wohl weil sie an einem frühen Morgen geboren worden war und auch ohne Vollmond nachts am muntersten war Madrugadiña hieß, hatte darüber nur mädchenhaft gekichert. Und mit diesen halbblütigen Zicken musste er jetzt sein Reich teilen, weil er sonst beim nächsten Vollmond vielleicht aus der Welt gebrutzelt wurde. Immerhin verstand er sich gut mit der peruanischen Mondschwester Bocafina und ihrem Vetter Palón, der wie dieser Dünnerjan Fino aussah, aber den noch um anderthalb Köpfe überragte. Dann war da noch ein aus Argentinien stammender Kleiderschrank namens Puñazo, der es mochte, vieles mit bloßen Händen hinzukriegen und erst mal alle wurmstichigen Holzmöbel ausrangiert hatte, auf die León del Fuego gezeigt hatte. Wenn alles klappte, was die blonde Spanierin und ihre Schlauköpfe sich ausgedacht hatten, dann konnten nach Einbau aller Schutzzauber gegen böses Mondlicht und sonnenallergische Langzähne an die zwanzig Leute in den drei Häusern wohnen und die zu einem verwilderten Buschland verkommene Acker- und Weidefläche wieder als Gemüsegarten nutzen. Fleisch würden sie sich außerhalb der Vollmondnächte in den angrenzenden Wäldern erjagen.

Seit fünfzehn Tagen herrschte eine gewisse Angespanntheit über der Hacienda. Denn eine übergroße Fledermaus war über das Gehöft hinweggeflogen und hatte drei große Kreise gezogen, bevor sie wieder weggeflattert war. Also rechneten die sechs derzeitigen Bewohner der Hacienda jede Nacht mit ungebetenem Besuch. Daher saßen sie, sobald es dunkel wurde zusammen im ehemaligen Esssaal für die Hausknechte, weil er als Versammlungsraum am besten geeignet war und durch die mittlerweile lichtdicht verschließbaren Fensterläden innen wie außen verräterisches Streulicht nach draußen blockierte und dank der von Patanegra und Madrugadiña gewirkten Inkazauber unter Verwendung von versilberten Holzplatten auch Mondlicht aussperren sollte. Um keinen verräterischen Rauch aufsteigen zu lassen hatte die kastanienbraunhaarige Bocafina zusammen mit ihrem Vetter Palón ein Scheinfeuer gezaubert, dass mit hellen Flammen und hörbarem Knistern im Kamin leuchtete, aber keinen Brennstoff brauchte und keinen Rauch machte. Leider gab dieses falsche Feuer auch keine Wärme ab.

"Du darfst morgen der blonden Chefin über die von ihr mitgelieferte Fernsprechbüchse weitermelden, dass Mama Killas Segenssäulen nun vollständig sind und sich mit genug Kraft aufladen, um den ganzen Hof gegen zehn oder zwanzig Vollmonde abzusichern", sagte die sehr anziehend aussehende Patanegra. "Kann sein, dass dieser blaue Todesschimmer so stark wirkt wie zwanzig Vollmonde und damit in einer Nacht die ganze Kraft der Segenssäulen auffrisst. Aber wir sind dann auf jeden Fall vor diesen blauen Todesstrahlen sicher."

"ja, und ab morgen ist dann auch der Unortbarkeitszauber stark genug, um uns vor Entdeckung zu schützen", legte Palón nach.

"Und was ist mit den Antiblutsaugerzaubern?" wollte Leon de Fuego wissen.

"Die Mauern Intis stehen sicher. Allerdings konnte ich sie nur um dieses Haus herum aufbauen, weil sie sonst ein Vierteljahr Sonnenlicht hätten aufnehmen müssen, um die ganze Hacienda zu umgeben", sagte Madrugadiña, die im Gegensatz zu Patanegra eine reinrassige Ureinwohnerin Südamerikas war und angeblich einen der letzten Intipriester mit wirksamen Zauberkräften in der Ahnenlinie hatte.

"Im Zweifel haben wir gegen das Gefleuch mit den langen Zähnen ja die bewährten Waffen", sagte Palón und deutete hinter sich auf eine Vitrine, in der mehrere verschiedene Pistolen und ein golden glänzender Dolch auslagen.

Unvermittelt begann die kleine Bronzeglocke an der Zimmerdecke wie ein übereifriger Wecker zu scheppern. Alle sechs Mondgeschwister sahen sich an. León de Fuego blickte vor allem die drei Frauen an. "Kein Anspringversuch. Sicher fliegende Angreifer oder welche, die mit diesen Reisewirbelzauberdingern reisen können", sagte Patanegra. Bocafina hob ihren linken Arm und sah auf das, was eigentlich wie eine gewöhnliche kleine Armbanduhr aussah. "Oh, der erwartete Besuch aus Norden", verkündete sie.

"Da bin ich mal gespannt, wie denen eure Sonnenmauer bekommt", grinste León del Fuego. Weil der Versammlungsraum ein Klangkerker war konnten sie hier ganz ruhig reden, ohne von wem auch immer abgehört zu werden.

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Eigentlich wollten Nyctodora und ihre beiden Begleiter Nightblade und Piedranoche direkt vor dem Haupthaus der scheinbar verlassenen Hacienda landen. Sicher hatte ihre Herrin und Göttin auch versucht, sie dort abzusetzen. Doch irgendwas hatte den nachtschwarzen Strudel abgelenkt und ihnen einen Sturz aus drei Metern Höhe eingebrockt. "Seid auf der Hut! Ich konnte euch nicht dort absetzen, wo ich euch absetzen wollte", peitschte die Gedankenstimme der Göttin durch die Bewusstseine der drei Gesandten.

"Wir sind mindestens zweihundert Meter vom großen Haus entfernt, dass der Späher gesehen und wo er den Geruch nach Werwolf gewittert hat", gedankensprach Nyctodora mit Hilfe der Göttin zu beiden Begleitern zugleich. Nightblade, ein drahtiger Bursche, der wie ein Mann anfang zwanzig aussah und in Wirklichkeit schon 120 Jahre auf der Welt war, schnupperte. Piedranoche, ein Bursche von knapp zwei Metern höhe und anderthalb Metern Breite ließ seine Muskeln spielen. Das veranlasste Nyctodora, ihn zurechtzuweisen, keine feindseligen Gesten oder Andeutungen zu machen. Schließlich waren sie als Unterhändler der Kinder Gooriaimirias hier. "Gut, offenbar haben die was gezaubert, dass Fremde nicht näher als zweihundert Meter von ihrer Behausung entfernt ankommen lässt, wenn die nicht zu Fuß sind oder fliegen", grummelte die Hohepriesterin der erwachten Göttin. Dann zog sie drei kleine Gegenstände aus ihrer Rocktasche und gab jedem ihrer Begleiter einen. Den dritten behielt sie selbst. Sie schwenkte ihn einmal, worauf das streichholzgroße Ding mit dem kleinen weißen Fetzen zu einer anderthalb Meter langen, stabilen Fahnenstange mit einer vierzig mal vierzig Zentimeter großen weißen Flagge wurde. "Die immer gut sichtbar vor euch halten!" befahl die Hohepriesterin. Sie wollte gerade kommandieren, auf das Haupthaus zuzugehen und nach einer Eingangstür zu suchen, als ihr das sachte Flimmern um das Haus auffiel. Die beiden Begleiter blickten ebenfalls zu dem Haus hin und verzogen ihre Gesichter.

"Was soll dieses leicht goldene Geflimmer da. Das piekt mir in die Augen", knurrte Piedranoche und ließ wieder seine Oberarmmuskeln anschwellen. Nyctodora blickte sich schnell um, ob sie wen anderen sehen konnte, was bei unsichtbaren Gegnern sicher zwecklos war. Doch weil sie zugleich tief Luft durch die Nase sog konnte sie zumindest ausschließen, dass ein anderes menschenförmiges Lebewesen in der Nähe war. Doch da war niemand. So wechselte sie die Fahnenstange von rechts nach links und zog ihren Zauberstab aus der verschließbaren Außentasche ihres blutroten Kapuzenumhangs. "Indicato Periculum!" wisperte sie und schwang den Stab genau waagerecht zum Boden in einem Halbkreis herum. Der Stab vibrierte mit hoher Schwingzahl aber sehr sacht, dass selbst die hochempfindlichen Ohren der Vampire es gerade so als leises Singen hören konnten. "Hmm, könnte eine Art Sonnenzauber sein, der für mich selbst nicht gefährlich ist aber für euch, die ich euch als meine Begleitung angenommen habe", sagte Nyctodora. "Finis Incantato!" wisperte sie. Das schnelle Viibrieren erstarb. Nightblade zog nun einen viereckigen Gegenstand aus seiner nachtschwarzen Lederjacke und klappte ihn auf wie eine kleine Schachtel. "Mittagssonne! Diese Mondanheuler haben echt was gemacht, dass wie eine dieser widerwärtigen Sonnenlichtwände ist, aber für Menschenaugen unsichtbar ist", schnaubte er. "Wenn wir noch zwanzig Schritte laufen könnte es uns zusetzen." Er klappte die kleine Zauberschachtel wieder zu.

""Sonnensäulen. Diese Pelzwechsler haben das Haus mit einem magischen Zaun aus gespeichertem Sonnenlicht umgeben", gedankenknurrte die Göttin. "Deshalb konnte ich euch auch nicht direkt davor absetzen, weil Nachtdunkelheit von Sonnenlicht verdrängt wird. Sommermittagssonne!!"

"Gut, Nightblade und Piedranoche. wir sind hier goldrichtig. Aber wir kommen wohl nur ins Haus, wenn die uns eine Lücke in diese magische Sonnenlichtwand machen. Also wie gesagt, keine aggressiven Bewegungen oder Andeutungen! Die Fahnen gut sichtbar vor euch halten und sanft schwenken, nicht wild fuchteln!" sagte Nyctodora und ging mit bestem Beispiel voran. Ihr würde kein Sonnenzauber was anhaben, hoffte sie. Denn die natürliche Sonnenstrahlung tat ihr ja auch nichts. Sie war eine besondere Vampirin. Denn sie hatte das Blut einer dem Feuer verbundenen Hexe und ihres halbvampirischen Sohnes getrunken und dadurch einen dauerhaften Schutz vor Feuerquellen und Sonnenstrahlen in sich aufgenommen. Doch ihre beiden Begleiter konnten bei Berührung mit der für gewöhnliche Menschenaugen unsichtbaren Absperrung geschädigt oder gar schlagartig vernichtet werden. Sie dachte an Energieschirme aus Science-Fiction-Geschichten, die entweder ein Objekt abprellten oder in seine Atome auflösten.

Je näher sie der gefährlichen Grenze kamen um so mehr spürte Nyctodora ein Kribbeln auf der Haut und gleichzeitig wohlige Wärmeschauer. Ihre Begleiter zuckten immer wieder zusammen, als hätten sie Stromschläge abbekommen. "Zur Sommermittagssonne noch mal, das da vor uns ist echt fies", nöhlte Piedranoche. Einen Meter vor der erkannten Grenze blieb Nyctodora stehenund blickte nach vorne. Das Haus schwamm vor ihren nachtsichtigen Augen in einem schwachen goldenen Flimmerlicht.

"Bleibst du da weg, Nyctodora! Ich kann euch sonst nicht mit dem Strudel ergreifen", gedankenrief die erwachte Göttin. Nyctodora gehorchte und wich mindestens drei Meter zurück. Die beiden anderen hatten sich sowieso schon zurückfallen lassen, weil die Barriere sie piesackte, ohne dass sie sie berühren mussten. "Dieser Sonnenzauber ist viel mächtiger als das, was man mir und anderen Nachtkindern bisher entgegengesetzt hat", stellte die in den Bewusstseinen der drei mitbeobachtende Göttin fest. "Also geht um die verwünschte Absperrung herum und stellt euch offen vor das Haus hin. Meine Hohepriesterin, du rufst mit unbezauberter Stimme in Richtung Haus und bittest um Gehör und einen Gesprächspartner. Vielleicht können und werden sie die Barriere für euch öffnen, wenn sie von euren friedlichen Absichten überzeugt sind."

"Wie du es befiehlst, unsere Herrin und Göttin", erwiderte Nyctodora. Dann wandte sie sich in eine Richtung, in der sie die für sie gefährliche Absperrung umschreiten konnten.

Unterwegs fühlten sie Kälteschauer durch ihre Körper jagen. Diese erkannte die Göttin als weitreichende Fremdlingserkundungszauber. Wer das richtige Blut im Körper hatte und/oder nicht feindlich gesinnt war würde wohl unbehelligt an das Haus herangehen können. Da die drei Vampire aber eben keine Werwölfe waren hatten sie wohl nicht das richtige Blut in den Adern.

Als sie nach einem anderthalbminütigen Fußmarsch auf dem breiten Zuweg zum Haupthaus standen und die große, in eine obere und untere Hälfte teilbare Tür vor sich sahen stellten sich die drei weit genug von der leicht flimmernden Barriere entfernt hin und schwenkten ihre weißen Fahnen. Nyctodora rief in argentinisch gefärbtem Spanisch nach allen, die im Haus waren und erwähnte auch, dass sie Abgesandte der erwachten Göttin aller Nachtkinder sei und in deren Auftrag gekommen war, um mit den Mondgeschwistern über einen Waffenstillstand mit Aussicht auf dauerhaften Frieden zu verhandeln. Diese Botschaft rief Nyctodora im Abstand von einer halben Minute drei Mal. Dann wartete sie mit den anderen.

"Die Mondheuler könnten uns jetzt hier rumstehen lassen, bis die Sonne aufgeht", gedankengrummelte Piedranoche. Nightblade indes blickte sich immer suchend um, ob nicht doch wer hier draußen lauern mochte.

Dann klappten beide Türhälften zugleich nach innen auf. Zeitgleich öffneten sich links und rechts von der Tür die Fensterläden, und zwei mattschwarze Waffenläufe schoben sich über die Fensterbänke nach draußen und richteten sich auf die zwei männlichen Begleiter der Hohepriesterin. Nyctodora erkannte die Waffen als Maschinenpistolen vom Typ Heckler & Koch. Solche Waffen hatte sie ihren Werksschützern auch mal spendiert. Doch gegen gewöhnliche Kugeln waren sie alle drei Dank kugelsicherer Unterbekleidung geschützt.

"Schön weiß, eure Winkefähnchen", sagte eine Männerstimme aus der Türöffnung. Dann trat er auch nach draußen. Nyctodora dachte erst an einen aufrechtgehenden Löwen. Aber der Geruch der von ihm ausging sagte Werwolf. Dann sah sie dank ihrer Nachtsicht die beiden Frauen hinter dem Mann. Die beiden hielten Zauberstäbe in ihren Händen. Das die Mondanheuler mehr Hexenund Zauberer in ihren Reihen hatten wusste Nyctodora. Auch erkannte sie, dass die beiden Frauen sie wohl als besonders gefährliches Ziel einstuften, weil sie ihre Zauberstäbe auf die Hohepriesterin richteten.

"Sind Sie der Sprecher der Bruderschaft des Mondes?" fragte Nyctodora ganz ruhig.

"Der Leiter des Bereiches Mexiko und Mittelamerika", erwiderte der Mann mit der wallenden Kopf- und Gesichtsbehaarung. "Angenehm, Señor Bereichsleiter. Ich bin Nyctodora, Stimme und Handlungsarm der erhabenen erwachten Göttin der Nacht, Mutter aller Nachtgeborenen."

"Oh, welche große Ehre, die selbsternannte Hohepriesterin einer angeblichen Muttergöttin selbst vor meiner bescheidenen Behausung begrüßen zu dürfen", sagte der Löwenmähnenmann und deutete eine Verbeugung an. "Torres mein Name, für dich und deine zwei Fahnenträger da Señor Torres."

"Ich entbiete Ihrer Bruderschaft den Gruß und die Gnade der erwachtenGöttin und frage in ihrem höchsteigenen Auftrag, ob ich mit der obersten Führung Ihrer Bruderschaft sprechen darf. Denn es gilt, die jahrhundertealte Blutfehde beizulegen und ..."

"Hast du schon gesagt, Götzenpredigerin. Aber unser Präsident wird nicht herkommen, nur um mit einer selbsternannten Oberpriesterin zu reden. Wenn der Vollmond nicht scheint schläft er nachts für gewöhnlich. Schließlich genießen wir gerne die Sonne, nicht wahr, Mädchen?" Die zwei hinter ihm stehenden Frauen nickten nur, sagten aber kein Wort.

"Es ist meiner Herrin und Göttin jedoch sehr wichtig, auf der höchstmöglichen Ebene zu verhandeln, denn nur so lässt sich eine für beide Seiten verbindliche Vereinbarung treffen", erwiderte Nyctodora.

"Und wer oder was sagt deiner Göttin, dass wir an einer solchen Vereinbarung interessiert sein sollten?" fragte Torres die Hohepriesterin.

"Das Gebot der Stunde sagt es. Denn Sie haben sicher mitbekommen, dass die Magiekundigen beschlossen haben, alles, was nicht ihrer Vorstellung von reinem Leben entspricht vollständig auszurotten. Mit Ihnen und Ihren Mitstreitern fangen sie an. Doch sie trachten auch schon danach, uns zu vernichten. Nur gemeinsam können wir unsere Art vor der Ausrottung bewahren. Nur gemeinsam können wir den uns beiden drohenden Feinden widerstehen", argumentierte Nyctodora. "Daher wäre es für meine Herrin und für mich höchst begrüßenswert, wenn ich mit Ihrem Präsidenten oder Ihrer Präsidentin persönlich sprechen könnte, um die Lage zu erörtern. Da Sie Ihr Haus mit einem gegen meine Art wirkenden Abwehrschutz umfriedet haben weiß ich, dass ich nicht gewaltsam zu Ihnen vordringen kann. Doch vielleicht besteht die Möglichkeit, eine kurzzeitige Lücke in der Barriere zu schaffen, um uns einzulassen. In Ihrem Haus selbst können wir dann die von meiner Herrin erfassten und von meinen Glaubensgeschwistern niedergeschriebenen Gegebenheiten besprechen und ergründen, ob sich auf Grund dieser Entwicklungen nicht eine für Ihre und meine Gemeinschaft lohnende Übereinkunft erzielen lässt."

"Ui, eine Anwältin oder eine Kaufmannsfrau, wie? Für beide Seiten lohnende Übereinkunft. Lange nicht mehr so eine gestelzte Sprache gehört, auch nicht von euch aus der Pampa von Argentinien. Ach neh, du bist ja keine Amerikanerin. Soweit ich gehört habe hat deine Göttin dich irgendwo im alten Europa aufgelesen. Aber offenbar hast du von den Tangotänzern da unten am Silberfluss Spanisch gelernt."

"Ich kam und komme sehr weit herum", erwiderte Nyctodora, die ständigen Verächtlichkeiten überhörend. Dann fragte sie, ob es nicht allein der Diskretion wegen günstiger sei, dass sie ihr Anliegen im Haus selbst genauer vorbringen und erklären könne. Darauf gab der Löwenmähnenmann nur ein Wort von sich: "Nein!" Als sie fragte, ob das auch die Meinung seines Präsidenten sei, friedfertige Anliegen ohne genauere Kenntnisnahme zurückzuweisen sagte er:

"Unser Präsident hat mir, also Señor Torres, das Hausrecht über diese Hacienda gegeben und mir auch erlaubt, alles was in und mit Mexiko abgeht ohne ständige Nachfragen zu klären. Du sprichst also gerade mit der hier höchstenStelle unserer Gemeinschaft. Und ich sage nein, wir lassen keine langzähnigen Nachtschwärmer zu uns ins Haus. Oder warum meinst du, haben wir die schnuckelige Sonnenkraftglocke hochgezogen, an die ihr euch nicht herantraut? Ganz bestimmt nicht, um drei Bleichgesichter reinzulassen, nur weil sie mit Fahnen schwenken, die gerade so noch eine Spur weißer sind als ihre blutleeren Gesichter. Also gilt: Ich sage nein. Basta!"

"Wollen Sie also meine Ausführungen unter freiem Himmel hören?" fragte Nyctodora ganz kühl. Als immer noch tätige Geschäftsfrau war sie schwierige Unterhandlungen mit lange anhaltender Ablehnungshaltung gewohnt und ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen.

"Du hast was von Unterlagen gesagt, Chefbeterin eurer Irrglaubensgemeinschaft. Wenn du echt davon überzeugt bist, dass wir mit euch einen Frieden aushandeln sollten möchte ich die gerne lesen, sofern die nicht mit einem Erfüllungsfluch oder sowas bekleckert sind. Also wirf das Zeug einfach in unsere Richtung. Meine werte Mitschwester mit den dunklen Haaren hinter mir wird es dann auflesen, prüfen und mir dann zum vorlesen geben."

"Das ist doch unter Ihrer Würde, sich was zuwerfen lassen zu müssen", versuchte es die Hohepriesterin noch einmal. "Sehe ich nicht so, ich war in meiner Jugend ein Straßenköter von Merida, bis ich rausgekriegt habe, dass ich mich auch in einen strammen Menschenburschen verwandeln kann", grinste Torres. "Da haben mir zig Leute was zugeworfen, um mich loszuwerden. Also wirf rüber was immer du zusammengetextet hast!"

"Gut, ich erkkenne an Ihrer Wortwahl, dass Sie gerne die Rolle des proletarischen Rohlings spielen möchten. So sei es dann", sagte Nyctodora immer noch völlig unerschüttert sachlich und bat darum, die betreffenden Unterlagen aus ihrem Priestergewand hervorholen zu dürfen. Dabei sah sie nicht zufällig auf die ihr und ihren Begleitern entgegengehaltenen MP-Läufe. Torres nickte und machte zu beiden Seiten beschwichtigende Handbewegungen. Nyctodora griff an die andere Außentasche ihres Umhanges. Darin trug sie eine diebstahlsichere Pergamentrolle. Sie zog einen der beiden Halteringe ab und warf die Rolle dem Werwolf zu. Dieser fing sie jedoch nicht auf, sondern ließ sie an sich vorbeifliegen. Dann blieb die Pergamentrolle in der Luft stehen und glühte einige Sekunden in einem blauen Licht auf. Dann schwebte sie zu Torres zurück. Der pflückte sie aus der Luft herunter und zog den zweiten Ring ab.

"Ich fürchte die Dunkelheit wird der Lesbarkeit für tageslichtvertraute Augen abträglich sein und ..."setzte Nyctodora an, als Torres die Pergamente auseinanderrollte und zugleich ein helles Licht auf seiner Stirn aufleuchtete. Offenbar hatte er unter seiner wilden Mähne ein Stirnband mit einer magischen Lichtquelle versteckt, dachte die Hohepriesterin, während ihre Begleiter sich die bleichen Hände vor die schmerzgeplagten Augen schlugen. "Oh, zu hell für deine Fahnenträger?" fragte Torres und blickte auf die entrollten Pergamente. Es dauerte nur fünf Sekunden. Dann hatte er die drei Pergamentbögen einmal kurz angesehen. Dann rollte er die beschriebenen Bögen wieder zusammen, steckte den Haltering darauf und warf die Rolle wieder in Richtung Nyctodora. "Ich berede das mal eben mit meinen Leuten. Ihr bleibt sicher noch ein paar Minuten da draußen stehen." Mit diesen Worten ging er zielsicher auf das Haus zu, durchschritt die Türöffnung und verschwand hinter den sich zeitgleich zuklappenden Türhälften. Auch die zwei Waffenläufe zogen sich ins Haus zurück. Fensterläden klappten unüberhörbar zu, sicher Kugelsicher. Die drei Vampire standen nun wieder alleine.

"Der kann unmöglich alles gelesen haben, dachte Nyctodora an die Adresse ihrer Göttin. Diese erwiderte rein gedanklich:

"Doch, kann er. Wenn er ein photographisches Gedächtnis besitzt reichen die wenigen Sekunden aus. Ansonsten kann er anders als ihr einen Gedächtnisverstärkungstrank nehmen, um verschüttete oder in viel zu kurzer Zeit gesehene Dinge in jeder Einzelheit zu erinnern."

"Die haben voll Schiss vor uns", grummelte Piedranoche. "Die denken wohl, wir würden die mal ebenlocker abmurksen", fügte er noch hinzu. Nyctodora sah ihren breit und hoch gebauten Begleiter an und zischte: "Komm, von diesem Werwolf muss ich mir vielleicht solch unterentwickeltes Gerede anhören, aber nicht von meinem Leibwächter."

"Ey, wie redest du denn ... Aarg!" Piedranoche zuckte wie von einem heftigen Schlag getroffen zusammen und stürzte fast. Nightblade sagte schnell:

"Piedranoche meint immer, dass Leute ihn nur aus Angst nicht an sich ranließen. Dabei liegt's an seinem Gestank, dass Leute mit empfindlichen Nasen den nicht näher als zwei Armlängen an sich ranlassen, weshalb der sicher schon fast verhungert wäre."

"Okay, von ihr da darf und muss ich mir wohl was gefallen lassen, Spargel. Aber du kommst mir sicher nicht blöd", schnaubte Piedranoche und zuckte wieder zusammen.

"Siehst du, Mamasita wird böse, wenn du so unterirdisch daherredest", sagte Nightblade. Sein Spanisch trug einen deutlichen US-amerikanischen Akzent. Doch die erwähnte Mutter ließ ihm solche Frechheiten ebensowenig durchgehen wie Piedranoches Respektlosigkeit der Hohepriesterin gegenüber. Auch er zuckte wie unter einem heftigen Schlag zusammen.

"Die Sonne wird erst in sieben Stunden aufgehen. Sollten die dort drinnen befinden, uns bis kurz vor ihrem Aufgang hier draußen warten zu lassen dann sei es so, sofern es der Wille unserer Göttin ist", bestimmte Nyctodora und zog ihren Zauberstab frei. Mit elegantem Schwung zeichnete sie drei Stühle in die Luft, die erst flimmerten, dann um die eigene Achse kreisend herabsanken und beim Aufsetzen zu festen Sitzmöbeln verstofflicht wurden. Sie wollten sich gerade hinsetzen, als jener immer wieder über sie streichende Kälteschauer durch ihre Körper fuhr. Die Stühle flackerten kurz auf und lösten sich übergangslos in Luft auf. "Also auch ein Fremdzaubertilger, der nichts aus reiner Magie bestehen lässt, was außerhalb eines zulässigen Raumes wirkt", gedankenknurrte die Göttin, die weiterhin über die Sinne ihrer drei Gesandten mitverfolgte, wie es weiterging.

"Gut, dann bleiben wir eben stehen", beschloss Nyctodora.

Die Minuten vergingen. Die Sterne wanderten langsam aber unaufhaltsam am Himmel entlang oder besser, die Erde drehte sich unaufhaltsam weiter. der zunehmende Mond ergoss sein bleiches Licht über die Wartenden. Bald würde er wieder voll sein. Ob die da drinnen dann die nächsten Opfer des blauen Lichtes wurden? Nyctodora ertappte sich dabei, dass es ihr im Moment sowas von egal war, ob die da drinnen den nächsten Vollmond überlebten oder nicht. Ebenso konnte eine Fledermaus in China gerade einen Haufen fallen lassen.

Der Himmel und die mitgeführten Armbanduhren verrieten, dass es genau zwei Stunden her war, dass der löwenmähnige Werwolf ins Haus zurückgekehrt war. Nyctodora hatte in der Zeit verschiedene Zauber versucht, um die Gesamtbesatzung des Hauses festzustellen. Doch jeder ihrer Suchzauber war leise knisternd verpufft. Einmal hätte es ihr sogar den Zauberstab zerstört. Offenbar hatten die zwei Hexen da drinnen oder andere Magiekundige ein Geflecht aus Verbergezaubern um das Haus gelegt, vielleicht auch, um sich vor der Quelle des blauen Todeslichtes zu verstecken. Zumindest hielt Nyctodora das für naheliegend.

Die Tür ging auf. Gleichzeitig schoben sich wieder die Läufe der MPs durch die Fenster. Nyctodora fragte sich, warum das sein musste, wo die aus Sonnenkraft bestehende Barriere sie doch zuverlässig vom Haus fernhielt. Sie tat es als Imponiergehabe ab: Seht her, wir sind stark und entschlossen. Solches Getue kannte sie auch und wusste, dass es meistens von in Wirklichkeit mit ihrer eigenen Minderwertigkeit oder Schwäche hadernden Subjekten aufgeführt wurde. Die kleinsten Hunde bellten am meisten, hatte ihre frühere Leibwächterin Alexandra Konstantinides dazu gesagt. Doch sie hatte sie auch gewarnt, die Zähne kleiner Hunde nicht zu unterschätzen.

"Also, ich habe das mit meinen Leuten besprochen, was ihr da aufgeschrieben habt. Weil ich der einzige bin, der Gedächtnistränke schlucken darf musste ich denen das auch aufschreiben. Auch wenn meine Zauberschützerin hinter mir euren Schrieb als unverflucht erkannt hat wollten wir nicht riskieren, das Original reinzuholen, um womöglich beim vorlesen einen Portschlüssel oder wie das Zeuch heißt auszulösen. Gut. Ich hab's also noch einmal ganz schnell aufgeschrieben und dann allen zum Nachlesen gegeben. Die erste Seite klingt schön. Aber die zwei folgenden klingen echt so, als wären wir so dämlich, dass wir uns wegen einer sich selbst als Schattenkönigin bezeichnenden Geisterbraut von euch an die Langlaufleine hängen lassen, um vor euch her gegen die loszulaufen, weil wir nun mal bei Tag ganz locker durch die Welt wetzen können. Sag deiner Göttin, deren Handlungsarm du bist, dass wir, die Bruder- und Schwesternschaft des Mondes, nicht im Ansatz so blöd sind, mit euch einen Frieden zu schließen, nur um uns von euch gegen diese Schattenbiester verheizen zu lassen. Geht's noch?! Ich lass euch die Möglichkeit, gesittet wieder abzuschwirren, damit mir und damit uns Mondgeschwistern keiner nachsagen kann, dass wir eine weiße Fahne missachten würden. Grüßt eure Göttin, wenn ihr sie seht. Wenn sie mit der Schattenmutter Streit hat, soll sie den auch selbst mit ihr ausfechten, wo sie doch so mächtig ist. Und bevor du einwirfst, dass unser Präsident das doch bestimmen sollte, was für die ganze Mondgemeinschaft gilt sage ich gerne noch einmal, dass er mir alle Befugnisse für Mexiko und das nördliche Mittelamerika gegeben hat, was heißt, dass was ich sage auch von ihm selbst gesagt ist. Noch einen schönen Heimweg, die Dame und die Herren."

"Moment mal, so redet kein Mondheuler von uns und unserer Göttin", begehrte Piedranoche auf und starrte Torres an. "Du entschuldigst dich jetzt sofort bei der Hohepriesterin."

"Oder sonst?" fragte Torres provozierend. Nyctodora wollte sich dem schrankbreiten Vammpir in den Weg stellen, ihn zur Ordnung rufen. Doch da war der schon losgespurtet, die auf ihn einschwenkenden Waffen ignorierend. Ebenso missachtete er die flimmernde Barriere, sprang vor, wohl annehmend, die Göttin würde ihm helfen, da durchzukommen. Dann prallte er auf ein unvermittelt aufleuchtendes Hindernis. Das letzte, was die zwei Vampire und die im Haus ausharrenden Werwölfe mitbekamen, war ein kurzer, schriller Aufschrei. Dann fauchte es laut, und da wo Piedranoche gegen den Abwehrschirm geprallt war, stieg eine dampfwolke auf. Von Piedranoche blieben nur die in sich zusammenfallenden Kleidungsstücke, aus denen rußiger Qualm stieg.

"Ups! Ich denke, da stimmst du mir sicher zu, dass das jetzt voll unnötig war, Vampirpredigerin", sagte Torres. Er konnte jedoch seine Schadenfreude nicht ganz verbergen.

"Ich fürchte, ich komme nicht umhin, Ihnen in dieser Einschätzung voll und ganz zuzustimmen", sagte Nyctodora äußerlich kühl. Doch innerlich rangen drei heftige Gefühle um die Vorherrschaft. Da war die bodenlose Enttäuschung, dass ihre Mission derartig gescheitert war. Da war Wut auf diesen sich selbst als Straßenköter bezeichnenden, struweligen Kerl. Und da war die Furcht, dass die Göttin ihr dieses Versagen nicht verzeihen würde.

"Meine Ansage steht, ihr könnt noch ohne von uns beharkt zu werden abrücken. Ihr habt dafür zwei Minuten Zeit. Seit ihr dann noch im Erfassungsbereich unseres Fremdblutfindezaubers knipsen meine Mitbrüder dich und deinen Mitläufer aus und schicken eure Seelen auf die Sonnenoberfläche, was für euch ja der Inbegriff der Hölle sein soll. Die Sanduhr läuft ab jetzt."

"Falls Sie uns töten, obwohl wir weiße Fahnen zeigen, würden Sie aller Welt zeigen, dass Sie keine Ehrenleute sind, Señor Torres", sagte Nyctodora.

"Wer will das dann bezeugen, wo außer Ihnen und uns keiner hier ist?" fragte der löwenmähnige zurück. "Abgesehen davon haben Euresgleichen auch schon welche von uns hinterrücks umgebracht, die versucht haben, um etwas Ruhe und Frieden zu bitten. Eure allmächtige Göttin weiß das sicher auch, denn Allmacht setzt Allwissenheit voraus", fügte er noch hinzu und erntete ein vielstimmiges Lachen.

"Macht ihn zum Gläubigen!" peitschte die Gedankenstimme der erwachten Göttin durch Nyctodoras und Nightblades Bewusstsein. Die beiden erstarrten erst. Dann wandten sie sich um. Nyctodora lächelte und zeigte dabei ihre weißen Fangzähne. "Die Göttin erweist euch die Gunst, ihrer ansichtig werden zu dürfen", sagte sie und breitete beschwörerisch ihre Arme aus. Nightblade verharrte in einer angespannten Haltung. Dann entstanden blutrote Funken genau im Schnittpunkt der beiden Linien, die von den Vampiren fort zu Torres hinführten. Doch die Funken verflogen nach nur zehn Sekunden. Dann entstanden sie neu, wirbelten immer dichter umher, um dann mit einem kurzen hellen Flackern wieder zu verschwinden. Gleichzeitig glühte es auch um das Wohnhaus der Haacienda in einem sachten orangen Ton. Wieder versuchten sich rote Funken zu verdichten. Wieder flackerte es hell auf. Jetzt konnte Nyctodora es genau sehen, wie von der sonst unsichtbaren Wand her goldene Funken in die rote Wolke hineinstoben und sie flackern ließen. Die Hohepriesterin wusste nicht, ob die in ihr hochkochende Wut ihre eigene war oder eine ferngefühlsmäßige Übermittlung der erwachten Göttin.

"Ja, sieht spannend aus, ohne Zauberstab so schöne rote Funken zu machen. Aber ihr wolltet uns doch eure neue Göttin zeigen", schlug der Mann mit der Löwenmähne in die entstandene Seelenwunde Nyctodoras. Dann sagte eine der Frauen, die dunkles Haar hatte und scheinbar keine reinrassige Europäerin war: "Der Schutzwall Intis verbietet es eurer Göttin wohl, sich bei uns zu zeigen. Dann geht besser nach Hause, wo die Gesetze der Nacht gelten und bittet eure Göttin für euer Versagen um Gnade!"

"Wir sind zu wenig. Herrin, sende uns mehr deiner treuen Kinder, um dein herrliches Abbild an diesen Ort zu rufen!" flehte Nyctodora ihre Göttin an. Ihr war es nicht nur peinlich, als Hohepriesterin derartig zu versagen, sondern ärgerte sie auch, weil sie diesen Leuten da nicht ihre ganze Macht zeigen konnte. Ihr Flehen wurde jedoch nicht erhört. Die Göttin schickte keine weiteren ihrer Kinder an diesen Ort, um mit diesen zusammen ihr vollgestaltliches Abbild herbeizurufen. Eine halbe Minute später sagte Torres: "Gut, von den zwei Minuten ist schon wieder eine halbe um. Ihr habt nur noch eine Dreiviertelminute. Seid ihr dann nicht aus unserer Überwachungsreichweite verschwunden, verschwindet ihr für immer. Wie erwähnt, keiner würde uns wegen der Missachtung der weißen Fahne dummkommen, außer eurer funk-elnden Göttin."

"Dir wird jeder Spott vergehen, Löwenmähne, wenn die Göttin befindet, dass wir ihr dein Blut opfern sollen", knurrte Nightblade, während Nyctodora ihm bereits winkte, mit ihm zu kommen.

"Morgen um zwölf uhr Mittags hätte ich Zeit dafür", sagte Torres. Dann zog er sich zurück, um seinen Mitbrüdern mit ihren MPs ein völlig freies Schussfeld zu bieten.

"Los, lauf, Nightblade!" zischte Nyctodora und lief los. Der verbliebene Geleitschützer stutzte erst. Dann rannte er hinter seiner Hohepriesterin her. Nyctodora ging davon aus, dass sie wieder genausoweit vom Haus entfernt sein musste, wie sie war, als sie hier ankamen. Das waren also mehr als hundert Meter von der flimmernden Abschirmgrenze entfernt. Sie zweifelte nicht daran, dass die Werwölfe ihre Drohung wahrmachen würden. Die hatten gerade sowas von Oberwasser, dass sie sich zu einer derartigen Entgleisung ungeschriebener Gesetze der Unterhandlung verleiten ließen. Sicher, wenn die mit den MPs mit normalen Kugeln schossen würden die nichts bringen, weil Nightblade einen kugelsicheren Helm aufhatte und Nyctodoras Kapuzenumhang gegen alle Arten von Geschossen gepanzert war, selbst gegen Brandgeschosse. Doch sie hatte das höchst ungute Gefühl, dass die Werwölfe mit anderen Geschossen feuern würden oder dass diese beim Aufprall andere Kräfte freisetzen mochten.

Sie erreichten gerade die Stelle, von wo sie auf das Haus zugegangen waren, als sie von einer wild sirrenden Wolke kleiner, schneller Objekte umflogen wurden. Dann sahen sie, was passierte, wenn eines der Geschosse irgendwo aufschlug. Denn fünf von denen klatschten auf den Boden und barsten mit scharfen Knällen zu menschengroßen orangeroten Feuerbällen auseinander. Eine laut zischende, wogende Wolke aus Flammen stand für vier Sekunden vor den Vampiren und strahlte eine sengende Hitze aus. Dann fiel die Lohe laut fauchend wieder in sich zusammen. Weiter weg blühten weitere Feuerbälle auf, hüpften flackernd über den Bodenund fielen in sich zusammen.

"Ihr müsst noch weiter weg! Sie dürfen nicht sehen, wie ich euch hole", befahl die Göttin. Da flog eine weitere Garbe Geschosse heran. Gleich vier prallten auf Nightblade und wurden abgelenkt. Doch die dafür anschwirrenden Geschosse detonierten sofort zu hellen Feuerbällen. Nyctodora wurde in eine leuchtende Kugel aus lodernden Flammen eingehüllt. Doch aus ihrem eigenen Körper strömte eine starke Kraft, die ihr die verzehrende Glut vom Leib und dem was sie bei sich trug abhielt. Nightblade hatte jedoch nicht dieses Glück. Sie hörte einen kurzen Aufschrei und fühlte dessen Todesqual. Dann war er einfach nicht mehr da, ausgelöscht durch einen Schwarm ineinanderfließender Feuerbälle.

Als die Feuerwolke sich endlich verflüchtigte fand sich Nyctodora auf dem Grund eines flachen, dampfenden Kraters wieder. Immer noch wirkte etwas aus ihr heraus, dass ihr die Glut vom Leib hielt. Sie konnte dem blubbernden, schlammartigen Brei entsteigen, in den sich der Boden verwandelt hatte. Dann war sie frei. Sie nahm ihren Zauberstab. Sie wusste nicht, ob sie einen nochmaligen Feuerschlag überstehen würde und wusste auch nicht, warum die Göttin sie nicht im Schattenstrudel eingefangen und fortgerissen hatte. Sie verließ sich lieber auf die ihr beigebrachte Kunst des Apparierens. Sie drehte sich schnell, wobei sie die Chefetage des kleinen Flughafens bei Buenos Aires imaginierte. Dann verschwand sie in jener zusammenquetschenden Dunkelheit zwischen Hiersein und Dortsein.

"Ich hoffe, du hast die Lektion begriffen, die ich dir geben musste, meine Hohepriesterin", gedankensprach die Stimme der Göttin mit unterdrücktem Zorn. Nyctodora fragte: "Welche Lektion, meine Göttin. Ich habe nichts getan, was dich erzürnen musste. Die Werwölfe wollten dir einfach nicht folgen."

"Du hast versäumt, Piedranoche zurückzuhalten, als er Anstalten machte, in sein Verderben zu laufen. Deshalb fehlte einer, der euch half, meine Avatari zu rufen", gedankenschnaubte die Göttin. "Denn diese vermaledeite Sonnenhexe hatte recht. Ihre Zauberei überwog dort, wo ihr wart die Kraft eures Willens, mich zu manifestieren. Deshalb sandte ich dir auch keine Unterstützung. Deshalb wollte ich, dass ihr aus eigener Kraft entflieht. Doch Nightblade war zu langsam. Dafür ruht seine Seele nun in mir und ist eins mit meinem Sein. Ob dir dieses große Glück einmal vergönnt sein wird liegt ganz bei dir. Versagst du noch einmal in Ausübung meines Wortes, so lasse ich deine Seele nicht in mir aufgehen, sondern zerstöre deinen Menschenleib und treibe deine Seele in den Leib einer niederen Kreatur, vielleicht einer Wanze oder einer Küchenschabe. Also erweise dich mir und meinem Willen zukünftig erfolgreich und gehorsam!" Nyctodora hatte erwartet, dass ihr die Hölle oder etwas vergleichbares angedroht werden mochte. Doch in niederer Lebensform weiterzuexistieren erschien ihr das größere Übel als alle Höllen der Weltreligionen zusammen. Sie konnte ja nicht wissen, dass die Göttin in Wirklichkeit überspielen musste, wie schwach und hilflos sie sich selbst gefühlt hatte und wie sehr das Scheitern der Mission "Nationen der Nacht" auf allen tausend Seelen lag. Nyctodora konnte nicht wissen, wie stark Gooriaimiria damit haderte, heute noch weitere Grenzen aufgezeigt bekommen zu haben. Der Zauber Intis, den sie selbst für eine erfundene Gottheit hielt, hatte ihr, der wahren Göttin der Nacht, den Zugang zum Haus der Mondbrüder verwehrt und sie auch daran gehindert, ihre drei Kinder rechtzeitig von dort wegzuholen, ja dass sie Piedranoche nicht mehr rechtzeitig zurückgerufen hatte, bevor der sich in diese widerliche Abwehrmauer hineinwarf."

Nyctodora wusste nur eines ganz sicher: Dies war die zweite größere Niederlage, die sie nach dem Verlust des erwählten Klosters hatte hinnehmen müssen. Wie oft würde ihr diese Göttin, die sonst so mächtig war, noch gnädig sein? Wie groß war ihr Wert noch? Diese Fragen konnte sie nicht beantworten. So blieb ihr nur, ab jetzt wieder Erfolge für sich und die große Mutter der Nacht einzufahren.

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"Die hat zehn gleichzeitig um sie aufglühende Feuerbälle überlebt", staunte Patanegra, als sie und León del Fuego zusahen, wie sich die sogenannte Hohepriesterin aus der orangeroten Glutwolke herausgelöst hatte und den glühenden flachen Krater verließ um außerhalb davon zu disapparieren.

"Wir dürfen also weitermelden, dass diese schwarzen Strudel in der Nähe von Intis Schutzwall nicht entstehen können und dass die als Hohepriesterin bezeichnete Blutsaugerin nicht nur eine volleinsatzfähige Hexe ist, sondern wohl auch Feuerschutzzauber ähnlich dem Flammengefrierzauber kann, um sich abzusichern", bemerkte der Bereichsleiter des Mondgeschwisterstützpunktes Mexiko.

Im großen Besprechungssaal tauschten die Lykanthropen noch einmal ihre Eindrücke aus und lasen die von kleinen thaumaturgischen Geräten mitgeschriebenen Werte. Es war schon sehr gut zu wissen, dass der schwarze Strudel, der die drei Vampire in der Nähe abgeladen hatte, nicht näher als zweihundert Meter an das Haus heranreichen konnte, sobald Intis Schutzwall stand. Offenbar konnte er auch nicht weniger als drei Meter über dem Boden enden. Das führte Patanegra darauf zurück, dass sie und Madrugadiña in den letzten vierzehn Tagen Spuren aus eigenem Blut wie große Spiralen um das Gehöft gezogen und mit Liedern Intis und der nährenden Mutter Pacha Mama besungen hatten. Doch das beste war, dass die von Fino und Madrugadiña erfundenen Sonnenblasen wahrhaftig eine Gruppe gewöhnlicher Vampire auslöschen konnte. Die Schützen mussten halt nur die Schutzamulette tragen, die mit Segenszaubern Intis besungen worden waren, um nicht aus Versehen selbst in die auflodernden Vernichtungsgluten zu geraten.

"Gut, wir halten fest, dass Intis Schutzwall nicht nur bei unmittelbarem Kontakt die dunkle Magie dieser Abgöttin stört, sondern wohl schon in Sichtweite. Sonst hätte sie ihre Handlanger sicher erstens näher an eurem Haus abgesetzt, diese auch nicht aus drei Metern Höhe abstürzen lassen, drittens wohl alle von ihr losgeschickten Handlanger mit einem schwarzen Strudel eingesaugt, als du, Leo, ihnen das Ultimatum gestellt hast. Viertens hätte sie sich sicher gerne als die rote Avatarin oder Avatari manifestiert, die unsere Erkundervögel mal beobachtet haben, gerade um uns zu zeigen, dass es sie doch gibt. Sie ist jetzt angeschlagen, verwundet, wenn ihr das besser versteht. Es gibt kein gefährlicheres Wesen als ein verwundetes Raubtier, und diese Götzin ist mit Abstand das gefährlichste Raubtier, mit dem wir überhaupt zu tun haben können. Selbst die Männerfresserinnen, die als Töchter des Abgrunds bezeichnet werden, könnten da noch gegen abstinken."

"Lunera, aber diese Schattendämonin scheint ihr auch Grenzen aufgezeigt zu haben", wandte Patanegra ein. Darauf klang aus der mit Lunera auf der Mondlichtungsinsel verbundenen Silberdose: "Ja, und genau deshalb wird sie nun planen, was sie anstellen kann, um ihren angekratzten Nimbus der Allmacht wieder auszubessern. Jedenfalls habt ihr zwei Süßen in den nächsten Tagen genug zu tun, Patanegra und Madrugadiña. Dieser Schutzwallzauber muss an allen nicht durch Fidelius-Zauber oder die druidischen Verhüllungszauber gesicherten Stützpunkten hochgezogen werden, damit diese Götzinnenbrut uns nicht doch noch vor dem nächsten Vollmond dummkommt oder diese Schattendämonin. Denn ich gehe jetzt ganz zuversichtlich von aus, dass der Schutzwall auch die niederen oder mittleren Nachtschatten abwehrt. Ob das auch mit der selbsternannten Königin der Schattenwesen geschieht wage ich im Moment nicht zu beurteilen. Ich danke euch auf jedenFall für euer Ausharren. Seht zu, dass die anderen Schutzzauber noch vor dem nächstenVollmond stehen und bleibt nach Möglichkeit unauffällig!"

"Schon aus ganz eigenen Gründen", sagte León del Fuego.

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Universitätsklinikum von Alice Springs, Australien, 03.11.2003, 19:30 Uhr Ortszeit

Der Klinikleiter und der örtliche Polizeichef von Alice Springs badeten einige Sekunden im Blitzlichtgewitter der zusammengetretenen Presse. Es galt nun, die Rettung der sechs seit Wochen unter dem Uluru verschüttet gewesenen Amerikaner zu verkünden und dass die drei Männer und drei Frauen trotz der starken Desorientierung und dem beinahe tödlichen Wasser- und Nahrungsmangel einigermaßen Ansprechbar waren. Vorsorglich wurden sie noch in abgedunkelten Räumen verwahrt, um sie langsam wieder an normale Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Der Polizeichef präsentierte die Tagebücher der sechs Mann. Vor allem das Tagebuch von Sean O'Shaye und das von Simon Waxman waren sehr aufschlussreich gewesen. Demnach hätten sie durch die Entnahme einer Gesteinsprobe einen mittelschweren Erdrutsch ausgelöst, der den Weg nach draußen versperrt habe. Somit hatten sie dann in den kommenden Wochen unter sehr strenger Rationierung von Nahrung, Wasser und Taschenlampenlicht nach anderen Ausgängen gesucht. Erst ein Suchtrupp der australischen Armee habe den verschütteten Zugang wieder freiräumen und die sechs Verschütteten finden können. "Der Gouverneur des Nordterritoriums hat im Zuge dieser beinahen Tragödie jede weitere Erkundung der Höhlensysteme unter dem Uluru bis auf weiteres untersagt, bis geklärt ist, ob die sechs aus Fahrlässigkeit oder durch unglückliche Umstände innerhalb des uralten Höhlensystems in Not gerieten. Jedenfalls standen die australische Bundesregierung und der Gouverneur des Nordterritoriums mit der US-Regierung in ständigem Kontakt, um einen baldigen Rücktransport der sechs Geretteten in die Staaten zu gewährleisten. Inwieweit die von den drei Männernund drei Frauen genommenen Stein, Luft- und Wasserproben in die USA geschickt werden oder in Australien verbleiben sollten war Gegenstand einer anderen Verhandlung. Da die Gesteinsproben ja aus den Tiefen des Uluru entnommen waren hatten sich schon Sprecher der Anangu zu Wort gemeldet, welche die Rückgabe der Gesteinsproben an den heiligen Berg forderten. einer der Ureinwohner hatte sogar im Fernsehen behauptet, die sechs hätten den Berg erzürnt, weil sie in ihm herumgelaufen waren und dann noch was aus ihm herausgeschlagen hätten, und dass der Einschluss der sechs eine Warnung sei, den Höhlen unterhalb des scheinbar alleinstehenden Sandsteinberges ihren Frieden zu lassen, oder wer würde es schon hinnehmen, wenn jemand in seinem Körper herumkrieche und dann noch was daraus herausschneide? Jedenfalls hatten die Zeitungen aus aller Welt was für die erste Seite.

Ende des 3. Teils

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