Die Welt ist weiterhin in Aufruhr. Die nichtmagische Menschheit lebt mit den Auswirkungen der Terroranschläge vom 11. September 2001 und dem Vergeltungskrieg der USA und ihrer Verbündeten in Afghanistan und dem Irak. Die Magische Welt hat weiterhin mit den Auswirkungen der von Ladonna Montefiori unbeabsichtigt ausgelösten Welle dunkler Zauberkraft zu tun. Zwar konnte das Erbe Sardonias in und über Millemerveilles endgültig beseitigt werden. Doch die während der Eingeschlossenheit durch eine gasförmige Droge Vita Magicas ausgelöste Fortpflanzungsorgie erlegt den Bewohnern Millemerveilles die Verantwortung für über 750 im nächsten Jahr ankommende Kinder auf.
Im Auftrag und mit Hilfe der transvitalen Entität Ammayamiria errichten Millie und Julius Latierre zusammen mit Ashtarias Nachkommen Camille Dusoleil, Maribel Valdez und Adrian Moonriver eine neue, schützende Glocke über Millemerveilles, die nicht wie die dunkle Kuppel Sardonias auf Leid und Tod, sondern Lebensfreude, wachsendem Leben und Liebe gründet.
Die dunkle Woge im April 2003 bestärkt dunkle Wesen und Gegenstände. So erwacht die schlummernde Kraft in einem Zauberkessel der Hexenmeisterin Morgause zu unheimlichem Eigenleben. Doch der Kessel wird von den darum streitenden Hexen Anthelia und Ladonna zerstört. Morgauses darin eingelagerte Seele wird von der ebenfalls bestärkten Nachtschattenführerin Birgute Hinrichter vertilgt und gibt ihr damit noch mehr magische Kraft. Auch der Orden der Gooriaimiria gewinnt durch die weltweite Welle dunkler Zauberkraft mehr Kraft.
In Australien erwachen die vier letzten Schlangenmenschen Skyllians aus jahrtausendelangem Zauberbann und sorgen über mehrere Wochen für Angst und Unsicherheit, weil sie ihr Dasein ungehindert ausbreiten wollen. Nur die von Anthelia nach Australien geschafften Insektenmenschen, sowie ein machtvolles Ritual australischer Stammeszauberer am heiligen Berg Uluru dämmen die Ausbreitung von Skyllians letzten Dienern ein.
Julius Latierre nimmt an mehreren Hochzeitsfeiern teil. Bei der Hochzeit von Gabrielle Delacour und Pierre Marceau in einem abgelegenen Waldschloss bei Amien droht die Geheimhaltung der Zaubererwelt zu scheitern. Denn das Schloss wurde vom US-Geheimdienst CIA als Spionage und Überwachungsstätte benutzt. Nur Julius' Computerkenntnisse und der Zaubertrank Felix Felicis ermöglichen ihm, die drohende Enttarnung der Zaubererwelt zu verhindern.
Im Dezember bekommt die Familie Latierre Zuwachs. Zum einen wird den Eheleuten Hippolyte und Albericus Latierre ein Sohn geboren, der eine körperliche Besonderheit aufweist. Er besitzt zwölf Finger und zwölf Zehen. Zum anderen heiratet Hippolytes und Béatrices Cousin Gilbert seine amerikanische Kollegin Linda Knowles, mit der er den Betrug der US-Quidditchmannschaft bei der Weltmeisterschaft aufgedeckt hat.
Die ersten Wochen des Jahres 2004 verlaufen ohne erwähnenswerte Ereignisse. Doch die mit dem Schutz der magischen und nichtmagischen Menschen betrauten Ministeriumsbeamten wissen, dass diese Ruhe trügerisch ist. Tatsächlich nutzen die menschenfeindlichen Gruppierungen die Zeit, um bessere Ausgangsmöglichkeiten für weitere Aktionen zu schaffen.
In ihren schneeweißen, gut gefütterten Monturen mit Kapuzen und beheizbaren Gesichtsmasken wirkten sie wie Polarforscher, die den aus dem ewigen Eis der Antarktis herausragenden Bergen weitere Geheimnisse abringen wollten. Doch die Montur und die Masken schützten nicht vordringlich vor der hier herrschenden Kälte, sondern ergänzten den auf ihrer Haut getragenen Schutz vor der seit Tagen nicht mehr versunkenen Sonne. Jetzt, im südpolaren Sommer, war es ihnen noch wichtiger, keinen schmerzhaften Sonnenstrahl an sich heranzulassen. Denn die Sonne war und blieb ihr tödlichster Feind.
Vor den vier Männern und einer Frau ragte der zerklüftete Osthang des Berges Erebus in den gerade klaren Himmel. Die für sie fünf so gefährliche Sonne strahlte gerade vom Norden. Es war also Mittag. Auch wenn die Sonnenstrahlen im flachen Winkel einfielen hatten sie zur Mittagszeit doch noch genug Kraft, um ungeschützte Angehörige ihrer sich ansonsten für allen anderen überlegen haltenden Art das Fleisch von den Knochen zu brennen.
Heute würde sie, Priesterin Nachthauch, endlich den Eingang zu dem von ihr zu leitenden Tempel sehen. Auch wenn sie gerade erst fünf Wochen im Dienst der großen Mutter der Nacht stand und den Vorzug hatte, als Tochter der Nacht nur noch ein Zehntel so schnell zu altern wie jeder andere Mensch, hatte sie sich mit ihrem Wissen und ihren Verbindungen das vollste Vertrauen der erwachten Göttin erworben. Weil sie vor einem Jahr schon mal am Südpol geforscht hatte und dieses Jahr erneut im südpolaren Sommer das Land des nicht mehr ganz so ewigen Eises erkundete war sie von einer anderen Priesterin der Göttin zu deren Bluttochter gemacht worden und sollte nun die neue Glaubens- und Kriegsbastion der Göttin übernehmen. Zwischendurch durfte sie aber weiterhin als Dr. Rosvita Heidenheim, Spezialistin für Glaciologie und Geologie in der Forschungsstation des Alfred-Wegener-Institutes auf dem antarktischen Kontinent weiterarbeiten. Der Schattenwirbel der Göttin machte es möglich, dass sie innerhalb von Sekunden über tausend Kilometer Weg zurücklegen konnte.
"Priesterin Nachthauch, Gleich sind wir am versiegelten Zugang. Unsere Stollengräber haben die alten Lavatunnel unter dem Erebus für unsere Zwecke ausgebaut", sprach einer der vier Begleiter, die sowohl als Leibwächter als auch Bauleiter arbeiteten. Die Priesterin würde, wenn sie den Tempel begutachtet hatte, weitere Unterpriesterinnen zugeteilt bekommen, die den innersten Bezirk des Tempels schützten und auch sicherten, dass die große Mutter der Nacht jederzeit dort erscheinen konnte. Die männlichen Gefolgsleute der Göttin sollten reine Bau- und Wachtätigkeiten ausführen. Alles in allem sollte im Tempel der langen Eisnacht Platz für 100.000 Gläubige geschaffen werden. Wenn die Göttin es wollte, sollte von hier aus die "Bekehrung" der südlichen Halbkugel vorangetrieben werden, auch wenn es in Argentinien und auf dem australischen Kontinent ebenfalls je einen Tempel der großen Mutter der nacht geben würde.
Knapp einen Kilometer östlich des Fußes des Erebus hielt die kleine Gruppe. Nachthauch fühlte, dass die starke Kraft der Göttin hier sehr stark war. Vor zwei Wochen hatten die vier Bauarbeiter einen erdnusskern großen Vielflächler aus nachtschwarzem Kristall tief in den Boden versenkt und darüber mit der Kraft der Göttin bestärkt drei Menschen getötet und auch von ihrem eigenen Blut geopfert, um den errichteten Zugang nur für Ihresgleichen erkenn- und benutzbar zu machen. Nachthauch kniete sich hin. Ihre gut gefütterte weiße Daunenhose hielt die Eiseskälte von ihr ab. Doch ihr besonderer Stoffwechsel war gegen Unterkühlung sowieso immun. So konnte sie auch die gut gefütterten Handschuhe ausziehen. Da sie gleich nach ihrer Bluttaufe eine der sagenhaften Ganzkörperschutzhäute gegen Sonnenstrahlung bekommen hatte tat ihr die antarktische Mittagssonne nichts. Doch nun konnte sie besser fühlen, wo der runde Stein war, den sie drehen musste. Sie dachte an ihre Herrin und Göttin, bat in Gedanken um Beistand und Kraft. Da fühlte sie auch schon, wie die besondere Macht der großen Mutter in sie einfloss und jeden Nerv in ihrem Leib sanft vibrieren ließ wie eine sehr zart gestrichene Geigensaite. Sie fühlte den Stein unter ihren Fingern und drehte ihn gegen den Uhrzeigersinn. Aus dem Stein drangen Impulse in sie ein und flossen aus ihrem Körper zurück. Die Macht der Göttin entsperrte das magische Schloss, welches das verborgene Tor in den Untergrund verriegelt hielt. Ein kurzes schwaches Beben durchlief den Boden. Dann entstand vor Nachthauch und ihren vier Begleitern ein knapp zwei Meter durchmessender Kreis im Boden, eine bis dahin scheinbar unter Eis verborgene Steinplatte. Diese ruckelte kurz, um dann mit einem Schwung lautlos nach oben zu klappen. Ein schwarzer, rußiger Dunst kräuselte sich spiralförmig aus dem freigelegten Loch. Das war die Macht des Kristalls, das Sonnenlicht auszusperren. Nachthauch sah trotz dieses nachtschwarzen Dunstes die ersten Stufen einer in den Boden gehauenen Wendeltreppe. "So betreten wir im Namen Gooriaimirias, der großen Mutter aller Nachtgeborenen, den Tempel der langen Eisnacht", verkündete Nachthauch in ihrer Rolle als hier eingesetzte residente Priesterin und tat, was sie gesagt hatte.
Die Treppe führte mehr als dreißig Meter in die Tiefe. Bereits nach den ersten zwei Metern drang kein Sonnenlicht mehr von oben zu ihnen hinunter. So konnten sie die mit schützenden Linsen bestückten Masken abnehmen und ihr besonderes Sehvermögen ausnutzen. Nachthauch bewunderte die sorgfältig behauenen und mit rutschfestem Material verputzten Treppenstufen, sowie die glatten Wände. Sie hatte nie gedacht, dass jemand innerhalb von nur sieben Wochen eine derartig präzise unterirdische Anlage errichten konnte, noch dazu völlig unbemerkt vom Rest der Welt. Anderswo auf der Welt mussten große Baumaschinen eingesetzt werden, um die von der Göttin geforderten Gebets- und Festungsstätten zu errichten.
Am Fuß der Wendeltreppe führten fünf Gänge wie die Beine eines Seesterns in das Innere des neuen Heiligtums hinein. Nachthauch fühlte die Ausstrahlung des hier gelagerten Kristalles und sah die in die Wände eingravierten Zeichen, die wohl für hier wirksame Zauber standen. Sie wusste, dass sie, wenn sie den Tempel übernehmen wollte, mit eigenem Blut die Verbindung mit den hier wirkenden Kraftquellen schaffen musste. Doch zunächst wollte sie nur die Räume sehen, in denen die Gläubigen die Göttin preisen und auch neue Nachtkinder in die Welt setzen sollten. Deshalb wählte sie den südlichen der fünf Abzweige, den Gang zum Raum der Mitternacht, wo ihre unmittelbare Wirkungsstätte sein sollte.
Die Bautruppen hatten nicht überall neue Gänge in den unterirdischen Fels graben müssen. Sie hatten vielmehr die uralten Lavakanäle des Vulkanberges ausgenutzt. Nachthauch hoffte, dass der Erebus nicht eines Tages doch wieder tätig werden würde. Denn ein Vulkan war noch langlebiger als ein Nachtkind. Er konnte über zehntausend Jahre, ja womöglich sogar eine Million Jahre lang ruhen, um dann um so heftiger wieder auszubrechen. Deshalb sprachen Vulkanologen auch nie von "erloschenen Vulkanen", sondern bezeichneten sie als "Derzeit untätig" oder "rruhend". Die Göttin hatte aber genau diesen Berg erwählt, weil die Menschen ihn Erebus getauft hatten, nach dem griechisch-römischen Urgott der Finsternis. Symbolik war das A und O bei jeder Religion, auch jener der großen Mutter aller Nachtkinder.
Die Mitternachtshalle war so groß, dass in ihr locker ein ganzes Fußballstadion hineinpasste. Über dreißig Rundbögen stützten die in zwölf Metern Höhe verlaufende Felsendecke. Die Göttin würde, wenn die Priesterinnen den Tempel für errichtet befanden, ihre besondere Kraft in ihre Dienerinnen einströmen lassen, um die Decke noch haltbarer zu machen. Wi in einem altertümlichen Amphitheater zogen sich um das kreisrunde Kultzentrum vom Boden bis in zehn Metern Höhe dreißig Zentimeter hohe Stufen, die so breit waren, das darauf lange Bänke oder viele Stühle aufgestellt werden konnten. Nachthauch dachte an einen Besuch in einem aus der Römerzeit erhaltenen Bau, in dem das einstige Weltreich seine blutigen Gladiatorenkämpfe hatte stattfinden lassen. Hier unten, abgeschirmt vom Licht der Sonne, gab es aber keine Arena, sondern einen Altar mit einer eingelassenen Grube, die so groß wie eine Badewanne war. Hier sollte sie, die residente Priesterin, die Blutopfer im Namen der Göttin vollziehen, um die Kraft des Tempels zu stärken und die in ihm weilenden mit zusätzlicher Kraft aufzuladen, damit sie um so erfolgreicher für die Göttin streiten konnten. Nachthauch hatte mit der Bluttaufe ihr menschliches Gewissen abgetötet und dachte nicht mehr daran, dass hier auch unschuldige Menschen gnadenlos hingeschlachtet werden mochten wie bei den Spinnern, die den Teufel anbeteten, der anders als die Göttin nur in der Phantasie seiner Anhänger existierte. Als bekennende Feministin war sie der Vorstellung, den patriarchialischen Kulten ein Matriarchiat der Nachtkinder entgegenzusetzen sehr zugetan, auch und vor allem, weil sie erfahren hatte, dass es auf der Erde auch echte Hexen und Zauberer gab, die sich seit Jahrhunderten darum stritten, wer die Welt führen sollte.
"Gefällt dir, was du siehst, Mutter Nachthauch?" fragte Nightblade, einer der vier Begleiter der neuen Priesterin. Diese sah noch einmal die Mischung aus Altar und Auffangbecken an und studierte die an der Wand eingeritzten Symbole. Dann nickte sie und sagte: "Mir gefällt das hier. Lasst uns noch die Verweilräume und Ausrüstungskammern besichtigen, bevor ich den Tempel der großen Mutter weihen werde."
Die nächsten Minuten oder Stunden verbrachten die fünf Besucher des Tempels damit, die an das Herz der unterirdischen Anlage angeschlossenen Räume zu besichtigen. Von gewaltigen Hallen, in denen Tische und andere Möbel aufgestellt werden sollten, über kleine Rückzugsräume, in denen laut der Göttin neue Nachtkinder ins Leben geküsst werden sollten, bishin zu zusätzlich gesicherten Räumen für Waffen und andere Ausrüstungsgüter war innerhalb der letzten anderthalb Monate eine Menge hier unten verbaut worden. Über ihnen allen ragte der Berg Erebus in den Himmel, Wächter und Bewahrer der seinem Element zugetanenen Geschöpfe und ihres wahrhaftigen Kultes, der nicht auf einen reinen Glauben angewiesen war, sondern auf das wahrhaftige Bestehen und Wirken seiner Göttin gründete.
Wieder zurück im Saal der Mitternacht sprach die Priesterin zu den vier Begleitern. "Ihr, Söhne der Nacht, die jeder aus einer der vier Himmelsrichtungen der Welt stammt, seid meine Zeugen. Im Namen der großen Mutter aller Nachtgeborenen, nehme ich, Mutter Nachthauch, Priesterin und dienerin der großen Mutter, diesen Tempel der langen Eisnacht für die erwachte Göttin aller Nachtgeborenen in Besitz. Möge die Weihe vollzogen werden!"
"So bringe man ihr die Opfer, um die Macht dieses Ortes zu wecken und die Kraft der großen Mutter in diese Hallen einzulassen", antwortete Nightblade auf Nachthauchs salbungsvolle Verkündung.
Nachthauch entschlüpfte aller Kleidung und streifte sogar die Sonnenschutzhaut ab, wie eine sich häutende Schlange. In der ewigen Dunkelheit hier unten konnte niemand die vom Blutaustausch gebleichte Haut sehen. Sie wirkte nur grau und makellos. Sie empfand auch keine Scham vor den vier Männlichen. Denn nur in ihrer puren Erscheinung konnte sie den letzten Schritt tun, um den Tempel zu weihen.Zwei der vier trugen die seit zwei Tagen in der Kammer der Bestimmung in einem hypnoseartigen Tiefschlaf gefangenen drei Männer und drei Frauen herbei, alles ausgewählte Opfer, vom zwölfjährigen Mädchen, das wohl gerade die erste Regelblutung überstanden hatte, bis zum Offizier außer Dienst, der sich nach dem Ende der Militärdiktatur in Chile nach Argentinien abgesetzt hatte. hatten sie gemeinsam, dass sie auf der Südhalbkugel der Erde geboren worden waren und dass sie Angehörige hatten, die sie sehr vermissten und deshalb unfreiwillig mitwirkten, dass der Keim der mitternächtigen Kräfte an diesem Ort aufgehen konnte. Denn Angst und Trauer waren für diese Zeremonie genauso wichtig wie frisch vergossenes Blut, so sagte die Göttin. Doch um das volle Ausmaß der dunklen Opferung zu schaffen mussten die bedauernswerten Menschen aus dem Tiefschlaf geweckt werden. Da sie von verschiedenen Priesterinnen der Göttin in diesen Zauberschlaf versenkt worden waren galt es, im Namen dieser Priesterinnen den Aufweckbefehl zu erteilen. Hierzu stellte Nachthauch die vollständige Verbindung zu ihrer Göttin dar. Sie meinte, von unbändigen Kräften durchflutet zu werden, Bilder und Geräusche aus vergangenen zeiten in ihrem Bewusstsein wahrzunehmen. Dann fühlte sie, dass die große Göttin ihren Körper und ihren Geist vollständig ausfüllte. Sie straffte sich und fühlte, wie die Kraft der Göttin aus allen Poren ihres Körpers entströmte. Die vier anderen sahen sie an, bemerkten wohl die Aura der großen Mutter, die von ihrer Priesterin ausstrahlte. Sie knieten rings um den Altar nieder, während Nachthauch alias Rosvita Heidenheim den aus extrascharf geschliffenem Obsidian gemachten Dolch aus der Nische im Altarstein zog und ihn in drei senkrechten Kreisbewegungen vor ihrem Körper führte. "So weihe ich mit meinem Blut diese Stätte deiner Andacht und Huldigung, meine große Mutter, Göttin aller Nachtgeborenen!" sprach die neue Priesterin mit einer besonders tiefen Stimmlage, die schon fast männlich klang. Dann stieß sie sich den Dolch in den linken Arm und ließ etwas von ihrem bleichen Blut einer Nachttochter über die nachtschwarze Klinge rinnen. Dann führte sie die blutbenetzte Klinge in einer erhabenen Umschreitung des Altars in die vorgesehenen Gravuren und sprach für jede Himmelsrichtung die Hoffnung aus, dass die große Mutter der Nacht aus dieser Richtung walten und Herrschen würde, von jetzt bis zum Ende aller Nächte auf Erden. Die eingravierten Zauberzeichen glühten auf, sobald sie diese bindenden Worte gesprochen und etwas von ihrem Blut darin verteilt hatte. Sie musste sich noch weitere Wunden beibringen, um alle vierundzwanzig Zauberzeichen mit genug ihres eigenen Blutes zu tränken. Die nun tiefrot glimmenden Zeichen leuchteten die Halle in einem gespenstischen Licht aus, als sei dies ein Vorraum der Hölle im Widerschein der ewigen, peinigenden Flammen. Zumindest dachte Nightblade an diesen Ort, an den er als Mensch nicht geglaubt hatte und seit seiner Wiedergeburt als Sohn der Nacht doch immer mal wieder dachte. Denn wenn es Wesen wie ihn gab, und es gab auch Hexen, zauberer und Werwölfe, dann mochte es vielleicht doch auch Jenseitsreiche wie die Hölle geben. "Denke nicht immer an diesen Unsinn der rotblütigen Irregeleiteten", durchzuckte ihn ein harscher Befehl seiner höchsten Herrin und Urmutter seiner Daseinsart. So sah er zu, wie die neue Priesterin die Umschreitung des Altars beendete. Dann forderte sie das erste Opfer, den alten Offizier.
Die vier entkleideten ihn und legten ihn in die badewannengroße Grube auf dem Opferstein. Die Priesterin sah ihn an. Dann flüsterte sie leise seinen Namen und befahl ihm im Namen jener, die ihn in Schlaf bannte, wiederzuerwachen. Erst zuckte der nackte Körper des einstigen Handlangers Pinochets. Dann erwachte er. Er erkannte, dass er nicht mehr in seinem Altersruhesitz bei Buenos Aires war, und dass es um ihn herum stockdunkel war. Er setzte sich auf und blickte sich um. Da sprach Nachthauch: "So bist du, Rodrigo Fernando Buenavista, Herrführer der Schergen des entmachteten Schächters aus Chile, der erste, dessen Blut die Kraft dieser Mauer nähren und stärken wird." Sie sprach Spanisch, damit der Gefangene sie auch ja verstand. "Wo bin ich hier. Wer oder was seid ihr?" stieß der ehemalige Helfer der chilenischen Militärregierung aus. Er versuchte, aus der Grube zu steigen. Doch Nachthauch stieß ihn mit der freien Hand zurück und setzte dann die Obsidianklinge an. "So gib Leib und Leben für die große Göttin aller Nachtkinder, Rodrigo Fernando Beunavista!" sagte sie noch, bevor sie den tödlichen Schnitt ausführte. Mit einem kurzen Aufschrei, gefolgt von einem Gurgeln und Röcheln, begann das Marturium des einstigen gnadenlosen Mittäters, auf dessen Befehl über zehntausend Andersdenkende und Freiheitsliebende hingerichtet worden waren.
Keiner hier bedauerte oder bemitleidete den nun durch rituelle Schnitte in durch die Hauptadern immer mehr ausblutenden. Der Altar erglühte nun noch mehr und pulsierte im Takt des Herzens. Nachthauch sprach mit einer weltentrückten Stimme, als sei sie nicht mehr sie selbst. Genauso war es. Denn durch sie sprach die Göttin selbst, die uralte Zauberriten der Nachtkinder kannte. Dann starb das erste Opfer. Die Priesterin und ihre vier Begleiter hörten noch einen letzten Aufschrei des hingeschlachteten und sahen sein Gesicht als blutrotes Abbild in der Wand des Altars aufleuchten. All sein Wissen, seine Erinnerungen und sein Leid waren in den Opferstein eingeflossen und nährten den darin steckenden Unlichtkristall, den Nachthauch selbst mit ihrem Blut benetzt hatte, um ihn auf sie einzustimmen. Erst als der Altar nicht mehr glühte wurde der geopferte Greis aus der nun mit geronnenem Blut gefüllten Grube gehoben und aus dem kreisrunden Versammlungsraum hinausgetragen. Seine ausgeblutete Leiche wurde in eine Seitenkammer der Versammlungshalle geschafft und dort in eine Ecke geworfen.
Immer noch vom Geist und der Kraft der Göttin selbst beseelt und bestärkt vollzog die Priesterin die weiteren Opfer, bis sie zum schluss das aus einem brasilianischen Nobelviertel entführte Mädchen aufweckte und ihm sein Ende verkündete. "Möge dein junges Blut und dein unbeflecktes Leben die Kraft dieses Ortes immer wieder verjüngen, auf dass alle, die sich ihr darbringen und an ihr laben im Namen der Göttin bestärkt wieder hinausgelangen", sagte Nachthauch im akzentfreien Brasilportugiesisch, damit das nun laut losschreiende Mädchen auch ja alles verstand, was ihm bevorstand.
nachdem auch das unschuldige Kind sein viel zu kurzes Leben an den Opferstein des Eisnachttempels hatte abgeben müssen erstrahlte der Altar halb so hell wie die Sonne selbst. Doch sein Licht tat niemandem hier weh. Im Gegenteil. Es war wie ein belebendes Bad. Für einige Minuten konnten sie das von Qualen und Ängsten gezeichnete Gesicht von Maria Ana Lucio sehen, ein im blutgetränkten Stein eingesperrter Geist, dazu verdammt, diesem Ort seine dunkle Kraft zu geben. Dann erschien aus der Glut des Opfersteins heraus eine gewaltige, blutrot leuchtende Frauengestalt, mehr als fünf Meter groß. Sie war unbekleidet und trug einen vorgewölbten Unterbauch zur Schau, als sei sie im zweiten Drittel schwanger. Die Göttin selbst war erschienen, um diesen ihren Tempel in Besitz zu nehmen.
"Ich danke euch allen und vor allem dir, meiner Tochter Nachthauch, dass dieser machtvolle Ort nun seine ganze Kraft entfalten kann und Andachts- und Verweilstatt meiner treuen Kinder sein kann. Ich spüre auch, dass die Arbeiten am Tempel von Australien, dem Hort der verlachten Sonne, so gut wie abgeschlossen sind. Dann wird bald auch dort mein Wort gelten und meine Kraft die Getreuen erfüllen. Und so wird es weitergehen, bis die sieben Tempel der Nacht errichtet und geweiht sind. Dann wird von dort aus mein Wort und mein Werk in die ganze Welt getragen, und die aus reiner Dunkelheit bestehende falsche Königin der nacht ihr verdientes Ende finden, auch wenn sie meint, mir weiterhin trotzen zu können. So erwarte nun die nächsten Vollendungen, auf dass du, meine Tochter Nachthauch, die in dieser Halle errichteten Tore zu Verbindungstoren zwischen den Tempeln machen kannst, um das Netz der Nacht zu knüpfen, das die Welt umspannen und zusammenhalten wird." Nach diesen hochtrabenden Worten zerfloss die Erscheinung der Göttin zu einer gewaltigen roten Lichtwolke, die sich in der Halle ausbreitete und alles und jeden hier berührte und durchdrang. Gooriaimiria hatte den ersten Tempel in Besitz genommen.
Roberto Venuti seufzte auf, als er das schnurlose Telefon in seine Basisstation zurückstellte. Sein neuer Schutzherr hatte tatsächlich ein Treffen zwischen ihm, Carlo Moretti und Dario Minetti hinbekommen, um gemeinsam mit dem unter dem Namen Don Ernesto oder Mr. Z auftretenden neuen starken Mann aus Philadelphia zusammenzutreffen. Bekamen die großen neun oder die Organisationen aus Ostasien oder Russlands davon Wind konnte es ziemlich blutig werden. Er selbst konnte noch von Glück sprechen, dass er als Verbindungsmann der Kowalsky-Industriebank wichtig genug war, nicht zum einfachen Handlanger für eine der großen Sippen degradiert worden zu sein. Doch ob es wirklich Glück war, dass er wegen einer bestimmten Transaktion, die seine Großtante Donna Gina vor ihrem plötzlichen Ableben eingefädelt hatte, unter den Schirm der Fraschetti-Familie geraten war und sich jetzt wie der berühmte weiße Vogel im goldenen Käfig vorkam? Immerhin lebten er und seine drei jüngeren Schwestern noch. Andererseits sollten gerade diese drei Schwestern irgendwann die Söhne wichtiger Familien heiraten, so hatte es die selige Donna Gina selbst noch eingefädelt, auch um die hier in den Staaten wohnenden Anverwandten vor Nachstellungen zu schützen. Jetzt war er sozusagen der Familiensprecher, wobei er tunlichst darauf verzichtete, mit Capo und der Ehrenbezeichnung Don angesprochen zu werden. Also musste er durchziehen, was seine Großtante noch verfügt hatte. Tja, nur dass Luisella, Rinalda und Rosanna Gina ihre eigenen Köpfe hatten und sich als gebürtige Amerikanerinnen nicht an uralte Traditionen und Absprachen gebunden fühlten. Tja, und wer konnte es ihnen verdenken, dass sie sich auch nicht wie Prostituierte behandeln lassen wollten, die von ihrem Zuhälter zur Arbeit getrieben wurden? Das war schon alles kompliziert und schwerwiegend genug. Wenn jetzt auch noch eine Verflechtung mit dem unheimlichen Mr. Z dazukam konnte Roberto Venuti schon mal beim Teufel wegen einer Ferienwohnung in der Hölle anfragen. Apropos Teufel: Irgendwie wollten die Gerüchte nicht verstummen, dass Mr. Z alias Don Ernesto Zagallo mit dunklen Mächten paktierte. Das kam daher, dass er nach dem schlagartigen Erlöschen der ganzen kalabresischen Campestrano-Sippe aus dem Nichts heraustrat und ohne großen Aufruhr in das entstandene Machtvakuum eingedrungen war. Zwar hatten die Erben der Campestranos versucht, ihre Anteile in den Staaten zu sichern, waren aber seltsam schnell von ihren Ansprüchen zurückgetreten oder über Nacht auf nimmer Wiedersehen verschwunden. So ganz abstreiten wollte er die Existenz dunkler Mächte nicht. Seine Großtante hatte selbst mit jemandem zu tun gehabt, der aus irgendwelchen Gründen von wem sehr mächtigem beschützt wurde. Tja, und bevor sie herausfinden konnte von wem, waren sie und fünf Capi anderer wichtiger Familien in einer höllenheißen Feuersbrunst ausgelöscht worden, und nur die bereits bestehenden Verflechtungen auf Sizilien hatten einen blutigen Machtkampf und Rachefeldzug verhindert. Doch so ähnlich wie in New York galt ein sehr zerbrechliches Gleichgewicht von Schrecken und Gefälligkeiten. Ein Funke konnte reichen, alles wie ein Pulverfass in die Luft gehen zu lassen. Genau das wussten Fraschetti und die beiden anderen Capi, die meinten, mit Mr. Z zusammenzukommen und sozusagen um die Interessen der großen Neun herumzumanövrieren. Bekamen die das mit ... aber das hatte er ja schon erkannt.
"Melina, sagen Sie bitte alle Termine für den vierten Februar ab! Ich bekam gerade den Anruf von einem Premiumkunden, der mich zu sich bestellt hat", sprach Roberto Venuti in die Gegensprechanlage seines Büros. Melina erwiderte: "Soll ich für Sie einen Flug buchen, Mr. Venuti?"
"Nein, ich nehme den Firmenwagen mit Mr. Pontecelli als Fahrer. Den rufe ich gleich selbst an. Bitte führen Sie meine Anweisung bezüglich aller Termine für den vierten Februar aus!"
"Wird erledigt, Mr. Venuti.
So viele Gäste hatte Chrysope bisher nur bei Geburtstagsfeiern ihrer Eltern zu sehen bekommen. Doch heute waren sie alle wegen ihr da. Laurentine, die hier den großen Kindern wie Claudine was beibrachte, Catherine und Claudine selbst, natürlich auch Chrysopes Großeltern Hippolyte und Albericus zusammen mit Miriam und dem ganz kleinen Jungen Alain Durin, der diese anderen Hände hatte. Außerdem waren viele junge Eltern aus Millemerveilles herübergekommen, so die beiden Paare Dusoleil mit ihren Kindern, die ganz runde Eleonore mit ihren beiden ganz jungen Kindern und Belisama. Dann waren noch Claudines Großtante Madeleine mit ihrem Mann François da und Chrysopes Tanten Martine, Patricia und Béatrice. So gegen Nachmittag kamen dann auch die aus dem Sonnenblumenschloss mit Besen angeflogen und feierten mit. Jedenfalls war das Wetter ganz toll. Es gab nur Sonne, keine Wolken. Es war schön warm und nicht so windig. Ja, so gefiel Chrysope das Feiern im großen Garten. In dem hingen viele bunte Sachen wie leuchtende Ballons, frei in der Luft hängende Luftschlangen und bunt brennende Kerzen. Als sie dann auf einer leckeren Schokosahnetorte steckende zwei Kerzen ausblasen durfte klatschten alle, die da waren kräftig in die Hände. Das erschreckte wohl Alain. Er schrie laut auf. Klar, der war ja auch ein Baby, noch kleiner als Clarimonde, die in ihrem Wackelbettchen draußen im Garten lag.
"Ist das schon wieder zwei Jahre her, dass du zu uns gekommen bist, Chrysie", sagte ihr großer, starker Papa. "Heftig, wie die Zeit verfliegt."
"Ja, und dieses Jahr kriegen wir noch ganz viele viele neue Kinder dazu", sagte die immer in grünen Sachen herumlaufende Tante Camille und streichelte ihren immer größer und runder werdenden Bauch. Alle sagten, das da schon die neuen Kinder drin waren. Wie das ging wusste Chrysie aber nicht. Irgendwann, so ihre Maman, würden sie ihr die Geschichte erzählen, wie zuerst Aurore, dann sie und dann Clarimonde erst im Bauch von Maman gewohnt hatten und dann irgendwie da rausgekrabbelt waren. Ja, und die zwei Kerzen sagten, dass sie, Chrysope, das schon vor zwei Jahren gemacht hatte. Aber natürlich dachte sie nicht so weit zurück. Zwei Jahre waren für sie noch irgendwie unbegreiffliche Sachen.
Große Orange!!!
Treffen von Mighty Marc, Clever Charlie und Dagger Dario 04.02.2004 bei Clarksons Fabrik südwestlich von New York City. Möglicherweise Zusammentreffen mit neuem starken Mann aus Philly. Könnte zur riesengroßen roten Chilischote werden. Näheres bei Kontakt an bekannter Stelle um sieben Uhr abends.
Tinwhistle
"Soso, der geheimnisvolle Kontakt Tinwhistle", sagte Jeff Bristol, als er die von seinem direkten Vorgesetzten übergebene Meldung, die als verschlüsselte E-Mail auf Ralf Burtons E-Mail-Konto gelandet war, gelesen hatte.
"Ja, so ein Pech, dass Ralf gerade wegen seiner Fortbildung über Computerkriminalität in San Francisco ist und nicht vor dem 20. Februar zurückkommt", sagte Mike Dunston. Jeff nickte. "Dann soll ich zu diesem Treffen hin und Tinwhistle ausbezahlen, falls er oder sie beweisen kann, dass was dran ist?"
"Deshalb habe ich Ihnen die Mitteilung übergeben, Jeff. Sie sind wegen ihrer Vorgeschichte der einzige, dem ich zutraue, mit Tinwhistle zusammenzukommen, ohne von den örtlichen Gegebenheiten erledigt zu werden."
"Welche da sind, Sir?" wollte Jeff wissen. "East New York, Jeff." Jeff pfiff durch die Zähne und antwortete eher scherzhaft: "Öhm, falls die Chefetage meine Entlassung wünscht brauchen die mich nicht nach East New York zu schicken. Ein einfaches "Sie sind gefeuert" reicht doch völlig aus."
"LegenSie es darauf an, gefeuert zu werden, Jeff?" fragte Mike Dunston.
"Derzeit nicht. Deshalb wundert es mich ja, dass Sie mich auf ein Himmelfahrtskommando schicken möchten."
"Zwei Dinge, Jeff. Ralf hat diesen Informanten Tinwhistle vor zehn Jahren aufgetan und will bis heute nicht verraten, wer es ist. Sie bekommen die Gelegenheit, das für uns alle herauszufinden. Das zweite Ding ist, dass wir unbedingt wissen müssen, ob an dieser Meldung was dran ist oder das ganze eine gezielt ausgeworfene Falschmeldung ist, um die Unterwelt in Aufruhr zu bringen oder gar ein Maulwurfsköder ist, um zu sehen, wer diese Nachricht weiterverbreitet. Daher müssen wir unbedingt wissen, ob an der Sache was dran ist. Sie gehen deshalb heute abend um Mitternacht zu Bennys Frühstücksbar und treffen sich mit Tinwhistle. Ich weiß, dass Sie nicht mit einem unserer Wagen oder gar Ihrem privaten Auto da vorfahren können. Deshalb gebe ich Ihnen gleich noch eine Ausleihgenehmigung für die Galagarderobe für die ganz große Oper, sowie für ein Opernglas und das ungekürzte Libretto, falls Sie die internen Bezeichnungen noch gut im Kopf haben."
"Und falls ich da nicht hingehe bin ich gefeuert?" fragte Jeff Bristol sehr provokant. "Das entscheidet die Chefetage, wenn sie offiziell was machen, was uns schadet", erwiderte Mike Dunston.
"Sie betonten das Wort offiziell so deutlich, dass ich davon ausgehe, dass Sie mich nicht kennen, sollte mir bei diesem Treffen was passieren, richtig?" fragte Jeff Bristol. "Das kann ich leider nicht ganz abstreiten, wenngleich ich Ihnen zumindest zusagen möchte, dass jeder wie auch immer stattfindende Unfall von uns untersucht wird."
"Gut, dann soll ich Tinwhistle auch nicht meinen Namen nennen, korrekt?" wollte Jeff wissen. "Das ist auf alle Fälle ratsam", sagte Mike Dunston. Dann holte er noch ein Formular aus seinem Schreibtisch. "Hier, für die Centumdreher aus der Buchhaltung, eine Spesenabrechnung für Gespräche mit einer Quelle in Lower Manhattan wegen der Verwicklungen karibischer Banken in US-amerikanische Bodenspekulationsgeschäfte. Da möchte ich Sie eh noch genauer mit betrauen. Könnte sein, dass da gerade eine weitere Blase aufquillt, deren Platzen uns übel aufstoßen wird."
"Erst Tinwhistle, dann die Leute aus dem Finanzdistrikt", legte Jeff die Marschroute fest. Mike Dunston nickte zustimmend.
Jeff nahm den Beleg für die Reisespesen einschließlich entliehenen Anzuges und ein oppulentes Essen zusammen mit einer handgeschriebenen Ausleihgenehmigung in den Kelleraum 0 unterhalb des Times-Gebäudes. Hier bewahrte die berühmte Zeitung besondere Ausrüstungsgegenstände auf, die Kriminal- und Kriegsberichterstatter für besondere Einsätze ausleihen konnten. Jeff ließ sich eine unauffällige schusssichere Weste, Hose und ein paar mit Kohlefaser verstärkte Stiefel geben, die Garderobe für die große Oper. Dazu bekam er noch eine Nachtsichtbrille mit eingebauter Restlichtverstärkung und Infraroterkennung und ein streichholzschachtelgroßes Aufnahmegerät mit einem Speichervermögen von bis zu zehn Stunden und einem als Kragenknopf getarntes Mikrofon, das ungekürzte Libretto. Doch Jeff dachte daran, diese Gegenstände nicht nötig zu haben. Wenn er schon in einen der statistisch gefährlichsten Stadteile von Brooklyn musste würde er nur der Bekleidung und den Gebrauchsgegenständen aus dem Haus Quinn Hammersmith vertrauen. Wie er das Gespräch mit Tinwhistle dann auf den Speicherchip bekommen wollte wusste er auch schon. Quinn hatte in den letzten Jahren sehr viel über Aufnahmetechniken der magielosen Welt und damit kompatible Aufzeichnungszauber geforscht.
Fino saß alleine in einer Kabine der immer noch getauchten Reina de las Mareas, dem walförmigen Unterseeboot der Mondbruderschaft. Er dachte daran, dass die Bruderschaft immer mehr an Rückhalt verlor. Die unzufriedenen Daseinsgenossen waren durch die Aktionen von Vita Magica vollkommen eingeschüchtert und ließen sich lieber registrieren, statt beim nächsten Vollmond zu verglühen. Dann war vor drei Wochen noch ein Spion beim Sonderkommando Bullhorn enttarnt worden und stand mit einem Bein in Doomcastle, dem berüchtigten US-Zauberergefängnis, wo die Gefangenen an Leib und Seele getrennt wurden. Und solange die Bruderschaft keine andere Antwort auf die tödlichen blauen Strahlen fand als schnellstmöglich an Fideliusbezauberte Orte zu portschlüsseln war an einer wirksamen Gegenaktion gegen Vita Magica nicht zu denken. Hinzu kam immer noch das Trauma, dass ihm die Begegnung mit der Anführerin der schwarzen Spinne eingebrockt hatte. Immer wieder wollte er nach ihr suchen, sie für das bestrafen, was sie ihm angetan hatte. Doch Lunera ließ ihn nicht, und sie hatte verdammt noch eins recht, dass er sich dieser Schlampe nur noch mehr ausliefern würde, wenn er sie auf eigene Faust suchte. Ja, er wollte auch keinem verraten, was genau dieses ruchlose Weib mit ihm angestellt hatte, dass er derartig durch alle Winde war. Blieb also nur das Warten und Selbstmitleid? Nein, das wollte und würde er nicht mehr länger so laufen lassen.
"Lunera, wenn wir bis Monatsende keinen klaren Erfolg gegen unsere Feinde vorweisen solltest du darüber nachdenken, die Bruderschaft aufzulösen und alle ihrer Wege ziehen zu lassen", wandte sich Fino an die Frau, die er trotz aller Rückschläge immer noch als seine "Leitwölfin" ansah, obgleich sie nicht selbst zaubern konnte.
"Fino, du weißt zu gut, dass wir noch nicht alle Stützpunkte so absichern können, dass die uns bei Vollmond nicht finden und uns die blauen Todesstrahlen überbraten", erwiderte Lunera. "Der Stützpunkt bei Brighton ist zwar bisher unbehelligt geblieben, aber wir müssen das noch klären, ob es an diesen Zaubertarnsteinen liegt, dass die Mädels und ihre Bettwärmer da nicht gefunden werden", erwiderte Lunera über die zwischen der Reina und der geheimen Basis auf einer Insel mitten im Amazonasstrom eingerichteten Schallverpflanzungsverbindung ähnlich dem Zaubererweltradio.
"Seit diese Schweinerei mit den verfälschten Mondstrahlen läuft sagst du, dass wir erst mal in Deckung bleiben sollen. Gut, kann sein, dass deine Mutterinstinkte dich vorsichtig machen. Aber wenn wir nicht bald was bringen verlieren wir auch den Draht zu den Freunden in Indien."
"Fino, das wundert mich jetzt doch, dass du es nicht mitbekommen hast, dass unsere indischen Freunde jede weitere Zusammenarbeit aufgekündigt haben, seitdem das mit Lykotopia war. Deren Königin hat durchblickenlassen, dass sie nicht riskieren wird, ihr Volk sterben zu lassen, wenn diese Spinnenhexe an wirksame Brandbomben herankommt. Valentino hat es noch einmal versucht, den Begatter dieser Matriarchin dazu zu bringen, uns gegen den blauen Mond zu helfen. Denn wenn mehr als ein Wertiger in Tigergestalt an einem Ort ist wirkt keinerlei denRaum durchdringende Magie."
"Aha, also diese Spinnenschlampe ist auch daran schuld, dass wir mit den achso mächtigen Wertigern nicht mehr durch die Weltziehen dürfen?" schnaubte Fino.
"Nicht nur. Die Sache mit Feuerkrieger hat uns die Sympathie dieser Matriarchin gekostet. Ohne einen Gegenwert von uns kriegen wir die sicher nicht wieder auf unsere Seite."
"Dann tritt dem der dich geschwängert hat mit einem schönen Gruß von mir in den Hintern und sag dem, dass er mir das auch mal hätte sagen dürfen, dass die achso großmäuligen Tiger aus Indien zu harmlosenBettvorlegern geworden sind! Und was diese Spinnenhure angeht steht mein Angebot immer noch, die zu finden und zu zerreißen. Ein Wort von dir und ich rücke mit zwanzig von uns aus und kassiere deren nette Schwestern, bis die weit genug angepiekt ist, sich uns selbst zu stellen."
"Fino, hatten wir schon oft genug. Wir sind keine tollwütigen Bestien. Auch wenn Vita Magica das anders sieht wollen wir nicht als blutgierige, mordende Monster gelten. Such lieber nach einem Weg, diese blauen Mondstrahlen zu neutralisieren, so wie du es mit diesen Todesfliegen von Vita Magica geschafft hast!"
"Ich mach seit Monaten nichts anderes mehr, Lunera. Wenn du nicht die Auslieferung des LNT verbockt hättest und die von den Zaubereiministerien den deshalb bekommen und entschlüsselt hätten ..."
"Jetzt aber ganz vorsichtig, Fino! Auch wenn du meinst, weil ich nicht mit einem Zauberstab herumwedeln kann sei ich dir körperlich unter wirst du mich nicht beleidigen, ist das klar?"
"Du hast deine persönlichen Niederlagen kassiert, genau wie ich auch. Also sieh bitte zu, dass wir endlich wieder was brauchbares hinkriegen."
"Ja, wenn du und die anderen Zauberstabträger von uns das Rätsel um die blauen Todesstrahlen gelöst habt und was dagegen erfinden könnt", entgegnete Lunera. Fino grummelte nur. Dann beendete er die magische Fernsprechverbindung. Er ertappte sich dabei, dass er verstand, warum Rabioso sein eigenes Ding machen wollte. Er stand kurz davor, ähnlich zu denken. Doch wenn er nun auch absprang war er kein Jäger mehr, sondern nur noch ein von allen Seiten getriebener. Dann würde dieses verfluchte Spinnenweib endgültig über ihn triumphieren. Das wollte er auf gar keinen Fall.
Der athletisch aussehende, dunkelhäutige Mann im dunklen Wintermantel, den zerschlissen aussehenden Hosen und den wadenhohen Schnürschuhen mit besonderen Sohlen blickte sich immer wider um. Dank eingesetzter Haftschalen mit Restlicht- und Wärmesichtvermögen waren die spärlich beleuchteten Straßen in East New York für ihn wie Strandpromenaden an einem klaren Sommermittag. Auch wenn er auf Glassplitter oder Geröllbrocken trat machte er überhaupt kein Geräusch. Das lag an den besonderen Schuhsohlen.
Zweimal konnte er herumstrolchenden Banden ausweichen, die ihr Revier überwachten, weil die keine Nachtsichtgeräte hatten und er sich immer wieder an dunkle Wände drücken und schön außerhalb der Lichthöfe der ganz wenigen Straßenlaternen bleiben konnte. Immer wieder krachten irgendwo Schüsse oder brüllte jemand wen anderen an. Selten hörte er das Wimmern von Polizeisirenen.
Als er in einen besonders heruntergekommenen Bereich des Bezirkes The Hole einbog sah er an den Wänden ein aufrecht stehendes Rechteck, in das ein grinsender Totenkopf eingefügt war, ein Bandenzeichen, sozusagen eine Reviermarkierung. Er überschlug alles, was er am Tag noch über diesenStadteil und bekannt gewordene Gangsterbanden nachgelesen hatte. Demnach stand das aufrechte Rechteck mit dem Totenschädel für das rostrote Rechteck, eine Bande, die aus ann die zweihundert Mitgliedern bestand und die sich die fragwürdige Ehre erworben hatten, zwei Drogenbanden hochgenommen und deren Lager geplündert zu haben. Dadurch sollten die an Geld für automatische Waffen gekommen sein. Nur wer eingeschworen war kannte den oder die Anführer, angeblich eine Führungsriege aus sieben Leuten, ob Männer oder Frauen, Jungen oder Mädchen, wusste kein Außenstehender. Ralfs eigenen Recherchen nach hatte ein jüngerer Kollege mal versucht, die Bande zu infiltrieren. Offenbar hatte der das Aufnahmeritual nicht überlebt. Denn er war einen Tag später in einem sehr bedenklichen Zustand im East River treibend gefunden worden, auf der Brust ein Brandmal mit dem Zeichen der Bande und darunter dem in die Haut geritzten Spruch:
Wer nicht checkt, was er nicht weiß
und sich gleichfalls dumm wie dreist
vornimmt mehr von uns zu wissen,
der wird in den Fluss geschmissen.
Da ist Bennys Frühstücksbar, dachte der derzeitig dunkelhäutig aussehende Mann, der sich offiziell Wilson Borrows nannte und einen scharlachroten Ford Mustang mit Kennzeichen aus Detroit sein eigen nannte. Laut den von Ralf Burton von Tinwhistle erhaltenenInformationen wurde hier zwischen sechs und elf uhr morgens immer was für die obdachlosen zubereitet, während in den Hinterzimmern die Führer der mächtigsten Gangs ihre Reviere absteckten oder gar miteinander Geschäfte machten. Woher Benny das viele Geld bekam, um großzügig Armenspeisungen zu veranstalten entschied sich wohl eher in den Nachtstunden, wenn sich weitere Schurken hier trafen. Sicher würde der Mann, der gerade die Identität Wilson Borrows benutzte nicht durch den funzelig erleuchteten Vordereingang eintreten. Er kannte jedoch einen Seiteneingang. Wenn er den benutzte, so sein Kollege Ralf, hatte er schon halb gewonnen, vorausgesetzt, Tinwhistle kam echt zu diesem Treffen, dessen Zeitpunkt er in voller Absicht fünf stunden früher angegeben hatte.
Um zwei dem Rost zum Fraß überlassene Autowracks herum ging Wilson Borrows alias Jeff Bristol auf ein Kellerfenster zu, aus dem heraus es sehr übel nach billigem Tabak und lange nicht mehr geputzten Toiletten stank. Hoffentlich reagierte der oberste Kragenknopf seines Hemdes nicht auf diesenBrodem und baute schneller als mit Zauberstab und -formel möglich eine Frischluftblase um seinen Kopf auf. Das konnte er Tinwhistle sicher nicht erklären. Behutsam näherte er sich dem Fenster und hielt dabei einen bei Tageslicht dunkelblauen Kugelschreiber in der rechten Hand. Falls dieser zu vibrieren oder zu pulsieren begann wusste er, dass etwas unmittelbar vor ihm gefährlich war. Doch der Stift blieb reglos in seiner Hand liegen, als er das Fenster erreichte. Er beugte sich hinunter. Sein oberster Kragenknopf vibrierte einen winzigen Moment. Doch mehr passierte nicht. Offenbar waren die Ausdünstungen hier knapp unter der Auslöseschwelle.
Jeff Bristol führte seine rechte Hand zwischen die rostigen Gitter des Fensters, ein Hohn für jeden Einbrecher. Er klopfte zweimal, ließ zwei Sekunden Pause, dann dreimal, ließ drei Sekunden Pause und dann noch einmal zweimal gegen die staubige Scheibe. Da klappte das Fenster auf, und eine rauhe Männerstimme fragte: "Suchst du das Klo oder dein Grab?"
"Ich suche Klopapier und eine unbenutzte Zahnbürste", erwiderte Wilson Borrows mit einer tiefen Stimme. "Okay, kriegst du vier schritte weiter rechts, Bruder", antwortete die rauhe Stimme aus dem Fenster. Wilson nickte und trat genau vier schritte nach rechts. Da stand ein ausgebeulter, mit deutlichen Brandspuren verunzierter Müllcontainer. Dieser glitt lautlos zur Seite und gab den Weg zu einer niedrigen Tür frei. Wilson trat an die Tür heran, da sprang diese von selbst auf und gab den Weg in ein von Fettgerüchen und billigem Putzmitteldunst erfülltes Treppenhaus frei. Am oberen Ende der Kellertreppe standen zwei andere dunkelhäutige Männer mit entsicherten, schallgedämpften MPs. "Welche Farbe soll die Zahnbürste haben, Bruder?" wurde Jeff gefragt. Dieser sagte: "Ozeanblau." "Und wie willst du das Klopapier?" wurde er gefragt. "Vierlagig und zehn Rollen in einer Packung", erwiderte der falsche Wilson Borrows. "Okay, kannst passieren, Bruder. Zwei Treppen Runter, dann bei erster Tür links gleiches Klopfzeichen. Du wirst erwartet", sagte einer der bewaffneten Türsteher. Jeff Bristol nickte. Die Waffen senkten sich. Er passierte die beiden Wachposten und hörte, wie die Tür wieder zufiel. Jeder andere, der ab hier noch einen Fehler machte würde wohl unauffindbar sein oder wie Jeffs bedauerlicher Kollege im East River treibend gefunden.
Die bezeichnete Tür trug das Zeichen des rostroten Rechtecks und darunter die Mitteilung: "Falsches Klopfen tötet." Jeff wiederholte das am Fenster benutzte Klopfzeichen. Sein Kugelschreiber vibrierte eine Sekunde lang. Dann lag er wieder reglos in seiner Hand. Die Tür wurde entriegelt und glitt leise summend auf. Welch ein Service, Servottüren in dieser Gegend, dachte Jeff Bristol und trat ein.
Es war ein fensterloser Raum, der im Schein einer von der Decke baumelnden Glühbirne schimmerte. Wände, Decke und Boden bestanden aus nacktem, grauem Beton. Neben der Glühbirne hing an vier spiralförmigen Kabeln ein Würfel, dessen in den Raum weisende Flächen eindeutig gerade nicht eingeschaltete Plasmamonitore waren. Unter diesem Würfel stand ein mit der Schmalseite zur Tür weisender, rechteckiger Tisch. An den beiden Längsseiten standen bequeme, rote Schreibtischstühle ohne mit Armlehnen. An der direkt zur Tür zeigenden Schmalseite stand ein kleiner Holzstuhl mit niedriger Lehne. Vor Kopf des Tisches stand ein breiter, nachtschwarzer Ledersessel mit hoher Lehne. Darüber hinaus sah der als Wilson Borrows auftretende Jeff Bristol noch einen Kühlschrank mit gläserner Tür und einen schwarzen Kasten, der womöglich die Steuertechnik für die hier verwendeten Geräte enthielt. Im schwarzen Sessel vor Kopf saß eine Gestalt in rostroter, schusssicherer Vollrüstung vom massiven Helm mit verspiegeltem Visier bis hinunter zu den kniehohen Stiefeln.
"Wann ist Bennys Frühstücksbar offen?" klang eine eindeutig synthetische Stimme vom Helm des Sitzenden her. "Wenn Billie Joan die große Kanne Kaffee voll hat", erwiderte Jeff.
"Wie teuer sind hier die Sesambrötchen mit Erdbeermarmelade?" wurde Jeff gefragt. "Doppelt so teuer wie die Brötchen mit Frischkäse", entgegnete Jeff.
"Wer kommt immer zuerst her?" wurde Jeff nun gefragt. "Elsa und Rick mit der Linie fünf", antwortete Jeff.
"Okay, kannst dich hinsetzen", sagte die künstliche Stimme. Die behandschuhte rechte Hand der Gestalt deutete auf den schmalen Holzstuhl. Jeff musste an den Astrophysiker Stephen Hawking denken, der durch eine schwere Krankheit fast vollständig gelähmt war und nicht mehr die Kraft hatte, mit seiner natürlichen Stimme zu sprechen. Doch dieser Mensch da - ob Mann oder frau ließ sich wegen der Ganzkörperrüstung nicht sagen - war sicher kerngesund und womöglich auch gut trainiert. Die Kunststimme diente nur dazu, sein Alter und sein Geschlecht so zuverlässig zu verbergen, wie es die Vollausrüstung mit seinen Körpermerkmalen tat.>
Jeff sah mit dem Gespür für besondere Handbewegungen, wie die Gestalt im Sessel die behandschuhten Finger in einer schnellen Folge gegen die Handinnenfläche führte. Die von kleinen Elektromotoren gesteuerte Stahltür schwang ein wenig schneller zu als sie vorhin aufgegangen war und schnappte mit leisem metallischem Klong und einem verdächtigen Schmatzen zu. Jeff erkannte, dass dieser Raum ein luftdichter Bunker war. Nun setzte ein mittellautes Rauschen ein, wie ein viel wasser führender Fluss. Jeff sah die in den Wänden eingearbeiteten Löcher und vermutete, dass diese der Be- und Entlüftung dienten. Er vermutete, dass die Belüftung mit ABC-sicheren Filtern arbeitete und jedes gefährliche Aerosol oder Gas aussperrte. Wie kam ein solcher Mini-Atombunker in dieses heruntergewirtschaftete Stadtviertel? Doch die Frage würde ihm die vollvermummte Gestalt auf dem Stuhl nicht beantworten. Ganz sicher wusste er aber, dass er hier nur wieder rauskam, wenn sein rostrot gerüstetes Gegenüber es erlaubte.
"Ich weiß, das Ihr Kollege Ralf gerade in der alten Hauptstadt der Blumenkinder unterwegs ist", quäkte die Kunststimme. "Ich bin Tinwhistle und Sie sind für mich Mr. Ebony, dann weiß keiner vom anderen zu viel. Angenehm?" Der Mann, der gerade die Identität Wilson Borrows' benutzte nickte und antwortete: "Angenehm, Tinwhistle." Er war erleichtert, dass der Kontakt keinen Namen von ihm wollte. Statt dessen öffnete dieser eine Schublade unter der Tischplatte und zog eine Klarsichthülle hervor. "Dieser Raum ist ein sicherer Raum. Über uns könnte der dritte Weltkrieg ablaufen, und wir würden das erst mitkriegen, wenn wir wieder an die Sonne wollen", quäkte die von Tinwhistle benutzte Kunststimme. "In der Hülle sind eine Speicherkarte mit abgezweigten Dateien drauf, sowie ein Zettel mit dem bei mit Ralf ausgemachten Code zum Entschlüsseln von Textnachrichten. Damit können Ihre sesselfurzenden Bosse dann die angeblich gelöschten Protokolle der letzten Sitzung und die Korrespondenz mit Mr. Z nachvollziehen."
"Und wer sagt mir, dass da kein bitterböses Virus bei ist, Tinwhistle?" fragte Jeff.
"Zwei Umstände. Zum einen will ich nicht, dass wegen Mr. Z New York in Flammen aufgeht oder der große Apfel dem auch noch wie eine reife Frucht in den Schoß fällt, wo er Philly schon so lautlos eingesackt hat. Zum anderen sind fünf Benjamin Franklins jetzt und fünfzehn nach Klärung, dass ich keinen Müll abliefere sicher keinen Virusangriff auf Ihre achso empfindlichen Systeme wert."
"Und was ist, wenn ich erst rauskriegen muss, ob Ihre Info so viel Kohle wert ist, Tinwhistle?" fragte Jeff Bristol mit der gerade verwendeten tiefen Stimme. "Mr. Ebony, wer hier wieder raus will macht, was der, der die Schlüsselgewalt über den Raum hat sagt. Und den Schlüssel können Sie nicht verwenden, auch wenn Sie ihn mir abnehmen könnten. Abgesehen davon würden die beiden Jungs an der Treppe Sie umlegen, wenn die nicht von mir das Okay-Signal kriegen, dass alles so gelaufen ist wie ich das wollte."
"Ich habe gute Kleidung an, Tinwhistle", sagte Jeff ruhig. "Ja, aber nicht an der Birne", erwiderte die künstliche Stimme von Tinwhistle. Jeff deutete auf die Kapuze seines Wintermantels. "Die kann ich um den Kopf rum machen und unter den Ballermännern Ihrer Türsteher durchspringen, bevor die auf meine Ebenholzvisage zielen können", erwiderte Jeff, der die Rolle des unbeeindruckten Burschen voll durchziehen wollte. "Gegen Regentropfen hilft die sicher, aber nicht gegen hühnereigroße Hagelkörner", quäkte Tinwhistles Computerstimme. Jeff tat so, als müsse er darüber nachsinnen und nickte dann scheinbar verdrossen.
"Mal sehen, ob mir keiner von den halben Hosen da oben in den Straßen den Zaster abgegriffen hat", sagte Jeff und betastete seinen Wintermantel mit Kapuze. Dann griff er in eine Innentasche und zog eine mit Gummiband zusammengebundene Rolle heraus. Er hielt sie dem anderen hin und streckte die andere Hand nach der Plastikhülle aus. "Handel gilt", sagte Tinwhistle und griff selbst nach dem Geldbündel. "Häh?! Ich wollte fünf Hunderter. Das sind Zwanziger."
"WolltenSie echt mit großen Scheinen herumwedeln, Tinwhistle?" fragte Jeff. "Keine Sorge, die sind nicht registriert", fügte er noch hinzu.
"Wollte ich Ihnen auch nicht geraten haben, Mr. Ebony. Denn ich krieg sowas sofort raus, bevor ich Geld ausgebe", antwortete die künstliche Stimme.
"Oh, Sie möchten mir drohen, Tinwhistle?" fragte Jeff und zog sich demonstrativ die Kapuze über den Kopf. Tinwhistle nickte, sofern sein oder ihr Helm das zuließ. "Ich stell nur klar, dass ich mich nicht von euch Schreiberlingen verarschen lassen will", verfiel die künstliche Stimme in einen in diese Gegend passenden Tonfall.
"Wir legen's auch nicht drauf an, von wem auch immer abgezockt zu werden, Tinwhistle. Ralf vertraut Ihnen offenbar und kennt sie. Wenn mir was passiert, und mein Boss weiß, wo ich war, könnte der ihm empfehlen, Ihren Namen rauszurücken oder in dieser Gegend die Gullys zu putzen."
"Mister, Sie meinen echt, ich könnte sie nicht beeindrucken, wie? Aber sei's drum. Mir liegt zu viel daran, dass New York nicht was noch schlimmeres abkriegt als am elften September. Also zähle ich den Zaster. Stimmt die Kohle, dürfen Sie mit dem Chip abrücken und zusehen, dass Sie und der Chip unbeschädigt nach Hause finden."
"Nehmen Sie sich die nötige Zeit. Mein Boss und meine Frau werden erst um zwei Uhr die Cops anrufen, falls ich bis dahin nicht bei denen angeklingelt habe", erwiderte Jeff Bristol. Dieser Raum und diese völlig unkenntliche Gestalt mit der Stimme wie aus einem Science-Fiction-Film behagten ihm nicht. Sollte er den Typen da mal mit dem Nudato-Zauber aus seiner Schutzrüstung schälen? Nein, der oder die da auf dem breiten Stuhl hatte leider recht. Die Geschichte war zu brisant, als sich mit einer bis heute zuverlässigen Informationsquelle anzulegen. So sah er zu, wie Tinwhistle die ausgehändigten Geldscheine nacheinander durchzählte und sie dann in einer mit Reißverschluss gesicherten Außentasche der Schutzmontur verstaute. "Fünfundzwanzig Andrew Jacksons. Stimmt so, Mr. Ebony", bestätigte die Computerstimme. "Dann brauchen Sie nur noch die Zauberformel, um dem Chip seine Geheimnisse zu entlocken", fügte Tinwhistle hinzu. Jeff fragte gar nicht erst, was sein Gegenüber damit meinte, weil das offensichtlich war, dass er den Chip nur mit einem Passwort und/oder einem bestimmten Entschlüsselungsverfahren auslesen konnte. So fragte er statt dessen:
"Apropos Zauber, ist was an den Gerüchten dran, dass Mr. Z mit dem Teufel, Baron Samedi oder Graf Dracula einen Pakt geschlossen hat, um so schnell so mächtig zu werden?" Dabei sah er Tinwhistle genau an und dachte konzentriert: "Wärmesicht verstärken!" Jetzt konnte er durch das verspiegelte und getönte Visier Tinwhistles Gesicht erkennen, ein bartloses Gesicht, das sowohl männlich wie weiblich sein konnte. Doch nun konnte er sich die Gesichtszüge des Anderen einprägen. Denn die Brille auf seiner Nase zeichnete das damit gesehene auf, ohne Film oder Digitalkamera. Tinwhistle sah ihn aufmerksam an und schien nicht zu wissen, ob das Visier ihn oder sie wirklich gut genug vor dem Erkennen schützte.
Nach drei Sekunden antwortete Tinwhistle über die künstliche Stimme:"Klar, die Gerüchte haben Sie auch gehört. Ob's stimmt will ich nicht bestätigen. Ich hörte nur was, dass Mr. Z von einer mächtigen Patin beschützt wird, der großen Mutter der Nacht. Könnte der Name einer Sekte von Leuten sein, die an Vampire, Werwölfe und sowas glauben. Ich denke aber eher, dass es eine Sekte von Leuten ist, die sich in viele Syndikate reingewanzt haben und deshalb alle Steine und Tretminen aus dem Weg geräumt haben um Mr. Z den roten Teppich auszurollen. Ich gehe davon aus, dass die Times schon Bilder von ihm hat." Jeff beherrschte sich so gut, dass sein Gegenüber nicht mitbekam, wie in ihm die Alarmglocken läuteten. Die große Mutter der Nacht, so wurde die angebliche Göttin der Vampirtruppe um Nocturnia bezeichnet. Um nicht doch in Grübelei zu verfallen straffte sich Jeff um zu antworten.
"Wir haben nur den Decknamen. Die Kollegen in Philly sind sehr um die eigene Gesundheit bedacht, dem nicht mit Kameras auf die Bude zu rücken", erwiderte Jeff nicht ganz wahrheitsgemäß. Denn über die New Yorker Filiale des FBI hatten sie vor drei Wochen die ersten Bilder von Ernesto Zagallo bekommen. Das war kurz nach Ralf Burtons Abreise nach San Francisco gewesen.
"Dann finden Sie Bilder von dem auf der Karte, wenn Sie das Passwort notiert haben. Also was zum Mitschreiben rausholen, denn mit Tonaufnahmen ist es hier gerade sehr schwierig, wo meine Wellenrauscher laufen."
Jeff schrieb sich das zwanzigstellige Passwort auf und bekundete, dass wenn alles stimmte die anderthalb Riesen übergeben würden, aber dann besser an einem nicht so unsicheren Ort.
"Neh, ist mir schon klar, dass ich so viel Kohle nicht durch die Gebiete der ganzen Gangs schaukeln lassen will", versetzte Tinwhistles künstliche Stimme. "Ralf kennt den einzig wahren Übergabeort. Der hat ab jetzt vier Wochen Zeit. Ist die Kohle dann nicht da war es das mit meiner Mitteilsamkeit", entgegnete Tinwhistles künstliche Stimme.
"Sie haben deutlich gesagt, zu wissen, wo mein Kollege ist, Tinwhistle. Dann wissen Sie auch, wann er wiederkommt, woher auch immer Sie das wissen."
"Das wiederum müssen Sie nicht wissen, falls ich Sie nicht hier und jetzt ausknipsen soll", erwiderte Tinwhistle.
"Wie erwähnt bin ich gut angezogen", erwiderte Jeff unbeeindruckt. Mit diesen Worten packte er den für 500 Dollar gekauften Datenspeicherchip sorgfältig in eine Außentasche seines besonderen Wintermantels.
"Dann sehen Sie mal zu, dass Ihr Wintermantel bis nach Hause hält! Danke für die Anzahlung! Ich kriege mit, wenn Ihnen unterwegs was passiert oder ob Sie die Ware sicher zum Zielort schaffen und verwenden können. Ab da laufen die vier Wochen Zeit bis zur fälligen Auszahlung", entgegnete Tinwhistle. Dann hob er oder sie die rechte behandschuhte Hand und ließ die Kuppen von Zeigefinger, Mittelfinger und Ringfinger ein paarmal gegen die Handinnenfläche tippen. Daraufhin verebbte das Rauschen in den Wänden. Die Türverriegelung sprang mit leisem Summen und Klicken auf. Dann surrten die Servomotoren. Jeff fühlte ein deutliches Knacken in den Ohren und meinte auch, dass sein Brustkorb gedehnt würde. Dann war es auch schon vorbei. Tinwhistle deutete mit der linken Hand auf die offene Tür und winkte ihm zu. Jeff nickte der Gestalt in voller Schutzrüstung zu und verließ ohne weitere Worte den kleinen Raum. Kaum war er durch die Tür fiel diese mit lautem Surren zu und verschloss sich wieder. Dann klang die künstliche Stimme Tinwhistles aus irgendwo an der Decke angebrachten Lautsprechern: "Geleitschutz für den Bruder im Wintermantel bis zur Reviergrenze!"
"Okay, Faktor I", bestätigte einer der beiden auf der Treppe postierten Männer in den freien Raum hinein. Jeff musste sich arg beherrschen, nicht verblüfft dreinzuschauen. Wer oder was war bitte Faktor I?
"Komm, Bruder, bevor es da draußen zu ungemütlich wird", sagte einer der dunkelhäutigen Waffenträger und winkte mit der MP. Jeff verstand, dass er hier nicht länger bleiben sollte. Er passierte die beiden Männer und fragte sich, ob die ihn nicht an der nächsten Straßenecke umlegen würden, weil Tinwhistle oder Faktor I die 500 Dollar kassiert hatte. Dann würden die heute noch was ganz neues lernen, beziehungsweise, eine lästige Gedächtnislücke abbekommen.
Durch die vom bei Seite gleitenden Müllcontainer verdeckte Seitentür ging es wieder hinaus in die Straßen von East New York. Die zwei Männer mit MPs formierten sich so, dass sie sowohl seine Flanken als auch nach hinten oder vorne sichern konnten. Jeff sah, dass die beiden ebenfalls besondere Brillen trugen, sicher auch Infrarotgucker. Dann würden die jetzt sehen, dass er keine Eigenwärme ausstrahlte. Doch keiner verlor deshalb ein Wort.
Zum Glück für die nächtlichen Banditen kreuzte keiner von denen den Weg von Jeff und den beiden schwer bewaffneten Gangstern. Als sie an eine schlecht beleuchtete Straßenkreuzung kamen meinte einer der zwei: "So, Bruder. Von hier aus kannst du ziemlich sicher nach Hause laufen. Du musst aber immer gut kucken, ob wer vor die Tür geht oder auf der Straße sitzt und möglichst weit von dem oder der wegbleiben. Dann kriegst du deinen Hintern sicher nach Hause."
"Mein Hintern und ich danken für diesen Tipp", erwiderte Jeff Bristol lässig und winkte den beiden noch nach. "Schlaft gut, Jungs", wisperte er noch. Doch die beiden Männer setzten sich bereits von ihm ab.
Behutsam schlich Jeff durch die nächtlichen Straßen von East New York. Zwar würde er jetzt keinen Zug mehr kriegen, und Taxis verirrten sich auch höchst selten in diese Gegend. Doch wenn er sicher disapparieren wollte musste er sicher sein, dass ihn keiner dabei beobachtete. So ging er die Straßen entlang, immer umherblickend,ob verdächtige Wärmequellen vor oder hinter ihm auftauchten. Einmal sah er nach obenund erkannte die Positionslichter eines weit über ihm fliegenden Flugzeuges. Die da oben waren auf dem Weg weit genug weg von hier und dachten sicher nicht daran, dass hier unten Armut, Elend und Verbrechen hausten. Oft genug war er selbst mit einer Linienmaschine über große Städte hinweggeflogen, ohne sich zu fragen, was in dem Moment dort unten ablief. Dann dachte er an dieses Treffen. Tinwhistle hatte ihm und damit auch dem Rest der Times vorgeführt, dass er oder sie wohl ziemlich wichtig und daher auch mächtig war. Was bedeutete die Anrede "Faktor I"? Am Ende hatte Jeff tatsächlich mit dem obersten Boss des rostroten Rechtecks persönlich gesprochen. War es das, warum Ralf Burton seit zehn Jahren ein Geheimnis um Tinwhistle machte und warum Tinwhistle so gute Drähte in die Unterwelt hatte? Jeff hing immer noch den anerzogenen Denkmustern nach, dass Leute, die er nicht genau kannte immer auch potenziell gefährlich für ihn sein konnten. Im Moment wollte Tinwhistle ihm nichts antun, weil er oder sie wohl echt Angst vor einer blutigen Familienfehde hatte. Deshalb hatte Tinwhistle ihm die zwei Treppenhüter mitgeschickt, die ihn zumindest an die Grenze ihres Revieres begleiten durften.
Als Jeff ein zur halben Ruine verkommenes Haus ohne Eingangstür sah nutzte er die Gelegenheit und betrat das Gebäude. Er sah schnell auf den Boden und entdeckte keine noch warmen Fußspuren. Die Treppe wirkte bereits sehr baufällig. Außer Ratten und Nachtkrabblern schien hier drinnen nichts leben zu können. "Aufzeichnung Ende!" befahl er in Richtung seiner rechten Außentasche sprechend. Dann sah er nach oben, um zu prüfen, ob die Decke einen guten Sichtschutz bot. Weil das so war nutzte Jeff dieses Gebäude, um unbemerkt seinen Zauberstab aus dem Hosenbeinfutteral zu ziehen und mit einer geschmeidigen Drehung zu disapparieren. Dabei passte er schon auf, nicht all zu laut zu verschwinden, auch wenn in dieser Gegend so oft geknallt wurde und es wohl keiner wagte, deshalb die Polizei zu rufen.
Jeff apparierte am vor fünf Stunden ausgekundschafteten Ort in der Nähe seines Autos. Hier waren weder Kameras noch nächtliche Passanten zu erwarten. Er beeilte sich, seinen außerhalb eines Lichthofes geparkten Mustang zu erreichen und schloss ihn mit dem auf seinen Körper abgestimmten Schlüssel auf. Er ließ die Scheiben dunkel werden, um sich unbeobachtet auszuziehen. Hier im Wagen konnte ihm jetzt nichts mehr zustoßen, und hineinapparieren konnte auch niemand. Als er nichts mehr am Leib trug außer seiner Armbanduhr tippte er deren Stellkrone mit dem Zauberstab an und drehte die Krone dann so, dass die Uhrzeiger auf die Zwölf-Uhr-Stellung wanderten. Dann tippte er die Stellkrone noch einmal an. Unverzüglich jagte ein heißer Kraftstoß aus der Uhr in seinen Arm und durch diesen in seinen ganzen Körper. Als würde er in fast zu heißem Wasser baden und gleichzeitig von starken knetenden und walkenden Kräften im Körper gepeinigt zuckte und ruckte er stöhnend auf dem Fahrersitz. Seine Gestalt veränderte sich. Aus dem dunkelhäutigen Mr. Borrows wurde wieder der hellhäutige Jeff Bristol. Als die unangenehme Umwandlung vollendet war ließen das Gefühl heißen Wassers auf der Haut und die ihn durchknetenden Kräfte schlagartig nach. Jetzt konnte er sich wieder anziehen.
Jeff Bristol startete den Motor und fuhr in Richtung Brewster. Unterwegs gedankenrief er seine Frau Justine und vermeldete, dass er jetzt wieder auf dem Heimweg war.
In seinem Haus angekommen begrüßte er seine Frau, die sich mit ein wenig Wachhaltetrank auf den Beinen gehalten hatte. Die kleine Laura Jane schlief derweil in ihrem eigenen Zimmer. "Und, hast du rausgefunden, ob dieser Zagallo mit einer von den üblichen Gruppen paktiert?" wollte sie wissen.
"Tinwhistle hat sich sehr gut vor meinen Blicken versteckt. Aber ich bin mir sicher, dass ich sein oder ihr Gesicht erkennen werde, wenn es mir noch mal begegnet. Ja, und es sieht verdammt danach aus, als hätte die Sekte der Vampirgötzin Zagallo als neuen starken Mann in Philadelphia installiert. Näheres wohl dann, wenn geklärt ist, ob es wirklich zu einem Treffen von ihm mit drei drittrangigen Capi kommt, Justine."
"Krieg das bitte raus und falls es stimmt, sieh zu, dass wir das irgendwie vereiteln können, dass dieser Zagallo noch Handlanger in New York bekommt!" erwiderte Justine.
"Die Uhrzeiten und alles sind hoffentlich auf diesem Speicherchip drauf. Ich kopier gleich noch meine Schallaufzeichnungen aus der Silberdose auf das Libretto, damit Dunston was zu hören kriegt. Den Chip selbst müssen unsere Leute dann auswerten, am besten in einer Sandkiste, damit wir nicht doch irgendein böses Virus auf unseren Rechnern abkriegen", meinte Jeff. Justine wiegte den Kopf und nickte dann. Sie kannte sich zwar nicht so gut mit Computern aus wie ihr Mann, wusste aber, was ein Computervirus und andere Schadprogramme anrichten konnten. Sie verabschiedete sich zur Nacht und ging ins Schlafzimmer zurück.
Jeff ging in den Keller des Hauses und öffnete den mit Ferrifortissimus-Zauber gesicherten Tresor, wo er die ihm zur verfügung gestellte Schutz- und einsatzausrüstung aufbewahrte. Nun nahm er einen kleinen, flachen Kristall aus dem Tresor, nahm das rein technische Aufnahmegerät und legte es kurz auf denKristall. Es vibrierte und blinkte kurz. Dann war alles in Ordnung. Nun legte er das Gerät mehr als doppelte Armreichweite zur Seite und stellte die Schallsammeldose darauf. "Sonocopia!" sagte er, wobei er mit dem Zauberstab die silberne Dose und den Kristall überstrich. Die Dose vibrierte. Er meinte, in sehr schneller Folge alle Geräusche und Worte rückwärts zu hören, angefangen von seiner letzten Ansage. Als er meinte, dass gerade das Interview mit Tinwhistle lief hörte er ein tiefes Säuseln wie eine sanft gespielte Bassflöte. Hatte Tinwhistle auch Infraschallwellen erzeugt, die gerade stark genug waren, um von der Mithörmuschel erfasst zu werden? Womöglich wäre sein elektronisches Gerät dabei mit einem tiefen Brummton überlagert worden. Dann kamen noch die Geräusche vom Weg in die Bar und davor. Dann klappte die Dose kurz auf und wieder zu. Er hatte die Aufzeichnung tatsächlich zurücklaufen lassen.
Nun nahm er die Dose vom Kristall und legte das kleine Aufnahmegerät wieder darauf, ohne es einzuschalten. Unvermittelt blinkte es in einem schnellen Rhythmus los. Das tat es eine volle Minute lang. Als es zu blinken aufhörte griff Jeff danach und meinte schon, sich gleich die Finger zu verbrennen. Das Aufnahmegerät war so heiß geworden, als wenn es über Stunden in der prallen Sommersonne gelegen hätte. Das es nicht geschmolzen oder durchgeschmort war wunderte ihn jetzt. Doch was hatte Quinn erzählt: "Kann sein, dass der Phonoportkristall das elektrische Tonaufzeichnungsgerät zum schwitzen bringt. Aber keine Sorge, Wenn der Kristall die Grundschwingungen und Aufnahmefähigkeiten des Gerätes richtig in sich aufgenommen hat und die eigentliche Schallaufzeichnung weniger als einen Tag umfasst bleibt das elektrische Gerät ganz und übernimmt alle Aufzeichnungen aus dem Kristall, sofern diese die Eigenkapazität des Gerätes nicht übersteigen. Was dafür zu viel ist wird dann als ziemlich unangenehmer Sirrton in den freien Raum abgeschieden."
Jeff ließ das Aufnahmegerät einige Minuten lang abkühlen. Dann prüfte er, ob es wirklich noch funktionierte, indem er es an seinen Rechner anschloss und die mit der Ausleihe verbundene Freischaltungsprozedur durchführte. Tatsächlich klang nun alles, was er miterlebt hatte in glasklarer Qualität aus den Computerlautsprechern. So konnte er das Gerät zur Auswertung übergeben. Damit war sein Tag- und Nachtwerk getan. er begab sich zur Ruhe.
Sie fühlte, dass irgendwo da draußen ihr verwandte Kräfte wirkten. Es war wie die von nahen Wänden widerhallenden Echos ferner Geräuschquellen wie Straßen oder Flüssen oder wie in dichtem Nebel glimmende Lichter, diffus und unbestimmbar weit entfernt. Natürlich ging sie davon aus, dass die Blutsaugergötzin die Rückschläge gegen sie, die wahre Herrin der Nachtgeschöpfe, nicht unbeantwortet hinnehmen und neue Kräfte sammeln und einen neuen Plan schmieden würde. Doch offenbar brauchte diese sich gerne als blutrot leuchtende Frauengestalt darstellende Geisterbraut Zeit dafür. Um so sehr musste sie, die Mutter aller Schattenkinder, auf der Hut sein. Zwar hatte sie selbst in den letzten dreißig Nächten einiges getan, um einen erneuten Angriffsversuch zu überstehen, ja wohl auch in nicht mehr ferner Zeit selbst etwas zu unternehmen. Dennoch wollte sie nicht den Fehler machen, die Kraft dieser falschen Göttin zu unterschätzen. Allein dass sie ihre Jünger in schnell kreisende Transportfelder aus formbarer Dunkelheit befördern konnte mahnte zur Vorsicht. Damit konnte dieses Götzenflittchen jederzeit wen von ihren bis in den Tod treuen Banditen dorthin schicken, wo sie, die Königin oder auch Kaiserin aller Nachtwesen gerade etwas wichtiges erledigte. Auch konnte sie nicht an allen Orten gleichzeitig sein, um diese Dunkelheitswirbel zu zerstören. Ebenso hatte sie erfahren, dass die Blutsaugergötzin Zugriff auf einen Stoff hatte, mit dem sie ihre Jünger vor der Sonne schützen konnte, so dass die auch bei hellem Tageslicht unterwegs sein konnten. Diesen Nachteil glich die Schattenherrscherin und Erbin Kanoras' damit aus, dass sie mittlerweile eine Gruppe aus 200 europaweit verteilten Menschen unterhielt, von denen jeder von einem ihrer ergebenen Kinder ferngelenkt werden konnte. Nur zeitlos den Standort wechseln konnten diese Schattenlosen nicht. Ja, und sie konnten auch nicht mehr als wenige Minuten im freien Sonnenlicht herumlaufen, ohne davon bis zur totalen Erschöpfung geschwächt zu werden. Mit dem Wissen einer Ärztin verstand die Mutter der Nachtschatten, dass ihre neuen Diener all zu leicht verlorengehen konnten, wenn sie sich verausgabten. Also mochten sie den vor der Sonneneinstrahlung sicheren Blutsaugern weiterhin unterlegen sein. Wie konnte und würde sie diesen Nachteil ausgleichen? Ganz einfach, sie beschaffte sich lebende Helfershelfer, die nicht zur besseren Beherrschung ihrer natürlichen Schatten entledigt wurden. Außerdem ließ sie von ihren Kindern das Höhlenversteck unter den dalmatinischen Bergen weiter ausbauen. Sie selbst übte sich in den ihr zugeflossenen Zauberkenntnissen, um bei einem neuen direkten Aufeinandertreffen mit den Götzinnendienern noch besser aufzutreten. Dabei dachte sie daran, dass sie, nachdem sie die schattenhafte Zwillingsschwester dieser andersartigen, ja schon dämonisch zu nennenden Kreatur in sich aufgesogen hatte, auch die aus Fleisch und Blut bestehende Kreatur überwältigen und in sich aufgehen lassen sollte, um deren Macht über die Dunkelheit vollständig anwenden zu können. Vielleicht konnte sie damit auch jenen ihr missfallenden Zauber der schlagartig freigesetzten Dunkelheit mehrerer Nächte widerstehen, mit dem diese dunkelblonde, scheinbar halbasiatische Hexe ihr und ihren Kindern zugesetzt hatte. Die in ihr vereinten Persönlichkeiten von Birgit Hinrichs und Ute Richter verabscheuten Niederlagen und waren beide darauf aus, zu kriegen, was sie wollten. Und sie, Birgute Hinrichter, wollte immer noch die drei letzten Überlebenden von Kanoras' Überfall auf die Expedition zum Atlasgebirge als ihre eigenen Kinder wiedergebären. Auch Remurra Nika, einstmals Karin Maurer, haderte damit, dass die drei anderen immer noch irgendwo auf der Welt versteckt wurden. Sie hatte schon darum gebeten, einen erneuten Überfall auf eine Discothek oder andere Vergnügungsstätte durchzuführen, um die Auslieferung der drei noch fehlenden zu erzwingen. Doch die Nachtschattenkönigin lehnte das ab. Ihr war klar, dass jeder neue Überfall den Gegnern mehr Antrieb geben würde, etwas gegen sie zu unternehmen, als wenn sie sich größtenteils im Hintergrund hielt und wie eine dunkle Drohung über allem schwebte, die zwar bekannt aber nicht zu fassen war. Doch ihre Zeit würde kommen, dachte die Königin und Mutter aller neuen Nachtschatten.
Sie lauschte hinaus in den Raum. Ja, da waren ihrem Wesen artverwandte Kräfte, fern und formlos, fühlbar und doch unklar. Ihr wäre es lieber gewesen, wenn sie wusste, was die anderen da anstellten. Am Ende verbündete sich die Blutsaugergötzin noch mit der die Dunkelheit manipulierenden Kreatur, die sich Thurainilla nannte. Oder die Zauberstabschwinger beschlossen, Feuer mit Feuer und Dunkelkraft mit Dunkelkraft zu bekämpfen. Auch mit sowas musste sie rechnen. Dagegen half nur, noch mehr neue Kinder zu haben, die gleichmäßig über die Welt verteilt waren. Wo sollte sie die nächsten ihrer Kinder und Untertanen ansiedeln? In Afrika und Europa wussten sie ja nun, dass es sie gab. Die dunkelblonde Hexe, die eine Kraft wie zwei Menschen zusammen ausstrahlte, wohnte sicher in den vereinigten Staaten. Blieben also noch Asien und Ozeanien, also Australien und Neuseeland. Ja, das hätte auch den entscheidenden Vorteil, dass es irgendwo in ihrem Reich immer gerade dunkel war. Als Verkehrung des alten deutsch-römischen Kaiserreiches, das durch die Besitzungen Spaniens zu einem Imperium geworden war, in dem die Sonne niemals unterging würde sie ein Reich regieren, in dem die Sonne niemals aufging. Mit dieser Idee in ihrem aus dunkler Kraft bestehenden Geist plante sie einen neuen Vorstoß, die Ausbreitung in noch unbesetzte Weltgegenden.
Carmenluna, so hieß die Priesterin der großen Mutter der Nacht, die in den weitläufigen Höhlen unter dem Aconcagua residieren sollte. Rein äußerlich war sie klein und zierlich, besaß nachtschwarzes Haar und silbergraue Augen, fast so hell wie der Vollmond. Weil sie zu dem eine glockenhelle Stimme hatte, die durch die Wiedergeburt als Nachttochter noch kraftvoller geworden war, hatte sie vor zwei Jahren ihren Neuen Namen Carmenluna bekommen.
Carmenluna fühlte die von ihr vor zehn Tagen geweckte Macht des Tempels. Ein Mädchen und zwei Frauen, sowie ein Junge und zwei Männer hatten dafür ihr Blut, ihr Leben und auch ihre Seele lassen müssen, um den Altar in der großen Versammlungshalle zu stärken. In zwei Nächten, so die Göttin, würden sie wohl auch damit beginnen, das Blut erklärter Feinde in diesem Tempel fließen zu lassen, um ihn endgültig als Machtzentrum der erwachten Göttin auf dem südamerikanischen Kontinent zu festigen. Auch würde Carmenluna dann die Erlaubnis erhalten, bis zu fünf eigene Töchter zu erzeugen, die im mächtigen Blutaustausch das Band zwischen der Priesterin und den einfachen Gläubigen stärken konnten.
"Sie hat jetzt Zeit, Carmenluna. Erwarte sie in zwanzig Atemzügen in der großen Andachtshalle!" hörte Carmenluna die geistige Stimme ihrer obersten Herrin. Also kam die Hohepriesterin selbst auch zu ihr. Carmenluna wusste, dass Nyctodora mal mit ihren lauten Flugmaschinen, mal von der Kraft der Göttin getragen, die sieben ausgewählten Tempelstätten aufsuchte, um den Fortschritt ihrer Errichtung und Weihe zu begutachten. Nyctodora war die einzige Nachtgeborene, die auch ohne die schützende Kunsthaut im Sonnenlicht wandeln konnte und zudem eine wirkliche Hexe war, die vor allem mit dem für Nachtkinder so verheerenden Element Feuer vertraut war. Genau das machte sie zur mächtigsten Dienerin der erwachten Göttin. Es war also eine Ehre, sie hier begrüßen zu dürfen.
Wie die Göttin es verkündet hatte entstand keine zwanzig Atemzüge später aus einem winzigen Punkt vollkommener Schwärze eine nachtschwarze, sich schnell drehende Spirale, aus der die in einem bei Licht blutrot widerscheinendem Kapuzenumhang gekleidete Nyctodora steckte. Wie Carmenluna besaß sie nachtschwarzes, langes Haar und war makellos schön, wahrlich eine von der Nacht beschenkte. Carmenluna verbeugte sich erst und kniete dann vor der soeben erschienenen Hohepriesterin.
"Die große Mutter hat mir die Gnade und Ehre erwiesen, mich vom anderen Ende der Welt zu dir hinzubringen, Mutter Carmenluna", begrüßte Nyctodora ihre Untergebene auf Spanisch mit eindeutig europäischem Einschlag. "Steh bitte wieder auf und zeige mir dein Reich!" sagte Nyctodora noch. Carmenluna erhob sich und deutete auf den mit magischen Zeichen beschriebenen Altar, auf dessen Oberfläche eine badewannengroße Grube eingefräst war, von der mehrere schmale Rinnen ausgingen, die sich in schlangenartigen Linien über die Oberfläche und die acht Seitenflächen des Altars hinabwanden. Durch die sechs geopferten Menschen strahlte der aus dunklem Stein gehauene Kultgegenstand eine unverkennbare Kraft aus, die wie das ferne Echo eines vielstimmigen Liedes von den Wänden widerhallte. Wer sich auf dieses Lied einstimmte konnte dann, wenn er oder sie die Gnade der Nachtgeburt erlebt hatte und der Göttin diente, die eigenen Kräfte stärken, ohne dafür Blut aus lebenden Opfern trinken zu müssen. Woher die Göttin dieses uralte Geheimnis der Nachtkinder kannte wussten die beiden Priesterinnen nicht. Das war eben die über allen erhabene Allwissenheit der Göttin.
"Wie viele der unseren können hier im Tempel Andenmond ausharren?" fragte Nyctodora. "Wenn es die Lage und der Befehl der Göttin so will an die fünftausend Getreue, Hohepriesterin Nyctodora", erwiderte Carmenluna nicht ohne Stolz, über dieses große unterirdische Bauwerk regieren zu dürfen. Dann führte sie ihre ranghohe Besucherin durch die Hallen, in denen im Laufe der vergangenen Tage über klammheimliche Verbindungswege Tische, Stühle, Bänke und Schränke angeliefert worden waren. Sechs männliche Diener sorgten dafür, dass die gelieferten Möbel aufgestellt wurden, die auf einem der privaten Flughäfen in Argentinien ankamen.
"Zumindest läuft es hier rund", hörte Carmenluna Nyctodoras Stimme wispern. Sie wagte nicht zu fragen, was Nyctodora damit meinte, auch wenn sie heraushörte, dass damit wohl gemeint war, dass alles im Sinne der Göttin und ihrer Diener verlief.
"Du hast das Wort der Göttin vernommen, dass nun, wo der Tempel Andenmond vollendet ist, seine Abwehrkraft gegen Feinde erweckt werden soll, in dem in zwei Nächten ausgewiesene Feinde unseres Glaubens hier ihr Leben lassen müssen?" wollte Nyctodora wissen. Carmenluna erwiderte darauf:
"Weil es der Wille der Göttin ist tat sie ihn mir selbst kund, Hohepriesterin. So erwarte ich die Ankunft der ausgewählten Feinde."
"Gut, solange das entscheidende Ritual nicht vollendet wurde bleibst du hier. Deine sechs zugeteilten Diener sollen für sich und für dich ausschließlich Nutztiere herbeischaffen, deren Blut ihr trinken sollt, bis das Ritual der Feindeswehr vollendet ist. Ab dann könnt ihr euch aus der Umgebung jeden Menschen holen, der stark und gesund genug ist, mit seinem Lebenssaft eure Kraft zu bewahren", sagte Nyctodora und besah sich noch einmal die Zauberzeichen an den Wänden, die als Anker der hier zu weckenden Kraft dienten. Carmenluna fühlte, dass die Göttin durch die Augen ihrer Hohepriesterin sah und somit prüfte, ob alles in ihrem Sinne war. Eigentlich hatte die es schon bei ihr selbst getan. Doch offenbar wollte sie dabei auch erfahren, wie Nyctodora darüber dachte, wenn diese die Symbole sah. Nach einigen Minuten nickte die Hohepriesterin. "Ja, der Tempel Andenmond ist so gut wie vollendet. Die auf dem südamerikanischen Erdteil errichtete Festung unseres Glaubens und unserer Kampfkraft wird diesen von alten Völkern und gebiets- und Goldsüchtigen Handlangern gestalteten Erdteil zu seiner endgültigen Bestimmung führen. So kann ich nun wieder an den Ort zurück, an dem mein Wissenund mein Wort gerade dringender benötigt werden", sagte Nyctodora. Sie breitete ihre Arme aus und wisperte: "Große Mutter der Nacht, gewähre mir deine machtvolle Gunst und trage mich zur Errichtungsstatt des Temppels zur verlachten Sonne!" Einige Sekunden vergingen. Dann umschlang ganz lautlos eine Spirale aus wirbelnder Dunkelheit die Hohepriesterin der erwachten Göttin. Dann fiel der lichtlose Wirbel aus dunkler Zauberkraft in sich zusammen, bis er als winziger Punkt frei im Raum schwebte und dann mit einem für Menschenohren wohl nur ganz leise klingendem Pifflaut verging. Nyctodora wurde wohl gerade durch die Daseinswelt der Göttin getragen, an dieser vorbei zum erbetenen oder von der Göttin vorbestimmten Ort. Carmenluna wusste nicht, wo genau der Tempel zur verlachten Sonne errichtet worden war. Sie wusste nur, dass er nicht so einfach zu erbauen war wie der Tempel Andenmond. Zumindest war sie erleichtert, dass die Göttin diesen Ort hier für vollendet ansah. Das würde ihre eigene Rangstellung bei den Dienerinnen und Dienern der erwachten Göttin heben.
In der seinen Kollegen bekannten Erscheinungsform betrat Jeff Bristol am Morgen um halb neun das Büro Dunstons und wedelte mit dem streichholzschachtelgroßen Aufnahmegerät und der Klarsichthülle mit dem Speicherchip. "Hier, das darf zur IT. Die möchten das aber bitte in der Sandkiste laufen lassen, falls auf dem Chip doch ein paar Viren oder Hintertüröffner drauf sind. Tinwhistle hat sich mir gegenüber als unerkennbare Gestalt mit künstlicher Stimme präsentiert und mir ein paar technische Zaubertricks mit einem Bunkerraum und dessen Technik vorgeführt. Außerdem scheint Tinwhistle im Revier des rostroten Rechtecks eine ziemlich große Nummer zu sein. Die bei Tinwhistle postierten Leute durften ihn oder sie mit Faktor I ansprechen, was so klingt, als sei Tinwhistle der Anführer oder die Anführerin. Kein Wunder, dass Ralf uns das bisher nicht verraten wollte, wer diese Quelle ist."
"Moment, Jeff, das kann unmöglich sein, dass Ralfs Informationsquelle eine große Nummer bei den rostroten Rechtecken ist. Wir gingen immer davon aus, dass es wer aus dem Vor- oder Schlafzimmer eines Mafia-Patriarchen ist. Soweit Sie und ich wissen kommen außenstehende Banditen nicht in die Nähe von wichtigen Leuten der Cosa Nostra."
"Ja, aber vielleicht hat eine Familie der Cosa Nostra einen der ihren als Mitglied einer nichtsizilianischen Bande aufgebaut und mit genug Mitteln versorgt, um da ganz nach oben zu klettern, sowie wir ja vermuten, dass Mr. Z in Pennsylvania sehr gute Freunde oder Freundinnen hat, um so schnell und lautlos auf Campestranos verwaisten Trhon zu kommen", entgegnete Jeff. Dunston sah ihn mit großen augen an. Das konnte tatsächlich sein. Doch warum sollte eine solche Person der Times interne Sachen zuspielen? Jeff hatte auf diese Frage eine Antwort: "Um die Konkurrenz klein zu halten, Sir. Je danach, aus welcher Familie Tinwhistle stammt und wie das rostrote Rechteck von denen eingesetzt wird können sie mit absichtlich weitergegebenen Firmeninterna rivalisierende Gruppen auffliegen lassen, ohne dass rauskommt, dass jemand gegen Omertá verstoßen hat. Im Zweifelsfall hatten die vom Rostroten Rechteck selbst wen bei der jeweiligenKonkurrenzfirma."
"Es ist echt ein Staat im Staat", grummelte Dunston. "Genau mit denselben politischen Winkelzügen und Geheimdienstmethoden."
"Da sagen Sie was, Mr. Dunston. Am Ende kungelt Tinwhistle auch mit den Bauernjungen aus Virginia und schustert denen den einen Drogenhandel oder den anderen Waffenschmuggel zu."
"Da malen Sie aber jetzt einen ganz großen, feuerroten Teufel an die Wand", gschnaubte Dunston. "Dann ist die Frage, ob dieser Chip da ausgewertet werden darf und ob wir mit dem, was wir dabei herausbekommen überhaupt an die Öffentlichkeit dürfen oder es nicht doch vergessen sollten."
"Dann würden wir zulassen, Sir, dass Kriminelle immer mehr von unserem Land kontrollieren. Dafür habe ich den Job bei Ihnen nicht angenommen", erwiderte Jeff Bristol. Dem konnte Dunston nur beipflichten.
Eine Stunde später wussten sie, dass die Stimme von Tinwhistle tatsächlich von dem gleichen Gerät erzeugt wurde, dass Stephen Hawking benutzte, eben nur mit einer geschlechtslosen Stimme. Darüber hinaus war der Speicherchip sauber, was Viren oder andere Schadprogramme anging. Die darauf gespeicherten Dateien bestanden aus mitgeschnittenen Telefongesprächen, Einzelfotos der erwähnten drei Männer, sowie mehrere Fotos von Zagallo, der für einen mächtigen Mafioso noch überaus jung aussah, gerade einmal dreißig Jahre alt. Was das Treffen anging sollte es um halb elf am Abend des vierten Februars stattfinden. Die Clarksonfabrik war ein heimliches Lagerhaus der Fraschettifamilie und scheinbar nur außen eine Ruine. Ebenso verriet der Speicherchip, dass es Verflechtungen zwischen dem Fraschetti-Clan und der Kowalski-Industriebank gab. Dort arbeitete ein gewisser Roberto Venuti, Fachmann für internationale Termingeschäfte. Jeff pfiff durch die Zähne, als er diese Information erhielt. "Deshalb will Zagallo sich mit diesen dreien treffen. Er will auch mit dem nicht mehr ganz so mächtigen Venuti-Clan ins Geschäft kommen."
"Das sicher auch", erwiderte Dunston darauf. "Doch was tun wir nun mit iesen Informationen? Wenn wir den Chip so wie er ist an die Feds geben werden die wissen wollen, von wem wir sie haben, und das können wir denen nicht einmal sagen, wenn wir das wollten. Auch wissen wir nicht, ob das nicht alles eine gut ausgeklügelte Falschmeldung ist. AmEnde sind wir die Dummen, wenn wir darüber berichten."
"Da stimme ich Ihnen voll und ganz zu", erwiderte Jeff. "Deshalb müsste da einer hin, um dieses Treffen zu dokumentieren, zumindest klären, ob die drei erwähnten und Zagallo sich echt treffen."
"Haben Sie jetzt einen Märtyrerkomplex, Jeff? Wer sich dem Treffpunkt nähert ist so gut wie tot, falls die sich echt dort treffen. Die werden sicher nicht ohne Aufklärung und Geleitschutz da anrollen,und wenn stimmt, dass Fraschetti diese Fabrik als eigenes Lagerhaus nutzt sind da garantiert Wachen postiert und alles, was die Überwachungstechnik so hergibt."
"Dann ratenSie dazu, nichts zu tun und abzuwarten?" wollte Jeff wissen.
"Sagen wir es so, ich kann und werde niemanden da hinschicken, der oder die offiziell für uns tätig ist und deshalb eine Hinterbliebenenrente ausgezahlt werden kann. Es ginge nur, wenn jemand ganz zufällig mit einem Auto oder Motorrad an der Fabrik vorbeigondelt und dabei über Teleobjektiv und Infrarotverstärkung in der Kamera abklärt, ob die Fabrik auch nachts leersteht oder nicht und danach einfach weiterfährt, ohne sich verdächtig zu machen. Das habe ich selbst schon einmal gemacht, als es hieß, dass südamerikanische Drogenhändler sich mit ihren nordamerikanischen Geschäftspartnern im Hinterland von Newerk trafen. Allerdings hatte ich da die bestmögliche Schutzausrüstung an und saß in einem scheinbar verrosteten Chevy, mit dem ich wie zufällig am Treffpunkt vorbeigerauscht bin, bevor die Wachen mich für verdächtig gehalten haben. Immerhin sitzen drei von diesen Geschäftspartnern seit der Zeit sicher hinter Gittern."
"Verstehe, Sir. Okay, ich mach das so. Ich kann fünf Minuten vor der Zeit von einem weit genug entfernten Punkt losfahren, leise genug an dem Treffpunkt vorbeifahren und im Zweifelsfall mit mehr als 160 Stundenkilometern abrauschen, falls mir wer hinterherfährt."
"Nichts für ungut, aber Ihren schwarzen Hengst kennt bestimmt schon die halbe Unterwelt. Und wenn die auch Überwachungskameras mit Teleobjektiven haben können die Sie identifizieren."
"Dann wollen Sie wen anderen schicken, Sir?"
"Einen gepanzerten Wagen aus unserem Fuhrpark. Da steht ein Lexus mit vollerPanzerung, den wir für Fahrten durch kritische Viertel angeschafft haben. Ich könnte sogar erwirken, dass Ihnen unser Sicherheitsfahrer Clint Bowfield zur Verfügung gestellt wird."
"Ist ja nett, dass ich das jetzt erst mitbekomme, Sir. Den hätte ich gestern sicher auch nehmen können, oder?" erwiderte Jeff.
"Hätten Sie nicht, weil dieser Wagen nur dazu taugt, mit Bleifuß durch das Elend getrieben zu werden. Wenn sie aussteigen schützt er Sie nicht, hätte aber alle Gangs der Gegend angezogen. Deshalb konnten Sie ja auch mit ihrem Muskelbomber nicht dort anreiten", entgegnete Dunston. "Aber für eine schnelle Vorbeifahrt mit schussbereiter Kamera mit Zeitlupenfunktion, Infrarotverstärkung und Teleobjektiv ist der Wagen ideal."
"Ja, aber dann kriegen wir nur mit, dass das Treffen steigt, aber nichts darüber, was dabei herumkommt, Sir", wandte Jeff Bristol ein.
"Wer sagt uns, dass Tinwhistle sich dort nicht selbst einschleicht und dann, wenn es erledigt ist, wieder mit uns reden will. Diese Quelle hat uns im Grunde angepiekst, wohl bald die ganz große Sensation zu kriegen. Nur wenn wir selbst klären, dass es dieses Treffen gibt können wir die Echtheit der sicher kommendenBerichte voraussetzen." Jeff nickte. "Gut, dann borge ich mir morgen abend den Lexus mit Chauffeur aus und mach im Vorbeifahren ein paar aussagekräftige Videos", sagte Jeff. Dunston bejahte das.
Es war heiß und feucht. Hier, im südlichen Tropengürtel der Erde, in einem vor den restlichen Menschen verborgenen Teil des von täglichen Regenfluten getränkten Urwaldes, arbeiteten unter dem Blick der Unterwerfung stehende Männer daran, auf einer ohne motorisierte Geräte und Feuer geschaffenen Lichtung ein termitenbauartiges Gebäude zu errichten, in dem an die fünftausend erwachsene Menschen hineinpassen konnten. Außerdem sollten acht Tunnel gegraben werden, die zu diesem Bauwerk führten und das alles ohne von oben her gesehen werden zu können. Eigentlich hatte die übernatürliche Auftraggeberin dieses versteckten Baus darauf gehofft, dass ihre Diener die aus den Marmor- und Granitabbaugebieten in aller Welt herbeigeschafften Bausteine mit der Magie der Göttin einfügen konnten. Doch seit Oktober 2003 schienen Erdreich und Gestein in dieser Gegend von einem anderen, unergründlichen und unbrechbaren Zauber erfüllt zu sein, der die Kräfte der Göttin zurückdrängte. diese schmachvolle Erkenntnis gepaart mit der Notwendigkeit, das Gebäude von magielosen Leuten hochziehen und untertunneln zu lassen, ärgerte Gooriaimiria. Was immer nach der Erkundung dieses Platzes vorgefallen war, irgendwer hatte eine starke, nicht von einem alleine zu wirkende Magie geweckt, die die Erde erfüllte. Ging das gegen sie? Sie konnte es leider noch nicht ergründen, weil sie keinen Zugriff auf die hiesigen Träger von Magie hatte. Doch wenn erst einmal dieser Tempel stand und alle ihn vollendenden Rituale gewirkt waren würde sie ihre Diener aussenden, sich genau jene zu fangen, die ihr diese Fragen beantworten konnten. Sie schloss nicht einmal aus, dass es eine alte Kraft der Ureinwohner dieses Erdteiles war, die diese aus einem ihnen bekannten Grund erweckt hatten. Somit war wieder die Frage, ob das genau gegen sie ging? Doch das würde ja heißen, dass irgendwer verraten haben musste, dass sie hier einen ihrer sieben Tempel bauen ließ. Doch genau dieses weltweite Vorhaben galt als das zur Zeit größte Geheimnis ihrer Kultgemeinschaft.
Durch die Wipfel der dutzende von Metern hohen Bäume sickerte das für Nachtkinder so verhasste weil tödlich gefährliche Sonnenlicht. Auf der Lichtung, auf der der aus Marmor und Granit zu schaffende Bau in die Höhe wuchs, rackerten sich vierzig Männer ab, um weitere Bauelemente an den vorbestimmten Plätzen einzufügen. Architekt und Bauleiter in einem war Gooriaimirias Diener Greywing, einer der wenigen Nachtsöhne dieses Erdteils, der den eigenen Erinnerungen nach als mit dem Keim der Nachtkinder behafteter Sträfling hierher verfrachtet worden war und dessen neues Dasein erst dann richtig erwachte, als er lange genug von den Wogen des Meeres entfernt leben konnte. Offenbar hatte ihn ein Straßenmädchen, das eine Tochter der Nacht war, angebissen und ihn kurz von ihrem Blut kosten lassen, als er von den Bütteln der englischen Krone ergriffen und fortgeschafft worden war. Das Mädchen selbst war gerade so noch entkommen und hatte sich an einem anderen Ort niedergelassen.
Greywing blickte durch die gegen Sonnenlicht schützenden Kontaktlinsen auf das Treiben der unterworfenen Bauarbeiter. In zwanzig Minuten würde wieder ein mit Flüsterantrieb ausgestatteter Drehflügel-Flugapparat hier herunterkommen und weiteres Baumaterial abliefern. Vor einer Stunde hatte die Hohepriesterin selbst den Ort besucht und mit unübersehbarer Verstimmung erkannt, dass dieser Tempel wohl der mit Abstand am schwierigsten zu errichtende Glaubenshort der Göttin sein würde, auch wenn sie genau deshalb hier bauten, weil hier die meiste Sonne auf der Welt außerhalb einer Wüste schien. Die Göttin, der er nur unter dem Druck der Machtlosigkeit verbunden war, wollte diesen Tempel als Bollwerk gegen die Tagmenschen und deren Leitgestirn haben und nannte ihn deshalb "Tempel der verlachten Sonne". Hierzu würden sie demnächst auch diese unheimlichen dunklen Kristalle kriegen, die aus dem Tod vieler Menschen und anderer fühlender Wesen entstanden. Damit sollte die Sonne aus allen Räumen ausgesperrt werden und denen, die der Göttin verbunden waren zusätzliche Kraft geben. Er, Greywing, sollte dann der Stammvater einer über diesen Erdteil verbreiteten Familie von Nachtkindern werden, während Mutter Moonkiss die residente Priesterin und Stammmutter dieser erhabenen Familie sein würde. Doch diese von den Ureinwohnern oder anderen Magiern erzeugte Widerstandskraft in der Erde verzögerte den Bau und mochte das Vorhaben sogar gänzlich scheitern lassen. Doch Scheitern, so die Göttin, war nicht erlaubt.
Noch bevor der gegen die unsichtbaren Taststrahlen der Magielosen abgeschirmte Drehflügler ankam erschien aus dem Schattenstrudel der erwachten Göttin ihre Hohepriesterin selbst. Wieso war die noch einmal hier? Die wusste doch schon, dass es hier nicht so zügig voranging.
Das blutrote Gewand der Hohepriesterin hob sich vom Grau und Braun der gerodeten Fläche und dem schwarzen Marmor und grauem Granit des schon zum Teil errichteten Bauwerks ab wie ein Blutstropfen auf weißer Haut. Greywing fühlte die um Nyctodora fließende Kraft, die im Licht der Sonne wie ein Schild und zugleich Kraftquell für sie war. Sie zog den ihr zugeteilten Zauberstab und drehte sich auf der Stelle. Mit ohrenbetäubendem Doppelknall verschwand sie und stand doch schon im nächsten Moment neben Greywing, der rein äußerlich wie ein Mann von vierzig Jahren aussah und eine Perücke aus graublondem Menschenhaar auf dem kahlgeschorenen und von der Sonnenschutzfoliie bedekctem Kopf trug.
"Du brauchst dich nicht noch einmal hinzuknien, Grauflügel", sagte die Hohepriesterin in bestem britischen Englisch. "Ich bin nur hergekommen, um die Landung von Huckepack sieben zu verfolgen. Mir gefällt nicht, dass meine Piloten irgendwie hier nicht so fügsam sind wie in meiner Heimat. Da fühle ich auch von den Bauarbeitern hier, dass die nicht mehr so unterwürfig sind. Es wird Zeit, dass wir erfahren, welche Kraft seit Oktober in der Erde steckt und uns offenbar verdrängen will."
"Hohepriesterin, höchste Dienerin der großen Mutter aller Nachtgeborenen, ich suche selbst schon nach jenen, die uns das sagen können. Doch die Göttin befahl mir und den zwanzig anderen hier lebenden Nachtgeborenen, stillzuhalten, bis dieser Tempel fertig ist und die ihn weihenden Rituale vollzogen sind. Moonkiss will am Abend wieder herkommen und sehen, wie es vorangeht."
"Ich weiß das alles. Denn die Göttin hat mir das alles gesagt, was hier geschieht", grummelte Nyctodora. Sie sah den seit über zweihundert Jahren hier lebenden Nachtsohn kritisch an, als strahle der was sie abstoßendes aus. Dann sagte sie: "Wenn ich weiß, was meine Flugzeugführer hier so leicht aus unserer Obhut reißt werde ich dir sagen, wie wir den Tempel noch schneller bauen können. Es kann nicht sein, dass ausgerechnet hier kein Bollwerk der großen Mutter bestehen soll."
"Hohepriesterin, dann möge die große Mutter mir erlauben, jemanden zu finden, der oder die es uns verraten kann", wandte Greywing ein und sah gerade, wie drei der Bauarbeiter vom aus Bambushalmen errichteten Gerüst herunterkletterten und sich zu den anderen auf der Lichtung stehenden Männern gesellten, die gerade Mittagspause machten. "Wir müssen die Pausenzeiten verkürzen und noch zwanzig Leute mehr hier hinschaffen. So wird der Bau nicht vor Juni fertig."
"Hohepriesterin, der Sommer hier ist heiß und macht, dass die Rotblüter nur halb so ausdauernd arbeiten können. Sie sind keine lebenden Leichen, die nicht mehr schwitzen können", sagte Greywing.
"Erzähl mir nichts, was ich nicht längst weiß, Grauflügler", knurrte Nyctodora. Ihr war deutlich anzumerken, dass sie diesen Tempelbau wie eine Entscheidung auf Leben und Tod ansah. Dabei wäre es doch sicher kein Akt, den Bau dieses Tempels in der hier geltenden Winterzeit zu beenden, wenn er dafür sorgfältig und mit den vorgesehenen Zeichen versehen war. Warum drängte die Göttin nun so sehr, dass selbst die mächtige Nyctodora um ihre weithin bekannte Selbstbeherrschung ringen musste?
Endlich kam der Hubschrauber, wie die Magielosen dieses laute, stinkende Fluggerät mit den wild wirbelnden Flügeln nannten. Er landete auf dem dafür vorgeschriebenen Platz und setzte den mitgebrachten Stahlbehälter ab. Sofort eilten einige der Bauarbeiter dort hin, lösten den Container von den Verankerungen und sprangen sofort wieder in Deckung. Der Hubschrauber startete durch und wirbelte mit den immer schneller kreisenden Rotorblättern Staub und Blätter auf.
"Er ist wohl noch unser", sagte Nyctodora, die bei diesem Manöver den Piloten beobachtet und mit Hilfe der Göttin seine geistigen Regungen ertastet hatte. Doch sie klang nicht so zuversichtlich, erkannte Greywing. "Ich werde dort hinreisen, wo er landet und den magischen Bann verstärken, der ihn und die drei anderen an uns und die Göttin bindet", sagte sie und verschwand ohne Abschiedswort. Greywing sah noch einige Sekunden auf die Stelle, an der die Hohepriesterin gestandenhatte. Dann befahl er den Bauarbeitern: "Wer fertig gegessen hat fängt an, die neuen Steine auszulagern. In einer Stunde sollen die ersten davon verbaut werden!"
"So so, sie nennen dich Asinetto, das Eselchen", lachte diese unverschämt schöne Frau mit den langen, nachtschwarzen haaren und den kreisrunden, smaragdgrünen Augen, als sie den in funken Sprühenden Fesseln zuckenden Mann vor sich liegen hatte. Der Gepeinigte wimmerte nur. "Und weer ist dein Herr, Asinetto? Sag das deiner wirklich wahren Herrin, damit sie dich vielleicht noch ein wenig leben lässt."
"Du nachtschwarze ... wi-wi-derliche Hure!!" stieß der Gefangene aus. "Vita Mea est silencium. Mors mea Salvatio!" rief er aus. Aus den Fesseln zuckten rote Blitze. Der Gefangene schrie in einer Mischung aus Schmerz und Triumph, der Überwinderin doch noch zu entrinnen. Dann regte er sich nicht mehr. Die roten Blitze prasselten noch eine Sekunde länger. Dann war auch dieses magische Spektakel vorbei.
"Der wird sich wundern, wenn er wieder aufwacht und merkt, wo und was er ist und dass er nicht den letzten Ausweg genommen hat. Also bist du kein Eselchen, sondern ein Wolfsbüttel, kleiner Bursche", knurrte die dunkelhaarige Schönheit im nachtschwarzen Kleid. "Gut, ich wollte eh wissen, ob es diese Halunken auch noch gibt. Wird der mir das eben verraten, wenn er lange genug in meinem Garten gedeiht", dachte sie und löste die von ihr mit eigenem Haar geflochtenen Fesseln, die für damit gebundene mehrere unangenehme Eigenschaften hatten, vor allem die, dass sie jede Form der magischen Flucht vereitelten, auch die in einen Selbstmordzauber oder eine Vergiftung. Als die Fesseln auf das Wort ihrer Erfinderin wie dressierte Schlangen von ihrem Opfer heruntergeglitten waren verwandelte sie den reglos daliegenden in eine langstielige gelbe Rose. Sie hätte ihn auch in eine Rote verwandeln können, von wegen Treue. Doch Gelb stand für erwiesene Untreue und erhoffte Versöhnung. Sie griff nach dem Verwandelten und trug ihn in den Garten des Girandelli-Hauses. Dort steckte sie ihn mit den Wurzeln in frisches Erdreich und ließ erst Wasser und dann etwas von ihrem eigenen Blut über ihn fließen. Damit löste sie den Verwandelten von seinem früheren Eid und band ihn an ihr Blut und ihr Leben. Je danach, wie stark der von ihm gerufene Suizidzauber ursprünglich wirken sollte konnte er in den nächsten Sekunden wieder erwachen oder noch eine Minute brauchen, bis seine neue Erscheinungsform genug Kraft aus Erde, Wasser und Sonnenlicht gezogen hatte, damit er sich seiner neuen Lage bewusst wurde. Bald würde er ihr alles verraten, was er wusste, auch wenn es wohl nur die allernächsten Kontaktleute waren.
Zumindest war Ladonna Montefiori beruhigt, dass die im Ministerium unterworfenen sie rechtzeitig auf diesen Boten hingewiesen hatten. Also waren unter den Kriegern Bernadottis wohl auch heimliche Kundschafter der römischen Wölfe, mit denen sie schon damals einige Schlachten ausgefochten und dabei zwei der damals noch sechs Sippen mit Stumpf und Stiel ausgerottet hatte. Ob es die verbliebenen vier noch gab würde sie also bald wissen. Dann galt es, sich darauf vorzubereiten, diese Altlast der patriarchialischen Bande aus der ehrwürdigen Zeit des Imperium Romanum endgültig von der Erdoberfläche zu tilgen.
Es war geschafft. Der Tempel der Göttin war vollendet und der großen Mutter der Nacht geweiht. die residente Priesterin Sweetblood erhob sich vom blutrot leuchtenden Altar und wandte sich an ihre dreißig männlichen Helfer. "So ist das Werk der Göttin unter diesem Berge begonnen. Von hier aus werden wir dieses von schnödem Gewinnstrebenund Selbstdarstellungsgepränge getriebene Land erobern und es in das Reich der erwachten Göttin einfügen", sagte die Priesterin der erwachten Göttin. Sie trug ein hautenges, dunkelblaues Kleid. Ihr mittelbraunes Gesicht besaß afrikanische Züge. Als sie vor zwanzig Jahren noch als Armeesoldatin Kelly Moore in Baltimore gelebt hatte war sie fast so schwarz gewesen wie alle ihre Vorfahren. Dass sie eine Tochter der Nacht war würde ihr keiner ansehen, wenn sie nicht zu sehr lächelte. "So ehren wir die große Mutter aller Nachtkinder", fuhr Sweetblood fort. Dann streckte sie sich so lang sie konnte und breitete ihre Arme so weit es ging aus. Alle hier fühlten, wie sich die Kraft der Göttin in dieser Nachttochter bündelte. Gleichzeitig fühlten sie, wie die Göttin selbst an diesem Ort Gestalt gewann. Rote Funken wirbelten in der Luft, wurden zahlreicher und verdichteten sich. Dann erschien sie, die aus blutrotem Licht bestehende, an die fünf Meter hohe Gestalt der Göttin selbst. Alle hier fielen vor ihr auf die Knie.
"Ich danke euch allen, meinen Kindern und vor allem dir, meine geliebte Tochter Sweetblood, dass ihr es in so kurzer Zeit und ohne dass die falschen Kräfte davon erfuhren, diesen Tempel in die verwaisten Gebetsgrotten des einstigen Volkes hineingegraben zu haben. Dieser Hort meiner allmächtigen Kraft wird Ausgangspunktund Mittelpunkt eurer Vorherrschaft auf diesem Erdteil sein. Wie meine Tochter Sweetblood es schon erwähnte werden wir von hier aus alles aus der Welt tilgen, was die Rotblüter als wichtig ansehen, ihr achso heiliges Geld, ihre grenzenlose Habsucht, die sie als menschliches Streben bezeichnen, ihre Selbstüberschätzung, weil sie so viel Kriegsgerät angehäuft haben. All das und noch viel mehr wird euch gehören, und ihr werdet es in meinem Namen vollbringen, das Reich der Nachtkinder auf diesem Teil der Welt zu errichten und zu halten. Nach all den Jahrtausenden der ständigen Fluchten und Kämpfe werden wir dann ein Reich des ewigen Friedens errichten, ohne die viel zu helle und heiße Sonne nötig zu haben, ohne dass ihr euch vor den Rotblütlern verstecken oder in eurer freien Lebensgestaltung eingeschränkt sein müsst.
Doch ihr müsst wissen, dass gerade auf diesem Erdteil eine Gruppe von magisch begabten Leuten herumläuft, die sich anmaßt, Ihresgleichen vor Wesen wie uns beschützen zu müssen und sogar behauptet, die einzig wahre Art zu leben sei eine unheilbare, ja gefährliche Krankheit. Sie wird sich gegen die nötigen Eingriffe von euch wehren. Unterschätzt sie niemals. Sie bezeichnen ihren Ausgangspunkt als Marie-Laveau-Institut. Es muss irgendwo im Staate Louisiana liegen. Wenn wir siegen wollen muss das Marie-Laveau-Institut vergehen.
Ebenso gibt es Zauberstabträgerinnen, die meinen, uns wie lästiges Ungeziefer erschlagen, verbrennen oder anders töten zu dürfen, ohne Reue und ohne Angst vor Vergeltung. Diese Hexen, die sich als Orden der schwarzen Spinne und die Schwestern der Schweigsamkeit bezeichnen, müssen vor die Wahl gestellt werden, Bürgerinnen, Feindinnen oder verfügbare Nahrung für euch zu sein.
Ja, und ich weiß, dass es auch unter den Nachtkindern solche gibt, die meinen Ruf verachten und finden, dass ihre eigene Freiheit wichtiger sei als die Erfüllung der Bestimmung, ihren wahren Platz in der Welt zu erstreben.
Ach ja, die Pelzwechsler, die bei Vollmond zu Wölfen werden, die gibt es auch noch. Sie werden bald vor die Wahl gestellt sein, mit uns zu leben oder durch uns zu sterben. Etwas anderes wird ihnen von mir nicht gewährt sein.
Ihr kennt die unerschöpflichen grauen Krieger, die stärker sind als jeder von euch. Ich werde noch viel mehr von ihnen erschaffen. Wer mir dabei helfen will, der oder die mag sich bald melden.
So weihe ich endgültig diesen Tempel als meinen Besitz und euren Stützpunkt im Kampf um dieses Land." Mit diesen Worten zerfloss die rote Erscheinungsform zu einem leuchtenden Dunst, welcher die gesamte Versammlungshöhle erfüllte. Die hier anwesenden Vampire atmeten den Dunst ein und wieder aus. Sie fühlten die darin schwingenden Kräfte der erwachten Göttin, wurden geistig eins mit ihr und auch eins miteinander, erreichten einen Grad der Glückseligkeit, der sie lauthals aufschreien ließ. Es war wie ein Bad in elektrischen Strömen. Dann, mit einem mal, verschwand der rote Dunst und auch die von ihm übermittelte Freude. Die Priesterin und ihre dreißig Helfer waren wieder für sich. Jeder fühlte die eigenen Empfindungen und war erst ein wenig betrübt darüber, nicht ganz und für immer eins mit der Göttin geworden zu sein. Doch das, so wussten sie, stand jedem treuen Diener bevor, wann immer der Tod sie oder ihn ereilte. Jeder und jede hier freute sich auf diesen fernen aber sicheren Tag. Vor allem Sweetblood, in der die Kraft der Göttin weiterhin wirkte, genoss das Zusammensein mit der Göttin. Mit dieser Kraft in sich konnte ihr nichts mehr passieren.
"Wie, der Lexus ist kaputt? Was ist denn genau dran kaputt?" fragte Mike Dunston am Vormittag, als er einen Rückruf aus dem Fuhrpark erhielt.
"Der Motor will einfach nicht mehr anspringen. Meine Leute prüfen schon, ob was mit dem Bordcomputer ist oder ob etwas mit dem Steuergerät ist. Denn Motor und Zündsystem sind äußerlich völlig unversehrt", erwiderte die Stimme eines Mechanikers aus dem Telefon.
"Meinen Sie, dass Sie das in acht Stunden hinbekommen?" fragte Dunston. "Wenn wir wissen, woran es liegt kann ich Ihnen das klar beantworten. Aber wir wissen es noch nicht", antwortete der Mechaniker.
"Gut, ich bitte um vordringliche Behandlung. Der Wagen wird heute Abend für eine wichtige Fahrt benötigt."
"Haben Sie uns schon gesagt, Mr. Dunston. Deshalb haben wir den ja überhaupt gecheckt", erwiderte der Mechaniker des hauseigenen Fuhrparkes.
"Gut, dann viel Glück und Erfolg", erwiderte Dunston zähneknirschend.
Fünf Minuten nach diesem Telefonat betrat Jeff Bristol Dunstons Büro. "Unsere Sicherheitslimousine hat ein Problem. Sie springt nicht an. Die Werkstatt ist dabei, das rauszukriegen, warum der Wagen nicht will, Jeff. Falls ich in acht Stunden keine Information habe, ob er bis zehn Uhr einsatzbereit ist bleiben Sie bitte hier!"
"Ja, aber dann können wir nicht beweisen, ob das Treffen stattfand oder nicht", wandte Jeff ein. Mike Dunston erwiderte darauf: "Wir haben nur die eine gepanzerte Limousine. Die konnte ich auch nur für diesen Einsatz klarmachen, weil die Chefetage genauso wie wir beide davon ausgeht, dass Tinwhistle die Wahrheit gesagt hat und dieses Treffen wirklich stattfindet. Wenn das passiert ist kann morgen schon die befürchtete Unterweltfehde über uns alle hereinbrechen. Und wenn das Treffennicht stattfindet und alles nur ein platzierter Fehlalarm von Tinwhistle ist haben wir nichts um dem zu widersprechen, wenn er oder sie weitere Beweismittel vorlegen will."
"Ist mir alles sehr wohl bekannt", knurrte Dunston. Dann sagte er: "Vielleicht ist es auch gut, wenn keiner von uns dahinfährt. Am Ende ist die Sache von einer der großen neun losgetreten worden, um zu prüfen, wer wie damit umgeht. Dann bleiben wir eben besser in Deckung und lehnen jede neue Nachzahlung von Tinwhistle ab", legte Dunston die Marschroute fest.
"Dann soll ich also nach Büroschluss nach Hause fahren, Mr. Dunston?" wollte Jeff wissen. "Wenn ich bis um sechs Uhr nichts aus der Werkstatt habe ja", entgegnete der Kriminalredakteur der Times. Jeff nickte und bat darum, an die weiteren Recherchen zurückzukehren. Es wurde ihm genehmigt.
"Und was sagt deine neue Stellvertreterin in Millemerveilles?" wollte Linda Latierre-Knowles von ihrem Mann Gilbert wissen. "Dass sie sich jetzt alle darauf vorbereiten, die vielen vielen neuen Kinder zu begrüßen, die im März bis April ankommen werden", erwiderte Gilbert darauf. "Millie meint, dass die im Dorf arbeitenden Hexen sich nur noch mit den lebensnotwendigen Sachen befassen, und die, welche außerhalb von Millemerveilles arbeiten mit Genehmigung der Zaubereiministerin kostenfreie Innertralisatus-Unterkleidung beziehen können, um beim Flohpulvern nicht aus den Schuhen zu kippen oder die ungeborenen Kinder mitten im Flohnetz zu verlieren. Außerdem haben es alle hinzugezogenen Pflegehelfer geschafft, bis zur Ankunft der spätesten Kinder in Millemerveilles zu wohnen. Ob das für denWestwind was ist weiß ich nicht."
"Du bist supergut im Übersetzen. Ich kann zwar auch gut französisch, aber so sinngetreu kriege ich das wohl noch nicht hin, zumal du ja weißt, wie deine Verwandte was meint."
"Unsere Verwandte, Linda, du hast einen ganz großen Stall mitgeheiratet", erwiderte Gilbert.
"Hat Daddy auch gesagt, dass ich es nun davon habe, zu neugierig zu sein. Immerhin bin ich dabei nicht gestorben, sondern trage seine erste Enkeltochter aus", entgegnete Linda und ließ zehn Kartoffeln zugleich aus ihren Schalen springen. Während sie ein Küchenmesserballett dirigierte, das die geschälten Erdäpfel in dünne Scheiben zerlegte sagte sie noch: "Mein Chefredakteur Barney Penholder fragt dich übrigens, ob du mich noch einmal nach Italien begleiten willst. Ihn interessiert brennend, wie sie dort die Neuausgabe der Quidditch-Weltmeisterschaft vorbereiten. Allerdings habe ich ihm gesagt, dass sowohl du als auch ich bei den Italienern wohl gerade Vogelfreie sind und die uns jederzeit einkassieren können. Chloe meint deshalb, dass ich da auf gar keinen Fall hinreisen soll."
"Dieselbe Chloe, die mir geraten hat, täglich mit fünf Kilo schweren Wassersäcken Kindertragen und Umbetten zu üben?" fragte Gilbert. Linda nickte. Da fühlte sie einen ganz sachten Stupser in ihrem Unterleib. "Oh, die kleine ist auch wach, hat wohl meinen Magen knurren gehört", säuselte sie und tätschelte sich mit der freien Hand über den nun gut erkennbaren Umstandsbauch.
"Hast du dich noch nicht auf einen Namen festgelegt?" fragte Gilbert.
"Nachdem meine liebe Schwiegermutter, deine fürsorgliche Gebärerin, mir einen halben Heuler zugeschickt hat, ich sollte "gefälligst" mit dir in Frankreich wohnen, damit die Kleine für eure Beauxbatons-Schule vorgemerkt wird frage ich mich ernsthaft, ob die Kleine nach ihrer Großmutter väterlicherseits heißen soll oder ich nicht doch Moms ersten oder zweiten Vornamen nehme."
"Oh, ist Maman immer noch nicht drüber weg, dass ich dich geheiratet habe? Dann geht das aber mit dem ABC-Namen nicht mehr, der dir zuerst durch den Kopf ging."
"Ja, und der HCL-Name bleibt sowieso außen vor", erwiderte Linda. "Wie heißt Mom Lydia denn mit zweitem Vornamen?" wollte Gilbert wissen. "Barbara", erwiderte Linda lächelnd. Gilbert grinste erst und lachte dann lauthals los. "Wie meine Großmutter mütterlicherseits. Joh, passt wie ein Löffel in den Kessel."
"Hmm, ja, stimmt", erwiderte Linda und fühlte einen neuen Stupser in ihren Unterbauch. "Findet die da in Linos warmem Unterstübchen auch", bemerkte sie noch dazu. Dann kam sie wieder auf das Thema von ebenzurück.
"Ich verstehe Penholder vollkommen, dass nach Lauries neuer Reise auf die Stiefelhalbinsel auch der Westwind wen runterschicken sollte und unser Sportfachzauberer gerade heftig mit der laufenden Quodpotliga zu tun hat, nachdem die Bugbears den Climbers Besenmanipulationen unterstellt haben. Aber wenn die mich und sicher auch dich gleich bei der Einreise kassieren, sofern sie uns überhaupt ins Land lassen, kriege ich Ärger mit Chloe Palmer, ganz davon abgesehen, dass Penholder dann auch keine Story über die Vorbereitungen kriegt."
"Dann müssen wir drei eben inoffiziell dahin. Lass dir von deinem Boss was gutes zu tun geben, wofür du mindestens vier Wochen verreisen musst und nicht immer angeeult werden darfst, weil unauffällig und so! So habe ich das auch mal gefingert, als ich noch für die Wetterhahnkompanie vom Mirroir Magique getextet habe."
"Ach, klingt sehr interessant. Kannst, darfst und vor allem willst du mir das mal erzählen."
"Besser erst, wenn die Kleine nicht mithören kann. Ist nämlich nicht nur nichts für Kinder, sondern auch eher was für starke Nerven. Tante Line meinte danach sogar, dass die mir vom Mirroir noch zweitausend Galleonen hätten drauflegen müssen, weil ich diesen Husarenritt für die gemacht habe. Tja, aber da ich ja offiziell nichts damit zu tun hatte gab es nur das übliche Artikelhonorar und mein Monatsgehalt."
"Musstest du dich dafür teilweise verwandeln?" fragte Linda Latierre-Knowles ihren Mann. Dieser nickte heftig. "Ich war damals ein hochgewachsener Blondino, mit nackenlangenHaaren. Mercredi, hat mich das gestört. Aber in der Ecke, wo ich ermitteln sollte wäre ich zum einen wegen meiner rotblonden Bürstenfrisur verdächtig gewesen und zum anderen hätte da wer mich als Mitschreiber vom Mirroir erkennen können. Aber mehr irgendwann mal, wenn die Kleine außer Hörweite ist."
"Deiner oder meiner Hörweite?" wollte Linda wissen. Gilbert grinste und sagte, dass sie besser dann in der weiterführenden Zaubererschule sei, Thorntails, Dragon Breath oder Ilvermorney.
"Also, meine Ohren erbt sie wohl nicht, Gilbert. Aber unser beider Scharfohrigkeit und Neugier steckt sicher schon in ihr drin."
"Jetzt frage ich mal so, willst du mit der Kleinen im Unterbau überhaupt nach Italien, wo die uns da sicher noch auf einer Fahndungsliste haben, auch wenn wir längst alles über deren Versuch, Gildfork und die Schummelbande hochzunehmen rausgetrötet haben?"
"Gilbert, du und ich haben damals doch wegen deren Versuch, uns zu kassieren den Verdacht gehabt, dass sie all zu gerne alles unter den dicksten Teppich gekehrt hätten. Das ist ihnen zwar nicht gelungen, dank der Glücksflasche deines verschwägerten Vetters. Aber das mit Phoebe Gildfork ist immer noch nicht durch. du weißt, dass Minister Buggles und Bernadotti immer mal wieder Eulen austauschen und Bernadotti nach wie vor behauptet, Phoebe Gildfork sei nicht von seinen Leuten festgenommen worden, also könne sie auch nicht freigelassen oder ausgeliefert werden. Irgendwas stimmt da hinten und vorne nicht. Nur dass Buggles wegen der Ablehnung seiner Vita-Magica-Politik hier immer mehr Gegenwind hat und sich deshalb nicht dauernd mit Bernadotti zanken will. Du hast sicher meinen neuen Artikel gelesen, dass er kurz davor steht, einen Ausnahmezustand zu verhängen, weil ihm immer mehr Bürger drohen und er behauptet hat, die Interessensgemeinschaft später Väter ohne ausdrücklichen Kinderwunsch sei eine Verbrecherbande und habe sich bis heute nicht für die Entführung von Minister Dime entschuldigt."
"Dann wird der uns auf gar keinen Fall helfen, nach Italien zu reisen und sogar behaupten, uns nicht zu kennen, wenn wir da verloren gehen sollten", erwiderte Gilbert verdrossen. "Hmm, aber ich will auch wissen, warum die Italiener das unbedingt verhindern wollten, dass wir von dort aus über die Sache mit Gildforks Schummeltruppe berichten."
"Ja, und ob sie mittlerweile eine bessere Absicherung gegen dieses Fortpflanzungstriebgas von Vita Magica haben", antwortete Linda. Dann ließ sie per Zauberstabschnipser alle Kartoffelscheiben in eine Schüssel fliegen und ließ danach eine gusseiserne Bratpfanne auf den Herd schweben.
"Ich kann Beri noch mal fragen, ob ich sein Silberfläschchen kriegen kann, Linda. Aber wenn wir da was rauskriegen sollen dürfen wir nicht offiziell dahin", stellte Gilbert klar. Seine Frau nickte bestätigend.
"Und, hat dein Muggelweltboss sehr geflucht, als er erfuhr, dass das Sicherheitsauto nicht fährt?" gedankenfragte Justine Bristol ihren Mann, als dieser eine Pause nutzte, um ihr den neusten Stand mitzuteilen. "Ich habe nicht Linos Zauberohren und konnte deshalb nichts mitbekommen. Aber so wie es aussieht wird der Wagen vor acht Uhr abends nicht fertig sein, wie auch immer Quinn das gefummelt hat."
"Das kannst du ihn dann fragen, wenn du wieder ins Institut rüberfliegen kannst. Jedenfalls werden die den Wagen nicht vor morgen früh wieder zum fahren kriegen, hat er mir vorhin mit einem schadenfrohen Grinsen serviert", gedankenantwortete Justine. "Er sagt aber, dass die unsichtbare Eule heute abend um neun Uhr abgeholt werden kann, gegen Ausleihquittung natürlich. Davidson hat die Sache für wichtig genug gehalten, die neue Fernüberwachungsvorrichtung einzusetzen."
"Ja, die magicomechanische Eule mit Demiguisenhaar im Gefieder und hochempfindlichen Augen und Ohren und einer Bild- und Schallsammelspeicherkapazität von achtundvierzig Stunden. Die perfekte Spionagedrohne."
"Und vor allem mit einer Eigenstreustrahlungsabschirmung auf Grundlage der Dusoleil'schen Antisonden. Damit kriegt auch kein Magieaufspürer mit, dass sie unterwegs ist", ergänzte Justine. "Aber sie muss von dem Mitarbeiter aufgelassen werden, der die genaue Adresse beschreiben und den genauen Auftrag formulieren kann, wortwörtlich", mentiloquierte Jeff Bristol. "Ja, deshalb darfst du sie ja heute abend bei Quinn abholen", bestätigte Justine. Jeff gedankenbejahte das sofort und sah auf seine Wechselarmbanduhr. Er hatte noch fünf Minuten Pause. So verabschiedete er sich über die Strecke New York - New Orleans von seiner Frau und suchte noch einmal die Mitarbeitertoilette auf.
Roberto Venuti war die ganze Sache nicht so geheuer. Heute abend wollten sich Don Marcello Fraschetti, Don Carlo Moretti und Don Dario Minetti mit diesem Ernesto Zagallo treffen, dem Burschen, der sogar den großen Don Adriano Bertoloni zu einem dauerhaften Ortswechsel überreden konnte. Wieder einmal wünschte er sich, dass Donna Gina noch lebte und ihm zusammen mit den angeheirateten Verwandten absicherte. Denn er ging sehr stark davon aus, dass Zagallo kein Geschäft auf gleicher Augenhöhe plante, sondern die Übernahme aller Geschäfte der drei anderen vorhatte. Und Don Marcello hatte ihm auch noch den Mund wässerig gemacht, dass Zagallo über die Verbindungen zu Kowalskis Industriebank Anteile an sogenanten systemrelevanten Unternehmen kriegen konnte, richtig gute Geldanlagen.
"Bob, haben Sie die letzten Ergebnisse über die Kingsman-Gruppe abrufbar?" fragte Robertos Vorgesetzter Pullman über die hausinterne Kommunikationsanlage. Roberto drehte sich zum Mikrofon und erwiderte: "Ich kann ihnen die Unterlagen über das Intranet schicken, Verschlüsselung Stufe drei, wie Sie gewünscht haben, Mr. Pullman."
"Ja, danke, Bob", erwiderte Pullman. Roberto dachte einmal mehr daran, wie ahnungslos dieser geldgierige Fettsack im nachtschwarzen Chefsessel war. Denn er behandelte Venuti immer noch wie einen kleinen Wasserträger, der ihm die lästigen Recherchen abnahm und nur die Ergebnisse möglichst kurz und knapp auf einem Silbertablett servierte. Er wusste nicht, dass Donna Gina damals von sehr gefälligen Zwischenleuten einundfünfzig Prozent der Firmenanteile hatte ankaufen lassen. Die hatte ihr Neffe Giacomo geerbt, vor dem Roberto immer wieder paradieren durfte, was ihn sehr ärgerte. Doch sollte Pullman ihm dumm kommen könnte Giacomo sehr böse werden und mit den einundfünfzig Prozent, verteilt auf die gefälligen Strohleute, wichtige Vorhaben blockieren.
Nachdem er die erbetenen Unterlagen verschlüsselt und über das hauseigene Netzwerk verschickt hatte ging er noch einmal die von Don Marcello angeforderten Unterlagen durch, die er nach Feierabend aus dem Haus schmuggeln sollte, sowohl in Papierform als auch auf einem USB-Stick.
"Ich fürchte, wir werfen uns heute abend einem nimmersatten Drachen zum Fraß vor", dachte Roberto Venuti für sich, als er auch die Lebensläufe der wichtigsten Angestellten der Bank und sämtliche Beteiligungen studiert hatte. Das war schon verdammt schwierig gewesen, die Daten so zu kopieren, dass er keine Spuren im System hinterlassenhatte. Wenn die ihm draufkamen, dass er die sensibelsten Firmeninterna an einen ranghohen Ehrenmann verjubelte konnte er morgen schon gefeuert werden, abgesehen davon, dass Pullman versuchen konnte, ihm die Polizei oder gar das FBI auf den Hals zu hetzen. Ob Giacomo da noch was gegen machenkonnte wusste Roberto nicht.
"Und los!" rief Russell Burke, Mitglied der Mondbruderschaft und riss das Gewehr hoch. Eine handtellergroße Scheibe flog mit irrwitziger Geschwindigkeit von links nach rechts durch die Luft. Burke drückte ab. Ein leises Plopp, ein nur für seine Ohren vernehmbares, ultrahohes Pfeifen, dann zersprang die Flugscheibe in einem grellen Lichtblitz. "Wuppi, nur anderthalb Sekunden vom Start bis zum Abschuss und ein satter Treffer ins Schwarze, Doppeltes Bullenauge", sagte der hagere Fino, der die Fluganlage für die Übungsziele bediente. "Ich stell mir immer diese Braune Hure Sweetblood vor, die meine Tochter leergesaugt hat, wo ich dabei stand und nichts machen konnte, weil die mich mit diesen bullenmistigen Silberketten gefesselt haben."
"Keine Sorge, die kriegen wir noch, falls die für diese Blutgötzin schafft. Jedenfalls wirken die Geschosse so wie sie sollen. Die altenÄgypter hatten es voll drauf, was Sonnen- und Mondzauber angeht."
"Und hoffe mal, dass sie uns deshalb keine ihrer wandelnden Mumien oder Seelenfresser auf den Hals schicken, wenn die das mitkriegen, dass wir die Zähne des Re - oder heißt der jetzt Ra? - für unsere Zwecke einsetzen."
"Du meinst wegen dieser dunklen Zauberkraftwelle, die im letzten April über die ganze Welt geschwappt ist, Russell? Ja, da müssen auch wir aufpassen, dass wir uns da nicht doch mal vergreifen", erwiderte Fino mit einem gewissen Ingrimm. Burke nickte. Sein Großonkel in London verkaufte hochpotentes, bösartiges Zauberzeug. Der hatte ihm geschrieben, dass einiges davon ein Eigenleben entwickelt hatte und er nur durch den vor Jahren eingerichteten Fluchtweg hatte entkommen können, bevor ihn der Strick des gehängten Großhexers erwischenkonnte. Immerhin hatte er das Geschäft noch unter Shacklebolts Augen leerräumen können, bevor er die nicht mehr zu bändigendenSachen mit dem Feuer der Verheerung erledigt hatte. Zu den fragwürdigen Angeboten hatte auch eine versiegelte Amphore mit dem Herz eines echten ägyptischen Sethpriesters gehört, das nach der dunklen Welle zu schlagen angefangen hatte. Also konnten durchaus auch andere Hinterlassenschaften aus dem alten Ägypten zu neuem Leben erwacht sein. So war er zumindest froh, dass er auf der Mondlichtungsinsel mitten im Amazonasstrom vor solchen Sachen sicher war.
"Ich will mal einen schnellen Satz probieren, Fino. Gib mir bitte noch mal zehn Kugeln!"
"Ey, wir haben im Moment nur hundert davon fertig. Gold wächst nicht gerade am Wegesrand", grummelte Fino. "Ich will wissen, wie schnell ich hintereinander treffen kann, Fino. Die Knarre hier kann doch sowas, oder?"
"Ja, das Gewehr kann das. Aber nenn es nicht Knarre! Es könte dir das übelnehmen. Aber wenn du uns dafür ein halbes Pfund reines Gold beschaffst kannst du gerne noch zehn Kugeln verschießen."
"Ein halbes Pfund Gold? Die Kobolde in New York glotzen sicher ganz blöd, wenn ich denen damit komme.""Dann beklau die Läden, die den reichen Eingestaltlern überteuerte Uhren und Halsketten andrehen, Russ", knurrte Fino zurück. "Ich weiß nur, dass unsere Kugelgießerei nur noch zwanzig Schuss hergibt. Sind die fertig habenwir gerade noch hundertzehn Kugeln."
"Wenn jede davon einen Blutsauger einäschert reicht das für eine ganze Zenturie von denen. Aber die können irgendwie mit einem Schattenportschlüssel den Ort wechseln. Deshalb muss ich das wissen, ob ich schnell hintereinander feuern und treffen kann. Also gib mir die zehn und lass die Täubchen fliegen!"
"Wie du meinst", erwiderte Fino und griff durch eine Glocke aus bläulichem Licht in eine Kiste, in der die neue Spezialmunition aufbewahrt wurde.
"Wenn du dich verschießt macht's nichts. Kugeln, die nicht die präparierten Tontauben treffen können noch verwendet werden", grinste Fino, als Burke sein Gewehr bis zur letzten Kammer geladen hatte. Burke sagte nichts dazu. Er wartete, bis die erste von zehn Flugscheiben losflog, diesmal nicht von links nach rechts, sondern von gerade unten nach oben und ihm dabei die Schmalseite zukehrte. Doch in dem Moment, wo die Tontaube gerade fünf Meter über dem Boden war zerbarst diese in hellem Licht. Zeitgleich sauste die zweite Tontaube von rechts nach links und verging keine halbe Sekunde später. Dann waren schon die beiden nächsten in unterschiedlichen Richtungen unterwegs. Burke musste eine wertvolle Sekunde überlegen, welche er zuerst abschießen konnte. Als er die eine erwischt hatte waren schon zwei neue unterwegs, die aber eine wunderschöne Linie bildeten, so dass er mit drei schnellen Schüssen die eine und die beiden dazugekommenen innerhalb von anderthalb Sekunden zerschießen konnte. Auch die letzten Tontauben, die versuchten, durch wilde Schlenkerbewegungen auszuweichen, vergingen unter der Wirkung der neuen Kugeln, die beim Kontakt mit Vampirblutbehafteten Zielen einen Zauber auslösten, der die Kraft von zehn Minuten Sonnenlicht freisetzte. Das hielt kein Vampir aus."
"So muss das", frohlockte Burke. "Ach ja, und was das Gold angeht, ich gehe morgen Nacht in New York einkaufen, ohne Geld natürlich. Mal sehen, ob ich ein halbes Pfund Gold zusammenkriege."
"Braver Bursche", erwiderte Fino.
"Fino, Fireclaw, unser Spatz in Philadelphia meldet, dass die Räuberpuppe dieser Blutgötzin in seinen umgebauten Luftzerquirler gestiegen ist und in Richtung New York unterwegs ist. Er hat sechs seiner Knallwaffenträger dabei und dieses Flugdings bis zur letzten Kammer mit Munition beladen lassen", hörten sie Luneras Stimme aus der freien Luft. Fino und Russell Burke, der bei den Mondbrüdern Fireclaw hieß, weil er als Wolf ein feuerrotes Fell bekam, aparierten unverzüglich im Überwachungs- und Berichteraum der unter dem Fidelius-Zauber stehenden Inselfestung.
"Dann will dieser Mr. Z, der Helfershelfer dieser Blutgötzin und ihrer Bande Raffzähne irgendwo hin, wo's für ihn was zu holen gibt. Der müsste sonst Angst haben, dass die Mäuse auf dem Tisch tanzen, sobald die Katz aus dem Haus ist", sagte Fino.
"Sofern er nicht genug Mausefallen und Giftköder ausgelegt hat", vermutete Fireclaw. Fino nickte. Sowas hätte er sicher auch gemacht, wenn er auf eine Reise ohne garantierten Verlauf gehen würde. Und dass Zagallo nicht wusste, wie die Reise verlief sagte die Bewaffnung seines Hubschraubers, den er verächtlicherweise auch noch Il Lupinetto getauft hatte.
"Ich prüf mal eben, wer noch bei dem im Haus ist, falls diese rote Feuerhexe das nicht mit einem Beobachtungsschutz verhüllt hat", sagte Fino und setzte sich eine Brille mit grünem Rand auf die Nase. Er tippte und bestrich mit seinem Zauberstab einen Kupferteller mit magischen Zeichen. Dann zuckte er zusammen. "Okay, das Haus ist unbetretbar. Der Kundschafter ist voll gegen eine plötzlich aufschießende Feuerwand geknallt und wuff."
"Hast du noch einen von denen bei dem in der Nähe, Fino?"
"Si, Lunera, habe gleich drei bei dem in der Nähe postiert, seitdem wir dort diese neuen Schattenstrudel angemessen haben. Immerhin wollen wir ja wissen, was diese Marionette so treibt."
"Und er ist garantiert noch keiner von denen?" wollte Fireclaw alias Russell Burke wissen. Lunera nickte Fino zu. Der erwiderte: "Nein, der hat noch rotes Eingestaltlerblut in den Adern. Hätte nicht übel lust, den kurz anzuknabbern und dann zu beobachten, wie seine neuen Puppenspieler damit klarkommen."
"Fino, wir wollten nur wissen, wer ihn führt und falls möglich diese Führungsleute aus der Welt schaffen", sagte Lunera. "Wenn wir ihn jetzt direkt angehen wissen die, dass wir ihn beobachtet haben."
"Ähm, Reina Blanca, das dürften die spätestens jetzt wissen, nachdem ich einen der magicomechanischenKundschaftervögel in deren Feuerwand reingeschickt habe. Es sei denn, die Feuerwand zerbrutzelt alle Vögel, damit keiner von denen auf das Dach dieser auf altrömisch getrimmten Villa kacken kann", schnaubte Fino, dem jetzt erst klar wurde, dass sie sich diesen Feinden gegenüber eine winzige aber vielleicht gefährliche Blöße gegeben hatten.
"Du hast den Kundschafter da hingeschickt", stellte Lunera klar. Fino funkelte sie dafür zornig an und ballte seine Fäuste. Er zitterte vor beinahe ungebändigter Wut. Dann entspannte er sich und atmete mehrmals laut ein und aus. "Ist jetzt nicht mehr zu ändern", schnaubte er noch.
"Mein Großonkelhat vielleicht noch den dunklen Feuerschnapper im Angebot. Der widersteht bekanntlich allen Feuerformen und könnte seiner Aussage nach einem Drachen das Maul zufrieren oder einen Vulkan auslöschen. Soll ich ihn fragen, ob er ihn mir verkauft?"
"Hatten wir schon", schnarrte Fino. "Der wollte eintausend Galleonen dafür haben, weil es nur diesen eingen gibt und er es nicht wagt, den zu untersuchen, zumal der sich jeder Untersuchung sehr wirksam widersetzt, wie du von ihm erzählt hast." Fireclaw nickte.
Fino sah auf den Kupferteller, der unvermittelt blau aufleuchtete und dann grün blinkte. "Ui, der in die Feuerwand gelenkte Kundschafter hat vorher noch alle aufgefangenen Geräusche und Gespräche zu uns zurückschicken können. Dann geht die Secundultimus-Bezauberung doch noch bei dieser Größe."
"Dein Zauber, Fino", sagte Lunera. Russ Burke alias Fireclaw nickten bestätigend.
Einige Minuten später saßen die drei Mondgeschwister um eine silberne Schallsammeldose herum und lauschten einem Gespräch, dass in der Villa Mongibello geführt worden war. Zumindest Lunera und Fino konnten genug Italienisch, zumal der sizilianische Dialekt dem Spanischen ähnelte. Dann lachte Lunera. "Tja, dieses Feuerweib kann noch keine Dauerklangkerker zaubern oder darf es nicht wegen der ganzen elektrischen Gerätschaften im Haus. Ihr pech."
"Was haben die denn bequatscht?" wollte Burke wissen. "Nichts geringeres, als dass Zagallo heute Nacht bei New York ein paar drittrangige Mafiosi trifft, die ihm ihre Unterstützung angeboten haben", grinste Lunera. "Ja, und wir haben die Adresse. Wäre interessant, mitzuhören, was die so beraten", sagte Fino.
"New York? Die Geldzentrale Nummer eins von Amerika. Wer da mitmischen kann ist eine Made im Speck."
"Si Señor", erwiderte Fino. "Dann schicke ich mal zwei Kundschafter aus New York dahin. Die müssten eigentlich weit genug vor der Zeit da sein", erwähnte Fino und hantierte bereits mit seinem Zauberstab an einem weiteren Kupferteller herum. "Fino, wir haben nur noch dreißig Kundschafter auf der Welt herumfliegen. Du selbst hast gesagt, dass du nicht mehr so leicht an das Material dafür herankommst", sagte Lunera.
"Lunera, wenn eine von diesen Blutsaugermarionetten noch mehr Macht gewinnen will sollten wir das wissen. Am Ende kommen die so noch besser an Rohsilber dran, mit dem sie Mondsteinkugeln machen können. Willst du nicht wirklich."
"Ach, unsere Arm- und Fußbänder können Mondsteinsilber doch abwehren", sagte Lunera. "Ist zwar richtig, gilt aber nur für die aus Masse und Geschwindigkeit multiplizierte Gesamtmenge drei Kilo Silber mit einer Geschwindigkeit von 50 Metern pro Sekunde pro Tag. Wenn die uns mit schnelleren Geschossen über der Menge beharkenkommen die Dinger doch durch, weißt du auch noch ganz gut. Oder hat das Balg von Turboimpulso dir das Wissen aus den Dutteln gesaugt?"
"Ey, werd jetzt bloß nicht frech, Fino", knurrte Lunera. "Höchstens bleib ich frech", erwiderte Fino, der nicht aufstecken wollte. Burke meinte dazu nur: "Leute, wir wollen den nur beobachten. Da reicht ein Kundschafter sicher aus. Aber es sollte schon ein Eulenvogel sein, keine Lerche oder Brieftaube."
"Nicht du auch noch, Russ", blaffte Fino. "Ich habe einen Sperlingskauznachbau auf Posten. Den schicke ich gerade zu der Adresse hin." Russell Burke alias Fireclaw nickte beipflichtend.
"Roberto, schön, dass du es hast einrichten können", begrüßte der kahlköpfige Don Marcello Fraschetti seinen ganz persönlichen Anlageberater. Dieser erwiderte den Gruß auf die respektvolle Art, wie es der Capo der Fraschetti-Familie erwarten durfte. "Du fährst bei mir im Wagen mit. Wir haben drei gleichh aussehende Autos mit voller Panzerung und Umgebungslidaren und Verwirrungsleuchten. Sollte wer es wagen, uns unterwegs anzugreifen haben wir genug Zeit, den Gegner zu erkennen und abzuwehren."
"Sofern der nicht mit einer ferngelenkten Rakete angreift", dachte Roberto Venuti für sich. Es laut auszusprechen wagte er nicht.
So fuhren drei silberne Wagen mit demselben Kennzeichen los, um zum Geheimtreffen mit Don Ernesto Zagallo zu kommen.
Weil zwischen dem Fahrer und dem Leibwächter vorne und Fraschetti und Venuti im Fond eine schalldichte Panzerglasscheibe hochgefahren war konnten sie sich über den Ablauf des Treffens unterhalten. Roberto Venuti bat darum, die wirklich interessanten Anlagemöglichkeiten erst dann preiszugeben, wenn sie von Zagallo eine Eigenständigkeitsgarantie erhielten. Fraschetti willigte ein, weil ihm auch daran gelegen war, nicht als williger Handlanger Zagallos zu enden. Darauf hatte er sich auch mit den beiden anderen Capi geeinigt.
"Und du bist sicher, Don Marcello, dass keiner der großen Neun das mitbekommen hat?"
"War einer von denen bei dir oder deinem Cousin Francesco in der Bronx, Robertino?" wollte Don Marcello wissen. Roberto verneinte es. "Ja, und uns einen Verfolger hinterherschicken bringt's nicht, wegen der Lidare und der Peilsendererkennung. Hätten die uns eine Wanze angehängt wüsste Umberto das schon. Ich gehe voll davon aus, dass Don Dario und Don Carlo ebenfalls darauf achten, dass ihnen keiner hinterherschnüffelt."
"Vor allem Don Carlo, dieser Technikfetischist", meinte Roberto. "Ich vergesse das nicht, dass der mir fast einen Trojaner-Stick untergejubelt hätte, der über einen kleinen Funksender verfügte, mit dem der mal eben den Rechner abhören konnte, an dem der Stick angeschlossen war. War nur gut, dass ich immer einen Sandkastenrechner laufen lasse, an dem ich geliehene oder gar geschenkte Sticks testen kann."
"Da kannst du mal sehen, wie wichtig das ist, was du machst, Robertino", lobte ihn Don Marcello.
"Ja, aber nur solange, wie keiner unsere Daten klauenkann", erwiderte Roberto. "Ich sehe das schon so, dass wir in zehn Jahren aufpassenmüssen, dass keiner mit sowas über eine Internetleitung Daten abschöpfen kann, über Mobilfunk zum Beispiel."
"Oh, wäre sicher sehr spannend, sowas zu haben", sagte Don Marcello.
Capo, wir sind jetzt ganz allein auf der Straße. Im Umkreis von fünf Kilometern kein verdächtiges Fahrzeug und auch keine Radaranlage", kam blechern die Stimme des vorne mitfahrenden Leibwächters aus der Sprechanlage. "Gut, Umberto, und die Luft?"
"Ein paar Nachttiere, womöglich Eulen, etwa zwei Kilometer von hier weg, nichts aus Metall oder anderem hartem Stoff", erwiderte Umbertos Stimme. "Gut, weiter aufpassen!" erwiderte Marcello.
Sie fuhrennicht auf direktem Weg zur alten Clarksonfabrik, sondern über Umwege. Dennoch erreichten sie die drei Fabrikgebäude weit vor jedem anderen.
"Die Umgebungsüberwachung hat keine verdächtigen Bewegungen oder Geräusche oder Funksignale erfasst, Capo", vermeldete Umberto, als die drei Wagen durch ein ferngesteuertes Tor auf das Gelände gerollt waren und so rangierten, dass sie ohne erst wenden zu müssen losfahren konnten. Sicher würden die anderen auch so vorausschauend sein.
"Und der Capo aus Philly hat dir nicht verraten, wie er hier ankommen will, Don Marcello?" fragte Roberto noch einmal. "Ich denke, er wird mit einem Privatjet auf einem der nicht so besuchten Flughäfen runtergehen und von da aus mit seinen Leuten herfahren", erwiderte Marcello Fraschetti. Roberto fragte, ob Zagallo nicht auch einen Hubschrauber hatte. Gerüchte behaupteten, dass er einen neuwertigen Armeehubschrauber als Hybrideinheit aus Transport- und Kampfhubschrauber hatte umbauen lassen.
"Falls der echt mit einem Heli hier anschwirrt sollte uns das sehr zu denken geben. Denn dann hätte er in jeder Flugsicherungszentrale zwischen Philadelphia und New York wen sitzen, der ihn durchwinkt und keine Flugbewegungsprotokolle von ihm übriglässt."
"Falls er nicht die Tarnbeschichtung der Airforce benutzen kann", sagte Umberto und prüfte noch einmal die mitgenommenen Waffen, eine Heckler & Koch, einen Armeedolch und einen Elektroschocker sowie Munition für die Pistole. Die anderen mitgereisten Leibwächter trugen offen sichtbare MPs und mehrere Magazine bei sich und waren alle im Nahkampf mit und ohne Waffen ausgebildet. Einige von denenhatten früher als Auftragskiller auf dem freien Markt gearbeitet.
Im Bürogebäude der Fabrik bezogen der Don und sein Anlageberater Stellung im Überwachungsraum mit dreißig Monitoren. Der dort tätige Wächter meldete, dass vor einer Stunde eine Winzlingseule über dem Gelände herumgeflogen sei, jedoch keine verdächtigen Signaturen wie Funksignale oder elektrische Felder aufwies. Der Vogel sei dann über das freie Feld hinweggeflogen und derzeit vier Kilometer entfernt, wo er mehrmals die Richtung wechselte.
"Und andere Nachtschwärmer?" wollte Marcello wissen. "Die meisten von denen hängen in ihren Bäumen und verschlafen die Nachtstunden", sagte der Überwachungstechniker. "Gut, Radarüberwachung zuschalten, Zufallsfrequenzwahl! Einfacher Suchmodus!" befahl Marcello. Lidare waren gute Abstandsmesser. Aber für breit angelegte Überwachungsaktionen taugte ein Radar doch mehr. Dessen Strahlung durfte nur nicht so stark sein, dass sie von unerwünschten Stellen angemessen wurde. Ihr Radar reichte zehn Kilometer weit und konnte alles vom Boden bis in 200 Meter Höhe erfassen.
"Ah, da sind die angekündigten Gäste, Capo." Er deutete auf zwei grün leuchtende Bildschirme. Auf diesen waren soeben die Vorderansichten von je zwei großen Autos pro Bildschirm aufgetaucht. Ja, und dann sahen sie noch, dass über einem der Wagen, so in hundert Metern Höhe, fünf kleinere Körper mitflogen. "Der hat einen Schwarm Drohnen über sich. Das kann nur Clever Charlie Moretti sein", lachte Marcello. Dann sahen sie noch, wie die fünf Flugkörper ausschwärmten. "Der wagt es, die Gegend zu sondieren, Capo. Sollen wir ihm das durchgehen lassen?" fragte der Überwachungstechniker.
"Und dem zeigen, dass wir seine Papierflieger schon auf dem Schirm haben, Micky? Nein, lassen wir ihm den Spaß, solange keiner dieser Brummer direkt auf eines unserer Häuser zusteuert. Weil das wäre dann wohl ein Kamikazeflieger und darf abgeschossen werden."
"Verstanden, Capo", erwiderte Micky der Techniker und behielt die ausgeschwärmten Drohnen oder Modellflugzeuge im Blick, während die anderen Wagen nun auf der Hauptstraße anrückten. "Kontrollschranke eins passiert, bleiben auf Kurs", vermeldete Micky, als ein leises Klingelzeichen ertönte. "Oh, unser Drohnenfreund hat seine Wagen runterbremsen lassen. Offenbar hat der unsere Laserschranke bemerkt."
"Davon darfst du sowas von ausgehen, Micky. Unser freund Carlo Moretti ist was Technik angeht noch verrückter als wir, liegt wohl daran, dass er seinen Doktor in Computerwissenschaften und Überwachungstechnik gemacht hat. Sicher hat der auch die Radarsignale bemerkt."
"Eine der Drohnen hat umgedreht und fliegt den befahrenen Weg noch mal ab", bemerkte Roberto. Micky bestätigte das. "Joh, der sucht die Laserschranke. Ach ja, gerade passiert Gruppe zwei Kontrollschranke zwei und ist damit im Videoerfassungsbereich und in Reichweite unserer MG-Nester, falls er uns dumm kommen will."
"Wird er nicht, Micky. Auch wenn Dario sich Dagger nennen lässt wird er nicht so blöd sein, einen von uns anzupinkeln, weil er dann trotz seines berühmten Arsenals und seiner Royal Rambos Krach mit uns und Charlie bekäme."
"Falls er nicht eine seiner angeblich gehorteten Atombomben mithat und uns alle mal eben in den Suborbit hochbläst", scherzte Umberto. Roberto Venuti konnte nicht so frei darüber lachen wie die anderen. Auch wenn Dario Minetti nicht zur ersten Liga der in New York ansessigen Familien gehörte eilte ihm der Ruf voraus, jede Waffe beschaffen zu können, die jemand haben wollte. Angeblich hatte einer seiner Kunden tatsächlich mal eine taktische Atombombe bestellt, nur um damit vor seinen Leuten angeben zu können. Ob er das Ding bekommen hatte wusste keiner. Doch Roberto wusste, dass für genug Geld jeder alles machte und was mit Geld nicht ging gelang mit Erpressung. Laut der seligen Donna Gina gab es keinen mächtigen Menschen auf der Welt, der nicht mindestens ein dunkles Geheimnis mit sich herumtrug, und wer ein großes Haus baute hatte auch genug Platz im Keller für die eine oder andere Leiche.
Okay, der neugierige Brummer hat unsere Kontrollschranke eins gefunden und dreimal gekitzelt. Jetzt surrt er wohl wieder zu Papa", kommentierte Micky das Verhalten der einen Drohne. "Ach ja, einer der Brummer hat gerade unser Heim gefunden und kreist über uns wie ein Aasgeier. Sollen wir rausgehen und winken?" fragte Micky.
"Es sind genug leute draußen und ... Häh?!" Marcello konnte seinen Satz nicht beenden, weil er gerade sah, wie die über dem Gelände herumkreisende Drohne von mehreren Leuchtspurgeschossen getroffen wurde und in einer Wolke aus Feuer und glühenden Trümmern zu Boden regnete. "Der wollte es wissen, Capo", sagte Umberto trocken. Roberto Venuti nickte. "Wird er uns wohl nicht in Rechnung stellen", fügte Don Marcello hinzu.
Achtung, erste Gruppe in Videoerfassungsbereich, also nur noch einen halben Kilometer von uns weg", vermeldete Micky und deutete auf einen der Bildschirme. Dieser zeigte die Falschfarbendarstellung der hochempfindlichen Wärmebildkameras. "Joh, da kommt Charlie mit seinem Cadillac und einem sehr verdächtig mit Antennen bestückten Jeep. Für eine schnelle Flucht eher ungeeignet."
"Geh davon aus, dass Don Carlo seine Autos aufgemotzt hat, Capo", warf Roberto unbedacht ein.
"Wird ihm nicht viel bringen, falls wir seine Wagen zerlegen müssen", meinte Marcello. Doch wenn die Wagen erst mal durch das Tor waren konnten die großkalibrigen MGs nicht mehr eingesetzt werden.
"Mooment mal, diese Winzeule kommt zu uns zurück, fliegt zwar schön weite Wedelbewegungen aus, hält aber generellen Kurs auf uns", sagte Micky. Dann piepte ein Warnton, und ein rotes Licht leuchtete auf. "Rotorgeräusche aus Nordwest, Sonarpeilung zwanzig Grad über dem Horizont, annähernd. Aber ich habe hier keinen dazu passenden Helikopter auf dem Radarschirm", sagte Micky.
"Infrarot?" fragte Marcello. "Öhm, ja, da ist was, aber viel zu schwach für einen Heli, gerade mal warm genug für einen Vogel wie die Eule, die übrigens jetzt zielgenau auf uns zufliegt."
"Eine Eule, die auf den laufendenMotor eines Helis zufliegt?" fragte Marcello. Auch Roberto kam das seltsam vor. "Lidarpeilung. Großes Flugobjekt im Sinkflug, jetzt gerade noch hundert Meter über Grund, hält Kurs auf den Platz für den ehemaligenLKW-Fuhrpark."
"Ein getarnter Hubschrauber", seufzte Roberto. Micky meinte dazu noch: "Ja, und mit einem verbessertenFlüsterantriebg. Die Rotoren flappen nicht einmal ein Zehntel so laut wie üblich, will sagen, das ist kein Teppichklopfer, sondern ein Grillkohlebelüfter", bemerkte Micky und schaltete auf den Wink Don Marcellos die Lautsprecher auf Außenmikrofone. Sie hörten das typische Schlagen von Rotorflügeln. Doch demnach war der dazu passende Hubschrauber wohl noch mehr als einen Kilometer weg. Tatsächlich aber setzte die Maschine schon zur Landung an, ohne irgendwen um Landeerlaubnis gefragt zu haben.
"Mit dem Gerät kannst du bei Don Vincenzo auf dem Golfplatz landen und den einsacken, bevor wer "Hubschrauber!" ruft", stöhnte Don Marcello. Alle hier erkannten, dass mit der Maschine nur einer ankommen konnte, ihr besonderer Ehrengast aus Philadelphia. Damit stand fest, dass dieser keine Angst wegen neugieriger Fluglotsen habenmusste. Ein für Radar völlig unsichtbarer, mit einer sehr guten Eigenwärmeabschirmung und einem völlig neuartigen Flüsterantrieb versehener Hubschrauber konnte einen wirklich überall hin- und somit auch überall rein- oder rausbringen. Roberto dachte an seinen Vetter Rinaldo, der wegen eines nicht genehmigten Drogengeschäftes im Hochsicherheitsgefängnis des Staates New York einsaß. Mit dieser fliegenden Kaffeemühle konnte man den locker beim Hofgang abgreifen und ganz frech winkend davonfliegen.
Heli gelandet. Alle Posten haben ihn im Visier", sagte Micky. Dann hantierte er an einem Kontrollpult und ließ den gelandeten Hubschrauber von vier Xenonscheinwerfern anstrahlen. Im grellen, bläulich-weißen Licht erschien der Hubschrauber als dunkelblau schimmerndes Rieseninsekt. Allen fielen die seitlich angesetzten Stummelflügel auf und vor allem, was darunter angebracht war. Dieses Insekt besaß auf jeder Seite mindestens vier tödliche Giftstachel. Zumindest konnte Roberto keine Raketen oder dergleichen erkennen.
Beide Gruppennun vor dem Tor", vermeldete Micky und bediente den Öffnungsmechanismus.Das wird den cleveren Charlie sicher sehr interessieren, einen bewaffneten Hubschrauber auf dem Hof zu sehen", feixte Marcello. "Kommt, Jungs, wir begrüßen die Gäste!"
"Moment, die Eule, die fliegt jetzt Kreise über dem Gelände", warnte Micky. "Also noch 'ne Drohne." "Dafür fliegt das Vieh nicht wie ein Flugzeug. Das schwingt die Flügel und strahlt die für Vögel übliche Eigenwärme aus, Capo."
"Trotzdem verdächtig", grummelte Marcello. Umberto, wir holen die Gäste zu uns rein. Wenn alle drin sind soll Rick das Tier abschießen, wenn es ein Tier ist."
"Eine abgerichtete Eule, aber die trägt nichts an sich, was als Spionagegadget dienen kann", sagte Micky.
"Vielleicht deineSchwiegermutter Mariella. Du sagst doch immer, die wäre 'ne Hexe", sagte Marcello verächtlich.
"Öhm, dann müssten die Jungs Kugeln aus geweihtem Gold oder Silber benutzen oder mit Flammenwerfern auf sie schießen", erwiderte Micky.
"Kriegen wir raus, wenn das Federvieh nach der Begrüßung immer noch da ist. Ich will vor den Gästen keine Ballerei veranstalten, sonst wollen die mitfeiern", sagte Don Marcello.
Mit gewissem Staunen und Argwohn sahen die vier Männer im Überwachungsraum, wie acht Männer dem Hubschrauber entstiegen, sechs davon in voller Kampfausrüstung mit schusssicherem Körperschutz und geschlossenen Helmen. Die sechs hielten schussbereite MPs in den Händen. ein weiterer Mann wirkte sehr athletisch und half dem achten, störungsfrei aus der Maschine zu klettern. Don Marcello und Roberto Venuti mussten genauer hinsehen, um es zu glauben. Der im schnieken Maßanzug gekleidete achte Mann sah wirklich aus wie der in den letzten Wochen in bestimmten Kreisen berühmt gewordene Ernesto Zagallo. Sein dunkelbraunes Haar lag glatt gescheitelt. Seine dunkelbraunen Augen blickten sehr interessiert auf die Gebäude der alten Fabrik. Doch das war kein Mann in den Vierzigern oder gar Fünfzigern. Wer da aus dem großen, schwarzen Hubschrauber gekommen war mochte gerade Ende 20 sein. Wie konnte so ein junger Mann so mächtig sein, dass er eine schlagkräftige Organisation führen konnte, welche die Familienstrukturen von Philadelphia auf den Kopf gestellt und nach seinem Bild neu geschaffen hatte?
"Was macht die Eule", durchbrach Marcello Fraschetti das Schweigen seiner Leute. Micky sah schnell auf die betreffenden Monitore. "Hat Höhe genommen und fliegt jetzt in mehr als 150 Metern über Grund, kann sie mit den Lidaren noch gut erfassen und habe sie auch im Zoom der auf den Dächern verteilten IR-Kameras, Capo."
"Das ist nie im Leben eine gewöhnliche Eule, Micky. Du bist dir vollkommen sicher, dass die nichts elektronisches am Körper trägt?"
"Kein Sender, keine Digitaluhr, kein Aufnahmegerät, Capo. Ich habe noch mal alle Fremdgeräterkennungsroutinen durchlaufen lassen, die wir von der Airforce abgezweigt haben. Geh bitte davon aus, dass Don Carlo die Eule auch schon gescant hat, wo der angeblich die Technik aus 2020 vorweggenommen hat."
"Gut, wenn alle im Besprechungsraum sind, die ich da reinlasse versuch das Federvieh runterzuholen, Micky, aber bitte nicht mit Getöse! Ich werde sicher alle MP-Träger draußen lassen. Löcher in den Innenwänden würde mir Raffaele sicher sehr übelnehmen."
"Kommt auf das Muster an, Capo", sagte Micky und nickte dann bestätigend. Er griff zu einem Mikrofon. "George, Roy, die seltsame Eule über uns anvisieren und wenn ich "Knallt sie ab" sage so schnell und präzise abschießen. Don Marcello will keine Vogelscheiße auf dem Dach."
"Geht klar, Mick, habe den Federwisch auch schon im IR-Zielgerät. Dein Wort und der Vogel beißt ins Gras", kam eine Antwort aus einem kleinen Lautsprecher.
"Die sechs Leute von Zagallo behagenmir nicht. Ich habe vier Leute und Umberto dabei, Carlo auch vier und seinen "Berater" und Dario drei und seinen Sicherheitsexperten. Wird schwer sein, denen klarzumachen, dass sie alle draußen zu bleiben haben. Roberto, gib mir die Unterlagen für den Jungen da draußen!"
"Capo, wir dürfen bloß nicht den Fehler machen, den zu unterschätzen", warnte Umberto und deutete auf den jüngeren Mann, der wie ein Kronprinz in Begleitung seiner Leibgarde vom Hubschrauber wegschritt. Da riss einer der sechs Begleiter die MP hoch und zielte irgendwo hin. Micky sog laut zischend Luft durch die zusammengebissenen Zähne ein. Dann sagte er: "Das Vieh muss intelligent oder gut abgerichtet sein. Vor allem ist es verdammt schnell. Es ist pfeilschnell weggeflogen, dass der Typ von Zagallo nur noch unter Beschädigung unserer Immobilie hätte treffen können. Gerade ist dieser Vogel hinter dem ehemaligen Großbauteilehaus runtergegangen, bleibt aber in der Luft."
"Gut, dass meine Jungs nicht die Nerven verloren haben", sagte Marcello und deutete auf einen Bildschirm, auf dem seine vier Objektschützer gerade wieder die Waffen senkten.
"Wieso macht eine Eule sowas? Das ist total unnormal", knurrte Umberto und bekam ein zustimmendes Nicken von Micky zur Antwort.
"Sage George und Roy, die sollen ihre Langstreckenbüchsen mit dem lauten Zeug laden und die sechs Begleiter von Don Ernesto im Blick behalten!" Micky führte den Befehl des Capos aus.
"Roberto, gib mir deine Unterlagen und verrate mir nötige Passwörter! Du bleibst mit Micky hier! Ich will keinen unnötigen Krach mit deinem Vetter kriegen", sagte Don Marcello. Roberto verstand. Starb er wegen dieses Treffens, verloren die Venutis einen wichtigen Draht ins New Yorker Finanzwesen. Selbst ohne die große Donna Gina und ihre Sondereinsatztruppe konnten die Venutis noch unangenehm zurückbeißen, wenn sie mussten, und eine Vendetta war ein sehr wichtiger Grund für sowas.
Roberto übergab dem Capo seine Aktentasche und verriet ihm die Kombination für die drei Schlösser. Dann diktierte er noch ein zwanzigstelliges Passwort zum entsperren des USB-Sticks und stellte klar, dass die darauf gesicherten Daten erst mit Schlüssel 3 entpackt und dann noch mit Schlüssel 7 lesbar gemacht werden mussten. Bei Verwendung einer falschen Entschlüsselung wurden die Daten unbrauchbar. Marcello Fraschetti fragte ihn, warum es so kompliziert sein musste. "Bis zu unserem Treffen musste ich auf der Hut sein, dass die Daten nicht gestohlen werden. Die Papiere allein geben nur aufschluss über die Kontakte, aber nicht über die bereits getätigten Finanztransaktionen. Die finden sich nur auf dem Stick", erwiderte Roberto Venuti. Ihm war es nicht wirklich genehm, dass er seinen eigenen wichtigen Beitrag zu diesem heiklen Treffen aus der Hand geben musste. Doch er verstand die Besorgnis des Capos.
Don Marcello verließ mit Umberto den Überwachungsraum. "Mach ganz dicht, Micky", gab er dem Techniker noch mit, bevor er die sorgfältig geschreinerte Edelholztür von außen schloss. Micky drückte zwei Tasten und sagte: "Vollverschluss Alpharaum!" Daraufhin rasselte es in der geschlossenen Tür. Keine halbe Sekunde später glitt eine fünf Zentimeter dicke Stahlplatte von der Decke herunter und versank in einer sich auftuenden Bodenspalte, bis die Tür von dieser Seite aus nicht mehr zu sehen war. Roberto hörte, wie das bisher unauffällige Säuseln der Klimaanlage etwas lauter wurde und fühlte ein leichtes Drücken auf den Ohren.
"Draußen ist gerade eine gleichdicke Panzerwand vorgelegt worden, die aber wie eine gewöhnliche Wand aussieht. Dieser Raum ist ein ABC-Schutzbunker, wenngleich der einen atomaren Volltreffer wohl nicht überstehen würde. Aber Giftgas und Killerviren kommen hier nicht mehr rein, wenn der Vollverschluss hergestellt ist, allein schon, weil der Luftdruck gerade um zehn Prozent angehoben wurde", kommentierte Micky. "Ihre Bank hat uns sehr gute Kontakte für die Renovierung dieser alten Anker- und Laternenschmiede verschafft."
"Im Klartext heißt das aber, dass wir zwei jetzt hier hocken, und draußen die Welt untergehen kann", erwiderte Roberto und sah auf die eingeschalteten Bildschirme. Micky nickte. "Der Raum hat eine eigene Stromversorgung für zwei volle Wochen und eine dito Frischluftversorgung und Co2-Filterung. Mit dem Raum könnten wir glatt zum Mond und zurück ffliegen."
"Ja, und unterwegs verhungern, verdursten und an den eigenen Ausscheidungen ersticken", warf Roberto ein. Micky deutete auf drei scheinbare Geräteschränke und dann in eine Nische, die Roberto bisher nicht gewürdigt hatte. Dort hatten sich während des Verschlussvorganges zwei milchgläserne Kabinen offenbart, eine zum duschen und die zweite für andere Bedürfnisse. Roberto fragte sich insgeheim, ob sein Schutzherr ein wenig paranoid war, einen derartigen Schutzraum geordert zu haben. Doch irgendwie waren alle die Macht hatten irgendwo ein wenig paranoid. Wer viel hatte konnte viel verlieren, ob Geld, Macht oder Ansehen, wusste Roberto auch aus der Erfahrung mit schwerreichen Kundinnen und Kunden.
"Mick, ich les gerade, dass du alle Schotten dichtgemacht hast. Wollte der Capo das so?" fragte eine Stimme aus einem Lautsprecher. Micky ging an das Mikrofon und bestätigte es. Zur Untermauerung ließ er die Anweisung des Capos noch einmal aus einem Tonaufzeichnungsspeicher wiedergeben. "Gut, Roy, Sam und ich bleiben dann in Raum Beta. Sollen wir den auch ganz zumachen?" "Öhm, habt ihr das noch nicht? Dann macht das mal subito presto, wie der Capo sagen würde."
"Wird gemacht, Mick", erwiderte die Stimme.
"Ich geh davon aus, dass wir nicht mithören können, was die vier besprechen, richtig?" erkundigte sich Roberto, der sah, wie Don Marcello sich mit den anderen vor dem Bürohaus der scheinbar leerstehenden Fabrik traf und jeden höflich und ehrerbietig begrüßte.
"Kommt darauf an, wo Don Marcello das Treffen steigenlassenwill. Wir haben die Bibliothek und den Speisesaal. In der Bib besteht absolute Lauschabsicherung und keine Kamera. Im Speisesaal hängen zwei Einwegbilder, hinter denen Kameras für Normal- und Infrarotaufnahmen verbaut sind, und in den Tischbeinen sind hochempfindliche Mikrofone verbaut. Ich warte jetzt drauf, wo der Capo die Gäste hinführen will", sagte Micky und wartete hinter einem Mikrofon. Er setzte einen kabellosen Bügelkopfhörer auf und lauschte. Roberto sah die vier Capi und ihre Leibwächter an. Die Beschützer belauerten einander. Hier galt, wer zuerst schießt, stirbt noch vor dem ersten Treffer. Roberto mochte diese Atmosphäre überhaupt nicht. Auch wenn er bei seiner Großtante zu Besuch war und die "geschätzte Nachbarn" zu Gast hatte war ihm die ständige Kampfbereitschaft der Leibwachen immer auf den Appetit geschlagen, sehr zum Verdruss seiner großzügigen Großtante.
"Ah, Speisesaal", flüsterte Micky über das verstärkte Luftumwälzersäuseln hinweg. "Rod, Pete und Sally, Alle Gedecke in den Speisesaal bringen!" gab er die Information an irgendwo im Haus verteilte Leute weiter. Die Antwort bekam Roberto nicht mit, weil er keine Kopfhörer trug. Er sah nur, wie Micky nach der für ihn hörbaren Bestätigung einige Schaltungen vornahm. Dann drehte er sich auf seinem bequemen Schreibtischstuhl zu Roberto um und sagte: "Don Marcello möchte also doch was für die Chronik haben. Ich gebe Ihnen gleich auch einen Satz Infrarotkopfhörer zum mithören. Könnte ja auch für Sie wichtig sein." Roberto beherrschte sich sehr, um seine große Erleichterung nicht zu zeigen. Er sah zwei bis dahin dunkle Bildschirme aufleuchten und bewunderte die sehr hohe Bildqualität. Dann bekam er auch einen drahtlosen Bügelkopfhörer und setzte ihn auf. Mit einem kleinen Schiebeschalter knipste er die Kopfhörer an. "Die Akkus halten sechs Stunden, wenn Sie die Wiedergabe nicht zu laut drehen", sagte Micky. Roberto nickte nur und setzte sich so, dass er die beiden zusetzlichen Bildschirme genau im Blick hatte, aber auch mitverfolgte, was vor den Haustüren ablief. Offenbar mussten sich die Capi darauf einigen, welche von ihren Männern mit ins Haus durften. Vor allem sollten die, die mit reingingen ihre Schnellfeuerwaffen an die jeweiligen Kollegen vor der Tür abgeben. Roberto ging davon aus, dass die direkten Leibwächter immer noch ausreichend bewaffnet waren und wie Umberto alle waffenlose Kampftechniken beherrschten.
"Mick, die Eule segelt wieder herunter und geht in einen Orbit über dem Bürohaus", hörte Roberto die Stimme eines der irgendwo im Haus verborgenen Sicherheitsleute.
"Der Vogel ist mir im Moment egal, solange der keinen Sprengstoff im Leib hat, Roy. Haltet besser die vier Typen aus dem Heli im Visier!"
"Geht klar, Mick", erwiderte die Stimme von gerade eben aus dem Lautsprecher und den Kopfhörern. In diesen alleine erklang nun das Geräusch von vielen Schritten. "Yo, Ton ist auch da", sagte Micky und drückte einen kleinen Knopf unterhalb der Konsole. "Fans, die Schau fängt an", kommentierte er, als erst Don Marcello und dann die anderen Capi mit ihren Personenschützern durch die gut sichtbare Tür eintraten.
"Ja, schon nobel, was in so einer Ruine alles geht", meinte der Leibwächter Zagallos. Dieser nickte seinem Untergebenen zu, sagte aber nichts.
"Öhm, die Fenster da sind aber nicht blickdicht, oder?" fragte Don Carlos Leibwächter. Don Marcello griff eine kleine Fernbedienung vom blütenweiß gedeckten Tisch und drückte eine Taste daran. Sofort wurden alle Fenster schwarz und das leise Surrenund Klappern herunterfahrender Rollläden erklang. Dann erstrahlte das Licht eines Deckenfluters und warf ein schattenfreies Licht in den Raum.
"Ich darf Sie alle noch einmal recht herzlich in meinem bescheidenen Außenposten begrüßen", setzte Marcello in bestem Italienisch an. Da fragte ihn Carlo, ob der Raum abhörsicher sei und ob es hier kameras gebe. Don Marcello deutete durch den Raum und lud alle ein, sich zu überzeugen, dass hier nichts unerwünschtes verbaut war. Roberto sah, wie zwei Wächter genau vor die Kameras traten und was wegnahmen. Sie blickten genau in die Aufnahmelinsen, ließen dann was immer wieder an seinen Platz zurückklappen und zogen sich zurück. "Und, eine Kamera oder sowas ähnliches gefunden?" fragte Marcello. Die beiden Suchenden schüttelten ihre Köpfe. Roberto fragte sich, ob die zwei noch für ihren Job taugten, wenn sie derartig blind waren. Da grinste ihn Micky an. "Den Gag bringt der Capo immer, wenn er Leute in den Speisesaal bestellt. Alles eine Frage der Beleuchtungsfrequenz und Phasenabstimmung. So spricht Arthur C. Clarke: Genügend fortgeschrittene Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden."
"Achso, und ich dachte, das war Tolkien, der gesagt hat, dass mit ausreichend Magie keine Maschinen benötigt werden", erwiderte Roberto. Natürlich verstand er, was Micky amüsierte. Durch eine für die Augen nicht mehr wahrnehmbare Frequenz in der Beleuchtung wurden die noch vor den Kameras angebrachten Sichtfolien so hell, dass keiner die Kamera dahinter sah, diese aber in der korrekten Abstimmung mit dem Licht alles glasklar aufnehmen konnten.
Nun setzten sich alle hin. Carlo erwähnte, dass sein Mobiltelefon nicht mehr ging und er irgendein Breitbandstreusignal auffing, dass sämtliche Funkfrequenzen und auch sein Warngerät für Wanzen und andere Spionagegeräte überlagerte. "Du möchtes doch sicher nicht über dein eigenes Mobiltelefon abgehört werden, Don Carlo", erwiderte Marcello. Roberto grinste über diese Antwort. So konnte Carlo mit seinen eigenen Gadgets die im Raum verbaute Überwachungstechnik nicht orten.
Nachdem die vier Männer aus der Küche eine Flasche Wein für sich und eine große Flasche edles Mineralwasser für ihre treuen Bewacher geordert hatten kam der Gastgeber auf den Kern dieser Zusammenkunft. Roberto hörte zu, wie Marcello sich respektvoll bei den anderen bedankte, dass sie es hatten einrichten können, herzukommen. Dann beglückwünschte er Don Ernesto zur erfolgreichen Stabilisierung der Geschäftsstrukturen in Philadelphia nach dem Wegfall der Campestrano-Familie. Dann legte er sein Angebot für eine gleichrangige Zusammenarbeit vor und gestattete den beiden anderen Capi, ihre Vorschläge und Angebote zu machen. Dario bot Ernesto Zagallo den Zugang zu einem arabischen Waffenmakler an, der Kunden belieferte, die von Regierungen aus dem Westen keine Waffen erhielten. Carlo brachte die von ihm ganz legal geführte Medien-und Softwarefirma ins Spiel, die eine hochverschlüsselte Verständigung und heimliche Satellitennutzungszeiten zu bieten hatte. Zagallo hörte sich das alles in Ruhe an. Dann straffte er sich. Micky und Roberto sahen gespannt auf die Monitoren.
"Es freut mich ganz außerordentlich, dass ihr drei an mich gedacht habt, als ihr beschlossen habt, einen wirklich starken Verbündeten zu suchen, wo ihr von den großen neun doch bisher am ganz kurzen Gängelband gehalten wurdet. Ich kann auch verstehen, dass ihr euch von denen losmachen wollt. Klar, wer weder einen langen Stammbaum und damit einhergehend viel Familie im Rücken hat, das Kapital nicht in echte Gewinnchancen, sondern Spielsachen für große Jungs investiert und euer Personal nur durch besonders hohe Löhne und nicht durch Blutsbande und Loyalität halten könnt, müsst ihr natürlich wen finden, der das alles kann. Oh, guck mich nicht so verdrossen an, Charlie. So clever sie dich einschätzen, so hilflos bist du. Deine vier Waffenträger sind die einzigen, die wohl nicht schreiend weglaufen, wenn einer "Buh!" macht. Ansonsten umgibst du dich doch nur mit Nerds und Sesselpupsern, wie du selbst einer bist. Dass du überhaupt noch auf dem Sportplatz der großen üben darfst liegt doch nur daran, dass die von dir zugegeben sehr geniale Datenverschlüsselungsprogramme kriegen können, wenn sie dich freundlich bitten. Ja, und was dich angeht, Dario Minetti genannt Dagger Dario, Dein Ding mit der Atombombe hat sich auch bis zu uns in Philly hochgesprochen. Hat dir offenbar die Jahresbilanz gerettet, wenn ich auch sehr gespannt bin, wie du diesen Handel in den Büchern belegt hast, falls Onkel Sam doch mal meint, bei dir Inventur zu machen. Sicher, du hast eine Hand an vom Laster fallende Lenkwaffen und kennst wen, der wen kennt, der ausrangierte Kampfjets einhandelt und über dich weiterverticken kann. Doch sonst bist du personell ziemlich unterbesetzt, und dein seliger Großvater bei Sant Alfio hat lieber deinen Onkel Ettore zu seinem Nachfolger gemacht als dich. Wenn also hier was anbrennt kommt keiner von denen zum Löschen rüber. Musst du alles mit den zwanzig Männern und vier Frauen erledigen, die du mit viel Geld in der Spur halten musst. Glotz nicht so angepiekst, Dario, wir sind hier unter uns. Da dürfen wohl auch mal wahre Dinge auf den Tisch." Die drei hiesigen Capi sahen den jüngeren aus Philadelphia überaus verärgert an. Auch deren Leibwächter saßen bis in die letzte Muskelfaser angespannt da und behielten ihre Widerparte im Blick. Dann sagte Marcello:
"Ja, und was möchtest du mir unter die Nase reiben, dass ich bereuen sollte, mit dir gesprochen zu haben, Don Ernesto?"
"Dass du nur deshalb noch im selben Speisesaal mit den großen neun mitessen darfst, weil du mit dem Venuti-Clan so gut klar kamst und den Großneffen der so plötzlich dauerhaft verreisten Donna Gina unter deinen Fittichen hältst, weil er deine Version von der Gans ist, die goldene Eier legt. Du möchtest mir großzügig vier oder fünf von diesen Goldeiern verkaufen, damit ich dir eine Weihnachtskarte schicke und mich bereithalte, falls die ganz großen beim aufstehen den Katzentisch umwerfen, an dem sie dich geparkt haben. Ja, und ihr meint alle drei, dass ich mit meinem Lupinetto den ganzen Weg von Philly hier hingeflogen bin und teures Kerosin verquirlt habe, um zu hören, wie toll ihr mich alle findet und dass ihr mir ein wenig von euren letzten Errungenschaften abgebt, um damit anzugeben, dass ihr mit Mr. Z, dem starken Mann aus dem Norden, befreundet seid? Könnt ihr voll vergessen! Wenn ich meinen wertvollen Hintern in einen Heli wie den Lupinetto verfrachte dann nur, wenn ich was dabei gewinnen kann. Es ist nett, dass ihr mir ein wenig von euch erzählt habt. Aber das wusste ich alles schon, sonst wäre ich nicht hergeflattert. Was ich will ist eine 75-prozentige Aktienmehrheit an jeder eurer Firmen. Ihr dürft sie dann für mich weiterführen, aber die Ansagen kommen dann aus Philly und nicht mehr aus euren Vorzeigehäuschen in Manhattan. Und ihr habt nur noch eine Dreiviertelstundezeit, mir diese Mehrheit zu überschreiben und mit eurem Blut zu schwören, mich als euren gemeinsamen Capo anzuerkennen, sonst fliege ich mit meinem Heli ab und ihr bleibt hier, bis die großen neun euch aufkehren und euch zusammenpuzzlen, wenn ihnen mal langweilig werden sollte."
"Bis hier hin, Don Ernesto. Uns war klar, dass du noch sehr berauscht von deinen Erfolgen bist. Aber das erlaubt dir nicht, so respektlos mit uns umzuspringen", schritt Marcello ein und bekam von allen ein Nicken. "Wir haben dir die Hand zur Freundschaft hingestreckt und du willst sie mit allen Fingern abbeißen. Aus reiner Höflichkeit erlaube ich dir, für deine überzogenen Forderungen und die offene Drohung um Verzeihung zu bitten. Auch wenn ich nur für mich sprechen kann ..."
"Was du gerade tust, Marcellino", erwiderte Ernesto, es nun endgültig an jedem Respekt fehlen lassend. "Die kleine Aktentasche da, die dir dein Geldbote überlassen hat, um mich freundlich zu stimmen, die nehme ich schon mal als Anzahlung auf eine Lebensversicherung", sagte Ernesto und wollte nach der Aktentasche vor Marcello langen. Dieser zog sie aber zurück und sagte mit einem Ausdruck höchster Entschlossenheit: "Was da drin ist ist nur was für Männer, nicht für zu groß geratene Kinder, Ernesto. Wenn du die Tasche zu öffnen versuchst wird alles was drin ist mit Schwefelsäure übergossen und unbrauchbar, hat mein Geldbote mir sehr unmissverständlich mitgegeben. Nur ich kann die Tasche aufmachen und rausholen, was drin ist. Du bist mit deinem Bewacher in der Unterzahl. Geht er mich dumm an, spülen meine leute ihn im Klo runter und füttern die Ratten im Kanal mit seinen Überresten. Also hör gefälligst auf, so spätpubertär herumzukaspern! So groß bist du auch wieder nicht, Jungchen."
"Soll ich, Capo?" fragte der von Zagallo mitgebrachte Leibwächter. Doch Ernesto winkte ab. "Don Marcello darf alles sagen, was ihm beliebt, Renzo. Das gehört sich so bei Todgeweihten."
"Genau deshalb redest du auch so respektlos daher, Ernesto", warf Dario ein. "Oder glaubst du echt, die großen neun wüssten nicht, was heute abend hier abgeht. Du hast was von einem Gängelband gesagt, an dem sie uns führen. Aber genau das willst du uns anhängen, kein Band, sondern Eisenkettenmit zentnerschweren Kugeln dran. Denkst du, die großen neun ließen sich unsere fachlichen und personellen Möglichkeiten von einem Emporkömmling aus der Hand nehmen, der doch nur eine Marionette von wem anderem ist?"
"Auch du, mein sohn Brutus", knurrte Ernesto.
"Sehe ich so aus, als müsste ich noch in Windeln kacken, Ernesto. Denn so unausgereift du aussiehst könntest du gerade mal ein Baby zum Sohn haben, und das bin ich garantiert nicht mehr", entgegnete Dario auf den als Drohung umgewidmeten Ausspruch Cäsars kurz vor seinem Tod. "Don Marcello hat vollkommen recht. Du bist zu klein, um was wichtiges zu machen. Sage denen, die dich Witzfigur auf die Bühne geschickt haben, wir verhandeln nicht mit geistigen Spätentwicklern, sondern mit wirklichen Machthabern, auch im Namen von Don Vincenzo und Don Silvio. Ja, du kannst die gerne anrufen, falls don Marcello dich noch mal aus diesem Raum hinauslässt. Wir alle hier wissen, dass jemand ganz mächtiges dich in Philly auf den Trhon gehievt hat, nicht deine Familie. Die ist froh, dass du hier in den Staaten keinen Hungerleidest. Wer immer diese Leute sind, denen du deinen raschen und geräuschlosenAufstieg verdankst, die dürfen sich gerne mit uns in Verbindung setzen. Aber dich brauchen wir nicht mehr. Tut uns leid, dass du unseretwegen deinen schönen großen Hubschrauber beansprucht hast. Du kannst gerne wieder damit zurückfliegen. Oder sollen wir dir ein Taxi zum Flughafen rufen, damit du mit der nächsten Inlandsfluggesellschaft nach Philly zurückkommst?"
"Nur weil du dieses Ding mit der Bombe geschafft hast heißt das nicht, dass du unentbehrlich bist, Dario. Mein Leibwächter könnte dich hier und jetzt abknallen und die zwei anderen auch, ohne dass ihm oder mir was passiert. Denn wir stehen unter einem mächtigen Schutz, wohl wahr. Aber ich darf mein Ding machen, und das heißt heute: Ihr gebt mir eure Firmen, und zwar nun 99 Prozent der Anteile und Gewinne, oder ich lasse nicht mal mehr was zum Puzzlen von euch übrig." Er sah auf seine Uhr. "Ab jetzt noch zweiundvierzig Minuten. Habe ich dann nicht alles von euch, was ich will, einschließlich der Kombination für den kleinen Koffer hier, fliegenRenzo und ich wieder weg und lassen euch drei Auslaufmodelle in den Trümmern dieser Pleitefirma zurück. Dann werde ich mir von Philly aus ansehen, wer euch beerbt und mit denen neu verhandeln. Vielleicht lasse ich auch sowas los, dass ihr versucht habt, einen der großen neun abzuzocken, damit der die absolute Nummer eins von New York wird. Das wird dann auch sicher lustig. Auf jeden Fall kriege ich was ich will."
"Sagt wer, der Teufel?" fragte Don Carlo. "Falls ja, Bürschchen, weißt du garantiert, dass der Gehörnte immer mehr verlangt als er gibt. Für den sind Reichtum und Wohlstand kleine Almosen, wenn er dafür deine unterentwickelte Seele kriegt."
"Ihr habt überhaupt keinen Dunst, wen ich kenne und mit wem ich Geschäfte mache", schnaubte Ernesto. Seine Drohungen verfingen hier nicht. Kunststück, dachte Roberto, er war schließlich nicht in seinem eigenen Revier.
"Dann klär uns mal auf, damit wir wenigstens nicht dumm sterben, wenn du uns alle in die Luft jagen willst", feixte Dario. "Apropos, wer mich umbringen will fliegt keine zwei Sekunden nach meinem letzten Herzschlag hinterher oder saust mit mir zusammen die rabenschwarze Rutsche zur Hölle runter." Er deutete auf seinen scheinbar vom Wohlstand geformten Kugelbauch. "Hast gedacht, ich sei ein dicker träger alter Zausel wie? Nix daa, Jungchen. Das ist der neuste Plastiksprengstoff, speziell so gemacht, dass auf Sprengstoff abgerichtete Hunde den nicht erschnüffeln können und mit den nötigen Zündern an meinen Herzschlag gekoppelt. Setzt es aus, weil ich mich zu sehr aufrege oder knipst mir wer trotz kugelsicherer Unterwäsche das Lebenslicht aus macht es bumm und alles im Umkreis von hundert Metern verteilt sich an allen Wänden, der Decke und über den Boden. Glaubst du ernsthaft, Ernestino, ich würde mich einem Burschen ausliefern, der so gründlich und rigoros den Chefsessel in Philadelphia besetzt hat? Und was wir über die großen neun sagten solltest du auch bedenken. Ja, wir sind vielleicht nicht die größten hier. Aber wir sind sehr gute Zahnräder im Getriebe. Knirscht es darin, schicken die wen, der nachguckt, warum es knirscht. Ja, und wenn wer was beschädigt hat gilt die Hausmeisterregel: "Wer was kaputt macht muss es bezahlen." Spätestens dann werden deine Puppenspieler dich in die nächste Tonne kloppen, die sie finden und ja zusehen, dass die Müllabfuhr dich erst in zwanzig Jahren findet."
"Wer markiert hier jetzt den dicken Maxen?" schnaubte Ernesto Zagallo. Dann deutete er auf seinen Leibwächter. "Nimm die Tasche. Die kriegen wir zu Hause schon auf."
"Schön die Pfoten lassen, wo sie sind, Renzo", sagte Marcello und zog die Aktentasche näher zu sich. "Wenn du mich jetzt angrabschst hat mein Begleiter das Recht, dich zu erschießen." Umberto zog bereits seine schwere Armeepistole frei. Auch die Wächter der beiden anderen Capi zogen ihre Handfeuerwaffen. "Ich brauche nur laut zu rufen, und meine Männer machen Hackfleischsoße aus euch", knurrte Ernesto.
"Ich habe glaube ich gerade gesagt, dass dieser Raum unabhörbar ist, was auch heißt, dass er schalldicht ist. Oder warum meinst du, habe ich alle Fenster verriegelt?" erwiderte Marcello und zog die Tasche nun ganz nah an seinen Körper. Renzo sah seinen Capo an. Dieser deutete auf die Tür. "Komm, wir gehen. Wer uns aufhält wird die Nacht nicht überleben. Die Zeitläuft schließlich noch."
"Du möchtest nach hause, kleiner Ernestino", feixte Don Dario. Carlo legte nach: "Natürlich muss Cinderella nach Hause, bevor der Hubschrauber wieder zu einem leeren Pizzakarton wird, bis zwölf ist ja nicht mehr lange hin."
"Für euch Verlierer ist es schon eine Minute vor zwölf", schnaubte Ernesto. "Wenn ihr demnächst von meinen geflügelten Boten Besuch bekommt wird keiner mehr nach euch fragen. Oder was meint ihr, warum ich in Philly die absolute Nummer eins geworden bin?"
"Weil Kevin gerade nicht allein zu Haus war?" versetzte Don Carlo.
"Jungs, mein Lupinetto kann diese alte Fabrik in einer Minute zu feinem Sand und Asche zerschießen, ist euch das echt nicht klar?" knurrte Ernesto Zagallo, der irgendwie nicht wusste, wie er die Lage für sich entscheiden konnte. Denn die Aussicht, dass die drei doch mit den großen neun zusammengingen verhieß sicher mehr Ärger als Gewinn. Doch er zählte offenbar auf die Pfeiler seiner Macht. Dario sagte dann noch: "Meine Jungs haben die Zielkoordinaten aller Häuser und Bordelle, in denen du dich im letzten Halbjahr herumgetriebenhast. Ich habe vor kurzem einen Posten alter Marschflugkörper erstanden. Die sind vielleicht nicht der neueste Stand, aber können einem immer noch den Tag versauen. Und tschüs!" sagte Dario und deutete auf die Tür.
"Die wollen es nicht anders, Renzo. Also rücken wir ab!" schnaubte Ernesto. "Betet schon mal. Hoffentlich könnt ihr noch Amen sagen, bevor ihr mit eurem Herrgott persönlich zusammentrefft. Ach neh, der gewährt nur Gewinnern Audienz, genau wie sein Konkurrent mit den Hörnern. Ebenfalls und tschüs!" sagte Ernesto und schickte seinen Wächter vor, die Tür zu öffnen. Als dieser den Türknauf drehen wollte zuckte er funkensprühend zusammen und fiel einfach um. Ernesto starrte auf dieses unheimliche Schauspiel und grinste dann. "O Mann, ihr meint echt, ich ließe mich von sowas einschüchtern", sagte er und griff selbst nach dem Türknauf. Funken umsprühten ihn. Doch er schien weder Schmerzen zu verspüren noch umzufallen. Allerdings drehte sich der Türknauf auch nicht.
"Wer hier wieder raus will, der mich vorher dumm angemacht hat, wird mit seinem Blut und bei der Ehre der Bruderschaft schwören, mich als seinen Wegführer anzuerkennen, Ernesto Zagallo", sagte Marcello. Roberto fühlte, wie seine Haare unter dem Kopfhörerbügel zu Berge standen. Irgendwie hatte er das sehr ungute gefühl, dass Don Marcello trotz aller Warnungen, Ernesto nicht zu unterschätzen, gerade eine feuerrote Linie überschritten hatte. Da griff Ernesto blitzschnell in die Außentasche seines hellen Anzuges und zog eine ausgewachsene Maschinenpistole hervor. Micky und Roberto staunten ebenso darüber, wie diese große Waffe in die kleine Tasche gepasst hatte und diese nicht einmal ausgebeult war. Diese eine Überraschungssekunde nutzte Ernesto aus, richtete die Waffe in den Raum hinein und drückte ab. Die Waffe war schallgedämpft. Doch als die Geschosse einschlugen krachte es wie eine Wagenladung Feuerwerk. Die drei Capi und ihre Leibwächter hatten keine Chance. Zwar hatten Umberto und Carlos Leibwächter noch ihre Waffen auf Ernesto abgefeuert. Doch der schien genauso kugelfest wie stromunempfindlich zu sein. Er stand da und bestrich alles oberhalb der Sitzflächen mit seiner Waffe. Dabei fielen auch die Kameras hinter den Bildern aus, und auch die Mikrofone versagten mit einem kurzen lauten Knacken und einem für eine Zehntelsekunde in den Kopfhörern schallenden Zischlaut.
"Scheiße, Leute, Alarmstufe Violett!" rief Micky in das Mikrofon. Dann donnerte eine heftige Explosion. Der Raum erzitterte, auf den Monitoren erschinen feuerrote Warnmeldungen. Ein unheimlich tiefer Ton dröhnte in den Wänden. Ein ebenso unheilvolles Poltern klang wie ein Vorgeschmack des Weltunterganges zu den beiden Männern in den Überwachungsraum.
"Das gibt es nicht. Das träume ich gerade nur", keuchte Roberto und kniff sich in den rechten und in den linken arm. Doch der Schmerz verriet ihm, dass er leider nicht träumte. Gerade wurde das Beben stärker. Auf den wild flackernden Bildschirmen sah Roberto die unscharfen Bilder der draußen postierten Wächter. Diese eröffneten das Feuer aufeinander. Dann belferten auch noch die Waffen des Hubschraubers los. Keine Sekunde darauf fielen alle Kameras aus, die den Landeplatz der Maschine im Blick hatten. Ein schnelles, lautes Krachen ertönte. Gleichzeitig blinkten mehrere Monitore auf und zeigten Listen von Schadensmeldungen. Roberto nahm die nutzlos gewordenen Kopfhörer ab und sah, wie Micky die Monitore überflog. Er blieb erstaunlich gelassen, als bekomme er jeden Tag die Vernichtung seiner Heimatbasis zu sehen. Von draußen drang indes das Krachen und Poltern einstürzender Bauelemente herein. Der Überwachungsraum erzitterte. Auf einem kleinen Kontrollbildschirm stand "Basis vor der Vernichtung. USV 1 und 2 tätig, verbleibende Ausharrungszeit 13 Tage, 22 Stunden, 59 Minuten und 40 Sekunden."
"Hier fliegt gerade die große Zugangsluke von der Hölle, Mr. Venuti", sagte Micky, während die Musik der totalen Vernichtung mal leiser und mal lauter zu ihnen hereinscholl. Gerade erschütterte der Einsturz des nächst höheren Stockwerks den geschützten Raum. Doch Licht und Luftversorgung blieben standhaft in Betrieb. Nur auf den Außenüberwachungsbildschirmen war nur noch ein formloses Grau zu sehen. "Beta für alpha kommen!" rief Micky ins Mikrofon.
"Hier beta, Micky, uns fällt alles auf den Kopf. Was war los?" erwiderte eine Stimme aus dem Lautsprecher.
"Die haben sich gezankt. Dann wollte der junge Capo weg. Don Marcello hat die Tür zugehalten und sogar noch Strom draufgelegt. Wusste nicht, dass er das mit der Tür machen kann. Jedenfalls hat es den Leibwächter Zagallos von den Beinen geholt. Zagallo selbst hat dann, frag mich bitte nicht wie, eine ausgewachsene Mac 10 aus einer kleinen Außentasche seines Saccos gezogen und damit auf alles und jeden geschossen, der im Raum war. Bildausfall, dann lauter Knall. Offenbar hat Don Dario nicht geblufft, als er von einer am Körper getragenen Sprengladung erzählt hat. Und ihr?"
"Wir haben nach dem Servieren der Getränke alle zu uns reingeholt und dann ganz dicht gemacht, Mick. Wir sind alle noch da. Aber die Fabrik zerfällt offenbar gerade."
"Ja, weil dieser schwarze Brummer von Zagallo, wo immer er jetzt auch ist, das Feuer auf die Außenposten und dann auf das Gebäude eröffnet hat. Wusste nicht, dass der mit Sprengmunition bestückt ist, wo jedes Geschoss wie eine kleine Handgranate wirkt. Hoffen wir mal, dass der Raum hier standhält und ..." Rums! Wie auf ein Stichwort krachte etwas großes, schweres über Micky und Roberto Venuti zusammen.
"Okay, ich glaube, jetzt kommt erst mal nichts mehr runter", sagte Micky ganz ruhig, als sei das alles nicht so schlimm, dass mal eben Tonnen von Beton und Schutt über ihnen zusammengekracht waren. "Beta für Alpha kommen!"
"Hier Beta. Soll ich die Überwachungsdrohne starten, die einen Kilometer weit weg ist?"
"Bloß nicht. Wenn die Funksignale auffangen haltendie noch mehr drauf", erwiderte Micky. Warten wir erst mal eine Viertelstunde."
"Hast wohl recht. Aber ohne Ausguck ist's voll langweilig", erwiderte die Stimme aus dem Lautsprecher. Roberto wunderte sich, dass die Verbindung überhaupt noch stand.
"Ich glaube es hört auf zu belfern. Was jetzt noch rumpelt sind nachrutschende Trümmer", meinte Micky eine Minute später.
"Oder die warten drauf, ob sich noch wer raustraut", argwöhnte Roberto, den die Gelassenheit des Sicherheitstechnikers faszinierte wie nervte.
Als die von Micky angesetzte Vierttelstunde um war drückte der Überwachungstechniker ganz lässig mehrere Tasten. Die bisher nur grau schimmernden Bildschirme füllten sich mit neuen Bildern. "Ah die Schläferkameras haben sie nicht weggeputzt", stellte Micky fest. "Heli Weg, alle Autos weg, keine Blech- oder Reifenfetzen auf dem Boden. Also sind die Autos offenbar los, als die Waffenträger alle ... Nicht auf den Bildschirm kotzen!" Roberto kämpfte wahrhaftig mit einem heftigen Würfen. Denn er hatte gerade die großen Blutlaachen gesehen. Er warf sich herum und stürmte die Toilettenkabine. Er schaffte es noch, den Deckel anzuheben, da schleuderte sein von Ekel und Angst aufgewühlter Magen alles von sich, was ihm zu schwer war. Prustend und hustend schaffte er es, zumindest noch anständig alles loszuwerden, ohne den hochtechnischen Toilettenraum zu besudeln.
"O mann, so heftig hat es mich nicht mal beim Frühlingsfest erwischt, als ich mit zwei Kommilitonen zwei Flaschen Borbon geext habe", keuchte Roberto.
"Wie, war die Abendbegleitung so öde?" wollte Micky wissen und grinste.
"Die hat das Weite gesucht, als mein Kumpel und ich das Wettsaufen gestartet haben. War vielleicht auch besser so. Wir hörten davon, dass die sich von anderen College-Bubis haben schwängern lassen. Hätte mir meine achso anständige Großtante niemals verziehen."
"Zumindest haben wir einen gewissenEindruck, was der passiert ist", sagte Micky und deutete auf die Bildschirme. "Da, alle Gebäude bis auf die Grundmauern niedergeballert. Vereinzelte Schwelbrände. Aber uns gibt es noch. Moment, ich lote mal eben aus, ob der Notausstieg noch geht. Dann gehen wir mit denen aus dem Betaraum runter."
"Wollen Sie nicht noch die Überwachungsdrohne abfragen, die Ihr Kollege gemeint hat?"
"Stimmt, die kann auch los. Vielleicht kriegen wir den Heli noch zu sehen oder wie die Straße aussieht", sagte Micky. "Ich glaub's nicht", grinste er. "Dieses kleine übergescheite Eulenviech ist auch noch da, fliegt seelenruhig seine Orbits wie die gute alte NCC 1701."
"Die was bitte?" fragte Roberto.
"'tschuldigung, die ursprüngliche Enterprise unter Captain Kirk und Mr. Spock meine ich. Ist eine Marotte von meinen Studienkumpels und mir, dass wir die Schiffe aus den Star-Trek-Serien nur mit ihren Registriernummern erwähnen."
"Ich hatte es eher mit Mondbasis Alpha und Doktor Who", sagte Roberto und deutete noch einmal auf einen der Bildschirme, wo gerade die kleine Eule vorbeiflog. "Bei Mondbasis Alpha gab es eine, die konnte sich in alle möglichen und unmöglichen Lebewesen verwandeln und war auch mal eine Eule."
"Formwandler, ja, sagt mir was. Aber das gibt's echt nur im Film oder Fernsehen. Sonst würde ich sagen: Scotty, beam mich rauf!"
"Also nach der Nummer mit der aus der Anzugtasche wachsenden MP bin ich mir nicht mehr so sicher, was alles nicht geht. Öhm, habenwir eine Aufzeichnung davon?"
"Yo, haben wir. Aber die gebe ich nur an Don Marcellos rechtmäßige Erben heraus. Besser ist es, dass wir so tun, als wenn wir nicht dabei waren. Okay, die Drohne macht gerade noch die letzten Fotos von der Totalvernichtung. O ja, wir waren besser nicht hier", murmelte Micky. "Der Heli ist weg, zumindest nicht mehr zu sehen. Moment, mal die drahtlose Radarantenne testen. Ja, sie geht noch!" Roberto sah nun, wie einer der Radarbildschirme aufleuchtete. "Ich habe alle Autos, die sind in unterschiedlichen Richtungen unterwegs. Den Heli habe ich aber nicht auf dem Schirm. Schnell wieder runterfahren, damit keiner mitkriegt, dass hier noch jemand auf ist. - Beta, hier Alpha. Lote jetzt den Notausstieg aus. falls ihr nicht rauskommt oder wir holt der, der es raus schafft Hilfe bei Ihr-wisst-schon-wem!"
"Ist geritzt, Mick. Hals- und Beinbruch!"
Micky hantierte noch einmal mit Schaltungen. Auf einer computergenerierten Kartenansicht formte sich eine grüne Linie, die scheinbar bis weit ins Hinterland hinausreichte und dann kurz blinkte. "Der Weg ist frei", sagte Micky und klappte eine kleine Tastatur unter der Hauptkonsole aus. "Hier Beta, können durch unseren Tunnel raus. Keine Trümmer, kein Einsturz. Das war doch die richtige Idee, die der Capo hatte, Friede seinerSeele."
"Den wird er erst kriegen, wenn wir ganz aus diesem Schlamassel rausgekommen sind. Leute, wir setzen uns ab. Ich nehme die Aufzeichnungen von hier mit, ihr die von euch! Jeder nimmt das am Tunnelende wartende Fahrzeug und sieht zu, in den sicheren Häusern unterzukommen, bis wir wissen, wer die Firma erbt. Zagallo ist auf jeden Fall mit unserem Capo ins Jenseits abgereist, vor dem müssen wir wohl erst mal keine Angst mehr haben."
"Echt jetzt?" fragte eine andere als die bisherige Stimme aus dem zweiten Schutzraum. "Echt jetzt", bestätigte Micky. "Werden die in Philly sich 'nen neuen König suchen müssen. Hirsch tot, Hallali!"
"Tja, hat er nicht gewusst, dass außerhalb des eigenen Herrschaftsbereiches der Jäger zum Gejagten wird."
"Flash Gordon, Verfilmung von 1980", sprudelte es aus Roberto heraus. Zu seinem und Mickys Belustigung sagte der Mann im Beta-Raum auch gerade sowas wie: "Das hat Vultan Prinz Barin um die Ohren gehauen, bevor Imperator Glatze seine ganze Stadt zerlegt hat. Sei's drum, müssen wir eben wie die Falkenmänner den Abflug machen."
"Genau, aber wer will schon ewig leben."
"Highlander", bemerkte Roberto dazu. "Jau, da kennt sich noch wer gut aus. Ist Geldjonglieren so langweilig?" fragte der Mann aus dem Beta-Raum.
"Das war noch vor meinem Studium", sagte Roberto laut genug, dass das Mikrofon es in den Betaraum übermitteln konnte.
"Die Eule, ist die noch wo?" fragte Roberto und deutete auf die Bildschirme. Doch der verdächtige Vogel war nicht mehr zu sehen. Offenbar hatte der sich doch noch abgesetzt.
Micky programmierte eine Selbstvernichtungsschaltung für alle Außenüberwachungsgeräte. Dann meldete er mehrere Laufwerke von seinem Rechner ab. Er zog mehrere Festplatten aus einem Geräteschrank heraus. Dann gab er eine bestimmte Tastenkombination ein. Daraufhin klappte sich langsam aber zielsicher eine tonnenschwere Luke aus einem Teil des Bodens. Er fischte noch zwei Taschenlampen aus einer Schublade heraus und gab Roberto eine davon. Dann konnten sie durch die offene Luke in einen Schacht hinuntersteigen. Auf einer haarsträubend engen Wendeltreppe ging es Meter um Meter nach unten. Roberto hörte noch, wie die Luke über ihnen wieder verschlossen wurde. Nur das Licht seiner Taschenlampe half ihm, die Stufen zu sehen. Immer weiter ging es nach unten. Dann trafen sie auf den Grund. Micky hielt seine Taschenlampe gegen eine Wand. Diese erbebte kurz und glitt dann leise schabend zur Seite. Dahinter gähnte ein Tunnel, der so lang war, dass Robertos Lichtkegel davon verschluckt wurde.
Durch die aus gegossenem Beton bestehende Röhre ging es mehrere Hundert Meter weit von der alten Fabrik entfernt fort. Dann knickte der Tunnel nach rechts ab und führte in einem ganz flachen Winkel nach oben. Noch einmal mussten sie über hundert Meter zurücklegen. Dann erreichten sie das Ende. Hier stand ein knallgelber Ford Crown Victoria von 1999 mit einem bekannten Schild auf dem Dach, ein waschechtes New Yorker Taxi. Micky bückte sich kurz und fischte einen Schlüssel unter dem rechten Kotflügel hervor. Mit diesem entriegelte er das knallgelbe Automobil. "Yo, Mister, wo soll's hingehen?" fragte Micky im besten Taxifahrertonfall.
"Sicheres Haus der Fraschetti-Familie, aber bitte nicht so ruckelig. Mir wurde heute ein ganzes Haus auf den Kopf geworfen und mein Pate ist dabei draufgegangen."
"Scheiße passiert, Mister. Dann mal rein in die Nobelkarrosse", sagte Micky und pflanzte sich bereits hinter das wuchtige Lenkrad. Roberto stieg in den Fond des geräumigen Autos. Dann griff Micky nach einer Fernbedienung. Mit dieser ließ er ein zweiteiliges Tor aus Stahlbeton aufgleiten. Das dauerte eine volle Minute. Dann drehte Robertos Taxifahrer den Zündschlüssel und jagte sein Gefährt mit einem gepflegten Kavalierstart aus der Tunnelöffnung hinaus.
"Der Capo hat sich diesen Gag ausgedacht, weil er meinte, dass ein Taxi, dass aus der Stadt hier herausfährt nichts auffälliges ist", sagte Micky und deutete auf den wahrhaftig mitlaufendenTaxameter. "NehmenSie auch Amex-Reiseschecks?" fragte Roberto mit Blick auf die Fahrstrecken und Zeitanzeige.
"Nöh, nur 24karätiges Gold in Scheiben", sagte Micky.
Auf dem Weg Richtung New York City bekamen sie über das eingebaute Funkgerät mit, dass "Wagen 751 in Richtung Long Island unterwegs war. "Yo, Kumpel, ich hab' 'ne Fuhre nach Greenwich Village. Schrott- und gebührenfrei."
"Gleichfalls", kam die Antwort aus dem Funkgerät zurück.
Micky kramte während der Fahrt in einem mit Kombinationsschloss verriegelten, einem kleinen Safe gleichendem Handschuhfach herum und zog bei kurzen Zwischenhalten immer mal eine Klarsichthülle aus dem Fach. Endlich fand er eine, die er sich unter sein blaues Hemd schob. Dann fand er noch eine, die er Roberto gab. Sie enthielt einen Führerschein und einen Reisepass auf den Namen Claudio Terentino mit seinem Foto darauf, eine Kreditkarte auf denselben Namen und mehrere beschriebene Papiere, sowie ein Bündel 20-Dollar-Noten und eines mit fünfzig 20-Euro-Noten. Offenbar hatte der Capo damit gerechnet, dass Roberto eines Tages seine Identität aufgeben musste. Das sagte auch Micky.
"Es ist schon gruselig, wie weit jemand voraussehen kann. Aber in unserer Firma ist der Tod ein sehr treuer Kunde, der zu jeder Zeit bedient werden will, hat Don Marcello einmal gesagt. Für alle die, die überbleiben ist es dann um so wichtiger, nicht gleich als nächste draufzugehen. Deshalb hat er für die dreißig wichtigsten Mitarbeiter, darunter auch der selige Kollege Umberto, sich selbst und eben auch Sie, Ersatzdokumente in jedem der beiden Taxis versteckt. Meine Aufgabe und die Roys wird es sein, die noch lebenden der hohen 30 zu finden und denen ihre neuen Papiere zu geben. Bitte lesen Sie die beigefügten Papiere. Soweit ich weiß haben Sie den entsprechenden Code von Don Marcello auswendig gelernt. Ich fahre uns inzwischen zum Zielort." Mit diesen Worten trat Micky wieder aufs Gaspedal und lenkte das etwas mehr als fünfMeterlange,knallgelbe Auto auf die bei Nacht in einer Aura aus Streulicht schimmernden Großstadt zu.
Roberto Venuti zog die fünf Seiten Papier aus der Hülle und besah sich das scheinbare Buchstabenchaos auf dem ersten Zettel. Dann erinnerte er sich an den Geheimcode, den seine Großtante Donna Gina und Don Marcello für ihre wirklich wichtigen Briefe verwendet hatten. Er basierte auf dem ersten Satz von Cäsars "De bello gallico": "Gallia omnia est divisa in partes tres.". Hierbei galt, dass jeder Buchstabe des Originalsatzes mit dem im kodierten Text an der Stelle stehenden Buchstaben adddiert wurde und die Summe die Platzzahl des eigentlichen Buchstabens ergab. Also wenn im kodierten Text ein B stand, musste dessen Platzzahl 2 mit der Platzzahl für das G also 7 addiert werden und ergab zusammen eine 9, also das I. War die Summe größer als 26 wurden davon 26 abgezogen und die Differenz als Platzzahl des zu findenden Buchstabens genommen. Beim Verschlüsseln galt, dass von der Alphabetstellenzahl des Klarbuchstabens die Alphabetstellenzahl des im Schlüsselsatz an die Reihe kommenden Buchstabens abgezogen wurde. War die Differenz kleiner als 1 musste 26 addiert werden, um die Alphabetstelle des in den kodierten Text einzufügenden Buchstabens zu bestimmen. Waren alle 32 Buchstaben des Schlüsselsatzes abgearbeitet fing der Empfänger einer kodiertenNachricht wieder mit dessen erstem Buchstaben an, also dem G.
Für einen Bankmenschen wie Roberto Venuti waren solche Zahlenspiele eine Leichtigkeit. Außerdem hatte er seit seinem zwölften Lebensjahr jede Woche einen Text in diesem Code bekommen, um ihn zu üben. Dass Don Marcello ihn auch kannte lag daran, dass Donna Gina dessen Vetter geheiratet hatte und er somit in gewisser Weise Blutsverwandt war. Doch das hatte Don Marcello nie an die große Glocke gehängt. Dafür hatte sich Donna Gina auch immer mal wieder als Regina Fraschetti ausgegeben, wenn sie nicht ihre wahre Identität raushängen wollte. Jedenfalls war dieser Geheimcode schon seit längerem in Anwendung und wurde bisher angeblich nicht geknackt. Doch mit Verrätern auch in den eigenen Familienkreisen musste immer gerechnet werden, wusste Roberto Venuti. Denn wie sonst war es möglich gewesen, dass seine Großtante und fünf hochrangige Männer aus anderen ehrenwerten Familien auf einen Streich ausgelöscht werden konnten?
Die Strecke bis zur Stadtgrenze von New York City nutzte Roberto Venuti, der ab heute Claudio Terentino heißen sollte, um seine Lebensgeschichte, seine Legende, zu studieren. Ebenso bekam er über die dem Code folgenden Buchstaben mit, dass für ihn im Schließfach einer anderen Bank eine ordentliche Summe als "Aufwandsentschädigung" bereitlag. Bedingung war, dass Roberto Venuti solange für tot gehalten werden musste, bis die Gefahr für dessen Leben ein für allemal gebannt war. Da Roberto Venuti mitbekommen hatte, dass Zagallo wohl eher als Strohmann einer im Hintergrund tätigen Macht auftrat musste er wohl darauf warten, bis diese Hinterleute nichts mehr von den Überlebenden dieser Nacht wussten, bestenfalls nicht erfuhren, dass er dort war. Sicher, Don Marcello hatte ihn ganz bewusst nicht in die direkte Besprechung hineingeholt und hatte Zagallo nicht erzählt, dass er ihn mitgebracht hatte. Doch wer immer Zagallos Puppenspieler war, der würde nun Rache üben oder zumindest den Tod des Capos ausnutzen, um dessen Erbe anzutreten. So einer wie Ernesto Zagallo ließ sich sicher überall finden und zum neuen starken Mann von was auch immer aufbauen. Also konnte sich Roberto Venuti vorerst nicht mehr in seinem früheren Leben zeigen.
Die Fahrt ging nicht wie über Funk behauptet nach Greenwich Village und auch nicht zu einem kleinen versteckten und mit hohen Mauern umfriedeten Haus, sondern zu einem kleinen aber gediegen aussehenden Hotelgebäude in einer wenig befahrenen Straße.
"Hier ist das Hotel für verwaiste Patenkinder und wegenFirmenpleite arbeitslose Angestellte, Signore Terentino. Ich tucker dann mal weiter in mein sicheres Haus. Am besten genießen Sie den Urlaub, bevor der Alltag uns wieder einholt!"
"Danke für die Fahrt. Das Trinkgeld buchen Sie bitte von dieser Karte ab", sagte Roberto und hielt ihm eine der beiden neuen Kreditkarten hin. Micky lachte und winkte ab.
Tatsächlich konnte Roberto in dem kleinen Hotel für Geschäftsreisende problemlos unterkommen. Mit einem aus der Legende erfahrenen Codesatz schaffte er es zudem, dass sein neuer Name nicht im Gästebuch auftauchte und das von ihm bezogene Zimmer als "zu renovieren" im Computer vermerkt wurde. Frühstück, Mittag- und Abendessen konnte "Signore Claudio Terentino" dann per Zimmerservice bekommen, und für einen gewissen Aufpreis noch einen besonderen Zimmerservice zwischen 22:00 und 05:00 Uhr. Doch ob er davon Gebrauch machen wollte wusste er jetzt noch nicht. Womöglich zahlte der Eigentümer Schutzgeld an die Fraschettis oder gehörte zu denNutznießern derartiger Geschäfte. Doch das wollte Roberto nicht näher hinterfragen, würde ihm wohl nur noch mehr kopfweh machen. Er hoffte wenigstens, für's erste sicher zu sein.
Fino und Lunera nahmen die besonderen Brillengestelle mit angesetzten Mithörmuscheln wieder ab. Was sie darüber mitbekommen hatten war einerseits heftig und andererseits auch lustig. "Wie auch immer die meine Eule angepeilt haben. Fast hätten sie die vom Himmel geholt. Aber wie dieser schwarze Drehflügelapparat die drei Häuser zerbröselt hat müssen wir uns ganz gut merken. Am Ende müssen wir diesen Luftverwirbeler noch bekämpfen."
"Ja, aber dieser Zagallo ist mit den anderen in die Luft geflogen", meinte Lunera dazu. "Ja, selbst schuld. Der eine Typ hat ihn gewarnt."
"Wenn der wirklich für diese Blutsaugergötzin gearbeitet hat wird die sich das nicht gefallen lassen", sagte Lunera.
"Och, wenn die den echt geführt hat findet die schnell wen neues. Gut, wenn der weitergelebt hätte, hätten wir den besser überwachen können. So müssen wir warten, bis wir wissen, wen die sich ausgesucht haben. Ich denke, wir sollten diesmal wieder wen aus der Sippschaft zu uns rüberholen, um da vorne mitzuspielen." Lunera nickte und bat Fino ganz ruhig darum, mit Valentino nach möglichen Kandidaten zu suchen. Vielleicht sollten sie erst einmal warten, welche Folgen der Tod von vier Mafialeuten und ihrer Begleitmannschaft nach sich zog. Am Ende räumten die sich gegenseitig vom Feld, wie damals, als Nina auf Luneras Betreiben hin mit diesem Andrea Danielli zusammengefunden hatte. Das war auch schon bald wieder fünf Jahre her, dachte Lunera.
Jeff Bristol war zusammen mit seiner Frau Justine im Laveau-Institut und sah sich zusammen mit Quinn Hammersmith und Elysius Davidson die Aufnahmen der unsichtbaren Eule an, die diese um ein Uhr in der Nacht abgeliefert hatte. "Es war doch die bessere Idee, die Bildverpflanzung untätig zu lassen", sagte Quinn. "Erst einmal flog da ein anderer Eulenvogel herum, der nur rein äußerlich aus Fleisch und Federn bestand und innerlich aus magisch aufgeladenem Metall, ähnlich wie das bei diesem wiedererwachten Zombiebeschwörer der Fall war. Und dann kam noch dieser große schwarze Wirbelflügler angeflattert, der zehn Meilen gegen den Wind nach magischer Extrabehandlung stank. Eigenwärmeabschirmung, eine ähnliche Geräuschdämpfung wie bei deinem Automobil, Jeff, und wenn ich die Passivwerte der incantimetrischen Eulenohren richtig verstehe, sechs Schnellfeuerwaffen mit rauminhaltsvergrößerten Waffenmagazinen. Aber Sie sehen sicher ein, Mr. Davidson, dass ich die Schalansaugvorrichtung aktiviert habe."
"Voll und ganz, Quinn. Sonst hätten wir nicht mitbekommen, was diese drei Räuberhauptmänner und dieser offenbar übermütig gewordene Jungspund da in diesem Raum besprochen haben." Jeff nickte. Immerhin hatte sein etwas eingerostetes Italienisch ihn verstehenlassen, was die vier sich gegenseitig um die Ohren gehauen hatten.
"Halten wir fest: Vier wichtige Männer aus der nicht-magischen Unterwelt sind Opfer von Selbstüberschätzung und posthumer Rachsucht geworden", sagte Davidson. "Der Helikopter weist eindeutig darauf hin, dass Zagallo Hilfe aus der Zaubererwelt hatte. Diese Flugmaschine ist noch intakt und flog nach denAufzeichnungen der unsichtbaren Eule direkt zu einem Grundstück in Philadelphia, das diesem Zagallo gehört hat. Die Eule konnte nicht weiter, weil sie darauf abgestimmt ist, magische Barrieren zu erkennen und zu meiden. Diese Barriere verrät ebenso, dass Zagallo Hilfe aus der magischen Welt hat, sehr wahrscheinlich die Blutgötzin und ihre sogenannte Hohepriesterin. Falls dem so war war dieser Ausflug eine Niederlage für sie. Vielleicht war es aber auch ein Ablenkungsmanöver, um uns von ihren wirklich wichtigen Vorhaben fernzuhalten. Immerhin hat sich die unsichtbare Eule als Fernerkundungshilfe bewährt, Mr. Hammersmith. Danke für diese großartige Erfindung!"
"Ja, und ich habe meinem anderen Boss, Mr. Dunston, den Vorschlag unterbreitet, die genannte Fabrik mal von oben zu besehen, aus einem Nachrichtenhubschrauber. Der hat dann das Trümmerfeld gefunden und hatte für die Abendnachrichten eine furiose Eröffnungsgeschichte, auf die wir uns draufsetzen dürfen, wenn wir ermittelt haben, wem die Fabrik zuletzt gehörte und wer ein Interesse haben könnte, sie niederzumachen", sagte Jeff.
"Wir dürfen also weiterhin festhalten, dass noch wer anderes diese Zusammenkunft ausgekundschaftet hat, der magicomechanische Vögel mit einer selbsterwärmenden Kunstfleischbeschichtung und echten Federn ausstatten kann. Der dürfte also in Ihrer Liga mitspielen, Quinn", sagte Elysius Davidson.
"Ich habe da auch so eine Ahnung, wer das ist, Sir. Dieser dürre Werwolf Fino ist ein anerkennenswert talentierter Thaumaturg. Der könnte solche Semimechanischen Spionageinstrumente entwickelt haben. Aber an Demiguisenhaar kommt er nicht ran. Deshalb sind unsere unsichtbaren Eulen immer noch die besten."
"Wer sagt euch, dass Zagallo nicht für die Werwölfe gearbeitet hat?" wollte Justine Bristol wissen.
"Das neuwertige Miniaturlykanthroskop in der Eule, deren eingebautes Bauchgefühl für Vampire, Werwölfe und Zombies", sagte Hammersmith.
"Stimmt, wenn die Mondgeschwister diesen Zagallo in ihre Reihen geholt hätten wäre er Lykanthropie positiv", wandte Davidson ein. "Ja, aber ein Vampir wie der Patriarch der Campestranos war er auch nicht", warf Sheena O'hoolihan ein. Alle nickten. "Sie brauchten offenbar normale Menschen, um die Sachen zu erledigen, die anfallen. Womöglich geht denen langsam die Solexfolie aus", vermutete Davidson.
"Ja, oder ein Mensch ist von Vampiren immernoch besser zu lenken als ein Artgenosse", warf Jeff Bristol ein. Dem konnte und wollte keiner widersprechen.
Als sie vor fünfzig Jahren als Tochter der Nacht wiedergeboren wurde hatte sich ihre samtbraune Mischlingshaut goldbraun verfärbt. Daher hatte sie den französischen Vampirnamen Nuit d'Or, die goldene Nacht, erhalten. Sicher, wenn es nicht gerade Vollmond war und in dessenhellem Licht die Farben ein wenig mehr aus dem einheitlichen Silbergrau hervortraten, sah das keiner, erst recht kein Mensch mit seiner eingeschränkten Sicht im Dunkeln.
Vor einem Jahr hatte Nuit d'Or die große Ehre erhalten, zur Priesterin der schlafenden Göttin geweiht zu werden. Nun wo die Göttin Dank einer Woge nächtiger Zauberkraft erwacht war empfand die ehemalige Tochter einer kongolesischen Häuptlingstochter und eines belgischen Armeesoldaten es als besondere Ehre und Verpflichtung, einen von sieben Tempeln der Göttin in ihrer immer noch geliebten Heimat zu eröffnen und zu hüten.
Nach rein menschlicher Zeitrechnung schrieb man den fünften Februar im Jahre 2004 einer willkürlich an die Geburt eines Heilspredigers angelehnten Zeitrechnung. Ihr war das nur wichtig, weil sie schon bald das erste Jahr einer neuen Zeitrechnung schreiben würden. Nun, wo der Herr der Schattendämonen aus dem Atlasgebirge vergangen war und fast alle seine nichtstofflichen Kreaturen, vor allem der Blutriese, für immer fort waren, sollte die Stunde der wahren Söhne und vor allem Töchter der Nacht kommen. Hier, tief im noch unberührten Teil des kongolesischen Regenwaldes, hatten sie einen eingeschlafenen Vulkan gefunden, in dessen Leib noch die alten Kanäle für das glutflüssige Gestein verliefen wie die Gänge eines gigantischen Regenwurmes. Die reinrassig hellhäutige Hohepriesterin Nyctodora hatte mit der ihr seltenen Begabung für nach außen wirksame Magie und verschiedenen Feuerzaubern ausgelotet, ob der Vulkan je wieder erwachen würde. Doch so wie sie es verkündete würde dieser Feuerberg höchstens in hunderttausend Jahren wieder ausbrechen. Das war selbst für die Kinder der Nacht eine sehr lange Zeit, um nicht zu sagen, eine Ewigkeit. Dann hatten fleißige Nachtbrüder die vorgeformten Gänge zu bequemen Lauftunneln und Versammlungsgrotten erweitert und zum schluss einen gewaltigen schwarzen Marmorblock in die größte Höhle gestellt. Das war der Altar der Nacht. Der Tempel namens Waldseele war damit bereit zur Einweihung.
Wie an anderen Orten dieses großen, runden Weltkörpers hatte auch Nuit d'or durch die Opferung verschieden alter und erfahrener Menschen jeden Geschlechtes die Kraft von Leid und Opfertod in den Altar einfließen lassen. Sie sah noch, wie der letzte Blutstropfen eines fünfjährigen Jungen in den magischen Gravuren versickerte und der Altar nun vollständig in blutrotem Licht erstrahlte, Zwanzig Nachtbrüder, die meisten davon mittelbraun getönt, weil sie den Urvölkern dieses Erdteils entstammten, knieten auf dem Boden und priesen die mächtige große Mutter aller Nachtkinder mit Ihrem Namen "Gooriaimiria! Gooriaimiria!" Nuit d'or fühlte, wie die Rufe und die im neuen Tempel erweckte Macht der Nachtkinder in ihr wirkten, wie die Gedanken und Kräfte der Göttin immer mehr in ihren Körper und Geist einströmten, bis sie glaubte, ein großer, wallender Kessel zu sein. Sie fühlte, wie aus ihrem Körper die machtvolle Zauberkraft der Göttin ausströmte, von Atemzug zu Atemzug den Versammlungsraum ausfüllte. Rote Funken schwirrten durch die nur vom Zauberlicht des Opfersteins erleuchtete Grotte. Die Funken versammelten und vereinten sich in der Mitte des Raumes. Dann erschien sie selbst, Gooriaimiria, die erwachte Göttin. Ihr Anblick war zugleich schön wie überlegen. Sie sah wirklich aus wie eine Mutter, die neues Leben in sich trug, erwartungsvoll, hingebungsvoll und Hoffnungsvoll. Ihre Füße berührten denBoden nicht. Sie schwebte eine halbe Körperlänge über dem Boden und drehte sich unter den in wilden Jubel ausufernden Anrufungen ihres Namens behutsam im Kreis. Dann sprach die Erwachte, ihrer aller Herrin und Göttin mit einer Stimme, die wie eine sprechende Trommel einen sehr weiten Raum durchdringen konnte. Sie sprach erst auf Französisch, was viele hier konnten.
"Meine geliebten Kinder. Nun, wo ihr auch im Ursprungsland aller Menschen und damit auch unser aller wahrer Wiege einen Tempel der Nacht vollendet und in meinem Namen erweckt habt, ist es an mir, mich zu bedanken, für eure Hingabe, eure Kampfbereitschaft und für eure Aufopferung der großen heiligen Sache gegenüber, der Errichtung des Reiches der Nacht, das wahre Nocturnia, das Reich, in dem die Sonne niemals aufgeht. Von dieser Stätte aus werdet ihr den Erdteil des Anfangs alles denkendenLebens zu neuer Größe führen, die alten Machtgefüge zerschlagen, die immer noch auf dieses Land zielenden Begehrlichkeiten der erbleichten Nachkommen der einstigen Urvölker auslöschen und diesen vielfältiges Leben tragenden Erdteil in das große ganze hinübertragen, in das vereinte Weltreich der Nachtkinder, wo nicht mehr die Farbe der Haut oder die Sprache der Eltern zählt, sondern die erhabene Einheit zwischen denNachtkindern und die ewige Verbundenheit mit eurer großen Mutter. Mit diesem aus den Kräften des Erdinneren und euren Händen geformten Bauwerkes beginnt die neue Zeit, in der die Anbetung falscher Götter und Abgötter enden wird. Selbst jene, die wir zur Sicherung unserer Ernährung oder weil sie es schlicht nicht verdient haben, nicht zu Nachtkindern machen werden, sollen euch ehren und fürchten und mich als ihrer aller Herrin annehmen und mir folgen. Somit erkenne ich diesen Ort als mir genehmen und würdigen Ort der Versammlungen und meiner Herrschaft an und nenne ihn: Haus Nachtseele. Von hier aus brach das denkende Leben in die Welt auf. Von hier aus erfährt es seine neue und vollendete Bestimmung."
Sie wiederholte nun die Worte in den Sprachen der hier lebenden Stämme. Nuit d'Or staunte nicht darüber, dass die Göttin diese Sprachenkonnte. Eine wahre Göttin konnte jede Sprache. Auch wenn die neue Priesterin vorher nicht wirklich an diese große Mutter geglaubt hatte war sie nun eine glühende und unerschütterliche Verehrerin dieser Erscheinung, von der es hieß, dass in ihr die Seelen vieler verstorbener Nachtgeschwister ihren Halt und ihre Vollendung gefunden hatten.
Als die Göttin ihre Ansprache in allen hier gebräuchlichen Sprachen beendet hatte zerfloss sie zu einer gewaltigen, blutroten Nebelwolke, die von allen hier weilenden Gläubigen ein- und ausgeatmet wurde. Sie wurden eins mit der Göttin, und die Göttin erfüllte mit ihrer Lebenskraft den Tempel. Damit war dieser vollendet und konnte der von ihr erklärten Bestimmung folgen.
Russell Burke prüfte noch einmal seine besondere Ausrüstung, vor allem den Unspürstein und den leise summenden Unfeuerstein, der nicht nur offene Flammen, sondern elektrischen Strom unterbinden konnte. Beides war voll mit der Kraft von Mond und Erde aufgeladen. So konnte er losziehen.
Es war 22:40 Uhr Ostküstenstandardzeit, als der unter dem Kampfnamen Fireclaw bekannte Werwolf in einem nachtschwarzen Anzug mit dreilagiger Drachenhautkappe und zweilagiger Gesichtsmaske mit eingearbeiteten Nachtsichtlinsen aus einem der Seitenschächte der New Yorker U-Bahn kletterte. Da seine Kappe so bezaubert war, dass Schallwellen wie durch pure Luft hindurchdringen konnten vermochte er mit seinem hochempfindlichen Gehör zu erlauschen, was um ihn herum passierte. Sicher hatte er in Wolfsgestalt ein noch besseres Gehör. Doch dann konnte er schlecht tun, was er nun tun wollte.
Sein erstes Ziel war ein Juweliergeschäft in einem sehr reichen Viertel Manhattans. Der Laden war auf Gold- und Silberschmuck spezialisiert, Verlobungs- und Eheringe, Goldketten und -armreifen aus 24karätigem Gold. Genau das suchte er. Über der Tür des Ladens prangte der Name "GEBRÜDER JOHANSONS EDELMETALLBOUTIQUE - SCHMUCK FÜR ALLE LEBENSLAGEN". Für den auf Beutezug befindlichen Lykanthropen war das wie eine laut ausgerufene Einladung.
Zuerst holte er den zwölfseitigen Unspürstein hervor, eine Erfindung, auf die sich Fino was einbildete und die Russell Burke auch in geringer Stückzahl seinem Großonkel in London zugespielt hatte, damit er diese an sehr gut bezahlende Zauberer verkaufen konnte, die nicht gleich vom Ministerium beim Zaubern erwischt werden wollten. Er tippte jede der zwölf Flächen kurz mit seinem eibenholzzauberstab mit der Herzfaser eines ungarischen Hornschwanzes an, bis der Stein ganz leise zu sirren begann. Er platzierte ihn behutsam an der Wand um das Schaufenster des Juwelierladens. Dann holte er den besonderen Unfeuerstein hervor, der nicht wie die australischen Ursprungsartefakte aus purem Vulkangestein bestand, sondern ein wenig Eisen enthielt und an der Außenseite mit einer ganz dünnen Schicht Silber bezogen und dazu noch schwarz angemalt war. Der Stein vibrierte ständig, doch als er ihn ebenfalls mit dem Zauberstab anstieß summte er ganz leise mit der Schwingungszahl, mit der in den elektrischen Leitungen die Stromrichtung abgewechselt wurde. Er hielt den Stein gegen die Wand. Diese flirrte einen kurzen Moment bläulich. Dann legte er auch diesen Stein so gegen die Wand, dass ihn keiner sah. Jetzt konnte er problemlos in den Laden.
Er ließ die mehrfach gesicherte Tür mit dem Alohomora-Zauber aufspringen und schlüpfte in den für unbewaffnete Augen stockdunklen Verkaufsraum. Keine Klingel, keine Alarmanlage, keine elektrische Überwachungsvorrichtung reagierte auf ihn. Er drückte die Tür zu und ging dann zu einer Stahltür, die mit mehreren Schlössern gesichert war. Ein Alohomora-Zauber reichte, auch dieses Hindernis auszuräumen. Nun stand Burke im Raum mit der Schaufensterauslage. Er blickte auf die sehr geschickt ausgebreiteten Ketten und Ringe, Armreifen und Haarspangen. Wie hoch der Goldgehalt war könnte er nun mit dem Veraurum-Zauber prüfen. Doch der machte Leuchteffekte. Das brauchte er jetzt bestimmt nicht. Deshalb hatte er sich von Fino was mitgeben lassen, das wie eine bleistiftgroße Verkleinerung einer Heugabel aussah, eine Abwandlung einer Wünschelrute. Er steckte den Zauberstab fort und ergriff das kleine Teil mit einer golden schimmernden Kugel am Ende bei den zwei Zinken. Ohne Furcht vor einer Alarmanlage hielt er das Prüfartefakt über die Auslage hinter der mehrere Zentimeter dicken, mit gerade völlig nutzlosen Alarmdrähten gespickten Schaufensterscheibe. Die verkleinerte Wünschelrute erbebte und erwärmte sich. wo sie dies am stärksten tat wusste Burke, dass das damit geprüfte Objekt den höchsten Goldanteil hatte. Jedes entsprechende Schmuckstück wanderte in eine der rauminhaltsvergrößerten Taschen seines schwarzen Schutzanzuges. Er grinste, wenn er wieder was fand, das offenbar aus purem Gold gemacht war. So landeten über zwanzig Armbänder, fünfzig Ketten und an die vierzig kleinere oder größere Ringe mit und ohne Gravuren oder Edelsteinbesatz in seinen Taschen. Sicher konnte er auch noch Rohgold abräumen, wenn er den Tresor des Ladens fand und öffnen konnte.
Als nur noch die weniger goldhaltigen Schmuckstücke im Schaufenster auslagen schloss er die Zugangstür von außen mit dem Zusperrzauber Portaclausa. Dann nahm er noch einmal die verkleinerte Wünschelrute und hielt sie in verschiedene Richtungen. Zunächst wollte das Ding gegen seine eigenen Taschen schlagen, weil da schon so viel Gold drinsteckte. Doch dann zeigte es durch schnelles Pochen und eine leichte Erwärmung eine andere, noch größere Goldquelle in der Nähe.
Burke ging der Spur nach und fand eine gut verkleidete große Stahltür mit sieben Sicherheitsschlössern. Er sah auch einen dieser waagerechten Schlitze, die die Muggel erfunden hatten, um elektrisch lesbare Schlüsselkarten durchzuziehen. Doch weil ja gerade kein Strom im Haus floss war dieses Schloss gerade untätig. Mit dem Alohomora-Zauber schaffte er es, die Tür aufzumachen und in einen fensterlosen, mit dicken Stahlplatten ausgekleideten Raum mit mehreren Metallschränken einzudringen. Mit seinen Nachtsichtlinsen in der Schutzmaske las er die auf den Schränken angebrachten Beschriftungen mühelos. Sie sagten ihm, in welchem Schrank Silberrohlinge, Platinrohlinge, Diamanten, Rubine, Smaragde und vor allem Goldrohlinge verwahrt wurden. Den Rohgoldschrank bekam er mit dem Türöffnungszauber ganz locker auf. Allerdings sah er, dass die im Schrank verwahrte Menge zu groß war, um sie noch in den Taschen an seinem Körper zu tragen. Etwas apportieren konnte er nicht, weil der Unspürstein jeden den Raum überwindenden Zauber störte, solange er aktiviert auf festem Boden lag. Einige Sekunden blickte der Werwolf in den verheißungsvoll gefüllten Schrank hinein. Da lagen massive Barren, die aus reinstem Gold waren. wenn er die mitnehmen konnte konnte Fino mindestens 300 der neuen Sonnenlichtsammelkugeln gießen und bezaubern. Dann grinste er. er holte all den eingeheimsten Goldschmuck wieder aus den Taschenund steckte statt dessen so viele Goldbarren ein, wie die Taschen fassen konnten. Am ende hatte er an die zwanzig Kilogramm Gold an sich gebracht. Er schloss den Goldschrank wieder und dachte daran, wie dämlich der Ladenbesitzer dreinschauen würde, wenn der ganze Glitzerkram aus dem Schaufenster in seinem Schrank gelandet war und er statt dessen nur noch ein paar Goldbarren hatte.
Nachdem er alle in die Taschen passenden Barren aus dem Schrank geholt und den dafür zurückgelassenen Schmuck hineingelegt hatte verschloss er den Goldschrank wieder. Er verließ die stählerne Kammer und schloss deren schwere Tür von außen. Die sieben Schlösser rasteten leise klickend wieder ein. Wie das elektrische Schloss die Unterbrechung überstehen würde wusste er nicht und musste es auch nicht wissen. Er hatte schließlich was er wollte.
Leise und unauffällig wie er den Laden betreten hatte verließ er ihn wieder. Er verschloss die Tür von außen mit einem Zauberstabstupser und lauschte. Keiner hatte den Ausfall der Ladenbeleuchtung bemerkt. Da der besondere Unfeuerstein nicht wie seine Vorbilder eine große Fläche, sondern nur die davon berührten und durchdrungenen Bauelemente eines Hauses betraf hatte es auch keiner in der Umgebung mitbekommen, dass er mal eben ein schwer gesichertes, sehr sorgfältig verschlossenes Schmuckgeschäft geplündert hatte.
Erst nahm er den Unfeuerstein wieder fort. Schnell griff er noch zum Unspürstein. Jetzt hatte er wohl nur noch zehn Sekunden, bis der eingefrorene Stromfluss im Laden wieder seinen üblichen Bahnen folgte. Die Zeit nutzte er, um schnell um die nächste Ecke zu verschwinden. Er lief im Schatten der Häuser und außerhalb der Lichthöfe durch fremde Gärten, ohne die dortigen Bewegungsmelder auszulösen. Denn sein Schutzanzug schirmte die Wärme seines Körpers ab, und wo er haardünne Lichtstrahlen sah, die offenbar durch Unterbrechung irgendwas ein- oder umschalteten konnte er mühelos darüber hinwegsteigen oder darunter hindurchschlüpfen. So gelangte er wieder zu jenem U-Bahn-Seitenschacht, aus dem er gekommen war.
Tief genug in den unterirdischen Tunneln der New Yorker Untergrundbahn disapparierte er, um in nur vier Sprüngen auf die Mondlichtungsinsel mitten im Amazonas überzuwechseln. Da er die Zentralfestung der Mondbrüder kannte und das Blut eines Lykanthropen in seinen Adern pulsierte konnte er völlig frei und unbedrängt auf der Insel erscheinen.
"Hier, Erste Ladung, Fino. Wenn du noch mehr willst, ich habe noch vier solche Läden auf der Liste und falls nötig gehe ich für euch ins Fort Knox oder das Superdupergoldlager der Bundesreservenbank rein", sagte Burke dem dünnen Mondbruder und förderte die erbeuteten Barren aus seinen Taschen.
"Wau, damit können wir ja sogar richtige Sonnenlichtgranaten bauen", sagte Fino, nachdem er das Diebesgut bestaunt hatte. "Dürften so an die zwanzig Kilo sein. Für die Kugeln, die du bei den Übungen verschossen hast brauche ich nur ein halbes Kilo. Damit hast du deine Übungsmunition mehr als ausgeglichen, Fireclaw. Aber wenn du jetzt Gold geleckt hast kannst du uns gerne noch mehr von dem Glitzerstoff bringen. Hmm, vielleicht sollten wir den Gehaltprüfer auch für Silber einrichten und denen alles Silber wegnehmen das rumliegt. Je mehr wir davon haben desto weniger Mondsteinsilber können die gegen uns machen."
"In Gringotts New York tief unter dem Zentralpark dürfte noch ein zehntausendfaches von dem liegen, was ich euch angebracht habe", sagte Russell Burke. Aber So geht es auf jeden Fall schon mal. Öhm, und ich sollte gleich weitermachen. Denn wenn die morgen früh mitkriegen, dass Ihnen wer alles Gold geklaut hat werden die bald wissen, das jemand mit übernatürlichen Mitteln bei denen reingegangen ist. Spätestens dann wird das Zaubereiministerium auf die Beine kommen."
"Da hast du leider recht, Fireclaw. Gut, da Lunera gerade schläft und ich ja für Materialerwerb und Ausrüstung zuständig bin genehmige ich dir die Mitnahme des großen Rucksacks, wo bis zu vier Tonnen Material reinpassen, die durch den Federleichtzauber auf ein Hundertstel Gewicht und Rauminhalt gebracht werden. Allerdings solltest du darin transportiertes Gold innerhalb von zehn Stunden bei mir abliefern, weil das Gold sonst die Rauminhalts- und Federleichtbezauberung abbaut und der Rucksack dann auseinanderfliegt", sagte Fino. Burke nickte. Unbezaubertes Edelmetall, vor allem Gold, hatte die Eigenschaft, über einen gewissen Zeitraum von außerhalb darauf einwirkende Zauber abzuschwächen. Dagegen half bisher nur ein Patentzauber derjenigen, welche die Vielraum-Reisetruhen gebaut hatten. Und die waren sehr gut darin, ihr Betriebsgeheimnis sehr sorgfältig zu hüten. Fino sagte dann noch: "Öhm, und vergiss Fort Knox und die amerikanische Bundesbank. Die Spaßbremsen vom Zaubereiministerium haben vor über siebzig Jahren schon Locorefusus-Artefakte darin versteckt, dass keiner näher als zwei bis drei Kilometer an die Schatzkammern heranapparieren kann. Soweit ich weiß wurden auch die Zugangstüren mit Anti-Öffnungszaubern belegt."
"Stimmt, die Bank von England hat das schon vor hundert Jahren so eingerichtet bekommen, nachdem echt eine Gruppe von Zauberern dort nach Belieben Gold "abgehoben" hat", grummelte Fireclaw. Fino nickte. Aber wenn die Goldschmieden und Schmuckläden des Landes nicht so gegen magische Mitnehmer abgesichert waren brauchten sie auch nicht in die größten Goldlagerstätten vorzudringen.
Mit dem nachtschwarzen Rucksack auf dem Rücken apparierte Burke nun in Etappen an verschiedenen vorher ausgespähten Ankunftsorten, von denen aus er klammheimlich ein weiteres Goldlager "beehren" konnte. Allerdings stellte er bei einigen Zielen fest, dass dort Wachpersonal war. Doch dagegen konnte er auch was machen. Nachdem er erst den Unspürstein ausgelegt hatte und den auf Elektrizität geprägten Unfeuerstein danebenlegte drückte er noch eine Erfindung Finos gegen eines der Fenster, den Schlafpfropfen. Dieser erbebte eine halbe Minute lang und pochte dann wie ein sehr langsam schlagendes Herz weiter. Burke wartete mindestens zwanzig Schläge dieses silberngeäderten Pfropfens, bevor er ihn vorsichtig wieder vom Fenster ablöste. Wer immer in den Läden auf Wache saß schlief nun mindestens eine halbe Stunde weiter.
So suchte der besondere Goldräuber auch Geschäfte wie Cartier und Tiffany's heim und sammelte die Goldrohlinge ein. Allerdings reagierte die Wünschelrute bei den Goldrohlingen von Tiffany's mit sichtbaren Funkenentladungen, als würde zwischen ihr und den geprüften Goldproben elektrische Kraft entladen. Burke argwöhnte zwar eine Falle, ging jedoch davon aus, dass sie ihn nicht zu fassen bekamen, solange der Unspürstein an der Wand lehnte. So lud er auch die scheinbar fremdbezauberten Goldrohlinge in seinen Rucksack.
Als er wieder vor der Tür stand und den Unspürstein aufgelesen hatte waren gerade zehn Minuten vergangen. Unangefochten entfernte er sich nun mit weiteren dreißig Kilogramm Gold im Gepäck.
Noch bevor die Nacht zu Ende war kehrte er mit insgesamt 300 Kilogramm Beutegold auf die Mondlichtungsinsel zurück. "Ui, 300 Kilo mehr", sagte Fino. Burke nickte und meinte, dass in den von ihm ausgekundschafteten Läden nicht mehr gelagert war. "Schon heftig viel für eine Stadt. Demnächst geht's dann hier in Brasilien in die Reichenviertel von Sao Paolo oder nach Los Angeles zu diesen überkandidelten Filmschauspielern, vor allem denen, die mal einen sogenanntenOscar gewonnen haben, weil die in ihren Filmen irgendwas besonders gut hinbekommen haben", sagte Fino, der nun wie Burke auf den Geschmack gekommen war, den dämlichen Muggels möglichst viel Gold wegzunehmen, natürlich für den guten Zweck, die sich immer frecher gebärdende Brut der Vampire einzudämmen.
"Öhm, diese Goldrohlinge, die du bei Tiffany's abgegriffen hast sind vorgeprägt. Will sagen, irgendwer hat das Gold mit einem Zauber belegt, der macht, dass es auf die Miniwünschelrute so reagiert hat. Könnte sein, dass das Gold dann nicht für meine Zwecke taugt. Aber ich kriege das raus. Womöglich hat mal wer aus der Zaubererwelt eine Menge Edelsteine oder Silber bei diesem Laden eingekauft und hat keine magielose Papiergeldwährung gehabt, aber eigenes Gold. Der oder die hat dann Zaubererweltgoldmünzen eingeschmolzen und dann wohl zu einem kompakten Goldklumpen zusammengebacken. Von dem Zauber steckt offenbar noch was in den eingesammelten Goldrohlingen. Ist fvielleicht nicht unwichtig rauszukriegen, wer das war. Am Ende waren das unsere Erzfeinde von Vita Magica oder dunkle Brüder oder Schwestern, die den Kobolden nicht über den Weg trauen", grummelte Fino. "Aber das meiste Gold können wir auf jeden Fall nutzen", sagte er noch und bedankte sich bei Russell Burke.
Es war am Morgen um acht Uhr, als Jeff Bristol einen Anruf von Sergeant Lucinda Friley erhielt, jener Kontaktstelle des Zaubereiministeriums im New Yorker Polizeibüro. "Mr. Bristol, ich bin von Captain Elia Cooper dazu ermächtigt worden, Ihnen folgendes mitzuteilen: "In dieser Nacht ereigneten sich sechs schwere Einbrüche in goldverarbeitende Unternehmen zum Zwecke der unrechtmäßigen Aneignung größerer Mengen Feingold. Aus ermittlungstaktischen Erwägungen darf zum jetzigen Zeitpunkt nichts über Vorgehensweise oder die betroffenen Unternehmen an die Öffentlichkeit gelangen. Daher halten Sie sich bitte mit einer Berichterstattung zum jetzigen Zeitpunkt zurück!"
"Interessant, dass mir Captain Cooper das nicht selbst mitteilt, oder wurde dem der Fall schon von den Leuten vom FBI entzogen, Lucinda?" fragte Jeff Bristol.
"Tja, warum erzähle ich Ihnen das und nicht wer anderes, Mr. Bristol. Weil wir beide wissen, dass Ihr hauptsächlicher Arbeitgeber zu gerne selbst die Hintergründe dieser Sache nachprüfen würde und damit gänzlich unbeabsichtigt die Aufklärung des Vorfalles durch meine vorgesetzte Stelle erschweren bis vereiteln könnte. Daher bekommen Sie auch nur diese allgemeine Information von mir."
"Also gibt es Spuren, die Ihre vorgesetzte Stelle zum Handeln veranlasst haben?" fragte Bristol. "Genau so ist es", sagte Sergeant Friley.
"Gut, das nehme ich zur Kenntnis", sagte Jeff und ärgerte sich ein wenig, dass er nicht rechtzeitig davon erfahren hatte, was passiert war. Doch dem konnte und wollte er ganz schnell abhelfen. Friley ging davon aus, dass er erst aus Manhattan raus müsse, um Eulen zu verschicken. Doch er konnte mentiloquieren. So gab er die gerade erhaltenen Informationen an seine Frau weiter. Diese saß im Institut und unterhielt sich offenbar noch über die Auswirkungen des Treffens zwischen Zagallo und den drei anderen Mafiosi.
"Ich krieg das raus. Wenn es was mit dunklen Bruder- oder Schwesternschaften oder den Mondanbetern oder den Blutgötzinnendienern zu tun hat gehört das auch in unseren Zuständigkeitsbereich."
"Soll ich was machen, damit ihr an die Infos rankommt, bevor Buggles Gedächtnisausputzer alle Zeugen beharkt haben?">"Warte zwei Minuten", kam Justines Antwort zurück.
Als die zwei Minuten um waren wurde er gebeten, diese Sergeant Friley noch einmal anzurufen und sich zu erkundigen, ob es stimme, dass eine Überwachungskamera in der Nähe eines der Geschäfte einen Vampir erfasst haben soll. Ich brauche nur zehn Sekunden Sicherheit, dass sie an ihrem Arbeitsplatz ist." Jeff gedankenantwortete, dass er sie anrufen würde.
"Wie was, woher hat ihr eigentlicher Arbeitgeber das mit einem als Vampir verkleideten Verdächtigen?" fragte Sergeant Friley. Jeff erzählte ihr eine Geschichte von einem Zeugen, der ein solches Wesen in der Nähe von Tiffany's gesehen haben wollte. Dabei hörte er das ganz leise Ploppen wie eine behutsam geöffnete Weinflasche. Friley sagte noch: "Wer ..." Doch dann kam erst mal für fünf Sekunden gar nichts. Dann erklang eine Stimme, die genau wie die der Polizistin klang: "Mr. Bristol, das mit dem angeblichen Vampir wird jetzt genauer untersucht, weil sich Anhaltspunkte ergeben haben, dass jemand die Einbrüche wie von Gespenstern oder Dämonen ausgeführt darstellen möchte. Bitte halten Sie sich an die Ihnen offiziell mitgeteilten Erwähnungen."
"Natürlich", sagte Jeff. Im nächsten Moment kam Justines Gedankenstimme. "So, bin erst mal auf Frileys Stuhl. Hat keiner gemerkt, wie ich das gemacht habe. Die wird sich nachher nur erinnern, dass sie mit dir über die Erledigung des Vorfalls gesprochen habe und dass es keinen Grund für öffentliches Aufsehen gibt."
Eine halbe Stunde später kam Justines Gedankenstimme noch einmal bei ihm durch. "Ui, sehr heftige Sache. Näheres bei mir zu Hause, wenn du offiziell Feierabend hast." Jeff bestätigte das.
Gooriaimiria überwachte zwei Tempeleinweihungen gleichzeitig. Die Kraft Heptachirons half ihr dabei, die Sinne der beiden Priesterinnen gleichzeitig wahrzunehmen. In Europa vollzog die als Rosanegra wiedergeborene Nachttochter aus Südspanien in einer tief unter den Eisenbahntunnel durch denMont Blanc angelegten Tempelkomplex die letzte Weihe. In Asien brachten chinesischstämmige Vampire einen älteren Mann in die Versammlungshalle. Der Mann stand im Bann eines treuen Gläubigen der erwachten Göttin. Die in einer blauen Priesterrobe gekleidete halbchinesin Nightsong, die vor vier Jahren noch Carrie Fanton geheißen hatte, legte den Gefangenen auf den Altar, der bereits mit mehreren Litern Opferblut bedeckt war. Als der Gefangene aus dem tranceartigen Zustand geweckt wurde, um bei vollem Bewusstsein seinen Tod zu erleben, stieß er in Maandarin aus, dass die blaue Pagode seinen Tod rächen würde, falls er nicht sofort freigelassen würde. "Deine Bruderschaft wird sehr bald lernen, dass die Zeit der Drachen vorbei ist und die Zeit der Bluttrinker und wahren Kinder der Nacht anbricht, alter Mann", sagte Nightsong ebenfalls auf Mandarin.
"Ich kenne viele wirksame Rauschmittel, um euch diesen Unfug glauben zu lassen. Aber wenn du mich jetzt echt tötest, verirrtes Mädchen, so erwarte deinen eigenen Tod. Meine Verwandten und meine getreuen Helfer werden herausfinden, wo ich gestorben bin, und dir einen sehr langsamen und qualvollen Tod bereiten."
"Ach, werden sie das. Dein im Körper verstecktes Peilgerät wurde von meinem Nachtbruder entfernt, als du schliefst. Keiner deiner Leute wird dich jetzt noch finden oder gar wissen, wo genau du hingebracht wurdest. Die blaue Pagode wird sehr bald einstürzen und zu Staub zerfallen."
"Das haben schon andere gemeint, Dirne. Selbst der mächtige Mitsuyama-Clan aus Kyoto musste lernen, dass seine Macht an unseren Grenzen endet, und der safrangelbe Tod wollte uns vor zwei Jahren schon aus Nepal verdrängen, was ihm nicht gelang. Also wähle weise, Mädchen, meine Freiheit oder deinen Tod."
"Ich habe dich erwählt, weil deine Seele so schön von Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten erfüllt ist, Huan Chiang. Außerdem will meine Herrin deinen Tod, der diesen Ort vollendet. Du wirst uns also helfen, den Grundstein für die neue Zeit zu legen, in der deine Bruderschaft die Wahl erhält, unsere Brüder zu werden, als unsere Feinde zu sterben oder uns als willige Nahrungsquelle zu dienen. Da du der große Vorsitzende eurer Bruderschaft hier im Grenzgebiet von Nepal und der sogenannten Volksrepublik China bist wird es uns ein leichtes sein, deine Bruderschaft auszulöschen oder in unser großes Reich einzugliedern."
"Ihr seid alle wahnsinnig", stieß der alte Chinese aus. Nightsong zerschnitt mit einem grünen Jadedolch seine Kleidung. Sie legte mehrere Tätowierungen frei, darunter das übliche Kennzeichen eines Mitgliedes der Triaden und die Zeichen für Himmelblau und eine Pagode. Wer diese Zeichen sah wusste eigentlich, dass ihr Träger unantastbar war, wollte er oder sie nicht wirklich einen schmerzhaften Tod erleiden und die eigene Familie in den Untergang hineinziehen. Doch Nightsong scherte sich nicht um die Macht der Bruderschaft der blauen Pagode. Sein Tod würde das Haus Nachthimmel unter dem Gipfel des 8485 Meter hohen Makalu vollenden.
Gleichzeitig hauchte unter dem Mont Blanc ein vierjähriges Mädchen ihr viel zu kurzes Leben aus. In dem Moment rollte weiter über der Versammlungshalle ein Schnellzug durch den Tunnel. Das von ihm erzeugte Beben war nur für die hier versammelten Kinder der Nacht spürbar. Wenn die Rotblütler wüssten, dass unter diesem Durchfahrweg der Grundstein für das Ende ihrer vermessenen Maschinenwelt gelegt worden war würden die in solchen Zügen reisenden Menschen sicher mit Grauen durch diesen Tunnel fahren.
Mit den Worten der Weihe und des Blutes vollzog Nightsong das letzte Opfer. Der alte Chinese, Oberhaupt der blauen Pagode, durchlitt minutenlang einen qualvollen Tod. Einen Moment lang erschien sein geisterhaft leuchtendes Gesicht im Stein des hier aufgestellten Altars der Nacht. Dann verschmolz die Erscheinung mit dem bereits bestehenden Leuchten des Blutaltars. Die Weihe war vollzogen. Der Altar und damit das Zentrum des Hauses Nachthimmel hatte seine volle Kraft erhalten.
Zwar konnte Gooriaimiria mehrere ihrer Gläubigen zugleich überwachen und auch befehligen. Doch für die bereits zur erhabenen Regel gewordene direkte Erscheinung bei den Gläubigen in ihrem neuen Tempel musste sie sich auf nur eine ihrer Priesterinnen besinnen. Da der Tempel unter dem Mont Blanc zuerst das letzte Opfer genossen hatte, erschien sie im "Haus der alten Welt" und verkündete, dass die hier erfolgten Errungenschaften als Grundlage für die erhabene Zivilisation der Nachtkinder gereichen würde und wie damals unzählige Kolonien von diesem Erdteil aus erobert und geformt wurden würde im Zusammenspiel mit den anderen Tempeln auf allen anderen Erdteilen das neue Gefüge der einzig wahren Friedensordnung errichtet. Sie warnte jedoch vor den fleischlosenSchatten, den Nachkommen jener, die einst von Kanoras gelenkt wurden und sich anmaßten, die einzig wahren Kinder der Nacht zu sein. Sie rief zum Kampf gegen deren selbstherrliche Königin und Brutmutter auf und versprach jedem und jeder, welcher oder welche ihr bei der Vernichtung dieser Feindin half, eine hohe Rangstellung im neuen Reich der Nacht. Danach ließ sie ihre Kraft in alle Anwesenden hineinströmen und füllte damit den Tempel aus.
danach erschien ihre blutrote Avatari im unter dem Gipfel des Makalu errichteten Tempel und sprach in Mandarin, sowie Kantonesisch und der in Nepal üblichen Sprachen zu den hier versammelten. Sie sagte hier, dass die alten Kulturen Asiens mithelfen würden, im Zusammenspiel mit der Urwüchsigkeit Afrikas, den alten Kulturen Afrikas und Europas, sowie den von Europa ausgegangenen neuen Strömungen und den machtvollen Vermächtnissen der indigenen Kulturen der beiden amerikanischen Teilkontinente und der Beständigkeit der Erdachse, vertreten durch das Haus der langen Eisnacht, die neue Weltordnung begründen würden, die über die nächsten Jahrtausende hinweg bestehen bleiben sollte, das uralte Vermächtnis des versunkenen Reiches und die Errungenschaften aller nachfolgenden Kulturen vereinend.
Sie erwähnte dabei auch die Feinde, die sie in asien zu fürchten hatten. Abgesehen von den nichtmagischen Bruderschaften gab es die chinesischen, japanischen und indischen Magier, deren Macht nicht unterschätzt werden durfte. Auch warnte sie vor den indischen Wertigern und rief zur Vereinigung mit den japanischen Yokai auf, unter denen auch einige Rassen waren, die menschliches Blut tranken. Indes sagte sie allen Wergestaltigen weltweit den Kampf an, der bis zum letzten Blutstropfen geführt werden musste. Sie wollte die neue Ordnung, die Macht über die Menschen und anderen Zauberwesen, auch weil sie es geschafft hatte, den Schöpfer der Nachtkinder in ihre dauerhafte Obhut zu nehmen. Die Tempel sollten helfen, ihre Gläubigen zu stärken und ihnen zugleich Zuflucht zu bieten. Hierfür würden sie alle mithelfen, genug Unlichtkristalle zu züchten, um die sieben Tempel der Nacht dauerhaft unangreifbar und uneinnehmbar zu machen.
Nachdem sie auch im letzten der sieben neuen Tempel der Nacht ihre reine Essenz durch alle dort versammelten hatte fließen lassen zog sie sich wieder zurück. Sie markierte dieses Datum in Referenz zu allen auf der Welt gültigen Kalendern, als ersten Tag ihrer längst fälligen Aufgabe, das vereinte Reich der Nacht zu vollenden.Sie dachte jedoch auch daran, dass es auf diesem Planeten immer noch Nachtkinder gab, die sich ihr bisher verweigert hatten. wollte sie eine vorherrschende Macht der Nachtkinder, so musste sie diese Ungläubigen, diese Verweigerer ihrer wahren Bestimmung, umstimmen oder vernichten. Ihr nächster Schritt würde sein, eine Streitmacht aus Kristallstaubvampiren und sogenannten Schattenrittern zu bilden. Die Schattenritter sollten mit Rüstungen aus Unlichtkristall, Silber und Mondsteinpulver ausgestattet werden. Die Rüstungen sollten jeden tödlichen oder lähmenden Zauber wie ein schwarzer Spiegel auf den Anwender zurückwerfen und konnten mit einer dunklen Aura die Kraft aus Lebenden Wesen oder Geisterwesen saugen, ähnlich wie es die Dementoren vermochten. Auch vor diesen hatte sie ihre Gläubigen gewarnt. Denn solange diese aus unbekannter Quelle stammenden Geschöpfe auf der Welt herumstrolchten musste sie damit rechnen, eigene Truppen zu verlieren, falls sie nicht mit den Schattenrüstungen ausgestattet waren. Zumindest hoffte sie darauf, dass die Schattenrüstungen ihren Anhängern auch gegen die Sonnenkinder halfen. Von denen hatte sie bei keiner Tempeleinweihung gesprochen. Denn diese Zeremonien dienten der Bestärkung und dem Aufruf gegen besiegbare Feinde. Erst wenn sie wusste, wie sie den Züchtungen der Feuermagier von damals beikommen konnte, würde sie zur letzten großen Schlacht aufrufen, bei der alle feindlichen Zauberwesen von der Erdoberfläche getilgt würden. Wann diese Schlacht geschlagen werden konnte wusste sie noch nicht. Ebensowenig wusste sie von einer Gefahr, die sich in der Nähe von Brüssel anbahnte. Um so schmerzvoller sollte die Erkenntnis sein, dass sie wirklich noch am Anfang aller Pläne stand.
Michel Barnier lebte nicht, war aber auch nicht tot. Er war kein Geist und auch kein Wiedergänger. Als ihm vor zwei Monaten in einem Wald bei Brüssel ein blauäugiges, nachtschwarzes Gespenst erschienen war hatte er noch an eine optische Täuschung geglaubt. Doch dieses Gespenst hatte sich auf seinen im Mondlicht deutlich abzeichnenden Schatten gelegt und ihn damit in sich einverleibt. Als es sich wieder aufrichtete floss Barniers halbe Lebenskraft aus ihm hinaus. Er fühlte sich schwach und hinfällig. Dann hatte der Unheilsgeist zu ihm gesprochen und ihm mitgeteilt, dass er nun im Auftrag der Kaiserin der Nacht die Menschen beobachten und für die Herrin und Mutter aller Schattenwesen wichtige Leute finden sollte. Das hatte er seitdem getan und damit fünf junge Menschen aus reichem Elternhaus an diese unheimliche, riesenhafte Schattendämonin ausgeliefert. Er hatte nichts dagegen tun können. Er musste tun, was sein Gebieter Urkam Reng von ihm verlangte. Auch tat ihm das Sonnenlicht weh und zehrte ihn weiter aus. Er war deshalb froh, als der Winter kam und er dick vermummt herumlaufen konnte, selbst wenn ihm die Kälte nichts mehr anhatte.
Auch zu dieser sehr frühen Stunde am sechsten Februar war er als rastloser Sucher unterwegs. sein Ziel war ein Hotel in der Nähe des Europaviertels von Brüssel. Sein Gebieter Urkam Reng hatte ihm befohlen, wichtige Mitarbeiter der europäischen Union zu finden und danach zu beurteilen, ob sie Kinder oder Diener der Kaiserin werden sollten.
Er schlich durch die ihm wohltuende Dunkelheit auf den Lieferanteneingang des Hotels Étoile Royale zu. Er hatte herausgefunden, dass es von hier aus zu den nur für VIP-Gäste zugänglichen Aufzügen ging. Wenn er sich bei einem dieser Aufzüge auf die Lauer legte und dem nächsten damit fahrenden seine kalten Hände um den Kopf legte konnte er ihn oder sie wie eine willenlose Puppe lenken und auf jede Frage eine wahrheitsgemäße Antwort bekommen. Vielleicht landete er sogar einen großen Coup, wenn er wichtige Beamte der europäischen Kommission an die Kaiserin auslieferte.
Der Schattenlose Michel Barnier schlich über den pflegeleichten PVC-Boden durch den Lieferantentrakt. Das Türschloss war für seine kalten Hände kein Problem gewesen. Es hatte noch nicht einmal Alarm gegeben.
Jetzt stand der Schattenlose vor einer Schleuse, durch die Mitarbeiter Speisen und Getränke in einen Lastenaufzug verladen konnten, der bis zu den Komfortsuiten hinaufführte. Dort würden die Etagenkellner die bestellten Speisen und Getränke entgegennehmen und in die betreffendenGästesuiten bringen. Er musste nur auf einen Bediensteten warten, der einem Gast sein Frühstück in den Aufzug fuhr.
Weil einer der wenigen Vorteile seiner Verwandlung zum Schattenlosen ein dreimal so gutes Gehör war konnte er das Klappern und die Kommandos in der Küche für Premium- und VIP-Gäste hören. Dann erfolgte endlich die für ihn wichtige Order: "Jacqueline, Bestellung für Suite Valonie! Ich erwarte schnellstmögliche ausführung!"
"Sehr wohl, Monsieur Barrnier", erwiderte eine Frauenstimme. Der Schattenlose fragte sich, ob er mit diesem Küchenchef verwandt war und ob er ihn deshalb aufsuchen und befragen sollte. Doch zum einen waren zu viele Leute in der Küche. Zum zweiten brannten dort zu viele Gasflammen, und Feuer konnte ihm genauso Kraft entzihen wie Sonnenlicht. Also wartete er, dass die mit Jacqueline angesprochene Hotelbedienstete mit einem Vollen Servierwagen aus der Küche kam und auf den Aufzug zusteuerte.
Er sah eine Frau Mitte dreißig mit Kochmütze und weißer Schürze um die Ecke kommen. Er roch den Duft von Croissants, Kaffee und Eiern mit Speck. Wer bestellte denn dieses Inselzeugs aus England zum Frühstück? Dann erreichte Jacqueline den Aufzug.
Blitzartig schnellte Michel Barnier aus seinem Versteck und umklammerte die Schläfen der Küchenmagd mit seinen Händen. Sie kam nicht einmal dazu, laut aufzuschreien. "Mach mir den Aufzug auf und schick mich auf die Etage der teuersten Suiten!" dachte er konzentriert und drehte die in seinem Griff erschlaffte Hotelangestellte in Richtung des Aufzuges. "Nimm den Servierwagen mit, damit es nicht auffällt!" befahl er noch, als sie schon anstalten machte, ihre Hände nach dem Tastenfeld für den Aufzug auszustrecken. Sie bugsierte den Wagen vor die Tür, ohne dass er sie loslassenmusste. Dann tippte sie die Freigabenummer für den Aufzug ein. Ein leises Piepsignal und ein elektronisches Klingeln ertönte. Dann glitt die Falttür des Lastenaufzuges auf. Die Küchenmagd schob den Wagen in die Kabine. Der Schattenlose folgte ihr. Dann drückte Jacqueline die Taste für den obersten Stock. Darauf erfolgte ein leises Bimmeln. Jacqueline zog eine Chipkarte aus ihrer Kittelschürze und zog diese durch den Schlitz eines Lesegerätes. Dann kam die Aufforderung: "Bitte aus der Kabine treten. Nur Lastentransport erlaubt!" Doch Jacqueline und der sie immer noch in einer unheimlichen Umklammerung haltende Schattenlose blieben in der Kabine. Die Tür ging zu. Der Aufzug ruckte an und fuhr fast geräuschlos mit hoher Geschwindigkeit nach oben. Es ging bis ins neunte Stockwerk, wo die größten Suiten lagen, unter anderem die nach europäischen Regionen benannten Suiten Valonie, Bayern, Bretagne und Provence. Für Mitglieder einer Königsfamilie oder Staatspräsidenten gab es noch durch eine Sicherheitsschleuse abgeschirmte Suiten im Westtrakt. Doch er sollte noch kein Regierungsmitglied von wo auch immer auswählen. Die Kaiserin der Nacht wollte die Tagmenschen behutsam erobern.
Der Lastenaufzug hielt mit leisem Bimmeln. Dann gingen die Türen auf. Helles Neonlicht fiel in die Kabine. Der Schattenlose musste die Augenzukneifen, weil dieses Licht zu grell für ihn war.
"Moment mal, du bist mit dem Aufzug mitgefahren, Jacqueline?" hörte er eine sichtlich verunsicherte Männerstimme. Nur mit halb offenen Augen sah er, wie der Kollege der Küchenmagd sie und dann ihn ansah. Er begriff, dass der Mann in weißer Kellnerjacke sofort Alarm schlagenwürde. Deshalb befahl er Jacqueline, hier zu warten. Er lief los. Er verwünschte das grelle Licht. So war der Kellner für ihn nur ein Schatten auf dem Boden. Dann hatte er ihn eingeholt, gerade als der Mann die geballte Faust hob, um eine dünne Glasscheibe in einem roten Kasten einzuschlagen. Wie eine zuschlagende Gottesanbeterin schlug er seine Hände um die Schläfen des Etagenkellners und ließ ihn augenblicklich erstarren. "Du bringst mich zu dem wichtigsten Gast, den ihr gerade auf dieser Etage habt", dachte er. Der Kellner konnte nicht widerstehen. Er ging schwerfällig los und führte den ihn immer noch in seinem Unterwerfungsgriff haltenden Schattenlosen durch die Seitengänge. Links und rechts lagen die Türen zu den Suiten. Dahinter hörte er mal leises Schnarchen, mal Geräusche aus dem Badezimmer oder die Stimmen aus Radios oder den Großbildfernsehern. Vor einer Tür mit der Aufschrift "Suite Kurpfalz" hielt der Kellner. Der Schattenlose sah das Schild "Bitte nicht stören" an der Tür und hörte zwei Stimmen, die eines Mannes und die einer Frau. Die Frauenstimme sprach gerade französisch mit dem Mann: "Du wirst es mögen, mit mir für die Göttin zu streiten, Pierre. Wenn du deine Sache gut machst wirst du sicher von ihr als Statthalter deiner Heimatregion eingesetzt."
"Ichhätte nicht gedacht, dass das so heftig ist, ja dass es euch überhaupt gibt", sagte der Mann mit einer etwas gequälten Stimmlage. Der Schattenlose fühlte, dass irgendwas seltsames passierte. Er konnte es nicht einschätzen, aber es war ihm nicht geheuer. "Du wartest hier auf mich und rührst dich nicht, egal was passiert!" dachte er dem immer noch in seinem Unterwerfungsgriff hängenden Kellner zu. Dann ließ er ihn los. Der Kellner musste den Befehl ausführen, solange seine Augen kein Sonnenlicht sahen, dass ihm neue Willenskraft gab, so Urkam Reng.
Der schattenlose Michel Barnier klopfte an die Tür. Ein verärgertes Schnauben war die Antwort. "Entschuldigen Sie, Monsieur, die Hoteldirektion bat mich, Ihnen eine schriftliche Mitteilung zu übergeben, die keinen Aufschub duldet", sagte Barnier. Dann hörte er Schritte hinter der Tür und fühlte eine fremdartige Ausstrahlung. Das gefiel ihm nicht. Da flog die Tür auf, und zwei Hände schossen vor. Sofort fühlte sich der Schattenlose am Kragen gepackt. Doch er war ebenso schnell und bei Nacht sogar stärker als jeder gewöhnliche Mensch. Er wollte jedoch keinen lauten Kampf auf dem Flur und ließ sich deshalb in den Flur der 4-Zimmer-Suite hineinzerren. Erst als die Tür mit leisem Schnappen wieder zufiel besann er sich darauf, dass ihn eine Frau mit bleichem Gesicht gepackt hielt. Er fühlte ihre befremdliche Ausstrahlung. Dann sah er, wie sie ihn ansah und fühlte, dass etwas fremdes in ihn eindrang. Doch sofort entstand ein schmerzhafter, doch wirksamer Widerstand dagegen. "Wer oder was bist du? Du bist kein Mensch. Also sage, was du bist!" schnaubte die Frau und entblößte ein schneeweißes Gebiss mit überlangenEckzähnen. Sie war eine Vampirin!
Hätte Barnier vor seiner unfreiwilligen Rekrutierung für die Kaiserin der Nacht erzählt bekommen, dass es echte Vampire gab, er hätte jeden ausgelacht und als abergläubischen oder kindischen Spinner abgetan. Doch weil er selbst mit dämonischenMächten zusammengeraten war und die andere da eine für ihn fremdartige Ausstrahlung besaß wusste er sofort, dass sie sich nicht verkleidet und geschminkt hatte. "Los, sprich. Dein Widerstand nützt dir nicht, wenn die Göttin mir die Kraft gibt, dich zu unterwerfen."
"Mal sehen, wer hier wen unterwirft, Langzahn", schnaubte Barnier und ließ seine eigenen Hände vorschießen. Er schaffte es, die Schläfen der Vampirin zu umfassen. Doch seine Hände erbebten. Natürlich reagierte das Gehirn einer Blutsaugerin anders als das eines Normalmenschen. Doch dann stieß eine unsichtbare Kraft seine Hände zurück, als seien starke Metallstempel aus dem Kopf gefahren. Doch auch die Vampirin musste ihn loslassen. Dafür wollte sie ihm mit der Handkante an die Stirn schlagen. Er tanzte den Schlag aus wie ein Profiboxer auf Speed und versuchte seinerseits einen heftigen Schlag zu landen. Doch sie war ebenfalls sehr schnell und duckte sich unter dem Schlag weg. Sie rammte ihm ansatzlos den Kopf in den Bauch. Dabei schien etwas wie ein unsichtbarer Airbag zwischen ihr und ihm aufzuquellen. Beide wurden einen halben Meter voneinander weggedrängt. Da tauchte ein Mann im Schlafanzug mit einem blutgetränkten Schal um den Hals auf. Er war ebenfalls bleich und hatte diese fremde Ausstrahlung. Dann sprang er zusammen mit der Vampirin vor und zeigte ebenfalls die typischen spitzen Fangzähne der nächtlichen Blutsauger. Zwei auf einmal schinen für den Schattenlosen zu viel. Er hatte an jedem Arm zwei kräftige Hände hängen. "Das ist kein Normalmensch. Dem haftet was an, was ihn gefährlich macht", sagte die Vampirin zu ihrem Artgenossen, während sie versuchten, Barnier niederzuringen. Dieser rief im Geist um Hilfe. Sein Gebieter musste ihn doch hören. Gleichzeitig fühlte er, wie etwas in ihm brodelte, als wäre er ein kleiner Teekessel, in dem das Wasser immer heißer wurde.
"Wir sollen ihn der Göttin ausliefern", sagte die Frau auf einmal. Dann fühlte Barnier, wie vor und hinter ihm starke Kräfte in den Raum drängten und sah einen für ihn hellroten Lichtwirbel, aus dem heraus drei weitere Gestalten mit bleichen Gesichtern traten. Er warf seinen Kopf herum und sah, dass auch hinter ihm ein solcher Kraftstrudel entstanden war und gerade drei weitere Vampire ausspie. Er war in eine Falle geraten. Gegen acht Vampire kam er garantiert nicht an. Sie würden ihn beißen, sein Blut bis auf den letzten Tropfen aussaugen und ihn zu einem wie sie waren machen. Das würde sein tot sein. Denn die Kraft des Schattendämons würde das nicht zulassen. Als er das dachte sah er, wie die acht Vampire ihn umringten und sich an den Händen ergriffen. Er begriff, dass sie eine Art magisches Tor oder einen gemeinsamen Raumsprungzauber versuchten. Gelang das war er verloren. Da entlud sich das bis dahin immer stärker gewordene Brodeln in einer gewaltigen Explosion. Sein Körper wurde augenblicklich eiskalt und barst in vielen Millionen Splittern in alle sechs Richtungen auseinander. Er bekam es schon nicht mehr mit, wie diese Splitter mit Überschallgeschwindigkeit in alles und jeden einschlugen, das gerade in Sichtweite war. Alle acht Vampire, die gerade einen gemeinsamen Reisestrudel erzeugen wollten, wurden förmlich durchsiebt und verloren ihr magisches Leben. Ihre Seelen stießn noch einen vereinten Todesschrei aus, bevor sie entwichen.
Weil die Splitter die Sicherheitssensoren durchschlugen ging in der Sicherheitszentrale der Alarm los, der bei Feuer oder mutwilliger Beschädigung von Türen oder Einrichtungsgegenständen ausgelöst wurde. Ein aus vier Mann bestehender Sicherheitstrupp jagte mit einem Expressaufzug die neun Stockwerke hinauf und fand zuerst die gerade aus ihrer Erstarrung freikommende Jacqueline und den Servierwagen. Das Küchenmädchen konnte sich nur daran erinnern, dass es den Wagen zum Aufzug geschafft hatte. Mehr konnte sie nicht sagen. Auch der vor der Suite "Kurpfalz" stehende Etagenkellner wusste nur, dass er auf das Klingelzeichen des Aufzuges reagiert hatte und sich dann vor dieser Tür wiedergefunden hatte. Die Tür selbst wies verdächtige Löcher auf, als habe jemand mit Schrot darauf geschossen. Mit einem Notöffner schaffte es der Truppenführer, die Tür zu öffnen.
Das erste, was sie fühlten war eisige Kälte. Dann sahen sie die überall in Wänden, Decke und Teppichboden steckenden Splitter. Dann erkannten sie auch die hundertfach durchlöcherten Körper von acht menschlichen Wesen, die scheinbar völlig blutleer waren. Doch aus den vielen Wunden begann nun helles Blut zu sickern, dass im Austreten verdampfte, als sei es flüssiger Stickstoff, der an normalwarme Luft geriet. Allen vieren war klar, dass hier was völlig unheimliches, unbegreifliches vorgegangen sein musste. Alle Lichtquellen im Flur waren zersprungen. In allen Türen steckten diese Splitter, als wäre hier eine Bombe explodiert.
"Hat keiner von Ihnen was gehört?" fragte der Gruppenführer Pontier den Etagenkellner. Dieser schüttelte nur den Kopf. "Monsieur Pontier, die Tote hier hat überlange Eckzähne wie eine Vampirin", sagte ein Begleiter Pontiers.
"Was?! sicher nur ein Plastikgebiss. ziehenSie die Einweghandschuhe an und nehmen sie es heraus!"
"Das geht nicht", vermeldete Pontiers Untergebener. "Die sind feste eingesetzt oder gewachsen." Auch die sieben anderen Toten hatten Vampirzähne und wiesen sogar die für diese Fabelwesen typischen Bissmale am Hals auf. Bei einem von ihnen waren diese noch sehr frisch, weshalb er seinen Hals mit einem Schal umwickelt hatte.
"Das muss die Direktion entscheiden, ob wir das der Polizei sagen", seufzte Pontier.
"Aber Monsieur Pontier, wenn es echte Vampire sein sollten, dann könnten noch mehr von denen im Hotel herumlaufen."
"Jetzt malen Sie bloß nicht den Teufel an die Wand", schnarrte Pontier. Er zitterte förmlich, weil die Lage ihm mehr abforderte als er verkraften konnte. "Wenn das hier echte Vampire sind oder waren, was hat sie dann so zugerichtet?"
"Eine Bombe mit Scherben aus Silber vielleicht?" fragte einer der Untergebenen. Ein Kollege warf ungestüm ein, dass Silber gegen Werwölfe half und Vampire nur durch Sonnenlicht, Feuer, Enthauptung, fließendes Wasser und einen Eichenpflock durchs Herz getötet werden konnten.
"Kommt auf das Handlungsuniversum an. In verschiedenen Gruselgeschichten helfen Silberkugeln oder Klingen auch gegen Vampire. Die zerfallen dann aber zu Staub", musste noch wer einwerfen. Da schraken sie alle zusammen. Mitten im Raum war ein pechschwarzer Punkt entstanden, der immer größer wurde und innerhalb einer Sekunde zu einem nachtschwarzen Wirbel anwuchs, der fast bis zur Decke reichte. Aus dem Wirbel traten drei Männer in klobigen Westen und mit dicken Stiefeln an den Beinen. "Oh, auch schon da?" fragte einer der behelmten Männer und klappte das Visier hoch. Zum Vorschein kam ein wachsbleiches, bartloses Gesicht. Dann fing der Blick der blutunterlaufenen Augen den von Pontier ein. Sogleich erstarrte der Sicherheitsgruppenleiter. Seinen Leuten erging es nicht anders.
"Wir sind nur gekommen, um unsere Brüder und Schwestern abzuholen. Ihr habt uns hier nicht gesehen", befahl der behelmte Vampir. Dann klaubten er und seine Begleiter je zwei Leichen auf und stellten sich zu einem Dreieck zusammen. Wider umfing sie ein schwarzer Strudel und schrumpfte mit ihnen, als würden sie sich darin von diesem Ort entfernen, bis nur noch ein winziger Punkt in der Luft schwebte, der leise piffend verschwand. Die vier Sicherheitsleute blieben immer noch starr stehen und reagierten auch nicht, als noch die drei anderen Vampire mit einem zweiten nachtschwarzen Wirbel in die Suite versetzt wurden. Sie hoben die beiden noch verbliebenen Leichname auf. "In einer Minute könnt ihr euch regen und dann wieder gehen. Ihr habt hier keine Vampire gesehen, keine lebenden und auch keine toten!" befahl der Führer der drei bleichen Eindringlinge. Dann bildeten sie wieder ein Dreieck und wurden von einem neuen schwarzenStrudel eingefangen, der sie aus der Suite entfernte.
Als die Hotelangestellten aus dem Bann des Vampirs erwachten standen sie im Flur und fragten sich, was gerade geschehen war. Sie sahen nur die Löcher in Boden, Wänden und Decke und argwöhnten einen Explosivkörper. Die Durchsuchung der Zimmer ergab, dass die Geschosse oder was es war durch die Türen gedrungen waren, jedoch an den Panzerglasfenstern nur tiefe Furchen hinterlassen hatten. Die Betonwände hatten die Wucht der umherfliegenden Geschosse ausgehalten.
"Hier liegen Kleidungsstücke", sagte einer der Hotelbediensteten und deutete auf abgelegte Herren- und Damenkleider. "Laut Verzeichnis wohnte nur ein Monsieur Krug in dieser Suite. Er war im Auftrag der europäischen Zentralbank hier und sollte das nächste Treffen der europäischen Finanzminister begleiten."
"DieKleidung sieht seriös aus, nicht wie die einer Prostituierten", meinte ein recht junger Mitarbeiter Pontiers.
"Wievielen Prostituierten, vor allem solchen, die als Begleiterinnen hochgestellter Herren arbeiten, sind Sie schon begegnet, Richard?"
"Öhm, noch keiner. Doch ..."
"Abgesehen davon, dass die Dame auch aus ganz natürlichen Gründen den Herren in die Suite begleitet hat können sich käufliche Damen sehr wohl sehr züchtig bekleiden und beispielsweise mit ihrem Kunden eine Opernvorstellung besuchen, ohne als Prostituierte aufzufallen, Richard", sagte Pontier. Ein anderer sang daraufhin den Kehrreim des bekannten Lieds von Roy Orbison. "Eben das ginge, wenngleich ich immer davor warne, Film mit Wirklichkeit gleichzusetzen. Aber mir sind in der Tat schon einige geschäftlich tätige Damen begegnet, die ganz diskret mit Gästen unseres Hauses zusammen waren. Aber Spekulationen möchtenSie bitte der Polizei überlassen. Die rufen wir besser noch."
Als nach nur fünfzehnMinuten ganz diskret eine Gruppe Kriminalbeamter und Spurensicherer durch den Hintereingang geschleust wurde bekam keiner mit, dass bei diesen auch zwei Herren waren, die bei der seltsamen Meldung sehr hellhörig geworden waren. Als sie dann den Tatort besichtigten nickten sie einander zu und schienen für einige Sekunden geistesabwesend zu sein. Dann zogen sie unvermittelt je einen schlanken Holzstab hervor und ließen die sie begleitenden Beamten erstarren und dann betäubt umfallen.
"Roger, das passt zu der Alarmmeldung aus der Spürsteinwacht. Hier hat sich eine heftige dunkle Magie entladen. Das müssen wir prüfen und dann schnellstmöglich weitermelden.
"Auf dem Boden haben zwei Körper gelegen. Siehst du hier, die Häufung der eingeschlagenen Splitter und hier, helle Flecken, könnte Vampirblut sein."
"Vampirblut. Moment mal. Hier sind noch solche Flecken, die die Umrisse eines Körpers bilden. Oha, da brauchen wir das große Aufgebot, Maurice. Vor allem müssen wir nach Zeugen suchen, was passiert ist."
"Da war das Küchenmädchen, dass den Servierwagen für die Suite Valonie hochschicken sollte und der Etagenkellner, die eine verdächtige Gedächtnislücke aufweisen."
"Wir sollten jedenfalls zusehen, ob hier noch mehr Vampire oder andere Unwesen herumlaufen."
"Sage ich doch. Wir brauchen das große Aufgebot."
Wenige Minuten später apparierten zwanzig Mitglieder der vereinten Einsatzgruppe gegen ungenehmigte Magie vor Muggeln und dem Angriff dunkler Mächte des belgischen Zaubereiministeriums. Sie untersuchten mit verschiedenen Spürgeräten das Zimmer, nahmen Proben des hellen Blutes und zogen einzelne Splitter aus den Wänden. "Ui, schockgefrorenes Körpergewebe. Leute, hier ist das passiert, was die Kollegen in Deutschland erlebt haben, ein wegen Bedrängnis explodierter Mensch, dem sein Schatten gestohlen wurde."
"Wie bitte?!" fragte der Einsatzgruppenleiter, Antoine Duisenberg.
"Die hatten in Deutschland den Fall, dass sie einen Mann ergreifen wollten, dem der natürliche Schatten fehlte. Als sie ihn zu fassen versuchten ist der wie ein Erumpenthorn explodiert. Sein Körper ist in abertausend Eissplitter zerfallen, die alle mit dreifacher Armbrustbolzenkraft durch lebende Wesen geschlagen sind und sogar Drachenhautpanzerungszauber durchschlugen. Seitdem gilt die Anweisung, einen erkannten Schattenlosen nicht festzunehmen, sondern aus sicherer Entfernung zu beobachten."
"Öhm, wissen die Vampire das auch?" wollte ein anderer Zauberer wissen. "Spätestens jetzt wissen die das wohl, wenn die vor ihrem Ableben noch ihrer neuen Göttin einen Gedanken zuschicken konnten", sagte Duisenberg und untersuchte selbst ein paar Splitter mit einem Trimaxglas. "Eindeutig. Erst ist der arme Mensch tiefgefroren und dann mit unglaublicher Wucht explodiert. Dabei hat er auf jeden Fall fünf Vampire mitgenommen, bevor die sich in Sicherheit bringen konnten."
"Und wo sind die fünf Vampire?" wollte Duisenberg wissen.
"Weg", sagte der etwas vorwitzige Mitarbeiter von eben.
Eine Untersuchung mit der Rückschaubrille Florymont Dusoleils ergab, dass die Suiet zweimal in einen schwarzen Unortbarkeitsnebel gehüllt wurde. Davor hatte sich eine Vampirin an einem Menschen zu schaffen gemacht und ihn wohl dazu gebracht, mit ihr den Blutaustausch zu vollziehen. Jedenfalls waren zwischen den beiden kurzen Unortbarkeitsphasen acht durchsiebte Vampirkörper zu sehen gewesen. Sie konnten auch einen schemenhaften grauen Mann erkennen, der wie ein Geist die beiden Hotelangestellten vor sich hergetrieben hatte.
"Der graue Geist war in Wahrheit ein Mensch ohne natürlichen Schatten. Interessantzu sehen, dass die Brille solche Wesen auf diese Art darstellt", sagte Duisenberg. "Außerdem können wir trotz Unortbarkeitsepisoden folgendes festhalten: Der Schattenlose hat wohl versucht, sich Zugang zu dieser Suite zu verschaffen, was ihm wohl gelang. Dabei stieß er auf die Vampirin und ihr Opfer. Die haben beide versucht, ihn festzunehmen. Dann kam die erste Unortbarkeitswoge. Danach lagen acht Vampire tot auf dem Boden, darunter die beiden aus der Suite. Der Schattenlose war da schon detoniert. Dann kam die nächste Rückschaustörung. Danach waren keine Vampirkörper mehr da. Das heißt, erst sind andere Blutsauger den beiden aus der Suite zur Hilfe gekommen. Doch das war deren Verhängnis, weil der Schattenlose in seiner Bedrängnis die ihm eingeflößte Dunkelkraft entladen hat. Dann kamen die vier Hotelbediensteten und fanden die acht toten Vampire. Die wurden dann von Artgenossen abgeholt, um keine verdächtigen Leichen zurückzulassen. Also dürfen wir davon ausgehen, dass die Polizei keine Akte über diesen Fall anlegen darf und dass die Vampirgötzin jetzt wohl weiß, dass ein Schattenloser bei einem Festnahmeversuch zur Bombe wird."
"Gut, dann müssen wir hier nur aufräumen, die Gästeliste umändern und den Leuten hier die Erinnerungen umkneten", stellte Maurice fest. Sein Vorgesetzter nickte heftig.
Dreißig Minuten später waren alle Spuren beseitigt. Die in den Wänden steckenden Splitter waren einfach ausgebrannt worden. Der Teppich wurde mit Reparaturzauber nahtlos geflickt. Die Blutspuren wurden mit besonderem Elixier in reines Wasser und Asche aufgelöst. Auf eine Eingebung seines Kollegen Maurice Dubois hin ließ Duisenberg die Küchenhilfe Jacqueline Muller und den Etagenkellner Reinier Cherbourgh in das Zaubereiministerium bringen. Dort bekamen sie unter Aufsicht der Heilerin vom Dienst, Suzanne Fontchaud einen neuentwickelten Trank, der magisch erzeugte Erinnerungsblockaden lösen konnte, wenn sie nicht älter als einen halbenTag waren und wenn sie nicht einen Zeitraum von mehr als einen Tag betrafen, denn sonst drohte ein vollständiger Gedächtnisverlust wegen Überanstrengung des Gehirns. Auf diese Weise erfuhren die Ministeriumsbeamten, dass Jacqueline und Reinier erst von eiskaltenHänden um den Kopf gegriffen worden und dadurch zu willenlosen Marionetten gemacht worden waren und die vier Sicherheitsleute die acht toten Vampire noch gesehen hatten, bis ein aus einem schwarzen Strudel aufgetauchtes Trio ihnen eingeprägt hatte, keine Vampire gesehen zu haben.
"Ich würde mal sagen, die Vampire stehen nun mit den neuen Nachtschatten und ihren ihrer Schatten beraubten Opfern im Krieg. Das wird womöglich ein sehr sehr heißer Winterschluss", stellte Duisenberg fest.
Sie hatte nur die vielenTodesschreie gehört und noch versucht, die acht Getreuen zu retten. Doch diese wurden von einer unbändigenKraft regelrecht aus ihrenKörpern gerissen. Sie schaffte es nicht einmal mehr, deren freigesetzte Seelen einzufangen, um sie sich einzuverleiben. Die unheimliche Kraft schleuderte auch die Seelen der Vampire in alle Richtungen und zerstob diese. Doch eines hatte Gooriaimiria noch mitbekommen können: Ein Mensch ohne eigenenSchatten, der von einer ihr all zu bekannten Kraft erfüllt war, hatte sich Zugang zu der Gästesuite verschafft, in der ihre Außenagentin versucht hatte, einen wichtigen Mann aus dem europäischen Finanzsektor anzuwerben. Offenbar hatte der ausgesandte Schattenlose dasselbe Ziel gehabt. Ja, und diesem Menschen oder Zwischenwesen war was eingeflößt worden, ihn im Angesicht von Gefangenschaft oder Tod zu zerstören und zwar so, dass alles in seinem Umkreis mitvernichtet wurde. Ihr war sofort klar, dass diese selbsternannte Herrin aller Nachtschatten, die sich und ihre Brut für die wahrenNachtkinder hielt, dahinterstecken musste. Wieso konnte die sowas? Was konnten ihre Gläubigen dagegen machen? Wie mächtig war diese Kraft, wenn sie selbst die Seelen entkörperter Vampire betraf? Gooriaimiria durchforschte alle in ihr konzentrierten Erinnerungen und fand in den geraubten Erinnerungen des einstigen Schattenträumers Kanoras die Antwort: Wenn ein Nachtschatten wusste, wie es ging, konnte er sich den Schatten eines lebenden Wesens einverleiben und es damit seinem Willen unterwerfen. Gleichermaßen konnte der Lenker des Schattenlosen diesen bei Gefahr oder zum Zwecke eines Flächenangriffes die Macht der eiskalten Dunkelheit in den Leib jagen. Diese sprengte das Opfer und riss alle anderen Lebewesen mit in den Tod. Dabei wirkte die Kraft auch auf die Seelen der Opfer ein. Diese flogen schneller als der Schall davon, bis sie lange genug im Sonnenlicht trieben. Erst dort wurden sie frei und verschwanden in Gedankenschnelle aus der Welt, falls sie nicht als löcherige Geister in der stofflichen Welt bleiben wollten. Dass diese Kraft Vampirseelen regelrecht zerstreuen konnte wussten selbst die beiden Geschwister nicht, die zusammen das Wesen Kanoras gebildet hatten.
"An alle meine Getreuen. Wer von euch einen Menschen erblickt, der keinen eigenen Schatten wirft und der eine der dunkelheit entnommene Ausstrahlung aussendet, der ist zu meiden oder aus mehr als einem halben Kilometer entfernung zielgenau und augenblicklich zu töten. Jeder Versuch, einen solchen Rotblütler zu ergreifen führt zum Tode dessen, der dies wagt", schickte Gooriaimiria diese Botschaft an alle ihre sieben Priesterinnen hinaus und verbreitete sie auch in mehreren Wiederholungen über die ganze Welt. Als sie das erledigt hatte erkannte sie, dass wenn die Erzfeindin das wusste, sie solche Schattenlosen gegen ihre getreuen Kinder und Kindeskinder einsetzen konnte. Hatte sie die andere echt dermaßen unterschätzt? Dann fiel ihr ein, dass die andere ja zeitgleich mit Kanoras' Ende entstanden war und dabei wohl all das in ihrem Gedächtnis behalten hatte, was der Schattenträumer gewusst hatte. Dann würde sie dieses Wissen auch gegen sie nutzen. Das war eine sehr beklemmende Erkenntnis. Und das war nicht das letzte, was ihr noch Sorgen machen sollte.
Jeff Bristol wollte schon seine Jacke nehmen und sich für diesen Tag verabschieden, als ihn ein hausinterner Anruf seines Redakteurs erreichte.
"Jeff, ich weiß, Sie haben gleich Feierabend. Aber Tinwhistle hat sich wieder gemeldet. Er oder sie war also nicht bei dem Treffen dabei. Kommen Sie bitte noch einmal zu mir und lesen Sie seine oder ihre neueste Botschaft. Ich will die nicht aus der Hand geben."
"Bin gleich bei Ihnen, Sir", sagte Jeff und ging ins Büro von Mike Dunston.
"Schön, Sie haben noch Zeit. Bitte, hier, lesen Sie diese Mitteilung!"
Jeff nahm einen Zettel und las:
Kleine, knallrote Chilischote!
Treffen zwischen erwähnten vier Herrschaften führte zu ersten Unstimmigkeiten zwischen den großen neun. Erbfolgekrieg und Entmachtungskampf nicht mehr ausgeschlossen. Kann Stadtpolizei und Feds nicht benachrichtigen, weil Gefahr von Maulwurf im Garten.
Ich empfehle eine Mitteilung, dass die Explosionen bei der alten Fabrik der Racheakt einer rivalisierenden Drogenbande war, weil in der Fabrik Labor für Crystal Meth und ein Lager für die Droge betrieben wurde.
Ich empfehhle ebenfalls, alle prekären Stadtgebiete zu unbetretbaren Bereichen für Touristen und alle Nicht-Anwohner zu erklären. Dort könnten erste Kampfhandlungen ausbrechen.
Erwarte Restbetrag für stattgefundenes Treffen am 21. Februar.
Tinwhistle
"Also ist Tinwhistle nicht in der alten Fabrik gewesen, vermutete Jeff zunächst. Dann korrigierte er sich: "Er oder sie könnte auch von Hinterbliebenen der vier Toten informiert worden sein. Vor allem ist die Frage, was das mit dem Drogenlabor soll?"
"Das soll wohl die öffentlichkeitstaugliche Erklärung für die Explosion der Fabrik sein", erwiderte Mike Dunston.
"Ja, aber die Polizei kann dann Rückstände der benötigten Substanzen und Überreste der Droge finden. Wenn wir jetzt damit herauskommen wird die Polizei fragen, wieso wir sowas behaupten, falls es dort kein Crystal gab, weder im unfertigen, noch verkaufsfertigen Zustand. Was soll das also?"
"Sagen wir es so, wir müssen eine Erklärung liefern, warum Leute nicht in die betreffenden Stadtteile rein sollen, auch wenn das schon vom Stadtrat und der Polizeibehörde verordnet wurde. Aber ansonsten gebe ich Ihnen recht, dass Tinwhistle hier Öl ins schon heruntergebrannte Feuer schüttet."
"Na, noch ist es nicht heruntergebrannt, Sir", sagte Jeff. "außerdem bleibt die Frage, was Tinwhistle noch will, wo dieses Treffen mit großem Getöse gescheitert ist."
"Dass es drei ehrenwerte Männer erwischt hat und in Philadelphia der Thron des Verbrecherkönigs wieder frei ist", sagte Dunston. Jeff nickte. "Ja, und dass Ralf nach seiner Rückkehr die 1500 Dollar übergeben soll."
"Das sowieso", erwiderte Jeff. Er meinte, den immer heißer werdenden Fußboden schon durch die Schuhsohlen zu fühlen. Er musste unbedingt was prüfen, solange das Zeitfenster noch offen war. Sogesehen hatte er gerade noch fünf Stunden Zeit, bis die Ereignisse vom vierten Februar nicht mehr nachbetrachtet werden konnten. Deshalb fragte er noch, was er nun tun sollte. "Machen Sie eine Kurznotiz, dass die alte Fabrik vielleicht ein illegales Labor für kristallines Metamphetamin war und es deshalb bald zu gewaltsamen Auseinandersetzungen einschlägiger Banden kommen könnte, weil die eine die andere beschuldigt, das Labor zerstört zu haben. Dann dürfen Sie zu Frau und Kind nach Hause."
"Danke und Ihnen noch einen erholsamen Feierabend!" erwiderte Jeff und verließ Dunstons Büro.
"Justine, jemand von uns muss noch mal die zerbombte Fabrik überprüfen, ob da nicht doch noch Zeugen waren oder ob es unter den Trümmern Kellerräume mit möglichen Fluchtwegen gab, und zwar in den letzten achtundvierzig Stunden."
"Justine, hier Jeff. Hat das Institut noch mal die Fabrik überprüft, ob es da keine Überlebenden geben konnte oder doch?" gedankenfragte Jeff Bristol.
"Wollte dir Davidson erst beim nächsten Besuch sagen. Es hat sich herausgestellt, dass der Hubschrauber offenbar einen Unortbarkeitsstein bei sich hatte, nicht nur einen Unfunkstein gegen Radarerfassung. Demnach sind alle zwischen seiner Landung und seinem Abflug abgelaufenen Ereignisse nicht mehr nachzubetrachten", erwiderte Justine auf die gleiche Weise. Dann schickte sie ihm noch zu: "Sie konnten aber feststellen, dass es unter der Fabrik Fluchttunnel gegeben hat. Die wurden weit nach dem Beschuss durch absichtliche Sprengungen zum Einsturz gebracht. Davidson will noch überlegen, ob es sich lohnt, magisch in diese Tunnel vorzudringen."
"Wir müssen wissen, ob und wer das überlebt hat, Justine. Stell dir vor, Zagallo oder einer seiner Begleiter hat was magisch manipuliertes angestellt und das konnte über Fernsehbildschirme mitverfolgt werden. Dann laufen da jetzt ein, zwei oder ganz viele herum, die das im Gedächtnis haben und nur solange nicht ausplaudern, wie sie selbst Angst vor Entdeckung haben müssen."
"Gebe ich so weiter, Jeff", gedankenantwortete Justine Bristol. "Außerdem wirst du schon sehnsüchtig von unserer kleinen Laura Jane erwartet."
"Ich weiß, ich habe heute wieder Wickeldienst", gedankenseufzte Jeff. Ihm fielen dabei wieder diese kuriosen Träume ein, in denen Laura Jane sich als Wiedergeburt ihrer eigenen Urgroßmutter offenbart hatte.
"Wir waren uns einig, dass alles nötige von uns gemeinsam erledigt wird. Also sieh zu, dass du nach Hause kommst, damit die Kleine nicht zu lange in ihrem eigenen Kacka rumliegen muss!"
"Ich kann schlecht den Dreifachkraftmodus einschalten, solange ich durch die Stadt brumme", gedankenantwortete Jeff. Dann wünschte er seiner Frau bis zur Heimkehr noch die nötige Ruhe, um die vielleicht unermüdlichen Schreie der gemeinsamen Tochter auszuhalten.
Als die beiden jungen Eltern Justine und Jeff Bristol abends spät noch im Wohnzimmer zusammensaßen klopfte eine Eule an das Fenster. Jeff ließ sie herein und nahm ihr einen Brief ab. Er las, dass Davidsons Leute sich durch beide Fluchttunnel gewühlt hatten und dann mit der Rückschaubrille verfolgt hatten, wie aus jedem davon ein gelber Ford Crown Victoria hinausgefahren war. In einem hatten zwei gesessen, im anderen sieben Leute. Die sieben waren mit kugelsicheren Westen oder wie dienstboten und Küchenpersonal bekleidet gewesen. In dem Wagen mit zwei Flüchtlingen hatte ein Mann im feinen Anzug gesessen. Davidson hatte beschlossen, hauseigene Befrager und Vergissmichs hinter denen herzuschicken und dabei das ganze Kontingent von Harvey-Besen beansprucht. So hatten die Kollegen vom Laveau-Institut tatsächlich erfahren, dass einer von denen Michael Fawley genannt Micky Microchip und der andere Roberto Venuti aus dem Venuti-Clan war und dass beide gesehen hatten, dass Zagallo eine schwere Maschinenpistole aus einer dafür viel zu kleinen Jackentasche gezogen hatte. Diese Erinnerung wurde dahingehend korrigiert, dass Fawley und Venuti Zagallo beobachtet hatten, wie der eine 9-Millimeter-Beretta gezogen und auf Dario geschossen hatte, der darauf hin eine Sprengvorrichtung an seinem Körper gezündet hatte. Mehr mussten die Vergissmichs nicht tun. Die sieben anderen Geflüchteten hatten nur die Schießerei vor dem Haus und das Dauerfeuer des Hubschraubers mitbekommen, bis alle Außenkameras ausgefallen waren.
"Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass es die Vampirsekte dieser neuen Blutgötzin ist", hatte Davidson abschließend geschrieben. "Die Werwölfe hätten womöglich sämtliche ihnen unterworfenen mit ihrem Keim angesteckt", las Jeff seiner Frau vor. Diese nickte bestätigend.
"Und was ist das mit dieser Einbruchsserie, Justine? Du hast gemelot, dass es sehr heftig war", wandte sich Jeff noch einmal an seine Frau.
"Also, Dank eures Computerkurses konnte ich die noch offenen Zugänge auf Frileys Rechner nutzen und die Standorte und die bereits gesicherten Spuren und Aussagen nachsehen und ausdrucken. Daraufhin haben unsere Kollegen die betreffenden Geschäfte unsichtbar aufgesucht. Wäre fast aufgeflogen, weil Buggles Truppe lokale Aufspürsteine dort platziert hat. Aber Quinn hat ja einen Weg gefunden, die für einige Zeit zu betäuben. Ja, und nun weiß er und wissen wir, dass noch wer anderes einen Weg gefunden hat, Spürsteine vorübergehend zu überlagern, ohne ein großes Ritual zu vollziehen. Jemand in Schwarz mit Kopf- und Gesichtsvermummung hat vor jedem der sechs Gebäude zwei Steine an die Wand gedrückt, wodurch zum einen alle von ihm anschließend ausgeführten Zauber unentdeckt blieben und alles was mit elektrischem Strom betrieben wurde regelrecht eingefroren wurde. Gut, dass Alarmanlagen mit einem einfachen Erstarrungszauber blockiert werden können ist ja schon ein alter Hut. Aber was der oder die gemacht hat war um mehrere Größen wirksamer. Jedenfalls konnte der Einbrecher dann ganz ruhig durch die mechanisch gesicherten Türen eindringen und sich bedienen, wobei er oder sie eine auf Gold abgestimmte Miniaturwünschelrute für unmittelbar in der Nähe befindliche Goldmengen benutzt hat. Wichtig ist, dass er oder sie nicht im Gebäude herumapparierte und keine Fernlenkzauber ausführte, sondern nur Türöffnungs- und -verschlusszauber. Unser genialer Thaumaturgie- und Alchemieexperte vermutet, dass der Unaufspürbarkeitszauber jede auf größere Strecken wirkende Magie stört oder verhindert. Aber dieses so gezielte und gelungene Unterbrechen jeder elektrischen Vorrichtung und dann noch ddie Sache mit einem pfropfenartigen Gegenstand, der an ein Fenster gedrückt jeden im Gebäude in einen Tiefschlaf versetzt wie Cantasomnius, ohne die betreffende Person zu sehen oder genau anzuzielen ist sehr genial wie unheimlich."
"Moment, jemand hat zum einen einen Stein gegen ein Haus gedrückt und damit alles elektrische und elektronische eingefroren wie mit einem EMP-Gerät? Ja, und wo er oder sie noch lebende Wachen gefunden hat reichte es aus, einen pfropfenartigen Gegenstand an das Haus zu drücken, um die alle K.O. zu schicken?" wollte Jeff bristol wissen.
"Gut, es gibt gegen großflächige Schlafzauber Abwehrzauber, die wir genauso um unsere Gebäude liegen haben wie das Ministerium. Aber wer so einen K.O.-Knopf hat könnte mal eben eine ganze Armeeniederlassung in Tiefschlaf schicken. Deshalb ist wichtig zu wissen, wer das ist", bemerkte Justine.
"Und das war nicht rauszufinden, weil -?" erkundigte sich Jeff.
"Weil der oder diejenige so bekleidet war, dass er oder sie keine Eigenwärme ausstrahlte, die Rückschaubrille keine Lebensauren nachbilden kann und weil der Einbrecher nach jedem Fischzug in einen selten benutzten U-Bahn-Schacht einstieg und dort disapparierte. Das verrät zumindest, dass es keiner der Blutgötzinnendiener war, weil die meistens in diesen nachtschwarzen Schattenportschlüsselspiralen verschwinden oder daraus auftauchen", sagte Justine.
"Also Vita Magica, die Spinnenhexen oder die Monddgeschwister. Öhm, ob der Einbrecher dick oder dünn war konnten die Kollegen aber sehen, oder?"
"Es war nicht Fino, Jeff. Aber von der Vermutung her dürfte es passen, dass es die Mondgeschwister waren. Offenbar kam bei denen wer auf die Idee, dass Vampire und Nachtschatten mit Sonnenzaubern am besten beizukommen ist und Gold als Speicher für Sonnenzauber am besten geeignet ist. Der Kollege Al-Burac, der sich mit altägyptischen Zaubern beschäftigt vermutet sogar, dass jemand das Ritual "Die Zähne des Ra" verwenden könnte, um kleinere oder größere Goldklumpen mit dem möglichen Quantum Sonnenlicht aufzuladen, um dieses bei Offensiv- oder Defensivaktionen wieder freizusetzen."
"Die Zähne des Ra?" fragte Jeff. Justine erwähnte, dass dieses Ritual deshalb so hieß, weil magisch begabte Priester der Pharaonen mit diesem Ritual Dolche oder Kurzschwerter und Schilde mit Sonnenlicht aufgeladen hatten, um damit gegen die Diener der Unterwelt zu kämpfen.
"Dann kennt der blaue Morgenstern dieses Ritual sicher auch. Aber der würde nicht bei uns in New York Gold klauen, wo die im Orient sicher auch noch genug des Sonnenmetalls zur Verfügung haben."
"Ja, oder jemand, der die Magien des Morgenlandes oder deren Ursprung gut kennt, wobei die Zähne des Ra nicht in "Magien des Morgenlandes" ausführlich genug geschildert werden, um das Ritual erfolgreich anzuwenden. Die ägyptischen Zauberer haben damals darauf bestanden, dass ihre Ritualzauber nur erwähnt, aber nicht genau dargestellt werden dürfen", sagte Justine.
"Und Ibrahim Al-Burac kennt das Ritual?" fragte Jeff. "Ja, tut er. Und ja, er erarbeitet mit Quinn Abwehrzauber gegen die Sekte der Blutgötzin und die neuen Nachtschatten. Könnte nur sein, dass von den Mondbrüdern einer oder mehrere von denen schon weiter sind."
"Öhm, Sonnenlicht wird gespeichert und dann wie schnell freigesetzt?" fragte Jeff. "Soweit der Kollege Al-Burac erwähnt hat können zwischen zwei Minuten bis zehn Stunden Sonnenlicht in einem Körper aus purem Gold gespeichert werden, je nach der im betreffenden Körper vorhandenen Goldmenge, also kleine Körper nur ganz wenig. Ja, und die gespeicherte Menge kann freigesetzt werden, wenn der Speicher gewaltsam verformt oder in Einzelstücke zerschlagen wird, der Körper mit einem bestimmten Auslöser, Material, lebendes Fleisch oder bestimtmes Blut in Berührung kommt und dann zwischen dem zehn und 3600fachen so schnell freigesetzt werden. Also wenn wer eine Stunde Sonnenlicht eingespeichert hat kann der Kundige festlegen, ob es in sechs Minuten oder einer einzigen Sekunde freigesetzt wird, wobei die Licht- und Hitzewirkung auch entsprechend stark und raumgreifend ausfällt."
"Das wäre ja dann wie eine Atombombe oder gar Antimaterie", erschrak Jeff. Dann fragte er schnell, wie viel Sonnenlicht in einen Klumpen aus 300 Kilogramm Gold eingespeichert werden könnte. Justine räumte ein, das nicht zu wissen. Jeff nickte und meinte: "Klingt wirklich sehr heftig. Kann mir vorstellen, dass das Ministerium da einen tonnenschweren Deckel draufmacht."
"Sagen wir so, Marilyn Friley kann sich nur daran erinnern, dass sie mit dir telefoniert hat und dabei kurz was auf ihrem Rechner gesehen hat, was sie irritiert hat und dann mit ihrem scheinbaren Vorgesetzten Cooper über die weitere Vorgehensweise gesprochen hat. Ich brauchte ihr nur meine Erinnerungen zu übertragen und so zu bezaubern, dass ein Legilimentor keinen Unterschied feststellt, falls sie doch mal genauer untersucht wird."
"Schon ziemlich krass, wie du das gemacht hast, Justine", seufzte Jeff. "Ja, ich weiß, ist eigentlich schon jenseits der zulässigen Mittel. Aber so wie es sich darstellt ist es allemal besser, als zuzulassen, wie sich die Mondbrüder und die Vampire gegenseitig mit solch mächtigen Zaubermitteln bekriegen und dabei viele hundert unschuldige Leute sterben müssen." Dem konnte und wollte Jeff nicht widersprechen.
Sie mussten sich heimlich treffen. Das waren sie gewohnt. Allerdings mussten sie nun nicht nur vor Menschen oder Werwölfen auf der Hut sein, sondern ganz besonders vor ihren eigenen Artgenossen. Deshalb trafen sich nie mehr als drei auf einmal. Und jeder von denen kannte auch nur je einen anderen aus bis zu drei anderen Dreiergruppen. Das war schon erniedrigend genug. Doch im Moment konnten sie nicht vorsichtig genug sein. Was, wenn einer von Ihnen doch der selbsternannten neuen Göttin folgte?
Eine solche Dreiergruppe bestand aus Silver Gleam und ihren Bluteltern. Silver Gleam hatte es geschafft, ihre früheren Freundinnen Moondew und Shadowwind zu überzeugen, dass die Vorherrschaft der Blutgöttin das Aus für frei lebende Nachtkinder sein würde, vor allem dann, wenn zu fürchten stand, dass sie die Weltherrschaftsphantasien von Muggeln oder dunklen Magiern in sich einverleibt hatte und sich berufen fühlte, eine Friedensordnung ohne individuelle Freiheiten zu schaffen. Immerhin hatte das Moondew überzeugt, die seit einem Jahrhundert in Mittelengland wohnte und nur dann auf Blutjagd ging, wenn Tierblut alleine sie nicht bei Kräften hielt. Immerhin war sie eine Hellmondvampirin und konnte so ihren Trieb lange genug unterdrücken, um keine Gefahr für Menschen zu werden.
"Und was hat Moondew herausgefunden, was die Göttin vorhat, nachdem sie von deinem Blut getrunken hat, Silvy?" fragte Bogdan Lunescu seine Bluttochter.
"Ob es stimmt ist nicht gesichert. Sie meint, dass die Blutgötzin auf jedem Erdteil einen eigenen Stützpunkt, einen Tempel der Nacht errichten will oder dies schon getan hat. Von solchen Tempeln sollen dann gezielte Aktionen gegen Menschen und andere Feinde ausgehen, Blutzeugungen oder Bluthochzeiten arrangiert werden. Falls das stimmt, und Moondew will mir das erst übermorgen mitteilen, dann wird es sehr schwer sein, ihre Armee aufzuhalten. Ihr wisst ja, dass sie durch die Vernichtung beziehungsweise Übernahme von Heptachiron dessen Gabe hat, sieben unterschiedlich weit entfernte Getreue zugleich zu überwachen, egal wie weit diese voneinander weg sind. Dann könnte das mit den sieben Tempeln passen, weil sie dann eine zeitgleich ablaufende Aktion auf allenKontinenten befehlen kann", erwiderte Silver Gleam. "Ob die wenigen Mengen von meinem Blut helfen, dass sie nicht enttarnt werden kann weiß ich nicht. Falls doch könnte sie verraten, mich zu kennen, aber nicht, wo ich bin."
"Es ist so ernidrigend, uns vor den eigenen Brüdern und Schwestern derartig verstellen und verstecken zu müssen", seufzte Erythrina Lunescu. "Aber solange diese Ausgeburt aus finsterer Bosheit besteht ..."
"Erythrina, sie entstand aus derselben Quelle, der auch wir entstiegen", warf Bogdan ein.
"Ja, aber wir lernten, dass der Schöpfer unseres seins ein Feind allen freien Lebens war. Wenn diese Götzin das auch verinnerlicht hat wird sie sichnicht mit einem Gottesreich der Vampire begnügen, sondern immer mehr Macht ausüben wollen."
"Du hast recht, meine Mutter der Nacht, dass die Gedanken des Schöpfers, die wir alle ja irgendwann mal gedacht haben, auch gefährlich für uns selbst sind. Diese Blutgötzin geht davon aus, unverwundbar und unangreifbar zu sein. Sie wird sich also irgendwann langweilen, wenn sie es schafft, ihre Träume vom Weltreich ihrer Gläubigen zu errichten. Was kommt dann?"
"Die Frage hat Boris Anastasiu, mein Kontakt zur Donaugruppe, auch gestellt. "Er geht davon aus, dass die Blutgötzin erst alle von uns unterwerfen oder töten will. Ist das erledigt will sie sicher alle magischen Menschen erledigen, weil die ihrem Traum von der Weltherrschaft immer noch entgegenstehen. Ist das auch erledigt wird sie allen überlebenden Nachtkindern befehlen, brav und folgsam alles zu tun, was sie von ihnen will. Die Menschen wird sie wohl vor die Wahl stellen, unsere Geschwister der Nacht zu werden, als ihre Feinde zu sterben oder ihren Jüngern als Blutvieh zu dienen. Ja, und um sich nicht zu langweilen wird sie wohl die eine oder andere schauerliche Menschenhatz veranstalten lassen, nur zum eigenenVergnügen. Es gibt keine Obergrenze der Machtgier, wenn diese frei wirken darf, genau wie mit der Habgier."
"Was uns wieder die Frage auflädt, ob und wie wir unsere eigenen Blutgeschwister davon abhalten müssen, ihr diesen Willen zu erfüllen", sagte Erythrina und sah ihre Bluttochter an. Silver Gleam nickte und sagte: "Jene, die mich aufgeweckt hat fürchtet darum, eine Welt ohne Freude und Lebenssinn zu erleben, wenn diese Blutgötzin alles und jeden beherrscht. Doch solange wir nicht wissen, wo der Anker ihres Daseins auf der Erde liegt und wie er zerstört werden kann, solange kann sie immer mehr Macht ergreifen."
"Ja, und da es auch noch die Pelzwechsler und diese neuen Schattenwesen gibt wird sie auch neue Gefolgsleute finden. Meine Kontakterin zur Themsegruppe hat berichtet, dass ihr eigener Blutsohn sich mit dem Gedankenträgt, sich der Götzin zu unterwerfen, damit sie ihn vor dieser Schattenbrut beschützt. Sie fürchtet auch, dass er dann verraten könnte, dass sie zur Liga freier Nachtkinder gehört. Solange wir als solche kein festes Bündnis mit den Zauberstabschwingern schließen können steht jeder und jede von uns alleine da, wenn die Götzin weitere Getreue findet."
"Schon seltsam, dass wir unsere Gruppen nach Flussläufen benennen, wo fließendes Wasser uns Kraft entreißt", erwiderte Silver Gleam einmal mehr. Doch die Antwort ihres Blutvaters war ihr auch schon bekannt: "Gerade weil dies die räumlichen Grenzen sind, über die wir nicht ohne fremde Hilfe kommen bot sich das an, Kind. Und wo wir dabei sind, was sagt Nebelmond von der Rheingruppe, Erythrina?"
"Das mittlerweile die Hälfte aller deutschsprachigen Vampire dieser Götzin folgen, wohl auch, weil sie alte Zeiten zurückholen wollen, wo wir Nachtkinder noch respektiert und gefürchtet waren", entgegnete Erythrina.
"Was heißt, dass der deutschsprachige Raum für uns bald unbetretbares Gebiet ist. Aber merkwürdigerweise sind aus dem gleichen Grund die Dreiergruppen der Donau der Meinung, dass sie keine selbsternannte Göttin haben wollen, eben weil sie ihre eigenen Herrschaftspläne haben, was auch ziemlich gefährlich für uns Hellmondler ist, die wir ja weiterhin als zu menschenfreundlich und schwächlich bezeichnet werden."
"Ja, von Mondeis und Nachtbrise, diesen Neumond-Fanatikern", erwiderte Bogdan. Dann sagte er: "Silvy, wir treffen uns dann erst wieder, wenn du weißt, was es mit diesen sieben Tempeln auf sich hat!" Silver Gleam nickte. So umarmten sie sich noch einmal gegenseitig und flogen dann in Fledermausgestalt davon, jeder und jede in eine andere Richtung.
Gestern erfuhr die Temps de Liberté zeitgleich mit anderen Nachrichtenverbreitern auf einer Pressekonferenz der französischen Abteilung für magische Spiele und Sportarten, dass sowohl die für die Weltmeisterschaft zugelassenen Länder als auch der Weltquidditchverband sich darauf verständigt haben, die Wiederholung der Weltmeisterschaft unter hoffentlich einheitlich fairen Bedingungen wie im letzten Jahr am 1. Juli zu beginnen. Trotzdem das italienische Zaubereiministerium darauf gehofft hat, bereits im Frühling diesen Jahres mit der Wiederholung seine Ehre als guter Gastgeber wiederherstellen zu können konnten die Vereine der nationalen Quidditchligen sich mit ihrer Forderung durchsetzen, die laufende Saison zuerst ordentlich zu Ende zu spielen. Monsieur Georges Duchamp, stellvertretender Leiter der Abteilung für magische Spiele und Sportarten, äußerte auf der Pressekonferenz: "Auch wenn wir dem italienischen Zaubereiministerium keine Schuld an dem Betrugsmanöver der US-Mannschaft zur Last legen sind die Argumente der Liga sehr verständlich. Die Bewertung einer Meisterschaft muss in jeder Saison gleich ausfallen, also nach gleichen Regeln und Wettkampfbedingungen erspielt werden. Da dies auch die Kollegen aus den anderen europäischen Zaubereiministerien berücksichtigen blieb nur, die Wiederholung der Weltmeisterschaft unter Ausschluss der USA und Beteiligung von Kanada auf den 1. Juli 2004 festzulegen. Ich kann und will nicht verhehlen, dass ich mich freue, dass die französische Quidditchnationalmannschaft doch noch die Gelegenheit erhält, den gewonnenen Titel zu verteidigen und falls dies nicht geschieht zumindest im beruhigenden Gefühl den Pokal an einen würdigen weitergibt, der mit fairen Mitteln den Titel erringen kann. Ich hoffe auch sehr, dass das unangenehme Missverhältnis innerhalb der Mannschaft bis zum Beginn der Neuauflage bereinigt sein wird und die französische Nationalmannschaft geschlossen und im Wunsch nach der Titelverteidigung geeint und gestärkt auftreten wird." Dem, Monsieur Duchamp, können wir uns nur voll und ganz anschließen.
MUL
Melanie Chimer wunderte sich nicht schlecht, als sie an diesem Morgen Besuch von einer sehr berühmten Kundin bekam. Diese hatte um eine diskrete Beratung gebeten, weil sie angeblich vor der Betreiberin der Filiale von Porters Kosmetik für Hexen und Zauberer jeden Alters und aller Lebenslagen unbekleidet posieren müsse, um die für ihre anderen Umstände und die Zeit danach optimalen Produkte zu finden, die auf ihren Hauttyp abgestimmt waren.
"Und, haben Sie die Nachricht im Herold gelesen, dass Sie wohl die nächsten zwei Jahre nicht in der Welt herumreisen dürfen, weil Heilerin Palmer sicherstellen muss, dass Ihr Baby ungefährdet zur Welt kommt und das erste Jahr übersteht?" fragte die blonde Kosmetikhexe, während Linda Latierre-Knowles tatsächlich unbekleidet vor ihr auf- und abging.
"Es war klar, dass die Kollegin Maplewood die Gelegenheit nutzen würde, was über ihre berühmte Konkurrentin zu verfassen, wo diese ja selbst vor zehn Jahren eine Weltreise unterbrechen musste, um zur Geburt ihres ersten Kindes in die Staatenzurückzukehren. Insofern nehme ich das als die nötige Anerkennung meiner beruflichen und familiären Entscheidungen", sagte Linda. Melanie nickte und besah sich den schon gut sichtbaren Umstandsbauch der scharfohrigen Reporterhexe. "Von Ihrer Hauttönung und Beschaffenheit her kann ich Ihnen da drei Produkte für eine dehnbare Haut während der Schwangerschaft und eine Vermeidung von Schwangerschaftsstreifen nach der Geburt empfehlen, die sich für viele Hexen Ihrer Hauttönung bewährt haben. Falls Sie auf die Vermeidung tierischer Inhaltsstoffe wertlegen kann ich Ihnen sogar eine auf Grünstaudenbasis entwickelte Lotion anbieten, die die Geschmeidigkeit der Haut in Ergänzung zum entsprechenden Pigmenttyp verdreifacht. Ich muss Sie jedoch darauf hinweisen, dass diese rein veganen Produkte etwas teurer sind. Sie können aber bei der Familienstandsabteilung Bezuschussung aus ethischen Gründen geltend machen, wie Sie sicher schon längst wissen. Aber wie eine Heilerin muss ich bei einer Beratung immer davon ausgehen, dass der Kunde oder die Kundin noch nicht davon erfahren hat, sofern er oder sie zum ersten mal meine Dienste erbittet."
"Der Brocklehurst-Bonus, Mrs. Chimer. Natürlich kenne ich die Geschichte dieser Gesetzesergänzung, die nicht nur von Mrs. Brittany Brocklehurst, sondern auch anderen werdenden Müttern erwirkt wurde. Ich weiß auch aus meiner eigenen Arbeit, dass Mrs. Brocklehurst sehr zufrieden bis hellauf begeistert von der Wirkung dieser neuen Pflegeprodukte war. Aber ich komme auch mit konventionellen Pflegemitteln zurecht", sagte Linda Latierre-Knowles. So ließ sie sich die für sie passenden Hautpflegemittel vorführen und Melanie bot ihr sogar Mittel an, die sie nach der Geburt ihres Kindes benutzen konnte, um ihren Intimbereich für spätere Beilager attraktiv zu erhalten. Dabei dachte sie daran, dass sie selbst wohl demnächst untersuchen lassen musste, ob in ihrem Körper jemand neues heranwuchs. Doch davon musste sie hier und jetzt nicht anfangen, zumal Linda sie tatsächlich nicht mit derartigen Fragen behelligte. Was sie eigentlich von Melanie wollte verriet sie erst, als sie die für ihre Schwangerschaft hilfreichen Mittel zusammengestellt hatte. "Ich möchte Sie für eine sehr heikle Unternehmung um Ihre Mithilfe und volle Verschwiegenheit bitten", sagte Linda leise, obwohl der Beratungs- und Behandlungsraum der Kosmetikerin ein dauerhafter Klangkerker war. "Mein Mann und ich möchten herausfinden, ob es noch sicher ist, die Quidditch-Weltmeisterschaft in Italien neu zu beginnen. Es sind da einige Unstimmigkeiten aufgekommen, beispielsweise weil das italienische Zaubereiministerium immer noch behauptet, dass es nichts mit dem Verschwinden von Phoebe Gildfork zu tun hat und dass die Fragenicht beantwortet werden konnte, was an den Gerüchten über eine Wiederkehr der alten Dunkelhexe Ladonna Montefiori dran ist. Minister Buggles hat da ja auch immer nachgefragt."
"Ich weiß, weil er denkt, damit von dem ganzen Stress wegen seiner VM-Politik abzulenken", erwiderte Melanie. "Und sie wollen jetzt mit Ihrem Mann und der Kleinen in ihrem warmem Schoß nach Italien, ganz heimlich?" fragte Melanie.
"Ja, und zwar ohne uns mit Zauberstabmagie zu verwandeln, weil das auf die Ausdauer geht und in meinem Fall auch das Gehör einschränkt."
"Ja, und das brauchen Sie da sicher nötiger als bei uns", erwiderte Melanie. "Wie wollen Sie denn aussehen?" fragte sie die Zeitungshexe und erklärte damit, dass sie ihr helfen würde, unerkannt nach Italien zu kommen, eine ganz und gar klammheimliche Mission.
Nach zwei Stunden vor der neuesten Errungenschaft, einer wandelbaren Vorführpuppe in Lebensgröße, hatte Linda Latierre-Knowles ihre Tarnung sicher. Sie würde dann noch ihren Mann vorbeischicken, um sich für eine Südseereise die nötigen Pflegemittel, unter anderem Sonnenkrauttinktur, zu besorgen.
Moondew trug einen Umhang, den ihr ihre Blutsschwester gegeben hatte. Dieser pulsierte schwach und sandte lästige kalte Ströme in ihren Körper. Doch das musste so sein, weil sie nur so für alle möglichen Feinde unerkennbar blieb. Der nachtschwarze Umhang mit eingewebten, vor fremden Blicken verborgenen Mondsteinen, strahlte die Aura des Neumondschattens aus, einen Zauber, der jeder natürlichen oder künstlichen Nachtsicht entgegenwirkte und auch die bei Menschen entstehende Körperwärme vor fremden Sinnen verbarg. Außerdem haftete ihr seit dem schwesterlichen Blutaustausch mit ihrer Gesinnungsschwester eine Aura der Unauffälligkeit für Feindesaugen an.
Moondeew hatte die ihr bleiches Gesicht völlig umschließende Kapuze so fest zugezogen wie es ging. Der Umhang reichte bis zu ihren waden hinunter. An den Füßen trug sie schwarze, zweilagig verarbeitete Drachenhautstiefel. Unter dem Umhang trug sie ein Kostüm, das den Worten ihrer Gesinnungsschwester nach Feuerzauber und im Feuer geformte Waffen von ihr fernhalten konnte.
Moondew hatte die mit Petroleumverbrennungsantrieben bewegten Fahrzeuge der magielosen Rotblütler benutzt, um ohne als Fledermaus fliegen zu müssen und ohne verräterische Versetzungszauber verwenden zu müssen in die Nähe jener Höhle zu gelangen, die an der Südküste Englands tief unter die Erde reichte. In einer Kaverne tief unter der Oberfläche, so hatte sie von ihrem scheinbaren Gefährten erfahren, bewahrten die Anhänger dieser Blutgöttin alles Wissen, mit dem sie meinten, die Welt der Nachtkinder und damit auch die der rotblütigen Tagkinder erobern und beherrschen zu können. Für sie, die unter dem Licht des vollen Mondes als Nachttochter wiedergeboren worden war, stellte der Eingang in diese Höhle keine Schwierigkeit dar. Sie brauchte nur ein wenig ihres Blutes zu geben und musste dabei ganz konzentriert das von der selbsternannten Göttin ausgegebene Glaubensbekenntnis denken:
Ich ehre die große Mutter der Nacht,
die ruht in der Tiefe und über uns wacht.
Sie ist die Herrin der nächtlichen Welt,.
die schützend die Hand über dich und mich hält.
Ihr geb' ich mein Wissen, die Kraft und mein Streben
vom ersten Erwachen mein wertvolles Leben.
Während sie diese Zeilen dachte und hoffte, dabei nicht als Heuchlerin und Verräterin aufzufallen ließ sie Tropfen ihres Blutes aus der Handinnenfläche in die Gravuren links vom Eingang zur Höhle tropfen. Ein Rotblütler, der versuchte, in die Höhle einzudringen, würde gegen den Wall der grenzenlosen Angst prallen und in wilder Panik flüchten, wobei die Wahrscheinlichkeit, dass er oder sie kopflos in eine der hier bestehenden Erdspalten oder gar die Klippen hinunterstürzte sehr groß war.
Vor Moondew flimmerte es gelb und rot im erst langsamen und dann immer schnelleren Wechsel. Als die Leuchterscheinungen zu einem flirrenden Orange verschmolzen tropfte der letzte zu gebende Blutstropfen in die Zauberzeichen, welche die Höhle vor Rotblütlern versperrten. Mit einem kurzen Aufflackern verlosch die orange flirrende Lichtwand. Moondew fühlte den kurzen Kraftstoß, der von ihr in Richtung Wand und wieder zurückfloss. Sie wusste nun, dass sie die Höhle betreten konnte.
Sie fühlte es, wie der Umhang und der Hauch der Unbemerkbarkeit vor Feinden von irgendwas berührt und sacht zum schwingen gebracht wurde. Die Kältewellen aus dem Umhang wurden stärker und kamen in kürzeren Abständen über sie. Sie musste sich sehr anstrengen, sich nicht unter ihrer Kraft zu schütteln wie in eiskaltem Wasser. Durch die sorgfältig verschlossene Kapuze lauschte sie in die Dunkelheit. Vor ihren nachtsichtfähigen Augen flimmerte es sehr schwach. Das mochte die Auswirkung der auf sie einwirkenden Spürzauber sein, die an ihren Vorkehrungen und ihrer veränderten Ausstrahlung abprallten. Sie hoffte, dass jene, die für die selbsternannte Göttin Magie ausüben konnten, nicht einen entsprechenden Zusatzzauber eingerichtet hatten, der bei Unerfassbarkeit eines Eindringlings sofort Alarm auslöste. Falls ja musste sie das letzte Mittel nutzen, dass sie mitführte und das kein Nachtkind jemals auch nur in Gedanken einsetzen würde. Doch noch war sie nicht erkannt oder gar bedrängt worden.
Je tiefer sie in die unterirdischen Gänge aus Kalkstein vordrang, desto deutlicher hörte sie das langsame, regelmäßige Fauchen. Es klang so, als würde ein sehr großes Lebewesen ein- und ausatmen. Sie dachte an magische Riesentiere wie Drachen oder die Schlange mit dem Todesblick, vor deren Nähe selbst die größten Spinnen flohen. Was wenn die Göttin der nacht ein solches Ungetüm in diesen Höhlen hüten ließ, um ihre Feinde zu vertilgen? Dann erkannte sie, dass die von ihr getragene Kapuze wohl die feinen Unterschiede im Klang abschwächten. Denn als sie näher an die Quelle dieses Geräusches heranschlich hörte sie das ganz leise Klicken und blecherne Schnaufen genau. Es war kein Tier, sondern eine sehr große Luftpumpe, die ihr Werk tat.
Jetzt fühlte sie auch den Hauch der ein- und ausströmenden Luft stärker. Bisher hatten die in sie einströmenden Kältewellen das überlagert. Schließlich betrat sie den Ort, wo die mechanische Luftumwälzung arbeitete.
Es war ein unterirdischer Saal, dessen Decke mehr als zehn ihrer eigenen Körperlängen über ihr verlief. Es war kein typisches Tropfsteingewölbe, sondern aus festem, hartem Gestein, wie aus den Eingeweiden der Erde selbst nach oben gefördert. In einer Ecke stand jene regelmäßig fauchende Vorrichtung, von der viele Röhren aus in den Saal und daraus hinaus abzweigten wie Adern aus einem schlagenden Herzen oder in dem Fall einer atmenden Lunge. Außer der selbsttätig wirkenden Luftpumpe gab es in diesem weitläufigen Saal, in dem gut und gerne hundert bis zweihundert normalgroße Nachtkinder zusammenkommen konnten drei große runde Tische mit darum aufgestellten, hochlehnigen Stühlen und einen rechteckigen Tisch mit abgerundeten Ecken, an dem auf jeder Längsseite zwanzig und jeder Schmalseite sieben Stühle aufgestellt waren. Sie erkannte den thronartigen Stuhl, der doppelt so breit und so hoch war wie die anderen, der vor Kopf des langen Tisches stand und von dem aus die drei runden Tische zu überblicken waren. Das war eindeutig ein Versammlungsraum. Doch im Moment war keiner hier.
""Im Saal des offenbarten Wissens ist in der Platte des zweiten runden Tisches ein Kreis mit den Zeichen für Erde und Überblick eingeritzt. wer den runden Stein der Enthüllung aus der Mitternachtsnische nimmt und in die Aushöhlung des Kreises legt erleuchtet ein Abbild der Weltkugel", hatte der Nachtsohn behauptet, der sich Chancen darauf ausrechnete, ihr Gefährte durch alle Nächte zu werden.
Moondew schlich so lautlos wie es ihre Art verstand zur in Mitternachtsrichtung gelegenen Wand des Saales und ließ dabei den langen Tisch hinter sich. Dann sah sie den kinderkopfgroßen dunklen Stein, der mit eingeritzten Linien verziert war. Sie griff in ihre linke Umhangtasche und zog die mitgebrachten Drachenhauthandschuhe hervor. Sie streifte sie über. Sie wollte nicht riskieren, einen Abwehrzauber auszulösen. Nun bückte sie sich und ergriff die Kugel. Diese erzitterte in ihren Händen. Für eine Sekunde konnte sie tatsächlich ein silbernes Leuchten sehen, das wie fernes Wetterleuchten blitzte und dann wieder verschwand. Sie hielt den runden Stein in ihren Händen und hob ihn aus seiner Nische.
Als sie mit dem bezauberten Kugelkörper an den zweiten runden Tisch trat, der genau in der Mitte des unterirdischen Gewölbes stand, sah sie den erwähnten Kreis. Er bestand aus in der Tischmitte eingeritzten und mit etwas wie Silber ausgefüllten Zeichen. Ob das die Zeichen für Erde und Enthüllung waren wusste Moondew nicht. Sie hatte nie Zauberschriften und Runen erlernt. Die flache Kuhle, die gerade groß genug für die von ihr gehaltene Kugel war, erkannte sie jedoch. Sie richtete die dunkle Steinkugel so aus, dass die deutlich sichtbaren Kreise für die Pole lotrecht zum Boden ausgerichtet waren. Sie sah sogar eine kleine Sonne und einen Halbmond in den kleinen Kreisen, welche die Pole bildeten. Dann fiel ihr ein, dass die natürliche Weltkugel nicht lotrecht zur von ihr beschriebenen Bahn um die verhasste Sonne im Weltall schwebte, sondern mit einer gewissen Neigung. Sie entsann sich ihrer geografischen Studien vor hundert Jahren, als sie sich für die moderne Weltbeschreibung interessiert hatte. Ja, so konnte sie die von ihr gehaltene Kugel in die Kuhle betten. Sie kippte die Polachse ein wenig. Dann legte sie die Kugel behutsam in die Kuhle. Der Tisch erbebte kurz. Moondew wusste, dass diese Reaktion ganz sicher irgendwo erfasst wurde. Wer immer die Höhle hütete wusste nun, dass jemand im Saal des offenbarten Wissens stand. Doch nun war es eben geschehen.
Über dem Tisch erglühte frei schwebend das Abbild der Erde, wie sie seid ewigen Zeiten im dunklen Weltraum dahinflog, immer rund um die tödlich helle und warme Feuerkugel im Mittelpunkt aller Planetenbahnen. Sie sah sogar, wo es gerade Nacht und wo viel zu heller Tag herrschte. Dann sah sie, was sie sehen wollte. Die Weltkugel hatte nicht nur die natürlichen Erscheinungsformen der Meere und Erdteile, sondern trug auch schwarze Linien, ganz dünne, mitteldicke und ganz dicke. Die dickste Linie war die waagerecht verlaufende Kreislinie, die den Weltenball in zwei Hälften unterteilte. Darüber prangte die kleine rote Schrift : "Breitengrad 0, Äquator" Außer diesen senkrechten und waagerechtenZuordnungslinien gab es noch Abkürzungen von wichtigen Städten oder inseln. Doch was sie am meisten interessierte waren jene mit griechischen Buchstaben bezeichneten Punkte. "Die Zeichen der Hellenen weisen die Horte der Weisheit", hatte ihr erwartungsvoller Gefährte gesagt. Die griechischen Buchstaben kannte sie, da sie auch schon in der heiligen Bibliothek der nachtkinder den Ursprung ihrer Art studiert hatte.
Die Buchstaben schimmerten im aus dem Weltenball strahlenden Blaulicht gelb wie die verhasste Sonne. Wo jedoch der griechische Buchstabe Tau prangte leuchtete dieser blutrot.
Moondew wusste nun, dass sie diese Darstellung für ihre wahren Bündnispartner festhalten musste. Hierfür hatte ihre Blutsschwester Silver Gleam ihr etwas mitgegeben, dass sie selbst von jener erhalten hatte, die sie aus langem Schlaf geweckt hatte. Es war eine Brille mit scheinbar völlig durchsichtigen Gläsern. Sie setzte sie auf und dachte dann: "Carpe Imagines!" Das war das zu sagende oder stark zu denkende Befehlswort, um alles in den nächsten bis zu acht Stunden damit gesehene so zu bergen, dass es mit dem ihr nicht bekannten Gegenzauber enthüllt werden konnte. Die Brillengläser trübten sich für eine Sekunde weiß ein. Dann waren sie noch klarer als vorhin.
Die Spionin im schwarzen Kapuzenumhang trat näher heran und umschritt den Tisch. Sie sah die Markierungen an und überdachte, welchen Orten sie zugeordnet waren. Sie sah einen breiten, dunkelblauen Fluss mitten durch die hellblaue Darstellung des atlantischen Ozeans und sah die gelben Buchstaben Gamma, My und Ny. Sie wusste, dass der Mitternachtsstein, in dem die falsche Göttin wohnte, irgendwo in diesem blauen Fluss durch das Meer ruhte, unerreichbar für jedes Nachtkind. Dann betrachtete sie die mit roten Tau-Zeichen versehenen Stellen. Eine davon lag in der weiß leuchtenden Gegend des Südpols in der Nähe eines mit dem Namen M. Erebus markierten Berges. Ein anderes Tau prangte in Mitten jenes himmelhohen Gebirges auf dem asiatischen Erdteil. Sie betrachtete diesen Punkt noch genauer, wofür sie fast an den runden Tisch stieß. Doch sie wollte sich hüten, diesen Tisch und damit den wirkenden Zauber zu erschüttern. Das rote Zeichen prangte auf einem der vielen Berge. Sie konnte die feinen gepunkteten Linien erkennen, die anders als die schwarzen Standortzuordnungslinien nicht geradlinig verlief. Das war also eine Landesgrenze. Der bezeichnete Berg wurde in schwarzen lateinischen Buchstaben als Makalu bezeichnet.
Moondew umwanderte den Tisch mit fest auf den Globus gerichtetem Blick. Sie besah jede blutrote Markierung. Als sie die Runde fast vollendet hatte schlugen ihre Sinne Alarm. Etwas oder jemand näherte sich ihr, ein anderes Nachtkind der Ausstrahlung nach. Außerdem fühlte sie, dass etwas versuchte, sie mit unsichtbaren Fingern zu ergreifen, ihr Gesicht zu ertasten. Doch die getragene Kapuze erzitterte nur unter diesen Berührungen, ebenso ihr Umhang. Dann schnellte unvermittelt eine durchsichtige blaue Lichtwand um den Tisch empor. Die mit Markierungen bedeckte Nachbildung der frei schwebenden Erde erglühte kurz in weißem Licht und verlosch. Gleichzeitig kullerte der kugelförmige Stein aus der Kuhle heraus und rollte auf dem Tisch entlang. Jetzt konnte sie noch ein regelmäßiges Säuseln hören, das in der Tonhöhe auf- und wieder abstieg. Das war sicher ein Alarmzauber. Zumindest hatte sie mit ihrer Spionagebrille noch sehen können, dass es sieben blutrote Tau-Zeichen gab. Jetzt galt es, dieses erblickte Wissen in Sicherheit zu bringen. Doch das würde jetzt sicher sehr schwierig sein.
Durch den einen Zugang zu diesem Saal eilten drei Nachtsöhne in dunklen Kutten. Sie fühlte deren Ausstrahlung und spürte auch, dass es nicht allein die von ihnen war. Etwas oder jemand prägte einen eigenen Hauch darauf, ein weiteres Nachtkind.
"Eindringling. Auch wenn du dich in Mondschatten hüllst wissen wir, dass du da bist. Enthülle dich und gib uns deinen Namen preis! Dies befiehlt sie, die große Mutter der Nachtkinder", sagte einer der drei hereingestürmten. Doch Moondew dachte nicht daran, dieser Anweisung zu folgen, auch wenn die Blicke der drei sie regelrecht festzunageln versuchten. "Fremder oder Fremde, auch wenn du dich vor unseren Blicken zu verstecken suchst, du kannst nicht mehr entkommen. Sage, wer du bist und zeig uns dein Gesicht, damit die Göttin weiß, wer du bist und was dein Begehr ist."
Moondew fühlte zwar, dass die drei mit einer in sie einströmenden Kraft noch stärker wurden und sie immer drängender ansahen. Doch sie wich den Blicken der drei aus und blieb ruhig. Weder warf sie die Kapuze zurück, noch verriet sie ihren Namen. Denn sie wusste, wenn sie das alles tat war sie des Todes. Womöglich würde die falsche Göttin sie gar selbst in sich einverleiben, um all ihr Wissen zu bekommen. Das aber durfte nicht geschehen.
"Die Göttin befiehlt dir, dich uns zu offenbaren und dein Begehr zu verraten", sagte einer der drei Nachtsöhne wütend. Dann traten noch drei Nachtkinder ein, eines davon eine Tochter der Nacht in einer im blauen Licht der magischen Wand gleichfarbig widerscheinenden Robe wie eine Priesterin. Ja, das war sicher eine Priesterin der falschen Göttin. "Wieso können wir nicht sehen, wer das ist, Quickfang?" fragte die Nachttochter in blauer Robe einen der drei ersten, die gerade lange Schwerter freizogen. Moondew fühlte die Kälte der in sie einschießenden Kraft aus dem Umhang. Offenbar wurde sie nun besonders stark angesehen.
"Es ist der Mantel des Neumondschattens, Mutter Midnightkiss", sagte einer der drei und streckte sein langes, dünnes, scharfes Schwert nach vorne. Die Klinge spiegelte das blaue Zauberlicht.
"Sehe ich selbst, Quickfang, und ich bin eine Tochter des Neumondes. Eigentlich muss ich mit der Gnade der Göttin durchdrungen diesen Mantel durchdringen. Doch es gelingt mir nicht. Doch der Wall des Abendhimmels hält sie fest. Nur eure Schwerter können diesen Bann durchdringen. Also, Fremder oder fremde, leg diese lästerliche Verhüllung ab und gib dein Bild und deinen Namen kund. Oder die Göttin selbst wird dich ergreifen und deine Seele zu sich nehmen."
Moondew fühlte, wie die in sie einschießenden Kältewellen unerträglich wurden. Ging das so weiter würde sie womöglich zu Eis erstarren. Dann sah sie, wie zwischen den hier versammelten Nachtkindern blutrote Funken erschinen und zu einer großen Wolke mitten im Raum verdichtet wurden. Sie wusste, dass sich so die Erscheinung der falschen Göttin bildete und dass sie nur noch einen oder zwei Atemzüge Zeit hatte, um dieser geballten Kraft zu entrinnen. Sie riss ihren linken Arm vor den Mund und flüsterte "Nachtruf" in Richtung eines silbernen Gliederarmbandes, das sie trug. Dieses strahlte in einem silberweißen Schein wie zehn vereinte Vollmonde auf und schloss sie in eine silberne Lichtspirale ein. Der den Tisch umstehende Wall erbebte und schleuderte weißblaue Blitze, die die leuchtende Spirale zu durchdringen versuchten. Doch es war zu spät. Unvermittelt wurde Moondew in einen unendlichen Raum aus vielen Farben hinübergerissen und hörte noch einen wütenden Aufschrei wie von einem gepiekten Riesen. Dann meinte sie, an einem in ihrem Bauchnabel steckenden Haken durch diesen unendlichen Raum gezogen zu werden. Gleichzeitig meinte sie, selbst zu einer silbernen Erscheinungsform ihrer Selbst zu werden. Sie wirbelte herum und wusste nicht mehr, wo oben und unten war. Ihr natürlicher Spürsinn für die Himmelsrichtungen war vollkommen wertlos. Dann endlich ließ der Wirbel nach. Schlagartig erlosch das ihren ganzen Körper überstrahlende Licht. Sie fiel aus einem halben Meter Höhe zu boden und schaffte es wegen ihrer übermenschlichen Reaktionsschnelligkeit und Gewandtheit, sicher auf den Füßen zu landen. Sofort lauschte sie, ob sie auch wirklich alleine hier war. Sie konnte keinen Atem hören, ob von einem Lebewesen oder einer Luftpumpe. Sie fühlte keine Nachtkindausstrahlung. Sie sah nur die Höhle, in die sie laut Silver Gleam gelangen sollte, wenn sie das Silberarmband benutzen sollte. Zumindest musste sie nicht das letzte Mittel benutzen, dass ihr zur Verfügung stand. Darüber war sie froh, auch wenn es bedeutet hätte, dass sie alle im Umkreis von hundert Schritten versammelten Nachtkinder mit in die Nachwelt gerissenhätte. Diesmal war sie entkommen. Doch sie wusste, dass Verräterinnen wie Sie genauso verraten werden mochten. Deshalb würde sie keinem ihrer derzeitigen Verbündeten verraten, welches Mittel sie im schlimmsten aller Fälle nutzen würde.
"Meine Schwester Silver Gleam. Ich konnte mit der Brille der Bilderfassung sehen, dass es stimmt, dass es wohl diese Tempel gibt, von denen der von mir gefragte gesprochen hat", sandte sie an eine bestimmte Adresse. "Sie haben versucht, mich mit einem Zauber namens Wall des Abendhimmels zu halten und wollten gerade die falsche Göttin zu sich hinbitten. Doch ich konnte noch entrinnen. Doch wie dieser Portschlüssel wirkte war mir völlig neu."
"Bist du in der Fluchthöhle?" fragte eine wie aus der Ferne klingende Frauenstimme in ihrem Geist. Moondew bestätigte das. "Ich komme", war die Antwort darauf.
Keine zehn Atemzüge später wuchs eine blaue Lichtspirale aus dem Boden und spie eine Nachttochter in einem Kleid aus, das in derselben Farbe schimmerte wie ihre Augen. Moondew löste die Kapuze um ihr Kinn und schlug sie zurück. Nun konnte die andere sie in dieser Dunkelheit sehen. Sie öffnete auch den Umhang und zeigte sich der anderen vollständig.
"Was hast du gesehen, Schwester Moondew?" fragte Silver Gleam.
"Eine Darstellung der Weltkugel mit bestimmten Markierungen. Die von deiner Erweckerin geliehene Brille hat alles in sich aufgenommen, hoffe ich. Ich habe es gerade so geschafft, alles anzusehen, bevor die anderen kamen und versuchten, mich zu ergreifen."
"Gut, dass die noch nicht rausfinden können, wohin ein Portschlüssel bringt und dass meine Erweckerin mir einen mitgab, der nicht allgemein von Himmel und Erde seine Kraft zieht, sondern vor allem aus dem Mond selbst."
"Ein Mondportschlüssel? Wusste nicht, dass es auch sowas gibt", erwiderte Moondew.
"Tja, wissen die allermeisten Nachtkinder auch nicht, dass es der Sonne und dem Mond verbundene Portschlüssel gibt. Aber ein Sonnenportschlüssel hätte sich wohl an der Neumondmagie in deinem Umhang verausgabt und diesen und sich selbst wohl zerstört. Abgesehen davon hätte ein der Sonne verbundener Portschlüssel dir womöglich alle Kraft entrissen. Läge zumindest nahe, wenngleich ich das bisher nicht ausprobieren musste", erwiderte Silver Gleam. "Aber so haben sich Umhang und Portschlüssel gegenseitig bestärkt und dich aus der Umschließung befreit, was auch immer der Wall des Abendhimmels sein soll. Und jetzt gib mir bitte die Brille und das Armband! Du bekommst ein neues Armband."
"Um der Freiheit aller Nachtgeborenen wegen", sagte Moondew. "Doch ich sage noch einmal, dass es mir nicht behagt, mich einer Rotblütlerin auszuliefern, die ich nicht kenne und von der ich nicht weiß, ob sie mich am Leben lässt, wenn ich ihr nichts mehr zu bieten habe."
"Schwestern und Brüder wie ihr sind für meineErweckerin und mich immer sehr wichtig. Deshalb behältst du ja den Umhang des Neumondschattens und die Drachenhautkleidung", sagte Silver Gleam. Dann streckte sie ihre Hände aus. Moondew verstand. Sie löste erst das silberne Armband vom linkenHandgelenk. Dann streifte sie auch die Bilderfassungsbrille ab und klappte die Bügel zusammen. Damit enddete die Aufzeichnung der mit ihr gesehenen Bilder. Brille und Armband übergab sie an ihre Bundesschwester. Diese gab ihr daraufhin noch ein anderes Armband. "Das bringt dich in die Nähe deiner offiziellen Heimstatt. Der nur von dir benutzbare Rucksack sollte hoffentlich noch da liegen, damit du die Kleidung darin verschließen kannst", sagte Silver Gleam. Moondew nickte und band sich das neue Armbandum. "Ist das Auslösewort dasselbe wie beim letzten mal?" fragte sie. "Ja, ist es", sagte Silver Gleam. "Dann danke ich dir für die Hilfe und hoffe, dass ihr ergründet, ob diese Tempel schon bestehen oder noch errichtet werden müssen. Möge die Nacht dich immer gut umhüllen und dir immer labende Nahrung darbringen, Schwester.""
"Möge die wohltuende Dunkelheit der Nacht dir immer Heim und Wohlbefinden bieten, Schwester des gemeinsamen Blutes!" erwiderte Moondew. Sie schloss ihren Schutzumhang und zog die Kapuze wieder über den Kopf. Dann sagte sie: "Nachtbett!" Das neue Silberarmband glühte blau auf. Dann wurde sie erneut in einen buntenWirbel hineingezogen.
Als sie in einem vom Mond beschinenen Wald herauskam lauschte sie erst einmal, ob etwas oder jemand ihre Ankunft mitbekam. Sie hörte aufgescheuchte Nachtvögel und das Rascheln von bei Nacht umherstreifenden Tieren im Unterholz. Doch sie vernahm keine Ausstrahlung anderer Nachtkinder in der Nähe. Sie wartete einige Minuten im Schutz ihres Umhanges. Dann schlich sie in östlicher Richtung, bis sie auf eine kleine Lichtung trat, in deren Mitte ein kleiner Erdhügel war. Sie bückte sich und trug mit ihren behandschuhten Händen die Erde ab. So legte sie einen Rucksack frei, der groß genug war, ihren Umhang und ihre Drachenhautkleidung samt Stiefel aufzunehmen. Sie entkleidete sich vollständig und steckte ihre Sachen in den Rucksack. Diesen schnallte sie sich sorgfältig um. Dabei lauschte sie weiter. Doch das einzige, was sie vernahm war das aus sehr großer Höhe herabwehende Rauschen und verwaschen klingende Heulen einer dieser Feuerstrahl-Flugmaschinen der Magielosen. Also konnte sie nun in die transformative Trance eintreten, um innerhalb von zehn bis dreißig Atemzügen zu einer menschengroßen Fledermaus zu werden.
In dieser den Nachtkindern eigenen Zweitgestalt flog sie unter Nutzung der für diese Gestalt möglichen Schallortung über den Wald in Sussex dahin, bis sie jene fensterlose Hütte unter sich hatte, in der sie seit nun schon hundert Jahren wohnte. Dort konnte sie sich bei Tagesanbruch in einem lichtdichten Raum einschließen und bis zum letzten Sonnenstrahl ruhen. Sie wusste, dass der Ausflug sie gut erschöpft hatte. Sie wusste auch, dass sie deshalb in der nächsten Nacht auf Blutsuche gehen musste. Das war ihre Natur und musste so sein. Zumindest hoffte sie, dass sie heute nacht mitgeholfen hatte, die Freiheit der Nachtkinder auf dieser Welt zu erhalten. "Freiheit oder Tod! Nur freies Blut ist wahres Leben!" So lauteten die beiden wichtigsten Losungen der Liga freier Nachtkinder. Sie würde diese beiden Sätze ausrufen, wenn sie ihrem Tod gegenübertrat, wann und wo er sie auch immer aufsuchen würde.
"Ui, siehst jetzt echt aus wie Angelina Caprivento", sagte Gilbert Latierre, als eine Frau mit nachtschwarzen Ringellocken, einer rosafarbenen Haut und dunkelgrünen Augen vor ihm stand und ihn zuckersüß anlächelte. Sie konnte sogar ihr gefürchtetes Kulleraugenlächeln darbieten. "Das mit dem Vollbad in dieser rosaroten Soße ist gewöhnungsbedürftig. Aber die Haartönung "Königin der nacht" gefällt mir. Könnte ich mir öfter mal in die Haare schmieren. Aber du musst echt längeres Haar haben, sonst mach ich es dir ganz ab und zieh dir eine Perücke über", sagte die schwarzhaarige Frau mit Linda Latierre-Knowles' Stimme.
"Immerhinmuss ich mir keine Hautfarbenveränderungslösung auf den Körper schmieren", grummelte Gilbert und drehte sich um. "Ich mach dir mal schöne fesche Haare. Habe ich früher in Thorny öfters mit meinen Schlafsaalkameradinnen gemacht." Sie strich und kämmte mit ihrem Zauberstab durch das sehr kurze, abstehende Haar ihres Mannes. Der fühlte ein leichtes Kribbeln und wie seine Kopfhaut sich erwärmte. Er ließ es sich jedoch gefallen und sah dann in den Spiegel. Er hatte jetzt eine nackenlange rotblonde Lockenfrisur. "Na toll, wie Cousine Babsies Kronprinzessin Calypso", grummelte er. "Ja, oder wie Gloria Porter, von der sich deiner Base Tochter diese Frisur abgeguckt hat. Das muss jetzt einen Tag so bleiben, damit es wieder in seinen natürlichen Wachstumsrhythmus fällt. Dann suchst du dir die passende Tönung aus, vielleicht auch was dunkles oder einen Blondton. Da wir beide fließend spanisch könnenkönnten wir dann als südamerikanisches Paar auftreten."
"Dann hättest du dir das rosarote Zeugs nicht auftragen müssen, Linda Belle", sagte Gilbert.
"Doch, musste schon sein. Hält zumindest die nächsten zwei Wochen vor. Dann muss ich es abmachen, weil mein Bäuchlein sonst kaffeebraune Falten wirft."
"Willst du denn ohne Klamotten dahin?" fragte Gilbert. "Das nicht, aber mir gefallen will ich dann doch irgendwie immer noch."
"Modepüppchen", feixte Gilbert. "Borstenwürmchen", frotzelte ihn Linda. Diese Neckerei hatte sie damals getrieben, als sie und er mehrere Tage hintereinander die Quidditch-Weltmeisterschaft in Italien beobachtet hatten. Er hatte dann gemeint, dass er dann für die Haarpflege keine halbe Stunde bräuche wie sie mit ihren normalerweise rotbraunen Locken. Zumindest stand nun fest, dass sie unter falschem Namen und dafür ausgeborgten Zauberstäben mit noch nicht bekannter Zuordnung nach Italien einreisen und sich dort umsehen und vor allem umhören würden, ob es wirklich sicher war, dort noch einmal mit einer Weltmeisterschaft durchzustarten.
"Aber an deiner Stimme musst du was machen, weil die zu bekannt ist", erwiderte Gilbert. "Da nehme ich Gerda Gabblets Stimmentrosttrank ein. Der macht nämlich bei Zugabe von ein wenig Erdbeersirup, dass die eigene Stimme für einen Tag ein wenig tiefer und raumfüllender klingt. Den Trick habe ich von zwei Sängerinnen von Hecate Leviata abgelauscht, als die vergaßen, einen Klangkerker in ihrer Garderobe zu zaubern. Frau nimmt mit, was Frau kriegt. "Genug von dem Tonikum habe ich schon eingepackt und auch getrockneten Erdbeersirup. Den muss ich nur portionieren und die Dosis mit dem Aguamentizauber rehydrieren. Auch ein Trick, den ich im Laufe meiner umfangreichen Arbeit erlernt habe."
"Du wirst mir unheimlicher, je länger ich dich kenne", erwiderte Gilbert scherzhaft. In wirklichkeit beneidete er sie, weil sie schon so viel erlebt hatte, obwohl er selbst auch viel erlebt hatte.
Sie probierten dann noch das Stimmenraumtonikum aus. Dabei bekam Linda eine Stimme wie eine alteingesessene Altsängerin. Gilbert bekam eine Bassstimme, die ihm selbst unheimlich war. Doch auch Linda schien mit ihrer veränderten Stimmlage ein wenig zu hadern. "Schon unheimlich, wie diese Mixtur wirkt", sagte sie mit dieser warmen, tiefen Altstimme. Gilbert erwiderte, dass er jetzt wohl das Lied vom alten Eichenfass so groß wie Vaters Haus singen konnte, ein bei französischen Zauberern beliebtes Trinklied, für das jemand aber eben eine satte Bassstimme haben und wirklich tiefe Töne singen musste. Die meisten schummelten dann mit dem Varivox-Zauber herum. Weil Linda das Lied noch nicht kannte versuchte er es nun unter Einfluss des Stimmenraumtonikums plus Erdbeersirup und brachte mit dem tiefsten Brustton sogar die leeren, hauchzarten Weingläser im Schrank zum erzittern. Dann meinte er: "Ui, das probiere ich mal aus, wenn Cousinchen Babsie mal wieder mit einer ihrer großen weißen Prachtmädels bei Tante Line vorbeireitet. Da schlackern der bestimmt die Ohren."
"Brauchst du nicht zu warten. Als du diesen tiefen Ton erwischt hast habe ich das typische Wummern nachhhallender Unterschalltöne von sämtlichen Wänden im Haus gehört", grinste Linda. "Aber ein schönes Lied, wenn auch das Ende sehr biestig ist, dass jemand vor lauter Glück in diesem Fass ertrinken mag. Muss nicht sein", sagte sie noch.
"Stimmt auch wieder. Aber wer gerne trinkt sieht das als den schönsten zu erduldenden Tod. Vor allem, wenn er da schon so besoffen ist, dass er das nicht mitkriegt und dann fröhlich aus dem Fass steigt und fragt, wer die nächste Runde ausgibt, bevor er mitkriegt, dass er keinen lebenden Magen und keine lebendige Leber mehr hat und er selbst so flüchtig wie der Duft des süßen Weines ist. Aber das ist ein anderes Trinklied."
"Ihr Franzosen liebt den Wein. Mittlerweile weiß ich das auch zu schätzen. Aber solange die Kleine da in und später von mir mittrinkt bleibe ich besser bei unvergorenem Traubensaft."
"Zu dem Thema gibt es auch noch ein Trinklied, weshalb ich, gerade mal zwölf Jahre alt, zwei saftige Ohrffeigen von meiner Mutter und einen lauten Anbrüller von meinem Vater kassiert habe, während Tante Line und Oma Babsie lauthals gelacht haben und Oma Babsie meinte, dass dies doch wahrlich das größte Kompliment eines Mannes an die Frau sei, die seine Kinder bekommen darf." Linda nickte und grinste. Dann sang sie das bewusste, sehr derbe Lied nach. "Das habe ich noch als Schulmädchen gelernt, um zwei Möchtegernschürzenjägern zu beweisen, dass ich keine kleine Anstandspuppe bin. Tja, die haben mittlerweile wirklich zwei und drei Kinder hinbekommen." Gilbert hörte ihr an, dass sie da nicht nur fröhliche Erinnerungen dran hatte.
Julius Latierre war gerade aus der Mittagspause in sein Büro zurückgekehrt. Auf dem Schreibtisch lag ein Briefumschlag, der vor dem Mittagessen noch nicht dort gelegen hatte. Julius nahm ihn und las, dass es eine Mitteilung aus Brüssel war. Der bei der zusammengeschlossenen Truppe gegen Auswirkungen von Zaubern und Zauberwesen in der nichtmagischen Welt, Monsieur Antoine Duisenberg, hatte ihm persönlich geschrieben. Da er ja vom Zaubereiministerium her als Vermittler zwischen magieloser Welt, Zaubererwelt und menschlicher Zauberwesen geführt wurde musste es also was sowohl mit der nichtmagischen Welt als auch mit menschengestaltlichen Zauberwesen zu tun haben. Julius war neugierig und zugleich auch sehr angespannt, was Corinne Duisenbergs Vater mitzuteilen hatte.
Als er gelesen hatte, was in Brüssel passiert war seufzte Julius. Also ging es nun richtig los, die offene Auseinandersetzung zwischen den Vampiren und den neuen Nachtschatten, und ja, dabei würden dann auch unschuldige Menschen sterben oder selbst zu einer der beiden Sorte Nachtgeschöpfen werden. Er las, dass der belgische Zaubereiminister diese Angelegenheit zur Geheimsache der Stufe S6 erklärt hatte, was hieß, dass nur die für die betreffenden Abteilungen zuständigen Beamten und der amtierende Zaubereiminister selbst davon wissen durfte. Klar wollte das belgische Zaubereiministerium kein Aufsehen und erst recht keine Panik schüren. Doch würde das klappen? Die Schlangenmenschenseuche in Australien konnte ja auch nicht lange unter der Decke gehalten werden. Doch Julius wusste auch, dass Geheimstufen nicht ohne Grund galten und würde sich auch nicht anmaßen, sie öffentlich in Frage zu stellen. Er würde den Brief hier kopieren, um ihn Nathalie Grandchapeau, Simon Beaubois und Pygmalion Delacour, sowie den Büroleitern zur Überwachung von Vampiren, der Geisterbehörde und der Strafverfolgungsabteilung übergeben. Auch die Ministerin sollte eine Kopie davon haben.
Nachdem er sich überlegt hatte, wer alles davon wissen musste und wer davon wissen durfte machte er die entsprechende Anzahl von Kopien und drei für die Archive der direkt betreffenden Abteilungen.
Er schickte Memos mit den Kopien und den beigefügten Begründungen los und dachte daran, was er tun konnte, wenn es auch in Frankreich zu einem Vorfall wie den in Belgien kommen würde. Vampire sollten nur getötet werden, wenn sie sich als wahrhaft gemeingefährlich für Menschen erwiesen. Ja, und die Nachtschatten mussten wohl getötet werden, weil die ausschließlich von den Seelen denkender Wesen existierten, ein Unleben, das jedem der an die Dämonen der Hölle glaubte, voll und ganz rechtzugeben vermochte.
Er wunderte sich nicht, dass er eine halbe Stunde vier Antworten auf seinem Tisch hatte, eine von Beaubois, eine von Adrastée Ventvit aus der Geisterbehörde, eine von Monsieur Charlier aus der Vampirüberwachung und eine von Nathalie Grandchapeau. Letztere erwähnte, dass gleich am nächsten Tag eine Konferenz stattfinden würde, wie Vorfälle dieser Art vermieden oder sehr schnell erkannt und bearbeitet werden konnten. Nathalie schrieb auch:
Jetzt weiß diese Schattenkönigin, dass ihre in schattenloser Sklaverei gehaltenen lebenden Opfer mehrere Menschen und Wesen auf einen Schlag töten können. Dieses grauenvolle Mittel wird sie nutzen, wenn sie sich bedrängt fühlt, ähnlich wie es die Länder USA und Russland mit ihren Atomwaffen taten. Wir müssen was (er)finden, dass die Explosion eines Schattenlosen verhindert oder zumindest das Ausmaß dieser Detonationen möglichst auf null beschränkt. Sonst kann und wird uns diese von bösen Gedanken vergiftete Nachtschattenmutter nach Beliebenterrorisieren.
Da Sie sowohl in der Welt der Magielosen wie der Zaubererwelt sehr gut Bescheid wissen und auch schon den einen oder anderen sehr kreativen Vorschlag gemacht haben setze ich große Hoffnung in Ihre Mithilfe und Ihre Intelligenz und Phantasie, Monsieur Latierre. Ich warte noch ab, wer die morgige Konferenz leiten soll. Vielleicht erhalten Sie dann heute noch eine Nachricht von mir. Falls nicht, spätestens morgen.
Julius bestätigte per Memo den Erhalt aller Antworten und sehnte den Feierabend herbei, zumal er im Moment nichts anderes tun musste.
Als er wieder bei sich zu Hause war freute er sich regelrecht auf den Wickeldienst für seine jüngste Tochter und die jeden ungeraden Tag im Monat stattfindende Zusammenkunft in Heras Haus, wo sie mit den Pflegehelfern und den nun vier Kolleginnen aus der Heilerzunft besprach, wie es den vielen werdenden Müttern ging. Wie üblich endete die heutige Zusammenkunft mit einem von verschiedenen Hauselfen bereitgestelltem Abendessen im großen Esszimmer der residenten Hebammenhexe von Millemerveilles. Julius konnte sich dabei gut von der wortwörtlich düsteren Nachricht aus Brüssel ablenken.
Erst als Millie und er in ihrem breiten Ehebett lagen und die schalldichten Vorhänge geschlossen waren fragte sie ihn: "Was hat dich heute wieder so erschüttert? Wieder was für alle anderen ganz geheimes aus der Schattenwelt?"
"Auf den Punkt, Mamille. Eine S6-Meldung aus Belgien. Die Nachtschatten und Vampire haben da wohl einen heftigen Zusammenstoß erlebt und die Nachtschattenfraktion hat dabei gewonnen, nicht nur die direkte Auseinandersetzung, sondern auch an wichtiger Erfahrung. Mehr möchte ich im Moment nicht sagen, bis ich weiß, wie wir im Ministerium damit umgehen müssen und ob nicht doch eine Beteiligung bestimmter nichtministeriellen Fachkräfte erforderlich ist, wie zum Beispiel Catherine oder Blanche Faucon und Phoebus Delamontagne."
"Öhm, du möchtest mir jetzt noch nicht sagen, was da genau passiert ist, Monju. Kann ich verstehen. Aber wenn was ist, wo es dir selbst sinnvoll erscheint, da nicht nur das Ministerium was von wissen zu lassen, sag mir das bitte! erwiderte Millie Latierre. Julius bejahte es. Dann drehten sich beide in ihre bevorzugte Einschlafhaltung und gaben sich der rechtschaffenen Müdigkeit hin.
Der blaue Koffer in einem zweitürigen Schrank hüpfte wie ein gefangener Floh in einem Glasröhrchen auf und ab und schüttelte sich. Dabei zerrte er mit seinem Griff an das daran festgebundene Ende einer dünnen Schnur. Die Schnur wiederrum brachte eine kleine Glocke im Wohnzimmer zum schwingen. Deshalb bekam Theia Hemlock, die Herrin dieses Hauses, mit, was in ihrem gesicherten Kleider- und Ausrüstungsschrank vorging.
Als die Schranktüren aufgingen und eine schmale Hexenhand den Griff des blauen Koffers umfasste hörte er sofort mit dem wilden Gehüpfe auf. Er ließ es sich seiner Beschaffenheit gemäß gefallen, dass seine Besitzerin ihn von der Glockenschnur löste, ihn aus dem Schrank zog und mit ihren Händen über seine Schlösser streichelte, bis diese aufsprangen. Er klappte nun von selbst auf und gab frei, was da auf übernatürliche Weise durch Zeit und Raum in ihn hineingeraten war, eine Brille mit dünnen Bügeln und ein Briefumschlag mit einem bleichen Wachssiegel.
"Selene, kommst du bitte in den Sprechraum?!" rief Theia Hemlock, als sie den Inhalt des blauen Koffers an sich genommen und diesen wieder verschlossen und an seine Glockenschnur gebunden hatte. "Ja, Mom, bin gleich drüben", ertönte das glockenhelle Stimmchen von Selene Hemlock. Theia schob den Koffer wieder in den Schrank zurück und verschloss dessen Türen sorgfältig mit dem Clavunicus-Schlüssel. Blutsiegelzauber und ein paar andere Bannzauber verhinderten, dass außer ihr jemand an den Inhalt des Schrankes gelangte.
"Oma Thyia, ich habe was im blauen Koffer gefunden. Könnte sehr wichtig sein", mentiloquierte Theia ihrer Urgroßmutter Eileithyia Greensporn.
"Bin gleich bei euch", kam die nur für ihren Geist wahrnehmbare Antwort zurück.
Es war ihr bis heute unmöglich erschinen. Doch es war tatsächlich passiert. Ein Kind der Nacht paktierte mit den Rotblütlern und hatte in deren Auftrag die britische Niederlassung des nächtlichen Gedächtnisses betreten und trotz ihrer starken Ausstrahlung jeder Befragung widerstanden. Jemand, der sich in einen den Körper vollständig verhüllenden Mantel des Neumondschattens gehüllt hatte und zugleich eine Ausstrahlung besaß, die gegen durchdringende Blicke schützte. Ja, und dieser Eindringling hatte einen Portschlüssel benutzt, der hauptsächlich aus der Kraft des Mondes zehrte und damit die Kraft des Walls des Abendhimmels überwand. Wer immer den Spion oder die Spionin in die Halle des offenbarten Wissens geschickt hatte kannte sich mit Mondzaubern und den Nachtkindern gut aus, zu gut für Gooriaimirias befinden. Denn sie hatte noch gefühlt, wie dieser Mondlicht-Portschlüssel ihre im Entstehen begriffene Avatari erbeben ließ, was auch nicht sein durfte.
Es war klar, dass der völlig verhüllte Eindringling die Darstellung der neuen Welt aufgerufen hatte. Sicher würde wer auch immer seinem Auftraggeber berichten, was er oder sie gesehen hatte. Würde der Auftraggeber es wagen, den Spion zu legilimentieren? Sicher war ja, dass es ein Nachtkind sein musste, welches gegen die heilige Ordnung der Göttin aufbegehrt hatte. Es hatte etwas vom eigenen Blut geben und dabei das neue Glaubensbekenntnis sprechen oder denken müssen. Jetzt ärgerte sie sich, dass das Blutschloss am Eingang zur britischen Niederlassung nur auf die Natur eines Nachtgeborenen prüfte, aber nicht ob männlich oder weiblich, alt oder jung.
Noch was war Gooriaimiria aufgefallen. Ihre Gläubigen hatten in dem Moment, wo der oder die Unbefugte geflohen war vergessen, dass ein Eindringling da war. Sie sahen nur den Aktivierungsstein für die Darstellung der neuen Weltkugel auf dem Tisch liegen. Ja, und der Carpe-Inimicum-Zauber, der jeden Feind festhalten sollte, der es wagte, die Kugel aus ihrer Nische zu nehmen hatte versagt? Das musste geprüft werden.
"Nyctodora, nach Sussex in den Hort des Wissens!" rief Gooriaimiria in den Geist ihrer Hohepriesterin. Diese bestätigte es. Keine zwei Sekunden später umschloss der Strudel der Nacht die in blutrote Gewänder gekleidete Hohepriesterin und trug sie vorbei an Gooriaimirias Machtzentrum in die Halle des offenbarten Wissens.
Der Feindesfangzauber hat keinen Feind gefunden, sondern nur ein Nachtkind wie wir alle es sind", sagte Nyctodora. "Das kann nicht sein, Nyctodora. Nur jemand, der auf die Schutzbanne eingestimmt ist, darf die Kugel herausnehmen und ein Feind würde von schmerzhaften, feurigen Fesseln gebunden. Es sei denn, der Eindringling trug Handschuhe, die mit Schutzzaubern gegen Feuerzauber ... Natürlich", gedankenschnarrte Gooriaimiria. Wer immer ihr den Spion geschickt hatte kannte den Carpe-Inimicum-Zauber. Dann hatte der Spion oder die Spionin nicht nur erfahren, wo die Aktivierungskugel lag, sondern hatte sicher auch was dabei gehabt, um das davon preisgegebene Wissen für andere zu sichern. Er oder sie musste es nicht mündlich weitergeben.
"Es muss wer sein, der oder die von diesen Vorrichtungen wusste", dachte Gooriaimiria. Sie beschloss, alle zu prüfen, die es wussten. Am Ende hatte Nyctodora dieses Wissen weitergegeben und damit dem Spion ermöglicht, geheimes Wissen zu erbeuten. Gooriaimiria wusste jedoch, dass es fünfzig Nachtkinder gab, die dieses Wissen besaßen. Die alle zu überprüfen würde eine ganze Nacht dauern. Wehe dem oder der, der das Wissen einem Feind weiterverraten hatte! Dann fiel ihr noch was ein: Der Spion konnte seine Feinde glaubenmachen, kein Feind wäre da gewesen. Sie selbst hatte ja gefühlt, dass sie den oder die nicht gegen den eigenen Willen enthüllen konnte. Also hatte wer immer das einzige Mittel benutzt, um sich vor den eigenen Feinden zu verhüllen: freiwillig gegebenes, jungfräuliches Blut eines geschlechtsgleichen magischen Menschen. Doch sie war die Göttin. Sie hätte selbst diese Verhüllung durchdringen müssen. Sicher wäre ihr das sogar gelungen, wenn der oder die Unbefugte nicht diesen auf Mondlicht bezogenen Portschlüssel ausgelöst hätte. Wenn sie den Verräter oder die Verräterin hatte würde Gooriaimiria sie augenblicklich von zwei weniger wertvollen Gläubigen umzingeln lassen, um die alle zusammen in sich einzuverleiben, damit sie alles wusste, was der oder die Unerwünschte wusste. Ja, so musste sie vorgehen, um zu wissen, wer der Auftraggeber war.
Eileithyia Greensporn trug ein grünes Kleid und hatte ihr silbernes Haar zu einem strengen Knoten hinter dem Nacken gebunden, als sie Theia und Selene im mit Dauerklangkerker bezauberten Zimmer traf. Theia las ihren Verwandten den Brief vor. Darin bedankte sich Silver Gleam für die praktischen Ausrüstungsgegenstände, vor allem die Neumondschatten-Umhänge, die drei Fluchtportschlüssel mit Bezug zum Mond und die Bilderfassungs- und -aufbewahrungsbrille. Dann erwähnte sie, das mit eben dieser etwas gesehen wurde, was wohl sehr wichtig für die Anhänger der Blutgötzin war, womöglich die Bestätigung für die Gerüchte, diese sei dabei, ihre ganz eigenen Kultstätten zu errichten, möglicherweise Tempel der Nacht. Selene nickte bei dieser Erwähnung verdrossen.
"Ich könnte euch jetzt die Brille geben, und ihr könntet sie mit dem Kennwort, dass ich für die Bildwiedergabe festgelegt habe benutzen. Aber ich kann die Bilder selbst ansehen und dann in das hauseigene Denkarium übertragen, und wir können dann gemeinsam ergründen, was genau Silver Gleams Komplizin gesehen hat", bot Theia Hemlock an.
"Diese Blutgötzin kann in die Gedanken ihrer Anhänger hineinlangen wie wir Bücher nach wichtigen Sätzen durchsuchen können", sagte Selene. "Also müssen wir davon ausgehen, dass sie bald weiß, wer das mit der Höhle und dem Globus verraten haben muss. Dann ist diese Moondew in sehr großer Gefahr."
"Hat Silver Gleam nicht geschrieben. Ich gehe aber davon aus, dass sie das sicher auch so sieht", rwiderte Theia Hemlock.
"Dann wird sie wohl dein Geschenk benutzen", sagte die altehrwürdige Großheilerin Eileithyia Greensporn. Selene und ihre zweite Mutter sahen einander an. Beide wussten, was gemeint war.
"Sehen wir uns an, was Moondew erbeutet hat", sagte Theia Hemlock und setzte sich die Brille aus dem blauen Verschickungskoffer auf, dessen Gegenstück sie Silver Gleam persönlich vorbeigebracht hatte. Sie ließ die Bilder erst für sich selbst immer wieder vorbeiziehen und nickte. Dann holte sie aus dem gleichen Schrank, in dem der blaue Koffer stand, auch das hauseigene Denkarium, dass sie hergestellt hatte, als feststand, dass sie und Selene wohl entscheidendes gegen die selbsternannte Göttin aller Nachtkinder tun mussten.
Wenige Minuten später hatte sie alles, was Moondew gesehen hatte als silberweiße Lichtfäden in das kreisrunde Granitgefäß übertragen und lud ihre Urgroßmutter und Selene ein, sie kurz in die ausgelagerte Erinnerung zu begleiten.
So konnten die drei zeitgleich sehen, was der über dem runden Tisch schwebende Globus enthüllt hatte. Allen dreien war klar, dass der blutrote Buchstabe Tau für den Standort eines Tempels dieser falschen Göttin stand. Welche Bedeutung die in Gelb gehaltenen griechischen Buchstaben hatten wussten sie noch nicht, bis auf die Kombination Gamma My Ny mitten im Golfstrom: Große Mutter der Nachtkinder.
"Könnte es sein, dass die Jünger dieser Götzin denGolfstrom als das unerreichbare Gefilde ihrer Göttin verehren?" fragte Selene mit ihrer Kleinmädchenstimme.
"So wie die religiösen Leute in den Himmel gucken, wo sie ihren Gott oder ihre Götter vermuten?" fragte Theia. "Möglich ist das wohl", fügte sie hinzu.
Das ist der Mount McKinley mit dem Namen, den die dort ansässigen Ureinwohner ihm gegeben haben", sagte Eileithyia, die in der gerade besuchten Erinnerung wie als wenn sie persönlich in der Höhle stand anwesend war. Sie zeigte auf die betreffende Markierung. "Dann haben wir so einen Tempel da oben in Alaska mehr oder weniger vor unserer Haustür", schnaubte sie verdrossen.
"Ja, und ein Tempel steht wohl in den argentinischen Anden", stellte Selene fest, die in dieser Erinnerung um den runden Tisch herumgehen und den Globus darüber von allen Seiten betrachten konnte.
"Dann einer genau unter dem Mont Blanc, einer im Kongobecken und einer im nordaustralischen Urwald, schön abgelegen und sicher mit mehreren Schutz- und Verhüllungszaubern versehen, um uns Tagkinder von ihnen fernzuhalten", sagte Eileithyia Greensporn.
"Nicht nur uns, sondern auch alle anderen Vampirfeinde, Oma Thyia", sagte Selene. "Die Werwölfe sind ja auch nicht gerade Freunde von Vampiren."
"Ist wohl wahr, Selene. Aber die zähle ich trotz aller Animositäten unserer Zeitgenossen immer noch zu uns Menschen also Tagkindern. Aber euch zwei Süßen sollte klar sein, dass wir drei alleine nichts gegen diese sieben Tempel tun können oder gar tun dürfen, sofern wir unsere körperliche und geistige Unversehrtheit wertschätzen. Daher bitte ich dich, Theia, diese Erinnerungen den anderen Schwestern zur Verfügung zu stellen."
"Ich verstehe was du meinst, Oma Thyia, auch wenn du weißt, dass dann auch die was davon erfahren, die nicht den Weg der Stuhlmeisterin gehen."
"Natürlich gehe ich davon aus. Andererseits können uns die womöglich helfen, was gegen diese Bollwerke der Blutgötzin zu tun, was die meisten anderen von uns nicht kennen oder gar zu tun wagen würden."
"Ihr wollt die Spinnenschwestern und ihre neue sichAnthelia nennende Anführerin dazu auffordern, diese unsaubere Arbeit zu tun, richtig?" wollte Selene wissen.
"Dazu auffordern wohl nicht, aber es zumindest nicht behindern, solange dabei keine unschuldigen Menschen zu Schaden kommen", sagte Eileithyia.
"Und wenn von den Spinnenschwestern welche dabei sterben, Frau Großheilerin?" fragte Theia. "Als wenn dich das jemals wirklich besorgt hätte, Theia Hemlock, Tochter Daianiras", versetzte die Sprecherin der nordamerikanischen Heilmagierzunft verdrossen. Darauf wagte Theia keine weitere Antwort.
Julius Latierre durfte auf direkte Aufforderung des Konferenzleiters Simon Beaubois den Brief aus Brüssel verlesen. Dann bat der Leiter der Abteilung für Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe um Fragen oder Wortmeldungen.
Nathalie, die in ihrem Umstandsverhüllungskleid der Sitzung als Gast beiwohnte hörte sich die ersten Wortmeldungen an. Vor allem Boris Charlier aus der Vampirabteilung brachte es auf den Punkt: "Damit wird der sechste zweite 2004 als erster Tag eines blutigen Krieges zwischen Vampiren und Nachtschatten in die Zaubereigeschichtsschreibung eingehen, wenn wir ganz großes Pech haben auch in die nichtmagische Geschichtsschreibung. Ich wundere mich aber sehr, dass die Kollegen in Brüssel uns erst gestern davon unterrichtet haben, wo die doch auch der Übereinkunft vom zwölften Mai 2003 beigetreten sind." Julius nickte und beteuerte, dass er dieses Schreiben erst gestern zugestellt bekommen hatte. "Womöglich wollten die Kollegen in Brüssel die Angelegenheit für sich alleine regeln und mussten feststellen, dass sie nicht weiterkommen", wandte Nathalie Grandchapeau ein. "Als mein Mann noch Zaubereiminister war hat er häufiger den belgischen Amtskollegen bitten müssen, grenzüberschreitende Vorfälle zeitnah zu übermitteln und meistens zu hören bekommen, dass nicht gleich der große Nachbar gerufen wird, nur weil in der Küche das Essen angebrannt ist. Ich sehe, keiner von Ihnen empfindet diesen Vergleich als erheiternd." Tatsächlich hatte niemand auch nur gegrinst. Julius dachte nur, dass höchstens der kleine Demetrius in seiner warmen, weichen Heimstatt gelächelt haben könnte, weil Nathalie so spontan wiedergegeben hatte, was Armand Grandchapeau ihr mal erzählt hatte, vielleicht beim Essen zu Hause.
"Will sagen, die Belgier haben erst untersucht, wie was passiert ist und dann überlegt, was sie dagegen machen können und dann erst gemerkt, dass sie im Moment wohl nichts machen können?" fragte Charlier verbittert. Dann nickte er. "Stimmt schon, die sind sehr stur, was Mitteilungen an ausländische Kollegen angeht, habe ich mitbekommen, als die mir ein halbes Jahr nach dem Geschehen mitgeteilt haben, dass ein bei ihnen registrierter Vampir versucht hat, eine eigene europäische Union aus Vampiren zu gründen und die Kollegen nur dadurch was mitbekamen, weil einer ihrer vampirischen Informanten zum "Gründungstreffen" eingeladen wurde und danach alle Teilnehmer einzeln in Gewahrsam genommen oder getötet wurden. Ich habe dem Kollegen damals, der heute Abteilungsleiter für magische Geschöpfe ist, ziemlich laut und deutlich kundgetan, dass sowas gleich nach Bekanntwerden zumindest an die Nachbarländer gemeldet werden sollte. Offenbar habe ich da tauben Ohren gepredigt."
"Vielleicht geht es über den Vertrag von Beauxbatons, dass Dinge, die dort lernende Schülerinnen und Schüler und/oder deren Erziehungsberechtigte betrifft von den zuständigen Stellen an alle Familienstandsabteilungen des französischen Sprachraums weiterzumelden sind", sagte Julius, nachdem er ums Wort gebeten hat. "Ich meine, wenn was vorfällt, dass unmittelbar gefährlich für Eltern oder Schüler wird, muss es gemeldet werden, aus Belgien, Frankreich oder Luxemburg. Vielleicht können wir damit argumentieren, dass sich bekriegende Vampire und Nachtschatten für französischsprachige Hexen und Zauberer mit schulpflichtigen Kindern gefährlich sind."
"Da Sie für mich ein wenig unverständlicherweise zuerst informiert wurden und nicht ich oder Monsieur Charlier", setzte Simon Beaubois an, beauftrage ich Sie hiermit, die Antwort an den Kollegen Duisenberg entsprechend zu formulieren, dass allein auf Grund des Sofortmitteilungsstatutes im Anerkennungs- und Beistandsvertrag von Beauxbatons vom ersten Dritten 1721 jede Form von Personengefährdung durch nichtmenschliche Wesen umgehend zu vermelden ist, Monsieur Latierre." Julius nickte. Immerhin hatte er den erweiterten Vertrag, der die Rechte und Pflichten der Zaubereiministerien im Bezug auf Beauxbatons regelte, bei sich in einem Nachschlageordner. So würde er die entsprechenden Paragraphen punktgenau erwähnen und zitieren können. "Könnte mir sogar vorstellen, dass Madame Faucon dem belgischen Familienstandsbeauftragten einen Heuler sendet, wenn sie erfährt, dass ihre von dort stammenden Schülerinnen und Schüler in Gefahr schweben, von diesen Ausgeburten der Nacht gepeinigt oder gar getötet zu werden", erwiderte Boris Charlier darauf. Julius nickte, während Nathalie einen Augenblick lang wie geistesabwesend aussah und dann sehr heftig nickte.
"Das heißt aber auch, dass wir die Angelegenheit an den Kollegen Descartes weitergeben müssen", seufzte Beaubois. "Am Ende können wir das noch in die Zeitung setzen, wo hier bei uns je einer sitzt, der Kontakt zur Temps und zum Mirroir hat."
"Ich empfehle, die Stufe S6 auf S5 zu verringern, um die entsprechenden Berichte und Mitteilungsberechtigten entsprechend zu bestimmen", sagte Nathalie. Der Kollege aus der Abteilung für magische Geschöpfe nickte schwerfällig. Dann beauftragte er Julius, die Mitteilung an Monsieur Descartes zu machen, wenn alle das Protokoll dieser Konferenz unterschrieben hatten.
Als Julius die ihm erteilten Aufträge ausgeführt hatte befasste er sich mit den von ihm selbst in die Diskussion um eine Gesetzeserweiterung eingebrachten Argumenten, wie weit das familiäre Umfeld von veela- Zwerg- und Koboldstämmigen Hexen und Zauberern zu erfassen sei, wenn diese Personen aus der nichtmagischen Welt zu heiraten wünschten. Die Sache mit Pierres Großvater gab Julius immer noch zu denken. Was wäre passiert, wenn die Natur von Pierres Frau und Verwandten doch aufgeflogen wäre?
Als es halb eins war klopfte es an seine Bürotür. Nathalie bat ihn, mit ihm in ihrem Büro zu essen. So konnte er sich erst einmal von den ganzen trockenen Formulierungen erholen. Allerdings wollte Demetrius wohl, dass Julius über die Cogison-Ohrringverbindung mit ihm sprach. So musste er sich sehr konzentrieren, über Nathalies Körpergeräusche hinweg zu verstehen, was Demetrius ihm mitteilte. Es ging dem als Fötus im Leib Nathalies eingeschlossenen darum, dass die im Mitteilungs- und Beistandsabkommen vom 12. Mai 2003 angedachte Kommission aus internationalen Fachleuten für Vampire, Nachtschatten oder andere nichtmenschliche Wesen auf den Weg gebracht werden sollte. Auch und vor allem wo der Zwischenfall mit dem explodierten Schattenlosen und den acht dabei getöteten Vampiren in der Hauptstadt der europäischen Union passiert war zeigte, dass beide Gruppen offenbar versuchten, wichtige Verbündete oder Unterworfene auf internationaler Ebene zu rekrutieren.
"Ich bin da ganz an deiner Seite, Demetrius. Auch wenn ich de Jure eine eigene Behörde führe bin ich de facto nicht gut genug bevollmächtigt, um derartiges auf höchster Ebene anzuregen", schickte Julius zurück und musste aufpassen, den Bissen von dem Huhn in Honigsoße, den er auf der Gabel hatte, ordentlich in seinen Mund zu schieben.
"Dann möchte ich, dass Nathalie das mit Simon Beaubois und den Herrschaften aus der Abteilung für internationale Zusammenarbeit regelt und du, Julius, die betreffenden Verhandlungen führst, wenn ein Auftrag von mindestens drei oder vier Behördenleitern und der Zaubereiministerin selbst besteht. Kriegt ihr beiden das hin?" cogisonierte Demetrius. Julius wollte schon antworten, als Nathalie gerade so noch mit geschlossenem Mund aufstieß, was für ihn jedoch ein llöwengebrüllartiges Getöse war. Dann dachte er zurück: "Ich werde wohl die für später mal angedachten Sachen auf Eis legen, um mir Freiräume zu schaffen."
"Ich finde auch, dass dieser verzögert mitgeteilte Zwischenfall uns alle sehr heftig alarmieren muss. Die Zeiten, wo jeder für sich werkeln kann, sind vorbei, nicht nur was Handel und Ausbildung angeht", dachte Nathalie. Da sie ja auch einen Ohrring trug konnte sie genauso ohne anstrengendes Mentiloquieren zu Julius sprechen, ohne dabei Mund und Stimme zu benutzen.
"Das ist sehr gut, dass ihr zwei euch einig seid", stellte Demetrius fest. Dann erlaubte er seiner auf ihn wartenden Mutter und Julius, in Ruhe weiterzuessen und sich über andere nicht weniger wichtige, wenn auch ungefährlichere Sachen wie Julius' dritte Tochter oder die Vorbereitungen Millemerveilles auf den großen Ansturm neuer Kinder zu sprechen. Demetrius gab dabei keinen Kommentar von sich. Womöglich schlief er sogar nach der Anstrengung für das kleine ungeborene Gehirn tief und fest und vertraute darauf, dass Nathalie anständig für ihn mitaß.
Am Nachmittag bekam Julius eine persönliche Einladung, die Zaubereiministerin in ihrem Büro aufzusuchen.
"Die Deutschen, Briten, Spanier und Österreicher haben uns sofort mitgeteilt, wenn bei ihnen was wegen dieser neuen Nachtschatten passiert ist oder wenn sie neues über die Sekte der Vampirgöttin zu berichten hatten", sagte Ornelle Ventvit, als Julius ihr gegenübersaß. "Ich habe vorhin noch einen Brief an den belgischen Kollegen geschickt, dass wir sehr verwundert sind, dass es zwischen zwei als hochrangige Gefahren anerkannten Gruppierungen zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung kam und seine damit befassten Mitarbeiter erst jetzt Zeit fanden, uns darüber zu berichten. Ich bin gespannt, wann und welche Antwort zurückkommt. Aber in der Zeit sollten wir nicht untätig sein. Daher möchte ich sie Fragen, ob Sie als offizieller Vermittler zwischen magielosen und magischen Menschen und menschengestaltlichen Zauberwesen sich zutrauen, mit außerministeriellen, von uns als integer eingestuften internationalen Organisationen zusammenzuarbeiten, die das Wohl aller Menschen als oberstes Handlungsprinzip pflegen."
"Sie meinen die Liga gegen dunkle Künste und die magische Heilzunft in Europa und das Marie-Laveau-Institut in den vereinigten Staaten", antwortete Julius. Die Ministerin nickte. "Sie hätten mich sicher nicht persönlich gefragt, wenn Sie den geringsten Zweifel hätten, dass ich eine derartige Aufgabe erfüllen könnte", fügte er noch hinzu. Wieder nickte die Ministerin. "Aber formal korrekt: Ja, Mademoiselle La Ministre, ich traue es mir zu, mit Vertretern der internationalen Gruppierungen zu verhandeln, die sich um den Schutz und die Unversehrtheit magischer und nichtmagischer Menschen kümmern. Immerhin kenne ich Madame Eauvive und diverse andere Heiler und Heilerinnen in Frankreich persönlich und über Madame Brickston und Madame Faucon kann ich wohl auch Kontakt zur Liga gegen dunkle Künste aufnehmen. Dass ich per E-Mail Kontakt zu Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Laveau-Institutes nutzen kann wissen Sie ja ebenso. Doch dafür müsste ich, auch um Ihnen keine Schwierigkeiten zu machen, einen ganz genau mit Ihnen abgestimmten Auftrag mit allen Einzelheiten vorweisen, auch und vor allem, damit ich auch während der Dienstzeiten zu betreffenden Damen und Herren reisen kann."
"Gut, das habe ich erhofft und erwartet und bin bereit, mit Ihnen diesen offiziellen Auftrag zu formulieren und diesen dann schriftlich zu fixieren, damit Sie auch was vorzeigen können, wenn jemand korrekterweise danach fragt", sagte die Ministerin.
So vergingen die nächsten fünfzig Minuten damit, dass Julius Vorschläge anhörte, ergänzte oder selbst einbrachte, was die betreffenden Gruppen aus dem Ministerium erfahren dürften, sofern die Angelegenheiten höher als Vertraulichkeitsstufe C5 klassifiziert wurden. die Nach der Aussprache folgenden zwanzig Minuten galten der wörtlichen Formulierung im besten Beamtenfranzösisch, wobei Julius auch die englische Formulierung mit einbaute, wenn es auch mal ins Ausland gehen sollte. Dabei ging es auch darum, wie mit Gruppierungen wie Vita Magica und dem Spinnenorden umzugehen sei. Abschließend durften die Ministerin als Auftraggeberin und er als Beauftragter die amtlichen Dokumente unterschreiben. Julius hatte sich sehr beherrscht, nicht all zu verblüfft zu sein, weil die Ministerin den betreffenden Gruppierungen sogar finanzielle Hilfe in Aussicht stellte, auch dem Laveau-Institut in New Orleans, das Julius ins Spiel gebracht hatte, um auch jenseits des Atlantiks wen zu haben. Die Ministerin hatte diese Formulierung auch damit begründet, dass entsprechende Gegenleistungen aus den als integer befundenen Gruppen ebenso willkommen seien. "Ich weiß, damit unterlaufe ich die Entscheidungshoheit vieler anderer Kollegen wie Minister Buggles oder Minister Bernadotti in Italien, aber gerade die beiden sollten bei einigen Sachen besser erst was erfahren, wenn die betreffende Angelegenheiten geregelt wurden."
"Würden Sie das so gut finden, wenn Sie jemand vor vollendete Tatsachen stellen würde, Ministerin Ventvit?" fragte Julius. "Ich würde mich jedenfalls fragen, warum jemand es für nötig hielt, mich erst einmal zu umgehen. Was den Noch-Kollegen Buggles angeht fürchte ich, dass er sich zu sehr auf Dimes abgerungene Zusagen bezüglich dieses Duldungs- und Stillhaltevertrages mit Vita Magica ausruht und vielleicht hofft, dass diese Gruppierung im Gegenzug die Probleme mit international agierenden Gefährdergruppen wie den Mondgeschwistern oder der Sekte der Göttin der Nachtkinder regelt. Was den Kollegen in Italien angeht will ich immer noch zwei Sachen wissen: Erstens, warum er es damals während der vorzeitig abgebrochenen Weltmeisterschaft nicht einmal für anständig befunden hat, mich und die anderen Kollegen zu einem informellen Essen einzuladen. Das gehört sich nämlich so, wenn bei einer internationalen Großveranstaltung ranghohe Ministeriumsvertreter zusammenkommen. Zum zweiten durfte ich wie Sie dem nicht nur menschlichen, sondern wohl auch medienwirtschaftlichen Bündnis zwischen Monsieur Gilbert Latierre und Madame Latierre-Knowles entnehmen, dass immer noch offene Fragen nach dem Verbleib der US-Bürgerin Phoebe Gildfork im Raum stehen. Womöglich plant der Kollege Bernadotti aus Angst vor der in seinem Land weilenden Dunkelhexe Ladonna Montefiori eine landesweite Abschottungspolitik, um dieser Hexe den Zugang zu ausländischen Gleichgesinnten zu erschweren, auch wenn er genausogut weiß, dass dies so gut wie unmöglich ist, weil ich weiß, dass ich durch eine völlige Abschottungspolitik die Machenschaften Vita Magicas oder der Spinnenhexen bei uns nicht vollständig unterbinden kann."
"Will sagen, damit er nicht aus lauter Angst vor Ladonna Montefiori dazwischengeht, wenn eine internationale Gruppe etwas gegen Wesen macht, die in seinem Land unterwegs sind", sagte Julius. Die Ministerin nickte. Julius dachte einen Moment daran, was wäre, wenn Ladonna den Minister selbst zu unterwerfen versuchen oder es schaffen würde. Bokanowski hatte es mit seinen Klonen von Zaubereiministern ja schon versucht und Tom Riddle alias Voldemort hatte ein Jahr lang einen gehorsamen Zaubereiminister unter dem Imperius-Fluch. Weil er sein Gesicht offenbar nicht gut genug unter Kontrolle hielt fragte ihn Ornelle, woran er gerade dachte. "Dass wir aufpassenmüssen, dass Ladonna nicht ihren ganz persönlichen Zaubereiminister in Rom installiert oder sich selbst zur Zaubereiministerin oder gleich zur Imperatrix ausrufen lässt."
"Oha, da rufen Sie genau den Drachen, den ich schon seit Wochen leise fauchen höre, Monsieur Latierre. Immerhin hat Sardonia ebenfalls einen Rat ihr treuer Hexen in Frankreich installiert und womöglich dachten Sie auch an das dunkle Jahr in ihrem Geburtsland. Auch deshalb sollten wir die Initiative ergreifen, ein internationales Bündnis von menschenfreundlichen Hexen und Zauberern zu knüpfen, weil wir Franzosen und die Briten zu gut wissen, wie schnell ein Unrechts- und Terrorregime an die Macht kommen kann."
"So ähnlich hat Ihr Vorvorgänger Grandchapeau auch mal bei einem privaten Treffen argumentiert, Ministerin Ventvit. Er meinte, dass die Lage auf den britischen Inseln nicht so hätte entstehen müssen, wenn es eine internationale Gemeinschaft gegeben hätte, die den Wiederaufstieg Tom Riddles früh genug bekämpft hätte. Auch die Sache mit Wallenkron alias Vengor hat gezeigt, dass Landesgrenzen für wirklich skrupellose Leute keine Hürden mehr sind."
"Ja, und dann geschieht eine ganze Weile nichts und wir alle verfallen wieder in die Vorstellung, dass wir unsere Angelegenheiten selbst regeln können und die anderen uns gütigst in Frieden lassen sollen. Sow war es schon nach Grindelwalds Umtrieben. Aber jetzt haben wir ja die Grundlage für etwas, das hoffentlich auf einer breiten internationalen Grundlage aufbauen kann." Julius stimmte dem zu und deutete auf die Seiten mit den klaren und möglichst unmissverständlichen Formulierungen, die auch nur eine Art Absichtserklärung waren, die noch mit den betreffenden Leuten ausdiskutiert und wahrscheinlich ergänzt werden mussten, um dann zu sowas wie einem internationalen Vertrag zu werden, in dem die schon geltenden Beistands- und Anerkenntnisverträge eingefügt werden konnten. Auf jeden Fall hatte Julius gerade eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe erhalten, vielleicht auch, weil er Kontakte zu stellen hatte, die mit dem jeweiligen Zaubereiministerium schwer bis gar nicht zurechtkamen, obwohl es keine ausdrücklich böswilligen Leute oder Gruppen waren. Er fragte sich nur, wann er seiner Frau davon erzählen durfte. Denn die würde sicher irgendwann was dazu schreiben wollen.
Lady Roberta Sevenrock umschritt den mittleren von drei runden Tischen, über dem eine frei schwebende Darstellung der Erde hing. Die auf dieser Darstellung angebrachten Markierungen waren so detailreich, dass sie keinen Moment daran zweifelte, dass diese Abbildung dazu gedacht war, koordinierte Aktionen oder Anwerbungen in den betreffenden Gebieten zu ermöglichen. Dann hob sie ihren Kopf und tauchte aus dem Denkarium der Stuhlmeisterinnen auf. Sie sah Eileithyia Greensporn an, die ihr diese Erinnerung zugespielt hatte. "Es war gut, Theia die Hand zum Bund zu reichen und sie trotz allem in unsere Reihen zurückzuholen", sagte Roberta zu Eileithyia. "Dir ist jedoch bewusst, dass wir damit auch eine sehr große Verantwortung übernehmen, wenn wir entscheiden, wer dieses Wissen erhalten soll und wie damit umzugehen ist. Wenn die falsche Göttin von diesem unerlaubten Besuch weiß und davon ausgehen muss, dass Verrat an ihrer Sache geübt wurde, dann wird sie sehr grausam zurückschlagen, wenn sie weiß, wer alles Ihre Absichten kennt, der oder die kein Vampir ist."
"Ja, und dass jeder gefährdet ist, der oder die von all dem weiß", sagte Eileithyia. "Aber wir dürfen nicht untätig bleiben, Lady Roberta. Wenn wir jetzt wissen, wo sich die Stützpunkte der Blutsekte befinden, dann besteht zumindest eine Hoffnung, diese Stützpunkte von der restlichen Welt abzuschneiden. Denn anders herum werden von diesen Stützpunkten, wenn sie stark genug gesichert sind, unzählige Eroberungs- und Unterwerfungsaktionen ausgehen."
"Wohl wahr", sagte Lady Roberta Sevenrock. "Wenn diese sogenannten Tempel schon stehen werden darin oder dafür unschuldige Menschen sterben. Es ist sogar in gewisser Weise eine Erleichterung, dass wir nun wissen, wo die Sekte ihre Stützpunkte hat. Dir ist auch klar, warum es sieben Tempel sind und nicht vierzehn oder siebzig?"
"Für jeden Erdteil einer", vermutete Eileithyia. Die Stuhlmeisterin der schweigsamen Schwestern Nordamerikas schüttelte bedächtig den Kopf und antwortete: "Das sowieso. Aber warum eben nur sieben und nicht X mal sieben Tempel. Die Antwort ist erschreckend und einfach zu gleich: Diese Blutgötzin hat sich die Begabung des siebenarmigen Übervampirs Heptachiron einverleibt und kann somit sieben willfährige Gehilfen zugleich überwachen und nach ihrem Willenlenken. Damit kann sie also zeitgleich an siebenStellen anwesend sein, was wiederum heißt, dass sie auf jedem Erdteil zur selbenZeit die große Eroberungswelle entfesseln kann, nicht nur von einer einzelnen Basis aus."
"Wir wissen eigentlich nur, dass es diese Tempel geben soll aber nicht, wer sie hütet oder als Priester dieser Götzin wirken soll", sagte die Großheilerin.
"Das ist wohl war. Das wäre zu viel des guten gewesen, wenn wir zu den Orten auch Namen und Rangstellungen bekommen hätten. So bleibt uns eben nur, die betreffenden Gebiete zu überwachen und falls möglich, gegen die Außenwelt abzuschotten. Doch die sind uns gerade um eine unbestimmte Zeit voraus. Will sagen, bevor wir was wirksames dagegen unternehmen können werden die in diesen Tempeln schon einiges unternehmen können. Ich fürchte, ich komme nicht darum herum, dieses Wissen mit Beth McGuire und ihrer wahren Wegführerin zu teilen, auch wenn das bedeutet, dass wir daran Schuld sein könnten, wenn arglose Menschen verschwinden oder getötet werden, weil sie zwischen die Fronten geraten. Doch dann erkenne ich, dass dies nach dem, was in Brüssel passiert ist, ohnehin zu befürchten ist."
"In Brüssel, Belgien?" fragte Eileithyia. Roberta nickte. "Ja, meine Amtsschwester in Brüssel hat mir über unsere Porträtverbindung mitgeteilt, dass sie am sechsten Februar einen sehr unliebsamen Zwischenfall erlebt haben", erwiderte Roberta Sevenrock. Dann berichtete sie Eileithyia, was passiert war. Diese nickte und sagte: "Dann kommt es wirklich nicht mehr darauf an, das diese Arachnanthropin von den sieben Tempeln erfährt. Vielleicht müssen wir sogar einen sehr bitteren Pfad beschreiten und uns um einen Burgfrieden mit der Feuerrosenkönigin bemühen ... und ..."
"Nein, Schwester Eileithyia, das auf gar keinen Fall. Oder soll ich erst dich und dann mich in Fußabtreter verwandeln und uns per Blitzeule in diese ominöse Villa bei Florenz verschicken lassen, als Friedensgeschenke an dieses Unweib?! Willst du nicht und ich auch nicht. diese neue Anführerin der Spinnenschwestern mag skrupellos sein, aber es hat sich erwiesen, dass mit ihr wohl eher zu verhandeln ist und dass sie nicht über jhede sich anbietende Leiche geht." Eileithyia nickte unterwürfig. Natürlich war ihr auch nicht danach, vor Ladonna Montefiori zu kriechen. Dann sagte die Großheilerin: "Falls die dunkle Hexe aus Italien jedoch schon Spioninnen in unserer Schwesternschaft hat, Lady Roberta, dann wird auch sie erfahren, was wir wissen."
"Um so wichtiger ist es, dass wir zu keinerZeit verraten, von wem wir es wissen, auch um diese Vampirin zu schützen, die deine Urenkelin und ihre Tochter kultivieren. Bei der Gelegenheit sollten wir endlich mehr Druck auf Buggles ausüben, dass wir endlich auch erfahren, was an den Gerüchten um eine Liga freier Nachtkinder dran ist und er mit dieser Liga, so sie denn existiert, Kontakt aufnimmt."
"Tja, wird er nicht von sich aus tun, Lady Roberta. Er verfolgt die Politik, dass alle Menschen vor Zauberwesen wie Werwölfen und Vampiren zu schützen sind. Inwieweit ihm das Laveau-Institut da zustimmt oder widerspricht weiß ich nicht." Roberta Sevenrock nickte dazu nur.
"Wem hast du verraten, wo die Halle des offenbarten Wissens auf deiner Heimatinsel zu finden ist", ffragte die strenge Stimme in seinem Kopf. Er fühlte, wie die Übermächtige in ihn eindrang. "Gib mir deine Erinnerungen freiwillig. Ich kriege sie sowieso", hörte er die immer lauter werdende Stimme. Dann war es, als stürze alles aus den letzten Wochen und Monaten über ihm zusammen wie eine brechende Brandungswelle. Er wollte sie schützen, sich nicht dazu zwingen lassen, ihr Bild und ihren Namen zu verraten. Doch die erzürnte Göttin wirbelte sein Gedächtnis durcheinander und entriss ihm alles, was er wusste. Dann sahen er und wohl auch sie die schöne, silberblonde Frau mit den hellgrauen Augen wie Tau im Licht des Vollmondes. Das war die, die er gerne zu seiner Gefährtin durch die Nächte machen wollte, jene, mit der er die nächsten Jahrhunderte erleben wollte, die er der Göttin als treue neue Dienerin vorstellen wollte. Doch ihr Bild flackerte seltsamerweise, als wolle es aus seinen Erinnerungen verschwinden. Er hörte sich, wie er ihr erzählte, dass die wahren Gläubigen, die das Bekenntnis zur großen Mutter der Nacht kannten, das Wissen aller Gläubigen erhalten und die Macht der Göttin erkunden konnten. . "Moondew! - Moondew!!" hörte er ihren Namen immer lauter in seinem Geist, erst mit seiner Stimme und dann mit der Stimme der in ihm waltenden Göttin der Nachtkinder. "Ja, sie gehört noch nicht zu uns. Und doch hast du verliebter Nachtfalter ihr verraten, wo und wie die Hallen des offenbarten Wissens zu betreten sind", entrüstete sich die Göttin der Nachtkinder. "Damit hast du gegen das Gebot verstoßen, nur denen von meinen großen Werken zu künden, die sich durch ihr Blut und meinen Segen meinem Willen unterwerfen. Sei froh, dass ich gnädig bin und euch beide wieder zusammenbringen werde, damit ihr auf ewig in meinem Geiste wirken und bestehen könnt, Umbriel Blackwing. Suche sie und triff dich mit ihr! Dann werde ich ihr und dir meinenSegen geben, bevor noch wer von den Rotblütlern oder den Widerstreitern daran denkt, irgendwas gegen uns unternehmen zu müssen!"
"Ich gehorche dir, große Mutter der Nacht. Dein Wille ist mein leben", dachte Umbriel Blackwing. Doch im Moment konnte er nicht hinausgehen. Noch regierte die verhasste Sonne. Er gehörte nicht zu jenen Bevorzugten, die jene Schutzhaut tragen durften, um selbst im Licht der Sommermittagssonne unversehrt zu wandeln. Und wenn er es nicht konnte konnte seine Angebetete dies auch nicht. So blieb ihm nur, auf die Nacht zu warten.
Jeff Bristol betrat Dunstons Büro und sagte: "Captain Cooper von der Stadpolizei und die mir heute vorgestellte FBI-Sonderagentin Samantha Brownloe müssensich noch darüber abstimmen, wer jetzt zuständig ist. Auf jeden Fall war es eine ziemlich üble Sache. Die Cops und Sanis kamen nicht mit dem Verpacken der Leichen hin. Insgesamt fünfzig bestätigte Tote. Außerdem dürften die Gerichtsmediziner eine sehr unangenehme Puzzlestunde erleben. Ich habe hier die erste Stellungnahme von Cooper und Brownloe, die ich so wortwörtlich in den Artikel einbauen werde, Sir."
"Dann ist es amtlich, dass die großen Neun ihren Burgfrieden aufgekündigt haben?" fragte Dunston besorgt. "Ob alle neun sich jetzt beharken will ich nicht behaupten und Cooper auch nicht. Tatsache ist, dass die Gebäude, wo sich die zwei Gangs in jeder Bedeutung des Wortes getroffen haben, dem Import-Export-Geschäft von Vincenzo Perucci genannt Vinny The Juggler gehörten. Cooper deutete an, dass von den identifizierbaren Toten drei Vollstrecker des Moravito-Clans von Don Giacomo alias Jack The Gun bei waren. von Dario Minetti heißt es ja, dass er auch sehr gut mit Moravito zusammengearbeitet hat. Kann sein, dass Moravito meinte, dass Perucci was mit der Sache bei der alten Fabrik zu tun hatte, weil Perucci im Verdacht steht, die neuesten Drogen im Angebot zu haben, was ihm natürlich bisher niemand beweisen konnte. Normalerweise verkauft er teure Kunstwerke, unter anderem auch an große Nummern der Yakuza von New York und Los Angeles. Falls die sich jetzt auch noch beleidigt fühlen könnte es echt sehr bald sehr heftig werden und falls Zagallo noch lebt bräuchte der echt nur noch die Scherben aufzulesen und daraus sein eigenes Gangsterparadies zusammenbauen."
"Klingt alles andere als erfreulich. Aber falls das stimmt, Jeff wird wohl das Büro die Sache übernehmen. Falls die nicht in den nächsten vier Stunden bei mir anrufen rufen Sie morgen bei Jess Walker von deren Medienabteilung an und fragen, was Sie nun dazu schreiben dürfen. Solange bleibt es erst mal nur bei einer sachlichen Meldung ohne Mutmaßungen und Anfangsverdächtigungen."
"Genau das hat mir Captain Cooper vom NYPD auch so und nicht anders anempfohlen", sagte Jeff Bristol.
"Dann machen Sie das bitte auch so, Jeff!" erwiderte Mike Dunston. Jeff nickte und verließ das Büro seines Redakteurs.
"Gut, dass die Klamotten Geruchs- und Rußabweisend sind, Justine. Gut, dass ich den Gasvorgreifer abgenommen habe, bevor ich da angerollt bin. Captain Cooper bot mir eine Gasmaske an, damit ich das alles nicht riechen musste", sagte Jeff am Abend.
"Und das heißt, die verbliebenen Verbrecherbanden bekriegen sich jetzt?" wollte Justine wissen. "Ich habe Zach Marchands frühere Kollegin Sam Brownloe getroffen. Die meinnte, dass sich die mächtigen Familien sicher schnell zusammenraufen, wenn sie sich nicht alle miteinander ausrotten wollen. Ich hoffe, dass sie recht hat. Fünfzig Leute sind schon sechzig zu viele für so einen Irrsinn."
"Glaubst du, dass jemand von außen die gegeneinander aufbringt?" wollte Justine wissen.
"Mit glauben fange ich besser nicht an, Just. Ich weiß nur, dass da zwei schwerbewaffnete Gruppen aufeinander losgegangen sind und womöglich auch Flammenwerfer im Spiel waren. Die wollten die Häuser zerlegen und haben die Wachmannschaft gleich miterledigt. Nur hat die sich bis zu einem guten Zeitpunkt gewehrt. Hätte ich die Dusoleil-Gucker dabeigehabt hätte ich vielleicht gesehen, wer angefangen hat."
"Dann erhol dich mal, Jeff", sagte Justine. Ihr Mannnickte.
Sie hatte damit gerechnet. Deshalb erschrak sie nicht. "Moondew! Ich rufe dich. Moondew!! Wo bist du?" hörte sie ein ganz leises Flüstern in ihrem Kopf. Sie fühlte, wie es in ihren Adern prickelte. So ähnlich sollte es sich bei diesen Mondheulern anfühlen, wenn der Vollmond ihre Pelze sprießen ließ, hatte sie mal gehört."Moondew, wo bist du! Bitte komm zu mir, deinem Nachtprinzen!" Moondew hörte die Stimme lauter werden. Blackwing, der sich auch Umbriel nennen ließ, rief in Gedanken nach ihr, weil sie beide je einenTropfen Blut vom anderen getrunken hatten. Die richtige Bluthochzeit wollte sie nur mit ihm feiern, wenn er ihr zusichern konnte, sie in die inneren Kreise des Ordens der großen Mutter der Nachtkinder zu führen.
"Moondew, meine Mondprinzessin! Höre mich, deinen Erwählten. Bitte komm zu unserem Treffpunkt!"
"Denkt diese Geisterbraut echt, ich wüsste nicht, dass sie nach mir sucht?" dachte Moondew. Sie hatte damit gerechnet, dass Blackwing sie noch weit vor dem nächsten Vollmond anrufen würde, wenn die falsche Göttin alle die befragt hatte, die wussten, wo ihre geheimnisvolle Wissenshalle in Sussex war. Natürlich war sie darauf gefasst, dass diese angebliche Göttin ihren Jünger dann dazu anstacheln würde, sie irgendwo hinzulocken. Falls sie nicht hinging machte sie sich verdächtig. Falls sie hinging und dieses körperlose Unwesen ihren Jünger dazu brachte, sie geistig zu unterwerfen, dann hatte die übermächtig gewordene Ex-Nachttochter die Gewissheit, dass sie, Moondew, sie ausspioniert hatte. Dann würde sie natürlich auch wissen wollen, für wen. Nein, soweit durfte es nicht kommen. Soweit war sie schon, als sie im Schutze des Umhangs in diese Höhlen bei Sussex eingestiegen war und sich diesen frei schwebenden Globus angesehen hatte.
"Moondew, meine Holde! Höre mich an und komm zu mir!!" drang Blackwings Stimme noch lauter in ihren Geist ein. Sie fühlte, wie ihr Blut sich dagegen wehrte, diesem Befehl nachzukommen. Allein das ließ sie erkennen, dass Blackwing, der ihr körperlich und geistig ebenbürtig war, von irgendwoher bestärkt wurde, um sie aus dieser Entfernung zu unterwerfen. Aber ihr Blut wehrte sich dagegen, das Blut einer guten Freundin, die durch anderes, freiwillig gegebenes Blut verstärkt worden war, dass es die Blicke von Feinden verschleiern konnte und auch gegen die meisten Unterwerfungsmöglichkeiten der Nachtkinder standhielt. Nur wer Moondews Menschennamen kannte würde sie schlagartig beherrschen und alles abverlangen können, außer den eigenen Tod.
"Moondew!! Höre mich an und komm zu mir!!!" wiederholte Blackwing seine Forderung nun immer lauter. Moondews Blut brodelte förmlich. Um sie herum tanzten rote Funken. Offenbar war Blackwing viel stärker geworden. Wenn das so weiterging würde er doch noch ihren Geist unterwerfen oder sie dazu bringen, ihm zu antworten. Nein, sie musste standhalten.
Umbriel Blackwing rief noch lauter nach ihr. Ihr Kopf glühte förmlich. Ihre Adern bebten. sie wusste, wenn sie jetzt nachgab konnte er womöglich herausfinden, wo sie war, durch ihre Sinne oder durch einen Zugang zu ihren Gedanken. "Freiheit oder Tod! Nur freies Blut ist wahres Leben!" dachte sie die zwei Parolen der Liga freier Nachtkinder. Dann dachte sie an den ihr geliehenen Umhang. Die Macht des Neumondes würde jeden anderen der Nacht verbundenenZauber wie mit einem Schild abprellen und sie selbst für nachtsichtige Wesen unerkennbar machen.
Schneller als der schnellste Mensch eilte sie in die Ecke, wo ihr Rucksack lag. Mit nur zwei Handgriffen hatte sie den schwarzen Umhang mit den eingenähten Mondsteinen herausgepflückt und sich übergeworfen. Schnell schloss sie alle Verschlüsse. Sofort fühlte sie die kalten Wellen des Neumondschattenzaubers. Diese Wellen kühlten ihren Kopf spürbar ab und beruhigten auch das brodelnde Blut in ihren Adern. Silberne und weiße Funken stoben vor ihr in der Luft und verflogen. Blackwings Stimme wurde schlagartig leiser und weniger schmerzvoll.
Moondew war nicht so naiv zu glauben, dass Blackwing sich damit abfinden würde. Falls er sie durch seine Rufe schon dazu gebracht hatte, ihm ihren Standort zu verraten, würde er schon unterwegs sein oder womöglich von seiner Herrin befördert. Dann blieb ihr womöglich nur noch das letzte Mittel, um das Geheimnis ihrer Blutsschwester zu wahren. Doch halt, wenn sie noch fünf Sekunden Zeit hatte ... Ja, so ging es", dachte sie und hantierte so, dass sie bei einem plötzlichen Angriff nicht lebend ergriffen werden konnte.
Sie trat ins Freie hinaus, unter den Mond. Doch für jeden Menschen war sie gerade nur ein schwarzer, konturloser Schatten. Diese Art von Schutzausrüstung hatte schon was für sich, dachte sie. Vielleicht würde es die Gönnerin ihrer Blutsschwester verstehen, wenn sie damit auf Blutjagd ging, unerkennbar.
Sie fühlte es, wie etwas unsichtbares nach ihr stieß und die Luft um sie herum erzittern ließ. Silberne und rote Funken stoben um sie herum. Sie blickte auf ihren Linken Arm, wo sie das neue Armband trug, das auf ein Wort von ihr einen Portschlüssel auslöste. Doch was würde der bringen, wenn jemand so gezielt nach ihr suchte wie gerade eben? Wie weit musste sie dann fort sein? Die Antwort war einfach: Sie konnte nicht so weit fort wie nötig. Denn diese verwünschte Blutgötzin reichte mit ihren Gedanken um die ganze Erde.
Sie fühlte, wie in einigen Dutzend Metern etwas feindseliges entstand, aus dem Nichts heraus in die Welt eintrat. Dann noch was gleichsam feindliches. Insgesamt waren es drei Quellen Feindseligkeit, die aus drei Richttungen auf sie zukamen. "Moondew, ich weiß, du hörst mich. Wehre dich nicht gegen mich. Die Göttin will uns beide segnen und in ewiger Gemeinschaft vereinen", drang nun wieder Blackwings Stimme in ihre Gedanken, laut, aber nicht schmerzhaft. Dann sah sie die drei Feinde.
Es waren zwei männliche und ein weibliches Nachtkind. Die Nachttochter trug jene blaue Kleidung, die Moondew schon gesehen hatte. Einer der Männer sah aus und verströmte den Duft von Umbriel Blackwing. Der zweite Nachtsohn war ein hünenhafter Kerl im grauen Anzug. Er trug sogar eine Aktentasche bei sich und wirkte so wie ein altenglischer Geschäftsmann, nur ohne die für solche Leute typische Melone.
"Sucht ihr mich?" fragte Moondew nun frei von jeder Furcht und Gehetztheit.
"Nein, wir suchen nicht mehr. Wir haben dich gefunden. Und Nun wissen wir auch, wer unsere Göttin beleidigt hat", schnarrte der im grauen Anzug. Blackwing sagte: "Wieso hast du uns verraten. Warum hast du unsere Göttin verärgert? Sie ist die Göttin der Nacht, unser aller Mutter. Doch sie will Gnade vor Recht ergehen lassen und dich und mich zusammensprechen und mit ihrem Segen stärken. Doch dafür musst du alles ablegen, was du von diesen rotblütigen Feindenerhalten hast."
Moondew schlug die Kapuze zurück. Was sollte es jetzt noch? "Eure Göttin ist nicht das Heil, sondern die Vernichtung, Blackwing. Sie ist gefangen und getrieben von jenem, der den Mitternachtstein erschuf, dazu getrieben, uns alle zu unterwerfen, um dann die ganze Welt zu übernehmen. Wir sollen nur Sklaven sein, willige, winzige Werkzeuge in ihrer Hand, die nur mächtig ist, weil es so viele willige Kraftquellen für sie gibt."
"Sagt wer", schnarrte Blacwing. Da trat die Nachttochter im blauen Umhang vor. "Hör nicht auf diese Ketzerin. Die Göttin braucht solche wie sie da nicht. Doch sie braucht ihr Wissen. Also soll sie es mir verraten, der Priesterin Midnightkiss."
"Ach, hat sie dich auch für sich eingespannt, Kissy?" fragte Moondew. "Natürlich hat sie leichtes Spiel bei dir gehabt. Denn wer immer schon die Herrin aller Männlichen sein wollte, die geht einer auf den Leim, die solches verspricht."
"Ja, ich will im Namen der Göttin herrschen. Eines Nachts werden wir Töchter der Nacht die Erde beherrschen, unsere Brüder, Söhne und Enkel führen. Du hättest das auch gekonnt, Moondew, Tochter der Nightsky und des Robur. Doch du hast dich beschwatzenlassen, gegen die wahre Mutter aller Nachtkinder zu kämpfen. Von wem?"
"Ich musste mich nicht beschwatzen lassen, du armselige Marionette. Mein Blut ist frei und stark. Es wird nicht in einer viel zu engen Umklammerung versiegen wie es das bei dir tat", konterte Moondew. Dabei behielt sie alle drei im Blick, die immer näher rückten. Sie fühlte, wie zwischen den anderen etwas aufgebaut wurde, eine Art flirrendes, zuckendes Feuer aus dunklen Flammen. Dann erkannte sie, dass die Dunkelheit der Nacht selbst verdichtet wurde. Dann beobachtete sie, wie aus den dunklen Schlieren rote Funken wurden. Die Funken verdichteten sich genau über ihr. "So soll die Göttin selbst dich zu sich nehmen, um dich mit sich zu vereinigen", sagte Midnightkiss. Moondew sah, wie die Funkenwolke immer dichter wurde. Sie erkannte einmal mehr, dass sie nur noch zwei Atemzüge hatte. Da öffnete sie ihre linke Hand. Etwas kleines, glitzerndes fiel herunter, das aussah wie ein Ei, ein Ei aus Gold. Es fiel zu boden. Moondew fing es mit ihrem Fuß ab, während sie sah, wie die rote Wolke über ihr immer konturschärfer wurde. Sie formte die Erscheinung einer risenhaftenFrau.
"Nein, wenn die Göttin sie in sich einschließt kann ich nicht mehr mit ihr zusammen sein!" rief Blackwing.
"Natürlich wirst du das", sagte Midnightkiss und starrte auf die rote Erscheinung und nicht auf das taubeneigroße Objekt, von dem Moondew zurücktrat.
"Freiheit oder Tod! Nur freies Blut ist wahres Leben!" rief Moondew. Daraufhin glühte das zwischen ihren Füßen liegende goldene Ei. Dann zischte sie noch: "Nachtsprung!"
Nun geschahen vier Dinge zeitgleich. Zum einen vollendete sich die Erscheinung der blutroten Frauengestalt über Moondew. Zum zweiten umschlang diese wieder eine silberweiße Lichtspirale. Schwarze Schlieren versuchten, diese Leuchterscheinung zu zerfetzen. Doch der aus Mondkraft genährte Portschlüssel wirkte unter freiem Himmel in den Strahlen seiner Kraftquelle stärker als jeder andere Portschlüssel. Zum dritten erstrahlte das goldene Ei schlagartig immer heller. Zum vierten verschwand Moondew von einem auf den anderen Moment. Die Erscheinung der Göttin stieß mit ihren Händen ins Leere, oder doch nicht? Sie bekam das goldene Etwas zu fassen, das nun auf einen Schlag zu einer sich blitzartig aufblähenden grellen weißen Lichtkugel wurde. Die drei anderen Vampire gerieten innerhalb eines Lidschlages in dieses Licht hinein und schrien auf. Doch auch die Projektion der Göttin verschwand in dem Licht, das begleitet von einem lauten Knall mehr als zweihundert Meter weit aufquoll. Fünf Sekunden hing etwas wie eine zweite Sonne über dem Boden. Alles im Umkreis erglühte oder ging sogar in Flammen auf. Dann fiel die grelle weiße Feuerkugel wieder in sich zusammen. Dabei spie sie Milliarden weißgelber Funken in alle Richtungen. Wo diese Funken auf noch unberührtes, brennbares Material trafen, entfachten sie kleine Brände. So entstand innerhalb von nur drei weiterenSekunden eine Kolonie aus vielen tausend kleinen Feuern, die in den nächsten Sekunden zu einer einzigen, lodernden Landschaft zusammenwuchsen. Von den leibhaftigenVampiren war nichts mehr übrig außer vom heißen Wind verblasene Asche, die sich in den aufloderndenFeuern immer weiter verteilte.
Gleich würde ihre Avatari sie umfassen und ihr Lebenskraft und Seele entreißen. Dann wusste sie endlich, wer ihr Auftraggeber war. Doch da wollte dieses Weib wieder in einem Portschlüsselwirbel verschwinden. Die sich gerade manifestierende Göttin versuchte sie zu packen und erwischte statt dessen einen grell glühendenGegenstand. Zu spät erkannte sie, dass Moondew sich doch noch abgesetzt hatte und auch, dass sie ihr noch eine letzte böse Überraschung bereitet hatte. Da überkam es sie auch schon, die Explosion von gespeicherter Sonnenkraft. Sie fühlte, wie ihre Beharrung an dem Ort schlagartig endete. Sie hörte die kurzen geistigen Todesschreie ihrer drei Diener. Mit ihrem Leben schwand der letzte Halt an jenem Ort. Doch es war noch nicht vorbei. Die freiwerdende Sonnenlichtkraft sprengte die verdichtete Kraft der Göttin auseinander, zerkochte sie, machte sie zu einem winzigen Teil von sich selbst. Gooriaimiria hörte ihren eigenen, vielstimmigen, lauten Schrei durch Raum und Zeit jagen. Sie fühlte, wie etwas ihr einen Teil ihrer immensen Kraft entriss. Sie fühlte, wie mehr als fünfzig eingebundene Seelen schlagartig von ihr abschmolzen wie Kerzenfett in der Flamme und in alle Richtungen des Raum-Zeit-Gefüges verdampften. Ihr war, als wirbelten hunderte von einzelnen Geistern durch eine Welt aus wirren Bildern und Geräuschen. Sie hörte noch die Mischung aus Entsetzensschrei und euphorischem Jauchzer. Dann war es endlich vorbei. Der Aufruhr im Verbund der über 900 Seelen beruhigte sich. Doch als er vorbei war spürte Gooriaimiria, dass sie wahrlich nicht nur fünfzig, sondern hundert einverleibte Seelen verloren hatte, all diejenigen, die mit Blackwing, Midnightkiss und Greyfoot Blut geteilt und irgendwann als ihren körpern entrissene Seelen mit ihr zusammengefügt wurden. All diese Seelen waren regelrecht aus ihr herausgesprengt worden. Dann erkannte sie, dass Moondew und ihre Auftraggeber eine mächtige Sonnenlichtmagie beherrschen mussten. Sie wusste auch, dass jederzeit ein anderer abtrünniger Nachtsohn und erst recht eine abtrünnige Nachttochter dieses grauenvolle letzte Mittel bei sich oder gar in sich tragen mochte, um bei drohender Gefangennahme und Einverleibung in den geistigen Verbund der nun gerade angeschlagenen Göttin alle gespeicherte Sonnenkraft freizusetzen. Gooriaimiria, die mächtige Entität, die es gewohnt war, anderenAngst vor ihrer Gewalt zu machen, hatte heute lernen müssen, dass auch sie Angst haben musste. Sie war geschwächt. Noch war sie allgegenwärtig. Doch sie war nur noch neun Zehntel so stark wie vorhin. sie dachte daran, dass sie in sich Iaxathans Geist barg. Dieser hatte die magische Kommotion überstanden, doch er hatte ernsthaft versucht, sich freizustrampeln. Doch auch ihm war die auf den Verbund zurückprallende Sonnenmagie zu stark gewesen. Er war mit einem kurzen Aufschrei wieder in jene ohnmächtige Starre gefallen, in der Gooriaimiria ihn seit dem Ende Heptachirons hielt.
"Das ist Lästerung unserer Natur, Sonnenkraft gegen die eigenen Brüder und Schwestern einzusetzen!!" schrillte Gooriaimirias Stimme durch das Raum-Zeit-Gefüge. "Wer immer das wagt wird des Todes sein, heute oder morgen oder in hundert Jahren. Doch wer mich derartig beleidigt wird dies nicht überleben. Gebt es an alle weiter, die ihr kennt!" Dann fühlte Gooriaimiria unendliche Frustration in sich. Es hatte doch so herrlich angefangen. Sie hatte es geschafft, den Geist des großen Schöpfers in sich einzuverleiben und ihn sich zu unterwerfen. Doch nun war eine Niederlage auf die andere gefolgt. Die Nachtschattenkönigin, der mit der Werwolffestung, der Tod ihres Handlangers aus der Tagmenschenwelt und jetzt das. Wie war es möglich, Sonnenlicht derartig zu bündeln, ohne den magischenTräger vorher zu zerstören? Auf diese Frage bekam sie keine Antwort. Genau das ärgerte jene, die damals als Griselda Hollingsworth gelebt hatte, dann zu Lady Nyx und Lamia geworden war und zunächst in Verschmelzung mit dem Geist von Elvira Vierbein Nocturnia gründen wollte.
"So will ich und werde ich meine Anstrengungen vervielfachenmüssen. Nachtkinder, die mir nicht folgen wollen, werden von mir gefressen, auf dass ihr ketzerischer Geist in meinem großen Gefüge zerfließt.
IRGENDWAS GESCHIEHT DA. ERST HABE ICH EINEN KURZEN STOß HELLER UND DUNKLER KRAFT GESPÜRT, ZU KURZ, UM ZU FÜHLEN, WO GENAU DAS PASSIERT IST. JETZT FÜHLT ES SICH SO AN, ALS SCHWAPPTEN VON IRGENDWO AUS HALBER ABENDRICHTUNG WELLEN HERAN UND WÜRDEN DABEI ETWAS WIE KLEINE KRAFTENTLADUNGEN AUSSTOßEN. ES IST SO, ALS WÜRDE WER EIN GANZ GROßES KLANGKUNSTWERKZEUG MIT SEHR LANGEN SAITEN ZUPFEN UND VON DEN SAITEN IMMER WAS WEGFLIEGEN. ICH MERKE, DASS ES EINE DUNKLE KRAFT IST, ABER NICHT SO STARK, WILD, SCHNELL UND SCHMERZERZEUGEND WIE DIE ÜBERSTARKE FLUTWELLE AUS MITTERNÄCHTIGER KRAFT, DIE IN DER MITTE DER LETZTEN BLÜHZEIT ÜBER DIE GANZE WELTHINWEGGEDRÖHNT IST. JETZT BEDAUERE ICH DAS, DASS ICH DURCH DIE VERSCHMELZUNG MIT DIESEM GROßEN, STATTLICHEN KÖRPER KEINEN KRAFTAUSRICHTER MEHR BENUTZEN KANN. DOCH SO WIE SICH DAS FÜR MICH ANFÜHLT HAT IRGENDWO IRGENDWER EINE STARKE KRAFT ENTFACHT, DIE GEGEN EINE SICH AN EINEM ORT BÜNDELNDE MITTERNACHTSKRAFT GEWIRKT HAT UND DADURCH EIN UNBEHERRSCHBARES NACHSCHWINGEN AN EINEM ANDEREN ORT AUSGELÖST. DABEI ENTLÄDT SICH OFFENBAR ETWAS VON DER ANDEREN DUNKLEN QUELLE IN DEN FREIEN RAUM, OHNE ZIEL UND OHNE AUSWIRKUNG.
AH, JETZT WERDEN DIE SCHWINGUNGEN SCHWÄCHER. ICH FÜHLE NUR NOCH, WIE KURZE ENTLADUNGEN IN DEN RAUM ABFLIEßEN: NUN IST ALLES WIEDER RUHIG. WAS IMMER ES WAR KAM ZUR RUHE, MAG JEDOCH AN KRAFT VERLOREN HABEN. ICH BEDENKE NOCH EINMAL, WAS ICH GEFÜHLT HABE. JA, ERST WAR DA EINE STARKE ENTLADUNG EINER KRAFT, DIE ICH SCHON MAL GESPÜRT HABE. JA, DAS WAR DIE ENTFALTUNG GESAMMELTER SONNENKRAFT. DIE HAT GEGEN ETWAS MITTERNÄCHTIGES GEWIRKT UND ES AUSGEBRANNT. GENAU DANACH HABE ICH DIESES ANDAUERNDE SCHWINGEN EINER ANDEREN DUNKLEN KRAFT GESPÜRT, DIE BEI JEDER STÄRKSTEN AUSLENKUNG ETWAS VON SICH ABGESTOßEN HAT. VIELLEICHT HAT JEMAND GEGEN JENE VÖLLIG DER MACHTSUCHT VERFALLENE, IN IAXATHANS MITTERNÄCHTIGEM HERRSCHERSTEIN EINGESPERRTE BLUTTRINKERIN VERSUCHT, JEMANDEN ZU UNTERWERFEN, UND DER ODER DIE HAT MIT DER ENTLADUNG VON GESAMMELTER SONNENKRAFT GEANTWORTET. DOCH WER IMMER DAS WAR MAG DABEI SELBST DEN TOD GEFUNDEN HABEN. DENN DIE KRAFT DER SONNE KANN, WENN SIE ZU HEFTIG ENTFESSELT WIRD, WIE DAS TAUSENDSONNENFEUER WÜTEN. WAR ES DAS VIELLEICHT SOGAR, DAS TAUSENDSONNENFEUER? NEIN, DESSEN MACHT KANN ICH NICHT AUF SO GROßE ENTFERNUNG SPÜREN. DAS HABE ICH GELERNT, ALS DIE HÜTER DER KRAFT AUF DEM ABENDRICHTUNGSERDTEIL EINE VERHEERENDE MISCHUNG MÄCHTIGER STOFFE ERZEUGT HABEN, DIE NICHT MITEINANDER VEREINT SEIN WOLLEN. SPÄTER HAT MIR JULIUS GESAGT, DASS DABEI WOHL AUCH EINE WINZIGE MENGE TAUSENDSONNENFEUER ENTFACHT WURDE.
ICH BESINNE MICH AUF JULIUS UND SPRECHE IN SEINE GEDANKEN, WAS ICH GERADE VERSPÜRT HABE. ER ERWIDERT, DASS ES SEHR WICHTIG SEIN KÖNNTE UND DASS ER IRGENDWIE BEDENKEN MUSS, WIE ER ES SEINEN JETZTZEITIGEN GEFÄHRTEN BERICHTEN KANN, OHNE MICH ODER DAS WISSEN DES ERHABENEN REICHES ZU ERWÄHNEN. ICH SCHLAGE IHM VOR, ES ALS FRAGE ZU ÄUßERN, OB IRGENDWO IN DER WELT EIN KAMPF ZWISCHEN DEN NACHTGEBORENEN UND IHREN ERKLÄRTEN FEINDEN STATTGEFUNDEN HAT, EINFACH UM ZU WISSEN, WIE DIE ERKLÄRTEN FEINDE DER FRIEDFERTIGEN MENSCHEN SICH VERHALTEN.
Beth McGuire wusste, dass Lady Roberta es darauf anlegte, dass sie ihr neues Wissen an Anthelia weitergab. Auch wenn Roberta Sevenrock die Führerin des Spinnenordens missbilligte schätzte sie diese wohl als kleineres Übel ein. Deshalb hatte sie bei dem Treffen der ranghöchsten Schwestern am Vortag des Valentinstages jede von ihnen in ihrem Denkarium nacherleben lassen, was eine Spionin der Vampire erkundet hatte.
"Diese Bildsammelbrille ist sehr interessant. Besteht die Möglichkeit, dass wir auch dieses Artefakt erhalten können?" fragte die makellos schöne Führerin der Spinnenhexe mit ihrer warmen Altstimme. Beth überlegte, was sie darauf antworten sollte. Dann sagte sie: "Soweit ich weiß gibt es davon nur zwanzig Stück. Fünfzehn davon sind wohl an das Laveau-Institut gegangen, vier bei den Sicherheitsabteilungen des Zaubereiministers. Die eine, die diese Spionin wohl von Theia Hemlock zugespielt bekommen hat, war eigentlich für das Büro für friedliche Koexistenz zwischen Menschen mit und ohne Zauberkraft gewesen, bevor Nancy Gordon wegen der ihr von VM zugesteckten Drillinge und diesem Versklavungsvertrag Dimes ihren Job hingeschmissen hat, höchste Schwester. Weil eine von Robertas Nichten im Verbindungsbüro für Anschaffungen und Zuteilungen hat konnte sie den Auftrag für Nancy Unittamo geborene Gordon bearbeiten, dass die zugestellte Brille offenbar kaputt war und Ersatz bestellt wurde. Die angeblich kaputte Brille hat dann Lady Roberta bekommen und gibt sie wohl nur an die weiter, die sie für würdig hält, damit keinen Unsinn zu machen. Will sagen, ich oder die anderen Entschlossenen werden dieses Spionagegerät wohl gar nicht bekommen, falls ich nicht die Nachfolgerin von Lady Roberta werde."
"Aber die Thaumaturgen, welche dieses Spionagewerkzeug hergestellt haben kennst du?" fragte Anthelia sehr erwartungsvoll. Beth nickte. Laut sagen wollte sie es nicht. Denn ihr war klar, was die Antwort bewirken würde. "Gut, verrate es mir, Schwester Beth! Ich versichere dir, dass ich keinem der an ihrer Herstellung beteiligten etwas bleibendes antun werde." Beth wusste, dass sie keine Wahl hatte. So verriet sie der höchsten Schwester, dass die Geschwister Dexter aus New Orleans diese Bildsammelbrillen herstellten, wie auch eine Lizenz für die in Deutschland erfundenen und in die ganze Welt exportierten Schallsammel- und Fernsprechdosen besaßen, die pikanterweise vor zwölf Jahren von einem gewissenHagen Wallenkron erfunden und optimiert worden waren.
Nachdem Anthelia wusste, was sie wissen wollte forderte sie Beth auf, die betreffende Erinnerung an die Halle mit der magischen Bilddarstellung der Erde aus ihren Erinnerungen in das ihr hingestellte Denkarium zu kopieren. Danach nutzten die beiden Hexen das machtvolle Erinnerungssammelbecken aus, um die betreffende Erinnerung auf Grund der Bildsammelbrille eingehend zu studieren. Dabei sagte Anthelia: "Ich habe befürchtet, dass diese in dem Mitternachtsdiamanten gebannte Ausgeburt des dunklen Kaisers solche Stützpunkte errichten will. Die Standorte alleine reichen nicht aus. Wir brauchen schlicht mehr Unterlagen. Hat Theia was gesagt, dass ihre Spionin bei den Vampiren an solche Unterlagen herankommt?"
"Sie hat gesagt, dass ihre Kundschafterin jetzt wohl erst einmal untertauchen musste, weil die von ihr eingespannte Blutsschwester gerade so ihrer Festnahme entgehen konnte und dabei wohl einige Götzinnendiener mit explosionsartig freigesetztem Sonnenlicht aus mehr als einer Stunde vernichtet hat."
"Oh, hatte die eine Sonnenlichtkugel dabei und diese zur instantanen Freisetzung in ihr gespeicherter Sonnenlichtstunden angeregt?" fragte Anthelia.
"Hat Lady Roberta sie auch gefragt. Sie hat mit "ja" geantwortet", sagte Beth.
"Interessant, dass ein Vampir solch eine Waffe benutzt, um Seinesgleichen zu töten. Das ist neu", grinste Anthelia. Beth bejahte es.
"Allerdings ist diese Waffe auch für Menschen und Dinge gefährlich. Womöglich kann damit ein Umkreis von mehr als hundert Metern verbrannt werden, wenn fünf Stunden Sonnenlicht und -wärme auf einen Schlag freigesetzt werden. Hmm, aber diese Überlastung benötigt zehn Sekunden oder die magische Zerstörung der Sonnenlichtkugel, um diese Menge Sonnenkraft auf einen Schlag freizusetzen. Kein Vampir würde das von sich aus wagen, und diese Götzinnendiener hätten bei der unsachgemäßen, zur Überlastung führenden Handlung genug Zeit erhalten, von ihrer übermächtigen Herrin in jenen schattenhaften Portschlüsselwirbeln fortgeholt zu werden. Aber wie gesagt ist das schon eine sehr amüsante Erkenntnis, dass Vampire Sonnenmagie gegen andere Vampire einsetzen."
"Wieso, Vlad Dracul hat seine Feinde sogar gepfählt", sagte Beth.
"Pfählen lassen, Beth. Das ist ein gehöriger Unterschied", widersprach Anthelia. Dann sagte sie: "Auf jedenFall werde ich dieses von dieser gutmenschlichen Dame Roberta Sevenrock an mich weitergereichte Wissen wohl verwahren und hoffe, dass ich einen Weg finde, diese blutroten Tempel der Götzin vom Erdboden zu tilgen, bevor sie zu Keimzellen weltweiten Verdrusses werden können. Doch weiß ich aus ganz eigener Erfahrung, dass solche Machtzentren nicht ungeschützt bestehen. Ich muss also wissen, wie genau die Schutzvorkehrungen beschaffen sind und wie sie zu umgehen oder aufzuheben sind. Sonst rennen wir uns an diesen Bluttempeln die Köpfe ein oder noch schlimmer, werden in ihnen da selbst zu willigen Töchtern dieser Blutgötzin und dürfen in ihrem Namen die Welt erobern."
"Das verhüte die Mutter allen Lebens", erwiderte Beth McGuire. Anthelia stimmte ihr da zu.
Sie sahen nicht nur wie ein verliebtes Pärchen aus, wie sie da Hand in Hand durch die Straßen Roms schlenderten, sondern sie waren es auch. Rosario Mingues und ihr Mann Sebastian. Zumindest stand das in den für die nichtmagischen Behörden angefertigten Reisepässen und war auch bei der Einreise mit dem fliegenden Holländer den Zaubererweltbehörden Italiens mitgeteilt worden. Beide behaupteten, aus Argentinien zu stammen und sprachen untereinander auch das betreffende Spanisch. Sebastian hatte bei seiner Einreise nach Italien zu Protokoll gegeben, dass er das Heimatland seiner Ururgroßeltern besuchen wollte. Er hatte dann sogar einige Sätze auf Italienisch gesprochen, um zu zeigen, dass er die Sprache da Vincis und Giuseppe Verdis gut genug konnte, um in Rom, Pisa und Venedig nicht verhungern zu müssen.
Die beiden ausländischen Besucher, die zwischen der magischen und nichtmagischen Welt pendeln wollten, stellten sich vor das Kolosseum und fotografierten sich gegenseitig. In bestem argentinischen Spanisch sagte die Frau, die sich Rosario nannte: "Schon beeindruckend, dieser alte Sandsteinbau. Nur schade, dass darin so viele Menschen zum Vergnügen für das einfache Volk umgebracht wurden."
"Ja, schon bedauerlich. Für gute Ballspiele wäre das sicher ein geniales Stadion geworden." Er vermied es, Begriffe wie Quidditch oder Quodpot zu benutzen.
"Hier in der Nähe muss der Zugang zum Ministerium sein", mentiloquierte die Hexe ihrem Ehemann. Dieser schickte zurück: "Kannst du hören, was dort gesprochen wird?"
"Schwierig, weil ich den ganzen Autowagenlärm und vor allem die unregelmäßigen Warntröten nicht ausfiltern kann wie ich gehofft habe. So kriegen wir es womöglich nicht hin und ..."
Gerade raste ein halbwüchsiger Bursche auf diesen Schnellfahrrollschuhen mit hintereinander angebrachtenRädern heran und setzte an, die über die vor Rosarios Bauchhängende Handtasche zu greifen. Doch Rosario tanzte den dreisten Diebstahlsversuch aus und ließ den Burschen ins leere laufen. Dieser kapierte, dass der Versuch gescheitert war. Sein Restschwung war zu groß, um bei einer Vollbremsung sicher auf den Beinen zu bleiben. Er fuhr einige Dutzend Meter weiter.
"Das wäre dem aber nicht gut bekommen, wenn er meine Tasche zu klauen versucht hätte", bemerkte Rosario Mingues. Dann sahen sie und ihr Mann, wie der Bursche versuchte zu wenden und sie noch mal anfahren wollte. Der Mann, der sich Sebastian Mingues nannte stellte sich vor seine Frau und riss beide Fäuste hoch. Dabei rief er mit seiner tiefen Bassstimme auf Italienisch aus, was übersetzt "Wag dich, Rotzlöffel!" hieß. Der Junge brach den zweiten Raubversuch ab und machte eine gekonnte Wende auf den Rollschuhen. Dann beschleunigte er und eilte außer Rufweite.
"Du hättest dem doch nicht wirklich eine gezimmert?" fragte Rosario.
"Rosi, der hätte dich beim nächstenmal voll umgerannt. Wolltest du garantiert nicht, schon gar nicht mit unserem Baby im Bauch."
"Hätte er nicht", sagte sie und winkte wie beiläufig mit der beringten Hand. "Oder was glaubst du, warum ich noch mal bei Cyrus Finnigan war", mentiloquierte sie ihm zu. Ihr Mann verstand. Cyrus Finnigan, der Fingerfertige und findige Thaumaturg von Viento del Sol, hatte den Ring seiner Frau wohl mit einem Zauber versehen, der überstarke Anpraller abgewehrt hätte.
"Ist ihnen der Junge Mann lästig gefallen?" fragte eine Stimme von hinten. Die beiden angeblichen Argentinier drehten sich um. Da stand ein Polizist und betrachtete die beiden. "Er muss dass wohl noch üben", scherzte der Mann, der sich Sebastian Mingues nannte und deutete in die Richtung, wo der gescheiterte Handtaschenräuber verschwunden war.
"Eigentlich nicht, der ist eigentlich schon zu gut mit dieser Methode unterwegs. Hat wohl heute schon einige Besucher bestohlen. Aber dass der so dreist vor dem Kolosseum auf Beute ausging zeigt, dass er wohl noch nicht genug abgeliefert hat, dass er es wagt, im Erfassungsbereich unserer Kameras zuzulangen."
"Überwachungskameras?" fragte der angebliche Tourist aus Argentinien und blickte sich schnell um. Dann sah er die gläsernen Linsen der Kameras, die so aufgebaut waren, dass sie denPlatz um das Kolosseum unter Beobachtung hielten.
"Wurde nötig, wo sich die Taschendiebstähle und offenen Raubüberfälle gehäuft haben. Zumindest haben wir in der Gegend eigentlich Ruhe. Aber der Bursche, der Sie angegangen hat hält sich wohl für unbesiegbar. Aber Sie haben das richtig gemacht, Signore. Ganz laut dem erkanntenAngreifer entgegenrufen, damit alle hören, dass jemand Sie bedrängt. Das kann auch abschrecken und mich und meine Kollegen auf den Plan rufen. Und wie Sie die Tasche tragen, Signora ist auch richtig. Nicht zu weit seitlich baumelnd oder gar auf dem Rücken. Aber einige von diesen Dibesleuten, Jungen wie Mädchen, sind so dreist, mit scharfen Messern oder gar Skalpellen die Trageriemen durchzuschneiden, um Beute zu machen. Also seien Sie bitte weiterhin vorsichtig!" sagte der Polizist und wünschte den beiden einen schönen Tag in der ewigen Stadt.
Das angeblich aus Argentinien stammende Ehepaar verbrachte dann noch einen schönen Tag in Rom. Zwar waren sie beide vor sieben Monaten schon mal hier gewesen, aber da nicht unter den Namen oder in der Erscheinungsform wie jetzt. Dennoch nutzten sie ihre Identität, um als Touristen aus Übersee die verbliebenen Zeugnisse des einstigen Weltreiches zu bestaunen, wobei sie immer wieder versuchten, in die Nähe eines bestimmten Ortes zu gehen, ohne dass es auffiel.
"Nein, so kriegen wir es nicht hin, Gil, ich muss in die Nähe des Veranstaltungsplatzes, ohne Autos und allzu gern benutzte Hupen", mentiloquierte die schwarzgelockt auftretende Frau ihrem Mann zu.
"Kriegen wir hin, Ma Linda Belle", schickte er zurück. "Aber wollen wir noch mal diesen Petersdom besuchen, haben wir beim letzten mal nicht geschafft, weil die dort postierten Ministeriumszauberer gerade dich daran hindern wollten, diese Kirchenfürsten zu belauschen."
"Ich kapiere es bis heute nicht, dass es echt Zauberer gibt, die das glauben, was diese sogenannte Weltkirche so verzapft", gedankengrummelte die sich Rosario nennende Frau. Sicher, sie hatten bei ihrer Anreise behauptet, römisch-katholisch zu sein, weil das viele Südamerikaner waren. Aber weder sie noch er hielten die Lehre dieser sich als christlich bezeichnenden Glaubensgemeinschaft für richtig oder gar nachlebenswert.
"Wir können ja morgen noch mal in die Stadt", sagte Rosario auf Spanisch. Gerade wo der Herr von der Polizei die ewige Stadt erwähnt hat muss ich unbedingt in den Petersdom."
"Ja, vielleicht haben wir ja glück, und die sixtinische Kappelle spielt uns ein Willkommenslied", scherzte der, der sich Sebastian Mingues nannte. Seine Frau lachte mit ihrer warmen, Raumfüllenden Altstimme. "Darf ich keiner der netten Schwestern auf die Nase binden, dass ich mit dem Trank fast so klinge wie die Spinnenhexe", dachte sie nur für sich.
Julius genoss den Valentinstag mit seiner Frau, auch wenn diese zwischendurch ihren mütterlichen Pflichten nachkam und Clarimonde stillen oder neu wickeln musste. Immerhin hatte er in Befolgung seines neuen Auftrages die Frage weitergeleitet, ob es auf der Welt zu Zusammenstößen mit den Vampiren dieser selbsternannten Göttin gekommen sei. Dabei hatte er erfahren, dass es in England in einem Wald zu einem heftigen Waldbrand gekommen war und die nachträglichen Messungen ergaben, dass dort wohl ein dem Segen der Sonne ähnlicher oder dem Ladevorgang der Sonnenlichtkugeln umkehrender Zauber verwendet worden war. Aber jetzt war er froh, dass er diesen schönen Nachmittag und Abend mit seiner Frau genießen konnte. Béatrice Latierre hütete derweilen Aurore und Chrysope.
Abends besuchtenMillie und Julius noch ein Konzert im Gemeindehaus von Millemerveilles, wo sie auch andere Paare trafen. So viele werdende Mütter auf einmal waren ihm nun nicht mehr unheimlich. Als er Camille und Florymont sah dachte er nur daran, dass sie jeden Tag niederkommen mochte. Sie erwähnte auch, dass Hera ihr nun offiziell bestätigt hatte, dass sie wohl die erste überhaupt sei, die ihre ungeplanten und jetzt doch irgendwie erhofften Kinder bekommen würde. "Auch wenn ich nicht in deinem zugeteilten Bereich wohne würde ich das gerne haben, dass du zumindest dabei zusiehst, Julius", hatte Camille ihm nach dem Streichkonzert zugeflüstert. Julius hatte sich für dieses Vertrauen bedankt und zugesagt.
Das angeblich argentinische Touristenpaar Mingues schaffte es am Vormittag tatsächlich, auf das Gebiet des Vatikanstaates zu gelangen. Sie hatten die Durchsuchung ihrer Handgepäckstücke geduldig und ohne Bedenken über sich ergehen lassen. Als dann noch ein Sicherheitsbeamter mit einer kleinen Prüfsonde über sie ging meinte dieser: "Bitte beachten Sie, dass Sie auf diesem Gelände keinen Zauber verwenden dürfen. Wir haben hier zwei Spürsteine ausgelegt, um jeden unautorisierten Zauber zu erfassen."
"GlaubenSie, ich wollte den Papst totfluchen", flüsterte der angebliche Argentinier auf Italienisch. "Auch wenn ich dem sogenannten Pontifex selbst nicht so wohlgesonnen bin befürworte ich die gerade ihn umgebenden Schutzzauber, um einen neuerlichenKonflikt mit seiner Glaubensgemeinschaft zu vermeiden. Also respektierenSie bitte, dass dieses Gelände gesondert überwacht wird!" Die beiden nickten und betraten den großen Hof vor der imposanten Kathedrale St. Peter, die im Gegensatz zu anderen großen Kirchen keinen Turm, sondern eine Kuppel auf dem Dach ihres Hauptschiffes trug. Wo die beiden schon mal hier waren nutzten sie es aus, mit einer altmodisch wirkenden Rollfilmkamera Bilder zu machen. Den Film würden sie dann wohl nach ihrer Rückkehr mit jenem besonderen Verfahren entwickeln, der die davon eingefangenen Bilder so lebendig machte, als wwürden die fotografierten Menschen und Tiere sich noch so verhalten wie genau im Augenblick der Aufnahme.
Öhm, Ihre Gattin ist gesegneten Leibes. Möchte sie dann nicht besser unten warten, bis Sie die Kuppel wieder verlassen haben?" wurde Sebastian von einem Mann in Priesterkleidung gefragt, der wohl sowas wie ein Touristenberater und Aufseher war. Sebastian übersetzte es für seine Frau. Diese erwiderte: "Es ist angenehm, dass man mir und meinem Kind so viel Aufmerksamkeit widmet, Padre. Aber ich möchte gerne in die Kuppel hinauf, weil ich nicht weiß, wann wir wieder herkommen können. Schließlich ist es unsere nachträgliche Hochzeitsreise." Der Priester nickte, weil er wohl verstandenhatte und erwiderte in europäischem Spanisch, dass er ihr nicht zu nahe treten wollte, aber eben besorgt sei, dass sie sich überanstrengen könne. Sie bedankte sich für seine Aufmerksamkeit und bestätigte noch einmal, dass sie die weltberühmte Kuppel des Petersdoms persönlich besichtigen wollte, um die Erhabenheit des ganzen Bauwerkes zu erfassen.
Während sie zwischen innerer und äußerer Kuppel gingen und die Hexe, die sich gerade Rosario Mingues nannte doch ein wenig lauter atmete lauschte sie zugleich auf alles, was auf dem Gelände des Vatikans gesagt oder getan wurde. Dabei bekam sie mit, dass der amtierende Papst mit einem Würdenträger aus Deutschland sprach, einem Kardinal Ratzinger. Es ging wohl um den schwelenden Konflikt zwischen den Traditionalisten und den Erneuerungsbefürwortern innerhalb der katholischen Kirche. Ihr Mann hielt sie sicher an der Hand, damit sie vor lauter Konzentration nicht stolperte und hinfiel.
Als sie wieder vor dem Petersdom standen mentiloquierte sie ihm zu: "Dieser eine Sicherheitszauberer vom Eingang hat mit einem Kollegen hier im Papstpalast ohne Klangkerker gesprochen, dass er bei der nächsten Reise des Papstes herauskriegen wollte, wie die Schutzzauber für ihn wirkten und wie die Spürsteine ausgetrickst werden könnten. Ich fürchte, die haben nichts gutes im Sinn."
"Und die haben nicht gemelot wie wir oder einen Klangkerker benutzt?" gedankenfragte ihr Mann. "Womöglich konnten sie das nicht, weil es nicht erlaubt ist, hier zu zaubern und miteinander mentiloquieren haben sie wohl nicht gelernt. Die waren in einem schalldichten Besprechungszimmer. Aber das war nicht so schalldicht wie ein Klankerker, wohl auch wegen der Luftzufuhr, die ich wunderbar ausfiltern konnte", mentiloquierte sie ihm zurück. "Ich habe es auf jeden Fall für später gesichert, falls hier wer meint, diesen alten kranken Mann ermorden oder irgendwie der Lächerlichkeit preisgeben zu müssen."
"Eine Verschwörung von Zauberern im Vatikan? Das wäre genau das, was die Leute hier immer behaupten, dass ihnen Hexen und Zauberer nachstellen", gedankenantwortete der Vater ihres ungeborenen Kindes.
"Ich sehe es so, dass wir es keinem erzählen dürfen. Das Zaubereiministerium würde ganz zu recht fragen, woher wir das haben. Am Ende sind diese Leute sogar in dessen Auftrag unterwegs, um sicherzustellen, dass ein der Zauberei aufgeschlossener gegenüberstehender Papst gewählt wird, wenn Johannes Paul II. nicht mehr amtiert."
"Dann müssten die alle wahlberechtigten Oberpriester unter den Imperius-Fluch nehmen. Ob das Ministerium soweit gehen würde wage ich im Moment zu bezweifeln", gedankensprach jener, der sich Sebastian Mingues nannte.
"Wenn die beiden Ministeriumszauberer sind", schickte sie ihm zurück. "Es könnten ja auch Agenten der Mondgeschwister oder eines Ordens ähnlich den Todessern sein." "Um so bedauerlicher, dass wir es nicht weitermelden können. Aber zumindest sollten wir ab heute sehr genau nachverfolgen, was in Rom passiert", beschloss er dieses Thema.
Am Abend fuhren beide mit dem neuen Hochgeschwindigkeitszug in Richtung Florenz weiter. Sie wollten die berühmte Stadt in der Toscana zwei Tage lang bereisen. Beide wussten, dass in der Nähe eine Villa stand, die von einem gefährlichen Zauber umgeben war und dass dort die dunkle Hexenmeisterin Ladonna Montefiori residierte. Weil das Ministerium dort wohl Spähposten betrieb würden sie nicht nahe genug herankommen können, um vielleicht was zu erlauschen. Aber womöglich spann Ladonna auch schon ihre Fäden, die ihr irgendwann das Zaubereiministerium sichern konnten, falls sie dieses nicht schon längst übernommen hatte. Dies herauszufinden war die eigentliche, von keinem Zaubereiministerium der Welt befohlene Mission der beiden Besucher aus Übersee.
"Das ist aber sehr nett von dir, Schwester Roberta, dass du dich in eigener Person zu mir begibst", sagte Hera Matine, als ihre Besucherin in ihrem dauerklangkerkerbezauberten Sprechzimmer saß. Eigentlich hätten sie auch über die zwischen Europa und den USA bestehende Porträtverbindung miteinander kommunizieren können. Doch Roberta hatte angedeutet, dass es etwas gab, dass sie ihrer ranggleichen Mitschwester in Frankreich persönlich übergeben und mit ihr darüber sprechen musste. Deshalb war sie zusammen mit einigen anderen amerikanischen Touristen in einem der Luftschiffe aus Viento del Sol herübergekommen und würde ganz offiziell im Chapeau de Magicien wohnen, um von hier aus die europäische Zaubererwelt zu besuchen. Unter dem Vorwandt, wegen der Zeitverschiebung die Beherrschung über ihre Zauberkräfte verlieren zu können hatte sie sich bei Hera Matine vorgestellt, die gerade so zwanzig Minuten freiräumen konnte, bis sie sich wieder mit den vielen hundert Patientinnen befassen musste, die sie gerade hatte.
"Du weißt, dass ich deinem Landsmann Gilbert und seiner neuen Ehefrau zugeredet habe, heimlich nach Italien zu reisen, um zu erkunden, ob unser Verdacht berechtigt ist oder es noch früh genug ist, Vorsorge zu treffen, dass die Veelastämmige sich nicht dort zur Herrscherin ausrufen lässt, Schwester Hera?"
"Natürlich weiß ich das. Ich hoffe nur, die Latierre-Familie bekommt davon nichts mit. Aber du wolltest mir was ganz wichtiges persönlich übergeben."
"Hast du ein Denkarium?" fragte Roberta.
"Ein privates? Nein, habe ich nicht. Ich könnte das der hiesigen Schwesternschaft benutzen, wenn ich die Zeit finde, was immer dort einzulagern, ohne dass ich hier vermisst werde."
"Dann muss ich dir die brisante Erinnerung direkt übertragen, Schwester Hera", sagte Roberta Sevenrock. Hera nickte.
Erst wickelte Roberta mit Hilfe ihres Zauberstabes einen silberweißen Lichtfaden aus ihrem Kopf auf. Diesen ließ sie dann als nicht flüssige und nicht gasförmige Substanz in eine Glasflasche laufen. Danach nutzte Hera einen anderen Zauber, um den Inhalt dieser Flasche auf ihrenZauberstab zu wickeln und den Lichtfaden dann in ihren Kopf hinein abspulen zu lassen. Einen Moment lang sah sie eine Flut von Bildern, vor allem einen frei über einem Tisch schwebenden, wie das natürliche Vorbild leuchtenden Globus. Dann wurde ihr ein wenig schwindelig. Dieser Schwindel verflog nach vier Sekunden. "Ich gehe davon aus, dass diese Projektion der Weltkugel etwas ganz wichtiges bezeichnet, Schwester Roberta. Bitte klär mich auf, was genau!" Dieser Aufforderung kam Heras amerikanische Bundesschwester all zu gerne nach. Als Hera Matine dann erfahrenhatte, was es mit dem Globus auf sich hatte sagte die residente Hebammenhexe von Millemerveilles:
"Und Die blitzgealterte Wiedergeburt Daianiras und ihre Tochter kultivieren eine britische Vampirin, die für sie in den Reihen ihrer Artgenossen spioniert? Dann müssen die zwei jedoch sehr gut aufpassen, dass sie dabei nicht auffallen. Jetzt wo wir wissen, dass uns Tourrecandides immenses Wissen erhalten geblieben ist sollten wir auch zusehen, dass es nicht verlorengeht."
"Da ich mich der Wiedergeborenen gegenüber nicht enthüllen darf müssen wir wohl noch warten, bis sie offiziell alt genug ist, um eine Fürsprecherin zu erwählen, die sie mir vorstellt. Ich hoffe, dass deine Kollegin Eileithyia noch lange genug lebt, um diese ehrenvolle Aufgabe zu erledigen."
"Hohoho, das hoffe ich auch sehr stark", erwiderte Hera. "Immerhin willst du sie ja als deine Nachfolgerin ins Spiel bringen."
"Im Moment ist sie dort, wo sie ist am besten aufgehoben und nicht so stark gefährdet, als wenn sie meinen Platz einnehmen würde, Schwester Hera."
"Wem sagst du das. Einige meiner hiesigen Mitschwestern bedauern es heimlich, dass ich Sardonias Dämmerkuppel überlebt habe und dass wir seit dem 30. August einen neuen, wesentlich humaneren Schutzzauber über Millemerveilles besitzen."
"Oh ja, das habe ich sehr interessiert mitverfolgt, als wir hier lanndeten. Und eine der Kraftsäulen ist das Anwesen der Latierres, richtig?" Hera nickte. "Zumindest dürftet ihr hier vor dieser Blutsaugersekte und den Umtrieben der wiedererwachten Rivalin Sardonias sicher sein. Aber der Rest der Welt dürfte von diesen sieben Stützpunkten der Götzinnenanbeter aus höchst gefährdet sein. Auch habe ich erfahren, dass die neue starke Nachtschattenkreatur ebenfalls an eigenen Niederlassungen arbeiten lässt, und die Werwölfe sind auch nicht so untätig, wie es die Ruhe der letzten Monate vorgaukelt."
"Und du hast diese Aufzeichnung auch an deine heimischen Mitschwestern weitergegeben? Dann wird es auch die Spinnenschwesternschaft erfahren und vielleicht sogar Ladonna Montefiori", sagte Hera.
"Die Möglichkeit musste ich einkalkulieren", sagte Roberta Sevenrock. "Im Moment kann und will ich aber nicht zu unserem Zaubereiminister hingehen. Denn es ist fraglich, ob er bis zur Neuauflage der Quidditch-Weltmeisterschaft im Amt bleibt. Wer nach ihm kommt weiß ich nicht."
"Und du willst nicht darauf hinwirken, einen uns genehmeren Minister oder gar eine Ministerin ins Amtzu bringen?" fragte Hera.
"Wäre ich eine der Ungeduldigen würde ich schon längst jemanden kultivieren, der unter meinemWillen Minister oder Ministerin ist. Aber ich bin keine der Ungeduldigen und sehe in einer manipulierten Ministerernennung auch mehr Nach- als Vorteile", erwiderte Roberta Sevenrock. Dem konnte Hera nur zustimmen, selbst wenn das finstere Beispiel Pius Thicknesse bewiesen hatte, wie nützlich ein solcher Minister einer wahrhaft skrupellosen Macht sein konnte.
Als die beiden älteren Hexen sich nach zwanzig Minuten voneinander verabschiedeten ahnte niemand, dass sie über was anderes als Reisekrankhreiten und die Lastmit der Zeitverschiebung gesprochen hatten. Angeblich konnte Roberta den Ortszeitanpassungstrank nicht vertragen und musste die Umstellung auf natürlichem Wege durchstehen. Das hinderte sie aber nicht daran, auf ihrem mitgebrachten Bronco Centennial über Millemerveilles herumzufliegen und dabei wie zufällig auch an den Grundstücken der Dusoleils und der Latierres vorbeizufliegen. "Diese alten Zauber Ashtarias sind wahrlich schon mächtig", stellte sie fest, als sie am Farbensee entlanggeflogen war und dabei bis auf hundert Meter an das Haus von Millie und Julius Latierre herangekommen war. Roberta trug nämlich eine Halskette, an der ein kleines, goldenes Medaillon hing, das ihr verriet, ob gerade etwas feindliches oder freundliches in ihrer Nähe war und wie magische Absicherungen beschaffen waren. Es hatte sich beim Vorbeiflug des Latierre-Grundstückes mit dem apfelförmigen Wohnhaus darauf wohlig erwärmt und ihr behagliche Schauer in den Körper getrieben. Auch wenn sie vielleicht nie erfahren würde, wie genau die Latierres und Dusoleils mit den Kindern Ashtarias diesen Schutzzauber ausgeführt hatten war sie sich sicher, dass dieser aus der Zeit des versunkenen Reiches stammen musste und dass die Kinder Ashtarias Zugang zu dessen weißmagischem Wissen besaßen. Das hieß für sie jedoch auch, dass es gegenwärtige Hexen und Zauberer gab, die etwas von den machtvollen dunklen Zaubern und Ritualen des versunkenen Reiches kannten. eine davon war die Führerin der Spinnenhexen.
Nottecalda haderte immer noch damit, dass nicht sie zur Priesterin der großen Mutter aller Nachtkinder geweiht worden war und dass sie nicht die Hüterin des unter dem Mont Blanc vergrabenen Tempels sein durfte. Doch offenbar missfiel es der Göttin, dass sie als Neumondgeborene ihr eigenes kleines Reich der Nachttöchter hatte errichten wollen, damals, als Lady Nyx und ihre NachfolgerinLamia Nocturnia errichten wollten. Zwar hatte sie sich mit ihren fünfzig Töchtern und ihren drei Gefährtinnen der Nacht der Göttin angeschlossen, war jedoch nur auf der viertniedrigstenStufe der weltweiten Hierarchie eingesetzt worden.
Es war Nacht, Zeit für die Blutjagd. Wenn sie nur trinken wollte suchte sie gerne gesunde junge Männer heim, die sie bis zum tödlichen Blutverlust aussaugte. Auch jetzt war sie in Fledermausgestaltunterwegs. Dabei merkte sie, dass etwas oder jemand hinter ihr flog. Ansatzlos wendete sie auf dem Punkt und flog zurück. Da sah sie die Feindin auf einem Besenstiel. Die Feindin trug ein schwarzes Kleid, das um Taille und Unterkante Brustkorb mit Gürteln zusammengehalten wurde. Ihr nachtschwarzes Haar flog förmlich im Wind. Nottecalda wusste, wen sie vor sich hatte und wusste auch, dass sie die andere nicht angreifen durfte. So schlug sie schnell einen Haaken, um sich wieder abzusetzen. "Bringt dir nichts ein, Blutsaugerin. Mein Besen ist viel Schneller als du flattern kannst", hörte sie die glockenreine Stimme der Widersacherin. Nottecalda rief ihre Gefährtinnen und Töchter in Gedanken um Hilfe. Oder sollte sie die Göttin anrufen, dass sie ihr Hilfe schickte. Doch da erwischte sie etwas wie ein Netz aus Mondlicht. Sofort erstarrte sie mitten im Flug. "Hab ich dich", schnarrte die Feindin. Dann flog diese auf ihrem Hexenbesen heran und lud die in das Netz aus Mondlicht eingeschnürte auf.
Unvermittelt entstanden mehrere nachtschwarze Wirbel um Ladonna Montefiori. Offenbar hatte die Gefangene es doch geschafft, Hilfe zu erhalten. "Gib sie frei, im Namen der großen Mutter aller Nachtkinder!" rief eine bleichgesichtige Frau, die gerade aus einem der Wirbel fiel. Ladonna lachte und dachte nur: "Ignis invictus!" Aus dem zwei rosenblütenförmigen Rubinen ihres mächtigen Ringes zuckten rote Lichtbündel und trafen die in die Tiefe fallende. Diese erglühte und zerschmolz in rotem Licht wie Wachs in der Kerzenflamme. Dann sah Ladonna, wie die in Fledermausgestalt erschienenen Vampire eine Pyramidenformation einnahmen und in dieser über ihr herabsanken. Sie fühlte und sah, wie zwischen den Vampiren eine magische Verbindung entstand. Für ihre nachtsichtigen Augen war es wie ein Flackern schwarzer Blitze. Sie lachte und deutete hinter sich auf den Besen. "Lass die Sonne raus!" rief sie. Da löste sich eine an einem dünnen Seil hängende goldene Kugel mit Stacheln. Diese sauste nach oben, wobei sie erst rot, dann orange und dann sonnengelb erstrahlte. Gleichzeitig warf Ladonna ihrer gefangenen eine tiefschwarze Decke über, in die Zauberrunen eingewebt waren, die Runen der geruhsamen Nacht, die alles davon bedeckte vor Sonnenlichteinwirkung abschirmen konnte. Die anderen jedoch verloren im Angesicht der über ihnen schwebenden Sonnenlichtkugel die Konzentration. Auch wenn es kein natürliches Sonnenlicht war so wirkte die auf sie treffende Strahlung zumindest ein Viertel so stark wie natürliches Sonnenlicht. Die nachtschwarzen Flackerblitze erloschen, weil die Vampire die Formation auflösten. Sie zuckten und gaben für Ladonnas empfindliche Ohren unerträgliche Quieklaute von sich. Dann sackten sie in die Tiefe und gerieten so aus der unmittelbaren Gefahrenzone. "Dann wollen wir mal nach Hause!" rief Ladonna. Daraufhin erbebte einer der umgeschnallten Gürtel in blauem Licht. Im nächsten Moment fielen sie und die Vampirin zusammen mit dem Besen in einen buntenLichtwirbel. Die Sonnenlichtkugel flog an ihrem dünnen Seil hinterher.
Nottecalda erbebte, als sie am Ziel angekommen waren. Eine große Pein wie sengende Hitze traf sie. "Solange ich eine Hand auf dir liegenhabe bleibst du am Leben, also nicht so zappeln", sagte die Feindin der Vampirin. "Du bist in meiner Festung und Residenz. Wenn diese Abgöttin wagen sollte, dir jemanden zu schicken wird er oder sie sehr schmerzvoll verenden, nur für denFall, dass sie auch hier noch durch deine Sinne hören und sehen kann, Nottecalda. Du hast zwei Möglichkeiten, dich zurückzuverwandeln und mir berichten, was ich von euch wissen will oder so zu bleiben und von mir bei lebendigem Leib ausgeweidet zu werden. Vielleicht stopfe ich deinen Kadaver sogar aus und hänge ihn in das Trophäenzimmer an die Decke. Die Wahl ist dein.""
Während Ladonna die rechte Hand auf dem mit der Decke verhüllten Körper ruhen ließ fühlte sie, wie sich Nottecalda zurückverwandelte. Sie erbebte und wand sich. Doch Ladonna hielt sie sicher fest. "wie gesagt, Nachtschwärmerin, wenn ich dich loslasse dauert es nicht einmal eine Sekunde, und es hat dich gegeben."
"Du Hure. Du dreckige mischblütige Hure", stieß Nottecalda nun wieder in ihrer menschlichen Erscheinungsform aus.
"Ich will das wissen, was es mit diesen sieben Tempeln auf sich hat, wer und was da so ist und wie Leute wie ich da reinkommen. Los, verrate es der guten DonnaLadonna!"
"Eher erdulde ich den Tod, als die Göttin und ihr Werk zu verraten", schnarrte die Vampirin und versuchte, sich zu befreien. Doch dieses Netz aus silbernem Licht hielt sie immer noch fest, so dass Ladonna mühelos ihre rechte Hand um ihren Nacken halten konnte.
"Ich bin dafür berühmt und berüchtigt, zu kriegen, wen und was ich will, Fangzahnflittchen. Also willst du den qualvollen Weg."
Die Gelegenheit war so günstig, fand die immer noch mächtige Entität, die sich Gooriaimiria nannte. Sie konnte diese lästige Feindin ein für alle mal loswerden, Rache für Heptachiron nehmen, auch wenn sie ihr verdankte, dass sie dessen Seele in sich eingeschlossen hatte. Vielleicht würde sie sie von einer ihrer Priesterinnen zu deren Tochter machen lassen, um sie dann ebenso wie Heptachiron in sich einzuverleiben. Doch wenn stimmte, was ihre italienischen Anhängerinnen berichtet hatten, so war sie eine Mischblütige, in deren Adern Spuren von Waldfrauen- undVeelablut floss. Konnte sie diese dann überhaupt verwandeln lassen?
Sie hatte fünf von Nottecaldas Töchtern zusammengerufen und dann über der auf einen lächerlichen Besen reitenden Hexe abgesetzt. Doch dieses Mischlingsweib hatte eine dieser vertückten Sonnenlichtkugeln in Tätigkeit gesetzt. Für die dort angekommenen Vampirinnen in Fledermausgestalt war es ein viel zu gleißendes Licht. Gooriaimiria sandte zwar jeder von ihnen ihre Kraft. Doch die freigesetzte Sonnenlichtmenge zerstreute die zwischen ihnen aufkommende Macht der Schattenstrudel. Sie wollte die fünf von unten her neu anfliegen lassen, um das dünne Seil der Kugel zu zerbeißen, da verschwand Ladonna mit Nottecalda. Sie hatte einen dieser widerwärtigen Portschlüssel ausgelöst. Wieso wurden ihr diese Dinger immer wieder zur Niederlage?
Als sie wieder geistigen Kontakt zu Nottecalda bekam war es, als sei sie in einem Raum aus rotem Feuer gefangen. Sie spürte die Erhitzung und fühlte, wie sie trotz aller Kraft immer mehr von einer anderen Kraft aus Blut und Feuer zurückgedrängt wurde. Sie schaffte es nicht mehr, Nottecaldas Geist zu durchdringen. Es war nun noch schlimmer als bei Nyctodora. Sie beschloss, zehn entbehrliche Krieger an den Ort zu schicken, wo Nottecalda war.
Erst brachte sie zehn Getreue von verschiedenen Orten der Welt an einem Punkt zusammen. Dann schickte sie diese mit dem Schattenstrudel zu Nottecalda. Doch die Strudel schafften es nicht, sich dort zu bilden. Irgendwas bremste deren Drehung und schleuderte ihr die dafür aufgewandten Kräfte zurück. Sie musste ohnmächtig miterleben, wie die von ihr beförderten zehn Krieger dorthin zurückkehrten, von wo sie sie losgeschickt hatte. Außerdem hatte die vereitelte Reise diesen so zugesetzt, dass sie bei ihrer Rückkehr in die stoffliche Welt schlagartig das Bewusstsein verloren.
Gooriaimiria beschloss, vier der neuen Kristallstaubkrieger in die Nähe des Ortes zu schicken, an dem Nottecalda gefangen war. Die sollten die Feindin im direkten Anflug angreifen und Nottecalda entweder befreien oder töten, damit sie nichts verraten konnte. So rief sie aus Afghanistan die neu erschaffenen Krieger an einen Ort zusammen und beförderte sie durch den Schattenstrudel eine Meile von Nottecaldas Aufenthaltsort weg. Dann verfolgte sie durch die Sinne der vier, wie diese auf ein Haus wie eine altrömische Villa zuflogen. Sie mochten nun noch hundert Meter davon entfernt sein, als ihre Körper zu erbeben begannen und schwarze und rote Funken sie umspielten. Doch Gooriaimiria setzte auf die besondere Ausdauer und Beständigkeit der Krieger. Sie trieb sie weiter. Deren Körper bebten nun immer schlimmer. Sie konnten ihre eigenen Bewegungen nicht mehr beherrschen und stürzten außerhalb des Hauses ab. Dann überwogen die roten Funken die schwarzen. Sie vernahm, wie die von ihr geschickten Vampire immer wilder erbebten und fühlte, dass sie dabei immer mehr erhitzt wurden. Sie versuchte, sie mit Schattenstrudeln einzufangen. Doch es gelang nicht. Sie konnte ihre mächtigen Helfer nicht damit erfassen. So musste sie ohnmächtig mitverfolgen, wie die vier Kristallstaubkrieger von einer plötzlichen Hitzewallung geschüttelt wurden und dann in einer flammenlosen, immer helleren Glut zerschmolzen wie Eis in der verhassten Sonne. Der letzte Gedanke eines ihrer Krieger war: "Herrin, in deine Obhut befehle ich meinen Geist!" Dann entflog die Seele dem verflühenden Körper. Sie wollte sie einfangen, doch eine unbändige Kraft schleuderte sie so heftig davon, dass sie sie nicht mehr ergreifen konnte. Da wurde der Blutgöttin klar, dass Ladonnas Schutzbann ein sehr wirksames Abwehrbollwerk gegen sie und ihre Diener war.
"Ich werde dich kriegen und dein Fleisch und Blut von meinen Kindern verzehren lassen!" drohte Gooriaimirias Geistesstimme Ladonna, auch wenn sie wusste, dass diese sie nicht hören würde.
Nottecalda wollte nur noch sterben. Sie konnte sich nicht mehr gegen die sie quälende Pein wehren. Ladonna fragte sie nach den sieben Tempeln und erfuhr, dass sie durch Unlichtkristall gegen die Sonne und durch mächtige Zauber gegen feindliche Eindringlinge geschützt wurden. Sie erfuhr jedoch, wie die Priesterin Europas hieß. Das reichte ihr aus, um Nottecaldas letzten Willen zu erfüllen. Sie nahm ihre Hand von ihr. Mit einem letzten kurzen Aufschrei verging die Vampirin in einer hellroten Glutwolke.
"Auch wenn ich zu euch genausowenig hineinfliegen kann wie ihr zu mir werden meine Schwestern und ich diese Frechheit unter dem Mont Blanc nicht lange hinnehmen. Vielleicht verrate ich auch dem Zaubereiminister, wo ihr zu finden seid und lasse ihn was unternehmen. Ja, das ist die bessere Idee", dachte Ladonna Montefiori.
Das angebliche Ehepaar Mingues war mit einem gewöhnlichen Taxi bis auf einen Kilometer an das Girandelli-Anwesen herangefahren. Angeblich wollte Sebastian Mingues auf jemanden warten, der sie hier abholte. Falls derjenige nicht in den nächsten fünf Minuten eintraf wollten sie zurückfahren. Die Wartezeit würde er natürlich bezahlen, sagte er und wedelte mit einem 100-Euro-Schein.
"Ich möchte mir zumindest die Beine vertreten", sagte die angebliche Rosario und stieg aus. Sie ging übertrieben watschelnd mehrere Dutzend Schritte auf und ab und umschritt dann mehrmals das wartende Taxi. Zweimal hielt sie sich eine Hand an die Schläfe. Ihr Mann fragte, ob ihr nicht wohl sei. Sie schüttelte behutsam den Kopf. Der Taxifahrer fragte, ob sie echt hier abgeholt werden sollten, wo das verfluchte Haus so nahe war. Der sich Sebastian Mingues nennende Fahrgast erwiderte, dass er sich nicht sicher war, ob er wirklich hier genau abgeholt werden sollte, da sein Kontakt tatsächlich nicht in das Haus hinein wollte. Dann kam seine Frau zurück und schlüpfte wortlos auf die Rückbank. Als weitere zwei Minuten vergangen waren sagte ihr Mann: "Gut, Signore, Sie dürfen uns wieder ins Hotel bringen. die Feier findet doch nicht statt."
Als die beiden in jenem kleinenHotel waren und einen Klangkerker in ihrem Zimmer aufgebaut hatten sagte die Frau, die sich Rosario Mingues nannte: "Ich habe vom Grundstück her ein viel zu lautes Brummen wie von tausend auf der Stelle schwebenden Entomanthropen gehört, nichts aus der Villa selbst. Dafür war ich vielleicht noch zu weit. Aber wenn das Brummen eine Komponente des Blutfeuernebels ist kann ich da wohl auch nichts hören, zumindest nicht magisch. Aber was ich ganz sicher mitbekommen konnte war, dass um das Grundstück selbst kein Beobachter auf dem Boden oder in der Luft postiert ist. Das Zaubereiministerium hält dieses Grundstück nicht unter Beobachtung oder gar personelle Überwachung. Dabei wissen die doch, dass diese Hexe dort wohnt und vielleicht auch mal Besucher empfängt."
"Ja, wissen die garantiert, ma Linda Belle", sagte ihr Mann mit gewissem Unmut. "Entweder haben sie es aufgegeben, diese magische Festung zu belagern, oder sie gehen davon aus, dass sie es früh genug mitbekommen, was von dort ausgeht, weil sie schon wen in Ladonnas Reihen haben ... oder es ist genau anders herum und Ladonna hat das Ministerium schon unter ihrer Kontrolle."
"Da rufst du jetzt aber gerade den ganz großen Drachen, Gil", erwiderte die als Rosario Mingues verkleidete. "Aber logisch ist es. Und Zeit hatte sie auch, um sich den einen oder die andere gefügig zu machen, um ihr zumindest wichtige Leute zuzuführen, die sie nur noch unter den Imperius-Fluch nehmen musste. Aber bevor ich das als gesichert annehme möchte ich noch die nächsten anderthalb Wochen nutzen, um behutsam die Leute um das Quidditchstadion zu belauschen."
"Ich schlage vor, wir reisen nach Venedig. Dort sollte ja Phoebe Gildfork hingebracht werden", sagte der verkleidete Zauberer. Seine Frau bejahte es.
Es war zehn Uhr Morgens, als ein sichtlich müder und zerknittert wirkender Ralf Burton die Kriminalredaktion der New York Times betrat. Sein Kollege Jeff Bristol beendete gerade seine Frühstückspause. Auf Jeffs Bildschirm prangte ein Textentwurf zu einer Schießerei in einer Lagerhalle in den Washington Heights. Jeff vermutete, dass diese gewaltsame Auseinandersetzung ebenfalls wegen des Treffens am vierten Februar war.
"Du siehst so aus, als wärest du direkt vom Flughafen hergefahren", begrüßte Jeff seinen Kollegen.
"Da sieht es nicht nur nach aus, Jeff. Diese Vollidioten haben meinen Rückflug verbaselt, und ich konnte gerade so eben noch eine Inlandsmaschine von San Francisco nach Laguardia kriegen, weil ein Passagier die Buchung widerrufen hat. Abflug um zehn Uhr Abends Westküstenzeit, Flugzeit sechs Stunden. Eine Halbe Stunde Warteschleifen über Laguardia mit Aussicht, vielleicht nach JFK umgeleitet zu werden. Dann Landung um acht Uhr Ostküstenzeit. Natürlich wollten alle Passagiere ein Taxi. Da ich drei Familien mit Kleinkindern nicht den Wagen wegnehmen wollte konnte ich dem letzten gelben Brummer hinterherwinken. Zumindest haben sich die Leute gefreut, noch einen Wagen in die Stadt erwischt zu haben. Weil ich nicht wusste, wann die Taxis wieder beim Flughafen ankommen bin ich mit dem Express-Shuttlebus nach Manhattan rein und den Rest mit der U-Bahn. Mike Dunston weiß bescheid. Ich stell nur meinen Koffer hier unter und melde mich bei ihm zurück", sagte Ralf und stellte seinen vollen blauen Koffer unter seinen Schreibtisch. Jeff nickte.
Als Ralf wiederkam grummelte er, dass Mike Dunston ihm ziemlich übel anempfohlen habe, sich erst mal zu duschen und knitterfreie Sachen anzuziehen und dass er gütigst die Sache mit Tinwhistle abschließen oder darlegen solle, wer genau das sei.
"Was war mit Tinwhistle, hat euch die Quelle was wichtiges verkauft?" fragte er Jeff. Zur Antwort holte Jeff einen anderen Text auf seinen Bildschirm und sagte dann: "Dein exklusiver Informant möchte noch anderthalbtausend Dollar von uns, weil er oder sie uns ein Treffen von drei Zweitligamafiosi zugespielt hat, die so dämlich waren, sich mit dem Platzhirschen von Philadelphia anzulegen und dabei allesamt draufgegangen sind. Näheres hier aus dem Notizen. War nett, mit dem Herrn oder der Dame zu plaudern."
"Moment mal! Ach so, die Weiterleitung. Ich habe vorsorglich die Prioritätsroutine aktiviert, dass wichtige Anfragen bei Dunston im Postfach landen. Oha, hat sich Tinwhistle so gut verkleidet, dass du nicht zwischen Männlein oder Weiblein entscheiden konntest?"
"Rostroter Vollanzug mit Helm und Brustpanzer, der offenbar alles verstecken kann, ob vorhanden oder nicht. Verwendete eine Hawking'sche Kunststimme zur Maskierung des eigenen Geschlechts. Aber ich habe mit ein paar genialen Kosmetiktricks mein Aussehen auch verändert und bin als Mr. Ebony zu ihm oder ihr hin. Meinst du nicht, dass wir Kollegen wissen sollten, wer genau Tinwhistle ist und warum den die eigenen Leute als Faktor I bezeichnen dürfen oder müssen?"
"Ui, du warst in der Frühstücksbar, in dem Bunker? Kapiere es", grummelte Ralf ein wenig verschämt. "Sagen wir es so, falls ich hier aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr arbeiten kann kriegen Dunston und du die ganze Identität von Tinwhistle serviert. Tinwhistle hat aber darauf bestanden, dass außer mir keiner die wahre Identität erfährt, solange ich für euch arbeite und dass ich dann, wenn ich zu einem anderen Blatt wechseln sollte, alles über ihn aus den eigenen Akten löschen soll, einschließlich der Erkennungsparolen, die du offenbar benutzt hast, weil du nicht für immer verschwunden bist."
"Ralf, ich denke, dass Dunston dir das schon vorgehalten hat: Aber wenn der Typ oder die Lady eine große Nummer bei einer anderen Gangsterbande oder in einer der großen neun Familien ist und uns nach belieben manipuliert sollten wir wissen, wer uns da am Nasenring führen will."
"Ich kapiere, was dich daran annervt, Jeff. Aber glaub's mir, du schläfst wesentlich ruhiger, wenn du nicht zu denen gehörst, die wissen, wer und was Tinwhistle ist. Und ebenso kann Dunston froh sein, dass Tinwhistle immer noch findet, dass wir von ihm oder ihr was bekommen. Achso, übliches Honorar?"
"Fünfhundert angezahlt, tausendfünfhundert sollst du noch rüberreichen", sagte Jeff. "Gut, das sollte ich dann besser in den nächsten vierundzwanzig Stunden erledigen", seufzte Ralf. "Und wie erwähnt, du willst nicht wirklich wissen, wer Tinwhistle ist."
"Wieso, weil's der Teufel ist oder was?" entgegnete Jeff.
"Sagen wir es so, damit du nicht mehr so neugierig bist: Tinwhistle traue ich zu, die Adresse und Telefonnummer vom Teufel zu haben und von jedem Dämonenfürsten, an den in diesem Land wer glaubt."
"Oh, eine Hexe oder ein Zauberer", legte Jeff nach. Ralf verzog das Gesicht und meinte: "Noch mal, weil ich weiterhin mit dir gut zusammenarbeiten will und deiner Frau nicht erklären möchte, warum sie eure Tochter alleine großziehen muss: Tinwhistle hat sich nur mir klar enthüllt und weiß ganz gut, wie neugierige Leute vom Hals gehalten werden können."
"Wie der Kollege Benning, der im East River gelandet ist, Ralf? Ichhoffe verdammt schwer, dass Tinwhistle nicht von dir oder aus Versehen über dich von wem anderen mitbekommen hat, dass Benning das rostige Rechteck infiltrieren wollte."
"Benning hat einen Fehler gemacht, vor dem unter anderem ich ihn überdeutlich gewarnt habe", schnaubte Ralf. "Du hast diesen Fehler nicht gemacht, weil du sonst auch nicht hier sitzen würdest. Er hat versucht, mehr über die Anführer des rostroten Rechtecks rauszufinden, also zum Beispiel, wie die Führungsmannschaft aussieht. Ist ihm nicht gut bekommen."
"Was im Klartext heißt, dass Tinwhistle wirklich einer von denen, ja sogar die größte Nummer von denen ist, Ralf. Du deckst also einen der größten Gangster außerhalb der Cosa Nostra. Wundere mich echt, dass du dann noch im Flugzeug schlafen kannst."
"Moment, jetzt nicht den Moralapostel rauskehren, Jeff, dafür ist Dunston zuständig und kriegt auch mehr Geld von der Times", versetzte Ralf. "Wir haben hier in der Kriminalredaktion immer schon mit Leuten zu tun, die selbst Dreck am Stecken haben, um unsere Geschichten zu kriegen. Du wirst mir also jetzt nicht vorhalten, ich würde einen Gangster schützen."
"Ja, kleine Fische, Leute die selbst Angst haben, nicht aufzufliegen, Ralf. Aber wenn ein echt dicker Fisch uns gezielt mit Infos beliefert tut er oder sie das nur, weil damit Vorteile verbunden sind. im ganz aktuellen Fall war es ein Treffen dreier rangniedriger Familienfürsten mit Ernesto Zagallo. Dabei kam es offenbar zu einem schweren Missverständnis, das keiner von denen überlebt hat. Also, wenn Tinwhistle darauf spekuliert hat, dass Zagallo sich mit den dreien zusammentut oder dabei die großen neun in Wut geraten, dann klingt das für mich nach einem gezielten Coup, um das Machtgefüge der Unterwelt zu erschüttern, um selbst gestärkt daraus hervorzugehen. Dann ist das nicht mehr nur das Zuspielen von irgendwelchen anstehenden Dingern, sondern ein gezieltes Instrumentalisieren von uns und anderen Medien zum eigenen Vorteil. Aber wie du schon sagtest, das wird dir Mr. Dunston sicher noch einmal vorhalten. Ich sage da zu nur noch, dass ich für derartige Ausflüge nur noch dann zu haben bin, wenn ich weiß, mit wem genau ich reden soll. Und vor Hexen und Zauberern habe ich keine Angst. Meine Schwiegermutter ist selbst 'ne Hexe." Ralf sah Jeff verdutzt an und musste dann grinsen. Damit hatte Jeff gerechnet und das auch genauso erhofft. Natürlich bezeichneten viele Schwiegersöhne oder -töchter die eigene Schwiegermutter als Hexe. Tja, aber in seinem Fall stimmte das wahrhaftig. Aber Ralf wusste das natürlich nicht. Dann sagte Ralf was, das Jeff doch ein wenig erschütterte: "Jeff, du hast deine Geheimnisse, ich habe meine. Nerven wir uns nicht gegenseitig damit, vom anderen mehr wissen zu wollen als unbedingt nötig ist!"
"Soso, Geheimnisse", erwiderte Jeff nach drei Sekunden. "Gut, dann klär du das mit Dunston alleine, was wir von deinem Superinformanten aus der Unterwelt mitkriegen dürfen oder nicht. Meine Ansage steht, dass ich für solche Ausflüge nur noch zu haben bin, wenn ich weiß, zu wem es geht und nicht mit einem rostroten Darth Vader zu tun habe. Mehr muss ich dazu nicht sagen außer, dass Tinwhistle wusste, dass du bis heute weg bist und deshalb bis morgen die restlichen anderthalbtausend Dollar erwartet."
"Das regel ich nachher. Aber ich möchte zumindest wissen, wofür wir bezahlen", grummelte Ralf. Zur Antwort ließ Jeff aus dem drahtlos angeschlossenen Laserdrucker die von ihm eingehandelten und die eigenen Texte ausdrucken. Ralf nickte, nahm die Blätter und zog sich damit an seinen Schreibtisch zurück. Jeff tat so, als sei er mit seinem eigenen Text beschäftigt. Doch klammheimlich behielt er den Kollegen über das nur für ihn spiegelnde Glas seiner Armbanduhr im Blick. Deshalb sah er, dass Ralf einmal heftig zusammenfuhr und dann mühevoll durchatmete. Nach zwanzig Minuten sagte Ralf: "Oha, zumindest gut, dass wir mitbekommen haben, warum die großen neun sich jetzt beharken. Ich klär das mit dem Restbetrag, Jeff." Jeff Bristol bestätigte es. Mehr wollte er im Moment nicht wissen. Doch die Anspielungen seines Kollegen piesackten ihn doch ein wenig. Am Ende ließ der sich von einem echt großen Gangster am Nasenring führen oder hatte was angestellt, was diesem Gangster Macht über ihm gab. Das musste nichts mit der Zaubererwelt zu tun haben. Doch irgendwie fand er, das er das ganz sicher klären musste, aber nicht jetzt, sondern demnächst, wenn Ralf nicht so in die Enge getrieben wirkte.
Das Leben auf der Hacienda südlich von Mexiko-Stadt verlief seit dem scheinheiligen Friedensangebot der Blutgötzin recht entspannt. Weil sich die neue Festung der Mondbrüder als vampirsicher erwiesen hatte und die neuen Verhüllungssteine aus England sie auch für die Mordvorrichtungen des blauen Lichtes unauffindbar machten konnte Léon del Fuego zu den bereits bei ihm wohnenden Mondgeschwistern noch zwanzig weitere Bundesgefährten in den drei Gebäuden einquartieren, je zehn Frauen und Männer. Lunera selbst hatte das sichere Haus der Mondbrüder bei Mexiko-Stadt besucht und vorgeschlagen, dass neben der Stammbelegschaft noch zehn einander versprochene Paare bei ihm wohnten. So kam es in jeder Nacht vor, dass von irgendwo auf der Hacienda lustvolle Laute zu hören waren. Weil León del Fuego mittlerweile selbst eine Gefährtin gefunden hatte machte ihm das nichts aus.
Weil sie alle so beruhigt lebten stach das Scheppern der Alarmglocke wie mit eiskalten Klingen in ihre Ohren. Sofort eilten alle Bewohnerinnen und Bewohner im großen Haupthaus zusammen. "Da sind doch glatt fünfzig dieser riesigen Fledermäuse über uns, die gerade ausloten, ob die einen Sturzflug auf uns machen sollen oder nicht", knurrte Bocafina, Leóns Gefährtin. Sie bediente das im Schornstein versteckte Teleskop, das in verschiedene Richtungen gedreht werden konnte.
"Haben die echt gedacht, wir hätten den letzten Besuch vergessen?" fragte Palón, Bocafinas Vetter, ein bohnenstangengleicher Bursche.
"Vielleicht mussten sie erst mehr Sachen zusammenkriegen. Kann sein, dass die uns gleich mit Brand- oder Gasladungen angreifen", sagte León.
"Und das Haus hält sowas aus?" wollte eine der neuen Bewohnerinnen wissen."Wenn die Geschütze noch nicht eingerostet sind", sagte León.
Tatsächlich passierte jedoch erst was anderes. Zehn der mit großen Kanistern beladenen Fledermäuse stürzten sich hinunter und prallten federnd von einer plötzlich in der Luft gelb leuchtenden Barriere ab. Als ein dunkelgrauer Vampir sich auf das Haus stürzte blieb er in dieser Barriere stecken und erbebte wild. Er konnte sich nicht mehr bewegen.
"Tja, Mexikanische Sonne mit der Zauberkraft des großen Landes vereint", lachte eine der inkastämmigen Mitbewohnerinnen. "Knips ihn aus, Palitito!" sagte León.
"Pass auf, dass ich dichnicht ausknipse", knurrte der bohnenstangengleiche Mitbruder und hantierte an etwas, das wie ein Verschiebespiel mit blauen, grünen, roten und silbernen Steinen aussah. "Und Feuer!" zischte er. Aus dem Dach flogen mehrere walnussgroße Kugeln hinauf zu dem festhängenden Vampir und trafen ihn. Doch sie prallten wie Gummibälle von ihm ab und fielen auf den Boden zu. Bevor sie darauf aufschlugen wurden sie von einem unsichtbaren Netz aufgefangen. "oha, kugelsicher", knurrte Palón. "Aber mal sehen, wie ihr das aushaltet!" Er hantierte wieder an dem schiebespielartigen Etwas und sagte dann: "Mal sehen, ob das taugt, was Fino und Valentino sich ausgedacht hatten. Aus dem Haus klang ein leises Summen. Dann sahen sie, wie es um den festhängenden Vampir immer mehr bläulich flackerte. Dann erstarrte die Fledermaus zu einer mattschwarzen Statue ihrer selbst. So blieb sie zehn Sekunden lang. Dann zerbarst sie in einer Wolke aus schwarzem Staub, der mit der Barriere wechselwirkte und eine Kaskade aus grünem und blauem Elmsfeuer entfachte. "Hihi, gefunden. Wen noch wer von denen runterkommt kriegt er oder sie gleich die richtige Schwingungszahl aufgebraten."
"Achtung, Bombenabwurf!" rief Bocafina aufgeregt. "Gegenwehr läuft", erwiderte Palón ganz gelassen. Tatsächlich regnete es aus mehr als hundert Metern höhe Stahlzylinder. Doch unvermittelt jagten kleine, blaue Feuerbälle nach oben und trafen zielgenau die abgeworfenen Gegenstände. Diese zerbarsten in blauen Flammenwolken. Dann schwirrten wieder die kleinen Kugeln nach oben und trafen diesmal ihre ziele, schlugen in sie ein und entfachten gleißend helle gelbe Glutbälle wie kleine Sonnen. Deren Wirkung war sogar so durchschlagend, dass die vom grellen Licht getroffenen Angreifer aus der Flugbahn gerieten und noch im Flug zu Asche zerfielen. So waren nur noch fünf dieser veränderten Vampire über ihnen. Doch die kämpften ebenfalls mit der Auswirkung der hellen Glutbälle. Dann wurden sie wieder von jenen bläulichen Lichtentladungen erfasst, erstarrten sofort und zersprangen keine zwei Sekunden später zu schwarzen Staubwolken.
"Also für den Bericht an die Jefa, die Sonnenlichtkugeln können nicht in die Supervampire einschlagen aber in die Normalos. Wenn die dabei entladen werden zerbrutzelt es alle im Umkreis von hundert Metern. Dieses Resonanzgerät wirkt auf jeden Fall gegen diese veränderten Blutsauger", stellte León fest. "Ja, und das lenkbare Gefahrenabwehrfeuer, das Fino aus dem Feindesfeuer entwickelt hat kann zielgenau gefährliche Gegenstände zerstören", stellte Bocafina erleichtert fest. Einer der neuen Mitbewohner fragte, was wäre, wenn die Vampire eineAtombombe über ihnen abwarfen.
"Dann wird uns dieser Elektrorechnerbändiger auch so was besorgen, und wir zerblasen deren Stützpunkte", sagte León del Fuego. Doch keiner hier schien das wirklich so gelassen hinzunehmen wie er. "Wir müssen den Fidelius-Zauber machen, León. Die Unaufspürbarkeitssteine helfen nicht gegen Vampire, die wissen, wo wir wohnen", sagte Bocafina.
"Gut, dann komm zusammen mit Palón in unser Schlafzimmer. Ich bin dann Geheimniswahrer", sagte León. Denn ihm war klar, dass die Vampire wieder angreifen würden, wenn sie Waffen mit größerer Reichweite und Zerstörungskraft in die Finger bekamen. Da bei denen auch nichtmagische Leute waren konnten die vielleicht schon sowas in Stellung bringen.
Die nächsten Minuten vergingen mit dem Fidelius-Zauber. Als León del Fuego sicher war, dass der Zauber geklappt hatte sprach er zu den vorsorglich im großen Esssaal versammelten, die sich gerade umsahen, weil sie nicht wussten, wo sie waren und erwähnte, wo sie waren und dass dies die Festung Luna ascienda in Mexiko war. Daraufhin sahen alle wieder so aus, als erinnerten sie sich wieder daran, wo sie waren.
Das angebliche Touristenpaar aus Argentinien nutzte weiterhin die öffentlichen Verkehrsmittel der nichtmagischenWelt, um von einer wichtigen Stadt in eine andere zu reisen, auch einmal so in die Landschaft, um diese zu genießen. Sie fuhren Ski in den Dolomiten und probierten aus, ob das Mittelmeer schon warm genug zum Baden war. Dabei lauschte vor allem die schwarzgelockte Frau auf wichtige oder verdächtige Laute und Worte.
Als sie zum Abschluss ihrer Reise mehrere Tage in der Poebene verbrachten schafften sie es sogar, in die Nähe des Weltmeisterschaftsstadions zu gelangen. Dort hörte die verkleidete Hexe mit ihren besonderen Ohren, wie die Ministeriumszauberer und -hexen weiterführende Absicherungen einrichteten, um feindselige Hexen und Zauberer festzusetzen und das Fortpflanzungsrauschgas von Vita Magica unmittelbar nach dem Ausbringen mit einer zielgenauen Gegenlösung zu neutralisieren. Einer der die Sicherheitsvorkehrungen einrichtete sagte zu seinem Kollegen:
"Am ersten März ist das Treffen des Ministers mit den noch verbleibenden WM-Land-Ministerinnen und Ministern auf Sizilien. Bis dahin müssen wir hier alles sicher haben und da auch alles sicher haben." Sein Kollege erwiderte:
"Öhm, hat er was gesagt, ob er die Minister schon mit ihr zusammenbringen will?" "Hey, nicht hier draußen", zischte der Kollege. "Wieso? Die sind doch alle auf unserer Seite hier."
"Bist du dir da so sicher?" wurde er gefragt. "Sie hat deutlich gesagt, dass wir vor Vita Magica oder anderen Gruppen auf der Hut sein müssen. Aber wo du es schon erwähnt hast: Nein, sie will noch bis zum Sommer warten. Wenn Bernadotti den anderen beibringen kann, ihre wichtigsten Mitarbeiter mitzubringen und es dabei hinkriegt, diese Ventvit außen vorzulassen, ohne dass sie Verdacht schöpft, dann erst sollen die anderen Idioten und ihre ranghöchsten Beamten zu ihr hingeführt werden. Aber jetzt bloß nicht weiter davon, weil Angelina und Daniella finden, wir quatschten zu viel."
"Sehen wir zu, dass wir hier ganz unauffällig wegkommen, nicht disapparieren und nicht auf einem Besen fliegen", mentiloquierte die schwarzgelockte Frau ihrem Mann zu. Dieser sah, dass sie sichtlich erschüttert wirkte. Ihre Rosarote Haut hatte sich jedoch nicht verfärbt. Dennoch war er sich sicher, dass jeder ungeschminkte Mensch bei dem Blick und den Gesichtszügen kreidebleich sein mochte. Deshalb befolgte er ihre gedankliche Aufforderung und wanderte mit ihr wie nur die schöne Gegend genießend zurück zum zehn Kilometer weit entfernt geparkten Mietwagen. Als sie sicher waren, dass keiner sich mit Magie oder einfacher Technik daran zu schaffen gemacht hatte fuhr der Mann, der sich Sebastian nannte, mit seiner Frau in Richtung Meer davon. In einem Tag würden sie am Anlegeplatz Citá di Mare ankommen und konnten den Zubringer des fliegenden Holländers nach Frankreich nehmen, wo sie dann offiziell Cannes, Monte Carlo, Paris, Millemerveilles und die Provence bereisen würden. Dort würde sich das Ehepaar Mingues aus einer Provinz Argentiniens in Nichts auflösen.
"Jetzt ärgert es mich, dass wir deinen Leuten nichts gesagt haben", mentiloquierte sie ihm. Er erwiderte auf dieselbe Weise: "Meine Mutter kennt das, dass ich auf so verwegene Touren gehe. Aber Tante Line hätte es dir niemals gestattet, mit unserem Baby im Bauch auf so eine gefährliche Reise zu gehen. Denn das sie gefährlich war wissen wir ja jetzt."
"Alle Hinweise passen. Das mit dem Vatikan, dass die Villa dieser dunklen Hexe nicht mehr überwacht wird und das Gespräch, dass ich mitgehört habe", mentiloquierte sie und sagte mit körperlicher Stimme: "Das Land deiner Vorfahren ist schon sehr interessant und bietet eine Menge für Hochzeitsreisende."
"Wenn wir wieder genug zusammen haben, ohne dass deshalb unser Kind hungern oder frieren muss kommen wir mit ihm noch mal her", sagte er wie für einen unsichtbaren Zuhörer und mentiloquierte: "Sobald wir an der Loire sind gebe ich das an meine Familie weiter, dass Italien sehr wahrscheinlich schon an Ladonna Montefiori gefallen ist. Eigentlich müssten wir diese Zusammenkunft der Zaubereiminister verhindern, bevor dieses Weib die doch noch für sich vereinnahmt."
"Mit welcher Begründung? Wir waren nicht als die hier, die wir sind, und was ich hören kann wird immer gerne von denen bestritten, die was ausgeplaudert haben. Das muss erst mal an die Leute, denen wir vertrauen können."
"Wenn wir wieder in den Staaten sind sollten wir das zumindest den Leuten aus VDS erzählen, dass die besser nicht nach Italien reisen", mentiloquierte der angebliche Sebastian Mingues.
"Wem da genau?" wollte seine Frau wissen. Darauf hatte er im Moment keine Antwort. So fuhren sie beide nach Sorent, wo sie den Mietwagen zurückgaben und ließen sich mit einem Taxi in die Nähe des geheimen Fährhafens der italienischen Zaubererwelt bringen. Sie atmeten beide auf, als sie am selben Tag noch die Schnellfähre in die Nähe von Marseille erreichten, ohne dass einer vom Zaubereiministerium sie aufhielt.
"Geh bitte davon aus, dass sie noch nicht alle beherrscht, Linda", mentiloquierte Gilbert Latierre, als die Fähre ablegte. "Sie wird sich wohl die für sie wichtigsten und zugleich gefährlichsten Leute herausgepickt haben. Aber wenn sie sicher ist, dass auch die anderen Zaubereiministerien sie nicht mehr stören wird sie sich offenbaren."
"Ja, und was das heißt habt ihr mir ja lang und breit erzählt, als es um das dunkle Jahr ging", schickte Linda Latierre-Knowles zurück und sah erleichtert, wie die italienische Mittelmeerküste hinter dem Horizont verschwand.
"Ich erinnere mich sehr gut daran, was damals in Frankreich los war und was ich später aus England zu hören und zu lesen bekommen habe", gedankenantwortete Gilbert Latierre. Er wusste, dass sie beide wieder einmal was mitbekommen hatten, was sie das leben kosten konnte und dass sie es möglichst bald denen mitteilen mussten, die noch was bewegen konnten. Das gehörte auch zum Los des Sensationsreporters, wussten er und sie aus ihrer jeweils langjährigen Erfahrung.
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