Die Welt ist weiterhin in Aufruhr. Die nichtmagische Menschheit lebt mit den Auswirkungen der Terroranschläge vom 11. September 2001 und dem Vergeltungskrieg der USA und ihrer Verbündeten in Afghanistan und dem Irak. Die Magische Welt hat weiterhin mit den Auswirkungen der von Ladonna Montefiori unbeabsichtigt ausgelösten Welle dunkler Zauberkraft zu tun. Zwar konnte das Erbe Sardonias in und über Millemerveilles endgültig beseitigt werden. Doch die während der Eingeschlossenheit durch eine gasförmige Droge Vita Magicas ausgelöste Fortpflanzungsorgie erlegt den Bewohnern Millemerveilles die Verantwortung für über 750 im nächsten Jahr ankommende Kinder auf.
Im Auftrag und mit Hilfe der transvitalen Entität Ammayamiria errichten Millie und Julius Latierre zusammen mit Ashtarias Nachkommen Camille Dusoleil, Maribel Valdez und Adrian Moonriver eine neue, schützende Glocke über Millemerveilles, die nicht wie die dunkle Kuppel Sardonias auf Leid und Tod, sondern Lebensfreude, wachsendem Leben und Liebe gründet.
Die dunkle Woge im April 2003 bestärkt dunkle Wesen und Gegenstände. So erwacht die schlummernde Kraft in einem Zauberkessel der Hexenmeisterin Morgause zu unheimlichem Eigenleben. Doch der Kessel wird von den darum streitenden Hexen Anthelia und Ladonna zerstört. Morgauses darin eingelagerte Seele wird von der ebenfalls bestärkten Nachtschattenführerin Birgute Hinrichter vertilgt und gibt ihr damit noch mehr magische Kraft. Auch der Orden der Gooriaimiria gewinnt durch die weltweite Welle dunkler Zauberkraft mehr Kraft.
In Australien erwachen die vier letzten Schlangenmenschen Skyllians aus jahrtausendelangem Zauberbann und sorgen über mehrere Wochen für Angst und Unsicherheit, weil sie ihr Dasein ungehindert ausbreiten wollen. Nur die von Anthelia nach Australien geschafften Insektenmenschen, sowie ein machtvolles Ritual australischer Stammeszauberer am heiligen Berg Uluru dämmen die Ausbreitung von Skyllians letzten Dienern ein.
Julius Latierre nimmt an mehreren Hochzeitsfeiern teil. Bei der Hochzeit von Gabrielle Delacour und Pierre Marceau in einem abgelegenen Waldschloss bei Amien droht die Geheimhaltung der Zaubererwelt zu scheitern. Denn das Schloss wurde vom US-Geheimdienst CIA als Spionage und Überwachungsstätte benutzt. Nur Julius' Computerkenntnisse und der Zaubertrank Felix Felicis ermöglichen ihm, die drohende Enttarnung der Zaubererwelt zu verhindern.
Im Dezember bekommt die Familie Latierre Zuwachs. Zum einen wird den Eheleuten Hippolyte und Albericus Latierre ein Sohn geboren, der eine körperliche Besonderheit aufweist. Er besitzt zwölf Finger und zwölf Zehen. Zum anderen heiratet Hippolytes und Béatrices Cousin Gilbert seine amerikanische Kollegin Linda Knowles, mit der er den Betrug der US-Quidditchmannschaft bei der Weltmeisterschaft aufgedeckt hat. Ein wenig beunruhigt ist er von einem Traum, indem die in magischen Sphären überdauernden Seelen älterer Frauen davon sprechen, dass Millie und er drei Jahre und drei mal so viele Jahre wie sie Töchter haben keinen Sohn bekommen können, weil die Magie der Mondburg dies so eingerichtet hat. Da Ashtaria über Ammayamiria gefordert hat, dass er in den kommenden Jahren seinen ersten Sohn zeugen soll, um den Tod eines Sohnes aus der Linie Ashtarias auszugleichen, weiß er nicht, was er von diesem Traum halten soll.
Die ersten Wochen des Jahres 2004 verlaufen ohne erwähnenswerte Ereignisse. Doch die mit dem Schutz der magischen und nichtmagischen Menschen betrauten Ministeriumsbeamten wissen, dass diese Ruhe trügerisch ist. Tatsächlich nutzen die menschenfeindlichen Gruppierungen die Zeit, um bessere Ausgangsmöglichkeiten für weitere Aktionen zu schaffen. Die Sekte der erwachten Göttin errichtet auf jedem der sieben großen Erdteile einen magischen Stützpunkt, einen "Tempel der erwachtten Göttin". Birgutes nachtschatten erweisen sich als die mächtigsten Widersacher Gooriaimirias. Mit dem Machtanspruch Gooriaimirias unzufriedene Vampire erbeuten die Kenntnisse über die Standorte der sieben Tempel. Linda Latierre-Knowles und ihr Ehemann Gilbert erfahren bei einer heimlichen Reise nach Italien, dass Ladonna Montefiori offenbar schon wichtige Posten im Zaubereiministerium kontrolliert und muss nun zusehen, wie sie es denen beibringen können, die ihnen vertrauen.
Die Wochen zwischen Ende Februar und Mitte April werden die anstrengendsten in der Laufbahn der Heilhexe Hera Matine. Denn in diesen Zeitraum fallen die von Vita Magica erzwungenen Geburten von mehr als siebenhundert neuen Zaubererweltkindern. Camille Dusoleil macht am 29. Februar den Anfang mit gleich vier Töchtern. Die Pflegehelfer unterstützen die ausgebildeten Hebammen bei den Entbindungen. Allerdings kommt es zwischen Uranie Dusoleil und dem ungewollten Vater ihrer drei Kinder zu einem Zerwürfnis. Ihr Sohn Philemon fühlt sich zurückgesetzt und versucht dies durch grobes Auftreten zu überspielen. Uranie geht auf Antoinette Eauvives Vorschlag ein, bis auf weiteres in ihrer Residenz, dem Château Florissant, zu wohnen. Bis zum 18. April erfolgen die erwarteten Geburten der von Camille als Frühlingskinder bezeichneten Babys.
Zur gleichen Zeit kommt es innerhalb der Werwolf-Vereinigung namens Mondbruderschaft zu einer Entscheidung, ob die Mitglieder sich den eingestaltlichen Hexen und Zauberern anvertrauen sollen, um keine weiteren Opfer des von Vita Magica verfremdeten Vollmondlichtes zu riskieren oder nun erst recht gegen die Eingestaltler vorzugehen. Die Gruppe um den Zauberer Fino, die für ein weiteres Alleingehen eintritt, gewinnt die Abstimmung und damit auch die Entscheidung, wer die Mondgeschwister weiterführen soll.
Ladonna Montefiori will ihre Macht in Italien vervollkommnen, bevor dort die Neuauflage der Quidditchweltmeisterschaft beginnen soll. Hierzu will sie alte Feinde, die ihr schon vor vierhundert Jahren lästig waren, unwiederbringlich entmachten, die Lupi Romani. Sie schürt gezielt Unfrieden zwischen den vier großen Familien und entfacht damit einen Krieg, der drei der Familien an den Rand der Auslöschung treibt. Der zwergenstämmige Clanchef Vespasiano Mangiapietri und seine Söhne können gerade so noch von seiner Großmutter, der reinrassigen Zwergin Lutetia Arno, in Sicherheit gebracht werden, bleiben aber bis auf weiteres im Zauberschlaf. Ladonna wittert nun die Gelegenheit, weitere treue Anhängerinnen unter dem Bann der Feuerrose zu vereinen. Vor allem geht es ihr um die Stuhlmeisterinnen der sogenannten schweigsamen Schwestern. Ebenso bereitet sie sich darauf vor, weitere Zaubereiminister Europas und anderer Erdteile unter ihre Herrschaft zu zwingen. Falls ihr das gelingt gehört ihr die Zaubererwelt. Doch ihre Feinde sind vorgewarnt.
Er hatte immer gedacht, nur klein zu sein und dauernd in Windeln machen zu müssen sei schon unangenehm gewesen. Doch in diesem ihm aufgehalsten Körper auch noch irgendwelche Zaubersachen zu machen, ohne sich aufrecht hinstellen zu können und nur mit Hilfe des Gedankenvertoners klar verständliche Worte sagen zu können war ja noch schwieriger. Hinzu kam noch, dass er, der von seiner zugeteilten Amme Ilaunamiria Otaraggayan genannt wurde, bloß kein lautes Wort sagen durfte, weil Ilaunamiria ihm womöglich das Gedächtnis genommen und ihn als ganz gewöhnlichen Säugling weitergepflegt hätte. Somit war Adrian Moonriver dieses eine Jahr, das er üben sollte, als schwierigstes Jahr seines ganzen zweiten Lebens überhaupt vorgekommen. Auch hatte er sich wieder und wieder dabei ertappt, wie sehr er es genoss, wenn die ihm und diesem zum ewigen Leben im Säuglingskörper verwünschten Madrashtarggayan zugeteilte Ilaunamiria ihn nährte und ihm dabei viele schöne Lieder vorsang, die alte Geschichten von mächtigen Kriegern des Lichtes erzählten, die sich gegen die dunklen Verlockungen stellen mussten, um der Macht von Liebe und Leben zu dienen.
Immerhin hatte er im Laufe der Monate lernen können, zu krabbeln und den ihm ausgeborgten Zauberkraftausrichterkristall immer besser halten und geschickter führen zu können. Mit jedr weiteren Woche, die er überstanden hatte, stieg seine Hoffnung, endlich aus diesem anstrengenden Nachhilfeunterricht freizukommen. Diese Ilaunamiria konnte Zauber, von denen er als Adrian Moonriver nur gehört hatte, dass es sie geben sollte, zum beispiel den Zauber der Seelenheilung, mit dem durch schwere seelische Verletzungen zu bösen Taten getriebene beruhigt und von ihrem wahnsinnigen Tun abgebracht werden konnten. Allerdings half dieser Zauber nur bei jenen, die durch ständige körperliche oder geistige Gewalt geschädigt worden waren. Wer von sich aus auf die Pfade der Dunkelheit trat war damit nur eine kurze Zeit lang zu beruhigen. Auch das sogenannte Lied des liebenden Helfers war genial. Damit konnte er über viele Meilen Kontakt mit einem von ihm geliebten oder unter seinen Schutz gestellten Wesen treten und ihm unter Aufbringung eines Gutteils der eigenen Ausdauer neue Körper- oder Zauberkräfte zuführen, ja sogar einen dieses Wesen aus unmittelbarer Gefahr rettenden Zauber anwenden, ohne direkt dabeizustehen. Doch wie Ilaunamiria ihn gewarnt hatte konnte er dafür einen Großteil seiner Tagesausdauer verlieren, ja bei ganz schweren Fällen sogar für Tage bewusstlos werden. Dieser Zauber war, so seine Amme, der kleine Bruder des Liedes der letzten Gnade, mit dem er einem geliebten oder unter seinem Schutz stehenden Wesen den Tod ersparen konnte, dafür aber das eigene Leben geben musste, weil Sharil, der personifizierte Tod, nicht unverrichteter Dinge gehen würde. , so Ilaunamiria.
Adrian Moonriver oder Otaraggayan fragte sich dabei immer wieder, ob Julius Latierre auch diese mächtigen Zauber erlernt hatte. Vor allem konnte er bei den Liedern, die ihm seine Amme beim Stillen vorsang heraushören, dass sie in einem Regelmaß klangen, in dem auch das Lied des liebenden Helfers und das Lied der letzten Gnade ausgesprochen werden mussten. Ebenso wurde ihm klar, dass eine Mutter, die ihr Kind schützen wollte, durch den Gedanken, ihren Nachwuchs zu schützen die vierfache Kraft des Liedes der letzten Gnade entfesseln konnte, ohne die genauen Worte zu kennen. Dies, so wusste der alte Kämpfer gegen dunkles Zauberwerk, hatte dem Jungen Harry Potter das Leben gerettet und diesem Wahnsinnigen Riddle am Schluss das verdorbene Leben gekostet.
Als er einmal mit Hilfe des cogisonähnlichen Gedankenvertonungsgegenstandes zu Ilaunamiria sprach, dass er doch froh war, zu lernen, dass es wichtiger war, zu lieben, als nur eine Pflicht zu erfüllen sagte sie: "Deshalb bin ich auch sehr gerne deine und Madrashtarggayans Amme geworden, nicht weil ich es als meine Pflicht sehe, sondern weil ich ihm helfen will, trotz des ihm aufgezwungenen Daseins seinen Sinn im Leben zu haben und von dem, was er lernt gerne und ohne Gegenleistung weiterzugeben. Ich bedauere es nur, dass ich nicht so jung bleibe und eines Tages nicht mehr im Stande sein werde, ohne den Trank der nährenden Mutter eigene Milch zu geben. Aber ich bin sehr zuversichtlich, dass bis dahin eine andere Trägerin der Kraft geboren und gereift sein wird, die dann meinen Platz einnehmen kann. Zumindest aber bin ich sehr beruhigt, dass ich ihm helfen kann, jemandem wie dich auf den hellen Pfad zurückzuführen, nachdem in deinem inneren Selbst so viele schmerzhafte Schnitte klafften, die alle erst einmal wieder verheilen mussten. Das wird mich freuen, wenn du in dein eigenes Leben hinaustrittst, du mit weniger Groll und Unwillen auf das erreichte und überstandene zurücksehen kannst und denen beistehen magst, die deinen Beistand erbitten."
"Hat der, den Madrashtarggayan auch schon bei sich hatte und der bei einer gewissen Ianshira gelernt hat auch das alles gelernt, was du mir zwischen Milchmal, Körperreinigung und Schlafzeiten beibrachtest?" fragte er Ilaunamiria.
"Das kann ich dir nicht sagen, weil Madrashtarggayan mit dieser hohen Meisterin verbunden ist und nicht ich", erwiderte seine zugeteilte Stillmutter. Dann fragte er, was mit dem anderen sei, den er vor seiner Ankunft hier gesehen hatte. "Auch das liegt nicht in meiner Zuständigkeit", antwortete die Amme darauf. Was also immer mit dem anderen war, dessen wie erstarrt an einem der Glaszylinder klebenden Körper er gesehen hatte, er durfte es nicht wissen.
"Sieh dort, die kleine Himmelsschwester, wie sie uns silbern zulächelt", sprach Madrashtarggayan zu seinem Milchbruder, als sie beide in ihren sanft schaukelnden Schlafstätten nebeneinander lagen und durch das große runde Fenster hinaussahen. Otaraggayan oder Adrian Moonriver sah es und antwortete mit seiner Version eines Gedankensprechers: "Das ist jetzt der elfte Vollmond. Bald bin ich fertig."
"Ja, nur wenn du es auch noch einen Mond lang aushältst, keine mit eigener Stimme hörbaren Worte auszusprechen. Sonst bleibst du bei mir und wirst wieder so klein wie ich und dann auch so bleiben", antwortete Madrashtarggayan.
"Vor einem Jahr hätte ich noch gefragt, ob dich das lustvoll erregt, sowas zu denken", ließ Otaraggayan seinen Gedankensprecher ertönen. "Doch mittlerweile weiß ich, dass dies leider nur denen möglich ist, die auf natürliche Weise groß werden dürfen."
"Das ist wohl wahr", erwiderte Madrashtarggayan. Da trat Ilaunamiria in die Schlafkammer der beiden Schutzbefohlenen und sagte mit sanfter Strenge:
"Wenn die kleine Himmelsschwester ihr Gesicht zeigt müssen kleine Kinder schlafen. Das gilt auch für die, die bereits ein ausgereiftes inneres Selbst in sich tragen. Ohne die Gesundheit des Körpers ist das innere Selbst ein hilfloses Bündel. Also schlaft ihr beide jetzt!" Mit diesen Worten pflückte sie Otaraggayan und Madrashtarggayan die Gedankenvertonungsgegenstände aus den Mündern. Die beiden quängelten widersetzlich. Beinahe entschlüpfte Otaraggayan noch eine stimmliche Bemerkung. Doch gerade noch rechtzeitig erkannte er, dass er sich damit für alle Zeiten den Weg zurück ins Erwachsenenleben verdorben hätte. So würgte er sein eigenes Quängeln ab und ließ es sich gefallen, wie Ilaunamiria ihn und Madrashtarggayan zu den Tönen eines ihrer Schlaflieder schaukelte, bis ihn die Müdigkeit übermannte.
Im Traum fand er sich in jenem Jahr wieder, wo er als Lehrer für Verteidigung gegen die dunklen Künste in Hogwarts gelehrt hatte. Er sah sich vor einer Klasse aus hochmütigen Slytherins, die der Meinung waren, dass nur wer entschlossen und rücksichtslos genug sei gegen alle Feinde bestehen mochte. Er sagte einmal mehr, dass jeder, der einen anderen mit einem Fluch oder einem anderen Zauber zu Leibe rückte, darauf gefasst sein musste, dass in nicht all zu ferner Zeit wer kam, der darin noch besser war. "Jeder Schlag, den ihr ohne selbst geschlagen worden zu sein austeilt, wird zurückgegeben werden, ob sofort oder erst in Jahrzehnten als Teil einer abzutragenden Gesamtschuld. Das solltet ihr eigentlich jetzt wissen, nachdem der, der sich Lord Voldemort nannte, so unrühmlich aus der Welt verschwunden ist." Tja, selbst die Slytherins schraken zusammen, wenn der Name dieses gemeingefährlichen Zauberers fiel. Dabei war das nicht einmal sein wahrer Name gewesen", wusste er, der damals noch Adamas Silverbolt geheißen hatte. Doch das wollte er diesen arroganten Abkömmlingen von Reinblutfanatikern nicht auf die hoch getragenen Nasen binden. Er ärgerte sich nur ein wenig, dass er diesen Bengeln und Gören noch weitere Waffen an die Hand geben sollte, nur weil Dumbledore darauf bestand, dass jeder Schüler vor jedem Lehrer gleich zu gelten hatte: In loco parentis.
Als er sich an all das und die damit verbundenen Gedanken erinnerte verstand er, was den alten Menschenfreund Dumbledore angetrieben haben musste, dass er auch den Slytherins die Chance geben musste, alles lernbare zu lernen. Denn wenn sich wer benachteiligt fühlte war er oder sie noch empfänglicher für die Lockungen der dunklen Seite. Und wer in Hogwarts lernte konnte im Sinne einer friedlicheren Zaubererwelt erzogen werden, statt von den eigenen Eltern oder von diesen angestellten Leute auf wirklich gefährliche Ideen gebracht zu werden.
Noch einen Mondwechsel musste er durchhalten. Durchhalten? Im Moment ging es ihm doch hier so gut wie vorher vielleicht, als er ein natürlich geborener Säugling gewesen war. Also galt nicht, dass er noch einen vollen Mondwechsel durchhalten musste, sondern dass er nach dem nächsten Mondwechsel in die rauhe große Welt zurückgeschickt wurde, der er für nur ein kurzes Jahr enthoben worden war.
"So bist du wahrlich gereift und kundig genug, um deinen Weg im Leben zu finden, denen beizustehen, die der Dunkelheit zu erliegen drohen und gegen die anzutreten, die sich den falschen Lehren ergeben haben", sprach der hohe Meister, Dargooramotan, was Licht des großen Wissens hieß. Heute hatte er das zwei mal zwölfte Jahr im gläsernen Haus des Miruldari, des lebendigen Lichtes, vollendet. Mit zwei mal sechs erlebten Sonnen war er in diese hohe Lehranstalt gekommen, hatte die Zahl von zwölf mal zwölf Lehrjünglingen, je 72 Jungen und 72 Mädchen, vervollständigt und all die Jahre gelernt, ohne Arg und Rachsucht zu leben. Auch wenn er zwischendurch immer noch davon träumte, dass er eigentlich ein anderer war fühlte er sich geehrt, als der einzige Sohn der Ianshira und des ewigen Wanderheilers Uldarmirminmirrian hier zu sein. Erst hatte er sich gefürchtet, dass die von seiner Mutter geerbte Kleinwüchsigkeit ihm Hohn und Mitleid einbringen mochte. Doch dann hatte er von einem der Meister des Lichtes gelernt, dass das Miruldari jene, die ihm folgten, immer daran erinnerte, nicht vollkommen zu sein und daher nicht dazu neigten, sich anderen überlegen zu fühlen. Denn dies, so der Lehrmeister, sei ein erster Schritt auf dem Pfad in die Dunkelheit. Auch galt immer, dass wie im körperlichen Leben auch im Streben nach Vollendung der Kräfte und Kenntnisse eine Ausgewogenheit von Geben und Nehmen, Wägen und Wagen bestand. Etwas mal eben zu tun, weil jemand es gut meinte, reichte nicht aus, wenn das Wissen fehlte, was genau das gute war und wie es getan werden konnte. Als er das gehört hatte war ihm in der Nacht ein Paar aus zwei Frauen erschienen, die jede ein Kind im Leib getragen hatte. Sie hatten ihn beide angeklagt, dass er sie so gemacht hatte, weil er nicht gewusst hatte, dass eine von ihnen zwei Kinder trug und diese durch Dunkles Werk und böse Absicht an das Leben ihres Erzeugers gekettet hatte, so dass dieser Erzeuger dem Willen der erwartenden Mutter unterworfen war. Er hatte dann mal eben den Wender allen Übels auf den unterworfenen Vater geworfen und diesen dadurch zur mitgetragenen Schwester der Kindsmutter gemacht, ja beide dann je mit einem Kind im Leibe zurückgelassen. So wusste er nun, dass der Übelwender nur dort und nur dann gerufen werden sollte, wenn abzusehen war, welches Übel er zum guten wendete und ob es dann auch wirklich das gute war oder ein anderes, nicht den Körper schädigendes aber dennoch ungewolltes Wirken wurde.
Auch hatte er sich mit zwanzig erreichten Lebenssonnen in die ihn körperlich um einen Kopf überragende, wunderschöne Khauldarammaya verliebt, nicht nur rein vom inneren Selbst her, sondern auch mit körperlichem Begehren. Und sie hatte ihn erhört. Als die Mitte der Blühzeit gefeiert wurde hatte sie mit ihm die Prüfung der Verbundenheit vollzogen. Beide waren dabei im Lichte der kleinen Himmelsschwester über eine gläserne Brücke gegangen, wobei sie ihn getragen hatte. Die Brücke hatte nur aus vereinten Kräften der Himmelsschwester und der großen Mutter Erde bestanden. Weil sie von der Kraft der Himmelsschwester leicht wie Federn über diese gläserne Brücke getragen wurden hatten sie die Prüfung bestanden. Er hatte dabei gesehen, wie Khauldarammaya ihm drei Töchter geboren hatte und zwei ungeborene Söhne in ihr singen hören: "Vater unser sei so gut, hilf uns neu zu werden. Mutters Schönheit und dein Mut, rufe uns auf Erden."
Somit hatte er in seinem einundzwanzigsten Lebensjahr den Segen der hohen Meister des Lichtes erhalten, mit Khauldarammaya den Tanz des neuen Lebens zu tanzen. Seine Mutter Ianshira hatte ihm gesagt, dass seine erste Tochter einmal eine große Kriegerin des Himmelsfeuers werden möge, weil Khauldarammayas Vater selbst zu den Dienern des Himmelsfeuers gehörte, der es verstand, die Kräfte des feurigen Erzeugers allen Lebens, der außerhalb der mächtigen Lieder auch Ashtari, der eine Stern genannt wurde, auf unbelebte Dinge übertragen konnte. Gegen die Folger der verderbenden Dunkelheit war jeder mächtige Lichtzauber hilfreich, vor allem gegen die ihren körperlichen Tod durch eine dunkle Anrufung überdauernden, die ihr lebendes Fleisch in einen nachtschwarzen, flüchtigen Stoff umwandeln konnten, der ihnen als neuer Körper diente.
Tatsächlich war kurz vor Erreichen der zweiundzwanzigsten Lebenssonne die erste Tochter geboren worden, mitten hinein in das Licht der weißen Verkünderin, weshalb sie auch Uldarmirminia genannt wurde. Später mochte sie sich durch große Taten im Leben einen anderen Namen verdienen, sowie der als Tondarmmayan, der ewige Sohn, auch nun Galduramirian, Vater der Verkünderin genannt wurde.
"Heute darfst du endlich in dein eigenes Leben hinaus, für deine drei Töchter für das Wohl der Welt handeln. So gelobe mir den Schwur der Lichtfolger, wie du ihn jedes Jahr zum Gruße der neuen Blühzeit an den Vater Himmelsfeuer und die große Mutter Erde gerichtet hast!" sagte Dargooramotan. Guldoramirian stellte sich vor dem höchsten Lehrer des gläsernen Hauses des lebendigen Lichtes hin und schwor den feierlichen Eid, sein Leben und streben, werken und wirken immer und überall zum Nutzen seiner Mitmenschen, zum Erhalt des Friedens, der Hoffnung und des Lebens einzusetzen, gegen alle widrigkeiten und Verlockungen der Mitternächtigen zu verteidigen, mit guten Mitteln für das Gute einzutreten, statt mit verwerflichen Mitteln gegen das Böse zu kämpfen und jeden Menschen gleichzusehen, ob arm oder reich, begütert oder unbegütert. Als er diesen feierlichen Eid mit den Worten "So schwöre ich es bei der Ewigkeit des Himmelsfeuers, der nährenden großen Mutter und der Unversehrtheit meines Leibes und meiner Seele" bekräftigt hatte, wurde er in goldenes Licht gebadet, das ihn wärmte und fast federleicht über dem weißen Steinboden der Halle der Verkündung schweben ließ.
Die erste, die ihm nach dem Bad in diesem Licht beglückwünschte war seine Mutter Ianshira, die Nachtvertreiberin. Dann durfte er auch sie kennenlernen, die hohe Königin der Lichtfolger, Darxandria. Sie war größer und nicht so kugelförmig gestaltet wie seine Mutter, obwohl sie beide Dieselbe Muttermutter hatten. Darxandria freute sich, noch einen heilkundigen und auch körperlich fruchtbaren Getreuen in ihren Reihen begrüßen zu dürfen. Dann beglückwünschte ihn seine Gefährtin, die bereits die dritte Tochter im Säuglingstragetuch auf dem Rücken trug. Uldarmirminia, die das kornährenfarbene Haar ihrer Mutter geerbt hatte, war bereits mit ihren fünfzehn erlebten Sonnen größer als ihr Vater und hatte die Probe der Feuervertrauten bestanden, weil sie nicht die Ruhe und Duldsamkeit einer künftigen Lichtfolgerin aufbieten wollte. So würde sie später mal die Sonnenaufgangsfarbene Kleidung der Feuervertrauten tragen, während er die Mittagssonnenfarbene Kleidung der Lichtvertrauten übergestreift bekam. Zu fröhlichen Klängen von geblasenen Klangkunstwerkzeugen schritten er und die anderen Eingeschworenen aus der Halle der Verkündung hinaus. Jetzt gehörte er dazu. Doch er dachte mal wieder daran, dass er das alles nicht wirklich erleben mochte. Irgendwie war ihm, als sei da etwas anderes in ihm, das mit alle dem hier nur wenig zu tun hatte.
Erin O'Casy bangte weiterhin um ihr Leben. Nachdem sie ihrer Herrin und Königin verraten musste, dass der britische Zaubereiminister sich nicht aus sicherer Entfernung unter den Imperius-Fluch nehmen ließ hatte sie eigentlich schon mit ihrem Leben abgeschlossen. Doch die mächtige Königin Ladonna hatte sich bisher nicht wieder bei ihr gemeldet. Sie war allein mit ihren trüben Gedanken, vor allem an den aufmüpfigen Blutspflichtenverweigerer Kevin Malone. Am 21. April war sein erster Sohn Maurice Sean geboren worden. War das nun eine Verhöhnung seiner aufgegebenen Heimat, dem Knaben als zweiten Namen den Vornamen seines Großvaters väterlicherseits zu geben? Sie fragte sich besorgt, ob er damit diesen unreinen Knaben schon als seinen rechtmäßigen Sohn und Erben anerkannt hatte oder es das übliche Geplänkel direkt nach der Geburt war. Jedenfalls waren weder die Schwester des Jungen noch dieser selbst in Hogwarts vermerkt worden, was hieß, dass ihre Erfassung für die französischsprachige Zaubererwelt erfolgt sein musste. Doch wer das Malone-Erbe antreten wollte musste auf irischem Boden von einer irischblütigen Hexe geboren werden.
"Haderst du immer noch mit diesem Bengel, der sich eine Hexe auf dem Festland erwählt hat, Erin?" hörte sie die Stimme ihrer Königin in ihrem Geist. Sie erschrak. Doch Als die erste Schrecksekunde vorbei war dachte sie zurück: "Er verhöhnt die Tradition unserer Heimat, unseres Volkes. Es ist schon schlimm genug, dass diese Hexe aus Flandern ihn für sich erwählt hat, bevor sein Vater noch einmal mit ihm darüber sprechen konnte. Doch dass er nun auch einen Sohn mit dieser flämischen Hure gezeugt hat ärgert mich. Denn damit hat er sein Blut endgültig mit dem einer Festlandsfamilie vermischt. Die Gesetze unserer Zauberergemeinschaft verbieten mir, ihn jetzt noch von dieser anderen wegzuholen. Denn weil die Geburt des Jungen offiziell verzeichnet wurde ist er verpflichtet, ihm ein fürsorglicher Vater zu sein, auch wenn dieser kleine halbflämische Bastard nicht die Reinheit irischen Zaubererblutes besitzt."
"Tja, und du ärgerst dich, weil er damit deine eigene Autorität in Frage stellt, richtig?" wollte die Königin wissen.
"Ich habe den Eltern Clayton Malones mein Wort gegeben, seine Familie zu schützen und sie im Sinne der alten Bräuche und Werte zu begleiten und sicherzustellen, dass sie auch diesen alten Werten folgt. Der Junge hätte niemals an dieser Reise nach Frankreich teilnehmen dürfen, meine Königin."
"Und du denkst daran, wie du ihn doch noch von der anderen wegholen kannst, wie?" fragte die Königin.
"Ja, meine Königin, ich denke da immer wieder dran. Doch es müsste im Einklang mit unseren Bräuchen erfolgen. Es müsste bewiesen werden, dass dieses Mädchen ihn dazu gezwungen hat, Vater seiner Kinder zu werden. Doch die Festlandszeremonienmagier prüfen seit dem Emporkömmling, der sich Lord Voldemort genannt hat, ob beide Brautleute freiwillig einander annehmen wollen oder einer oder beide dazu gezwungen werden."
"Vergiss diesen Burschen! Du würdest nur unsere Sache gefährden, wenn du ihn weiterhin bedrängst oder gar etwas unternimmst, ihn gegen seinen Willen nach Irland zurückzuholen. Ich habe eine andere, wesentlich wichtigere Aufgabe für dich. Die wirst du ausführen", gedankensprach die Herrin der Feuerrose. Erin konnte nicht widersprechen. Denn was die Königin befahl war Gesetz. Es zu missachten würde ihr Qualen, womöglich auch den Tod als Verräterin bringen. So erwartete sie die Anweisung ihrer Herrin.
"Bringe die Stuhlmeisterin der ganzen britischen Schwesternschaft dazu, sich mit jener in Deutschland beheimateten Hexe mit den magischen Kunstaugen an einem Ort zu treffen, wo sie endlich in unsere große Schwesternschaft unter der Feuerrose eingeschworen werden sollen! Bis zum 20. Mai muss das erledigt sein, sonst bist du erledigt. Also vergiss diesen aufmüpfigen Burschen und die Hexe, die unbedingt seine Kinder haben wollte!""
"Euer Wort ist mein Wille, meine Königin", erwiderte Erin mit der ihr auferlegten Unterwürfigkeit. Das war noch nicht einmal geheuchelt. Denn durch den machtvollen Zauber der Feuerrose war ihr Wille längst schon der der anderen.
Eigentlich hatten Millie und Julius auch Uranie und Philemon zu sich ins Apfelhaus einladen wollen. Doch Uranie hatte abgesagt. Sie wollte mit ihrem erstgeborenen Sohn Philemon für sich alleine feiern, nur mit Chloé und Philemons drei einzigen Freunden zusammen und nicht in einer Horde vieler Kinder, die Philemon immer noch ablehnten. So kamen nur die Latierres zu Millies 22. Geburtstag, sowie Jeanne mit den bereits lauf- und sprechfähigen Kindern Viviane, Janine und Belenus. Es wurde eine schöne feier.
"Antoinette ist bei Tante Uranie. Wenn Phils Feier um ist flohpulvern die drei ins Château Florissant", sagte Jeanne, als sie einmal mit Julius tanzte, während Millie mit ihrem Onkel Otto auf der improvisierten Tanzfläche war. Julius seufzte nur, dass es nicht so hätte kommen müssen. Doch weil er das schon mal gesagt hatte und Jeanne das auch so empfand beließ sie es nur bei einem bestätigenden Nicken. Julius hoffte nur, dass Philemon von seiner Haltung runterkam, dass ihn keiner mehr haben wollte. Vielleicht kamen seine Mutter und er ja vor dem Beginn des neuen Schuljahres wieder zurück, damit er nicht jeden Tag zwischen dem Stammsitz der Eauvives und Millemerveilles hin und herwechseln musste. doch eigentlich musste er sich darum nicht wirklich kümmern, dachte er einmal. Er hatte doch wirklich genug um die Ohren und auch genug eigene Kinder, die seine Aufmerksamkeit brauchten. Dennoch rührte es ihn an, dass Uranie Dusoleil sich derartig mit den Eltern des jungen Zauberers verkracht hatte, der unfreiwillig zum Vater ihrer Drillinge geworden war. War er selbst echt so ein Familientyp geworden? Eigentlich war das doch von seiner ganzen Erziehung her unwahrscheinlich gewesen, wo sein Vater andauernd Sonderschichten im Büro verbracht hatte und seine Mutter möglichst wenig Gefühle gezeigt hatte. Eine vielleicht zutreffende Antwort mochte sein, dass die Dusoleils und Latierres ihm die Verbundenheit von Familienmitgliedern gezeigt und ihn dafür empfänglich gemacht hatten. Doch sicher wusste er das nicht.
Laurentine Hellersdorf erzählte den Gästen, was sie bereits in den Staaten erlebt hatte und worauf sie sich freute, wenn sie Ende Mai zu ihrer Großmutter mütterlicherseits hinflog. Sie wurde gefragt, ob sie dafür mit dem Pendel-Luftschiff von Millemerveilles nach Viento del Sol fliegen würde. Sie verneinte es und erwähnte, dass sie ja in die Siedlung der nichtmagischen Leute wollte, und dafür brauchte sie eine amtliche Bestätigung der dortigen Behörden, dass sie aus Europa eingereist war und für wie lange. Julius hätte fast erwähnt, dass seine Mutter und er auch schon mal mit der Reisesphäre von Millemerveilles nach New Orleans übergesetzt hatten und dort einer von der Muggelverbindungsabteilung die Reisepässe abgestempelt hatte, als wenn sie mit einem Flugzeug dort gelandet wären. Doch weil an dieser Reise auch sehr trübe Erinnerungen hingen ließ er das besser sein. Außerdem war es ja Laurentines Reise, und die musste sie eben selbst organisieren.
Um sechs Uhr Abends war dann das große Geschenkeauspacken angesagt. Millie bekam von ihren Verwandten neue Kleidung, aber auch sowas wie ein eigenes Naviskop zur Standortbestimmung bei längeren Besenreisen und eine kleinere Version der Reisetruhe, die Julius und sie schon zu Julius siebzehntem Geburtstag bekommen hatten. Diese war nur ein Fünftel so groß wie die große Truhe und enthielt drei magische Stauräume. So konnte Millie eine Menge Kleidung, Arbeitszeug und Freizeitartikel einpacken. Von Gilbert und Linda bekam sie ein Besenfutteral, das einen Flugbesen ohne Veränderung seiner Flugeigenschaften auf ein Zehntel der Ausgangsgröße verkleinern konnte, so dass sie überall da, wo sie hinging, einen Besen zur Verfügung hatte. Allerdings, so stellten sie fest, ging das nur mit den kleineren Besen, nicht mit dem langen Familienbesen. Von ihrem Mann Julius bekam sie das Buch "Die Magie des Sonnenfeuers" und zwei silberne Ohrstecker, die mit Körperspeicherbezauberung und einwirkbarem Diebstahlschutz versehen waren. "Die haben einen eingewirkten Lupaures-Zauber", mentiloquierte er seiner Frau. Sie lächelte ihn nur dankbar an. Die meisten hier dachten wohl, weil sie sich für den feinen Schmuck bedankte.
Damit die jüngsten Gäste noch ein wenig was von der Feier hatten wurde gleich nach der Beschenkung gegessen. Béatrice und Julius hatten ein fünf-Gänge-Menü hinbekommen, an dem sie alle bald anderthalb Stunden aßen.
Gegen acht Uhr abends verließen Jeanne und ihre Kinder die Feier. Denn sie wollten Phil noch auf Wiedersehen sagen. Jeanne war zwar ein wenig trübsinnig, weil sie deshalb nicht mit Julius tanzen konnte. Doch er versprach ihr, dass er am Willkommenstag ihrer vier jüngsten Schwestern auf jeden Fall mit ihr tanzen würde.
Die nächsten Stunden vertrieben sich die Gäste auf der Lande- und Tanzwiese vor dem Apfelhaus zu Liedern aus dem hauseigenen Musikfass. So konnte Julius mit seiner Frau fünf schnelle Tänze hintereinander verbringen. Seine Schwiegermutter Hippolyte und seine Schwiegergroßmutter Ursuline wollten jedoch auch nicht darauf verzichten, mit ihm zu tanzen. Den letzten Tanz des Abends verbrachte er mit seiner Schwiegertante Patricia, die er behutsam über die Tanzfläche führte, während Millie mit Marc zu dem langsamen Stück aus dem Musikfass doch ein paar schnellere Schrittfolgen hinlegte.
Um zehn Uhr verließen auch alle anderen nicht in Millemerveilles wohnenden Gäste die Feier. Mit gut aufeinander abgestimmten Aufräumzaubern schafften Béatrice, Millie und Julius noch alle Reste der Feier weg. Dann kehrte im Haus "Pomme de la Vie" die Nachtruhe ein.
Julius dachte einmal mehr daran, welch merkwürdiger Zufall es wollte, dass sowohl die nichtmagische als auch die magische Welt mit dem 26. April eine weltweite Katastrophe verbinden konnte. Heute vor genau einem Jahr war jene Welle aus dunkler Zauberkraft über die Erde hinweggefegt und hatte alles was von dunkler Magie erfüllt war verstärkt und zu gefährlichem Eigenleben erweckt. Heute vor einem Jahr war Sardonias dunkles Erbe geweckt worden, welches seine neue Heimat Millemerveilles fast zwei volle Monate lang in Trübsal und Angst gehalten hatte. Deshalb dachte er mit einer Mischung aus Wehmut aber auch Stolz an diese Zeit, als er am Morgen dieses weltweiten Schicksalstages aus dem östlichen Fenster des mit seiner Frau Mildrid geteilten Schlafzimmers nach draußen blickte. Er sah einen unverhüllten, von keiner Wolke oder anderen Barriere verstellten Sonnenaufgang. ein in immer helleres orange übergehendes Rot erfüllte den über den Horizont steigenden Feuerball. Der umgebende Himmel glühte wie flammenloses Feuer. Welch ein erhabener Anblick. Er dachte daran, wie grau und kalt die Sonne vor genau einem Jahr aufgegangen war, und er dachte daran, dass seine Frau und er einen wichtigen Beitrag zur Befreiung Millemerveilles geleistet hatten. Dieser Beitrag lag gerade selig glucksend und Saugend unter Millies Stillumhang und genoss das zugedachte Frühstück.
"Was in dem Jahr alles passiert ist, was wir mitbekommen haben und was passiert ist, was wir vielleicht nicht wissen wollen", sagte Julius seiner Frau zugewandt. "Das ist wohl wahr, Monju. Aber das wichtigste ist die hier", erwiderte Millie und tätschelte vorsichtig über den Rücken ihrer dritten gemeinsamen Tochter Clarimonde. Diese hatte in den zehn Monaten schon deutlich an Größe und Gewicht zugelegt und krabbelte auch schon flink und neugierig im Haus herum. Auch die ersten Zähnchen zeigten sich schon. Um ihr Schmerzen und ihren Eltern Stress zu ersparen bestrichen Millie und Julius ihre schmalen Kifer alle drei Stunden mit einer schmerzstillenden Salbe, die keine Auswirkung auf den jungen Organismus hatte. "Ich genieße das noch wie sie, dass sie bei mir trinkt, bis die vorderen Zhähnchen ganz durch sind. Dann wird's Zeit für anderes Essen", sagte Millie, als Clarimonde endlich satt war. Julius, der bis dahin immer wieder der aufgehenden Sonne zusah, bis diese von Orange zu Gelb wechselte, nickte nur.
"Hera hat's jetzt amtlich gemacht", eröffnete Béatrice Latierre, als auch die bereits vollständig bezahnten Bewohnerinnenund Bewohner des Apfelhauses frühstückten. "Sie möchte gerne, dass ich zumindest bis zum Ende Mai für die von ihr und mir betreuten Wöchnerinnen ansprechbar bleibe. Deshalb möchte ich euch fragen, ob ich bis dahin noch bei euch wohnen bleiben darf, wo die goldenen und silbernen Rufglocken ja noch funktionieren."
Millie und Julius sahen die jüngste Tochter von Ursuline und Roland Latierre ruhig an. Dann sagte Millie: "Wenn Oma Line nichts dagegen hat, dass du bis Ende Mai nicht bei ihr im Schloss wohnst, ich habe nichts dagegen. Du, Julius?" Der Gefragte schüttelte den Kopf und bestätigte, dass er sich freute, dass Béatrice in seinem und Millies Haus wohnen konnte, um für die ganzen Hexen mit Mehrlingskindern direkt ansprechbar zu sein. Béatrice Latierre atmete sichtbar aber unhörbar auf und erwiderte, dass sie diese Antwort erhofft hatte. Weil sonst hätte sie immer flohpulvern oder durch die beiden orangeroten Verschwindeschränke von hier ins Château Tournesol wechseln müssen.
"Dann kann ich Hera die frohe Botschaft schicken, dass ich weiterhin hier erreichbar bin und Maman die frohe Botschaft mentiloquieren, dass ihre gestrenge Hebamme bis Ende Mai weiterhin in Millemerveilles ist und sie bis dahin alle Unvernünftigkeiten einer mittelalten jungen Hexenmutter begehen kann, ohne direkt von mir dafür getadelt werden zu können." Dabei lächelte sie verwegen.
"Glaubst du, sie will's noch mal drauf anlegen, Tante Trice?" fragte Millie ebenso verwegen aussehend.
"Sagen wir es so, ich hätte dann wenigstens ein Alibi, wie es die Strafverfolger nennen, wenn wer zur Tatzeit anderswo als am Tatort war", sagte Béatrice. Doch Julius erwiderte: "Ich denke, sie hält sich an das, was sie selbst gesagt hat, Tante Trice. Das mit Adonis hat ihr schon ziemlich zugesetzt." Béatrice nickte verhalten.
Weil dieser 26. April für Julius ein freier Samstag war konnte er mit seinen Mittbewohnerinnen einen schönen Tag an der frischen Luft verbringen. Camille war froh, aus der unmittelbaren Wochenbettphase heraus zu sein. Das zeigte sie dadurch, dass sie freudestrahlend durch die Gärten von Millemerveilles patrouillierte und den Gartenbesitzerinnen und -besitzern wichtige Tipps und Hilfe geben konnte.
Auch wenn der 26. April nicht als offizieller Feiertag gewürdigt werden sollte - immerhin war an diesem Tag Sardonias magische Kuppel zur allgegenwärtigen Bedrohung und zum Gefängnis aller in Millemerveilles wohnenden geworden - veranstaltete die dorfeigene Feuerwehrtruppe am Abend gleich nach Sonnenuntergang eine Erinnerungsstunde. Auf dem Platz des neu aufgefüllten Zentralteiches mit den zwölf darum gruppierten Standbildern bekannter Zauber- und Tierwesen wurde ein großer Holzstoß aufgeschichtet und dann mit unmagischen Mitteln entzündet. "Auf dass das Feuer der Freude, die Wärme der Liebe und das Licht der Hoffnung niemals mehr aus Millemerveilles verschwinden mögen", hatte Feuerwehrleiter Latour gesagt, als der Scheiterhaufen lichterloh brannte. Alle Bewohnerinnen und Bewohner Millemerveilles umringten das muntere Feuer, fühlten die immer stärkere Hitze, die davon ausging und blickten in die über die Holzstücke züngelnden Flammen. Ja, ein Feuer wie dieses hatte letztes Jahr zwischen April und Mitte Juni rund um die Uhr gebrannt, um genug Licht und Wärme zu spenden. Denn nur magielos entzündete Flammen oder ganze Feuer konnten die Trübsal und die körperliche und seelische Kälte vertreiben, die Sardonias mit dunkler Zauberkraft aufgeladene Kuppel verströmt hatte. Ein ganzes Jahr war das schon wieder her, dachte nicht nur Julius. Immerhin hatten sie alle hier dieser dunklen Zeit getrotzt. Außerdem hatten er, Millie, Camille, Maribel und der immer noch irgendwo bei den überdauernden Altmeistern Altaxarrois weilende Adrian Moonriver ein neues, ebenso schützendes Zauberkraftgeflecht über Millemerveilles aufgespannt, das hoffentlich niemals von dunkler Kraft verdorben werden konnte. Doch dieses weißmagische, unsichtbare Netz würde nur solange halten, wie genug Leute in Millemerveilles wohnten, die sich mit Freude und Liebe an die Urheber erinnerten und/oder von diesen selbst abstammten. Doch Julius war sich sehr sicher, dass wenigstens eine seiner drei bisherigen Töchter in Millemerveilles wohnenbleiben und eine eigene Familie gründen würde. Immerhin war Jeanne Dusoleil ja auch in Millemerveilles geblieben und hatte hier ihre mittlerweile vier Kinder geboren.
Die Feiernden spielten auf tragbaren Musikinstrumenten ein paar fröhliche Frühlingstänze, bei denen die Bewohner um das Feuer herumspringen konnten. Doch weil viele der Mitfeiernden ganz kleine Kinder zu versorgen hatten dauerte diese kleine Gedenk- und Freudenfeier nur bis halb neun. Dann verabschiedeten sich alle voneinander und wünschten sich eine erholsame Nacht unter Mond und Sternen. Die Feuerwehrzauberer blieben, um das Feuer auf natürliche Weise herunterbrennen zu lassen. Denn es jetzt abrupt zu löschen wäre ein Widerspruch dessen gewesen, wofür es entzündet worden war.
Wieder zurück im Apfelhaus erwartete ihn Chloé Dusoleil, die mit Aurore schon ein paar Buchstabierübungen machte. "Hallo, Julius. Maman sagt, für das Willkommen von den vier Kleinen ist alles klar", trällerte Chloé, die auf den Tag genau zwei Jahre älter als Aurore war. Julius bedankte sich bei Camilles vierter Tochter für diese Mitteilung. Er dachte einmal mehr daran, dass die Meldung über ihre Geburt genau eine Minute nach dem Sturz des gefürchteten Dunkelmagiers Tom Riddle alias Lord Voldemort erfolgt war und sie, Chloé Martha Dusoleil, damit die fleischgewordene neue Zeit war. Zumindest wurde sie oft von den Erwachsenen so gesehen. Ob sie das selbst schon wusste wollte er nicht herausfinden. Zu gut erinnerte er sich daran, dass Harry Potter mit seiner traurigen Berühmtheit auch nicht so glücklich war.
Als Jeanne kam, um ihre dritte Schwester abzuholen wollte Chloé nicht mitgehen. Es dauerte ganze zehn Minuten, bis Jeanne und Julius Camilles vierte Tochter dazu überreden konnten, doch jetzt zu ihrer Maman und ihrem Papa zurückzufliegen. Chloé quängelte noch einmal, dass ihr Papa immer in seinem Zaubersachenhaus sei und ihre Maman ja ständig mit den vier Kleinen zusammen war, weil immer eins von denen "Mamanmilch" haben musste. Doch Jeanne schaffte es mit einer engelsgleichen Ruhe, ihr klarzumachen, dass sie immer noch von beiden Eltern geliebt wurde. Sie verabschiedete sich noch mit Umarmungen von Aurore, Chrysope, Millie und Julius. Dann ließ sie sich von Jeanne vor sich auf den Besen hebenund flog mit ihr zum Haus Jardin du Soleil davon.
"Oha, sieht voll danach aus, dass Chloé gerne bei uns einziehen möchte", meinte Julius zu Millie. Diese nickte und erwiderte: "Klar, wo Phil jetzt weg ist und sie somit nicht auf ihn aufpassen muss und alles und jeder in Camilles und Florymonts Haus entweder mit den ganzen Zaubersachen oder den vier ganz kleinen zu tun hat ist ihr nicht nur langweilig, sondern auch frustig zu mute."
"Dabei wollten Camille und Jeanne ihr doch zeigen, wie anerkennenswert das ist, Babys zu versorgen. Na ja, ob ich mit sechs Jahren volle Windeln anfassen wollte weiß ich echt nicht, wo ich bei der Pflegehelferausbildung schon Probleme damit hatte."
"Hast du aber immer gut verbergen können", meinte Millie zu ihm. Béatrice, die wegen des Geplänkels um Chloé erst jetzt dazukam meinte noch: "Ja, stimmt, du hast dich sehr schnell sehr erfolgreich zu einem von wenigen Zauberern hingearbeitet, die keine Probleme mit Säuglingspflege haben, vom Stillen mal abgesehen."
"Ja gut, mittlerweile habe ich ja auch mehr als genug Übung", tat Julius dieses Lob ab. Béatrice grinste darüber nur und erinnerte ihn und sich daran, dass er vor sieben Jahren bei einem Besuch im Sonnenblumenschloss schon keine Probleme damit hatte, Felicitée und Esperance zu wickeln. Millie und Julius nickten. Das war wenige Tage vor ihrem Ausflug zur verborgenen Burg der Mondtöchter gewesen. Deshalb genoss Julius diese Erinnerung, auch wenn ihm dabei wieder einmal dieser merkwürdige Traum piesackte, dass Millie und er angeblich nur dann einen Sohn zusammen haben konnten, wenn sie jetzt zwölf Jahre lang warteten, drei Jahre und drei mal so viele Jahre wie sie schon Töchter hatten. Er musste das demnächst irgendwie rausfinden, ob das nur ein dummer Traum gewesen war oder ob da mehr hintersteckte, beschloss er an diesem 26. April.
Erin O'Casy hatte die Unterlagen sorgfältig geprüft, weil sie wusste, dass auch bei den zögerlichen Schwestern Berichte darüber vorlagen. Dann schrieb sie an die Stuhlmeisterin aller britischen Schwestern der Schweigsamkeit
Meine geehrte und geachtete Schwester.
Ich wende mich an dich, weil ich vor einem Tag einen sehr besorgnis erregenden Brief einer meiner Verwandten erhielt, die nicht in die Reihen unserer altehrwürdigen Sororität eintraten und daher nicht mit Namen erwähnt werden muss. Sie erwähnte einen wiederkehrenden Albtraum, in dem sie von an die hundert Geisterfrauen auf einen blutrot leuchtendenSteinquader zugetrieben werden sollte, in dem überlebensgroß das Gesicht eines sehr gierig dreinschauenden Mannes zu erkennen war. Die Geisterfrauen sangen dabei immer wieder ein Lied, dessen Text sie jedoch nicht verstand. Der Traum endete immer damit, dass die Geisterfrauen sie an den Stein drückten und ihr mit einer goldenen Sichel der Bauch aufgeschlitzt werden sollte, um ihr Blut dem Stein zu opfern. Bevor der entscheidende Schnitt erfolgte wachte sie immer auf. Sie wollte von mir wissen, ob dieser Traum nur in einer uralten in ihr verankerten Angstvorstellung bestehe oder eine magische Botschaft sei. Bisher habe ich ihr nicht geschrieben, wie mich diese Schilderung erschreckte. Denn mir war sofort klar, dass ein weiteres von dunkler Kraft erfülltes Artefakt durch die Woge alter Zauberkraft bestärkt wurde, die vor einem Jahr und zwei Tagen über uns alle hinweggezogen ist. Ich meine den Geisterstein von Garuthmont vom silbernen Fluss, auch als Junghexenfresser bezeichnet.
Ich will nicht noch einmal schildern, wie verheerend Garuthmont dreißig Jahre vor der Geburt des nazarenischen Wanderpredigers, den die Christen als ihren Herrn und Erlöser anbeten, unsere schöne grüne Insel bedrängt hat. Ihr kennt die Geschichte des Hexenblut trinkenden Steines und wie Garuthmont von den vier Beherzten, zwei Hexenund zwei Zauberern, in einem heftigen Duell bezwungen und sein Geist in seinen Stein selbst gebannt wurde, mit dem er all jene jungfräulichen Hexen zu rastlosen Seelen gemacht hat, deren Blut er mit dem Stein zusammenbrachte.
Um den Stein nie wieder zum Werkzeug gegen Hexen werden zu lassen hatten die vier Mutigen vereinbart, dass der Ort und die ihn umgebenden Zauber nur von den Töchtern und Tochtertöchtern der beiden Hexen gekannt werden dürfe. Eine von diesen nachfolgenden Hexen befand jedoch, dass die mündliche Weitergabe des Geheimnisses mit den Jahrhunderten die Lage und die verwendeten Zauber verfremden möge und schrieb es nieder. Ja, ich weiß, ich erwähnte es vor Jahren, dass das Wissen um den Geisterstein von Garuthmont nur von den Erbinnen der zwei Hexen weitergetragen wird. Um so schlimmer ist es, dass ich bei der Prüfung des von mir betreuten Archives für irische Zaubereigeschichte und dunkle Vermächtnisse herausfand, dass einer meiner Vorfahren vor 190 Jahren eine Abschrift dieser Aufzeichnungen an einen deutschen Studienfreund weiterleitete, der als ganz geheimer Zauberrat im Adelshaus der Hannoveraner wirkte. Bisher konnten sie wohl mit dem Wissen nichts anfangen, weil die Verbergezauber so gut sind, dass keiner den Stein findet, der nicht den richtigen Spruch in der richtigen Betonung aufsagen kann. Doch nun, wo jemand davon geträumt hat, diesem Stein geopfert zu werden, besteht die Gefahr, dass auch anderswo Hexen oder Zauberer von diesem Stein träumen, ja förmlich gerufen werden. Die Sache mit Wallenkron sollte uns allen eine einprägsame Lehre sein, wie schnell ein Zauberer von der Aussicht, sich einen mächtigen Geist und dessen materiellen Fokus unterwerfen zu können, verleitet werden mag, auch und vor allem nun, wo wohl auch der Geisterstein Garuthmonts mehr Kraft entfalten mag als vor der dunklen Woge. Deshalb möchte ich dich, die du die am besten den alten druidischen Zaubern kundige vor mir bist, bitten, mit den Deutschen Mitschwestern Verbindung aufzunehmen und sicherstellst, dass die Aufzeichnungen gefunden und vernichtet werden. Ich hoffe dabei auf die Mithilfe jener Schwester, die durch einen schweren Unfall um ihr natürliches Augenlicht gebracht wurde und als mehr als ausreichenden Schadensersatz mit magischen Kunstaugen entlohnt wurde, die selbst magische Tarnungen durchblicken können. Falls es möglich ist, sie unauffällig in Aktion treten zu lassen, möge sie die Aufzeichnungen an sich nehmen und mit dir und mir zusammen Garuthmonts Stein ein für alle Mal niederkämpfen, bevor er wahrhaftig wieder lebende Diener findet oder Garuthmonts gebannter Geist einen neuen, atmenden Körper in Besitz nehmen kann wie ein orientalischer Dibbuk.
In der großen Hoffnung, noch rechtzeitig auf diese Gefahr aufmerksam gemacht zu haben verbleibe ich
mit schwesterlichem Gruß
Erin O'CasySemper Sorores!
Nachdem Erin den Brief mit den in der Schwesternschaft üblichen Verschlüsselungs- und Tarnbezauberungen auf Sophia Whitesand eingestimmt hatte schickte sie ihn mit ihrer schnellen Eule los. Sie hoffte, dass Sophia Whitesand wirklich mit Albertine Steinbeißer zusammentraf, um sich mit ihr abzustimmen und zu ihr an einen noch zu vereinbarenden Ort zu kommen. Dort sollten sie in die wahre Gemeinschaft von Hexenschwestern eingeschworen werden.
Sie wusste, dass sie auf einer glühenden Rasierklinge balancierte. Denn den Stein Garuthmonts gab es wirklich. Ebenso konnte es sein, dass dieser auch schon seine unheilvolle Kraft ausstrahlte, um neue Opfer zu suchen. die mit ihrem Herren darin gefangenen Hexengeister mochten bereits darauf lauern, die erste Hexe zu ergreifen, die sich dem Stein näherte, falls sie nicht selbst wie erwähnte Dibbukim ausschwärmten, um andere in Besitz zu nehmen. Insofern war das schon ein Spiel mit dem Dämonsfeuer, was sie hier trieb. Doch für eine so mächtige Gegnerin wie Sophia Whitesand und eine so brauchbare Gehilfin wie Albertine Steinbeißer musste es schon ein besonders machtvoller Köder sein.
"Ich habe diesen Stein immer für eine Hexenschreckgeschichte gehalten, die sich die irischen Hexen erzählten, um ihren Zusammenhalt zu bewahren", hörte sie die Stimme der einzig wahren Königin in ihrem Geist. "Aber seitdem ich den Kessel der Morgause gesehen und seine verstärkte Macht miterlebt habe bin selbst ich auf der Hut, solch altem Zauberwerk nicht zum Opfer zu fallen."
"Diese dunkle Welle im April letzten Jahres hat vieles aus tiefer Vergangenheit ans Licht zurückgespült", gedankenantwortete Erin O'Casy. Innerlich war sie jedoch froh, dass Sophia Whitesand bald mit ihr zusammen für die Vorherrschaft aller Hexen unter dem Banner der Feuerrose und der starken Hand der Rosenkönigin streiten würde.
Julius träumte erneut von jener gewaltigen Halle voller schwebender Kugeln. In jeder davon schwamm ein betagt wirkendes Frauengesicht. Wieder hörte er, was sie sich einander zuflüsterten. Dann hörte er Ashtarias Stimme, dass er, Julius, innerhalb von anderthalb Jahren den ersten Sohn zeugen sollte, um die Lücke wieder zu schließen, die der Tod eines Erbenlos gebliebenen Sohnes Ashtarias geschaffen hatte. Dann wachte er wieder auf. Er lag neben seiner Frau Mildrid Ursuline im Ehebett. Sie atmete ruhig und beinahe unhörbar. Sie schlief friedlich und sicher.
Demnächst musste er klären, ob das, was er da schon wieder geträumt hatte, wirklich so war oder eben nur eine von seinem Unterbewusstsein zusammengebaute Erklärung dafür, dass sie beide bisher keinen Sohn hinbekommen hatten. Verdammtnoch mal, er hatte sich mit Millie darauf eingelassen, dass es egal war, ob sie Söhne und oder Töchter miteinander hatten. Warum forderte Ammayamiria in Ashtarias Namen diese unbedingte Gegenleistung?
Er überlegte, ob er damals irgendwas nicht mitbekommen hatte. Doch er hatte die erste gemeinsame Nacht mit Millie als eine wichtige Erinnerung in das gemeinsame Denkarium eingefüllt. Millie hatte auch ihre eigene Erinnerung an diese für sie beide so wichtige Nacht in das Denkarium hineingetan. Wenn also beide Erinnerungen zusammenflossen konnten sie noch deutlicher nachbetrachtet werden. Doch er wollte das nicht alleine tun. Das, was da drin war, gehörte ihm und ihr zusammen.
Er schaffte es noch einmal, einzuschlafen. Dabei träumte er von Ammayamirias Entstehung und dass er als ihr fleischlich gebliebener Zwillingsbruder aus Ashtarias astralem Leib entschlüpft war, gegen ihren Willen den Weg in die Welt zurückgefunden hatte. Damit, so Ashtaria, habe er sich verpflichtet, sich allem zu stellen, was in der Welt auf ihn warte. Wieder erwachte er. Millie räkelte sich gerade. "O Mann, nicht schon wieder dieser abgedrehte Traum", grummelte sie schlaftrunken. Julius dachte, sie hätte seinen Traum geteilt. Doch als sie mitbekam, dass er auch schon wach war mentiloquierte sie ihm, dass sie den Traum gehabt hatte, dass sie beide als Ihre eigenen Urenkel wiedergeboren würden und ihre Großmütter Belisama und Aurore waren und einer ihrer Großväter Bertrand Dusoleil, der wegen eines nicht offenbarten Vorfalls Belisama geheiratet hatte. Das hielt Julius wirklich für einen abgedrehten Traum. Doch wo sie beide schon mal wach waren konnten sie sich die betreffenden Erinnerungen auch ansehen. Es war gerade drei Uhr nachts.
Ganz leise holte Julius das Denkarium aus dem gesicherten Schrank, in dem auch Kailishaias Zauberkleid hing, das Millie von der einstigen Feuermeisterin aus Altaxarroi geerbt hatte. Julius errichtete einen Klangkerker. Dann suchte er die Erinnerung an jene Nacht im März 1997. Als er sich und Millie von oben sah, wie sie über eine von zwei silbernen Seilen gehaltenen Brücke gingen tauchten beide zugleich ihre Köpfe in das große Granitbecken ein und fielen durch einen schwarzen Schacht, bis sie genau hinter den gerade über die Brücke gehenden Versionen von sich beiden standen. Da dies hier nur eine Erinnerung und keine wirkliche Zeitreise war wirkte die Magie der Brücke nicht auf sie. Sie konnten bedenkenlos hinübergehen.
Sie erlebten noch einmal das Abendessen mit den Mondgeschwistern nach, glasklar und so deutlich, als würde das alles genau jetzt so geschehen.
Als sie beide dann zum allerersten Mal miteinander schliefen dachte Julius, dass sie beide in den vergangenen Jahren viel dazugelernt hatten. Als ihre erinnerten Versionen dann nach der ersten gemeinsamen Runde nebeneinanderlagen fiel der Mond auf ihre Körper. Millie zischte ihrem Mann zu: "Monju, siehst du das auch?" Ja, er sah es. Wo beide vergangenen Ichs von ihnen in den Mond blickten sprangen lautlos silberne Funken wie aus dem Mondlicht herausgestanzte Confettistückchen zwischen ihnen beiden hin und her, verschwanden in Millies von der ersten Liebe leicht blutenden Unterleib oder sickerten in Julius Bauch. Julius zählte leise die Sekunden, bis die beiden vergangenen Versionen von ihnen sich wieder einander zuwandten und sich gegenseitig dafür lobten, es schon so gut hinbekommen zu haben. Dann ging es in die zweite Runde, diesmal schon forscher, zielstrebiger und leidenschaftlicher. Das hatte Julius damals als das richtige erste Mal empfunden. Offenbar hatte etwas anderes damals das auch so erfasst. Denn als die Beiden sich nach der leidenschaftlichen Betätigung gegenseitig geküsst und gestreichelt hatten lagen sie wieder Seite an seite auf dem Rücken und genossen das hereinfallende Mondlicht für mehrere Sekunden. Dabei sahen die Erinnerungsreisenden, wie wieder etwas zwischen ihren früheren Versionen silbern hin und hersprang. Der Funkenstrom war diesmal sogar noch dichter. Damit war es amtlich, dass sie beide von einer starken Magie miteinander verbunden wurden, dem Segen der Himmelsschwester. Warum hatten sie beide das damals nicht gesehen? War es vielleicht eine gemeinsame Einbildung, weil sie sich vorstellten, dass irgendwas mit ihnen geschehen war, außer dass sie die ersten wilden Wonnen erlebt hatten? Doch dann sah Julius, dass die Silberfunken in dem Moment verschwanden, in dem einer von beiden nicht mehr in den Mond blickte.
"Schon ein komisches Gefühl, sich Selbst beim Liebemachen zu sehen", meinte Millie, als die beiden früheren Ichs von ihnen die dritte und letzte Runde hinter sich brachten und dann völlig erschöpft nebeneinander liegen blieben und für mehrere Minuten in den Mond blickten. Wieder sprühten silberne Funken laut- und offenbar auch ohne anderen Sinnesreiz zwischen den beiden keuchenden Körpern hin und her. Als die Millie von damals dem Julius von damals dann klarmachte, dass er nun ihr gehöre und wer den Garten einer Latierre bestelle der Besitzerin verpflichtet sei mussten die beiden gegenwärtigen Eheleute grinsen. "Da hast du dich sehr schnell und sehr schön mit zurechtgefunden, Monju. Deshalb konnte ich unsere drei Prinzessinnen auch so zuversichtlich und entschlossen austragen und auf die Welt bringen, weil ich wusste, dass es genau das ist, was du und ich beide wollen.
"Wie damals möchte ich dir da nicht weiter widersprechen", sagte der gegenwärtige Julius, während ihre früheren Versionen immer noch in den Mond sahen.
"Grob geschätzt insgesamt zwischen vierhundert und fünfhundert Sekunden, eher vierhundertdreißig Sekunden, also etwas mehr als sieben Minuten", raunte Julius, als die beiden Mondgesegneten das kreisrunde Zimmer mit den vielen weißen Matratzen unter einer gläsernen Kuppel wieder verließen.
"Häh?! kam die zu erwartende Antwort. "Zwischen vierhundert und vierhundertdreißig Sekunden haben wir zusammen in den Mond und die Sterne geguckt, ohne darauf zu achten, was da außer dem ersten wilden Sex zwischen uns passiert ist, Mamille. Ich weiß nicht, ob das was zu bedeuten hat, wie lange das ging. Vielleicht ist es auch unwichtig, weil es nicht darauf ankommt, wielange es ging, sondern dass es überhaupt und wie heftig ablief", sagte der Jetztzeit-Julius, während seine frühere Ausgabe gerade durch die große gläserne Tür verschwand. Als Millies zerwuschelter und noch etwas schweißnasser Schopf durch die Tür war und diese zufiel rechneten beide damit, gleich in einen grauen Nebel zu geraten und dann entweder in die nächste damit zusammenhängende Erinnerung zu gleiten oder nur die silberweiße Substanz des Denkariums zu sehen. Doch sie beide standen nebeneinander in der Kuppelhalle, während über ihnen der Mond weiterwanderte. "Huch, wieso läuft das hier noch weiter, wo wir uns nicht mehr sehen?" fragte Millie. Julius konnte darauf auch keine Antwort geben. Er wartete mit ihr noch einige Minuten, während der Mond merklich schnell über sie hinwegwanderte. Da erinnerte er sich, dass in der Mondburg die Zeit ein viertel so schnell ablief wie draußen. Das wiederum ließ Julius hörbar durchatmen. "Oha, wenn ich jetzt die im Kopf mitgezählten Sekunden mal vier nehme, also die draußen echt vergangenen Sekunden, komme ich auf 1600 bis 1720 Echtzeitsekunden. Mir kommt da gerade ein total abgedrehter Gedanke."
"Welcher?" fragte Millie. "Dass es vielleicht eintausendsiebenhundertachtundzwanzig Sekunden gewesen sein könnten, Mamille. Das wäre das Ergebnis von zwölf hoch drei, als zwölff mal zwölf mal zwölf. Wol gemerkt, wenn ich mich nicht voll verzählt habe, Mamille."
"Du bist dir aber sicher, dass mein kleiner Bruder von meinen Eltern auf den Weg gebracht wurde und nicht von uns beiden", erwiderte Millie. Immerhin hatte Julius ihr ja die ganzen Daten mitgegeben, die alle glatt durch zwölf teilbar waren.
"Das wäre in sofern schon beachtenswert, weil wir Menschen ein Jahr in zwölf Monate einteilen und es früher üblich war, zwölf Tag- und zwölf Nachtstunden zu zählen, auch wenn im Sommer mehr Tag und im Winter mehr Nacht war. Insofern hätte das schon was arithmantisch/magisches an sich. Aber wie gesagt, das war ein abgedrehter Gedanke, vielleicht weil ich nach einer Erklärung für diese Silberfunken suche. Du hast sie ja auch gesehen." Millie bejahte es.
"Sollen wir jetzt nicht doch mal zusehen, hier wegzukommen?" fragte sie dann noch. Julius stimmte ihr zu. Dann versuchten sie, ihre Köpfe zu heben. Doch sie steckten sinnlich immer noch in dieser Erinnerung drin. Beide sahen das zerwühlte und von verschiedenen Körperflüssigkeiten benetzte oder besudelte Laken, auf dem die beiden vor sieben Jahren körperlich geheiratet hatten.
"Ich glaube, wir kommen hier nur wieder raus, wenn wir durch die Tür gehen und jeder für sich in eine andere Richtung geht", vermutete Julius. Millie ging mit bestem Beispiel voran.
Tatsächlich verschwamm die Umgebung zu silberweißem Nebel, und sie fühlten, dass sie mit ihren Köpfen nebeneinander in ein großes Becken eingetaucht waren. So beendeten sie die nächtliche Sitzung. Als Julius auf seine Uhr sah stellte er fest, dass sie trotz der langen Erinnerung gerade mal eine Viertelstunde zugebracht hatten.
"Clarimonde schläft hoffentlich durch. Dann möchte ich dir den Traum zeigen, den ich damals eingelagert habe, Monju", sagte Millie. Julius war einverstanden.
Im Vergleich zur Mondburg war die nächste Erinnerungsreise eine sehr dunkle und beengte Angelegenheit, weil sie ungeborenen Zwillingen beim heranwachsen zusahen. Allerdings hörten sie die Gedanken der beiden verschiedengeschlechtlichen Geschwister. Auch hörten sie über die Mutterleibsmusik von Cassandre Mildrid Latierre hinweg auch die Stimmen der künftigen Großeltern und erfuhren, dass die zwei Ungeborenen, die mit ihren Gedankenstimmen wirklich wie Millie und Julius klangen, von einem Sohn von Babett Brickston waren. Deshalb war ja auch klar, dass das Mädchen Blanche Aurore heißen würde und der Junge Richard Joseph. Millie meinte zu Julius: "Die Sensation wollte ich dir echt erst bieten, wenn du dir diesen Traum anguckst. Oh, Mann, dass wir mal so zusammengefaltet gewesen sind wundert mich immer wieder, wenn ich mir die anreisenden Babys von ausßen anguck", grummelte Millie. Ihre geträumte Urenkelin dachte in dem Moment: "Schön, dass du damals nicht zu den Sonnenkindern umgezogen bist, Richard Joseph. Meinst du, das dauert noch lange, bis wir beide wieder auf die Welt kommen?"
"Frag mich sowas nicht", erwiderte der ungeborene Junge gedanklich. "Du hast die fünf Töchter bekommen, ich habe sie dir nur in den Bauch gelegt. Und jetzt werden wir unsere eigenen Urenkel."
"Hätte sich unsere Oma Belisama auch nicht gedacht, mit Bertrand noch mal nach Beaux zu gehen."
"Ja, Blanche Aurore, auch wenn sie erst drei Jahre nach ihm eingeschult wurde. Meinst du, die erzählen uns vor dem Rauskommen aus Maman Cassandre noch, wieso das passiert ist?"
"Nur wenn die nicht mitkriegen, was wir schon alles mitkriegen", sinnierte das ungeborene Mädchen mit Millies Gedankenstimme."
Sie hörten nur noch von außen dumpf hereinsickernde Musik. Der echte Julius erschauerte. Das war doch das Wiegenlied, dass Madrashainorians Gefährtin Ruashanormiria ihren beiden ersten Töchtern vorgesungen hatte. Das teilte er auch Millie mit. Trotzdem sie von warmem Fruchtwasser umschlossen wurden konnten sie noch frei atmen und sprechen, weil sie ja nicht wirklich in Cassandre Mildrids Gebärmutter steckten.
Das von draußen hereinklingende Lied machte, dass alles leiser und dunkler Wurde. "Da bin ich dann wohl auch aufgewacht", bemerkte Millie, als sie sich beide wieder in der silberweiß leuchtenden Substanz fanden, die aus mittlerweile über hundert eingelagerten Erinnerungen aus echten Erlebnissen oder eben bemerkens- und bewahrenswerten Träumen bestanden, wie dem, in dem sie gerade gewesen waren.
"Also mal ganz abgesehen davon, dass das hier wirklich nur eine von deinem Unterbewusstsein gestrickte Geschichte ist, warum sollte Belisama in drei Jahren von heute wieder so jung werden, dass sie mit Bertrand ein paar Jahre Beauxbatons mitbekommt und den dann später auch heiratet. Da könnte ich mir eher vorstellen, dass Clarimonde Bertrand heiratet oder eine von Célines Töchtern oder die kleine Shivaun von den Malones. Aber ob Aurore mit Britts und Linus' Leonidas zusammenkam hast du nicht mitgeträumt, oder?"
"Nein, habe ich nicht. Nachher hätte ich noch geträumt, dass wir beide doch Brittanys Babys würden und das ganze bisherige Zeug nur geträumt haben, um gleich nach der Geburt mit ihr zusammen irgendwen aufmischen zu können", meinte Millie. Julius verstand, was sie meinte.
"Ui, Das rufband. Die Kleine will was", sagte Millie und öffnete die Tür zur Bibliothek. Julius verstaute schnell das Denkarium im gesicherten Schrank, während er seine Frau hörte, wie sie auf die kleine Clarimonde einsprach. Weil die Kleine zahnte waren kurze Nächte vorprogrammiert.
Weil Aurore von Clarimondes fordernden Schreien auch wach wurde musste oder durfte er mal wieder das Kleine-Kinder-Nacht-Programm mit ihr durchziehen. "War ich auch echt so?" fragte sie ihren Papa einmal. Er sagte ihr, dass ihr das auch weh getan hatte, Zähnchen zu kriegen. "Dann kann die Maman die Clarimonde nicht mehr Milchtütentrinken lassen?"
"Das sagt Maman schon, wenn sie das nicht mehr will. Das hast du bei der Chrysope ja mitgekriegt." "Mmmhmmm", machte Aurore. Julius musste sich echt beherrschen, nicht daran zu denken, dass in diesem kleinen in jeder Wortbedeutung aufgewecktem Mädchen eine Tochter namens Cassandre stecken sollte, die dann wiederum mit einem Sohn von Babette Brickston Zwillinge kriegen sollte. Ja, er hatte sich immer für Geschichten aus der Zukunft interessiert; weshalb er ja auch sehr gerne mit Laurentine die Rahmenhandlung des Schulabschluss-Theaterstückes in eine vierzig Jahre entfernte Zukunft verlegt hatte. Aber sich vorzustellen, dass er einmal als sein eigener Urenkelsohn wiedergeboren würde und Millie, seine Frau, seine Zwillingsschwester sein würde, schlug alles andere um Längen, was er kennengelernt hatte. Dabei dachte er auch, dass in Millies Traum erwähnt wurde, dass er, Julius, doch nicht zu den Sonnenkindern umgezogen sei. Das ließ ihn erschauern. Denn dass er mit den Sonnenkindern aus Altaxarroi Kontakt hatte und mit Faidaria den von Aurélie Odin geerbten Pokal der Verbundenheit benutzt hatte wusste sie noch nicht, und Temmie hatte es ihr sicher nicht erzählt, weil Millie das dann ihm wieder um die Ohren gehauen hätte, vielleicht wortwörtlich. Vielleicht hatte ihr Unterbewusstsein aber gefürchtet, er könne nach der Geburtshilfe für Patricia Stratons Zwillingstöchtern, die auch Daisirin waren, Lust darauf bekommen, ebenfalls zu diesen Leuten zu gehören, die immer und immer wieder auf die Welt zurückkamen. Doch im Moment wollte er das sicher nicht haben.
Nachdem Aurore wieder eingeschlafen war und Clarimonde noch einmal bei ihrer Mutter hatte trinken dürfen und nun auch selig schlief fanden auch ihre Eltern in den Schlaf. Keiner von beiden träumte was, woran er oder sie sich erinnerte.
Als dann das übliche Wecksignal von der Minitemmie und den Musikzwergen und von Béatrices konservierttem Glasharmonikaspiel durch das Haus muhte, trötete und sphärisch säuselte waren sie alle schnell wieder Munter. Julius würde heute mit den Verwandten der polnischen Veelastämmigen sprechen, die einen deutschen Zauberer geheiratet hatte. Außerdem stand sicher wieder eine Konferenz bei Nathalie Grandchapeau an. Das war der übliche Kram, nichts so abgedrehtes wie Träume von Geisterkugeln oder silbernen Mondlichtfunken oder Urenkeln, die in einer unbestimmten Zukunft auf die Welt kommen sollten.
Sophia Amanda Adelaide Freya Whitesand, so lautete ihr vollständiger Name. Seit über 60 Jahren war sie die unbestrittene und fast allgemein anerkannte Stuhlmeisterin der britischen Sektion der Sororitas silenciosa, nachdem ihre hochverehrte Vorgängerin Maureen McLaughlin eine der letzten prominenten Opfer des Grindelwaldregimes in Europa wurde. Seit dreißig Jahren hütete sie zudem noch die altdruidischen Aufzeichnungen ihrer Mutter Verity Lydia Whitesand, geborene Dumbledore. Daher kannte sie den Geisterstein, auch den Hexenblutsäufer, den der dunkle Druiede Garuthmont vom Silberfluss erschaffen hatte. Allerdings wusste sie auch, dass der Lageort des von den vier Beherzten oder den vier Wagemutigen gebannten Steines nur mündlich weitergegeben wurde. Und jetzt behauptete ihre irische Bundesschwester Erin O'Casy, dass doch jemand etwas darüber aufgeschrieben haben sollte. Falls dem so war, dann hätte auch sie diese Aufzeichnungen finden müssen. Denn nach dem Tod ihrer Mutter hatte sie sämtliche von ihr hinterlassenen Aufzeichnungen und Artefakte gesichtet und sich ein Stichwortverzeichnis angelegt, um bei Bedarf alles zu finden, was zu einem erwähnten Begriff vorhanden war. Dieses Stichwortverzeichnis apportierte sie nun aus dem geheimen Keller tief unter den Gärten und dem Gutshaus von Whitesand Valley.
Sie blätterte das Verzeichnis bis zum Buchstaben G durch. Schnell fand sie alle Quellenangaben zum Thema Garuthmont vom Silberfluss. Da tauchten auch die Namen der noch lebenden Standortkenner auf und dass sich die Familien der damals vier letzten Gegner Garuthmonts geschworen hatten, ihr Wissen nur an die erstgeborenen Töchter oder Enkeltöchter weiterzugeben, damit kein Magier mehr diesen Stein benutzen konnte. Allerdings, das fand sie auch, gab es in der Sammlung auch eine Aufzeichnung über den Lageort, allerdings unter einem nicht mit Garuthmont zusammenhängenden Titel. Diese Aufzeichnung war von ihrer Mutter so bezaubert, dass erstens nur eine Hexe, die selbst schon eine Tochter geboren hatte sie ergreifen und lesen konnte und zweitens nicht per Apportations- oder Aufrufezauber aus dem verriegelten Kasten geholt werden konnte. So blieb Sophia nichts übrig, als auf ihren mittlerweile 123 Jahre alten Beinen die vielen Kellertreppen hinunterzugehen, durch insgesamt sieben mit Unaufbrechbarkeitszaubern verstärkte Türen zu gehen und dann im Schein ihres Zauberstablichtes in den mit gleich fünf Schlössern versperrten Raum einzutreten. ""Omnilumos lanternas!" raunte sie. Darauf erglühten die Lichter von zwanzig an den Wänden angebrachten Laternen. Ihr eigenes Zauberstablicht erlosch im selben Augenblick.
Im Schein der entzündeten Laternen suchte und fand sie das kleine mit berunten Silberbeschlägen verzierte Kästchen und schloss es mit dem dazugehörigen Schlüssel auf. In dem Kästchen lagen zehn federkieldünne und gerade mal einen halben Finger lange Röllchen aus einem hauchzart erscheinenden Stoff, umschlossen von vier dünnen Ringen. Sie tippte das rechte ihrer Halbmondförmigen Brillengläser mit ihrem Zauberstab an und nahm eine Rolle nach der anderen aus dem Kästchen. Auf den Ringen standen astrologische Symbole. Aus dem Stichwortverzeichnis wusste sie, dass das gesuchte Röllchen die Zeichen für den Planeten Mars und die Sternzeichen Steinbock, Stier und Jungfrau trug. Durch das auf vierzigfache Vergrößerung gezauberte Brillenglas konnte sie die für unbewaffnete Augen zu winzigen Symbole klar auseinanderhalten. Sie fand das gesuchte Röllchen nach dem vierten Versuch. Dann tippte sie das rechte Brillenglas erneut mit dem Zauberstab an, damit sie es wieder wie üblich benutzen konnte. Sie schloss das Kästchen wieder und zog nun jeden der Vier winzigen Ringe von dem Röllchen. Da wuchs dieses wie von innen aufgeblasen zu einer anderthalb Meter langen, armdicken Rolle an. Die vier eben noch winzigen Ringe wurden zu stabilen Holzreifen mit dem Durchmesser der vergrößerten oder besser entschrumpften Pergamentrolle. Der große Eichenholztisch in einer Ecke eignete sich sehr gut als Karten- und lesetisch. Dorthin trug Sophia Whitesand die unter ihren Arm geklemmte Rolle. Dann breitete sie diese soweit aus, bis der Tisch der Länge nach von ihr bedeckt wurde.
Die nächsten dreißig Minuten studierte sie die in altirischer Sprache gemachten Notizen zu dem Stein des Garuthmont. Sie fand auch die Namen der vier Beherzten und las scheinbar als Randnotiz, dass sich der Stein in einem Bett aus bergenden Zaubern unter dem Grund des Liffey-Flusses befand, von wo ihn besser niemand mehr hervorholen sollte. Etwas genaueres über die Lage oder die Natur und Verflechtung der Bergezauber stand da nicht, weil diejenigen, die den Stein versteckt hatten eben keine Wiederholung der Gräuel von damals haben wollten. Somit stand fest, dass es außer vielleicht diesem einen vagen Hinweis auf die Lage des Steines keine genauen niedergeschriebenen Angaben gab, wo er sich befand. Also konnte auch keine genaue Lagebeschreibung abgeschrieben und ins Ausland gebracht worden sein. Es sei denn, eine der Geheimniserbinnen hatte doch irgendwo in einem Privatarchiv die nur Mündlich erhaltenen Angaben niedergeschrieben und diese Aufzeichnungen in jenes Archiv irischer Zaubereigeschichte geschafft, welches Erin O'Casy hütete. Sollte sie nun der hier gelagerten Niederschrift vertrauen, dass das Versteck des Geistersteines von Garuthmont ungenau war oder darauf, dass Erin doch entsprechende Aufzeichnungen hatte, von denen es zu allem übel noch Kopien gab? So richtig trauen wollte sie Erin nicht. Auch wenn sie ihrer Schwesternschaft angehörte, so war sie doch auf dem Pfad der Ungeduldigen und hatte sich in der irischen Gruppe dieser Untergruppierung den Rang einer Sprecherin errungen, nicht selten mit skrupellosen Mitteln. Sie mochte gerade darauf ausgehen, den Rang von Ursina Underwood einzunehmen, die im Juli letzten Jahres grausam zugerichtet aufgefunden wurde. Doch weil Erin bei den englischen und schottischen Mitschwestern nicht so beliebt war, da sie ihre Liebe zu Irland und dessen Volk so hervorhob, blieb sie zur Zeit noch die erste wichtige Hexe der irischen Mitschwestern. Also, wem sollte sie nun trauen?
"Wir dürfen nicht riskieren, dass jemand diesen Stein findet und der wirklich durch die dunkle Woge auf ein vielfaches der ursprünglichen Stärke erhöht wurde. Am Ende haben wir noch so ein verwünschtes Ding, in dem ein Herrsch- und Rachsüchtiger Geist gefangen ist und andere Menschen zu den schlimmsten Untaten verführt", dachte Sophia Whitesand. Dann bedachte sie noch einmal, was Erin in ihrem warnenden Brief erwähnt hatte. Sie sollte Kontakt mit der deutschen Mitschwester aufnehmen, die durch einen schweren Arbeitsunfall ihr natürliches Augenlicht verloren hatte. Klar, das war Albertine Steinbeißer. Sie hatte die offen homophil ausgerichtete Hexe schon ein paar mal getroffen, aber noch vor dem erwähnten Unfall auf der Jagd nach einem Diener der wiedererweckten Abgrundstochter Thurainilla. Doch von Alastor Moodys frei drehbarem Auge wusste sie Dank ihres nun endlich friedlich ruhenden Vetter Albus, dass damit auch Tarnzauber durchdrungen werden konnten. Albertine hatte erstens beide Augen durch hocheffiziente Prothesen ersetzt bekommen und zweitens die neuesten Entwicklungen auf dem Gebiet der heilmagischen Thaumaturgie erhalten. Sie konnte dann sicher auch magische Tarnungen und Barrieren durchdringen, wenn sie nicht all zu weit von ihnen entfernt war. Insofern war es schon nachvollziehbar, dass Erin vorschlug, diese Mitschwester zu kontaktieren. Doch Sophia konnte sich ebensogut vorstellen, dass jemandem daran gelegen war, beide Hexen an einem Ort zusammenzubringen, um dann was zu tun ...? Zu heftig erinnerte sie sich noch an die Feier des Patensohns von Lady Genevra Hidewoods. Irgendwer aus den Reihen des bösartigen Magiers Tom Riddle alias Lord Voldemort hatte wohl verraten, dass auch sie bei dieser Party anwesend sein würde. Der selbsternannte dunkle Lord hatte diese Gelegenheit nutzen wollen, sie zu beseitigen. Doch seine Handlanger waren an ihren Fähigkeiten, aber vor allem am Erbe des wiederverjüngten Adamas Silverbolt und des mit alten Zauberkenntnissen betrauten Ruster-Simonowski-Zauberers Julius Latierre gescheitert. Deshalb war sie immer auf der Hut, wenn sie an Orte sollte, die sie nicht gut genug kannte oder dort nicht vorher wirksame Schutzzauber einrichten konnte. Sicher, wenn Albertine Steinbeißer mit ihr zusammen unterwegs war, wobei sie sich besser nicht als die Stuhlmeisterin der britischen Schwestern vorstellen sollte, war schon eine gewisse Sicherheit möglich, vorausgesetzt, Albertine folgte nicht auch dem ungeduldigen Pfad, von dem man all zu leicht in den Abgrund der dunklen Seite abrutschen konnte. Doch es könnte wen interessieren, sie beide an einem vor den Muggeln verborgenen Ort zusammenzubringen, um sie zu überwältigen, nicht um sie zu töten, sondern um sie auf die Seite einer unerwünschten Macht zu zwingen. Insofern wollte sie schon wissen, wer genau wann was aufgeschrieben und wohin weitergereicht haben sollte.
Sie prägte sich noch einmal die Beschreibungen der ungefähren Lage des Steines ein. die wollte sie gleich noch mit einem Bergestein in ihrem Gedächtnis versiegeln, auch wenn sie eine sehr gute Okklumentorin war.
Nun rollte sie die anderthalb meter Breite Rolle wieder ordentlich zusammen. Danach schob sie die vier Ringe in ihrer ordentlichen Reihenfolge darüber. Dann öffnete sie das Kästchen wieder. Kaum war der Deckel hochgeklappt schrumpfte die Rolle wieder auf das winzige Röllchen zusammen. Mochten die Amerikaner weiterhin behaupten, Alexandria Agemo habe dieses Prinzip der Behälterbezogenen Schrumpfung und entschrumpfung erfunden. Doch die wahre Erfinderin dieses Prinzips war Sophias Urgroßmutter Temperence Magnolia Meridith Figg geborene Diggle. Allerdings wusste sie, dass die Agemos in den Staaten mit den dorthin ausgewanderten aus der Diggle-Familie vereint worden waren. Insofern war das Prinzip des praktischen Behälters für Bücher und andere Aufzeichnungen in der Familie geblieben und noch dazu für eine Hexe patentiert worden.
Als sie wieder durch alle sieben schweren Türen und die steile Treppe hinauf unter das Gutshaus gestiegen war begab sie sich in ihr Studierzimmer. Dort schrieb sie eine Antwort an Erin O'Casy, in der sie erwähnte, dass sie gerne wüsste, von wem die Aufzeichnungen angefertigt worden seien und wann genau diese ins Ausland geschafft worden sein sollten. Sie schaffte es noch, ihre Forderung als respektvolle Bitte zu formulieren, dass Erin ihr genaue und magisch überprüfbare Auszüge dieser Niederschrift zukommen ließ. Sie erwähnte, dass sie erst dann die Wichtel aufs Dach jagen wolle, wenn sie auch handfeste Beweise für solche Aktionen in Händen hielt. Als sie den Brief noch einmal auf Flüchtigkeitsfehler geprüft hatte und befand, dass er so abgeschickt werden konnte, ging sie in die Dachkammer, wo ihre vier Posteulen übertagten und durch eine auf ihre Beinringe abgestimmte Dachluke aus- und wieder einfliegen konnten. Sie wählte die Eule aus, die schon häufiger bei Erin O'Casy gewesen war und band ihr den verschlossenen Umschlag mit ihrem Antwortbrief um. Dann deutete sie auf die Dachluke und befahl: "Bring den Brief zu Erin O'Casy!" Die Eule flog ohne Laut zu geben auf und stieg zur Dachluke hinauf. Diese klappte ohne Rumpeln und Quietschen auf. Die Eule schlüpfte mühelos hindurch und beschleunigte ihren Flug. Die Luke schloss sich mit leisem Schaben. Der Brief war unterwegs.
Wieder in ihrem Studierzimmer dachte sie, ob sie jetzt schon Gesine Feuerkiesel in Deutschland unterrichten sollte. Doch ohne die nötigen Unterlagen war es dafür zu früh. Sie sah auf einen Hängeschrank, den sie mit Blutsiegelzauber vor unbefugtem Zugriff gesichert hatte. Sollte sie einen der darin aufbewahrten Zweiwegspiegel benutzen? Doch die Besitzer der Gegenstücke gehörten nicht zu den schweigsamen Schwestern. Also wollte sie diese Möglichkeit auch nur nutzen, wenn es was gab, was auch außerhalb der Sororität wichtig war.
Da Julius sein Kontingent an freien Tagen schon sehr erschöpft hatte und er nicht Blutsverwandt mit den Dusoleils war hatte er es gar nicht erst darauf angelegt, gleich von Anfang an bei der großen Willkommensfeier von Camilles Vierlingen dabeizusein. Doch als er nach Dienstschluss gleich auf der Landewiese der Dusoleils apparierte wurde er von Madame Faucon begrüßt. Diese war mit Denise Dusoleil aus Beauxbatons herübergekommen und würde um halb zehn mit ihr dorthin zurückkehren. "Zeremonienmagier Laroche war schon vor drei Stunden da, Julius. Er ist dann wieder los, um sich mit den anderen Eltern hier abzustimmen, die in den nächsten Wochen ihre neuen Kinder offiziell begrüßen wollen", sagte die Schulleiterin von Beauxbatons. Denise meinte dazu noch: "Ich hätte nicht gedacht, dass die in zwei Monaten schon so schnell wachsen können. Na ja, muss ich eben wohl in den großen Ferien in ein anderes Zimmer umziehen. Aber gut, dass dieser Krawallbold Phil nicht mehr hier wohnt." Madame Faucon sah Camilles drittgeborene Tochter tadelnd an. "Nein, Madame Faucon, das ist so. Der kleine Krawallbold hat schon vor der Geburt von Tante Uranies drei ganz kleinen andauernd Ärger gemacht. Soll der doch bei Madame Eauvive rausfinden, was geht und was nicht geht, bevor der nach Beauxbatons geht, wenn die den da überhaupt reinlassen."
"Ich höre jetzt aber wohl nicht richtig", setzte Blanche Faucon zu einer Entrüstung an. "Das vor meinen Ohren überhaupt anzudeuten ist schon sehr bedenklich, Mademoiselle Dusoleil. Natürlich ist es richtig, dass Beauxbatons sehr viel Wert auf ordentliches Betragen und respektvollen Umgang untereinander legt. Doch bisher hat es nur zweimal eine eindeutige Ablehnung eines neuen Mitschülers gegeben, weil dieser sich ausgesprochen unreif für Beauxbatons gezeigt hat. Aber das ist vor dreihundert Jahren geschehen und führte nachfolgend zu einer sehr gründlichen Diskussion, ob jemand nur wegen erwiesener Unerhörtheiten und Missfälligen Betragens abgelehnt werden darf, wenn er oder sie unbedingt zu meisternde Zauberbegabungen äußert. Daher gilt, dass zumindest die Aufnahme eines zauberisch begabten Jugendlichen erfolgen muss. Falls sich der betreffende Junge oder das betreffende Mädchen nach Kenntnisnahme der geltenden Schulregeln nicht in die Ordnung und Gemeinschaft der Beauxbatons-Akademie einfügen will oder kann, besteht immer noch die Möglichkeit, ihn oder sie unehrenhaft zu entlassen, wie Monsieur Latierre hier bedauerlicherweise an den Fällen Lépin, Dorfmann und Perignon miterleben musste. Aber dass Ihr Vetter Philemon nur deshalb nicht zu uns nach Beauxbatons kommt, weil er derzeitig in einer sehr schwierigen Lage zu unerwünschten Verhaltensweisen neigt, weise ich als amtierende Schulleiterin der Akademie entschieden zurück, damit wir uns da ganz klar verstehen, junge Dame." Denise machte darauf nur ein verdrossenes Gesicht und ging wortlos zum Garten hin, wo die Festgäste gerade in ein weiteres Lied zu Ehren der vier jüngsten Töchter Camilles und Florymonts einstimmten. Blanche Faucon hakte sich unaufgefordert bei Julius unter und ließ sich von ihm zur Festgesellschaft hinführen. Natürlich sahen alle mit einer Spur von Überraschtheit und Verwunderung zu den beiden hin. Doch Julius sagte schnell: "Ich bin sehr erfreut und fühle mich auch sehr geehrt, dass Madame Faucon mich nach meinem langen Arbeitstag hier empfangen hat und mich zu euch allen begleiten wollte." Blanche Faucon nickte bestätigend. Ihre saphirblauen Augen suchten Denise. Doch die hatte sich offenbar ins Haus verzogen, vielleicht um zu schmollen, vielleicht aber auch, um über ihre Äußerungen nachzudenken.
Weil Blanche schon mal an Julius dranhing konnte er ihr nicht widersprechen, seinen ersten Tanz bei diesem Fest mit ihr zu tanzen. Keiner wagte es, ihr dieses Vorrecht abzusprechen, auch Camille und Mildrid nicht. Zumindest bekam er genug Gelegenheiten, Camille noch einmal zur Geburt der vier kleinsten Dusoleils zu gratulieren und bestätigte, was Denise gesagt hatte, dass die vier in den zwei ersten Lebensmonaten schon ordentlich gewachsen waren. "Klar, wo du es warst, der sie zuerst gesehen hat, als sie ankamen", grinste Camille und schmatzte Julius einen Kuss auf die rechte Wange. Dann tanzte auch sie mit ihm. Erst danach durfte Millie mit ihm tanzen.
"Was war denn zwischen Königin Blanche und Denise?" wollte Millie wissen. "Mademoiselle Dusoleil ist ja ohne Worte ins Haus zurück und hat sich immer wieder zur Landewiese umgesehen, als wenn von da noch was kommen sollte."
"Sag ich dir nachher bei uns zu Hause, Millie", antwortete Julius. "Ich denke nur, dass Denise nur dann noch mal aus dem Haus kommt, wenn ihre Eltern sie rufen." Das genügte Millie vorerst.
Da ja nun alle erwarteten Kinder auf der Welt waren durfte Julius mit dem glücklichen Vater der vier jüngsten Dusoleils mit edlem Schaumwein auf das Leben und das Glück seiner jüngsten Töchter anstoßen. Allerdings wirkte Florymont nicht so glücklich. Ob es die Bürde von vier neuen Kindern war oder was anderes wollte Julius hier und jetzt nicht erfragen.
Gegen halb zehn sammelten Millie und Julius ihre zwei ersten Töchter ein, die bis dahin in der von Chloé betreuten Kindergruppe gespielt hatten und flogen mit ihnen nach Hause. "Also, Tante Trice hat sich mit Jeanne drauf geeinigt, dass sie morgen unsere zwei und Chloé zusammen betreut, wenn wir zwei beiden mit den wenigen Großen die Hexennacht feiern", sagte Millie ihrem Man klar an. Dieser bestätigte es. Immerhin würde er am erste Mai offiziell freihaben, weil nur die unverheirateten Zauberer Dienst hatten, so die Walpurgisnacht-Sonderregel des französischen Zaubereiministeriums.
Als Millie und Julius im Bett lagen erzählte er ihr, was zwischen Blanche Faucon und Denise Dusoleil abgelaufen war. "Oha, das ist wirklich schon sehr dreist, der Schulleiterin aufzutischen, dass Beaux wen nicht nehmen könnte", meinte Millie. "Aber ich kann Denise verstehen, dass sie froh ist, dass Phil nicht mehr mit ihr im selben Haus wohnt. Aber eigentlich hätte sie doch auch traurig sein müssen, dass ihre Tante Uranie nicht mehr da wohnt."
"Ich sag's mal so, Mamille: Auch wir kriegen längst nicht alles mit, was unter dem Dach im Jardin Dusoleil abgeht. Auch wenn Camille und Florymont uns beide in fast alles einbeziehen und auch Jeanne uns hin und wieder was erzählt läuft da sicher noch einiges ab, wovon wir nichts mitbekommen sollen und vielleicht auch nichts wissen wollen, Mamille. Was Chloé vor drei Tagen über Florymonts Dauerarbeit gesagt hat ist für mich schon sehr aussagekräftig. Ich hoffe, der kommt mit den ganz kleinen gut klar, jetzt wo seine Schwester nicht mehr im Haus wohnt. Nicht dass der denen den Eindruck macht, nur noch für seine Arbeit zu leben. Falls er das will und nur dann, wenn eine entsprechende Gelegenheit kommt, mit ihm darüber zu reden, werde ich dem erzählen, wie das Verhältnis zu meinem Vater war, bevor ich nach Hogwarts hindurfte. Vielleicht kann ich ihm helfen, dass er nicht ähnlich auf seine vier jüngsten wirkt wie mein Vater auf mich, wenn er immer wieder länger wegblieb und nur selten zu Hause war."
"Ja, aber der hat dir trotzdem viel über die nichtmagische Alchemie beigebracht, hast du immer wieder gesagt", wandte Millie ein. Julius bestätigte es und erwähnte jedoch, dass es ihm wohl damals darum gegangen sei, ihn, Julius, möglichst schnell und gründlich auf eine rein sachliche, verantwortungsvolle, naturwissenschaftlich ausgerichtete Karriere einzustimmen, und nicht einfach mal nur der liebe Paps sein wollte, der auch mal mit ihm singen und spielen konnte, ohne ihm gleich irgendwas wichtiges beibringen zu müssen. Millie erinnerte ihn daran, dass er ihr und auch Oma Line und Béatrice das schon erzählt hatte. Julius erwiderte, dass er es auch nur deshalb noch einmal erwähnt hatte, um klarzumachen, dass er seinem Vater viel Wissen und auch ein Interesse an den Vorgängen in der Natur verdankte, aber eben keinen Vater hatte, der mit ihm einfach nur mal singen und spielen wollte. Millie erkannte das an und erwähnte, dass er dafür aber sehr aufmerksam und auch einfühlsam war, was die drei kleinen Latierres anging und er deshalb wohl auch von den dreien verehrt und geliebt würde. Julius wagte zu widersprechen, dass er das nur von Aurore und Chrysope so rüberbekam, weil Clarimonde ja im Moment noch eher zwischen Hunger, Schlaf und vollen Windeln unterschied. Millie lachte nur und meinte, dass sie ja jeden Tag viele neue Sachen verstand und ja auch immer lächelte, wenn er sie in die Arme nahm und für sie sang oder auch dankbar war, wenn er sie versorgte. Das wollte er nicht bestreiten.
Albertrude Steinbeißer wusste, dass Gundula Wellenkamm von Ladonna unterworfen worden sein musste. Immerhin war diese zum Turm der tausend Tränen gereist. Daher wandte sie alle Kraft darauf an, ihren Geist zu schützen, als sie der nordfriesischen Hexenmeisterin gegenüberstand. Ihr war klar, dass Gundula sie nicht umsonst um diese späte Uhrzeit zu sich bestellt hatte.
"Schwester Albertine, ich hoffe, du verstehst, warum ich dich um diese Uhrzeit zu mir hinbitten musste. Aber ich erfuhr von einer irischen Mitschwester, dass sie besorgt ist, dass ein gefährliches Artefakt aus der Zeit der Druiden wieder auftauchen könnte, das wie alle anderen von dunkler Kraft erfüllten Gegenstände durch die dunkle Woge von vor einem Jahr aus langer Untätigkeit erwacht sein dürfte. Ich musste auf jeden Fall erst einmal in den eigenen Unterlagen suchen, was wir hier in Deutschland mit diesemArtefaktzu tun haben sollen. Ich gehe davon aus, dass dir der Name Stein des Garuthmont nichts sagt. Den Irischen Namen dieses Artefaktes wage ich bessernicht auszusprechen."
"Ein magischer Stein, sowie der Mitternachtsdiamant oder der Runenstein von Ginstermoor??" fragte jene Hexe, von der nur Anthelia wusste, dass sie die Seelenvereinigung aus Albertine und Gertrude Steinbeißer war.
"Ja, ein Stein aus druidischer Zeit. Laut der irischen Bundesschwester Erin O'Casy soll er in Irland sein, aber die Aufzeichnungen, wo er liegt, sollen sich hier in Deutschland befinden", sagte Gundula Wellenkamm.
Albertrude musste gut überlegen, was sie nun antworten sollte. Mit dem Wissen Gertrude Steinbeißers hatte sie auch die Kenntnisse über den Junghexenfresserstein in sich aufgenommen. Ja, sie wusste auch, dass dieser Stein in Irland sein sollte, als dunkles Gegengewicht zu den Quellen von Tara. Den Namen Garuthmont hatte sie in diesem Zusammenhang auch gehört. Er galt neben anderen dunklen Druiden wie Dairon als erbitterter Feind aller Hexen und hatte diese durch sein Artefakt zu reinen Sklavinnen degradiert. Es war auch nur eine Frage der Zeit, bis nach der dunklen Woge jemand diesen Stein erwähnen würde. Vor allem aber wusste Albertrude, wo dieser Stein lag, hundert Meter unter dem Liffey-Fluss, eingebettet in vielschichtige Verbergezauber, eingeschlossen in einer Höhle, die nach dem Bezwingen des bösen Druiden mit Steinhärtungszaubern versiegelt wurde. Vor allem wusste sie, dass die Lage dieses Steines nur von Hexenmund zu Hexenohr weitergegeben wurde, bloß keine schriftlichen Aufzeichnungen, bloß kein Zauberer, der den Stein für sich ausnutzen sollte. Deshalb dachte sie erst, ob Erin O'Casy nicht zu den Eingeweihten gehörte. Dann dachte sie, warum Erin O'Casy von irgendwelchen nach Deutschland geschafften Aufzeichnungen berichtet haben sollte, wo sie, Albertrude, ganz genau wusste, dass es diese Aufzeichnungen nie gegeben hatte. Die Antwort war einfach: Die Irin und Gundula setzten darauf, dass Albertrude das alles nicht wusste, um sie damit zu ködern, diese Aufzeichnungen zu suchen und womöglich auch welche zu finden. Sie sagte laut und deutlich:
"Ich wundere mich, dass die irische Zaubererwelt es zugelassen hat, dass Aufzeichnungen über ein so wichtiges oder gefährliches Artefakt das Land verlassen konnten. Oder sprechen wir hier von Abschriften, die gemacht wurden und die jetzt gebraucht werden, weil die Originalniederschrift verlorenging?" Gundula Wellenkamm schien diesen gespielten Quaffel erhofft zu haben. Denn sie nickte heftig und sagte: "Da unsere Bundesschwester in Irland wohl alle ihre Quellen bemüht hat, um die Originalaufzeichnungen zu finden und dabei erfahren hat, dass sie hier in Deutschland sind, trifft das wohl zu. Jemand hat die Originalaufzeichnungen fortgeschafft oder wegen ihrer Brisanz vernichtet, um die Lage des Steines aus allen Erinnerungen zu tilgen. Aber jetzt scheint er sich wieder voll regeneriert und reaktiviert zu haben. Jemand hat davon geträumt, wie hundert weibliche Geister einen roten Stein umtanzen und dabei ein Lied in der altkeltischen Sprache singen. Das betreffende Medium verstand diese Sprache jedoch nicht, was womöglich unser Glück ist. Denn wer die Sprache kennt könnte von diesem Artefakt unterworfen werden."
"Will heißen, dass wer den Stein findet und die davon ausgehende Gedankenbotschaft versteht wird sein Sklave oder seine Sklavin. Aber dann muss der Stein doch von irgendwem willentlich gelenkt werden, Schwester Gundula."
"Laut unserer Bundesschwester in Irland ist das der in den Stein gebannte Geist Garuthmonts persönlich, der mit den hundert Seelen seiner jungfräulichen Opfer darin eingekerkert wurde und jetzt sowie das Erbe Sardonias neue Kraft gewonnen hat."
"Ach, und dann hat der Stein solange gebraucht, um wieder aktiv zu werden?" fragte Albertrude vorwitzig. Denn sie wusste ja selbst von Artefakten, die mehr als ein halbbes Jahr gebraucht hatten, um ihre frühere Stärke wiederzuerlangen oder noch mehr Kraft zu bekommen, um ihre dunklen Eigenschaften zu entfalten, sowie die Schlangenmenschen in Australien. Deshalb nahm sie Gundulas Antwort als zu erwarten hin. "Wie die Echsenkrieger unter dem Uluru in Australienunterlag der Stein womöglich einem stark verzögerten Zeitablauf, der sich jetzt erst wieder unserem üblichen Zeitfluss angeglichen hat. Das heißt jedoch, dass wir nun schnell machenmüssen, um eine Ausdehnung seines Einflusses zu unterbinden, bevor er erneut seine hexenfeindliche Aufgabe erfüllt. Es ist wie der Mitternachtsdiamant und das von Wallenkron gesuchte dunkle Behältnis, in dem dieser alte Erzmagier aus dem Vorreich eingebettet ist oder war. Doch um zu wirken wird der Stein nach für seine Botschaften empfänglichen Hexen oder Zauberern suchen, um lebende Gehilfen zu haben. Also gilt es, alle Aufzeichnungen über seinen Aufbewahrungsort, die ihn unterwerfenden Zauber und die Kräfte des Steines selbst zu finden, bevor einer dieser weltverbesserungssüchtigen Zauberer sie findet und meint, den Stein alleine unschädlich machen zu können oder sich seiner zu bedienen. Das Kapitel Wallenkron alias Lord Vengor hat gezeigt, dass es immer wieder Zauberer gibt, die sich berufen fühlen, die Welt zu beherrschen. Doch die wahre Herrschaft darf nur den Hexen gewährt sein. Außerdem gilt es, ihn als mögliches Instrument gegen uns Hexen unschädlich zu machen."
"Dann frage ich doch jetzt mal, warum das nicht in all den Jahren getan wurde, in denen dieser Stein wo auch immer aufbewahrt wird", erwiderte Albertrude. Sie sah Gundula an, dass diese mit dieser Frage nicht gerechnet hatte. Offenbar war sie darauf aus, ihre Mitschwester Albertine Steinbeißer für die Suche nach diesem Stein einzuspannen.
"Das habe ich die irische Bundesschwester auch gefragt. Aber die Eule mit der Antwort ist noch nicht eingetroffen." Albertrude verbiss sich ein überlegenes Lächeln. So hätte sie auf die Frage sicher auch geantwortet. Dann sagte sie: "Besteht die Möglichkeit, mit der betreffenden Bundesschwester noch einmal direkt zusammenzutreffen?"
"Sie bat ihre Stuhlmeisterin, die sich auch mit altdruidischen Zaubern auskennt, uns zu unterstützen, da sie selbst nicht von ihrem Ort weg kann, ohne aufzufallen."
"Verstehe", sagte Albertrude und sprach damit tatsächlich die Wahrheit. Denn ihr war jetzt klar, was das hier solte. Sie und die Stuhlmeisterin aller britischen Schwestern sollten an einem Ort zusammenkommen, der noch zu ermitteln war, wobei diejenige, die das ganze eingefädelt hatte, sicher schon den Treffpunkt an Gundula weitergegeben hatte. Also war es tatsächlich eine Falle. Die Frage war, was konnte und musste sie tun, um nicht hineinzutappen, aber ohne gleich zu offenbaren, dass sie eine Falle erwartete? Sie fragte erst nach dem ungefähren Aufbewahrungsort der angeblichen Aufzeichnungen.
"Soweit meine Unterlagen hergeben wurden die Aufzeichnungen von englischen Magielosen erst nach London gebracht und dann von Angehörigen des Adelshauses Hannover in eine geheime Schatzkammer gebracht, von wo deren geheimer Zauberrat sie wohl in sein eigenes Haus bei Braunschweig geschafft hatte. Wenn ich eine Rückmeldung der Stuhlmeisterin unserer Schwesternschaft habe, dass deren britische Amtsschwester nach Deutschland kommt werde ich dir mitteilen, wo ihr euch treffen könnt. Ich werde euch dann einander vorstellen und euch den genauen Standort des geheimen Turmes preisgeben."
"Ach, dann liegen diese Unterlagen jetzt in einem geheimem Keller von Prinz Ernst-August von Hannover?" fragte Albertrude. Gundula wollte wissen, wer genau das war. Sie entschuldigte sich dafür, dass sie mal wieder vorausgesetzt hatte, dass auch andere Hexen und Zauberer sich auf dem Laufenden hielten, was die Nachrichten aus der magielosen welt anging. Dann fragte sie:
"Ja, und du hoffst, dass die Aufzeichnungen noch da sind, obwohl Grindelwald in den 1930er Jahren sehr treue Agenten in unserem Land hatte und obwohl Wallenkron als Neffe des Ministers auch Zugang zu geheimen Unterlagen gehabt haben mag?"
"Wir müssen es jedenfalls prüfen", sagte Gundula Wellenkamm. Albertrude ergänzte in Gedanken, dass ja sie das wohl überprüfen sollte um dann in Ladonnas Falle zu tappen. Doch scheinbar arglos und dafür entschlossen sagte sie zu, die Aufzeichnungen und dann den Stein des Garuthmont zu suchen.
Froh darüber, ohne Duell aus Gundulas Haus zu gelangen kehrte sie in ihr eigenes Haus zurück. Gleich morgen würde sie ihre Bundesschwester Anthelia über diesen scheinheiligen Auftrag informieren. Vor allem aber wollte sie sich genau darauf vorbereiten, der Möchtegern-Hexenkönigin persönlich gegenübertreten zu können, ohne ihre verstärkte Willensfreiheit zu gefährden.
Es war keine der üblichen Walpurgisnachtfeiern, die Julius seit der Einschulung in Beauxbatons mitbekommen hatte. Denn die allermeisten erwachsenen Hexen von Millemerveilles mussten ihrer neugeborenen Kinder wegen auf das wilde Besenfliegen und auf berauschende Getränke verzichten. Ihre Ehemänner blieben aus Solidarität bei ihren Frauen zu Hause. So trafen sich nur die verheirateten Paare, die nicht von Vita Magica mit neuen Kindern beehrt worden waren auf der Festwiese von Millemerveilles. Millie und Julius trugen genau wie Jeanne und Bruno die magischen Hüftreifen, die sie wie mit einer unsichtbaren Kette auf Schrittweite zusammenhielten. Millie vollführte mit Julius die wilden Besenflugmanöver, die sie auch schon in Beauxbatons mit ihm geflogen hatte. Jeanne zeigte, dass auch sie trotz nun vier Kindern nicht ganz an Wildheit verloren hatte. Bruno hatte offenbar begriffen, dass es nichts mehr brachte, sich über César Rocher aufzuregen. Wenn die Quidditchweltmeisterschaft wiederholt wurde würden er und César sicher wieder eine verlässliche Kameradschaft zeigen, wo sie jetzt doch die Gelegenheit hatten, die im letzten Sommer verpatzte Titelverteidigung zu schaffen. Die beiden wussten ja noch nicht, dass sich immer mehr Leute Sorgen machten, ob nicht schon wer anderes in Italien die Fäden der Macht in Händen hielt und ob es nicht gefährlich war, dort so viele unterschiedliche Leute zusammenzubringen. Immerhin wussten die für die WM wichtigsten Hexen und Zauberer schon, dass es sehr bedenklich sein mochte, die Weltmeisterschaft in Italien zu wiederholen. Doch um es amtlich korrekt abzulehnen fehlten noch wichtige Beweise dafür, dass Ladonna Montefiori Teile des italienischen Zaubereiministeriums beherrschte, ja womöglich auch schon Minister Bernadotti wie eine Marionette führte. Doch all das ließ Julius für diesen Abend weit hinter sich. Dieser Abend gehörte nur seiner Frau Mildrid und ihm.
Tatsächlich fand die Feier noch einen sehr innigen Ausklang, als Millie und Julius in ihrem Schlafzimmer die seit Clarimondes Geburt schlummernde Leidenschaft füreinander wiedererweckten. Allerdings achteten sie darauf, dass diese Nacht nicht schon ihr viertes gemeinsames Kind auf die Reise ins Leben geschickt wurde. Denn sowohl Julius als auch Millie wollten erst klären, wie sie Ashtarias Forderung erfüllen konnten, ohne in steigender Frustration zu versinken, scheinbar nur Töchter bekommen zu können.
Laurentine erwachte nach einer improvisierten Walpurgisnachtfeier im Hause der Brickstons mit einem kleinen, spürbaren Übergewicht im Kopf. Offenbar war der von Catherine besorgte Schnepfeneierlikör doch eher was für gestandene Hexenweiber und nichts für noch sehr junge Lehrerinnen. Joe Brickston hatte sich zwar erst geweigert, sich mit Catherine zusammenbinden zu lassen, es dann doch als Anerkennung seiner Frau hingenommen, dass sie immer noch mit ihm verbunden bleiben wollte. Sicher, sie durfte ihn nicht auf ihrem Besen herumwirbeln. Aber es war schon spaßig, dass sie ohne ihn keinen Schritt mehr tun konnte und er ohne Sie genausowenig. Laurentine hatte mit Claudine zusammen aus einem Liederbuch der weltgewandten Musikhexe Hecate Leviata Sachen nachgespielt. Der kleine Justin James hatte die meiste Zeit verschlafen.
Sie musste jetzt, wo sie wieder wach und ein wenig verkatert war daran denken, dass sie die ihr zugespielte Prüfung Louiselle Beaumonts baldmöglichst ablegte. Denn am 29. Mai wollte sie ja schon in die USA hinüber, auch und vor allem wegen der Zeitanpassung. Schließlich konnte sie dort ja keinen Ortszeitanpassungstrank schlucken, wie ihn weltreisende Zauberer zu schätzen wussten. Also hatte sie gerade mal 28 Tage zeit, wenn sie jeden Tag bei Louiselle üben wollte. Auch plagte sie doch das schlechte Gewissen, Catherine, die sie so warmherzig aufgenommen hatte und auch eine ganze Menge von Abwehrzaubern verstand, im dunkeln zu lassen, dass sie bei einer anderen Hexe, die sie noch nicht einmal persönlich kannte, erweiterte Zauberstunden nehmen wollte. Dass sie dies trotzdem tat lag wohl daran, dass ihr Hera Matines Worte sehr zugesetzt hatten. Sie wohnte im Grunde in einer schützenden Blase, weil sie hier in der Rue de Liberation 13 unter dem Sanctuafugium-Zauber stand und in Millemerveilles erst unter Sardonias trügerischer Schutzglocke und seit August unter der neuen, von den Kindern Ashtarias errichteten, hoffentlich aufrichtig menschenfreundlichen Schutzglocke wechseln konnte. In beiden Fällen musste sie sich keine Sorgen vor Nachstellungen machen. Doch sie konnte, würde und vor allem wollte ja nicht immer nur zwischen Catherines und Joes Haus und Millemerveilles pendeln. Ja, und weil sie schon eine gewisse Berühmtheit besaß war sie genauso in Gefahr wie solche Hexen, die tätig gegen dunkle Mächte kämpften. So wie Schauspielerinnen und Sportlerinnen auch für politische Ziele instrumentalisiert werden konnten mochte jemand finden, die trimagische Siegerin von 2000 für seine oder eher ihre Zwecke einzusetzen. Sicher hatte sie das immer schon irgendwo geahnt, dass Catherine ihr die Wohnung nicht ohne gewisse Hintergedanken angeboten hatte. Doch Catherine hatte es in all den Jahren, die Laurentine schon hier wohnte nicht einmal für nötig gehalten, mit ihr über diese Lage zu reden, ja ihr von sich aus erweiterte Zauberkenntnisse anzubieten. Gut, sie hatte Catherine auch nicht gefragt, und wenn sie ehrlich war piesackte sie auch das Gewissen, sich vorzustellen, noch mehr Zauber zu lernen, um andere Menschen zu schädigen. Eigentlich reichte das, was sie konnte schon sehr gut aus, um sich gegen viele aufdringliche Leute zu wehren. Aber wie im Wildwestfilm, so galt auch im echten Leben, irgendwer kann noch schneller ziehen, und die Weisheit aus der afrikanischen Wildnis lautete, dass jede Gazelle immer schneller laufen musste als der schnellste Löwe, um nicht gefressen zu werden. War sie jetzt eine Gazelle oder eine Löwin? Interessante Frage. Dazu fiel ihr das alte Sprichwort ein "Homo homini lupus" - Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Und der Homo sapiens magicus war sicher mehr als ein Wolf. So was ähnliches hatte Professeur Delamontagne ja auch in den UTZ-Stunden erwähnt. Also galt es für sie, dass sie sich den anderen "Löwen" oder gar "Drachen" gegenüber wehrhaft genug zeigte. Ja, und damit sie dies konnte musste sie wohl diese erweiterten Zauberstunden nehmen, auch wenn sie nicht genau wusste, wie sie diese bezahlen sollte. Denn Luiselle Beaumont wollte kein Gold, sondern selbst hergestellte Dinge haben, hatte ihre Tante Hera Matine Laurentine vorgewarnt. Was genau die andere Hexe von ihr verlangen könnte konnte sie erst erfahren, wenn sie diese zweiteilige Prüfung bestand.
Da in Millemerveilles und Beauxbatons heute Schulfrei war konnte sie sich ganz auf diese Prüfung konzentrieren.
Sie holte zuerst das Papyrusblatt. Natürlich ging sie von einer darauf mit Geheimtinte oder einem Verhüllungszauber geschriebenen Botschaft aus, die sie mit alchemistischen oder thaumaturgischen Mitteln enthüllen musste. Allerdings würde das dann wohl der erste Schritt sein, denn sicher war der so bloßgelegte Text dann noch verschlüsselt oder verrätselt, wie in vielen Folgen der von ihr früher gern gehörten Geschichten um die drei Fragezeichen. Doch genau das trieb sie erst recht an, herauszufinden, ob sie derlei knacken konnte.
Um mit verschiedenem Licht zu experimentieren zog sie sich mit dem Zettel auf den Dachboden zurück. Hier hatte sie ihren neuesten Computer mit internetfähigem DSL-Anschluss, einer Menge Daten-CDs und -DVDs, sowie ihre bisher gesammelte Zaubererweltbibliothek, zu der seit einiger Zeit auch Kinderbücher für kleine Hexen und Zauberer gehörten, um für die Schulklassen mit den Kindern einen Wissensgleichstand zu haben. Außerdem konnte sie das Dachfenster völlig lichtdicht verschließen und eine variiable Deckenbeleuchtung benutzen, die eine schattenfreie Beleuchtung oder Punktbeleuchtung ermöglichte, wobei die Lichtquellen auf hundert verschiedene Farben und stufenlos von ganz dunkel bis sonnenhell regelbare Lichtstärke gestellt werden konnten, und das alles mit einer Fernbedienung. Denn bekannterweise war genügend fortgeschrittene Technologie nicht von Magie zu unterscheiden.
Sie schloss das Dachfenster und klappte die Einstiegsluke zu. Jetzt schaltete sie mit dem Druck auf den schwach grün glimmenden runden Knopf auf der Fernbedienung die Varilux-Beleuchtung an, auf die auch ihre Oma Monique schwor. Sofort ergoss sich sonnengelbes, helles Licht über den Dachbodenbereich, wo vor einigen Jahren Millie und Julius ihr Ehebett stehen hatten. Einen Moment durchlief sie ein heißer Schauer, wenn sie sich vorstellte, dass Millie und Julius hier oben manchen wilden Liebesakt ... Nein, sie musste sich zusammenreißen. Also den Zettel mal hochhalten, ob er im dem Sonnenlicht bis auf die UV-Anteile entsprechenden Licht schon was preisgab. Natürlich sah sie nichts, weder auf der einen, noch auf der anderen Seite. Das wäre ja auch viel zu leicht gewesen. Doch am Ende musste sie auch die einfachen Sachen versuchen, um ans Ziel zu kommen, nach dem Grundsatz: Warum die Tür eintreten, wenn es einfach reicht, die Klinke zu drücken? Aber mit Gewalt kam sie hier ja sowieso nicht weiter, sonst könnte sie den Zettel ja gleich verbrennen, um zu sehen, ob eine magische Botschaft freigesetzt würde. "Secretum tuum revelio!" murmelte sie mit über dem Papyrusblatt zirkelndem Zauberstab. Es geschah nichts. Dasselbe erfolgte, als sie den Zauberspruch "Apparetium!" benutzte, um unsichtbares auf sichtbarem Hintergrund sichtbar zu machen. Das Papyrusblatt blieb einheitlich weißgelb gefärbt. Sie dachte daran, dass die verwendete Tinte dieselbe Farbe haben konnte wie das Blatt selbst. So waren ja bei Computertexten auch einfache Verhüllungen möglich, wenn Schrift-und Hintergrundfarbe völlig identisch waren. Deshalb probierte sie den Zauber "Scriptum audietur!" aus. Tatsächlich hörte sie was. Doch es klang nicht nach worten, sondern nach Herzschlägen. Doch wenn sie genau hinhörte meinte sie zwischen dem regelmäßigen Rumm-bumm ganz leise, dumpf klingende Worte zu hören, als säße jemand hinter einer dicken Wand. Sie verstand jedoch nichts. Offenbar hatte Luiselle den geschriebenen Text absichtlich mit dem Geräusch ihres eigenen Herzens überlagert, um den Vorlesezauber unbrauchbar zu machen. Das ging also auch, erkannte Laurentine. Sie lernte jetzt schon was dazu, dachte sie weiter. Dann probierte sie erst verschiedene Beleuchtungsstufen aus, um das Verhältnis Papyrus und Schreibtinte auszutesten. Doch außer, dass der Zettel noch mehr leuchtete, als sie einen blutroten Farbton ausgewählt und ganzflächig verteilt geschaltet hatte erschien nichts anderes. Dann dachte sie, dass die Schriftzeichen vielleicht im ultravioletten Licht hervortraten, wie es ja auch bei nichtmagischen Spezialfarben möglich war. So wechselte sie mit der Fernbedienung von Vielfarblicht auf pures UV-Licht und hielt den Zettel hoch. Doch der war jetzt total schwarz wie die Nacht. Also wollte sie Infrarotlicht testen und dabei den Thermoculus-Zauber ausnutzen, mit dem Menschen Wärmestrahlung wie gewöhnliches Licht sehen konnten und das schon jahrhunderte vor der Entdeckung des Infrarotlichtes und seinen technischen Anwendungen. Als sie das tat fiel ihr auf, dass das Papyrusblatt regelmäßig heller und dunkler wurde. Laurentine dachte wieder an den Verfälschten Vorlesezauber. Ja, In einem ähnlichen Takt schlug ein gesundes Menschenherz im Ruhezustand, Sie nutzte den Sekundenzeiger ihrer Armbanduhr und zählte fünfzehn Sekunden lang die infraroten Blinksignale. Sie kam auf achtzehn. Das mal vier ergab zweiundsiebzig. Das passte. Sofort fielen ihr alle Angaben zu dieser Zahl ein. 72 war das doppelte von 36, einer aus zwei Quadratzahlen multiplizierten Quadratzahl, teilbar durch zwei, drei, vier, sechs, neun und zwölf. Zweiundsiebzig Stunden waren genau drei Tage. Mann, sie hatte voll die Mathematikergene im Blut, dachte sie. Dann schlug sie sich fast vor den Kopf. Blut! Blut konnte auch als Zaubertinte verwendet werden, um besonders wirksame Zauber festzulegen, galt ja auch bei den Nichtmagiern als Lebenssaft und deshalb die Schreibtinte der Wahl bei Pakten mit dem Teufel oder anderen überirdischen Wesen. Und eben hatte dieses Blatt ja auch im blutroten Kunstlicht heller geleuchtet als bei voller Tageslichtsimulation. Dann das schlagende Herz sowohl hörbar gemacht als auch jetzt im Wärmesichtmodus als Blinkzeichen. Außerdem, das hatte sie gelernt, galt Blut in der guten wie bösen Zauberei als einen Zauber bekräftigende Opfergabe, sei es freiwillig oder gewaltsam vergossen, sei es das Blut aus einem Finger oder das von fruchtbaren Frauen ausgeschiedene Monatsblut. Doch ihr Zyklus war im Moment in der Phase zwischen Blutung und Eisprung. Das hieß, dass sie in den nächsten Tagen immer gut verhüten musste, wenn sie nicht schwanger werden wollte. Aber im Moment hieß das, dass sie dem Papyrus kein Monatsblut darbringen konnte. Sie konnte sich zumindest vorstellen, dass dies der Beweis dafür wäre, dass sie eine erwachsene Hexe war. Aber womöglich reichte auch ein Tropfen ihres üblichen Blutes, wenn sie es freiwillig gab. Jedenfalls würde es nichts bringen, den Zettel noch der klassischen Bügelmethode zu unterziehen, um zu prüfen, ob er mit Zitronensaft beschrieben worden war. Die Anzeichen für Blut als Tinte waren zu deutlich. Doch warum konnte sie dann mit den Enthüllungszaubern nichts ausrichten? Eben weil Blut dieser ganz besondere Saft war, angeblich dicker als Wasser, so die Familienmenschen und Mafia-Clans.
"Dann muss ich wohl", dachte Laurentine. Doch bevor sie sich eine blutende Wunde beibrachte hob sie erst einmal ihren Wärmesichtzauber auf und flutete ihre Dachbibliothek mit nicht ganz sonnenhellem Kunstlicht ohne UV-Anteile. Sie schaltete ihren Rechner ein und wählte den mit eigenem Passwort gesicherten Ordner "Büchersuche" aus, um in einer von ihr erstellten Stichwortdatei nach allen damit zusammenhängenden Büchern zu suchen. In das Suchfeld gab sie die Stichwörter "Blut Tinte Schreiben" ein. Jetzt machte sich das mühselige Abtippen von Inhaltsverzeichnissen bezahlt. Denn nach nur zwei Sekunden hatte ihr kleines Datenbankverwaltungsprogramm alle mit den Stichworten korrelierenden Buchtitel gefunden und zeigte auch die betreffenden Stichworte an. Sie grinste. Das mochte ihren Vater stolz machen, dass er ihr schon vor Beauxbatons beigebracht hatte, alles in einer übersichtlichen Ordnung zu halten, um es sofort zu finden, wenn sie es brauchte, sowohl in ihrem Kinderzimmer als auch auf ihrem ersten eigenen PC. So konnte sie nun die drei Bücher über magische Zeichen, wichtige Bestandteile bei Zaubern und das Buch "Magische Methoden der Nachrichtenweitergabe, Zutrittsbeschränkung und Verstärkung von Zaubern" herausholen und die betreffenden Textpassagen lesen. In zwei Büchern fand sie die Hinweise, dass mit eigenem Blut Nachrichten verschlüsselt werden konnten, wobei es am besten ging, wenn das Blut nicht auf einer Oberfläche aus Tierhaut, sondern auf Stein. Holz oder Metall aufgetragen wurde. Nur in der schwarzen Magie gab es Zeitgenossen, die Texte auf gegerbte Menschenhaut übertrugen, wohl auch deshalb, weil der Gedanke an den dafür seine Haut lassenden Menschen die böse Kraft des Zaubers verstärken konnte. Doch wer einen unsichtbaren Text mit eigenem Blut schreiben wollte, ohne dass ein Enthüllungszauber diesen preisgab, der musste einen pflanzlichen Schriftträger nutzen, also Leinenstoff, Papier oder klassisches Papyrus. Denn hier konnte die Brücke zwischen pflanzlichem und tierischem Leben geschlagen werden. Wer beide Enden dieser Brücke sehen, also den geschriebenen und danach verzauberten Text wieder lesbar machen wollte, musste wahrhaftig vom eigenen Blut geben. Bei anspruchsvollen Verbergezaubern musste das Blut von einem art- und geschlechtsgleichen Lebewesen dargebracht werden. Zu Laurentines Beruhigung brauchte sie dafür nur zwischen einem Tropfen in die Mitte des Schriftträgers oder so viele Tropfen, wie der Schriftträger Ecken hatte. War es ein rundes Stück reichten drei Tropfen, einer im Mittelpunkt, und zwei sich haargenau gegenüberliegende Tropfen auf dem Kreisrand. Die dann mit dem Zauberstab zu einer Linie verbunden werden konnten.
"Art- und geschlechtsgleich. Das passt", dachte Laurentine und entschied sich dafür, vier Blutstropfen zu spendieren, um jede Ecke des Papyruszettels zu benetzen. Doch wie herum musste sie ihn legen, um die Schriftseite auch oben zu haben? Sie las noch mal an der betreffenden Stelle nach und erfuhr so, dass es egal war, da der Text auf beiden Seiten zu lesen war, von der Rückseite her eben Spiegelverkehrt. So nahm sie aus dem kleinen Nähkästchen, dass ihre Oma ihr als "Ausstattung für die allzeitbereite Hausfrau" geschenkt hatte, eine dünne Nadel, behandelte sie mit dem Ratzeputzzauber, damit auch echt nichts böses in ihre Finger geriet und piekste sich mit zusammengebissenen Zähnen kräftig in den linken Zeigefinger. Den dabei hervortretenden Blutstropfen ließ sie auf die rechte obere Ecke fallen. Das wiederholte sie, wobei sie den Papyruszettel im Uhrzeigersinn benetzte. Das wirkte offenbar schon. Denn das Papyrusblatt bekam einen etwas rötlicheren Ton. Nun zog sie vier gerade Linien von rechts oben nnach unten und von rechts nach links, und dann von links unten nach links oben, sowie abschließend von links nach rechts oben ein unsichtbares Rechteck. Der Farbton wurde noch ein wenig röter. Dann ließ sie den Zauberstab im Uhrzeigersinn und im Rhrythmus der nun zu sprechenden Zauberworte über dem bebluteten Zettel kreisen:
"Hic sanguinem meum dono.
Sanguis Meus cum Sanguine
scriptum monstrato!"
Es knallte nicht, fauchte nicht, dampfte oder blitzte auch nicht. Der Zettel färbte sich nur für zwei Sekunden vollständig blutrot. Dann nahm er größtenteils wieder seine ursprüngliche Farbe an. Nur dass jetzt die roten Tropfen an den Ecken fehlten und Laurentine wirklich einen spigelverkehrten Text sah, zumindest in lateinischen Buchstaben und nicht in Hieroglyphen oder griechischen Buchstaben oder alten Runen. Sie wusste, solange sie den zauber nicht widerrief oder jemand anderes als die beiden Blutspenderinnen ihn berührten würde der Text lesbar bleiben. So drehte sie den Zettel um und las:
Junge Hexe hoch erfreut,
weiß ich, du bist wohl bereit.
Denn nur wer mal ihr Blut lässt rinnen,
die kann auch mit recht gewinnen.
All so geht's unns Hexenleut,
schätzen wir die Fruchtbarkeit.
doch willst weiter du gelangen,
deine Lehrzeit anzufangen,
brauchst du für die erste Runde
Monatstag und Tagesstunde.
so ergründe nun die Zeit!
Dann bin ich für dich bereit.
Unter dem in Versform geschriebenen Text fand sie zwei Zeichnungen. Die eine zeigte einen kreisrunden Ausschnitt mit kleinen Punkten, die in einer bestimmten Anordnung aufgetragen waren. Allerdings war diese Zeichnung gerade mal halb so groß wie Laurentines Auge. Deshalb konnte sie die genaue Anordnung der Punkte so nicht erkennen. Sollte sie den Zettel engorgieren, um die Zeichnung zu erkennen. Dann würde wohl der Blut-zu-Blut-Enthüllungszauber verfliegen, und ob sie ihn an einem vergrößerten Zettel wiederholen konnte war fraglich. Aber sie hatte doch ein Vergrößerungsglas. Wie damals in der dritten Runde des trimagischen Turnieres, dachte sie. Doch dann fiel ihr siedendheiß ein, dass der Blut-zu-Blut-Enthüllungszauber nur funktionierte, wenn jemand mit durchbluteten Augen den Text und was sonst noch davon enthüllt wurde ansehen konnte. Wenn sie zwischen ihre Augen und der Zeichnung ein Vergrößerungsglas hielt mochte das nicht klappen. Das wollte sie jedoch genau wissen. So holte sie eine gewöhnliche Lupe ohne Bezauberung, die zehnfach vergrößern konnte. Tatsächlich sah sie durch die Lupe nur eine flimmernde rote Fläche. So ging es also nicht. Na klar, es ging um Zauberfertigkeiten, nicht um Hilfsmittel. Sie bedeckte eines ihrer Augen mit einem dunklen Tuch, kniff beide Augen zu und hielt die Zauberstabspitze genau zwischen ihre Augen. "Sentio Falcoculos". Sie fühlte ein leichtes Pochen in den Augen und eine leichte Erwärmung. Dieser Eindruck verging nach nur einer Sekunde. Sie öffnete beide Augen und sah, dass ihr dunkles Tuch doch nicht so lichtdicht war, wie sie erst dachte. Sie behielt das linke auge zu und blickte nun mit dem rechten Auge auf einen wahrlich größeren Ausschnitt des Zettels. Die Zeichnung war für sie nun so groß wie ihr runder Couchtisch im Wohnzimmer, und jetzt konnte sie auch genau erkennen, dass die Punkte in der Anordnung von Sternbildern gesetzt waren. Wenn sie davon ausging, dass der obere Zettelrand Norden war konnte sie nun im Uhrzeigersinn klar den Fuhrmann, den Stier, den Orion, das Einhorn, den kleinen Hund, den Krebs und den Luchs erkennen. Aber das Sternbild der Zwillinge fehlte. Außerdem schien im Sternbild Orion auch ein Stern zu fehlen. Laurentine überlegte kurz, ob sie hierfür ihren guten alten Sternenatlas rausholen musste. Doch dann grinste sie. Der mittlere Gürtelstern fehlte, Epsilon-Orionis, Eigenname Almilam, altarabisch für Perlenschnur. Sie hatte es noch drauf! Dann überlegte sie kurz und grinste erneut. Wenn sie am Ende des Monats Mai verreisen wollte stand der fünfthellste Stern im Orion für den Monat, und die fehlenden Zwilllinge bedeuteten zwei, was also der Tag war. Diese beiden Werte prägte sie sich schon mal ein. Die genaue Tagesstunde konnte entscheidend sein.
Die zweite Zeichnung zeigte im Falkensichtmodus eine große Uhr, jedoch ohne Zeiger. Statt dessen stand innerhalb des Ziffernkranzes aus römischen Zahlen in Spiralform ein Text, diesmal kein gereimter Text, sondern eine Rechenaufgabe ohne Zahlen, nur mit Bezeichnungen, also variablen.
Große hand auf Stellung Schriftpuls durch Hexenkörperzugänge weniger alle Seesternbeine. Kleine Hand auf Stellung Schriftpuls durch Würfelseiten weniger alle linken Beine der wiedergeborenen Raupe, wenn das ferne Feuer zur nährenden Mutter heimkehrt.
An und für sich saueinfach, wenn jemand den Puls dieser Niederschrift kennt, dachte Laurentine. Den Pulschlag der Niederschrift hatte sie doch eben gemessen. 72, damit hatte sie die einzige wirklich zu ermittelnde Größe. Alles andere war da wirklich einfach. Mit Zugängen waren wohl die Körperöffnungen gemeint, bei einer Hexe also neun. 72 / 9 = 8. Davon alle Beine eines Seesterns abgezogen - wie viel hatten die noch mal? - Ah ja, fünf! Also 8 - 5 = 3. Also musste "die große Hand", der große Zeiger, auf die drei zeigen. Für den kleinen Zeiger galt demnach, dass bei ihm 72 durch die Würfelseitenzahl 6 geteilt weniger alle linken Beine einer wiedergeborenen Raupe zu rechnen waren. Erst fragte sie sich, wie eine Raupe wiedergeboren werden konnte. Dann hieb sie sich vor die Stirn. Das tat ja echt schon weh, vor allem, wo sie als kleines Mädchen aus Papas Schallplattenschrank die Geschichte von Alice im Wunderland gehört hatte. Da hatte sich die Raupe auf dem Pilz doch beklagt, dass die verkleinerte Alice sie bei der Vorbereitung auf ihre Wiedergeburt als Schmetterling gestört habe. Schmetterlinge waren also wiedergeborene Raupen. Schmetterlinge waren Insekten, und das wesentliche Merkmal aller Insekten außer den fiesen, haarigen Fühlern, was die Profizoologen lieber Antennen nannten, war: Insekten hatten sechs Beine. Nur die linken waren also drei. 72 / 6 = 12. 12 - 3 = 9. Mit dem heimkehrenden Feuer war wohl die untergehende Sonne gemeint. Damit lautete die Auflösung 2. Mai, viertel nach neun abends oder auch 21:15 Uhr.
"Das ging ja noch", dachte sich Laurentine. Doch ihr war klar, dass sie damit wohl erst mal angeheizt worden war, jetzt auch noch den Ort zu ergründen. Dazu musste sie dieses Puzzle lösen, ganz bestimmt ein 3-D-Puzzle, was am Ende ein Gebilde ergab, aus dem sie irgendwie die Raumkoordinaten oder sowas in der Richtung ermitteln konnte. Bevor sie das anging überdachte sie, worin diese Hexenmeisterin sie schon getestet hatte: Den Zauber zur Sichtbarwerdung mit blut geschriebener Texte einschließlich Messung der Pulsrate, mit der die Schreiberin den Text geschrieben hatte. Dann den Falcoculus-Zauber, den sie gleich noch zurücknehmen musste, sowie ihr astronomisches Wissen und ein wenig Grundschulbiologie ohne irgendwelche Zaubertiere. Und das alles nur, um ihr zu verraten, wann sie morgen zum Unterricht anzutreten hatte.
Erst hob sie die Wirkung des Falkensichtzaubers wieder auf. Brauchte sie den sichtbaren Text auf dem Papyrus noch? Eigentlich nicht mehr. So ließ sie ihren Zauberstab über dem Zettel gegen den Uhrzeigersinn kreisen und murmelte: "Cum Sanguine scriptum iterum vanesco!" Der Zettel färte sich erst vollständig blutrot. Dann wurde er wieder weißgelb. Noch nicht einmal die von Laurentine aufgebrachten Blutstropfen waren zu sehen. Sie wusste, dass sie, um den Text noch einmal lesen zu müssen, erneut vier Blutstropfen spenden musste. Wo sie schon mal dabei war heilte sie die Stichwunde in ihrem linken Zeigefinger.
Das dreidimensionale Puzzel erwies sich tatsächlich als die härtere und größere Nuss. Verglichen damit war der Zettel mit dem Termin eine Erdnuss im Vergleich zu einer Kokosnuss. Doch wie auch eine Kokosnuss mehr hergab, wenn sie geöffnet war hoffte Laurentine auch, dass das Puzzle ihr nicht nur den Treffpunkt verraten konnte.
Richtig gemein empfand sie es, dass die einzelnen Puzzleteile wohl ein Eigenleben hatten. Denn wenn sie glaubte, die Basis der Konstruktion fertig zu haben, flutschte ein Teilchen heraus, und alle bis dahin zusammengesetzten Teile fielen wieder auseinander. Dann dachte Laurentine daran, dass die Puzzelteile in sieben Grundfarben gemacht waren. Sie erschrak fast, als ein gerade von ihr gehaltenes Teil kleine rote Scheinfüßchen ausfuhr wie eine Amöbe. Das war für sie der Beweis, dass dieses Puzzle hochmagisch war, ein kleines, gemeines Meisterwerk der Thaumaturgie. Wer sowas konnte war gut. Florymont oder Julius hätten an diesem Ding hier sicher auch ihre helle Freude. Dann fiel ihr auf, dass die sonnengelben Seiten nicht einheitlich gelb waren. Da waren kleine Markierungen zu sehen. Darüber hinaus erkannte sie, dass sie wohl ein Haus zusammenfriemeln mochte. Mit ihrer eben noch nutzlosen Lupe konnte sie die winzigen Markierungen erkennen und grummelte. Die Dinger waren doch allen ernstes durchnummeriert. Doch das nützte ihr nur was, wenn sie wusste, wie viele Teile es innsgesamt gab. Also machte sie erst einmal folgendes: Sie stellte den Karton, in dem das Puzzel geschlafen hatte, mit der Öffnung nach oben in die Mitte des rechteckigen Tisches, auf dem sie wahlweise schreiben oder lesen konnte. Danach ließ sie mit dem Ordnungszauber "Ordinatus per definitum immer wieder zehn Teile in den Karton zurückfliegen. Den noch frei herumliegenden Puzzelteilen schien das nicht zu gefallen. Sie begannen auf dem Tisch herumzuhüpfen und schlugen Purzelbäume. Laurentine zog mit dem Zauberspruch "Evoco Limites pro incantatis" schnell eine Barriere gegen bezauberte Gegenstände um den Tisch hoch, damit die Puzzelstücke nicht vom Tisch fallen und sich irgendwo hier auf dem Dachgeschoss verstecken konnten. Tatsächlich prallten einzelne Puzzelteile gegen die grünlich flimmernde Barriere und kullerten zurück. Dann krochen und hüpften die freiliegenden Puzzelteile zur Tischmitte hin. Offenbar wurden sie von der magischen Barriere dorthin gedrängt. Das war wie bei mit gleichen Polen zueinander weisenden Magneten, dachte Laurentine. Zumindest hatten die bezauberten Puzzleteile nicht genug kraft, um über die brusthohe Barriere hinwegzuspringen. Zumindest mussten sie es sich jetzt wieder gefallen lassen, dass Laurentine jeweils zehn von ihnen pro Ordnungszauber in den Karton zurückbeförderte. Sie erkannte, dass sie wohl mehr als hundert Durchgänge dieser Art machen musste und änderte die im Zauberspruch zu bestimmende Ordnungsbedingung auf 100 statt auf 10. Nun ging es etwas schneller. So brauchte sie nur noch dreißig Durchgänge. mit den zehn, die sie vorher schon ausgeführt hatte kam sie auf 3100 Einzelteile. Doch dann waren nur noch weniger als 100 übrig und wurden deshalb nicht vom Zauber erfasst. Sie ging wieder zu 10 über und hatte dann 3120 Einzelteile insgesamt. Das ließ sich nicht nur durch zehn und somit durch fünf und durch zwei teilen, sondern auch durch drei und durch zwölf. Schon wieder die Zwölf, dachte Laurentine. Diese Zahl war nicht nur bei Hexen und Zauberern eine wichtige Zahl. In Arithmantik hatte sie damals gelernt, dass sie die Verhältnisse der natürlichen Gegebenheiten und die der übergeordneten Gegebenheiten darstellen konnte. Aber wenigstens wusste sie jetzt, dass sie das Puzzelteilchen 3120 zuerst hinlegen musste, daneben das Puzzelteilchen 3119. Denn sie erinnerte sich an Umsetzprojekte, wo reiche Amerikaner ganze Schlösser oder Kirchen abgebaut und in ihrer Heimat wieder aufgebaut hatten. Die waren von oben nach unten abgetragen worden, wobei jeder Stein und jedes andere Bauelement mit einer alphanummerischen Markierung versehen wurde. Da sie damals nicht wussten, wie viele Bauteile ein solches Haus oder anderes Bauwerk hatte fingen die dann oben mit a1 oder sowas an. Insofern hatte sie ja noch glück, dass sie nur 3120 Teile sortieren und wieder zusammenbauen musste. Die Lebendigkeit der einzelnen Puzzleteile verriet ihr aber auch, dass diese Konstruktion kein Portschlüssel sein konnte, der sie zum schon ermittelten Zeitpunkt an den Bestimmungsort bringen konnte. Womöglich hatte Hera Matine ihrer Nichte auch erzählt, dass Catherines Haus gegen unerwünschte Portschlüssel abgeschirmt war.
Dann versuchte sie, die gesuchten Teile mit "Accio Puzzelteil 3120" aus dem Karton zu rufen. Doch der offene Karton zitterte nur, und auf der ihr zugekehrten Seite erschien die gelbe Schrift: "SO NICHT!"
"Das galaktische Rätsel lässt grüßen", grummelte Laurentine. Musste sie jetzt wieder alle Teile auf den Tisch auskippen und von Hand die entsprechenden Teile zusammensuchen? Sie versuchte den Karton umzukippen. Doch die darin zurückgezauberten Puzzelteile schienen nun daran und aneinander festzukleben. Sie fielen nicht mehr heraus wie eben noch. Als sie den Karton mit dem ungeordneten Puzzle wieder hinstellte erschien eine neue gelbe Leuchtschrift: "SO AUCH NICHT!"
"Jetzt hat sie mich schon", knurrte Laurentine. Denn ihr zu sagen, dass etwas so nicht oder so auch nicht ging machte sie nur noch ehrgeiziger, es doch hinzukriegen. Damit hatten Claire und Céline sie in den ersten dreieinhalb Schuljahren meistens packen können, wenn sie sie ans Zaubern kriegen wollten, wo sie noch ihren Eltern folgen und ihre Ausbildung als großen Irrtum hinstellen wollte. Ja, und die andere Hexe schien das zu wissen oder wusste wenigstens, dass eine, die mit Rätseln durch das trimagische Turnier gekommen war nicht mit einfachem Zeug zu ködern war. Ja, und sie wollte sie ja auch prüfen, also schon ausloten, was sie konnte. Also wie konnte sie dieses wörtlich verhexte Puzzle dazu bringen, sich von ihr zusammenbauen zu lassen, jetzt wo sie zumindest wusste, wie viele Teile es hatte und dass die alle durchnummeriert waren? Sicher konnte sie einen Zauberbrecher versuchen. Doch zum einen wurde in den Büchern davor gewarnt, dass sowas den bezauberten Gegenstand zerstören konnte. Zum anderen hatte sie das sehr deutliche Gefühl, dass die Bezauberung der Puzzelteile nicht nur hüpfende Einzelteile machen sollte. Sie hatte in der dritten Runde ein Tor aus ebenfalls bezauberten Einzelteilen zusammensetzen müssen, um es passieren zu können. So was ähnliches war das hier auch. Sie griff nun beherzt in den Karton, darauf gefasst, gleich gebissen oder mit einem elektrischen Schlag gepiesackt zu werden. Doch die von ihr mit den Fingerspitzen gefassten Einzelteile ließen sich widerstandslos herausziehen und auf den Tisch ablegen. Weil das mit der Zahl Zwölf eben so ging holte sie zwölf einzelne Stücke heraus, legte sie zu einem Kreis aus und hielt ihren Zauberstab darüber. "Partes pro toto ad unum loco voco!" sprach sie in jenem Rhythmus, mit dem sie damals das dritte Tor des Ruhmes zusammengebaut hatte. Die ausgelegten Stücke glühten blau auf, ebenso die noch im Karton liegenden. So wiederholte Laurentine den Zauberspruch. Da glühten alle Teile weiß auf, und die Teile aus dem Karton flogen nun weißglühend auf einen Haufen zusammen. Als alle Teile auf einem Haufen zusammenlagen erlosch das weiße licht wieder. Gleichzeitig erschien auf der ihr zugewandten Seite in hellgrüner Leuchtschrift: "JA, SCHON NAH DRAN!" "Reparo dividum!" stieß Laurentine mit auf den Puzzelteilchenhaufen deutendem Zauberstab aus. Die hüpften kurz und kullerten dann auseinander, so dass sie sich gleichmäßig über den Tisch verteilten. Auf dem Karton erschien die gelbe Leuchtschrift: "WAR WOHL NICHTS!"
"Pass mal auf, dass ich dich nicht gleich mit dem Diffindus-Zauber zerfledder", dachte Laurentine nur für sich. Aber sogesehen wäre es mit einem Reparo-Zauber ja auch zu einfach gewesen. Die Schwierigkeit mit dem Tor damals hatte ja darin gelegen, die Einzelteile zusammenzubringen. Außerdem hatte sie damals ja auch nicht "Reparo Dividum" gesagt, also das zerteilte wieder zusammenzusetzen, sondern ... Sie knirschte aus Wut auf sich selbst mit den Zähnen. Natürlich hatte sie damals das Bild eines Tores vor Augen gehabt und "Reparo drittes Tor!" gerufen. Wer nicht wusste oder sah, was zu reparieren war konnte es auch nicht mal eben mit einem Reparo-Zauber ganz machen. Ja, das hatte sie gelernt. Das war auch schon ein wenig her. Dann fiel ihr ein, dass sie ja nicht einfach ein Haus zusammenbauen sollte, sondern Louiselles Haus. Ja, das Puzzle zeigte wohl den Zielort als Bild, wenn sie auch noch nicht wusste, wo genau das Haus stand. Aber vielleicht verriet ihr das der Karton, wenn sie es zusammengepuzzlet hatte. Was hatte Marie van Bergen gesagt, als sie den Zauber durchgenommen hatten: "Mit dem Zauber kannst du jedes Puzzle in einer Sekunde lösen. Voll langweilig."
Laurentine ließ mit dem Partotolocus-Zauber noch einmal alle auseinandergekullerten Steine auf einem Haufen zusammenfliegen. Vielleicht hätte sie dafür auch den Accumulus-Zauber benutzen können. Doch halt, der ging nur bei toten Objekten ohne Bezauberung.
"Laurentine, möchtest du heute bei dir oben frühstücken?" drang unvermittelt Catherines Gedankenstimme in ihren Geist. Laurentine erschrak. Oh, sie hatte echt vergessen, dass sie mit den Brickston-Hexen noch frühstücken wollte, weil sich das bei einer Walpurgisnacht-Nachfeier so gehörte, zumindest außerhalb von Beauxbatons. So schickte sie zurück, dass sie gerade erst richtig aufgestanden sei und entschuldigte sich, dass die anderen hatten warten müssen. Dann ließ sie das Puzzle schnell wieder in den Karton zurückfliegen. Sie würde gleich noch damit weitermachen, jetzt, wo sie den richtigen Weg zu wissen glaubte.
Sie genoss das Frühstück in der gebotenen Ruhe, auch wenn es sie jetzt richtig kitzelte, dieses Geheimnis zu knacken. Sie unterhielt sich mit Claudine über das trimagische Turnier von damals, was ihr auch half, die einzelnen Aufgaben noch einmal zu durchdenken.
"Gibt's das dann auch wieder, wenn ich in Beaux bin, Maman?" fragte Claudine.
"Das kann ich dir erst verraten, wenn ich weiß, dass du da auch hinkommst", erwiderte Catherine verwegen lächelnd. "Frage Laurentine besser, ob du das erste Schuljahr schaffst."
"Warum sollte sie das?" erwiderte Laurentine. "Gut zu wissen, dass ich mir da keine Sorgen machen muss", parierte Catherine. Dann lachten die beiden großen Hexen.
"Ich gehe nachher zur Maidemo von der Dienstleistergewerkschaft. Hoffentlich lassen uns die Chaoten mal in Ruhe unsere Forderungen stellen und provozieren nicht wieder die Polizei", knurrte Joe.
"Ich möchte dich nicht maßregeln, Joe, aber wenn es da zu gefährlich wird sieh zu, dass du wieder zurückkommst", sagte Catherine.
"Denkst du, ich will noch mal für drei Wochen ins Krankenhaus", grummelte Joe. "Abgesehen davon macht mir eher Sorgen, dass wir wieder in denselben Pott geworfen werden wie diese Randalemacher und deshalb unsere ernsten Forderungen nicht gewürdigt werden."
"Da hast du wohl recht, Joe. Aber diese Schlägertypen wollen ja keine anständige Diskussion, sondern nur Krawall."
"Dann werden die in Strassburg sicher auch wieder Unruhe stiften", sagte Laurentine.
"Wie gesagt, Joe, halt dich bitte von allem fern, was nach sinnloser Gewalt riecht!" sagte Catherine.
"Ja, Blanche", erwiderte Joe. "Die hätte das jetzt sicher als seltenes Kompliment aufgefasst, dass du sie noch für so gut erhalten hältst", konterte Catherine. Laurentine musste darüber lachen, was Claudine ansteckte.
"Kein weiterer Kommentar", grummelte Joe und legte sein Frühstücksbesteck hin. "Ich schab mir noch den halben Golfrasen aus dem Gesicht und bin dann weg. Noch einen schönen Tag, Catherine, Claudine und Laurentine!"
"Ja, werde ich sicher auch haben", sagte Laurentine.
"Möchtest du uns sagen, was du heute noch machst, wo die alle frei haben?"
"Hera Matine hat mir empfohlen, die wichtigsten Aufspür und Schutzzauber zu üben und mich noch mal durch meine Aufzeichnungen über Flüche und Fluchbrecherzauber durchzuwühlen, bevor ich nach Kalifornien reise. Sie meint zwar, dass da nicht an jeder Ecke ein böser Feind wartet, aber ich doch auf Hinterhältigkeiten wie von Vita Magica besser vorbereitet sein sollte. Deshalb bin ich wohl die nächsten fünf Stunden oben in meiner Dachkammer in meiner Privatbibliothek", sagte sie.
"Gut, dann sicher alles gegen herumfliegende Teile ab, sollte dir doch einer der Schutzzauber entgleiten! Oder soll ich dir den Hexenkeller aufmachen, dass du da unten üben kannst?" wollte Catherine wissen. Laurentine lehnte dankend ab, zumal sie ja erst einmal nur lesen wollte, was sie noch drauf hatte und was sie auf jeden Fall noch mal praktisch ausprobieren wollte. Joe meinte dazu: "Du darfst doch da bei deiner Großmutter eh nicht zaubern. Wozu also der ganze Aufwand?"
"Ich darf da solange nicht zaubern, wie es keine magische Störung oder gar eine Gefahr für mein Leben oder das meiner Verwandten gibt", erwiderte Laurentine Hellersdorf. Catherine nickte ihr und auch Joe zu. Dieser grummelte nur wiieder was, von dem er wohl selbst hoffte, dass es sonst keiner verstand. Laurentine meinte dann noch: "Und ich will meine Verwandten nicht durch mich in Gefahr bringen, wo es so viele bösartige Wesen da draußen gibt. Aber hier im sicheren Haus bleiben kann ich auch nicht, weil das bei meinen Verwandten nur sehr schwer zu beantwortende Fragen aufwirft. Also muss ich mich so gut ich kann vorbereiten." Das war noch nicht einmal gelogen, dachte Laurentine für sich.
"Da muss ich ihr beipflichten. Die ganzen gefährlichen Gruppierungen, die es so gibt könnten dir zusetzen wollen, zumal es in den Staaten Probleme mit den Geistern von Ureinwohnern gibt, die meinen, sich an den Weißen rächen zu müssen. Ja, und ich hörte auch was von Voodoo-Artefakten, die ein unheilvolles Eigenleben entwickeln. Hat Hera dir auch gezeigt, wie du deine körperliche Unversehrtheit im Bezug auf ungewolltes Beilagern oder Empfängnis sichern kannst?"
"Dafür hat sie mir einige Empfehlungen gegeben, die ich nachlesen und womöglich in Millemerveilles ausprobieren soll, falls ich praktisch üben muss."
"Falls du das möchtest können wir gerne auch zusammen üben, auch um deine Duellpraxis aufzufrischen. Aber dafür müssten wir dann wohl sicherstellen, dass Hera nichts davon mitbekommt und vor allem in meinem Duellübungsraum im pariser Haus der Liga", meinte Catherine. Laurentine nickte und schob schnell nach: "Madame Matine meinte, ich dürfe dich nicht damit behelligen, solange du den Kleinen noch stillen musst oder sonst wie für ihn sorgen musst. Sie hat das mit diesen heilmagischen Beschränkungen für junge Mütter begründet.""
"Natürlich hat sie das", grummelte nun Catherine, und Joe grinste sie schadenfroh an. "Was bitte gibt es da zu grinsen, Joe? Soweit du mitbekommen hast gilt die Gefahren- und Krankheitenvermeidung im ersten Jahr nach der Geburt auch für die Väter, weil die ja die Mutter vor Unannehmlichkeiten schützen sollen." Joes Grinsen machte schlagartig wieder seiner üblichen missmutigen Miene Platz. Mehr geschah jedoch nicht.
"Aber danke für das Angebot, Catherine. Im Moment möchte ich erst einmal nur die unmittelbaren Schutzzauber üben", sagte Laurentine. Ihr war nicht wohl dabei, Catherine vorzuenthalten, dass sie ab morgen wohl mehr als genug Übung kriegen mochte.
"Kommst du morgen auch zu Rories Geburtstag hin, Laurentine?" fragte Claudine.
"Moment, hat die mich eingeladen? Hmm, neh, sie kann ja gerade mal ihren eigenen Namen schreiben. Ui, was mach ich denn da?" tat Laurentine verlegen.
"Rories Papa und Maman fragen", erwiderte Claudine.
"Ja, stimmt, kann ich mal gleich machen. Und wenn die sagen, dass ich da hinkommen darf, dann komm ich auch dahin", sagte Laurentine. "O toll, Rorie sagt, ich darf da auch hin, und ihre Maman sagt, ich darf", freute sich Claudine.
"Die freut sich eher, dass auch Chloé und Viviane hinkommen, Laurentine", schnappte Catherine Laurentine die Frage aus dem Kopf, was einer sechsjährigen am Geburtstag einer Vierjährigen so Freude machen konnte.
"Dann muss ich echt gleich noch mal im Apfelhaus reinrufen. Das mache ich dann von mir oben aus", sagte sie.
Fünf Minuten später mentiloquierte sie an Catherine: "Also, Millie hat mich echt gefragt, warum ich überhaupt diese Frage stelle, wo du und Claudine eh hinkommen dürft. Und Julius meinte, dass ich ihm bis morgen eine dreiseitige Anfrage für die Schuldirektrice, den Dorfrat, die Behörde für Familienstand und Bildung und Beauxbatons ausformulieren müsse, warum ich als Lehrerin an einer privaten Geburtstagsfeier teilzunehmen wünsche, auf der auch mir anvertraute Schüler zu Gast sein werden."
"Und, ist die Anfrage schon raus?" griff Catherine den Scherz auf. "Ichkriege die dritte Seite nicht voll. Ich fürchte, dann muss ich wohl ohne amtliche Genehmigung von vier Stellen hingehen", schickte Laurentine zurück. Ob Catherine lachte wusste Laurentine nicht. Doch als Claudine lachte wusste sie, dass Catherine es ihr wohl irgendwie übersetzt hatte.
Nachdem Laurentine nun also mit allen, denen sie wichtig war alles nötige geklärt hatte ging sie wieder auf den Dachboden und ging das fast fertige Puzzle an.
Zuerst holte sie alle Teile wieder aus dem Karton. Dann versuchte sie es mit "Reparo Louiselle Beaumonts Hausmodell." Zuerst flogen die Einzelteile so zusammen, als wollten sie dem Zauber anstandslos gehorchen. Doch dann fielen sie wieder auf den Tisch zurück. "Ein Zauberwort zu wenig", glühte es ihr nun apfelgrün entgegen. Laurentine hätte fast aufgestampft. Doch dann besann sie sich. Hatte diese Hexe offenbar noch eine Art Passwort in ihre Puzzelteile eingebaut, dass die nur dann zusammenkamen, wenn sie dieses aussprach? Dann fiel ihr ein, was Louiselle für ein Zauberwort gemeint hatte, nämlich das Zauberwort, welches auch Nichtmagier meinten, wenn jemand was von ihnen haben wollte. Also hob sie noch einmal den Zauberstab, zielte auf die auf dem Tisch verteilten Puzzleteile und beschwor: "Reparo bitte Louiselle Beaumonts Hausmodell!" Erst dachte sie, dass sie da wohl falsch lag, weil die Puzzleteile sich erst gar nicht regten. Dann, mit einem lauten Klatsch, flogen alle Teile wie in einer umgekehrten Explosion auf einen Punkt zu und fügten sich schneller als ein Blitz zu einem großen, kompakten Gegenstand zusammen.
Vor Laurentine stand tatsächlich ein kleines Schlösschen mit vier Türmen, die noch einmal so hoch waren wie das Gebäude Stockwerke hatte. Lag das etwa auch an der Loire wie das Schloss der Latierres?. Auf dem Karton erschien nun die fröhlich blinkende, sattgrüne Leuchtschrift: "GLÜCKWUNSCH! DOCH SEI SO FEIN UND TRITT AUCH EIN!"
Laurentine sah das von ihr auf den Tisch gestellte Bauwerk an. Ein scharlachrotes Portal klappte sich auf. Es mochte etwa sechs Zentimeter hoch sein. Dahinter stand eine kleine Figur, halb so groß wie eines ihrer früheren Playmobilmännchen. Die Figur stellte eine detailgenaue Frau im knöchellangen, jadegrünen Kleid dar. Laurentine stöhnte. "Nicht wieder sowas. "Noch mal Alice im Wunderland, nur ohne Pilz!" knurrte sie. Doch wenn sie mehr wissen wollte, und das wollte sie dann doch, musste sie da durch. Diese Louiselle Beaumont hatte echt die dritte Aufgabe des trimagischen Turnieres gelesen. Gut, Sie stand wortwörtlich vor dem letzten Tor. Doch wenn sie da reingehen wollte musste sie erst was sicherstellen.
Zunächst verschloss sie die Wohnungstür mit ihrem Clavunicus-Schlüssel und ließ diesen auch im Schloss stecken. Denn sie hatte gelernt, dass dann überhaupt kein Türöffnungszauber die Tür aufbekam und auch keine angeborenen telekinetischen Kräfte, wie Babette sie in ihrer frühen Kindheit verwendet hatte.
Ihr mittlerweile zwölf Jahre alter Kater Maximilian pflegte tagsüber gerne in seiner Hängeschaukel im Wohnzimmer zu schlafen und erst abends munter zu werden, da er es gewohnt war, freizugehen. Doch sich darauf verlassen, dass der Kater nicht auf den Dachboden kam wollte sie lieber nicht. So prüfte sie, ob Maxi, wie sie den Kater nannte, wirklich zusammengerollt in seiner Hängeschaukel schlief. Dann kletterte sie wieder zum Dachboden hoch und zog die Luke leise zu. Um ganz sicher zu sein, dass niemand sie störte belegte sie die Luke mit dem Colloportus-Zauber und dann noch mit dem Zauber Fermaverbum, der eine Tür oder Luke nur wieder öffnete, wenn bei seiner Aufhebung das bei seiner Wirkung gedachte Passwort in Form eines Bildes einbezogen wurde. Sie stellte sich den zusammengerollten Kater als Passwort vor. Jetzt konnte nur brachiale Magie wie ein Reducto-Fluch oder Zauberfeuer die Luke knacken. Doch Flüche gingen in diesem Haus überhaupt nicht, und das Haus mit Zauberfeuer abzufackeln würde Catherine garantiert nicht einfallen. Also war sie hier oben nun vor ungebetenen Besuchern sicher. Weil sie sich ja einschrumpfen musste prüfte sie auch, ob gerade ein Insekt oder gar eine Spinne im Dachzimmer war. Denn sie wollte sicher nicht so eine Safaristimmung mit gefährlichen Raubtieren erleben wie bei der dritten Runde des trimagischen Turnieres. Erleichtert stellte sie fest, dass im Moment kein Spinnentier und auch keine noch so kleine Fliege hier oben war. Um sicherzustellen, dass das so blieb belegte sie das geschlossene Dachfenster und einige schmale Ritzen mit dem Imperturbatio-Zauber. Jetzt hatte sie genug getan, um den verordneten Ausflug in das Miniaturschloss zu machen. Zumindest würden darin verbaute Flüche nicht wirken, da die sicher durch den Sanctuafugium-Zauber blockiert oder unschädlich für die Umwelt ausgelöscht worden waren. Laurentine fragte sich, ob Louiselle Beaumont das wusste, oder ob die angesetzte Prüfung dann scheitern musste, weil Laurentine die sicher da drinnen wartenden Aufgaben nicht alle erledigen und so den genauen Standort herausfinden konnte. Doch um das zu klären musste sie nun wieder mal kleiner als eine Barbiepuppe werden.
Sie peilte noch einmal, wie groß oder besser wie klein die hinter dem Portal stehende Frauenfigur war. Das bekam sie hin, nicht mit dem genauen Größenveränderungszauber, aber durch dosiertes Nachzaubern. Dann fiel ihr noch was ein: Was immer sie gleich dort drinnen erwartete, es musste schon vor Wochen zusammengebaut worden sein und nicht erst nach der Anfrage Hera Matines. Natürlich, wenn Louiselle ihre möglichen Einzelschülerinnen vorabprüfen wollte bot sich so ein eulenposttauglicher Parcours immer wieder gut an. Nur die darin wartenden Aufgaben mussten ständig geändert werden.
Da sie wissen wollte, wie klein sie sich machen musste holte sie aus dem Bücherschrank ein 30 Zentimeter langes, in Millimeterschritten eingeteiltes Lineal und vermaß damit erst einmal das zusammengepuzzlete Modell. Ja, das lief wohl auf eine Schrumpfung auf gerade vier Zentimeter hinaus, also im Vergleich zu ihren 172 Zentimetern natürlich erreichter Körperlänge ein Maßstab von 1 : 43 oder 1 : 45, falls sie sich noch ein wenig kleiner machen musste. Als sie das alles durchdacht hatte ging sie die ihr gestellte Aufgabe an.
Erst einmal schuf sie um ihren Kopf die schützende Kopfblase. Dann stieg sie auf den Tisch. Sie stellte sich so, dass sie mit den Schuhspitzen die Wand neben dem Portal berührte. Sie sah noch mal auf den geöffneten Karton. Dort war gerade eine spiegelverkehrte Zeigeruhr mit römischen Ziffern zu sehen. Die Uhr glomm gelborange. Die roten Zeiger wanderten auf die Zwölf zu. Da die Uhr spiegelverkehrt dargestellt wurde sah es aus, als liefe die Uhr Rückwärts. Laurentine erschauerte, als sie sah, dass es auf der kleinen, leuchtenden Uhr nur noch zwei Minuten vor zwölf waren, und der Sekundenzeiger begann bereits die Runde der vorletzten Minute. Da hätte sie doch echt drauf kommen müssen, dass dieses Tor nicht ewig offenstehen würde. Oder galt es, das Portal wieder aufzuzaubern, um reinzugehen? Wenn sie es noch schaffte, vorher durchzugehen wohl nicht. Außerdem konnte es ihr dann echt passieren, dass dieses Hausmodell bei Punkt zwölf wieder in seine Einzelteile zerfiel und nicht noch mal zusammengebaut werden konnte.
Nun wirkte sie behutsam den nicht Endgrößengenauen Schrumpfzauber gegen sich selbst. Sie fühlte, wie ihr schwindelig wurde. Sie sah, wie alles um sie herum größer oder weiter weg aussah. Sie konnte nach fünf Sekunden schon einzelne Staubkörner erkennen, die auf dem Tisch lagen. Den hätte sie vorher vielleicht abwischen können. Immer noch behutsam schrumpfte sich Laurentine noch weiter ein, bis sie das vor ihr stehende Modell als ein richtig großes Haus sah, wenn es auch nicht so groß war wie der Familiensitz der Latierres. Doch für sie war dieses Haus da groß genug, um mindestens fünfzig Zimmer zu enthalten. Ja, sie dachte, dass sie gar nicht mitbekommen hatte, wie das Modell von innen aussah. Am Ende war es sogar möbliert.
Als sie die Figur hinter dem nun mehr als drei ihrer relativen Körperlängen hohen Portal sah stoppte sie den behutsamen Schrumpfvorgang. Die Vergleichsfigur war nun genauso groß wie sie. Sie lief die nun dreißig Schritte durch die dichter gewordene Luft zu dem Lineal, das nun für sie wie eine kniehohe Mauer wirkte. Weil sie gelernt hatte, wie sie ihre Schrittlänge im Bezug zu ihrer Körpergröße setzen konnte stellte sie fest, dass sie sich in Wirklichkeit auf ein Achtundvierzigstel ihrer Ausgangsgröße zusammengeschrumpft hatte. Sie musste wohl wieder an ihrem Größeneinschätzungsvermögen arbeiten, dachte sie und sprang von dem nun für sie 14,40 Meter langen Messinstrument herunter. Sie wandte sich dem Portal zu, dessen Flügel ganz langsam wieder zusammenglitten. Sie sah die als Richtgröße dahinterstehende Figur. Sie hatte gerade ihre Arme erhoben und wies mit ihren Händen senkrecht nach oben. Gerade krümmte sie den linken kleinen Finger, dann den linken Ringfinger. Sie zählte herunter. Laurentine lief los. Als die Frauengestalt ihre linke Hand vollständig zur Faust ballte ließ sie den Arm sinken und krümmte den rechten Daumen. Offenbar liefen die letzten fünf gewährten Zeiteinheiten, vielleicht Sekunden. Laurentine schaffte es noch, zwischen den immer weiter zusammengleitenden Torflügeln hindurch über die wadenhohe Schwelle, ohne zu stolpern. Kaum war sie im Raum hinter dem Portal schlugen die beiden Torflügel mit dumpfem Klang zu. Sie hörte, wie sechs von innen nicht zu sehende Riegel einrasteten. Damit war klar, dass sie nur noch hier raus kam, wenn sie entweder die Prüfung bestanden oder voll versagt hatte, aber nicht vorher. Die Uhrendarstellung auf dem Karton und die an den Fingern die Restzeit abzählende Frauengestalt machten ihr klar, dass sie ab nun wohl eine andere Frist einzuhalten hatte. Wie lange diese war hoffte sie bald zu erkennen. Gemein wäre es, wenn der Countdown ganz still und ohne ablesbare Anzeige ablief und es irgendwann Peng oder Hui machte und sie ohne die gesuchten Standortangaben aus der Prüfung flog.
Unvermittelt wurde die gerade noch fast sirupdicke Luft um sie herum wieder so flüchtig wie gewohnt. Dann hörte sie durch die Kopfblase eine Frauenstimme sagen: "Du kannst den Atemschutz beenden. Die Luft ist nun auf deine Lungen abgestimmt." Laurentine musste in ihrer Kopfblase grinsen. Doch dann begriff sie. Wenn sie sich mit wem auch immer verständigen wollte war die Kopfblase womöglich hinderlich. Deshalb hatte Luiselle Beaumont was gezaubert, dass eingeschrumpfte Menschen in diesem Modellhaus unbeschwert atmen konnten. Also hob sie den Kopfblasenzauber auf.
Sie sah die nun wieder wie ein Standbild dastehende Frauengestalt an. Sie besaß dunkles, fast schwarzes, glatt auf ihre Schultern fallendes Haar und Augen, die in einem etwas dunkleren Grün als ihr Kleid gefärbt waren. Sie hatte eine schlanke Figur, die durch einen jadegrünen Gürtel um ihre Tallie noch betont wurde, war aber eindeutig voll erblüht. Laurentine stellte fest, dass dieses Standbild eine sehr attraktive Frau darstellte. War das eine Nachbildung ihrer künftigen Privatlehrerin? Sie sah in die gläsern wirkenden Augen der Statue und sagte: "Mademoiselle Beaumont, wie viel Zeit habe ich, bitte?" Von der Statue im grünen Kleid kam keine Antwort. Es vergingen fünf Sekunden. Dann klang eine sanfte, mittelhohe Frauenstimme aus den Wänden: "Willkommen im Haus der Herausforderungen und Belohnungen, Laurentine Hellersdorf. Finde deinen Weg und erwerbe die nötigen Bestandteile dessen, was dir verraten soll, wo du mich finden wirst. Doch bevor du die sechs mal sechs Räume nach diesem hier betreten kannst stell dich der körperlichen Prüfung im Raum der Erleichterung und Untersuchung! Bestehst du die Prüfung dort nicht, bleiben dir alle Räume verschlossen, und du musst durch das Tor zurück, durch das du gekommen bist. Doch dann kannst du nicht zu den erwünschten Lehrstunden antreten. Dasselbe geschieht, wenn du nicht alle Bestandteile zusammenbekommst, die zur Auskunft des gesuchten Standortes nötig sind. Nur Hunger und Durst werden dein Zeitmaß sein. Solltest du während der Suche ermüden und dich auf eine der hier vorhandenen Bettstätten legen gilt das ebenfalls als erfolglose Suche. Nun beginne und vollende, was dich an Aufgaben erwartet!"
Raum der Erleichterung und Untersuchungen?" fragte Laurentine. Doch diesmal bekam sie keine Antwort. Also war das hier keine interaktive Sache wie ein Holodeck, sondern eine vorgeplante Abfolge von Handlungen und Auswertungen", dachte sie.
Um sicher zu sein, nicht schon in der Eingangshalle einen Hinweis zu verpassen untersuchte sie die für sie gerade vier Körperlängen hohe Halle, klopfte an die sechs glatten, dunklen Säulen, um mögliche Hohlräume zu entdecken und besah sich die sechs von dieser Halle abgehenden Türen. Jede Tür war unterschiedlich gefärbt: Rosarot, Sonnenaufgangsrot, Kaffeebraun, Sonnengelb, Grasgrün und Mitternachtsblau. Sie erinnerte sich an die zweite Runde des trimagischen Turnieres. Da hatte sie sich mit einer Augenbinde zum Schutz vor einem möglichen Basiliskenblick mit Hilfe des Lupaures-Zaubers ein zeitweiliges Supergehör verschafft und mit einem mehrmals ausprobierten Schallstrahlzauber, den sie Sonoradius nannte, durch alle Räume getastet und in Wänden, Decke oder Boden versteckte Hohlräume oder Fremdkörper aufgespürt. Das machte sie jetzt hier auch. Kaum hatte sie sich mit "Sentio Lupaures" und einem Zauberstabstupser an jedes Ohr ein bis zu zehnmal so starkes Gehör zugelegt hörte sie ein vernehmliches Ping aus den Tiefen des Gebäudes. Als sie dann noch mit "Inducio Sonoradius!" einen gerade nur von ihr als mittelhoher Sinuston hörbaren Schallstrahl aus ihrem Zauberstab austreten ließ pingte es wieder irgendwo für sie so laut wie eine neben ihr geläutete Kapellenglocke. Offenbar reagierte eine in diesem Modellhaus versteckte Vorrichtung auf jeden von ihr gewirkten Zauber. Sie nahm das als gegeben hin und suchte mit dem Schallstrahl die Wände, den Boden und die Decke ab. Doch außer den hinter den Türen zu erwartenden Hohlräumen, von denen zwei so nachhallten, dass es sich um längere Gänge oder Treppenhäuser handeln musste, fand sie keinen verborgenen Hohlraum. So dachte sie "Finis incantato" und stellte dann ihre Ohren auf natürliches Hörvermögen zurück. Denn all zu gut wusste sie noch, dass jedes Geräusch sie heftig erschrecken konnte, wenn sie ihre Ohren empfindlicher machte als üblich. Wie bekam Linda nun Latierre-Knowles das mit ihren magisch-bionischen Ohren hin, nicht bei jedem Furz zusammenzufahren wie bei einem Kanonenschuss? Bei dem Gedanken an einen entweichenden Leibwind fühlte sie, dass sie einen gewissen Druck hatte. Auch fühlte sie ihre Blase, als habe sie vorhin nicht zwei Tassen Milchkaffee getrunken, sondern die ganze Kanne leergesoffen. Sie stellte fest, dass dieses Gefühl stärker wurde, wenn sie sich der rosaroten Tür zuwandte. Ging davon ein Zauber aus, der gewisse Bedürfnisse verstärkte?
Zuerst prüfte sie noch, ob in den Türen irgendwelche Fallen wirkten. Selbst wenn Flüche hier nicht wirken mochten konnten Erhitzungszauber oder ein gespeicherter Bewegungszauber ebenso unangenehm werden. Dabei hörte sie das Ping von eben nun ganz ganz leise, konnte aber wie eben auch nicht hören, von wo es kam. Würde sie die Vorrichtung oder den Zauber entdecken? Vielleicht. Sie fand zumindest heraus, dass die Türen fest verschlossen waren. Der Zauber Alohomora bewirkte nur eine Dreierkaskade aus silbernen Blitzen vor der damit bezauberten Tür und einen misstönenden Zweiklangton, wohl als Meldung einer fehlerhaften oder erfolglosen Handlung. Das wäre ja auch ein wenig zu einfach gewesen, dachte Laurentine. Aber was hatte Julius ihr mal aus seiner Rollenspielerzeit erzählt? Einer seiner Kumpel hatte in der Rolle eines Kriegers eine massive Eichenholztür eingetreten. Der Spielleiter, auch als Kerkermeister bekannt, hatte dann gelacht und gemeint, dass es gereicht hätte, den Türknauf zu drehen, um die Tür aufzumachen. Also musste auch sie zumindest prüfen, ob es einfach oder schwierig sein würde, die Türen hier zu öffnen. Zumindest konnte sie die orange, braune, gelbe, grüne und blaue Tür nicht öffnen. Als sie die rosarote Tür berührte war ihr, als habe ihr echt jemand eine ganze Kanne Kaffee in die Blase gezaubert und zwei Kilo durchverdautes Brot mit dazu. Sie vermied es gerade noch, ihre Hand in den Schritt zu legen, um ein ungewolltes Wasserlassen zu vermeiden. Sie drückte die irgendwie aus weißem Porzellan bestehende Klinke runter. Da klickte es in der Tür selbst, und das rosarote Türblatt schwang fast von selbst nach innen auf.
Laurentine betrat einen dunklen Raum, dem Widerhall nach einen kahlen Raum. Dann leuchtete an der Decke eine Lampe auf. Jetzt konnte sie erkennen, dass es ein kleines Badezimmer war, das mit einer zylinderförmigen Duschkabine, einem muschelförmigen Waschtisch und einer modernen Toilette ausgestattet war. Der Deckel war im selben rosaroten Farbton gehalten wie die Tür. Laurentine meinte, dass sie jeden Moment in die Hose machen musste, wenn sie diese Gelegenheit nicht nutzte. Sie eilte in das weiß-blau gekachelte und geflieste Badezimmer hinein und riss den rosaroten Deckel hoch. In dem Moment fiel die Tür zu. Auch ohne das magische Wolfsgehör konnte Laurentine das mehrfache Klicken schließender Schlösser hören. Also war sie schon beim ersten Raum in die Falle getappt. Oder war es keine Falle, sondern ein Ansporn?
Sie besann sich nicht lange und ließ ihre Hosen runter. Als sie sicher auf der warmen, weichgepolsterten Toilettenbrille saß fühlte sie auch schon, wie alles unverdauliche aus ihr hinausdrängte. Also war das der Raum der Erleichterung - und Untersuchung. Laurentine verzog ihr Gesicht, obwohl der ihr auferlegte Drang nun angenehm schnell nachließ. Allerdings war es ihr ein wenig peinlich, auf einer fremden Toilette alles loszuwerden, was sie in den letzten Stunden zu sich genommen hatte. Sie hörte jedoch nichts plätschern. War das da etwa ein Plumpsklo mit besonders tiefem Schacht? Als das Drängen vollständig verschwunden war sah sie sich nach Papier um, fand aber keines. Dann hörte sie wie durch Kopfhörer dieselbe Stimme wie in der Eingangshalle:
"Bitte bleib solange sitzen, bis die Untersuchung deiner Gaben beendet ist. Dann erfolgt die vollständige Reinigung!"
Laurentine wollte aufspringen. Doch irgendwie schien der Toilettensitz mit ihrem bloßen Hinterteil verwachsen und noch dazu an der Schüssel festgeschweißt zu sein. Sie empfand Scham und Bedrängnis. Dann beruhigte sie sich wieder. Louieselle wollte sie garantier tnicht auf einem verhexten Klo festsitzen lassen. Sie atmete ein und aus und nahm den Umstand, dass ihre Ausscheidungen keine Gerüche verbreiteten als zum Test gehörig hin. Dann hörte sie wieder die wie aus federleicht anliegenden, unsichtbaren Kopfhörern klingende Stimme:
"Untersuchung der Verdauungsrückstände beendet. Urin enthält keine bedenklichen Bestandteile, bis auf den Restalkohol von vier Gläsern 1990er Schnepfeneierlikör aus dem Hause Bonne Vivent. Empfehlung, kein neuerlicher Alkoholgenuss weniger als vierundzwanzig Stunden vor vereinbartem Zusammentreffen. Im Moment bist du nicht schwanger, befindest dich aber im zweiten Abschnitt der Eireifungsphase. Achte also auf sichere Empfängnisverhütung oder verzichte auf das Beilager mit einem zeugungsfähigen Partner! Ansonsten keine beunruhigenden Ergebnisse. Geprüfter Stuhl weist Reste von Tomatensuppe mit Petersilie, gut durchgebratenem Rinderfilet von einer vierjährigen Kuh, dezent gewürzt mit Meersalz, indischem Pfeffer und Kräutern der Provence, , Süßkartoffeln und Soße aus zwanzig Jahre altem Bordeauxwein und Obstsalat mit fünf tropischen und vier einheimischen Früchten auf und enthält eine beruhigend hohe Zahl körpereigener Verdauungsnützlinge. Du trägst keine schädlichen Keime in dir und hast auch keine Darmstörungen. Achtung, Reinigung der bloßen Körperstellen erfolgt jetzt!" In dem Moment fühlte Laurentine, wie ihre Blößen mit angenehm warmen Wasserstrahlen gespült wurden. Das dauerte zehn Sekunden. Dann kam ein Warmluftstrom und trocknete alles gründlich. "Reinigung beendet. Du darfst wieder aufstehen." Die Schüssel erzitterte kurz. Laurentine probierte aus, ob sie wirklich aufstehen konnte und war in jeder hinsicht erleichtert, dass es ging.
"Zugang zu den anderen Räumen wird gewährt. Viel Erfolg, Laurentine Hellersdorf!" erklang die magische Stimme nun wieder wie aus den Wänden selbst. Laurentine nutzte in der ihr anerzogenen Gewohnheit noch den Waschtisch, der ebenfalls einen fönartigen Trocknungsstrahl aufbot, bis ihre Hände wieder trocken waren. Dann erst öffnete sie die rosarote Tür.
Nach dem Besuch des ersten Raumes prüfte sie die fünf anderen Türen. Die orange Tür ließ sich öffnen. Der dahinter liegende Gang erstrahlte im selben Licht, als ginge dort wirklich gerade die Sonne auf. Die anderen Türen konnte sie nicht öffnen oder besser noch nicht. Also galt es, die hinter den Türen liegenden Räume in einer bestimmten Reihenfolge zu durchsuchen und ganz sicher irgendwelche dort wartenden Aufgaben zu erledigen oder Rätsel zu lösen. Der Gedanke daran machte ihr tatsächlich schon Spaß. Sie war sich zumindest sicher, keinen mörderischen Monstern oder bösen Zaubern entgegentreten zu müssen.
Als sie durch die sonnenaufgangsorange Tür getreten war fiel diese hinter ihr zu. Sie hörte, dass unsichtbare Riegel einrasteten. Also kam sie auch hier nur raus, wenn sie getan hatte, was hier von ihr verlangt wurde oder sie laut ausrief, dass sie aufgab. Aber sie fing ja gerade erst richtig an.
Von dem Gang gingen links und rechts je drei Türen ab. Sie wandte ihre Wolfsgehör-Sonarstrahl-Zauberkombination an, um die Größe der Räume auszuloten. Zwei Räume waren dem Widerhall nach klein, einer hallte laut nach wie ein anderes Badezimmer oder eine gekachelte Küche und der vierte Raum mochte eine Besenkammer sein. Sie stellte fest, dass alle Räume frei zugänglich waren, aber auch, dass hier das Chaos wohnte.
Sie hörte ein deutliches Bimmeln von einer mittelhohen Glocke von der Decke und sah eine hellorange leuchtende Schrift:
Der Morgen ist weithin beliebt,
weil er stets neue Hoffnung gibt.
Doch wird der Tag nur freude bringen,
kannst du den Rest der Nacht bezwingen.
Geschick und Wissen sind der Weg.
auf schöner Tage Pfad und Steg.
Als sie den Raum betrat, der einer Küche des Hochmittelalters entsprach dachte sie an ihre Mutter. Die hätte bei der ganzen Unordnung, dem in einem riesigen Kessel gestapelten Geschirr und Besteck, dem Verdreckten und verrußten Ofen und den auf Tisch und Boden hinterlassenen Essensresten und verschütteten Gewürzen Schreikrämpfe gekriegt. Die steinernen Anrichten strotzten vor übergelassenem Abfall, und in der Luft hing der Gestank von Angebranntem und von gammelndem Essen. Laurentine fragte sich angewidert, wie das alles in den entsprechenden Puzzlestücken versteckt gewesen sein konnte. Doch selbst wenn sie das erfahren hätte würde es nichts ändern. Diesen Wust von Dreck und Unordnung sollte sie durchsuchen, um zu finden, von dem sie noch nicht wusste, was es war. So nicht! Das Erbe ihrer Mutter, einer Königin der Putzwütigen, nahm die wortlose Kampfansage an.
Laurentine fühlte sich wie in einem Arbeitsrausch, als sie in zehn Minuten alle Oberflächen blitzblank gescheuert und die Überreste in Form kompakter Klumpen einfach hatte verschwinden lassen, mit einem siedendheißem Wasserschwall in den Spülkessel und einem Reinigungszauber das darin gestapelte Geschirr und Besteck abwaschen ließ, den verdreckten Ofen entrußte und blitzblank bekam und schlussendlich auch den ganzen Abfall in nichts als Luft und Wasserdampf auflöste. Bei jedem von ihr ausgeführten Zauber hatte sie ein vernehmliches Ping gehört, auch wenn sie ihr Wolfsgehör wegen des erwarteten Geschirrgeklappers wieder auf Normalgehör zurückgefahren hatte. Also wurde wirklich Jeder Zauber mitgezählt. Als sie mit einer Zauberstabbewegung alle Schränke aufspringen ließ, um das saubergespülte Geschirr darin einzusortieren fand sie einen blauen Zettel. Sie las ihn und unterdrückte den Drang, aufzustampfen. Eine ihr unbekannte Schreiberin hatte sich für das Chaos nach der Walpurgisnacht entschuldigt und angeboten, im Laufe des Tages mit ihren Schwestern wiederzukommen, um aufzuräumen. Fast hätte sie den Zettel zerrissen. Doch gerade so fiel ihr ein, dass es auch einer der gesuchten Hinweise sein mochte. Hätte sie den nicht auch vorher schon finden können? Egal, jetzt hatte sie alles gespült und konnte es auch gleich einräumen. In nur zehn Sekunden waren alle Besteckteile, Teller, Schüsseln, Kelche, Pfannen und Töpfe an den zugeteilten Plätzen. Jetzt sah Laurentine in den nun spiegelblanken Kupferkessel hinein und sah eine spiralförmig angeordnete Runenschrift. Da sie Runen nicht gelernt hatte musste sie sich mit dem Trick behelfen, den sie im trimagischen Turnier ausgeheckt hatte. Sie bezauberte ihre Ohren mit "Matrilinguam ex scripto audibo", wobei sie sich ein auf eine schreibende Feder lauschendes Ohr vorstellte. Dann zirkelte sie mit dem Zauberstab die spiralförmige Schrift ab und murmelte "Scriptum audietur!" Da meinte sie eine blecherne Frauenstimme aus dem Kessel zu hören:
"Ich bin der Kessel Immerrein,
geschmiedet zu dem Zweck
Zu waschen alles flink und fein,
zu tilgen jeden Dreck.
Ein Wort von dir genügt mir wohl,
auf das ich tu mein Werk.
und schaff hinfort den größten Schmutz,
das Wort heißt krrrkschschskx."
Laurentine lauschte, ob da noch was nachkam, weil das besagte Passwort wie eine heftig zerkratzte Schallplatte geklungen hatte. Es kam jedoch nichts nach. So beendete sie den besonderen Zauber, um alles vorgelesene sinngemäß in ihre Muttersprache übersetzen zu lassen. Dann sah sie noch einmal auf den Grund des Kessels und stellte fest, dass eine Stelle der Schrift wahrlich von tiefen Kratzern und kleinen Löchern verunziert war. Also hatte wer das betreffende Wort oder die betreffenden Runen ausradiert und den Kessel damit zum großen Teil unbrauchbar gemacht. Dann hörte sie einen kurz angespielten, aufsteigenden Durdreiklang. Offenbar hatte sie hier was sehr erfolgreich abgeschlossen. Als sie sich umsah fand sie eine weiße Leinentasche auf dem von ihr supersauber gezauberten Tisch. Offenbar sollte sie damit die ausstehenden Hinweise einsammeln. Sie wollte noch mal auf den Zettel schauen. Doch statt seiner hielt sie nun ein an den Rändern unregelmäßig ausgefranstes Stück Pergament, gerade mal handgroß. Dann war diese Notiz vorhin nur eine Tarnung gewesen, vielleicht um sie vom Arbeiten abzuhalten, wenn sie den zuerst gelesen hätte. "Okay, nach Alice im Wunderland auch noch Goldmarie und Pechmarie", dachte Laurentine. Denn jetzt war es amtlich, dass sie das in den anderen Räumen herrschende Tohuwabohu beseitigen musste, um weitere Hinweise zu kriegen.
Also ging sie in den Raum neben der Küche. Dort galt es, durcheinanderfliegende Pergamente und Bücher zu ordnen. Bei einigen Pergamenten fehlten Stücke, die sicher irgendwo im Wust vergraben lagen. Eines dieser Pergamentstücke konnte der nächste Hinweis sein. Doch hier war es wie das berühmte eine Blatt im Walde. Sie atmete laut ein und aus. Dann führte sie die ihr beigebrachten Zauber aus, um Schriftstücke zu sortieren, ihr sichtbare Schäden zu reparieren und dann alles nach Verfasser oder Thema zu sortieren. Das bei jedem ausgeführten Zauber erklingende Ping nahm sie nur noch unbewusst wahr. Dabei erkannte sie, dass die Briefe von einer Eurykleia und einer Antigone Kallioros geschrieben worden waren, während die in altgriechischer Schrift verfassten Bücher von einer Daphne Polychloros stammten und eine zwanzigbändige Chronik dazugehörte. Als sie die Bücher in die von ihr vorsorglich saubergezauberten Regale einsortieren wollte weigerte sich ein Buch, an einen freien Platz zu fliegen. Sie erkannte, dass aus ihm ein Lesezeichen ragte und besah es sich genauer. Es hieß "Die macht des edlen Weines oder wie einem schönen Berg ein schönes Wort entsprang". Das Lesezeichen war ein gelber Stoffetzen und war selbst beschrieben. In lateinischer Schrift stand in einem wohl alten Französisch, dass es dem Schreiber oder der Schreiberin gelungen sei, den Kessel Immerrein fertigzustellen und damit alles dreckige, ob Wäsche, Windeln, Geschirr oder Gartenwerkzeuge blitzblank zu bekommen, bis eine "eifersüchtige Hündin" die das Wort fixierenden Runen ausgekratzt und ausgestochen habe. Doch wer das Stoffstück mit der anderen Seite nach oben so in den Kessel legte und den Korrekturzauber für falschgeschriebenes oder unleserliches darauf verwendete konnte die Wortrunen wieder in den Kesselboden eingravieren und seine Zauberkraft wiederherstellen.
Als Laurentine das Lesezeichen an sich genommen hatte klappte das Buch von alleine zu und sprang förmlich zu seinen Geschwistern ins Regal. Ohne ihr Zutun fiel ein limonenfarbener Vorhang vor die Bücherregale nieder. Auch die nach Verfasserinnen sortierten Briefe flogen in enger Formation in einen offenen Schrank hinein, dessen Türen laut zuschlugen und sich verriegelten. Falls Laurentine hier noch irgendeinen weiteren Hinweis hätte finden sollen, dann hatte sie entweder alles richtig gemacht oder den entscheidenden Arbeitsschritt verpasst. Doch ihr fiel ein, dass sie ja den Kessel reparieren konnte. Also verließ sie die nun wieder ganz ordentliche Schreib- und Lesestube und lief in die Küche zurück. Sie drehte das gelbe Lesezeichen um und besah es sich. Ja, da waren tatsächlich mehrere Runen, die genau in der art aneinandergereiht waren, wie der spiralförmige Schriftzug am Kesselboden verlief. Doch der Kessel reichte der jungen Hexe bis zur Hüfte. Sie beugte sich vorund schaffte es gerade soeben, den gelben Stoff so auf die Stelle zu legen, dass die darauf gezeichneten Runen mit den anderen zusammenpassten. Laurentine stellte sich wieder richtig hin und zauberte nun mit "Corrigo Illegibilem de legibile auf das gelbe Stück Stoff ein. Die Runen leuchteten auf und brannten sich wie weißglühendes Metall durch den gelben Stoff hindurch. Der Kessel erzitterte. Dann zerfiel der gelbe Stofffetzen zu Asche. Nur die weißglühenden Runen waren noch zu erkennen. Doch sie färbten sich gelb, dann orange, dann rot, um dann wie gerade frisch in den Kesselboden graviert auszusehen. Die Kratzer und Löcher waren weg. Mit einem schnell aufsteigenden Summton vibrierte der Kessel und erzitterte noch einmal. Dann ploppte es, und statt des Aschehaufens lag ein Stück Pergament im Kessel, das ähnlich ausgefranste Ränder hatte wie das, was sie schon ergattert hatte. Wieder hörte sie den kurzen Durdreiklang. Also hatte sie auch diese Aufgabe richtig gemacht. Jetzt wurde ihr klar, dass sie auf jeden Fall hätte spülen müssen, um den Kessel frei von Abwasch und Schmutz zu kriegen. Wollte sie das Losungswort noch wissen. Aber was sollte es ihr bringen, wo sie eh nicht mehr mit diesem Kessel waschen und abwaschen würde. Sie versuchte den Pergamentfetzen zu sich hinfliegen zu lassen. Doch der war dagegen abgesichert. So blieb ihr nur, sich noch einmal in den Kessel hineinzubeugen und es zu ergreifen.
Im übernächsten Raum musste sie ihre Fähigkeiten als Kleiderflickerin beweisen. eine in der Luft schweebende Schrift gebot, dass sie den Erfolg dieser Arbeit mit keinem Zauber mehr als nötig erringen musste. Sie sah die herumfliegenden Kleiderfetzen an und erkannte, dass es wohl mehr als vier verschiedene Wäschestücke waren. Sie musste nachdenken, wie sie die alle mit einem Zauber sortieren und dann die ursprünglichen Kleidungsstücke herstellen konnte. Okay, das Sortieren und Reparieren aller Stücke gleichzeitig ging, weil es einen erweiterten Reparaturzauber gab, der alles dem Ausführenden bekannte wiederherstellte, was in Zauberstabausrichtung und Rufweite kaputt war. Dann fiel ihr noch ein Zauber ein, den Claire und Céline ihr gezeigt hatten, als sie sich in einer Kräuterkundestunde den Umhang eingerissen hatte. ein Abbildungszauber, der die geisterhafte Nachbildung eines beschädigten oder zerstörten Gegenstandes zeigte. Sie musste tief in ihre Erinnerungen hineinhören, bis sie mit einer gewissen Wehmut Claires Stimme diesen Zauber einsingen hörte. Nun übersetzte sie das erinnerte in die Mehrzahl. So kam sie auf hoffentlich nur drei nötige Zaubersprüche.
Mit dem ersten ließ sie alle früher zum selben Stück gehörenden Fetzen auf entsprechende Haufen fliegen. Dann wendete sie den gerade erst erinnerten Zauber in der für mehrere Objekte zugleich bestimmten Form an: "Omnium obiectorum destructorum formas ante destructionem apparento!" Nun schwebten geisterhaft durchsichtig aber farbig schimmernde Kleidungsstücke über den Stoffresten und drehten sich um die Senkrechtachse, so dass Laurentine sie von allen Seiten betrachten konnte. "Omnis reparabilis reparo!" Rief sie, nach dem sie einmal mit dem Zauberstab von links nach rechts schwang. Dann ließ sie den Zauberstab wieder von rechts nach links schwingen. Die Stofffetzen flogen wie ein aufgescheuchter Bienenschwarm hoch und wirbelten in den noch immer frei schwebenden Nachbildungen herum. Sie verschmolzen fförmlich damit. Nach nur zwei Sekunden glitten alle wiederhergestellten Kleidungsstücke wieder zu Boden. Wieder pingelte der Durdreiklang. Von der Decke fiel ein weiteres zerfleddert wirkendes Pergament herunter.
"Will die eine Kriegerin oder eine Hausfrau ausbilden", knurrte Laurentine, als sie mit der nächsten Trophäe aus dem Kleiderzimmer trat.
Im letzten Raum galt es, einen großen Haufen bunter Karten zu ordnen, der auf dem Boden lag. Hier ging es aber nicht um Zauberfertigkeiten, dachte Laurentine, als keine einzige Karte auf ihren Ordnungszauber reagierte. Das einzige, was kam war das misstönende Klong, das sie in der Eingangshalle gehört hatte, als sie vergeblich den Türöffnungszauber auf die verschlossenen türen zu wirken versucht hatte. . Dann stimmte das mit den mitgezählten Fehlern oder Misserfolgen. Natürlich, wenn Louiselle Beaumont sie bewerten wollte musste sie ja auch die Fehler mitrechnen.
Was sie nun tun sollte war klar. Sie musste die Karten von Hand sortieren. Dabei stellte sie fest, das die Karten nach den vier alten Elementen geordnet waren. Hier ging es um Aufruf, Komponenten und Auswirkungen von Zaubern aus den Bereichen Wasser, Feuer, Luft und Erde. Hatte sie vier Karten zu einem Zauber zusammen, fügten diese sich von selbst zu einer großen Karte zusammen. Deshalb konnten die nicht mit anderen Bewegungszaubern befördert werden. Als sie dann vom Element Wasser neun große Karten zusammenbekommen hatte, fügten diese sich zu einem drei mal drei große Karten großen Rechteck zusammen, auf dessen oberen Rand in blauer Schrift "ARCANA AQUAE" stand. Dann schaffte sie es neun mal vier Feuerkarten zu einer großen Karte mit der orangeroten Überschrift "ARCANA IGNIS" zusammenzufügen. Als sie dann auch die schon tapetengleichen Stücke "ARCANA TERRAE" und "ARCANA VENTI" fertiggestellt hatte dachte sie eigentlich, dass sie jetzt noch einen Dreiklang und ein Pergamentstück zur Belohnung kriegen müsse. Doch dem war nicht so. Deshalb sah sie sich noch einmal um und stellte fest, dass die großen Karten nun von der Breite her an die vier Wände passten. Aber welche an welche Wand? Dann fiel ihr ein, dass jedes Element seine Himmelsrichtung hatte. So lotete sie mit dem Vier-Punkte-Zauber die genaue Nordrichtung aus. Es pingte wieder. Also durfte sie das zaubern. Dann hob sie die nun schwere Luftkarte so hoch es ging und drückte sie an die östliche Wand. Sie sorgte dafür, dass es keine Falte gab. Dann trat sie zurück, die Karte blieb wie mit Kleister angeklebt an der Wand. Die große Feuerkarte pappte sie so gerade und glatt sie konnte an die südliche Wand. Als sie sah, dass die Karte dort hängenblieb nahm sie die Erdkarte und heftete sie an die westliche Wand. Zum Schluss hängte sie die mit mehreren Eis- und Wasserzaubern beschriebene große Karte des Wassers an die nördliche Wand. Als diese auch haften blieb glühten sie alle in ihren Farben auf. Jetzt kam der von Laurentine erhoffte Dreiklang, und in der Mitte des Raumes verstofflichte sich Pergamentfetzen Nummer vier. Also war es hier um theoretisches Wissen und um korrekte Zuordnung gegangen. Diese Teilaufgabe hatte sie also erledigt. sie steckte den weiteren Pergamentfetzen in die bereitgestellte Leinentasche und wartete, ob etwas weiteres geschah. Doch es passierte nichts. Sie verließ den Kartenraum und blickte zur orangeroten Tür. Auf dieser stand nun: "Der Morgen ist gerettet. Der Tag strahlt hell. Nutze ihn!"
"Ui, fast 'ne Stunde für das hier", dachte Laurentine, als sie einen prüfenden Blick auf ihre Uhr warf.
Sie verließ den Trakt mit den Morgenräumen und fand heraus, dass sie jetzt die gelbe Tür aufbekam.
Nun stand sie in einem Gang mit aus sich heraus himmelblau leuchtender Decke und einer strahlenden Sonne genau zwischen Decke und einer Wand. Laurentine prüfte schnell die Nord-Süd-Ausrichtung und erkannte, dass die naturgetreu leuchtende Sonne tatsächlich im Süden stand.
Im ersten Raum ging es um Gartenarbeitszauber. Sie musste drei umgefallene Baumschößlinge in die richtigen Erdhaufen einsetzen und gießen, einen überwuchernden Dornenbusch zurechtschneiden und aus den hier wachsenden Zauberkräutern für jedes Element eines zusammensuchen und in eine silberne Schale werfen. Als sie das erledigt hatte verschwanden die vier gesammelten Kräuter und machten einem grünen Pergamentfetzen Platz. Weil hier auch der Durdreiklang tönte, den sie nun als S-Dur-Tonfolge erkannte, wusste sie, dass sie hier nichts mehr machen musste.
Im folgenden Raum ging es darum, das helle Licht der Sonne auszunutzen, um aus Spiegeln und Prismen eine Konstruktion zu bilden, die das in seine Regenbogenfarben zerlegte Licht an ganz bestimmte Stellen projizierte. Als sie es nach nur drei Fehlversuchen hinbekam erscholl die magische Frauenstimme: "Ui, nur drei von zehn zugestandenen Versuchen. Dann weißt du auch, wozu diese Anordnung dient. Sprich es laut aus.
Laurentine musste überlegen. Wie viele zugestandene Fehlversuche hatte sie hier? Erkannte sie nicht, was sie da gebaut hatte, bekam sie wohl nicht ihre Belohnung für diesen Raum. Das konnte die ganze Prüfung versauen. Dann fiel ihr ein, was sowohl Claire als auch Julius ihr über die Magie des Sonnenlichtes erzählt hatten. Tatsächlich hatten findige Alchemisten herausgefunden, dass sie durchsichtige Kolben mit bestimmten Reagentien von einem bestimten Sonnenlichtanteil durchdringen lassen konnten, um eine wirksame Grundsubstanz, eine Farbessenz zu erschaffen. Wie nannten die das noch einmal? Farbenfänger oder Farbengitter? Dann fiel ihr das Wort ein: "Chromatostat, ein Farbenrichter." Erst kam keine Antwort. Dann glühte es in jener Zone der optischen Apparatur, in die gerade kein Sonnenlicht fiel. Es flimmerte. Dann ploppte ein gelber Pergamentfetzen aus der Luft und segelte begleitet vom erfreulichen Dreiklang zu boden. Laurentine lächelte und bückte sich nach dem Pergament. Dabei achtete sie darauf, weder in einen der gespiegelten Lichtstrahlen zu sehen, noch die mühsam aufgebaute Konstruktion durcheinanderzubringen.
Der dritte Raum war wieder was für praktische Zauber. Denn hier sollte sie aus einem Haufen Sand aus 144 Goldstücken die 12 einzig echten heraussieben. Da hier keine Geräte zum Auswiegen standen musste sie das mit purer Zauberstabmagie herausfinden. Da sie davon ausging, dass sie nicht mit einem Sortierspruch arbeiten konnte - das wäre ja schon wieder zu leicht gewesen - beschwor sie eine Balkenwaage herauf. Denn sie ging zurecht davon aus, dass es einen gewichtsunterschied gab. Allerdings brauchte sie einige Versuche, um diesen zu finden. Mit dem Echtheitszauber konnte sie dann erkennen, welches der gewogenen Stücke das echte Gold war und welches nur außen vergoldet war.
Die falschen sammelte sie in einem schwarzen Topf, die echten in einem weißen Topf, den sie heraufbeschworen hatte. Als sie nach mehreren Wiegevorgängen die zwölf echten Goldstücke herausgefiltert hatte sollte sie die zwölf echten Stücke in dafür vorgesehene Schlitze in den Wänden einführen. Als sie das erledigt hatte zerfiel der Topf mit den falschen Münzen. Diese selbst verschwanden unter dem durchwühlten Sandhaufen, und von der Decke segelte ein weiteres gelbes Pergament herunter.
Im vierten Raum ging es wieder um das Sortieren von Karten. Diesmal ging es aber nicht um die Elemente, sondern die Einteilung der magischen Tier- und Pflanzenwelt nach Himmelsrichtungen. Hier fürchtete Laurentine, dass sie scheitern musste, weil sie keine magische Tierkunde erlernt hatte. Dann beschloss sie, das Ausschlussprinzip für sich arbeiten zu lassen. Erst zu sortieren, was sie kannte und das hinzuzufügen, was sie eher für die bestimmte Himmelsrichtung ansah als für eine andere. Bei den eher insektenähnlichen Tieren ging sie nicht vom Norden aus, wohingegen sie die pelzigen Tiere und flach wachsenden Pflanzen, darunter den roten Moorgeist, eindeutig dem Norden zuordnen konnte. Sie freute sich immer, wenn sie vier Karten zusammenbekam, die dann zu einer größeren Karte wurden. Um so mehr freute sie sich, als sie die Nordlandkarte "VITA BOREALIS" fertig hatte. Wieder neun mal vier Karten. Blieben also nur noch drei Himmelsrichtungen.
Es dauerte jedoch länger, um die Südkarte zusammenzubekommen, weil sie der Fehleinschätzung aufgesessen war, dass die größten Insekten- und Spinnenwesen eher im Süden zu finden waren. So lernte sie, dass die Riesenspinnen Acromantula im Osten vorkamen. Den Basilisken tat sie auf jeden Fall nach Osten, weil der von einem Griechen gezüchtet worden sein sollte, die Hydra sowieso und auch die oder den Sphinx. Dafür konnte sie die goldenen Riesenskarabäen, die Goldpanzerameisen und die Feuerlöwen klar dem Süden zuordnen. So kam es dann, dass sie die Karte "VITA ORIENTALIS" fast zeitgleich mit der Karte "VITA AUSTRALIS" fertigstellte. Dann war nur noch der Westen übrig. Nur ging es darum, die Tiere und Pflanzen den entsprechenden Lebensräumen nach zuzuordnen. Das dauerte zwar. Aber als sie schließlich eine tapetengroße Karte mit der Bezeichnung "VITA OCCIDENTALIS" fertig hatte sprang sie vor Freude in die Luft. Doch offenbar musste sie die Karten auch hier wieder richtig an die Wände pappen. Das war aber nun das allerkleinste Problem. Dann kam der erhoffte Dreiklang und ein blauer Pergamentfetzen.
"Wo feiern die morgen eigentlich, bei Chloé oder bei Rorie?" fragte Claudine ihre Mutter.
"Soweit ich weiß morgens bei Chloé und nachmittags bei Aurore", sagte Catherine. "Da nehmen wir den großen Besen mit, damit der Justin und wir zwei sicher von da nach da fliegen können", sagte sie noch.
"Und die Laurentine will mit Flohpulver zu Julius und Millie?"
"Stimmt, habe ich vergessen zu fragen, ob Camille sie auch bei Chloés Geburtstag dabeihaben will", sagte Claudines Mutter. Dann versuchte sie, Laurentine anzumentiloquieren. Doch der gewohnte Nachhall in ihrem Geist blieb aus. Hatte Laurentine von Julius diesen Geistesschutzzauber gelernt? Wäre zumindest sehr vorausschauend von ihm. "Hmm, ich frage die Laurentine nachher beim Mittagessen, ob sie auch zu Chloés Geburtstag gehen darf, Claudine."
"Darf sie dann auch mit zu Signore Luciano bunte Nudeln essen?" wollte Claudine wissen.
"Das frage ich sie nachher. Nicht dass sie für sich schon was gekauft hat. Weißt du denn jetzt auch, was du bei den Herren Matthieu für Rorie zum Geburtstag haben möchtest?""
"Frühlingsblumendecke", erwiderte Claudine mit breitem Lächeln. Catherine nickte. "Und für die Chloé habe ich ein Bilderbuch gemalt", verkündete Claudine stolz.
"Da freut sie sich sicher auch drüber. Sind da auch Autos und Flugzeuge drin?" wollte Catherine wissen. Claudine nickte. "O, dann muss Chloé zusehen, dass ihr Papa das nicht dauernd ausleiht", grinste Catherine. Dann hörte sie Justin James quängeln.
Durch die grüne Tür kam Laurentine noch nicht durch. So blieb nur die mitternachtsblaue. Dies ließ sie gleich vermuten, dass nach dem Morgen und dem Tag nun die Nacht als Thema dran war. So erschrak sie auch nicht, als sie in einen stockdunklen Gang eintrat. Als die Tür hinter ihr zufiel stand sie in völliger Finsternis. Der übliche Lichtzauber flackerte gerade eine Zehntelsekunde auf und erlosch mit leisem Knacken und einem unortbar klingenden Misston: Klong. Sie überdachte die ihr bekannten Nachtsichtigkeitszauber und fand beim Berühren der Wand neben der Tür heraus, dass diese ein wenig wärmer als ihre Hand war. Das brachte sie darauf, den Wärmesichtzauber zu verwenden. Dieser gelang, was durch das schon vertraute Ping bestätigt wurde. Jetzt sah sie, dass die Wände in einen gelborangen Licht leuchteten und vor allem, dass die von hier abgehenden Türen über ihr angebracht waren und wohl auch verkehrt herum eingesetzt waren. Dann sah sie eine hellgelbe Leuchtschrift:
Liest du dies,
sei gewiss,
die Nacht hat viele Tücken.
Sie kann dich schrecken oder trüben,
Mut Erweckenund beglücken.
Die Dunkelheit bringt stets hervor,
was menschenseelen sonst verhüllen.
Doch kannst du alles übersteh'n
mit Umsicht, Wissen, starkem Willen.
Nachdem sie die Hürde der Dunkelheit überwunden hatte wendete Laurentine einen anderen Trick an, um die für sie gerade kopfstehende Welt wieder richtig zu rücken. Sie belegte sich selbst mit dem Deterrestris-Zauber und ließ sich davon zur Decke hochtreiben. Als sie mit den Händen anstieß rollte sie sich so, dass sie mit den Füßen Kontakt bekam. Sie streckte sich, als stehe sie genau richtig, auch wenn die jetzt auf sie wirkende Schwerkraft nicht so stark war wie die Natürliche. Sie brauchte nur für drei Sekunden die Augen zu schließen, um ihr Gehirn auf die umgekehrten Verhältnisse umzustellen. Jetzt war für sie da, wo ihre Füße hingezogen wurden unten.
Der erste Raum wurde ihr fast zum Verhängnis. Denn das war ein Schlafzimmer. Irgendwie ging von dem Bett ein schleichender Ermüdungszauber aus. Sie musste sich mit dem Aufweckzauber gegen magischen Schlaf der Stufe eins dagegen wehren. Dieser Zauber hielt aber nur eine Minute durch. Dann musste er ersetzt werden. In diesen Zeitabschnitten durchsuchte die junge Hexe das Schlafzimmer auf die nötigen Hinweise, was sie tun sollte. Als sie die Schränke und Kommoden durchsucht und außer Kleidung, Nachtzeug und Bettbezügen nichts anderes gefunden hatte wurde sie fast von dem wieder aufkommenden Schlafzauber überwältigt. Da ritt sie der Frechheitswichtel und ließ sie das Bett in eine Blumenvase verwandeln. Tatsächlich hörte der Zauber sofort auf. Sie belegte die Vase noch mit dem Inhibimutatus-Zauber, das nur sie die Vase auch wieder zurückverwandeln konnte. Zumindest hatte sie all diese Zauber mit einem Ping beantwortet bekommen. Als sie unter der Wirkung des Wärmesichtzaubers feststellte, dass auf den Kleidungsstücken Buchstaben leuchteten hängte sie sie so auf, dass sie die Buchstaben von links nach rechts lesen konnte. Doch in alphabetischer Reihenfolge ergaben sie keinen Sinn. Dann fiel ihr auf, dass die auf den Tageskleidern aufgeprägten Infrarotbuchstaben ein wenig heller leuchteten. So sortierte sie die Kleidung nun nach Leuchtkraft. Dann erkannte sie, dass hier wohl ein Satz zusammengebaut werden sollte, zumal ein A und ein M großgeschrieben waren. Also waren es Satzanfänge und/oder Eigennamen. Eigennamen! Wie lange war das jetzt her, dass ihr Opa Henri ihr das schöne Lied von Mike Oldfield übersetzt hatte? Da ging es doch um Bilder im Dunkeln, also die Träume und dass die Morgenröte Aurora den schlafenden befreite, nachdem Morpheus, der Traumbringer, zu ihm gekommen war. Nun sortierte sie die Kleidung so, dass sie die zwei altrömischen Götternamen zusammenstellte. Dann puzzelte sie den Rest des Satzes der dunkleren Buchstaben zusammen. Danach blieben nur die hellen Buchstaben übrig. Sie gruppierte um und noch mal um. Dann hatte sie endlich zwei Satzteile, die dem hier vorherrschenden Versmaß entsprachen:
Morpheus wiegt dich in der Nacht,
Aurora ruft, bis du erwacht.
Diesen Satz rief sie nun laut aus. Da erstrahlten die geordneten Kleidungsstücke für zehn Sekunden. Der S-Dur-Dreiklang ertönte, und ein leises Klicken in der Tür verriet, das der Weg nach draußen wieder frei war.
Im nächsten Raum lauerte eine Couch auf sie. Diesmal wartete Laurentine nicht ab, bis der Schlafzauber sie voll traf, sondern verwandelte die Couch sofort in eine Blumenvase und blockierte jede Rückverwandlung. Dann erledigte sie die eigentliche Aufgabe, nmämlich eine die ganze Decke überspannende Sternenkarte zusammenzufügen, die ähnlich wie in den anderen Kartenräumen aus 36 Einzelteilen zusammengesetzt werden musste. Nur musste diese Karte nun an die Decke geheftet werden, was nicht so einfach war, weil die Karte keinen anderen Bewegungszaubern unterworfen werden konnte. Wie sollte sie diese Karte an die Decke bringen. Da fiel ihr ein, dass sie doch in Wirklichkeit an der Decke des Ganges stand und alle hier quasi dem gleichen Deterrestris-Zauber unterworfen waren, dem sie sich selbst unterworfen hatte. So Kroch sie unter die Karte und ließ mit dem Richtungsweisezauber die genaue Nord-Süd-Achse anzeigen. Sie schaffte es, die Karte dann auch entsprechend zu drehen und krabbelte in die Mitte. Dann führte sie den Zauberstab an den Mittelpunkt der Karte und sagte "Terra Firma Amplifico!" Augenblicklich stieg die Karte des nördlichen Sternenhimmels nach oben und klatschte gegen das, was gerade die Decke war. Sie glättete sich sogar. Da pingelte es im erhofften Dreiklang, und aus dem Nichts erschien ein Pergamentstück. Laurentine nahm es auf und steckte es in die Leinentasche. Nun konnte sie den Raum verlassen.
Der dritte Nachtraum beherbergte einen bezauberten Strohsack, der Laurentine wieder einschläfern wollte. Auch den verwandelte sie. ansonsten gab es nichts in dem Raum, zumindest nichts sichtbares. So prüfte sie auf in Wänden, Decke und Boden verborgene Hohlräume. Sie wunderte sich am Ende nicht mehr, dass es 48 Hohlräume waren. Offenbar war Luiselle Beaumont eine Verehrerin der Zahl Zwölf. Jedenfalls konnte sie jedem Hohlraum einen kleinen Fetzen Pergament entnehmen. Als sie alle 48 Fetzen zusammenhatte bauten diese sich von selbst zu einem größeren Pergamentstück zusammen. Also war es hier um die Nutzung des Sonars gegangen.
Im vierten Nachtraum musste sie wieder aus einem Kartenhaufen erst kleinere Karten zusammensetzen, dann wieder größere, bis vier Wandtapetenkarten fertig waren. Das Thema hier waren Flüche, die in vier Kategorien eingeteilt wurden: Auf Gegenstände legbar, bestimmte Situationen betreffend, auf Orte bezogen und direkte Angriffszauber. Jede dieser vier Karten war dann noch in drei Stufen unterteilt, von grausam und schwer zu beheben bis lästig aber leicht zu beheben. Die Frage war nur, in welcher Himmelsrichtung sie welche Karte an die Wand pappen sollte. Sie fand auf der Vorderseite keinen Hinweis. So drehte sie sie auf die Rückseite und schnaubte wieder, weil sie das jetzt erst mitbekam. Denn auf den jeweils mittleren Abschnitt, da wo auf der Vorderseite die mittelschweren Zauber angereiht waren, prangte eine Windrose mit einem Richtungsweiser. So konnte sie die gegen natürliche Wesen wirkenden Flüche dem Norden, die Ortsbezogenen Flüche dem Osten, die Situationsflüche dem Süden und die Gegenstandsflüche folglich dem Westen zuordnen. Welchen magietheoretischen Bezug diese Anordnung hatte wusste Laurentine nicht. Sie ordnete es entsprechend ein und war erleichtert, dass sie ein dunkles Pergamentstück bekam und den Erfolgsdreiklang hören durfte.
"Die Laurentine ist nicht oben, Maman", quiekte Claudine. Catherine saß gerade mit Justin im Wohnzimmer und stillte den Säugling. "Komm bitte wieder runter, Claudine. Wenn Laurentine nicht da ist weiß ich nicht, wann sie wiederkommt!" rief sie. Der Kleine, der schon die ersten vier Zähne hatte, geriet deshalb aus dem Saugrhythmus. "Na, ganz ruhig, Justin. Maman ist noch bei dir. Nimm dir Zeit!" sagte sie leise.
Mit dem Terra-Firma-Zauber stellte Laurentine ihren Körper und alles was sie gerade am Leibe trug auf die übliche Schwerkraft ein. Dann hob sie auch den Wärmesichtzauber auf. Für einige Sekunden stand sie wieder im Dunkeln. Dann öffnete sie die Tür in die Eingangshalle und ging etwas wankend hinaus. Offenbar hatte sie die ganze Zauberei der letzten Stunden, sowie die Einschrumpfung doch gut angestrengt. Nicht, dass sie noch etwas Tagesausdauer vorwegnehmen musste wie damals Hubert.
Die beiden noch nicht passierbaren Türen führten in je ein Treppenhaus. Laurentine nahm erst das eichbraun gehaltene Treppenhaus, das zwei Etagen und einen Quergang zu den südlichen Türmen verband.
Auf den oberen Stockwerken wurden ihre genaueren Kenntnisse in Zauberkunst an lebenden Wesen, Kräuterkunde und Zaubertränkengeprüft. Sie musste auf Zuruf der magischen Stimme bestimmte Zauber vorführen oder Bilder und Namen von Zauberpflanzen zusammenbringen, darunter auch welche, die sie unten schon für die Herkunftsrichtungen eingesetzt hatte. Auch ging es um grundsätzliche Körperkunde, auch wenn Laurentine keine Pflegehelferin war. Anschließend muste sie in einem Turm bis zum Zimmer der Luft vordringen und dabei dort aus einem wilden Wirbelwind mehrere Stücke blaues Pergament fangen, die sie dann zusammensetzen konnte.
Im anderen Turm, dem Turm des Feuers, musste sie erst einmal eine Treppe aus rotglühenden Metallstufen hinauflaufen, drei verschiedenfarbige Feuerwände aufheben und im Zimmer des Feuers vier mit dem Feuer verbundene Proben aus einem von rauchlos brennenden Flammen umzüngelten Kessel holen, was sie mit der goldenen Aura gegen magische und nichtmagische Feuer und einer heraufbeschworenen Obsidianzange erledigen konnte, da der Aufrufezauber nicht gelang. Hierfür bekam sie ein rotes Pergamentstück.
Nach ihrer Uhr war es fast Mittagszeit, falls die Zeit in diesem Testlabor nicht schneller oder langsamer lief, als Laurentine durch die Braune Tür neben der Mitternachtsblauen Tür in ein dunkleres und kälteres Treppenhaus hinaufstieg. Auf den beiden Stockwerken galt es, die auf Gegenstände anwendbare Zauberkunst und Schutzzauber gegen Wasser und Eis zu erproben, sowie Karten nach Material und Bezauberbarkeit nach Pinkenbach zu sortieren. Auch ging es um Paarungen aus Flüchen und Gegenflüchen, sowie das Wissen über die Kreaturen der Nacht, mit denen sie ja bei den Toren des Ruhmes ihre Erfahrungen gemacht hatte.
Dann musste sie in den Turm der Erde und dort wegen fehlender Treppen den Muscapedeszauber zum Klettern benutzen. Im Zimmer der Erde galt es, aus einem massiven Felsen die vier stärksten Zauberkraftträger der Erde herauszuholen. Dafür bekam sie wieder einen grünen Pergamentfetzen als Belohnung.
Abschließend musste sie in den Turm von Wasser und Eis. Dort musste sie sich durch eine massive Eiswand arbeiten, ohne dass alles zusammenbrach. Danach musste sie aus einem Haufen Schnee vier Phiolen mit verschiedenen Tränken herausgraben und diese Tränke dann im Wasserzimmer in die entsprechenden Gegenlösungen schütten und aus einer sich wild drehenden Wassersäule mehrere Kristallkörper bergen, wobei sie die Kopfblase nutzte. Am Ende hielt sie ein weißes Pergamentstück in den Händen.
Als sie mit nun 36 gesammelten Pergamentstücken wieder nach unten in die Halle kam setzte ein Glockenspiel aus allen Vier Türmen ein, und die magische Stimme verkündete: "Laurentine Hellersdorf. Trotz deiner wenigen Kenntnisse im Bereich der Zaubertiere und offenbar ein wenig eingeschlafener Kenntnisse der Zaubertränke hast du es geschafft, die Prüfungen in allen 36 Räumen zu meistern und hast dabei weniger Zeit gebraucht als ich dir zubilligte. So verlasse nun das Haus der Prüfungen und füge die von dir erworbenen Einzelstücke zu dem Hinweis zusammen, der dir verrät, wo du mich finden kannst. Den Zeitpunkt wirst du nur dem Papyruszettel entnehmen. Doch ich bin sicher, dass du dies bereits geschafft hast. So erwarte ich dich zum mitgeteilten Zeitpunkt an dem von dir zu erfahrenden Ort!"
Das ortal tat sich auf. Das Standbild der Frau in Grün hob die Arme über den Kopf und streckte alle zehn Finger nach oben. Laurentine sah, wie sie nun den kleinen Finger der rechten Hand krümmte, dann den Ringfinger. "Ja, ich geh ja schon", grummelte Laurentine und lief durch das Portal. Schlagartig meinte sie, dicken Qualm einzuatmen. Sie schaffte es noch, die Kopfblase zu zaubern. Da hätte sie früher dran denken sollen. Sie drehte sich noch einmal um und sah, wie die Flügel des Eingangsportals wieder zufielen. Jetzt stand sie wieder auf der weiten Fläche ihres Tisches im für sie gerade titanischgroßen Dachzimmer. Sollte sie sich hier schon entschrumpfen? Oder sollte sie erst die Pergamente zusammenlegen und hoffen, dass sie dadurch den gesuchten Ort erfuhr? Denn ihr fiel ein, dass diese 36 Pergamentstücke vielleicht nicht vergrößert werden konnten, weil in ihnen schon so viel Magie steckte. Also ging sie dreißig Schritte von dem Übungshaus weg und breitete die Pergamente aus der weißen Leinentasche aus. Bei nur 36 Teilen müsste sie das doch problemlos rauskriegen, wo was hingehörte. Tatsächlich erkannte sie, dass es Stücke mit geraden Rändern gab. Sie sortierte sie von Hand und fand dann die passenden Stücke, die sie verbanden. Als sie neun Stücke auf diese Weise zusammengefügt hatte hatte sie ein Quadrat aus verschiedenfarbigen Flicken. Sie hatte doch mit einer Landkarte gerechnet. So puzzlete sie von Hand weiter und fügte aus den restlichen 27 Stücken drei weitere Quadrate. Also galt es jetzt, die richtige Kombination der vier Quadrate zu finden. Ganz sicher würde sie dann eine magisch getarnte Landkarte zusammenbekommen, die sich nach dem Zusammensetzen offenbarte. Doch ihr fehlten die Hinweise. Dann fiel ihr auf, dass die Farben der Pergamentstücke zu gleichen Teilen auf den Vier Quadraten vorhanden waren, nur die roten, grünen, gelben und blauen Flicken unterschiedlich aussahen. Sie wollte gerade anfangen, die Quadrate verschieden zu kombinieren, als kleine Funken über ihnen sprühten und sie ein leises Knistern hörte. Sie erschrak. Würden die Dinger jetzt verbrennen oder was? Da hörte das Knistern auch schon wieder auf. Die Funken erloschen. Dafür passierte jetzt was anderes erstaunliches. Die nun Vier Quadrate verfärbten sich. Die Vier Farben flossen ineinander, vermischten und verteilten sich. Dann sah Laurentine, was geschehen war.
Vor ihr lagen vier völlig gleiche Landkarten, von denen jede das französische Festland bis zu den blau gefärbten Meeresküsten darstellte. In gelben und roten Kreisen standen die Namen der Städte. Die Flüsse waren so blau wie die Meeresküsten. Grün waren die unbebauten Gebiete. Und in Weiß erschienen kleine Punkte, die von dem roten Kreis mit der Bezeichnung Paris in Nordöstliche Richtung führten und einen kleinen, roten Punkt bezeichneten, der mit "Château Beaumont" gekennzeichnet war. Nicht weit davon entfernt war die Rhone. Laurentine wollte wissen, wie viele Kilometer das waren. Sie suchte nach einer Maßstabsangabe und las, dass 1 Zentimeter umwerfenden 450 Kilometern entsprach. Da hier wohl absolute Werte genommen wurden brauchte Laurentine die Werte nur umzurechnen. Ein geeichter Zentimeter entsprach gerade 48 Relativzentimetern. Sie blickte auf die Linie, die erst bis zur Rhone führte und sich östlich davon noch einiges weiter verlängerte. Das musste sich Laurentine gleich aufschreiben, wenn sie wieder normalgroß war. Dann kam ihr der Einfall, die Karte umzudrehen. Schließlich hatte Louiselle ihr ja bei diesem Parcours auch Hinweise auf Kartenrückseiten untergejubelt. Ja, und tatsächlich fand sie einen hellgrün auf Weiß handgeschriebenen Text.
Falls du mit der Linie nicht klarkommst und die Karte bei der Entschrumpfung nicht mitwächst nur soviel: Von der Stadtinsel Paris aus nordöstlich bis zur Rhone, die überqueren und dann fünfzehn Kilometer folgen und dann einen Kilometer nach osten vom Ufer weg. Das Zeitfenster für die Erscheinung meines Hauses liegt bei fünf Minuten vor bis fünf Minuten nach dem dir mitgeteilten Zeitpunkt.
Laurentine prägte es sich ein. Sie prüfte auch noch die anderen Karten. Die enthielten den gleichen Hinweis, nur in verschiedenen Farben. Aber die Vorderansicht blieb identisch.
Unvermittelt begannen hinter ihr Glocken zu läuten. Sie drehte sich noch einmal zu dem Schlösschen und sah, dass alle ihr zugewandten Fenster in einem roten Licht im Takt der Glocken blinkten. Ihr war sofort klar, was das hieß. Das magische Puzzle hatte seine Schuldigkeit getan. Wenn es sich zerstörte konnte das für eine eingeschrumpfte Laurentine gefährlich werden. Der einzige Trost war nur, dass es wohl nicht mit lautem Knall explodieren würde.
Schnell entschrumpfte sich Laurentine. Das Glockenläuten wurde zu einem immer leiseren und höheren Pingeln. Die von ihr gehaltenen Karten schrumpften ebenfalls zu kleinen Pergamentquadraten nicht größer als Briefmarken.
Laurentine Hellersdorf eilte zur magischen Barriere, die um den Tisch errichtet war, schwang ihr Bein darüber hinweg und stieß sich mit dem anderen Bein kräftig ab. Sie schaffte es, in einem leichten Spagat auf dem Boden zu landen. Sie wandte sich dem Tisch zu um zu sehen, was mit dem Modellhaus passierte. Hoffentlich verglühte das nicht in einem gleißenden Licht oder setzte den Tisch in Brand.
Das Modell eines Schlösschens explodierte nicht und ging auch nicht in Flammen auf. Es stürzte nicht zusammen oder verpuffte in einem grellen Blitz. Es zerfiel ganz behutsam in zwölf einzelne Abschnitte. Diese widerum verformten sich leise klickend und rasselnd zu bunten, völlig mechanischen Schmetterlingen. Diese stiegen vom Tisch auf und flogen mit schnell schlagenden Flügeln auf das Dachfenster zu. Laurentine wollte es schon öffnen, als drei der magicomechanischen Falter den Griff mit ihren Fühlern berührten und so drehten, dass das Fenster aufging. Dann huschten die zwölf künstlichen Falter hinaus und verschwanden.
"Die liebt offenbar auch die ganz abgedrehten Auftritte", grummelte Laurentine. "Wer, die? Louiselle Beaumont?" fragte eine Stimme hinter ihr. Laurentine fuhr so heftig zusammen, als habe sie ein Blitz getroffen. Sofort fühlte sie, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. Sie stand einige Sekunden da. Dann erst fand sie ihren Atem wieder. Aus einem blauen Flirren heraus erschien Catherine.
"Ich habe die ganze Zeit versucht dich anzumentiloquieren, und Claudine war sogar kurz oben vor deiner Tür, , weil Claudine und ich fragen wollten, ob du mit uns in die Rue de Camouflage möchtest, um da was zu essen. Ich habe dich nicht erreicht. Da musste ich doch mal nachsehen, was los war. Du hast mich auch nicht rufen gehört. Als ich dann hier in der Dachkammer dieses mir all zu bekannte Modell auf dem Tisch stehen sah war mir klar, dass du offenbar mit meiner Ligakameradin Louiselle Beaumont Kontakt aufgenommen hast. Da ihre Adresse nur wenigen Leuten bekannt ist war es sehr wahrscheinlich Hera. Du brauchst nicht zu bestätigen oder abzustreiten, beides wäre eine wirkliche Beleidigung meiner Intelligenz, und auf dieses dünne Eis wirst du dich nicht wagen."
"Wie bist du denn in die Wohnung gekommen? Ich habe doch alles ... O, Drachenmist!" stieß Laurentine aus. Catherine grinste sie verwegen an. "Ich habe den Kamin offengelassen, richtig?" Catherine nickte nur. Laurentine fühlte, dass die Verlegenheitsröte nun noch heftiger in ihr Gesicht schoss. "Dann hätte jeder und jede zu mir reinflohpulvern können, ohne ... Arrg!"
"Bevor du deine gute Kinderstube und vor allem die sehr gute Ausbildung in Beauxbatons ganz vergisst nur so viel: Jeder, der dir übles wollte wird vom Sanctuafugium-Zauber abgewiesen, sobald er oder sie im Kamin auftaucht. Wem das passiert legt es nicht auf ein zweites Mal an. Sei froh, dass Claudine nicht gerne alleine flohpulvert. Die wäre sicher zu dir reingefaucht und hätte dann mitgekriegt, dass du wohl auf dem Dachboden bist."
"Wie hast du denn die Verschlusszauber der Luke geknackt?" fragte Laurentine. "Die gleiche inversee Logik, die dir beim trimagischen Turnier geholfen hat. Ich habe einfach einen eigenen Verschlusszauber auf die Luke gelegt und gewartet, bis meiner deinen aufgezehrt hat. Dann konnte ich meinen wieder zurücknehmen. Wenn Hera nicht der Meinung wäre, du solltest dich mit ihrer Nichte zusammentun würde ich dir das gerne beibringen. Aber womöglich hat meine werte Hebamme es deshalb ausgeschlossen, weil ich bis zum 18. Juli offiziell noch in Stillzeit bin und deshalb keine riskanten oder gar gefährlichen Zauberübungen machen darf", schnarrte Catherine.
"Ich habe mich doch gerade umgesehen. Wieso ... Autsch!" "Also, zu den Zaubern, die du eindeutig noch üben solltest, gehören die Enthüllung der unsichtbaren Wesen, der alle zwanzig Herzschläge von selbst wirkende Menschenfinder und falls jemand wie ich beide Zauber abblocken und umlenken können den Zauber Alertus Alienus, der im Umkreis von hundert Metern eine magische Beeinflussung des Raumes oder der Luft erfassen kann, wenn der auch wegen der Streuung nicht so präzise ist wie die beiden erstgenannten Zauber", sagte Catherine Brickston. Sie wirkte ein wenig ungehalten, was Laurentine sogar sehr gut verstehen konnte.
"Ich wollte dich nicht mit meinen Sorgen behelligen, die von Vita Magica oder Ladonna oder die Spinnenschwestern könnten mir dumm kommen,wenn ich in die Staaten reise", versuchte es Laurentine mit einer Rechtfertigung.
"Das ist dir unbenommen, nur weiß ich auch von meiner Mutter, dass die werte Dame, die mir bei den Geburten meiner Kinder half, da so ihre eigenen Vertrauensleute hat, denen sie gerne die eine oder den anderen anempfiehlt. Und ich weiß auch, dass sie nicht möchte, dass ich weiß, dass ihre Nichte Louiselle ihren exklusiven Schülerinnen auch solche Zauber beibringt, die ich als berufstätige Aufspürerin dunkler Artefakte und Wesen nicht bei jedem magischen Menschen wissen möchte. Gut, auch ihre Heilerstatuten verbieten es, jemandem jemanden zu empfehlen, der oder die einem auch destruktive Formen der Magie beibringt. Und ich verbitte mir gütigst im Namen eines weiteren gedeihlichen Zusammenlebens, dass du meinst, für mich mitdenken zu müssen, was mir zu viel wird oder wo ich besser nichts von wissen sollte. Du hast deine Privatsphäre und kannst deine Zeit mit dem verbringen, was dir wichtig oder erheiternd ist, Laurentine. Aber wenn du dich wirklich so darum sorgst, dass dir wer übel mitspielen kann, dann bin ich doch irgendwie traurig, dass du mich, die ich direkt unter dir wohne, nicht gefragt hast, ob ich dir helfen kann. Wie und wie viel Zeit ich dafür aufbringen kann oder will kann ich dir dann immer noch sagen. Aber jetzt hast du dich Heras Nichte als neue Schülerin anvertraut. Wie ich es von einigen anderen Ligakameradinnen gehört habe stellt sie gerne Aufgaben, um Zeitpunkt und Ort zu bestimmen, wobei mir der Ort schon längst bekannt war, bevor du dich auf diese waghalsige Selbstschrumpfung eingelassen hast. Offenbar hat sie deinen Ehrgeiz gekitzelt und kannte die Aufgaben des letzten trimagischen Turnieres gut genug, um dir eine nicht leichte, aber doch lösbare Prüfung aufzuerlegen."
"Öhm, ja, ich kann voll verstehen, dass dich das jetzt sehr traurig macht, dass ich nicht zuerst zu dir gekommen bin. Aber weil ich sowieso Hera als meine magische Heilerin ausgewählt habe, um von ihr was gegen ungewollte Empfängnis und ungewollte Entführungen nach Sonstwo abzukriegen habe ich sie halt gefragt, was ich da noch alles lernen kann."
"Du hast dabei garantiert auch gehört, dass du Louiselle nicht mit Galleonen bezahlen kannst, sondern mit von dir selbst gefertigten Sachen oder von dir erfundenen Zaubern, nehme ich an."
"Ja, da nimmst du richtig an. Öhm, sie schrieb mir, ich möge es wegen vermeidbarer Unstimmigkeiten nicht weitersagen, dass ich sie um diese Nachhilfestunden gebeten habe", fuhr Laurentine mit ihrer Erklärung fort.
"Gut, dann hast du mir das auch nicht erzählt. Ich sage dann dazu nur noch, dass ich weiterhin jederzeit für dich da sein kann, wie ich auch für alle anderen da bin, die mir lieb und wichtig sind, und ich hoffe sehr, dass du alles das lernst und erfolgreich steigern kannst, was du lernen kannst. Ich werde der guten Hera keine Vorhaltungen machen, solange ich nicht mitbekomme, dass du dich entweder körperlich oder seelisch überforderst oder merkwürdigen Ideen erliegst, du könntest von dir aus gegen Leute wie Vita Magica vorgehen. Ich behaupte jetzt mal, da auch im Namen von Geneviève Dumas zu sprechen, dass du für die Kinder von Millemerveilles sehr bereichernd und deshalb wichtig bist und dich deshalb nicht auf unbezahlte Husarenritte einlassen möchtest. Was ich definitiv sagen kann ist, dass Claudine sehr traurig werden würde, wenn dir was passiert. Gut, das wird sie noch mehr sein, wenn mir was zustößt, und ich begebe mich ja schon ziemlich oft in Gefahr. Doch sie muss sich ja nicht um uns beide gleichstarke Sorgen machen, oder?"
"Ich will weder dir, noch Claudine oder gar deiner Mutter weh tun, Catherine. Ich will nur, dass mir nichts zustößt und ich genug Sachen machen kann, ohne gleich jemanden umbringen zu müssen."
"Akzeptiert", sagte Catherine. "Wie erwähnt wird Hera nichts davon erfahren, dass ich deinen kleinen Ausflug gerade eben mitbekommen habe. Dann bleibt das unter uns beiden. Damit du nicht zwischen den Stühlen hängst erlaube ich es dir auch ohne von dir gefragt worden zu sein, zu ihr hinzugehen. Gut, meine Erlaubnis musstest du auch nicht einholen. Allerdings bin ich für das Haus hier hauptverantwortlich und damit auch für alles magische, was darin geschieht. Verstehst du das?" Laurentine nickte. Das war ja wohl der Grund Louiselles, sie um ihr Schweigen zu bitten.
"Gut, dann möchte ich dich jetzt noch mal fragen, ob du Claudine und mich in die Rue de Camouflage begleiten möchtest. Vielleicht fällt uns beiden dann auch noch ein, was wir ihr zum siebten Geburtstag schenken können."
"Ui, ist das auch schon bald wieder", stieß Laurentine aus. "Ich kann mich noch gut an das Alizée-Konzert letztes Jahr erinnern. Aber sowas in der Richtung bekam ich diesmal auch wegen der vielen Vertretungsstunden nicht hin. Das darf ich mir echt nicht leisten, Claudines Geburtstag zu verbummeln."
"Dann mach dich vielleicht noch mal frisch, zieh dir bitte was hexentaugliches über, und dann flohpulvern wir uns von mir aus ins Geschichtsmuseum. Öhm, heute Abend vor dem Schlafengehen kriegst du von mir noch einen kleinen Bernstein, der macht, dass du die Sachen, die wir gerade beredet haben, nicht unfreiwillig weitergeben musst. Die zwei netten Damen, die meinen, mir alle Last der Welt von den Schultern nehmen zu können, müssen das wirklich nicht wissen, dass ich ihr kleines Schloss gesehen habe."
"Öhm, und diese Robo-Falter, Transformer oder Mechanoiden oder wie immer?" fragte Laurentine. "dürften mich auch mit eingewirkten Wärme- und Ultraviolettsehvermögen genausowenig gesehen haben wie du mich. Aber jetzt klarmachen zum ausrücken, Mademoiselle!"
"Aye, Captain", seufzte Laurentine.
Der Ausflug mit den Brickstons war wirklich erholsam. Zumindest wusste Laurentine jetzt, dass sie trotz bisheriger Ehevermeidung oder gar ohne eigene Kinder noch ein Teil der Brickston-Familie war. Auch traf sie in der gut verborgenen Einkaufsstraße der französischen Zaubererwelt Céline Dornier mit ihren Kindern, die auch schon wieder um einiges größer geworden waren.
Wie Catherine erwähnt hatte gab sie Laurentine abends noch einen flachen Bernstein. Den hielt sie sich an die Stirn. Darauf hörte sie in ihrem Kopf: "Berge wohl alles was Catherine und du über Louiselle Beaumont besprochen habt und dass sie von deiner neuen Nachhilfe weiß. Berge wohl alles, was Catherine und du über Louiselle Beaumont besprochen habt und dass sie von deiner neuen Nachhilfe weiß."
Sophia Whitesand las die Antwort ihrer irischen Mitschwester Erin O'Casy, der fünf sehr alt aussehende Pergamente beigefügt waren.
Im Vertrauen darauf, dass du diese Unterlagen sorgfältig aufbewahrst oder sie mir nach der erbetenen Prüfung wieder zurücksendest überlasse ich dir diese Auszüge aus dem letzten Brief der Hexe Shania Moran, einer Erbin der damals als "Die beherzten Vier" bekannt gewordenen, die Garuthmont niederringenund seinen Geist in dessen eigenes dunkles Artefakt einsperren konnten.
Ich kann verstehen, dass die deutsche Mitschwester all zu gerne mehr über die in ihr Hoheitsgebiet verbrachten Unterlagen wissen möchte. Auch denke ich, dass die mit mächtigen Artefakten der hellen und dunklen Künste vertraute Mitschwester Gundula Wellenkamm mehr über die in ihrem Land bewahrten Aufzeichnungen weiß. Falls es nötig ist gestatte ich dir hiermit, die beigefügten Aufzeichnungen zu ihren Händen zu schicken oder sie ihr persönlich vorbeizubringen.
Bitte melde dich bei mir, wenn du näheres weißt oder sagen kannst, ob du mit den deutschen Mitschwestern die betreffenden Aufzeichnungen gefunden hast!
Sophia prüfte die beigefügten Schriftstücke zu erst, ob sie einen schlummernden Portschlüsselzauber enthielten. Dem war nicht so. Dann prüfte sie auf versteckte Ausführungsflüche oder andere Gemeinheiten. Sicher, Erin war eine eingeschworene Schwester und durfte ihr nichts tun oder zulassen, dass ihr was geschah. Doch muste sie sicherstellen, dass Erin nicht gänzlich unbewusst etwas verschickte, das ihr gefährlich werden konnte. Doch die fünf alt aussehenden Pergamente enthielten keine bösen Zauber und waren auch nicht mit einem Gift imprägniert. Dann verwendete sie den Zauber "Nunc luceto scriptum occultum!" Dieser war eine von ihren Bundesschwestern entwickelte Verbesserung des Apparetium-Zaubers und konnte auch mehrfach verborgene Schriften auf einen Schlag sichtbar machen, indem die Schrift einfach aufleuchtete. Doch der Zauber schlug nicht an. Also war kein Unsichtbarer Text darauf . Soweit also alles wie gesehen. Dann prüfte sie mit "Specialis Revelio", ob doch noch irgendwas besonderes den Pergamentseiten anhaftete. Dabei stellte sie fest, dass die verwendete Tinte irgendwie heller leuchtete als das Pergament, auf dem sie aufgetragen war. Bestand also eine Besonderheit in der Tinte oder dem Pergament? So prüfte sie mit dem Scriptorvista-Zauber, wie der Verfasser ausgesehen hatte. Doch der Zauber erzeugte für nur drei Sekunden eine bläulich flimmernde Nebelsäule. Gut, das sprach wiederum dafür, dass vom Zeitpunkt der Niederschrift bis zur Anwendung des Zaubers Mehr Zeit als ein Menschenleben vergangen war. Allerdings hätte sie dann nur einen unerleuchteten, für die kurze Zeit gleichmäßig bestehenden Dunstschleier heraufbeschworen. Merkwürdig!
Dann kam ihr die Idee, den von ihrem Vetter und ihr selbst gemeinsam entwickelten Zauber zur Bestimmung des wahren Alters eines Gegenstandes auszuführen. Mit dem Zauber, den sie keinem anderen verraten hatten, konnten sie damals vor siebzig Jahren gefälschte Unterlagen entlarven, die angeblich von Salazar Slytherin persönlich stammten und auf die sich einige Grindelwaldianer bezogen, um dessen Abstammung von ihm zu beweisen.Nachdem sie eine bis dahin unbezauberte Schreibfeder mit den entsprechenden Worten bezaubert hatte sprach sie "Connectato cum facto", eine Verbindung zwischen der Feder und dem ersten Pergament aus. Dann setzte sie die Feder auf ein leeres Pergament und schwang den Zauberstab von dem ersten Pergament zur Feder. "Anni veri obiecti notabuntur!" Die Schwierigkeit hierbei bestand, sich bei jedem Wort die vier Jahreszeiten in umgekehrter Folge als bezeichnende Bilder vorzustellen. Ihre übliche Abfolge war ein Schneemann, ein in leichtem Nebel stehender Baum, der gerade seine Blätter verlor, einem in heller Sonne liegenden Sandstrand mit mehreren Sonnenschirmen und die in voller Blüte stehenden Apfelbäume in ihrem Garten. Entsprechend bedächtig sprach sie die Worte dazu aus. Vom Pergament flogen erst wenige schneeweiße, dann Herbstlaubgoldene, dann sonnengelbe und dann frühlingsgrüne Funken zur bereitstehenden Feder. Diese erzitterte. Die Abfolge der Funken beschleunigte sich, bis ein weißgoldener, flirrender Lichtbogen zwischen Pergament und Feder bestand. Die Feder erzitterte dabei immer schneller und leuchtete im selben weißgoldenen Licht. Nach nur vier Sekunden erlosch der Lichtbogen mit leisem Piff. Die noch immer leuchtende Feder ruckte an und schrieb in einer einzigen Sekunde eine Zeile auf das Pergament. Sophia sah, wie die Feder sich wieder bereitstellte, um eine neue Zeile zu schreiben. So wirkte sie den Verbindungszauber mit dem zweiten Pergament und wiederholte die Anrufung, dass alle wahren Jahre niedergeschrieben wurden mit den entsprechenden Bildvorstellungen. Diesen Vorgang wiederholte sie dann bei den drei verbliebenen Pergamenten. Danach deutete sie auf die Feder und murmelte "Opus factum! Finis incantato!" Das goldene Licht aus der Feder entwich leise prasselnd als kleine Funkenwolke. Dann legte sie die Feder zu all denen, die sie schon mal wegen irgendwas bezaubert hatte und las, was auf dem Pergament stand:
Objekt 1: Pergament 8 wahre Jahre, Tinte 5 wahre Monate
Objekt 2: Pergament 8 wahre Jahre, Tinte 5 wahre Monate
Objekt 3: Pergament 8 wahre Jahre, Tinte 5 wahre Monate
Objekt 4: Pergament 7 wahre Jahre, Tinte 5 wahre Monate
Objekt 5: Pergament 8 wahre Jahre, Tinte5 wahre Monate
"Mädchen, du wolltest mich doch nicht wirklich veralbern", schnarrte Sophia Whitesand. Denn jetzt wusste sie, warum die Tinte eben so hervorgehoben geleuchtet hatte. Die Tinte war viel neuer als das Pergament, auf dem sie aufgetragen wurde. als wenn jemand ein Haar aus ihrer frühen Kindheit nehmen wollte, um mit Hilfe von Vielsaft-Trank als sie aufzutreten. Sie erkannte wieder, wie gut es war, dass sie den Altersprüfzauber nicht an die anderen Schwestern verraten hatte. Wissen war eben doch Macht. Doch mehr als diese Erkenntnis ärgerte sie, dass Erin O'Casy sie tatsächlich mit gefälschten Unterlagen hereinlegen wollte. Dass sie hierbei auch noch den geächteten Schnellalterungszauber Senectus citius verwendet hatte, der tote Gegenstände in einer halben Minute bis auf das zweihundertfache ihrer natürlichen Daseinszeit altern lassen und damit auch vernichten konnte und gegen Lebewesen verwendet eine beschleunigung der Alterung auf bis zu einem Jahr pro Tag bewirkte verärgerte sie noch mehr. Denn nur so hatte sie die Pergamente in den Zustand versetzt, dass sie uralt aussahen. Doch der Altersprüfzauber erfasste die tatsächliche Zeit, die ein Gegenstand in der vorgelegten Form existierte, was auch für benutzte Schreibtinte galt.
"Wolltest du mir vielleicht eine Falle stellen, Schwester Erin O'Casy?" dachte Sophia nur für sich. Natürlich konnte Erin so nicht hören, was sie fragte und würde ihr wohl sowieso nicht die Wahrheit sagen. Zu der Verärgerung kam nun auch Enttäuschung dazu, aber auch eine gewisse Besorgnis, dass da eine Mitschwester irgendwas anstellte, um vor allem der Stuhlmeisterin und damit am meisten zu achtenden Mitschwester übles anzutun? Das konnte sie doch nicht, selbst unter dem Imperius-Fluch nicht so ohne weiteres. Sophia las noch einmal die angeblich aus der Zeit kurz nach Christi Geburt stammenden Aufzeichnungen. Immerhin hatte sich Erin Mühe gegeben, die Schreibweise und Wortwahl der vorgetäuschten Zeit zu benutzen. Dann prüfte sie die dort erwähnten Ortsangaben. Ja, das mit dem Liffey-Fluss wusste sie auch schon aus im Laufe von Jahrzehnten erschlossenen Quellen. Aber der Liffey-Fluss durchquerte drei Grafschaften von seiner Quelle beim Mount Kippuere bis in die Bucht von Dublin. Falls der Stein in Dublin selbst versteckt war hätte sie es auf jeden Fall schon früher erfahren, vielleicht auch schon zu spät für manchen unschuldigen Menschen.
"Wollen wir doch mal sehen, wie weit du gehen wirst, Erin O'Casy",
Julius Latierre und seine Familie genossen die Feier zum ersten Geburtstag von Bertrand Dusoleil. Vor einem Jahr hatte seine Ankunft Sardonias mit dunkler Magie verstärkte Kuppel geschwächt, und es hatte Hoffnung bestanden, mit Lebensfreude, neuen Menschenleben und der stärker werdenden Kraft der Sonne dieses düstere Vermächtnis aus der Welt zu schaffen. Doch dann waren vier Kobolde und neun weitere Bürger zu Opfern dieser Hinterlassenschaft geworden, der sie sich früher alle so freiherzig anvertraut hatten. So musste erst Clarimonde auf die Welt kommen und es eine gemeinschaftliche Aktion entschlossener Hexen und Zauberer geben, um die verdunkelte Schutzglocke zu sprengen. Doch Bertrand hatte den hoffnungsvollen Anfang gemacht. Zwar war ihm das gerade nicht bewusst. Doch in zehn, fünfzehn oder zwanzig Jahren mochte er mit gewissem Stolz sagen, dass er zu den Kindern der Hoffnung gehörte.
"Die Italiener sind mittlerweile einverstanden mit Anfang Juli", erzählte Bruno Millie und Julius. "Und wir gehen da wieder hin und spielen den Pott wieder zu uns nach Hause, auch wenn der dann wohl wieder in Paris schlafen geht, statt hier in Millemerveilles zu bleiben", tönte Bruno Chevallier. César meinte dazu: "Ja, stimmt, und wir zwei kriegen das zusammen hin. Jetzt, wo ich es mit deinem Vater klar habe, wer die drei wann zu sehen kriegt und wann nicht, halte ich uns zumindest die drei Ringe sauber, dass wir beim Finale mitreden können."
"Das würde mich freuen", sagte Julius. Immerhin hatte er bei der Weltmeisterschaft in Millemerveilles mitgeholfen, dass die Stimmung außerhalb der Stadien fröhlich aber nicht unverschämt blieb.
"Und wie war das jetzt mit den Kanadiern, Millie. Zahlen die jetzt dieselbe Teilnahmegebühr wie die anderen oder weniger?"
"Also, soweit ich das mitbekommen habe, die Herren Rocher und Chevallier, hat der Quidditchweltverband es hingebogen, dass die Kanadier nur zwei Drittel der üblichen Teilnahmegebühren bezahlt haben und für den Zeitraum der WM keine Einfuhrzölle auf kanadische Zaubereiprodukte erhoben werden sollen. Aber ich bitte euch, das mit sehr großer Vorsicht zu genießen, was gerade so aus Italien kommt. Die sind echt voll in der Bedrängnis wegen Vita Magica und Ladonna Montefiori. Am Ende sagen der WQV und die IOMSS die Weltmeisterschaft noch einmal ab und der Pokal bleibt bis 2007 in Frankreich, bis die Weltmeisterschaft in Kanada stattfinden kann."
"Oh, da würde den ganzen Funktionären aber eine Menge Gold entgehen, Millie", sagte Julius. "Neh, das werden die sich nicht antun. Kann nur passieren, dass etliche Mannschaften sauer werden, weil die Kanadier so viele Trostpflaster kriegen. Sogesehen müssten ja dann auch alle anderen Mannschaften, die vorher von denen rausgeworfen wurden Schadensersatz in Form von Gebührennachlässen oder Einfuhrerleichterungen kriegen, darunter auch Frankreich. Doch dann, so befürchte ich als journalistischer Laie, bricht die ganze WM-Planung krachend zusammen, weil nicht genug Gold da ist, um auch die neue Ansprüche stellenden Mannschaften zu bezahlen."
"Wohl wahr. Wir könnten auch hingehen und auf einen Erlass der Teilnahme klagen, weil die Schummelcowboys uns derartig gnadenlos niedergebügelt haben", sagte Bruno. Dem pflichtete César bei, was Millie, Jeanne und Julius ein erstauntes wie erfreutes Lächeln abrang.
"Vielleicht wissen wir es Ende der Woche, wohin die Reise geht, auch was andere Auswirkungen von internationalen Verbrechen angeht", meinte Millie. Julius fragte sie vor allen hier, ob die in den Staaten jetzt endlich einen Termin hatten, wo alle Richter konnten. "Kriegt ihr alle morgen früh zu lesen, soll ich euch ausrichten", sagte Millie. Damit war dieses Thema für sie schon wieder erledigt. Jetzt ging es nur noch um Bertrand und seine am 29. Februar dazugekommenen Tanten. "Der wird die genausowenig Tante nennen wie ich Patricia, Esperance, Felicité und die Vierlinge als Onkel und Tanten anspreche", sagte Millie. "Aber immerhin hat er dann eine Menge Spielkameraden. Also genießen wir es, noch einmal einen ruhigen Geburtstag zu feiern." Jeanne lachte darüber und deutete auf die zwei schon laufenden Kinder der Latierres sowie Chloé Dusoleil, die fünftjüngste Tante des Geburtstagskindes.
"Also morgen dann bei euch zur nächsten Geburtstagsrunde", verabschiedete sich Bruno von Millie und Julius. Jeanne schloss sich dem Gruß an. Dann flogen die Gäste alle davon.
"Claudine kommt auch zu Aurores und Chloés Geburtstagsdoppelfeier. Erst isst sie bei uns zu Mittag", sagte Camille. "Dann sind wir erst mal bei uns. Dann geht's zum Apfelhaus."
"Schon abgedreht, von zweien am gleichen Tag Geburtstag feiern, die zwei Jahre auseinander sind", meinte Bruno dazu.
"Nicht wirklich so abgedreht wie vier Kinder, die am 29. Februar von derselben Hexe geboren wurden." Dem konnten die noch bei Brunos Familie weilenden Gäste nicht widersprechen.
Es war am zweiten Mai um kurz nach drei Uhr morgens, als Millie neben Julius aufstöhnte und dann unvermittelt irritiert um sich tastete. "O Mann, Monju, jetzt habe ich doch echt geglaubt, ich brächte Rorie gerade erst zur Welt. Dabei ist das echt schon vier jahre und zwei weitere kleine Pullerprinzessinnen her."
"Interessant, dass du uns zwei jetzt wach gemacht hast, Mamille. Um drei Uhr einunddreißig ist unsere Kronprinzessin vor vier Jahren auf die Welt gekommen. Das du das echt hinbekommen hast ist eine Glanzleistung", lobte Julius seine Frau.
"Das war mir sehr wichtig und bleibt's auch, Monju. Auch wenn mich außerhalb des Latierre-Stalls viele Hexen komisch angucken, weil ich eigene Kinder für wichtig halte sehe ich bis heute keinen Grund, da was dran zu ändern, und du findest es doch auch schön, dass du mehrere Leute um dich herum hast, die dich ganz doll lieb haben und du nicht ganz alleine suchen musst, wie es für dich weitergeht."
"Das stimmt auch, Mamille. Hätte nicht gedacht, dass mir das auch so wichtig ist, eine eigene Familie zu haben, auch wenn ich genauso komisch angeguckt werde, dass ich mit gerade mal knapp 22 Jahren schon drei Kinder habe, wo andere gerade mal Übungsrunden fahren, um zu gucken, ob sie den Herstellungsprozess hinkriegen."
"Apropos, wann genau möchtest du das mit mir durchgehen, ob diese Mondschwestern uns echt dazu verdonnert haben, dass wir nur Töchter kriegen, wenn wir nicht mehr als zwölf Jahre warten?" fragte Millie.
"Ich denke nach der Willkommensfete für Kevins kleinen Sohn", sagte Julius.
"Dann kriegen wir ja raus, ob du echt nur geträumt hast oder ob da was dran ist. Ich habe ja auch komische Träume gehabt. Die wolltest du dir ja auch mal ansehen." Julius bestätigte das. Dann sah er auf seine Uhr: "Jetzt genau ist sie vier Jahre auf der welt, unsere kleine Prinzessin Morgenrot", sagte er feierlich. Da quängelte es. Doch das war nicht Aurore, sondern Clarimonde, der jüngste Sonnenschein im Apfelhaus. Zwar war sie auch nicht immer ruhig und niedlich. Aber sie war das pralle Leben, etwas, wofür es sich gelohnt hatte, mit des Teufels Braut persönlich ins Duell zu gehen, dachte Julius.
ENTSCHEIDUNG AM 10. MAI - VERTRAG MIT VITA MAGICA WEITERHIN BINDEND ODER NICHT?
Wie ich von unseren Partnern bei der Stimme des Westwindes erfuhr wird der seit Monaten geforderte Gerichtsprozess zur Gültigkeit des Vertrages zwischen dem US-amerikanischen Zaubereiministerium und der höchst umstrittenen Interessensgemeinschaft Vita Magica am 10. Mai dieses Jahres vor dem Zwölferrat der magischen Richter im Beisein des Zaubereiministers selbst, sowie Vertretern der klagenden Parteien wie dem Vorsitzenden der Interessensgemeinschaft später Väter ohne ausdrücklichen Kinderwunsch (IsVoaK), sowie der ehemaligen Ministergattin Argentea Dime, als auch der Gemeinschaft ungewollt Mutter gewordener Hexen (GumgH), vertreten von Nancy Unittamo, in den Räumlichkeiten des neuen Zaubereiministeriums bei Washington DC stattfinden. Mehrere Hundertschaften von Sicherheitszauberern und -hexen wollen dafür sorgen, dass diese Verhandlung ungestört und unbeeinträchtigt stattfinden kann. Da die erwähnte Gruppe Vita Magica es bisher nicht für angebracht oder gar notwendig hielt, eine Abordnung sich dazu bekennender Hexen und Zauberer und/oder einen offiziell für sie eintretenden Rechtsbeistand zu benennen, obwohl Minister Buggles allen offen dafür eintretenden Aktivisten freies Geleit hin und zurück zugesagt hat, wird es wohl eine ziemlich einseitige Verhandlung werden. Sicher, es werden viele Zeugen gehört, Beweise vorgelegt und die bereits erörterten Punkte des umstrittenen Stillhalteabkommens auf Ursprung und Bestand geprüft. Doch dürfte jetzt schon ziemlich sicher sein, dass wenn der Vertrag als magisch bindend bestätigt wird, das Zaubereiministerium der vereinigten Staaten von Amerika einen weiteren herben Rückschlag im internationalen Ansehen hinnehmen muss, nachdem es sich seit August beharrlich weigert, die Beteiligten an dem großen magischen Betrug während der Quidditchweltmeisterschaft strafrechtlich zu belangen, weil deren Anwälte die alleinige Schuld auf die immer noch verschwundene Phoebe Gildfork abgewälzt haben. Gerüchte, die davon sprechen, dass die von allen sportlichen Wettbewerben ausgeschlossenen Mitglieder der US-Nationalmannschaft als Ministeriumsmitarbeiter zur besonderen Verwendung eingezogen wurden konnten nicht bestätigt werden. Das Zaubereiministerium hüllt sich auch hier in Schweigen.
Sollte am 10. Mai oder den Tagen danach höchst richterlich geurteilt werden, dass es sich bei dem Stillhalteabkommen nur um beschriebenes Pergament ohne magische Bindung handelt, könnte dem Ministerium eine wesentlich höhere Schadensersatzforderung aller durch die ungewollten Schwangerschaften beruflich, gesellschaftlich und geldlich beeinträchtigten Hexen und Zauberer drohen. Die Kollegin vom Westwind, Mrs. Linda Latierre-Knowles, hat während der letzten Pressekonferenz vor dem angesetzten Prozesstermin gefragt, ob Minister Buggles deshalb wünscht, der ihm noch vorliegende Vertrag sei bindend, um seine eigene Position zu sichern. Minister Buggles tat diese Frage mit einem harschen "Sie glauben ja mittlerweile alles, was sie hören" ab. Dabei geht es nicht darum, wer was hört, sondern wer was und warum sagt, Minister Buggles. Jedenfalls gilt in jedem anderem Land der Erde, dass die Tätigkeiten von Vita Magica Verbrechen an der Freiheit und der körperlichen Unversehrtheit magischer Bürger unter Ausnutzung von Magie sind und die sich in anonymen Bekundungen ergehenden angeblichen Führungsmitglieder dieser Gruppierung immer noch darauf beharren, dass die magische Menschheit nur durch erhöhte Geburtenraten mit der ohnehin schon explosionsartigen Vermehrung nichtmagischer Menschen mithalten kann. Was explodierende Geburtenzahlen angeht durfte oder musste Frankreich ja zwischen Februar und Mitte April ja einiges aushalten, was die magische Menschheit dort in den kommenden Jahrzehnten beschäftigen wird.
So gilt denn auch der hier in den Staaten anberaumte Prozess als mögliches Vorbild für Länder wie Frankreich, ob es rechtlich statthaft und moralisch vertretbar ist, die unbekannten Mitglieder einer ganzen Gruppierung in Abwesenheit zu verurteilen. Hierzu sagte der Leiter der Strafverfolgungsbehörde des Zaubereiministeriums Frankreich: "Wenn wir nichts machen machen die uns lächerlich, handlungsunfähig und vor allem unglaubwürdig. Welcher böswillige Magier oder welche hinterlistige Hexe wird dann noch Angst vor dem Zaubereiministerium und seinen Gesetzen haben müssen, wenn Vita magica mit ihrem Dauerirrsinn weiter durchkommen." Hierzu muss erwähnt werden, dass Monsieur Chevallier selbst zu den Opfern dieser Machenschaften in Frankreich gehört und verständlicherweise aufgebracht ist.
So blickt die Welt in acht Tagen nach Washington DC, wo vielleicht ein wichtiges Kapitel Zaubereigeschichte geschrieben wird.
GL
Aurore freute sich, wieder alle um sich rum zu haben, die mit ihr ganz gut klar kamen, und dass sie wieder ihren Burtstag hatte, der machte, dass sie nun noch ein bisschen größer war und jetzt eins, zwei, drei vier weiße Kerzen auspusten durfte. Sogar die Tante Rora aus dem Land mit den grünen Känguruhs war mit der Kleinen Rosey gekommen. Die durfte dann eine Nacht hier im runden Apfelhaus schlafen. Sie hörte die Leute, die ihr alles gute wünschten und freute sich schon auf das Geschenkeauspacken.
Chloé hatte ja auch heute ihren Größerwerdetag. Die kam dieses Jahr auch in die Schule, um Lesen, schreiben, Zusammenzählen und all das ganze Zeug zu lernen, was die Großen brauchten. Sie konnte schon ihren namen Schreiben, nicht nur groß malen, sondern so klein schreiben wie die Großen das machten.
Als dann das große Geschenkeauspacken losging freute sich Aurore über ein ganz ihr gehörendes Holzstab-Klingding, das ihre Maman und ihr Papa irgendwas mit Ylxofon nannten. Mamans Cousinen Callie und Pennie zeigten ihr, wie mit diesem Holzklang-Klingding richtig schön Musik gemacht werden konnte. Für Aurores Maman war das wichtig, dass sie nicht nur Krach auf den Musiksachen machte, und sie fand das ja auch ganz schön, wenn alle zusammen Musik machten und das auch schön klang.
Das war sowieso ganz lustig gewesen. Denn erst hatten ihre Maman und ihr Papa zusammen mit Tante Trice ihr ein Lied gesungen. Dann hatten sie Frühstück gegessen, wo sie schon richtig leckere Croissants mit ihrer Lieblingsmarmelade drin kriegen durfte. Dann waren sie alle auf den Besen zu Chloés Maman und Papa hingeflogen und hatten da bis zum Mittagessen gefeiert. Chloé hatte da ihre eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs Kerzen auspusten dürfen. Dann nach dem Mittagessen waren sie alle wieder zum runden Apfelhaus hingeflogen, um ihren vierten Größerwerdentag zu feiern.
Goldschweif und Dusty kamen auch mal raus und guckten die alle an, die gerade feierten. Goldschweif hatte wieder einen dicken Bauch, weil da neue Knieselkinder drin wohnten, wie damals Chrysie und Clarimonde im Bauch von Maman gewohnt hatten und wie Chloé im Bauch ihrer immer lustigen Maman gewohnt hatte.
"Ah, Goldie, möchtest du meiner ersten Tochter auch Glückwunsch sagen?" sagte Aurores Papa und streichelte die silbergraue Knieselkatze mit dem goldenen Schwanz. Goldschweif ließ sich von Aurore ganz vorsichtig streicheln und machte dieses Schnurrgeräusch, weil ihr das gefiel. Dann ging sie wieder weg. Dusty wollte aber wohl was essen. Der lief immer so, dass er bei denen war, die gerade was zu Essen hatten. "Dusty, nicht betteln. Das machen nur verwöhnte Hunde, keine selbstbewussten Knieselkater", meinte Aurores Maman und stupste ihn mit Husch- und Hui-Lauten weg.
"Der braucht kein Fortpflanzungsgas von Vita Magica", lachte Jeannes Mann Bruno. "Wie viele hat er jetzt in den letzten zwei Monaten noch mit neuen Jungen beladen?" fragte er noch.
"Genug um ihm bald ein eigenes Königreich zu geben", meinte Aurores Papa dazu. Da mussten die großen lachen.
Nach dem Abendessen durfte Aurore denen allen Wiedersehen sagen, die nicht in Millemerveilles zu Hause waren. Dann ging es noch kurz rüber zu Chloé, die jetzt auch ihre Geschenke ausgepackt hatte und von ihrem Opa Tiberius ein Tröt-Trompetending gekriegt hatte. Das war lauter als das Holzklingding. Aber die Großen fanden das wohl nicht so toll, weil Chloé jetzt laute Musik machte. "Chloé, denke bitte an die Kleinen, die müssen länger schlafen als du", hörte Aurore Chloés maman sagen. Es klingt nicht böse oder nicht lustig. Aber Chloé machte was ihre Maman sagte.
"Irgendwie müssen wir das demnächst anders machen", sagte Aurores Papa. "So gern die zwei zusammen sind, so ungern feiern die zwei am selben Tag Geburtstag."
"Ist wohl leider richtig", sagte Chloés Maman, Aurores Tante Camille.
Als die Uhrzeiger so standen, dass es neun Uhr war war Aurrore müde genug, um nach dem aufregenden langen Burtstag endlich ins Bett zu wollen. Das Feste Feiern machte ihr richtig Spaß. Bald wollten sie auch Claudines Größerwerdetag feiern. Sie ging noch mit ihrem Papa und Tante Rora in eins von den Besucherzimmern und sagten ganz leise der Rosey Gute nacht. Dann war Aurore endlich fertig, um selbst schlafen zu gehen.
IST DAS SCHON WIEDER SO LANGE HER? JETZT IST JULIUS' ERSTE TOCHTER AUCH SCHON VIER GANZE JAHRE AUF DER ERDE. ZWISCHENDURCH BEKOMME ICH JA MIT, WAS MILLIE UND ER SEHEN UND HÖREN. EIGENTLICH HÄTTE ICH DA JA AUCH HINGEHEN KÖNNEN. ABER DIE KLEINE CLARABELLA SOLL NICHT ALLEINE SEIN. ICH BIN JEDENFALLS FROH, DASS ICH MITBEKOMMEN KANN, WAS MIT JULIUS UND SEINEN GELIEBTEN BLUTSVERWANDTEN GESCHIEHT. ICH WEIß ABER, DASS ER SICH SORGEN WEGEN ASHTARIAS WUNSCH MACHT. ICH VERSTEHE SIE ZWAR GANZ GUT, WEIL ICH DOCH MITBEKOMME, DASS DIE HOHEN KRÄFTE SICH IMMER WIEDER AUFSCHAUKELN. DOCH WENN DIE VEREHRERINNEN DER KLEINEN HIMMELSSCHWESTER DAS SO BESCHLOSSEN HABEN, DASS WER VON IHNEN GESEGNET WIRD ERST NUR TÖCHTER HABEN DARF, DANN WIRD DAS SCHWER SEIN, DA WAS GEGEN ZU MACHEN. NUR IST DIE FRAGE: GILT DAS FÜR JEDEN DER BEIDEN EINZELN MIT DEN TÖCHTERN ODER AUSDRÜCKLICH, WENN SIE BEIDE NEUE KINDER HABEN WOLLEN? GUT, DEN GEDANKEN, DEN ICH JETZT HABE GEBE ICH BESSER NICHT AN DIE ZWEI WEITER. DOCH ASHTARIA KÖNNTE ICH ES ZUTRAUEN, DASS SIE DARAUF HOFFT, NUR UM DEN EINEN GETÖTETEN NACHKOMMEN ZU ERSETZEN.
DIE ANDEREN IN MEINER NEUEN VERTRAUENSGEMEINSCHAFT SCHLAFEN SCHON. ICH BLEIBE NOCH SOLANGE WACH, BIS MILLIE UND JULIUS AUCH SCHLAFEN. SOLLTEN SIE IN IHREM SCHLAFLEBEN WIEDER WAS ERFAHREN, WAS SIE VERWIRRT, HOFFE ICH, DASS ICH DAS MITBEKOMME UND IHNEN HELFEN KANN.
Ich bin froh, dass Sternenstaub noch genug andere Weibchen findet, die in Stimmung sind und seine Jungen kriegen wollen. Immer wenn ich neue Klopfer im Bauch habe ist der so übereifrig zu mir. Der will nicht, dass den Kleinen was passiert. Doch ich kann die schon großfüttern.
Die sind alle fröhlich, aber die haben auch irgendwie Angst. Das ist nichts was gleich gefährlich wird. Aber die ausgewachsenen Menschen sind so, als müssten sie bald gegen wen kämpfen. Dabei ist die neue große Kraftdecke, die über uns alle singt, doch ganz lieb und stark zugleich, nicht so brummig wie die Kraft davor, die dann sogar richtig böse gemacht hat und Sternenstaub und ich deshalb wohl viele Sonnenaufgänge nicht mitbekommen haben, damit wir nicht deshalb ganz wild und unruhig werden.
Jetzt ist das erste Jungweibchen, was Millie und Julius gemacht haben in seiner Schlafhöhle. Ich höre die beiden noch mit Trice, die bei denen mitwohnt und der anderen Mutter mit dem kleinen, aber merkwürdig klingenden Weibchen über den Tag reden, als Aurore aus Millies Bauch gekommen ist. Ja, das weiß ich auch noch ganz genau, wie das war und dass Sternenstaub da schon gemeint hat, mich bespringen zu können, obwohl ich da noch nicht in Stimmung war. Oh, Sternenstaub hat wohl noch ein Weibchen gehört, das in Stimmung ist. Ich kriege erst mal seine vier neuen Klopfer als meine Junge. Dann ist mir das sowieso gleich, wer von dem noch alles Junge kriegt. Da sind wir Vierbeiner echt besser dran als die Zweibeiner, die das immer sooo wichtig finden, immer mit dem oder derselben neue Junge zu machen, weil die Weibchen beim Gebären so lange brauchen und denen das noch mehr weh tut als mir oder Lauretta, wenn wir vier Junge kriegen. Gut, Sternenstaub macht neue Junge. Ich such was für mich und die, die noch in mir drin sind.
"Wenn Camille nicht gerade das ganze Haus voll Verwandte hätte hätte sie dich sicher bezirzt, bei ihr zu übernachten", meinte Julius zu Aurora Dawn, als die den Gastgebern noch beim Aufräumen half. "Ihr Vater ist ja mit Camilles Bruder Emil und dessen Sohn Argon im Haus. Da hat sie doch wirklich genug Gäste", sagte Aurora Dawn.
"Ja, und jetzt habe ich auch wegen Chloé endlich mal den ganzen weit zurückreichenden Stammbaum von Camilles Ahnen außerhalb des Eauvive-Clans gesehen", meinte Julius noch. Er hatte sich schon immer gefragt, woher Tiberius den Nachnamen Odin hatte. Den hatte er und damit auch Melanie von einem norwegischen Zauberer, der mit den ersten Normannen im neunten Jahrhundert nach Frankreich gekommen war. Wie einst Julius Cäsar hielt der sich für einen echten Göttersohn. In dem Fall behauptete er, der Sohn des nordischen Göttervaters Odin zu sein, weshalb der bei seiner Einbürgerung diesen Namen als Nachnamen angegeben hatte. Somit hatten Camille und ihre Kinder echtes Wikingerblut in den Adern, oder vielleicht auch Walkürenblut. Das passte zu gerne durch die Luft reitenden Frauen besser.
"Sagen wir es mal so, ich bin froh, dass ich Rosey gut durch die ersten Monate bekommen habe und dass wir zwei immer noch mehr Spaß als Ärger miteinander haben", antwortete Julius' australische Wegführerin in die Zaubererwelt. "Aber ich muss jetzt nicht unbedingt in einem Haus mit gleich vier ganz kleinen Kindern wohnen. Da meine ich immer als Heilerin zu sein und nicht als gute Freundin. Es ist aber schön, dass ihr immer noch gut mit den Dusoleils auskommt."
Julius verstand, was Aurora Dawn meinte. Und dass das so war verdankte er wohl Ammayamiria und somit auch Ashtaria. Millie sah es wohl ähnlich.
"Und eure Minister wollen sich Mitte Mai oder anfang Juni noch treffen, bevor es die Neuauflage gibt?" fragte Aurora.
"Ob das wirklich so gut ist, dass es da noch mal losgeht", grummelte Julius. Dann bat er die in England geborene Hexe, die seit ihrer Schulzeit in Hogwarts in Australien lebte und als Heilerin arbeitete zusammen mit Millie und Béatrice in den als Dauerklangkerker bezauberten Arbeitsraum. Dort erzählte er ihr, was Linda Latierre-Knowles ihnen erzählt hatte.
"Nett, Julius und Millie. Aber solange sie das nicht öffentlichkeitstauglich beweisen kann weiß ich nicht, wie ich es Ministerin Rockridge erzählen soll. Immerhin soll der Spielplan wieder der sein wie vor einem Jahr, nur dass die Kanadier statt der US-Amerikaner mitspielen", erwähnte Aurora.
"Ich gebe dir völlig recht, Aurora. Solange wir keine klaren Hinweise außer einem magisch mitgehörten Gespräch haben können wir da nicht viel machen, außer unseren Leuten zu raten, aufzupassen", sagte Béatrice Latierre. Dem mussten alle zustimmen. Es war wirklich schon schlimm, mehr zu wissen als die anderen und nichts damit anfangen zu können.
Um Halb Zwölf waren sie dann alle müde genug, um auch schlafen zu gehen.
Irgendwie war ihr die Sache doch nicht so ganz geheuer. Nicht weil Catherine es doch mitbekommen hatte, dass sie sich mit Louiselle Beaumont treffen wollte, sondern weil es schon stimmte, dass sie sich einer bisher ganz unbekannten Hexe auslieferte, die eindeutig mehr drauf hatte als sie, Laurentine Hellersdorf. Aber sie vertraute Hera Matine und wollte sie auch nicht vor den Kopf stoßen, nachdem sie sie ja ausdrücklich gebeten hatte, ihr den privaten Zusatzunterricht klarzumachen.
Sie erreichte die Gegend, in der das kleine Schlösschen stehen sollte, das laut Catherine keinen Flohnetzanschluss hatte, und in das nur reinapparieren konnte, wer mit ihrem Blut darauf abgestimmt war.
In Laurentines Kopf flackerten immer noch die fröhlichen Bilder von Aurores viertem Geburtstag. Falls Louiselle sie legilimentierte oder das versuchte konnte sie diese Bilder abschöpfen und wusste dann, wem sie alles wichtig war und wer ihr alles wichtig war. Auch das machte ihr ein wenig Sorgen. Doch wenn diese Hexe ihr helfen konnte, nicht von unter Drogen stehenden Burschen durchgewalkt zu werden oder selbst auf wen scharf zu sein, den sie sonst nicht mal mit der Kneifzange anfassen würde, musste sie echt mehr Abwehrzauber und Aufspürzauber können. Immerhin hatte Julius ihr einen dieser Antiportschlüssel besorgt. Den trug sie schon diebstahlsicher am linken Fußgelenk unter ihren hellblauen Strümpfen. Hoffentlich kam Mademoiselle Beaumont nicht auf die Idee, dass sie alles bezauberte abzulegen hatte. Denn dann hatte sie eine heftige Entscheidung zu treffen: Mehr starke Abwehrzauber oder eine höhere Sicherheit vor Entführungsversuchen?
Die Zeiger ihrer Uhr standen gleich auf der von ihr ergründeten Stellung. Sie landete auf einer Waldwiese in der Nähe der Rhone. Doch von einem kleinen Schloss mit vier Türmchen sah sie nichts. Oder war es ein anderes Haus, in das sie sollte? Am Ende rief Louiselle ihre Privatschülerinnen an verschiedene Orte, damit sie sich nicht über den Weg liefen. Diskretion war schließlich alles.
Laurentines Armbanduhr zeigte nun zehn Minuten nach neun. Das alte Feuer, dass zur nährenden Mutter heimkehrt war schon vor etlichen Minuten verschwunden. Doch immer noch schimmerte ein graues Licht im Westen: Bürgerliche Dämmerung nannten sie diesen Übergang von Tag zur Nacht. Danach kam die nautische Dämmerung, bei der noch mehr Sterne am Himmel zu sehen waren und schließlich noch die astronomische Dämmerung, wo kein Funken Streulicht von der Sonne mehr über den Himmel geisterte.
Es war, als würde jemand einen riesigen, unsichtbaren Reißverschluss vom Himmel her nach unten auseinanderziehen. Erst als senkrechter Strich, dann regelrecht in die Landschaft hineinquellend formte sich ein Bild, das Bild jenes Schlosses, das Laurentine gestern als magischen Modellbausatz zusammengesetzt und in Mausgröße betreten hatte. War das echte Schloss ebenso? Es gab kein Erdbeben, keinen übermäßigen Wind, als das kleine Schloss in die Landschaft hineinwuchs. Der ganze Vorgang dauerte nur zehn Sekunden. Als nichts neues mehr nachwuchs sah Laurentine auf das Portal. Diesmal musste sie sich nicht einschrumpfen. Sie saß auf ihrem Besen auf und flog die letzten fünfzig Meter zum Portal. Dort landete sie. Kaum berührten ihre Füße den Boden schwangen die beiden wuchtigen Türflügel auf. Erst dachte Laurentine an die Statue von gestern. Doch hinter dem Portal stand eine Frau, so um die zwanzig Jahre älter als sie selbst, schön schlank, mit bis auf den Rücken wallenden schwarzbraunen Haaren. Die andere stand da in ihrem jadegrünen Umhang und blickte die vor dem Portal stehende mit ihren tiefgrünen Augen an. Laurentine fragte sich gerade, wie sie überhaupt die Farben so klar sehen konnte. Denn hinter der anderen war kein Licht zu sehen, und der Mond gab nicht genug Licht her, um Farben leuchten zu lassen. Die Frage wollte sie ihr gleich stellen, wenn sie sie persönlich traf. Die andere Winkte ihr zu, sie möge doch endlich hereinkommen.
Laurentine gab sich den entscheidenden Ruck und ging auf das Portal zu. "Laurentine Hellersdorf, ich grüße dich. Tritt ohne Scheu und Argwohn über meine Schwelle und komm herein!" grüßte die andere. Ja, das war genau diese mittelhohe Stimme, die Laurentine gestern bei den Prüfungsaufgaben gehört hatte. So ähnlich hatte auch die dem Zauberklo zugeteilte Stimme geklungen, nur ein wenig weicher gestimmt. Dann dachte Laurentine an diese ausführliche Einladung. War das bei "Dracula" nicht auch so, dass ein Vampir ausdrücklich eingeladen werden musste, um ein Haus betreten zu können? Egal, sie war eingeladen worden. Also überquerte sie die fünf Zentimeter hohe Türschwelle aus dunklem Stein. Laurentine konnte flüchtig einige Runen darin grün aufleuchten sehen. Also durchdrang sie gerade eine unsichtbare Barriere.
"Guten Abend, Mademoiselle Beaumont. Ich bedanke mich für Ihre Einladung und die Zeit, die Sie für mich erübrigen möchten", grüßte Laurentine.
"Ich freue mich, dass eine sehr talentierte junge Hexe mir das Vertrauen schenken möchte, von mir in weiterführenden Abwehrzaubern unterrichtet zu werden", sagte die rothaarige Hausbewohnerin. Dann schloss sich das Portal hinter Laurentine. Sie hatte ein Déjà-Vu-Gefühl, als sie das dumpfe Zusammenschlagen und die sich selbst vorschiebenden, unsichtbaren Riegel hörte. Jetzt wusste sie, dass sie ohne die Erlaubnis der anderen nicht hinauskam. Spätestens jetzt war sie dieser Frau in Jadegrün ausgeliefert. Sie musste sich darauf verlassen, dass Heras Vertrauen gerechtfertigt war.
"Du wunderst dich, dass ich dich persönlich anspreche, wo du damit gerechnet hast, dass wir auf förmlicher Ebene miteinander auskommen mögen. Aber ich habe gelernt, dass es mit zu viel Förmlichkeiten eher Hemmungen gibt, auch bei nötigen Aussprachen. Deshalb erlaube ich dir, ja erbitte ich es von dir, dass du mich auch beim Vornamen und mit Du ansprichst. Gemäß dem durch die Prüfung und das zwischen uns im Brief verbundene Blut geschlossenen Kontrakt von heute bis zum 29. Mai werden wir uns sehr intensiv miteinander befassen. Ich werde von dir lernen, was ihr in Beauxbatons heute alles für wichtige Abwehrzauber gelernt habt und du lernst von mir das, was euch die gute Blanche Faucon oder ihr heroischer Nachfolger aus Gründen des Zeitdrucks, der Moral oder anderer Motive nicht beibringen konnte oder wollte."
"Das heißt, ich muss auch lernen, anderen weh zu tun. Öhm, aber der Cruciatus ist doch verboten."
"Ja, weil er zu leicht zu viel unbändigen Schmerz bereiten kann, der in den Wahnsinn treiben kann. Abgesehen davon ist er gegen Menschen verboten, gegen kleine Tiere oder böswillige Zauberwesen unterhalb der Jardinane-Grenze nicht."
"Das hieße, wenn ich einen Zwerg oder Kobold mit dem Cruciatus-Fluch angreife kann ich nicht bestraft werden?" fragte Laurentine. Das wäre ja echt neu.
"Doch, das schon, wegen mutwilligen Angriffes auf ein denk- und empfindungsfähiges Wesen. Aber du kämst dafür nicht lebenslang ins Gefängnis, sondern nach Hierarchiestufe des Fluchopfers gerechnet. Den Zwergenkönig anzugreifen oder einen der Graubärte aus dem Ältestenrat der Kobolde könnte dich genauso lebenslang ins Gefängnis bringen, weil der Frieden zwischen denen und uns sonst zerbricht. Abgesehen davon wäre es in dem Fall sogar eine Form von Schutzhaft, damit die vergeltungswütigen Untergebenen des Betroffenen dich nicht massakrieren. Die Muggel nennen das wohl lynchen." Auch das begriff Laurentine auf Anhieb.
Gerade bogen sie in einen weiteren Gang ein, der mit silbern- und ebenholzgerahmten Gemälden geschmückt war. Laurentine sah vor allem viele Hexen in wallenden Kleidern, aber auch Frauen in silbernen und goldenen Rüstungen mit hellblonden Haaren. Die Rüstungen waren eindeutig für Frauen geschmiedet, erkannte die neue Adeptin von Louiselle Beaumont.
"Ah, natürlich kuckst du dahin, wenn wir durch die Amazonengalerie gehen. Einige meiner Vormütter kamen aus Kleinasien und beriefen sich darauf, von diesem Volk abzustammen, das vor allem erfolgreiche Kriegerinnen hervorgebracht haben soll. Aber ich vertraue einem Zauberstab doch mehr als einem Schwert, und ein anständig eingerittener Besen oder ein unter der Hand ins Land gebrachter Flugteppich ist zuverlässiger als so ein nervöses Pferd, nicht wahr Tiggie?"
"Wie oft habe ich der Stabträgerin und Hecatestochter schon gesagt, dass ich Antigone heiße und nicht Tiggie", erwiderte die angesprochene gemalte Frau in goldener Rüstung. Laurentine ertappte sich dabei, wie sie auf die Ausmaße der Rüstung am Oberkörper blickte, als wäre sie keine junge Frau, sondern ein voll in der Pubertät dahinwirbelnder Pickelbubi.
"Antigone, angeblich die Urmutter meiner mütterlichen Ahnenlinie, von der auch meine Urgroßmutter desselben Namens abstammt", sagte Louiselle. Laurentine war schon drauf und dran zu fragen, wieso sie dann einen voll französischen Vornamen trug. Doch vielleicht ergab sich später eine bessere Gelegenheit.
"So, da gehen wir beide jetzt rein, suchen uns eine Kabine aus, legen alles Ab, was kein Zauberstab ist und schließen es in den mit geistigem Passwort verriegelbaren Schrank ein!" sagte Louiselle unvermittelt, als sie die weiße Tür zu einem Badezimmer öffnete. Laurentine erkannte nun, dass das Modellschloss gestern doch keine identische innenausstattung besaß.
"Öhm, alles wie Kleidung, Schmuck und Schutzartefakte?" fragte Laurentine.
"Meine Großmutter, meine Mutter und ich, wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, begabte Hexen zu unterrichten und dabei so natürlich und gleichwertig wie möglich miteinander aufzutreten. Du suchst dir eine Kabine aus, lässt noch einmal alles unter dir, was nicht mehr bei dir bleiben will, ziehst alles aus, auch das kleine stark mit der Erde wechselwirkende Fußkettchen, sofern es dir nicht von einem angelegt wurde, der es nur auf seine Hände abgestimmt hat. Hier in diesem Haus können keine Portschlüssel ankommen oder verschwinden. Ich habe da mehrere Schutzzauber gegen."
"Öhm, Portschlüssel?" tat Laurentine überrascht, um ihre Ertapptheit zu überspielen. "Na, das fangen wir nicht schon jetzt an. Die Türschwelle, die dich nur auf Grund meiner Einladung hereingelassen hat, konnte alle an und in dir wirkende Magie erfassenund hat es mir über das Geflecht von Meldezaubern mitgeteilt, dass du offenbar zu den Begünstigten gehörst, die einen dieser an sich sehr praktischen Portschlüsselabweiser bei sich tragen. Meine Tante Hera war schon mal mit so einem Schmuckstück bei mir, auch um zu ergründen, ob und wie meine Schutzzauber es erkennen. Deshalb wurde dein Portschlüsselabweiser auch gleich als solcher angezeigt. Wenn du mir wirklich vertrauen möchtest, dann vertrau mir bitte auch dahin, dass ich nicht zulassen werde, dass diese Hexenschänderbande dich aus meinem Haus heraus verschleppt. Außerdem wäre mir das sowieso schon peinlich." Sie sah Laurentine mit einer Mischung aus strenger Lehrerin und irgendwie schalkhaftem Schulmädchen an. Eine derartige Mimik kannte Laurentine bisher nicht.
"Gut, da Madame Matine weiß, dass ich mit dir Kontakt bekommen habe kann ich sicher nicht verschwinden, ohne dass sie dich fragt, wohin."
"Stimmt, das müsste ich ihr dann wohl erklären und womöglich auch meinen Ligakameradinnen Blanche Faucon und Catherine Brickston. Ja, ich weiß, du wolltest es ihr nicht erzählen. Aber die kleinen Überwachungszauber im Modellschloss haben den Verschlusszauberkonter von ihr erfasst und ihre Verhüllungsaura ebenso erfasst. Da ihr Mann sowas nicht kann und Claudine auch noch zu jung dafür ist war sie es nur. Das kann passieren, wenn zwei auf ihre Sicherheit bedachte Hexen einander über den Weg laufen. Das ist nicht deine Schuld." Peng! Schon wieder hatte diese Hexe Laurentine kalt erwischt. Erst das mit dem ganz ausziehen, dann mit dem Antiportschlüssel und jetzt auch, dass sie ihr ansatzlos vorknallte, dass sie das mit Catherine dochmitbekommen hatte.
Derartig verwirrt von solch direkter und knallharter Offenheit zog sich Laurentine in eine der vier weißen Kabinen zurück, wo ein halbhoher Schrank und ein blitzblankes Wasserklosett bereitstanden. Laurentine fragte sich, ob dieses Klo auch mit ihr Informationen austauschte. Doch weil sie die Gelegenheit nutzen wollte fragte sie sich nicht weiter. Sie suchte nur wieder nach Papier. Doch als sie fühlte, dass sie fertig war wurden ihre Blößen auch schon so warm und gründlich gereinigt wie gestern. Erst als der Warmluftstrom verebbte konnte sie aufstehen. Weil sie ja schon halb entblößt war legte sie ihre Sachen in den weißen Schrank mit zwei Kleiderbügeln und drei Fächern, von denen eines ein Wertsachenfach war. Dort hinein legte sie ihre Uhr, ihre dünne Silberkette, die sie von ihrer Großmutter Monique zum achtzehnten Geburtstag bekommen hatte und eben jenes kleine aber mächtige Fußkettchen. Als sie den Schrank schloss klang eine Stimme: "Wähle ein gedachtes Wort und lege dabei deine Zauberstabhand auf die grüne Hand an der Tür!" Die Stimme klang fast wie die der gemalten Amazone Antigone. Laurentine überlegte kurz und wählte als Passwort "Berserkerbraut. Die Schranktür vibrierte. "Vielen Dank. Brauchst du etwas daraus wiederhole den Vorgang in umgekehrter Reihenfolge", sagte die magische Stimme.
Laurentine wollte gerade aus der Kabine hinaus, als sie von einer rosarot leuchtenden Wolke umhüllt und warm darin eingebettet wurde. Sie dachte erst an diese Zauberfalle namens Amatas Ruhestatt, bis sie fühlte, dass nun auch ihr restlicher Körper vollständig und sehr behutsam gereinigt wurde. Sogar ihr Haar wurde noch einmal gesäubert und glattgestriegelt. Allerdings verschwand auch die dezente Hexenschminke aus ihrem Gesicht,ohne dass sie die entsprechenden Reinigungsmittel benutzt hatte. Dann gab die rosarote Reinigungswolke sie wieder frei. Die dachten hier echt an alles. Doch Laurentine würde wohl weiterhin eine ehrliche Dusche oder eine herrlich heiße Badewanne bevorzugen.
Nur auf ihre hier anstehenden Aufgaben konzentriert verließ sie die Kabine und das Badezimmer. Draußen traf sie Louiselle, die nun, wo sie kein grünes Kleid mehr trug, noch etwas schlanker war, zumindest um die Hüften herum. Ihr schwarzbraunes Haar floss nun ungebändigt über ihren Rücken. Laurentine fielen die feinen, weißen und roten Stellen auf der Haut der anderen auf. Waren das Narben? Besser sie fragte nicht, beschloss sie. Aber irgendwie musste sie dieses Gefühl abschütteln, dass die andere mit ihrer biegsamen Figur auf sie anziehend wirkte. Laurentine fragte sich jetzt doch, ob diese silbernen Kuhfladen aus dem Turnier nicht doch ihr wahres Ich enthüllt hatten. Doch noch wollte sie sich nicht darauf festlegen oder gar festlegen lassen.
"So, nun da wir uns beide wortwörtlich unverhüllt ansehen können betreten wir die Halle der Unterweisungen. Dort gibt es auch Bücher, aber vor allem eine sichere Übungszone ähnlich wie in Beauxbatons, wenn sich dort welche mit Duellierversuchen beschäftigen.
Sie traten in eine von sechs gleichmäßig über die hohe Decke verteilten Kristallsphären erleuchtete Halle. Laurentine sah die Bücherregale, die hinter einer merkwürdig blauen Lichtwand standen. Dann sah sie das ovale, von silbernen Linien mit Runen begrenzte Feld mit einer blauen Doppellinie in der Mitte. "Jede von uns hat ihre Kampfzone. Schafftt es eine, sich über die blaue Linie in die Zone der anderen vorzuarbeiten gilt das Duell als entschieden. Denn wer es nicht vermeiden kann, dass die Gegnerin ihr in den Rücken fallen kann hat sogut wie verloren. Also immer schnell sein, immer gut in Bewegung bleiben. Gut essen tust du ja genauso wie ich. Also wirst du sicher nicht so schnell müde. Wir machen erst mal zehn Minuten "Alles was geht", also alles, was wirktt, ohne ein unverzeihlicher Fluch zu sein." Du in das rote ich in das grüne Feld. Wenn die Glocke läutet geht's los."
Laurentine betrat das zugewiesene Feld und sah nach oben, wo denn die Glocke sein mochte. Dann erkannte sie das silberne Feld um den Duellplatz. Das war die Fluchabfangbarriere. Dann sah sie ihre Lehrmeisterin und Duellgegnerin. "Öhm, deine Tante hat mir geraten, nichts nachhaltig schädliches zu machen", sagte Laurentine. "Ja, und mir hat sie geraten, dich in einem Stück zu lassen. Falls dir doch was abfällt infanticorporisiere ich dich und lass mich von Tante Hera als deine Ziehmutter eintragen."
"Solange du mich nicht austragen musst", konterte Laurentine, die keine Lust mehr darauf hatte, sich so knallhart überraschen zu lassen. "Dann wüsste meine Tante wenigstens, wo du wärst und dass es dir gut geht. Zumindest gehe ich davon aus, dass was mir gut schmeckt dir dann auch gut schmecken würde", setzte die andere noch eins drauf. Laurentine fragte sich doch jetzt ernsthaft, wo ihr Verstand war, als sie sich auf diese Freizeitsportveranstaltung eingelassen hatte. Doch dann machte es laut Dong! und Laurentine bekam gerade noch den einfachen Zauberschild hin, bevor sie von einem grünlichen Lichtstrahl getroffen wurde. Sie versuchte ungesagt gegenzuhalten und merkte doch, dass sie schon ein paar Jahre Übung ausgelassen hatte. Dennoch schaffte sie es, die andere zu einer reinen Parade zu zwingen und wollte nun die Initiative für sich ergreifen. Sie feuerte den Mondlichthammer auf die andere ab und musste zusehen, wie dieser von einer tiefschwarzen Sphäre geschluckt wurde. Novalunux, das Neumondlicht. Laurentine setzte mit einem Sonnenspeerzauber nach und brachte die schwarze Kugel damit wirklich zum platzen. Doch dieser kleine Erfolg war nur Selbsttäuschung, erkannte Laurentine, als ihre Beine von silbernen Lichtfäden umschnürt wurden. Das war nicht der Locomotor Mortis, aber ein ähnlich wirksamer Beinklammerzauber. Nein, der war noch gemeiner. Denn sie fühlte eine eisige Kälte in ihre Beine hochsteigen und sich ihren Weg in ihren Rumpf suchend. Laurentine schwang den Zauberstab, während sich die silbernen Schlingen immer weiter um ihre Beine und jetzt um ihren Unterleib zu legen begannen. "Glaradius Viridis!" dachte sie und stellte sich eine leuchtende Klinge vor, die blitzartig aus einem kleinen Stab fuhr. Sie hörte sogar das betreffende Zischen und Brummen, als die Klinge stabil blieb in ihrem Geist. Zunächst zuckten aus ihrem Zauberstab erst grüne Funken und dann ein stabiler grüner Lichtstrahl von der anderthalbfachen Länge ihres unterarmes, der jedoch keine Geräusche von sich gab. Sie hieb damit auf die silbernen Haltefäden ein und kappte diese mit lautem Knistern und Prasseln. Da fielen auch die Eisschlingen um ihren Körper ab und zerstoben in der Luft. Ihre Überlegungen nach Beauxbatons, dass sowas echt ging funktionierten. Doch nun musste sie zusehen, dass sie weiteren Angriffen widerstand. Mit der grünen Lichtklinge konnte sie vier oder fünf auf Licht beruhende Flüche parieren. Doch drei prallten laut gegen ihren Schild. Dann erlosch die grüne Klinge mit leisem Knack. Laurentine trauerte ihr aber nicht nach und schickte ungesagt den Entwaffnungszauber los. Dieser erwischte Louiselle tatsächlich unvorbereitet. Ihr Zauberstab flog ihr im hohen Bogen davon. Laurentine wollte schon ansetzen, über die blaue Linie zu laufen, um das Duell für sich zu entscheiden, als Louiselle wie von mehreren Bar Pressluft aufgepumpt in die Höhe und Breite Wuchs. Laurentine erstarrte einen Moment. Dann sah sie, wie ihre neue Lehrmeisterin größer als Madame Maxime in die Hocke ging, eine Hand so hielt, dass sie Laurentine sicher abfangen konnte, wenn die jetzt noch über die Linie wollte und mit der anderen den Zauberstab vom Boden aufhob. Sie zielte kurz damit auf sich, worauf sie wieder auf ihre übliche Größe zusammenschrumpfte. Laurentine wirkte schnell und ungesagt den Praeservirginis-Zauber und dann noch den Dislocimaginus-Zauber, der ihren wahren Standort verfälschte. Tatsächlich fegte erst ein purpurner Lichtstrahl dort hin, wo Laurentine scheinbar stand. Dann löste sich das vorgetäuschte Bild der jungen Hexe auf und sie wurde wieder wirklich sichtbar. Sie hörte die andere noch leise "Cunnicremato!" zischen und meinte, von einer warmen Hand im Schritt berührt zu werden. Doch der von ihr gezauberte Unterleibsschutz knisterte silbern und rot. Laurentine versuchte noch einmal den ungesagten Entwaffnungszauber. Doch diesmal zerfaserte der in einer blauen Lichtwand.
Laurentine versuchte den Confundiridius-Zauber und fand sich selbst in einem schillernden Gewirr aus Regenbogenfarben wieder. Gerade soeben noch bekam sie mit, wie Louiselle auf sie einschwenkte. Sie dachte nur "Finis incantatem!" Der regenbogenfarbene Strahl zerstob, und die junge Hexe ließ sich hinten überfallen. Mit lautem Wums prallte was ihr gegolten hatte an die aufgebaute Barriere. Laurentine Hellersdorf zog blitzschnell die beine wieder an, rollte sich so, dass sie die Füße auf den Boden bekam und stand im nächsten Moment wieder sicher auf den Beinen. Da flog ihr ein rosarotes Licht entgegen und kitzelte sie am Oberkörper. Sofort merkte sie, dass das auch ein gemeiner Fluch sein musste. Denn innerhalb von zwei Sekunden besaß sie mehr Oberweite als Millie Latierre oder Camille Dusoleil zusammen. Und der unheimliche Wuchs ging noch weiter. Sie merkte, wie es sie immer schwerer nach vorne zog und wie sie immer schwerer atmen konnte. Ihr Rücken schaffte es bald nicht mehr, die aufgeladene Last zu stützen. Die Lungen konnten gegen diese Last nicht länger ankämpfen. Da wusste sie, dass sie einer Abwandlung des Bauchschwellzaubers zum Opfer gefallen war. Sie versuchte von vorne auf sich selbst zu zielen. Doch das klappte schon nicht mehr. Louiselle stand auf ihrer Seite und sah Laurentine zu, wie sie gegen ihr unerwünschtes Übergewicht kämpfte. Ihr fiel ein, dass Körperverunstaltungsflüche durch vollständige Selbstverwandlungen abgeschüttelt werden konnten. Doch die brauchten Zeit. Doch nicht, wenn sie schon häufiger ihre innere Tiergestalt hervorgerufen hatte. So konzentrierte sie sich auf eine stattliche, am Boden schnüffelnde Bache, hörte ihr Grunzen und Quieken und dachte dann laut "Ex spiritu animalis interni ascendeto!" Dann ließ sie sich nach vorne überfallen und fühlte wie ihre unerwünschte Oberweite noch vor ihren Händen den Boden berührte. Dann umflossen sie Blitze. Ihr Körper veränderte sich. Nur drei Herzschläge später stand eine junge Bache in der Duellarena. Diese wusste sofort, dass die andere jetzt den Inhibimutatus-Zauber bringen konnte, um sie in dieser Gestalt festzuhalten. Deshalb sprang sie nach rechts weg, schaffte es bis zur blauen Linie und prallte dagegen. Sie fühlte, wie sie sich schlagartig wieder zurückverwandelte. Doch nun stand sie wieder mit ihrem natürlich gewachsenen Oberkörper da und nur zwei Meter von der anderen Entfernt. Diese zielte. Doch Laurentine blockte den Fluch und nutzte die Zeit ihre Schilde neu zu rufen. Dazu belegte sie sich selbst mit dem Inhibimutatus-Zauber. Damit würde ihr keine neue Körperverunstaltung mehr passieren. Offenbar hatte die Lehrmeisterin auch ihre Schilde regeneriert. Denn nun flogen die Duellzauber hin und her, Feuerschlangen, silberne Lichter, gelbe Sonnenpfeile, weitere Verwandlungsblitze, die jedoch keine Auswirkungen mehr hatten, bis Laurentine von einer lichtschluckenden Masse im Gesicht getroffen wurde. Der Schock, nichts mehr sehen zu können, bewirkte, dass sie von drei Flüchen zugleich getroffen wurde und von Hitzeschauern, einem immer schneller rasendem Herzschlag und einem wilden Jucken auf der Haut vollkommen aus der Balance gerissen wurde. Sie taumelte nach hinten weg. Sie fühlte unter dem Ansturm der verwirrenden Sinne, wie etwas an ihr vorbeihuschte. Dann fühlte sie eine schlanke Hand von hinten. "Bin durch. Fertig!" sprach diese gemeine, hinterhältige Hexe sie von hinten an. "Verdammt, ich seh nichts mehr", schrillte Laurentine. Sie berührte ihr Gesicht und ertastete, dass etwas wie lederartige Haut ihre Augen überspannte. Sie war also nicht wirklich geblendet worden. "Na, nicht mit den Fingern dran, solange der Fermoculi medianoctis noch wirkt", sagte Louiselle und hielt Laurentine in einer halben Umarmung. Eigentlich hätte sie nun laut loszetern und wie irrsinnig um sich schlagen müssen. Doch Stimme und Umarmung beruhigten sie irgendwie. Dann fühlte sie, wie sich etwas vor ihren Augen löste. Es drang nun wieder volles Licht durch. Danach verschwand auch das Jucken auf der Haut. Ihr Herzschlag beruhigte sich wieder, ja unterschritt den Belastungspuls von gerade eben noch. Auch die heißen Schauer hörten auf.
"Das ist was Tante Hera meinte und was ich auch schon geschrieben habe. Es können ziemlich üble Sachen passieren. Aber ganz ruhig, Laurentine. Ich wollte dich nicht nachhaltig verletzen und kriege das mit dir hin, dass das auch keine andere oder kein anderer mit dir mal soeben machen kann. Alles wieder gut?"
"Ih..., öhm, deine Tante hat mir geraten, nicht zu lamentieren oder zu meckern", keuchte Laurentine sichtlich erschöpft. So viel Stress in zehn Minuten hatte sie in den letzten vier Jahren nicht erlebt.
"Möchtest du dich setzen?" fragte die andere fürsorglich. Laurentine wollte dagegen aufbegehren, sich nicht anmerken lassen, wie geschafft sie schon war. Und das waren die ersten zehn Minuten, wenn überhaupt. Doch sie fühlte, wie ihr die Beine zitterten und wegzuknicken drohten. Offenbar war diese Turneinlage eben zu viel für ihren in friedlicher Umgebung geborgenen Wohlstandskörper. Ohne noch was zu sagen wollte sie sich hinsetzen. Da wurde ihr ein breiter Stuhl unter das bloße Gesäß geschoben. Sie lehnte sich unüberdacht an die Rückenlehne. Nun sah sie, wie die Nichte von Hera Matine sich ihr gegenüber auf einen anderen Stuhl setzte.
"Also, auch wenn du jetzt gerade sehr überarbeitet aussiehst werde ich dir sagen, wie ich das gerade empfunden habe. Du bist nicht so außer Übung wie ich das bei anderen jungen Hexen kurz nach Beauxbatons mitbekommen musste. Deine Zauberstababstimmung ist weiterhin exzellent, weil du mir sonst nicht den Zauberstab aus der Hand hättest schießen können. Du kannst schon einige wirksame Schutzzauber, aber du hast nur deinen Unterkörper gesichert. Deshalb konnte mein Mammacrescentus-Zauber dich voll erwischen. Hättest du dann nicht diese sagenhaft schnelle Selbstverwandlung ausgeführt wärest du wohl unter der Last deiner übergroßen Oberweite zusammengebrochen. Dass die Mittellinie Verwandlungen umkehrt hast du gemerkt. Es hätte sogar gereicht, darauf zu treten oder sie zu überqueren, um deine schon ausreichendgewachsene Büste zurückzuerhalten. Dass du den Fermoculi-Medianoctis-Fluch nicht kennst liegt an Beauxbatons. Denn dort gilt er seit einem schweren Unfall als verboten und kann mit dem Verlust aller bisher erreichten Bonuspunkte und dem Schulverweis geahndet werden. Bei dem Brustschwellzauber wird nur die Hälfte der bisher erreichten Bonuspunkte aberkannt. Wenn den zauberer auf eine Hexe legen werden die Brüste steinhart. Außerdem gibt es gegen den nur drei Sachen. Zwei davon habe ich erwähnt, eine eigenständige Selbstverwandlung für mehr als eine halbe Minute oder die blaue Trennlinie mit ihrem ständigen Abwehrwall gegen Verwandlungen. Den dritten Zauber bringe ich dir noch bei, vielleicht noch heute, wenn wir zwei wieder erholt genug sind. Aber das Ding mit der grünen Lichtklinge darfst du mir gerne erklären. Den kannte ich noch nicht. Hast du den erfunden?"
Laurentine gab zu, dass sie den Effekt nicht erfunden, aber von einer anderen Erfindung übernommen hatte und dass sie davon ausging, dass mit dieser Klinge alle Materie oder Energiestränge durchtrennt werden konnten. Darauf fragte Laurentine, was das für Eisschlingen waren. "Die Schlingen des Mondes, nur bei Nacht ausführbar, bei Vollmond am schnellsten wirksam, bei Neumond jedoch am kältesten. Wenn du es zugelassen hättest, dass sich die Schlingen um deinen ganzen Leib gelegt hätten wärest du bis zum Sonnenaufgang erstarrt aber nicht erfroren. Allerdings wärest du dann ohnmächtig geworden. Hexen, die bisher kein Kind geboren haben können ihn am schnellsten ausführen. Und dass du mir nicht mit der klassischen Kombination Confundiridius und Incapsovolus zu kommen brauchst hast du gemerkt, als ich Hecates Umkehr verwendet habe, übrigens ein gegen viele Lichtzauber wirksamer Abwehrbann. Deshalb üben wir den demnächst auch noch mal. Zu meiner Zufriedenheit hast du aber schon den Praeservirginis-Zauber erlernt. Der schützt nicht nur deine Vagina vor unerwünschtem Eindringen, sondern eben auch gegen auf die Geschlechtsorgane einer Hexe abzielende Flüche, wie eben Cunnicrematus, der zugegebenermaßen einer der gemeinsten Zauber gegen Hexen ist und der deshalb genausowenig in Beauxbatons gelehrt wird wie dessen auf Zauberergenitalien ebenso üble Vexatesticuli-Zauber oder der Mammacrescentus-Fluch. Der Praeservirginis-Zauber hilft aber nicht viel gegen die Nachstellung von Vita Magica. Da müssen wir was anderes machen", sagte Louiselle Beaumont. "Ich denke, wir machen das so, damit du wieder ganz in Übung kommst: Jeden Termin eine Viertelstunde Übung oder bis einer auf die Seite des anderen gelangt, dann Nachbesprechung wie jetzt und dann weiterführende Zauber für Hexen. Einverstanden?" Laurentine bejahte es.
Als Laurentine sich wieder erholt hatte führte ihre neue Lehrerin ihr einige der erwähnten Zauber vor und welche mentale Komponente sie dabei benutzen musste. Die junge Lehrerin von Millemerveilles verstand auf jeden Fall, warum Hera Matine nicht ganz so begeistert davon war, dass es solche Zauber gab. Als Louiselle Beaumont Laurentine zur Übung legilimentierte konnte Laurentine zumindest eine Halbe Minute gegenhalten. Doch dann flogen die Bilder ihrer Erinnerung nur so durch ihren Kopf. Dabei sah sie sich auch mit Claire Dusoleil auf der Tanzfläche und fühlte diese gewisse Begierde. Dann stand sie auf einem viele dutzend Meter großen Stuhl, atmete durch beinahe flüssige Luft und wedelte wild mit den Armen. Auch fand sie sich auf einem Besen wieder, von dem Barbara damals noch Lumière auf einen anderen Besen überwechselte und der Besen anfing, mit ihr herumzuschlänkern. Eine Sekunde später hockte sie in einem Käfig auf allen vieren und fühlte den Lufthauch an Schnurrhaaren vorbeistreichen. Sie versuchte diese Bilder wegzustoßen. Verdammt, sie hatte es doch gelernt. Sie kämpfte gegen die Bilder und Gefühle an, die ihr ins Bewusstsein gezerrt wurden. Endlich hatte sie es wieder heraus. Sie stemmte sich dagegen und schaffte es, alle all zu peinlichen oder belastenden Erinnerungen sofort wegzublenden. Dann hörte dieser unheimliche Angriff auf.
"Da solltest du unbedingt noch einige Übungen machen. Allein schon diese Tanzszene könnte einigen böswilligen Leuten ein Mittel sein, um dich zu demütigen oder zu unterwerfen. Aber Catherine hat ihre Hausaufgaben gemacht. Ich konnte ihre Aussprachen mit dir, die es garantiert gegeben hat, nicht erfassen."
"Das soll ich ihr aber jetzt nicht ausrichten, oder?" fragte Laurentine ein wenig zu vorlaut. Doch Louiselle grinste nur und antwortete: "Sie muss damit leben, dass sie weiß, dass du dich mir für diese Art von Weiterbildung anvertraut hast, nicht du oder ich. Ich hoffe nur, dass sie es ihrer Mutter verschweigt. Mit der werten Madame Faucon möchte ich keinen Ärger haben, dafür ergänzen sie und ich uns zu sehr."
"Was kann ich gegen Veelazauber machen?" fragte Laurentine.
"Wenn eine Veela dich verärgert und gegen sie aufbringt nur die eigene Selbstbeherrschung verbessern. Wenn ihre Ausstrahlung dich anziehen sollte stell sie dir als grüne Sabberhexe mit gelben Fangzähnen vor, dann geht das schnell weg!"
"Wo es da eine geben soll, die von beiden Arten abstammen soll", erwiderte Laurentine.
"Ja, und ich hoffe mal, ich kriege dich gut genug hin, dass du dieser Dame nicht gleich beim ersten Ansatz vor die Füße fällst und darum bettelst, von ihr versklavt zu werden, nur, damit sie dich oder die dir lieb sind nicht tötet. Da gilt dann: Keine Skrupel. Gut, machen wir besser noch weiter. Ich muss dich ja gleich noch auf mein bescheidenes Haus abstimmen, damit du nicht dauernd fliegen musst, wenn du zu mir willst", sagte Louiselle.
So lernte Laurentine schon sehr gute Abwehrzauber, auch gegen den ihr aufgehalsten Brustschwellzauber.
Die Übungen endeten in einem letzten kurzen Trainingsduell, bei dem Laurentine die neuen Kenntnisse schon anwenden konnte. Dann erscholl die Glocke über dem Feld. "So, ab jetzt noch zehn Minuten, bis ich hinter dir die Pforte schließen möchte. Morgen dann am besten gegen acht, weil du ja ab Montag wieder unterrichten musst."
Laurentine wurde in der kleinen Toilettenkabine noch einmal von Kopf bis Fuß gereinigt. Als sie den Portschlüsselabweiser wieder am Fußgelenk spürte fühlte sie sich wesentlich wohler.
Draußen vor dem Portal vollzog Louiselle noch einen Abstimmungszauber, dass Laurentine zumindest bis vor ihr Tor apparieren konnte. Der Zauber hielt laut Luiselle einen vollen Mondzyklus. Dann konnte Laurentine mit dem Besen unter ihrem Arm in die Rue de Camouflage apparieren und vom Geschichtsmuseum aus per Flohpulver in ihre eigene Wohnung zurückkehren. So würde sie in den nächsten Tagen zu ihren wilden aber lehrreichen Nachhilfestunden reisen.
Millie und Julius durften an den Tagen zwischen Walpurgis und dem sechsten Mai abends auf verschiedenen Willkommensfesten dabei sein, darunter auch dem der Chevalliers, Delamontagnes und Lumières. Zeremonienmagier Laroche war bald genauso dauergestresst wie Hera Matine in den Wochen der vielen Geburten. Dennoch wirkte er überall wo er dazugebeten wurde sehr fröhlich. Auch wenn er genau wusste, dass die allermeisten der neu begrüßten Kinder nicht gewollt waren verstand er es doch sehr gut, den jungen Eltern und ihren geladenen Gästen Mut zuzusprechen, dass jedes neugeborene Kind eine eigenständige, fleischgewordene Hoffnung für eine bessere Welt war, egal, auf welchem Weg das Kind die Welt erreicht hatte. Auch sei es, so mahnte Laroche immer mitunterschiedlichen aber gleichbedeutenden Worten, die größte Aufgabe der Eltern, dem Kind oder den Kindern den nötigen Halt und die für alle seiten beste Ausrichtung zu bieten. Kinder die geliebt wurden lernten zu lieben. Wer lieben konnte gab Liebe weiter. Wer Liebe weitergab lehrte andere zu lieben. So und ähnlich beschwor der ständig in hellen Farben auftretende Zeremonienmagier die Ankunft und die Zukunft der vielen neuen Kinder. Sicher hätten viele Eltern auch auf eine offizielle Feier verzichten und ihre Kinder einfach so als nun einmal da hinnehmen können. Doch dass sie es nicht taten zeigte auch, dass sie sich nicht als reine Zuchttiere abtun lassen wollten. Denn wenn die vielen Kinder offiziell im Leben begrüßt wurden galten sie noch mehr als zu schützende, im Sinne eines gedeihlichen Miteinanders aufzuziehende Geschöpfe.
Für Aurore war es erst richtig spannend, die vielen Babys anzusehen, deren größere Geschwister, Cousins oder gar Nichten und Neffen anzusprechen. Doch wie üblich kam mit der Häufigkeit auch irgendwann eine gewisse Langeweile auf. Irgendwann musste Julius seine Erstgeborene auf die Schultern heben, weil sie vom vielen herumwuseln schon zu müde war. Auch hatte sie ein wenig Angst vor der immer noch sehr umfangreichen Eleonore Delamontagne, die von Hera Matine auf eine strenge Diät und einen straffen Leibesübungsplan getrimmt worden war. Julius meinte am Abend des 5. Mai zu seiner Frau, dass Eleonore und Hera wohl keine Freundinnen mehr würden.
Durch die vielen offiziellen Begrüßungsfeiern gewann auch Béatrice Latierre mehr ansehen bei den Bürgerinnen und Bürgern Millemerveilles. Denn nun wussten sie, wie wichtig sie für die Ankunft der vielen Frühlingskinder war. Julius bekam sogar mit, dass Hera und Antoinette einmal mit ihr darüber sprachen, ob sie nicht als zweite Heilerin in Millemerveilles bleiben wolle. Béatrice antwortete diplomatisch, dass sie Heilerin geworden sei, um dort zu helfen, wo ihre Hilfe nicht nur gebraucht, sondern erbeten wurde und sie bisher auch viele Patientinnen um das Château Tournesol herum betreute. Clémentine Eauvive hatte zwar in den beherrschenden Wochen ihre Residenz mitbetreut, was jedoch für Béatrice hieß, ihrer Kollegin einmal einen ähnlichen Gefallen erweisen zu dürfen, wenn diese vielleicht selbst in anderen Umständen war.
Millie meinte am Abend des 7. Mai, dass sie jetzt erst mal Ruhe von den vielen Feiern hatten, weil die nächsten erst ab dem 12. Mai feiern wollten. Julius hoffte, dass es in Zukunft auch noch was zu feiern gab. Denn beunruhigende Meldungen aus dem Ausland und ein sichtlich gestresster Abteilungsleiter für internationale magische Zusammenarbeit verhießen Unruhe, und das vor der eigentlich zu feiernden Neuauflage der Quidditchweltmeisterschaft.
An diesem Tag beunruhigten Julius die in den letzten Tagen immer wieder aufgekommenen Meinungsverschiedenheiten zwischen dem französischen Zaubereiministerium und Brasilien, wie auch dem der Niederlande. Es hatte was mit den Überseebesitzungen zu tun und mit dem Ernterecht für tropische Zauberkräuter, weshalb sich vor allem die Brasilianer aufregten, weil Frankreich wegen der Überseebesitzung Französisch-Guayana das angeblich natürliche Monopol auf bestimmte Zauberpflanzen unterlief, das Brasilien für sich beanspruchte. Außerdem schien sich gerade auch ein Streit zwischen den Zaubereiministern Österreichs und Deutschlands wegen Südtirol oder Liechtenstein anzubahnen. Der italienische Zaubereiminister hatte dem österreichischen Zaubereiminister die dauerhafte Verwaltungshoheit über ganz Tirol zuerkannt und das in einer ganz heimlichen Unterzeichnungszeremonie Tinte auf Pergament gebannt. Jetzt fühlte sich Österreichs Zaubereiminister Leopold Rosshufler im Aufwind, auch bei den Angelegenheiten in Bayern und anderen Teilen Süddeutschlands mitreden zu dürfen. Weil der Staat Liechtenstein zaubereiverwaltungstechnisch der Schweiz unterstand hing darum auch der schweizer Zaubereiminister in diesem Streit um Zwergstaaten mit drin. Ja, und weil der Ministeriumsbeobachter der in drei Sprachen erscheinenden schweizer Zaubererweltzeitung "Echo des Zauberhorns" verzapft hatte, dass Ministerin Ventvit bei der Gelegenheit die französischsprachigen Kantone der Schweiz für Frankreich einfordern könne hing nun auch Ornelle Ventvit mit ihrem Stab von Auslandsfachleuten mit in dieser verzwickten Sache. Die Beteuerung der Ministerin, dass auch wenn jemand Französisch als Muttersprache sprach trotzdem Bürgerin oder Bürger seines oder ihres Geburtslandes blieb, wollte offenbar keiner glauben. Irgendwann Ende Mai - Was das italienische Zaubereiministerium noch bekannt geben wollte - sollte es eine Konferenz der Minnisterinnen und Minister geben, deren Länder oder mitverwalteten Regionen an der Neuauflage der Quidditchweltmeisterschaft teilnehmen würden. Im Moment war keine Rede davon, dass in Italien womöglich wer anderes als der amtierende Zaubereiminister das Sagen haben könnte. Das wiederum machte Julius stutzig.
Als er in den Speisesaal wollte bat Belle Grandchapeau ihn, mit ihr und ihrer Mutter im Büro zu bleiben und dort zu essen. "Die Stimmung im Speisesaal ist gerade nicht gerade erquickend für die Seele", sagte Nathalie, als Julius sich bereiterklärte, bei ihr und Belle zu bleiben, zumal er nach dem Essen eh in die Computerabteilung wollte.
"Wie kommen die denn jetzt darauf, Ministerin Ventvit wolle jeden, der Französisch spricht nach Frankreich einbürgern?" fragte Julius Nathalie. Zur Antwort hängte sie ihm und auch Belle einen Cogison-Ohrring an. "Gut, solange ihr esst und Maman ja eh für mich mitfuttert seh ich mal zu, was in meinem kleinen Bauchturnerköpfchen noch darüber zu finden ist", hörten sie Demetrius' künstlich vertonte Gedanken über Nathalies Körpergeräusche hinweg.
Julius erfuhr, während er aß, dass es vor der internationalen Geheimhaltungsvereinbarung der Zauberei durchaus schon Bestrebungen gab, die Zaubereiverwaltung nach Muttersprachen zu ordnen, womit auch die Valonier sehr zufrieden waren. Als dann nach 1815 die Adeligen der Nichtmagier ihre alten Macht- und Hoheitsrechte wiederherstellten verweigerten die Schweizer den Franzosen, die französischen Kantone von Paris aus verwalten zu lassen. Allerdings konnte sich das magische Triumvirat in Rom mit der Forderung durchsetzen, alle italienischsprachigen Hexen und Zauberer, also auch die auf Sardinien, von Rom aus zu verwalten. Die Gründung des vereinten Italiens gab ihnen dann später in der Hinsicht recht. Aber es hatte immer wieder Forderungen reinblütiger Zauberer und auch Hexen gegeben, nicht die von Magielosen gezogenen Landesgrenzen als Hoheitsgrenzen anzuerkennen, sondern nach Muttersprache zu ordnen, eben wie auch die Italiener das getan hatten. Als dann nach dem ersten großen Krieg der Magielosen Tirol in Nord- und Südtirol aufgeteilt wurde hatten sich der neuerdings Zaubereiminister Österreichs nennende Oberverwalter Österreichs und der von Italien darauf verständigt, Tirol eine Eigenständigkeit zu gewähren, bei der der Statthalter alle zehn Jahre abwechselnd aus dem Süden und aus dem Norden gestellt wurde und sich bei überregionalen Anliegen mit beiden für Tirol zuständigen Zaubereiministern abzustimmen habe. Dies sei ja nun durch diesen klammheimlichen Vertrag zwischen Bernadotti und Rosshufler aus der Welt, meinte der offiziell auch nicht in der Welt befindliche Demetrius.
"Ui, Zwiebelsuppe stört aber echt beim Referieren, Maman", cogisonierte Demetrius einmal, weil es so laut gluckerte und kullerte. "Ich hatte Hunger drauf und du musst noch wachsen, Kleiner", erwiderte Nathalie darauf und ließ sich von der still im Hintergrund wartenden Hauselfe den zweiten Gang bringen.
"Also für alle, die schon selbst atmen und essen können", fuhr Demetrius fort, "es hätte fast einen Zaubererkrieg zwischen ukrainischen und russischen Zauberern gegeben, weil die Ukrainer ihren eigenen Zaubereiminister haben wollten und die Russen meinten, dass alles was bis zur Grenze Polens russisch sprach zu Russland gehöre. Da hat dann der damalige Schuldirektor von Durmstrang gesagt, dass Blut und Boden von Geburt an zusammengehörten, während eine Sprache erst nach dem Abstillen erlernt werde. Na ja, der wusste ja noch nichts von Cogisonen und zur Vollpension im Bauch der eigenen Frau verurteilten Ex-Ministern. Also gut, die Ukrainer bekamen ihren eigenen Zaubereiminister, mussten sich aber per Blutpakt und von Minister zu Minister weitergeltendem magischen Vertrag verpflichten, jeden russischsprachigen Zauberer vor Nachstellung der ukrainischsprachigen Nachbarn zu beschützen und jedem, der nach Russland auswandern wollte eine Auswanderungsunterstützung in Höhe eines Jahreseinkommens bezahlen. Ministerwahl durch Wanderung wurde das dann genannt. Maman, du erinnerst dich sicher noch an die Debatte mit Iwan Morowitsch, dessen Mutter Ukrainerin und dessen Vater Russe war und der deshalb nicht wusste, wo er jetzt eigentlich hingehörte."
"Ja, das war soweit in meinem schon selbstatmenden Kopf noch drinsteckt der letzte Austauschschüler aus Durmstrang, der bei uns in Beauxbatons war, bevor sich die dortige Schulleitung zu heftig über die "unerträgliche Toleranz unreiner Abkömmlinge" ereifert hat und das Austauschprogramm auf unbestimmte Zeit beendet hat", erwiderte Nathalie und schaffte es gerade noch, mit geschlossenem Mund aufzustoßen.
"Deshalb kenne ich diesen Zank auch noch so gut, Maman. Dass es auch ohne die Hoheitsfestlegung der nichtmagischen Leute geht zeigten der gesamtdeutsche Zaubereiminister und sein österreichischer Amtskollege 1938, als dieser Adolf Hitler sein Geburtsland in seinen Traum vom starken Deutschland einverleibt hat und es damit zum Mittäter seiner wahnwitzigen Ideen gemacht hat. Da wurde ganz klar entschieden, dass die Meeresanrainer einen eigenen Vertreter haben sollten und die Bergbewohner ihren eigenen Vertreter. Die bayerische Regionalverwaltung musste sich dann entscheiden, ob sie dem berliner oderWiener Zaubereiminister unterstellt sein wollte und entschied sich für Berlin. Wenn das nicht zu frei übersetzt wurde soll der bayerische Regionalverwalter gesagt haben: "Lieber über die Preußen und Fischköpfe meckern als mit den Wienern Walzer tanzen." Hat dem einen Eintrag in das große Buch historischer Wortmeldungen eingebracht und von den Österreichern her den Ruf, ein heimatverachtender Piefke zu sein, was immer dieses Wort bedeuten soll."
"Also, nachdem, was die damaligen Turnierteilnehmer aus Greifennest gemeint haben werden alle nördlich von Bayern lebenden Deutschen von den Österreichern dann als Piefkes bezeichnet, wenn sie sich über deren Verhalten und Rechthaberei aufregen", sagte Julius. "Oha, wusste ich noch nicht. Soll noch mal wer sagen, dass man erst nach der Geburt was neues lernt", erwiderte Demetrius.
"Ja, aber wem nützt es was, diesen Streit anzuzetteln?" fragte Belle, die bis dahin nur mit ihrem Mittagessen beschäftigt war, weil sie es für undamenhaft hielt, zu schlingen und einen Aufstoßer nach dem anderen zu riskieren.
"DAS ist eine sehr gute Frage, meine noch ein wenig länger auf mich wartende große Schwester", cogisonierte Demetrius. "Wem nützt es."
"Wenn ich das richtig mitbekommen habe ging das mit Tirol und der Schweiz von Rom aus, weil Bernadotti dem schweizer Kollegen angedeutet hat, dass Österreich und Frankreich ihre Einflusssphären vergrößern wollen, nachdem sich herausgestellt hat, dass kleinere Zaubereiministerien für internationale Verbrecher vom Schlage Riddles, Vengors und Vita Magica nicht stark genug seien", sagte Nathalie. Julius nickte.
"Ihnen allen ist bekannt, was Linda Latierre-Knowles mitbekommen hat. Das würde passen, wenn Italien Unruhe und Misstrauen schürt, um bloß nicht behelligt zu werden oder noch heftiger, am Ende als Streitschlichter auftreten könnte, um alle noch vor der Neuauflage der Weltmeisterschaft friedlich am selben Tisch unterzubringen. Divide et impera", sagte Julius.
"Was soviel heißt wie?" wollte Belle wissen.
"Das ist lateinisch und heißt "Teile und herrsche", cogisonierte Demetrius und schien seiner Mutter wohl in den Bauch zu stupsen. "Ey, nicht so doll, dachte Nathalie, was jedoch vom Cogison-Ohrring wie gesprochene Worte übersetzt wurde.
"Moment, das ist doch dieses Herrschaftsprinzip, die untergeordneten Fürsten gegeneinander aufzubringen oder die Nachbarn in gegenseitiges Misstrauen zu versetzen, dass der eigentliche Herrscher fast sorglos weiterherrschen kann, richtig?" fragte Belle. Julius und Demetrius bestätigten es, während Nathalie etwas hastig den Teller mit dem zweiten Gang leeraß. Julius meinte noch dazu: "Das würde zu ihr passen, falls sie tatsächlich schon in Rom regiert."
"Was bisher nicht bewiesen werden kann, Julius", erwiderte Demetrius, der ja weitercogisonieren konnte, während seine Mutter für sich und ihn aß.
"Ja, aber im Moment läuft es darauf hinaus, dass mehr Misstrauen gegen Ministerin Ventvit geschürt wird, weil behauptet wird, dass sie einer Zuweisung von Liechtenstein nach Deutschland zustimmt, wenn sie dafür die französischsprachigen Kantone der Schweiz und die Valonie bekommt. Dabei hat sie in der Richtung überhaupt nichts gesagt."
"Ja, das ist schon merkwürdig", sagte Belle. Da zuckte Julius zusammen. Er ließ fast seine Gabel fallen und legte sie gerade so noch auf den halbleeren Teller. "Falls stimmt, dass die Montefiori Italien unterworfen hat könnte sie auch Anspruch auf die italienische Schweiz erheben. Um den durchzudrücken müsste sie nur genug Misstrauen säen, damit sich Frankreich und die Schweiz so heftig um die jeweiligen Sprachgrenzen zanken, dass sie in der Zeit problemlos den Tessin und andere Kantone infiltrieren kann. Außerdem könnte sie versuchen, Ministerin Ventvit bei allen in Ungnade fallen zu lassen, warum auch immer, vielleicht weil sie keine anderen mächtigen Hexen in Europa haben will oder sowas ... oder weil Ministerin Ventvit genau wie Sie zwei und du kleiner Mann im warmen wartesaal zur großen Welt von Euphrosynes Segen erfüllt seid."
"Oha, interessant", bemerkte Demetrius. "Nachdem, was meine fürsorgliche Trägerin und Nährerin zu mir hereingelassen hat ist es wirklich so, dass die meisten aufkommenden Streitigkeiten sich immer mehr gegen Ministerin Ventvit hochschaukeln. Wenn du das vorhin richtig zu mir durchgelassen hast, Maman, hat sich der Kollege von der Zusammenarbeit erkundigt, ob da was zwischen Ventvit und Shacklebolt liefe, von wegen Quibec und den rest des französischen Kanadas. Aber offenbar haben sich der große schwarze mit der Sparfrisur und unser aller Zaubereiministerin nicht auf eine derartige Debatte eingelassen."
"Klingt wahrlich nach gezielter Aufwiegelung, nachher wird noch verbreitet, dass Ministerin Ventvit das Cajun-Gebiet in Louisiana für Frankreich beansprucht", schnarrte Belle. "Aber das könnte zu dem passen, was du vermutet hast, Julius. Es könnte den Italienern, ob mit oder ohne diese Ladonna Montefiori darum gehen, Ministerin Ventvit als Unruhestifterin und machtgierige Hexe darzustellen. Falls Bernadotti nicht echt unter Ladonnas Bann steht war und ist der mir selbst immer als sehr männlichkeitsbezogener Bursche aufgefallen", cogisonierte Demetrius.
"Ja, und weil die noch amtierenden Zaubereiminister das wohl auch von ihm kennen wundert es sie nicht, wenn er jetzt gegen Ministerin Ventvit intrigiert", sagte Julius verbittert. Belle deutete auf seinen Teller. "Noch zwanzig Minuten Mittagspause. Essen Sie bitte fertig, um nicht wegen Hunger zu erschlaffen!" Julius grummelte zwar, befolgte aber diese schon einer Dienstanweisung gleichkommende Aufforderung.
"Also, bevor mir Mamans Magen zu sehr auf den Kopf drückt nur so viel: Das mit "teile und herrsche" könnte hinkommen, Julius. Ich fürchte aber eher, dass Bernadotti oder gar Ladonna Montefiori oder Vita Magica daran gelegen ist, alle wichtigen Zaubereiminister an einem Ort zusammenzukriegen und sie dann irgendwie zeitgleich zu unterwerfen oder dasselbe anzustellen, was dieser Bokanowski mit Belle und mir angestellt hat. Dann kann sich Bernadotti hinstellen und mit willfährigen Doppelgängern zusammen vor der Presse posieren und verkünden, dass er es im Namen des Quidditch und des fairen Umgangs miteinander hinbekommen habe, alle Streitigkeiten zu schlichten. Die Doppelgänger kehren dann in ihre Länder zurück und machen da eine italienfreundliche Politik, unabhängig, ob Ladonna dort regiert oder nicht."
"Ui, das ist natürlich noch heftiger", erwiderte Julius, während Belle regelrecht zusammenfuhr und ihrem Gesicht nach wohl daran dachte, was der an lebenden Wesen herumzaubernde Ex-Heiler Bokanowski mit ihr angestellt hatte. Dagegen war der pubertäre Streich von Jasper van Minglern wirklich nur ein Kinderstreich gewesen.
"Ja, und weil die Ministerin wegen Euphrosynes sogenanntem Segen nicht beliebig beeinflusst oder verwandelt werden kann gilt es, alle gegen sie aufzuhetzen, um sie entweder zu isolieren oder es den anderen egal sein zu lassen, wenn ihr was zustößt", vollendete Nathalie die Schlussfolgerung ihres auf seine Wiedergeburt wartenden früheren Mannes. "Öhm, auch wenn Maman sicher keine Rose an die Decke gehängt hat bleibt das besser erst mal hier in ihrem Büro", cogisonierte Demetrius in die betroffene Stille hinein. Die drei bereits eigenständig lebenden stimmten hörbar zu. Julius ärgerte sich zwar wieder, dass ihm ein geheimnis aufgeladen werden sollte, erkannte dann aber, dass Demetrius ja gerade keine Anweisung geben konnte, sondern eben nur einen Vorschlag gemacht hatte. Abgesehen davon wusste seine Frau ja schon längst, was Linda Latierre-Knowles berichtet hatte.
Nun aßen sie alle drei noch zu ende, wobei Nathalie für sich und ihren Dauermitbewohner noch extra aß.
Den Nachmittag verbrachte Julius dann mit Belle im Computerraum, wobei Belle etwas weiter von den Rechnern fortsaß, weil die von Euphrosyne aufgeprägte Aura die Elektronik stören konnte.
Als Julius wieder im Apfelhaus war nutzte er es aus, dass Aurore und Chrysope bei den Dusoleils waren und Clarimonde gerade schlief, um über die Querälen der Zaubereiministerien und das Gespräch beim Mittagessen zu reden. "Also, wenn Ladonna echt das italienische Ministerium hat braucht die keine Doppelgänger von den Ministern zu machen. Die wird sie wohl mit irgendeinem Veelazauber auf sich einstimmen, zumal die meisten von denen ja Männer sind. Wenn die auch echt Sabberhexenanteile im Körper hat könnte die sogar einen Liebes- oder Fügsamkeitstrank mit ihrem eigenen Zeug ansetzen und sie dann davon abhängig machen, dass nur noch wer was davon abbekommt, der ihr brav dient."
"Ja, jedenfalls erhofft sie sich wohl, dass eine ihrer beiden Pläne aufgeht, entweder die Konferenz der Zaubereiminister, wo sie alle auf einen Schlag erwischen kann, oder dass die sich untereinander so heftig beharken, dass sie in Ruhe ihre eigene Macht ausbauen kann", erwiderte Julius. Dann erzählte er seiner Frau noch, dass das Laveau-Institut weiterhin fürchtete, dass die selbsternannte Göttin der Nachtkinder auf die Idee kommen mochte, nichtmagische Verbrecher für sich arbeiten zu lassen und dass der bei der Times arbeitende Jeff Bristol besonders darauf achten sollte, ob sich die ebenfalls in Aufruhr befindliche Unterwelt von New York wieder beruhigte und wenn ja wodurch.
"Ach, das ist der, der mit dieser Metamorphmaga verheiratet ist, Julius. Soweit ich von Jackie Corbeau habe haben die ja auch eine kleine Tochter mit diesen Eigenschaften bekommen." Julius bejahte es.
Julius hatte mit Nathalie und Belle vereinbart, in den Tagen bis Ende Mai noch fünf Stunden herauszuarbeiten, sofern da nicht gerade noch eine Willkommensfeier war. So konnte er zusammen mit Millie, Aurore, Chrysope und Clarimonde am frühen Nachmittag per Flohpulver nach Brüssel. Julius hatte für die Familie Malone je einen Antiportschlüssel gemacht, um sie alle vor ungebetenem Fortbringen zu schützen. Natürlich trugen Millie, Aurore, Chrysope und er ebenfalls ein diebstahlsicheres Band um einen Arm oder ein Bein, das die Kraft von bis zu zehn Portschlüsselzaubern in die Erde ableitete, ohne den davon umschlossenen gegen seinen Willen anderswo abzusetzen. Julius dachte einmal mehr an die dritte Runde des trimagischen Turnieres, dass er zusammen mit Pina, Gloria und Kevin in Hogwarts mitverfolgt hatte. Hätten Cedric Diggory und Harry Potter damals einen solchen Antiportschlüssel gehabt, womöglich wäre der irrsinnige Massenmörder Riddle alias Lord Voldemort nicht wiedergekommen. Aber dann, so dachte Julius weiter, hätte der grausame Hexenmeister als eine Art über allem schwebender Rachegeist weiterhin die Zaubererwelt in Angst und Unruhe gehalten. So hatte er sein eigenes Schicksal besiegelt, als er ausgerechnet Harry Potters vom Aufopferungssegen seiner Mutter aufgeladenes Blut für seine eigene Wiederverkörperung benutzt hatte.
Julius hatte sich sorgfältig mehr als zwanzig Galleonen eingesteckt. Denn wenn er mit Flohpulver reiste und hochpotente Zaubergegenstände mitführte musste er wohl eine Gebühr pro Gegenstand bezahlen. Da die Antiportschlüssel zu Schutzgegenständen der Stufe fünf erklärt worden waren konnte es durchaus sowohl in Frankreich wie in Belgien je zwei Galleonen und acht Sickel kosten. Das mal vier ergab eine Zollgebühr von neunzehn Galleonen und dreizehn Sickel. Doch das waren ihm Kevin und Patrice wert, hatte er beschlossen.
Wie zu erwarten war musste er bei der französischen Grenzstation die vier Geschenke als solche anmelden und erklären, dass es am Körper tragbare Schutzgegenstände waren. Der ihn prüfende Reisebeamte untersuchte die vier Gegenstände mit mehreren Geräten und fand eine starke Zauberkraftaura des Elementes Erde, aber keine schädliche Auswirkung. So zahlte Julius entsprechend der gemessenen und deklarierten Schutzbezauberungsstufe für die Ausfuhr und an der belgischen Flohpulvergrenzstation nach Vorlage der Ausfuhrbescheinigung und neuerlicher Nachmessung der Bezauberung auch eine Einfuhrgebühr, wobei er schriftlich anmeldete, dass es sich um Geschenke an eine Privatperson handelte. Hätte er die Antiportschlüssel verkaufen wollen wären sicher noch Lizenzgebühren und Gewerbeabgaben in Höhe von bis zu zehn Prozent des verhandelten Gegenstandes fällig geworden. Doch so hatte Julius von seiner Seite aus alles rechtlich notwendige erledigt. Millie meinte dazu nur: "Wie viel wollte Florymont noch mal im freien Handel haben, wenn das Ministerium diese Dinger nicht als behördlich verwendbare Gegenstände eingestuft hätte?" Julius erwähnte sowas von dreißig Galleonen je Armband. "Da kommen wir ja noch gut weg, wenn wir vier davon verschenken", mentiloquierte Millie. Dann rückte sie Clarimonde in ihrem für Flohpulverflüge ausgelegten Babytragesack zurecht und hob Chrysope hoch, um mit ihr zu flohpulvern. Julius nahm Aurore in die Arme und kletterte freihändig in das smaragdgrün lodernde Feuer des geräumigen Reisekamins, um das Endziel auszurufen.
Julius dachte daran, wie sie vor zwei Jahren die Ankunft von Shivaun Renée Malone gefeiert hatten. Die große Schwester des heute zu begrüßenden neuen Erdenbürgers hatte fast einen ähnlich guten Wachstumsschub hinbekommen wie Chrysope. Doch am Ende, so konnten Millie und er mit sehr schwer zurückgehaltenem Stolz feststellen, hatte Shivaun fünf Zentimeter weniger geschafft als Chrysope. Dafür war die Kronprinzessin der Malones ein wahrer Wonneproppen. So ähnelte sie schon eher der strahlenden Cousine Corinne, die zusammen mit ihren Eltern auch da war. Corinnes Vater, also Patrices ganz großer Bruder, sollte Pate des kleinen Maurice Sean werden. Corinne ließ für Millies und Julius' Ohren vernehmen, dass ihr Vater die Eltern dazu beknien wollte, den zweiten Vornamen mit J zu schreiben und nicht die irische Schreibweise zu nutzen. Doch Patrice pflichtete ihrem Mann bei, dass wie bei Shivaun auch bei Maurice die teilweise irische Abstammung gewürdigt werden sollte, auch wenn Kevins Vater seine Drohung wahrgemacht und die Teilnahme an der Feier verweigert hatte.
Da es tradition war, dass eingepackte Geschenke von den Eltern nicht vor der Zeremonie ausgepackt werden durften und Julius nicht wollte, dass alle Gäste mitbekamen, was er den Eltern besonderes schenkte, bat er Patrice und Kevin darum, sich mit ihm noch einmal kurz in einem kleinen Raum des Hauses zu treffen. Dort packte er die vier Anti-Portschlüssel-Bänder aus und gab sie an Patrice und Kevin. "Macht die euch am besten schon mal drum. Die Dinger schützen vor unerwünschten Portschlüsseln. Es ist ein Geschenk von Monsieur Dusoleil und mir. Muss nicht unbedingt wer mitkriegen, auch wenn ich die Dinger als Schutzzaubergegenstände der Stufe fünf angemeldet habe."
"Ach, dann fürchtest du, dass VM mich einkassiert, wo Pattie und ich gerade das zweite Kind hingekriegt haben?" grinste Kevin. Julius erwähnte, dass es nicht nur gegen die Machenschaften von VM gedacht war. "Du hast doch erzählt, dass eine deiner entfernteren Verwandten ungehalten ist, dass du mit Patrice zusammengekommen bist. Am Ende kommt die noch auf die Idee, dir einen Portschlüssel zuzuspielen, der dich nach Irland bringt, ohne dass du da wieder hinwillst."
"Die alte O'Casy? Der habe ich vor drei Wochen noch einen halben Heuler geschickt, dass die sich gefälligst aus meinen Sachen raushalten soll, Julius. Die meinte wieder, ich sollte mich absetzen und Patrice mit den beiden Kleinen sitzen lassen oder zumindest ddenen so eine Art Aufzuchtsgeld bezahlen, wenn die mich dafür aus dieser Besennummer freigeben. Die hat so überheblich und unverschämt getextet, dass ich der fast einen echten Heuler rübergeschickt hätte. Aber Dad meinte mal, dass die einem Heuler als körperlichen Angriff auslegt. Na ja, mit meiner Antwort wird sie auch so nicht echt glücklich geworden sein", sagte Kevin verächtlich.
"Die hat auch nichts geschickt", sagte Patrice. "Wenn die echt auf die ganz alten Traditionen steht wird sie's jetzt auch lassen, Pattie. Denn sobald ich, ein geborener Malone, einen Sohn habe, habe ich für den da zu sein, bis er selbst volljährig ist", erwiderte Kevin. "Das ist auch sehr wichtig, Kevin", sagte seine Frau.
"Wie gehen die Dinger hier denn?" wollte Patrice wissen. Julius erklärte es ihr, dass nur, wer die Bänder um ein Hand- oder Fußgelenk band, sie auch wieder abmachen konnte. Darüber hinaus wehrten sie mindestens zehn Portschlüsselreisen innerhalb eines Monats ab, konnten sich aber an den Kräften der Erde wieder aufladen. Patrice nickte und band sich ihren Antiportschlüssel demonstrativ um den rechten Arm. Kevin überlegte noch kurz. Dann band er sich ebenfalls den ihm gegebenen Portschlüssel um den rechten Arm.
"Und mit dem Ding am Arm kann mich kein Portschlüssel wegbringen?" fragte Kevin. "Die Portiermagie wird quasi wie bei einem Blitzableiter in die Erde abgeleitet, auch wenn du gerade auf einem fliegenden Besen unterwegs bist oder mit einem Boot auf dem Fluss hier herumgondelst, öhm, Schelde heißt das Gewässer glaube ich", sagte Julius. Er erwähnte die ihm bekannt gewordene Entführungsmethode Vita Magicas, entweder mit Zeitbezogenen Portschlüsseln oder fliegenden Leinensäcken, die ihre Opfer einfingen und dann mit ihnen verschwanden.
"Na ja, aber die Leute von VM werden mich wohl erst mal in Ruhe lassen, wo Pattie und ich schon unser zweites Zaubererweltbaby hinbekommen haben", sagte Kevin mit einem gewissen Unbehagen, als sie wieder unterwegs zur trinklustigen Runde waren. "Soweit ich das mitbekommen habe verschleppen die doch eher die Leute, die bisher keine Kinder haben wollten aber starke Hexen und Zauberer sind." Julius merkte an Kevins Gesicht, dass er auf jeden Fall erleichtert bis froh war, dass er einen solchen Schutzgegenstand bekommen hatte.
"Ist zwar richtig, dass diese Banditen hauptsächlich an die rangehen, die überhaupt noch keine Kinder bekommen haben oder überhaupt keine habenwollen. Aber wie wir in Millemerveilles und ihr bei der vorzeitig abgewürgten Weltmeisterschaft mitbekommen mussten fahren die neuerdings ein ziemlich heftiges Massenzeugungsprogramm. Kann sein, dass denen das Wasser bis zum Hals steht, dass sie auffliegen könnten. In so einer Lage tun Leute die heftigsten Dinge, nur um sie noch zu erledigen, bevor sie es nicht mehr können", sagte Julius. Irgendwie schienen Kevin diese Worte heftiger zu bewegen als Julius es gedacht hatte. Konnte es sein, dass Kevin auch an andere Leute dachte, die ihm übel mitspielen mochten?
"Auch deshalb haben der Mann von der grünen Gartenhexe und du diese Antiportschlüsselbändchen gedreht?" fragte Kevin. Julius nickte.
Eine halbe Stunde vor der angesetzten Zeremonie trafen Dana Malone und ihre Nichte Gwyneth ein. Kevin freute sich sichtlich, zumindest zwei Blutsverwandte dabei zu haben. Auch die kleine Shivaun, die trotz allen Stresses doch ganz stolz war, eine große Schwester sein zu dürfen, eilte ihrer Großmutter überglücklich entgegen. Julius hörte, wie sie sich auf Gälisch unterhielten. Die Sprache konnte er nicht. Er hörte nur zweimal den Namen O'Casy heraus, der mit einer gewissen Verachtung gesprochen wurde. Er sah, wie Kevin erst bedauernd den Kopf wiegte und dann doch seine Mutter innig umarmte, dass sie wenigstens gekommen war.
Die Willkommenszeremonie war so fröhlich wie erhaben. Alle beglückwünschten die jungen Eltern zu diesem neuen Mitbewohner. Aurore und Shivaun stellten sich sogar Hand in Hand zusammen, um für Shivauns kleinen Bruder auf einem Foto festgehalten zu werden.
"Öhm, ich dachte, in Millies Ahnenlinie ist eine echte Zwergin drin. dann müssten eure Kinder doch alle klein sein", meinte einer von Corinnes Quidditchkameraden, als Julius mit dem jungen Vater und anderen Zauberern einen Schluck echten irischen Whisky auf das lange Leben von Maurice Sean Malone trank. Julius erwiderte darauf, dass in Millies Ahnenlinie aber auch eine reinrassige Riesin gewesen sei, zwar nicht unmittelbar als Großmutter oder Urgroßmutter, aber noch stark genug, um den Zwergenanteil zumindest bei den Mädchen auszugleichen. Ob das bei einem irgendwann dazukommenden Jungen auch so war wusste Julius nicht. Er wollte den Gästen nicht erzählen, dass Millies kleiner Bruder doch eher den Zwergenwuchs seines Vaters und seiner Großmutter väterlicherseits abbekommen hatte. Womöglich reichte Millie das gerade bei den anderen Hexenmüttern herum, die sich mit ihr über die drei bisherigen Kinder unterhielten. Sicher war nur, dass weder sie noch Julius rauslassen würden, unter welchem Druck sie von Ashtarias Tochter Ammayamiria standen. Das musste hier nun wirklich keiner wissen.
"Eh, wo ist denn der Single Malt hin. Habt ihr den ohne mich niedergemacht?" wollte Kevin wissen. seine Gäste lachten laut und meinten, dass die Flasche zu klein für so viele durstige Kehlen gewesen sei. "Ja, und ich dachte, ihr Belgier trinkt entweder Bier oder den aus Frankreich importierten Wein. Da hätte ich ja echt auf meine Cousine hören sollen und ein ganzes Fass ordern können. Aber glaubt nicht, dass ihr mir alles wegsaufen könnt. Ich bin gut vorbereitet", erwiderte Kevin und apportierte eine weitere Whiskyflasche. "Der Reinier hier steht eigentlich auch eher auf Bourbon, seitdem er das Zeug bei den Yankees kennengelernt hat", meinte ein drahtiger zauberer mit schwarzer Igelfrisur, den Julius vor zwei Jahren noch nicht mitbekommen hatte. Laut Kevin war das Jean-Paul Portier, der Hüter der Brüssel Blizzards, der gerade führenden Mannschaft in der gesamtbelgischen Quidditchliga, Dauerkonkurrent von den Antwerpen Arrowheads, welche die unbestreitbare Nummer eins in Flandern waren. Portier war auch der erste Hüter der Nationalmannschaft und hatte somit gegen die Schummeltruppe aus den Staaten zwölf Tore hinnehmen müssen, bevor Corinne Duisenberg den Schnatz erwischt hatte und das auch nur deshalb, weil der US-Sucher Donovan Maveric das betrügerische Glücksritual für sich außer Kraft gesetzt hatte. Deshalb fragte Julius ihn bei der Gelegenheit, ob er diesmal zuversichtlich sei, bis ins Finale durchzuhalten.
"Also, ob ich gegen eure ganze Jägertruppe die Ringe das ganze Spiel lang quaffelfrei halten kann will ich besser nicht beschwören. Aber am Ende wird Draht über Klops siegen. Das darfst du dem Monsieur Rocher so und nicht anders weitersagen."
"Wenn der überhaupt spielen darf, wo es auch hier in Belgien rumgegangen ist, dass der mit einer verheirateten Frau drei Babys hingekriegt hat", spottete Van Boeren, ein Jäger aus der brüsseler Mannschaft. Kevin fühlte sich dabei nicht so erheitert wie früher, wenn jemand Witze über wen anderen riss. Offenbar setzten ihm doch die fortgesetzte Abneigung seines Vaters und die Berichte über Vita Magica zu, vermutete Julius.
Um noch genug Schlaf für sich und die mitgebrachten Kinder kriegen zu können verabschiedeten sich die Latierres gegen halb zehn abends von den jungen Eltern. Julius flüsterte Kevin zu, dass er zusehen sollte, dass alle seine Familienangehörigen das besondere Geschenk an den Körpern tragen sollten. Zu Kefvins Mutter sagte Julius kurz vor der Flohpulverreise nach Hause:
"Ich bedauere es, dass Ihr Mann immer noch so gegen Kevins Entschluss ist und deshalb nichts von seinen Enkeln mitbekommt außer zu wissen, dass es sie gibt. Ich darf und will auch nicht darauf drängen, dass sich an seiner Einstellung was ändert. Dafür kenne ich den Hintergrund dieser Entscheidung zu wenig und habe sowieso keine Weisungsbefugnis Ihnen oder gar ihm gegenüber. Ich habe mich auf jeden Fall gefreut, dass Sie heute da waren, Mrs. Malone."
"Mein Mann ist alten Traditionen verpflichtet, in die er unseren Sohn gerne einbezogen hätte. Ich hoffe auch, dass er doch noch erkennt, dass er Kevin verliert, wenn er so weitermacht. Ich werde auch nichts davon erzählen dürfen, was ich hier gehört und mit wem ich so gesprochen habe. Das ist noch schlimmer, als wenn ich nicht hergekommen wäre. Du darfst froh sein, dass deine Mutter und deine Schwiegereltern sich offenbar noch so gut verstehen, dass sie euch nicht in unangenehme Gewissensnot bringen. Ich wünsche dir und deiner Familie alles Glück und allen Erfolg, was ihr euch verdient."
Julius bedankte sich auch im Namen seiner Frau und seiner Töchter. Dann flohpulverten Millie, Aurore, Chrysope, Clarimonde und er wieder zur Grenze in Belgien. Von da aus ging es erst zur französischen Flohnetz-Grenzstation. Von dort aus reisten sie in das Apfelhaus zurück. Um viertel nach Zehn schafften die Latierres es, ihre beiden erstgeborenen ins Bett zu kriegen, so viel hatten die zwei größeren heute wieder erlebt.
"Gewissensnot", griff Julius ein Wort von Kevins Mutter auf. "Im Grunde reicht das schon aus, dass Ashtaria uns über Ammayamiria dieses Ultimatum gesetzt hat." Millie erwiderte darauf: "Tja, bis zum Juni 2005 sollten wir das geklärt haben, ob das, was du geträumt hast nur eine unbewusste Vorstellung von dir war oder wirklich so ist", meinte Millie. Sie klang genauso unbehagt wie Julius. Eigentlich hofften sie beide, dass Ashtarias Aufforderung nur ein Ansporn war. Doch die Dringlichkeit, mit der Ammayamiria diese Aufforderung verkündet hatte klang nicht nach einer freundlichen Anregung oder einem Vorschlag, sondern nach einer unerbittlichen, unbedingt zu erfüllenden Aufforderung. Ja, sie mussten es vorher klären, was an Julius' merkwürdigem Traum dran war.
Millie lachte laut durch das Apfelhaus, als sie am Morgen nach der Willkommensfeier für den kleinen Malone ihren Digeka auf neue Nachrichten prüfte. Gestern sollte ja in den Staaten die Gerichtsverhandlung wegen des Vertrages zwischen dem Zaubereiministerium und Vita Magica stattfinden.
"Julius, das Ding ist eine Fälschung. Es ist nicht bindend, haben die Richter festgestellt. Jetzt ist dieser Minister - Buggles - in heftiger Erklärungsnot", verkündete Millie und kam mit drei Pergamentblättern winkend aus ihrem Arbeitszimmer. Julius fragte, was die Richter genau gesagt hatten. So durfte er den von Gilbert Latierre ins Französische übersetzten Artikel von Linda Latierre-Knowles lesen. Es ging erst mal um die Zusammensetzung des Gerichtes und die beiden Parteien. Julius nickte, als er den Namen Ironside las. Dieser Richter hatte damals auch den Geheimprozess gegen Jane Porter geführt, wo Julius am Ende als Zeuge aufgetreten war und der damalige Zaubereiminister Pole ihn mit seiner Version aus der Zukunft mundtot zu machen versucht hatte. Dann las er, dass das angebliche Original des Vertrages begutachtet worden war. Dabei war herausgekommen, dass es entweder nicht das Original war oder das Schriftstück keine magische Bindungskraft besaß, also alles, was Dime unter dem Einfluss des Catena-Sanguinis-Zaubers mitbeschlossen hatte, ungültig war, nun, wo bekannt war, dass der damalige Minister unter fremdem Einfluss gehandelt hatte. Zwar sei nun zu befürchten, dass das US-Zaubereiministerium den ungewollt Mutter gewordenen Hexen keine Unterhaltszahlungen gab, doch das sei bereits Gegenstand eines demnächst angesetzten Prozesses. Im wesentlichen konnten die klagenden Parteien nun sogar auf mehr Schadensersatz klagen, weil sie über ein Jahr im Glauben gehalten worden waren, der Vertrag sei unanfechtbar. Auf jeden Fall hatte Millie recht, und Lionel Buggles war in arger Erklärungsnot. Denn die vom Gericht durchgeführte Prüfung hätte auch er damals machen können, als Silvester Partridge und Minister Dime verschwanden. Es sollte sogar schon einige geben, die Buggles als VM-Agenten beschuldigten. Jedenfalls riefen viele nach schnellen Ministerwahlen und eine große Umbildung der Zaubereiverwaltung in den Staaten. Dagegen wiederum protestierten alle die, welche fürchteten, dass die US-amerikanische Zauberergemeinschaft in der Zeit nicht ordentlich geführt würde und sich dann erst recht dunkle Gruppierungen und Einzelpersonen dort austoben würden.
"Hier steht was davon, dass der geschäftsführende Zaubereiminister in den nächsten Tagen nach Europa reisen wolle, um wegen der Handelsfragen mit den Kollegen zu sprechen. Es steht aber nicht drin, wen er wann besucht", meinte Julius zu seiner Frau.
"Das glaubst du aber, dass ich gleich noch eine entsprechende Frage in die Presseabteilung schicke, ob wir demnächst Besuch aus den USA kriegen, Julius", entgegnete Millie. "Vielleicht bekommst du davon auch was zu hören. Du hast ja erzählt, dass Charlier immer noch damit hadert, dass du für Nathalie Grandchapeau diese Vampirblutresonanzkristalle beschafft hast. Könnte sein, dass dieser Buggles das auch klären will, wer da was bei wwem anfordern darf." Julius seufzte. Das konnte wirklich noch passieren. Dennoch apparierte er sichtlich erleichtert, dass Vita Magica eine heftige Niederlage kassiert hatte zu seiner Arbeit.
Eartha Dime saß in der chilenischen Niederlassung von Vita Magica und unterhielt sich mit den führenden Mitgliedern vom hohen Rat des Lebens. Sie waren sich einig darüber, dass dieser Rückschlag vor dem US-Zaubergamot zu erwarten gewesen war. Doch welche Auswirkungen dieser Prozess für die Organisation haben würde konnten sie noch nicht klar voraussehen. Jedenfalls stand fest, dass die Agenten auf dem Gebiet der USA jederzeit mit einem Besuch vom Zaubereiministerium rechnen mussten. Denn weil sich einige von denen schon so sichergefühlt hatten waren sie ja dem Ministerium bekannt geworden. Einige Projekte, die gerade in Vorbereitung waren, könnten gefährdet werden. Vor allem das große Mora-Vingate-Fest im Juli konnte nicht so offen beworben werden wie die Party im letzten Sommer bei Viento del Sol, auch wenn die Bewohner der Siedlung hunderte von Eingaben gemacht hhhatten, dieses Fest zu unterbinden.
"Dieser Silvester Partridge hat uns einen todsicheren Rückzugsraum verdorben, das ist nicht mehr zu ändern. Aber die werden wieder nach uns rufen, wenn die Vampire oder Werwütigen bei denen Überhand nehmen", erging sich der ranghöchste Ratssprecher aus den USA in einer trotzigen Voraussage.
"Ich denke aber erst mal, dass wir ein anderes Problem haben, Leute", sagte Perdy. "Unsere Leute haben was von mehreren Treffen mehrerer Zaubereiminister in den nächsten Tagen oder Wochen berichtet. Wenn Ladonna Montefiori den Coup wiederholt, den sie in Italien gelandet hat, haben wir bald eine von ihr gelenkte Weltregierung, die uns genauso auf die Abschussliste setzt wie die Werwütigen und die Langzähne. Die Nachtschatten scheren sich eh nicht um Landesgrenzen oder Zuständigkeiten. Aber wenn dieses Weib es hinkriegt, möglichst viele Minister zu unterwerfen, ohne dass wir anderen das mitbekommen könnte sie zum Sturm auf alle blasen, die von uns mit neuen Kindern beglückt wurden. Sie könnte all die Kinder umbringen lassen, die nicht mit Willen der Mütter entstanden sind. Das wäre der größte Rückschlag, den wir kassieren könnten, Leute", sagte Perdy mit hörbarem Unbehagen.
"Ja, und jetzt, wo Buggles wohl versuchen wird, uns möglichst aus den Staaten rauszukriegen, weil er natürlich das ganz arme Opfer ist, bekommen wir es wohl nicht mit, wo diese Konferenz stattfindet", sagte Mater Vicesima Secunda.
"Wenn meine Landsleute ihn da überhaupt noch irgendwo hinfahren lassen", meinteEartha Dime, nachdem sie ordentlich ums Wort gebeten hatte. Das war ja zwar keine offizielle Ratssitzung, sollte aber schon diszipliniert ablaufen.
"Dann müssen wir wohl wieder zusehen, einen von denen auf unsere Seite zu holen. Das Vorgehen war ja an und für sich narrensicher", sagte Pater Duodecimus Canadensis. Dem widersprach jedoch Mater Vicesima Secunda. "Catena-Sanguinis können wir wohl vergessen. Denn offenbar wurde Chroesus Dime ja schon vor dem Besuch von Silvester Partridge darauf geprüft. Man hat es ihm nur nicht erzählt, um ihn nicht dadurch zu töten, dass andere es wussten. Das wird sich bei den Heilern rumgesprochen haben, und deshalb dürften die Zaubereiminister jetzt alle gesondert überwacht werden. Ich denke eher, dass wir dann, wenn wir nicht früh genug erfahren, wo diese Ministerkonferenz stattfindet, damit rechnen müssen, dass nur die Franzosen die dort von uns auf den Weg gebrachten Kinder nicht umbringen werden, weil Ladonna gerade Stimmung gegen die Ministerin Ventvit macht."
"Ja, ausgerechnet Frankreich, wo wir den größten Nachwuchsanregungserfolg überhaupt erzielt haben", grummelte ein anderes Ratsmitglied. "Aber was machen wir, wenn die wirklich alle für unerwünscht gehaltenen Kinder umbringen wollen?"
"Die und ihre Eltern da rausholen, bevor dieser Kindesmorderlass oder was es dann sein wird umgesetzt wird oder die betreffenden Zaubereiminister aus dem Verkehr ziehen, so wie Cartridge", schlug Perdy vor. Darauf konnten sich alle verständigen. Also galt es, Pläne zur Evakuierung bekannter Familien zu entwickeln, die von Vita Magica mit ungeplantem Nachwuchs "bereichert" worden waren. Das Vorhaben sollte unter dem Decknamen "Operation Babyspeck" in allen Niederlassungen ausgearbeitet werden. Falls es nötig war sollten die registrierten Familien, ausgenommen jene in Millemerveilles, von VM-Agenten mit großen Portschlüsseln eingesammelt und gegen den Willen der Eltern in die Niederlassungen gebracht werden.
Laurentine Hellersdorf war doch froh, dass Catherine eingeweiht war. Denn wenn sie abends kurz nach dem gemeinsamen Abendessen mit den Brickstons noch weg musste brauchte sie keine Claudine, die ihr noch hinterherlaufen würde. Auch war sie morgens nicht so munter wie früher. Das merkte sie immer dann, wenn sie vor einer der unterrichteten Schulklassen überlegen musste, was genau sie nun unterrichten musste und was sie nur ganz spontan erzählen wollte. Sie erkannte jetzt, wie wichtig Unterrichtspläne waren.
Die Sonderstunden bei Louiselle Beaumont waren anstrengend und zwischendurch auch schmerzhaft. Dennoch empfand sie auch eine Genugtuung, dass sie stärkere Zauber lernen durfte als in Beauxbatons. An diesem Abend hatten sie nach der sogenannten Aufwärmrunde auf dem Duellierfeld über die lähmende oder besänftigende Stimme gesprochen, einen von willensstarken Zauberkundigen verwendbaren Beeinflussungszauber. "Goldblütenhonig kann dagegen schützen wie gegen so vieles. Aber noch wirksamer ist es, zu diesem Schutz noch den inneren Aufschrei zu können, mit dem die Macht der lähmenden Stimme aus dem eigenen Geist verdrängt werden kann. Der Zauber gelingt aber nur bei solchen, die auch bereit sind, gegen den Nutzer der lähmenden Stimme anzukämpfen. Da du schon mehrmals gegen mich angetreten bist bist du jetzt soweit, den Zauber zu erlernen."
"Und was ist an dem verwerflich?" fragte Laurentine, weil sie in den letzten Tagen viele höchst fragwürdige Verteidigungsvarianten erlernt hatte wie den Herzschlagübersteigerungszauber, den sie gleich am ersten Tag abbekommen hatte.
"Da der Schrei nur geistig ausgeführt wird müsste jemand schon Mentalauditor oder -auditorin sein wie Professeur Fixus, um davon beeinträchtigt zu werden. Allerdings kann der innere Aufschrei auch die eigene Aggression ins berserkerhafte steigern. Du könntest bei mangelhafter Selbstbeherrschung darauf verfallen, deinen Gegner töten zu wollen und dich von niemandem mehr daran hindern zu lassen. Laurentine musste an das denken, was Julius ihr über seine Zeit nach dem Schlangenmenschenangriff auf Beauxbatons erzählt hatte, wobei sie genau wusste, dass er ihr niemals alles erzählen würde. So wütend und unbeherrscht zu handeln konnte wirklich schlimme Folgen haben.
"Ich fürchte, ich muss diesen Zauber lernen, auch um gegen Ladonna Montefiori bestehen zu können", sagte Laurentine. Dann konzentrierte sie sich voll auf die Ausführung dieses inneren Widerstandszaubers.
Sie merkte bei den ersten Übungen, dass dieser "innere Aufschrei" sie tatsächlich wütend machte. Sie dachte an die Szene, wo der Imperator Luke Skywalker dazu verleiten wollte, sich von seinem Zorn übermannen zu lassen. Ja, sie tanzte ziemlich frei auf einem sehr dünnen drahtseil, erkannte sie einmal mehr. Doch was half es? Die Welt da draußen war angriffslustiger den je.
Als sie dann tatsächlich in eine solche Rage geriet, dass sie am liebsten alles und jeden hier auseinandergeflucht hätte konnte sie Louiselle mit einem Gefühlsdämpfungszauber erwischen. Als Laurentine von lodernder Wut auf total teilnahmslos runtergekühlt war merkte sie, dass sie schon an den tödlichen Fluch gedacht hatte, falls Louiselle ihr nur einen Grund dafür bot. "Also, das mit dem Gefühlsdämpfungszauber kann ich nicht immer machen, weil ein davon mehrmals getroffener Mensch mit der Zeit dagegen abstumpft und dann im Gegenteil immer unbeherrschter und triebhafter wird. Meine Großmutter hat ihn mal als Schmiedehammer bezeichnet, um wirklich gefährliche Psychopathen zu formen. Aber wie du gemerkt hast ist er zumindest beim inneren Aufschrei ein unmittelbar wirksames Gegenmittel."
"Öhm, ja, aber falls jemand schon mit so vielen Gefühlsdämpfungszaubern beharkt wurde, dass die nicht mehr wirken oder er dann erst recht ausrastet, öhm, voll wütend dreinschlägt?" fragte Laurentine.
"Tja, damit meine Tante uns beide nicht zum Wickeldienst in ihrem Entbindungsheim verdonnert sage ich es besser nicht, dass du noch behaupten müsstest, es von mir gehört zu haben."
"Du meinst, dann geht nur noch der Todesfluch, richtig?" fragte Laurentine völlig gefühlsfrei, da der Dämpfungszauber noch wirkte.
"Ich habe das nicht gesagt", erwiderte Louiselle darauf.
"Und Imperius?" fragte Laurentine.
"Wer wirklich derartig in Rage ist kann davon nicht mehr berührt werden. Es hat tatsächlich Zauberer gegeben, die sich mit dem Einspritzen von Riesenblut in eine derartige Rage hineingesteigert haben, um Imperius und Cruciatus abzuwehren. Tja, aber reines Riesenblut kann, wenn es mit menschlichem Blut vermischt wird, die dunkelsten Gelüste und Aggressionen entfachen. Du durftest es ja mitbekommen, dass dein Jahrgangskamerad Julius Latierre in Beauxbatons immer zwischen allen Gefühlen hin und her geworfen wurde, von Lust auf Beischlaf über tiefe Trauer, Angst vor sich selbst und eben auch Wut. Und dabei hat er nur eine Halbriesenblutinfusion erhalten." Laurentine nickte bestätigend. Dann brachte sie den Spruch von der Dosis, die das Gift mache. "Ja, da hat der Herr Paracelsus schon recht gehabt, auch wenn er sehr darum bemüht war, die nichtmagische Welt im Glauben zu halten, es gebe keine Magier, und die Alchemisten hätten nur Unsinn verzapft. Er hat damals schon gemerkt, wie gefährlich es war, sich den Magielosen gegenüber als Zauberer oder Hexe zu offenbaren." Auch das wusste Laurentine, und leider war sie eines der besten Beispiele dafür, wohin die strickte Ablehnung der Magie führen konnte. Das merkte sie immer wieder, wenn sie ihre Schulkameraden mit ihren Eltern zusammen sah und dann immer daran dachte, dass ihre Eltern mit ihr nichts mehr zu tun haben wollten. Aber genau deshalb wollte sie den Kontakt mit ihrer Großmutter Monique auf keinen Fall abreißen lassen. Deshalb musste sie zu ihrem Geburtstag hin, und genau deshalb stand sie jetzt völlig Nackt vor dieser anderen Hexe, die ihr noch heftigere Zauber zeigte, als sie bisher gelernt hatte.
Die letzte halbe Stunde der heutigen Übung war noch einmal Wiederholung der letzten Tage und fünf Minuten freies Duelltraining. Dann durfte sie sich wieder anziehen, ihre Sachen nehmen und vor dem kleinen Schloss mit den vielfältigen Tarnzaubern disapparieren.
"Sie sind größtenteils entmachtet, meine Königin. Nach dem Fall des Nuvolebianche-Turmes konnten wir die in anderen Regionen Italiens lebenden Verwandten festnehmen. Einige haben einen Selbsttötungszauber angewandt", dachte Minister Bernadotti.
"Ja, und die Feuerlenkerbande Fulminicaldi?" fragte seine Herrin über die Gedankenbrücke zurück.
"Solange wir keinen wirksamen Schutz vor dieser Gabe vermitteln können sind der alte Ignatio und seine Söhne gefährlich. Wir können froh sein, dass wir durch den angefachten Krieg zwischen den anderen Familien dafür gesorgt haben, dass seine Banditen sich zurückhalten. Aber wenn du ihn entmachten willst brauchen wir eine Waffe gegen die Gabe der Feuerlenkung."
"Wenn das Wasser zu schnell versiegt muss Feuer mit Feuer gelöscht werden", teilte Ladonna mit. "Ich will diese uralte Bruderschaft in das Vergessen schicken, wohin sie gehört. Wie steht es um die Sache Ventvit?"
"Das Misstrauen gegen Ornelle Ventvit schwelt, meine Königin. Doch es entsteht auch eine Gegenbewegung. Es mag sein, dass doch schon mehr Kollegen von mir wissen, dass Ihr das Land regiert, meine Königin."
"Das mögen sie denken oder nicht. Sie müssen zusammenkommen, um sich abzustimmen. Aber wenn diese von einer Veela gesegnete mit dabei ist kann ich sie womöglich nicht alle unterwerfen."
"Wollt Ihr sie töten, meine Königin?" fragte Bernadotti.
"Ich selbst oder eine meiner Schwestern werde das sicher nicht tun. Es wäre günstiger, wenn jemand anderes sie für so gefährlich hält, dass sie sterben muss. Doch außer den Abgrundsweibern fallen mir da nur diese Blutsauger ein. Wäre zwar amüsant, diese vor meinen Karren zu spannen. Doch diese Götzin, der sie dienen beherrscht die schon so gut, dass sie es merken würde, wenn ich da was in Gang setzen will. Nein, vorerst muss es reichen, dass Ornelle Ventvit nicht bei der Ministerkonferenz in Bergamo dabei ist. Ich gebe euch noch fünf Tage, um das sicherzustellen, dass sie nicht erfährt, wo ihr euch treffen wollt. Bekomme ich mit, dass sie bei der Konferenz ist hast du versagt, Romulo Bernadotti."
"Ich werde es schaffen, dass sie nicht dabei ist, ob tot oder lebendig, meine Königin", dachte der Minister zurück.
Claudines siebter Geburtstag war ähnlich zweigeteilt wie die Feier von Aurore und Chloé. Denn auch Millies kleine Schwester Miriam feierte heute ihren siebten Geburtstag. Deshalb bot es sich an, dass sie alle auf neutralem Boden feierten, also dem Apfelhaus von Millemerveilles. Babette Brickston hatte für ihre jüngere Schwester eine konservierte Bild-Ton-Nachricht geschickt, dass sie sich freute, dass alle bei ihr sein konnten, denen sie wichtig war und sie das in den Großen Ferien nachholen würde, wenn auch die anderen aus Beauxbatons in die Ferien kamen.
Madeleine L'eauvite hatte für ihre zweite Patin einen Bücherschrank voller lustiger Bücher besorgt. Miriam bekam von ihren Verwandten eine kleine Harfe, weil sie anfing, mehr Musik zu machen. Tatsächlich gaben die schon großen von der doppelten Geburtstagsparty für beide Jahresjubilare ein Hauskonzert, wobei Millie am Klavier saß, Laurentine Geige spielte, Callie und Pennie Xylophon spielten und Beatrice, Catherine und Julius ein schönes Blockflötentrio darboten. Die anderen durften auf mitgebrachten Handtrommeln den Takt klopfen. Joe, den Catherine mit der Reisesphäre herübergebracht hatte, konnte sich tatsächlich auch mal amüsieren.
Wegen der kleinen Kinder im Apfelhaus ging die Feier nur bis halb neun Abends. Dann verabschiedeten sich die Gäste. Laurentine verließ mit den Brickstons das Apfelhaus. Zum Schluss waren nur noch Hippolyte und Albericus mit dem Kleinen Alain Durin und Martine da.
"Auch wenn Miriam uns sicher bald die Ohren volltrötet, dass sie ganz gerne ihren ganz eigenen Geburtstag hätte haben wollen denke ich mal, dass ihr der Tag heute doch sehr gefallen hat", meinte Hippolyte.
"Tja, große Schwester, du hättest die nur fünf Stundenlänger bei dir behalten müssen, dann hätte sie ihren ganz eigenen Geburtstag feiern können", feixte Béatrice. "Das sagt die, die nur Pflückt aber nicht pressen will", knurrte Hippolyte Latierre. Béatrice grinste darüber nur.
"Laurentine sah leicht abgekämpft aus, als sie heute hier ankam", meinte Millie zu Julius. Dieser vermutete, dass ihr die vielen Vertretungsstunden doch gut auf die Knochen gingen und sie nicht wisse, wie sie das wieder ausgleichen sollte. Millie meinte, dass sie vielleicht doch mal wieder auf einem Besen fliegen sollte. Immerhin ging der beim trimagischen Turnier gewonnene Ganymed 12 doch noch gut ab. Das konnte Julius nur bestätigen.
Tondarammayan hatte seine ersten Aufgaben als neuer Lichtfolger bewältigt. Er war in eine Bergregion der Ansiedlungen in Abendrichtungen gereist, um dort Streitigkeiten zu schlichten. Jetzt kehrte er zu seiner Gefährtin zurück.
"Die Diener des selbsternanntenDieners der alles endenden Nacht sind sich ihrer Sache sicher, dass ihre Krieger bald alle wichtigen Verwaltungsstätten besetzen werden, um unser Land durch Abkehr von Freude und friedlichem Miteinander auf die angeblich bald erfolgende Rückkehr in die Dunkelheit vorzubereiten", seufzte Tondarammayan. "Sie drohen sogar mit Krieg, dem schlimmsten Verbrechen denkender Wesen an anderen denkenden Wesen. Der hohe Rat des Lichtes will sich diesenDrohungen nicht beugen. Also sollen wir demnächst auch mit den Mitteln der Erd-, Wasser-, Wind- und Feuervertrauten zu kämpfen bereit sein."
"Das haben wir ja lernen müssen, dass ein dauerhafter Friede nur dort besteht, wo ihn ausnahmslos alle wollen und als Fortbestandsgrundlage anerkennen. Die Mitternächtigen setzen auf die Stärke jedes einzelnen, die erlaubt, sich zu nehmen, was mit Händen, Verstand oder der Kraft zu ergreifen ist. Deshalb wird es diesen wunderschönen Traum vom ewigen Frieden nie geben, denn dazu müssten die in uns lauernden Raubtiere vernichtet werden. Aber dann wären wir nicht mehr angespornt und Handlungsbereit genug."
"Ja, ich erinnere mich an die Geschichtsunterweisungen, dass die Lichtfolger vor zwei Tausendersonnen schon mal eine Geburtengruppe hervorgebracht haben, bei der das innere Raubtier getötet wurde. Für sich in einer Gruppe waren sie glücklich und friedlich. Doch jeder kleinste umschwung im Wetter oder Einfluss von außen hat sie dermaßen überwältigt, dass die Gruppe selbst als geschlossene Gemeinschaft nicht länger als eine Hundertersonne überleben konnte. Also gilt ja, dass das innere Raubtier weiterleben muss. Die in uns mitwachsende Dunkelheit aus früheren Tagen bestimmt mit, wie das Licht geformt ist."
"So ist es", sagte Tondarammayans Gefährtin.
"Tondarammayan, mein Sohn, bitte komm zu mir", hörte er die Gedankenstimme seiner Mutter in sich. Sie klang ein wenig traurig, aber auch entschlossen. "Meine geliebte und am höchsten verehrte Lebensgeberin wünscht mich zu sprechen, meine ebenso geliebte Khauldarammaya. Deshalb werde ich wohl heute Abend nicht das Schlaflied für unsere ganz kleinen Kinder singen können."
"Sie hat auch schon mit mir im Geist gesprochen, mein geliebter Gefährtte Tondarammayan. Ich hoffe, dass du bald wiederkommst, wenn du getan hast, was sie dir aufträgt."
"Dann weißt du schon mehr als ich, Khauldarammaya", erwiderte Tondarammayan. Er küsste seine Gefährtin und verabschiedete sich von seinen Kindern. Dann eilte er auf dem kurzen Weg direkt in das Haus seiner Mutter Ianshira.
"Tondarammayan, dass ich sehr froh bin, dass du dich so gut entwickelt hast sagte ich dir schon. Ich denke immer noch an unsere lange gemeinsame Zeit, als du in meinem inneren Nest aufgewacht bist und erkennen durftest, dass du mein Sohn wirst, an die geteilten Schmerzen, als du mir entschlüpfen musstest, wie ich dich nährte, dir das Sprechen mit dem Mund beibrachte und du dann auch schon die ersten Lieder der hellen Kraft erlernt hast. Doch ich wusste schon in dem Moment, wo ich dein Leben in mir spürte, dass der Tag kommen würde, an dem ich dich auf eine lange und wohl auch gefährliche Reise schicken muss. Denn die Zukunft unseres Seins droht in der alles verschlingendenDunkelheit zu enden, im Feuer aus Gier, Hass, Gewalt und Schmerzen zu verbrennen. Deshalb werde ich dir heute die letzte Gabe mitgeben, damit du in dem Land, in das ich dich schicke, ohne Angst vor dem Wahnsinn deine Aufgaben erfüllen kannst. So knie dich bitte vor mich hin und empfange aus meiner nährendenBrust die Milch des neuen Wissens, die deinen Leib und dein inneres Selbst stärken und auf die neuen Aufgaben vorbereiten wird."
"Ich soll noch mal an dir trinken, Mami?" fragte Tondarammayan. "Ja, weil es der einzige Weg ist, mit dem, was du tun musst und dem, was du bist im Einklang zu bleiben."
Tondarammayan fragte nicht weiter. Er sah, wie seine Mutter sich vor ihm hinsetzte und sich bereit machte. Er kniete nieder und beugte seinen Kopf zu ihr hinüber.
"Das wird bestimmt spannend", lachte Kaliamadra. "Ob die glänzende Botin sie beide zugleich in die Welt der Istzeitmenschen bringt?"
"Ich hoffe doch sehr, dass Ianshira nicht die Orichalkregel missachtet, dass sie einen der Ihren nicht unmittelbar dort absetzen darf, wo er auf einen von uns trifft, um ihn zu besiegen."
"Die Regel kenne ich nicht, Schwester. Aber bisher hatten die Lichtfolger und Wirkenden der stofflichen Kräfte ja noch keine Botin, die ihnen neue Lehrlinge bringt." Iaighedonas Schwester nickte. Sie erwähnte, dass bald schon die Entscheidung anstand, ob die wiedererwachte mit dem Feuerring, die Zwei-Mütter-Tochter aus drei verschiedenen Rassen, den Erdteil namensEuropa beherrschen würde oder schon im ersten Ansatz versagte. Dies würde ihr dann drohen, wenn Ashtardarmiria, die glänzende Botin, die beiden gerade in den lächerlichen Lehren der Lichtfolger ausgebildeten genau dort hinbrachte, wo die Entscheidung anstand. Die beiden mal zänkischen, mal völlig einigen Zwillinge wussten, dass sie Ianshira und die ihr folgenden Altmeister nicht daran hindern konnten, die beiden mit neuem Wissen betrauten direkt als entscheidende Kämpfer an denOrt der Entscheidung zu bringen. Sie würden jedoch sehr lautstark widersprechen, falls durch diese Entscheidung der Lauf der istzeitigen Welt massiv verändert würde.
"Abgesehen davon, liebe Kaliamadra, gibt es so viele Orte, an denen es demnächst zu wichtigen Entscheidungen kommen mag. Wenn die beiden erst einmal Khalakatan verlassen haben wird Ashtardarmiria sie nicht immer wieder holen."
"Die eine Frau, die diesen aufsässigen Jungen in ihre Heimat zurückholen wollte, fürchtet die Strafe der Zwei-Mütter-Tochter. Ihre eigene Unfähigkeit wird ihr zusetzen."
"Ja, und die Nachtkinder belauern einander, weil die der aus Iaxathans Mitternachtsstein entstammenden Herrscherin abgeneigten Nachtkinder einen Weg suchen, sich ihr zu entziehen. Und die Mondgetriebenen wollen auch demnächst wieder mehr Blut und Angst in die Eingestaltlervölker treiben."
"Und du hast unsere Lieblingsanwärterin auf den Trhon der dunklen Reiche vergessen, Schwester. Birgute Hinrichter."
"Ja, sie wird wohl auch nicht mehr lange stillhalten, wenn noch mehr ihrer Schatten beraubte Knechte erkannt und getötet werden." Die beiden lachten hämisch und laut. Doch diesmal antwortete niemand darauf.
Er konnte endlich wieder richtig laufen! Ja, und das lästige Pochen und Ziehen in seinen Kiefern war auch überstanden. Eben noch ein hilfsbedürftiger Säugling, war er von einem Moment zum anderen wieder ein erwachsener Mann, Adrian Moonriver. Die Frau oder Hexe, die ihm und Madrashtarggayan als Amme gedient hatte, war einen halben Kopf kleiner als er. "So gebe ich dich wie versprochen nach einem Jahr zurück in deine Weltt und an dein Volk. Doch bewahre nun alles, was du gelernt hast und erweise dich dessen immer würdig", sagte sie. Der weiterhin als ewiger Säugling verbleibende Madrashtargagayan steckte sich mit seinen kleinen Händen die trompetenartige Gedankensprechvorrichtung in den zahnlosen Mund und teilte darüber mit: "Du weißt ja jetzt, dass Neid, Gier und Missgunst dich bisher nur geschwächt haben. Falls du es wieder verlernst, wirst du wieder zu mir zurückkehren und dann mit mir im inneren Nest meiner Mutter verbleiben, bis du genug Zeit gereift bist, um die dir zugestandene Kraft und Erhabenheit wohlbringend anzuwenden. Leb derweil wohl, Adrian Moonriver, früher Adamas Silverbolt!"
Der wieder zum Erwachsenen vergrößerte wollte noch was sagen. Doch da fand er sich mit den Armen an einem Glaszylinder hängen, in dem eine silberweiße, gasartige Substanz leuchtete. Er fühlte die an ihm ziehende Schwerkraft und fiel nach unten. Er besann sich auf die Worte des freien Fluges, die er zwischendurch immer wieder gebraucht hatte, um mit seinem Milchbruder Madrashtarggayan durch die dafür gewährten Übungsräume zu schweben. Jetzt brauchte er diese Kenntnis, um nicht abzustürzen. Er bremste seinen Fall und landete ein wenig holperig, doch unverletzt. ""Mach dir nicht in die Hose, Silbersternträger", hörte er von weiter oben zwei sehr gehässig klingende Frauenstimmen im Chor sprechen. Er wusste jetzt auch wieder, wer die beiden waren und dass er es nur seiner Entscheidung für das Wohl allen Lebens verdankte, nicht bei diesen Dunkelschwestern gelandet zu sein.
Durch die nebelhafte Barriere verließ er die gewaltige Kugelhalle der Altmeister von Altaxarroi. Draußen erwartete ihn schon die vier Meter große, goldene Frauengestalt, die ihn aus Millemerveilles entführt und hier abgeliefert hatte. Wie lange war das in Wirklichkeit her, wo er in der Vorstellung gelebt hatte, als Neugeborener mit neuen Lehrstunden anzufangen.
"Darfst du mich nach Hause bringen, goldene Botin?" fragte er mit einer sanften, tiefen Stimme. "Ja, das darf ich. Ich darf dir auch das in meiner Obhut behaltene Symbol deiner Abstammung zurückgeben, hat Madrashtarggayan gesagt. Also komm zu mir!"
Adrian Moonriver ließ es sich diesmal ohne Protest gefallen, wie die überlebensgroße magicomechanische Frauengestalt ihn aufhob und hinter einer Luke ihres Bauchraumes verstaute, Dort fand er auch seinen Silberstern wieder. Der war so kalt wie jedes Metall. Doch als er ihn sich an der dünnen Kette umhängte fühlte er ihn im Takt seines Herzens pulsieren. Ashtarias Heilsstern erkannte ihn und erkannte ihn als seinen rechtmäßigen Träger an. Dieses Gefühl der Erleichterung wärmte ihn von innen durch, während die goldene Frauengestalt ihn durch die Stadt trug, in der der mächtige Turm des Wissens stand, vorbei an den Wächtern aus allen Elementarkreisen. Dann fühlte er, wie er einige Sekunden frei fiel. Dann klappte die Metallluke wieder auf. Er durfte aus seiner fötusartigen Hockstellung heraus und sich von der anderen auf die Füße stellen lassen. "Fühle dich geehrt und erwählt, dass die Altmeister dich von sich aus zu sich baten und lebe dein Leben in Einklang mit deinen Aufgaben und Kenntnissen!" sagte Ashtardarmiria. Dann klappte sie ihren goldenen Bauch wieder zu, tat drei lange Schritte und verschwand in einer orangeroten Feuerwolke wie ein elefantengroßer Phönix.
"Häh?! Wo bin ich denn hier?" fragte sich Adrian Moonriver, als er seine Umgebung betrachtete. Doch dann erkannte er, dass er etwa einen Kilometer von seiner Wohnsiedlung in Mittelengland entfernt war. Da er alles wieder bei sich trug, was er in die versteckte Stadt mitgebracht hatte brauchte er nur zielgenau zu apparieren. Als er wirklich vor seinem Wohnhaus stand wusste er, dass er es noch konnte. Da fühlte er ein gewisses Drängen. Ja, endlich wieder ein Klo für Erwachsene benutzen. Wie sehr man sich doch nach sowas sehnen konnte.
Er sollte in ein Land jenseits der Zeitmauer, ein Land, das in einer Zukunft lag, die von hier aus noch viele Tausendersonnen entfernt lag. Um dort nicht aufzufallen oder Sprachschwierigkeiten zu haben trank er aus Ianshiras Mutterbrüsten all das Wissen, das ihn zu Silvester Partridge machte, dem Mann, der in dem Land als Heilkundiger gelebt hatte und sein Selbst bei der Zeugung von ihm, Tondarammayan geopfert hatte, damit er stark und mächtig werden konnte, um sich gegen die Bedrohungen und Verlockungen der Mitternächtigen und ihrer Bewunderer wehren zu können. Er wusste, dass sein Erzeuger eine Gefährtin hatte, die von diesem selbst schon vier Kinder bekommen hatte, die letzten beiden auf Grund einer üblen Beeinträchtigung ihres freien Willens. Da er nun so aussah, wie sein Erzeuger Silvester Partridge konnte er dessen Platz einnehmen. Oder nein, er sollte erst die Welt erkunden, um zu wissen, wann und wo er sich den dort lebenden Menschen offenbaren durfte. Aber er hatte auch die deutliche Warnung vor vier mächtigen Gruppen von Mitternachtskraft getriebener Wesen gehört. Die Menschen im zukünftigen Land zu schützen, sie vor deren Gier und Gnadenlosigkeit zu beschützen war die Aufgabe, die Ianshira ihm seit dem ersten vernehmbaren Lebensfunken von ihm vorgesehen hatte. Er sog alles Wissen ein, was sein Erzeuger in Ianshiras innerem Nest zurückgelassen hatte, auf dass er es nun erbte und damit seinen Weg beschritt.
"Nun schicke ich dich zurück. Doch du kannst mich jederzeit aufsuchen, wenn du den Weg nach Khalakatan findest und die Gefäße der Überdauerung findest, in denen wir alle bestehen", sagte Ianshira.
Dann fühlte er, wie er an einem gläsernen Zylinder hing und sah den silberweißen Stoff, der diesen ausfüllte. Dann fiel er in die Tiefe und konnte sich nur durch die rein geistig wirkende Freiflugformel bremsen und weich landen.
Vor der großen Kugelhalle, in der er angekommen war, erwartete ihn eine vier Meter große Frau aus goldenem Metall. Das war Ashtardarmiria. "Ich bringe dich an einen Ort, von dem aus du die Welt im Mantel der Verborgenheit erkunden kannst. Vertraue dich Silvesters Gefährtin also deiner Gefährtin erst wieder an, wenn du weißt, was die Menschen über ihn sagen, denken und unternehmen werden, wenn er wieder da ist! Doch wenn du fühlst, dass irgendwo was geschieht, was dein Eingreifen erfordert, nutze dein neues Wissen, erster und einziger Sohn der Ianshira", sagte die andere. Dann hob sie ihn auf und verstaute ihn in ihrem künstlichen Körper.
In ihrem Schutz gelangte er bis unter das Tor Khalakatans. Doch er sah davon nichts. Er bekam erst wieder etwas von seiner Umwelt mit, als ihn das überlebensgroße Kunstwesen freigab und auf seine Füße stellte. "Du hast viel gelernt und doch nun auch viel zu erkunden. Ich wünsche dir den nötigen Erfolg!" sagte sie. Dann ging sie drei ihrer Schritte weit und verschwand phönixgleich in einer Feuerwolke. Tondarammayan, in dem nun das Wissen von Silvester Partridge wiedererwacht war, hüllte sich erst in den Mantel der Verborgenheit ein, den ihm ein Windmeister beigebracht hatte. In diesem unsichtbar und nicht von Spürtastern der Kraft zu erfassen ging er zunächst einige tausend Schritte weit. Dann wusste er wo er war, Ashtardarmiria, die goldene Botin, hatte ihn in die Nähe eines Ortes namens Viento del Sol gebracht. Hier hatte sein Erzeuger gelebt, dessen körperlicher und geistiger Erbe er nun sein durfte. Um ihn zu ehren und sein Andenken zu bewahren war er nun hier, aber vor allem, um die weltweite Ungerechtigkeit, Willkür, Angst und Zerstörungslust zu bekämpfen, als Ianshiras ewiger Sohn, der vollständige Lichtfolger aus dem erhabenen Reich Altaxarroi, das nun hinter einer undurchdringlichen Mauer der Zeit lag, für die allermeisten Menschen dieser Welt vergessen und versunken, nur ein Traumgespinnst oder ein Nachhall uralter Geschichten. Als er das bedachte fühlte er eine gewisse Schwermut. Er war in einer Zeit, in der alles fremd war, aber in der er sich durchaus zurechtfinden konnte, wenn er die dunklen Gefühle niederhielt, die ihn schwächen wollten. So begann seine wahre Aufgabe mit einem Gang über den Kurzen Weg.
Julius war von einem ruhigen Arbeitstag ausgegangen. Doch da irrte er sich.
Als er in sein Büro kam fand er mehrere Memos mit Terminanfragen vor, darunter auch eine Anfrage von Alain Dupont, dem stellvertretenden Abteilungsleiter für internationale magische Zusammenarbeit. Auch Boris Charlier von der Vampirüberwachung wollte ihn noch einmal direkt sprechen, wie auch Adrastée Ventvit von der Geisterbehörde.
Alain Duponts Büro war nur mit einem Schreibtisch, drei Aktenschränken und den üblichen Ausblickfenstern ausgestattet. Eines der Fenster zeigte die Ansicht der Erde im Weltraum mit der leuchtenden Tagseite mit Europa und Afrika im Vordergrund. Julius hatte jedoch keine Zeit, das in Ruhe zu genießen. Denn Dupont forderte ihn auf, sich zu setzen.
"wir erhielten vor einem Tag aus Washington eine zu tiefst entrüstet formulierte Anfrage, warum wir ohne die Einbeziehung des Zaubereiministeriums in den Staaten hergestellte Zaubergegenstände der Wirkungsklasse 6 ankaufen dürfen, ohne die für solche Anliegen nötigen Genehmigungsverfahren zu beachten, abgesehen davon, dass mein Vorgesetzter mal wieder sehr verärgert ist, erst dann von einer internationalen Aktion zu erfahren, wenn diese bereits durchgeführt wurde. Da Sie maßgeblich mithalfen, diesen inkorrektten Warenversandt durchzuführen muss ich sie hier und jetzt fragen, mit welcher unangebrachten Überheblichkeit und Missachtung bestehender Übereinkünfte Sie meinen, nur weil Sie und die anderen aus Madame Grandchapeaus Büro diese Elektrorechen- und Briefschreibgeräte benutzen können, am Zuständigen Zaubereiministerium vorbei zu verhandeln?"
Julius hätte fast gesagt, dass da der Richtige von unangebrachter Überheblichkeit sprach. Doch auch wegen der mitschreibenden Zauberfeder sagte er besser: "Mit der Berufung auf den Gefahrenschutzparagraphen der allgemeinen Zaubereiverwaltungsbestimmungen. Da steht als Satz 4: "Sollte eine unmittelbare oder sich anbahnende Gefahr von solcher Tragweite drohen, dass davon eine unvorhersehbare Anzahl Menschen an Leib und Leben gefährdet wird hat die zur Abwehr dieser Gefahr befugte und geforderte Dienststelle das Recht, alle zur Abwehr dieser Gefahr nötigen Mittel zu beschaffen, auch unter Umgehung bestehender Verwaltungsobliegenheiten, besonders mit ausländischen Zaubereiministerien. Diese müssen zwar von der Ausrüstungsbeschaffung unterrichtet werden, so der nächste Satz, aber das ihnen in sonstigen Bereichen zugestandene Einspruchsrecht entfällt zu Gunsten des Schutzes von Menschenleben. Die einzige Ausnahme davon ist, dass keine ausdrücklich schädigenden Mittel beschafft werden dürfen. Abgesehen davon hat das US-Zaubereiministerium auf Grund des von Vita Magica erpressten und mittlerweile für nicht bindend erklärten Vertrages erheblich an Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit verloren, so dass wir uns nicht sicher sein konnten, dass die von uns erbetene Ausrüstung auf dem üblichen Weg genehmigt würde. Außerdem wundert es mich, dass erst Jetzt eine offizielle Beschwerde eingetroffen ist und nicht schon vor einem Monat. Ich kann und will Ihnen gerne die betreffendenUnterlagen aushändigen."
"Sie wissen sicher, dass bei einem internationalen Warentransport hochwirksamer Zaubergegenstände oder Trankzutaten eine beiderseitige Genehmigung vorliegen muss, und zwar von den Abteilungen für magischen Handel, Sicherheit und internationale Zusammenarbeit. Genau deshalb haben Sie an den zuständigen Stellen des US-Zaubereiministeriums selbst vorbei verhandelt. Und was diesen Vertrag mit Vita Magica angeht, so sind wir nicht befugt, uns in die inneren Angelegenheiten einer ausländischen Verwaltungsbehörde einzumischen, solange von dieser oder durch deren Untätigkeit keinerlei Gefahr für unsere Mitbürger ausgeht."
"Ja, und genau deshalb, Monsieur Dupont gilt seit 1970 auch die Dienstvorschrift, der nach wir uns nicht von einem anderen Zaubereiministerium in unsere Sicherheits- und Rechtsangelegenheiten dreinreden lassen dürfen, vor allem dann, wenn das intervenierende Zaubereiministerium im Verdacht steht, mit magischen Gesetzesbrechern zusammenzuarbeiten oder von diesen selbst geführt zu werden. Ich weiß, dass im dunklen Jahr Monsieur Pétain darauf beharrt hat, mich nach England auszuliefern, weil das dortige Marionettenkabinett von Thicknesse ihm und dem zeitweiligen Zaubereiminister Didier entsprechend zugesetzt hat. Nachdem wir alle erfuhren, was mit dem US-Zaubereiminister Dime passiert war und dass er deshalb einem sehr fragwürdigen Vertragswerk zustimmen musste galt diese Selbstschutzregel für uns noch mehr. Zumindest wurde ich von Madame Nathalie Grandchapeau auf diese Ausnahmeregel hingewiesen. Auch wegen der möglichst zeitnahen Beschaffung der Ausrüstung galt es, direkten Kontakt mit dem Hersteller aufzunehmen. Auch dazu waren wir berechtigt. Hier bitte, da haben Sie es Tinte auf Pergament." Julius klappte seinen Aktenkoffer auf und suchte die betreffenden Schriftstücke. Als er sie übergab sagte er: "Das Sind die vorgeschriebenen Kopien für den Fall der nachträglichen Beanstandung."
"Die Ministerin selbst gewährte Ihnen, diesen Handel abzuschließen?" fragte Dupont, nachdem er die ausgehändigten Schriftstücke überflogen hatte. Julius nickte. "Nun, dann bleibt in diesem Fall nur die erneute Missachtung von Zuständigkeiten. Wir hätten in diesen Prozess ... Dupont las wohl gerade noch was und verzog das Gesicht. Julius sah, dass er die Kopie einer unterschriebenen Bekanntmachung las. Er knallte die Pergamentseite auf den Tisch und meinte: "Ich nehme dieses Dokument zu den Akten. Sollte sich erweisen, dass dessen Original nicht wie behauptet in unsererAbteilung eintraf erhöht sich der Vorwurf der absichtlichen Verletzung mehrerer internationaler Übereinkommen auf versuchte Täuschung. Dies für das Protokoll. Sollte sich noch was anderes in dieser Angelegenheit tun werden Sie wieder von uns hören." Julius unterdrückte gerade die freche Antwort, dass er sich schon drauf freue. Er bestätigte es nur. Dann durfte er gehen.
Julius war froh, dass Dupont nicht noch auf die an Kevins Familie verschenkten Antiportschlüssel zu sprechen gekommen war. Obwohl, da hätte er auch Dokumente vorweisen können. Vor allem aber hoffte er darauf, dass kein Zaubereiministerium davon anfangen würde, dass es solche Artefakte kenne oder gar besitze.
"ich gehe davon aus, dass Sie Monsieur Dupont schon aufgesucht haben und er wider seine voreiligen Ausführungen keinen Anlass fand, Sie in Gewahrsam nehmen lassen zu können", begrüßte Nathalie Grandchapeau ihn, als er eintrat. Er nickte und wartete, das er sich setzen durfte. Nathalie trug heute über ihrer die anderen Umstände verhüllenden Unterkleidung einen hellblauen Rüschenumhang, der fast schon ein Kleid war.
"Ich bat Sie wegen der Beschwerde meines Kollegens in den Staaten zu uns. Der Kollege mahnt an, dass wir in Europa unrechtmäßig die Zuteilung von Vampirblutresonanzkristallen erhalten haben, welche seiner Behörde fehlen mögen. Abgesehen davon will das Vampirkontrollamt selbst an die hundert dieser Kristalle erhalten und erhebt den Vorwurf, dass wir diese einhundert Kristalle zugeteilt bekamen. Will sagen, die Kollegen in Washington verlangen, dass wir von jetzt an keinen Kontakt mehr mit dem Laveau-Institut halten und erst recht keine dort selbst hergestellten Hilfsmittel erbitten dürfen. Offenbar hat Monsieur Charlier seine inoffiziellen Quellen in den USA bemüht, sich wegen der ihm verweigerten Zuteilung zu beklagen. Des weiteren soll ich Sie ersuchen, jede elektronische Korrespondenz mit nichtministeriellen Organisationen von unserem Rechenzentrum aus zu untersagen und rückwirkend für die von Ihnen ausgegangene unerlaubte Eigeninitiative zur Beantragung von Vampirblutresonanzkristallen zur Verantwortung zu ziehen. Dass wir die uns zugeteilten Kristalle an das US-Zaubereiministerium schicken sollen versteht sich dann natürlich von selbst. Sie berufen sich allen Ernstes auf diese antiquierte Ausfuhrbeschränkung, der nach in den Staaten gefertigte Zaubergegenstände erst nach Ablauf von zwanzig Jahren nach amtlich bestätigtem Zeitpunkt ihrer Erfindung und/oder Herstellungszulassung ausgeführt werden dürfen. Dabei haben die dortigen Damen und Herren vergessen, dass wir auch schon die Genehmigung erhielten, diese Werwolfortungsgeräte zu erhalten. Na ja, aber seitdem die jetzige Mrs. Unittamo früher Gordon nicht mehr für das Zaubereiministerium tätig ist kehrt dort ja ein sehr eifriger Eisenbesen."
"Sie wurden ersucht, mich disziplinarisch zur Verantwortung zu ziehen, weil ich im Namen Ihrer Behörde diese VBR-Kristalle erbeten habe, für die wir ja auch mit Colberts Genehmigung eine gewisse Summe bezahlt haben", erwiderte Julius.
"So ist es. Natürlich werde ich dies nicht tun, da Sie ausdrücklich und wie von meiner Abteilung erwünscht erfolgreich den Ankauf dieser Kristalle durchgeführt und somit ganz und gar in meinem Auftrag gehandelt haben. Abgesehen davon werden wir die Kristalle auch nicht an das Ministerium in Washington zurücksenden, da ich mit dem Kollegen Charlier und Ihrem zweiten direkten Vorgesetzten Beaubois bereits vereinbart habe, wie diese Kristalle zu benutzen sind und deren Nutzen für unser aller Sicherheit entscheidend ist. Was den Kontakt in das Marie-Laveau-Institut angeht, Monsieur Latierre, so fürchte ich, dass das US-Zaubereiministerium die dort tätige Elektronikexpertin Veranlassen wird, eine Art Überwachung einzurichten, wer die Arkanetverbindungen in die USA wann nutzt."
Oh, der angeschossene Hund beißt böse um sich", grummelte Julius und meinte Lionel Buggles, der nach der gerichtlichen Feststellung, dass seine bisherigen Behauptungen über den Vertrag mit Vita Magica unrichtig waren, auf einem sehr wackeligen Stuhl saß. Nathalie räusperte sich nur. Julius erkannte, dass das besser nicht zu laut wiederholt wurde, was er gesagt hatte. Doch weil sie nickte wertete er es nicht nur als Aufforderung, weiterzusprechen, sondern auch als Zustimmung zu seiner inoffiziellen Äußerung. So sagte er: "Öhm, die Expertin kenne ich und habe von ihr auch schon die Rückmeldung, dass sie nichts dagegen tun wird, dass ich weiterhin mit dem Laveau-Institut korrespondiere."
"Na ja, immerhin muss die Expertin für drei minderjährige Kinder aufkommen und kann deshalb nicht alles ablehnen, was ihr im Rahmen ihrer bezahlten Arbeit abverlangt wird, schon gar nicht aus rein privaten Gründen. Man wird sie vor die Wahl stellen, alle ihr zugewiesenen Aufgaben im Sinne ihrer Vorgesetzten zu erledigen oder unehrenhaft und ohne Anspruch auf Altersvorsorge aus dem Ministerium entlassen zu werden. Wie wir beide wissen wirkt sich die von Vita Magica zunächst als Trinkgift ausgegebene Zeugungsförderungsdroge dahin aus, dass die dadurch zur Mutter gewordene Hexe das Wohl ihrer Kinder über alles andere Stellt. Da die drei Kinder unter diesem Einfluss entstanden sind könnte sie - ich muss dies leider erwähnen - deren Wohl über Ihr Wohl stellen und den Anweisungen folgen, auch wenn diese gegen Sie gerichtet sind."
"Ach, gehen die nordamerikanischen Kollegen davon aus? Soweit die erwähnte Expertin mir selbst erklärte gibt es seit einiger Zeit ein wirksames Mittel, die unnatürliche Überbehütung von Kindern, die auf Grundlage des erwähnten Giftes gezeugt beziehungsweise empfangen wurden auf ein verträgliches Maß natürlicher Fürsorgeinstinkte zu beschränken. Dass dieses Mittel wirkt wissen wir ja schon daher, dass viele von diesem Fortpflanzungsanregungsmittel Mutter gewordene Hexen die früher so unerbittliche Verteidigung ihrer Kinder nur noch gegen eindeutig fremde und ihr Misstrauen besitzende Menschen richten. Meine Frau und ich durften selbst schon häufig die von Madame Sandrine Dumas geborenen Kinder beaufsichtigen, ohne dass deren Mutter in Sichtweite war. Aber falls Sie recht haben, Madame Grandchapeau, und die ranghöchste Expertin für das von uns magisch begabten Menschen genutzte Arkanet eine Späh- oder Unterdrückungsfunktion in das Arkanet einfügt, die mich davon abhält, weiterhin mit dem Marie-Laveau-Institut zu korrespondieren, Besteht noch eine Porträtverbindung dorthin. Diese ist zwar langsamer als die E-Mails, kann aber nicht von Buggles' Leuten überwacht werden", sagte Julius. Nathalie sah ihn an und nickte dann. "Abgesehen davon hörte ich auch, dass die Expertin für das Arkanet bereits das Angebot vom Laveau-Institut erhalten hat, für ebendieses zu arbeiten, falls sie sich im Zaubereiministerium nicht mehr wohlfühlen sollte. Darüber hinaus kann sie mit ihren Kenntnissen auch zur Lehrerin für magische Kinder weitergebildet werden, wo sie hier in Millemerveilles ein ganzes Schulhalbjahr lang die Grundschulkinder in Rechenkunde und Wissen der magielosen Welt unterrichtet hat und dies von Madame Geneviève Dumas schriftlich beurkundet bekam. Insofern sehe ich der unterschwelligen Drohung von Minister Buggles und seinen Mitarbeitern gelassen entgegen. Ich behaupte sogar, dass der Minister sich in einem Aktionismus ergeht, um den eigenen Niedergang abzuwenden, nachdem sein Verhalten wegen Vita Magica nun als eingeschüchtert bis fahrlässig eingestuft wurde. Auch wäre es sehr widersinnig, eine Überwachung anzudrohen, wenn es wesentlich effektiver wäre, sie ohne Wissen der Überwachten einzurichten und deren Aktivitäten unbemerkt mitzuverfolgen. Denn allein die Androhung führt schon zur Auswahl alternativer Verständigungsmöglichkeiten, die dann, wenn die Drohung verwirklicht wird, verwendet werden und so die Überwachung umgangen wird."
"Na ja, aber um die Alternativen zu nutzen würde es mehr Zeit brauchen, wie Sie gerade selbst erklärt haben, Monsieur Latierre", widersprach Nathalie. Julius bejahte es, betonte jedoch noch einmal, dass dadurch aber eine Überwachung oder Unterbindung der Kontakte ausgehebelt würde und die betreffenden Fragen und Antworten weiterhin ausgetauscht werden konnten. Er deutete von seinem linken Ohr zu Nathalies rechtem Ohr und ihrem unter der Kleidung scheinbar flachen Unterbauch und sagte: "Immerhin besteht ja auch die Möglichkeit, mit Ihrem aus der Welt verschwundenen Mann Kontakt zu halten, auch wenn dies rein körperlich nicht möglich erscheint." Das konnte Nathalie nur bestätigen und zuckte kurz zusammen, wohl weil sich jemand sehr deutlich spürbar geregt hatte. "wir verstehen uns dahin völlig richtig, dass Sie weiterhin im Sinne dieser Behörde die Ihnen zur Verfügung stehenden Verständigungsmittel nutzen und nur zu diesen Zwecken." Julius bejahte es. "Gut, dann haben wir diesen leidigen Punkt geklärt", sagte Nathalie. "Kommen wir zu einem nicht minder unangenehmen Punkt auf internationaler Ebene", fuhr sie fort. Julius erfuhr dann, dass der zwischen den europäischen Ministerien schwelende Zuständiggkeitskonflikt nun auch das Ministerium in Washington erfasst hatte, weil dieses mit dem britischen Ministerium über Wahren- und Personenverkehr zwischen den USA und Kanada in einen Streit geraten war und die Briten sich nicht auch noch damit befassen wollten, dass die Frankokanadier das Ministerium in Paris als oberste Verwaltungsinstanz erbitten könnten. Auch im Bereich der friedlichen Koexistenz taten sich Probleme auf, weil die Ministeriumsmitarbeiter in Polizeibehörden, Geheimdiensten oder mit übernatürlichen Vorkommnissen befassten Instituten nichtmagischer Forschungseinrichtungen dazu veranlasst werden konnten, ihre Erkenntnisse nur bestimmten Personenkreisen weiterzugeben. So könnte sowohl London als auch Washington verfügen, dass es keine aus CIA, FBI, MI6 oder Scotland Yard gewonnenen Kenntnisse an andere Ministerien weitergeben durfte, auch wenn dies dem Rahmen der vereinbarten internationalen Zusammenarbeit und der gemeinschaftlichen Bekämpfung internationaler magischer Verbrechergruppen widersprach. "Die Ihnen ja auch sehr gut bekannte deutsche Kollegin Weizengold hat in Übereinstimmung mit ihrem Vorgesetzten eine Meldung verschickt, dass Herr Weizengold eine amtliche Entscheidung von Minister Güldenberg erwarte, ob die im Mai letzten Jahres vereinbarte Meldepraxis wegen der Vampire und Nachtschatten bestehenbleibe oder bis zur Klärung aufgekommener Streitpunkte ausgesetzt werden solle. Der Kollege in Australien hingegen hat uns gemeldet, dass Ministerin Rockridge uns wegen der zuverlässigen Unterstützung gegen die Schlangenmenschenepidemie weiterhin mit allen wichtigen Dingen und Kenntnissenunterstützen wird. Mr. Abrahams in London und dessen Mitarbeiter haben bisher keinerlei Mitteilungen verschickt, ob die zwischen ihnen und uns geltenden Vereinbarungen ausgesetzt oder fortgesetzt werden, zumal Mr. Abrahams selbst genau weiß, wie wichtig eine schnelle Verständigung bei zum zeitlosen Ortswechsel fähiger Wesen ist. Außerdem gelte es ja, die Erstarkung der Vampirsekte und der Population der neuen Nachtschatten einzudämmen, was nur mit schnellen Verständigungswegen und einem unverbrüchlichen Vertrauen der zusammenarbeitenden Organisationen gelingen könne. Ich lese daraus die inoffizielle Mitteilung, dass Mr. Abrahams auch gegen eine ministerielle Anweisung handeln würde, die Verbindung mit uns zu unterbrechen."
"Das passt wieder zu dem, was wir vor einigen Tagen schon besprochen haben, Madame Grandchapeau. Irgendwer legt Wert darauf, dass sich Zaubereiministerien gegenseitig misstrauen", fasste Julius diesen Punkt zusammen. "Ja, und genau deshalb ist es für uns in dieser Behörde im besonderen und dem französischen Zaubereiministerium im allgemeinen so elementar wichtig, dass wir uns nicht aus internationalen Vereinbarungen herausdrängen lassen. ich möchte Ihnen eine Mitteilung vorlegen, die Sie bitte nur lesen mögen, ohne etwas dazu zu sagen. Nicken Sie, wenn Sie zustimmen, schütteln Sie den Kopf, wenn Sie ablehnen", sagte Nathalie Grandchapeau. Julius nickte bereits jetzt. Darauf holte die Bürovorsteherin einen Umschlag aus einer verschließbaren Schublade hervor, prüfte ihn und gab ihn an Julius weiter. Dieser zog einen Pergamentbogen heraus und drehte ihn so, dass er ihn lesen konnte.
An jeden, der oder die mein Vertrauen und das von Nathalie Grandchapeau genießt und um ihre besondere Lage weiß.
Ich, Ornelle Ventvit, amtierende Zaubereiministerin von Frankreich, verfüge hiermit auf dem Wege schnellstmöglicher Vermittlung ohne unnötig viele Zwischenstellen, dass jeder oder jede oben genannte mein vollstes Vertrauen genießt, sowie bei möglichen Verständigungsschwierigkeiten in der ihm oder ihr zugewiesenen Abteilung oder von ausländischer Seite geschürten Interessens- und Gewissenskonflikten in meinem Namen handeln möge, wenn die Lage ein solches Handeln bestimmt, auch wenn diese Handlung gegen die hierarchische oder juristische Grundlage dieser Verwaltungsbehörde verstoßen oder weitere internationale Streitfälle auslösen könnte. Ich vertraue dabei darauf, dass jeder und jede, die von mir oder den von mir für als höchst vertrauenswürdig empfundenen Personen dieses Schreiben zu lesen bekommt, immer im Sinne des menschlichen und des für die Erhaltung der Freiheit, des Friedens und der körperlich-geistigen Unversehrtheit jedes einzelnen Menschen mit und ohne magische Kräfte gebotenen handelt und nicht aus eigenen Interessen oder Vorteilen heraus handelt, die ein Handeln gegen die erwähntenPrinzipien von Freiheit, Frieden und Unversehrtheit zu bieten vermögen, sofern die mit ihm oder ihr zu tun bekommenden Menschen eine Bewahrung dieser drei Grundprinzipien erlauben oder nicht selbst durch ihr Handeln gefährden. . Wer bereit ist, in diesem Sinne zu handeln, ohne durch bürokratische oder juristische Vorgaben gehemmt zu werden, möge durch zustimmendes Nicken bekunden, diese Aufgaben zu erfüllen und im Ernstfalle nur denen darüber ungeschriebene Auskunft zu erteilen, die diese Mitteilung lesen oder weitergeben durften. Wer nicht damit einverstanden ist möge dies durch Kopfschütteln bekunden und den Inhalt dieser Mitteilung sofort wieder vergessen und möge dann weiterhin getreu den bei Amtsantritt beeideten Vorgaben handeln, ohne das eigene Gewissen zu belasten.
Per sanguinem scriptricis Fiat quod scriptum!
Ornelle Ventvit
Julius fühlte, wie das Pergament in seiner Hand leicht erbebte. Außerdem erkannte er, dass Ornelle Ventvit dieses Schreiben nicht mit Zaubertinte sondern mit ihrem eigenen Blut geschrieben und unterzeichnet hatte. Nun erkannte er auch, dass er da kein Pergamentblatt aus Schafs- oder Ziegenhaut in der Hand hielt, sondern außerordentlich hauchdünn geschabte Seeschlangenhaut. Seeschlangenhaut war ein hervorragender Speicher für mächtige Zauber und konnte deshalb in magisch gesicherten Taschen, als Einband von Büchern oder Versiegelung von Behältern benutzt werden. Also war das, was er in seiner Hand hielt nichts anderes als ein magisch bindender Vertrag. Stimmte er zu, galt er. Lehnte er ab, würde wohl ein Vergessenszauber auf ihn wirken, dass er den Inhalt dieses Schreibens nicht mehr kannte. Was er da in der Hand hielt war nichts geringeres als eine Bekundung der reinen Loyalität nur der Ministerin und der von ihr erwähnten Moralprinzipien von Freiheit, Frieden und Unversehrtheit aller Menschen und kein Amtseid, das Wohl eines Staates oder Volkes zu wahren und seinen Nutzen zu mehren oder dergleichen. Er würde sich verpflichten, nur der Ministerin zuzuarbeiten, sollte diese ihren Abteilungen nicht trauen oder von deren Mitarbeitern kein Vertrauen erhalten. Irgendwie war ihm nicht wohl dabei, derartig auf eine einzige Person eingeschworen zu werden. So ähnlich hatten es ja auch die Todesser gehalten, so ähnlich hielten es sicher auch die Hexen um Anthelia oder Ladonna Montefiori, und ebenso dürfte auch die Sekte der selbsternannten Vampirgöttin ihre Mitglieder auf eben die eine Göttin einschwören, falls diese ihre neuen Jünger nicht sowieso durch ihre Magie zu Marionetten machte. Wollte er sich darauf einlassen? Er las die ganze Mitteilung noch einmal Wort für Wort durch und wägte ab, wie die Sätze gedeutet oder verdreht werden konnten. Er fand jedoch nur, dass er im Zweifelsfall gegen die Rangfolge innerhalb des Ministeriums verstoßen würde, wenn er diese Anweisungen befolgte, solange sie zur Wahrung von Frieden, Freiheit und Unversehrtheit jedes einzelnen Menschen dienten. Ja, so wie es sich da las ging es nicht um ein ominöses größeres Wohl Á la Grindelwald oder um die Bevorzugung einer bestimmten Personengruppe Á la Sardonia oder Voldemort und auch nicht um einen durch Zwang, Überwachung und Unterdrückung bewahrten Frieden Á la Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus, bei denen dann die Partei die einzige Entscheidungsmacht war und alle anderen nur zu dienen hatten. Auch wenn er sich immer wieder fragte, ob nicht der eine oder andere Mensch besser heute als morgen aus der Welt zu verschwinden hatte musste er doch erkennen, dass er kein besserer mensch sein würde, wenn er so großzügig Menschen zum Tode verurteilte, wie es ein Grindelwald, eine Sardonia oder ein Lord Voldemort getan hatten. Ja, und durch Ianshiras Unterricht in den vier alten Schutzzaubern hatte er ja schon die Verpflichtung übernommen, Menschenleben zu schützen. Nun fragte er sich, wie viele dieser verpflichtenden Mitteilungen die Ministerin verfasst hatte. Denn sowas wie das hier konnte nicht mit dem Multiplicus-Zauber kopiert werden.
Julius hielt die geschriebene Vertrauensbekundung und den Aufruf zur Zustimmung oder Ablehnung noch zehn Sekunden in seinen Händen, blickte genau darauf. Dann war er sich sicher. Er nickte unübersehbar dem Pergament zu. Sofort durchflutete seinen Körper eine wohlige Wärme. Das von ihm getragene Zuneigungsherz hüpfte drei Schläge lang auf und ab. Die mit Blut geschriebenen Buchstaben glühten auf wie eine verkleinerte Leuchtreklame an einem Geschäftsgebäude oder Gasthaus. Dann erloschen die Buchstaben, ja wurden zu einer blutroten Fläche, die sich über das hauchdünne Stück Schlangenhaut ausbreitete. Gleichzeitig hörte Julius in seinem Kopf den Text von Ornelles Stimme laut und mit kathedralenartigem Nachhall vorgelesen. Er fühlte, wie etwas durch seine Finger in das gehaltene Pergament überfloss, Pulsschlag für Pulsschlag. Nun ergriff ihn ein leichter Schwindel. Er wusste sofort, was passierte. Das mit Blut geschriebene magische Dokument trank ohne Stiche und Schnitte Blut von ihm, um den Pakt zu besiegeln, von wegen mit eigenem Blut unterschreiben. Das musste bei echten magischen Dokumenten nicht umständlich getan werden. Die Bindung vollendete sich. Beinahe übergangslos löste sich das dünne Stück Seeschlangenhaut in eine blutrote Dunstwolke auf, die zwischen seinen Händen hervorströmte. Sie wehte auf den vor ihm auf dem Tisch liegenden Umschlag zu und hüllte diesen ein. Wie ein Schwamm saugte der Umschlag den blutroten Dunst auf, dass nichts mehr davon zurück blieb. Dann lag der scheinbar leere Umschlag vor Julius auf dem Tisch. Er hob schnell seine Hände vor sein Gesicht und sah, dass seine Fingerkuppen kreidebleich waren. Doch mit einer gewissen Beruhigung sah er, wie nun Pulsschlag für Pulsschlag die rosige Farbe in seine Finger zurückkehrte. Er hatte also noch genug Blut im Körper, dass sich darin verteilen konnte.
"Gut, dann nehme ich das zur Kenntnis und dies wieder an mich", sagte Nathalie die ersten Worte nach dieser lautlosen magischen Übereinkunft zwischen Julius und der Ministerin. Sie nahm den Umschlag, prüfte ihn und steckte ihn in die Schublade zurück, die nur durch ihre eigene Hand zu öffnen war, wohl durch einen Körperspeicherzauber.
"Sie wissen noch, was Sie gelesen haben?" fragte die Bürovorsteherin. Julius nickte wieder. Dann sah er, wie sie zwei ihm wohlbekannte Ohrringe aus ihrem Umhang nahm und ihm einen davon gab. Als er ihn sich angesteckt hatte hörte er erst die Geräusche ihres Körperinneren. Dann hörte er ihre Stimme, ohne dass sie selbst den Mund bewegte. "Ornelle wusste, dass der Tag kommen würde, dass feindliche Mächte versuchen würden, das Ministerium zu übernehmen. Der Fall Vendredi und die leider nicht zu ignorierende Tatsache, dass Vita Magica und wohl auch andere feindliche Gruppen Agenten bei uns haben veranlasste sie dazu, für diesen Fall vorzusorgen. Es gibt zwar den Notfallerlass, demnach ein amtierender Zaubereiminister oder eine Zaubereiministerin alle Dienstwege außer Kraft setzen und alle Abteilungen zugleich befehligen kann. Aber wenn es darum geht, das Ministerium vor feindlichem Zugriff zu schützen ist dieser Erlass eher schädlich als nützlich. Im Grunde hat dieses eigensinnige Mädchen Euphrosyne uns mit seinem gehässigen Fluch sogar doch noch einen Segen erteilt, der den Namen verdient. Denn Ornelle Ventvit, meine Tochter Belle, mein im Uterus verharrender Sohn Demetrius und ich sind durch diesen Veelazauber größtenteils unangreifbar für Gifte und körperlich-geistig wirksame Flüche. Außer Belle und mir sind nur noch Ornelles Nichte Adrastée, Catherine Brickston, Phoebus Delamontagne und hoffentlich bald noch Blanche Faucon mit diesem Vertrauensbeweis beehrt worden. Da ich ihn dir ausgehändigt habe ist ja klar, dass ich auch zu diesem kleinen Kreis gehöre. Wichtig ist, dass wir keinem mit hörbarer Stimme oder geschriebenem Wort mitteilen, was wir innerhalb dieser kleinen Gemeinschaft besprechen oder ausführen. Falls du jemanden kennst, der oder die dein vollstes Vertrauen genießt und Ornelle Ventvit gegenüber kein Misstrauen hegt darfst du bis zu drei Personen dieser Auswahlbeschränkung ein gleichartiges Dokument vorlegen."
"Ja, nur sollte sie zu dem Zeitpunkt nicht schwanger sein. Was die gute Ornelle da gemacht hat hat mir den ganzen Saft aus Mamans Nabelschnur gezogen. Ich dachte fast, jetzt sterbe ich ihr doch im Bauch weg. Aber dann wurde ich derartig mit neuer Kraft aufgepumpt, dass ich dachte, gleich muss sie mich doch schon rauslassen, damit ich sie nicht zum platzen bringe", cogisonierte Demetrius Vettius Grandchapeau. Julius fragte unhörbar zurück, wieso dieses Blutritual bei vom Veelazauber durchdrungenen überhaupt klappte. "Wohl weil das Agens dafür von einer von so einem Zauber durchdrungenen hergestellt wurde", erwiderte Nathalie. Demetrius fügte dem hinzu: "Ornelle kennt sich supergut mit magischen Wesen aus. Kann auch sein, dass sie sich da klammheimlich noch mit Léto unterhalten hat, erst mal an dir vorbei, aber mit dem festen Grundsatz, dich mit einzubeziehen, wenn klappt, was sie vorhatte. Dieser Zauber ist ein im alten Rom erfundener Zauber, der so heißt wie die Formel, die unter dem Text steht."
"Durch das Blut des Schreibers - öhm, der Schreiberin geschehe wie geschrieben", übersetzte Julius den lateinischen Ausspruch, der eindeutig als Zauberformel wirkte. "Ich habe dir schon immer gesagt, dass Martha eine sehr vorausschauende Frau ist, Maman", cogisonierte Demetrius. Dann fragte seine Mutter noch unhörbar, ob Julius seine Frau oder noch wen vom stillen Dienst diese Entscheidung zutraute. Falls jemand ablehnte würde er oder sie eben gleich vergessen, was geschrieben stand. Julius überlegte kurz, ob er Millie und wen aus dem Stillen Dienst noch einbeziehen konnte. Immerhin musste diese Person ja auch das volle Vertrauen der Ministerin genießen, nicht nur sein eigenes. Aber wenn Catherine Brickston schon zum Kreis der Vertrauten gehörte und Phoebus Delamontagne, dann sollte zumindest auch eine Heilerin mit einbezogen werden. Er fragte, ob es möglich war, dass Ornelle Ventvit die betreffende Person persönlich fragen konnte oder ob das zu auffällig sei. Nathalie überlegte wohl. Demetrius cogisonierte in der Zeit: "Gut, im Grunde wurde ich durch meine mich schützend umschließende und nährende Mutter ja mit in diesen Entscheidungsvorgang einbezogen, ohne dass Ornelle mich selbst fragen konnte, ob ich damit einverstanden wäre, dass meine werdende Mutter sich auch mal gegen irgendwelche Verwaltungsvorschriften verhält, was ich vor meinem Einzug in ihren warmen Schoß selbst nicht wirklich gedacht hätte. Na ja, aber wie sie dir schon mitgeteilt hat fürchtet Ornelle die schleichende oder offene Übernahme unseres Zaubereiministeriums oder die eines anderen. Falls stimmt, dass Ladonna schon Italien sicher hat ist das leider kein paranoides Denken mehr."
"Also, weil mein Bauchgefühl mal wieder nicht warten wollte, bis mein eigener Kopf zu ende gedacht hat teile ich dir im Einklang mit der Übereinkunft, nicht laut zu sprechen mit, dass Ornelle dir persönlich eine Ausgabe dieses Übereinkunftsdokumentes geben darf. Allerdings solltest du nicht gleich von mir zu ihr gehen, sondern abwarten, bis sie dich wegen was auch immer zu sich hinbestellt. Das fällt dann nicht auf."
"Dein Bauch stimmt deinem Kopf zu, meine duldsame Trägerin", bekräftigte Demetrius.
Um für möglicherweise vor der Tür wartende noch was mithörbares zu bereden ging es noch um das weitere Vorgehen, falls die in der Übereinkunft vom 12. Mai 2003 vereinten Ministerien die weitere Zusammenarbeit mit Frankreich aufkündigen mochten. Dann war der vereinbarte Termin ausch schon vorbei.
Julius gab den Ohrring an Nathalie zurück. Danach ging er mit ihr in das Konferenzzimmer der Behörde für friedliche Koexistenz, wo sie nun vor allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern über die angespannte Lage wegen der Vampirsekte sprachen. Die Kristalle waren bereits an den vorbestimmten Orten. Nathalie betonte noch einmal, dass Julius ihren klaren Auftrag habe, weiterhin mit dem Marie-Laveau-Institut Kontakt zu halten.
Rose Devereaux legte den Anwesenden eine Liste möglicher Solexfolienfabriken auf französischem Boden vor. Dabei hatte sie eine Fabrik auf Martinique dunkelrot markiert und zweimal schwarz durchgestrichen. "Die Fabrik wurde kurz nach unserer Entdeckung durch eine schwere Explosion zerstört. Wir müssen davon ausgehen, dass Spione Vita Magicas, Ladonnas oder einer anderen magischen Gruppierung uns zuvorkamen und ebenfalls gegen die Vampire opponieren."
"Will sagen, jemand hat womöglich denselben Zugriff auf die Listen wie Sie, Mademoiselle Deveraux?" wollte Nathalie Grandchapeau wissen.
"Ja, oder noch einen besseren, Madame Grandchapeau. "Wir dürfen davon ausgehen, dass die Sekte der Göttin aller Nachtkinder noch größere Feinde hat als wir es durch unsere rechtlichen Einschränkungen sind", sagte Rose Deveraux. Primula Arno bat ums Wort und ergänzte:
"So impertinent es auch klingt, Madame Grandchapeau, wir könnten im Grunde die Fabriken links liegen lassen und uns auf die Abwehr der Vampirjünger selbst beschränken, weil die Fabriken sowieso schon von anderen Feinden ausgekundschaftet und zerstört werden. Immerhin hat die sich als Wiederverkörperung Anthelias verstehende ehemalige Führerin dieses Spinnenordens ja auch Kunststofffabriken zerstört, wo Solexfolien hergestellt wurden. Womöglich findet ein unausgerufener Wettbewerb zwischen den auch uns missfallenden Gruppierungen statt, wer den Vampiren am schnellsten die Tageslichterträglichkeit entziehen kann, um sie dann wieder besser jagen und vernichten zu können. Es sei denn, wir beschließen, dass wir diese Herstellungsorte vor Zerstörung beschützen und dabei vielleicht den einen oder anderen Agenten Vita Magicas oder die eine oder andere Schwester der Spinne oder Ladonnas ergreifen können."
"Oder die uns ergreifen", grummelte Rose Deveraux. Nathalie räusperte sich und ergriff dann das Wort.
"Gehen wir davon aus, dass in diesen Herstellungsanlagen unschuldige Menschen arbeiten. Dann sind diese immer wieder gefährdet, wenn jemand beschließt, die gesamte Anlage zu zerstören. Entweder erleiden sie dabei sofort körperlichen Schaden bis hin zum Tode oder verlieren ihre Erwerbsgrundlage und müssen sich eine neue Arbeit, vielleicht auch einen neuen Wohnsitz suchen. Da wir in genau dieser Behörde für die friedliche Koexistenz von Menschen mit und ohne Magie zuständig sind gilt es, vor den erwähnten Gruppierungen über die Herstellung von Solexfolien Kenntnis zu bekommen und diese Gebäude vor Zerstörung zu bewahren. Inwieweit dies zu unmittelbaren gewaltsamen und/oder magischen Auseinandersetzungen mit den Sororitäten der Spinne, der sogenannten Feuerrose oder der Gruppierung Vita Magica führt kann und will ich im Moment nicht einschätzen. Aber wir sind verpflichtet, unschuldige Menschen vor magischen Übergriffen zu schützen. Deshalb ordne ich hiermit an, dass sowohl die Vampirüberwachungsbehörde von Monsieur Charlier, als auch das Büro für intelligente Zauberwesen von Monsieur Delacour sowie die Desumbrateure diese Liste und die Methoden zu ihrer Erarbeitung erhalten sollen, Madame Deveraux."
"Ich habe diese Suchmethode mit dem Kollegen Latierre zusammen erarbeitet. Falls Sie ihm denselben Auftrag erteilen können wir nachher alles in der gewünschten Kopienanzahl ausdrucken lassen", sagte Rose Deveraux. Nathalie sah Julius an und nickte dann beiden zu. "Hiermit erteile ich die Weisung, dass Sie beide noch heute die vollständige Liste aller in Frage kommenden Fabrikanlagen auf französischem Boden für folgende Behörden in dreifacher Kopie pro Behörde verfügbar machen ..." Sie zählte die schon benannten Behörden und noch drei weitere Büros auf, darunter das Werwolfkontrollamt, da zu vermuten stand, dass auch die Mondbruderschaft daran Interesse hatte, die Sonnenschutzhautfabriken in die Luft zu sprengen. Julius hatte jedoch noch die ganzen Termine, die nach der Konferenz anstanden und sich laut seines Terminkalenders bis zum späten Nachmittag erstreckten. Rose erklärte, dass sie die vier großen Multifunktionsdrucker des neuen Computerzentrums auch alleine mit den Listen beschicken konnte. Julius erinnerte sie an eine eingebaute Programmfunktion, die ein umständliches Auswählen einzelner Drucker ersparte und alle angemeldeten Drucker zugleich mit demselben Druckauftrag beschickten, sie brauchte dann nur die Gesamtzahl aller Kopien nur noch durch vier teilen, da jeder Drucker automatisch die ausgewählte Kopienanzahl eines Druckauftrages übernahm.
Nach der Konferenz musste Julius noch zu Adrastée Ventvit von der Geisterbehörde, mit der er über Methoden zum Aufspüren von schattenlosen Menschen und einer möglichen Unterbindung ihrer Vernichtung sprach. Nun, wo er wusste, dass sie auch zu Ornelles neuen kleinen Vertrauensgemeinschaft gehörte musste er sich sehr beherrschen, sie nicht darauf anzusprechen.
Nach Adrastée meldete er sich bei Monsieur Charlier von der Vampirüberwachung. Der war wegen des Coups mit den VBR-Kristallen immer noch nicht sonderlich gut auf ihn zu sprechen, musste ihn aber wohl wegen der Priorisierung möglicher Angriffsziele der Vampirsekte fragen. "Ich kann und werde Ihnen da sehr gerne die von uns erstellte Liste über an Blut und Erbgut forschenden Einrichtungen zukommen lassen. Und was die Kommunikation mit dem LI betrifft erhielt ich vorhin erneut die Bestätigung Madame Grandchapeaus, dass ich unter gar keinen Umständen diese Kontakte beenden soll, egal was Sie oder Ihre Amtskollegen im Ausland sagen. Wir hatten es ja schon davon, dass auch die Vampirgötzinnensekte auf elektronische Fernverständigungsmittel zurückgreifen kann. Da müssen wir dranbleiben. Ich habe aber schon mit Madame Grandchapeaus Genehmigung beim LI angefragt, ob Sie und Ihre Mitarbeiter auch eine gebotene Anzahl von VBR-Kristallen bekommen können."
"Sehr nett von der guten Nathalie, uns als Bittsteller darzustellen und darauf zu hoffen, dass diese Voodotrommel- und Kalimantra-Beter in den Staaten uns Großzügig was von ihren Kostbarkeiten abgeben, wo Minister Buggles genau das untersagt hat, nachdem ihm bekannt wurde, dass Nathalie und Sie an ihm vorbei einen Großauftrag an dieses Laveau-Institut verschickt und bewilligt bekommen haben. Insofern liegt das Kind schon im brodelnden Kessel, und wir von der Vampirüberwachung dürfen noch froh sein, wenn wir mit den zehn Resonanzkristallen auskommen."
"Ich möchte nicht lügen und behaupten, dass mir das jetzt leid tut, Monsieur Charlier. Ich kann Ihnen nur weitergeben, dass ich für Sie um weitere Kristalle bitten kann. Aber von wegen Kessel: Weil sie über Ihren Kollegen in den Staaten den dortigen Zaubereiminister darauf gebracht haben, dass wir auch ohne ihn das LI kontaktieren können haben Sie den großen Kessel umgekippt und alles was drin war verschüttet. Denn wenn wir deshalb keine wichtigen Hilfsmittel erhalten ist das nicht unsere Schuld", erwiderte Julius.
"Die Liste mit den Fabriken kriege ich noch vor dem Mittagessen, damit ich meine Leute dahinschicken kann. Falls die Liste nicht bis zwölf Uhr auf meinem Tisch liegt, und zwar in fünffacher Kopie auf Pergament und nicht auf diesem dünnen Papier mit perforierten Rändern, erfolgt eine interne Beschwerde an den leiter der Abteilung für magische Geschöpfe mit der dringenden Aufforderung, dieses Elektrorechnerzeug nicht weiter zur Jagd auf Vampire und Werwölfe zu verwenden, wie auch immer."
"Netter Versuch, Monsieur Charlier. Aber die Ministerin selbst hat uns instruiert, diese Möglichkeiten weiterhin zu nutzen. Und was die Listen angeht, so sind die auf Druckerpapier genausogut lesbar wie auf Pergament. Andere Abteilungen kommen damit immer besser klar, wenngleich sie ihre Schreibknechte und -mägde anstellen, für ihre Archive auch Pergamente davon anfertigen zu lassen. Aber ich bin keiner Ihrer Schreibstubenbediensteten und werde Ihnen daher die ausgedruckte Fassung überlassen."
"Jetzt aber raus hier", knurrte Charlier. Julius ließ sich das nicht zweimal sagen.
Immerhin schaffte Rose Deveraux es, die fünf Kopien der bisherigen Fabrikstandortslisten noch vor dem Mittagessen, nicht nur Charliers Büro, sondern auch anderen damit beschäftigten Stellen zukommen zu lassen.
Nach dem Mittagessen wollte Pygmalion Delacour noch mit ihm darüber sprechen, wie den immer häufiger vorfallenden Waldfrauenaddiktionen begegnet werden sollte. Denn wenn die grünen Waldfrauen immer mehr zu grünen Stadthexen mutierten und sie bisher nicht wussten, wie das möglich war, mochte das zu einer größeren Gefahr für alle urban lebenden Menschenkinder werden. Das sah Julius ein. An entsprechenden Verfahren wurde ja schon geforscht. Er erwähnte den Kontakt zum Laveau-Institut und bot an, dort nach verbesserten Suchmethoden zu fragen. Immerhin konnten ja auch in den Staaten grüne Waldfrauen zu grünen Stadthexen werden. Pygmalion überlegte kurz und stimmte dann zu. Damit es seinen behördlich korrekten Weg ging wurde ein gemeinsamer Antrag an Simon Beaubois geschickt. Stimmte der abteilungsleiter zu konnte Julius diese Anfrage weiterleiten und Monsieur Delacour die Ergebnisse direkt weiterleiten.
Nach diesem eher einfachen Termin ging es noch ins Archiv, wo der Chef der Unterlagenaufsicht darüber klagte, dass viele aus dem Büro für friedliche Koexistenz stammende Schriftstücke nur noch auf dünnem Papier und mit leicht verblassender Schrift eingereicht wurden, sofern sie nicht auf Grund ihrer Wichtigkeit noch mit Tinte auf Pergament übertragen wurden. Julius konnte dem Archivar beschreiben, dass es genau dafür mittlerweile wwortwörtlich eine Lösung gab. Denn weil das Papier aus Holzfasern bestand hatten Deutsche Zaubertrankbraukünstler eine Abwandlung des Durolignumelixiers hergestellt, die das Papier selbst und alles darauf geschriebene hundertmal haltbarer machte. Madame Grandchapeau hatte bereits einen entsprechenden Kaufantrag in die Handels- und Finanzbehörde geschickt.
"Ich bezweifle, dass Colbert dieser Mixtur seinen Segen gibt. Am Ende wird es teurer, diese Papierblätter zu imprägnieren als gleich alles auf Pergament zu schreiben, Monsieur Latierre. Was ist, wenn wir die von Ihnen zur Aufbewahrung eingereichten Unterlagen verlieren?"
"Alle bisher erhobenen und für gültig befundenen Daten wurden auf CD-ROM gespeichert", sagte Julius. "Falls Unterlagen unleserlich werden können wir die Seiten noch mal ausdrucken lassen."
"Häh?! Wie soll das gehen?" wollte der Archivar wissen. Julius zog aus seinem mitgeführten Aktenkoffer eine beschriebene CD-ROM hervor und zeigte sie ihm. Er ließ mit "Engorgio Maxima" den Datenträger auf die zehnfache Größe anwachsen, um dem Archivar zu zeigen, wie die Daten in die Silberscheibe eingebrannt wurden. Sie konnten auch nicht durch Magie im Umkreis verfremdet werden. Nur wenn der Datenträger zerstört wurde waren die darauf abgelegten Informationen unrettbar vergangen.
"Ich habe so einen Jungspund in der Aktensortierabteilung, der wegen unterdurchschnittlicher UTZs kein Außeneinsatzzauberer werden konte. Der redet auch dauernd von den ganzen Computersachen. Aber das hat der mir noch nicht erklärt. Wäre es möglich, den mal zu Ihnen in dieses Elektrorechnerhaus zu schicken, damit der sich alles ansieht, was geht und mir dann einen gescheiten Bericht macht, wie Informationen gespeichert werden können?"
"Dann bitte ich Sie, Madame Grandchapeau zu fragen", erwiderte Julius. Der Archivleiter grummelte erst, stimmte aber zu.
Endlich war der Arbeitstag um. Julius konnte nach Hause und sich von diesem Marathon an Terminen und Vorhaltungen erholen. Von Ornelles besonderer Übereinkunft sagte er Millie erst einmal nichts. Er wollte warten, bis die Zaubereiministerin ihn selbst zu sich bat.
"Gundula Wellenkamm hat mir geschrieben, Schwester Erin", sagte Sophia Whitesand mit einer kühlen Betonung. Erin O'Casy sah die Stuhlmeisterin der britischen Schwestern erwartungsvoll an. Sie hatten sich hier, in der Halle der Schwestern, getroffen, um die letzten Einzelheiten der anstehenden Reise zu besprechen.
"Ja, sie bestätigt, dass du direkt mit ihr Kontakt aufgenommen hast, um ihr diese Angelegenheit zu berichten. Woher kennst du sie eigentlich so gut, dass du sie gleich anschriebst, ohne darauf zu warten, dass ich und die deutsche Stuhlmeisterin euch zusammengebracht haben?"
"Gundula Wellenkamm ist weithin bekannt. Das sie eine unserer Schwestern ist erfuhr ich von Lad... Öhm, Madam Underwood."
"Soso, von der von einem mordlüsternen Feind getöteten Ursina, Friede ihrer Asche", erwiderte Sophia Whitesand und sah ihre Bundesschwester sehr prüfend an. "Warum fragst du mich eigentlich jetzt erst danach, woher ich Schwester Gundula kenne?" wollte Erin wissen. Sie wirkte im Moment ein wenig angespannt, fand Sophia Whitesand.
"Weil mich die Stuhlmeisterin der deutschen Schwestern erst gestern gefragt hat, wie es sein könne, dass eine ihrer Mitschwestern irgendwelche unangenehmen Nachrichten - sie sprach sogar von unbewiesenen Gerüchten - aus Irland erfahre, ohne dass ich ihr davon berichtet habe. Wieso heißt unsere Sororität Sororitas Silenciosa, Schwester Erin?"
"Weil wir es keiner und keinem erzählen, vor allem keinem Zauberer, dass wir dazugehören oder wer dazugehört, Lady Sophia."
"Nicht nur das, Schwester Erin. Es gilt auch, dass Schwestern nur über die Stuhlmeisterinnen ihres Landes einander vorgestellt werden dürfen, und wenn es zwei Schwestern aus zwei verschiedenen Ländern sind, dann nur durch Vermittlung der beidenStuhlmeisterinnen. Das soll verhindern, dass sich Hexen als unsere Schwestern ausgeben, nur weil sie eine kennen, von der sie sehr sicher annehmen, dass sie zu uns gehört. Wenn also Ursina dir vor ihrem Tod noch eine ihr vorgestellte Schwester vorstellt, die nicht aus ihrer eigenen Verwandtschaft stammt, dann habt ihr drei die eherne Regel der Verschwiegenheit unbekannten Hexen gegenüber gebrochen. Allein das kann schon reichen, euch aus unserer Schwesternschaft auszustoßen, schlimmstenfalls in Form der völligen Wiederverjüngung. Bist du deines Lebens wirklich schon so müde, dass du bei anderen Leuten ganz neu aufwachsen willst, ohne alles, was du bisher erlebt und erreicht hast?"
"Ich habe im besten Wissen erst dich angeschrieben. Aber ich konnte nicht warten, bis Garuthmonts Stein das erste Opfer gefunden hat. Daher erinnerte ich mich an Ursinas Fest, auf dem ich auch Gundula Wellenkamm getroffen habe. Ursina hat uns einander vorgestellt. Ihr habe ich bis zu ihrem Tode vertraut."
"Tja, und ob dieses Vertrauen wirklich so gerechtfertigt ist wage ich zu meinem großen Bedauern zu bezweifeln, zumindest was die Zeit nach dem 24. Juni 2003 angeht."
"Wieso ausgerechnet seit dem?" wollte Erin wissen.
"Weil sie auf mich den Eindruck gemacht hat, dass sie nicht weiß, wie es bei ihr weitergehen soll, nachdem sie zum zweiten mal ihre Großnichte Lea nicht bei uns einschwören lassen konnte."
"Achso, das. Gut, ich hatte ja auch nicht mehr so viel Kontakt, weil sie mich irgendwie als eine Konkurrentin ansah, warum auch immer", tat Erin so, als sei das doch alles kein Thema. Die sonst so stolze Irin, die selbst alle vor sich erzittern und vor Ehrfurcht im Boden versinken ließ wusste zu gut, dass Sophia Whitesand nicht nur weiterreichende Verbindungen hatte, sondern auch die unschlagbare Großmeisterin aller Zauberkategorien war und als Heilerin über 80 Jahre praktiziert hatte, bevor sie darum bat, ihr restliches Leben den magischen Forschungen zu widmen.
"Meine deutsche Amtsschwester ist bereit, es ihrer Mitschwester Gundula und dir noch mal zu verzeihen, wenn sie dafür den Namen der lebenden Hexe erfährt, die genau weiß, wo der Geisterstein von Garuthmont liegt. Denn was Gundula ihr von dir erzählt hat reicht ihr nicht aus, zumal du ja leider recht hast, dass womöglich Gefahr im Verzug besteht und höchste Eile geboten ist. Aber dann will sie auch von dir an mich den oder die Namen aller vollumfänglich wissenden Leute erfahren."
"Tja, Gundula würde ich es sicher erzählen. Aber ihr hättet nichts davon, weil der Stein von mehreren Bergezaubern verhüllt ist. Deshalb bat ich dich und sie auch, die eine Schwester zu kontaktieren, von der sie mir erzählt hat, dass sie eine Mitschwester ist."
"Ich habe mich wohl schon gefragt, von wem noch wer mitbekommen hat, dass sie zu uns gehört", grummelte Sophia Whitesand. "Zumindest ist damit aufgeklärt, warum die deutsche Stuhlmeisterin einen gewissen Argwohn gegen Gundula hegt, dass sie versucht, sich anderen Orden anzuschließen oder dies bereits getan haben könnte."
"Die Spinne oder die Feuerrose, Lady Sophia? Ja, ich weiß, wir haben oft davon gesprochen, dass wir unterwandert werden könnten. Aber das soll uns doch nicht davon abhalten, vertrauensvoll miteinander umzugehen", erwiderte Erin.
"Genau das ist es doch, Vertrauen. Vertrauen heißt auch Verlässlichkeit, die Sicherheit, nicht von einer Mitschwester verraten zu werden, und sei es nur, dass eine ihr unbekannte davon erfährt, dass sie unsere Schwester ist, oder eine behauptet, es zu sein. An dem Punkt waren wir glaube ich gerade schon."
"Lady Sophia, vielleicht interpretierst du da was übles rein, weil sich auch Leute miteinander verabreden, ohne dass du es mitbekommst", erwiderte Erin nun trotzig.
"Sie können sich verabreden zu was auch immer, wenn sie, ohne vorher von uns Stuhlmeisterinnen einander vorgestellt worden zu sein, nicht herumgehen lassen, dass sie Schwestern von uns sind."
"Wie erwähnt, Lady Sophia, es besteht Gefahr im Verzug", wiederholte Erin ihre Begründung für die unerlaubte direkte Kontaktaufnahme. "Womöglich sind, wo wir gerade miteinander sprechen, schon welche unterwegs, um sich den Stein zu holen, weil sie ihn als ihre neue Kraftquelle haben wollen."
"Ja, wenn sie genau wissen, wo er liegt und wie sie sich davor schützen, dass er sie holt", erwiderte Sophia Whitesand. Sie konnte es Erin ansehen, dass sie gleich ihre Beherrschung verlieren mochte. Deshalb sagte sie: "Doch wenn meine Amtsschwester in Deutschland deine Aussage hat, wer den genauen Standort kennt, was mich übrigens auch sehr interessiert, können wir die Bedrohung hoffentlich noch beseitigen. Oder legst du es darauf an, dass Ladonna Montefiori die unzufriedenen Hexen und ihr unterworfene Zauberer zu diesem Stein hinschickt, falls sie den Namen dieser Hexe schon erfahrenhaben sollte?"
"Ich denke, Ladonna wird sich erst da einrichten, wo ihre Sprache gesprochen wird. Abgesehen davon ist sie sicher nicht so dumm, sich einer hexenfeindlichen Macht auszuliefern, die sie nicht mit einem Todesfluch niederstrecken kann."
"Gut, dass du so zuversichtlich bist, was sie angeht. Aber die Spinnenhexen haben schon einige sehr riskante Sachen gemacht, um an Sachen zu kommen, von denen vorher noch keiner was gewusst hat. Deren Anführerin könnte finden, dass sie als Heldin der Hexenheit dasteht, wenn sie Garuthmonts Stein findet und entweder mit ihrem atlantischen Feuerschwert zerschlägt oder ihn sich unterwirft. Beim ersten Fall wissen wir nicht, was dann womöglich freigesetzt wird. Beim zweiten Fall dürfte sie eines der mächtigsten Opfer werden, die der Stein je unterworfen hat. Also, was sagst du dazu?"
"Das du leider recht haben könntest, Lady Sophia", entgegnete Erin O'Casy sichtlich ungehalten.
"Womit jetzt genau, dass sich Ladonna den Stein holt oder die Spinnenschwester?" fragte Lady Sophia. Erin sah sie verdrossen an und meinte: "Bei allem Respekt, willst du mich jetzt verhöhnen, Lady Sophia?"
"Mir liegt nichts daran, eine Mitschwester zu verhöhnen, auch wenn ich die gewählte Stuhlmeisterin auf Lebenszeit oder bis auf meinen persönlichen Rücktritt bin." Erin sah sie nun wie ein Tier an, das in die Enge getrieben wurde.
"Aber wie du sagst, jede Minute ist wertvoll", erwiderte Sophia Whitesand. "So verrate mir bitte den oder die Namen der Person oder Personen, die von dem Versteck des Steines wissen! Dann darfst du gehen und kannst dich dem Studium der alten Schriften widmen."
"Sei froh das ich das tue und auch gut genug beherrsche", schnarrte Erin. Dann sprach sie zwei Namen aus, die Sophia notierte. "Gut, Schwester Erin. Dann sind wir hier fertig. Semper Sorores!"
"Darf ich weiterhin mit Gundula Kontakt halten?"Fragte Erin.
"Hallo, ich habe gerade unseren Treuegruß gesprochen, womit die Unterredung vorbei ist", sagte Sophia Whitesand nun sichtlich erbost klingend. Erin verzog ihr Gesichtzu einer trotzigen Grimasse. Dann erwiderte sie fast schon hinspeiend: "Semper Sorores Lad... aaaaaaH" Der Stuhl, auf dem Erin saß verschwand in einer silbernen Lichtspirale. "Patience, Besuch im Anflug!" mentiloquierte Sophia an ihre Enkeltochter Patience Moonriver. Dann disapparierte sie.
"Schöne Insel, dieses Feensand", mentiloquierte Albertrude an ihre Bundesschwester Anthelia. Diese schickte zurück: "Ja, ich war da mal, vor mehr als dreihundert Jahren."
Albertrude suchte das Haus von Gundula Wellenkamm auf. Da sie die Sprecherin des Inselrates war besaß sie natürlich das größte Haus in der Mitte der kleinen Siedlung. Alle Häuser hier waren aus Zigelsteinen errichtet und besaßen Reetdächer, so wie es auch bei Häusern in den überwiegend von Nichtmagiern bewohnten Ansiedlungen an der Nord- und Ostseeküste der Fall war. Albertrude dachte an die Überwachung von Rico Kannegießer auf Neuwerk. Nur waren da diese Metallschüsseln zu sehen gewesen, mit denen die Magielosen Fernsehsendungen über die in festen Erdumlaufbahnen fliegenden Kunstmonde auffangen konnten. Hier gab es nicht mal asphaltierte Straßen, sondern hölzerne Bürgersteige, zwischen den plattgewalzter Sand und Kies zu Straßen ausgelegt waren. Und aus allen Richtungen klang die ewige Musik des Meeres, nur alle sechs Stunden unterbrochen, wenn Ebbe war.
Albertrude erkannte sofort die vielen starken Schutzzauber um das Haus. Mit Zauberflüchen war da nicht durchzukommen. Doch weil sie ausdrücklich eingeladen worden war machte sie sich keine Gedanken. Es sei denn, dass die Schutzvorkehrungen erfassten, dass sie nicht mehr nur eine Seele war, sondern eine vereinte Seele im selben Körper wohnte. Doch wenn sie keinen Verdacht erregen wollte musste sie hingehen.
Als Albertrude vor dem Haus stand sah sie mit ihren magischen Augen, dass Gundula gerade in der Küche war. Die neun mal neun Jahre alte Hexe ließ mit scheinbar kindlicher Leichtigkeit Schwämme, Schrubber und Bürsten werkeln. Geduldig wartete Albertrude. Sie wollte wissen, ob Gundula sie allen ernstes mit der britischen Stuhlmeisterin zusammenbringen würde und ob ihre Befürchtung stimmte, dass jemand sie in eine Falle locken wollte. Als sie sah, dass Gundula ihre Haushaltspflichten erledigt hatte zog sie am Glockenzug. Ein sphärisches Bimmeln erfüllte das Haus.
"Ah, Fräulein Steinbeißer", grüßte die knapp 1,60 Meter große Hexe mit dem silbergrauen Haar und den veilchenblauen Augen.
"Ich durfte mir gerade Ihre Ansiedlung hier ansehen. Sehr ruhig, ja idyllisch", meinte Albertrude, während sie eintrat.
"Ja, das ist auch der Grund, warum ich trotz aller Angebote aus der Zaubererwelt lieber einen kleinen Dorfrat führe als anderswo die dicken Goldbrocken zu verdienen", sagte Gundula freundlich und schloss hinter Albertrude die Tür. Die Erbin Gertrudes sah sofort, dass durch das Haus die flirrenden Stränge verliefen, die für einen Apparitionswall standen.
In der gemütlichen Wohnstube saßen die beiden Bundesschwestern an einem runden Tisch. Gundula erwähnte, dass Meisterin Feuerkiesel wohl nicht so erfreut war, dass Erin erst sie angeschrieben habe, statt auf die Rücksprache der landeseigenen Stuhlmeisterin zu warten. Albertrude nickte. Sie kannte diese ehernen Regeln auch und fragte sich, wie die Sororität weltweit so gut funktionieren sollte, wenn sich die Schwestern nicht mit ihnen vertrauenden Hexen unterhielten. Dann ging es um die Karte auf dem Tisch. Dort, wo ein blau blinkender Punkt leuchtete lag das Ziel, ein alter Luftschutzbunker.
Albertrude nutzte die besonderen Eigenschaften ihrer Kunstaugen, um Einzelheiten besonders hervorzuholen. Dabei fragte sie: "Wieso ein Schutzraum gegen herunterfallende Sprengbomben mitten im Wald und nicht in der Nähe einer größeren Ansiedlung? Und warum sollen da diese Aufzeichnungen liegen, von denen du gesprochen hast, Schwester Gundula?"
"Zur ersten Frage: Diese Anlage wurde für führende Mitglieder der nationalsozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands errichtet, die nicht in den klar zu erkennenden Städten bleiben wollten. Unsere Vorabuntersuchungen ergaben, dass in den Jahren 1944 und 1945 an die tausend Leute dort unterkamen. Frieslands feiner Führerbunker, so haben es einige Magielose wohl genannt. Ah ja, Frage zwei: Auch wenn Grindelwald seine Anhänger vor den Kriegsgelüsten der Magielosen gewarnt hat hielten seine deutschen Anhänger das für eine tolle Idee, in diesen Sonderbunker im Wald einige hochexplosive Aufzeichnungen zu deponieren. Für die war es eine Art Veräppelung sowohl des damaligen gröhlenden Machthabers in Berlin, als auch des Zaubereiministeriums. Sie haben die Unterlagen in einer der Wände versteckt und einen Desinteressier-Zauber darauf gelegt. Es könnte, nein wird jedoch so sein, dass hier gezielt alte Aufzeichnungen zusammengesucht worden sind, die mit Grindelwalds Idee von einer überragenden Zaubererwelt "für das bessere Wohl" übereinstimmen."
"Mit anderen Worten, das mit dem Geisterstein Garuthmonts ist nur eines von vielen Geheimnissen. Aber wieso sind wir da schon dran, oder besser, jetzt erst dran?"
"Weil es eben immer erst Debatten gibt, was echt und was falsch, was belegbar und was Spekulation ist."
"Dann jetzt noch die Frage, warum wir und nicht die Strafaufklärer oder erforscher magischer Quellen", sagte Albertrude.
"Falls du morgen Zeit hast kann ich dich gerne übers Watt führen, dann wirst du wissen, warum wir Feensander, von euch Festländern auch mal abschätzig die von der Insel, die keiner findet genannt, uns hier wie im Paradies aus diesem Märchenbuch des Orients fühlen."
Nun, ich bin ja nicht nur hier, um eure schöne Insel zu besuchen. Ich hörte sowas, dass die britische Stuhlmeisterin unserer Sororität mit mir dort hinreisen mag, wenn sie herkommt."
"Ich wollte sie dir eigentlich vorstellen. Aber bisher ist sie hier nicht aufgetaucht. Kann sein, dass sie bei Meisterin Feuerkiesel ist und mit ihr zusammen herkommt. Wie erwähnt war unsere Oberschwester nicht begeistert davon, dass Erin und ich schon Kontakt aufgenommen haben, weil Erin mich kennt."
"Darf ich fragen, woher?" wollte Albertrude wissen.
"Nein, das darfst du nicht. Das darf nur Stuhlmeisterin Feuerkiesel." Albertrude hatte mit dieser Antwort gerechnet und murrte deshalb nicht.
Sie warteten noch einige Minuten. Gundula wirkte schon etwas nervöser als vorhin. Dann schrak sie erst zusammen, um dann wie auf eine wichtige Nachricht lauschend dazusitzen. Albertrude verfiel sofort in Alarmstimmung. Dann hörte sie Gundula sagen: "Ich habe gerade mitbekommen, dass tatsächlich gerade Zauberer aus unserem Ministerium dort hinreisen wollen, Wenn wir uns beeilen kriegen wir die Aufzeichnungen noch vor denen zu fassen."
"Also kann man da hinapparieren?" fragte Albertrude. "Da dort niemand wohnt oder arbeitet ist dort auch kein Abwehrzauber in Kraft. Ich bring dich hin."
"Und was ist mit der britischen Stuhlmeisterin?" wollte Albertrude wissen. "Sie hat noch vor mir Wind von der Aktion gekriegt und bleibt bei sich in England", sagte Gundula. "Wenn du dich bei mir festhältst bringe ich dich zum Bunker."
"Moment, ich denke, da sollte ich vorher noch mal gesittet ins Bad verschwinden, bevor ich da auf uralten Beton strullern muss", erwiderte Albertrude. Gundula schien zu überlegen oder bei irgendwem nachzufragen, was sie tun sollte. Da Albertrude schon längst wusste, was mit Gundula passiert war war sie nun voll in Alarmstimmung. Wenn die andere ihr nicht erlaubte ... "Du hast fünf Minuten, Schwester. Ich erlaube es dir, mein persönliches Badezimmer zu benutzen. Es liegt drei Zimmer von hier fort. Aber jetzt beeil dich bitte, schnell!"
"In Ordnung", erwiderte Albertrude. Sie fühlte, dass sie die Lage nicht mehr beherrschen würde, wenn sie Gundula in eine unnötige Hektik geraten ließ. So suchte sie besagtes Badezimmer auf. Auch hier war alles blitzblank. Nur der Spiegel wirkte leicht eingetrübt. War der denn für Normalsichtige zu gebrauchen? fragte sich Albertrude. Ihr kam der Verdacht, dass der Spiegel mehr als ein solcher war und unterzog ihn einem prüfenden Durchblick und Zauberblick ihrer neuen Augen. Dabei stellte sie fest, dass hinter dem Spiegelglas ein weiterer Raum lag und Gundula gerade dort platznahm. Offenbar konnte die andere sie durch den Spiegel sehen. Albertrude hatte jedoch was dagegen. Sie hängte einfach ihren Umhang über den Spiegel und drehte an dem Wasserhan mit dem blauen Vogelkopf. Der rote Drachenkopf-Wasserhan blieb zu. Albertrude ließ sich Wasser einlaufen, während sie ganz ruhig die Toilette benutzte. Dabei hielt sie jedoch Umschau, nicht von woanders her beobachtet zu werden. Als sie sich ganz sicher war, dass Gundula keine weiteren Spionagemittel gegen sie einsetzte bereitete sie sich auf das vor, von dem sie sicher war, dass es ihr nun doch bevorstand. Dabei mentiloquierte sie auch mit Anthelia und teilte ihr den Zielort mit.
"Gut, wenn du da bist bitte melden, Schwester. Höre ich in Fünf Minuten nach deiner letzten Mitteilung nichts mehr von dir, komme ich dir zu Hilfe."
"Ja, oder gehst in dieselbe Falle wie ich", schickte Albertrude zurück. "Ich werde nicht blindwütig irgendwo reinlaufen. Abgesehen davon vertraue ich auf Dinge, die ich hinzugewonnen habe, als Anthelia und die große Magierin aus dem alten Reich in mir vereint wurden."
"Daianira, Duell, im Bauch der Bestie?" schickte Albertrude zurück. Sie wusste, dass diese Begriffe Anthelia sehr tief trafen. Doch nach nur zwei Sekunden kam eine von Trotz triefende Antwort zurück: "Ohne das alles hättest du auch Gertrudes Testament nicht erhalten und das Erbe angetreten, schwester Alb-er-tru-de." Die Anmentiloquierte erkannte, dass ihr biestiger Vorstoß wie ein Bumerang auf sie zurückgeprallt war. Ja, ohne das alles, was Anthelia durchlebt hatte wäre Gertrudes Erbe weiterhin bewusst im Dunkeln belassen worden. "Wie mitgeteilt, Schwester, fünf Minuten nach deiner letzten an mich gehenden Mitteilung komme ich und helfe dir." Diese Ankündigung, die bei anderen vielleicht eine Aufmunterung und Hoffnung bewirkt hätten, war für Albertrude ein Ansporn, ohne die Hilfe der schwarzen Spinne zu bestehen, was zu bestehen sein mochte.
Nachdem sie endlich alle ihre Vorbereitungen getroffen und sich an das unangenehme Gefühl in der Nase gewöhnt hatte zog sie ihren Umhang wieder an und winkte dem Spiegel, hinter dem sie Gundula etwas verdrossen dreinschauen sehen konnte, weil sie ihre Augen auf Hindernisdurchdringung eingestimmt hatte.
"Natürlich hast du mich hinter dem Spiegel gesehen, Schwester Albertine", grummelte Gundula, als sie beide sich im Flur ihres Hauses trafen. "Ich befördere dich in die Nähe. Denn ich erfuhr, dass das Ministerium Besenreiter schickt, die den Bunker durchsuchen und alles magieaffine beschlagnahmen sollen. Die werden in zehn Minuten da sein."
"Ich bin bereit", sagte Albertrude und fühlte ihre Worte sanft in der Nase nachschwingen. Doch näseln wie mit starkem Schnupfen tat sie nicht. Darauf hatte sie sehr genau geachtet.
Gundula war eine Meisterin im Seit-an-Seit-Apparieren, soviel stand fest. Als Albertrude ihren magischen Blick schweifen und durch alle hier aufgestellten Nadelbäume und Büsche dringen ließ erkannte sie die unter Sträuchern verborgene Metallluke mit erstaunlich gut erhaltenen Drehriegeln. "Ich bin dann besser wieder weg, bevor die hier ankommen und fragen, was ich hier zu suchen hatte", sagte Gundula, als sie wusste, dass Albertrude am richtigen Ort war. Die Hexe mit den magischen Augen wunderte sich nicht über diese Absicht. Sie nickte nur. Dann winkte sie und verschwand wieder.
"Dann will ich mal sehen, welch kleine und gemeine Falle du mir stellen willst, Gundi Wellenkamm", dachte Albertrude. Dann mentiloquierte sie Anthelia an und schaffte es, ihr ihre Ankunft vor einer Metallluke mitzuteilen.
"Gut, versuche mich wenn möglich jede Mninute zu erreichen. Wenn nicht, dann laufen die fünf Minuten", erinnerte Anthelia sie an ihre Zusage.
Albertrude prüfte die Luke mit ihren magischen Augen. Es lag aber kein Zauber darauf. Nicht mal Funken von Magie trieben im Metall. Doch in der fünfzig Meter tiefer gelegenen Anlage konnte sie magische Ströme sehen, die wie die Arme eines Kraken auf ein gemeinsames Zentrum zuliefen. mit der Nahsichfunktion sah sie sogar Querverbindungen, welche die magischen Strahlen in sechs konzentrischen Kreisen verbanden. So ungefähr sah ein Locattractus-Zauber aus. Doch der reichte in der üblichen Ausführung zwei Kilometer weit, und sie waren keine fünfhundert Meter von der Luke entfernt appariert.
Von Hand entriegelte sie die Luke und stellte ihre Augen auf Nachtsicht, Aurensicht und Wärmesicht ein. Fernblick und Durchdringung brauchte sie jetzt im Moment nicht, zumal sie mit ihren Kunstaugen nur bis zu drei der sechs Funktionen nutzen konnte. Da sie das alles schon so verinnerlicht hatte wie die Bewegungsabläufe beim Laufen oder das Atmen ohne die Konzentration auf jeden Bauch- und Brustmuskel war das in nur einer Sekunde erledigt. Jetzt stieg sie in die Dunkelheit hinunter. Wie es hier roch konnte sie im Moment nicht feststellen.
Kaum war sie durch einen der nur für sie sichtbaren Magiestränge gedrungen, wurden diese stärker. Sie sah, wie innerhalb einer Sekunde weitere Kreislinien entstanden. Da war klar, dass mit dem Locattractus- auch ein Meldezauber verbunden war, der bei Erfassung magischer Wesen den Einfangzauber für Apparatoren auf seine volle Stärke brachte. Sie steckte ihren Besen in die Handtasche zurück, um beweglicher zu werden. Dann lief sie einer gerade für sie wie ein beindickes Leuchtstoffrohr aussehenden Kraftlinie nach. Denn natürlich war im Zentrum des Zaubers die eigentliche Falle. Die Konfrontation ließ sich nicht mehr verhindern. Also wollte sie sie hier und jetzt suchen.
Erin erkannte zu spät, dass Lady Sophia sie hereingelegt hatte. Der Stuhl, auf dem sie die ganze Zeit gesessen hatte, war ein wörtlich auslösbarer Portschlüssel gewesen, der bei Ausruf der schwesterlichen Verbundenheitsformel in Tätigkeit trat. Sie klebte mit Rücken und Po an diesem verhexten Stuhl fest, während sie wie von einem Haken im Bauchnabel durch einen bunten, unendlichen Raum gezogen wurde. Dann prallten die Stuhlbeine auf Festem Boden. Erin sah gerade noch, dass sie in einem Tal mit hohen Seitenwänden mitten auf einer Wiese gelandet war. Da durchrasten sie solche Kopf- und Bauchschmerzen, wie sie sie nie zuvor gespürt hatte. Auch ihr Blut schien auf einen Schlag bis an den Siedepunkt erhitzt zu sein. Sie zuckte, schrie und wand sich unter diesen Qualen, die dem Cruciatus-Fluch schon sehr nahe kamen. Sie spürte einen Würganfall und konnte es nicht verhindern, alles im hohen Bogen auszuspeien, was sie in den letzten Stunden gegessen hatte. Durch die von den Kopfschmerzwellen erzeugten Blitze hinter ihren Augen konnte sie noch sehen, wie das von ihr erbrochene dampfte, als käme es gerade aus einem Kessel. Wahrscheinlich waren es die Kopfschmerzen, die ihre Sinne verwirrten. Denn violetten Dampf hatte sie bis dahin nur ... Eine weitere heftige Schmerzwelle raubte ihr gnädigerweise das Bewusstsein. Deshalb konnte sie die beiden Hexen, die eilfertig auf sie zuliefen nicht mehr sehen.
"Uuäääääh! Wie könnt ihr Heilerinnen sowas aushalten?" fragte Modesty Silverlake ihre Nichte Patience Moonriver, als sie auf den Auswurf der gerade vor heftigen Schmerzen bewusstlos gewordenen deutete.
"Viel Selbstbeherrschung und die Hoffnung, das heilen zu können, was zu sowas führt", erwiderte Patience Moonriver scheinbar ganz gelassen. Doch der violette Dampf, der aus dem Erbrochenen stieg machte ihr schon sorgen, Auch als ihr Vitalis-Revelio-Zauber zeigte, wie überhitzt Erins Organe arbeiteten beruhigte sie das nicht.
"Wenn sie stirbt kriegt meine hochgeschätzte Großmutter aber sehr viel Ärger", grummelte sie. "Abgesehen davon, dass unser Sanctuafugium-Zauber dann wohl erlischt, weil er nicht töten darf", erwiderte Modesty Silverlake.
Um den kritisch erhitzten Körper zu kühlen wirkte Patience einen Abkühlzauber, den sie von einer Kollegin aus den Staaten gelernt hatte, wo jedes Jahr viele Hexen und Zauberer an der Sommerhitze litten. Tatsächlich gelang es ihr, Erins Körpertemperatur weit genug abzusenken. Der violette Dunst, der ihr aus Nase, Mund und Ohren wich, zerfaserte in der Luft und löste sich restlos auf. Ebenso ging es mit dem, was ihr Magen nicht mehr bei sich behalten konnte. Dann beruhigten sich auch Erins überforderte Organe wieder. Mit entsprechenden Zaubern, vor allem dem Anabneo-Zauber zur befreiung der Atemwege und einem Herzberuhigungszauber stabilisierte Patience die ihr ohne große Ankündigung zugesandte Patientin. "Okay, Tante Mo, wir bringen sie ins Haus. Aber das Erbrochene muss ich sichern." Modesty verzog ihr Gesicht und wandte sich ab, bis Patience meldete, alles sicher verstaut und den Boden gereinigt zu haben. Dann beschworen sie eine Trage herauf und brachten die Patientin oder auch Gefangene ins Haus, wo die Besitzerin gerade aus ihrem Studierzimmer trat.
"Ohne jetzt anmaßend sein zu wollen, Oma Sophia, aber diese Aktion eignet sich nicht zur Wiederholung, wenn nicht sofort eine Heilerin oder ein Heiler am Ort ist", sagte Patience. "Ichhabe es gerade an den Zustandswächtern gesehen, dass die Schutzzauber gegen eine mittelschwere Bedrängnis ankämpfen mussten. Offenbar hat jemand unserer Mitschwester eine Kombination aus Fluch und Zaubertrank appliziert. Ich möchte sie jetzt sehen und falls möglich sofort verhören. Hoffentlich hat sie durch die Beseitigung der auf sie ausgeübten Manipulation nicht alles vergessen." Darauf sah Patience ihre Großmutter vielsagend an und meinte: "Ich bin ja in Übung, Lady Sophia.
"Was auch der Grund ist, dass ich dir so viel zutrauen kann, Schwester Patience", erwiderte Sophia Whitesand.
Zwar hörte sie noch den von viel Prasseln und Krachen verzerrten Aufschrei, der schlagartig immer leiser wurde. Zwar dröhnte ihr noch der Kopf von der heftigen Schmerzwoge, die ihr wie mit einem unsichtbaren Hammer in den Kopf geschmettert worden war. Doch sie wusste jetzt, dass jemand einen sehr drastischen Weg gefunden hatte, ihr eine treue Untertanin zu entreißen. Denn sie bekam keine Verbindung mehr mit Erin O'Casy. Sie hatte es noch mitbekommen, dass Erin sich mit dieser Sophia Whitesand unterhalten hatte. Dann war die Verbindung in einem Blitz aus Blauem Licht und einem Schauer bunter Farben abgerissen, um wenige Sekunden später in Form des lauten Aufschreis und der heftigen Kopfschmerzwoge für gerade mal drei Sekunden wiederzukehren. Dann wusste sie, dass sie sich beeilen musste, wollte sie zumindest die ihr einmal entgangene Hexe mit den magischen Augen in ihre Reihen zwingen. Danach würde sie nachforschen, wie diese weißblonde Hexe es angestellt hatte, ihr ihre treue Untertanin zu entreißen. Das Blaue Licht und der bunte Farbenschauer sprachen für den Sturz in einen Portschlüsselwirbel. Dann wusste sie auch schon, was passiert war: Sanctuafugium. "Und ich kriege dich auch. Wo Erin war sind noch andere, du altes Knochengestell", knurrte sie innerlich. Dann beeilte sie sich, Albertine Steinbeißer zu unterwerfen.
Es war ein großer Raum, unmöbliert bis auf einen Steinsockel. Von ihm ging der Locattractus-Zauber aus. Ansonsten gab es in diesem Raum keine Magie. Doch als Albertrude mit Anthelia zu mentiloquieren versuchte spürte sie den unverkennbaren Druck auf dem Kopf und hörte ihre Gedankenbotschaft als verzerrte und tonverschobene Echos von allen Seiten. Hier unten wirkte auch eine Melosperre. Albertrude warf schnell einen Blick auf ihre Uhr. Ab jetzt fünf Minuten, bis Verstärkung kam. Dann dachte sie das Passwort zum Aufzeichnen aller mit ihren Augen gesehenen Dinge, Wesen und Ausprägungen. Vier Stunden lang konnte sie so alles speichern, um es später mit einem anderen Passwort nachbetrachten zu können. Dafür verzichtete sie auf die Wärmesicht. Doch mit der Nachtsichtfunktion konnte sie in diesem Raum genausogut sehen wie in einer sternenklaren Vollmondnacht. Doch was oder wer immer auf sie wartete zeigte sich nicht. Deshalb wechselte sie von Zaubersicht auf Durchgdringungssicht und prüfte den Boden und die Wände auf Hohlräume. Sie fand jedoch keinen.
Unvermittelt ploppte es, und frei in der Lufft schwebte eine Handlange, brennende Kerze. Die Flamme leuchtete blutrot. Dann sah sie den violett schimmernden Rauch, der aus der Flamme trat und sich immer mehr im Raum ausbreitete. Sie fühlte das sanfte Kribbeln in ihren Nasenlöchern. Ihre magischen Luftfilter reagierten auf eine unerwünschte Beimengung, aber sie reagierten auch auf eine darin wirkende Zauberkraft. Albertrude wusste jetzt, was mit dem Duft der Feuerrose gemeint war. Da wuchs die rote Flamme auch schon zu einer mehr als zwei Meter großen Rose heran. Die Erbin Gertrude Steinbeißers hielt den Mund geschlossen, um nicht den violetten Qualm hineinzubekommen. Sie hatte in den letzten Tagen viel geübt, Luft durch die Nase zu holen, einen Zauber zu rufen oder zu sprechen und dann sofort wieder den Mund zu schließen. Hoffentlich genügte das. Denn dieser magische Qualm ließ ihre tief in der Nase steckenden Filterstopfen doch sehr gut vibrieren. Allerdings fühlte sie noch keinen Niesreiz. Ihre Sorge war, dass ihre Filter von dem Zauberqualm ausgezehrt wurden und ihr dann selbst das Atmen erschweren konnten.
Die blutrote Feuerrose neigte ihr ihren brennenden Blütenkelch zu. Dann hörte sie für eine Sekunde eine wie von zwei lauten Frauenstimmen durcheinandergesprochene Botschaft. "Dein Leb...." verstand sie und sah, dass die Rose leicht vibrierte. Dann griffen ihre in die Ohren gesteckten Pfropfen in Seeschlangenhaut, die jeden unmagischen Ton ungeblockt zu ihr durchließen, aber sobald Magie wie bei der lähmenden Stimme oder den Liedern der Veelas oder Sabberhexen an ihre Ohren drangen nach dem ersten Ton keinen Ton mehr durchließen. Doch sie spürte die Vibrationen in den Ohren. Das ärgerte sie ein wenig, weil das ihre Konzentration stören mochte. Doch die Schutzvorkehrungen hielten, zumindest die ersten zehn Sekunden.
Albertrude sah die federkieldünnen Feuerlanzen, die aus der ihr zugewandten Feuerrose auf sie zuschnellten und fühlte es in ihren Ohren unvermittelt immer heißer werden. Verdammt, dieses Weib hatte auch an sowas gedacht, fiel es ihr ein. Sie versuchte, die auf sie gerichteten Feuerstrahlen abzuschütteln. Doch die hatten sie voll und ganz im Visier. Dann erschien sie im Raum, genau auf dem Stein, welcher das Zentrum des Locattractus-Zaubers war.
Albertrude musste feststellen, dass die bisherigen Bilder und Beschreibungen dem Original nicht gerecht wurden. Die Hexe in einem nachtschwarzen Kurzkleid aus feinster Seide war eine wahrhaft übermenschliche Schönheit. Ihre biegsame Figur, ihre schlanke Taille, die ausgeprägte, aber nicht ausladende Oberweite, ihr schmales, hochwangiges Gesicht mit den großen, runden, wohl grünen Augen und das lange, bis fast zu ihren Hüften fließende, nachtschwarze Haar, hätten Albertine vor Gertrudes Erbe sicher so fasziniert, dass sie dieses Wesen nicht von der Bettkante geschupst hätte. Doch hier und jetzt und vor allem im Schein der Feuerrose und ihres magischen Brodems war das da vor ihr eine tödlich gefährliche Gegnerin. Ihre Ohren schmerzten vor Hitze. Ihre Nase erbebte wegen der darin einander bekämpfenden Zauber. Wenn sie nicht jetzt ihren Trumpf ausspielte ging der Kampf verloren. Sie sog noch einmal tief Luft in ihre gerade noch geschützte Nase, zeigte auf die sie überlegen angrinsende Frauensperson mit den schwindelerregend langen Beinen und rief drei wohlgewählte Worte: "Forfices ex saculo!"
Anthelia hielt sich an das, was sie Albertrude zugesichert hatte. Auch wollte sie Ladonna zeigen, wie schnell ein Fallensteller selbst zur Beute werden konnte. Sie hatte da ja bedauerlicherweise auch schon gewisse Erfahrungen gesammelt.
Sie apparierte nicht gleich dorthin, wohin Albertrude gebracht worden war, sondern erschien drei Kilometer davon entfernt. Auf ihrem Harvey-Besen flog sie auf die angegebenen fünf Fichtenund sieben Tannen zu. Dabei zog sie ihre stärkste Waffe, Yanxothars Feuerklinge, aus der am Rücken getragenen Drachenhautscheide und schwang es mal mit rechts und mal mit links, um die Handhabung damit zu üben. Dann zog sie aus der am Besen hängenden Tasche drei Bauchige Flaschen mit Bleiversiegelung hervor. Sicher konnte sie auch Sardonias grünes, Pflanzen verzehrendes Feuer benutzen. Doch das brannte nur solange, wie seine Erzeugerin es sehen konnte. Wollte sie da runter, musste sie was anderes tun.
Mit ungesagtem Zauber löste sie die Bleiversiegelung von den Korken. Dann ließ sie den erstn Korken mit ihrer telekinetischen Kraft aus der Flasche ploppen und flog in fünfzig metern höhe langsam ausgreifende Spiralen. Dabei schüttete sie den Inhalt der Flasche nach unten. Als der unzerbrechliche Behälter leer war entkorkte sie die zweite Flasche und vergoss deren Inhalt bei noch weiter ausgeflogenen Spiralen. Als sie dann auch Flasche Nummer drei über den Bäumen entleert hatte war eine Fläche mit hundert MeternUmkreis vorbehandelt. Sie landete. Dadurch wurde sie zwar wieder sichtbar. Doch ihr Gedankenspürsinn verriet, dass im Moment niemand anderes in der Nähe war. Allerdings erfasste sie auch nicht die Geistesregungen der beiden, die da unten sicher schon aufeinandertrafen.
"Retardo incendio!" wisperte sie, wobei sie sich die Zahl Sechzig vorstellte. Dabei zielte sie auf den Wipfel einer von ihr begossenen Fichte. Den Zauber wiederholte sie dreimal. Dann steckte sie den Besen fort und rief den Freiflugzauber auf, um ohne die Treppen benutzen zu müssen nach unten zukommen.
Ihre Ohren taten weh. Dann hörte sie die fremden Frauenstimmen wieder, lauter und Lauter, jedoch immer noch völlig verzerrt und schwer zu verstehen. Gleichzeitig entflogen ihrer Handtasche fünf silbern schimmernde Gegenstände mit wild schwirrenden blauen Flügeln. Ladonna sah die sie anfliegenden Dinger an und fuchtelte wie wild mit ihrer linken Hand. Albertrude konnte ihn sehen, den Ring, weshalb diese unnatürlich schöne Hexe überhaupt zurückgekehrt war. Rote Blitze zuckten aus dem Ring. Einer traf sein Ziel. Doch vier weiterhin mit gierig und schnell schnappenden Klingen herumfliegende Scheren umschwirrten Ladonna wie die Wespen einen Bienenstock. Als sie herumwirbelte, um die anderen vier zu erwischen passierte das, was sie auf jeden Fall verhindern wollte. Ihr Haar flog von der Drehbewegung nach außen geschleudert von ihr weg. Zwei der behexten Scheren erwischten es im Flug und trennten es ab. Ladonna zuckte zusammen, als habe ihr wer direkt ins Ohr geschnitten. Strähnen von schwarzem Haar flogen davon. Ladonna erwischte noch eine weitere der sie beharkenden Scheren. Doch ebenso schafften die verbliebenen es, ihr einen ordentlichen Strang ihrer Haare abzutrennen. Sie schrie auf. Der Schrei überlagerte sogar die überlauten, in Albertrudes ohnehin gepeinigtem Kopf schmerzenden Stimmen aus der Feuerrose. Sie verstand, dass sie sich wohl unterwerfen sollte. Doch sie verspürte keinen Zwang, dies zu tun.
Ladonna wirbelte herum, suchte die noch verbliebenen Scheren. Davon fanden zwei sie und ihr viel zu langes Haar, das bei jeder wilden Drehbewegung nach außen geschleudert wurde. Schnipp-schnapp! Wieder flog ein Strang ihres nun nicht mehr so anziehenden Haarschopfes durch den Raum. In dem Moment fühlte Albertrude, dass sie durch die Nase keine Luft mehr bekam. Ihre magischen Filterstopfen waren aufgebraucht. Der violette Qualm setzte sie zu. Wenn sie nicht auch die Kerze mit der brennenden Rose ausbekam verfiel sie wohl doch noch deren magischem Rauch.
Ladonna wand sich und stieß wilde Wutschreie aus. Wieder kappte eine der noch fliegenden Scheren etwas von ihrem Haar. Da brach sie wie vom Blitz getroffen zusammen und wand sich wie unter harten Schlägen am Boden. Damit wäre sie für die Scheren eine leichte Beute. Aber was nützte es Albertrude. Sie brauchte selbst Luft.
"Du gemeines, verdammenswürdiges Stück Dreck. Du entkommst mir doch nicht", flennte Ladonna, eher aus Verzweiflung als aus Überlegenheit. Albertrude wusste nur, dass sie was machen musste. Als um Ladonna eine rubinrot flirrende Aura entstand und eine der drei noch fliegenden Scheren dagegenkam glühte diese auf und fiel rote Funken sprühend zu boden.
Albertrude zielte schnell auf ihr Gesicht und dachte das Passwort für die Nasenstöpsel. Doch es gelang nicht. Wie lange konnte sie die Luft noch anhalten? Sie steckte zwei Finger in ihre Nase und zog einen zerfasernden Klumpen heraus. Dann zog sie den zweiten, dunkelviolett angelaufenen Rest eines Filterstöpsels aus der Nase. Jetzt konnte sie zwar wieder frei atmen. Doch dann würde der Rauch ihr doch noch zusetzen.
Sie sah, dass Ladonna mit tränennassen Augen den über ihr herumschwirrendenScheren zusah, die nun die rote Aura mieden aber sie in Schach hielten. Also konnte sie sich der Kerze zuwenden. Sie zielte darauf und presste mit der letzten verbliebenen Luft die Worte "Ignivivens Infernalium" hervor. Vor der Kerze entstand ein kleines Flämmchen. Doch als dieses auf dem Boden auftippte wurden es drei Flammen. Albertrude hielt schnell ihre linke Hand an ihre Halskette und dachte das Auslösewort für einen eingespeicherten Aura-Sanignis-Zauber. Sofort wurde sie in eine flammende Sphäre gehüllt, die gegen alle nichtmagischen und die meisten magischen Feuer schützte. Die vorher gezauberten Flammen loderten violett auf und stürzten sich auf die brennende Kerze. Die blutrote Rose erzitterte, wankte, bog sich zu einer Spirale und spotzte Funken. Dann trafen gleich fünf der violetten Flammen die Kerze und verschlangen diese mitsamt der Feuerrose.
Albertrude sah nun, dass die sich an der Kerze labenden Flammen zu violetten Ablegern der Feuerrose wurden. Sie stießen sogar halbe Worte aus, wohl je danach, welchen Teil der eingewirkten Botschaft sie vertilgt hatten. So entstand innerhalb von wenigen Sekunden ein Chor von immer mehr kleinen Feuerrosen, die um Ladonna und Albertrude herumschwebten. Die Worte waren ein einziges Durcheinander. Albertrude sog Luft ein. Sie hoffte, das der eigentliche Zauber nun verflogen war. Sie roch eine Mischung aus geschmolzenem Bienenwachs, verbrannten Kräutern, kochendem Blut und verbranntem Horn, als habe jemand Haare ins Feuer geworfen.
Jetzt bevölkerten schon dreißig violett lodernde Feuerröschen den Raum. Doch die Stimmen wurden immer leiser. Es war nun kein Wort mehr zu verstehen. Als zwei davon mit Ladonnas Aura zusammentrafen zersprühten sie mit lautem Zischen wie Wasser auf einer glutroten Herdplatte. Als eines der nun irgendwas unverständliches daherbrabbelnden Feuerröschen mit albertrudes Schutzaura zusammenstieß zerfiel es laut prasselnd. Doch Albertrude fühlte, dass ihr das doch gut Ausdauer nahm. Wieder kollidierte eines der brennenden Brabbelblümchen mit ihrer Schutzaura. Diese flackerte nun. Die fliegenden Scheren wichen den Feuerblumen geschickt aus. Doch dafür mussten sie ihre Belauerung abbrechen. Ladonna kam schwankend auf die Beine, Ihre Augen waren gerötet vor Tränen, deren Spuren schon ihre achso hübschen Wangen überzogen. Als wäre sie ein Magnet für die noch bestehenden Feuerröschen flogen diese auf sie zu und vergingen in ihrer rubinroten Aura. Diese steckte zehn oder zwölf solcher Anihilationen weg. Doch dann begann auch sie zu flackern.
"Willst du meine Magd nicht sein ..." setzte Ladonna mit einem Fluch an, doch Albertrude jagte ihr den Silencius-Zauber auf den Hals. So konnte die schwarzgekleidete, jetzt nicht mehr ganz so überirdisch anziehend aussehende Hexe ihren gereimten Fluch nicht vollenden. Ja, sie konnte nicht einmal einen der drei unverzeihlichen Flüche ausrufen, erkannte Albertrude. Einen Moment überlegte sie, ob sie dieser Mischblutschlampe da nicht den Cruciatus überziehen sollte, dachte jedoch sogleich, dass sie ja gerade alles aufzeichnete, was sie sah.
Die fliegenden Scheren schwirrten zwischen den Feuerröschen herum, wichen ihnen aus, solange genug Platz nach oben war. Doch lange konnten sie das auch nicht mehr durchhalten, wusste Albertrude. Doch die kleinen Feuererscheinungen wurden immer noch von Ladonnas Aura angezogen und vergingen darin wie Mottenin der Kerzenflamme. Allerdings wuchsen keine neuen mehr nach, wie beim Dämonsfeuer üblich. Jetzt waren es nur noch neun, dann sieben, dann vier. Da brach Ladonnas rote Aura knisternd zusammen. Die Hexe in Schwarz griff mit der linken Hand in ihren Haarschopf und räufelte ihn schnell auf, bevor eine der wieder Angriffslust besitzenden Scheren auf sie zuschwirrte und gierig mit den Klingen klimpernd ihren Kopf ansteuerte.
"Im Namen des Zaubereiministeriums von Deutschland erkläre ich Sie, Ladonna Montefiori, hiermit für verhaftet!" rief Albertrude der nun gegen die behexten Scheren kämpfenden zu. Doch diese stand unvermittelt in eine hellblaue Aura eingehüllt da, von der die schwirrenden Scheren abprallten und eine davon in eines der Feuerröschen geriet und verglühte. Die eine verbliebene flog schnell wieder nach oben.
"In meinem Garten ist noch Platz", zischte Ladonna unvermittelt. Wieso konnte die wieder sprechen? Doch Albertrude vertat keine Sekunde mit Nachgrübeln. Sie schickte ihr ungesagt den Entwaffnungszauber entgegen. Ladonna hatte die für eine Fremdverwandlung nötige Zauberstabgeste fast vollendet, als ihr der eigene Zauberstab aus der Hand geprellt wurde. Violette Funken flogen davon nach oben und ließen kleine Stalaktiten aus der Decke wachsen.
Albertrude unterdrückte den Reflex, einen entscheidenden Zauber hinterherzuschleudern. Doch auch hier hielt sie sich gerade so noch zurück. Noch lief die Aufzeichnung ihrer Augen mit. Das bewahrte Ladonna vor einem heimtückischen Schlag in den Rücken. Sie beachtete es nicht. Sie sprang vor und tauchte nach ihrem Zauberstab. Als sie ihn ergriff trafen die letzten kleinen Feuerrosen auf Albertrudes Feuerschutzzauber. Dieser verging mit den Feuererscheinungen in einem laut prasselnden Funkenregen. Albertrude hatte das Gefühl, jemand habe ihr den Boden unter den Füßen weggerissen. Ihre Sicht flimmerte und verwischte zu einem bunten, von Blitzen durchzucktem Nebel. Sie fühlte, wie sie mit dem Gesicht auf den Boden Schlug. "Dann habe ich dich jetzt doch noch. Aber du hast die Königin der Hexen beleidigt. Deshalb nehme ich dich nicht in meine Reihen auf und auch nicht in meinen Garten", hörte sie Ladonnas geschwächte, aber von Triumph triefende Stimme. "So sei dein Platz unter meinem Bett", knurrte sie noch. Doch da sprang Albertrude auf und stand trotzig vor der anderen. Ein violetter Blitz hüllte sie ein und verpuffte mit lautem Knall. Doch mehr passierte nicht.
"Nein! Wieso?" stieß die selbst sehr stark um ihre Standfestigkeit kämpfende aus. "Weil ich die einzig wahre Regina Magarum bin, Ladonna Montefiori", sagte Albertrude mit unerschütterlich klingender und sehr überzeugter Stimme. "Deine Tricks und Strafen sind so alt, dass jede kleineHexe dagegen Vorkehrungen treffen kann", sagte sie noch. "Ich nehm dich jetzt fest, damit dein Irrsinn endet."
"Vergehe!" stieß Ladonna aus und zielte erneut auf ihre Gegnerin. Da schlugen blaue Blitze aus ihrer schützenden Aura. Albertrude hielt ihren Zauberstab fest in der Hand. Ladonnas Schutz löste sich in Funken auf. Die Königin der Feuerrose taumelte und stürzte. Im Fallen rief sie noch ein Wort und zielte mit ihrem Zauberstab nach oben. Albertrude argwöhnte noch einen letzten Angriffszauber. Doch ladonna verschwand einfach. Jetzt konnte Albertrude sehen, dass der Steinsockel für ihre Augen blaugrün flimmerte und die Kraftstränge des Locattractus-Zaubers gerade nicht vorhanden waren. Doch eine Sekunde später nahm der Stein wieder seine übliche Erscheinung an, und der Locattractus-Zauber entfaltete sich innerhalb einer Sekunde von neuem.
"Forfices in saculum!" rief Albertrude. Die verbliebene Schere schwirrte heran und landete mit geschlossenen Klingen in ihrer Handtasche. "Hätten diese hessischen Märchenbrüder wohl nicht gedacht, dass sie die Geschichte des Wanderzauberers Willi Feuerbusch nacherzählt haben und dass dessen Erfolgsgeheimnis auch für achso böse Hexen sehr nützlich sein kann", dachte sie. Sie versuchte noch, die abgetrennten haare einzusammeln. Doch die waren offenbar unbezauberbar. So gab sie sich den kräftigenden Strömen jener kleinen Granitkugel hin, die sie mit fünf Zaubern der schützenden Erde belegt und in ihrem Unterleib verborgen hatte. Bei Ausdauerverlust wurde dessen Magie freigesetzt und regenerierte ihre Kräfte. Zugleich bewahrte der ausgelöste Zauber sie fünf Minuten lang vor Fremdverwandlungen. Sie war überaus stolz, diesen Zauber erfunden zu haben.
Albertrude blickte nach oben, wo der ihr geltende Zauber eingeschlagen war. Fünf schlanke Betonzapfen hingen herunter. Sie nutzte die Nahsicht ihrer Augen und erkannte, dass sie alle unten halbgeöffnete Blütenkelche aufwiesen. Aus der Decke ragten fünf kleine Rosen. "Das meintest du mit deinem Garten", grummelte Albertrude, die begriff, was Ladonna vorhatte.
Sie sah sich um. Der Locattractus-Zauber war wieder voll in Kraft. Disapparieren konnte sie nicht. Da fiel ihr ein, dass die Falle auch als Zielhilfe für Feinde dienen konnte. Was wenn Ladonna ihr ihre Leibeigenen schickte, wie Gundula Wellenkamm. War sie dazu überhaupt noch im Stande?
Albertrude wollte nicht warten, ob noch wer kam. Sie griff in ihre Handtasche, holte ein silbernes Etui hervor und entnahm diesem einen kleinen, roten Kristall. Wie gut war es doch, dass Marga Eisenhut für sich und sie je vier von diesen nützlichen Kristallen abgezweigt hatte. Sie eilte zum Steinsockel, tippte den roten Kristall mit ihrem Zauberstab an und legte ihn auf den Sockel. Dann rannte sie durch die Tür nach draußen und den Gang lang. Dabei mied sie den Blick nach hinten. Sie wusste nämlich nicht, wie die Entladung ihren Magischen Augen bekam, wenn sie die Hindernisdurchblickfunktion nutzte. Sie hielt aus gutem Grund den Mund weit geöffnet. Der laute Knall, gefolgt von einem kurzen Schauer herumfliegender Steine, war das, womit Albertrude gerechnet hatte. Der Steinsockel war auf einen Schlag aller seiner Bezauberung ledig geworden und zerplatzt. Außerdem hatte die Entfesselung der Kristallenergie eine Rückschau der letzten Stunde unmöglich gemacht.
"Schwester Anthelia, falls du schon in der Nähe bist, ich habe es geschafft", mentiloquierte sie nach zehn Sekunden Wartezeit.
""Gut, wir treffen uns am Zugang dieser Anlage", empfing sie Anthelias Gedankenstimme.
Tatsächlich stand die oberste der Spinnenschwestern schon am Fuß der Treppe und hielt ihr loderndes Schwert in der Hand. "Lass mich deine Gedanken sehen, Schwester", sagte sie nur. Albertrude verstand und wehrte sich nicht. Als Anthelia erkannte, dass ihre Bundesschwester keine neue Gehilfin Ladonnas war und vor allem, wie sie diese vertrieben hatte musste sie sogar lauthals lachen. Dann bot sie ihr an, mit ihr an einen sicheren Ort zu reisen, weil gerade über ihnen der Wald im Brenngebräufeuer verging.
Sie war körperlich geschwächt, aber vor allem zu tiefst gedemütigt. Diese Hexe mit den Kunstaugen hatte es gewagt, was sie sich bis dahin nur in ihren schlimmsten Albträumen ausgemalt hatte. Ja, und sie hatte ihr gleich mehrere schwere Niederlagen beigebracht, nicht nur, dass sie einen Weg gefunden hatte, sie zu schwächen, sondern sie hatte auch dem Duft und den Worten der Feuerrose widerstanden, ja diese sogar außer Kraft gesetzt. Ja, und noch eine dritte Niederlage hatte sie ihr bereitet. Sie hatte ihren Ring des unbesiegbaren Feuers so heftig erschöpft, dass er mindestens einen Tag brauchte, um aus ihrer eigenen Lebenskraft neue Zauberkraft zu sammeln.
Im ersten Moment ohnmächtiger Wut hatte sie daran gedacht, ihr mindestens vier ihrer Getreuen in dieses unterirdische Gebäude zu schicken. Doch dann war ihr eingefallen, dass sie dafür genug geistige Kraft brauchte, die sie im Moment nicht hatte. Doch für eine Sache reichte es. "Gundula Wellenkamm, verlass dein Haus und begib dich zur Lichtung der drei hundertjährigen Eichen!" befahl sie rein gedanklich. Gundula Wellenkamm gehorchte ihr noch. Sie hatte zumindest noch Gewalt über sie.
Mit der Macht des Feuerschwertes reisten die Oberste der Spinnenschwestern und Albertrude in einen von hohen, schneebedeckten Berggipfeln umstellten Talkessel. Hier sollte Albertrude ihrer Gesinnungsschwester erzählen, was ihr passiert war.
"Was genau hast du getan, Schwester Albertrude?" amüsierte sich Anthelia, als ihre Bundesschwester ihr noch einmal mit Worten schilderte, was sie sich für Ladonna hatte einfallen lassen. Albertrude wiederholte, was sie gemacht und wie es gewirkt hatte. Dann zeigte sie Anthelia ein Haar der Besiegten.
"Dir ist klar, dass du eine reinrassige Veela damit töten kannst, wenn du ihr zwischen zehn und hundert Haare auf einmal über drei Viertel Länge abschneidest?" fragte Anthelia.
"Ja, eine ganze Veela, aber keine Viertelveela", erwiderte Albertrude. Sie konnte und wollte ihren Stolz nicht verbergen. Sie hatte die angeblich unbesiegbare Rosenkönigin als zweite besiegt. Als sie das Anthelia sagte lachte die jedoch. "Als dritte, Schwester. Da sie und ich letztes Jahr um Morgauses Kessel gezankt haben und ich ihn ihr verderben und sie verjagen konnte stehe ich zusammen mit Sardonia und dir auf dieser hoch exklusiven Liste. Schade, dass ich was von fünf Minuten gesagt habe. Ich hätte sofort dahinkommen sollen. Dann hätten wir zwei diese Mischblüterin ein für alle mal erledigen können, ohne sie zu töten. So ist sie jetzt ein waidwundes Raubtier, das erst die Wunden leckt und gleichzeitig brandgefährlich wird. Wie hieß die Schwester noch mal, die dich ihr zugetrieben hat?"
"O Drachendreck, Gundula. Die wird sich an ihr rächen, wenn sie wieder erholt genug ist", schnaubte Albertrude.
"Wo wohnt diese Gundula Wellenkamm auf Feensand?" Albertrude erwähnte es genau. Da verschwand Anthelia in einem orangeroten Feuerball. Eine Minute später erschien sie aus einem zweiten solchen Feuerball. "Ich fürchte, wir waren zu spät. Sie ist fort. Ich habe ihr haus angeflogen und sie nicht darin gefunden. Wenn sie tot und schlimm zugerichtet gefunden wird wissen es wirklich alle deine treuen Bundesschwestern, dass sie sich nicht mit dieser Veelabrütigen einlassen dürfen. Öhm, wie war das noch mal mit dem Duft der Feuerrose?"
Albertrude erzählte, was sie davon mitbekommen hatte. "Hmm, Das war keine einzelne Stimme, sondern ein Duett mit viel zu lauten Stimmen?" wollte Anthelia wissen. Albertrude bestätigte das. "Interessant. Dann gehörst du mit mir zusammen wohl zu den einzigen, die gegen diesen Gestank und die Bezauberung gefeit sind. Denn in dir sind zwei Seelen zu einer verwoben, genau wie bei mir. Dieser Zauber ist dafür ausgelegt, hundert oder mehr Seelen und Körper zugleich zu beeinflussen. Aber dass er auf eine Gemeinschaftsseele im selben Körper eher abstoßend wirkt ist neu, auch für dieses angefranste Schönheitsprinzesschen in Schwarz", spottete Anthelia.
"Will sagen, ich habe eine schmerzhafte und deshalb unwirksame Überdosis abbekommen?"
"Was die hörbare Komponente angeht, Schwester. Wenn du diesen violetten Rauch ungefiltert hättest atmen müssen, wo deine Dämonsfeuerwichte die Kerze noch ganz gelassen haben, wärest du diesem Duft vielleicht doch verfallen. Also eine Garantie wird das sicher nicht sein. Ich bin aber gegen magische und nichtmagische Gifte gefeit, seitdem ich mit der anderen zu einer wurde.
"Willst du mir nicht doch mal erzählen, wie die andere heißt?" versuchte es Albertrude Steinbeißer. Anthelia schüttelte den Kopf. "Was du nicht weißt führt dich nicht in Versuchung, Gertrudes stolze Erbin." Die Angesprochene knurrte verdrossen. Ja, das war leider wahr, dachte sie. Doch immerhin hatte sie der Spinnenhexe heute keinen Grund geboten, sie zu retten. Somit hatte sie ihre Ebenbürtigkeit bewahrt.
"Eigentlich hätte ich dich zur Abschreckung aller töten müssen, die so schändlich versagen wie du. Aber dich zu suchen und nicht zu finden wird ebenso beängstigend für sie sein. Und mit dem, was du noch weißt dienst du mir lebend besser als tot", hörte sie Ladonnas Gedankenstimme. "Ach ja, danke für den von Zwergenhand gemachten Schildzaubermieder. Der wird mir sicher bei den nächsten Begeegnungen mit dieser glasäugigen Giftschlange gute Dienste tun."
Als Gundula Wellenkamm erkannt hatte, was mit ihr geschehen war wusste sie, dass die Königin sehr schwer gedemütigt worden war. Jetzt stand sie fest in warmem Erdreich verwurzelt zwischen schon mehr als zwanzig anderen, die ihr Schicksal teilten, darunter die Nichtmagierin, die diese schwarze Furie in die Welt zurückgeholt hatte. Somit lagenStrafe und Dankbarkeit bei Ladonna Montefiori nur wenige Zentimeter eines großen Rosenbeetes auseinander.
Laurentine meinte, wahrhaftig um ihr Leben zu kämpfen. Sie duellierte sich wieder einmal mit ihrer Lehrmeisterin. Flüche zischten, fauchten, schwirrten und pfiffen nur so zwischen den beiden hin und her. Laurentine hielt sich an die ihr in den letztenTagen mal mit klaren Worten, mal schmerzhaft eingebläuten Haltung: Keine Skrupel. Sie blockte Angriffe, teilte selbst welche aus, die dann in Schildzaubern oder Gegenflüchen verpufften. Die magische Begrenzungswand bollerte und dröhnte unter den abgefälschten Kampfzaubern. Immerhin hielten Laurentines unsichtbare Körperschutzzauber und der Verwandlungs-Vereitelungszauber. Dann endlich erscholl die unsichtbare Glocke über dem ovalen Duellfeld. Nass geschwitzt und keuchend wie ein Rennpferd nach zehn Kilometern gestrecktem Galopp stand Laurentine da. Ihre Lehrmeisterin wirkte dagegen trotz der zwei Jahrzehnte mehr immer noch sehr munter.
"Ui, so heftig habe ich das bisher noch nie gehabt", ächzte Laurentine.
"Wie, haben die euch in Beauxbatons nicht so heftig schwitzen lassen?" fragte Louiselle schelmisch. Laurentine erwiderte: "Anstrengend war es schon, und nach so einer Duelliereinheit haben wir alle gewusst, was wir getan haben. Aber so ausgepowert wie heute habe ich mich da nie."
"Ausge... wie bitte?!" lachte Louiselle. "Achso, den kanntest du vielleicht noch nicht. Auspowern, also alle Kraft und Ausdauer verbrauchen, sich total verausgaben", ächzte Laurentine.
"Na bitte, es gibt doch so viele passende Begriffe in unser beider Muttersprache", grinste Louiselle. "Aber ich denke, das war jetzt auch wirklich genug. Deine Zauberstababstimmung ist beeindruckend. Es Kam mir vor, als würde dein Zauberstab bereits vorausahnen, was du mit ihm anstellen wolltest. Vier ungesagte Zauber in zwei Sekunden ist für eine, die nicht regelmäßig duelliert sehr bemerkenswert. So, jetzt ab in die Kabine, noch mal den Reinigungszauber, damit du beim Flohpulvern nicht die ganze Asche in den Haaren kleben hast! Es war mal wieder sehr abwechslungsreich mit dir", sagte Louiselle. Laurentine konnte dieses Kompliment unverändert zurückgeben.
Julius Latierre wollte nach der üblichen Abendveranstaltung mit den drei Kindern ein wenig früher schlafen gehen. Mildrid verstand es ganz gut.
Als sie beide hinter den schallschluckenden Vorhängen lagen eröffnete Julius seiner Frau noch: "Ich habe übrigens was überlegt, Mamille. Bevor du noch mal in die Stadt gehst und da länger wegbleibst möchte ich mit dir noch mal in die Mondburg. Ich möchte die dort lebenden Schwestern fragen, ob ich das mit dieser Geisterhalle nur geträumt habe oder nicht und denen auch erzählen, warum ich das frage. Da nur eine Hexe über die Brücke kann möchte ich dich fragen, ob du mich da noch einmal rüberträgst."
"Wann willst du dahin?" gedankenfragte Millie. "Am besten in der Nacht von Morgen auf übermorgen, weil wir dann ausschlafen können." Millie überlegte einen Moment. Dann erwiderte sie: "Falls die uns zwei da noch einmal reinlassen, Monju. Aber wenn wir beide uns auf diese Gegend um die Burg einstimmen können wir da Seit an Seit apparieren." Julius nickte. Da erklang in ihnen beiden die wohlvertraute, wie ein sanft angestrichenes Cello klingende Gedankenstimme von Artemis vom grünen Rain.
"Ihr seid von einer Kraft durchdrungen worden, die nicht so alt ist wie die Zeit, aus der mein inneres Selbst und Darxandrias Erbe stammt. Doch durch die Verbundenheit mit euch weiß ich, dass diese Kraft eine starke Verbindung zwischen der Mutter Erde und der kleinen Himmelsschwester ist. Sicher gibt es für die, die diese Kraft über die vielen Tausend Jahre bewahrt haben einen Grund, sie an auserwählte Träger der Kraft weiterzugeben. Ich weiß auch, dass dir das keine Ruhe lässt, Julius. Also hoffe ich, dass die begüterten Frauen, die die Heimstatt der Mondfolger hüten, euch die gewünschte Auskunft geben." Julius fragte Temmie in Gedanken, ob sie ihnen schon die ganze Zeit zuhörte. "Erst seit einigen Dutzend Atemzügen, weil ich wissen wollte, wie es euch geht", erwiderte Temmies Gedankenstimme darauf.
"Gut, dann bringe ich uns in der Nacht von Morgen auf übermorgen über die Brücke. Ich lager dann noch mal Milch aus, damit Clarimonde lange genug von meiner Stärke und meinen Abwehrkräften mitbekommt", mentiloquierte Millie.
Julius erfuhr am Nachmittag des 15. Mai von Bärbel Weizengold, dass es in der Nähe von Braunschweig offenbar zu magischen Turbulenzen gekommen sei, bei denen ein Waldstück über einer alten Bunkeranlage aus dem zweiten Weltkrieg bis zu den Wurzeln herunter abgebrannt sei, aber nur ein Umkreis von zweihundert Metern Radius betroffen wurde. Außerdem habe es eine heftige Entladung von apparierähnlicher Magie gegeben. Näheres dürfe sie erst erwähnen, wenn klar sei, wer und warum und ob das im Ausland bekannt sein durfte.
"Ich habe diesmal keinen Feuerzauber gespürt, Julius", meinte Millie, als Julius es ihr am Abend erzählte. Er erwähnte, dass da wohl auch eher Brenngebräu im Spiel war, wie sie beide es auf ihrer Denkariums-Zeitreise in die Gründerzeit von Beauxbatons kennengelernt hatten.
"Ich vermute mal, dass Ladonna Montefiori eher wieder mit ihrem heftigen Feuerzauber dreingehauen hätte", sagte Millie.
"Ja, das könnte sein", sagte Julius dazu nur. Dann verbrachten sie noch einen teils stressigen, teils fröhlichen Abend, weil ihre beiden ersten Kinder nicht um acht ins Bett wollten und Clarimonde von deren gejuchze und Geplärre immer wach wurde und dann selbst schrie. Doch gegen zehn war endlich Ruhe.
"Gut, Millie und Julius, ich passe auf die drei auf", sagte Béatrice zuversichtlich lächelnd. Millie bedankte sich bei ihrer Tante und hoffte, dass sie doch die Zeit hatte, sich auszuruhen. Denn die Nachsorge der ganzen jungen Mütter und ihrer Kinder hier in Millemerveilles war doch sehr anstrengend.
Um die Kinder nicht aufzuwecken verließen Millie und Julius Hand in Hannd das Apfelhaus. Sie gingen so leise wie möglich in Richtung Farbensee. Als sie weit genug vom Apfelhaus fort waren schlossen sie beide die Augen und stimmten sich auf das Zielgebiet ein. Temmie half ihnen dabei, dass sie beide die selbe Berglandschaft in den Pyrenäen im Mondlicht sahen. Dann disapparierte Julius mit seiner Frau, weil er immer noch der zaubermächtigere von ihnen beiden war. Millie hätte zwar auch Kailishaias Kleid anziehen können. Doch das mussten die Mondgeschwister nicht gleich sehen.
Mit einem vernehmlichen Knall tauchten sie zwischen hoch aufragenden Bergen auf. Silbern spiegelten hohe, schneebedeckte Gipfel das Mondlicht. Denn nur bei Mondlicht, ganz ohne einen Funken Sonnenlicht, konnte die Burg der Mondtöchter gesehen und betreten werden. Sie standen beide da, blickten in die Richtung, wo sie damals die halbmondförmige Mauer mit den drei silbernenTürmen und den schneeweißen Kugelspitzen gesehen hatten. Sie dachten beide an diese eine Nacht im März 1997. Sieben Jahre war das jetzt her, ihr beider gemeinsames allererstes Mal. Julius sah die Schlucht vor sich in den Berghang schneiden. Doch die Burg blieb noch verborgen. Beide ahnten, dass sie Geduld mitbringen mussten, wollten sie die hier wohnenden Mondtöchter dazu bewegen, ihnen das Tor zu öffnen und die verschiebbare Brücke auszulegen. Außerdem galt in der Mondburg ja ein anderes Zeitmaß.
Millie und Julius schwelgten in den Erinnerungen von damals, die sie ja erst vor wenigen Tagen aus dem gemeinsamen Denkarium abgerufen hatten. Heute würde Julius fragen, was es mit seinem Traum auf sich hatte.
Ihrer beider Geduld wurde wirklich sehr gut gefordert. Sie saßen eine Stunde lang auf gezeichnetenStühlen. Dann erschien die Mondburg. Wie damals quoll sie förmlich aus dem Nichts auf, bis die halbmondförmige Mauer mit den drei dahinter aufragenden Silbertürmen vollständig erschienen war. Dann tat sich das Tor auf, das wie ein großes rundes, sich langsam öffnendes Auge auf die beiden Besucher blickte. Dann wurde sie ausgefahren, die gläserne Brücke, so wie vor sieben Jahren. Julius dachte einen Moment daran, ob für die sechsunddreißig Mondtöchter auch sieben Jahre vergangen waren oder nur ein Viertel davon, oder gar nur ein Achtel davon. Vielleicht verschliefen sie einen Gutteil der Zeit, bis wieder jemand kam, um ihren Segen oder ihre Hilfe zu erbitten.
"Dann wollen wir mal wieder", sagte Millie, schob ihr im Mondlicht gerade silbergrau schimmerndes Haar nach oben, ging in die Knie und wartete, bis Julius auf ihre Schultern stieg. Sie stemmte sich wieder hoch. Erst meinte er, er sei ihr zu schwer. Doch dann schritt sie ganz entschlossenund mit gerecktem Rücken auf die Brücke zu. Als sie sie betrat meinten beide, auf ein aufgespanntes Trampolin zu treten, so sehr federte die Brücke nach. Die Wirkung von damals, dass sie leichter wurden, blieb jedoch aus. Millie trug ihren Mann, den Vater ihrer drei Töchter, über die etwas beunruhigend federnde Brücke hinweg bis vor das große, kreisrunde Tor. Dahinter warteten bereits vier der sechsunddreißig Mondtöchter in ihren wallenden, fast weißen Gewändern. Die erste Tochter, erkennbar an ihrem bis zu den Hüften fließendem dunklem Haar und der silbernen Halskette mit der Kugel, die die sichtbare Seite des Mondes zeigte, blieb noch im Hintergrund. Doch Millie und Julius sahen und spürten sie. Ja, hatte sie damals friedliche Macht und unerschütterliche Würde ausgestrahlt, fühlten sie heute eine sie anwehende und durchdringende Aura, die sie von allen misstrauischen Gedanken freispülte.
Julius wusste, dass er nichts sagen durfte, bis er angesprochen wurde. So traten sie schweigsam wie in einer Kapelle aufeinander zu. Dann sprach eine der jüngeren Mondtöchter: "Seid uns willkommen, Mildrid, Tochter der Hippolyte, der Tochter Ursulines und du, Julius, Sohn der Martha, der Tochter von Linda! Üblicherweise besucht uns kein gesegnetes Paar ein zweites mal, wenn es die von uns auferlegte Bedingung erfüllt hat. Doch spürten wir, während ihr wartetet, dass euch jemand bedrängt, eure friedliche Übereinstimmung zu vergessen. Verzeiht uns, wenn wir euch nicht alles sofort erzählen dürfen, was euch die Gedanken jagt wie der Wolf die jungen Ziegen. Doch was ihr wissen dürft und wissen müsst wird euch kundgetan", sagte eine andere Mondtochter. "So grüßt mit uns die erste Tochter, die nun zum vierten mal gesegnete, und wünscht ihr alles Glück und langes Leben!"
"Gruß und Glück dir, erste Tochter der Mutter am Himmel, der Tochter von Mutter Erde und Vater Himmelsfeuer", sprachen alle 35 Mondtöchter zu der einen, der ersten unter gleichen. Julius wartete geduldig. Sie waren eingelassen worden. Die Mondtöchter wussten, dass ihnen was auf der Seele lastete. Also wollten sie ihnen auch sagen, was sie dagegen tun konnten.
Zunächst einmal setzten sie sich in jene Halle, wo sie schon einmal zusammen gegessen hatten. Dabei erfuhren sie, dass die erste Tochter selbst nun das vierte Kind trug. Die Mondtöchter lebten ohne Männer, gingen jedoch nach einem vorgeschriebenen Ritual immer wieder einzeln zu den Außenweltlern und wählten sich einen friedfertigen, ohne eheliche Verpflichtungen lebenden Mann aus, mit dem sie eine Mondnacht verbrachten. Wollte die Himmelsschwester, dass sie ein Kind bekam, wurde sie schwanger. Wenn nicht, dann nicht. Allerdings, so hörte es Julius heraus, bekamen sie dann auch nur Töchter, auch wenn die von ihnen erwählten Erzeuger ebenso Söhne zeugen konnten. Millie fragte, wo denn die hier aufwachsenden Kinder seien. Dabei erfuhren sie, dass die Kinder in den Nächten im sicheren Haus der Ruhe schliefen. Erst wenn sie vom Kind zur Frau heranreiften wurden sie dem allgemeinen Rhythmus der Mondtöchter zugewiesen. Eine der sechsunddreißig lächelte. Sie sah wirklich noch sehr jung aus. Als Julius sie ansah hörte er eine Mädchenstimme in seinem Kopf sagen: "Nach eurer Außenweltzeit bin ich schon achtundsechzig Jahre alt, doch hier in der Wohnstatt der Töchter des Mondes bin ich gerade erst siebzehn Jahre alt und die jüngste der wachen Töchter." Julius wurde klar, dass sie hier seine Gedanken erfassen konnten wie eine Horde Legilimentoren. Doch anders als beim gewaltsamen Gedankenschöpfen sah er keine Bilder vor seinem inneren Auge vorbeijagen.
Auch wenn sie beide schon gegessen hatten aßen sie was von dem völlig tierproduktfreien Abendmal. Dabei sprachen sie über ihre Erlebnisse der letzten sieben Realzeitjahre. Die erste Tochter des Mondes erwähnte darauf, dass die Wege von Licht und Dunkelheit, Leben und Tod, Schöpfung und vernichtung, immer wieder um ein Gleichgewicht kämpften, das schwer zu erreichen und noch schwerer zu halten war. Denn die Kräfte der Schöpfung und Bewahrung wollten immer neues schaffen, und die Kräfte der Vernichtung und des Vergehens trachteten danach, alles seiende zu vernichten. So boten sie immer wieder lebende Wesen auf, die der einen oder der anderen Seite zuneigten oder einen ewigen Kampf führten, auf dem schmalen Mittelpfad zu bleiben oder darauf zurückzukehren, wenn es doch in die eine oder andere Richtung ging. Julius fühlte sich bei dieser natur- und gesellschaftsphilosophischen Betrachtung an Marie Laveaus Prophezeiung erinnert. Sie hatte ihm verkündet, dass die Geister des Lichtes und der Dunkelheit um ihn streiten würden und er wegen seiner hohen Kräfte auf einem sehr schmalen Pfad wandeln musste, wollte er nicht von der einen oder der anderen Seite vereinnahmt werden.
Dann sprach die erste Mondtochter direkt in seinen Geist. "Du, Julius, lerntest schon die Wege der großen Mächte kennen, nach gelebtem Leben neu auf die Welt zurückzukehren. Bei uns gibt es das nicht. Wenn ich gehen werde, nachdem unsere jüngste Mitschwester ihre erste Tochter geboren haben wird, so vertraue ich mich dem Haus der ewigen Wachsamkeit an, dort wo alle vor mir gewesenen weilen, um denen, die Rat suchen, Rat zu spenden. Die ewig wachenden Vorschwestern erfahren von uns, was wir tun und von jenen, die in die äußere Welt gehen, um sie kennenzulernen oder nach Ratschluss der großen Himmelsschwester, unserer geduldigen und uns immer behütenden Mutter, neues Leben in sich aufzunehmen. Sie dagegen berichten uns von den Dingen die waren, die aus den Tiefen der Vergangenheit in die Gegenwart schallen und den Acker bilden, auf dem die Zukunft wächst und gedeiht. Denn nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart begreifen. Nur wer die Gegenwart begreift, erhält das Werkzeug, um die eigene Zukunft oder die der anderen zu formen, zum schöpferischen oder dem zerstörerischen. Nur uns Mondtöchtern ist es gestattet, in diese Halle zu treten und den Rat der ewig wachenden Vorschwestern zu erbitten. Ja, ich weiß, dass du durch eine Fügung, die höchst selten ist, schon dein drittes Leben führst, Erst als Julius Andrews, dann als Zwillingsbruder einer durch Angst und Hass gezeugten aber der großen Liebe und Hingabe fähigen Zwei-Seelen-Tochter und als Sohn einer ebenso ewig wachenden, aber in den Tiefen einer versunkenen Stadt ausharrenden Vertrauten der großen Mutter, dessen Leben du nun in deiner Seele trägst und dessen Kenntnisse dich stärken. Deshalb gerietest du im Fluss von beschützender Macht und erholsamem Schlaf in die Halle der ewig wachenden Vorschwestern. Üblicherweise kann dort niemand hinein, ob in lebender, atmender Hülle oder als dem Körper entschlüpfte Seele. Doch offenbar hast du ganz ohne Absicht und Wissen den einen Weg gefunden, der doch dort hinführt. Es mag sein, dass die nach der Sonne benannte, die zwischen den Welten wacht und deine zweite Mutter wurde, dir diesen Weg zeigte, um ihr Anliegen zu bekräftigen, dass die von ihr abstammenden wieder vollzählig werden können."
"Dann stimmt es, was ich nur geträumt zu haben glaubte?" dachte Julius zurück, während Millie sich mit der Mondtochter unterhielt, die gerade eine gerade vier Mondburgjahre alte Tochter hatte.
"Die zwischen den Welten wachende, Ashtaria, wie sie in der Sprache der Vormals herrschenden heißt, will nicht anerkennen, dass ihr beide von der Himmelsschwester gesegnet wurdet. Sicher könnt ihr beide einen Sohn haben. Doch jedesmal, wenn ihr neues Leben zeugt, wird die Wartezeit wieder zurückgestellt. Wenn ihr warten dürftet, dann könnt ihr in nun elf Jahren und einigen Mondwechseln mit selber Wahrscheinlichkeit einen Sohn wie eine Tochter oder gleich zwei oder drei Kinder mit unterschiedlichem Geschlecht zeugen. Doch wenn ihr in diesem Zeitraum neues Leben zeugt, wird es wieder eine Tochter sein. So wirkt der Segen der Himmelsschwester. Und ich weiß und höre, dass du deine drei Töchter liebst und nicht als Last siehst, auch wenn sie ungestüm und auch mal ungebärdig sind, wie es Kindern erlaubt sein muss, wollen sie die Welt verstehen lernen. Wir erkennen an, dass die auf der Brücke zwischen den Welten wachende eine sehr große Macht besitztund dadurch, dass sie dich aus sich neu gebar, ein Anrecht auf deine Nachkommenschaft zu besitzen denkt. Doch sie kann nicht den Segen der Himmelsschwester zerstören, nur weil einer der Nachgeborenen aus ihrem Schoß so ungeschützt in feindlichem Land herumlief. Sie kann es einfach nicht. Wollt ihr ein weiteres Kind haben, dann jederzeit. Doch wartet ihr nicht die Zeit ab, so wird es auf jeden Fall eine Tochter sein."
Julius sah die erste Mondtochter mit einer Mischung aus Verständnis und leichter Verzweiflung an. Die andere blieb ruhig. Dann sah sie ihn an. Unvermittelt sah er Bilder vor seinem inneren Auge, hörte Wörter aus der alten Sprache, die er Dank Madrashainorian konnte. So erfuhr er, dass es nur einen Weg gab, die Wartezeit früher zu beenden, eine der noch jungfräulichen Töchter der Latierres musste vor der ersten Monatsblutung zu den Mondtöchtern hingehen und darum bitten, eine der ihren zu werden. Um die Zahl sechsunddreißig zu erhalten wurde dann gelost, welche von den drei ältesten den Trunk des sanften Überganges einnehmen und ihren Geist an die Himmelsschwester zurückgeben sollte. Einige hatten es wirklich so gemacht, so die in Bildern und Texten berichtete Geschichte, wie sie die von ihm unfreiwillig besuchten ewig wachenden Vorschwestern erzählten. Einige gesegnete Paare hatten eine der Töchter in die Obhut der Mondschwestern gegeben, und deshalb hatte sich dann eine der drei ältesten außer der ersten Tochter mit diesem "Trunk des sanften Übergangs" aus dem Leben verabschiedet und ihre fleischliche Hülle verbrennen lassen, damit ihre der Himmelsschwester entgegengeatmete Seele frei von aller stofflicher Verbindung zur großen Mutter am Himmel hinaufsteigen konnte, um dort eins mit ihrem Licht und ihrer Kraft zu werden. Julius fühlte, wie ein dicker Kloß in seinem Hals aufquoll. Diesen Weg wollte er nicht gehen und durfte ihn auch nicht gehen. Ashtaria konnte unmöglich von ihm verlangen, dass er eine seiner Töchter in dieses exotische Kloster abgab und eine der hier lebenden Schwestern sich deshalb selbst umbrachte, nur damit die symbolträchtige Zahl von drei mal zwölf, vier mal neun oder sechs mal sechs erhalten blieb. Dann wurde ihm auch klar, dass dann, wenn die gerade jüngste der erblühten Mondtöchter ihre erste Tochter bekam, auch die erste Tochter des Mondes diesen Freitod-Trank nehmen würde. Und Ashtaria stand für das Leben, nicht für den Tod. Sie konnte das unmöglich wollen, dass sich wegen ihrer eigenen Blutlinie jemand anderes opfern musste. Sicher, sie hatte sich damals selbst geopfert, um ihren sieben Kindern die volle Kraft zu spenden, damit ihre Heilssterne wirkten wie sie sollten. Zumindest wenn der Traum, den er damals hatte, der Wahrheit entsprach. Er hatte in Aurélies vererbten Erinnerungen gesehen, wie jede Heilssternträgerin vor ihr ihre Erbin zu sich bat und mit ihr die Übergabe vollzog, während die ältere sanft und friedlich starb. Harry Potters Mutter hatte sich dem wahnsinnigen Riddle in den Weg geworfen, um ihren Sohnzu beschützen, was diesem dann half, den Irren am Ende selbst zu besiegen. Ja, und er selbst säße jetzt nicht zum zweiten mal hier, wenn sich Aurélie Odin und ihre Enkeltochter Claire Dusoleil nicht für ihn geopfert hätten, damit er weiterleben konnte, weil sie das für richtig hielten und weil Claire ihn liebte. Ja, doch! Ashtaria konnte schon verlangen, dass sich jemand dafür opferte, wenn damit ein sehr wichtiges Ziel erreicht wurde. Das absolut Gute gab es eben doch nicht. Hieß das auch, dass es das absolute Böse nicht gab? So ähnlich hatten die Mondtöchter das doch vorhin dargelegt. Ja, und wenn er an Anthelia dachte, an Naaneavargia, ja auch an Madrashmironda und Kailishaia, Ianshira und Madrashtarggayan oder auch die biestigen Zwillinge Kailiamadra und Iaighedona, so mochte in jedem genug von der schöpferischen wie der zerstörerischen Kraft stecken, Werden und Vergehen, Geburt, Leben, Tod. Doch was zwischen Geburt und Tod, oder besser zwischen Ende der Kindheit und Greisenzeit geschah lag bei jeder und jedem alleine, jeden Tag neu. Aber nein, er wollte nicht, dass Aurore, Chrysope oder Clarimonde von ihm und Millie weggeschickt wurden, um ihr ganzes langes Leben in dieser zwar friedlichen aber auch abgelegenen Burg zu wohnen. "Du irrst, wenn du denkst was den Übergang angeht, den du keiner von uns zumuten möchtest, Julius, so ist dieser kein Opfer, sondern eine ehrenvolle Erhöhung der eigenen Seele. Lass dich bitte nicht von den Lehren jener in Verzweiflung stürzen, die meinen, Mond und Sonne wären tote Körper, gemacht von einem über allem shwebenden Schöpfer und dessen fleischgewordener Geist habe befohlen, dass das Leben nur von diesem Schöpfer gelenkt und bestimmt, begonnen oder beendet werden dürfe. Was ihr tut, liegt bei euch beiden, Mildrid und dir. Wenn ihr beide gemeinsam weitere Kinder wollt, dann werden es solange Töchter werden, solange ihr nicht drei Jahre und die dreifache Zeit in Jahren mit der Zahl der bereits geborenen Töchter vervielfacht warten wollt oder dürft. Und das Gute ist nicht gut, nur wenn es Leben gibt und neues Schafft. Es muss auc bereit sein, schwere Entscheidungen zu treffen, um zu bewahren. Doch das was ihr "das Böse" nennt, kann sich im Hunger nach Machtund Vernichtung verlieren. So widerfuhr es jenem, der sich Iaxathan, der Herr der Nacht nannte mit seiner eigenen Schöpfung, die nun danach trachtet, nur ihren Willen durchzusetzen oder jene, die von zwei Müttern gezeugt, aber nur von einer geboren wurde und drei verschiedene Rassen denkfähiger Wesen in sich vereint. Sie könnte noch davon absehen, Macht und Herrschaft über alles andere zu stellen. Doch um dies zu erkennen hätte sie erst einmal lernen müssen, geliebt zu werden. Sie wurde immer nur dazu geführt, mehr zu sein als jede andere begüterte Frau, ja auch mehr zu sein als die erstgeborene Schwester. Deshalb kann und wird sie nur dafür leben, zu führen, zu herrschen, zu gebieten, wer lebt und wer stirbt. Die andere, die aus zwei von Dunkelheit erfüllten Wesen zu einem wurde, hat wenigstens in der einen Form gelernt, geliebt und geachtet zu werden. Dennoch hält sie es für richtig und wichtig, der Welt eine neue Ordnung aufzuerlegen, das von allen erstrebte Gleichgewicht zu bestimmen, ob sie das wollen oder nicht."
Julius begriff. Doch sein Gedanke blieb bestehen, dass keine seiner Töchter von ihm und Millie fortgegeben würde. Und als hätte er sie selbst mit seinen Gedanken angesprochen sagte sie gerade laut: "Wenn eine unserer Töchter bei euch leben will und nur dann, wenn sie das selbst entscheiden kann und will, dann habe ich nichts dagegen, wenn eine von ihnen eines Tages bei euch bleiben möchte."
"Meine Eltern waren verzweifelt, weil ihre Eltern verlangten, dass ihrer beiden Häuser durch einen männlichen Erben zusammengeführt wurden, auf dass zwischen den Häusern Frieden herrschte. Deshalb kam ich im Alter von fünf Außenweltjahren hier her", sagte darauf eine der nicht ganz so jungen oder alten Mondtöchter. "Natürlich hatte ich erst Angst, war traurig und ja auch mal böse, weil meine Eltern mich einfach weggegeben haben. Doch am Ende habe ich gelernt, dass ich nur das Schicksal einer niederen Dienstmagd erfahren hätte, die als Ehefrau eines mächtigen Mannes bezeichnet wurde."
"Julius, ich weiß ja nicht, was du bei deinem Flirt mit der ersten Mondtochter schon mitbekommen hast. Aber die sagen, wenn wir schon im nächsten Jahr die selbe Wahrscheinlichkeit für einen Jungen wie für ein Mädchen haben wollen, dann ginge das nur, wenn wir Aurore, Chrysope oder Clarimonde hierher bringen und sie danach nie wieder besuchen. Wenn das echt so ist, dann sage der Dame, die meint, uns vorschreiben zu müssen, wann wir welche Kinder haben, dass sie wen anderen damit behelligen soll. Sicher, ich bin ihrer Nachfahrin in Grün sehr dankbar für vieles und vor allem, dass unser Haus zu den sichersten von ganz Frankreich gehört. Doch ich werde keine meiner Töchter, ob schon geboren oder noch irgendwo da unten drin einfach so weggeben, egal, ob sie dort glücklich und in Frieden leben wird oder nicht", sagte Millie und hieb sich demonstrativ gegen den wieder flachen Unterbauch.
"Außerdem, so hat es mir eure erste Tochter mit unhörbaren Worten gesagt, müsste dann eine von euch freiwillig aus dem Leben gehen, um die magische Quadratzahl einzuhalten", erwiderte Julius. "Ansonsten stimme ich meiner Frau vollkommen zu, dass wir keine unserer Töchter weggeben, auch wenn wir jetzt wissen, dass sie hier ein sehr langes, friedliches Leben haben würde, ungefährdeter als bei uns. Ich sage auch, dass eine unserer Töchter gerne hier einziehen und mit euch zusammen leben darf, wenn sie alt genug ist, das zu entscheiden und bereit dafür ist, mit den Folgen dieser Entscheidung zu leben. Vorher nicht."
Millie nahm ihren Mann in die Arme und knuddelte ihn. Dann deutete sie behutsam auf die erste Tochter: "Wir sind euch auch für alles dankbar, was wir von euch erhalten haben. Deshalb werden wir unser Leben weiterführen, wie wir es begonnenhaben."
"Mildrid, wir verstehen völlig, dass ihr beide die Kinder, die ihr habt, nicht zu euch unbekannten und meistens unerreichbaren Menschen geben möchtet. Wir sind es auch nicht, die euch dazu zwingen, nicht zu warten oder in den nächsten zwölf Monaten einen Sohn zu haben. Es liegt an euch und in euch, wie ihr den Segen, der euch erteilt wurde, würdigt. Wenn ihr gemeinsam Nachwuchs habt, dann wird es nur ein Sohn, wenn ihr vorher zwölf Jahre wartet", sagte nun die erste Tochter ganz ruhig mit hörbarer Stimme. Da ich an Julius sppüre, dass die, welche ihn zum zweiten Mal gebar, weiterhin erfährt, was in ihm vorgeht, so wird sie es nun wissen, dass sie den Segen der Himmelsschwester nicht auslöschen kann, ohne einen von euch beiden zu töten."
Stille trat ein. Keiner und keine sagte mehr was. Gut, vielleicht mentiloquierten die anderen Mondtöchter miteinander. Doch anders als bei den Sonnenkindern hörte Julius es nicht. Dann sprach die erste Tochter weiter: "Doch genau das würde ihrem heeren Wunsch widersprechen, ihr geschwächtes Bluterbe zu stärken. Also wird sie das nicht wollen. Ob sie will, dass ihr eine eurer wohlgeratenen Töchter bei uns aufwachsen lasst weiß ich nicht. Ich kann sie nicht von hier aus erreichen, weil ich auch keine Trägerin ihres Blutes bin. Wie gesagt, es liegt an und in euch, wann der zum zweiten mal geborene Sohn seinen ersten Sohn in die Arme schließen und ihn im Leben willkommen heißen kann." Milie und Julius sahen sich an. Die eine trotzig, der andere ein wenig nachdenklich. Doch dann nickten beide einander zu.
"Wir wollten euch und euren Orden nicht beleidigen oder entehren, Erste Tochter des Mondes. Wir sind nur in Sorge, was unsere Zukunft angeht. Das ist ja bei Eltern so. Daher kamen wir zu euch, haben euren Frieden gestört, Fragen gestellt, die wir eigentlich nicht stellen durften, weil es eure Art zu leben ist und niemanden damit verletzt", sagte Julius. "Deshalb danken wir euch für eure Geduld, euer Verständnis, euren Rat und eure Bereitschaft, euer Essen und euer Wissen mit uns zu teilen. Da in der Welt, aus der wir stammen, vieles nach gegenseitigem Geben verläuft muss ich die Frage stellen: Was dürfen oder können wir euch als Gegenleistung für eure Gastfreundschaft und euren Rat zurückgeben?" sagte Julius ganz ruhig.
"Wenn du Leben von den dunklen Kräften befreien willst, so finde die drei vom Zorn der Himmelsschwester gequälten, welche sich von denen lossagten, die diesem Zorn all zu bereitwillig nachgeben", sagte die erste Tochter. "Eine stammt aus dem Erdteil in Abendrichtung, die beiden anderen stammen aus dem in abendrichtung gelegenen Land. Wenn sie noch niemanden verletzt oder gegen seinen Willen getötet haben, so mögen sie bei uns Heilung finden. Doch sei bedacht, es nicht all zu vielen zu erzählen, dass du sie suchst! Wir wollen nur die aufnehmen, die freiwillig zu uns kommen und außerhalb des Zornes der Himmelsschwester kein Menschenwesen angegriffen oder getötet haben."
"Öhm, wie bitte?!" fragte Millie. Doch Julius verstand sofort. Er erinnerte sie daran, wer in den drei Türmen untergebracht war. So fragte er, ob da auch drei Plätze frei waren. Er erfuhr, dass die Türme gerade von sieben Kindern bewohnt wurden, die von einem unter dem Zorn der Himmelsschwester verletzt und deshalb davon erfüllt worden seien. Sie müssten noch einen vollen Mondzyklus aushalten, bis der Zorn der Himmelsschwester voll und ganz aus ihren Leibern getilgt sei.
"Dann habe ich von diesen dreien noch nichts gehört. Woher wisst ihr, dass es sie gibt?" fragte er. "Weil eine derjenigen, deren Kind bei uns auf Heilunghofft, es uns erzählt hat, wenn auch nicht mit Worten. Finde sieund frage sie. Doch sage ihr nur, dass du davon gehört hast, dass es uns gibt!"
"Gut, dann soll dies meine Gegenleistung sein", sagte Julius. Millie sah ihn verdattert an. Doch er nickte ihr beruhigend zu.
Trotz des heftigen Wutausbruches von Millie konnten sich alle in Frieden und Respekt voneinander verabschieden. Aus der Mondburg hinaus durften sie beide auf eigenen Füßen gehen. Diesmal war die Brücke auch fest wie eine Steinbrücke.
Auf der anderen Seite der Brücke klickte es erst in Julius Armbanduhr. Er sah darauf und stellte fest, dass sie tatsächlich fünf Stunden übersprungen hatten, obwohl sie nur ein ein Viertel Stunden dort zugebracht hatten. Hinter ihnen verschwand die Brücke wieder unter dem runden Tor. Dieses schloss sich, wie ein müdes Auge. Dann verschwand die Burg. Sie hüllte sich wieder in die Unerkennbarkeits- und Unerreichbarkeitszauber ein, die sie vor dem Rest der Welt verbargen. Millie und Julius sahen sich noch einmal an. beide wollten einander zeigen, dass sie zueinander standen. Dann nahmen sie einander bei der Hand und disapparierten. Mit einem kurzen Wärmeschauer, der ihnen durch den Körper ging, apparierten sie genau da, wo ihre heimliche Reise in die Mondnacht begonnen hatte.
Béatrice hörte sich den Bericht ihrer beiden Hauspatienten und verwandten im für solche Geheimgespräche eingerichteten Klangkerkerzimmer an. Aurore, Chrysope und Clarimonde schliefen. Sie nickte immer wieder. Dann sagte sie: "Sogesehen verpflichtet sich eine Hexe, die zwölfmal einen Auserwählten in die Mondburg bringt, beim dreizehnten mal bei denen zu bleiben. Dasselbe hätte dir ja geblüht, Millie, wenn ihr beiden nicht innerhalb von drei mal zwölf Monddurchgängen das erste Kind, natürlich eine Tochter, hinbekommen hättet. Natürlich hörte ich auch, dass sie ihre Anzahl strickt einhalten. Wie du schon vermutet hast, Julius, spielt bei denen die Zwölf eine Rolle, wegen der zwölf Monate im Jahr. Allerdings ist bei denen das Jahr auf den Mond festgelegt und ist deshalb kürzer als unser auf den Sonnenstand abgestimmtes Jahr."
"Tante Trice, da wir ja trotz der Zeitverschiebung ja immer noch wach genug sind, möchte ich dich um was bitten und hoffe, Julius willigt einn", setzte Millie an. Julius sah seine Frau erwartungsvoll an. Dann sagte sie: "Prüf bitte nach, ob sein Samen bei mir wirklich nur Mädchen zeugen kann oder ob er überhaupt Jungen hinkriegt." Julius wollte erst was einwenden, nickte dann aber. Millie hatte ja recht. Dass dieser Segen der Himmelsschwester galt wussten sie bisher nur von den Mondtöchtern. Immerhin konnte das mit der Halle der ewig wachenden Vorschwestern auch nur eine art Telepathische Falschmeldung sein, um sie beide davon abzubringen, auf Ashtaria und Ammayamiria zu hören. Er war einverstanden.
"Gut, Dann brauch ich was von euch beiden, ihr wisst schon was. Wer dabei Hilfe braucht, kein Problem. Aber ich gehe davon aus, dass du keine Hilfe brauchst, Julius."Öhm, nur was zum sicheren Auffangen und auslagern."
Zehn Minuten später stellte Béatrice schon die ersten Versuche an. Zwanzig Minuten danach hatte sie das erste Zwischenergebnis. "Also, Julius, du bist voll zeugungsfähig. Die Enthaltsamkeit hat zwar die langlebigerenSamenfäden vermehrt, die hauptsächlich für Mädchen zuständig sind. Aber ich habe genug von den schnelleren, kurzlebigeren gefunden, aus denen für gewöhnlich kleine Jungen hervorgehen, sofern sie früh genug beim fruchtbaren Ei ankommen. Die Proben bringe ich jetzt mit deinen Körperflüssigkeiten zusammen, Millie. Falls sich herausstellt, dass du durchaus auch Jungen empfangen kannst müssen wir das eben durchplanen, wann und wie genau das ablaufen soll. Da es für Hexen eine Lotion gibt, die sicherstellt, dass sie nur Mädchen empfangen wurde von meinen Kollegen auch eine Mixtur erschaffen, die Männer ausschließlich die für Jungenzuständigen Samenfäden ausstoßen lässt. Meine Mutter würde jetzt mit der Zunge schnalzen, weil sie das widerwärtig findet, vorabzubestimmen, was für ein Kind entstehen soll."
Einige Minuten später stand fest, dass ausgelagerte Körperflüssigkeiten keine Aussage boten, ob Millie und Julius nur Mädchen oder auch Jungen hinbekamen. Doch weil Béatrice das nicht so stehen lassen konnte benutzte sie noch ein Verfahren, das auf magische Wechselwirkungen prüfte. Auch wenn sich das für Millie etwas unangenehm anfühlte ließ sie es geschehen, dass ihre Tante eine von Julius genommene Probe, die sie bis auf die für Jungen zuständigen Spermien gereinigt hatte, direkt in sie einführte. "So, wenn ich damit noch bis zum Eileiter vordringen kann ..." "Hei, Tante Trice!" stieß Millie nach einem kurzen Zucken aus.
"Interessant, um nicht zu sagen, faszinierend", grummelte Béatrice. "Deine Probe, Julius, ist in dem Glasröhrchen, das ich bei Millie in die Gebärmutter führte regelrecht verdampft. Das lag aber wohl daran, dass ich die Probe ausschließlich auf die für Jungs wichtigen Samen reduziert und so schnell vorangetrieben habe. Ich gehe davon aus, dass sie in weniger Dichte und bei kleinerer Geschwindigkeit nicht so schnell überhitzen, aber doch auf jeden Fall absterben, bevor sie tief genug in deiner Gebärmutter sind, Millie. Das mit diesen Silberfunken, von denen ihr mir erzählt habt könnte diese Wechselwirkung bedingt haben. Will sagen, es ist heilmagisch bestätigt, dass ihr beide zusammen im Moment nur Töchter zeugen könnt. Ob meine Mutter das auch noch schön gefunden hätte, wenn sie das vorher gewusst hätte oder Hippolyte? Gut, Heilervertraulichkeit. Wenn ihr das nicht wollt, bleibt das hier in diesem Raum unter uns."
"Vielleicht wollte Ashtaria haben, dass wir das nachprüfen lassen, Millie, damit wir wissen, worauf wir uns einlassen oder eingelassen haben. Erinnert mich irgendwie an die Story von Abraham, der von seinem Gott beauftragt wurde, seinen erstgeborenen Sohn zu opfern, nur um zu zeigen, wie sehr er an ihn glaubt."
"Ja, und damit deine Frau nicht schlecht träumt erzähl diese Anekdote aus dem Judentum bitte auch zu ende, Julius."
"Das braucht er nicht, Tante Trice, wir hatten in der Grundschule drei jüdische Zaubererkinder, die damit klarkommen lernen mussten, dass sie nicht so pfui bah sind, wie ihre Bibel das hinstellt. Abraham hat seinen Sohn Isaac nicht opfern müssen, weil sein Herr und Gott ihm noch rechzeitig seine Engel geschickt hat und ihm statt des Sohnes das Blut eines Widders zum Opfern befohlen hat." Julius nickte. "Wir hatten eine wandelnde Bibel als Religionslehrer in der Schule. - Hatte ich glaube ich schon mal erwähnt", bemerkte er dazu. Dabei sah er, wie Millie nachdachte. Dann sagte sie: "Wenn es heilmagisch korrekt abgesichert sein soll, Mademoiselle Latierre, können Sie bitte für mich an sich überprüfen, ob die Samenzellen meines Mannes bei Ihnen soweit kämen, wenn sie und er das wollten?"
"Julius, Deine Saat, deine Entscheidung", sagte Béatrice. Julius sah seine Schwiegertante an, deren Körper er einmal für eine Stunde ausgeborgt hatte, um diesem selbstherrlichen Super-Alpha-Männchen Orion Lesauvage einzuheizen. Sie sah immer noch sehr anziehend aus, kräftig, an den richtigen Stellen üppig, gewandt, ja, und sie war kreativ, künstlerisch begabt, lebenslustig und intelligent. Einen Moment lief in seinem Kopf der Film, was gewesen wäre, wenn er mit ihr zusammengefunden hätte. Womöglich wäre er auch mit ihr über diese gläserne Brücke gegangen. Dann sagte er laut und für das nicht mitgeschriebene Protokoll: "Mademoiselle Latierre, um sicherzustellen, dass mein von Ihnen bereits attestiertes Zeugungsvermögen ausschließlich durch den meiner Frau und mir erteilten magischen Segen auf Töchter beschränkt ist bitte ich Sie hiermit, unter Einhaltung aller Schutzmaßnahmen eine meiner Samenproben daraufhin zu testen, ob ich Sieund damit wohl jede andere fruchtbare Hexe mit einem Kind männlichen Geschlechtes betrauen könnte, falls dies unser beider Wille wäre."
"Ja, klar, Beamter", knurrte Millie, musste jedoch grinsen. Sie hatte ja selbst gesagt, dass sie es nun amtlich hatten. Dann sollte es auch eben amtlich formuliert werden.
Nach einer weiteren Probe und einer Wiederholung der an Millie vorgenommenen Untersuchung an sich selbst, von Millie als assistierender Pflegehelferin beaufsichtigt, konnte die Heilerin folgendes verkünden:
"Also, wenn ich nicht gerade nach den Fruchtbaren tagen läge und ich deine Probe ungekapselt in mich aufgenommen hätte, wäre nach der Konzentration von kurzlebigen Samen die Wahrscheinlichkeit für einen Jungen 90 zu 10 gewesen."
"Also, wenn ich das nicht selbst gespürt hätte, was da in mir passiert ist würde ich behaupten, dass der Versuch vorhin unfug war", sagte Millie. "Aber so wie das aussieht ist da in mir drin eine Sperre, die die kleinen Jungs nicht zu mir rein lässt, solange ich nicht genug kleine Mädchen aus mir rausgelassen habe."
"Joh, allgemeinverständlich und kompakt", grinste Béatrice und zog die kleine Sonde mit der Probe wieder zurück.
"Gut, dann haben wir jetzt drei Möglichkeiten, sagte Julius: Wir vergessen, was Ashtaria gesagt hat, Millie. Wir vergessen, was die Mondtöchter über das Warten gesagt haben oder wir warten eben, auch wenn wir dann erst in zwölf Jahren was kleines dazubekommen, wenn alle drei Prinzessinnen in Beauxbatons sind."
"Dann hätten wir zumindest mehr Ruhe für sowas", erwiderte Millie verhalten lächelnd. Doch wegen der Herzanhängerverbindung fühlte Julius, dass sie nicht so erheitert war. Vielmehr fühlte er von ihr Reue wegen was und eine gewisse Anspannung, die mal als leichte Wut und mal als Trotz aufflackerte.
"Wir haben noch ein Jahr Zeit, sagte Julius. Bis dahin fällt uns sicher was ein, wie wir das mit Ashtaria regeln können." Millie nickte.
Nach den ganzen Untersuchungen wurde es jetzt doch Zeit für's warme Bett. Als Millie und Julius nebeneinander lagen sagte sie zu ihm: "Ichhätte eben nicht so voll rumbrüllen sollen. Ohne Ashtaria und ihre Kinder gäb's uns alle nicht mehr, und ohne Ammayamiria hätten wir dieses Schutznetz nicht aufspannen und aufladen können, abgesehen davon, dass ihr Lebenssegen unser Haus zu einem der sichersten Häuser von Frankreich oder gar der Welt gemacht hat. O Mann, Mildrid Ursuline Latierre, das war nicht wirklich erwachsen."
"Ich liebe dich, weil du ehrlich bist und weil du sagst, wenn dir was nicht gefällt. Ich bin da ja doch eher zur Zurückhaltung erzogen worden", seufzte Julius.
"Deshalb ist es ja so schön, dass du mit Kindern so gut zurechtkommst, nicht nur mit unseren, auch mit Sandrines Zwillingen, mit unseren ganz kleinen Tanten, auch mit so einem Raufbold wie Philemon und vor allem mit Catherines zwei großen Prinzessinnen. Das konnte dir keiner beibringen. Und nachdem, was du erzählt hast wollte es dir auch keiner beibringen."
"Vielleicht geht das bisher so gut, weil ich eben möchte, dass mir keiner nachsagt, ich würde einem Kind seine Freiheiten nehmen oder seine Kindheit kaputtmachen. Die erste Mondtochter hat das ja vorhin so formuliert, dass Kinder ihre Grenzen Brauchen, die aber weit genug gesteckt sein müssen, damit sie die Welt verstehenlernen können", erwiderte Julius.
"Maman, Papa, Sonne geht auf!" krakehlte es unverschämt Munter aus einem benachbarten Zimmer. "Soviel zu den Grenzen", grinste Millie. "Los, raus und wieder in den Schlaf singen", sagte Millie und stupste ihren Mann an.
Als er nach zwanzig Minuten wieder zurückkam sagte er: "Rorie erteilt uns Schlaferlaubnis bis halb Zehn. Da ja jemand ganz schlaues gemeint hat, ihr schon die Halben und vollen Stunden auf der Uhr zu zeigen kann sie das rauskriegen, wann das ist."
"Dann soll der sich bitte zu mir hinlegen und mit mir endlich die nötigen drei Stunden Schlaf rausholen. Öhm, die Minitemmie?" "Liegt in ihrer Reisekiste", raunte Julius verwegen. Dann schlüpfte er neben seine Frau und kuschelte sich an sie, bis beide müde genug waren, um doch noch die eine oder andere Stunde zu verschlafen.
Es tat ihr gut, in Mitten dieses unberührten Waldes zu sein, die Kraft aus den Wurzeln der Bäume durch die eigenen Füße in sich einfließen zu fühlen, die Kraft aus den saftiggrünen Blättern und Nadeln aus der Luft zu atmen, die Verbindung zwischen Erde und Sonne, Wasser und Wind zu nutzen, um sich zu erholen. Um Ihre von dieser verwünschenswerten Kunstaugenträgerin verdorbene Haarpracht wieder auszugleichen hatte sie sich selbst die noch überstehenden Haarenden abgetrennt, um ihren nun gerade mal schulterlangen Schopf gleichmäßig hinzubekommen. Die dabei aufkommende Erschöpfung hatte sie halb ohnmächtig werden lassen. Doch weil sie ja aus dem Schoß einer Waldfrauentochter geboren war, ja sich selbst in diese Welt geboren hatte, konnte sie in diesem unberührten Stück Wald die nötige Kraft in sich aufnehmen, um in den nächsten Tagen wieder vollständig handlungsfähig zu sein. Gundulas magisches Mieder, das von Schwarzwaldzwergen geschmiedet und gewebt worden war, hatte sich zwar erst geweigert, ihren Körper zu umhüllen. Doch dann hatte es eingesehen, dass es einer würdigeren Hexe Unterkleidung werden durfte und aufgehört, ihre Brüste zusammenzudrücken und ihr die Luft abzuschnüren. Jetzt lag es so gut an wie eine zweite Haut, aber eben mit unzerstörbaren Schilden gegen alle möglichen Verwünschungen und auch Waffengewalt. Ja, und ihr Lieblingsstück, der goldene Ring mit den zwei rosenblütenförmigen Rubinen, hatte den Kampf gegen die von dieser Kunstaugenkröte verfälschten Feuerrosenflammen überstanden. Am Ende hatte sie durch den etwas kürzeren Haarschnitt und Gundulas magisches Mieder mehr Macht erhalten als davor. Denn gerade in der lebensspendenden Umgebung dieses Waldes hatte sie die abgetrennten Haarstränge besonders gut für ihr nächstes Vorhaben einstimmen können, die Konferenz der Zaubereiminister außer dieser von Veelakraft erfüllten Ventvit am 25. Mai in Bergamo. Solange wollte sie die Dirne mit den künstlichen Augen in Sicherheit wiegen. Doch dann würde die von ihren neuen Getreuen gejagt und erlegt werden, höchst ministeriell angeordnet. Ja, und die von den Getreuen erwähnten schweigsamen Schwestern sollten dann vor die Wahl gestellt werden, sich unter dem Zeichen der Feuerrose zu ihr, der wahren Hexenkönigin, zu bekennen oder als Intriganten gegen die ordentliche Zaubereiverwaltung inhaftiert und bei Fluchtversuchen getötet werden.
Niemand hätte in der kleinen, zierlichen Hexe mit dem dunkelblonden Haar und den blattgrünen Augen eine der mächtigsten Hexen Deutschlands vermutet. Doch Gesine Feuerkiesel war sehr einflussreich, hatte Verbindungen in fast alle Ministeriumsabteilungen und kannte sich in allen Zauberstabbezogenen bereichen der Magie, sowie der Zaubertrankbraukunst sehr gut aus. Wohl deshalb war sie auch seit vierzig Jahren die unumstrittene Stuhlmeisterin der deutschen Sektion der schweigsamen Schwestern. Gerade saß sie in einer gemütlichen Wohnstube einer noch mächtigeren und noch einflussreicheren Hexe, ihrer Amtsschwester Sophia Whitesand. Das heimliche Treffen in Whitesand Valley fand wegen der Ereignisse um Albertine Steinbeißer und Gundula Wellenkamm, sowie der irischen Schwester Erin O'Casy statt.
"Und sie hat ihr Gedächtnis verloren?" fragte Gesine gerade. Hier in England sprach sie der Höflichkeit wegen glasklares Londoner Englisch.
"Offenbar stand sie seit Juni letzten Jahres unter einem schwarzmagischen Einfluss. Als meine Schutzzauber diesen aus ihr vertrieben verschwanden damit leider auch alle im fraglichen Zeitraum gesammelten Erinnerungen. Nachdem, was du mir und den anderen Stuhlmeisterinnen zugeschickt hast müssen wir davon ausgehen, dass sie eines von Ladonnas ersten außeritalienischen Erfüllungsgehilfinnen wurde. Das ich sie zu mir geschafft habe hat ihr zumindest das Leben gerettet. Denn sicher hätte Ladonna sie als Verräterin oder Versagerin aus sicherer Entfernung getötet", erwiderte Sophia Whitesand.
"Ja, und Gundula ist aus ihrem von starken Schutzzaubern gesichertem Haus verschwunden und nicht wieder aufgetaucht, noch nicht mal als Leiche", grummelte Gesine Feuerkiesel.
"Ja, und nur weil Albertine Steinbeißer diese höchst unorthodoxe Idee mit den bezauberten Mondsteinsilberscheren hatte, die als einzige Veelahaare abschneiden können, konnte sie ihr wohl entkommen, sonst hätte Ladonna noch eine sehr nützliche Helferin dazugewonnen", erwähnte Gesine Feuerkiesel. Dann sagte sie noch: "Auf jeden Fall sind wir bereits unterwandert worden und werden es wohl immer weiter. Geh bitte davon aus, dass Ladonna demnächst ein Ultimatum stellen wird, dass wir uns ihr freiwillig unterwerfen, von ihr getötet werden oder das unsere geheime Mitgliedschaft bei den Sorores Silenciosa aufgedeckt wird."
"Natürlich wird sie das tun. Aber zunächst wird sie zusehen, sich weitere Zaubereiministerien zu unterwerfen. Hat sie davon erst einmal genügend in ihrer Gewalt, kann sie jede und jeden, der ihr gefährlich wird als gefährlichen Gesettzesbrecher jagen lassen", hielt Sophia ihrer Amtsschwester entgegen. "Dann, Schwester Gesine, wird sie uns wohl ein Ultimatum stellen. Denn sie will ja ein Königreich der Hexen mit sich selbst als unanfechtbare Königin gründen. Je mehr Untertaninnen sie dann hat, um so mächtiger ist sie. Es kann ihr dann egal sein, wer unter ihr Zaubereiminister ist."
"Sowie der Irrwitzige Riddle", knurrte Gesine Feuerkiesel. Sophia konnte nicht anders als zustimmend nicken.
"Es sei denn, wir schaffen es, die bereits unterworfenen von den noch frei handlungsfähigen Schwestern zu unterscheiden und die Unterworfenen entweder handlungsunfähig zu machen oder zu befreien. Mir schwebt vor, Ladonnas Methode zu ergründen und umzukehren. Aber vorher müssen wir sicherstellen, dass die Zaubereiminister nicht an einem Ort in Italien zusammenkommen, ja dass sie die Quidditchweltmeisterschaft dort absagen, auch wenn dann ein Riesenschwarm von Heulern von den einzelnen Quidditchverbänden und Vereinen durch die Ministerien wütet."
"Minister Güldenberg wurde von der ja offiziell für das Ministerium arbeitenden Mitschwester Albertine Steinbeißer informiert, was ihr widerfahren ist. Er hat ihre Aussagen auf zweithöchster Geheimhaltungsstufe eingeordnet. Wir werden erfahren, wann er welche Post aus Italien erhält", sagte Gesine Feuerkiesel. Sophia Whitesand nickte zustimmend.
Laurentine Hellersdorf hätte nie gedacht, dass sie mal derartig Spaß am Hexen und Zaubern haben würde, wie in den letzten Tagen, als Louiselle Beaumont ihr nicht nur die Abwehr von direkten Angriffszaubern oder die Auffindung von Objekt- oder Ortsflüchen erläutert, sondern ihr noch mehr Tricks für die Haushaltsführung beigebracht hatte. Sie bedauerte es nur, dass sie in den Staaten selbst keinen Gebrauch davon machen durfte. Daraufhin durfte sie ein Stegreifreferat über die Unterschiede zwischen Haushaltsgeräten der magischen und der nichtmagischen Welt halten.
Etwas bedrückender war dann die Unterhaltung über die bestehenden Gefahren. Zumindest sei jetzt die Möglichkeit, dass Vita Magica unbehelligt Menschen entführen oder zur ungewollten Fortpflanzung treiben könne vom Tisch, meinte Laurentine. Dem widersprach ihre Lehrmeisterin. "In der Jägersprache wird ein Tier, das angeschossen oder sonst wie verletzt wird als waidwund bezeichnet. Vor allem Fleischfresser, für die Kampf und Jagd lebenswichtige Handlungen sind, neigen dann zur erhöhten Aggression. Aber auch Schafe, die angeblich so dumm und brav sein sollen, können verletzt sehr gefährlich werden. Ob dieser Minister Buggles jetzt ein Schaf im Sinne seines Vorgängers Dime war oder sich als Wolf gebärdet hat, er gilt dort nun als angeschlagen und wird zusehen, sich durch weitreichende, beim Volk mehr Anerkennung als Verachtung genießende Aktionen zu behaupten. Das könnte dir schon bei der Einreise widerfahren, dass dein bisheriger Lebenslauf genau auseinandergenommen und jede Einzelheit geprüft wird. Ja, und jetzt sag mir bitte nicht, dass du doch mit einem dieser lauten Düsenvögel dahinfliegst. Die werden sich als magielose Einreisebeamten ausgeben, wenn sie wen entdecken, der magische Kräfte hat."
"Ja, ist wohl möglich, weiß ich von meinem Jahrgangskameraden Julius Latierre. Aber die dürfen doch auch kein Aufsehen erregen", sagte Laurentine.
"Die würden es glatt so hinstellen, dass du irgendwas angestellt hast, was genauer überprüft werden sollte, beispielsweise Rauschgiftschmuggel oder falsche Angaben zum Reisezweck", erwiderte Louiselle.
"Gut, ich verstehe es. Ich muss aufpassen, dass Buggles nicht gegen ausländische Hexen vorgeht. Aber wie kriege ich das bitte mit? Gut, ich kann Julius fragen, dessen Mutter in den Staaten wohnt oder andere Leute, die da Verwandte haben. Doch was mache ich, wenn die mich echt für eine Gefährderin oder sowas halten?"
"Stimmt, du kannst deiner Großmutter schlecht erklären, dass du vielleicht wegen eines paranoiden Zaubereiministers nicht ins Land gelassen wirst. Ich gehe auch nicht davon aus, dass du jetzt ernsthafte Schwierigkeiten bekommen musst. Ich will nur, dass du weißt, dass angeschlagene Zaubereiminister sehr leicht zu heftigen Handlungen neigen können", sagte Louiselle. Das erkannte Laurentine an.
Da sie beide unbekleidet waren konnte Louiselle Laurentine die Tricks, um das Unterschieben von unerlaubten Dingen zu vereiteln heute nicht zeigen. Aber da Laurentine im Grunde jeden Tag in die Phase der Regelblutung eintrat würde Louiselle ihr diesen Das-kommt-hier -nicht-rein-Trick zeigen, den sie in ihrer auch schon ins derbe gehendenWeise als Praeservirginis-Zauber für Gepäckstücke bezeichnete.
Zum Schluss machten sie noch einmal ein Duell, wobei sie nicht direkt gegeneinander fochten, sondern prüften, wer schneller eineVerwandlung an toten Dingen ausführen und die der jeweils anderen wieder umkehren konnte. Dabei schaffte es Laurentine fünfmal, Louiselles Verwandlungszauber schneller umzukehren als diese es bei Laurentine schaffte. "Das machen wir nicht aus reinem Spaß am Hexen, sondern um die Gedanken zu fokussieren und möglichst schnelle aber richtig ausgeführte Zauberstabbewegungen hinzubekommen", bemerkte Louiselle nach dieser Übung. Laurentine sah das ein.
Julius erzählte Millie gerade die Sachen, die nicht all zu geheim waren, als ihm einfiel, dass eine neue Porträtverbindung zwischen Ornelle Ventvit, ihrer Nichte Adrastée und der auf Martinique lebendenHéméra eingerichtet werden sollte, auch um sicherzustellen, dass wirklich wichtige Überseeanliegen möglichst schnell weitergegeben werden sollten, auch wenn auf Martinique auch ein internetfähiger Rechner eingerichtet war. Ornelle Ventvit meinte, dass solche Porträtverbindungen unter Umständen über Leben und Tod entscheiden konnten. "Weil die das ausgerechnet heute zu mir gesagt hat, wohl auch, weil ich mit ihrer Nichte aus dem Geisterbüro mal wieder wegen dieser Nachtschatten gesprochen habe, muss ich davon ausgehen, dass die als Ministerin die Kiste von vor acht Jahren mitbekommen hat. Wenn ich überlege, dass ich damals die Welt gerettet haben könnte."
"Ach, die Sache mit diesen grünen Würmern, die in einer Bildersammlung von Slytherin vorkamen", meinte Millie. "Da hast du doch eindeutig die Welt gerettet. Stell dir mal vor, das Zeug hätte sich echt verbreitet, und dieser Drachenkötel mit dem unnennbaren Namen Voldemort hätte deshalb die ganze Zaubererwelt überwachen können, dann hätte der jeden erpressen können, ob hier in Frankreich oder Australien."
"Schon wahr. Aber wenn ich nach den vielen Jahren zurückdenke war das schon so unglaublich. Dabei habe ich das Intrakulum im letzten September noch benutzt", sagte Julius. Millie nickte. Und sie kannten ja noch jemanden, die auf diese Weise zwischen den Ländern und der echten und gemalten Welt wechseln konnte.
"Jedenfalls meint die Ministerin, die sich jetzt fragt, ob sie noch eine Einladung zu dieser Vorbereitungskonferenz in Italien kriegt oder nicht, dass magische Porträtverbindungen irgendwann noch einmal weltbestimmend sein mögen. Dem wollte ich nicht widersprechen", sagte Julius. Seine Frau stimmte dem zu.
"Immerhin haben wir uns bei dieser gefährlichen Reise kennengelernt, Julius", hörte er die Gedankenstimme Temmies. Er fragte zurück, wen genau sie jetzt meine und erfuhr, dass sie von Darxandria, der Königin des Lichtes aus dem alten Reich sprach. Auch das konnte und wollte er nicht abstreiten. Somit hatten die Ereignisse um die von Draco Malfoy im Auftrag Voldemorts ausgehängten Bilder aus Slytherins Galerie des Grauens noch weiter reichende Folgen gehabt, unter anderem die, dass er wohl nie das Lied des Ailanorar erlernt oder die Stadt Khalakatan betreten hätte, wo er schlussendlich Madrashainorians Entstehung und Leben hinbekommen hatte. So meinte er zu seiner Frau: "Schon echt komisch, dass unsere besondere Ausbildung auch diesem Verbrecher Voldemort zu verdanken ist. Wenn der damals die Bilder nicht hätte aushängen lassen, hättest du nicht das schöne Kleid im Schrank, wir hätten keine besondere Kuh auf Tante Babsies Weide und..."
"Papa, Maman, abbutzen!!" plärrte Chrysope, die langsam lernte, auf ein richtiges Klo zu gehen.
"Und wir hätten keine drei Kinder", meinte Millie. Das stach Julius zwar erst ins Herz, weil das nämlich hieß, dass sein Ausflug damals in die Festung des alten Wissens Claires viel zu frühen körperlichenTod bewirkt hatte, doch dann musste er doch zustimmen. Ohne Ammayamiria hätten sie bestimmt keine drei gesunden Kinder in einem Ort, wo hoffentlich nie wieder ein machtversessener Magier vom Schlage Voldemorts oder Vengors oder eine intrigante Hexe wie Ladonna Montefiori reinkommen konnten. Seltsamerweise dachte er von Anthelia/Naaneavargia, dass sie gerade wohl auf der Suche nach ihrem richtigen Weg war. Tja, auch Naaneavargias Erweckung verdankte er diesem Ausflug damals vor acht Jahren. Denn die alten Straßen hatte er nur in Khalakatan kennenlernen können.
Nächste Story | Verzeichnis aller Stories | Zur Harry-Potter-Seite | Zu meinen Hobbies | Zurück zur Startseite Seit ihrem Start am 21. Mai 2022 besuchten 1045 Internetnutzer diese Seite.