Die Welt ist weiterhin in Aufruhr. Die nichtmagische Menschheit lebt mit den Auswirkungen der Terroranschläge vom 11. September 2001 und dem Vergeltungskrieg der USA und ihrer Verbündeten in Afghanistan und dem Irak. Die Magische Welt hat weiterhin mit den Auswirkungen der von Ladonna Montefiori unbeabsichtigt ausgelösten Welle dunkler Zauberkraft zu tun. Zwar konnte das Erbe Sardonias in und über Millemerveilles endgültig beseitigt werden. Doch die während der Eingeschlossenheit durch eine gasförmige Droge Vita Magicas ausgelöste Fortpflanzungsorgie erlegt den Bewohnern Millemerveilles die Verantwortung für über 750 im nächsten Jahr ankommende Kinder auf.
Im Auftrag und mit Hilfe der transvitalen Entität Ammayamiria errichten Millie und Julius Latierre zusammen mit Ashtarias Nachkommen Camille Dusoleil, Maribel Valdez und Adrian Moonriver eine neue, schützende Glocke über Millemerveilles, die nicht wie die dunkle Kuppel Sardonias auf Leid und Tod, sondern Lebensfreude, wachsendem Leben und Liebe gründet.
Die dunkle Woge im April 2003 bestärkt dunkle Wesen und Gegenstände. So erwacht die schlummernde Kraft in einem Zauberkessel der Hexenmeisterin Morgause zu unheimlichem Eigenleben. Doch der Kessel wird von den darum streitenden Hexen Anthelia und Ladonna zerstört. Morgauses darin eingelagerte Seele wird von der ebenfalls bestärkten Nachtschattenführerin Birgute Hinrichter vertilgt und gibt ihr damit noch mehr magische Kraft. Auch der Orden der Gooriaimiria gewinnt durch die weltweite Welle dunkler Zauberkraft mehr Kraft.
In Australien erwachen die vier letzten Schlangenmenschen Skyllians aus jahrtausendelangem Zauberbann und sorgen über mehrere Wochen für Angst und Unsicherheit, weil sie ihr Dasein ungehindert ausbreiten wollen. Nur die von Anthelia nach Australien geschafften Insektenmenschen, sowie ein machtvolles Ritual australischer Stammeszauberer am heiligen Berg Uluru dämmen die Ausbreitung von Skyllians letzten Dienern ein.
Julius Latierre nimmt an mehreren Hochzeitsfeiern teil. Bei der Hochzeit von Gabrielle Delacour und Pierre Marceau in einem abgelegenen Waldschloss bei Amien droht die Geheimhaltung der Zaubererwelt zu scheitern. Denn das Schloss wurde vom US-Geheimdienst CIA als Spionage und Überwachungsstätte benutzt. Nur Julius' Computerkenntnisse und der Zaubertrank Felix Felicis ermöglichen ihm, die drohende Enttarnung der Zaubererwelt zu verhindern.
Im Dezember bekommt die Familie Latierre Zuwachs. Zum einen wird den Eheleuten Hippolyte und Albericus Latierre ein Sohn geboren, der eine körperliche Besonderheit aufweist. Er besitzt zwölf Finger und zwölf Zehen. Zum anderen heiratet Hippolytes und Béatrices Cousin Gilbert seine amerikanische Kollegin Linda Knowles, mit der er den Betrug der US-Quidditchmannschaft bei der Weltmeisterschaft aufgedeckt hat.
Die ersten Wochen des Jahres 2004 verlaufen ohne erwähnenswerte Ereignisse. Doch die mit dem Schutz der magischen und nichtmagischen Menschen betrauten Ministeriumsbeamten wissen, dass diese Ruhe trügerisch ist. Tatsächlich nutzen die menschenfeindlichen Gruppierungen die Zeit, um bessere Ausgangsmöglichkeiten für weitere Aktionen zu schaffen. Die Sekte der erwachten Göttin errichtet auf jedem der sieben großen Erdteile einen magischen Stützpunkt, einen "Tempel der erwachtten Göttin". Birgutes nachtschatten erweisen sich als die mächtigsten Widersacher Gooriaimirias. Mit dem Machtanspruch Gooriaimirias unzufriedene Vampire erbeuten die Kenntnisse über die Standorte der sieben Tempel. Linda Latierre-Knowles und ihr Ehemann Gilbert erfahren bei einer heimlichen Reise nach Italien, dass Ladonna Montefiori offenbar schon wichtige Posten im Zaubereiministerium kontrolliert und muss nun zusehen, wie sie es denen beibringen können, die ihnen vertrauen.
Die Wochen zwischen Ende Februar und Mitte April werden sicher die anstrengendsten in der Laufbahn der Heilhexe Hera Matine. Denn in diesen Zeitraum fallen die von Vita Magica erzwungenen Geburten von mehr als siebenhundert neuen Zaubererweltkindern.
In Millemerveilles gab es nur selten Schnee. Dafür zog am Morgen des 27. Februars eine dichte Nebelbank über das magische Dorf in der Provence hinweg. Julius Latierre, der wie fast jeden Morgen nach dem Aufstehen einige Leibesübungen mit Schwermacher ausführte, grinste, als er die dichte, wabernde weiße Wand sah. Er streckte die Zunge heraus und schmeckte die feuchte Luft. "Nicht wie in London", dachte er bei sich, "aber dafür leckerer."
Chrysope, die noch keinen dichten Nebel kannte hatte erst ein wenig Angst, in dieses dichte weiße Zeugs hinauszugehen. Doch weil ihr Papa überhaupt keine Angst hatte lief sie ihm nach, als er nach dem Frühstück noch einmal hinausging, um das ganze zu genießen, während Millie sich mit Clarimonde beschäftigte. Aurore, die schon mal dichten Nebel mitbekommen hatte, probierte aus, wie weit sie sehen konnte. Dabei erschrak sie heftig, als mitten aus dem wabernden Weiß heraus ein Schatten vom Himmel herabfiel und erst in fünf Metern vor ihr als fliegende Eule zu erkennen war.
"Ey, die Eule hat mich erschreckt", knurrte Aurore und sah der Eule nach, wie sie den hauseigenen Briefkasten anflog und den im Schnabel beförderten Umschlag hineinschob. Keine fünf Sekunden stpäter flog die Waldohreule wieder davon. Scheinbar machte ihr der Nebel nicht so zu schaffen.
"Sah amtlich aus", sagte Julius, als er den zugestellten Brief ins Apfelhaus brachte. Millie wollte wissen, von wem der Brief war. Julius öffnete den Umschlag, zog zwei Pergamentblätter heraus und nickte. "Die offizielle Bestätigung meiner Freistellung für die Pflegehelferaufgaben im März und April", sagte Millies Mann und las ihr den amtlichen Brief vor.
"Sehr geehrter Monsieur Latierre,
auf diesem Wege wird Ihnen seitens der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe unter Mitwirkung des Büros für die friedliche Koexistenz von Menschen mit und ohne magische Fähigkeiten höchstamtlich beschieden, dass Sie für den Zeitraum zwischen 28.02. und 20.04.2004 von allen Anwesenheitsverpflichtungen innerhalb der Ihnen zugeordneten Dienststelle freigestellt sind, um im Rahmen der am 31.12.2003 eingereichten Beistandsanfrage seitens der in Millemerveilles niedergelassenen Heilerin Hera Matine als zertifizierter Pflegehelfer die im obigen Zeitraum erwarteten Geburten innerhalb Millemerveilles unterstützend zu begleiten. Wie bereits im Rahmen der Genehmigung dieser zeitweiligen Beiordnung erörtert genügt eine kurze auf dem Wege der Eulenpost versandte Mitteilung vor Dienstantritt, dass Ihre Anwesenheit in der Ihnen zugeordneten Dienststelle, sowie ihre Tätigkeit ebenda auf Grund der Beistandsanfrage nicht erfolgen kann, Diese Vorgehensweise erfolgt zum Zwecke der ordnungsgemäßen Dokumentation Ihrer dienstlichen Einsatzbereitschaft und Ausgestaltung der anfallenden Gesprächstermine und/oder außendienstlicher Obliegenheiten. . Wie in den Einzelgesprächen zwischen den dieses amtliche Schriftstück unterzeichnenden Dienststellenleiterinnen und -leitern mit Ihnen erörtert und beschlossen wird Ihnen für den obigen Zeitraum zugestanden, in Abwesenheit von der Ihnen zugeordneten Dienststelle schriftliche Aufgaben zu erledigen und diese nach Verfertigung auf dem Wege der Eulenpost an die betreffenden Dienststellen zu versenden, sofern die oben genannte Beistandstätigkeit dies zulässt.
Wie ebenso erörtert und seitens der für Ihre dienstlichen Obliegenheiten zuständigen Abteilungsleiter genehmigt erhalten Sie für den obigen Zeitraum trotz der mit der von uns positiv beschiedenen Beistandsanfrage eingeschränkten Einsatzbereitschaft Ihrerseits die Ihrer dienstlichen Betätigung zustehende Besoldung in voller Höhe unsererseits. Das Zaubereiministerium Frankreich wünscht allen in den nächsten Wochen um weitere Mitglieder anwachsenden Familien alles gute für die anstehenden Geburtsvorgänge und vor allem Gesundheit für alle Mütter und Kinder.
In der berechtigten Hoffnung, dass die Ihnen zugeteilten Tätigkeiten nach dem obigen Zeitraum wieder vollumfänglich von Ihnen wahrgenommen werden können verbleiben
mit hochachtungsvollen Grüßen
Simon Beaubois, Leiter Abteilung für magische Geschöpfe und Nathalie Grandchapeau, Leiterin Büro für friedliche Koexistenz von Menschen mit und ohne magische Befähigung"
"Oha, jetzt weiß ich wieder, warum ich nicht wie Martine ins Ministerium wollte", grummelte Millie, während Aurore und Chrysope ihrem Vater zuhörten, ohne zu verstehen, was er da vorlas und dementsprechend gelangweilt dreinschauten.
"Geh mal davon aus, dass sie auch so einen hochamtlichen Schrieb bekommen hat oder noch bekommt, Millie", sagte Julius. Seine Frau nickte zur Antwort.
"Öhm, was steht auf dem anderen Zettel?" fragte sie dann nach einer halben Minute. Julius prüfte es und sagte: "Das ist die hochamtliche Bestätigung für Madame Matine, dass sie im Rahmen des ihr genehmigten Beistandsantrags im Rahmen körperlich-seelischer Belastungsgrenzen über meine Zeit verfügen darf. Das gebe ich ihr besser gleich, bevor ich den letzten regulären Arbeitstag vor "obigem Zeitraum" verbringe", erwiderte Julius.
"Hauptsache, du bist heute abend bei der Zusammenkunft, wo wir die von Florymont und den anderen Thaumaturginnen und Thaumaturgen im Zusammenspiel mit Tante Trice und Hera entwickelten Rufglocken zugeteilt kriegen", sagte Millie. Julius nickte. Immerhin hatte er bei der ersten Zusammenkunft der Heilerinnen und Pflegehilfskräfte die Idee geäußert, es wäre doch sehr praktisch, wenn es ein ortsweites Rufsystem gäbe, das bestenfalls bei einsetzenden Senkwehen eine hier untergebrachte Hebamme und den oder die Pflegehelfer im zugeteilten Sektor alarmierte. In den letzten zwei Wochen hatten alle Thaumaturginnen und Thaumaturgen Millemerveilles mit Hera, Béatrice und den Laportes aus der Delourdesklinik dieses System ausgefeilt und auf jede gerade schwangere Hexe im Einzugsbereich Millemerveilles abgestimmt. Heute sollten alle nach Einreichen ihrer offiziellen Freistellungsgenehmigungen ihre Rufartefakte erhalten. Da wollte Julius garantiert keine Überstunde im Büro verbringen.
Als Julius sein Büro betrat fand er mehrere Pergamentzettel auf seinem Schreibtisch, alles noch hier und heute abzuarbeitende Sachen. Dabei waren auch Briefe aus London, Berlin und Brüssel, weil er mit den dortigen Dienststellen über eine bessere und schnellere Verständigung wegen der ihrer natürlichen Schatten beraubten Menschen verhandeln musste. Denen hatte er bei der Gelegenheit auch gleich mitgeteilt, dass alle Meldungen in dieser Angelegenheit ab dem 28. Februar bis zum 20. April an Pygmalion Delacour oder Belle Grandchapeau zu schicken waren. Ebenso fand er eine auf französisch verfasste Mitteilung aus Spanien, dass die Einrichtung einer gesonderten Überwachung der Landesgrenze zu Frankreich wegen der steigenden Bedrohung durch die Sekte der Vampirgöttin, sowie krimineller Werwölfe genehmigt sei und er, Julius Latierre, noch einmal eine genaue Beschreibung der nichtmagischen Verkehrswege zur Einrichtung der Prüfstellen übermitteln möge. Das erledigte er sofort und brauchte dafür die Zeit zwischen Dienstantritt und ihm von ganz oben vorgeschriebener Kaffeepause.
Um zehn Uhr traf er sich noch einmal mit allen Außendienstmitarbeiterinnen und Mitarbeitern Nathalie Grandchapeaus und erfuhr, dass die Anfrage nach weiteren Vampirblutresonanzkristallen vom Marie-Laveau-Institut positiv beschieden wurde. "Wir müssen damit rechnen, dass sowohl die fanatische Glaubensgemeinschaft der selbsternannten Göttin aller Nachtkinder auf weitere Mitglieder abzielt, als auch die sich selbst als Liga freier Nachtkinder bezeichnenden Vampire in der nichtmagischen Welt nach neuen Mitstreitern suchen, weil sie wohl davon ausgehen, dass unsere Überwachung dort nicht ausreicht. Leider trifft dies gerade in Städten wie Paris oder Marseille zu, da wir dort nicht jede Straße oder jedes Haus gesondert beobachten können und es auch nicht dürfen", sagte Belle Grandchapeau. Sie wirkte sichtlich angespannt. Dann fügte sie noch hinzu: "Ihr Einsatz für uns, Monsieur Latierre, hilft uns, zumindest neuralgische Punkte innerhalb von Städten mit den Frühwarn- und Vergrämungsartefakten namens Vampirblutresonanzkristall zu versehen und hoffentlich den Eindruck der ungehinderten Beeinträchtigung argloser Menschen ohne magische Befähigung zu entkräften. Der Kollege Charlier aus der Vampirüberwachungsbehörde ist sehr ungehalten, weil unser Büro diese neuartigen Aufspür- und Vergrämungsmittel zugestanden bekam und nicht seine ausdrücklich zur Erfassung und Begrenzung der Vampirpopulationen innerhalb Frankreichs arbeitende Unterabteilung. Ich gehe davon aus, dass er Sie, Monsieur Latierre, im Laufe dieses Tages und der kommenden Tage gerne diesbezüglich aufsuchen oder zu sich einbestellen wird."
"Einbestellen kann nur ein ranghöherer Beamter, Madame Grandchapeau. Er kann Monsieur Latierre höchstens in aller Form fragen, ob er bereit sei, sich mit ihm über den seiner Meinung nach ungerechtfertigten Vorrang unseres Büros vor seinem zu unterhalten, sofern der Kollege Beaubois nicht aus seiner Warte heraus beschließt, dass die uns zugestandenen 200 VBR-Kristalle nicht zu gleichen Teilen zwischen uns und der Vampirüberwachungsbehörde aufzuteilen sind", schaltete sich Nathalie Grandchapeau in diesen Teil der Besprechung ein. "Zumindest hat Monsieur Beaubois mir gegenüber angedeutet, dass er sich den Argumenten des Kollegen Charlier nicht gänzlich verschließen könne. Daher möchte ich als Leiterin dieses Büros Sie, Monsieur Latierre, fragen, ob Sie im Anschluss an diese Lagebesprechung mit mir zu einem Treffen zwischen Monsieur Beaubois und Monsieur Charlier mitgehen möchten." Julius bejahte es. Damit stand fest, dass er wohl die ihm zugeschusterten Aufgaben nicht mehr heute schaffen konnte. Sollte er sich welche davon mit nach Hause nehmen? Sowohl Millie als auch Béatrice würden ihm was erzählen, wenn er seine dienstfreie Zeit mit dem Nachholen liegengebliebener Aufgaben verbrachte. Abgesehen davon waren einige der zu erledigenden Sachen schon im Bereich S3, weil sie die Abstimmung über nichtöffentliche Unternehmungen zur Kontrolle feindseliger Zauberwesen betrafen.
Als Nathalie und Julius zu Simon Beaubois gingen und ihn fragten, ob er die Angelegenheit mit der Vampirüberwachung noch heute besprechen und hoffentlich zu einem für alle Seiten annehmbaren Ergebnis bringen wolle sagte der Leiter der Abteilung für magische Geschöpfe: "Soweit ich erfuhr hält sich der Kollege Boris Charlier derzeitig nicht in seinem Amtszimmer auf, sondern ist mit seinen drei Experten für südosteuropäische und nordafrikanische Vampire im kleinen Konferenzraum in clausuram sub Rosa. Er bat mich jedoch darum, Sie, Nathalie, darum zu bitten, seiner Behörde 150 Vampirblutresonanzkristalle zur Verfügung zu stellen. Sollten Sie dieser Bitte nicht entsprechen wollen behält er sich eine interne Beschwerde wegen ungerechtfertigtem Vorenthalts kritischer Ausrüstungsgüter vor. Allerdings erkenne ich die Notwendigkeit einer weniger lückenhaften Vampirüberwachung vor allem in dicht besiedelten Wohngebieten an und frage deshalb, ob Sie ihm nicht zumindest 50 dieser Kristalle zubilligen können. Denn soweit ich verstehe braucht er sie für seine Außendienstmitarbeiter."
"Simon, nichts für ungut. Aber Monsieur Charlier stand und steht es frei, das Marie-Laveau-Institut in New Orleans selbst zu kontaktieren und diesem die Notwendigkeit an seine Dienststelle gehender VBR-Kristalle zu erläutern. Dass wir diesen großzügigen Posten dieser neuen Kristalle erhalten haben liegt doch nur daran, dass Monsieur Latierre hier mit den Entscheidungsbevollmächtigten des LIs übereinkam, dass die fanatisierten Vampire vorrangig außerhalb der magischen Welt operieren und wir nicht darauf hoffen dürfen, dass sie es nur bei wenigen Aktionen in der nichtmagischen Welt bewenden lassen."
"Ja, und Monsieur Charlier wirft Ihnen vor, mit unmagischen Methoden die schnelle Absprache in dieser Angelegenheit herbeigeführt zu haben, womit er wohl die von ihrem Büro genutzten Elektrorechner mit Nachrichtenübermittlungsvorrichtungen meint."
"Wie lange ist eine Eule zwischen Europa und den Staaten unterwegs, wenn sie nicht durch das Flohnetz geschickt wird?" fragte Julius, nachdem er ums Wort gebeten hatte. Beaubois runzelte die Stirn und wiegte den Kopf. Dann sagte er: "Die schnellste Eule, die ich je dorthin sandte brauchte für Hin- und Rückflug dvier Wochen. Seitdem nutze ich das Vorrecht des Büro- oder auch jetzt Abteilungsleiters, Blitzeulen zu versenden. Die sind innerhalb von fünf Minuten am Zielort."
"Ja, und wenn ich einen Brief auf einem Rechner schreibe und als elektronische Post verschicke ist der in fünf Sekunden am Ziel. Warum sollten wir diese Möglichkeit nicht ausnutzen?" fragte Julius.
"Weil nur das Büro für friedliche Koexistenz über diese Ausrüstung verfügt. Wer aus anderen Büros und Abteilungen Anfragen hat muss weiterhin auf Eulen und Flohpulver zurückgreifen", sagte Beaubois. "Zudem kommt für den Kollegen Charlier noch hinzu, dass seine Leute offenbar nicht mit wirklich entscheidungsbevollmächtigten Leuten im Laveau-Institut Kontakt haben. Die Sache mit den Lykanthroskopen hat ja auch gezeigt, wie lange es dauern kann, bis von dort eine Rückmeldung erfolgt."
"Da möchte ich gerne einhaken, Simon. Die Anfrage wegen der Lykanthroskopen erfolgte von Monsieur Vendredi an dessen Kollegen in den Staaten, der wiederum das Laveau-Institut fragen oder gleich instruieren musste. Soweit ich weiß hat Monsieur Latierre hier allen mit Werwölfen, Vampiren und Geistern befassten Unterbehörden Ihrer Abteilung seine Kontaktmöglichkeiten zum Laveau-Institut ausgetauscht, damit diese ebenfalls ihren Dienststellen betreffende Anfragen oder Hilfsgesuche stellen können."
"Ja, und wie Sie ebenso wissen, Nathalie, hat der US-amerikanische Zaubereiminister Dime, als er noch unbescholten im Amt war derartige Anfragen direkt an das Laveau-Institut für unzulässig erklärt und damit gedroht, alle von dort ins Ausland zu versendenden Ausrüstungsgüter beschlagnahmen zu lassen und dass ministerielle Anfragen immer an die betreffenden Gegenstellen in seinem Zaubereiministerium zu richten seien. Sein Nachfolger Buggles teilt diese Auffassung und hat keine Änderung dieser Kommunikationspraxis in Aussicht gestellt."
"Weil das von seinem Flohregulierungsrat überwachte Flohnetz jede aus dem Ausland eintreffende Eule überprüft", sagte Nathalie und schien zusammenzuschrecken. Sie verharrte einige Sekunden wie in nachdenklicher Haltung. Julius wagte es nicht, in diese Pause hineinzusprechen. "Dann bleiben uns eben nur die elektronischen Wege, direkt mit dem Marie-Laveau-Institut zu verhandeln", sagte Nathalie.
"Und ich fürchte, der Kollege Chalier könnte Sie ernsthaft damit bedrängen, dass Sie sozusagen an ihm und dem US-Kollegen vorbei mit dem LI unterhandelt haben", wandte Simon Beaubois ein.
"Deshalb wäre es hier und jetzt sehr günstig gewesen, wenn der Kollege Charlier diesem Gespräch hätte beiwohnen können", erwiderte Nathalie Grandchapeau ein wenig ungehalten. "Ich bin durchaus bereit, seinen Leuten fünfzig dieser Kristalle zu überlassen. Falls er mehr benötigt steht es ihm frei, mich um Unterstützung für eine Anfrage an das Laveau-Institut zu bitten, ich werde sie ihm nicht versagen."
"Wie ich schon andeutete kann ich mich seiner Argumentation bezüglich der Einsetzbarkeit dieser Kristalle nicht verschließen, Nathalie. Sie möchten damit Gebäude und Einrichtungen des öffentlichen Interesses überwachen, ob dort Vampire im Umkreis von 200 Metern auftauchen und sich bewegen. Er hingegen möchte mit den Kristallen gleich gegen unerlaubt auftauchende Vampire vorgehen und damit die Schlagkraft dieser menschenfeindlichen Organisation verringern. Wenn er meint, dass er nicht nur seine fünfzig Außeneinsatzbediensteten damit ausstatten muss, sondern auch magisch angetriebene Aufspür- und Zielbekämpfungsartefakte, so dient dies wohl eher einer flexiblen Gefahrenerkennung und -bekämpfung als Ihre reine Überwachungsstrategie. Im Ernstfall müssen Sie ja sowieso seine Mitarbeiter um Beistand bitten", sagte Beaubois. Julius wiegte den Kopf und schwieg weiter. Nathalie antwortete:
"Diese Kristalle dienen nicht allein der Erfassung, sondern auch der dauerhaften Vergrämung von Vampiren und somit der ständigen Gefahrenvermeidung für im Wirkungsbereich lebender und arbeitender Menschen. Insofern dient unsere Überwachungsvorkehrung mehr dem Ziel, eine gewaltsame Rekrutierung von weiteren Mitstreitern der einen oder der anderen Gruppe von Vampiren zu verhindern, als ein mit gewissem Getöse vorgetragener Kampfeinsatz, ob durch lebende oder magisch animierte Einsatzkräfte und -mittel."
"Monsieur Charlier bat mich darum, zu befinden, ob Sie, Monsieur Latierre, Ihre Kompetenz was die Verwendung der elektrischen Rechner und Nachrichtengerätschaften angeht, nicht überschritten haben. Allerdings erreichte mich eine Mitteilung von Ministerin Ventvit, dass diese Sie, Monsieur Latierre, in persönlicher und hochvertraulicher Besprechung beauftragt hat, mit den Ihnen zu Gebote stehenden Mitteln alle Ihnen bekannten magischen Organisationen zu kontaktieren, die sich dem Erhalt und dem Schutz von Menschen verdingt haben. Daher kann ich die Bitte Monsieur Charliers nicht erfüllen und Ihnen untersagen, die elektrischen Geräte des Büros für friedliche Koexistenz für außerministerielle Anfragen zu benutzen."
"Nun, in dem Fall wäre wohl auch ich eher dazu weisungsberechtigt, Simon, da diese Geräte in meine Zuständigkeit fallen und ich Monsieur Latierre ausdrücklich damit beauftragt habe, das von der Ministerin geäußerte Anliegen dahingehend zu erweitern, nicht nur um einen besseren Informationsaustausch, sondern auch um einen beiderseitig erfolgenden Ausrüstungsaustausch zu bitten. Wenn der Kollege Charlier und auch der US-Zaubereiminister darüber ungehalten sind steht es dem Kollegen Charlier frei, mit Hilfe meiner Mitarbeiter eigene Anliegen an das Laveau-Institut oder die Liga gegen dunkle Künste zu richten."
"Sie wissen sicherlich genauso wie ich, dass Monsieur Charlier der Verwendung nichtmagischer Nachrichtenmittel und Informationsspeicher sehr kritisch gegenübersteht", sagte Beaubois. Daraufhin verfiel Nathalie wieder für zwei Sekunden in eine Haltung, als müsse sie in sich hineinlauschen. Julius wollte schon ansetzen, was zu erwidern, als Nathalie sagte: "Nun, er lehnt es wohl deshalb ab, weil seine Familie die größte Posteulenzucht Frankreichs hat und mit den besten Eulen daraus das Ministerium und alle magischen Postämter des Landes versorgt. Abgesehen davon, dass seine Schwester im Flohregulierungsrat sitzt und womöglich fürchtet, dass erst die Kontaktfeuer und Blitzeulenversendung und später vielleicht auch das Reisen via Flohnetz durch nichtmagische Technologien ersetzt werden könnte, was von unserer Seite her als völlig grundlose Furcht angesehen wird."
"Moment mal, Nathalie: Sie unterstellen dem Kollegen Charlier persönliche Motive für seine Ablehnung nichtmagischer Mittel?" wollte Simon Beaubois wissen. "Abgesehen davon, woher wissen Sie bitte, dass seine Familie die größte Eulenzucht betreibt. Das Ministerium erhält alle Posteulen doch von den Geschwistern Bleumont."
"Ja, und Monsieur Boris Charlier ist Anteilseigner an dieser Farm, weil er der Schwager von Alain Bleumont ist", sagte Nathalie Grandchapeau. Simon Beaubois verzog das Gesicht und erwiderte: "Ich möchte Sie sehr bitten, nicht weiter derartige Vermutungen zu äußern, Nathalie. Es könnte uns sonst widerfahren, dass das Ministerium keine jungen Posteulen mehr erhält oder sehr viel höhere Preise pro Eule zu zahlen hat. Wir beide kennen die sehr große Achtsamkeit von Monsieur Colbert, was ministerielle Ausgaben angeht."
"Ich hoffe sehr, dass Sie als ehemaliger Leiter der Geisterbehörde nicht einer bisher unbegründeten Furcht erlegen sind, ein Interessenskonflikt mit dem Kollegen Charlier könnte einen Enpass in der Verfügbarkeit von Posteulen herbeiführen. Sie haben doch in Ihrer Laufbahn sicher schon wesentlich beängstigendere Gegebenheiten überstanden", raunte Nathalie Grandchapeau.
"Ich wollte Sie nur darauf hinweisen, dass irgendwelche Vermutungen gegenüber der Haltung von Kollegen nicht zu deutlich geäußert werden sollten, wo wir hier im Grunde alle in irgendeiner Weise mit Leuten in Kontakt sind, die das eine oder andere zu bieten haben, was für uns interessant bis existenziell ist. Ich denke, da stimmen Sie beide mir zu." Nathalie und Julius nickten. Nathalie erwähnte dann noch, dass sie der Behörde Charliers 100 Kristalle überlassen würde, mahnte jedoch an, dass dann die vorgesehene Überwachung wieder sehr lückenhaft ausfallen würde und sie von den 200 möglichen Angriffszielen der Vampire nur 100 absichern könne. Beaubois nickte. Dann sagte er: "Dann ist von meiner Seite her nichts mehr zu sagen, Nathalie. Bitte klären Sie es mit dem Kolegen Charlier persönlich ab, wie Sie mit der großzügigen Zusage des Laveau-Institutes verfahren." Julius bat noch einmal ums Wort.
"Auch wenn es Minister Buggles in den USA und dem Kollegen Charlier missfällt, dass ich direkt mit dem Laveau-Institut Kontakt aufgenommen habe, so muss ich wiederholen, was Madame Grandchapeau und ich als Grundlage dieser Anfrage festgelegt haben: Die Vampire dieser sogenannten großen Mutter aller Nachtkinder können auf eine dem Portschlüssel ähnelnde Weise fast zeitlos an einem Ort erscheinen und dort zuschlagen. Wenn sie ihren Auftrag erledigt haben können sie ebenso wieder verschwinden. In den Appariergesetzen wird ausdrücklich verboten, nichtmagische Menschen aus einer nichtmagischen Behausung oder Ansiedlung heraus per Disapparition mitzunehmen, auch weil dieser Vorgang innerhalb weniger Sekunden stattfinden kann. Die Vampire dieser Blutgöttin halten sich nicht an die Zaubererweltgesetze, ja entziehen sich deren Vollstreckung. Wenn diese Blutgöttin befiehlt, einen Blutfachmann aus einer Universität zu entführen kann das in eben nur drei Sekunden erledigt werden, zu schnell, um unsere Vampirbekämpfungstruppe dorthin zu bringen, selbst wenn auch diese apparieren können. Eine ständige, Vampire wirksam abschreckende Vorrichtung vor Ort kann einen solchen Angriff im Keim ersticken. Wie Madame Grandchapeau vollkommen richtig erwähnte können wir im Moment 200 Gebäude und die darin anwesenden Personen absichern. Mit nur 100 geht das eben nur bei 100 Gebäuden oder öffentlichen Plätzen."
"Wie erwähnt klären Sie dies bitte mit dem Kollegen Charlier. Ich von meiner Seite her kann und werde keine Beschlüsse in dieser Angelegenheit treffen, da mir durch Ministerin Ventvits direkten Auftrag an Sie die Hände gebunden sind, Monsieur Latierre. Falls Sie beide kein weiteres Anliegen haben möchte ich Sie bitten, mich meinen weiteren Aufgaben zu überlassen." Nathalie stand schon auf als Julius noch sagte: "Ich habe mit Madame Brickston gesprochen, ob und wie das Ministerium die Absicherung von häufig besuchten Orten vor Übergriffen dieser neuen Nachtschatten gewährleisten kann oder ob hierfür die Hilfe der Liga gegen dunkle Künste in Anspruch genommen werden soll. Im Rahmen meiner Entscheidungsvollmacht bat ich sie darum, alle mit der Abwehr von Nachtschatten und der Ausführung von Sonnenzaubern kundigen Ligamitglieder zu fragen, wie genau eine solche Absicherung durchgeführt werden kann und wie groß der Aufwand an Arbeitszeit und Material sein dürfte. Bis zu welchem Kostenpunkt darf ich derartige Möglichkeiten planen lassen?"
"Öhm, Lassen Sie diese Kosten erst einmal ausrechnen und teilen Sie mir dann persönlich oder auf dem Wege der Eulenpost mit, wer wie und für wie viel damit befasst sein wird. Sollte ich als ehemaliger Büroleiter der Geisterbehörde erkennen, dass diese Maßnahmen nicht nur nützlich sondern zum Schutz von unbeteiligten Menschen dringend erforderlich sind werde ich mit Monsieur Colbert die Frage nach den Ausgaben erörtern. Allerdings versteht es sich von selbst, dass Sie mir genügend Material zur Verfügung stellen, um die Verhandlung mit genug Argumenten und nachprüfbaren Belegen führen zu können. Danke!"
Julius bestätigte diese Mitteilung und verabschiedete sich mit Nathalie von Simon Beaubois.
"Sie kommen Bitte noch einmal mit mir in mein Büro, Monsieur Latierre", sagte Nathalie. Julius bejahte es.
"Wusste ich es doch, dass Charlier den guten Simon wegen der Eulen unter Druck setzt", hörten Nathalie und Julius Demetrius' Stimme durch die Cogison-Ohrringe. "Boris Charlier hat Bleumonts kleine Schwester deshalb geheiratet, weil Bleumont ihm einen guten Anteil an der Eulenzucht und Lizenzierung angeboten hat. Immerhin wollte seine Familie damals die ganze französischsprachige Zaubererwelt mit Eulen versorgen. mein Erzeuger hat damals sogar mit Belles da-längst-noch-nicht-Schwiegervater die Bedingungen für einen regelmäßigen Austausch der Posteulen ausgehandelt. Charlier war dabei, auch weil er die besonders nachtsichtigen Exemplare für seine Einsatztruppe einhandeln wollte, die nicht nur Post zustellen, sondern Brandvorrichtungen an bestimmten Orten anbringen konnten und zudem auf die Geruchs- und Geräuschsmerkmale von Vampiren in Menschen- oder Fledermausgestalt abgerichtet wurden. Offenbar hat er diesen Trumpf bei Simon in die Waagschale geworfen. Nur dein von Ornelle persönlich erteilter und schriftlich fixierter Auftrag hat Simon davon abgehalten, dir das Anschreiben von Davidson & Co. zu verbieten."
"Will sagen, Charlier besitzt einen - öhm - guten Einfluss auf die Entscheidungen einzelner Abteilungsleiter?" fragte Julius den auf seine Wiedergeburt wartenden Ex-Zaubereiminister.
"Schön formuliert, Julius. Ich könnte es aus Mamans schützendem Schoß heraus auch glatt als Erpressungsmotiv bezeichnen. Auch wusste längst nicht jeder im Ministerium, dass Charlier mit den Bleumonts Verschwägert ist. Dass der gute Simon so heftig reagiert hat, wenn deine Introsenso-Bezauberung mich da nicht getäuscht hat, Maman Nathalie, hat Charlier ihm das wohl vorgehalten, dass demnächst weniger Eulen für das Ministerium fliegen."
"Das war eine Möglichkeit, warum Charlier was gegen Computer hat, Demetrius. Viele Leute aus der Zaubererwelt lehnen die nichtmagische Technik ab, zu laut, mit fragwürdiger Energie angetrieben, deshalb auch mal stinkend, überhaupt unzauberisch", sagte Julius. Nathalie nickte. "Ich wundere mich nur, dass der werte Boris Charlier mich nicht entsprechend bereden wollte." Darauf cogisonierte Demetrius: "Weil er nicht will, dass es im Ministerium herumgeht, dass er eine sehr gute Verbindung zu den führenden Eulenzüchtern hat. Kann mir vorstellen, dass der und Louvois sich garantiert sehr gut verstanden hätten, wenn er denn gewählt worden wäre."
"Soweit ich während des ersten Jahres hier gelernt habe sind die Eulen hier nicht das Eigentum des Ministeriums, sondern gegen einen Viertel des Kaufpreises plus einer jeden Monat erfolgenden Zahlung von fünf Sickel pro Eule Verwendungsgebür vermietet, was auch beinhaltet, dass die Posteulen nur acht Jahre in Verwendung bleiben und dann in die Eulenzucht zurückkehren, aus der sie stammen. So ähnlich läuft das auch bei Fabrikanlagen, die die Betreiber nicht kaufen können oder wollen, aber auch eine Wartung und einen Austausch überalterter Anlagen gegen neuere, leistungsfähigere beinhaltet."
"Die Bleumonts züchten die schnellsten Eulen Frankreichs. Eine schnelle und ausdauernde Eule kann bis zu fünfhundert Galleonen kosten, womit Bleumont die weniger schnellen Eulen für die unteren Einkommensgruppen zu einem Spottpreis von gerade fünf Galleonen anbiten kann", cogisonierte Demetrius. Seine Trägerin fügte dem noch hinzu: "Auch eine Form von sozialem Ausgleich. Aber die Bleumont-Geschwister haben dadurch alle aussichtsreichsten anderen Eulenzüchter vom Markt verdrängt, und das schon vor zweihundert Jahren, bevor die in der nichtmagischen Welt gebräuchlichen Begriffe "Dumpingpreise" und "Monopolstellung" von Jedermann verwendet wurden."
"Will sagen, die haben die Vollpanik, dass durch unsere Computer deren Postmonopol kaputtgeht?" fragte Julius. "Falls es sich als sehr nützlich erweist, dass mit diesen Geräten innerhalb einer Stunde hunderte von Nachrichten zwischen den Kontinenten ausgetauscht werden. Wohl deshalb ist es wohl ratsam, dass wir diese Technik vorerst nur für unsere festgelegten Zwecke nutzen."
"Weil Colbert sonst hinterfragen könnte, ob Computer nicht für den Nachrichtenverkehr in allen Ministeriumsabteilungen eingesetzt werden können", sagte Julius. Nathalie nickte und Demetrius bejahte über das Cogison. Julius wusste, dass längst nicht jeder Zaubererhaushalt die neue Technik hatte oder gar haben wollte, zumal viele auch ganz ohne elektrischen Strom auskommen mussten. Wenn dann der Marktbeherrscher für Posteulen drohte, dass er das Ministerium nicht mehr mit jungen Eulen belieferte konnte dieses seine Aufgaben nicht mehr erfüllen. Das war schon ein sehr heftig gutes Erpressungsmittel. Allerdings konnte ein Boris Charlier nicht darauf aussein, das Zaubereiministerium lahmzulegen oder gar vollkommen unbrauchbar zu machen. Außerdem hätte er sich dann ja selbst um das Ministeramt bewerben können, als sich Louvois, Lesfeux, Montpellier und Ventvit darum beworben hatten.
"Wie dem auch sei, Julius, ich biete Boris Charlier die hundert Kristalle an, wenn er dadurch riskieren möchte, dass hundert wichtige Örtlichkeiten ungeschützt bleiben müssen", sagte Nathalie. Julius stimmte ihr zu.
Wieder zurück in seinem Büro schaffte er bis zum Mittagessen noch einen Teil der schriftlichen Aufgaben. Dann traf er sich mit Martine und ihrer angeheirateten Verwandten Britta Gautier im Speisesaal. Die schwedischstämmige Ministeriumsmitarbeiterin wirkte ein wenig gelangweilt, wohl weil sie bis Ende Juli nicht mehr an außeneinsätzen teilnehmen durfte. Denn auch sie trug Nachwuchs in sich.
"Dann kriegt eure Tante Béatrice jetzt eine Menge Übung in Geburtshilfe", sagte Britta zu Martine und Julius.
"Nicht nur die, auch wir Pflegehelferinnen und Pflegehelfer", sagte Julius. Martine nickte zustimmend und ergänzte: "Vor allem wird das anstrengender als im Büro zu sitzen und Schreibkram zu erledigen. Da bin ich froh, dass Julius und ich uns immer noch gut in Form halten und wir beide sehr gute Apparatoren sind."
"Ich bin auch gespannt, wen ich da im Juni zur Welt bringe", sagte Britta. "Aber wenn ich mir Ursuline oder Millie ansehe hoffe ich zumindest, dass es die Anstrengung und die sicher aufkommenden Schmerzen wert sind, das mehr als einmal durchzustehen." Martine meinte dazu, dass sie im Moment nicht wisse, ob sie nach Héméra noch ein zweites Kind bekommen wolle, aber dann, wenn es soweit sei, sicher auch nicht verstimmt sei.
Am Nachmittag erledigte Julius tatsächlich noch alle Aufgaben, auch wenn er dafür eine halbe Stunde länger im Büro blieb. Entsprechend erschöpft und mit dem Tag fertig kehrte er nach Millemerveilles zurück. Er schaffte es aber noch, die übliche Tobestunde mit seinen größeren Töchtern zu überstehen.
Von Ursuline und ihren Töchtern Esperance und Félicité beaufsichtigt blieben Aurore, Chrysope und Clarimonde im Apfelhaus, als Béatrice mit Millie und Julius zu Hera Matines Haus apparierte. Dort trafen sich alle Heilerinnenund die Pflegehelfer. Auch FlorymontAmélie Bouvier, selbst bald Mutter von drei Kindern, waren anwesend. Sie präsentierten ein auf eine große Magische Landkarte mit Namensmarkierungen und modifizierte Wehenwarn-Armbänder abgestimmtes Gefüge, bei dem die Landkarte und die auf die Namen geprägten Rufweiterleitungssteine in einem Holzbottich so groß wie eine kleine Hütte auf dem neu angelegten Dorfteich schwimmend verblieben. Heilerinnen und Pflegehelferinnen und Pflegehelfer erhielten je eine Glocke, wobei die Heilerinnen goldene und ihre Hilfskräfte silberne Glocken bekamen. Die Glocken waren ähnlich wie die Schlüssel zu vielen Häusern in Millemerveilles auf die Namen der Benutzer geprägt. Daher musste sich jeder, der oder die eine solche Rufglocke erhielt, mit Namen und dem Zusatz Heilerin oder Pflegehelfer oder Pflegehelferin vorstellen. Als Julius das mit seiner Silberglocke tat erwärmte diese sich und vibrierte einige Sekunden. Er fühlte, wie leichte Schauer durch seinen Körper gingen. Dann erschien auf der Außenseite der Glocke der Schriftzug: "Ich bin für Pflegehelfer Julius Latierre". Dieser mondlichtfarben glimmende Schriftzug erlosch nach zehn Sekunden. Damithatte Julius seine persönliche Rufglocke.
"Die Heilerinnen unter euch können durch hineinrufen in ihre Glocke, sobald diese geläutet hat, erfragen, welche Heilerinnen gerade einsetzbar sind. Trifft eine der Heilerinnen bei der Gebärenden ein, deren Wehen den Ruf ausgelöst haben, so erfasst unsere Verknüpfung das und weist die betreffende Heilerin als im Einsatz aus oder zeigt sie bei einer Verfügbarkeitsanfrage nicht an. So könnt ihr euch vergewissern, wer gerade einsatzbereit ist, statt alle zugleich an einen Ort apparieren", sagte Florymont. "War nicht einfach, das so abzustimmen. Aber mit der Hilfe meiner Nachbarinnen Bouvier, Duchamp und Monier ist es gelungen, dass wir dieses Ruf- und Verständigungsverfahren noch vor dem ersten März einsetzbar hinbekamen. An alle Ideengeber und Fachkundigen noch einmal vielen Dank", sagte Florymont Dusoleil.
Die hier versammelten Heilkundigen und Pflegehelfer bedankten sich bei den Zauberkunsthandwerkern für die Arbeit und hofften, dass die Verständigung im Ernstfall gelang. Florymont hoffte das auch, obwohl er und die anderen dieses Verständigungssystem mehrmals unter höchster Belastung getestet hatten, bevor sie es auf jede schwangere Hexe abgestimmt hatten. Als nun alles erklärt und die kleinen Rufglocken übernommen worden waren kehrten die Latierres in ihr rundes Haus zurück.
"Hera hat sich jetzt auf die Zeit zwischen morgen und dem dritten März festgelegt", sagte Béatrice. Julius fragte nicht, um wen es genau ging. Denn weil Camille und er in den fünf Tagen nach Errichtung des Lichternetzes mindestens viermal so schnell gealtert waren war Camille allen anderen schwangeren Hexen in Millemerveilles um gut zwei Wochen voraus.
Der Dorfrat hatte beschlossen, das Gründungsfest von Millemerveilles dieses Jahr auf kleinere Privatfeiern zu verteilen, da ja jede Hexe jederzeit wegen der anstehenden Geburt ausfallen mochte und die werdenden Väter da auch nicht gerade bei etwas anderem sein wollten als ob die vielen Kinder alle gesund auf die Welt kamen.
"Und was wird dann mit dem Kunstfestival, was wir im letzten Sommer beraten haben?" fragte Julius. "Das findet dann im nächsten Jahr statt. Bis dahin steht dann auch das Komitee für den Prix Millemerveilles", erwiderte Millie und ergänzte, dass das alles in der morgigen Ausgabe der Temps stehen würde.
"Und es bleibt dabei, dass du keinen Namen von den Neugeborenen in die Zeitung setzen willst?" fragte Julius. Millie erwiderte, dass sie das mit den werdenden Müttern so beschlossen hatte. Denn die wollten nicht, dass ihre Kinder gleich nach der Geburt im ganzen Land als VM-Kinder bekannt waren. "Ich werde nur reinschreiben, wann wieder eine Hexe Mutter geworden ist und von wie vielen Kindern, damit die da draußen es begreifen, was uns VM aufgeladen hat."
"Die werden das ganz sicher auch begreifen", erwiderte Julius und meinte Vita Magica. Dann fragte er Millie und Béatrice, ob sie ihre Posteulen von den Geschwistern Bleumont hätten, weil er heute gehört habe, dass die eine ser beherrschende Stellung auf dem Eulenmarkt haben sollten.
"Bleumonts Eulenmonopol, Julius? Haben wir nicht nötig, von denen welche zu kaufen, weder die flügellahmen fünf-Galleonen-Eulen noch die superschnellen fünfhundert-Galleonen-Feger", sagte Béatrice. Millie nickte heftig. "Komisch, dass du mich da bisher nie nach gefragt hast, wo wir Latierres unsere Eulen herhaben. Die kriegen wir von den Corbeaus, die mit uns Latierres verwandt sind, zu einem festgelegten Familienpreis oder als Geschenk, jedenfalls sehr gute und schnelle Eulen, so wie dein Francis", sagte Millie. Julius nickte. "Die Bleumonts wissen, dass die Eauvives und latierres eigene Eulen züchten, aber die eben nur für ihre Verwandtschaft."
"Ja, und der Rest muss sich dann Eulen von Bleumont zulegen? Wundere mich, dass ich wegen meines Besens damals Stress mit Dedalus bekam, aber nicht wegen meiner Eule", sagte Julius.
"Ach, du meinst, Beaux hätte dich auch dazu verdonnern müssen, eine französischstämmige Posteule zu halten?" fragte Millie. "Soweit mir Gilbert das erzählt hat haben die Bleumonts es echt versucht, eine Fremdeulensteuer durchzusetzen. Das ist aber daran gescheitert, dass der damalige Zaubereiminister Grandchapeau mit Midas Colbert den zu hohen Aufwand gegenüber den Einnahmen errechnet hat und diese Steuer dann eben nicht eingeführt wurde. Wenn du dieses Thema jetzt aufmachst hast du sicher heute erst mitbekommen, dass das Ministerium sich exklusiv von Bleumont beliefern lässt und deren Eulen nur acht Jahre im Ministerium verbleiben, bis sie gegen jüngere ausgetauscht werden und die außer Dienst genommenen Eulen in die Nachzucht reingeholt werden. Hätte ich dir auch schon vor vier Jahren sagen können, als du dich im Ministerium bewerben wolltest, Julius."
"Offenbar empfindet jemand, der oder die Verbindungen zu den Bleumonts hat, die Ministeriumsrechner als gefährliche Konkurrenz. Dabei hat erwähnter Monsieur Colbert bei der Anschaffung der Ausrüstung klargestellt, dass nur wir im Büro für friedliche Koexistenz sowas benutzen dürfen, weil ja sonst erst mal das ganze Ministerium in einem nichtbezauberten Gebäude angesiedelt werden müsste und dann auch noch mehr elektrischen Strom verbrauchen würde."
"Huch, wer hängt denn bei euch mit den Bleumonts zusammen und hat Angst vor euren Elektrorechnern?" fragte Millie.
"Sagen wir es so, diese Person möchte keinen Wert darauf legen, dass sie mit Bleumont verwandt ist. Sonst hätte ich den Namen genannt", sagte Julius. Millie warf ihm dafür einen tadelnden Blick zu. Béatrice sagte dann: "Klar, weil dieser Zauberer oder diese Hexe ja dann ein potentieller Erpresser sein könnte, wenn er oder sie dem Ministerium androht, das Bleumont keine jungen Eulen mehr nachliefert. Dann muss dieser Mensch aber auch sehr ruhig bleiben, damit das nicht doch noch wem auf die Nerven geht. Aber ich weiß natürlich, wen du meinst, Julius, weil Maman bei der Hochzeit zwischen der Person und einem Mitglied der Bleumonts dabei war. Ist zwar schon dreißig Jahre her, aber war für Ma und die gute Antoinette Eauvive eine interessante Schau, weil ein Waldkauzmännchen und ein Weibchen die Ringe gebracht haben, wobei das Männchen den für die Braut und das Weibchen den für den Bräutigam zugestellt hat." Millie und Julius nickten. Dann grinste Millie. "Och joh, euer Vampirbändiger ist das also, Julius. Hat Oma Line auch Tine und mir mal erzählt, wie ein junger Bursche aus Südosteuropa die jüngste von den damals noch drei unverheirateten Schwestern der Brüder Bleumont geheiratet hat. Die wollten aber nicht raushängen lassen, dass sie den Bräutigam aus den Karpaten importiert haben. Deshalb musste der sich umbenennen, bevor er geheiratet hat. Früher hieß der Mensch Boris Karlow. Zu Liebe seiner Anverwandten hat er sich dann Charlier genannt und sich als Überseefranzose ausgegeben. Tatsächlich stammt er aus Bulgarien, was damals auch in der Zaubererwelt nicht gerade einfach mit Frankreich auskam."
"Kapiere, deshalb möchte der Herr nicht die ganz große Pauke hauen", erwiderte Julius, der einsah, dass die Diskretion mit dem Namen des Kollegens nicht mehr funktionierte. Millie meinte dann: "Ja, weil das für Bleumonts Familie garantiert total peinlich wäre, wenn nach dreißig Jahren immer noch rauskäme, wo der heutige Monsieur Charlier mit seiner Frau sieben Kinder hingekriegt hat und es noch etliche Hexen und Zauberer gibt, die nicht so gut auf aus dem Ausland stammende Zauberer zu sprechen sind, wo der vom eigenen Todesfluch aus der Welt gebrutzelte dunkle Lord ja auch etliche Leute da für sich gewonnen hat."
"Gut, ich habe es schon gemerkt, dass die mich in Beauxbatons immer mal befremdet angeguckt haben. Aber ich habe das auf meine nichtmagische Abstammung geschoben. Aber am Ende kam ich doch ganz gut zurecht. Zumindest hat es weder Claire, noch Belisama noch dich davon abgehalten, mit mir gut befreundet bis verheiratet sein zu wollen."
"Weil die Dusoleils eben die Sonne im Herzen tragen und wir Latierres für alles gute und neue sehr empfänglich sind", sagte Millie. Béatrice bestätigte es durch nicken.
"Auf jeden Fall dürfte sich euer Vampirbüroleiter mit irgendwelchen Drohungen wegen der Eulen zurückhalten", sagte Millie noch. Julius bestätigte das, auch wenn es ihm missfiel, dass es in der französischen Zaubererwelt nicht nur eine gewisse Ablehnung von Kindern aus der nichtmagischen Welt gab, sondern auch Nichtfranzosen nicht so gerne gesehen wurden. Offenbar, so musste er für sich selbst feststellen, hatte er davon nur deshalb nichts mitbekommen, weil er immer nur bei den Brickstons, in Millemerveilles oder Beauxbatons gewesen war, von den Ausflügen ins Château Tournesol abgesehen. Jetzt erkannte er auch einmal mehr, wie hilfreich ihm sein Nachnamenswechsel war. Er sah eine gewisse Ähnlichkeit im Verhalten von Kevin Malones Vater, der seinen Sohn auf gar keinen Fall mit einer nicht-irischen Hexe zusammenkommen lassen wollte. Tja, im April würde Kevin zum zweiten Mal Vater.
Er kam nur alle vier Jahre, der 29. Februar. Auch wenn Aurore mit ihren bald vier Jahren vielleicht noch nicht begriff, warum der Februar kürzer als alle anderen Monate im Kalender war und warum er alle vier Jahre einen Tag mehr hatte erzählte Julius ihr beim Frühstück, dass sie heute einen besonderen Tag hatten und dass sie beim letzten mal, wo dieser besondere Tag war, in Mamans warmem Bauch gewohnt hatte und da gewartet hatte, bis sie groß genug war, um als Baby zur Welt zu kommen. Millie meinte dazu: "Ja, und wer an diesem Tag, der nur alle eins, zwei, drei, vier Jahre am Februar dranhängt Geburtstag hat, der oder die kann sich dann aussuchen, wann er oder sie in den Jahren ohne dem neunundzwanzigsten Februar Geburtstag feiert. Die meisten feiern dann am ersten März, der dieses Jahr erst morgen ist und nicht schon heute." Aurore machte "Häh?!" Julius und Millie grinsten. Béatrice sagte dann noch: "Ich habe in der Heilerausbildung einen Kameraden gehabt, der am neunundzwanzigsten Februar 1968 Geboren ist. Der hat dann mit uns in den vier Jahren der Ausbildung immer vom achtundzwanzigsten Februar zum ersten März rübergefeiert, was unseren damaligen Ausbildungsleiter nicht wirklich gefreut hat, weil wir dann am Morgen vom ersten März entsprechend müde waren. Vielleicht ist der jetzige Kollege deshalb nach der Ausbildung nach Réunion rübergegangen, wo er zusammen mit der dort schon seit vierzig Jahren residenten Heilerin zusammen die Zauberergemeinschaft betreut."
"Linda hat doch heute auch geburtstag", fiel es Julius ein, was Linda jetzt Latierre-Knowles ihm bei der Hochzeit mit Gilbert erzählt hatte. Millie sah auf die Wanduhr der Wohnküche und meinte: "Hmm, jetzt wohl noch nicht, weil bei denen in VDS noch der achtundzwanzigste ist." Julius nickte. Denn die Uhr zeigte gerade halb acht am Morgen. So war es in Viento del Sol in Kalifornien gerade halb elf abends und immer noch der 28. Februar.
""Wieso ist bei Britt und Oma Martha noch gestern?" wollte Aurore wissen. Julius erzählte seiner erstgeborenen Tochter noch einmal, warum es hier neun Stunden später war als bei ihrer Oma Martha, Brittany, Linus und den anderen in Viento del Sol. Er wollte gerade mit seinem Zauberstab eine freischwebende Nachbildung der Erdkugel machen, um ihr das bildhaft zu zeigen, als Camilles Gedankenstimme in seinem Kopf erklang: "Julius, komm bitte zu mir"! Es geht los!"
Julius erschauerte erst. Dann durchflutete ihn das pure Adrenalin. Bei Camille ging es los. Sie machte also tatsächlich den Anfang bei allen Hexen, die seit Juni mehr ungewollt als geplant Kinder austrugen. Er musste sich stark konzentrieren, die fünf Stufen des Gedankensprechens durchzuziehen, wobei er bei der Stufe "Das stehende Bild" eine sattgrüne Wiese vor sein inneres Auge beschwor. "Camille, ich bin gleich da", schickte er zurück. Dann sagte er Millie und Béatrice, dass er los müsse, weil Camille ihn bei sich haben wollte. Millie und ihre Tante verstanden sofort, was los war. Mit einer beinahe beiläufigen Zauberstabgeste apportierte Béatrice zwei kleine Flaschen auf dem Tisch, eine blaue und eine gold-grüne. "Dehnungs- und Keimbannelixier, Julius", mentiloquierte sie ihm. Er nahm die zwei Flaschen und apportierte auch die Hebammenausrüstung, die er zu Weihnachten von den australischen Heilern geschenkt bekommen hatte. "Wenn es eine würdige gibt, an der ich das hier einweihen darf ist es Camille", mentiloquierte er Millie und dann auch Béatrice.
"Ich muss dann weg, Rorie. Sei schön brav und ärger die kleinen nicht, weil die dich sonst zurückärgern", gab er seiner erstgeborenen Tochter noch mit. Diese guckte ihn mit ihren hellblauen Augen verdattert an, nickte dann aber. Immerhin hatte er ihr an Uranies Sohn Philemon immer wieder zeigen können, dass wer ärgert auch immer zurückgeärgert werden kann und wem weh getan wird sich auch wehren darf.
Er stieg die von der unzerbrechlichen Glaswand umgebene Wendeltreppe zur großen Empfangshalle hinunter. Dort konzentrierte er sich auf die Landewiese der Dusoleils. dort wollte er hin. Dann ließ er den Wunsch in sich aufsteigen, genau mit allem an und in ihm dort zu stehen. Dann drehte er sich mit erhobenem Zauberstab in die nötige Bewegung hinein, die ihn in jenes lichtlose, bedrückend enge Zwischending zwischen Hiersein und Dortsein hineinpresste. Eine Sekunde hing er so wie in diesem viel zu engen Gummirohr fest. Dann war die Welt wieder hell und weit um ihn herum. Er stand auf der kurzgemähten Wiese vor dem Haupthaus des Anwesens Jardin du Soleil.
Er brauchte nicht den Glockenzug zu ziehen. Denn Jeanne machte ihm schon die Tür auf. "Schön, du bist auch da. Hera ist gleich auch hier, hat wohl noch was mit ihrer Kollegin Laporte zu klären. Ich habe sie aber kontaktgefeuert", sagte Jeanne, der die Anspannung im Gesicht stand. Julius nickte und zeigte seine mitgebrachte Ausrüstung. "Häh, hat dir Béatrice ihre Ausrüstung mitgegeben?" fragte Jeanne. Julius nickte. Dass er die ganze Hebammenausrüstung von den australischen Heilerinnen und Heilern bekommen hatte wollte er Jeanne nicht jetzt auseinandersetzen.
Aus dem Haus klang ein leises Stöhnen. "Jeanne, Maman tut es weh!" quiekte Chloés Stimme. "Aha, sie darf auch zusehen", stellte Julius fest. Jeanne nickte nur.
Als Jeanne und Julius das Haupthaus betraten flog ihnen eine lindgrüne Tasche mit langen Trageriemen entgegen und hängte sich bei Jeanne um die Schultern. Unvermittelt danach nahm die Tasche die Farbe einer aufgehenden Sonne an. Jeanne erschauderte und stammelte "Was, wieso?" Dann entspannte sie sich wieder. Julius sah die mit einem schon unheimlich anmutenden Eigenleben und einer chamäleonartigen Farbwechselfähigkeit versehene Tasche an und flüsterte: "Sie akzeptiert dich offenbar als Erbin deiner Mutter, damit du ihr helfen kannst, ihr bei der Geburt deiner jüngsten Schwestern zu helfen."
"Ich weiß, Maman und du habt dieses Täschchen aus Oma Aurélies Geburtshaus mitgebracht", mentiloquierte Jeanne. "Aber woher weiß dieses Ding, dass ich gerne Sonnenaufgänge ansehe?"
"Warum auch immer, die weiß das", schickte Julius zurück.
"Jeanne, Julius, Maman tut alles unten weh", begrüßte sie Chloé Martha Dusoleil, als sie in das für die Geburt der vier Neuen vorbereitete Zimmer kamen. Dann sah sie Julius an. Der zeigte auf die auf einem bequemen Lehnstuhl sitzende, in eine hellgrüne Küchenschürze gehüllte Camille und sagte: "Deine Maman möchte, dass ich auch hier bei euch bin." Chloé nickte. Dann begrüßte Julius Camille und fragte, wann es mit den Wehen angefangen hatte. Er erfuhr, dass es vor einer halben Stunde angefangen hatte und sie erst Jeanne und dann ihn gerufen hatte.
Es läutete an der Tür. Hera Matine kam mit ihrer Ausrüstung herein. "Gut, offenbar haben wir noch ein wenig Zeit", sagte sie und sah Jeanne und Julius an. "Ihr zwei zieht euch bitte die keimfreien Schürzen an und reinigt eure Arme und Hände mit der Keimbannlösung. Ah, Julius, du hast diese Ausrüstung mit, die du von den australischen Kolleginnen bekommen hast?" Julius nickte.
Jeanne, Chloé und Julius waren gerade mit der Vorbereitung auf die anstehende Geburt fertig, als Camille von der nächsten Wehe gepeinigt wurde. Wie schon so häufig nutzte Julius die ihm geschenkte Flotte-Schreibe-Feder zum Mitprotokollieren. "Du brauchst dich nicht zu genieren, mich anzugucken. Du hast mich schon mal nackt gesehen", mentiloquierte Camille, weil Julius Anwandlungen hatte, sie nicht anzusehen, als sie mit entblößtem Unterkörper auf dem von Hera aufgestellten Gebärstuhl Platz nahm. "So wie jetzt habe ich dich aber bisher noch nicht gesehen", erlag Julius einem Anflug von Frechheit, als er Camille die Antwort zumentiloquierte. "Dann wird's zeit", sagte sie.
Florymont steckte seinen Kopf zur Tür herein und sah Julius. "Du kannst auch reinkommen und zusehen. Aber wehe, du spuckst deshalb dein Frühstück aus", meinte Hera und winkte ihm. "Hier, das auf die Hände und ins Gesicht, damit du keine schädlichen Keime an dir hast", sagte sie und zog noch eine weiße Kittelschürze aus ihrer Tasche. "Die noch über alles andere, damit von deiner Kleidung nichts böses auf deine Frau und die Kleinen überspringt", sagte Hera noch.
"Hera, wenn das bei mir heute auch schon losgeht", hörten sie Uranie. "Dann bin ich schnell bei dir, Uranie. Aber du bist noch nicht fällig."
"Sag den dreien das mal. Die toben gerade so in meinem dicken Bauch herum, als wollten die darum kämpfen, wer zuerst aus mir rauskriechen darf", seufzte Uranie. "Wie gesagt, falls die schon heute von dir weg wollen bin ich ganz schnell bei dir", wiederholte Hera Matine.
"Ja, aber Camille", meinte Florymont. Hera zeigte auf Jeanne und Julius. "Die beiden sind dann noch hier", sagte Hera nur und bedeutete Florymont, sich ganz ruhig zu verhalten. Er saß neben Chloé und hielt ihre Hand. Julius fragte sich dabei, wer da wen trösten oder ruhighalten würde.
Gegen halb zehn erfolgte der Sprung der Fruchtblase. Ab jetzt gab es für die vier kleinen Dusoleils kein Zurück mehr. Jeanne durfte in diesem Moment die besonderen Eigenschaften der sich gerade bei ihr eingehängten Zaubertasche miterleben. Denn die sprang auf und spie ein kleines Holzrohr aus, mit dem die Herztöne ungeborener Kinder mitgehört werden konnten. Julius hatte zu dem Zweck die schwarze Mithörmuschel auf Camilles Unterbauch gelegt und lauschte durch eine an sein linkes Ohr geklemmte weiße Muschel. Allerdings gelang es ihm nur, zu hören, dass die vier kleinen Herzen mit einer für einen unmittelbar vor der Geburt stehenden Fötus normalen Geschwindigkeit schlugen. Hera war froh, dass er diesen Teil der Überwachung übernommen hatte.
Der kleine Kopf des zuerst ankommenden Vierlings zeigte sich um zehn Uhr. Er hatte dieselben schwarzen Haare wie Camille und alle bisher geborenen Töchter. Ab nun ging es ziemlich schnell. Um viertel nach zehn verließ das erste von vier neuen Kindern Camilles schützenden Schoß. "Lavande Lavinie", keuchte Camille, als das laut schreiende Bündel Menschenleben vollständig ans Licht gelangt war. Jeanne und Julius durften die Nabelschnur durchtrennen und zwar so, dass der rest davon nicht bei der Geburt der drei noch folgenden im Weg sein würde. Sofort schienen das muntere Kaminfeuer und die entzündeten Kerzen heller und goldener zu leuchten. Julius fühlte einen warmen Hauch auf seinem Körper und ein sanftes, warmes Pulsieren durch ihn hindurchgehen. Er erkannte sofort, dass die Geburt der kleinen Lavande Lavinie die weißmagische Aura, die durch die machtvolle Bezauberung des Grundstückes entstanden war, deutlich verstärkte. Das kannte er auch schon von Chrysopes Geburt und hatte es bei Clarimondes Geburt ebenso deutlich miterlebt, auch wenn die Auswirkung da wegen Sardonias letztem Aufbäumen noch stärker zu sehen gewesen war.
Mit ihrem eigenen Einblickspiegel stellte die residente Hebamme sicher, dass keines der nun noch drei Ungeborenen sich mit der eigenen Nabelschnur erdrosselte oder diese einzwengte.
"Nach Augenmaß ist Lavande Lavinie gerade mal vierzig Zentimeter lang", sagte Julius, als auch schon Lavandes nächste Vierlingsschwester auf die Welt kam. Als diese vollständig geboren war und ihren Unmut über diese schlimme Sache in die ihr viel zu große und kalte Welt hinausschrie rief Camille für das Protokoll: "Alexandrine Ariassa! Schön, dass du auch schon da bist!" Wider schien sich das Licht im Geburtszimmer zu verstärken. Goldene Fünkchen tanzten für einige Sekunden im Raum und erloschen dann wieder.
die beiden jüngsten Töchter, Zoé Belisama und Mélisande Mylène, kamen im Abstand von fünf bis zwanzig Minuten nach Alexandrine Ariassa zur Welt. Die jüngste schien dabei den freigewordenen Platz in Camilles Schoß noch einige Minuten zu genießen, bevor sie unumkehrbar dort hinaus musste. Jedesmal nahmen das Kaminfeuer und die Farbe der Kerzenflammen einen immer goldeneren Ton an. Ashtarias Zauber verstärkte sich mit jedem unter seinem Schutz geborenen Kind und machte das weißmagische Bollwerk Jardin du Soleil noch unangreifbarer als sowieso schon. Für einen winzigen Moment war es Julius, als sähe er in den durch die Luft tanzenden Funken eine rotgoldene Frauengestalt, die wie ein wohlwollender Engel über ihnen allen schwebte, bevor sie sich mit den umherschwebenden Funken auflöste.
"Von der Größe her sind die genauso groß wie mein kleiner Schwager Alain", rief Julius über das Geschrei der nun vier ans Licht der Welt gelangten Schwestern hinweg. "Ist wohl richtig. Aber wie wir unüberhörbar mitbekommen sind Lungen und Stimmbänder bei allen weit genug entwickelt!" rief Hera Zurück. Dann wurden die vier gewogen. Lavande brachte gleich nach der Geburt 2522 Gramm, Alexandrine 2309 Gramm, Zoé 2900 Gramm und Mélisande 2244 Gramm auf die Waage.
"Wenn ihr die fertig gewogen habt gebt mir die zwei ersten", verlangte Camille. "Du weißt, was wir besprochen haben, Camille", sagte Hera, während die nun ganz junge Vierlingsmutter die zwei ersten ihrer vier neuen Töchter fast schon grob aus Julius' und Jeannes Armen pflückte. "Ja, weiß ich. Aber gefallen tut es mir nicht wirklich", knurrte Camille. Julius fürchtete, dass sie nun ebenso versessen war, die Kinder nicht mehr aus den Händen zu geben wie Sandrine oder seine eigene Mutter. Julius wagte erst nicht zu fragen, was genau Camille mit Hera besprochen hatte, als Jeanne ihre beiden jüngsten Schwestern ansah und erst nicht wusste, ob sie das jetzt wirklich tun sollte. "Jeanne, wenn die Hunger haben und die beiden ersten nochnicht satt sind mach das bitte so", grummelte Camille. Jeanne nickte ihrer Mutter zu. Da klappte die gerade sonnenaufgangsorangerote Tasche auf und spie eine kleine weiße Flasche aus, auf der eine stilisierte Abbildung einer Zwillinge stillenden Mutter zu sehen war. Jeanne fing die Flasche auf und verzog ihr Gesicht. Sie sah ihre eigene Mutter an, die leicht verdrossen zurückblickte und meinte: "Wenn die da das für dich ausspuckt nimm es an. Es ist garantiert in Ordnung."
"Weil das im Protokoll festgehalten wird bestätige ich, Jeanne Dusoleil, Erstgeborene Tochter von Camille und Florymont Dusoleil, dass ich meiner Mutter vom Zeitpunkt der Geburt ihrer vier Kinder bis zur Vollendung des sechsten Monats als erwählte Amme für meine vier jüngsten Schwestern bereitstehe. Also bis zum, öhm ... neunundzwanzigsten August des Jahres 2004 oder bis auf amtlichen Widerruf durch meine Mutter. Bestätigst du das, Meine Mutter?" Camille verzog ihr Gesicht, dann sagte sie laut und vernehmlich: "Ja, ich, Camille Dusoleil, Mutter der vier gerade erst geborenen Töchter Lavande Lavinie, Alexandrine Ariassa, Zoé Belisama und Mélisande Mylène Dusoleil, bestätige hiermit, dass ich dich, meine Tochter Jeanne, als Stillmutter der vier Kinder bis zum vollendeten sechsten Lebensmonat annehme."
"Ich, Hera Diane Matine, auserwählte und ausführende Geburtshelferin, bestätige diese Übereinkunft zwischen Camille und Jeanne Dusoleil", sagte Hera und sah dann Julius an. Dieser verstand und sagte für die immer noch mitschreibende Zauberfeder: "Ich, Julius Latierre geborener Andrews, der ausführenden Hebamme Hera Diane Matine beigeordneter Pflegehelfer, bestätige hiermit die Übereinkunft zwischen Camille Dusoleil und ihrer Tochter Jeanne Dusoleil.".
"Als Julius nun sah, dass Jeanne erst einen Schluck aus der kleinen weißen Flasche trank und dann die beiden jüngsten Schwestern unter ihrer Schürze verstaute und sich so setzte, dass sie sie unbeschwert stillen konnte meinte Florymont: "Schon erhaben und anwidernd zugleich. Aber danke, Hera und Camille, dass ich das endlich einmal selbst sehen durfte. Jetzt verstehe ich, warum das für Mütter noch einprägsamer ist als für Väter."
"Wieso dürfen die ganz kleinen bei Jeanne nuckeln, wo die unsere große Schwester ist?" wollte Chloé wissen. Julius nickte ihr zu. Denn die Frage hätte er auch gerne gestellt. Doch er wollte sich nicht zu weit vorwagen.
"Ein ganz altes Hexengesetz, dass wenn eine Hexe mehrere Kinder zugleich hat, die bei ihr an den Trinkkugeln saugen müssen, weil sie noch keine Zähnchen haben, dann dürfen die Kleinen auch bei der eigenen Oma, einer Tante oder einer großen Schwester trinken, aber nur, wenn die Mutter es der großen Schwester ganz klar erlaubt und die große Schwester schon selbst ein Kind bekommen hat", sagte Hera zu Chloé. Camille und Jeanne nickten bestätigend.
"Ja, und was auch wichtig ist, wir müssen uns immer abwechseln, also nicht immer dieselben Kinder bei uns trinken lassen", fügte Jeanne hinzu. "Außerdem kriegt Bertrand ja auch noch was von mir ab, solange der noch keine eigenen Zähnchen im Mund hat."
"Öhm, Apropos Bertrand, wo ist der eigentlich?" fragte Julius. "In dem Zimmer, in dem ich von meiner Geburt bis zur Hochzeit mit Bruno gewohnt habe", sagte Jeanne. "Ja, und weil ich die vier kleinen eben mit Maman mitversorge bleibe ich eben bis zum neunundzwanzigsten August auch wieder hier wohnen."
"Ui, dann ist Bruno Strohwitwer?" mentiloquierte Julius. Jeanne schickte zurück: "Ich hoffe sehr, dass er das nicht ausnutzt. "Außerdem kann ich immer zu ihm hin, wenn was anliegt. Nur Nachts bin ich dann eben hier." Dann grinste Jeanne und fügte hinzu: "Er und ich haben besondere Unterwäsche gekriegt, damit ihm nicht zu langweilig wird. Vielleicht kennt deine Schwiegertante sowas auch." Julius wagte nicht, zu nicken. Doch ein verwegenes Grinsen konnte er nicht unterdrücken. Er schickte zurück: "Silbernes Zeug in einer runden Schachtel. Kenne ich auch, hat mir über die drei Monate zwischen Februar und Mai 1998 auch einigen Druck von Körper und Seele genommen." Jeanne zwinkerte ihm zu. Hera fragte deshalb, was die zwei sich gerade zumentiloquiert hatten. Darauf gab Julius die einzig gültige Antwort: "Hera, wenn Jeanne und ich gewollt hätten, dass alle anderen das wissen hätte sie sicher laut gesprochen und nicht mentiloquiert."
"Schwatzfratz!" stieß Hera aus und kniff Julius mit ihren gelenkigen Fingern kräftig in die Nase. Doch ein gewisses Lächeln lag auf ihrem Gesicht. Jeanne indes grinste wie ein kleines Mädchen und hielt dabei ihre zwei Schwesterchen gut geborgen unter ihrer Stillschürze.
Müssen wir hier noch was tun?" fragte Julius Hera. "Wieso, drängt dich etwas?" fragte Hera. Julius sah Chloé und Florymont an, die immer noch ein wenig bleich aber erleichtert dreinschauten. Wie auf ein Stichwort sagte Camille: "Ich glaube, da möchte noch was aus mir raus, Hera!" Die Hebamme war sofort zur Stelle. Florymont wandte schnell das Gesicht ab, als er sah, wie die Heilerin seiner Frau bei der Nachgeburt half. Chloé stieß angewiedert aus: "Uuää! Was is'n das noch?" Julius erklärte ihr mit für eine beinahe Sechsjährige verständlichen Worten, warum ihre Maman noch was aus sich rauslassen musste und wofür das da war. Er hatte ja da schon Übung von der Ankunft des kleinen Justin James Brickston und seiner zweitältesten Schwester. "Hab' ich auch an sowas drangehangen?" wollte Chloé wissen. "Lustig, hat Claudine ihre Maman auch gefragt, als sie Justin beim Geborenwerden angeguckt hat", sagte Julius. "Das ist bei jedem Menschenkind so, war bei deiner Maman, deinem papa, deinen größeren Schwestern und bei mir auch so."
"Deshalb müssen die kleinen Kinder keine Luft holen oder selbst essen, solange sie in Mamans Bauch wohnen", sagte Hera zu Chloé. Dann sagte sie zu Camille: "Ich dachte, du wolltest die dritte der vier Brigitte Belisama nennen."
"Ist mir eingefallen, dass ich deine Großtante Zoé ja auch mal persönlich getroffen habe, zwei Jahre nachdem Jeanne geboren war", sagte Camille. "Und weil du mir mit allen jetzt acht Kindern so gut geholfen hast und du mal gesagt hast, dass deine Großtante für dich die dritte Großmutter war habe ich mich entschieden, das dritte der vier Mädchen nach ihr zu benennen. Ich denke, sie hätte da nichts gegen." Hera schluckte hörbar. In ihre Augen traten kleine aber sichtbare Tränen. Dann brachte sie gerade so noch mit beherrschter Stimme heraus: "Garantiert nicht, Camille. Auch wenn sie es gerne gehabt hätte, dass meine erste Tochter nach ihr benannt wurde. Aber mit nur drei Söhnen war das eben nicht mehr zu erwarten."
"Zoe ist das altgriechische Wort für die Vielfalt des Lebens, verwandt mit dem Wort Bios für lebendig und Leben an sich. Von dem Wort Zoe ohne französischen Akzent leitet sich das altgriechische Wort Zoon für ein tierisches Lebewesen und die Tierkunde Zoologie und Magizoologie ab", sprudelte es unvermittelt aus Julius heraus, als wäre er von einem Lehrer gefragt worden. Hera nickte ihm heftig zu.
"Das passt dann aber nicht zur Tochter einer Kräuterhexe", wagte Florymont eine Bemerkung, die er sofort bereute. Denn sowohl Camille als auch Hera sahen ihn sehr bedrohlich an. "Zur Vielfalt des Lebens an sich gehören auch alle pflanzlichen Lebewesen", warf Julius schnell ein und erntete ein Lächeln Camilles.
"So, ab jetzt sollen Camille, Jeanne und die vier ganz kleinen für sich sein, um sich kennenzulernen", sagte Hera leise aber sehr entschieden und machte eine hinausscheuchende Handbewegung zu Florymont, Julius und Chloé. "Achso, Julius, Danke für das Mitprotokollieren!" Camille bat Florymont noch, seinen Eltern die Nachricht von den vier neuen Enkelkindern weiterzugeben. Julius sollte es Aurora Dawn weitermelden. Beide Zauberer und jungen Väter bestätigten es.
"Ui, war das heftig. Ich musste mich heftig zusammennehmen, nicht doch noch das Frühstück auszuspucken", sagte Florymont, als er mit Julius und seiner nun fünftjüngsten Tochter in Chloés buntem Kinderzimmer war. "Dann wird das wohl nichts mit dem üblichen Anstoßen auf die vier neuen", grinste Julius. "Laut meinem Vater muss für jedes neugeborene Kind eine ganze Flasche Wein leergetrunken werden. Aber vier auf einmal ..."
"Bleibt die Maman jetzt unten immer so ganz offen?" fragte Chloé immer noch beeindruckt vom Miterlebten. Julius beruhigte sie und sagte, dass ihre Maman morgen sicher schon wieder so aussah wie vor der Geburt.
"Ich hoffe, Camille und Jeanne kriegen sich nicht doch mal wegen der vier in die Haare. Aber das mit der Tasche ist schon faszinierend", sagte Florymont. Julius bestätigte beides, seine Hoffnung und seine Bewunderung für die magische Umhängetasche."Hmm, vielleicht gilt Champagner für zwei oder drei Flaschen wein", sagte Julius. "Aber im Moment steht mir auch eher der Sinn nach Orangensaft oder Traubensaft."
"Erst mal gucken, ob Uranie noch nicht so weit ist", sagte Florymont und verfiel in eine kurze Konzentration. "Nein, die drei haben sich wieder beruhigt. Die dürfen noch ein wenig von meiner großen Schwester herumgetragen werden", sagte Florymont.
Julius rief über das aus der Villa Binoche mitgebrachte orichalkarmband Aurora Dawn, auch wenn es in Sydney schon nach acht Uhr abend war.
"Vier auf einmal. Drei waren ja meine sogenannten Einstandskinder", meinte Aurora Dawns räumliches Abbild. "Ich werde auf jeden Fall noch mal mit ihr reden, wenn Hera ihr erlaubt, mit Außenstehenden zu sprechen. Sie möchte mir aber bitte sagen, wann die Willkommensfeier für die vier ganz jungen Sonnenprinzessinnen ist." Julius nickte dem räumlichen Abbild seiner australischen Bekannten, die ihm damals auf dem Weg in die Zaubererwelt geholfen hatte.
"ja, und heute war erst der Anfang. Camille ist allen anderen wegen unserer großen Schutzzauberei vom August um anderthalb bis zwei Wochen vorausgeeilt, weißt du ja. Hat schon gut geschlaucht, immer auf voller Leistungshöhe zu bleiben", gestand Julius. Auroras Abbild nickte ihm zu und ihre aus dem Armband dringende Stimme antwortete: "Gut, vier auf einmal ist wesentlich anstrengender als nur ein einziges Kind auf die Welt zu holen. Aber im Grunde muss eine Heilerin oder ein assistierender Pflegehelfer immer voll konzentriert sein. Ich verstehe Hera, dass sie Jeanne und dich beide zusammen bei Camille dabei haben wollte."
"Auf jeden Fall hat Camille jetzt ihre vier jüngsten Töchter", stellte Julius fest. Dann verabschiedete er sich von Aurora und gab ihr auch schöne Grüße an die kleine Rosey mit. Dann verschwand Auroras räumliche Abbildung wie das Licht einer ausgeschalteten Glühbirne.
Als Hera grünes Licht für Besuche für den Vater und die schon geborenen Kinder der Dusoleils gab konnten Florymonts Eltern herüberkommen. Ebenso brachte Millie ihre und Julius' Kinder mit, um schon mal eine kleine aber fröhliche Feier für die vier neuen Dusoleils zu machen. Zusammen mit Millie, Aurore und Jeannes größeren Kindern Viviane, Janine und Belenus tranken Florymont und Julius ein kleines Fass mit einer herrlich belebend schmeckenden Fruchtsaftmischung leer. "Bruno und die anderen Mannsbilder lade ich erst heute abend ein, wenn alle großen und kleinen Hexen im Bett sind", flüsterte Florymont, nachdem er mit Julius auf Zoé Belisama angestoßen hatte.
"Jetzt bist du selbst eine große Schwester, Chloé. Angst?" fragte Millie Chloé.
"Laut ist das, wenn die schreien. Und komisch ist das auch, weil Jeanne die an sich trinken lässt wie Bertrand. Dabei ist die Jeanne doch auch die Schwester von denen", sagte Chloé. Millie sagte dazu: "Große Schwestern dürfen ihre ganz kleinen Schwestern und Brüder auch bei sich trinken lassen, wenn die selbst schon ein Kind bekommen haben, Chloé. Aber das ist nur dann richtig, wenn eine Hexe mehr Kinder hat als Milchkugeln vor der Brust. Und deine Tante Uranie kriegt ja auch bald kleine Kinder."
"Dürfen die dann auch bei Jeanne?" fragte Chloé. Millie sah Julius an, der Florymont ansah, der wiederum Julius anblickte. "Tanten dürfen ganz kleinen Kindern von ihrer Milch abgeben. Aber ob Cousins bei großen Cousinen trinken dürfen weiß ich gerade nicht auswendig."
"Wenn die betreffende Tante der schon großen Nichte, also der Cousine von ihren ganz kleinen Kindern vertraut und das vorher im Beisein der ausgewählten Geburtshelferin klar und deutlich mit ihr beschließt." Darauf fragte Chloé: "Dann darf der kleine Alain auch von Tine oder dir Milch trinken?"
"Nein, in dem Fall nicht, weil er alleine auf die Welt gekommen ist und meine Maman ganz deutlich zwei Milchkugeln zum dran Nuckeln hat, genau wie Tine, ich und irgendwann auch du, Rorie, Chrysie und Clarimonde. Aber da ist noch so viel Zeit bis dahin."
"Ja, mehr als so viele Weihnachtstage wie du Finger an den Händenhast, Chloé", sagte Julius. Florymont sah verstört von einer zum anderen. Als sein etwas irritierter Blick Millies rehbraune Augen einfing sagte diese: "Warum stört dich das, was wir gerade sagen, Florymont. Immerhin hat Chloé beim Ankommen ihrer vier ganz kleinen Schwestern zusehen dürfen. Dann darf die auch wissen, wie es danach weitergeht und dass sie erst ein großes Mädchen und dann eine richtige Frau und Hexe wird."
"Gut, hat Camille ihr sicher auch schon so oder ähnlich erzählt. Ich meine nur wegen Aurore", sagte Florymont. "Wo die schon immer zuguckt, wie ich die kleine Clarimonde satthalte. Und wenn Julius' und mein nächstes Kind ankommt darf die da auch zugucken, damit die endlich weiß, woher die kleinen Babys kommen und warum das so wichtig für mich ist, alle gleichdoll lieb zu haben", erwiderte Millie.
"Sagen wir es so, meine Mutter und auch Uranie hätten euch für dieses so freie reden vor kleinen Kindern heftig ausgeschimpft."
"Papa, ich bin doch nicht mehr klein. Ich komm doch im Sommer zur Schule", protestierte Chloé. Dem konnte ihr Vater im Moment nichts entgegenhalten.
Während die Latierres aus dem Apfelhaus und der frischgebackene Vierlingsvater sich mit Chloé darüber unterhielten, wie die vier ganz kleinen erst einmal wohnen würden, bis sie groß genug zum selbst herumlaufen waren rief Ursuline Latierre bei Julius mentiloquistisch durch und fragte, ob sie den jungen Vierlingseltern ihre Aufwartung machen dürfe. Julius erkundigte sich, ob Camille und die ganz kleinen gerade wach waren. Doch die fünf bis vor wenigen Stunden innig zusammenlebenden Hexen schliefen sich von der Anstrengung dieses Morgens aus. So schickte Julius an Ursuline zurück, dass sie vielleicht in den kommenden Tagen die Gelegenheit hatte, die vier ganz neuen zu besuchen. Sie fragte zurück, wann Florymont alle gestandenen Väter auf das Wohl seiner vier jüngsten Töchter trinken lassen wollte. Florymont bot an, diesen traditionellen Umtrunk am ersten März stattfinden zu lassen, also gleich am nächsten Tag.
Julius erfuhr von Ursuline, dass die Eheleute Linda und Gilbert Latierre gegen vier Uhr mitteleuropäischer Zeit im Sonnenblumenschloss eintreffen würden, da sie nicht aus den Staaten, sondern aus Südfrankreich herüberkämen. Immerhin konnte Linda heute ganz ordentlich ihren Geburtstag feiern.
So ging es am Nachmittag darum, dass Aurore und Chrysope fein herausgeputzt waren und deren Eltern ihre helle Festtagsgarderobe anzogen. Kurz vor vier Uhr gingen sie alle durch den orangeroten Verschwindeschrank in der Bibliothek des Apfelhauses. Erst Millie mit Clarimonde, dann Aurore alleine. Dann Béatrice mit Chrysope auf dem Arm und schließlich Julius.
Während des Durchgangs zwischen dem Start- und dem Zielschrank fühlte Julius einen kurzen Wärmeschauer durch den Körper gehen und sah für eine halbe Sekunde ein goldenes Leuchten um sich herum. Als er wohlbehalten aus dem Zielschrank stieg fragte er die anderen, ob sie das auch mitbekommen hätten. Millie bestätigte es ebenso wie Béatrice. "Womöglich haben wir doch irgendwie mit dem Lichternetz über Millemerveilles wechselgewirkt. Dabei dachte ich, der Übertritt ginge durch eine art Subraum oder Hyperraum", sagte Julius.
"Ich bin zwar nicht so tief in magische Ortsversetzungsvorgänge eingetaucht wie in die Heilkunst, Julius. Aber ich vermute ganz stark, dass das von Camille, Millie und dir ausgespannte Netz immer mit jedem wechselwirkt, der von innen nach außen oder außen nach innen will. Du sagst ja auch, dass du beim Apparieren zu Hause immer noch diesen leichten Wärmeschauer fühlst."
"Gut, das liegt sicher auch daran, dass unser Haus eine Kraftsäule für den neuen Schutzzauber über Millemerveilles ist", sagte Julius, während er mit seiner Schwiegertante den Saal mit den verschiedenfarbigen Schränken durchquerte. Gerade traten Patricia und ihr Mann Marc aus einem weinroten Schrank, der erst vor kurzem hier aufgestellt worden war. "Jau, dagegen stinkt jeder Materietransmitter ab. Versetzung in Nullzeit und ohne körperliche Begleiterscheinungen", sagte Marc, als Patricia die Tür des weinroten Schrankes von außen verschloss.
"Nur dass es Geschichten gibt, wo solche Transmitterverbindungen über viele Lichtjahre reichen und nicht nur über einige hundert Kilometer", wusste Julius. Er dachte wieder daran, dass diese Verschwindeschrankverbindung auch gefährlich für jemanden sein konnte, wollte es aber Marc nicht hier und nicht jetzt auftischen, warum er das dachte.
Gilbert und seine hoffnungsvoll gerundete Frau trafen auf einem Flugbesen vom Typ Ganymed Matrimonium ein, wie Millie und Julius ihn besaßen. Sie wirkten sichtlich erleichtert, als sie auf der großen Landewiese herunterkamen. Es wirkte so, als habe Linda einen schweren Sack Wackersteine auf dem Herzen gehabt, der ihr bei der Landung herabfiel. Natürlich wusste sie, dass das Sonnenblumenschloss vom Sanctuafugium-Zauber umgeben war, der alle bösartigen Zauber fernhielt.
Lindas Eltern und ihre Cousine Wanda Bowman kamen in Begleitung von Hippolyte und Albericus' Familie auf Besen aus Paris angereist. Julius begrüßte Lydia Knowles geborene Bowman und ihren Mann Nathanael, dessen samtbrauner Hautton auf seinen indischstämmigen Großvater Chandra zurückging. Er hatte Lindas Eltern ja schon bei der Hochzeit kurz vor Jahreswechsel sprechen können.
"Ich kann die Regionalsprache meiner Großeltern, Spanisch und Englisch. Aber mit der französischen Sprache tu ich mich voll schwer", gestand Mr. Knowles einmal mehr ein, weil er für alles einen Übersetzer brauchte. Seine Frau Lydia war da nicht viel besser dran. So waren sie froh, dass die meisten erwachsenen Latierres neben Französisch entweder auch Spanisch oder Englisch konnten und Aurore und Chrysope ebenfalls schon genug Englisch konnten, um ein paar nette Worte mit den Gästen aus Amerika zu wechseln.
"Wie viele Kerzen sind denn jetzt auf der Torte?" fragte Julius schelmisch, als Ursuline ein mit einer silbernen Haube abgedecktes Tablett vor sich herschweben ließ. "Du meinst, da dürften nur zehn drauf sein?" fragte seine Schwiegergroßmutter zurück. Er nickte. Doch es waren tatsächlich vierzig schlanke weiße Kerzen, die auf einer blau-weiß-roten Geburtstagstorte steckten. Lydia Knowles sah den Kuchen an und meinte, dass es schon gewöhnungsbedürftig sei, einen blauen Kuchen zu essen. Dann durfte sie als Mutter des Geburtstagskindes die Kerzen entzünden. Kaum brannten diese alle begannen die Flammen in blauem, hellweißen und feuerroten Farbton zu leuchten und zu wippen und aus jeder Kerze drang mit einer piepsigen oder schrillen Stimme eines von insgesamt sechs verschiedenen Geburtstagsliedern. Lydia Knowles erschrak, als das passierte. Ihr Mann und dessen Nichte Wanda kämpften darum, nicht loszulachen. Die Kinder hier und auch Gilbert lachten ungehemmt los. Julius grinste ebenfalls wie einer, der einen gelungenen Streich gespielt hatte. Er erinnerte sich daran, dass er damals vor bald fünfeinhalb Jahren seiner Schulfreundin Gloria Porter solche Kerzen zugespielthatte.
"Lindy, bitte blas die Dinger aus, damit Ruhe ist", bestand Lindas Mutter darauf, den wild durcheinanderquiekenden und piepsenden Chor von singenden Kerzen zum schweigen zu bringen. Linda Latierre-Knowles starrte auf die vierzig fröhlich mit ihren Flammen wippenden Kerzen und wusste nicht, ob sie sich ihre besonders empfindlichen Ohren oder ihre Augen zuhalten sollte. Denn die vierzig Flammenzungen verflochten sich immer wieder zu kleinen Lichtteppichen, die gerade so noch über dem Kuchen blieben, dass dieser davon nicht angebrannt wurde. Sie holte tief Luft und blies gegen die Flammen. Doch diese stemmten sich gegen den Luftstoß und hüpften auf und ab. Die Bezauberung mit den Geburtstagsliedern wurde mal leiser und dann wieder lauter. Linda erkannte, dass sie keine der vierzig Kerzen hatte ausblasen können, als sie neu einatmen musste. Zumindest schaffte sie es, die Hälfte der entzündeten Kerzen auszublasen. Das brachte den Rest jedoch dazu, noch lauter und schriller auf unterschiedlichen Tonhöhen "Zum Geburtstag viel Glück" zu singen. Doch nach dem dritten kräftigen Atemzug schaffte Linda es auch, die restlichen Kerzen zu löschen und zum schweigen zu bringen.
"Ich wusste, dass du ein Scherzbold bist, Gilbert. Aber diese singenden Kerzen sind für gute Ohren sehr schrill", sagte Linda, die nicht wusste, ob sie mitlachen oder sich ärgern sollte. Am Ende bedankte sie sich für diese besondere Geburtstagsüberraschung und verteilte den Geburtstagskuchen unter den Gästen. Die, welche blaue Kuchenstücke erwischten durften feststellen, dass die Geburtstagstorte dadurch nicht anders schmeckte als normalfarbige. Der Geschmack war leicht herbe Schokolade und verschiedene süße und saure Früchte, so wie das Leben selbst, meinte Ursuline, die dieses Rezept von ihrer Mutter Barbara erlernt hatte. "Kannst du auch grünen oder rosaroten Kuchen backen?" fragte Julius Ursuline.
"Ich habe für Hipps Hochzeit damals eine Hochzeitstorte in den Farben der Pariser Pelikane hingekriegt, damit Albericus immer wusste, für was sie lebte", sagte Ursuline.
Nach dem Kuchenessen unterhielten sich die Gäste über die letzten Wochen. Julius konnte Linda erzählen, dass Camille Dusoleil ihre vier neuen Kinder bekommen hatte. Linda antwortete darauf, dass sie jetzt wisse, dass sie eine Barbara Eudora Lydia erwartete. Julius fragte sie fast flüsternd, ob sie den Vornahmen ihrer Schwiegermutter jetzt ganz weglassen wollte. "Bei allem Respekt vor Gilberts Abstammung werde ich mich nicht vor meiner Schwiegermutter kleinmachen, indem ich ihren Vornamen für ihre erste Enkeltochter vergebe", erwiderte Linda unerwartet verdrossen, nicht so lebenslustig und einschmeichelnd wie sonst. Julius hakte da nicht weiter nach. Er vermutete nur, dass seine Schwiegergroßtante Cynthia irgendwas gesagt oder getan oder irgendwas nicht gesagt oder getan hatte, was Linda davon abbrachte, ihrer bald ankommenden Enkeltochter ihren Vornamen mitzugeben.
Da sie hier im Château Tournesol feierten galt keine Sperrstunde für Feiern unter freiem Himmel wie in Millemerveilles. So konnten sie einen schönen langen Abend mit Musik und Tanz erleben. Da im Sonnenblumenschloss genug Gästezimmer vorhanden waren konnten alle Gäste um zwei Uhr Nachts in frischgemachte Betten schlüpfen.
"Hoffen wir mal, dass wir morgen nicht schon gebraucht werden", meinte Julius zu Millie, mit der und den drei Kindern er sich das übliche Gästezimmer teilte.
"Du meinst dass Uranies Kinder jetzt auch schon vor dem berechneten Tag ankommen wollen. Aber für Uranie wurde Jeanne eingeteilt." Millie nickte dazu nur. Dann meinte sie: "Schlafen wir gut aus, damit du morgen mit Florymont mithalten kannst, wenn er viele Väter zur Babypinkelrunde einlädt."
"Da muss Beau-Papa Berie mehr aufpassen, dass der sich nicht überschätzt, wenn er mit jedem einzelnen ein Glas exen will", grinste Julius. Millie fauchte nur: "O hör ja auf, Monju! Nachher darf ich den noch wie Clarimonde über die Schulter hängen und zu Ma ins Bett legen."
"Ich denke, diesen Job wird sich Belle-Maman Hippolyte nicht wegnehmen lassen", sagte Julius. Millie überlegte kurz und antwortete: "Hmm, da könntest du echt recht haben. Aber ich mach besser doch eines der Gästezimmer für ihn fertig, wenn wir ihn ganz schnell irgendwo ablegen müssen." Das wollte Julius ihr nicht ausreden.
"Und, wie verbringst du den Zusatztag heute noch, Jeff?" wollte Ralf Burton von seinem Kollegen wissen, als sie beide Mittagspause machten.
"Ich habe noch einen Interviewtermin mit Captain Cooper wegen des Feuergefechts am zehnten Februar. Ich denke aber, dass ich um fünf wieder nach Hause komme. Meine Kronprinzessin hat ja morgen den ersten Geburtstag. Da werden einige gute Freunde von meiner Frau und mir zu Besuch kommen. Insofern schon lustig, dass sie das erste Jahr als Schaltjahr erlebt hat", erwiderte Jeff Bristol. Er sah Ralf an, dass ihm dieses Thema nicht ganz gefiel, wohl weil er immer noch alleinstehend war, oder weil er was gegen Ehe und Familienpflichten hatte. Aber der hatte ihn schließlich gefragt.
"Oh, könnte dann aber morgen heftig spät werden, wenn die Feds uns gnädigerweise ihren Ermittlungszwischenstand mitteilen, sofern die den nicht als Geheimsache klassifizieren", sagte Ralf und pflückte eine kleine Schale mit gemischtemSalat von der Selbstbedienungstheke.
"Deshalb hat Cap Cooper dem Interview so bereitwillig zugestimmt. Du weißt ja, die ständige Rivalität zwischen Stadtpolizei und FBI."
"Yep! Zu dem unendlichen Lied habe ich auch schon zwanzig Strophen hinzufügen dürfen.", erwiderte Ralf lässig und sah sich um, welches der vier warmen Hauptgerichte er nehmen wollte. Jeff hatte sich schon drei Schälchen mit asiatischen Köstlichkeiten und einen Fruchtjogurt auf das Tablett geladen. Als Ralf sein Mittagsmenü zusammengestellt hatte trugen beide ihre Tabletts zu einem der freien Tische hinüber. An den Nachbartischen besprachen die Kolleginnen und Kollegen ihre aktuellen Aufgaben oder holten sich Informationen über anstehende Befragungen ein, wenn sie die betreffenden Leute noch nicht kannten. Suzanne Bodington, eine Kollegin in der Abteilung Mode und Lebensstil, welche vor einem Jahr noch bei der Vogue gearbeitet hatte, winkte Ralf und Jeff grüßend zu. Dann sprach sie weiter mit ihrer dienstälteren Kollegin Sandra Smithfield über den Vergleich zwischen europäischen und US-amerikanischen Modetrends. Jeff hörte nur was von wegen "Fusionsmode" heraus, widmete sich dann aber dann weiter dem Gespräch mit seinem Bürokollegen Ralf Burton. Es ging hier in der Kantine nicht ans Eingemachte, was Informationen über die Unterwelt anging, weil ja niemand genau wusste, was wer nach außen tragen mochte. So ging es nur noch um mögliche Fragen an Captain Cooper, wie die Straßen von New York zukünftig noch besser abgesichert werden konnten.
Nach dem Mittagessen saßen beide an ihren Rechnern und tippten ihre Artikel für morgen, wobei Jeff einen das Interview einleitenden Vorspann schrieb und den ganzen Text erst nach dem Interview schreiben konnte. Um zwei Uhr Nachmittags prüfte er noch einmal den Sitz und die Sauberkeit seiner Kleidung und fuhr in die Tiefgarage hinunter, wo sein Mustang geparkt war. Deshalb bekam er nicht mehr mit, dass Ralf Burton eine E-Mail erhielt, die er mit einem bestimmten Entschlüsselungsprogramm lesbar machen musste.
"Sie verdienen offenbar gut bei der Times, Mr. Bristol", scherzte der Parkplatzwächter am Verwaltungsgebäude der New Yorker Polizeibehörde.
"Ichhatte einen spendablen Erbonkel, der mir zum Universitätsabschluss das Auto geschenkthat. Er meinte, er gebe lieber Geld mit warmen Händen um zu sehen, was damit angestellt würde", sagte Jeff darauf nur. Diese Geschichte tischte er jedem auf, der ihn zur Herkunft seines kraftstrotzenden Automobils fragte. "Bei mir ist es eher eine Tante. Aber die würde mir garantiert keinen schnellen Wagen schenken, sondern dann eher eine Jahresfahrkarte erster Klasse für die Eisenbahn, weil die es nicht mit Autos hat", sagte der Parkplatzwächter und ließ hinter Jeff die Schranke wieder herunter.
Captain Cooper stellte sich sehr bereitwillig allen Fragen, die Jeff hatte. Dann kam er auf etwas, was ihm wohl sehr wichtig war: "Da Sie über einen Schwarm sehr nützlicher Kundschafter verfügen, Mr. Bristol, können Sie locker behaupten, von einem von denen was zugesteckt bekommen zu haben. Von mir habenSie's jedenfalls nicht, wenn wir weiterhin gut zusammenarbeiten möchten", setzte der Polizeioffizier an. Jeff sah seine Vermutung bestätigt, dass Captain Cooper ihn nicht aus Freude an der Presse zum Interview eingeladen hatte. Das bisher gesagte konnte Jeff locker verwerten. Was nun kam musste er dann eben anderswo herhaben.
"Wir haben Dutzende Hinweise bekommen, dass die von den Feds beobachteten Familien in den letzten Wochen von mehreren merkwürdigen Damen besucht wurden, die vorzugsweise abends auftauchten und noch vor Sonnenaufgang verschwanden. Von einigen Leuten, die wegen gewisser Nachsicht noch draußen rumlaufen dürfen, kriegen wir immer mal wieder was mit, was in den Küchen der großen neun so gekocht wird und für wen. Die meisten dieser Nachrichten haben sich für uns als vollkommen verlässlich erwiesen. Deshalb wissen wir Stadtbullen, dass Don Silvio vom Buonnavista-Clan genauso von einer solchen geheimnisvollen Dame besucht worden ist wie die zwei, die ihre Leute am zehnten aufeinandergehetzt haben. Eine von denensoll ein nur leicht angebratenes argentinisches Hüftsteak geordert haben. Vor allem aber schinen die hohen Herren nach diesem Besuch sehr weltentrücktzu sein. Wir fürchten, dass da jemand versucht, mit irgendwelchen Edelhuren Aufruhr in die achso ehrenwerte Gesellschaft zu bringen. Verdächtig daran ist, dass uns die Feds bisher nicht klar angewiesenhaben, diese Sache ihnen zu überlassen."
"Oh, interessant", sagte Jeff. "Wissen die dann noch nichts davon oder wollen die keine schlafenden Hunde wecken?" fragte Jeff. "Neh, zweites auf jeden Fall nicht. Denn wenn die finden, wir könnten denen die Tour versauen pfeifen die uns lieber noch vor dem Anstoß vom Platz runter", sagte Cooper. "Ich denke eher, dass wir diesmal mehr wissen als die Hoover-Truppe. Nur weiß ich auch, dass es für uns Stadtsheriffs nicht so gesund ist, uns voll in Mafiasachen reinzuhängen. Sicher, wir haben eine Abteilung für organisierte Verbrechen. Aber die kümmert sich in erster Linie um Banden, die auf New York beschränkt bleiben und schreibt nur mit, was in den wirklich großen Clubs für Musik gespielt wird."
"Öhm, Sie sagten was, dass diese Ladies - wie viele genau - nur zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang zu den betreffenden Capi gehen. Sehen die irgendwie merkwürdig aus, von Bewegungen oder Hautfarbe her?"
"Lustig, Mr. Bristol. Wegen dieser Steakbestellung kam ich selbst mal drauf, nachzuhaken, ob die Ladies sich für Vampire halten oder sowas. Da wurde es tatsächlich einen Moment sehr ruhig in den Kochstudios, aus denen wir immer unsere ofenwarmen Geheimbotschaften serviert kriegen. Einer hat eine dieser Ladies echt mal gesehen, trug ein sehr aufreizendes Kostüm und war tatsächlich sehr bleich im Gesicht, echt wie eine Vampirbraut im Kino. Aber die betreffenden Herren konnten am Tag noch herumlaufenund sehen wohl auch noch so aus, als hätten sie ihr Blut noch im Körper. Vielleicht eine Art besondere Form von Sexspiel, Rollenspiele, Dominas, die Abteilung."
"Hmm, dann müssten diese Ladies, sofern echt alle so auftreten ja schon längere Zeit bei ihren Kunden ein- und ausgehen. Aber was macht Sie dann sicher, dass die was mit dem Unfrieden und der unschönen Sache vom zehnten Februar zu tun haben?" wollte Jeff wissen, der seine heftige Alarmstimmung sehr stark verbergen musste.
"Zu erstens: Die sind erst Anfang Februar aufgetaucht. Zweitens, bis dahin haben sich die neun Großen immer mal wieder zu Festessen getroffen, immer abwechselnd. Seit dem großen Knall bei der Fabrik, in der ein Crystal-Labor versteckt gewesen sein soll, treffen die sich aber nicht mehr. Ja, und diese Damen sind auch erst danach so häufig bei denen aufgetaucht. Außerdem hat keiner mitbekommen, wie die kommen und wieder verschwinden."
"Gut, wenn die Küchen nicht gerade zur Einfahrt rausgucken", sagte Jeff. "Dann könnten die mit Panzerkolonnen anrücken oder auf den Vorplatz gebeamt werden. Das würde das Küchenpersonal nicht mitbekommen."
"Ist einerseits richtig, Mr. Bristol. Aber bei einigen haben wir auch wen im Servierbereich, der uns was zuträgt und dabei immer aufpassen muss, nicht erwischt zu werden. Also überlegen Sie bitte ganz gut, was sie mit der Info machen. Aber eine Person vom Servierpersonal hat einen guten Überblick über denParkplatz der Dienstherrschaft. Wenn da Gäste mit dem Auto ankommen kriegt die Person das mit. Im Fall dieser Lady, die dort zu Besuch war hat der Informant jedoch keinen Wagen gesehen, sondern nur die Frau selbst, wie sie ganz lässig bis aufreizend vor der Außentür gestanden und geklingelt hat. Der Informant konnte sogar das Videobild von der Lady sehen. Deshalb wissen wir ja auch, dass mindestens drei bleichhäutige Nachtfrauen unterwegs sein müssen."
Jeff hielt es fast nicht mehr aus vor innerer Anspannung. All zu gerne würde er den Captain jetzt legilimentieren, um alles zu erfahren, was dieser wusste. Doch er durfte nicht aus seiner magielosen Rolle fallen. Dennoch fragte er: "Besteht die Möglichkeit, dass ich ein Bild von dieser Besucherin sehen kann?" Captain Cooper schüttelte behutsam den Kopf. "Besser nicht, Mr. Bristol. Sie könnten es verwertenund damit unsere Informationsquelle gefährden." Jeff dachte nur: "Netter Versuch." Laut sagte er dann: "Na ja, aber dann kann es keine Vampirin gewesen sein. Untote, Dämonen und Gespenster können nicht mit technischen Mitteln aufgenommen werden, zumal Vampire ja den einschlägigen Geschichten nach kein eigenes Spiegelbild und keinen Schattenwurf haben sollen." Cooper grinste. "Ach ja, die gute alte Jugendzeit. Da habe ich auch solche Geschichten gelesen. Doch die Realität ist oftmals gruseliger als die schlimmste Horrorgeschichte, wie wir ja wieder mitbekommen durften." Dem konnte und wollte Jeff nicht widersprechen.
Er fragte nur noch einmal, was genau er jetzt mit diesen Informationen machen sollte und durfte, damit die Informanten nicht gefährdet wurden. Da ließ Cooper die Katze aus dem Sack. Er sagte: "Ich weiß, dass Sie morgen mit anderen Medienleuten bei einer PK vom FBI sind. Vielleicht kriegen Sie raus, ob die Feds was in der Richtung wissen oder zumindest vermuten, ohne mich oder die Stadtpolizei als Informationsquelle preiszugeben. Kriegen Sie sowas hin?"
"Ich habe zwar ein Familienleben, das mich gut von allen konzentrierten Gedanken abbringt. Aber um eine plausible Frage an Ms. Walker zu richten habe ich sicher noch genug Zeit, wenn meine kleine Tochter schläft und meine Frau auch müde genug von der Arbeit ist, dass ich ein paar Minuten für mich alleine habe. Dann kann ich auch gut drüber schlafen."
"Tun Sie das!" sagte Cooper. Dann wollte er noch einmal die Notizen prüfen, die Jeff von dem eigentlichen Interview gemacht hatte. Er fand nichts beanstandenswertes. Jeff bedankte sich bei demPolizeicaptain und verließ das Verwaltungsgebäude wieder.
Auf dem Weg zurück zum Times-Gebäude hielt er in einer ruhigen Seitenstraße. Von dort mentiloquierte er seine Frau an. "Just, es könnte sein, dass diese Götzinnendiener sich tatsächlich an führende Mafiosi ranmachen. Ich bekam gerade den dezenten Hinweis, dass einige Familienfürsten von unbekannten Damen besucht wurden, die nur zwischenSonnenuntergang und Sonnenaufgang eingelassen wurden. Eine von denen soll ein blutiges Hüftsteak beim Küchenpersonal geordert haben. Eine andere oder vielleicht auch dieselbe war auf einem Haustürvideo als wachsbleiche Gestalt zu erkennen. Was soll ich mit dieser Information machen?"
Einige Sekunden vergingen. Jeff hörte auf das sanfte Pochenin seinem Kopf. Eine so lange Nachricht abzusetzen kostete echt viel Konzentration. Dann vernahm er die Stimme seiner Frau in seinem Geist: "Ich reiche das weiter. Mach dich gefast, dass Davidson dich deshalb noch heute sprechen möchte, wenn du wieder bei Laura und mir bist." Jeff bestätigte das.
Als er wieder im Times-Gebäude war fand er sein Büro leer vor. Auf der Tastatur von Ralfs Rechner lag ein Zettel:
Bin wegen was dringendem länger außer Hause. Jeff, wenn was reinkommt bitte annehmen und falls nur für mich bitte Notiz.
Jeff prüfte den Anrufbeantworter von Ralfs Telefon und den von seinem. Auf Ralfs Apparat waren keine weiteren Nachrichten eingetroffen. Auf seinem Apparat war eine Nachricht von Jessica Walker, der Pressesprecherin des New Yorker FBIs: "Guten Tag, Mr. Bristol. Ich hoffe, Sie hören diese Nachricht noch rechtzeitig ab. Die Pressekonferenz morgen findet nicht statt. Der oberste Leiter des FBI hat die bisherigen Ermittlungsergebnisse zur Geheimsache erklärt. Nur so viel für Sieund ihre Leserschaft: Unbescholtene Bürgerinnenund Bürger werden nochmals darauf hingewiesen, bei verdächtigen Vorgängenin ihrer unmittelbaren Umgebung nicht die Stadpolizei, sondern das FBI New York anzurufen. Bitte fügen Sie dieser Mitteilung noch unsere Zentralennummer bei! Danke!"
"Hui, hat die werte Jess gerade den Cops die Butter und das Brot zugleich vom Teller gezogen", dachte Jeff. Dann wurde ihm klar, was die Nachricht bedeutete: Das FBI wollte möglichst viele Informationen sammeln, die sonst erst an die Polizei gingen. Das gab sicher Knatsch mit Cooper und Kollegen, dachte Jeff weiter. Doch er musste wohl durch den hingehaltenen Reifen hüpfen. Er bedauerte es jedoch, Ms. Walker nicht die betreffende Frage stellen zu können. Denn zu gerne hätte er gewusst, ob die Feds nicht auch schon an der Sache mit den unbekannten Besucherinnen dran waren.
Seinen restlichen Arbeitstag füllte er mit der Abschrift des Interviews aus. Seinem Vorgesetzten Dunston spielte er Jessica Walkers Nachricht vor. "Wäre auch zu schön gewesen, wenn die Feds uns mal in ihre Karten hätten gucken lassen. Aber offenbar hat da doch noch wer die Notbremse gezogenund wollte keine Pferde scheu machen, bevor Ross und Reiter nicht im Stall sind. Dann wünsche ich Ihnen und ihrer Familie noch einen schönen geschenkten Abend. Bis morgen!" sagte Dunston über interne Telefonleitung. Dann fiel ihm ein, nachzufragen, ob Ralf Burton sich wieder eingefunden hatte. Jeff verneinte es. "Ist kurz nach Ihnen sehr eilig rausgefahren, sagt der Kollege vom Garagendienst. Warten Sie nicht auf ihn!" Jeff bestätigte es und bedankte sich für die Feierabendgrüße.
Mit seinem Mustang fuhr er wieder nach Brewster zum Haus seiner kleinen Familie. Von dort aus musste er dann wirklich noch einmal per Flohpulver mit Elysius Davidson sprechen, der die Vampirexpertinnen und Experten des Institutes in seinem Büro versammelthatte. Jeff erstattete einen vollständigen Bericht. "Dann haben wir es wortwörtlich amtlich, dass die Götzinnendiener versuchen, die magielosen Verbrechergruppen zu kapern. Natürlich werden sie nicht jeden von denen zu neuen Gemeindemitgliedern machen, weil deren Zahl an Sonnenschutzfolien wohl begrenzt ist. Aber mit ihrem Unterwerfungsblick und entsprechenden Suggestivanweisungen können sie denen genauso zusetzen wie mit dem Imperius-Fluch", stellte einer der Vampirexperten fest. Jeffs im Kamin von Davidsons Büro hockender Kopf machte eine zweifache Nickbewegung.
"Die Adressen von diesen hohen Herrschaften haben wir Dank Ihnen ja schon erhalten. Dann werden wir denen eben ganz ungefragt auf die ehrenwerten Buden rücken und ausforschen, ob sie wirklich mit den Blutsaugern zu tun hatten", sagte Davidson. "Wir werden auch ohne Buggles ausdrücklichen Auftrag verhüten, dass diese Nachtgestalten die schlimmsten Verbrecher der Staaten für ihre Zwecke abrichten."
Ralf Burton sah sehr angespanntund abgekämpft aus, als Jeff ihn am nächsten Tag im Büro traf. "Frag mich bitte bitte nicht, was genau ich gestern noch erledigen musste, Jeff. Reicht mir schon, von Dunston zum Raport zitiert worden zu sein. Nur soviel: Ich hörte eine Tinwhistle trillern. Was ich aus dem Lied mache muss ich noch genau überlegen."
"So wie du aussiehst hat Tinwhistle dir was bei einem Marathonlauf oder bei vier Stunden Dauersex zugeflüstert", scherzte Jeff und nahm zur Kenntnis, dass Ralf Burton sichtlich ertappt dreinschaute. "Wie schon mal gesagt, Jeff, für dich Familienvater ist es sehr viel besser, wenn du nicht weißt, was ich mit Tinwhistle so zu schaffen habe."
"Hauptsache, du wirst nicht in eine Straftat reingezogen. Die Gefahr besteht bei uns von der Kriminalabteilung ja immer wieder", sagte Jeff. Ralf nickte wildund wiederholte, dass er nichts über Tinwhistle verraten würde. Jeff nickte beruhigend.
Weil die Pressekonferenz beim FBI ausfiel konnte er noch einige aufgeschobene Recherchenbeendenund daraus zwei Artikel machen. Es ging um illegale Giftmülldeponien in der Bronx und illegale organisierte Straßenrennen in Greenwich Village. Hierfür würde er wohl mit einem dortigen Revierleiter sprechen. Dann klingelte sein Telefon. Er hörte, dass Ralf aufschreckte, als wenn ihn das Geträller aus tiefem Schlaf gerissen hätte. Tatsächlich war Ralfs Bildschirm in den Energiesparzustand gewechselt, was hieß, dass er mindestens fünf Minuten weder mit Maus noch Tastatur gearbeitet hatte. Jeff nahm den Telefonhörer und meldete sich mit Firma und Arbeitsplatz.
"Hier Sonderagentin Brownloe, Mr. Bristol. Sie haben die Absage unserer Medienreferentin erhalten, nehme ich an?" fragte eine Jeff sehr bekannte Frauenstimme. Er bejahte es und wollte schon ansetzen, dass er hoffe, bald doch ein wenig mehr zu erfahren. "Ich weiß, dass Sie gestern bei Captain Cooper waren", blockte sie ihn abb. Er nickte nur und sagte nichts. "Ihm ist untersagt worden, weitere Ermittlungen in dieser Angelegenheit zu betreiben. Falls er Ihnen irgendwas mitgeteilt hat, was auch in unseren Zuständigkeitsbereich fällt möchte ich als die von meinem Vorgesetzten für die direkte Kommunikation mit Ihnen eingeteilte Agentin dringend darum bitten, nichts davon in irgendeiner Form zu verwerten."
"Captain Cooper gewährte mir einen Interviewtermin, bei dem es darum ging, welche Nachfolgen das Feuergefecht am zehnten Februar hatte und in welcher Weise die Stadtpolizei Kollateralschäden ermittelte und/oder verhindern konnte. Ich gehe sehr stark davon aus, dass Captain Cooper keine Absicht hat, Ihnen in irgendeiner Weise Schwierigkeiten zu machen, schon gar nicht, indem er uns Schreiberlingen irgendwelche geheimen Ermittlungsergebnisse zuspielt. Unsere langjährige gute Zusammenarbeit mit der Stadtpolizei und auch mit Ihrer Behörde darf nicht durch unzulässige Verlautbarungen gefährdet werden, so die Übereinkunft mit dem Polizeichef persönlich. Aber interessant, dass Ihre Behörde einen zuverlässigen Informanten in der New Yorker Polizeidienstleitung hat", sagte Jeff ganz ruhig. Denn genau deshalb hatte Cooper ihm ja gestern so viel nicht ganz so brisantes zu futtern gegeben.
"Öhm, ja, haben wir. Ein Verbindungsmann zwischen denen und uns, ganz legal. Gut, ich musste Sie nur entsprechend instruieren, falls jemand aus der NYPD der Meinung ist, irgendwas müsste veröffentlicht werden." Jeff konnte darauf nur antworten: "Der Meinung sind wir flotten Federschwinger immer, dass möglichst alles an die Öffentlichkeit muss, was das Wohl und Leben unserer Mitbürger betrifft. Aber das wissen Sie ja schon längst."
"Wohl auch deshalb musste ich Sie um einstweilige Zurückhaltung bitten", sagte Sam Brownloe. Dann verabschiedete sie sich von ihm. Er legte den Hörer auf. ""Wie selten dämlich war das denn jetzt", wisperte Jeff. Ralf, der gerade prüfte, wo er bei seiner eigenen Arbeit weggenickt war, fragte ihn: "Was wollte die Lady von den Feds von dir. Klang von deiner Seite her, als wollte die dir 'nen Maulkorb umbinden."
"Da hast du wohl richtig gehört. Die Feds sind wohl an was heißem dran und haben Angst, die Cops könnten uns Pressefritzen was stecken, dass wir bösen Zeitungsschmierer viel, viel zu früh rausposaunen, Tötörötötöö. Aber genau durch diesen Schnellschuss bin ich jetzt heiß drauf, was die da so verzapfen oder schon verzapft haben. Muss jedenfalls mit den großen neun zu tun haben. Kann sein, dass die schon wissen, was die demnächst vorhaben."
"Klar, die müssen jetzt klären, wer da Mist gebaut hat und wie das in Zukunft verhindert wird, damit kein offener Familienkrieg mit Vendetta und vorbeirauschenden schwarzen Limousinen mit schießwütigen Beifahrern passiert, Jeff. Ist fast so, als hätte irgendwer illegal eine Atombombe gezündet und die großen Fünf vom Weltsicherheitsrat müssten sofort klären, dass das kein Kriegsakt war."
"Oh, da rufst du aber gerade einen großen ... öhm Teufel, anstatt ihn nur an die Wand zu malen", erwiderte Jeff und erkannte gerade noch rechtzeitig, dass er nicht den für solche Unkenrufe typischen Zaubererspruch, sondern die Muggelfassung bringen musste.
"Klar, dass die uns nicht dabei haben wollen, wenn die irgendwo reinstürmen und es laut knallt. Womöglich hoffen die Feds sogar, das sie endlich was zu fassen kriegen, um alle neun aus dem trüben Wasser zu fischen, in dem sie sich so gut verstecken", sagte Ralf. Jeff meinte dazu nur: "Petri heil!"
Nachmittags verbrachte er eine schöne Zeit mit seinen Schwiegereltern und seiner Frau und der kleinen Laura Jane, die ja heute ihren großen Tag feierte. Jeff dachte beim Anblick der aus ihrem Kinderstuhl winkenden Babyhexe, was er um ihre Geburt herum für abgedrehte Träume hatte. Seitdem er auch beim Baden und Wickeln mithelfen konnte hatten diese Träume aufgehört. Allerdings hatte die kleineLaura Jane ihre Metamorpheigenschaften noch mehr ausgefeilt. Saß sie vorhin noch mit hüftlangen blonden Haaren da, hatte sie unvermittelt nachtschwarze Locken. Einmal blickte sie ihn aus blauen Augen an, dann aus smaragdgrünen Katzenaugen. Jeff überlegte, ob er sich mal mit dem Ministeriumszauberer Curtis Newton unterhalten sollte. Dessen Sohn Otto hatte ja auch Metamorphmagische Eigenschaften geerbt.
"Und puuuuuuusten!" kommandierte Lauras Großmutter mütterlicherseits. Laura Jane blies ihre Pausbacken noch runder auf als sie schon waren und blies so kräftig in die kleine Kerzenflamme, dass diese wild wackelte, sich duckte und dann mit einem leisen Knistern ausging. "Jaaaa!!" jubelten alle Gäste und klatschten fröhlich Beifall. "Auf dass dein zweites Lebensjahr hoffentlich friedlich verläuft", dachte Jeff Bristol. Er hoffte es. Denn für sich und Justine fürchtete er ein turbulentes Jahr.
Am Morgen nach dem nur alle vier Jahre begangenen Tag frühstückten die Latierres in Ruhe. Linda und Gilbert sprachen mit Ursuline und Ferdinand. Julius konnte nicht verstehen worum es ging, bis sich eine Gelegenheit ergab, dass Linda auch mit ihm sprach. Danach wünschte er sich, er wäre nicht so neugierig gewesen. Denn Linda und Gilbert hatten die letzten Wochen wie Geheimagenten im Feindesland erkundet, wie die Lage in Italien war. Dabei hatte Linda ein Gespräch zwischen Ministeriumszauberern abhören können, die sich über eine gewisse Sie unterhalten hatten, die wohl das Sagen im Ministerium hatte. Julius war sofort klar, wer damit gemeint war. Denn der italienische Zaubereiminister Romulo Bernadotti war ja eindeutig ein "Er".
"Also, ihr seid euch sicher, dass die Wiedererwachte schon genug Leute im Ministerium hat, ja vielleicht auch schon den Minister unter ihrer Herrschaft hält?" fragte Julius Linda.
"Sagen wir es so, es passt zu anderen Anzeichen, die Gilbert und ich beobachten und mithören konnten. Deshalb bin ich froh, dass Gilbert und ich noch unbehelligt aus Italien rausgekommen sind und dass wir bei der Landung hier am Schloss keine dunklen Zauber in oder an uns verspürt haben, die der Sanctuafugium bekämpft hätte."
"Ja, aber ihr könnt jetzt nicht laut ausrufen, dass Italien schon der Montefiori gehört, weil ihr ja dann beweisen müsstet, ob es stimmt oder nicht", raunte Julius.
"Das ist uns bewusst, Julius. Aber Gil und ich haben ja schon vor unserer Hochzeit genug inoffizielle Kontakte geknüpft, die sich für diese Sache interessieren. Sollte da demnächst noch was aufkommen, was bestätigt, dass Ladonna Montefiori das italienische Zaubereiministerium beherrscht sollten es alle wissen, die Verantwortung tragen. Im Moment würde ich dort auf keinen Fall eine internationale Veranstaltung stattfinden lassen, bei der hochrangige Hexen und Zauberer mitwirken oder zu Gast sind", erwiderte Linda. Julius nickte nur. Sicher, im Moment war alles nur ein Verdacht, auf mitgehörten Gesprächen oder seltsamem Verhalten errichtet. Doch wie schnell war aus befremdlichen Anzeichen eine düstere Gewissheit geworden? Gerade das dunkle Jahr zwischen 1997 und 1998 war ja nicht urplötzlich möglich geworden, sondern das Ergebnis einer geheimen Vorbereitung.
"Du hast mit Hippolyte gesprochen?" fragte Julius. "Nein, das überlasse ich doch dann besser Gilbert. Der kennt seine Cousine besser und weiß, was er ihr wie erzählen kann und wie er ihre Fragen beantworten kann. Ich wollte nur nicht meinen Geburtstag mit dieser düsteren Nachricht verderben", sagte Linda noch. Julius verstand sie sehr gut. Wo er zum zweiten mal in Millemerveilles seinen Geburtstag gefeiert hatte und seine Mutter dorthin eingeladen worden war ging es ja auch darum, was ihr vom Aufstieg des dunklen Lord erzählt werden sollte und was nicht.
Immerhin gelang es den feiernden, den Morgen des ersten März noch fröhlich und beschwingt zu verbringen. Gegen Mittag reisten alle Gäste wieder ab, auch wenn Ursuline anbot, dass sie noch alle zum Essen bleiben konnten.
Als Millie und Julius wieder im Apfelhaus ankamen fanden sie einen Brief in ihrem Eulenpost-Briefkasten. Camille und Florymont würden das Willkommensfest für die vier ganz jungen Töchter am 29. April feiern, weil bis dahin alle die wieder Zeit zum mitfeiern haben würden, die in den nächsten Wochen sehr ausgelastet waren.
Von der abends zusammenkommenden Runde ganz junger und nicht mehr ganz taufrischer Väter musste sich Florymont als einer der ersten verabschieden, weil er doch Albericus' und Brunos Herausforderung angenommen hatte, für jedes neue Kind eine halbe Flasche Wein zu leeren, wobei sie hier schon auf exquisiten Schaumwein umgestiegen waren. Dieser Luxusberauscher hatte jedoch die Tücke, dass er erst nach einer halben Stunde seine volle Wirkung entfaltete. So war es an Julius, der von dem Champagner schon leicht beschwipst war, Camilles Ehemann ins Badezimmer zu geleiten und dann auf Geheiß Camilles in den Salon zu bringen, wo sie für ihn das Gästeschlafsofa fertiggemacht hatte. "Reicht mir im Moment schon aus, vier quängelige Wesen im gleichen Zimmer zu haben", meinte sie ein wenig angenervt.
Bruno verlor gegen Albericus eine Wette, wer am schnellsten eine der teuren Schaumweinflaschen leerbekam und dann noch störungsfrei laufen und sprechen konnte. Julius begriff, warum Camille und Jeanne sich das Gelage hier nicht ansehen wollten. Einige male musste er gegen die ihm anerzogenen Pflegehelfermechanismen ankämpfen, die zwei zur Ordnung zu rufen. Als dann Bruno wahrhaftig unter dem Tisch landete und Albericus mit noch einigermaßen klarer Aussprache seine leere Champagnerflasche schwenkte und seinen Sieg verkündete meinte Camilles Bruder Emil: "Klar, Zwergenblut."
"Jujus, glaubsse, du kanns mehr als B-bruno-ho?" fragte Albericus.
"Bei dem Wettrennen ist ein Vorsprung ein Hindernis, Berie. Ich will keinen Krach mit deiner Frau haben, dass ich dich ihr kaputtgesoffen habe", sagte Julius noch einigermaßen klar sprechend. Doch es gab noch einige andere junge Väter, die meinten, mehr als Bruno auszuhalten. So geschah es dann doch, dass Albericus kurz vor zehn Uhr abends mit einem letzten: "Wer t-t-ra-haaut s-sich n-nochchch?" unter den großen Tisch im Esszimmer sank und liegenblieb. "Okay, Jungs, der große Champion liegt auf den Brettern. Die Runde ist durch", meinte Julius und mentiloquierte Millie an, sie möge den Eimer im Gästezimmer ans Bett stellen.
"Und natürlich konntest und durftest du ihn nicht davon abhalten, echt mit jedem von denen ein ganzes Glas Champagner leerzutrinken", grummelte Millie. Béatrice sagte dazu nur: "Immerhin hat Julius den Weg nach Hause noch fliegen können. Ich lege besser mal Alraunen-Ohrenschützer bereit, damit wir das Gejammer nicht mithören müssen."
"Dann höre ich aber die Kleine nicht mehr", meinte Millie. Das konnte Béatrice nicht bestreiten. Also zog sie ihren Vorschlag zurück.
Tatsächlich fühlte sich Albericus am nächsten Morgen sehr müde und meinte, eine ganze Bergwerkskompanie Zwerge in seinem Kopf herumhämmern und -hacken zu fühlen. Doch er grinste, wenn er davon sprach, welche achso starken Jungs er vorher unter den Tisch gesoffen hatte.
"Tja, soweit zum großen Einstieg in die große Ankunft aller Frühlingskinder", sagte Julius zu seiner Frau, als Albericus um elf Uhr durch den Verschwindeschrank ging, um vom Sonnenblumenschloss aus in sein Honigwabenhaus in Paris zurückzukehren, um rechtzeitig genug dort zu sein, um Miriam von der Schule abzuholen.
"Ich wurde gefragt, ob ich das mitbekommen habe, dass in Millemerveilles Wetten laufen, welche der schwangeren Hexen als erste ihre Kinder kriegt", sagte Millie. "Camille war ja schon außer Konkurrenz."
"Und, wie stehen die Quoten?" wollte Julius wissen. "Öhm, Tante Trice, Hera Matine und Heilerin Anne Laporte sagen ganz klar, dass wir Pflegehelferinnen und Pflegehelfer uns nicht an derartigen Wetten beteiligen dürfen, mein Erdenprinz."
"Ich will doch nicht mitwetten, ich will's doch nur wissen", nölte Julius. "Also, die meisten gehen davon aus, dass die ältesten von denen zuerst niederkommen. Aber einige meinen, dass die ganz jungen Hexen vielleicht doch wegen der ganzen Aufregung und weil sie eben noch ganz jung sind eher dran sind."
"Na ja, da haben wir ja doch gewisse Erfahrungen", meinte Julius und sah Millie an. "Auch ein Grund, warum die drei großen Heilhexen uns das Mitwetten verboten haben." "Ach, weil wir zu viel Wissensvorsprung haben?" fragte Julius. Millie grinste. "Öhm, das wohl auch", gab sie zur Antwort.
"Sagen wir mal so, wir können verdammt froh sein, dass das mit Ammayamirias Lichternetz geklappt hat und die alle hier in Ruhe ihre Kinder bekommen können und die Kinder dann wohl auch hoffentlich in Frieden groß werden können", seufzte Julius. "Wegen dem, was Gilbert und Lino gesehen und gehört haben, Julius? Kann sein, dass ich da stur bin. Aber um das hinzunehmen, dass dieses Viertelveela-Flittchen jetzt in Rom den Ton angibt hätte Lino die halbe Sabberhexe selbst jemandem Anweisungen geben hören müssen. Ich weiß auch nicht, ob Ma ihr oder Gilbert das abnimmt und wenn ja, was sie dann machen soll. An und für sich will sie ja die zweite Chance nutzen, dass Frankreich den Titel verteidigt."
"Ich gebe dir und damit auch Belle-Maman Hipp insofern recht, dass inoffiziell mitgehörte Gespräche noch nicht reichen, um da alle Wichtel der Welt auf die Dächer zu jagen. Aber wie wir das ja aus dem dunklen Jahr mitbekommen haben, vor allem wie schnell da ein einziger Massenmörder das ganze Ministerium mit seinen Leuten umgebaut und am Nasenring geführt hat ist schon gruselig genug, dass ich mir vorstellen kann, dass Ladonna Montefiori sowas ähnliches in ihrem Geburtsland abzieht. Ich denke aber auch, dass sie das noch heimlicher über die Bühne bringt, dass die, die es betrifft, erst was davon mitkriegen, wenn nichts mehr zu ändern ist. Genau davor graut es mir am meisten. Stell dir vor, die lässt es ganz ruhig darauf ankommen, dass viele Zaubereiministerinnen und Zaubereiminister in einem großen Raum zusammenkommen und nimmt die dann als Geiseln oder schlimmer, macht irgendwas, dass die ihr auch gehorchen. Bokanowski hatte da was sehr wirksames und die Willenswickler aus Slytherins Bildergalerie waren auch sehr gruselig", sagte Julius. Millie sah ihren Mann anund mentiloquierte: "Ich denke, Catherine ruft uns vom stillen Dienst bald zusammen." Julius schickte zurück, dass er das hoffte. Aber dafür müsste Catherine erst einmal wissen, was Linda und Gilbert mitbekommen hatten. "Stimmt, Lino will es ja ihren Leuten in den Staaten zuspielen, Gil nur seinen Spezis aus der Liga gegen dunkle Künste. Könnte also dauern, bis das bei Catherine und ihrer Mutter ankommt." Dann hellte sich ihr Gesicht auf. "Wollen wir Claudine und Catherine heute zum Mittagessen einladen?" fragte sie mit hörbarer Stimme. Julius überlegte kurz und sagte dann: "Du meinst, wo wir jetzt im Moment Ruhe vor dem großen Ansturm haben, Millie. Rorie freut sich bestimmt und Chloé Dusoleil sicher auch, wenn sie auch dabei sein darf."
"Chloé? Du meinst, die könnte nach den zwei Tagen schon total von den vier kleinen Schreischwestern genervt sein?" fragte Millie. Julius schloss das zumindest nicht aus. Immerhin hatte sich Aurore schwer an Chrysope und Clarimonde gewöhnt, und die waren schön weit nacheinander angekommen. "Okay, dann klärst du das mit den Dusoleils, ob Chloé mit Claudine zu uns rüberkommen darf und gibst es gleich an Catherine weiter, dass sie für Mittags nichts machen muss! Ich bin dann mal in der Küche." Julius bestätigte es.
Für ihn war es kein Akt, Camille und dann Catherine anzumentiloquieren. Tatsächlich hatte Chloé schon gefragt, ob sie nicht zu Bruno und den anderen Kindern umziehen sollte, weil sich jetzt alles um die vier Kleinsten drehte. Nach wenigen Minuten wusste Julius, dass Chloé die Erlaubnis hatte, bei den Latierres zu Mittag zu essen. An Catherine schickte er die Botschaft: "Millie möchte dich und Claudine zu uns einladen. Für Rorie und Chloé ist das sicher auch schön, mit einer zusammen zu sein, die schon was von der Schule erzählen kann, falls sie möchte. Außerdem hat unsere neue Anverwandte was gehört, was ihr ein wenig Angst macht und ich würde dich gerne fragen, ob diese Angst berechtigt ist, aber nicht vor allen Leuten fragen."
"Gut, ich komme um halb zwölf zu euch rüber. Claudine ist ja bis zwölf in der Schule. Wir holen sie dann zusammen ab", mentiloquierte Catherine.
Tatsächlich fauchte Catherine um halb zwölf aus dem Kamin in der Wohnküche auf der dritten Etage des Apfelhauses. Sie trug ihren Sohn Justin in einem besonderen Tragesack auf dem Rücken und ihren Ganymed 9 unter dem linken Arm. Als sie aus dem Kamin stieg lobte sie Millie für das gerade in Arbeit befindliche Drei-Gänge-Menü. Dann ließ sie sich von Julius zeigen, wo sie Justin hinlegen konnte, dass sie schnell wieder bei ihm sein konnte, falls er was brauchte. Er kam in das für Clarimonde vorbereitete kleinere Zimmer, in dem im Bedarfsfall auch drei Babys schlafen oder gewickelt werden konnten. Dann suchten Catherine und Julius den kleinen Raum auf, in dem schon so manches Interview und so manche geheime Unterredung stattgefunden hatten. Um die ineinander verflochtenen Zauber des Apfelhauses nicht zu beeinträchtigen konnte hier nur ein zeitweiliger Klangkerkerzauber errichtet werden. Dies erledigte Julius, nachdem Catherine die Tür von innen geschlossen hatte. Als das ockergelbe Zauberlicht alle Wände, die Decke und den Boden überzog nahmen er und sie an dem kleinen Tisch platz, an dem bis zu vier Leute sitzen konnten.
"Kommen wir wegen der Zeit auf den Punkt. Was genau hat Linda Latierre-Knowles wo mit ihren biomaturgischen Ohren gehört, Julius", ging Catherine gleich auf den wahren Grund für den Besuch ein.
"Linda und Gilbert waren in Verkleidung mittels Zaubererweltkosmetik als südamerikanisches Touristenpaar in Italien. Dabei hat Linda einige Ministeriumszauberer belauschen können, die von Vorbereitungen sprachen, bei denen eine gewisse "Sie" wohl eine Konferenz der Zaubereiminister erwartet. Sie hat mir das auf meine Anfrage hin genauer aufgeschrieben", antwortete Julius und übergab Catherine ohne weitere Bitte den von Linda zugesteckten Pergamentbogen. Catherine las ihn kurz quer und wiegte dann den Kopf, als müsse sie eine darin steckende Bleikugel ins Lot bringen. Dann sagte sie: "Ich hatte schon befürchtet, sie hätte gehört, wie diese ominöse "Sie" persönlich wichtige Ministeriumszauberer herumkommandiert, Julius. Seitdem diese dunkle Dame wieder unter den wachen Leuten weilt rechnen wir von der Liga und vor allem meine Mutter und ich damit, dass sie sich eine sichere Organisation verschafft, um besser vor neuen Anfeindungen geschütz zu sein und ihre früheren Ziele wieder wortwörtlich in Angriff zu nehmen."
"Dann gehst du auch davon aus, dass sie sich das italienische Zaubereiministerium gesichert hat?" fragte Julius. "Sagen wir es so, Zeit genug dafür hatte sie wohl, und durch die Sache mit Sardonias Kuppel und die Auswirkungen der weltweiten Welle dunkler Magie konnte sie sicher unbemerkt genug vorgehen. Ich weiß auf jeden Fall aus der Liga, dass sie einige Nachfahrinnen ihrer ehemaligen Ordensschwestern kontaktiert hat, um ihren eigenen Hexenorden von der Feuerrose wiederzubeleben. Einige dieser Hexen sind danach spurlos verschwunden, andere haben sich neue Betätigungsfelder gesucht. Die größte Gefahr geht wohl von denen aus, die sich weiterhin unauffällig verhalten können. Außerdem wird sie aus ihrem Versäumnis damals gelernt haben, sich nicht nur einen eigenen Hexenorden zu verschaffen, sondern auch mächtige Hexen und Zauberer von außerhalb in ihren Dienst zu zwingen. Im Grunde gilt für sie das gleiche wie für andere im Untergrund tätige Leute: Wenn sie nur einen sicheren Helfer oder eine Helferin auf der anderen Seite hat, braucht sie diese Person nur zu instruieren, ihr die wichtigsten anderen Leute auszuliefern. So ähnlich hat ja auch Tom Riddle das britische Zaubereiministerium infiltriert und schließlich übernommen. Ich fürchte, Ladonna Montefiori wird auch ohne Kenntnis von Riddles Vorgehen heimlicher vorgehen. Ihr Tagebuch verriet mir, dass sie wohl auch auf Grund ihrer besonderen Abstammung Magie wirken kann, die für reinrassig menschliche Hexen und Zauberer unmöglich oder äußerst schwer zu wirken ist. Du kennst ja die Veelazauber und erinnerst dich ganz sicher noch an die grüne Gurga Nal." Julius nickte so heftig, dass sein Kinn gegen seine Brust stieß. Wie hätte er auch die grüne Hybridin aus Riesenvater und Waldfrauenmutter vergessen können? Auch wusste er genau, was Catherine mit dieser Andeutung bezweckte. Wenn Ladonna sowohl Veela wie auch Waldfrauen als Vorfahren hatte konnte sie deren beider besondere Kräfte vereinen und diese mit den zauberstabbasierten Künsten und magischer Alchemie verbinden. Im Grunde konnte sie sich damit die ganze Welt holen, ohne dass jemand es mitbekam, bevor sie sich offen hinstellte und ausrief, dass ihr ab heute alles und jeder gehörte.
"Da frage ich dich gleich und ohne Umweg, wie du dich gerade fühlst, wo du weißt, dass sie genau die Leute auf ihrer Abschussliste hat, die ihr Tagebuch kennen", sagte Julius.
"Sagen wir es so: Rein vernunftgemäß müsste ich Joe, Babette, Claudine, Justin und mich bis auf weiteres in unserem Haus in der Rue de Liberation einschließen, weil dort nichts und niemand mit dunkler Magie hineinkommt. Selbst die Schlangenmenschen konnten dort nicht eindringen. Andererseits ist es nicht hinnehmbar, dass die unbescholtenen Leute eingesperrt sind, während die Verbrecherinnen und Verbrecher frei herumlaufen. Sicher weiß ich, dass Ladonna sich erkundigen wird, wer ihr Tagebuch gefunden und gelesen hat. Sicher weiß ich auch, dass sie über ihre neuen Schwestern herausbekommt, wer es trotz des Rosenblütencodes übersetzt hat und ich deshalb mit meiner Familie zu den von ihr geächteten gehöre. Das ist schon mal ein Grund, warum ich Joe und seinen Eltern konsequent davon abgeraten habe, bis auf weiteres nach Italien zu reisen, schon gar nicht nach Florenz, wo sie sich ja mit Hilfe eines magielosen Lebemanns - Ihr Briten nennt sowas auch Playboy - eine feste und sichere Basis geschaffen hat, eine dunkle Verkehrung des Sanctuafugium-Zaubers, der ihre erwiesenen Feinde sicher fernhält beziehungsweise vernichtet, sobald sie den bezauberten Bereich betreten. Seitdem wir von der Liga wissen, dass sie wieder aufgewacht ist trägt jeder und jede von uns mindestens eine Goldblütenhonigphiole bei sich und ein weiteres Schutzartefakt mit Curattentius-Bezauberung oder noch wirksameren Abwehrkräften." Mit diesen Worten holte sie jenes aus Silber, Saphiren und Diamanten bestehende Schmuckstück hervor, welches sie bei der Konfrontation mit dem afrikanischen Superdibbuk Otschungu und der Tochter des schwarzen Felsens dabei hatte. Julius nickte. Catherine steckte den von einer gewissen Eulalia Bellavista angefertigten Talisman wieder fort.
"Da sie aber wohl selbst nicht dauerhaft auf einen kleinen, noch so sehr geschützten Bereich beschränkt bleiben will wird sie sich weitere sichere Stützpunkte und die erwähnte sichere Organisation erschaffen, die ihr hilft", sprach Catherine weiter. Julius nickte zustimmend.
"Meine Schwiegermutter erwähnte eine den Mafia-Clans ähnelnde Bruderschaft, die Lupi Romani. Ich weiß nicht, wie mächtig die im Vergleich zum italienischen Zaubereiministerium sind. Ich denke jedoch, dass die zu patriarchalisch organisiert sind, um von Ladonna geduldet zu werden", sagte Julius. Catherine nickte. "Ja, und deshalb glaube ich, dass Lindas scharfe Ohren da wirklich was gefährliches mitgehört haben. Denn Ladonna wird nicht an zwei oder drei Fronten zugleich kämpfen. Das heißt, sie wird sich erst die wichtigste Organisation der italienischen Zaubererwelt vornehmen, und das ist sicher wie bei uns in Frankreich das Zaubereiministerium. Nebenbei wird sie sicher auch die bestehenden dunklen Schwesternschaften auskundschaften und wohl auch infiltrieren, um sie gegebenenfalls zu destabilisieren oder zu übernehmen", vermutete Catherine. "Am besten ohne jeden Lärm und ohne Wiederstand", vermutete Julius noch. dem stimmte Catherine zu.
"Du hast gerade was erwähnt, dass Ladonna Magie anwenden könnte, die reinrassig menschliche Hexen und Zauberer gar nicht oder äußerst selten nutzen können. Was genau meinst du damit? Sowas wie einen erweiterten Imperius-Fluch, womöglich ohne direkten Sichtkontakt und über größere Entfernungen?" fragte Julius.
"Sie erwähnt in ihrem Tagebuch in der für ihren Charakter offenbar typischen Selbstverherrlichungspoesie, dass ihre Widersacher im betörenden Duft der Feuerrose zu fügsamen Verehrern und Getreuen werden, egal wie viele auf einmal sie bedrängen oder wie viele sie auf einer Stelle vorfindet. Wie genau dieser "Duft der Feuerrose" funktioniert verschweigt sie, offenbar weil sie dieses Geheimnis entweder nur alleine nutzen kann oder es ins Grab mitnehmen wollte", sagte Catherine. Julius konnte dazu nur erwidern: "Es wäre ihr zu gönnen, wenn sie das täte." Catherine räusperte sich zwar, musste jedoch zustimmend nicken. Dann sagte Julius ganz ernst: "Also, wenn sie auf Veelazauber zurückgreifen kann könnte sie ähnliche Gemeinheiten bringen wie Euphrosyne Blériot, die ihre eigenen Haare benutzt hat, um sich treue Gehilfen zu schaffen. Abgesehen davon können Veelas mit ihrer Stimme viel Magie wirken, genauso wie die Waldfrauen. Was ähnliches ging ja auch mit dem Insistivox-Zauber, der auch als Stimme des Siegers bezeichnet wird. Aber der kann mit Schutzzaubern wie Curattentius und/oder Goldblütenhonigphiolen abgewehrt werden", wusste Julius aus ganz eigener Erfahrung. Immerhin hatte er damals bei der Befreiung seiner Mitschüler aus der Gewalt der Todesser Snapes magische Stimmbezauberung nur deshalb ausgehalten, weil er seine Goldblütenhonigphiole dabei hatte.
"Eulalias Amulett ist in der Hinsicht sogar fünfmal so stark wie eine Goldblütenhonigphiole, wenn es vollständig aufgeladen ist", sagte Catherine. "Ja, und Aura Calma kann diesen Zauber auch abwehren. Darüber hinaus habe ich bei unserem Ausflug in die geheime Stadt ja auch einige nützliche Schutzzauber der Luftmagie erlernt, um stimmliche Zauber zu blockieren. Aber stell dir mal vor, dass sie mit einer Mischung aus möglichem Willensbeeinträchtigungsgas wie dem Rauschnebelderivat Traumhauch und ihrer von ihren Vorfahren ererbten Stimme ungeschützte Menschen unterwerfen kann. Dann wäre das auf jeden Fall eine sehr mächtige Kraft."
"Ja, aber der Traumhauch ist von der Größe und abgeschlossenheit des Raumes abhängig, in dem er ausgebracht wird", sagte Julius. Catherine nickte. "Wie erwähnt hat Ladonna in ihrem Tagebuch nicht verraten, was genau der Duft der Feuerrose ist, nur dass sie damit jeden am Ort seiner Anwendung stehenden Feind betören und unterwerfen kann, also im Grunde eine vielfache Verstärkung der Veela-Aura, weil dieser Zauber ja andauernd wirken muss. Darüber hinaus vermute ich, dass sie jeden ihr verfallenen Menschen aus sicherer Entfernung anleiten kann, über eine Kombination aus Exosenso-Zauber und Mentiloquismus, die wir reinrassig menschlichen Zauberkundigen nicht hinbekommen. Das dürfte ihr eine ähnliche Macht geben wie den Abgrundstöchtern oder dieser Abgöttin der Vampire, die in den letzten Monaten so stark wurde."
"Öhm, dann haben wir genau das, wovon wir es gerade hatten, eine Art erweiterter Imperius ohne ständigen direkten Sichtkontakt zum Opfer", fasste Julius zusammen. "Habt ihr auch Schutzvorkehrungen vor ungewünschten Portschlüsselreisen?" fragte Julius Catherine. Diese bejahte es. Immerhin hatte ihre Mutter genug Antiportschlüssel von ihm und Florymont erhalten. Er nickte, als er die Bestätigung an Catherines linkem Handgelenk gleich hinter dem Uhrenarmband sah. "Wenn wir uns beim Stillen Dienst noch einmal treffen bringe ich euch besser noch den Zauber zum Schutz vor Feindesaugen bei und das Lied des inneren Friedens, um den eigenen Geist gegen äußere Einflüsse abzuschirmen. Ich hoffe, dass das gegen diesen "Duft der Feuerrose" hilft. Catherine hoffte das auch. "Gut, ich werde meine Mutter und damit auch Phoebus Delamontagne und die Liga gegen dunkle Künste darauf hinweisen, dass unsere Befürchtung sich wohl bewahrheitet, dass Ladonna Montefiori das italienische Zaubereiministerium unterwandert oder gar schon unterworfen hat. Wie wir dann unser Zaubereiministerium davon unterrichten weiß ich im Moment noch nicht", sagte Catherine. Julius nickte. Mehr konnte und wollte er im Moment auch nicht erreichen. Dann fiel ihm noch was ein, was er hier und jetzt noch anbringen musste, wo sie beide sich über dieses Thema unterhielten.
"Hat Laurentine eigentlich auch Schutzbezauberungen von dir oder deiner Mutter erhalten, wenn sie mal nicht in eurem Haus oder hier in Millemerveilles unterwegs ist?"
"Eine Kette mit zwei Goldblütenhonigphiolen und in die Kettenglieder eingewirkte Schild- und Warnzauber, sowie einen der Frühwarner, von denen du ja auch einen bekommen hast. Soweit ich weiß fechtet Madame Arachne gerade mit dem überlebenden Inhaber von Weasleys zauberhafte Zauberscherze aus, ob sie dessen Patent für mit Schildzaubern belegte Kleidungsstücke nutzen und mit ihren Runenweberkünsten ausfeilen darf. Vielleicht wäre da für dich eine Gelegenheit, zu vermitteln, wo du wegen der ganzen erwarteten Kinder bis April in Millemerveilles bleibst." Julius nickte. Dass die Zauberschneiderin, die sich nach dem altgriechischen Vorbild Madame Arachne nannte viele nützliche Zauber in Form von eingewebten Runen dauerhaft wirksam machen konnte wusste er ja. "Außerdem hat Laurentine auf mein Anraten hin einen auf große Angst oder einen magischen Einfluss auf ihren Geist ansprechenden Notflucht-Portschlüssel dabei. Wo sie ihn trägt verrate ich besser nicht, auch wenn ich sicher bin, dass du es nicht an ihre und unsere Feinde weitergibst."
"Will sagen, wenn jemand sie unter Imperius nehmen will verschwindet sie ohne selbst was machen zu müssen?" Catherine nickte. "Ich habe auch schon von der Quelle, die diese Variante des Notfall-Portschlüssels herstellt die Rückmeldung, dass Joe, Babette, Claudine und ich ein solches Fluchtmittel erhalten, auch wegen Vita Magica. Bei der Gelegenheit: Womöglich wird Ladonna, wenn sie das Ministerium ganz sicher beherrscht, einen Vernichtungsfeldzug gegen Vita Magica führen oder schon begonnen haben. Wir von der Liga erfuhren, dass es um den 25. Juli herum auf Sizilien eine magische Katastrophe mit verstärktem Schmelzfeuer gegeben haben soll. Allerdings bekamen unsere italienischen Bundesgenossen nicht mehr heraus, als dass es auf Sizilien geschehen ist."
"Schmelzfeuer? Heftig! Aber das würde zu ihr passen, wo sie ja offenbar gerne mit Feuerzaubern herumwerkelt", sagte Julius. Er erinnerte sich noch ganz gut an den Vorfall, den Millie als weit entfernten Ausbruch von Feuermagie wahrgenommen hatte. Dann sagte er noch: "Hmm, und dass das italienische Zaubereiministerium das nicht näher erläutert hat hat euch nicht verwundert oder beunruhigt?" fragte er. Catherine erwiderte darauf, dass die in Italien lebenden Ligamitglieder nicht so gut mit dem dortigen Zaubereiministerium vernetzt waren wie die in Frankreich, Deutschland oder nun auch wieder Großbritannien und dass Informationen um drei oder vier Ecken über zwei, drei oder vier Zwischenstellen übermittelt wurden. "Bisher sahen wir das als großen Nachteil, Julius. Es könnte sich aber jetzt auch als Vorteil erweisen, nicht direkt wen im Ministerium zu haben, weil der oder die dann womöglich ebenfalls von Ladonna unterworfen werden könnte, auch wenn die Mitglieder der Liga ihre Schutzzauber gelernt haben." Julius konnte dem nur beipflichten.
"Gut, dann haben wir jetzt wohl alles wesentliche besprochen", sagte Catherine und blickte auf ihre Armbanduhr. "Dann holen wir mal Claudine ab und verkünden ihr die frohe Botschaft, dass wir heute bei euch zu Mittag essen", sagte sie. Julius bestätigte es und öffnete die Tür. Damit beendete er ohne weiteres Zuttun den Klangkerkerzauber.
Mit Aurore auf dem Besen flog Julius hinter Catherine her. Sie erreichten das Grundschulhaus, um das nun auch fünf junge Apfelbäume standen nach nur drei Minuten Flug. Gerade wurde von Schuldiener Grandville die dreistimmige Glocke zum Stundenende geläutet. Julius wusste, dass hier in Millemerveilles nicht so strickt auf ein diszipliniertes Verlassen des Unterrichts geachtet wurde wie in Beauxbatons. Doch offenbar reichte es den Lehrerinnen und Lehrern, wenn die ihnen anvertrauten Schulkinder sie im Chor verabschiedeten. Jedenfalls wuselten die jetzt schon mit dem Schultag fertigen Kinder eilig aus dem sich von selbst öffnenden Tor. Wie es die Vorschrift verlangte mussten die Eltern der Kinder vor dem Tor warten, solange es kein Elternsprechtag war und solange nicht jemand von ihnen von einem Klassenlehrer oder Schuldirektrice Dumas persönlich eingeladen worden war. So standen Catherine, Julius und Aurore zusammen mit Jeanne und Chloé Dusoleil sowie Edouard Delamontagne vor dem Tor, als Claudine zusammen mit Viviane Dusoleil und Baudouin Delamontagne durch das Tor kam. Aurore guckte derweilen die großen bunten Buchstaben über dem Tor an und erkannte die großen Es, das A und die Rs im bunten Schriftzug "ÉCOLE PRIMAIRE DE MILLEMERVEILLES"
Als Claudine ihre Mutter sah winkte sie wild. Dann sah sie auch Julius und Aurore und strahlte Aurore an, die sehr erfreut zurückwinkte. Catherine sagte ihrer zweitgeborenen Tochter, dass sie von Aurores Eltern zum Mittagessen eingeladen worden wären, was Claudine sehr freute.
Geneviève Dumas verließ mit ihren Kolleginnen Beaumot, Hellersdorf und Bleulac das Schulgebäude. Julius sah Laurentine an, dass sie sich in der Gruppe der hochschwangeren Mehrlingsmütter nicht so recht wohlfühlte. Als Sandrines Mutter Julius sah winkte sie ihm zu und bat ihn, kurz zu ihr hinüberzugehen. Er übergab Aurore in Catherines Obhut und lief zwischen den aus dem Schulhaus wuselnden Kindern hindurch durch das schlosshofartige Tor auf das Schulgelände. Sofort fühlte er einen kurzen Wärmeschauer. Der durch die hier gepflanzten Apfelbäume aufrechtgehaltene Zauber, den er mit Millie und den Kindern Ashtarias ausgeführt hatte, wechselwirkte wie bei ihm zu Hause mit seiner Lebensaura.
"Öhm, gut, dass du auch gekommen bist, Julius. Kannst du heute Nachmittag um vier nach der letzten Glocke noch mal herkommen? Die Kollegin Montrieu hat darum gebeten, schon ab morgen vom Unterricht freigestellt zu werden."
"Kein Thema, wo ich die nächsten Wochen eh in Millemerveilles bleibe. Aber denke bitte dran, dass wir Pflegehelfer sofort für Geburtshilfemaßnahmen zur Verfügung stehen", sagte Julius. Die Grundschuldirektrice nickte.
"Ich muss heute noch die Stunden vom Kollegen Grandville übernehmen, weil der für die Kollegin Montrieu einspringt, Julius. Also gilt für mich die Vorschrift, erst dann mit Kindern aus der Grundschule privat zusammenzusitzen, wenn mein Arbeitstag offiziell um ist", sagte Laurentine, die Millies und Julius' Einladung gerne angenommen hätte. Claudine fand das zwar ein wenig traurig. Doch ihre Maman erklärte ihr, dass es gerade in einem kleinen Ort wie Millemerveilles wichtig sei, Arbeit und gewöhnliche Zeit klar zu unterscheiden.
"Joe ist in Paris geblieben?" fragte Laurentine. Catherine bestätigte, dass er heute seinen Heimarbeitstag habe und zudem auf einen Anruf seiner Eltern warte. Sonst hätte sie ihn sicher mit der Reisesphäre herübergebracht.
Beim Mittagessen, bei dem Claudine ihre geliebte bunte Gemüsesuppe mit Petersilie bekam und zum Hauptgang goldgelbe Pfannkuchen mit verschiedenen Füllungen aufgetischt wurden sprachen sie nur über das, was für die mithörenden und mitessenden Kinder harmlos und interessant genug war. Dass Catherine deshalb eingeladen worden war, um Lindas Nachricht entgegenzunehmen bekamen Claudine und Aurore nicht mit. Aurore meinte nur einmal, ihre jüngere Schwester Chrysope angiften zu müssen, weil die mit ihren kleinen Händen nach dem für Aurore zurechtgeschnittenen Pfannkuchen langte. Julius unterband jeden Zank, indem er Chrysope eine Eierkuchenrolle mit Honigfüllung mundgerecht hinhielt und sagte, dass Aurore eben schon größere Kuchen essen dürfe.
"Und du kannst jetzt schon deinen Namen und wo du wohnst klein schreiben?" fragte Millie Claudine. "Nicht so schön wie Maman das mir vorgemacht hat. Aber ich kann schon meinen Namen ganz klein schreiben, weil Madame Bleulac sagt, wir sollen ganz vil auf ein Pergamentblatt hinschreiben. Sie will dann zählen, wer mehr als alle anderen hat und auch, wer das dann auch am schönsten hingeschrieben hat."
"Wenn ich überlege, dass wir in der ersten Klasse nach einem Halbjahr gerade mal die Buchstaben einzeln zu lesen und zu schreiben hinbekommen haben", meinte Julius und verschwieg, dass er schon von einigen Klassenkameraden dumm angeguckt worden war, weil er wie Claudine heute seinen Namen und seine Wohnadresse schreiben konnte. Hier in Millemerveilles legten sie Wert auf frühes Lesen und schreiben. Sicher, dabei waren die einen oder anderen Kinder, die nicht so gut mitkamen. Die bekamen aber dann Nachhilfestundenvon denen, die im kommenden Schuljahr nach Beauxbatons gehen würden, falls die sich ein Taschengeld verdienen wollten. Aber Claudine war ja schon durch Fernsehsendungen wie die Sesamstraße und Buchstabenlegespiele fit genug, um das hiesige Tempo zu halten, ja womöglich schon eine Übungseinheit weiter.
Catherine bedankte sich nach dem Mittagessen und fragte die Latierres noch, ob sie Claudine bis vier Uhr bei sich behalten wollten. Sie selbst müsse wegen eines erwarteten Kontaktfeuergespräches wieder nach Paris. Claudine durfte bei Aurore und Chrysope bleiben.
Um vier Uhr betrat Julius das Grundschulgebäude erneut. Er traf sich mit den Lehrerinnen und den Lehrern im Büro der Direktrice. Es ging um die Einteilung der Stunden, die von den gerade hochschwangeren Kolleginnen gegeben wurden. Julius konnte sich mit Laurentine abstimmen, dass sie die Fünftklässler vormittags und er am Nachmittag unterrichtete, wo es schon um leichte Einstiegszauber und Rechenkunst ging. Die Klasse von Madame Bleulac würde ab dem zehnten März von ihrem Kollegen Beaulieu übernommen und bis zum Schuljahresende betreut. Beaulieu war schon seit dreißig Jahren Grundschullehrer und rechnete sich offenbar Chancen aus, zum Direktor gewählt zu werden. Deshalb war er wohl ein wenig verstimmt, weil Geneviève Dumas den Kollegen Monier als Stellvertreter erwählt hatte. Julius konnte ihm ansehen, dass er lieber nur im Direktorenbüro sitzen würde als sich mit den Erstklässlern abzugeben. Doch eigentlich war das für ihn unwichtig. Er war ja sowieso auf Abruf hier. Denn nach der Niederkunft der letzten ungewollt schwangeren Hexe würde er ja wieder ins Ministerium zurückkehren. Deshalb legten Madame Dumas und er auch gleich fest, dass er keine durchgehenden Unterrichtsstunden gab, sondern immer nur stundenweise aushalf und sobald er von den Heilerinnen angefordert wurde der stellvertretende Direktor für ihn einsprang.
Als sie alle einen für alle hier tätigen brauchbaren Einsatzplan erstellt hatten verabschiedeten sie sich alle voneinander.
"Ich weiß, dass Sandrines Maman dich ganz gerne ganz und dauerhaft einspannen würde, Monju. Aber wenn das hieße, dass du dann nicht mehr zum Mittagessen zu uns rüberkommen darfst, wenn Rorie in die Schule kommt bin ich doch froh, dass du was anderes machst", sagte Millie, als Julius mit ihr abends allein in der Wohnküche saß. "Wenngleich ich auch zuerst gedacht habe, dass wir hier jetzt alle optimal geschützt sind denke ich doch, dass ich für Ministerin Ventvit mehr hinkriegen kann, als mit immer noch muggelweltskeptischen Kollegen zusammenzuarbeiten. Ich habe es Claudines Klassenlehrerin angesehen, dass die mich wohl gerne wegen irgendwas angetextet hätte. Aber weil Sandrines Mutter die Gesprächsführung hatte hat sie sich schön zurückgehalten."
"Vielleicht wollte die dir einen mitgeben, dass Claudine den anderen schon zu weit voraus ist oder sowas", meinte Millie. "Catherine hat sowas erwähnt, als sie Claudine am Nachmittag abgeholt hat. Einerseits ist Claudine sehr kameradschaftlich. Andererseits scheint ihr die Schule hier schon zu langweilig zu sein und sie deshalb nicht immer nur das zu machen, was gerade von ihr verlangt wird."
"Öhm, wir sprechen von Claudine, nicht von Aurore?" fragte Julius. Millie bestätigte es. "Denn so ähnlich war ich damals drauf, als wir in der Zweiten gerade mal mit den Zahlen bis einhundert zu rechnen anfingen und die uns in Sachkunde erst mal Legosteine zum Hausbauen hingelegt haben, damit wir lernen, wie so'n Haus aussieht und warum das mit den versetzt zueinander verbauten Steinen so wichtig für die Stabilität ist. Irgendwann war es mir da echt nur noch langweilig. Könnte Claudine echt auch passieren. Mir haben sie damals Faulheit und Unlust unterstellt, obwohl ich zumindest die Sachen gemacht habe, die anstanden, nur eben nicht so übereifrig wie die anderen."
"Also, die hätten dich garantiert nicht in Beaux reingelassen oder dich da bis zum UTZ-Abschluss behalten, wenn das gestimmt hätte", meinte Millie. "Aber es ist schon so'n Ding, alle auf dieselbe Linie zu bringen, wo die einen echt Probleme haben und die anderen sich schon langweilen, weil es ihnen zu einfach ist."
"Ich weiß nicht, ob ich in Eton so mitgekommen wäre wie in Hogwarts. Da waren die Ansprüche ja echt schon heftig hoch, sagte mein Vater. Aber für ihn und mich war klar, dass ich nach Eton gehöre, weil er da ja auch war. Tja, und dann kam dieser Brief aus Hogwarts und nicht nur einer, sondern jeden Tag mehrere", erinnerte sich Julius an die Zeit, als er zum ersten mal erfuhr, dass er ein richtiger Zauberer sein sollte und deshalb in eine Schule für angehende Hexen und Zauberer sollte.
"Jedenfalls bist du hier gerade gut eingespannt, Monju. Ich hoffe mal, du findest auch Zeit, dich zu erholen. Denn wenn die ganzen runden Hexen anfangen, ihre vielen Babys zu kriegen werden wir garantiert jede Stunde Schlaf nötig haben, die wir kriegen können." Dem konnte Julius nicht widersprechen.
Sally Fields musste sich sehr konzentrieren, trotz der stark getönten Kontaktlinsen die Darstellung auf ihrem Flüssigkristallbildschirm zu erfassen. Wieso hatten sie in diesem Büro auch so lichtstarke Lampen, und warum stand ihr Schreibtisch ausgerechnet so, dass sie auf die breiten Fenster in der Südwand blicken musste. Trotzdem sie unter ihrer konventionellen Bürokleidung sowohl Unterwäsche als auch eine Ganzkörperschutzfolie gegen einfallende Sonnenstrahlen trug musste sie sich doch sehr beherrschen, nicht zu nervös oder angespannt zu wirken. Sie durfte nicht auffallen, um den wichtigen Posten und damit ihre wichtige Mission nicht zu gefährden. Als Mitarbeiterin des FBI saß sie sozusagen an einer sehr bedeutsamen Informationsquelle.
Soeben traf eine Meldung aus New York ein. Sie lautete:
Verdächtige Männer unauffindbar. Nach Anspannungen der letzten Wochen wird vermutet, dass sich die Verdächtigen an nur ganz vertrauten Mitgliedern bekannten Orten verstecken, um nicht zum Ziel von Vergeltungsakten zu werden. Möglich ist auch, dass sich die neun Verdächtigen zu einer Art Gipfeltreffen an einem geheimen Ort zusammenfinden, um die weitere Lage auszuloten und die bisherige Koexistenz neu auszuhandeln.
"Womöglich ist den Capi klargeworden, dass sie alles verlieren, wenn sie sich zu offen miteinander herumprügeln, große Mutter der Nacht", dachte Sally an die Adresse ihrer wahrhaftigen Gebieterin. Deren geistige Stimme antwortete sogleich: "Dann besteht doch noch die Möglichkeit, dass wir unsere Getreuen in deren Reihen einschleusen und die Führungsebene erobern können, meine Tochter." Dem konnte und wollte Sally Fields nichts hinzufügen und ganz sicher nichts entgegenhalten.
Um den Generalauftrag ihrer Herrin und Göttin zuverlässig auszuführen zweigte Sally so heimlich sie konnte einige Dossiers über aufsteigende Banden oder ganze Verbrecherclans ab. Es deutete sich immer mehr an, dass die große Zeit europäischstämmiger Verbrecherorganisationen ihrem Ende entgegenging. Selbst die in den Jahren zwischen dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Jahr 2000 in den Medien als "Russenmafia" bezeichneten Großbanden mussten sich immer wieder mit Organisationen aus dem mittleren Osten oder Gruppierungen wie den Triaden oder der Yakuza arrangieren oder auseinandersetzen. Die von Sally Fields alias Night Swallow abgezweigten Berichte enthielten alle relevanten Namen, soweit sie dem FBI bekannt waren. Etliche Personen waren jedoch "derzeit unauffindbar". Von Willen und Ideengut der großen Mutter der Nacht durchdrungen dachte Sally Fields daran, dass es bald Zeit war, dass dieser immer mehr in ein Chaos aus gegenseitigem Machtstreben ausufernden Menschheit eine starke, unerbittliche, ja auch gnadenlose Führung anstand, die Herrschaft der einzig existierenden Göttin der Welt, der großen Mutter aller Nachtkinder. Sie, Sally alias Night Swallow, hoffte darauf, bei der Errichtung dieses weltweiten Imperiums maßgeblich mithelfen zu dürfen. Sie wusste jedoch, dass sie immer nur eine Dienerin bleiben würde, ob hier im FBI oder als Priesterin oder gar Hohepriesterin der erwachten Göttin der Nacht. Denn die Göttin war die Herrin. Ihr Wort galt immer und überall.
"Dieser Tarik Abu-Damas aus Jordanien, von dem hier behauptet wird, er habe sogar Drähte zur Al-Qaida, will wohl die arabische Gemeinde in New York unterwerfen, große Mutter der Nacht. Am Ende kennt der noch wen, der sich mit arabischen Zauberwesen wie Dschinnen oder Ghulen auskennt."
"Ich werde ihn prüfen lassen, meine Tochter Night Swallow. Verbleibe du dort, wo du uns weitere Neuigkeiten aus der Unterwelt beschaffen kannst, bis ich dich für einen klaren Auftrag benötige!" erwiderte die geistige Stimme der erwachten Göttin. Natürlich bestätigte Sally den Erhalt dieses Befehls.
Beim nächsten Vollmond wissen wir es ganz genau, wie diese feige Saubande es macht, Lunera. Dann gnade denen jeder Gott, an den irgendwer früher geglaubt hat oder heute noch glaubt", schnaubte Fino. In den letzten vier Vollmondnächten hatten sich die Geschwister des Mondes immer wieder an sicheren Orten und in Fidelius-bezauberten Gebäuden verstecken müssen, um nicht von jenem blauen Mondlicht erwischt zu werden, dem bis heute weltweit siebenhundert Lykantrhropen zum Opfer gefallen waren.
"Und wie willst du es dann bekämpfen, Fino?" fragte Lunera.
"Das was dein Auffüller mit Rückkopplung gemeint hat. Ich jage denen ihre eigene Mondvermurksungsmagie in was auch immer zurück, dass sich die Vorrichtungg daran regelrecht verheizt. Wummmm!!" knurrte Fino. Lunera wusste, dass er vor angestautem Hass auf Vita Magica längst explodiert wäre, wenn er nicht so genial wie verbissen an einem Gegenmittel geforscht hätte. Sie dachte jedoch auch daran, dass sie beim nächsten Vollmond hundert weitere Leben opfern musste, damit Fino alle nötigen Ergebnisse bekam. Denn nur dort, wo erkennbare Werwölfe waren, würde das Massenmordverfahren Vita Magicas, welches das Vollmondlicht in eine blaue, tödliche Strahlung umwandelte, zum Einsatz kommen. Aus dem Grund hatten Luneras Getreue im letzten Monat weltweit hundert arglose Menschen mit ihremVerwandlungsfluch infiziert und ihnen die Erinnerung an diesen Zusammenstoß genommen, damit sie nicht wussten, was mit ihnen passiert war. Der Lykonemisis-Trank machte es möglich, dass sie auch am hellen Tag oder bei Neumond ihre Gestalt wechseln und willentlich auf Jagd gehen konnten.
"Kannst du davon ausgehen, dass wir dann zum übernächsten Vollmond genausogute Abwehrmittel haben wie gegen diese Todesmücken mit Mondsteinsilberstachel?" fragte Lunera.
"Sagen wir es so, wenn wir deren Vorrichtungen zerbröseln können haben wir sicher einige Zeit, um noch wirksamere Abwehrmittel zu machen. Buggles will ja nicht hören. Wenn wir wieder frei herumlaufen können wird ihm die Rechnung für seine Mittäterschaft präsentiert."
"Fino, wir müssen höllisch aufpassen, dass wir nicht so werden wie Rabioso und seine Bande. Wir müssen uns die Tür zu friedlichen Vereinbarungen offen halten", sagte Lunera.
"Mann, Lunera, wann kapierst du es, dass die Eingestaltler keine friedliche Vereinbarung mit uns Mondheulern haben wollen. Die sehen uns als tollwütige Biester, menschengroßes Ungeziefer, das entweder in Käfige eingesperrt gehört oder durch Mondsteinsilber oder den Todesfluch zu Bettvorlegern verarbeitet werden soll. Auch wenn ich damals mitgeholfen habe, Rabioso zu finden und aufzuhalten .... Ich meine, im Grunde hat er recht gehabt, wir müssen es mit Gewalt tun, brutal oder genau abgemessen. Aber die wollen und werden uns nur dann akzeptieren, wenn wir gnadenlos und stark auftreten, so wie die Blutsaugersekte."
"Apropos Blutsaugersekte. Was machen wir, wenn die Menschen sich mit denen gegen uns verbünden, weil wir genau das werden, was du meinst, die Menschen in uns sehen, tollwütige Biester?" fragte Lunera frustriert. Sie hatte diese Diskussion schon zu oft geführt.
"Ja, und der Mond ist aus Käse, Lunera. Die Eingestaltler haben vor den Blutsaugern doch noch mehr Schiss als vor uns. Die werden sich mit denen nicht auf eine Übereinkunft einlassen, sondern die genauso abzumurksen trachten wie uns."
"Achso, und du möchtest dafür sorgen, dass die Eingestaltler mehr Schiss vor uns haben als vor den Blutschlürfern?" fragte Lunera auch schon zum X-ten mal. Fino knurrte, dass er das gerade schon klar bestätigt hatte, dass eben nur ein starkes, entschlossenes und ja auch gnadenloses Auftreten die Eingestaltler zum Einlenken zwingen konnte.
"Das denken die von uns womöglich auch. Sonst hätten sie doch schon längst von sich aus was gegen diese Massenmörder von Vita Magica unternommen", sagte Lunera einmal mehr. Fino kannte diese Aussage zwar schon, reagierte aber mit der gleichen Wut wie beim ersten Mal darauf. "Klar, weil sie mit diesen Mondverhunzern gemeinsame Sache machen und die machen lassen, um uns endgültig aus der Welt zu schaffen. Die paar Lykos, die dann leben dürfen sind deren handzahme Zuträger so wie diese amerikanische Bullhorn-Kompanie, die selbsternannte Mondlegion aus Frankreich oder das dem Verräter Lupin gewidmete Marionettenspiel aus England. Die haben sich ja all zu bereitwillig unter deren Befehl gestellt, nur um weiterleben und genug fressen zu dürfen, wie verweichlichte und verfressene Schoßhunde."
"Das mag so sein, Fino. Doch denke bitte daran, dass unsere Kinder länger als fünf Jahre leben sollen und nach Möglichkeit frei in der Welt herumlaufen dürfen sollten."
"Ja, das werden sie auch, wenn wir die Mörderbande Vita Magica erledigt, die Blutschlürfersekte in die von ihnen angebetete Hölle geworfen und alle uns bekämpfenden Eingestaltler entweder zu Mondkindern gemacht oder zerbröselt haben, so wie die uns mit diesem blauen Mondlicht zerbröseln wollen. Ja, und wenn diese Spinnenschlampe in millionen Einzelteile zerlegt über die ganze Welt verstreut ist. Dann werden unsere Kinder frei in der Welt herumlaufen dürfen, und keiner wird es mehr wagen, sie oder uns dumm anzumachen", versetzte Fino. Lunera dachte für sich, dass es jetzt nichts bringen würde, Fino zu widersprechen. Doch sie wusste nun, dass er auf dem besten Wege war, Rabiosos vor Wut und Hass wahnsinnig gewordener Erbe zu werden. Sie sah sich in Gedanken schon in einen weltweiten Vernichtungskrieg verwickelt, an dessen Ende alle Werwölfe grausam verstümmelt am Boden lagen. Ihr fiel ein Albtraum ein, den sie vor einer Woche hatte. In dem hatte jemand mit einem röhrenförmigen Gegenstand auf ihre Tochter Lykomeda gezielt und daraus jenes blaue Licht abgestrahlt, das schon viele ihrer Artgenossen verbrannt hatte. Lykomedas Körper war in diesem Lichtstrahl regelrecht zerschmolzen. Zum Schluss war nur noch ihr Kopf übriggeblieben. Ihre brechenden Augen hatten sie noch einmal anklagend angesehen. Ihre zitternden Lippen hatten ein letztes Wort geformt: "Porqué?" - warum?
Lunera hoffte, dass dieser Albtraum niemals Wirklichkeit wurde. Doch sie mussten was tun, um den bereits wahr gewordenen Albtraum der blauen Vernichtungsstrahlung zu beenden, und dazu brauchten sie zauberkundige Leute wie Fino. Ihn zu verstoßen würde ihn ihr genauso zum Todfeind machen wie Rabioso oder Vita Magica. Sicher, sie könnte ihn auch töten. Doch dann würde ihr nur noch Angst und Misstrauen von den anderen entgegenschlagen. Und was Angst mit denkfähigen Wesen machen konnte zeigte Fino ja überdeutlich. Nein, sie musste ihn erst einmal gewähren lassen. Vielleicht beruhigte er sich auch wieder, wenn er Erfolg hatte und vor allen anderen als Retter der Mondgeweihten auftreten konnte. Ja, diesen theatralisch anmutenden Ausdruck hatte er tatsächlich bemüht, als er erwähnt hatte, dass er demnächst die Magie enträtseln würde, mit der das natürliche Mondlicht in die blaue Todesstrahlung umgewandelt werden konnte, Zauber und Gegenzauber. Im Grunde war es ein ständiger Wettlauf mit ihren Feinden von Vita Magica, die wahrhaftig das Ziel verfolgten, alle mit dem Lykanthropiekeim versehenen Menschen auszulöschen, um die eingestaltlichen Hexen und Zauberer zu schützen. Sicher kämpften die auch gegen die Anhänger dieser neuen Vampirsekte. Doch um die machte sich Lunera keine Gedanken mehr. Ihre Leute konnten diese Brut zurückscheuchen oder deren Angehörige vom Himmel schießen, wenn sie mussten. Vielleicht fand Fino bei seinen Versuchen mit dem tödlichen Mondlicht auch was, um die Vampire zu dezimieren oder ihre Entstehung zu vereiteln. Ebenso wie den altägyptischen Sonnenlichtfreisetzungszauber konnte sie das dann vielleicht als Friedensangebot an die Eingestaltler benutzen. Wenigstens hoffte sie das.
Der Hohe Rat des Lebens hatte seine Entscheidung getroffen. "Blauer Mond" war beendet. Perdy nahm das Ergebnis hin. Nachdem im Februar fünfzig der sechzig unregistrierten Werwölfe als gerade mal vier oder fünf Jahre alte Kinder erkannt worden waren hatte Mater Vicesima Secunda eine Dringlichkeitssitzung des Rates einberufen, wohl auch um anderen zuvorzukommen. Das einzige Thema der Sitzung war, ob die Operation "Blauer Mond" weitergeführt werden sollte oder nicht, wo es nun eindeutig war, dass die Mondbrüder und -schwestern unschuldige Kinder mit ihrem Keim ansteckten, um sie den fliegenden Vorrichtungen regelrecht zum Fraß vorzuwerfen, während die allermeisten erwachsenen Lykanthropen nach den ersten drei Aktionsnächten von sich aus registriert sein wollten und die magischen Krankenhäuser in aller Welt Beratungen für Gebissene anboten, wie sie ohne zur Gefahr für ihre Mitmenschen zu werden ein größtenteils eigenständiges Leben führen konnten. Auch hatte sich erwiesen, dass die eigentlichen Ziele der Aktion, die beißwütigen Werwölfe der Mondgeschwister, vor dem Vollmond an mit Fidelius bezauberten Orten flüchteten oder in vom Mondlicht unerreichbaren Höhlen unterkamen. Nur jene, die nicht zu dieser Bande gehörten erlagen der veränderten Mondstrahlung.
Eine der Ratshexen, Mater Duodecima Australiana, hatte es klar auf den Punkt gebracht: "Wenn wir weitermachen helfen wir den Werwölfen, ihren Vermehrungswahn zu rechtfertigen und bestätigen denen, die uns eh schon für Massenmörder halten, dass sie recht hatten. Ja, und kleine Kinder umzubringen ist nicht unser Bestreben und darf es auch nicht werden. Was Ladonna mit unserer italienischen Niederlassung gemacht hat sollte uns eine deutliche Warnung sein, wie schnell auch wir von jemandem heimgesucht werden, der oder die nur Vernichtung im Sinn hat."
"Ich stimme dir da zu", hatte Mater Vicesima Secunda bestätigt. Danach war es nur noch eine Sache von einer Minute gewesen. Bis auf eine Gegenstimme war die Operation "Blauer Mond" für beendet erklärt worden. Perdy hatte sogar als Alternative zur massenhaften Abtötung von Werwölfen eingebracht, die Natur der blauen Mondstrahlen nun so gut zu beherrschen, dass er in Kristallen gesammeltes Mondlicht in Form solcher Strahlen auf genaue Ziele verschießen konnte. Allerdings war dafür eben die genaue Wirkung des veränderten Mondlichtes zu ermitteln gewesen.
"Die Nachricht ist schon an alle Zaubereiministerien raus, dass unsere Aktionen beendet sind, weil wir zum einen bewiesen haben, dass wir uns der Werwut nicht wehrlos ausliefern müssen und dass wir unser primäres Ziel, den Bestand unregistrierter Werwölfe zu verringern, erreicht haben", sagte Mater Vicesima Secunda.
"Ja, sie werden uns aber weiter als Massenmörder ächten", sagte Perdy mit gewissem Verdruss. "Geh davon aus, dass wenn die Mondbrüder meinen, sich wieder nach Belieben vermehren zu müssen, genug Leute nach Abhilfe rufen werden. Sicher, die werden uns nicht um Hilfe bitten. Aber sie werden selbst forschen, wie dieser Seuche beizukommen ist."
"Wohl wahr, jetzt, wo sie es wissen, dass es geht", sagte Mater Vicesima Secunda. Perdy verwies darauf, wie schnell mehrere Länder die Herstellung von Atomwaffen erlernt hatten, als klar war, dass es diese Massenmordgeräte gab und jedes Land sowas besitzen wollte, weil es meinte, sich damit vor anderen Staaten besser schützen zu können, was an und für sich ein gewaltiger Wahnsinn war. Darauf hatte Mater Vicesima Secunda gefragt, ob sie um des Schutzes der Magischen Welt wegen nicht etwas erfinden sollten, um die bestehenden Kernspaltungswaffen unwirksam zu machen. Immerhin sei es ja gelungen, Millemerveilles dagegen abzuschirmen, mit Sardonias Kuppel und danach.
"Ich fürchte, das wird so nicht gehen. Denn dann müssten wir was machen, dass sämtliche radioaktive Strahlung blockiert, weltweit oder sowas wie einen die Erde unsichtbar umkreisenden Satelliten bauen, der die Standorte dieser Waffen sucht und zerstört. Ich habe da echt schon mal dran gedacht. Aber dann ist mir eingefallen, dass die Vernichtung einer Abschussbasis eine Panikreaktion der Waffenmeister auslösen würde und die dann alles abfeuern, was sie haben. Dann würden wir die Menschheit, auch und vor allem die magische, auslöschen. So ein Anti-Neutronenfeld, wie es in einer deutschen Heftromanserie erwähnt wird, könnte nicht nur die frei herumfliegenden Neutronen einfangen, sondern die Bewegung innerhalb der Materie bremsen oder einfrieren. Dann würden wir alle mit der Erde zusammen zu einem Eisklumpen. Abgesehen davon hat das in dieser Zukunftsdichtung mit dem Neutroneneinfangfeld nur solange geklappt, bis die irdischen Wissenschaftler die kalte Kernfusion erfunden haben."
"Ich verstehe nicht alles, was du sagst, Perdy. Aber ich verstehe zumindest, dass wir es versäumt haben, die nichtmagische Technologie rechtzeitig in ungefährliche Bahnen zu lenken und der übergroße Kessel längst umgekippt ist", seufzte Mater Vicesima Secunda. "So bleibt nur zu hoffen, dass die Blutsauger oder ein neuer Irrsinniger vom Schlage Riddles oder Wallenkrons nicht auf den Einfall kommen, lieber die ganze Menschheit auszurotten als in einer nicht ihren Vorstellungen genehmen Welt weiterleben zu müssen."
"Na gut, was haben wir gemacht, Véronique? Wir haben hunderte von Lykanthropen getötet, um diesen Unrat namens Mondbruderschaft auszulöschen. Aber in den letzten Vollmondnächten haben wir nur noch unschuldige Kinder und ihrer Natur nicht gewahre Leute erwischt", sagte Perdy. "Na ja, jetzt baue ich uns eben Mondlaser. Da können die dann auch nicht mit ihren Mondsteinsilberrückprällern gegen an." Mater Vicesima nickte, auch wenn sie Perdys Worte nicht alle verstand. Für einen Moment dachte sie daran, dass Grindelwalds Vorhersagen über die zunehmende Gefährlichkeit der Magielosen leider doch keine reinen Wahnvorstellungen eines weltherrschaftssüchtigen Schönlings gewesen waren. Doch er hatte auch zu viele unschuldige Hexen und Zauberer getötet, um ungehindert weiterwirken zu dürfen. Hatten sie mit "Blauer Mond" auch schon diese Schwelle überschritten? Hatten sie damit jede Möglichkeit zerstört, mit den übrigen Hexen und Zauberern eine gemeinsame, friedliche Zukunft zu erleben? Immerhin konnten sie weitere Generationen von magischen Menschen erschaffen, neues Leben statt massenhaften Tod. Doch auch das wurde ihnen zum Vorwurf gemacht. Ebenso forschten die sich als Hüter der magischen Menschheit verstehenden Institutionen an Abwehr- oder Vorbeugungsmaßnahmen gegen den Regenbogenwind, der in wenigen Wochen die Bevölkerungsgröße in Millemerveilles verdoppeln würde. Auch von da erhielten sie keine Dankbarkeit, sondern Ablehnung und Androhungen. Véronique wusste sehr gut, dass ihre in Frankreich lebenden Verwandten und Mitstreiter bildlich gesprochen auf einer immer heißeren Herdstelle balancierten. Es konnte jederzeit zur Enttarnung eines treuen Mitgliedes kommen. Was dann?
Es war ein Uhr Mittags, als eine sichtlich erschöpfte Laurentine Hellersdorf vor dem Apfelhaus der Latierres landete. Sie war nicht appariert, sondern auf ihrem von Claire Dusoleil geschenkten Ganymed 8 geflogen.
"Seid froh, dass ihr erst mal nicht mehr in diese Vertretungsstundenmühle reingesteckt werden könnt, seufzte sie, als Millie und Julius sie hereingebeten hatten. Julius fragte scheinbar naiv, warum Laurentine das sagte. "Weil alle gerade nicht schwangeren Kolleginnen, damit auch ich selbst, sowie die ganzen Lehrer, ob werdende Väter oder nicht, die doppelte Stundenzahl ableisten sollen, um den Schulbetrieb aufrechtzuhalten. Sandrines Mutter scheint in den letzten Wochen ihrer Schwangerschaft zu einer regelrechten Legionärssergeantin zu werden. Die meinte doch glatt, dass "unsere Kinder" nicht darunter leiden müssten, dass ihre Eltern von diesem "in den tiefsten Pfuhl gehörenden Gebräu" verwirrt und verdorben wurden. Da zur körperlichen ja auch die geistige Gesundheit gehört, so Madame Dumas, muss ein ordentlicher, durchgängig möglicher Unterricht erteilt werden. Natürlich bekommen alle die, die das fragwürdige Glück hatten, gerade nicht schwanger herumzulaufen, eine entsprechende Vergütung von der Abteilung für magische Ausbildung und Studien, so Madame Dumas", erläuterte Laurentine sichtlich angespannt.
"Ja, und was ist, wenn einer von euch krank wird?" wollte Julius wissen. "Dann muss er oder sie eine amtliche Krankmeldung von dem Heiler oder der Heilerin der Wahl vorlegen und für diesen Fall einen oder zwei Vertreter benannt haben", sagte Laurentine.
"Ja, aber irgendwie ist das doch den gerade schwangeren Kolleginnen von dir gegenüber unfair, weil die nicht diese doppelte Vergütung kriegen", feixte Julius. Laurentine schnaubte verächtlich und meinte, dass die das dann wohl über die Kinderschutzvergütung der Familienabteilung reinholen konnten. Außerdem müssten sie wegen Umstandsbeschwerden oder der Niederkunft ja auch eine amtliche Abmeldung ihrer zuständigen Hebamme vorlegen."
"Stimmt, Hera Matine hat schon eine Menge Blanco-Krankmeldungen da, wo sie nur noch Name, Datum und ihre Unterschrift eintragen muss", sagte Julius. Laurentine nickte verdrossen. Sie hatte natürlich damit gerechnet.
"Willst du die wilden Wochen dann bei uns wohnen oder immer noch zwischen Paris und hier hin- und herflohpulvern?" fragte Millie.
"Für mich ändert sich an meinem Tagesrhythmus nur, dass ich statt der üblichen fünf Stunden eben acht Stunden hier bin. Aber ich ziehe jetzt garantiert nicht in ein Haus ein, wo demnächst viele neue Kinder einziehen. Außerdem will ich abends meine Ruhe mit Fernseher, meinen Büchern, Internet, Radio- oder CD-Musik haben", erwiderte Laurentine. Julius nickte verstehend, während Millie die ehemalige Mitschülerin belustigt ansah.
"Du hast eben gesagt, dass wir froh sein sollten, da nicht mit eingespannt zu werden", griff Julius eine Bemerkung von vorhin auf. "Wenn erst mal alle anfangen, die von Vita Magica aufgeladenen Kinder zur Welt zu bringen, kommen Millie und ich wohl auch nicht aus dem Assistieren raus." Millie nickte beipflichtend. Laurentine sah die Latierres an und nickte dann ihrerseits.
Nachdem Laurentine bei den Latierres zu Mittag gegessen hatte flog sie wieder zur Dorfschule zurück. "Schon komisch, dass für nur fünf kleine Klassen so viel Aufwand nötig ist", meinte Millie zu Julius. "Stimmt. Sogesehen bräuchten wir hier gerade mal fünf Lehrer. Aber da es nur zwei Lehrer und fünf Lehrerinnen gibt müssten die zwei Herren dann mehr machen, wenn es bei den werdenden Müttern richtig losgeht", sagte Julius. Millie bestätigte es.
Am späten Abend dieses Tages las Julius in seinem neuen Baumhaus eine E-Mail von den Sonnenkindern. In der Sprache Altaxarrois schrieb die ehemalige Anthelianerin Patricia Straton, dass mittlerweile bekannt sei, dass es unter den südslawischen Kalksteinbergen eine Festung der gefräßigen Schatten und ihrer mächtigen Königin gebe und dass sie alle auf der Hut vor ihren ihrer Schatten beraubten Dienern sein sollten.
Die nun als Dailangamiria bezeichnete ehemalige Anthelianerin Patricia Straton hatte in Worten sogar die nach moderner Methode gültigen Koordinaten mitgeteilt. Doch sie riet auch im Namen ihrer ersten Sprecherin Faidaria davon ab, diese unterirdische Festung anzugreifen. Denn sicher habe jene, die zur neuen Herrin aller rastlosen Schatten geworden sei, wirksame Körperschwächungszauber aufgerufen, unter anderem den Zauber der eisigen Kälte, falls sie nicht auch jenes Lied der längsten Nacht konnte, wie es als Kraftquelle jener dunklen Woge vom April letzten Jahres gewirkt hatte. Es ging den Sonnenkindern nur darum, dass Julius als Eingeweihter in das Wissen aus dem alten Reich wusste, wo die neue Schattenkönigin zu finden war. Wie sie zu entmachten war wussten die Sonnenkinder bisher nicht. Doch daran wurde gearbeitet, verhieß Dailangamiria.
Julius schrieb zurück, dass er sich für die Nachricht bedanke und jene, die er in sein Wissen eingeweiht habe, davon unterrichten würde. Er fragte auch, ob auch andere, die mit den Sonnenkindern in Kontakt standen, davon erfahren würden. Dann beendete er die E-Mail und schickte sie los. Da die Insel der Sonnenkinder viele tausend Kilometer weit im Osten Frankreichs lag war es dort wohl gerade früh am Morgen. Er beschloss, die Nachricht auszudrucken, aber erst nach den "wilden Wochen" weiterzumelden, was er erfahren hatte. Sicher, er konnte Catherine und Belle jetzt schon darüber informieren. Doch Hera, Blanche Faucon und Madeleine L'eauvite wollte er erst informieren, wenn die von ihm verlangte Arbeit als Pflegehelfer getan war. Immerhin hatten die Sonnenkinder nicht vor einer unmittelbaren Gefahr gewarnt, was ihm eine gewisse Beruhigung bot.
Auch wenn die sich selbst als "Stadt, die niemals schläft" bezeichnende Großstadt mehr als dreißig Kilometer entfernt war konnten sie den Lärm der vielen Motorwagen als gleichbleibendes Rauschen und Brummen hören und das aus unzähligen Kunstlichtquellen stammende Leuchten als über den Himmel verteiltes Streulicht sehen, so empfindlich waren ihre Sinne. Gleich war die Mitternachtsstunde. Eigentlich wollten sie nicht dieses von den Rotblütlern gemachte Klischee bedienen, wie unruhige oder böswillige Geister Punkt zwölf Uhr aufzutreten. Doch ihr "Zielsubjekt" würde erst um Mitternacht in einem Raum für sich sein.
Die für Nordamerika eingesetzte Priesterin Sweetblood hatte ihre Haare genauso nachtschwarz umgefärbt wie ihre beiden Begleiter, der griechischstämmige Neumondgeborene Skotophilos und der britische Gemeindebruder Daggermouth. Auch hatten sie sich ihre Hände und Gesichter mit einer Schminke eingerieben, die ihnen das Aussehen orientalischer Rotblütler verlieh. Zum großen Verdruss der erwachten Göttin war es bis heute nicht gelungen, wirkliche Orientalen in ihre große Gemeinde einzugliedern, was eine Herrschaft über die ganze Welt erschweren konnte. Auch um das zu ändern waren die drei Diener der erwachten Göttin jetzt hier vor diesem kleinen weißen Nachbau der ehemaligen Herrscherfestung Alhambra in Südspanien. Auch wenn jener, der dort wahrhaftig residierte jordanische Wurzeln hatte schien der doch einen Hang zu den alten Herrschern Südeuropas zu haben. Über ihre Kundschafterin Night Swallow hatten Sweetblood und ihre Untergebenen erfahren, dass sich Tarik Abu-Damas sogar mit dem Gedanken trug, der erste nordamerikanische Kalif zu werden, was für dessen patriarchialische Glaubensgemeinschaft sicher ein sehr großer Frevel sein mochte. Vielleicht hatte dieser Rotblütler auch nur einmal zu tief ins Schnapsglas geschaut. Das wiederum ließ Sweetblood frösteln. Denn sich vorzustellen, dass dieser jordanischstämmige Rotblütler womöglich heute auch Alkohol getrunken hatte würde bei einer Einberufung in die Gemeinde der Göttin sicher einen üblen Nachgeschmack geben. Das gleiche galt wohl auch für Nikotingenuss.
"Ich habe vor meinem Aufstieg zur großen Mutter aller Nachtkinder oftmals das Blut angetrunkener Männer genossen. Das ist erträglicher als das von Kettenrauchern, und Abu-Damas ist keiner, sagt Night Swallow", hörte Sweetblood die reine Geistesstimme ihrer mächtigen Herrin in sich. Die Göttin war bei ihr und konnte bei Gefahr ihre Kraft in sie hineinschicken. Das beruhigte die Priesterin Nordamerikas.
Die drei Gesandten der Göttin lauschten. Gerade zogen sich wohl einige Dienstboten zurück. Nur Skotophilos konnte Arabisch, weil seine Bluteltern noch zur Zeit des osmanischen Reiches gelebt hatten und da auch in Mesopotamien unterwegs waren, um für die heilige Bibliothek aller Nachtkinder Kenntnisse über die morgenländischen Nachtkinder und Zauberkünste zusammenzutragen. Was er hörte wurde zeitlos für die beiden anderen verständlich. Das war die Allgegenwart der großen Mutter der Nacht. So erfuhren die drei, dass ihr ausgewähltes Ziel gerade mit einer aus New York herangeschafften Gespielin in sein großes Schlafzimmer verschwand. Womöglich war die käufliche Nachtgesellschafterin eine künstlich blondierte Euroamerikanerin. Die Unterlagen des FBI erwähnten, dass Abu-Damas mit diesen Frauen seine Macht über die weißen Ungläubigen zelebrierte.
"Das Zimmer ist echt schalldicht", grummelte Skotophilos, weil selbst die hochempfindlichen Ohren eines Nachtgeborenen keinen Laut mehr daraus erhaschen konnten. Gerade sprang mit kurzem Rumpeln und dann gleichmäßigem Gebrumm eine große Tiefkühltruhe im Keller der halbgroßen Alhambra an.
"Die Dienerschaft verschwindet gerade in den zugewiesenen Schlafräumen", dachte Sweetblood ihren Begleitern zu. "Wo genau ist das Schlafzimmer von diesem Jordanier?" Skotophilos und Daggermouth erwähnten, wo sie die Zimmertür hatten zuklappen hören können. Sweetblood ergriff je eine Hand eines Begleiters. Nun kam der große Augenblick. Tarik Abu-Damas würde in wenigen Minuten ein neues Gemeindemitglied werden oder vergessen, dass sie ihn besucht hatten oder vielleicht sogar den Tod finden.
Die Kraft der Göttin wirkte in Form des Schattenstrudels, der ihre Getreuen von einem Ort fortholen und an ihrem Kraftzentrum vorbei zu einem von der Göttin bestimmten Zielort versetzen konnte. Da sie sich an den Händen hielten brauchte sie nur einen Strudel zu erschaffen. An ihrer blutrot leuchtenden Erscheinung vorbei rasten die drei Gesandten wie durch einen sich wild drehenden schwarzen Tunnel und flogen wie von einer gewaltigen Kanone abgefeuerte Geschosse auf ihr Ziel zu. Dann löste sich der Strudel auf.
Sie standen in einem dreißig mal zwanzig Meter messenden, drei Meter hohen Raum mit ebenholzfarbenen Holzverkleidungen an Wänden und Decke. Ebenso hingen sehr kunstsinnig gearbeitete Wandteppiche an den Wänden, die Bilder aus irgendwelchen erotischen Geschichten darstellten. Auch auf dem Boden lagen dicke Teppiche. Luxusmöbel aus Tropenholz und Kristallglas schmückten diesen Raum. Vor allem ein viertüriger, an jeder Tür verspiegelter Kleiderschrank, der schon ein Zimmer für sich sein mochte, sowie ein zwei mal zwei Meter messendes Himmelbett mit einem mitternachtsblauen Seidenbaldachin beherrschten diesen Raum. Gerade saßen ein übermäßig genährter arabischstämmiger Mann Mitte fünfzig und eine zierliche Frau mit schulterlangen, wasserstoffblonden Haaren an einem Tisch mit einer Kristallplatte und wollten gerade aus mit Goldrand verzierten Schaumweingläsern trinken. Doch das Erscheinen der drei Gesandten ließ sie wie erstarrt innehalten. Sweetblood sah die Frau an, die zur fragwürdigen Verabredung ein Karmesinrotes Kleid trug. Ihr Blick erfasste den der in dieses Haus gebrachten Nachtgespielin. Sofort durchflutete sie die Kraft der Göttin. Damit gelang es ihr, den nach dem Schrecken aufwallenden Widerstandswillen im ersten Augenblick niederzukämpfen. Gleichzeitig war ihr, als durchbreche sie eine milchgläserne Wand hinter den Augen der Anderen und sie jage durch eine Flut von Bildern, hörte verschiedene Geräusche, Klänge und Worte. Dabei erfuhr sie beinahe übergangslos, dass die andere nicht wirklich als Edelprostituierte tätig war, sondern eine Agentin des Nachrichtendienstes CIA war, die auf Abu-Damas angesetzt war, weil ihm nachgesagt wurde, er habe mit den Attentätern vom elften September Kontakt oder strebe diesen an. Um das genauer auszukundschaftenhatte sie dem Jordanier eine neuartige Wahrheitsdroge ins Glas praktiziert und wollte gerade darauf warten, dass er genug davon trank, um in einen Tranceartigen Zustand zu verfallen, in dem er jede ihm gestellte Frage wahrheitsgemäß beantwortete und jeden Befehl ausführte. Sweetblood verkniff sich eine verächtliche Miene. Die Rotblütler brauchten Gifte, um das zu schaffen, was sie gerade mit einem einzigen Blick hinbekam. Skotophilos, der gerade Abu-Damas mit seinem Unterwerfungsblick bannte, wirkte auch so, als würde er nicht nur den Willen des anderen niederhalten, sondern regelrecht in seinem Geist umherjagen, um alles wichtige und nötige daraus zu schöpfen wie eine Insekten im Flug vertilgende Fledermaus. Was er dabei erfuhr erfuhr wohl auch die Göttin, weil die ihm genauso wie Sweetblood die Gabe des Einblickens verlieh. Daggermouth indes machte sich daran, die Schränke und Kommoden des protzigen Schlafgemaches zu durchsuchen. Dabei bewegte er sich so schnell, dass nur die Augen von Nachtkindern jeden einzelnen Handgriff und jede Laufbewegung unterscheiden konnten. Schubladen flogen auf und schnappten wie Mausefallen wieder zu. Jede tür des gewaltigen Kleiderschrankes klappte auf, um nach nur drei Sekunden wieder zuzufallen. Dabei erlaubte sich Daggermouth die Dreistigkeit, seinem eigenen Spiegelbild die Zunge herauszustrecken und es mit entblößten Fangzähnen anzugrinsen. Die Rotblütler hatten verzapft, dass Nachtgeborene kein eigenes Spiegelbild und auch keinen Schattenwurf hatten. Wenn das echt je so gewesen wäre hätten die doch damals alle Nachtkinder ausrotten können, indem sie jeden Verdächtigen der Spiegelprobe unterzogen und ihn oder sie dann mit einem angespitzten Pflock aus altem Eichenholz zu töten.
Das magische Blitzverhör der beiden Menschen dauerte insgesamt nur zwei Minuten an. Sweetblood beschaffte sich auf diese Weise auch alle nötigen Kenntnisse,um mögliche neue Gemeindemitglieder in den Reihen der CIA zu finden. Zwar hatte die Hohepriesterin bereits eine Reihe von getreuen Untergebenen in dieser nicht ganz unumstrittenen Dienststelle. Doch Sweetblood wagte den Gedanken, dass sie vielleicht ebenfalls eine Gruppe ihr durch Blutaustausch verbundene Gefolgsleute haben sollte, vorzugsweise Frauen. "Nimm dir dieses Weib und mach es zu deiner Tochter und somit zu meiner!" hörte sie die Stimme ihrer Herrin, die wohl mittverfolgt hatte, was sie aus dem Geist der anderen schöpfen konnte.
"Daggy, hinter der vierten Schranktür ist eine mit einem getarnten Fingerabdruckerkenner zu öffnende Wand. Dahinter sind alle wichtigen Unterlagen und seine kostbarsten Errungenschaften", hörte Sweetblood Skotophilos' gedankenbotschaft mit. "Er wird nur unterworfen, kein Gemeindemitglied", befahl die Göttin allen dreien zugleich. "Die Frau wird Sweetbloods neue Tochter und eure neue Mitschwester. Der Orientale soll sein rotes Blut behalten und für uns die Tagleute weiter beschäftigen."
"Aber wenn er keiner von uns wird kannst du nicht durch seine Augen sehen, große Mutter der Nacht", wagte Skotophilos einen Widerspruch. Zu gerne würde er diesen lebenslustigen Mann zu seinem neuen Blutsohn machen. Doch die Göttin duldete keinen Widerspruch. "Er behält sein rotes Blut und seine Unempfindlichkeit gegen Wasserströme und Sonnenlicht und seine Liebe zu knoblauchhaltigen Speisen. Widersprichst du mir noch einmal erleidest du einen sehr langsamen und schmerzvollen Tod, Neumondgeborener." Skotophilos fiel auf die Knie, auch wenn die Göttin selbst gerade nicht anwesend war. Dass sie es sein konnte, wo zwei oder mehr ihrer Gesanten an einem Ort zusammenkamen wussten sie drei jedoch alle.
Im Bann von Skotophilos' Blick erhob sich Tarik Abu-Damas und ging wie an unsichtbaren Fäden geführt zu seinem zimmergroßen Kleiderschrank. Er legte seine rechte Hand mit allen fünf Fingern an die von Skotophilos erkundete Stelle an der Rückwand und öffnete so die geheime Hintertür. Skotophilos befahl ihm auf Arabisch, all die Unterlagen hervorzuholen und zu lesen, die sich mit seiner verbrecherischen Tätigkeit befassten und auch die von ihm angestrebten Kontakte zu islamistischen Terrorgruppen betrafen.
Während Skotophilos den Jordanischstämmigen fernsteuerte befasste sich Sweetblood mit der blonden CIA-Agentin. Eigentlich war es eine heilige Regel, dass eine neue Blutsschwester oder Blutstochter freiwillig dazu bereit sein musste, den erhabenen Blutaustausch zu vollziehen. Doch die Göttin konnte mit ihrer Kraft auch den unfreiwilligen Blutaustausch und die Umwandlung in eine neue Tochter der nacht bewirken. Die Macht des Mitternachtssteines und die Kraft der Göttin selbst überwanden die sonst geltenden Hürden.
Um nicht die Teppiche mit Blut zu besudeln breitete Sweetblood alle zehn Garnituren frischer Bettwäsche aus, die in einer großen Truhe gelagert wurden und wohl nach wilden Liebesnächten ausgetauscht wurden. Auf alle ausgebreiteten Laken und Deckenbezügen vollzog Sweetblood dann die ihr befohlene Blutweihe. Zwar versuchte die Blonde, die bis zu diesem Zeitpunkt Janine Wilder geheißen und sich für Abu-Damas als Myrna ausgegeben hatte, ihrer von der Göttin beschlossenen Bestimmung zu widerstehen. Doch die Macht der erwachten Göttin war stärker als jeder menschliche Wille. Zumindest glaubten das Sweetblood und ihre oberste Herrin. So dauerte es nur eine halbe Stunde, bis die nun bald einer anderen Macht dienstbare Frau und die Priesterin der erwachten Göttin genug Blut voneinander getrunken hatten und Janine Wilder in den Schlaf der Umwandlung fiel. Sweetblood fühlte das von ihr getrunkene Blut in die eigenen Adern einfließen und sich dort mit ihrem hellen Blut vermischen. Die Bindung vollendete sich. Gemäß dem alten Recht der Nachtkinder durfte die Blutmutter einer neuen Nachtgeborenen den Namen aussuchen, unter dem sie fortan weiterleben konnte. Sie würde die erste sein, die sich die Priesterin der schlafenden Göttin erschuf. Sweetblood dankte der Göttin für diese Gunst. Dabei wusste die Priesterin nicht, dass es der Gedanke der Göttin selbst war, der sie dazu brachte, sich eine Gruppe treuer CIA-Agentinnen zu sichern.
Es dauerte nur zwei weitere Stunden, bis die neue Nachttochter ihre Augen aufschlug und erkannte, dass was fremdartiges mit ihr geschehen war. Doch sogleich erfüllte auch diese die Kraft der Göttin. Sweetblood hörte mit, wie die große Mutter der Nacht ihrer neuen Tochter erste Erklärungen ins Gedächtnis pflanzte und ihr verdeutlichte, dass sie ein langes, erfülltes Leben haben konnte oder in nicht mal einem Atemzug den Tod erleiden konnte, egal wo sie sich aufhielt. Die Gedanken der Göttin durchmischten sich immer mehr mit den Gedanken der anderen. Sweetblood sah dieser zweiten Umwandlung zu. Dann sagte sie laut und vernehmlich: "Willkommen im Reich der Nacht, meine Tochter Golden Shadow. Ich hoffe, dein Erwachen verlief ohne zu große Qualen."
"Ich habe nie geglaubt, dass es sowas gibt", stöhnte die als Nachttochter wiedergeborene. "Doch ist mir klar, warum ihr euch vor uns Normalmenschen versteckt gehalten habt. Die Göttin sagt mir, dass du meine Mutter bist, und deshalb soll ich dir gehorchen, was immer du befiehlst."
"Ja, Golden Shadow, das musst du. Denn durch mich spricht und handelt die Göttin, als sei sie selbst an diesem Ort", bekräftigte Sweetblood, während Skotophilos dieser dunklen Feierstunde mit schwer im Zaum gehaltenem Unmut zusah. Daggermouth indes saß auf einem Diwan und nahm es hin, dass er im Moment nicht weiter benötigt wurde.
"Während unsere neue Mitschwester ihre schützende zweite Haut bekommt räumt ihr beide das Zimmer auf und beseitigt alle Spuren unseres Hierseins. Golden Shadow wird zurückkehren, wenn sie ihre Schutzhaut erhalten hat, um von Abu-Damas' Leuten in ihre Heimstatt zurückgebracht zu werden." Mit diesen nur in den Gedanken der anderen klingenden Worten der Göttin umfing Sweetblood und Golden Shadow der nachtschwarze Schattenstrudel und holte sie aus diesem Zimmer heraus.
Die zwei männlichen Diener der Göttin sahen einander an. "Schade, dass die nicht von einem orientalischen Geheimdienst ist. Dann hätte die Göttin einen wirklich großen Sieg errungen."
Skotophilos sollte das Bett Abu-Damas' mit ganz frischer Bettwäsche beziehen. Daggermouth räumte den Schrank wieder richtig ein, wobei er jedoch die Krokodilleder-Brieftasche Abu-Damas um stolze 3000 Dollar in Bar erleichterte. "Das war wohl die Gage für die besondere Nachtvorstellung", grinste Daggermouth. Haben wir jetzt eben ein wenig mehr Geld."
Wenige Minuten später erschienen Sweetblood und Golden Shadow wieder aus einem nachtschwarzen Wirbel. Golden Shadow trug jetzt eine wasserstofffarbene Langhaarperücke, bis ihr eigenes Haar zu einer solchen Kopfbedeckung verarbeitet worden war. Nur so konnte sie die sie nun als zweite Haut umschließende Solexfolie am ganzen Körper tragen.
"Habt ihr alles aufgeräumt?" fragte Sweetblood und sah sich um. Es gab nichts zu beanstanden. So verschwanden die drei Gesandten der Göttin wieder in einem einzigen Strudel. Golden Shadow blieb zurück, um den Auftrag der Göttin fortzusetzen. Sie dachte schon nicht mehr wie Janine Wilder. Deren einstige Persönlichkeit war durch die geballte Kraft Gooriaimirias unumkehrbar verändert. So dachte sie auch mit einem Gefühl von Genugtuung und Vorfreude, dass die achso mächtige CIA in nicht mehr all zu ferner Zeit von den Töchtern der erwachten Göttin geleitet werden würde und ihre Blutmutter Sweetblood sie auserwählt hatte, die aller erste dieser so wichtigen Dienerinnen zu sein.
Sie fühlte die Bewegungen von Barbara Eudora Lydia immer deutlicher. Das war schon erhaben wie unangenehm zugleich, erkannte die Starreporterin vom Westwind.
Neben der süßen Last in ihrem Bauch trug Linda Latierre-Knowles aber auch die Sorge in sich, wie sie möglichst vielen möglichst glaubhaft weitermelden konnte, dass Ladonna Montefiori das italienische Zaubereiministerium unterwanderte, ja womöglich schon in Besitz genommen hatte. Immerhin hatte sie ihre neuen Familienangehörigen eingeweiht, die über ein weites und vielfältiges Netzwerk verfügten. Für ihren offiziellen Chef, Barney Penholder, hatte sie einen Artikel geschrieben, dass die Italiener sich quasi im Belagerungszustand empfanden, weil sie von mehreren Seiten unter Druck standen. Sie mussten weiterhin erklären, wo Phoebe Gildfork abgeblieben war, suchten wohl noch nach einem zuverlässigen Antidot gegen das von Vita Magica verbreitete Fortpflanzungsrauschgas und mussten weiterhin mit Übergriffen von Ladonna Montefiori oder den zaubererfeindlichen Nachtgeschöpfen rechnen, wenn sie die Neuauflage der Quidditchweltmeisterschaft sicher durchführen wollten. Wie sie mit ihrer wahren Geschichte rauskommen wollte musste sie noch klären, am besten noch bevor wieder hunderttausende internationaler Hexen und Zauberer auf die stiefelförmige Halbinsel reisten. Denn falls Ladonna wirklich schon wichtige Abteilungen des Zaubereiministeriums beherrschte, würde sie ihre Macht sicher auf andere Ministerien und wichtige Gruppen der Zaubererwelt ausdehnen wollen. Dies mussten sie unbedingt verhindern. Dabei war sehr wichtig, dass Ladonna nicht zu früh erfuhr, dass jemand ihr großes Geheimnis herausgefunden hatte und es jederzeit enthüllen konnte. Das trübte die Vorfreude auf das ankommende Baby ein. Sie beschloss, Lady Roberta Sevenrock von den schweigsamen Schwestern zu kontaktieren. Vielleicht konnte die altehrwürdige Hexe ihr verraten, wie sie mit dieser Information umgehen sollte.
"Hast du schon Millies Artikel über die letzten Vorbereitungen auf die große Babyflut in Millemerveilles gelesen?" fragte Gilbert Latierre seine Frau. Diese nickte. "Ja, doch, sehr kompakt und gefühlsstark zugleich. Wahrscheinlich wird Vita Magica mitlesen."
"Deshalb hat sich Millie mit dem Dorfrat und den werdenden Eltern darauf geeinigt, die Namen der Kinder nicht zu erwähnen. Das ist legitim, weil nicht jedes Elternpaar möchte, dass die Geburt seines Kindes in der Zeitung erwähnt wird. Das könnte die von VM rotieren lassen, weil die sicher alles haarklein wissen wollen, was ihr heimtückischer Angriff für Auswirkungen hat." Linda bejahte das wohl. Dann lauschte sie in sich hinein, hörte dem gerade ein wenig langsamer pochenden Herzen ihrer ungeborenen Tochter zu. Sie wusste, dass sie eine große Verantwortung trug, nicht nur für das in ihr heranwachsende Kind, sondern auch für dessen Umgebung.
Linda Latierre-Knowles hatte es geschafft, sowohl ihren Ehemann als auch ihren offiziellen Arbeitgeber glauben zu machen, vor der anstehenden Mutterschaftspause noch einmal in die Südstaaten zu reisen, weil sie dort die Spur eines der betrügerischen Quidditchspieler aufgenommen haben wollte. Tatsächlich aber hatte Linda über die geheimen Verbindungskanäle zu den schweigsamen Schwestern einen Gesprächstermin mit Lady Roberta Sevenrock erwirkt.
Es war gerade fünf Uhr Nachmittags. Linda saß im Salon der älteren Hexe und sah auf den Wandkalender. Morgen, am elften März, wollte sie in New Orleans sein, um dort die LI-Mitarbeiterin Cecilia Garmapak interviewen, inwieweit sie mithelfen konnte, den von der US-Mannschaft begangenen Betrug nicht noch einmal stattfinden zu lassen. Neben dem Kalender hing ein Bild, auf dem gerade ein schneeweißer Schwan auf einem grün-blauen Waldsee schwamm. Linda wusste, dass dieses Bild mit anderen Bildern in Verbindung stand, nur nicht, mit welchen und wo genau.
"Eileithyia und Beth kommen auch noch. Sie sind sehr gespannt, was du uns zu erzählen hast."
"Beth McGuire? Dann hättest du die oberste Spinnenschwester gleich mit einladen können", grummelte Linda. Darauf erwiderte Lady Roberta: "Diese Mischung aus Traumfrau und Ungezifer kommt mir nur ins Haus, wenn sie vorher ihren exotischen Zauberstab abgibt und zulässt, dass sie der Besprechung gefesselt beiwohnt. Aber du hast bedauerlicherweise völlig recht, dass ich Beth deshalb hergebeten habe, damit dieses Subjekt auch erfährt, was du herausgefunden hast, sofern es das nicht schon über die eigenen Verbindungen weltweit erfahren hat."
Erst kam Eileithyia Greensporn aus dem Kamin. Sie begrüßte erst die oberste Vorsitzende, dann Linda. Natürlich wollte sie gleich wissen, wie es ihr und dem ungeborenen Kind ginge. Linda erwähnte das, was Chloe Palmer ihr darüber erzählt hatte. "Dann bin ich ja sehr beruhigt", erwiderte die Sprecherin der nordamerikanischen Heilzunft.
Als Beth auch noch aus dem Kamin kam versperrte Roberta diesen sorgfältig und baute noch einen Klangkerker auf. Dann servierte sie erst einmal Tee und Gebäck, obwohl sie nicht in England waren. Danach durfte Linda den drei heimlichen Mitschwestern erzählen, was sie und Gilbert herausgefunden hatten. Eileithyia fragte sie, ob sie für ihre Maskerade Verwandlungszauber oder Hexenkosmetika verwendet hatte. Sie beruhigte die Königin der Hebammenhexen, dass sie nur mit Haar-, Haut_, und Augenfärbemitteln und täuschend echt aussehenden Gesichtspolstern hantiert habe. "Ich wollte weder Krach mit Chloé Palmer noch mit meiner Schwiegercousine Béatrice noch mit dir, schwester Eileithyia. Die silberhaarige Hexe nickte beruhigt. Dann durfte Linda ihren Bericht ordentlich fortsetzen und beenden.
"Hmm, zu gerne würde ich das, was du erfahren hast allen anderen Schwestern weitergeben, Schwester Linda. Aber ich fürchte, dass vielleicht schon eine dabei ist, die von Ladonna unterworfen wurde. Deshalb möchte ich den Kreis der Wissenden möglichst kleinhalten. Aber es ist sehr wichtig, dass du uns davon berichtet hast, Schwester Linda", sagte Roberta Sevenrock.
"Wie genau unterwirft sie sich andere Leute?" wollte Linda wissen. Roberta seufzte. Sie sah Eileithyia an und dann wieder Linda. "Die sich selbst als entschlossene Schwestern bezeichnende haben Dank Beth einige Aufzeichnungen aus Sardonias Zeit an uns geduldige Schwestern weitergegeben, wohl weil wir mit Ladonna eine sehr mächtige und gefährliche Feindin haben, gegen die wir alle gemeinsam ankämpfen müssen." Dann erklärte sie Linda, was es mit dem Duft der Feuerrose auf sich hatte. Linda Pfiff durch die Zähne. Sie sah Eileithyia Greensporn an und fragte sie,ob sie und die anderen Heiler schon an einem Vorbeugemittel arbeiteten. "Ich fürchte in dem Fall gilt, dass nur der Besen aus gleichem Holz einen fliehenden Besen einholen kann und nur ein im Silberkessel gebrauter Trank gegen einen anderen im Silberkessel gebrauten Trank wirkt", erwiderte die Heilmagierin. "Will sagen, weil Ladonna eine Dreifachhybridin zwischen Menschenfrau, grüner Waldfrau und Veela ist, konnte sie dieses vertückte Gemisch aus Elementarzauber, dunkler Magie und Alchemie ersinnen und vervollkommnen. Um dagegen vorzugehen müssten wir also wohl entsprechende Gegenkomponenten aus Körperfragmenten von Veelas, Menschen und Waldfrauen benutzen, wobei wir dann erst einmal die Mischung herausfinden müssen. Tja, und wie du vielleicht gelernt hast sind längst nicht alle Bestandteile von magischen Wesen geeignet, damit Tränke anzurühren." Beth und Linda nickten. Da fragte Beth, ob es nicht schon reichenwürde, einenUnfeuerzauber zu wirken, sobald die Feuerrose erschien, da diese ja aus Feuer ihre Kraft ziehe.
"Der müsste dann aber sehr früh gewirkt werden, am besten noch auf einen feueraffinen Gegenstand gesprochen werden, wie es die indigenen Völker Australiens intuitiv erlernt haben", erwiderte Eileithyia. Beth stimmte dem zu, musste dabei aber verhalten grinsen. Das fiel nicht nur Linda und Eileithyia auf, sondern auch Roberta Sevenrock. Deshalb sagte diese: "Ich weiß, woran du denkst, Schwester Beth, ohne dich legilimentieren zu müssen. Die Spinnenführerin hat dieses mächtige Artefakt aus dem alten Vorreich erbeutet, mit dem Feuerquellen und Feuerwesen beeinflusst werden können. Dein halbwegs überlegenes Grinsen könnte berechtigt sein, und dieses Schwert ist die einzige wirksame Waffe gegen Ladonnas Betörungszauber, wie wohl auch gegen ihren Feuerbündel verschießenden Rubinring. Aber deine heimliche Anführerin kann nicht überall zugleich sein. Also hoffe besser darauf, dass du immer dort bist, wo Ladonna nicht ist oder ständig am Rockzipfel dieser Spinnenhexe hängst, sofern sie das zulässt." Beth grinste jetzt nicht mehr.
"Jedenfalls ist es laut der Aufzeichnungen wichtig, dass die magische Botschaft einer Feuerrose von denen verstanden werden muss, auf die sie wirken soll. Vielleicht helfen da Alraunen-Ohrenschützer."
"Schön, die helfen bei normalohrigen Leuten. Ich kann durch die Dinger zumindest noch einen rufenden Menschen ganz leise flüstern hören", sagte Linda Latierre-Knowles. Darauf kam von Eileithyia natürlich der Einwurf: "Du solltest dich sowieso in den letzten Wochen vor der Niederkunft und über die gesamte Stillzeit hinweg an einem sicheren Ort aufhalten, bestenfalls Sanctuafugium wie das Schloss deiner Schwiegertante oder unter dem neu errichteten Schutz von Millemerveilles. Dorthin kann auch Ladonnas Magie nicht vordringen."
"Super, dann falle ich ja für ein ganzes Jahr aus", grummelte Linda Latierre-Knowles und erntete ein beipflichtendes Zwinkern von Beth. "So ein Kind braucht einen sicheren Ort zum wachsen, sobald es dem Mutterleib entschlüpft ist", belehrte Eileithyia ihre jüngere Mitschwester. Linda fragte sich einmal mehr, ob es wirklich so eine gute Idee gewesen war, sich von ihr in diesen geheimen Hexenorden einführen zu lassen. Andererseits konnten die Schwestern sie besser vor Nachstellungen schützen und hatten weltweite Verbindungen, die ihr sicher auch das eine oder andere mal helfen mochten, wenn Barbara Eudora Lydia geboren und entwöhnt war.
"Du hast also nichts dagegen, dass ich Anthelia berichte, was unsere scharfohrige Schwester mitbekommen hat?" fragte Beth.
"Ob sie es schon weiß oder jetzt schon von dir erfährt oder später von anderen Mitschwestern, von denen ich nur denke, dass sie ihr folgen ist nur eine frage der Zeit, und ich fürchte, dass Ladonna uns keine Zeit lassen wird. Falls sie wirklich das italienische Zaubereiministerium unterwandert oder gar für sich erobert hat und Minister Bernadotti nur noch ihre gehorsame Marionette sein sollte wird sie auch und vermutlich schon länger in unseren eigenen Reihen neue Untergebene suchen. Genau deshalb musste ich diese Unterredung ja auf uns vier beschränken."
"Ja, Schwester Beth, und du darfst der Erbin Anthelias gerne ausrichten, dass ich trotz dem, dass ich weiß, dass du ihre Botschafterin bei uns bist, meine Erlebnisse berichtet habe", sagte Linda Latierre-Knowles. Beth bedachte diese brüske Erwähnung mit einem verwegenen Grinsen. Hoffte die womöglich, dass ihre heimliche Anführerin sich zur neuen Gesamtsprecherin der schweigsamen Schwestern aufschwingen konnte? Ladonna oder Anthelias Erbin. Wer war dabei der Drache und wer der Basilisk?
Als Linda Latierre-Knowles mit einem leichten Schwindelgefühl aus dem Kamin im Gasthaus zum betrunkenen Drachen in New Orleans herauskam wusste sie, dass sie ab nächster Woche wohl keine Flohpulverreisen mehr machen durfte, ob mit oder ohne die Erlaubnis ihrer Hebamme.
Sie traf am Abend noch Patricia Redlief und Maya Unittamo und unterhielt sich mit diesen über das neue Leben als Ehefrau und baldige Mutter. "Ja, das wird nicht immer einfach zwischen Mütternund Töchtern", sagte Maya Unittamo. "Aber rückblickend betrachtet ist es auf jeden Fall nicht langweilig. Ja, und die gute Pat kann das nicht beurteilen, weil sie ja nur einen Sohn bekommen hat.""
"Um mein Leben nicht langweilig werden zu lassen hat das auch völlig gereicht, Mrs. Unittamo", grummelte Patricia Redlief. "Aber die aussicht, bald Urgroßmutter zu werden sagt mir, dass ein Sohn alleine schon ausgereicht hat."
"O ja, das hält mich auch immer noch im Fluss, dass ich so viele Urenkel habe", erwiderte maya Unittamo und wurde erst zu einem farbigen Wirbel und dann zu einer Wasserpfütze, die sich zu einer schwankenden Säule nach oben streckte. "Ui, irgendwie konnte ich das mal besser", kam ihre Stimme leicht plätschernd aus der wankenden säule, bevor sie wieder feste Gestalt annahm. An den nebentischen klatschten Leute Beifall für diese grandiose Selbstverwandlung.
"Danke für den Applaus, aber Autogramme gebe ich um diese Uhrzeit keine mehr", bedachte Maya den Beifall der anderen. Diese lachten erheitert.
Als Linda kurz vor elf doch schon sehr müde war geleitete Maya Unittamo sie bis vor das von ihr gebuchte Zimmer. "Komm gut durch alles, was vor dir liegt, Mädchen. Lass dich nicht ärgern", sagte sie. Linda fragte, wem diese Ansprache jetzt gegolten habe. "Der kleinen da unter deinem Umhang natürlich", grinste Maya Unittamo. Dann umarmte sie Linda kurz und sagte: "Pass du bitte gut auf, dass die Kleine auch sicher auf die Welt findet und noch ganz ganz lange was von ihrer Mutter hat. Nacht!"
""Gut, Barbara, dann will ich mal für dich mitschlafen, wo ich heute wieder für uns zwei mehr als mir guttut gegessen habe", säuselte Linda und strich über ihren immer runder werdenden Bauch. Ja, das war schon wirklich was anderes als gefährlichen Leuten nachzuspüren oder krampfhaft geschützte Geheimnisse zu ergründen und zu bewerten, ob diese weiterhin geheim bleiben mussten oder nicht doch an die Öffentlichkeit kommen mussten.
Mittlerweile hatte sie sich mit ihrem erwachsenen Körper und dessen natürlichen Vorgängen abgefunden. Zumindest galt es solange, bis Faidaria, die erste Sprecherin der Sonnenkinder, die weitere Vermehrung befahl. Nur deshalb hatte Olarammaya, die in einem schon weit zurückliegenden Leben ein junger Mann namens Ben Calder, Cecil Wellington oder Brandon Rivers gewesen war, die Kindheit und das langsame erblühen zur jungen Frau übersprungen, weil die Sonnenkinder zu wenige waren, um gegen die immer größer werdende Bedrohung von gleich mehreren Seiten zu bestehen. Sie hatte angefangen, diesen Körper zu mögen, jeden Morgen gerne ihr Spiegelbild angesehen und unter der schwesterlichen Anleitung Gerannammayas, die früher die Mutter ihrer gemeinsamen Mutter gewesen war, Schmink- und Kleidertricks ausprobiert. Nur mit hochhackigen Schuhen hatte sie sich nicht beschäftigen wollen. Die waren für schnelles Laufen oder wichtige Aktionen zu hinderlich. Gerannammaya hatte zwar mal gemeint, dass eine Hexe auf einem hohen Absatz schneller in die für den zeitlosen Ortswechsel nötige Drehbewegung finden würde, aber dass sich erwachsene junge Hexenmädchen oder erwachsene Hexen nur für besondere Gelegenheiten diese hohen Absätze zumuteten, zumal es ja auch genug anderes Schuhwerk für Frauen gab.
Immerhin konnte Olarammaya wieder ohne fremde Hilfe an einem Rechner arbeiten. Sie musste nur aufpassen, dass sie nicht zu lange Fingernägel bekam. So meinte ihre gemeinsame zweite Mutter einmal, dass die Länge der Fingernägel den sichtbaren Unterschied zwischen ihr und Gerannammaya mache. Doch das nahm Olarammaya locker hin. Sie fühlte sich nur unwohl, wenn sie daran dachte, dass sie und Gerannammaya demnächst irgendwie eigene Kinder empfangen, austragen und zur Welt bringen sollten. Allein die Gedanken an die eigene Geburt machten, dass sich die junge Sonnentochter davor gruselte. Vor allem hieß es von den als Wächtergeister überdauernden Eltern der ersten Sonnenkinder, dass die von weiblichen Daisirin empfangenen Kinder bereits die lebenden hüllen für die ausgelagerten Seelen bereits verstorbener Sonnenkinder waren. Sich vorzustellen, einen der beim versuchten Angriff auf das von Dementoren besetzte Luxuskreuzfahrtschiff Paradiso di Mare gestorbenen Sonnensohn neu austragen zu sollen, mit dem dann genauso gut in Gedanken sprechen zu können wie sie und ihre Zwillingsschwester es mit ihrer zweiten Mutter gekonnt hatten war wirklich unheimlich. Andererseits dachte Olarammaya auch daran, dass es schon interessant sein würde, wie es sich anfühlte, ein neues Leben in sich heranwachsen zu fühlen. Ihretwegen konnte dieses Kind dann gerne per Kaiserschnitt auf die Welt gebracht werden. Zumindest würde sie nicht die Mutter von Gordarian.
"Mami, Gerannammaya, Argos 20xx hat gerade neue Sachen vom FBI und von der CIA rübergereicht. Die in New York suchen noch nach den drei mysteriösen Besucherinnen dieser sich belauernden Mafiosi, und eine Agentin der CIA hat berichtet, dass nach anfänglichen Verdachtsmomenten geklärt werden konnte, dass ein gewisser Tarik Abu-Damas "nur ein Heißluftballon" sei, was wohl heißt, dass er größer und heftiger ausgesehen hat als er in Wirklichkeit war. Die von der Firma in Langley hatten den wohl auf einer Liste wegen Al-Qaida und Beziehungen zu anderen islamistischen Terroristen. Die betreffende Agentin, die sich mit dem Decknamen Sonnenblume null neun acht bezeichnet, muss diesen Abu-Damas gründlich ausgeforscht haben", gedankensprach Olarammaya zu ihren direkten Blutsverwandten.
"Lass mich mal mitlesen, kleine Schwester", hörte sie Gerannammayas Stimme in ihrem Kopf. Erst dachte sie, diesen Vorstoß abblocken zu sollen. Doch dann entspannte sie sich. Sofort fühlte sie, wie sie nicht mehr alleine war und sah auf den Bildschirm. "So wie es da steht hat sich diese Sonnenblume wohl an den Verdächtigen herangemacht, um an seine geheimen Unterlagen zu kommen. Also machen die Muggels das auch mit gewissen Gefälligkeiten. Sowas kannte ich bisher nur von liebestollen Hexen."
"Ich kann mir vorstellen, dass diese Agentin den Typen in jeder Hinsicht bezirzt hat und ihm dann, wo er meinte, er habe die Lage voll im Griff, was untergejubelt hat, damit er ihr erzählt, was er sonst keinem erzählen wollte. Wahrheitsdrogen sind ja nicht nur bei magischen Leuten bekannt, und die Schlapphutagentur aus Langley hat da noch andere Fiesheiten ausprobiert, um Leute umzupolen oder zu willigen Marionetten zu machen, und das ganz ohne Magie", schickte Olarammaya zurück.
"Was diese Bandenchefs betrifft sollten wir da doch mal wen von den Jungs hinschicken, um zu klären, ob die nicht Besuch von ganz bestimmten Religionsanhängerinnen bekommen haben. Jedenfalls scheinen sich die Stadtpolizei und das FBI nicht mehr so ganz zu vertrauen, weil das mit den drei Frauen an Jeff Bristol durchgesickert ist und damit auch ans Laveau-Institut", gedankensprach Gerannammaya, die außerhalb des kleinen Inselreiches auch Pandora Straton hieß.
"Das müssen wir mit Faidaria selbst klären. Die meinte ja, die wie wir blitzgereiften Jungs sollten erst mal zusehen, genug von uns mit neuen Sonnenkindern zu beladen. Sie will ja haben, dass alle gerade in diesen Aufbewahrungskugeln schlummernden Seelen neu zur Welt kommen. Immerhin sind es noch sechsunddreißig, die noch nicht wiedergeboren wurden, darunter acht Sonnentöchter. - Ja, ich weiß, dir ist es unangenehm. Aber wie bei unserer Reise in die Welt und in den ersten Monaten als junge Frauen werde ich dir auch bei dem helfen können, was wir und auch Faidaria zu erledigen haben." Olarammaya wollte im Moment nichts darauf antworten.
Bei einer von Angesicht zu Angesicht geführten Beratung ließ sich Faidaria alle Neuigkeiten berichten. Auch die im Sonnenturm ausharrenden Geschwister hatten Neuigkeiten, wenngleich diese alles andere als angenehm waren. Denn der riesige goldene Wächter von Garumitan hatte seine fünf Untereinheiten beauftragt, ihm möglichst genaue Karten vom Pazifik zu verschaffen. Offenbar plante er die Anlage eines neuen Stützpunktes.
"Was die Nachtkinder und die Schattenwesen angeht sollten wir uns bis zum letzten Moment zurückhalten und darauf hoffen, dass die jetztzeitigen Träger der hohen Kraft zumindest das Überrennen der ganzen Welt verhindern können. Wir sind noch zu wenige, um wieder an mehreren Stellen zugleich angreifen zu können wie damals, als Dailangamiria, die damals noch Gwendartammaya hieß, mit ihrem Begleiter, dessen inneres Selbst nun in unserer Mitschwester Olarammaya neu erwachte uns alle aus dem tiefen Schlaf geweckt hat. Doch ich erkenne an, dass wir nicht nur auf die über dieses kleine Wissenssammelgerät eintreffenden Kenntnisse vertrauen dürfen. Allein schon, dass die Spinnenfrau und ihre Gesinnungsschwestern den möglichen Unterschlupf von Kanoras' unheilvoller Erbin gefunden haben zeigt, dass dieses Gerät alleine nicht reicht, um unsere Aufgaben zu erledigen", sagte Faidaria. Dailangamiria, die vorher Gwendartammaya geheißen hatte und außerhalb von Ashtaraiondroi unter einem englischen Namen herumlief bat ums Wort und ergänzte Faidarias Zusammenfassung: "Ja, und wenn meine Tochter Olarammaya nicht an Albertine Steinbeißer geschrieben hätte, dass die Festung sicher mit Unlichtkristallen ausgekleidet ist und daher nicht offen angegriffen werden darf, hätten die Hexen um die Spinnenführerin sicher schon Dutzende von Mitschwestern verloren. Immerhin konnte Julius Latierre den mit ihm zusammenarbeitenden Zauberern und Hexen erklären, wieso es zu gefährlich war, die Festung der Schattenkönigin direkt anzugreifen. Bestenfalls würden die Angreifer nur sterben und ihre Seelen über die sogenannte Weltenbrücke gehen. Schlimmstenfalls würden die Angreifer zu Opfern der kleineren Nachtschatten oder zu willigen Nachkommen der Nachtschattenkönigin selbst. Wenn die frei bewegliche Schattenkönigin alles Wissen von Kanoras in sich aufgenommen hatte, würde sie ganz bestimmt ihre eigene Wohnstatt mit dunklen Abwehrzaubern schützen. Also galt es, die Schattenkönigin an einem bestimmten Ort zu treffen und das in jeder Bedeutung des Wortes.
"Wenn die Blühzeit durch die Tagundnachtgleiche beginnt werden wir Sonnentöchter, ja ich selbstverständlich einbezogen, unsere Pflicht erfüllen und mit den überlebenden oder nach erfolgreicher Wiedergeburt zu erwachsenen Sonnensöhnen weitere Nachkommen hervorbringen", legte Faidaria fest. Natürlich wusste sie, welche ihrer Artgenossinnen gerade fruchtbar und welche schon darüber hinaus waren. Also sollten sie alle im Frühling auf neuen Nachwuchs hinwirken. Die wiedergeborenen Männer sahen die hier versammelten Frauen an. Gisirdarias Sohn Kandorammayan sah vor allem Gerannammaya und Olarammaya an, was bei letzterer einen kaltenSchauer verursachte. Dann sah er Dailangamiria an und sprach ihr wohl im Geist zu. Olarammaya sah Ilangammayan, Faidarias und Brandons sohn, der, weil er schon Faidarias zweites Kind war, als vierter zwiegeborener in der Geschichte der Sonnenkinder zur Welt gekommen war. Einen winzigen Moment ertappte sich Olarammaya bei dem Gedanken, mit Ilangammayan die wilden Leidenschaften zu erleben. Dann wies sie es innerlich zurück. Nein, das war einfach zu abgedreht. Doch wenn Faidaria ansagte, dass die ganzen Frauen hier für die zeugungsfähigen Mannsbilder bereit zu sein hatten mochte sich Olarammaya ausrechnen, wie lange sie noch unbehelligt weiterarbeiten konnte. Zumindest musste sie nicht einen der Männer heiraten, solange das Problem mit der zu kleinen Zahl von Sonnenkindern bestand. Das war aber ein ziemlich schwacher Trost, dachte Olarammaya. Darauf erhielt sie ein leises, rein gedankliches Kichern ihrer Zwillingsschwester. "Wenn du ihn nicht haben willst könnte ich mir vorstellen, sein erstes Kind zu kriegen." Olarammaya verzog nur das Gesicht und schwieg, sowohl hörbar als auch in konzentrierten Gedanken.
Brenda Brightgate versah wie immer ihre Arbeit im Innendienst der CIA-Zentrale. Bisher hatte keiner der nichtmagischen Kollegen Verdacht geschöpft, dass sie noch für jemanden anderen arbeitete. So bekam sie weiterhin Unterlagen über Auslandseinsätze, die im Rahmen der immer noch laufenden Afghanistan-Mission anfielen. Dabei fand sie auch den Eintrag von Sunflower 098, einer Feldagentin, die sich mit einem in New York ansessigen zwielichtigen Geschäftsmann befasst hatte, der bis zu ihrem Bericht im Verdacht gestanden hatte, mit Al-Qaida in Verbindung zu stehen. Doch der Abschlussbericht ergab, dass er doch nur ein bestenfalls hochstapelnder Kleinganowe war, schlimmstenfalls ein Mann, der sich einen gewissen Einfluss auf die arabischsprachige Bevölkerung in New York sichern wollte. Das wiederum konnte aber bedeuten, dass er auf diese Weise auch mit Leuten wie diesem Geisterbeschwörer aus dem Irak zu tun bekommen mochte, und das ging das Laveau-Institut eine ganze Menge an. Vielleicht sollte sie mit dieser Feldagentin irgendwie zusammenkommen, um zu erfahren, wie genau sie diesen Abu-Damas ausgeforscht hatte. Doch hierfür brauchte sie sowohl eine klare Genehmigung ihres Vorgesetzten Davidson als auch eine inoffizielle Stillhaltezusage von Ira Waterford, der im Auftrag des Zaubereiministeriums die CIA überwachte, damit sowas wie mit dem Geisterbeschwörer oder andere eindeutig magisch begründete Vorfälle nicht weiter beachtet wurden. Den würde sie aber erst ansprechen, wenn sie das Okay von Davidson hatte. Aber dafür musste sie erst warten, bis sie ihren Arbeitsplatz verlassen durfte. Solange bearbeitete sie die eingehenden Berichte und sortierte sie in die entsprechenden Ablagen, damit sie von den Analyseteams weiter ausgewertet werden konnten.
Als sie um sieben Uhr abends nach zwei Überstunden ihren Rechner sicherte und herunterfuhr mentiloquierte sie an ihre Cousine Justine, dass sie gleich noch ins LI wolle, falls Davidson dort noch war.
"Alles klar, Bren. Dann besser bis übermorgen, weil wir morgen wohl länger wegbleiben, jetzt wo die Kleine Ferien bei den Großeltern hat", gedankenantwortete Justine Bristol.
Als sie endlich aus dem Hochsicherheitsbereich der CIA-Zentrale heraus war und außerhalb der Kameraerfassung disapparierte hoffte sie, dass Elysius Davidson noch im Laveau-Institut war.
Ira Waterford hatte genug eigene Kanäle geschaffen, um alle irgendwie mit übernatürlichen Fällen zu tun habende Sachen nachzuverfolgen. So erfuhr er auch vom Bericht der Feldeinsatzagentin Sunflower 098 und dass diese klargestellt hatte, dass Abu-Damas kein Sympathisant oder gar Kolaborateur Al-Qaidas war. Dabei hatten die Kollegen doch klare Hinweise gesammelt, dass dieser jordanischstämmige Kleinunternehmer aus New York einige Drähte gezupft hatte, wohl um eine wohltuende Finanzinfusion zu ermöglichen. Waterford rief unter Benutzung seines Identitätscodes und seinem eigenen linken Finger die streng geheimen Akten der Kollegen auf. Die verrieten ihn, dass die Eltern von Tarik Abu-Damas vor zwanzig Jahren aus Jordanien eingewandert waren, als das Gebiet noch stark umkämpft wurde. Das waren noch Zeiten, wo die US-Bürger zu wissen meinten, wer die guten und wer die Bösen auf der Welt waren. Der damals elfjährige Tarik war auf einer Elite-Oberschule gewesen, hatte sich da wohl einiges an pubertären Spötteleien und Nickligkeiten gefallen lassen, bis er eines Tages beim Beischlaf mit der blonden Tochter des Prinzipals erwischt wurde. Ihm wurde der Schulwechsel ohne großes Aufsehen nahegelegt, so dass er in einem kalifornischen Internat gelandet war. Doch irgendwie musste er beim unerlaubten Zweierspiel mit der Tochter des früheren Schulleiters auf die Idee gekommen sein, er sei unwiderstehlich und dass blonde, europäischstämmige Frauen und Mädchen leichte Beute für ihn waren. Jedenfalls musste sich eine der Mitschülerinnen vorzeitig von der Schule verabschieden, weil sie ungewollt schwanger wurde. Die Abu-Damas hatten viel Geld gezahlt, um ihren Sohn nicht in dieser Angelegenheit zu erwähnen. Dennoch mussten die Kollegen über bestimmte Beziehungen und wohl unter dem Vorwand, dass Kinder von reichen Leuten oft deren größte Angriffsfläche seien, an die Schulakten herangekommen sein.
"Umtriebiges Bürschchen", knurrte Waterford, als er las, dass Abu-Damas häufiger in Luxusbordellen gesichtet worden sein sollte und sehr teure Damen für gewisse Stunden zu sich bestellt hatte. Das war sein persönlicher Angriffspunkt gewesen, so die Feldagentin Sunflower 098. Sie hatte dann unter Verwendung von Wirkstoff XX-178 die Herausgabe aller Unterlagen erwirkt, die Abu-Damas in Verbindung mit möglichen Feinden der USA bringen konnten, doch "nur" Hinweise auf gewöhnliche Delikte gefunden, gerade noch so unter Mord, aber Sachen wie Drogenhandel, Zuhälterei und damit verbundenen Menschenschmuggel. Da das FBI auch an ihm dran war, weil es ähnliche Bedenken hatte würden sie es den eifrigen Bundesermittlern überlassen, wie sie mit Abu-Damas umgingen.
"Mädchen, hättest besser mal alle Akten lesen sollen, die unsere Feldagenten aus Jordanien, Saudi-Arabien und dem Iran ins Land geschmuggelt haben", knurrte Ira Waterford. Denn irgendwie stimmte da was nicht. Doch die von Sunflower 098 gelieferten Fotos der verdächtigen Akten für die des Arabischen und des Farsi mächtigen Analytiker gaben wohl nichts her, keinen rauchenden Colt, wie es die Militärs und deren eigene Nachrichtendienste gerne nannten. Sollte er abwarten, ob die magielosen Kollegen ähnliche Bedenken hatten wie er und was sie damit anfingen? Nein, er wollte es alleine klären. Am Ende hatte nicht sie den Jordanier, sondern der sie herumgekriegt und ihr nur die Sachen gezeigt, die ihn für die Firma uninteressant machten, aber dafür eine ihm treue CIA-Agentin rekrutiert hatte, eine Maulwürfin. Sowas war schon einige Male passiert. Er erinnerte sich auch an den Fall, dass der Sicherheitsbeauftragte des zeitweiligen französischen Zaubereiministers Didier versucht hatte, die damals noch zauberunfähige Martha Merryweather frühere Andrews mit Veritaserum zu befragen und sein eigenes Gebräu geschluckt hatte, worauf sie die geheimen Pläne zur gezielten Masseninternierung Didiers Ansichten widersprechender Hexen und Zauberer erfahren hatte. Das war ein Paradestück aus dem Buch der möglichst zu vermeidenden Fehler bei geheimdienstlichen Operationen gewesen. Doch hatte Sunflower 098 dieses Buch gelesen?
Waterford rief das Dossier von Sunflower 098 auf. Dazu nutzte er eine vor Jahren entwickelte Hintertür im Zentralrechner, um sich auf der obersten Zugriffsberechtigungsebene einzuwählen. So erfuhr er, dass Janine Wilder seit zwanzig Jahren eine hervorragende Feldagentin war, die zwar gerne mit ihren weiblichen Reizen spielte und sich nicht scheute, mit Observanden zu schlafen, wenn sie dadurch deren Vertrauen oder gar Abhängigkeit erlangen konnte. Doch dumm war sie nicht, und dass jemand präparierte Getränke austauschen konnte wusste sie spätestens seit dem Zeitpunkt, als sie einen Observanden dabei erwischt hatte, wie er ihr wohl was einflößen wollte und sie ein ähnliches Ablenkungsmanöver praktiziert hatte wie Martha Merryweather bei diesem Sebastian Pétain. Die würde anders vorgehen und sicherstellen, nicht die eigene Medizin schlucken zu müssen oder falls doch vorsorglich zuerst das passende Gegenmittel einzunehmen. Also blieben nur die Möglichkeiten, dass dieser Abu-Damas tatsächlich nur ein Hochstapler in Sachen Auslandskontakte war oder dass er Janine Wilder mit irgendwas herumgekriegt hatte, ihn nicht weiter zu behelligen. Zumindest wusste er, wo Janine gerade wohnte, in einem Apartment, dass schon früher als zeitweilige Unterkunft für freiberufliche Prostituierte gedient hatte. Er dachte daran, sich erst eine Genehmigung von seinem direkten Vorgesetzten im Zaubereiministerium holen zu müssen, weil er sicher Magie einsetzen würde. Doch dann beschloss er, den neuen Leiter der Kontaktbehörde zur magielosen Welt nur dann aufzusuchen, falls sich herausstellte, dass Sunflower 098 tatsächlich mit einem Verdächtigen paktierte oder noch schlimmer, dass der Verdächtige kein einfacher Sympatisant einer islamistischen Terrorgruppe war, sondern vielleicht selbst zaubern konnte und der Agentin den Imperius-Fluch aufgehalst hatte, um sie ganz und gar nach seinem Willen handeln zu lassen, nicht nur im Bett. Also würde er gleich nach seinem Dienstschluss nach New York apparieren und diese Agentin aufsuchen. Da sie ihn nicht kannte würde er eine der sieben für ihn erstellten Legenden und Papiere nutzen, um sie auszuhorchen und falls nötig entweder für die Kollegen der Firma oder die Kollegen aus dem Zaubereiministerium abholbereit zu machen.
Er benötigte einige Minuten vor seinem Badezimmerspiegel, um sein äußeres so zu verändern, dass er nicht als Ira Waterford erkannt werden konnte. Dazu zog er sich einen blaugrauen Anzug an und nahm einen von sieben falschen Ausweisen und eine Dienstmarke des FBI aus einem gesicherten Panzerschrank. Dann disapparierte er so leise er konnte.
Golden Shadow, so hieß sie nun und fühlte sich sehr wohl, weil sie eine wichtige Dienerin der einzig existierenden Göttin war. Allerdings wusste sie auch, dass ihr an ihre Firma geleiteter Bericht einige der unwissenden Leute da stutzig machen würde. Denn die hatten was von starken Indizien erwähnt, dass Abu-Damas mit Terroristen aus dem mittleren Osten Geschäfte machte. Womöglich blühte ihr morgen oder in den nächsten Tagen eine Befragung, wie genau sie ihre Kenntnisse gewonnen hatte. Doch die Kraft der Göttin würde ihr helfen, alle Frager in ihrem Sinne zu beeinflussen. Sie wähnte sich sicher.
Die wohltuende Nachtdunkelheit kämpfte gegen das künstliche Licht in den Straßen von New York und konnte leider nicht gewinnen. Deshalb konnte die neue Tochter der Nacht ihre neuen, sehr stark getönten Kontaktlinsen nur herausnehmen, wenn sie alle Jalousien ganz herunterließ und noch dazu die eigentlich nur dekorativen Vorhänge vor die Fenster zog. In ihrem Drei-Zimmer-Appartment konnte sie das Licht auslassen. Sie hatte sogar ein dunkles Tuch über den Radiowecker gelegt, der nicht nur wecken konnte, sondern im Bedarfsfall auch über Satellit verschlüsselte Nachrichten aus der Firmenzentrale entgegennehmen konnte. Doch das Bereitschaftslämpchen war für eine Tochter der Nacht schon unerwünscht hell.
Es war gegen halb neun abends, als es an ihrer Wohnungstür klingelte. Golden Shadow erwartete keinen Besuch. Denn für ihre Tarnidentität war es so, dass sie zu den Kunden hinging. Also konnte es nur die Hausverwaltung oder die Polizei sein. Bei letzterem ergab sich vielleicht die Möglichkeit, den betreffenden zu einem weiteren Kundschafter der Göttin zu machen. Also fragte sie nur kurz über die Sprechanlage an, wer draußen war. "Mrs. Myrna Goodfellow?" klang die leicht blecherne Stimme eines mittelalten Mannes. Sie bejahte es. "FBI-Agent Moreland, Bereich New York. Ich bin wegen eines Ihrer letzten ... Termine ... hier. Bitte lassen Sie mich herein!"
"FBI? Das hat bisher noch keiner bei mir versucht", lachte Golden Shadow. Dann sagte sie, um nicht gleich als leicht zu beeindrucken zu gelten: "Sie sind im Moment nur eine Stimme aus der Sprechanlage. Erst wenn Sie mir einen Ausweis und eine Dienstmarke zeigen werde ich Sie hereinlassen."
"Dies steht Ihnen frei", sagte die Stimme aus der Sprechanlage. Golden Shadow bestätigte es und betätigte den Türöffner.
Golden Shadow setzte schnell ihre Kontaktlinsen ein, weil sie für den späten Besucher Licht machen musste, falls sie ihn nicht gleich im ersten Ansatz niederwerfen und sein Blut saugen wollte. Sie sicherte ihre Wohnungstür mit einer kurzen Kette und mied den Blick durch den Türspion. Denn das im Flur brennende Licht war für sie so hell, wie für einen tagaktiven Normalmenschen der Blick in die Sonne selbst. So konnte sie nur am Schatten vor der Tür merken, dass ihr später Besuch nun genau vor der Tür war. Dann bimmelte die Extraklingel für die Wohnungstür. Golden Shadow öffnete die Tür so weit die kurze Kette es zuließ, weit genug, um sich durch den Türspalt den Ausweis und die Dienstmarke des Besuchers reichen zu lassen. Doch jetzt schon spürte sie, dass vor der Tür etwas war, das sie wie ein starker, warmer Windhauch zurückdrängen wollte. Dennoch nahm sie den Ausweis und die Dienstmarke entgegen und las den Namen Stanley Moreland und dass dieser für das FBI arbeitete. Innerhalb einer Sekunde überschlug sie alle auswendig gelernten Daten zu den FBI-Leuten in New York und wusste, dass ein Stanley Moreland für Entführungen und Menschenschmuggel zuständig war. Das passte auf Abu-Damas. Offenbar hatten die Feds diesen orientalischen Lebemann beschattet und sie bei ihm gesehen. Doch dieser sie abweisende Wind gefiel ihr nicht. "Das ist kein Wind, sondern eine Abwehraura", hörte sie unvermittelt die Stimme ihrer wahren Herrin und Allmutter in ihrem Kopf. Sofort fiel ihr wieder ein, dass eben jene sie vor echten Hexen und Zauberern gewarnt hatte. Das waren die drittgefährlichsten Feinde der Gemeinschaft aller Nachtkinder, gleich nach den Sonnenkindern und den vaterlosen Töchtern, deren Mutter Namen kein Nachtgeborener frei aussprechen durfte.
Sollte sie den Fremden hereinlassen, um ihn zu überwältigen? Die Entscheidung wurde ihr abgenommen. Denn unvermittelt klirrte es, und die kurze Kette zersprang. Natürlich hatte der andere eine Rückmeldung von seinem ausgeführten Abwehrzauber bekommen. "Nicht zurückweichen!" befahl die Stimme der Göttin, als die Tür weit aufschwang und der späte Besucher mit einem unterarmlangen Holzstab in der rechten Hand hereinsprang. Das war eindeutig ein Zauberstab. Golden Shadow fühlte, wie etwas sie zu umschließen trachtete. Doch im gleichen Moment durchflutete sie die volle Kraft der einzig wahren Göttin und sprengte die unsichtbare Umklammerung. Der andere erkannte wohl, dass sein wortlos gewirkter Zauber misslungen war und stieß leise das Wort "Stupor" aus. Ein roter Blitz fauchte aus dem Stab und zerstob mit lautem Prasseln knapp handbreit vor Golden Shadows Brustkorb. Dann fühlte sie, wie die in sie einschießende Kraft von ihr aus in alle Richtungen strömte. Der späte Besucher schien mit einem immer lauteren Ton zu summen. Silberne und weiße Funken umflogen ihn, wurden zu einer Wolke aus flackerndem Licht. Golden Shadow fühlte, dass die ihr bis dahin entgegenwirkende Kraft zurückgedrängt wurde. Sie stieß sich ab und erwischte den Zauberstab des Anderen mit einem wohlgezielten Sprungtritt. Der Stab wirbelte nach oben und schlug laut klappernd gegen die Decke. Golden Shadow stürzte sich auf den Fremden. Dieser konnte auch fernöstliche Kampftechniken und versuchte sie mit der rechten Handkante am Kopf zu treffen. Doch ihre neuen Reflexe und Bewegungsfähigkeiten ließen sie so schnell ausweichen, dass keine klare Bewegung zu erkennen war. Dann prallte sie mit dem späten Besucher zusammen. Es krachte und blitzte unerträglich für sie, als der am Körper getragene Schutzgegenstand seine ganze restliche Kraft in einer Entladung freisetzte. Wenn sie da nicht gerade ihre Hände um den Hals des Angreifers geklammert hätte wäre sie womöglich von ihm zurückgeprellt worden. So behielt sie die Oberhand, auch als ihr Gegner versuchte, ihr sein Knie in den Bauch zu rammen und wegen der Kraft der Göttin meinte, gegen eine Stahlbetonwand zu prallen. "Reverto Mutatum!" jagte ein lauter Gedanke durch Golden Shadows Geist, dass sie ihn laut aussprach. Dass dies wohl ein Zauberspruch war erkannte sie, als der in ihrem festen Griff steckende sich veränderte. Seine Haarfarbe wechselte genauso wie seine Gesichtszüge und seine Augenfarbe. Also hatte der sich doch allen Ernstes verwandelt, um ihr wen vorzutäuschen. Dann merkte Golden Shadow, dass es wohl nicht ratsam war, dass die Tür offenblieb. Sie versetzte dem Gefangenen einen schnellen Betäubungsschlag und schloss dann ganz ruhig die Tür. Sie betrachtete die zersprungene Sicherungskette. "Reparo Sicherungskette!" drängte ein Gedanke der Göttin aus ihrem Mund heraus, während sie die beiden Teile der Kette zusammenhielt. Leise schabend griffen die gesprengten Glieder wieder ineinander und schlossen sich so fest wie zuvor. Der Gedanke, dass sie offenbar auch hexen konnte fverflog in dem Moment, wo ihr klar wurde, dass sie gerade von der Göttin persönlich erfüllt war. Dass die natürlich zaubern und hexen konnte war unbestreitbar. Dann besah sie sich den auf dem Boden gelandeten Zauberstab. Sie hob ihn auf und wedelte damit. Sofort fühlte sie einen beachtlichen Widerstand und sah, wie der Stab sich in ihrer Hand bog und wand, als wolle er ihrem Griff entschlüpfen. "Ah, Mammutbaumholz mit Vipernzahnherzfaser", dachte sie, ohne zu hinterfragen, woher sie das wusste. "Ein kleiner Feuerfreund", dachte sie noch weiter und erkannte, dass es die geistige Stimme ihrer Allmutter war, die da so verächtlich dachte.
Golden Shadow legte den Stab erst einmal auf die Kommode in der Diele. Dann lud sie sich den betäubten Gegner auf die linke Schulter und trug ihn mit solcher Leichtigkeit ins Schlafzimmer, als wäre er nur eine weiche Daunendecke. Sie warf ihn geschmeidig auf ihr Bett und durchsuchte ihn dann mit flinken Fingern. Dabei fand sie einen kleinen Staubhaufen in einer Innentasche seines Hemdes. Sie fühlte eine gewisse Resthitze und ließ den Staub durch ihre Finger rieseln. "Das war das, was ihn vor dir gewarnt und ein paar kleine Sekunden lang beschützt hat", dachte sie von der Göttin erfüllt. Des weiteren fand sie eine Brieftasche mit drei Plastikkarten, von denen eine eine Zugangskarte für mehrere Türen in einem Gebäude war, dessen Bezeichnung sie lachenließ. Das war eine der Dutzend Tarnbezeichnungen für die Zentrale der CIA. Dann war dieser Mensch da ein in die CIA eingeschleuster Zauberer, wohl dazu da, jemanden wie sie aufzuspüren oder die Leute in der Firma davon abzubringen, wenn was magisches passierte. Einerseits belustigte sie diese Vorstellung. Andererseits fragte sie sich, welchen Fehler sie gemacht hatte, dass dieser Sonderagent sie persönlich aufsuchen wollte. Denn wenn sie den hier tötete oder zu einem neuen Nachtkind machte fiel das seinen wahren Vorgesetzten auf, und es kamen noch mehr von denen zu ihr. Ihr blieb im Grunde nur, ihn vergessen zu lassen, dass sie ihn niedergekämpft hatte. "Du wirst ihm im Bann des Unterwerfungsblickes alles Wissen entreißen, wer er ist und wem er dient. Dann wirst du ihn glauben machen, dass er bei dir nur einen harmlosen kurzen Abend verbracht und keine verdächtigen Sachen bei dir gefunden hat", wies die Göttin ihre neue Dienerin an. "Aber vielleicht kannst du ihn uns doch gefügig machen, ohne dass er gleich zu einem Sohn der Nacht wird. Mehr, wenn wir wissen, wer er ist und was genau er von dir wollte."
Um den Unterwerfungsblick anzuwenden musste Golden Shadow ihre Kontaktlinsen wieder herausnehmen. Außerdem musste sie den anderen fesseln. Das ging ganz gut, weil sie wegen ihrer delikaten Tarnbeschäftigung auch Handschellen besaß, weil einige Kunden ja auf Fesselspiele standen.
Gerade wollte sie den anderen aufwecken, damit sie ihm in die Augen sehen konnte, als sie ein heftiges, heißes Kribbeln in ihrem ganzen Körper fühlte. Sofort hielt die Kraft der Göttin dagegen. "Mittagssonne! Er war nicht allein!" fegte ein wie lautes Wutgeheul klingender Gedanke ihrer Herrin durch Golden Shadows Geist. Dann hörten Kribbeln und Hitzegefühl auf. "Umschlinge ihn mit Armen und Beinen, damit ich ihn und dich fortholen kann!" befahl die Göttin.
Es krachte laut wie ein abgefeuertes Gewehr. Unvermittelt sah Golden Shadow drei in helles, goldenes Licht gebadete Gestalten und fühlte eine immer stärker werdende Hitze in sich aufsteigen. "Lass ab von ihm, Tochter der Nacht!" hörte sie eine Frauenstimme rufen und erkannte, dass sie von einer der für sie viel zu hell leuchtenden Gestalten kam. "Tenebrae Maxima!" jagte ein Gedanke durch Golden Shadows Geist. Die noch sehr junge Tochter der Nacht riss dabei die rechte Hand hoch, als wolle sie etwas aus der Luft greifen. Schlagartig wurde es so dunkel wie tief im inneren einer weit unter die Erdoberfläche reichenden Höhle. Die golden strahlenden Gestalten erschienen nun dunkelrot glühend. Jetzt konnte Golden Shadow sehen, dass es zwei Frauen und ein Mann waren, allesamt mit Zauberstäben bewaffnet. Und das war nicht alles. Alle trugen sie klar sichtbare Ketten um den Hals, die mit glühenden Metallstücken verziert waren. "Vertückter Sonnenzauber!" hörte sie die Stimme der Göttin in sich. "Janine Wilder, ergeben Sie sich. Ihr Dunkelheitszauber hält nicht lange genug gegen unsere Sonnenzauber", stieß der Mann in der Dreiergruppe aus. "Ihr meint, ihr habt mich? Niemals!" stieß die Vampirin aus und fühlte, wie weitere Kraft aus ihr entströmte und gegen die widerwärtigen Sonnenzauber ankämpfte, die trotz ihrer Schutzfolie bis zu ihr durchdrangen. Außerdem trug sie gerade keine Kontaktlinsen und war daher an den Augen empfindlich.
"Wir möchten Sie nicht umbringen. Wir möchten Ihnen helfen", sagte eine Frau, die Golden Shadow als europäischstämmige Amerikanerin erkannte.
"Ihr mir helfen? Pah!!" spie sie den dreien entgegen. "Die Göttin ist mit mir. Ihr werdet ihre nächsten Kinder!" rief sie und versuchte, die europäischstämmige Angreiferin mit ihrem Unterwerfungsblick zu erfassen. Da blitzte es vor ihren Augen grell auf. Sie meinte, von zwei glutheißen Dolchen in die Augen getroffen zu werden. Sie schrie auf. Die Kraft der Göttin flutete durch ihren Körper. Die Schmerzen vergingen. Da hörte sie die zweite Frau etwas rufen, in dem eine einzige Silbe besonders laut klang, die Silbe "Ra!" Schlagartig verschwand die Dunkelheit, wurde zu hellem Licht. Durch Golden Shadows Körper jagte immer mehr Hitze. "Ms. Wilder, lassen Sie sich nicht von dieser Abgöttin beherrschen. Sie ist nicht das Heil Ihrer Art!" rief der Mann in der Gruppe. Doch Golden Shadow wollte es nicht hören. Sie dachte an ihre Herrin und Allmutter. Diese schwieg jedoch. Statt dessen fühlte Golden Shadow, wie ihr Geist aus dem Körper herausgerissen wurde. Sie sah ihren Körper noch einen Moment lang von oben und die Gesichter der drei Eindringlinge. Dann raste sie durch einen wild rotierenden schwarzen Tunnel. An dessen Ende glühte ein blutrotes Licht. Sie raste auf die Leuchterscheinung zu und erkannte sie als die gigantische Gestalt der einzig wahren Göttin. "Mutter, vergib mir, denn ich habe versagt!" flutete ein letzter Gedanke durch ihren Geist. "Ego te recebo", hörte sie die Stimme ihrer Herrin. Dann stieß sie in das rote Licht hinein und fühlte, wie sie und die allmächtige Göttin endgültig miteinander vereint wurden. Ihr Wissen wurde das Wissen der Göttin. Deshalb erheischte sie als letzten Akt der Gnade, dass die Göttin sie geopfert hatte, um die Gemeinschaft nicht in Gefahr zu bringen und weil sie, Golden Shadow, nicht mehr als Kundschafterin taugte. Dann zerflossen ihre Gedanken im vielhundertfachen Geistesverbund der erwachten Göttin.
Brenda Brightgate verdammte einmal mehr, dass sie erst einmal zum Laveau-Institut hinfliegen musste. Doch dann hatte sie Davidson in wenigen Sätzen davon überzeugt, die Agentin Wilder alias Sunflower 098 auf mögliche magische Manipulationen zu prüfen. Allerdings hatte er ihr noch Phil Brody als Experten für die Bekämpfung von Vampiren und die mit altägyptischen Sonnenzaubern vertraute Kollegin Samira Al-Assuani mitgegeben.
Mit dem Notfallpermit Davidsons konnten die drei nach der Ausrüstung mit Sonnenkraftartefakten und den neuen Vampirblutresonanzkristallen und natürlich Schutzkleidung unmittelbar aus Davidsons Büro disapparieren. Dabei hielten sie sich an den Händen, damit Brenda sie alle zum Ziel führen konnte.
Weil die der selbsternannten Göttin dienenden Vampire Unortbarkeitsgegenstände bei sich trugen konnte nur der neue VBR-Kristall, dessen Wirkung beliebig an- und abgestellt werden konnte, zeigen, ob im Haus ein solches Wesen lauern mochte. Phil Brody hatte eine Art Kompass, dessen VBR-Kristallnadel sich um zwei Achsen drehen konnte. Tatsächlich leuchtete der Kristall hellgrün auf und erzitterte. Dann drehte sich die kristalline Nadel innerhalb einer Sekunde so, dass ihre Spitze zum Haus und in einem bestimmten Steigungswinkel nach oben zielte.
"Da ist mindestens ein Vampir in diesem Haus. Von Richtung und Neigungswinkel her in der Zielwohnung", sagte Phil. "Wir müssen da rein, bevor wer auch immer merkt, dass wir nach ihm suchen."
"Samira sprach das Auslösewort für die um den Hals getragenen Ketten mit den altägyptischen Sonnenzaubern. Dann apparierten Brody und die beiden Kolleginnen punktgenau in einer Wohnung.
Ja, es war leider wahr, dass Janine Wilder offenbar von einem Vampir dazu verleitet oder gar genötigt worden war, mit ihm den Blutaustausch zu machen. Denn sie wand sich unter der schlagartigen Sonnenmagie. Doch dann führte sie ohne Zauberstab einen Totalverdunkelungszauber aus, dem die Sonnenzauber aus dem alten Ägypten nur sehr wenig entgegenwirkten, bis Samira die ganze Macht des Ra beschwor. Zwar wollten die drei Laveau-Angehörigen die Vampirin lebend ergreifen, um sie zu verhören. Doch als die ganze Macht der Sonnenzauber freigesetzt wurde zuckte die ertappte Götzinnendienerin einmal heftig zusammen. Für einen winzigen Moment konnten sie alle einen nebelhaften Dunst erkennen, der von ihrem Körper emporflog und dann übergangslos verschwand. In dem Moment hörten die mit altägyptischen Sonnenzaubern belegten Ketten zu vibrieren auf und erstrahlten nur noch in hellem Licht.
Phil Brody wirkte den Vivideo-Zauber, um zu prüfen, ob Janine Wilder noch lebte. Dann prüfte er auch den auf dem Bett liegenden Mann. Er lebte noch und kam wohl gerade zu sich.
"O Mann, bin ich doch voll in die Falle ... Was?! Wer hat Sie denn herbestellt, Ms. Brightgate?" stieß der auf dem Bett liegende Mann aus, bevor er merkte, dass ein anderer Körper halb auf seinem lag. "Haben Sie sie getötet?" fragte er verdrossen, als er wusste, wer da halb auf ihm lag.
"Entweder haben die Sonnenzauber sie erledigt oder ihre Herrin und Göttin hat sie in einem Gnadenakt abberufen", erwiderte Brenda Brightgate. "Ja, und warum ich hier bin ist derselbe Grund, warum Sie hier sind, Mr. Waterford. Sie hatten wohl auch den Verdacht, dass was mit Wilders Bericht nicht stimmt", beantwortete sie noch seine Frage.
"Die hat den Curattentius-Gegenstand überlastet und mich dann mit bloßen Händen in meine natürliche Erscheinung zurückverwandelt. Und da haben ein paar Sonnenschutzzauber gegengehalten?"
"Wie erwähnt kann es auch sein, dass diese Götzin ihre neue Dienerin abberufen hat, damit sie uns nichts über diese Sekte verraten kann", vermutete Phil Brody.
"Wer sind Sie bitte? Wir wurden uns bisher nicht vorgestellt", versuchte sich Waterford als Herr der Lage, der er gerade nicht war.
"Phil Brody, Laveau-Institut. Aber wir sollten besser verschwinden, bevor noch wer im Haus auf komische Ideen kommt."
"Besser ist das. Öhm, mach mir wer gütigst diese peinlichen Handfesseln ab", stieß Waterford aus. Mit zwei Alohomora-Zaubern waren die ihn fesselnden Handschellen in einer Sekunde gelöst. Dann beschlossen die vier Zaubererweltbürger, die tote Vampirin mitzunehmen, um keine verdächtige Leiche zurückzulassen. Waterford bestand zwar darauf, dass sie die Tote ins thanatologische Institut des Zaubereiministeriums brachten. Doch die Mitarbeiter des Laveau-Institutes setzten sich darüber hinweg. "Wer den Bären erschießt darf sein Fell verteilen", sagte Brody und griff die schlaffe Hand der entseelten Vampirin. Keine Sekunde später disapparierte er mit ihr. "Brightgate, diese unabgestimmte Eigenmächtigkeit wird ein Nachspiel haben", stieß Ira Waterford aus.
"Öhm, wieso, Sie waren nicht hier und wir auch nicht", entgegnete Brenda Brightgate. "Oder wollen Sie dem Zaubereiminister erklären, wieso sie ohne Genehmigung und mit unzureichender Schutzausrüstung eine verdächtige Person aufsuchen wollten?" fuhr sie fort.
"Drachendreck", stieß Waterford aus. Denn das mit der unerlaubten Eigenmächtigkeit konnte er locker auch auf sich beziehen, und diese drei Figuren aus dem LI wussten das zu gut. "Anders als Sie haben wir nämlich eine klare Anweisung unseres Vorgesetzten", sagte Brenda. Waterford knurrte nur. "Wo ist mein Zauberstab?" fragte er. Zur Antwort brachte ihm die ägyptischstämmige Hexe den Zauberstab, den die Vampirin auf die Kommode in der Diele abgelegt hatte. "Gut, ist noch heil. Dann weg von hier", stieß Waterford aus, warf sich herum und verschwand mit leisem Plopp.
"Sollen wir dann auch?" fragte Brenda ihre Kollegen. Phil schüttelte den Kopf und holte eine Rückschaubrille hervor. "Ich will sehen, ob sie hier zur Vampirin wurde", sagte er. Nach einer Minute sagte er: "Als Waterford hier reinkam ging dieser bekannte Unortbarkeitsdunst los. Ich vermute, die rekrutierte Götzinnendienerin wurde da von ihrer neuen Herrin bestärkt. Aber sie kam schon als Vampirin in die Wohnung, wurde also anderswo umgewandelt. Könnte bei diesem Abu-Damas passiert sein."
"Dann müssen wir noch zu dem, bevor der sich absetzt", knurrte Brenda. "Da sind meine beiden Kollegen aus der Vampirjägergruppe dran", erwiderte Brody.
Tatsächlich stellte sich eine Viertelstunde später heraus, dass Tarik Abu-Damas kein Vampir geworden war, aber offenbar von einem Vampir besucht worden war, der es jedoch dabei belassen hatte, ihm mit seinem Hypnoseblick einige generelle Befehle ins Gehirn zu pflanzen.
"Janine Wilder war für die Sekte eine interessantere Kandidatin", grummelte Davidson, als er den abschließenden Bericht erhielt. "Wir müssen aufpassen. Am Ende sind noch andere Vampire bei der CIA und in welchem Geheimclub sonst noch."
"Ob wir noch ein Donnerwetter aus dem Ministerium kriegen?" fragte Brenda Brightgate frech. "Nein, Ms. Brightgate. Ich denke nicht, dass Mr. Waterford es wagen wird, unser ihn rettendes Eingreifen als unerwünschte Einmischung anzuzeigen. Und falls er es doch tut frage ich bei einer möglichen Anhörung, wessen Genehmigung er hatte, die Verdächtige aufzusuchen. Eigentlich schon unfassbar, dass er alleine dort hingegangen ist. Diesen für einen hochrangigen Geheimdienstmann peinlichen Fehler wird er wohl nicht einräumen wollen."
"Dann bleibt uns nur die Suche nach möglichen weiteren Nachtgestalten", schnaubte Phil Brody.
"Ja, und auch wenn die elektronischen Geräte in der CIA-Zentrale empfindlich auf magische Streuungen reagieren weise ich Sie an, künftig einen VBR-Kristall zu tragen. Spricht dieser an, lösen Sie unmittelbar den Notfluchtportschlüssel aus, Ms. Brightgate!" Die für das LI bei der CIA eingeschleuste Hexe bestätigte die Anweisung.
Die Göttin war wütend. Jemand hatte ihre neue, sehr vielversprechende Kundschafterin enttarnt, bevor diese für sie was wichtiges erledigen konnte. Auch wusste sie nun, dass diese altägyptischen Sonnenzauber die Kraft der Dunkelheit überwinden konnten, einschließlich ihres Schattenstrudels. Die drei waren bestimmt von diesem verwünschten Laveau-Institut, wo Expertinnen und Experten für alle möglichen Formen der Magie vereint waren. Welchen Fehler hatte sie, die Göttin gemacht? Oder war es ein Fehler ihrer Priesterin Sweetblood. Ja, die hatte versagt. Sie hätte Golden Shadow doch besser alle Unterlagen weiterleiten lassen sollen, damit die Spione und Intriganten aus Langley sich bestätigt fühlten. Sicher, dann wäre Abu-Damas entweder gefangengenommen oder getötet worden. Doch so war er für sie auch gerade wieder wertlos geworden. Die würden den nämlich nun aus irgendwelchen Gründen aus allem herausziehen, was wichtig war.
"Dafür kenne ich nun alle wichtigen Informanten Golden Shadows", dachte die Göttin. "Dann werden die eben meine neuen Kinder und treuen Helfer."
Jeff Bristol erschauerte, als er die Meldung aus Madrid las, dass dort ein Bombenanschlag auf einen Eisenbahnzug verübt worden war. Um mehr darüber zu erfahren erbat er sich von Dunston die Erlaubnis, mit dem spanischen Botschafter, beziehungsweise dessen Pressestelle in Washington zu sprechen, um näheres über diesen Terrorakt zu erfahren. Ralf Burton indes hatte sich gerade in eine illegale Einwanderungsvermittlung verbissen, die südamerikanische Frauen und Mädchen mit falschen Versprechungen in die große Stadt am Hudson lockte, wohl um sie in die Prostitution zu zwingen. Deshalb war Ralf auch nicht da, als Jeff die Nachricht erhielt, dass in East New York ein fragwürdiges Lagerhaus zusammengebrochen war, in dem womöglich unerlaubte Ware verstaut war. Er sah schnell auf die Uhr. Sein Interview mit dem spanischen Botschaftsmitarbeiter war in zwei Stunden. Also konnte er noch mehr über dieses Lagerhaus herausfinden.
Weil er im Moment nicht an den Ort des Geschehens fahren konnte recherchierte er zunächst, wem das Gebäude gehört hatte, wie lange es gestanden hatte und wer ein Interesse daran gehabt haben könnte, es zu zerstören. Denn nur weil im Moment Unfrieden zwischen den größten neun Mafiaclans herrschte musste es nicht damit zusammenhängen. Bei seinen Recherchen stieß er auf zwei Namen, die ihm von einem anderen Leben her sehr vertraut waren: Eri Enterprises und Goldoni Logistics. Die Firmen wuschen schmutziges Geld mächtiger Organisationen und verschafften anrüchigen Vereinigungen wertvolle Immobilien, die im Bedarfsfall in sauberes Geld umgewandelt werden konnten. Somit konnte der Zusammensturz des Lagerhauses auf fehlerhaften Bau zurückgehen oder ein gezielter Akt sein, um die Versicherungssumme für das Haus zu kassieren. Näheres wollte er dann am 12. März vor Ort prüfen. Jetzt erst einmal galt es, mehr über den Terroranschlag in Madrid zu erfahren.
Er war froh, dass Justine immer mal wieder mit ihm spanisch sprach, wobei er schon merkte, dass er doch die lateinamerikanische Variante drauf hatte, auch wenn der mit ihm sprechende Pressevertreter aus Washington ein sehr gutes Englisch sprach. Doch weil Jeff um Originaltöne gebeten hatte musste er sich voll konzentrieren, sich in die über den Teich geschickten Nachrichten und Livekommentare einzuhören und möglichst wortgenau übersetzen. Er dachte einmal mehr daran, ob solch ein barbarischer Akt echt nur durch fehlgeleiteten Glauben oder Allmachtsphantasien geplant wurde oder nicht doch wer aus der magischen Welt die Hände im Spiel hatte. Doch was hätten die üblichen Verdächtigen von einer Panik und mehreren Toten bei einem Anschlag auf einen Eisenbahnzug? Weil er diese Frage nicht beantworten konnte beließ er es dabei, die erhaltenen Hintergrundinformationen in einen Artikel zu packen, der am nächsten Tag erscheinen sollte. Dann konnte er sich auch mit dem zusammengekrachten Lagerhaus in East New York befassen. Er dachte daran, dass er schon wieder dahin musste. Allerdings würde er dann am hellen Tag und wohl in Polizeibegleitung dort hinfahren, ganz offiziell.
Er wollte gerade seinen ausgiebigen Arbeitstag beenden, als er einen Anruf von Ralf Burton bekam. "Jeff, du hast sicher von diesem Schuppen in East New York gehört und garantiert schon die Antennen ausgefahren, warum das Ding zusammengekracht ist. Ich bin wegen meiner eigenen Recherche drauf gestoßen worden und habe herausgefunden, dass es als Versteck für kolumbianische Mädchen gedient hat, die vor zwei Tagen von da weggeschafft wurden. Offenbar hat wer anderes den Leuten gesteckt, dass die Cops an der Sache dran sind und hat die Spuren beseitigt. Freut sich wenigstens die Versicherung, dass sie den Schaden nicht bezahlen muss."
"Immerhin drei Millionen Dollar, Ralf. Aber dann haben die, die das gemacht haben sehr stümperhaft gearbeitet, wenn das so schnell aufflog", erwiderte Jeff.
"Die wollten wohl noch was anderes damit vertuschen, Jeff. Ich denke auch, dass denen die Versicherungssumme völlig egal ist, wenn die mit hundert Millionen oder mehr rumjonglieren können. Einige dieser jungen Mädchen sollen für Internetauftritte angestellt worden sein, Kameramädchen, falls dir der Begriff was sagt."
"Ja, tut er", grummelte Jeff Bristol. Diese neue Art von Prostitution hatte sich mit dem Internet zusammen weiterentwickelt und mochte schon bald den klassischen Telefonsex vom Markt verdrängen. Doch was hatte jemand davon, deshalb ein ganzes Lagerhaus zusammenbrechen zu lassen? Ralf sagte: "Du hast sicher schon von dieser Schweinerei in Madrid gehört und sicher Interesse, das aufzuarbeiten. Ich möchte das Ding mit dem Lagerhaus machen, Jeff."
"Du bist lecker, Ralf. Ich habe schon einige Räder gedreht, um mehr drüber zu erfahren. Aber du hast recht, dass mich der Anschlag in Madrid gut ausgelastet hat und ich natürlich an der Sache dranbleiben möchte. Dann mail ich dir meine Rechercheergebnisse zu. Klartext oder verschlüsselt?
"Wenn du schon unsere Internetverbindungen zum glühen gebracht hast kannst du mir die Sachen als Klartext zuschicken", sagte Ralfs Stimme.
"Na ja, ich musste dafür eigene Kontakte in gewisse Behörden anpieksen, die mir vertrauen, dass ich das nicht all zu sehr herumreiche. Aber ich schicke dir die Auswertungen ohne direkte Quellenangaben. Du möchtest mir bitte vertrauen, dass diese Angaben zutreffen."
"Du bist lustig. Ohne Quellen kann ich nicht viel machen und ... Mist! Ja, hast leider recht. Informantenschutz ist heilig. Fliegt einer auf werden alle anderen taubstumm", grummelte Ralf. Jeff hatte es schon auf der Zunge, ihn wieder wegen Tinwhistle anzupieksen. Das konnte er sich nun verkneifen. Er versprach Ralf, ihm noch heute alle Rechercheergebnisse zuzumailen. Dann beendete Ralf das Gespräch.
"Interessant, Ralf", dachte Jeff. Es kam so selten vor, dass ein Reporter einem Kollegen die Story abschwatzte. Doch Jeff hatte das Gefühl, dass wenn Ralf sich da reinhängte, am Ende mehr an der Geschichte dran war. Da er ja gerade mit dem Terroranschlag von Madrid befasst war konnte er Ralf die leidige Arbeit überlassen, um die der so sehr gebeten hatte.
Hera Matine ordnete die Unterlagen der letzten Tage. Ihr war klar, dass sie von heute an jeden Moment zum nächsten Einsatz gerufen werden mochte. Daher hatte sie auch die eigentlich jeden 15. März stattfindende Bestandsaufnahme ihrer Zaubertrankzutaten, heilmagischen Tränke und Gerätschaften vier Tage nach vorne verlegt. So war sie gerade dabei, die Beschaffenheit ihrer zehn Braukessel zu prüfen, als der unsichtbare Ring an ihrem Finger vibrierte. Das tat er nur, wenn entweder eine ihrer Mitschwestern schwerkrank oder verstorben war oder eine Stuhlmeisterin aus einem anderen Land ihr was mitzuteilen hatte. Deshalb setzte sie schnell den gerade begutachteten Silberkessel der Normgröße 3 ab und eilte in ein kleines, fensterloses Zimmer, in dem sie früher nur streng vertrauliche Unterlagen in drei Schränken verschlossen gehalten hatte. Doch seitdem ihre durch Selbstentleibung verstorbene Tante Zoé ihr über den Weg des Brunnens der Schwestern den Ring an ihrem Finger zugewiesen hatte hing in einer Ecke des Zimmers hinter einem kleinen blauen Vorhang ein Bild, auf dem drei unterschiedliche alte Hexen in drei verschiedenfarbigen Gewändern, Frühlingsgrün, Sommersonnengelb und Herbstlaubgolden-orange, um eine Feuerstelle dargestellt waren. Wenn die Flammen der gemalten Feuerstelle hell orangegelb loderten und hörbar knisterten hatte eine der Stuhlmeisterinnen eine Botschaft an sie oder an alle ihre ranggleichen Mitschwestern geschickt. Die rothaarige, in frühlingsgrün gekleidete junge Hexe, fast noch ein Mädchen, winkte Hera näher an das Bild heran. Die blondhaarige, in Sommersonnengelb gekleidete Hexe, die vom Aussehen her dreißig Jahre jünger als Hera war, lächelte sie an. Dann sprach die silbergrauhaarige, in Herbstlaubfarben gekleidete Hexe, die vom Aussehen her so alt wie Heras Mutter sein konnte:
"Merke auf und vernimm die Kunde der erwählten und geachteten Schwester Roberta Sevenrock aus dem nördlichen Erdteil westlich des atlantischen Meeres und bewahre die Kunde wohl in Haupte und Herzen!" Hera trat näher an das Bild heran, damit die Verkünderin der Botschaft nicht brüllen musste. Dann sagte sie: "Ich erwarte in Achtung der Schwester die Kunde, die sie mir macht."
In dem Moment loderten die Flammen der gemalten Feuerstelle noch höher und bildeten eine von hellen Zungen gekrönte Säule. In der Säule erschien das Gesicht Roberta Sevenrocks. Dann hörte Hera die Stimme der Erscheinung auf Englisch verkünden, was ihr die Mitschwester Linda Latierre-Knowles persönlich und glaubhaft anvertraut hatte und auch, dass damit zu rechnen sei, dass zumindest die italienischen Mitschwestern schon bangten, unterwandert zu sein. "Geht bitte davon aus, dass diese Hybridin nicht genug bekommen wird und nicht ruhen wird, bis sie uns alle entweder zu ihren getreuen Dienerinnen gemacht oder getötet haben wird, falls ihr nicht noch schlimmeres einfällt. Hüte dich und die dir anvertrauten Mitschwestern und pass auf, wenn eine von deinen Mitschwestern sich merkwürdig benehmen sollte oder von sich aus vorhat, andere Mitschwestern heimlich zu treffen. Falls du etwas hast, was dir sagt, ob du der einen oder anderen Schwester weiterhin trauen kannst oder nicht, so trage es besser immer bei dir." Mit diesen Worten verschwand das Bild Robertas in den lodernden Flammen. Diese schrumpften wieder zu einem kleinen, munteren Feuer zusammen. Die Botschaft war übermittelt."
"Soso, dann hat diese Furie schon einen Teilsieg errungen. Sie wollte doch schon damals die Königin der Hexen sein. Jetzt ist sie die Königin Italiens", grummelte Hera Matine. Sie zweifelte nicht daran, dass die Botschaft echt war, also dass Roberta nicht weitermeldete, wovon diese nicht selbst überzeugt war. Ein wenig ärgerte sie, dass sie wegen der vielen anstehenden Geburten gerade keine Vollversammlung aller französischen Mitschwestern einberufen konnte. Am Ende waren von denen schon welche von Ladonna angesprochen oder gar auf ihre Seite gezogen worden. Nein! Sie durfte das nicht denken. Denn wenn sie, die Sprecherin der französischen Gruppe der schweigsamen Schwestern, anfing, ihren Mitschwestern zu misstrauen, dann hatte Ladonna Montefiori schon so gut wie gewonnen. Das war dann genauso wie die Furcht, nachts in den Wald zu gehen, nur weil jemand erwähnt hatte, dass dort ein Schreckensbaum auf Beute lauere. Sie musste ihre Mitschwestern prüfen, aber nicht in den kommenden Wochen, sondern später, wenn sie die nötige Zeit und Ruhe hatte. Sicher, Ladonnas Getreue würden diese Zeit für sich nutzen wollen. Doch im Moment ging Hera Matine davon aus, dass die Wiedererweckte ihre Fäden klammheimlich spann, um sicher zu sein, dass ihr Netz jeder anstehenden Zerreißprobe standhielt. Als Anthelia wiedergekehrt war hatte diese genauso gehandelt und sich damit ein bis heute beständiges Netz aus ihr zuarbeitenden und berichtenden Hexenschwestern geschaffen. So und nicht anders musste Ladonna im Moment auch vorgehen. Doch wenn sie schon das italienische Zaubereiministerium infiltriert hatte ... lag ihr sicher noch mehr daran, nicht als die wahre Macht im Hintergrund enthüllt zu werden. Sie überlegte, ob sie alle ihre Mitschwestern durch das unsichtbare Netz aus Lebensbejahungsmagie über Millemerveilles zu sich hinzitieren sollte. War eine dabei, die ihr übles wollte, würde der neue Schutz sie abweisen. Doch das würde auch auffallen, und wer wusste dann ob die so enthüllte Schwester nicht in Ladonnas Namen die Identität aller französischen Mitschwestern preisgab, um den Orden zu schädigen und so zur noch leichteren Beute der Wiedererwachten zu machen. Nein, sie musste anders vorgehen. Doch die anstehenden Mehrlingsgeburten forderten ihre ganze Aufmerksamkeit und Zeit.
Hera dachte auch daran, wie viel Ladonna schon über die gegenwärtige Zaubererwelt wissen mochte. Wenn sie italienische Hexenund Zauberer in ihren Dienst genommen hatte konnten die ihr alles erzählen. Wenn auch schon ranghohe Mitschwestern in anderen Ländern unter ihrer Kontrolle standen wusste sie mehr als zu viel über die schweigsamen Schwestern, nicht nur in Frankreich. Abgesehen davon könnte sie sich für Hexen interessieren, die besonders zaubermächtig und/oder kundig waren. Sie erinnerte sich an das, was Sophia Whitesand ihr persönlich mitgeteilt hatte, dass die ungeduldige Mitschwester Ursina Underwood getötet worden war. Hatte sie eine Begegnung mit Ladonna nicht überlebt? Oder hatte sie bereits für die Wiedererwachte gearbeitet und bei einem Auftrag versagt? Ja, und wer könnte noch auf ihrer Liste als mögliche Unterworfene stehen? Sie dachte an die Latierres, die bereits gegen Sardonia aufbegehrt und dabei einige Mitglieder ihrer Familie verloren hatten. Sie dachte an die Nachfahren von Sardonias treuesten Helferinnen, von denen ja einige hier in Millemerveilles gewohnt hatten. Sie dachte auch an Junghexen wie Bernadette Lavalette, die trotz ihres unverzeihlichen Fehlers noch immer eine sehr wissbegierige Hexe war. Auch dachte sie an die junge Lehrerin Laurentine Hellersdorf, die nach ihrer den Eltern geschuldeten Verweigerungshaltung gegenüber Beauxbatons eine sehr kundige und für ihre jungen Jahre auch schon mächtige Hexe geworden war und als trimagische Turniersiegerin 2000 sicher auch Ladonna Montefiori bekannt werden mochte. Hera war froh, dass Laurentine sich so gut in der Zaubererwelt eingelebt hatte und mit der Grundschule in Millemerveilles einen sicheren und auch anerkennenswerten Arbeitsbereich gefunden hatte. Solange sie hier in Millemerveilles oder in der Rue de Liberation 13 in Paris war konnte keine von dunklen Begierden oder Zaubern erfüllte Gestalt zu ihr vordringen. Doch wenn Laurentine ihre Verwandten in der nichtmagischen Welt besuchte? Im Moment hoffte sie, dass Blanche Faucon und Catherine Brickston genau deshalb dafür gesorgt hatten, dass Laurentine in Paris untergebracht war und dass sie nach dem tragischen Tod ihres Großvaters mütterlicherseits keine weitere Veranlassung hatte, ihre nichtmagischen Verwandten zu besuchen.
Es war gerade erst sechs Uhr morgens am 12. März, als Béatrice Latierre über ihre goldene Rufglocke erfuhr, dass es bei Célestine Chevallier losging. Die letzten Tage hatten die Latierres sich noch mit den anderen Pflegehelfern abgestimmt, wer nun für bestimmte Hexen bereitstehen wollte. Belisama Lagrange hatte Julius' Angebot abgelehnt, dass sie bei der Geburt ihrer Cousins assistieren wollte. Sie würde statt dessen bei Louiselle Castello mithelfen.
"Ich muss dann wohl los, unterwegs Belisama einsammeln, weil Jeanne sich jetzt doch umentschieden hat", meinte Béatrice Latierre. Millie und Julius nickten. Jeanne hatte sich wohl wegen des immer noch schwelenden Zanks zwischen Bruno und César wegen Césars Vaterschaft entschlossen, lieber nicht direkt bei der Ankunft von Célestines ungeplanten Kindern mitzuhelfen und hatte deshalb eine Patientin Belisamas übernommen.
Tja, jetzt startet das Hauptfeld, nachdem die kleinen Dusoleils schon bald zwei Wochen auf der Welt sind", sagte Julius zu seiner Frau. Diese nickte bestätigend.
Sechs Stunden später kehrte Béatrice zusammen mit Belisama von ihrem Einsatz zurück. "Ui, gut, dass ich das bei Sandrine schon mitbekommen habe, wie heftig das sein kann", meinte Belisama. "Genaues möchte ich nicht sagen, zumal eure Tante sagt, dass das nur die angeht, die von der Mutter selbst informiert werden. Nur so viel, sie hat zwei Töchter und einen Sohn bekommen. Laura Béatrice war die erste. Offenbar hat es Célestine gefallen, den Vornamen von Césars Oma zu nehmen, vielleicht auch, um Bruno zu ärgern. Dann kam Hannibal Scipio. Ich habe Madame Chevallier gefragt, wer in ihrer Familie so heißt. Sie meinte dann, während sie schon ihre zweite Tochter zur Welt brachte, dass sie es mit Césars Eltern abgeklärt habe, dass ihr von ihm stammender Sohn zwei Namen aus dem alten Rom bekam und Hannibal ja auch ein guter Quidditchspieler bei den Roten war."Dass das Mädchen meinen Vornamen als zweiten gekriegt hat liegt wohl daran, dass ich ihr mitgeholfen habe.
"Lustig, Belisama. Denn in der echten Geschichte aus dem alten Rom war Hannibal ein Feldherr aus Karthago, damals Roms größtem Feind und Scipio war ein römischer Feldherr, der Hannibal am Ende in Afrika besiegt hat und deshalb auch den Beinamen Africanus bekommen hat", erwiderte Julius darauf. Belisama verzog das Gesicht zu einem verhaltenen Grinsen. Dann erwähnte sie, dass die zweite Tochter von César und Célestine Vesta Belisama genannt wurde. "Warum die meinen Vornamen bekommen hat liegt daran, dass Célestine beide Geburtshelferinnen damit ehren wollte und eigentlich auf Jeanne gehofft hat."
"Aber wie ich dir auf dem Heimflug erzählt habe passen Vesta und Belisama auch besser, weil beide für Feuer und den heimischen Herd zuständige Göttinnen waren", sagte Béatrice, die was Namensherkünfte anging genauso wenn nicht sogar besser bewandert war als Julius.
"Da hast du völlig recht, Tante Béatrice", sagte er deshalb. Belisama meinte dazu: "Das hat meine Mutter auch mal erwähnt, weil ich laut ihrer eigenen Aussage bei einem gemütlichen Lagerfeuer im Sommer auf den Weg gebracht worden sein soll."
"Und dann bist du zu den Weißen reingeraten und nicht zu uns gekommen?" fragte Millie. Béatrice sah die zwei ehemaligen Klassen- und Pflegehelferkameradinnen sehr streng an. Offenbar erinnerte sie sich noch gut an den damaligen Zank zwischen den beiden. "Na ja, die Violetten hätten ja auch sein können", sagte Belisama. "Immerhin waren Rot, Weiß und Violett die letzten drei Farben auf dem Teppich", wisperte Belisama und lauschte auf Aurores fröhliches Treiben draußen. Chloé war bei ihr, wohl froh, so weit genug weg von den vier ganz kleinen Schwestern zu sein.
"Und, wer darf jetzt die große Babypinkelfete feiern, Tante Trice und Belisama?" fragte Julius.
"Da César es quasi erst nach der vollendeten Niederkunft erfahren hat wird er sich mit Belenus Chevallier abstimmen, wer die drei jetzt offiziell feiern darf, wo Belenus sie ja rein rechtlich als seine Kinder anerkennt, um denen ein sicheres Umfeld zu bieten", sagte Béatrice.
"Geh davon aus, dass César sich mit Bruno schon hat, dass er die drei strullern lassen will", sagte Millie verwegen. Belisama errötete ein wenig an den Ohren. "Ich bin zumindest froh, dass ich das bei Sandrines Kindern schon mitbekommen habe, wie angespannt eine Hexe ist, die von so einem Fortpflanzungsgebräu erwischt wurde. Ich hoffe nur, dass ich nicht eines Tages von so einem Dreckzeug erwischt werde."
"Das hoffen wir alle, ob verheiratet oder alleinstehend", sagte Béatrice.
"Wir kriegen es sicher mit, wer wann wen einlädt", sagte Julius und wandte sich an Bélisama. "Wolltest du gleich zu deiner Tante Adele zurück oder möchtest du dich erst mal ausruhen?"
"Eure Tante möchte, dass ich unter ihrer Aufsicht genug esse und trinke, weil ich ihr bei Vestas Ankunft fast umgekippt bin", meinte Belisama. Béatrice nickte bestätigend. So blieb Chrysopes Patentante noch bis zum Abendessen und durfte mit Millie, Julius und Aurore im Musikzimmer ein wenig musizieren. Dann flog sie auf ihrem eigenen Besen zum Haus der hiesigen Lagranges, wo sie bis zur letzten anstehenden Geburt wohnte.
Bis auf Patanegra waren nur noch Valentino, die zwei Kinder und sie im Mondlichtungshaus. Nina Ramirez Burgos lauschte in die Stille. War es die berühmt-berüchtigte Ruhe vor dem Sturm, oder war es die Grabesstille einer Gruft? Im Moment kam für Nina beides in Frage.
Das Vorhaben, möglichst bald in die magiefreie Gesellschaft zurückzukehren hatten Tino und sie verworfen, weil Lunera im Moment nur ihre Abstimmung im Kopf hatte und Fino Nina garantiert nicht fortlassen würde, wo er fürchten musste, dass Lunera und ihre Befürworter ihn möglicherweise aus der Gemeinschaft ausschlossen.
Nina hatte sich immer dann, wenn außer der halbinkastämmigen Hexe nur noch Tino und sie mit den beiden Kleinen im Haus war mit dem ebenfalls aus der normalen Menschenwelt in diese Geheimgruppe hineingeholten Mann unterhalten, immer nur per Zettel, weil die Ohren von Lykanthropen auch in Menschengestalt hochempfindlich waren. Sie hatten immer wieder Wege durchgespielt, wie sie sich absetzen konnten. Doch egal ob mit einem der Boote, mit denen die hier wohnenden an eines der Ufer fuhren um zu jagen oder schwimmend war egal. Sie würden so oder so nicht weit kommen. Valentino hatte dann als letzten Ausweg den Sprung von einem der hier wachsenden Urwaldbäume vorgeschlagen. Vielleicht wurden sie auf dem Weg nach oben auch von Giftschlangen gebissen. Doch an irgendeinem Schlangengift zu verrecken oder beim Sprung in die Tiefe nicht sofort zu sterben, sondern mit zerschmetterten Armen und Beinen qualvolle Zeit zu liegen, ja womöglich noch durch Sofortheilungszauber der hier herumlaufenden Hexen und Zauberer gerettet zu werden wollte Nina auch nicht. Wenn schon in der magieunwissenden Menschenwelt Leute, die einen Selbstmord überlebten in psychiatrische Behandlung gesteckt wurden, was würden diese Mondgeschwister mit ihr machen? Fino würde dann genau wissen, dass sie ihm auskommen wollte und irgendwas magisches machen, um sie an sich zu binden. Das gleiche würde Valentino blühen, weil sie einen Computerexperten brauchten. Sie hofften darauf, dass sie mit einem der hier wohnenden Zauberkundigen verschwinden konnten, falls der oder die sich nicht der Mehrheitsmeinung anschließen wollte, wie auch immer die ausfiel.
Nina hörte ein leises Plopp. So klang das, wenn einer der magiefähigen aus dem Nichts heraus erschien, was die apparieren nannten. "Juhu, Nina und Tino, seid ihr im Haus!" rief die bolivianischen Akzent sprechende Hexe, die einen echten Zauberer aus einem der Inkavölker zum Vorfahren hatte. Nina fragte sich, was das jetzt sollte, als Valentino schon antwortete: "Ich hänge in meinem Zimmer ab und lese mich durch die vor zwei Monaten ergatterten Computermagazine, um nicht total den Anschluss zu verlieren." Also verließ Nina das Zimmer, in dem ihr und Finos Sohn gerade schlief und ging in den Salon. Dort wartete Patanegra. Als Nina und Tino zusammen im Salon waren machte die Nachfahrin eines Inkamagiers den Zauber, mit dem alle Innenflächen eines Raumes von ockergelbem Licht überzogen wurden und damit einen unabhörbaren Raum bildeten. Also wollte sie was ganz wichtiges besprechen, ohne belauscht werden zu können.
"Gut, dass ihr beide zu mir gekommen seid", begrüßte sie Valentino und Nina. "Wie geht es dem Kronprinzenpaar?"
"Lustig, wo ich mir jetzt echt wie Lady Diana vorkomme, die dem Thronfolger einen Thronfolger gebären durfte und ansonsten abgemeldet war", grummelte Nina. Valentino antwortete leise, dass er sich auch eher wie ein Zuchtrüde vorkam, der eine Rassehündin decken durfte und jetzt wieder brav die andressierten Sachen machen sollte, ohne Knurren und Kläffen.
"Fino hat Unfrieden in Leóns Gruppe in Mexiko entfacht. "Er hat allen den Mitgeschwistern auf seiner Hacienda vorgesetzt, dass die eingestaltlichen Magier jeden töten, der sich ihnen ausliefert, da wir ja durch den Bluteid und durch die Versteckzauber nicht verraten können, wer und was in der Bruderschaft so ist. Also wären wir für die Werwolfjäger und -verwalter der Zaubererwelt nur abtrünnige bis brandgefährliche Krankheitsüberträger, die auf jeden Fall ausgelöscht werden müssen. Jetzt sind einschließlich León außer mir alle für Fino. In den Bereichen, deren Führerinnen und Führer ich gesternund heute noch sprechen konnte, ist es fast genauso. Vor allem die nichtmagischen Geschwister sind es langsam leid, entweder ihr restliches Leben versteckt zu bleiben oder beim nächsten blauen Mond grausam zu sterben. Ich hörte sogar den Vorwurf, dass wir, also die die hohen Kräfte von den Göttern erhalten haben, sie, die eben nicht von den Göttern begütert wurden, in unsere Reihen hineingezerrt haben, weil wir ständig frisches Blut bräuchten ... ja, und auch die Kenntnisse der seelenlosen Maschinen der nichtmagischen Welt", fügte sie noch hinzu und sah Valentino an. Dieser nickte verdrossen. Denn nur weil er sich gut mit Computern auskannte und so blöd war, sich im Internet nach einer weiteren unverbindlichen Affäre umzutun war er ein Werwolf und konnte seinen längst von seinem Tod überzeugten Eltern nicht mehr unter die Augen treten. Wenn er zu den nichtbefallenen Magiern ging konnten die wenigstens machen, dass seine Eltern ihn ganz und gar vergaßen. Zumindest wusste er, dass Zauberer und Hexen die Erinnerungen von Leuten verändern konnten. Doch das sprach er nicht laut aus. Statt dessen sagte er:
"Ja, und ich Depp habe denen auch noch geholfen, noch weitere Computerexperten klarzumachen. Aber wenn ich jetzt hier weggehe müssen die sich wieder wen ahnungslosen ziehen."
"Das werden sie auch, wenn du hierbleibst", sagte Nina. Sie hatten dieses Thema ja in den letzten Tagen schon besprochen. Deshalb wunderte sie sich, dass Valentino vor Patanegra davon anfing. Diese nickte jedoch nur und sah vor allem Nina genau an.
"Ich hörte mit, wie Fino zu einem mexikanischen Besucher meiner Bereichsgruppe sagte, dass er in dem Fall, wenn er die Abstimmung verliert, mit dir, Nina und dem kleinen Alejandro von hier weg will, um mit ihm folgenden ein neues Erntemondkommando zu bilden. Das gefällt mir nicht. Weil wie das dann auch immer geschehen wird bekommen die alle Recht, die uns lieber gestern als morgen töten wollen."
"Und wenn ich mit Lunera zu den Eingestaltlern hingehen möchte?" fragte Nina. "Wird Fino nicht zulassen. Du hast seinen Sohn bekommen und sollst den gefälligst groß und stark füttern, damit er die Hände und was sonst noch frei hat, um für seine eigene Ansicht zu kämpfen und zu arbeiten."
"Klar, sein williges Hausweibchen, damit der große, starke Mann sich und der Welt seine ganze Stärke und Größe beweisen kann", knurrte Nina, als hätte sie das nicht schon längst so empfunden, was Patanegra ausgesprochen hatte. Tino grinste sie an und meinte: "Klar, deshalb nennt er Lunera ja eine Schoßhündin, weil sie keine Lust mehr auf Versteckspiele und Kämpfe hat."
"Ja, und garantiert will er dann, wenn er sieht, ob Alejandro seine Erwartungen erfüllt, noch ein oder zwei von der Sorte mehr auflegen", erwiderte Nina verbittert. Patanegra hörte das und bat durch einen fragenden Blick ums Wort.
"Es ist schon eine Ehre, die Kinder eines großen Anführers gebären zu dürfen, Nina. Aber ich verstehe auch die in deinem Volk geltenden Freiheitsregeln, wo eine Frau sich zwischen Familienführung und anderen wichtigen Sachen entscheiden darf, wenn sie es denn will. Bei meinen indigenen Vorfahren galten Frauen zum teil als wichtige Mitgestalter des Lebens oder eben auch als treusorgende Familienmütter, die die Kinder der Krieger zu hüten hatten. Fino sieht sich wohl als Krieger, der immer wieder ausziehen muss, um ruhmreich zu kämpfen."
"Dann verstehe ich nicht, warum der sich gegen Lunera auflehnt. Der könnte ihr zum Schein zustimmen und dann, wenn's drauf ankommt, mit den unbefallenen Zauberern und Hexen kämpfen und mit dem flammenden Zauberstab in der Hand untergehen. Oder gibt es kein Walhalla für Werwölfe? wollte Valentino wissen."
"Walhalla?" fragte Patanegra. Nina nickte Tino zu und erwähnte das Land oder die Wohnstatt ehrenvoll gefallener Krieger. Das verstand Patanegra. Dann sagte sie: "Zumindest habe ich den eindruck, dass er an ein solches Reich glaubt, wenn er Lunera und die wie sie denken für schwachherzig hält." Dem konnten die beiden unfreiwilligen Mondgeschwister nur zustimmen. Allerdings fragte Tino, warum der dünne Zauberer dann nicht mit Rabioso, dem wilden Wüterich, abgehauen war. Patanegra gab zu, darauf keine Antwort zu haben. Dann fragte sie, was die beiden machen würden, je danach wie die Abstimmung verlief. Nina und Tino sahen einander an. Wollte Patanegra sie aushorchen, um dem einen oder der anderen was weiterzumelden?
"Was mich angeht, so stimme ich für Luneras Weg, auch um endlich von dieser Insel runterzukommen", sagte Nina unverbindlich. "Und ich werde sicher keinem Mann hinterherlaufen, der mich nur als Zuchtweibchen für seine Kinder halten möchte. Da würde ich mir eher selbst die Silberkugel geben, wenn das der einzige Weg ist, um von ihm wegzukommen." Valentino sah Nina verhalten lächelnd an. Dann sagte er: "Ich weiß echt nicht mehr, wem von denen ich noch folgen soll. Ich habe damals nicht darum gebeten, in eure Gemeinschaft reinzukommen. Ich hätte gut damit leben können, so weiterzumachen wie vor Luneras "Anwerbung". Ich weiß nur, dass ich ohne diesen Verwandlungsbeherrschungstrank nicht wirklich viel Freude an der Freiheit hätte. Zu meinen Eltern kann ich auch nicht mehr, weil die mich schon seit mehr als einem Jahr für tot halten. Das gleiche gilt für meine Freunde. Ja, und ohne den Trank wäre ich für die ja wirklich brandgefährlich. Ob ich mir dann nicht auch die Silberkugel geben oder mir einen Strick nehmen soll weiß ich gerade nicht. Meine Aufgabe hier, Internetsachen zu machen, ist ja offenbar schon an andere delegiert worden. Denn nur deshalb habe ich mich bisher zurückgehalten. Ich werde Lunera auch zustimmen, auch wenn mich dann irgendein anderer Zauberstabschwinger gleich mit einem Todesfluch oder Feuerball in welches Jenseits auch immer ballert."
"Und andere Möglichkeiten seht ihr nicht, außer euch entweder abzusetzen oder umzubringen?" fragte Patanegra. Nina und Tino sahen sich wieder an und überlegten wohl, wie weit sie sich jetzt aus dem Fenster lehnen durften. Dann gab sich Tino einen Ruck und sagte: "Wenn Lunera mir und Nina garantieren kann, dass wir irgendwie aus der Bruderschaft rauskommen, ohne von Finos Anhängern gejagt und umgebracht zu werden ist das meine andere Möglichkeit." Nina wandte ein, dass sie dem auch zustimmen konnte, aber jetzt erst recht fürchtete, dass Fino ihr keine eigene Meinung und erst recht kein eigenes Leben erlauben würde.
"Ich fürchte auch, dass er die anderen dazu bringen wird, sich klar für oder gegen ihn zu entscheiden und die nichtmagischen Mondgeschwister mit dem Unterwerfungszauber knechten wird, nur ihm zu dienen, mit dem eingestaltliche Zauberkundige andere Menschen zu ihren Sklaven machen können." Nina erschrak und erbleichte. Tino nickte verdrossen. "Das habe ich mir genauso vorgestellt", knurrte Lykomedas Vater. "Wundere mich nur, dass er dich, Nina, nicht schon entsprechend konfiguriert hat."
"Wohl weil ich unter Luneras Schutz stehe. Sie ist doch meine Mondpatin, hat sie immer mal wieder gesagt. Auch wenn sie nicht zaubern kann darf er ihr nichts tun und damit auch mir nichts. Zumindest galt das bisher. Aber ihr habt ja gehört, dass er nicht mehr glaubt, dass dieser obskure Bluteid noch bindet. Ist das schwer, diesen Bannzauber zu machen, und kann ich den mit eigenem Willen abwehren?" fragte Nina. Patanegra verneinte beides. "Wer einen starken Willen hat und sein Opfer unterwerfen will kann dies mit einem einzigen Wort und der konzentrierten Macht seiner Gedanken tun. Nur wenige können sich dagegen wehren, habe ich in der Schule für europäischstämmige Zauberei gelernt."
"Dann muss ich hier weg, bevor er meint, dass er das bei mir so zu machen hat. Öhm, kann der auch Blutsverwandte von wem nehmen, um einen in der Ferne versteckten zu unterwerfen?" fragte Nina.
"Nein, das kann er nicht. Er könnte nur auf die Idee kommen, Alejandro zu benutzen, nach dir zu suchen, wenn du nicht an einem gegen solche Sachen gesicherten Ort versteckt oder so stark besinnungslos bist, dass du nicht im Geist auf seine Suchzauber antworten kannst", erwähnte Patanegra.
"Hmm, dann bleibt mir doch nur der Freitod. Aber wenn ich deshalb oder schon wegen dieser Andersartigkeit zur Hölle fahre ..." grummelte Nina.
"Ach, glaub doch nicht diesen Mumpitz von den Katholen, auch wenn ich auch mit deren Weiwasser bespritzt wurde, Nina. Ich weiß zwar nicht, was nach dem Tod ist, aber wie die Katholen sich das ausgedacht haben ist's garantiert nicht, weil dann ja auch alles andere von denen stimmen müsste, also die Schöpfungsgeschichte der Bibel, dass Adam und Eva gleich von anfang an so geschaffen wurden wie Menschen heute noch aussehen, dass erst die Erde und dann die Sonne gemacht wurde und so weiter, über die Jungfrauengeburt von Jesus, die übrigens von den alten Griechen abgekupfert wurde und was sonst noch. Abgesehen davon hätten sich dann einige Herren im Priestergewand sicher nicht so viel abgedrehtes Zeugs geleistet, wenn die echt an diese eine Hölle geglaubt hätten. Also muss ich nicht dran glauben und du auch nicht, Nina", hielt Tino eine kleine Ansprache.
"Na ja, dass eine Seele nicht in Funkenund dünnen Wind zerfließt, wenn der Körper stirbt ist unter uns Zauberkundigen als Tatsache bekannt. Immerhin gibt es Geister, die nach dem Tod ihrer Körper in der Welt weiter umherwandeln, und mit alten Ritualen konnten die Priester meiner Vorfahren auch die Seelen der vorausgegangenen Ahnen befragen, was sie in welcher Lage tun sollten. Allerdings war das für beide Seitenimmer sehr schmerzhaft, die Schwelle zwischen den Lebenden und Toten zu durchbrechen und war deshalb bei den Priestern von Inti, Mama Killa und Pacha Mama sehr verachtet, sofern sie von den Göttern mit höheren Gaben begütert waren."
"Ach du meine Güte, dann könnte ich als Gespenst auf der Erde hängen bleiben?" fragte Nina. Tino meinte dazu nur, dass sie dann aber nicht mehr Finos Zuchthündin sein musste. Nina funkelte ihn dafür verärgert an. Dann sagte Patanegra etwas, womit die beiden gar nicht gerechnet hatten:
"Ich kann euch helfen, hier wegzukommen, alles hinter euch zu lassen und keine Nachstellungen von Fino oder wem anderen zu fürchten, wenn ihr mir helft, in der nichtmagischen Welt unterzukommen."
Erst sahen die zwei nichtmagischen Mondgeschwister ihre südamerikanische Kameradin so an, als wüssten sie nicht, ob sie das gerade träumten. Dann sagte Valentino: "Wie ich gerade sagte wird das ohne diesen Zaubertrank, der die Verwandlung steuert nichts bringen, oder?"
"Das ist wohl richtig. Aber ich habe genug davon vorrätig, um mit zwei oder drei anderen die nächsten fünf Monde zu bestehen. Lunera war in der Verteilung sehr großzügig, um uns nicht zu unbeherrschten Beißern werden zu lassen. Außerdem habe ich mittlerweile auch gelernt, ihn nachzubrauen. Es gibt da Zauber meiner Vorfahren, die einen Trank befragen können, woraus er und wie genau gemacht wurde. Deshalb kenne ich neben Fino und Lunera und der Engländerin Tara das Geheimnis des Lykonemisis-Trankes, warum auch immer der so heißt."
"Ein Kofferwort, Patanegra. Lyko von Lukos, Wolf, Nemesis, der altgriechischen Rache- und Ausgleichsgöttin und Isis, der altägyptischen Göttermutter und Fruchtbarkeitsgöttin. Dieser Espinado hat ihn damals so genannt, weil er die Eigenschaften von Rache und Fruchtbarkeit in diesem Trank vereinen wollte, hat mir Lunera erzählt", sprudelte es aus Ninas Mund. Tino nickte. Offenbar hatte Lunera ihm das auch mal so erklärt. Patanegra nickte nun auch. Da meinte Tino: "So'n Vollmacho kann dieser Espinado dann nicht gewesen sein, wenn er für den Namen eines machtvollen Zaubertrankes zwei alte Göttinnen nimmt." Nina strahlte ihn erfreut an, während Patanegra nur nickte. Dann fragte sie die beiden, ob sie bereit wären, alles hinter sich zu lassen und mit ihr fortzugehen, wenn sie ihr halfen, in der nichtmagischen Welt unterzutauchen. Die beiden Befragten tauschten wieder einen Blick. Nina ärgerte sich, dass sie mit dem Werwolfdasein nicht auch telepathische Kräfte bekommen hatte. Doch dann könnten ja auch die anderen ihre Gedanken lesen, erkannte sie und hörte auf, sich zu ärgern. Nach einigen Sekunden stimmten beide zu, mit Patanegra zu verschwinden. Allerdings mussten sie dafür sorgen, dass die Kinder solange geschützt wurden, bis jemand sie in ihre Obhut nahm, vielleicht Lunera.
"Ich kann die beiden mit einem mächtigen Gesang zur Anrufung der Mondgöttin Mama Killa in einen tiefen Schlaf versetzen, der einen vollen Monddurchlauf hält. In der Zeit werden sie weder Hunger noch Durst leiden oder sich eine ansteckende Krankheit einhandeln. Allerdings darf niemand ihnen tödliche Wunden schlagen oder sie in Intis Atem, also das Feuer, hineinwerfen", sagte Patanegra. Dann erläuterte sie den beiden, wie sie sich ihren Ausstieg vorstellte. Nina, die an desertierende Soldaten dachte fragte kurz, wie sie machen konnte, dass sie nicht gesucht oder gar gefunden wurden. Auch das erklärte ihnen Patanegra. Dann überließ sie es beiden, sich zu entscheiden. Tino und Nina wussten, dass sie beide gleich entscheiden mussten. Nach nur einer Minute wussten sie, dass sie beide mit der südamerikanischen Hexe gehen würden, und zwar so weit wie möglich weg von Brasilien und Spanien, ihrer beider Geburtsland.
Weil die beiden Kinder ihre Elternteile vermissten mussten Nina und Tino ihnen noch was geben, eine winzige Dosis eines Schlaftrankes, der sie weiterhin ruhig und schlafend hielt. Denn sie brauchten noch einige Minuten, um ihren vorzeitigen Abschied vorzubereiten, immer auf der Hut, dass Fino nicht vorher zurückkehrte. Alles dauerte nur zehn Minuten. Dann trafen sie sich wieder bei Patanegra. "Es gilt, meine Spuren zu verwischen und unseren Abgang so glaubhaft wie möglich zu machen. Daher müsst ihr mir vertrauen, dass ich euch nichts antun werde, außer euch für einige Zeit in einen tiefen Zauberschlaf zu versenken", sagte die Südamerikanerin im Schutze eines weiteren Klangkerkers. Nina und Tino stimmten zu. Nina wusste ja, dass nur die HexenundZauberer sich teleportieren konnten oder sie mit einem dieser Portschlüssel reisen mussten.
Um im ganzen Haus gehört zu werden öffnete Patanegra die Tür und löschte dadurch schon das ockergelbe Zauberlicht aus. Dann begann sie ihr magisches Lied zu singen. Nina und Valentino vergaßen das winzige Misstrauen, dass sie noch hatten und gaben sich Patanegras Lied hin, mit dem sie gleichzeitig auch die beiden Kinder in einen noch tieferen Schlaf versenkte. Erst lauschte Nina der fremdartigen Melodie und den ihr unbekannten Worten. Dann verfiel sie in eine immer größere Müdigkeit, bis die Welt um sie herum nur noch aus zunehmender Dunkelheit und Patanegras Gesang bestand. Dann hörte sie auch die Melodie und die fremden Worte nicht mehr.
"Auf Nimmer wiedersehen, Maisstengel", knurrte Patanegra, als sie ihr besonderes Lied vollständig gesungen hatte. Dann vollführte sie an den beiden schlafenden die nötige Zauberei, um sie mit sich zu nehmen.
Eine Minute später stand das Mondlichtungshaus auf der kleinen Insel mitten im Amazonas ruhiger da als in den letzten drei Jahren.
Fino war der erste, der von seiner Überzeugungstour zurückkehrte. Er brauchte nur vor dem Haus zu apparieren und mit dem auf ihn abgestimmten Schlüssel einzutreten. Sofort merkte er, dass irgendwas nicht so war wie es sollte. Er roch die schwachen Ausdünstungen vieler Mondgeschwister, aber vor allem die von Patanegra, dieser Inka-Hexe, die genauso seinen Rang anstrebte wie die Britin Tara McRore. Doch er hörte und roch niemanden im Haus, außer seinem Sohn und Luneras Tochter. Er lauschte auf die Stimme seines Sohnes oder die von Lykomeda. "Drino, dein Papa ist wieder da!" rief er ins Haus hinein. Spätestens jetzt hätte Alejandro laut kieksen oder jubeln müssen. Doch er hörte das nicht. Er hörte nur das fast gleichmäßige Plätschern der Amazonasfluten gegen den Strand der kleinen Flussinsel und die Laute der Urwaldbewohner. Das machte ihn stutzig. Er lief mit einsatzbereitem Zauberstab ins Haus und sprang fast durch die geschlossene Tür in das Zimmer, das Nina für sich und Alejandro bekommen hatte. Er sah seinen Sohn in dem kleinen Bett liegen, tief und selig schlafend. Er sprach ihn leise mit Namen an. Doch Alejandro schien ihn nicht zu hören. Er atmete ganz langsam und ziemlich flach einund aus, wirkte aber nicht krank oder so. Fino sog tief Luft in seine Nasenflügel. Ja, da war was fremdartiges an dem Geruch seines Sohnes, nicht, dass der Kleine volle Windeln hatte oder so. Es war einfach, als wenn er in einer Art besonderer Umhüllung steckte.
"Niiiiiiinaaaaaa!!!!" schrie Fino. Doch auch darauf gab es keine Reaktion. Der schlafende Wolfsjunge zuckte nicht mal zusammen, als habe ihm jemand die Ohren verstopft, um bloß nicht aufzuwachen. Fino griff in das Bett und fasste seinen Sohn an den Schultern. Er schüttelte ihn behutsam. Doch wieder reagierte er nicht. Noch einmal rief Fino nach der Mutter des Jungen, welche er eben dadurch als seine persönliche und an und für sich gehorsame Gefährtin ansah. Wieder war Schweigen die Antwort. Er hob seinen Sohn aus dem Bett und versuchte ihn wach zu bekommen. Doch Alejandro schlief weiter. Fino fühlte sogar, dass was immer den kleinen Jungen in Schlaf hielt über seine Hände auch auf ihn überzugreifen trachtete, langsam aber spürbar. Schnell legte er ihn wieder in sein Bettchen zurück. Die Sache wurde ihm richtig unheimlich. Er hatte selten Angst und wenn doch, dann wurde schnell Wut daraus. So war es auch jetzt. Er fühlte, dass er gleich wild dreinschlagen würde. Gerade so sprang er vom Kinderbett zurück, bevor seine rechte Faust laut zischend die Luft zerteilte und dann schlaff heruntersackte. Fast hätte er Alejandro an den Kopf gehauen. Dabei konnte der Junge nichts dafür, dass seine Mutter nicht antwortete oder dass er gerade von einem fremden Schlafzauber gebannt schlief.
Einer dumpfen Ahnung folgend rannte Fino zu Luneras Zimmer. Doch die Tür war zu und so verschlossen, dass auch ein Alohomora-Zauber sie nicht aufbekam. Doch ihm blieb der Lebensquellenanzeiger. Mit diesem Zauber fand er die gerade mal kleinkindgroße, aber eindeutig stabile Lebensaura eines schlafenden Mädchens. Üblicherweise konnte der Vivideo-Zauber die Ausstrahlung lebender Wesen bis zu deren vierfachen Körpergröße anzeigen. Dass das grüne Pulsieren gerade mal so groß wie Lykomedas Körper war verriet dem dünnen Mondbruder, dass Luneras Tochter ebenfalls in einem sehr tiefen, Lebenskraft sparenden Schlaf lag. Wer war das? Warum hatte er ... oder sie das getan? "Patanegra, du Inkatrommlerin!" brüllte Fino und beobachtete die Lebensaura Lykomedas.
Ohne Vorwarnung knallte es laut und von den Urwaldbäumen nachhallend. Jemand großes war appariert. Dann hörte er einen Schlüssel im Schloss klicken. Nun konnte er sowohl hören als auch riechen, wer hereinkam, Tara und Lunera. "Ah, Häuptling Spargelstange ist auch schon da", scherzte Tara. Lunera grinste hörbar. "Ich hab das gehört und verstanden, rotschopfige Putzehexe", stieß Fino auf Englisch aus. "Weiß ich doch", flötete Tara. "Und was das Putzen angeht: Wann wurde hier denn zuletzt durchgeputzt?"
"Nina, Tino, seid ihr hier?" rief nun Lunera. Doch dann stellte sich heraus, dass weder Nina noch Valentino da waren. Als die zauberkundigen Werwölfe noch herausfanden, dass sowohl Lykomeda als auch Alejandro in einer Art unsichtbarem Kokon lagen, der irgendwie vom Himmel aus bestärkt wurde, war ihnen klar, dass Patanegra diesen Zauber ausgeführt hatte. Dann fand Lunera noch einen Brief von Patanegra unter dem Fuß der Stehlampe im Salon, sowie je einen Papierzettel in Ninas und Tinos Zimmer. Lunera las Ninas Notiz vor: "An Lunera, Danke für die Rettung vor Gatos Mädchenhändlerbande und ihren Bluthunden! Doch die Sache mit den Mondgeschwistern wird mir zu viel. Ich halte es nicht mehr aus. Deshalb nehme ich mit Patanegra und Tino den letzten Ausweg und übergebe meinen Geist in die Obhut von Pacha Mama, der Erdmutter. Seht bitte zu, dass Alejandro nicht als gemeingefährliches Monster erschlagen oder zur allgemeinen Volksbelustigung in einem silbernen Käfig ausgestellt wird!"
Auf Valentinos Zettel las Lunera laut: "Der Turboimpulso hat seine Energie verheizt und ist alle. Ich bin raus und aus."
"Patanegra, diese Indianerhexe. Die hat die zwei verhext und für irgendein Ritual eingespannt", schnaubte Fino. Dann wollte er wissen, was die Südamerikanerin schrieb. Lunera wollte den Brief laut vorlesen. Doch er nahm ihn ihr aus der Hand, legte ihn auf den Tisch und führte Zauberstabbewegungen darüber aus, wobei er die Formeln für die Darstellung des räumlichen Abbildes und das Vorlesen des Geschriebenen mit der Stimme des Verfassers sprach. So sahen sie alle Patanegras räumliche Darstellung über dem Tisch schweben und hörten sie sagen:
"an alle die, die meine letzte Botschaft lesen. Ich, Hidalga Carmelita Rojas Mahuakani, gesegnete von Inti, Mama Killa und Pacha Mama, erfuhr die Gnade der drei hohen Götter, mein Ende zu erblicken. Ich werde im blauen Feuer der zürnenden Mama Killa langsam und qualvoll von Intis Atem verzehrt werden, weil ich dir, Lunera so bereitwillig folgte. Dann traten die Herrin des Mondes und die Mutter Erde in Gestalt meiner Vorfahrinnen vor mich hin und kündeten mir, dass meine Seele in diesem Feuer zu böser Asche verbrennen würde und nicht in die Gefilde der Ahnen eingehen würde, wenn ich nicht bereit wäre, vor dem nächsten Vollmond mein Leben an die Erdmutter zurückzugeben, auf dass diese meinem Geist ein neues Ziel geben möge. Dazu war ich bereit. Doch eine Hürde galt es zu überwinden. Das Ritual der demütigen Rückkehr in Pacha Mamas Schoß gelingt nur, wenn ich da selbst schon ein Kind geboren habe oder jemanden finde, der oder die dies bereits vollbracht hat. So musste ich hoffen und wurde erhört. Denn ich erkannte in Nina und Valentino die Sehnsucht nach dem eigenen Ende, weil sie sich von euch, Lunera und Fino, verraten fühlten. Denn ihr habt sie aus ihrem freien und selbstbestimmten Leben herausgerissen, damit sie euch dienen. So war es für mich ein leichtes, die beiden zu überreden, mit ihrem Leben auch das meine an die Erdmutter zurückzugeben. Da ihre unschuldigen Kinder nicht darunter leiden sollten habe ich über diese den Segen der Mama Killa erfleht und wurde erhört. Die Mondkönigin behütet den Schlaf der Kinder solange bis sie einmal alle ihre vier Gesichter am Himmel gezeigt hat. Kein Ruf, kein Hunger, kein Durst, keine Krankheit kann ihnen etwas tun. Doch hütet sie vor Intis heißem Atem und schützt sie vor gewaltsamen Verletzungen! Dann werdet ihr eure Kinder wohlbehalten wiedererhalten. Bis dahin werden Nina, Valentino und ich das Ritual der demütigen Rückkehr vollzogen haben und zurückkehren in den ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen.
"Das kann nicht sein!" brüllte Fino. Dann suchte er nach den Spuren der drei. Er fand tatsächlich Fußabdrücke, die von Patanegra stammten. Sie führten vom Salon aus dem Mondlichtungshaus hinaus und zu einem kahlen Felsen. Dort schien eine unbändige Magie der Erde gewirkt worden zu sein. Jedenfalls empfanden es Tara und Fino so, als sie nach Spuren hier vor Zeiten ausgeführter Zauber suchten. "Es sieht danach aus, als wäre sie hier in den Boden eingefahren, als wenn der nur Wasser gewesen wäre", sagte Tara, die auch druidische Zauber konnte und somit die Beschaffenheit von Pflanzen oder Untergrund ausloten konnte. Fino zeigte auf den Punkt, an dem sich so viel Magie staute. "Die hat Nina dazu überredet, ihr das Tor zu ihrer Indianergöttin aufzustoßen, diese Schlampe!" fauchte Fino. Sofort ließ er seinen Zauberstab kreisen und machte Suchzauber. Dabei deutete der Stab nach unten und in die Mitte der Erdzauberentladungen. Damit stand ffest, dass die halbindigene Hexe und Mondschwester wohl an dieser Stelle eins mit der Erde geworden war.
"Effodio!" rief Fino mit über der Stelle pendelndem Zauberstab. Erst bebte der Felsen. Dann flogen erst kleine und dann immer größere Brocken heraus. Weitere Gesteinstrümmer jagten wie eine Fontäne nach oben, regneten rings um das immer breiter und tiefer ausgehobene Loch nieder. Dann fanden sie etwas, das wie rotes Gestein war. Sofort stieg allen der Geruch von Blut in die Nasenflügel. Es war Blut von Patanegra. Kaum hatten die drei die Gewissheit, sprangen die ausgeworfenen Trümmer laut prasselnd in die Aushöhlung zurück und verschlossen diese wieder. Es knarzte noch einmal. Dann war der Felsen wieder so glatt wie zuvor. Fino sah auf seinen Zauberstab, der heftig zitterte und sich gefährlich verbog. "Ein Gegenzauber. Offenbar wirkt dieses Ritual einer Ausgrabung entgegen", knurrte Fino. Tara nickte.
"Damit haben wir es wohl amtlich, dass Patanegra sich und die beiden anderen geopfert hat und dieser Zauber ihr vorzeitiges Grab unantastbar macht. Womöglich ist sie noch wesentlich tiefer in die Erde eingedrungen als ..." sagte Lunera. Fino erbleichte. Sie fragte ihn, was er habe. "Nur die Vorstellung, dass die alten Inkas doch sehr heftige Zauber kannten und konnten. Wundere mich, dass sie allein diese Kraft aufbieten konnte", sagte Tara. Lunera nickte nur. Fino war so wütend, dass immer dichteres Fell auf seinen Handrücken spross und auch seine Gesichtsbehaarung immer dichter wurde. "Fino, lass das. Bringt eh nichts mehr!" zischte Lunera. Fino stieß zur Antwort eine weitere Derbheit gegen Patanegra aus. Dann sagte er: "Wenn klar ist, wie es weitergeht, wird Alejandro bei einer Ziehmutter aufwachsen, die mir den Bluteid schwört, dass sie ihn nicht im Stich lässt wie seine verweichlichte Mutter, die es nicht würdigen wollte, von mir ein Kind zu haben."
"Sie hat genommen was da war", ätzte Tara und erzielte genau die Reaktion, die sie erwartet hatte. Denn als Fino wutentbrannt auf sie lossprang tanzte sie ihn kunstfertig aus, hielt ihm kurz das linke Bein in den Weg, so dass er darüber stolperte und mindestens drei Meter durch die Luft flog. Fast wäre er mit dem Stamm eines Baumes zusammengeprallt. Gerade so konnte er sich noch mal abrollen. Als er wieder auf die Beine kam wollte er erneut auf Tara losgehen. Doch diese stoppte ihn mit einem silbernen Zauberschild. "Frieden, ihr zwei, im Namen der Mondbruderschaft!" rief Lunera. Sofort zuckten beide Zauberstäbe nach unten. "Nina und Valentino sind mit Patanegra weg. Das werden die anderen merken. Aber wir dürfen denen nicht erzählen, was wirklich geschehen ist. Denn dann würde der Zusammenhalt endgültig vergehen."
"Ich stimme dir zu, Lunera. Dafür, dass dies vielleicht deine vorletzte Anweisung überhaupt ist war sie zumindest nachvollziehbar und völlig richtig", meinte Fino dazu. "Ah, du hoffst auf einen Sieg deiner Meinung über meine. Dann warte mal den morgigen Tag ab", sagte Lunera, die selbst noch damit rang, dass Ihr Zögling Nina sich von Patanegra dazu hatte überreden lassen, mit ihr kollektiven magischen Selbstmord zu begehen. Auch um Valentino war es schade. Der war ein so begabter Liebhaber. Von dem hätte sie sicher gerne noch ein Kind bekommen, auch wenn Schwangerschaft und Geburt ihr ziemlich heftig zugesetzt hatten. Dann dachte sie daran, was Fino gesagt hatte. Ging er wirklich davon aus, dass sie schon sehr bald keine Anführerin mehr sein würde? Es hörte sich zumindest so an.
Immerhin konnten die drei vereinbaren, dass die noch im Laufe dieses und des nächsten Tages herkommenden Mondgeschwister nichts vom endgültigen Verschwinden von Patanegra, Nina und Valentino erfuhren. Das würde ihren Rang als Vorstand empfindlich schwächen. Diese Erkenntnis wiederum verriet ihr, dass Fino nun was in der Hand hatte, sie als Anführerin unhaltbar zu machen. Denn der dreifache Suizid hatte klargestellt, dass es einen weiteren, wenn auch endgültigen Ausweg aus der Bruderschaft gab. Sie wollte nicht, dass noch wer auf diese großartige Idee verfiel. Also stimmte sie den beiden anderen zu, dass Nina und Valentino bis zum Beschluss, wie es nun weitergehenwürde, an einem anderen, weniger tropischen Ort untergeschlüpft waren. Da sie die Kinder nicht ohne Erlaubnis des jeweils anderen Elternteils mitnehmen konnten blieben diese eben solange hier. Das mit dem Zauberschlaf würden Fino und Lunera damit begründen, dass sie eben nicht genug Nahrung und Windeln für die Kinder hatten und sie deshalb in diesem Sparschlafzustand blieben, bis sie wieder in menschliche Siedlungen hineinkonnten, um die nötigen Sachen zu beschaffen. So waren sich Fino und Lunera kurz vor Verkündung der Abstimmung noch einmal ganz einig. Doch beide wussten, dass diese Einigkeit auf gegenseitiger Erpressbarkeit gründete. Kurz vor einer schwerwiegenden Entscheidung war das nicht gerade eine gute Voraussetzung für einen friedlichen, respektvollen Umgang miteinander.
DIE FRÜHLINGSKINDER SIND AUF DEM WEG!
Gestern durfte ich mit Einverständnis der jungen Mutter Célestine Chevallier verkünden, dass ihre drei Kinder, zwei Mädchen und ein Junge, gesund auf die Welt gekommen sind. Wie mit den werdenden Müttern und dem Dorfrat von Millemerveilles vereinbart werde ich die Namen dieser Kinder und aller noch kommenden Kinder nicht öffentlich verkünden, um sie nicht schon im Vorfeld als "die ungeplanten" oder noch schlimmer als "die Unerwünschten" abzustempeln. Gut, jetzt werden viele sagen, dass spätestens mit der Einschulung in Beauxbatons klar wird, wer aus Millemerveilles stammt und wer nicht. Doch bis dahin, so die residente Hebamme Hera Matine und alle von ihr und den beigeordneten Heilerinnen und uns Pflegehelferinnen und Pflegehelfern betreuten, sollen die Kinder in Ruhe und Sicherheit aufwachsen und sich an das Leben als Hexen oder Zauberer gewöhnen. Daher habe ich nur die Botschaft von drei neugeborenen Kindern vermeldet und werde in Zukunft auch nur die Namen der Mütter und die Anzahl und das Geschlecht der neu dazukommenden Kinder erwähnen. Mit ausdrücklicher Erlaubnis der Kräuterfachhexe Camille Dusoleil darf ich zitieren, was sie allen bei ihrer Niederkunft beistehenden nach der Geburt ihrer vierten Vierlingstochter gesagt hat: "Das sind besondere Kinder, weil sie am 29. Februar geboren sind. Die ganzen Frühlingskinder kommen dann im März und April." Das ist wie nicht nur ich finde eine sehr viel schönere Bezeichnung für die an und für sich ungeplanten vielen Kinder von Millemerveilles.
Die große Ankunft dieser Frühlingskinder ist nun im vollen Gange. Gestern bekamen gleich drei Hexen ihre Kinder. Amélie Beaufort brachte eine Tochter und zwei Söhne zur Welt, Philippine Deroubin schenkte zwei Töchtern und zwei Söhnen das Leben, und Désirée Charpentier gebar zwei Söhne. Wir alle gratulieren den jungen Müttern zur erfolgreichen Geburt und hoffen, dass auch die vielen weiteren Frühlingskinder gesund in Millemerveilles eintreffen.
MUL
Der Rat war vollständig anwesend. Alle führenden Mondgeschwister saßen im Salon des Mondlichtungshauses. Tara war als ranghöchste Vertreterin des britischen Stützpunktes dabei und hörte sich genau wie die anderen die Geschichte an, warum Nina und Valentino heute nicht dabei waren. Dann verlasen sie und die anderen Bereichsgruppenführerinnen und -führer die Zahl der Befürworter und Ablehner von Luneras Vorschlag. Für Patanegras Gruppe war die Hexe Floresdeluna eingesprungen, eine der drei weiteren Hexen aus León del Fuegos Gruppe. Sie verlas, dass ihre Bereichsgruppe mit 20 zu 1 Stimmen gegen Luneras Vorschlag stimmte. Andere Vorleser verkündeten ähnliche Ergebnisse. Am Ende stand es 312 : 45 für Fino und das deshalb, weil Lunera den Befragten nicht hatte garantieren können, dass die Eingestaltler sie am Leben ließen, wenn sie sich freiwillig stellten. Diese Argumentationsschwäche hatte also den Ausschlag gegeben. Lunera seufzte und reckte sich kurz. Da sprach Fino:
"Wie es beschlossen wurde gilt die Abstimmung auch als Abstimmung über die weitere Führerschaft unserer Gemeinschaft. Lunera, du weißt, was das heißt?" Lunera nickte verdrossen. Dann sagte sie: "Gratulation, Fino. ich muss anerkennen, dass die Angst vor dem eigenen Tod immer noch über den Wunsch nach friedlichem Leben steht. Das hast du ausnutzen können. Doch dir ist auch klar, dass die nichtmagischen Mitglieder dir nicht folgen werden, wenn es darum geht, weiter versteckt zu bleiben. Da du mein direkter Gegenkandidat warst und die Abstimmung ja wie besprochen auch über die Führerschaft entscheiden sollte, bist du von den anderen zum neuen Anführer gewählt worden. Für mich heißt das, ich werde mich aus allen Planungen und Ausführungen zurückziehen und wähle deshalb einen neuen Wohnsitz, zusammen mit meiner Tochter Lykomeda, weil ich ihre einzige lebende Verwandte bin. Der Bluteid verbietet, dass wir uns gegenseitig etwas antun. Vergiss das bitte nicht, Fino! Das sage ich nicht nur dir, sondern auch allen anderen hier, dass ihr nicht meint, die Unterlegenen der Abstimmung festzusetzen oder gar umzubringen."
"Wie, Fino soll uns anführen?" wollte Ojonegro wissen und spannte seine Muskeln an. "Gut, der hat viele thaumaturgische Kenntnisse. Doch ich werde mich nicht von so einem speichelleckenden Jungspund und Hänfling befehligen lassen, dass das mal klar ist."
"Übergib mir Espinados Schlüssel zu seinem Werk und Wissen, Schwester Lunera!" forderte Fino ungeachtet Ojonegros Widerspruch. Lunera nickte ihm wieder verdrossen zu und förderte aus ihrer blauen Jacke einen schwarzen Schlüsselbund zu Tage. "Hiermit übergebe ich, Lunera Tenerfiño, die durch Espinados Wunsch anerkannte Führerin der Mondgeschwister, dir, Fino, die Schlüssel zu Espinados Wissen und Werken, so wie es Espinaado für den Frieden und Zusammenhalt unserer Gemeinschaft verfügt hat, wenn meine Führerschaft endet. Würdige es als Ehre, dass ich dies mit warmen Händen tue!" Damit überreichte sie Fino den Schlüsselbund. Der dünne Zauberer ignorierte die verächtlichen Blicke Ojonegros und anderer zauberkundiger Mondgeschwister. Er nahm den Schlüsselbund in die Hand und zuckte zusammen. Für einen Moment trat Angst in seine Augen, dass er vielleicht in eine tödliche Falle gegangen war. Er zuckte wie von unsichtbaren Peitschenschnüren getroffen zusammen und biss die Zähne aufeinander. Dann entspannte er sich wieder. Er keuchte: "Espinados Werk und Wissen hat mich geprüft und mein Blut als würdig erkannt, sein Erbe fortzuführen. Der Respekt und die Achtung des Ordens gebieten mir, dir, Schwester Lunera, für die Jahre des Erhaltes und der Stärkung unseres ordens zu danken und dir für deine weiteren Lebensjahre all die Ruhe und Gesundheit zu wünschen, die du erhalten kannst, wo immer du auch hingehst."
Lunera nickte, diesmal nicht verdrossen, sondern erleichtert. Sie hatte mit den Schlüsseln Espinados eine sehr schwere, ja in den letzten Wochen überschwer gewordene Last abgeworfen. Fino hatte sie auf sich genommen. Sollte er doch zusehen, dass er damit besser zurechtkam.
"Du bist zwar klug und kundig, dünner Bruder. Aber das macht dich nicht zum guten Anführer. Deshalb werden meine Freunde und ich dir ganz genau zusehen, was du tust, Fino", grummelte Ojonegro. Offenbar hatte der gehofft, die Schlüsselübergabe hätte Fino als unwürdig bestätigt und womöglich gleich an Ort und Stelle getötet.
"Wie ich entschied werde ich nun aus diesem Haus, unserem Hauptsitz, fortgehen und mit meiner Tochter Lykomeda an einem sicheren Ort weiterleben und hoffen, dass die Mondgeschwister den richtigen Weg finden, um weiterzubestehen", sagte Lunera. Dann sah sie Tara McRore an, die immer noch verbittert auf Fino und dann auf Ojonegro blickte. Dann sah sie Lunera an und sagte: "Mein Angebot steht, Lunera." Die Angesprochene nickte erleichtert.
Nur eine Minute später verließen Tara, Lunera und Lykomeda mit Luneras und Lykomedas Habe das Mondlichtungshaus mitten im Amazonasstrom. Fino sah Ojonero an. "Falls du oder ich nicht im nächsten Licht des Vollmondes von jener blauen Todeskraft vertilgt werden wirst du dich mir beim Vollmond im Mai zu einem Entscheidungskampf stellen. Denn wenn jemand diesen Orden wieder starkmachen kann bin ich das", sagte Ojonegro. Fino grinste verächtlich. "Du hoffst darauf, dass weil du mer Speck angesetzt hast als ich, du mir im direkten Kampf überlegen sein wirst. Falls du wirklich darauf bestehst soll der Vollmond im Mai zusehen, wer von uns beiden gewinnt." Ojonegro nickte entschlossen.
Zu den werdenden Müttern, die Julius als Pflegehelfer mitbetreuen durfte gehörte auch die Frau des Milchbauern Augias Leblanc. So geschah es, dass Julius kurz vor der üblichen Aufstehzeit die kleine Glocke hörte, die Hera Matine ihm überlassen hatte, um ihn zu einer der von ihm mitbetreuten Patientinnen zu rufen. Millie stand mit ihm zusammen auf. Sie scherzte noch, ob sie gleich auch noch gerufen würde, dann wohl mit Béatrice zusammen losfliegen müsse oder zu Anne Laporte, je danach, welche der werdenden Mütter heute noch ihre Kinder bekommen würden.
Als Julius kurz vor sieben auf dem weitläufigen Hof der Leblancs ankam wartete Augias Leblanc schon auf ihn. "Gut, dass meine Titanie heute schon unsere Kinder bekommen will, bei den ganzen trächtigen Kühen könnte es auch jederzeit losgehen, und von denen tragen zehn ebenfalls Zwillingskälber", begrüßte der Hofherr den hinzugerufenen Pflegehelfer. Julius sah auf die Ställe und dachte daran, dass sämtliche Kühe der Leblancs genauso wie die meisten anderen Säugetiere in Millemerveilles von dem Fortpflanzungsrauschgas beeinflusst worden waren. Katzen und Kniesl hatten schon vor sechs Monaten geworfen. Kühe trugen wie Menschenfrauen an die neun Monate ihren Nachwuchs aus.
"Kommen dann wieder welche aus dem Tierpark zum helfen herüber?" wollte Julius noch wissen, während er Augias' Haus betrat. "Das meiste kriegen meine Mägde und Knechte hin, wobei von den fünf Mägden ja auch jede was kleines in Aussicht hat", grummelte Augias Leblanc. Julius nickte. Das konnte noch was geben, wenn die alle auf einmal ihre Kinder bekamen. Die drei verheirateten von denen hatten wegen der plötzlichen Wirkung der Verpaarungsdroge mit den gerade verfügbaren Zauberern zusammengefunden und somit ungewollten Ehebruch begangen.
Titanie Leblanc schien nicht zu wissen, ob sie sich freuen sollte, dass Julius ihr beistand oder nicht. Doch das legte sich, als ihre erste Drillingstochter Callisto zur Welt kam. Zwanzig Minuten später war auch das zweite Mädchen, Ophélia, vollständig ans Licht der Welt gelangt. Die jüngste der Drillinge ließ sich dagegen eine Stunde Zeit, offenbar, weil sie am tiefsten in Titanies Gebärmutter gelegen hatte. Als sie dann doch innerhalb von drei Minuten den Geburtskanal durchquerte und als gerade einmal 40 Zentimeter langes und knapp zwei Kilogramm schweres Menschenwesen ihren ersten Schrei ausstieß waren alle froh. Titanie nannte die jüngste der drei Metis, wobei Julius nicht wusste, ob sie auch hier den Mond eines Planeten meinte oder dessen Namensvetterin aus der griechisch-römischen Götter- und Sagenwelt.
"Anne, deine erste Magd erwartet nur zwei Kinder, Titanie. Vielleicht kannst du mit ihr klären, ob sie eine der beiden größeren ..." setzte Hera an.
"Nein, Hera. Die drei kriege ich alleine satt. Ich brauche nur den Milchförderungstrank von dir. Anne soll ihre zwei alleine satthalten."
"War nur ein Vorschlag", sagte Hera Matine. Julius nickte. Er kannte das schon von seiner Frau, dass es einer Hexe sehr wichtig war, dass sie allein das eigene Kind stillte, und von Sandrine und seiner Mutter wusste er, wie Überfürsorglich und Besitzergreifend die von Vita Magica zu Nachwuchs getriebenen ihre Kinder bei sich behalten wollten. Immerhin war Titanie froh, dass sie die drei Mädchen sicher auf die Welt gebracht hatte.
Als Julius mit frisch gereinigten Sachen und keimfrei gespülten Händen ins Apfelhaus zurückapparierte fand er einen Zettel seiner Frau:
Hallo, mein Erdenprinz.
Tante Trice wurde zu Madame Rivolis gerufen, die in meinem eingeteilten Bereich wohnt. Deshalb sind wir jetzt weg. Die Kinder sind alle im Sonnenblumenschloss.
deine Feuerprinzessin
"Dann habe ich ja jetzt sturmfreie Bude", dachte Julius und wollte gerade in das an das Apfelhausgrundstück grenzende Waldstück, wo das Baumhaus mit seinem neuen Internetzugang stand, als die auf ihn kalibrierte Silberglocke wieder losbimmelte. Auf der Glocke selbst erschien in mondlichtfarbener Leuchtschrift: "Komm bitte unverzüglich zu Bégonie l'ordoux!"
Julius tippte die Glocke mit seiner gerade erst für zwölf Stunden keimfrei gespülten Hand an, damit sie verstummte. Dann disapparierte er unverzüglich aus der Eingangshalle des Apfelhauses.
Bégonie l'ordoux hatte die fragwürdige Ehre erhalten, von Philippe Bouvier, dem gerade erst seit einem Jahr mit Beauxbatons fertigen Sohn der Eheleute Claudette und Jerome Bouvier, fünf Kinder zu bekommen. Um diese Kinder nicht alleinstehend großzuziehen hatte sie den jungen Zauberer Philippe geheiratet, wobei er ihren Nachnamen angenommen hatte, da der Name l'ordoux immer noch am besten zu einer Imkereihexe passte. Philippe war Auszubildender Zaubertierpfleger und war deshalb damals im Juni 2003 bei der Bienenfachhexe gewesen.
Julius war froh, dass die Imkereihexe um ihr Haus einen unsichtbaren Schutzwall gegen fliegende Insekten hochgezogen hatte, so dass Julius von keiner der langsam aus dem Winterzustand erwachenden Bienen behelligt wurde, die bereits eilfertig nach den ersten Blumen suchten. Weil Bégonie fünf Kinder bekommen würde hatte Hera auch die Pflegehelferin Sandrine Dumas hinzugezogen. Ihr begegnete Julius, als er das gemütliche Landhaus betrat, das er trotz seiner kindheitsbedingten Aversion gegen fliegende Insekten immer wieder besuchte, um echte Wachskerzen und hervorragenden Honig zu kaufen.
Philippe war auf seiner Arbeitsstelle. Denn wie bei den Leblancs galt auch im Tierpark eine Anstehende Flut von Tiergeburten.
"Hättest du nicht gedacht, dass du mir eines Tages helfen darfst, neue Kinder zu bekommen", stöhnte die Hexe, die selbst schon Enkel und Großnichten hatte, als Julius das zum Geburtszimmer gemachte Schlafzimmer betrat. "Das habe ich bei so vielen nicht gewusst, Bégonie", sagte Julius ruhig. Dann besann er sich nur noch auf die zu erledigenden Handgriffe. Wie vorhin schon durfte er auch hier mit seiner Flotte-Schreibe-Feder protokollieren.
Offenbar gefiel es den fünfen noch zu gut im Leib ihrer Mutter. Denn bis das erste von ihnen endlich ans Licht kam dauerte es ganze zwei Stunden. Der kleine Junge, Guillaume Jerome, war noch nicht vollständig auf der Welt, als seine erste Schwester Melissa Malvine an die Luft drängte. Deshalb mussten Hera, Sandrine und Julius sich bei den nötigen Handgriffen schnell abwechseln. Dann kam auch Guillaumes zweite Fünflingsschwester Cassandre clothilde zur Welt. Ihr folgten im Abstand von zehn Minuten die Söhne Auguste Aron und Dorian Daniel.
"Ich möchte euch beiden recht herzlich danken, dass ihr so gut mitgearbeitet habt", sagte Hera zu Sandrine und Julius. "Fünf Kinder auf einmal auf die Welt zu holen ist selbst für eine langgediente Hebammenhexe wie mich eine außergewöhnliche Angelegenheit."
"Hauptsache Bégonie und den fünfen geht's gut", sagte Julius und sah die von der Anstrengung sichtlich geschaffte Bienenzüchterin an, die gerade einen Becher mit Aufpäppeltrank und einen Schluck Nutrilactus-Trank zu sich nahm. "Oha, ob ich in den nächsten Tagen wieder auf die Beine komme wird schwierig. Hätte nie gedacht, dass ich in meinem Alter noch einmal fünf Kinder kriege. Diese Banditen, die uns das eingebrockt haben gehören mit Honig bestrichen und unter das nächste Wespennest gehängt." Julius schluckte ob dieser Vergeltungsphantasie der Imkereihexe und meinte, dass diese Banditen sicher mehr leiden würden, wenn all die Kinder, die in diesen Tagen zur Welt kamen, allesamt hinter denen herjagten, um jeden einzelnen von denen in eine Einzelzelle zu sperren. "Da geh mal von aus, dass wir den ganzen Jungen und Mädchen .. Hautsch! Hätte nicht gedacht, dass da noch so viel Leben im Bienenkorb steckt", knurrte Bégonie und hielt sich den stark angestrengten Unterbauch.
"Ich sage es nur offiziell, nicht weil ich finde, es nötig zu haben", setzte Hera an. "Aber ich möchte euch bitten, bis zur erfolgreichen Niederkunft der letzten Nachbarin von uns auf jede Form von Alkohol zu verzichten. Ich weiß, dass gerade die gestandenen Herren meinen, sich und ihre Geschlechtsgenossen hemmungslos betrinken zu müssen, sobald sie Vater wurden. Ich weiß auch, dass du, Julius, bei dem Gelage für Camilles vier jüngste Kinder gut mithalten konntest. Aber ich gehe sehr davon aus, dass du es einsiehst, dass jetzt, wo so viele ähnlich schwere Geburten anstehen, ein schwerer Kopf nur den gerade geborenen Kindern gestattet ist." Julius verstand und sagte: "Ich kann mich wunderbar darauf berufen, dass ich jederzeit springen können muss. Abgesehen davon können sich die erwähnten Väter auch ohne mich unter den nächsten Tisch saufen. Soweit ich weiß hämmern in Césars Kopf immer noch die Zwerge, und mein Schwiegervater bekam Millemerveilles-Verbot von meiner Schwiegermutter, weil sie ihn nicht andauernd bei uns abholen kommen will, solange sie selbst noch ein Kind im Säuglingsalter hat."
"Gut, ich bin nicht die für diesen Jungen zuständige Hebamme. Aber ich hoffe doch, dass die Kollegin Latierre trotz der ganzen Aufgaben hier noch genug Zeit und Aufmerksamkeit aufbringen kann, seine Entwicklung zu begleiten." Julius konnte sie da beruhigen, dass Béatrice im Moment noch genug Zeit hatte. Er verriet der residenten Heilerin jedoch nicht, dass Béatrice innerhalb weniger Sekunden von Millemerveilles zu den Verwandten nach Paris eilen konnte, ohne apparieren oder das Flohnetz benutzen zu müssen.
"Und deiner Nichte geht es noch gut, oder könnte sie heute auch schon dran sein?" fragte Sandrine Hera. "Danke der Nachfrage, Sandrine. Nicolette und ihren ungeborenen Kindern geht es noch gut", sagte die Heilerin.
Mit Traubensaft und Zitronenlimonade feierten sie dann die erfolgreiche Ankunft der fünf l'ordouxes.
Am abend erfuhr Julius von seiner Frau, dass sie ebenfalls bei zwei Mehrlingsgeburten assistiert hatte. Insgesamt war der 15. März für fünf Hexen noch wichtiger geworden als sowieso schon. Jene, die nicht mit anstehenden Geburten beschäftigt waren feierten am Abend noch im Musikpark den Gründungstag von Millemerveilles. Nächstes Jahr würden sie um diese Zeit herum das im Vorjahr besprochene Kunstfestival mit Preisverleihung stattfinden lassen. Bereits in diesem Jahr würde sich im Mai das Auswahlkomitee für den Prix Millemerveilles, den neu geschaffenen Preis für besondere Leistungen und Fortschritte für ein friedliches Miteinander in der magischen Welt, zusammensetzen, um für den Vergabetag, den 24. Juni, die ersten Preisträgerinnen oder Preisträger zu küren.
Gegen elf Uhr kommandierte Béatrice Millie und Julius ins Bett. "Wer weiß, wie kurz die Nacht wird", sagte sie noch, bevor sie sich in ihr zur Verfügung gestelltes Zimmer zurückzog.
Die Tage zwischen dem 16. und 24. März wollten irgendwie nicht enden. fast jede vierte Stunde vermeldete eine der werdenden Mehrlingsmütter den Beginn der Niederkunft. Hierbei mussten nun auch die von der Delourrdesklinik erbetenen Heilerinnen hinzugezogen werden, weil teilweise sieben Hexen zur gleichen Zeit betreut werden mussten. Dabei durfte Julius am 18. März der Heilerin Anne Laporte bei der jungen Mutter Louanne Bouvier assistieren, als diese ihre drei Söhne Armand, Augustin und Jerome gebar. Am 23. März betreuten Béatrice und Belisama die ältere Hexe Louiselle Castello, als diese ihre drei Kinder Justine, Vespasian und Muriel zur Welt brachte. Am 24. März half Millie ihrer Tante Béatrice bei der Betreuung von Césars Mutter, als diese die drei Töchter Agnès, Brigitte und Cécilie bekam, womit die bisher jüngste Célestine zu Ostern wohl in ein kleineres Zimmer umziehen würde, weil ihr bisheriges Zimmer für die drei Neuzugänge gebraucht wurde. Ob Célestine darüber glücklich war würden wohl alle erst in den Ferien mitbekommen.
Julius hatte sich den Vormittag bereitgehalten, um jemandem beizustehen. Um elf Uhr wurde er von Camille zum Haus der Dusoleils gerufen. Hera war da gerade mit einer anderen Pflegehelferin bei einer anderen Wöchnerin. So mussten er und Jeanne Uranie zunächst unbeaufsichtigt helfen und alles vorbereiten, bis Antoinette Eauvive höchst persönlich bei den Dusoleils eintraf, wohl weil nun sämtliche bisher eingebundenen Heiler einschließlich Monsieur Delourdes mit Entbindungen beschäftigt waren. Sie kam gerade noch rechtzeitig, um mitzubekommen, wie Jeanne und Julius die erste Tochter Uranies, die kleine Lune Aminette entbanden. Uranie war bereits damit beschäftigt, das zweite der drei ihr ungeplant zugefallenen Kinder zu gebären. Antoinette sagte nur: "Habt ihr bisher schön hingekriegt. Ich bin da und werde nur eingreifen, wenn es Probleme gibt." Damit hatten Jeanne und Julius es offiziell, dass sie Uranie hauptamtlich bei der Mehrlingsgeburt helfen sollten. Immerhin hatte Julius ja das nötige Hebammenbesteck dabei, um alles zu überwachen. Dann war auch die kleine Lyre Estelle vollständig angekommen und schrie ihren Unmut über diese Tortur hinaus.
Nummer drei, der zweite Sohn Uranies, glitt fast ohne Schwierigkeiten aus dem Leib seiner Mutter und musste mit dem üblichen Klaps aufs nackte Hinterteil zum Atmen und schreien gebracht werden. Jeanne meinte dazu ohne zu bedenken, dass Julius' Feder mitprotokollierte: "Ich glaube, mein Vetter hat seine eigene Geburt verschlafen."
"Ich habe genau hingesehen, Jeanne. Es gab keine Komplikation mit der Nabelschnur. Ichnehme gleich die Grundwerte von ihm auf, auch um in diesem Protokoll festzuhalten, ob alles in Ordnung ist oder weitere Maßnahmen angezeigt sind", sagte Antoinette. Uranie grummelte, dass sie froh war, diese aufgezwungene Tortur überstanden zu haben und sprach für das Protokoll: "Da der Vater der drei Kinder sich auf das Gamoturteil vom zehnten Januar 2004 berief, demnach zum Zeitpunkt einer Beischlafhandlung willenlos gehaltene Beteiligte nicht zur Heirat des andersgeschlechtlichen Beischlafbeteiligten gezwungen werden können, egal ob dabei eine Zeugung erfolgte oder nicht, will ich für dieses Protokoll nur klarstellen, dass weder er noch seine leiblichen Angehörigen einen Anspruch auf Kenntnis und Mitsprache bezüglich der weiteren Entwicklung der drei Kinder Lune Aminette, Lyre Estelle und Antares Algol erhalten. Gemäß der mit diesem Urteil ... Autsch ... einhergehenden Übereinkunft werde ich bei der Familienstandsabteilung um Zuschuss aus dem Sonderfond für ungewollt schwanger gewordene Hexen bitten. Oha, was ist denn jetzt noch. Da unten ist doch keiner mehr?" keuchte Uranie. Tatsächlich ging es nur um die noch auszutreibende Nachgeburt.
"Also, hauptberuflich möchte ich das nicht machen", stellte Julius fest, als Jeanne und er das Geburtszimmer verlassen durften und Antoinette mit Uranie noch besprach, ob sie im Haus bleiben oder mit ihren drei Kindern in die Delourdesklinik zur besseren Überwachung verlegt werden wollte.
"ich bin froh, dass du so ruhig geblieben bist. Tante Uranie ist ja noch anstrengender gewesen als Maman", zischte Jeanne und deutete auf das Wohnzimmer. "Komm, sagen wir ihr und Papa, dass noch drei kleine Kinder bei uns wohnen. Du hattest echt recht, dass wir jetzt eine eigene Quidditchmannschaft hingekriegt haben."
"Ja, und der kleine Antares ist Sucher und Bertrand wird Hüter. Öhm, dann ist aber einer oder eine mehr als nötig da", sagte Julius.
"Bertrand wird ja mit mir im August wieder ausziehen und dann wohl froh sein, wenn er bis dahin auch halbfeste Sachen essen kann. Aber das Zahnen ist schon anstrengend, und dann noch immer wieder eine von vier Tanten, die bei mir mittrinken dürfen", sagte Jeanne.
"Dann hätte Antoinette eigentlich nicht herkommen müssen, wo Jeanne und du das gut hingekriegt habt", meinte Florymont, während Camille drei der vier eigenen Neugeborenen in den Armen hielt.
"War schon richtig, dass wer offizielles dabei war. Wenn was passiert wäre ..." meinte Julius.
"Ich denke, dieses gemeine Zeug, dass uns alle im Juni berauscht hat bewirkt auch wie der Fortuna-Matris-Trank, dass Schwangerschaft und Geburt so unkompliziert wie möglich ablaufen", meinte Camille. Florymont bemerkte dazu: "Wird wohl so sein, Camille. Denn vier Kinder auf einmal sind sicher noch anstrengender zu tragen als nur eines."
"Hoffentlich hat das mit der Registrierung geklappt", sagte Julius. "Nicht, dass Hera meint, den Überblick zu verlieren."
"Jedenfalls dürfte Madame Faucon in den letzten fünf Tagen eine Menge Geburtsanzeigen auf den Tisch bekommen haben", sagte Jeanne. Julius nickte. Immerhin hatte er es ja oft genug mitbekommen, wie Beauxbatons die in seinem Zuständigkeitsbereich geborenen Kinder erfasste.
"Und Uranie will sich von den Fontchamps nicht helfen lassen?" fragte Florymont. Julius bestätigte es. "Oh, das wird noch lustig, wenn ich Bernards Mutter erklären soll, dass sie ihre drei jüngsten Enkelkinder nicht sehen darf."
"Na ja, sie wird ja in den nächsten Tagen selbst Mutter, Papa", sagte Jeanne. Julius sagte dann noch: "Gut, sehen werden Germaine und Adalbert Fontchamp die drei wohl häufiger. Aber wenn deine Schwester auf ihrer gleich nach der Geburt geäußerten Entscheidung beharrt dürfen sie denen nichts schenken oder irgendwie dreinreden, wie sie erzogen werden sollen."
"Diese Schwangerenunterstützung ist aber eher für die ganz jungen Hexen da, die eigentlich erst noch heiraten oder sich ein eigenes Einkommen sichern wollten", sagte Camille. "Ich hoffe sehr, dass das die Gefühlswallungen der Geburt sind, die sie da umgetrieben haben."
"Könnte auch einer der Gründe sein, warum Antoinette immer noch bei ihr im Zimmer ist", raunte Julius leise genug, dass Uranie und Antoinette es nicht hören konnten. Aber die gemalte Viviane grinste Julius an.
""Was heißt hier, ich habe nicht das Recht zu bestimmen, wer sich um meine Kinder kümmern darf und wer nicht, Antoinette?!" hörten sie Uranies von der Niederkunft angerauhte Stimme dröhnen. "Ich habe das gerade zu Protokoll gegeben und das nicht aus irgendeiner von dir behaupteten Beeinträchtigung heraus. Dieser Bursche Bernard Fontchamp hat genug Gelegenheit gehabt, mich darum zu bitten, gemeinsame Verantwortung für die drei zu übernehmen. Aber nein, der hat behauptet, er würde keine Hexe heiraten, die er im nüchternen Zustand nicht mal mit Drachenhauthandschuhen anfassen würde und dass die von Vita Magica schon mal ihre Knochen durchnummerieren sollten. Da werde ich diesem unreifen Rohling garantiert kein Mitspracherecht bei der Erziehung der drei erlauben, erst recht nicht, wo der sich auf dieses Gamoturteil beruft. Dann tu ich das nämlich auch und verweigere ihm und seinen Eltern jede Mitsprache und finanzielle Beteiligung am Aufwachsen der drei, Dixi!"
"Ui, Uranie ist offenbar sehr wütend", sagte Florymont. "Zumindest kann sie gut Latein", meinte Julius. Jeanne kniff ihm dafür in die Nase. "Tu bitte nicht so, als beträfe dich das nicht, was mit Tante Uranie los ist, Julius", zischte sie ihm gerade laut genug zu, damit ihre Eltern es hören konnten.
"Sagen wir es so, es ist für mich schon wichtig, was mit den Kindern passiert, die Camille, du und Uranie bekommen haben und betrifft mich auch, weil wir ja alle Mitglieder der Eauvive-Familie sind. Doch bin ich auch froh, dass ich da nichts entscheiden muss", sagte Julius. Jeanne verzog nur ihr Gesicht, schwieg aber. So konnten sie alle mithören, wie die Unterredung zwischen Hebamme und junger Mutter immer lauter und gefühlsgeladener wurde. Uranie wollte nicht wie ein unmündiges Mädchen behandelt werden, das zu tun hatte, was irgendwer großes ihm sagte. Vor allem wollte sie klarstellen, dass sie sich als eigentliches Opfer dieser Machenschaft von Vita Magica verstand und jetzt, wo sie dazu gezwungen war, die drei Kinder ohne Vater großzuziehen, auch so konsequent sein wollte, diesen nicht an deren Erziehung zu beteiligen. Antoinette hielt ihr entgegen, dass sie doch an das Kindeswohl denken müsse und diese Kinder erst recht fürchten müssten, ungewollt und wertlos zu sein, wenn sie erfuhren, dass ihr Vater nichts mit ihnen zu tun haben dürfe.
"Ich glaube, ihr solltet jetzt erst mal nicht zu Antoinette und Uranie hin", sagte Camille und sah Florymont sehr dankbar an, dass er immer noch bei ihr war. Julius holte die Umhängetasche, in der er das nach der Geburtshilfe noch einmal mit Keimfreilösung gespülte Rüstzeug aufbewahrte. Im Moment wollten weder Hera, noch Béatrice oder Anne Laporte seine Hilfe. Florymont hörte der Unterhaltung aus dem kleinen Geburtszimmer weiter zu. Dann sagte er: "Ich hoffe, dass wir eine Lösung finden, mit der wir alle leben können. Öhm, Julius, musst du in eurem Haus sein, wenn sie dich zu weiteren Einsätzen rufen wollen?" Julius schüttelte den Kopf und zeigte die kleine Silberglocke. "Ich muss die nur so bei mir tragen, dass ich sie hören kann."
"Millie ist unterwegs und eure drei Kinder sind bei Line und Ferdinand?" fragte Camille. Julius bestätigte das alles. "Dann kannst du auch solange hier bei uns bleiben und falls dich niemand anderes ruft bei uns Mittag essen", sagte Camille mit jenem Tonfall, der ohne streng und befehlsmäßig zu klingen keinen Widerspruch zuließ.
Dass Camille nicht ganz uneigennützig vorgeschlagen hatte, dass Julius bei ihnen blieb erkannte dieser, als er mit Jeanne zusammen Chloé beschäftigte, während Florymont wieder in seiner Werkstatt war und Camille sich um die Vierlinge kümmerte. Immerhin wurde Julius noch das Mittagessen gegönnt, bevor Hera Matine herüberkam und sich nach Uranie und den nun geborenen Drillingen erkundigte. Dabei erfuhren sie und auch die Dusoleils, dass Antoinette Eauvive Uranie nahegelegt hatte, bis auf weiteres mit den Drillingen in das Château Florissant umzuziehen, wo es auch mehrere magische Teleskope gab und vor allem in heilkundlichen Belangen ausgebildete Hauselfen. "Ich werde es als Sprecherin unserer großen Sippe nicht zulassen, dass drei unschuldige Kinder darunter zu leiden haben, weil ihre Eltern sich gegenseitig beschuldigen, diese Kinder auf den Weg gebracht zu haben." Florymont wagte es, Antoinette zu unterstellen, sie wolle eine Gelegenheit nutzen, drei eindeutig auf bösartiges Zauberwerk zurückzuführende Kinder unter ständiger Beobachtung zu halten um zu erforschen, ob sie sich anders entwickelten als einvernehmlich gezeugte Kinder. Darauf bekam er von Antoinette zu hören: "Das war mir klar, dass du oder ein anderer von dieser Machenschaft betroffener mir und vielleicht noch anderen Heilern sowas unterstellt. Natürlich sind diese Kinder unter ganz anderen Voraussetzungen ins Leben gebracht worden. Ja, und wir Heilerinnen und Heiler forschen auch nach, wie sich deren Leben im Vergleich zum Leben anderer entfaltet. Aber ebenso liegt mir was daran, dass Verwandte von mir nicht leiden müssen, wenn ich das verhindern kann. Abgesehen davon erspare ich diesen drei Kindern ein permanentes Gezerre um sie. Denn das wirst du sicher mitbekommen haben, dass Uranie sie vollständig den Fontchamps vorenthalten will. Da ihr Nachbarn seid lässt es sich nicht vermeiden, dass die drei den Kindern der Fontchamps und auch ihrem eigenen Vater über den Weg laufen. So ist es nur eine Frage der Zeit, wann es zu wirklich unschönen Auseinandersetzungen kommen wird. Da Uranie auf ihr Entscheidungsrecht bezüglich der drei Kinder beharrt und ich ihr keine Umnachtung oder sonstige geistige Unfähigkeit attestieren kann habe ich ihr angeboten, bis auf weiteres in das Stammschloss der Eauvives umzuziehen. Sie überlegt es sich noch. Mehr war und ist nicht, Florymont."
"Ich nehme es zur Kenntnis", sagte Florymont Dusoleil mit gewissem Ingrimm. "Aber dann bitte ich dich, genauso wie ich jede Entscheidung meiner Schwester als getroffen und unbestreitbar anzuerkennen." Antoinette bejahte dies.
Uranie wollte nicht mitessen. Sie bat nur um genug zu Trinken für sich und die nötige Ruhe, um sich von der anstrengenden Drillingsgeburt zu erholen.
Am Nachmittag bimmelte die Rufglocke, die Julius wie jeder andere Pflegehelfer erhalten hatte. Béatrice hatte einen Einsatz in dem ihm zugeteilten Abschnitt. So verabschiedete er sich von den Dusoleils und bat darum, Uranie von ihm zu grüßen. Dann verließ er das Haus der Dusoleils, um von der Landewiese aus zu seinem neuen Einsatzziel zu apparieren.
Nach der Drillingsgeburt bei den Dusoleils und dem aufkommenden Geplänkel Uranies mit der Familie des Kindsvaters war die Zwillingsniederkunft im Haus der Familie Charpentier wie ein erholsamer Spaziergang, zumal er und Béatrice eine optimale, mit sehr wenigen Worten auskommende Abstimmung fanden, um den beiden Jungen Giscard und Gaston auf die Welt zu helfen.
"Und du darfst die beiden Strullmaxen nicht pullern lassen?" fragte Valeries und jetzt auch Giscards und Gastons Vater Julius. "Öhm, besser ist das, wo deine Schwägerin drei Häuser weiter demnächst vier neue Kinder bekommt", sagte Julius. Béatrice, die dabei stand nickte nur heftig. "Abgesehen davon weiß mein sehr eifriger und erprobter Assistent hier, dass ein Säugling auch dann schon Wasser lassen kann, wenn sein Vater noch nicht weiß, dass er auf die Welt gekommen ist. Wessen Kind durfte drei Wochen darauf warten, bis sein Vater von seiner Ankunft erfuhr, Julius?"
"Das war Oberon Peppermill, ein beauftragter des Zaubererrates des vereinigten Königreiches, der im Jahre 1802 zu den ersten europäischen Zauberern auf dem australischen Kontinent gehörte, zu einer Zeit, wo das Flohnetz nur regional einsetzbar war und der Postverkehr mittels Eulen Wochen dauerte, zumal für die Posteulen auf den Weltmeeren Landestellen geschaffen werden mussten, damit die Tiere nicht erschöpft abstürzten. Der erfuhr am zweiten Juni 1802 davon, dass seine in England gebliebene Ehefrau Griselda am zwölften Mai die gemeinsame Tochter Brooke geboren hat. Brooke Peppermill heiratete später den Besenentwickler Ian Hollingsworth, der zufälligerweise der Ururgroßvater von zwei sehr netten Klassenkameradinnen aus meinen ersten zwei Zauberschuljahren war", sagte Julius und lächelte, als er die Verwandtschaft zu den Hollingsworth-Zwillingen betonte. "Ja, und konnte Brooke Peppermill erst dann Pipi machen, als ihr Vater auf ihr Wohl getrunken hat?" fragte Béatrice ihren beigeordneten Pflegehelfer. "Davon hat meine Ersthelferausbilderin nichts erzählt", antwortete Julius.
"Öhm, hat die da dir ein ganzes Geschichtslexikon über Babys und Hebammen zu fressen gegeben?" fragte Dorfrat Charpentier und deutete auf Béatrice.
"Ganz vorsichtig", raunte Béatrice. Julius schenkte dem frischgebackenen Zwillingsvater sein strahlendstes Lächeln und antwortete: "Das hatte Mademoiselle Latierre nicht nötig, weil zum einen Hera Matine meine Ausbilderin war, Madame Rossignol mich in ihrer Pflegehelfertruppe arbeiten ließ, in der ich selbst drei Geburten mitverfolgen durfte, und weil Madame Antoinette Eauvive eine entfernte Verwandte von mir ist lag und liegt ihr auch viel daran, dass ich meine Ersthelferkenntnisse aufrechterhalte und falls möglich oder nötig verbessere." Dem konnte Monsieur Charpentier nichts entgegenhalten.
Auf dem Rückflug von der Südseite des Farbensees zur Westseite probierte Béatrice mit Julius als Sozius einige schnelle Flugmanöver aus, um die hochwertige Bezauberung gegen Fliehkraft und Beharrungskraft zu testen. Bei einer engen Kurve bei geschätzt 400 Stundenkilometer meinte Julius nur, sacht in die Kurve gedrückt zu werden, ohne ganz zur Seite wegzukippen. Außerdem flog Béatrice mit ihm ein vollkommenes V aus, indem sie den Besen in einen sehr steilen Winkel nach unten trieb und ganz knapp über der Wasseroberfläche des Sees in genau dem gleichen Winkel wieder nach oben hinaufjagte. "Dabei hätte es jedem nicht mit diesem Innerttralisatus-Zauber gesicherten Flieger voll das Blut erst in den Kopf und dann voll in die Beine getrieben", bemerkte Julius, als Béatrice den steilen Aufstieg in knapp 200 Metern über dem See beendete.
"Ich habe auch mal Auroras Doppelachsenmanöver mit diesem Besen ausprobiert. Bei größerer Auslenkung kannst du damit mal eben in einer Sekunde fünfzig Meter quer zur bisherigen Flugbahn abweichen, das ist schon die halbe Breite eines Quidditchfeldes. Wenn du gar senkrecht nach unten doppelachserst borhst du dich von der üblichen Spielhöhe aus in einer halben Sekunde in den Boden. Selbst wenn dieser Besen einen Aufprallschutz in der Spitze hat kämst du noch mit einer hohen Geschwindigkeit auf. Deshalb ist dieser Besen eben nicht als Quidditchbesen zugelassen."
"Genausowenig wie ein Formel-I-Rennwagen für Hockey oder Korbball", sagte Julius.
Wieder zurück im Apfelhaus trafen sie Millie, Sandrine und Belisama, die zusammen mit Aurore, Chrysope, Estelle und Roger auf das Wohl der ganzen heute angekommenen Kinder tranken. Dabei tranken sie natürlich keinen Alkohol, sondern Kirschbananen-Limonade oder Traubensaft. Béatrice und Julius schlossen sich dieser spontanen Feier an. Zwar galt, dass sie nicht über die Gespräche oder sonstigen privaten Einzelheiten der betreuten Hexen sprachen. Doch Julius konnte nicht ganz verschweigen, dass er sich wegen Uranie und ihren drei unehelichen Kindern Gedanken machte. "Also, gut dass Camille keinen Knut für jede Zeitung kriegt, in der das Wort Frühlingskinder geschrieben wird. Dann müsste Gilbert wohl Zahlungsunfähigkeit anmelden", meinte Millie einmal. Béatrice sagte dazu: "Dabei können die alle hier jeden Knut wirklich gebrauchen. Aber ich glaube, wir sollten jetzt alle schlafen gehen. Wer weiß, wie kurz die Nacht wird. Nicht, dass wir noch Wachhaltetrank schlucken müssen", sagte Béatrice. So sammelte Sandrine ihre beiden Kinder ein und verließ mit Belisama das Apfelhaus.
"Ich habe das natürlich gespürt, dass du was auf dem Herzen hast, Julius", meinte Millie, als sie mit ihm im gemeinsamen Bett lag und die Schnarchfängervorhänge zugezogen waren. "Ist was mit Uranies Kleinen passiert, dass du nicht verraten durftest?"
"Die Kleinen sind alle ohne Probleem angekommen. Der ganz kleine hat sogar nur eine Minute gebraucht, Dank vorsorglicher Behandlung mit Dehnbarkeitslösung. Uranie hat nur für das Protokoll erklärt, dass sie ihre Kinder nicht mit den Fontchamps zusammenkommen lassen will." Millie hörte zu und ließ sich von ihm erklären, was er mitbekommen hatte. Denn Millie ging es ja auch etwas an.
"Das ist das, was Sandrine meinte, bevor Tante Trice und du von den Charpentiers zurückkamt. Diese VM-Banditen fuhrwerken mal eben in die Leben anderer Leute hinein, weil sie nicht daran denken wollen, dass Kinder mehr sind als irgendwelche unbedingt hinzukriegenden Sachen, sondern fühlende Wesen, die ihre Umgebung mitbekommen aber auch darauf einwirken. Ich hätte sicher keine drei Kinder von dir bekommen, wenn ich nicht von vorne herein mit dir abgeklärt hätte, dass du und ich sie auch gemeinsam großziehen. Was hast du mal über diese Sarja und Grindelwald gesagt, jeder Pimpf kann eine ohnmächtige Frau beschlafen und schwängern. Sowas ähnliches ist hier in Millemerveilles gelaufen, und die Hexen, die deshalb schwanger wurden ärgern sich, dass sie derartig ausgenutzt wurden, und die Zauberer, die ohne es zu wollen Vater wurden ärgern sich, dass sie nur wie Zuchtbullen gehalten wurden. Gut, jetzt hat Bernard Fontchamp klar angesagt, dass er Tante Uranie nicht heiraten will. Damit hat er sich aber auch für seine drei Kinder quasi auf den Müll geworfen. Klar dass die Matriarchin der Eauvive da sehr angespannt ist. Wer hat die eigentlich zu euch hingerufen, wo Jeanne und du voll mit der Geburt beschäftigt wart?""
"Camille über das Bild von Gründungsmutter Viviane", sagte Julius beiläufig klingend. Millie knurrte nur: "rrg, hätte ich drauf kommen müssen."
Hera Matine besuchte die Latierres am Mittag des 25. März, um ihnen für das bisherige Durchhaltevermögen und die Hilfe zu danken. Dabei traf sie auch Laurentine Hellersdorf, die sichtlich geschafft aussah und versuchte, sich mit starkem Kaffee wieder fit zu bekommen. Auf Heras Frage, ob es Laurentine nicht gut gehe erwiderte die junge Lehrerin: "Ich merke jetzt erst, wie heftig es ist, für Kolleginnen mit einzuspringen und erst einmal immer den gerade anstehenden Lehrstoff in meine Erinnerungen zu rufen. Ich will mich um Himmels Willennicht beschweren. Aber die Kinder, die jetzt alles kleine Geschwister haben oder noch dazukriegen sind noch nervöser als deren Väter. Bei den Jungs wächst sich das leicht zu gegenseitigen Aggressionen aus. Ich weiß jetzt zumindest, warum in der magielosen Welt Lehrer ein Studienfach ist und Erziehungswissenschaft und Konfliktbewältigung ein wichtiger Teil davon sind."
"Öhm, und du fürchtest, den erhöhten Anforderungen nicht gewachsen zu sein?" wollte Hera wissen. Laurentine überlegte wohl, ob sie eine ehrliche Antwort oder eine beschwichtigende Antwort geben sollte. Hera sah die Jahrgangskameradin von Julius und Millie sehr streng an und sagte: "Ich meine diese Frage sehr ernst. Bitte respektiere das und beantworte sie mir bitte auch ehrlich. Ich bin nicht Geneviève Dumas." Der letzte Satz brachte Laurentine zum lächeln. Dann nickte sie und sagte: "Sagen wir es so, die geben uns nichtschwangeren Kollegen die Zusatzbezahlung nicht für's Ringelreinspielen. Obwohl, ich habe mit denen aus Madame Bleulacs Klasse, wo auch Claudine ist, einmal Laurentia durch alle sieben Wochentage durchgespielt. Das hat die zumindest mal für fünf Minuten weniger wuseln lassen. Dann konnte ich auch mit den Leseübungen weitermachen. Kanntet ihr eigentlich schon das Konditorenalphabet?"
"Das was bitte?" fragte Hera grinsend. Julius und Millie grinsten auch. Laurentine erwähnte, dass die kleine Élise Chaudfeu das von ihrem Vater, dem Kuchenbäcker, gelernt hatte, A wie Apfelkuchen, B wie Bananencremetorte, C wie Créme Caramell bis Z wie Zwetschgenschnitte. "Claudine fand das lustig, auch wenn sie wie du, Julius und ich, die Buchstabierübungen aus der Sesamstraße kennt. Ich habe das Alphabet mit kleinen Beispielen an die Tafel geschrieben und für den Kollegen Montrieu stehen lassen, der nach mir mit den zweit- und Drittklässlern Französisch für Grundschüler machte. Der hat mich dann in der großen Pause gefragt, woher ich das denn hätte, und ich hab's ihm gesagt. Das fand er schon interessant genug, dass er sich dieses Alphabet aufgeschrieben hat und meinte, mit den von ihm zeitgleich betreuten Klassen demnächst mal zu gucken, wie weit sie mit dem Alphabet durchkommen."
"Ich weiß, Eric Montrieu ist ein Zuckermündchen", erwiderte Hera und erinnerte sich, dass sie den heutigen Lehrer vor dreißig Jahren auf die Welt geholt hatte und ihm und seinen Eltern auch immer mal wieder ins Gewissen reden musste, weil er mehr Süßkram aß als frisches Obst oder Gemüse. Doch das erwähnte sie nicht, wegen der Heilervertraulichkeit. Dann sagte Laurentine: "Ich habe das übrigens mit Geneviève Dumas ausgehandelt, dass ich nach der Wochenbettphase von den Kolleginnen mal für drei Wochen Urlaub nehmen darf. Ich möchte gerne mal wieder zu meiner Oma nach Kalifornien. Sie möchte ihren fünfundsechzigsten Geburtstag feiern und hätte da gerne alle bei, die ihr lieb und wichtig sind, vor allem wo mein Großvater Henri ja nicht mehr mitfeiern kann."
"Achso, und das kannst du nicht in den Sommerferien", sagte Hera Matine. Laurentine verneinte es. "Meine Oma hat am 30. Mai Geburtstag. Den möchte sie nach Möglichkeit nicht verschieben. Zumindest konnte ich ihr erklären, dass ich für drei Kolleginnen mitunterrichte, die gerade schwanger sind oder gerade erst Nachwuchs bekommen haben."
"Natürlich", erwiderte Hera. Dann bimmelte ihre goldene Rufglocke. "Ich muss zur nächsten Geburt", erwähnte sie, bedankte sich bei Millie und Julius für Mineralwasser und das vielfältig belegte Baguette und disapparierte dann von der Landewiese der Latierres aus.
Nachdem sie Estelle-Virginie Dujardin von ihren drei jüngsten Söhnen entbundenhatte kehrte sie in ihr eigenes Haus zurück, das zugleich ihre Praxis war. Hier trug sie alle ihr zugegangenen Geburtsmitteilungen in das Register ein. Das war ja auch ihre Aufgabe, die Buchführung über die in Millemerveilles lebenden Hexen und Zauberer, besonders die Kinder. Zumindest musste sie heute keinen Sterbefall notieren.
Als sie nach der praktischen Arbeit und der unerbittlichen Bürokratie eine sehr nötige Verschnaufpause nehmen konnte dachte sie wieder an das, was sie nach Roberta Sevenrocks Meldung überlegt hatte. Wenn Laurentine ernsthaft im Mai zu ihrer Großmutter reisen wollte, sollte sie zumindest vorher wissen, dass da eine machtsüchtige Dunkelhexe war, die zu gerne starke und kundige Hexen in ihre Reihe eingliedern wollte, ob mit Überzeugung oder formen magischer Gewalt. Irgendwie fühlte sie sich für Laurentine mitverantwortlich, obwohl sie nicht in Millemerveilles wohnte. Immerhin hatte diese nach den Wirrungen ihrer Ausbildung einen sehr wichtigen Beruf ergriffen, der auch ihren kleinen Schützlingen zu gute kam. Damit begründete sie ihr Verantwortungsgefühl. Doch was die Schwestern einander mitteilten durfte nicht nach außen dringen, falls die besagten Schwestern keine andere Quelle auftun konnten, aus der sie ihr Wissen bezogen. Welche Quelle konnte sie anführen. Dann fiel ihr was ein, was sie anbringen konnte: Bedenken wegen Vita Magica und dass diese Vereinigung seit neuestem eine erbitterte Feindin hatte. Denn sie ging sehr stark davon aus, dass Ladonna genauso wie die Spinnenhexe oder die Ungeduldigen es Vita Magica nicht durchgehen lassen würden, Hexen zu reinen Zuchthennen zu degradieren. Ja, damit konnte sie wohl argumentieren. Sie musste nicht erwähnen, wie weit Ladonnas Machtstreben schon gediehen war. Doch heute wollte sie das nicht mehr machen.
Mater Vicesima Secunda knallte die tagesaktuelle Ausgabe der Temps de Liberté auf den Tisch. Eine ihrer französischen Mitstreiterinnen schickte ihr jeden Tag die neue Ausgabe, seitdem in dieser Zeitung über die vielen Geburten in Millemerveilles geschrieben wurde. Doch einmal mehr hatte sich die von den Bürgerinnen und Bürgern als Dorfberichterstatterin anerkannte Mildrid Latierre nicht darauf eingelassen, die Namen der neuen Kinder und deren Eltern zu benennen. Heute hatte sie noch einmal unter den Artikel: "Weiterer Zuwachs für Millemerveilles" geschrieben, dass sie mit den Eltern und dem Dorfrat die Übereinkunft getroffen habe, die Namen der Kinder nicht zu erwähnen, um sie nicht schon weit vor der Einschulung in Beauxbatons als "eigentlich ungewollte Vita-Magica-Kinder" abzustempeln.
Solange die schon geborenen und noch dazukommenden Kinder den Schutz von Millemerveilles allein erhalten werden weder die Temps de Liberté noch der Miroir Magique irgendwelche Namen im Zusammenhang mit dem vom Dorfrat Millemerveilles' als "schweres Verbrechen an körperlicher und seelischer Freiheit der Bewohner" bezeichneten Tat der sich selbst Vita Magica nennenden Untergrundvereinigung nennen. Allerdings haben sowohl die Behörde für magische Familienfürsorge, Ausbildung und Studien, sowie die Schulleiterin von Beauxbatons klargestellt, dass ihnen nicht daran gelegen ist, die Angehörigen der magischen Welt wegen einer auf gezielte Fortpflanzung unter Missachtung der Rechte am eigenen Körper von Zauberern und vor allem Hexen in Gruppen zu teilen. Vielmehr erinnert der Leiter der Behörde für Familienfürsorge, Ausbildung und Studien daran, dass nicht nur das französische Zaubereiministerium die Mitglieder von Vita Magica rechtlich und geldlich für die von ihnen begangenen oder in stiller Zustimmung ermöglichten Taten zur Verantwortung ziehen wird. "Wir haben zeit", so Bildungsbehördenleiter Cicero Descartes. "Ob das auch für jene gilt, die sich Vita Magica nennen weiß ich nicht, hoffe jedoch, dass ihre Mitglieder bald merken werden, dass sie nicht über Leben und Tod in der Zaubererwelt zu gebieten haben. An diesem Hochmut sind bereits andere Hexen und Zauberer gescheitert." Monsieur Descartes weiß sicher genau, wovon er spricht, da er im Jahr von Didiers und Pétains Angstherrschaft einer der Leidtragenden war.
"Freches Mädchen", knurrte Véronique, die sich Mater Vicesima Secunda nennen lassen durfte, weil sie in ihrem durch einen Rückverjüngungszauber schon sehr langem Leben 22 gesunde Kinder geboren und 20 davon zu erwachsenen Hexenund Zauberern großgezogen hatte.
"Na, was schreibt die Dorfheroldin von Millemerveilles?" fragte Perdy. Véronique gab ihm den Artikel zu lesen. Er grinste. "Das Wissen von Namen ist Macht, wissen wir doch. Ihn nicht zu verraten ist auch eine Form von Macht. Aber was sie hier erwähnt beziehungsweise diesen Cicero Descartes zitiert ist schon beunruhigend. Unsere Außeneinsatzagenten geraten immer mehr in die Enge, vor jetzt in Italien, weil dieses Mörderweib Ladonna immer mehr willige Zuträger und Handlanger bekommt. Die macht das so ähnlich wie wir, nicht mit lautem Krach und bedrohlichem Getöse, sondern heimliche Auswahl, Zwangsverpflichtung oder Gefälligkeiten. Kann mir vorstellen, dass die ihre Hybridfähigkeiten so einsetzt wie eine dieser Abgrundstöchter, um weitere in jeder Hinsicht willige Mitstreiter zu kriegen." Dem konnte Mater Vicesima Secunda nicht widersprechen.
Julius war froh, dass er die Vertretungsstunden für Madame Bleulac um zwölf Uhr beenden konnte. Er hörte davon, dass Sandrine und Aysha bei zwei Geburten assistierten und dass die Schwägerin von Heiler Delourdes gerade in den Wehen lag.
Millie hatte den Vormittag genutzt, die bisherigen Geburtsmeldungen zusammenzufassen, um daraus einen Abschlussartikel zu schreiben, wenn sämtliche ungeplanten Kinder auf der Welt waren. Dennoch hatte sie auch Zeit gehabt, für sich und ihre anderen Hausbewohner was leckeres zu kochen.
Béatrice freute sich auch, dass sie nach der Drillingsgeburt vom Morgen eine Stärkung und eine gewisse Ruhepause haben konnte.
Um halb zwei bimmelten bei den drei eingeplanten Geburtshilfebeauftragten des Apfelhauses die Rufglocken. Adele Lagranges Wehenwarnband hatte das von den Thaumaturgen und Heilern eingerichtete System alarmiert.
"Ich prüfe mal, ob Hera schon frei ist", sagte Béatrice und nahm die für sie gemachte goldene Glocke und beendete deren Läuten. Dann rief sie hinein: "Verfügbare Hebammen?!" Zur Antwort erschienen auf der Glocke nur zwei Namen: Laporte, Anne und Latierre, Béatrice. In dem Moment verschwand der Schriftzug "Laporte, Anne" auch schon.
"Wo ist Anne Laporte?" fragte Béatrice noch einmal in die goldene Glocke hinein. Zur Antwort erschien der Schriftzug "Mme. Duchamp, Renée" auf der Außenseite. "Oha, Madame Duchamp erwartet fünf Kinder. Dann müssen wir halt zu Adele Lagrange, Julius. Millie, du bleibst bitte hier auf Abruf!" sagte Béatrice und bedeutete Julius, seine Sachen zu apportieren. Als er die ihm geschenkte Geburtshilfeausrüstung ohne Umweg über die zehn Meter innerhalb des Apfelhauses vor sich verstofflicht hatte bot ihm Béatrice ihren linken Arm. Er griff schnell aber behutsam genug zu, hielt sich fest und wünschte sich so stark er konnte, genau da zu sein, wo Béatrice sein wollte. Keine Sekunde später knallte es, und Millie war mit den Kindern allein im Haus.
Die beiden apparierten unmittelbar auf der hauseigenen Landewiese. Adeles Mann sah aus dem Fenster und nickte heftig. "Sammie, Julius ist mit seiner Tante da!" hörten sie ihn rufen. Darauf kam Belisamas Antwort: "Gut, hauptsache eine Heilerin."
Keine fünf Sekunden später flog die Haustür förmlich auf, jedoch ohne das wer sie mit Händen aus Fleisch und Blut geöffnet hätte. Béatrice deutete das als dringende Aufforderung, das Lagrange-Haus zu betreten.
"Ah, da seid ihr ja. Ging doch ganz schnell. Ich fürchte, bei meiner Adele geht es schon zu früh los, ich meine, nachher fallen die Kinder aus ihr raus und verletzen sie und sich", begrüßte sie Monsieur Lagrange sehr hektisch.
"Dann wollen wir uns auch beeilen", sagte Béatrice und winkte Julius an sich vorbei. Der warf dem sichtlich aufgeregten und erbleichten werdenden Drillingsvater einen mitfühlenden Blick zu..
Bélisama hatte sich und ihre Tante bereits mit Keimbannlösung vorbereitet und die Gebärende zunächst in einen Sessel gesetzt, der mit vielen blitzsauberen Handtüchern bezogen war. Béatrice beschwor einen ordentlichen Gebärstuhl herauf und sorgte dafür, dass Julius und sie ebenfalls keimfreie Arme und Hände hatten.
Anders als Belisamas Onkel befürchtet hatte dauerte es jedoch noch eine gute Stunde, bis das erste von drei Kindern auf der Welt war, Béatrice hatte den beiden Pflegehelfern nur wenige Anweisungen geben müssen, weil sie ja schon seit mehr als einer Woche eine gewisse Routine hatten und Belisama sowohl einmal Hera als auch Anne Laporte geholfen hatte. Adele hatte darauf bestanden, der ersten Tochter den Namen von Belisamas Mutter als zweiten Namen zu geben. Genauso hielt sie es, als zehn Minuten nach ihrer großen Drillingsschwester auch Michelle Martha geboren wurde. Der dritte Neuankömmling im Hause der Lagranges ließ sich zwanzig Minuten Zeit, bis auch er, André Augustin, vollständig ans Licht der Welt gelangte. Julius erfuhr von Bélisama, dass André der Name ihres Großonkels und Augustin der Name ihres Vaters war, also der von Adeles Bruder.
Als auch die Nachgeburt überstanden war durfte Adele mit den drei Neugeborenen alleine bleiben.
"Dann können Seraphine und Elisa auch herkommen?" wollte der ganz junge Drillingsvater wissen. Béatrice erlaubte es. "Und du darfst ja leider nichts anständiges trinken, um auf die drei Neuen anzustoßen", sagte Monsieur Vespasian Lagrange zu Julius. Dieser antwortete: "Ob Wein und Met wirklich anständig sind weiß ich nicht, halte aber Fruchtsaft und Fruchtsaftmischgetränke nicht für unanständig." Béatrice lächelte darüber und meinte: "Ich denke, dass die drei Neuen schon rauskriegen, wie sie nicht mehr benötigtes Wasser loswerden können, ohne dass eine wehrlose Weinflasche geköpft oder ein widerstandsunfähiges Metfass angestochen wird."
"So wie du das sagst klingt es aber sehr brutal", knurrte Vespasian Lagrange. "Wiso? Ich habe mich doch gastronomisch korrekt ausgedrückt", entgegnete Béatrice und sah Julius an. Der nickte bestätigend.
"Monju, werde gerade angebimmelt. Bringe die drei zu Oma Line rüber und bin dann bei den Chaudfeus", hörte Julius Milies Gedankenstimme in seinem Geist. Er sah Béatrice an und sagte: "Bei Monique Chaudfeu geht's wohl auch los."
"Gib Millie weiter, ich bin gleich bei ihr." Laut sagte sie für den langsam erst wieder zur Ruhe findenden Drillingsvater: "Vespasian, ich muss gleich zur Nächsten, die mich auch extra als Heilerin gewählt hat. Falls noch was ist schick mir und/oder Hera eine Eule! Ich wünsche euch auf jeden Fall mehr Freude als Verdruss mit den drei Neuen."
Julius fragte, ob er noch gebraucht würde. Belisama bat darum, solange er nicht auch noch zu wem anderen hin müsse, die nächste Stunde bei ihr und ihrer Tante zu bleiben. Aus der einen wurden zwei Stunden, wobei Julius mit Vespasian auf die beiden jüngsten Töchter und den ersten Sohn anstoßen konnte. "Tja, wäre der kleine André Augustin schon vor fünf Jahren angekommen hätte Seraphine wohl den Nachnamen ihres Mannes annehmen müssen", grinste Vespasian, der im Gegensatz zu Julius dem edlen Honigwein zusprach.
Als Julius ohne zu hektisch oder gar unhöflich zu erscheinen von den Lagranges wegkam fand er sein Haus verlassen vor. Da er die ausdrückliche Anweisung der residenten Heilerin Hera Matine hatte, nicht mehr vor der letzten anstehenden Niederkunft länger als fünf Minuten aus Millemerveilles fort zu sein vertrieb er sich die Zeit im Musikzimmer und übte ein paar fröhliche Kinderlieder zur Geburt neuer Geschwister, die auch von der beliebten Musikhexe Hecate Leviata bearbeitet worden waren. Vielleicht gab es ja nach der Ankunft aller Frühlingskinder eine größere Feier, wo jeder, der oder die Musik machen konnte, was zu beitragen durfte. Deshalb probierte er sowohl die Sopran- als auch die Altstimmen verschiedener Lieder nachzuspielen. Damit verging die Zeit genauso schnell wie bei der Arbeit am Rechner, erkannte Julius, als er um sieben Uhr den charakteristischen Knall eines seit an Seit apparierenden paares hörte. "Hallo, noch wer zu Hause?!" rief Millie mit hörbarer Stimme. Julius öffnete die Musikzimmertür und rief: "Ja, bin schon oder wieder oder noch zu Hause!"
Sichtlich geschafft von einer weiteren Drillingsniederkunft freute sich Béatrice auf das im Conservatempus-Schrank aufbewahrte Abendessen. Julius durfte die drei Mädchen aus dem Sonnenblumenschloss abholen. Dabei durfte er seiner Schwiegergroßmutter erzählen, dass auch die Lagranges von Millemerveilles den dreifachen Zuwachs begrüßen konnten.
Nach dem Abendessen beteiligten sich Béatrice und Millie an den Musikübungen, bis sie um zehn Uhr müde genug waren, um bis zum Morgen oder bis zum Läuten der Rufglocken durchzuschlafen.
Julius musste sich sehr beherrschen, nicht zurückzuschrecken, als er die sichtlich angeschwollene Eleonore Delamontagne ansah, vor der bereits Hera Matine bereitsaß. Die Dorfrätin von Millemerveilles war immer schon sehr füllig gewesen. Doch die Schwangerschaft mit drei Kindern hatte sie in den letzten Wochen noch einmal sichtlich zunehmen lassen, dass sie sich trotz ihrer häufigen Gymnastikübungen nur noch innerhalb ihres Hauses bewegen konnte. Doch weil Julius erstens schon genug Erfahrung als Geburtshelfer hatte und zweitens weitaus ungeheuerlichere Sachen und Wesen zu sehen bekommen hatte überwand er seine Erschütterung ob der überzuquellen scheinenden Hexe.
"Das hättest du wohl damals nicht für möglich gehalten, dass du mir einmal bei einer Geburt beistehen würdest", ächzte Eleonore, während sie mit Heras' und Julius' Hilfe auf den Gebärstuhl überwechselte. Julius erwiderte darauf: "Als wir uns zum ersten mal begegnet sind habe ich so vieles für nicht möglich gehalten, was heute Wirklichkeit ist, Eleonore", sagte er und ließ es zu, dass sie ihn mit einem Arm umfing und kurz an sich zog.
Mit der mittlerweile eingespielten Handlungsroutine und seiner Selbstbeherrschungsformel schaffte es Julius, seiner Pflegehelferausbilderin beizustehen, um Sophie Oleande, Paul Roger und Phoebus Louis auf die Welt zu helfen. Alle drei Kinder hatten bereits dichtes, strohblondes Haar und waren trotzdem sie sich ein und denselben Mutterleib hatten teilen müssen mit zwischen 3400 und 3897 Gramm Geburtsgewicht nicht leichter als Einzelngeborene. "So, Eleonore, wie wir das schon besprochen haben erholst du dich in den nächsten vier Wochen von alle dem, auch wenn du meinst, dass du körperlich wieder ganz gut zurechtkommst. Diesmal gibt es keine Ausnahmen", stellte Hera klar und legte der gerade von drei Kindern entbundenen Hexe ein goldenes Armband um. "Das ist nicht dein Ernst, Hera", schnaufte Eleonore Delamontagne, als sie die beiden ersten Drillinge schon bei sich trinken ließ und der kleine Phoebus noch auf ihrem angeschwollenen Bauch lag und quängelte, weil er noch nicht saugen durfte. "Doch, Eleonore, das ist mein vollster Ernst und eine Frage der Heilerinnenehre", sagte die residente Hebammenhexe von Millemerveilles. "Du hast in den letzten sechs Wochen so heftig zugenommen, dass du schon bald doppelt so viel wiegst wie vor der Schwangerschaft. Und das soll was heißen." Julius war sich sicher, dass wenn er sowas behauptet hätte sicher einen heftigen Anpfiff von Eleonore Delamontagne kassiert hätte. Doch wenn Hera sowas sagte gab es keinen Widerspruch, auch nicht für eine macht- und selbstbewusste Dorfratshexe.
"Öhm, klapt das mit dem Schwebesessel, den Florymont für dich gebaut hat, Eleonore?" wollte Julius wissen.
"Notfalls übersteht unsere Patientin die Wochenbettphase ähnlich der bis heute ausgetragenen Kinder in einem ständig auf Körpertemperatur gehaltenen Wasserbad, um vor allem die Lungen zu schonen. Ohne den Wachhaltetrank und den Frischluftaufnahme-Verstärkungstrank wäre sie uns unter der Geburt sicher ohnmächtig geworden", erwiderte Hera.
"Hera, du überschreitest deine Befugnisse. Außerdem bin ich immer noch anwesend und kein unmündiges Kind, das es gewohnt ist, dass wer über es statt mit ihm spricht. Und Julius, der große Schwebesessel erleichtert mir doch einiges, im wahrsten Sinne des Wortes. Und ich verlange von dir, Hera, dass du mir dieses Ortsverharrungsband sofort wieder abnimmst.""
"Nicht vor dem ersten Mai, Eleonore", erwiderte Hera. Julius wusste nicht, ob und wie er darauf antworten durfte. Ein Ortsverharrungsband hielt den, der es trug, im Umkreis von hundert Metern zu einem im Boden vergrabenen Ankergegenstand und blockierte auch das Apparieren wie ein fünffach auf einen Zauberkundigen gelegter Antidisapparierfluch.
"Gut, dann wird der Dorfrat eben in unserem Haus zusammentreten, sofern die weiblichen Mitglieder nicht auch von deiner übergroßen Fürsorge an ihre eigenen Häuser gekettet wurden", knurrte Eleonore Delamontagne und versuchte, möglichst flach zu atmen, um die Drillinge nicht von ihrem Bauch herabrutschen zu lassen.
"Soll ich Virginie und deinen Eltern und Schwiegereltern eine Eule schicken?" fragte Julius. Eleonore sah ihn an und rang sich ein Lächeln ab. "Musst du nicht. Edouard hat meine Eltern sicher schon über die drei Familienporträts informiert, die wir haben. Bilderverbindungen sind schon sehr praktisch."
Wie zur Bestätigung läutete die Türglocke. Hera hielt Julius davon ab, zur Haustür zu laufen. "Nicht dein Haus", mentiloquierte sie ihm. Er hörte, dass Oleande Champverd gekommen war und begrüßte die nun auf einen Schlag sechsfache Großmutter und Kräuterkundeexpertin. Als Oleande das goldene Armband um Eleonores linkem Handgelenk sah meinte sie: "Halten Sie diese Maßnahme wirklich für erforderlich, Madame Matine?"
"Nach allen Erfahrungen mit Ihrer Tochter und anderen Arbeitswütigen Hexenmüttern und vor allem der schwangerschaftsbedingten Gewichtszunahme wegen kam ich nicht umhin, diese heilmagisch berechtigte Anwendung zu verordnen und auszuführen, Madame Champverd", erwiderte Hera Matine. Darauf schnaubte Eleonore: "Ich bin immer noch im Raum, die werten Damen. Also, hera, du nimmst mir dieses Armband wieder ab oder ich werde nach Ablauf der von dir verhängten ortsbeschränkung für jeden Tag der Fesselung Schadensersatz einklagen."
"Norie, nicht so heftig", zischte ihre Mutter. Eleonore lief rot an, ob vor Verlegenheit, mit ihrem Kosenamen angesprochen zu werden oder vor Wut wusste Julius nicht. Hera nutzte die Atempause der gerade Drillingsmutter gewordenen um laut genug für alle mitschreibenden Federn zu verkünden: "Hiermit bestätige ich, Hera Diane Matine, seit 1972 von der französischen Zunft magischer Heilerinnen und Heiler mit der Niederlassung Millemerveilles betraut, dass ich auf Grund einer überaus hohen Gewichtszunahme bei Madame Eleonore Delaomontagne am 29. März 2004 verordnet habe, sie bis zum 1. Mai desselben Jahres durch Anbringung eines Ortsverharrungsarmbandes nach Bleumont und Champverd zum Verbleib im eigenen Hause zu veranlassen, wo sie sich von der großen Anstrengung der Schwangerschaft mit gleich drei Kindern und der ebenso anstrengenden Niederkunft zu erholen und jede körperlich wie geistig belastende Tätigkeit zu unterlassen hat, einschließlich der Teilnahme an Sitzungen des Dorfrates von Millemerveilles. Ich begründe diese Maßnahme mit dem Kindeswohlparagraphen der allgemeinen Heilerstatuten, demnach eine Hexe während der Schwangerschaft und Stillzeit keine das Kindeswohl gefährdenden Handlungen ausführen und/oder berauschende oder anders den Körper betreffende Genussmittel zu sich nehmen darf und ihren Körper möglichst nicht belasten darf, bis die durch Schwangerschaft und Niederkunft entstandenen Beeinträchtigungen überwunden sind."
"Damit kommst du mit keiner Klage mehr durch. Die Heilerstatuten werden vor dem französischen Zaubergamot als verbindlich geltender Grundsatz der Gesunderhaltung von Kindern unterhalb von einem Lebensjahr anerkannt", grummelte Oleande Champverd.
"Sag mal, Maman, hat sie da gerade unseren Familiennamen als Urheber für dieses Ding hier genannt?" wollte Eleonore Delamontagne wissen. Offenbar konnte sie gerade nicht mentiloquieren. Ihre Mutter nickte und erwähnte, dass dieses Ortsverharrungsarmband und das damit verbundene Ankerartefakt von ihrem Großvater Väterlicherseits erfunden worden war, der damals als Heiler und Thaumaturg gearbeitet hatte. Hera nickte bestätigend. Julius hörte nur zu und beschloss, sich doch mal intensiv mit thaumaturgischen Erfindungen der Heilerzunft zu befassen, wo er die Heiltränke schon ziemlich gut gelernt hatte.
"Dann darf er jetzt wohl amüsiert grinsen, wo immer er sich aufhält", erwiderte Eleonore.
"Wann kann der kleine da auch was trinken?" wollte Oleande wissen. Ihre Tochter verzog zwar erst das Gesicht, erkannte aber, dass sie ja drei Kinder bekommen hatte. So wwartete sie noch einige Minuten, während der kleine Phoebus Louis seinen Unmut über die Vernachlässigung in den Salon der Delamontagnes hinausschrie. Doch endlich durfte auch er seinen ersten Hunger stillen. Julius durfte seine Schreibe-Feder wieder mitnehmen und wurde von Hera mit Dank für seine Hilfe verabschiedet.
Wieder im Apfelhaus berichtete er seiner Schwiegertante und seiner Frau, was geschehen war. "Warum soll es dieser gestrengen Dorfrätin nicht besser gehen als meiner eigenen Mutter", warf Béatrice ein. "Nur der musste ich das goldene Armband nur zeigen, um zu klären, dass ich sie notfalls damit an das Schloss, ja vielleicht sogar an ihr eigenes Schlafzimmer binde. Denn das Ortsverharrungsarmband kann vom es anwendenden Heilkundigen auch auf weniger als hundert Meter Umkreis eingestimmt werden. Ich gehe sogar davon aus, dass die Kollegin Matine das auch genauso eingerichtet hat. Sie kennt ihre Nachbarin ja schon lange genug."
"Aber schon heftig, einen so an einem Ort festzuhalten wie mit einem Locattractus-Zauber", grummelte Millie. "Ja, aber wie du ganz genau weißt wird einer Mutter vor und nach der Geburt ihres Kindes ein Großteil der Eigenverantwortlichkeit abgesprochen, weil das Kindeswohl Vorrang hat. Du darfst ja auch keine gefährlichen Sachen machen, solange Clarimonde bei dir trinken darf." Millie", belehrte Béatrice ihre Nichte. Diese nickte verdrossen. Julius zog es vor, lieber nichts dazu zu äußern. Er war nur froh, dass er hatte mithelfen können, dass Eleonore ihre drei Kinder wohlbehalten auf die Welt gebracht hatte.
Am Abend dieses Tages landete Virginie Rochfort geborene Delamontagne mit ihrem Ganymed 9 vor dem Apfelhaus und rief einen der Auslösesätze für den Türmeldezauber. Julius freute sich, die ehemalige Schulkameradin aus dem Grünen Saal nach mehreren Monaten wiederzusehen und ließ es sich gefallen, dass sie ihn innig umarmte und statt der zwei üblichen gleich vier Wangenküsse aufdrückte. "Danke, dass du meiner Mutter geholfen hast. Es ist ja für sie doch nicht so leicht, mit drei Kindern auf einmal zurechtzukommen", sagte Virginie. Dann begrüßte sie Aurore, die wissen wollte, wer gekommen war. "Ginnienie!" rief sie. Virginie strahlte die rotblonde Kronprinzessin der Latierres an und fing sie auf, als diese sich ihr entgegenwarf.
"Wolltest du auf deine drei neuen Geschwister anstoßen, Virginie?" fragte Millie, die mit Chrysope an der Hand die Treppe herunterkam.
"Bedanken wollte ich mich auf jeden Fall, weil ihr ja beide keine berufstätigen Heiler seid und euch diesen ganzen Wahnsinn freiwillig aufgeladen habt."
"Na ja, halbfreiwillig", sagte Julius. "Hera hätte mit deiner Mutter zusammen sicher unser Bürgerrecht hier in Frage gestellt, wenn wir beide als Pflegehelfer die ganz ruhige Kugel geschoben, öhm, uns auf Jeannes fliegendem Teppich langgestreckt und alles von weit oben betrachtet hätten."
"Ich kenne Hera und auch meine Mutter. Was die beschließen und verkünden gilt. Aber trotzdem ist es für mich keine Selbstverständlichkeit, dass du meiner Mutter geholfen hast. Als ich sie vor drei Stunden zum ersten mal nach der Geburt sah habe ich echt gefürchtet, dass sie unter ihrem eigenen Gewicht zusammenbricht. Aber diese Schwebematratze, die Hera aus der Delourdesklinik hat anliefern lassen, ist ihr Gold wert."
"Ach, hat Hera das bei Antoinette durchgedrückt? Die Dinger sind so teuer wie ein Ganni 10 und werden nur bei schwerwiegenden Verletzungen oder unaushaltbarem Übergewicht verwendet. Also schon heftig, dass Hera dieses Mittel verordnet hat", sagte Julius.
"Ich werde mir das mit dem Kinderkriegen nach Roger wohl doch verkneifen, bevor ich auch noch derartig aufquelle", sagte Virginie. Millie meinte dazu, ob sie wisse, worauf Jeanne und ihre Mutter sich verständigt hätten. "Ja, habe ich und nein, ich habe es meiner Frau Mutter klar gesagt, dass ich wegen dieser Umtriebe einer Verbrecherbande nicht mal eben für ein halbes Jahr nach Millemerveilles zurückziehen und in ihrem Haus wohnen werde. Abgesehen davon hast du, Julius, sie ja gesehen. Ich denke, wenn sie die Reihenfolge richtig einstimmt kriegt sie die drei alleine satt." Millie und Julius nickten, während Aurore nicht verstand, was los war. Dafür durfte sie dann der strohblonden Besucherin zeigen, was sie neues gemalt hatte, darunter drei himmelblaue Osterhasen und viele verschiedenfarbige Ostereier.
Millie lud Virginie ein, mit den Latierres zu Abend zu essen, weil Béatrice gerade im Einsatz war. Doch Virginie lehnte dankend ab. "Aron ist in zehn Minuten mit seinem Arbeitstag durch und möchte bestimmt mit mir und Roger zusammen essen."
"Du kannst ihm von mir einen herzlichen Glückwunsch übermitteln. Ich hörte, dass er am 1. Mai in der Abteilung für magische Familienfürsorge und Ausbildung das Büro für Grundschulverwaltung übernimmt", sagte Julius.
"Oh, na klar, hat sich bei euch im Ministerium sicher ganz schnell herumgesprochen", sagte Virginie. "Zumindest ist er froh, aus der Familienrechtsbehörde raus zu sein. Die verhandeln da nämlich gerade die Auswirkungen dieser ganzen ... öhm ... Frühlingskinder. Hmm, womöglich haben sie ihn auch deshalb in die Grundschulverwaltung gesetzt, weil er ja nun zu den Betroffenen gehört", sagte Virginie. Millie verzog das Gesicht. Julius rümpfte nur die Nase.
"Ach wegen Erbrecht und Legitimität der ungeplant gezeugten Nachkommen und dergleichen", meinte Julius. Virginie nickte. "Als wenn ich jetzt mit meinen Eltern anfangen wollte, mich über mein Erbe zu streiten, weil neben mir, Baudouin und Giselle noch drei weitere dazugekommen sind", sagte Virginie. Millie nickte, Julius ebenso. Dann sah sie noch einmal auf ihre Armbanduhr. "Ui, ich muss los. Darf ich durch euren Kamin?" "Ja, darfst du", sagte Julius, und Millie nickte.
Als Virginie mit dem Besen unter dem Arm in einer smaragdgrünen Feuerwand verschwand meinte Millie:
"Es ist trotz allem, was wir schon mitbekommen haben immer wieder heftig, was alles an so kleinen Nuckelwichteln dranhängt. Die ganzen körperlichen Sachen fallen da ja schon fast hinten runter." Julius erwiderte, dass die Ankunft der Frühlingskinder ähnlich nachhaltige Auswirkungen hatte wie eine schwere Epidemie, nur eben andersherum. Millie machte erst "Häh?!" Doch dann verstand sie und nickte schwerfällig.
Julius war froh, dass er im Schnellankleiden und mit dem Körperpflegezauber keine Schwierigkeiten hatte. So hatte er kurz nach dem Bimmeln der auf seinem Nachttisch bereitgelegten Rufglocke nur ganze zwei Minuten von Tiefschlaf bis Einsatzfertig gebraucht. Millie, deren Glocke auch geläutet hatte, wünschte ihm und Roseanne Lumière viel Glück.
Da Hera am Vortag drei Geburten hintereinander betreut hatte und Béatrice nur eine in ihrem Zuständigkeitsbereich zu erledigen hatte war vereinbart worden, dass sie bei einem Nachteinsatz ausrücken sollte. So apparierte sie zusammen mit Julius vor dem Haus der Lumières. Barbara van Heldern, die vor drei Tagen aus Brüssel herübergekommen war, um zumindest die ersten vier Wochen bei ihrer Mutter zu sein, saß auf einem Stuhl vor der Tür und sah die zwei Gerufenen an. "Oh, kann Hera gerade nicht?" fragte Barbara, bevor sie erkannte, dass es sehr viel respektvoller war, die beiden anständig zu begrüßen. "Danke, Mademoiselle Latierre, dass Sie so schnell kommen konnten, und auch danke, Monsieur Latierre, dass sie meiner Mutter beistehen möchten."
"Wir nehmen den Dank gerne an und was Ihre andere Frage angeht, Madame van Heldern, die Kollegin Hera Matine musste gestern drei Mehrlingsgeburtsvorgänge hintereinander betreuen, und zwar von fünf Uhr Morgens bis zehn Uhr abends. Deshalb gilt die Ruhezeitregelung, solange nicht mehr als drei Gebärende zugleich betreut werden müssen", sagte Béatrice. Dann bat sie darum, mit ihrem beigeordneten Pflegehelfer ins Haus zu dürfen. Natürlich durften sie.
"Und ich dachte schon, das wäre ein Aprilscherz, dass du heute eure Kinder bekommen willst", scherzte Julius mit der nicht ganz so heftig aufgequollenen Mutter Barbaras.
"Die vier Mädels in meinem dicken runden Bauch haben wohl beschlossen, einen Geburtstag zu feiern, an dem sowieso viele lachen. Und da Karneval und Silvester nicht mehr gingen ... Aauutsch", erwiderte Roseanne Lumière. Béatrice bat sie, nur noch dann was zu sagen, wenn sie etwas ungewohntes fühlte außer den Geburtswehen natürlich. Barbara und Julius wurden zur Abstützung der Gebärenden links und rechts hingesetzt.
Gegen ein Uhr begann die Ankunft der ersten von vier weiteren Töchtern im Hause Lumière. Sie dauerte ganze fünfzig Minuten. "A-hantigone", stöhnte Roseanne. Dann sah sie erst ihre neugeborene Tochter an und dann die drei zusehenden Töchter Barbara, Été und Lunette. Julius musste einmal mehr daran denken, dass die beiden Zwillinge in gewisserweise seine Pflegehelferprüfung gewesen waren. Schon damals hatte er sich wohl das Vertrauen von Barbaras Mutter gesichert, so dass er ihr hier und heute helfen durfte, noch weitere Töchter zu bekommen. Die zweite Vierlingstochter, Brigitte, erreichte die Menschenwelt um zehn Minuten nach zwei Uhr. Ihre nächste Schwester Doris schaffte es mit dem Schlag zu halb drei Nachts auf die Welt. Und die kleinste, die von ihrer Mutter gleich nach der Geburt Jacqueline genannt wurde, stieß ihren ersten Schrei um genau drei aus. Zwischendurch hatte Roseannes Mann zur Tür hereingesehen und gemeint, ob die Zwillinge nicht doch besser in ihrem Zimmer warten wollten. Doch sowohl Roseanne als auch ihre da schon auf eigenen Beinen stehenden Töchter hatten protestiert und gesagt, dass sie das alle mitbekommen sollten. Nun, wo alle vier auf der Welt waren und sich im Schreien zu überbieten trachteten mussten sich Béatrice und Julius mehr mit Handzeichen als mit Worten verständigen. Immerhin konnte Julius der mitschreibendenProtokollfeder diktieren, dass Antigone 2800 Gramm wog und 43 Zentimeter maß, Brigitte 2560 Gramm wog und 41 Zentimeter lang war, Doris mit 2100 Gramm und 40 Zentimetern schon erheblich kleiner und leichter war als Antigone und Jacqueline mit genau 2000 Gramm und 40 Zentimetern die leichteste von allen war. "Ui, Mademoiselle Jacqueline, wie haben Sie das hinbekommen, genau zwei Kilo auf die Waage zu bringen?" scherzte Julius mit der ganz kleinen. "Gib Sie mir bitte auch, Julius", hörte er Roseannes von der Anstrengung geschwächte Stimme keuchen. So legte er Jacqueline zwischen ihre Schwestern Brigitte und Doris auf den Bauch ihrer Mutter ab. Julius sah barbara an. Die erahnte wohl, was er sagen wollte und sagte: "Nur weil Jeanne und ihre Mutter sich darauf einlassen muss ich das nicht auch tun, Julius."
"Barbara hat genug mit ihren Kindern zu tun und ich will nicht entscheiden, welche beiden zu ihr nach Brüssel sollen. deshalb kriege ich das mit dem Ammentrank alleine hin", ächzte Roseanne. Julius wagte nichts dagegen einzuwenden.
Um halb fünf kehrten Béatrice und Julius ins Apfelhaus zurück. "So, wir zwei schlafen jetzt mindestens noch bis acht Uhr oder bis die Glocken wieder bimmeln", ordnete Béatrice an. Julius wandte ein, dass er doch den Wachhaltetrank trinken könne. "Neh, Jungchen, den erlaube ich dir und uns anderen nur, wenn wir wirklich mehr als einen Tag am Stück durchhalten müssen. Ab ins Bett!" zischte sie.
"Und, freut sich die starke Barbara über ihre vier ganz kleinen Schwestern?" fragte Millie, als Julius nachtfertig neben sie ins Bett schlüpfte. "Sagen wir so, sie wird ihrer Mutter wohl nicht als familieneigene Amme helfen", raunte Julius. "Habe ich mir gedacht. Tine würde das wohl auch nicht für Ma tun, nur weil die noch so spät im Leben wen neues dazukriegt."
"Suum cuique", erwiderte Julius darauf. "Was soviel heißt wie?" fragte Millie. "Jeder oder jedem das ihre oder das seine", erwiderte Julius noch. Dann drehte er sich in seine bevorzugte Schlafhaltung.
Drei Stunden später wachten sie wieder auf, weil die zwei ersten Kinder nicht mehr schlafen wollten. Um wieder richtig munter zu werden machten Béatrice, Millie und Julius Laufübungen und spritzten sich gegenseitig mit kaltem Wasser aus den Zauberstäben ab. Julius machte Frühstück, während Millie die drei Kinder versorgte. Béatrice lieh sich seine Eule Francis aus, um ihren Bericht an Hera Matine zu schicken, damit sie ihn lesen und darauf aufbauend weiter mit Roseanne zusammenarbeiten konnte.
Zwischen zwei und fünf Uhr hielten die Latierres Siesta. Das klang erwachsener als Mittagsschläfchen. So liefen sie auch nicht Gefahr in den April geschickt zu werden. Auch die Rufglocken blieben still. Es sah danach aus, als wenn eine übergeordnete Kraft den Lumière-Vierlingen diesen besonderen Geburtstag zum Vorrecht machen wollte.
gegen halb sechs läutete der Türmeldezauber Barbara Lumières Besuch ein. Sie brachte einen großen Rosinenkuchen und eine Flasche Sekt mit. "Den Kuchen dürft ihr alle glaube ich schon jetzt essen. Der Sekt ist für die Feier, wenn alle sogenannten Frühlingskinder auf der Welt sind", sagte Barbara zu julius. Dann umarmte und knuddelte sie ihn. "Bin ich froh, dass Millies Tante und du so gut aufeinander eingestimmt seid und dass sie dir das auch richtig beigebracht haben", flüsterte sie ihm ins rechte Ohr und schmatzte ihm einen Kuss auf die rechte Wange. "Ich wollte Mademoiselle Latierre echt nichts böses. Aber als ich sie mit dir ankommen gesehen habe habe ich echt gedacht, dass Hera Matine offenbar verreist ist und ihr die ganzen Kinder überlässt. Aber womöglich wart ihr beide genau die richtigen für meine Mutter."
"Erst mal vielen Dank für den kuchenund den Sekt. Ui, aus einem belgischen Keller?" fragte Julius. "Ja, aus einer Kellerei meines Schwiegervaters. Der hat ihn mir mitgegeben, damit jene, die sicherstellen, dass meine jüngsten Geschwister lebend und gesund zur Welt kommen einen großen Schluck Dankbarkeit und Lebensfreude genießen dürfen. Aber im Moment dürft ihr ja keinen Alkohol trinken, und im Vertrauen, der Sekt hat mehr Alkohol als der teuerste Champagner, schmeckt aber nicht danach, sondern halbtrocken und spritzig."
"Ich wollte dich auch vorher nicht so komisch angucken, als Jacqueline auf die Welt kam. Ich habe das eben bei Jeanne und ihrer Mutter mitbekommen", meinte Julius. "Weil die beiden immer das geniale Mutter-Tochter-Duo waren, auch wo Claire und Denise und später Chloé und jetzt die vier ganz neuen angekommen sind. Zwischen meiner Mutter und mir gab es zwar keinen echten Streit, zumindest nichts, was außerhalb unseres Hauses als solcher empfunden worden wäre. Aber mein Entschluss, nicht nur Millemerveilles, sondern auch Frankreich zu verlassen hat ihr nicht wirklich gefallen. Und das hat sie mich auf ihre ganz eigene Weise auch immer wieder fühlen lassen. Deshalb wollte sie garantiert nicht, dass ich auch nur eine meiner vier kleinsten Schwestern mit nach Belgien nehme. Ich konnte nämlich eben nur die vier Wochen Urlaub herausholen."
"Meine Schwiegertante hat mir gesagt, dass sie und jede andere Heilerin das akzeptieren muss, wenn sich zwei Hexen darauf verständigen, wer die Mutter und wer die Amme ist."
"Sofern das Kind nicht darunter leiden muss", ergänzte Barbara van Heldern. Dann sah sie Aurore, die die von einer dünnen aber unzerbrechlichen Glaswand umfasste Wendeltreppe herunterwuselte. "Na hallo, Aurore. Was hast du heute schönes gemacht?" fragte sie lächelnd. Aurore sah die Besucherin an und dann ihren Papa. Der sagte ihr, dass sie ruhig erzählen durfte, was sie morgens und vor der Siesta gemacht hatte.
Millie beglückwünschte Barbara auch zu den vier neuen Schwestern. "Den Geburtstag kannst du dir sicher von allen hier am besten merken, von Jeanne abgesehen", meinte Millie.
"Da kannst du wohl von ausgehen. "Aber sogesehen hätte meine Mutter die vier auch schon gestern kriegen können, wäre auch kein schlecht zu merkender Geburtstag geworden. Zumindest ist sie jetzt die Sorge los, ob sie die vier heil zur Welt bringen kann. Ein bisschen neidisch bin ich nur, dass die vier zusammen nur die halbe Zeit gebraucht haben wie ich damals und gerade mal ein zwölftel wie mein Erstgeborener."
"Ob die das so empfinden?" fragte Millie. "Ich seh das so, weil ich mal mit Bicranius' Gedächtnistrank meine eigene Säuglingszeit nacherinnert habe. Schon irgendwie befremdlich, was das Gedächtnis schon alles aufbewahrt", sagte Barbara.
Um noch was kindgerechtes unternehmen zu können machten die Hausbewohner und Barbara zusammen Musik. Um sieben Uhr kehrte Barbara in ihr Elternhaus zurück. Dann gab es Abendessen und um halb neun waren Aurore und Chrysope endlich müde genug, um zu schlafen.
Einerseits war es schon erheiternd, dass an diesem vierten vierten 2004, wo anderswo sicher viele Paare heirateten, vier Hexen je vier Kinder bekamen. Zumindest war Hera froh, dass sie von diesen vier Patientinnen nur zwei unmittelbar betreuen musste und die beiden anderen von ihrer Kollegin Anne Laporte durch die Niederkunft begleitet wurden. Da Millie Latierre mit der Auflage, nur die Namen der jungen Mütter und die Anzahl der Kinder in ihrem fortgesetzten Artikel "Die Ankunft der Frühlingskinder" zu erwähnen berichtete die residente Hebamme von Millemerveilles kurz vor dem Abendessen der Lokalreporterin der Temps de Liberté von den vier Vierlingsgeburten am vierten vierten. Laurentine Hellersdorf, die auch wieder einen sehr anstrengenden Arbeitstag überstanden hatte, meinte, dass sie es sich mit eigenen Kindern wohl doch verkneifen würde. Darauf meinte Hera, dass viele vor allem junge Hexen hier in Millemerveilles das auch so gedacht hätten und auch viele der seit Jahrzehnten alleinstehenden Hexen auch nicht geglaubt hätten, doch noch Mutter zu werden. Dann sagte Hera noch: "Natürlich respektiere ich jede Entscheidung, die eine Hexe für oder gegen eigene Kinder trifft, solange sie ausdrücklich für sich alleine entscheiden kann und entsprechend umsichtig lebt. Doch ich fürchte, diese Banditen, die uns hier in Millemerveilles diese zusätzlichen neuen Erdenbürger zumuten, werden nicht von ihrer bisherigen Haltung abrücken, dass alleinstehende Hexen ab einer bestimmten Altersstufe ihrer angeblich natürlichen Verpflichtung nachzukommen haben. Besonders wo sie in den vereinigten Staaten offenbar immer noch einen gewissen ministeriellen Rückhalt genießen, wird Millemerveilles auch anderswo Schule machen. Die zum Teil ausgespielte Quidditchweltmeisterschaft hat ja leider auch hundert unerwartete Schwangerschaften begünstigt."
"Wenn Sie mir damit mitteilen wollen, dass diese Gangster, öhm, Kriminellen meinen, nach den ganzen Kolleginnen hier müsste ich als alleinstehende Hexe auch noch was kleines kriegen haben mir Millie und Julius schon empfohlen, bei meiner Urlaubsreise den Praeservirgines-Zauber zu verwenden, diesen unsichtbaren Keuschheitsgürtel." Hera nickte und hakte sofort ein: "Ja, nur dass dieser Zauber von der Hexe, die ihn gewirkt hat schnell wieder aufgehoben werden kann, wenn sie findet, sich wem hingeben zu wollen. Es hat leider Fälle gegeben, wo das passiert ist. Aber wenn du wirklich so auf dich aufpassen möchtest, dass du nicht unbeabsichtigt schwanger wirst, möchte ich dich in einer der nächsten Mittagspausen gerne beraten, oder hast du schon eine magische Heilerin erwählt, von welcher du beraten wirst?"
"Öhm, bisher nicht", sagte Laurentine und errötete an den Ohren. Offenbar wollte sie der residenten Heilerin von Millemerveilles nicht verraten, dass sie einen nichtmagischen Arzt konsultierte.
"Dann bekräftige ich meine Einladung, dass du gerne in einer der nächsten Mittagspausen zu mir kommen kannst, sofern ich da nicht gerade im Einsatz bin", sagte Hera Matine. Sie sah Laurentine und die Eheleute Latierre an. Diese nickten ihr beipflichtend zu. Julius erwähnte dann noch den Fall einer Quodpotspielerin, die bei einer sogenannten Mora-Vingate-Party für junge Erwachsene mitgefeiert hatte, wohl schon ein erfolgreiches Versuchsprogramm von Vita Magica. Abgesehen davon konnte Hera ihr sicher auch wichtige Tipps geben, wie sie sich in der magielosen Welt vor anderen übleln Zeitgenossen wie Werwölfen und Vampiren schützte. "Gilt das auch für bösartige Halbveelas wie diese Ladonna Montefiori?" fragte Laurentine. Hera wunderte sich nicht schlecht. Doch Laurentine lieferte gleich die Erklärung für ihre Frage: "Catherine Brickston hat mir von dieser Dreifachhybridin erzählt, die seit Januar 2003 aus jahrhundertelangem Dornröschenschlaf erwacht ist. Die hat mir auch schon geraten, mir wirksame Schutzamulette oder dergleichen anfertigen zu lassen, sowas wie Camilles Silberstern oder ein geweihtes Kreuz wie in den Vampirgeschichten aus der Muggelwelt."
"Wobei die Frage zu stellen ist, wer da wem was weiht. Da Camille dir offenbar ihr Erbstück vorgeführt hat weißt du sicher, dass dessen Macht auf umfangreiche und aufopferungsreiche Zauber zurückzuführen ist und eben nur für jene wirkt, die vom selben Blut wie dessen Schöpfer sind oder zumindest mit diesen in direkter körperlich-geistiger Beziehung stehen", erwiderte Hera und fragte sich nun doch, wo sie da noch beratend einwirken sollte. Immerhin hatte Laurentine den NamenLadonna Montefiori schon gehört und dass sie eine Hybridin aus Veelas, Menschen und grünen Waldfrauen war.
Wie erwähnt lade ich dich ein, in einer der nächsten Mittagspausen zu mir zu kommen, um mich zu allem zu fragen, was für eine sichere Reise in die Staaten wichtig und nötig ist", wiederholte Hera ihr Angebot. Laurentine überlegte kurz. Dann bat sie Hera, ihr falls es ging am 27. April einen Termin zu geben. Da sei wohl schon die erste Wochenbettphase um und die allermeisten erwarteten Kinder geboren. Immerhin wollte sie ja erst Ende Mai verreisen. Solange konnte sie ja bequem zwischen Paris und Millemerveilles flohpulvern, von einem mächtigen Schutzzauber in einen anderen.". Dem stimmte Hera zu.
Als die Heilerin wieder in ihre eigene Residenz zurückkehrte atmete sie erleichtert auf. Laurentine war also doch nicht dummgehalten worden, was die sie unmittelbar bedrohenden Gefahren anging. Gut, das wäre sicher auch sehr unfein gegenüber Catherine gewesen, ihr eine derartige Haltung zu unterstellen, wo Laurentine in ihrem Schutzbereich wohnte.
Sandrine umarmte Julius und knuddelte ihn, weil er ihr mit Hera zusammen geholfen hatte, ihre drei jüngsten Brüder Auguste, Simon und Ferdinand gesund auf die Welt zu holen. Zwar hatte Sandrine erst gedacht, sie und Hera bekämen das alleine hin. Doch dann hatte sie Hera gebeten, doch noch wen der oder die gerade Zeit hatte, dazuzuholen. Richtig froh war sie, dass es Julius gewesen war.
"Ich hatte echt Angst, was falsch zu machen, obwohl ich doch selbst schon zwei Kinder habe und in den letzten Tagen viermal geholfen habe", sagte Sandrine und wischte sich kleine Tränen aus den Augen.
"Ich denke auch erst immer wieder, ich darf nichts verkehrt machen, das ist gefährlich oder zumindest sehr anstrengend. Doch dann geht es immer irgendwie. Aber ich freue mich auch, wenn es richtig vorbei ist", sagte er und knuddelte Sandrine, die ihn immer noch in den Armen hielt. Einen Moment musste er an jene verhängnisvolle Nacht denken, wo Vita Magica ihr tückisches Fortpflanzungsrauschgas über Millemerveilles ausgebracht hatten. So ähnlich wie damals hielt er sie jetzt. Und einen Moment durchzuckte ihn die Vorstellung, dass sie genauso seine Kinder hätte kriegen könnenund er mit ihr ein genauso partnerschaftliches Leben führen können wie mit Millie. Dann erkannte er, dass Sandrine vielleicht gerade einen neuen Halt im Leben suchte und er aufpassen musste, dass sie sich nicht in ihn verliebte, ganz ohne Vita Magica. Denn dann hätte er ein sehr, sehr schweres Problem, weder ihr noch Millie weh tun zu dürfen, ja weh tun zu wollen. So wollte er seine Arme von ihr lösen. Doch sie drückte sich ganz an ihn und fing an, in seinen Umhang zu weinen. Jetzt musste er sie halten, um ihr nicht weh zu tun. Einige Minuten unterlag Sandrine der über ihr zusammengeschlagenen Welle aus Gefühlen und überstandenem Stress. Dann schaffte sie es doch, sich behutsam aus ihrem aufgelösten Zustand zu befreien und ihre eigene Selbstbeherrschung zurückzugewinnen. Julius dachte einmal ganz verwegen an die Geschichte, wo der Draufgänger James T. Kirk von den Tränen einer kratzbürstigen Außerirdischen wie mit zwei Litern Liebestrank betört worden war und nur seine Sorge um sein Schiff und die Mannschaft wegen eines klingonischen Kriegsschiffes ihn aus diesem Zustand befreit hatte. Er hoffte jedoch, dass Sandrines Tränen nicht eine so durchschlagende Wirkung hatten.
"Geht es wieder?" fragte er behutsam, als Sandrine sich endlich von ihm löste und ihre Hare glattstrich. "Danke, dass du da bist, Julius. Sage Millie bitte, dass sie immer ganz gut auf dich aufpassen soll, dass dir nichts passiert!" Das traf und saß, empfand Julius. Sie akzeptierte Millie als seine Gefährtin, machte ihm aber auch klar, dass sie durchaus bereitgestanden hätte, wenn das mit Gérard nicht so wichtig und eigentlich auch richtig gewesen wäre. Einmal mehr ärgerte er sich heimlich, dass er Gérard nicht eindringlicher von seinem Rachevorhaben abgebracht hatte. Gut, der wusste es nun selbst am besten, wie heftig er sich da vertan hatte. ja, und Sandrine kannte das Gefühl, wie es war, jemanden wichtigen zu verlieren - genau wie er. Das vereinte sie beide auf eine traurige aber auch irgendwie unauslöschliche Weise. Denn genauso wie Gérard nicht wirklich gestorben war, war Claire damals nicht ganz von ihm fortgegangen.
"Öhm, nichts für ungut, Sandrine, ich weiß, dass es für eine Tochter sehr viel schwerer ist, der eigenen Mutter bei einer anstrengenden Niederkunft beizustehen. Aber ich möchte doch hoffen, dass du deine Gefühle gut genug im Griff hast, um für die noch anstehenden Aufgaben bereitzustehen", sagte Hera, als sie aus dem Zimmer kam, in dem Geneviève Dumas ihre drei Söhne bekommenhatte.
"Das hoffe ich auch, Hera. Aber wie du sagtest, es ist was ganz anderes, der eigenen Mutter zu helfen, neue Geschwister auf die Welt zu holen. Das ist mir alles erst richtig klargeworden, als Ferdinand geboren war."
"Das ist wohl richtig, Sandrine", sagte Hera ruhig. Dann gebot sie Julius, zu seiner Frau zurückzukehren. Denn es war gerade erst vier Uhr morgens am fünften April 2004.
"Falls mich noch wer braucht, Hera, ich schlafe erst mal drei oder vier Stunden aus", erwähnte Julius. "Gut, mach das. Du bitte auch, Sandrine", erwiderte Hera Matine.
"Gehst du gleich noch mal zu deiner Nichte?" fragte Julius. "Ja, um zehn, wenn mich in der Zeit keine benötigt", sagte Hera. "Dann grüß sie bitte von mir und ich wünsche ihr und den drei neuen Jungs noch alles Gute."
"Ach, hat es sich schon rumgesprochen ,dass ich fast nicht hätte herkommen können, weil meine Nichte da gerade selbst niederkam?" Sandrine sah Hera verwundert an. Julius meinte nur, dass Martine es Millie weitergegeben hatte, die ja mit Hera die Drillingsgeburt betreut hatte.
"Okay, ich verstehe, was du gerade gesagt hast, Hera. Du kennst das, eigene Verwandte auf die Welt zu holen." Hera Matine nickte. Dann machte sie eine Geste, die bedeutete, dass Julius endlich den Heimweg antreten sollte.
Als Julius weit genug vor dem Apfelhaus apparierte, um seine Kinder nicht aufzuwecken und leise die Tür aufschwingen ließ wurde er bereits von Millie erwartet, die mit Clarimonde in den Armen in der großen Eingangshalle saß. "Oh, hat Sandrine dich wieder zu mir zurückgelassen, Monju? Das ist aber nett von ihr", flachste sie. Dann schnupperte sie an seinem Gesicht und seinem Umhang. "Aber ihr Lieblingsparfüm durftest du mitnehmen. Nicht ganz meins, dieses Sommerwiesenzeug, aber auch nicht so aufdringlich wie das Zeug, dass Célestine Rocher sich neuerdings auflegt."
"Da weiß ich nichts von, Mamille", warf Julius ein.
"Mayette und Melanie Odin haben davon geschrieben. Offenbar ist Stinette jetzt auf der Jagd oder bereits amZiel."
"Klar, dass ich von sowas nichts mitbekommen habe. Aber muss eine Jägerin nicht aufpassen, dass die erwählte Jagdbeute nicht vorher riecht, wenn sie im Anmarsch ist oder auf der Lauer liegt?"
"Hängt davon ab, ob sie eine Lauerjägerin ist wie Goldschweif oder eine Hetzjägerin wie eine Sumpfläuferhündin ist." Julius grinste, während Millie ihre jünggste Tochter in die kleine Wiege legte, die sie mit heruntergebracht hatte, um hier auf ihn zu warten und ihn dann ansatzlos ansprang und fest an sich zog. Er war erst verdutzt. Doch dann schaltete er, dass er sie ebenso innig umklammern und knuddeln sollte. So klammerten sie sich beide für mindestens eine Minute aneinander. Dann meinte Millie: "Du bist zu müde für echt wildes Zweierspiel, und ich will keinen Krach mit Tante Trice haben." Mit diesen Worten ließ sie von ihm ab, hob ihre jüngste Tochter aus der Wiege und marschierte mit ihr Richtung Treppe. Julius hob die leere Wiege auf, die mit Anti-Apportier- und Unaufrufbarkeitszaubern belegt worden war und trug sie Millie hinterher.Als nun beide Eheleute wieder in ihrem Bett lagen, meinte Millie: "Bald haben wir es hinter uns, was diese Drachenfürze denen allen hier angetan haben." Julius bejahte es. Über hundert Hexen hatten nun mehr als dreihundert Kinder zur Welt gebracht. Noch einmal so viele würden noch mal 380 Kinder zur Welt bringen.
Auch wenn sich die Heilerinnen und die Pflegehelferinnen und Pflegehelfer an diesem Tag für Einsätze bereithalten mussten ließen es sich die Familien mit schon lauf- und sprachfähigen Kindernnicht nehmen, das Fest des neuen Lebens und der bunten Vielfalt zu begehen, wie es dem Christentum nicht so wohl gelittene Hexen und Zauberer nannten. Immerhin wurde das Osterfest ja in der keltischen Religion und auch bei den Germanen und Römern bis zur Verbreitung der christlichen Eingottreligion als Fest des neu erwachenden Lebens gefeiert.
Auch aus dem Sonnenblumenschloss waren alle unter zehn Jahre alten Kinder herübergekommen, darunter auch Millies jüngere Schwester Miriam. Florymont beaufsichtigte seine Tochter Chloé und seinen Neffen Philemon. Dieser versuchte immer wieder, den kleineren Kindern gefundene Eier abzujagen. Als er dabei einmal der kleinen Blanche-Berenice an den Haaren zog rannten auf ihren lauten Schrei hin ihre drei Vierlingsgeschwister herbei, genauso wie Félicité und Esperance. Unvermittelt warfen sich die zwei älteren Mädchen und die beiden Vierlingsbrüder Faunus und Adonis so heftig auf Philemon, dass dieser ansatzlos zu Boden ging. Julius rief laut: "Hey, nicht zu viert auf einen, das ist voll feige!" Line Latierre stand ruhig auf und pfiff kräftig auf den Fingern, worauf die mit Philemon am Boden ligenden von ihrem Gegner abließen und fast wie von einer Sprungfeder geschnellt auf die Beine kamen. "War das nötig?!" rief Line ihren Kindern zu. Félicité sah ihre Mutter an und nickte verhalten. "Der hat meine Haare gezogen", quiekte Blanche-Berenice, und Adonis sagte: "Der wollte mir meine Ostereier klauen, Maman."
"Ja, und du hast dich gewehrt. Das war dein gutes Recht, Adonis. Aber Julius hier hat auch recht. Vier auf einen ist voll feige. Dann wäret ihr ja genauso rüpelig wie Philemon." Florymont wollte einschreiten. Doch Lines rehbraune Augen, die auch alle ihre nachgeborenen Blutsverwandten geerbt hatten, nagelten ihn förmlich auf der Wiese fest. Dann sah sie die gerade noch auf eine unfaire Balgerei ausgehenden nacheinander an und fing Philemons Blick ein, der gerade wieder auf die Füße kam und mit trotzig geballten Fäusten drohte. "Warum machst du das, kleineren Kindern Sachen wegnehmen?" fragte sie, während sie ganz behutsam auf ihn zuging. Uranies erster Sohn versuchte, sie ebenso trotzig anzusehen wie die sechs Geschwister, die ihn im Stil einer verteidigenden Footballmannschaft zu Boden gebracht hatten. Sie fixierte ihn mit ihrem Blick und er erbleichte fast wie ein Vampir. Er ließ die drohend erhobenen Arme sinken und schlaff am Körper baumeln. "Sag mir bitte, warum du sowas machst, Philemon Dusoleil!" befahl Ursuline. Der Angesprochene versuchte, seinen Onkel anzusehen, sah aber nur Julius, der neben seiner fülligen Schwiegergroßmutter stand und die anderen Kinder mit ruhigen Blicken und Gesten auf Abstand brachte.
"Die Kleinen kriegen immer alles leichter. Ich will auch blaue und rote Eier. Da sind die Sachen für große Jungs drin. Die gehören mir."
"So, tun die das?" fragte Ursuline. Dann sagte Julius: "Ach, und weil du meinst, wer größer und stärker ist darf sich von denen, die kleiner und leichter sind alles wegnehmen?" Dabei sah er Philemon nun auch sehr genau an, hütete sich jedoch davor, ihn mit voller Kraft anzublicken. Denn ihm war in dem Moment klar, warum er selbst andere mit einem konzentrierten Blick zurücktreiben konnte.
"Na und, ich kann das", grummelte Philemon und wirkte gleich so, als wisse er, dass das wohl ein ziemlich schlechter Spruch war.
"Ja, wenn du denkst, dass alle, die größer und stärker sind einfach was wegnehmen, was kleinere und schwächere gekriegt haben kann ich dir jetzt ganz locker alles aus den Taschen ziehen, was du bisher zusammengekriegt hast, ohne dass du was dagegen machen kannst. Findest du das echt richtig?"
"Ey, neh, darfst du nich', das habe ich gefunden", wimmerte Philemon, als Julius ganz ruhig in seine Richtung ging und bereits die rechte leere Hand hob. "Na und, ich bin größer und viel stärker als du. Wenn du kleinen Mädchen und Jungs ein paar Eier klauen kannst kann ich dir locker alles klauen, was du dabei hast, Recht des stärkeren halt." Philemon wich zurück und wurde von Chloé gestoppt, die hinter ihm stand. "Tja, blöde Sache, wenn es immer wen gibt, der noch größer und noch stärker und noch gewitzter ist als du, Philemon. Aber wenn du sagst, dass das so ganz in Ordnung ist kann ich mal eben alles von dir abgreifen. Und deiner Maman sag ich dann, dass du nichts gefunden hast, weil du einfach zu blöd zum suchen warst. Und wenn die mich deshalb dumm anquatscht sage ich der, dass du kleinen Mädchen an den Haaren reißt wie ein dummes kleines Mädchen, das nicht weiß, was richtig und was falsch ist. Hier stehen sooooo viele Leute rum, die das alles gesehen haben und die jetzt von dir gehört haben, dass das voll in Ordnung ist, wenn größere den kleineren alles wegnehmen. Also, was jetzt?!"
"Ey, was willst du?" fragte Philemon, und Julius konnte winzige Tränen in den großen Augen des fast sechs Jahre alten Jungen sehen. "Du musst nur sagen, dass dir das alles leid tut und denen, denen du was weggenommen hast alles wiedergeben. Dann ist gut", sagte Julius. Line sagte dann noch: "Und hör auf, meinen Mädchen an den Haaren zu reißen. Meine Kinder helfen sich gegenseitig. Beim nächsten mal sieht das vielleicht keiner, wenn du von denen umgeworfen wirst."
"Also, entweder rückst du das abgezogene Zeugs wieder raus und sagst, dass es dir leid tut oder ich nehm dir mal eben alles weg, was du bei dir hast, auch den kleinen blauen Springfrosch."
"Ey, den hat meine Maman mir geschenkt. Das darfst du nicht", wimmerte Philemon. "Ich bin doch größer und stärker als du, und deine Tante Line hier ist genauso größer und stärker als du", sagte Julius. Philemon schien nun mit mehreren Gefühlen zu kämpfen, der Trotz, sich nichts gefallen zu lassen, die Angst, dass jemand ihm alles wegnehmen könnte und die Erkenntnis, dass er hier auf einmal ganz allein war, obwohl so viele andere Kinder da waren. Chloé sagte und tat auch nichts. Sie stand nur hinter ihrem Cousin und hatte ihre Hände auf seine Schultern gelegt. Nach zehn schier endlosen Sekunden nickte Philemon und holte die fünf von anderen weggeschnappten Ostereier aus seinen Umhangtaschen. Er sah mit hektischen Blicken, wo die waren, denen er sie weggenommen hatte. Julius winkte ihnen zu. "Geht bitte hin und lasst euch wiedergeben, was euch gehört, damit hier wieder Frieden ist!" sagte er ruhig, wofür Ursuline ihn zustimmend in eine halbe Umarmung nahm.
Als Philemon den fünf beklauten Kindern ihre Ostereier zurückgegebenhatte und fast schon flehendlich um Entschuldigung bat löste sich auch Florymont aus seiner Starre. Er eilte auf Line zu, blieb jedoch wie gegen eine unsichtbare Wand geprallt stehen, als sie kurz in seine Richtung sah. Doch diesmal stand er nicht wie angewachsen da, sondern entspannte sich sofort wieder.
"Echt, du hast dem Roger das lila Ei weggenommen, Phil. Das ist doch echt voll gemein", sagte Chloé.
"So, ihr sucht jetzt ganz in Frieden weiter. Millie und Julius haben doch sicher noch ein paar Ostersachen versteckt, oder?" wandte sich Line erst an die versammelten Kinder und dann an Julius. Julius nickte heftig und machte eine das ganze Grundstück überdeckende Armbewegung. Unverzüglich wuselten die kleinen Ostergäste wieder in alle Richtungen davon. Doch Philemon blieb völlig eingeschüchtert stehen. Chloé stellte sich nun aufrecht neben ihn hin. Julius meinte eine Sekunde lang, Denise oder gar Claire zu sehen, wie sie ganz entschlossen für etwas eintrat. Julius sagte dann: "Ich weiß nicht, was mit und bei euch gerade los ist, Phil. Aber sich wie ein wilder Straßenräuber zu benehmen macht es für dich echt nicht besser. Und das Ding mit dem Recht des größeren oder Stärkeren ist hier in Millemerveilles nicht erlaubt. Wer so ist den mag keiner mehr. Und wen keiner mehr mag, mit dem will auch keiner mehr reden oder spielen." Philemon Dusoleil fuhr unter dieser Ansage wie von einem Stromschlag getroffen zusammen und flennte kleinkindhaft los: "Die wollen mich doch alle nicht mehr. Maman will mit den drei Plärrern weg,ohne mich. Onkel Florymont und Tante Camille haben dieChloé und die anderen eh lieber, auch die Melanie. Keiner von denen will mich noch."
"Wer sagt sowas?" fragte Ursuline. Florymont räusperte sich verlegen und trat vor. Er sagte: "Dann hast du das gehört, wie ich mit deiner Maman laut gesprochen habe, weil die nicht weiß, ob sie mit dir und den drei Neuen noch zusammen hier wohnen bleiben kann oder zu Madame Eauvive hinziehen soll, aber die da keine Schule wie wir hier haben und sie dich deshalb nicht mitnehmen wollte."
"Ja, hat die gesagt", stieß Philemon aus. Ursuline zog Julius behutsam zurück und tat selbst zwei vorsichtige Schritte rückwärts. So stand Florymont nun alleine direkt vor seinem Neffen. Er wirkte sichtlich betreten, als müsse er gleich einen sehr schweren Fehler eingestehen oder sei bei irgendwas ganz peinlichem erwischt worden. Schließlich sagte er:
"Deine Maman will, dass du hier mit den anderen Kindern zur Schule gehst. Aber sie will mit den Neuen nicht hierbleiben, solange ihr alle sagen, dass sie mit den Fontchamps friedlich sein soll. Deshalb hat die das gesagt. Aber die will dich nicht weggeben, abgesehen davon, dass deine Tante Camille und ich dich sicher genauso bei uns wohnen lassen würden wie Denise, Chloé und deine vier neuen Cousinen und auch die Melanie."
"Maman hat die Neuen einfach so gekriegt, ohne dass die mir gesagt hat wieso und wer der Papa von denen ist."
"Echt, hast du nicht gehört?" fragte Chloé nun und fing sich von ihrem Vater einen mahnenden Blick ein, während Ursuline und Julius noch ein paar Schritte rückwärts taten. "Tante Uranie hat da, wo es ganz dunkel über Millemerveilles war was in die Nase bekommen, was gemacht hat, dass alle Kinder ganz fest geschlafen haben und die Großen neue Kinder gemacht haben und Tante Uranie dabei mit ..."
"Chloé, gut jetzt!" schnitt Florymont sehr laut seiner Tochter das Wort ab. Diese sah ihren Vater verdrossen an, sprach aber nicht weiter. "Also, Phil, deine Maman hat die drei neuen nicht gekriegt, weil sie dich nicht mehr haben will. Die hat die drei gekriegt, weil ihr das gleiche passiert ist, was Tante Camille und mir und den ganz vielen anderen hier passiert ist, warum die jetzt so viele neue Kinder haben. Und ich sage es noch mal: Sie will dich nicht ganz weggeben. Sie will nur, dass du hier mit den anderen genausoalten Kindern in die Schule gehst und alles lernst, was richtig und wichtig ist. Sie hat Angst, dass das woanders nicht geht. Ich habe ihr nur gesagt, dass sie klarhaben muss, wie sie mit den Leuten hier friedlich weiterwohnen kann. Außerdem geht Claudine Brickston ja auch hier zur Schule. Aber deren Maman und Papa wohnen ganz woanders."
"Mann, sag doch, dass ihr mich nicht mehr wollt, Onkel Florymont!" stieß Philemon aus. Daraufhin kamen Viviane und Janine angelaufen, die eigentlich noch nach weiteren Ostersachen suchen wollten. Jeanne, die vor dem Apfelhaus stand, rief ihren beiden Töchtern zu, wieder zurückzukommen.
"Wir wollen schon, dass es dir gut geht, Philemon. Und wenn deine Maman sagt, dass du bei uns wohnen bleiben möchtest, dann bleibst du bei uns wohnen. Aber wenn sie dich mitnehmen möchte, wenn sie von uns weggeht, dann bleibst du eben bei ihr. Keiner will dich weggeben."
"Glaube ich dir nicht. Maman will nur noch die drei ganz kleinen haben. Die sagt mir auch nicht, wo mein richtiger Papa ist, weil die nicht bei dem sein will", stieß Philemon Dusoleil aus und warf sich herum. Er sprang nach links an Chloé vorbei und rannte los, Chloé hinterher. Florymont sah einen Moment auf die beiden. Dann lief auch er los.
"Wundere mich, dass Florymont alles mögliche bauen und bezaubern kann, aber einen Klangkerker kann er offenbar nicht", grummelte Ursuline, die dem nun Familieninternen Geplänkel der Dusoleils scheinbar unbeteiligt zusah, nachdem das zwischen Phil und ihren Kindern erledigt war. "Uranie Dusoleil muss eine sehr wichtige Entscheidung treffen. Ich weiß nicht, ob das außerhalb vom Dusoleil-Haus wer wissen soll, Oma Line", entgegnete Julius darauf. "Dieser unsinnige Zank mit den Eltern von Bernard Fontchamp, weil die wollen, dass ihr Sohn auch ohne Heirat an der Erziehung der drei Kinder von Uranie beteiligt wird? Ist schon viermal durch die französische Zaubererwelt, Julius. Also, was steht deshalb an?" wollte seine Schwiegergroßmutter nun wissen.
"Öhm, nach den mir mitgeteilten Sachen wurde Uranie von Antoinette Eauvive eingeladen, bis auf weiteres bei ihr zu wohnen, also im Château Florissant. Jedenfalls will sie mit den Fontchamps nichts mehr zu tun haben. Sie fühlt sich schlicht weg missbraucht und wie ein Stück Abfall weggeworfen. Du hast dann ja sicher auch mitgekriegt, dass sie dem jungen Monsieur Bernard die Frage gestellt hat, ob er sie nicht der Kinder wegen heiraten möge, damit sie in einer vollständigen Familie groß werden und nicht dauernd zwischen Papa und Maman hin und hergereicht werden. Tja, und er hat sich selbst darauf berufen, ebenso ein Opfer dieser Machenschaft von Vita Magica zu sein und ihm deshalb niemand diese Verantwortung aufladen sollte. Seine Eltern denken da anders, haben aber selbst vor zwei Tagen vier neue Kinder dazubekommen, was ihn auch zu einer ziemlich heftigen Bemerkung verleitet hat, dass Vita Magica ihn um sein Erbteil gebracht hätte und er sich das von denen wiederholen wird", sagte Julius leise genug, dass nur Ursuline es hören konnte.
"Ich hab's immer wieder gesagt und sage es auch weiterhin, dass diese Leute von der sogenannten Gesellschaft zur Wahrung und Mehrung magischen Lebens gewissenlose Verbrecher sind. Ja, und genau deshalb könnte es Bernard Fontchamp genauso ergehen wie Gérard Dumas." Julius nickte heftig. Das könnte er Bernard Fontchamp genauso erzählen. Aber Gérard hatte ja schon nicht auf ihn hören wollen, und Bernard Fontchamp war vier Jahre älter als Julius und Gérard und hoffte darauf, noch zehn Jahre Quidditch zu spielen, erst für die Mercurios von Millemerveilles und vielleicht noch bei den Pariser pelikanen oder den Lyonaiser Löwen.
"Gut, was mich die Sache anging ist erledigt, hoffe ich mal. Ich dachte gerade echt, du wolltest dem Kleinen echt alles wegnehmen, was er bei sich hat."
"Ich weiß, wie hilflos sich jemand fühlt, der erst rumgeschupst wird und dann rauskriegt, wie er zurückschupsen kann. Ich kann nur sagen, wenn ich schon mit sechs gewusst hätte, dass ich echt zaubern kann und das auch ohne Zauberstab beliebig oft hingekriegt hätte, hätte ich denen sicher heftig Zunder gegeben. Ja, und als ich dann lernte, wie ich zumindest mit prügelnden Leuten fertig werden konnte habe ich gleichzeitig gelernt, dass von sich aus losprügeln immer nur neue Prügel einbrockt. Das wollte ich Philemon hier und heute endlich klarmachen, dass das Recht des Stärkeren auch immer gegen ihn benutzt werden kann, wenn keine klaren Regeln gelten, wie alle miteinander friedlich sein können. Achso, die Antwort auf deine Frage: Ich hätte ihm nur die Eier weggenommen, die er den anderen geklaut oder besser geraubt hat. Da gibt's ja diesen feinen rechtlichen Unterschied.""
"Und was hättest du dann mit den Sachen gemacht?" fragte Ursuline. "Ich hätte die Sachen denen zurückgegeben, denen sie gehören und gesagt, dass bei Millie und mir im Haus alle gleich wichtig und gleich gut sind, egal ob groß oder klein."
"Na ja, aber offenbar hat er es zumindest kapiert, dass er da gerade in der schlechteren Lage war. Aber genau das hätte ich auch gemacht, erst die vielen anderen von ihm wegscheuchen, damit die nicht denken, das jetzt immer so machen zu dürfen und dann alles wieder so hingekriegt wie es gehört, zumindest nach unseren Vorstellungen von richtig und Falsch, mein und dein."
"Habt ihr Papa und Phil jetzt von eurem Grundstück verjagt, Julius?" fragte Jeanne. Julius verneinte das.
Zwei Minuten später kam Florymont mit Philemon auf den Armen zurück. Der Junge war jetzt kein Bündel grober Gemeinheit mehr, sondern ein armes Häuflein Elend. "Jeanne, Chloé bleibt noch hier, bis du mit ihr und den anderen wegfliegst. Ich muss mit ihm hier nach Hause, das mit Uranie und Camille bereden, wie es weitergeht, wo er ganz offen dabei ist. Vielleicht hätte ich bei der heftigen Unterhaltung mit meiner großen Schwester doch einen Klangkerker machen sollen oder sie mit in die Werkstatt nehmen sollen."
"Gut, Papa, ich nehm die Chloé dann auch mit zu uns, falls sie nicht zu euch nach Hause möchte. Klärt das bitte. So wie es ist kann es nicht bleiben", sagte Jeanne. Ihr Vater sah sie erst verdutzt an, nickte dann aber. Dann stellte er Philemon auf seine Füße. "So, junger Monsieur Dusoleil, wir fliegen nach Hause. Die Chloé bleibt hier bei Jeanne und den anderen."
"Moment", sagte Julius und apparierte mal eben hinter dem Apfelhaus, wo gerade Estelle, Roger und Ursulines größere Töchter nach Ostersachen suchten. "Phil fliegt mit seinem Onkel nach Hause. Darf der noch ein paar Ostereier mitnehmen, die noch keiner von euch gefunden hat?" fragte er die vier. Diese sahen Julius verwundert an. Dann nickte Félicité. Julius bedankte sich und zog seinen Zauberstab. Mit einem ungesagten Apportierzauber versetzte er ein paar jener Ostereier mit kleinen Geschenken, die eher für Jungen waren aus ihren Verstecken direkt vor sich hin, las sie vom Boden auf und disapparierte wieder.
Florymont nahm die Ostereier entgegen. "Die hast du gefunden, Phil. Das kannst du deiner Maman ruhig so sagen", meinte Julius. Philemon starrte ihn ungläubig an. Dann rang er sich ein leises "Danke!" ab. Danach ließ er sich von seinem Onkel vor sich auf den Besen heben. Beide flogen davon.
Millie, Line und Julius befanden, dass sie diese unschöne und auch traurige Sache nicht breiter treten mussten als sie schon war. So konnten sie mit den anderen jungen Eltern und ihren Kindern noch einen fröhlichen Ostertag verbringen. Béatrice musste zwischendurch los, um zusammen mit Aysha Karim bei einer Geburt zu helfen. Doch die anderen Pflegehelferinnen und Pflegehelfer konnten den Ostersonntag in Ruhe und Freude verbringen.
Als alle anderen Kinder mit ihren Eltern in die eigenen Häuser zurückkehrten meinte Millie zu Julius: "Es ist so schön, dass die alle hier uns als ihre Mitbewohner angenommen haben und dass wir denen dafür was zurückgeben können, Monju." Ihr Mann erwiderte darauf: "Vor allem freut es mich für Sandrine, dass sie sich immer noch mit ihren Zwillingen so gut aufgehoben fühlen kann, nachdem sie ja schon fast dauerhaft bei uns in Millemerveilles wohnt."
"Ja, und Véronique hat sich sehr über die drei kleinen Brüder gefreut. Ist doch was ganz anderes als diese unfeine Debatte, die ich vor zwei Tagen mitkriegen musste."
"Du meinst die Andeutungen oder klaren Ankündigungen schon erwachsener Söhne und Töchter, dass sie vor dem Familienstandsgericht oder dem Zaubergamot durchsetzen wollen, dass die ungewollten Geschwister vom Erbe der Eltern ausgeschlossen werden", grummelte Julius. Millie nickte verdrossen. "Als du mir das vorgelesen hast habe ich auch gedachtg, mich tritt ein Abraxanerpferd mit Brille. Klar berufen die sich darauf, dass diese Kinder nicht im Einvernehmen der Eltern entstanden sind und somit nicht dem Familienstandsgesetz nach als erwünschte Familienangehörigen gesehen werden. Aber dann habe ich gedacht: Geht's noch? Die Kleinen können echt am wenigsten dafür, dass es sie gibt und vor allem, wer so tickt wertet sich und die eigenen Eltern zu reinen Goldumverteilungsmaschinen ab. Bis zu diesem Ding habe ich selbst keinen Gedanken darauf verwendet, dass ich den Erbteil meiner Mutter jetzt mit drei Halbgeschwistern teilen soll, obwohl das ja de Jure, also rechtskräftig so laufen mag, sowohl nach französischem wie US-amerikanischem Zaubererwelt-Erbrecht. Aber dass sich Leute, denen es doch eigentlich ganz gut geht und die selbst gerade Familien haben, klagen, dass sie nun nicht den ihnen zustehenden Erbteil kriegen können ist heftig."
"Was soll denn meine Mutter sagen? Die ist die Erstgeborene. Die musste immer wieder mitbekommen, dass sie neue Geschwister bekam, und von denen dann auch welche als sie groß wurden eigene Familien gegründet haben. Aber die wäre nie auf die Idee gekommen, Oma Line deshalb herunterzuputzen, was der denn einfiele, ihr Erbteil immer mehr einzuschränken", sagte Millie.
"Wie erwähnt, Mamille, ich hatte mich schon ganz daran gewöhnt, das einzige Kind meiner Eltern zu sein. Trotzdem habe ich es meiner Mutter gegönnt, auf die eine oder andere Weise noch mit wem glücklich zu werden. Wer bin ich denn, ihr vorzuschreiben, ob sie noch Kinder bekommt und wie viel Vermögen sie mir zu hinterlassen hat? Andererseits bin ich weder Anwalt noch Familienfürsorgebevollmächtigter des Zaubereiministeriums. Das müssen die mit denen klären."
"Öhm, das Wort "Goldumverteilungsmaschine" klingt eindeutig und unmissverständlich. Darf ich es benutzen, wenn ich in der Temps über dieses Thema was schreiben muss. Weil dieses Thema wird garantiert bei vielen aufkommen." Julius erlaubte es seiner Frau, das von ihm gebrauchte Wort zu benutzen.
ALLE FRÜHLINGSKINDER SIND JETZT DA
Ich habe die sehr dankbare Aufgabe, Ihnen und euch allen dort draußen verkünden zu dürfen, dass gestern die letzte der von Vita Magica ungewollt schwanger gewordene Hexe Lavinie Dubois ihre drei Kinder sicher auf die Welt gebracht hat. Meine Schwester Martine, eine ehemalige Pflegehelferin aus Beauxbatons wie ich, half meiner als approbierte Heilmagierin tätigen Tante Béatrice Latierre, die drei Kinder gesund auf die Welt zu holen. der jungen Mutter geht es nach der siebenstündigen Niederkunft einigermaßen. Wie alle anderen muss sie auf Anordnung der hauptamtlich in Millemerveilles niedergelassenen Hebamme Hera Matine mindestens drei Wochen das Bett hüten, darf nur für einfachste Sachen oder zur Versorgung ihrer drei Kinder aufstehen. Damit sind nun alle 250 im Juni letzten Jahres ungewollt mit mehr als einem Kind schwanger gewordenen Hexen mehr oder weniger stolze oder glückliche Mütter. Ich schreibe deshalb mehr oder weniger, weil sich für viele nach der Geburt so vieler Kinder auf einmal die alltäglichen Fragen stellen, wie diese vielen neuen Kinder zu versorgen sind, welche Möglichkeiten sie später einmal haben werden und ob jene, die alleinstehend schwanger wurden die Väter der Kinder heiraten sollten oder nicht. Immerhin gilt seit dem 1. Februar 2004 die ministerielle Zusicherung, dass alle Mütter, ob verheiratet oder nicht, einen monatlichen Beitrag zur Fürsorge erhalten, damit ihnen da selbst keine Schwierigkeiten entstehen. Dennoch ist die Lage für all die jungen Mütter schwerer einzuschätzen als sie vor einem Jahr noch war.
Ich hatte in der Ausgabe vom 1. März erwähnt, die Namen der Neugeborenen nicht öffentlich zu machen, weil mein Chefredakteur und ich davon ausgehen, dass diese ganz vielen Kinder schon weit vor dem Schulanfang als "Die unerwünschten" abgestempelt werden und dadurch in Gefahr geraten, sich auch zu unverantwortlichen Hexen und Zauberern zu entwickeln. Andere Fragen, die innerhalb der nun erheblich größer gewordenen Familien aufgekommen sind, zum Beispiel wie ein irgendwann hinterlassenes Erbe verteilt wird oder wer nun genau für die Versorgung mit Nahrung, Kleidung und anderen benötigten Sachen und die Ausbildung aufkommen wird liegt im Ermessen des Zaubereiministeriums und hier besonders den Abteilungen für magische Gesetze, Familienfürsorge und Ausbildung. Ich bin schon dabei, entsprechende Einzelgespräche zu führen und/oder Stellungnahmen zu erhalten, deren Wortlaut ich dann in den kommenden Ausgaben wiedergeben werde.
Auch wenn für die allermeisten jungen Eltern oder alleinstehenden Mütter eine sehr anstrengende Zeit angebrochen ist freuen wir uns doch alle, dass die Auswirkungen der gewissenlosen Beeinflussung auf unser aller Leben zumindest keine schwerwiegenden körperlichen Schäden verursacht hat. Hierfür danken wir, die Bürgerinnenund Bürger von Millemerveilles, all den eifrigen Heilerinnen und ihren freiwilligen Assistentinnen und Assistenten, ohne die diese bisher nie dagewesene und hoffentlich nicht wiederkehrende Lage bewältigt werden konnte.
Der Dorfrat von Millemerveilles, dessen weibliche Mitglieder ausnahmslos zu den Betroffenen dieser unmenschlichen und äußerst feigen Aktion im Juni 2003 gehören, bat mich eindringlich, zum Abschluss dieser Bekanntmachung folgendes wortwörtlich wiederzugeben:
"Wir, der Dorfrat von Millemerveilles, dessen weibliche Mitglieder durch die im Juni 2003 auf zu nichts höherem als reinen Zuchthennen abgewertet wurden, sprechen hiermit jeder unmittelbar an Planung und Ausführung des auf uns verübten Anschlages beteiligten Person ein lebenslängliches Betretungs- und Wohnrecht für Millemerveilles aus und fordern das Zaubereiministerium auf, es nicht bei einer reinen Aufwandsentschädigung zu belassen, sondern zum einen die Frist für eine Bestrafung auf unbestimmte Zeit zu verlängern und die erwiesenen Täterinnenund Täter vollständig zu enteignen und sie zudem noch für die Zeit in Haft zu nehmen, die unsere Kinder brauchen, um zu eigenständigen Hexen und Zauberern heranzuwachsen, also zwischen achtzehn und vierundzwanzig Jahren. Inwieweit den erwiesenen Täterinnen und Tätern die Mitgliedschaft in der magischen Welt danach zugestanden bleiben soll legen wir in das Ermessen der zuständigen Ministerialbehörden, würden es jedoch als sehr große Genugtuung ansehen, wenn den erwiesenen Tatbeteiligten die Zaubereiberechtigung entzogen würde."
Welche unmittelbar anstehenden Maßnahmen getroffen wurden und wie sich der Dorfrat von Millemerveilles und die Schulleiterin der Beauxbatons-Akademie zur Frage der Fürsorge und Ausbildung der nun 750 Kinder äußerten entnehmen Sie bitte der Ausgabe der Temps vom 8. Juli 2003, die Sie per Eulenpostanfrage bei unserem Archivar Otto Latierre erhalten können!
Nun ist also die neue Zeit endgültig angebrochen, in der Millemerveilles sich von Sardonias Erbe erholt und es zugleich wegen eines unter dessen dunklem Schatten möglich gewordenen Angriffs auf unseren Freien Willen viele neue Bürgerinnen und Bürger gibt.
MUL
Hera Matine hatte alle Kolleginnen und die Pflegehelfer zu einer inoffiziellen Feier eingeladen, um ihnen allen zu danken, dass sie sie während der letzten sieben Wochen so tatkräftig und einfühlsam unterstützt hatten. Dafür hatte sie vor ihrem Haus ein sonnengelbes Festzelt aufbauen lassen, in dem eine goldene Tanzfläche und mehrere weiß gedeckte Tische aufgebaut waren. Die Pflegehelferinnen und Pflegehelfer durften ihre Ehepartner und Kinder mitbringen, sofern vorhanden.
Millie und Julius waren froh, dass sie ihren Beitrag hatten leisten können, dass die ganzen Hexen in Millemerveilles alle ihre Kinder bekommen hatten. Wie diese nun groß wurden lag nicht mehr unmittelbar bei ihnen.
Aurore freute sich, mit Sandrines Sohn Roger tanzen zu können, während Chrysope mal mit Janine und Belenus Dusoleil und mal mit Estelle Dumas zusammen spielte.
Julius führte mit Jeanne Dusoleil und Béatrice ein Blockflötenterzett auf, bei dem mehrere Kinderlieder angespielt wurden, die sie hier alle kannten. Als dann andere Pflegehelferinnen und Pflegehelfer Musik zum mitsingen oder mittanzen aufspielten tanzte er mit seiner Frau Millie, mit Sandrine, Belisama und auch mal mit Hera Matine. Diese verriet Julius, dass sie die ledigen Mütter, die ihre Kinder von den durch Sardonias Umtriebe verschwundenen Goldblütenhonigverweigerern bekommen hatten, davon hatte überzeugen können, dass sie hier in Millemerveilles weiterhin willkommen waren und ihre Kinder gemeinsam großziehen konnten. Hierfür würde wohl demnächst noch ein weiteres Haus auf dem bereits von bezauberten Apfelbäumen umfriedeten Gelände des Entbindungsheimes errichtet. Niobée Matinbleu, die von dem verschwundenen Grandbois drei Kinder bekommen hatte, wollte ursprünglich in eine andere Zaubererweltsiedlung oder ein magisches Stadtviertel von Paris, Marseille oder Avignon umziehen. Doch ob sie die drei dort ohne Verachtung oder Mitleid der Nachbarn hätte großziehen können konnte sie nicht beantworten. Julius bemerkte dazu nur, dass er zumindest froh war, dass die Betroffenen von den unbetroffenen Nachbarn weiterhin respektiert wurden.
Als Jeanne mal mit Julius tanzen durfte sagte sie ihm: "Es ist jetzt amtlich. Tante Uranie zieht nach der Wochenbettruhe mit Philemon und den drei Neuen ins Château Florissant zu Antoinette. Papa war zwar ein wenig traurig, und sicher könnte da noch ein Brief, vielleicht ein Heuler von seinen Eltern kommen. Aber so wie Tante Uranie sich in den letzten Wochen verhalten hat und vor allem, dass sie den Fontchamps jetzt offen feindselig gegenübersteht ist nicht schön für die gute Nachbarschaft. Tja, und wie Philemon gerade drauf ist hast du ja Ostersonntag mitbekommen."
"Ja, zu gut und vor allem, warum er so drauf ist", sagte Julius verknirscht. Doch mehr wollte er dazu nicht sagen außer: "Ich verstand mich mit deiner Tante Uranie immer ganz gut, wenn ich euch besucht habe. Sie gehörte irgendwie immer in das Haus deiner Eltern dazu. Aber ich kann und muss auch verstehen, dass deine Mutter und auch Antoinette ihr das nicht länger nachsehen möchten, dass sie sich wegen der drei neuen jetzt so heftig verändert hat. Sicher, sie hat wohl gedacht, Philemon sei sowas wie ein einmaliger Fehltritt gewesen. Dann wurde sie von diesem Rauschgas überwältigt und dadurch wieder in eine Schwangerschaft hineingetrieben. Ich kann oder will auch nicht vorschlagen, wie es mit ihr und den Fontchamps richtig laufen kann. Für wie lange zieht sie um?"
"Darauf haben sich Papa, sie und Antoinette, die Hera das ganze aus den Händen gepflückt hat, bisher nicht klar geeinigt oder ich habe es nicht mitbekommen", räumte Jeanne ein. "Kann sein, dass sie nur ein halbes Jahr umzieht oder gleich für immer. wie du sagtest, sie gehörte bisher irgendwie zu Maman und Papa dazu. Wir alle sind bei ihr mitaufgewachsen, Chloé, Denise, Claire und ich. Wird nicht so einfach sein. Aber dafür sind ja jetzt Alexandrine, Lavinie, Zoé und Mélisande im Haus. Langweilig wird's da also auf gar keinen Fall." Das konnte Julius nicht abstreiten.
Die Feier ging bis kurz vor Mitternacht. dann halfen alle Gäste beim Aufräumen mit und flogen auf ihren Besen zu den Häusern, wo sie seit nun bald vier Monaten wohnten.
Nach den anstrengenden Wochen im März und bis zum 18. April sah Julius die Büroarbeit wie einen Urlaubstag an, auch wenn ihn am Morgen des 22. April so viele Anfragen wegen direkter Gespräche erwartet hatten. Zumindest war das leidige Thema mit den VBR-Kristallen bereinigt worden. Demetrius, dessen Gedankenstimme er nach der Konferenz der Mitarbeiter von Nathalies Büro mithören durfte, erwähnte mit hörbarem Stolz, dass es seiner Mutter und wohl auch ihm gelungen sei, Boris Charlier auf nur zehn VBR-Kristalle für die Vampirüberwachung herunterzuhandeln. "Meine mich sicher und warm tragende Heimstattgeberin hat meinen Vorschlag dankbar angenommen, Charlier zu fragen, ob er selbst einen Computerkurs machen wolle, um ganz ohne fremde Hilfe Anfragen nach Übersee zu schicken, Julius. Tja, da hat sie ihn schon mal kalt erwischt. Denn dann hätte der in die Bleumont-Sippe importierte ja zugeben müssen, dass diese Elektronikrechner doch einen Sinn machen und jeder Posteule überlegen sein konnten. Ja, und weil ich Maman so wie dir jetzt weitergegeben habe, dass diese Götzinnendiener garantiert mit diesen Elektrorechnern hantieren und sich deshalb noch schneller abstimmen können, falls die nicht miteinander meloen, musste er einsehen, dass eine ständige Abwehraura um wichtige Gebäude wirksamer sei als eine zu Hilfe gerufene Einsatztruppe. Deshalb wollte er am Ende nur zehn Kristalle, um deren Wirkung auf Vampire zu erkunden. Womöglich hofft er darauf, dass seine Leute herausfinden, wie die Dinger hergestellt werden, um sich dann selbst einen unbegrenzten Vorrat davon anzulegen. Das sei ihm gerne gegönnt, wenn wir dafür vor dieser Götzinnenbrut sicher sind."
"Dann verrate Julius auch, was du mir aus deinem Luxusgemach zugeflüstert hast, mein kleiner Prinz in Wartestellung", schickte Nathalie über die Cogison-Ohrringverbindung zurück.
"Ach, dass der Schwiegervater meiner noch lange auf mich wartenden großen Schwester Charlier einen Sonderfond für aktive Vampirbekämpfung in Aussicht gestellt hat, wenn er es dafür hinbekommt, dass die Monatsmiete für die Ministeriumseulen auf zwei Sickel gesenkt wird?" fragte Demetrius' Gedankenstimme. Nathalie nickte, auch wenn ihr noch für viele Jahre auf die Wiedergeburt wartender Körpermitbewohner das nicht sehen konnte. "Immerhin hat Charlier das hinbekommen, wohl auch, weil die Bleumonts sonst hätten erklären müssen, dass sie es nötig hatten, sich frisches Erbgut vom Balkan in die Familie zu holen", legte Demetrius nach.
"Och, da hatten meine Schwiegerverwandten überhaupt kein Problem mit", erwiderte Julius darauf. Nathalie lächelte. Dann tätschelte sie sich den unter ihrer Umstandsverbergekleidung gerundeten Bauch und verkündete: "So, du darfst jetzt wieder deinen Wachstumsschlaf haben, Demetrius, Julius und ich müssen die nicht per Eulenpost alleine abhandelbaren Vorgänge durchgehen. Das würde für dich nur zu langweilig. Schlaf gut!"
Tatsächlich musste Julius sich noch mit fünf Leuten treffen, die wegen möglicher Probleme mit nichtmagischen Leuten wissen wollten, wie genau sie vorgehen mussten. Doch um sechs Uhr konnte er den ersten Arbeitstag nach der Ankunft aller Frühlingskinder beschließen.
Als der Hausherr des Apfelhauses in seiner Wohnküche apparierte grinste Millie ihn an und deutete auf ein hohes Bord. "Das kam heute um zehn aus Belgien an, Julius. Offenbar wollte da noch wer vor meinem Geburtstag auf die Welt", deutete Millie an. Julius nahm den Briefumschlag vom Bord und zog ein Pergament heraus. Er las leise, dass am 21. April um drei Uhr morgens ein gewisser Maurice Sean Malone nach zwei anstrengenden Stunden auf die Welt gekommen war. der stolze Familienvater Kevin Malone lud jeden, der ihm wichtig und gern gesehen war ein, am 10. Mai mit seiner Frau, sowie seinen Verwandten die Ankunft des neuen Erdenbürgers zu feiern. Julius nickte Millie zu und sagte:
"Tja, jetzt hat Kevin seinen Kronprinzen, den er schon damals haben wollte, wenn sich Shivaun nicht vorgedrängelt hätte." Millie nickte. Julius verschwieg, dass er nun wieder an das Ultimatum Ashtarias denken musste. Das erste von zwei gewährten Jahren war bald um. Doch jetzt mit Druck auf das nächste Kind, ja auf den von Ashtariaa geforderten Sohn hinzuwirken, würde weder ihm noch Millie Spaß machen. Außerdem spukte ihm wieder dieser eine Traum durch den Kopf, dass sie beide angeblich wegen des Mondburgzaubers drei Jahre und danach dreimal so viele Jahre warten mussten, wie sie Töchter bekommen hatten, um die Wahrscheinlichkeit für einen Sohn genauso groß zu haben wie für eine weitere Tochter. Das würde noch was geben, sollte diese bisher nur von ihm geträumte Behauptung stimmen. Er wollte es demnächst herausfinden, bevor er sich und Millie irgendwas vorwerfen mochte. Ja, und vielleicht ließ sich Ashtaria auch um weitere Jahre vertrösten, jetzt, wo sie es ja mit Ammayamiria hinbekommen hatten, Millemerveilles zu einem sicheren Zufluchtsort vor dunkler Magie zu machen.
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