VON TÖCHTERN UND SÖHNEN

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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P R O L O G

Während in der nichtmagischen Welt der von den USA ausgerufene weltweite Krieg gegen den Terrorismus in Afghanistan und dem Irak geführt wird streiten sich weiterhin verschiedene Interessengruppen um Einfluss in der magischen Welt. Die von der Gruppe Vita Magica durch eine Fortpflanzungsanregungsmixtur ausgelöste Massenzeugung treib die Bewohner Millemerveilles um, für die über siebenhundert im Frühling 2004 erwarteten Kinder vorzusorgen. Dabei sollen auch die ausgebildeten Pflegehelfer Julius und Mildrid Latierre assistieren, sowie die zur Zeit von Sardonias dunkler Kuppel in Millemerveilles untergekommene Heilerin Béatrice Latierre.

Durch die im April über die Welt gebrandete Woge dunkler Magie wird ein alter Silberkessel der Hexenmeisterin Morgause verstärkt. Um ihn kämpfen die wiedererwachte Teilveelastämmige Ladonna Montefiori und die Führerin der schwarzen Spinne Anthelia. Der Kessel wird dabei zerstört und der darin eingebettete Geist Morgauses als weiblicher Nachtschatten freigesetzt. Doch Morgauses ungewollte Freiheit endet schon bald, weil sie von der aus mehreren Seelen zusammengefügten Nachtschattenmatriarchin Birgute Hinrichter aufgespürt und vertilgt wird. Dadurch gewinnt Birgute noch mehr Kraft, als die dunkle Zauberkraftwoge ihr ohnehin schon zugeführt hat. Deshalb kann diese sich auch in ersten direkten Begegnungen gegen die von Gooriaimiria gelenkten und verstärkten Vampire behaupten.

Die transvitale Entität Ammayamiria erbittet in den Träumen der für sie erreichbaren, dass diese mit dem Wissen Madrashainorians und den vereinten Kräften der Kinder Ashtarias ein Ritual durchführen, um Millemerveilles mit einer neuen, diesmal aus reiner Lebensbejahungsmagie erzeugten Absicherung zu schützen. Hierzu lassen Camille und Julius einen Monat lang neue Bäume mit Ashtarias Segenszauber belegt heranwachsen. Während der Zeit nimmt Julius an mehreren Hochzeitsfeiern teil. Jene für den muggelstämmigen Pierre Marceau und die Viertelveela Gabrielle Delacour wird beinahe zum Supergau für die Zaubereigeheimhaltung. Denn das kleine Schloss bei Amien, wo die Hochzeit stattfindet, entpuppt sich als Spionagenest, von dem aus wohlhabende oder wichtige Gäste überwacht und ausgeforscht werden. Nur Millies mütterliche Sorge vor einem drohenden Waldbrand bringt Julius darauf, die Sicherheitszentrale zu besuchen und dabei die heimliche Überwachung aufzudecken und zu beenden.

Als die Latierres zusammen mit den in Millemerveilles anwesenden Kindern Ashtarias das Ritual der starken Mutter Erde mit Schutzbannen des Feuers, des Wassers und der vereinten Kraft von drei Heilssymbolen Ashtarias vollenden entsteht eine riesenhafte Erscheinungsform Ammayamirias, welche die Ritualausführenden in sich aufnimmt und mit der von allen aufgerufenen Kraft ein dichtes Netz aus Lebensmagie zwischen den vorbehandelten Bäumen spinnt, das ganz Millemerveilles überdeckt. Dabei bekommen die Beteiligten einen Ausdauervorwegschub von mehr als vier Tagen. Deshalb müssen sie mehrere Tage am Stück schlafen, um die vorweggenommene Kraft auszugleichen.

Spät nach Durchzug der Woge dunkler Magie, Ende August 2003, entsteigen vier im Felsenberg Uluru eingekerkerte Schlangenmenschen ihrem steinernen Gefängnis. Weil die Stimme ihres Meisters nicht zu hören ist erwachen sie zu eigenständigen Wesen mit nach langer Unterdrückung auflodernden Trieben. So kommt es zunächst zu einer wilden Paarungsorgie, wo jeder der Männlichen mit jeder der Weiblichen zusammenfindet. Weil die Schlangenmenschen nicht mehr bei Sonnenlicht ihre volle Stärke haben und sich auch nicht weit voneinander entfernen dürfen warten sie in ihrem Höhlenversteck auf neue Opfer. Eine Gruppe aus sechs amerikanischen Höhlenkundlern hat die fragwürdige Ehre, zu den ersten Skyllianri nach Ende ihres Schöpfers zu werden. Auch die neuen Schlangenmenschen erliegen erst einem Fortpflanzungsrausch. Die drei neuen Schlangenfrauen legen über hundert Eier in einer anderen Höhle ab. Danach schwärmen sie aus, um neue Artgenossen zu erschaffen. Zu diesen gehört bald die Rucksacktouristin Lissy Thornhill, die dann wiederum ihre frühere Internatsschule heimsucht, wo nur Mädchen unterrichtet werden. Weil sie vorher eine Bekannte anzugreifen versucht, die unzureichende Zauberkräfte hat, wird das Zaubereiministerium auf die neue Bedrohung aufmerksam. Es kommt zu einem über mehrere Wochen andauernden Katz-und-Maus-Spiel zwischen dem Zaubereiministerium und den Schlangenmenschen. Dabei bekommen die Australier gewollte Hilfe von den europäischen Hexen und Zauberern, die Riesen- und Halbriesenblut zur Verfügung stellen, weil das ein probates Gegengift zu sein scheint. Daneben greift auch Anthelia in die Jagd auf die Schlangenkrieger ein, indem sie hundert nachgezüchtete Entomanthropen aus Überdauerungsschlaf weckt und nach Australien schafft. Die Heilmagier finden heraus, dass das Skyllianrigift bei Berührung mit purem Gold seine Wirkung verliert und wollen herausfinden, wie damit betroffene in gewöhnliche Menschen zurückverwandelt werden können. Unter Ausnutzung der Wechselwirkung zwischen Schlangenkriegern und Magnetfeldern können viele der ausgeschwärmten Krieger der ersten und zweiten Gruppe ergriffen und auf weit vor der Küste ankernden Schiffen zusammengelegt werden, wo der sie kräftigende Kontakt mit der Erde unterbunden wird. Die Entscheidung bringt jedoch ein von allen Magierinnen und Magiern der australischen Ureinwohner durchgeführtes Ritual am Uluru, dass den Berg von allen dunklen Kräften freispült und zugleich dessen eigene Kräfte dermaßen verstärkt, dass die darunter nistenden Schlangenkrieger unrettbar in die Tiefen der Erde verdrängt und dort vernichtet werden. Mit ihnen stirbt auch deren Brut, die sich als zu aggressiv auch gegenüber den eigenen Geschwister herausstellt. Anthelia und Julius, die beide mit der Erdmagie des alten Reiches vertraut wurden, spüren die Welle der Befreiung durch die ganze Welt gehen. Nun können alle Schlangenmenschen aufgespürt und mit Hilfe goldhaltiger Blutreinigungsmethoden und dem Breitbandgegengift AD 999 behandelt und geheilt werden. Die letzten Betroffenen dürfen, sofern sie nicht zu sehr in der Öffentlichkeit auffielen, in ihr früheres Leben zurückkehren.

Die magische Welt hofft darauf, im nächsten Jahr die bestehenden Bedrohungen eindämmen zu können. Diese Hoffnung begleitet die Hexen und Zauberer durch die letzten Wochen des Jahres 2003.

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Maria Incarnación Menares Bondego starrte in einer Mischung aus erstaunen und Unbehagen in den aus sich selbst golden strahlenden Krug, der so hoch wie ein ausgewachsener Mensch vor ihr stand. Sie fragte sich hier und jetzt, ob sie nicht doch den entscheidenden Schritt zu weit gegangen war und mit dem Teufel selbst oder zumindest mit einer seiner Töchter einen verhängnisvollen Pakt eingegangen war. Am Ende war dieser Krug mit dem orangerot glühenden Zeug, das nicht flüssig und nicht gasförmig war, der Einstieg zur Hölle selbst. Sie wusste, das Loli hinter ihr stand und wartete, wie sie sich entscheiden würde. Loli hatte Maruja die Freuden der gleichgeschlechtlichen Liebe gezeigt und sie damit an sich gebunden. Sie wusste auch, dass sie in einer durch Zauberei aufgegangenen Höhle stand, deren Eingang hinter den beiden wieder zugegangen war. Ihr war klar, dass sie hier von sich aus nicht mehr weg konnte. War es also zu spät? Dann fühlte sie wieder dieses betörende Kribbeln in sich, dieses Begehren nach der überirdisch schönen Frau, die mehr war als nur eine besonders fähige Kollegin im Rotlichtmilieu. Die da hinter ihr war ein Zauberwesen, vielleicht eine Hexe oder gar eine Dämonin. Doch verdammt noch mal und egal was die Pfaffen ihr früher gepredigt hatten, sie wollte weiterhin mit dieser Frau zusammensein, mit ihr immer mal wieder wilden Sex haben.

Gut, im Moment ging das nicht, weil Loli sich ein Kind eingehandelt hatte, dass sie im November kriegen wollte. An und für sich passte jede gute Hure darauf auf, sich nicht schwängern zu lassen, und Loli war mehr als nur gut. Dann hatte sie erfahren, dass sie einen englischen Arzt dabeigekriegt hatte und das Kind von dem war. Tja, und wie Maria Menares Bondego alias Maruja wusste, kriegte Loli immer, wen und was sie wollte. Die würde diesem Engländer unterjubeln , dass sie mit seinem Kind im Bauch den Absprung aus dem Sexgewerbe hinlegen wollte, wenn er sie heiratete und das in ihr steckende Kind mit ihr zusammen großfütterte.

Ja, und jetzt stand Maruja hier vor diesem Krug und starrte in das orangerote Zeug. Sie fühlte keine Wärme davon ausgehen, also keine Glut. Sie begriff aber, dass das Zeugs da im Krug nicht im Sinne natürlicher oder gar kirchlicher Regeln zusammengebraut worden war.

"Ich verstehe, dass du Angst vor dem hast, was in dem Krug ist, Maruja", sprach Loli mit ihrer unbegreiflich tollen Stimme zu ihr. "Doch wenn du weiterhin meine einzig wahre Nachtgefährtin bleiben und mich an jedem Ort der Welt erreichen und lieben möchtest, so musst du zusammen mit mir und der Kleinen in meiner prallen Unterstube in diesem Krug baden und dich dabei an mir festhalten. Falls du das nicht möchtest, dann bring ich dich wieder in die Casa del Sol und mach, dass du alles vergisst, was wir beide im Mai und danach erlebt haben. Die Wahl ist deine, meine Nachtfee."

Die letzten Worte und der ihr zugedachte Kosename hallten noch einige Sekunden in der kuppelförmigen Höhle nach. Maruja drehte sich um und sah, wie sich Loli langsam aus ihren Sachen schälte, wie eine Nachtclubtänzerin, als die Maruja als blutjunges Ding angefangen hatte, weil sie außer ihrem Körper nichts hatte, wofür sie Geld bekommen konnte. Die Bewegungen, die Anmut und die Entschlossenheit Lolis fegten die letzten Bedenken aus Marujas Gedanken. Diese Frau da war ihre erste rein lesbische Liebschaft. Die konnte jede andere Frau genauso um den Finger wickeln wie jeden Mann. Aber die wollte sie, ihre Stellvertreterin im Sonnenhaus. Ohne es sofort zu merken fing Maruja an, sich ihre Bluse aufzuknöpfen. Dann legte sie ganz bewusst und wie sie meinte ganz entschlossen ihre Kleidung ab. Falls Loli und sie jetzt in die Hölle fuhren brauchte sie da eh keine Klamotten mehr, weil es da mehr als ausreichend warm war.

Die beiden Frauen gingen aufeinander zu und stellten sich nebeneinander hin. Dann umfing Loli ihre sich noch gut haltende Stellvertreterin mit dem rechten Arm. Beide gingen dann langsam auf den goldenen Krug zu. Wie Loli es vormachte stellte Maruja einen Fuß in einen der wuchtigen Henkel und zog sich mit den Händen am Rand hoch. Noch einmal sah sie in das orangerote Zeug hinein. Dann fühlte sie, wie Loli mit ihr zusammen vorne überkippte und genau in dieses unbestimmte, aus sich selbst glühende Gebräu hineinfiel. Maruja konnte einen kurzen Aufschrei nicht unterdrücken.

Sie hatte mit sengender Glut gerechnet. Doch sie meinte, in einen warmen Wind hineinzugleiten und doch auch gleich sowas wie viel Wasser um sich herum zu fühlen. Sie fühlte, wie sich Loli an sie drückte, als wolle sie hier und jetzt mit ihr Liebe machen. Dann atmete sie den orangeroten Kram ein und fühlte, wie das Zeug sie nun von innen her stärkte, es in ihr kribbelte, ja aber auch irgendwie durcheinanderbrachte. Sie fürchtete, sich gleich in diesem Zeug aufzulösen und wusste in der einen Sekunde, dass dieses Zeug genau daraus bestand, aus Leuten, die vorher in diesen Krug geraten waren und dann von einer unheimlichen Zauberkraft in dieses orangerote Zeug verwandelt worden waren. Ja, und sie atmete, ja trank dieses Zeug nun in sich hinein, ließ es in ihren eigenen Körper rein und da was mit ihr anstellen, was sie vorher nicht gedacht hatte. Doch sie fühlte auch Loli, die sie nun mit Armen und Beinen umschlungen hielt. Sie war die Sicherheit, der Fels in der Brandung, der Anker, der sie hielt, damit sie nicht auch in diesem orangeroten Zeug zerging wie Butter in der heißen Pfanne.

Sie hörte Lolis Stimme, die in einer ihr völlig fremden Sprache sang. Ihre Stimme hallte wie aus weiter Ferne wider und war auch in ihrem Kopf, als hätte sie dort einen Lautsprecher statt ihres Gehirns. Dann fühlte sie, wie mit jedem Atemzug die in sie eindringende Kraft stärker wurde. Sie hörte Lolis Gesang, beschwörend, beruhigend und betörend zugleich. Bei jedem der fremdsprachigen Worte sah sie Bilder von fremden Männern, die sich in Verzückung oder todesqualen stöhnend vor ihr wanden. Sie fühlte, wie andere Gedanken in ihren Kopf gerieten, Gedanken daran, dass sie nun die stärkste und zugleich schönste und unverwüstlichste Frau werden würde. Ja, und dann hörte sie Lolis Stimme noch lauter in sich als von außen und eine zweite, leicht angenervte Stimme wie hinter einer dicken Wand nölen: "Eh, Mutter, gib der nicht mehr als mir damals!" Doch Loli schien das nicht zu hören. Sie sang ihr Zauberlied weiter, mit dem sie Maruja und die orangerote Hexenbrühe mehr und mehr aufeinander einstimmte, bis Maruja fühlte, wie es regelrecht in ihr explodierte und mit einer Mischung aus Schmerzen und Wonne aus ihr hinausbrach. Alles um sie herum schien sich zu drehen. Sie fühlte, wie sie in diesem glühenden Gebräu auf und abwippten wie in einem auf schnelle Wellen eingestelltem Wellenbad. Das war ja noch besser als der beste Sex, den sie in ihrer langen Profikarriere je hinbekommen hatte. Jetzt wusste sie, woher Loli ihre Anmut, ihre Macht und ihre Stärke bezog. Sie konnte sich von Liebeslust und Lebenskraft ernähren. Sie war ein Succubus, ein den Dämonen zugeordnetes Wesen, das arglose Männer oder Frauen bei Nacht heimsuchte, um sich ähnlich wie ein ... "Denk das Wort nicht einmal!" peitschte Lolis sehr verärgerte Stimme durch ihren Geist. Dann war sie wieder ganz und gar dem Rausch der wellenartigen Kraftstöße und der sie durchbrandenden Schauer aus Schmerz und Lust hingegeben.

Mit einem letzten Aufschrei der Verzückung erwachte Maruja und fand sich mit schnell schlagendem Herzen in ihrem Bett liegen. Sie keuchte. Sie hatte geträumt. Doch dieser Traum war kein Hirngespinnst. Das was sie da geträumt hatte war vor acht Wochen echt passiert. Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen und sah auf ihren kleinen Funkwecker auf dem mit einer blau-weiß-grünen Wolldecke bezogenen Nachttisch: 04:30:29. Dann erinnerte sie sich auch, dass heute der 3. November 2003 war. Vor zwei Wochen hatte Loli diesen Arzt aus London geheiratet, nicht kirchlich, weil er Anglikaner und Sie keine Katholikin war. Außerdem hatten sie beide verdammt viel Wert darauf gelegt, kein großes Aufsehen darum zu machen, dass eine schon gut sichtbar schwangere Frau aus Spanien mit einem renommierten Internisten und Spezialisten für Intensivmedizin die Ehe einging, wo sie die Hochzeitsnacht schon mehr als sieben Monate vorher durchgezogen hatten. Gut, Maruja war Trauzeugin gewesen und hatte da zum dritten Mal im Leben ein schickes, echt damenhaftes Kleid getragen. Doch außer ihr und Lyndons Freund Pete, der immer wieder sehr schadenfroh auf die zwei geglotzt hatte, wenn sie dem Standesbeamten zuhörten, war keiner im Standesamt von London dabei gewesen. Tja, und zwei Stunden später war Maruja wieder in Sevilla angekommen, nicht mit dem Flugzeug. Denn sie hatte nach dem Bad im goldenen Höllenkrug von Loli gezeigt bekommen, wie sie sich ohne Hilfsmittel wie Zaubermantel, Flugteppich oder Transporterstrahlgerät an ihr schon bekannte Orte hinbeamen konnte, was Loli Wunschreisen nannte. Außerdem konnte sie mit Loli nun noch besser in Gedanken sprechen, ja sogar von ihr Bilder zugeschickt bekommen und ihr selbst welche zuschicken. Dann hatte sie nach einigen Tagen gelernt, dass sie mit reiner Gedankenkraft Sachen einfrieren und brennendes Feuer durch konzentriertes Denken zusammenfallen und ausgehen lassen konnte. Sie erinnerte sich an ihre Schulmädchenzeit, wo einer ihrer ersten Versuche in Sachen Männerbeziehungen was von Mutantenkräften erzählt hatte und die ähnlich wie Fremdsprachenvokabeln aufgezählt hatte. Wenn jemand was mit reiner Gedankenkraft fernsteuern oder fliegen lassen konnte hieß das Teleekinese. Wenn jemand etwas durch konzentriertes Denken in Brand setzen oder verglühen lassen konnte hieß das Pyrokinese. Ja, und das, was sie jetzt konnte, das Gegenteil von Feuermachen oder Verglühenlassen nannte sich Kryokinese, von Eis und Bewegung. "Sei immer sehr vorsichtig mit diesen neuen Fertigkeiten, Maruja. Du darfst genausowenig auffallen wie ich", hatte Loli sie gewarnt und ihr vorgeführt, dass sie ihr was Vereisungszauber oder Mutantenkräfte anging noch weit überlegen war. Dann hatte sie Maruja klar und deutlich angesagt, wie es weitergehen würde. Maruja war nun die Stellvertreterin des schwarzen Engels, welcher niemand anderes war als Teresa Dolores Herrero. Sie sollte nun auf die ganzen freischaffenden Freudenmädchen auf den Straßen von Sevilla und Granada und im Bordell Casa del Sol aufpassen, dass ihnen nichts zustieß. Und wenn wieder mal wer meinte, dem schwarzen Engel die Flügel stutzen zu wollen, sollte sie Loli über die verstärkte Gedankenverbindung zu sich rufen, falls sie nicht selbst herausfand, wer der Feind war. Doch was Maruja am genialsten an der ganzen Sache fand war, dass sie nach dem Bad im Krug um mindestens dreißig Jahre jünger aussah. Sie musste sich also nicht mehr schminken, wenn sie ihren Posten in der Casa del Sol besetzt hielt. "Solange ich lebe kann dich kein Gift töten, und du wirst wohl mit einem Zehntel der üblichen Geschwindigkeit altern, maruja. Doch dafür erwarte ich unverbrüchliche Treue und bedingungslosen Gehorsam von dir", hatte Loli ihr das Preisschild für die Neuausstattung ihres Körpers und Geistes unter die Nase gehalten. Doch wenn sie so weitermachen konnte wie bisher war das ein bezahlbarer Preis, dachte Maruja.

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Der beleuchtete Wandkalender im Kreißsaal des Londoner St.-Grace-Krankenhauses zeigte den 6. November 2003, als um kurz vor halb fünf die orientalischstämmig wirkende Frau mit dem schönen schwarzblauen Haar auf einem Gebärstuhl saß und mit großer Anstrengung die Schmerzen der ersten Wehen veratmete. Neben ihr saß bleich wie ein Käse der in einem anderen Krankenhaus tätige Arzt Lyndon Morrow, der von seinem Kollegen hier und der hinzugezogenen Hebamme, Mrs. Robertson, eindringlich ermahnt worden war, nicht selbst in den ablaufenden Geburtsvorgang einzugreifen. Er glaubte felsenfest, dass das Kind im Leib der Frau mit der milchkaffeefarbenen Haut von ihm gezeugt worden war, als er mit ihr vor neun Monaten auf einer Kurzreise in Sevilla das Lager geteilt hatte. Deshalb hatte er nach einigen Bedenken zugestimmt, dass er diese Frau heiraten würde, damit sie und das Kind nicht in der Gosse von Sevilla groß werden mussten. Er dachte zwar auch daran, dass die Frau neben ihm ganz gezielt nach einem Erbgutspender gesucht und sich ihn ausgewählt hatte. Doch er konnte und durfte ihr deshalb nicht böse sein. Denn insgeheim hatte er schon immer gedacht, ob er jemals eine feste Beziehung und eine Familie haben würde. Er hegte auch keinen Argwohn, weil Loli Sachen konnte, die sonst nicht jeder konnte. Denn er gehörte ihr ja schon längst mit Leib und Seele. So hatte er es hingenommen und offiziell eingewilligt, dieses überirdische Wesen zu heiraten, um das in ihr wachsende Mädchen - zumindest das wusste er schon weit vor der Geburt, als eheliche Tochter anzunehmen. Wer Loli in Spanien war wusste außer ihr und ihm keiner in London. Sie hatte Ausweispapiere vorgelegt, die sie als Magistra der Geschichtswissenschaften ausgaben, und sie hatte ein immenses Geschichtswissen, wie Lyndon Morrow mitbekommen konnte.

Nun setzten die Eröffnungswehen ein. Morrow erinnerte sich daran, wie er zweimal bei einer Geburt mitgeholfen hatte. Zehn Jahre war das schon her. Doch jetzt das eigene Kind ankommen zu sehen war viel aufregender als die beiden Niederkünfte, die er miterleben durfte.

Lyndon hielt Lolis Hand und hörte deshalb Lolis Gedanken. "Sie will jetzt raus, Lyndon. Nicht mehr lange, dann haben wir eine kleine Tochter." Da meinte er, noch eine andere Stimme Nörgeln zu hören: "Ja, wenn du weit genug aufgehst, Mutter. Ich will endlich raus." Er fragte sich, ob das echt sein konnte, dass das gerade zur Welt kommende Mädchen schon ein so weit entwickeltes Bewusstsein haben konnte um in Gedanken zu sprechen. Da drückte Loli seine Hand, scheinbar in aufkommenden Schmerzen. Als hätte sie damit das gerade in seinem Geist gehörte aus seinem Kopf gedrückt sah er etwas abwesend auf sie und die beiden professionellen Geburtshelfer. Dann kehrte seine Aufmerksamkeit wieder ganz und gar in das Hier und Jetzt zurück.

Zwei Stunden später sah er zum ersten Mal den Kopf seiner Tochter. Sie hatte dasselbe schwarzblaue Haar wie die Mutter, wenn auch gerade nicht so lang und fließend wie diese. Dann rutschten Schultern, dann die Arme, den Bauch und ... !Uuääääääääää!!" Die Kleine hatte nicht einmal gewartet, bis ihre Füße den warmen Mutterleib verlassen hatten und schon den ersten Atemzug getan und ganz laut ihre Ankunft in die Welt hinaus geschrien. Mrs. Robertson starrte verdutzt auf das Menschenwesen, dass noch nicht ganz auf der Welt war und doch schon mit lauter, kräftiger Stimme schrie, als könne es diesem Kind nicht schnell genug gehen. Dann kamen auch die Füße frei und Lyndon Morrow durfte nach einer Minute Wartezeit die Nabelschnur durchschneiden. Dabei meinte er wieder die andere Stimme zu hören: "Endlich wieder draußen. Das wurde am Ende doch viel zu eng." Dann hörte er auch Lolis Gedanken antworten: "Ich weiß, dir wäre wer anderes als Mutter lieber gewesen. Doch jetzt habe eben ich dich bekommen. Beschwer dich bei dem, der diese Kraftwelle gemacht hat!"

"Eh, der, den du wegen mir geheiratet hast hört uns", hörte er über die lauten Schreie der Neugeborenen die fremde Frauenstimme antworten.

"Na und, ändert nichts mehr. Er gehört zu uns, wie du zu mir. Basta!" Hörte er Lolis Antwort. Also hatte er doch mitgeholfen, ein anderes Zauberwesen in die Welt eintreten zu lassen. Doch er fühlte weder Abscheu noch Angst davor, was seiner Meinung nach er da gezeugt hatte. Auch wenn er jetzt sicher wusste, dass dieses Mädchen bereits einen weit entwickelten Geist besaß und wohl ähnliche Sachen wie die Mutter anstellen konnte, würde, ja musste er sie als seine eigene Tochter lieben. Weil Loli und die Kleine das von ihm sicher mitbekamen, machte es ihnen auch nichts mehr aus, weiterhin in Gedanken miteinander zu sprechen, die er mithören konnte. So bekam er mit, dass der Kleinen kalt war und dass sie bloß ganz schnell abgetrocknet und angezogen werden wollte. Doch zuerst wurde sie gemessen und gewogen. Fast viertausend Gramm schwer und fünfzig Zentimeter lang war sie unmittelbar nach der Geburt, die kleine Malvina Morrow. Den Namen hatte Loli vorgeschlagen, weil er sowohl im englischen wie im Spanischen gleich ausgesprochen wurde. Jetzt, wo er sogar mitbekam, dass das Neugeborene Mädchen schon Gedanken übermitteln konnte erfuhr er auch, dass sie sich nur mit diesem Namen abfand, weil sie nicht wollte, dass jemand aus der Zaubererwelt mitbekam, dass sie endlich wieder da war. Er erinnerte sich, dass Loli von Magiern gesprochen hatte, die der Meinung waren, den Rest der Menschheit vor Wesen wie ihr beschützen zu müssen.

"Heh, Papa oder Daddy, wenn du uns schon belauschst, weil du nichts dagegen machen kannst, frage mich doch selbst. Nur denken." Lyndon Morrow dachte die Frage noch einmal und erfuhr von der Neugeborenen, dass es Menschen gab, die magische Kräfte ausüben konnten und die stärksten von denen so Leute wie ihre Mutter waren. Er fragte sie dann noch, ob sie eine Wiedergeborene war, eine nicht ins Jenseits gelassene Seele. Darauf erfolgte von der Kleinen ein telepathisches Lachen und von Loli ein tadelnder Blick. "Auch wenn sie jetzt sehr froh ist, dass sie nicht mehr in meinem Leib eingesperrt ist, Lyndon, so lebst du weitaus besser damit, wenn du nicht alles weißt, was sie angeht. Sie ist unser Baby und wächst bei uns auf. Mehr sollen alle anderen nicht mitkriegen. Ah, ich höre, dass auch meine sonnige Schwester ihr Mutterglück erlebt."

"Eine von denen, die wir aufgeweckt haben?" fragte Lyndon Morrow im Geist. Loli bejahte es nur in Gedanken, ohne eine sichtbare Regung oder Geste.

Nach fünf Stunden, in denen Lyndon Morrow im Bann seiner neuen Herrin in einem Zimmer neben ihr geschlafen hatte, durfte er sie wieder besuchen. Doch diesmal bekam er keine Gedanken von ihr oder dem Baby zu hören, das nun scheinbar ganz unschuldig schlief, um sich von den Anstrengungen der letzten Stunden zu erholen.

"Du holst morgen die Geburtsurkunde ab, Lyndon. Die Hebamme hat mit deinem Kollegen Bancroft schon alle nötigen Papiere ausgefüllt. In einer Woche werden Malvina und ich zu dir in die Wohnung zurückkehren", sagte Loli mit im Moment nicht so glockenreiner Stimme. Dann schickte sie ihm nur als Gedanken zu: "Aber sie zu, dass du bis dahin eine andere Haushaltshilfe findest. Diese Maggy Wellington war mir in letzter Zeit ein wenig zu neugierig. Sieh es so, dass du ihr damit das Leben rettest, wenn du sie entlässt." Lyndon sah seine Frau und die unverhoffte Mutter seiner ersten Tochter verunsichert an. Doch dann fühlte er, wie die Kraft dieses eindeutigen Befehls seine Bedenken wegwischte. Er nickte ihr einverstanden zu. Er würde Maggy eine ausreichend hohe Abfindung auszahlen. Denn er wusste, dass die Haushaltshilfe tatsächlich mehr wissen wollte als gut für sie war. Er zweifelte auch nicht daran, dass Loli sie töten würde, wenn Maggy mehr erfuhr als gut für sie war. Sie konnte mit ihrer Zauberkraft schwere Verletzungen heilen, Wonne und Lust bereiten. Dann konnte sie sicher auch Leben nehmen, ohne dass es ihr nachgewiesen werden konnte.

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Tarlahilia verwünschte die, die ihr gleich zwei ihrer Schwestern in den Leib gestoßen hatten. Niemals mehr würde die Tochter der schwarzen Mittagssonne diese Qualen über sich ergehen lassen. Auch wenn Ullituhilia, die nach einer Schlafpause von einem Monat als ihre ganz persönliche Hebamme bei ihr zugebracht hatte, ihr so gut es ging geholfen hatte, fühlte sich Tarlahilia wie eine niedere Zuchtstute, die zwei Fohlen auf einmal geworfen hatte. Das schlimme daran war jedoch, dass die zwei bereits weit vor der Geburt mit ihr in Gedanken gesprochen hatten und nun darauf bestanden, dass sie, die Tochter der schwarzen Mittagssonne, sich so gut sie konnte um sie kümmerte, damit sie möglichst schnell wieder groß und kräftig genug waren, um im Sinne ihrer großen Mutter Lahilliota weiterzuleben. Dann ging Tarlahilia auch nicht aus dem Sinn, dass Hallitti, die sich noch an Ilithula vorbeigedrängelt hatte - was ihr, der Tochter der schwarzen Mittagssonne noch mehr weh getan hatte - unbedingt Rache an den Kindern Ashtarias nehmen wollte und vor allem an Julius Andrews und all denen, die ihm geholfen hatten, so stark zu werden, dass er Ilithulas Magie von sich ferngehalten hatte und offenbar sehr gut mit den lebenden Kindern der viel zu gutherzigen Tante Verbindung bekommen hatte. Ja, und offenbar hatten die ihr auch ihre Dienerin abspenstig gemacht. Denn Ilithula hatte es kurz vor der verwünschten Anrufung Ashtarias mitbekommen, wie sich Semiramis Bitterling von ihr losgerissen hatte und eben nicht in ihrem Lebenskrug vergangen war. Tarlahilia und Ullituhilia hatten den beiden wiederkehrenden Schwestern immer wieder zugedacht, dass Julius Latierre, wie er nun hieß, unter dem besonderen Schutz ihrer aller Mutter stand, weil er dieser und Itoluhila geholfen hatte, dass sie einen eigenen Körper bekommen konnte.

"Seid froh, dass ich euch überhaupt gekriegt habe", dachte Tarlahilia ihren beiden neugeborenen Töchtern zu. "Wenn Itoluhila frei gewesen wäre und die euch zwei in sich aufgefangen hätte wäret ihr sicher schnell nach der Geburt in einen neuen Tiefschlaf versenkt worden."

"Nein, das wären wir nicht", widersprach Ilithula, die jetzt, wo sie Tarlahilias Tochter geworden war, dieselbe Haarfarbe hatte wie ihre Schwester und Wiedergebärerin. "Das Gesetz unserer Mutter sagt, dass die, die durch Feindeskraft dem eigenen Leib entrissen wird, von der ihr nächsten Schwester im Leibe empfangen und als Kind ohne Vater wiedergeboren werden und als ihr zu behütendes Kind angenommen werden muss. "Ja, hätte sie dann ja auch machen können. Aber das Gesetz sagt auch, dass ihr auch wie neugeborene Kinder empfinden und denken müsst. Tut ihr das nicht, dann vergesst ihr bis zur natürlichen Reife als junge Frauen alles, was ihr im ersten Leben erreicht und erlebt habt. Ich bin sowieso erstaunt, dass ihr schon weit vor der Geburt bei vollem Bewusstsein mit uns anderen Gedanken austauschen konntet und auch die Geburt euch nicht am eigenen Geist geschadet hat."

"Das liegt ganz sicher auch an dieser überstarken Kraftwoge, die uns alle im Frühjahr überrollt und durchdrungen hat", vermutete Ullituhilia. "Und glaube mir, meine nun begierig an der Brust meiner ebenholzfarbenen Schwester nuckelnde Feuerschwester Hallitti, ich würde diesen Burschen Julius Latierre auch am liebsten in die tiefste Erde versinken lassen oder ihn in meinen Lebenskrug hineinwerfen. Doch das Wort unserer großen Mutter ist unser Gesetz. Ihm müssen wir gehorchen, weil wir nur wegen ihr leben. Das gilt auch für euch zwei, Hallitti und Ilithula."

"Ach, weil ihm jemand ganz mächtige Erdzauber beigebracht hat und er dich damit zusammen mit der Brut unserer vertückten Tante fortgeschleudert hat, weil du zu neugierig warst, wer da mit so starken Erdzaubern hantieren kann?" fragte Hallitti spöttisch. Auch sie hatte durch die Wiedergeburt als Tarlahilias Tochter deren Harrfarbe bekommen.

"Ich musste einen ganzen Mondwechsel schlafen, um wieder genug Kraft zu haben. Zum Glück konnten die von mir gewonnenen Abhängigen mich durch ihr reines Sein wieder aufwecken, dass ich nicht bis zu einem unbedarften Mann mit unerweckter Zauberkraft in meinem Lebenskrug schlafen musste. In der Zeit seit ihr gemütlich in Tarlahilias Bauch herangewachsen und habt mit ihr und unseren anderen Schwestern, ja auch mit Itoluhilas ehemaliger Dienerin und jetzigen Tochter fröhlich Gedanken über das gewesene und das was ist austauschen können. In der Zeit hätte sonst was passieren können."

"Wir wissen mittlerweile, dass dieser große Erdzauber im Zusammenspiel mit Ashtarias abscheulicher Macht eine Art Schutzmauer um den Ort hochgezogen hat, in dem Julius Latierre wohnt. Du hättest ihn einfach nur machen lassen, wo du merktest, dass er nicht dich persönlich angegriffen hat. Immerhin verdankst du ihm und dieser Hexe, die ein nicht minder verdriesliches Schmuckstück bei sich trug, dass du einen ganz mächtigen dicken Happen Seelenkraft in deinen Lebenskrug und damit in dich selbst hineinschlingen konntest, Ullituhilia", grinste Tarlahilia ihre der Erde verbundene Schwester an.

"Ja, das nehme ich gerne als Ausgleichszahlung für diese Gemeinheit mit dem Schutzbann, den er um seine Behausung oder die Ansiedlung gemacht hat, in der er und das ihm angetraute Hexenweib wohnen."

"Na also", erwiderte Tarlahilia und zuckte zusammen, weil Hallitti mehr als nötig an ihr sog. Dann gedankensprach die gerade saugende Hallitti: "Es wird der Tag oder die Nacht kommen, wo Mutters unverstandene Gnade diesem zugegeben sehr starken Jungen ihr selbst leid tun wird und sie ihn dafür strafen wird. Denn er ist offenbar von den Kindern unserer Mutterschwester verdingt worden, in deren Sinn zu handeln. Also wird er irgendwann etwas anstellen, dass sie auf ihn wütend macht. Und dann werfe ich den in meinen eigenen Lebenskrug. Überhaupt, sehr gut schmeckende Schwester und neue Mutter: Sieh zu, dass Ilithula und ich je einen neuen Lebenskrug kriegen, wenn wir wieder erwachsene Frauen sind und unser eigenes Leben führen können!"

"Ich Mutter, du Säugling, Hallitti", erwiderte Tarlahilia darauf nur. Dass Hallitti nun noch fester an ihr saugte, nur um ihr weh zu tun nahm sie hin und dachte sich ihren Teil.

"Wie geht es Itoluhila, Tarlahilia? Während der Geburt warst du die einzige, die mit ihr in Verbindung stehen konnte", sagte Ullituhilia.

"Nun, sie hat den ersten Tag als Mutter gut überstanden und es ihrer Kleinen beigebracht, dass sie sich gefälligst nur wie ein Säugling zu verhalten hat und nicht vor dem ersten Lebensjahr zu laufen anfangen soll. Der Kurzlebige, dem sie vorgegaukelt hat, das Kind sei von ihm, ist ihr auf Gedeih und Verderb unterworfen, ein ganz und gar gelungener Abhängiger", erwiderte Tarlahilia mit gewisser Schadenfreude. Denn sich vorzustellen, dass Itoluhila es nötig gehabt hatte, für die ihr in den Schoß gefallene ehemalige Leibdienerin einen vorzeigbaren Vater vorweisen zu müssen, ließ Itoluhila in ihren Augen schwächlich erscheinen. Andererseits verdankte sie dieser über all die Jahrtausende wachgebliebenen Schwester, dass sie, Tarlahilia, wieder aufgeweckt wurde, bevor die große Kraftwoge über sie alle gebrandet war und sie sich deshalb davor schon genug eigene Abhängige verschafft hatte.

"Sei nicht neidisch, weil Itoluhila es eben raus hat, Männer für sich tanzen zu lassen", erwiderte Ilithula. "Sonst hätte sie mir diesen Claude Andrews sicher nicht so einladend zugeführt." Alle hörten aus Ilithulas Gedanken, dass sie Itoluhila dafür eigentlich sehr böse war. Denn nur deshalb war sie am Ende mit Hallittis Geist schwanger geworden und hatte sich nun mit ihr die letzten Monate in Tarlahilias Leib einen immer enger werdenden Platz teilen müssen. Aber das Gesetz ihrer aller Mutter Lahilliota gebot, dass sie sich gegenseitig nichts tun durften. Zwar hatte Errithalaia das immer wieder versucht, doch auch sie war am Ende gescheitert.

"Es gilt bald wieder, unsere Mutter in ihre neue menschliche Körperform zurückzurufen. Die letzten hundert befruchteten Eier werden bald ihren neuen Körper verlassen. Dann sollten wir alle, die wir wach sind wieder zu ihr hingehen und sie dazu bringen, als unsterbliche Menschenfrau zu uns zu sprechen", sagte Tarlahilia ihrer körperlich bereits erwachsenen Schwester. Diese grummelte nur, dass Lahilliota offenbar die Macht unterschätzt hatte, der sie sich anvertraut hatte. Je länger sie in der neuen Körperform blieb, desto größer wurde die Gefahr, dass ihr Geist immer mehr zu einem rein tierhaften Denken und fühlen verkam. Auch konnte Ullituhilia nicht verhehlen, dass sie Angst vor der neuen Daseinsform ihrer eigenen Mutter hatte. Am Ende sah diese ihre als Menschenfrauen lebenden Töchter als lästiges Ungeziefer an, das unbedingt ausgerottet werden musste. Doch solange ihre Mutter noch irgendwo in den Tiefen dieser roten Riesenameise steckte mussten sie alles tun, um ihr beizustehen, sie nach Möglichkeit aus dieser unerträglichen Daseinsform zu befreien. Natürlich war auch klar, dass die erwähnte Welle dunkler Zauberkraft sie so verändert hatte, dass sie nicht mehr von alleine in ihre menschliche Körperform zurückwechseln konnte. Um so wichtiger war es, dass die wachen Schwestern sich untereinander einig blieben und zusammen halfen, dass sie zumindest für einige Zeit wieder ihre hochentwickelten Geistesgaben nutzen konnte.

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Anthelia/Naaneavargia verfolgte auf Vorschlag ihrer Mitschwester Romina Hamton die Fernsehnachrichten zur Rettung der sechs amerikanischen Höhlenforscher mit, die am 12. Oktober angeblich aus den Höhlen unter dem Uluru befreit worden waren. Die höchste Schwester des Spinnenordens lächelte verächtlich, wenn sie hörte, dass die sechs über Wochen in den Höhlen unter dem berühmten Sandsteinberg eingeschlossen waren. Als sie einen von ihnen genauer zeigten lachte sie sogar verächtlich und meinte: "Den habe ich denen persönlich vor die Tür gelegt, diesen Simon Waxman." Immerhin wurden nach der sensationellen Errettung aus den unteren Höhlen des Uluru keine weiteren Spekulationen angestellt, was die geretteten drei Männer und drei Frauen in den Wochen zwischen 10. September und 12. Oktober angestellt hatten.

"Bist du dir sicher, dass das Kapitel mit diesen Schlangenmenschen damit endgültig abgeschlossen ist, höchste Schwester?" fragte Romina Hamton besorgt.

"Was uns von der Schwesternschaft angeht auf jeden Fall. Nur wenn welche von den all zu mitfühlenden Heilern Giftproben der Schlangenmenschen aufbewahrt haben besteht eine ganz ganz geringe Gefahr, dass dieses Gift erneut in einen Menschen hineingerät und ihn oder sie in einen dieser vorzeitlichen Krieger verwandelt. Ich hoffe aber sehr, dass die Heiler das wissen und die Giftproben nach der Untersuchung restlos vernichten."

"Falls die nicht meinen, aus dem Gift irgendwas angeblich nützliches machen zu können", seufzte Romina. Dem konnte und wollte Anthelia nicht widersprechen. Neugier und der Antrieb, gutes zu tun, konnten wirklich zu solchen Taten verleiten.

Was weißt du neues über die Angelegenheit Eartha Dime?" wollte Anthelia wissen. Romina Hamton überlegte kurz und antwortete: "Tja, die hat sich nach ihrer gefeierten Befreiung sehr bald ins Ausland abgesetzt. Dass sie zwei Kinder trug hast du ja auch mitbekommen. Sicher hat sie die jetzt klammheimlich irgendwo geboren."

"Also hat sie doch was mit diesen Fortpflanzungsfanatikern von Vita Magica zu schaffen", schnarrte Anthelia. "War ja klar, dass sie nicht in meiner Obhut schwanger geworden sein kann, wo ich ihre Mutter Argentea ja im Tiefschlaf gehalten habe. In dem Fall gilt also Flucht gleich Geständnis. Die werden wir dann auch nicht mehr wiedersehen, denke ich mal."

"Ich komm ja nicht mehr an alle Sachen aus dem Ministerium dran, höchste Schwester. Deshalb kann ich nur sagen, dass sie offenbar das Weite gesucht hat."

"Ja, aber wir sollen sie entführt haben, um den Aufenthaltsort ihres Vaters zu erpressen oder so", grummelte Anthelia und lachte dann schadenfroh. "Dieses dumme junge Ding hat ihr eigenes freies Leben aufgegeben und sich auf Gedeih und Verderb dieser hexenfeindlichen Bande ausgeliefert."

"Na ja, aber wenn das mit ihrem Vater stimmt hat sie zumindest noch ihren Zweck erfüllt und ihn an diese eine Hexe ausgeliefert, die sich von ihm ein oder zwei Kinder hat machen lassen, um ihn damit zu unterwerfen", entgegnete Romina Hamton. Dem wollte Anthelia nicht widersprechen, obwohl sie durchaus hätte sagen können, dass sie das auch schon längst wusste.

"Am ersten Dezember möchte ich gerne noch einmal mit allen, die um halb zwölf abends der Ortszeit von Tyches Refugium unauffällig verreisen können eine Versammlung abhalten. Sieh bitte zu, dass du dann auch da bist, Schwester Romina!" sagte Anthelia. Romina bestätigte den Erhalt dieser unablehnbaren Einladung.

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Tausende von frei schwebenden Kerzen erhellten die weitläufige Versammlungshalle mit dem steinernen Tisch und den vielen Stühlen in der Mitte. Weitere an die hundert Stühle waren aufgestellt worden. An den Wänden und auf dem Boden sorgten viele Quadratmeter große Teppiche dafür, dass es hier nicht bis zur Wortunkenntlichkeit widerhallte. Die Wandteppiche zeigten sehr schön herausgearbeitete Naturlandschaften, die im raumfüllenden, nur ganz sachte flackerndem Schein der schwebenden Kerzen wie in sengendheiße Luft gehüllt wirkten.

"Na, wie geht es der kleinen Selene?" fragte Peggy Swann ihre Mitschwester Theia, die scheinbar an die zwanzig Jahre jünger war als sie selbst.

"Danke der Nachfrage, Schwester Peggy. Sie wird von Tag zu Tag kräftiger und sprachfertiger", erwiderte Theia darauf. Peggy nickte und sagte, dass ihre kleine Tochter Larissa ähnlich gute Fortschritte mache. Mehr wollten die beiden im Moment nicht über ihre Töchter austauschen, weil gerade mehrere andere Hexen apparierten.

Nach und nach erschienen an die hundert weitere Mitschwestern von gerade erst aus der Schule bis über 100 Lebensjahre alt, darunter auch die unbestrittene Königin der nordamerikanischen Hebammenhexen, Heilzunftsprecherin Eileithyia Greensporn, Theias höchst offizielle Urgroßmutter. Es dauerte an die zwanzig Minuten, bis alle da waren, die apparieren konnten. Sie begrüßten einander, sahen sich nach weiteren Bekannten um, tauschten nicht all zu geheime Neuigkeiten aus. Zwei fehlten jedoch noch, die seit sechs Jahren eingeschworene Reporterin Linda Knowles und diejenige, die sie alle für heute Abend zu dieser Vollversammlung einbestellt hatte, Lady Roberta Sevenrock. Theia wandte sich an ihre Urgroßmutter und fragte sie leise, ob sie was von Lino wisse.

"Seit des von ihr enthüllten Skandals mit unserer Quidditch-Nationalmannschaft hält sie sich tunlichst zurück, Theia. Womöglich fürchtet sie Nachstellungen von Minister Buggles, dem Quidditchverband der vereinigten Staaten oder gar dem italienischenZaubereiministerium", erwiderte Eileithyia Greensporn mit gewissem Unmut in der Stimme. "Aber näheres mmöge sie uns selbst berichten. Ich hörte zumindest, dass sie es einrichten wird, persönlich herzukommen. Ah, da ist ja auch Schwester Beth." Theia folgte dem für mehr als 120 Lebensjahre erstaunlich klarem Blick ihrer Urgroßmutter und erwählten Hebamme und sah Beth McGuire, die sich mit einigen der Mitschwestern von der Ostküste unterhielt, als wisse hier keine, dass sie auch für die schwarze Spinne arbeite. Theia mentiloquierte ihrer Urgroßmutter: "Die hat garantiert die zwei Mädchen in Zauberschlaf versenkt, die sie sich von Vita Magica hat anhängen lassen." "Ja, das hat sie sicherlich, falls sie sie nicht bei ihrer anderen Herrin untergebracht hat", gedankengrummelte Eileithyia Greensporn.

Die gut getarnte Flügeltüre schwang auf, und in Begleitung von Roberta Sevenrock betrat Linda Knowles den Versammlungsraum der schweigsamen Schwestern Nordamerikas. Also hatte Roberta die scharfohrige Mitschwester mitgebracht, anstatt dass diese selbst hier appariert war. Alle hier anwesenden Schwestern blickten die beiden Neuankömmlinge wortlos an. Linda nickte einige Male in verschiedene Richtungen. Dann ließ sie sich von Lady Roberta zu einem freien Stuhl führen. Immer noch sagte keine hier ein Wort. Denn sobald die oberste Stuhlmeisterin anwesend war galt, dass nur sie oder eine von ihr ausdrücklich dazu aufgeforderte sprach, besonders bei Vollversammlungen. Als Linda Knowles neben dem ihr zugedachten Stuhl stand stellte sich Roberta Sevenrock vor den hochlehnigen Stuhl vor Kopf der viele Meter langen Steintafel und sagte: "Salvete Sorores! Ich bin erfreut, dass ihr alle da seid! Setzt euch bitte!"

Weiterhin wortlos nahmen alle anderen Platz. Dann setzte sich auch die Stuhlmeisterin der nordamerikannischen Gruppe der Sororitas Silenciosa. Sie trug heute ein knöchellanges, himmelblaues Kleid mit weißen Halbmondverzierungen darauf.

Nachdem Roberta die seit der Gründung des erhabenen Ordens der schweigsamen Schwestern üblichen Eröffnungsworte gesprochen hatte ließ sie auf halber Höhe zwischen Boden und Schwebekerzen einen meterbreiten leuchtenden Würfel entstehen, dessen senkrecht aufragende Seiten die heutigen Tagesordnungspunkte darstellten. So konnte jede der Anwesenden gleichgut nachlesen, worum es ging:

  1. Besprechung der neuerlichen Schlangenmenschenepidemie auf dem australischen Kontinent zwischen dem 14. und 28. September
  2. Zusammentragung aller gegenwärtigen Kenntnisse zu den Auswirkungen der schwarzmagischen Kraftwelle vom 26. April vor allem in Betrachtung davon bestärkter Dinge und Wesen
  3. Neues über die Umtriebe der wiedererwachten Hexe Ladonna Montefiori
  4. Diskussion zum Umgang mit dem US-amerikanischen Zaubereiministerium bezüglich seines Umgangs mit der hexenfeindlichen Gruppierung Vita Magica
  5. Wichtige Neuigkeiten von jeder, die was wichtiges zu erwähnen hat

"Hat jede von euch die heutige Tagesordnung gelesen und verstanden?" wollte Lady Roberta wissen. Alle nickten. "Hat eine von euch oder mehrere von euch schon im Vorfeld der Erörterungen von Punkt eins Fragen oder Anmerkungen?" fragte sie noch. Diesmal schüttelten alle Anwesenden die Köpfe. "Gut, dann fasse ich zunächst einmal zusammen, was ganz offiziell in Australischen Nachrichtenverbreitungsmedien erwähnt wurde und rufe dann die Mitschwestern von euch auf, die mehr dazu sagen und darlegen können", gab Roberta die weitere Richtung vor. Dann apportierte sie mehrere Zaubererweltzeitungen auf den Tisch, las jedoch nicht daraus vor, sondern zitierte frei aus dem Kopf die wichtigsten Schlagzeilen und Artikel. Alle hier sitzenden wussten schon, dass es im September zu einer unerwarteten Ausbreitung jener Schlangenmenschen gekommen war, die in Europa und Asien unter der Fernüberwachung Tom Riddles gewütet hatten. Nicht wenige der hier versammelten zuckten das eine oder andere mal zusammen oder setzten an, sich die Hände vor die Gesichter zu schlagen. Allgemeines Erstaunen kam auf, als Lady Roberta einen Artikel über die mit zehn Jahren schon sehr zauberkraftbegabte Laura Rutherford vorlas, die "aus Versehen" in ein Internat für magielose Mädchen geschickt worden war, weil sie bereits die Reife und den Kenntnisstand einer Elfjährigen aufwies. "Tja, da haben die von der australischen Zaubereiüberwachung der Muggelwelt offenbar nicht gut genug aufgepasst", bemerkte Roberta Sevenrock nicht ohne gewissen Spott in der Stimme. Als Roberta erwähnte, dass die Entomanthropen wieder aufgetaucht waren, um die Schlangenmenschen zu jagen verzog Theia Hemlock das Gesicht. Diesen Biestern verdankte sie, dass sie über Monate mit Anthelias überstark wiederverjüngtem Körper schwanger gewesen war, von Anthelia auf diese vermaledeite Druidinneninsel gelockt, mit Austère Tourrecandide aneinandergeraten war, für einige Minuten als deren ungeborene Tochter in ihrem Uterus eingesperrt war, um dann von der hier anwesenden Cousine Leda übernommen und als deren Tochter geboren zu werden, um schlussendlich selbst mit Tourrecandides wiederverjüngtem Körper schwanger zu werden und jetzt eine Tochter hatte. Auch wenn sie mit der als Selene wiedergeborenen ehemaligen Schulmeisterin von Beauxbatons mittlerweile sehr gut auskam und auch schon einige sehr wichtige und nützliche Aktionen mit ihr zusammen hinbekommen hatte, so verwünschte sie diese Anthelia und ihre brummenden Bestien, dass sie nicht weiter als Lady Daianira leben konnte. Die einzige Hoffnung, die sie damals in Ledas warmem Leib und unter der Geburt alles hatte aushalten lassen war, dass die selbsternannte Erbin Sardonias diese Halbinsekten alle hatte töten müssen, um die außer kontrolle geratenen Bestien daran zu hindern, die Menschheit auszurotten oder zu versklaven. Und jetzt waren diese Biester wieder in der Welt.

"Was kannst du uns unter dem Siegel der Vertraulichkeit von deinen Kollegen aus Australien berichten, Schwester Eileithyia?" wurde die Großheilerin mit den silbernen Haaren gefragt.

"Nur soviel, dass ich auch den Heilerinnen und Heilern gegenüber verpflichtet bin und deshalb deren Vertrauen nicht beschädigen darf, Lady Roberta. Ich darf nur widerholen, was die australische Heilzunftsprecherin Laura Morehead zusammen mit ihren Kollegen Melchior Vineyard und Aurora Dawn für das australische Zaubereiministerium dargelegt hat." Dann erwähnte sie, wie die Schlangenmenschen auf Magnetfelder angesprochen hatten, dass das von ihnen verbreitete Gift durch Berührung mit reinem unbezauberten Gold seine ganze Wirkung verlor und die Heilzunft deshalb ein Verfahren ähnlich einer Blutwäscheanlage der nichtmagischen Mediziner ersonnen und erfolgreich auf die in Gewahrsam genommenen Schlangenmenschen angewendet hatte. "Auf diese Weise konnten die allermeisten der Vergifteten geheilt werden. Die einzigen Todesfälle, die auftraten sind den wieder aufgetauchten Entomanthropen zuzuschreiben."

"Danke für dieses Stichwort, Schwester Eileithyia", entgegnete Lady Roberta und sah ganz gezielt Beth McGuire an, die sich von einem teil der hier versammelten Schwestern auch als Lady Beth ansprechen ließ. "Hat dir jene, deren Gunst du erworben hast und die dich dazu gebracht hat, auch ihr die Gefolgschaft zu schwören, irgendwas dazu angedeutet, dass sie diese Halbinsekten nachgezüchtet hat oder dass es vielleicht solche sind, die ihre so öffentlichkeitswirksame Aktion in Südamerika überlebt haben? Ich hoffe, sie hat dir erlaubt, uns das mitzuteilen."

"Lady Roberta, ich erfuhr auch erst vor wenigen Tagen, dass ... Anthelia noch über hundert der Entomanthropen befehligt und sie wohl die meiste Zeit in einem Schlafzauber hält, damit ihr nicht noch einmal sowas wie mit dieser Valerie Saunders passiert. Sie hat auch damit gerechnet, dass ihr mich das fragen werdet, wieso sie noch welche von denen hat und wie viele es sind", sagte Daianiras Nachnachnachfolgerin. Als keine was einwarf und alle weiter zuhörten fuhr Beth McGuire fort: "Es sollen laut Anthelias eigenen Angaben noch zweihundert Entomanthropen sein, verteilt auf drei Brutköniginnen. Wo diese sind durfte ich nicht erfahren und kann es somit auch nicht weitersagen. Wofür sie gedacht sind: Sie sollen im Falle, dass übermenschlich starke Zauberwesen, die ihr Dasein mutwillig und zielgenau weiterverbreiten oder in so großen Zahlen aufkommen, dass sie mit gewöhnlichen Mitteln nicht aufgehalten werden können, zum Einsatz kommen. Anthelia sagt deutlich, dass die von ihr behaltenen und geführten Entomanthropen nicht dazu da sind, ihren Anspruch auf Vorherrschaft über alle Menschen zu erkämpfen. Sie weißt jedoch auf die Wergestaltigen von der Mondbruderschaft, die Wertiger und die Vampire der selbsternannten schlafenden Göttin und ihrer Hohepriesterin Nyctodora alias Eleni Papadakis hin und dass sie gegen diese Gegner eine angemessene Streitmacht in Bereitschaft halten will. Wer versucht, ihr diese Hilfstruppe abzujagen möge sich vorher fragen, ob er oder sie unbedingt mithelfen will, dass erwähnte Widersacher die Erde unter sich aufteilen oder ob er oder sie sich Anthelias Feindschaft zuziehen möchte. Das darf ich in ihrem Namen an euch weitergeben."

"Was schon mehr als zu viel ist", dachte Theia Hemlock und erinnerte sich an die schrecklichen Minuten, als dieses außer Kontrolle geratene Gezücht Valerie Saunders sie bei lebendigem Leibe in sich hineingeschlungen hatte und sie während der Zeit in Ledas Uterus mehrmals aus pränatalen Träumen aufschreckte und erst einmal nicht wusste, ob sie gleich verdaut oder bald geboren werden sollte.

"Nun, ich finde, sie macht sich selbst damit zur Feindin aller redlichen Menschen mit und ohne Zauberkräfte", brachte es Lady Roberta auf den Punkt. "Wie sollen beispielsweise wir mit ihrem Orden, in dem du ja auch Mitglied bist, Schwester Beth, friedlich zusammenarbeiten? Wie wollt ihr eure Existenz als Hexenorden rechtfertigen, wenn über euch diese brummende und summende Armee herumschwirrt? Gut, sie meint, weil sie es kann darf sie es auch, das Denk- und Handlungsprinzip vieler den dunklen Künsten zugetaner Hexen und Zauberer. Nur darfst du ihr gerne von uns weitergeben, dass es schon sehr fraglich ist, dass ich mit ihr auf der Grundlage friedlicher Koexistenz verhandeln sollte, von einer Zusammenarbeit gegen die erwähnten Feindesgruppen ganz zu schweigen. Es kann sein, dass sie wegen der Macht, die sie sich auf dunklen Wegen verschafft hat, ohne Unterstützung durch andere auszukommen meint. Sie sei jedoch daran erinnert, dass sie auch schon einige Male in dieser geheiligten Versammlungshalle geweilt hat, ohne selbstständig handeln oder reden zu können, immer darauf angewiesen, dass die aus der Welt gegangene Schwester daianira immer genug für sie mitaß, -trank und -atmete. Sie ist nicht unbesiegbar, und wenn sie weiterhin darauf setzt, dass sie mit allen, die sie nicht offen angreifen in einer zweckgebundenen Weise auskommen will sollte sie sich gut überlegen, ob sie diese von Slytherin erfundene und von Sardonia gegen alle ihr feindlichen Menschen benutzten Kreaturen weiterhin am Leben halten will, nur um sich im Gefühl der Macht über eine zugegeben sehr bedrohliche Streitmacht zu sonnen. Wir von der Sororitas Silenciosa lehnen Sardonias Gezücht ab - zumindest die überwiegende Mehrheit von uns", stellte Roberta Sevenrock klar.

"Ich werde es ihr ausrichten, Lady Roberta", sagte Beth ohne Anflug von Verunsicherung oder gar Unterwerfung. "Mehr kann ich dir im Moment auch nicht abverlangen, Schwester Beth, wohl gemerkt, im Moment", erwiderte Roberta Sevenrock ganz ruhig. Darauf antwortete Beth mit keiner Silbe und keiner deutbaren Regung.

Nun ging es um die Auswirkungen der dunklen Welle vom 26. April und mit welchen dunklen Wiederkehrern oder neu bestärkten Flüchen sie wohl zu rechnen hatten. Da hier schon die Vampire der selbsternannten schlafenden Göttin erwähnt worden waren ging es eben auch darum, dass diese wohl mit dem im Meer versenkten Mitternachtsdiamanten verschmolzenen Vampirin nun auch als räumliches und physisch einwirkendes Abbild einer blutroten, aus sich leuchtenden Frauengestalt mit Vampirzähnen und scheinbar schwangerschaftsbedingtem Unterbauch gesehen worden war. Womöglich hatte diese Vampirgötzin ebenfalls durch die dunkle Welle zusätzliche Kraft erhalten. Was die Ursache der dunklen Welle anging konnte Lady Roberta mit etwas neuem aufwarten. Mittlerweile hatte sie mit dem Orden der Töchter Hecates in Griechenland Kontakt aufgenommen, die ähnlich ausgerichtet waren wie die schweigsamen Schwestern in Westeuropa und den ehemaligen Kolonien westeuropäischer Länder. "Auch wenn mir selbst nicht so wohl ist, dass die betreffenden Hexen eher den Zielen Circes und Medeas nachhängen sind die Töchter Hecates zumindest noch so gestimmt, dass sie keine unbeherrschbaren Züchtungen auf die Menschheit loslassen wollen wie es Herpo der Üble oder Slytherin und eben auch Sardonia taten", sagte Roberta. Dann enthüllte sie vor ihren meist treuen Mitschwestern, dass die Welle dunkler Kraft eindeutig im Moment der Vernichtung jenes mythischen Übervampirs namens Heptachiron freigesetzt worden war. Es stehe zu vermuten, dass die wiedererwachte dunkle Hexe Ladonna diesen Vampirmutanten mit jenem Superfeuerballzauber vernichtet hatte, mit dem sie die Villa einer sizilianischen Familie mit fragwürdiger Betätigung hinweggefegt hatte. Entweder sei die Vernichtung Heptachirons der direkte Auslöser geworden oder habe etwas oder jemanden dazu getrieben, die über Jahre oder Jahrhunderte angestaute Dunkelkraft auf einen Schlag freizusetzen. Heptachirons Vernichtung sei aber ganz sicher der Auslöser dafür. Theia dachte nur, dass sie das schon längst von Selene gehört habe, seitdem feststand, dass in Griechenland am 25. April sämtliche Spürsteine ausgefallen seien, kurz vor der weltweiten Woge dunkler Magie. Vielleicht würde sie das gleich in die Debatte einwerfen. Immerhin wussten hier ja alle, dass Selene die Wiedergeburt von Austère Tourrecandide war, auch Linda Knowles.

"Wenn ich den Worten des Philokryptes Tachyglossos von Arkadien Glauben schenke war der Siebenarmige ein starker Diener jenes Erzmagiers der dunklen Kräfte, dessen Geist die Jahrtausende in einem Berg im Himalaya überdauert hat und von dort aus seine Rückkehr auf die Welt geplant hat", sagte Roberta. Theia und viele anderen nickten. "Somit stand der Siebenarmige wohl mit seinem wahren Herrn und König in geistiger Verbindung." Theia setzte an, aufzustehen. Roberta sagte noch, dass sie vermute, dass dieser dunkle Geist wohl immer noch auf einen neuen Knecht ausgehe, nachdem er es ja fast geschafft habe, den deutschen Thaumaturgen Hagen Wallenkron alias Lord Vengor an sich zu binden. Dann erteilte sie Theia das Wort.

"Lady Roberta, getreue Mitschwestern, es ist wohl wahr, dass der Siebenarmige vernichtet wurde, und zwar genau von Ladonna Montefiori. Mittlerweile wissen wir aus mir bekannten Quellen, zu denen auch eine in der Schuld meiner Tochter und mir stehende Vampirin gehört, dass Heptachirons Geist sich mit dem im Mitternachtsdiamanten eingelagerten Gefüge vereint hat, das sich selbst als große Mutter der Nacht bezeichnet. Seine Fähigkeiten, bis zu sieben andere Vampire fernzulenken und zu überwachen dürfte die Fähigkeiten dieser Entität sehr gestärkt haben. Außerdem soll diese Abgöttin bei der Gelegenheit auch jenen mächtigen Geist des uralten Erzmagiers namens Iaxathan niedergerungen haben. Wie genau das ging und ob die Abgöttin den besiegten Geist ebenso zu einem Teil ihres Seelengeflechtes gemacht hat wissen meine Quellen nicht. Meine Tochter Selene geht jedoch davon aus, dass die dunkle Welle eine Entladungswucht dieses Kampfes war, was heißt, dass Iaxathan wohl aus seiner magischen Heimstatt geflüchtet ist oder ihr gewaltsam entrissen wurde. Selene träumt nicht gut, weil sie fürchtet, dass Iaxathans Geist und damit sein Wissen dieser Abgöttin zur Beute gefallen ist und sie damit alles Übel auf die Welt zurückbringen kann, dass er selbst auf seine Zeitgenossen losgelassen hatte, einschließlich der Viererschatten. Auch wenn wir das nicht absolut sicher wissen und sicher auch nicht erfahren werden sollten wir zumindest davon ausgehen, dass es so sein könnte und uns entsprechend vorbereiten."

"Hat deine Tochter auch angedeutet, wie dieser Abgöttin anders beizukommen ist als durch Incantivacuum-Kristalle oder die totale Auslöschung aller körperlich bestehenden Diener?" fragte Roberta Sevenrock.

"Sie meinte, dass es wohl nötig sei, den materiellen Fokus, den Mitternachtsdiamanten selbst, zu finden und zu zerstören. Sie warnt jedoch davor, dass die Zerstörung eine weitere dunkle Entladungswelle freisetzen könnte und dass die freigesetzte Kraft verheerender wirken mag als eine Million Erumpenthörner. Ihr wisst ja, was bei Anthelias Kampf gegen die Abgrundstochter Hallitti geschah. Selene fürchtet, dass die Vernichtung des Mitternachtsdiamanten tausendmal schlimmer wirken könnte und dass Incantivacuum-Kristalle alleine nicht ausreichen dürften, die in dem Stein geballte Magie zu neutralisieren."

"Das ist keine wirklich hoffnungsvolle Einschätzung", stellte Roberta Sevenrock fest und erhielt stumme Zustimmung von allen.

Es ging dann auch um die erst in Deutschland und dann auch anderswo in der Welt aufgetauchten neuen Nachtschatten und ihre Königin und dass die dunkle Zauberkraftwelle auch diese dämonischen Wesen bestärkt haben mochte. Hier konnte Beth McGuire erwähnen, dass es bereits zu ersten feindlichen Auseinandersetzungen zwischen den Vampiren der selbsternannten Göttin der Nachtkinder und eben jener Schattenkönigin gekommen sei und die selbsternannte Göttin dabei offenbar ihre Grenzen aufgezeigt bekommen habe. Alle sahen sie ein wenig verdrossen an. Andere der hier versammelten blickten sie ungläubig an, weil sie dachten, Beth würde bewusste Falschmeldungen verbreiten. Beth ließ dieses Unverständnis und Misstrauen scheinbar kalt. Sicher hatte sie auch damit gerechnet. Ganz gelassen sagte sie: "Ich wollte euch das nur berichten, weil wir darauf gefasst sein müssen, dass die Vampire und die Nachtschatten eine für Menschen gefährliche Fehde vom Zaun brechen, die zu einem viele Leben kostenden Krieg anwachsen kann. Auch wenn ihr mir oder meinen Quellen misstraut - was ich sogar verstehen kann - wollte ich das nicht verschweigen. Ich habe ja auch nicht behauptet, wir sollten uns für die eine oder die andere Seite dieses Machtkampfes einsetzen. Da wäre ich ja selten einfältig. Mir und denen, die mir vertrauen geht es darum, dass wir darauf gefasst sind, uns beider Seiten zu erwehren. Gut, jetzt wird die eine oder andere von euch einwerfen, dass es gegen Vampire und Nachtschatten erprobte Mittel wie Sonnenspeere, Sonnenlichtkugeln, Eichenpflöcke oder bei Nachtschatten den Patronus-Zauber gibt. Dann zählt bitte alle nach, wie viele Eichenpflöcke ihr bei euch zu Hause aufbewahrt und übt das Pfählen damit! Ja, und ich habe angefangen, den Patronus-Zauber wieder mehrmals am Tag zu üben, auch wegen der wie ein dunkler Phönix aus der Asche wiedererstandenen Dementoren, die noch dazu auf dieser Welt herumstrolchen. Mehr will und werde ich zu dem Thema nicht sagen."

"Gut, du siehst ein, dass wir deiner Schilderung über den möglichen Krieg zwischen diesen Nachtwesen nicht bedingungslos vertrauen, weil wir die Quellen nicht kennen und daher auch nicht wissen, wie weit wir diesen trauen können", stellte Roberta Sevenrock klar. "Jedoch kann ich es auch nicht ausschließen, dass es diese Lage gibt und dass wir alle wirklich gut beraten sind, uns auf eine derartige Auseinandersetzung möglichst gut vorzubereiten. Daher pflichte ich dir Bei, Schwester Beth, dass wir alle zusehen sollten, uns gegen Vampire und Nachtschatten wehren zu können. Ich ordne deshalb an, dass wir uns in Übungsgruppen einteilen, die durch gegenseitige Vorführung ihrer Kenntnisse Ansporn und Auffrischung ihrer bestehenden Kenntnisse und Fertigkeiten haben. Ich schlage nicht mehr als vier Schwestern pro Übungsgruppe vor, weil wir ja nach außen hin nicht auffallen möchten, weshalb wir eben möglichst nur dann zusammentreffen, wenn jede unbehelligt und unbeobachtet von ihrem Wohnsitz weg kann. Näheres dazu dann gleich, wenn es noch um die Bedrohung durch die Werwölfe und Wertiger gegangen sein wird", sagte Lady Roberta.

Also ging es nun um die Lykanthropen, die durch das von wohl Vita Magica durchgeführte Massentötungsverfahren mit blau gefärbten Mondstrahlen ein hohes Vergeltungsbedürfnis hatten. Auch hier galt, sich möglichst auf Angriffe der Werwölfe vorzubereiten, also nach Möglichkeit viel Mondsteinsilber anzusammeln. Allerdings seien Werwölfe mit üblichen Zaubern zu besiegen und müssten nicht unbedingt getötet werden.

Der nächste Tagesordnungspunkt betraf Ladonna Montefiori und ihre offenbar wiederbegründete Schwesternschaft. Vor allem sollten die hier versammelten Schwestern auf der Hut sein, nicht von den neuen Mitschwestern dieser Wiedererwachten geködert zu werden. Denn wer sich auf Ladonna einließ verfiel und gehörte ihr bis ans Lebensende. Beth sa so aus, als müsse sie noch was dazu beisteuern. Doch offenbar hatte sie das Unverständnis im Bezug auf den von ihr erwähnten Krieg zwischen Vampiren und Nachtschatten davon abgebracht, mehr zu sagen. Es wurde zusammengetragen, was seit damals, wo Ladonna zum ersten mal gelebt hatte, bekannt war und dass nun feststand, dass sie Veelastämmig war und somit auch unter dem Schutz der Veelas stand. Das hieß, dass sie nicht ohne Angst vor einer Blutrache getötet werden durfte. Sicher, über die Verschmelzung von Anthelia und der vorzeitlichen Magierin hieß es auch, dass diese nicht getötet werden durfte. Doch das hieß nicht, dass nicht zumindest versucht werden sollte, die eine oder die andere für alle Zeit handlungsunfähig zu machen. Nun wussten alle hier, dass sie nicht zu offen über die Ausschaltung Anthelias diskutieren durften, weil Beth als offizielle Verbindung zwischen ihnen und der anderen Schwesternschaft in ihrer Mitte weilte. Sie des Raumes zu verweisen würde Verdacht erregen, sie mit Gedächtniszauber zu belegen würde der als sehr gut begabten Legilimentorin auffallen und zu unschönen Sachen wie einen Präventivschlag verleiten. Ein Hexenkrieg war in dieser Zeit das allerletzte, was sie und der Rest der Welt gebrauchen konnten. Leider galt das aber auch für die Schwesternschaft von Ladonna, erkannte Theia, während alle darüber sprachen, welche Schwachstellen Veelastämmige besaßen, außer ihrer unerträglichen Selbstverliebtheit.

Nach zwanzig Minuten mal ruhiger, mal hitziger Debatte kamen sie zum Schluss, dass es derzeitig keine anwendbare Lösung gab und jeder hier überlassen blieb, welche nichttödlichen Mittel sie gegen Ladonna anwenden konnte.

Bei dem Tagesordnungspunkt, der das Verhalten gegenüber dem Zaubereiministerium betraf kamen sie zu einer schnellen Einigung. Auf einen einzigen Satz zusammengefasst lautete diese: Buggles und seine Befürworter müssen weg. Über das wie wurde zwar heftig gestritten, dann aber beschlossen, sich den Initiativen der ungewollten Mehrlingsmütter und der Interessensgemeinschaft später Väter ohne ausdrücklichen Kinderwunsch anzuschließen, zumal sie mit Beth McGuire und einigen anderen in ihren Reihen selbst betroffene hatten. "Somit steht fest, dass wir die Anfechtung dieses von Dime geschlossenen Vertrages anheizen und nachweisen, dass das, was Buggles als Originalvertrag präsentiert hat, nicht das magisch bindende Dokument ist, an dessen Inhalt sich das Ministerium immerfort halten muss. Des weiteren sollten wir so unauffällig wie wirksam auf eine Neuwahl des Zaubereiministers oder der Zaubereiministerin hinwirken", fasste Roberta für das von einer versteckten Mitschreibefeder verfasste Protokoll zusammen, was sie beschlossen hatten. "Die magische Wirksamkeit des Vertrages sollte bis zum Ende dieses Jahres bestätigt oder widerlegt werden. Spätestens im März des nächsten Jahres soll sich Buggles einer Wahl stellen oder bis dahin freiwillig zurücktreten. Jedenfalls sollte die Aufwandsentschädigung für die ungewollt Mutter gewordenen Hexen erheblich angehoben werden und diese Vita Magica in Rechnung gestellt werden, wie es in Europa schon längst beschlossen und verkündet wurde. Des weiteren soll die durch thaumaturgische oder alchemistische Methoden erzwungene Schwangerschaft als vollendete Vergewaltigung in Tateinheit mit Freiheitsberaubung eingestuft werden und jeder oder jede, der oder die bei einer solchen Tat ertappt wird, die entsprechende Bestrafung auf sich nehmen. Die Forderungen, liebe Schwestern, geben wir so heimlich wie frühere Anregungen an alle die weiter, die in den entsprechenden Anstellungen sind. Damit ist dieser Tagesordnungspunkt hoffentlich erschöpfend behandelt", sagte Roberta Sevenrock.

Nun durfte jede, die noch ein eigenes Anliegen vorbringen wollte sprechen. Theia Hemlock brachte einmal mehr vor, dass ihre Tochter Selene sehr gerne Mitglied der Schwesternschaft werden wolle. Die Antwort war wieder die, die sie schon vor einem Jahr gehört hatte, seitdem Selene unfallfrei längere Strecken gehen oder laufen konnte und auf ihrem Spielzeugbesen schon sehr umsichtig unterwegs war. "Nur eine Hexe, die bereits zur Frau gereift ist und die ersten großen Zwischenprüfungen ihrer zauberischen Fertigkeiten bestanden hat kann auf Fürbitte einer von ihr erwählten oder sie ansprechenden Mitschwester vor diesen Rat geladen werden und befragt werden", sagte Roberta Sevenrock und fügte mit einem Lächeln hinzu: "Offenbar meint deine Tochter, wir würden unsere altehrwürdige Grundordnung so häufig wechseln wie ein Kleid oder ein Paar Schuhe, wie?"

"Ihr habt den Punkt "Eigene Anliegen" auf die Tagesordnung gesetzt, Lady Roberta", sagte Theia Hemlock. "Ich sehe zumindest ein, dass Selenes im ersten körperlichen Leben gesammelten Erfahrungen uns im direkten Gespräch mehr einbringen würden als durch reine Wiedergabe durch mich, ihre Wiedergebärerin."

"Na ja, aber es wäre höchst fragwürdig, wenn ein Mädchen, das rein körperlich gerade erst vier Jahre und ein paar Monate auf der Welt ist, bereits mit schwerwiegenden Verantwortungen betraut wird, Theia. Ja, und weil sie noch weniger auffallen darf als wir sowieso schon sollte sie mit der von dir erwähnten Erfahrung und Intelligenz erkennen, dass sie die ihr wiedergeschenkte Lebenszeit ausnutzen möge, um so behutsam und unauffällig sie kann heranzuwachsen. Bedenke bitte auch, dass der ehemalige Minister Cartridge dich, Schwester Theia, nur deshalb als Daianiras legitime Tochter und Selene als durch Geburt eindeutige Bürgerin der vereinigten Staaten von Amerika anerkannt hat, weil er eben keinen Hinweis auf eine besondere Form der Iterapartio-Bezauberung finden konnte, und in dem Moment, wo er einen derartigen Hinweis gefunden hätte, er vorsorglich Selenes vollständige Erinnerung hätte auslöschen lassen, um sie als von allen früheren Errungenschaften und Bedürfnissen befreites Kind groß werden zu lassen. Das soll jetzt keine Drohung sein, Theia. Ich stelle nur fest, dass ein in die Enge getriebener Zaubereiminister Buggles jeden Strohhalm ergreifen wird, den er in die Finger bekommt. Das Geheimnis deines und deiner Tochter Lebens könnte ein solcher Strohhalm sein." Theia nickte und wiederholte, dass sie ja nur wiedergegeben habe, worum ihre Tochter sie gebeten habe.

Weitere Mitschwestern brachten eigene Anliegen vor, die sich vor allem um bald anstehende Familienangelegenheiten drehten. Vor allem Linda Knowles ließ hier ein gut geschütteltes Erumpenthorn fallen.

"Verehrte Lady Roberta, liebe Mitschwestern, nach Madam Palmer von Viento del Sol und dem, den es unmittelbar betrifft möchte ich es auch euch wissen lassen, dass ich von Gilbert Latierre ein Kind erwarte. Laut Heilerin Palmer wird es wohl ende April bis Anfang Mai zur Welt kommen." Stille trat ein. Keine sagte was. Theia sah die mit magischen ohren begüterte Reporterhexe genau an und wollte sehen, ob sie von dem angekündigten Nachwuchs schon was sehen konnte. Ja, da war wirklich eine dezente Vergrößerung der Brüste zu erkennen. Wie weit der Bauch schon vorgewölbt war verbarg Linos mintgrüner Umhang. Mehr als zehn Sekunden schwiegen die schweigsamen Schwestern. Dann sprach Linda Knowles weiter: "Ich werde in den nächsten Monaten den Vater meines ersten Kindes heiraten, ob in VDS oder einem Ort in Frankreich mache ich davon abhängig, wie ich meine berufliche Zukunft planen kann. Sicher möchte ich gerne weiter für die Stimme des Westwindes schreiben. Wenn ich das Baby dann hier in den Staaten bekomme würde es automatisch Bürgerin oder Bürger der vereinigten Staaten. Bringe ich es in Frankreich auf die Welt würde es nach magischem Bodenrecht Französin oder Franzose, weil gilt, dass die für Familie und Ausbildung zuständigen Behörden und Lehranstalten, die die Ankunft eines neuen Zaubererweltkindes verzeichnen, auch dessen Ausbildung übernehmen. Da ich Monsieur Latierre in dieser Hinsicht nicht übergehen darf muss ich mit ihm besprechen, welche Vor- und Nachteile er und ich haben, wenn wir weiterhin in VDS wohnen oder uns eine Wohnung oder Behausung in Frankreich suchen. Ich kündige es euch jedoch schon einmal an, dass ihr euch nicht wundert, falls ich im neuen Jahr aus den Staaten fortziehe, anders als Schwester Mirella, die von Texas nach New York umzieht." Sie sah die zwanzig Jahre ältere Mitschwester an, die nach dem Schulabschluss ihres jüngsten Kindes mit ihrem Mann wieder an die Ostküste zurückwollte, wo sie selbst geboren worden war.

"Nun, Schwester Linda, du weißt ja, dass wir ein Bund aus Schwestern sind, der die ganze europäisch geprägte Welt umfasst. Sicher kämst du in Frankreich auch bei unseren dortigen Mitschwestern sehr schnell gut unter. Aber wo du uns diese Wendung in deinem Leben geschildert hast möchte ich doch anmerken, dass wir dich sicher sehr vermissen würden, falls du mit diesem zugegeben sehr wagemutigen und frei heraus berichtenden Zauberer aus der altehrwürdigen Latierrefamilie Tisch und Bett teilen möchtest und er seiner Familie wegen nicht aus Frankreich fortziehen möchte. Vielleicht bekommst du ihn aber auch ohne Anwendung magischer Manipulationen dazu, zu dir nach Kalifornien zu ziehen und das Kind unter deinem Herzen dort mit dir gemeinsam großzuziehen. Wie auch immer ihr beiden euch entscheidet, entscheidet euch so, dass es nicht deine Seele zerreißt, Schwester Linda!"

Jetzt wollten natürlich alle wissen, wieso die bisher so sehr auf ihre Eigenständigkeit bedachte Hexe sich mit Gilbert Latierre eingelassen hatte und auch noch ein Kind von ihm trug, wo es für Hexen und Zauberer so viele wirksame Empfängnisverhütungsmittel gab. Darauf gab sie mit ihrem landesweit berühmt-berüchtigten Zuckerlächeln mit Kulleraugen zur Antwort, dass sie es einfach endlich einmal wissen wollte, wie das war, mit einem kräftigen ausdauernden Mann die nächste Nähe zu erleben und sie das auch nicht bereute.

Weil sonst keine der anderen Schwestern ein Anliegen hatte ließ Roberta Sevenrock die Befragung der Reporterin weitergehen, bis sie nach einem Blick auf ihre kleine Armbanduhr erkannte, dass sie schon mehr als anderthalb Stunden hier zusammensaßen. Bei einer Vereinigung, die auf Unauffälligkeit bedacht war mochte jede überflüssige Minute eine zu viel sein. Deshalb sagte Roberta in einer Pause: "Schwestern, ich verstehe euch ganz gut, dass ihr alle für und gegen einen Umzug von Schwester Linda sprechenden Punkte besprechen wollt. Doch ich merke nun, dass es keine neuen Ansätze oder Gründe mehr gibt. Deshalb bitte ich hier und jetzt um das Ende dieser Aussprache und verfüge, dass diese Vollversammlung beendet ist." Die hier versammelten Mitschwestern hörten mit der lebhaften Unterhaltung auf und nickten ihrer gewählten Stuhlmeisterin zu. "So entlasse ich euch alle an die Orte, an denen ihr wohnt und arbeitet, meine sehr geliebten Schwestern. Semper Sorores!" vollendete sie ihre Verabschiedung. "Semper Sorores!" wiederholten alle im Chor.

"Schwester Linda, ich helfe dir gleich wieder bei der Heimreise", hörte Theia noch, während die ersten Hexen aufstanden und sich so stellten, dass sie unbehindert disapparieren konnten. Je mehr verschwanden, desto mehr Platz war für die anderen da. Theia überlegte noch, ob sie sofort disapparieren sollte oder zusah, wie es mit Linda Knowles weiterging. Sie sah noch, wie Roberta die kaffeebraungetönte Reporterhexe aus Viento del Sol bei der Hand nahm und mit ihr durch die sich auf einen Zauberstabwink hin öffnende Tür schritt. Theia sah noch einmal zu den tausend brennenden Kerzen hinauf. Wenn hier niemand mehr war würden sie nach einer Minute erlöschen und dann verschwinden. Weit genug heruntergebrannt waren sie eh schon. Also drehte sich Theia auf der Stelle und verschwand ebenfalls aus der Versammlungshalle.

"Und, was hat sie wegen mir gesagt, Mom?" fragte die auf einem rosaroten Besen knapp einen Meter über dem Boden hin und herschwebende Selene ihre zweite Mutter.

"Vor den Zwischenprüfungen keine Chance, wie beim letzten mal auch schon, Kleines", sagte Theia. Dann wollte Selene zumindest wissen, ob es was gab, was auch für sie wichtig war. Als sie das mit dem möglichen Krieg der Vampire und Nachtschatten hörte fiel Selene fast mit dem Besen herunter.

"Wenn das von Anthelia kommt, Mom, und die weiß, dass ihr wisst, das eine oder mehrere von euch bei der mitmachen, dann würde die sowas sicher nicht rumgehen lassen, wenn sie nicht selbst Angst vor so einem Krieg hätte. Ich meine, es geht ja nicht um bestimmte Menschen, sondern diese Göttinnenanbeter und diese nachtschwarzen Seelenfresser."

"Die Frage habe ich mir natürlich auch gestellt, was Anthelia davon hätte, uns derartige Geschichten aufzutischen. Die einzige Antwort, die mir einfällt ist, dass sie all zu gerne ein Bündnis der Schwesternschaften haben will, weil es ja sehr viele Feinde da draußen gibt. Aber weil jetzt klar ist, dass sie diese verflixten Entomanthropen nachgezüchtet hat kann sie das im Moment vergessen, dass unsere Stuhlmeisterin sich auf ein Bündnis mit ihr einlässt."

"Die Entomanthropen waren der Grund, warum Grandma Daianira das Duell geführt hat", grummelte Selene. Theia nickte. Mehr musste sie auch nicht antworten.

"Zumindest wissen wir nun alles, was es über die Schlangenmenschen in Australien zu erzählen gab. Und ich denke, dass die Oberheilerin Laura Morehead nichts von dem Gift behält. Das wäre ja echt voll gefährlich, wenn das in falsche Hände kommt", sagte Selene Hemlock. Auch dem konnte ihre zweite Mutter nur zustimmen.

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Tony Summerhill hatte der Versuchung widerstanden und den auf dem Küchentisch liegenden Zauberstab nicht angerührt. Zu gerne würde er wieder einen solchen Holzstab in der Hand halten und damit Sachen schweben lassen, Dinge zu sich hinfliegen oder aus dem Nichts heraus erscheinen lassen oder aus einer gekonnten Drehung heraus in weniger als einer Sekunde über zweihundert Kilometer weit apparieren. Doch jedes mal, wenn er daran dachte fiel ihm auch ein, dass er bloß nicht auffallen durfte. Tat er das, dann würden die ihm noch vier Jahre nach dem anstrengenden Entschlüpfen aus Tracys warmem Bauch das Gedächtnis auf Kleinkind zurückstutzen. Dann bekäme er nie seine Chance, aus diesem ihm auferlegten zweiten Leben was sinnvolleres zu machen als sein erstes Leben schon hergegeben hatte. Er konnte dann auch nicht herausfinden, was es mit Daianiras heimlicher Tochter und deren Tochter auf sich hatte. Außerdem wollte er nicht, dass Tracy traurig oder besorgt um ihn war, wo es für sie ja genauso anstrengend gewesen war, ihn auf die Welt zurückzubringen.

"In zwei Jahren darf ich zumindest Lesen können", dachte Tony Summerhill, der als Sohn des toten Lucas Wishbone aufwuchs. In zwei Jahren würde er die nächste Stufe auf der Treppe des Lebens nehmen, nachdem diese vermaledeite Hexe Anthelia ihn so ruppig alle bisher erreichten Stufen wieder runtergeschupst hatte. Doch nein, sie hatte ihn nicht dazu gezwungen, das zweite Leben anzunehmen. Er hätte ja auch den Tod durch Schnellalterungsfluch hinnehmen können und sich beim Übertritt aus der einen in die andere Welt entscheiden können, ob er als Geist in der stofflichen Welt bleiben wollte oder das unbekannte Land jenseits des letzten Atemzuges betreten wollte. Er und Tracy hatten sich dafür entschieden, dass er noch mal neu zu leben anfangen sollte. Er hatte da erst gehofft, dass er sich nicht sofort an alles erinnern würde. Doch er hatte die letzten Monate vor seiner Wiedergeburt mit vollem Bewusstsein miterlebt und eben die Tortur der Geburt selbst in Erinnerung behalten. Also trug er die Schuld an seinem noch viel zu kleinen und schwachen Körper. Aber gut, als Geist hätte er viele Sachen nicht machen können, die er schon als Säugling machen konnte, und wie das Jenseits beschaffen war wusste ja auch nur, wer dort hinübergegangen war, was einige der magischen Theoretiker die zweite oder dritte Geburt nannten. Dabei gab es gerade von denen welche, die den Indern und Buddhisten glaubten, dass eine Seele immer wieder neu geboren würde.

"Tony, bist du in der Küche?" hörte er Tracys Stimme durch das Haus rufen. Er trällerte: "Ja, Mom, bin in Küche!" Da kam sie auch schon herein. Sie trug eine Schürze. Dann sah sie den Zauberstab auf dem Küchentisch. "Ah, habe ich den doch glatt hier liegen lassen. Dann wollen wir mal was für uns zwei machen, Tony", sagte sie und zielte auf den mit Holz befeuerbaren Herd. Ohne was zu sagen entfachte sie ein munteres Feuer. Tony beeilte sich, ihr aus dem Weg zu gehen. Denn wenn Tracy Summerhill, die Frau, die Lucas Wishbone trotz aller Anstandsregeln geliebt hatte und die ihn, Tony Summerhill ins neue Leben getragen hatte, konnte bei Küchenzaubern so schnell sein, dass er schon einige Male Angst bekommen hatte, dass ihm ein frei fliegendes Messer oder eine zum Herd hinsausende Pfanne traf. Also ließ er sie lieber frei hexen und zaubern, bis die Funken flogen und der weiße Dampf aus allen Töpfen wallte.

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Am achten November zeigte Julius Latierre seiner Frau den offiziellen Einladungsbrief von Hera Matine. Millie grinste ihn an und zeigte ihm den ihr zugeschickten Brief. Damit war es jetzt amtlich, dass es am zehnten November zu der erwähnten Zusammenkunft der ausgebildeten Ersthelferinnen und Pflegehelfer kam, die zwischen 1980 und 2000 in Beauxbatons gewesen waren. Zwar hatte Antoinette Eauvive auch Ersthelfer von weit aus früher gefunden, doch Hera wollte die schon älteren nicht so abrupt aus ihrem einträglichen Leben herausreißen. Außerdem waren von denen, die im festgelegten Zeitraum in Beauxbatons gewesen waren einige aus Millemerveilles, darunter Jeanne Dusoleil, Sandrine Dumas, Millie und Julius Latierre. Außerdem würden sie wohl mitbekommen, was aus Deborah Flaubert, Josephine Marat, Gerlinde van Drakens und Francine Delourdes geworden war. Tja, und Béatrice war ja in dem Zeitraum auch Pflegehelferin in Beauxbatons gewesen. Das hatte sie nicht abgeschreckt, hauptberufliche Heilerin zu werden.

Die Frage war nur, ob die eingeladenen Hexen gerade nicht selbst schwanger waren. Von Kevin wusste er, dass er es hinbekommen hatte, dass Patrice sein zweites Kind trug. Ob ihre Fast-Namensvetterin Patricia nach ihrer Hochzeitsreise ans Mittelmeer auch schon wen neues in sich wohnen hatte oder noch als Pflegehelferin in Millemerveilles aushelfen konnte wollte ihm seine Schwiegertante Béatrice nicht sagen. Immerhin wollte sich Patricia bei den Lyonaiser Löwen als Jägerin bewerben. Schwangere nahmen die da nicht. Marc wollte noch einen umfangreichen Computerlehrgang machen und zusammen mit Patricia Englisch und Spanisch weiterlernen um dann in nächsten Sommer bei Nathalie Grandchapeau anzuklopfen, ob sie noch einen Internetsurfmeister mehr brauchte.

"Gut, ich schicke der guten Hera noch die Antwort, dass ich ihren Brief bekommen habe und wir am zehnten um vier Uhr Nachmittags bei ihr aufschlagen. Dann muss ich aber auch schon los", sagte Julius zu Millie. Diese nickte ihm zu.

Weil das nun unsichtbare Schutznetz ihn mühelos durchapparieren ließ wechselte Julius direkt aus dem Apfelhaus ins Ministeriumsfoyer, ohne das Flohnetz zu benutzen. Hier im allgemeinen Ankunfts- und Abreiseraum war bereits viel Betrieb. Er sah mehrere Kolleginnen und Kollegen aus anderen Abteilungen. Die drei Hexen aus der Latierre-Familie fielen jedoch sofort auf, weil sie alle anderen hier um mindestens einen halben Kopf überragten und noch dazu leuchtend helles rotblondes Haar besaßen. Da er dank Madame Maximes Halbriesenblutspende damals auch einen zusätzlichen Wachstumsschub erlebt hatte fiel er mit seinen 1,92 Metern Körperlänge genauso auf. So wunderte ihn nicht, dass Hippolyte, die nun sehr deutlich gerundet aussah, ihm zuwinkte, als er auf dem Weg zu einem der drei Fahrstühle war.

Julius begrüßte seine Schwiegermutter und die Schwiegertante Barbara, welche die Tierwesenabteilung leitete. Dann trat noch die blondhaarige Britta Gautier hinzu. Julius sah zweimal hin um es zu glauben. Ja, auch die schwedischstämmige Hexe, die mit Martines oftmals unwirschem Schwager Roger verheiratet war, erwartete ein Kind. Für die Außeneinsatztrupplerin, die gegen gefährliche Zaubertiere oder -wesen vorgehen musste, hieß das sicher bald Innendienst.

Julius begrüßte die drei mit ihm mehr oder weniger verwandten Hexen und erkundigte sich bei Hippolyte und Britta nach dem Befinden. Hippolyte meinte: "Meine Schwiegermutter behauptet, entweder kommt er am 10. Dezember oder pünktlich zum Vorabend von Weihnachten. Meine Schwiegermutter hätte ihn gerne als Durinlichtkind, wenn ich ihr schon den Gefallen tue und ihn Alain Durin Latierre nennen möchte."

"Durins Licht? Moment, der Tag nach der Wintersonnenwende, wo es heißt, dass der Urvater Durin die große Schmiede im Himmel wieder mehr befeuert", erinnerte sich Julius an das, was Millie über den Glauben orthodoxer Zwerge und Zwerginnen erwähnt hatte.

"Dann habe ich auf jeden Fall noch fünf Monate vor mir", meinte Britta Gautier. Julius hätte sie fast gefragt, was ihr Mann sagte, dass er nach zwölf Jahren Ehe doch noch ein Kind hinbekommen hatte. Doch er wollte sich vor allem nicht in Tante Babsies Hörweite sowas herausnehmen. Denn Babs Latierre galt in der Familie neben der gestrengen Cynthia als die Anstandshexe des weitläufigen Zaubererweltclans. Doch Britta schien seine Gedanken erraten zu haben. Denn sie meinte: "Da müssen Roger und ich ganz neu planen. Wenn der Heiler vom Dienst mich heute noch mal untersucht hat bin ich bis zwei Monate nach der Geburt auf Büroarbeit beschränkt. Roger glaubt es auch immer noch nicht, dass er wirklich noch Vater wird."

"Hat wohl gehofft, er sei unfruchtbar oder wie, Britta?" fragte Hippolyte, während sie zu viert im Aufzug nach oben fuhren.

"Ja, oder ich sei es, Hippolyte", grummelte Britta Gautier. Dann wollte sie von Julius wissen, wie es der kleinen Lichtbringerin Clarimonde ginge. Den Beinamen hatten die Latierres seiner dritten Tochter verpasst, weil sie durch ihre Geburt Sardonias Kuppel ausgelöscht und damit das Licht nach Millemerveilles zurückgebracht hatte. Julius sagte mit sichtlichem Stolz, dass sie jede Woche ein Viertelpfund zulegte und schon anfinge, sich gegen die auf sie drückende Schwerkraft im Kinderbett herumzudrehen. Hippolyte meinte dazu, dass sie genau wie Aurore und Chrysope nach ihrer Mutter kam, die schon mit fünf Monaten zu krabbeln angefangen hatte. Julius nickte. Millie hatte ihm das ja auch erzählt, und bei Aurore und Chrysope hatte er das ja auch genauso mitbekommen.

"So, hier muss ich raus. Frohes und unfallfreies Schaffen", wünschte Barbara Latierre und verließ den Aufzug.

"Und du möchtest echt weiterhin diese Zwergin als Hebamme beauftragen, Hipp?" fragte Britta Gautier. Hippolyte erwiderte kurz: "Auch wenn du es nicht glaubst, Britta, ich verdanke ihr zu viel, als dass ich sie derartig vor den Kopf stoße. Außerdem löchert meine jüngere Schwester mich schon oft genug damit, dass ich den Kleinen unter Aufsicht einer ausgebildeten Hexenheilerin bekommen möge, als wenn ich noch nie ein Kind bekommen ... Hier muss ich raus. Noch einen schönen Arbeitstag!" Nun verließ Hippolyte den Aufzug.

"Ich hab's dir angesehen, dass du gerne losgelästert hättest, wie der sonst so verknirschte Bursche Roger Gautier das hinnimmt, dass ich doch noch sein Kind kriege", grinste Britta Gautier. Julius grinste nur, sagte aber kein Wort. Das war auch schon mehr als genug.

Als Julius in seinem Büro eintraf lagen zwei Briefe auf seinem Schreibtisch. Der erste Brief stammte von Didier und Églée Blériot und enthielt eine von ihnen selbst verfasste Mitteilung, dass sie nun auf Réunion Wohnten und bis auf weiteres nicht mehr ins europäische Frankreich zurückkehren würden. Zwischen den Zeilen las er, dass Églée ihrer Mutter und ihren Schwestern böse war, weil diese Euphrosyne mit vereinter Kraft wiederverjüngt hatten, um den Eindruck, sie dürfe sich alles erlauben was sie wolle, aus der Welt zu schaffen. Auf Réunion würde sie wohl die einzige Veelastämmige sein. Monsieur Blériot bat so inständig er es in einem amtlichen Schreiben tun durfte darum, dass Julius Léto und den anderen veelastämmigen Verwandten gegenüber verschwieg, wo Églée nun wohnte. Dem brief war eine amtliche Meldebestätigung beigefügt, die von der Niederlassung des Zaubereiministeriums ausgefertigt und beglaubigt worden war. Julius schickte einen Bestätigungsbrief sowohl an die Blériots als auch an die Niederlassung auf Réunion.

Der zweite Brief betraf den Fall eines siebzehnjährigen Touristen aus Nottingham, der in einem Wald der Bretagne verschwunden war und nach sieben Wochen wiederauftauchte, jedoch sehr massive Persönlichkeitsstörungen aufwies. Ein Mitarbeiter des Zaubereiministeriums in Rennes erfuhr von diesem Fall und schlich sich zusammen mit dem residenten Heiler in das Krankenhaus, in dem der junge Mann bis auf weiteres untergebracht worden war. Der Verdacht einer Unterwerfung unter die Begierden einer grünen Waldfrau bestätigte sich. Der junge Mann wurde heimlich aus der Obhut der nichtmagischen Mediziner geholt und in die Delourdesklinik überstellt, wo er in den folgenden Wochen hoffentlich erfolgreich aus der Abhängigkeit zu jener grünen Waldfrau befreit werden sollte. Dem Brief waren die Daten der beteiligten Polizisten, Ärzte und Krankenpfleger beigefügt, die alle gedächtnismodifiziert worden waren. Julius sollte diesen Vorfall mit der Heilzunft und dem Büro für friedliche Koexistenz abstimmen, um eine Rückführung des hoffentlich geheilten Jungens in sein früheres Leben für Nichtmagier nachvollziehbar zu gewährleisten. Sowas ähnliches geschah wohl auch gerade in Australien mit den nichtmagischen Opfern der Schlangenmenscheninvasion, dachte Julius. Wieder einmal dachte er daran, wie viel Glück er bisher gehabt hatte, dass ihm keine dieser grünen Waldfrauen derartig auf den Leib gerückt war. Von Tim Abrahams und Roy fielding wusste er, dass diese damals bei Hogsmeade in die Fänge der als Sabberhexen bezeichneten humanoiden Zauberwesen geraten waren und Tim über Jahre von einer davon abhängig gehalten wurde. Das hätte ihm auch passieren können, denn die grünen Waldfrauen in Paarungsstimmung suchten gesondert nach magiefähigen Jungen ohne lang zurückreichende Zaubererweltabstammung. Hatte dieser bedauernswerte Junge bei Rennes in der Bretagne etwa eigene Zauberkräfte? Das sollte auch noch geprüft und geklärt werden, beschloss Julius und notierte es sich gleich, um es mit Nathalie oder Belle abzustimmen. Der Fall Laura Rutherford hatte ja gezeigt, dass die Überwachung möglicher Hexenund Zauberer doch nicht ganz so lückenlos war wie er früher mal geglaubt hatte. Vielleicht war es auch ein Junge, der ungeweckte Zauberkräfte hatte, ähnlich wie sein Vater und sein Onkel Claude, die deshalb in die Fänge von Abgrundstöchtern geraten waren.

Dann flog noch ein bunter Memoflieger zu ihm herein und brachte eine Anweisung von Simon Beaubois, die aus Australien erhaltenen Abschlussberichte zu der dortigen Schlangenmenscheninvasion ins Französische zu übersetzen. Damit würde er heute sicher keinen Leerlauf am Schreibtisch erleben, dachte Julius und ging daran, die Dienstanweisung auszuführen.

Mit leisem Plopp apparierte die Hauselfe Crescence in seinem Büro und stellte ihm ein Tablett mit frischem Schinken-Käse-Baguette und eine große Tasse Milchkaffee hin. Julius bedankte sich bei der Leisespringerin und staunte einmal mehr, dass sie noch leiser als ein schnell aus dem Flaschenhals gezogener Weinflaschenkorken disapparierte.

Um Zehn Uhr besprach er sich mit Madame Grandchapeau wegen der Nachwirkungen der Schlangenmenscheninvasion in Australien. Auf die an ihn gestellte Frage, ob er nun denke, dass die Gefahr endgültig gebannt sei sagte er nach kurzem Nachdenken:

"Ich vermute mal sehr, dass die Gefahr bis auf ein Millionstel verringert wurde. Warum ich nicht von einer völligen Auslöschung der Gefahrenquelle ausgehe begründe ich damit, dass die Heiler Australiens bei der Ergreifung von Schlangenmenschen deren Gift auffingen und untersuchten. Sollte von diesen Giftmengen noch was übrig sein besteht die sehr, sehr geringe Möglichkeit, dass das Gift in Falsche Hände gerät und dann neue Schlangenmenschen hervorrufen könnte. Ebenso befürchte ich, dass die Erbin Sardonias oder Anthelias mit ihren nachgezüchteten Entomanthropen ebenso Schlangenmenschen ergreifen konnte, deren Gift sie erbeutet hat. Ich schätze sie so ein, dass sie wohl Versuche damit anstellt, um dessen Zusammensetzung und Wirkung genauer zu bestimmen. Allerdings halte ich sie auch für so klug, dass sie nicht zielgenau auf die Erschaffung neuer Schlangenmenschen ausgeht. Sie würde sich und vor allem den ihr vertrauenden Hexen keinen Gefallen damit erweisen. Aber solange nicht hundertprozentig zuverlässig geklärt ist, ob noch was von dem Schlangenmenschengift übrig ist oder nicht, möchte ich die Gefahr nicht als gänzlich ausgeräumt einstufen. Allein schon das Auftauchen dieser vier offenbar versteinerten Schlangenmenschen im Uluru warnt uns, uns nicht all zu sicher zu fühlen. Ich hege jedoch die Hoffnung, dass sowohl die offiziell lagerungsberechtigten Hexen und Zauberer, die das Gift in Gewahrsam haben, als auch die Herrin des Spinnenordens so klug sind, ihre Giftvorräte umgehend zu vernichten, sobald sie alles daraus erfahren haben, was sie wissen wollen."

"Ui, das war ja schon richtig niederschriftsreif, Monsieur Latierre", lobte ihn Nathalie. Auch die anderen Teilnehmer der Besprechung nickten ihm begeistert zu. "Gut, das gebe ich so wie die Feder es notiert hat an die Kollegen Bridgegate und McBane weiter", kündigte sie an.

"Können die im Südland da unten denn französisch?" wagte Primula Arno eine Frage zu stellen.

"Hmm, ich weiß, dass die Ministerin und die oberste der dortigen Heilzunft der französischen Sprache mächtig sind. Aber die zuständigen Behördenleiter haben bisher nur auf Englisch mit uns korrespondiert. Monsieur Latierre, bitte fertigen Sie eine Übersetzung der von Ihnen soeben dargelegten Einschätzung an und fügen Sie diese der direkt von Ihnen abgeschriebenen Protokollnotiz bei! erwiderte Nathalie Grandchapeau. Julius bestätigte den Erhalt der Anweisung.

"Sie erfuhren ja auch von der betrüblichen Sache in der Nähe von Rennes, Monsieur Latierre. Was denken Sie in dieser Angelegenheit", fragte Nathalie nach einigen Sekunden Bedenkpause. Julius erwähnte, dass es vor allem wichtig war, mehr über das mögliche Zusammentreffen mit einer grünen Waldfrau zu erfahren und hierfür auch zu bestimmen, wer der registrierten Waldfrauen zum möglichen Tatzeitpunkt in der Gegend unterwegs war. "Da es ja ein Aufspürgerät für grüne Waldfrauen gibt ist das sicher leicht zu klären. Aber das müsste dann Monsieur Delacour klären", sagte Julius abschließend. Damit bekam er den Auftrag, den Kollegen Delacour aufzusuchen und ihm Nathalies und seine eigenen Überlegungen vorzutragen.

Nachdem Julius dreißig Minuten in jenem Büro ausgeharrt hatte, wo er als Amtsanwärter angefangen hatte, kehrte er in sein eigenes Büro zurück. Dort schrieb er die Übersetzung der die Schlangenmenschen betreffenden Besprechung und schickte diese an Belles Büro, dass sie es an die Australier weitersenden konnte.

Mittags traf er seine Schwiegermutter im ministeriumseigenen Speisesaal wieder. Da er ja Behördenleiter war durfte er sich auch mit anderen Behörden- und Abteilungsleitern an einen Tisch setzen. Sie sprachen in dezenter Lautstärke, was demnächst in der Familie anstehen würde. Julius hatte dabei den Eindruck, dass Hippolyte mit irgendwas haderte. War was mit dem Ungeborenen? Er fragte, ob es ihr und dem Kind gut gehe.

"Laut meiner Hebamme ist mit mir und deinem kleinen Schwager alles in allerbester Ordnung. Allerdings möchte ich da noch einmal mit Béatrice drüber sprechen. Die hat bei der letzten Untersuchung vor zwei Monaten Andeutungen gemacht, dass ich vielleicht doch besser von einer Hebammenhexe weiterbetreut werden möge. Aber das hat sie auch schon bei Miriam angemerkt, und Miriam kam gesund und vollständig zur Welt. Gut, kann sein, dass es mich mehr mitnimmt, weil es eben schon wieder mehrere Jahre her ist und dass ich jetzt einen Jungen erwarte, worauf Albericus immer gehofft hat. Außerdem drückt mir noch dieser unglaubliche Betrug der Amerikaner auf alles, Kopf, Bauch, Seele. Ich muss andauernd nach Lausanne zum Quidditchweltverband und spiele im Moment mit dem Gedanken, das an wen anderen zu delegieren."

"Und das mit dem Frühling als Wiederholungszeitraum steht noch?" wollte Julius wissen.

"Das ist genau eines der Dinger, die gerade hitzig ausdiskutiert werden. Viele Landesverbände und Ligachefs wollen den Sommer nehmen wie üblich. Die Italiener drängen auf einen zeitnahen Nachholtermin, am liebsten in der Ligapause im Winter. Aber da wollen die Engländer nicht mitziehen und die afrikanischen Staaten und alle südlich vom Äquator haben kurz vor dem Januar die wichtigsten Ligaspiele wie die Meisterschaftsentscheidung. Die Kanadier wollen auf jeden Fall vermeiden, dass sie noch einmal ins hintertreffen geraten, und die Betrugsüberwachungsorganisation des Weltverbandes bittet um genug Zeit, um jetzt alle denkbaren Betrugsarten erfassenund beweisen zu können. Die Japaner fühlen sich in ihrer Ehre gekränkt, weil sie um ihr Spiel gegen Russland gebracht wurden und verlangen von den US-Amerikanern zwei vollständige Sätze neuer Flugbesen und eine öffentliche Entschuldigung des amerikanischen Zaubereiministers und des Leiters der Abteilung für magische Spile und Sport vor dem Weltverband im Beisein ranghoher Mannschaftsfunktionäre. Die beschuldigten lehnen jede Übernahme der Verantwortung ab und wälzen sie auf Phoebe Gildfork und die Mannschaft ab."

"Bei der Gelegenheit, hast du irgendwas mitbekommen, was mit den Leuten von der Mannschaft nach der Rückkehr passiert ist? Ich meine, sind die wegen Betruges angeklagt worden?" fragte Julius.

"Da hast du wohl die besseren Verbindungen in die Staaten als ich, obwohl ich das auch schon meine entfernte Verwandte Jacquie Corbeau gefragt habe. Die Antwort war: "Die Blätter an den Bäumen eines windstillen Waldes machen mehr Lärm als unsere Zeitungen in dieser Angelegenheit."

"Klingt fast nach einem altchinesischen Sprichwort", wandte Julius ein. "Ist nicht weit hergeholt. Eure damalige Reiseführerin durch VDS liebt chinesisches und japanisches Essen, vor allem seitdem sie selbst vier Kinder bekommen hat", grinste Hippolyte. Julius grinste automatisch mit.

"Jedenfalls muss ich übermorgen wieder nach Lausanne. Aber bitte pssst, nichts zu deiner derzeitigen Mitbewohnerin und auch nichts zu Millie. Es reicht schon, dass Martine dauernd um mich herumschwirrt wie eine aufgedrehte Hummel."

"Gut, ich sage denen nichts, Hipp. Wir haben ja eh übermorgen unsere Zusammenkunft wegen der ganzen ungewollt Mutter werdenden Hexenin Millemerveilles. Du kriegst ja auch Gratisausgaben der Temps."

"Du meinst die Familienausgaben? Würde ich meinem Vetter nie verzeihen wenn nicht", erwiderte Hippolyte. "Die haben mich trotz der schlimmen Erlebnisse unter sardonias Kuppel immer mehr beruhigt als gar nichts von euch zu lesen zu kriegen", sagte Hippolyte. "Aber das habe ich Millie ja schon bei Clarimondes Willkommensfeier gesagt." Julius nickte bestätigend.

Nach der Mittagspause schickte ihn Nathalie nach Rennes, um vor Ort mit dem Außendienstmitarbeiter des Ministeriums und dem residenten Heiler Charles Durennes zu sprechen, wielange die Therapie für Michel Barnier, den von einer Waldfrau heimgesuchten, dauern würde. er traf die beiden in einer kleinen Schenke in einer nur für Zauberer und Hexen erkenn- und betretbaren Seitengasse von Rennes, deren Namen Julius sich nur notierte, aber nicht auszusprechen wagte.

Die beiden Zauberer wirkten ganz unterschiedlich auf ihn. Während der etwa fünfzig Jahre alte Charles Durennes sich in einem knitterfreien, glatten, apfelgrünen Umhang mit hellbraunem und beulenfreien Spitzhut präsentierte trug der etwa sechzig Jahre alte Monier eine kastanienbraune Korthose über hellbraunen Halbstiefeln und eine jägergrüne Übergangsjacke mit vielen Taschen und einer Kapuze. Während Durennes völlig glattrasiert und unterhalb der Hutkrempe auch tadellos gekämmt aussah führte Monier einen wild verstruwelten, nackenlangen dunkelbraunen Haarschopf und einen ebenso dunkelbraunen Vollbart vor, als sei er kein Beamter, sondern ein verwegener Abenteurer nach Wochenlanger Reise durch die Wildnis. Außerdem blickte ihn Durennes so seltsam an, als habe Julius etwas an oder in sich, das der Heiler mit bloßen Augen prüfen müsse. Das mochte vielleicht an der Körperlänge liegen. Denn Durennes war gerade 1,70 Meter hoch. Monier war sogar noch zehn Zentimeter kleiner.

"Wir haben die Wälder rund um Rennes und die angrenzenden Städte abgesucht. Bisher haben wir dort keine grüne Waldfrau gefunden. Kann sein, dass sie nur der Nachwuchssicherung wwegen unterwegs war", sagte Außendienstmitarbeiter Hubert Monier hörbar verdrossen.

"Dann steht zu befürchten, dass dieses Vorhaben erfolgreich verlief", vermutete Julius. Durennes nickte sehr heftig und sah Hubert Monier an.

"Also, Monsieur Latierre. In den noch sehr unberührten Wwäldern sind auf tausend Quadratkilometer zwanzig grüne Waldfrauen registriert, von denen fünfzehn in festen Revieren leben und deshalb Residenten genannt werden. Fünf der bisher registrierten wechseln immer wieder die Reviere und heißen Transienten. Ob es südlich von hier oder weiter östlich noch andere Transienten gibt lasse ich gerade von den Kolleginnen und Kollegen prüfen, die Listen über die ihnen bekannten Waldfrauen führen. Ich muss jedoch auch Ihnen gegenüber einräumen, dass diese Listen nicht ständig aktualisiert werden können, da wir ein Abkommen mit den grünen Waldfrauen haben, dass sie in ihrer Lebensführung größtenteils unbehelligt und unbeobachtet bleiben, weil sie uns im Gegenzug körpereigene Substanzen spenden, die wir für wichtige Tränke brauchen. Das Abkommen ist schon dreihundert Jahre in Kraft."

"Ich hörte von Madame Eauvive davon, dass es so eine Übereinkunft gibt, Monsieur Durennes", sagte Julius leicht bedrückt. Sein dienstälterer Kollege Monier verzog das von einem dunkelbraunen Vollbart umrahmte Gesicht und sagte: "Was durchaus von meiner obersten Vorgesetzten, der amtierenden Zaubereiministerin und Ihrer obersten Vorgesetzten, Großheilerin Eauvive, überprüft werden sollte. Denn durch die Ausweitung der städtischen Nutzung der Nichtmagier sind Konflikte mit den magischen Waldbewohnern mit und ohne Intelligenz auch ganz ohne Glaskugel vorhersehbar."

"Sie meinen Kristallkugeln, Monsieur Monier. Glaskugeln haben überhaupt keinen Wert in der Wahrsagekunst", wandte Durennes ein.

"Kunst? - Öhm, lassen wir das Thema besser. Die Tatsachen sind schon heftig genug, da muss ich nicht noch einen Glaubensdisput vom Zaun brechen", erwiderte Monier und bekam Zustimmung von Durennes. Dieser legte noch nach: "In der Sache der zunehmenden Verstädterung gebe ich Ihnen völlig recht. Es kann und wird dann aber passieren, dass die Waldfrauen in die Städte vordringen und sich dort die für ihre Kräfte nötigen Baumbestände sichern und dann in den Städten selbst auf Beute auszugehen, vorzugsweise bei Nacht. Mit Vampiren hat es ja genauso begonnen."

"Nur mit dem Unterschied, dass Sabb... öhm, grüne Waldfrauen auch von Kunstlicht abgeschreckt werden, weil sie es für offenes Feuer halten."

"O, ich fürchte, Monsieur Monier, da sind Sie leider leider nicht mehr auf dem allerneusten Stand der Zauberwesenforschung", sagte Durennes. Julius nickte unwillkürlich. Denn mittlerweile war es bei den Waldfrauen herum, dass elektrisches Licht kein offenes Feuer war und ihnen nicht unmittelbar gefährlich wurde. Es war nur sehr hell für sie und mochte sie blenden. "Grüne Waldfrauen haben gelernt, schwache elektrische Ströme zu erspüren und zu unterbrechen, indem sie die Stromflusskreise kurz überlasten", sagte Durennes. "Auch Vampire haben diesen Dreh schon raus. Das ist ja gerade der Grund, weshalb wir wegen dieser neuartigen Vampirgötzin so sehr unter Erkenntnisbeschaffungsdruck stehen. Waldfrauen können künstliches Licht, sofern durch elektrischen Strom hervorgerufen, auslöschen und dann wie bei Nacht im tiefen Wald sehen. Sollte jene die den Patienten Barnier überfallen und missbraucht hat eine derartige Könnerin sein, so steht sehr dringend zu befürchten, dass es nicht bei diesem einen sexualisierten Übergriff auf halbwüchsige Jungen bleiben wird. Vor allem könnte diese besondere grüne Waldfrau ihren Nachkommen beibringen, auf diese Weise in dicht bevölkerten Städten zu jagen, und welche Beute diese Wesen bevorzugen ist Ihnen sicherlich bekannt."

"Dann müssen wir sie stellen und erlegen wie einen tollwütigen Fuchs oder einen undisziplinierten Werwolf oder einen all zu blutdurstigen Vampir", knurrte Monier. Julius erschauerte bei dem Gedanken, dass jene bösen, kinderfressenden Hexen aus den Märchenbüchern in Städten wie Paris, Bordeaux oder Marseille herumspuken mochten. Auch das mit den Vampiren ließ bei ihm Alarmglocken läuten. Ja, und was war mit den Abkömmlingen dieser Nachtschattenkönigin? Das fragte er auch den Heiler. "Falls es sich bei dieser dem Dämonenreich ganz frommer Gottesleute zu entstammen scheinenden Kreatur um eine aus magielos aufgewachsenen Menschen entstandene Entität handelt, öhm, könnte sie tatsächlich mal eben im Vorbeigehen elektrische Lichtquellen auslöschen und sich die von ihr geschätzte Dunkelheit bewahren." Julius beherrschte sich gerade so noch, nicht zu erbleichen. Er nickte. Genau das hatte er befürchtet. Doch dann kam er wieder auf die grüne Waldfrau.

"Falls stimmt, was Sie vermuten, Heiler Durennes, dann haben wir an der falschen Stelle gesucht. Die Waldfrau könnte dann in einer der Städte sein."

"Das kann sie eigentlich nicht, weil diese Wesen frische Waldluft und gesunde und dicht beieinanderstehende Baumbestände brauchen, junger Mann. Haben Sie überhaupt Magizoologie gelernt?"

"Sonst wäre ich jetzt nicht hier, Kollege Monier", sagte Julius. "Und sogenante Kulturfolger, die vorher Waldtiere waren, gibt es genau wegen der Ausbreitung dichter Besiedlung immer mehr. Füchse, Wildschweine, Marder und in Kanada im Winter sogar Eisbären, die in die Städte vordringen und dort zum teil gut versteckt oder ganz offen unter den Menschen leben. In Afrika und Australien haben sie auch Probleme mit Schlangen und Krokodilen, die in Ansiedlungen eindringen, und das sind nur Tiere. Waldfrauen sind intelligente Wesen. Selbst wenn sie rein körperlich auf bestimmte Bedingungen angewiesen sind können sie sich besser an neue Umgebungen anpassen als einfache Tiere. Heiler Durennes hat völlig korrekt erwähnt, dass selbst Vampire damals nur in Wäldern und Bergtälern ohne dichte Besiedlung gehaust haben. Die modernen Vampire können in weitläufigen Kellern wohnen oder in abgedunkelten Häusern leben und auf Grund ihrer unbestreitbaren Intelligenz genau planen, wann und wo sie wie viel Blut erbeuten, ohne all zu sehr aufzufallen", widersprach Julius dem älteren Kollegen leise aber entschlossen. Durennes nickte ihm heftig zu.

"Sie sind da beide ganz sicher, dass Waldfrauen ihr jahrtausendealtes Verhalten ändern und auch in dicht bevölkerten, mit Beton und diesem Öl-Stein-Gemisch namens Asphalt überzogenen Städten leben können?" wollte Monier wissen. Seine Gesprächspartner nickten entschlossen. "Öhm, junger Mann, diese höchst gewagte Vermutung sollten Sie vorher aber genau überprüfen, beziehungsweise mit ihrem direkten Vorgesetzten abstimmen, bevor Sie hier alle Wichtel auf die Dächer scheuchen und die größten Kessel mit Giftgebräu anheizen."

"Joh, habe ich schon", sagte Julius und präsentierte Monier eine von Nathalie Grandchapeau und Simon Beaubois unterschriebene Einsatzvollmacht, dass er vor Ort auf Grundlage der gegebenen Tatsachen und der sich daraus ergebenden Möglichkeiten nach eigener Überzeugung handeln möge.

"Ich war lange nicht mehr in Paris", seufzte Monier.

"Der Junge wurde in einem Waldstück bei Rennes verschleppt und blieb sieben Wochen lang verschwunden. Falls er wirklich einer Waldfrau zum Opfer fiel hat diese sich aber sehr viel Zeit mit ihm genommen", sagte Julius nach einigen Sekunden. "Oder sie hat ihn mit anderen Waldfrauen, die genauso in Fortpflanzungsstimmung waren geteilt."

"Jetzt rufen Sie aber einen sehr großen Drachen her, junger Kollege", grummelte Monier. "Ja, aber die Annahme könnte zutreffen, so bedrückend es auch ist. In Großbritannien gab es in den letzten dreißig Jahre mehrere sehr genau dokumentierte Fälle von Massenvergewaltigungen durch eine Gruppe von Waldfrauen. Sie stimmen ihren Fruchtbarkeitszyklus ähnlich durch in die Luft entströmende Botenstoffe ab wie Hündinnen und andere wolfsartige Tiere, ebenso wie in weniger als zehn Metern Umkreis zusammenlebende Frauen und Mädchen", dozierte der Heiler. Julius nickte. Das wusste er auch schon. Daraufhin sagte der Heiler: "Dann wird es noch schwerer sein, den Patienten aus der Abhängigkeit der Waldfrauen zu lösen, weil wir möglicherweise mehrere Quellen ermitteln und deren Auswirkungen beheben müssen. Aber was geschieht danach, Messieurs?"

"Das hängt vom Umfeld des Patienten ab, mit wie vielen Leuten er direkten oder fernmeldetechnischen Kontakt hat", sagte Julius. Der Heiler wollte dann wissen, was mit fernmeldetechnischem Kontakt gemeint sei, sowas wie Eulenpost oder Zweiwegespiegel. Julius beschrieb daraufhin die Entwicklung vom kabelgebundenen, klobigen Telefon über den immer kleiner und leistungsfähigen Computer bis zu den heutigen Mobiltelefonen, die immer mehr wie kleine Computer waren, mit denen auch Bild- und Tonaufzeichnungen gemacht und versendet werden konnten. "Oh, dafür ist dieses kleine rechteckige Aufklappgerät mit den winzigen beschrifteten Tasten und dem Plexiglasfensterchen da. Öhm, kennen die Kollegen solche Dinger auch schon?" fragte Durennes. Julius bestätigte es, da er sowohl seiner Schwiegertante Béatrice als auch Aurora Dawn, Antoinette Eauvive und Hera Matine diese Vorrichtungen und ihre Möglichkeiten vorgeführt und beschrieben hatte. Außerdem hatte Madame Rossignol nach seinem Vortrag über Computer in den ersten Novembertagen 1995 eine Abschrift von ihm erhalten, was er als "Gastschülerin" der siebten Klasse so zum Unterricht beigetragen hatte. Aber davon wollte er Durennes und erst recht nicht Monier was erzählen.

"Gut, wenn Madame Eauvive diese Elektrofernsprechgeräte schon kennt lässt sich hoffentlich ermitteln, mit wem Monsieur Barnier eigentlich in den sieben Wochenhätte reden können. Das dürfen Sie dann übernehmen, Monsieur Monier."

"Wenn dieser offenbar sehr Muggelweltaffine junge Kollege mir einen für Zauberer oberhalb fünf Jahren verständlich dargelegte Beschreibung dieser magielosen Gegenstände zukommenlässt tue ich das." Julius hatte wohl auch mit einer derartigen Aufforderung gerechnet und präsentierte aus seiner mit Körperspeicherschlössern gesicherten Aktentasche einen Packen Papier, auf dem alles, was er gerade eben beschrieben hatte noch detaillierter aber in für Erwachsene gedachten Worten beschrieben stand. "Öhm, Sie werden mir langsam sehr unheimlich, junger Mann. Wieso wussten Sie, dass ich diese Unterlagen von Ihnen einfordern könnte?" wollte Monier wissen.

"Die Logik von Fragen und Antworten, Ursache und Auswirkungen, Monsieur Monier", erwiderte Julius ungewollt lehrerhaft. Dann sagte er: "Ich musste davon ausgehen, dass jemand aus der Zaubererwelt nicht weiß, wie gut heute jemand mit Mobiltelefonen in der Welt kommunizieren kann, und die bisher von mir gemachten Erfahrungen haben mir gezeigt, dass viele Zauberer die Einsatzmöglichkeiten von feststehenden und tragbaren Nachrichten- und Sprachübermittlungsgeräten nicht erahnen. Daher bin ich auf derlei Anfragen immer vorbereitet, wenn ich zwischen der magielosenund magischen Welt vermitteln soll", sagte Julius und klappte seine Aktentasche wieder zu. Leise klickten die auf seine lebendigen Finger abgestimmten Schlösser zu.

"Da Sie hier mit einer Sondervollmacht herumgewedelt haben, junger Kollege Latierre, sagenSie mir dann bitte auch, was wir jetzt tun sollen", grummelte Monier. Julius sah Durennes an, der ihm auffordernd zunickte.

"Zum einen nach möglichkeit das Mobiltelefon in einem magieneutralen Umfeld in Gang bringenund die eingetragenen Kontakte und Telefonanrufe, angenommen oder ausgehend, prüfen. Dann ist es wohl sicher, die Kontaktpersonen erst zu überwachen, wie diese sich verhalten und erst dann direkt anzusprechen, wenn sie das Verschwinden von Michel Barrnier zu einer öffentlichen Angelegenheit machen. Was die Waldfrau angeht werde ich in Paris vorschlagen, auch innerhalb der Städte nach derartigen Wesen zu suchen. Mehr kann und will ich Ihnen nicht anempfehlen. Ich werde in meinem Bericht für das Zauberwesenbüro und das Büro für friedliche Koexistenz zu dieser Angelegenheit Stellung nehmen, dass sie beide bisher alles richtig gemacht haben und nun nach weiterenSpuren suchen. Mehr steht mir auch nicht zu", erläuterte Julius. Dann fragte er, ob die beiden anderen noch was von ihm wissen wollten. Dem war nicht so. Deshalb konnte er sich von Hubert Monier und Charles Durennes verabschieden und in das Foyer des Ministeriums apparieren.

Bis halb sechs schrieb er den Bericht für Nathalie Grandchapeau und Simon Beaubois. Dann fuhr er mit dem Fahrstuhl durch das schon halb geleerte Ministerium ins Foyer zurück und disapparierte von dort.

"Sabberhexenin Muggelstädten, Monju. Da wird es aber in jeder Hinsicht finster, wenn die auf den Geschmack kommen", unkte Millie abends nach der Bettgehrunde für Chrysie und Aurore. Julius erwähnte, dass ihm diese grünen Waldfrauen weniger Bauchschmerzen machten als die Vorstellung, dass diese von Albertine Steinbeißer erwähnte Nachtschattenkönigin durch Städte wie Berlin, Paris, London und Moskau streifen und im Vorbeigehen alle Lichter ausmachen konnte, um ihre schattengleichen Helfer auf die Jagd zu schicken. Doch das wollte er seiner Frau nicht jetzt auch noch erzählen, auch wenn sie gerade nicht schwanger war.

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Auf der verborgenen Insel Ashtaraiondroi war es schon drei Minuten nach sechs Uhr abends am 9. November 2003. Olarammaya hielt sich mit der rechten Hand krampfhaft an der viele Zentimeter über ihr verlaufenden Tischkante fest. Sie wollte endlich wissen, ob sie schon an den aufgebauten und gegen die besondere Ausstrahlung ihrer Angehörigen abgesicherten Laptop herankam. Dieser stand auf dem Tisch und arbeitete das heutige Programm ab: Die Suche nach weiteren Spuren des Wächters von Garumitan. Warum hatte Gwendartammaya alias Patricia Straton auch den Schreibtischstuhl weggestellt? Einfache Frage, einfache Antwort, damit jemand wie sie eben nicht an den Klapprechner herankam. Doch für die sich nun endlich mit ihrer Rolle als Tochter einer Sonnenmagierin und Zwillingsschwester einer ehemaligen Hexe abfindenden Olarammaya, die außerhalb Ashtaraioondrois auch Phoenix Straton genannt wurde, war es ein unbedingt zu schaffender Schritt, endlich wieder einen Rechner benutzen zu können. Auch wenn es in ihren Kiefern immer wieder pochte, weil noch nicht alle ersten Zähne durch waren und auch wenn sie trotzdem, dass sie schon länger frei laufen konnte eine dicke Windel umhatte wollte sie endlich wieder selbstständig an einen Computer, nicht auf Moms Schoß sitzend oder gar darin zusammengerollt eingeschlossen sein.>

Olarammaya konnte den aufgeklappten und laufenden Laptop nun genau vor sich sehen. Sie griff mit der linken Hand nach der für sie dick wie ein Bodenbrett gemachten Tischplatte und versuchte sich mit einem kräftigen Absprung und einem Klimmzug nach oben zu stemmen. Sie verwünschte im Geist die noch viel zu schwachen Arme und Beine. Vier Ansätze brauchte sie, um sich einmal hochzuziehen. Doch als sie versuchte, nach der angeschlossenen Maus zu greifen, stellte sie fest, dass der Rechner noch zu weit für ihren kurzen Arm entfernt lag und sie ihr Gewicht mit der Linken Hand nicht halten konnte. Mit einem kurzen verdrossenen Schnauben und einem leicht schmerzverzerrtem Gesicht landete Gwendartammayas zweite Tochter wieder auf ihren in Strümpfen mit Gumminoppen steckenden Füßen. Sie verlor das Gleichgewicht und schaffte es gerade noch so, auf dem gewindelten Hinterteil aufzukommen. Jedes andere Kind in diesem körperlichen Alter hätte jetzt entweder losgequängelt oder gegiggelt, weil es plumps gemacht hatte. Olarammaya tat nichts von beidem.

Die zweite Tochter von Gooardarian und Gwendartammaya sah sich um, ob sie was fand, auf das sie klettern konnte, um an den Rechner zu kommen. Doch da war nichts. Jetzt hätte sie auch noch gerne einen Zauberstab gehabt und diesen Herbeiholzauber gebracht, mit dem Sachen von irgendwo nach hierhin gerufen werden konnten. Doch was solte es? Sie musste es noch einmal probieren. Da hörte sie vom Rechner her das Signal, dass der tägliche Suchlauf beendet war und das Suchfenster von selbst zuging. Der von Brandon Rivers programmierte Zeitschalter würde dann gleich den Rechner herunterfahren, falls keiner wissen wollte, was die Suchanfrage ergeben hatte. Olarammaya hatte nur noch fünf Minuten Zeit, um den automatischen Abschaltvorgang zu verhindern. Sie lief noch mal an den Tisch, krallte sich mit beiden Händen an die über ihr verlaufende Tischplatte und sprang so kräftig sie konnte hoch. Gleichzeitig zog sie sich mit ihren Armen nach oben und schaffte es für zwei Sekunden, über die Tischplatte zu gucken. Der Abschaltcountdown lief bereits und stand bei 00:03:20. Doch wieder kam Olarammaya nicht an die Maus heran, um den Rechner am laufen zu halten. Mit einer Hand am Tisch hängend brachte es das nicht. Wieder ließ bei Olarammaya die Kraft nach. Noch einmal verdrossen auf den Rechner sehend ließ Olarammaya los und ließ sich noch einmal auf ihren gut gepolsterten Po plumpsen. Also so ging es jedenfalls nicht. Sollte sie ihre Mutter bequängeln, mit ihr nachher noch mal am Rechner zu sitzen, solange der Akku voll genug war? Nein! Sie wollte kein Kleinkind sein, dass wimmernd und plärrend oder wütend mit den Füßen aufstampfend und zeternd Sachen haben wollte. Es war schon abgedreht genug, dass sie ein Mädchen war und irgendwann in dreizehn oder vierzehn Jahren nicht nur jeden Monat Blut aus ihr rauslief, sondern auch Brüste wachsen würden und dass sie vielleicht in zwanzig Jahren auf die Idee kommen könnte, selbst ein Baby im Bauch auszubrüten und aus sich rauszudrücken.

Olarammaya wandte sich von Gwendartammayas Schreibtisch ab. Eines Tages, in nicht all zu ferner Zeit, würde sie, die computerkundige Tochter einer ehemaligen Dunkelhexe, wieder am Rechner arbeiten können. Heute ging es eben noch nicht.

Es war für sie immer noch ein total merkwürdiges Gefühl, weit über sich an einen fast mehr als handgroßen Türknauf greifen zu müssen und es etwas anstrengend war, ihn zu drehen. Doch es ging. Immerhin dass konnte sie schon, nicht zugeschlossene Türen aufmachen und auch wieder zudrücken. So verließ Olarammaya den kleinen Computerraum im Blockhaus ihrer neuen Mutter. Draußen im Gang kam ihre Zwillingsschwester Geranammaya entgegen. Diese grinste über ihr pausbäckiges Gesicht mit den großen grünen Augen. "Na, hast du Mamis Schreibbrett oder die Bildsteuerung anfassen können?" fragte Geranammaya mit unüberhörbarer Belustigung. Olarammaya schnaubte kurz und stieß verdrossen aus: "Nein, habe ich nicht. Hast du das von mir mitgekriegt? Ich habe doch zugemacht."

"Ja, für alle anderen. Aber ich kann wenn ich will mitkriegen, woran du am stärksten denkst, genau wie du bei mir. Und unsere Mamie kann das sicher auch. Sei Froh, dass sie gerade mit den schon ganz großen darüber redet, wie viele Blutsauger oder wahrhaftige Schattendämonen es in der Welt gibt. Faidaria hat nämlich Angst, wir könnten was ganz wichtiges nicht mitkriegen und dann ziemlich übel auf die Nasen fallen."

"So kurz wie wir sind würde das nicht so weh tun, wenn wir nur auf die Nasen fallen", erwiderte Olarammaya. Ihre Zwillingsschwester lachte laut und silberhell. "Wie du sagst, kleine Schwester, wenn wir nur auf die Nasen fallen", kicherte sie. Olarammaya konnte da nichts anderes als grummeln.

Aus dem Nichts heraus erschien Gisirdaria und sah die beiden Zwiegeborenen von oben her an. Olarammaya begriff wieder einmal, wie klein sie im Vergleich zu Brandon Rivers war. Denn dem hatte Gisirdaria gerade mal bis zur unterkante Brustkorb gereicht. Das hatte die zwei aber nicht daran gehindert, mehrfach richtig herrlich miteinander Liebe zu machen. Jetzt reichte Olarammayas Kopf gerade bis zu Gisirdarias Knie. Von Kandorammayan sah Olarammaya gerade nichts. Offenbar war Gisirdarias und Brandon Rivers Sohn bei den anderen wiedergeborenen Jungen. Wieder einmal mehr wünschte sich Olarammaya, auch zu den männlich wiedergeborenen Sonnenkindern zu gehören. Die konnten nicht nur schon frei laufen, sondern hatten sich irgendwie abgestimmt, die wirklich wichtigen Sachen der Außenwelt in kleinen Gedankensprechgruppen abzuhandeln. Geranammaya und ihre Zwillingsschwester hatten versucht, da irgendwie mit reinzukommen, aber die Jungs waren in der Hinsicht voll die Machos alter Schule. Jungensachen für Jungs und Mädchensachen für Mädels. Darauf hatten die beiden einzigen zwiegeborenen Sonnentöchter beschlossen, dass sie dann eben ihre Art von Wissenserwerb und -weitergabe üben würden.

"Habt ihr keinen Hunger?" fragte Gisirdaria. Geranammaya und ihre Schwester sahen einander an und nickten dann. "Gut, dann kommt mit mir in das Esshaus. Ich denke, Faidaria hat schon was für uns fertig."

Als die Älteste der Sonnenkinder mit einem Gedankenruf an alle ihre Artgenossen zum Essen rief waren die Jungn natürlich sehr schnell im Haus mit Küche und Esszimmer. Auch wwenn sie rein wissensmäßig schon mit Messern und Gabeln essen konnten wollten ihre Mütter nicht, dass sie sich verletzten und gaben ihnen schon vorgeschnittene, in nahrhafter Soße eingelegte Stücke oder in Teig eingebackene Reisbällchen, die sie im Notfall am Stück hinunterschlucken konnten. Da es für die mit vollen Erinnerungen wiedergeborenen einfacher war, sich einander was zuzudenken, als mit ihren teilweise schrillen Kleinkindstimmen was zuzurufen lief die Unterhaltung am Kindertisch nur telepathisch ab. Es ging um weitere Schutzvorrichtungen für die Insel der Sonnenkinder, um bei einem Angriff der Dementoren oder der Vampire nicht nur Schutz zu finden, sondern sich auch wirksam verteidigen zu können. Hierzu würden die Großen die Baupläne für die Sonnenrammen aus dem Sonnenturm selbst umsetzen und die futuristischen Laserkanonen entsprechenden Waffen auf der Insel nachbauen. Allerdings brauchten sie dafür das nötige Material. Magie alleine schaffte die leistungsstarken Energiestrahler nicht herbei. Hier konnte Olarammaya ihre Kenntnisse einbringen, sehr zum Unmut der Jungen, die keine Ahnung von Computern oder den verschiedenen Firmen auf der Welt hatten. So gedankensprach Olarammaya zu den männlichen Altersgenossen: "Jungs, ich krieg das mit Mami hin, die Sachen zu bekommen, aber dafür reden meine Schwester, die eine Menge ahnung von heutiger Zaubererweltgeschichte hat und ich bei euren Diskussionsrunden mit. Altes Wissen alleine bringt's bei neuen Schwierigkeiten nicht."

"Wo sie recht hat", gedankenantwortete Geranammaya. Sie zwinkerte ihrer Zwillingsschwester zu, während Kandorammayan fast schon hilfesuchend zu seinen Vettern und Onkeln hinübersah. Diese wollten wohl gerade einwenden, dass sowas doch eher Männersache war, als Geranammaya ihnen allen zudachte: "Und es geht damit los, dass die Zeit der männlichen Vorherrschaft in allen wichtigen Ländern der Erde vorbei ist oder stark angezweifelt wird. Also sollten wir uns da auch mal weiterentwickeln."

"Wie redest du mit deinem Vater?" knurrte Kandorammayan. Doch das brachte alle am Tisch zum lachen. Olarammaya sah Gisirdarias Sohn an, der trotzdem er auch im zweiten Leben männlich war damit haderte, von seiner jüngsten Schwester geboren worden zu sein. "Ich hab's dir auch schon mal zugedacht, Kandorammayan, ohne Brandon Rivers, der jetzt in mir wiedergeboren ist, gäb's dich gar nicht, und ohne die, die heute als Geranammaya lebt, gäb es auch Gwendartammaya nicht, ohne die Gooardarian immer noch tief und fest schlafen würde. So, das musste echt mal wieder gesagt werden."

"Und ihr zwei rotschopfigen Schwestern meint, mit uns mithalten zu können, was Wissen und Gedankenarbeit angeht?" wollte Kandorammayan wissen. Offenbar hatte er sich von den anderen Zwiegeborenen anstacheln lassen, sich von den Zwillingsschwestern nicht unterkriegen zu lassen. Diese antworteten im selben Augenblick: "Aber immer doch." Geranammaya und Olarammaya grinsten sich gegenseitig an. Da kam Faidaria von einem der großen Tische herüber. "So, mein Sohn, sowie die Söhne meiner Schwesterntöchter und -söhne: Ich habe mir dieses überalterte Gebaren aus dem längst versunkenen erhabenen Reich nun mehrere Monde mit angesehen und angehört. Heute, wo ihr alle schon ein Jahr wieder auf der Welt sein dürft, was eine Gnade unserer Ureltern ist - gebiete ich, dass die zwei Mädchen mit dem, was sie aus dem ersten in ihr zweites Leben hinübergetragen haben bei euren achso wichtig erscheinenden Gesprächsrunden dabei sind. Denn, mein Sohn und auch du Kandorammayan, ihr habt in keiner eurer achso gedankenreichen Runden erkennen und durchdenken können, wie wir mit den istzeitigen Trägern der erhabenen Kraft weiter gut bis sehr gut auskommen können, ohne denen mehr als nötig unseres alten Wissens und unserer Gerätschaften ausliefern zu müssen. Nein, ihr meint, dass wenn ihr einmal wieder groß seid, die Sonnenkinder alleine gegen alle alten und neuen Anfeindungen vorgehen können und die Istzeitigen uns ganz gütigst nicht in die Quere kommen. Aber genau ohne diese Istzeitigen gäbe es euch in eurer jetzigen Form nicht und ohne diese würden wir alle noch tief und unaufweckbar in den Säulen der Überdauerung stecken und die Nachtkinder des Iaxathan und auch die Erben Kanoras' würden die Welt unter sich aufteilen. Das ist nicht unser Daseinsgrund. Wir sind von unseren Eltern auf diese Welt gebracht worden, um diesen Feinden aller Menschen Einhalt zu gebieten. Geranammaya kennt sehr viele Geschichten von vor vielen tausend Sonnen bis heute, und Olarammaya kennt die Geräte und Vorrichtungen der Unbegüterten und vor allem ihre Wissensspeicher und -weitergabegeräte. Also werden sie ab heute immer mit euch zusammen besprechen, wie wir ohne neues Wissen von außen weiterbestehen und weitere Nester der Nachtkinder finden und ausheben können. Das habe ich beschlossen, die älteste der lebenden Sonnentöchter, Faidaria. So, und jetzt esst zu Ende, weil eure Körper noch viel Nahrung zum Aufwachsen brauchen."

"Öhm, höchst verehrte und geliebte Mutter, die zwei Mädchen denken, die wüssten mehr als wir vier Jungs zusammen", beschwerte sich Faidarias Sohn Ilangammayan. Darauf erwiderte seine Mutter: "Weil das auch so ist, Ilangammayan, oder wer hatte damit recht, was Kanoras' Erbin tun wird, du oder Geranammaya? Außerdem hast du, wo du noch groß und voll gereift warst hoch anerkannt, was Ilangardian für uns und mit uns erreicht hat. Und Ilangardians ganze geistige Erbschaft wohnt in Olarammaya, und ohne Ilangardian gäbe es dich nicht. Das sagt ja dein Name schon, Ilangammayan. Und jetzt esst alles auf euren Tellern auf, damit ihr nicht verhungern müsst und bald wieder ganz groß und stark seid!" Jetzt drehte sie sich um und ging an ihren Tisch zurück, an dem neben Gwendartammaya und Gisirdaria noch weitere Frauen und drei Männer saßen. Olarammayan sah zwei der Frauen, mit denen Ilangardian alias Brandon Rivers auf den Erlass der Königin Faidaria hin das Lager geteilt hatte und sie deshalb je einen Sohn von ihm bekommen hatten. Die beiden Jungs, Yantarian und Ashtarigan, hielten sich erstaunlich gut zurück. Offenbar begriffen sie eher als die mit Gwendartammaya direkt verwandten, dass sie Olarammaya wirklich mehr Beachtung geben sollten und sie nicht einfach nur als spätere Ehefrau oder Nachwuchsgebärerin ansehen durften.

Später, als die beiden zwiegeborenen Schwestern in ihrem bequemen Doppelbettchen lagen und sich wie schon weit vor ihrer Geburt aneinanderkuschelten flüsterte Geranammaya ihrer Schwester mit körperlicher Stimme zu: "Offenbar durchleben wir schon mit eins die geistige Pubertät, wo die Jungs meinen, sich mehr rausnehmen zu dürfen als wir. Aber heute haben sie es von allen Seiten gesagt und gezeigt bekommen. Und was diesen Rechenapparat angeht, Olarammaya, mami wird dich sicher morgen auch daran lassen, wenn wir nach neuen Nachrichten suchen. Ich kriege auf jeden Fall morgen neue Zaubererweltzeitungen aus den Staaten, England und Frankreich. Mal sehen, was sich in der Welt so getan hat, nachdem diese Schlangenmenschenbrut ganz ohne uns aus der Welt geschafft werden konnte."

"Denkst du echt, es steht da drin, was die Vampirgöttin vorhat oder diese Schattenriesin, die dieser Irre Vengor aus Versehen erschaffen hat?" fragte Olarammaya ihre wenige Minuten ältere Zwillingsschwester.

"Wohl nicht in klaren Einzelheiten. Aber wie wir gelernt haben ist es nicht immer wichtig, wo das Licht drauffällt, sondern vor allem, wo das Licht nicht drauffällt und wo es gar verschluckt wird. Das hat mich, als ich noch nicht Patricias Mutter war, dazu gebracht, eine sehr gut informierte Zaubereigeschichtlerin und Thaumaturgin zu werden."

"Mit anderen Worten, nicht das geschriebene ist wichtig, sondern was zwischen den Zeilen steht", legte Olarammaya die Weißheit ihrer Zwillingsschwester aus. Diese bestätigte es nur halb. "Es ist eher so gemeint, dass was nicht geschrieben steht mehr über den Inhalt einer Aussage rüberbringt als was aus einer geschriebenen Aussage herausgelesen werden kann. Was die Zeitungen angeht heißt das, dass ich nach Spuren der Vampirgöttin suche, indem ich nach Berichten suche, in denen sie nicht erwähnt wird, aber Hinweise darauf stehen, dass jemand sich wegen ihr sorft. Das gleiche gilt für die Nachtschattenkönigin." Olarammaya verstand es nun. Es ging um Vorhaben der selbsternannten Zaubereiverwaltung, die sich mit diesen dunklen Wesenheiten befassten, ohne sie konkret beim Namen zu nennen und auch darum, ob in den letzten Wochen Vorfälle mit Vampiren und diesen Schattengeistern erwähnt wurden oder nicht. Wenn nicht, war das kein gutes Zeichen, sondern eher die berühmte Ruhe vor dem Sturm. So ähnlich hatte sich Cecil Wellingtons Vater mal geäußert, dass die Bürger der USA von den wirklich wichtigen Sachen gerade mal ein Prozent mitbekamen, weil vieles hinter verschlossenen Türen ausgehandelt wurde. Keine angenehmen Aussichten, fand die zweite Tochter Gwendartammayas.

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Am Abend des neunten November kehrte Béatrice Latierre von einem beruflichen Ausflug in ihre eigentliche Heilerinnenresidenz zurück. Als der orangerote Schrank aufging und Béatrice in ihrer Heilerinnentracht heraustrat saßen sämtliche Latierres bereit. Clarimonde lag in den Armen ihrer Mutter, während Aurore auf den Knien ihres Vaters thronte. Millie sah ihre Tante an und fragte: "Und?"

"Allein die Frage müsste ich laut den Heilerdirektiven unbeantwortet lassen, Mildrid Ursuline Latierre", sagte Béatrice förmlich. Dann überflog ein Grinsen ihr Gesicht. Julius stellte mal wieder fest, dass Béatrice genauso Millies ältere Schwester hätte sein können. Da sagte die mitgeheiratete Heilerin: "Tja, ihr kriegt wohl im nächsten Juni einen Cousin oder eine Cousine und ich einen weiteren Neffen oder eine Nichte. Das darf ich auch nur deshalb an nicht unmittelbare Familienangehörige weitergeben, weil Patricia euch in diesem Fall auf die Liste der Kenntnisberechtigten gesetzt hat." Millie jubelte, Julius nickte anerkennend. Aurore wollte wissen, was war. Julius erzählte ihr, dass Patricia und Marc auch ein kleines Baby kriegen würden, aber nicht heute, erst wenn der Sommer wieder da war. "Ist die dann auch hier, wenn Patricia Maman wird?" wollte Aurore wissen.

"Neh, die wird dann wohl da sein, wo Marc und sie jetzt zu Hause sind. Oder wohnen die noch im Schloss, Béatrice?" fragte Julius.

"Soweit ich weiß haben sie in der Nähe der Montferres ein Haus gefunden und sind damit eigentlich im Zuständigkeitsbereich meiner Kollegin Mireille Flaubert, deren Ersthelferschülerin ihre Enkeltochter Deborah ist, die mit euch beiden zusammen in der Pflegehelfertruppe war. Aber ich habe das mit der Kollegin geklärt, dass Patricia mich als Hebamme ausgesucht hat, wenngleich sie meinte, dass es schon heikel ist, wenn die eigene Schwester bei der Geburt hilft. Darauf habe ich ihr entgegnet, dass es früher üblich war, dass sich Schwestern gegenseitig halfen und sogar die älteren Töchter ihrer Mutter halfen, wenn die noch einmal ein Kind bekam, und dass ich auch in diesem Bereich gewisse Erfahrungen gesammelt habe. Das konnte sie nicht abstreiten. Wichtig ist nur, dass Patricia morgen auch nicht zur Besprechung kommt, weil durch Schwangerschaft entschuldigt." Aurore grinste. Also kriegte ihre Tante Pattie auch ein Baby, genau wie ihre Oma Hipp.

Beim Abendessen tranken die Latierres mit ihrer bis auf weiteres in Millemerveilles bleibenden Mitbewohnerin auf das Wohl ihrer Anverwandten, wobei sie nur Traubensaft tranken, den die ganz kleinen bedenkenlos mittrinken konnten. Danach war die übliche Bettgehrunde für Chrysope und Aurore. Als beide Mädchen endlich in ihren Bettchen lagen legte sich Millie die kleinste Mitbewohnerin zurecht, damit sie auch noch einmal satt wurde. "Hast duPattie das auch gezeigt, wie es für beide das bequemste ist?" fragte Millie ihre Tante.

"Natürlich, bevor ich zu euch rüberkam und jemand meinte, mit Schallgeschwindigkeit gegen Sardonias Kuppel zu fliegen und sie damit fast völlig schwarz gefärbt hat", sagte Béatrice leise, um Clarimonde nicht aus ihrem Saugrhythmus zu bringen.

"Damit haben jetzt alle, die im Sommer geheiratet haben wen neues in Aussicht", sagte Julius. Millie nickte. Béatrice fragte, ob Sylvie Rocher auch in freudiger Erwartung war. "Gestatio affirmativa positiv", sagte Sylvie mir heute Nachmittag, als sie bei einem Besuch von Hera zurückkam. "Sie wollte offenbar nicht hinter ihrem großen Bruder zurückstehen."

"Da bist du wohl einem Missverständnis aufgesessen, Millie, César ist nicht schwanger, der sieht nur so aus", erwiderte Julius. Béatrice kniff ihm dafür in die Nase. Millie meinte dazu: "Wo er recht hat." "Mir haben sie damals, wo Aurore unterwegs war auch alle unterstellt, ich hätte sie unterm Umhang", legte Julius nach. Béatrice ließ es bleiben, ihn dafür zu piesacken. Dann sagte sie: "Gut, für Sylvie Rocher bin ich dann wohl nicht mehr zuständig, sofern die es nicht wünscht. Aber wenn sie schon zu meiner dienstälteren Kollegin geht wird sie diese wohl als Hebamme erwählt haben." Millie und Julius nickten. Millie sagte dann noch: "Ist doch wesentlich schöner und erfreulicher, wenn Hexen dann Kinder kriegen, wenn sie es wollen und von wem sie es wollen." Dem konnten und wollten Béatrice und Julius nicht widersprechen.

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Julius kannte das Haus von Hera Matine von seiner Ersthelferausbildung, zumindest von außen und dem Sprechzimmer, in dem er den Unterricht erhalten hatte. Das Hera auch einen richtigen Versammlungsraum in der obersten Etage hatte bekamen er und Millie erst jetzt mit, als sie mit ihrem Besen vor dem Haus gelandet waren und die Hausherrin ihnen erfreut zuwinkte.

"Béatrice kommt gleich nach. Sie übergibt unsere drei Kinder in die Obhut meiner Schwiegergroßmutter", sagte Julius zu Hera, während Millie nach Hera Gerlinde van Drakens begrüßte, die zwei Stockwerke weiter oben aus einem Fenster blickte.

"Das hat sie mir schon mitgeteilt und ..." Mit einem vernehmlichen Plopp apparierte Béatrice vor Heras Haus und nickte Julius und Millie zu. "Ging doch schneller als ich gedacht habe. Schon alle da, Hera?" fragte Béatrice.

"Im Moment sind nur die aus Millemerveilles stammenden Pflegehelfer, Belisama Lagrange und Gerlinde van Drakens da. Es fehlen noch an die zwanzig. Ihr habt also genug Zeit."

"Das freut meine Mutter. Die hat jetzt die geniale Begründung dafür, sich nicht weiter mit einer anderen, sie nur mittelbar betreffenden Familienangelegenheit zu befassen", sagte Béatrice mit einem verdrossenen Unterton. Julius fragte sie, was los sei. "Nicht vor Nicht-Latierres Ohren", bekam er eine überdeutlich laute Gedankenantwort von ihr zurück. "Wie gesagt, Hera, meine Mutter ist froh, die drei mal wieder bei sich zu haben, wo das ja schon wieder soooooo lange her ist, dass sie sie in unserem Familienschloss hatte."

"Gut, du kannst mit deinen beiden Heimstattgebern schon mal in den großen Salon hoch, wo wir uns alle treffen. Ich warte hier auf die anderen und komme dann mit dem oder der zuletzt ankommenden von der Liste hoch", sagte Hera an.

"In dem Zimmer hatte ich immer Unterricht, Millie", sagte Julius, als sie an Heras Sprechzimmer vorbeikamen. Dann ging es in die oberen Etagen, die eigentlich eher Heras Wohnetagen waren. Sie betraten einen Raum, der wie ein aus der Römerzeit herübergeholter Innenhof aussah, nur dass er von einer weißgetäfelten Decke überspannt wurde und an der Ost-, Süd- und Westseite je zwei große, bis fast zum Boden reichende Fenster besaß, so dass sie einen richtigen Panoramablick über Millemerveilles hatten. "Jau, hat hier mal der Sprecher des Dorfrates gewohnt?" entfuhr es Millie vor Erstaunen. Julius hatte schon mit dieser Frage gerechnet und sagte leise: "Hera Matine war mit einem ehemaligen Dorfrat von Millemerveilles verheiratet." Millie zuckte kurz zusammen und sah ihn abbittend an und meinte: "Gut, dass ich das nicht sie gefragt habe."

"Das ist schon zwanzig Jahre her, Mamille. Ich habe ihn auch nicht kennengelernt", mentiloquierte Julius seiner Frau. Dann kam Jeanne Dusoleil herüber und sagte: "Ihr hattet es von Monsieur Matine. Der hätte lieber mal hier in Millemerveilles bleiben sollen. Aber der musste ja unbedingt mit ein paar ehemaligen Mitschülern einen bretonischen Bblauen einfangen. Kann mich noch gut dran erinnern, wo ich gerade erst hier in die Schule kam, wie die Nachricht rumging. Hera hat sich dann drei Monate lang beurlauben lassen, um alle Angelegenheiten zu regeln, vor allem mit den drei Kindern, von denen alle was von dem Haus abhaben wollten. Wie hast du das mal genannt, als Maman sich mit Tante Cassiopeia um Mémé Aurélies Nachlass gezankt hat?"

"Ist das Aas auch noch so klein, stellt sich doch ein Geier ein", gab Julius wieder, was er bei dem erwähnten Anlass gesagt hatte.

Julius durfte dann noch Belisama begrüßen, die es so gut wie sicher hatte, dass sie bei ihrer Tante Adele im Haus wohnen durfte, womit sie fast automatisch zur Ansprechpartnerin wegen der anstehenden Mehrlingsgeburt wurde. Dann begrüßte Julius auch Gerlinde van Drakens, die als eine der wenigen ehemaligen Schülerinnen des roten Saales keinen Mann fürs Leben abgeräumt hatte und da offenbar auch nicht traurig drüber war. Sie war jetzt in der Einkaufsabteilung des Buchladens in der Rue de Camouflage angestellt und hoffte auf den Aufstieg zur Sektionsleiterin Biografien bekannter Hexen und Zauberer.

Josephine Beauvent geborene Marat hatte vor einem Jahr ihre Heilerinnenausbildung beendet und würde demnächst in der Delourdesklinik mitarbeiten. Offenbar hatte sie bisher kein Interesse, eigene Kinder zu bekommen.

Als dann noch Sandrine Dumas in den Salon eintrat folgte ihr Clémentine Eauvive, Antoinette Eauvives jüngste Tochter und seit mehr als zehn Jahren Mitarbeiterin in der Delourdesklinik. Hinter dieser betrat nun die Einberuferin dieser Versammlung den weitläufigen Salon. Alle standen auf und grüßten die residente Heilerin und Hebamme. Dann kam noch Heiler Delourdes dazu, der als zweiter residenter Heiler eingetragen war.

"Ich freue mich", sprach Hera zu den Anwesenden, "Das fast alle kommen konnten, die ich in Absprache mit der in Beauxbatons arbeitenden Kollegin Florence Rossignol ermitteln konnte. Einige wenige, die ich gerne auch zu uns gebeten hätte, sind durch andere Umstände entschuldigt, da in den Statuten magischer Heiler und Hebammen festgelegt ist, dass Hexen, die gerade selbst ein oder mehrere Kinder austragen, nicht in geburtshilfliche Handlungen einbezogen werden dürfen, wenn sie schon mehr als fünf Wochen schwanger sind. Um so mehr freue ich mich, dass du den Weg zu uns gefunden hast, Suzanne. Von Französisch-Guyana hier her war sicher eine anstrengende Reise." Die von der Sonne verwöhnt aussehende Hexe im blauen Reiseumhang, die laut Béatrice ein Jahr vor ihr die siebte Klasse abgeschlossen hatte sah Hera Matine beruhigend an und sagte: "Ich durfte die Reisesphäre benutzen, nachdem der Resident des Zaubereiministeriums in Absprache mit dem niedergelassenen Heiler die Dringlichkeit dieser Zusammenkunft erkannt hat, Madame Matine. Außerdem bin ich erfreut, einige ehemalige Mitschülerinnen widerzusehen." Julius fragte sich, wie diese Hexe alleine durch die neue Absicherung gekommen war. Wer die Reisesphären nutzte musste mit einem der hier geborenen oder Elternteil eines hier geborenen zusammen verreisen. "Ist auch sehr schön zu sehen, dass der Ort, wo ich die ersten drei Lebensjahre verbracht habe, trotz der unschönen Dinge der letzten Monate immer noch oder schon wieder ein sehr angenehmer Ort ist", sagte die knapp dreißig Jahre alte Hexe. Julius nickte. Also deshalb konnte sie unangefochten mit der Reisesphäre nach Millemerveilles gelangen.

"Gemäß dem Codex der Heilkunst, Kolleginnen und Kollegen, sowie zugeteilte Ersthelfer nicht mit der sonst gebotenen Förmlichkeit anzusprechen bitte ich euch alle darum, dass wir untereinander die Duform benutzen, zumal es sich versteht, dass jeder und jede den jeweils anderen hier als gleichwertig und als erwachsenen und lebensorientierten Mitmenschen achtet, egal, ob er gerade erst ein Jahr aus Beauxbatons heraus ist oder bereits zwanzig Jahre im eigenen Leben steht. Soviel zur Etikette dieser Zusammenkunft. Dann möchte und werde ich euch an Hand von vorbereiteten Zahlen und magischer Bilddarstellung vorstellen, worum es hier gerade geht." Mit diesen Worten erschien vor allen eine frei schwebende, rotgerahmte Texttafel mit gelb leuchtender Schrift: "Unbeabsichtigte Bevölkerungszunahme in Millemerveilles zwischen März und April 2004"

Die Texttafel enthielt alle bisher schon bekannten Fakten zum Gasanschlag zwischen dem 11. und 16. Juni, sowie die von Hera Matine und ihren gerade hier anwesenden Kollegen Delourdes und Latierre erfassten Schwangerschaften. "Ihr seht, alles in allem müssen wir mit 760 Kindern rechnen, was eine schlagartige Verdopplung der Gesamtbevölkerung bedeutet. Rein von der Unterbringung her bietet Millemerveilles Platz genug, wie wir in der Zeit zwischen Oktober 1997 und Juni 1998 und während der Quidditchweltmeisterschaft 1999 unbestreitbar bewiesen haben. Da es sich aber bei den nun dazukommenden Neubürgern um hilflose Säuglinge handelt und die Eltern durch diesen nicht geplanten Nachwuchs in große zeitliche und geldliche Schwierigkeiten geraten ist mit aufgestellten Zelten und Reisehäusern nicht gedient. Gut, für jene von euch, die sich bereiterklären möchten, den residenten und beigeordneten Heilerinnen und Heilern zu helfen können wir Unterkünfte beschaffen, entweder bei mir im Gästetrakt des Entbindungshauses oder im Chapeau du Magicien oder auf den für zeitweilige Unterkünfte vorgehaltenen Freiflächen. Das ist überhaupt kein Problem mehr und wird von der Siedlungsgemeinde sowie der Heilerzunft und dem Zaubereiministerium garantiert. Ebenso wird jeder und jedem von euch, der oder die sich freiwillig dazu bereiterklärt im Zeitraum zwischen dem ersten Februar und dem 30. April bei den dicht aufeinanderfolgenden Mehrlingsgeburten zu helfen, eine Entschädigung für entgangene Einkünfte ausgezahlt. Wer im Ministerium arbeitet bekommt wegen der von der Heilerzunft beantragten Freistellungszusage weiterhin sein oder ihr Gehalt, darf ich euch von der Kollegin Antoinette Eauvive ausrichten. Soviel zu den Fragen von Unterbringung und Entlohnung. Kommen wir zur Grundeinstellung dieser gesonderten Hilfsaktion. Ich weiß, dass einige von euch mit betroffenen Hexen oder Zauberern verwandt sind. Dies, das sage ich besser jetzt schon mal, ist keine Verpflichtung, diesen Verwandten unbedingt beistehen zu müssen. Auch muss jemand nicht ausdrücklich für eine mit ihr oder ihm verwandte Hexe bereitstehen. Mir als residenter Hebamme geht es ausschließlich um Planungssicherheit und die für alle gerade schwangeren Mitbürgerinnen beruhigende Gewissheit, dass jede von ihnen schnellstmöglich Hilfe bekommt, wenn es mit dem Geburtsvorgang losgeht. Jetzt gibt es hier einige, die haben schon bei Geburten zugesehen, tätig mitgeholfen oder selbst Kinder zur Welt gebracht. Andere von euch mögen erschauern, daran zu denken, einer laut schreienden und stöhnenden Frau in den weit geöffneten Unterleib zu sehen und womöglich hineinzugreifen ... Ja, ich sehe es einigen von euch an. Doch ihr dürft bei sowas immer und überall mit dem reinsten Gewissen an die anfallenden Tätigkeiten herangehen, dass ihr durch eure Fähigkeiten und eure Einsatzbereitschaft mithelft, dass neue Hexen und Zauberer gesund auf die Welt kommen und nach Möglichkeit mit ihren Müttern zusammenleben und behütet aufwachsen können. Einige Pflegehelfer, die im angesetzten Zeitraum in Beauxbatons waren habe ich bereits vorher aussortieren müssen, weil sie keine hier geborenen Kinder waren und deshalb nicht ohne Beistand die Reisesphäre benutzen können, egal wie weit sie weg wohnen oder weil sie sich bereits in Beauxbatons als unzureichend einsatzbereit und belastbar erwiesen haben. Das ist sehr bedauerlich, aber nicht zu ändern", sagte Hera. Damit hatte sie auch erklärt, warum Louis Rocher geborener Vignier nicht zu dieser Gruppe hinzugebeten wurde. "Sollte sich hier in dieser Versammlung jemand befinden, der oder die bereits jetzt von der Vorstellung angewidert ist, bei einer echten Geburt mitzuhelfen, dann ist dies kein Vergehen, sondern eine menschliche Eigenschaft, die ihr ohne weiteres anführen könnt. Wir sind jetzt zusammen sechsundzwanzig in magischer Ersthilfe oder vollständiger Heilkunst ausgebildete Hexen und Zauberer hier. Sicher ist es mir wichtig, so viele wie möglich von euch für dieses ganz außergewöhnliche Vorhaben zu gewinnen. Doch wer gleich aufsteht und sagt, dass er oder sie das nicht kann oder möchte werde ich das ohne Gegenfragen oder Umstimmungsversuche akzeptieren und vermerken. Das gleiche Verhalten erbitte ich auch von euch anderen. Kommen wir jetzt zu den betreffenden Familien. Für das Protokoll, die betreffenden Hexen haben ihr schriftliches Einverständnis erklärt, ihre Namenund erwarteten Kinder vor dieser von mir eingeladenen Versammlung zu erwähnen."

Nun las Hera die Namen der Hexen in alphabetischer Reihenfolge der Nachnamen vor und sah dabei nicht ganz zufällig auf die mit diesen verwandten Ersthelferinnen und Ersthelfer. Bei einigen Pflegehelfern sah Julius doch sowas wie Anspannung, wenn Hexen mit vier oder fünf erwarteten Kindern erwähnt wurden. Hera erwähnte dabei, dass im größten Notfall auch das geburtshilfliche Personal der Delourdesklinik herüberkommen würde, aber nur im größtmöglichen Notfall.

Nachdem sie sämtliche schwangeren Hexen aufgezählt hatte machte Hera eine Denkpause von einer Minute. Dann stellte sie die Frage: "Ist jemand hier, der oder die jetzt schon klar weiß, dass er oder sie nicht mithelfen kann oder will, dann bitte ich um ein kurzes Ja und den Namen. Wie erwähnt, keiner hier stellt Nachfragen wegen der Gründe oder versucht ihn oder sie umzustimmen. Ich möchte nach Möglichkeit eine Gruppe von sich aus einsatzbereiter, überzeugter und entschlossener Heilerassistenten zusammenbringen. Wer nicht will oder kann muss nicht."

Tatsächlich sagten fünf der hier versammelten Zauberer klar und deutlich, dass sie nicht mithelfen würden. Es fragte auch keiner nach den Gründen. Allerdings boten diese Zauberer an, andere pflegerische Aufgaben zu erledigen, wie das zusammensuchen von Heilkräutern und Brauen von Heil- oder Keimbanntränken. Hera überlegte kurz und ging auf dieses Angebot ein. Offenbar hatte sie sich zu sehr auf die direkte Geburtshilfe festgelegt und die vor- und nachbereitenden Nebentätigkeiten außer Acht gelassen, dachte Julius. Zumindest waren diese fünf Zauberer dann erleichert, nicht als Neinsager aus der Gruppe zu fliegen und bei der aufkommenden Babylawine doch was nützliches tun zu dürfen. Heras Kollege Delourdes erbot sich, mit denen, die ebenfalls für die Herstellung von Tränken und Salben zuständigen Zauberer und Hexen als Ansprechpartner zu dienen, wenn es um die Beschaffung der Zutaten und Zertifizierung der Tränke und Salben ging. Damit war dieser Punkt quasi im Vorbeigehen abgehandelt. So konnte Julius ebenfalls vor den anstehenden Geburten im wahrsten Sinne des Wortes mitmischen, wobei er sich gleich, wenn die eigentliche Frage gestellt wurde, schon klar entschieden hatte, mitzumachen. Da kam auch schon die Frage:

"Wer von euch hier kann, will und wird mir und den anderen drei Hebammen, die in diesem Zeitraum hier arbeiten werden helfen, die Gebärenden zu unterstützen? Ein einfaches Ja und der volle Name genügt. Bitte antwortet in alphabetischer Reihenfolge." So antworteten sie alle, die wollten und konnten. Julius war froh, dass er seinen Geburtsnamen abgelegt hatte. So kam er weit nach Sandrine, Jeanne und Aysha Karim an die Reihe. Dann wurde Béatrice gefragt, die antwortete: "Ja, ich Béatrice Latierre, will mithelfen." "Ja, ich, Julius Latierre, will mithelfen", sagte Julius, als Hera ihn ansah. Mildrid, die gleich danach angesehen wurde sagte: "Ja, ich, Mildrid Ursuline Latierre, will mithelfen." Damit waren alle erwachsenen Latierres in Millemerveilles offiziell als zeitweilige Geburtshilfeassistenten erfasst.

Nun ging es um die Zuteilung der Aufgaben vor und während der erwarteten Niederkünfte und auch um die Nachsorge. Alles in allem konnten zwanzig Pflegehelferinnen und Pflegehelfer und die vier hier versammelten Heiler und die aus der Mutter-Kind-Abteilung der Delourdesklinik dazukommenden Hebammen den über zweihundert Müttern beistehen. Weil natürlich keiner wusste, wer wann niederkommen würde konnten sie hier und jetzt keine Einteilung nach Personen treffen, sondern nach Abschnitten der Siedlung. So wurden Millie und Julius in der Umgegend des Farbensees eingeteilt, während Béatrice bereits einige der werdenden Mütter als ausgewählte Hebamme betreuen würde. Julius erkannte, dass er den Sektor mitbetreuen würde, in dem Roseanne Lumière und Adele Lagrange wohnten. Doch was diese anging konnte er sich sicher mit Belisama absprechen, falls diese ihrer Tante beistehen wollte, wo sie ja auch schon Quartier bei dieser beziehen würde. Millie würde neben ihrem Abschnitt um den Farbensee auch die Gegend wo Eleonore Delamontagne wohnte betreuen. Das konnte wiederum dazu führen, dass sie ihm diese in jeder Bedeutung gewichtige Hexe zuteilen mochte, weil er irgendwie besser mit ihr konnte als sie. Sandrine würde sich wohl eher für ihre Mutter bereithalten, sollte aber laut Einsatzplan auch in der Nähe des Zentralteiches mithelfen, wo Caroline Renards Mutter wohnte. Zumindest waren Julius und Sandrine froh, dem tückischen Fortpflanzungsrauschgas nicht verfallen zu sein.

Als alle Ersthelferinnen und Ersthelfer und die ausgebildeten Heilkundigen eingeteilt waren, wobei Hera und alle zertifizierten Hebammen natürlich überall im Ort eingesetzt werden mochten, bedankte sich die residente Heilerin von Millemerveilles noch einmal für die Teilnahme und die Einsatzbereitschaft. Dann lud sie die Versammelten zu Kaffee und Kuchen ein, wobei auch Tee angeboten wurde. So konnten die hier versammelten Pflegehelferinnen und Pflegehelfer sich noch in lockerer Runde und wechselnden Gruppen miteinander unterhalten. Morgen nachmittag sollten sie alle sich im Gemeindehaus von Millemerveilles mit dem Dorfrat und den auf all die vielen Kinder wartenden Familien treffen.

Julius interessierte sich für die älteste nicht-Heilerin hier, Suzanne Lemont aus Französisch-Guayana. Offenbar ging es ihr ähnlich, denn sie kamen sich auf halbem Weg mit zwei halbvollen Tassen Earl-Grey-Tee entgegen. Sie begrüßten einander und setzten sich zu Sandrine und Béatrice an einen Vierertisch. Julius fragte sie, wann genau sie Pflegehelferin in Beauxbatons war. Dabei erfuhr er, dass sie zur selben Zeit in Beauxbatons war, wie Aurora Dawn in Hogwarts. Das er Aurora Dawn persönlich kannte erfreute Suzanne, die vom Hauttyp schon fast wie eine Ureinwohnerin der Karibik aussah. Doch sie war ein Kind aus Millemerveilles, um drei Ecken mit Eleonore Delamontagne verwandt, weil sie einen gemeinsamen Urgroßvater hatten. Ihre Eltern hatten aber nach drei Jahren Millemerveilles keine rechte Lust auf Frieden und Gutbürgerlichem Leben und waren mit ihr quer über den Globus verreist. Daher kenne sie auch viele andere Zauberer und Hexen und sei auch einmal dem Sana-Novodies-Direktor Vitus Springs begegnet, da war sie gerade sechs Jahre alt und konnte so gut wie kein Englisch. Wie gut sie es heute konnte bewies sie Julius, indem sie übergangslos zu bestem Cambridgeenglisch überwechselte. Dann kamen sie auf die Tätigkeiten der magielosen Weltraumfachleute auf der Insel. Julius verschwieg, dass eine seiner Saalkameradinnen von Beauxbatons einen Vater in leitender Stellung bei Ariane Space hatte. Denn Suzanne beklagte sich über den immer wieder aufkommenden Tumult bei den Zaubertieren, die sie betreute, bis sie herausbekommen hatte, dass die Tiere durch unhörbar tiefe Töne aus Kourou verstört wurden und sie herausbekam, was dort diesen besonderen Krach machte. "ich weiß aus dem Jahrgangsbuch 2000, dass du muggelstämmige Eltern hast und leider auch, was deinem Vater passiert ist, Julius", setzte Suzanne an. "Vielleicht kannst du mir, einer mit der magielosen Welt nichts anfangenden Hexe erklären, wozu diese Leute diese übergroßen Raketen, die beim Hochfliegen Einzelteile verlieren, in den Himmel schießen müssen."

"Sie tun das, um Geräte nach oben zu bringen, die mit elektrischen Augen oder Nachrichtenübermittlungsgeräten ausgestattet sind. Die elektrischen Augen können so scharf sehen wie Adler und sogar Wärmeunterschiede so sehen wie wir Licht. Damit können die magielosen Menschen den Planeten Erde aus großer Höhe beobachten, erforschen und vermessen oder Nachrichten, Gespräche zwischen zwei weit entfernten Leuten oder bewegte Bilder und Musik von einem Erdteil zum anderen übermitteln. Dazu kommen noch in der Erdumlaufbahn fliegende Standortbestimmungsgeräte, die ein dafür gebautes und eingerichtetes Gerät auf der Erde abhören kann und daraus den Standort auf den Meter genau ermitteln kann. Das ist wichtig für Schiffe, Fernlasttransporte auf dem Land und Leute, die ganz privat an ihnen unbekannte Orte reisen wollen, damit sie sich nach Möglichkeit nicht verirren. Für das alles müssen diese Riesenraketen in den Himmel fliegen. Dass sie dabei Einzelstücke verlieren ist Absicht. Denn je leichter eine Rakete wird, desto schneller kann sie werden."

"Öhm, du sagst, die müssen diese Raketen in den Himmel schießen, Julius. Können Sie diese Beobachtungs- und Fernübermittlungsgeräte nicht auch so nach oben bringen? Ich habe mal eines dieser großen Flugzeuge gesehen. Die machen zwar mit ihren Feuerstrahlrohren auch eine Menge Krach und Qualm, aber können doch wohl sehr hoch fliegen."

"Ja, aber nicht so hoch und so schnell, damit ein Satellit, so heißt ein solches Erdumkreisungsgerät, auch wirklich um die Erde herumfliegt. Die Leute ohne Magie können nun einmal keine Flugzauber wirken. Im Gegenteil. Für die ist Antigravitation genauso unmöglich wie ein zeitloser Ortswechsel von lebenden Körpern oder Gegenständen."

"Ja, der Weltraum ist aber sehr groß, auch in der Nähe der Erde. Woher wissen die, wohin sie ihre Raketen schießen müssen und wie können sie die in den Himmel geschossenen Maschinen finden?" fragte Suzanne. Julius erklärte dann mit einfachen Worten, ohne in Kindergartensprache verfallen zu müssen, dass die Satelliten immer unsichtbare Wellen zur Erde schickten, die bestimmte Angaben über Flughöhe oder mitgelieferte Bilder und Messangaben übertrugen und dass für die Berechnung der Flugbahn starke Computer benutzt wurden. Wie die gingen konnte er nach all der Übung in drei Sätzen erklären, ohne in zu viele Einzelabschnitte abzugleiten.

"Oh, dann haben diese Leute ja schon einiges aufgeholt, wo wir mit Magie schon seit Jahrhunderten vertraut sind. Aber der ganze Qualm und Lärm, der dabei entsteht", seufzte Suzanne Lemont. Julius erwähnte, dass er das auch bedauere, dass es nicht so leicht ging wie mit Flugzaubern oder wie Sonnenlicht in elektrischen Strom verwandelt werden konnte. Dann fragte er, was es denn so für Zaubertiere auf Französisch-Guayana gab, da er bisher nie dort gewesen war.

Dann besprachen sich Suzanne, Béatrice, Sandrine und Julius wegen der Zeit unter der verfremdeten oder besser der wieder ihrer ursprünglichen Bestimmung zurückgegebenen Kuppel Sardonias und was dann diese Zusammenkunft ausgelöst hatte. "Ja, und jetzt denken die meisten hier, dass diese Leute von Vita Magica nichts anderes im Sinn haben, als bedenkenlos alle Hexenund Zauberer dazu zu zwingen, sich fortzupflanzen?" fragte Suzanne. Béatrice fragte sie, ob sie eine andere Idee habe. "Grundsätzlich stimme ich euch zu. Was hier abgelaufen ist ist ein Verbrechen an der körperlichen Freiheit und Ehre aller Bewohner unter Ausnutzung, dass sie nicht weglaufen konnten, also auch ein ähnlicher Akt der Feigheit wie die massenhafte Abtötung von unregistrierten Werwölfen. Doch ist es nicht auch zu einfach, allen Mitgliedern von Vita Magica die Schuld an diesen Vorfällen zuzuschieben?"

"Häh?!" machte Sandrine. Julius und Béatrice sahen sie beruhigend an. Dann sagte Julius: "Nun, es mag zu einfach erscheinen. Doch die Leute, die den Anschlag auf Millemerveilles durchgeführt haben und zwischendurch alleinstehende Leute entführen, um sie unter Fortpflanzungsrausch- und Fügsamkeitsdrogen zum Beischlaf mit ihnen unbekannten Leuten zu zwingen, nur um hunderte von neuen Kindern auf den Weg zu bringen, die ohne erwartet zu werden und ohne Liebe aufwachsen müssen, handeln im stillen Einverständnis der nicht unmittelbar beteiligten Mitglieder. Wenn diese das nicht wirklich wollen, dann sollten sich die, die das nicht wollen und in dieser Gruppierung Mitglied sind, erheben und diesen Irrsinn beenden", sagte Julius. "Einer meiner Schulfreunde ist von diesen Leuten entführt worden und dazu gezwungen worden, an die hundert ihm fremde Hexen, von denen er die meisten garantiert nicht näher als Armreichweite an sich rangelassenhätte, zu befruchten, dass sie seine Kinder bekommen. Es kann sein, dass bei denen auch Hexen waren, die keine Kinder wollten und von diesen Leuten gezwungen wurden, ihr Erbgut zu bewahren. Aber da werden auch freiwillige beigewesen sein, die froh waren, dass sie endlich wen zugelost bekamen, der ihnen einen heimlichen oder offenen Kinderwunsch erfüllen konnte, ja es musste. Ja, und weil jemand gezielt nach meinem Freund gesucht hat wurde er zur Strafe für diese Suche unter Beibehaltung seiner ganzen Erinnerungen zum hilflosen Säugling zurückverjüngt. Es hat denen nicht genügt, ihm einfach nur die Erinnerung an die Zeit in dieser Fortpflanzungsanstalt zu nehmen, sondern sie wollten ein Exempel statuieren: Wagt es nicht, uns zu nahe zu kommen, oder ihr müsst zurück in Wiege und Windeln. Das ist keine Art, wie gewissenhafte Menschen mit ihren Mitmenschen umgehen." Sandrine straffte sich und nickte Julius sehr entschlossen zu. Suzanne überlegte wohl. Dann sagte sie: "Damit beweist sich leider wieder der Spruch: Gut gemeint und gut getan zieh'n selten auf derselben Bahn. Öhm, woher weißt du denn, was mit deinem Schulfreund passiert ist?"

"Kontakte zur Heilerzunft hier und da, wo er jetzt ist. Natürlich darf er mit seinen Verwandten nicht mehr reden, ihnen Briefe schreiben oder dergleichen mehr,so die Regeln für Wiederverjüngte, weil ja sonst jeder, der nicht alt werden will einfach irgendwann den Wiederverjüngungszauber auf sich selbst anwendet und dann nach einem Jahr Babyzeit körperlich klein und schwach aber geistig voll entwickelt sein bisheriges Leben weiterleben könnte", sagte Julius.

"Ja, und die Leute hier, darunter meine Mutter, werden diese Kinder, die jetzt unterwegs sind, zur Welt bringen und großziehen und hoffen, es mit der für die Kinder nötigen Zuneigung und Fürsorge hinzukriegen. Aber ich selbst habe zwei Kinder bekommen, obwohl mein Mann und ich eigentlich noch ein Jahr oder zwei damit warten wollten, weil wir auf unserer Hochzeitsreise einen Trank abbekommen haben, der uns dazu getrieben hat, uns ohne Verhütungsvorsorge auszutoben", sagte Sandrine. "Ich habe mich oft genug wie benutzt gefühlt, als wenn jemand etwas in mich reingestopft hat und gesagt hat, einmal durchbacken und beim Klingeln der Küchenuhr rauswerfen. Aber dann habe ich auch immer gedacht, dass das meine Kinder sind und mir die niemand wegnehmen darf. Wer das versucht hätte sollte dann heftig leiden. Ich bekam richtige Mordideen, was ich mit soeinem angestellt hätte. Ja, und das hat mir wieder eine heftige Angst eingejagt, weil ich nicht so sein will. Und es hat mich eine ganz große Menge Kraft gekostet, den Drang, die beiden Kinder sicher zu bekommen und gesund groß zu kriegen gegen die Angst, dass mir wer die Kinder wegnehmen will auszugleichen. Deshalb bin ich hier wohl die einzige, die genau weiß, was in meiner Mutter und den anderen Hexen gerade los ist, nicht nur körperlich, und ich danke unter anderem Julius, dass er mir geholfen hat, das durchzustehen und mich nicht als Ungeheuer oder als reines Gebärpüppchen abzuwerten."

"Ja, und meine Mutter selbst hat einen ähnlichen Trank als reines Genussmittel aufgeschwatzt bekommen und gleich drei Halbgeschwister von mir bekommen. Die hätte mich und meine Frau beim ersten Besuch fast durch die Zimmerdecke geflucht, weil Millie eines der Kinder in die Arme genommen hat. Deshalb ist das wahr, was Sandrine sagt: Diese Methoden sind eine Quälerei, eine Entehrung und eine Gefahr für die, die davon betroffen sind und für ihre Mitmenschen, mit einem Wort: kriminell. Deshalb kann ich jeden verstehen, der diese Banditen hasst. Aber Hass als solcher führt nur zu Zerstörung. Aber ich weiß leider nicht, wie ich diese Leute dazu bringen kann, von ihren Ideen abzulassen, ohne selbst gewalttätig zu werden", sagte Julius.

"Ich habe das schon mitbekommen, was in den Staaten passiert ist und dass die da wohl an einen von ihrem Minister ausgehandelten Vertrag gefesselt sind, der die zum Frieden mit Vita Magica zwingt", sagte Suzanne Lemont. "Bisher haben wir in der kleinen Zauberergemeinde zwischen Urwald und Meer noch Glück gehabt, dass wir offenbar für diese Leute zu uninteressant sind. Aber auf Martinique haben sie wohl schon mehrere Dutzend Opfer gefunden. Deshalb heißt die Insel für viele von uns "Insel der lebenden Andenken"."

"Was den Leuten, die da wohnen und Arbeiten sicher gar nicht gerecht wird", erwiderte Julius. Sandrine grummelte nur und gestand ein, dass sie und ihr Mann genau auf dieser Insel ihre Flitterwochen erlebt hatten und sie dann wahrhaftig zwei lebende Andenken von dieser Reise mit nach Hause gebracht hatte. Dann sagte Béatrice noch was:

"Es ist hinlänglich bekannt und von meiner Mutter durchaus gewünscht, dass sie sehr gerne viele Kinder bekommen hat. Sie sagt aber ganz klar, dass eine es selbst wollen muss, Mutter zu werden und zwar von dem Mann mit oder ohne Magie, den sie auch als Vater ihrer Kinder haben möchte und der auch sie als Mutter seiner Kinder haben und lieben möchte. Alles andere ist ein grausames Verbrechen an der körperlichen Freiheit der Hexen, der Ehre der Zauberer und an dem geistig-seelischen Wohl der dabei entstehenden Kinder."

"Das ist aber nett, Béatrice", grummelte Sandrine. "und dass es denen, die von derlei heimgesucht werden, eine Menge Kraft kosten wird, diese Kinder doch zu lieben, ohne sie als von außen auferlegte Verpflichtung und unerwünschten Ballast zu sehen", legte Béatrice noch nach. Julius ergänzte dann:

"Ja, und ich weiß von mindestens zwei Hexenschwesternschaften, die sich das auf keinen Fall gefallen lassen und jeden, der oder die bei Vita magica mitmacht, sehr üble Sachen antun werden, wenn sie rauskriegen, wer dazugehört. Kann sein, dass diese Sororitäten dadurch neue Anhängerinnen gewinnen können, bis es dann wirklich kracht. Und wenn es kracht könnte die ganze Welt davon taub werden oder auseinanderfliegen."

"Und würden die redlichen Bürger es zulassen, dass skrupellose Hexen diese Banditen bekämpfen?" fragte Suzanne. Julius erwiderte ganz trocken darauf: "Die werden erst gar nicht gefragt, genauso wie bei den Fortpflanzungsrauschdrogen von Vita Magica. Die gehen dann nach genau derselben Methode vor: Wir können das, wir dürfen das, wir machen das."

"Oha", konnte Suzanne dazu nur erwidern. Sandrine und Béatrice nickten nur stumm.

Nach der Tasse Tee suchten sich die drei Hexen und der Zauberer neue Gesprächspartner. So landete Julius bei Jeanne und Deborah. Hier ging es ausnahmsweise nicht um Vita Magica, sondern dass Deborah in Avignon zur Apothekerin ausgebildet wurde um im dortigen Zaubererviertel zu arbeiten und ihrer Großmutter Mireille zuzuarbeiten, die auch Hebamme war. "Die ist immer noch grummelig, weil Sabines und Sandras Mutter sich deine Schwiegertante als Hebamme für die zwei Jungs ausgewählt hat", sagte Deborah. "Aber das Gesetz der Hebammen lautet, dass jede Schwangere sich ihre eigene Hebamme aussuchen kann, solange die am Wohnort als zuständige Hebamme gemeldete Heilhexe darüber informiert wird, dass in ihrem Zuständigkeitsbereich eine werdende Mutter wohnt", sagte Deborah beschwichtigend. Jeanne meinte dazu:

"Im Grunde kann unsere hier wohnende Hebamme froh sein, dass Julius und Millie immer auf Béatrice Latierre als Hebamme vertraut haben, sonst wäre sie wohl nicht gleich nach dem Ende der Dämmerkuppel hier untergekommen", sagte Jeanne. Julius stimmte ihr da vollkommen zu und war froh, dass sie nicht rausließ, dass Béatrice schon ab dem neunten Mai bei ihnen "gestrandet" war und einfach das beste daraus gemacht hatte. Auch wollte er Debbie Flaubert nicht verraten, wie froh er war, dass er die Herzanhängerverbindung mit Millie hatte und die zusammen mit Béatrice ihn und Sandrine davor bewahrt hatte, zu den unfreiwilligen Elternpaaren von Millemerveilles zu gehören.

Um sieben Uhr gingen die ersten Teilnehmer der Versammlung. Das führte wie so häufig zu einem Massenaufbruch. Millie und Julius verabschiedeten sich von Belisama und Deborah und luden sie für später ein, sich ihre drei Kinder anzusehen, zumal Belisama die Patin von Chrysope war. Dann flogen die Latierres auf ihren Besen zurück zum Apfelhaus. Von dort aus nutzten sie die Verschwindeschrankverbindung ins Sonnenblumenschloss.

Das erste, was sie dort mitbekamen war eine irgendwo lautstark geführte Debatte zwischen einer älteren Hexe und Millies Chef Gilbert. Erst beim zweiten Hinhören erkannte Julius die Frauenstimme als die seiner Schwiegergroßtante Cynthia, Gilberts Mutter. worum es ging war durch den im Schloss herrschenen Widerhall nicht zu erfahren. Doch Julius war sich sicher, dass er das früher mitbekam als ihm lieb sein mochte. Millie schien auch so schon was zu ahnen oder zu wissen. Denn er fühlte sogleich einen starken Unmut von ihr auf ihn überschwappen, bevor sie merkte, das die neue Verbindung mit den beiden goldenen Eheleuteherzanhängern ihre Gefühle noch schneller auf ihn oder von ihm auf sie übertrug und sie ihn abbittend ansah. "Okay, Julius, ich weiß ungefähr, wovon Tante Cyn und Onkel Gilbert, mein Chef und Chefredakteur, es gerade haben. Aber ich habe ihm versprechen müssen, es nicht vor ihm rauszulassen. Denn er muss da wohl noch einiges vorher klären."

"Ist es weil er mit Lino doch mehr zusammen war als für eine reine Teamarbeit unter Kollegen üblich ist?" fragte Julius Millie.

"Falls das so ist sagt er es uns allen, falls es nicht so ist, sagt er es uns auch", übte sich Millie im Orakeln. Béatrice meinte dazu:

"So wie sich meine werte auf Anstand und Würde bedachte Tante anhört muss da aber schon was sein, was ihr zusetzt, dass sie ihn derartig zusammenstaucht. Aber ich glaube, wir werden ganz dringend erwartet."

Ja, sie wurden dringend erwartet. Kaum waren sie in den zum Spielzimmer ausgebauten orangeroten Salon eingetreten, da flogenihnen zwei kleine Bündel Menschenleben laut juchzend entgegen. Das größere davon warf sich auf Julius. Das kleinere umschlang im laufen Millies Beine. "Ja hallo, da sind wir schon wieder, kleine Morgenprinzessin. Ja, ich bin da, der Papa ist da", versuchte Julius gegen die Freudenschreie seiner Erstgeborenen anzujubeln. Dann hob er sie einfach vom Boden hoch und knuddelte sie kurz. Dann durfte er auch das zweite Bündel Menschenleben begrüßen. Denn Chrysie sah, dass ihr Papa die Rorie auf dem Arm hatte und nicht sie. Ursuline saß neben einer Wiege und schaukelte ganz behutsam Clarimonde, wobei sie ein uraltes Wiegenlied summte. Julius musste einmal mehr anerkennen, was für eine schöne, tiefe Stimme seine Schwiegeroma hatte. Während Julius die ersten zwei von ihm gezeugten Kinder auf seinen Armen balancierte unterhielt sich Millie leise mit ihrer Oma und begutachtete Clarimonde. Béatrice stand dabei und lächelte nur.

"Danke, dass du die zwei Wirbelhexen und die kleine Nuckelfee bewacht hast, Oma Line. Es wurde doch ein wenig länger als wir dachten."

"Ist nicht so schlimm, Millie. So konnte ich diesem Mutter-Sohn-Gezänk schön aus dem Weg bleiben", lachte Ursuline, bevor sie befand, dass sie ihren Schwiegerenkel auch mal umarmen sollte. Zwar hatte der seine zwei Töchter auf dem arm. Doch das hinderte Ursuline nicht daran, ihn von unten her um die hüften zu greifen und ihn aus einer für ihr Alter unerwartet fließenden Bewegung aus den Knien heraus hochzuheben. "Ui, ui, jui, da habe ich euch alle dreiiii!" frohlockte Ursuline mit erhöhter Stimmlage. Julius wollte schon losunken, dass er und die zwei kleinen Mädchen vielleicht für die Hexe in den besten Jahren zu schwer waren, als diese sich auch schon so gedreht hatte, dass sie Julius und die beiden kleinen auf ihre Schultern lud und schnell noch mit der linken Hand ihre Hare so freizog, dass es nicht ziepte, bevor sie Julius und seine ersten Töchter aufrecht gehend durch den Salon trug. Béatrice wollte schon ansetzen, ihre Mutter zur Ordnung zu rufen. Doch offenbar hatte die ihr was zumentiloquiert und sie damit zum Stillhalten verdonnert. So musste oder durfte sich Julius gefallen lassen, wie seine angeheiratete Großmutter ihn und seine beiden ältesten Töchter dreimal durch den Salon trug, während Millie Clarimonde aus der Wiege hob und in ihren Armen hielt. Dann durfte Julius wieder auf die eigenen Füße kommen. "Hoffentlich hast du morgen keine Knieschmerzen oder Rückenprobleme, Oma Line."

"Jungchen, dich hätte ich locker über die gläserne Brücke getragen, wenn wir zwei vor der Burg gestanden hätten", sagte Ursuline. Aurore wollte weiter ganz oben reiten. Deshalb pflückte ihre Uroma sie Julius behutsam aus den Armen und lud sie sich noch einmal auf die Schultern. Julius musste erst einmal verdauen, was Ursuline da gerade gesagt hatte. Natürlich hatte nicht sie, sondern Millie ihn über die gläserne Brücke zur halbmondförmigen Burg der sechsunddreißig Mondtöchter getragen. Das wiederum brachte einen der vielen Träume in sein Bewusstsein zurück, die er während der fünf Tage Erholungsschlaf durchlebt hatte und die jetzt in seinem und Millies privatem Denkarium eingelagert waren. Deshalb blieb er auch erst einmal wie auf Bereitschaftsmodus geschaltet auf der Stelle stehen und bekam das weitere Herumtoben zwischen Ursuline und Aurore nicht mit, bis Chrysope "Papa, Hui!" rief. Das riss ihn aus der Grübelei und brachte ihn ins Hier und jetzt zurück. So rief er: "jupidupidupi - Huiiiii!!" Beim letzten Wort warf er Chrysie fast bis an die Decke hoch, konzentrierte sich und fing die zwischen Freude und doch ein wenig Angst kieksende Kleinhexe wieder auf. "Noch mal!!!" rief Chrysie. "Bist du'n Teletubby?" fragte Julius und sah Millie an. "Wusste gar nicht, dass wir auch Teletubbies machen können, Millie."

"Pass bloß auf, dass sie dir nicht doch auf den Boden knallt, mein Erdenprinz", sagte Millie und grinste dabei. Julius legte sich Chrysope wieder zurecht und rief: "Juppi juppi duppi duppi - Huiiiiiiii!!!" Wieder flog Chrysope fast bis zur vier Meter hohen Decke. Wieder kiekste und schrillte sie zwischen Freude und Angst. Dann fing er sie wieder auf. "Noch maaaaal!!!" rief Chrysope. Da rief eine sehr ungehaltene Stimme aus einer gewissen Entfernung: "Eh, Line, lass die kleinen nicht so rumschreien!"

"Das ist mein Haus, Cyn, und hier dürfen Kinder, die sich freuen schreien und auch die, die noch in Windeln machen müssen, Cyn!" rief Ursuline zurück. Julius hatte Chrysie wieder in die richtige Abwurflage gedreht und rief den Vorlauf für den nächsten kurzstreckenflug aus: "Juppi juppi jupppi duppi duppi - Huuuiiiiiiiiii!!!!

"Ach, sind Millie und ihr Angetrauter wieder im Schloss?!" rief Cynthia Latierre.

"Jau, sind sie, Cyn. Also können wir gleich essen", erwiderte Ursuline. "Ferdi, die Eltern von den drei Wirbelfeeen und Trice sind da!" rief sie noch. "Wo gibt's essen?" fragte eine Männerstimme aus einiger Entfernung.

"Görüüüün!" rief Oma Line zurück. "Ich will aber lieber Bölaaaaauuuuuu!" rief Ferdinand zurück.

"Nix, heute ist ein gerader Tag, da essen wir im görüüünen Salon!" flötete Line und legte sich Aurore zurecht. "Auch einmal juppi duppi hui?" fragte sie Aurore. "Au ja", kiekste Aurore. Dann vollführte Ursuline mit ihrer ersten Urenkeltochter das Kunststück, dass Julius mit Rories Schwester aufgeführt hatte. Zweimal warf Line ihre Urenkelin fast bis zur Decke und fing sie zielsicher wieder auf. Dann stellte sie sie auf die Füße. Julius ließ die vor freude angestrengte Chrysope wieder auf ihre kleinen Füße kommen und hielt sie zur Sicherheit noch eine Sekunde, bevor sie und Aurore aufeinander zuliefen, als wollten sie sich gegenseitig umrennen und kurz vor dem Zusammenstoß aneinander vorbeirannten. "Da sind Quidditchspielertalente in den beiden drin, von euch beiden", lobte Line Millie und Julius, nachdem Aurore und Chrysie noch einmal aufeinander zugewetzt und knapp vor dem Zusammenprall aneinander vorbeigerannt waren.

"Die freuen sich, dass die hier auch bei Regen genug platz für dieses Fang mich oder ich krieg dich haben", sagte Béatrice. "Als Millie und ich den beiden das mal vorgemacht haben haben die das gefühlte zwanzig Minuten am Stück nachgespielt. Stärkt auf jeden Fall deren Körperabstimmungsvermögen."

"Das kannte ich auch vorher noch nicht. wir kannten das als "Wer hat Angst vorm bösen Wolf". Und da ging es wirklich ums Fangen oder Gefangenwerden", sagte Julius. "Mit wem hast du das noch mal gespielt, Julius?" wollte Millie wissen. Julius erwähnte seine erste Schulklasse, wo die Schule für ihn noch ein Stückchen heile Welt war, bis die Feuerzeugbanditen und deren Fanclub ihm, dem Direktorensöhnchen, den echten Ernst des Lebens beibringen wollten, bis er mit Lester und Malcolm die Bubblegumbande aufgezogen und wegen der Brutalos bei den Feuerzeugbanditen Karate gelernt und den Oberschläger von denen mal sauber mit einem Sprungtritt auf den Boden geknallt hatte. Wieso dachte er jetzt ausgerechnet an diesen Vollidioten, diesen Dreschflegeltypen mit einem ausgehöhlten Halloweenkürbis zwischen den Schultern aber ohne darin leuchtende Kerze? Dann fiel es ihm wieder ein, weil er wohl erst da gelernt hatte, wie wichtig es war, dass er nicht als Sohn seiner Eltern auftreten durfte, sondern sein eigenes Ding machen musste, etwas was der arrogante Schnösel Draco Malfoy und sein halbäffischer Doppelschatten wohl erst ganz ganz viel später gelernt hatten. Ja, und jetzt war er selbst Vater und freute sich. Ja, er war froh, dass es diese drei wilden, mal lustigen und mal stressigen Pullerpüppchen gab und die Hexe, die ihm diese drei in monatelanger Wartezeit ausgebrütet hatte, wollte immer noch Kinder von ihm haben. Das war etwas, was den wandelnden Hohlkürbis wohl bisher und wohl auch noch sehr lange nicht gegönnt sein würde. Auch dachte er an Lester und Malcolm, die zwei, die ihn trotz seiner Abstammung für voll genommen hatten. Oder hatten sie nur ausgenutzt, dass er ein wenig mehr Taschengeld bekam und sie mal zu Bonbons, mal zum Kino einladen konnte? Mittlerweile wusste er, dass sie sich freiwillig zur Army gemeldet hatten, als George W. Bush zum Sturm auf Bagdad geblasen hatte. Vorher waren sie wegen irgendwas mit Drogen im Jugendknast gewesen. Ja, und er durfte nicht zu ihnen hingehen und denen aufs Brot schmieren, dass er ein waschechter Zauberer geworden war. Machte ihn das jetzt traurig? Nein. Womöglich hätten die das auch noch ausgenutzt, ihn dazu gekriegt, irgendwas magisches anzustellen, was denen und ihm mehr Ärger als Spaß eingebrockt hätte. Aber die, die jetzt hier waren, die nahmen ihn als den, der er sein wollte, ein Mensch, der mit anderen gut auskommen, Spaß ohne Schadenfreude und Freude ohne andere zu Quälen haben wollte und der da war, wenn jemand gebraucht wurde. Ja, er war hier und da für alle, die gerade hier waren.

"Was läuft da gerade in dir für ein Theaterstück ab, Monju?" hörte er seine Frau mentiloquieren. Er verstand, dass er sie mit seinen verschiedenen Gefühlen vollgekleistert hatte. "Komisch, diese Frage hat mich echt voll um zehn Jahre zurückgeworfen, Mamille, zu den Leuten und Sachen, die ich vor Hogwarts hatte und ob das alles so toll war und wer mich damals alles nicht mochte und so weiter. Ich glaube, die Psychologen der Muggel nennen sowas Flashback, also einen Erinnerungsblitz."

"Ja, aber du bist doch nicht traurig oder hast Angst oder so?" wollte Millie wissen. Julius verneinte das entschieden. Wie zur Bestätigung flog ihm Aurore entgegen, die nach dem zweiten Hui-Flug wieder zu ihm wollte. "Neh, Rorie, wir müssen jetzt essen, damit wir alle schnell und stark bleiben", sagte Julius zu seiner erstgeborenen Tochter.

"Och, Männo! Wollte auch mal Hui mit dir spielen", nölte Aurore. Julius schaffte es, ganz ruhig zu bleiben und sagte: "machen wir morgen mal. Heute war für Papa ganz lange. Hast du denn keinen Hunger?"

"Hmm, doch", erwiderte Aurore. "Dann müssen wir jetzt aber ganz schnell was essen, damit der Hunger wieder weggeht. Sonst kneift der uns dauernd in den Bauch und ruft "Essen! Iss was!" erwiderte Julius und kniff Aurore kurz knapp über dem Bauchnabel in den angedeuteten Kugelbauch. Sie kiekste und giggelte. Dann schnappte sie mit der linken Hand nach seiner rechten Hand. Das war eindeutig. Er sollte sie zum Essraum führen, wenn er nicht riskieren wollte, dass sie ihn hinter sich herzog. Denn Rorie war für ihre dreieinhalb Jahre schon sehr stark. Das machte die regelmäßige Dosis Latierre-Kuhmilch.

Vorher führte er sie aber noch in eines der vielen erlesenen Badezimmer mit tiefliegender Toilettenschüssel, wohl extra für Kleinkinder. Danach wuschen sich beide die Hände und sangen dabei Zeilen aus dem Lied vom Plitscher-Plätscherbach, das es auch in einer flotten Tanzversion von Hecate Leviata gab.

Als der König des Apfelhauses und seine Kronprinzessin im grünen Salon eintrafen saßen die Königin des Apfelhauses mit ihrer Großmutter und ihrer zweitgeborenen Tochter bereits an einem langen Tisch. "Dafür dass ihr beim Händewaschenimmer noch Zeit für Quatsch habt seid ihr schneller als Tante Cyn und Onkel Gilbert", meinte Millie. Da kam Béatrice herein und suchte sich den Stuhl aus, auf dem sie sonst immer saß. Dann kam Ferdinand Latierre, Millies Stiefgroßvater und begrüßte Julius mit Schulterklopfer. "Na, hat dich Millemerveilles Kinderbringerin auch wem zugeteilt?" fragte er ihn.

"joh, hat sie, Opa Ferdi", sagte er nur. "Cyn wird immer kleiner und grüner, Line. Ich glaube, heute kriegt sie noch gelbe Augen und fängt an zu schaaaweeeebennnn!" scherzte Ferdinand.

"Ferdi, ich weiß, es nervt dich genauso an wie mich, was Cyn und Gil da aufführen und das ohne Klangkerker. Sie wird erleben, was sie davon hat, aber freuen wird sie sich nicht darüber und wir dann sicher auch nicht. Aber dem Mädchen dafür die Schuld zu geben macht die Sache nicht ungeschehen. Sie sollte lieber froh sein ... Aber er will uns das ja alles erzählen, wenn er auch weiß, wie die Geschichte weitergeht. Soviel dazu", sagte Ursuline mit einem sehr gestrengen Tonfall. Julius fragte sich selbst, in welchem Film er jetzt war. Vorhin die kurze Erinnerung an seine Grundschulzeit und jetzt diese Spannung zwischen allen hier.

"Cyn, wenn du nicht bald herfindest essen wir dir alles weg!!" stieß Ursuline laut aus. Dann kamen auch noch Felicité, Esperance und die vier jüngsten Kinder der Latierres, die in ihrem eigenen Trakt des Schlosses gespielt hatten. Sie mussten ihre Hände vorzeigen, bestanden den Sauberkeitstest und durften sich hinsetzen. Dann traf erst Gilbert Latierre ein, der sichtlich angespannt aussah, aber auch sehr entschlossen dreinschaute. Seine Mutter, Millies Großtante Cynthia, wirkte ziemlich verbittert, als sie hereinkam. Sie ähnelte ihrer Schwester Ursuline vom Haar und den Augen her. Allerdings war sie nur halb so füllig wie Ursuline und trug stadt Rock und Bluse ein mintfarbenes Kleid mit knöchellangem Saum und Stehkragen. Sie begrüßte die, die sie heute noch nicht zu sehen bekommen hatte. Millie und Julius hatten wortlos beschlossen, sie ganz ruhig und freundlich zu begrüßen und keinen Streit mit ihr anzufangen.

Das fünfgängige Abendessen war wieder einmal herrlich. Julius genoss jeden einzelnen Gang, auch wenn er wusste, dass dafür fünf Hauselfen in den Küchengewölben arbeiteten. Doch er wusste auch, dass die Hauselfen diese Arbeit gerne verrichteten, ja darin ihren Lebenszweck sahen, den ihnen bitte niemand wegnehmen oder madig machen sollte. Nachts würden die Elfen noch jeden Salon und jeden Gang reinigen und sehr scharfohrig darauf lauschen, bloß nicht von einem der hier gerade wohnenden Menschen überrascht und beim Arbeiten gesehen zu werden, wie die kleinen Fleißwichtel aus einer deutschen Geschichte, die Laurentine ihm und Millie mal erzählt hatte.

Während des Essens sprachen sie weder von der großen Versammlung ehemaliger Pflegehelfer und auch nicht davon, was Gilbert und seine Mutter gerade ausfochten. Es ging um Weihnachten und darum, dass Pattie und ihr Mann auch herüberkommen würden.

"Das freut dich natürlich, dass dein achtjüngstes Kind auch schon in anderen Umständen ist, Line", giftete Cyntthia. Line schluckte erst hinunter, was sie im Mund hatte und antwortete dann: "Natürlich freut mich das vor allem für Pattie und Marc. Der Junge weiß jetzt endlich, wo er wirklich hingehört, und das finde ich schön, dass Pattie ihm dabei hilft."

"Gut, du bist in der Angelegenheit festgebacken wie ein Klumpen Ton nach einem Feuerstoß von einem Drachen. Ich bin froh, dass ich mit den dreien, die ich habe genug habe."

"Ja, und den fünf Enkeln, die du schon hast, Cyn. Warum solltest du das auch nicht sein?" erwiderte Line Latierre. Dann sah sie die Latierres aus Millemerveilles an. "Müsst ihr heute echt wieder in euer Haus zurück? Das Gästezimmer mit den drei kleinen Betten ist immer noch frei." Millie sah Julius an, während Aurore schon "Au ja, bei Lilau und Blanche schlafen!" kiekste. Damit war die Kiste schon durch, bevor Millie und Julius was sagen konnten. Denn eine quängelnde Aurore und eine davon angesteckte plärrende Chrysope musste Julius heute echt nicht haben, wo er vorhin so fröhliche Spielminuten mit seiner erstenund zweiten Tochter erlebt hatte. Millie meinte dann, dass sie nur alles rüberholen müsse. Julius sollte hier warten.

Weil Aurore und die anderen hier wohnenden größeren Kinder noch eine Runde in der flauschigweichen Tobeecke des orangeroten Salons toben wollten und Cynthia mit Gilbert wieder in ihrer Streitecke verschwanden, leider ohne einen Klangkerker zu zaubern, lud Ursuline ihren Schwiegerenkel zu einer Partie Blitzschach ein: "... Damit wir beide wieder in Form kommen".

Hierfür führte sie Julius in ein Zimmer, in dem ein Klavier, ein Cembalo und mehrere Schränke standen, in denen wohl Noten oder weitere Musikinstrumente aufbewahrt wurden. Auf dem Klavier lag ein Schachbrett und daneben lagen die zweiunddreißig weißen und schwarzen Figuren und schnarchten leise. "Hier sind wir für uns und kriegen von dem Trubel im Schloss nichts mit, was den einen oder die andere darauf bringen könnte, deshalb nicht zu gewinnen", sagte Ursuline und nahm einen bronzeknut. Julius wählte die Vorderseite, Ursuline warf. Die Rückseite kam. "Okay, dann spiele ich die erste Partie Weiß", sagte die Schlossherrin an. Julius war einverstanden.

Nach drei je zehn Minuten dauernden Partien stand es zwei zu eins für Line. "Sag es ja, wir beide müssen wieder in Form kommen, sonst putzen uns Eleonore und die gute Blanche nächsten Sommer gnadenlos weg. Es sei denn, du kriegst deine Mutter dazu, mit Lucky und den drei kleinen neuen für fünf Tage bei euch zu wohnen. Ich komme sicher wieder bei Bruno und Jeanne unter."

"Stimmt, das fehlte dieses Jahr echt. Aber wegen der ganzen Nachbereitungen und wegen dieser Sauerei von Vita Magica wollte echt keiner Schach spielen. Und Eleonore hätte sich am Ende noch drauf berufen, dass sie schwanger nicht gewinnen kann."

"Was rosaroter Blubberblödsinn ist, weil ich während aller meiner zwölf schwangerschaften sehr überragende Partien gespielt habe. Gut, bei den Vieren, die mit deinen beiden gerade wildes Wer-wuselt-wilder und Wer-schreit alle anderen zu Boden spielen, hat die meinem warmem Schoße entschlüpfte Heilerin und Hebamme mir für die letzten fünf Monate Schachverbot erteilt und alle Figuren und Bretter unrückholbar verschwinden lassen. Die hat meine und Rolands Entschlossenheit und Finesse in Vollendung geerbt ... als wenn ... ich glaube, soweit möchte ich mich doch nicht hineinsteigern." sagte sie. Am Ende klang sie ein wenig traurig, während Julius eher verstimmt wirkte, als er den Namen Roland hörte. Sofort sah er einen Badezimmerflur und mehrere junge Hexenmädchen, die um eine auf dem Boden kniende unbekleidete Hexe standen und sie von obenher hämisch anstarrten. Wieso kam ihm das jetzt auch noch hoch? Hier war doch alles super in Ordnung und fröhlich und freundlich. Ursuline merkte jedoch, dass er gerade über etwas verstimmt war und fragte ihn, was er habe.

"Heute ist irgendwie so'n Tag, an dem ein Wort oder ein Name mir unerwünschte Erinnerungen ins Hirn bläst, obwohl ich mich hier sonst super gut aufgehoben fühle", sagte Julius.

"Und was hat dich jetzt bei der Erwähnung von Roland geärgert?" fragte sie ihn. "Was hat er dir getan?" legte sie nach. Julius schluckte. Wenn er ehrlich zu sich selbst war hatte der verstorbene Roland Latierre geborene Didier ihm selbst nichts böses getan. Im Gegenteil. Er hatte Hippolyte gezeugt, die Hexe, die das Mädchen Mildrid geboren hatte, das ihn, Julius Andrews, erst mit seiner direkten, einfordernden aber auch ehrlichenArt genervt und dann, nach Claires viel zu frühem Abschied, aus dem tiefen Trauerloch und ständigen Schuldgefühlen herausgeholfen hatte. So sagte er: "Nein, er hat mir nichts getan. Im Gegenteil. Ohne ihn hätte es Millie nicht gegeben und Martine und Béatrice, so wie sie alle sind. Ich habe nur einmal was von ihm gehört, das mich heftig geärgert hat, weit vor Claires ... Abschied und dass Millie mich doch noch für sich gewinnen konnte und über die Mondburgbrücke getragen hat."

"So, hast du das?" fragte Ursuline keineswegs gehässig oder albern, sondern leise und eher sehr betroffen klingend. "Und natürlich hast du versprochen, keinem zu erzählen, dass du es gehört hast, richtig?"

"Das ist richtig, Oma Line. Ich wollte dir auch sicher nicht weh tun. Ich habe heute irgendwie keine richtige Selbstbeherrschung. Der Tag war wohl sehr lang."

"Fang bitte bitte nicht an, dir an irgendwas die Schuld zu geben, Julius. Was immer dich heute umtreibt, das geht auch wieder vorbei, weiß ich aus verdammt vielen sehr heftigen Erlebnissen. Nur so viel, Leute, denen Roland Didier wirklich übel mitgespielt hat, haben am Ende mit ihm und mit dem, was er ihnen angetan hat ihren Frieden schließen können, wenn es bei einigen Leuten auch sehr, sehr lange gedauert hat. Wenn er dir also nichts getan hat, dann hattest du auch nie Krieg mit ihm. Konntest du ja auch nicht", seufzte Ursuline Latierre. Julius begriff, dass sie ihm damit sagen wollte, dass Roland weit vor seiner Geburt ermordet worden war, angeblich nur von dunklen Magiern, denen er auf die Füße getreten hatte. Doch der Prozess gegen seinen jüngeren Bruder Janus Didier hatte es an den Tag gebracht, dass Roland von seinem eifersüchtigen Bruder getötet worden war. Damals schon hatte sich Julius gefragt, was in Ursuline vorgegangen war, als sie das mitverfolgt hatte, ja und auch in Blanche Faucon geborene Rocher. Und er begriff, wen Ursuline damit meinte, wer mit ihrem verstorbenen Mann noch Frieden gemacht hatte, wenn eben auch sehr spät. Dann begriff er mit gewisser Verärgerung, dass Ursuline ihn ausgetrickst hatte. Denn eigentlich hatte er Blanche Faucon versprochen, nicht einmal in Andeutungen zu verraten, was sie ihm gezeigt hatte, im bedingungslosen Vertrauen darauf, dass er es niemandem weitererzählen würde.

"Ich hatte keinen Krieg mit deinem ersten Mann, Oma Line und muss deshalb auch keinen Krieg mit seinen liebsten Mitmenschen Anfangen", sagte Julius.

"Was wer auch immer dir gesagt oder auch irgendwie gezeigt haben mag hat dich sicher erst verstimmt. Aber womöglich weiß die betreffende Person längst, dass zu manchen üblen Taten zwei oder drei gehören und es nicht einem alleine angelastet werden darf, wenn einem die eigene Seele lieb ist. Ich weiß zumindest zwei Sachen, Roland hat immer aus den Fehlern gelernt, die er begangen hat und er hat immer zu denen gestanden, die ihm lieb und wichtig waren. Ja, und als wir zwei auf demselben Besen über den Parks und Gärten der strengen Maman Beauxbatons geflogen sind, er vor mir und ich ihn umarmend, da hat er erst gemerkt, wie wichtig es ist, sich mit denen zu vertragen, die für ihn wichtig sind. Und diese Beharrlichkeit, diese Gewissheit und auch diese Selbstverpflichtung hat er an jedes seiner eigenen Kinder weitergegeben, und soweit ich es mitbekommen habe, haben die es an ihre Kinder weitergegeben. Aber sie haben auch seinen Wissensdurst, seine Kreativität und seine Kunstfertigkeiten übernommen. Was Millie dir schon gegeben hat und von sich aus noch geben wird, ohne dass du sie darum bitten oder es einfordern musst, das ist auch ein wenig von ihm, Roland Latierre geborener Didier. Immerhin habt ihr bei euch auch ein Klavier, das mit seinem Patenttransportzauber belegt ist, hat Millie mir gesagt. Darauf ist sie stolz und darauf darfst auch du stolz sein, weil du wie Millie mir gesagt habt, jemandem einen sehr großen Dienst erwiesen hast, um dieses schöne wie fordernde Geschenk zu bekommen. Das hat wohl was mit der Party zu tun, auf die die gute Blanche dich geschickt hat, obwohl sie da schon wusste, wie gefährlich es sein würde, dass du in deine Heimat zurückkehrst. Aber am Ende war es auch gut, dass sie dich dort hingeschickt hat und wir dir aus der Ferne mit der Kraft der Hexen aus drei Generationen beistehen konnten. Deshalb freut sich Millie auch, dass sie dafür auf einem eigenen Klavier spielen darf, das mit dem Transportzauber ihres Großvaters belegt wurde. Und noch was, dass du bitte nicht als Schulmeisterei auffassen möchtest, sondern nur als guten Rat einer dich liebenden Hexe, der das, was du bist und tust sehr wichtig ist: Lass dir bitte nicht die Schuld anderer zu deiner eigenen werden!" Sie machte eine Pause. Julius ahnte, dass diese sehr ernste Bitte noch nicht der Schluss war. Er wartete geduldig, bis sie weitersprach. "Ich habe durchaus schon gemerkt, dass du sehr gerne zeigst, was du kannst, ob es von dir gefordert wird oder du es einfach nur tun willst. Aber du bremst dich gerne herunter, willst nicht besser aussehen als du bist, womöglich weil dir jemand mal gesagt oder gar befohlen hat, nicht aufzufallen, kein Getöse um dich zu veranstalten, nur das zu tun, was dir jemand ganz genau abverlangt. Tja, und dann kam jemand und hat dir und deinen Eltern gesagt, dass du zaubern kannst, was deine Eltern nicht konnten und nicht nur das, dass du besser zaubern kannst als die meisten gleichaltrigen Jungen und Mädchen. Da war dann nichts mehr mit zurückhaltung, nicht auffallen. Dann haben sich deine Eltern wegen dir in die Wolle gekriegt. - Bitte noch nicht Einspruch erheben - Ich denke, deinem Vater hat nicht gefallen, was aus dir werden würde, weil er sich nicht daran gewöhnen konnte, dass du einen ganz anderen Weg einschlagen würdest als er und sein Vater oder wer auch immer ihm als größtes Vorbild gedient hat. Was er deiner Mutter getan hat war sehr schlimm und leider sehr schwer zu verzeihen. Aber es war nicht deine Schuld. Zumindest weißt du das", sagte sie. Offenbar las sie seine Gesichtszüge wie die Titelseite einer Zeitung. "Nur dann kam dieses Unheilsgeschöpf, das deinen Vater für sich vereinnahmt hat, weil er unerweckte Zauberkräfte im Körper hatte. Deshalb hat dieses Biest dich ja auch noch haben wollen, um durch seinen Tod und deine Unterwerfung mehr Kraft zu schöpfen, hast du zumindest der sehr wortgewandten und sehr scharfohrigen Dame mit den schwarzen Kulleraugen berichtet." Julius nickte bestätigend. "Offenbar hast du dich am Verschwinden deines Vaters auch schuldig gefühlt, weil er wegen der an dich weitergegebenen Zaubertalente angegriffen wurde. Aber er wurde nicht wegen dir angegriffen, sondern weil er dieses Weib ganz und gar unbeabsichtigt aufgeweckt und es auf ihn aufmerksam gemacht hat. Das hätte er auch viel früher oder ohne dich auf den Weg in die Welt zu bringen hingekriegt. Da stimmst du mir sicher zu." Julius konnte im Moment nur nicken oder den Kopf schütteln. Er nickte. "Ja, und dann hast du Claire an irgendwelche fanatischen Bluträcher verloren, die ihre Großmutter Aurélie, mit der ich auch manchen worthaften Strauß ausgefochten habe, umgebracht haben. Warum du dir daran die Schuld gibst soll dein eigenes Geheimnis bleiben. Aber es war da sicher auch nicht deine Schuld. Denn dann hättest du sicher nicht mehr lieben können, und dass du in die Geheimnisse der Kinder Ashtarias eingeweiht wurdest hätte so auch nicht geklappt, weil die keine Mörder bei sich haben können, weiß ich jetzt wenigstens von Camille. Ja, und sie hätte dir was auch immer nie verziehen, wenn du wirklich Claires zu frühes Ende verschuldet hättest. Das mag dir gerade weh tun, an diese schlimmen Sachen zu rühren, die du sonst sicher gut verschlossen hältst. Ich bin mir jetzt sicher, dass das, was dich eben kurz auf meinen ersten Mann verärgert hat reagieren lassen, muss zwischen Claires Beerdigung und dem Wiederaufstieg dieses gemeingefährlichen, wenn auch sehr, sehr armen Kerls geschehen sein, der meinte, die Welt mit Angst vor sich unterwerfen und lenken zu können. Ja, er war gefährlich, seine Ideen haben andere zu Verbrechern gemacht oder tun dies heute immer noch. Aber da sind Blanche, sowie meine Mutter und ich uns einig, dass dieser selbstzerstörerische Massenmörder ein ganz armer Mensch war. Denn er hat sicher nie gelernt, was es heißt, geliebt zu werden und somit auch nicht, sich und andere zu lieben. Du, Millie, Hippolyte, Béatrice, Blanche Faucon und ihre lebenslustige und manchmal sehr derbe große Schwester Madeleine haben das gelernt, genau wie Roland und ich. Deshalb können wir mitfühlen, uns fragen, wem wir mit unseren Worten und Taten helfen, nützen, Schaden oder die Welt zerstören. Dieser sehr kranke Zeitgenosse hat diese Party angegriffen, auf der du warst. Aber er war nicht hinter dir her, weil er das ja anders hätte anstellen können, vielleicht sogar unauffälliger. Ob erfolgreicher ist die Frage, weil du da ja schon mit meiner Enkeltochter Millie verbunden warst. Aber weil du da warst sind wohl die meisten davongekommen. Denn sonst hätten sie dir wohl nicht diese große Truhe und das Klavier geschenkt. Denen warst und bist du wichtig, weil sie dir in diesem Moment auch sehr wichtig waren. Sicher, du könntest jetzt behaupten, du hättest dich mit diesen armseligen Helfersshelfern von dem Psychopathen duellieren können. Aber dir war erst einmal wichtig, die Leute zu schützen, die mit dir auf dieser Party waren. Wer das alles war muss und will ich nicht wissen. Es reicht völlig, dass sie dir in dieser Lage wichtig genug waren, dass du dich nicht auf all zu riskante Sachen eingelassen hast", fuhr Ursuline fort. Julius nickte sachte.

"Dannwar das mit den Schlangenmenschen, die dieser Massenmörder aufgeweckt und ferngelenkt hat, und als sie nach Beauxbatons kamen wurden sie von den Riesenvögeln erledigt. Ich hoffe mal, dass du dir nicht auch noch die Schuld dran gegeben hast, weil diese Vögel keine Rücksicht genommen haben." Julius schluckte. Verdammt, wie machte sie das? Jetzt hatte sie ihm ohne ein Wort von ihm noch abgeluchst, dass er sich echt schuldig gefühlt hatte, weil er die Riesenvögel gerufen hatte.

"Selbst falls das so war, dann warst du es da auch nicht schuld, sondern dieser schon erwähnte schwer geisteskranke Schwerverbrecher, der diese Ungeheuer auf uns alle losgelassen hat und auch die Dementoren, die uns dann meinen ach so sauberen Schwager als Zaubereiminister und diesen Wechselbalg Pétain eingebrockt haben. Dadurch kam ja am Ende alles raus, was über Jahre im Dunkeln verborgen war. Du hast mich damals angesehen, weil du wissen wolltest, was in mir vorgeht, als ich hören musste, wie mein erster Mann gestorben ist. Verbitterung, Wut, Enttäuschung, zum Teil auch Hass, aber vor allem die Frage, warum Janus seinen eigenen Bruder so sehr gehasst hat, dass er ihn umbringen wollte. Die Frage ließ sich leicht beantworten. Janus Didier wollte selbst groß sein, nicht der kleine Bruder von Roland Latierre geborener Didier. Aber er war auch neidisch, weil Roland all die großen Ziele seines Lebens erreicht hat und trotzdem noch die Zeit und die Kraft fand, acht Kinder zu zeugen und großzuziehen, bis auf Béatrice, die viel zu jung ihren Vater verloren hat, weil dessen Bruder, ihr eigener Onkel, ihm nicht verzeihen konnte oder sich Sachen ausgedacht hat, an denen Roland Schuld tragen sollte. Ich habe es meinen Kindern immer beigebracht, dass jedes von ihnen, Mädchen oder Junge, Hexe oder Zauberer, für mich gleichwichtig ist und nicht gegen alle anderen kämpfen muss, nur um mehr Achtung oder Liebe von mir zu bekommen. Sicher haben sich gerade die Mädels gerne gezankt, wenn es um Kleidung oder Schmuck oder wer die besseren Noten wo hat ging und zum Teil auch um einen Jungen, den die eine gerne für sich gehabt hätte aber die andere schon sicher glaubte. Am Ende haben sie dann selbst herausgefunden, dass es Junge A oder Junge B nicht wert war, dass zwei Schwestern sich um ihn zankten. Ja, und ich habe es mit sehr großem Wohlwollen mitbekommen und heute wieder erlebt, dass du das mit Aurore und Chrysie genauso hältst. Jede von den beiden ist auf ihre Art einzig und wichtig. Aber du hast die beiden ohne Zank zum Spielen gebracht und ohne laut zu werden klargestellt, wann Schluss ist und dass Aurore jetzt nicht so mit dir spielen konnte wie Chrysie. Das habe ich damals Hippolyte beigebracht, als sie deine Frau geboren hat, dass sie nicht die ältere bevorzugen darf, weil die schon mehr kann oder die jüngere verhätscheln soll, weil das die ältere neidisch macht. Ich gehe davon aus, dass Millie dir zwischendurch mal erzählt, dass sie und Martine sich auch immer wieder um was gekäbbelt haben, Spielsachen, Kleidung oder wer wann mit Maman oder Papa auf einem Besen fliegen darf. Aber trotzdem sind und bleiben sie beide ..." Es klopfte an der Tür. Ursuline sah Julius verschwörerisch an. Er nickte. "Komm rein!" rief die Herrin vom Château Tournesol.

"Millie trat ein. Line grinste. Julius stand auf und ging seiner Frau entgegen. "Ihr konntet nur hier im Musikzimmer sein, weil das der einzige Ort ist, wo ihr nichts von unseren Kindern oder Tante Cyn und Onkel Gilbert mitkriegt", sagte Millie. "Julius, ich habe unsere Sachen schon rübergeholt und im tannengrünen Schlafzimmer verstaut. Jetzt sollten wir die beiden selbstlaufenden Kinder dazu kriegen, auch ins Bett zu finden."

"Dazu müsstest du meine vier jüngsten erst mal davon abbringen, dass sie hinter euren beiden herwuseln. Dann machen wir das zusammen", sagte Ursuline. Dann tippte sie die am Brettrand aufgestellten Schachmenschen an, die wie aneinandergelehnte Dominosteine umfielen und sofort leise aber unüberhörbar schnarchten.

"Das würde ich auch gerne können, mich hinwerfenund wegschnarchen", sagte Julius.

"Als Säugling konntest du das ganz sicher", warf Ursuline ein. Millie grinste verwegen. Ihre Mutter hatte ihr schließlich erzählt, dass sie schon im Mutterleib eine unruhige Motte gewesen war und nach der Geburt immer drei Schlaflieder gebraucht hatte, um endlich einzuschlafen.

Tatsächlich gelang es den beiden Müttern und dem Vater, die sechs ganz kleinen Kinder auf ihre jeweiligen Zimmer zu verteilen. Esperance und Felicité halfen mit, dass die ganz jungen Geschwister auch anständig gewaschen und mit geputzten Zähnen in ihre Betten fanden. Dass der kleine Adonis einmal der kleinste und schwächste der Viererbande war war ihm nicht mehr anzusehen. Schhließlich konnten auch Aurore und Chrysope in die richtigen Betten gelegt werden. Millie und Julius sangen den beiden gleichzeitig ein mehrstrophiges Gutenachtlied vor, bei dem sie jede Strophe ein wenig langsamer sangen. Das wirkte mal wieder. Sowohl Aurore als auch Chrysope wurden immer ruhiger, schlossen die Augen und atmeten immer langsamer, bis sie in einen seligen Schlaf fielen.

"Oha, zeig das bitte nicht Tante Babs. Die kriegt das durch, dich zur Bewachung der ministeriumseigenen Hadesianerhunde einzuteilen", scherzte Millie rein mentiloquistisch.

"Dann wohl eher dich, weil Kinder eher auf die Stimme der Mutter hören als auf die des Vaters", widersprach Julius auf dieselbe weise.

"Wollt ihr auch schon schlafen oder noch ein wenig Musik machen?" fragte Ursuline, als Millie und Julius das Gästezimmer verlassen hatten.

"Oh, vierhändig klavierspielen, Oma Line. Aber was ist mit Opa Ferdi?"

"Wenn ich mit irgendwem Schach spiele verbuddelt er sich gerne in der Bibliothek, den zweiten Raum, der keine lauten Geräusche reinlässt, bis wer an die Tür klopft", sagte ursuline. Julius hatte es auf der Zunge, dass ihn die Bibliothek interessierte. Doch da sagte Ursuline: "Er schließt sich dann aber auch immer ein und tut gerne so, als wenn die Tür von außen verschlossen wäre. "Aber spätestens um zwölf ruft ihn das Bett."

"Du meinst, dann rufst du ihn mentiloquistisch ins Bett", feixte Millie. "Für ihn läuft es auf dasselbe hinaus, freches Mädchen", grinste Ursuline. "Wobei es darauf ankommt, worauf es hinausläuft", legte Julius nach. "Ja, das war eine sehr gute Idee, dir was von meiner Lebenskraft und Lebensfreude einzuflößen, Julius Latierre geborener Andrews", erwiderte Ursuline darauf.

"So genau wollen wir es dann auch nicht wissen", warf Millie ein. "Aber die zwei halten sich echt ran. Geht es echt um die eine Sache, Oma Line?" Fragte Millie.

"Für die beiden ist die eine Sache wichtig genug für ein ganzes Leben, meine wissbegierige Enkeltochter", erwiderte Ursuline. Dass sie vorhin mit Julius eine schon an Tiefenpsychologie heranreichende Sitzung abgehalten hatte fiel gar nicht auf.

"Ich möchte noch mal vierhändig Klavier mit dir spielen, Oma Line, oder auf dem Cembalo."

"Gut, dann das Cembalo. Julius, du suchst im weißen Schrank mit den Notenbüchern eines heraus, aus dem wir alle spielen können. Ich habe auch verschiedene Block- und Querflöten da."

"Ich habe eine Alt- und eine Mittelsopranflöte im kleinen Practicus-Beutel mit, Oma Line", sagte Julius. Millie grinste. "Dafür sei Claire auf ewig gedankt, dass sie dir das beigebracht hat, Musik gerne zu machen."

"Das weiß sie ganz sicher", sagte Julius. Dann fragte er, wo Béatrice schon wieder hin war. Die hatte schließlich eben noch die Kinder beaufsichtigt. "Wenn sie schon mal hier ist kann sie auch in ihrem eigenen kleinen Reich meditieren, lesen, Schlafen. Wir kriegen sie morgen früh ja wieder zu sehen.

"Die hat dich doch die ganze Zeit nur benutzt, diese Drei-sickel-Sammeldose!" keifte Großtante Cynthia.

"Hallo, sowas von meiner achso anstandstreuen Schwester. Wir haben doch alle das gleiche gegessenund getrunken", sagte Ursuline. Millie nickte nur. Julius fragte sich, wen seine angeheiratete Großtante gemeint hatte.

"Maman, bei allem Respekt, aber jetzt gehst du eindeutig zu weit. Liegt sicher am späten Abend. Offenbar kriegen wir das jetzt nicht zu Ende besprochen", hörten sie Gilbert hörbar ungehalten antworten.

"Nur wenn du klärst, dass sie eindeutig nachweist, dass es von dir ist und nicht von wem anderem", zeterte Cynthia Latierre.

"Okay, Millie, ich glaube, du brauchst mir bald nichts mehr zu erzählen, wenn Tante Cyn das gerade erledigt", meinte Julius.

"Soweit kommt's noch, Onkel Gilberts und meineExklusivrechte abzujagen. Nix da. Wir machen jetzt Musik, dann hören wir die zwei nicht mehr."

"Die kann es erst beweisen, wenn es da ist, Maman. Und sie würde mir sowas so heftiges nicht auftischen, wenn sie nicht sicher wäre ..."

"Die könnte dir auch auftischen, dass du morgen Zaubereiminister wirst, wenn du der einen goldenen Thron mit ihrem Namen eingraviert vor die Tür stellst und sie darin durch die Tür trägst", schrillte Cynthia.

"Los, husch, rein da!" zischte Ursuline und schupgste erst Julius und dann Millie ins beidseitig schalldichte Musikzimmer. Sie drückte schnell die Tür zu und winkte mit dem Zauberstab, worauf zwei weißgelbes Licht verströmende Leuchtkristallsphären erstrahlten.

Julius durfte aus dem weißen Schrank ein Notenbuch auswählen. Er wählte den Band mit Johann Sebastian Bachs viertem Brandenburgischem Konzert.

Tatsächlich bewirkte die Musik des großen Komponisten der Barockzeit und ehemaligen Thomaskantor von Leipzig, dass die drei Interpreten sich sehr gut von den Ereignissen des Tages frei- und aufeinander einspielten. Nach allen drei Sätzen fühlten sie sich richtig ruhig, obwohl sie sich auch sehr angestrengt hatten.

"DAS hat mir jetzt sehr gut getan. Danke euch beiden. Ich glaube, die beiden Wortduellanten sind jetzt auch müde genug", sagte Ursuline.

Tatsächlich vernahmen sie aus dem Schloss kein weiteres Wort mehr. Ursuline küsste und umarmte erst Julius und dann Millie. Dann zog sie sich in ihren und Ferdinands Schlafturm zurück.

"Ihr habt nicht nur Schach gespielt, nicht wahr, Monju", mentiloquierte Millie Julius im Bett noch zu. Julius erwiderte, dass Oma Line eine begnadete Psychologin hätte werden können, wenn sie sich auf sowas beworben hätte. "Irgendwie war heute der Tag von dummen Rückbesinnungen. Aber dafür hat uns das Toben mit den beiden größeren und die Musik zum Schluss gut vom Stress abgekoppelt", sagte Julius. Er wollte Millie noch nicht erzählen, was Ursuline alles aus ihm herausgefischt hatte, ohne ihn legilimentieren zu können. Er mentiloquierte nur: "Sie hat es natürlich gemerkt, dass mich heute einiges umgetrieben hat, was schon längst erledigt ist und wollte, dass ich trotzdem nicht den Glauben an mich und an uns verliere", sagte er, was schon eine ziemlich brauchbare Zusammenfassung der spontanen Rückschausitzung war.

"Ja, und etwas hat dich erst betrübt, dann einmal kurz verärgert, dann verwundert, dann wieder verbittert, dann traurig und schließlich wieder fröhlich gemacht. Ich weiß, dass OmaLine genial Leute ausfragen kann, ohne sie zu legilimentieren. Sonst wäre das, was Tante Cyn und Onkel Gilbert gerade so heftig herumwirbeln lässt nicht aufgekommen. Ich denke, du warst für sie die Bestätigung, dass sie ihre Fähigkeiten nicht verloren hat, jemandem eher zu helfen, als ihn in Schwierigkeiten zu bringen", schickte Millie zurück. Dann sagte sie mit körperlicher Stimme: "Genießen wir die Sicherheit und Erhabenheit des alten Familienstammsitzes der Latierres! Nacht!"

"Nacht, meine Feuerprinzessin", erwiderte Julius den Gruß und küsste sie noch einmal auf den Mund. Dann drehten sich beide in ihre bevorzugte Einschlafstellung und lagen aneinandergekuschelt. Julius genoss es. Er wusste jetzt, dass alles bisherige den Sinn hatte, dass er war, was er war und blieb wie er war. Was immer ihn ausgerechnet heute so fast aus der Spur geworfen hatte gehörte in die Vergangenheit und nur dorthin. Aber eines wusste er jetzt auch: Wenn er Frieden mit sich haben wollte, musste er auch Frieden mit seinem Vater machen, auch wenn der als solcher nicht mehr existierte. Ja, und Ursuline hatte ihn knallhart erwischt, weil er bei den Gedanken an Roland Latierre geborener Didier diese Bilder von Blanche Rocher im Mädchenbadezimmer vor sein geistiges Auge geknallt bekommen hatte. Es war garantiert nicht Blanches Absicht, ihm Schuldgefühle einzujagen, weil er sich mit Millie zusammengetan hatte, der Enkelin ihrer damaligen Erzfeindin. Sie wollte ihm nur zeigen, warum sie bis dahin so wütend reagiert hatte. Er war nicht Schuld an ihrem damaligen Fehler und Rolands Fehlverhalten ihr gegenüber. Ja, und Blanche hatte mit Roland Frieden geschlossen, spät aber immerhin doch endgültig. Dann konnte er das auch, weil er ja sonst nicht gerade neben der temperamentvollsten wie vielseitig begabtesten jungen Hexe im Bett liegen würde, der Hexe, die ihm drei quirlige, mal anstrengende, aber meistens auch erfreuende Kinder geboren hatte und trotz dieser drei Anstrengungen immer noch mehr Kinder von ihm haben wollte. Vielleicht war es doch keine so schlechte Idee, den ersten Sohn von ihm und ihr nach ihrem Großvater und seinem Vater zu benennen, Richard Roland Latierre oder Roland Richard Latierre. Nein, wohl eher Richard Roland, weil als Koseform Riro unterschied der sich dann doch gut von Rorie, weil die gab es ja schon längst, und das war sehr gut so.

So lag er neben seiner Frau und fühlte, wie die gemeinsamen, völlig entspannten Bewegungen ihrer Lungen ihn immer mehr einlullten. Dann kam der Schlaf.

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Anthelia/Naaneavargia grinste, als Beth McGuire ihr am späten Abend des 10. November berichtete, was bei der letzten Vollversammlung der schweigsamen Schwestern besprochen und vor allem enthüllt worden war. "Soso, da hat die wunderohrige Nachrichtenbeschafferin den Erben einer alten Zaubererfamilie Frankreichs empfangen. Das wird sicher interessant, wo sie diesen auf die Welt bringen und ob der Vater dieses Kindes bei ihr oder sie bei ihm oder weiterhin von ihm getrennt leben und arbeiten wird. Bitte halte mich auf dem laufenden, was diese Angelegenheit angeht, Schwester Beth!"

"Ja, und sie wollen herausfinden, was sie gegen Ladonna Montefiori tun können, ohne sie zu töten. Sie wissen noch nicht, dass sie sich wohl einige der europäischen Mitschwestern unterworfen und womöglich auch schon das italienische Zaubereiministerium unter ihre Herrschaft gebracht hat, höchste Schwester."

"Ja, und nach dem, was du von mir ausgerichtet hast werden sie nicht noch weiteres von mir hören wollen, nehme ich an", erwiderte Anthelia unbeeindruckt. Beth nickte. "Ja, und wir werden wohl keine Ausnahme bei Neuzugängen machen, was Theias Tochter Selene angeht."

"Wer hätte es gedacht, Schwester Beth?" bemerkte Anthelia schnippisch. "Aber offenbar langweilt sie das Dasein als kleines, braves Mädchen. Die hätte Daianira damals einfach nur in Ruhe ihren Todesfluch ausrufen lassen sollen, dann könnte sie heute noch als Austère Tourrecandide eingeschüchterte Halbwüchsige drangsalieren und mit den Erben ihrer zur Vampirin gewordenen Schwester Fangen spielen."

"Dann wärest du aber nicht mehr da, höchste Schwester", fühlte sich Beth berufen, ihre Anführerin auf einen weiteren Umstand hinzuweisen. Anthelia/Nanneavargia nickte zwar, dachte für sich aber daran, dass sie ja dann ihre Seele in Dairons Seelenmedaillon ausgelagert hätte. Doch ob Tourrecandide sie dann an sich genommen hätte wusste sie nicht. Naaneavargia wäre aber nicht so leicht aus Australien weggekommen und ihr weiteres unbegrenzt langes Leben mehr Spinne als Menschenfrau geblieben. Nein, es war schon gut, wie es war, für alle Seiten, auch wenn Austère Tourrecandide, die jetzt als Daianiras - öhm - Theias Tochter Selene lebte, mit dem Kinderkörper haderte, in dem sie steckte. Sicher, Anthelia hatte auch dagegen angekämpft, Daianiras Tochter zu werden, nur dass sie dabei wesentlich erfolgreicher gewesen war als die ehemalige Beauxbatons-Schulmeisterin und zeitweilige Gegenspielerin des von Angst und Machtgier getriebenen Janus Didier.

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Julius meinte, noch zu träumen, als die fröhliche Weise "Wie leuchtet mir der Apfelbaum" von einem beschwingten Glockenspiel gespielt wurde. Dann erkannte er, dass es nicht der Türklingelzauber seines eigenen Hauses war. Er lag zusammen mit seiner Frau im tannengrünen Gästezimmer für Familien im Sonnenblumenschloss, und das Glockenspiel klang von einem der fünf Türme, dem mit dem goldenfarbenen Flügelpferd auf der Spitze, dem Turm, der für Uhrzeiten und Feierstunden zuständig war. Gleichzeitig krähte irgendwo im Schloss ein Hahn. Das Geräusch kannte er ebenso. Es versetzte ihm einen kurzen Stich ins Herz. Claire hatte so einen Hahnenwecker besessen. Der gehörte seit ihrem viel zu frühen Abschied aus der Welt der Lebenden ihrer großen Schwester Jeanne. Julius sah auf seine Armbanduhr. Es war jetzt genau sechs Uhr in Frankreich. In seinem Geburtsland war es noch fünf Uhr morgens. Er dachte kurz an die, die er dort noch kannte, Gloria, Pina, die Hollingsworthzwillinge, Olivia und ihr Mann Tom und der kleine James Tiberius. Tja, und auch Joes Eltern Jennifer und James Brickston, die in Birmingham lebten, bedachte er einen Moment lang.

"Huch, dachte einen Moment, wir wär'n in Millemerveilles", grummelte Millie schlaftrunken. Dann war sie ganz wach. "Morgen, Monju!" "Morgen, Mamille", erwiderte Julius, drehte sich ganz zu ihr hin und küsste sie. Sie zog ihn kurz an sich und knuddelte ihn. Dann weinte Clarimonde, bevor auch sie den neuen Tag mit einem lauten Schrei nach Zuwendung begrüßte. "Die hat voll durchgeschlafen, ohne das ich ihr was gegeben oder auferlegt habe", mentiloquierte Millie ihrem Mann. Dieser schickte zurück: "Weißt du, ob die Kinderbetten hier nicht mit dem Glockenturm synchronisiert wurden?"

"Wag es nicht, das Oma Line gegenüber auch nur anzudeuten, Erdenprinz", gedankensprach Millie. dann wurden auch Aurore und Chhrysope wach. "Papa, ooooaagen!" rief Aurore und warf sich selbst aus zwei Metern entfernung auf ihn drauf. "Ui, irgendwer hat mir da gerade was kleines, lautes, quirliges auf den Bauch geworfen", tat Julius angestrengt, während er seine Erstgeborene kurz knuddelte und unter den Armen kitzelte. Dann tapste Chrysope zu ihrer Mutter hin. Doch die wollte lieber Clarimonde in die Arme nehmen. Deshalb fing Julius seine Zweitgeborene mit einem Arm ein und setzte sich auf. In jedem Arm eines der kleinen Wunderwesen, die Millieund er hinbekommen hatten, sang er mit künstlichem texanischen Akzent ein flottes Cowboylied.

"Dir ist klar, dass die zwei Mädchen sind, Julius?" lachte Millie, als Julius was von einem fröhlich reitenden Mann auf einem Pferd sang. "Gerade deshalb, viele Mädchen lieben Pferde. Frage mal Mel Whitesand oder Olivia Fielding", erwiderte Julius und sang weiter, dass der reitende Cowboy auf dem Weg zu seiner Liebsten in einer Stadt namens Sinemon City war und seine Liebste genauso küsste wie die Stadt hieß. Dann stand er auf. Er wollte zuerst ins Bad, weil Clarimonde bereits ihr Frühstück einnahm. "Hier, die zwei, die du mir erst zum tragen gegeben hast nimmst du schon mal mit."

"Yippie yippie yipie yeh!" rief Julius. Dann brachte er seine zwei schon selbst laufenden Töchter in das angeschlossene Bad, wo es eine Badewanne, einen Marmorwaschtisch und ein Marmorklosett mit Ebenholzbrille und -deckel gab. Da Chrysope noch eine Wochenwindel trug reichte es, sie über dem Waschtisch sauberzuwaschen, während Aurore in der Badewanne nach dem Klogang in der Badewanne mit den drei verschiedenen Schaumspendern herumspielte, bis sie in bunten Schaum eingehüllt dasaß und ihr Vater sie von Kopf bis fuß abbrausen durfte. Dann durfte auch er sich soweit reinigen, wie die gerne mit Wasser planschende Aurore ihn ließ. Alles in allem dauerte dieser Vorgang fast eine halbe Stunde. Dann kam Millie mit freiem Oberkörper und einem Badetuch herein. "So, wer jetzt noch nicht Sauber ist oder sein Pipi ins Klo gemacht hat bleibt dreckig und muss bis nach dem Frühstück einhalten", sagte sie. "Maman muss jetzt unter die Brause!"

Okay, ihr Planschnixenund Kicherhexen, raus hier!" kommandierte Julius und nahm seine mit viel Gekicher und Geplansche saubergeschrubbten und mit dem Zahnputzzauber herzeigbar gemachten Töchter.

Beim Frühstück las Ursuline aus dem Mirroir Magique vor. Ministerin Ventvit kündigte darin an, den erwiesenen Mitgliedern von Vita Magica die Bürgerrechte zu entziehen und damit auch ihr in Frankreich bewahrtes Vermögen zu enteignen. Denen, die diesen Schritt als offene Kriegserklärung gegen Vita Magica auslegen würden hielt sie entgegen, dass die Kriegserklärung von Vita Magica ausgesprochen worden sei, als diese meinten, Millemerveilles zum Versuchsfeld für eine unzulässige Fortpflanzungsdroge zu machen.

"Hilfloses Gebaren einer Ministerin, die keinen Hinweis auf Hinterleute dieser Verbrecherbande hat", bemerkte Cynthia Latierre dazu. Ihr Sohn blieb auffallend ruhig. Julius fragte sich, ob Gilbert vielleicht unter einem Schweigezauber stand. Doch dann sagte Cynthias Sohn: "Sagen wir es so, Maman, diese Ankündigung ist der letzte Akt eines mehrwöchigen Diskussionsvorgangs hinter verschlossenen Türen. Der entsprechende Erlass wurde als Ergänzung in die Gesetze zum vernunftgemäßen Gebrauch der Magie, dem Strafgesetz, dem Handels- und Finanzgesetz und dem Bürgerschaftsstatut eingetragen. Haben außer Julius hier wohl alle anderen nicht mitbekommen."

"Oh, Gilbert, da traust du mir aber eine Menge zu. Ich arbeite nicht in der Strafverfolgung oder der Handelsabteilung", wandte Julius ein. Darauf meinte Cynthia Latierre: "Ach, und dann landen derartige Vorhaben nicht auf deinem Schreibtisch, Julius?"

"Wohl nur dann, wenn Verdächtige Halb- oder Viertelveelas sind", erwiderte Julius. Gilbert meinte dazu: "Mag sein, dass du an diesem Verfahren nicht beteiligt wurdest, Julius. Aber weil hier sicher auch Nachkommen nichtmagischer Eltern betroffen sind hätte Madame Grandchapeau es dir wohl zu gegebener Zeit mitgeteilt", beharrte Gilbert auf seine Aussage.

"Was wiederum zeigt, dass das Ministerium immer noch ein intransparentes, den Launen des jeweiligen Zaubereiministers oder der Ministerin unterworfenes Gefüge ist", sagte Cynthia.

"Hättest du lieber eine Zaubereiverwaltung, die den reinen Gewinn- oder Machtinteressen privater Gruppierungen unterworfen ist, Tante Cynthia?" fragte Julius und wartete auf die Reaktion. "So wie bei den Yankees, wo reiche Zaubererweltunternehmer ihre Ansprüche in Gesetze umwandeln und sich durch gezielte Beredung der Verwaltungsbeamten vor der Zahlung fälliger Abgaben drücken können?" fragte Cynthia zurück. Julius wusste nicht, ob sie da nur eine Behauptung aufstellte oder auf echte Erkenntnisse verwies. Deshalb sagte er: "Sagen wir es mal so, Tante Cyn. Dass wir keinen karrieresüchtigen, Freundschaftsdienstorientierten, ja auch mit Erpressung arbeitenden Zaubereiminister Louvois bekommen haben liegt doch daran, dass sich die alteingesessenen Zaubereifamilien, also auch die Latierres, einmal richtig einig waren, ihre Mitglieder zur Wahl von Ministerin Ventvit aufzurufen. Insofern haben wir - weil ich ja mit euch verwandt bin zähle ich mich ganz bewusst dazu - Einfluss auf die Besetzung des Ministeriums gewonnen und damit auch Einfluss auf viele Sachen, die dort ausgehandelt oder veranlasst werden. Belle-Maman Hippolyte ist weiterhin die Leiterin für Spiele und Sportarten, Tante Barbara ist immer noch Leiterin der Tierwesenbehörde, Martine ist dieses Jahr zur Sektionsleiterin des Appariertestzentrums Bereich Paris aufgestiegen, und Schwiegeropa Ferdinand konnte sich im Flohregulierungsrat den obersten Chefposten verdienen. Ja, und ich, der Eingeheiratete, habe im Januar mein eigenes Büro und meine eigene Minibehörde mit Verbindungen in mehrere wichtige Abteilungen bekommen. Wir sind also die letzten, die sich über die Vorgänge im Ministerium beschweren dürfen."

"Vielleicht kennt die gute Cynthia ja wen, der oder die jetzt ganz schnell die Koffer packen muss, weil er oder sie bei den Babymacherbanditen mitmacht", stichelte der vor Kopf des langen Frühstückstisches sitzende Ferdinand und fing sich dafür von seiner Frau einen verwunderten Seitenblick ein.

"Nicht nur schlimm, dass mein eigen Fleisch und Blut mich derartig missachtet und verhöhnt, jetzt unterstellst du mir auch noch, mit diesen Kriminellen zu tun zu haben, Ferdinand", schnaubte Cynthia. Ursuline machte eine beschwichtigende Geste und erwiderte leise, aber durchaus sehr bestimmt: "Ferdi, ich hoffe nicht, dass du allen Ernstes meiner Schwester unterstellt hast, sie kenne wen von Vita Magica, den sie durch ihr Schweigen schützen möchte. Niemand hier kennt wen von Vita Magica und verschweigt das. Sind wir uns darüber einig?" Ferdinand sagte schnell, dass er das so nicht gemeint habe und bat seine Schwägerin um Entschuldigung. Julius fragte sich gerade, wie sein Schwiegerstiefgroßvater drauf war, so eine auch nur vage Andeutung loszulassen, wo der genau wusste, wie sehr seine Frau Ursuline die Methoden von Vita Magica verachtete.

"Und was steht bei euch heute noch an, Millie und Julius?" wollte Gilbert von den Tischgästen aus Millemerveilles wissen. "Wir haben am Nachmittag noch die Vollversammlung mit allen Bürgerinnen und Bürgern, um die jetzt amtlich feststehende Hilfstruppe vorzustellen", sagte Millie. "Du kriegst gleich danach meinen Bericht drüber."

"Und wo lasst ihr die Kinder während der Zeit?" fragte Ursuline, als wenn sie das nicht schon längst wüsste. Millie sah Julius an, der seine beiden an einem Kindertisch sitzenden Töchter und dann wieder Millie. Die sah ihn wieder an. Also sagte er: "Wir würden die beidenheute gerne noch einmal hier bei euch unterbringen, falls ihr nichts dagegen habt, Opa Ferdinand und Oma Line."

"Wie, noch einmal diese Bande unbändiger Kinder?" stieß Cynthia aus. Daraufhin sah ihre große Schwester und die Herrin vom Château Tournesol sie kritisch an und sagte: "Cynthia, weil es Kinder sind, haben sie noch ein gewisses Recht, ihre Lebensfreude laut zu bekunden oder ihren Unmut. Da ich dir und Gilbert bisher auch dieses Recht zugestanden habe halte dich bitte mit deinen scheinmoralischen Einwürfen zurück. Millie, Julius, ihr könnt, wenn sie das wollen, die drei Mädchen hierlassen, wenn ihr sie heute Abend wieder abholt", sagte Ursuline. Julius fragte Aurore und Chrysope, ob sie noch einen Tag bei Oma Line und den anderen Kindern hier bleiben wollten. Ein laut quietschendes Ja war die Antwort. Cynthia seufzte, Gilbert grinste verschmitzt, Ferdinand nickte seiner Frau zu.

In seinem Büro erwartete ihn nur ein Memo, er möge vor der 10-Uhr-Konferenz mit den Außentruppmitarbeitern des Büros für friedliche Koexistenz die aus Australien erhaltenen Mitteilungen ins Französische übersetzen, jetzt , wo das dortige Zaubereiministerium sämtliche nichtmagischen Opfer der Schlangenmenscheninvasion behandelt hatte und viele von ihnen wieder in ihr altes Leben zurückführen konnte, darunter die meisten Schulmädchen der Rosemarie-Hazelwood-Akademie bei Port Lincoln. Also betätigte sich Julius als fleißiger Übersetzer, bis um viertel vor zehn die von Ministerin Ventvit beauftragte Hauselfe mit dem zweiten Frühstück bei ihm apparierte.

Bei der im Memo erwähnten Konferenz trug er die von ihm übersetzten Bekanntmachungen vor und übergab die Transskriptionen an Belle Grandchapeau, die in dieser Behörde auch für die internationalen Kontakte zuständig war. Dann besprachen sie die immer noch bestehenden Gefahren, die nicht nur in Australien, sondern weltweit lauerten. In Deutschland, Österreich und jetzt auch in Belgien waren Männer und Frauen aufgetaucht, die Probleme mit dem Sonnenlicht hatten und keinen eigenen Schattenwurf zeigten, als würde das auf sie treffende Licht wie durch reines Glas oder klare Luft durch sie hindurchscheinen. Diese erschreckende Auffälligkeit wurde noch von der Gemeinsamkeit überflügelt, dass diese schattenlosen Menschen wichtige Berufe hatten oder an wichtigen Schaltstellen von Politik und Gesellschaft arbeiteten. Da mittlerweile bekannt war, dass jeder der ihrer natürlichen Schatten beraubten Menschen von einem der neuen Nachtschatten ferngelenkt wurde und zu dem bei einem Gefangennahmeversuch in einer Wolke aus schwarzen Eissplittern auseinanderplatzte, deren Splitter selbst durch mit Panzerungszauber belegte DrachenhautKleidung drangen, beließen es die zu den Überwachungstruppen gehörenden Hexen und Zauberer vorerst dabei, diese betrüblichen Opfer zu beobachten. Zumindest konnte festgestellt werden, dass die Schattenlosen ihre Eigenart nicht an andere Menschen weitergeben konnten, wie zuerst befürchtet worden war.

"Wir dürfen also mit großer Betrübnis davon ausgehen, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis auch bei uns in Frankreich die ersten schattenlosen Menschen entdeckt werden, wobei es schon längst welche unter den Menschen geben mag", stellte Nathalie Grandchapeau fest. Alle hörten ihr die große Besorgnis an. Doch um die Schattenlosen ergreifen zu können musste erst ein Weg gefunden werden, ihre eingeprägte Selbstvernichtung zu verhindern, bestenfalls den dazu führenden Zauber restlos auszulöschen. Julius argwöhnte, dass er dazu noch einmal von denen befragt werden würde, denen er den Fluchumkehrzauber aus dem alten Reich beigebracht hatte, Also Belle Grandchapeau und Phoebus Dellamontagne. Doch zunächst wurde nur beschlossen, dass die ministeriumseigenen Thaumaturgen eine Art Spürgerät für die Erfassung einr sicher von dunkler Magie aufgeladenen Lebensaura der Schattenlosen anfertigten, ohne dass der damit geprüfte Mensch die Prüfung bemerkte. Denn sicher würde der tödliche Explosionszauber ausgelöst, wenn sich ein Schattenloser in Bedrängnis fühlte. Julius fragte, ob die für diese Lage festgelegte Geheimhaltungsstufe S8 die Suche nach den Schattenlosen nicht eher erschwerte. Denn für die Aufspürgeräte könnten ja auch eigenständige Thaumaturgen und Experten für dunkle Zauber beauftragt werden.

"Wir müssen leider davon ausgehen, Monsieur Latierre, dass es im deutschsprachigen Raum immer noch unerkannte Helfershelfer des sich Lord Vengor nennenden Schwarzmagiers Hagen Wallenkron gibt, die vielleicht noch über Aufzeichnungen von ihm verfügen. Erfahren diese von wo auch immer, dass es diese bedauernswerten Opfer dieser neuen Nachtschatten gibt könnten sie versucht sein, über die Betroffenen Zugang zu den Verursachern dieser schwarzmagischen Beeinträchtigung zu erlangen und diese wie Geisterbeschwörer zu sich hinzurufen und ihrem Willen zu unterwerfen", sagte Nathalie Grandchapeau. "Daher können wir die Geheimhaltungsstufe derzeitig nicht senken, Monsieur Latierre, auch wenn ich vollkommen Ihrer Meinung bin, dass möglichst viele Experten für dunkle Zauber und deren Aufspürung einbezogen werden sollten."

"Die Frage ist auch, ob ein und derselbe Schattenräuber mehr als einen seines Schattens beraubten überwachen kann oder für jedes Opfer ein einzelner Täter verantwortlich ist", wandte der korpulente Kollege Lepont ein. Beide Damen Grandchapeau nickten. Nathalie übernahm es zu antworten:

"Anfragen bei den in diese Angelegenheit einbezogenen Desumbrateuren ergaben, dass bei einer Fernüberwachung des Opfers wohl nicht mehr als ein solches zur Zeit vorhanden sein darf, wenngleich die befragten Experten klarstellen mussten, dass ihnen diese Form des Schattenraubzaubers Cleptumbra noch völlig neu sei"."

"Das hieße, dass es nur so viele Schattenlose geben kann, wie es Nachtschatten gibt?" wollte Rose Deveraux von ihrem Kollegen wissen.

"Eben das können wir nicht zuverlässig bestätigen oder ausschließen. Abgesehen davon wäre das auc keine gute Nachricht, weil diese von Wallenkron erschaffene Nachtschattenriesin gegebenenfalls immer weitere Diener erschaffen kann, die wiederum weitere Angriffsziele zugewiesen bekommen können. Das sehe ich nicht als gute Nachricht", erwiderte Lepont.

"Was ich auch mit keinem Wort behauptet habe", musste Rose Deveraux dazu einwerfen. Madame Nathalie Grandchapeau erinnerte an die Konferenzdisziplin und dass nur sprechen möge, wen sie gefragt habe oder der oder die per Handzeichen ums Wort gebeten habe.

Mit der gewissen trüben Aussicht, dass jene Kreatur, vor der Bärbel Weizengold ihre Kollegen in Frankreich gewarnt hatte, immer mehr Unterworfene in aller Welt zusammenfing und Julius und die anderen bisher nur Glück hatten, nicht zu häufig in der nichtmagischen Welt herumzulaufen, endete die Konferenz der Außendienstmitarbeiter. Julius war sich jedoch sicher, dass es wohl bald behördenübergreifende Absprachen geben musste, wollten sie sich nicht von den Vampiren, den Nachtschatten oder Lykanthropen überrennen lassen.

Ansonsten verlief Julius Tag ohne weitere Besonderheiten. So konnte er pünktlich um vier Uhr nachmittags sein Büro von außen abschließen und vom Foyer aus in sein eigenes Haus in Millemerveilles apparieren.

Vor dem Gemeindehaus herrschte großer Andrang. Alle Bürgerinnen und Bürger Millemerveilles waren da, sowie alle von Hera eingetragenen Geburtshelfer. Um genau fünf Uhr begrüßte Madame Delamontagne die versammelten Bürger im großen Saal, in dem sowohl Zusammenkünfte wie diese wie auch alle möglichen Fest und das Schachturnier stattfinden konnten. Sie hielt eine kurze Ansprache, welche Herausforderungen sich vor allem die Hexen zu stellen hatten, die von einem unverzeihlichen Zaubermittel dazu getrieben worden waren, mehr als nur ein Kind zu bekommen. Dann übergab sie das Wort an Hera Matine. Diese sprach davon, dass sie als residente Hebammenhexe erst an der Flut der zu erwartenden Kinder verzweifeln wollte. Doch dann habe sie erkannt, dass Zweifel die Zahl der erwarteten Kinder nicht verringern würden. So habe sie sich aufgerafft und die Heilerzunft und alle jüngeren Ersthelferassistenten um Hilfe gebeten. Sie sei froh und stolz, dass zwanzig von diesen sich bereit erklärt hatten, ihr und den Mutter werdenden Hexen zu helfen. Alle Bürgerinnen und Bürger spendeten brav Applaus. Dann verlas Hera die Namen in der Reihenfolge der von ihr eingeteilten Dorfabschnitte, wobei sie beim Farbensee anfing und dann wie die Sonne von Ost über Süd nach West und Nord vorging. Dann verlas sie noch die Namen jener, die für den Bereich um die Dorfmitte eingeteilt worden waren. Jeder Name wurde beklatscht und der oder dem Erwähnten zugewunken.

"Auch wenn diese Einteilung nötig war, um eine Planungs- und Verteilungssicherheit zu schaffen, so ist sie keine eherne Regel. Wer von euch, die neue Kinder tragen, bestimmte Pflegehelfer bevorzugt kann sich, wenn ihre Zeit gekommen ist, immer noch um genau diese Pflegehelfer bewerben. Es geht und ging uns nur darum, dass es kein wildes Durcheinandergerrenne oder Kreuz-und-quer-Apparieren gibt und alle auf einmal in einer Ecke sind und an einer anderen Ecke welche fehlen. Deshalb haben wir das so gemacht." Alle Pflegehelfer nickten zustimmend.

"So bleibt mir als Sprecherin der Dorfgemeinschaft erst einmal nur, mich bei euch allen zu bedanken", antwortete Eleonore Delamontagne. "Ich möchte hiermit dem Wunsch meiner Nachbarin und Ratskollegin Roseanne Lumière entsprechen. Sie bat mich, euch von außerhalb zu uns geeilte Ersthelferassistentinnen und -assistenten herzlich zum kostenfreien Verbleib während der Woche beginnend am Weihnachtstag und endend am ersten Januar einzuladen. Wer von euch diese Einladung annehmen möchte darf sich aussuchen, bei wem er oder sie diese schönen und hoffentlich friedlichen Tage verbringen mag. So ergibt sich für euch und für uns die Möglichkeit, dass wir einander besser kennenlernen. Es ist keine Verpflichtung, mit uns zu feiern, sondern nur eine Einladung. Wer sie annimmt, für den oder die wird es hoffentlich eine Freude und für uns eine große Ehre sein." Roseanne winkte allen aufgereihten Pflegehelfern aufmunternd und nickte Eleonore zu. Julius sah Millie, Jeanne und Sandrine an. Sie brauchten keine Einladung anzunehmen. Sie hatten ja ein Zuhause.

Unter lautem Beifall verbeugten sich die Pflegehelferinnen und Pflegehelfer, darunter auch Belisama, Deborah und Aysha. Dann durften sie schon einmal zu den Bürgerinnen und Bürgern hingehen, die in den zugeteilten Abschnitten wohnten. Dazu reichten die Hauselfen der Rochers und Delamontagnes leichte Speisen und alkoholfreie Getränke. Immerhin waren ja sehr viele Schwangere hier.

"Dann bist du in der Gegend, wo ich wohne?" fragte Roseanne, die bereits sichtlich gerundet aussah. Julius bestätigte das. "Da ich das von Catherine und ihrem kleinen Sohn mitbekommen habe beruhigt es mich sehr, dass du in meiner Nähe eingeteilt bist", sagte Roseanne. Adele Lagrange nickte ihr beipflichtend zu und sagte: "Sicher möchte Belisama mir helfen, wenn es so weit ist. Ich denke aber auch, dass jemand, der schon genug Erfahrung bei Geburten hat, in der Nähe sein sollte."

"Wir sollen ja nur mithelfen, dass ihr nicht zu früh oder zu holprig niederkommen müsst, Roseanne und Adele", sagte Julius. "Holprig", wiederholte Roseanne. "Nein, das müssen wir nicht wirklich haben", stellte sie klar und prostete Julius mit Traubensaft und Zitronenlimonade zu.

Um halb acht Abends waren die Latierres wieder im Sonnenblumenschloss. Auch diese Nacht würden sie hier schlafen. Pattie war auch da. Sie grinste Julius an und meinte: "Dann darfst du nächstes Jahr den Kindern von Jacques' Eltern auf die Welt helfen. Der freut sich doch eh schon auf so viele neue Geschwister."

"Und wie geht's Millies Cousin oder Cousine?" fragte Julius Patricia.

"Abgesehen davon, dass er oder sie sich noch entscheiden muss, wen ich da jetzt schon in mir spazierenführe geht's uns beiden gut. Wusste nur nicht, dass ich so auf Chilischoten mit Preiselbeeren fliege."

"Chilischoten. Ui, dann brauchst du aber eiserne Eingeweide", grinste Julius. "Du weißt ja: Ein gutes Chili brennt zweimal."

"Wohl wahr, Julius. Aber der oder die da drin steht wohl auf sowas", sagte Pattie und deutete auf ihren noch relativ flachen Bauch.

"Oha, mit drei auf einmal zu leben ist aber ziemlich stressig", sagte Marc, als er mitbekam, wie Julius mit Aurore und Chrysope spielte. "Hintereinander geht es gerade so noch. Aber auf einen Wurf ist sicher sehr anstrengend. Aber das darf dir deine Schwiegermutter gerne erzählen", sagte Julius.

"Danke, macht die schon dauernd und sieht mich dabei so an, als hätte ich ihr das Baby in den Bauch geschupst und nicht Pattie. Ja, und die vier, die sie beim letzten mal bekommen hat sind noch quirliger als eure Aurore. Macht wohl die Latierre-Kuhmilch."

"Wohl eher der Umstand, dass die Vierlinge sich immer freuen, wenn sie genug Platz zum toben haben", meinte Pattie und musste aufpassen, dass Chrysope sie nicht frontal ansprang. Julius musste seine Zweitgeborene deshalb einmal zur Ordnung rufen. "Neh, nicht Großtante. Mag zwar rein Stammbuchmäßig stimmen, aber so alt bin ich dann doch nicht", meinte Pattie, als Julius Chrysope ihr klar machte, dass sie ihre liebe Großtante nicht umwerfen durfte, weil sie bald maman wurde.

"Willkommen im Club, kleine Schwester", scherzte Béatrice, die gerade zur Tür hereinkam. "ich war noch bei Hera und Anne Laporte. Ich hab's jetzt durch, dass Chloé Eauvive in Clémentines Abwesenheit das Château Florissant und unser Sonnenblumenschloss hier ... Chrysie, du ffällst selbst hin, wenn du mich ..." Plumps. Chrysope hatte versucht, ihre andere Großtante umzurennen und war gegen Béatrices Beine geknallt und dann vom eigenen Schwung nach hinten auf den gewindelten Po gerissen worden. Sie kugelte sich einmal auf dem Boden, quängelte kurz und sprang dann fast aus dem Liegen heraus wieder auf die Beine.

"Es muss regen geben. Die kleinen Kinder fliegen tief", keuchte Marc, weil ihn Blanche und Linda-Laure gleichzeitig aufs Korn nahmen und sich ihm wie von Sprungfedern getrieben entgegenwarfen.

"Natürlich. Es regnet Kinder", meinte Julius, der die von einer dicken Tobematte auf ihn zuspringende Aurore aus der Luft fing.

"Aber ich wohn doch gar nicht in Millemerveilles", seufzte Marc. "Das interessiert den oder die Kleine nicht, für die ich bis Mai oder Juni mitessen darf", erwiderte Patricia und bekam das rechte Händchen ihrer zweitjüngsten Schwester Blanche zu fassen. "Eh, loslassen", quängelte sie, weil sie unbedingt hinter ihren drei Wurfgeschwistern herwetzen wollte. "Wie heißt das Zauberwort, Kleine Blanche?" fragte Patricia. "Sofort loslassen, Pattiiiiie!!" schrillte Blanche. Pattie zuckte zusammen und ließ ihre Schwester los. "Hoffentlich hat das Kleine das nicht mitbekommen, sonst will es nicht auf die Welt kommen", grummelte sie, während Blanche hinter ihren drei Vierlingsgeschwistern hertobte.

"Bis er oder sie blickt, dass die um ihn oder sie herum quirliger sein kann als die Mikroonkels und -tanten", feixte Marc.

"Jetzt aber ganz vorsichtig, Marc", schnarrte Patricia wie eine Löwin, der jemand das Junge stehlen will. Doch sie grinste dabei. "Doch, irgendwie schon was anderes, wenn ich dran denke, selbst in zwei oder drei Jahren sowas wildes, quängeliges um mich herumlaufen zu haben und ... Hallo, die Tobematte bleibt lie-gännn!" kommandierte Patricia. Die vier Jüngsten wollten gerade die fünf mal vier Meter große bunte Tobematte hochstemmen und irgendwas nur ihnen bekanntes damit anstellen. Julius suchte sich gerade eine freie Fläche, um das Juppi-duppi-Hui-Spiel mit Aurore zu spielen. Dabei merkte er sehr wohl, dass Aurore schon etwas mehr als zehn Kilo mehr als Chrysope wog. Dennoch konnte er sie fast bis zur Decke hochwerfen und sicher wieder auffangen. "Hallo, das übe ich aber nicht, wie das geht", stieß Marc aus. "Ich hätte zu viel Schiss, dass mir der oder die Kleine dabei voll auf den Boden knallt."

"Das darfst du auch nur da machen, wo du ganz genau weißt, wie hoch sie fliegen könnenund wie du dich stellen musst, um sie wieder aufzufangen", sagte Julius.

"Ja, und deshalb geht das auch nur da, wo Polsterungszauber im Boden stecken, die zusätzlich zu einer Tobematte Stürze aus mehr als zwei Metern abfedern können", sagte Béatrice, die dem wilden Treiben zusah. "Und außerdem hält sich Julius mit Schwermacher kräftig und gelenkig genug und hat wohl noch die Muskeln wegen Mademoiselle Maximes Blutspende im Körper. Du musst dieses Hochwerfen nicht können um ein Spaßpapa zu werden, Marc", sagte Béatrice. Millie flocht noch ein, dass ihr Vater sie als kleines Mädchen auch gerne hochgeworfen hatte, bis sie größer als er selbst war. Dann hätten sie besser Ballspiele gespielt und sie immer so hoch geworfen, dass er eigentlich nicht drankam. Doch ihr Vater konnte Bälle noch aus über drei Metern Höhe pflücken.

"Auch genial", sagte Marc und hatte unvermittelt vier kleine Hände um seinen Beinen. "Hallo, ich bin kein .. Huaa!" Er fiel nach vorne, als ihn die beiden Mädchen die Beine wegzogen, als wögen die nichts und Marc genau nach vorne fiel und von den beiden Vierlingsjungen Faunus und Adonis aufgefangen wurrde. Unvermittelt wurde Marc hochgestemmt und unter einem jeder Harmonie entbehrenden Lied von lauter Lachenden Lufthexen durch den Raum getragen.

"Nicht zappeln oder schreien, Marc. Sonst lassen die dich nichtmehr runter!" rief Pattie grinsend. Tatsächlich warfen sie ihn mit Schwung auf die Tobematte. Marc rollte vom Schwung getragen bis an die gegenüberliegende Breitseite.

"Macht das auch diese Riesenkuhmilch?" fragte er, als er wieder aufstehen wollte und die vier sich ihm laut schreiend entgegenwarfen. Béatrice ging jetzt dazwischen. "Ist gut jetzt, ihr vier. Marc ist keine Stoffpuppe. Wenn der kaputtgeht kriegt ihr Ärger mit Pattie und mir. Wollt ihr vier nicht wirklich", sagte sie streng aber nicht schrill und pflückte die vier jüngsten Halbgeschwister von ihrem Opfer herunter. aurore wollte "Noch maaaal fliiiiiegäään!" Julius sah ein, dass er sie nicht anders beruhigen konnte und warf sie mit der korrekten Ansage "Juppi duppi duppi huuuiiiiiii!" mindestens dreimal hoch bis knapp an die Decke. Beim vierten Mal fing Millie ihre Tochter auf, drehte sie um und grinste sie an. "Tja, jetzt hab ich dich, kleine Föliiiiegerin. Jetzt gleich gibt's was für große Menschen und Kinder, die schon rennenund springen können", sagte sie ihrer ältesten Tochter.

""In fünf Minuten alles an den Tisch im rooooten Salon!" rief Ursuline. Julius mentiloquierte ihr die Frage zu, wo denn Cyn und Gilbert waren.

"Cyn hat sich heute Nachmittag abgesetzt. Sie meint, dass sie es leid ist, einen schon umgekippten Kessel wieder aufzufüllen. Näheres von Gilbert", schickte sie zurück.

"Also, Oma Line sagt in Fünf Minuten. Da hängt eine Uhr. Wenn der große Zeiger von da nach da gerückt ist gibt's essen. Wer noch mal muss bitte jetzt noch einmal", sagte Julius an, weil er das von seiner Zeit als Vierjähriger kannte. Diese Art von Erinnerungsrückbesinnung gefiel ihm.

"Pattie, Marc, ihr müsst heute abend noch nicht in euer neues Haus rüber", sagte Line zu ihrem achtjüngsten Kind. Milie, Julius und ihre drei Prinzessinnen bleiben auch noch eine Nacht bei uns."

"Maman, ist nett gemeint. Aber wir sind nur rübergekommen, um dir und Papa zu zeigen, wo und wie wir jetzt wohnen und uns sozusagen noch richtig vom Schloss zu verabschieden. Marc will bis zehn in unserer neuen Wohnung sein, um von da Angelique und Gerome anzurufen, dass es uns noch gibt. Diese Tour durch die Behörden, wegen Wohnsitzwechsel und so war schon anstrengend", sagte Patricia. Marc nickte ihr nur zu.

"Wie, ihr habt eine Telefonleitung?" fragte Ferdinand, der sich von Martha und Julius hatte erklären lassen, was ein Telefon ist. "Nein, über Mobiltelefon, Beau-Papa", sagte Marc. "Aber hier kriege ich kein Funksendernetz, und das Gerät zickt rum, als wenn es andauernd mit starker Strahlung beballert wird. Liegt wohl an eurem Sanctuafugium-Zauber über dem Schloss."

"Wir hatten ja vereinbart, dass ihr jederzeit mit deinen Eltern sprechen könnt, Marc. Dann sei es so", sagte Ursuline. "Ich wollte nur, dass ihr wisst, dass ihr hier nicht für immer weg müsst und jederzeit hier übernachten könnt, wenn euch die Welt da draußen zu laut und hektisch wird." Marc und Patricia bestätigten, dass sie das wussten, doch nun auch wissen wollten, ob sie ganz ohne Hilfe zurechtkamen. "Ganz wird das wohl nicht gehen, weil ihr ja sicher mal was braucht, was ihr nicht aus dem Nichts zaubern könnt oder eben wenn es Ende Mai Anfang Juni soweit ist mit Trice zusammen sein wollt", sagte Ursuline noch. Béatrice nickte bestätigend.

Nach dem Abendessen und der Bettbringrunde für alle Kinder im Sonnenblumenschloss verabschiedeten die Großen Patricia und Marc in ihre neue Wohnung. Julius bat Patricia, die Montferres zu grüßen, wenn sie sie trafen. "Die sehen wir bei der Einweihungsfeier am fünfzehnten November", sagte Marc. Ihr seid auch eingeladen", fügte er hinzu.

Nun saßen die erwachsenen Latierres noch im Musikzimmer zusammen. Millie hatte wegen den Kindern jenen Ohrring angesteckt, der wie ein Babyfon auf die Schreie ihrer Kinder reagierte. So konnten sie ein kleines Hauskonzert veranstalten, bei dem Béatrice Klarinette blies und Julius Altblockflöte. Millie und ihre Oma Line spielten Klavier, Ferdinand spielte Saxophon. Ursuline erwies sich auch als kundige Jazzpianistin. Julius stand einmal kurz davor, loszuweinen, weil sie ein Stück von Benny Goodman spielte, dass sein Vater damals auch gerne aufgelegt hatte, um Julius ins Bett zu bringen. Ja, das war auch sehr selten geschehen, weil Julius Paps sonst häufig noch in seiner Firma war, wenn er schon ins Bett sollte. Ursuline merkte es wohl, dass Julius die auf der Altflöte passenden Töne regelrecht hervorpressen musste, um nicht von starken Gefühlen überwältigt zu werden. Doch beide hielten es durch.

"Woher kennst du bitte Benny Goodman?" fragte Julius seine Schwiegergroßmutter nach dieser Jam Session.

"Zu dem haben Roland und ich vor vierzig Jahren mal in New Orleans getanzt. Da habe ich mir auch von dem Pianisten dort die Griffe zeigen lassen, Livius Porter hieß er. Er scherzte dann noch, dass er angeblich einen berühmten Verwandten hätte, Cole Porter. Von dem hat er mir dann auch noch was vorgespielt. Aber dieses quirlige, blondgelockte Mädchen hat ihn sehr gut bewacht, das keine länger als zehn Minuten bei ihm war."

"Die wusste auch sicher warum", seufzte Julius. "Wenn die gerne Strohhüte getragen hat und im Blumenkleid herumgelaufen ist kenne ich die nämlich auch." Er dachte für sich, wie klein doch die Welt war.

"Ja, stimmt, die ist das gewesen", sagte Ursuline und merkte da wohl, was sie gerade anrichtete. Millie merkte es wohl an Julius Gefühlsschwankung und erwiderte: "Ihr geht es ganz sicher gut, da wo sie jetzt ist, Oma Line. Mach dir bitte jetzt keine Vorwürfe." Hoffentlich hatte Millie recht, dachte Julius nur bei sich.

"Schon heftig, wie plötzlich die eigene Vergangenheit auf einen runterkrachen kann", gestand Julius seiner Frau im Bett. Er erwähnte, dass das langsame Stück von Benny Goodman sein vom Vater aufgelegtes Wiegenlied war, als er gerade so alt wie Rorie war.

"Oha, deshalb konntest du das so gut nachspielen, ohne Noten", erkannte Millie. "Ich sage dazu besser nur, was ich über "das blonde Mädchen" im Blumenkleid gesagt habe. Ich hoffe, ihm geht es gut, da wo er jetzt ist."

"Ich hoffe, dass die Kollegen von "dem Mädchen" gut auf ihn aufpassen, nachdem, was Ashtaria angedeutet hat", seufzte Julius. Doch dann befanden beide, dass sie jetzt wirklich schlafen sollten.

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"Alles gute zum ersten Geburtstag, meine kleine Rosenfee", wünschte Aurora Dawn dem kleinen Mädchen, das sie genau vor einem Jahr auf die Welt gebracht hatte. Nur wenige Leute wussten, was es mit Rosey Regan Dawn auf sich hatte, und das sollte auch so bleiben, fanden beide, als sie mit einer Mischung aus Traubensaft und Zitronenlimonade anstießen. Rosey war froh, dieses erste von hoffentlich vielen Jahren überstanden zu haben, ohne dass es aufgefallen war. Sicher, sie hätte am liebsten gleich nach ihrer Geburt zu krabbeln und zu laufen angefangen, wenn ihre zweite Mutter nicht darauf bestanden hätte, dass sie sich so behutsam wie möglich entwickelte. Doch heute, am 11. November 2003, wollte Rosey genießen, dass sie schon stark genug entwickelte Beine hatte und sogar schon eigenständig auf ein Töpfchen gehen und sich danach auch alles abputzen konnte, solange niemand von außen zu Besuch war.

"Ich denke immer noch, dass du mich gestern erst gekriegt hast, Mum Aurora. Ich höre immer noch die vielen Zwiebeln in deinem Bauch rumpeln und denke immer noch daran, wie eng das ganz zum Schluss war. Vielleicht werde ich auch mal Hebamme und Heilerin, mit dem was ich jetzt über ungeborene Kinder und das Gefühl beim Geborenwerden mitbekommen habe", sagte Rosey, froh, schon genug Zähne im Mund zu haben um laut und deutlich sprechen zu können, was eigentlich erst einer zwei- oder dreijährigen möglich war.

"Ich denke komischerweise nicht mehr daran, wie weh das uns beiden getan hat, sondern nur, wie stolz ich war, dich fertig ausgetragen zu haben und wie mich das gefreut hat, als wir beide uns dann zuerst richtig angeguckt haben", sagte Aurora Dawn. Rosey lächelte und meinte, dass sie da wohl nur an ihre heftigen Kopfschmerzen vom Zusammenstauchen ihres Kopfes gedacht und den für sie verheißungsvollen Geruch von Auroras Mutterbrüsten in der Nase gehabt hatte. Das nahm die unverhoffte Mutter der kleinen Rosey zum Anlass, ihr zu sagen, dass sie ab heute nur noch andere Nahrung kriegen würde. Bis heute hatte Aurora sie entweder noch zwischenzeitlich saugen lassen oder ihre Milch ausgelagert, um damit zerstampfte Früchte und andere halbfeste Sachen anzureichern. "Ja, und weil du ja meinst, schon mit einem Jahr alles können zu müssen, was eigentlich erst drei- oder vierjährige können müssen kriegst du ab heute auch keine Windeln mehr an. Wenn du dir dann trotzdem noch in die Hosen machst wird dir das sicher peinlicher sein als mir."

"Laut deiner Chefin, die mich aus deinem warmen, aber am Ende viel zu engen Unterleib herausgehoben hat sollte ich für längere Ausflüge noch was zwischen Beinen und um den Podex haben, damit wir nicht doch noch auffliegen."

"Ja, aber außer denen, die sowieso wissen, wer du bist wird dich in den nächsten Wochen wohl keiner zu sehen kriegen", erwiderte Aurora Dawn.

"Schade, dass die Latierres nicht zu meiner Feier kommen können, weil die in Millemerveilles mit dieser Schurkerei von Vita Magica so viel um die Ohren haben", grummelte Rosey Dawn. Ihre unverhoffte Mutter sagte dazu: "Wir können froh sein, dass die uns hier in Australien nicht mit diesem Zeug bedacht haben. Aber hinterhältig war das schon, was die sich in Millemerveilles geleistet haben. Und jetzt darfst du die erste von hoffentlich ganz ganz vielen Kerzen in deinem Leben auspusten. Ich konnte das mit einem Jahr noch nicht, sagt deine Oma Regina."

"Das ist doch mal was zu feiern", erwiderte Rosey Dawn. Sie ließ sich von ihrer Mutter auf einen hohen Stuhl heben. Vor ihr stand ein Tellerchen mit einer kleinen Erdbeerquarktorte darauf. In mitten der für Rosey kopfgroßen Torte ragte eine für sie zwei Daumen dicke weiße Kerze heraus, deren weißgelbe Flamme ruhig brannte. Rosey näherte sich behutsam der Flamme, fühlte den Hitzehauch, der von ihr ausging. Sie holte tief luft und pustete so kräftig sie konnte. Die Flamme erzitterte, duckte sich und verwehte in einer Wolke aus kleinen Flackerfunken und Qualm. Dabei wünschte sich Rosey, dass sie und ihre neue Mutter mehr als die Jahre erleben würden, die Heather Springs hatte leben dürfen. Rosey dachte einmal mehr, wie seltsam es war, dass ausgerechnet sie, als sie noch Heather Springs war, der Hexe geholfen hatte, nach Australien und in die Heilerzunft zu kommen, von der sie später als Rosey erst über Monate im Leib getragen und dann für beide sehr schmerzhaft und anstrengend auf die Welt gebracht worden war. Ja, und dann hatte Julius ihnen beiden noch erzählt, dass irgendwer vor langer Zeit eine Prophezeiung ausgesprochen hatte, dass die in den himmel gestürzte von einer Mutter namens zwei Morgenlichter wiedergeboren würde. Das war wirklich schon unheimlich gewesen. Und sie dachte an die Schuld, die sie bei einer Nargun hatte, damit Heather und ihr Mann diesen verflixten neuen Besen ausprobieren konnten. Wenn sie auch körperlich wieder erwachsen sein würde musste sie diese Schuld begleichen. Bis dahin wollte sie ihr zweites Leben so gut es ging genießen, erst bei Aurora, später in Redrock.

die Türglocke bimmelte. Aurora legte ihre Finger auf den Mund und ging an die Tür. Rosey hörte, dass Laura Morehead gekommen war. Keine Minute später stand die oberste Heilerin Australiens im Wohnzimmer Aurora Dawns. "Hallo Rosey, alles gute zum Geburtstag!" wünschte Laura der rein körperlich gerade ein Jahr alten Hexe. Rosey bedankte sich bei Laura für den Glückwunsch und sagte, dass sie gerade ihre erste Geburtstagskerze hatte auspusten dürfen. "Oh, und du hast dir dabei nicht den Mund oder die Haare verbrannt. Das ist toll", sagte Laura Morehead mit der Betonung einer stolzen Großmutter. Dann wandte sie sich an Aurora.

"Ich habe dir zwanzig Kopien deiner Aufstufungsurkunde mitgebracht, Aurora. Der Heilerrat hat deine Erhebung in den Rang einer gelehrten Heilerin bestätigt. Allein schon diese genauen Tabellen, wieviel Gold mit wie viel von dem tückischen Gift reagieren musste, um es restlos zu neutralisieren oder die genaue Beschreibung der Blutfilter und die Beimischung von AD 999 haben sehr große Beachtung gefunden."

"Ich hätte den Rang lieber mit etwas schönerem errungen als mit der Abwehr dieser alten Verseuchung, Laura", sagte Aurora Dawn. Dann bedankte sie sich bei der Großheilerin für die Anerkennung. "Die eigentliche feierliche Erhebung findet dann zur Sommersonnenwendfeier Statt, wenn auch sieben andere Heilerinnen und Heiler in den Stand der gelehrten Heilerin oder der Großheilerin erhoben werden. Aber die Dokumente kannst du schon einmal sicher verstauen."

"Ob die ganzen Stammpatienten hier fürchten, sie müssten mir zusätzliches Gold geben?" fragte Aurora Dawn eher scherzhaft.

"Die nicht. Die Zunft zahlt dir nach der feierlichen Erhebung zweihundert Galleonen im Monat mehr und du bekommst die Erlaubnis, als Mentorin zu arbeiten, falls du das möchtest", sagte Laura Morehead.

"Als Mentorin müsste ich aber dann in der Sano arbeiten und die Niederlassung hier aufgeben, Laura. Ich bin ehrlich: Im Moment möchte ich hier nicht noch mal weg. Die von Heather angestoßene Schwangerschaft mit Rosey hat mir als Auszeit von hier schon gereicht."

"Kann ich verstehen. Mel Thornapple wollte auch nicht von hier weg, wie du genau weißt. Tja, und irgendwann wollte sie nur noch gehen, wenn sie wen fand, die ihren Anforderungen entsprach. Könnte sein, dass Mel um die Weihnachtszeit herum noch mal zu uns nach Australien kommt. Sei also drauf gefasst, dass sie dich noch einmal besuchen möchte."

"Ich freu mich drauf, und Rosey womöglich auch. Ohne Mel wäre ich ja nicht die residente Heilerin von Sydney geworden", sagte Aurora. Rosey, die zuhörte nickte. Auch noch so'n merkwürdiger Umstand, der dazu geführt hatte, dass sie heute hier in Aurora Dawns Esszimmer saß und ihren ersten Wiedergeburtstag feierte.

"Dann lasse ich euch zwei hübschen mal wieder alleine. Öhm, Rosey, genieße die zweite Kindheit. so eine Gelegenheit haben die allermeisten Leute nicht."

"Ich werde das hoffentlich hinkriegen, Laura", sagte Rosey Dawn.

Als Laura Morehead wieder gegangen war setzte sich Aurora zu ihrer unverhofft bekommenen Tochter und sagte: "Ich fürchte, die gute Laura sieht mich echt schon als Beths Nachfolgerin, irgendwann so in zehn oder zwanzig Jahren. Aber ich kann Mel Thornapple verstehen, dass sie lieber eine Niederlassung geführt hat als im Krankenhausbetrieb zu arbeiten."

"Dieser junge Bursche, Jimmy Garfield, das war schon traurig, als er dir das mit seinem Hund erzählt hat. Aber er hat sich ja dann doch schnell mit Adda Dodgeson angefreundet."

"Ja, das mit Terry war traurig, weil ich dieses weiße Fellbündel auch immer gerne gesehen habe. Aber der ist immerhin siebzehn Jahre alt geworden, was für einen nichtmagischen Hund ein beträchtliches Alter ist, wie zweihundert Jahre bei uns. Ja, und dass Adda Dodgeson die Tochter einer Hexe und eines Muggels ist habe ich ihm nicht erzählt. Wenn da zwischen den beiden mehr passieren sollte als auf einer Bank sitzen und Händchenhalten kriege ich das noch früh genug mit. Dabei hatte ich gar nicht die Absicht, die zwei zusammenzubringen."

"Du hast dem Jungen nicht gesagt, er soll in den Park gehen, wo er früher seinen Hund spazierengeführt hat", wusste Rosey. "Die Frage ist auch, ob Betsy Dodgeson das gut findet, dass ihre einzige Tochter mit einem Muggel ausgeht."

"Rosey, tu nicht so, als hättest du das nie mitbekommen, was ich mit den Leuten hier so berede. Deine Diskretion ehrt dich, aber für dumm verkaufen musst du mich mit gerade einem Jahr nicht", erwiderte Aurora mit tadelnder Stimme, lächelte dabei aber wie ein vergnügtes Schulmädchen. "Betsy hat klar angesagt, dass ihre Tochter das klärt, ob sie mit einem alteingesessenen Burschen aus der Zaubererwelt oder einem jungen Muggel zusammen sein will. Allerdings müsste ich dann wohl mit Jimmys Eltern klären, dass die ganzen Geschichten um mich doch nicht so hahnebüchen sind. Na ja, dass es dich gibt liegt auch daran, dass es nicht einfach ist, die zwei Welten zusammenzubringen. Ich hoffe mal, dass Adda nicht genauso heftig aus den Wolken fällt wie ich damals mit Bill Huxley."

"Der am Ende doch noch mit der Zaubererwelt zu tun bekam, weil er unbedingt die Party eines alten Schulfreundes besuchen musste, dessen Schwester eine muggelstämmige Hexe ist", erwiderte Rosey. Schließlich kannte sie aus Heather Springs' Erinnerungen alles, was Aurora Dawn ihr über die zum Albtraum ausgeuferte Party bei den Sterlings hatte sagen dürfen.

"Wollen wir eine Wette machen, ob Adda deinen jungen, sportlichen Nachbarn Jim Garfield ohne magisch grob zu werden dazu kriegt, sie als seine Frau anzunehmen, auch wenn sie eine Hexe ist?" fragte Rosey.

"Rosey, bei allem, was wir zwei bisher schon mitgemacht und auch wunderschönes erlebt haben, aber auf sowas will ich nicht wetten, auch wenn es mir auch gefallen würde, wenn Jimmy Garfield und Adda zusammenkommen. Aber ich kenne Jimmys Mutter. Die ist immer noch sehr argwöhnisch, was meine Berufsausübung angeht. Und weil Jims großer Bruder jetzt in Canberra wohnt hofft Jimmys Vater, dass sein Sohn doch noch das große Haus übernehmen wird."

"Na und, kann er doch", meinte Rosey scheinbar kindlich naiv. "Der kann doch mit Adda da einziehen. Dann können die sich noch einen Flohnetzkamin einbauen lassen und fertig."

"Das sagst du so leicht, weil du wohl nicht damit behelligt wirst, ob das zwischenmenschlich läuft oder nicht", erwiderte Roseys Mutter. Dann lachten sie beide. Darüber zu flachsen, wer mit wem aus der Nachbarschaft zusammenfinden würde gefiel den beiden und machte sie für einen Moment vergessen, dass sie als Mutter-Tochter-Gespann aufzutreten hatten. In diesen wenigen Sekunden freute sich Aurora, dass ihre Freundin Heather Springs nicht wahrhaftig aus der Welt verschwunden war.

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Malvina genoss es, wieder auf der Welt zu sein. Auch wenn sie nicht als Tochter einer damaligen Blutsverwandten zurückgekehrt war und wusste, dass sie ihrer damaligen Herrin nun noch mehr verbunden war, empfand sie den Gedanken, dass sie auch die Eigenschaften ihrer Mutter erben mochte, als besonderen Glücksfall. Sie musste sogar heimlich grinsen, wenn sie mitbekam, wie ergeben der Mann war, den ihre Herrin und Wiedergebärerin dazu bekommen hatte, mit ihr als Ehepaar zu leben. Sie hatte sich jedoch gleich nach ihrer Geburt entschlossen, ihn nicht mehr an ihren Gedanken teilhaben zu lassen. Der sollte sich daran gewöhnen, dass sie ein Säugling war und er ihr Vater.

Auch wenn sie wegen der sich erst noch entwickelnden Sehkraft vieles was mehr als eine Handbreit von ihr fort war wie in grauem Nebel verschwimmen sah bekam sie doch so einiges mit, was in dem Haus vorging, in dem Teresa Dolores Morrow und ihr Mann Lyndon wohnten. Und wenn ihre neue Mutter sie stillte konnten die beiden ganze Kapitel Lebensgeschichte in Gedanken austauschen. Doch trotz der Freude, endlich wieder leben zu dürfen, argwöhnte Malvina, dass der Grund für ihre Entstehung den Schwestern ihrer zweiten Mutter irgendwann doch noch stark zusetzen mochte. Denn soweit sie bei einer ausgiebigen Gedankenübermittlung ihrer neuen Mutter mitbekommen hatte waren nicht nur die Töchter Lahilliotas von dieser dunklen Kraftwelle bestärkt worden, sondern auch andere Wesen, deren Reich die Nacht und deren Lebensquelle die Ausbeutung von Menschenleben und Seelenkraft waren bestärkt worden. Ob sie schon ab dem Moment, wo sie ihre Hände und Arme vollständig frei bewegen konnte einen Zauberstab bekommen würde wusste sie nicht. Es konnte ihr auch passieren, dass ihre zweite Mutter ihr überhaupt keinen Zauberstab mehr erlaubte, um sicher zu sein, dass die von ihr ohne natürlichen Zeugungsvorgang empfangene Tochter ihr nicht doch noch widerstreben würrde. Auch wenn sie diesem übernatürlichen Wesen in Frauengestalt alles zu verdanken hatte, vor allem ein sehr langes Leben, so wollte Malvina nicht ausschließen, dass sie eines Tages entscheiden musste, ob sie bei ihrer neuen Mutter bleiben konnte, sowohl räumlich als auch von den Ansichten her. Doch im Moment drehte sich ihr leben eh nur um Schlaf, Schreien, Milchsaugen, erst volle und dann frische Windeln. Das mochte für sie langweilig werden. Doch sie hoffte, dass ihre zweite Mutter ihr weiterhin mitteilte, wie es ihren Schwestern ging. Immerhin galt es für die nun fast alle frei herumlaufenden Töchter Lahilliotas, die von einem Burschen namens Pickman erschaffene falsche Schwester zu finden und aus der Welt zu stoßen, bevor diese meinte, dies mit den echten Kindern Lahilliotas erledigen zu dürfen.

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Sie musste sich immer noch daran gewöhnen, dass sie nichts fand, was sie festhalten konnte, wenn sie musste und alles, was klein und groß war einfach nur unter sich lassen konnte. Immerhin durfte Olarammaya schon mit dreizehn Monaten auf der Welt eigenständig auf den Topf, wo Kinder wie die kleine Laura fast zwei Jahre gebraucht hatten, um so eigenständig zu werden.

"Geri, Olie, wenn ihr fertig seid kommt bitte zu uns allen in den Besprechungsraum!" hörten Olarammaya und ihre Zwillingsschwester die Gedankenstimme ihrer Mutter. Geranammaya schickte zurück: "Ist etwas vorgefallen, was uns alle betrifft, Mami?"

"Das ist wohl so, Geri", erwiderte Gwendartammaya auf rein gedankliche Weise.

"Gut, wir machen uns gegenseitig sauber", beschloss Geranammaya. Olarammaya fand diesmal keinen Grund, zu widersprechen.

Als die beiden zwiegeborenen Schwestern, von denen die eine mal die Mutter der neuen Mutter und die andere ein gerade erst ins eigene Leben aufgebrochener junger Mann gewesen war in den Gemeinschaftssaal eintraten waren alle schon selbstständig denkenden und laufenden Sonnenkinder da. Faidaria saß auf ihrem gepolsterten Stuhl wie die Königin der Insel. Alle anderen saßen auf breiten Stühlen im Halbkreis vor ihr. Um mitzubekommen, was gesagt und auch an Bildern vorgeführt wurde saßen die Wiedergeborenen auf den Schößen ihrer Mütter. Olarammaya kuschelte sich an ihre Zwillingsschwester und umklammerte sie, um nicht zur Seite herunterzufallen. Gwendartammaya balancierte die beiden sicher aus und atmete ruhig.

"Gwendartammaya konnte einmal mehr die mit Erwähnungen von Vorgängen beschriebenen Blätter aus der Welt der Jetztzeitbegüterten ernten, die von ihren Vorbesitzern auf den Abfall geworfen wurden. Deshalb wissen wir nun, dass in den Ländern des doppelten Erdteils in Abendrichtung und denen des Erdteils in Richtung zwischen Nacht und Morgen sehr eifrig nach den Angehörigen der selbsternannten Göttin der Menschenblut trinkenden Nachtgeborenen und der aus Mitternachtskraft bestehenden Erben Kanoras' gesucht wird. Die Menschen werden weiterhin aufgefordert, alle diese Dinge betreffenden Vorfälle an ihr eigenes Zaubereiministerium zu übermitteln", sagte Faidaria. "Außerdem hat eine Gruppe von Nachtkindern, die sich selbst als LFN, die Liga freier Nachtkinder bezeichnet, einen Brief an die Verbreiter der Nachrichten geschickt. Diese Gruppe will, dass alle Nachtkinder, die sich klar von der ihrer Meinung nach falschen Gottheit lossagen oder immer schon gegen diese waren, nicht mit den Anhängern dieser falschen Gottheit gleichgesetzt werden. Die selbsternannte Liga freier Nachtkinder bittet in einer für diese Wesen sehr beachtlichen zurückhaltenden Weise darum, dass ihre Art nicht deshalb völlig ausgerottet werden darf, nur weil eine Gruppe von einer selbsternannten Gottheit verfallenen die Menschenwelt bedroht. Sie wollen demnächst eine Zusammenkunft vereinbaren, allerdings so, dass außer Vertretern der Zaubereiministerien und dieser Gruppe angeblich freier Nachtkinder keiner was davon mitbekommt. Denn sie fürchten - nach unserer Ansicht völlig zurecht -, dass nicht nur die eigenen Artgenossen sie als Ungläubige jagen und vernichten wollen, sondern auch die auf dem heute Europa heißenden Erdteil aufgetauchten Abkömmlinge von Kanoras' dunklen Dienern. An uns denken Sie im Moment wohl nicht mehr. Ich lese euch das Bittschreiben dieser LFN-Bluttrinker vor."

Faidaria entfaltete eine Zeitung, die Olarammaya wegen der großen Titelbuchstaben als Tagesprophet erkannte. Das war eine aus Großbritannien stammende Zaubererweltzeitung, wie Olarammaya schon vor ihren ersten Regungenin Gwendartammayas Gebärmutter erfahren hatte. Tatsächlich erwähnte der Briefschreiber, der sich als Mitternachtsbote bezeichnete, dass die Vorgehensweise der üblichen Menschen darauf abziele, jedes Nachtkind zu töten, weil die Menschen fürchteten, dass bald alle Nachtkinder unter die Herrschaft jener selbsternannten großen Mutter aller Nachtkinder geraten mochten. Weil die bisher frei und über ihr Dasein selbstbestimmenden Nachtkinder dasselbe fürchteten hatten sie sich heimlich zu einer Gegenbewegung vereint, die in allen Ländern, wo Nachtkinder lebten, Mitglieder hatte. Sie fürchteten jedoch, dass entweder die ängstlichen Menschen, die Gestaltwechsler oder ihre eigenen der falschen Göttin unterworfenen Artgenossen einen Vernichtungskrieg gegen sie anfangen würden. Daher sei es sehr wichtig, um kein Blut unnütz zu vergießen und viele Seelen aus ihren angeborenen Leibern zu verstoßen, dass die Widersacher der falschen Göttin sich zusammentaten. Näheres wollten sie bei einer auf gleicher Augenhöhe stattfindenden Beratung mit den Menschen erwähnen. Wann und wo diese sein sollte stand natürlich nicht in diesem Brief.

"Das ist eine offene Kriegserklärung an die von dieser Gooriaimiria geführten Nachtkinder", bemerkte Geranammaya dazu, als ihr das Wort erteilt wurde. "Jetzt wird die mit vielen hundert Seelen genährte Gefangene des Mitternachtssteins erst recht versuchen, ihre Gefolgschaft zu vergrößern. Das heißt, sie wird nicht davor zurückschrecken, tausende von neuen Artgenossen zu erschaffen. Ihr erinnert euch ja alle noch zu gut an das Gift, was diese Lamia erfunden hat, um ohne direkte Annäherung eines Vampirs hunderte von arglosen Menschen umzuwandeln. Außerdem wird sie sicher darauf ausgehen, die noch nicht in ihre Reihen eingegliederten Nachtkinder zu unterwerfen. Somit ist der Brief eine selbsterfüllende Prophezeiung. Ja, und bevor wer anderes noch was dazu sagen möchte, ich vermute, dass Gooriaimiria bereits versucht, Spione in die Reihen der ihr widerstrebenden Vampire einzuschleusen."

"Deshalb habe ich euch zusammengerufen. Denn auch ich sehe dieses Bittgesuch als einen offenen Kriegsaufruf. Jene, die sich selbst als große Mutter der Nachtkinder versteht, wird die Kriegserklärung annehmen. Vielleicht wird sie nicht sofort mit großen Heeren vorrücken. Doch wie du sagtest, Geranammaya, sie wird versuchen, dieses Wandlungsgift neu zu machen, mit dem hunderte oder tausende von Menschen zu Nachtgebundenen werden und sich dann für den einen oder anderen Weg entscheiden müssen. Unser Daseinszweck, Auftrag und Streben ist es, die Nachtkinder daran zu hindern, sich unaufhaltsam über das Angesicht der großen Mutter allen Lebens zu verbreiten. Wir sollen die den Tag ehrenden Menschen beschützen. Das können wir jedoch nicht in der kleinen Zahl voll ausgewachsener Sonnensöhne und -töchter. Es ist also zu beraten, ob wir uns erneut jenen anvertrauen sollen und können, die heute leben. Wir stehen mit nur einem von ihnen in Verbindung. Er jedoch müsste sich dann allen ausliefern, die unser Wissen und unsere Waffen haben möchten. Wir müssen uns dann wohl mit den anderen verständigen, die bisher noch nichts von uns wussten. Doch so oder so sind wir gerade zu wenige voll erwachsene Töchter und Söhne unserer Ureltern, um die Gefahr wirkungsvoll zurückzudrängen. Ich werde gleich mit den Hütern des Sonnenturmes in Verbindung treten und diesen die neue Lage berichten. Vielleicht ist es nötig, dass wir den heutigen Menschen tatsächlich unser Wissenund unsere Gerätschaften darreichen, damit wir im kommenden Krieg der Nachtkinder nicht von der einen oder anderen Seite unterworfen oder vernichtet werden. ich wollte euch alle zugleich an diesem neuen Wissen teilhaben lassen, damit keiner von euch sagen muss, er oder sie wäre nicht früh genug unterrichtet worden."

Als Faidaria diese Ankündigung vollendet hatte tuschelten die hier versammelten Sonnenkinder mit körperlichen und rein geistigen Stimmen. Olarammaya dachte daran, dass dann wohl auch herauskommen würde, dass sie schon mal gelebt hatte. Bisher wusste das nur Julius Latierre, in dessen Haus sie und ihre Zwillingsschwester auf die Welt gekommen waren. Auch erinnerte sie sich noch sehr gut an die kurze aber leidenschaftliche Auseinandersetzung zwischen Faidaria und einer gewissen Blanche Faucon, die darauf bestandenhatte, dass die beiden Schwestern in ihrer Schule ausgebildet wurden. War jetzt ein Punkt erreicht, wo die Sonnenkinder abbitte leisten und ihr vielen Maggiern von heute überragendes Wissen ausliefern mussten? Olarammaya hörte und fühlte, dass die bereits als Sonnenkinder lebenden mit dieser Wendung höchst unzufrieden waren. Was sie, die gerade mal dreizehn Monate auf der Welt war, dazu sagen oder denken sollte wusste sie nicht. Deshalb fragte sie in Gedanken ihre wenige Minuten ältere Zwillingsschwester.

"Ich kann Faidaria verstehen, dass sie jetzt Angst hat, dass alles bisher für nichts und wieder nichts war. Aber wie du auch mitkriegst sind längst nicht alle hier bereit, sich den Leuten von Heute zuzuwenden, nachdem, was die versucht haben, um uns einzukassieren oder unsere Sachen einzuheimsen. Vor allem die, die wie wir beide neu geboren werden mussten, um weiterzuleben werden das nicht so hinnehmen."

"Ja, aber der Auftrag ist doch echt so, dass wir, die Sonnenkinder, gegen die Vampire kämpfen müssen. Wenn es von denen bald noch mehr gibt und die noch dazu einen Glaubenskrieg gegeneinander führen, dann müssen wir wohl auch ausrücken."

"Wir beide wohl genausowenig wie die ebenfalls neu geborenen Sonnensöhne, Oli", erwiderte Geranammaya rein geistig und zwar so, dass nicht alle mithörten, was sie dachte. "Wir dürfren weiter hier auf der von Brandon gekauften Insel aufwachsen und hoffen, dass unsere neuen Eltern sich nicht selbst auslöschen lassen."

"Keine tollen Aussichten", schickte Olarammaya zurück. Da dachte ihnen Gwendartammaya etwas zu:

"Ich glaube nicht, dass wir, die euch bekommen haben, in irgendwelche Einsätze gehen und entweder unsere Eigenständigkeit oder gar unser Leben zu riskieren. Auch wenn mir Julius' Haus und die es durchflutende Kraft sehr geholfen hat, euch schnell und ohne größere Schmerzen auf die Welt zu bringen, und auch wenn wir mit den Latierres in einer sehr guten Verbindung stehen, werde ich nicht die reumütige Rückkehrerin aus dem Totenreich geben und riskieren, dass ihr mir weggenommen werdet. Gisirdaria denkt da ganz sicher genauso."

"Was bleibt uns dann, um nicht als Versager vor den Ureltern dazustehen?" wollte Olarammaya wissen.

"Das was schon vorher beschlossen war. Die Großen machen noch mehr Kleine und hoffen, dass dabei noch mehr der beim Kampf gegen Nocturnia getöteten Seelen neue Körper bekommen. Im Grunde bleibt uns eben nur das gleiche wie den Vampiren, nur dass Mami und alle anderen Sonnentöchter neun Monate durchstehen müssen, bis wieder wer neues auf die Welt kommt."

"Das siehst du leider richtig, Geri", erwiderte Gwendartammaya. Doch Olarammaya hörte sie auch daran denken, sich bei den Latierres einzuquartieren, als Botschafterin der Sonnenkinder. Jetzt wo sie wussten, dass in Millemerveilles eine neue Absicherung gegen dunkle Wesen errichtet worden war, konnten sie dort vielleicht eine Außenstelle der Sonnenkinder einrichten. Das war Faidaria sicher auch bewusst. Denn sie rief alle noch einmal zur Ruhe auf und sagte dann:

"Ich werde erst mit den beiden Hütern des Sonnenturmes sprechen. Denn in ihm steckt alles Wissen unserer Ureltern, ja diese da selbst. Bevor ich einen Schritt tue, der nicht mehr umgekehrt werden kann, will ich alles überprüfen, was uns zur Verfügung steht und was wir alleine oder mit fremder Hilfe tun können. Ich wollte euch nur die Aussichten schildern, die wir im Angesicht dieser Bedrohung haben. Doch vielleicht wissen die Ureltern noch einen Weg, den sie uns bisher nicht verraten wollten. Und bevor mein eigener Sohn Ilangammayan mir unterstellt, ich würde zu viel Hoffnung in die Weisheit und die Kenntnisse der Ureltern setzen möchte ich ihn darauf hinweisen, dass wir beim großen Erwachen der dunklen Mächte nicht gewusst haben, wie wir gezielt eine im Saal der vorausschauenden Gnade ruhende Seele in einen gerade erst entstehenden Körper hineinrufen konnten, damit wir bald schon wieder das große Pendel nutzen können. Yantulian dachte dabei an etwas, das er schnell vor mir verbarg, weil er merkte, dass ich seine Gedanken zu erfassen trachtete. Vielleicht wissen Dardaria und er, was wir noch tun können, außer unser überragendes Wissen an die heute lebenden, in der Kenntnis zurückgefallenen Menschen auszuliefern."

"Vielleicht wird es nötig sein, die heute lebenden Menschen zu unseren Artgenossen zu machen, so wie das mit Ilangardian und Gwendartammaya geschehen ist", gedankenrief nun ilangammayan. "Falls die Ureltern das befürworten, dann können wir hunderte oder tausende wie wir sind erschaffen und sämtliche Seelen in der Halle der vorausschauenden Gnade in neuen Körpern auf die Welt zurückhelfen."

"Diese Frage ist eine derjenigen, die ich unseren beiden Hütern im Sonnenturm stellen werde", bestätigte Faidaria. Olarammaya dachte daran, wie Brandon Rivers damals zu einem der Sonnensöhne geworden war und weshalb er nun die zweitgeborene Tochter von Patricia Straton war. Wenn die Sonnenkinder nicht genauso skrupellos auftreten wollten wie die Vampire und die Schattengeister mussten sie den ausgesuchten Kandidaten die freie Entscheidung lassen, ob sie ihr ganzes Leben nur noch dem Kampf gegen die Nachtkinder widmen und dafür auch bereit sein wollten, nach dem Tod als ein neues Sonnenkind wiedergeboren zu werden, nicht einmal, nicht zweimal, sondern immer wieder.

"Wann wirst du den Turm besuchen, erste Mutter unseres Volkes?" fragte Yanhagoorian, einer der auch körperlich erwachsenen Sonnensöhne.

"in drei Tagen zur Mittagszeit", antwortete Faidaria. Damit stand die Ansage. Bald würden sie wissen, ob sie weiterhin in ihrer selbstgewählten Abgeschiedenheit weiterleben konnten oder sich einmal mehr anderen Menschen anvertrauen mussten.

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Am 14. November rief der Leiter der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe, Simon Beaubois, zu einer Abteilungs- und behördenübergreifenden Zusammenkunft im großen Konferenzsaal des Zaubereiministeriums auf. Da Julius sowohl für diese Abteilung tätig war wie auch seit Neuanstellungen von Computerfachleuten wieder mehr für mögliche Außendiensteinsätze bereitgehalten wurde fand er sich zwischen allen, mit denen er bereits außendienstlich zusammengearbeitet hatte, die Truppe, die gegen die grüne Hybridin zwischen Riese und Waldfrau gekämpft hatte, sowie Adrastée Ventvit, die seit Vendredis Ausschluss aus dem Ministerium Beaubois Chefposten in der Geisterbehörde innehatte, als auch Oreste Lunoire, mit dem Julius die vier rachsüchtigen Geisterschwestern vom Château Dixarbres verfolgt hatte. Lunoire sah ihn immer wieder verdrossen an. Der konnte es bis heute nicht verwinden, dass Julius trotz seiner damals geringeren Rangstellung einfach Sachen getan hatte, ohne dazu die Erlaubnis oder gar die Anweisung abzuwarten und dass er mit diesen scheinbaren Vorwitzigkeiten sogar richtig gelegen hatte.

Zu der Versammlung kamen dann auch noch Außentruppler der Strafverfolgung, der Unfallumkehrtruppe und des Büros für friedliche Koexistenz von Menschen mit und ohne Magie. So traf Julius seine Kolleginnen Primula Arno und Belle Grandchapeau im Konferenzraum an.

Simon Beaubois wartete, bis alle saßen und eröffnete die Versammlung mit einer Zusammenfassung des Schreibens, dass der sich als Mitternachtsbotschafter ausgebende Vampir veröffentlicht hatte. Er wies darauf hin, dass der Leiter der Vampirüberwachungsbehörde gleich noch mehr dazu sagen würde, wie sich dieses Schreiben auswirken mochte. Er beendete seine Zusammenfassung mit dem Satz: "Eines dürfte trotz aller bereits aufgekommenen Meinungsunterschiede jetzt schon klar und deutlich sein, werte Kolleginnen und Kollegen: Uns herauszuhalten und einfach nur abzuwarten geht wohl nicht mehr!" Dann erteilte er Boris Charlier, dem Leiter der Vampirüberwachungsbehörde, das Wort.

Dieser begann seine Darlegung damit, dass die anfängliche Vermutung, die Gruppierung um die sogenannte schlafende Göttin seien eine Sekte, nicht mehr haltbar sei. Denn die Vernichtung der Vampirschenke in der londoner Nokturngasse, sowie einige andere Vorfälle zeigten deutlich, dass die nunmehr als erwachte Göttin verehrte Entität durchaus präsent und handlungsfähig sein konnte und nicht mehr als reine Glaubensvorstellung ihrer Anhänger bestand. Offenbar handele es sich um jene Vampirin, die damals unter dem Namen Lamia, die Blutmondkönigin, das Vampirreich Nocturnia errichten wollte und von den aus den Tiefen der Legende aus grauer Vorzeit an das Licht der Tatsachen aufgestiegenen Sonnenkindern aufgehalten, aber offenbar nicht restlos aus der Welt geschafft wurde. Die Vermutung lag nahe, dass sich der Geist Lamias in den Mitternachtsdiamanten zurückgezogen habe und dort mit den ebenso entkörperten Seelen anderer Vampire genährt und verstärkt worden sei. Das erkläre die Selbsteinschätzung, die Göttin der Vampire sein zu müssen. Nach dem Durchzug der mächtigen Welle dunkler Zauberkraft seien wohl auch die Vampire und die ihre Macht bedingenden Artefakte mit dunkler Kraft angereichert und verstärkt worden.

"So kann ich leider nur die betrübliche Feststellung machen, dass die Anhängerschaft dieser Entität, zu der auch jene grauen Übervampire gehören, noch mehr um die Vorherrschaft über alle Vampire und dann über alle anderen blutdurchströmten Wesen kämpfen wird. Daher sehen wir vom Amt zur Erfassung und Überwachung des Bestandes nachtaktiver, sich von Tier- und Menschenblut ernährender Zauberwesen, volkstümlich auch Vampirüberwachungsbehörde genannt, die Gefahr einer gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen den Anhängern der sich als Göttin aller Nachtkinder verstehenden Entität und jenen die nicht dieser Daseinsform hörig sein wollen. Wie Sie, Monsieur Beaubois am Schluss Ihrer Zusammenfassung bekundeten ist eine reine Abwartehaltung für uns Menschen eher kontraproduktiv. Denn wir müssen davon ausgehen, dass die verfeindeten Parteien ihre Anzahl steigern werden, indem sie bis dahin arglose Menschen mit und ohne Magie zu ihren Artgenossen machen, um sie wie zwangsweise geworbene Soldaten in ihre Reihen zu holen. In meiner Behörde bestehen drei unterschiedliche Grundhaltungen: Erstens, wir müssen uns alle noch mehr gegen Übergriffe der Vampire wehren, was auch in Form von Präventivmaßnahmen geschehen kann, getreu dem sehr einfachen Schlagwort, dass nur ein toter Vampir ein guter Vampir sei. Zum zweiten könnten wir ähnlich wie bei den bereits an naturkundlichen Lehr- und Forschungsstätten üblich Vampirblutresonanzkristalle verstauen, die uns Menschen vor weiteren Übergriffen weitestgehend schützen, wenngleich es keine Garantie gibt, dass dieser Schutz hundertprozentig und dauerhaft wirkt. Ich erinnere in dem Zusammenhang an die schnelle Abwehr der Lykotopia-Werwölfe gegen die von Vita Magica erfundenen Werwolfabtötungsartefakte. So müssen wir auch Möglichkeit drei in Betracht ziehen, dass wir einer der beiden Gruppen unsere vollständige Unterstützung gewähren und im Gegenzug Unversehrtheit unserer rein menschlichen Mitbürger einfordern. In diesem Falle würde ich zunächst ermitteln, welche uns bekannten oder noch unbekannten Vampire hinter der Bezeichnung Liga freier Nachtkinder stehen. Denn nur wen wir kennen können wir auch ansprechen. Ein ähnlich offener Brief wie jener, der im Tagespropheten abgedruckt wurde, wäre pure Einfalt. Denn wenn wir ernsthaft eine Unterstützung der sogenannten Liga freier Nachtkinder erwägen, dann muss diese unter allen Umständen geheimgehalten werden, bis wir einen Weg finden, die Anhänger der sich als Göttin der Nachtkinder verstehenden Entität zu schwächen und zu einem Friedensschluss mit uns und den anderen Vampiren zwingen zu können. Ich stehe nun für weitere Fragen zur Verfügung."

Wie zu erwarten und auch zu befürchten war entspann sich nun eine Debatte über die von Charlier erwähnten drei Grundmöglichkeiten und ob es nur diese drei Möglichkeiten gab. Ein Vertreter der Geisterbehörde erwähnte zurecht, dass so mächtige Wesen wie die neue Göttin sicher nur mit Hilfe eines materiellen Fokus in der Welt handeln könnten. Charlier verwies darauf, dass er das bereits erwähnt hatte und genau darin die Schwierigkeit liege, da der Mitternachtsdiamant von den US-Zaubereibehörden im Meer an einer Stelle versenkt worden sei, an die kein Taucher mit Kopfblasenbenutzung hingelangen würde. Zudem dürrfte der magische Stein im Lauf der Zeit bereits weit vom ursprünglichen Eintauchpunkt entfernt sein, weshalb eine längere Suche nötig sein würde. Zum dritten befürchtete Charlier, dass der Stein durch die in ihm konzentrierte Präsenz plus der Verstärkung durch die dunkle Welle bei Annäherung Macht über denkende Wesen gewinnen und sie unterwerfen könnte. "Sonst hätte ich als einer der ersten ausgerufen: Fahren wir hin, tauchen wir zu ihm runter und vernichten den Mitternachtsdiamanten. Doch glauben Sie alle hier nicht, dass andere Gruppierungen dies nicht auch schon überlegt haben?"

"Dann bleibt eigentlich nur, die Anhänger dieser Göttin zu eliminieren. Ohne die Anhänger ist diese Entität doch machtlos", warf Orest Lunoire ein. Julius und wohl auch andere dachten, dass diese Idee an sich sehr gut war. Doch wie konnten sie zuverlässig die Anhänger dieser Vampirgötzin finden. Ja, sie konnte ihre Anhänger mal eben aus einer Gefahrenzone holen oder fast übergangslos an einem beliebigen, nicht geschützten Ort auftauchen lassen. Das erwähnte Charlier auch. "Spätestens dann haben wir Krieg mit dieser Fraktion. Denn die werden dann in dicht bevölkerte Städte eindringen und dort mal heimlich und mal offen brutal neue Artgenossen erschaffen, die durch den erzwungenen Blutaustausch gleich auf die Ziele der selbsternannten Göttin eingeschworen sind. Stellen Sie sich bitte tausend Hydras vor, bei denen auch dann schon neue Köpfe wachsen, wenn bei einer benachbarten Artgenossin ein Kopf abgetrennt wurde." Die meisten hier kannten jenes neunköpfige, höchst regenerationsstarke Schlangenwesen. Viele hier pfiffen durch die Zähne. So greifbar hatte es wohl noch keiner auf den Punkt gebracht, was sie zu erwartenhatten. Julius konnte sich das sogar noch besser vorstellen, weil er ja wegen der Skyllianri in Australien genau dieses Bild vor Augen hatte, wo Schlangenmenschen sich in Großstädten austobten und vermehrten. Nur die auf elektrischen Strom setzende Zivilisation hatte diese Wesen daran gehindert, sich dort hemmungslos auszubreiten. Bei Vampiren mochte das anders sein.

"Dann, Kollege Charlier, Monsieur Beaubois und alle anderen hier, bleibt nur die Massenausrottung, wie es uns von Vita magica am Beispiel der unregistrierten Werwölfe grauenvoll und gnadenlos vor Augen geführt wurde. Wollen Sie das wirklich?" fragte Belle Grandchapeau, nachdem sie ordentlich ums Wort gebeten hatte. Julius nickte ihr zu.

"Ich fürchte, Madame Grandchapeau, dass wir in nicht all zu ferner Zeit nicht mehr gefragt werden, was wir wollen oder nicht wollen, sondern um des eigenen Überlebens Dinge tun müssen, die wir heute noch als höchst verwerflich und unannehmbar zurückweisen", sagte Charlier. "Deshalb ist es ja heute wichtig, welche Möglichkeiten wir haben, um diesen Zeitpunkt möglichst lange hinauszuzögern oder nicht eintreten zu lassen."

"Ja, mit präventiver Tötung sämtlicher aufgefundener Vampire", erwiderte Belle. Doch schnell legte sie nach: "Womit ich nicht meine, alle Vampire unter Artenschutz zu stellen. Wenn mir und meinen geliebten Angehörigen solch ein Wesen gefährlich wird oder gar eine ganze Armee dieser Wesen gegen mich vorgeht werde ich auch gegen diese Wesen tödlich wirkende Mittel einsetzen wie den Bollidiuszauber, Brenngebräu, Sonnenlichtkugeln oder mit mehrfachem Sonnensegen bezauberte Eichenpfeile. Aber wir sollten uns nicht von den Vampiren der sogenannten Liga oder gar denen dieser Götzinnenanbeter instrumentalisieren lassen, die jeweils andere Seite zu bekämpfen, solange wir nicht unmittelbar bedroht werden. Überwachung ja, Schutzvorkehrungen wie Sonnensegen um die Häuser und andere wirksame Schutzzauber, auf jeden Fall. Doch wenn wir jetzt schon daran denken, wie viele Blutsauger wir auf einen Schlag auslöschen können, hat die jeweils die Oberhand behaltende Seite uns als willige Helfershelfer sicher."

"Ich werde Sie sehr gerne an diese Worte erinnern, Madame, wenn es zwischen den Vampiren zu einem blutigen Krieg gekommen sein sollte", sagte Charlier. "Dann werden wir auch die Frage stellen müssen, wo die ach so legendären Sonnenkinder abgeblieben sind, die den Vormarsch Nocturnias aufgehalten haben."

Julius wusste, dass er sich jetzt auf dünnes Eis wagen würde. Doch bevor hier Spekulationen über die Sonnenkinder ins Kraut schossen wollte er doch was sagen und wusste auch schon, wie er es begründen konnte. Er meldete sich. Lunoire starrte ihn verächtlich an, während Charlier ihn fragend und Belle auffordernd ansah. Alle anderen sahen ihn nur an, als wüssten sie nicht, was sie von einem Wortbeitrag zu halten hätten. Beaubois nickte ihm zu und erteilte ihm mit einer Geste das Wort.

"Messieursdames et Mesdemoiselles: Ich pflege seit meiner Schulzeit in Hogwarts und Beauxbatons Kontakte zum Marie-Laveau-Institut bei New Orleans. Dieses wiederum hielt eine Zeit lang Verbindung zu den aufgewachten Sonnenkindern. Daher weiß ich, dass die Sonnenkinder sich nach einem verlustreichen Kampf gegen Dementoren zurückziehen mussten und ihre Kräfte sammeln müssen. Zumindest war dies bisher Stand der Kenntnisse, die ich von meinen Kontakten ins Marie-Laveau-Institut erfahren konnte. Die Sonnenkinder sind nicht wieder eingeschlafen, aber sie müssen sich erst neu formieren. Wann dieser Vorgang abgeschlossen sein wird wissen nur sie."

"Sie haben immer wieder betont, mit einer Gruppe namens "Die Kinder Ashtarias" in Verbindung zu stehen, Monsieur Latierre. Wäre es daher nicht ganz dringend erforderlich, deren Loyalität zu heute lebenden Menschen zu erproben und uns allen Zugang zu jenen hochwirksamen Abwehrzaubern zu gewähren, mit denen dunkle Wesen vertrieben oder vernichtet werden können?" fragte Beaubois. Lunoire grinste verächtlich. Offenbar dachte der jetzt, dass Julius Latierre sich um Kopf und Kragen reden würde. Julius antwortete aber ganz ruhig:

"Wie jeder Zauber haben auch die hochwirksamen Zauber der Kinder Ashtarias Vor- und Nachteile. Ganz davon abgesehen dienen die Kinder Ashtarias dem Erhalt denkender Wesen und nicht deren Vernichtung, anders als die Sonnenkinder, die grauen Riesenvögel oder die Vorrichtungen, mit denen Werwölfe bei Vollmond in blauen Todesstrahlen verbrannt werden. Und bevor sie einwenden, ich würde dem Ministerium gegenüber nicht loyal sein, wenn ich nicht endlich die achso geheimen Zauber der Kinder Ashtarias erklären würde oder dem Ministerium die Adresse sämtlicher Kinder Ashtarias gebe, so weise ich Sie alle hier darauf hin, dass diese Gruppierung schon jahrtausende alt ist und sich gegen jede Form der Begehrlichkeiten zu schützen gelernt hat. Abgesehen davon verdanke ich diese Verbindung nur dem höchst fragwürdigen Umstand, dass ich in ständiger Gefahr leben musste, von einer der neun Abgrundstöchter heimgesucht und in ihrem Sinne ausgebeutet zu werden und die Kinder Ashtarias das nicht zulassen durften. Ich empfehle es niemandem, sich mit einer der Abgrundstöchter anzulegen, nur um vielleicht von den Kindern Ashtarias gerettet zu werden. Vendredi hatte beispielsweise nicht dieses Glück, obwohl er nachweislich mit einem dieser Geschöpfe zusammengetroffen sein muss. Und bevor hier doch noch wer meine Loyalität einfordert: Wenn ich keine Loyalität zum Zaubereiministerium hätte würde ich hier und heute nicht hier sitzen, sondern entweder in der freien Wirtschaft arbeiten oder mein ganz eigenes Ding machen. So viel dazu", sagte er. Er war eigentlich froh, dass das Thema Sonnenkinder dadurch in den Hintergrund geraten war. Beaubois sah seinen Mitarbeiter erst kritisch an. Doch dann nickte er.

"Nun, Monsieur Latierre, es kam ja im Zusammenhang mit der verfremdeten Kuppel Sardonias ans Licht, dass Ihre Nachbarin Camille Dusoleil zu diesen Kindern Ashtarias gehört. Somit ist deren Identität doch nicht so ein unbedingt zu wahrendes Geheimnis."

"Sie haben völlig Recht, Monsieur Beaubois. Die Bedingung, weshalb Madame Dusoleil ihre Zugehörigkeit offenbaren musste lag in der Gefahr, dass die veränderte Kuppel ihr, ihrer Familie und ihren Nachbarn gefährlich zu werden drohte. Das entbindet sie und auch mich nicht davon, die uns anvertrauten Kenntnisse in diesem kleinen Kreis zu halten. Mir wurde verbindlich die Auslöschung aller Erinnerungen angedroht, sollte ich von mir aus wem verraten, was mir anvertraut wurde. Was Madame Dusoleil angeht wage ich keine Vermutung, was ihr widerfährt, wenn sie gegen die Gebote der Kinder Ashtarias verstößt. Ein Gebot davon ist, kein fühlendes, denkfähiges Lebewesen zu töten, was auch einschließt, keine Mittel anzubieten, mit denen denkfähige Wesen getötet werden sollen, nicht können, sondern tatsächlich ausgelöscht werden sollen. Doch soweit ich weiß arbeitet das Laveau-Institut, dem wir alle ja die Vampirblutresonanzkristalle und die Vampyroskope verdanken, an noch wirksameren Absicherungen gegen Übergriffe. Daher muss ich nicht gegen die mir auferlegten Beschränkungen der Kinder Ashtarias verstoßen, um zuversichtlich zu sein, dass wir uns gegen Begehrlichkeiten der Vampire wehren können."

"Ich werte diese Ihre Aussage als verbindlich, Monsieur Latierre und hoffe in unser aller Namen, dass Sie und jene achso alte Gruppierung nicht schon bald gezwungen sein werden, ihr umfangreiches Wissen mit nicht ganz so bevorrechteten Menschen zu teilen. Mehr kann und will ich in dieser Angelegenheit nicht dazu sagen." Damit hatte Simon Beaubois auch jedem anderen, der meinte, mehr wissen und können zu wollen als bisher, den Wind aus den Segeln genommen, erkannte Julius. Ja, und was die Sonnenkinder anging fragte auch niemand ihn oder andere danach, wer sie warenund wo sie gerade steckten.

Nach einer weiteren Stunde heftiger Debatten um eine präventive Massenabtötung der Vampire bishin zu einem Zweckbündnis mit der Liga freier Vampire kam die Zusammenkunft zu einem Entschluss: Alle gegen Vampire wirksamen Zauber sollten in größerer Stückzahl hergestellt und um wichtige Wohnbereiche ausgelegt werden. Was den Bollidiuszauber zur Erzeugung zerstörerischer Flammenkugeln anging sollten die Thaumaturgen Abschussvorrichtungen ersinnen, die mit ihm belegte Träger, vorzugsweise der Elementarkraft Feuer verbundene Materialien, über größere Entfernungen verschießen und am Auftreffpunkt den vernichtenden Feuerball freisetzen sollten. Auch sollten die Zaubertrankexperten des Ministeriums größere Vorräte von Brenngebräu herstellen. Sollte es doch zu einem massierten Angriff von Vampirarmeen auf Menschensiedlungen kommen musste eben mit aller tödlichen Härte zurückgeschlagen werden. Was die Liga freier Nachtkinder anging sollten die Vertrauensvampire von Charliers Behörde sich umhören, wer dazugehörte oder gleich deren Führungsspitze ausfindig machen. Julius verbiss sich ein verächtliches Grinsen. Genau diese Führungsspitze würde sich auch schon aus Angst vor den anderen zu verbergen wissen.

Nach der Versammlung bat Belle Julius noch einmal in ihr Büro. "Er hat es wieder versucht, unser Kollege Beaubois. Aber er riskiert damit, dass Sie uns doch noch irgendwann entsagen könnten. Immerhin hat er das noch früh genug begriffen, als Sie ihm erklärten, dass Sie sonst schon nicht mehr bei uns arbeiten würden", sagte Belle. Dann errichtete sie einen Klangkerker und fragte in dessen Schutz: "Besteht nicht doch eine gewisse Möglichkeit, die mir und anderen beigebrachten alten Zauber auch anderen beizubringen? Ich meine, ich könnte das ja auch tun."

"Ich wurde vor kurzem sehr überdeutlich darauf hingewiesen, dass die Quelle, von der ich diese Kenntnisse habe, keine großflächige Weitergabe dieses Wissens erlauben wird. Ich möchte nicht ausprobieren, was passiert, wenn ich mich nicht an diese Forderung halte. Diese Quellen sind mächtig genug, die ganze Welt aus den Angeln zu heben und anderswo wieder einzupassen, Madame Grandchapeau." Belle überlegte kurz und nickte. Schließlich kannte sie auch den Spruch, dass Wissen Macht war und wusste auch, dass zu viel Macht kaputtmachte.

Am Abend nutzte Julius die Phase vor dem Einschlafen, den Sonnenkindern einen Ultrakurzbericht über den heutigen Tag zuzumentiloquieren: "Ministerium in Aufruhr über Brief von Liga freier Nachtkinder. Behält sich die Tötung aller Vampire vor und fragt nach Verbleib der Sonnenkinder. Antwort von Mir: Marie-Laveau-Institut meldet Rückzug aller Sonnenkinder nach verlustreichem Kampf gegen Dementoren."

"Ich habe mit den Hütern des Sonnenturmes gesprochen, Julius. Sie und die dort verwobenen Kräfte werden uns demnächst stärken. Wir werden die heutige Menschheit nicht diesen Iaxathandienern überlassen", schickte Faidaria zurück. Julius fragte zurück, wie sie dies genau meine. Doch darauf bekam er nur eine ihn erschauernde Antwort: "Wenn du dies vor der Umsetzung wissen möchtest musst du einer von uns werden und in einer Säule der neuen Kraft mit einer Sonnentochter ein neues Kind zeugen. Aber dann wirst du deine Familie verlassen müssen und in unseren Reihen weiterleben, von einer Geburt zum Tod zur neuen Geburt und neuem Leben und so weiter."

"Ich hoffe, du missverstehst mich nicht wenn ich sage, dass ich hoffe, dass ich nicht eines Tages zu diesem Schritt gezwungen sein werde", mentiloquierte Julius. Sich vorzustellen, wie Benjamin Calder und Patricia Straton mit den Sonnenkindern durch Zeugung oder Empfängnis eines Nachkommens auf ewig in einen wahrhaftigen Kreislauf von Wiedergeburten eingespannt zu bleiben, gefiel ihm nicht wirklich.

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Die Einweihungsfeier für Patricias und Marcs Haus in Avignon am 15. November war eine den ganzen Tag dauernde Party. Die jungen Eheleute hatten doch ernsthaft ein Haus mit einer auf zwei Stockwerke verteilten Wohnfläche von zweihundert Quadratmetern bekommen. Sicher, vor allem patricias Eltern hatten erheblich zum Ankauf dieses Hauses beigetragen, was vielleicht doch noch einige Neider auf den Plan rufen mochte. Doch das gemütliche Haus mit dem großen Salon und drei Wänden, in denen je ein großes Fenster verbaut war, imponierte ihn einmal mehr.

Julius traf bei der Feier alle Nachbarn des jungen Paares, darunter die Familie Montferre und auch die Heilerin Mireille Flaubert, die trotz Patricias Auswahl von Béatrice Latierre als ihre Vertrauensheilerin und Hebamme sehr gelassen mit den neuen Nachbarn umging. Julius verglich die altehrwürdige Heilerin mit ihrer Enkeltochter Deborah und stellte fest, wo sie sich ähnelten und wo nicht. Ursuline Latierre und ihr Mann Ferdinand hielten eine kurze Ansprache, in der sie Patricia auf ihrem Weg durchs eigene Leben alles Glück und das nötige Durchhaltevermögen wünschten, aber auch immer für sie dasein würden, wenn was sei. Das gleiche versprachen sie Marc Latierre, der es nicht geschafft hatte, seine Eltern bei dieser Feier dabeizuhaben. Die Armands wollten sich das Haus später ansehen, ohne Trubel durch andere Hexen und Zauberer. Immerhin hatten die neuen Latierres ein Mobiltelefon und Marc spielte schon mit dem Gedanken, sich eine unauffällige Solaranlage ins Haus zu holen, um einen Laptop-Computer betreiben zu können. Julius bot ihm an, ihm eine E-Mail-Adresse einzurichten. So konnten sie dann auch zwischen hier und Millemerveilles elektronische Nachrichten austauschen.

Um zwölf Uhr abends kehrten die Latierres aus dem Apfelhaus in ihr Zuhause zurück. "Na, du hast den weinroten Schrank gesehen, der in Patties neuem Schlafzimmer steht, richtig?" fragte Millie. Julius bestätigte das und legte nach: "Das dürfte dann die Direktverbindung ins Sonnenblumenschloss sein, wie wir sie auch haben. Kriegen wir demnächst sicher raus, wenn wir wieder zu Oma Line und Opa Ferdinand gehen."

"Ja, und das wird schon vor Alains Geburt sein, Monju. Mein Chef und Anverwandter Gilbert Latierre hat verkündet, dass das was ihn umtreibt am ersten Dezember vor allen Verwandten in Frankreich enthüllt wird. Jetzt weiß er nämlich was genau er damit anfangen wird."

"Hat das vielleicht was mit Linda Knowles zu tun, Mamille. Immerhin hat er sie ja aus Italien herausgebracht und war mit ihr in Australien, um die Pressekonferenz von Ministerin Rockridge mitzunehmen."

"Am ersten werdet ihr das alles erfahren, was er uns erzählen will, damit es nicht schon im Vorfeld wilde Gerüchte und Diskussionen gibt", sagte Millie Latierre. Sie wusste, dass sie ihren Mann damit unnötig auf die Folter spannte. Doch andererseits wollte sie sich wohl an das halten, was Gilbert Latierre beschlossen hatte. Er fühlte über die Herzanhängerverbindung, dass ihr das sehr schwer fiel und/oder sie wegen seiner Entscheidung eine Menge Zeugs aufgeladen bekommen mochte. Julius dachte sich seinen Teil. Falls Gilbert wirklich mit Linda Knowles in jeder Hinsicht zusammengefunden hatte hing er jetzt zwischen der altbekannten Frage fest, ob er bei ihr oder sie bei ihm leben würde. So wie er die Gefühlsregungen seiner Frau empfand, wenn sie eine weitere Andeutung oder wie heute die klare Ankündigung machte, würde sie wohl in Zukunft mehr Arbeit zu erledigen haben. Das wiederum konnte nur heißen, dass Gilbert die Zelte in Frankreich abbrechen und nach Amerika umsiedeln würde. Doch ob sie ihn dort reinließen, wo er ja mitgeholfen hatte, dass der Skandal um die US-Quidditchmannschaft aufgedeckt worden war?

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Am 20. November 2003 machten sowohl der Mirroir Magique als auch die Temps de Liberté mit der Meldung auf, dass eine Mehrheit der im Weltquidditchverband organisierten Nationalmannschaften forderte, die Weltmeisterschaft nicht im Mai, sondern wie sonst üblich erst Ende Juni zu wiederholen. Die Ligen der verschiedenen Quidditchnationen wollten oder konnten ihre Spielpläne nicht so ändern, wie die Ministerialvertreter es noch im Sommer gerne gefordert hatten. Millie vermutete, dass es die vorerst letzte Amtshandlung ihrer Mutter vor der Ankunft ihres kleinen Bruders gewesen war. Auch fragte der Reporter des Mirroir, was aus der Schummeltruppe" geworden sei. Doch bisher gab es dazu keine klare Aussage, weder von der Abteilung für Spiele und Sport noch von den Privaten Sponsoren der Nationalmannschaft, die sich seit dem Auffliegen des Skandals sowieso ganz schnell ganz zurückgezogen hatten. Zumindest war keiner der Beteiligten öffentlich angeklagt worden. Das konnte heißen, dass das US-Zaubereiministerium das Ritual zur Geheimsache erhoben hatte und deshalb keine öffentliche Debatte darüber erlauben wollte oder dass die Mannschaft dazu verdonnert worden war, im Auftrag des Ministeriums weiterzumachen, in geheimer Mission sozusagen, ähnlich wie Rita Kimmkorn, die nach ihrer Verhaftung die Wahl bekommen hatte, für lange Zeit eingesperrt zu bleiben, schlimmstenfalls in ihrer Animagusform oder für das britische Zaubereiministerium klammheimliche Erkundungsmissionen auszuführen. Don Maveric, das hatte Gilbert herausbekommen, hatte dem Besensport vollends abgeschworen und wollte demnächst seinen zweiten Berufstraum verwirklichen, Zaubertierforscher auf den Spuren des legendären Newt Scamander.

Ich habe eingesehen, dass sportlicher Ehrgeiz und viel Gold zu sehr schlimmen Sachen verführen können. Auch wenn ich das sehr bedauere, nicht mehr für die Quidditchnationalmannschaft zu spielen und auch keine Quodpotkarriere fortsetzen werde weiß ich, dass ich immer noch genug Dinge tun kann, um ein erfülltes Leben zu haben.

"Offenbar haben sie ihm das nahegelegt, bloß nicht mehr für irgendwen zu spielen, Monju", vermutete Millie. Julius konnte das nicht ausschließen. Nestbeschmutzer galten überall als unerwünscht, obwohl die ganze Welt fro war, dass es immer wieder welche gab, die Missstände anprangerten. Auch musste Don Maveric gar nicht erst bei Firmen wie Bronco anklopfen, weil er durch die Aufdeckung des Skandals deren langfristigen Gewinnchancen verdorben hatte. Denn eine Weltmeistertruppe aus den Staaten hätte die Verkaufszahlen für die beim Turnier eingesetzten Besen in den Himmel schnellen lassen. Vor allem wo zumindest ermittelt werden konnte, dass das Ritual des unschuldigen Glückes auf Phoebe Gildforks Mist gewachsen war und Phoebe Gildfork Broncos Besenmanufaktur besaß würde sie oder ihre handzahmen Geschäftsführer keinen anstellen, der ihrer Chefin so nachhaltig die Tour verdorben hatte. Diese Einschätzung machte die Frage nach dem Rest der Mannschaft noch interessanter. Sicher würden die Nordamerikaner ebenfalls wissenwollen, was aus den anderen geworden war. Doch im Moment konnten weder er noch sonst jemand diese Frage klären.

zwei Tage später erschien in der Temps de Liberté ein Artikel über eine angesetzte Anhörung im Zaubereiministerium. Der immer noch als zeitweilig geführte Zaubereiminister Lionel Buggles sollte einem Gremium aus Richtern, Geschäfts- und Strafanwälten und Sachverständigen für internationales Vertragsrecht beweisen, dass der mit Vita Magica geschlossene Vertrag weiterhin bindend sei. Gruppen wie die Hexen, die ungewollt noch einmal Mutter wurden oder im Fall von Nancy Unittamo geborene Gordon eigentlich überhaupt keine Kinder hatten haben wollen, sowie die Interessensgemeinschaft später Väter ohne ausdrücklichen Kinderwunsch wollten nun Klarheit, ob Vita Magica weiterhin Schutzrecht auf amerikanischem Boden genießen konnte und dort weiterhin Partys mit Ausschank der Fortpflanzungsmixtur feiern konnte. Argentea Dime, die Noch-Ehefrau des verschwundenen Zaubereiministers Chroesus Dime, erhob Anklage gegen Vita Magica wegen Freiheitsberaubung und Nötigung, sowie möglicherweise Mord an ihrem Mann. Sollte Buggles nicht beweisen können, dass der Friedensvertrag mit Vita Magica magisch bindend war hieß das, dass die Gesellschaft Vita Magica als rechtliche Person vor Gericht gestellt werden würde, möglicherweise sogar in Abwesenheit. Sollten die Richter Argentea Dimes Klage entsprechend urteilen galten alle VM-Mitglieder in den Staaten als Mörder, solange sie nicht klar benennen konnten, wer genau den Minister mit dem Blutkettenfluch belegt hatte, damit er im Sinne Vita Magicas handele und jetzt wohl entweder tot oder für unbestimmte Zeit in Tiefschlaf versteckt sei.

Auch in Frankreich, so schrieb Gilbert weiter, stehe ein Gerichtsverfahren an, bei dem der alchemistische Anschlag auf Millemerveilles als vielfache Freiheitsberaubung und mehrfachen Eingriff in die körperliche Eigenständigkeit und Gesundheit verhandelt würde. Falls Vitaa Magica bis zum angesetzten Prozesstermin keinen Anwalt präsentieren würde, so würde das Verfahren ebenfalls in Abwesenheit des Hauptbeklagten stattfinden.

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Es war für sie immer noch ein erhabenes Gefühl, den Worakashtaril zu betreten, den mächtigen Turm ihrer Ureltern, den Bewahrer der ganzen Macht ihres Volkes. Faidaria meinte jeden Moment ihrer eigenen Mutter über den Weg zu laufen, die als dauerhafte Seele in diesem Bauwerk weiterbestand. Allerdings war sie besorgt, ob sie hier die Antworten auf ihre Fragen finden würde.

Dardaria trat ihr entgegen, den kleinen Daisirian Dargarrian auf dem Rücken tragend. "Sei gegrüßt, unser aller Herrscherin", sagte Dardaria ehrerbietig. Dann führte sie Faidaria hinauf zum Aussichtsraum, von dem aus sie einen Rundumblick über das karge Wüstenland hatten, in das der Worakashtaril gestellt worden war.

"Unsere hier verweilenden Eltern haben immer was von großen Prüfungen erzählt. Eine davon war wohl die Bekämpfung Nocturnias. Die zweite war wohl der Verlust so vieler erwachsener Brüder beim Kampf gegen die letzten Krieger aus Garumitan, die in der Jetztwelt ihre Art erhalten haben. Doch nun droht der Welt noch größeres Ungemach. Die vom König der Mitternachtsfolger gezüchteten, vom Blut lebender Wesen trinkenden Nachtkinder, stehen sich in zwei feindlichen Gruppen gegenüber. Dazu kommt noch die neuentstandene Mutter der Schatten, Kanoras' bestehendes Erbe. Auch sie bedroht die, die zu schützen wir gezeugt und Geboren wurden. Wo ist Yantulian?"

"Mein Vater ist in der Halle des Wissens, meine Hinweise ordnen, die ich wegen des stillstehenden Pendels gegeben habe", gedankensprach der im Säuglingskörper wohnende Dargarrian.

"Dann ist es dir auch sehr wichtig, das Pendel wieder zum schwingen zu bekommen, Dargarrian, wenn du freiwillig von dem Wissen weitergibst, was du eigentlich für dich behalten wolltest", sagte Faidaria.

"Das mit der neuen Schattenmutter macht mir mehr Angst als zwei sich vielleicht demnächst bekriegene Nachtkindarmeen. Denn diese Schattenmutter kann ganz schnell ihren Standort ändern und aus sich heraus das innere Selbst von getöteten Menschen zu neuen Kindern ausreifen, soweit ich Geranammaya und Yantulian verstehe. Sie könnte sich zwanzig bis dreißigmal so schnell vermehren wie wir Menschen. Dann hätten wir versagt und müssten auf ewig in einer gescheiterten Welt wohnen. Tja, und weil ich jetzt weiß, dass wir alle immer und immer wiedergeboren werden, bis keiner von uns mehr leben sollte, kann das ziemlich lange dauern", erwiderte Dargarrian. Faidaria nahm ihm diese Aussage ab. Denn Dargarrian kannte sich neben Ilangammayan am besten mit den Schattenwesen Kanoras' aus.

Es knallte kurz, und Yantulian stand im Rundumsichtraum. "Ich erfuhr, dass du zu uns gekommen bist, erste Mutter Faidaria. Welche dunkle Zeit fürchtest du?"

"Einen Krieg der Nachtkinder, bei dem viele Menschen sterben oder zu unfreiwilligen Dienern der einen oder anderen Seite werden. Dann gibt es auch diese Mutter der Schattenwesen, die aus der bösen Kraft Kanoras' und zwei bis dahin unbescholtenen Frauenseelen hervorgegangen ist und offenbar von Kanoras' üblem Denken durchsetzt ist, ihre Art über die ganze Welt zu verbreiten. Ihre Untertanen oder Kinder können lebenden Menschen ihre Schatten nehmen und damit das Bindeglied zwischen der stofflichen und aus Kräften bestehenden Welt als Fernlenkhilfe nutzen, um ihre Opfer auch im Sonnenlicht den Willen ihrer Königin und Mutter ausführen zu lassen. Wir könnten diese Plage sicher mit den Sonnenkeulen und Sonnenrammen aus der Welt tilgen. Doch wir sind noch zu wenige, wie du weißt."

"Ja, und du willst nach Möglichkeit nicht Hilfe von anderen annehmen, richtig?" fragte Yantulian. Faidaria nickte. "Die Begehrlichkeiten sind zu groß, als dass wir allen jetztzeitigen Trägern der erhabenen Kraft vollkommen vertrauen können", sagte Faidaria. Darauf sagte Yantulian: "Dann ist es wohl zeit, den Helm der Lenkung aufzusetzen und mit den Hütern des Turmes Zwiesprache zu halten, welche Mittel wir noch anwenden können." Faidaria nickte.

Im Raum der Lenkung nahm sie auf dem hochlehnigen Stuhl Platz, auf dem sie schon mal gesessen hatte, als es darum ging, den Sonnenturm an einen anderen Standort zu lenken. Sogleich glitt der Helm der Lenkung auf ihren Kopf herab und schmiegte sich daran. Sogleich jagten Bilder und Wörter durch Faidarias Kopf. Der Turm und ihr inneres Selbst sprachen zueinander. Sie besann sich so gut sie konnte auf die ihr wichtigsten Sachen, sah sogar mehrere in Fledertiergestalt aufeinander einstürmende Nachtkinder und dann eine übermenschlich große Frau aus purer Nachtschwärze, aus deren klar erkennbaren Unterleib laut stöhnend rußartig rauchartig wabernde Wolken hervortraten, die dann zu frei im Raum schwebenden Schattenwesen geformt wurden. Sie dachte an Skyllians letzte Diener, die versucht hatten, im Land mit dem glutheißen Herzen ihre Art zu vermehren. Nur die Macht uralter Heilsgesänge, die in einem Berg gebündelten Kräfte von Feuer, Wasser, Luft und Erde und das Wissen der Jetztzeiter um die Kräfte der Eisenweisung und des Eisenfangs hatten die Jetztzeitigen davor bewahrt, Skyllians später Vergeltung zu erliegen. Bei alle dem konnten die Sonnenkinder derzeit nicht gegensteuern, weil es noch zu wenige von ihnen gab. Ohne sprechen zu müssen gab sie Auskunft. Ohne Fragen zu hören gab sie Antworten. Dann strömten andere Bilder und Gedanken in ihr Bewusstsein ein, Bilder von einer Halle, in der die inneren Selbstformen entkörperter Sonnenkinder auf ihre Wiederverkörperung in ungeborenen Kindern warteten, wie diese Kinder geboren wurden. Über den Kindern wirbelte eine helle gelbe Kugel im Kreis und innerhalb des Kreises formte sich aus einer silbernen Sichel eine silberweiße runde Scheibe, um dann von der anderen Seite her von Dunkelheit ausgefüllt zu werden, bis sie ganz davon überdeckt war und der Vorgang des Zunehmens wieder von vorne begann. Faidaria zählte in Gedanken mit, wie oft die nachgebildete Mondscheibe Zu- und abnahm, während um sie herum die Nachbildung der Sonne kreiste. Als der zwölfte Durchgang der Zustandsformen durchlaufen war sah sie, wie die neugeborenen Kinder von ihren Müttern zu einer achteckigen, gläsernen Kammer getragen wurden, die erst aufging, nachdem die Köpfe der Kinder behutsam mit der gläsernen Tür in Berührung kamen. Innerhalb der Kammern schwebte jedes einzelne Kind für mehrere Atemzüge in einem rotgelben Licht wie in von der Morgensonne beschinenes klares Wasser eingetaucht. Dabei wuchs jedes der Kinder weiter an. Sie sah kleine Mädchen, die innerhalb von nur dreißig Atemzügen zu jungen Frauen erblühten. Sie sah kleine Jungen, deren große Köpfe ein wenig schrumpften, aber deren Arme und Beine länger und kräftiger wurden, während ihre Körper groß und stark wurden, die Haare sprossen und am Ende junge, starke Männer mit kurzen Bärten und voller Körperbehaarung erwachsener Männer aus der gläsernen Kammer heraustraten. Sie hörte ein Wort, als der letzte einjährige in dieser Kammer zum erwachsenen Mann geworden war: "Xashamirula" - die schnelle Lebensreife. Nun wusste sie, welchen Sinn es ergab, dass die Seelen der entkörperten Brüder und Schwestern in neuen Kindern wiederkamen und sich bereits weit vor der Geburt an alles vorher erlebte erinnern konnten. Wenn ein Fall eintrat, in dem die Sonnenkinder einer Übermacht zu unterliegen drohten und ihre Zahl nicht ausreichte, konnten jene, die bereits ein Leben gelebt hatten und wiedergekehrt waren, frühestens nach einem Jahr in der Kammer der schnellen Lebensreife zu jungen Erwachsenen gereift werden, um die Aufgaben der Sonnenkinder in vollem Umfang wahrzunehmen. Sie durchlebten dabei die Wirren der körperlichen Reifung und konnten dann frei von der Hemmnis viel zu kleiner und unentwickelter Körper handeln, ja auch sofort daran gehen, neue Kinder zu zeugen. Sie erfuhr auch, dass die Kinder dieser schnellgereiften bereits Daisirin werden würden, sofern in der Halle der vorausschauenden Gnade noch viele wartende Seelen ruhten. Dieser Vorgang ging aber eben nur mit bereits bei vollem Wissen und Verstand wiedergeborenen Ashtharsirin, die das erste Jahr und damit die körperliche Abhängigkeit von ihren Müttern überstanden hatten. Zwar war dieser Vorgang immer noch sehr viel langsamer als die Vermehrungsrate der Nachtkinder oder gar der Schattenhaften. Doch es war alle mal schneller, als mehr als zwanzig Jahre warten zu müssen, bis ein weiteres Geschlecht von Sonnenkindern herangereift war. Im Moment gab es bei ihnen neun Daisirin. In der Halle der vorausschauenden Gnade warteten mindestens noch dreißig körperlose Brüder und Schwestern. Somit konnten sie in zwei Jahren weitere Neun wiederverkörpern. Dann in weiteren zwei Jahren achtzehn und dann in noch einmal zwei Jahren sechsunddreißig, also alle, die noch warteten, alle bis auf Darfaian, der sein Leben und sein inneres Selbst geopfert hatte, um Nocturnia niederzuwerfen, ein scheinbar völlig sinnloses Opfer, weil die Brut des Mitternächtigen nach dem Fall Nocturnias noch mächtiger, schier unaufhaltsam wiedererstarkt war. "Rufe den Fall "Xashamirula" aus, Faidaria, und lasse alle die bereits zum zweiten Mal geborenen in die Kammer der schnellen Lebensreife bringen!" hörte Faidaria eine Gruppe gleichklingender Stimmen von Männern und Frauen. Sie erkannte sie alle. Das waren die im Turm verbliebenen Seelen ihrer Ureltern, die waren Hüter des Worakashtaril. Faidaria hörte sich nicht antworten. Doch weil der Helm der Lenkung von ihrem Kopf emporglitt und die Bilder aus ihrem Bewusstsein verschwanden wusste sie, dass alles gefragt und gesagt war. Die Hüter wussten nun um die große Bedrohung für die Welt und sie wusste, wie sie zumindest den Nachteil der geringen Anzahl ihrer Brüder und Schwestern verringern konnte. Sie musste nur diesen Fall "Schnelle Lebensreifung" ausrufen, hier und auf Ashtaraiondroi. So stellte sie sich hin, blickte nach oben, wo der Helm der Lenkung gerade in der Decke verschwand und rief in der erhabenen Sprache ihres Volkes: "Ich, Faidaria, älteste eurer lebenden Töchter, Hüterin und Führerin unseres erhabenen Volkes, sehe eine große Gefahr durch die mitternächtigen Mächte über das Angesichtunserer großen Mutter hereinbrechen. Daher rufe ich in aller Demut und dem Wissen, dass mir sonst nichts bleibt, um die Gefahr zu mindern, den Fall der schnellen Lebensreifung aus. Mögen jene, die bereits wiedergeboren wurden, im Wissen um die drängende Zeit die Jahre der körperlichen Reife durcheilen und zu hilfreichen und getreuen Angehörigen unseres erhabenen Volkes erblühen und erstarken!"

Noch bevor Faidarias Stimme in der Halle der Lenkung verhallt war erklang ein tiefer, lang nachhallender Ton, der sie förmlich durchfloss und dann immer leiser und leiser wurde. Erst als sie ihn nicht mehr hören konnte wusste sie, dass der Turm den Ausruf angenommen hatte. "Holt mich zurück, meine Brüder und Schwestern!" schickte sie eine Gedankenbotschaft an die auf Ashtaraiondroi verweilenden Sonnenkinder. In einer Spirale aus licht wurde sie aus dem Turm herausgehoben und übersprang die große Ferne zwischen ihm und der neuen Heimat. Dardaria und Yantulian, die still und unbeteiligt in der Halle der Lenkung verblieben waren sahen einander an. "Das war, was du mir nie erzählen durftest, Yantulian", meinte Dardaria. Er nickte. "Und es ist bedauerlich, dass die Wiederkehrenden erst ein Jahr lang wachsen müssen, bevor sie in die Kammer des Xashamirula hineingelassen werden können."

"Ja, sonst würde ich das große Pendel sicher schon morgen genauer begutachten und in Gang setzen können", gedankengrummelte Dargarrian.

Faidaria indes fand sich im Kreis der ihre Heimkehr bewirkenden Sonnenkinder wieder. Sie sah Gwendartammaya, Gisirdaria, Yanhagoorian und alle anderen, die ihre Reise hin und zurück ermöglicht hatten. Sofort wehten ihr die fragenden Gedanken ihrer Verwandten entgegen. Sie sagte nur: "Wir können zwar nicht hunderte von neuen Waffen herstellen, aber zumindest den durch den verlorenen Kampf erlittenen Verlust unserer Anzahl zum Teil wieder ausgleichen", sprach sie. Dann reckte sie sich und sprach in Gedanken zu allen lebenden Sonnenkindern, die bereits ein entwickeltes Bewusstsein besaßen: "Ich, Faidaria, derzeit die älteste unseres Volkes, habe die große Gefahr erkannt, die uns droht. Der erhabene Worakashtaril gewährt uns die Gunst, dieser Bedrohung zu begegnen. Ich rufe den Fall "Xashamirula" aus! Mögen alle, die bereits mit kundigem innerem Selbst dem inneren Nest ihrer Mütter entschlüpften, den Segen der schnellen Reifung erhalten, um dann mit uns und für uns gegen die drohenden Gefahren wirken!" Ihre reine Gedankenstimme klang einige Sekunden nach. Stille trat ein. Dann regten sich die Gedanken der Wiedergeborenen. Ilangammayan dachte: "Heißt das, wir können die unerträgliche Untätigkeit der neuen Kindheit überwinden, ohne zwölf oder fünfzehn Jahre zu warten?" Olarammaya gedankenfragte: "Öhm, kann das dann nicht sein, dass ich mit meinem Körper nicht zurechtkomme, weil ich nicht lernen darf, als Mädchen groß zu werden?" Darauf erwiderte Geranammaya: "Vielleicht bleibst du dann ein Kleinkind und darfst wirklich alles in natürlicher Zeit erleben, Wachsen, erste Regelblutung, Brustwachstum, wilde Gefühlswallungen, die Erkenntnis deiner geschlechtlichen Begierden. Aber weil wir zwei Schwestern sind gilt, was ich dir schon in Patricias warmem Unterbau versprochen habe: Was immer du für Schwierigkeiten damit haben wirst, ich bin deine große Schwester und werde dir helfen, damit zurechtzukommen."

"Wo du es erwähnst, Geranammaya: Dann kann ich meiner eigenen Schwester doch noch schneller entwachsen als ich erst befürchtet habe", erwiderte Kandorammayan."

"Ich bin nicht mehr deine Schwester, Kandorammayan. Ich werde immer deine Mutter sein, und wenn du hundert Sonnenkreise in einem einzigen Augenblick überwinden solltest", erwiderte Gisirdaria. Olarammaya dachte für alle hörbar daran, dass sie ja dann so oder so nicht mehr Gisirdarias Ehepartner sein würde. Doch dann fiel ihr noch was ein: "Öhm, was geschieht dann wegen der natürlich entstandenen Kinder, die nicht wiedergeborene sind. Die kriegen dann doch die Vollkrise, wenn die, die gestern noch Babys waren heute als Teenies oder Erwachsene herumlaufen. Prunellus könnte denken, dass ihm wer die kleinen Schwestern weggenommen hat, und Laura hat dich immer sehr gerne wild geschaukelt, Kandorammayan."

"Auch das ist ein Grund, diesen hilflosen Körper zu stärken", gedankengrummelte Kandorammayan. Dann sagte Gwendartammaya:

"Ihr könnt ja die Hüter im Sonnenturm fragen, was mit euren älteren Geschwistern passiert, wenn ihr echt mal eben in eine Art Blitzalterungskiste gesteckt werdet. Vorher würde ich mir darum keine Gedanken machen."

"So sei es. Wann vollziehen wir diese wichtige Handlung?" fragte Ilangammayan. Er bemerkte durchaus, dass Faidaria ein wenig traurig war. Denn sie war seine Mutter, auch wenn er kein unbedarftes kleines Kind war. Dann gedankensprach sie: "ich werde dich zusammen mit den anderen Müttern und den anderen Daisirin zur Mittagsstunde an den Ort des Sonnenturmes hinführen, auf dass die ganze Kraft des großen Vaters Himmelsfeuer wirken möge. Also in fünf Zwölfteltagen, was in jetztzeitiger Rechnung zehn Stunden sind.

Olarammaya dachte, dass sie dann also am 16. November zum zweiten Mal im Jahr Geburtstag feiern mochte. Doch würde sie als junges Mädchen wie Ben Calders erste Liebe Donna Cramer sein oder schon so alt wie die, die sie neu geboren hatte? Ja, und ob sie dann nicht doch eher transsexuell gestimmt war, weil sie sich im falschen Körper fühlte wusste sie auch noch nicht. Als Baby war es ja egal gewesen. Da hatte sie Windeln umgehabt. Aber schon der Versuch, im stehen zu pieseln hatte bei ihrer Zwillingsschwester eine Lachsalve ausgelöst.

Geranammaya dachte daran, dass sie zwar um das Erlebnis einer zweiten Kindheit herumkam. Doch wenn sie wirklich weit vor der erwarteten Zeit einen erwachsenen Körper haben würde konnte sie wohl auch ihre frühere Animagusfähigkeiten wiederbeleben. Als Babykätzchen ohne Möglichkeit, sich zurückzuverwandeln wollte sie nicht existieren. Doch die Hoffnung, ihre in vielen Jahren geübte Kunst wiederzuerlernen, eine schneeweiße Katze zu werden, stimmte sie zuversichtlich. Dann dachte sie daran, dass ihnen allen diese Möglichkeit, ob ein Segen oder vielleicht doch ein zweckgebundener Fluch, nur deshalb geboten wurde, weil da draußen ganz böse Unwesen ihr selbes trieben und die Menschen bedrohten. Licht ohne Schatten gab es nicht. Doch in der tiefsten Dunkelheit konnte sich das kleinste Licht seinen eigenen Raum erobern, hatte Geranammaya von ihrer Mutter gelernt.

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"Sag mal, hat meine Schwester neben einem Viertelzwerg noch zehn Wichtel geschluckt oder was?!" entfuhr es Béatrice Latierre, als sie am Morgen des 16. Novembers den Mirroir Magique aufschlug und ihr da das Bild ihrer ältesten, nun unübersehbar schwangeren Schwester auf einem schnittigen Besen entgegensprang. Julius beugte sich vor und sah auf das Bild der offenbar zwischen aufragenden Torstangen hindurchwedelnden Hippolyte.

"Ui, das ist also der Ganymed 15 Mater Ventorum, den die Ministeriumsabteilungen demnächst kriegen sollen. Der ist viermal so wendig wie der Zehner und zweimal so ausdauernd wie der Marathon."

"Ja, und angeblich mit einer Geschwindigkeitslinearen Innerttralisatus-Bezauberung von bis zu 99,992 Prozent, wie auch immer die das hingebogen haben", knurrte Béatrice. "Aber dennoch habe ich ihr untersagt, in ihrem Zustand noch auf so einem Wirbelstecken herumzufliegen. Ich glaube, ich ziehe Lutetia bei nächster Gelegenheit mal so an den Ohren, dass sie um die Hälfte größer wird als sie ist."

"Öhm, das Vollzwerginnen mindestens viermal so schnell und dreimal so stark wie Hexen ohne die entsprechenden Zaubertränke oder Zauber im Körper sind weißt du?" fragte Millie, die grinste, weil sie sah, wie genial ihre Mutter zwischen eng beieinanderstehenden Torstangen manövrierte. Dann sagte sie: "Das Geheimnis des Besens dürfte der schmale Silberring am Hinterende zwischen Stiel und Schweif sein, Tante Trice. Das könnte einer von Florymont entwickelter Pinkenbachexpander sein, die der sich hat patentieren lassen. Aber näheres ist wohl Betriebsgeheimnis von Célines Papa."

"Für deine Mutter ist offenbar schon Weihnachten", sagte Julius grinsend und fing sich einen Kniff seiner Schwiegertante in die rechte Wange ein. "Ich hoffe mal für die Dame, dass sie zumindest die Innerttralisatus-Unterwäsche trägt, damit der Kleine nicht einen Schock für's ganze noch bevorstehende Leben abbekommt und ...."

"Die magische Türglocke ging. Aurore rief aus ihrem Zimmer: "Ma, Pa, Tante Hera ist da!"

"Huch, was will die denn hier?" fragte Julius und apparierte zur Haustür hinunter.

"Hallo, Julius. Ich wollte deine derzeitige Mitbewohnerin und mir beigeordnete Kollegin fragen, ob sie ihrer Schwester allen ernstes erlaubt hat, mit diesem neuen Rennbesen herumzutanzen wie eine Lichterfee auf einer heißen Herdstelle."

"Offenbar nicht. Sie ist entsprechend überrascht und ungehalten", sagte Julius und führte Hera Matine nach oben. "Also, wenn ich eine schwangere Patientin betreue ist das erste, was ich verbiete das wilde Besenfliegen", sagte Béatrice Latierre. "Offenbar haben sie sie beschwatzt, die Fliehkraftaufhebung dieses Besens auszuprobieren, und irgendwer hat das fotografiert."

"ich dachte, du betreust deine Schwester bis zur Niederkunft", erwiderte Hera Matine.

"Ich habe es ihr angeboten. Aber sie berief sich auf bereits hervorragende Erfahrungen und eine Eingespieltheit mit Lutetia Arno. Abgesehen davon weiß ich gerade nicht, ob sie erlaubt hat, dass jemand sie auf dem Besen in die Zeitung bringt. Weil dann kriegt sie wirklich Krach mit mir, wenn andere Schwangere diese wilde Wirbelstange ausprobieren, die sonst nur samstags zum Einkaufen oder Sonntags zum Blumenpflücken auf einen Besen steigen."

"Punkt eins, sie hat es wohl erlaubt. Lesen Sie hierzu das dem Foto beigefügte Interview. Zweitens hat sie in demselben angemerkt, dass dieser Besen nur für Hexen und Zauberer gedacht ist, die entsprechend viele Flugstunden und Quidditcherfahrung vorweisen können. Drittens soll dieser Besen ja ausschließlich für Außentruppler im Ministerium gedacht sein, weil ... lest es selbst, bitte! Ich wollte nur von dir wissen, ob du deiner großen Schwester dieses wilde herumgewirbel erlaubt hast."

"Bei der Ehre unserer Zunft und der zehn Heilerdirektiven, Hera, nein, habe ich nicht. Aber wie du richtig erwähnt hast ist sie ja meine große Schwester und meint deshalb immer noch, immer und überall besser zu wissen, was richtig und falsch ist. Gut, so eine ähnliche Dame hat mich einst selbst geboren, und der musste ich beim Austragen der letzten vier Kinder klarmachen, dass es eben nicht immer gilt, dass Alter mehr Weisheit oder Einsicht bedeutet ... nicht immer, Hera", sagte Béatrice, weil Hera sie ein wenig ungehalten ansah.

Julius las inzwischen das erwähnte Interview und fasste zusammen: "Sie hat offenbar einen Fliehkraftmesser in ihren Unterleib hineinpraktiziert, um die Auswirkungen des Ffluges zu protokollieren und tatsächlich die zusätzlich bezauberte Unterwäsche angehabt. Ergebnis, der Kleine hat nichts davon mitbekommen, dass die um ihn herum angebrachte Hexe mehrere 100-Grad-Wenden, Sturzflüge und Rosselinis geflogen hat. Offenbar haben die im Ministerium gerade keine andere schwangere Hexe mit so guter Besenerfahrung vorrätig gehabt, um den Abnahmetest für die Außentruppler durchzuziehen."

"Ach! Darauf beruft sie sich also", knurrte Béatrice. "Dass das Ministerium neue Besen erwerben will rechtfertigt keine Gefährdung ungeborenen Lebens", sagte Hera Matine und erntete ein sehr zustimmendes Nicken ihrer jüngeren Kollegin.

"ich verspreche dir, Hera, dass ich sie heute abend noch einmal untersuche, falls Anne Laporte das nicht getan hat, die ja neben dem Kollegen Champverd für die Ministeriumsmitarbeiter zuständig ist."

"Gut, da sie keine heilmagisch ausgebildete Hebamme hat darfst du das tun, falls die Kollegin Laporte es nicht schon getan hat", erwiderte Hera Matine.

"Ich dachte schon, der Ganni zehn geht ab wie der geölte Blitz. Aber die Daten zu dem Besen hier hauen den Zehner voll aus dem Feld", sprudelte es aus Julius heraus. Millie, Béatrice und Hera sahen erst einander und dann ihn an. "Jungs bleiben Jungs", meinte Hera dazu und erntete ein beipflichtendes Lächeln der beiden anderen erwachsenen Hexen.

"Ja, nur dass der Besen nicht als Quidditchbesen zugelassen ist, genausowenig wie der Feuerblitz Supersonic oder der Bronco Tornadofänger", sagte Millie, die ebenfalls die Angaben geprüft hatte. "Aber offenbar hat die Ganymed-Manufaktur mit diesem Besen den Streich des neuen Jahrtausends gelandet."

"Das passt", grummelte Béatrice Latierre.

"Gut, dann lass ich euch mal wieder in Ruhe, zumal ich die junge Mademoiselle Lagrange noch interviewen möchte, wie ihre bisherigen Geburtshilfeerfahrungen waren."

"Sandrine hat sich nicht beklagt", bemerkte Julius dazu. "Weiß ich, Frechdachs!" fauchte Hera matine und knuddelte ihn kurz wie einen Enkel, der einen kessen Spruch gebracht hatte. Dann verließ die residente Hebammenhexe von Millemerveilles das Apfelhaus der Latierres wieder.

Mittags traf Julius seine Schwiegermutter im Speisesaal des Zaubereiministeriums. Diese winkte ihm zu. "Na, war meine kleine Schwester sehr böse, als sie das Foto im Mirroir gesehen hat?" fragte sie grinsend.

"Die wäre uns fast mit der Wucht von 1000 Erumpenthörnern um die Ohren geflogen, so aufgeladen war sie. Dann wäre Millemerveilles nur noch ein kilometer tiefer Krater in der Provence. Ich meine, ich bin nur Pflegehelfer und nur dein Schwiegersohn. Aber wissen möchte ich doch schon, was dich da geritten hat, diesen Superduperfeger selbst zu testen. Ich meine, der hängt den Zehner so ab wie ein Wanderfalke eine Weinbergschnecke."

"Du hast das an dem Foto hängende Interview gelesen?" fragte Hippolyte. Julius nickte. "Dann weißt du, dass dieser Besen zertifiziert werden muss für Hexen und Zauberer, wobei auch Hexen im siebten oder achten Schwangerschaftsmonat ihn bedenkenlos fliegen können sollen. Das Ministerium braucht immer noch besensicheres Außenpersonal. Anne Laporte hat mich und Alain untersucht und ... Er ist nicht in meinem Magen gelandet und hat sich auch nicht mit der eigenen Nabelschnur erhängt oder die Plazenta zerbröselt. Auch wenn deine derzeitige Mitbewohnerin das anders sieht weiß ich durchaus, was ich meinem Körper und jedem gerade darin zur Untermiete wohnenden Mitbewohner zumuten kann. Wir mussten diesen Besen testen, und ich war die einzige, die gerade schwanger ist und mehr als zehntausend Besenflugstunden hat. Ja, und die neuen Bedrohungen, die fliegenden Nachtschatten, die Vampire und was weiß ich noch alles, abgesehen von möglichen Nachahmern dieses Psychopathen Vengor, benötigen sehr manövrierfähige Hochgeschwindigkeitsbesen. Vor allem hat der Fünfzehner eine Vorrichtung, um die sogenannten Besenbeißer zu orten und ihnen eigenständig auszuweichen. Du weißt, was Besenbeißer sind?"

"Ja, weiß ich, ziemlich fiese Vorrichtungen, die fliegende Besen oder fliegende Teppiche ansteuern, sich dran festbeißen und die gesamte Flugbezauberung in Gluthitze verwandeln. Der Irre, der sich Vengor genannt hat hat sogar unsichtbare Versionen davon gebaut, voll die Mordwaffe."

"Ja, und der Fünfzehner hat neben den erhöhten Flugeigenschaften auch eine Bezauberung, die Magie von Besenbeißern zu erfassen, ob sichtbar oder unsichtbar. Ist zwar S4, aber unter der Verschwiegenheit zwischen Pflegehelfer und hauptberuflicher Heilerin darfst du ihr das gerne so erzählen, falls Anne Laporte ihr das nicht schon vermeldet hat. Ich habe dieses Gerät also nicht zum Spaß am schnellen Fliegen getestet, und der Fliehkraftaufzeichner in meinem kleinen Hexenkesselchen war auch nicht gerade angenehm, musste aber sein, um das auch Tinte auf Pergament zu haben, dass hochschwangere Hexen oder kreislaufempfindliche Zauberer trotzdem darauf fliegen können. Aber jetzt essen wir drei erst mal was, damit wir diesen Tag noch gut überstehen."

"Ja, ich habe es gelesen und ja, ich habe die Aufzeichnungen von diesem Fliehkraftmesspfropfen einsehen dürfen, obwohl ich nicht die von meiner Schwester hauptamtlich erwählte Hebamme bin", sagte Béatrice, als Julius ihr schöne Grüße von ihrer wilden großen Schwester bestellte. "Und ich muss leider zugeben, dass das Argument mit den Besenbeißern und das mit dem flugfähigen Außenpersonal wichtig ist. Wir können also deinen Schwager und meinen nächsten Neffen wohl zwischen dem zehnten und zwanzigsten Dezember im Leben begrüßen. Er wird auf jeden Fall ein sehr besonderes Leben führen", sagte Béatrice und bat Julius, es Millie noch nicht zu erzählen, was sie von Anne Laporte gehört hatte, weil sie sich sonst schon Gedanken machte, bevor der Kleine auf der Welt war. Als sie Julius was zumentiloquiert hatte stutzte er erst, weil er nicht wusste, was er mit dieser Information anfangen sollte. Dann legte Béatrice noch nach: "Ich denke aber, dass es ihre Schwiegermutter sehr freuen wird." Julius dachte einen Moment an den einen Traum, wo er scheinbar Stunden lang die Sinne von Alain Durin mitgefühlt hatte. Da hatte er das gar nicht bemerkt. Aber das war ja auch schon wieder zwei Monate her, und er hätte es nur feststellen können, wenn er Alains Hände hätte steuern können.

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Irgendwie war es schon erhaben und unheimlich zugleich, fast wie ihre mit allen Sinnen und vollem Bewusstsein erlebte Geburt aus Patricia Stratons alias Gwendartammayas Leib. Sie trug gerade nichts am Körper, außer das in den Nacken reichende Haar, das bei Tageslicht so rot schimmerte wie der Planet Mars aus nächster Nähe zur Sonne. An der rechten Hand hielt sie ihre Zwillingsschwester Geranammaya alias Pandora Straton die - zweite? "Die dritte, Oli. "Als ich unser beider Großmutter war war ich schon die zweite mit dem Namen Pandora", dachte Geranammaya ihrer wenige Minuten jüngeren Zwillingsschwester zu. Offenbar hatte sich der nun im Mädchenkörper wiedergeborene Ben Calder alias Cecil Wellington alias Brandon Rivers nicht gut genug abgeschottet. Dann merkte die Zwiegeborene, dass es für Geranammaya noch abgedrehter war als für Olarammaya. Denn als Mädchen neu aufzuwachsen war sicher einfacher zu ertragen als die Vorstellung, die eigene Enkeltochter zu sein. Doch nun würden sie mehr als zehn Jahre Lebenszeit überspringen. Würde es weh tun? Würde Olarammaya sich in dem Körper, den sie dann hatte, zurechtfinden oder ihn im wahrsten Sinne als Fremdkörper empfinden? Doch jetzt gab es eh kein Zurück mehr.

Die Wiedergeborenen gingen ohne Kleidung und ohne Ausrüstung durch eine bis dahin verschlossen gebliebene Tür auf eine achteckige Säule zu, die vom mit weichem Teppich bedeckten Boden zweieinhalb Meter aufragte. Nichts an den acht Seitenflächen wies auf eine Tür hin. Das sollte die Kammer der schnellen Reifung sein, in der Kleinkinder zu Teenagern oder jungenErwachsenen aufgeblasen werden konnten? Das Ding sah eher wie eine besonders gelungene venezianische Skulptur aus. "Plastik, kleine Schwester. Skulpturen werden aus einem massiven Block herausgehauen oder geschnitzt, Plastiken aus formbarem Stoff zurechtgearbeitet", drang Geranammayas Gedankenstimme in ihn. Olarammaya wollte schon abfällig zurückdenken, dass er gerade keinen Sinn für Kunstunterricht hatte. Doch da wurde ihr klar, dass die da neben ihm wohl ihre Nervosität überspielen musste. "Ich bin nicht nervös, eher erleichtert, dass sich die Zeit im Mutterleib und das Jahr in Wiege und Windeln doch für was gelohnt hat", bekam er zur Antwort. "Wieso kann ich bei dir gerade nicht so gut zumachen wie bei allen anderen?" fragte Olarammaya. "Weil wir uns festhalten. Nein, nicht loslassen. Soweit ich Faidaria verstanden habe, registriert was auch immer die Geburtsgleichen. Da wir zwei nun einmal Wurfschwestern sind müssen wir auch zusammen den letzten Test bestehen, ob wir dem Vorgang unterzogen werden dürfen." Olarammaya alias Phoenix Straton sah es ein. Tja, gleich würde sie wissen, ob der Name Phoenix wirklich gut gewählt war, aus Ben Calders Asche entsteigt eine rothaarige Hexenmaid.

Da ihr als erste ankamt sei euer die erste Prüfung", sprach Faidaria, die bereits in dem Raum stand und ebenfalls nichts am Leibe trug. Olarammaya überkam einen Moment die Erinnerung, wie er als Ilangardian mit dieser goldhäutigen Hexenkönigin mehrere wilde Liebesnächte erlebt hatte. Doch sie spürte nichts dabei, weil das eben in einem anderen Leben und einem anderen Körper abgelaufen war.

Beide Schwestern streckten ihre Köpfe vor und berührten die ihnen nächste Glasfläche. Diese fühlte sich merkwürdig Warm an. Dann meinte Olarammaya, dass alle Erinnerungen zugleich durch ihren Kinderkopf brausten, alles, was Ben Calder, Cecil Wellington und Brandon Rivers alias Ilangardian erlebt hatten bis hin zum Kampf gegen die Dementoren. Dabei kehrten jedoch zwei Erinnerungen immer wieder, einmal der erste Liebesakt mit Gwen Mahony und wie Patricia Straton ihn damals durch den Verbindungszauber in ihre Sinneswelt herübergeholt hatte, um ihn spüren zu lassen, wie sich eine Frau fühlte, die sich selbst befriedigte. Dann erlebte Olarammaya noch einige Sekunden oder Minuten in Gwendartammayas Gebärmutter und durchlebte die Wiedergeburt und die ersten Stunden im Haus der Familie Latierre. Ab da übersprang die Erinnerungsrückschau die Monate bis jetzt in drei Sekunden. "Zutritt und Reifung gewährt. Eine nach der anderen. Sehr erheiternd, die eine ist die eigene Tochtertochter, die andere ist durch einen dunklen Zauber an das Leben ihrer Mutter gebunden und deshalb selbst zur Tochter geworden. Erstgeborene, tritt ein und erfahre deine Vollendung!" Olarammaya musste noch verdauen, was der in ihrem Kopf klingende Chor der Geisterstimmen gerade gesagt hatte. Da ließ Geranammaya schon ihre Hand los und lehnte sich gegen die Seitenfläche. Wie durch eine Drehtür wurde sie in die achteckige Konstruktion hineinbefördert. Jetzt stand sie innerhalb davon, und die acht Seitenflächen wirkten immer noch glatt und fugenlos, als sei dieser Körper aus einem Stück herausgearbeitet worden, also doch eine Skulptur, dachte olarammaya. Dann sah sie, was wohl auch ihr passieren würde.

Gwendartammaya stand mit den anderen Müttern von Zwiegeborenen vor der wieder verschlossenen Tür zum Raum mit der Schnellreifungskammer, von der Faidaria gesprochen hatte. Diese stand im Raum und überwachte den Vorgang. Kandorian trat zu ihr hin. Wie es Faidaria angeordnet hatte trugen die Zwiegeborenen keine Kleidung mehr am Körper.

"Also, sollte mir gefallen, was Gisirdaria und Ilangardian hinbekommen haben, vielleicht möchtest du dann wieder meine Gefährtin sein, Gwendartammaya."

"Falls mir gefällt, was du dann bist", sagte Gwendartammaya mit kockettem Grinsen. Sich vorzustellen, von einem Kleinkind einen Heiratsantrag gemacht zu bekommen war schon irgendwie lustig.

Olarammaya sah zu, wie ihre Zwillingsschwester von unsichtbaren Kräften aufgehoben und auf halbe Höhe der achteckigen Säule gehoben wurde. Dann drang helles Licht durch die Decke und erfüllte die kleine gläserne Kammer. rotoranges Licht wie eine gerade aufgehende Sonne erfüllte die durchsichtige Kammer. Olarammaya lauschte und beobachtete. Sie sah, wie das Mädchen, das gerade noch so groß wie sie selbst gewesen war, wie von einer sacht arbeitenden Pumpe immer mehr aufgeblasen wurde. Sie wuchs an und verlor dabei immer mehr die Körperformen eines Kleinkindes. Jetzt sah sie schon wie eine Fünfjährige aus. Drei Atemzüge weiter sah sie wie schon sieben oder acht Jahre aus. Dann meinte Olarammaya, ein zehnjähriges Mädchen mit blassgoldener Hautfarbe und marsrotem, schulterlangem Haar zu sehen. Dann wölbten sich auf dem ruhig atmenden Brustkorb erst flache und dann immer ausgeprägtere Rundungen. Aus dem Kleinkind von eben wurde eine sehr biegsam aussehende Vierzehnjährige. Dann erblühte das Geschöpf, das als Geranammaya geboren worden war, vollständig zu einer jungen Frau, ja sie überwand die Schwelle zur Zwanzigjährigen. Dann kam der eigentlich gruselige Alterungsvorgang mit einem kurzen Beben zum halten. Geranammaya sank sacht auf den Boden und landete auf ihren nackten Füßen. Das sonnenaufgangsrote Licht erlosch, und auch der Lichtstrahl aus der Decke verlosch.

Wieder drehte sich die Seitenfläche wie eine Drehtür. Geranammaya schwang heraus und trat auf den weichen Boden. "Ui, fast so kalt wie nach unserer Geburt. Aber sonst geht es mir ausgezeichnet. Dann geh du jetzt da rein, damit ich sehe, wie das bei mir ausgesehen hat!" sagte Geranammaya mit einer glasklaren mittelhohen Stimme. Würde Olarammaya auch so klingen?

"Tat das irgendwie weh?" fragte Olarammaya.

"Mädel, das ist wie mit unserer Geburt. Ob ich dir was erzähle oder nicht, du musst da genauso durch wie ich. Oder willst du ein Kleinkind bleiben und erst in sechzehn oder zwanzig Jahren so aussehen wie deine große Schwester?"

"Dann mach bitte Platz", sagte Olarammaya mit der hohen, fast schrillen Stimme eines Kleinkindes. Danach trat sie auf die achtseitige Säule zu und berührte sie mit der Hand. Da wurde Olarammaya angestoßen und mit der Seitenfläche in die Kammer hineingeschwenkt. Kaum stand sie innerhalb der angenehm warmen Konstruktion sah sie um sich nur noch die Glaswände. Dann fühlte sie, wie sie angehoben wurde, bis sie ganz frei im Mittelpunkt der gläsernen Konstruktion schwebte. Jetzt kam wieder der Lichtstrahl von oben, der in der Kammer zu einem rotorangen, alles überdeckenden Leuchten wurde.

Olarammaya fühlte, wie ihr immer wärmer wurde. Gleichzeitig meinte sie, von außen beatmet oder mit zusätzlichem Blut angefüllt zu werden. Sie fühlte, wie ihr Körper pulsierte, atmete unaufgefordert im selben Takt wie das, was sie gerade durchwirkte. Jetzt sah sie, wie der Raum um sie herum langsam kleiner und enger wurde. Durch das orangerote Licht sah sie ihre Zwillingsschwester. Auch diese schien zu schrumpfen und dabei näher heranzukommen. War sie gerade eben dreimal so groß wie Olarammaya gewesen, so verlor sie von Sekunde zu Sekunde immer mehr an Körperlänge. Jetzt fühlte Olarammaya, wie ihre Arme und Beine verformt wurden. Auch ihr Kopf schien sich zu verändern. Atemzug für Atemzug nahm sie immer mehr von dem Fremdartigen Zauber in sich auf. Sie versuchte sich zu bewegen. Doch sie steckte wie in einem festen Teig, obwohl sie noch problemlos atmen konnte. So konnte sie sich nicht selbst ansehen. Unvermittelt war ihr, als brächen kleine heiße Dornen von innen her durch ihre Kifer. Sie fühlte mit der Zunge, dass sich die erst vor einem Monat gewachsenen Zähne einfach in prickelnden Staub auflösten. Doch da waren die neuen Zähne auch schon durchgedrungen und besetzten ihren Ober und Unterkiefer. Sie fühlte nur, wie sich ihr Körper unter sanftenHitzestößen weiter veränderte, als weiche jemand sie behutsam auf, um sie nach seinem oder ihrem Bild neu zurechtzukneten. Dann fühlte sie erst ein leichtes Ziepen im Unterleib und dann ein Prickeln im Oberkörper. Offenbar entwickelten sich nun die primären und sekundären Geschlechtsmerkmale. Bald schon merkte sie, dass sie beim Ein- und Ausatmen mehr Gewicht bewegen musste, ja dass etwas auch an ihrer Wirbelsäule zog. Es pochte einige male in ihrem Unterleib. Dann war dieser Teil der Verwandlung wohl durch. Sie fühlte, wie etwas ihr Becken etwas breiter zog, ohne zu schmerzen. Sie sah noch, dass Geranammaya nur noch so groß wie sie selbst war. Dann jagte ein kurzer Hitzeschauer und ein Rumpeln durch den Körper. Danach sank Olarammaya auf den Boden. Wider schwang eine der Seitenflächen auf und beförderte sie aus der Konstruktion. Ein leichter Kälteschauer ließ sie frösteln. Dann trat sie von der Kammer weg.

"Da haben wir uns tatsächlich sehr nahe an die Wirklichkeit herangeträumt", meinte Geranammaya. Olarammaya wollte es sicher wissen. Sie berührte sich erst behutsam am Hals und glitt dann behutsam an ihrem Körper hinunter. Sie fühlte, dass das, was neu für sie war tatsächlich ein Teil von ihr war. Denn als sie jungenhaft hineinkniff tat es ihr sogar weh. Als sie undamenhaft ihre Hand im Schritt hatte fühlte sie, dass das echt war, was sie gerade fühlte. Ein wenig beschämt zog sie die Hand wieder zurück. "Na, steht dir gut, dieser Körper. Sehe ich genauso aus wie du?" fragte Geranammaya. Olarammaya wiegte den Kopf, von dem jetzt schulterlange Haare hingen. Als sie einige davon sah nickte sie. Sie hatte zumindest die gleichen marsroten Haare. Dann sah sie Geranammayas Augen. Die waren dunkelgrün, fast wie die von Gwendartammaya, nur ohne Grauschimmer. Schließlich öffnete Olarammaya ihren neu bezahnten Mund und sagte zum ersten Mal etwas mit ihrer fertig ausgeprägten Stimme: "Deine Extochter hat mich einmal in ihre Sinneswelt rübergezogen, damit ich mal fühle, wie sich eine Frau selbst anfühlt. Das hier ist genauso wie damals. Wenn ich so aussehe wie du kann ich mich zumindest an den Körper gewöhnen. Aber ob ich Ilangammayan an mich ranlasse oder Kandorammayan oder Yanhagoorian weiß ich echt nicht. Keine Pickel im Gesicht. Wir sind mit Warp 9 durch die Pubertät durch, oder was."

"Könnte auch Warp 9,98 gewesen sein. Zumindest habe ich die wilden Wallungen nicht gespürt, die ich als natürlich herangewachsenes Mädchen erlebt habe. Aber glaub's mir, wenn du keine fanatische Kesselschlürferin oder auch Kampflesbe sein willst wirst du es wohl bald wissen, ob du mit diesem gut geratenen Körper auch schöne und wilde Stunden mit einem Geliebten erleben kannst. Tröste dich, die Vorstellung hat mich als junges Mädchen auch angeekelt. Dann habe ich aber gemerkt, wie schön das sich anfühlt und wie erhaben es ist, von jemandem ganz doll geliebt zu werdenund dann auch noch von ihm was kleines, lebendiges in sich zu fühlen. Musst du noch nicht heute herauskriegen, wo wir gerade zwanzig Lebensjahre im Hypertempo durchquert haben. Aber komm bitte mit raus, die anderen Kleinen wollen auch groß werden." Sie nahm Olarammayas Hand und führte sie ganz eine liebende Schwester vor die Kammer. Da hier nur die Mütter mit ihren zwiegeborenen Kindern warteten und Faidaria die Zeremonie stillschweigend überwachte waren die einzigen männlichen Zuschauer die noch nicht blitzgealterten Jungen. Kandorammayan sagte jedoch: "Ui, das habe ich aber wirklich gut hinbekommen."

"Dann geht du als nächster rein, damit ich sehen kann, ob ich dich auch gut hinbekommen habe", konterte Olarammaya. Ihre Zwillingsschwester grinste verschwörerisch.

Während die anderen Daisirin in die Schnellreifungskammer gingen half Geranammaya ihrer Schwester beim Anziehen der bereitgelegten Frauenkleider. "Das üben wir noch ein paar Tage, damit du dich dran gewöhnst", sagte Geranammaya. Dann sah sie ihre Mutter und ehemalige Tochter und ging auf sie zu. "Das hätte die alte Inkapriesterin nicht gedacht, dass wir zwei uns schon so schnell wieder auf derselben Augenhöhe begegnen, Patricia."

"Ihr seht beide so aus wie in dem Traum, den du damals mit ihr heraufbeschworen hast, als ihr gerade erkannt habt, dass ihr in meinem Bauch wart", sagte Gwendartammaya und nickte Olarammaya zu. "Und was die da neben dir zu dir gesagt hat stimmt. Du musst nicht sofort alles können, was eine junge Frau erleben kann. Aber zumindest kannst du jetzt wieder an den Klapprechner drangehen."

"Öhm, Faidaria meinte sowas, dass wir es Julius besser nicht auf die Nase binden, was wir da gerade gemacht haben, Mami Gwen. Aber irgendwann wird er es doch rausfinden."

"Ja, wenn Faidaria ihn wieder zu uns einlädt", sagte Gwendartammaya alias Patricia Straton. Olarammaya sah die Frau mit den dunkelbraunen Haaren, dem hochwangigen hellen Gesicht und den dunkelgrünen Augen mit dem leichten Graustich an. Diese Frau da war die Schicksalsfrau für die sich nun an ein Leben im erwachsenen Frauenkörper herantastende Olarammaya. Dann sagte Olarammaya:

"zumindest brauche ich für den Rechner keinen Piephan."

Nach und nach kamen die erst kleinen und dann erwachsen gezauberten Zwiegeborenen aus der Schnellreifungskammer heraus. Olarammaya begutachtete Kandorammayan. Der sah mit seiner blassgoldenen Haut und den kupferfarbenen kurzen Haaren auch nicht schlecht aus, war auf jeden Fall größer als Gisirdaria, die Olarammaya nun gerade zur Unterkante ihres ausgeprägten Brustkorbs reichte. Ilangammayan wirkte wie eine Kopie von Brandon Rivers, nur mit der Haarfarbe Faidarias. Die Augen hatte er auf jeden Fall von seinem Erzeuger, der in einem Jahr von der Geburt bis zur Endgröße wiedererblüht war. Einen kurzen Moment stellte sich Olarammaya vor, wie es war, wenn sie mit Faidarias Sohn die erste Liebe erlebte. Dann erschrak sie. Offenbar war sie doch keine Lesbierin. Das konnte noch was geben.

Die Sonne über der Mojavewüste war schon auf halbem Weg zum Horizont gesunken, als der letzte der wiedergeborenen Sonnensöhne als junger Erwachsener aus der Kammer der schnellen Reifung trat. Jetzt konnten sie alle über die Verbindung mit den auf Ashtaraiondroi wartenden Vätern und nicht als Mütter von Daisirin erkannten Sonnentöchtern wieder auf ihre Heimatinsel zurückkehren. Immer zwei zugleich konnten auf diese Weise befördert werden. Sie landeten in einem aus den Wartenden gebildeten Kreis. Zum Schluss erschien Faidaria, die alle nun schnellgereiften Daisirin eingehend ansah, vor allem ihren Sohn Ilangammayan. "Mir gefällt, was ich sehe und mir gefällt auch, dass ihr nun wieder mithelfen könnt, unsere Aufgabe zu erfüllen. Mir und den anderen Sonnenschwestern trage ich auf, dass wir in den nächsten drei Monden die nächsten Sonnenkinder hervorbringen. Jene, die dann zum zweiten oder dritten Mal empfangen werden dann die Ehre haben, weitere in ihrem Auftrag entkörperte Brüder und Schwestern wiederzugebären. Wie vorhin galt und gilt, dass ein Mann von uns drei Frauen von uns oft genug beschläft, bis sie von ihm schwanger sind. Ich werde da keine Ausnahme bilden. Und wenn ihr diese Aufgabe erfüllt habt, liebe Mitbrüder, dann werdet ihr unsere Streitmacht sein, um die dunklen Ausgeburten des Mitternachtskönigs zu bekämpfen und aus der Welt zu verstoßen.

Für jene, die heute wieder zur vollen Reife gelangt sind habe ich ein Gefäß mit Kraftausrichtern besorgt. Auch wenn es für euch schon mehr als ein Sonnenkreis her ist hoffe ich, dass ihr euch schnell damit zurechtfindet und die hohen Künste wieder in euer Bewusstsein und eure Hände zurückkehren. So wie ich es sagte, so soll es geschehen!" sprach Faidaria.

"In drei Monaten soll ich ... Öhm, ich glaube, ich lasse mich nur noch zum Rechnerdienst einteilen", dachte Olarammaya. Dann bekam sie noch mit, dass ihre zweite Mutter ab heute auch einen neuen Namen tragen sollte. Faidaria benannte sie mit goldenen Funken um in: "Dailangamiria, die Gebärerin der zweifachen Hoffnung." Die ehemalige Helferin der Dunkelhexe Anthelia fiel auf die Knie, ob gewollt oder durch die sie überstreichenden Funken getrieben. Sie blickte die Älteste der Sonnentöchter erhaben an. "Wie ihr alle wisstt kann eine große Tat oder ein erreichtes Lebensziel einen neuen Namen erbringen", sagte Faidaria. "Doch im Moment sind außer ihr hier, die uns die beiden hoffnungsgleichen Schwestern geboren hat, alle mit den Namen bedacht, die sie verdient haben, ich eingeschlossen", sagte sie. Dann übergab sie den schnell ausgereiften Nachkommen ihre pyramidenförmigen Kristallkörper, die als Zauberkraftausrichter dienten. Die Ureltern hattenoffenbar sehr weit vorausgedacht, dass sie einmal mehr als hundert oder zweihundert sein würden und ffür jeden oder jede einen solchen Kraftausrichter eingelagert, dachte Olarammaya, was in der alten Sprache der Sonnenkinder Gnadentochter hieß. Eine Gnade war es, dass sie noch lebte. Ob es aber auch eine Freude sein würde entschied sich später.

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"Wir müssen wissen, wer diese freien Nachtkinder sind. Die Göttin wird sicher ungehalten, wenn wir das nicht wissen", meinte Tachypteros, als er mit der Hohepriesterin zusammen auf einem kleinen Flughafen in Afghanistan stand. Zwar schien die Sonne noch. Doch unter der Solexfolie war der Diener der erwachten Göttin sicher. Nyctodora indes brauchte keinen solchen Schutz.

"Natürlich will sie wissen, wer die sind. Aber sie geht auch von einem Versuch der Rotblüter aus, uns aus der Reserve zu locken, damit sie uns um so leichter erledigen können. Das Beinahe Debakel mit der mexikanischen Werwolfhöhle darf sich nicht wiederholen. Außerdem könnte es sein, dass die Rotblüter uns gegeneinander aufhetzen wollen. Solange wir nicht wissen, was an dieser Geschichte von einer Liga freier Nachtkinder dran ist sollen wir uns nur auf die zu errichtenden Tempel besinnen, Tachypteros."

"Und du bist dir sicher, dass dies der Wille der Göttin ist, Nyctodora?" fragte der wesentlich ältere Vampir. Die schwarzhaarige, makellos schöne Mitstreiterin in der blutroten Robe der Hohepriesterin zuckte nur mit den Schultern. "Ich bin Nyctodora, die Hohepriesterin. Wenn jemand weiß, was die Göttin begehrt, bin das ich", sagte sie sehr bedrohlich klingend. Dabei Pokerte sie sehr hoch. Denn gerade das Debakel mit dem Unterschlupf der Werwölfe in Mexiko hatte sie selbst sehr stark an den Abgrund der Ungnade getrieben. Sie war im Grunde auf Bewährung und durfte sich keinen weiteren Fehler mehr erlauben. Doch das musste Tachypteros nicht wissen. Erst einmal sollten sie alle stillhalten und abwarten, ob die Behauptung, es gebe eine Liga freier Nachtkinder, nur eine Zauberererfindung war oder Wirklichkeit. Erst wenn sie das wussten konnten sie herausfinden, wer dieser Liga angehörte und ob sie von den Zauberstabschwingern unterstützt wurden oder nicht. Falls es diese Liga gab mochten die Rotblüter zwischen dem großen und dem kleineren übel wählen. Sie würden es bald erfahren, wie sie sich entschieden.

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Ursuline hatte sie alle eingeladen, die in Frankreich wohnten. Die einzigen die nicht kamen waren Ursulines Brüder. Diese pflegten kein so inniges Verhältnis zum restlichen Familienverbund.

Sie trafen sich im goldenen Salon. Alle dort aufgehängten Kronleuchter waren entzündet. Es wirkte so wie für eine feierliche Zeremonie am Hof eines Fürsten oder Königs. Dann betraten Gilbert Latierre im dunkelgrünen Samtumhang, seine Mutter in einem veilchenblauen Kleid und sie den Salon. Sie trug ein Kostüm aus himmelblauer Seidenbluse, knielangem, dunkelbraunem Rock und an den Füßen elfenbeinfarbene Halbschuhe. Auf den rotbraunen Locken trug sie einen dotterblumengelben Hexenhut. Mit ihrer kaffeebraunen Haut und den fast schwarzen Augen wirkte sie schon wie eine orientalische Schönheit. Doch sie kam aus genau der entgegengesetzten Weltgegend, ein echtes kalifornisches Mädchen, wie es die legendären Beach Boys nicht schöner anschmachten konnten. Julius erkannte das Kostüm. Das hatte sie bei der allerersten Begegnung mit ihm getragen, gleich nach dem einschneidenden Zusammentreffen mit Hallitti und seinem durch ihre Magie zum uralten Mann gealterten Vater, den Patricia Straton dann in der Mojawewüste in einen gerade erst neugeborenen Säugling zurückverwandelt hatte. Also stimmte es doch, was er sich seit Wochen immer wieder gedacht hatte. Sie war der Grund, warum Cynthia, die gerade krampfhaft zu lächeln versuchte, ohne die Augen mit einzubeziehen, ihren Sohn Gilbert immer wieder lautstark angefahren hatte. Es sah also ganz genau danach aus, als bekäme die aufdringliche, intrigante und Liter weise Lügentinte verspritzende Rita Kimmkorn doch noch recht. Die hatte nämlich schon vor vier Jahren behauptet, dass Gilberrt und die Frau mit dem dotterblumengelben Hexenhut ein Paar würden, weil sie über ihn, Gilbert, an ihn, Julius Latierre, herankommen wollte. Ja, und jetzt sah es so aus ...

"Ich freue mich, meine geliebte Schwester, dass du doch den nötigen Anlauf gefunden hast, um über deinen kalten Schatten hinwegzuspringen und hier und heute dabei bist, um deinem Sohn mit uns allen zusammen alles Glück und alle Freude zu wünschen, die er haben kann. Doch überlasse ich es nun ihm, uns allen eine große Ankündigung zu machen", sagte Ursuline und trat bei Seite. Gilbert Latierre stellte sich so, dass ihn alle sehen konnten. Seine Mutter tupfte sich ein paar Tränen aus dem Gesicht. Julius erkannte nun, dass die Frau im Kostüm eindeutig in freudiger Erwartung war. Ja, sowas ähnliches hatte er sich auch schon ausgemalt. Denn die Art, wie Cynthia gewettert hatte klang nach einer Mutter, die ihrem Sohn Vorwürfe machte, irgendein ihr nicht so ganz rechtes Mädchen geschwängert zu haben.

"Liebe Anverwandte, Oma Barbara, Tante Line, Maman, und ihr alle anderen. Ich habe in den letzten Monaten einiges Erlebt, wovon ich dachte, dass ich es in dieser oder jenen Form schon erlebt hätte und auch das irgendwie vorbeigehen würde. Doch dann geriet ich wegen dieser Schummelbrüder und -schwestern aus den Staatenin echte Gefahr. Ich meine, mein Beruf - in den Staaten nennen sie es Job - bringt es mit sich, dass es gefährlich werden kann. Aber in der besagten Nacht hatte ich zum ersten Mal echte Panik, den nächsten Sonnenaufgang nicht mehr zu erleben. Da war sie an meiner Seite und hat mich rechtzeitig gewarnt, das jemand kommen und mich abkassieren wollte. Wir haben uns dann Dank deines Talismans, Albericus, gerade so noch abgesetzt. Ja, und dann waren wir hier und haben immer mehr festgestellt, dass sie mich und ich sie mehr als nett finde. Tja, und irgendwann haben wir auch herausgefunden, dass wir zusammenpassen ..." Cynthia schrak zusammen, auch Babs Latierre, die mit ihrem Mann Jean und den Zwillingen Callie und Pennie unter den Zuschauern weilte. "Warum soll ich nicht sagen, was stimmt und was nicht böse, sondern erhaben ist, die damen Latierre?" fragte Gilbert. Dann sah er die Hexe an, die es geschafft hatte, den ewigen Junggesellen und womöglich auch Abenteurer so für sich zu begeistern, dass er mit ihr tatsächlich ein Kind auf den Weg gebracht hatte. Dann ließ er die ganze Katze aus dem Sack:

"Auch wenn ihr sie alle schon mal gesehen oder von ihr gelesen hat, das hier ist Linda Knowles aus Viento del Sol, Kollegin bei der Stimme des Westwindes und meine Verlobte. Wir werden am 30. Dezember hier im Sonnenblumenschloss vor einem französischen und einem kalifornischen Zeremonienmagier einander das Jahwort geben. Otto ist mein Trauzeuge und Hochzeitszeremonienmeister. Wenn ihr also irgendwas besonderes ausheckt oder uns vorführen wollt haltet euch bitte an ihn! Ja, und wie ihr sehen könnt wollte unser erstes Kind nicht warten, bis wir aus den Flitterwochen zurückkommen. Es will schon bei der Hochzeit dabei sein. Das ist auch nichts verwerfliches, Cousinchen Barbara, also guck mich nicht so nonnenhaft tadelnd an. Du bist keine Ordensschwester." Viele lachten. "Ja, nur weil meine geliebte Mutter lautstark und leider wie ich finde sehr unversöhnlich bekräftigt hat, dass sie keine nichtfranzösische Hexe als Schwiegertochter haben will und das mit dem Kind meine Dummheit sei und noch einiges mehr, weshalb dir, Linda, sicher die Ohren auch dann geklingelt haben, wenn du bei deiner Arbeit warst, habe ich die Entscheidung treffen müssen, wo wir leben. Ich wusste, dass Linda nicht gerne aus den Staaten fort will, schon gar nicht aus VDS, ein wunderschönes friedliches Dorf, ebenso wie Millemerveilles hier bei uns. Hier im Sonnenblumenschloss möchte ich nicht wohnen, weil hier schon genug quirlige Kinder wohnen, auch wenn du, Tante Line, nie genug Kinder um dich haben kannst." Line nickte lächelnd. "Deshalb, liebe Mutter und alle anderen hier, werde ich unverzüglich nach der Hochzeit mit Linda in einem der Pendelluftschiffe von Millemerveilles aus losfliegen und erst einmal bei ihr mit im Haus wohnen, bis wir was familiengerechtes in VDS gefunden haben werden. Daraus ergibt sich wiederum, dass ich die euch und mir ans Herz gewachsene, aus einer Notwendigkeit der Wahrheit wegen entstandene Zeitung Temps de Liberté, nicht mehr von Frankreich aus führen werde. Ich habe daher beschlossen und es mit meinen beiden Mitarbeitern Otto und Mildrid abgestimmt, dass die Zeitung ihren Stammsitz vom Sonnenblumenschloss nach Millemerveilles verlegen wird. Ich werde noch mit einigen Leuten reden, die mir durch Textproben und Erfahrungsberichte zeigen, ob sie die ministeriumsunabhängige Zeitung als weitere Mitarbeiter bereichern werden, da ich denke, dass du, Millie, weiterhin gerne die Lokalheroldin von Millemerveilles sein möchtest. Die Druckerpresse, die wir damals in einer Nacht- und Nebelaktion in einem Museum für Nachrichtenverbreitungsmittel geminisiert haben, wird weit genug weg von den Wohnhäusern in einem schalldichten und wetterfesten Haus unterkommen, für das ich den Varanca-Geschwistern aufrichtig danken möchte. Ab dem ersten Januar kann dann die Zeitung aus Millemerveilles an die Abonenten und Verkaufsstände verteilt werden. Ich werde dann als Auslandskorrespondent für Nordamerika in Viento del Sol tätig sein und jede Woche eine Kolumne in die alte Heimat schicken. Das sind jetzt die allerwichtigsten Neuigkeiten, die ich euch heute direkt und ohne es in die Zeitung zu schreiben mitteilen wollte. So, wenn ihr uns beglückwünschen oder mich einen Vollidioten oder Dummkopf nennen wollt habt ihr jetzt die Zeit dafür."

Außer Cynthia Latierre, die immer noch um Fassung rang fühlte sich aber keiner berufen, Gilbert einen Dummkopf oder was sonst zu nennen. Ihm und Linda gratulierten sie alle, angefangen von seiner Großmutter Barbara, dann Line Latierre, dann Otto Latierre, der sowas sagte wie: "Jetzt hast du mich doch ganz zum Zeitungszauberer umgebaut, sagte. Dann kamen die Cousinen und Cousins, darunter Hippolyte und Béatrice. Dann gratulierten auch Mildrid und Julius ihm zur Entscheidung für die Ehe und wünschten ihm und Linda alles Glück, dass sie sich verdienten.

Weil Barbara Latierre die ältere nicht zu lange bleiben wollte war sie gleich nach der Gratulation in Richtung Verschwindeschrankhalle abgerückt. Die anderen nahmen die Gelegenheit war, mit den Schlossherren zusammen zu Abend zu essen. Gegen zehn Uhr verabschiedeten sich auch Millie und Julius. Sie holten Aurore und Chrysope bei Jeanne ab, der sie kurz erzählten, was sich in der Latierrefamilie verändern würde.

"Dann ist das echt so, dass dein Onkel und Chef sich hat einfangen lassen?" fragte Jeanne die Nachbarin. Millie bejahte es. "Ja, und dicht zu halten, auch Julius gegenüber war verdammt schwer", sagte Millie.

"Dann wird das hier voll das Kommunikationszentrum mit dem Postamt, meinem Computerbaumhaus und der Zeitungsdruckerei mit mindestens drei Digekas", scherzte Julius. "Das ist noch nicht mal so eine schlechte Idee, die Druckerei gerade so nahe an das Computerbaumhaus heranzusetzen, dass es den Rechner nicht stört. Dann können wir in die Temps auch mal Sachen aus der magielosen Welt reinbringen, so unter der Rubrik "Was unsere nichtmagischen Mitmenschen bewegt." Julius überlegte, ob das eine so gute Idee war. Doch dann viel ihm ein, wie sehr er in Hogwarts und auch Beauxbatons nach Meldungen aus der nichtmagischen Welt gelechzt hatte. Der Mirroir Magique brachte bis heute nichts aus der sogenannten Muggelwelt. Das konnte noch eine Marktlücke werden, vor allem für Abonenten in Beauxbatons, die doch Angst bekamen, nichts mehr von zu Hause mitzukriegen. Sicher würde er seinen Ministeriumsberuf weiter ausüben. Aber jetzt hatte er zumindest alle zwei Tage einen Grund, länger im Computerhäuschen zu sitzen. Ob Millie das nach einem Monat immer noch so toll fand? Andererseits wollte er auch seine Kinder nicht vernachlässigen. Er wollte nicht so werden wie sein eigener Vater und dann was wesentliches verpassen. Das schwor er sich und später auch Millie. "Immerhin muss ich dann nicht mehr andauernd ins Schloss rüber, um Onkel Otto zu erklären, wie ich was wo gemeint habe", sagte sie dann noch, bevor sie beide einschliefen.

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Tatsächlich waren fast alle gekommen, erkannte Anthelia. Sie hatte in den letzten Tagen viele Zeitungsausschnitte gesammelt und über ihre heimlichen Verbindungen auch Informationen über die Tätigkeiten der Vampire zusammengetragen. Nun stand sie vor ihren Schwestern und beschrieb, was sich in den letzten Wochen angebahnt hatte.

"Die achso gesetzestreuen Hüter des Friedens in den Zaubereiministerien fürchten einen Glaubenskrieg zwischen den Vampiren. Das ist in sofern historisch, weil die Zaubereiminister aller Länder und ich als eure höchste Schwester uns zum ersten und vielleicht einzigen mal völlig einig sind. Doch was die Ministerien nicht eingeplant haben sind diese Nachtschatten, die von einer mächtigen Königin gelenkt werden. Ich habe ein probates Mittel gegen diese Brut, und ich kenne den Namen unserer fleischlosen Feindin: Sie ist eine Verschmelzung aus den magielosen Frauen Birgit Hinrichs, eine magielos praktizierende Heilkundige und Ute Richter, eine sehr auf Lebenslust getrimmte Hochschulstudentin der Altertumskunde. Wallenkron alias Vengor hat beide in einem Anflug von Geistesabwesenheit über zwei Ankerartefakte eines uralten und nicht mehr bestehenden Dämonenwesens namens Kanoras zu einer einzigen Entität verwünscht. Als solche nennt sie sich jetzt wohl Birgute Hinrichter. Ich könnte jetzt hingehen und diesen Namen als wahrscheinlich wahren Namen der selbsternannten Königin der Nacht veröffentlichen. Doch erstens muss ich fürchten, dass mir grundsätzlich niemand glaubt, wenn es von mir kommt. Zweitens sagte ich wahrscheinlich, weil ein ganz winziger Unsicherheitsfaktor mit hineinspielt, dass sie sich doch nach der Seelenverschmelzung einen ganz anderen Namen zugelegt hat. Deshalb werde ich es erst einmal nicht riskieren, diesen Namen zu testen, sofern ich keine Möglichkeit habe, sie anderweitig zu bändigen. Erst dann, wenn mir und auch euch solch ein Mittel in die Hände gelangt sein wird werde ich den Namen Birgute Hinrichter ausprobieren. Dass wir sie bekämpfen, bannen oder vernichten müssen ist leider nicht zu ändern, weil sie offenbar durch die von Kanoras erstellten Artefakte und den Zauber dieses Idioten Wallenkron das Gedankengut von Kanoras als ihr eigenes pflegt und die Herrschaft über alle Nachtwesen erstreiten will. Natürlich ist sie dabei schon mit unserer anderen Feindin, der selbsternannten Göttin aller Vampire, aneinandergeraten. Offenbar mussten beide dabei Federn lassen oder haben erst einmal nur die Grenze ausgelotet. Das wird nicht so bleiben. Ja, und wenn es zur entscheidenden Auseinandersetzung kommt werden wir Menschen mit und ohne Zauberkräfte zwischen die Fronten geraten, Beute, Kolateralschäden, unfreiwillige Rekruten, was auch immer, nur nichts erfreuliches. Deshalb habe ich euch alle hier versammelt. Wir müssen uns vorbereiten, genug Material erstellen, um uns erfolgreich zu wehren, wenn die eine oder die andere Seite uns bestürmt oder beide gleichzeitig.

Aber womöglich sind die zwei dämonenartigen Entitäten nicht unser wahres Problem. Ihr habt alle mitbekommen, dass eine alte Erzfeindin Sardonias wiedererwacht ist und ihrerseits versucht, die Herrschaft über alle Hexen an sich zu bringen. Ich spreche von Ladonna Montefiori, einer Hybridin aus Veela, Hexe und Waldfrau. Sie vereint alle magischen Eigenschaften dieser drei magischen Lebensformen in Vollendung. Das macht sie gefährlich, und sie darf nicht getötet werden, weil ihre Veelaverwandten sie dann blutig rächen werden, selbst wenn sie sie selbst hassen wie die Pest. Ja, und sie beherrscht einen sehr machtvollen Zauber, eine Kombination aus Elementarthaumaturgie und Alchemie, mit dem sie Dutzende bis hunderte von Feinden oder Auserwählten auf einen Schlag ihrem Willen unterwerfen kann, den Duft der Feuerrose. Ich bin besorgt, dass Ladonna dieses Mittel bereits mehrfach benutzt hat, um sich immer mehr wichtige Leute Untertan zu machen. Ich gehe sogar so weit und behaupte, sie hat sich bereits das italienische Zaubereiministerium unterworfen. Falls ich mit dieser Behauptung richtig liege - und ich würde mich sehr freuen, falls ich mich hier geirrt habe - dann kann sie den Verwaltungsapparat und das Personal eines ganzen Landes für ihre Zwecke einsetzen. Das ist der Grund, warum ich Ladonna für die zur Zeit gefährlichste unserer neuen Widersacherinnen halte. Und falls eine von euch denkt, dass sie vielleicht das kleinere Übel sei oder die Ziele der Vorherrschaft aller Hexen besser vorantreibt als ich, der sei gesagt, dass Ladonna ebenso wie Sardonia keine Gnade kennt und jede, die sich ihr zuwendet für den Rest ihres Lebens an sich bindet. Bedenkt das bitte, falls euch wer ein scheinbar unwiderstehlich verlockendes Angebot unterbreitet! Das ist nun alles, was ich euch bisher sagen konnte, wollte und durfte. Gute Nacht, meine Schwestern." Die anderen erwiderten den Abschiedsgruß. Dann durften sich alle entfernen, ob apparierend oder auf verschieden alten Rennbesen.

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Im restlichen Frankreich feierten sie den Tag der heiligen Barbara von Nikomedien, Schutzpatronin der Bergleute, Sprengmeister, Elektriker, Artilleriesoldaten und was sonst noch alles. Julius hatte von einem der in seinem Garten wachsenden Kirschbäume ein paar Zweige abgeschnitten, nicht abgebrochen. Die stellte er nun in eine Vase mit warmem Wasser. Aus einem Wunder der magielosen Biologie heraus würden diese Zweige um die Weihnachtstage herum Blüten tragen, das Wunder der heiligen Barbara.

Millie hatte schon mitbekommen, dass um ihren bald zur Welt kommenden Bruder ein gewisses Geheimnis gemacht wurde. Als sie versucht hatte, Julius auszuforschen, was er wusste, hatte er gesagt, dass er nicht in den Bauch seiner Schwiegermutter hineingesehen habe und daher nicht sagen könne, ob dort alles in Ordnung war oder nicht.

"Am Ende wird's doch wieder ein Mädchen und Tante Trice hat einen ausgestreckten Finger für das Zipfelchen gehalten", meinte Millie dazu.

"Zumindest hätte das Kind dann Finger an den Händen", sagte Julius darauf nur. "Aber ich kann verstehen, dass du auf glühenden Kohlen sitzt. Wie die Mädchen bei euch aussehen weißt du ja schon. Ich denke noch daran, wie dein Vater meinte, dass ein Junge von ihm ähnlich bodennah dimensioniert ist wie er."

"Höh, bodennah dimensioniert. Monju, nicht so umständlich. Mein Vater ist ein halber Zwerg, weil seine Mutter eine ganze Zwergin ist. Das kann er so ab, wie du ganz genau weißt, als wir Laurentines Opa Henri verabschiedet haben."

"Auch schon wieder zwei Jahre her", erwiderte Julius darauf. Immerhin ging es ihrer Großmutter sehr gut und sie hatte sich daran gewöhnt, als stille Teilhaberin einer Musikproduktionsfirma zu leben und dafür zwischendurch die neuesten Platten aus dem französischen Sprachraum ofenfrisch ins Haus geliefert zu kriegen, um sie in den Staaten als exotische Popmusik vorzustellen.

Die orangerote Schranktür in der Bibliothek ging auf. Heraustrat Barbara Latierre die ältere, Urgroßmutter von Millie und eigentlich die wahre Matriarchn des Latierreclans. Nur dass sie wegen ihrer unüberwindlichen Trauer um ihren verstorbenen Mann ein magisches Experiment gemacht hatte und deshalb bis auf eine volle Stunde im Monat als majestätischer Kirschbaum auf der großen Obstwiese ihres weitläufigen Bauernhofes stehen musste. Julius erstarrte fast in Ehrfurcht, als die in einen langen, waldgrünen Umhang mit Fellkapuze gekleidete Hexe den Schrank verließ. Millie indes fragte sich wohl gerade, womit sie die Ehre verdienten, dass sich ihre Urgroßmutter einige ihrer wertvollen Minuten für sie Zeit nahm.

"Schön euch zu sehen. Ich will auch nicht lange bleiben. Ich möchte nur drei Minuten mit meiner Urenkeltochter sprechen, weil ich von meiner Tochter Cynthia hörte, dass sie schon länger in Gilberts Pläne eingeweiht war. Auch wenn Ursuline die Sprecherin und Hüterin der Familie ist sollte es mich doch interessieren, was mit meinen Nachkommen geschieht und wer demnächst noch dazukommt." Julius nickte seiner Frau zu. Diese nickte zurück und bat die Besucherin in ihr eigenes Arbeitszimmer.

Julius beaufsichtigte die drei Kinder. Béatrice war gerade unterwegs, um Heilkräuter für ihr eigenes Zaubertranklabor zusammenzukriegen. Er wollte sich gerade die neueste Ausgabe vom grünen Magier nehmen, als die Türglocke bimmelte. Schnell prüfte er, ob der Verschwindeschrank unauffällig verschlossen war.

Sandrine stand vor der Tür. "Julius, ist Millie auch da. Caro ist wieder da", sagte Sandrine.

"Millie unterhält sich gerade mit unserer Urgroßmutter über Familienangelegenheiten. Was, Caro ist wieder da? Echt? Woher weißt du das?"

"Woher wohl, von der Béa aus meinem alten Schulhaus. und ich habe sie auch schon gesehen, wie sie durch die Hintertür in den Chapeau du Magicien rein ist. Und der dickste Donnerschlag kommt noch: Caro ist mindestens im sechsten Monat schwanger."

"Waas?!!" rief Julius und musste dann loslachen. Die Caroline Renard, die ihn bei seinem zweiten Ferienaufenthalt in Millemerveilles zu umgarnen ausprobiert hatte, die in Beauxbatons immer über alle ablästerte, die sich für Familiengründung interessierten oder diese ungeplant durchgezogen hatten, die seit Ostersonntag spurlos verschwunden war, sollte jetzt selbst schwanger sein? Er hörte sie noch über Millie und Sandrine ablästern, bis Gérard und er das Ding mit den 50 Strafpunkten pro Beleidigung der einen oder der anderen ausgeheckt hatten und die Beleidigungen von Pflegehelfern noch mal 300 Strafpunkte einbrockten.

"Öhm, und was wird das jetzt, die reumütige Heimkehr der verlorenen Tochter, also ähnlich wie es in der christlichen Bibel steht, nur mit einem Mädchen statt mit einem Jungen?" wollte Julius wissen.

"Von dem Kind oder den Kindern abgesehen war sie nicht allein. Die ist wohl mit einem braungebrannten Halbkreolen hier aufgetaucht. Ich habe den Burschen gesehen, Sommeranzug und mittelbraune Hautfarbe. Offenbar wollte es Caro doch mal wissen und hat sich irgendwo in Übersee einen Zauberer für gewisse Stunden angelacht."

"Ja, toll. Wenn sie das wirklich ist und kein Klon von Vita Magica oder sowas, hmm, der käme wohl nicht durch das neue Schutznetz. Aber was will sie dann hier? Öhm, ihren Erbteil vom toten Papa einkassieren?"

"Julius, bitte", knurrte Sandrine. Julius nickte abbittend und meinte: "Sie hätte doch locker da bleiben können, wo sie war. Ihre Mutter wollte sie doch schon für tot erklären lassen. Also warum kommt sie mit lebendem Extragepäck aus dem Nichts und sucht ihre mit mehreren Kindern gleichzeitig schwangere Mutter auf?"

"Das ist ja der Grund, warum ich hier bin. Vielleicht hat Millie da was im Busch gehört, wo wir nur Wind gehört haben", sagte Sandrine. Da ging die Arbeitszimmertür auf. "Millie, Sandrine sagt, Caro ist wieder in Millemerveilles und hat offenbar beschlossen, eine eigene Familie zu gründen", sagte Julius.

"Waaas! Wo soll die jetzt sein, Sandrine?" fragte Millie. "Wo wohl, bei ihrer Mutter, falls die vor lauter Schrecken nicht tot umgefallen ist."

"Lustig, Sandrine. Wo ich eben getextet habe, dass sie das Erbe ihres Vaters abholen möchte hast du mich getadelt", wandte Julius ein. Millie nickte Sandrine nur zu. "Ich will das jetzt wissen. Nicht, dass die gute Adrienne echt noch einen Heiler braucht."

"Und was macht Oma Barbara solange?" fragte Julius. Millie schickte zurück: "Sie hat noch vierzig Minuten für diesen Monat übrig. Bitte krieg hin, dass Sandrine vorher weg ist oder zeig ihr den Garten oder was." Laut sagte sie noch: "Sie wollte nur noch nach den Kindern sehen und dann wieder per Kamin nach hause." Dann disapparierte Millie einfach.

"Hoffentlich habe ich jetzt nichts angestellt, was uns allen um die Ohren fliegt", meinte Sandrine und begrüßte Aurore, die mitbekommen hatte, dass Besuch gekommen war. "Werde ich immer kleiner oder du immer größer, kleine Morgenprinzessin?" fragte Uroma Barbara die Erstgeborene der Latierres. Aurore machte "Häh?" Julius übersetzte, dass sich Aurore wunderte, dass andere immer kleiner werden wollten, wo sie doch jeden Tag größer werden wollte. Das brachte Sandrine und die nicht so betagt aussehende Urgroßmutter zum lachen. Dann fragte sie Sandrine, wie es ihren beiden Kindern ging, wo diese doch ganz kurz nach Aurore auf die Welt gekommen waren. "Ich komm langsam damit klar, dass ich sie zwischendurch mal nicht umschwirre oder mich von ihnen umschwirren lassen muss, Madame Latierre", sagte Sandrine. "Sie wissen ja sicher von Millie, wieso ich die beiden schon vor dem Abschluss in Beauxbatons bekommen habe und dass das dieselben Halunken waren, die uns im Juni dieses Zeug ins Dorf geblasen haben, weshalb jetzt fast alle erwachsenen hexen, die bis dahin gerade nicht schwanger waren, auf neue Kinder warten. Ich verdanke es Ihrer Enkeltochter Béatrice, dass die mich noch rechtzeitig abgehalten hat, jemandem zum Ehebruch zu verleiten, obwohl ich das garantiert nicht nötig habe."

"Ja, ich habe diese Lumperei mitbekommen. Millie hat ja soweit sie durfte darüber berichtet", grummelte Barbara Latierre die ältere.

"Ja, auf jedenFall musste ich erst lernen, das ich die Kinder nicht immer und überall mit mir herumtragen oder an langen Führstricken halten kann. Die können ja nichts dafür, wer die Gérard und mir zugeschustert hat."

"Das mit Ihrem Mann habe ich auch mitbekommen, nicht von Millie. Ich habe da noch einige Quellen mehr. Erst den Vater zu frühzeitiger Neuausrichtung zwingen und ihn dann von seiner Familie wegreißen, wo er sich gerade dran gewöhnt hat", schnaubte Uroma Barbara. Dann beugte sie sich wieder zu Aurore und flüsterte ihr was zu. Aurore wuselte daraufhin aus dem Wohnraum. "Ich wollte da jetzt nicht wo das Kind bei ist drauf eingehen, Madame Dumas. Ich hoffe, sie lernen die richtige Balance zwischen Lieben und loslassen, bevor die Kinder sich bedrängt oder unterdrückt fühlen", sagte sie. "Die Kinder sind das, was Sie noch von Ihrem Mann Gérard haben, auch wenn sie früher zu Ihnen kamen als ursprünglich geplant. Ich habe auch lange um meinen verstorbenen Mann getrauert und mich zu Sachen verstiegen, die ich so heute nicht mehr tun würde. Meine Kinder und Kindeskinder halten mich am Leben und zeigen mir, dass jeder Tag ein neuer Anfang ist. Das klingt zwar jetzt sehr nach Seelentrostberater, aber ich habe das zumindest so erlebt.

"Hier, Oma Barbaraaa. Haben Papa und ich gemacht. Darfst du haben, weil ja heute Barbaraaatag ist", quiekte Aurore und übergab ihrer Ururgroßmutter eine aus Kastanien und Eicheln gemachten Herbstschmuck. Ihre Ururgroßmutter freute sich und hielt das Gebilde für Sandrine sichtbar hoch. "Das meinte ich mit jeder Tag ein neuer Anfang", lachte sie Sandrine an. Dann sah sie auf ihre Uhr. "Oh, ich muss wieder auf den Hof, wollte noch was wegen der neuen Kühe mit meiner Namensvetterin bereden", sagte sie. Julius übersetzte es. Er fragte sie, ob sie Flohpulver bräuche. Uroma Barbara überlegte kurz. Dann schüttelte sie den Kopf und deutete auf die kleine Umhängetasche. "Wenn ich verreise habe ich immer eine Prise bei mir, wenn ich schnell nach Hause muss. Ich komme gut von hier weg, Julius."

"Gut, dann kucken wir mal, was die zwei von Sandrine machen, Rorie?" Aurore hüpfte in die Luft und quiekte "Au ja!!"

Julius trug Clarimonde auf dem Rücken, weil er nicht wusste, wann sie wieder was brauchte. Mit Aurore und Chrysope verließ er zusammen mit Sandrine das Haus. "Millie, bin mit den Kindern und Sandrine zu ihren Kindern hin. Oma Barbara wird wohl wieder den orangen Schrank benutzen", mentiloquierte er, während er die beiden schon Lauffähigen Kinder an den Händen führte und Clarimonde auf dem Rücken trug.

"Dann bist du ja gleich ganz nahe bei mir. Ich komm dann zu euch rüber. Mehr nachher, wenn ich weiß, was ich davon weitergeben darf oder besser lassen soll."

Bei den Dumas spielten Aurore und die Zwillinge Estelle und Roger zusammen, während sich Julius mit Sandrine und ihrer Mutter über das unerwartete Auftauchen Carolines unterhielt.

"Die war ein halbes Jahr weg und kommt mit Zusatzgepäck hier an, wo ihre Mutter genauso in Umständen ist wie ich. Die wollte nur nicht für tot und begraben gehalten werden."

"Aber Adrienne lebt noch oder?" fragte Julius.

"Sandrines Freundin Béatrice hat bisher keinen Heiler beim Chapeau gesehen", sagte Geneviève Dumas.

"Da haben wir alle gedacht, die hat Millemerveilles auf nimmer Wiedersehen verlassen. Wenn ich daran denke, dass ihr Vater sich mit den sieben anderen in diesem Luftschiff in denTod geflogen hat, weil er nach ihr suchen wollte", seufzte Julius. Sandrines Mutter nickte. "Ich gehe sehr stark davon aus, dass Carolines Maman ihr das nun auch sehr deutlich sagen wird."

"Und Millie hängt jetzt mit der Nase dabei", grummelte Sandrine.

Wie auf stichwort klingelte es an der Haustür der Dumas'. Sandrine ging aufmachen. Millie kam herein und sah sehr überlegen aus. "So, das war der letzte Akt von Caros Drei-mann-Schau, zumindest ist sie sicher, dass in ihrem Unterbau ein kleiner Mann eingezogen ist. Erst wollten die mich glatt aus dem Haus schupsen. Da habe ich die zwei angesehenund gemeint, ich wollte sicherstellen, dass keiner der beiden was passiert wegen Aufregung und so und könnte ja Hera herholen. Da waren die zwei aber sowas von handzahm, dass das schon wieder unheimlich war", begann Millie. "Also, was ich offiziell verkünden darf ist, dass Caroline sich nach einem längeren Aufenthalt auf Martinique mit einem dort in der Ministeriumsniderlassung tätigen jungen Zauberer namens Maurice Clairmont häufiger getroffen hat und wohl einmal nicht auf gewisse Vorkehrungen geachtet hat. Tja, und weil sie nicht als reuige Sünderin nach Hause kommen wollte, als sie mitbekam, dass ihr Vater in der Dämmerkuppel verunglückt ist, wollte sie diesen Typen erst heiraten, um klarzustellen, dass sie zum einen das Kind bekommen will und zum zweiten mit dem und dessen Vater in der Zauberergemeinde von Ford-de-France bleiben wird. Sie ist seit fünfeinhalb Monaten schwanger und seit zwei Monaten verheiratet. Erbansprüche stellt sie keine, weil sie mitbekommen hat, dass ihre Mutter gleich vier neue Kinder von Laurent Beaufond austrägt, weshalb sie, also Caros Mutter, ihr, also Caro, keine Vorhaltungen zu machen bräuche und so weiter und so weiter. Inoffiziell ist die Kiste natürlich um einiges heftiger."

"Wie heftig?" wollte Julius wissen.

"Sie ist ausgebüchst, weil sie mitbekommen haben will, wie ihr Vater sie einem der Kongressleute angeboten haben soll, als fleißige, gut gebildete und intelligente Ehefrau. Weil ihre Mutter da erst kreidebleich und dann tomatenrot angelaufen ist hat das wohl gestimmt. Ich habe Adrienne das Wort geben müssen, dass ich das nicht in die Zeitung setze, aus Pietät, zumindest mehr als Caro sich zugetraut hat."

"Falls das echt stimmt wäre ich auch bei Nacht und Nebel stiften gegangen", sagte Julius. "Und dann ist die ausgerechnet dahingereist, wo sich Sandrine und etliche andere Hexen ungewolltes Extragepäck haben aufladen lassen?" fragte Julius. Sandrines Mutter schnalzte missbilligend mit der Zunge, während Sandrine erwiderte: "Er hat doch leider recht, Maman. Auf der Insel scheint ein Nest von VM zu sein. Wenn da ein Mädchen die Beine mehr als Pergamentblattbreit auseinandermacht wird es schwanger."

"Sandrine", entrüstete sich Geneviève Dumas. "Ja, Maman, ich weiß, erst ich und dann Véronique sind vom Regenbogenvogel geliefert worden", konterte Sandrine unerwartet aufmüpfig. Millie und Julius mussten grinsen.

"Okay, weil Caroline schon wieder mit ihrem Inselprinzen abgerückt ist noch das Ende der Geschichte", setzte Millie an. "Die Eltern von dem Burschen arbeiten für die Niederlassung des Zaubereiministeriums, also da wo Tines Schulfreundin Héméra arbeitet. Julius, du kennst die Firma - Die haben ganz klar angesagt, dass sie Maurices Entscheidung für das Kind nur akzeptieren, wenn das Kind auf Martinique geboren wird. Angeblich sind in dem braunen Wunderknaben Gene von einem Voodoopriester drin verbacken. Sie hat ihrer Mutter die Heiratsurkunde gezeitg, kurz erzählt, wo sie den Burschen aufgelesen hat und dann noch ein eidesstattliches Pergament auf den Tisch geklatscht, wo draufsteht, dass sie, Caroline Clairmont, zum Zeitpunkt heutiges Datum gesund an Geist und Körper, auf alle Erbansprüche aus dem Nachlass ihres am neunten Mai 2003 verstorbenen Vaters verzichtet und seit dem 20. September in der magischen Gemeinschaft Ford-de-France auf Martinique wohnt. Dann hat sie ihrer Mutter noch alles gute für die Neuzugänge gewünscht, mich irgendwie abbittend angeguckt und gemeint, sie wolle es jetzt wissen, was am Kinderkriegen so toll sei, außer die eine Stunde, in der sie gemacht werden ..." Geneviève räusperte sich sehr ungehalten. Julius ritt der Frechheitswichtel nachzulegen: "Vielleicht meinte sie auch nur fünf Minuten, so in der Frühstückspause."

"Schwatzfratz", knurrte Sandrines Mutter und musste dann doch verhalten grinsen.

"Tja, jedenfalls kann Carolines Mutter jetzt voll neu durchstarten wie mit dem Ganni 15. Ich diktier das gleich noch in die Schreibefeder, dass Caroline sich einvernehmlich von ihrer Mutter verabschiedet hat, weil sie hier in Millemerveilles nichts mehr hält. Alles andere ist ein Ding zwischen den beiden oder den dreien oder vieren."

"Falls das echt so gelaufen ist, was jetzt keiner mehr nachprüfen kann, wäre das echt ein starkes Stück. Aber ich dachte immer, Caros Vater hätte gerne die Schenke an sie vererbt, wenn sie lange genug dort arbeitet", sagte Julius.

"Hat Caroline erwähnt, mit welchem Monsieur ihr Vater das ausgehandelt haben will?" fragte Sandrine.

"Also, als ich dabei war nicht. Aber so wie ihre Mutter die Farbe gewechselt hat wusste die echt was von so einer Verabredung."

"Oha, Millie, dann wäre es vielleicht ausnahmsweise günstiger, wenn du gar nicht erwähnst, dass Caroline hier war. Nachher meint noch wer, sich auf bestimmte Vereinbarungen berufen zu müssen", sagte Julius.

"Eigentlich will mir das nicht in den Schädel, dass der hoffentlich jetzt in Frieden ruhende Monsieur Renard seine kostengünstige Schankmaid an irgendwen von außerhalb verkuppeln wollte und vor allem, dass Caroline, die immer so biestig mit Connie, Sandrine und mir umgesprungen ist, jetzt unbedingt von irgendeinem Insulaner ein Baby kriegen will, wo die in Frankreich selbst schon genug Leute dafür hätte finden können."

"Stimmt, einen von denen hatte erst Claire sicher und danach hast du den bekommen", seufzte Julius. Millie pfiff durch die Zähne, während Sandrine nickte. Julius legte noch nach: "Aber stimmt, das passt echt nicht zu Caro, sich aus trotz ein Kind zustecken zu lassen. 'tschuldigung, Geneviève, aber für eine akademische Wortwahl ist mir diese Kiste zu verdreht. Aber Millie, ich wiederhole meinen Vorschlag, schreib das besser nicht in die Temps rein! Am Ende hat wirklich noch wer "Erbansprüche" bei Madame Renard."

"Hmm, gut, so weltbewegend ist die Geschichte auch wieder nicht, dass ich das unbedingt in meine Lokalkolumne reintun oder als Dreizeiler zwischen "Spiel und Sport" und Neues aus dem Ministerium" reinsetzen muss. Aber wenn wer auch immer jetzt wartet, ob Caroline wieder auftaucht könnte der warten, ob sie für tot erklärt wird oder nicht, und das kann und wird Adrienne jetzt nicht machen, auch wenn Caro rein gefühlsmäßig gerade für sie gestorben sein mag."

"Nicht, wenn die ihren Enkel besuchen fliegen will, Millie", warf Julius ein. Sandrine nickte heftig. Millie verzog das Gesicht und widerrief ihren letzten Kommentar.

"Bei allem Respekt, in die Schenke gehen ja manche merkwürdigen Zeitgenossen von außerhalb rein. Aber ich will es nicht glauben, dass die Renards ihre eigene Tochter gegen ihren Willen verheiraten wollten. Ja, und ich stimme auch zu, das sie mit Caroline eine sehr kostengünstige Servierhilfe gehabt haben", sagte Geneviève. Millie sagte nur: "Deshalb lassen wir die Kiste besser zu und verbuddeln sie. Onkel Gilbert hat im Moment genug andere Sachen um die Ohren, und das Ministerium wirft auch genug für drei Ausgaben pro Tag ab."

"Und eure Uroma war gerade bei euch, als Sandrine mit dieser höchst merkwürdigen Sache bei euch ankam?" fragte Sandrines Mutter. Julius und Millie bestätigten es und dass Julius erst dann mit Sandrine das Haus verlassen hatte, als seine Uroma von sich aus gehen wollte. Sie sprachen dann noch über die Familien und auch dass Gilbert die Temps an Otto und Millie abtreten wollte und als Auslandsberichterstatter nach Kalifornien umsiedeln würde.

Als Clarimonde quängelte kümmerte sich Millie um sie. Danach gingen die Latierres wieder nach Hause. Julius musste Chrysie tragen, weil sie so lange Strecken doch noch nicht laufen konnte. Sie kamen noch früh genug an, um eine Kleinigkeit zu essen und dann die drei Kinder ins Bett zu bringen.

"Und du hast verdammt noch mal recht, Monju, dass die Kiste mit Caro mehr als verdreht ist. Kann sein, dass Caroline diesen Inselprinzen gezielt dazu gekriegt hat, sie zu schwängern, um über den an was ranzukommen, was sie hier nicht kriegen kann. Vielleicht kann Onkel Gilbert ... Ach neh, dann müsste ich dem doch stecken, ddass die verlorene Tochter für zehn Minuten heimgekehrt ist. Neh, die gute Adrienne hat im Moment echt mehr als genug zu tragen." Julius konnte ihr da nur zustimmen.

__________

Es war nicht das erste mal, und er hätte sich sicher auch gewundert, wenn ihm das dieses mal nicht passiert wäre. Als er sich knapp über einem aus sich heraus rötlich leuchtenden, mit dem Kopf nach unten hängenden Menschenwesen in einer immer engeren Fruchtblase schweben sah wusste er sofort, wo und bei wem er war und dass er wohl einmal mehr die Geburt eines mit ihm in körperlicher oder geistiger Beziehung stehenden Menschen miterleben würde. Er wunderte sich auch nicht darüber, dass der kleine Mensch in Gedanken zu ihm sprach.

"Eh, was machst du denn hier. Dieses enge Schleimding ist nur für mich da."

"Ich wollte auch nicht spannen, Alain. Das passiert mir einfach, wenn wer auf die Welt kommt, mit dem ich irgendwie zu tun habe."

"Ach neh, dieses Gebortwerdenzeugs? Neh, ich habe der, in deren warmem Wassersack ich drinstecke doch gesagt, die soll mich nicht da rauslassen, wenn das da draußen so andstrengend ist. Ey, die kleine Zwergin soll das lassen, ich fall hier sonst noch raus", quängelte der gerade auf die Welt kommende Alain Durin Latierre, weil irgendwer seine warme, weiche Behausung eindellte, wohl um zu fühlen, wo er schon war. "Ah, sein Kopf ist schon richtig tief unten, Hippolyte, dann geht's gleich richtig los. Du kennst das ja, hast du ja schon dreimal geschafft", hörte er wie durch eine dicke Wand Lutetia Arnos Stimme.

"Ja, und jedesmal schwöre ich mir, dass ich mir das nicht noch einmal antu", hörte er laut und dumpf die Stimme Hippolytes. "Eh, ist das die Maman. Wieso klingt die so, als wenn der was weh tut. Wenn ich das bin braucht die mich doch nur wieder ganz reinzudrücken und fertig", quäkte die Gedankenstimme Alains. "Und du geh raus, sonst ist kein Platz mehr für mich drin. Das ist ein Einzelzimmer mit Vollverpflegung und kein Durchgang, wo jeder einfach so durchrennen kann."

"Ich müsste wach werden, um hier wieder wegzukommen, Alain. Aber ich fürchte, deine Oma Tetie wird dich nicht da lassen, wo du bist, weil sie nicht will, dass deine Maman, die dich sicher schon ganz doll erwartet, noch länger auf dich warten muss."

"Wieso auf mich warten, ich bin doch schon in der drin. Hier, merkt die doch", dachte Alain und trat kräftig nach oben. Alle sechs Zehen des rechten Fußes gruben sich in die obere Gebärmutterwand. Das bewirkte, dass Hippolytes Uterus reflexartig zusammenzuckte und sich dabei noch mehr verengte. "Eh, Drachendreck, jetzt wird das hier noch enger und viel zu hart. Eh, Typ, werd wach und sag der, ich bleib bei der. Die hat immer so leckeres Zeuch gegessen. Das mit dem Gebortwerden lassen wir weg. Die kann mich gut mit sich rumtragen, hat die zu der ... Ei, wieso wird denn das noch enger. Eh, aufhören damit." "Jetzt, Hipp, fang zu pressen an."

"Nicht pressen, ansaugen, wieder zurückziehen", protestierte Alain. Doch da gerit sein Kopf schon in den Geburtskanal. "Drachendreck, hier ist's doch viel zu eng und autsch. Ich drehe mich besser rum!" Das tat Alain auch und rutchte dadurch erst recht in Hippolytes Becken. "Eh, alte, lass das. und ..." Mit lautem Geräusch zerriss die Fruchtblase, und das Fruchtwasser begann abzulaufen. Julius kannte das schon von so vielen Gelegenheiten, vor allem, als er Madrashainorian wurde. Er hatte aber auch schon Millies Geburt aus ihrer Warte nacherlebt und war sich sicher, dass Alain seinen Weg nach draußen nehmen musste, ob er das wollte oder nicht.

"Eh du, zieh mich wieder zurück und sag der, das ganze warme Wasser geht weg. Ich brauch das Zeuch noch", protestierte Alain. Doch dann bekam er einen kräftigen Stoß von Hippolytes Bauchmuskeln und rutschte weiter und weiter. "Brr, was ist denn jetzt, alles viel zu ... kalt? Nein, diese Tetie, jetzt machen die das echt. Eh, alles wieder zurück und neues Wasser rein. Ich bin doch viel zu jung zum leben."

"Viel Spaß auf der Welt. Du kriegst drei größere Schwestern, eine sportliche Maman, einen quirligen Papa und eine ganz liebe große Familie mit vielen kleinen Nichten."

"Eh, ist mir völlig egal ... Ich will da nicht durch. Ich halt mich fest. Genug Finger habe ich. Ätsch." Julius fühlte es mehr als er es sah, wie der kleine Mensch versuchte, sich zu verkeilen und festzuklammern und dadurch noch schneller ins freie drängte. Dann rief er nur noch: "O nein, ich volltroll. jetzt fall ich gleich irgendwo hin und ... Uaaarrg! Uääää! Uäää!" Die letzten Äußerungen bekam Julius wie durch dicke Wände mit. Er sah unter sich ein helles Licht und erkannte gerade noch, wie Alains Füße nach unten verschwanden. "Ja, hallo, kleiner Erdenprinz. DA bist du ja schon. Kannst du mal sehen, Hipp, der war nicht so lang und hat sich noch quirliger durchgeschlängelt als die drei Mädchen."

"Eh, Betrug! Ich hatte für zwölf Monate gebucht und nicht für nur neun", hörte Julius die quäkige Gedankenstimme Alains über das für ihn von außerhalb klingende natürliche Geschrei. Dann wurden Protesttirade und Geschrei eins. "So, für das Protokoll. Der kleine Alain Durin kam um genau vierundzwanzig Minuten nach zwei Uhr auf die Welt, am zwölften zwölften. Beri, komm her, du darfst ihn jetzt von deiner Frau losschneiden!"

"Neh, m-mng-Maman, mach du das", hörte Julius Albericus' Stimme und wunderte sich, dass er Alain nicht hinterherrutschte wie bei Jeannes Zwillingen oder bei den Vierlingen von Ursuline. Jedenfalls hörte er keinen Protest mehr von Alain. Dafür hörte er erst Lutetias Ansagen wie durch dicke Wände: "Länge achtundvierzig Zentimeter, Kopfdurchmesser direkt nach der Geburt zwölf Zentimeter. Ist nicht so eingedellt wie bei Martine damals. Na, wie schwer bist du? - Ah, zweitausendundsiebenhundertsechzig Gramm. Verglichen mit dem Wonneproppen Miriam richtig mager. Aber von der Größe her passts. Ui!! Ein Hanbaldurir!"

"Ein was bitte, Tetie?" drang laut und dumpf die Stimme der gerade wieder Mutter gewordenen an Julius' Ohren. "Na ja, ein Hanbaldurir, öhm, Segenshänder oder von Durin begütert heißt das wohl bei euch. Dann hat er seinen Namen zurecht. er hat zwei gesegnete Hände und Füße, mit zwei Mittelfingern. Hatte mein Urgroßvater mütterlicherseits auch. Der konnte echt ganz tolle Sachen damit zusammenbauen und die Laute spielen wie sonst kein Musiker."

"Dann hatte Trice verdammt noch mal recht. Sie hat mich schon gewarnt, ich könnte einen Schrecken kriegen. Aber sie meinte, dass er alle Finger bewegen kann, auch die überzähligen."

"Sei froh, dass er sechs Finger hat. Die mit nur drei Fingern wurden bei uns gleich mit der Nabelschnur erwürgt und mit der Nachgeburt den Höhlentrollen hingeworfen", sagte Tetie. Julius fühlte sich mittlerweile immer schwindeliger. Er hatte das Gefühl, gleich in die Tiefe zu fallen. "Und diese Zauberstabpiekserin und Durchguckscheibenanbeterin hat das schon gesehen, dass mein Enkel ein Hanbaldurir ist. Das ist gemein, Hipp. Oh, ich glaube, die Nachgeburt hat gehört, dass ich von ihr gesprochen habe. Ich seh zu, dass ich sie rauskriege."

"Zwölf Finger. Hoffentlich kriegt der nicht dauernd Krach mit wem, der ihn dumm anquatscht", hörte Julius Hippolyte. Dann sah er, dass schmale, kräftige Finger ihn zu fassen versuchten. In dem Moment fiel er selbst hinaus in das licht, das immer heller wurde, bis alle Farbenund Formen davon überstrahlt wurden und er sich laut einatmend auf seiner Seite des Ehebettes im Apfelhaus wiederfand.

"Julius, hast du wieder geträumt?" grummelte Millie. Julius entschuldigte sich und sagte nur: "Ich hab schon wieder bei wem mitgehört."

Millie wollte nun wissen, was er geträumt hatte. Weil Béatrice ihm das mit den überzähligen Fingern und Zehen schon gestanden hatte erwähnte er es mit gewisser Zurückhaltung.

"Öhm, zwölf Finger. Oha, das wird schwierig, wenn der was in die Hand nehmen oder mit allen Fingern an bestimmten Stellen festhalten soll. Das meinte Tante Trice also, ich sollte keinen Schrecken kriegen, wenn ich den Kleinen zum ersten mal sehe. Aber kucken wir mal, ob alles auch echt passiert ist, Monju. Geburtszeit?" Julius gab die Stunde und Minute an. Dann sagte er das Gewicht an, dann die Körperlänge und den Kopfdurchmesser. Dabeifiel ihm was auf: "Abgesehen von seiner Namenslänge scheint Alain Durin eine besondere Beziehung zur Zahl zwölf zu haben. 02:24 ist die einhundertvierundvierzigste Minute des Tages. Heute ist der zwölfte zwölfte. Gewicht und Körperlänge lassen sich wunderschön durch 12 teilen, und der Kopfdurchmesser sowieso."

"Vorausgesetzt, dass du wirklich alles mitbekommen hast, was passiert ist und nicht wegen dem, was Tante Trice erzählt hat darauf festgenagelt wurdest", wandte Millie ein.

"Ich habe deine Geburt genauso nacherlebt wie du meine. Aber seitdem ich von Oma Line ein wenig ihrer Lebenskraft abbekommen habe lande ich bei unserer neu ankommenden Verwandtschaft echt im kleinen Wartehäuschen zur ganz großen Welt", erwiderte Julius. Da die Schnarchfängervorhänge zugezogen waren musste er keine Angst haben, dass die Kinder wach wurden. Millie musste lachen. "Dann muss ich mich ja glatt bei Ma bedanken, dass sie dich bei der Gelegenheit wiedergeboren hat", grinste sie, als ihr Lachanfall vorbei war. "Ich schreibe die Werte noch mal auf und vergleiche die mit den echtenWerten, sollte Alain echt schon auf der Welt sein."

"Das kannst du ganz schnell rauskriegen, wenn du deine Mutter anmentiloquierst."

"Dann fragt die mich, woher ich das weiß", grummelte Millie. "Dann mentiloquier ihr bitte, dass ich wegen Oma Lines Ritual jeden neuen Blutsverwandten von ihr beim Geborenwerden zusehen darf, wenn ich da gerade schlafe."

"Dann fühlt sie sich erst recht im falschen Kessel gebadet, Süßer. Aber eins sage ich dir, bei der Geburt unseres nächsten Kindes bist du gefälligst wach, damit du es von mir losmachen kannst wie bei Rorie und Chrrysie."

"Konnte ich was dafür, dass Sardonia da gerade mit mir einen Tanz aus dem Ballettbuch der Hölle tanzen wollte?" zischte Julius.

"Dafür haben du und Clarimonde ihr aber dann ordentlich eingeheizt", grinste Millie. Dann setzte sie sich auf und konzentrierte sich. Eine Minute später umfing ihr linker Arm Julius. "Die hat es voll bestätigt und gefragt, woher ich das weiß. Da habe ich ihr erzählt, dass wir beide zeitgleich aufgewacht sind und ich noch gemeint habe, ein Baby schreien zu hören. Ma muss nicht noch Angst kriegen, dass du bei ihr regelrecht reingehört hast."

"Reingehört ist gut. Nach Teties Aussage wurden die Nachgeburten mit denn Missgeburten oder dem, was Zwerge so nennen irgendwelchen Höhlentrollen zum Fraß vorgeworfen."

"Den Mumpitz hat die in deinem Traum erzählt? Moment, das kläre ich aber mal", grummelte Millie und konzentrierte sich noch einmal. Nach zehn weiteren Sekunden sagte sie: "Stimmt, die hat meiner Ma echt das grüne Einhorn aufgetischt, dass alle missgebildeten Zwergenkinder mit ihren eigenen Nabelschnüren erwürgt würden und dann den Höhlentrollen zum Fraß vorgeworfen wurden. sag mal, hat Oma Tetie jetzt eine ganze Truppe grüner Wichtel verschluckt. Sowas tischt eine Hebamme doch keiner gerade erst von ihrem Kind entbundenen Mutter auf. Gut, dass ich doch lieber auf Béatrice gehört habe", schnaubte sie. Julius meinte dazu: "Offenbar ist deine Mutter hart genug im Nehmen, was Oma Tetie angeht."

"Klar, wenn die jetzt das vierte Kind mit der zusammen auf die Welt gebracht hat. Tja, dann trink morgen nach der Arbeit besser mal einen ausreichenden Schluck von Aurora Dawns Lebensversicherung, damit du die Pullerprinz-Pinkel-Prosteparty überstehst und amAbend noch das richtige Bett findest."

"Danke für die Warnung. Aber steck ihm das bitte nicht, wenn ich das echt mache. Abgesehen davon, dass ich wegen Oma Lines Lebensversicherung schon einmal Bruno fast unterm Tisch hatte, als der mit mir auf die Zwillinge angestoßen hat", sagte Julius.

"Wie spät ist es jetzt?" Julius sah noch mal auf seine Uhr und vermeldete: "02:36."

"Dann in drei Stunden, wenn die Kuh trompetet und der Zwerg in Rot muht", grummelte Millie und drehte sich wieder in ihre bevorzugte Einschlafhaltung.

Etwas anders als Millie vorausgesagt hatte meldete sich Clarimonde gegen halb fünf. Da sie im Moment nicht gewickelt werden musste konnte Julius sich noch einmal umdrehen, bis um sechs die Minitemmie muhte und der Trompetenzwerg in einem von Claires gemalten Meisterwerken den Morgengruß schmetterte. Ebenso trompeteten beide Pappostillons an den Wänden zugleich, was hieß, dass eine an alle Familienmitglieder gerichtete Nachricht eingetroffen war.

Julius las schnell, dass die von ihm im Traum mitbekommenen Geburtsdaten übermittelt wurden. Auch dass Alain Durin sechs Finger an jeder Hand und sechs Zehen an jedem Fuß hatte stand in der Mitteilung.

Weil sie beim Frühstück nicht von Geburtsvorgängen sprechen wollten nutzte Julius die Zeit zwischen Frühstücksende und Aufbruch, um seiner Schwiegermutter mentiloquistisch zu gratulieren. Durch das Ritual ihrer Mutter Ursuline hatte er eine noch bessere Verbindung mit Ursulines direkten Blutsverwandten.

"Millie meinte, sie wäre von Alains ersten Schreien aufgewacht. Aber ich habe es von Trice, dass du wegen des Rituals meiner Mutter eine körperlich-geistige Verbindung zu allen neuen Blutsverwandten bekommst, besonders im Traum. Denn die Geburtsdaten hat der Kleine Zwölf-Finger-Zwergenprinz sicher nicht in die Welt gerufen", übermittelte Hippolyte an ihren Schwiegersohn.

"Millie meinte, dich nicht beunruhigen zu sollen, dass ich wortwörtlich bei dir reingeguckt habe. Also ich habe dem kleinen von der anderen Seite der kleinen Tür zugesehen, wie er hindurchrutschen musste."

"Achso, und Millie meinte, ich würde mich deshalb aufregen, dass wer mit viel Phantasie und entsprechenden Vorerfahrungen nicht mitbekommen darf, wie es in meinem dicken Bauch ausgesehen hat?" gedankenfragte Hippolyte zurück. Dann ergänzte sie: "Immerhin habe ich damals, wo ich mich mit deiner Mutter unterhielt, zugelassen, dass du über Miriams Ohren mithörst." Julius bestätigte das. Dann erwiderte er über die vielen Kilometer zwischen Millemerveilles und Paris: "Na ja, wir wussten halt nicht, wie du so eine Erklärung hinnimmst, wo du gerade wieder die größte Anstrengung überstehen musstest, die eine Hexe ertragen kann."

"Das ist jetzt auch wirklich das letzte Kind, dass ich mir von Albericus zum tragen habe geben lassen. Wenn du Dienstschluss hast kommst du erst einmal bei uns vorbei und siehst ihn dir an, damit du dich auch an den exotischen Anblick gewöhnst. Und schöne Grüße an meine begluckende Schwester, das mit den zwölf Fingern hätte sie mir schon beim letzten Einblick in Schwesterleins schwangeren Bauch verraten können." Julius bestätigte es.

Dieser Dezembertag verlief ansonsten ohne weitere Vorkommnisse. Julius konnte noch einige Akten schließen, die seit einem Jahr nicht abgearbeitet waren. Dann apparierte er vor das Haus von Millies Eltern.

Das erste was er hörte war kein Babygeschrei, sondern eine kleine Kulturgeschichte der Zahl Zwölf, vorgetragen von Claudine Brickston, von wegen zwölf Monate, Zwölf Stunden am Tag, zwölf in der Nacht, zwölf Sternbilder im Tierkreis, malgenommen aus der Drei und der Vier, wobei die drei die Zahl des Lebens und des Anfangs, der Mitte und das Ende war und die Vier die Zahl der Elementarkräfte, die Jahreszeiten und die Haupthimmelsrichtungen. Julius läutete. Da wuselten gleich zwei flinke Kinder auf die Tür zu. Albericus rief noch, erst fragen, wer da ist und dann aufmachen, wenn ihr das wisst!" Claudine rief "Ja, kann ich! Hallo, wer ist da bitte."

"Graf Zahl. Ich hörte, hier gäbe es etwas besonderes zu zählen", sprach Julius mit dem osteuropäischen Akzent der beliebten Sesamstraßenfigur. Da lachte Claudine und öffnete die Tür.

"Du bist das. Deine Frau hat mir gesagt, dass ihr kleiner Bruder jetzt auch da ist und der zwölf Finger hat und trotzdem ganz normal groß werden kann", sprudelte es aus Claudine heraus. Julius grinste und führte ihn zusammen mit Miriam ins Haus. Miriam meinte: "Ich will auch in eure Schule nach Millemerveilles. Bei uns die Lehrer sind voll motzig und meckern, wenn ich den Rock nicht richtig anhabe und so. Pa wollte unbedingt einen hierhaben, der mit dem ein ganzes Metfass leertrinken kann. Aber da geht doch viel rein."

"In deinen Papa, ja, das glaub ich", sagte Julius. "Eh, das hast du jetzt gesagt", quiekte Miriam, während Claudine schallend loslachte.

"Ach du bist das, Julius. Zumindest einer, der was vertragen kann. Ich habe aus deinem Heimatdorf ein schnuckeliges Fass sechs Jahre alten Met. Ob wir das bis zum Abendessenleerkriegen?"

"Untersteht euch", scholl Hippolytes Stimme aus einem Zimmer. "Oha, da musst du jetzt erst mal hin. Schuhe aus, damit du den Stadtstaub von Paris nicht zu ihr reinträgst."

"Ich bin aus dem Foyer punktgenau vor eurem Haus appariert", sagte Julius. Er zog jedoch die Schuhe aus. Er ließ sich von Miriam das Zimmer zeigen, in dem ihre Mutter mit dem kleinen Bruder wartete. Dann sah er ihn zum ersten mal in Wirklichkeit, Alain Durin Latierre, den seine Großmutter Hanbaldurir, die gesegnete Hand, genannt hatte.

Vor ihm lag ein relativ dünner, winziger Junge im hellgrünen Strampelanzug in der für ihn viel zu groß erscheinenden Wiege und streckte sich. Rotblonder Haarflaum bedeckte den schon faltenfreien, uneingedrückten Kopf mit der Stupsnase. Als der neue Erdenbürger hörte oder fühlte, dass jemand fremdes vor ihm stand öffnete er seine großen runden Augen. Julius erstarrte fast, weil die Augen im Verhältnis zum Kopf sehr groß erschienen. Sie waren rehbraun, wie die Augen seiner Mutter und die seiner drei älteren Schwestern und schienen vom Licht der an der Decke hängenden Leuchte geblendet zu sein. Offenbar war Millies kleiner Bruder und Julius' jüngster Schwager ein wenig lichtempfindlicher als andere Neugeborene, die weniger als einen Tag auf der Welt waren. Julius fragte sich, ob das zwergische Erbgut hier deutlicher wirkte als bei den drei Töchtern Hippolytes und Albericus'. Es war erst ein merkwürdiger Anblick, als er ganz behutsam Alains rechte Hand nahm. Doch dann vermerrkte er es als Besonderheit wie Pygmalions Vierfarbsehen und seine Ruster-Simonowsky-Begabung. Dann sah er Hippolyte, die immer noch sehr vüllig und nur im dünnen apfelgrünen Nachthemd bekleidet im Bett lag.

"So sah ich schon aus, als Martine und Millie und die da hinter dir zu uns kamen", sagte Hippolyte und deutete auf Miriam, die in drei Schritten Abstand zusah, wie Julius' ihren kleinen Bruder ansah. "Von außen sehe ich doch wesentlich interessanter aus, nicht wahr?" mentiloquierte sie ihm. Er schickte zurück: "Auf jeden Fall wesentlich ergiebiger." Sie konnte sich ein Grinsen nicht ganz verkneifen. Er gedankenantwortete: "Hast du Millie sicher auch erzählt, nachdem sie zur Welt kam." "Nein, das hat die selbst rausgefunden", antwortete seine Schwiegermutter nur von seinem Geist wahrnehmbar. Dann sagte sie wohl auch für Miriams Ohren: "Millie war mit Rorie und Chrysope vor drei Stunden hier. Sie wollte zwar Béatrice mitbringen, aber die meinte, sie wollte erst morgen zu mir hinkommen, wenn der erste Tag um ist." Julius nickte bestätigend. Sicher würde seine gerade bei ihm mitwohnende Schwiegertante ihre ganz große Schwester und ihr jüngstes Kind besuchen, wenn Miriam in der Schule war.

"Julius, ich weiß, dass du mehr vertragen kannst als andere, weil Mas Lebenssegen in dir wirkt und vielleicht noch was von Mademoiselle Maximes Halbriesenblut. Aber lass dich nicht auf ein Kampftrinken mit Albericus ein. Du würdest es gnadenlos verlieren, und ich will keinen Krach mit meinen zwei älteren Töchtern und meiner kleinen Schwester Béatrice", gedankenmahnte Hippolyte ihren Schwiegersohn.

"Ist der echt um zwei Uhr und vierundzwanzig Minuten ganz auf der Welt angekommen?" fragte Julius und deutete auf den rotblonden, etwas kleiner und dünner wirkenden Säugling.

"Schon merkwürdiges Zusammentreffen. Zahlenspiele sind eher was für Josianne und Cousine Artemis. Aber schon seltsam. Miriam, nicht an denZehen kitzeln. Lass den bitte schlafen, wenn er müde ist!" maßregelte Hippolyte ihre jüngste Tochter, die wohl meinte, die Tastempfindlichkeit ihres Brüderchens ausprobieren zu müssen.

"Ich könnte was gegen die Wirkung von Rauschmitteln einwerfen. Aber ich fürchte, dann bekäme ich Ärger mit ms. Dawn", mentiloquierte Julius. "Und mit mir. Denn dann würde Albericus erst recht wissen wollen, wie viel du vertragen kannst. Neh, halt dich bitte bitte zurück!" schickte Hippolyte zurück und knuddelte Julius kurz. Julius erschauerte, weil ihn diese kurze Zärtlichkeit an seine eigene Frau erinnerte, die auch mal in dieser großen, gerade sehr molligen Hexe herangewachsen war. Er ließ es sich jedoch nicht anmerken und bedankte sich bei Hippolyte und den kleinen Alain, dass er sie hatte besuchen dürfen. Miriam bemerkte leise dazu: "Der versteht dich sicher noch nicht, wo der gerade erst 'nen Tag draußen ist." Julius widersprach ihr und sagte leise: "Der hatte im Bauch deiner Maman genug zeit, genug Französisch zu lernen, um zu hören, wenn sich jemand bei ihm bedankt, Miriam. Ungeborene und gerade erst geborene Kinder kriegen schon eine ganze Menge von der Welt mit." Beinahe hätte er ihr noch mitgegeben, dass er das von ihr ganz persönlich mitbekommen hatte. Doch er behielt das lieber für sich.

"Na, hast du ihm noch alle Finger drangelassen, Julius?" fragte Albericus seinen Schwiegersohn, als dieser aus dem Mutter-Kind-Zimmer ins Wohnzimmer kam. "Scheint dich nicht sonderlich zu erschüttern, dass dein Sohn zwölf Finger hat, oder?" fragte Julius zurück. "Wieso auch? Zwei Finger mehr heißt noch mehr Geschick, was für Zwergenstämmige superwichtig ist", entgegnete der junge Vater ganz ruhig, als ginge es nicht um eine körperliche Besonderheit oder Abweichung, sondern um was ganz alltägliches. Das nahm Julius erst mal so zur Kenntnis.

Es wurden dann zumindest drei Gläser Met, und das nur, weil Julius Albericus sagte, dass er noch zu einer Pflegehelfersitzung bei Hera Matine hinmusste und er da besser nicht voll wie eine Regentonne nach einem Wolkenbruch hinschwanken wollte. Die würde ihm dann einen bitteren Alkoholaufhebungstrank geben und ihm den in Rechnung stellen."

"Würg! Das bringt diese Zwergenhasserin fertig, vor allem dann, wenn sie weiß, wo und mit wem du auf sein neues Kind angestoßen hast. Kzalsakrashrin!" Julius kannte diesen Trinkspruch, der so viel hieß wie: "Füll dich ab." Doch das ließ er dann doch besser bleiben.

"Schade, ich hätte gerne gewust, wie standhaft du mithalten kannst, wo du ja sonst immer nur bei Festen bist, wo alle möglichen Hexen mit dir tanzen wollen. Aber den Otto, den Gilbert und den Charles versenke ich nachher noch unterm Tisch, das glaub mal!"

"Wenn die dich zusammen nicht unter den Tisch saufen, Berie", sagte Julius. "Außerdem brauchst du demnächst alle möglichen Sonderanfertigungen, Schuhe, Strümpfe, Handschuhe, vielleicht sogar Zahnbürsten, Kämme und besondere Löffel und Gabeln. Dann wird das mit dem Met nicht mehr viel", sagte Julius.

Über Eier von Hühnern, die noch selbst im Ei sind red ich erst, wenn die Küken geschlüpft sind", sagte Albericus. Julius merkte schon, dass er wohl schon einigen Vorsprung vor ihm gehabt hatte. Da läutete wieder die Türglocke, und Ursuline, Gilbert und Linda Knowles kamen herein.

"Nah, alter Kampftrinker. Ein neues Opfer gefunden?" fragte Gilbert seinen Schwiegervetter. Albericus grummelte nur, dass Julius noch zu diesen Spaßbremsen von der Heilerzunft hin müsse. Gilbert grinste. "So'n Pech aber auch." Dann füllte er für sich und seine Tante Met und für seine Verlobte Traubensaft in Gläser.

"Neh, komm, die Tradition sagt, der Vater lässt sein Kind mit anderen zünftigen Burschen pullern."

"Da hat er recht, Linda. Prosten wir auf deinen Verlobtenund auf das kleine Wesen da in deinem Bäuchlein." Julius nahm diesen Trinkspruch und goss sich selbst auch Traubensaft ein, um den bereits eingegebenen Met etwas zu verdünnen. So tranken Julius, Line und Lino auf Linos zukünftiges Baby, dass es sicher und gesund ankommen würde wie Alain Durin, während Gilbert sich doch allen Ernstes auf Albericus' Provokation einließ und mit ihm ein Trinkduell begann. "Das wird dann ein doppelter Schnatzfang für den Met", mentiloquierte Julius an Line. Dann verabschiedete er sich noch von Hippolyte und den beiden Mädchen und verließ das Haus. Draußen disapparierte er und landete zu seinem Erstaunen punktgenau in der Wohnküche des Apfelhauses. "Hast du dem Geist der Gährung und seinem Hohepriester widerstanden?" fragte Béatrice und schnupperte. "Immerhin einnn Glas Met hast du dir wohl gegönnt. Es sei dir gegönnt."

"Nur eins? Es waren drei Met und ein Traubensaft, weil ich noch mit deiner Mutter auf ihre zukünftige Schwiegernichte und ihren künftigen Großneffen anstoßen durfte."

"Klar, das freut meine Mutter, dass sie Cyn jetzt damit piesacken kann, dass ihr Gilbert doch noch wen gefunden hat", grinste Béatrice.

Kurz vor dem Abendessen rief Aurore: "Claudine is tdaaaa!!"

"Häh?! Die war doch vorhin noch bei deinen Eltern", sagte Julius zu Millie. Dann sah er durch das Fenster auch Claudine. Sie war nicht alleine, sondern mit Catherine zusammen.

"Hallo Catherine. Ich dachte Claudine wäre im Honigwabenhaus. Zumindest habe ich sie da zuletzt gesehen", rief Julius zum Fenster hinaus. Dann ließ er beide herein.

"Line war so freundlich mich zu kontaktfeuern, dass ich meine kleine Tochter abholen möchte, damit die das Elend nicht mitbekommt, wenn zwei Erwachsene Männer sich selbst wieder in sabberne Säuglinge zurückverwandeln", mentiloquierte Catherine und sagte mit hörbarer Stimme. "Nachdem Claudine Millies kleinen Bruder gesehen hat möchte sie noch einmal Millies kleine Tochter ansehen." Claudine nickte heftig. So zeigte Millie Catherines Tochter die kleine Clarimonde.

"Millie, Martine, Hipp und Albericus haben das aber gut wegesteckt, dass der Kleine zwölf Finger und Zehen hat. Mein Schwiegervater hätte wohl geflucht und meine Schwiegermutter hätte es als Strafe des Himmels bezeichnet", sagte Catherine. Julius erwiderte, dass er auch erst genau hatte hingucken müssen. Doch weil er ja sein ganzes Leben hatte lernen müssen, mit mindestens einer Abweichung von der Norm zu leben musste er es anderen auch zugestehen, dass die damit fertig wurden.

Weil sie schon mal da waren konnten Catherine und ihre Tochter mit den Latierres vom Apfelhaus zusammen abendessen. Dann nutzte Catherine mit Claudine den Flohpulverkamin der Latierres. So endete der 12. Dezember 2003 für die Latierres mit der Erkenntnis, dass Abweichungen auch ein Grund zum Feiern sein konnten. Ob das immer so bleiben mochte wollten sie jetzt nicht vermuten.

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Am 13. Dezember erfuhr Julius aus dem Internet, dass der ehemalige irakische Machthaber Saddam Hussein Ende des Monats gehängt werden sollte. Einerseits hatte dieser Mensch eine Unmenge Leid und Tod über seine Mitbürger und andere Menschen gebracht. Andererseits stand nun auch fest, dass der Krieg gegen ihn auf gefälschten Beweisen beruhte und somit alles andere als gerechtfertigt war. Dies und die von George W. Bush vor dem Einmarsch im März und April 2003 vollmundig gemachte Äußerung, dass es nach der Entmachtung Saddams keine Hinrichtungen mehr im Irak geben würde zeigte, wie verlogen selbst demokratische Regierungschefs und die von ihnen befehligten Truppen sein konnten. Sicher hätte Saddam weiterhin eigene Mitbürger gefoltert oder getötet, wenn er an der Macht geblieben wäre. Doch nun, wo er keine Gefahr mehr für die Welt darstellte, hingerichtet zu werden war sowas von unnötig und unmenschlich, fand nicht nur Julius Latierre.

Er unterhielt sich über die Armbandverbindung mit seiner Mutter und auch mit Brittany Brocklehurst. Beide teilten seine Ansicht, dass diese angeblich letzte Hinrichtung auf irakischem Boden nur der Schlusspunkt einer reinen Racheaktion von Bush Junior am Feind seines Vaters Bush Senior war, auch wenn es so verkauft wurde, dass das irakische Volk seinen langjährigen Unterdrücker in einem "fairen Prozess" verurteilt hatte und nicht die im Land gebliebenen US-Truppen ihn umbrachten. "Wir müssen immer wieder höllisch aufpassen, nicht selbst aus purer Vergeltungssucht zu Unmenschen zu werden", sagte Julius' Mutter und fügte hinzu: "Daran muss ich auch immer wieder denken, wenn es um diese Verbrecher geht, die unter anderem Lucky und mich dazu getrieben haben, mehr als ein Kind auf einmal zu bekommen."

"Ich weiß nur, dass ich mir das sicher nicht ansehen werde, falls die es live im Fernsehen übertragen sollten und auch nicht Bilder aus dem Internet nachsehen werde", bekräftigte Julius. Seine Mutter meinte dazu, dass sie diese Hinrichtung sicher nicht wie ein Großereignis aufziehen und weltweit direkt übertragen würden. Doch ganz sicher war sie sich bei den der Bush-Regierung treuen Medien nicht.

Brittany stellte nur fest, dass die Nichtmagier ähnlich verlogen waren wie jene Angehörigen der Zaubererwelt, die behaupteten, etwas nur gut zu meinen, wenn sie die schlimmsten Untaten begingen oder sich nicht an vorher gemachte Zusagen oder Versprechen hielten. Andererseits verstand sie den Unmut der Menschen im Irak, ihren jahrelangen Unterdrücker bestrafen zu müssen, und zwar so, dass es seine Anhänger eher abschreckte als ermutigte, in seinem Namen Rache zu üben.

"Könnte aber auch genau in die andere Richtung losgehen, Britt. Tote Anführer können als Märtyrer mehr Macht haben als zu Lebzeiten", argwöhnte Julius. Doch beide waren sich darüber einig, dass sie an der Lage nichts ändern konnten, wollten sie nicht in die Geschicke der nichtmagischen Welt eingreifen.

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Am 14. Dezember bekam Julius eine E-Mail in der alten Sprache von Altaxarroi über seinen Arkanetzugang. Darin schrieb Olarammaya, dass sie endlich wieder an einen Wissensspeicher und -vermittler drangehen konnte und über diesen Botschaften verschicken oder neues Wissen erfragen konnte. Da es im alten Reich keine Computer gegeben hatte musste sich das kleine Mädchen von Patricia Straton ja so ausdrücken. Sie erwähnte auch noch, dass die helle Gemeinschaft sich nun zuversichtlich auf den dunklen Sturm vorbereiten würde, auf dass dieser vom Licht der Sonne durchbrochen würde. Julius überlegte schon, wie ein so kleines Wesen wie ein einjähriges Mädchen auf einer Computertastatur herumtippen konnte. Doch er dachte, dass eigentlich Patricia Straton die Nachricht getippt hatte. So antwortete er ihr auch, das er sich für die helle Gemeinschaft freue und er hoffe, dass er irgendwann mal wieder die Zeit fand, sie zu besuchen. Dann schickte er die Nachricht los.

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Geranammaya war bei ihr, als es sie am 15. Dezember christlicher Zeitrechnung zum ersten mal richtig erwischte. Sicher, Olarammaya hatte schon weit vor ihrer Wiedergeburt gewusst, dass geschlechtsreife Menschenweibchen das jeden Monat durchmachen mussten. Doch dass es so unangenehm war und dann noch ziemlich widerlich hatte weder Ben Calder und schon gar nicht Cecil Wellington erahnt. Doch wohl auch, weil ihre große schwester mit ihr gleichgetaktet war hatte die es wohl früh genug mitbekommen und half ihr mit bezauberten Blutfang-Vorhängelappen aus. "O Mann, ziept das", grummelte Olarammaya. Geranammaya grinste verhalten und meinte: "Lustig, hat Patricia auch gesagt, als es ihr zum ersten mal passiert ist. Du bist also echt ihre Tochter."

"Haha, wie überaus witzig", schnaubte Olarammaya. "Und das muss ich jetzt jeden Monat aushalten?"

"Nicht, wenn du da gerade schwanger und noch unter siebzig Jahre alt bist. Gut, bei den in uns eingeflossenen Sonnenkinderbanteilen könnte das auch erst mit zweihundert oder dreihundert Jahren aufhören."

"Okay, ich will nicht quängeln", entschloss sich Olarammaya. "Ich hoffe nur, dass ich mich früher als in dreihundert Jahren dran gewöhnt habe."

"Will ich dir auch geraten haben, kleine Schwester. Nur Jungs sind wehleidig", erwiderte Geranammaya darauf. Olarammaya überlegte in Anwandlung früherer Erlebnisse, ob den mal eben schnell wieder aufgewachsenen das auch peinlich sein würde, wenn deren Körper zeigten, dass sie voll einsatzbereit waren. Darauf meinte Geranammaya: "In zwei Monaten werden wir zwei das wohl mitkriegen."

"Nur unter Vollnarkose", dachte Olarammaya. Ihre wenige Minuten ältere Zwillingsschwester dachte ihr zurück: "Das macht dann aber weniger Spaß und stört auch dabei, sich vorzustellen, mit dem, was daraus entstehen kann wunderbar leben zu können."

"Was du nicht denkst, große Schwester", gedankengrummelte Olarammaya. Olarammaya dachte nun, dass der fünfzehnte im Monat wohl die Zeit war, wo sie für nichts heftiges zu haben sein würde. Aber dann durfte sie sich erst recht nicht auf ein Kind oder zwei oder drei einlassen. Andererseits wusste sie, dass Faidaria sehr unerbittlich sein konnte, was von ihr erteilte Anweisungen anging. Hoffentlich konnte die zweite Tochter Dailaganmirias, wie Patricia Straton nun seit einem Monat hieß, irgendwas finden, um diese ihr durch dieses blöde Sonnenmedaillon zugeloste Sonderaufgabe zumindest auf später verschieben zu können.

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Die Tage bis Weihnachten verflogen nur so, außer für die Kinder. Für die dauerte es mal wieder viel zu lange, bis der große Tag da war.

Neben Weihnachtsmusik übten die Latierres in den freien Stunden auch ein englisches Hochzeitslied für Gilbert und Linda ein, dass sie nach der Trauung spielen wollten. Dafür würden sie wohl das Klavier aus dem Musikraum des Sonnenblumenschlosses in den goldenen Salon rüberbringen, wo die Trauung stattfinden würde. Aurore durfte Xylophon spielen.

Camille Dusoleil führte eine Transporttruppe aus der grünen Gasse an, die den Latierres zwei stattliche Tannenbäume lieferte. Der kleinere davon wurde im großen runden Empfangs- und Festraum im Erdgeschoss aufgestellt. Der größere fand seinen Platz neben der Miniaturausgabe des Uhrenturms von Viento del Sol, der im Garten der Latierres stand. Julius und Aurore schmückten die bäume mit dem magischen, leise bimmelnden oder klimpernden Weihnachtsschmuck und gerade so vielen Kerzen, dass der im Apfelhaus wirksame Brandlöschzauber nicht davon ausgelöst wurde, wenn sie alle angezündet waren. Von seiner Mutter erfuhr er, dass auch die Merryweathers im Zwei-Mühlen-Haus bei Santa Barbara in Kalifornien einen Weihnachtsbaum bekommen hatten, und zwar von Brittany Brocklehurst persönlich überbracht.

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Der Vorabend von Weihnachten bescherte Millemerveilles einen sonnigen Wintertag und einen sternenklaren Abend. Wie es seit Sardonias Schreckensherrschaft üblich war traf sich die gesamte Dorfgemeinde zu einer Feierlichen Einstimmung auf den Weihnachtstag. Millie und Julius kannten das schon und freuten sich immer wieder, dass sie bis heute mit den Nachbarinnen und Nachbarn friedlich auskamen. Wie besonders gerade diese Vorabendsfeier war sah jeder und jede an den vielen nun gut erkennbar neues Leben tragenden Hexen. Auch wusste Julius, dass es in der Zeit unter der Dämmerkuppel durchaus zu handfesten Streitigkeiten hätte kommen können, weil einige der Mitbürger meinten, sich nicht an die vom Gemeinderat verhängten Schutzmaßnahmen halten zu müssen und es von denen welche gab, die ihm, Julius, dem Muggelstämmigen, eine Mitschuld an Sardonias dunkler Hinterlassenschaft zuschieben wollten.

Wie schon häufig vorher durften die Freizeit- und Berufsmusiker von Millemerveilles einzeln oder zusammen Weihnachtsstücke der französischen Zaubererwelt spielen. Hierbei ging es nicht ausdrücklich um die erhoffte Ankunft des Erlösers aller Menschen, sondern um die Hoffnung, durch Liebe, Licht und friedliches Miteinander die dunklen Monate des Winters zu überstehen und sich wie die nach der Wintersonnenwende sachte wieder erstarkende Sonne an Liebe, Licht und Frieden zu stärken. Zwar war auch die europäische Zaubererwelt nicht ganz ohne Einfluss der christlichen Weihnachtsbotschaft. Doch bei öffentlichen Feiern wurden Begriffe wie "Ankunft des Erlösers", "Allmächtiger Gott" oder "Jungfrauengeburt" ausgelassen.

Kurz vor Mitternacht stellte sich Eleonore Delamontagne vor die Festgemeinde und bat wortlos um Ruhe und Aufmerksamkeit. Die wegen der fortgeschrittenen Stunde schon quängelig werdenden Kinder wurden mit leisem Schschsch ihrer Eltern beruhigt. Nun hatte die auch ohne andere Umstände sehr leibesfüllige Dorfrätin die erbetene Aufmerksamkeit. Sie atmete noch einmal durch und begannzu sprechen.

"Sehr verehrte Mitglieder unserer altehrwürdigen Gemeinde, liebe Nachbarinnen und Nachbarn! Wieder geht ein Jahr zu Ende, das uns allen hier neue Erlebnisse und Erkenntnisse, Erfolge und auch Niederlagen bereitet hat. Doch dieses in wenigen Tagen endende Jahr war ein herausragendes Jahr, und es wird uns alle hier noch sehr lange Zeit in Erinnerung bleiben. Denn in diesem besonderen Jahr 2003 mussten wir alle erfahren, dass es nicht so selbstverständlich ist, hier in Millemerveilles in Ruhe, Frieden und gegenseitiger Achtung und Hilfsbereitschaft leben zu dürfen. Denn nach dreihunderteinundsechzig Jahren erwachte durch eine die ganze Welt überquerende Welle dunkler Zauberkräfte das finstere Vermächtnis der dunklen Herrscherin Sardonia zu seiner ganzen, gefährlichen und gnadenlosen Macht. Drei Monate lang hielt uns dieses dunkle Erbe in unserer geliebten Heimat gefangen, beinahe unfähig, mit unseren Freunden und Verwandten im Rest der Welt in Verbindung zu stehen, beinahe hilflos und einer Kraft ausgeliefert, die Hoffnung, Frieden und Nächstenliebe zu verschlingen trachtete. Es gab Tage, an denen es so aussah, als wenn Sardonias böses Erbe uns endgültig niederringen und zu einander bekämpfenden oder in Selbstzweifeln ertrinkenden Schwächlingen gemacht hätte. Nur der Wille zum Miteinander, in gemeinsamen Anstrengungen der bösen Macht Sardonias zu trotzen, bewahrten uns alle vor einem unheilvollen Ende. Sicher, wir betrauern alle die, welche der dunklen Macht zum Opfer fielen und sie damit nährten. Doch um so wichtiger und um so erfreulicher ist die große Erkenntnis, dass wir durch den Zusammenhalt und den Willen, füreinander Verantwortung zu tragen und einander zu helfen, die körperliche und seelische Unversehrtheit jedes einzelnen bewahren und am Ende das dunkle Vermächtnis der auf zerstörerischen Pfaden wandelnden Hexe Sardonia von uns abwerfen und endgültig aus der Welt schaffen konnten. Diese so wichtige Erfahrung wird uns alle hier weiterhin begleiten und hoffentlich noch stärker einen.

Dass eine Gruppe im Verborgen lebender und handelnder skrupelloser Fanatiker befand, uns alle hier in unserer beraubten Bewegungsfreiheit dazu zu treiben, ohne es zu wollen auf Nachwuchs hinzuwirken, ist das zweite über das Ende des Jahres 2003 hinausreichende Ereignis. Die meisten von uns sehen in den gerade heranreifenden Kindern eine große Verpflichtung, die uns auferlegt wurde, nicht ausschließlich als Kinder, die in Liebe gezeugt wurden. Doch ist es gerade für die im nächsten Jahr dazukommenden neuen Mitbürgerinnen und Mitbürger, von denen ich selbst drei unter dem Herzen trage, überaus wichtig, dass wir lernen, sie als unsere Nachkommen willkommenzuheißen und auch lernen, sie als unser Fleisch und Blut zu ehren, zu achten und ja, auch zu lieben. Wir sollten sie als das anerkennen und wertschätzen, wofür der von den Anhängern des nazarenischen Friedenspredigers festgelegte Weihnachtstag steht, die Hoffnung auf eine bessere Welt durch die Geburt neuer Kinder. Ja, und auch wenn wir Mütter und Väter dieser Kinder immer und immer wieder daran erinnert werden, warum wir diese Kinder auf die Welt bringen, so ist es eine für uns alle sehr wichtige Prüfung jenes Zusammenhaltes, dem wir unser weiteres Leben verdanken dürfen. Auch dafür steht der Weihnachtstag, den Frieden in der Welt zu bewahren oder ihn neu zu beleben, wo immer er bedroht oder gar verdrängt wird. Wollen wir weiterhin Frieden in den Grenzen unserer Gemeinde erleben, so gilt es, Frieden mit allen denen zu halten, die in den Leibern von euch Nachbarinnen und von mir gerade hilflos und schutzbedürftig ihrem Leben entgegenwachsen. Deshalb möge dieses besondere Vorweihnachtsfest uns allen die Hilfe und die Kraft spenden, auch weiterhin als einander vertrauende, helfende, beschützende und auch liebende Gemeinschaft zusammenzuleben, uns in jedem Moment der Bedrängnis einander beizustehen und immer die Hoffnung im Herzen leuchten zu lassen, dass die größte Dunkelheit, die schlimmsten Absichten und die gnadenlosesten Untaten uns nicht bezwingen können, solange wir einander haben und einander beistehen. So genießen wir das Licht der fernen Sterne, das nach drei Monaten der fast vollkommenen Verdunkelung des Himmels ungehindert auf uns niederleuchtet. Schöpfen wir Zuversicht und Ruhe aus der von einigen von uns im Sommer errichteten neuen Schutzbezauberung, die wie ein festes Dach über uns steht und dennoch alle Luft und alles Licht ungehindert zu uns einlässt und jedes menschenwesen, das ohne Arg und dunkler Absicht zu uns finden möchte, unangefochten zu uns hereinlässt und ohne Widrigkeit auch wieder seines Weges ziehen lässt, wenn es unsere Gemeindegrenzen zu verlassen wünscht! Feiern wir das innere und äußere Licht und erstarken mit und in ihm zu einer noch besseren, noch unerschütterlicheren Gemeinschaft aus einander liebenden Verwandten und friedlich zusammenlebenden Nachbarinnen und Nachbarn, ob gerade noch ungeboren oder schon mit vielen Jahrzehnten des Lebens betraut!"

Eleonore verbeugte sich nach ihrer Rede und nahm den Beifall ihrer Zuhörerinnen und Zuhörer entgegen. Dann entzündete sie eine mehr als armlange weiße Kerze in einem silbernen Ständer und pries die Flamme als "Licht von Hoffnung, Liebe und Frieden." Danach trat Roseanne Lumière vor die Dorfgemeinschaft und bedankte sich für die Ansprache ihrer Ratskollegin. Sie sagte dann noch, dass nun die Mutter des jüngsten neuen Bürgers von Millemerveilles vom entzündeten Licht nehmen möge, um es mit ihrem Angetrauten in das eigene Haus zu tragen. Da Claudette Charpentier die in diesem Jahr als letzte Mutter gewordene Hexe war, durfte sie eine der vielen kleinen Kerzen nehmen und diese an der Flamme der ganz großen Kerze entzünden. Danach folgte ihr Ehemann, der ebenfalls eine kleine Kerze entzündete.

Die Reihe der jungen Eltern setzte sich fort. Als Millie und Julius für ihre Familie vom Licht des Friedens, der Liebe und der Hoffnung nahmen durften sie davon ihren bereits laufenden Kindern Aurore und Chrysope etwas abgeben. Die Kinder bekamen hierfür extra Laternen, wie sie in vielen Ländern bei Umzügen zu Ehren des Heiligen Martins gebräuchlich waren. Dann durften die gerade schwangeren Hexen von der ältesten bis zur jüngsten kleine Kerzen entzünden und in einer feierlichen Prozession aus dem Gemeindehaus unter dem sternenklaren Himmel Millemerveilles forttragen. Julius bekam noch mit, wie Louanne Bouvier, die mit Anfang zwanzig schon für drei Kinder planen musste, die ganz große, wenn auch schon deutlich herabgebrannte Kerze übernahm, um sie in ihr Elternhaus zu tragen. Julius dachte daran, dass sich Louanne mit dem Kindsvater, dem fünfzig Jahre alten Monsieur Barnard, darauf geeinigt hatte, dass er für den Unterhalt der Kinder aufkam, sie aber einen Mann finden möge, den sie auch wirklich wolle.

Er sah noch einmal zu Celestine Chevallier, die ebenfalls Drillinge erwartete. Würden Brunos Eltern damit klarkommen, dass die drei Neuen von César Rocher gezeugt worden waren? Jeannes Mann selbst schien immer noch sehr stark damit zu ringen, dass seine drei jüngsten Geschwister nur Halbgeschwister waren und er mit seinem ehemaligen Haus- und Quidditchkameraden César in Streit lag, weil der angeblich nicht standhaft genug geblieben war. Dabei wussten es beide, dass die zum Fortpflanzungsrausch führende Essenz aus der Alchemistenküche Vita Magicas nur sehr schwer zu bekämpfen gewesen war. Julius dachte daran, welchen Ärger es hätte geben können, wenn seine Schwiegertante nicht auf Grund der zwischen ihm und Millie bestehenden Gefühlsverbindung mitbekommen hätte, dass er und Sandrine dieser Droge zu erliegen drohten. Somit konnte er sowohl Brunos Eltern, Bruno selbst und César nachfühlen, wie schwer es für sie alle war.

"Wie es<üblich war trugen sie alle die angesteckten Kerzen und Laternen in ihre Häuser, wo sie die zuvor in die Kamine gelegten Holzscheite entzündeten, um das Licht der bestehenden Hoffnung und der Liebe als wärmendes Herd- und Kaminfeuer zu beleben.

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Am Weihnachtstag verteilte Roseanne wieder als fliegende Weihnachtselfe auf einem beleuchteten Schlitten mit einer vorgespannten Abraxanerstute die Geschenke. "Das ist die letzte Aktion vor März, die ich durchführen darf", sagt Hera. Julius bedankte sich bei der Dorfrätin für Kultur- und Freizeitangelegenheiten. Dann verteilte er die Geschenke an seine Mitbewohner. Clarimonde bekam ein plüschiges goldenfarbenes Mini-Exemplar eines Abraxanerpferdes, Aurore eine große Eulenuhr, die mit Zeigern oder magischer Stimme die "Uhuuuhrzeit" ansagte und Chrysope einen singenden Kamm und eine singende Zahnbürste, sowie einen blasslila Spielzeugbesen. Béatrice bekam von den fleißigen Weihnachtselfen eine tragbare Staffelei und eine Palette mit fünfzig verschiedenen Farben, weil sie sich auch für Zaubermalkunst begeisterte, sowie ein neuartiges Besenfutteral, das mit dem darin verstauten Besen auf ein zehntel der Ausgangsgröße schrumpfte, ohne die Flugeigenschaften des Besens zu verderben. Linda bald-nicht- nur-Knowles schrieb dazu, dass das eigentlich ihr Reserve-Besenfutteral sei, sie es aber einer würdigen neuen Anverwandten außerhalb der Staaten überlassen wolle. Dazu bekam sie einen der ersten durchgetesteten und auf eine Gesamtmenge von nur 120 Stück gefertigten Ganymed 15 Mater Ventorum. Julius meinte dazu, dass damit schon die Ehe zwischen Lindas und Gilberts Heimat vollzogen sei, was Millie und Béatrice lachen ließ.

"Das ist die Rache meiner Schwester für mein Genöle. Die hat das hinbekommen, dass ich als zertifizierte Heilerin den schnellsten Rennfeger der Gegenwart bekomme", grinste Béatrice.

Julius bekam einen umfangreichen Folianten über Vorgeburtsuntersuchungen und Betreuung von Schwangeren bis zum Austreiben der Nachgeburt und dazu ein komplettes Hebammenbesteck mit Einblickspiegel, Exosensohaube und -tuch, silberner Schere, mehrere Rollen medimagischer Seide zum Abbinden von Wunden und Nabelschnüeren, zwei Mithörmuscheln und einen Einblickspiegel. Erst dachte er, das sei von Hera Matine. Doch dann las er noch den Begleitbrief in englischer Sprache:

Wir, die Heilzunft des weiten Landes mit dem roten Herzen, sind hocherfreut, dass du uns in diesem Jahr geholfen hast, eine gefährliche Plage ohne großen Verlust an Menschenleben einzudämmen und den Betroffenen weitestgehend eine Rückkehr in ihr bisheriges Leben zu gewähren. Deshalb überreichen wir dir zum privaten Besitz und zur weiterhin erfolgreichen Arbeit für die Menschen und das Leben ein umfangreiches Werk über alle Bereiche der Hexenheilkunde, auf dass du in der Zeit der großen Flut neuen Lebens nicht hilflos und ängstlich dastehen musst.

Dr. Laura Morehead und Dr. Aurora Dawn

"Dann hat sie es doch geschafft, den Grad zuerkannt zu kriegen. Anders als bei den nichtmagischen Medizinern wird der Grad für eine praktische Lösung eines realen Problems und davon ausgehende Lösungen für andere Probleme zuerkannt", sagte Béatrice. "Du hast ihr immerhin geholfen, die Schlangenmenschenplage einzudämmen."

"Dann hätte ja Julius die Auszeichnung kriegen müssen", sagte Millie. Julius hatte aber sofort die Antwort: "Ja, wenn ich berufsmäßiger Heiler wäre und wenn ich offiziell an der Lösung des Schlangenmenschenproblems beteiligt gewesen wäre." Millie nickte verdrossen.

Millie selbst bekam eine Centinimusbibliothek mit vielen Klavierkonzertpartituren zum Soloauftritt oder mit interessierten Musikbegeisterten, darunter auch das wohltemperierte Klavier von Johann Sebastian Bach. "Da möchte jemand aber, dass ich unser Klavier ein wenig häufiger klingen lasse", meinte Millie dazu und las, dass es ein Geschenk ihrer Großtante Cynthia war.

Tatsächlich fanden sich im laufe des Tages viele Gelegenheiten, Weihnachtsmusik zu machen. Aurore konnte schon Töne auf einem kleinen, temperierten Xylophon spielen. Chrysie bekam ein Tamborin, Julius und Béatrice spielten verschiedengroße Flöten und Millie saß am Klavier. Abends trafen sich alle noch einmal bei einem großen Lagerfeuer und frei zwischen den Bäumen schwebenden Kerzen und sangen Weihnachtslieder aus der Zaubererwelt und spielten auf mitgebrachten Instrumenten. Millie freute sich sichtbar, dass sie immer noch dazugehörte. Julius durfte mal wieder keinen Tanz auslassen. Béatrice meinte einmal, dass er ja trainieren würde, erst für die Willkommensfeier neuer Familienmitglieder bei den Eauvives, die morgen stattfand, dann für die Willkommensfeier für den kleinen Alain im Sonnenblumenschloss, dem sich dann am 30. Dezember noch die Hochzeit von Linda und Gilbert anschloss. Volles Programm, dachte Julius.

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Selene Hemlock freute sich wahrhaftig, als sie zu Weihnachten neben den für kleine Kinder üblichen Spielsachen und Bilderbüchern auch zwei dicke Bücher bekam, die nur scheinbar Bildbände über ungefährliche und niedliche Zauberwesen waren. Doch ihre eigene Ururgroßmutter Eileithyia hatte die Bücher mit dem Mimicriuszauber belegt, dass auf Denken oder leises Wispern eines bestimmten Wortes die Bücher zu umfangreichen, hauptsächlich Text enthaltenden Büchern wurden, die sich als Chroniken der nordamerikanischen Zaubererweltgeschichte herausstellten. Damit schenkte die altehrwürdige Großheilerin ihrer Ururenkelin nicht nur was zu lesen, sondern auch die Anerkennung, dass Selene schon längst höherwertige bücher lesen durfte und für sich allein nicht mit reinen Kindersachen die Zeit vertreiben musste. Sicher musste und würde sie weiterhin nach außen das gerade erst vier Jahre und fünf Monate alte Hexenmädchen darstellen, um ihr vollentwickeltes Gedächtnis behalten zu dürfen. Doch zumindest konnte sie nun eigene Studien betreiben, was in dem Land, in dem sie aufwuchs, noch alles geschehen war, von dem Austère Tourrecandide in ihrem über hundert Jahre langen Leben nicht alles mitbekommen hatte.

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Rosey Regan Dawn durfte der netten, sehr alten, weißhaarigen Hexe vorführen, wie gut sie schon laufen konnte. Nur mit ihr sprechen durfte sie nicht richtig, außer dem für Einjährige gerade möglichen Gebrabbel. Doch Rosey hatte es in dem einen Jahr, das sie schon erlebt hatte, gut gelernt, die Gesten und Gesichtszüge von Kleinkindern nachzuahmen und entsprechend anzubringen, wenn sie und ihre Wiedergebärerin Aurora Dawn mit Uneingeweihten zusammenkamen.

"Dann bist du also doch zu einem eigenen Kind gekommen, Aurora. Und du hattest schon Angst, du könntest eine genauso ungepflückte Blume im Garten der Liebe bleiben wie ich", scherzte die über hundert Jahre alte Hexe, Melissa Thornapple.

"Sagen wir es so, Mel, dass ich froh bin, dass ich neben der sehr wichtigen und kurzweiligen Arbeit für die Heilerzunft noch andere, sehr wichtige Aufgaben bekommen habe, die mir zeigen, wie wichtig mein Leben ist", erwiderte die residente Heilerin und Hebamme von Sydney.

"Ich hoffe sehr für euch beide, dass ihr eure gemeinsame Zeit mehr genießen als verwünschen werdet, Aurora", antwortete die altehrwürdige Hexe, die damals ihre Niederlassung an Aurora Dawn vererbt hatte. Rosey hoffte das auch. Denn sicher würde sie in zwanzig Jahren auf diese "unbeschwerte Zeit" zurückblicken und daran denken, wie viel sie Aurora Dawn zu verdanken hatte, dass sie sie nicht an eine ihrer Kolleginnen abgetreten, sondern sich der von Heather Springs wortwörtlich aufgeladenen Verpflichtung gestellt hatte, wohl auch, weil sie, Rosey, rein körperlich Heathers lebendes Erbe war und rein seelisch immer noch als Aurora Dawns australische Freundin geliebt wurde und jetzt eben als Auroras Tochter aufwuchs. So dankte sie der Heilerin, in deren Leib sie zu neuem Leben erwacht war, dass sie trotz der äußerlichen Eingeschränktheit des Kleinkindkörpers schon etwas mehr tun durfte, als was ein natürlich entstandenes Kleinkind mit einer unbelasteten Seele und einem noch unbelastetem Gedächtnis tun konnte.

Als Melissa Thornapple nach drei Stunden von Auroras Kamin aus weiterreiste, um andere alte Freunde und Freundinnen auf dem fünften Kontinent zu besuchen wandte sich Aurora an ihre durch Geburt legitimierte Tochter.

"Ich habe den Eindruck, dass die gute Mel Thornapple durchaus mitbekommen hat, dass du nicht einfach nur eine Ziehtochter von mir bist, Rosey. Aber ich danke dir, dass du es hinbekommen hast, ihr gegenüber nicht als mehr aufzufallen, als ein kleines, unschuldiges Mädchen, dass noch ganz am Anfang seines langen Lebens steht."

"Ich musste mich ziemlich anstrengen, mein Gesicht zu beherrschen und nicht rüberkommen zu lassen, dass ich Mel Thornapple schon öfter gesehen habe, als ich noch in Heathers Körper gewohnt habe, weit bevor ich in diesen Körper umgezogen bin und gehofft habe, dass du mich auch dann noch als deine Tochter haben möchtest, wenn du wusstest, dass ich in ihrem Körper stecke."

"Rosey, ich habe Heather Springs so viel zu verdanken, das war und bin ich ihr schuldig", sagte Aurora Dawn mit einem ehrlichen Lächeln. "Und der Umstand, dass ich dir vierundzwanzig Wochen lang beim ausreifen helfen konnte und dann die für uns beide sehr anstrengende Geburt überstanden habe. Du bist und bleibst meine Tochter Rosey Regan Dawn."

"Das will ich auch bleiben", sagte Rosey sehr entschlossen.

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Die Kinder unter vierzehn blieben bei anderen Verwandten. So war es immer schon, wenn genug neue Mitglieder der großen Eauvivefamilie begrüßt wurden. Allerdings musste Antoinette Eauvive dieses Jahr sehr streng durchgreifen, weil einige der aus den Staaten angereisten Familien mit lauten Buhrufen von den Franzosen bedacht wurden. "Auch wenn ihr, meine lieben Landsleute, es immer noch nicht verwunden habt, diesen Sommer um eine Titelverteidigung im Quidditch betrogen worden zu sein, so dürft ihr dafür nicht alle Bewohner der vereinigten Staaten beschuldigen. Auch aus diesem weiten nordamerikanischen Staatenbund stammen wichtige und wertvolle Mitglieder unserer Familie. Also beherrscht euch und beweist die uns rühmende Gastfreundschaft und Höflichkeit!"

Julius fiel bei den vielen Familiengruppen eine etwa 40 Jahre alte Frau auf, die sich eher schüchtern als gut aufgehoben vorkam. Sie erfuhren von Antoinette, das es sich um Bernadine Lavoisier handelte, die vor einem halben Jahr der Eauvive-Familie einen großen Dienst erwiesen hatte, weil sie wichtige Hinterlassenschaften der in den Staaten lebenden Sippe gefunden hatte, die im Besitz von magielosen Sammlern waren. Dafür wurde ihr nun die Ehre zu Teil, von Antoinette Eauvives Familie adoptiert zu werden, da sie seit zehn Jahren keine Eltern mehr hatte. Ihr Vater war Besenzureiter bei Bronco gewesen, ihre Mutter Rechtsanwältin. Beide waren jedoch bei einem Motorbootausflug gegen eine Felswand gerast und noch am Unfallort verstorben. Bernadine sprach das Französisch der Cajun-Gemeinschaft im Sumpfland von Louisiana und natürlich amerikanisches Englisch. Als Julius sie nach einer ähnlichen Adoptionszeremonie wie damals für seine eigene Mutter begrüßte erwähnte sie, dass sie sich immer zwischen den Welten hin und hergerissen gefühlt hatte. Hinzu kam noch, dass ihr besonderes Sehvermögen ihr mal Fluch und mal Segen war. Julius horchte auf. Was für ein besonderes Sehvermögen? Er fragte behutsam, wie sich das äußere und ob sie die Umgebung und die Leute hier anders wahrnehme. So erfuhr er, dass Bernadine nun Eauvive Tetrachromatin war und deshalb oft schon Probleme mit gemalten Bildern oder mit Darstellungen auf Computerbildschirmen bekommen hatte. Julius ließ sich nicht anmerken, wie aufgeregt er war. Konnte es echt ein solcher Zufall sein, dass er in diesem Jahr schon zum zweiten Mal mit der bei Menschen sehr seltenen Vierfarbsichtigkeit zu tun hatte? Doch er wollte nicht zu sehr darauf eingehen, weil er sonst hätte erklären müssen, wieso ihn das erstaunte. Sein Erstaunen wuchs, als er die Geschichte der Cajun-Frau hörte. Diese war wegen mangelnder Zauberfertigkeiten nicht in eine der Zaubererinternate gekommen und hatte deshalb erst in New Orleans die Oberschule besucht und dann am MIT Computerwissenschaften und digitale Kryptologie studiert, also die Wissenschaft vom Ver- und Entschlüsseln von Nachrichten. Bei der Gelegenheit habe sie auch eine uralte Steintafel entschlüsselt, wobei ihr tetrachromatisches Sehvermögen ihr zusätzliche Informationen verschafft hatte. Sie konnte so die Spur zu mehreren Artefakten aus dem Besitz der Eauvivesippe finden und nach Recherchen in Zaubererbibliotheken als auch dem Internet und nicht ganz so öffentlichen Ablegern die wahren Besitzer finden und so die verschollenen Artefakte, hauptsächlich rauminhaltvergrößerte Schränke, besondere Spiegel und sich selbst erhitzende Kochkessel aus der nichtmagischen Welt herausholen und ihren angestammten Besitzern wiedergeben. Weil unter den eher alltagsvereinfachenden Artefakten auch machtvolle Gegenstände waren, über die sie auch Familienangehörigen nichts erzählen durfte, hatte Madame Eauvive ihr angeboten, sie in die große Familie der Eauvives aufzunehmen.

So kam es, dass Julius' Mutter, die mit Lucky herübergekommen war und ihre drei Kinder bei den Latierres im Sonnenblumenschloss untergebracht hatte, eine höchst interessante und kundige Gesprächspartnerin fand, mit der sie sich lange über die Probleme moderner Datenverarbeitung und Datenströme unterhalten konnte, während Julius sich mit Melanie Odin über die gerade zu bestehenden Fächer in Beauxbatons unterhalten konnte. Cassiopeia Odin, Melanies Mutter, hatte es mal wieder eingerichtet, nicht zum Familienfest zu kommen, nachdem sie von ihrem Mann geschieden worden war.

Am Morgen nach dem Fest bei den Eauvives wechselten die Latierres und die Merryweathers ins Sonnenblumenschloss über. Dort feierten sie einen Tag später die Willkommensfeier für den kleinen Alain Durin. Ursuline und Lutetia Arno bekundeten in ganz seltener Einhelligkeit, dass der Wert eines Kindes nicht in der Zahl seiner Finger und Zehen lag, sondern in dem, was es mit Hand und Verstand, Kopf und Herz zu Wege brachte. Allerdings pries Lutetia die Zwölffingrigkeit ihres Enkelsohnes als von Zwergenurvater Durin geschenkten Segen und prophezeite Alain Durin eine glanzvolle Laufbahn als Zauberkunsthandwerker oder Musiker.

Weil sie schon einmal da waren blieben die Latierres aus Millemerveilles den folgenden Tag und feierten den Tag darauf die Hochzeit von Linda Knowles, die im rosaroten Brautkleid mit einem Strohkranz auf dem Kopf auftrat und Gilbert, der in einem waldgrünen Festumhang und einem jägergrünen Zylinder auf dem Kopf auftrat. Ursuline und Cynthia weinten die meisten Tränen an diesem denkwürdigen Nachmittag, bevor der französische Zeremonienmagier Laroche in blütenweißem Festumhang und der kalifornische Zeremonienmagier Pericles Bell im sonnengelben Festumhang das internationale Brautpaar im Kreis mit den goldenen Funken feierlich einander trauten. Albericus fand unter den vielen männlichen Anverwandten einige würdige Gegner in der konzertierten und konzentrierten Alkoholvernichtung, auch wenn Josianne Latierre, die ihren Cousin Gilbert dreimal linksund rechts auf die Wange geküsst hatte, behauptete, dass Wein und Met jeden Versuch, sie von der Erde fortzutrinken, überstehen und ihre Widersacher gnadenlos der Schwerkraft darbringen würden.

Da Julius mal wieder keinen Tanz auslassen konnte kam er so um das große Besäufnis herum, was den mitfeiernden Damen sehr behagte. Als er einmal mit der strahlenden Strohbraut Linda Knowles tanzte, die den Nachnamen Latierre als Zusatz angenommen und nun Linda Latierre-Knowles hieß, gestand sie ihm, das sie Gilberts erste Tochter im Leib trug. Somit tanzte er mal wieder mit zwei Damen gleichzeitig. Das Mädchen würde dann wohl in Viento del Sol geboren und je nach Laune seiner Eltern Athena Belle Cynthia oder Helga Cynthia heißen. Julius stutzte. Dann flüsterte er Linda Zu: "Besser nicht Helga Cynthia Latierre, sonst kürzen Alchemisten das auf HCL runter, und das möchtest du eurem Kind wohl nicht antun." So musste er Linda erklären, welche Substanz mit HCL abgekürzt wurde. Darauf antwortete Linda Latierre Knowles

"Oh, stimmt. Vielleicht fällt uns bis zur Geburt noch was ein, wenngleich ich froh wäre, das schon hinter mir zu haben. Ich habe schon häufiger die Geburtsstation des Honestus-Powell-Krankenhauses besucht, wenn ich mit Leuten wie Großheilerin Greensporn sprechen wollte. Die Wehklagen und Schreie der Gebärenden waren immer sehr eindringlich."

"Ihr kriegt das hin, Linda. Ich kann da zwar nicht mitreden, was das Durchhaltevermögen angeht, aber dafür ist die Freude um so größer, wenn der kleine Erdenbürger oder bei euch die kleine Erdenbürgerin gesund auf die Welt gelangt ist. Das durften Millie und ich diesen Sommer erleben, Meine Schwiegereltern erst vor wenigen Tagen, und ich hoffe, dass das üble Vermächtnis von Vita Magica in Millemerveilles im nächsten Jahr doch mehr Freude als Frust bringt."

"Das hoffe ich auch. Nächstes Jahr kann ich auch wieder meinen genauen Geburtstag feiern, am 29. Februar 2004."

"Jau, den Geburtstag hat auch nicht jeder", sagte Julius. Linda lächelte ihr weltweit gefürchtetes Zuckerlächeln und knuddelte Julius, mit dem sie jetzt um gewisse Ecken verschwägert war. Wer hätte das damals gedacht, als sie beide sich im Sommer 1996 zum ersten Mal über den Weg gelaufen waren?

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Am letzten Abend des Jahres 2003 saßen die Mitglieder der Dorfgemeinschaft von Millemerveilles und eingeladene Gäste, darunter Julius Mutter, sein Stiefvater Lucky und auch die Eheleute Brocklehurst mit ihrem kleinen Sohn Leonidas genannt Leo im mit schwebenden bunten Lichtern und frei über jedem Tisch hängenden Luftschlangen geschmückten Musikpark und freuten sich, dass die meisten von Ihnen dieses so turbulente Jahr überstanden hatten. Zumindest wusste Adrienne Renard nun, was mit ihrer jüngeren Tochter war.

Gilbert und Linda saßen bei den Anverwandten und sprachen über für Kinder unter sechs Jahren geeignete Themen. Keiner und keine hier wollte vorausschauen, was im nächsten Jahr so alles stattfinden würde. Die Erwachsenen wussten zumindest, dass die Dämmerkuppel und die in Australien gerade so noch niedergerungene Ausbreitung der Skyllianri nicht die einzigen Auswirkungen jener dunklen Welle vom 26. April 2003 sein würden. Julius dachte daran, dass die nichtmagischen Menschen genau mit dem 26. April die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl verbanden. Gab es echt Zufälle in der Geschichte aller Menschen? Doch heute war der Tag, vor allem auf die erfreulichen Ereignisse des in wenigen Stunden endenden Jahres zurückzusehen, und da gab es für die Latierres vor allem die Ankunft Clarimondes und die von Alain Durin. Das Leben ging weiter. Außerdem dankte er in Gedanken Millie, Camille und auch der heute abend ebenfalls mitfeiernden Maribel Valdez, dass er mit ihnen zusammen das aus lebensbejahender Magie bestehende Schutznetz über ganz Millemerveilles hatte aufspannen können. Allein diese gemeinsame Anstrengung und die übernatürliche Erhabenheit, mit der Ammayamiria ihnen dabei geholfen hatte versöhnten ihn mit sich selbst und damit, dass er sich trotz aller schönen Erlebnisse mit Millie nie so ganz von der mittelbaren Schuld an Claires viel zu frühem Tod freigesprochen hatte. Sie hatte ihm schon damals, als sie mit ihrer Großmutter Aurélie zu Ammayamiria wurde verziehen. Dann sollte, ja durfte er das auch endlich tun und konnte es auch nun.

Wie hier in Millemerveilles üblich durften die Gäste ihre Sorgen des alten Jahres auf kleine Pergamentzettel schreiben. Sie würden dann an die Feuerwerkskörper gebunden und mit diesen Punkt Mitternacht in Feuer und Rauch aufgehen. Julius schrieb auf seinen Zettel, dass er sich sorgte, dass es trotz Vengors Niederlage noch mehr gefährliche Nächte auf dieser Welt gab und er hoffte, dass er nun nach der Errichtung des unsichtbaren Schutznetzes über Millemerveilles zumindest seinen Kindern eine sichere Umgebung bieten konnte.

Die letzte Minute vor Mitternacht wurde wieder durch sechzig nacheinander verlöschenden Lichtern heruntergezählt. In den zwanzig letzten Sekunden vor Mitternacht erschienen Kristallkelche mit Traubensaft vor den Feiernden in der Luft schwebend. Weil hier gerade so viele Hexen schwanger waren hatte der Dorfrat beschlossen, dass dieses besondere Jahreswendfest ohne Sekt oder Champagner auf das neue Jahr angestoßen werden sollte, damit die werdenden Mütter nicht von allen anderen ausgeschlossen bleiben mussten. Das freute die vegan lebende Brittany Brocklehurst, weil sie sowieso jeden Alkoholgenuss ablehnte. Deshalb stieß sie um so begeisterter mit ihren Gastgebern aus dem Apfelhaus an, als das letzte goldene Licht der letzten Minute erlosch und hell gleißend die aus kleinen Feuerwerkskörpern gebildete Zahl 2004 an den sternenklaren Nachthimmel über dem südfranzösischen Zaubererdorf Millemerveilles versprüht wurde.

"Prosit neues Jahr. Auf das 2004 mehr helles als dunkles in diese Welt bringt!" brachte Gilbert Latierre seinen Trinkspruch aus, als er mit Julius anstieß. "Eine helle Sache wird ja dann wohl von euch in die Welt gebracht", scherzte Julius. Gilbert lachte erfreut darüber.

Das Feuerwerk glühte, sprühte, loderte, zischte, fauchte und krachte, pfiff und funkelte. Julius dankte allen, die ihm dieses letzte Jahr erträglich gemacht und ihm geholfen hatten, alles zu überstehen, was es mit sich gebracht hatte. Sardonias letztes dunkles Vermächtnis war erloschen, dank den Altmeistern von Altaxarroi, die ihm den Fluchumkehrspruch beigebracht hatten und dank der Fügung, dass Clarimondes Geburt mit der Magie Ashtarias den Durchbruch geschafft hatte. Er freute sich über seine jüngste Tochter. Doch in ihm nagte die Ungewissheit, ob er Ashtarias Wunsch erfüllen und in nun noch anderthalb Jahren Zeit einen Sohn zeugen würde. Ihm ging der eine Traum nicht ganz aus dem Kopf, wo er in einer Halle aufbewahrter Geister geschwebt war und die weiblichen Geister darüber getuschelt hatten, dass er nach der dritten Tochter drei jahre und drei mal die Zahl der schon geborenen Töchter warten müsse, um doch dieselbe Wahrscheinlichkeit für einen Sohn zu haben. Andererseits musste es auch irgendwie so gehen, und er wusste ja auch nicht, warum er sowas träumte.

Er hoffte allerdings, dass im nächsten Jahr nicht noch schlimmere Bedrohungen über ihn und seine Familie hereinbrechen würden. Denn die Bedrohung durch die Vampire und Nachtschatten war nach wie vor gegenwärtig. Immerhin hatte er mithelfen können, die Schlangenmenschenepidemie in Australien zu beenden, ohne die grauen Riesenvögel rufen zu müssen. Das er das nicht mehr konnte war für ihn eine Warnung, dass die Altmeister von Altaxarroi nicht nur Wissen geben, sondern auch nehmen und verfremden konnten. Also sollte er sie so selten wie möglich aufsuchen. Millie würde wohl nach der Stillzeit für Clarimonde wieder zu Kailishaia gehen und weitere Unterweisungen in der altaxarroischen Feuermagie erhalten, immerhin hatte ihr schon gesammeltes Wissen ihnen allen im Sommer bei Gabrielles Hochzeit Leib und Leben gerettet und ganz nebenbei eine ungeheure Spionageaktion auffliegen lassen. Julius hätte zu gerne gewusst, wer genau die besondere Passwortabsicherung erdacht und programmiert hatte. Der oder diejenige musste ja selbst vierfarbsichtig sein, wie Bernadine Eauvive geborene Lavoisier. Doch die konnte es ja gar nicht gewesen sein, weil die Eauvives das wohl sicher herausgefunden hätten.

ENDE

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